Carsten Brosda Diskursiver Journalismus
Carsten Brosda
Diskursiver Journalismus Journalistisches Handeln zwischen ko...
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Carsten Brosda Diskursiver Journalismus
Carsten Brosda
Diskursiver Journalismus Journalistisches Handeln zwischen kommunikativer Vernunft und mediensystemischem Zwang
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl.: Dortmund, Univ., Diss., 2007
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Monika Mülhausen Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15627-9
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ............................................................................................................................. 9 I
Einleitung ................................................................................................................11 1 Die Kluft zwischen Wissenschaft und Journalismus .........................................................11 2 Theoretischer Rahmen: Kommunikatives Handeln in der Moderne ..............................13 3 Theoretische Perspektive: Journalismus zwischen Lebenswelt und System...................20 3.1 Massenmedien und System .................................................................................................23 3.2 Journalismus und Lebenswelt .............................................................................................26 3.3 Auf dem Weg zu einem kommunikativ verstandenen Journalismus .....................................29 4 Zum Aufbau der Arbeit.........................................................................................................31
II
Zur Verortung der Journalistik............................................................................... 35 1 Wissenschaft zur Verbesserung des Journalismus .............................................................36 1.1 Die Loslösung (von) der Praxis..........................................................................................39 1.2 Wurzeln der Journalistik ...................................................................................................44 1.3 Programm der Journalistik.................................................................................................50 2 Theoretische Optionen..........................................................................................................54 2.1 Systemtheorie und Konstruktivismus...................................................................................57 2.1.1 Systemtheoretische Grundlegung der Journalistik ......................................61 2.1.2 Kritik: Der Verlust des Akteurs.....................................................................65 2.2 Handlungstheoretische Optionen .........................................................................................70 3 Wissenschaftstheoretische Fundamente..............................................................................75 3.1 Die Möglichkeiten sozialwissenschaftlicher Kritik................................................................78 3.2 Die Stellung des Sozialwissenschaftlers zur Praxis..............................................................85 3.3 Sozialwissenschaftliche Teilnahme in der Journalistik..........................................................90 4 Zwischenfazit: Praxisorientierung und Kritik.....................................................................93
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus ........... 98 1 Die Idee der Öffentlichkeit ...................................................................................................99 1.1 Öffentlichkeit als ‚Sphäre‘................................................................................................103 1.2 ‚Bürgerliche Öffentlichkeit‘ als gesellschaftliches Strukturprinzip ........................................107 1.3 Journalismus und Öffentlichkeit .......................................................................................114 1.3.1 Journalismus und öffentliches Zeitgespräch..............................................114 1.3.2 Journalismus und die (kritische) Vernunft der Öffentlichkeit.................117
6
Inhaltsverzeichnis 2 Historische Grundlagen des Journalismus ........................................................................119 2.1 Historische Entwicklungsphasen ......................................................................................121 2.1.1 Korrespondierender Journalismus ..............................................................123 2.1.2 Schriftstellernder Journalismus ....................................................................125 2.1.3 Redaktioneller Journalismus.........................................................................128 2.2 Dichotomie journalistischer Idealtypen...............................................................................131 3 Journalistische Rollenmuster...............................................................................................136 3. 1 Journalistische Kommunikatorrolle ...................................................................................139 3.2 Journalistische Vermittlerrolle ..........................................................................................140 3.3 Überdehnung der Rollenmodelle........................................................................................143 4 Jenseits der Dichotomie: Otto Groths integratives Konzept.........................................145 4.1 Das journalistische Werk als Vermittler ..........................................................................148 4.2 Die Aufgaben des journalistischen Handelns: Vermittlung und Produktion.......................151 4.3 Journalistische Produktion von Vermittlung......................................................................155 4.4 Epistemologische Einwände: Vermittlung und (Re-)Konstruktion .....................................157 5 Zwischenfazit: Journalisten als Diskursanwälte................................................................160
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus ..............................167 1 Grundlagen eines kommunikativen Journalismus............................................................168 2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts............................................173 2.1 Arbeit und Interaktion ....................................................................................................175 2.1.1 Journalismus im Spannungsfeld unterschiedlicher Handlungsrationalitäten.................................................175 2.1.2 Kerngehalte kommunikativer Rationalität..................................................178 2.1.3 Interaktive Bezüge des Journalismus ..........................................................180 2.2 Verständigung durch journalistische Kommunikation ........................................................183 2.2.1 Kontrafaktische Idealisierungen ..................................................................184 2.2.2 Illokutionäre Bindungskräfte........................................................................188 2.3 Orientierung durch reflexive Vermittlung..........................................................................192 2.3.1 Verstehen und Reflexivität im Journalismus..............................................192 2.3.2 Orientierung in Gesellschaftlichkeit............................................................196 2.3.3 Orientierung durch Diskurs .........................................................................200 2.4 Teilhabe durch kommunikative Kompetenz.......................................................................205 2.4.1 Journalismus und kommunikative Kompetenz .........................................205 2.4.2 Partizipation an öffentlicher Kommunikation...........................................210 2.4.3 Exkurs: Die US-amerikanische Perspektive des ‚Public Journalism‘......215 3 Implikationen einer lebensweltlichen Verankerung .........................................................218 3.1 Teilnehmerperspektive: Formalpragmatisches Verständnis von Lebenswelt .........................221 3.2 Beobachterperspektive: Sozialwissenschaftliches Verständnis von Lebenswelt ......................224 3.3 Exkurs: Die konzeptionelle Herausforderung durch die Cultural Studies ..........................230 4 Zwischenfazit: Kommunikatives journalistisches Handeln ............................................236 V
Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien ... 243 1 Die Systemperspektive.........................................................................................................244 1.1 Massenmedien als System.................................................................................................246 1.2 System und Struktur .......................................................................................................249
Inhaltsverzeichnis
7
2 Ausdifferenzierung der Massenmedien .............................................................................255 2.1 Strukturwandel der Öffentlichkeit und der Massenmedien .................................................256 2.2 Ökonomisierung der Massenmedien..................................................................................259 2.3 Zur Annahme massenmedialer Autopoiesis ......................................................................265 2.4 Konsequenzen der systemischen Ökonomie der Massenmedien ............................................268 3 Ausdehnung systemischer Zweckrationalität....................................................................272 3.1 Kolonialisierung der Lebenswelt ........................................................................................274 3.2 Journalistisches Handeln unter Systembedingungen............................................................278 3.2.1 Ausdifferenzierung von Redaktionen .........................................................279 3.2.2 Technisierung der Redaktion .......................................................................283 3.2.3 Zwänge der Verberuflichung .......................................................................286 3.2.4 Exkurs: Chancen und Risiken der Entdifferenzierung.............................291 3.3 Strukturierung, Mediatisierung oder Kolonialisierung des Journalismus..............................295 4 Zwischenfazit: Selbstbehauptung journalistischer Potenziale ........................................299 VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus ......................................... 306 1 Grundlagen einer diskursiv verstandenen Öffentlichkeit................................................307 1.1 Öffentlichkeit zwischen Systemfunktionalisierung und demokratischer Relevanz .................307 1.2 Diskurse und Diskursethik: Kommunikative Vernunft in der Öffentlichkeit ....................314 1.3 Deliberative Demokratie: Öffentliche Bedingungen kommunikativer Vernunft...................319 2 Journalismus in der diskursiven Öffentlichkeit ................................................................324 2.1 Journalismus im demokratischen Prozess ..........................................................................325 2.2 Journalismus als institutionelle Vorkehrung diskursiver Öffentlichkeit...............................329 3 Journalismus in der medial geprägten Öffentlichkeit ......................................................333 3.1 Das öffentliche Potenzial der Massenmedien......................................................................334 3.2 Das Konzept der Medienöffentlichkeit ..............................................................................336 3.3 Journalistische Kommunikativität in der Medienöffentlichkeit ............................................340 4 Handlungsbedarf I: Die ethische Herausforderung des diskursiven Journalismus .....342 4.1 Diskurse über Ethik: Diskursethische Formulierung journalistischer Normen ...................344 4.2 Ethik für Diskurse: Journalistische Anwendung diskursethischer Prämissen .....................348 4.3 Diskursvermittlung und Diskursteilnahme .......................................................................355 5 Handlungsbedarf II: Die politische Herausforderung der systemischen Massenmedien.......................................................................................................................357 5.1 Instrumente und Leitideen der Kommunikations- und Medienpolitik.................................359 5.2 ‚Media Governance‘ als Steuerungsalternative ...................................................................364 6 Zwischenfazit: Diskursivität in Journalismusethik und ‚Media Governance‘...............370 VII Fazit und Ausblick................................................................................................ 373 1 Zusammenfassung................................................................................................................373 2 Merkmale eines diskursiven Journalismus.........................................................................377 3 Aufgaben und Perspektiven einer kritischen Journalistik ...............................................380 Literatur ........................................................................................................................ 383 Index ............................................................................................................................. 434
8
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis Tab. 1: Untersuchungsdimensionen des vorgeschlagenen Journalistik-Verständnisses ............. 96 Tab. 2: Charakteristika kommunikativen journalistischen Handelns .......................................... 238 Tab. 3: Charakteristika systemisch verfasster Massenmedien ...................................................... 269 Tab. 4: Unterscheidung zwischen journalistischem Handeln und Massenmedien.................... 376
Abbildungsverzeichnis Grafik 1: Verortung eines diskursiven Journalismus ....................................................................... 31 Grafik 2: Historisch-empirisch fundierte Idealtypen des Journalismus ...................................... 132 Grafik 3: Der Geltungsbereich des ‚produzierenden Journalismus‘............................................ 161 Grafik 4: Kommunikatives journalistisches Handeln.................................................................... 237 Grafik 5: Der ‚gatekeeper‘-Journalismus ausdifferenzierter Mediensysteme.............................. 303 Grafik 6: Diskursiver Journalismus.................................................................................................. 371
Vorwort
In den sieben Jahren, die es gedauert hat, dieses Buch zu schreiben, habe ich bei vielen Gelegenheiten die Kraft verständigungsorientierter Gespräche erfahren dürfen. Es gibt die oft beschworenen Inseln der Diskurse – im akademischen Raum genauso wie außerhalb. Ohne diese Erlebnisse wäre es mir sicherlich ungleich schwerer gefallen, diese Arbeit neben einer beruflichen Tätigkeit zu einem Abschluss zu bringen. Sie wurde im Januar 2007 von der Universität Dortmund als Dissertation angenommen. Ich danke insbesondere den beiden Gutachtern der Arbeit, Prof. Dr. Günther Rager und Prof. Dr. Horst Pöttker, für die Zeit und Energie und guten Ideen, die sie in unsere Gespräche investiert haben. Sie haben mir auch dabei geholfen, den Argumentationsgang trotz aller Breite auf sein Ziel – ein praxisorientiertes und emanzipatorisches Verständnis von Journalismus – hin zu orientieren. Prof. Dr. Achim Baum hat an entscheidender Stelle dafür gesorgt, dass ich zumindest einige verweht romantisierende Passagen aus der Arbeit herausgelüftet habe. Prof. Dr. Thomas Meyer wiederum hat früh meine Lust auf Wissenschaft geweckt und mir den Zugang zu den Werken von Jürgen Habermas geöffnet. Auch ihnen bin ich sehr verbunden. Die beständigsten Gesprächspartner – nicht bloß im Hinblick auf diese Arbeit – waren meine Freunde Dr. Thymian Bussemer und PD Dr. habil. Christian Schicha. Sie haben unausgereifte Ideen wegargumentiert, anderes unterstützt und wertvolle Anregungen gegeben. Beiden habe ich es außerdem zugemutet, eine frühe Fassung dieser Arbeit komplett zu lesen. Ich weiß nicht, ob ich ihnen dafür danken, oder ob ich mich entschuldigen soll. Mein Freund Hannes Schwarz hat darüber hinaus – bisweilen ohne dass er es gemerkt hat – in unseren zahlreichen, meist ganz praktisch politischen Debatten auch so manche wissenschaftliche Prämisse dieser Arbeit korrigiert und damit bewiesen, dass Wissenschaft aus ihrer distanzierten Position heraus keineswegs immer einen Erkenntnisvorsprung haben muss. Weitere wesentliche Anstöße und Hinweise verdanke ich Mareike Dittmer und Nadine Bilke. Von Herzen verbunden bin ich meiner Frau Ulrike Ehling, die mit kritischem Auge und konstruktivem Geist die Entstehung dieser Arbeit begleitet und vorangetrieben hat. Wenn die Ehe ein andauerndes Gespräch ist, dann haben wir das unsere in den vergangenen Jahren oft und gerne um die vielleicht etwas ungewöhnlichen Themen kommunikatives Handeln, Öffentlichkeit und Journalismus erweitert und bereichert. Der Prozess der Entstehung dieser Arbeit ist verschlungen. Ihr Argumentationsgang manchmal auch. Aber ich hoffe, dass der Text, für dessen Fehler ich allein verantwortlich bin, dazu einlädt, über Aufgaben und Potenziale des Journalismus nicht nur nachzudenken, sondern auch zu sprechen und zu streiten. Wer guten Journalismus will, darf nicht in der Analyse eines unzureichenden Status Quo verharren, sondern muss mit Leidenschaft das Gespräch über Alternativen und Grundsätzliches suchen – mit und zwischen Wissenschaft und Praxis. Zu diesem Gespräch will dieses Buch einen Beitrag leisten. Carsten Brosda Berlin, im Juli 2007
I
1
Einleitung
Die Kluft zwischen Wissenschaft und Journalismus
Wenn es zur Beschäftigung miteinander kommt, zeigen sich Journalisten und Kommunikationswissenschaftler1 im besten Fall oftmals unbeholfen, im schlimmsten offen feindselig.2 Haller spricht von „zwei Kulturen“, zwischen denen Verständigung derzeit nur sehr eingeschränkt möglich erscheine.3 Zu unterschiedlich seien die Prämissen der eigenen Arbeit, zu unterschiedlich auch die Vorstellungen von dem, was Journalismus eigentlich sei und was das Medienhandeln in modernen Gesellschaften ausmache. „Wenn Medienpraktiker und Medienwissenschaftler über Theorie reden, macht sich Unverständnis, oftmals auch nur ein Klima der Ignoranz breit. Die Frage: ‚Worüber reden die überhaupt?‘ scheint in der Luft zu hängen, wenn die einen über die anderen reden. Forschungsbefunde der Wissenschaftler halten die Praktiker meist für irrelevant; umgekehrt werden aktuelle Probleme des praktischen Journalismus in der Welt der Medienwissenschaft nur ausnahmsweise […] aufgegriffen.“4
Nun muss diese Kluft zwischen Praxis und Theorie einen Medien- und Kommunikationswissenschaftler nicht zwangsläufig stören, der sich seinem Beobachtungsgegenstand mit nachgerade ethnologischer Indifferenz und Distanz wie einer fremden Kultur nähert, um dessen Kommunizieren, Handeln und Verhalten lediglich empirisch-analytisch zu beschreiben. Doch abgesehen von aller noch aufzuzeigenden wissenschaftstheoretischen Problematik einer solchen Haltung – von der letztlich auch der in fremden Kategorien beschriebene Gegenstand 1 2
3 4
Ausschließlich um den Lesefluss zu erleichtern, wird in der vorliegenden Arbeit die männliche Form verwendet – wissend, dass damit einer traditionellen Routine Vorrang vor semantischer Korrektheit eingeräumt wird. Blöbaum (1999, S. 217f.) hat eine ganze Liste unterschiedlichster Differenzverständnisse zwischen Theorie und Praxis zusammengetragen. Er zählt – in Abgrenzung zum Integrationsanspruch der Journalistik – auf: • „Gegenüber von Hochschule und Medienunternehmen“ • „Gegenüber von Nachdenken über Journalismus und Handeln im Journalismus“ • „Gegenüber von Journalismustheorie und Journalismus“ • „Gegenüber von dem, was in Lehrbüchern steht, und der Anwendung des Lehrbuchwissens“ • „Gegenüber von Anleitung und Ausführung“ • „unterschiedliche Lerninhalte“ • „unterschiedliche Lernformen“ • „Gegenüber von wissenschaftlicher Arbeit und journalistischer Arbeit“ • „unterschiedliche Bereiche des Journalistik-Studiums“ Haller 2000a Ebd., S. 101. Fast jeder Kontakt zwischen beiden Kulturen, so könnte man ergänzen, führt zu einem ‚Kampf der Kulturen‘. Reißfeste transkulturelle Netze dagegen, die weniger das Trennende als das Vereinende betonen, scheinen nur selten gewoben zu werden. Kieslich (1972, S. 75) hat bereits vor über 30 Jahren konstatiert, dass die Zeiten vorbei seien, in denen die journalistische Praxis aktiv eine wissenschaftliche Journalistik fordere und unterstütze. Die meisten Praktiker, so auch Roegele (1978, S. 24), goutierten lediglich eine bedingungslos auf praxisbezogene Fertigkeiten gerichtete Ausbildung. Aktuell bekräftigt Ruß-Mohl (2003, S. 20) diese Analyse.
12
I Einleitung
nicht unberührt bleibt5 –, kann die Sprachlosigkeit eine Disziplin wie die Journalistik nicht zufrieden stellen, die sich einen eindeutigen emanzipatorischen Auftrag zu eigen gemacht hat, den sie durch die Bildung und Ausbildung künftiger Journalisten einzulösen gedenkt.6 Journalistik zielt nicht nur auf die Erforschung des Journalismus, sondern auch auf ‚besseren‘ Journalismus. Diese Perspektive des Faches bedarf einer entsprechenden theoretischen Absicherung, um nicht auf einem unreflektierten Normativismus zu basieren.7 Wie ‚guter‘ Journalismus beschaffen sein soll, kann die Journalistik letztlich nur immanent aus einer theoretisch wie praktisch relevanten Idee des Journalismus heraus erklären. Erst vor dem Hintergrund einer solchen Idee vermag eine anwendungsorientierte Journalistik der – auch systemtheoretisch erhobenen – Forderung zu genügen, als „kritischer Widerpart des Journalismus“ Defizite der Praxis ebenso zu beschreiben wie Wege der Verbesserung aufzuzeigen.8 Wohl auch deshalb gewinnen handlungstheoretische Journalismus-Analysen nach Jahren systemtheoretischer Dominanz wieder an Boden.9 Neverla merkt zu Recht an, dass eine „intensivere theoretische und empirische Ausleuchtung des individuellen Berufshandelns“ notwendig sei, um Journalismus in seinen Möglichkeiten ausreichend verstehen zu können.10 Die systemtheoretische Perspektive darf in diesem Rahmen nicht aufgegeben werden, sondern sie ist zu ergänzen um die Auseinandersetzung mit den handlungstheoretischen Verstehensoptionen, die in der Zeitungs- und Publizistikwissenschaft durchaus eine Tradition besitzen.11 Dazu ist auch die Entwicklung neuer integrativer Ansätze von Bedeutung. Beispielhaft ist hier der Entwurf von Raabe, der Journalismus strukturierungstheoretisch als das Handeln sozialer Akteure in einem sozialen Feld beschreibt, um dadurch sowohl die ermöglichenden als auch die begrenzenden Strukturen in den Blick zu bekommen als auch das Verhältnis zwischen Journalismus und journalistischen Akteuren wissenschaftlich zugänglich zu machen.12 Diese Perspektive kann journalistisches Handeln und journalistische Akteure für die Journalistik beschreiben und erklären, sie bleibt allerdings distanziert gegenüber Versuchen des Dialogs zwischen Wissenschaft und Journalismus. Der vorliegende Versuch nimmt das praxisorientierte Selbstverständnis der Journalistik beim Wort und extrapoliert es, indem erste Vorüberlegungen für ein noch zu entwickelndes Journalismus-Konzept formuliert werden sollen, das gleichermaßen die strengen wissenschaftlichen Kriterien genügende empirisch-analytische Beschreibung des Journalismus ermöglicht, wie es immanent auf Maßstäbe rekurriert, anhand derer sich eine Aufgabe des Journalismus als 5 6 7
8 9 10 11 12
Vgl. zu diesem Umstand Peters 2000, S. 297. Vgl. zum Ausbildungsanspruch z.B. Pöttker 1998a oder die Beiträge in Weischenberg 1990b. Der scheinbar einfache Weg, dem Journalismus ein normatives Gebäude im Rückgriff auf allgemeine Ethiken oder rechtliche Ordnungen überzustülpen, kann der Journalistik als der Wissenschaft vom Journalismus nicht genügen. Dafür lassen sich zwei Gründe anführen: • Wissenschaftstheoretisch kann (z. B. aus der Sicht von Ansätzen der sog. Kritischen Theorie) der Standpunkt eingenommen werden, dass Sozialwissenschaften eine gesellschaftliche Aufgabe besitzen. Sie untersuchen soziale Prozesse nicht wertfrei, sondern unter der Prämisse emanzipatorischer Konsequenzen ihrer eigenen Arbeit. • Darüber hinaus ist eine auf Ausbildung und Praxis gerichtete Disziplin wie die Journalistik per Definition und Selbstverständnis darauf ausgerichtet, der Praxis relevante Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten und diese im Zuge der universitären Ausbildung auch Berufseinsteigern zu vermitteln. Meier 2002b, S. 5 So fordert zum Beispiel Reus (1998) die Öffnung der Zwiebelmetapher, mit der Weischenberg (1990a; 1992a) Dimensionen des Journalismus systematisiert, um Handlungsspielräume besser darzustellen. Neverla 1998, S. 60 Vgl. beispielhaft die Zusammenstellung der Beiträge von Roegele 2000. Vgl. Raabe 2005, S. 137ff.
2 Theoretischer Rahmen: Kommunikatives Handeln in der Moderne
13
kritische Referenz benennen lassen kann. Ein solches Vorhaben hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es sich auf eine gesellschaftstheoretische Einordnung verlassen kann, die ebenfalls den Spagat zwischen strengen analytischen Ansprüchen und kritischer Perspektive auszuhalten imstande ist. Dagegen ist eine Rückkehr zu der Perspektive kritischer Kommunikationsforschung allein, so wie sie in den 1970er Jahren im Anschluss an die Thesen zur ‚Kulturindustrie‘ betrieben worden ist13, kaum möglich, weil diese zu den relevanten Ergebnissen der empirischen Kommunikationsforschung nicht anschlussfähig wäre. Zudem sind die der Kritischen Theorie zugrunde liegenden Totalitäts- und Dialektik-Vorstellungen nicht mit dem heutigen Stand wissenschaftstheoretischer Erkenntnis in Einklang zu bringen.14 Darauf verweisen insbesondere Studien, die im Umfeld der Cultural Studies angesiedelt sind.15 Lässt man sich aber auf die Prämissen einer kommunikativ gewendeten, kritischen Gesellschaftstheorie ein, die ihre kritischen Maßstäbe immanent aus den Konstitutiva sprachlicher Humankommunikation zieht, kann es gelingen, erste Hinweise auf einen kritischen und praxisrelevanten Bezugsrahmen für die sozialwissenschaftliche Analyse auch des Journalismus zu entwerfen. Dies kann gelingen, wenn humankommunikative Interaktion und journalistische Medienkommunikation als immanent verknüpft und damit prinzipiell vergleichbar betrachtet werden. Dass dies möglich ist, soll in der vorliegenden Arbeit argumentiert werden. Dabei soll allerdings nicht der Eindruck erweckt werden, die Lösung für alle Probleme des Faches sei aus einer einzigen soziologischen ‚Supertheorie‘ zu deduzieren. Möglich sind vielmehr Hinweise auf Potenziale der fallweisen Erweiterung oder Fokussierung der theoretischen Perspektive der Journalistik. Diese Hinweise sind geleitet von dem Anliegen, die Journalistik durch eine tragfähige theoretische Fundierung in die Lage zu versetzen, in einen praktischen Diskurs mit dem Journalismus zu treten.
2
Theoretischer Rahmen: Kommunikatives Handeln in der Moderne
Die Annahme eines immanenten Bezugs zwischen Theorie und Praxis, die Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse und ein wissenschaftlich fundiertes Programm zur Stärkung emanzipatorischer Potenziale in Gesellschaft sind zentrale Kennzeichen Kritischer Theorie.16 Die Journalistik kann von den diesbezüglichen Überlegungen profitieren, da sie zum Teil mit ähnlich gelagerten Problemfeldern konfrontiert ist. Darüber hinaus hat sich die Kritische Theorie in ihrer Entstehung und Weiterentwicklung oft mit Fragen von Journalismus und Massenkommunikation auseinandergesetzt.17 Dies gilt gleichermaßen für den klassischen Text der Kritischen Theorie, Horkheimers und Adornos ‚Dialektik der Aufklärung‘18, wie für die Arbeiten 13 14
15 16 17 18
Vgl. für einen Überblick Oy 2001. Die vorliegende Arbeit macht sich in ihrem Anspruch, Überlegungen der Kritischen Theorie (vgl. für einen Überblick: Dubiel 2001; Honneth 1987) in spezifischer Perspektive für die Journalismustheorie aufzuschließen, durchaus angreifbar, da die in diesem Rahmen zu verhandelnden Prämissen heutzutage kaum der herrschenden Meinung in den Sozialwissenschaften entsprechen. Daher wird eingangs einige Mühe auf die sorgfältige Begründung dieser Entscheidung zu verwenden sein. Vgl. Dörner 2000, S. 61ff. Vgl. die Grundlegung der Kritischen Theorie in Horkheimer 1992a [1937]; summierend: Dubiel 2001; Wiggershaus 1988; Honneth 1987; van Reijen 1986; für eine kritische Medientheorie: Baacke 1974a; Prokop 1973b. Vgl. Oy 2001; Kausch 1988 Vgl. Horkheimer/Adorno 1988 [1944]. In ihrem Kapitel über die Kulturindustrie beschreiben Horkheimer und Adorno kulturelle und soziale Regression als Folgen einer industrialisierten Kulturproduktion, die gesellschaftliche Gegensätze und Orientierungslosigkeiten unter dem Deckmantel eines totalisierten Amüsements nur ver-
14
I Einleitung
des derzeit prominentesten Vertreters Jürgen Habermas.19 In Habermas’ theoretischen Entwürfen – angefangen bei ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘20 – wird die Möglichkeit der Entwicklung emanzipatorisch-demokratischer Gesellschaftsverhältnisse stets auch unter dem Blickwinkel gesellschaftlicher Kommunikationsverhältnisse betrachtet. Dabei rücken Journalismus und Massenmedien aus einer soziologischen Perspektive in den Blick, die in der Kommunikationswissenschaft und verwandten Disziplinen lange unterbelichtet war.21 Habermas’ Theorie der Gesellschaft kann als eine der zentralen Zugriffsmöglichkeiten auf ein grundlegendes Theoriefundament der Kommunikationswissenschaften gesehen werden.22 In ihr wird versucht, ein Modell zu entwickeln, in dem Vergesellschaftung auf der Basis der kommunikativen Koordinierung gemeinschaftlichen Handelns beschrieben wird. Ausgehend von einer mikrosozialen Analyse der Interaktionsverhältnisse auf der Ebene der face-to-faceKommunikation kommen dabei auch Fragen der gesellschaftlichen Strukturierung umfassenderer Kommunikationsvorgänge in den Blick.23 Der Entwurf legt damit einen Schwerpunkt auf die Gestaltung von Gesellschaftlichkeit durch die Koordination individuellen Handelns in makrosozialen Zusammenhängen. Diese Perspektive ist für die Analyse journalistischen Handelns viel versprechend, weil sie es ermöglicht, das Handeln journalistischer Akteure zu thematisieren und es gleichzeitig in Beziehung zu institutionellen Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Erwartungen zu setzen. In den konzeptionellen Annahmen zu einem kommunikativen Handlungsmodus lassen sich auch – im Unterschied zu ähnlich gelagerten strukturierungstheorethischen Annahmen24 – ethische Überlegungen zu journalistischem Handeln fundieren. Mit einer Adaption der Habermasschen Thesen könnten Kommunikationswissenschaft und Journalistik einen normativ gehaltvollen Theorierahmen gewinnen, der nicht auf Massen-
19 20 21 22 23 24
meintlich verschwinden lässt. Den Massen werden surrogathaft standardisierte Vergnügungen verabreicht, um deren Zufriedenheit innerhalb eines ausbeuterischen Systemzusammenhangs zu gewährleisten. Die der Warenindustrie angeglichene Kulturproduktion erzeugt so affirmative und strategisch legitimierende Wirkungen; sie hält das Publikum ‚dumm‘, da mit Massenproduktion und Standardisierung zwangsläufig eine Nivellierung der angebotenen Inhalte einhergeht. Der Untertitel spitzt die These pointiert zu: „Aufklärung als Massenbetrug“ (Horkheimer/Adorno 1988 [1944], S. 128; vgl. auch Enzensbergers (1962) anschließende Analyse der „Bewußtseinsindustrie“). Allerdings ist der „ideologische Totalverdacht“ (Dörner 2000, S. 73), den Adorno und Horkheimer formulieren, zu undifferenziert, um das Gerüst einer Medientheorie bilden zu können. Sie weisen auf zutreffende Manipulationstendenzen hin, übersehen aber, dass Rezeption von Medieninhalten autonomer erfolgt, als von ihnen angenommen. Auch mangelt es an empirischer Stützung für ihre geschichtsphilosophisch deduzierten Thesen. Adorno (1969) ist später vom Totalitätsanspruch der Thesen abgerückt. Notwendig ist daher ein neuer Anlauf der theoretischen wie empirischen Verankerung einer kritischen Forschungsperspektive. Vgl. insbesondere Habermas 1990; 1992. Zu Leben und Werk von Jürgen Habermas vgl. die Einführungsbände von Wiggershaus 2004; Reese-Schäfer 2001 oder Horster 19953. Vgl. Habermas 1990 Vgl. dazu Müller-Doohm/Neumann-Braun 1991b Vgl. Fabris 1985, S. 130f.; Burkart/Lang 1995 Vgl. Habermas 1995 [1981], 2 Bde. Kopperschmidt (1985, S. 107) sieht in dieser Theorie den „subtilsten und grundbegrifflich konsistentesten konzeptionellen Ansatz einer kommunikationstheoretisch orientierten Gesellschaftstheorie“. Seine Aktualität belegen die Debatten in Müller-Doohm 2000 oder Wingert/Günther 2001. Vgl. z.B. Giddens 1995. In etliche Facetten verfolgt Habermas allerdings ein ähnliches Programm wie Giddens (1995), der in seinen strukturationstheoretischen Überlegungen ebenfalls versucht, die Dichotomie von Akteurs- und Systemtheorie in einem durchlässigeren Modell internalisierender und externalisierender Effekte in der Interaktion individueller und struktureller Handlungszusammenhänge aufzulösen. Dieser alternative gesellschaftstheoretische Entwurf, der in der Kommunikationswissenschaft zunehmend rezipiert wird (vgl. z.B. Raabe 2005; Jarren/Donges 2002a; 2002b; Röttger 2000), soll in der vorliegenden Arbeit nicht systematisch verfolgt werden. Er kann aber besonders in der Erörterung institutioneller Zusammenhänge auch als eine wertvolle Ergänzung zur Habermasschen Theorie betrachtet werden. Darauf wird insbesondere in Kapitel V dieser Arbeit zurückzukommen sein.
2 Theoretischer Rahmen: Kommunikatives Handeln in der Moderne
15
kommunikation beschränkt bleibt, sondern auf der Basis einer Gesellschaftstheorie individuelle und massenmedial vermittelte Kommunikation grundbegrifflich verzahnt, und es so ermöglicht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden aufzuzeigen.25 Habermas selbst ruft im Schlussteil der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ zu einer entsprechenden Nutzung seiner theoretischen Anstrengungen in teildisziplinären Projekten ausdrücklich auf und benennt die Massenmedien als einen gesellschaftlichen Bereich, in dem eine derart inspirierte Forschung ansetzen könnte.26 Viel versprechend ist dies auch deshalb, weil Habermas die einseitig überspitzende Sichtweise der älteren Kritischen Theorie für die Gesellschaftstheorie dadurch modifiziert und revidiert, dass er sich vom bewusstseinsphilosophischen Paradigma der negativen Geschichtsphilosophie Horkheimers und Adornos abwendet und statt dessen die Kritische Theorie ausdrücklich auf das paradigmatisch neue Fundament der Analyse von Sprachgebrauch und Rede stellt.27 In seiner allgemeinen ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ rekonstruiert Habermas den kategorialen Rahmen und die normativen Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie, die ihre grundbegrifflichen Fundamente in Form eines anspruchsvollen Konzepts der Rationalität ausweisen kann, die die Engpässe einer bewusstseinsphilosophischen Grundlegung überwindet und die nicht mehr auf das marxistische Produktionsparadigma rekurrieren muss: „Der motivbildende Gedanke ist die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne, die Vorstellung also, daß man ohne Preisgabe der Differenzierungen, die die Moderne sowohl im kulturellen wie im sozialen und ökonomischen Bereich möglich gemacht haben, Formen des Zusammenlebens findet, in der wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis treten; daß man aufrecht gehen kann in einer Gemeinsamkeit, die nicht die Fragwürdigkeit rückwärtsgewandter substantieller Gemeinschaftlichkeiten an sich hat.“28
Eine kommunikationstheoretische Fundierung kritischer Gesellschaftstheorie soll den Weg ebnen für eine umfassende Bearbeitung philosophischer und soziologischer Spezifika der Moderne. Dabei ist die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ keine Metatheorie, sondern ausdrücklich der Beginn eines gesellschaftstheoretischen Projekts, das sich bemüht, die ihm zugrunde liegenden kritischen Maßstäbe explizit auszuweisen.29 Der zentrale Begriff für dieses in einer Kommunikationstheorie fußende Vorhaben ist der der Verständigung. In einem weit verzweigten, rekonstruktiven Rahmen, in dem sprachphilosophische, soziologische und entwicklungspsychologische Annahmen miteinander verknüpft werden, verfolgt Habermas nach eigenen Angaben vier Ziele:30 25
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Damit können Voraussetzungen dafür geschaffen werden, die oft schwache soziologische Fundierung der Medien- und Journalismusanalyse, die v.a. in Müller-Doohm/Neumann-Braun 1991a beklagt wird, zu verstärken. Gleiches gilt für eine politökonomische Perspektive: In einer Liste relevanter Autoren einer politökonomischen Medienanalyse nennt Meier (2003, S. 228) als einzigen deutschen Vertreter Jürgen Habermas. Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 571ff.. Lang (1993, S. 216f.) verweist zugleich darauf, dass die Kommunikationswissenschaft den Habermasschen Arbeiten nur Grundbegrifflichkeiten entnehmen kann, um vor ihrer Folie ein in Teiltheorien zu entfaltendes Instrumentarium für die Analyse zu entwickeln. Vgl. Dubiel 2001. Die Habermassche Theorie verabschiedet sich damit von früheren Totalitätsvorstellungen ohne den aufklärerischen Impetus eines theoretisch identifizierten gesellschaftlichen Idealzustandes aufzugeben. Sie erlaubt es, Maßstäbe der Kritik immanent in einem bestimmten Modus der Sprachverwendung zu verankern und entgeht jenen Aporien, die in den 1960er Jahren in die geschichtsphilosophische Sackgasse geführt haben. Habermas 1985a, S. 202 Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 7 Vgl. Habermas 1985a, S. 178
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I Einleitung
(1) Er entwirft eine Theorie der Rationalität, die den Begriff über ein instrumentelles Verständnis hinaus auf symbolische Interaktion zwischen Kommunikationspartnern ausdehnt. (2) Er entwickelt auf der Basis dieser kommunikativen Rationalität eine Theorie des kommunikativen Handelns, die unterschiedliche Modi der Handlungskoordinierung differenziert. (3) In einer evolutionstheoretisch angelegten Rekonstruktion sozialer Entwicklung beschreibt er die Dialektik der gesellschaftlichen Rationalisierung, die sich aus dem breiteren und dennoch zugleich schärfer geschnittenen Rationalitätsbegriff ergibt, der zwischen instrumenteller und kommunikativer Vernunft zu unterscheiden vermag und so differenziertere Betrachtungen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse ermöglicht. (4) Und er entwirft eine Theorie der Moderne, die auf einem Gesellschaftsbegriff beruht, der System- und Handlungstheorie zusammenführt. Habermas begreift Gesellschaften als Zusammenspiel von kommunikativ strukturierter Lebenswelt und ausdifferenzierten Handlungssystemen.31 • Die Lebenswelt umfasst (teilweise unbewusst) konsentierte, vorinterpretierte Ressourcen der Sozialintegration, auf deren Basis kommunikatives Handeln stattfinden kann und die durch dessen Vollzug gebildet und bekräftigt werden. Sie bildet daher den Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln, das in seiner rationalen Verständigungsorientierung ein durch die Aufklärung entwertetes vorsprachlich mythisches Weltverständnis ersetzt. • Unter Systemen wiederum versteht Habermas ausdifferenzierte soziale Funktionsbereiche, die nicht mehr kommunikativ, sondern funktional über entsprachlichte Steuerungsmedien integriert werden. Die beiden primären Ausdifferenzierungen dieser Art betreffen das private Wirtschafts- und das staatliche Verwaltungshandeln. Diese Komplexe sind in sich nicht mehr an kommunikative Legitimation gebunden, sondern konstituieren sich über die entsprachlichten Medien Geld (Wirtschaft) und Macht (Staat). Allerdings behält die über verständigungsorientiertes Handeln integrierte Lebenswelt das potenzielle Primat über die Systeme. Habermas stellt sich in seinem Gesellschaftsentwurf damit sowohl gegen soziologische Modelle, die ausdifferenzierte Gegenwartsgesellschaften (bisweilen affirmativ) in systemisch unabhängige und für einander undurchsichtige Funktionszusammenhänge gliedern, als auch gegen eine kritische Perspektive, aus der heraus die Entwicklung moderner Gesellschaften als zunehmender Verfallsprozess einer vormals umfassenden Vernunft betrachtet wird. Er setzt die systemische Ausdifferenzierung und die damit verbundene Entfesselung einer technisch verstandenen instrumentellen Rationalität in Beziehung zu den kommunikativen Vernunftpotenzialen, die in lebensweltlichen Verständigungsprozessen angelegt sind. Öffentlichkeit – und damit auch Journalismus – erhält innerhalb dieses Modells als Bestandteil der Lebenswelt eine vor allem politisch, kulturell und sozialisatorisch wichtige Bedeutung. Im Konzept der Lebenswelt und in ihrer begrifflichen Verklammerung mit einer Theorie der kommunikativen Rationalität entwirft Habermas einen abgrenzbaren gesellschaftlichen Bereich, der der kommunikativ rationalen Selbstbestimmung der Individuen bedarf. Für Dubiel ist dieser Schritt „[…] die eigentliche Innovation, die Habermas an der Tradition kritischer Gesellschaftstheorie vornimmt“.32
31 32
Vgl. zum Folgenden Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 171ff. Dubiel 2001, S. 109
2 Theoretischer Rahmen: Kommunikatives Handeln in der Moderne
17
Die Betonung der Lebensweltperspektive ist das Ergebnis einer bereits früh einsetzenden Kritik an der Einseitigkeit, in der kritische Soziologen die Entwicklung und Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften beschreiben. Habermas zielt dabei auf eine Erweiterung der Rationalisierungsanalyse in modernen Gesellschaften über eine eindimensionale Kritik der instrumentellen Vernunft hinaus. Er begreift moderne Gesellschaften – in einer grundbegrifflichen Verknüpfung von System- und Handlungstheorie – als „systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen“ und versteht diese als vorläufig charakterisierte Definition als stellvertretend für den Vorschlag, „[…] die Gesellschaft als eine Entität zu betrachten, die sich im Verlaufe der Evolution sowohl als System wie als Lebenswelt ausdifferenziert. Die Systemevolution bemißt sich an der Steigerung der Steuerungskapazitäten einer Gesellschaft, während das Auseinandertreten von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit den Entwicklungsstand einer symbolisch strukturierten Lebenswelt anzeigt“.33
Bereits Ende der 1960er Jahre versucht Habermas, der Diagnose der Unterwerfung des Menschen unter eine rein technisch verstandene Rationalität ein ideologiekritisches Modell entgegenzustellen, das weiterhin rationale Verständigungspotenziale ausfindig machen kann.34 In diesem Modell sind zweckrationales und kommunikatives Handeln und die mit ihnen verbundenen unterschiedlichen Formen der Rationalisierung nicht nur theoretisch aufeinander bezogen, sondern kennzeichnen darüber hinaus auch unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche, die entsprechend unterschiedlich koordiniert werden: „Der institutionelle Rahmen einer Gesellschaft besteht aus Normen, die sprachlich vermittelte Interaktionen leiten. Aber es gibt Sub-Systeme, wie, um bei Max Webers Beispielen zu bleiben, das Wirtschaftssystem oder der Staatsapparat, in denen hauptsächlich Sätze von zweckrationalen Handlungen institutionalisiert sind. Auf der Gegenseite stehen Sub-Systeme, wie Familie und Verwandtschaft, die gewiß mit einer Fülle von Aufgaben und Fertigkeiten verknüpft sind, aber hauptsächlich auf moralischen Regeln der Interaktion beruhen. So möchte ich auf analytischer Ebene allgemein unterscheiden zwischen 1. dem institutionellen Rahmen einer Gesellschaft oder der soziokulturellen Lebenswelt und 2. den Sub-Systemen zweckrationalen Handelns, die darin ‚eingebettet“ sind.“35
Habermas nimmt diesen Faden in seiner Analyse der ‚Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus‘ wieder auf und erweitert ihn um die Unterscheidung zwischen Sozialintegration und Systemintegration von Gesellschaft.36 Mit Sozialintegration bezeichnet er die Leistungen der Institutionen, innerhalb derer sprechende und handelnde Subjekte vergesellschaftet sind, mit Systemintegration die Steuerungsleistungen selbstgeregelter Systeme. Im ersten Fall erscheint Gesellschaft als symbolisch strukturierte Lebenswelt, im zweiten als systemisch verfasster Zusammenhang der sich dadurch auszeichnet, seinen Bestand durch Bewältigung der wachsenden Umweltkomplexität zu erhalten. Beiden Betrachtungsweisen, die in Form von Handlungstheorie und Systemtheorie oftmals miteinander konkurrieren, spricht Habermas ein eigenständiges analytisches Gewicht zu, erkennt aber das Problem, diese beiden Perspektiven sinnhaft miteinander zu verknüpfen.37 Habermas weist schon in dieser frühen Studie der Logik der Lebenswelt in ihren durch sprachliche Intersubjektivität erzeugten und auf kritisierbaren Geltungsansprüchen beruhenden Strukturen die Fähigkeit zu, letztlich Verlauf und Grenzen 33 34 35 36 37
Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 228 Vgl. Honneth 1989, S. 274ff. Habermas 1969, S. 63ff. Sofern nicht anders in der entsprechenden Fußnote vermerkt, sind alle Hervorhebungen in Zitaten aus der Originalquelle übernommen. Vgl. Habermas 1973a Vgl. ebd., S. 14
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I Einleitung
der Entwicklung von Gesellschaften bestimmen zu können.38 Diese Rangfolge betont er auch in der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘: „[D]ie Lebenswelt [bleibt] das Subsystem, das den Bestand des Gesellschaftssystems im ganzen definiert. Daher bedürfen die systemischen Mechanismen einer Verankerung in der Lebenswelt – sie müssen institutionalisiert werden.“39
Die Systeme können sich erst aus einer weitgehend rationalisierten Lebenswelt ausdifferenzieren. Vor allem die symbolische Reproduktion von Gesellschaft verbleibt in kommunikativ strukturierten Bereichen; so zieht auch Öffentlichkeit als Idealtypus gemeinschaftlicher Diskursivität ihre normative Kraft aus der kommunikativen Rationalität lebensweltlicher Verständigung. Versuche, auch diese Bereiche auf Systemmechanismen umzustellen, begegnen meist beharrlichen Widerständen, die in der Struktur der Lebenswelt selbst angelegt sind. In der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ beschreibt Habermas einen sozialen Evolutionsprozess, in dem die Rationalisierung der Lebenswelt durch das Auseinandertreten von Geltungsaspekten und Wertsphären sowie durch die Ablösung des kommunikativen Handelns die zentrale Voraussetzung für die Entkoppelung von Systemen bildet.40 Die Folge ist die beschriebene Zweistufigkeit von gesellschaftlicher System- und Sozialintegration, die für die Herausbildung komplexerer moderner Gesellschaften notwendig ist, allerdings Gefährdungspotenziale für die lebensweltliche Dimension der Sozialintegration birgt. Die Anstöße für eine derartige Differenzierung der Gesellschaft gehen vom Bereich der materiellen Reproduktion aus41, der im Zuge der Modernisierung vor allem in den Dimensionen politisch-administrativen und wirtschaftlichen Handelns auf systemintegrierte Mechanismen umgestellt wird. Beide Komplexe sind, so Habermas, in sich nicht mehr an kommunikative Legitimation gebunden, sondern konstituieren sich über die entsprachlichten Medien Geld (Wirtschaft) und Macht (Staat).42 Entwicklung von Gesellschaft inkorporiert für Habermas immer gleichermaßen die Weiterentwicklung von Systemen und Lebenswelt, so dass Rationalitätsgewinne sowohl in „der 38 39 40
41 42
Vgl. ebd., S. 27 Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 230. Hier sind auch die Weiterentwicklungen der Theorie des kommunikativen Handelns, die Cohen und Arato (1994) vorgelegt haben, von Bedeutung. Diese Ausdifferenzierung systemischer Mechanismen vollzieht sich nach Habermas im historischen Verlauf in mehreren Stufen: Egalitäre Stammesgesellschaften sind allenfalls durch eine segmentäre Differenzierung geprägt, System- und Sozialintegration fallen in engen Verwandtschaftsbeziehungen noch weitgehend zusammen. In hierarchisierten Stammesgesellschaften bilden sich erste stratifizierte Sozialbeziehungen. In weitgehend politisch stratifizierten Klassengesellschaften führen weitere Ausdifferenzierungsprozesse schließlich zur staatlichen Organisation, durch die auf Macht basierende Systemintegration aus dem Netz verwandtschaftlicher Beziehungen herauswächst (vgl. Gripp 1984, S. 95ff.; siehe ausführlich: Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 232ff.) Vorarbeiten dazu finden sich in Habermas’ (1976, S. 129ff.) Auseinandersetzung mit dem Marxschen Geschichtsmodell des historischen Materialismus. Jede dieser vormodernen Entwicklungsstufen ist mit einem Zuwachs an systemischer Zweckrationalität verbunden. Doch erst in den ökonomisch konstituierten Klassengesellschaften der Moderne differenzieren sich systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge aus den sozialintegrativen Institutionen der Lebenswelt aus und gewinnen durch die Umstellung von sprachlicher Verständigung auf generalisierte Steuerungsmedien weitgehende, wenn auch nicht vollständige, Unabhängigkeit. Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 251 Neben der Ermöglichung dieser sozialevolutionären Perspektive, die den Grundstein zu einer Theorie der Moderne legt, leistet die Differenzierung zwischen Lebenswelt und System methodisch eine Differenzierung zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive, indem formalpragmatische und sozialwissenschaftlich objektivierende Betrachtungen gleichermaßen einfließen. Darüber hinaus dient das zweistufige Gesellschaftsmodell der grundbegrifflichen Zusammenführung von Handlungs- und Systemtheorie, indem es erlaubt, sozialund systemintegrative Mechanismen einerseits getrennt, andererseits aber in einem Modell aufeinander bezogen zu analysieren (vgl. Dietz 1993, S. 70f.).
2 Theoretischer Rahmen: Kommunikatives Handeln in der Moderne
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für die Produktivkraftentfaltung entscheidenden Dimension des technisch verwertbaren Wissens“ (System) als auch in „der für die Interaktionsstrukturen ausschlaggebenden Dimension des moralisch-praktischen Bewußtseins“ (Lebenswelt) aufzufinden sind.43 Die Lebenswelt rationalisiert sich durch die Institutionalisierung und Ausdifferenzierung kommunikativer Rationalität und Kompetenz, während Systemrationalisierung die Steigerung von Komplexität und Steuerungsfähigkeit sowie die zunehmende Effektivierung des zweckrationalen Handelns bedeutet.44 Gesellschaftliche Entwicklung ist nur in diesen beiden Dimensionen gemeinsam zu beschreiben, die sich zum einen auf die verbesserte Anwendbarkeit kommunikativer Rationalität und zum anderen auf die Zunahme instrumenteller Rationalität beziehen. Vor einer solchen analytischen Folie sind nicht mehr alle Ausdifferenzierungs- und Rationalisierungsprozesse a priori in ihrer verdinglichenden Wirkung zu beschreiben, sondern nur noch diejenigen Übergriffe zweckrational-systemischen Handelns, die die Kernbereiche lebensweltlicher Kommunikationstätigkeiten betreffen und die Relevanz von Sprache als Interaktionsmedium entwerten.45 Systeme und Lebenswelt geraten in ihren Interaktionen immer wieder in Situationen, in denen aufgrund steigender Rationalisierung der instrumentellen Rationalität der Systeme und der Ausweitung ihres Geltungsbereichs die Umstellung vormals kommunikativ strukturierter Bereiche auf die Steuerungsmedien droht. Die Folge sind Kolonialisierungseffekte in der Lebenswelt, die deren kommunikatives Potenzial bedrohen.46 Habermas folgt damit nicht dem hermetischen Kulturpessimismus der älteren Kritischen Theorie, sondern sieht in der grundsätzlichen Legitimation durch sprachliche Verständigung eine Regenerationsmöglichkeit, da sich die Systeme nicht vollständig von der Lebenswelt lösen können. Innerhalb des Habermasschen Gesellschaftsmodells ist der Begriff der Öffentlichkeit von besonderer Bedeutung für die Rückkopplung der Systeme an die Lebenswelt, da in öffentlichen Zusammenhängen Entdifferenzierungen vorgenommen werden können, die für den Zusammenhalt von Gesellschaft als Ganzem zentral sind. Zur Beschreibung dieser spezifischen Aufgabe kann ein Modell von Öffentlichkeit als Sphäre zugrunde gelegt werden, d.h. als ein schwach strukturierter, allerdings nicht systemisch geschlossener Raum, der zwar durch konkrete Sinnbezüge, Rationalitätsvorstellungen und gesellschaftlichen Funktionen abgegrenzt werden kann, in dem aber verschiedene Personen oder Systeme agieren können und der deshalb innovativer Gestaltung tendenziell offen steht. Mit einer Konzeption von Öffentlichkeit als ‚Sphäre‘ ließe sich auch begrifflich an die Habermassche Terminologie anknüpfen.47 Dabei sollten in der theoretischen Überlegung die Strukturbedingungen der Öffentlichkeit moderner Mediengesellschaften48 mit in den Blick genommen werden, die sich an der Ambiva43 44 45
46 47 48
Habermas 1976, S. 162 Vgl. Holzer 1994, S. 101 Eine vergleichbare Kolonisierung macht Meyer (2001) in den Beziehungen zwischen Mediensystem und Politik aus. Die Logik der Massenmedien greife, so seine zentrale These, in den systemischen Bereich der Politik hinein und erzwinge eine Unterwerfung der Politik unter diese Selektions- und Präsentationslogik. Dadurch verschwinde die politische Logik nicht, aber sie werde weitreichend transformiert. Habermas beschreibt zwar prominent die dysfunktionalen Auswirkungen systemischer Übergriffe auf die Lebenswelt, untersucht aber im Gegenzug kaum, welche Folgen lebensweltliche Eingriffe in systemische Zusammenhänge haben können (vgl. Berger 1986). Vgl. Habermas 1973 [1964] Dieser Begriff bezieht sich auf die gesellschaftlich dominante Stellung der Massenmedien, die sich sowohl in einer veränderten Medienlandschaft, als auch in einer wachsenden gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bedeutung von Medien ausdrückt (vgl. Haller 2005; Rager/Werner 2004; Löffelholz 2003b, S. 67ff.). Sarcinelli (1998, S. 11) konstatiert: „Der Tatbestand, daß Medien in den Vermittlungsprozessen moderner Gesellschaften inzwischen eine Schlüsselrolle einnehmen, rechtfertigt es, von einer ‚Mediengesellschaft‘ zu sprechen.“
20
I Einleitung
lenz des öffentlichen Handelns zwischen Systemrationalität und lebensweltlich-kommunikativer Rationalität zeigen lassen.49 Haller verweist unter Rückgriff auf Habermas darauf, dass die Allgegenwart medialer Kommunikation dazu führe, dass die Thematisierung medialer und journalistischer Prozesse – und erst recht eine diesbezügliche Einigung – nur aus dem Kontext der durch sie gewährleisteten öffentlichen Kommunikation heraus möglich sei.50 Wird die Herstellung und Aufrechterhaltung von Öffentlichkeit als die zentrale Aufgabe des Journalismus betrachtet, dann stellt eine Journalismus-Analyse vor dem Hintergrund eines normativ anspruchsvollen Öffentlichkeitsmodells eine Ergänzung zu normativ-ontologischen und systemfunktionalistischen Arbeiten dar. Um eine solche öffentlichkeitstheoretisch fundierte Perspektive für die Journalismusforschung fruchtbar zu machen, ist es notwendig, die allgemeinen gesellschaftstheoretischen Prämissen des Habermasschen Modells auf journalistisches Handeln zu übertragen. Dies soll mikrosozial dadurch geschehen, dass journalistisches Handeln als kommunikatives Handeln konzipiert wird, während makrosozial die Annahme einer gesellschaftlichen Zweistufigkeit von Lebenswelt und System auf das Verhältnis zwischen journalistischer Kommunikation und massenmedialem System übertragen wird. Diesen Transfer zu beschreiben und zu begründen, ist das Kernanliegen der vorliegenden Studie.
3
Theoretische Perspektive: Journalismus zwischen Lebenswelt und System
Der theoretische Entwurf, den Habermas nach der sprachpragmatischen Wende seiner Arbeit vorgelegt hat, stellt einen geeigneten Rahmen für ein praxisorientiertes Journalismusverständnis dar. Auch Haas verweist auf das Potenzial dieses Ansatzes für eine aufgeklärte Wissenschaft, speziell für die Journalismusforschung: „Eine Gesellschaftswissenschaft, die sich auf die Kommunikation mit den Subjekten ihres Gegenstandbereiches bewußt einläßt, die also Verständigung zum Programm erhebt und sich methodisch auf das Verstehen orientiert, läßt sie die emanzipatorische Kraft in Erkenntnisinteresse und in Gesellschaftstheorie zurückgewinnen. Zentral ist diesem Denken die Hoffnung auf eine aufgeklärte Vernunft. Die Theorie des verständigungsorientierten, kommunikativen Handelns verlangt nach einer neuen Sicht in der Journalismusforschung. Denn die aufgeklärte Vernunft muß sich letztlich auch im Mediensystem finden lassen […]. Ein solches prinzipielles dialogisches Interesse verspricht weitreichende und lohnende Zugänge.“51
Um die Habermassche ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ und die auf ihr basierende Diskurstheorie für die Analyse journalistischen Handelns nutzbar zu machen, sind deren Implikationen allerdings in Bezüge mittlerer Reichweite ‚herunter zu brechen‘, um sie explizit auf den journalistischen Handlungsmodus und das massenmediale System zu beziehen.52 Auf dem Weg zu einem diskurstheoretischen Journalismus-Modell, auf dem hier erste Schritte gemacht werden sollen, sind viele Forschungslücken zu schließen53:
49 50 51 52 53
Vgl. Habermas 1992, S. 435ff. Vgl. Haller 2005, S. 307 Haas 1999, S. 53 Vergleichbare Versuche sind bislang in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der medial vermittelten Massenkommunikation und einem in kommerzielle Bezüge eingespannten Journalismus kaum auszumachen. Ausnahmen bilden die Arbeiten von Burkart zu PR (1993) und zu Journalismus (1998b). Vgl. Thomaß 2000; zur Frage der Diskursinstitutionen auch Weischenberg 1992a, S. 197.
3 Theoretische Perspektive: Journalismus zwischen Lebenswelt und System
21
•
Es fehlen Theorieansätze, die die Diskurstheorie systematisch mit der ‚Realität‘ journalistischen Handelns in Verbindung setzen und dabei auch die zunehmenden Tendenzen der Visualisierung und die aus ihnen erwachsenden Formen visueller Diskurse berücksichtigen.54 • Es fehlt eine hinreichende Auseinandersetzung mit ‚institutionellen‘ Voraussetzungen gesellschaftlicher Diskurse, zu denen auch Journalismus selbst gerechnet werden muss. • Es fehlt eine eingehende diskurstheoretische Auseinandersetzung mit den Handlungsmöglichkeiten des Individuums, wenn es in Systemzusammenhänge eingebunden ist und Entscheidungen zu treffen hat. • Es fehlt eine Übersetzung der idealen Sprechakt-Situation auf gesamtgesellschaftliche und besonders auf massenmediale Kommunikations-Zusammenhänge. Journalistik, Publizistik und Kommunikationswissenschaft haben die Habermassche Wende hin zur Kommunikationstheorie nur in seltenen Fällen nachvollzogen und diesen auch auf ihren Gegenstandsbereich bezogenen Entwurf kaum systematisch zur Kenntnis genommen – obwohl er dem Paradigma der Kommunikation und damit dem grundlegenden Gegenstand der Kommunikationswissenschaft zentralen Stellenwert zuweist. Fabris schreibt vor über 20 Jahren: „Die Konzentration auf die Beschäftigung mit Phänomenen der Massenmedien, genährt vom ‚Mythos der Massenkommunikation‘ ging und geht in der herrschenden Praxis wie Theorie der Zeitungs-, Publizistik- und Kommunikationswissenschaft auf Kosten und zu Lasten der Befassung mit nicht-massenmedial vermittelter Information und Kommunikation; bis hin in die Grundbegriffe – wie zuletzt ‚Massenkommunikation‘ selbst –, die Theoriebildung und Methodik. So ist es sicherlich kein Zufall, daß ein für die Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung und die aktuelle sozialwissenschaftliche Diskussion so gewichtiges und folgenreiches Werk, wie die von Jürgen Habermas vorgelegte ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ […] neben und außerhalb des engeren Faches entstanden ist und innerhalb der Disziplin bisher nur von einigen ‚Außenseitern‘ überhaupt zur Kenntnis genommen wurde.“55
Neben den eher allgemeinen kommunikationswissenschaftlichen Arbeiten von Burkart56 fällt konkret in der Journalismusforschung immerhin die Arbeit von Baum ins Gewicht, der in seiner Kritik der bisherigen Journalismusforschung eine umfassende Auseinandersetzung mit den aktuell gängigen Paradigmen der journalistischen Theorie liefert.57 Er zeigt die deskriptiven wie analytischen Defizite systemtheoretischer und publizistikwissenschaftlicher Beschreibungsansätze auf und arbeitet dabei insbesondere heraus, dass die Journalismusforschung dem kommunikativen Potenzial des Journalismus konzeptionell nicht gerecht geworden ist. Baum selbst verortet journalistisches Handeln an der Grenze zwischen Lebenswelt und System und knüpft auf diese Weise an die Annahmen an, die Habermas bereits im ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ und in der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ zur Rolle des Journalismus in modernen Gesellschaften ausgeführt hat. Baum spricht grundlegend davon, dass „[…] der Originalmodus journalistischen Handelns verständigungsorientiert ist“.58 54 55 56 57 58
Vgl. Brosius 1998b. Mittlerweile bearbeitet eine eigene Fachgruppe für „Visuelle Kommunikation“ unter dem Dach der DGPuK diese zentrale Fragestellung. Fabris 1985, S. 127 Vgl. insbesondere Burkart 1998a. In dieser umfassenden kommunikationswissenschaftlichen Einführung setzt sich der Autor intensiv mit einem interaktionistischen und kommunikativen Handlungsmodell auseinander. Vgl. Baum 1994. An den Grundlinien dieser Arbeit orientiert sich auch die vorliegende Studie. Eine zweite relevante Untersuchung hat Kuhlmann (1999) vorgelegt, der sich intensiv mit den Postulaten auseinander setzt, die die Diskurstheorie an Massenkommunikation richtet. Baum 1994, S. 395
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I Einleitung
Diese Prämisse aufgreifend ist es das Ziel der vorliegenden Studie, ein Verständnis des Journalismus in spätmodernen ausdifferenzierten Gesellschaften vom Typ der Bundesrepublik Deutschland zu skizzieren, das einerseits der gesellschaftlichen Komplexität zu entsprechen vermag, aber andererseits auch notwendige normative Postulate theorieimmanent und operationalisierbar aufrecht erhält, indem es sich eng an gesellschafts- und diskurstheoretische Annahmen, insbesondere an das Modell einer deliberativen Öffentlichkeit, anlehnt. Journalismus wird hier vor allem in seinen Bezügen auf politische und soziale Kommunikation verstanden. Ausgehend vom Habermasschen Gesellschaftsmodell, das lebensweltlich-kommunikative und systemisch-funktionalistische Perspektiven zueinander in Beziehung setzt, soll hier ein Verständnis entwickelt werden, das der Darstellung der gegensätzlichen Ansprüche des journalistischen Handelns und des massenmedialen Systems nicht ausweicht59 – weder durch eine rein normative Handlungstheorie, noch durch ein subjektloses systemfunktionalistisches Denken. Vielmehr geht es um eine grundsätzlich integrierende Betrachtung, die Gesellschaft gleichermaßen als „anzueignende Faktizität“ und als „im Lichte besserer Möglichkeiten auszugestaltende Vorläufigkeit“ begreift und so keinen künstlichen Gegensatz zwischen Internalisierung (Systemtheorie) und Externalisierung (Handlungstheorie) mehr aufbaut.60 Es geht um beides: Journalistisches Handeln und seinen massenmedialen Rahmen adäquat, für die Empirie anschlussfähig zu beschreiben und gleichzeitig normative Postulate immanent aus dem demokratie- und gesellschaftstheoretisch inspirierten Gesamtzusammenhang heraus zu entwickeln. Das von Habermas entwickelte Modell von System und Lebenswelt bezieht sich genuin auf die Darstellung der Differenzierungen moderner Gesellschaften und der mit ihnen verbundenen Schwierigkeiten hinsichtlich partizipativer Integration und Reproduktion. Die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ versucht durch diese theoriestrategische Entscheidung der üblichen Verabsolutierung je einer Perspektive bei der Beschreibung gesellschaftlicher Phänomene zu entgehen und stattdessen beide Ansätze analytisch differenziert zu benutzen, um moderne Gesellschaften zu beschreiben.61 Dieser theoretische Ansatz wird daher in der vorliegenden Arbeit als Analysefolie für die Darstellung des journalistischen Handelns herangezogen. Für eine an kritisch-theoretischen Ansätzen anschließende Journalistik ergibt sich daraus die Möglichkeit, die Akteursebene weiter im Blick zu behalten und gleichzeitig auch systemtheoretische Ansätze und ihre spezifische Erklärungskraft62 fruchtbar in das Theoriegebäude zu integrieren, ohne sie unter zwangsläufigen Verlusten an Präzision und Erklärungskraft in eine fundamental andere Theoriesprache übersetzen zu müssen. Bevor dieses theoretische Unterfangen begonnen wird, sind weitere begriffliche Klärungen notwendig. 59 60
61
62
Diese Unterschiede hat Altmeppen (2006) in einer organisationssoziologischen Studie ebenfalls umfassend beschrieben. Er begreift Journalismus und Medien als ‚Systeme organisierten Handelns‘, die einer je verschiedenen Logik folgen und in Ko-Orientierung zueinander stehen. Pöttker 1985, S. 334. Gerhards (1994, S. 79f.) formuliert ganz ähnlich Lösungsvorschläge für eine Integration von System- und Akteursperspektive, die das Erklärungsdefizit einer nur beschreibenden Systemtheorie und das Beschreibungsdefizit einer rationalen Handlungstheorie aufzulösen versprechen. In seinen öffentlichkeitstheoretischen Betrachtungen geht er davon aus, dass individuelle Akteure innerhalb eines systemischen Rahmens handeln; sie sind nicht vollständig autonom, gleichzeitig ist aber auch der systemische Zusammenhang nicht als autopoietisch geschlossen zu konzipieren. Allerdings ist das Habermassche Gesellschaftsmodell gerade an diesem Punkt der Kombination von Handlungs- und Systemtheorie scharfer Kritik ausgesetzt (vgl. zum Beispiel die Beiträge in Honneth/Joas 1986 oder auch die Studie von Dietz 1993) und bedarf im Rahmen dieser Arbeit operationalisierender Modifizierungen – auch Vergröberungen –, um als analytisch brauchbare Folie zur gesellschaftstheoretischen Verortung von Journalismus und Massenmedien zu dienen. Zum Beispiel wäre eine Auseinandersetzung mit ökonomischen Steuerungskrisen ohne ein systemtheoretisches Instrumentarium gar nicht denkbar (vgl. Habermas 1985a, S. 190).
3 Theoretische Perspektive: Journalismus zwischen Lebenswelt und System 3.1
23
Massenmedien und System
Der Fokus vieler kommunikationswissenschaftlicher Analysen liegt weniger auf Journalismus, als auf einem Phänomen, das ‚Massenmedien‘ genannt wird. Massenmedien können als eine gesellschaftlich institutionalisierte Infrastruktur verstanden werden, die gesellschaftliche Kommunikation zu gleich ermöglicht und verändert.63 Dass Journalismus auf mediale Verbreitungsleistungen nicht verzichten kann, ist offensichtlich. So wie jede Kommunikation eine materiale Basis als Medium benötigt, bedürfen auch die journalistischen Kommunikate einer solchen Basis zur Verbreitung.64 In modernen Gesellschaften sind es vorwiegend die sog. ‚Massenmedien‘, welche die materiellen Ressourcen stellen, die notwendig sind, um journalistische Vermittlung ökonomisch und technisch überhaupt zu ermöglichen.65 In der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft ebenso wie in der alltäglichen Umgangssprache wird der Begriff Medien oft nur unklar definiert.66 Je nach Verwendungsweise, Erkenntnisperspektive und theoretischem Abstraktionsniveau kann er unterschiedliche Bereiche oder Gegenstände beschreiben.67 Etymologisch ist ‚Medium‘ das substantivierte Neutrum des lateinischen Adjektivs ‚medius‘ (‚in der Mitte befindlich‘, ‚mittlerer‘). Der Begriff ist daher von Beginn mit der ‚Idee der Vermittlung‘, der ‚Idee des Zentrierens‘ und der ‚Idee eines Trägersystems geistigen Ausdrucks‘ verbunden.68 In einer ganz grundlegenden ersten kommunikationswissenschaftlichen Näherung können Medien als „Mittel der Kommunikation“ verstanden werden, die von der Sprache bis hin zu komplexen technischen Vermittlungshilfen unserer Zeit reichen können.69 Dieses Spektrum lässt sich weiter danach differenzieren, ob technische Hilfsmittel zur Produktion oder Rezeption nötig sind:70 63
64
65 66 67
68 69 70
Dabei sind es nicht in erster Linie die technologischen Rahmenbedingungen der Medien, sondern andere Kontextvariablen, die darüber entscheiden, ob Medien zu Zwängen für journalistisch Handelnde werden, indem sie zum Beispiel die Auswahl von Themen beeinflussen oder Änderungen im Produktionsablauf erzwingen. (vgl. Böckelmann 1975, S. 33). Dazu sind zunächst die unterschiedlichen Dimensionen des Medienbegriffs zu sortieren, wobei sowohl auf kulturwissenschaftliche Annäherungen (besonders angelsächsischer Provenienz, wie z.B. Meyrowitz’ (1990a; 1990b) elaborierte Theorie des Fernsehens.) als auch auf die Beiträge der poststrukturalistischen Medientheorie (vgl. für einen Überblick: Pias 2003), die sich jeweils eher medienphilosophisch mit diffizilen Wirkungsfragen auseinandersetzen, an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann. Vgl. Wiegerling 1998, S. 8. Als ‚Verbreitungsmedien‘ dienen Massenmedien der Übermittlung von Kommunikation, sie sind zu unterscheiden von den systemtheoretisch beschriebenen ‚symbolisch generalisierten Medien‘ (wie Macht oder Geld), die durch ihre Steuerungsfunktion die Bildung eigenständiger Systeme ermöglichen. Vgl. dazu Luhmann 1981b, S. 28f. u. 1997, Bd. 1, S. 190ff. Dass Massenmedien als zentrale Institutionen moderner Industriegesellschaften anzusehen sind – darin waren sich so unterschiedliche Autoren wie Böckelmann (1975, S. 34) oder Silbermann/Krüger (1973, S. 9f.) schon vor 30 Jahren einig. Vgl. dazu Jarren/Meier 2002, S. 138. Vgl. Faulstich 1995, S. 19: „Einmal heißt Medium ‚Zeichenvorrat‘ (Informationstheorie und Kybernetik), dann ‚technischer Kanal‘ (Kommunikationssoziologie und Massenkommunikationsforschung/Publizistik), dann wiederum ‚ästhetisches Kommunikationsmittel‘ (Einzelmedientheorie und Medienwissenschaft) oder schließlich ‚gesellschaftliche Interaktion‘ (Soziologie, speziell die Systemtheorie).“ Eine aktuelle Einführung in Medientheorien differenziert zwischen elf theoretischen Zugängen auf den Medienbegriff, die sich sowohl hinsichtlich der makrotheoretischen Herangehensweise als auch hinsichtlich des behandelten Gegenstandes erheblich voneinander unterscheiden (vgl. Weber 2003). Die elf Basis-Theorien sind: Techniktheorien der Medien, ökonomische Theorien der Medien, kritische Medientheorien, Zeichentheorien der Medien, Kulturtheorien der Medien, konstruktivistische Medientheorien, Systemtheorien der Medien, feministische Medientheorien, psychoanalytische Medientheorien, poststrukturalistische Medientheorien und medienphilosophische Theorien. Vgl. Wiegerling 1998, S. 7 Schmidt 1990, S. 54 Vgl. Pross 1976, S. 109ff.
24
I Einleitung
•
Als primäre Medien sind die Medien zu verstehen, die ohne technische Hilfsmittel auskommen (z.B. menschliche Sprache). • Als sekundäre Medien sind die Medien zu verstehen, welche technische Hilfsmittel bei der Produktion benötigen (z.B. Zeitungen und Flugblätter). • Als tertiäre Medien sind die Medien zu verstehen, die technische Hilfsmittel bei Produktion und Rezeption benötigen (z.B. Rundfunk und Fernsehen). Wenn im weiteren Verlauf der Studie der Begriff Medien verwendet wird, dann sind damit – soweit nicht anders hervorgehoben – die so genannten sekundären und tertiären Medien gemeint, die technischer Hilfsmittel zur Produktion bzw. zur Produktion und Rezeption bedürfen. Diese technischen Medien sind in der Lage, die menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern und Kommunikation zumindest teilweise von ihrer Kontingenz zu befreien; sie erweitern den Gestaltungsraum menschlicher Ausdruckskraft, beschränken ihn aber zugleich auch wieder.71 Für die Analyse der Medien als Rahmen des Journalismus sind ihre definitorische Eingrenzung als Mittel der Kommunikation und die daran anschließende Differenzierung anhand der Technizität der Medien allerdings noch zu grob. Einen weiteren Näherungsschritt bietet das Medienverständnis Saxers, demzufolge ein Medium als ein komplexes institutionalisiertes System verstanden werden kann, das sich um einen organisierten Kommunikationskanal mit spezifischem Leistungsvermögen bildet.72 Diese Systeme (nach Saxer ist explizit ein Plural von medialen (Teil-) Systemen denkbar) haben vor allem im Hinblick auf semiotische bzw. technische Vermittlungsfragen, auf organisatorische Spezifika oder auf gesellschaftliche Institutionalisierungen Einfluss auf öffentliche Kommunikation:73 • Als Kommunikationskanäle stellen Medien ein Transportsystem für Zeichensysteme bereit. • Als mehr oder weniger komplexe Organisationen ermöglichen Medien die arbeitsteilig organisierte Produktion und Distribution von Kommunikation. • Als Institutionen einer spezifischen Informations- und Kommunikationspraxis errichten Medien ein Normen- und Regelsystem zur Stabilisierung moderner Gesellschaften. Das Medium Fernsehen zum Beispiel kann somit als technische und semiotische Infrastruktur, als Sendeanstalt und als gesellschaftlich relevantes System der Vermittlung von Information, Unterhaltung und Werbung medientheoretisch in den Blick genommen werden. Mit Bezug auf die Medienleistungen und -qualitäten bedeutet diese Mehrdimensionalität, dass diese als konkreter Output von einer ganzen Reihe institutioneller und organisatorischer Fragen abhängig sind, zu denen insbesondere die Medieninstitutionalisierung auf der Systemebene, die rechtliche Verfasstheit der Medien als private Unternehmen oder öffentlich-rechtliche Anstalten, die ökonomische Ausrichtung von Medienunternehmen sowie von redaktionellen Organisationsformen und den damit verbundenen publizistischen Entscheidungsprogrammen zu zählen sind.74
71
72 73 74
Vgl. Wiegerling 1998, S. 234f. Mittlerweile wird eine Weiterentwicklung dieser Medientypologie gefordert, um auch den ‚interaktiven‘ neuen Medien (v.a. Internet) gerecht zu werden, die zumindest das Versprechen formulieren, die beschränkenden Wirkungen aufzuheben. Allerdings ist derzeit noch davon auszugehen, dass OnlineJournalismus eher eine Weiterentwicklung bekannter journalistischer Vermittlungsformen darstellt (vgl. Quandt 2005). Eine erste Ausnahme zeichnet sich in der Etablierung sog. „Blogs“ ab, die wechselseitige Interaktion ermöglichen (vgl. Bucher/Büffel 2005). Vgl. Saxer 1998d, S. 687 Vgl. ebd., S. 687 Vgl. Jarren 2003, S. 13
3 Theoretische Perspektive: Journalismus zwischen Lebenswelt und System
25
Medieninstitutionen folgen – das ist angesichts der genannten Umfeldfaktoren bereits erkennbar – vorwiegend einer instrumentellen und strategischen Zweckrationalität, wobei je nach epistemologischem oder medienpolitischem Standpunkt diese ‚Massenmedien‘ entweder als eigenständiges System samt eigener Logik betrachtet werden, oder aber als ein institutioneller Zusammenhang, der in weiten Teilen unter der Logik des Wirtschaftlichen gesteuert wird. In jedem Fall setzt die massenmediale Produktion einen hohen Grad der Arbeitsteilung und einen erheblichen Kostenaufwand voraus75, die Rückwirkungen auf journalistische Handlungsspielräume besitzen. Folgt man zunächst der Prämisse der zunehmenden Ökonomisierung der Massenmedien, dann lässt sich eine „Verquickung von ökonomischer Profitorientierung der Medienunternehmen und gesellschaftlichem Auftrag der Medienkommunikation“76 konstatieren, die Grundlage der Befürchtung ist, dass die zunehmende Kommerzialisierung der Medien die angemessene Erfüllung des publizistischen Auftrages gefährden könnte.77 Altmeppen und Karmasin sprechen daher vom „Janusgesicht“ der Massenmedien.78 Systemtheoretische Studien haben sich auf theoretischer Ebene lange Zeit am differenziertesten mit dem Gegenstand Massenmedien – und davon abgeleitet auch Journalismus – auseinandergesetzt.79 Diese Rekonstruktionen der Massenmedien als eigenständiges Subsystem unterscheiden allerdings weitgehend nicht zwischen journalistischem Handeln und massenmedialen Funktionen, sondern beschränken sich in der Regel auf Beschreibungen der Funktionsweisen des Systems, meistens auf die Bereitstellung von Themen für die öffentliche Kommunikation.80 Luhmann zufolge garantiert das massenmediale System allen anderen Funktionssystemen eine „gesellschaftsweit akzeptierte, auch den Individuen bekannte Gegenwart“.81 Es konstruiert demnach eine gemeinsame Wahrnehmungs- und Handlungsbasis aller gesellschaftlichen Akteure. Luhmann verweist hier in seiner Funktionsbestimmung in erster Linie auf ein Potenzial, für das es kein funktionales Äquivalent zu geben scheint. Aus systemtheoretischer Perspektive scheinen die Massenmedien in ihrem genuinen Bezug zur Öffentlichkeit das System zu sein, das aufgrund struktureller Kopplungen zu anderen Systemen ein „Dirigieren des Selbstbeobachtens des Gesellschaftssystems“82 leisten kann. Massenmedien repräsentieren Luhmann zufolge Öffentlichkeit, sie produzieren sie nicht, lassen aber andere Sozial- und Personalsysteme an der Repräsentation teilhaben.83 Dabei operieren Massenmedien anhand der Unterscheidung von Information und Nichtinformation.84 75 76 77
78 79 80 81 82 83 84
Vgl. Böckelmann 1975, S. 33 Altmeppen 1996b, S. 254 Dieser Zusammenhang wird ausführlich in Kapitel V der vorliegenden Studie diskutiert. Altmeppen (1996b, S. 251f.) kritisiert, dass sich viele kommunikationswissenschaftliche Autoren in ihrem Umgang mit dieser Entwicklung in eine paradoxe Position begeben: „Mehrheitlich plädieren die Autoren als Anwälte des Journalismus; ihr Anliegen ist es, gesellschaftliche Medienfunktionen und qualifizierten Journalismus trotz der offensichtlich unabwendbaren Ökonomisierung zu erhalten. Das führt zwangsläufig zu einer paradoxen Argumentation: einerseits die zunehmende Kommerzialisierung des Medienbereichs mit all ihren Konsequenzen anerkennen zu müssen, andererseits einer kommerziellen Determinierung des Journalismus durch die Ökonomie aber zugleich widersprechen zu wollen.“ Altmeppen/Karmasin 2003c, S. 22 Beispiele für solche Studien sind Marcinkowski 1993; Blöbaum 1994; Luhmann 1996; Kohring 1997; Hug 1997; Görke 1999; Weber 2000; Löffelholz 2000a. Vgl. Rühl 1980; Weischenberg 1994 Luhmann 1996, S. 176 Ebd., S. 173 Vgl. ebd., S. 188 Vgl. ebd., S. 36f. Diese Code-Definition öffentlichkeitsbezogener Systeme ist nicht unumstritten. Während Blöbaum (1994) ebenfalls zwischen Information und Nicht-Information differenziert, entscheidet sich z.B. Gerhards (1994) für die Leitdifferenz Aufmerksamkeit und Nicht-Aufmerksamkeit (vgl. Görke/Kohring 1996).
26
I Einleitung
Man muss den systemtheoretischen Annahmen Luhmanns und anderer Autoren nicht in allen Einzelheiten folgen, um grundsätzlich die Feststellung zu teilen, dass sich in modernen Gesellschaften ein massenmediales System ausdifferenziert hat, das aufgrund einer spezifischen eigenen oder aber ökonomischen Logik operiert, indem es Berichterstattung generiert, für die kommerzielle Verwertungs- und Profitinteressen vor allem in den privatwirtschaftlich organisierten Bereichen der Printmedien und der privaten Rundfunk- und Fernsehsender eine wichtige Rolle spielen.85 Die Systemperspektive kann in einer Analyse des modernen Journalismus daher nicht außer Acht gelassen werden, sondern ist als empirische Analysefolie anschlussfähig für andere theoretische Überlegungen zu gestalten. Auch systemtheoretische Entwürfe kritisieren aber die mangelnde Unterscheidung zwischen Massenmedien (technischen Verbreitungsmedien) und Journalismus.86 Kohring schreibt: „Die Gleichsetzung von Journalismus mit Massenmedien impliziert die Vorstellung von Journalismus als bloßem Informationsvermittler. An ihre Stelle tritt die strikte Unterscheidung von journalistischer Kommunikation als spezifischer Sinnkonstruktion und technischen Verbreitungsmedien als genereller Voraussetzung für interaktionsfreie Kommunikation.“87
Aus makrosozialer Perspektive werden hier sowohl Journalismus als auch Massenmedien als um je unterschiedliche Steuerungsmedien zentrierte Systeme beschrieben. Diese getrennte Betrachtung ist gerade dann aufrechtzuerhalten, wenn davon ausgegangen wird, dass das Steuerungsmedium des Journalismus, die Sprache, nicht soweit differenzierungsfähig ist, dass sie eine eigenständige Systembildung begründeten könnte. Die Annahme der Eigenständigkeit der beiden gesellschaftlichen Bereiche Massenmedien und Journalismus bleibt davon zunächst unberührt.
3.2
Journalismus und Lebenswelt
Die etablierte Systemperspektive ist im Lichte der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ um den Begriff der Lebenswelt zu ergänzen, in dem die sozialintegrativen Ressourcen verständigungsorientierten Vernunft- und Sprachgebrauchs fundiert sind. Dementsprechend ist eine Journalismusanalyse nicht nur systemisch, sondern auch lebensweltlich begrifflich zu fassen. Zumal journalistisches Handeln wenigstens in seinen Ursprüngen als ein Derivat des lebensweltlich kommunikativen Handelns verstanden werden kann, in dem Sprache eine universale, nicht vorher eingeengte Bedeutung erhält. Journalisten sind als handelnde Akteure auf Sprache angewiesen.88 In Anbetracht der Orientierung von Journalismus auf die Herstellung von Öffentlichkeit ist davon auszugehen, dass im journalistischen Sprachgebrauch kommunikative Verständigungsorientierung zumindest als kontrafaktische Unterstellung von Bedeutung ist. Selbst als berufliche Akteure, die auch systemischen Zwängen unterworfen sind, bedienen sich Journalisten somit lebensweltlicher Handlungsmuster.
85 86 87 88
Vgl. Karmasin 2000 Vgl. Görke 1999, S. 332 Kohring 1997, S. 263 Auch Bucher (2000) konzipiert „Journalismus als kommunikatives Handeln“, fasst dieses Konzept aber in erster Linie linguistisch und ohne direkten Bezug zur Habermasschen Theorie. Er beschreibt ein radikal mikrosoziologisches Handlungskonzept, dass institutionalisierenden und strukturierenden Handlungsfolgen gegenüber offen ist und sich als komplementär zu systemtheoretischen Ansätzen begreift.
3 Theoretische Perspektive: Journalismus zwischen Lebenswelt und System
27
Journalistisches Handeln ist entsprechend Handeln durch Kommunikation. Es ist nicht zweckrational auf die Erreichung eines vorab definierten Zieles ausgerichtet, sondern basiert idealtypisch auf der Verständigungsorientierung, die einem unverkürzten Sprachgebrauch inhärent ist. Diese nehmen Journalisten unweigerlich in Anspruch, wenn sie sich jenseits systemischer Spezialsemantiken entdifferenzierend der Alltagssprache bedienen, um Öffentlichkeit herzustellen. Das ist gemeint, wenn Baum Journalismus an einen verständigungsorientierten Handlungsmodus knüpft. Ebenso wie im Gebrauch der Alltagssprache ist auch hier eine Vielzahl von zielgerichteten Nutzungsmöglichkeiten denkbar und empirisch auffindbar. In einem idealtypischen Verständnis allerdings rückt für eine Konzeption des Journalismus die aus der Orientierung auf Öffentlichkeit erwachsende Verständigungsorientierung in den Mittelpunkt. Traub hat schon 1928 das „Doppelwesen als Nachrichtenträger und Verständigungsmittel“, beschrieben, das die Zeitung charakterisiere.89 Mit Habermas lässt sich feststellen, dass Journalismus tatsächlich nicht umhin kommt, sich auf den Gebrauch von Sprache einzulassen und damit auf einem Kommunikationsmodus beruht, der nicht nur „[…] der Übertragung und Aktualisierung von vorsprachlich garantierten, sondern zunehmend auch der Herbeiführung von rational-motivierten Einverständnissen [dient] – und dies in moralisch-praktischen und in expressiven Erfahrungsbereichen nicht weniger als im eigentlich kognitiven Bereich des Umgangs mit einer objektiven Realität.“90
Der Ausgang der sprachlich und kommunikativ koordinierten Interaktion ist davon abhängig, ob sich die Beteiligten untereinander auf eine intersubjektiv gültige Beurteilung ihrer Weltbezüge einigen können.91 Auf Basis des kommunikativ geteilten Weltverständnisses erarbeiten Menschen intersubjektiv geteilte Normen, indem sie Geltungsansprüche auf Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit erheben, diskutieren und kritisieren.92 Aus einer Handlungsperspektive heraus ist Journalismus plausibel als kommunikatives Handeln zu konzipieren, das Bestandteil dieses gesellschaftlichen Prozesses zu sehen ist und die „kommunikative Koordinierung gesamtgesellschaftlichen Handelns“ durch Herstellung öffentlicher Kommunikationsstrukturen gewährleisten soll.93 Die Ausdifferenzierung von formal organisierten, entsprachlichten Handlungssystemen begrenzt die Reichweite des kommunikativen Handelns. Das zeigt sich zum Beispiel in der Ausweitung des technisch-zielorientierten Handlungsmodus, der sich vor allem in ökonomischen und machtorientierten Imperativen begründet. Er erhält zunehmend, allerdings keinesfalls zwangsläufig oder irreversibel, ein Übergewicht, das die Möglichkeiten kommunikativer Übereinkunft bedrängt.94 Baum differenziert in diesem Zusammenhang zwischen einem journalistischen und einem massenmedialen, d.h. technisch und noch mehr ökonomisch 89 90 91 92 93 94
Traub 1928, S. 46 Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 163 f. Vgl. ebd., S. 157 Vgl. ebd., S. 148 Baum 1994, S. 161 Pointiert zeigt sich diese Kritik in dem Diskurs über die Technisierung von Kommunikation. So schreibt Weingarten (1988, S. 61): „Kennzeichnend für die jüngere historische Entwicklung ist nun die Ausweitung der Geltungsbereiche zweckrationalen Handelns. Diese Ausweitung kulminiert in der aktuellen Technisierung weiter Bereiche kommunikativen Handelns.“ Das bedeute, dass weite Bereiche dem Zugriff kommunikativen Handelns entzogen werden: „Besonders problematisch wird diese Entwicklung, wenn technische Systeme auch praktisch soziales Handeln ersetzen und soziales Handeln nach der Rationalität technischen Handelns beurteilt wird.“ (ebd., S. 73) Journalistisches Handeln steht in Spannung zu dieser technischen Rationalität.
28
I Einleitung
steuerbaren, Zugriff auf die Sphäre Öffentlichkeit.95 Diese Unterscheidung greift zurück auf die Analyse des ‚Strukturwandels der Öffentlichkeit‘ und stellt die dort beobachtete zunehmende Vermachtung öffentlicher Strukturen durch die Imperative ausdifferenzierter Sozialsysteme in Rechnung. Ein massenmedialer Zugriff auf Öffentlichkeit erfolgt nicht mehr – wie idealtypisch das journalistische Handeln – aus lebensweltlichen Strukturen, sondern wird von den Kapitalverwertungsinteressen des Wirtschaftssystems bestimmt, dessen Akteure mit ihren Medienangeboten in erster Linie Geld verdienen wollen. Habermas weist den Massenmedien (genauer wäre zu sagen: der Massenkommunikation) – in Entsprechung zu dieser Differenzierung – ein „ambivalentes Potential“ zu:96 Einerseits können sie den Horizont möglicher Kommunikation entschränken und gegenüber Systemen ein emanzipatorisches Potenzial entfalten; andererseits tendieren sie dazu, Kommunikationsflüsse zu hierarchisieren, zu kanalisieren und autoritär zu wirken. Habermas rekurriert hier auf die lebensweltliche Verankerung der Massenmedien und auf ihr Potenzial, Kommunikation aus räumlich und zeitlich begrenzten Kontexten herauszulösen und so Öffentlichkeit entstehen zu lassen, die Resonanzboden für eine Vielzahl von Themen sein kann. Gleichzeitig verweist er auf Vermachtungstendenzen des ‚Strukturwandels der Öffentlichkeit‘97, die entgegen der Koppelung der Medien und der Öffentlichkeit eine zunehmende Systemdominanz vor allem aufgrund von Verrechtlichung und Ökonomisierung zur Folge haben. Das emanzipatorische Potenzial bleibt erhalten, bedarf aber besonderer Umstände, um sich in gesellschaftlichen Diskursen entfalten zu können.98 Baum gelangt in seiner Vorarbeit zu einer gesellschaftstheoretisch fundierten Theorie des journalistischen Handelns zu einem Zwischenfazit, das der Stellung des Journalismus in einem Gesellschaftsmodell von zweckrationalen Systemen und kommunikativ-rationaler Lebenswelt und den daraus erwachsenden unterschiedlichen Ansprüchen Rechnung trägt: „Die Arbeit von JournalistInnen ist gesellschaftliche Kommunikation. Als professionelle ‚Kommunikatoren‘ befinden sie sich also seit jeher an der konfliktbeladenen Schnittstelle zwischen kommunikativer Vernunft auf der einen und einem an Zweck und Mittel orientierten Rationalisierungszwang auf der anderen Seite, der gerade jenes Verhalten strategisch notwendig macht, das ihrem eigentlichen ‚journalistischen Auftrag‘ nicht entspricht: Kommunikation eben als Konvention zu funktionalisieren, das heißt auch: mit ‚listigem Bewußtsein‘ zu handhaben, was ursprünglich mit emanzipatorischen Intentionen verknüpft ist.“99
Baum beobachtet allerdings auch eine von ihm aus der Perspektive kommunikativen Handelns als bedenklich gewertete zunehmende Reduktion des journalistischen Handelns „[…] auf jene politisch zweckgerichtete Informationsleistung […], die zwischen den Imperativen der sich verselbständigenden Subsysteme sowie den Bedürfnissen des bürgerlichen Privatlebens vermitteln kann“.100
Eine entsprachlichte Zweckrationalität, so das ernüchterte Urteil, dominiere das öffentliche Handeln der Journalisten101, die zwischen den Zieldimensionen Rezeptionsbedürfnisse des Publikums, Ökonomie der Medienbetriebe und normative Vorgaben der Politik hin- und 95 96 97 98 99 100 101
Vgl. Baum 1994, S. 99 Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 573 Vgl. Habermas 1990 Vgl. Habermas 1992, S. 461 Baum 1994, S. 67. Diese doppelte Perspektive, so Baums berechtigte Kritik an der gängigen Journalismusforschung, werde aus den funktionalistischen Theorie-Konstrukten in der Regel ebenso systematisch ausgeblendet wie aus den Prämissen der Mainzer Schule der Publizistikwissenschaft. Ebd., S. 109 Vgl. ebd., S. 111
3 Theoretische Perspektive: Journalismus zwischen Lebenswelt und System
29
hergerissen werden. Die Konflikte zwischen den daraus erwachsenden Ansprüchen haben sich kontinuierlich verschärft. Jarren beobachtet eine Bewegung der Medien hin zu den Interessen der Rezipienten, die gerade unter ökonomischen Gesichtspunkten als Kunden ein wichtiger Bezugspunkt werden, hinter dem die Ansprache als Staatsbürger weiter zurücktrete.102 Münch warnt angesichts der vorherrschenden Inszenierungs- und Dramatisierungsstrategien in öffentlichen Auseinandersetzungen vor einer kommunikativen Inflation, die ihren Ausdruck in diversen Diskurs-Mischformen bereits zeige.103 Er betont vor allem die Notwendigkeit der Anschlussfähigkeit der medialen Diskurse in der lebensweltlichen Kommunikation der Rezipienten. In dieser Fähigkeit medialer Diskurse liegt heute am ehesten das Potenzial des journalistischen Handelns im Spannungsverhältnis zwischen System und Lebenswelt – auch wenn zurzeit die Systemeinflüsse das reale Handeln (und die theoretische Modellierung104) dominieren. Es stellt sich daher die – auch normativ zu behandelnde – Frage, wie Journalisten die Spielräume, die ihnen die lebensweltliche Verankerung ihres Handelns potenziell lässt, nutzen können. Um dieser Frage nachzugehen, bietet es sich an, die Annahmen der Diskurstheorie heranzuziehen, die versucht, die kommunikativen Standards zu eruieren, nach denen Verständigung in den vielfältigen sozialen und politischen Aushandlungsprozessen gewährleistet werden kann und wird. Weitergehend wird zu klären sein, wie Journalismus darauf zu reagieren hat, dass die gesellschaftlichen Arenen politischer und sozialer Auseinandersetzungen sich im Zuge eines fortschreitenden Medienwandels zunehmend verschieben und Diskurse nicht mehr a priori mit Informationsangeboten verknüpft werden können. Hier ist analytisch zu prüfen, inwieweit ein diskursiv verstandener Journalismus, der seine Wurzeln in der Verständigungsorientierung menschlicher Kommunikation hat und sich zumindest regulativ an den Normen einer deliberativer Öffentlichkeit orientiert, in seinen bisherigen Routinen angesichts neuer Medienangebote, neuer Inszenierungsmöglichkeiten und veränderter Rezeptionsbedürfnisse überdacht und gegebenenfalls verändert werden muss, um seine Leistungsfähigkeit für hochkomplexe moderne Gesellschaften wahren zu können. Diese beiden theoretischen Anliegen richten sich – ganz im Sinne der Ambitionen der Journalistik – auch darauf, Kriterien für einen ‚besseren‘ respektive angemessenen Journalismus zu begründen.
3.3
Auf dem Weg zu einem kommunikativ verstandenen Journalismus
Mit den bisherigen Ausführungen ist der Rahmen der Erörterungen eines kritischen und diskursiven Journalismus-Konzepts vorläufig umrissen. Aus mehreren Gründen scheint die Gesellschaftstheorie von Habermas als heuristische Interpretationsfolie viel versprechend. (1) Der immanente Praxisbezug der folgenden Analysen wird sich darin wiederfinden, dass sowohl theoretische Arbeiten als auch – zumindest partiell – historische Entwicklungen in den Blick genommen werden. Damit soll nicht eine rein genealogische Entwicklung des Journalismus unterstellt werden, wohl aber geht der vorliegende Entwurf davon aus, dass 102 103 104
Vgl. Jarren 1996a, S. 81. Dazu passt die Beobachtung Weischenbergs (1999, S. 41), dass US-Medien und – Journalisten keine Informationsbedürfnisse mehr bedienen, sondern sie wie bei Verbrauchsgütern gezielt wecken. Vgl. Münch 1991 und 1995. Das Inszenierungskonzept ist kommunikations- und politikwissenschaftlich vor dem Hintergrund des Theatralitätskonzepts zu einer aussagefähigen Analysekategorie weiterentwickelt worden. Vgl. dazu Meyer/Schicha/Brosda 2002; Meyer/Ontrup/Schicha 2000. Zur Ambivalenz apodiktischer theoretischer Äußerungen vgl. die Auseinandersetzung mit dem AutopoiesisKonzept bei Weber 2000.
30
I Einleitung
sich nicht nur Gesellschaft, sondern auch Journalismus als Bestandteil von Gesellschaft evolutionär weiterentwickelt und verändert.105 Ein Konstitutionsimpuls, der zur Ausbildung eines Konzepts journalistischen Handelns oder zur Bildung medialer Systemzusammenhänge geführt hat, ist keineswegs als fixer Bezugspunkt zu sehen, sondern als eine historisch kontingente Antwort auf gesellschaftliche Entwicklungen. Diese Berücksichtigung historischer Bezüge ist der Grund für eine theoretische Selbstbescheidung der folgenden Analysen, die Gültigkeit lediglich hinsichtlich der Rahmenbedingungen des Journalismus an einem historisch und sozial kontingenten Ort beanspruchen können. Nicht nur aufgrund der Entscheidung, die Gesellschaftstheorie von Habermas zur Reflexionsfolie der Arbeit zu machen, sondern vor allem aufgrund der Konstitution des Untersuchungsgegenstandes als eines genuin öffentlichen Handlungsmodus sind es die Veränderungen in jener fragilen gesellschaftlichen Sphäre Öffentlichkeit, die Einfluss auf Journalismus haben. Die Darstellung des Journalismus ist daher immer auch eine empirische Darstellung der Beschaffenheit von Öffentlichkeit. (2) Die ‚kritische‘ Perspektive der Arbeit gründet in einem an der Habermasschen Universalpragmatik geschulten Verständnis, das die Verständigungsorientierung als der sprachlichen Kommunikation immanent erachtet. Daraus lassen sich Hinweise auf die Einordnung journalistischen kommunikativen Handelns erwarten. Auch in diesem Zusammenhang ist Öffentlichkeit im diskurstheoretischen Sinne eine zentrale gesellschaftstheoretische Kategorie, da sie die Normen inkorporiert, deren gesellschaftliche Einlösung sie in demokratietheoretischer Wendung fordert. Erst in diesem Rahmen erscheint es möglich, abstrakt den gesellschaftstheoretischen Stellenwert des Journalismus zu klären und die Grundzüge journalistischen Handelns zu beschreiben. Bereits jetzt ist zu erkennen, dass Journalismus im Lichte dieser Prämissen Emanzipation und Demokratie als zentralen Kategorien verpflichtet ist. (3) Darüber hinaus verspricht der Ansatz die Integration handlungs- und systemtheoretischer Annahmen: Durch die doppelte Perspektive, die lebensweltliche und systemische Aspekte journalistischen Handelns in den Blick zu nehmen trachtet, können die Beschreibungsdefizite handlungstheoretischer Ansätze und die Erklärungsdefizite systemischer Ansätze in einer kombinatorischen Rekonstruktion kompensiert werden. Dadurch ist es möglich, die bisherigen Forschungsergebnisse der Journalistik in toto heranzuziehen und sich nicht durch eine Theorieentscheidung auf einen Forschungszweig zu beschränken. Innerhalb des entwickelten begrifflichen Rahmens soll anhand der bisherigen Ergebnisse der Journalismustheorie und -forschung ein Verständnis von Journalismus entworfen werden, das einen ersten Schritt hin zu einer Theorie eines kommunikativ verstandenen Journalismus darstellen soll. Dieses Verständnis wird immanent normative Annahmen beinhalten, aber zugleich anschlussfähig sein für empirische Forschung. Es soll dabei helfen, journalistisches Handeln systematisch zu beschreiben und zu analysieren. Es soll aber darüber hinaus aufgrund seiner gesellschaftstheoretischen Grundlegung auch medienethische Implikationen besitzen und so Handlungsoptionen für die praktische Anwendung aufzeigen können.
105
Der gesellschaftliche Prozess ist beschrieben in Habermas 1976.
4 Zum Aufbau der Arbeit
4
31
Zum Aufbau der Arbeit
Die vorliegende Arbeit geht von der Prämisse aus, dass ein lebensweltlicher Journalismus in seiner Differenzierung zunehmend in ein System massenmedialer Kommunikation eingespannt wird. Zum einen sollen daher die Veränderungen beschrieben werden, denen Öffentlichkeit und Journalismus seit ihrer modernen Entstehung unterworfen sind, und zum anderen sollen die theoretischen Journalismuskonzepte auf ihren Gehalt geprüft werden.106 Dazu werden theoretische wie empirische Arbeiten herangezogen, die entweder auf Journalismus als Handlungsmodus fokussieren oder systemische Mechanismen in den Mittelpunkt stellen. Damit verbunden sind perspektivische und normative Veränderungen hinsichtlich der JournalismusKonzepte, die – so eine Ausgangsvermutung – mit unterschiedlichen Facetten historischer Journalismus-Verständnisse korrespondieren. Die Beziehungen zu systematisieren und einen Schritt über übliche Dichotomien hinaus zu gelangen, soll in dieser Arbeit versucht werden.
Grafik 1: Verortung eines diskursiven Journalismus
[eigene Grafik, -cb-] 106
Mit dieser Vorgehensweise wird weder eine Geschichte des Journalismus noch eine Theoriegeschichte öffentlicher Kommunikation angestrebt. Vielmehr sollen historisch begründete Typologien abgeleitet und deren Sedimente in aktuellen Konzepten aufgezeigt und weiterentwickelt werden.
32
I Einleitung
Im Ergebnis geht es um die Beschreibung eines diskursiven Journalismus, der sich unter Bedingungen eines hohen Grades mediensystemischer Ausdifferenzierung eine große journalistischkommunikative Eigenständigkeit bewahrt und eine gesellschaftliche Rolle als Anwalt gesellschaftlicher Diskurse annimmt und erfüllt. Dieser diskursive Journalismus ist vor dem Hintergrund der Annahme zu beschreiben, dass jedem journalistischen Handeln als kommunikativem Handeln ein Bezug zu kommunikativer Rationalität innewohnt und dass dieser Bezug in einem kommunikativ gehandhabten Journalismus auch aktiv genutzt werden kann. Erst im diskursiven Journalismus allerdings wird er reflexiv auch zu gesellschaftlichen und demokratischen Erwartungen in Beziehung gesetzt und zur journalistischen Selbststeuerung genutzt.107 Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die Erörterung der Möglichkeiten einer auf Praxisfragen bezogenen, emanzipatorisch ausgerichteten Journalismustheorie. Dazu ist es zunächst notwendig, den Selbstanspruch der Journalistik genauer zu fassen, um ihn an den sozialwissenschaftlich begrenzten Möglichkeiten der Kommunikationswissenschaft als umgreifender Disziplin abzugleichen. Deren theoretische und systematische Grundprämissen erschweren bis zu einem gewissen Grad die Entwicklung eines theoretisch eigenständig zu fassenden Fachverständnisses der Journalistik. Diesem Desiderat kann hier nur vorläufig dadurch begegnet werden, dass ein formalpragmatisches Verständnis sozialwissenschaftlicher Forschung eingeführt wird, in dessen Kategorien die Fiktionen der Unabhängigkeit des Beobachters und der daran anschließend vermeintlich möglichen Objektivation beobachteter sozialer Zusammenhänge nicht aufrecht erhalten werden können, sondern ersetzt werden durch ein sozialwissenschaftliches Selbstverständnis als Teilnehmer und damit auch als prinzipiell in den Untersuchungszusammenhang Einbezogener. Aus dieser Perspektive wird die Möglichkeit, letztlich die Notwendigkeit, der (gleichberechtigten) Teilnahme an praktischen Diskursen deutlich hervorgehoben, aus der heraus auch ein in einem ‚kritischen‘ Wissenschaftsverständnis fußendes Journalistik- und Journalismusmodell begründbar ist. (Kapitel II) Anschließend soll dargestellt werden, wie aus dem historisch zu identifizierenden Idealtypus Öffentlichkeit journalistische Idealtypen abgeleitet werden, die entweder auf die Befriedigung von Informationsinteressen durch referierende Vermittlung oder auf das politische und kulturelle Räsonnement abstellen. Während die normative Publizistikwissenschaft aus dem Idealtypus des Räsonnements das Rollenmuster des publizistischen Kommunikators als normatives Erwartungsmuster ableitet, knüpfen die klassische Zeitungswissenschaft und – in spezifischer Form auch die legitimistische Publizistikwissenschaft – an dem Idealtypus der Vermittlung (Referat) an, um daraus eine sehr reduzierte Vermittlungstätigkeit zu deduzieren, die journalistisches Handeln weitgehend seiner Eigenständigkeit entkleidet. Das Ergebnis ist eine normativ scharf begründete Dichotomie journalistischer Idealtypen, die unvereinbar scheinen, obwohl sie doch – so die hier zu begründende Annahme – je nur Facetten journalistischen Handelns beschreiben. Anknüpfungspunkte für diese Annahmen lassen sich in dem eher integrativen Entwurf von Otto Groth identifizieren, der darauf hinweist, dass journalisti107
Die Darstellung folgt dem Habermasschen Konzept vom „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ über die Erörterung der „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ bis zu den demokratietheoretischen Ausführungen in „Faktizität und Geltung“, so dass sich zu den beiden bereits benannten Strängen, die diese Arbeit organisieren, im Hintergrund als ein drittes ordnendes Prinzip immer auch die Entfaltung und Entwicklung einer kommunikationspragmatischen Kritischen Theorie gesellschaftlicher Kommunikation gesellt. Anhand dieser theoretischen Entwicklung können die Prämissen der Arbeit systematisiert und parallel zu ihr entwickelt werden. Gerade in den Revisionen, die Habermas an seinem idealtypischen Ursprungskonzept der Öffentlichkeit vornimmt, liegen wertvolle Heuristiken begründet, die in ihren Perspektivverschiebungen auch die Journalismustheorie voranbringen können.
4 Zum Aufbau der Arbeit
33
sches Handeln – von wenigen Ausnahmen abgesehen – stets sowohl vermittelnd als auch produzierend ist. Journalismus ist demnach die öffentliche Vermittlung gesellschaftlicher Diskurse, eine kommunikative, vermittelnde und strukturierende Tätigkeit, die kommunikatives Handeln auch in komplexen Gesellschaften ermöglicht. Journalisten können somit, um einen Begriff von Otto Groth zu modifizieren, als ‚Diskursanwälte‘ moderner Gesellschaften betrachtet werden. (Kapitel III) Die weitere Erörterung eines historisch fundierten Verständnisses von Journalismus erfordert neben diesen klassischen Anregungen die systematische Entfaltung der bereits eingeführten Begriffe des kommunikativen Handelns und der Lebenswelt sowie ihres Bezugs zur öffentlichen Sphäre einer Gesellschaft. Auf diesem Weg soll ein erweitertes theoretisches Fundament entwickelt werden, auf dem die unterschiedlichen Journalismuskonzeptionen zusammengeführt werden können, deren je einzelne konzeptionelle Begründungen sich oftmals als nicht tragfähig erweisen. Die Vertiefung der Heuristik durch einen veränderten gesellschaftstheoretischen Rahmenbezug erlaubt es, Journalismus begründet sowohl historisch wie strukturell als kommunikativen Handlungsmodus in der Lebenswelt zu verorten und ihn eng in Beziehung zum Konzept einer bürgerlichen oder deliberativen Öffentlichkeit zu setzen. Er gewährleistet soziale Orientierung durch reflexive Vermittlung und entfaltet emanzipatorisches Potenzial, indem er soziale Teilhabemöglichkeiten durch Inanspruchnahme kommunikativer Kompetenz eröffnet. Dadurch dient er auch der sozialen Integration. (Kapitel IV) Anschließend werden die Prozesse des neuerlichen ‚Strukturwandels der Öffentlichkeit‘ und der Ausdifferenzierung der Massenmedien als System behandelt. Hier geht es vorwiegend um die Auseinandersetzung mit der Feststellung, dass die idealtypischen Ideen von Journalismus und Öffentlichkeit in ihrer bis dahin entfalteten Fassung nicht der empirischen ‚Realität‘ in modernen Demokratien vom Typ der Bundesrepublik entsprechen, sondern dass sich ein massenmediales System herausbildet, dessen Logik signifikant anderen Steuerungsparametern folgt. Diese Entwicklung geht einher mit der von Habermas beschriebenen Herausbildung eines zweistufigen Gesellschaftsaufbaus, in dem neben die kommunikativ integrierte Lebenswelt auch systemisch integrierte Bereiche der Ökonomie und der politischen Administration treten, welche die Reproduktion materieller Ressourcen auf Basis generalisierter Steuerungsmedien leisten. In diesen Prozess ist auch die Systemfunktionalisierung der Massenmedien als der materiellen Basis journalistischen Handelns eingespannt. Massenmedien, so wird argumentiert, können als eine systemische (ökonomische) Struktur verstanden werden, die Journalismus in modernen Gesellschaften ermöglicht. Ein Ergebnis des ‚Strukturwandels der Öffentlichkeit‘ ist, dass journalistische Aussagen im Wechselspiel von lebensweltlich-komunikativem Journalismus und systemisch-funktionalistischen Massenmedien entstehen. Journalistisches Handeln ist zwischen lebensweltlich-kommunikativen Ansprüchen und systemischen ‚constraints‘108 eingespannt. (Kapitel V) Diese Annahmen führen zu dem abschließenden Versuch, das Verhältnis systemischer Massenmedien und lebensweltlichen journalistischen Handelns in den Rahmen eines demokratietheoretisch begründeten und ethisch-politisch operationalisierbaren Konzepts diskursiver Öffentlichkeit und diskursiven Journalismus‘ zu stellen. Aus der Perspektive einer Theorie 108
Der Begriff ‚constraints‘ setzt sich in der Debatte über die Verzahnung von Handlungs- und Systemtheorie zunehmend durch, um die Effekte systemischer Zusammenhänge auf individuelle Akteure zu benennen (vgl. Schimank 2000; Giddens 1995; Gerhards 1994). Jarren und Donges (2002a, S. 76) verstehen unter ‚constraints‘ „[…] die Funktionserfordernisse handlungsprägender Sozialsysteme, in denen sich Akteure als handlungsfähige Sozialsysteme bewegen“. Raabe (2005, S. 165) weist daraufhin, dass nicht nur beschränkende (‚constraining‘), sondern auch ermöglichende (‚enabling‘) Sozialstrukturen beachtet werden müssen.
34
I Einleitung
deliberativer Demokratie wirkt Öffentlichkeit zwischen System und Lebenswelt der Parzellierung gesellschaftlicher Kommunikation und gesellschaftlichen Wissens entgegen, indem sie als kommunikativ rationales Korrektiv zu systemischen Entscheidungen fungiert. Massenmedien können, obwohl sie zu den systemisch integrierten gesellschaftlichen Bereichen gehören, aus der Perspektive eines solchen Modells Öffentlichkeit und öffentliche Kommunikation gewährleisten – allerdings nur, wenn sie in ihren Darstellungsformen offen bleiben für Anschlusskommunikation in der Lebenswelt und wenn sie der kommunikativen Handhabung von Journalismus ausreichende Handlungsspielräume gewährleisten. Diese Spielräume lassen sich zum einen auf der Basis eines diskursiven Journalismus-Begriffs beschreiben, der journalistisches Handeln nach den Prämissen sinnorientierten Verständigungshandelns konzipiert und an eine anspruchvolle Diskursethik koppelt, die in handlungsleitende Qualitätsmaßstäbe übersetzt werden muss, um die argumentative Angemessenheit der Vermittlung zu gewährleisten. Zum anderen bedarf es einer reflexiven gesellschaftlichen Kommunikationspolitik in Form einer ‚Media Governance‘, die unter Einbeziehung gesellschaftlicher und privater Akteure die Steuerung des Massenmediensystems leistet und dessen Verpflichtung auf Diskursivität des Journalismus’ in den Mittelpunkt rückt. Beides zusammengenommen – die immanente Stärkung journalistischer Diskursivität und Selbstregulierung sowie die gesellschaftliche Bereitstellung mit ihr korrespondierender institutioneller Vorkehrungen – kann gesellschaftliche Diskurse auch in komplexen Gesellschaften ermöglichen. (Kapitel VI) Eine Journalistik, die sich an der Formulierung, Vermittlung und praktischen Durchsetzung dieser ethischen Maßstäbe beteiligt, kann ihr Potenzial als Demokratiewissenschaft entfalten. In diesen diskurstheoretischen Anforderungen liegen letztlich die immanenten Maßstäbe, derer sich eine als kritische Wissenschaft verstandene Journalistik in der Untersuchung und Bewertung journalistischen Handelns sowie in der Formulierung inhaltlicher Ausbildungsziele bedienen kann. In diesen diskurstheoretischen Implikationen liegt ein aus dem journalistischen Handeln heraus begründbarer normativer Kriterienkatalog, der den Weg zu einem ‚besseren‘ Journalismus weisen kann. Dieser würde die Basis für eine als „binnenkulturelle Wissenschaft“ verstandene Journalistik legen können, die sich ihrer immanenten Beziehung zu ihrem Gegenstand versichert.109 Ein solches Verständnis eröffnete der Journalistik neue Erkenntnisoptionen, wie Haller in pointiert-kritischer Abgrenzung zur Systemtheorie ausführt: „Sie [die Journalistik, -cb-] bräuchte nur einen kleinen Schritt zu unternehmen, um mit ihrem Objekt, dem Journalismus, ein Sinnsystem zu bilden – in diesem Punkt nicht anders, als es die Medizin und die Rechtswissenschaft vor rund zwei Jahrhunderten getan haben. Dann könnte ein auf Verstehen und Verständigung gerichteter Kommunikationsbegriff entwickelt werden, der das Mediensystem als Bedingungsgefüge zu seiner Voraussetzung nimmt – und der ein bisschen mehr leistet als die redundante Feststellung der LuhmannGemeinde, Gesellschaft sei Kommunikation und sonst nichts.“110
Die vorliegende Arbeit wird daher einen weiten, aber notwendigen Umweg gehen, um sich einen Schritt auf einen diskursethisch begründeten normativen Kriterienkatalog hin zu bewegen, dessen Ziel es eben genau ist, Verstehen und Verständigung durch journalistischkommunikatives Handeln innerhalb eines (zum Teil systemtheoretisch zu fassenden) medialen Bedingungsgefüges darstellbar und wiederum verstehbar werden zu lassen.
109 110
Haller 2000a, S. 122 Ebd., S. 122
II
Zur Verortung der Journalistik
Die Überlegungen zum Konzept des diskursiven Journalismus finden vor dem spezifischen wissenschaftstheoretischen und fachkontextuellen Hintergrund der Journalistik statt. Dieser soll im nachfolgenden Kapitel in Form von Vorbemerkungen behandelt werden, die sich in erster Linie an den fachwissenschaftlich interessierten Leser wenden. Das Ziel ist, dem in den weiteren Kapiteln zu entfaltenden Journalismusverständnis Ort und Richtung im Diskurs der Journalistik zuzuweisen. Dieses Vorgehen scheint geboten, weil die Konzeption des diskursiven Journalismus in ihren praktischen Konsequenzen maßgeblich auch auf eine universitäre Journalistik als Transmissionsriemen in die Praxis hinein setzt. Zunächst soll daher der praktische Erkenntnisanspruch der Journalistik als einer Wissenschaft zur Verbesserung des Journalismus thematisiert werden. Dieser Anspruch lässt sich sowohl anhand der Fachgenese als auch anhand der programmatischen Selbstverortung der Disziplin rekonstruieren (1). Daran anschließend werden die theoretischen Optionen der Journalistik diskutiert. Als derzeit paradigmatisch erweisen sich – wie in weiten Teilen der Kommunikationswissenschaft – in gesellschaftstheoretischer Hinsicht die Systemtheorie und in erkenntnistheoretischer Hinsicht der Konstruktivismus. Auf Potenziale und Limitierungen der beiden Perspektiven wird näher einzugehen sein. Das gilt auch für handlungstheoretische Optionen, die allerdings innerhalb der Journalistik bislang in weit weniger paradigmatischer Form vertreten werden (2). Um handlungstheoretisch zumindest anschlussfähige Perspektiven zu stärken wird im weiteren Verlauf für eine veränderte wissenschaftstheoretische Grundlegung des Faches plädiert: Erkenntnistheoretisch wird der Sozialwissenschaftler zugleich als Beobachter und als Teilnehmer der von ihm untersuchten sozialen Prozesse verstanden, der sich in seinen Rekonstruktionsleistungen als ‚virtueller Teilnehmer‘ immanent auf in der Praxis erhobene Geltungsansprüche einlassen muss, wenn er Verstehen anstrebt. Gesellschaftstheoretisch wird die Kombination einer kommunikationstheoretisch fundierten Handlungstheorie mit einer bescheideneren Systemtheorie favorisiert, um individuelle Sinnfragen ebenso behandeln zu können wie soziale Strukturbildung. Rekonstruktivismus anstelle von Konstruktivismus, Diskurstheorie anstelle von Systemtheorie lauten daher die Vorschläge, die im weiteren Argumentationsgang weiter ausformuliert werden sollen (3). In diesem Kontext ist es möglich, eine praxisbezogene und zugleich kritische wissenschaftliche Perspektive auf den Journalismus zu beschreiben. Diese normativ verstandene Journalistik ist in der Lage, Maßstäbe zu begründen, anhand derer sie für eine Verbesserung des Journalismus antritt. Auf ihren Zuschnitt sollen abschließend Hinweise formuliert werden (4).
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II Zur Verortung des Journalismus
Wissenschaft zur Verbesserung des Journalismus
Etliche Wissenschaften beschäftigen sich mehr oder weniger direkt mit dem Journalismus: Neben der Journalistik, die trotz ihrer kurzen Tradition als genuine Wissenschaft vom Journalismus betrachtet werden kann, tragen auch die Publizistik, die Kommunikationswissenschaft, die Medienwissenschaft und ehemals die Zeitungswissenschaft zu Forschung und Theoriebildung bei. Darüber hinaus wird der Journalismus von weiteren Sozialwissenschaften wie der Politologie oder der Soziologie als Gegenstand herangezogen. Das Ergebnis ist ein erheblicher Theoriepluralismus. In den unterschiedlichen Disziplinen haben sich unterschiedliche Paradigmen herausgebildet, die Erkenntnisse variieren zudem je nach dem – meist nur leicht verschobenen – Ausschnitt, der analysiert und betrachtet wird. Die derart präfigurierte Anlage des Forschungsinteresses führt zu sehr unterschiedlichen Perspektiven.1 Dieser Theoriepluralismus ist zunächst fachhistorisch bedingt: In Deutschland hat sich der Gegenstand der Forschung sukzessive erweitert: von der Zeitungskunde und -wissenschaft über die Publizistik hin zur Medien- und Kommunikationswissenschaft.2 Bisweilen erschienen die Fächer und ihr Kanon ebenso flüchtig wie ihr Gegenstand. Ständig wurde die Perspektive gewechselt, wurden neue Phänomene mit in den Blick genommen, veränderten sich dabei aber auch die Prämissen der Forschung. Und: Neue Disziplinen traten zu den bereits bestehenden hinzu, ohne sie abzulösen: • Die erste Ausweitung zur Publizistikwissenschaft sollte dem Zweck dienen, auch andere „publizistische Führungsmittel“ (Dovifat) wie den Rundfunk und das Fernsehen mit betrachten zu können. Journalistische Kommunikation wurde als Meinungsführung vor allem unter dem Gesichtspunkt der Persuasion und ihrer Wirkungen betrachtet. • Die neuerliche Ausweitung zur Kommunikationswissenschaft sollte den Anschluss an die empirisch orientierte ‚communication science‘ der angelsächsischen Forschung gewährleisten, entgrenzte aber gleichermaßen erneut den Forschungsgegenstand. Mehr noch als in der Publizistik gerieten Kommunikationsformen und Medien in den Blick, die über das Betätigungsfeld des Journalismus hinausragen. Die Rückbesinnung auf die Journalistik markiert demgegenüber eine Selbstbeschränkung, dadurch dass der Journalistenberuf als eindeutiger „Fluchtpunkt“ der Perspektive ausgewiesen wird.3 Ein gängiges Problem der Kommunikationswissenschaft existiert für die Journalistik damit zunächst nicht: Während andere kommunikationswissenschaftlichen Disziplinen entweder an spezifischen Merkmalen öffentlicher Kommunikation ansetzen (Publizistik) oder aber versuchen, alle gesellschaftlich relevanten Kommunikationsprozesse zu beschreiben, kann sich die Journalistik auf ein klares Distinktions- und Konstitutionsmerkmal beziehen, da in ihrem Zentrum „Modelle des öffentlichen Kommunikationsprozesses, soweit er im Wesentlichen vom Journalismus getragen wird“, stehen.4 Ihr überschaubarer Gegenstand ist der Journalismus, der zum Beispiel anhand der Berufsgruppe5 oder aber wie in der vorliegenden Arbeit 1 2 3 4 5
Selbst in Teilwissenschaften kann die Kluft tief sein: vgl. die normativ-legitimistische Publizistik (Kepplinger 1979a; Donsbach 1982) mit der systemtheoretisch-konstruktivistischen (Merten/Schmidt/Weischenberg 1994). Vgl. Glotz 1990; Hachmeister 1987 Pöttker 1998a, S. 231. Vgl. zur nicht unproblematischen Genese des Fachs in Westdeutschland zwischen politischen und ökonomischen Interessen: Löffelholz 1990; Machill 2005. Neverla 2002, S. 25 Vgl. Pöttker 1998a. Die vorliegende Arbeit allerdings plädiert dafür, nicht von einer beruflich abzugrenzenden Akteursgruppe auszugehen, sondern den Modus journalistischen Handelns sowie seine Aufgaben und Leistungen zu charakterisieren, aus denen heraus sich das Selbstverständnis von Journalisten im Verberuflichungs- und
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anhand eines spezifischen öffentlichen Handelns identifiziert werden kann. Sie erhebt den Anspruch, für die Praxis des Journalismus Ausbildungsleistungen zu erbringen.6 Häufig wird die Journalistik als eine Teildisziplin innerhalb einer integrierten Medien- oder Kommunikationswissenschaft konzipiert.7 Aus einer solchen Perspektive heraus ‚erbt‘ sie die disziplinären und theoretischen Probleme der Mutterdisziplin und lässt eine eigenständige Kontur vermissen. Für Ronneberger war die Kommunikationswissenschaft schon in ihrer Frühphase lediglich eine „Sammelsuriums- oder bestenfalls Dachwissenschaft für ein ziemlich großes Gebäude, in dem sich die Mieter untereinander nicht kennen“.8 Positiver formulieren Jarren und Bonfadelli, dass sie sich um ein Nebeneinander von sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen bemühe, die in integrationswissenschaftlicher Perspektive zusammengeführt werden, um Theorie- und Methodenpluralismus zu erhalten.9 In ihrem Selbstverständnispapier, das den aktuellen Stand der Debatten um die Fachverortung umfassend darstellt und kommentiert, hat die Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) Gegenstand und Methode des Faches im Jahr 2001 wie folgt beschrieben: „Im Zentrum des Fachs steht die indirekte, durch Massenmedien vermittelte, öffentliche Kommunikation. Die damit verbundenen Produktions-, Verarbeitungs- und Rezeptionsprozesse bilden den Mittelpunkt des Fachinteresses. […] Die Kommunikationswissenschaft versteht sich heute im Kern als eine theoretisch und empirisch arbeitende Sozialwissenschaft mit interdisziplinären Bezügen.“10
Im Rahmen einer so verstandenen Kommunikationswissenschaft stellt die Journalistik für die DGPuK eine aufgrund einer klaren Berufsfeldorientierung vorgenommene Ausdifferenzierung dar.11 Als solche greift sie bislang extensiv auf unterschiedliche kommunikationswissenschaftlich entwickelte Begriffsgebäude zurück12 und hat in der Breite noch keinen intensiven Diskurs über eigenständige theoretische Modelle ihres Gegenstandes begonnen.13 Dies mag auch an der ausgeprägten Praxisbezogenheit ihrer universitären Ausrichtung liegen14, bedeutet aber in letzter Konsequenz, dass zur theoretischen Beschreibung des Gegenstandes ‚Journalismus‘ häufig Axiome anderer Disziplinen importiert werden müssen, ohne dass deren Validierung im
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Professionalisierungsprozess speist. Journalistik untersucht aus diesem Verständnis heraus zunächst einen kommunikativen Handlungsmodus, darf sich aber dessen systemischer massenmedialer Ausprägung nicht verschließen. Allerdings sind diese Ebenen theoretisch-analytisch voneinander zu trennen. Vgl. Pätzold 2000, S. 426 Vgl. jüngst Rusch 2005; Röttger 2005a. Ronneberger 1978a, S. 17; vgl. auch Wirth 2000, S. 45; Noelle-Neumann 1975; Westerbarkey 1980 Vgl. Bonfadelli/Jarren 2001, S. 10; ähnlich auch Ruhrmann u.a. 2000. Wenn eine inhaltliche Gemeinsamkeit dieser Bemühungen zu identifizieren ist, dann ist es die Fokussierung auf „mediengebundene Kommunikation“, wobei mit Medien vor allem sekundäre und tertiäre Medien gemeint sind, während andere Aspekte von Kommunikation in Disziplinen wie der Soziologie, der Linguistik oder der Psychologie behandelt werden (Bohrmann 1981, S. 132). Diese Engführung wird allerdings von Kommunikationswissenschaftlern wie Burkart (1998a, S. 401ff.) kritisiert, die ein interdisziplinäres Fach Kommunikationswissenschaft fordern. Diese Verortungsschwierigkeiten sind regelmäßig Gegenstand von Selbstvergewisserungsdebatten, die innerhalb des Faches geführt werden (vgl. z.B. die Beiträge von Ruhrmann u.a. 2000; Theis-Berglmair/Kohring 2000; Brosius 2000; 1998a; 1994b; Rühl 1993b; Merten 1993; Baum/Hachmeister 1982; Saxer 1980. Auch in zahlreichen Lehrbüchern finden sich Überblicke über die Diskussion: vgl. Jarren/Bonfadelli 2001; Schmidt/Zurstiege 2000; Merten 1999; Burkart 1998a; Pürer 1993) DGPuK 2001, o.S. Vgl. ebd., o.S.; vgl. Neverla/Grittmann/Pater 2002a Vgl. zum Überblick den Sammelband von Burkart/Hömberg 1995. Eine erwähnenswerte Ausnahme ist der Sammelband von Löffelholz 2000a, dessen Neuauflage (Löffelholz 2004) den Pluralismus des Diskurses leider gleich wieder einschränkt. Das konstatieren Ruhrmann u.a. (2000), die gerade auch in dem Versprechen auf eine berufsbezogene Ausbildung an Journalistik-Instituten einen Grund für das Ausbleiben theoretischer Arbeit vermuten.
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II Zur Verortung des Journalismus
eigenen Fachkontext in ausreichendem Maße stattfindet. Die jeweils verschiedenen sozialwissenschaftlich-gesellschaftstheoretischen Rahmungen, in die das journalistische Handeln bzw. das journalistische System eingeordnet werden, präjudizieren vielmehr die Deduktion je unterschiedlicher normativer Setzungen, die Selbstverständnis und Ethik prägen sollen.15 Dabei bedarf die grundlegende, selbstreflexive Frage „Welchen Journalismus will die Kommunikationswissenschaft?“16 einer eigenständigen Beantwortung durch die Journalistik. Die Journalistik wird in ihrer weiteren Etablierung daran zu messen sein, ob sie in der Lage ist, ihre theoretischen und praktischen Bezüge eigenständig und fundiert auszuweisen. Ihre Position innerhalb des kommunikationswissenschaftlichen Disziplinen-Kanons hängt auch davon ab, ob es ihr gelingt, eine eigene theoretische Perspektive auf den Journalismus zu entwickeln und aus dieser Theorie möglichst immanent ethisch-praktische Anweisungen für die Ausbildung abzuleiten. Auch um diesen Prozess zu forcieren plädieren Journalistikwissenschaftler dezidiert für eine eigenständige Konturierung des Fachs entlang der spezifischen Bezüge zum Berufshandeln, zur kommunikativen Praxis und zu den Sachwissenanteilen der Studiengänge.17 Nachfolgend soll versucht werden, die Journalistik in Bezug zur Kommunikationswissenschaft zu verorten und ihre wissenschaftstheoretischen Grundlagen dahin gehend zu prüfen, ob und inwieweit sie die Erkenntnisinteressen und Ausbildungsansprüche einer praxisorientierten und kritischen Journalistik hinreichend fundieren können. Das Feld der Journalistik lässt sich dabei empirisch wie theoretisch entlang der von Neverla formulierten Kernfragen gliedern, die nach beschreibenden, erklärenden und verstehenden Antworten verlangen: „Was eigentlich ist Journalismus? Was tun Journalistinnen und Journalisten? Wie handeln sie, für welchen Zweck und nach welchen Regeln und mit welchem Sinn?“18
Erkennbar sind nicht alle diese Fragen durch die bloße Aggregation empirischer Daten nach den Routinen einer professionell betriebenen ‚communications research‘ hinreichend zu beantworten, sondern bedürfen einer (gesellschafts-)theoretischen Einbettung. Die theoretische Beschäftigung mit Journalismus kommt letztlich nicht umhin, auch voraussetzungsvolle – und zum Teil auf einem kritischen Wissenschaftsverständnis fußende – Überlegungen einzuschließen, die sich zentral auf die demokratiekonstitutive Aufgabe des Journalismus beziehen. Doch derzeit werden solche normativen Annahmen zwar immer noch lebhaft in der Praxis verhandelt, finden aber nur noch selten Niederschlag in den wissenschaftlichen Diskursen. Die Wissenschaft, die sich der Integration von Theorie und Praxis verschrieben hat, steht derzeit nicht selten in gehöriger Entfernung zur Praxis und ihren Problemen.
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Zur journalistischen Ethik-Debatte sind zahlreiche Sammelbände erschienen, in denen sich die einschlägigen Diskursstränge nachvollziehen lassen: vgl. z.B. Debatin/Funiok 2003; Schicha/Brosda 2000; Funiok/Schmälzle/Werth 1999; Holderegger 1999; Funiok 1996a; Haller/Holzhey 1992a; Wunden 1998; 1996; 1994; 1989; Erbring 1988 Baum 2005b Vgl. Pöttker 2005; Pätzold 2005. Beide regen konsequenterweise die Gründung einer eigenen Fachgesellschaft der Journalistik analog zur DGPuK an. Noch in den 1980er Jahren ist dagegen die Abkoppelung der Journalistik als eigene ‚scientific peer group‘ von den wissenschaftsgeschichtlichen und -theoretischen Problemen der Kommunikationswissenschaft als dysfunktionale Folge einer mangelhaften Verknüpfung von Forschung und Lehre in den Fächern beschrieben worden (vgl. Hachmeister/Baum/Schuppe 1983). Neverla 2002, S. 26
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Die Loslösung (von) der Praxis
Wenn man Praxishandbücher konsultiert, um Näheres über den Journalismus herauszufinden, dann stößt man nicht selten auf pathetische und diffus antiquiert wirkende Formulierungen, die den individuellen Journalisten in den Rang einer gesellschaftskonstitutiven Macht erheben, ohne die ein freiheitlich-demokratisches Zusammenleben nicht mehr möglich erscheint. Aus der Perspektive der ‚Praktikerliteratur‘19 sind es offenbar einzelne Journalisten, die die Geschicke der Gesellschaft in der Hand haben, wie das folgende Beispiel eindringlich zeigt: „Wenn die demokratische Gesellschaft funktionieren soll, dann ist sie auf Journalisten angewiesen, die viel können, die viel wissen und ein waches und nobles Bewußtsein für ihre Verantwortung besitzen. Nur dann können sie ihrer zweifachen königlichen Aufgabe gerecht werden: durch den Dschungel der irdischen Verhältnisse eine Schneise der Information zu schlagen – und den Inhabern der Macht auf die Finger zu sehen.“20
In Formulierung und Emphase derartiger Feststellungen schimmert eine Vorstellung journalistisch-publizistischer Persönlichkeiten durch, deren Grundsteine vor über einem halben Jahrhundert in der Zeitungswissenschaft und in der normativen Publizistikwissenschaft von in die Wissenschaft gewechselten Praktikern gelegt worden sind.21 Das Fach ist in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg als eine normative Wissenschaft etabliert worden, mit deren Mitteln der publizistische Prozess nicht nur untersucht werden sollte, sondern die gleichsam ein begriffliches Instrumentarium bereit zu stellen gewillt war, an dem sich publizistische Leistungen zu messen hatten und auch gemessen werden sollten.22 Eine immanente Verknüpfung von ‚Beruf‘ und ‚Berufung‘ wurde vor dem Hintergrund der angenommenen ‚öffentlichen Aufgabe‘ vorausgesetzt.23 Die frühe Publizistikwissenschaft strukturiert ihren Gegenstand definitorisch; ihre Systematiken dienen der Aufgabe, implizite normative Ordnungen zu stabilisieren und der Betrachtung publizistischer Äußerungen und Prozesse zugrunde zu legen. Aus dieser Perspektive bestimmen der „Journalist als Persönlichkeit“, oder gar als „der Mann, der diesen Beruf verkörpert“, das zentrale Forschungsinteresse.24 Bereits Mitte der 1960er Jahre aber entledigen sich zunächst die funktionale Publizistikwissenschaft und dann auch die junge Kommunikationswissenschaft weitgehend eines solchen normativen Individualismus.25 Ein Verständnis von Journalismus, das von wenigen begabten, autonomen und nur ihrem Gewissen verpflichteten publizistischen Persönlichkeiten ausgeht, passt nicht zu den Bedingungen komplexer Medienbetriebe, in denen die vermeintliche Unabhängigkeit des Einzelnen vielfach verschränkten und abstrahierten Entscheidungsprozessen gewichen ist, die oftmals außerhalb des Steuerungsvermögens einzelner Personen liegen.26 19 20 21 22 23 24 25 26
Diese Kategorie ist nicht trennscharf, sondern bezeichnet im Folgenden Bücher über Journalismus, die entweder aus der Praxis heraus Praxis reflektieren oder aber sich als Handreichungen für die Praxis verstehen, ohne primär wissenschaftlich fundiert zu sein. Schneider/Raue 1998, S. 14 Vgl. für den Ansatz paradigmatisch: Dovifat 1962b und 1962c; Dovifat 1990a Vgl. Dovifat 1964 Vgl. Dovifat 1990c, S. 65 Frankenfeld 1965, S. 337 Vgl. Prakke u.a. 1968; Dröge/Lerg 1965 Sogar Dovifat musste konstatieren, dass „Organisation […] der erste Schlüssel [ist], an die Massen heranzukommen, ihr Wollen und Handeln zu bestimmen“ (Dovifat 1990e, S. 167) – ohne daraus aber Konsequenzen für die Stellung des Individuums im publizistisch-journalistischen Prozess zu ziehen. Die hier bereits erkannte Zäsur auch theoretisch wie analytisch tatsächlich auszuformulieren, blieb anderen vorbehalten, zunächst vornehmlich den Mitarbeitern des Münsteraner Instituts für Publizistik, die bereits in den 1960er Jahren den
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II Zur Verortung des Journalismus
Vor allem im Zuge der sozialwissenschaftlichen Weiterentwicklung des Faches beginnt seit den 1960er Jahren die Kluft zwischen den Journalismus-Modellen in Praxis und Theorie zu wachsen. Die emergierende Kommunikationswissenschaft setzt neben verstärkten empirischen Anstrengungen vor allem auf funktionalistische Modellannahmen und Theorien, die zunehmend eigenlogische Operationen unterstellen und in ihrer Abstraktion nur wenig Anschlüsse für das Selbstverständnis der Praxis bieten.27 Eine Strategie, die in ihrer Fokussierung auf den Funktionalismus durchaus mit der Entwicklung in der Soziologie der 1950er Jahre zu vergleichen ist, als sich vor allem in den USA die funktionalistische Methode etablierte.28 An die Stelle der Frage nach dem ‚Sinn‘ und ‚Wesen‘ des Journalismus tritt auch in der Journalismusforschung zunehmend das sozialwissenschaftlich geschulte und vom kritischen Rationalismus angeleitete Streben nach möglichst präzisen Beschreibungen journalistischer ‚Wirklichkeit‘.29 Dagegen konserviert die Praxistheorie der Journalisten die ursprünglichen Annahmen zu Aufgabe und Auftrag des Journalismus, die sich bis in die Debatten um die Pressefreiheit zurückverfolgen lassen.30 Es besteht in der Praktiker-Literatur offensichtlich kein Anlass, die wissenschaftliche Kurskorrektur im Verständnis des Journalismus mit zu vollziehen. Die entsprechenden Handbücher müssen sich letztlich nicht mit den Beschreibungsdefiziten und den analytischen Unzulänglichkeiten eines normativen Individualismus herumschlagen, da sie sich nicht in einem strengen wissenschaftlichen Rahmen bewegen, sondern sie können sich auf eine unter Journalisten bis heute weitgehend konsentierte Berufsideologie beziehen, die für den Praxisgebrauch allemal auszureichen scheint. Mit diesem Vorgehen wächst die Kluft zwischen dem Praktiker-Verständnis journalistischer Aufgaben und der wissenschaftlichen Beschreibung journalistischen Handelns oder journalistischer Systeme. Zu Abstraktionsleistungen, wie sie sich in wissenschaftlichen Beschreibungen des Journalismus als komplexes, kaum mehr von Einzelnen zu steuerndes Gesamtsystem finden lassen, ist die Praktiker-Literatur weder willens noch in der Lage – sie kann es auch gar nicht sein, wenn sie Handlungsanleitungen geben will.31 Noch 1980 sahen Weischenberg und Weischenberg die bundesdeutschen Praxishandbü-
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Grundstein für einen heute noch populären, und vom Individuum weitgehend abstrahierenden funktionalen Ansatz gelegt haben, auf den zurückzukommen sein wird. Vgl. dazu ausführlich Hachmeister 1987. Vgl. dazu z.B. Haller 2000a. Vgl. Lepenies 1981, S. IVf. Dieser Schritt zieht Probleme nach sich, auf die noch einzugehen sein wird. Vgl. z.B. die Kritik von Bohrmann/Sülzer 1973, Teichert/Renckstorff 1974, Aufermann 1976, Eurich 1977 oder Baum/Hachmeister 1982. Vgl. Kieslich 1970; Wilke 1984b; Schneider 1966. Dennoch hat sich auch in solchen Praxis-Handreichungen die Erkenntnis durchgesetzt, dass es eine ideale journalistische Gesamt-Persönlichkeit nicht geben kann. Von LaRoche (1995, S. 17) schreibt in seiner viel gelesenen ‚Einführung in den praktischen Journalismus‘: „Den Journalisten zu beschreiben ist in einer Zeit immer stärkerer Arbeitsteilung nicht möglich. Wir können nur zusammenzählen, was Journalisten alles tun, damit am Ende Informationen und Kommentare als fertige Produkte an die Öffentlichkeit gelangen.“ Der Umstand eines sich verändernden Journalismus wird zur Kenntnis genommen und auch als Problem begriffen – zumindest in der Hinsicht, dass von holistischen Vorstellungen Abstand genommen wird. Zu Abstraktionen oder auch nur zu Systematisierungen, die denen der wissenschaftlichen Analysen vergleichbar wären, führt diese Einsicht aber nicht. Stattdessen werden in dem zitierten Praxis-Lehrbuch tatsächlich nur verschiedene Phänomene ‚zusammengezählt‘: So beginnt die Darstellung der persönlichen Hilfsmittel bei „Terminkalender und Adressenbuch“ (ebd., S. 55), und die praktizistische Anschaulichkeit des Buches gipfelt rund 100 Seiten später in dem Kapitel „20 Wünsche des Redakteurs an einen neuen Mitarbeiter“ (ebd., S. 159ff.). Nur allzu deutlich greift diese Form der Literatur in der Praxisbeschreibung zu kurz, indem sie bei konkretistischen Hinweisen stehen bleibt, deren Repräsentativität und Nützlichkeit auf dem individuellen Erfahrungswissen des Autors beruhen. An die Stelle einer in früheren Jahren konstruierten idealen Gesamtpersönlichkeit des Journalisten tritt hier ein eklektizistisch zusammengetragenes Sammelsurium verschiedenster Angebote, die alle relevant sein können, aber nicht näher gewichtet werden, und aus denen sich der einzelne Journalist das zusammensuchen soll, was ihm in seiner Berufsausübung vermeintlich entgegenkommt.
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cher für Journalisten auf dem Stand, der in den USA bereits 1910 erreicht worden war, als dort erste Journalisten-Schulen etabliert waren.32 Abgesehen von wenigen Editionen oder Reihen, die auf Basis wissenschaftlicher Konzepte entstanden sind33, können von diesem Urteil bis heute kaum Abstriche gemacht werden.34 Hinsichtlich der Fragen nach ‚Sinn‘ und ‚Wesen‘ des Journalismus pflegt die journalistischpraktische Ratgeberliteratur aus der Sicht einer normativ entschlackten, empirisch-analytischen Kommunikationswissenschaft nach wie vor eine tradiert bis antiquiert emphatische Sicht der Dinge. Den lauten Klagen über die zunehmende Technisierung der Arbeit und über den Verlust an individueller Autonomie unter den Journalisten wird hier weiter die Idee einer öffentlichen Aufgabe des Journalismus entgegengehalten, die zu erfüllen die Bestimmung jedes Journalisten sein sollte. Grundlage solcher Überlegungen sind zum einen eine simplifizierende Handlungs-‚Theorie‘, die meistens rein akteursorientierte Prämissen aufstellt, und zum anderen aus juristischen Urteilen destillierte Aufgabenkataloge.35 Daraus allerdings einseitig auf Defizite der Praktiker-Literatur zu schließen, greift zu kurz. Deren Beharren auf tradierten, heute beinahe ideologisch wirkenden Einsichten ist schließlich auch als eine Reaktion auf Entwicklungen in der wissenschaftlichen Literatur zu interpretieren, die sich seit ihrer Hinwendung zur empirisch-analytischen Zergliederung ihres Forschungsgegenstandes immer weniger um Verstehen als vielmehr um wertfreie Beschreibung sozialer Regelmäßigkeiten zu kümmern scheint.36 Der vormals gegebene Zusammenhang eines Diskurses zwischen Wissenschaft und Praxis37 wird auch dadurch zerschnitten, dass sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Journalismus hinsichtlich ihrer empirischen Methodik zwar weiterentwickelt, sich aber gleichzeitig hinsichtlich normativ-praktischer Sinnfragen für nicht mehr zuständig erklärt und diese an die Praxis selbst oder an eine als vorwissenschaftlich erachtete Philosophie verweist.38 „Schaut man, worüber Journalistik-Dozenten forschen und publizieren, stößt man auf viele Themen, die für den Journalismus von marginaler Bedeutung sind. Oder aber der Journalismus wird nur als abstraktes System wahrgenommen.“39
Nur wenige Journalismusforscher verstehen wie Rager ihr Aufgabengebiet explizit „als eine Art Forschungs- und Entwicklungsabteilung für die redaktionelle Praxis“, aus der heraus aktuelle 32 33 34 35
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Vgl. Weischenberg/Weischenberg 1980, S. 253 Beispiele sind Pürer 1996, die Bände der Reihe „Praktischer Journalismus“ bei UVK (vgl. Mast 1994) oder Weischenbergs Lehrbuch (vgl. Weischenberg 2001). Vgl. Neuberger 2005, S. 9 Die daraus gezogenen Anmerkungen entsprechen einem Reflexionsniveau, das dem der frühen Zeitungs- und Publizistikwissenschaft ähnelt. Deren tragende Akteure kamen ja zum großen Teil noch selbst aus der Praxis und konnten dadurch einen engen Anschluss an das Selbstverständnis der Medienhandelnden bewahren. Dies war zur Etablierung des Faches nicht unwichtig, entpuppte sich aber schon bald als Hindernis bei der weiteren wissenschaftlichen Konzeptualisierung der Curricula und Forschungsfelder (vgl. dazu die frühe Kritik von Stern-Rubarth 1965). Vgl. die umfassende Kritik der Journalismusforschung in Baum 1994. Dieser Zusammenhang zeigt sich z.B. in den Bemühungen von Journalisten- und Verlegerverbänden um die Errichtung zeitungswissenschaftlicher Institute u.a. in Berlin und München in den 1920er Jahren. Dies geht so weit, dass ein systemtheoretisch argumentierender Forscher wie Weischenberg (2005, S. 271) dem Handlungstheoretiker Haller – wohlwollend, aber dennoch bezeichnend – attestiert, dieser „[…] denkt und handelt immer noch und weiterhin wie ein Journalist“. Weischenberg bezieht sich dabei insbesondere kritisch auf Hallers Appelle an die Theorie, gegenüber der Praxis weiterhin kommunikationsoffen zu sein. Dass eine solche Perspektive keineswegs nur der Praxis zuzuordnen ist, sondern eine sozialwissenschaftliche Positionierung aus eigenem Recht darstellt, soll hier noch näher erläutert werden. Neuberger 2005, S. 9
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empirische Erkenntnisse in Ausbildung und Praxis – keinesfalls unkritisch – eingespeist werden.40 In der Regel aber bleibt der Praxis nur ein überholter Begriffsapparat, dessen letzter ‚Kontakt‘ mit wissenschaftlichen Erörterungen zum Teil Jahrzehnte zurückliegt, um die ihr überlassenen normativen Fragen zu bearbeiten. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung einer eigenständigen wissenschaftlichen Betrachtung des Journalismus haben sich die sozialwissenschaftlichen Theorien von Common-Sense-Theorien der Laien und Arbeitstheorien der Praktiker entkoppelt.41 Es sind vor allem die durch Abstraktion erreichten generalisierenden Hypothesen, die wissenschaftliche Theorien von den nicht verallgemeinerungsfähigen Arbeitstheorien unterscheiden. Journalismusforscher distanzieren sich daher von den Annahmen, die Praktiker aus eigener Praxis, Erfahrung und ‚Anschauung‘ gewonnen haben. Journalistische Praktiker, so Rühl, behandelten spezifische journalistische Einzelfallprobleme „wie ein einheitliches gegebenes Ganzes“, reflektierten in der Regel begriffsrealistisch und unterstellten so ihren Begriffen und Konzeptionen, „unmittelbare Spiegelbilder journalistischer Wirklichkeit“ zu sein; während die die von einem Sozialwissenschaftler beschriebenen Probleme des Journalismus – so der kritisch rational geschulte Hinweis von Vertretern des ForschungsMainstreams – „ausdrücklich hypothetisch“ und vorläufig seien 42 Wissenschaft könne deshalb auch keine Antworten auf Praxisfragen geben, da sie sich mit ihren Konstruktionen und Objektivationen sozialer Zusammenhänge in einem ganz anderen Beziehungsgeflecht bewege. Eine derartige Einstellung zum Wissenschafts-Praxis-Verhältnis muss beinahe zwangsläufig dazu führen, dass ein Abgleich zwischen wissenschaftlicher Theorie und praktischer Arbeitstheorie nicht mehr möglich ist. Beide systematisierenden Formen der Realitätsbeschreibung ko-existieren, scheinbar ohne dass sie aufeinander Bezug nehmen können.43 Ein zusätzliches Verständigungshindernis ist der hypothetische, auf Wahrscheinlichkeitsannahmen beruhende Charakter wissenschaftlicher Aussagen, der zu Missverständnissen zwischen Journalismus und Wissenschaft führen kann44: Ignoriert die Praxis den hypothetischen Charakter wissenschaftlicher Aussagen, dann können diese ungerechtfertigt autoritativ erscheinen. Nimmt sie den hypothetischen Charakter aber zur Kenntnis, dann besteht im Gegenzug die Gefahr, dass wissenschaftliche Forschungsergebnisse und theoretische Annahmen als wenig konkret und aufgrund ihrer grundsätzlichen Falsifizierbarkeit kaum brauchbar erscheinen. Baum und Hachmeister konstatieren, dass Vertreter der deutschen Kommunikationswissenschaft wissenschaftsextern dazu neigen, entweder ihre Ergebnisse weit über Wert zu verkaufen oder aber die eigenen Aussagen so weit zu relativieren, dass sie dem Außenstehenden nur noch als irrelevant erscheinen können.45 Die Kluft zwischen Theorie und Praxis wird wohl weder durch die eine noch die andere Strategie kleiner. Darüber hinaus belastet die seit Jahrzehnten gepflegte Distanz der Journalismusforschung gegenüber den normativen Selbstansprüchen des Journalismus das Verhältnis. Schon die frühe Zeitungswissenschaft stand einem aufklärerischen Anspruch journalistischer Tätigkeit mindestens skeptisch, wenn nicht ablehnend gegenüber. Diese Position findet sich in der öffentlichen ebenso wie in der kommunikationswissenschaftlichen Debatte bis heute in dem zum Teil ideologisierten Dogma, dass Journalisten neutrale Nachrichtenübermittler zu sein hätten – ohne eigenen Willen oder eigene Absichten. Funktionalistische oder systemtheoretische 40 41 42 43 44 45
Rager/Rinsdorf 2002a, S. 44 Vgl. zu dieser Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Theorieverständnissen Rühl 2000, S. 65. Ebd., S. 66f. Vgl. für ein solches Verständnis der sozialwissenschaftlichen Forschung grundsätzlich: Luhmann 1981c. Vgl. dazu Kepplinger 2000, S. 83 Vgl. Baum/Hachmeister 1982, S. 211
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Entwürfe gehen an einem darüber hinausreichenden Potenzial des Journalismus, das in Kommunikation, Verständigung und kommunikativer Handlungskoordinierung begründet werden könnte, sogar schon auf konzeptioneller Ebene vorbei, indem sie sich auf zweckrationalinstrumentelle Denkfiguren zu seiner Beschreibung stützen. Baum kritisiert in diesem Zusammenhang eine „normative Entkernung des Journalismus durch die Wissenschaft“.46 Angesichts der unterschiedlichen Prämissen und des unterschiedlichen Zugriffs auf die ‚Wirklichkeit‘ des Journalismus ist zwischen den Vertretern der Kommunikationswissenschaft und den journalistischen Praktikern bislang weder ein konstruktiver Dialog über die Situation des Journalismus geschweige denn über seine Verbesserung zustande gekommen. Immerhin: In den Bereichen der Redaktionsforschung47, der Qualitätssicherung48 und der Rezeptionsforschung49 werden vereinzelt wissenschaftliche Forschungsergebnisse mit Blick auf praktische ‚Verwertung‘ angeboten und von Praktikern zur Kenntnis genommen. Doch weitgehend kennzeichnet Sprachlosigkeit in Folge der beschriebenen unterschiedlichen Erwartungen und Selbstverständnisse das Verhältnis zwischen den zwei sozialen Gruppen, die eigentlich als prädestinierte Kommunikationsexperten zu gelten hätten. In den bereits erwähnten wissenschaftsfernen Praxis-Handbüchern, die direkte Wege in den Journalismus bereiten wollen, schlägt sich eine demonstrative Wissenschaftsfeindlichkeit zum Beispiel in Ratschlägen an Studierende nieder, doch besser Seminare und Vorlesungen regelmäßig für vier bis acht Wochen im Semester auszulassen, um Praktika zu absolvieren. Ein derart praktizistisches Vademecum, verfasst von einem Journalistenausbilder und einem ehemaligen Chefredakteur, gipfelt gar in bedenkenswerten Merksätzen wie dem folgenden: „Je größer die Distanz zur akademischen Welt auch während des Studiums bleibt, um so höher sind nachher die Chancen, im Journalismus Karriere zu machen.“50
Die Journalismusforschung muss offensichtlich eine breite Kluft überbrücken, bevor ihr der explizit angestrebte Dialog mit der journalistischen Praxis gelingen kann. Notwendig dazu ist ein von der Journalistik zu entwickelndes theoretisches Journalismusverständnis, das Praxis und Theorie in einen inneren Zusammenhang zueinander setzt und das daher in der Lage ist, sowohl seine wissenschaftliche als auch seine praktische Relevanz zu explizieren.
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Baum 2005b, S. 7 Vgl. z.B. Rager/Rinsdorf 2002b; Altmeppen 1999; Meckel 1999; Moss 1998; Rager/Werner/Weber 1992. Vgl. die Beiträge in Fasel 2005; Bucher/Altmeppen 2003; sowie u.a. Rager 2000; 1994; Haller 2000b; Wallisch 1995; Ruß-Mohl 1994. Vgl. für eine aktuelle Bestandsaufnahme dieses Spannungsfeldes: Hohlfeld 2002; 2003. Selbst dort sind die Vorbehalte noch immer groß und kulminieren bisweilen in blanker Ablehnung, wie die folgende Aussage eines Zeitschriftenredakteurs eindringlich belegt: „Wir testen einfach nicht. Wir testen weder Hefte noch Werbekampagnen. Und das ist auch gut so, weil wir […] einen Chefredakteur haben, der vor allem ein Forschungsinstrument kennt, einen Bauch, auf dessen Gefühl man sich verlassen kann.“ (Ruzas 2002, S. 207) Dass es dann doch bessere Erhebungsmethoden gibt und dass auch bei weitem nicht alle Journalisten derart ignorant gegenüber sozialempirischer Hilfestellung bei der Publikumsanalyse sind, ist heutzutage überzeugend darzulegen. Aber dennoch bleibt das Bild ein zwiespältiges: Ganz offensichtlich sind die Potenziale der Journalismus- und Medienforschung in der Praxis immer noch nicht zur Gänze angekommen. Noch immer nutzen und akzeptieren Journalisten die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Erforschung ihrer Tätigkeit und ihrer Ansprechpartner nur selektiv, noch immer sind Publikums- und Produktanalyse mit dem vermeintlichen Makel der rein strategischen Absatzoptimierung behaftet. Schneider/Raue 1998, S. 279
44 1.2
II Zur Verortung des Journalismus Wurzeln der Journalistik
Die Idee der Integration von Theorie und Praxis und der damit einhergehenden Verbesserung der Praxis durch wissenschaftliche Ausbildung liegt der Journalistik von Anfang an zugrunde. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts taucht der Begriff ‚Journalistik‘ im deutschen Sprachraum als Bezeichnung einer eigenständigen Wissenschaft auf.51 Den Anfang macht Wrede in seinem ‚Handbuch der Journalistik‘, dessen erste Auflage 1902 erschienen ist. Nach eigenem Bekunden strebt der Herausgeber danach, „[…] die Journalistik zu einer Wissenschaft zu erheben […]“.52 Er unterbreitet gleich eine Reihe möglicher Definitionsvorschläge für den zwar bereit gestellten, aber noch inhaltlich zu füllenden Begriff. Wahlweise schlägt er vor, unter Journalistik • „die Gesamtheit der im Zeitungswesen zur Verwendung kommenden Wissenschaften und die Kunstlehre, diese in zweckmäßiger Art anzuwenden“ zu verstehen oder aber auch • „die Lehre von dem Zeitungswesen als einem besonderen Komplex des öffentlichen Geisteslebens“ oder schließlich • „eine Lehre von der Grundlage und den Mitteln des Zeitungswesens“.53 Wrede zählt diese Journalistik zu den Geisteswissenschaften oder zu den „Wissenschaften vom Volksleben“, d.h. zum Komplex der Gesellschafts-, Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, deren Objekte das „menschliche gesellschaftliche Zusammenleben und die dazu gehörige Einzelerscheinung“ sind.54 Schon in diesem frühen Versuch eines Lehrbuchs steht die Verbindung von Theorie und Praxis im Mittelpunkt des editorischen Interesses. Wrede plädiert für eine gründliche Ausbildung künftiger Journalisten an einer eigenen ‚Fachschule für Journalisten‘, an der theoretische Seminare mit praktischen Übungen verbunden werden sollten. Lehrredaktionen sollen seiner Ansicht nach die praktische Ausbildung durch das Volontariat in der Redaktion ersetzen.55 Nach Wredes Lehrbuch wird zunächst kein vergleichbares Plädoyer für den Begriff ‚Journalistik‘ publiziert. Der Begriff taucht zwar auf, aber Schriften wie Junkers ‚Grundriß der Journalistik‘56 boten lediglich frühe praktizistische Beschreibungen und keine wissenschaftliche Systematisierung. Dennoch setzt sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts an einigen Hochschulen in Deutschland – zunächst in Heidelberg unter Koch und dann vor allem ab 1916 in Leipzig unter Bücher – die Idee einer hochschulgebundenen Journalistenausbildung zunehmend durch.57 Auch angesichts der Entwicklungen an den Hochschulen findet sich in 51
52 53 54 55 56 57
Vgl. Weischenberg 1992a, S. 13: „Den Terminus ‚Journalistik‘ gibt es schon wesentlich länger als die Studiengänge der hochschulgebundenen Journalistenausbildung in Deutschland, die sich so nennen. Seine Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert gehört zum Teil zur Fachgeschichte der Zeitungs- bzw. Kommunikationswissenschaft. Doch erst in den letzten Jahren ist versucht worden, Beiträge zur näheren Identifizierung von ‚Journalistik‘ als wissenschaftlichem System zu leisten: ein ‚Paradigma Journalistik‘ zu beschreiben und somit den wissenschaftlichen Orientierungskomplex, den das Fach bildet, über bestimmte Strukturen abzugrenzen. Konsensfähig war ohne größere Probleme, daß es sich dabei um die Wissenschaft vom Journalismus und die Anwendung ihrer Erkenntnisse auf die journalistische Praxis handelt, und zwar vor allem als Journalistenausbildung.“ Nicht weiter eingegangen werden soll hier auf den gänzlich anders gelagerten Versuch, ‚Journalistik‘ als professionelle Medienrhetorik zu definieren (vgl. Nickl 1987). Wrede 1906b, o.S. Wrede 1906c, S. 4 Ebd., S. 4f. Vgl. Wrede 1906d, S. 13ff. Junker 1915 Vgl. dazu zusammenfassend Meyen/Löblich 2006; vom Bruch 1980; einzelne biographische Studien zu den Pionieren des Fachs in Deutschland finden sich in vom Bruch/Roegele 1986. Der Anstoß für derartige Initiati-
1 Wissenschaft zur Verbesserung des Journalismus
45
den 1920er Jahren der Begriff der ‚Journalistik‘ im wissenschaftlichen Kontext wieder – wenn auch nur als ergänzende Fachbezeichnung: in Jägers ‚Zeitungswissenschaft (Journalistik)‘58 und in Groths ‚Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik)‘59. Jäger ordnet den Begriff der ‚Journalistik‘ dem der ‚Zeitungswissenschaft‘ zwar nach, ein Blick in die von ihm entworfenen Lehrpläne für Journalistik zeigt aber deutlich, dass diese die Zeitungswissenschaft als einen Bestandteil neben verschiedenen Formen der Ausbildung in Fragen des Sachwissens umfassen.60 Auch Jäger stützt seinen offenbar eher wissenschaftspolitisch motivierten Entwurf auf ein vehementes Plädoyer für eine systematisierte und wissenschaftlich basierte Ausbildung künftiger Journalisten. Groth hingegen verwendete den Begriff ‚Journalistik‘ zunächst weitgehend synonym mit ‚Journalismus‘.61 Allerdings kann sein vierbändiges Werk als Entwurf einer Journalistik-Theorie begriffen werden, die eine Geschichte des Zeitungswesens umfasst und sich systematisch mit dem Begriff der Zeitung als Kulturleistung und ihren sozialen wie kulturellen Verschränkungen beschäftigt.62 Durchsetzen konnte sich die Bezeichnung Journalistik zunächst nicht: Der Begriff ‚Zeitungswissenschaft‘ dominierte während des NS-Regimes63 und wurde in der Nachkriegs-Bundesrepublik zunächst durch die Publizistik- und später durch die Kommunikationswissenschaft abgelöst.64 Einzig in der ehemaligen DDR fand die Journalisten-Ausbildung zentral an der Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig ihren Platz.65 Als „Zweig der marxistischleninistischen Gesellschaftslehre“ basierte das Fach dort gänzlich auf den Annahmen des historischen und des dialektischen Materialismus und war als „Wissenschaft von den Gesetz-
58 59 60 61 62
63 64 65
ven ging im Übrigen nicht selten von den Berufsverbänden der Presse aus, die durch bessere Ausbildung auch eine Statusverbesserung erhofften. Gleichzeitig aber sahen sich nicht alle Universitäten in der Lage, eine Zeitungskunde oder -wissenschaft auch mit ausbilderischem Praxisbezug in das Lehrangebot zu integrieren, wie das Beispiel der Münchner Zeitungswissenschaft zeigt (vgl. Roegele 1974/75). Jäger (1926a) nennt in einem Überblick über universitäre Studienpläne für Journalisten lediglich die Hochschulstandorte Zürich (1902; 1911; 1922), Bern (1903), Heidelberg (1909), Leipzig (1916) und Lille (1924). Hier findet Journalistenausbildung statt, während sich an anderen Orten in den 1920er Jahren, wie dem Berliner Institut für Zeitungskunde unter Martin Mohr, lediglich allgemeine zeitungshistorische oder -wissenschaftliche Seminare finden lassen. Jäger 1926b Groth 1928-1930, 4 Bde. Groth (1948) zeichnet auch verantwortlich für die erste umfassende Fachgeschichte. Vgl. Jäger 1926b, S. 23ff. Vgl. Groth 1928, S. 108 Vgl. für diese Interpretation des Werks von Groth: Weischenberg 1992a, S. 15. Erst in seinem zwischen 1960 und 1972 publizierten, siebenbändigen opus magnum ‚Die unerkannte Kulturmacht‘ begreift Groth die Journalistik durchgängig als eine Teildisziplin im Rahmen der von ihm propagierten Wissenschaft ‚Periodik‘: „Der Gegenstand der Periodik ist ein Kulturwerk, das der Vermittlung gewisser Idealgüter; sie untersucht die zu vermittelnden Güter nach den Quantitäten der Universalität und Aktualität und deren Vermittlung nach den Quantitäten der Periodizität und Publizität. Damit sind die Grenzen der Periodik mit aller notwendigen Deutlichkeit abgesteckt, ist ihren Untersuchungen die Richtung vorgeschrieben: Nach jenen vier quantitativen Merkmalen hat sie zu fragen und sie theoretisch und geschichtlich, dogmatisch und technologisch zu erforschen. Von ihnen aus hat sie alles zu erforschen, was mit ihnen zusammenhängt. Alles, was sie beeinflußt oder von ihr beeinflußt wird, fällt in das Bereich [sic!] der Periodik, mag es physisch oder psychisch, sozial oder kulturell, quantitativ oder qualitativ sein.“ (Groth 1960, S. 631) Groth stellt hier fest, dass eine alleinige Wissenschaft ‚Journalistik‘ aufgrund des Bedeutungswandels des ihr zugrunde liegenden Wortes ‚Journal‘ nicht mehr möglich sei. Auch die Abgrenzung von der Praxis im Alltagssprachlichen sei bislang kaum geglückt. Er schlägt aber noch 1960 vor, den Namen Journalistik für die „spezielle wissenschaftliche Erforschung der Zeitung“ beizubehalten (vgl. Groth 1960, S. 626). Diese systematische Anregung – über deren Sinn man rückblickend sicherlich kritisch diskutieren könnte – sollte sich aber ebenso wenig durchsetzen, wie so viele andere theoretische und systematische Vorschläge, die Groth hinterlassen hat. (siehe Kapitel III.4) Vgl. Münster 1935 Vgl. für einen umfassenden fachgeschichtlichen Überblick Hachmeister 1987. Eine eingehende Analyse der Leipziger Journalistik hat Blaum (1985) vorgelegt.
46
II Zur Verortung des Journalismus
mäßigkeiten der Entstehung und der Entwicklung der Presse (und auch des Rundfunks, des Fernsehens und der filmischen Publizistik) und ihrer Funktionen und der Gesetzmäßigkeiten ihrer Wirkungsweise“ konzipiert.66 Im Vergleich zur Situation in der Bundesrepublik erfuhr die Journalistik damit in der DDR früh institutionelle Anerkennung. Neben den Schriften der in Leipzig Lehrenden67 erschienen in den 1960er Jahren zwei Jahrgänge einer „Zeitschrift für Journalistik“, die von der Leipziger Sektion herausgegeben wurde. Hinzu kam ein umfassendes Angebot an Studienbriefen, die dem Fernstudium dienen sollten. Die relative Konjunktur der Journalistik in der DDR war auch bedingt durch die Koppelung des Faches an Staatsinteressen. Im ‚Wörterbuch der sozialistischen Journalistik‘ wurde die Disziplin wie folgt beschrieben: „Marxistisch-leninistische Gesellschaftswissenschaft, die den Journalismus als Erscheinung des ideologischen Klassenkampfes und als geistig-praktische Tätigkeit untersucht. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt dem sozialistischen Journalismus als einem Führungs- und Kampfinstrument der Arbeiterklasse beim Aufbau des Sozialismus und im ideologischen Kampf gegen den Kapitalismus. Sie liefert die theoretischen Grundlagen für die Beherrschung und Weiterentwicklung dieses Instruments.“68
Auch der Nestor der DDR-Journalistik, Budzislawski, begründet die enge Anbindung der Leipziger Journalistik an den ideologischen Überbau des Systems aus der Bedeutung der Presse im Klassenkampf, in dem sich weder Journalismus noch Gesellschaftswissenschaften neutral verhalten könnten, sondern sich in den Dienst der Durchsetzung eines objektiv feststellbaren Klasseninteresses zu stellen hätten.69 Aus dieser Sichtweise war es den Leipziger Forschern nicht möglich, aus den bereits etablierten Ansätzen der Publizistikwissenschaft und der neuen US-amerikanischen ‚mass communication research‘ einen eigenen Ansatz weiterzuentwickeln, wie es im Westen geschehen ist. Sie haben sich vielmehr nach eigenem Verständnis ein FachFundament erarbeiten müssen, das mit seiner Perspektive tatsächlich einen ganz eigenen Weg aufzeigt: Die Presse und ihre jüngeren medialen Ergänzungen sind von der sozialistischen Journalistik als „Erscheinungsformen und Instrumente bestimmter gesellschaftlicher Kräfte und Bewegungen, Instrumente des Klassenkampfes“ aufgefasst worden.70 Mit den späteren ‚bürgerlichen‘ Entwürfen gemeinsam hatte auch diese Journalistik ihren Bezug zur Praxis – aufgrund der gesellschaftstheoretischen Ideologisierung war dies allerdings weniger direkt die Praxis des Journalismus als vielmehr die Rolle des Journalismus in der Praxis des Klassenkampfes: „Wie das Fach ‚Politische Ökonomie‘ dem wirtschaftlichen Aufbau des Sozialismus dient, dabei aber Teil der gesamten marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaft bleibt, so ist es der Auftrag der Journalistik, ideologisch zum Sieg des Sozialismus beizutragen, also eine aktive Rolle zu spielen, und dem Journalisten nicht nur die Funktion des Chronisten oder des historischen Betrachters zuzuweisen.“71
Presse- und Rundfunkanalyse ist in der sozialistischen Journalistik damit nur im Rahmen einer spezifischen Form der Gesellschaftsanalyse möglich gewesen. Erst die Wechselbeziehungen journalistischer Arbeit zu den historischen Entwicklungen und den sozioökonomischen Zuständen der Gegenwart versprachen Aufschlüsse über Rolle und Leistung des Journalismus in der Durchsetzung der klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft. Da dieses Wissen über den Journalismus durch Ausbildungsleistungen wieder in Praxis umzusetzen war, entstanden enge 66 67 68 69 70 71
Redaktionskollegium 1961, S. 3f. Vgl. Dusiska u.a. 1979; Walther 1968; Budzislawski 1966. Dusiska u.a. 1979, S. 116f. Vgl. Budzislawski 1966 Ebd., S. 45 Ebd., S. 46. Diese Perspektive ist durchaus auch vergleichbar zu der im Westen propagierten Publizistik der Tat. Vgl. z.B. Haacke 1970, S. 455.
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47
Verbindungen der Leipziger Sektion zur journalistischen Praxis. Die Wissenschaft sollte dazu beitragen, dass sich eine revolutionäre und sozialistische Presse in Einheit und Einklang mit der marxistisch-leninistischen Arbeiterpartei entwickelt, dass die Partei die Presseentwicklung steuern kann und dass sich Journalisten als Parteifunktionäre begreifen und entsprechend ihre Tätigkeit ausfüllen.72 Als in den 1970er Jahren auch in der Bundesrepublik eine hochschulgebundene Journalistenausbildung zum Thema wurde, wurde der Name Journalistik trotz des zeitweiligen Abbruchs der Begriffstradition „wie selbstverständlich“ wieder verwendet.73 Damals kam es zur Etablierung mehrerer Journalistik-Institute in Westdeutschland.74 Eingebettet waren diese Fachgründungen in eine Debatte über die Notwendigkeit und die Formen einer wissenschaftlich gestützten Ausbildung für Journalisten, die über das von einigen als „technokratisches Konditionstraining”75 verschmähte ‚learning on the job‘ im Volontariat hinausführen sollte.76 Sätze wie: „Einem, der’s kann, über die Schulter zu blicken – das galt schon immer als die hohe Schule des Journalismus“77 zeigen exemplarisch, mit welchem ideologischen Ballast auf Praktikerseite die junge Journalistik konfrontiert war. Trotzdem sollte sie als „Brückenkopf zwischen Kommunikationswissenschaft und journalistischer Praxis“78 wissenschaftliche Journalismusforschung mit einem gezielten Einwirken auf eine zu verbessernde Praxis verbinden. Rager führt die Revitalisierung der in Westdeutschland jahrelang vernachlässigten Ausbildungsdebatte auch darauf zurück, dass bereits zum Ende des vorangegangenen Jahrzehnts durch die Ideologiekritik der „68er“ der politische Konsens der Bundesrepublik ‚brüchig‘ geworden war und daher auch die Kriterien der Nachrichtenselektion und -präsentation zunehmend Gegenstand öffentlicher Erörterung wurden.79 Lange Jahre war die empirische Journalismusforschung nur wenig gepflegt worden; erst in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren setzte ein Forschungs-Boom in diesem Feld ein, der ganz offenkundig als Folge des gewachsenen gesellschaftlichen Interesses am Journalismus sowie seiner Aufgabe und seiner Funktionsweise zu betrachten ist.80 Aus der Beobachtung der gesellschaftlichen Veränderungen erwuchs damals das Bewusstsein, dass eine derart demokratiekonstitutive Aufgabe wie der Journalismus angemessen ausgeübt werden muss und daher die Protagonisten über eine hinreichende Ausbildung für ihre Tätigkeit verfügen sollten. Die zentralen Argumente der damaligen Debatte fasst Rager zusammen: • •
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73 74 75 76 77 78 79 80
„Das Problem der Ausbildung für journalistische Berufe ist ein Problem der Gesamtgesellschaft. Der nicht an Ausbildungskriterien gebundene Zugang zu den verschiedenen journalistischen Berufen hat die berufliche Mobilität und Unabhängigkeit der Journalisten beeinträchtigt. Die uneinheitliche und oft geringe (schulische und/oder universitäre) Vorbildung und die meist einseitige berufliche Ausbildung vieler heute im Journalismus Tätigen beeinträchtigen das demokratische Funktionieren der Massenmedien.
Diese Ziele formuliert Budzislawski (1962, S. 44) in einem programmatischen Aufsatz über die Journalistik als Essentials eines sozialistischen Journalismus. Der Theorie-Praxis-Bezug ist innerhalb des totalitären Regimes der DDR niemals streitig gewesen. Ein Blick in die Leipziger Publikationen bis 1989 zeigt deutlich, dass sich Wissenschaft den politisch-ideologischen Prämissen unterordnete (vgl. Blaum 1985). Weischenberg 1990a, S. 47 Vgl. Weischenberg 1992a, S. 20f.; Löffelholz 1990 Pätzold 1975, S. 128 Diese Debatte ist ausführlich dokumentiert in Heft 3-4/1-2 1974/1975 der Fachzeitschrift Publizistik. Meyer/Frohner 1992, S. 1 Ruß-Mohl 1985, S. 265 Vgl. Rager 1978; zur Problematik der Nachrichtenobjektivität weitergehend: Rager 1973. Vgl. Böckelmann 1993, S. 37
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II Zur Verortung des Journalismus • • •
Die vielfältigen Aufgaben der journalistisch Tätigen machen in der demokratischen Gesellschaft eine Verbesserung der beruflichen Aus- und Fortbildung notwendig. Aus berufspraktischen und gesellschaftspolitischen Gründen ist für Kommunikationsberufe eine wissenschaftliche Bildung unerläßlich. Ein breiteres Angebot an Bildungsmöglichkeiten und eine weitgehende Akademisierung der Journalistenausbildung sollte den Berufszweig nicht reglementieren.“81
Darüber hinaus machten auch die steigende gesellschaftliche Komplexität und der Ausbau der Öffentlichkeitsarbeit bei Verbänden und Behörden aus damaliger Sicht eine „Verbesserung“ des Journalismus durch „eine ‚bessere‘ Ausrüstung der Person des Journalisten“ notwendig.82 Journalismus müsse sich kontinuierlich einer komplexer werdenden Umwelt anpassen, um noch angemessen über politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Belange berichten zu können. Diese Anpassungsleistung könne organisatorisch durch zunehmende Binnendifferenzierung der Medienproduktion und individuell durch „Steigerung der Leistungsfähigkeit des einzelnen Journalisten, also durch mehr und bessere Journalistenausbildung“83 geleistet werden, führt Ruß-Mohl aus. Zumindest für letzteres reichten Marktmechanismen alleine nicht, sondern war gesellschaftliche – und im Besonderen universitäre84 – Verantwortungsübernahme notwendig. Um auf diesen Befund angemessen zu reagieren, musste universitäres Neuland betreten werden: Während in den USA eine wissenschaftliche Journalistenausbildung schon seit Jahrzehnten etabliert war, führten die in Deutschland üblichen Studiengänge der Kommunikationswissenschaft in der Regel nicht systematisch in den Journalismus ein, sondern legten ihr Hauptaugenmerk auf die sozialwissenschaftlich-empirische Erforschung der Massenkommunikation.85 In Abgrenzung zu diesen Zweigen strebt die Journalistik nicht nur als Wissenschaft vom Journalismus nach Erkenntnissen über ihren Untersuchungsgegenstand, sondern auch nach Operationalisierungen dieser Erkenntnisse für die Praxis. Journalistik ist nicht nur empirische Journalismusforschung und Journalismustheorie, sondern beansprucht – wie bereits einleitend konstatiert – auch einen Ausbildungsauftrag, durch dessen Erfüllung sich Qualität und Funktionalität des Journalismus in der Praxis verbessern sollen. Saxer hat diesen Zusammenhang der Ausbildungsfrage mit der inhaltlichen Informationsqualität in einer modernen Massendemokratie bereits in den 1970er Jahren in einem viel zitierten Aufsatz zu Funktionalität und Dysfunktionalität von akademischer JournalistenAusbildung betont und für die konsequente Einbettung der Ausbildungsfrage in einen gesellschaftlichen und politischen Gesamtzusammenhang plädiert: „Angelpunkt der ganzen Betrachtung ist die manifeste Hauptfunktion journalistischer Aus- und Fortbildung. Als diese kann die Befähigung ihrer Absolventen zur Produktion bzw. Produktionskontrolle systemgerechter publizistischer Aussagen bezeichnet werden. Systemgerecht ist Publizistik in demokratischen Gesellschaften dann, wenn sie auf ihre publizistische Institution bzw. auf ihr Medium, ihr Publikum, auf die jeweilige Publikationsmaterie und auf die ideellen Grundvoraussetzungen von Demokratie abgestimmt ist. Für eine so definierte journalistische Aus- und Fortbildung sind offenbar die Vermittlung und der Erwerb entsprechender Einstellungen ebenso wichtig wie der Erwerb von Fertigkeiten.“86
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Rager 1978, S. 29f. Ebd., S. 31 Ruß-Mohl 1987, S. 6 Bis heute wird vorgeschlagen, „[…] Journalistik mit ihrem relativ hohen Lehr- und Betreuungsbedarf, der stark handwerklichen Komponente und den erforderlichen vielfältigen technischen Lehrmittel (elektronische Redaktionen für Print, Radio und Fernsehen) eher an einer Fachhochschule anzusiedeln“ (Bohrmann 1999, S. 112). Vgl. Knoll 1974/1975, S. 242 Saxer 1974/1975, S. 281
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Einzig zu befriedigen seien diese Ansprüche durch eine Kombination von Volontariat und Fachstudium, in der sowohl die für die Praxis notwendigen technisch-instrumentellen Fähigkeiten vermittelt werden, als auch mit akademischen Mitteln eine Reflexion des Berufsbildes möglich ist.87 Diesen Weg haben die meisten Journalistik-Institute beschritten.88 Strikt wendet sich Saxer hingegen gegen eine rein verwissenschaftlichte Ausbildung, die seiner Ansicht nach allzu oft an den berechtigten Erwartungen der Praxis vorbeigehe und statt dessen ideologisch und interessengerichtet sei; er greift in diesem Zusammenhang vor allem den von kritischen Ansprüchen getragenen Fachtypus der Kommunikationswissenschaft mit „seinen exorbitanten Autonomieansprüchen, seiner Verlegerfeindlichkeit oder seiner Praxisferne“89 scharf an. Diese pointierte und durchaus umstrittene Sichtweise zeigt den latenten internen Konflikt auf, in dem sich die praxisorientierte Journalistik immer befindet und den Blöbaum wie folgt fasst: „Ist Integration von Theorie und Praxis das Ziel von Journalistenausbildung an der Hochschule, dann ist die Journalistik in einem ständigen Zielkonflikt: Sollen Journalisten gut ausgebildet werden, um im Beruf reibungslos bestehen zu können? Oder sollen Journalisten gut ausgebildet werden, damit darüber der Journalismus der Gesellschaft besser werde?“90
Diese Fragen verdeutlichen, dass der Begriff der Praxis allein noch zu unscharf ist, um die Aufgaben der Journalistik näherungsweise zu beschreiben. Er ist vor allem nicht näher dahin spezifiziert, ob mit ihm Aspekte der beruflichen Arbeit oder eben auch darüber hinaus gehende Aspekte kommunikativer Interaktion gemeint sind. Je nach dem gewählten Referenzpunkt kommt eine journalistikwissenschaftliche Journalistenausbildung zu je verschiedenen Praxismodellen. Daher lassen sich auch Saxers – explizit auf Systemkonformität zielende – Überlegungen zu einem funktionalen Journalismus und der entsprechenden Ausbildung kritisieren: Dadurch wird dem Journalisten die Rolle eines „Widerspruch-Katalysators“91 zugewiesen, der zwar sachverständig einen Ausgleich zwischen den gesellschaftlichen Interessen herbeiführen soll, ohne aber zugleich auch die Produktionsbedingungen seiner Arbeit zu reflektieren. Dass aber eine nicht nur demokratiepolitische, sondern auch politökonomische Analyse als Bestandteil der Journalistenausbildung notwendig ist, bekräftigen Vertreter einer gesellschaftskritisch orientierten Kommunikationswissenschaft. Sie fordern eine wissenschaftliche Ausbildung nicht nur hinsichtlich der Vermittlungsinhalte, sondern auch hinsichtlich der Analyse von Produktionsbedingungen und von Verwertungsinteressen.92 Nur dadurch könne der Tendenz entgegengewirkt werden, dass durch die konkrete Organisationsform der Massenmedien die Entfaltung von Pressefreiheit einseitig eingeschränkt werde. Folglich müsse die Debatte über die Journalistenausbildung einhergehen mit einer kommunikationspolitischen Diskussion der inneren Verfassung von Medienbetrieben, so die klassische Forderung: „Die kommunikationspolitische Einordnung der Ausbildungsprobleme muß also sowohl die unterschiedlichen Professionalisierungstendenzen in den Produktionsbetrieben der gesellschaftlichen Kommunikation berücksichtigen und muß gleichermaßen nach den veränderbaren Strukturen fragen, durch die jene Produkte ermöglicht oder verhindert werden, die den gesellschaftlichen Bedürfnissen nach Informationen entsprechen.“93
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Vgl. ebd., S. 307 Vgl. z.B. den Abschlussbericht (1981) des Dortmunder Modellversuchs. Saxer 1974/1975, S. 301 Blöbaum 1999, S. 216 Schütt 1981, S. 179 Vgl. Pätzold 1975, S. 27 Ebd., S. 41
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II Zur Verortung des Journalismus
Ein solcher Ansatz unterwirft Journalistenausbildung in viel stärkerem Maße einem normativen Anspruch, der sich aus einer gesamtgesellschaftlichen Analyse und aus einem bestimmten gesellschaftspolitischen Ideal ableiten lässt. Anders als bei Saxer geht es hier nicht um Funktionalitäten hinsichtlich des Status Quo, sondern um das immanente Ziel, Gesellschaft – zumindest aus der Sicht ‚kritischer‘ Wissenschaftler – ‚freier‘ und ‚gerechter‘ zu gestalten. Journalismus wird als zumindest bedingt steuerbare Kraft sozialen Wandels betrachtet.
1.3
Programm der Journalistik
In der Journalistik herrscht – trotz der noch zu erörternden unterschiedlichen theoretischen Zugänge und über die ideologischen Differenzen hinsichtlich der Einbeziehung der materiellen Produktionsbasis hinweg – weitgehend Einigkeit darüber, dass Wissenschaft die Praxis des Journalismus verbessern helfen kann. Zentrale Grundlage dafür ist die Integration von wissenschaftlicher Forschungs- und praktischer Ausbildungsarbeit. 94 Obwohl dieses Ziel manchem immer noch wie eine „Quadratur des Kreises“ anmutet95, dürfte im wissenschaftlichen Diskurs folgende formale Definition, in der zentrale Charakteristika des Faches gebündelt werden, weitgehend Konsens beanspruchen können: „Journalistik ist die Wissenschaft vom Journalismus und ist hochschulgebundene, berufsvorbereitende Ausbildung zum Journalismus. Die Journalistik ist eine Teildisziplin der Kommunikationswissenschaft und geht doch durch ihren intensiven Praxisbezug über die Kommunikationswissenschaft hinaus.“ 96
In diesem Verständnis werden wissenschaftliche Forschung und auf Praxis gerichtete Ausbildungsleistung addiert. Nimmt man den Gründungsimpetus der Journalistik ernst, dann ist darauf hin zu arbeiten, dass Forschung und Ausbildung sich wechselseitig beeinflussen und stützen. Die Wissenschaft soll dadurch nicht praktizistischer, wohl aber sensibler und offener (oder in der Sprache der Systemtheorie: irritierbarer) gegenüber dem Journalismus werden. Darauf weist Pätzold in einem weiteren aktuellen Definitionsvorschlag hin: „Die Journalistik stellt die Regelhaftigkeit des Journalismus mittels sozialwissenschaftlicher Methoden dar und entwickelt aus ihnen Theorien mit dem Ziel, wie Ansprüche an die journalistische Qualität im jeweiligen medialen Umfeld eingelöst werden können. Durch die Zuordnung unterschiedlicher Perspektiven werden die Beziehungen erforscht, die das Berufssystem Journalismus prägen. Die Journalistik ist eine praxisbezogene wissenschaftliche Disziplin und somit ein Ausbildungsfach. Die Integration von Theorie und Praxis ist ihre Funktion.“97
Auch aktuell wird die Journalistik als „kritischer Impulsgeber“98 gesehen, der eingeschliffene Routinen des Journalismus durch wissenschaftlichen Rat verändern und verbessern soll. RußMohl hat schon 1985 ein Arbeitsprogramm für die Journalistik entworfen, das vor allem aus der Analyse der Berichterstattung heraus Verbesserungsvorschläge unterbreiten und so als 94
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Dieser Ausbildungsanspruch wird von Praktikern bisweilen aggressiv zurückgewiesen. So riet die damalige Leiterin der Henri-Nannen-Journalistenschule, Ingrid Kolb (2004, S. 72) noch im Jahr 2004 angehenden Journalisten, von einem Journalistik-Studium dringend ab – mit der ebenso eigenwilligen wie unzutreffenden Begründung: „Dort lernt man nicht, einen Kommentar zu schreiben, sondern einen Kommentar zu analysieren.“ Machill 2005, S. 203 Neverla/Grittmann/Pater 2002b, S. 11. Pöttker (2005, S. 11) nennt die Journalistik ein „berufsorientiertes Fach mit journalismusspezifischem Sachwissenanteilen und Praxisorientierung in Lehre und Forschung“. Pätzold 2000, S. 426 Neuberger 2002b, S. 59
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„Pfahl im Fleische des von Zeitknappheit bedrängten (und schon deshalb nur begrenzt selbstreflektiven) Journalismus“99 wirken soll. Am Dortmunder Journalistik-Institut wiederum wurde Journalistenausbildung bewusst „[…] von Beginn an nicht primär als Persönlichkeitsbildung der Journalisten gesehen, sondern als Vermittlung von Handwerk, Wissen und Reflexionsfähigkeit für einen gesellschaftlich wichtigen Tätigkeitsbereich“.100 Ein ausreichend belastbares und anschlussfähiges theoretisches Fundament ist angesichts solcher Zielvorstellungen keineswegs überflüssig – im Gegenteil: Journalistik muss in der Lage sein, Auskunft über Idee und Aufgaben des Journalismus zu geben, wenn sie ihre intendierte Praxisrelevanz auch tatsächlich entfalten will. Mit anderen Worten: Das Fach muss in der Lage sein, seine inhaltlichen Ausbildungsziele zu benennen.101 Das zwingt dazu, ein Bild davon zu entwickeln, wie der Journalismus aussehen soll, der in der Praxis von den Absolventen erwartet wird – eine Frage, in deren Beantwortung die skizzierten ideologischen Differenzen innerhalb des Faches an die Oberfläche kommen und nicht nur miteinander, sondern auch mit den ideologischen und ökonomischen Interessen der Medienbesitzer in Konflikt geraten (können). Schon im Abschlussbericht des Dortmunder Journalistik-Modellversuches wird Anfang der 1980er Jahre festgestellt, dass Versuche, die Gegensätze zwischen den Erwartungen von Theorie und Praxis zu entschärfen, solange wenig fruchtbar bleiben werden, „[…] wie eine theoretisch fundierte und empirisch abgesicherte Durchdringung des Tätigkeitsfeldes journalistischer Tagesarbeit nicht vorliegt“102. Das Ausbleiben eines intensiviert geführten theoretischen Diskurses über den Sinn von Journalistik und vor allem von Journalismus ist angesichts der administrativen und wissenschaftspolitischen Aufgaben, die die Fachgründer in den 1970er Jahren bewältigen mussten, zwar zu verstehen. Letztlich aber hat dieses Desiderat zu einer wissenschaftssystematischen Schwäche beigetragen, die sich im Selbstverständnis der Journalistik-Institute und -Studiengänge niederschlägt: „Die Identität der wissenschaftlichen Disziplin ‚Journalistik‘ bestimmte sich nach dem Start der Modelle durch die (jeweilige) Ausbildungspraxis: Journalistik ist, was in den Studiengängen gleichen Namens gelehrt wird. Die Institutionen, welche ihre Lernziele durchweg pragmatisch festlegen, standen für die Inhalte.“103
Nicht zuletzt die journalistische Praxis, die auf einen korrespondierenden theoretischen Erklärungsrahmen zu Analyse- und Reflexionszwecken angewiesen wäre, scheint dessen Entwicklung durch ihre bereits skizzierte demonstrative Theorieabstinenz lange Jahre verhindert zu haben. Ein theoretischer Rahmen lag nicht im Interesse derjenigen, die sich aus der Praxis heraus für wissenschaftliche Ausbildung stark machten, sondern bessere Vorbereitung für die Praxis. Mithin nicht reflexives Wissen, sondern überwiegend instrumentelle Fertigkeiten, die auf ‚Funktionstüchtigkeit‘ in der Praxis zielten.104 Und auch die Studierenden sind – bis auf die Ausnahme einer kleinen ‚specialty‘-Gruppe wissenschaftlich Interessierter – vorwiegend mit klarer und einseitiger Praxis-Orientierung in die Journalistik-Studiengänge gekommen. Die 99 100 101
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Ruß-Mohl 1985, S. 265 Blöbaum 1999, S. 214 Zum Beispiel hat der damalige Dortmunder Modellstudiengang bereits in den 1970er Jahren seine inhaltlichen Ziele sowohl aus dem konstatierten Ausbildungsdefizit als auch aus den normativ-rechtlichen Anforderungen an öffentliche Informationsleistungen abgeleitet (Abschlußbericht 1981, S. 12; vgl. auch die Beiträge in Schäfer/Schiller/Schütte 1999 und Eurich 2002a). Abschlußbericht 1981, S. 40 Weischenberg 1992a, S. 22 Journalisten schätzen die Notwendigkeit einer öffentlichen Reflexion ihrer eigenen Berufsrolle Befragungen zufolge nicht sonderlich hoch ein (vgl. z.B. Schmolke 1982). Das Bewusstsein für Notwendigkeit eines von der Journalistik bereitgestellten Reflexionswissens kann daher noch wachsen.
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II Zur Verortung des Journalismus
Journalistik-Studiengänge hätten der normativen Kraft des Praktizismus wenig kritisches Potenzial entgegenzusetzen, urteilten die Autoren einer Studie nach knapp einem Jahrzehnt ‚Journalistik‘ ernüchtert: „Die Protagonisten eines Ausbildungsweges ‚Journalismus‘ haben die kompromißlose Sozialisation des redaktionellen Alltags, die letztlich jeden kritischen Ansatz vertrocknen läßt, grob fahrlässig unterschätzt. Selbst wenn in Einzelfällen ein Student kritisch gegenüber dem vorherrschenden Journalismus eingestellt, finanziell unabhängig und ideell durch seine Umgebung gefestigt in den journalistischen Alltag geht, würde dieser entweder auch ohne akademische Ausbildung in Spitzenpositionen gelangen können oder durch die bekannten Repressionen psychisch zugrunde gehen, zumindest jedoch angepaßt und systemkonform (mit allen entsprechenden Neurosen) seine Karriere verfolgen. Alle übrigen Studenten scheinen ohnehin nicht mehr zu wollen.“105
Der ‚Mainstream‘ der wissenschaftlichen Journalismusforschung, der sich – wie überall in der Kommunikationswissenschaft nach der Abkehr von der normativen Tradition in den 1960er Jahren – durch Distanz zu theoretischen Modellen, die über eine mittlere Reichweite hinausweisen, ausgezeichnet hat, konnte also auch aus der Praxis heraus keinen Anstoß für eine Theoriediskussion erwarten. Lange Jahre ist die Journalistik daher nichts weiter als eine Wissenschaft gewesen, „[…] die es nur als Hochschulinstitution gibt, deren Konturen als wissenschaftliche Disziplin bis heute aber undeutlich geblieben sind“.106 Ihre in dem eindeutigen Praxisbezug liegende „Chance für die kommunikationswissenschaftliche Lehre, wie sie sonst keine andere Sozialwissenschaft vorweisen kann“107, haben die Journalistik-Studiengänge zunächst kaum systematisch – und das heißt auch: zunächst kaum theoriegeleitet – genutzt. Dabei dürften die Chancen auf ein belastbares gemeinsames Fundament der Journalistik vor allem im Vergleich zur konventionellen Kommunikationswissenschaft gar nicht so schlecht stehen, wenn sich die Journalistik auf ihr klar definiertes Untersuchungsobjekt Journalismus konzentriert. In den letzten Jahren hat folgerichtig ein Konsolidierungsprozess des Faches in theoretischer wie in institutioneller Hinsicht begonnen. Die zunehmende Ausdifferenzierung universitärer Angebote im Bereich der Journalistik hat aber nicht nur zur Kanonisierung, sondern auch zu einer wachsenden Unübersichtlichkeit der verschiedenen Theorieansätze, Forschungsmethoden und Ausbildungsmodelle geführt.108 Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Journalistik wissenschaftliche Journalismusforschung und praktische Journalistenausbildung zu vereinigen hat, und dass dies in sozialwissenschaftlichem (bisweilen auch in kulturwissenschaftlichem109) Rahmen geschehen soll.110 Die Journalistik verfügt dabei nach allgemeiner Auffassung über ein doppeltes Profil, welches sowohl durch wissenschaftlich-universitäre als auch durch medienpraktischjournalistische Referenzen geprägt ist. Dass diese Doppelperspektive konstitutiv für das Fach
105 106 107 108 109 110
Hachmeister/Baum/Schuppe 1983, S. 200 Weischenberg 1992a, S. 9; ähnlich schon Ruß-Mohl 1985, S. 265 Hachmeister/Baum/Schuppe 1983, S. 201 Vgl. Neverla/Grittmann/Pater 2002b, S. 11f. Vgl. zu dieser Perspektive für die Journalistik Pätzold 2002; Pöttker 2004. Vgl. Rühl 1985b, S. 239: „Heute lediglich ‚skills‘ im Sinne handwerklicher Techniken des Journalismus zu lehren würde bedeuten, die Herausforderungen einer zeitgemäßen Ausbildung für Berufskommunikatoren zu verkennen. Die Kommunikationswissenschaft hat vielmehr die schwierige Aufgabe, eine in der Praxis brauchbare Journalistenausbildung eng zu verweben mit einem Studium wissenschaftlicher Erkenntnisse.“ Das schließt nicht aus, dass journalistische Ausbildung von manchen Fachvertretern doch in erster Linie auf die Etablierung einer eigenständigen Kompetenz reduziert wird (vgl. Donsbach 1977, S. 239), um so vermeintlich bestehende Legitimationsdefizite des Berufs auszugleichen (vgl. Donsbach 1979b, S. 221f.)
1 Wissenschaft zur Verbesserung des Journalismus
53
ist, kann als unumstritten angesehen werden.111 Anders sieht es bei der Frage aus, wie diese Integration von Theorie und Praxis wissenschaftlich geleistet werden soll. Welches Fundament bietet die Kommunikationswissenschaft dafür? Reicht das weit verbreitete empirischanalytische Selbstverständnis sozialwissenschaftlicher Forschung aus, um Brücken in die Praxis zu schlagen? Es sind Zweifel angebracht, dass die Journalistik von der Kommunikationswissenschaft ausreichend ausgestattet worden ist, um ihre Aufgabe zu bewältigen. Wenn die Journalistik darauf zielt, den Journalismus und damit einen zentralen Bedingungsfaktor der Qualität öffentlicher Kommunikation zu verbessern, dann reicht es angesichts der gesellschaftlichen Ansprüche an den Journalismus nicht aus, dies im Rahmen rein administrativ verstandener Auftrags- und Anwendungsforschung abzuarbeiten. Vielmehr ist es notwendig, „Journalistik als kritische Wissenschaft“ zu verstehen112, die Widersprüche zwischen normativen und gesellschaftlichen Anforderungen an den Journalismus und seiner empirisch feststellbaren Umsetzung in den Massenmedien nicht nur registriert, sondern in anwendungsbezogener Ausbildungspraxis einen Abbau dieser Widersprüche anstrebt. Dieser Standpunkt, verspricht ein wissenschaftstheoretisches Fundament für eine erfolgreiche Integration von Theorie und Praxis, die sich nicht in der Kombination von Einführungsvorlesungen in die Medienwirkungsforschung und Lehrredaktionen erschöpft, sondern das Fach in einen immanenten Bezug zu der von ihm untersuchten und zu fördernden Praxis bringt. Dieses Vorhaben ist voraussetzungsreich: Beansprucht die Journalistik eine kritischtheoretisch fundierte Perspektive für sich, setzt sie sich auch einer weitreichenden Begründungspflicht hinsichtlich der normativen Aufgaben aus, die sie dem Journalismus zuschreibt und die als inhaltliche Ausbildungsziele herangezogen werden. Angesichts der lange Zeit problematischen wissenschaftstheoretischen Positionierung der kommunikationswissenschaftlichen Forschung und angesichts der nur gering ausgeprägten theoretischen Ansätze innerhalb des Faches ist diesbezüglich noch viel aufzuholen, bevor ein tragfähiges Fundament einer normativen und kritischen Journalistik auch gegenüber der empirisch-analytischen Selbstbescheidung vieler Fachvertreter erfolgreich verteidigt werden kann. 111
112
Nur wenige plädieren heutzutage noch für eine einseitige Entscheidung und Auflösung dieses Dualismus. Dazu gehören Ruhrmann u.a. (2000), die in der dezidierten Ausbildungsabsicht der Kommunikationswissenschaft eines der Hauptprobleme sehen: Schließlich zwinge Ausbildung dazu, den meist instrumentalistischen Wünschen der Praxis zu folgen, um situatives Handlungswissen zu schaffen, und darüber die Verpflichtung der universitären Bildung auf ein Komplexität reduzierendes Reflexions- und Regelwissen zu vernachlässigen. „Die Bedeutung einer solchen Bildungsfunktion liegt angesichts einer Gesellschaft, die wegen ihrer Pluralisierung und arbeitsteiligen Spezialisierung zunehmend auf öffentliche Kommunikation und deren mediale Vermittlung angewiesen ist, geradezu auf der Hand. Reflexions- und Regelwissen ermöglicht es dem Handelnden, die überbordende Vielfalt des Phänomens ‚öffentliche Kommunikation‘ auf die Einheit ihrer funktionalen Basismechanismen zurückzuführen. Bildung vermittelt aber nicht nur diese Orientierung, sondern versetzt den Gebildeten darüber hinaus theoretisch und methodisch in die Lage, das erworbene Orientierungswissen immer wieder eigenständig auf den neuesten Stand zu bringen. Der Begriff der Bildung beinhaltet somit Orientierung und die (erlernbare) Fertigkeit zur Selbstorientierung […].“ (ebd., S. 302f.) Während Ausbildung die Spezialisierungen der Medienberufe nachvollziehen müsse, bleibe Bildung den Generalisierungen weiterhin verpflichtet. Je mehr die Universität also ausbilde, desto mehr kümmere sie sich um die Spezialisierungen und desto weniger könne sie bilden. Die Folge ist aus der Sicht der Autoren ein sinkender Gesamtnutzen des Faches für die Gesellschaft. Sie plädieren dafür, gerade durch Verzicht auf Ausbildung und durch Berufung auf Bildung, den sozialen Wert der Disziplin wieder kenntlich zu machen. Es ist unschwer zu erkennen, dass ein solches Konzept diametral dem der vorliegenden Arbeit entgegensteht. Zumal die Autoren den Dualismus von journalistischer Ausbildung und wissenschaftlicher Bildung ohne Not als Dichotomie konzipieren und sich gar nicht auf den Versuch einlassen, diese beiden gleichrangigen Ziele der Journalistik immanent miteinander zu verzahnen, um szientistische Betrachtungen ebenso zu verhindern wie instrumentalistisch verkürzte Vermittlung technischer Fertigkeiten. Pätzold o.J., S. 14
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2
II Zur Verortung des Journalismus
Theoretische Optionen „Elementarste gesellschaftliche Funktion einer Universitätsdisziplin ist ja immer noch die Produktion von Theorie als maximal verläßlichem und generalisierbarem Wissen und deren Instruktion, gegebenenfalls auch deren Einsatz zur Lösung außeruniversitär sich stellender, durch Wissenschaft lösbarer Probleme.“113
Die Journalistik beruht als aus der Kommunikationswissenschaft ausdifferenziertes Fach weitgehend auf einem nach allgemeineren Kriterien gestalteten Theoriefundus, den sie nicht selbst erarbeitet hat. Wenn also im Folgenden die theoretischen Optionen der Journalistik thematisiert werden, so ist es dazu unumgänglich, eine breitere kommunikationswissenschaftliche Perspektive mit einzubeziehen, um die relevanten theoretischen Ansätze in den Blick zu bekommen. Die Journalistik ist angesichts dieser Situation mit dem Problem konfrontiert, dass für die sozialwissenschaftlich orientierte Kommunikationswissenschaft in erster Linie empirisch-analytische Überlegungen eine Rolle spielen, während normativ-praktische sowie kritische Positionen, die eine stärkere Öffnung zu ethischen Fragen ermöglichen, für sie weniger Relevanz besitzen. Die etablierte Universitätsdisziplin Kommunikationswissenschaft ist oftmals einzig auf die methodisch zu bewertende Qualität ihrer Forschungsergebnisse orientiert, während die Journalistik sich in stärkerem Maße auch mit normativen Fragen der Praxis auseinandersetzt, die auf Basis empirisch-analytischer Modelle nur unzureichend zu beantworten sind, solange diese nicht mit gegenüber praktischen Fragen sensiblen theoretischen Fundierungen versehen werden.114 Die Folge der empirischen Ausrichtung der Kommunikationswissenschaft ist nicht unbedingt eine Theorielosigkeit der Einzelarbeiten, sondern vielmehr ein importierter TheorieEklektizismus, der in der Gesamtsicht keine übergreifende theoretische Struktur des Faches erkennen lässt. Zu Recht sieht Burkart das seit langem beklagte Defizit darin, dass die Möglichkeit, „Detailergebnisse nach übergeordneten Gesichtspunkten systematisieren zu können“, noch nicht entwickelt worden ist.115 Vielmehr, so betonte schon Eurich, müsse die Aggregation von Einzelergebnissen die notwendige Struktur ersetzen, so dass Theorie zum „deskriptiven Rahmen der mit empirischen Methoden prüfbaren Zusammenhänge“ verkürzt werde.116 Dabei könnte der vielfach beklagte Empirizismus der kommunikationswissenschaftlichen Forschung117 durch angemessene theoretische Systematisierungs- und Interpretationsversuche zu einer fruchtbaren Quelle werden: Das Bild vieler kleiner Studien „[…] verliert in dem Augenblick seine negative Konnotation, in dem diese Arbeiten in einen größeren theoretischen Zusammenhang eingebettet werden“.118 Es ist eine Essenz wissenschaftlichen Wissens, aus erfahrbaren Zusammenhängen auf einen abstrakteren Zusammenhang zu schließen, der die empirisch beobachtbaren Abläufe erklärbar und prognostizierbar macht, wie Burkart erläutert:
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115 116 117 118
Saxer 1980, S. 533 Zumindest zu Beginn gilt für die Journalistik damit auch, was Rühl (1985b, S. 236) für die empirische Kommunikationswissenschaft feststellt: „Mit den nunmehr angewandten, meist aus der empirischen Sozialforschung stammenden Werkzeugen sucht man nach datensicheren Erkenntnissen, während in begrifflich-theoretische Denkzeuge vergleichsweise wenig investiert wird – was den Forschungsergebnissen unschwer anzumerken ist.“ Burkart 1998a, S. 401 Eurich 1977, S. 345 Vgl. für Beispiele dieser Kritik Ruhrmann u.a. 2000; Burkart 1998a; Saxer 1993b; Rühl 1985b; Baum/Hachmeister 1982; Saxer 1980; Ronneberger 1978a; Aufermann 1976; Bohrmann/Sülzer 1973. Theis-Berglmair/Kohring 2000, S. 31
2 Theoretische Optionen
55
„Erst der Blick ‚hinter‘ das unmittelbar Beobachtbare führt zu jenen theoretischen Begründungszusammenhängen, welche (zumeist mehrere ähnliche) real ablaufende Vorgänge einsehbar und damit verstehbar machen.“119
Weniger metaphorisch formuliert Rühl den Anspruch, mit kommunikationswissenschaftlichen Theorien vorwiegend dafür zu sorgen, dass ein Begriffs- und Diagnoseapparat zur Verfügung steht, der in relationaler Perspektive die Beschreibung und die Bewertung des Gegenstands erleichtert.120 Anstoß für die Entwicklung von Theorien und theoretischen Ansätzen ist meist ein Problem, das selbst mit reflektiertem Alltagswissen nicht zu bewältigen ist. Durch wissenschaftlichen Wissenserwerb, der Reflexion von Handeln zu seiner Methode macht, besteht in solchen Situationen die Möglichkeit, durch Rekurs auf deduzierte oder induzierte allgemeingültige Aussagen empirische Abläufe zu erklären, zu verstehen und zu prognostizieren.121 Dabei ist ein langfristig geltendes, einseitig dominierendes Theorie-Paradigma gar nicht unbedingt wünschenswert. Aus vielen unterschiedlichen theoretischen Zugriffsmöglichkeiten lassen sich – wenn sie denn nicht als ausschließend, sondern als einander ergänzend verstanden werden – Komplexitätsgewinne ziehen. Das flexible Nebeneinander unterschiedlicher theoretischer Konzeptionen kann verstanden werden als Ausweis der „Lebendigkeit der Kommunikationswissenschaft, die immer wieder auf Veränderungen im Mediensystem sowie auf veränderte Auffassungen von Medien und Kommunikation reagiert“.122 Problematisch wird dieser Zustand aber, wenn die Volatilität der unterschiedlichen Erklärungsansätze und der Verschleiß an nur fallweise herangezogenen theoretischen Grundkonzeptionen so groß werden, dass sie eine weitergehende Beschäftigung mit Theorie von vornherein diskreditieren. Neverla attestiert der Journalistik heute „eine sehr spezielle Profilbildung im Vergleich zum Mainstream akademischer Disziplinen“; die Kernidentität des Faches ist einerseits ausgeprägt, andererseits aber – wohl nicht zuletzt aufgrund des starken Praxisbezugs – „mit oszillierenden Rändern“ versehen.123 Vor allem seit Beginn der 1980er Jahre haben sich die fachinternen Bemühungen um eine theoretische Unterfütterung deutlich verbessert. Journalistikforscher erarbeiten in zunehmendem Maße Überlegungen zu einer theoretischen Grundlage, die einen Rahmen für die vielfältigen Forschungsaktivitäten im Fach leisten kann. Von theoretischen Erkenntnissen der Wissenschaft vermag außerdem auch die Praxis zu profitieren, wenn der Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis der alltagssprachlichen Kommunikation zugänglich bleibt und sich Theorie nicht vollständig mit Spezialsemantiken aus der Praxisrelevanz zurückzieht. Die Multiperspektive auf den Gegenstand Journalismus, die Löffelholz als Ergebnis der heterogenen und diskontinuierlichen Theorieentwicklung sieht124, hat aber keineswegs nur positive Seiten. Tatsächlich haben die verschiedenen Theorieentwürfe einander nicht abgelöst, sondern sind ein komplexes Wechselverhältnis eingegangen, das sich wie in anderen Fächern auch insbesondere ergibt aus • • • 119 120 121 122 123 124
„der Komplementarität normativer und empirisch-analytischer Betrachtungsweisen; der Komplementarität subjekt- und system-orientierter Theoriebildung; der Komplementarität struktur- und prozeß-orientierter Ansätze; Burkart 1998a, S. 407 Vgl. Rühl 2000, S. 65: „Theorien sind, allgemein gesagt, die Anweisungen für den Vergleich von Beziehungen. Gilt es journalistische Produkte zu beschreiben, zu kritisieren, zu verstehen und zu erklären, dann gibt es nichts besseres als Theorien.“ Vgl. Burkart 1998a, S. 410 Schmidt/Zurstiege 2000, S. 139 Neverla 2002, S. 33 Vgl. Löffelholz 2000b, S. 32
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II Zur Verortung des Journalismus • •
der Gegensätzlichkeit realistischer (ontologischer) und konstruktivistischer Erkenntnistheorie; dem (bisherigen) Nebeneinander sozial- und kommunikationswissenschaftlicher Perspektiven“.125
Hinzu kommt, dass viele der hier als komplementär charakterisierten Verhältnisse in letzter Konsequenz noch dichotomisch verstanden werden und daher kaum zur Steigerung der theoretischen Komplexität beitragen, sondern oftmals Barrieren bilden, die nur schwer überwindbar scheinen.126 Klassisch wird daher in der Journalismusforschung zwischen dem „Personenparadigma“ und „Systemparadigma“ unterschieden; daneben finden sich in jüngerer Zeit integrative Ansätze, die um eine Revitalisierung handlungstheoretischer Vorstellungen im Einklang mit der Systemperspektive bemüht sind.127 Vielleicht kommt in diese Situation Bewegung durch neuere innovative Ansätze (gerade auch in der Journalismustheorie) wie die Distinktionstheorie, nicht akteurstheoretisch verkürzte Handlungstheorien oder die Übernahme von Forschungs- und Erklärungsmustern der Cultural Studies, die nicht mehr ausschließlich entlang der tradierten Dichotomien operieren.128 Aus der theoretischen Heterogenität ragt die Systemtheorie heraus, die sich in der Folge des Funktionalismus „zum expansivsten Paradigma in allen Sozialwissenschaften“ entwickelt hat, da sie in ihrer Komplexität am besten geeignet scheint, eine hochkomplexe und hochorganisierte Umwelt erfolgreich zu analysieren.129 Auch in der Kommunikationswissenschaft hat sie in den letzten Jahren, so scheint es, das Primat übernommen. Die DGPuK spricht im Hinblick auf Funktionalismus, Systemtheorie und Konstruktivismus von der „Existenz verschiedener Paradigmata“ innerhalb der Disziplin.130 Diese theoretischen Grunddispositionen der Kommunikationswissenschaft schlagen auf die Journalistik durch und sind in der Analyse theoretischer Optionen des Fachs mitzubehandeln. Gerade der erklärende und diagnostische Zweig ist mit diesen Makrotheorien ertragreich, wenngleich ‚einseitig‘ ausdifferenziert worden. Auch in der Journalistik haben systemtheoretisch und konstruktivistisch argumentierende Arbeiten erheblichen Anteil an der Theoriefortbildung des Faches. Sie zielen durchaus mit Erfolg auf eine präzise deskriptiv erklärende Analyse des Journalismus. Diese Spezialisierung wird aber aufgrund der spezifischen Analyseoptik der Systemtheorie zwangsläufig mit Schwie125 126
127 128 129
130
Ebd., S. 32f. Wenn keine Einigkeit über den Fachgegenstand erzielt werden kann, dann führt das potenziell dazu, dass der gut definierte – oftmals pluralistisch strukturierte – Bereich, in dem eine Disziplin so genannte ‚normal science‘ betreiben kann, nicht mehr zureichend identifizierbar ist. Stattdessen kann es zu einer Situation kommen, in der sich rivalisierende Zweige der Forschung auf der Basis verschiedener epistemologischer und wissenschaftstheoretischer Prämissen wechselseitig die Legitimität ihrer Forschungsfragen und Methoden absprechen. Von den Forschenden werden dann klare Glaubensbekenntnisse erwartet, deren Nicht-Erbringung durchaus mit sozialen Strafen sanktionierbar sein kann. Das zeigen in Ansätzen Dispute wie die Kontroverse zwischen Klaus/Lünenborg (2000a; 2000b) und Scholl (2000) über die Frage der fachlichen Verortung und perspektivischen Konzeption der Journalismusforschung. Auch die augenscheinliche Unterrezeption der Arbeit von Baum (1994) legt den Verdacht nahe, dass hier gegen fachinterne Katechismen verstoßen worden ist. Raabe 2005, S. 18ff. Vgl. Löffelholz 2000b, S. 56 Ebd., S. 55. Aber auch hier stoßen die Versuche, Systemtheorie oder radikalen Konstruktivismus zu den sozialwissenschaftlichen bzw. erkenntnistheoretischen Leitprämissen des Faches zu erheben, vergleichsweise früh auf Probleme, die zu Kompromissen führen. Vgl. z.B. die Öffnung des systemtheoretischen Konzepts, die Scholl/Weischenberg (1998) unternommen haben, um Befragungsergebnisse verarbeiten zu können. DGPuK 2001, o.S. Der Begriff „Paradigma“ ist in diesem Zusammenhang allerdings umstritten. So sehen Ruhrmann u.a. (2000, S. 295ff.) die theoretischen Grundlagen für eine paradigmatische Struktur noch längst nicht ausreichend entfaltet. Das gilt sowohl mit Blick auf den anspruchsvollen Paradigmenbegriff Kuhns (1976) als auch mit Blick auf ein allgemeineres Verständnis von Paradigma im Sinne eines führenden theoretischen Ansatzes unter anderen.
2 Theoretische Optionen
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rigkeiten im Praxisbezug ‚erkauft‘ (1). Handlungstheoretische Arbeiten sind dagegen ebenso wie Ansätze, die versuchen, die Beziehung von Akteur und Struktur theoretisch doppelperspektivisch zu verarbeiten, deutlich geringer repräsentiert. Dabei versprechen sie zumindest die Revitalisierung des Dialogs der Journalistik mit der Praxis und vor allem mit den handelnden Praktikern. Nicht zuletzt diese Perspektive dürfte verantwortlich dafür sein, dass handlungsund akteursbezogene Überlegungen in der Journalistik immer von Relevanz waren und in jüngster Zeit wieder an Bedeutung zu gewinnen scheinen. Sie sind überdies an das Potenzial einer auch gesellschaftskritischen Theorie zumindest anschließbar, allerdings bislang ohne diesen Konnex selbst zu forcieren (2).
2.1
Systemtheorie und Konstruktivismus
Die Strukturierungs- und Ordnungsleistungen der Systemtheorie werden sowohl in der Kommunikationswissenschaft als auch speziell in der Journalistik genutzt. Die Systemtheorie sucht generell nach Antworten darauf, wie eine angesichts der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften unwahrscheinlich gewordene soziale Ordnung dennoch möglich ist. Sie offeriert in ihrer klassischen funktional-strukturellen Formulierung das Konzept der System/UmweltDifferenzierung, das zwischen gesellschaftlichen Funktionsbereichen klare Grenzbestimmungen ermöglicht, durch die aus Systemsicht zwischen innen und außen unterschieden wird. Diese binäre Unterscheidungslogik erleichtert auch die Abgrenzung der Forschungsfelder Massenkommunikation und Journalismus von ihrer jeweiligen Umwelt.131 Soziale Systeme, so die Annahme, reduzieren die stetig steigende Komplexität von Welt durch Entscheidungen zwischen ‚innen‘ und ‚außen‘, und versetzen sich dadurch zugleich in die Lage, systeminterne Komplexität aufzubauen, mit der sie der Erfüllung einer gesellschaftlichen Funktion effizienter nachkommen können. Voraussetzung der Ausdifferenzierungsprozesse in modernen Gesellschaften ist daher die Entscheidung, ob ein Vorgang anhand der vom System angewendeten Unterscheidungskategorien bearbeitet werden kann oder nicht, ob er also zum System gehört oder ob er Bestandteil seiner Umwelt ist. Ein Denken ohne solche Unterscheidungen ist nicht möglich, betont Luhmann132, dessen systemtheoretisches Gebäude wenngleich nicht das einzig nutzbare, so doch das in der Kommunikationswissenschaft dominierende ist.133 Die Systemtheorie zielt also auf die Reduktion von Komplexität, indem sie ein Instrumentarium bereitstellt, mit dem soziale Zusammenhänge aus einer sozialwissenschaftlichen ‚Beobachterposition‘ heraus in bearbeitbare Teilaspekte strukturiert werden können.134 Dieses Verfahren, dem sich partiell auch handlungstheoretisch argumentierende Soziologen ange131
132 133 134
Vgl. Görke/Kohring 1996, S. 15f. Darüber hinaus verspricht die Systemtheorie den Autoren zufolge einen Rahmen zu gewährleisten, in den etablierte, nicht nur systemtheoretische Forschungsansätze wie der ‚agenda setting‘-Ansatz (vgl. Rinsdorf/Rager/Charlton 2001; Brosius 1994a) und die Nachrichten(wert)forschung (vgl. Eilders 1997a; Schulz 1976) integriert werden können, und in dem Medien nicht mehr als Spiegel der Realität begriffen werden, sondern als eigenständige und eigenverantwortliche Konstrukteure von Wirklichkeit. Vgl. Luhmann 1997, S 60ff. Vgl. Scholl 2002b, S. 8f. Auch die Systemtheorie bleibt daher – trotz ihres oftmals autoritativen Gestus – in letzter Konsequenz auf die individuelle Konstruktionsentscheidung desjenigen psychischen Systems bezogen, das sie formuliert. Auch so lässt sich der blinde Fleck der Unterscheidung interpretieren, den Luhmann erkenntnistheoretisch beschreibt. Das Individuum selbst steht an diesem blinden Fleck.
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II Zur Verortung des Journalismus
schlossen haben135, verspricht die Möglichkeit der präziseren Beobachtung und Beschreibung sozialer Vorgänge und macht insbesondere auch nicht-intendierte und latente Handlungsfolgen der wissenschaftlichen Darstellung zugänglich.136 Auf seiner Basis soll dargestellt werden, inwiefern Journalismus gleichermaßen zu einem komplexitätsreduzierenden Umgang mit seinen Umwelten fähig sein kann.137 Die Verdienste der systemtheoretischen Journalismusanalysen, allen voran Rühls138, sind der Abschied von Alltagsvorstellungen, die Überwindung der klassisch-normativen Personenzentrierung und die Fokussierung auf die organisatorische Komponente des Journalismus in der Redaktion.139 Es gelingt der systembezogenen Journalismusforschung, wie Raabe zu Recht anmerkt, „[…] Journalismus als einen sozialen Zusammenhang, als eine Einrichtung der modernen Gesellschaft zu begreifen […].“140 Zugleich aber verliert sie darüber aufgrund theoriearchitektonischer Grundentscheidungen die journalistischen Akteure aus dem Blick. Dies liegt vor allem daran, dass sich – folgt man Luhmanns autopoietisch gewendeter Systemkonzeption – geschlossene, nach einer spezifischen Logik funktionierende Systeme durch Kommunikation koordinieren und integrieren.141 Diese Kommunikation, und nicht Mensch oder Handlung, ist somit „Letztelement sozialer Systeme“.142 Die Systemanalyse in der Luhmannschen Fassung kommt gänzlich ohne die operationalisierte Betrachtung individueller Leistungen aus, da sie die Integration sozialer Systeme von Handlungen Einzelner abkoppelt und sie statt dessen zu einem perpetuierten Gesamtzusammenhang stilisiert, der durch Individuen (psychische Systeme) nicht erschütterbar, sondern allenfalls irritierbar ist. Durch diesen Verweis auf ‚Kommunikation‘ statt auf ‚Handlung‘ als Letztelement sozialer Systeme „[…] werden die Akteure quasi aus der Theorie eskamotiert“.143 Das führt dazu, dass in der Gegenüberstellung von Sozialsystem und Personalsystem der Akteur explizit außerhalb des Sozialen positioniert und damit psychologisiert wird.144 Als ‚psychische Systeme‘ gehören Individuen zur Umwelt des Systems Gesellschaft. Beide Systeme sind für einander Umwelt, das soziale System damit vom Bewusstsein und auch vom Handeln individueller Akteure unabhängig.145 Luhmann konzentriert sich auch in seiner Kommunikationstheorie „[…] allein auf Sinnprozesse, die durch Kommunikation aufgebaut werden, und lässt die Aktanten aus seiner Betrachtung heraus, weil er nur die übergreifenden, sich selbst erzeugenden und ordnenden Sinnzusammenhänge und ihre gesellschaftliche Wichtigkeit untersuchen möchte und nicht, was in den Köpfen der Leute passiert“.146
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146
So beschreibt z.B. auch Habermas (1973a) die Bereiche der materiellen Ressourcenreproduktion der Gesellschaft als Systeme. Auch akteurtheoretisch fundierte Gesellschaftsentwürfe (vgl. Schimank 2000), verweisen auf Strukturierungsprozesse, die jenseits des Handelns Einzelner liegen und dieses ermöglichen oder begrenzen. In dieser Arbeit wird daher der von Parsons und Luhmann inspirierte Habermassche Systembegriff verwendet. Vgl. Hug 1997, S. 351ff. Vgl. Rühl 1980 Vgl. Raabe 2005, S. 59f. Ebd., S. 75 Vgl. Luhmann 1984; 1996; 1997 Görke/Kohring 1996, S. 16; vgl. auch Loosen/Scholl/Woelke 2002, S. 37. Raabe 2005, S. 20 Vgl. ebd., S. 175 Vgl. Görke/Kohring 1996, S. 16f.: „Da soziale Systeme ausschließlich aus Kommunikation bestehen, gehören Bewußtseinssysteme demnach zu deren Umwelt. Das heißt nicht, daß soziale Systeme ohne Bewußtseinssysteme auskommen würden. Gleichwohl kann aufgrund der operationalen Geschlossenheit nicht von Kommunikation auf Bewußtseinsinhalte geschlossen werden und umgekehrt.“ Schmidt/Zurstiege 2000, S. 144f.
2 Theoretische Optionen
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Nicht der Sinn der Erkenntnis individueller Bewusstseinssysteme, sondern ausschließlich der Sinn übersubjektiver Kommunikation für soziale Systeme steht im Zentrum. Diese Differenzierung hat Konsequenzen für das systemische Verständnis von Kommunikation: Nicht Individuen kommunizieren nach Luhmann, sondern ausschließlich Kommunikation kommuniziert und erzeugt Anschlusskommunikation. Begründet wird dies mit der fundamentalen Differenz von individuellem Bewusstsein und einer davon unabhängigen Gesellschaft.147 Systemtheoretische Kommunikationswissenschaft als konkreter Unterfall einer allgemeinen Systemtheorie bildet daher primär keine Kommunikationstheorie heraus, sondern untersucht systembildende und -erhaltende Kommunikationszusammenhänge, denen individuelle Akteure äußerlich sind. Auch nach der dezidierten Hinwendung Luhmanns zu Fragen der Kommunikation bleibt die Beobachterperspektive in der Systemtheorie erhalten und wird nicht gegenüber der Perspektive von Teilnehmern geöffnet.148 Dieser Umstand wird von der Kommunikationswissenschaft überwiegend durch die Hinzunahme konstruktivistischer Theoreme kompensiert, die sich auf das Individuum und seine Wahrnehmungskapazitäten beziehen. Dabei greift das konstruktivistische Denken erkenntnistheoretisch auf ähnliche Grundlagen zurück wie die neuere soziologische Systemtheorie – sie sind die „beiden großen antirealistischen und beobachterzentrierten Strömungen aktuellen Denkens“.149 Beide Theoriestränge inkorporieren das von der Biologie inspirierte Denken in Systemen, operieren mit Beobachterkategorien und betonen die Kontingenz ihrer Ergebnisse. „Konstruktivismus und Systemtheorie eint somit einiges: Was im konstruktivistischen Denken Beobachterabhängigkeit und -relativität heißt, meint in der Systemtheorie Systemabhängigkeit und -relativität. Beiden Theorien geht es um die Umschreibung der klassischen abendländischen Dualität von Subjekt (Beobachter, Ich) und Objekt (Beobachtetes, Welt). Schließlich starten beide Theorien ihre Überlegungen mit Differenz […] und nicht mit Identität.150
Ausschlaggebend für den Konstruktivismus ist – ebenso wie in der Systemtheorie – das an der Biologie geschulte Denken in binären Unterscheidungskategorien, wobei die Unterscheidung und ihre Kategorien selbst der Wahrnehmung nicht zugänglich sind, sondern als ‚blinder Fleck‘ verbleiben. Erst durch eine neuerliche Unterscheidung wird dieses Desiderat sichtbar – auf Kosten eines neuen ‚blinden Flecks‘.151 Insofern kommt auch der Konstruktivismus in all seiner epistemologischen Kontingenz der radikal in das Gehirn des individuellen Akteurs verlagerten Erkenntnisprozesse nicht ohne ein Moment des Unhintergehbaren aus. Während die Systemtheorie als soziologische Grundlagentheorie Modelle der Beschreibung sozialer Prozesse liefert, präsentiert sich der Konstruktivismus als epistemologisches Modell, das versucht die Erkenntnisleistungen des Subjekts erklärbar zu machen. Oder wie Scholl schreibt:
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Vgl. Luhmann 1997, Bd.1, S. 105: „Nicht der Mensch kann kommunizieren, nur die Kommunikation kann kommunizieren. Ebenso wie Kommunikationssysteme sind auch Bewußstseinssysteme (und auf der anderen Seite Gehirne, Zellen usw. …) operativ geschlossene Systeme, die keinen Kontakt zueinander unterhalten können. Es gibt keine nicht sozial vermittelte Kommunikation von Bewußtsein zu Bewußtsein, und es gibt keine Kommunikation zwischen Individuum und Gesellschaft.“ Vgl. Jäger/Baltes-Schmitt 2003, S. 64f. Plausibel ist die Adaption der Beobachterperspektive zur Beschreibung des Journalismus dann, wenn sie auf die Unterschiedlichkeit der zugrunde gelegten Relevanzkontexte verweist, auf welche die Systemtheorie wert legt. Systemtheoretisch gesprochen lässt sich konstatieren: „Journalismus richtet sich in seiner Selektion prinzipiell nicht an den Relevanzkriterien des gerade beobachteten Systems aus, sondern immer an den Relevanzkriterien der gesellschaftlichen Umwelt dieses Systems.“ (Kohring 1998, S. 187) Weber 1997c, S. 34 Ebd., S. 35 Vgl. Schmidt/Zurstiege 2000, S. 151
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II Zur Verortung des Journalismus „Der Konstruktivismus beobachtet durch das Nadelöhr Kognition, die rekursiv mit Medien und Kultur verknüpft wird; die Systemtheorie Luhmanns beobachtet dagegen strikt durch das Nadelöhr Kommunikation, die das Element aller sozialen Systeme bildet […]. Während der Konstruktivismus in dieser Spielart kulturwissenschaftlich fundiert ist, steht die Systemtheorie in einer sozialwissenschaftlichen Tradition.“152
Der radikale Subjektivismus des Konstruktivismus steht daher bisweilen nur vordergründig in einem Gegensatz zur Systemtheorie. Theoriearchitektonisch lassen sich beide in der Kommunikationswissenschaft miteinander verbinden. Auch in der Journalistik geschieht die Verbindung von makro- und mikrosozialer Betrachtungsweise zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorwiegend durch eine Kombination systemtheoretischer und konstruktivistischer Annahmen.153 Dabei hat allerdings der in den frühen 1990er Jahren populäre radikal-konstruktivistische Ansatz154 zugunsten weniger hermetischer Konzeptionen wieder an Bedeutung verloren. Konstruktivisten weisen – obwohl ihr eigenes Theoriegebäude ohne die Systemtheorie im wahrsten Sinne des Wortes nicht ‚denkbar‘ wäre155 – mittlerweile deutlich auf die Schwierigkeiten systemtheoretischen Denkens hin. Sie kritisieren sowohl die ontologischen Prämissen des vermeintlich realen Charakters der sozialen Systeme nach Luhmann als auch die Exklusion des Individuums aus der Kommunikationsanalyse selbstreferentieller Systeme.156 Die konstruktivistische Kommunikationstheorie begreift sich mittlerweile explizit als erkenntnistheoretisch fundierte Handlungstheorie. Kommunikation ist für sie „eine Form von Handeln, die von außen beobachtet werden kann“.157 Schmidt und Zurstiege begründen diese Eingangsentscheidung mit dem erfahrungswissenschaftlichen (empirischen) Charakter der Kommunikationswissenschaft, der den Umgang mit einzelnen Akteuren in konkreten Situationen bedingt, mit der erkenntnistheoretischen Einsicht, dass Kommunikation nicht autopoietisch ist, sondern von 152 153 154
155 156 157
Scholl 2002b, S. 9 Vgl. Scholl/Weischenberg 1998 Der ‚Radikale Konstruktivismus‘ ist über das Funk-Kolleg Medien und Kommunikation in die Kommunikationswissenschaft eingeführt worden (vgl. Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen 1990) und stieß bald auf Kritik (vgl. Hachmeister 1992). Zentrales Verdienst war es, darauf hinzuweisen, „[…] dass alle Phänomene in der (kognitiven) Wirklichkeit als Produkte, also als Resultate (meist sehr voraussetzungsreicher) Prozesse zu untersuchen, und sie nicht als Gegebenheiten vorauszusetzen“ sind (Schmidt 1993, S. 105). Diese Sichtweise stieß auf großen Widerstand, wenngleich die maßgeblichen Probleme dieser epistemologischen Position nicht auf der häufig diskutierten ethischen Ebene liegen. Als Probleme radikalkonstruktivistischer Ansätze für die Kommunikationstheorie lassen sich zu Recht benennen: Unzureichende Selbstbegründung: Im radikal-konstruktivistischen Theorierahmen wird versucht, „[…] die Richtigkeit der von ihm vertretenen antirealistischen Erkenntnistheorie im Rekurs auf naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse aus Biologie, Neurophysiologie und Kognitionspsychologie belegen zu können“ (Sandbothe 2003, S. 8). Zur Aufrechterhaltung der konstruktivistischen Prämissen wird hier willkürlich zwischen möglichen adäquaten und unmöglichen adäquaten Annahmen über die Umwelt unterschieden (vgl. Burkart 1997; Hachmeister 1992). Selbstwidersprüche im Hinblick auf die Leistungen von Kommunikation: Er unterstellt in seinem Kommunikationskonzept, dass die Voraussetzungen für Kommunikation, das Vorhandensein materieller Kommunikationsträger und symbolischer Inhalte, für den Kommunizierenden ‚erkennbar‘ sind. Diese Annahme kollidiert mit der Prämisse der radikalen Konstruktivität von Erkenntnis, der zufolge auch kommunikative Zeichen subjektiv konstruiert werden müssten. Im Begründungsprogramm des radikalen Konstruktivismus wird versucht, diesen Widerspruch zu umgehen, indem das Wissen um die gemeinsam genutzten Zeichen in sozialisatorischen Lernerfahrungen verankert wird. Für diese aber ist wiederum Kommunikation notwendig (vgl. Neuberger 1996, S. 213). Manche Kritiker argumentieren, dass die radikalkonstruktivistische Epistemologie aufgrund ihrer inneren Widersprüchlichkeit die Entwicklung eigenständiger und anschlussfähiger Kommunikationstheorien sogar behindert hat, indem sie Erkenntnistheorie in den Mittelpunkt der kommunikationswissenschaftlichen Bemühungen gestellt hat. Burkart (1997, S. 70) spricht gar von einem „erkenntnistheoretischen Zufluchtsort“. Vgl. Scholl 1997a, S. 129 Vgl. Weber 1997c, S. 35f. Schmidt/Zurstiege 2000, S. 144
2 Theoretische Optionen
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Akteuren erzeugt werden muss, und mit der Prämisse, dass Handeln in (gesellschaftlichen) Sinnzusammenhängen erfolgt und auf Sinn ausgerichtet ist.158 Neben den epistemologischen Fragen individueller Welterkenntnis bzw. -konstruktion zeigen sich zum Beispiel die jüngeren Arbeiten von Schmidt auch offen für soziale, sprach- und kulturgesteuerte Prozesse der gemeinsamen Konstruktion eines gesellschaftlichen Weltbildes.159 Auch diese Neuentwürfe gehen von einem nicht beobachtbaren ‚blinden Fleck‘ der Unterscheidung aus, verankern ihn aber nicht mehr in biologistisch-neurophysiologischen Annahmen, sondern in sprachlichen und kulturellen Sozialisationsprozessen. Anders als in der Systemtheorie wird so auch ein Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Systemen und individuellem Bewusstsein darstellbar. Der Konstruktivismus liefert ein Modell dafür, wie die in sozialen Systemen ausdifferenzierten binären Codes in psychischen Systemen als Voraussetzungen individueller Kommunikation als Schemata internalisiert werden: Die Gesamtheit der Unterscheidungen in einer Gesellschaft ergeben ein Wirklichkeitsmodell; das verbindliche Programm zur Verwendung dieser Unterscheidungen, dessen individuelle Anwendung über Mitgliedschaft in Gesellschaft entscheidet, bezeichnen Schmidt und Zurstiege als ‚Kultur‘.160 Medien und Journalismus gelangen aus dieser Perspektive als zentrale Konstruktionsinstanzen dieses Wirklichkeitsmodells und seiner Unterscheidungsprogramme in den Blick. Der Konstruktivismus gewinnt so nicht nur den Blick für die Internalisierung vorhandener Schemata der Unterscheidung, sondern zugleich auch für externalisierende Wirkungen individuellen (Konstruktions-)Handelns. Gesellschaft erscheint als ein Produkt des Handelns von Individuen. Mit dieser jüngeren Weiterentwicklung setzt sich der kommunikationswissenschaftlich fruchtbar gemachte Konstruktivismus von Schmidt von den systemtheoretischen Konzepten ab und geht deutlich über sie hinaus. Letztlich kann aus dieser Perspektive ein emanzipatives Potenzial von Kommunikation auch über das Trennende der individuellen Kognitionsprozesse hinweg ausgemacht werden. Ob dieses Potenzial in der Journalistik ausgeschöpft werden kann, ist offen; vielversprechende Ansätze sind mittlerweile vorgelegt worden.161
2.1.1
Systemtheoretische Grundlegung der Journalistik
Die Möglichkeit klarer Unterscheidungen begründet die Attraktivität der Systemtheorie auch in wissenschaftspolitischer Hinsicht, insofern sie eine begründbare Abgrenzung des Gegenstands kommunikations- oder journalistikwissenschaftlicher Forschung verspricht. Je nach Betrachtungsweise können so Öffentlichkeit162, Publizistik163, Journalismus164 oder Massenmedien165 als soziales System verstanden werden und klar abgegrenzt werden. Die so vorgenommene Differenzierung basiert auf der Identifikation je unterschiedlich gewählter Unterscheidungskriterien (Leitdifferenz/Code) und damit auf einer theoretischen Vorentscheidung, die Ausgangs-
158 159 160 161 162 163 164 165
Vgl. ebd., S. 145 Vgl. Schmidt 2003 Vgl. Schmidt/Zurstiege 2000, S. 157ff. Vgl. Pörksen 2006 Vgl. Görke 1999; Hug 1997; Kohring 1997 Vgl. Marcinkowski 1993 Vgl. Blöbaum 1994; Rühl 1980 Vgl. Luhmann 1996
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II Zur Verortung des Journalismus
punkt der weiteren Ausformulierung eines Journalismus- oder Medienmodells ist.166 Die klaren Unterscheidungen der so generierten Einzelstudien lassen sich aber nicht zu einem kommunikationswissenschaftlich übergreifenden Einverständnis über das empirisch zu beschreibende und zu untersuchende System aggregieren. Scholl konstatiert vielmehr angesichts der zahlreichen unterschiedlichen Thesen und Theorien innerhalb des systemtheoretischen Paradigmas eine „Problematik mikrodiverser Subdiskurse“, die er aber durchaus positiv als Ausweis von „(Binnen-)Komplexität“ gedeutet wissen will.167 Das Versprechen der kohärenten Abgrenzung des Forschungsgegenstandes ist noch nicht eingelöst, wie auch Systemtheoretiker konzedieren: „Daß der Forschungsgegenstand der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft Systemcharakter aufweist, ist bislang eher Ideal, denn (theoretische) Realität.“168
Das liegt nicht zuletzt daran, dass systemisches Denken oft lediglich eine sozialwissenschaftliche Objektivation sozialer Vorgänge ist, die der Strukturierung der Beobachtung entnommen ist und Analysezwecken dienen soll. Die Systemabgrenzung kann daher – abhängig von Perspektive und Erkenntnisinteresse – pragmatisch erfolgen; sie dient zunächst der Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes.169 Insofern haben kommunikationswissenschaftliche Teildisziplinen wie die Journalistik angesichts eines für sie schon empirisch relativ klar bestimmten Untersuchungsgegenstandes noch vergleichsweise wenig Probleme, zu einer fachintern akzeptierten Abgrenzung zu gelangen. Als Minimalkonsens systemtheoretischer Journalismusforschung kann allenfalls ausgemacht werden, dass Journalismus durch gesellschaftliche Selbstbeobachtung und -beschreibung den thematischen Rahmen gesellschaftsintern möglicher Kommunikation absteckt170 und dass er dies nach autonomen Regeln tut171. Fast alle ambitionierten Entwürfe der Journalismustheorie orientieren sich letztlich an der Vorstellung, dass sich Journalismus als ein soziales System durch eine nur von ihm erbrachte Funktion von seiner Umwelt abgrenzt.172 Differenzen sind auch hier hinsichtlich des Verhältnisses zwischen journalistischer Produktion und Publikumsrezeption festzustellen. Manche Theoretiker betrachten das Publikum als Bestandteil des Systems, andere wiederum siedeln es in der Umwelt
166
167 168 169 170 171 172
Die gewählten Codes unterscheiden sich in den Entwürfen entsprechend ganz erheblich. Görke/Kohring (1996, S. 17ff.; auch Görke 1999, S. 240ff.) haben die zentralen Arbeiten dahingehend gegeneinander gestellt und identifizieren die folgenden Leitdifferenzen: • Luhmann: Information – Nichtinformation (Massenmedien – Beziehungen von Nachrichtenjournalismus, Werbung und Unterhaltung sind unklar) • Blöbaum: Information – Nichtinformation (Journalismus – nicht abgegrenzt zur Öffentlichkeit) • Marcinkowski: öffentlich – nicht öffentlich (Publizistik – nicht abgegrenzt zu anderen veröffentlichenden Systemen, z.B. Wissenschaft) • Rühl: kein eigener Code, nur: zahlen – nicht zahlen (Marktpublizistik – nicht abgegrenzt zur Ökonomie) • Spangenberg: aktuell – nicht aktuell Kohring (1997, S. 236f.) weist darauf hin, dass nur Marcinkowski mit Publizität auch ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium des Systems benennt, während alle anderen Entwürfe nur Codes benennen, obwohl diese doch laut Theorie lediglich die Funktion haben, das Medium in eine Form zu gießen. Scholl 2002b, S. 9ff. Görke/Kohring 1997, S. 7 Vgl. Scholl/Weischenberg 1998, S. 47; Scholl 1997b Vgl. Hohlfeld 2003, S. 95. Luhmann (1997, Bd. 2, S. 1103) selbst weist dazu vergleichbar den Massenmedien – Journalismus wird von ihm nicht thematisiert – die Funktion der „Absorbtion von Unsicherheit bei der Herstellung und Reformulierung von Welt- und Gesellschaftsbeschreibungen“ zu. Vgl. Görke 1999, S. 303 Vgl. Hohlfeld 2003, S. 89
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des journalistischen Systems an.173 Systemtheoretisch ist so die Annahme journalistischer Autonomie, die in anderen Denkschulen bisweilen diskreditiert wird, relativ leicht darzustellen: „Journalistische Autonomie ist mithin nicht ‚bloß‘ als eine moralische oder demokratietheoretische Forderung anzusehen – aus der Sicht einer systemtheoretisch orientierten Journalismustheorie ist sie vielmehr die unverzichtbare Voraussetzung für die gesellschaftliche Funktionalität des Systems Öffentlichkeit und seines Leistungssystems Journalismus.“174
Die junge bundesdeutsche Journalistik jedenfalls stellte sich zunächst mehrheitlich unter das Dach systemtheoretisch begründeter Theorieentwürfe: Zunächst Rühl175 und dann auch Weischenberg176 legten paradigmatische Näherungen an das zu institutionalisierende Fach vor, die mit dem Ziel einer systemrationalen Rekonstruktion des Journalismus als Sozialsystem durch Begriffe funktional-struktureller Differenzierung an die in den 1960er Jahren begründete Tradition funktionalistischer Analysen in der Publizistikwissenschaft anknüpfen.177 Diese Entscheidung hat deutliche Spuren in der theoretischen Entwicklung hinterlassen. Aus systemtheoretischer Perspektive wird nicht nur der Untersuchungsgegenstand, sondern auch das Fach als Produkt sozialer Differenzierungsprozesse systematisiert und eingeordnet: „Journalistik wäre dann funktional-strukturell als vorrangig am Journalismus orientierter Lehr- und Forschungsprozeß zu begreifen. Da der Gegenstand der Journalistik erst in hochentwickelten Gesellschaften entsteht, in denen die sozialen, politischen, ökonomischen u.a. Prozesse der Differenzierung und Spezialisierung bereits sehr weit fortgeschritten sind, ist sie zunächst funktional und dann erst strukturell zu identifizieren.“178
Die Primärfunktion der Journalistik ließe sich aus dieser Perspektive heraus definieren „[…] als jene methodisch gesteuerten Kommunikations- und Entscheidungsprozesse, die der Entwicklung und der Diskussion theoretisch-empirischen Wissens über Journalismus dienen“.179 Dieses Wissen über den Gegenstand soll die Journalismusforschung in mehreren Dimensionen akquirieren:180 • Sie untersucht die normativen Grundlagen des Journalismus als jene strukturierte Dimension, die Journalismus zeitlich stabilisiert; • sie untersucht Arbeits- und Berufsstrukturen um Aufschlüsse über die soziale Dimension des Journalismus zu erlangen; und • sie richtet sich in einer sachlichen Dimension auf Medien, Genres und Techniken des Journalismus. Aus dieser Perspektive wären in der Journalistik auch die Interdependenzen zwischen dem ausdifferenzierten Funktionssystem Journalismus und dem Ganzen der Gesellschaftsordnung zu untersuchen, da erst die Verfassung der letzteren das konkrete Gesicht des journalistischen Systems prägt. Journalismus existiere, so führt Rühl aus, nicht „wie eine Sache der Natur“, sondern nur als Teil eines sozialen Differenzierungsprozesses.181 Als empirisch-analytische 173 174 175 176 177 178 179 180 181
Zum Beispiel sieht Rühl (1980) das Publikum nicht als Teil des Systems, während Marcinkowski (1993) es in seine Systemvorstellung integriert. Diese Unterschiede stehen auch in Beziehung zu unterschiedlichen Überlegungen hinsichtlich des Geltungsbereichs des Systems (Rühl = Journalistik; Marcinkowski = Publizistik). Kohring 1997, S. 265 Vgl. Rühl 1982 Vgl. Weischenberg 1990a Vgl. Rühl 1982, S. 367 Rühl 1982, S. 367 Ebd., S. 368 Vgl. ebd., S. 368f. Ebd., S. 368
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II Zur Verortung des Journalismus
Wissenschaft ist die Journalistik aus diesem Verständnis heraus nicht in der Lage, Normen für den Journalismus zu entwickeln, sondern sie kann allenfalls dessen Normativität untersuchen „[…] als jene strukturelle Dimension, die Journalismus zeitlich stabilisiert“.182 Legt man ein systemtheoretisches Modell zur Beschreibung der Beziehung von Journalistik und Journalismus zugrunde, dann folgen beide zwei getrennten Logiken; die Übertragbarkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Journalistik auf die Praxis des Journalismus ist daher keineswegs zwangsläufig gegeben. Beide Systeme haben ihre eigenen Funktionen und Strukturen und sind nur begrenzt – zum Beispiel aufgrund struktureller Kopplungen – zur Zusammenarbeit fähig. Sie sind jeweils Umwelt füreinander – ein Grund für die konstatierte Dichotomie zwischen Wissenschaft und journalistischer Praxis. Weischenberg, der in seinem Lehrbuch der Journalistik explizit an Rühls systemfunktionalistischen Entwurf anknüpft und ihn weiterentwickelt, warnt davor, „unrealistische Erwartungen an den Praxisbezug der Journalistik“ zu formulieren.183 Ihren Gegenstand jedenfalls habe die junge Universitäts-Disziplin nicht als „eine Addition von Journalisten, sondern [als] ein soziales Handlungssystem“ zu konzipieren.184 Stärker als Rühl aber betont Weischenberg auch systemtheoretisch den Praxisbezug, den die Journalistik zu pflegen habe. Journalistik bewege sich ständig auf zwei Ebenen: (1) Auf theoretisch-empirischer Ebene dient die Forschung der Journalistik dazu, Wissen über den Journalismus zu beschaffen und zu reflektieren. Dabei greift sie in besonderem Maße auf kommunikationswissenschaftliche Methoden, Modelle und Theorien zurück. (2) Auf praktisch-normativer Ebene zielt die Journalistik darauf ab, Regeln für angemessene und glaubwürdige journalistische Vermittlungs- und Kommentarleistungen zu formulieren und diese für die Journalistenausbildung zu operationalisieren.185 Das Fach ist dementsprechend weder ein „Dienstleistungsbetrieb“ für die journalistische Praxis, noch darf es sich in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm zurückziehen; vielmehr ist es erst die „Integration von Kenntnissen und Erkenntnissen aus Theorie und Praxis des Journalismus“, die das Fach legitimiert.186 Weischenberg zufolge hat die Journalistik dadurch auch die Grundlagen für einen Kompetenzsprung in der journalistischen Praxis selbst zu legen, der wiederum zu einer Steigerung der Legitimation des Journalismus führt. Die Analyse der Regelhaftigkeit handwerklicher und organisatorischer Routinen des Journalismus und die Reflexion seiner sozialen Leistungen und Wirkungen soll unmittelbar der Verbesserung der Praxis dienen.187 Die systemtheoretische Journalistik kann zur „Reflexionsanregerin“ der Praxis weiterentwickelt werden, wenn „eine hinreichend komplexe Vorstellung des Verhältnisses von Journalismus und Gesellschaft“ entwickelt werde, so Kohring, die sich der Frage stelle, inwiefern ein autonomer Journalismus seine gesellschaftlich erwarteten Funktionen erfüllen könne.188 Er stößt dabei auch an die Grenzen systemtheoretischer Kapazitäten: „Die Journalismusforschung müsste sich dann darum kümmern, Kriterien für die ‚richtige‘ Balance von Selbstreferenz und Fremdreferenz zu begründen und zu operationalisieren. Diese Kriterien sollten theore-
182 183 184 185 186 187
188
Ebd., S. 368 Weischenberg 1990a, S. 50 Ebd., S. 51 Vgl. ebd., S. 50; Weischenberg 1992a, S. 27 Weischenberg 1990a, S. 59 Vgl. ebd., S. 55f. Diese Forschungsleistungen erbringt die Journalistik selbstverständlich nach den Maßgaben der Logik des Wissenschaftssystems, nicht nach einer medialen oder journalistischen Logik. Daraus erhoffen sich nicht nur Systemtheoretiker zu Recht eine qualitative Verbesserung der Ergebnisse – vor allem im Vergleich zu einem im Fach gewachsenen Praktizismus. Kohring 2001, S. 87
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tisch abgeleitet sein, werden aber auch unweigerlich (normativ formulierte) Erwartungen der gesellschaftlichen Umwelt des Journalismus (z.B. Beachtung demokratischer Prinzipien oder die Beachtung der Menschenwürde) mit aufnehmen müssen – Bewertungen bzw. normative Erwartungen können wissenschaftlich nicht begründet werden. Auch die systemtheoretischen Funktionsbeschreibungen sind für sich genommen viel zu allgemein, um daraus konkrete Selektionsprogramme für Journalisten abzuleiten. Je höher aber die Abstraktionsfähigkeit der Journalismustheorie, desto größer ist die Möglichkeit, die Auswirkung solcher Normsetzungen auf die gesellschaftliche Funktion des Journalismus zu überprüfen.“189
Dass die Systemtheorie dabei von Nutzen ist, liegt nicht zuletzt daran, dass sie besser als viele andere Ansätze die Selbstläufigkeit und die der individuellen Steuerung enthobene Eigenständigkeit sozialer Prozesse erklärt. Kontraproduktiv ist hingegen ein zur Luhmannschen Systemtheorie apologetisches Abstrahieren vom Individuum, das dazu führt, dass theoretische Entwürfe manche Praxisprobleme gar nicht mehr zu fassen bekommen.190
2.1.2
Kritik: Der Verlust des Akteurs
Schwierigkeiten der Systemtheorie liegen in ihrem einseitigen Kommunikationsverständnis, in ihrer Abstraktion von Akteuren und in ihrer Annahme rigider Grenzziehungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen. Dies führt dazu, dass eine systemtheoretische Journalistik die kommunikativen Potenziale ihres Untersuchungsgegenstandes begrifflich kaum zu fassen bekommt, dass sie nicht in der Lage ist, einen Ansprechpartner in der Praxis zu identifizieren, sondern sich als eigenständiges System begreifen muss, das mit Journalismus zwar gekoppelt aber dennoch durch fundamentale Logikdifferenzen getrennt ist. Die Systemtheorie operiert mit einem weitgehend einseitig auf Zweck-Mittel-Relationen gerichteten Rationalitätskonzept, in dem die Potenziale einer kommunikativen Rationalität keinen Raum finden. Steigerung von Systemrationalität bedeutet Steigerung von Effizienz in der Anwendung der Leitdifferenz und weitergehende Schließung des systemischen Kommunikationszusammenhangs.191 Selbst- und Fremdbeobachtungsprozesse abgeschlossener Systeme erbringen die 189 190
191
Ebd., S. 87 Vgl. in ähnlicher Stoßrichtung Rühl 2000, S. 73: „Gegenwärtig erweckt die Journalismusforschung in Deutschland den Eindruck, Niklas Luhmann könnte ihr Leitautor sein. […] Zu Problemen des Journalismus und der Publizistik, Werbung, Public Relations und Propaganda eingeschlossen, hat sich Niklas Luhmann nur marginal geäußert. Insofern liegen keine Gründe der Rechtfertigung vor, Luhmanns weit gespannte sozialwissenschaftliche Theoriearbeit als ‚mainstream‘ für die journalistische Theoriebildung zu vereinnahmen. Allerdings kann das Journalismussystem demokratisch verfaßter Gesellschaften mit entscheidenden Beiträgen aus Luhmanns Theorie autopoietischer Systeme, kombiniert mit sozialwissenschaftlichen Supertheorien (Emergenz-, Kommunikations-, Öffentlichkeits-, Organisations-, Markt- und Entscheidungstheorien), als Kreislauf modelliert, die spezifischen Kommunikationsverhältnisse zwischen Journalismussystem und Gesellschaft heterarchisch vernetzt darstellen. Die Funktion, deretwegen die Gesellschaft den Journalismus ausdifferenziert, kann dann als organisatorische Produktion und schematische Distribution programmierter Programme zur öffentlichen Kommunikation umschrieben werden.“ Damit steht die Rationalität des Systems oft in Nähe zu der Form instrumenteller Rationalität, die zunächst von Weber (1980 [1921]) und später auch von Horkheimer und Adorno (1988 [1944]) in ihrer Kritik einer auf das Zweckrationale halbierten Vernunft betrachtet worden ist. Die ‚Dialektik der Aufklärung‘ wird in der Systemtheorie in bizarrer Verkehrung zur Grundlage von Unterscheidungen. Dazu Habermas (1985c, S. 443): „Luhmanns Theorie sehe ich als ingeniöse Fortsetzung einer Tradition, die das Selbstverständnis der europäischen Neuzeit stark geprägt und dabei ihrerseits das selektive Muster des okzidentalen Rationalismus widergespiegelt hat. Die kognitiv-instrumentelle Einseitigkeit der kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung fand auch Ausdruck in den philosophischen Versuchen, ein objektivistisches Selbstverständnis des Menschen und seiner Welt zu etablieren – zunächst in mechanistischen, später in materialistischen und physikalistischen Weltbildern, die mit mehr oder weniger komplexen Theorien Geistiges auf Körperliches zurückführten.“ Die Systemtheorie,
66
II Zur Verortung des Journalismus
notwendigen Koordinierungsleistungen. Sprache hingegen, so Habermas‘ Kritik, ist in der Systemtheorie „[…] als Kommunikationsmedium so unterbestimmt, daß sie nicht dazu gemacht ist, den Egozentrismus der einzelnen Systemperspektiven durch eine höherstufige, über- oder zwischensystemisch gemeinsame Perspektive zu überwinden“.192
Sprache wird systemtheoretisch zu einem Medium reduziert, in dem bereits vorhandener Sinn allenfalls übersetzt, aber kein neuer Sinn gestiftet werden kann. Kommunikation ist zwar der zentrale Reproduktionsmechanismus von Systemen und damit auch von Gesellschaft als System. Individuen allerdings sind an diesem subjektlosen Prozess nicht beteiligt, sondern gehören zur Umwelt des Systems.193 Die theoretische Entscheidung Luhmanns, Kommunikation und individuelles Handeln zu trennen, macht es unmöglich, im Rahmen der Systemtheorie ein Modell durch Kommunikation getragener Öffentlichkeit zu etablieren, welches in der Lage ist, eine höherstufige Intersubjektivität zu begründen, die als Richtmaß gesellschaftlicher Entwicklung begriffen werden kann. Auch öffentliche Meinung gelangt nicht sinnhaft oder mindestens kausal, sondern überwiegend funktional als „Selektionshilfe“ in den Blick.194 Ähnlich ist Gesellschaftlichkeit dem Willen des Einzelnen nicht ohne weiteres zugänglich, bzw. das soziale System ist durch das Individuum maximal von außen irritierbar, nicht aber durch kommunikative Verständigung in Öffentlichkeit gestaltbar. Die Konsequenz ist ein ‚methodischer Antihumanismus‘, der die Möglichkeit einer öffentlichen Diskussion gesellschaftlicher Anliegen oder gar Krisen diskreditiert.195 Systemtheorie beschreibt zweckrational-instrumentelle Logiken, während sie eine weitergehende kommunikative Rationalität begrifflich nicht zu fassen bekommt. Sie vermag nicht zu beschreiben, dass in lebensweltlichen Begründungsmustern eine Rationalität jenseits technizistischer Effizienz existiert. Gesellschaft erscheint ihr als ein begrenztes System, dass wie alle Teilsysteme nach strenger Logik operiert. Idiosynkrasien oder auch nur humankom-
192 193
194 195
so Habermas weiter, setze biologische Argumente ein, um die Metaphysik der Subjektphilosophie durch eine Metabiologie zu ersetzen, deren Konsequenzen aber gleichfalls eine Vergegenständlichung lebensweltlicher, durch Kommunikation gesteuerter Prozesse durch eine ihnen fremde Logik bedeuten. Die frühe Auseinandersetzung zwischen Habermas und Luhmann dokumentiert der Band ‚Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?‘ (Habermas/Luhmann 1971). Habermas 1985c, S. 441 Die sich daraus für die Kommunikationswissenschaft ergebende Folge wäre, dass sie keine spezifische Kommunikationstheorie entwerfen könnte. Eine solche Theorie wäre zwangsläufig eine Theorie der Gesellschaft. Die Kommunikationswissenschaft würde dann in der allgemeinen Soziologie der Systeme aufgehen: „Aus systemtheoretischer Sicht besteht die Gesellschaft selbst aus Kommunikation, die wiederum in voneinander abgegrenzte Sinnsphären ausdifferenziert ist (z.B. Recht, Wissenschaft und eventuell eben auch Publizistik). Systemtheoretisch betrachtet ist die Wissenschaft von der Kommunikation also gleichbedeutend mit der Wissenschaft von der Gesellschaft. Sofern also die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft nicht einfach in der soziologischen Systemtheorie aufgehen will (und hierfür sehen wir keinen Anlaß), muß sie sich nach einem anderen Abgrenzungskriterium als Kommunikation schlechthin umsehen, um ihren Forschungsgegenstand gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen eindeutig abzugrenzen.“ (Görke/Kohring 1997, S. 12) Luhmann 1979 [1970], S. 30 Vgl. Habermas 1985c, S. 436. Luhmann (1997, Bd. 1, S. 35) erkennt den „radikal antihumanistischen“ Charakter seiner Gesellschaftstheorie an, hält ihn methodologisch aber für unabdingbar: „Die These einer Selbstproduktion durch Kommunikation postuliert klare Grenzen zwischen System und Umwelt. Die Reproduktion von Kommunikationen aus Kommunikationen findet in der Gesellschaft statt. Alle weiteren physikalischen, chemischen, organischen, neurophysiologischen und mentalen Bedingungen sind Umweltbedingungen. Sie können durch die Gesellschaft in den Grenzen ihrer eigenen Operationsfähigkeit ausgewechselt werden. Kein Mensch ist gesellschaftlich unentbehrlich. Aber damit ist natürlich nicht behauptet, daß Kommunikation ohne Bewußtsein, ohne durchblutete Gehirne, ohne Leben, ohne gemäßigtes Klima möglich wäre.“ (ebd., S. 13f.)
2 Theoretische Optionen
67
munikativ fundierte Ausbruchsversuche erscheinen zwecklos, mindestens aber dysfunktional – sofern sie überhaupt als relevante Optionen betrachtet werden, die der Beschreibung und Beurteilung bedürften. Alleinig angewendet überstrapaziert die Systemtheorie somit die soziologische Idee der Internalisierung von Verhaltensmustern durch gesellschaftliche Institutionen; sie vernachlässigt die externalisierenden Folgen menschlichen, individuellen Handelns. Dadurch droht sie angesichts der sozialen Definitionsmacht sozialwissenschaftlicher Theorien zur self-fulfillingprophecy zu werden, die die Vergegenständlichung humaner Interaktion durch ihre Beschreibungen überhaupt erst erzeugt.196 Eine Verabsolutierung systemtheoretischen Denkens beinhaltet zumindest die Gefahr, die Besonderheiten kommunikativer Interaktion zwischen vernunftbegabten Individuen aus dem Blick zu verlieren. Das alleinige Denken in sozialen Systemen führt dazu, dass die Behandlung normativ-praktischer Fragen unmöglich erscheinen muss. Es beinhaltet darüber hinaus die Gefahr des Verlusts hermeneutischen Sinnverstehens, indem die Unterscheidung (und damit die Frage nach dem konstitutiven Sinn eines systemischen Zusammenhangs) der Systemanalyse als ‚blinder Fleck‘ dem beobachtbaren Horizont wenn nicht entzogen, dann mindestens vorgelagert wird.197 Es erscheint für einen als Beobachter zweiter Ordnung klassifizierten Sozialwissenschaftler kaum möglich, auf Basis eines systemtheoretischen Fachverständnisses sinnverstehende Analyse lebensweltlicher Strukturen zu gewährleisten und auf dieser Basis in einen auch normativ-praktischen Dialog mit der Praxis zu gelangen. Die „auf sich selbst angewendete Systemtheorie der Gesellschaft“ könne, so Habermas, daher gar nicht anders, als sich „[…] auf die Komplexitätssteigerung moderner Gesellschaften affirmativ einzustellen“.198 Sie hat Schwierigkeiten, die sozialen Folgekosten dieser Ausdifferenzierung, die in der Soziologie klassisch als ‚Verdinglichung‘ und ‚Entfremdung‘ beschrieben worden sind199, darzustellen und einer Analyse zugänglich zu machen. Verabsolutiert man ihr Begriffs- und Gedankengebäude, dann präsentiert sich die Modellierung hermetischer sozialer Systeme schließlich selbst als ein Höhepunkt verdinglichenden Denkens, das den Blick auf die Folgen sozialer Entwicklungen für Individuen theoretisch verstellt. Eine rein systemische Betrachtungsweise führt für sich allein genommen mindestens zu forschungspraktischen Aporien, da sie nur unter erheblichen systematischen Anstrengungen dazu in der Lage wäre, das Handeln einzelner Akteure oder Akteursgruppen zu untersuchen.200 Es würde zunächst unterschiedslos im durch subjektunabhängige Kommunikation integrierten Systemzusammenhang verschwinden.
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Vgl. dazu Habermas 1985c, S. 444: „Man muß berücksichtigen, daß innovative Gesellschaftstheorien in ihren Paradigmen stets in der Gesellschaft selbst verankert waren und niemals dem Wissenschaftssystem ausschließlich angehört haben. Ein Effekt der Vergegenständlichung kommt jedenfalls in dem Maße zustande, wie die Systemtheorie in die Lebenswelt eindringt, in diese eine metabiologische Perspektive einführt, aus der sie sich dann selber als ein System in einer Umwelt-mit-anderen-Systemen-in-einer-Umwelt verstehen lernt – so als vollziehe sich der Weltprozeß durch nichts als durch System-Umwelt-Differenzen hindurch.“ In diesem theoriearchitektonisch notwendigen Schritt, der sich aus den erkenntnistheoretischen Wurzeln ergibt, liegt die oftmals beklagte Tendenz der Systemtheorie zu konservativen Betrachtungsweisen, die in ihrer funktionalistischen Perspektive zumeist auf die Fixierung eines nicht zu hinterfragenden Status quo gerichtet sind. Da aber soziologisches Denken stets auf den beobachteten Zusammenhang zurückwirkt, da Soziologen selbst wenn sie sich beobachtend wähnen, ohne virtuelle Teilnahme am sozialen Prozess nicht zu Ergebnissen kommen können, besteht vielmehr die Gefahr der Reifikation systemischer Konstruktionen und damit der ex-postLegitimation latenter Ausdifferenzierungsfolgen durch wissenschaftliche Studien. Habermas 1985c, S. 426 Vgl. für eine handlungstheoretische Auseinandersetzung mit diesen Tendenzen Pöttker 1997. Vgl. Scholl/Weischenberg1998; Loosen/Scholl/Woelke 2002
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II Zur Verortung des Journalismus „Eine Betrachtung, die die Akteure mit ihren Interessen und Motiven, ihren Einstellungen und Überzeugungen aus dem System verbannt, erschwert die empirische Überprüfung systemtheoretischer Einsichten oder macht sie vielleicht sogar ganz unmöglich. – Wie will man Kommunikation beobachten, ohne wieder den Bruch mit Niklas Luhmanns Theorieentscheidung zu vollziehen und implizit oder explizit von Personen und Akteuren – Menschen – zu sprechen. Das heißt: Die Übertragung systemtheoretischer Einsichten auf die empirische Forschung funktioniert womöglich nur über einen Abschied von zentralen Postulaten, die sich in der Systemtheorie Niklas Luhmanns finden.“201
Die Theorie sozialer Systeme tendiert dazu, ihre Systemkonstruktionen reifizierend als begriffene Wirklichkeit auszugeben, ohne sie gleichzeitig einer empirischen Überprüfung zugänglich zu machen. Diese Konsequenz der ausschließlichen Verlagerung von Sinn in die Differenzlogik autopoietischer sozialer Systeme vermag eine Wissenschaft, die mit individuellen Personen als Bezugspunkt im Theorie-Praxis-Dialog umgehen muss, kaum zu befriedigen. Nimmt man dem Systembegriff schließlich sogar noch seinen Charakter als sozialwissenschaftliche Objektivation, mithin als Konstruktion eines Beobachters, der soziale Zusammenhänge in einer analytischen Sprache ordnet, und verdinglicht das System im Vermittlungsprozess zur Praxis statt dessen zu einem sozialen Faktum202, muss sich Wissenschaft in der Konsequenz einseitig auf die Internalisierungswirkungen eines hermetischen Sozialzusammenhangs konzentrieren, der der Gestaltung durch Individuen nicht zugänglich ist. Unbeabsichtigt wird durch eine derartige Überreizung der begrifflichen Chancen einer Theorie sozialer Systeme ihr durchaus analytisch fruchtbarer ‚methodischer Antihumanismus‘ in den untersuchten sozialen Zusammenhang hineingetragen. In der Journalistik zeigen sich die Probleme einer rein instrumentellen Beschreibung sozialer Sachverhalte auch systemimmanent, indem die Entfernung der Systemtheorie von ihrem Beobachtungsgegenstand das Fach mittlerweile vor Anwendungsprobleme stellt, die entweder zu kategorialen Verzerrungen und Kompromissen in der empirischen Darstellung oder aber zu Modifikationen des Theoriegebäudes zwingen, wie Hohlfeld anmerkt: „Die Systemtheorie hat als gesellschaftliche Supertheorie eine Abstraktionshöhe gewonnen, von der aus der Sprung in die Niederungen der empirischen Beschreibung journalistischen Handelns nicht länger ohne offene Frakturen möglich ist.“203
Denkt man ein systemtheoretisches Konzept der Journalistik konsequent zu Ende, dann bedeutet es, dass sich Journalismus und Journalistik zwar wie kommunizierende Röhren beeinflussen und dass davon auch ihr jeweiliger Zustand und ihre jeweilige gesellschaftliche Legitimation abhängig sein sollen; dass sie aber andererseits durch eine unverrückbare Systemgrenze und differierende Logiken oder Codes rigide voneinander getrennt sind. Die zur Erbringung der intendierten Funktion der Journalistik notwendige Interdependenz der beiden Systeme wird durch systemisch bedingte Kommunikationshemmnisse gestört. Nimmt sich Journalistik in ihrer Gründungsabsicht ernst, dann muss sie aber in der Journalistenausbildung den Brückenschlag zwischen der theoretischen Abstraktion und der pragmatisch-normativen Konkretion suchen. Sie kann es sich nicht leisten, ihren Gegenstand so sehr zu abstrahieren, dass sie dadurch selbst den kommunikativen Partner verliert. Deshalb müssen die hochkomplexen Systemkonzepte umständlich „auf ein handhabbares Niveau gesundgeschrumpft“ werden.204 Angesichts dieser Feststellung lässt sich plausibel konstatieren, dass die „Bemühun201 202 203 204
Pörksen 2001, S. 63f. Worauf Luhmann (1984, S. 30) theoretisch Wert legt. Hohlfeld 2003, S. 106. Ebd., S. 19
2 Theoretische Optionen
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gen auf der Makroebene der (system-)theoretischen Journalismusforschung“ ins Stocken geraten sind – „die Möglichkeiten der Supertheorie scheinen vorerst ausgereizt zu sein“.205 Wenn die Kernfragen der Journalistik und der Journalismustheorie nach Regeln, Zweck und Sinn journalistischen Handelns206 tatsächlich umfassend behandelt werden sollen, dann werden systemtheoretische Entwürfe für sich genommen dazu nicht ausreichen. Die Systemtheorie übersieht, so die handlungstheoretische Kritik, „[…] daß Journalismus in erster Linie kommunikatives Handeln darstellt, das sich weder aus dem Prozeß sozialer Kommunikation noch aus dem Kontext interagierender Kommunikationspartner herauslösen ließe“.207 Differenzierte Beobachtungs- und Beschreibungsmöglichkeiten wiegen nicht das Verstehensdefizit der Systemtheorie sowie ihren mangelnden Anschluss an das Selbstverständnis der Praktiker auf. Die Konzentration der Journalismustheorie auf die Systemtheorie führt nach Haller vielmehr dazu, dass Journalismus • • • •
„[…] aus seinem historisch gewachsenen Sinnzusammenhang herausgerissen ist, von der praxisbezogenen Handlungs- auf eine strukturelle Organisationstheorie umgepolt wurde, seiner kommunikativen, auf Verständigung (im weiteren auf Verstehen) angelegten Dimensionen entkleidet ist, wegen der Theorieprämissen als strukturell geschlossenes System definiert werden muß, mit der Folge, daß das Mediensystem – wider besseres Praxiswissen – zur Umwelt des Journalismus externalisiert wird.“208
Hohlfeld regt ein multiperspektivisches Vorgehen an, das von einem „Nebeneinander von Kommunikation und Handlung, von System und Akteur, von Autonomie und Fremdsteuerung“ in seinen Beschreibungsversuchen ausgeht.209 Will die Journalismustheorie auch künftig anschlussfähig für die mikrosoziale Beobachtung und Beschreibung redaktioneller Handlungsverläufe sein, dann ist es sinnvoll, ihre vorwiegend systemtheoretische Perspektive um diese Faktoren erweitern, ohne aber die Systemtheorie in ihrem derzeitigen Entfaltungsstand zu ignorieren.210 Dazu sind auch die erkenntnistheoretischen Prämissen des Konstruktivismus, die zur stärkeren Offenheit und Verbindlichkeit weiterentwickelt worden sind, zu der makrosozialen Analyse anschlussfähig zu machen. Die dazu in der Journalistik oftmals gängige Kopplung 205 206 207
208 209 210
Ebd., S. 99 Vgl. Neverla 2002, S. 26 Haller 2000a, S. 114f.: Außerdem übersehe systemtheoretische Forschung, • „[…] daß für die journalistische Aussagenproduktion einzelner Mediengattungen (Beispiel: Wochenzeitungen) und Genres (Beispiel: subjektive Erzählformen) keine Systemstruktur feststellbar ist, vielmehr das journalistische Subjekt (als Autor und Blattmacher) maßgeblich bleibt, • daß in anderen Mediengattungen (insbesondere beim Rundfunk) die journalistische Aussagenproduktion von den medialen Determinanten gar nicht abgelöst werden kann, also Journalismus als System nicht beschreibbar ist, […] • daß redaktionelles Handeln ein Gemenge aus medienspezifischen (externen) und journalistischen (internen) Prozeduren darstellt – und es sich keineswegs nur auf Routinen der Komplexitätsreduktion, etwa der Selektion und Präsentation von Information, verkürzen läßt, • daß redaktionelle Aussagenproduktion strukturell wie funktional den Prozeß des Öffentlichen (mit)trägt und damit über eine Qualität verfügt, die sich mit Etiketten wie ‚Bereitstellen‘ nicht kennzeichnen läßt, • daß Journalismus auch eine spezifische Kulturtechnik zur Konstruktion und Vermittlung von Wahrnehmungsinhalten darstellt – ein Aspekt, mit dem sich in jüngster Zeit immerhin der Konstruktivismus konstruktiv beschäftigt.“ Ebd., S. 115; vgl. auch kritisch: Raabe 2005, S. 72. Hohlfeld 2003, S. 107 Vgl. ebd., S. 123
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II Zur Verortung des Journalismus
mit der Systemtheorie erscheint – trotz des ähnlichen Vokabulars – nicht notwendig als die fruchtbarste.211 Unter Umständen ergeben sich durch die jüngeren Revisionen des KonstruktivismusKonzepts Möglichkeiten für eine weniger verhärtete Auseinandersetzung zwischen Konstruktivisten und ‚Realisten‘ in der Kommunikationswissenschaft. Für weniger radikale und nicht letztlich ontologisch begründete Konstruktionsmodelle lassen sich in der Entwicklung der Sozial- und Kommunikationswissenschaft Anknüpfungspunkte finden – z.B. das Kommunikationsmodell des Symbolischen Interaktionismus, etliche Annahmen der Medienwirkungsforschung (v.a. im Nutzenansatz) und die Nachrichtenwerttheorie, die Journalisten den Status von Konstrukteuren der ‚Wirklichkeit‘ zuweist.212 Vor allem im Hinblick auf die Debatte über die Objektivität journalistischer und medialer Berichterstattung – ein praxisbezogener Kernbereich der Journalistik – haben konstruktivistische Annahmen Gewicht. Durch die Verknüpfung der individuellen Unterscheidungen zur Konstruktion mit einem als geteilt unterstellten Wirklichkeitsmodell zeichnet die jüngere konstruktivistische Theorie jedenfalls eine Instanz aus, der gegenüber sich Journalisten verantwortlich zeigen müssen und die ihnen den Rückzug auf die Unhintergehbarkeit individueller Konstruktionen sozial nicht mehr ermöglicht.213 Ein Beispiel dafür ist auch die aktuelle konstruktivistische Begründung der Journalistik durch Pörksen: Eindringlich skizziert er, das Potenzial der Journalistik, den Journalismus „informierend zu irritieren“.214 Er legt seiner Argumentation das Konzept eines diskursiven Konstruktismus zugrunde, in dem eine „Ebene des sozialen Konsensus“215 als Referenz mitgedacht wird, um nicht nur den Realismus zum Beispiel des kritischen Rationalismus, sondern auch den epistemologischen Solipsismus anderer Konstruktivismus-Modelle zu vermeiden. Eine solche kommunikativ und kulturell fundierte Variante des Konstruktivismus ist durchaus anschlussfähig an eine – aus realistischer Sicht, aber sozialkonstruktivisisch informiert entwickelte – Konsenstheorie der Wahrheit, wie sie in der ‚Theorie des kommunikativen Handelns’ vorgelegt wird. Auch in solchen Ansätzen – und insbesondere in ihrer Kombination – kann künftig das Fundament für eine Revitalisierung handlungstheoretischer Journalismus-Konzeptionen gefunden werden.
2.2
Handlungstheoretische Optionen
Die seit den 1980er Jahren festzustellende Tendenz zu einer stärkeren Theoretisierung der Journalistik wird angesichts der skizzierten Probleme nicht ausschließlich durch die systemtheoretischen Entwürfe ausgelöst und abgedeckt. Handlungstheoretische Entwürfe sind in letzter Zeit wieder vermehrt anzutreffen, auch wenn sie im Vergleich zur breiten Rezeption und Verarbeitung der Luhmannschen Systemtheorie relativ unterentwickelt erscheinen.216 Mittler211 212 213 214 215 216
Zumal erhebliche Differenzen feststellbar sind, wenn nur Luhmanns (1984, S. 30) Systemkonzeption betrachtet wird, die Systemen explizit empirische Evidenz zuspricht und sie im Gegensatz zum Konstruktivismus nicht bloß als Heuristiken zur Beschreibung sozialer Zusammenhänge begreift. Vgl. Burkart 1997, S. 62ff. Vgl. die konstruktivistische Ethik-Konzeption in Baum/Scholl 2000 und in einer vorläufigen Version in Weischenberg/Scholl 1995, die jeweils einen spezifischen Verantwortungsbegriff für den Journalismus zu begründen versuchen. Pörksen 2006, S. 336 Ebd., S. 184 Vgl. für einen Überblick Baum 2005a.
2 Theoretische Optionen
71
weile lassen sich aber undogmatische und innovative Ansätze ausfindig machen, die auf soziologische Kategorien wie innovatives oder kommunikatives Handeln als Bezugsgrößen abstellen.217 Vermehrt finden sich Forderungen nach einer Wiederbelebung handlungstheoretischer Analysen – sei es unter Berücksichtigung des schöpferisch tätigen Subjekts218 oder unter dessen bewusster Ausklammerung durch die Untersuchung abstrakter Handlungsmodi219. In jüngeren journalismustheoretischen Arbeiten wird das Fehlen theoretischer Vorstellungen vom Handeln von Journalisten zu Recht beklagt: „Wenn die Journalismusforschung das Handeln in der sozialen Praxis journalistischer bzw. redaktioneller Zusammenhänge analysieren will, muss sie dazu eine theoretische Vorstellung von den journalistisch Handelnden entwickeln.“220
Die unterschiedlichen handlungstheoretischen Ansätze orientieren sich anders als systemtheoretische Konzeptionen bislang nur selten stringent an einer soziologischen Großtheorie.221 Viele sind zudem einseitig verkürzt auf zweck- und entscheidungsrationale Überlegungen222 oder fokussieren auf die Analyse von systembezogenen Akteurskonstellationen223: „Die genuine Rationalität der mit sozialem Handeln verbundenen Integrations- und Lernprozesse, die von Max Weber über Talcott Parsons und George Herbert Mead bis hin zu Jürgen Habermas den Kern soziologischer Handlungstheorien ausmacht, bleibt unterbelichtet, journalistisches Handeln in seiner Bedeutung für die gesellschaftliche Kommunikation damit nur halb verstanden. Eine Theorie des Journalismus, die den handlungstheoretischen Ansatz als gesellschaftstheoretisches Paradigma ernst nimmt, steht also noch aus.“224
Die wenigen Bemühungen, das Programm der Journalistik handlungstheoretisch zu fassen, richten sich, angesichts dieser theoretischen Mängel225, in erster Linie auf die Identifikation und Stärkung des normativ-praktischen oder manchmal auch des emanzipatorisch-kritischen Potenzials, das journalistische Praktiker für ihre Arbeit beanspruchen. Das gilt auch für die Überlegungen von Pöttker226, der für einen an Weber geschulten Blick auf die Handlungsweisen im Journalismus plädiert und diese in Beziehung setzt zu einer elaborierten Handlungstheorie227 und zu einem normativen Verständnis von Öffentlichkeit228, die beide die Folgenrefle217 218 219 220 221
222
223 224 225 226 227 228
Auf den publizistikwissenschaftlichen Zweig der Journalismusforschung wird an dieser Stelle nicht eingegangen. Zwar vertritt dieser seit Jahrzehnten ein handlungstheoretisches Journalismusmodell, formuliert es aber explizit nicht im Rahmen der Journalistik (vgl. Kepplinger 1979a; Donsbach 1982). Vgl. Reus 1998 Vgl. Bucher 2000 Raabe 2005, S. 170 Ausnahmen bilden – wenn überhaupt – Arbeiten, die sich an die strukturierungstheoretischen Annahmen von Giddens (1995) oder Schimank (2000) anlehnen. Nach Fertigstellung des vorliegenden Textes ist zudem der Band „Journalismustheorie: Next Generation“ erschienen, in dem sich verschiedene Journalismusforscher und Soziologen einer handlungstheoretischen bzw. integrativen Mikro-Makro-Perspektive nähern (vgl. Altmeppen/Hanitzsch/Schlüter 2007), leider allerdings ohne dabei das Instrumentarium der Handlungstheorie auch nur annähernd umfassend auszuschöpfen und für eine auch normativ relevante Analyse fruchtbar zu machen. Dies gilt insbesondere für die Konzeption von Fengler und Ruß-Mohl (2003; 2005a), die den journalistischen Akteur verkürzt als individuellen Nutzenmaximierer sehen und behaupten: „Journalistenbilder gibt es viele in der Kommunikationswissenschaft. Kratzt man ein bisschen an der Oberfläche, so lugt hinter jedem dieser Bilder der Journalist als aufgeklärter Homo oeconomicus hervor.“ (Fengler/Ruß-Mohl 2003, S. 233) Vgl. Neuberger 2000b Baum 2005a, S. 101 Diese sind auch dem Umstand geschuldet, dass handlungstheoretische Journalismus-Entwürfe wie die von Fabris (1979), Gottschlich (1980) oder Baum (1994) nach wie vor unterrezipiert sind. Vgl. Pöttker, 1996; 2000d Vgl. Pöttker 1997 Vgl. Pöttker 2000a
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II Zur Verortung des Journalismus
xivität gegenüber dem eigenen Handeln und die gesellschaftlich selbstregulierende Interaktion zwischen Subjekten und Institutionen historisch-hermeneutisch in den Mittelpunkt rücken. Nicht selten ziehen solche Ansätze systemtheoretische Modelle als Kontrastfolie heran, um sich von ihnen zu distanzieren. So geht Reus davon aus, dass die Journalistik sozialwissenschaftlich so gefestigt ist, dass sie sich den Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums zuwenden kann, ohne dabei in die Praktizismen der früheren Publizistik zurückzufallen. Vielmehr sollte das Fach, „die Entfaltungsmöglichkeiten des Subjekts im System Journalismus“ ausloten.229 Pöttker wiederum plädiert für eine stärkere Fokussierung auf die gesellschaftlichen Aufgaben, die Journalisten mit der Ausübung ihres Berufs zu erfüllen haben, und sieht die Journalistik entsprechend als immanent normative Disziplin.230 Und auch Pätzold fordert eine Konzentration auf den journalistischen Beruf und sieht die Bewährungsprobe der journalistikwissenschaftlichen Theorie in ihrer Integration in die Praxis.231 Neverla, Grittmann und Pater äußern den Wunsch, dass die Journalistik „[…] auf dem neuerdings eingeschlagenen Verbindungsgleis von sachlich-analytischer Argumentation mit gesellschaftspolitischer Verantwortung weiterfahren möge“.232 Den exemplarisch genannten Ansätzen ist gemein, dass sie sich gegen die einseitige Abstraktion von der Praxis und gegen die Annahme einer strengen Systemgrenze zwischen Journalismus und Journalistik stellen – ohne aber andererseits notwendige Differenzierungen zu untergraben. So konzediert Reus zwar ausdrücklich, dass die Journalistik eine sozialwissenschaftliche Grundierung benötige und dass die Abkehr von der praktizistischen Begabungsideologie Dovifats ein richtiger Schritt gewesen sei, zugleich aber formuliert er Zweifel an der notwendigen Konsequenz dieser Entscheidungen.233 Er fordert, den Journalisten nicht aus der Verantwortung zu entlassen, indem alles zum System werde und die Abstraktion das Individuum verschwinden ließe. Dabei plädiert er nicht für eine zur Gänze alternative, sondern für eine vorwiegend ergänzende Betrachtungsweise, die die systemische Perspektive um die Analyse der „Leistung von Individuen“ und der „Entfaltungsmöglichkeiten des Subjekts im System Journalismus“ erweitern könne.234 „Die kulturelle Leistung von Journalismus besteht wohl eher in der Vermittlung, der Übersetzung, der Interpretation von Realität. Diese Interpretation braucht das Subjekt. Dieses Subjekt […] handelt im System Journalismus. Aber [es] handelt um so schöpferischer, je eigenständiger [es] – korrekt und aktuell informierend – seinen Spielraum nutzt.“235
Mit diesem analytischen Vorschlag verbindet Reus die normative Absicht, „[…] die Persönlichkeit gegen jene Mechanismen des Berufs zu stärken, die Kreativität und Mut behindern“.236 Damit vertritt er eine Position, die Pätzold bereits in den 1980er Jahren formuliert, als er die Journalistik dezidiert als eine „kritische Wissenschaft“ konzipiert, deren empirisch-analytische Ergebnisse Aufschlüsse über Handlungsräume und -möglichkeiten der Journalisten gäben und
229 230 231 232 233 234 235 236
Reus 1998, S. 254 Vgl. Pöttker 1998a Vgl. Pätzold 2000 Neverla/Grittmann/Pater 2002b, S. 19 Vgl. Reus 1998, S. 251: „Möglicherweise sind wir aber bei der Suche sozialer Gesetzmäßigkeiten zu weit gegangen. Der Verdacht drängt sich auf, daß wir mit dem Begabungsdogma fast jedes Interesse an der journalistischen Persönlichkeit und ihrer Leistung verworfen haben.“ Ebd., S. 254 Ebd., S. 259 Ebd., S. 254
2 Theoretische Optionen
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die damit mehr seien, als nur deskriptiv-systematische Darstellungen.237 Die Journalistik thematisiere vielmehr permanent Widersprüche zwischen Normen und Realität, genauer: zwischen dem Bild von Journalismus, das durch die Journalisten selbst oder durch Normkontexte wie das Verfassungsrecht und die Demokratietheorie gezeichnet werde, auf der einen Seite und der Wirklichkeit des aktuellen Medienhandelns, wie es empirisch erfasst werden könne, auf der anderen Seite. „Kurz, die Journalistik kommt nicht umhin, vom Widerspruch zwischen Journalismus als Aufklärung und Medien als gesellschaftlichen Trivialisierungsinstrumenten auszugehen. Für die Aufklärung spricht der empirische Zustand unserer Gesellschaft. Für Trivialisierung spricht der empirische Zustand unseres Massenkommunikationssystems. Die aufklärerischen Traditionen zur stärken und zu fördern in einem zunehmend trivialisierenden Massenkommunikationssystem ist die praktische Aufgabe der Journalistik, von journalistischer Aus- und Weiterbildung.“238
Eine so verstandene Journalistik, ist anschlussfähig an das journalistische Selbstverständnis der Praktiker, kann aber auf sich gestellt kaum in Einklang gebracht werden mit den elaborierten systemtheoretischen Entwürfen, deren Augenmerk sich mehr auf die Funktionalität richtet. Medienübergreifend könnte und müsste eine ‚kritische‘ Journalistik vor allem normative Aufgaben des Journalismus identifizieren, die nicht nur in der Ausbildung, sondern auch in der wissenschaftlichen Begleitung des Medienhandelns vermittelt werden sollen. Im Zentrum steht dabei für Pätzold die journalistische Aufgabe, einen kommunikativen Austausch innerhalb einer Gesellschaft zu gewährleisten.239 Ein wesentlicher Bestandteil dieser Aufgabe ist die „Darstellung von Hintergründen und Zusammenhängen“240, durch die es möglich wird, Nachrichten zu verstehen und Meinungen einzuordnen. Die Journalistik kann durch ihre Leistungen in Ausbildung und Begleitforschung dazu beitragen, dass Journalismus diese Aufgaben in der Praxis ‚besser‘ erfüllt. Deshalb kann die Journalistik auch als normative Wissenschaft konzipiert werden, die ihr Wertegerüst aus ihrer Praxis- und Berufsorientierung zieht – und aus der damit einhergehenden Konzentration der Forschungs- und Lehranstrengungen auf Objekte und Fragen, die mit der jeweiligen professionellen Aufgabe zusammenhängen.241 „Fluchtpunkt der für die Journalistik konstitutiven Perspektive ist der Journalistenberuf. Berufe sind Bündel spezieller Kenntnisse und Tätigkeiten, die eigens der Erfüllung einer für Individuum oder Gesellschaft wichtigen Aufgabe dienen. Die Rede ist von Aufgaben, bewußt nicht von Funktionen. Zwar hat sich die berufliche Spezialisierung auf Aufgaben im Laufe des gesellschaftlichen Prozesses herausgebildet, der gemeinhin ‚funktionale Differenzierung‘ genannt wird. Aber Aufgabe und tatsächliche Funktionen eines Berufs können im Laufe dieses Prozesses auch wieder auseinandertreten. Eine professionelle Aufgabe bleibt, auch wenn die Funktionen der Berufstätigkeit sich wandeln. Eine professionelle Aufgabe bleibt sogar dann, wenn sie prinzipiell gar nicht erfüllt werden kann.“242
237 238 239
240 241 242
Pätzold o.J., S. 14 Ebd., S. 14 Vgl. ebd., S. 15: „Aufklärende Tradition im Journalismus bedeutet, alle Informationen öffentlich zur Verfügung zu stellen, die Orientierung, Verhalten und Handeln ermöglichen, das gemeinschaftsbezogen ist. Umgekehrt ist alles Wissen, ist alles Handeln daran zu messen, welchen Stellenwert es für die Gesellschaft hat. Interessenpluralität deutlich zu machen wie auch die pluralen Interessengruppen immer wieder mit Informationen zu konfrontieren, ist die politische und kulturelle Leistung der Publizistik, gleichsam ihr Sollwert, ihr Maßstab, an dem sie empirisch zu messen ist.“ Ebd., S. 21 Vgl. Pöttker 1998a, S. 233 Ebd., S. 231f.
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II Zur Verortung des Journalismus
Für Pöttker liegt die Chance der Journalistik, eine für die Fachidentität bestimmende Perspektive zu finden, in ihrer Konzentration auf die Berufsorientierung, die zwischen Journalistik und Journalismus ein ähnliches Verhältnis etablieren kann wie es die Medizin zum Arztberuf bereits seit Jahrhunderten pflegt.243 Aus derartigen Analogien, von denen die Begründungen der handlungstheoretischen Journalistik-Ansätze durchwirkt sind, lässt sich auf ein spezifisches Theorie-Praxis-Verhältnis zwischen Wissenschaft und Untersuchungsgegenstand schließen, das eben ganz bewusst nicht nur von abstrakt empirisch-analytischer Beobachtung des Journalismus ausgeht, sondern die Wissenschaft der Journalistik von vornherein darauf verpflichtet, für einen besseren Journalismus durch bessere Ausbildung zu sorgen. Die Journalistik fungiert dann als Instrument „einer zwanglosen, vernunftgeleiteten, also durch wissenschaftliche Fundierung bewerkstelligten Korrektur“ journalistischer Fehlleistungen.244 Zentral an dieser Annahme ist, dass erst die Wissenschaftlichkeit der Analyse dazu beitragen kann, dass diese Fehler erfolgreich aus der Welt geschafft werden. „Die Journalistik kann offenbar nur dann die Berufswirklichkeit beeinflussen, wenn die Praktiker die Erfahrung machen, daß sie über nützliche, d.h. innovative und zutreffende Erkenntnisse verfügt. Wie innovativ und zutreffend ihre Erkenntnisse sind, hängt wiederum davon ab, in welchem Maße die Regeln der systematischen Empirie und der Logik befolgt werden; mit einem Wort: Es hängt ab von der Wissenschaftlichkeit der Journalistik.“245
Auf diesen Weg haben sich einige der journalistischen Handlungstheoretiker gemacht. Sie haben aber – anders als die Systemtheoretiker – noch keine geschlossenen Konzeptionen des Faches oder seines Gegenstandes vorgelegt, die das Potenzial ihres Ansatzes weiter ausschöpfen würde. Erkennbar ist allerdings, dass jüngere theoretische Entwürfe in Richtung integrativer Modelle zielen, die system- und handlungstheoretische Aspekte miteinander verknüpfen.246 Diesen Versuchen geht es vornehmlich darum, dass der in der systemtheoretischen Journalistik weitgehend ignorierte Zusammenhang zwischen dem Journalismus und den journalistisch Handelnden durch die Entwicklung entsprechender theoretischer Perspektiven wieder in den Blick genommen werden kann. In dieser Hinsicht soll auch die in der vorliegenden Arbeit angeregte Adaption des Habermasschen Modells kommunikativen Handelns weiterführen.247 Ein Konzept verständigungsorientierter Humankommunikation soll als Grundlage für eine Beschäftigung mit massenmedial vermittelter Kommunikation genutzt werden, um darauf aufmerksam zu machen, dass auch medial vermittelte Kommunikation (gesellschaftlicher) Verständigung dient.248 Diese letztlich lebensweltlich orientierte Kommunikation steht dabei 243 244 245 246
247 248
Vgl. ebd., S. 233. Ganz so wie die wissenschaftliche Medizin neue und effektivere Heilmethoden erforscht, mit dem Ziel die praktischen Leistungen der Ärzte zu verbessern, soll es demnach Aufgabe der Journalistik sein, Journalisten zur bestmöglichen Erfüllung ihrer Aufgabe anzuleiten. Ebd., S. 234 Ebd., S. 234 Beispiele sind die Studien von Raabe 2005; Neuberger 2000b; Altmeppen 2000. Auch Scholl und Weischenberg (1998, S. 156) bemühen sich anhand des Konzepts der strukturellen Kopplung darum, Journalisten als Akteure zum journalistischen System in Beziehung zu setzen, wenngleich sie weiterhin theorienotwendig ‚Umwelt‘ des Systems verbleiben. Deshalb wird an dieser Stelle nicht weiter – wie in der Auseinandersetzung mit der Systemtheorie – auf einzelne handlungstheoretische Arbeiten und ihre Grundfiguren eingegangen, sondern sie werden im Verlauf der Argumentation jeweils zur Entwicklung eines handlungstheoretischen Verständnisses ausgiebig herangezogen. Vgl. Lang 1993. Burkart regt ebenfalls die stärkere Berücksichtigung der Habermasschen Gesellschaftstheorie durch die Kommunikationswissenschaft an (vgl. für den Journalismus: Burkart 1998b; für PR: Burkart/Probst 1991) , während Baum (1994) sich in seiner Analyse der Journalismusforschung bereits systematisch auf die Begrifflichkeiten und Modelle von Habermas gestützt hat.
3 Wissenschaftstheoretische Fundamente
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auch in Beziehung zu einem systemischen Vermittlungsrahmen; beide Perspektiven müssen folglich in der Journalismus-Analyse berücksichtigt werden können. Die Hauptbestandteile des Habermasschen Entwurfs – eine Theorie kommunikativer Rationalität, ein zweistufiges Gesellschaftsmodell von Lebenswelt und System, eine Kritik moderner Entfremdungs- und Verdinglichungsprozesse und ein elaborierter diskurstheoretischer Ansatz, der erkenntnistheoretische Fragen in intersubjektive Verständigungsprozesse überführt249 – versprechen, dafür einen angemessenen Rahmen bilden zu können, der von dem für journalistisches Handeln augenscheinlich zentralen Paradigma der Verständigung durch Kommunikation ausgeht, ohne die Bildung sozialer Systeme theoretisch zu vernachlässigen. Gegenüber einer kommunikationstheoretisch gewendeten Gesellschaftstheorie ist systemisches Denken durchaus anschlussfähig.250 Auch gegenüber den epistemologischen Annahmen einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie251 und noch mehr einer sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie252 steht eine Konsenstheorie der Wahrheit offener gegenüber, als den substanzhaften Annahmen des Essentialismus. Es ist gerade diese ‚Anschließbarkeit‘ und der Verzicht auf jede Form der Radikalisierung, die das Habermassche Theoriegebäude gegenüber anderen, formal geschlosseneren Entwürfen auszeichnet.253 Darüber hinaus bietet die allgemeine Perspektive Journalismus als kommunikatives Handeln zu fassen eine Chance auf größere Praxisnähe, wie Bucher – allerdings ohne Bezug auf Habermas – schreibt: „Insgesamt gesehen bietet eine Betrachtungsweise der Medienkommunikation und des Journalismus als Formen des kommunikativen Handelns auch die Chance, Medienforschung stärker an die Medienpraxis anzukoppeln: Sie muß nämlich die Perspektive der Handelnden, der Journalisten und der Rezipienten ernst nehmen.“254
Im Rahmen eines kommunikativen Paradigmas nach Habermas lässt sich eine handlungstheoretische Journalistik begründen, die zugleich nicht nur normativ-praktischen, sondern darüber hinaus gehend kritisch-emanzipatorischen Gehalt entfalten kann. Um dies näher zu begründen, ist ein Rückgriff auf die wissenschaftstheoretische Verortung der Kommunikationswissenschaft und der Journalistik notwendig, um zu verdeutlichen, welche Probleme und Potenziale eine solche kritische Herangehensweise an Fragen journalistischer Kommunikation beinhalten kann. Ob sich mit Habermas die Theorie der Journalistik in die journalistische Praxis hineintragen lässt und umgekehrt, die Theorie wieder für Praxis, die Journalistik wieder für den Journalismus relevant wird – das sind zentrale Fragen des vorliegenden Projekts.
3
Wissenschaftstheoretische Fundamente
Die Skizze einiger derzeit von der Journalistik genutzter theoretischer Optionen hat gezeigt, dass einerseits die Integration von Theorie und Praxis auf der Basis systemtheoretischer Entwürfe kaum zureichend geleistet werden kann und dass andererseits handlungstheoretische Entwürfe nicht so weit entwickelt sind, dass sie in normativ-praktischer oder kritisch-emanzipatorischer Absicht eine eigene Theorie des Journalismus formuliert hätten. Ursachen für diese 249 250 251 252 253 254
Vgl. McCarthy 1989, S. 514 Vgl. Habermas 1973a Vgl. Schmidt 1993; 2003; Krippendorf 1993; 1996; sowie die Beiträge in Scholl 2002a. Vgl. Berger/Luckmann 1980 Vgl. zur Frage der Anschließbarkeit der Theorie von Habermas auch Reemtsma 2001. Bucher 2000, S. 273
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II Zur Verortung des Journalismus
Schwierigkeiten in der Selbstdefinition und im Umgang mit dem Untersuchungsfeld können auch in den wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Disziplin vermutet werden. Deshalb sollen diese Fundamente näher betrachtet werden, um Aufschlüsse über die Möglichkeiten einer wissenschaftlich-kritischen Perspektive auf den Journalismus und die Massenmedien zu erlangen. Wiederum ist davon auszugehen, dass Prädispositionen der Kommunikationswissenschaft in der Journalistik fortwirken, so dass deren wissenschaftstheoretische Grundierung als empirisch-analytische Sozialwissenschaft, die ein vorwiegend abstrakt-instrumentelles Erkenntnisinteresse bedient, mitzubehandeln ist. Historisch-hermeneutische oder gar kritischemanzipatorische Grundlegungen spielen eine weit geringere Rolle. Die Konzeption als Sozialwissenschaft ruht damit auf der klassischen Idee einer Teilung der Wissenschaften in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften255, aus denen sich dann die Sozialwissenschaften als Drittes wiederum abgespalten haben, da sie zu den Methoden der Naturwissenschaften tendieren, freilich ohne deren ohnehin nur vermeintliche Exaktheit näherungsweise erreichen zu können. Durch diese Ausdifferenzierung wird die angenommene Trennung zwischen historisch-hermeneutisch und empirisch-analytisch verfahrenden Wissenschaften, die vormals zwischen Natur- und Geisteswissenschaften als erkenntnistheoretische und methodische Differenz verhandelt wurde, nun mitten in die ‚Humanwissenschaften‘ hineingetragen.256 Die Typologien, die den Geisteswissenschaften die Hermeneutik, also die „Erklärungskunst“ oder „Auslegungslehre“257, und den Sozialwissenschaften die empirisch-analytischen Methoden zuweisen, können nur als Näherungen betrachtet werden; schließlich sind nicht wenige Sozialwissenschaften – darunter gerade die Kommunikationswissenschaft – auch durch historischhermeneutische Verfahren geprägt. Die sozialwissenschaftliche Grundlegung kommunikationswissenschaftlicher Forschung ist Bestandteil eines fachgeschichtlichen Bruches in den 1960er Jahren, in denen sich eine neue Forschergeneration von der bis dahin vorherrschenden geisteswissenschaftlich und historischhermeneutisch ausgerichteten Publizistikwissenschaft abwandte und empirisch-analytische Methoden einführte.258 Dieser Wechsel wurde in Anlehnung an die US-amerikanische ‚mass
255 256 257
258
Vgl. Dilthey 1922 Vgl. Maletzke 1980a, S. 13f. Schmidt 1931, S. 184. Hier wird Hermeneutik präziser verstanden als die „Lehre vom Verstehen, vom wiss[enschaftlichen] Begreifen geisteswiss[enschaftlicher] Gegenstände“ (Schischkoff 1991, S. 293). Siehe für eine erweiterte Definition auch Habermas 1982 [1970], S. 331: „Hermeneutik bezieht sich auf ein ‚Vermögen‘, das wir in dem Maße erwerben, als wir natürliche Sprache ‚beherrschen‘ lernen: auf die Kunst, sprachlich kommunizierbaren Sinn zu verstehen und, im Falle gestörter Kommunikationen, verständlich zu machen. Sinnverstehen richtet sich auf die semantischen Gehalte der Rede, aber auch auf die schriftlich fixierten oder in nicht-sprachlichen Symbolsystemen enthaltenen Bedeutungen, soweit sie prinzipiell in Rede ‚eingeholt“ werden können.“ Aus diesem Verständnis heraus ist die Hermeneutik in ihren Grundzügen nicht der Interpretation des Philosophen vorenthalten, sondern Bestandteil auch alltagssprachlicher Kommunikation. Dieser Schritt war in nicht geringem Ausmaß auch wissenschaftspolitisch motiviert, sollte er doch bestehende Rechtfertigungsprobleme der umstrittenen Disziplin beseitigen (vgl. Baum/Hachmeister 1982, S. 209). Die neue Perspektive setzte sich schnell durch: In den Fachzeitschriften ist schon bald ein wachsender Anteil empirischer Untersuchungen und standardisierter Methoden festzustellen (vgl. Hohlfeld/Neuberger 1998, S. 332). Die Herausgeber der Fachzeitschrift „Publizistik“ konstatierten 1976 eine „sozialwissenschaftliche Richtung“ des Faches: „Im Ensemble der modernen empirischen Sozialwissenschaften hat die ältere Publizistik- und Zeitungswissenschaft ihren Platz als Wissenschaft von der gesellschaftlichen Kommunikation – abgekürzt Kommunikationswissenschaft – gefunden.“ (Haacke u.a. 1976, S. 6) Und auch fünf Jahre später bekräftigten sie u.a. die „sozialwissenschaftliche Orientierung der Kommunikationswissenschaft“ als eine zentrale Tendenz des Faches (Haacke u.a. 1980, S. 482).
3 Wissenschaftstheoretische Fundamente
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communication research‘ gestaltet.259 Die in den USA erprobten Methoden und Techniken schienen den für eine sozialwissenschaftliche Orientierung des Faches eintretenden Wissenschaftlern als alternativlose Möglichkeit, den Individualismus, Historizismus und Praktizismus der älteren Fachvertreter zu überwinden.260 Gleichzeitig und eng mit der Ausrichtung auf empirisch-analytisch zu bestimmende Regelmäßigkeiten im sozialen Ablauf verbunden beginnt der Aufstieg systemtheoretischen Denkens – zunächst in der funktionalen Publizistikwissenschaft261, kurze Zeit später dann auch in der empirischen Journalismusforschung.262 Mit dieser zunächst als Modernisierung begriffenen Adaption eines empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnisses gerät die sozialwissenschaftliche Kommunikationswissenschaft allerdings in die Gefahr, ihre Bindung an die Philosophie und an hermeneutisch zu bearbeitende (normative) Fragen des Verstehens zu lösen und so zum Teil auch das Webersche Erbe der verstehenden Sozialwissenschaft preiszugeben.263 Sie rückt einen Schritt von der Praxis weg, die sich ebenfalls hermeneutischer Methoden bedient, um im alltagssprachlichen Dialog zu Verständigung zu gelangen264, und der es in ihrem Handeln um eben jene Sinnbezirke geht, die durch empirisch-analytische Methoden nur schwerlich zu erreichen sind. So lassen sich die eingangs bereits beleuchteten Ursachen der konstatierten Verständigungsschwierigkeiten zwischen Wissenschaft und Kommunikationspraxis begrifflich präziser benennen.265
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264 265
Von besonderer Bedeutung waren Maletzkes (1963) Synopse „Psychologie der Massenkommunikation und der Sammelband von Schramm (1968) über „Grundfragen der Kommunikationsforschung“. Wenig beachtet wurden indes die deutschen Vorläufer einer sozialwissenschaftlichen Orientierung: Eine sozialwissenschaftliche Konzeption kann bis zu den Vorschlägen Max Webers für eine Presse-Enquete aus dem Jahr 1910 zurückgeführt werden (vgl. Weber 1986 [1911]; vgl. auch Kutsch 1988). Auch Groth hatte mit seiner Dissertation über „Die politische Presse Württembergs“ eine Studie vorgelegt, die sich an den Forderungen Webers orientierte (vgl. zu dieser Arbeit Eberhard 1965b). Und Everth forderte schon 1927 die verstärkte Ausrichtung der Zeitungswissenschaft an der Empirie; mithin „eine wirklich wissenschaftliche, das heißt sachliche und nüchterne Betrachtung“ der Presse: „Bisher leiden wir noch an einem Übermaß von Gefühlsurteilen.“ (Everth 1927, S. 4) Auch in den Arbeiten von Jäger (1926a) oder Schöne (1928) finden sich Hinweise auf sozialwissenschaftliche Konzeptionen. Überhaupt bildete sich im Spannungsfeld von Soziologie und Zeitungswissenschaft in den 20er Jahren ein innovatives sozialwissenschaftliches Forschermilieu, dessen Protagonisten in den 1930er Jahren zur Emigration gezwungen wurden (vgl. Averbeck 2001; 1999). Vgl. für die Hinwendung der Kommunikationswissenschaft zum empirischen Paradigma auch die Ausführungen in Bussemer 2005, S. 249ff. Vgl. Ronneberger 1978a, S. 13 Vgl. Dröge 1966; 1967 Vgl. Rühl 1969 Weber (1980 [1921], S. 7) hatte der Sozialwissenschaft die Aufgabe zugeschrieben, das soziale Handeln und seinen subjektiven Sinns deutend zu verstehen: „Wir sind ja bei ‚sozialen Gebilden‘ (im Gegensatz zu ‚Organismen‘) in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionalen Zusammenhängen und Regeln (‚Gesetzen‘) hinaus etwas aller ‚Naturwissenschaft‘ (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der ‚Erklärung‘ der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das ‚Verstehen‘ des Verhaltens der beteiligten Einzelnen, während wir das Verhalten z.B. von Zellen nicht ‚verstehen‘, sondern nur funktionell erfassen und dann nach Regeln seines Ablaufs feststellen können. Diese Mehrleistung der deutenden gegenüber der beobachtenden Erklärung ist freilich durch den wesentlich hypothetischeren und fragmentarischeren Charakter der durch Deutung zu gewinnenden Ergebnisse erkauft. Aber dennoch: sie ist gerade das dem soziologischen Erkennen Spezifische.“ Vgl. Habermas 1982 [1970], S. 331 Insofern kann ein präziser Rückgriff auf Dovifat heute noch Relevanz beanspruchen, da er für den engen Zusammenhang von Interpretation und Normativität auf der einen und Praxisrelevanz auf der anderen Seite sensibilisiert. Dovifat (1956, S. 9) verweist auf unmittelbare Gegenwartsaufgaben, denen die Publizistikwissenschaft „anhand historischer und phänomenologischer Studien zu genügen sucht“ und mit denen sie „unmittelbar in das Tagesgeschehen“ wirkt. Auch in der normativen Journalismusforschung Roegeles (2000) lassen sich diesbezüglich wichtige Anschlusspunkte finden.
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II Zur Verortung des Journalismus
Auch sozialwissenschaftlich können diejenigen Sinnstrukturen, die gesellschaftlichen Phänomenen zugrunde liegen, erst durch die Hinzunahme der hermeneutischen Interpretation, die sich aus der linguistischen Textanalyse und aus der philosophisch grundierten Phänomenologie speist, erfasst werden. Doch inwiefern hermeneutische Methoden in eine sozialwissenschaftlichen Konzeption integriert werden können und wie sie sich mit empirisch-analytischen Ansätzen verbinden lassen, hat die Kommunikationswissenschaft bis heute nicht für sich geklärt. Stattdessen haben sich die Verfechter der jeweiligen wissenschaftlichen Perspektiven und Methoden jahrzehntelang fachintern scharf voneinander abgegrenzt. Dort wo ein Pluralismus von beschreibend-verstehenden und beobachtend-erklärenden Methoden fruchtbar gewesen wäre266, hat sich ein weitgehend ideologisch geprägtes Nebeneinander oder sogar Gegeneinander der verschiedenen Forschungsperspektiven des (empirisch-analytischen) ‚Szientismus‘ und des (historisch-hermeneutischen) ‚Humanismus‘ herausgebildet.267 „Die Mehrzahl der heutigen Sozialwissenschaftler sieht diesen Dualismus als Konfrontation, als unüberbrückbaren Gegensatz. Dabei verläuft die Argumentation etwa so: Die Geisteswissenschaften gehen historisch, idiographisch, hermeneutisch, interpretierend, verstehend vor. Im Zentrum ihrer Terminologie stehen ‚Sinn‘, ‚Intention‘ und vor allem ‚Verstehen‘. Begriffe, deren schillernder Bedeutung wir hier nicht nachgehen können. Die positivistischen Sozialwissenschaften dagegen arbeiten empirisch, nomothetisch, kausal-analytisch, erklärend. Nicht selten gehen dabei die Differenzen zwischen beiden Standpunkten so weit, daß die eine Seite der anderen die wissenschaftliche Dignität, wenn nicht gar die Existenzberechtigung abspricht.“268
An die Stelle wechselseitiger Anschuldigungen müsse in der Kommunikationswissenschaft ein Dialog zwischen den methodischen ‚Lagern‘ treten, fordert Maletzke schon 1980: Der dominierende empirisch-analytische Ansatz müsse aus seiner „positivistischen Selbstbeschränkung“ herausfinden, historisch-hermeneutische Ansätze akzeptieren und mit ihnen kooperieren.269 Im Zuge einer solchen Öffnung könnte auch gleich ein dritter, ‚kritischer‘ Zweig der Kommunikations- und Journalismusforschung, der fachhistorisch nur kurze Zeit Relevanz beanspruchen konnte270, auf seine Verwendbarkeit geprüft werden.
3.1
Die Möglichkeiten sozialwissenschaftlicher Kritik
Ein ‚kritischer‘ sozialwissenschaftlicher Ansatz wendet sich sowohl gegen den Positivismus der empirisch-analytischen Ansätze als auch gegen die Einzelfall-Semantik der Hermeneutik und 266 267 268 269
270
Vgl. das Plädoyer von Padrutt 1972, S. 27. Vgl. Maletzke 1998, S. 175ff. Maletzke 1980a, S. 14 Ebd., S. 85. Eine solche Zusammenarbeit ist in der fachlichen Entwicklung nicht angelegt: Schon in den 1950er und 1960er Jahren konnte man sich nicht auf die grobe Verortung einigen. Dovifat (1956, S. 9) plädierte für „Geisteswissenschaft“, Hagemann (1956, S. 11) für „Sozialwissenschaft“ und Groth (1960, S. 5) für „Kulturwissenschaft“. Hinter diesen Begriffen verbargen sich in der Operationalisierung kaum zu vereinbarende Konzepte – auf die hinsichtlich ihrer Relevanz für den Journalismusbegriff noch einzugehen sein wird –, dennoch kann rückblickend konstatiert werden, dass die frühe Publizistikwissenschaft und Zeitungswissenschaft im Kern historisch-hermeneutisch geprägte Disziplinen gewesen sind. Selbst Hagemanns (1956, S. 11) Verständnis von einer Sozialwissenschaft ist nicht vergleichbar mit späteren empirisch-analytischen Ansätzen: „Wissenschaft im engeren Sinne beginnt dort, wo die Frage nach dem Warum die Frage nach dem Was verdrängt, wo wir nach den Ursachen hinter den Tatsachen forschen und aus Einzelheiten Zusammenhänge zu gewinnen suchen. Erst auf diesem Wege können wir zu den geistigen Quellen, den innewohnenden Gesetzen vorstoßen […].“ Vgl. Bohrmann/Sülzer 1973, S. 99ff.. Der klassische Fundus kritischer Kommunikationsforschung ist z.B. zusammengestellt in den Sammelbänden von Prokop 1972; 1973a; 1977.
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ordnet stattdessen beide einer Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse unter. Er erweitert die ‚klassische‘ sozialwissenschaftliche Forschung um die Dimension der Kritik bestehender Verhältnisse und des Verweises auf eine ‚jenseits‘ dieser Verhältnisse liegende kontrafaktische oder gar ‚utopische‘ Dimension. Die einem solchen Konzept zugrunde liegende Kritische Theorie ist von Horkheimer bereits in den 1920er Jahren maßgeblich formuliert worden. Sie steht quer zu jedem ‚modernen‘ Verständnis einer ‚wertfreien‘ traditionellen Theorie und beruht auf einem normativen und emanzipatorischen Programm: „Wenn das Aufstellen von Theorien im traditionellen Sinn einen gegen andere wissenschaftliche und sonstige Tätigkeiten abgegrenzten Beruf in der gegebenen Gesellschaft ausmacht und von historischen Zielsetzungen und Tendenzen, in die ein solches Geschäft verflochten ist, gar nichts zu wissen braucht, folgt die kritische Theorie in der Bildung ihrer Kategorien und allen Phasen ihres Fortgangs ganz bewußt dem Interesse an der vernünftigen Organisation der menschlichen Aktivität, das aufzuhellen und zu legitimieren ihr selbst auch aufgegeben ist. Denn es geht ihr nicht nur um Zwecke, wie sie durch die vorhandenen Lebensformen vorgezeichnet sind, sondern um die Menschen mit all ihren Möglichkeiten.“271
Die Verbesserung der Gesellschaft wird aus dieser Perspektive zu einer permanenten Aufgabe auch des Sozialwissenschaftlers, dem eine Rückzugsmöglichkeit auf das vermeintlich teilnahmslose Sammeln und Aggregieren von Daten nicht mehr gelassen wird. Schon 1941 hat Lazarsfeld in Auseinandersetzung mit Horkheimers Thesen die Kritische Theorie zum Anlass genommen, der in den USA vor allem von ihm selbst aufgebauten und betriebenen administrativen Kommunikationsforschung ein kritisches Pendant zur Seite zu stellen.272 „Wer heute kritische Analyse der modernen Kommunikationsmedien betreibt, wird Rundfunk, Film und Presse betrachten und folgende Fragen stellen: Wie sind diese Medien organisiert und wie werden sie kontrolliert? Wie stark sind innerhalb ihres institutionellen Gefüges die Tendenzen zu Konzentration, Standardisierung und Druck durch Werbung ausgeprägt? In welcher Form und wie versteckt auch immer bedrohen sie menschliche Werte? Er wird feststellen, daß es die Hauptaufgabe der Forschung sein muß, die meist unabsichtliche und oft sehr subtile Art aufzudecken, in der diese Medien die von ihm als bedauerlich empfundenen sozialen Verhaltensweisen und Lebensgewohnheiten beeinflussen.“273
Im Zusammenspiel von administrativer und kritischer Forschung, so Lazarsfelds Überlegungen, sollten Forschungsfragen und -methoden entwickelt werden, um die Arbeit der Disziplin zu beleben.274 Er selbst folgte seinen Vorschlägen nicht, hielt es aber abstrakt für sinnvoll, empirische Methoden und Ergebnisse der Auftragsforschung in einen größeren Kontext zu stellen und gesellschaftliche Auswirkungen der Kommunikationsmedien zu untersuchen. Eine solche kritische Forschung wendet sich zwangsläufig gegen das in den Sozialwissenschaften weit verbreitete Streben nach vollständiger Loslösung von Werturteilsfragen und gegen den 271 272
273 274
Horkheimer 1992b [1937], S. 262; vgl. zur Einführung: Dubiel 2001; Honneth 1987; van Reijen 1986; Wiggerhaus 1988. Vgl. Lazarsfeld 1973. Sein Text ist zunächst 1941 in der Zeitschrift des damals längst emigrierten Instituts für Sozialforschung in den USA publiziert worden (vgl. zur Bedeutung Lazarsfelds für die Kommunikationswissenschaft Bussemer 2007 sowie die Beiträge in Langenbucher 1990). In Deutschland ist der Text übersetzt erstmals über 30 Jahre später in einer Anthologie von Prokop (1973b) zur kritischen Kommunikationsforschung aufgelegt und einseitig vereinnahmt worden. Vgl. zudem grundlegend Kausch 1988. Lazarsfeld 1973, S. 18 Auf Resonanz stießen diese Vorschläge bei den bundesdeutschen Kommunikationsforschern, die rund 25 Jahre später auf den Plan traten und sich dabei an den US-Vorbildern orientierten, nicht. Sie schotteten sich zunächst erfolgreich von beinahe jeder kritischen Perspektive ab und legten ihren Forschungen und Prognosen das gängige „sozialtechnologische Verständnis gegebener gesellschaftlicher Bedingungen“ zugrunde (Teichert/Renckstorf 1974, S. 138). Während ökonomische und technische Fragen in zahlreichen Studien thematisiert wurden, blieben darüber hinaus reichende politische oder soziale Zusammenhänge unberücksichtigt.
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damit verbundenen Glauben an die Möglichkeit einer vermeintlich ‚neutralen‘, vermeintlich ‚objektiven‘ Position der Forschung: Schließlich, so die Annahme kritischer Sozialwissenschaftler, reduziere sich Wissenschaft selbst zur methodischen Verfügungsmasse anderweitig formulierter praktischer Interessen, wenn sie sich der praktischen Wertung nur aus der Angst heraus enthalte, ansonsten unzulässig in Anliegen außerhalb ihrer Kompetenz einzugreifen. Praxis werde für die kritisierte ‚Mainstream‘-Wissenschaft nicht zu einem Dialogpartner, sondern entweder – in der Auftragsforschung – zu einem Stichwortgeber, dessen Anliegen vermeintlich wertneutral durchgeprüft würden; oder aber zu einem ‚Objekt‘, dass teilnahmslos empirischer Beobachtung unterzogen werde. Damit entledigten sich Sozialwissenschaften in letzter Konsequenz praktischer Bezüge und beschränkten sich darauf, technisch verwertbares Arbeitswissen zu liefern, das der Praxis sozialen Handelns in einem weiteren Sinne nur bedingt zugänglich bleiben müsse.275 Es ist offenkundig, dass ein solches Vorgehen einer praxisorientierten Wissenschaft wie der Journalistik Schwierigkeiten bei dem Vorhaben bereiten muss, durch Forschung und Lehre zu einer Verbesserung sozialer Praxis beizutragen. Kritisch-emanzipatorische Sozialwissenschaft wendet sich gegen das Postulat der Werturteilsfreiheit276 genauso wie gegen den positivistischen Glauben an die erklärende Kraft empirisch erhobener Daten277, die sich als tragende Pfeiler empirisch-analytischer Forschung etabliert haben. Sie hat ihr Profil vor allem in den 1960er Jahren entscheidend in der als ‚Positivismusstreit‘278 überlieferten Auseinandersetzung mit den ‚Neo-Positivisten‘ geschärft. Die Vertreter Kritischer Theorie (dialektischer Ansatz) wandten sich damals sowohl gegen die gängige analytische Zergliederung des sozialwissenschaftlichen Forschungsgegenstandes als auch gegen eine sozialwissenschaftliche Selbstbescheidung, die den Zusammenhang von Gesellschaftstheorie und Wissenschaftstheorie nicht mehr herstellt.279 Sie insistierten stattdessen darauf, dass die Gesetzmäßigkeit des Denkens nur in Einheit mit ihrer eigenen Anwendung konzipiert werden kann280 und betonten, dass die Welt fundamental von Widersprüchen
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So die Kritik z.B. von Baum/Hachmeister 1982; Eurich 1977; Teichert/Renckstorf 1974 Für dieses Postulat wird immer wieder Weber (19887 [1922]) als Kronzeuge herangezogen. Vgl. dazu kritisch von Ferber 1965, S. 165ff.; Pöttker 1997, S. 7. Weber meint aber mit seinem berühmten Aufruf, auf ‚Kathederwertungen‘ zu verzichten, zunächst, dass Professoren davon Abstand zu nehmen haben, ethisch-politische Kommentare mit einem wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch zu versehen. Er räumt dagegen ausdrücklich ein, dass die Auswahl des untersuchten Gegenstandes und die Fragestellung Ausfluss von Wertbeziehungen seien (vgl. Weber 19887 [1922], S. 489ff.). Weber fordert dazu auf, Wertfragen offen zu legen und zu diskutieren. Dadurch bleiben sie in ihrer Revidierbarkeit und Kontingenz erkennbar und können Beobachtungen und Argumente sinnvoll ergänzen (vgl. Pöttker 1997, S. 7). Eine vergleichbare Position vertritt heutzutage Habermas (1999, S. 321), wenn er der Philosophie nicht mehr die Kompetenz zuspricht, in materieller Hinsicht das Gute und Gerechte zu bestimmen, sondern sie darauf beschränkt, Verfahren auszuweisen, die in der Lage sind, in der Praxis zu Entscheidungen zu gelangen, die diesen Kriterien genügen. Unter Positivismus ist allgemein ein Wissenschaftsverständnis zu verstehen, das sich „engstens an das Weltbild und die Methoden der Naturwissenschaften“ anlehnt und nur durch Erfahrung kontrollierbare Aussagen zulässt (Schischkoff 1991, S. 578). Der Positivismus (zu dem in der Regel, wenngleich nicht unumstritten, auch der kritische Rationalismus nach Popper (1969; 1972) gezählt wird) unterstellt eine an den theoretischen Naturwissenschaften ausgerichtete Einheitswissenschaft als erreichbar, deren Methodiken für alle Disziplinen Gültigkeit besitzen. Die hermeneutische Interpretation des Einzelfalls wird in den Vorhof der Wissenschaft verwiesen. Wissenschaft hat sich auf das Testen von Hypothesen anhand empirischen Materials zu beschränken. Vgl. Adorno u.a. 1972 Vgl. Baum 1994, S. 25 Vgl. Schischkoff 1991, S. 139. Dialektik ist im Hegelschen Sinne „[…] nichts anderes als die Entwicklung der Begriffe nach eigener innerer Gesetzmäßigkeit (von der Thesis zur Antithesis und weiter zur Synthesis) und, da in den Begriffen das Sein gegeben ist, die Entwicklung des Seins überhaupt“ (Schmidt 1931, S. 84).
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geprägt sei, die eine eindeutige, mithin ‚positive‘ Erkenntnis nicht ermöglichten.281 Kerngedanke ist die ‚totalitäre Einheit‘ des Gesellschaftlichen und die daraus folgende Unmöglichkeit, isolierte Einzelphänomene ohne Rückbezug auf das Gesellschaftsganze zu untersuchen.282 Eine solche Dialektik rechnet sich in ihrer Methodik eher der Hermeneutik zu, da sie Fragen des Sinns nicht als heuristisch betrachtet, sondern als konstitutiv für ihre normativ geleiteten Interpretationen des gesamtgesellschaftlichen Lebenszusammenhanges annimmt.283 Die Kritische Theorie stellt damit einer positivistischen Soziologie, die sich als auf Einzelfälle anwendbare, falsifizierbare Theorie im gedachten Rahmen einer einheitswissenschaftlichen Methodik versteht, ein Verständnis von Sozialwissenschaft entgegen, das von einer Theorie der Gesellschaft ausgeht, die eine dialektisch verstandene und geschichtsphilosophisch deduzierte Totalität zu fassen versucht.284 Aus heutiger Sicht erscheint die Ausschließlichkeit dieser Positionen als ein Übergangsphänomen285; der Streit um die Stellung von Werturteilen kann gar als erledigt gelten.286 Es ist mit Burkart als plausibel zu unterstellen, dass es sich bei Unterscheidungen zwischen normativer und empirischer Wissenschaft weitgehend „um analytische Zergliederungen eines in Wirklichkeit ineinander verschränkt auftretenden Prozesses“287 handelt. Diese Perspektive setzt einerseits die Möglichkeit voraus, diese analytische Trennung vorzunehmen, und kommt so den Positivisten entgegen, geht aber gleichermaßen mit den Dialektikern davon aus, dass Handlungen, auch wissenschaftliche Forschung, wie vermittelt auch immer, mit Werturteilsfragen verknüpft sind. Möglich ist eine solche vermittelnde Position, nachdem der radikale Totalitätsgedanke der Dialektiker angesichts der Komplexität und der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften aufgeweicht worden ist. Erst dann kann eine kritische Position akzeptieren, dass der Versuch der analytischen Trennung von empirischer Analyse und kritischer Bewertung keinesfalls in kritiklosem Empirizismus und Positivismus enden muss.288 Letztlich bedeutet diese Trennung, dass die Werturteilsgebundenheit explizit und nachvollziehbar sein muss, um eine voluntaristische und dezisionistische Normativität zu vermeiden. In der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sind derartige Fragen der Komplementarität und Konkurrenz von gegenwartswissenschaftlicher Forschung und empirischsozialwissenschaftlicher Methodik auf der einen und gesellschaftswissenschaftlicher Theorie im historischen Kontext auf der anderen Seite auf einer weit weniger abstrakten Ebene verhandelt 281 282
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Auch in den Hypothesen, die dem kritischem Rationalismus (vgl. grundlegend Popper 1969) als widerlegt gelten, steckt folglich noch ein bewahrenswerter Kern, da sie ansonsten ja gar nicht hätten aufgestellt werden können (vgl. dazu kritisch Popper 1965, S. 264f.) Vgl. Adorno 1972 [1957], S. 82. Für Habermas (1972a, S. 156) bedeutet Dialektik in einem bereits methodisch entschlackten Sinne, „[…] daß der von Subjekten veranstaltete Forschungsprozeß dem objektiven Zusammenhang, der erkannt werden soll, durch die Akte des Erkennens hindurch selbst zugehört. Diese Einsicht setzt freilich Gesellschaft als Totalität voraus, und Soziologen, die sich aus deren Zusammenhang reflektieren.“ Vgl. Habermas 1972a, S. 164 Vordergründig standen dabei unterschiedliche Beurteilungen des Beziehungsgeflechts von Empirie, Theorie und normativen Werturteilen im Mittelpunkt. Darüber hinaus aber scheint die Differenz zwischen den beiden Hauptkontrahenten Popper und Adorno auf einer mindestens in Teilen ‚politisch‘ motivierten Ebene gelegen zu haben (vgl. Wiggershaus 1988, S. 633). Vgl. Atteslander 1995, S. 389; zur Distanzierung von dem damaligen Streit vgl. Habermas 1982, S. 9. Vgl. Peters 2000, S. 288f. Burkart 1998a, S. 529 Popper geht davon aus, dass Wissenschaft mit der Entdeckung (theoretischer oder praktischer) Probleme beginnt und sich in ihren Anstrengungen auf die Lösung solcher Probleme konzentriert; dazu schlägt sie Lösungen vor, die sich dann im empirischen Test entweder bewähren oder aber verworfen werden (vgl. Popper 1972; Burkart 1998a, S. 408ff.).
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worden. Das zeigt beispielhaft der ‚Gehalt‘ des ‚kleinen Positivismusstreits‘ zwischen Eberhard und Dovifat in den 1960er Jahren289: Eberhard forderte, dass die Publizistikwissenschaft induktiv über die Empirie zur Theorie gelangen müsse und dass ihr dazu nur der Weg der Einzeluntersuchungen offen stehe; sie dürfe nicht zu einer „normativen Wissenschaft ausarten“.290 Gegen diesen vereinfachend empiristischen Standpunkt wehrte sich Dovifat, indem er sich frontal gegen die Werturteilsfreiheit wandte und letztlich Ideologiekritik von der Publizistikwissenschaft forderte, die sich gegen Propaganda und gegen eine ‚skrupellose Psychologie‘ zu richten habe.291 Interessant an dieser frühen Kontroverse in der Publizistikwissenschaft ist die Verschiebung der Konfliktlinien im Vergleich zur zeitgleichen Auseinandersetzung in der Soziologie: Während dort eine sich ‚progressiv‘ orientierende Dialektik gegen den kritischen Rationalismus anzugehen gedachte, indem sie den wertenden Rückgriff auf eine unterstellte gesellschaftliche Totalität und eine enge Bindung an die philosophische Hermeneutik gegen die methodologisch orientierte Einzelfallforschung verteidigte292, verband sich der Ruf nach wissenschaftlicher Aufklärung gesellschaftlicher Verhältnisse in der Publizistikwissenschaft mit scharfer Kritik an der historisch-hermeneutischen Methode des Faches und mit der Forderung nach empirischanalytischen Studien. Das Seil zu einer als antiquiert verstandenen vorwiegend an Einzelfällen und Berufsbiographien orientierten Wissenschaft sollte gekappt werden. Hier fand also eher ein nachgeholter Werturteilsstreit – letztlich eine „klassisch positivistische Wendung“293 – statt, da sich die Kritik Eberhards an Dovifats freimütigen professoralen ‚Kathederwertungen‘ entzündete, deren wissenschaftliche Begründbarkeit ebenso sehr im Dunkeln blieb, wie sie andererseits den Anschein höchstmöglicher Autorität in Anspruch nahmen. An deren Stelle setzte Eberhard jenes normativ entschlackte einheitswissenschaftliche Verständnis, dass die ‚Dialektiker‘ in der Soziologie bereits als positivistisch bekämpften. Die wissenschaftstheoretische Selbstreflexion der Kommunikationswissenschaften war somit lange Zeit verkürzt auf die Alternativen eines geisteswissenschaftlich fundierten Normativismus der herkömmlichen Publizistikwissenschaft und eines sozialwissenschaftlich fundierten Empirizismus der in den 1960er Jahren emergierenden Kommunikationswissenschaft.294 Erst in den 1970er Jahren bringt es eine auf Defizite des Positivismus zielende ‚kritische
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Vgl. Bohrmann 1977, S. 151 Eberhard 1961, S. 264; vgl. auch: ders. 1964. Hachmeister (1987, S. 227) nennt die Thesen Eberhards „ein nüchternes und pragmatisches Programm zur Sanierung der in den Jahren 1960/61 daniederliegenden und von der Auflösung bedrohten Disziplin“. Vgl. Dovifat 1962a, S. 80. Er bezog sich auf den Kampf gegen das NS-Regime, der ohne Werturteilsfreiheit von der deutschen Wissenschaft viel effektiver hätte geführt werden können. Ganz abgesehen von den – auch in Anbetracht der eigenen Biographie (vgl. Sösemann 1998) – problematischen historischen Unterstellungen, verweist Dovifats Verständnis einer normativen Wissenschaft auf eine konservative und elitistische Führungslehre, in deren Verständnis wenige die ‚Massen‘ anzuleiten haben. In Anbiederung an die NS-Machthaber ist 1934 auch von dem Fach als „geistige Wehrwissenschaft“ die Rede gewesen (Dovifat 1934, S. 18). Von diesen kaum wissenschaftlichen Rückständen will Eberhard das Fach befreien, stellt aber jedes kritisches Potenzial in Frage, wenn er jede Form der Werturteilsgebundenheit von sich weist. Selbst Weber erkannte ja über das brüchige Konstrukt der Wertbeziehung an, dass eine vollständige Werturteilsfreiheit in den Sozial- und Kulturwissenschaften nicht umsetzbar sei. Vgl. vor allem die Auseinandersetzung zwischen Habermas 1972a; 1972b und Albert 1972a; 1972b. Hachmeister 1987, S. 228 Zwar hatte das Fach schon früh „das Syndrom der ‚Nabelbespiegelung‘ internalisiert“ (Baum/Hachmeister 1982, S. 205); zu einer wissenschaftstheoretisch angemessenen Selbstreflexion zeigte es sich angesichts dieser kurzschlüssigen Alternative aber kaum in der Lage. Daran haben auch die prekären Fragen der kritischen Kommunikationsforscher in den 1970er Jahren nur wenig geändert.
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Kommunikationswissenschaft‘ kurzfristig – trotz großer Heterogenität295 – zu einer „gewissen inneren Relevanz“ und führt dazu, dass sich die Disziplin zumindest pro forma mit ihren wissenschaftstheoretischen Problemen auseinandersetzen muss.296 Die Kritiker plädieren nicht gegen die empirische Kommunikationsforschung, sondern fordern, Wissenschaft auch als „reformerisches Instrument der Artikulation kritisch-emanzipatorischer Interessen“297 zu begreifen. Ihnen geht es um die soziologisch-theoretische Einbettung der empirischen Anstrengungen; sie wenden sich gegen eine ‚Auftragsforschung‘, die soziale Probleme und die Entwicklung theoretischer Annahmen vernachlässige und in der technisch verstandene methodische Apriorismen verhandelt würden, während eine systematische Analyse des TheoriePraxis-Verhältnis ausgeschaltet bleibe.298 Zum Teil geht diese ‚kritische‘ Forschung mit den Forderungen nach einer verbesserten Ausbildung von Journalisten und mit der Etablierung einer universitären Journalistik einher.299 Ein Kristallisationspunkt dabei war die Debatte im Möglichkeit und Folgen journalistischer Objektivität und Ausgewogenheit.300 Der kritische Hinweis darauf, dass Objektivität nicht als blanke ‚Widerspiegelung’ herrschender Strukturen begriffen werden dürfe, sondern das eigenständige und eigenverantwortliche journalistische Gewichten der Berichtsinhalte beinhalten müsse301, blieb allerdings fachintern – wohl auch aus politischen Gründen – weitgehend marginalisiert. Der lebhafte erkenntnistheoretische Diskurs der 1970er Jahre hat auch deshalb nicht zu einer gehaltvollen Begründung eines handlungstheoretischen Journalismusverständnisses und einer daran anschließenden Fundierung der Journalistenausbildung geführt. Vielmehr gingen – abgesehen von solchen Ausnahmen – die sozialwissenschaftlich diskutierten Probleme des Wirklichkeitsbezugs der Empirie, der Wertfreiheit und der Stellung theoretischer Aussagen zur Praxis weitgehend an kommunikationswissenschaftlichen Debatten vorbei. „Umfassender Versuche der Theoriebildung ledig, gerät die Kommunikationswissenschaft also mehr und mehr in die Lage, zwar als universitär institutionalisiertes Fach etabliert zu sein und damit auch in den Genuß öffentlicher Förderung und Beachtung zu gelangen. Sie bleibt jedoch in weiten Teilen unfähig, ihren eigenen Standort im gesellschaftlichen und politischen Umfeld zu reflektieren […]. Als diffus strukturierte scientific community […] erledigt sie en passant den mehrfach von Habermas […] formulierten Zusammenhang von wissenschaftlicher Erkenntnis und des ihr vorgelagerten Interesses in ihrem Sinne: als gegenüber den methodentheoretischen Kontroversen sekundär.“302
Baum und Hachmeister verweisen in diesem Zusammenhang auf die konstruktive Überführung der verhärteten Positionen des ‚Positivismusstreits‘ in eine Lehre verschiedener Erkenntnisinteressen. Dabei geht es um den von Habermas unternommenen Versuch, wissenschaftli295
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Für die Kommunikationswissenschaft gilt: „Hinter dem Begriff ‚Kritische Theorien‘ verbergen sich verschiedene Gruppierungen, die sich zwar in einer Reihe von Grundfragen einig sind, in Einzelaspekten aber zum Teil beträchtlich voneinander abweichen und sich nicht selten heftig befehden.“ (Maletzke 1998, S. 131) Vgl. auch Kausch 1988 zu den theoretischen Vorläufern kritischer Massenmedien-Analyse. Baum/Hachmeister 1982, S. 209; vgl. auch Aufermann/Bohrmann/Sülzer 1973 sowie Oy 2001. Baum/Hachmeister 1982, S. 211; vgl. für eine solche kritische empirische Forschung Holzer 1971; 1973. Doch davon war die Disziplin in ihrer Mehrheit weit entfernt. Stattdessen dominierte ein unkritischinstrumentelles Forschungsverständnis: „Der Primat praktisch-administrativer Desiderate und die sich daraus ergebende Instrumentalisierung des Forschungsprozesses reißt […] Problemgegenstand und Methode auseinander. Die Methode erlangt Vorrang vor der Sache, und es entwickelt sich eine Art Forschungs-Bürokratie mit einem gestörten Verhältnis zur empirischen Praxis.“ (Eurich 1977, S. 344) Vgl. Pätzold 1975; Rager 1978 Vgl. die Beiträge in Bentele/Ruoff 1982; siehe dazu auch Abschnitt III.4.4 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Rager 1973 Baum/Hachmeister 1982, S. 205
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chen Forschungsstrategien unterschiedliche Erkenntnisinteressen zuzuordnen und dabei die Unterscheidung zwischen empirisch-analytischen und historisch-hermeneutischen Wissenschaften des Sozialen systematisch um ein drittes – kritisch-emanzipatorisches – Verständnis zu erweitern.303 Habermas differenziert zwischen • empirisch-analytischen Wissenschaften (technisches Erkenntnisinteresse), • historisch-hermeneutischen Wissenschaften (praktisches Erkenntnisinteresse) und • kritisch orientierten Wissenschaften (emanzipatives Erkenntnisinteresse). Mit diesem Schritt zu einer triadischen Erkenntniskonzeption war es nicht mehr notwendig, sich aus der Kritischen Theorie heraus frontal gegen den als positivistisch verstandenen kritischen Rationalismus304 oder gegen den allumfassenden Anspruch der Hermeneutik305 zu stellen. Vielmehr wird darauf abgezielt, jedem der drei Wissenschaftszugänge einen spezifischen Bearbeitungsbereich samt Perspektive zuzuweisen: Die empirisch-analytischen Wissenschaften sind demnach in der Lage, technisch verwertbares Wissen zu produzieren, das in Arbeitszusammenhängen verwendet werden kann („Informationen, die unsere technische Verfügungsgewalt erweitern“), während die Hermeneutik in ihren sinnverstehenden Interpretationen auf eine emphatisch als politisch-ethisches Handeln und Kommunizieren begriffene Praxis anzuwenden ist („Interpretationen, die eine Orientierung des Handelns unter gemeinsamen Traditionen ermöglichen“); erst die kritische Wissenschaft allerdings, der sich auch Habermas zugehörig erachtete, vermag den eigentlichen Analysezusammenhang zu transzendieren und auf Veränderungs- und Verbesserungspotenziale aufmerksam zu machen, die auf eine positive Fortentwicklung der Gesellschaft zielen („Analysen, die das Bewußtsein aus der Abhängigkeit von hypostasierten Gewalten lösen“).306 Habermas bewahrt damit die Grundidee einer Kritischen Theorie, die sich im gesamten Forschungsprozess auf die Gesellschaft und die Potenziale handelnder Menschen bezieht.307 Er verweist auch auf den zentralen Stellenwert der Kommunikation und der durch sie erzeugten Übereinkünfte, die in den Wissenschaften eine wichtige Steuerungsressource darstellen: „Forschung ist eine Institution zusammen handelnder und miteinander sprechender Menschen; als solche bestimmt sie durch die Kommunikation der Forscher hindurch das, was theoretisch Geltung beanspruchen kann. Die Forderung kontrollierter Beobachtung als Basis für Entscheidungen über die empirische Triftigkeit von Gesetzeshypothesen setzt bereits ein Vorverständnis bestimmter sozialer Normen voraus.“308
Die fundamentalen, vorwissenschaftlichen Interessen, die den Verlauf der Forschung beeinflussen, sind phänomenologisch im Vorverständnis der Forschenden verankert, das zwar hermeneutisch explizierbar, gleichwohl aber nicht in den Begrifflichkeiten einer vermeintlich wertfreien Wissenschaft zu fassen ist. Die spezifischen Erkenntnisinteressen sind – das kann Habermas angesichts der noch unterstellten Verbindung von gesellschaftstheoretischen und methodologischen Fragen annehmen – bestimmten Ausformungen wissenschaftlicher Er303 304 305 306 307 308
Vgl. zum Folgenden Habermas 1969, S. 146ff.; 1973b. Pöttker (1995, S. 126) weist darauf hin, dass sich Vorläuferüberlegungen zu einer Typologisierung unterschiedlicher Erkenntnisinteressen bereits bei Geiger (1949) finden lassen. Vgl. dazu Habermas 1972a. Habermas (2000, S. 20) hat jüngst darauf verwiesen, dass die Konzeption der Erkenntnisinteressen auch darauf gerichtet war, sich nicht nur gegen den Positivismus, sondern auch gegen den Antiszientismus und den Traditionalismus der Hermeneutik abzugrenzen. Habermas 1969, S. 162 Vgl. Horkheimer 1992b [1937], S. 262 Habermas 1972a, S. 180
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kenntnissuche inhärent. So führt die Entäußerung jeder Form von Wertgebundenheit wissenschaftlicher Erkenntnis in den positivistisch verstandenen empirisch-analytischen Wissenschaften dazu, dass diese lediglich technische Interessen befriedigen können. Weder reichen sie an das Selbstverständnis handelnder Individuen heran, noch können sie durch Gesellschaftskritik emanzipative Wirkungen entfalten – diese Beschränkung ist ihren eigenen Methoden und ihrer wissenschaftstheoretischen Selbstbeschränkung immanent. Insofern können sowohl historisch-hermeneutische als auch kritisch-emanzipatorische Ansätze als Erweiterungen eines empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnisses angesehen werden. Beide berücksichtigen subjektiven Handlungssinn, wobei ‚kritische‘ Ansätze überdies mit einem emanzipatorischen Programm auf ‚Verbesserung‘ der Praxis zielen. Auf methodischer Ebene ist deswegen die Abgrenzung zwischen den beiden Ansätzen nicht unbedingt trennscharf.309 Habermas reagiert auf dieses Abgrenzungsproblem mit einer kommunikativ basierten Reformulierung epistemologisch behandelter Grundfragen, um aus der idealtypischen Engführung heraus zu finden310 – ein Vorhaben das zugleich über die Möglichkeiten eines revitalisierten Dialogs zwischen Wissenschaft und Praxis informieren kann und Grundlage der weiteren Überlegungen sein soll.
3.2
Die Stellung des Sozialwissenschaftlers zur Praxis „Kommunikationstheorie und Kommunikationspraxis sind nicht einander ausschließende Gegensätze, sondern lediglich zwei mögliche Zugangsweisen zu ein und derselben kommunikativen Realität.“311
Habermas entwickelt im Zuge der Abkehr von der Geschichtsphilosophie und der kommunikationstheoretischen Reformulierung der Kritischen Theorie ein Begriffssystem, das die Stellung des Sozialwissenschaftler sprachpragmatisch und kommunikationstheoretisch bestimmt: Im Vordergrund stehen nicht mehr die Erkenntnisinteressen, sondern Fragen der Verständigung, der unterschiedlichen ‚Weltkonzepte‘, der daran orientierten Geltungsansprüche auf Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit, die in Sprechakten erhoben werden, der Identifizierung spezifischer Diskurse zur Prüfung und Klärung solcher Ansprüche sowie der Erörterung des Verhältnisses von sozialwissenschaftlicher Teilnahme und Beobachtung.312 309 310
311 312
Wenn beide aus diesem Grund im vorliegenden Text häufig komplementär genannt werden, sollen damit aber nicht die genannten Differenzen nivelliert werden. Habermas (19714, S. 17ff.) grenzt eine kritische Soziologie durch diese kommunikative Fundierung ab vom „Objektivismus der strengen Verhaltenswissenschaften“, vom „Idealismus der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik“, vom „Universalismus einer umfassend angelegten Systemtheorie“ und vom „dogmatischen Erbe der Geschichtsphilosophie“. Diese Unterscheidung gehe, so Habermas, aus „von der eigentümlichen Stellung des erkennenden Subjekts zu einem Gegenstandsbereich, der sich aus den generativen Leistungen sprach- und handlungsfähiger Subjekte aufbaut und gleichwohl objektive Gewalt auch über diese Subjekte gewonnen hat“ (ebd., S. 17) Burkart 1998a, S. 413 Vgl. Peters 2000, S. 295f. Die Perspektivverschiebung führt zu Veränderungen hinsichtlich der noch im Positivismusstreit verhandelten Probleme: Die Unterscheidung zwischen empirischer und normativer Theorie wird deutlicher akzentuiert. Darüber hinaus wird die Unterscheidung zwischen ‚Objektivation‘ (Vergegenständlichung zum Zwecke der sozialwissenschaftlichen Untersuchung) und Hermeneutik nicht mehr weitgehend gleichgesetzt mit der Unterscheidung zwischen Natur- und Sozialwissenschaften auf der einen und Geisteswissenschaften auf der anderen Seite. Vielmehr verläuft diese Differenz mitten durch die Sozialwissenschaften entlang der Grenze zwischen hermeneutisch zu erfassender Lebenswelt und empirisch-analytisch zu untersuchenden Systemmechanismen. Mit der Annahme einer Unterscheidung von lebensweltlich und systemisch strukturierten gesellschaftlichen ‚Bereichen‘ wird auch die Forderung nach der Zurückführung verdinglichter sozialer Bereiche unter den Gestaltungsanspruch einer interaktiven Praxis suspendiert. Stattdessen akzeptiert die Kriti-
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Habermas geht davon aus, dass sich der Sozialwissenschaftler auf die Praxis und damit auch auf ihre Probleme und Spezifika einlassen muss.313 Daraus folgt: „[J]ede Wissenschaft, die Bedeutungsobjektivationen als Teil ihres Objektbereichs zuläßt, hat sich mit den methodologischen Folgen der Teilnehmerrolle eines Interpreten zu befassen, der den beobachteten Dingen nicht Bedeutung ‚gibt‘, sondern der die ‚gegebene‘ Bedeutung von Objektivationen, die nur aus Kommunikationsprozessen heraus verstanden werden können, explizieren muß. Die Folgen bedrohen gerade jene Kontextunabhängigkeit und Wertneutralität, die für die Objektivität des theoretischen Wissens notwendig zu sein scheint.“314
Diese wissenschaftstheoretische Position verspricht auf theoretisch konzeptioneller Ebene einen Ausweg aus dem skizzierten derzeitigen Verständnis von nur lose aufeinander bezogenen Theorie- und Praxis-Bereichen, ohne auf die Beobachterrolle zweiter Ordnung zurückzugreifen, die der Konstruktivismus epistemologisch anbietet.315 In den Objektbereich der Sozialwissenschaften – und damit auch der sozialwissenschaftlich betriebenen Kommunikationswissenschaft und ihrer einzelnen Fachdisziplinen – fallen symbolisch vorstrukturierte ‚Gegenstände‘, in die Strukturen eines vortheoretischen Wissens eingraviert sind, das sprach- und handlungsfähigen Subjekten bei ihrer ‚Herstellung‘ verwendet haben.316 Diesen ‚Gegenständen‘ sind spezifische ‚Erzeugungsregeln‘ gemeinsam, nach denen sie von sprach- und handlungsfähigen Subjekten hervorgebracht werden. Die auf Sinnverstehen angelegte hermeneutische Interpretation des Sozialwissenschaftlers zielt darauf, diese ‚Erzeugungsregeln‘ zu identifizieren und nimmt dabei den gleichen Ausgangspunkt wie jede Laienkritik auch – weil der Forscher oder Theoretiker „[…] als Interaktionsteilnehmer an der Herstellung des Handlungszusammenhanges, den er als Gegenstand analysiert, bereits Anteil hatte“317, und nicht einem von ihm unab-
313
314 315 316
317
sche Theorie, dass es gesellschaftliche Bereiche der materiellen Produktion gibt, die aus den vormals spontanen Lebenszusammenhängen herausgehoben werden. Sie geht nicht mehr davon aus, dass ‚Verdinglichungsprozesse‘ durch Reflexion der Totalität von Gesellschaft durchbrochen werden können, gleichwohl verteidigt sie einen Bereich der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt gegen Kolonialisierungsversuche, sprich: gegen eine weiter fortschreitende ‚Verdinglichung‘. Angesichts dieser Veränderungen ist es nicht mehr Aufgabe des Sozialwissenschaftlers, ‚Verblendungszusammenhänge‘ aufzulösen. Die Frage der Manipulation, die die Kritische Theorie lange beherrscht hat (vgl. Oy 2001, S. 21ff.), verliert an Bedeutung. Vielmehr richtet sich ‚kritische‘ Sozialwissenschaft darauf, systemisch verzerrte Kommunikation zu identifizieren. Vgl. Habermas 19997 [1983], S. 32ff. Eine solche Position widerspricht den Implikationen einer strikten Trennung zwischen Laien- und Praktiker-Theorien auf der einen und sozialwissenschaftlichen Theorien auf der anderen Seite, die von einem Teil der Kommunikationswissenschaft vertreten wird, obwohl sie Diskursmöglichkeiten zwischen Theorie und Praxis verriegelt. Wenn die Begriffe, Probleme und Theorien der Praxis mehr oder minder a priori als „Erkenntnishindernisse“ apostrophiert werden, von denen sich der Sozialwissenschaftler zu lösen habe (Rühl 1985b, S. 232), dann werden damit ohne theoretische Not die Dialogmöglichkeiten zwischen Theorie und Praxis wieder eingeschränkt. Statt dessen lohnt es, die plausible Annahme einer notwendigen ‚Dekomposition‘ und ‚Rekonstruktion‘ von Praxiserfahrung durch die Wissenschaft (vgl. Rühl 1993b, S. 87) zu verbinden mit Einsichten, die sich aus der Sicht der kommunikationstheoretisch gewendeten Kritischen Theorie und damit aus der Sicht einer rekonstruktiv verfahrenden Sozialwissenschaft formulieren lassen. Habermas 19997 [1983], S. 37 Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 152ff. Konkreter gehören damit zum Untersuchungsgegenstand der Sozialwissenschaften alle symbolischen Gegenstände, die wir sprechend oder handelnd erzeugen. Dies können im Einzelnen sein: • unmittelbare Äußerungen wie Sprechhandlungen, Zwecktätigkeiten, Kooperationen • Sedimente dieser Äußerungen wie Texte, Überlieferungen, Dokumente, Kunstwerke, Theorien, Gegenstände der materiellen Kultur, Güter, Techniken usw. • indirekt hervorgebrachte, organisationsfähige und sich selbst stabilisierende Gebilde wie Institutionen, gesellschaftliche Systeme und Persönlichkeitsstrukturen (vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 159). Sie alle bestimmen den Bereich, der von den Sozialwissenschaften analysiert werden kann. Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 182
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hängigen Gegenstand zur Untersuchung entgegentritt. Wissenschaft ist somit dreifach in Praxis einbezogen: (1) Sie rekurriert auf die gleiche lebensweltliche Basis; (2) sie erhebt ihre Daten im kommunikativen Austausch mit sozialen Akteuren; und (3) sie muss zu den kommunikativen Geltungsansprüchen, mit denen sie konfrontiert ist, Stellung beziehen. (1) Rekurs auf Lebenswelt: Eine sozialwissenschaftliche Analyse bleibt eng mit dem sozialen Kontext verbunden, den sie erklären soll, weil sich auch Wissenschaftler nicht von ihrem Alltagsbewusstsein entfernen können.318 „Der Sozialwissenschaftler hat zur Lebenswelt grundsätzlich keinen anderen Zugang als der sozialwissenschaftliche Laie. Er muß der Lebenswelt, deren Bestandteile er beschreiben möchte, in gewisser Weise schon angehören. Um sie zu beschreiben, muß er grundsätzlich an ihrer Erzeugung teilnehmen können; und Teilnahme setzt Zugehörigkeit voraus.“319
Aufgrund dieser prinzipiellen Einbezogenheit ist es dem Interpreten genauso wie den Handlungsteilnehmern nicht möglich, zwischen Bedeutungs- und Geltungsfragen zu unterscheiden und eigenen Interpretationen dadurch den Anstrich von deskriptiver Neutralität zu geben. Nicht erst auf der Ebene der Interpretation bedient sich der sozialwissenschaftliche Interpret des gleichen Symbol- und Bedeutungsvorrats wie der sozialwissenschaftliche Laie, sondern schon bei der Beschaffung von sprachabhängigen Daten nutzt er die im Objektbereich vorgefundene Sprache. Weder Theoriebildung noch empirische Forschung sind ohne Kommunikation und damit auch ohne Sprache denkbar.320 In die Sprache aber, die für diese Kommunikation notwendig ist, kann der Sozialwissenschafter „[…] nicht ‚einsteigen‘, ohne auf das vortheoretische Wissen des Angehörigen einer, und zwar seiner eigenen Lebenswelt zurückzugreifen, das er als Laie intuitiv beherrscht und unanalysiert in jeden Verständigungsprozeß einbringt“.321 Der Forscher bewegt sich in alltäglichen Sprach-Strukturen, die nicht nur Verständigung ermöglichen, sondern außerdem „die Möglichkeiten einer reflexiven Selbstkontrolle des Verständigungsvorgangs“322 schaffen, von denen Laien wie sozialwissenschaftliche Interpreten gleichermaßen Gebrauch machen können. (2) Einbezogenheit in Kommunikationsprozesse: Ohne Teilnahme an Kommunikationsprozessen bleibt dem sozialwissenschaftlichen Interpreten der Sinn lebensweltlicher Strukturen verborgen, da diese nur von innen erschlossen werden können. „Das Handlungssystem, in dem sich der Sozialwissenschaftler als Aktor bewegt, liegt auf einer anderen Ebene; es ist in der Regel ein Segment des Wissenschaftssystems, deckt sich jedenfalls nicht mit dem beobachteten Handlungssystem. An diesem nimmt der Sozialwissenschaftler gleichsam unter Abzug seiner Aktoreigenschaften teil, indem er sich als Sprecher und Hörer ausschließlich auf den Prozeß der Verständigung konzentriert.“323
Er schlüpft daher in die „Rolle des virtuellen Teilnehmers“324, der sich beteiligt sich, um zu verstehen, und nicht, um innerhalb des beobachteten Handlungszusammenhangs einen eige318 319 320
321 322 323 324
Vgl. ebd., S. 182 Ebd., S. 160 Insofern ist Wissenschaft tatsächlich grundsätzlich „Kommunikationsarbeit an Theorien“, sind empirische Prüfprozesse „Forschungsaspekte wissenschaftlicher Kommunikation“, wie Rühl (1993b, S. 88) aus einer völlig anderen wissenschaftstheoretischen Tradition heraus anmerkt. Rühl teilt die hier vorgeschlagene methodologische Positionierung dezidiert nicht; aber ganz offensichtlich sind dennoch Anknüpfungspunkte zumindest in begrifflicher Hinsicht festzustellen, wenn es um das Wissenschaftsverständnis geht. Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 163 Ebd., S. 176 Ebd., S. 167 Ebd., S. 168
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nen Zweck zu verfolgen, der Handlungskoordinierung mit den anderen Teilnehmern notwendig machen würde. Diese epistemologische Annahme geht über die verbreitete Annahme des Beobachterstatus hinaus, da sie vom Sozialwissenschaftler zwar nicht eigenständiges Handeln, aber eben doch soziale Teilnahme postuliert. (3) Zwang zur Stellungnahme zu Geltungsansprüchen: Will der Sozialwissenschaftler eine Äußerung, die er als Datenmaterial in kommunikativem Austausch erhoben hat, verstehen, so muss er sich zu den in ihr erhobenen Geltungsansprüchen verhalten, d.h. er muss Stellung nehmen und werten. Nur durch Vergegenwärtigung der Gründe, mit denen der Sprecher, seine Äußerung rechtfertigen und begründen würde, ist er in der Lage, die Frage nach dem ‚Warum‘ und damit die Frage nach dem ‚Sinn‘ des untersuchten Zusammenhangs zu beantworten. Jede sozialwissenschaftliche Analyse, die über die reine Deskription hinausgeht, muss sich dieser Rekonstruktion der untersuchten Begründungsansprüche befassen.325 Für Habermas besteht daher ein „fundamentaler Zusammenhang zwischen dem Verständnis kommunikativer Handlungen und im Ansatz rationalen Deutungen“.326 Reine Deskription des Handlungsablaufes ist nur um den Preis der Aufgabe des Sinnverstehens möglich. Eine strikte Trennung zwischen den Bewertungen der Praktiker und Laien auf der einen und der Sozialwissenschaftler auf der anderen Seite, ist angesichts dieser wissenschaftstheoretischen Annahmen kaum mehr möglich.327 Der Sozialwissenschaftler muss der rationalen Binnenstruktur des Handelns, das sich an spezifischen, noch näher darzustellenden Geltungsansprüchen orientiert, mit den gleichen Methoden rationaler Deutung entgegentreten, die mit dem Reflexiv-Werden von Geltungsansprüchen in der Moderne auch jedem anderen sprachund handlungsfähigen Subjekt offen stehen.328 Die Mittel, mit denen der Sozialwissenschaftler 325
326 327
328
Vgl. Ebd., S. 169f.: „Der Interpret hätte nicht verstanden, was ein ‚Grund‘ ist, wenn er ihn nicht mit seinem Begründungsanspruch rekonstruieren, und das heißt im Sinne Max Webers: rational deuten würde. Die Beschreibung von Gründen verlangt eo ipso eine Bewertung auch dann, wenn sich der, der die Beschreibung gibt, außerstande sieht, im Augenblick ihre Stichhaltigkeit zu beurteilen. Man kann Gründe nur in dem Maße verstehen, wie man versteht, warum sie stichhaltig oder nicht stichhaltig sind, und warum gegebenenfalls eine Entscheidung darüber, ob die Gründe gut oder schlecht sind, (noch) nicht möglich ist. Deshalb kann ein Interpret Äußerungen, die über kritisierbare Geltungsansprüche mit einem Potential an Gründen verknüpft sind und somit Wissen repräsentieren, nicht deuten, ohne zu ihnen Stellung zu nehmen. Und er kann nicht Stellung nehmen, ohne eigene Standards der Beurteilung anzulegen, Standards jedenfalls, die er sich zu eigen gemacht hat. Diese verhalten sich kritisch zu anderen, abweichenden Standards zur Anwendung, die der Interpret nicht schlicht vorfindet, sondern als richtig akzeptiert haben muß. In dieser Hinsicht entbindet eine bloß virtuelle Teilnahme den Interpreten nicht von den Verpflichtungen eines unmittelbar Beteiligten: in dem Punkt, der für die Frage der Objektivität des Verstehens entscheidend ist, wird von beiden, dem sozialwissenschaftlichen Beobachter wie dem sozialwissenschaftlichen Laien, die gleiche Art von Interpretationsleistung verlangt.“ Ebd., S. 170 Das gilt auch in Bezug auf Journalismus. Hier betont Fabris (1981b, S. 16) sogar umgekehrt, dass Journalisten „quasi angewandte Sozialwissenschaft“ betrieben. Rühl (1981, S. 211) beschreibt ebenfalls Gemeinsamkeiten: „Journalismus und (empirische) Wissenschaft sind damit befaßt, Probleme aufzuspüren und sie zu lösen.“ Haas (1990) spricht mit Blick auf Journalismus und Sozialforschung von ‚ungleichen Brüdern‘ und konstatiert somit gleichfalls eine Verwandtschaft. Meyer (1973) wiederum versucht mit dem Konzept des „precision journalism“ explizit Standards der Sozialforschung zum Maßstab journalistischen Arbeitens zu machen. Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 173: „Das Gelingen kommunikativer Handlungen hängt […] von einem Interpretationsprozeß ab, in dem die Beteiligten im Bezugssystem der drei Welten zu einer gemeinsamen Situationsdefinition gelangen. Jeder Konsens beruht auf einer intersubjektiven Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche; dabei wird vorausgesetzt, daß die kommunikativ Handelnden zu gegenseitiger Kritik fähig sind. Sobald wir aber die Aktoren mit dieser Fähigkeit ausstatten, verlieren wir als Beobachter unsere privilegierte Stellung gegenüber dem Objektbereich. Wir haben nicht mehr die Wahl, einer beobachteten Interaktionssequenz entweder eine deskriptive oder eine rationale Deutung zu geben. Sobald wir den Aktoren dieselbe Beurteilungskompetenz zuschreiben, die wir als Interpreten ihrer Äußerungen in Anspruch nehmen, begeben wir uns einer bis dahin methodologisch gesicherten Immunität.“
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über Beschreibung und Interpretation hinaus zu immanenter Kritik gelangen kann, sind letztlich dieselben wie die der Laien – mit diesem Befund gibt Habermas die methodologische Immunität der klassischen Sozialwissenschaft zugunsten eines engeren Anschlusses an Kommunikations- und Verständigungsprozesse der Praxis auf. „Wenn die möglichen Korrektive gegen irregeleitetes kommunikatives Handeln sozusagen in das kommunikative Handeln selbst eingebaut sind, kann der Sozialwissenschaftler die Objektivität seiner Erkenntnis nicht dadurch sichern, daß er in die fiktive Rolle eines ‚uninteressierten Beobachters‘ schlüpft und damit an einen utopischen Ort außerhalb des kommunikativ zugänglichen Lebenszusammenhangs flüchtet. Er wird vielmehr in den allgemeinen Strukturen der Verständigungsprozesse, auf die er sich einläßt, die Bedingungen der Objektivität des Verstehens suchen müssen, um festzustellen, ob er sich in Kenntnis dieser Bedingungen der Implikationen seiner Teilnahme reflexiv vergewissern kann.“329
Konventionell betriebene Sozialwissenschaften geben sich oftmals keine Rechenschaft darüber ab, dass die sozialwissenschaftliche ‚Objektivation‘ eines zum Untersuchungsgegenstand erhobenen Handlungszusammenhanges nur möglich ist, indem die Forschenden ihn zuvor teilnehmend als Informationsquelle genutzt haben. Der Weg zum Verstehen der Entstehungsbedingungen von sozialer Lebenswelt führt nicht über eine neutrale Beobachterposition außerhalb des Handlungszusammenhangs, sondern kann nur in einer Vertiefung und Radikalisierung des Handlungszusammenhangs selbst liegen. Dieser Weg vom kommunikativen Handeln zum Diskurs, von der Anerkenntnis von Geltungsansprüchen zu deren sinnverstehender Interpretation und Kritik steht jedem Handelnden offen, weil er in der Struktur des verständigungsorientierten Handelns angelegt ist.330 Habermas fasst den methodologischen Ertrag einer rekonstruktiven Hermeneutik mit kritischem Potenzial dahingehend zusammen, • • • • • •
„[…] daß der Interpret die Bedeutung einer symbolischen Äußerung nur als virtueller Teilnehmer an dem Verständigungsprozeß der unmittelbar Beteiligten aufklären kann; daß ihn die performative Einstellung zwar an das Vorverständnis der hermeneutischen Ausgangssituation bindet; daß aber diese Bindung die Gültigkeit seiner Interpretation nicht beeinträchtigen muß, weil er sich die rationale Binnenstruktur verständigungsorientierten Handelns zunutze machen und die Beurteilungskompetenz eines zurechnungsfähigen Kommunikationsteilnehmers reflexiv in Anspruch nehmen kann, um die Lebenswelt des Autors und seiner Zeitgenossen systematisch mit der eigenen Lebenswelt in Beziehung zu setzen und die Bedeutung des Interpretandums als den mindestens implizit beurteilten Sachgehalt einer kritisierbaren Äußerung zu rekonstruieren.“331
Dieser ‚hermeneutische Rekonstruktivismus‘ gibt zwar das traditionelle Wertfreiheitspostulat auf, hält aber die Gewinnung ‚objektiv‘ begründbaren, d.h. auf der Basis einer Konsenstheorie der Wahrheit bestimmbaren, und theoretischen Wissens nach wie vor für erstrebenswert.332 Genauso wie alle anderen Wissenstypen können auch wissenschaftliche Rekonstruktionen auf falschen Begriffen und Prämissen beruhen und deshalb nicht mehr als einen hypothetischen Status beanspruchen. Allerdings zeigen sie sich dialogoffen gegenüber dem Wissen und den arbeitstheoretischen Annahmen der Praxis, von denen sie sich nicht grundsätzlich hinsichtlich ihres Erkenntnisstatus unterscheiden. Auch Laien steht der Weg der diskursiven Überprüfung 329 330 331 332
Ebd., S. 179 Vgl. ebd., S. 188 Ebd., S. 194 Vgl. Habermas 19997 [1983], S. 37f.
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kommunikativer Geltungsansprüche und damit der Explikation der einer symbolisch strukturierten Ordnung zugrunde liegenden Konstitutions- und Reproduktionsmechanismen offen. Sie können (sozial-)wissenschaftliche Rekonstruktionen kompetent kritisieren. Das gilt auch für die Auseinandersetzung mit dem Journalismus. Peters verweist auf die Konsequenzen dieser Betrachtungen für den Praxis-Bezug: „Die Sozialwissenschaften haben keine prinzipiell privilegierte Erkenntnisposition, von der aus sie sehen könnten, was die Laien nicht sehen können. Die Sozialwissenschaften mögen in manchen Fällen aufzeigen, daß soziale Praktiken auf partieller Ignoranz der Handelnden über die Bedingungen ihres Handelns beruhen. Die Aufklärung dieses Sachverhalts vermag bestimmte Handlungsbedingungen dann möglicherweise auch real zu verändern. Es ist aber nicht plausibel, daß Sozialwissenschaften insgesamt mit Beschreibungen von sozialen Praktiken oder Überzeugungen operieren könnten (oder sollten), die im Alltag nicht übernommen werden könnten, ohne die entsprechenden Praktiken zu destruieren.“333
Die sozialwissenschaftliche Theoriebildung unterscheidet sich von Praktiker-Aussagen daher auch im späteren Umgang mit den gewonnenen Daten nur graduell, nicht aber prinzipiell. Eine grundlegend epistemologische Differenz zwischen theoretischen und praktischen Diskursen ist nicht plausibel. Voraus hat die Wissenschaft der Praxis in der Regel eine intersubjektiv überprüfbare Methodik der Datenerhebung und den Willen zur theoriegeleiteten Abstraktion. Sie wendet eine handlungsentlastete Reflexivität, die in der Praxis wohl eher als eine Ausnahme gewertet werden muss, routinemäßig in der Interpretation von sozialen und kommunikativen Handlungen an.334 Der Status des gewonnenen Wissens verändert sich dadurch gegenüber den Praktikerbeschreibungen – auch in der Journalismusforschung. In diesem Sinne beschreibt die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ eine auch für die Kommunikationswissenschaft attraktive sozialwissenschaftliche Alternative, die sich nicht primär auf den üblichen erkenntnistheoretischen Streit kapriziert, sondern die jene kommunikativen Prozesse expliziert, die der sozialen Konstruktion von ‚Wirklichkeit‘ zugrunde liegen.
3.3
Sozialwissenschaftliche Teilnahme in der Journalistik
In Kommunikationswissenschaft und Journalistik verweisen sowohl handlungstheoretischer Konstruktivismus als auch struktur- und funktionsbezogene Systemtheorie den Sozialwissenschaftler nach wie vor auf eine Beobachterposition zweiter Ordnung. Wissenschaftliche Distanz soll an die Stelle tradierter praktizistischer Beschreibungen treten, um Reliabilität und Validität der Forschung zu legitimieren. Meier beschreibt den Anspruch des Fachs so: „Was wir früher über den Journalismus wussten, wussten wir durch den Journalismus: Einzelaussagen und Selbstbeobachtungen der Berufspraktiker beschrieben, wie der Hase in den Redaktionen läuft. Die Journalistik dagegen untersucht den Journalismus als Beobachter zweiter Ordnung, der mit intersubjektiv überprüfbaren Methoden systematisch und kontinuierlich redaktionelle Realitäten der Aussagenentstehung beschreibt.“335
333 334
335
Peters 2000, S. 297 Die Unterschiede zwischen Wissenschaft und Praxis liegen nach Peters (2000, S. 296f.) • „im Abstraktionsniveau sowie im Explikations- und Systematisierungsgrad • in der weitergehenden Handlungsentlastung der wissenschaftlichen Theorie • im Respekt vor Rollendifferenzierung und damit in einer selbstauferlegten Abstinenz der Wissenschaft gegenüber Praxis-Prognosen.“ Meier 2002b, S. 4
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Die ‚visuelle Metapher‘ (Habermas) des Beobachters verdunkelt potenziell nicht den Umstand, dass der sozialwissenschaftliche Interpret durch die performativ genutzte Sprache in Beziehungen eingebettet ist, die es ihm verunmöglichen, generell einen zum beobachteten Handlungszusammenhang externen Status einzunehmen.336 Auch der Beobachter zweiter Ordnung steht nicht außerhalb des Geschehens, sondern ist an ihm beteiligt. Auch er kann daher keinen privilegierten Erkenntnisanspruch begründen. Werden konstruktivistische Theoreme nicht gemäß eines biologistischen Radikalen Konstruktivismus, sondern nach logischen Kriterien radikalisiert, dann lässt sich ein abgehobener Beobachterstatus nicht aufrechterhalten, sondern es liegt vor allem in der Kommunikationswissenschaft beinahe zwangsläufig ein Modell der Teilnahme des Wissenschaftlers an den zugleich untersuchten Prozessen nahe. Vor allem Krippendorf hat auf diese Einbezogenheit des Forschers verwiesen und bewegt sich damit in großer Nähe zu den Annahmen von Habermas hinsichtlich einer mindestens virtuellen, das heißt aller strategisch-praktischen Intention entkleideten Teilnahme des Sozialwissenschaftlers am untersuchten Kommunikationszusammenhang.337 Für Krippendorf ist die Anwendung einer Kommunikationstheorie auf sich selbst verknüpft mit dem Konzept einer Kybernetik zweiter Ordnung und dem damit korrespondierenden Beobachter-Verständnis: „To me, the shift from a first-order to a second-order cybernetics signaled a shift in scientific attitude toward reality, from privileging the perspectives of detached observers, spectators or engineers of a world outside of themselves to acknowledging our own participation in the world we observe and construct as its constituents.”338
Diese Einbezogenheit in soziale Prozesse liegt für Krippendorf ebenso wie für Habermas in Kommunikation begründet. Zudem bleibt auch die theoretische Arbeit des Beobachters zweiter Ordnung mit den Handlungsvollzügen, die er beobachtet und beschreibt, rückgekoppelt. Seine Beschreibungsversuche können rückwirken auf den ursprünglichen Zusammenhang. Ein ‚re-entry‘ der Kommunikationstheorie in die Alltagskommunikation ist möglich.339 Es ist also davon auszugehen, dass wissenschaftliche Beobachtungen der Praxis ohne eine – wie vermittelt auch immer geartete – Teilnahme am untersuchten Zusammenhang nicht erfolgreich sein können, dass in Erhebung und Bearbeitung des Materials eine kommunikative Involviertheit des Forschers unumgänglich ist. Darüber hinaus lassen sich Rekonstruktionen von ‚Wirklichkeit‘, die aus diesen Beobachtungen erwachsen, gegenüber PraxisWahrnehmungen weder über- noch unterordnen. Sie sind auf die gleiche soziale ‚Wirklichkeit‘ bezogen und müssen sich letztlich am gleichen diskursiv zu bestimmenden Bezugspunkt messen lassen. Damit soll weder einer Verwissenschaftlichung des Journalismus, noch einer 336
337 338 339
Vgl. Habermas 19997 [1983], S. 33. Dies kann man für die Journalistik zum Beispiel daran festmachen, dass auch der wissenschaftliche Interpret über den täglichen Umgang mit den kommunikativen Produkten des Journalismus auf eine ganz spezifische und vorwissenschaftliche Art und Weise bereits in einen sozialen Zusammenhang eingebunden ist, aus dem heraus er Daten zur Analyse und zur Theoriebildung erhebt. Hinzu kommt, dass viele Journalistikwissenschaftler – den Autor dieser Studie eingeschlossen – über umfangreiche Praxiserfahrung als Journalisten oder in anderen Kommunikationsberufen verfügen. Vgl. Krippendorf 1993; 1995; 1996 Krippendorf 1996, S. 311 Krippendorf (1995) hat dies in der Auseinandersetzung mit dem Machtbegriff verdeutlicht, den er für diskursiv konstruiert hält und der durch Reformulierung in kritischer Sozialwissenschaft verändert werden kann. Die Beschreibung einer Machtsituation durch einen sozialwissenschaftlichen Beobachter zweiter Ordnung kann entsprechend – wenn sie von den übrigen Teilnehmern rezipiert wird – dazu führen, dass sich die Wahrnehmung der Situation verändert und Machtgefüge in Frage gestellt werden.
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Simplifizierung wissenschaftlicher Realitätsrekonstruktion das Wort geredet werden. Vielmehr gilt es die Prämisse anzuerkennen, dass der Forschende ebenso wie die von ihm beobachteten Kommunikatoren und Vermittler gemeinsam Bestandteil der sozialen ‚Wirklichkeit‘ sind, die der Forschende zu beschreiben sucht. Ihre Zugänge zu dieser ‚Realität‘ sind zunächst nicht verschieden, wohl aber die Bezugssysteme und die Verarbeitungsmechanismen. Legt die Journalistik dieses kommunikationstheoretisch gewendete Selbstverständnis sozialwissenschaftlicher Forschung auch ihren eigenen Bemühungen zugrunde, dann eröffnen sich neue Perspektiven des Praxisbezugs, ohne an wissenschaftlicher Reflexivität einzubüßen. Pätzold nimmt diese Vorgehensweise für das Selbstverständnis der Journalistik in Anspruch: „Als Forscher muss man genauso in seinen Bereich hineingehen wie der Praktiker. Man ist als Forscher Teil der Kultur, die man erforscht. Das gilt auch für die Medien und den Journalismus. Nur so können wir einen Prozess bewirken, den wir seit 25 Jahren des Bestehens der Journalistik in Dortmund versprochen haben: Durch unsere Arbeit wollen wir ein Stück Kultur der Integration von Theorie und Praxis des Journalismus schaffen.“340
Auf dieser Grundlage kann ein praxisorientiertes Fach gegenüber alltagssprachlicher Kommunikation geöffnet bleiben und so auch in relevante Praxisdialoge eintreten. Journalistik zerschneidet dann nicht mehr den Zusammenhang zwischen Untersuchungsgegenstand und Analyse, sondern betrachtet Praxistheorien und wissenschaftliche Analyse als Bestandteile desselben Erkenntniskontextes. Auf der Basis eines solchen Selbstverständnisses fällt es nicht nur leichter, den Übergang von der Beschreibung zum Verstehen zu konzipieren, sondern auch die weitergehende Aufgabe der Kritik zu begründen. Kritische Theorie und – allgemeiner – kritisch-emanzipatorische Wissenschaft können auf diese Weise, wie von Habermas gefordert, ihre Fundamente ausweisen und dadurch ihre Legitimität steigern. Der Journalismus und die Journalistik als seine Wissenschaft setzen im Rahmen dieses wissenschaftstheoretischen Verständnisses in letzter Konsequenz auf den gleichen Grundlagen menschlicher Verständigung auf; sie bleiben einander, trotz unterschiedlicher Aufgaben, Leistungen und Funktionen immanent verbunden. Wissenschaftliche Forschung und Ausbildung sind gefordert, in emanzipatorischer Absicht auf die Praxis einzuwirken, um die Bedingungen der Möglichkeit kommunikativer Verständigung zu verbessern. So kann ein Verständnis von Kommunikationswissenschaft und Journalistik reformuliert werden, das diese als „Teil der allgemeinen Demokratieforschung“ versteht und sie so aus ihrer seit der Überwindung der Publizistikwissenschaft gepflegten normativen Indifferenz herauszwingt.341 Von einer solchen praktischen und kritischen Wissenschaft wäre zu erwarten, dass sie aus der im Öffentlichkeitskonzept begründeten immanenten Verknüpfung zwischen gesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen und Demokratie heraus, die kommunikativinfrastrukturellen Bedingungen analysiert, die gleiche Bedingungen der Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs entweder befördern oder blockieren. Auf dieser Basis kann eine bestimmte Form des Journalismus als demokratiekonstitutiv hergeleitet werden.342
340 341 342
Pätzold 2002, S. 41 Fabris 1979, S. 21 Die Annahme, dass durch entsprechende Begleitforschung eine Verbesserung der Praxis damit die wissenschaftliche Steuerbarkeit sozialer Prozesse erreicht werden kann, ist in den 1970er Jahren in den Sozialwissenschaften verbreitet gewesen (vgl. Fabris 1979, S. 13). Siehe zur weiteren damaligen Auseinandersetzung mit solchen Hoffnungen auch die Beiträge in: Eurich 1980a.
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Zwischenfazit: Praxisorientierung und Kritik
Die zur Methode erhobene Wertfreiheit einer rein empirisch-analytischen Wissenschaft zwingt den Wissenschaftler durch Systemtheorie und Konstruktivismus unterfüttert in eine reine Beobachterposition zweiter Ordnung hinein und weigert sich oft, eine – und sei es nur spekulativ unterstellte – gesellschaftliche Totalität in den Blick zu nehmen. Sie bleibt auf Einzelphänomene fokussiert und führt damit dazu, dass eine Journalismusforschung, die sich diesem Paradigma verpflichtet fühlt, nur den Journalismus als Beruf in den Blick bekommt – und das auch nur in der Ausprägung, in der er heute vorfindbar ist. Durch diese empirizistische Verkürzung verliert die Journalismusforschung jegliches Gespür für den ursprünglich emanzipativen Charakter des Journalismus.343 Dabei ist Altmeppen und Karmasin nur zuzustimmen: „Die Reintegration praktischer Vernunft in den Aussagezusammenhang ist […] von der Spekulation und von rechtfertigungslosen und intersubjektiv nicht nachvollziehbaren Aussagen klar zu trennen. Man darf nicht dem Irrtum verfallen, dass alle normativen Aussagen unvernünftig und unbegründbar sind.“344
Pöttker plädiert entsprechend immerhin dafür, den Journalismus und in seinem Gefolge auch die Journalistik dem praktischen Erkenntnisinteresse zuzuordnen, da sie zwar kaum der Kritik der Ereignisse, aber doch ihrer Vermittlung dienten.345 Er sieht die Journalistik in ihrer Orientierung an „gesellschaftlicher Verständigung“ mehr den praktischen Erkenntnisinteressen der historisch-hermeneutischen Wissenschaften verpflichtet, als den auf Herrschaftskritik und Gerechtigkeit gerichteten emanzipatorischen Erkenntnisinteressen.346 Schon diese bescheidenere Forderung nach einer Fundierung der Journalistik auf einer historisch-hermeneutischen Methode mutet wissenschaftstheoretisch und -politisch kaum durchsetzbar an. Sie ist überdies in dieser Abgrenzung nur haltbar, wenn man Verständigung auch in vermachteten und von Ungerechtigkeit geprägten Verhältnissen für möglich erachtet. Ausgehend von einem gehaltvollen Verständigungsbegriff, der auf die kommunikative Kompetenz der einzelnen Beteiligten genauso abstellt wie auf die Gleichheit implizierenden sprachimmanenten Vergesellschaftungskräfte erscheint die emanzipatorische Haltung der Kritischen Theorie mindestens ebenso zwingend.347 Diese Alternative allerdings wird in der Journalistik zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum systematisch rezipiert, geschweige denn genutzt. Man begegnet ihren Grundideen „zumeist nur noch als ein Stück bundesdeutscher Wissenschaftsgeschichte“, die zwar in Bruchstücken in Medien- und Technologiekritik noch gepflegt wird, ohne aber dabei substantiell weiterentwickelt worden zu sein.348 Derartige Beobachtungen sind nachvollziehbar, wenn sie sich auf das vorwiegend geschichtsphilosophische Denken der ersten Generation der Kritischen Theorie um Adorno und Horkheimer beziehen, müssen aber eingeschränkt werden, wenn man anerkennt, dass die nachfolgende Generation die Kritische Theorie weiterentwickelt und sich dabei um eine Reformulierung der Ansprüche kritischen Denkens bemüht, die ohne eine überholte historisch-materialistische Geschichtsphilosophie auskommt.349 343 344 345 346 347 348 349
So ließe sich der Kern der Kritik Baums (1994) zusammenfassen. Altmeppen/Karmasin 2003c, S. 38f. Vgl. Pöttker 2004, S. 73ff. Ebd., S. 75 Letztlich legt dieser Abgrenzungsversuch aber nur noch einmal nahe, dass die erkenntnistheoretische Einteilung unterscheidbarer Erkenntnisinteressen höchstens heuristischen Wert besitzt, in ihrer Systematik aber von den angeführten kommunikationstheoretischen Reformulierungen Kritischer Theorie abgelöst werden sollte. Eurich 2002b, S. 121 Vgl. van Reijen 1986, S. 158ff.
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II Zur Verortung des Journalismus
Doch die Kommunikationswissenschaft hat sich der Frage nach der Differenz zwischen Sein und Sollen auf einer grundlegend gesellschaftstheoretischen Ebene im Prinzip nicht gestellt, sondern hat die Frage der Utopie einer idealen Kommunikationsgemeinschaft vollends an andere Wissenschaften delegiert – zumeist sogar ohne deren Ergebnisse in Betracht zu ziehen.350 Dabei hat ein ‚kritischer‘ gesellschaftstheoretischer Ansatz das Potenzial einige der häufig beklagten Defizite der Disziplin zu kompensieren: „Kritische Wissenschaft lebt von der Urteilsbereitschaft – allerdings mit Selbstkritik und zugestandener hoher Fehler- und Ambiguitätstoleranz. Erst das Urteil, das analytisch nachvollziehbar ist, provoziert den Blick auf die unausgesprochenen und versteckten/verdeckten Facetten einer noch nicht angemessen erkannten Wirklichkeit.“351
Diese Kritik kann zunächst darin bestehen, die Gegenwart zu hinterfragen und ihre – an einem normativen Ideal zu messenden – Missstände aufzuzeigen.352 Dann trägt Kommunikationsforschung dazu bei, „[…] die Grundlagen zu erforschen, die Mißbräuche und die Ungerechtigkeiten der öffentlichen Kommunikation darzutun, die verhindern, daß menschliche Wachheit sich selber hilft“353, wie es Pross einmal genannt hat. Sie kann über die kommerzielle oder administrative Auftragsforschung hinaus zu „einem ‚öffentlichen Auftrag‘ im Interesse einer demokratischen Gesellschaftsentwicklung“354 werden. Nicht mehr Einzelphänomene sind dann Gegenstand der Betrachtung, sondern (auch) der gesellschaftliche Kommunikationsprozess samt seiner politischen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen. Die Behandlung des Journalismus durch die Journalistik kann durch einen entsprechenden gesellschaftstheoretischen Verweisungszusammenhang an analytischer Tiefe und an praktischer Relevanz gewinnen. Die Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Kommunikation ermöglichen oder verhindern, erlaubt es, soziale Kommunikationsprozesse nicht nur zu beschreiben, sondern sie auch zu verstehen und zu erklären.355 Kritische Theorie in solch einem Verständnis schickt sich selbstbewusst an, das legitime Erbe der vernunftorientierten Aufklärung anzutreten und zielt auf die Verbesserung der jeweiligen gesellschaftlichen Praxis. Nach wie vor gilt: „Die Publizistik und Kommunikationswissenschaft kann in interdisziplinären sozialwissenschaftlichen Arbeitszusammenhängen bei entsprechender Bestimmung und Explikation ihrer normativen Maßstäbe dazu beitragen, daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt im Medienbereich auch den publizistischen Spielraum erweitert für den meinungsbildenden Prozeß öffentlicher Diskussion, Aufklärung und Kritik; nur dann wird es möglich sein, auch grundlegende sozialökonomische Interessenkonflikte und politische Strukturprobleme zu lösen, ohne daß dabei demokratische Zielwerte der sozialen Gerechtigkeit, der Selbst- und Mitbestimmung durch undemokratische Mittelwahl bzw. elitäre Fremdbestimmung von Konfliktregelungen verfehlt werden.“356
350 351 352
353 354 355 356
Vgl. die Kritik von Teichert/Renckstorf 1974. Eurich 2002b, S. 130 Eurich (1977, S. 348) konstatiert in dieser Hinsicht eher idealtypisch, dass vorrangig allgemeine normative Kriterien für eine emanzipatorische Kommunikationswissenschaft zu formulieren sind: „Die Orientierung an der Verwirklichung der individuellen kommunikativen Freiheit, der Herstellung bzw. Vermehrung publizistischer Gerechtigkeit, der ‚Vermeidung publizistischer Manipulationen‘, dem ‚Abbau von kommunikativer Herrschaft von Menschen über Menschen‘, der ‚demokratischen Gestaltung aller publizistischen Einrichtungen, insbesondere der Medien‘.“ Pross 1970, S. 158; vgl. auch Fabris 1971, S. 367. Aufermann 1976, S. 157. Auch Eberhard (1965a, S. 490) hat schon früh konstatiert: „Den Massenkommunikationsmitteln fällt in der Demokratie ein Wächteramt zu. Wer wacht über die Wächter? Ich meine, die Publizistikwissenschaft habe hier eine Aufgabe.“ Vgl. Eurich 1977, S. 348f. Aufermann 1976, S. 167
4 Zwischenfazit: Praxisorientierung und Kritik
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Kritische Theorie verbannt das Interpretative und Normative nicht in den Bereich des Vorwissenschaftlichen; sie betrachtet ein hermeneutisch erbrachtes Ergebnis nicht nur als Hypothese für empirisch-analytische Feldforschung. Stattdessen nimmt Kommunikationswissenschaft aus kritischer Perspektive die Herausforderung an, Kriterien zu formulieren, die auf eine bessere Kommunikationsgemeinschaft und auf die Ausschöpfung der Verständigungspotenziale zielen. „Der Utopieverlust, den wir der Aufklärung verdanken und deren affirmativen Scheitern, ist im kritischen Horizont korrigierbar, Kritische Wissenschaft hat hier ein Erbe übernommen, das auf die Entmottung wartet. Es geht in der Beziehung von kritischer Wissenschaft und Utopie nicht um die Feststellung von Gewissheiten hinsichtlich der Gestaltung von Zukunft. Es geht um die Herausarbeitung, ob sie möglich ist. Hier liegt ihre Aufgabe als Möglichkeitswissenschaft.“357
Es kann der kritischen Kommunikationsforschung heutzutage also kaum um Gewissheiten gehen, sondern um Potenziale und das Maß, in dem sie ausgeschöpft werden. Was vermag der Journalismus zu leisten? Was leistet er tatsächlich? Und welche Rahmenbedingungen halten ihn davon ab, sein Potenzial zu realisieren? Das sind Fragen, die aus der Perspektive einer kritischen Theorie gesellschaftlicher Kommunikation auch empirisch gestellt werden können. Ausgangspunkt ist allerdings die Identifizierung der historisch entwickelten und aktuell empirisch angelegten Möglichkeiten des Journalismus, zur Verständigung beizutragen. Die bescheidene Besinnung auf normativ-praktische Fragen wäre dazu ein wichtiger Anfang. Die eigentliche Chance der Journalistik aber liegt in der theoretisch ausgearbeiteten und ethisch angewandten kritisch-emanzipativen Radikalisierung ihres kommunikativen Praxisbezugs. Dieses Kapitel sollte dazu dienen, die Journalistik im Rahmen der Kommunikationswissenschaft zu positionieren und ihr ‚Erkenntnisinteresse‘ näher zu bestimmen. Die Journalistik hebt sich dabei durch ihren Untersuchungsgegenstand und durch ihr erklärtes Ziel der Ausbildung von einer als empirisch-analytische Sozialwissenschaft verfassten Kommunikationswissenschaft ab. Sie tradiert theoretische Ansätze ihrer Mutterdisziplin und stellt sich nur bedingt der analytischen Herausforderung, die sich insbesondere aus dem emanzipatorisch auf eine bessere Praxis gerichteten Ausbildungsauftrag ergibt. In der Auseinandersetzung mit den theoretischen Optionen der Journalistik ist deutlich geworden, dass sich das Fach nicht einseitig festlegen lassen kann, sondern seine praxisorientierte Relevanz nur durch eine in mehrfacher Hinsicht doppelte Perspektive untermauern kann. Dazu gehört vor allem, • dass empirisch-analytische Forschung einen Bezug auch zu normativ-praktischen und kritischemanzipatorischen Fragen bewahrt, • dass theoretisch angeleitete Journalismusforschung und praxisorientierte Journalistenausbildung in einem immanenten Bezugsverhältnis zueinander gehalten werden, • dass sowohl Systembezug als auch Akteursbezug in Journalismusforschung und Journalistenausbildung integriert werden und • dass Journalistikwissenschaftler sowohl eine Teilnehmerperspektive als auch eine Beobachterperspektive einzunehmen vermögen, um ihren Untersuchungsgegenstand in angemessener Weise beschreiben, erklären und verstehen zu können. In der erfolgreichen Kombination dieser verschiedenen Untersuchungsdimensionen liegt zugleich die Bedingung der Möglichkeit begründeter Kritik und emanzipatorischer Verbesse357
Eurich 2002b, S. 131. Dies sollte nicht apodiktisch oder transzendental geschehen, wie Eurich (2002b, S. 135) fordert, sondern pragmatisch und im Sinne regulativer Ideen und der Identifizierung kontrafaktischer Unterstellungen in der Kommunikation. Es ist kein Gewinn, die nüchterne und sprachpragmatisch orientierte Perspektive einzutauschen gegen eine Theorie, die sich selbst transzendiert und damit die Forderung nach der Begründung von ethischen und normativen Postulaten im Diskurs zugunsten einer erneuten Metaphysik aufgibt.
96
II Zur Verortung des Journalismus
rungsvorschläge mit Blick auf die Praxis. Diese Kombination ist auf der Basis eines kommunikationstheoretischen und rekonstruktiven sozialwissenschaftlichen Verständnisses möglich, das keinen grundlegenden Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Reflexion konstruiert, sondern stattdessen von zueinander geöffneten Kommunikationsverhältnissen ausgeht, die miteinander dialogfähig sind. Vor diesem Hintergrund sollen erste Hinweise auf ein Journalismusverständnis skizziert werden, das mit diesen wissenschaftstheoretischen Erwägungen korrespondiert und eine Grundlage journalistikwissenschaftlicher Analyse und Ausbildungsleistungen sein kann. Die in der Einleitung entwickelte Skizze eines Journalismus als kommunikativem Handlungsmodus unter systemischen Bedingungen der Massenmedien ist in diesem Kapitel insofern ergänzt worden um komplementäre wissenschaftliche Sichtweisen auf die verschiedenen Aspekte: • Aus einer wissenschaftlichen Beobachterperspektive geraten systemische Zusammenhänge der Massenmedien als funktionalistische und instrumentelle ‚Objektivation‘ in den Blick. • Aus einer wissenschaftlichen Teilnehmerperspektive wird das lebensweltlich fundierte kommunikativ rationale Handeln von Journalisten analysierbar. Die Dimensionen einer so umfassend zu verstehenden Journalistik lassen sich entlang der Unterscheidungen der folgenden Tabelle beschreiben.
Tab. 1: Untersuchungsdimensionen des vorgeschlagenen Journalistik-Verständnisses Bezugspunkt der Journalismusanalyse
Journalistisches Handeln
Massenmediensystem
Wissenschaftliche Perspektive auf Journalismus
Journalismus als kommunikatives Handeln
Journalismus als Beruf
Theoretische Option
Handlungstheorie
Struktur-/Systemtheorie
Gesellschaftstheoretische Referenz
Lebenswelt
Struktur/System
Rationalitätskonzept
kommunikativ
instrumentell / funktionalistisch
Erkenntnistheoretische Option
universalpragmatisch
(überwiegend) konstruktivistisch
Stellung des Wissenschaftlers zur Praxis
(virtueller) Teilnehmer
Beobachter
primäres Erkenntnisinteresse
normativpraktisch
kritischemanzipatorisch
empirisch-analytisch
Beiträge zur Praxis
Dialog mit Praxis Ausbildung / Ethik
wissenschaftliches Kontextwissen
Beiträge zur Theorie
Aufgaben des Journalismus journalistische Ethik Typologie / Handlungsmuster Idealtypen kommunikative Rollenbilder subjektiver Sinn
Funktionen des Journalismus Analyse des Handlungsumfeldes Systemanalyse ‚constraints‘ / Kolonialisierung berufliche Rollenbilder latente Handlungsfolgen
Wissenschaftliche Leistung
Verstehen / Kritisieren
Beschreiben / Erklären
4 Zwischenfazit: Praxisorientierung und Kritik
97
Diese Tabelle gibt lediglich grob typisierende Hinweise auf eine mögliche analytische Zergliederung, sie soll keine falsche Trennschärfe suggerieren. Zentral ist vielmehr: In der analytischrekonstruktiven Gesamtsicht kann auf der Basis beider Perspektiven ein kritisches Verständnis der Situation journalistischer Verständigungsleistungen in ausdifferenzierten, von kommerzialisierten Massenmediensystemen geprägten Gesellschaften entwickelt werden. Dazu ist es notwendig, das Problem des Zusammenhangs von akteurs- und systembezogener Analyseperspektive erneut aufzugreifen und vor dem Hintergrund des zweistufigen Gesellschaftsmodells von System und Lebenswelt zu verhandeln. Dabei handelt es sich explizit nicht um alternative, sondern um komplementäre Untersuchungsperspektiven, die in einem zweistufigen Gesellschaftsmodell von Lebenswelt und System zueinander in Beziehung gesetzt werden können, um aus ihren Spannungsverhältnissen kritisches Potenzial zu generieren. Aus beiden Perspektiven und auf der Basis ihrer Erkenntnisleistungen kann ein Modell der Journalismus-Analyse entwickelt werden, das sensibel ist für die emanzipatorischen Leistungen des Journalismus. Im Folgenden soll zunächst aus einer pragmatischen Teilnehmerperspektive der subjektive Sinn journalistischen Handelns aufgeschlossen werden, um zu einem zureichenden Verständnis von Journalismus als Handlungsmodus zu gelangen. Dazu wird in historischen und idealtypisch fundierten Journalismusverständnissen nach Sedimenten eines Handlungskonzeptes des Journalismus’ gesucht, das sich gleichermaßen praxisoffen wie theoriefähig zeigt. Im weiteren Verlauf wird dieses Konzept systematisch ausformuliert und mit seinem systemischen Kontext konfrontiert.
III
Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
In diesem Kapitel sollen die historischen Fundamente des Journalismus besichtigt werden. Der Blick richtet sich dabei sowohl auf die Etablierung eines modernen Typus von Öffentlichkeit als Idealtypus respektive als regulative Idee gesellschaftlicher Kommunikation als auch auf die Herausbildung journalistischer Idealtypen. Diese Referenzpunkte sind in der Journalismustheorie bis heute relevant. Im Anschluss an Habermas‘ Studie ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ wird zunächst argumentiert, dass sich im Zuge der Bildung neuzeitlicher bürgerlicher Gesellschaften Öffentlichkeit als ein gesellschaftliches Strukturprinzip etabliert hat. Das Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit formuliert einen Idealtypus des öffentlichen Diskurses unter Gleichen als Quelle kommunikativer Rationalität und gesellschaftlicher Legitimation. Journalistisches Handeln ist demnach genuin auf die Herstellung von Öffentlichkeit bezogen. Im prädikativen Einzelfall-Verständnis bedeutet dies die Veröffentlichung von Nachrichten und Kommentaren und im subjektbezogenen Strukturverständnis die Gewährleistung einer gesellschaftlichen Kommunikationssphäre (1). Es ist zu skizzieren, wie sich Journalismus empirisch und konzeptionell entwickelt und etabliert hat. Dabei lassen sich unterschiedliche Modellvorstellungen identifizieren, die vom vermeintlich reinen Nachrichtenwesen des korrespondierenden Journalismus über das Räsonnement des schriftstellernden Journalismus bis zu den organisatorischen Leistungen des redaktionellen Journalismus reichen. Aus dieser historischen Genese des Journalismus werden, wie zu zeigen sein wird, noch heute journalistische Idealtypen abgeleitet (2). Auffällig ist, dass diese differierenden Erklärungsmuster und Anforderungsprofile meist in eine dichotomische Struktur münden, in der entweder das Erbe des korrespondierenden oder das Erbe des schriftstellernden Journalismus alleinig als Idealtypus herangezogen wird, um Rollenerwartungen an Journalisten zu begründen. Dabei führt die klassische Idealtypen-Dichotomie die Journalismusforschung regelmäßig in eine normative Sackgasse. Dies zeigt sich in den klassischen, handlungstheoretisch fundierten Rollenmodellen (3). In der vorliegenden Arbeit wird daher eine integrative Perspektive angestrebt. Es geht um die Formulierung eines soziologisch theoriefähigen Handlungstypus, der quer zu den klassischen Dichotomien liegt und der Vermittlung (Referat) und Räsonnement auch konzeptionell in einen inneren Zusammenhang zu bringen vermag. Dazu wird unter anderem auf Otto Groths Thesen zurückgegriffen, der Journalismus als vermittelnde Kommunikation im gesellschaftlichen Zeitgespräch situiert und im journalistischen Handeln sowohl vermittelnde als auch eigenständig kommunikative Aspekte betont, die zusammen ein Handeln durch Kommunikation begründen (4). Im Zwischenfazit wird Groths Metapher vom Journalisten als ‚Anwalt des gesellschaftlichen Gesprächs‘ mit Habermas‘ Konzeption von Öffentlichkeit und kommunikativem Handeln in Öffentlichkeit heuristisch zusammengezogen zu der Figur des Journalisten als Diskursanwalt der Gesellschaft. Dieses zunächst vorläufig einzuführende und im weiteren Verlauf systematisch und theoretisch zu vertiefende Journalismusverständnis setzt journalistisches Handeln in einen immanenten Bezug zur Vernunft öffentlicher Kommunikation und gewinnt dadurch eine auch normativ begründbare Anspruchsdimension an Journalismus aus dessen eigenen Grundlagen heraus (5).
1 Die Idee der Öffentlichkeit
1
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Die Idee der Öffentlichkeit „Fast alle Fragen und Probleme, die gegenwärtig im Mittelpunkt der Kommunikatorforschung wie auch der aktuellen kommunikationspolitischen Diskussionen stehen, sind in ihrer Entwicklung bis zu den Anfängen der Geschichte der Medien und der damit verbundenen Geschichte des Journalismus zurück zu verfolgen.“1
Journalistisches Handeln kann nicht getrennt von politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Entwicklungen einer Gesellschaft betrachtet werden, da Veränderungen in diesen Bereichen sich auch auf die gesellschaftliche Kommunikationsstruktur und ihre zentralen Akteure auswirken.2 Aber nicht alle Spezifika der journalistischen Entstehungsgeschichte lösen sich in historischer Kontingenz auf; aus der Rückschau sind durchaus idealtypische Aufschlüsse über Sinn und Aufgabe journalistischen Handelns als kommunikatives Handeln zu gewinnen.3 Das gilt in besonderem Maße für das mit der Ausdifferenzierung journalistischen Handelns historisch eng verknüpfte Prinzip der Öffentlichkeit und seine ethisch-politischen Implikationen. Doch der vermeintliche ‚Umweg‘ über die Historie des journalistischen Berufs mit dem Ziel einer theoretischen Näherung an den Journalismus, der in der klassischen Zeitungs- und Publizistikwissenschaft oft beschritten worden ist, ist heute unüblich geworden.4 Die Etablierung der empirisch-analytischen Kommunikationswissenschaft bedeutete auch eine „Enthistorisierung“, um so die bis dahin beinahe unumschränkt gültige Annahme des sozial- und geisteswissenschaftlich konzipierten historischen Bewusstseins, „[…] man müsse und könne die Dinge nur aus ihren Ursprüngen und im Zusammenhang ihres Gewordenseins verstehen“, zu überwinden.5 In den letzten Jahren werden die Stimmen zumindest sporadisch wieder vernehmbar, die eine „Theorie des Journalismus […], die sich historischer Empirie versichert“6, fordern. Damit reagieren vorwiegend handlungstheoretisch und historisch-hermeneutisch interessierte Forscher auf die Dominanz der Funktions- und System-Modelle, die zwar wertvolle Beiträge zur Beschreibung und Erklärung des Journalismus erbringen, indem sie den analytischen Blick auf Gegenwartsphänomene und ihre funktionale Form lenken, die aber gegenüber Fragen der 1 2
3 4
5
6
Fabris 1979, S. 47 Auch der Zeitgeschichtler Jagschitz (1987, S. 733) vertritt diese Position: „Mediengeschichte muß zur Sozialgeschichte werden. Medien einerseits und ihre beabsichtigte oder unbeabsichtigte Wirkung andererseits stehen nicht für sich. Sie stehen vielmehr mitten im Zentrum gesellschaftlicher und gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung, prägen die Gesellschaft mit, verändern Verhalten, Bewußtsein und politisches Handeln und werden von den Entwicklungen der Gesellschaft geprägt. Es ist daher selbstverständlich, daß sich Kommunikationsgeschichte mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit auseinandersetzen muß, in der Institutionen und Produkte entstehen, existieren und wirksam werden, in der Menschen bestimmte Handlungsräume ausfüllen und in den Medien und historische Entwicklungen einander wechselseitig bedingen. Es wäre ungerechtfertigt, über der veröffentlichten Meinung die öffentliche Meinung oder gar die verborgene Meinung zu vernachlässigen.“ Vgl. Dröge 1992 Ausnahmen sind z.B. Blöbaum 1994 oder Langenbucher 1993a. Auch davor standen weniger journalismusgeschichtliche als pressehistorische Betrachtungen im Mittelpunkt der Forschung. Grundlegende Arbeiten stammen z.B. von Koszyk (1966; 1972a; 1972b) oder Lindemann (1969). Sie haben in der Regel eher die Entwicklung von Medienformaten oder Angeboten im Blick und thematisieren das damit verbundene journalistische Handeln eher am Rande. Wilke 1987, S. 702. Die frühe historische Orientierung der Zeitungswissenschaft war in ihrer Einseitigkeit problematisch, da sie in die Nähe zu vermeintlich historisch-logischen Determinismen oder aber zu Fragen eines ‚Wesenskerns‘ des untersuchten Zusammenhangs führte. Dies zeigt sich deutlich in Texten, deren Autoren vermeintliche ‚Ur-Aufgaben‘ des Journalismus erörtern. (vgl. z.B. Prakke 1963; aber auch: Dovifat 1962b; Groth 1960; Braun 1958). Kritisch dazu z.B. Merten 1999, S. 440. Langenbucher 1993a, S. 312
100
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Historie und des Verstehens weitgehend abstinent bleiben.7 Dieser Umstand wird seit rund zwei Jahrzehnten innerhalb des Faches diskutiert8, allerdings ist der Schritt der Mediengeschichte von einer Hilfswissenschaft zu einem Aspekt sozialgeschichtlicher Forschung9 oder gar zu einer umfassenden Kommunikationsgeschichte10 noch längst nicht getan. Hinter der Forderung nach einer geschichtlichen Perspektive auch für die Journalismusforschung steht die Vermutung, dass eine historische Vergewisserung hinsichtlich der Ideen und der Aufgaben, die mit journalistischem Handeln verknüpft sind, den Boden für eine an den Gegebenheiten unserer Gesellschaftsformation ausgerichtete Journalismuskonzeption bereiten kann. Autoren wie Langenbucher und Pöttker haben erfolgreich geschichtliche Anknüpfungspunkte des modernen Journalismus identifiziert.11 Aber eine kritische Geschichtsschreibung, welche historische Prozesse und ihre Auswirkungen auf gesellschaftliche Kommunikationsprozesse analysiert, steckt allenfalls in den Kinderschuhen.12 Dabei können geschichtliche Kenntnisse kritisch-emanzipatorisch genutzt werden, um auf ihrer Basis und anhand ihrer Maßstäbe die Gegenwart zu hinterfragen. Jagschitz weist pathetisch auf dieses Potenzial hin: „Kommunikationsgeschichte muß auch ihre Aufgabe in der Erklärung der Gegenwart sehen. Sie hat eine wichtige emanzipatorisch-kritische Funktion. Nicht der schäbigen Verwaschungs- und Verwischungsarbeit von Zusammenhängen und Hintergründen im Dienste der herrschenden Oligarchie, die zur qualvollen Degeneration demokratischen Denkens und demokratischer Praxis beiträgt, nicht der Delegierung eigener Urteilsfähigkeit und Verantwortung, nicht der Tradierung von Vorurteilen und Illusionen, der Banalisierung und Verharmlosung soll sie verpflichtet sein, sondern der Aufhellung und Aufklärung, der Aufdeckung und Bewußtmachung. […] Eine kritische Kommunikationsgeschichte kann den Weg für den mündigen Bürger ebnen, ohne den ein partnerschaftliches Zusammenleben in einer freien, pluralistischen Gesellschaft nicht möglich ist.“13
Dass die theoretischen Grundlagen für ein solches historisches und kritisches Vorgehen existieren, verdeutlicht Hardt unter Hinweis auf eine Kulturforschung, in der die Idee der 7
8 9 10 11 12 13
Vgl. Lang 1985; vgl. auch Dröge 1992, S. 13: „Die Luhmannsche Evolutionstheorie weist keinen historischempirischen Gehalt mehr auf; wenn man sich auf dieser Ebene aktuellen Problemen, zum Beispiel der ‚ökologischen Kommunikation‘ zuwendet, stellt sich die Theorie als empirische banca rotta dar, historische Darstellungen verkommen zu Demonstrationsexempeln rückwärts projezierter [sic!] theoretischer Begriffe.“ Eine wichtige Ausnahme ist in dieser Hinsicht sicherlich die Arbeit von Blöbaum (1994), der mit systemtheoretischen Mitteln die Ursprünge und die Ausdifferenzierung eines journalistischen Systems in modernen Gesellschaften beschreibt. Langenbucher (1993b, S. 128) hingegen hat sich mit Blick auf biographische Forschungsansätze schon früh dagegen gewandt, „[…] prinzipiell von den Personen abzusehen und mit einem systemtheoretischen Denkverbot Erkenntnisse abzuschneiden, die nun einmal auch zum Phänomen ‚Journalismus als Beruf‘ gehören“. Die Folge sei, dass die schöpferischen Elemente des Journalismus, die ihn als eigenständige Kulturleistung auszeichnen, gar nicht mehr in den Blick zu bekommen seien und stattdessen vorwiegend die Zwänge thematisiert werden, die journalistisches Handeln extern bestimmen. Journalismusforschung nimmt die Höhepunkte journalistischen Schaffens gar nicht zur Kenntnis, sondern überlässt sie der Literaturwissenschaft: Das gehört zu den von Langenbucher konstatierten „jahrzehntelang anhaltenden Konsequenzen intellektueller Verödung“ der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (ebd.). Vgl. z.B. die Sammelbände von Blome 2000; Böning/Kutsch/Stöber 1999; Bobrowsky/Langenbucher 1987; Bobrowsky/Duchkowitsch/Haas 1987; Duchkowitsch 1985. Vgl. Koszyk 1977, S. 33 Vgl. Langenbucher 1987a, S. 17; für ähnliche Forderungen auch Rollka 1987; Burkart 1985. Vgl. Langenbucher 1992a, 1993a; Pöttker 1998b, 2002b. Auch Fabris (1992, S. 15) verweist auf die berufsethische Relevanz des Journalismus in Zeiten der Unterdrückung und die handlungsleitende Relevanz großer journalistischer Vorbilder, anhand derer man Journalismus auch lernen könne. Hardt (1992, S. 17f.) fordert insbesondere eine kritische Geschichtsschreibung, „[…] die sich mit den historischen Konsequenzen des Kapitalismus und seiner gegenwärtigen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Information beschäftigt“. Jagschitz 1987, S. 734
1 Die Idee der Öffentlichkeit
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Kommunikation „zum Kernstück einer Kulturkritik [wird], deren Ziel die Emanzipation des Einzelnen ist“ und deren wichtigster deutschsprachiger Vertreter Jürgen Habermas ist.14 „In diesem theoretischen Zusammenhang […] werden historische Entwicklungen aus subjektiver Sicht behandelt: der gesellschaftliche Prozeß der Kommunikation wird ein Gegenstand ethnographisch-kulturwissenschaftlicher Untersuchungen menschlicher Praxis. Eine Gesellschaftstheorie als Theorie der Geschichte, die konkrete Zustände der Gesellschaft anspricht, erkennt nicht nur die Probleme menschlicher Existenz, sondern kommt auch den wachsenden Erwartungen der Praxis entgegen, unterstützt menschliche Werte und ethische Normen, und bildet somit die Grundlage einer radikalen Demokratisierung der Gesellschaft.“15
Unbeschränkte Kommunikation als Grundlage der Demokratisierung von Gesellschaft – diese Idee ist geschichtlich identifizierbar im Idealtypus bürgerlicher Öffentlichkeit, den Habermas früh charakterisiert hat.16 Mit diesem historisch begründeten Konzept schafft er sich das, was Schmolke als „historischen Koeffizienten“ einer jeden kommunikationsgeschichtlichen ‚Entwicklungs‘-Theorie fordert17: Habermas konzipiert eine Grundlage, um heute als unzureichend strukturiert empfundene gesellschaftliche Kommunikationsverhältnisse und die dahin führenden Umbruchprozesse zu theoretisieren, indem er einen historisch-ideengeschichtlichen Referenzpunkt als idealtypische Kontrastfolie ausweist. Idealtypen wie das Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit zeigen nach Weber „je in sich die konsequente Einheit möglichst vollständiger Sinnadäquanz“18, ohne dass diese in der beschriebenen ‚Reinheit‘ empirisch auffindbar sein können. Soziologisch entwickelte Idealtypen dienen daher vorwiegend der Beschreibung ‚genereller Regeln des Geschehens‘: „Die Soziologie bildet […] ihre Begriffe und sucht nach ihren Regeln vor allem auch unter dem Gesichtspunkt: ob sie damit der historischen kausalen Zurechnung der kulturwichtigen Erscheinungen einen Dienst leisten kann. Wie bei jeder generalisierenden Wissenschaft bedingt die Eigenart ihrer Abstraktionen es, dass ihre Begriffe gegenüber der konkreten Realität des Historischen relativ inhaltsleer sein müssen. Was sie dafür zu bieten hat, ist gesteigerte Eindeutigkeit der Begriffe. Diese gesteigerte Eindeutigkeit ist durch ein möglichstes Optimum von Sinnadäquanz erreicht, wie es die soziologische Begriffsbildung erstrebt.“19
Idealtypen im Weberschen Sinne werden gewonnen durch die „einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde“, das als eine Utopie zu begreifen ist, zu der die Empirie immer nur in Näherungsverhältnisse gesetzt werden kann.20 Dabei weist Weber die Vorstellung, dass Idealtypen normative Relevanz hätten, zunächst zurück und zeichnet diese als in einem rein logischen Sinne ideal aus – und damit als Erkenntnismittel, nicht als Erkenntnisziele. Allerdings sind diese logischen Konstruktionen von Zusammenhängen vor allem in der historischen Betrachtung in zweifacher Hinsicht nur schwer von normativen ‚Ideen‘ und ‚Idealen‘ zu trennen. Zunächst kann davon ausgegangen werden, dass ein a posteriori identifizierter Idealtypus bestimmter gesellschaftlicher Gegebenheiten den Menschen, die im untersuchten Zeitraum gelebt haben, als normative Idee oder als Maxime ihres Handelns oftmals 14 15 16 17 18 19 20
Hardt 1992, S. 17 Ebd., S. 17 Vgl. Habermas 1990 Schmolke 1987, S. 745 Weber 1980 [1921], S. 10 Ebd., S. 9f. Weber 19887 [1904], S. 191
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III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
selbst vorgeschwebt hat. Zum anderen sind die diffusen handlungsleitenden Ideen einer Epoche in der Analyse nur als Idealtypen trennscharf zu beschreiben.21 Durch die Verknüpfung mit der historischen Empirie geraten gewonnene Idealtypen daher sehr schnell unter den Druck, sich nicht nur als heuristische begriffliche Hilfsmittel bewähren zu müssen, sondern auch als Kondensate bestimmter geschichtlicher Epochen oder Ideen. Wenn sie aber empirische Geltung beanspruchen würden, verlören Idealtypen viel von ihrer analytischen Kraft, so Weber. Aus erfahrungswissenschaftlich-logischen Begriffen würden subjektive Werturteile. Dies zu vermeiden oder mindestens bewusst zu machen sei entsprechend „eine elementare Pflicht der wissenschaftlichen Selbstkontrolle“.22 Weber limitiert den Begriff Idealtypus selbst in einem idealtypischen Sinne auf seine Anwendung als erfahrungswissenschaftliches Analyseinstrument, das mehr der Messung denn der Bewertung empirisch zu beobachtender sozialer Vorgänge dienen soll.23 Im Rahmen einer allgemeinen Soziologie sollen die Idealtypen als begriffliche Hilfsmittel im beschriebenen Sinn „[…] durch Klassifizierung des möglichen gemeinten Sinns entstehen und den gesellschaftlichwirtschaftenden Menschen aus der Fülle seiner Möglichkeiten zu verstehen suchen“.24 Die derart gewonnenen Idealtypen sollen anschließend in konkreten soziologischen Untersuchungen zur Analyse auf empirische Begebenheiten angewendet werden. Idealtypen sind somit dem Konzept einer verstehenden Sozialwissenschaft verpflichtet, indem sie die begrifflichen ‚Denkzeuge‘ gewährleisten, die der Sozialwissenschaftler zur Beschreibung und zum Verstehen sinnhafter sozialer Vorgänge benötigt. Mittlerweile kann es als eine gängige sozialwissenschaftliche Strategie angesehen werden, Idealtypen, normative Modelle oder Utopien zu entwerfen und diese zum Beispiel als heuristischen Referenzpunkt bei der empirischen Analyse, als rhetorische Figur in einer ethischpolitischen Debatte oder aber als handlungsleitende Norm in praktischer Absicht heranzuziehen.25 Auch in der Journalismusforschung ist dieses Verfahren bekannt – sowohl in seiner induktiven Variante, in der aus empirischen Sachverhalten Idealtypen destilliert werden, als auch in seiner deduktiven Variante, in der ein gesellschaftstheoretisch oder -politisch normatives Konstrukt den Ausgangspunkt der journalistischen Modellbildung markiert. Das Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit kann als ein solcher Idealtypus klassifiziert worden. Streng genommen kann dieser nicht durch empirische Einwände falsifiziert werden26, allenfalls kann das gedankliche Konstrukt als zur Analyse wenig brauchbar kritisiert werden.
21 22 23
24 25 26
Vgl. ebd., S. 196ff. Ebd., S. 200 Indem er allerdings selbst darauf hinweist, dass die Nähe zu normativen Idealvorstellungen sehr groß ist, ja dass diese oftmals nur als Idealtypen wissenschaftlich beschrieben werden sollen, muss dies für ein kritisches Wissenschaftsverständnis in der Konsequenz bedeuten, dass Idealtypen auch hinsichtlich des normativen Gehaltes geprüft werden können, der ihnen explizit oder implizit unterlegt wird. Dass auch die Wahl von Begrifflichkeiten nicht rein logisch zu fassen ist, sondern sehr wohl als Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Wertentscheidungen verstanden werden muss, haben Autoren wie Foucault (1971; 1977) nachdrücklich hervorgehoben. Der wissenschaftliche Rückzug auf eine vermeintlich reine Begriffslogik soll daher in der vorliegenden Arbeit zugunsten einer offen vertretenen und diskursiv begründeten Wertung aufgegeben werden. Schmidt 1931, S. 453 Vgl. Schulz 1997, S. 86; vgl. grundlegend Gerhardt 2001. Aufgrund der teilweisen Unabhängigkeit des Idealtypus von empirisch-analytischer Überprüfung ist das Verfahren der Idealtypen als Differenzmerkmal der Sozialwissenschaften kritisiert worden. Hempel (1965) z.B. fordert, dass Idealtypen wie Theorien auf empirisch prüfbaren Hypothesen aufsitzen müssen und sich entsprechend kaum mehr von anderen Herangehensweisen unterscheiden können. Die Webersche Konzeption lehnt er als unklar und an entscheidender Stelle kaum begründet ab.
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Manche bis heute gängige und empirisch begründete Kritik an den Annahmen des Konzepts27 läuft daher letztendlich ins Leere, wenn die bürgerliche Öffentlichkeit wissenschaftlich als begrifflicher Idealtypus bzw. ethisch-politisch als normativ wirksame regulative Idee betrachtet wird, die als kontrafaktische Unterstellung wirkt. Empirisch begründete Kritik kann nur dann verfangen, wenn Öffentlichkeit in sozialwissenschaftlicher Objektivation als ein fassbares sozialräumliches Konstrukt verstanden wird, dessen Existenz anhand prüfbarer Indikatoren untersucht werden können. Bürgerliche Öffentlichkeit hingegen kann als ein Idealtypus verstanden werden, der den Ausgangspunkt auch für Begründungsversuche der regulativen Idee deliberativer Öffentlichkeit darstellt, ohne diese aber aus sich heraus alleine hinreichend begründen zu können. Dass Idealtypen in einem nicht-positivistischen Verhältnis zur Empirie stehen, lasst sich zum Beispiel anhand der – empirisch letztlich bislang nicht erfüllten und auch kaum je erfüllbaren – Forderung bürgerlicher Öffentlichkeit spezifizieren, dass die Teilnahme aller an den Gesprächen über ethisch-politische Fragen möglich sein muss. Diese Unerfüllbarkeit muss a priori konstatiert werden, berührt aber dennoch nicht die Validität des Idealtypus. Er behauptet in letzter Konsequenz nicht einen empirisch prüfbaren Zustand, sondern zeichnet den hinter den empirischen Prozessen stehenden, idealisierten Sinn aus. Folgert man aus einem solchen analytischen Idealtypus eine normativ wirksame regulative Idee, so fordert diese dazu auf, die Verwirklichung des idealtypischen Sinns so weit wie möglich zu erreichen. Die Nichteinlösbarkeit in der Wirklichkeit ist dann nicht mehr ein Kriterium der Falsifikation, sondern eine normative Aufforderung zur Veränderung. Dass dies in besonderem Maße auf ein demokratietheoretisch so relevantes Konstrukt wie Öffentlichkeit zutrifft, hat Burkart verdeutlicht: Er bekräftigt idealtypische Forderungen an eine vernünftige Öffentlichkeit und leitet aus ihnen die Notwendigkeit journalistischer Vermittlungs- und Kommentarleistungen für das Funktionieren eines demokratischen Gemeinwesen ab.28 Journalistische Idealtypen sind aus solch einer Perspektive auch abhängig von dem entwickelten idealtypischen Verständnis von Öffentlichkeit; sie unterliegen damit historischen Kontingenzen. Ziel des folgenden Rückblicks ist daher vor allem die Identifikation und Analyse des Entstehungszusammenhangs derjenigen regulativen Ideen und ideologischen Konstrukte, denen der Journalismus nach verbreiteter Auffassung auch in der Gegenwart noch verpflichtet ist und die sich deshalb letztlich – da der Verweis auf Tradition allein in der Moderne kein valides Begründungskriterium mehr sein kann – in der späteren systematischen Betrachtung des gegenwärtigen Journalismus bewähren müssen.
1.1
Öffentlichkeit als ‚Sphäre‘
Ein zentraler Konsens der Journalismusforschung besteht darin, dass Öffentlichkeit als der wichtigste Bezugspunkt des Journalismus angesehen wird. „In der modernen Gesellschaft bedingen sich Öffentlichkeit und Journalismus: ohne Journalismus keine Öffentlichkeit, ohne Öffentlichkeit kein Journalismus.“29
27 28 29
Vgl. für einen Überblick der Kritik am Habermasschen Öffentlichkeits-Modell: Liesegang 2004, S. 22ff. Vgl. Burkart 1998a, S. 518 Blöbaum 1994, S. 327f.
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III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Jedes journalistische Verbreiten einer Nachricht oder eines Kommentars – in Text, Bild oder Ton – bedeutet auch ein ‚Sich-Hinwenden‘ zu einem Publikum, bedeutet ‚Ver-Öffentlichen‘ eines Sachverhaltes. Die Herstellung von Öffentlichkeit im Sinne einer produktiven Aktivität, welche die Isoliertheit und Geschlossenheit in modernen Gesellschaften zu überwinden hilft, ist die „konstitutive Aufgabe“ journalistischen Handelns, schreibt Pöttker aus handlungstheoretischer Sicht.30 Gerhards und Neidhardt wiederum verstehen Öffentlichkeit als ein eigenes System, innerhalb dessen Rahmen auch Journalisten als spezialisierte Kommunikatoren agieren. Sie konstatieren, dass die „Herstellung von medialer Öffentlichkeit […] in Organisationen eingebetteten spezialisierten Berufen, vor allem den Journalisten“ obliegt.31 Noch weitreichender konzipiert Blöbaum in der Sprache der Systemtheorie Journalismus als Form und Öffentlichkeit als das Medium, das durch die journalistische Form gesellschaftlich wahrnehmbar wird.32 Kohring und Hug wiederum zeichnen Öffentlichkeit als das von der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft zu untersuchende System und den Journalismus als ein untergeordnetes Leistungssystem aus.33 Solchen systemischen Analysen zufolge erfüllt Öffentlichkeit durch Beobachtung gesellschaftsinterner Systemgrenzen den Synchronisationsbedarf34 oder Orientierungsbedarf35 ausdifferenzierter Gesellschaften. Als darin eingebettetes Leistungssystem reduziert Journalismus „die Komplexität der möglichen Ereignisse unter dem Gesichtspunkt, ob sie zur Ausbildung von gegenseitigen gesellschaftlichen Umwelterwartungen beitragen können“.36 Diese Liste ließe sich fortsetzen – gemeinsam wäre den verschiedenen Konzeptionen zunächst nur die Begrifflichkeit und die Anerkenntnis einer Verbindung zwischen Journalismus und Öffentlichkeit. Auch für Habermas ist diese Verbindung evident, wenn er von der Presse als der „vorzüglichsten Institution“37 der Öffentlichkeit spricht und die Entfaltung bürgerlicher Öffentlichkeit an die Etablierung einer regelmäßig erscheinenden Nachrichtenpresse und einer räsonierenden Journal-Publizistik koppelt. Journalismus wird dadurch zu einem weitreichenden gesellschaftlichen Strukturprinzip immanent in Beziehung gesetzt. Wie dieses Strukturprinzip allerdings genau beschaffen ist, verbleibt eine grundsätzliche politisch-ideologische oder gesellschaftstheoretische Frage von erheblicher Relevanz für das daran anschließende Journalismus-Verständnis. Jede nähere Bestimmung des Öffentlichkeitsbegriffs bedarf aufgrund dieser Mehrdeutigkeit des Konzepts begrifflicher und theoretischer Präzisierungen, die im Zuge der Ausformulierung eines daran ausgerichteten Journalismusbegriffs immanent bekräftigt werden. Je nachdem, welcher Facette die Autoren den Vorzug geben, können sie unterschiedliche analytische Richtungen einschlagen. Um die Fundamente des eigenen Ansatzes offen zu legen, wird es in dieser Arbeit darum gehen, nicht nur einen Begriff von Journalismus, sondern auch das korrespondierende Öffentlichkeitskonzept zu explizieren. Der Öffentlichkeitsbegriff wird dabei nicht zu Beginn der Studie fixiert, sondern – ebenso wie der Journalismusbegriff – als gesellschafts- und demokratietheoretisch relevantes Konzept in verschiedenen Facetten betrachtet und weiterentwickelt.38 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Pöttker 1998a, S. 237 Gerhards/Neidhardt 1990, S. 24 Vgl. Blöbaum 1994, S. 328 Vgl. Kohring/Hug 1997 Vgl. Görke 1999, S. 287ff. Vgl. Hug 1997; Kohring 1997 Kohring 1997, S. 243 Habermas 1990, S. 275 So wird z.B. an dieser Stelle weitgehend darauf verzichtet, die demokratietheoretischen Überlegungen zum Öffentlichkeitsbegriff zu diskutieren. Dies wird in Kapitel VI dieser Arbeit geschehen.
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Die Notwendigkeit von Öffentlichkeit und damit auch die Notwendigkeit von Journalismus als der Tätigkeit, die sui generis auf die Herstellung von Öffentlichkeit ausgerichtet ist, kann vor allem als ein Produkt der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse und Modernisierungsschübe der frühen Neuzeit beschrieben werden39, als eine Reaktion auf Differenzierung und Segmentierung.40 Der Einzelne kann in einer hochkomplexen Gesellschaft lediglich in einem sehr begrenzten Umfang primäres Wissen durch Erfahrung in oftmals füreinander opaken und – auf das Ganze gesehen – weit auseinander liegenden Bereichen sammeln. Der Blick für gesamtgesellschaftliche Probleme ist dadurch ebenso gefährdet wie die Kompetenz, allgemein verbindliche Entscheidungen zu treffen.41 Dieser aus der Parzellierung von Gesellschaft erwachsenden Borniertheit wirkt eine öffentliche Sphäre entgegen. „Moderne Gesellschaften brauchen […] ein Gegengewicht zur Komplexität, brauchen eine Sphäre gesellschaftlicher Kommunikation, die dazu da ist, die mit der funktionalen Differenzierung eintretende Beschränktheit des Horizonts ihrer Subjekte wieder aufzuheben, indem alle vorhandenen Erfahrungen, Erkenntnisse und Interessen allgemein bekannt gemacht und zu einander vermittelt werden. Es liegt nahe, die Kommunikationssphäre Öffentlichkeit zu nennen. Komplexe Gesellschaften brauchen Öffentlichkeit, weil sie sich sonst nicht selbst regulieren können.“42
Groth hat bereits 1928 beschrieben, inwiefern Journalismus einen Beitrag zur Etablierung dieser entdifferenzierenden Sphäre der Öffentlichkeit und zur Orientierung des Einzelnen leisten kann: „Die Zeitung verbindet die Menschen mit allem gleichzeitigen Geschehen, das ihren Augen und Ohren, ihren persönlichen Beziehungen nicht mehr wahrnehm- und erreichbar ist. So erweitert sie den Gesichtskreis von Millionen unendlich, indem sie ihnen auch das Fernste nahe bringt. Sie erhebt die Herzen, entflammt die Willen. Vor tausend Irrtümern bewahrt sie, zersetzt falsche Vorstellungen, regt wissenschaftliche, literarische und künstlerische Interessen an. Sie ist die erfolgreiche Streiterin gegen den Spezialismus der Zeit, sie verhindert, daß sich der Mensch, dessen Blick sich im kleinen Feld des Berufs verengert, gänzlich aus der Allgemeinheit löst, sie läßt ihn immer alles miterleben, was die Gegenwart bewegt. Die Schnelligkeit und Vielseitigkeit der Nachrichten und Urteile der Zeitungen haben das Denken des modernen Menschen beweglicher, umfassender, bereitwilliger zur Aufnahme neuer Eindrücke und Meinungen geschaffen, sein Handeln rascher, entschlossener gemacht. Sie beschleunigt und bereichert den gesamten Lebensprozeß, bewahrt ihn durch Austausch der geistigen Schätze der gesamten Kultur vor Stagnation und Rückfall.“43
Öffentlichkeit kann zunächst als Attribut (politischer) Institutionen und Äußerungen verstanden werden. Dieses prädikative Verständnis hebt besonders den semantischen Ursprung von ‚Öffentlichkeit‘ in den adjektivischen Bestimmungen ‚offen‘ bzw. ‚öffentlich‘ hervor. Zentral ist, dass keine Barrieren oder Blockierungen vorhanden sind, sondern universale Zugänglichkeit zu dem öffentlichen Gegenstand bzw. der öffentlichen Handlung gewährleistet ist. Öffentlichkeit ist demnach nicht abstrakt, sondern nur als konkrete Eigenschaft denkbar. Entsprechend muss öffentliche Kommunikation „[…] im Prinzip für alle Mitglieder der Gesellschaft und auch für alle Themen offen sein […]“.44 Daneben kann Öffentlichkeit aber auch selbst als sozial identifizierbarer ‚Raum‘ bzw. als ‚Subjekt‘ und nicht bloß als Eigenschaft verstanden werden. Ein solches institutionelles Verständnis zielt auf eine öffentliche gesellschaftliche Kommunikationssphäre, die sich als konkrete 39 40 41 42 43 44
Vgl. Pöttker 1998a Vgl. Blöbaum 1994, S. 193 Vgl. Pöttker 2000b, S. 23 Pöttker 1998a, S. 236 Groth 1928, S. 67 Pöttker 2000b, S. 26
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III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Versammlung genauso wie als durch gemeinsame Rezeption virtuell zusammengehaltenes Netzwerk konstituieren kann. Wenn Öffentlichkeit in diesem zweiten Sinne hier als ‚Sphäre‘ bezeichnet wird45, dann rekurriert diese Modellierung semantisch auf ein gängiges Verständnis von Öffentlichkeit, das räumliche Metaphern zur Beschreibung zugrunde legt. So bezeichnet auch Neidhardt Öffentlichkeit als „[…] ein leeres Feld, dessen Besonderheit darin besteht, frei zugänglich zu sein für alle, die etwas sagen oder das, was andere sagen, hören wollen“.46 Der Begriff der Sphäre greift auf diese Grundannahme zurück und lässt darüber hinaus einen auch gesellschaftstheoretisch heuristischen Gebrauch dieser Annahme zu, weil er dem des Systems zur Seite gestellt werden kann: Während Systeme in einer historisch kontingenten Objektivierung als konkrete, zeitlich und räumlich identifizierbare Produkte von Vergesellschaftungsund Ausdifferenzierungsprozessen zu verstehen sind, lassen sich Sphären als bestimmte Typen sozialer Zusammenhänge beschreiben, die sich zwar in ihren Sinnbezügen, Rationalitätsvorstellungen und gesellschaftlichen Funktionen unterscheiden, denen aber verschiedene Personen oder Systeme zugeordnet werden können.47 In diesem Sinne kann Öffentlichkeit als ein einerseits zwar strukturierter und durch weitgehend regelhafte Handlungen konstituierter gesellschaftlicher Raum betrachtet werden, der aber andererseits – und anders als in Systemen nach gängiger Vorstellung – der innovativen Gestaltung durch die in ihm handelnden Akteure nach wie vor offen steht. Es wird im Verlauf der Studie weiter auszuführen sein, inwiefern Öffentlichkeit als Sphäre einerseits im Wortsinn zwischen der Zweckrationalität ausdifferenzierter Subsysteme und der kommunikativen Rationalität der Lebenswelt liegt und dabei andererseits zugleich Aspekte der Systeme und der Lebenswelt gleichermaßen umspannt. Dabei entfaltet Öffentlichkeit keine eigene Struktur von solcher Stärke, die ihr eine eigene systemische Präsenz sichern würde. Sie bleibt schwach strukturiert und prinzipiell zugangsoffen. Ihre zwangsläufig und immanent unvollständige Ausdifferenzierung ist dabei als funktional für hyperkomplexe moderne Gesellschaften zu verstehen. „Der doppeldeutige Status der Öffentlichkeit als Subjekt und als Prädikat, als politische Institution und als Eigenschaft politischer Institutionen resultiert zwar sachlich unmittelbar aus der abendländischen Entwicklung zu repräsentativen Demokratien und stellt sich uns inzwischen als untrennbarer Zusammenhang dar, trotzdem ist die Öffentlichkeit als eigenständige Institution etwas anderes als die Öffentlichkeit im Sinne einer normativ geforderten Funktionsweise politischer Institutionen: als Institution agiert die Öffentlichkeit selbst, und es ist lediglich die Frage, welches ihre Organe und wer die handelnden und maßgeblichen Personen sind – als Prinzip ist Öffentlichkeit eine Eigenschaft politischer Institutionen, die immer gefährdet, immer einzufordern ist, auch wenn sie formell festgelegt und unumstritten sein mag.“48
Öffentlichkeit bildet sich aus Veröffentlichungen49, aber auch aus öffentlichem Handeln, mithin aus der Bereitstellung öffentlicher ‚Gegenstände‘ oder Güter oder – in anderer Wendung – aus der Übermittlung von Informationen und Themen in eine Sphäre, die quer zu der Struktur der Teilsysteme liegt50, aus der Bereitstellung von Themen zur öffentlichen Behandlung, durch alle diejenigen, die an öffentlichen Prozessen teilnehmen wollen. Sprecher in der 45 46 47 48 49 50
Diesen Begriff hat Habermas (1990, S. 86) in ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ verwendet. Auch in einem frühen Lexikonartikel spricht er von Öffentlichkeit als einer „zwischen Gesellschaft und Staat vermittelnden Sphäre“ (Habermas 1973 [1964], S. 62). Neidhardt 1994c, S. 19 Vgl. Zerfaß 1996, S. 138ff. Göhler 1995b, S. 7f. Vgl. Arlt 1998, S. 44 Vgl. Marschall 1999, S. 39
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Öffentlichkeit versuchen, durch solche ‚Veröffentlichungen‘ die Aufmerksamkeit der Publika zu lenken in der Hoffnung, deren Meinungen zu verändern oder mindestens zu beeinflussen. Genauso ist es möglich, dass sich in den Kommunikationen in der öffentlichen Sphäre bei bestimmten Publikumssegmenten „Aufmerksamkeit für und Engagement in bezug auf ein bestimmtes Problem“ herausbildet.51 Habermas leitet die Offenheit von Öffentlichkeit aus der Beobachtung ab, dass sie sich in ihrer grundsätzlichen Kommunikationsstruktur auf einen spezifischen Aspekt kommunikativen Handelns erstreckt, in dem die formalen und materiellen Qualitäten von Öffentlichkeit zusammenzufassen sind: auf den durch kommunikatives Handeln konstituierten sozialen Raum, der durch spezifische Eigenschaften der in ihm vollzogenen Handlungen überhaupt erst geschaffen und in seinem Bestand erhalten wird.52
1.2
‚Bürgerliche Öffentlichkeit‘ als gesellschaftliches Strukturprinzip
Das Interesse an Öffentlichkeit ist in sozialwissenschaftlichen Diskussionen vor fast einem halben Jahrhundert vor allem durch die Habermas-Studie ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘53 geweckt worden. Für eine daran anknüpfende Gesellschaftstheorie bilden die öffentliche Kommunikationssphäre und ihre historischen wie aktuellen Transformationen einen beständigen idealtypischen Bezugspunkt.54 Hier nimmt die gesellschaftskritische These, dass Öffentlichkeit als Instanz der Machtkontrolle etabliert wurde, dann aber selbst zu einer Macht wurde, ihren Ausgang.55 In der Studie ist Öffentlichkeit erstmals nicht bloß als ein Teil der politischen und sozialen Konstitution einer Gesellschaft, sondern „als deren Strukturprinzip im ganzen“ konzipiert worden.56 Idealtypisch schildert Habermas die Transformation der feudalabsolutistischen Gesellschaft zur bürgerlich-demokratischen Aufklärungsgesellschaft des 18. Jahrhunderts anhand der Etablierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, in der die demonstrative 51
52
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Weßler 1999b, S. 169. Insofern sind die drei Modelle von Öffentlichkeit, die Neidhardt (1994c, S. 25) unterscheidet – Verlautbarungs-Öffentlichkeit, Agitations-Öffentlichkeit, Diskurs-Öffentlichkeit – vor allem als unterschiedliche Handlungsmodi von Sprechern, Vermittlern und Publika in der Öffentlichkeit bezogen auf ein Thema zu begreifen, die sich nach der Wechselseitigkeit und dem persuasiven Gehalt der Äußerungen identifizieren lassen. Allen diesen Handlungen ist unabhängig von der Beschaffenheit ihrer konkreten Intention gemeinsam, dass sie öffentlichen Charakters sind und somit durch ihre eigene materielle Qualität den Raum ihrer Interaktion konstituieren. Vgl. Habermas 1992, S. 437: „Jede Begegnung, die sich nicht in Kontakten wechselseitiger Beobachtung erschöpft, sondern vom gegenseitigen Zugeständnis kommunikativer Freiheit zehrt, bewegt sich in einem sprachlich konstituierten öffentlichen Raum. Er steht für potentielle Gesprächspartner, die anwesend sind oder hinzutreten können, prinzipiell offen.“ Vgl. Habermas 1990. ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ hatte in seiner dezidierten Gegenwartskritik zweifellos großen Einfluss nicht nur auf die damalige Generation Studierender und junger Wissenschaftler. Die Analyse des Zerfalls gesellschaftlicher Diskussionszusammenhänge zu vereinzeltem Kulturkonsum und politischer Ohnmacht offerierte eine Erklärungsmatrix für die ‚Pathologien‘ der von progressiven Gruppen als weitgehend gelähmt empfundenen Nachkriegsgesellschaft. Das Werk wurde angesichts solch ‚praxisorientierter‘ Rezeption Gegenstand polemischer Auseinandersetzungen (vgl. Jäger 1973, S. 6ff.). Doch die Studie als aktuellen Debatteneinwurf zu interpretieren, hieße die Breite ihrer analytischen Bemühungen in unzulässiger Weise zu verengen. Zumal Habermas (1990, S. 11ff.) selbst die aktuell politisch instrumentalisierbaren Befunde in seinem Vorwort zur 1990er Neuauflage als zu apodiktisch kritisiert, während er an der historisch-idealtypischen Analyse festhält. Vgl. die Beiträge in Calhoun 1992a. Vgl. Lindenau 1995, S. 209; Brosda 2000d Hölscher 1997, S. 17
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III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Zurschaustellung fürstlicher und monarchischer Macht dem freien Räsonnement weicht. Er beschreibt einen soziologisch und philosophisch begründeten Idealtypus bzw. ein Strukturmodell, das er mit einem historischen Zeitraum identifiziert57 und als eng mit der Entstehung des Journalismus verbunden betrachtet.58 Die Herausbildung bürgerlicher Öffentlichkeit wird im Kontrast zum vorangegangenen Typus der ‚repräsentativen Öffentlichkeit‘ beschrieben. Dieser ist davon geprägt, dass es innerhalb der sozial weitgehend statischen Feudalgesellschaft des Mittelalters keinen sozialen Raum gegeben hat, der entweder im antiken oder im modernen Sinne als ‚öffentlich‘ zu betrachten wäre.59 Die ‚repräsentative Öffentlichkeit‘ ist bis in den neuzeitlichen Absolutismus hinein ein Herrschaftsmerkmal des Monarchen, das an die personale Verkörperung vor dem Volk gekoppelt ist – an individuelle Attribute der Macht wie Herrschaftsinsignien, Habitus, Gestus und Rhetorik, mit denen Herrschaft und Gottesgnadentum ‚öffentlich‘ demonstriert werden.60 Die Bezeichnung ‚öffentlich‘ war daher bis zum Ende des 17. Jahrhunderts prinzipiell nicht institutionen-, sondern handlungsbezogen.61 Voraussetzungen für die Entwicklung eines modernen Konzepts von Öffentlichkeit war die gesellschaftliche Etablierung einer Trennung von ‚öffentlichen‘ und ‚privaten‘ Angelegenheiten, die durch eine Reihe gewaltiger sozialer, ökonomischer und politischer Umbrüche vorangetrieben wurde.62 Aus dem privaten, wirtschaftlichen Tauschverkehr entstand eine dem Staat konträr entgegen gesetzte private Sphäre.63 Der weitgehend liberalisierte Markt gewährleistete die wirtschaftliche Unabhängigkeit der familiären Privatsphäre. Und das bürgerliche 57
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Vgl. Habermas 1990, S. 51ff. Dezidiert weist er allerdings darauf hin, dass gerade die historischen Betrachtungen nicht auf Vollständigkeit ausgelegt sind, sondern eher der Illustration des aus einer Vielzahl von Einzelbetrachtungen komponierten Idealtypus der bürgerlichen Öffentlichkeit und seiner Abgrenzung zum repräsentativen Vorläufer dienen sollen. Die Studie kann als historisch informierte Analyse einer politisch wirksamen, wenn auch nur ansatzweise verwirklichten Idee begriffen werden. Die ihr zugrunde liegenden historischempirischen Annahmen alleine hingegen können sehr wohl als unzureichend kritisiert werden, wie Liesegang (2004, S. 51f.) mit einer Aufzählung der dort weniger beachteten Phänomene verdeutlicht: „Mit der Pluralisierung historischer Öffentlichkeitsformen, die im Kräftefeld verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und dem Staat agieren, einer sich früh ausdifferenzierenden literarischen Öffentlichkeit, den antagonistischen Kräften der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung in Deutschland, der Strukturlogik und dem damit zusammenhängenden konstitutiven Ausschluss von Personengruppen sind die Faktoren benannt, welche die historische Konkretion von Öffentlichkeit dominieren.“ Vgl. Habermas 1990, S. 69ff. Vgl. Körber 1998, S. 8; Schneider 1992, S. 120 Vgl. Habermas 1990, S. 58ff. Dass Herrschaft öffentlich repräsentiert werden muss gilt als ‚Publizitätsprinzip‘ nicht nur für die feudalen oder absolutistischen Herrscher, sondern durchzieht die Beziehungen aller Stände der mittelalterlichen ‚Gesellschaft‘. Vor allem Rechtsakte müssen prinzipiell öffentlich wahrnehmbar sein, um Gültigkeit zu erlangen. Ein umfangreiches Arsenal an symbolischen und ritualisierten Handlungen prägt sich aus, mit dem diesen Konventionen Folge geleistet wird (vgl. Schneider 1992, S. 97ff.; Hölscher 1997, S. 24). Vgl. Hölscher 1997, S. 23. Manche Autoren sprechen daher im Bezug auf das Mittelalter auch eher von ‚okkasioneller Öffentlichkeit‘ (Thum 1990). Aufzeigen lässt sich aber vor allem im 16. Jahrhundert die Etablierung mehrerer Typen einer Öffentlichkeit, die noch nicht wie die im 18. Jahrhundert aufkommende bürgerliche Öffentlichkeit entlang einer scharf geschnittenen Grenze von privat und öffentlich gebildet wurde, die aber immerhin bereits erste Kennzeichen dieser späteren Öffentlichkeit – wie „Unabhängigkeit, Orientierung an einem Publikum und Legitimation von Herrschaft“ – ausprägte (Körber 1998, S. 12). Die neue Form der Öffentlichkeit ist u.a. eine Reaktion auf die seit den Religionskriegen eingeübte rigide Trennung zwischen politischer und privater Sphäre: Im Zuge der Religionskriege des 17. Jahrhunderts hatte der Staat alle moralischen Fragen aus der politischen in die private Sphäre gedrängt, um für die Befriedung des öffentlichen Lebens sorgen zu können (vgl. Kunisch 1997, S. 42f.). Eine eher sozialästhetische und sozialpsychologische Erklärung liefert Sennett (1986, S. 122ff.), indem er Öffentlichkeit als Prägung eines neuerlich Ordnung schaffenden (expressiven) Zeichensystems der Bürger interpretiert. Vgl. Habermas 1990, S. 142ff. siehe auch die Beiträge in Jäger 1997.
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Familienleben war im Gegensatz zur extrovertierten Hof- und Haushaltung von größerer Innerlichkeit gekennzeichnet; hier wurde eine klare Grenze zwischen öffentlichen Bereichen (‚Salon‘ des Hauses) und Privatsphäre gezogen.64 Das Bürgertum gewann im Zuge dieser Veränderungen an gesellschaftlicher Bedeutung. Seine Kämpfe um Anerkennung zielten neben der (rechtlichen) Gewährleistung privater Schutzräume auf die Etablierung einer ‚bürgerlichen Öffentlichkeit‘, die aus der Privatsphäre heraus gebildet wurde. Die ersten öffentlichen Gehversuche in diese Richtung lassen sich im literarischen Räsonnement finden.65 „Noch bevor die Öffentlichkeit der öffentlichen Gewalt durch das politische Räsonnement der Privatleute streitig gemacht und am Ende ganz entzogen wird, formiert sich unter ihrer Decke eine Öffentlichkeit in unpolitischer Gestalt – die literarische Vorform der politisch fungierenden Öffentlichkeit. Sie ist das Übungsfeld eines öffentlichen Räsonnements, das noch in sich selber kreist – ein Prozeß der Selbstaufklärung der Privatleute über die genuinen Erfahrungen ihrer neuen Privatheit.“66
Durch die Beschäftigung des Bürgertums mit Kunst und Literatur wurde ein wesentliches Instrument der bisherigen Selbstdarstellung des Adels zu einem disponiblen, der allgemeinen Evaluation ausgesetzten Gut deklariert.67 Zum ersten Mal entfaltete das Bürgertum öffentlich seine Urteilsfähigkeit und schärfte seine aufklärerischen Werte in einer neuen Form öffentlicher Kritik.68 Die literarische Öffentlichkeit wurde zum Präzedenzfall für die Beschäftigung mit politischen Fragen, als sich die bürgerlichen Kaffeehausgesellschaften, Salons oder literarischen Clubs auch Problemen des Zusammenlebens, d.h. vor allem der Forderung nach einem Rechtsstaat und nach politischen Teilhaberechten, zuwendeten. Eine rege publizistische Tätigkeit sorgte im Prozess der Ausweitung des Räsonnements für die Entstehung einer politischen Bürgeröffentlichkeit, die der autoritär entfalteten Öffentlichkeit der monarchischen Herrscher entgegenstand und statt des demonstrativen Zurschaustellens der Macht das rationale Räsonnement in den Mittelpunkt rückte. Im Räsonnement konvergieren idealtypisch Kommunikation und Vernunft. Der Begriff meint die Möglichkeit, „verständig“ über die Dinge zu reden und sie „nach Vernunftgründen“ zu untersuchen, wie es das französische Verb ‚raisonner‘ nahe legt, das übersetzt „überlegen, vernunftgemäß handeln und reden“ bedeutet.69 Es bezeichnet ein (öffentliches) vernunftgeprägtes Reden, das in letzter Konsequenz dialogisch und verständigungsorientiert angelegt ist70, und besteht folglich aus vernunftorientierten öffentlichen Meinungsäußerungen, mit denen Sprecher versuchen, Diskussionspartner rational zu überzeugen. Mit dem Räsonnement beschreibt Habermas die materielle Veränderung von Öffentlichkeit: Nicht mehr das ritualisierte Symbol wie in Zeiten repräsentativer Öffentlichkeit, sondern der rationalisierte Diskurs bestimmten das Ideal öffentlichen Handelns.71 64 65 66 67 68 69 70 71
Gerade in ihrem ‚privatisierten‘ Aspekten fungierte die Familie in vielerlei Hinsicht als die zentrale Sozialisations- und Sozialagentur: Sie übernahm die Erziehung und Bildung der Kinder und die Versorgung der Berufsunfähigen aus Alters- und Krankheitsgründen. (vgl. Habermas 1990, S. 107ff.) Vgl. Habermas 1990, S. 116 ff. Ebd., S. 88 Vgl. ebd., S. 97ff.; ähnlich auch Grieger 1997, S. 117 Vgl. Baum 1994, S. 85f. So der Duden „Etymologie“: Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. 2., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim; Wien, Zürich 1989, S. 572. Damit steckt in dem Begriff der Ausgangspunkt der Habermasschen Theorie. Die Beschäftigung mit dem Öffentlichkeitsbegriff markiert den Beginn einer umfassenden Erörterung der Funktionen und Leistungen, die kommunikative Verständigungsakte für die Integration moderner Gesellschaften erbringen. Das Räsonnement ist als Medium der politischen Auseinandersetzung „eigentümlich und geschichtlich ohne Vorbild“, erläutert Habermas (1990, S. 86); der Begriff kann – je nach dem von wem er mit welcher Intention
110
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus „Der Prozeß, in dem die obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit vom Publikum der räsonierenden Privatleute angeeignet und als eine Sphäre der Kritik an der öffentlichen Gewalt etabliert wird, vollzieht sich als Umfunktionierung der schon mit Einrichtungen des Publikums und Plattformen der Diskussion ausgestatteten literarischen Öffentlichkeit. Durch diese vermittelt, geht der Erfahrungszusammenhang der publikumsbezogenen Privatheit auch in die politische Öffentlichkeit ein.“72
Der Kern dieser Vorstellung von Öffentlichkeit findet sich bereits in Kants berühmter ‚Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?‘, in der er einen präzisen Begriff von Aufklärung und ihren Implikationen entwickelt. Dabei insistiert er besonders darauf, dass es das Räsonnement als der öffentliche Gebrauch der Vernunft ist, der aufklärend wirkt, nicht der Gebrauch im Privatbereich. Öffentlich ist nach Kant derjenige Vernunftgebrauch, „[…] den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht“.73 Daran schließt auch die spätere zeitungswissenschaftliche Modellierung des Begriffs an: „Räsonnement […] ist Urteil, Meinung, die im Periodikum nicht als Tatsache, sondern unmittelbar als Gedankenäußerung eines Subjektes auftritt. Dabei nimmt die Periodik [so bezeichnet Groth die Zeitungswissenschaft, -cb-] Räsonnement nicht bloß in seiner ursprünglichen engeren Bedeutung als verständige Beurteilung, Verstandesurteil oder gar in der engsten als kritische (tadelnde) Beurteilung, sondern in der weitesten der geistigen Äußerung überhaupt, auch der gefühls- und willensmäßigen.“74
In den bürgerlichen Diskussionszirkeln75 ebenso wie in der zeitgenössischen Philosophie entwickelte sich somit ein bis heute gültiges Verständnis von Öffentlichkeit, die nunmehr als sozialer Begriff gefasst wurde, der sich auf eine soziale ‚Institution‘ beziehen konnte.76 Die Veränderungen wurden anhand der Gemeinsamkeiten greifbar, welche das in der Privatsphäre entstehende, gleichwohl öffentliche Räsonnement – vom Salon bis zur Lesegesellschaft, vom Club bis zum Gemeinschaftsabonnement – auszeichneten und es über bislang übliche Formen gesellschaftlichen Verkehrs hinaushoben:77 • Der nähere soziale Status der Mitglieder, die alle noch der bürgerlichen ‚Klasse‘ zugehörten, war in den Diskussionen irrelevant. Es zählte das bessere Argument.78
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verwendet wird – sowohl die „Berufung auf Vernunft“ als auch ihre „verächtliche Herabsetzung zur nörgelnden Vernünftelei“ meinen. Habermas 1990, S. 116 Kant 1968 [1783], S. 55. Hier ist die Idee einer wechselseitigen Verständigung lediglich insoweit hinein zu deuten, als dass der öffentliche Vernunftgebrauch des Gelehrten den Mitgliedern des Publikums bei dem Ausgang aus ihrer eigenen selbstverschuldeten Unmündigkeit helfen soll und sie somit in die Lage versetzt, selbst öffentlich vernünftig zu kommunizieren. Der im Rahmen öffentlich zugänglicher Kommunikation verlaufende Aufklärungsprozess unterscheidet in diesem Modell zumindest der Tendenz nach noch zwischen Aufgeklärten und Aufzuklärenden. Öffentliche Kommunikation ist noch keine wechselseitige Verständigung, aber auch schon kein einseitiges Erziehen und Anleiten mehr, sondern ein öffentlich beobachtbarer Gebrauch einer Vernunft, zu der alle potenziell fähig sind. Jeder kann daher in den Status eines Beteiligten am Aufklärungsprozess aufsteigen, niemand aber kann diesen Prozess in eine reine Anleitungsrolle hinein wieder verlassen, da der Vernunftgebrauch stets prekär verbleibt (vgl. auch Liesegang 2004). Groth 1961, S. 90 Vgl. dazu auch Schneider 1992, S. 198ff. Dieses bildet sich in einer semantischen Verschiebung ab, die stark unter dem Eindruck der Aufklärung steht: Zunächst wird öffentlich nicht mehr in der Folge des germanisch-deutschen Rechts als Gegensatz zu ‚geheim‘, sondern zunehmend in der Tradition des römischen Tradition als Gegensatz zu privat verstanden. Darüber hinaus wird das Publikum seit rund 1750 sprachlich eigenständig gefasst und bezeichnet (vgl. Hölscher 1997, S. 24ff.; vgl. auch Hölscher 1979, S. 88). Vgl. zum Folgenden Habermas 1990, S. 97f. Sennett (1986, S. 113) spricht mit Blick auf die frühe Öffentlichkeit entsprechend von der „Fiktion […], daß die gesellschaftlichen Unterschiede nicht existent waren“.
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•
Mit Literatur- und Kunstkritik nahmen sich die Zirkel solcher Bereiche an, die bislang unter dem Deutungsmonopol von Klerus oder Adel standen. Sie begannen Zusammenhänge zu problematisieren, die bislang nicht hinterfragt wurden. • Das Publikum, die Mitgliedschaft in den Diskussionsgruppen, war prinzipiell unabgeschlossen. Zugangsvoraussetzungen zu bürgerlichen Diskussionszirkeln waren Besitz und Bildung – beide Kriterien erfüllte nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. Dadurch sollten Partikularinteressen ausgeklammert werden, damit das ‚unbelastete‘ rationale Räsonnement zu einer vermeintlich vernünftigen und legitimen ‚öffentlichen Meinung‘ führen konnte, die ausschließlich auf Basis der besten Argumente zustande kommen sollte. Im Sinne liberaler Grundideen schlossen die Diskussionszirkel niemanden a priori aus – schließlich, so die Unterstellung, sei jeder in der Lage, Bildung und Besitz – und damit die Teilnahmeberechtigung – zu erwerben. Faktisch aber wurde der Status des politisch aktiven ‚citoyen‘ an den des besitzenden ‚bourgeois‘ gekoppelt.79 Die Spannung zwischen dem umfassenden Geltungsanspruch bürgerlicher Öffentlichkeit und ihrer faktischen Begrenztheit ist somit greifbar: Es kann historisch nicht davon ausgegangen werden, dass die Idee der zugangsfreien Öffentlichkeit in den Kaffeehäusern, Salons oder literarischen Gesellschaften faktisch realisiert worden wäre; „[…] wohl aber ist sie mit ihnen als Idee institutionalisiert, damit als objektiver Anspruch gesetzt und insofern, wenn nicht wirklich, so doch wirksam gewesen“.80 Hölscher zufolge hat dieses Spannungsverhältnis zwischen Anspruch und Realität zur Ausprägung des neuen Verständnisses von Öffentlichkeit beigetragen, indem es bereits im 18. Jahrhundert in den bürgerlichen Diskussionszirkeln selbst zum Gegenstand des diskursiven Verkehrs geworden ist. Daraufhin setzte ein Selbstvergewisserungsprozess ein; die programmatischen Diskussionen hatten sich selbst zum Gegenstand und verdichteten sich in dem Begriff der Öffentlichkeit. Die neue Form der Öffentlichkeit reflektierte ihre Prinzipien auf sich selbst, um an institutioneller Stärke zu gewinnen.81 Die in politiktheoretischer Perspektive bestechende Pointe dieser bürgerlichen Selbstvergewisserung im Räsonnement ist, dass sie letztlich nicht nur auf Veränderung, sondern auf Abschaffung klassischer Strukturen der Herrschaft zielt, da Entscheidungen nicht mehr durch Macht, sondern durch Vernunft herbeigeführt werden sollen.82 Innerhalb eines Verfassungsrahmens
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80 81 82
Habermas (1990, S. 121) konstatiert: „Die entfaltete bürgerliche Öffentlichkeit beruht auf der fiktiven Identität der zum Publikum versammelten Privatleute in ihren beiden Rollen als Eigentümer und als Menschen schlechthin.“ Damit wurde ein Klasseninteresse ideologisch zum Allgemeinwohl erhoben – gerechtfertigt durch die Idee, dass nur der bourgeois Interesse an einer geschützten Privatsphäre haben könnte. (vgl. ebd., S. 159; vgl. auch kritisch Negt/Kluge 1972). Allerdings beruht die bürgerliche Gesellschaft laut Sozialhistorikern weniger auf Geburtsprivilegien (Adel) oder sozialökonomischen Parametern (Proletariat) als vielmehr auf kulturell-bürgerlichen Mustern. Diese werden von anderen gesellschaftlichen Gruppen adaptiert und charakterisieren daher nicht mehr eine soziale Schicht respektive ein ‚Milieu‘, sondern zunehmend ‚Gesellschaft‘ in ihrer gedachten Einheit (vgl. Blöbaum 1994, S. 119). Dieser Umstand ist bei der Analyse des bisweilen als zu emphatisch gescholtenen Habermasschen Öffentlichkeitsbegriffs zu berücksichtigen. Habermas 1990, S. 97; vgl. auch Baum 1994, S. 92f. Vgl. Hölscher 1997, S. 31: „Die Öffentlichkeit, so könnte man diesen Vorgang metaphorisch umschreiben, begegnete sich selbst in der bewußten sprachlichen Ausgestaltung sozialer Kommunikationsformen […].“ Vgl. Habermas 1990, S. 153: „Die ‚Herrschaft‘ der Öffentlichkeit ist ihrer eigenen Idee zufolge eine Ordnung, in der sich Herrschaft überhaupt auflöst […]. Pouvoir als solche wird durch eine politisch funktionierende Öffentlichkeit in Frage gestellt. Diese soll voluntas in eine ratio überführen, die sich in der öffentlichen Konkurrenz der privaten Argumente als der Konsensus über das im allgemeinen Interesse praktisch Notwendige herstellt.“
112
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
sollten die kommunikativ rationale Debatte der Bürger und das zweckrationale freie Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte zu Konsens oder mindestens zu gerechtem Ausgleich führen.83 In einem grundlegend demokratietheoretischen Verständnis lässt sich die normative Idee der Öffentlichkeit als der Versuch begreifen, die vernunftrechtliche Tradition aufklärerischer Rationalitätspostulate mit der republikanisch-demokratischen Idee der Volkssouveränität zu verbinden. Durch öffentliches Räsonnement der Bürger sollen die vernünftigsten Lösungen für das Gemeinwesen gefunden werden. Ein vormals als dichotomisch unterstelltes Verhältnis von Vernunft und Volkswillen scheint im öffentlichen Diskurs überwindbar. „[D]ie Vernunft brauchte der kollektiven Willensbildung nicht mehr vor- oder übergeordnet zu werden, weil sich in der Öffentlichkeit, gestützt und getragen von einer Infrastruktur freier Assoziationen und vermittelt in Argumentation, Interesse und Moral, eine aufs Allgemeine gerichtete Vernunft und individuelle Partikularität, also ‚bourgeois‘ und ‚citoyen‘ einander durchdringen konnten.“84
Zu einer Zeit, in der die Bereiche des Öffentlichen und des Privaten noch strikt von einander geschieden waren, bildete sich so innerhalb der Sphäre des Privaten ein Bereich heraus, der geprägt war von der regulativen Idee, dass öffentliche Belange nach den kommunikativen Maßgaben lebensweltlicher Rationalität unter ‚Gleichen‘ diskutiert und publiziert werden können. Der durch solche Verständigungsbemühungen konstituierte soziale Bereich erbringt Vermittlungsleistungen zunächst zwischen dem öffentlichen Staat und dem Privatbereich der Gesellschaft85, später auch in Bezug auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Belange. Öffentlichkeit erfährt angesichts sich differenzierender Gesellschaften wachsende Bedeutung, die sie letztlich in ihrer orientierenden Funktion nicht nur für die Gesellschaft als Ganzes, sondern auch für die einzelnen Individuen notwendig macht.86 In Öffentlichkeit manifestiert sich „Gesellschaft als Gesellschaft“, da sie aus Sicht der Individuen das ist, „[…] von dem gewusst wird oder gewusst werden kann, dass die anderen es wissen oder wissen können“.87 Individuen wären sogar dann auf Öffentlichkeit angewiesen, wenn sie nur in Bezug auf sich selbst und nicht in gesellschaftlichen Kontexten handelten. Erst durch Öffentlichkeit ist es ihnen möglich, den „kulturell bereitstehenden Reichtum an Erfahrung und Erkenntnis“ zu nutzen.88 In einem solchen Verständnis wird Öffentlichkeit auf die symbolische Gesellschaftsintegration in der Lebenswelt nicht nur rückbezogen, sondern gleichsam als ein zentraler Modus dieser Integration ausgezeichnet und normativ aufgeladen. Öffentlichkeit meint vor diesem Hintergrund „[…] kategorial die Gesamtheit aller Verständigungsprozesse, die sich auf kollektive Problemlagen sowie normative und praktische Fragen gesellschaftlicher Handlungskoordination beziehen“.89 Sie vertritt einen gesellschaftsweiten Allgemeinanspruch, der sich aus ihrer Kopplung an die Verwendung der Umgangssprache speist.90 In Öffentlichkeit können potenziell alle Themen von allen Mitgliedern der Gesellschaft ‚zur Sprache‘ gebracht und somit auf den Prüfstand eines rationalen Verständigungsprozesses gestellt werden. In der Formulierung dieses idealtypischen Modells (bürgerlicher) Öffentlichkeit kann, so Calhoun, der zentrale theoretische Beitrag und Ertrag der Habermas83 84 85 86 87 88 89 90
Vgl. Heming 1997, S. 38 Schmalz-Bruns 1995, S. 39 Vgl. Habermas 1990, S. 268 Vgl. Pöttker 2000b, S. 26 Franz 2000, S. 7 Pöttker 2000b, S. 25 Heming 1997, S. 5 Vgl. Pöttker 2000b
1 Die Idee der Öffentlichkeit
113
schen Studie gesehen werden.91 Die immense Bedeutung des Idealtypus der bürgerlichen Öffentlichkeit für das Verständnis der Moderne hebt auch Baum hervor: In den Vorstellungen von Öffentlichkeit kristallisieren sich die normativen Fundamente moderner Demokratien – vor allem hinsichtlich der Teilhabe mündiger Staatsbürger – heraus.92 Mit der bürgerlichen Öffentlichkeit wird historisch idealtypisch eine soziale Sphäre beschrieben, in der Beteiligungsrechte aufgeklärter Bürger eingelöst zu werden schienen, die in den Gesellschaftsvertragstheorien nur abstrakt formuliert wurden. Jeder Bürger hatte in der Öffentlichkeit das Recht, sich zu allen Belangen des Gemeinwesens zu äußern; die öffentliche Debatte über die Gestaltung des Zusammenlebens bildete einen wesentlichen Fokus dieser Zeit. In ihr etablierte sich – freilich mehr als literarisch beschworenes Ideal, denn als historische ‚Wirklichkeit‘ – die regulative Idee einer inklusiven, sich politisch selbst steuernden Gesellschaft, deren Kommunikation auch den Geltungsbereich politischer und ökonomischer Macht einzuhegen versprach. Schon die Öffentlichkeit eines Gedankens selbst galt den Aufklärern als Beleg seiner Gerechtigkeit.93 In der Etablierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit ist der Gedanke ihrer radikalen Verwirklichung – der kommunikativen Verflüssigung von Macht- und Herrschaftsansprüchen, der argumentationsgestützten Revision gesellschaftlicher und politischer Entscheidungen, der rationalen Begründung gesellschaftlicher Prinzipien des Zusammenlebens, der Bewährung von Traditionen auf dem Prüfstand des Räsonnements – immer schon angelegt. Das daraus erwachsende Verständnis von kommunikativer Macht, die sich der bis dahin ‚unbegründeten‘ Gewalt staatlicher Herrschaft entgegenstellt, ist entlehnt bei Hannah Arendt, die in ihrem Konzept des Politischen normativ die Verständigungspraxis aller Gesellschaftsglieder beschreibt.94 Arendt verortet Macht im Miteinander: „[…] Macht aber besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen den Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen.“95
Habermas arbeitet heraus, inwieweit sich Arendts emphatischer Praxisbegriff auf Strukturen von Öffentlichkeit bezieht, die einen unverstellt kommunikativen Verständigungsprozess ermöglichen, aus dessen Lebensweltlichkeit heraus kommunikative Macht erwachsen kann.96 Vor dem Hintergrund eines solchen Primats des spontanen öffentlichen Miteinanders wird jede Form der Abschottung oder Eingrenzung, jeder Versuch des Arkanums, öffentlich begründungsbedürftig, sofern nicht der sich von kommunikativer Macht unterscheidende, institutionalisierte und sozial legitimierte Gebrauch funktionalistisch verstandener politischer oder sozialer Macht die Grundlage bildet. Die Idee der Öffentlichkeit dringt regulativ auf ihre
91 92
93 94 95 96
Vgl. Calhoun 1992b, S. 10: „Though the book has perhaps been more often read for its account of the degeneration of the public sphere, the earlier argument about its constitution is both more original and more interesting.” Vgl. Baum 1994, S. 88f.: „Jeder sollte öffentlich sprechen können. Und derjenige, der über Fragen des Gemeinwesens, der Gesellschaft sowie der Staatsordnung diskutierte, tat dies als Bürger, der sich in den politischen Meinungsstreit einbrachte. Während der Angehörige des Bürgertums ‚bourgeois‘ und ‚citoyen‘ in einem verkörperte, kristallisierte sich in der Sphäre der Öffentlichkeit vor allem jene Rolle des Staatsbürgers heraus, die – qua Rede – jedermann einnehmen konnte.“ Vgl. Kant 1968 [1783] Vgl. Arendt 1993, S. 39ff. Arendt 1981 [1958], S. 252 Vgl. Habermas 1978 [1976], Bischoff (1999) markiert als entscheidenden Unterschied, dass Arendt Öffentlichkeit ambivalent sehe, weil kommunikative Macht durch Meinungskonformität auch problematisch werden könne, während Habermas die öffentlich entfaltete kommunikative Macht durchweg positiv konnotiere.
114
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
gesellschaftliche Umsetzung. Öffentlichkeit wird so zum demokratischen Prinzip.97 Habermas knüpft die Entfaltung dieser neuen sozialen Strukturen eng an die Entwicklung eines modernen Journalismus.98 Denn erst durch eine regelmäßige Berichterstattung konnte sich die bürgerliche Öffentlichkeit gegenüber der repräsentativen soweit entfalten, dass sie zu einem gesellschaftsprägenden Strukturprinzip werden konnte.
1.3
Journalismus und Öffentlichkeit
Schon Robert E. Prutz hat in seiner Fragment gebliebenen ‚Geschichte des deutschen Journalismus‘ auf die Bedeutung eines selbstbewussten Journalismus hingewiesen, der sich nicht mehr auf das unveränderte Vervielfältigen einlaufender Nachrichten beschränkt, sondern sich selbst ein Publikum sucht und den Nachrichtenstoff entsprechend bearbeitet, einordnet und bewertet: Erst durch den Journalismus sei die „theoretische Betheiligung des Publikums an den Ereignissen der Geschichte, diese Neugier für die Geheimnisse des Staates, dieses Interesse für alle politischen Zustände und Begebenheiten“ entstanden, durch das sich erstmals ein „Publikum“ in Deutschland habe bilden können.99 Presse erscheint so als ein Mittel der Teilnahme am Gesellschaftlichen. Groth sieht in Prutz daher einen Vordenker der demokratischen Aufgaben einer freien Presse: Das „Maß aller journalistischen Dinge“ sei für Prutz „der Nutzen für das Volk, für dessen gesamte Höherentwicklung, für die Demokratie“, schreibt Groth in seiner ‚Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft‘.100 „Stimme des Volkes soll der Journalismus sein, aber nicht mit einer mechanischen Wiedergabe des Gehörten, Empfangenen. Der Journalismus ist für Prutz nicht ein passives, neutrales Mitteilen der Ereignisse und Zustände, der Wünsche und Hoffnungen, nicht bloß ein Widerspiegeln dessen, was sich im Volke begibt und regt, sondern ist Lebendiges, Bewegendes, Aktives. Er ist der Wortführer der Zeit und ihrer Stimmungen, das ‚Orakel der Unzähligen, die zu keiner eigenen Einsicht in den Verlauf der Dinge gelangen können‘, und so wird er zum Schöpfer der öffentlichen Meinung, zum Schöpfer eines allgemeinen Geistes des Publikums. Das Interesse am politischen Geschehen ist erst durch den Journalismus, speziell durch das Zeitungswesen, überhaupt zu Wege gebracht worden.“101
Prutz beschreibt damit als einer der ersten zeitungskundlichen Autoren die Bedeutung des Journalismus für die Etablierung einer modernen Öffentlichkeit. Diese Bedeutung erstreckt sich sowohl auf Öffentlichkeit als Zeitgespräch der Gesellschaft (1) als auch auf die Öffentlichkeit beigemessenen Vernunfts- und Rationalisierungsorientierung (2).
1.3.1
Journalismus und öffentliches Zeitgespräch
Grundlage einer modernen Öffentlichkeit sind die öffentlichen Gespräche der Bürger – zunächst wie dargestellt über Fragen von Kunst und Literatur und im historischen Verlauf 97 98
99 100 101
Vgl. Baum 1994, S. 87 Auch andere Autoren sehen gesellschaftliche Umbrüche eng mit medialen Neuerungen verzahnt. Schanne (2001, S. 53) z.B. sieht eine grundsätzliche Korrelation von sozialen und medialen Veränderungsprozessen. Aus historisch-materialistischer Sicht interpretiert der DDR-Forscher Bialowons (1969) das Pressewesen als Ausdruck eines bürgerlichen Klasseninteresses. Prutz 1971 [1845], S. 17 Groth 1948, S. 188 Ebd., S. 178
1 Die Idee der Öffentlichkeit
115
auch über politische, wirtschaftliche und soziale Belange. In der durch diese Gespräche gewährleisteten sprachlichen Koordination des gemeinsamen Handelns sieht Habermas den Schlüssel zur Integration moderner Gesellschaften. Die Presse zeichnet er als eine der zentralen Institutionen dieser neuzeitlichen ‚Gesprächsöffentlichkeit‘ aus.102 Neben den Briefkorrespondenzen der ‚Gelehrten Republik und den Diskussionen der Vereine bildete sie die dritte Diskussionsebene der Aufklärungsgesellschaft, wie auch Wehler betont.103 Journalismus schuf somit – keineswegs nur in technischer Hinsicht – die Voraussetzungen dafür, dass das Gespräch der Zeitgenossen räumliche und auch zeitliche Restriktionen sprengen konnte und sich damit aus face-to-face-Situationen heraushob. Folgt man dem idealtypischen Verständnis der am Gespräch orientierten Öffentlichkeit, dann bot die Zeitung (im alten Verständnis als ‚Nachricht‘104), wie Engelsing anmerkt, nicht nur „Stoff für das Gespräch, sondern war Ursache des Gesprächs“, dann war sie „[…] nicht nur Gesellschafterin, sondern sie schuf Gesellschaft“.105 Hinweise auf die besondere Rolle der Presse in der Gesprächsöffentlichkeit treten im historischen Rückblick am auffälligsten in dem Aspekt zutage, dass viele der räsonierenden Zeitschriften des Bürgertums sich aus Gesprächszirkeln heraus entwickelt haben, um deren Räsonnement weiter zu verbreiten. Aber auch der Nachrichtenjournalismus kann entweder als Bestandteil eines gesellschaftlichen Gesprächs oder aber als dieses Gespräch selber beschrieben werden. Die Presse ist mit der integrierenden Funktion der Öffentlichkeit eng verknüpft. Sehr allgemein formuliert bedeutet dies: Dadurch dass Journalismus in der Lage ist, durch Informationsvermittlung für Orientierung in einer komplexen Welt zu sorgen, schafft er auch die Voraussetzungen dafür, dass sich Menschen in der Gesellschaft zurechtfinden. „Die Zeitung wird durch ihre Universalität ein hervorragendes sozifizierendes Instrument, trotz mancherlei späteren Erfindungen immer noch das wirksamste, den Menschen in seine Gesamtheiten einzugliedern und in ihnen zu erhalten. Die Zeitung unterrichtet beständig nicht nur über unsere ‚Umwelt‘, sondern in erster Linie über unsere ‚Mitwelt‘. So ist sie die nie ruhende Gegenspielerin sozialer Verbindung gegen die Abschließung der einzelnen, gegen die Atomisierung unserer Gesellschaft, dies um so mehr, weil das, was sie bringt, ja bereits irgendwie sozifiziert, bereits unter irgendwelchen sozialen Gesichtspunkten und Einflüssen ausgewählt und vorgeformt ist. Die Universalität gibt uns Kunde von den zahllosen Beziehungen, in denen wir bewußt oder unbewußt zu unseren Mitmenschen stehen […].“106
102 103
104
105 106
Vgl. Habermas 1990, S. 275; ders. 1973 [1964], S. 65ff. Vgl. Wehler 1987, S. 327: „Eine unablässig anhaltende Debatte vollzog sich in den Zeitschriften und Zeitungen, in den Büchern und Broschüren. Hier wurden bestimmte Dauerthemen behandelt: die Orthodoxie der Konfessionen, die Willkür selbstherrlicher Duodezpotentaten, die Ungerechtigkeit im Verhältnis von Adel und Bürgern. Ständig kamen neue Streitpunkte hinzu: die Misere der Unehelichen, die Stellung der Frauen, der Kampf gegen Vorurteile und Luxus. All das drang dank der verdichteten öffentlichen Kommunikation bis in den abgelegensten Winkel.“ Der Begriff ‚Zeitung‘ wird vor allem von der Zeitungswissenschaft nominalistisch verwendet. Er bezeichnet nicht den alltagssprachlich benannten Kulturkörper. ‚Zeitung‘ ist hier kein Materialobjekt, sondern ein Formalobjekt, das nicht aus seinen künstlich geschaffenen und historisch wie sozial kontingenten „Manifestationsprothesen“ (Aswerus 1961, S. 86) heraus zu bestimmen sei (vgl. Braun 1958, S. 5). Auch moderne technische Formen wie Rundfunk und Fernsehen sind Darstellungsmittel des gesellschaftlichen Urphänomens ‚Zeitung‘“ (Aswerus 1960, S. 6). Zeitung beruht auf „[…] gesellschaftlicher Kommunikation, die im Austausch von Zeitungen, im Zeitunggeben und Zeitungnehmen sich vollzog und immer noch vollzieht“ (Wagner 1965b, S. 10). Dieser Zeitungsbegriff aus dem 17. und 18. Jahrhundert „[…] ist der Gesellschaft irgendwann zur Zeit Friedrich Schillers verlorengegangen“ (Glotz 1990, S. 253; vgl auch Prakke 1964, S. 351). Engelsing 1966, S. 278 Groth 1960, S. 168. Ähnlich äußert sich auch Engelsing (1966, S. 280) zur sozialen Integrationskraft der Zeitung: „Sie wurde der Markt einer Unterhaltung, für die der Marktplatz (im äußeren und im inneren Sinn) zu eng geworden war. Zwar war der Mensch durch seine Arbeit ein Teil der Gesellschaft, aber erst durch die Zei-
116
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Journalismus ist somit eine wesentliche Grundlage der öffentlichen Sphäre, in der vergesellschaftete Individuen versuchen, sich über Themen von allgemeinem Interesse oder spezifischer über Fragen des Gemeinwohls zu informieren, zu orientieren und gegebenenfalls zu verständigen. Journalistische Angebote erbringen grundlegende Leistungen, die den Individuen Orientierung überhaupt erst ermöglichen. Sie schaffen gesellschaftliche Kommunikationszusammenhänge, welche die Aufgabe und Funktionalität interpersonaler Kommunikation zur Orientierung auf einem meso- und makrosozialen Level nachbilden. Eine vergleichbare Betrachtungsweise hat früh Eingang in die zeitungswissenschaftliche Literatur gefunden: Die Gesprächsmetapher lässt sich beispielsweise bereits 1845 bei Prutz nachweisen, der schreibt: „Der Journalismus überhaupt, in seinen vielfachen Verzweigungen und der ergänzenden Mannigfaltigkeit seiner Organe, stellt sich als das Selbstgespräch dar, welches die Zeit über sich selber führt. Er ist die tägliche Selbstkritik, welcher die Zeit ihren eigenen Inhalt unterwirft; das Tagebuch gleichsam, in welches sie ihre laufende Geschichte in unmittelbaren, augenblicklichen Notizen einträgt.“107
Hier wird Journalismus als das Gespräch selber begriffen, wobei Prutz sich im weiteren Verlauf seiner Argumentation vor allem die Position des Historikers zu eigen macht, der in den journalistischen Produkten vergangener Tage die wesentlichen Debatten ihrer Zeit konserviert sieht. Er lässt offen, inwiefern diese professionell bearbeitet und gestaltet worden sind. Im 20. Jahrhundert ist das Konzept des Journalismus als Institut des gesellschaftlichen Gesprächs in Teilen der Zeitungswissenschaft wieder aufgegriffen worden: Für Groth ist das Periodikum ein „Sprechsaal, in dem sich die Partner treffen, ihre Ansichten, Kenntnisse und Erfahrungen austauschen und sich durch Aussprache über ihre Stellungnahme zu einigen versuchen“108. Auch Aswerus schließt an das von Prutz artikulierte Verständnis an, wenn er gesellschaftliche Kommunikation – die ‚Zeitung‘ im klassischen Sinne der Nachricht oder Mitteilung – als „Zeitgespräch der Gesellschaft“ konzipiert.109 „Bei dem Phänomen der gesellschaftlichen Kommunikation handelt es sich (1.) um ein gesellschaftliches Miteinander, das sich (2.) in einem Gespräch befindet. Insofern dieses Gespräch (3.) auf die zeitliche Gegenwart der Gesprächsteilnehmer bezogen ist und so ein Zeitgespräch darstellt, gewinnt diese Kommunikation zeitungswissenschaftliches Interesse.“110
Die Gesprächsmetapher ist regelmäßig zur Beschreibung des Journalismus herangezogen worden, ohne aber gleichermaßen über den Begriff auch eine gemeinsame theoretische oder modellhafte Vorstellung des dahinter stehenden Prozesses zu evozieren. Engelsing weist in seiner historischen Studie immerhin dezidiert darauf hin, dass die Zeitung in einem solchen Verständnis „allseitig teilnehmende Tätigkeit“111 provoziere und somit nicht auf hierarchischen, sondern reziproken Verhältnissen beruhe.112 Prakke hingegen konstatiert aus funktionalistischer Sicht: „Alle Publizistik ist Zwiegespräch“ und sieht gesellschaftliche Kommunikation grundsätzlich als einen Dialog zwischen Kommunikator und Rezipient.113
107 108 109 110 111 112 113
tung bekam er den gesellschaftlichen Zusammenhang zu fühlen und sah sich selbst als Glied und Repräsentant zugleich.“ Rager (1999b, S. 137) merkt aktuell an, dass der Zeitung ihr universeller Charakter angesichts zunehmender gesellschaftlicher Individualisierung mittlerweile im Wege stehen könnte. Prutz 1971 [1845], S. 7 [Herv. von mir, -cb-] Groth 1960, S. 566 [Herv. von mir, -cb-] Aswerus 1961, S. 86 Ebd., S. 88 [Herv. von mir, -cb-] Engelsing 1966, S. 23 Vgl. ebd., S. 277f. Prakke 1960a, S. 208
1 Die Idee der Öffentlichkeit
117
An derartige Konzeptualisierungen der Gesprächs- oder Dialog-Metapher ließe sich in einem handlungstheoretischen Journalismus-Modell anknüpfen, auch wenn diese Näherungsperspektive aufgrund ihrer problematischen Vereinnahmung durch die späte Zeitungswissenschaft114 weitgehend diskreditiert ist. Ein neu fundiertes Verständnis journalismusbasierter ‚Gesprächsöffentlichkeit‘ müsste zudem in der historischen Herleitung anschlussfähig sein an die differenzierungstheoretische Beobachtung, dass interpersonale face-to-faceKommunikation in komplexen Gesellschaften zur Steuerung und Koordination sozialer Prozesse nicht mehr ausreichend ist und dass daher interpersonale Gespräche auf einer anderen Ebene in journalistischen und medialen Kontexten ein Substitut finden.
1.3.2
Journalismus und die (kritische) Vernunft der Öffentlichkeit
Während das Verständnis von Öffentlichkeit als Zeitgespräch der Gesellschaft Journalismus eine vorwiegend vermittelnde Aufgabe zuweist, markieren Habermas’ frühe öffentlichkeitstheoretische Annahmen einen Ansatzpunkt für die Formulierung eines aktiveren Journalismusverständnisses.115 In ihnen ist die Idee eines gesellschaftlichen Gesprächs über Zeitbelange immanent mit einer räsonierenden Kommunikatorrolle verknüpft und explizit in einer zunächst makrosozialen Analyse der öffentlichen Sphäre und ihrer Transformationsprozesse angelegt. Von der konkreten historischen Sozial- und Medienanalyse ausgehend hat Habermas ein grundlegendes gesellschaftstheoretisches und -philosophisches Modell entwickelt, das in handlungstheoretischer Absicht auf einen kommunikativ verstandenen Handlungsmodus als koordinierendes Muster der Vergesellschaftung rekurriert. Es steht in einem direkten Zusammenhang zu den Annahmen hinsichtlich des historisch relevanten Räsonnements der Bürger in der frühen Neuzeit. Indem Habermas nämlich die vernünftige Handlungskoordinierung in den alltagsweltlichen Gesprächen der Bürger verortet, knüpft er in seiner soziologischen Gesellschaftskonzeption an eine liberale Aufklärungstradition an, die ihrerseits große Auswirkungen auf die Entwicklung der Presse selbst hatte, wie vor allem die einschlägigen Debatten zur Pressefreiheit zeigen.116 Fasst man die Grundideen bürgerlicher Öffentlichkeit zusammen, dann entwirft Habermas seinen Typus von Öffentlichkeit als ein Produkt des Räsonnements und des Emanzipationsstrebens des neuzeitlichen Bürgertums, die sich auch in den Bemühungen um eine räsonierende Verwendung der Pressestruktur wiederfinden. Er versteht die bürgerliche Öffentlichkeit in dieser historischen wie ideengeschichtlichen Rückschau „[…] als die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute […]; diese beanspruchen die obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit alsbald gegen die öffentliche Gewalt selbst, um sich mit dieser über die allgemeinen Regeln des Verkehrs in der grundsätzlich privatisierten, aber öffentlich relevanten Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit auseinanderzusetzen.“117
Neben das praktische Interesse der Information und der Orientierung in der gemeinsamen gesellschaftlichen Lebenswelt tritt mit dem Räsonnement auch ein emanzipatorisch-kritisches 114 115 116 117
Vgl. z.B. Wagner 1978; insbesondere darin Starkulla/Wagner 1978; kritisch Schreiber 1980. Vgl. Baum 1994, S. 88ff Vgl. Schneider 1966, der sein Buch explizit auch als geschichtswissenschaftliche Ergänzung zu ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ kennzeichnet, indem er einige der Lücken schließt, die Habermas in seiner Skizze der deutschen Entwicklung offenlässt. Habermas 1990, S. 86
118
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Element der Kommunikation, das implizit auf den Abbau von Verständigungsbarrieren und die Prüfung von Machtstrukturen hinsichtlich ihrer Begründbarkeit zielte. Auf diesem Nährboden konnte sich eine Publizistik herausbilden, deren Zugang zunächst nur durch die in der individuellen Sozialisation erworbene sprachliche Kompetenz geregelt schien.118 Baum versteht den räsonierenden schriftstellernden Journalismus daher auch als die flüchtige, aber faktische Verwirklichung kommunikativer Möglichkeiten in einem kurzen geschichtlichen Augenblick des Umbruchs: „Denn die im alltäglichen Sprachgebrauch zumeist stillschweigend geübte Unterstellung, wir könnten jeden Sachverhalt problematisieren, das heißt aus dem Gesprächsfluß isolieren und einem Diskurs zuführen, der schließlich eine Verständigung in Aussicht stellt, wird – wenigstens vorübergehend – im Journalismus praktisch wahr.“119
Diese Feststellung verweist darauf, dass die Etablierung der Idee bürgerlicher Öffentlichkeit durchaus historische Faktizität besitzt und sich nicht im Status einer regulativen Idee der sich liberalisierenden Gesellschaft erschöpft. Sie ist vielmehr Bestandteil „eines großartigen soziokulturellen Mobilisierungsprozesses“, der vor allem durch die „Verdichtung von Kommunikation“ gekennzeichnet ist, die sich aus der rasanten Entwicklung ergibt, der die Medien des 18 Jahrhunderts unterworfen sind.120 Vordergründig wird zunächst allein dem publizistischen Meinungsaustausch der Privatleute eine zentrale gesellschaftsbildende Funktion während der Umbrüche des Spätabsolutismus zugewiesen, in deren Verlauf zum Beispiel auch die (politischen) Zeitschriften des 18. Jahrhunderts „geradezu Kristallisationspunkte des geselligen Lebens unter den Privatleuten“ werden.121 Der in öffentlicher Kommunikation maßgeblich auch durch journalistisches Räsonnement entfaltete gesellschaftliche Praxiszusammenhang gewinnt gegenüber dem Staat an Bedeutung. Diese Idee der Öffentlichkeit etabliert sich als Prototyp des öffentlichen Vernunftgebrauchs, der ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘ als regulative Ideen sozial wirksam und lebendig bleiben ließ.122 Habermas begreift das Räsonnement des frühen Bürgertums keineswegs als historische Ausnahmesituation, sondern im Gegenteil als prototypischen Gebrauch der menschlichen Vernunftbegabung zu dem Zeitpunkt, zu dem dieses angesichts äußerer Umstände (Demokratisierung, Kapitalisierung, Individualisierung etc.) erstmals seit Jahrhunderten in gesellschaftlich relevanter Reichweite möglich war. Das vernünftige öffentliche Gespräch und sein journalistisches Substitut in der Öffentlichkeit können daran anknüpfend als zentrale Mechanismen der Vergesellschaftung und der sozialen Orientierung verstanden werden. Die Habermassche Studie nährt damit auf den ersten Blick die theoretische Hoffnung, dass sich im Rückbezug auf diesen Idealtypus auf der Grundlage einer kritischen Gesellschaftstheorie weiterreichende Annahmen zu Journalismus und Medien formulieren lassen. Journalismus könnte demnach vorsichtig als eine, ja vielleicht die zentrale Form eines öffentlichen Handelns verstanden werden, das auf Vernunftgebrauch und Verständigung durch Kommunikation ausgerichtet ist. In der Erörterung sind voreilige Schlüsse zu vermeiden. Die Herausbildung der bürgerlichen und räsonierenden Öffentlichkeit korrelierte zwar zeitlich mit der Periode des schriftstellernden und räsonierenden Meinungs-Journalismus, aber sie bedurfte andererseits als Vorbe118 119 120 121 122
Vgl. Baum 1994, S. 91: „Wer erst einmal öffentlich redete, folgte in erster Linie den Regeln der Sprache, deren Gebrauch allenfalls durch die Gewalt staatlicher Zensur beschränkt war.“ Ebd., S. 92 Wehler 1987, S. 303f. Habermas 1990, S. 140 Vgl. ebd., S. 119f.
2 Historische Grundlagen des Journalismus
119
dingung der referierenden Vermittlungs-Leistungen des Nachrichten-Journalismus. Der korrespondierende, faktenreferierende Journalismus der frühen Nachrichtenblätter bildete die wesentliche Verständnisgrundlage, die eine Entfaltung räsonierender Publizistik überhaupt erst ermöglicht hat. Über diese Feststellung hinaus finden sich aber kaum präzise Hinweise darauf, in welcher Art und Weise die Presse im Spektrum zwischen Referat und Räsonnement zu ihren konstitutiven Leistungen für die bürgerliche Diskursöffentlichkeit imstande ist. In den beiden zeitlich getrennt sich entwickelnden Journalismus-Modellen liegen die Ursprünge für zwei unterschiedliche Idealtypen journalistischen Handelns, entlang derer zum Teil noch heute die Debatten über die angemessene Aufgabe des Journalismus strukturiert werden. Hinter diesen beiden Möglichkeiten stehen höchst unterschiedliche Modellierungen. Nicht zuletzt deshalb liegt hier einer der ältesten Konflikte der Journalismusforschung begründet. Im Folgenden soll knapp auf die historische Genese des Journalismus geblickt werden, aus deren Interpretation sich idealtypische Journalismusverständnisse ableiten lassen, die lange Zeit die Journalismusforschung geprägt haben und besonders für handlungstheoretische Näherungen von fortdauernder Relevanz sind. Dabei geht es nicht um eine genealogische Journalismusgeschichte, sondern um schlaglichtartige Betrachtungen, die der Identifikation historisch angelegter Idealtypen dienen sollen.
2
Historische Grundlagen des Journalismus „Journalismus ist Produkt der bürgerlichen Öffentlichkeit und zugleich ihr Agent. Markt und Öffentlichkeit sind Medien, über die sich die bürgerliche Gesellschaft verständigt, Medien der Vergesellschaftung. Über den Markt werden wirtschaftliche Austauschbeziehungen vermittelt, über die Öffentlichkeit werden Kommunikationen vermittelt. Mit Bezug auf Markt und Öffentlichkeit bildet sich ein Publikum, das Güter und Dienstleistungen ebenso abnimmt wie Informationen.“123
Betrachtet man Öffentlichkeit und Journalismus als eng miteinander verwandt, dann ist zu erwarten, dass auch die Rahmenbedingungen ihres Aufkommens und ihrer Durchsetzung in Beziehung zueinanderstehen. Etablierung und Institutionalisierung von Journalismus und Medien, die sich bis ins 20. Jahrhundert hinein erstrecken, werden durch Faktoren bestimmt, die weitgehend auch für die Bildung bürgerlicher Öffentlichkeit relevant sind.124 • In wirtschaftlicher Hinsicht erhöht die Durchsetzung des Kapitalismus den Informationsbedarf und ermöglicht den profitablen privatwirtschaftlichen ‚Handel‘ mit Informationen. • In politischer Hinsicht wirken der Nationalstaat und die staatliche Bürokratie auf Journalismus zurück. Die abstrakten sozialen Gebilde moderner Staaten benötigen eine Vermittlungsinstanz zur Bevölkerung, da sie nicht an die Person eines Herrschers gebunden sind. • In kultureller Hinsicht weicht mit dem Buchdruck die mündliche Kultur des Mittelalters einer Schriftkultur. Doch weit darüber hinaus werden in der Neuzeit die traditionellen Wertemuster brüchig; kirchliche oder monarchische Interpretationen der Welt verlieren an Legitimation. Säkularisierung und Fortschrittsdenken begründen ein dynamisches Gesellschaftsverständnis, das die Welt grundsätzlich als veränderbar erachtet. Dadurch werden Reflexion und Diskurs wichtiger. Journalismus kann dazu beitragen, den Bedarf an Orientierung durch Vermittlung von Information und Meinung zu decken. 123 124
Blöbaum 1994, S. 126 Vgl. zum Folgenden ebd., S. 122ff.; Pürer/Raabe 1994, S. 20f.
120
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
•
Durch Veränderungen in den Bereichen Verkehr und Technik werden Grundlagen zur Durchsetzung journalistischen Handelns geschaffen. Das Nachrichtenwesen wird durch Post und später durch Telegraphie und Telephonie schneller und differenzierter. Die Reproduktionsbedingungen verbessern sich durch den Buchdruck im 16. Jahrhundert und später durch die Einführung neuer Drucktechniken und Papierherstellungsverfahren. Das Entstehen des Journalismus kann somit als eine Reaktion auf den neuzeitlichen Wandel verstanden werden, mit der die gestiegenen Informationsbedürfnisse eines bürgerlichen Publikums befriedigt werden sollten. Zugleich aber ist Journalismus auch ein Katalysator dieser Veränderungen, da er in seiner Fokussierung auf die Nachricht, die Neuigkeit, beinahe ausschließlich den gesellschaftlichen Wandel darstellt, dessen Produkt er ist.125 Journalistisches Handeln bestätigt und verstärkt so performativ die Grundlagen seiner Existenz. Auch Groth betont in seinen Annahmen zu den Ursprüngen des Journalismus – respektive der ‚Zeitung‘ als seiner ersten materiellen Form in der frühen Neuzeit – den Wandel und die zunehmende Segmentierung und Differenzierung von Gesellschaft: „Die Zeitung ist ein Kind der Neuzeit, Sie entsteht auf jener Stufe gesellschaftlicher Entwicklung, in der mit der Erweiterung und Komplizierung der Beziehungen die persönlichen Verkehrsmittel gegenüber den Anforderungen der Gesellschaft zu gering oder zu schwach werden und ihre Kraft, das gesellschaftliche Leben zu erhalten und zu tragen, verlieren, in der also die Glieder eines Ersatzes bedürfen, um ihre Verbindung aufrecht zu erhalten.“126
Die Entstehung des Journalismus wird von Groth an ein als anthropologische Grundkonstante interpretiertes Informations- und Orientierungsbedürfnis der Menschen gekoppelt, das in einer historisch kontingenten Situation mit den bis dahin genutzten Instrumenten nicht mehr befriedigt werden konnte. Diese Perspektive kann Plausibilität beanspruchen, wenn man die Entstehung erster journalistischer Formen auf das späte Mittelalter und den Übergang zur Neuzeit datiert. Damals wuchs aufgrund der „Verdichtung des Handels“ und der „Zunahme politischer Ereignisse von weitreichenden Konsequenzen“ das Informationsbedürfnis vieler Bürger stark an.127 Die ersten journalistischen Produkte können als Reaktionen auf diesen veränderten gesellschaftlichen Informations- und Orientierungsbedarf verstanden werden.128 Es gibt bislang keine hinreichend formulierte Berufsgeschichte des Journalismus129, allenfalls erste Systematisierungen130 oder Teil-Erhebungen131. Insbesondere für eine normative und handlungstheoretische Näherung an Journalismus ist das ein Manko: Ohne einen informierten Blick zurück auf die Anfänge des Journalismus lässt sich kaum nachvollziehen, warum dieser Handlungsmodus sich in seiner heute konkreten Form ausdifferenziert hat und wie er auf die regulative Idee einer räsonierenden Öffentlichkeit gerichtet ist. Zwischen den venezianischen 125 126 127 128
129
130 131
Vgl. Blöbaum 1994, S. 125f. Groth 1928, S. 19 Stöber 2000, S. 14 Alle diese Überlegungen allerdings müssen ex-post-Konstruktionen bleiben; nachträgliche Versuche, historische Prozesse mit Sinn aufzuladen. Einerseits existieren die Grundlagen, auf denen Journalismus beruht, wohl schon länger als die ersten Zeitungen; andererseits aber kann nicht davon ausgegangen werden, dass mit den ersten Produkten, die aktuell und öffentlich über Zeitgeschehen berichteten, auch gleich Journalismus als soziale Institution etabliert worden wäre. Vgl. für diese Feststellung Langenbucher 1993a, S. 312; Hömberg 1987, S. 627; Kieslich 1973, S. 119; Engelsing 1966, S. 39. Selbst in aktuellen Überblicks- und Einführungsartikeln zur Mediengeschichte wird die Berufsgeschichte des Journalismus nur am Rande gestreift. Schanne (2001, S. 64) zum Beispiel widmet in seiner Darstellung der ‚Mediengeschichte‘ gerade einmal vier knappe Sätze der Entwicklung des Journalismus. Vgl. Blöbaum 1994 Vgl. Requate 1995
2 Historische Grundlagen des Journalismus
121
‚scrittori d‘avvisi‘ (Avisenschreiber) der frühen Neuzeit, die in der Literatur als Vertreter der ersten ‚Journalisten‘ gesehen werden132, und Online-Nachrichtenredakteuren133 bestehen zwar zunächst keine augenscheinlichen Überschneidungen – und doch kann angenommen werden, dass beide Aufgaben erfüllen, die auch über mehrere Jahrhunderte hinweg zumindest rudimentäre soziale Gemeinsamkeiten besitzen.
2.1
Historische Entwicklungsphasen
Nach gängiger Lehrmeinung bildet sich das, was heutzutage als ‚Journalismus‘ bezeichnet wird, im Laufe der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus134; in dem Jahrhundert davor kam die periodische Presse ohne Redaktionen oder Selektionsprogramme aus. Postmeister und Drucker erledigten das Zeitungsgeschäft nebenberuflich, indem sie eingehende Nachrichten chronologisch bündelten und unbearbeitet vervielfältigten. In diesen Tätigkeiten lassen sich sowohl präjournalistische als auch teiljournalistische Handlungsmuster und Organisationszusammenhänge erkennen, die bis heute Relevanz besitzen. Als systematisierendes Schema einer Journalismusgeschichte kann noch immer die Arbeit von Baumert herangezogen werden, der bereits 1928 vier Phasen der journalistischen Entwicklung in Deutschland unterschieden hatte. In diesem Schema wird die Entwicklung des Journalismus anhand jeweils vorwiegend prägender Funktionen gegliedert.135 Dabei handelt es sich – auch wenn eine Einteilung in Phasen anderes suggeriert – nicht um einander ausschließende Charakteristika, sondern nur um tendenzielle Dominanzen, die zudem produktspezifisch sehr unterschiedlich verwirklicht sind: (1)
(2) (3) (4)
132 133 134 135
136
„Die präjournalistische Periode, die das Mittelalter und die beginnende Neuzeit umfaßt und im wesentlichen charakterisiert wird durch eine sporadische, grundsätzlich nicht berufsmäßige Nachrichtenbedarfs-Befriedigung des ‚großen Publikums‘ (im Sinne F. Toennies) einerseits und eine planmäßige, auf Fürsten- und Standesgruppen beschränkte, infolge technischer Leistungsspezialisierung (Nachrichtentransport, Schreibarbeit) oder charismatisch bedingter Geistesarbeit berufsmäßige Bedarfsbefriedigung andererseits. Die Periode des korrespondierenden Journalismus, die der Zeit des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts das Gepräge gibt und durch die relatorische Berichterstattung des außerhalb der Zeitungsunternehmung stehenden Korrespondenten gekennzeichnet ist. Die Periode des schriftstellernden Journalismus, die in die Blütezeit der Aufklärung fällt, den Niedergang der Avisenzeitung und die politische und berufliche Orientierung des Schriftstellerstandes in sich schließt. Die Periode des redaktionellen Journalismus, die in der nachmärzlichen Zeit einsetzt, den journalistischen Berufsbildungsprozeß vollendet und den Redakteur zum geistigen und beruflichen Hauptfunktionär im Journalismus werden läßt.“136
Vgl. Groth 1928, S. 10; Donsbach 1994, S. 66; Koszyk/Pruys 1969, S. 169 Vgl. Löffelholz u.a. 2003; Neuberger 2002a; 2000a Vgl. Blöbaum 1994, S. 86ff. Vgl. Baumert 1928. Er setzt sich damit auch von Prutz (1971 [1845]; S. 72) ab, der 1845 in seiner Fragment gebliebenen ‚Geschichte des deutschen Journalismus‘ eine ganz andere Systematik verfochten hat, die sich an der geistesgeschichtlichen Formation der jeweils betrachteten Zeit orientierte und zwischen einer abstraktreligiösen, einer ideell-ästhetischen und eine praktisch-politischen Phase differenzierte. Prutz weist darauf hin, dass Journalismus nicht isoliert von der geistesgeschichtlichen Verfassung einer Gesellschaft betrachtet werden kann, sondern dass diese vielmehr starke formative Einflüsse auf die öffentliche Kommunikation hat. Baumert 1928, S. 17. Schmolke (1987, S. 739) sieht im bis heute häufigen Rückgriff auf Baumerts Schema einen „[…] Indikator für den Bedarf nach dem, was wir als Kommunikationsgeschichte anstreben“. Auch jüngere
122
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Die ersten journalistischen Produkte beruhten demnach auf Vorläuferformen, die bereits in mittelalterlichen Kontexten zu finden sind.137 Erste teiljournalistische Muster prägten sich in der anschließenden Phase aus138, in der zunächst die Informationsbeschaffung durch die Korrespondenten im Mittelpunkt stand, während sich das Gewicht später auf die schriftstellernde und räsonierende Einkleidung und Ergänzung der ‚reinen Nachricht‘ durch die eigenständigen Gedanken und Meinungen des Autors verschob. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so Baumert, schlossen sich diese beiden Funktionen, ergänzt um die prononciertere Akzentuierung der (auch zuvor schon relevanten) Selektion von Nachrichten, in ausdifferenzierten Redaktionen zusammen zu einem redaktionellen Journalismus.139 In dieser Phase geht es um eine Weiterentwicklung der korrespondierenden Aufgaben angesichts komplexer werdender Vermittlungsumstände und um die Integration der beiden verschiedenen idealtypischen Aufgaben in neue organisatorische Zusammenhänge. Von idealtypischer Bedeutung sind insbesondere die beiden teiljournalistischen Handlungsmuster: Bereits der Avisenjournalismus führte zu einem redaktionell-technischen Aufgabenprofil, bevor der schriftstellernde Journalismus eine geistig-politische Seite zur Entfaltung brachte.140
137
138 139
140
Darstellungen berufen sich auf diese Systematik (vgl. Wilke 2000, S. 291ff.; Pürer/Raabe 1994, S. 32ff.; Fabris 1975; Schmolke 1987). Stöber (2000, S. 195f.) merkt an, dass die Bezeichnungen unglücklich und missverständlich gewählt sind. Auch Phase zwei und drei müssten noch als vorjournalistisch gelten. Erst in der vierten Phase kann von einer nennenswerten „Eigenproduktion publizistischer Inhalte durch Redaktionen“ ausgegangenen werden. Auch nach Baumerts (1928, S. 8) eigener Definition, der zufolge Journalismus der „Inbegriff der zur allgemeinen und aktuellen Nachrichtenbefriedigung erforderlichen geistigen Faktoren [ist], die in Ausübung von Korrespondenz, schriftstellerischen und redaktionellen Funktionen vornehmlich in der Tagespresse zusammenwirken“, müssen Phase zwei und drei defizitär erscheinen. Dennoch sollen hier Baumerts Bezeichnungen übernommen werden. Korrekter wären aber in der Tat Bezeichnungen wie „Periode der korrespondierenden Funktion des späteren Journalismus“ und „Periode der schriftstellernden Funktion des späteren Journalismus“. Um derartige Wortungetüme zu umgehen, wird die begriffliche Ungenauigkeit in Kauf genommen. Dabei kann zwischen zwei sozial getrennten präjournalistischen Formen, der populären Mundpublizistik auf Märkten und Volksfesten – vor allem der Bänkelgesang der Barden und fahrenden Leute – sowie den geschriebenen internen Korrespondenzen des Adels und der handeltreibenden bürgerlichen Stände unterschieden werden (vgl. Koszyk/Pruys 1969, S. 169; Baumert 1928, S. 21). Beide erfüllten Aufgaben, die auch für den heutigen Journalismus als konstitutiv angesehen werden, ohne aber schon eigenständig als journalistische Formen gelten zu können. Die Mundpublizisten waren in der Regel Ausgangspartner bzw. Quelle, Berichterstatter und Medium in einer einzigen Person. Nimmt man ihre Erzählungen als Ausgangspunkt der journalistischen Berufsgeschichte, dann lässt sich diese auch als Geschichte der Ausdifferenzierung dieser verschiedenen Rollen schreiben, regt Hömberg (1987, S. 625) an. Vgl. zur Frühgeschichte des Journalismus auch: Kieslich 1966. Pürer und Raabe (1994, S. 32ff.) ergänzen die Abfolge um eine fünfte Phase, deren Beginn sie etwa Mitte der 1970er Jahre verankern: eine Phase des redaktionstechnischen Journalismus, die sich angesichts der Veränderungen in der technischen Ausgestaltung abgrenzen lässt. Auf diese aktuelle fünfte Phase soll in den historischen Betrachtungen zum Strukturwandel der Öffentlichkeit zunächst nicht weiter eingegangen werden. Die Implikationen einer Weiterentwicklung des Journalismus werden allerdings im Untersuchungskapitel zu den systemischen Bedingungen journalistischen Handelns noch eine Rolle spielen. Ob eine solche fünfte Phase innerhalb der Systematik Baumerts überhaupt Sinn hat, sei an dieser Stelle dahin gestellt. Zweifel ergeben sich zumindest aus dem Umstand, dass Baumert die verschiedenen Phasen formal nach den erfüllten Funktionen des Journalismus voneinander abgrenzt und nicht nach den technischen Umständen ihrer Durchführung. Zum aktuellen Wandel des Journalismus vgl. allgemein die Beiträge in Behmer u.a. 2005 oder Hohlfeld/Meier/Neuberger 2002. Vgl. Baumert 1928, S. 83f.
2 Historische Grundlagen des Journalismus 2.1.1
123
Korrespondierender Journalismus
Für die historische Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit ist Habermas zufolge maßgeblich die Durchsetzung einer sachlich informierenden Presse in der Periode des korrespondierenden Journalismus verantwortlich.141 Eine „Presse im strengen Sinne“ war dabei für Habermas erst gegeben, „[…] seitdem die regelmäßige Berichterstattung öffentlich, wiederum: dem Publikum allgemein zugänglich, wird. Das aber geschieht erst Ende des 17. Jahrhunderts. Bis dahin ist der alte Kommunikationsbereich der repräsentativen Öffentlichkeit durch den neuen einer publizistisch bestimmten Öffentlichkeit nicht grundsätzlich bedroht. Die gewerbsmäßig vertriebenen Nachrichten werden noch nicht publiziert; die unregelmäßig publizierten Neuigkeiten sind noch nicht zu Nachrichten versachlicht.“142
Die heutzutage verfügbaren historischen Daten jedoch zeigen, dass sich ein derartig informierendes Zeitungswesen bereits zur Mitte des 17. Jahrhunderts voll entfaltet hatte und weitreichende Publizität des Politischen zu diesem Zeitpunkt als gegeben unterstellt werden konnte.143 Dass die Idee bürgerlicher Öffentlichkeit dennoch erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts aufkam, kann daraus erklärt werden, dass für diese Form der Öffentlichkeit die Nachrichtenpresse eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung ist. Die rein referierenden Medienangebote, die seit Beginn des 17. Jahrhunderts erhältlich waren, stellten für sich genommen kaum eine ernsthafte Anfechtung der etablierten repräsentativen Öffentlichkeit dar.144 In den gedruckten Nachrichtenblättern des 17. Jahrhunderts wurden einlaufende Korrespondenzen „unsortiert, unredigiert, unkommentiert“ aneinandergereiht.145 Gedruckt wurde, was seit der letzten Ausgabe an Neuigkeiten eingegangen war146; es gab von wenigen Ausnahmen abgesehen „keine Schlagzeilen, keinen typographischen oder illustrativen Blickfang, keine räsonierende oder an die Instinkte der Leser appellierende Berichterstattung, kaum unterhaltende Elemente“147. Die frühen Zeitungen konzentrierten sich auf die Übermittlung von Neuigkeiten, während der Streit der Meinungen eher über die nichtperiodische Publizistik der Flugschriften ausgetragen wurde.148 Kommentare wurden noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts von zeitgenössischen Autoren als nicht statthaft erachtet. So schreibt zum Beispiel Kaspar von Stieler 1695: 141
142 143 144
145 146 147 148
Habermas kritisiert den zuvor beherrschenden Sensationalismus der Einblattdrucke scharf. Diese Form der Berichterstattung hätte verhindert, dass Ereignisse rational behandelt werden könnten. Vielmehr seien sie in metaphysische Kontexte überhöht worden: „Damit wird die Neuigkeit der historischen Sphäre der ‚Nachricht‘ enthoben und, als Zeichen und Wunder, in jene Sphäre der Repräsentation zurückgenommen, in der eine ritualisierte und zeremonialisierte Teilnahme des Volkes an der Öffentlichkeit bloße, einer selbständigen Interpretation unfähige Zustimmung gestattet.“ (Habermas 1990, S. 73, Fußnote 35) Habermas 1990, S. 72 Vgl. Weber 2002a, S. 17f. Ukena (1977, S. 45) geht davon aus, „[…] daß seit Anfang des 17. Jahrhunderts eine ‚breite Öffentlichkeit‘ regelmäßig über aktuelles Geschehen informiert worden ist“. Vgl. Weber 1997b, S. 142f. Er vermutet, dass „die fehlende journalistische Aufbereitung der Nachrichten in den frühen Blättern“ ein wichtiger Grund dafür sein dürfte (Weber 2002a, S. 18). Insofern ist davon auszugehen, dass nicht die nachrichtliche Presse, sondern erst das Aufkommen räsonierender Journale die Veränderung öffentlicher Strukturen anzeigen, die sich dann in der Durchsetzung einer kritisch-aufklärerischen, bisweilen auch unterhaltenden (Volks-)Publizistik entfalteten (vgl. ebd.; Böning 1997; Pöttker 2002a). Weber 1999, S. 23 Vgl. Stöber 2000, S. 63 Böning 2000, S. 188. Durch die Art der Aufmachung in diesen frühen gedruckten Zeitungen blieb die „elitäre Struktur“ (Weber 1994, S. 51), die bereits die älteren handgeschriebenen Zeitungen gekennzeichnet hatte, weitgehend erhalten. Vgl. Weber 1999, S. 44
124
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus „Denn man lieset die Zeitungen darüm nicht / daß man daraus gelehrt und in beurteilung der Sachen geschickt werden / sondern das man allein wissen wolle / was sich hier und da begiebet“149
Qualitative Vermittlungserwägungen spielten zu Anfang ohnehin weder für die Korrespondenten noch für die Herausgeber der Zeitungen eine Rolle. Die Korrespondenten waren in der Regel Fachleute wie Beamte oder Militärs; sie schrieben „faktographisch und staubtrocken in ihrer Sprache, der des Diplomaten, Staatsrechtlers oder Offiziers, für ihresgleichen“ und hatten keinerlei Absicht, „[…] einem weniger einschlägig gebildeten Leserkreis entgegenzukommen“.150 Die Herausgeber der Zeitungen hingegen spekulierten vorwiegend auf ökonomische Gewinne und übernahmen die eingehenden Berichte unverändert, um Bearbeitungskosten zu sparen.151 Für Bürger, die über kein oder nur geringes Vorwissen verfügten, war angesichts des Fehlens von Gestaltungs- und Verständigungselementen die Barriere zur Rezeption von Zeitungen hoch. Es blieb dem Einzelnen überlassen, aus dem kontinuierlichen Fluss der Nachrichten das Wichtige herauszufiltern oder die Kontexte herzustellen.152 Formal trat Publizität zwar an die Stelle sozialer Exklusivität der Berichterstattung, materiell allerdings war es wohl zunächst nur einem kleineren Teil der Gesellschaft überhaupt möglich, die Berichte in den ersten Zeitungen angemessen zu rezipieren und zu verstehen. Auch wenn die frühe nachrichtliche und periodische Presse alleine nicht die Grundlage einer diskutierenden Öffentlichkeit bilden konnte, so begründete sie doch ein für ihre Entwicklung fundamentales Prinzip: Sie schuf die Möglichkeit, regelmäßig aktuelle Informationen zu beziehen, und machte den politischen Arkanbereich im Verlauf des 17. Jahrhunderts zumindest transparenter153; Informationen verloren zunehmend den Status der Exklusivität.154 Die lokalen und regionalen Grenzen mittelalterlicher ‚Öffentlichkeit‘ wurden angesichts der neuen Medien durchlässiger.155 Ein nach Ansicht von Wilke „irreversibler Prozeß der formellen medialen Institutionalisierung von öffentlicher Kommunikation“ hatte eingesetzt.156 149 150 151
152 153 154 155 156
von Stieler, Kaspar (1695): Zeitungs Lust und Nutz. o.O., Buch 1, Kap. 1. zit.n. Weber 1997a, S. 44f. Weber 2002a, S. 18 Die ursprüngliche Motivation zur Herausgabe der gedruckten Zeitungen war oft ökonomisch. Johann Carolus zum Beispiel führte in der Supplik an den Rat der Stadt Straßburg, in der er 1605 um Erlaubnis für die Herausgabe der heute als älteste Zeitung geltenden Publikation bat, ausschließlich betriebswirtschaftliche Gründe für sein Vorhaben an. Weber (2002a, S. 16) betont in seiner Auseinandersetzung mit der Supplik: „Das heißt aber zugleich: Nicht der Hauch eines journalistischen Gedankens steht am Anfang der gedruckten periodischen Nachrichtenpresse! Es handelt sich, wie bei der Avisenschreiberei, immer noch um ein reines Dienstleistungsgewerbe im Horizont vordemokratischen Herrschaftsinstrumentariums.“ Das entsprach zwar der Rezeptionsweise, die die Mitglieder akademischer Kreise anhand der handschriftlichen Avisen eingeübt hatten, ging damit aber weitgehend an den Kapazitäten der ‚einfachen‘ Bevölkerung vorbei, die bislang ausschließlich mit Einblattdrucken oder ‚Newen Zeitungen‘ in Kontakt gekommen war. Vgl. Weber 1997a, S. 13 Vgl. Weber 1999, S. 23 Vgl. Wilke 2000, S. 39 Wilke 1984a, S. 218. Mit den ersten periodischen Druckerzeugnissen wurde die Publizität, die öffentliche Verbreitung politischer Information so weit standardisiert und verstetigt, dass rückblickend eine eigenständige gesellschaftliche kommunikative und informatorische Infrastruktur rekonstruierbar ist Aufs Ganze betrachtet hatte die Etablierung des Zeitungsdrucks weitreichende Folgen auf den gesellschaftlichen Umgang mit Nachrichten, die sich in folgenden Entwicklungen niederschlagen: • „Institutionalisierung der Nachrichtenbeschaffung • Verselbständigung der Nachrichtenbeschaffung • Verstetigung der Nachrichtenübermittlung • Beschleunigung der Nachrichtenübermittlung • Verstetigung der Produktion
2 Historische Grundlagen des Journalismus
125
Die Nachrichtenpresse, die sich zunächst noch unter autokratisch-monarchischen Umständen entfaltete, bildete in der Folge eine Grundlage für die Aufklärungsziele einer entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit.157 Nachrichtenrezeption ermöglicht bereits eine „defensive Orientierung“ und „eine allgemeine Erweiterung des Welthorizonts“.158 Die frühen Zeitungen der von Baumert als Periode des korrespondierenden Journalismus bezeichneten Entwicklungsphase ragten durch „die Publizierung von Politischem bereits grundsätzlich aus dem Legitimations- und Funktionsgefüge traditionaler Herrschaftssysteme“ heraus.159 Politik und politische Akteure wurden so zum legitimen Gegenstand öffentlicher Diskussion der Untertanen. Eine Entwicklung, welche „die sozialpsychisch fundamentale Voraussetzung von Aufklärung und politischer Moderne“ markiert.160 In diesem Sinne gehörten die frühen Zeitungen noch nicht genuin zur Aufklärung, sondern sie bereiteten sie vor, indem sie sicher geglaubte Annahmen durch Berichterstattung in Frage stellten. Das rationale Räsonnement der bürgerlichen Öffentlichkeit beruhte auf einer Grundlage regelmäßiger Information, die von den Zeitungen gewährleistet werden konnte. Indem die frühe politische Zeitung diese Aufgabe erfüllte wurde sie zu „einem konstituierenden Medium der demokratischen Moderne“161 – obwohl ihre Geschäftsgrundlagen und ihre Handlungsspielräume noch beinahe vollständig von der absolutistischen Gesellschaftsordnung geprägt sind.
2.1.2
Schriftstellernder Journalismus
Erst in dem Moment aber, in dem sich auf Basis des informierenden Pressewesens ein Journalismus entwickelt, der für Verbindungslinien zwischen den versprengten Einzelnachrichten sorgt, sich auch um Fragen der Rezeptionsfreundlichkeit und der (literarischen) Aufbereitung kümmert, selbst dem Räsonnement verpflichtet ist und somit in eine Vorbildfunktion für die bürgerlichen Zirkel eintritt, entsteht eine publizistisch bestimmte bürgerliche Öffentlichkeit.162
157
158 159 160 161 162
• Herausbildung der Periodizität und der Verkürzung der Perioden • Beschleunigung der Produktion • Herausbildung und Verstetigung der Distribution • Verbilligung der Produktion • Formatierungen von Inhalten und Formen • Öffnung des Zugangs für neue und andere Publika“ (Schanne 2001, S. 57f.). Vgl. Blöbaum 1994, S. 145: „Dem Postulat der Aufklärung kommt die Nachricht entgegen. Sie entspricht dem Selbstverständnis der Aufklärung, sich Bildung in Form von Wissen anzueignen. Informationen werden vermittelt, und es bleibt dem Leser überlassen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Die Nachricht übernimmt diese Leistung, sie gibt Ereignisse ohne Beurteilung wieder. […] Mit der Nachricht bildet sich die journalistische Form, die gewissermaßen die Grundidee der Aufklärung konsequent umsetzt: die Vermittlung von Informationen, damit sich der Leser selbst aufklären kann.“ Weber 1997b, S. 144 Weber 1999, S. 33. Die Transparenz des Arkanbereichs der Politik verhindert Mystifizierung und macht Kritik möglich (vgl. Weber 2002a, S. 21f.). Weber 2002a, S. 22; ähnlich schon früher Blühm 1977, S. 62f. Weber 1999, S. 24 Vgl. Weber 1994, S. 153. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein verhinderten auch die Zensur und das Privilegienwesen in Deutschland, dass sich die Zeitungen der Meinungsäußerung und dem Räsonnement öffneten, während die Entwicklung in anderen Ländern, vor allem in England, schon deutlich weiter fortgeschritten war (vgl. z.B. die von Wilke 1984b dokumentierte Debatte über die Pressefreiheit.). Innerhalb der deutschsprachigen Publizistik aber wurde das Defizit an Orientierungs- und Deutungsangeboten, das für viele weniger gebildete Schichten aus der faktenorientierten und wenig einladenden Berichterstattung der frühen Zeitungen erwuchs, durch andere Medienangebote kompensiert, die das Vor- und Kontextwissen zum Verständnis der vorausset-
126
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Das geschieht, als Ende des 17. Jahrhunderts neben den korrespondierenden der schriftstellernde Journalismus trat, der nicht mehr nur der rein relatorischen Korrespondenzberichterstattung dienen sollte, sondern vor allem Aufgaben der Kommentierung und der rezipientengerechten Aufbereitung leistete.163 Viele seiner Protagonisten folgten den Idealen der Aufklärung und versuchten diese Ideale in dem Kreis derjenigen zu verbreiten, die für politische Veränderungen und Demokratisierung eintraten.164 Für Engelsing markiert dieser Übergang den Ursprung des Journalismus, den er geistesgeschichtlich im Publikationshandeln von Humanisten verankert, die nicht mehr nur für ein Gönnerpublikum schrieben, sondern sich an ein weiteres und allgemeines Publikum, an eine Öffentlichkeit, richteten.165 In der schriftstellernden Funktion liegt der Kern eines Journalismus-Ideals, das bis ins 20. und 21. Jahrhundert hinein große Bedeutung besitzt.166 Zunächst setzte sich das Räsonnement in den neu entstehenden Zeitschriften durch.167 Bis der schriftstellernde Journalismus auch den Referatsbereich der Zeitung maßgeblich prägen konnte, sollten noch mehr als 100 Jahre vergehen.168 Ziele des Räsonnements in kommentierenden und schriftstellernden Formate sind, Orientierung für die Leser zu gewährleisten und als ein Sprachrohr für gesellschaftliche Gruppen zu fungieren, die selbst keinen Zugang zur
163 164
165 166 167
168
zungsreichen Zeitungstexte lieferten. Das waren zunächst die historisch-politischen Journale, die seit den 70er Jahren des 17. Jahrhunderts herausgegeben wurden. Vgl. Baumert 1928, S. 35ff. Die Publizistik und der Journalismus der Aufklärungsepoche verbreiteten die neuen Ideen rasant. Akademiker begannen zunehmend selbst Zeitungen und vor allem Zeitschriften zu publizieren, mit denen sie in den Aufklärungsdiskurs einzugreifen gedachten (vgl. Greiling 2000, S. 83). Das Ergebnis war nicht selten eine soziale Exklusivität, durch die Zeitungen lange Zeit auch aufgrund ihrer Akademisierung gekennzeichnet waren. Blöbaum (1994, S. 164) pointiert diesen Umstand: „Bildungsbürger machen Zeitung für Bildungsbürger.“ Wie exklusiv ein derartiger Journalismus gewesen ist – darüber lassen sich allerdings sehr wohl divergierende Urteile finden. Während Blöbaum die aufklärerische Wirkung auf eine kleine Bevölkerungsschicht begrenzt sieht, beschreibt Engelsing (1966, S. 275) die inklusive und sich sukzessive selbst erweiternde Wirkung dieses Aufklärungshandelns. Vgl. Engelsing 1966, S. 46. Durch eine Akademisierung der Zeitungsschreiber wurde auch die Grenze zu ‚Publizisten‘ fließend, die nicht Nachrichten vermittelten, sondern Meinungen publizierten, um öffentliche Debatten zu beeinflussen (vgl. Weischenberg 1981a, S. 97; Koszyk/Pruys 1969, S. 170). Vgl. von Studnitz 1983, S. 186ff. In der nichtperiodischen politisch-räsonierenden Publizistik und in der regelmäßigen Zeitungsberichterstattung sind die Wurzeln der ersten deutschen politischen Zeitschrift zu finden (vgl. Weber 1994, S. 148ff.). Böning (1997, S. 155f.) verweist auf die Nachrichtenpresse, auf gelehrte Gesellschaften und gelehrte Briefwechsel als Wurzeln des Zeitschriftenwesens. Zeitschriften entlehnen ihre materielle Form der Zeitung und ihren inhaltlichen Stil des Diskurses der Gesellschaften. Vereinfacht formuliert: „politische Zeitschrift = (monatlicher) Zeitungsextrakt + Räsonnement“ (Weber 1994, S. 109). 1674/75 entstand mit dem ‚Verkleideten Götter=Bothen Mercurius‘ in Nürnberg ein eigenständiger Typus des historisch-politischen Journals; er kann als das erste „politisch diskursive Periodikum“ auf deutschem Boden, als „Urgestalt der politischen Zeitschrift“ begriffen werden (Weber 1994, S. 52). Neben den historisch-politischen Journalen entstanden auch die unterhaltsamen und erzieherisch wirkenden ‚moralische Wochenschriften‘, die über kulturelle Entwicklungen informierenden und kritisierenden ‚Rezensionszeitschriften‘ und die aufklärerischen und kritischen Gelehrten-Zeitschriften (vgl. Lindemann 1969, S. 182ff.; Wilke 2000, S. 76f.). Vgl. Groth 1948, S. 55ff. Insgesamt ist während des 18. Jahrhunderts zu beobachten, dass auch die bislang nachrichtlich orientierte Zeitung unter Veränderungsdruck geriet. Hatte sie sich bislang dem Räsonnement bis auf wenige Ausnahmen fast vollständig verschlossen, so bildete nun der so genannte ‚gelehrte Artikel‘ gleichsam das ‚Einfallstor‘, über das Kommentar und Meinung auch in die Nachrichtenblätter eindrangen (vgl. Böning 1997, S. 155). Diese Texte boten weiterführende geschichtliche, geographische oder auch biographische Informationen zu den meist kaum kontextualisierten und daher schwer verständlichen aktuellen Meldungen. Zum ersten Mal sind solche Anmerkungen als Textannotationen im Jahre 1700 in einer Leipziger Tageszeitung nachzuweisen (vgl. Weber 2002b, S. 131). Gegen Mitte des 18. Jahrhunderts hatten sich solche räsonierende Kommentare, die die Nachrichten begleiteten, in den Zeitungen etabliert (vgl. Böning 2000, S. 202).
2 Historische Grundlagen des Journalismus
127
öffentlichen Kommunikation hatten.169 Angesichts daraus erwachsender Erwartungen diente die Presse zunehmend nicht mehr nur der Nachrichtenübermittlung, sondern auch der Erörterung politischer Angelegenheiten.170 Wilke stellt einen „grundlegendem Funktionswandel von einem reinen Informationsmedium zu einem Medium auch der Meinungsbildung und der Unterhaltung“ fest.171 Journalistische Zeitungen und vor allem die neuen Zeitschriften wurden nicht mehr als Vermittlungsagenturen andernorts produzierter Nachrichten verstanden, sondern sie emanzipierten sich zu eigenständigen Plattformen gesellschaftlicher Diskurse. Die Presse der Aufklärungszeit nahm sich aktiv der Aufgabe an, zu orientieren und nicht nur Nachrichten, sondern auch Werte und Werturteile, seien es eigene oder seien es fremde, zu vermitteln. Neben das idealtypische Verständnis des profitorientierten Nachrichtendruckers trat hier der geistig unabhängige Journalist bzw. Publizist. In dieser Phase entwickelte sich damit erstmals ein eigenständiges Verständnis von Journalismus, das sich nicht mehr auf eine kommerzielle Nebentätigkeit bezieht, sondern als geistige, intellektuelle Arbeit gesellschaftliche Wirksamkeit anstrebt.172 In der Phase des schriftstellernden Journalismus wurde neben der geistigen Unabhängigkeit des Journalisten eine weitere grundlegende professionelle Maxime fundiert, die im Journalismus bis heute Gültigkeit beansprucht: die aufklärerisch begründete Popularisierung journalistisch-medialer Angebote, die ihren Ausdruck in vermehrten Anstrengungen um eine rezeptionsfreundliche Gestaltung der Berichterstattung findet. Das Ziel, so ein zeitgenössischer Autor, müsse eine „edle Popularität“ sein.173 Aus dem zunächst eher regulativen Prinzip unumschränkter Publizität wurde so zunehmend eine soziale ‚Tatsache‘, indem die Zugangsbarrieren durch Formate wie die ‚Moralischen Wochenschriften‘ oder die volksaufklärerische Publizistik gesenkt wurden.174 Gerade Journalismus wird an diesem historischen Punkt zum Träger öffentlicher Kommunikation, d.h. des Austausches über die Belange der gegenwärtigen Situation in praktischer, bisweilen emanzipatorischer Absicht. Der schriftstellernde Journalismus räsonierender Privatleute bildete somit ein zentrales Fundament der bürgerlichen Öffentlichkeit, seine Protagonisten waren Rollenvorbilder in einer sich aufklärenden und demokratisierenden Gesellschaft. Im Journalismus wurde die Rolle des politisch mündigen Staatsbürgers beispielhaft verwirklicht, urteilt Baum: „Insbesondere die gelehrten Schreiber eines aufgeklärten ‚literarischen Journalismus‘ wiesen (in Konkurrenz zu den herkömmlichen, nebenberuflichen Nachrichtentransporteuren: den Avisenschreibern sowie den staatlich alimentierten Intelligenzberufen) als erste jenen exemplarischen Weg, den, wenigstens der Idee nach, alle zu beschreiten vermochten. […] Wenn überhaupt irgendwo eine Verflüssigung tradierter Strukturen und Wertvorstellungen stattfand, dann wohl im Journalismus.“175
169 170 171 172 173
174 175
Vgl. Körber/Stöber 1994, S. 217 Vgl. Bücher 1926, S. 19 Wilke 1984a, S. 112 Vgl. Groth 1948, S. 86 Vgl. Journal von und für Deutschland 1791, zit.n. Blühm/Engelsing 1967, S. 139. Im Zusammenhang heißt es dort: „Deutlich, umständlich, ohne schleppend, fliessend, ohne fade zu seyn, in einem natürlichen guten Zusammenhang, anschauend und lebhaft, ohne ins Schöne zu mahlen, erzähle der Zeitungsschreiber. Vor allem sey er dessen eingedenk, was er als Volksschriftsteller zu beobachten hat, und befleissige sich als solcher einer edlen Popularität.“ Vgl. Pöttker 2002a Baum 1994, S. 89
128
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Die Zeitschriften waren der Ort, an dem im 18. Jahrhundert so intensiv wie nirgends sonst die künftige Entwicklung des Gemeinwesens diskutiert wurde. Sie boten nicht nur Informationen über gesellschaftliche Zustände, sondern Möglichkeiten des Austausches und der zunehmenden aufklärerischen Popularisierung intellektueller Debatten.176 Natürlich beruhte dieses öffentliche Gespräch auf dem Schein einer Gleichheit von Besitz und Bildung, die es faktisch nie gegeben hat, aber in seiner Logik folgte es vornehmlich den Regeln der Sprache, zu der die kommunikative Kompetenz des Individuums das einzige Zugangskriterium bildete.177
2.1.3
Redaktioneller Journalismus
Im 19. Jahrhundert veränderte sich das Profil des Journalismus erneut: Nachrichtensammlung und -verarbeitung waren nicht mehr nebenberuflich zu bewältigen, so dass neben die bisher zum Teil erfolgte Trennung zwischen Zeitungsverlegern und korrespondierenden oder schriftstellernden Journalisten178 eine deutlich weitergehende Ausdifferenzierung redaktioneller Arbeit tratt.179 Nicht mehr Korrespondenz oder Schriftstellerei, sondern die Redaktion bildet seitdem den „geistigen Schwerpunkt des Journalismus“, wie Baumert betont.180 Angesichts des stets anwachsenden Nachrichtenflusses in einer industrialisierten Welt, und angesichts der Verbesserungen des Nachrichtenwesens durch die neuen Korrespondenzbüros, sind es vor allem die Redakteure, die durch Auswahl und Bearbeitung des eingehenden Stoffes für Orientierung zu sorgen haben. Im redaktionellen Journalismus werden die beiden bislang weitgehend getrennten Journalismusfunktionen in neu entstehenden Redaktionen zusammengeführt und um eine weitere ergänzt. Der redaktionelle Journalismus integriert: • die korrespondierende Leistung in der nachrichtlichen Berichterstattung (Vermittlung, Referat), • die schriftstellernde Leistung in Kommentaren und Feuilletons (Räsonnement), • die redigierende Leistung in der Auswahl und Bearbeitung eingehender Nachrichten.181 Zum Hauptmerkmal der Redakteurstätigkeit wird vor allem die redigierende Leistung, das Auswählen und Bearbeiten fremder Texte:
176 177 178
179 180 181
Vgl. Böning 1997, S. 157 Vgl. Baum 1994, S. 91; vgl. auch Schneider 1992, S. 284: „Wie in der Antike, so gibt es am Ende des 18. Jahrhunderts wieder eine Öffentlichkeit der Sprache und der Sprechenden.“ Schon mit der Drucklegung der ersten Zeitungen kommt es zu Rollendifferenzierungen in dem Tätigkeitsspektrum, das später einmal die journalistischen Berufe umfassen wird: Während oftmals akademisch gebildete Korrespondenten nebenberuflich die Inhalte der Zeitungen und Einblattdrucke lieferten, wurden Herausgabe und Verlag ebenso wie – in seltenen Fällen – Aufbereitung und ‚Redaktion‘ von Druckern, Postmeistern oder Buchhändlern als Inhabern der Zeitungen organisiert (vgl. Weber 1997a, S. 23f.; Körber/Stöber 1994, S. 214; Hömberg 1987, S. 625). Mit der v.a. im 18. Jahrhundert einsetzenden Ausdifferenzierung verschiedener Medienangebote ging eine weitere Präzisierung journalistischer Berufsrollen einher. Vor allem den größeren und bedeutenderen Zeitungen und Zeitschriften war es angesichts der Vergrößerung des Lesepublikums und damit der Auflagen möglich, eigene Korrespondenten und Redakteure anzustellen oder zu finanzieren (vgl. Böning 1997, S. 154ff.); auch die Zeitungsverleger begannen sich zu akademisieren (vgl. Lindemann 1969, S. 32f.). Allmählich entwickelte sich das Zeitungsschreiben zum eigentlichen Hauptberuf bestimmter Gruppen – seien es diplomatische Vertreter oder Botschafter, Kaufleute oder Drucker, Studierende oder Professoren (vgl. Kieslich 1973, S. 124). Die Ausnahmen waren die schriftstellernden Journalisten, die ihre eigenen, meist kurzlebigen Journale oft ohne Rücksicht auf kommerzielle Hintergründe verlegten (vgl. z.B. Brandes 1987). Vgl. Hömberg 1987, S. 625f. Baumert 1928, S. 77 Vgl. ebd., S. 47ff.
2 Historische Grundlagen des Journalismus
129
„Mit Selektion beginnt Journalismus. Jeder Selektion, sei es Kürzen einer Nachricht, sei es die Bevorzugung einer Meldung vor anderen, liegt ein Entscheidungsprogramm zugrunde. In dem Maße, wie sich ein Handlungsprogramm herausbildet und verfestigt, entsteht moderner Journalismus. Die organisatorische Form, in der diese Programme realisiert werden, wird die Redaktion.“182
Das vom frühen redaktionellen Journalismus verarbeitete Textmaterial stammte wie bisher meist entweder aus ausländischen Zeitungen oder von Korrespondenten. Dass mit dieser stärkeren Bearbeitung des vermittelten Materials auch Veränderungen in der Form einhergingen, lässt sich exemplarisch daran nachweisen, dass die Nachrichten in den Zeitungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend an der angenommenen Wichtigkeit der Fakten orientiert wurden und weniger am chronologischen Referat. Vor allem in den neu entstehenden Tageszeitungen fanden sich journalistisch-redaktionelle Leistungen – mehr oder weniger stark ausgeprägt – wieder. Die redaktionelle Betreuung eines Blattes war ab Mitte des 19. Jahrhunderts schon deshalb notwendig, um sich durch die Gewährleistung entsprechender Qualität in der Berichterstattung am Markt behaupten zu können.183 Der redaktionelle Journalismus ist ein Kennzeichen der Verberuflichung des Handelns in der ökonomisch zunehmend attraktiven Massenpresse.184 Tätigkeiten im korrespondierenden oder schriftstellernden Journalismus waren in der Regel noch keine eigenständigen Berufe, sondern bildeten oftmals nur Durchgangsstationen oder Nebengleise zu anderen akademischen Tätigkeiten.185 Im Laufe des 19. Jahrhunderts aber verdrängten hauptberufliche Redakteure zunehmend die nebenberuflichen; der Beruf wurde direkter angestrebt, in jüngerem Alter ergriffen und oft als Lebensberuf ausgeübt.186 Die Durchsetzung der ‚Massenpresse‘ machte es notwendig, Redakteure zu festen Angestellten eines Verlegers zu machen. Sie gewannen so materielle Sicherheit, verloren aber zum Teil ihre Selbstständigkeit.187 Zeitungen wurden zu einem lukrativen Geschäft, weil technische Neuerungen hohe Auflagen ermöglichten188 und dadurch die Querfinanzierung der Vertriebsausgaben durch steigende Anzeigeneinnahmen möglich wurde.189 Ein Umstand, der Bücher Anfang des 20. Jahrhunderts zu seinem ebenso berühmten wie sarkastischen Diktum veranlasste, „[…] daß durch die ganze Presse hin die Zeitung den Charakter einer Unternehmung hat, welche Anzeigenraum als Ware produziert, die nur durch einen redaktionellen Teil absetzbar wird“.190 Das Ökonomische, das schon zur Entstehung der Zeitung geführt hat, wird nach dem Zwischenspiel der meist nur geringfügig marktgängigen Aufklärungszeitschriften wieder bedeutender für die Presse. In dem Moment, in dem das Presse- und Medienwesen angesichts weiter fortgeschrittener Demokratisierungs182 183 184 185
186 187 188 189 190
Blöbaum 1994, S. 136 Vgl. ebd., S. 142ff. Vgl. Körber/Stöber 1994, S. 219 Für die Epoche des frühen Journalismus gerade der Zeitschriften und Journale ist davon auszugehen, dass publizistische oder journalistische Tätigkeiten stark intrinsisch motiviert gewesen sein müssen, um die schlechten sozialen und materiellen Bedingungen, unter denen sie geleistet wurden, wenigstens annähernd zu kompensieren (vgl. Weber 1994, S. 78). Prototypisch zeigt sich das auch in den vielen Zeitschriften, die mit dem Namen ihres alleinigen Herausgebers und seinem Programm eng verknüpft sind, weil sie weniger einer abstrakten journalistischen Aufgabe dienen sollten, als der Durchsetzung konkreter politischer Ziele. Körber und Stöber (1994, S. 219) vermuten, dass auch die akademisch gebildeten Journalisten, die von den ersten Qualitätsblättern eingestellt wurden, nicht selten engagierte Demokraten oder Liberale waren, die sich zunächst keine Hoffnung auf eine anderweitige, z.B. staatliche oder universitäre Anstellung machen durften. Vgl. Requate 1995, S. 237 Vgl. Blöbaum 1994, S. 252 Vgl. Stöber 2000, S. 113ff.; Dröge/Kopper 1991, S. 85 Vgl. Stöber 2000, S. 156ff. Bücher 1926, S. 20f.
130
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
tendenzen von der Aufgabe der aktiven Durchsetzung politischer Ziele (wie der Pressefreiheit) zunehmend freigestellt ist, kann es sich im Zuge seiner Kapitalisierung stärker auf die profitorientierte Produktion von Angeboten für ein konsumierendes Publikum konzentrieren.191 An diese Entwicklung knüpft das Gros der damaligen zeitgenössischen und auch der nachfolgenden Pressekritik an.192 Auch Habermas steht in dieser Tradition, wenn er den ‚Verfall‘ der räsonierenden Öffentlichkeit zum kulturkonsumierenden Publikum vorwiegend der Entwicklung der Massenpresse anlastet.193 Geiger wiederum beklagt einen ‚Verrat‘ der Presse an ihrem ‚Beruf‘.194 Aus einem aufklärerischen Instrument sei im Zuge der Ausweitung der Leserschaft ein Agitationsinstrument geworden: „Es ist von untergeordneter Bedeutung, ob die journalistische Nebelbildung parteipolitischen Zwecken oder den Interessen einer das Blatt kontrollierenden Kapitalmacht dient oder endlich den Wünschen gewisser Großannonceure entgegenkommt. So oder so ist die wirklich unabhängige Tageszeitung zur seltenen Ausnahme geworden. Redakteure und besoldete Journalisten befinden sich in einer wenig beneidenswerten Lage. Zwischen dem, was ihr Publikum gerne lesen und dem, was ihre Brotgeber gerne gedruckt sehen wollen, bleibt ihnen wenig Spielraum.“195
Engelsing weist darauf hin, dass der Journalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur seinen Rezipientenkreis erweiterte, sondern zugleich seinem Publikum „über den Kopf wuchs“.196 In dem Maße, in dem sich ein eigenständiger journalistischer Beruf in Abhängigkeit kommerzieller Medienbetriebe herausprägte, endete auch die enge Zusammenarbeit mit dem Publikum, das lange Zeit weite Teile der Zeitungen und Journale selbst bestritten hatte. Die Zeitungsdrucker richteten sich in ihren Interessen an den Anzeigen der Wirtschaft oder aber an den Abonnenten der Parteien aus, um ihre Blätter am Markt erfolgreich zu platzieren. Die gewachsene Partnerschaft mit dem Journalisten wich einem dauerhaften Abhängigkeitsverhältnis des Journalisten.197 Die kommunikative Aufgabe des Journalismus gerät an diesem Punkt gegenüber der ökonomischen Profitlogik des sich entfaltenden Mediensystems ins Hintertreffen. Im Zuge dieser Entwicklung wurde die Einlösung des kommunikativen Versprechens des Journalismus der Aufklärungsepoche zunehmend durch instrumentelle technische wie ökonomische Imperative erschwert. Hinzu kam, dass die Fortsetzung eines unbeschränkten journalistischen Diskurses auch die vom Bürgertum neu errichtete Ordnung zu gefährden drohte und somit nicht mehr im Interesse seiner eigenen Trägerschicht liegen konnte. Auch der Journalismus wurde nach der Durchsetzung der bürgerlichen Ordnung den Mechanismen einer Rationalisierung und Modernisierung unterworfen, die, den Imperativen einer instrumentellen Logik folgend, die kommunikative Solidarität von Gesellschaftlichkeit aus dem Blick verloren hatte. Die Entfaltung und Etablierung des redaktionellen Journalismus scheint also zunächst einherzugehen mit einem vielfältig politisch und sozial verursachten neuerlichen Strukturwandel, in dessen Folge Öffentlichkeit nicht mehr das Ergebnis des
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Vgl. zu den Auswirkungen auf die Presse ausführlich: Baum 1994, S. 88ff. Vgl. z.B. Bücher 1926 oder Dovifat 1927. Anhand dieser beiden Autoren lässt sich auch exemplarisch zeigen, dass die Kritik an der Ökonomisierung der Presse keine Frage der politischen oder ideologischen Einstellung sein musste. Der Sozialdemokrat Bücher und der konservative Katholik Dovifat sind sich einig in der Verurteilung der Generalanzeigerpresse und ihrer vermeintlichen ‚Gesinnungslosigkeit‘. Vgl. Habermas 1990, S. 248ff. Vgl. Geiger 1949, S. 59ff. Ebd., S. 61 Engelsing 1966, S. 270 Vgl. ebd., S. 51
2 Historische Grundlagen des Journalismus
131
privaten und autonomen Räsonnements freier Bürger ist, sondern demonstrativ und manipulativ durch große soziale oder politische Machtapparate hergestellt wird.198 Im Hinblick auf die historische Etablierung idealtypischer Journalismus-Verständnisse ist diese Zerfallsanalyse weniger von Bedeutung. Zentral verknüpft mit der Annahme positiver gesellschaftlicher Effekte durch Öffentlichkeit sind vielmehr die journalistischen Teilaufgaben Vermittlung (Referat) und Räsonnement, die auch in Zeiten des redaktionellen Journalismus als Orientierungspunkte in jeweils einseitiger Überspitzung als ‚Generalanzeigerpresse‘ und ‚Gesinnungspresse‘ in normative Journalismuskonzepte und damit einhergehende mediale Institutionalisierung übersetzt worden sind. Die sog. ‚Gesinnungspresse‘ oder ‚Parteipresse‘ trat die Nachfolge der politischen Zeitschriften an, während die ‚Generalanzeigerpresse‘ dem Weg der frühen Nachrichtenblätter und der Intelligenzzeitungen folgte.199 In diesen Typen wird jeweils eine der historischen Wurzeln des Journalismus zum zentralen Gestaltungsprinzip erhoben, während die je andere in ihrer Bedeutung herabgesetzt wird. Diese apodiktische Differenzierung liegt auf der Linie einer auch in der Journalismusforschung auszumachenden folgenschweren idealtypischen Dichotomie, die sich nicht zuletzt auch aus der Verknüpfung des Journalismus mit unterschiedlichen Vorstellungen von öffentlicher Kommunikation herleiten lässt.
2.2
Dichotomie journalistischer Idealtypen
Der Versuch, idealtypisch makrosoziale Aufgaben und Leistungen des Journalismus und mikrosoziale Grundzüge des Handlungsmodus, der das Fundament des journalistischen Handelns bildet, zu identifizieren, muss formal bleiben. Es geht dabei schließlich nicht um das „Unwandelbare im Journalismus“200, sondern um das Gemeinsame verschiedener Stadien journalistischer Entwicklung, um Grundlagen öffentlicher Kommunikation und Vermittlung.201 Langenbucher hat derartige Beobachtungen im Blick, wenn er idealtypische Journalismusvorstellungen identifiziert, die bis heute als Teilkonstitutiva von Journalismus Gültigkeit beanspruchen können: die Erkundung der ‚Wahrheit‘, die Aufklärung der ‚Wahrheit‘ und die Verantwortung der ‚Wahrheit‘.202 In diesen ‚Metaphern‘ offenbaren sich vermeintliche Grundkonstanten, die über historische Kontingenzen hinweg regulativ ideale Wirksamkeit für sich beanspruchen können und Rudimente einer Ethik des Journalismus in sich tragen. Die Begrifflichkeiten Langenbuchers deuten eine formale Systematik an, der zufolge Journalismus wie jede Kommunikation auch der faktischen ‚Wahrheit‘ ihrer Realitätsbehauptungen (Erkundung), der 198 199 200 201
202
Vgl. Habermas 1990, S. 275. Dass dies zu apodiktisch ist, hat Habermas mittlerweile eingeräumt (ebd., S. 11ff.). Vgl. Pürer/Raabe 1994, S. 36; Dovifat (1990b [1932], S. 32f.) konstatiert für diese Zeit eine weitgehende Politisierung der Massenpresse; vgl. zu den Intelligenzblättern Petrat 1987. Wagner 1998 Wie im Fall des Idealtypus bürgerlicher Öffentlichkeit kann auch hier davon ausgegangen werden, dass sich die Idealtypen übersetzt als normative Ideale empirisch auffinden lassen. Es geht darum, möglichst abstrakt die Aufgaben beschreiben zu können, zu deren Erfüllung sich journalistisches Handeln etabliert und sozial ausdifferenziert hat. Vgl. Langenbucher 1993a, S. 312ff.; vgl. auch Pöttker 1998b; 2002b. Diese von Langenbucher bei Daniel Dafoe (Erkundung), den deutschen Jakobinern (Aufklärung) und dem („investigativen“) Reportagejournalismus des beginnenden 20. Jahrhunderts (Verantwortung) aufgefundenen Grundideen des Journalismus korrelieren in ihrem zeitlichen Verlauf mit der Entwicklung von der referierenden Korrespondenz über das schriftstellernde Räsonnement hin zu einem spezialisierten redaktionellen Journalismus. Im historischen Verlauf wechselten diese Tätigkeiten, so zumindest Baumerts Systematik, einander als Zentralkategorien des Journalismus ab.
132
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Prüfung ihrer intersubjektiven Richtigkeit (Aufklärung) und der subjektiven Wahrhaftigkeit des Berichts (Verantwortung) verpflichtet ist. Vor dem Hintergrund solcher geschichtlicher Betrachtungen kann es ein Ziel der Journalismusforschung sein, einen historisch herleitbaren Aufgaben- und Ideenrahmen des Journalismus auch systematisch auf der Basis soziologischer Theorie begründbar zu machen und so einem handlungstheoretischen Konzept näher zu kommen, das die Grundzüge der „kulturschöpferischen Leistung“203, die Journalismus darstellt, sozialwissenschaftlich systematisch und historisch informiert zu beschreiben vermag. Dazu lohnt im Rahmen der historischen Betrachtungen ein summarischer und die systematische Analyse vorbereitender Blick auf die idealtypische Frage nach der ‚Aufgabe‘ journalistischen Handelns. Letztlich ergibt sich aus der Entwicklung früher Journalismus-Konzeptionen eine Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Journalismus-Verständnissen auf der Ebene geringer massenmedialer Ausdifferenzierung, die unterhalb eines sich im späteren Verlauf entwickelnden redaktionellen Journalismus liegen und die in Grafik 2 dargestellt werden.
Grafik 2: Historisch-empirisch fundierte Idealtypen des Journalismus
[eigene Grafik, -cb-] 203
Langenbucher 1993a, S. 320
2 Historische Grundlagen des Journalismus
133
Das Ergebnis der im Verlauf dieses Kapitels bislang skizzierten Veränderungen des Journalismus ist die Etablierung einer idealtypischen Dichotomie zwischen den beiden historisch different gebildeten Journalismustypen: zwischen Vermittlung (Referat) und Räsonnement oder – modern – zwischen Nachrichten- und Kommentarjournalismus. Sedimente des korrespondierenden und des schriftstellernden Journalismus lassen sich jedenfalls als Idealtypen in der normativ argumentierenden Literatur immer wieder auffinden: sei es in der klassischen Trennung von Nachricht und Kommentar204, sei es im Selbstverständnis der Journalisten als Vermittler bzw. Aufklärer205, sei es in der Differenzierung zwischen ‚Tatsachenbehauptungen‘ und ‚Meinungsäußerungen‘ in der medienrechtlichen Würdigung. • Idealtypus I – Vermittelnder Journalismus: In diesem Verständnis wird die Frage nach der Aufgabe journalistischer Kommunikationsangebote auf eine Konstante zurückgeführt: die Befriedigung eines Informationsbedürfnisses von Bürgern durch journalistische Produkte. Journalistische Kommunikation verschafft Überblick in einer zunehmend unübersichtlicher werdenden Welt und stellt somit Information zur Verfügung, die dem Einzelnen in seinem sozialen Nahbereich nicht zugänglich wäre. Diese Begründung des Journalismus geht davon aus, dass journalistische Leistungen zur Koordinierung des eigenen Lebens in Gesellschaft notwendig sind und von den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern gesucht und nachgefragt werden. Es entbehrt nicht einer gewissen Plausibilität, wenn man das Referat, die faktengestützte Nachrichtenvermittlung (oder nach Langenbucher die Erkundung der ‚Wahrheit‘) als eine ursprünglich dem Journalistischen zugrunde liegende Idee und damit als einen ersten journalistischen Idealtypus betrachtet. Viele auf frühe zeitungskundliche und zeitungswissenschaftliche Modelle zurückgehende Erörterungen setzen hier an und konstatieren „den Primat der Nachrichtenpublizistik des Verlegers vor der journalistischen Meinungspublizistik“206 auf der Grundlage historischer Erörterungen. Die durch journalistische Vermittlung ‚hergestellte‘ Öffentlichkeit hinsichtlich bestimmter Themen oder Ereignisse erfüllt demnach vor allem die bereits beschriebenen Aufgaben der Orientierung über das Geschehen, das in einer hochkomplexen Gesellschaft der individuellen Wahrnehmung u.U. verschlossen bleibt. Kommunikation wird durch diese Vermittlungsleistungen auch über Institutions-, Milieu- oder gar Systemgrenzen hinweg zumindest möglich. Journalismus hat sich in diesem idealtypischen Verständnis als ein Kommunikation ermöglichendes Vermittlungshandeln eigener Kommunikativität weitgehend zu enthalten.207 Im Rahmen der von Baumert erarbeiteten Funktions-Systematik lässt sich auch
204 205
206
207
Vgl. zur Auseinandersetzung damit:Schönbach 1977; Pöttker 1999b oder Erbring 1989. Langenbucher (1974/1975, S. 258) hat diese idealtypische Grundunterscheidung als Differenz zwischen journalistisch vermittelndem ‚Mediator‘ und publizistisch räsonierenden ‚Kommunikator‘ thematisiert und dafür plädiert, die Vermittlung ins Zentrum des Journalismus zu rücken. Auch Wagner (1998, S. 99) sieht „eine Streitfrage von unmittelbar praktischer Relevanz“ in der Entscheidung darüber, ob Journalismus „Kommunikation als Beruf“ oder aber „Vermittlung von Kommunikation als Beruf“ ist und verweist damit auf die beiden Idealtypen Räsonnement und Referat zurück. Er entscheidet sich für Vermittlung von Kommunikation und weist Kommunikation dem Publizisten als Aufgabe zu. Eine solche Entscheidung ist nicht haltbar; sie betrachtet nicht ausreichend, dass die Vermittlung von Kommunikation bereits wieder Kommunikation ist. Schöne 1928, S. 56; vgl. d’Ester 1928, S. 109: „Das eigentliche Lebenselement der Zeitung ist die Nachricht. Es hat Zeiten gegeben, in denen es die Leser geradezu als Beleidigung auffaßten, wenn ein Zeitungsschreiber sich einfallen ließ, seine Meldungen zu kommentieren. Aber auch das Räsonnement ist oft von der Nachricht abhängig, wenn es auf dem Boden der Tatsachen bleiben will. Bevor der Politiker Leitartikel etwa über eine Reichstagsauflösung schreiben kann, müssen ihm die Meldungen von diesen Tatsachen vorliegen.“ Schon früh wurden entsprechende Postulate, sich in der Zeitung auf die unhinterfragte und unkommentierte Wiedergabe andernorts produzierten Inhalts zu konzentrieren, als Dogmen erhoben (vgl. Groth 1948, S. 14ff.). Eine der Hauptschriften ist Stielers ‚Zeitungs Lust und Nutz‘ von 1695. Vor allem der Druck der Zensur, die
134
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
die redigierende Funktion des Journalismus, mithin die Selektion und Bearbeitung des faktischen Nachrichtenstoffes, als professionelle Verfeinerung des referierenden Journalismus begreifen, die durch wachsenden Nachrichtenstoff nötig und durch die technisch-organisatorische Bildung von Redaktionen möglich wurde. • Idealtypus 2 – Räsonierender Journalismus: In diesem Verständnis wird Journalismus entweder als (aufklärerisches) Gesinnungshandeln moralisch motivierter Kommunikatoren oder aber als allgemeine öffentliche Inanspruchnahme kommunikativer Vernunft im Rahmen einer bürgerlichen Öffentlichkeit begriffen. Das kritische Räsonnement, die Absicht der „Aufklärung der Wahrheit“ (Langenbucher), hat wesentlich zur Etablierung des allgemeinen (Selbst-)Verständnisses des Journalismus beigetragen. Darüber hinaus reklamiert es gesellschaftliche und demokratische Relevanz insbesondere durch die enge Anlehnung an die Idee einer räsonierenden Öffentlichkeit als Konstituens eines demokratischen Gemeinwesens. In normativer Sicht kristallisierten sich aus den Kämpfen um diese Form des Journalismus die verfassungsrechtlich normierten Grundlagen journalistischen Handelns heraus.208 Der schriftstellernde Journalismus betont die emanzipatorisch-kritische Aufgabe des Journalismus und sucht in seinem aufklärerischen Impetus nach neuen, innovativen Vermittlungs- und Diskursformen. Die Umfunktionierung der bereits bestehenden vermittelnden Presse zu einem Fundament des Räsonnements markiert die zentrale Veränderung, die zu den gesellschaftstransformierenden Umbrüchen und zur Herausbildung der Idee einer bürgerlichen Öffentlichkeit führt.209 Journalistische Meinungsäußerungen sind aus dieser Perspektive Beiträge zum gesellschaftlichen Gespräch, ohne dass sie selbst dialogisch angelegt sein müssen.210 Dabei ist das Räsonnement der Presse historisch nicht mit dem heutigen Pressekommentar gleichzusetzen211; es ist weit umfassender zu begreifen und bezeichnete nach Schäffle „alle Seiten der Geistestätigkeit: Beobachtung, Berichterstattung über die beobachteten Tatsachen, logische Verarbeitung, Würdigung, Akte des Lobes und des Tadels, Willensbekundungen und Willenseinrichtungen, Aufforderungen und Warnungen“212. Das Räsonnement trennt nicht zwischen verschiedenen Darstellungsformen, sondern etabliert im Idealfall eine unverstellte und reflektierte Subjektivität des Autors, die sich in ihrem Streben nach Begründung der einzelnen Aussagen aber durchaus als ein Beitrag zu einer höherstufigen – argumentativ gestützten – Objektivität, zu einer aufgeklärten ‚Wahrheit‘, verstanden wissen will. Der Einzug des Räsonnements in die Zeitung markiert aus dieser Sicht für Groth
208 209 210
211 212
ökonomische Unsinnigkeit einer teuren Bearbeitung und die schlechte Ausbildung der frühen ‚Zeitunger‘ dürften dafür gesorgt haben, dass sich in den Anfangszeiten des Journalismus viele an derartige Postulate hielten. Dabei allerdings ist die materielle Seite zunächst vollkommen ausgeblendet worden, weil die Pressefreiheit als ein idealistisches Jedermannsrecht der Meinungsfreiheit konzipiert wurde (vgl. Kopper 1982, S. 64). Vgl. Habermas 1990, S. 83 Vgl. Groth 1960, S. 550: „Zunächst steht der ganze Nachrichtendienst der Zeitungen und Zeitschriften außerhalb des Gedankenaustausches, und auch im Räsonnement läßt sich für gewöhnlich nicht von einem ‚Gedankenaustausch‘ sprechen: Der Produzent des geistigen Gutes gibt ‚Gedanken‘ her, tauscht jedoch dafür nicht wieder Gedanken ein, sondern empfängt Geld, Anerkennung oder sonst ein anderes Gut, und sein Partner, der die Gedanken aufnimmt, gibt nicht wieder Gedanken her, sondern bezahlt den, der ihm die Kenntnis der Gedanken des anderen verschafft hat.“ Groth verweist auf die ungleichen Tauschverhältnisse, die sich aufgrund der prekären Stellung zwischen kommunikativer Freiheit und beruflicher Eingebundenheit ergeben. Vgl. zur Funktion des Pressekommentars: Eilders/Neidhardt/Pfetsch 2004; 1997. Schäffle zit.n. Groth 1928, S. 693
2 Historische Grundlagen des Journalismus
135
„[…] den Höhepunkt journalistischer Entwicklung, der den Kern der journalistischen Betätigung bildet, in dessen Durchsetzung sich der Sieg der Presse vollendet hat und in dem ihre größte Macht liegt. […] In ihm vereinigen sich am vollkommensten alle Funktionen der Presse.“213
Damit soll aber schon in den klassischen Journalismusstudien weder präjudiziert werden, dass im Räsonnement die Essenz des Journalismus liege, noch, dass mit seiner Durchsetzung ein Endpunkt der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung festzustellen sei. Allerdings wird anknüpfend an solche Beurteilungen die geschichtliche Entwicklung der Presse von manchen Autoren als Reifeprozess beschrieben, der ausgehend von einem wenig entwickelten Journalismus der Faktenvermittlung zu einem vermeintlich weitaus komplexeren Meinungsjournalismus geführt haben soll.214 Aus dieser Perspektive – die nicht notwendiger Weise ein inneres evolutionäres Prinzip unterstellt, sondern durchaus auch auf äußere Faktoren rekurriert – wird der Fokus nicht mehr auf das vermeintlich ‚Ursprüngliche‘ des journalistischen Referats, sondern auf den vermeintlichen ‚Höhepunkt‘ des journalistischen Räsonnements gelegt. Ausfluss der Dichotomie zwischen Vermittlung und Räsonnement sind heutzutage nicht zuletzt fest im journalistischen Berufsethos verankerte Trennungsgebote, zu denen auch das Gebot der Trennung zwischen Information und Meinung zählt.215 Auch kritische Kommunikationswissenschaftler argumentieren zu Recht gegen die Annahme solch klarer Unterscheidungen zwischen ‚objektiver‘ Berichterstattung und ‚subjektiver‘ Kommentierung: Die scheinbare Neutralität der nachrichtlichen Berichterstattung laufe nicht selten immanent darauf hinaus, den Status Quo zu stützen, „[…] indem sie die Macht des Faktischen anerkennt und eine Verurteilung dessen, was passiert, vermeidet“.216 Hinter dem Schleier der ‚neutralen Nachricht‘, die vorgebe, die geistige Autonomie des ‚mündigen Bürgers‘ bedingungslos zu respektieren, verberge sich die implizite Stärkung bestehender Strukturen. Abgelehnt wird vor allem die Idee der Ausgewogenheit, die manchem Vermittlungskonzept unterliegt und durch die Journalismus auf eine passive Verlautbarungsrolle reduziert werde, die sich an der Verteilung öffentlicher Aussagen, nicht aber an der Erkundung und Aufklärung sozialer ‚Wirklichkeit‘ orientiere.217 Viele Journalismuskonzepte rekurrieren erkenntnistheoretisch bis heute individualistisch auf die Einstellung, die der Journalist seinem Berichterstattungsgegenstand gegenüber einnimmt und einnehmen soll. Historische Journalismus-Vorstellungen finden auf diese Weise noch immer Eingang in normative journalistische Rollenbilder.
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Groth 1928, S. 693 Vgl. z.B. Groth 1948 Vgl. Pöttker 1999b. Dabei ist weder journalistische Subjektivität verwerflich, noch bedeutet der Verzicht auf eine Trennung von Nachricht und Kommentar einen Verlust an journalistischer Qualität. Das belegt das Beispiel der Schweizer NZZ, die in ihren Berichten auch Wertungen einfließen lässt und ungeachtet dessen zu einer der großen Qualitätszeitungen nicht nur im deutschsprachigen Raum zu zählen ist (vgl. ebd., S. 324f.). Erbring (1989) hingegen beklagt die mangelnde Trennung von Nachricht und Kommentar und sieht das als Ausdruck einer spezifischen politischen Kultur in Deutschland. Rager 1973, S. 252 Vgl. Aufermann 1982, S. 101. In dieser, meist erkenntnistheoretisch geführten Debatte, versuchen Autoren wie Bentele (1982) dichotomische Annahmen zu überwinden, indem sie darstellen, inwiefern menschliche Erkenntnis durch Standpunkt und Perspektive vorbestimmt ist und jeder ‚Realismus‘ insofern hypothetisch verbleiben muss. Zugleich halten sie die Forderung nach Objektivität und nach dem Offenlegen der Einflussfaktoren aufrecht. Das Trennungsgebot wird damit nicht in Frage gestellt, sondern lediglich modifiziert. Erschüttert werden Trennungsgebote durch die Postulate des Konstruktivismus, während eine Konsenstheorie der Wahrheit, wie sie hier zugrunde gelegt wird, zumindest einige der Maßstäbe zur Unterscheidung zwischen intersubjektiv nachprüfbarer und ‚verzerrter‘ Berichterstattung bewahrt. Darauf wird im weiteren Verlauf der Argumentation zurückzukommen sein.
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3
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Journalistische Rollenmuster
Die skizzierten Idealtypen bilden die Grundlage für journalistische Rollenmuster218, die von der historisch argumentierenden normativen Journalismusforschung bis in die 1970er Jahre hinein formuliert wurden und von fortdauernder Bedeutung sind. Diese Rollenmuster lassen sich empirisch aus der Praxis ableiten, bisweilen sind sie neben dieser deskriptiven Perspektive aber auch als Ideale in Journalismus-Studien und -Ethiken formuliert worden. Sie können auch als spezifische journalistische Einstellungen verstanden werden, die sich auf das Verhältnis des Journalisten zum Berichterstattungsanlass sowie zu den Rezipienten beziehen.219 Im Kern geht es der auf diese Fragen zielenden klassischen publizistik- oder zeitungswissenschaftlichen Literatur darum, präskriptive Muster journalistischen Handelns zu formulieren, die als Leitlinien in der Praxis Gültigkeit beanspruchen sollen. Sie basieren auf einer idealtypischen Dichotomie zwischen einem eher reaktiv reportierenden und einem eher aktiv meinungsorientierten Verständnis journalistischen Handelns, die bis zum Ende der Weimarer Republik auch faktisch als „ausgeprägte Dichotomie zwischen ‚Meinungspresse‘ und ‚Nachrichtenpresse‘, die durch den Anteil des Räsonnements am Zeitungsinhalt definiert wurde“, die Medienlandschaft in Deutschland kennzeichnete.220 Der Niederschlag, den das Erbe der Idealtypen in präskriptiven Rollen-Konzepten findet, die in der Praxis Relevanz entfalten, lässt sich exemplarisch in den unterschiedlichen Standpunkten in einem Disput zwischen Egon Erwin Kisch und Kurt Tucholsky nachlesen. Die angeschnittenen Fragen sind – je nach eingenommenem Standpunkt und akzeptierten Rollen218
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Soziale Rollen im hier verwendeten Sinn bezeichnen sozial vorgegebene Verhaltenskomplexe, die auf stabilisierten Werten beruhen, die ihrerseits zu Verhaltensnormen geronnen sind. Im Sinne der strukturell-funktionalen Soziologie, die ein entsprechendes Konzept weit entwickelt hat, werden Rollenerwartungen von den individuellen Akteuren als anzueignende Faktizität ihrer gesellschaftlichen Umgebung begriffen und internalisiert. Sie erleichtern Interaktionen dadurch, dass sie in einer potenziell multioptionalen Welt Handlungsalternativen kanalisieren und Interaktion für die Partner erwartbar machen (vgl. Peuckert 1995, S. 262). Rollen können dabei sowohl als zu internalisierender Zwang (vgl. Dahrendorf 1974) wie als externalisierende Eigen- und Situationsdefinition (vgl. Goffman 1983 [1959]) gesehen werden. Makrosozial sind Rollen systemisch definierte, starre und sanktionsbewährte Handlungsanforderungen, während sie mikrosozial als zwar vorfestgelegte, aber flexibel zu handhabende Darstellungsoptionen des individuellen Akteurs in der Interaktion betrachtet werden (können). Beide Perspektiven sollen im Blick behalten werden, um eine Vorfestlegung auf die Betrachtung von entweder Externalisierungs- oder Internalisierungsprozessen zu vermeiden. Der Weg über die Rollenverständnisse wird als eine viel versprechende Möglichkeit der Beschreibung journalistischen Handelns betrachtet, wie Rühl (1980, S. 65) ausführt: „Soziale Rollen sind […] Vorzeichnungen journalistischen Handelns. Sie verfügen über konstante, aber vor allem über variable Komponenten. Journalistische Rollen sind nicht in präzisen, unzweideutigen und unveränderlichen Festlegungen des Handelns zu reifizieren. Sie werden vielmehr von einem konstanten Kern selektiver Standards für das journalistische Handeln bestimmt. An der Gemeinsamkeit der Merkmale, die dieser Rollenkern aufweist, läßt sich erst journalistisches Handeln spezifizieren.“ Rühl weist darauf hin, dass der theoretische Fortschritt, der in einer Rollenanalyse liegen kann, keineswegs zu einem vollständigen Journalismusbild führen muss, da durch derartige Theoreme wichtige weitere Strukturbedingungen des Journalismus nicht in den Blick zu bekommen sind. Zwar erlaubt die Identifikation von Rollenkernen einen Abschied von Spekulationen über einen vermeintlichen Wesenskern des Journalismus, aber auch das bedeutet noch keine Sicherheit darüber, dass diese Rollenkerne auch den tatsächlich in der Empirie aufzufindenden Rollen(verständnissen) entsprechen (vgl. ebd., S. 67f.). Zwischen Selbstdefinition, Fremddefinition und empirischem Handlungsrahmen können Inkongruenzen bestehen; dargestellte Rollenverständnisse können zum Beispiel der ‚Verschleierung‘ beschränkter Handlungsoptionen dienen wie im normativen Individualismus Dovifats, genauso können sie aber auch der Besetzung von Handlungsspielräumen oder der Selbstbeschränkung dienen. Vgl. für eine Systematisierung von Berufsauffassungen auch Haas/Pürer 1996, S. 355ff. oder Kunczik 1988, S. 78ff. Schönbach 1977, S. 17
3 Journalistische Rollenmuster
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bild – wenn auch unter anderen Vorzeichen und in moderneren Begrifflichkeiten nach wie vor virulent. 1925 stellt sich der Sozialreporter Kisch im Vorwort zu seiner Sammlung ‚Der Rasende Reporter‘ mit emphatischen Worten auf den Standpunkt des neutral-vermittelnden Referats der Nachrichtenpresse und fordert die Erfüllung der Rolle des unbeteiligten Reporters als genuine Aufgabe des Journalismus: „Der Reporter hat keine Tendenz, hat nichts zu rechtfertigen und hat keinen Standpunkt. Er hat unbefangen Zeuge zu sein und unbefangene Zeugenschaft zu liefern, so verlässlich, wie sich eine Aussage geben lässt – jedenfalls ist sie (für die Klarstellung) wichtiger als die geniale Rede des Staatsanwalts. Selbst der schlechte Reporter – der, der übertreibt oder unverläßlich ist – leistet werktätige Arbeit, denn er ist von den Tatsachen abhängig, er hat sich Kenntnis von ihnen zu verschaffen, durch Augenschein, durch ein Gespräch, durch eine Beobachtung, eine Auskunft. Der gute Reporter braucht Erlebnisfähigkeit zu seinem Gewerbe, das er liebt. Er würde auch erleben, wenn er nicht darüber berichten müsste. Aber er würde nicht schreiben, ohne zu erleben. Er ist kein Künstler, er ist kein Politiker, er ist kein Gelehrter, – er ist vielleicht jener ‚platte Mensch‘ Schopenhauers, und doch ist sein Werk, ‚vermöge des Stoffes sehr wichtig‘. Die Orte und Erscheinungen, die er beschreibt, die Versuche, die er anstellt, die Geschichte, deren Zeuge er ist, und die Quellen, die er aufsucht, müssen gar nicht so fern, gar nicht so selten und gar nicht so mühselig erreichbar sein, wenn er in einer Welt, die von der Lüge unermesslich überschwemmt ist, wenn er in einer Welt, die sich vergessen will und darum bloß auf Unwahrheit ausgeht, die Hingabe an sein Objekt hat. Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts exotischer als unsere Umwelt, nichts phantasievoller als die Sachlichkeit. Und nicht Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit, in der man lebt!“221
Gegen diese Stilisierung der eigenen Reportagetätigkeit protestiert der politische Publizist und Autor der Weltbühne Kurt Tucholsky in einer Rezension aufs Schärfste. „Das gibt es nicht“, schreibt er in der Würdigung des Buches. „Es gibt keinen Menschen, der nicht einen Standpunkt hätte. Auch Kisch hat einen […]“ – manchmal sei das der des Schriftstellers, den Tucholsky tadelt; sehr oft der des Mannes, „der einfach berichtet“, den Tucholsky lobt.222 Generell aber gelte, dass sich auch der ‚nur‘ berichtende Journalist selbst durch eine noch so sachliche Berichterstattung nicht frei machen könne von subjektiven Einflüssen: „Aber wie ‚sachlich‘ man auch oder wie weit weg vom Thema man auch schreiben mag: es hilft alles nichts. Jeder Bericht, jeder noch so unpersönliche Bericht enthüllt immer zunächst den Schreiber, und in Tropennächten, Schiffskabinen, pariser Tandelmärkten und londoner Elendsquartieren, die man alle durch tausend Brillen sehen kann – auch wenn man keine aufhat –, schreibt man ja immer nur sich selbst.“223
Kisch und Tucholsky berühren hier epistemologische Fragen, mit denen sich die Journalismustheorie auseinandersetzen muss, und die sie daher stets in ihren Themenkatalog aufgenommen hat, wie Debatten um Realismus, Rekonstruktivismus und Konstruktivismus bis heute belegen.224 Darüber hinaus ist in der historischen Rückschau deutlich geworden, dass neben erkenntnistheoretischen Prämissen die Frage des Verhältnisses von vermeintlich ‚objektivem‘ Referat und vermeintlich ‚subjektivem‘ Räsonnement, die Kisch und Tucholsky debattiert haben, nicht nur, ja oftmals nicht einmal primär eine individuelle Entscheidung ist, sondern vorwiegend von politischen und sozialen Rahmenbedingungen abhängig ist. So waren viele der frühen Zeitungen vom reinen Weitervermitteln einlaufender Nachrichten gekennzeichnet, während auf dem Höhepunkt des Kampfes um Pressefreiheit und Demokratie beinahe jede 221 222 223 224
Kisch 1996 [1925], S. 7f. Tucholsky 1975 [1925], S. 48 Ebd., S. 49 Vgl. z.B. die entsprechenden Beiträge in Bentele/Rühl 1993.
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III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
journalistische Äußerung performativ zu einem Meinungsmittel in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung wurde. Darüber hinaus wird – zu Recht – der hier insbesondere von Tucholsky konstruierte Gegensatz von Subjektivität und Objektivität angezweifelt, der übersieht, dass es auch durch die reflektierte Subjektivität des Reporters hindurch zu einer ‚objektiven‘ Berichterstattung kommen könne, wie Pätzold im Anschluss an Kisch verdeutlicht.225 Dem Werk des Reporters kann natürlich eine „Tendenz der Tendenzlosigkeit“226 zugrunde liegen – diese ist aber sehr wohl in der Lage, subjektive und objektive Elemente im Interesse einer guten Berichterstattung miteinander zu verbinden, ohne dass die einen auf Kosten der anderen gehen müssten. Darauf wird ein Journalismusverständnis wert legen, das sich hinter die tradierten journalistischen Idealtypen zurück begibt, um sie – in allen Facetten des Begriffs – aufzuheben. Doch zunächst waren divergierende Vorstellungen bezüglich der normativ angemessenen journalistischen Handlungsrollen innerhalb des gesellschaftlichen Gesprächs, wie sie zwischen Kisch und Tucholsky zutage getreten sind, auch in der Entwicklung der Journalismusforschung keine Ausnahme. Der Umstand, dass der moderne Journalismus auf zwei historische Wurzeln zurückzuführen ist, hat der journalismustheoretischen Darstellung offenkundig Schwierigkeiten bereitet: Die unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie der Journalismus das gesellschaftliche Informationsbedürfnis zu befriedigen hat, sind bereits historisch gewachsen und deshalb für die heute als klassisch zu bezeichnenden journalismustheoretischen Entwürfe prägend. Die Unterscheidung zwischen dem Rollenmodell des referierenden und reportierenden Journalisten sowie dem Rollenmodell des räsonierenden und kommentierenden Journalisten, oder in moderneren Begriffen zwischen einer Vermittlerrolle und einer Kommunikatorrolle, ist in der Fach- wie in der Laiendiskussion normativ stark aufgeladen: Vor allem die Frage nach der Legitimation einer herausgehobenen journalistischen Möglichkeit der Meinungsäußerung wird kontrovers diskutiert. In der Auseinandersetzung geht es um die Frage, ob der Journalist und Publizist, der selbst als kommunikativer Partner am gesellschaftlichen Gespräch teilhat, das zu untersuchende Rollenbild darstellt, oder aber der vermittelnde und referierende Journalist, der einem Anwalt gleich zwischen den Kommunikationspartnern zu stehen hat.227
225 226 227
Vgl. Pätzold 1999, S. 146ff. Kisch zit.n. Pätzold 1999, S. 149 Dies ist vor allem in den 1960er Jahren der Kern der Auseinandersetzung zwischen Publizistik- und Zeitungswissenschaft (vgl. Boguschewsky-Kube 1990). Inwieweit die grundlegenden, in diesen Rollenmustern kondensierten Eigenschaften des Journalismus noch deutlich länger praktische Relevanz entfalten, lässt sich beispielhaft der Studie von Cecilia von Studnitz entnehmen, in der die Tradierung journalistischer Berufsbilder in der Literatur an den Berufsvorstellungen der Realität abgeglichen werden. Sie gelangt zu dem Ergebnis, dass bis zum Zeitpunkt ihrer Untersuchung in den frühen 1980er Jahren ein journalistisches Selbstbild angeführt wurde, dass den Grundzügen des unabhängigen, akademischen Journalisten der Aufklärungszeit entspricht. Dieses Bild ist von einem Teil der normativen Publizistikwissenschaft lange als anzustrebendes journalistisches Ideal konserviert und gegen die empirische Wirklichkeit verteidigt worden (vgl. vor allem die Aufsätze zur publizistischen Persönlichkeit in Dovifat 1990a) – Journalisten übertragen dieses Rollenbild, trotz der mittlerweile augenscheinlichen Diskrepanzen zum redaktionellen Alltag, in die Schilderungen über ihren Beruf und erwecken den Eindruck, sie würden diese Ideale einlösen wollen und können. Folgerichtig konstatiert von Studnitz eine berufskulturelle Ungleichzeitigkeit im Journalismus; ein „deutlicher ‚cultural lag‘“ sei zu registrieren, „ein Entwicklungsrückstand in Bezug auf die Theorie in einem Beruf, dessen materielle und strukturelle Grundlagen sich längst verändert haben“ (von Studnitz 1983, S. 187). Notwendig sei daher eine realitätsbezogenere Interpretation des eigenen Berufs – entweder durch den Verzicht auf tradierte berufsethische Forderungen oder aber durch deren forcierte und selbstbewusste Durchsetzung auch unter modernen Medienbedingungen.
3 Journalistische Rollenmuster 3. 1
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Journalistische Kommunikatorrolle
Die journalistische Kommunikatorrolle ist maßgeblich von der klassischen Publizistikwissenschaft formuliert worden, die in ihrer Modellierung journalistischen Handelns an den meinungsbasierten Beiträgen zum öffentlichen Zeitgespräch ansetzt.228 Ins Zentrum rückt die Analyse des Journalisten als ‚Publizist‘, als Kommunikator im gesellschaftlichen Gespräch. Er markiert die ideale Rollenvorstellung, von der aus gesehen andere journalistische Verrichtungen beinahe zwangsläufig als defizitär bewertet werden müssen. Anders als Habermas stellt die Publizistikwissenschaft nicht auf eine potenziell herrschaftsfreie Diskussion ab, sondern auf die einsinnigmonologisierende Persuasion der Publizistik, die als gesinnungsfeste Führungsaufgabe dazu berufener Menschen durchaus positiv bewertet wird. Der Kommunikator wird als ‚Erzieher‘ oder gar als ‚Führer‘229 konzipiert, der in unidirektionalen Kommunikationsprozessen persuasiv auf ein nicht näher spezifiziertes Publikum – oft eine ‚Masse‘ – einwirkt und dieses zur Tat anleiten soll.230 In der publizistikwissenschaftlichen Vorstellung eines durch die Trias Kommunikator – Medium – Rezipient bestimmten gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses werden Publizisten und Journalisten klar den Kommunikatoren zugerechnet. Das normative journalistische Rollenmodell der klassischen Publizistikwissenschaft ist ein Kommunikator, der sich mittels technischer Medien und öffentlich zugänglich in zumeist persuasiver Absicht an ein (oft unspezifisches) Publikum wendet. In der Regel wird dieser Kommunikator als individuelles Subjekt betrachtet, bisweilen aber auch als ‚Kollektiv-Subjekt‘ einer Medieninstitution, auf welche dann die individualistischen Annahmen übertragen werden. In diesem Zusammenhang wird mehrfach darauf verwiesen, dass Veränderungen in der technischen wie ökonomischen Infrastruktur und in der redaktionellen Arbeitsorganisation den Journalismus nicht nur publizistischen, sondern anderen Imperativen unterwerfen, doch werden diese Feststellungen gleichsam ausschließlich als Abweichungen von der Norm des publizistischen Kommunikators gesehen. Anlässe zur Revision des Idealbildes, oder zu seiner Differenzierung sind sie anscheinend zunächst nicht.231 Da die publizistische Tätigkeit durch die Rückbindung an die Ideale des Räsonnements der Aufklärung stark normativ aufgeladen wird, kann vielmehr jeder Eingriff in die Autonomie des als Kommunikator konzipierten Journalisten aus dieser Perspektive nur als Eingriff in die zentralen Errungenschaften der Moderne kritisiert werden. Bei Dovifat wird die Betonung und Pflege des gesinnungsfesten Kommentators als Rollenmodell journalistischen Handelns zur Ideologie oder, wie Raabe schreibt, zur „normative[n] Charakterologie“.232 Dovifat konstruiert auf der Basis des Konzepts der ‚publizistischen Persönlichkeit‘ eine ‚Wertelite‘, in der die ethischen und normativen Postulate an den ganzen Berufsstand aufzugehen haben. Auch die neu entstandene ‚funktionale Elite‘ in den publizistischen Betrieben, deren berufliche Aufgaben und institutionelle Verortung ganz offensichtlich nicht mehr denen der idealisierten Aufklärungspublizistik entsprechen, haben sich nach Dovi228 229 230 231 232
Vgl. v.a. Dovifat 1962b; 1962c; 1968; 1990a; Hagemann 1947; 1950; Haacke 1970. Einen kritischen Überblick gibt Hachmeister 1987. Mit dem Werk Dovifats setzen sich die Beiträge in Sösemann 1998 auseinander. Vgl. kritisch Glotz/Langenbucher 1969, S. 35. Vgl. beispielhaft Haacke 1970, S. 455; Dovifat 1968; kritisch: Prakke u.a. (1968, S. 57), die von einer „vertikalen Zielpublizistik“ sprechen. Die Annahmen der frühen Publizistikwissenschaft beruhen auf der klassischen Massenpsychologie (vgl. Le Bon 1964; Ortega y Gasset 1956 [1930]; kritisch: Hofstätter 1957). Stattdessen fordert Dovifat (1990d [1956], S. 138) die Konservierung eines „ständischen Sendungsbewußtseins“, durch das Probleme des medialen Alltags kompensiert werden sollen. Vgl. auch Hagemann 1957, S. 76. Raabe 2005, S. 29
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III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
fat an diesem Ideal zu messen oder sind nicht mehr als Hilfspersonal zur Erfüllung dieser großen Aufgaben.233 Dagegen hat sich im späteren Verlauf eine funktionale Publizistikwissenschaft gestellt, die allerdings weniger den Journalismus als vielmehr Modelle gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse untersucht hat.234
3.2
Journalistische Vermittlerrolle
Im Gegensatz zu Kommunikator-Ansätzen konzentrieren sich vor allem die klassische Münchner Zeitungswissenschaft235 und später auch ein spezifischer Strang der Publizistikwissenschaft236 auf die Vermittlungsaufgabe des Journalismus. Sie entwerfen ein Rollenverständnis des journalistischen Vermittlers, das diesen in unterschiedlichen Graden zur Neutralität verpflichtet. Damit verbannen sie das Gesinnungs-Räsonnement, das die klassische Publizistikwissenschaft hervorhebt, an die Peripherie journalistischen Handelns.237 Grundlage zeitungswissenschaftlicher Konzepte das Axiom „Zeitung ist das Zeitgespräch der Gesellschaft“.238 Die Rolle des Journalisten wird vor diesem Hintergrund explizit von der des Publizisten getrennt.239 Während die Publizisten Teilnehmer am gesellschaftlichen Zeitgespräch sind, haben die Journalisten durch ihre Vermittlungsleistungen für die Aufrechterhaltung dieses Gespräches zu sorgen. Die Idee des Journalisten als Vermittler wird auf historischer Grundlage als Idealtypus anknüpfend an die Ursprungsstellung des Referats gegen die Räsonnement-basierte Konzeption der Publizistik in Stellung gebracht. In einem historischen Exkurs sucht z.B. Braun nach der ‚ursprünglichsten‘ der verschiedenen journalistischen Tätigkeiten und findet sie in Empfang und Weitergabe von Nachrichten. Der Journalist habe demnach dafür zu sorgen, dass das gesellschaftliche Gespräch zur Zeit auch in zunehmend sich ausdifferenzierenden und komplexer werdenden Gesellschaften möglich bleibe. Dazu müsse er zwischen den verschiedenen Gesprächteilnehmern ‚vermitteln‘, indem er deren Gesprächsbeiträge ‚übermittele‘.240 Journalisten leiten das Zeitgespräch241, sie haben dafür zu sorgen, dass die Massenmedien ihre dienende Funktion gegenüber den Informationsbedürfnis233
234 235 236 237
238 239 240 241
Viele Angestellte in Medienbetrieben sind für ihn zwar „sehr achtenswerte Arbeiter […], aber der Natur der Sache nach oft ohne öffentlichen Ruf und publizistisch-individuelle Wirkung“. (Dovifat 1990d [1956], S. 138) Erst in einem deutlich späteren Aufsatz unter demselben Titel ‚Die publizistische Persönlichkeit‘ ändert Dovifat (1990e [1963], S. 167) diese Grundauffassung und gesteht der kumulativen Leistung einzelner Journalisten in einem Medienbetrieb einen eigenständigen Rang zu. Vgl. Prakke u.a. 1968; Dröge/Lerg 1965 Vgl. grundlegend Aswerus 1993; Wagner 1978; Starkulla 1993; 1963; Roegele 1966. Eine scharfe Kritik findet sich bei Schreiber 1980. Vgl. Kepplinger 1979a; 1979b; Donsbach 1982 Die Zeitungswissenschaft kritisiert die unidirektionalen Wirkungsmodelle, die den frühen Publizistik-Modellen zugrunde gelegt werden. Sie begreift Kommunikation stattdessen als reziproken Austausch, in dem Rollenwechsel, für die in der klassischen Publizistik kein Platz ist, prinzipiell möglich sind (vgl. Wagner 1965a; 1965b). Dröge und Lerg (1965, S. 253) weisen darauf hin, dass die funktionale Publizistikwissenschaft vergleichbare konzeptionelle Veränderungen gegenüber ihrer klassischen Vorläuferin vorgenommen hat. Aswerus zit.n. Braun 1960, S. 5. Aswerus (1960, S. 11) operiert wiederholt mit der Gesprächsmetapher (auch: „Zeitgesprächskonvente“), wenn er versucht, das Formalobjekt ‚Zeitung‘ und damit letztlich den Journalismus, definitorisch zu fassen. Vgl. auch aktuell Wagner 1998, S. 107: „Der ‚Publizist‘ betreibt Kommunikation als Beruf, der ‚Journalist‘ die Vermittlung von Kommunikation als Beruf.“ Der „ursprüngliche Journalist“ ist aus dieser Perspektive „ein Mann der etwas empfing und es weitergab: Nachrichten zuallererst“ (Braun 1958, S. 4). Vgl. Braun 1958, S. 13
3 Journalistische Rollenmuster
141
sen und -notwendigkeiten der Bevölkerung moderner Industriegesellschaften erfüllen.242 Aswerus weist dem Journalisten in dieser Logik folgerichtig die Aufgabe zu, als „Gesprächsanwalt der Gesellschaft“ tätig zu werden.243 Für Hachmeister ist diese Münchner Zeitungswissenschaft zum „musealen Requisit der Fachgeschichte“ geworden.244 Dieses Urteil erscheint vorschnell: Schließlich weist der so genannte ‚kommunikationale Ansatz‘245 in seiner Fokussierung auf die kommunikative Integration von Gesellschaft auf einen bedeutenden Aspekt hin, der historisch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit öffentlicher Kommunikation bereits angelegt ist: die Idee des Gesprächscharakters der ‚Zeitung‘, sprich: der öffentlichen Kommunikation. Darüber hinaus finden sich in der Zeitungswissenschaft Hinweise auf die Stellung und das Selbstverständnis des Journalismus, die – in angemessener Rekonstruktion – auch heute noch relevant sind.246 Eine weitere Spielart des journalistischen Rollenmusters ‚Vermittler‘ lässt sich exemplarisch der Journalismuskonzeption entnehmen, die von dem Zweig der deutschen Publizistikwissenschaft vorgelegt worden ist, die als „Legitimismus“247 oder als „wirkungsorientierte Journalismusforschung“248 klassifiziert werden kann. Ihr Ausgangspunkt ist die Frage: „Wie legitimiert sich das journalistische Potential, Öffentlichkeit herzustellen oder zu unterdrücken, soziale Sachverhalte als soziale Probleme zu thematisieren (oder dies zu unterlassen), mithin die Vorstellung der Gesellschaft von Gesellschaft entscheidend mitzuprägen?“249
Um eine Antwort bemühen sich die Arbeiten von Noelle-Neumann sowie die ihrer Schüler Kepplinger und Donsbach, welche die Entfaltung journalistischer Macht thematisieren und als „Legitimitätsproblem“250 bearbeiten. Durch wissenschaftliche Kritik wollen sie gesellschaftliche Kontrolle journalistischen Handelns ermöglichen.251 Ihre ‚Journalismustheorie‘ basiert auf normativ-juristischen Konzeptionen252, einem restriktiven sozialpsychologischen Öffentlich242 243 244 245
246
247 248 249 250 251
252
Vgl. Starkulla 1963, S. 567 Aswerus 1993, S. 30 Hachmeister 1987, S. 222 Grundlegend für diese Überlegungen ist ein so genanntes ‚kommunikatives Prinzip‘, das in allen Phasen menschlichen Zusammenlebens ordnende Kraft entfaltet. Dieses Prinzip fasst der Aswerus-Schüler Wagner (1965b, S. 35) wie folgt zusammen: „Auf den einzelnen Menschen bezogen ist Sinn und Ziel aller sozialen Kommunikation zur Zeit die Überwindung der den Menschen einschränkenden Isoliertheit in Raum und Zeit im Sinne der Entfaltung des menschlichen Selbstes in Gesellschaft. Auf die Gesellschaft bezogen, äußert sich Sinn und Ziel aller Kommunikation zur Zeit in der Konstituierung und Entfaltung des gesellschaftlichen Miteinanders der Menschen.“ Roegele (1966) verweist in einer frühen Zwischenbilanz auf durchaus tragfähige Konzepte der Zeitungswissenschaft, an denen – ohne den ideologischen Streit mit der Publizistikwissenschaft weiterzuführen – gearbeitet werden könne. Dass diese Chance nicht ausreichend genutzt wurde, liegt auch an der Art und Weise, in der Wagner in der Folgezeit die zeitungswissenschaftliche Perspektive dogmatisch weiterentwickelt. Er immunisiert sie gegen jegliche Form der Kritik, indem er Wissenschaft des Erkennen von über die Zeit hinausgreifenden Wahrheiten zugestehen will und das kommunikative Prinzip des Zeitgesprächs als eben eine solche Wahrheit deklariert (vgl. Wagner 1997; 1993; Starkulla/Wagner 1978). Baum 1994, S. 208 Raabe 2005, S.38ff. Donsbach 1977, S. 238 Donsbach 1982, S. 269 Ganz ähnlich formuliert auch Wagner (2002, S. 6): „Journalismuskritik ist primär und völlig legitim Sache der Gesellschaft. Denn für die Gesellschaft ist der Journalismus viel zu wichtig, als daß man ihn den Journalisten allein überlassen könnte.“ Ebenfalls dem Legitimismus zuzuordnen sind die Überlegungen von Ronneberger (1973; 1977; 1983; 1988), der Journalismus und Massenmedien ebenfalls mit der Frage nach der Legitimation ihrer (vermeintlich einseitig genutzten) Macht konfrontiert. Vgl. Kepplinger 1979b; 1982; Donsbach 1979a; 1982; kritisch Weischenberg 1989
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III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
keitsmodell253 sowie einem sehr spezifischen Professionalisierungskonzept254. Die Diskussion über adäquate Rollenanforderungen an journalistische Akteure ist das zentrale Feld legitimistischer Thesen. In ihnen wird die Ideal- und Rollentypen-Dichotomie anhand einer konstatierten Differenz zwischen dem referierenden und neutralen Vermittler sowie dem räsonierenden und kritisierenden Kommunikator fortgeschrieben.255 • In einer normativen Dimension wird die Vermittlungsrolle als angemessen ausgezeichnet: Vor dem Hintergrund einer angenommenen großen journalistischen Macht wird argumentiert, dass die sich in einem privilegierten Bezug zur Meinungsfreiheit ausdrückende journalistische Sonderstellung nur zu rechtfertigen sei, wenn sich Journalisten als neutrale Vermittler verhielten und ihre Macht nicht zum Eingriff in den öffentlichen Diskurs nutzten.256 • In einer empirischen Dimension wird beklagt, dass diese normativen Anforderungen nicht erfüllt werden: Journalisten ergriffen ihren Beruf nicht in Verantwortung vor ihrem Publikum, sondern um sich selbst zu verwirklichen und um einen „Sendungsbewusstsein“ nachzugeben, demzufolge sie unmündigen Bürgern erklären müssten, wie die Welt zu verstehen sei.257 Nicht ein journalistischer, sondern ein politischer und sozialer Antrieb – kurz: der Ausblick auf eine entsprechende Einflussposition – sei der maßgebliche Grund, Journalist zu werden.258 Starke Kollegenorientierung259 führe zudem dazu, dass sich die journalistische Agenda zunehmend von den Meinungen der Bevölkerung entferne.260 Die Berichterstattung sei geprägt von Negativismen261 und strategischen Aktualisierungen262. 253
254
255 256 257 258 259 260
261 262
Maßgeblich ist die Öffentlichkeits-Konzeption der ‚Theorie der Schweigespirale‘, welche Noelle-Neumann (1977; 1980; 1991) in mehreren Einzelschritten entwickelt und die sich grundlegend von der in der vorliegenden Arbeit verwendeten Konzeption unterscheidet. Öffentlichkeit erscheint in diesem Modell als sozial induzierte, irrationale Bedrohung, der das Individuum ausgesetzt ist, und weniger als Chance sozialer Verständigung in einem kommunikativ fundierten sozialen Raum. „Es geht Noelle-Neumann eben nicht um eine ‚Theorie der öffentlichen Meinung‘, sondern eher um eine Art Supervision der Massenstimmung und ihrer Pathologien.“ (Baum 1994, S. 227; vgl. ebenfalls kritisch: Pöttker 1993; Gerhards 1996) In diesem Modell weisen Kepplinger und Vohl (1976) den Verzicht auf eine eigenständige Kommunikativität als Grundbedingung journalistischer Professionalisierung aus. Da Journalismus in ihrer terminologischen Interpretation durch eine tief greifende Wertrationalität ausgezeichnet sei, Professionen aber auf Zweckrationalität aufgebaut seien, könne auch eine Professionalisierung nicht erreicht werden. Vgl. Donsbach 1981, S. 171. Andere Befragungen kommen zu weit weniger dramatisch anmutenden Ergebnissen, was diese Diskrepanz angeht (vgl. z.B. Scholl/Weischenberg 1998; Weischenberg/Malik/Scholl 2006a). Vgl. Noelle-Neumann 1979; 1982a Donsbach 1982, S. 156 Vgl. ebd., S. 141 Vgl. Noelle-Neumann/Kepplinger 1978; Donsbach 1981; Kepplinger 1993; Mathes/Czaplicki 1993 Vgl. Donsbach 1982, S. 213f. Auf methodischer Ebene wird die Unterstellung, dass sich ein von der Bevölkerungsmeinung unterscheidbares Meinungsspektrum – und sei es in einer durch Kollegenorientierung verfestigten Form – auch in der Berichterstattung niederschlage, zurückgewiesen. Es bleibe unklar, welche Voraussetzungen und Mechanismen diese angebliche soziale Strukturation bewirken, kritisiert Weischenberg (1989, S. 228). Der Nachweis dieses Zusammenhangs steht bislang aus, und es ist theoretisch auch nicht ersichtlich, inwiefern er strukturell begründbar ist angesichts eines Mediensystems, das zunehmend nicht mehr politischpublizistischen, sondern ökonomischen Interessen verpflichtet ist (vgl. z.B. Baum 1996; Münch 1993; Saxer 1993a). Da aber der argumentative Durchgriff vom Individuum auf die Organisation und umgekehrt bis zum Verzicht auf jede Form der Differenzierung in legitimistischen Studien gewahrt bleibt, stellen sich Fragen nach dem Zusammenhang von Einstellungen und Berichterstattung oft nicht. Kepplinger konzediert mittlerweile, dass es keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Einstellungen und öffentlich geäußerten Meinungen gebe, sondern dass weitere, institutionelle Faktoren maßgeblich seien (vgl. Kepplinger/Ehmig 1997, S. 289f.). Vgl. Kepplinger/Weissbecker 1991 Vgl. Kepplinger 1989. Traub (1928, S. 71) hat diese journalistische Vorgehensweise bereits in den 20er Jahren beschrieben. Kepplinger (1998) beklagt auch später in dramatischem Gestus, dass sich aus der Melange all dieser Vermittlungsspezifika eine „Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft“ ergebe.
3 Journalistische Rollenmuster
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Das Rollenbild der legitimistischen Journalistik fungiert somit weniger als ein theoretisches Konzept, sondern vielmehr als eine Grundlage der Journalismuskritik.263 Dazu nimmt sie – zum Beispiel in der Erörterung der Beziehung von politischen Einstellungen und beruflichem Handeln – verkürzte Kausalketten in Kauf.264 In der erkenntnistheoretischen Dimension kritisieren insbesondere die auf Autonomie des Journalismus abstellenden konstruktivistischen Ansätze den ‚Objektivismus‘ solch einer Journalismuskritik, die sich dagegen wendet, dass Journalismus eigene Selektions- und Relevanzkriterien entwickelt und diese nicht den beobachteten Systemen entnimmt.265 Eine solche „Ausrichtung des Journalismus an journalismusexternen Wirkungsabsichten“ verzichte auf die Möglichkeit, „[…] den Journalismus als einen autonomen gesellschaftlichen Kommunikationsbzw. Handlungsbereich mit eigener Rationalität zu betrachten“, kritisiert Kohring.266 Das Ergebnis, so Görke, ist eine „Journalismustheorie ohne Journalismus“.267 Die Eigenständigkeit des Journalismus sei auf ihrer Basis nicht mehr darstellbar. Gleiches gilt aus der Perspektive einer entsprechend komplexen Handlungstheorie. Vor dem Hintergrund ihrer Prämissen muss konstatiert werden, dass legitimistische Publizistikwissenschaft eine kommunikativ rationale Mündigkeit nicht nur nicht zu fassen bekommt, sondern diese entlang der Argumentationslinien einer konservativen Gesellschaftskritik268 diskreditiert und anstrebt, sie durch eine sozial kontrollierte Zweckrationalität zu ersetzen. Der verberuflichte Journalismus gerät somit in der Argumentation vollends unter die Kuratel einer einseitig als zweckrational verstandenen Vernunft einer vermeintlichen Moderne.269
3.3
Überdehnung der Rollenmodelle
Die normative Aushärtung der historisch gebildeten Idealtypen in spezifischen Rollenmustern beinhaltet die Gefahr, dass das jeweils entwickelte Bild zu einseitigen und unvollständigen Anforderungen an die Praxis führt. Diese oft historisch-hermeneutischen, normativen und handlungstheoretischen Konzepte grundieren ihre Vorstellung des ‚richtigen‘ und ‚angemessenen‘ Journalismus in einer der beiden Wurzeln moderner öffentlicher Kommunikation. Das haben die skizzierten Rollenvorstellungen zum Ausdruck gebracht: Betont die Publizistikwissenschaft in ihrem normativen Individualismus starke Führungspersönlichkeiten, die aus der vermeintlich richtigen Gesinnung heraus Menschen zur Tat anleiten sollen, so konzentriert sich die Zeitungswissenschaft auf ‚Gesprächsanwälte‘, die sie allerdings teilweise nur rudimentär mit einem eigenständigen Mandat ausstattet und stattdessen faktisch als ‚Gesprächsbeamte‘ modelliert. Meinungsorientierung und Neutralität, Räsonnement und Referat stehen sich in Form dieser beiden Ansätze unversöhnlich gegenüber. Die legitimistische Publizistikwissenschaft wiederum konstruiert die Dichotomie der Rollenverständnisse weniger historisch, als vielmehr empirisch und demoskopisch – nicht ohne sich dann aber mit vergleichbarer Vehe-
263 264 265 266 267 268 269
Donsbach (1987, S. 108f.) selbst räumt ein, dass gar nicht der journalistische Beruf, sondern lediglich seine Wirkungen auf Öffentlichkeit im Interesse seiner Forschung liege. Vgl. für ein komplexeres Alternativmodell: Weischenberg/von Bassewitz/Scholl 1989. Vgl. Görke 1999, S. 61ff. Kohring 1997, S. 196f. Görke 1999, S. 152 Vgl. Schelsky 1983 Vgl. Baum 1994, S. 208ff.
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III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
menz eindeutig für das Rollenmuster des neutralen Vermittlers einzusetzen.270 Beiden Ansätzen ist gemein, dass sie aus der Perspektive des einen journalistischen Idealtypus den anderen zwangsläufig abwerten. • Entweder wird ausgehend von einem weitgehend auf ‚neutrale‘ Vermittlung abstellenden Verständnis von Journalismus jede Form des Meinungs- oder Kommentarjournalismus zumindest unter den Verdacht der ungerechtfertigten Ausnutzung kommunikativer Privilegien gestellt. • Oder aber ein als demokratiekonstitutiv erachteter kritischer Meinungsjournalismus wird mit einem vermeintlich defizitären, weil passiv-unkritischen Verlautbarungsjournalismus verglichen, um in seiner notwendigen Funktion für die Meinungs- und Willensbildung bestätigt zu werden. Das führt zu unnötigen Vorfestlegungen und ideologischen Verhärtungen, die in den aktuellen Debatten über Gesinnungs- bzw. Service-Journalismus nichts von ihrer Virulenz verloren haben.271 Der latent schwelende Streit über das ‚richtige‘ journalistische Rollenbild ist nicht entschieden. Der normative Diskurs über die gesellschaftlichen Aufgaben des Journalismus ist – abgesehen von seiner bisweiligen Thematisierung in medienethischen Debatten272 – unaufgelöst liegen geblieben, seit sich die Journalismusforschung der empirischen Betrachtung des Gegenwartsjournalismus geöffnet hat. Aber auch empirisch kann scheinbar kein Einvernehmen über die journalistische Rolle hergestellt werden.273 In vielen empirischen JournalismusStudien lassen sich bis heute – neben weiteren Modellen wie dem serviceorientierten Unterhalter und dem kritischen Kontrolleur274 – die beiden klassischen Rollenselbstdefinitionen identifizieren. 2002 werden in einem Einführungsband genannt: • •
„der kritisch-advokatorische Journalist (‚Kritiker an Missständen‘; „Wächter der Demokratie‘; ‚Anwalt der Benachteiligten‘; ‚Pädagoge‘; ‚Politiker mit anderen Mitteln‘) der vermittelnde Informationsjournalist (‚Neutraler Berichterstatter‘; ‚Vermittler neuer Ideen‘; ‚Sprachrohr der Bevölkerung‘)“275
Ihre Angemessenheit wird nach wie vor nicht selten streitig verhandelt. Der Rückblick auf die Unterschiede zwischen der Lehre des publizistischen Kommunikators und der Lehre des 270
271 272 273 274 275
Sie unterscheidet sich allerdings von der Münchner Variante der Zeitungswissenschaft nicht nur darin, dass sie weniger explizit und individualistisch an charakterliche Eigenschaften appelliert („ehrlicher Makler“), sondern vor allem darin, dass sie keine hinreichende Differenzierung zwischen medialem Rahmen und journalistischem Handeln vornimmt und statt dessen Journalismus an Postulaten, die das Mediensystem betreffen, misst. Dass die Zeitungswissenschaft dieser zusätzlichen Konfusion normativer Ebenen entgeht, dürfte vorwiegend an der historischen Begründung des Rollenmusters liegen, die einen Rückgriff auf externe rechtliche oder politische Normierungen nicht zwingend erscheinen lässt, sondern stattdessen versucht genealogische Traditionslinien aufzuzeichnen, die bewahrt und gepflegt werden sollen. Gemeinsam ist der Mainzer und der Münchner Schule der starke Fokus auf Journalismus als neutrale und repräsentative Widergabe fremder Inhalte. Konvergenzen in der Argumentation lassen sich auch durchaus feststellen, wenn man jüngere Arbeiten Wagners (2002) betrachtet, wenngleich sich Wagner weiterhin um die Entwicklung einer ‚Journalismustheorie‘ bemüht und diesem Handlungsmodus so einen Wert beimisst. In einer interessanten Brechung lassen sich die tradierten Konflikte heute zum Beispiel in Überlegungen zur Informations- und Unterhaltungsorientierung des Journalismus wieder finden (vgl. z.B. Leif 2005; Klaus 1996). Vgl. Brosda/Schicha 2000 Vgl. z.B. die Beiträge von Weischenberg/Malik/Scholl 2006a; Scholl/Weischenberg 1998, S. 153ff. oder Schneider/Schönbach/Stürzebecher 1993 in Abgrenzung zu Kepplinger 1979a; Donsbach 1982; 1987; 1993. Vgl. Scholl/Weischenberg 1998; siehe auch die Typologie von Donsbach (1982, 47ff.), der Journalisten in Themen-‚Pfadfinder‘, ‚Pädagogen‘, ‚Interessenvertreter‘ und ‚Vermittler‘ unterteilt. Esser/Weßler 2002, S. 191; vgl. auch Rühl 1980, S. 62ff.
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journalistischen Vermittlers hat allerdings verdeutlicht, auf welch brüchigem Fundament Kontroversen über das angemessene journalistische Rollenbild ausgetragen werden: Journalismus kann vielleicht noch mit viel theoretischem Wohlwollen auf einen ‚ursprünglichen‘ Handlungsmodus zurückgeführt werden (selbst da sind Zweifel angebracht), aber spätestens seit der Durchsetzung von Freiräumen des Räsonnements in der Aufklärung muss jede Reduktion journalistischen Handelns auf eine der beiden grundlegenden Optionen zwangsläufig zu theoretischen Aporien führen. Auch durch die – aufgrund der historischen Entwicklung nahe liegende – schlichte Addition der beiden Idealtypen dürfte dieser Umstand kaum zu beheben sein. Dadurch würde lediglich der unbefriedigende Zustand zweier oft unverbunden nebeneinander stehender Vorstellungen von Journalismus fortgeschrieben, welche auch hinsichtlich der Darstellungsformen dogmatischen Charakter haben (Trennung von Nachricht und Kommentar), ohne aber theoretisch tatsächlich aufgearbeitet worden zu sein.276 Einen Ausweg beschreibt hingegen der Versuch, ein umfassenderes Verständnis journalistischen Handelns zu entwickeln, das imstande ist, beide Rollenverständnisse als Facetten zu integrieren.277
4
Jenseits der Dichotomie: Otto Groths integratives Konzept
Handlungstheoretische Journalismusvorstellungen, die aus historischen Öffentlichkeitsanalysen deduziert werden, leiden wie gesehen darunter, dass sie einen Aspekt journalistischen Handelns – die Vermittlung oder das Räsonnement – einseitig in den Vordergrund rücken und den jeweils anderen Aspekt normativ abwerten. Auch vermeiden es diese Konzepte, präzise zwischen makrosozialen Anforderungen an Journalismus in Gesellschaft und mikrosozialen Charakteristika journalistischen Handelns zu differenzieren. Um diesen beiden Unzulänglichkeiten zu begegnen, soll im Folgenden versucht werden, journalistisches Handeln konzeptionell umfassender und normativ enthaltsamer anzugehen. Das Ziel ist, Journalismus als Handlungsmodus integrativ zu beschreiben und zugleich von makrosozialen Postulaten abzugrenzen. Es lässt sich in der historisch-hermeneutisch argumentierenden Literatur zu journalistischem Handeln mit Otto Groth ein klassischer Autor ausmachen, der zum einen zwischen den gesellschaftlichen Aufgaben des Journalismus und den Charakteristika des journalistischen Handelns unterscheidet sowie zum anderen ein Konzept journalistischen Handelns entwickelt, das sowohl gegenüber dem referierenden als auch dem räsonierenden Journalismus offen ist.278 276 277
278
Vgl. Pöttker 1999b Verbliebe man auch in einer eher soziologisch systematischen Herangehensweise an journalistische Handlungstypen in dieser historisch eingeführten dichotomischen Idealtypenstruktur, dann würde es aus der Sicht einer Theorie des kommunikativen Handelns, die ihren Ursprung in der Untersuchung des Räsonnements bürgerlicher Öffentlichkeit hat, nahe liegen, journalistisches Handeln als eine Form des Räsonnements zu konzipieren, um so zu einer Näherung an eine journalistische Handlungstheorie zu gelangen. Doch es ist nicht nur die zu geringe Reichweite, die gegen ein solches Vorgehen spräche, sondern darüber hinaus auch die mangelnde Anschlussfähigkeit eines solchen axiomatischen Vorgehens an viele klassische Annahmen sowohl publizistischer als auch kommunikationswissenschaftlicher Provenienz, die auf den vermittelnden Idealtypus abheben. Bereits in seiner Dissertation von 1915 hat sich Groth als Pionier erwiesen, indem er als einer der ersten Zeitungswissenschaftler überhaupt eine empirische Untersuchung der Presselandschaft im Anschluss an Max Webers Pläne zu einer Zeitungs-Enquete vornahm; zwischen 1928 und 1930 legte er dann eine erste gewichtige vierbändige Untersuchung über ‚Die Zeitung‘ vor, die zum damaligen Zeitpunkt in Dichte und Systematik ohne Konkurrenz im Fach war, allerdings noch weitgehend den damals üblichen Argumentationsmustern entsprach (vgl. Groth 1928-1930). Ende der 1920er Jahre wurde Groth – obwohl auf Platz 1 der Berufungsliste – nicht
146
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Bereits Ende der 1920er Jahre hatte Groth versucht, historisierende Darlegungen der Entwicklung einer modernen Presse mit der Entwicklung einer zeitungswissenschaftlichen Terminologie im Rahmen der Grundlegung einer Journalistik zu verbinden. Dass dieser Versuch der zu dieser Zeit üblichen „Sehnsucht nach dem eigenen zeitungswissenschaftlichen Gegenstand und der eigenen zeitungswissenschaftlichen Methode“279 verhaftet blieb, darf aus der Rückschau nicht verwundern – und schmälert nicht den konzeptionellen Ertrag. Das gilt in noch weit größerem Maße erst recht für die Untersuchungskonzeption der siebenbändigen ‚Unerkannten Kulturmacht‘, die trotz ihres Erscheinens in den 1960er Jahren weitgehend auf der vor dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Literatur beruht.280 Dieses umfassende Werk kam allerdings zu einem ungünstigen Zeitpunkt auf den Buchmarkt: Während sich Kommunikationsforschung und Publizistik als Sozialwissenschaften etablierten, schien Groths Analyseansatz vordergründig „bei seinem Erscheinen wissenschaftsgeschichtlich vollkommen obsolet“281 zu sein: „Während die etablierten Publizistik- und Kommunikationswissenschaftler sich soziologisierend in funktionalistischer und systemtheoretischer Terminologie übten, ging Groth deskriptiv kulturwissenschaftlich, historisierend, vergleichend und typologisierend zu Werke. Während erstere Strukturen und Interdependenzen deklinierten, sprach Groth von ‚Ideen‘ und vom ‚Wesen‘ der Dinge, kurzum: Groth lag nicht im Modetrend des Faches, als er auf den Theoriemarkt trat.“282
Es liegt wohl auch daran, dass Groths Modellvorstellungen bis heute weitgehend ohne ein auf systematische Beschäftigung deutendes Echo in der zeitgenössischen Fachentwicklung geblie-
279 280
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auf den Lehrstuhl des Berliner Instituts berufen. An seiner Stelle trat der damalige Verbandsfunktionär Dovifat in den Universitätsdienst ein. Groth pflegte sein Leben lang enge Kontakte zum zeitungswissenschaftlichen Institut in München. Dort arbeitete er auch während der NS-Diktatur privat an seinen Forschungen weiter (vgl. Langenbucher 1995). 1948 publizierte er mit ‚Die Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft‘ einen bis heute gültigen wissenschaftshistorischen Überblick (vgl. Groth 1948). Sein siebenbändiges opus magnum ‚Die unerkannte Kulturmacht‘ erschien in den Jahren 1960 bis 1972; in ihm unternahm er raumgreifend den Versuch, die Theorie einer „Periodik“ zu formulieren, in der ‚Zeitung‘ – verstanden als ein formales Untersuchungsobjekt, nicht als konkrete Manifestation – umfassend in ihren historischen, sozialen, politischen, wirtschaftlichen und journalistischen Grundzügen beschrieben werden sollte (vgl. Groth 1960-1972). Langenbucher (1995) hat das Werk Groths einführend gewürdigt. Bohrmann 1977, S. 149f. Hier versucht Groth, die Grundzüge einer kulturwissenschaftlich verstandenen Periodik zu skizzieren, die die Arbeit der bisherigen Zeitungswissenschaft fortführen und ausbauen, und gleichzeitig der paradigmatischen Publizistikwissenschaft in der Erforschung öffentlicher bzw. gesellschaftlicher Kommunikation den Rang streitig machen sollte. Allerdings gibt es Zweifel daran, dass es durch die Betonung des Qualitativen bei Groth und seinen Nachfolgern wirklich zu einer weitgehenden Veränderung des Forschungsansatzes gekommen ist (vgl. Bohrmann 1977, S. 150f. oder auch die systematisch vergleichende Studie von Boguschewsky-Kube 1990). Dieses Potenzial soll im Folgenden kursorisch geprüft werden. Lerg 1977, S. 10 Wagner 1995, S. 209. Doch wer gegenüber Groth den Vorwurf essentialistischen Formulierens erhebt – und es ließen sich leicht entsprechende Stellen auf den mehreren tausend Seiten seines Werkes finden, die von einer „Kombinationen von definitorischen Festsetzungen und vorausgesetzten Wertungen“ (Topitsch 1965b, S. 30) gekennzeichnet sind – der übersieht den logischen Charakter der Grothschen Studien. Für Langenbucher (1995, S. 167f.) jedenfalls steht fest, dass Groth mit seiner Begriffswahl keinesfalls Aussagen über das (metaphysische) Wesen der benannten Phänomene machen will. Tatsächlich fällt es bei der heutigen Lektüre schwer, dieser Argumentation bis ins Detail der Grothschen Arbeiten zu folgen. Allerdings soll dieser Frage nach den Intentionen des Autors an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden; dazu wäre eine eigenständige – und weit umfassendere – Rezeption und Analyse des Grothschen Werkes vonnöten, als sie hier angestrengt werden soll. Groths Werk soll hier lediglich selektiv und heuristisch herangezogen werden.
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ben sind.283 Dabei belegen sie die Fruchtbarkeit einer makrotheoretischen und systematischen Gesamtanalyse284 und sind in hohem Maße anschlussfähig für eine kulturwissenschaftlich orientierte Journalismusanalyse.285 Auch ihre Bedeutung für das Selbstverständnis des Journalistenberufs ist kaum zu überschätzen.286 Die Rezeption hat aber eher vereinzelt stattgefunden, am wirksamsten noch in der Streitschrift ‚Der mißachtete Leser‘ von Glotz und Langenbucher287 sowie – wenn auch in einseitiger Vereinnahmung – bei Wagner.288 In den meisten Facheinführungen dagegen finden sich lediglich knappe Verweise auf Groths Arbeiten; immerhin ist 1995 eine von Langenbucher editierte Textcollage erschienen.289 Aber noch wartet Groths Werk auf seine umfassende Wiederentdeckung durch die Journalistik. Sie wird auch in der vorliegenden Studie nicht zu leisten sein. Im Folgenden wird es vielmehr darum gehen, die Vorstellungen Groths zur gesellschaftlichen Aufgabe des Journalismus und zu den Charakteristika journalistischen Handelns zu skizzieren und auf ihre Tragfähigkeit hinsichtlich der zu entwickelnden Journalismuskonzeption zu prüfen. • Auf makrosozialer Ebene beschreibt Groth Journalismus als eine umfassende Vermittlungsaufgabe zwischen den gesellschaftlichen Gesprächspartnern; eher beiläufig kennzeichnet er auf dieser Ebene auch die Möglichkeit eigenständiger Beiträge des Journalismus zum Zeitgespräch.290 Gesellschaftlich notwendige Aufgabe des Journalismus ist für Groth, Aussagen zwischen Ausgangs- und Zielpartnern im gesellschaftlichen Zeitgespräch zugänglich zu machen. Eigenständige journalistische Beiträge zu diesem Gespräch hingegen sieht er als optional. • Die Wertigkeit dieser Unterscheidung zwischen Vermittlung fremder und Produktion eigener Gesprächsbeiträge verändert sich beim Perspektivwechsel zur Analyse journalistischen Handelns. Hier führt er systematisch gleichberechtigt neben dem informationsbasierten Rollenverständnis des Vermittlers ein zweites, räsonnementbasiertes des Kommunikators (‚produzierender Journalismus‘) ein. Groth hebt auch hier die Vermittlungsaufgabe in ihrem Bezug zum Charakter des journalistischen Werks hervor, verweist aber nachdrücklich darauf, dass Vermittlung ohne Kommunikation und damit ohne die als ‚protoschöpferisch‘ charakterisierte ‚Produktion‘, nicht konzipierbar ist. Die Trennung zwischen referats- und räsonnementbasiertem Verständnis, die auf der funktionalen Ebene des 283
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„Außer einer Rezension in der in Leipzig erscheinenden ‚Zeitschrift für Journalistik‘ und kurzen Anzeigen zum jeweiligen Erscheinen der verschiedenen Bände in der Zeitschrift ‚Rundfunk und Fernsehen‘ läßt sich bislang keine eingehende fachwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Werk ‚Die unerkannte Kulturmacht‘ finden.“ (Langenbucher 1995, S. 154) In der genannten Leipziger Rezension wird Groth aus der Perspektive der sozialistischen Journalistik vorgehalten, aus spätliberaler Sicht apologetisch das Wesen der kapitalistischen Presse zu rechtfertigen (vgl. Raabe 1962). Vgl. Langenbucher 1995, S. 185 Ausschlaggebend für diese Annahme sind Feststellungen bei Groth (1960, S. 5) wie die folgende: „Zeitungen und Zeitschriften sind Kulturwerke – Kultur hier umfassend gemeint als das ständig wachsende und sich verändernde Ganze menschlicher Sinnschöpfungen.“ Angesichts solcher Aussagen ist zum Beispiel Pätzold (2002, S. 33) aus kulturwissenschaftlicher Sicht auf die Journalistik zu Recht der Auffassung, dass Groth „[…] für unser Fach ungleich mehr geleistet hat, als z.B. Emil Dovifat“. Vgl. Pöttker 2001 Glotz/Langenbucher 1969 Vgl. Wagner 1977; 1978; 1995 Vgl. Groth 1995 Vgl. Groth 1960, S. 584ff.; z.B.: „Die Geschichte der periodischen Presse liefert uns aber auf jedem ihrer Blätter in der Tat zahlreiche Beispiele für die niemals rastende schöpferische Initiative und Originalität der Journalisten und Verleger, man möchte fast sagen: Gerade ihre gewaltige Entwicklung ist ein einziger großer Beweis dafür.“ (ebd., S. 591)
148
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
journalistischen Werks ihren Sinn hat, verliert auf der Ebene des journalistischen Handelns einen guten Teil ihrer Notwendigkeit und letztlich ihrer Begründbarkeit. Groths Werk kann als Beleg für die Fruchtbarkeit einer Analyseperspektive jenseits der tradierten Dualismen gelesen werden. Ob im voll entwickelten Journalismus moderner Gesellschaften Vermittlung (Referat) oder Räsonnement überwiegen, ist für ihn letztlich eine empirisch kontingente, keine theoretisch prinzipielle Frage, da das Verhältnis zwischen Bericht und Kommentar von wirtschaftlichen, politischen, kulturellen oder sozialen Rahmenbedingungen abhängig ist.291 Während die Figuren des gesellschaftlichen Zeitgesprächs und der bürgerlichen Öffentlichkeit historische Andeutungen gesellschaftstheoretischer Rahmenkonzepte bilden, ist Groths Journalismustheorie in engem Bezug zu ihnen als eine analoge historisch informierte Darstellung journalistischer Handlungsoptionen zu sehen.
4.1
Das journalistische Werk als Vermittler
Im Mittelpunkt des makrosozialen Journalismus-Modells, das Groth entwickelt, steht das journalistische Werk, das zwischen Ausgangs- und Zielpartnern in gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen vermittelt. Dieser Heuristik des Vermittelns wird vor dem Hintergrund der vielfältigen Austauschbeziehungen und seiner daraus erwachsenden „Kulturbedeutung“ als Zwischenstück von Produktion und Rezeption in gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen eine besondere Aufmerksamkeit zuteil.292 „Vermittlung geistiger Güter“293 ist der ‚Sinn‘ des Journalismus in der öffentlichen Kommunikation; sie ist in modernen Kulturgesellschaften zwingend notwendig – denn, so Groth, „[…] ohne Vermittlung wäre auf keinem Gebiet kulturell-sozialer Betätigung auch ein gedeihliches Zusammenleben und Zusammenwirken denkbar“.294 Ausgehend von der noch historischen Betrachtung, dass bereits die Entstehung des historischen Zeitungswesens eine Reaktion auf das Vermittlungsbedürfnis innerhalb komplex ausdifferenzierter Gesellschaften gewesen ist295, entwickelt Groth den Vermittlungsbegriff zu einem eigenständigen theoretischen Konzept weiter, dessen soziale Bedeutung Grundlage von Wertzuschreibungen in Richtung Journalismus ist. Dabei begreift er das journalistische Werk nicht als eine konkrete Manifestation, sondern als immaterielle, ‚ideelle Realität‘, die nicht durch die sinnliche Wahrnehmung, sondern durch die Erfüllung einer Idee konstituiert wird.296 Der Begriff ‚Zeitung‘ markiert in zeitungswissenschaftlicher Tradition einen kontingenten Handlungs-, Funktions- oder Kulturzusammenhang, somit einen formalen Idealtypus, der sich im historischen Verlauf in unterschiedlichen Manifestationen auffinden lässt. Das journalistische Werk hat die Aufgabe, in einer komplexen Gesellschaft das gesellschaftliche Zeitgespräch auch über größere räumliche oder soziale Distanzen hinweg aufrecht 291 292 293 294 295 296
Die Hochphase des Räsonnements in der Presse zum Beispiel, die Habermas (1990) als bürgerliche Öffentlichkeit beschreibt, ist durch solch einen externen Faktor ausgezeichnet: den Kampf um die Pressefreiheit, der aus jedem Kommentar gleichsam performativ ein politisches Statement macht. Groth 1972, S. 357. In Groths Werk ‚Die unerkannte Kulturmacht‘ erfährt die Vermittlungs-Kategorie „[…] erstmals eine theoretische Würdigung ihrer eminenten praktischen Bedeutung, die so weder vorher noch nachher von anderen Wissenschaften geleistet wurde“ (Langenbucher 1995, S. 184). Groth 1960, S. 543 Ebd., S. 567f. Vgl. Groth 1928, S. 19 Vgl. Groth 1960, S. 60
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zu erhalten. Ihm wird eine zwar vorwiegend ‚dienende‘ aber zugleich gesellschaftlich zentrale Aufgabe zugewiesen, die darin besteht, die kommunikative Integration des zwischenmenschlichen Gesprächs auf Gesellschaftsebene komplementär zu gewährleisten. Durch die journalistischen Vermittlungsleistungen haben Menschen die Möglichkeit, sich über ihr soziales, politisches und kulturelles Umfeld zu informieren, zu orientieren und in Kommunikation mit räumlich entlegenen gesellschaftlichen Partnern zu treten.297 In vergleichbarer Stoßrichtung wird auch in der aktuellen Journalismusforschung Vermittlung als ein zentrales Qualitätskriterium gesehen. Für Rager bedeutet der Begriff zum Beispiel: „[g]egenseitige Bezüge herstellen zwischen KommunikatorInnen und Publikum, im Rückgriff auf gegenseitige ‚ErwartungsErwartungen‘“.298 Auch hier wird Vermittlung als eine Leistung innerhalb eines sozialen Austauschprozesses beschrieben, der durch die Möglichkeit der Vermittlungsleistung überhaupt zustande kommt. Groth geht davon aus, dass am Anfang der Entwicklung des Journalismus die Darstellung von ‚Tatsachen‘ das „Fundament und Zentrum der Zeitung“ sei – ohne dass sie darauf festgelegt sei: „Das Speziell [sic!] ‚Journalistische‘ ist immer mit dem Tatsächlich-Stofflichen engstens verbunden, mit dem, was die Gegenwart an Fakta Tag für Tag bringt und zu dem der Mensch Tag für Tag Stellung nehmen muß. Je weiter sich davon die Darbietungen des Periodikums entfernen, desto mehr verlieren sie den speziell journalistischen Geist und so gesehen ist der ‚Reporter‘ der Urtypus des Journalisten, ist er der Protagonist, der erste Repräsentant der Zeitung. Die Nachricht, das Referat war geschichtlich das Erste, war das früheste Idealgut der Zeitung […]. Aber das heißt nicht, daß sie sich ihrem Wesen nach auf das Referat beschränken müsse, im Gegenteil, gerade von dem Referat aus – und das bestätigt die ganze Geschichte der Zeitung – führen ihre Wege unweigerlich darüber hinaus, führen zum Räsonnement, führen zur Dichtung. In ihrem Wesen war die Zeitung niemals von vornherein festgelegt, sie ließ sich auch nie festlegen […].“299
Dem Vermittlungskonzept liegt kein lineares Informations-Modell300 zugrunde, sondern ein komplexer und dynamischer Kommunikationszusammenhang. Groth entwirft das Modell eines dreigliedrigen Austauschprozesses zwischen Ausgangspartner, Vermittler und Zielpartner, in dem alle drei Glieder – wenn auch mit unterschiedlichen Intentionen – kommunikative Leistungen erbringen. Diese Vorstellung beruht auf der zeitungswissenschaftlichen Heuristik des gesellschaftlichen Gesprächs, das zwischen unterschiedlichen Gruppen, Institutionen oder Individuen geführt wird und durch Journalismus als „Mittelstück“ strukturell in weit umfassenderen Sinne ermöglicht wird.301 Als Vermittler versteht Groth „eine Person oder eine Einrichtung, fähig und tätig dazu, unter Benutzung gewisser Ansatzstellen, Eigenschaften, Bedürfnisse, Situationen, Beziehungen usw., die zwischen den Partnern bestehenden Trennungen, Gegensätze, Hemmnisse mit Hilfe geeigneter Mittel und Methoden zu überwinden oder zu beseitigen“.302 Groth sieht vor allem das Periodikum, also das journalistische Werk, als Vermittler an, konkretisiert aber, dass es als „lebloses, selbst nicht handlungsfähiges Menschenwerk“ der Menschen bedürfe, „[…] die seine Vermittlerfunktion ermöglichen“.303 Das vermittelnde journalistische Werk steht zwischen ‚Kommunikatoren‘, die als Partner im gesellschaftlichen Gespräch kommunikative Beiträge leisten. Diese ‚Ausgangspartner‘ und 297 298 299 300 301 302 303
Vgl. ebd., S. 563 Rager 1994, S. 202. Vermittlungsqualität, v.a. als Verständlichkeit, werten Praktiker nach Richtigkeit, vor Aktualität und Relevanz, als wichtige Qualitätsdimension (vgl. Weber/Rager 1994; Rager/Haase/Weber 1994). Groth 1961, S. 106f. Ein Beispiel dafür ist das sehr mechanische Nachrichtenmodell von Shannon/Weaver 1949 Groth 1960, S. 563f. Ebd., S. 565 Ebd., S. 569
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III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
‚Zielpartner‘ des Gesprächs können sowohl einzelne Akteure als auch Gruppen sein, die Teile einer sich in ständiger Kommunikation befindenden Gesellschaft sind.304 Ihre Aussagen werden durch den Vermittler an Dritte oder untereinander weitervermittelt. Die Unterscheidung zwischen den Ausgangspartnern und den von ihnen angesprochenen Zielpartnern legt Groth explizit als eine „formal-methodische“ an.305 „Vermitteln bezeichnet nicht nur eine ‚soziale Funktion‘, sondern bringt auch konzis die intrikate Wechselseitigkeit der Beziehungen zwischen Produzenten, Periodikum und Konsumenten, die gegenseitige Abhängigkeit, die geistige Gebundenheit aneinander, sogar das Hin und Her zwischen den dreien zum Ausdruck und schließt damit den ‚Gedankenaustausch‘ ein, den Wechsel der Positionen, durch den der Konsument zum Produzenten, der Produzent zum Konsumenten wird. Und wenn trotzdem das Vermitteln die Richtung vom Schöpfer über das Werk zum Empfänger noch stark akzentuiert, so entspricht das den tatsächlichen Verhältnissen im Periodikum.“306
Der Unterschied zwischen den Partnern wird durch eine Wissensdifferenz konstituiert, nicht durch soziale Stratifikation oder vergleichbare Machtverhältnisse.307 Der angenommene Unterschied wird durch das journalistische Werk ausgeglichen; es vermittelt im weitesten Sinne Wissen und stellt so eine Verbindung zwischen den gesellschaftlichen Kommunikationspartnern her.308 Angesichts dieser Differenz konstatiert Groth, dass vor allem Sozialgebilde als Ausgangspartner aktiv werden, während individuelle Rezipienten vorwiegend Zielpartner sind.309 Aber auch diese theoretische Vermutung beansprucht keine Allgemeingültigkeit. Der Anstoß zu einem Vermittlungsvorgang kann also von allen Beteiligten ausgehen310; die Rollen von Ausgangs- und Zielpartnern können wechseln.311 Durch die periodische, aktuelle, universale und öffentliche Vermittlung des Faktischen aus den Gegenwelten ermöglicht Journalismus, so eine der Kernprämissen des Grothschen Modells, den Menschen das Handeln.312 Aus dem Wissen um das Andere, um das nicht selbst Erlebte, um ‚das Sich-in-der-Welt-Zutragende‘, erwächst überhaupt erst die Möglichkeit zum Räsonnement; aus der ersten Aufgabe des Journalismus entwickeln sich – das hat der Rückblick auf die historische Entwicklung gezeigt – alle weiteren Aufgaben.313 Ohne die Vermittlung des Journalismus würden Teile des Gesellschaftslebens der Moderne brachliegen.314 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313
314
Vgl. Langenbucher 1974/1975, S. 258 Groth 1960, S. 599 Ebd., S. 557 Vgl. ebd., S. 599 Vgl. ebd., S. 614 Vgl. ebd., S. 608f. Vgl. ebd., S. 566 Vgl. ebd., S. 612 Übrigens auch und gerade ohne konkrete Lernintention der Rezipienten. Rager (1999b, S. 144) schreibt mit Blick auf die Zeitung pointiert: „In der Zeitung findet man auch das, was man gar nicht gesucht hat.“ Groth 1961a, S. 107. Vgl. auch Groth 1960, S. 512: „Die Idee der Zeitung ist, fortlaufend der ohne Ende dahinrollenden Zeit zu folgen und so dem Leben der Kulturgesellschaft und ihrer Glieder, dessen Ende wir auch nicht sehen, zu dienen. Was die jeweilige Gegenwart ununterbrochen immer aufs neue an Seiendem und Geschehendem enthält und ununterbrochen in die Gegenwelten der Kulturmenschen rückt, das zu erfassen, festzuhalten und fortlaufend für alle zugänglich zu vermitteln, das ist Aufgabe der Zeitung.“ Diese historische wie systematische Interpretation des journalistischen Vermittlungshandelns setzt allerdings auf eine Einordnung und Bewertung des Journalismus, die ihm als Vermittlungshandeln in einen nur abgeleiteten Wert attestiert: „Der Journalismus hat keinen Eigenwert, sondern ‚konsekutiven‘, ‚Wirkungswert‘; sein Vermitteln ist, wie schon das Wort besagt, nicht Selbstwert, sondern empfängt seinen Wert von anderen Werten, zunächst aus der Unterrichtung des neuzeitlichen Kulturmenschen über Sein und Geschehen, Geist und Tat in der Welt, in der er beeinflußt und beeinflussend steht. Die Unterrichtung kann und soll der Gesellschaft, ihren Individuen wie ihren Gesamtheiten, zu zahllosen lebenserhaltenden und lebensfördernden, lebenserhö-
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Dem journalistischen Werk obliegt in erster Linie, das gesellschaftliche Zeitgespräch zu vermitteln – aber nicht ausschließlich: Journalismus soll dieses Gespräch auch stimulieren und vorantreiben. Darin liegt der Grund, Journalismus schon auf der Ebene seiner gesellschaftlichen Funktionalität nicht nur als vermittelnd, sondern – im Falle eigener Impulse für das Zeitgespräch – auch als produzierend darzustellen. Entsprechend können Journalisten – neben der Vermittler-Rolle – auch die Rolle eines Kommunikationspartners, eines Teilnehmers im gesellschaftlichen Zeitgespräch, einnehmen. Ihre Positionierung in der Beziehungs-Trias ‚Ausgangspartner – journalistisches Werk – Zielpartner‘ ist nicht von vorn herein durch das Modell festgelegt. Auch wenn es eigentlich nicht zum genuinen Vermittlungsprozess gehört, wird sich der journalistische Vermittler auch darum bemühen, Vermittlungsgegenstände ausfindig zu machen und die Partner am gesellschaftlichen Gespräch in seine Überlegungen einzubeziehen, um den journalistischen Vermittlungsvorgang aufrecht zu erhalten.315 Bereits 1928 macht Groth deutlich, dass das schöpferische bzw. ‚produzierende‘ Räsonnement als ein zentraler Bestandteil des modernen Journalismus nicht mehr wegzudenken ist: „Die Forderung, daß sich die Zeitung wieder auf die Stufe des reinen Nachrichtenblattes herabdrücken lassen solle, ist dem Glauben gleich, daß man die heutige Weltwirtschaft wieder in die mittelalterliche Stadtwirtschaft verwandeln könne.“316
Der journalistische Beruf verdanke seine Entwicklung nicht zuletzt dem Streben nach Unabhängigkeit, das er seit der Etablierung des Räsonnements im schriftstellerischen Journalismus zur Grundlage seines Selbstverständnisses gemacht hat. Die Auszeichnung eines produzierenden Journalismustyps, die Groth bereits zur Klassifizierung unterschiedlicher Funktionen des journalistischen Werks anlegt317, entfaltet ihre heuristische Wirkung damit erst im Zusammenhang mit der Erörterung journalistischer Handlungsmodi. Auf der abstrakten Funktionsebene des Werkes, auf der Groths Erörterungen sich überwiegend bewegen, dient sie dazu, schöpferische und kreative Leistungen des Journalismus als sozialer Institution kenntlich zu machen. Sie verhindert, dass Journalismus zum passiven Vermittlungskanal herabgesetzt wird, verbleibt aber trotzdem sekundär im Vergleich zur angenommenen Primäraufgabe der Vermittlung und Konstitution des gesellschaftlichen Zeitgesprächs. Weitaus differenzierter kann die Frage der Produktivität des Journalismus auf der Handlungsebene behandelt werden.
4.2
Die Aufgaben des journalistischen Handelns: Vermittlung und Produktion
Während Groth dem journalistischen Werk primär eine Vermittlungsfunktion zuweist, betrachtet er das journalistische Handeln, das an der Entfaltung dieser Funktion maßgeblich beteiligt ist, auf
315
316 317
henden und lebenserweiternden Zwecken dienen, die erst dem von dem Journalismus Vermitteltem Wert geben.“ (Groth 1960, S. 20) Dass der soziale ‚Wert‘ des Journalismus trotz dieser Einschränkungen hoch ist, liegt daran, dass der von ihm zu gewährleistenden Vermittlung zentrale Leistungen zugeschrieben werden, die als konstitutiv für Religion, Wissenschaft und Kunst und sogar als überlebensnotwendig für Staatsapparat und Wirtschaftssystem begriffen werden (vgl. ebd., S. 597). Darauf stellt Aswerus (1961, S. 88) ab: „Im Fortschritt der Rationalisierung manifestiert der Bote oder Redakteur nicht mehr das Gespräch einer vorgegebenen Gesprächsgesellschaft, sondern er produziert die Manifestation eines Zeitgesprächssurrogates und sucht dafür Kommunikationsverbraucher. Diese wählen sich den ihnen zusagenden Anteil als den ihrigen aus und gliedern sich in das Gesprächsmiteinander ein, dem es nach wie vor um die ‚Neuigkeiten‘ geht.“ Groth 1928, S. 742 Vgl. Groth 1960, S. 584ff.
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III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
einer davon getrennten Ebene. Diese Differenzierung erlaubt nicht nur die gleichberechtigte Behandlung unterschiedlicher Rollenverständnisse journalistischen Handelns, sondern beinhaltet außerdem den immanenten und impliziten Hinweis auf eine übergreifende Kommunikativität journalistischen Handelns, welche eine normativ begründete konzeptionelle Entscheidung zwischen den beiden Rollentypen diskreditiert. Groth definiert journalistisches Handeln zunächst formal und deskriptiv als berufliches Schreiben für Zeitschriften bzw. Journale. Im weiten Sinn sind Journalisten für ihn die „an der Gestaltung des textlichen Inhalts der Periodika berufsmäßig Mitwirkenden“ und in einem engeren Sinne diejenigen, „die an der Gestaltung des Textes von Zeitungen oder auch zeitungsnahen Zeitschriften, sei es unmittelbar, sei es mittelbar – durch Arbeiten für Hilfseinrichtungen zur Textgestaltung – berufsmäßig tätig sind“.318 Auch wenn diese definitorischen Näherungen aus heutiger Sicht vor allem hinsichtlich der subsumierten Tätigkeiten zu kurz greifen, können Groths Ausführungen doch als der Versuch betrachtet werden, nicht durch hohe normative Hürden weite Bereiche des professionellen, mindestens aber des beruflichen öffentlichen Kommunikationshandelns aus dem Journalismus heraus zu definieren, wie das publizistikwissenschaftliche Gesinnungskonzepte nahe legen. Vielmehr sieht Groth für journalistisches Handeln die Kriterien der Periodizität, der Universalität, der Aktualität und der Publizität als Unterscheidungsmerkmale gegeben an, durch die auch das journalistische Werk, dem seine Aufmerksamkeit gilt, geprägt ist.319 Formal haben Journalisten in ihrem Handeln drei Aufgaben zu bewältigen, damit die Vermittlung gemäß dieser Kriterien gewährleistet ist: (1) die Materialbearbeitung (Selektion, Redigat, Satz/Umbruch), (2) den Umgang mit den Ausgangspartnern (Materialbeschaffung) und (3) den Umgang den Zielpartnern (Publikumspflege).320 Da das Periodikum eine Vermittlungsaufgabe zu erfüllen hat, müssen journalistische Handlungen aus Groths Sicht auf diese Aufgabe ausgerichtet sein. Daraus lassen sich ethische Implikationen für die Produzenten des vermittelnden Periodikums wie „Wahrheit der Tatsachen und Aufrichtigkeit der Gesinnung, der gewissenhaften Prüfung des Zuvermittelnden und der Verantwortung vor der Allgemeinheit“ ableiten.321 Aus dem skizzierten Konzept des vermittelnden Journalismus, das Groth als ‚reinen Journalismus‘ kennzeichnet, lässt sich zunächst ein explizit nicht negativ verstandener ‚Verlautbarungsjournalismus‘322 ableiten, als dessen journalistische Kerntätigkeiten die Auswahl und die Aufbereitung der Agenda des gesellschaftlichen Gesprächs verstanden werden können. Für dieses vermittelnde journalistische Handeln postuliert Groth, ähnlich wie im Rollenbild des referierenden Reporters „Neutralität und Objektivität des Journalisten gegenüber seinem Stoff“323. Diese Haltung wird als Voraussetzung einer angemessenen Behandlung der kommunikativen Äußerungen der Ausgangspartner im gesellschaftlichen Zeitgespräch gekennzeichnet. Daraus ergibt sich ein sehr eingeschränktes Verständnis des journalistischen Handelns, das den Journalismus darauf verpflichtet, sich eigenständiger schöpferischer, v.a. wertender, Beiträge vollständig zu
318 319 320 321 322 323
Groth 1962, S. 181 Vgl. Groth 1960, S. 26 Vgl. Ebd., S. 571f. Ebd., S. 619 Vgl. zu einem positiven Konzept des ‚Verlautbarungsjournalismus‘ auch Dorsch 1982. Groth 1960, S. 576
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enthalten.324 Auch wenn Groth diese Haltung für die Vermittlung kommunikativer Äußerungen anderer zunächst dezidiert einfordert, begrenzt er Journalismus nicht auf ein Handeln gemäß dieser Haltung. Zwar sieht er Reportage und Referat als „journalistische Form der Unterrichtung im engeren Sinne“325, aber er weitet sukzessive den analytischen Fokus, um auch andere journalistische Aufgaben in den Blick nehmen zu können und damit die konzeptionellen Möglichkeiten seines Vermittlungsmodells weiter auszuschöpfen.326 Dies gilt in besonderem Maße für die Einführung des produzierenden Journalismus in Ergänzung zum vermittelnden Journalismus. Zunächst lassen sich unter diesen produzierenden Journalismus die Formen publizistischen und journalistischen Räsonnements fassen; weitergehend aber nennt Groth auch die Recherchetätigkeit als Beispiel produzierenden journalistischen Handelns. Produzierender Journalismus umfasst allgemein Formen journalistischen Handelns, die über das Vermitteln der von den Kommunikationspartnern bereitgestellten Informationen und Argumente hinausgehen.327 Da im Journalismus Ideen formuliert und vertreten würden, so Groth, könne journalistisches Handeln nicht ausschließlich als das Vermitteln fremder schöpferischer Leistungen betrachtet werden; es generiere auch selbst geistige Produkte, die weiter vermittelt würden.328 Groth weist dem Journalismus deshalb nicht nur die Hauptaufgabe der „Unterrichtung im engeren Sinne oder Information“ zu, sondern benennt darüber hinaus auch „Führung und Werbung (Propaganda)“, „theoretische und praktische Belehrung und Beratung“ sowie „Erholung und Unterhaltung, Erhebung und Erbauung“ als weitere Aufgaben des Journalismus.329 Erst in der Vielfalt dieser unterschiedlichen Leistungen entfalte sich die Rolle des Journalismus als vermittelnder Instanz im gesellschaftlichen Zeitgespräch. 324
325 326
327 328 329
Aus dem „instrumentalen Charakter des Periodikums“ ergebe sich, so Groth (1960, S. 577) sehr apodiktisch, das Ziel, „[…] dem Publikum das für das Publikum, das stofflich und deshalb praktisch für dessen Zwecke Bedeutsame zu vermitteln, nicht ihm selbst persönlich am Herzen Liegendes aufzudrängen, nicht das Publikum in seine, des Journalisten, Anschauung und Überzeugung hineinzuzwingen. Immer ist der Journalismus als solcher Diener, nicht Herr des Publikums, er sieht die Dinge lediglich unter dem Gesichtspunkt der praktischen Bedeutsamkeit und Brauchbarkeit für das Publikum, und so verstanden ist er gleichsam persönlich ganz desinteressiert.“ Mit derartigen Betrachtungen fällt Groth bisweilen zurück in dichotomische Perspektivierungen, die im damaligen Fachdiskurs weit verbreitet waren. Groth 1962, S. 296; ähnlich auch Groth 1961a, S. 343. Manche der anfänglich stark einschränkenden Äußerungen scheinen auch daher zu rühren, dass Groth, entgegen seiner erklärten Absichten, Aussagen über die Vermittlungs-Aufgabe des journalistischen Werks auf das journalistische Handeln überträgt, ohne vorher zu prüfen, inwiefern dieser Transfer mit seinen epistemologischen Prämissen und seinen normativen Vorgaben harmoniert. Diese Übertragungen lassen sich in der Konzeption journalistischen Handelns im Spannungsfeld von Vermittlung und Produktion nicht aufrechterhalten. Vgl. Groth 1960, S. 603 Vgl. ebd., S. 584ff. Groth 1962, S. 296. Hinzu kommt als Zweck des Periodikums noch der Profit als „weitaus die verbreitetste und stärkste Triebfeder der Vermittlung“, die Groth (1961a, S. 364) ausfindig macht. Obwohl Groth (1948, S. 335) bereits 1948 die Publizistikwissenschaft des „Opinionismus“ geziehen hatte, geht er davon aus, dass Journalismus geistige Führung entfalten kann, nicht muss. Groth (1962, S. 300ff.) spricht Journalisten das Potenzial zu, vor allem hinsichtlich der Durchsetzung geistiger Ideen als ‚Führer‘ zu agieren. Es handele sich dabei nicht um eine „Wesensaufgabe“ des Journalisten, aber praktisch ergebe sich diese Funktion aus dem periodikalischen Wirken (Groth 1961a, S. 418). Groth integriert damit Charakteristika, die oftmals vermeintlich eindeutig dem Typus des sog. Publizisten zugeschrieben wurden, der sich vom Journalisten signifikant in seiner ‚Gesinnungsfestigkeit‘ und seiner Verantwortung für das gesellschaftliche Räsonnement unterscheide. Auch Groth (1962, S. 198) macht diese Unterscheidung, verknüpft sie aber nicht mit der Frage der ungehinderten Meinungsäußerung, die er beiden zugesteht, da die „Grenze zwischen Journalist und Publizist […] innerhalb des räsonierenden Journalismus“ verlaufe. Die Unterschiede zwischen den öffentlichen Kommunikationsmodi Journalismus und Publizistik lassen sich Groth zufolge eher in der Frage der Periodizität und Kontinuität der Arbeit ausfindig machen.
154
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Groth gleitet schon in der Funktionsbestimmung des Werkes immer wieder auf die Handlungsebene, wenn er das produktive Element kennzeichnen will. Produzierender Journalismus ist für ihn letztlich nur im Zusammenhang mit tätigen Personen konzipierbar. Die Differenzierung zwischen den beiden Handlungsmodi ist dabei eine Frage der ‚inneren Haltung‘ und der Zielsetzung des Journalisten. Groth befindet sich damit noch in der erkenntnistheoretisch als naiv zu kennzeichnenden Tradition der frühen normativen Ansätze: Für ihn gilt, dass der Journalist vermittelnd tätig ist, wenn er Aussagen der Ausgangspartner ‚neutral‘ und ‚objektiv‘ weiter gibt; sobald sich aber ein Journalist selbst zum ‚Sprachrohr des Publikums‘ macht oder gar selbst Ideen hervorbringt, muss er als produzierender Journalist verstanden werden.330 Dadurch, dass hier die Begründungszusammenhänge bereits bei Groth selbst erkennbar unscharf werden, gerät die Aufrechterhaltung einer Dichotomie zwischen Vermittlung und Produktion auf der Ebene der Handlungsmodi unter Druck. Geigers vergleichbare Ausführungen zum Status einer so genannten ‚vermittelnden Intelligenz‘ des Journalismus legen nahe, dass die „Popularisierung“ von Kulturbeständen eine Tätigkeit der Intelligenz – und somit ‚produzierend‘, wenn nicht gar in einem angelehnten Sinne ‚schöpferisch‘ – ist.331 Journalisten zählen Geiger zufolge dann zur gesellschaftlichen Intelligenz, zu der Elite der „Schöpfer von Beständen der repräsentativen Kultur“332, wenn sie die Vermittlung als eigenständige produzierende Leistung anlegen, zum Beispiel durch räsonierende Elemente oder besondere Darstellungsbemühungen: „Der Journalist gehört zur Intelligenz, sofern seine Beiträge selbständige Gedanken enthalten – ungeachtet des Wertes dieser Gedanken. Außerhalb steht der Journalist, der nicht mit Hirn und Feder, sondern mit Schere und Kleister arbeitet, der Gerichts- oder Parlamentsreporter, der ohne eigenen Kommentar den Verhandlungsverlauf berichtet, der Lokalreporter, der kleine Tagesereignisse und Sensationen registriert – es sei denn, er knüpfe daran gesellschaftskritische Betrachtungen oder gieße sie in echt literäre Form.“333
Auch Max Weber kritisiert in einer viel zitierten Passage in ‚Politik als Beruf‘ die vor einem Jahrhundert weit verbreitete Ablehnung der journalistischen Leistungen als zu kurz gegriffen: „Daß eine wirklich gute journalistische Leistung mindestens soviel ‚Geist‘ beansprucht wie irgendeine Gelehrtenleistung – vor allem infolge der Notwendigkeit, sofort, auf Kommando, hervorgebracht zu werden und: sofort wirken zu sollen, bei freilich ganz anderen Bedingungen der Schöpfung, ist nicht jedermann gegenwärtig.“334
Derartige Ansprüche sieht Geiger besonders in der Presse zur Zeit des schriftstellerischen Journalismus der französischen Revolution erfüllt, die ein ‚Organ der Information und Aufklärung‘ gewesen sei, damit beide Aufgaben vereinte und sie noch nicht in ‚Vulgarisierung‘ oder ‚Agitation‘ ad absurdum geführt habe, wie Teile der modernen Presse.335 Legt man diesen Maßstab an, dann erfüllt sich die Bestimmung des Journalismus erst in der Einheit von vermittelnden und produzierenden Tätigkeiten, dann ist ‚angemessene‘ Vermittlung von Kulturleis330 331
332 333 334 335
Vgl. Groth 1960, S. 600 Geiger 1949, S. 15. Geiger (1949, S. 82) gesteht dem Journalismus in diesem Zusammenhang den Status der „Berufsintelligenz“ zu, deren Mitglieder in der Regel nicht selbst über die Produktionsmittel verfügen, die sie zur Herstellung ihrer Leistungen benötigen, sondern die ihre Intelligenz in Verhältnissen lohnabhängiger Beschäftigung zum Einsatz bringen. Ebd., S. 12 Ebd., S. 14 Weber 1993 [1919], S. 29. Das Herabwürdigen des Journalisten-Standes „zu einer Art Pariakaste“ ist aus Webers Sicht Folge einer einseitigen Rezeption, die Journalismus immer nur an seinen Fehlleistungen misst. Vgl. Geiger 1949, S. 59ff.
4 Jenseits der Dichotomie: Otto Groths integratives Konzept
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tungen, von Orientierungswissen, nur möglich, wenn Journalisten ihr Handeln als eine eigenständige intellektuelle Tätigkeit anlegen. Auch Groth vermutet einen produzierenden Journalisten dort, „[…] wo nicht bloß stilistische Abfassung, die Formulierung des Inhalts, sondern wo der Gedankeninhalt, Wesentliches des Gedankeninhalts, von ihm stammt“.336 Journalistisches Räsonnement, mithin produzierender Journalismus, ist demnach ohne eine angenommene geistige Eigenständigkeit der Redakteure nicht denkbar.337 Groth konzipiert die produzierende bzw. im weiteren Sinne schriftstellerische Tätigkeit des Journalisten so, dass sie sowohl vermittelnd als auch räsonierend angelegt werden kann.338 Dabei fasst er die Bedeutung des produzierenden, schriftstellerischen Journalismus bisweilen sogar so weit, dass eine eigenständige Abgrenzung eines vermittelnden Typus gar nicht mehr möglich oder sinnvoll scheint, wenn er zum Beispiel – weitergehend als Geiger – auch die Tätigkeit des sonst oft gering geschätzten Lokalreporters zum produzierenden Journalismus rechnet. „Die Schriftsteller sind also die Ausgangspartner, deren Erzeugnisse der Öffentlichkeit durch das Periodikum vermittelt werden. Zu ihnen gehören der Lokalreporter, der den dürren Bericht über einen Unglücksfall abfaßt, ebenso wie der Leitartikler, der seine leidenschaftlichen Anklagen gegen die Regierung schleudert, gehört der Feuilletonist, der in einer geistreich-subjektiven Betrachtung ein Vorkommnis des täglichen Lebens unter den Aspekt allgemeinmenschlicher Tragik stellt, ebenso wie der Gelehrte, der in einem sachlich-gründlichen Aufsatz eine neue wissenschaftliche Erkenntnis vorträgt.“339
In letzter Konsequenz fällt angesichts dieser Überlegungen auf der Handlungsebene jeder Journalist unter die Kategorie des produzierenden Journalismus, der nicht bloß vorgefertigte Agenturmeldungen oder Korrespondentenberichte unverändert weiterleitet, sondern der den Inhalt des Periodikums gestaltet. Damit unterläuft Groth die bis zu seiner Studie in der Forschung vorwiegend diskutierten Idealtypen und Rollenmuster frontal in einer mit anderen Unterscheidungen operierenden Konzeption. Aus der Dichotomie von Referat und Räsonnement wird letztlich ein graduelles Kontinuum, in dem die Eigenleistung des journalistischen Vermittlers im Hinblick auf die Entstehung seines kommunikativen Aktes beschrieben werden soll. Es muss daher als fraglich erscheinen, ob eine Grenze zwischen produzierendem und vermittelndem Journalismus auf der Ebene des journalistischen Handelns überhaupt gezogen werden kann.
4.3
Journalistische Produktion von Vermittlung
Heutzutage ist jedenfalls davon auszugehen, dass – ebenso wie Öffentlichkeit hergestellt werden muss – auch die Vermittlungsleistung des Journalismus produziert werden muss und dass insofern eine idealtypische Trennung auf der Ebene journalistischer Handlungsmodi wenig aussagekräftig ist. In seinen handlungstheoretischen Implikationen, auf der Ebene der RollenModelle, transzendiert bereits Groths Vermittlungsmodell tendenziell die tradierten Idealtypen und weist ihnen – fokussiert auf die Frage der schöpferischen (bzw. produzierenden) Anteile des Journalismus am gesellschaftlichen Zeitgespräch – eine veränderte Bedeutung zu. Sein Journalismuskonzept verweist implizit auf die Notwendigkeit, bereits den grundlegenden 336 337 338 339
Groth 1960, S. 602 Vgl. Groth 1962, S. 144f. Vgl. ebd., S. 263. Die Vermittlung des Referats gliedert sich wiederum in Nachricht, Bericht und Schilderung (Reportage), die in unterschiedlichem Maße Eigenleistungen des journalistisch Handelnden verlangen. Ebd., S. 19
156
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Handlungsmodus, auf dem aufbauend Journalismus bestimmt werden soll, einheitlich anzulegen. Wenn sowohl Referat als auch Räsonnement produziert werden müssen, dann kann die Unterscheidung zwischen Produktion und Vermittlung auf der individuellen Entscheidungsebene des journalistischen Handelns keinen besonderen Wert mehr beanspruchen. Journalisten können, das suggerieren Groths Überlegungen, letztlich gar nicht anders, als ‚produzierend‘ auf die kommunikativen Akte, mit denen sie Vermittlung gewährleisten sollen, einzuwirken. Anders ist die makrosoziale Unterscheidung journalistischer Aufgaben im gesellschaftlichen Zeitgespräch zu bewerten. Auf dieser Ebene (bei Groth die Ebene des journalistischen Werkes) ist die Unterscheidung zwischen der Vermittlung fremder Aussagen durch den Journalismus und der Produktion eigener journalistischer Gesprächsbeiträge durchaus von heuristischem Wert. Der einzelne Journalist ist hier in der Lage zwischen der Rolle als Vermittler und der Rolle als Produzent zu wechseln. Im letzteren Fall wird der Journalist selbst zum Ausgangspartner, der zum Beispiel an ein Publikum appelliert oder aber als Sprachrohr eines Publikums fungiert und seine Stimme nicht nur stellvertretend erhebt, sondern selbstständig eine Position mitentwickelt.340 In Groths Konzeption wird Journalismus nicht dogmatisch auf ein Handlungsmuster verhaftet, sondern zunächst mit empirischem Bezug in seinen verschiedenen Facetten beschrieben, die in einer historischen Rückschau als unterschiedlich ‚wesensimmanent‘ bewertet werden. Auch wenn heutzutage niemand mehr von Wesensimmanenz sprechen würde, so bietet das Gerüst der Grothschen Theorie gerade auch in der Trennung zwischen Funktionen des journalistischen Werks und Optionen des journalistischen Handelns wertvolle Hinweise auf ein Journalismusverständnis jenseits der verhärteten Fronten der Idealtypen-Dichotomie.341 Dass auch vermittelnder Journalismus produziert werden muss, dass journalistisches Handeln kommunikative Barrieren durchbrechen muss, um gesellschaftliche Gespräche in Gang zu bringen, und dass es deshalb auch als Vermittlungshandeln auf Eigenleistungen beruht342, steht 340 341
342
Vgl. Groth 1960, S. 600. Wagner (1995, S. 221) bekräftigt: „Wer den journalistischen Vermittler auf einen Nachrichtentransporteur zurückstutzen will, findet dafür bei Groth jedenfalls weder Argumente noch Beifall.“ Immerhin lassen sich auch im Münchner Umfeld Groths Weiterentwicklungen seiner Theorie finden, die als heuristische Instrumente durchaus brauchbar erscheinen. So skizziert Wagner (1977) ein Modell der „Vermittlungsverfassung in der Massenkommunikation“, demzufolge journalistische Vermittlungsleistungen nach den repräsentierten Sprechern eingeräumten Darstellungsumfängen, nach dem Grad der journalistischen Bearbeitung und Reformulierung sowie nach dem Grad, in dem eigene Meinungsäußerungen in die Vermittlung einfließen, zu trennen seien. Journalistische Vermittlungsleistungen begründeten einen „dreifachen Prozeß der Kommunikationsrationalisierung“, der gleichbedeutend ist mit einer Konzentration der Kommunikation auf wenige Medien, wenige Sprecher und wenige Inhalte (ebd., S. 176f.). Durch diese Reduktion von Komplexität bleibe die Überschaubarkeit der gesellschaftlichen Zusammenhänge für den einzelnen gewahrt. Aus der Sicht einer sich gesellschaftskritisch wendenden Publizistikwissenschaft, die auf die Analyse von Machtverhältnissen in öffentlichen Kommunikationszusammenhängen abzielt, schränkt Pross das Grothsche Vermittlungs-Modell auf so genannte ‚primäre Medien‘ ein, deren Produktion und Rezeption ohne technische Hilfsmittel möglich sei, während komplexere ‚sekundäre‘ und ‚tertiäre Medien‘ stattdessen weniger der Vermittlung als vielmehr der ‚Verteilung‘ symbolischer Formen dienten. „‚Vermitteln‘ wird allgemein gebraucht im Sinne von mitteilen, verbinden; im besonderen Gebrauch steht ‚vermitteln‘ für zweiseitige Mitteilungssysteme, wie sie im Bereich der primären Medien zu beobachten sind, dem ‚verteilen‘ in sekundären und tertiären Medienbereichen gegenüber (Zweiweg- und Einwegkommunikation).“ (Pross 1976, S. 115) Damit sieht Pross (1976, S. 116) so genannte ‚reine‘ Vermittlung nur im menschlichen ‚Elementarkontakt‘ gegeben, während er die journalistische Weiterentwicklung als „Verteilung von Vermitteltem“ klassifiziert und Journalismus als einen Beruf bezeichnet, „der Interpretiertes interpretiert und es so formuliert, daß es den bloß vorgestellten oder statistisch ermittelten Interpretanten zugänglich wird“. Diese Reformulierung der Grothschen Terminologie richtet sich vorwiegend gegen die Annahme, dass Journalismus die Beziehungen zwischen gleichberechtigten Partnern strukturiert, und knonstatiert, dass es eben doch vorwiegend ‚Sender‘ und ‚Empfänger‘ gibt, dass also die Rollen in der öffentlichen Kommunikation weitgehend präfiguriert sind (vgl. zu unterschiedlichen Rollen in der Öffentlichkeit aus-
4 Jenseits der Dichotomie: Otto Groths integratives Konzept
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nicht im Widerspruch zu einer grundsätzlich vermittelnden Aufgabe des Journalismus als gesellschaftlicher Institution. Vermittelnder Journalismus im Grothschen Sinne ist nicht mit unkritischem oder gar nur technisch dienstbarem Journalismus gleichzusetzen, sondern verdeutlicht, dass Vermittlung auf der Handlungsebene und damit in entsprechenden Rollenmodellen auch eine Eigenleistung bedeutet. Diese Leistung muss beschreibbar bleiben und kann auch vom Idealtypus Referat her nicht prinzipiell diskreditierbar sein. Eine normative Exklusion eigenständiger journalistischer Leistungen wäre besonders vor dem Hintergrund heutiger Erkenntnisse weder epistemologisch noch handlungstheoretisch begründbar.343 Journalismus müsste dann schließlich unter Abzug seiner humankommunikativen Grundlagen möglich sein – eine absurde Vorstellung, die ein weitgehend sprachbasiertes Handeln auf die Ebene technischer Dienstleistungen reduzieren würde. Die Prämisse, dass journalistische Vermittlung genuin kommunikativ ist, zwingt dazu, die entsprechenden journalistischen Aufgaben und die mit ihnen korrespondierenden Handlungsrollen nicht als Alternativen zu sehen, die eine a priori-Entscheidung voraussetzen, sondern als komplementäre Optionen, zwischen denen Journalisten im Verlauf des gesellschaftlichen Gespräches in der Interaktion mit den ‚Gesprächspartnern‘ beständig wechseln können. Grundsätzlich kommunikativ handelnd können Journalisten dann als Vermittler und Teilnehmer gesellschaftlicher Diskurse beschrieben werden.
4.4
Epistemologische Einwände: Vermittlung und (Re-)Konstruktion
Groths Ausführungen selbst geben nur wenig Aufschluss darüber, auf welcher Grundlage das Verständnis von Journalismus als produzierter, mithin als kommunikativer Vermittlung fundiert werden kann. Seine konzeptionellen Erwägungen sind daher in erster Linie von heuristischem Wert, müssen aber konzeptionell auf einer im Lichte heutiger Erkenntnis tragfähigen Basis reformuliert werden. Problematisch ist vor allem der erkenntnistheoretisch ‚naive‘ Realismus Groths, der sich insbesondere in dem Postulat ausdrückt, dass eine Vermittlung aus den Gegenwelten faktisch ungebrochen möglich ist.344 Dadurch wird der Anschein erweckt, Journalisten könnten Geschehnisse in den Gegenwelten, ‚so wie sie sind‘, wahrnehmen und ‚widerspiegeln‘. Aufgrund dieser Fehleinschätzung der Möglichkeiten des menschlichen Erkenntnisapparats und der wissenschaftlichen Diagnostik werden Journalisten normativen Anforderungen ausgesetzt, deren Erfüllung unmöglich ist.345 Groth räumt erkenntnistheoretische Probleme ein: Er gesteht Journalisten zu, ‚Wirklichkeit‘ nicht in ihrer Tatsächlichkeit erkennen zu können, und fordert weniger Wahrheit als Wahrhaftigkeit von ihnen ein: „Während die sachliche Wahrheit durch das Wesen des Periodikums eine Abschwächung, eine Durchlöcherung erfahren kann, verlangt das Wesen des Periodikums eine Verstärkung, eine größere Konsequenz der sittlichen Wahrhaftigkeitshaltung.“346
343 344 345 346
führlich Peters 1994). Sie nimmt damit allerdings a priori eine vollständig erfolgte Kolonialisierung des reflexiven journalistischen Handelns durch mediale Imperative an, die als problematisch bewertet werden kann. Ein Beispiel ist die Entwicklung des räsonierenden Idealtypus zu einem normativ-individualistischen Rollenverständnis, das sich sich gegenüber den Veränderungen in Redaktionen und Medienbetrieben verschließt. Vgl. z.B. dazu kritisch Haller 1993. Vgl. zu dieser Debatte bereits klassisch die Beiträge in Bentele/Ruoff 1982. Groth 1961a, S. 420
158
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Probleme ergeben sich immer dann, wenn das Vermittlungskonzept in seinem Anspruch überdehnt wird und die grundsätzliche Kontingenz journalistischer (bzw. je nach Standpunkt auch: menschlicher) Erkenntnis nicht berücksichtigt wird.347 Derartige Versuche verstoßen gegen den weitgehend erreichten kommunikationswissenschaftlichen Fachkonsens, dass eine ‚objektive‘ und ‚neutrale‘ Vermittlung erkenntnistheoretisch nicht haltbar ist.348 Das Vermittlungskonzept ist angreifbar. Das zeigt Hallers Frage nach „Vermittlung oder Konstruktion von Wirklichkeit?“349 ebenso deutlich wie Weischenbergs programmatische Forderung: „Wir müssen uns verabschieden von einem (naiven) journalistischen Vermittlungsbegriff und Produktion (wie Rezeption) als (autonome) Konstruktion begreifen. Journalisten sind keine Transporteure und sollten nicht als Begleitpersonal von Containern beurteilt werden.“350
Bei näherer Betrachtung aber relativieren beide Autoren die angerissenen Konflikte schnell wieder: Haller favorisiert mit guten Gründen ein sozial-konstruktivistisches Modell, das an die Stelle des naiven objektivistischen Realitätsbegriffs treten soll und das die Bestimmung von ‚Wahrheit‘ und ‚Objektivität‘ an Konsens knüpft.351 Eine solche Perspektive schließt eine naive abbildrealistische Vermittlungstätigkeit konzeptionell aus und beschreibt präzise die Anforderungen an eine angemessen reflektierte Recherche, deren Ergebnisse dann sehr wohl – und unter dem Vorbehalt ihrer Widerlegung als nicht zutreffende Konstruktion – vermittelbar sind. Und auch Weischenberg schränkt ein, dass eine „ausgearbeitete konstruktivistische Medienoder gar Journalismustheorie“ nicht in Sicht und u.U. auch gar nicht möglich sei; er meldet darüber hinaus Zweifel daran an, ob durch die Anwendung der Modelle und Heuristiken des Radikalen Konstruktivismus überhaupt ein „kommunikationswissenschaftlicher Paradigmenwechsel“ eingeleitet worden ist.352 Tatsächlich wäre eine Überwindung des naiven Realismus mit den Mitteln des Radikalen Konstruktivismus ein Pyrrhus-Sieg. Da der Radikale Konstruktivismus, wie in Kapitel II diskutiert, die problematische Implikation besitzt, dass sich journalistisches Handeln vollstän347
348 349 350 351 352
Beispielhaft dafür ist Schönhagens (1998; 1999) historische Studie zur Norm der Unparteilichkeit, in der anknüpfend an das Grothsche Konzept – wenn auch in der sehr engen Interpretation Wagners (vgl. z.B. 1977; 1995) – skizziert wird, wie sich journalistische Vermittlungsleistungen historisch entwickelt und entfaltet haben. Dabei verweist Schönhagen einerseits zutreffend auf die schon früh festzustellenden Tendenzen eines ‚neutralen‘ und wertungsabstinenten Nachrichtenjournalismus, auf die auch Pressehistoriker aufmerksam machen (vgl. z.B. Stöber 2000; Weber 1997a; Willke 1984a; Koszyk 1968; 1972b; Lindemann 1969), versucht aber andererseits, das Bild eines unbeteiligt beobachtenden Journalismus festzuzurren. Dort heißt es: „Auch der Journalist muss sich im Rahmen seiner vermittelnden Tätigkeiten, von der Wirkwelt der Alltagswirklichkeit und seinem diesbezüglichen Relevanzsystem lösen, um gewissermaßen aus der Vogel-Perspektive das Wirken der Handelnden in der gemeinsamen (im Alltagsleben auch von ihm geteilten) kommunikativen Umwelt erfassen zu können.“ (Schönhagen 1999, S. 280) Grundlagen für eine solche Interpretation finden sich bei Groth nicht, der selbst eingeräumt hat, dass eine reine Beobachtung aufgrund der Eingebundenheit des vermeintlichen Beobachters nicht möglich ist (vgl. Groth 1960, S. 199f.). Auch Journalismus als Vermitteln kann sich – bei allem unterstelltem Neutralitätswillen – nicht über die Begrenztheit menschlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten hinwegsetzen, die reliable Vollständigkeit der Vermittlung von vornherein ausschließt. Unbestreitbar ist die Konzeption Schönhagens daher mit erkenntnistheoretischen Problemen belastet, die zumindest in Teilen bereits im Vermittlungs-Begriff selbst angelegt sind und dessen Gebrauch zumindest erklärungsbedürftig machen. Gleiches gilt für die Überlegungen Schröters (1988) zu einer „Mitteilungs-Adäquanz“. Vgl. Schulz 1989; Schmidt 1993 Haller 1993 Weischenberg 1993, S. 133 Vgl. Haller 1993, S. 141ff. Weischenberg 1993, S. 130f. Auch ein systemtheoretisch argumentierender Autor wie Blöbaum (2001, S. 74) sieht Journalismus weiterhin als „die aktuelle Vermittlung von Informationen“.
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dig beobachterabhängig und damit gleichzeitig vollständig unabhängig von einer vermeintlich außerhalb des Beobachters liegenden realen Welt vollzieht353, hat er keine konzeptionelle Handhabe, einer journalistischen Beliebigkeit entgegen zu wirken. Neuberger, der diesen Umstand scharf kritisiert, plädiert daher für eine an den kritischen Rationalismus angelehnte Erkenntnistheorie, die jede Vorfestlegung hinsichtlich der Erkennbarkeit der Welt (‚naiver Realismus‘) oder der Nicht-Erkennbarkeit der Welt (‚radikaler Konstruktivismus‘) vermeidet, weder Erkenntnis noch Irrtum ausschließt, sondern statt dessen nur vorläufige und korrigierbare Annahmen akzeptiert.354 Die bereits benannten jüngeren konstruktivistischen Ansätze zeichnen deshalb soziale Referenzpunkte als Korrekturinstanzen aus.355 Einen weiteren möglichen Ausweg weist das rekonstruktive Konzept der kommunikativ erhobenen Geltungsansprüche eines Sprechaktes, das ebenfalls weit zurückhaltender mit Vorfestlegungen hinsichtlich des Status‘ der als gegeben unterstellten Welt umgeht und die Akzeptanz von Wirklichkeitsbehauptungen an ihre Begründbarkeit koppelt. Die rekonstruktiven Ansätze, an denen sich die vorliegende Studie orientiert, versuchen einen Brückenschlag zwischen realistischen und konstruktivistischen (nicht radikal-konstruktivistischen) Prämissen auch in der praktischen Absicht, journalistisches Handelns nicht einer normativen Richtschnur zu berauben. Ein rekonstruktives Modell verfällt nicht zurück in die vereinfachenden Spiegelungs-Annahmen, die der ‚Vermittlungstheorie‘ zugrunde liegen, geht aber davon aus, dass es eine ‚objektive Realität‘ gibt, die zumindest weitgehend unabhängig ist von den individuell verschiedenen Erkenntnisstrukturen einzelner Subjekte und die deshalb dem Erkennen mindestens von Fall zu Fall und in Teilen sowie unter dem grundsätzlichen Vorbehalt des Irrtums und der Korrekturbedürftigkeit zugänglich ist. Dass ein Erkennen der Realität sui generis zur Gänze nicht möglich ist und dass das Individuum in seinen Erkenntnisversuchen auch Irrtümern unterliegen kann, ist diesem Ansatz zufolge in den subjektiven Erkenntnisleistungen der Perspektivität, der Selektivität und der Konstruktivität begründet, die sich in allen Wahrnehmungsprozessen und Erkenntnisvorgängen – auch in journalistischen – auffinden lassen.356 Berichterstattung ist daher weder eine reine Konstruktion noch ein naives Abbild, sondern vielmehr „[…] nur durch das Wechselspiel von subjektiven Strukturen der Berichterstattung und des Berichterstatters einerseits und objektiven Wirklichkeitsstrukturen andererseits beschreib- und erklärbar“.357 Journalistische Nachrichten sind deshalb adäquat als ‚Rekonstruktionen von Wirklichkeit‘ aufzufassen, die in eben diesem Wechselspiel entstehen. Ein Teil der zu rekonstruierenden Wirklichkeit ist dabei bereits sozial und teilweise medial konstruiert. „Medienwirklichkeit ist (in ihrem Informationsteil) Rekonstruktion anderer Wirklichkeiten, Rekonstruktion realer Ereignisse für die Leser, Hörer und Zuschauer. Dies ist nicht nur eine Beschreibung einer Medienfunktion, dies muss gleichzeitig normative Vorgabe und Zielsetzung für die Medien sein, ohne die die Abweichung von den Realitäten vermutlich größer wäre.“358
353
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Vgl. beispielhaft für diese konstruktivistische Sicht Schmidt 1993, S. 116: „Medienberichterstattung ist nicht deshalb ein Konstrukt, weil sie perspektivisch, selektiv und komplexitätsreduzierend sein muß; sondern sie ist ein Konstrukt, weil sie – ganz abgesehen von journalistischen Aufrichtigkeitsintentionen – als Bericht ein Wirklichkeitsangebot präsentiert, bei dem nicht die Perspektive vom Gegenstand abgezogen werden kann.“ Vgl. Neuberger 1996, S. 137ff. Vgl. Pörksen 2006 Vgl. Bentele 1993 Ebd., S. 167 Ebd., S. 171. Donsbach (1990, S. 27) wiederum plädiert für ein methodisches Verständnis von Objektivität, wenn er auf Basis eines „Regelwerks von Techniken“ eine „möglichst große Intersubjektivität der Realitätsbeschreibungen“ gewährleistet sehen will.
160
III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Aus dieser Perspektive heraus ist es dem Journalismus also durchaus möglich, vermittelnde Aufgaben im gesellschaftlichen Diskurs zu erbringen. Genauso aber wird deutlich, dass diese Vermittlung nicht folgenlos für das zu Vermittelnde sein kann, sondern durch Perspektivität, Selektivität und Konstruktivität zu Veränderungen führt. In diesen drei Komponenten lassen sich Eigenleistungen des vermittelnden Journalismus finden.359 Vor allem hinsichtlich des Umgangs mit dem Material spricht Groth die aus rekonstruktiver Perspektive genannten Erkenntnisleistungen des Subjekts implizit und teilweise explizit (Selektivität) an. Eine Neuinterpretation des Grothschen Vermittlungskonzepts aus rekonstruktivistischem Blickwinkel ist angesichts solcher Anschlussstellen durchaus möglich. Es wird Aufgabe des zu entfaltenden Konzepts journalistischen Handelns sein müssen, sich auch dieser Frage des epistemologischen Status‘ der Vermittlung zuzuwenden. Aus der Sicht einer ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ werden dabei die Konsenstheorie der Wahrheit und die an sie anknüpfende Diskurstheorie ausschlaggebende Referenzpunkte sein, anhand derer der erkenntnistheoretische Status kommunikativer Vermittlung kommunikationstheoretisch näher bestimmt werden kann.
5
Zwischenfazit: Journalisten als Diskursanwälte360
In der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Journalismus und der historisch-normativ argumentierenden Journalismusforschung der Zeitungs- und Publizistikwissenschaft konnte sowohl herausgearbeitet werden, dass sich die zwei klassischen Vorstellungen von der vermeintlich ‚idealen‘ Rolle des Journalisten – der neutrale Übermittler von Nachrichten und der parteinehmende Leitartikler – zunächst nicht bruchlos zu einem Modell des Journalismus addieren lassen, als auch, dass ein Gegensatz zwischen Kommunikation und Vermittlung allenfalls zur heuristischen Differenzierung unterschiedlicher Absichten, nicht aber zur wissenschaftlich angeleiteten Unterscheidung differenter Handlungsmodi haltbar ist, weil auch Vermittlung kommunikativ ist. Besonders im Rückblick auf Groths Vermittlungskonzept ist deutlich geworden, dass tradierte Dichotomien, die sich vielfach auch noch im eingangs dargestellten Praxisdenken finden lassen, journalismustheoretisch nicht zu begründen sind und zugunsten differenzierterer Handlungsmodelle überwunden werden sollten. Es wird im weiteren Verlauf der Studie systematisch zu erörtern sein, wie Journalismus auf der Basis eines soziologisch bestimmten (kommunikativen) Handlungsmodus konzipiert und beschrieben werden kann. Damit sollen die historisch-empirisch abgeleiteten und von der Journalismusforschung meist normativ gebrauchten Idealtypen zu einem integrativen theoretischen Modell weiterentwickelt werden, das beiden Facetten journalistischen Handelns deskriptiv wie normativ gerecht werden kann und das darüber hinaus auch die Grundlage für ethischpraktische Anforderungen an einen ‚angemessenen‘ Journalismus nach dem Muster des ‚produzierenden Journalismus‘, der nach Groth sowohl vermittelnd als auch räsonierend sein kann, zu bilden vermag. Dazu soll die Intention einer formalen anwaltschaftlichen Rolle des Journalismus nicht aufgegeben werden, sondern mit Blick auf die prozeduralen Normen öffentlicher 359
360
Groth (1960, S. 571f.) benennt Materialbeschaffung, Materialbearbeitung und Publikumspflege als die drei journalistischen Aufgabenkreise und verweist damit ebenfalls auf die Probleme der Wahrnehmung von ‚Wirklichkeit‘, der Auswahl und Bearbeitung sowie der Perspektivierung auf das Publikum, die in aktuellen Entwürfen debattiert werden. Den Begriff „Diskurs-Anwalt“ hat Burkart (1998b) für ein journalistisches Rollenmodell auf Basis einer Zusammenführung von Zeitungswissenschaft und ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ vorgeschlagen.
5 Zwischenfazit: Journalisten als Diskursanwälte
161
Kommunikation weiterentwickelt werden. Angestrebt wird die Grundlegung eines Konzepts des Journalisten als Diskursanwalt, das Vermittlung und Räsonnement, Neutralität und Parteinahme zusammenbringen soll. Hier liegt das Potenzial, die beschriebenen Dichotomien zu überwinden und einen Maßstab der Kritik auszuweisen, der die legitimistischen Einwände gegen einen sich politisch und sozial engagierenden Journalismus entkräftet.
Grafik 3: Der Geltungsbereich des ‚produzierenden Journalismus‘
[eigene Grafik, -cb-] Dass eine solche Reformulierung nicht auf der Grundlage des Grothschen Konzepts selbst möglich ist, zeigen die Schwierigkeiten, in die Glotz und Langenbucher bei dem Versuch geraten, Groths Modell zum Ausgangspunkt eines emanzipativen Journalismusverständnisses zu machen und an die Verfasstheit des Mediensystems der Bundesrepublik anzupassen.361 Im Visier ihrer Kritik haben sie vor allen Dingen eine Meinungspublizistik, die aus vielerlei Gründen – genannt werden „pseudodemokratische, bürgerlich-liberal-elitäre, anti-aufklärerische Elemente“362 – nicht die öffentliche Gesprächspflege als Aufgabe wählt, sondern stattdessen anscheinend vorwiegend bis ausschließlich erzieherisch tätig sein will und dadurch bevormun361 362
Vgl. Glotz/Langenbucher 1969 Ebd., S. 11
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III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
dend wirkt. Ausdrücklich stellen die Autoren ihre Kritik unter ein emanzipatorisches Programm, ihr Ziel ist die Demokratisierung öffentlicher Kommunikation.363 Sie betonen die journalistische Aufgabe, die vielen unterschiedlichen Stimmen innerhalb der Gesellschaft öffentlich zu Gehör zu bringen. Der eigenständig geführte öffentliche und kritische Diskurs des Journalismus gegenüber der politischen Führung habe dagegen zurückzustehen. „Die ‚öffentliche Aufgabe‘ des Journalisten – wenn man diesen ominösen Begriff schon verwenden will – besteht nicht in der öffentlichen Kundgabe seiner privaten ‚Gesinnung‘, sondern sie liegt in der Betreuung, Förderung und Beförderung gesellschaftlicher Zeit-Kommunikation. In der demokratischen Gesellschaft werden Regierung und Verwaltung nicht von einer zufällig zusammengesetzten Gruppe von Privatleuten – den Journalisten – ‚kontrolliert‘, vielmehr kontrolliert die gesamte organisierte und nichtorganisierte Gesellschaft in einem offenen Meinungsbildungsprozeß. Diesen Prozeß hat der Journalist anwaltschaftlich zu betreuen. Er soll diese Diskussion fördern, kann selbst als gleichberechtigter Gesprächspartner mitsprechen, verfehlt aber seine ‚öffentliche Aufgabe‘, wenn er gemäß seiner Gesinnung das Gespräch zu reglementieren beginnt.“364
Pluralistische Gesellschaften, so die Autoren, bedürften einer Instanz, die unterschiedliche Meinungen und Interessen zu einem Gespräch ordne und zugänglich mache. Diese Aufgabe falle Journalisten zu, die Nachrichten im gesellschaftlichen Gespräch zu vermitteln hätten. Nicht mehr der „Kreuzzügler und Aufklärer“, sondern der sozial legitimierte Vermittler sei die angemessene journalistische Rolle in einer pluralistischen Demokratie.365 Langenbucher und Glotz beschränken somit auf der Basis des Grothschen Vermittlungskonzepts das journalistische Mandat als Gesprächsanwalt formalistisch auf die Fortsetzung und Gestaltung des Gesprächs, und wollen die ideologisch oder pragmatisch begründete Teilnahme oder Veränderung des Gesprächs nach Maßgabe eigener inhaltlicher Positionen möglichst eingeschränkt sehen. Dabei geraten sie in die Nähe der gängigen legitimistischen Argumentation, die passive Vermittlung gegenüber jeglicher Form journalistischer Meinungsäußerung klar präferiert und fallen unversehens in die beschriebene Dichotomie journalistischer Idealtypen zurück – zugunsten der normativen Entscheidung für vermittelnden Journalismus.366 Das mag als ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit eines handlungstheoretischen Journalismusmodells jenseits der anhand der Kommunikator-Intention festgemachten Dualismen 363
364 365 366
Vgl. ebd., S. 13: „Anpassung – das ist auch Einstellung auf den Leser, Eingehen auf seine Probleme, Berücksichtigung seiner Bedürfnisse als ein Moment journalistischer Arbeit. Gerade wer die bestehenden Verhältnisse verändern will, muß diese Anpassung leisten, um überhaupt gehört zu werden.“ Die Abgrenzung zwischen der gesellschaftlich sinnvollen Anforderung an journalistische Vermittlung, umfassend und rezipientenfreundlich zu berichten einerseits, und der Gefahr, sich dem Lesergeschmack allzu schnell und vorauseilend ‚anzupassen‘ andererseits, ist augenscheinlich schwierig – und die Gratwanderung gelingt nicht immer. Zunächst aber ist die Streitschrift ein Plädoyer für einen Journalismus, der seinen Rezipienten in Augenhöhe begegnet. Ebd., S. 41f. Ebd., S. 34 Gegen diese Tendenz wendet sich zu Recht auch Pätzold (1975, S. 52ff.), der darüber hinaus darauf hinweist, dass die Autoren vor allem die interessengebundene Struktur des massenmedialen Systems vernachlässigten, die erheblichen Einfluss auf Art und Möglichkeit journalistischer Vermittlung habe. Pätzold setzt sich ausführlich und kritisch mit den impliziten und expliziten Idealisierungen der Autoren auseinander und kritisiert deren Fokus auf Fragen der journalistischen Legitimation ebenso wie die individualethische Überlastung des einzelnen Journalisten in dieser Kritik. Auch wenn man seiner materialistisch motivierten Kritik der Kommunikationsverhältnisse nicht bis in alle Einzelheiten folgen mag, so ist doch der Hinweis darauf richtig, dass mediale Strukturen von ökonomischen Interessen geprägt sind und dass Journalisten als kommunikativ kompetente Akteure nicht frei von politischen und sozialen Meinungen sein sollten, da sie auch in ihrem Beruf als rationale und mündige Bürger handeln. Anstatt eine ‚Kritik der deutschen Presse‘ vorzulegen, formulieren sie eine Kritik der in der Presse tätigen Journalisten, die Pätzold (1975, S. 56f.) polemisch aufspießt: „Im Grunde müßte der Journalist auch ein vom Staat eingesetzter Funktionär sein können, gewissermaßen ein Kommunikationsbeamter, nur dem Recht und den Verordnungen verantwortlich, nach denen er angestellt wird.“
5 Zwischenfazit: Journalisten als Diskursanwälte
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gelten. Ganz offensichtlich führen diese Dichotomien selbst Autoren, die explizit von einem emanzipatorischen Programm ausgehen wie Glotz und Langenbucher, dazu, sich legitimistischer Grundprämissen bedienen zu müssen, um den Journalismus auf ein nur vermeintlich rezipientenfreundliches Vermittlungshandeln zurückzubinden. Anstatt die ambivalente Stellung des Journalisten zwischen Professionalität und Alltagskommunikation zu thematisieren, wird das journalistische Handlungsspektrum ohne erkennbaren Begründungsaufwand auf Vermittlung verkürzt. Hätten die Autoren Groths Erwägungen einer Ambivalenz von Vermittlung und Produktion im journalistischen Handeln weiter verfolgt und diese von seinen Vermittlungsannahmen auf der Ebene des journalistischen Werkes differenziert, hätte es ihnen unter Umständen gelingen können, die anschlussfähige Figur einer formalen anwaltschaftlichen Rolle des Journalismus konzeptionell in den Griff zu bekommen und nicht in der Sackgasse der Idealtypen-Dichotomien zu landen. Groths Konzeption legt nämlich auch ein JournalismusVerständnis nahe, das Journalisten auf die Verteidigung prozeduraler Mechanismen des gesellschaftlichen Zeitgesprächs verpflichtet. Der Versuch der Begründung einer journalistischen Rolle als Diskursanwalt bedarf somit einer handlungs- und kommunikationstheoretischen Fundierung. Diese soll im Anschluss an die bereits eingeführten öffentlichkeitstheoretischen Erwägungen von Habermas in der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ gesucht werden.367 Mit einer kritischen und rekonstruktiven Gesellschaftstheorie geht ein Verständnis der öffentlichen Aufgabe des Journalismus als der Herstellung von Öffentlichkeit einher, durch die Staatsbürgern alle Themen und Sachverhalte zugänglich sind, die der gesellschaftlichen Bearbeitung bedürfen. In diesem Sinne ist die journalistische Aufgabe auch als eine vermittelnde zu verstehen. Allerdings kann sie sich nicht darin erschöpfen, weil sie vom Journalismus eigene Aktivität sowohl hinsichtlich der Beschaffung von Informationen als auch ihrer einordnenden Bewertung verlangt. Habermas formuliert ein mit diesen Einsichten kompatibles anwaltschaftliches Verständnis des Journalismus, indem er aus den journalistischen Berufskodizes, dem berufsethischen Selbstverständnis sowie medienrechtlichen Vorgaben eine regulative Idee deduziert, die er zwar explizit an die ‚Massenmedien‘ (in einem nicht weiter spezifizierten Sinne368) anlegt, die sich aber letztlich auf journalistisches Handeln bezieht. Die ‚Massenmedien‘, so heißt es dort, „[…] sollen sich als Mandatar eines aufgeklärten Publikums verstehen, dessen Lernbereitschaft und Kritikfähigkeit sie zugleich voraussetzen, beanspruchen und bestärken; sie sollen, ähnlich wie die Justiz, ihre Unabhängigkeit von politischen und gesellschaftlichen Aktoren bewahren; sie sollen unparteilich die Anliegen und Anregungen des Publikums annehmen und den politischen Prozeß im Lichte dieser Themen und Beiträge einem Legitimationszwang und verstärkter Kritik aussetzen“.369
Ebenso wie Glotz und Langenbucher bezieht sich Habermas damit auf das Publikum und die Handlungsfähigkeit des Publikums in der Demokratie als relevante Referenzgrößen, allerdings unterscheidet sich sein Postulat dadurch, dass es die vom Idealtypus Referat (Vermittlung) ausgehend geforderte Neutralität des Journalismus (‚unparteilich‘) mit der Idee der Kritik von Beiträgen im gesellschaftlichen Gespräch verbindet und beide als gleichrangige Aufgaben 367
368 369
Vgl. auch Burkart (1998b), der ebenfalls vorschlägt, das von Glotz und Langenbucher konturierte Konzept des ‚Gesprächsanwalts‘ durch Verbindung mit den öffentlichkeitstheoretischen Überlegungen von Habermas zu einem auch normativ begründeten Rollenverständnis des Journalisten als „‚Diskurs-Anwalt‘ der Gesellschaft“ weiter zu entwickeln, es in seiner Skizze dann aber bei knappen Anmerkungen belässt. Habermas bezieht den Begriff allgemein auf den massenkommunikativen Gesamtrahmen. Insofern lassen sich die Anmerkungen auf journalistisches Handeln und mediales System hin präzisieren. Habermas 1992, S. 457 [Hervorhebung von mir, -cb-]
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III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
journalistischen Handelns betrachtet.370 Mit der Theorie von Habermas wird es möglich, die Intuition des Grothschen Vermittlungskonzeptes neu zu füllen. Die Positionierung des Journalisten als Anwalt der Regeln des öffentlichen Diskurses in modernen Gesellschaften kann so zu einem eigenständigen Konzept eines diskursiven Journalismus weiterentwickelt werden. Zusammengenommen versprechen Groths Vermittlungskonzept und die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ ein belastbares Fundament für eine verständigungsorientierte Theorie des Journalismus zu bilden.371 Im umgreifenden Rahmen einer Theorie kommunikativen Handelns können die handlungspraktischen Überlegungen von Groth oder Glotz und Langenbucher neu interpretiert und für die Journalismustheorie anschlussfähig gemacht werden, indem die journalistische Gewährleistung eines kommunikativen Austausches zwischen gesellschaftlich repräsentativen Gesprächspartnern vor Publikum konzeptionell als argumentative Diskursvermittlung gefasst wird.372 So wird verhindert, dass journalistische Kritik doch nur wieder entlang der alten Konfliktlinien als „ein Zusatz, eine Art interpretatorische Ornamentik der Artikulation und Information“373 verstanden wird. Das Ziel einer Konzeption des diskursiven Journalismus ist es, die journalistische Aufgabe des Räsonnements und der Kritik immanent in die Vermittlungsprozesse hineinzutragen, welche wiederum Teile einer räsonierenden Gesamtstruktur von Öffentlichkeit sind. „Diskursiver Journalismus verweist somit auf ein journalistisches Rollenverständnis für entwickelte Demokratien: Neben der Kompensation des (unumgänglichen) Mangels an direkt-kommunikativen Kontakten etwa zwischen Staatsbürgern und (entscheidungsmächtigen) Volksvertretern kommt den einzelnen Journalisten auch die Aufgabe zu, eben diesen kommunikativen Kontakten – die sie gleichsam stellvertretend für ihre Leser/Hörer/Seher eingehen – mit einer reflexiven Einstellung zu begegnen und allfällige Zweifel an kommunikativen Geltungsansprüchen öffentlich zu thematisieren.“374
Ein solches Journalismusverständnis verspricht angemessen mit den epistemologischen Schwächen des Grothschen Ansatzes umgehen zu können, indem es Vermittlung als einen reflexiven und kommunikativen Vorgang konzipiert, der nicht ‚Widerspiegelung‘ oder ‚Abbildung‘ ist. Ereignis- oder Kommunikationsvermittlung durch Journalismus ist kein Abbild einer unabhängigen Wirklichkeit, sondern sprachlich-symbolische Annäherung an das Wahrgenommene. Das sprachliche Fundament des Journalismus verweist auf grundlegende epistemologische Probleme journalistischer Berichterstattung. Im Zuge seines Vermittlungshandelns ist der Journalist als kommunikationsfähiges Subjekt dazu angehalten, erhobene Geltungsansprüche der gesellschaftlichen Gesprächspartner zu prüfen und diese Prüfergebnisse ebenfalls öffentlich zugänglich zu machen. Wie zu sehen sein wird, ist diese Modellierung journalistischen Vermittlungshandelns keineswegs nur ein normatives Postulat, sondern eine stringente Folgerung kommunikativer Handlungsmuster. Journalismus steht vor der Aufgabe, gesellschaftliche Diskurse, die zumeist sprachlich organisiert sind, in ihren Facetten zu rekonstruieren. Dieses Postulat bezieht sich primär auf die diskursive Strukturierung von Realität und auf die damit verbundene soziale Welt der intersubjektiv verhandelten Normen der Richtigkeit, die – mehr 370 371 372 373 374
Allerdings bleiben diese Ansätze bei Habermas – abgesehen von wenigen Ausnahmen – weitgehend implizit. Habermas nimmt in seinem Werk durchweg das journalistische Handeln nicht weiter systematisch in den Blick, sondern konzentriert sich auf die demokratiekonstitutive Aufgabe von Öffentlichkeit. Vgl. Burkart 1998b, S. 169. Auch Lorenz (2002, S. 129) stellt – wenn auch ohne Diskussion – eine Verbindung zwischen Habermas‘ Öffentlichkeitstheorie und dem Journalisten als Gesprächsanwalt her. Dazu wären dann auch diskurstheoretische Erörterungen medienethischer Konzepte heranzuziehen. (vgl. dazu vorläufig Loretan 1999; 2002 sowie auch Brosda 2000a). Pätzold 1975, S. 55 Burkart 1998b, S. 170
5 Zwischenfazit: Journalisten als Diskursanwälte
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noch als Fragen der ‚Wahrheit‘ von Weltwahrnehmung und der ‚Wahrhaftigkeit‘ subjektiver Expressionen – den kritischen Verfahren diskursiver Überprüfung standhalten müssen. Journalismus prüft also zunächst gar nicht die ‚Wahrheit‘ der Realitätsunterstellungen der Kommunikationspartner, sondern vermittelt sie untereinander. Dabei kommt zwangsläufig ein eigenständiges, aus der Sprachtheorie heraus zu begründendes Kritikpotenzial ins Spiel – zwangsläufig, weil ein Verstehen kommunikativer Akte voraussetzt, dass der Verstehende zu den erhobenen Geltungsansprüchen Stellung bezieht und sie folgerichtig mindestens implizit einer diskursiven Prüfung unterzieht. Diesem Umstand kann sich auch ein vermeintlich noch so neutral vermittelnder journalistischer Akteur im gesellschaftlichen Gespräch nicht entziehen. Kuhlmann spricht in diesem Zusammenhang von einer Erweiterung des demokratischen Repräsentationsgedankens auf ein Verständnis einer „diskursiven Repräsentanz“, in der sich journalistisch Handelnde gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern befänden.375 Doch die Implikationen eines journalistischen Ethos, das die eigene Rolle als die eines Diskursanwaltes beschreibt, reichen darüber noch weit hinaus. Sie betreffen auch die Stellung des Journalisten zur Lebenswelt der Gesellschaft und damit zu den individuellen, kulturellen und sozialen Reproduktionsbedingungen, soweit sie sich auf interaktionistisch und symbolisch strukturierte Bereiche von Gesellschaft beziehen. Ein qualitativ zufriedenstellender Vermittlungsprozess ist ohne die Etablierung entsprechender kommunikativer Beziehungen nicht denkbar, da sich die „Qualität eines Vermittlungs-Prozesses“ letztlich am erfolgreichen Aufbau kommunikativer Beziehungen zwischen Journalismus und Publikum bemessen lässt.376 Über die Qualitätsmaßstäbe und die Qualität des Journalismus kann nur Journalismus selbst entscheiden. Er hat die Autonomie, über seine professionellen Handlungsprogramme zur Gewährleistung dieser Qualitätsziele zu verfügen.377 Mit dieser Autonomie sind unweigerlich Prozesse der Selbstvergewisserung des Journalismus verknüpft, die ein Maß an Reflexivität voraussetzen, das in den bislang skizzierten handlungstheoretischen Modellen kaum zu finden ist, das aber in einem Modell eines diskursiven Journalismus grundlegend verankert sein muss. Auf diesem Wege erscheint es möglich, eine journalistische „Selbstregulation“378 nicht nur systemtheoretisch, sondern auch handlungstheoretisch und damit in Ethik übersetzbar fundieren zu können. Im Folgenden soll daher auch der begründeten Vermutung nachgegangen werden, dass die für diese Selbstregulation notwendige Autonomie im Falle des Journalismus nicht in dessen systemischer Differenzierung, sondern im Gegenteil in der diskursiven Kommunikativität des Handelns journalistischer Akteure begründet liegt. Wie Langenbucher betont, hat Journalismus „[…] zu tun mit Demokratie, mit Humanität, mit Pazifismus, und nicht zuletzt: er ist ein Teil des – bis heute – unvollendeten Projektes der Aufklärung“.379 Und auch Pöttker verweist auf die Verankerung des Journalismus in dieser intellektuellen Tradition, die sich vor allem in entsprechenden ethischen Postulaten ausdrückt: „Journalisten sollen ihr Publikum an den Problemen der Zeit teilhaben lassen, die Leser und Hörer helle machen und Anwälte des offenen Gesprächs zwischen Gruppen und Milieus sein, auf dass die Gesellschaft besser zusammenhalte. Wenn es um die Aufgaben des Berufs geht […] fallen häufig die Stichwörter Öffentlichkeit, Aufklärung und Integration.“380
375 376 377 378 379 380
Kuhlmann 1999, S. 132 Rager 2000, S. 82 Vgl. Rager 1994, S. 193 Ebd., S. 197 Langenbucher 1992b, S. 19 Pöttker 2002b, S. 12
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III Die Idee der Öffentlichkeit – Historische Grundlagen des Journalismus
Begreift man Journalismus als demokratisierende und aufklärerisch Instanz im gesellschaftlichen Kommunikationsprozess, die mit kommunikativ generierter oder sozial zugeschriebener Legitimation ausgestattet ist, um auch ohne formales Mandat in politische und gesellschaftliche Prozesse hineinzuwirken, dann bedarf diese Annahme allerdings zweifellos einer hinreichenden Fundierung. Die Journalismustheorie steht vor der Aufgabe, diesen behaupteten immanenten Zusammenhang381 auch jenseits traditionell-sittlich verankerter Bekenntnisse theoretisch zu begründen, um ihn in seiner normativen Dimension aufrechtzuerhalten. Auf dieser Basis ist auch eine hinreichende Abgrenzung des Journalismus von Public Relations oder Propaganda möglich. Ausschlaggebend ist die zugrunde liegende Rationalität: Während journalistisches Handeln auf kommunikativer Rationalität beruht und als primäres Ziel die Gewährleistung weiterer Kommunikation hat, sind PR-Bemühungen auf die Erreichung extern begründeter, strategischer Ziele gerichtet. Holzschnittartig lässt sich mit Bentele konstatieren, dass Journalismus der (vermittelnden) Fremddarstellung dient, während PR auf strategische und persuasive Selbstdarstellung gerichtet ist.382 Röttger sieht in PR zu Recht „geplante und strategische Kommunikation“.383 Das bedeutet nicht, dass Journalismus nicht auch interessengeleitet ist und PR nicht auch diskursiv sein können384, aber anders als für Journalismus ist dieser Bezug zu einer öffentlich gewährleisteten Kommunikationsrationalität für PR zunächst nur mittelbar und instrumentell von Interesse. Sie zielen – anders als die ebenfalls primär persuasive Kommunikation der Werbung – darauf ab, durch Aufnahme in journalistische Vermittlung in ihren persuasiv-strategischen Geltungsansprüchen kommunikativ beglaubigt zu werden. Auch um hier ein kritikloses Durchreichen zu verhindern, ist ein eigenständiger kommunikativer Journalismus von gesellschaftlicher Relevanz. Dass dieser Journalismus auch eigene Interessen verfolgt steht dabei außer Frage, ist aber für seine Geltung nicht in erster Linie konstitutiv. Der mikrosoziale Ansatz des kommunikativen Handelns kann einen zentralen Konnex zwischen einem kommunikativen Verständnis von Journalismus einerseits und einer breit angelegten Gesellschaftstheorie der Moderne, die öffentliche Verständigung als einen wesentlichen Integrations- und Zielfindungsmodus betrachtet, andererseits darstellen. Sind in ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ bereits erste Hinweise auf die Verknüpfung zwischen einem bestimmten Handlungs- und Kommunikationstypus und der Konstitution einer sozialen Sphäre Öffentlichkeit entwickelt worden, so findet sich die systematische Entfaltung dieses Grundgedankens erst in der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ und den ihr vorangehenden Texten zu Fragen der Universalpragmatik und der kommunikativen Rationalität.385 Sie bilden die konzeptionelle Grundlage, auf der ein diskursiver Journalismus in modernen Massenmedien näher beschrieben und bestimmt werden kann.
381 382 383 384 385
Vgl. auch Pöttker 1998b. Hier wird die Relevanz der Verbindung zwischen Aufklärung und Journalismus hinsichtlich der Formulierung eines journalistischen Ethos am Beispiel des Wirkens von Daniel Defoe thematisiert. Systematisch auf Gegenwartsgesellschaften gemünzt finden sich ähnliche Gedanken in Pöttker 1996. Vgl. Bentele 1997, S. 23f. Diese Unterscheidung ist grob, wie der Autor selbst einräumt, verdeutlicht aber idealtypisch die mögliche Differenzierung zwischen den beiden Handlungsmodi. Siehe dazu auch die konzeptionelle Begründung auf Basis der Universalpragmatik in Abschnitt IV.2.2.2 der vorliegenden Arbeit. Röttger 2005b, S. 369. Die kommunikationswissenschaftliche Diskussion über Public Relations oder Propaganda kann an dieser Stelle nicht vertieft werden. Vgl. zu PR grundlegend den Überblick in Röttger 2000 und zu Propaganda die Studie von Bussemer 2005. Vgl. für ein Beispiel diskursiver PR Burkart/Probst 1991. Vgl. Habermas 1995 [1981] (2 Bde.); 1995a [1984]
IV
Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
In diesem Kapitel soll das bislang historisch eingeführte integrative Journalismusverständnis systematisch weiter entfaltet werden. Die Modellierung eines journalistisch kommunikativen Handlungsmodus knüpft an die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ an, die im Kern eine grundlegende konzeptionelle Weiterentwicklung und mikrosoziologische Fundierung der Überlegungen zum Räsonnement in der bürgerlichen Öffentlichkeit darstellt. Es wird dazu keine umfassende Auseinandersetzung mit der Habermasschen Theorie angestrebt, sondern ihre selektive Adaption. Sie bietet Anschlussstellen für öffentlichkeits- und journalismustheoretische Überlegungen. Journalistisches Handeln, so die zu begründende Grundthese, ist kommunikatives Handeln in der Lebenswelt (1). Kommunikativ basierter Journalismus beruht auf einer in die Grundstrukturen von Sprache eingelassenen Rationalität. In den Dimensionen Arbeit und Interaktion, Orientierung durch reflexive Vermittlung, Verständigungsorientierung sowie Teilhabe und kommunikative Kompetenz lassen sich unhintergehbare Annahmen sprachlicher Interaktion darstellen, die auch im journalistisch vermittelten gesellschaftlichen Zeitgespräch nicht vollends suspendiert werden können. In Auseinandersetzung mit bereits formulierten kommunikativen Journalismusmodellen und mit den Annahmen der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ selbst, sollen die daran anschließenden aufklärerisch-emanzipatorischen Züge journalistischen Handelns näher konturiert werden (2). Über die immanente Verknüpfung kommunikativen Handelns mit der Reproduktion der kulturellen, sozialen und individuellen Ressourcen der Lebenswelt ist es zudem möglich, makrosoziale Leistungen journalistischen Handelns zu beschreiben. Als kommunikatives Handeln beruht Journalismus wie jede andere Kommunikation auf den zur Gänze unbewussten und ungewussten Ressourcen der Lebenswelt, trägt aber durch seine Kommunikationsleistungen auch zur Reproduktion und Rationalisierung dieser Ressourcen bei, die in den gesellschaftlichen Diskursen der Moderne sukzessive von der Legitimation über Tradition auf rationale Begründung umgestellt werden. Diese journalistischen Beiträge zur ‚Aufklärung‘ von Gesellschaft lassen sich vor dem Hintergrund des Lebenswelt-Konzeptes zumindest ansatzweise skizzieren. Hilfreich ist dabei auch die Hinzunahme von Analysen der Cultural Studies, die Journalismus ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Reproduktion sozialer und vor allem kultureller Ressourcen betrachten (3). Resümierend werden die Charakteristika eines lebensweltlich orientierten kommunikativen Journalismus‘ zusammengefasst. Das hier zu entfaltende Verständnis bezieht sich auf mikrosozialer Ebene auf das journalistische Handeln selbst und auf der makrosozialen Ebene auf dessen Leistungen für die Reproduktion der Lebenswelt (4) Für den gesamten Verlauf dieses Analyseschrittes gilt, dass im Zuge der notwendigen Abstraktion zunächst ein nur einseitiges handlungstheoretisches Konzept des Journalismus gezeichnet wird. Journalismus als Handlungstypus wird dabei in seinen Potenzialen dargestellt, ohne seine Rahmenbedingungen und Umsetzungschancen zu thematisieren. Dieser Schritt wird im anschließenden Kapitel V vollzogen, in dem es um soziale Strukturierungs- und Systembildungsprozesse insbesondere in Form einer allgemein zu beobachtenden Ökonomisierung der Massenmedien gehen wird.
168
1
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
Grundlagen eines kommunikativen Journalismus
Die bislang dargestellten historisch identifizierbaren journalistischen Idealtypen und Rollenmuster sind mit unterschiedlichen Rationalitätskonzepten verbunden. Während die Zweckrationalität der Berufsarbeit in erster Linie auf das professionelle Ethos des Vermittlers gerichtet ist, zielt eine normativ-ontologische ‚Wahrheitsverpflichtung‘1 immer auch auf den lebensweltlich verankerten und räsonierenden Akteur. Die getrennte Entwicklung dieser Vorstellungen hat die handlungstheoretische Journalismustheorie in konzeptionelle Aporien geführt, die sich in den beschriebenen einseitig verkürzten Journalismuskonzeptionen ausdrücken. Allerdings liegen die Probleme auf unterschiedlichen Ebenen: Während die Fokussierung auf Zweckrationalität einer normativen Entkernung journalistischen Handelns Vorschub leisten kann, droht eine normativ-ontologisch fundierte Konzeption, den individuellen Akteur in seinem Status zu überfordern. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, inwiefern eine Neubegründung der normativen Perspektive durch eine kommunikative Konzeption diese Aporien aufzulösen vermag. Ausgangspunkt dafür ist die kommunikative Rationalität, wie sie bereits im öffentlichen Räsonnement oder auch in der Formulierung eines ‚kommunikativen Prinzips‘ in der Zeitungswissenschaft angedeutet wird. Wenn folglich in dieser Studie von Rationalität gesprochen wird, dann ist damit nicht die in vielen Handlungstheorien herangezogene zweckrationale Vernunft eines rein strategischen Nutzenmaximierers2 gemeint, sondern ein normativ anspruchsvolleres Konzept, das Implikationen intersubjektiver Verständigung und – zumindest kontrafaktisch angestrebter – konsensueller Solidarität beinhaltet. Journalismus wird folglich nicht auf die (berufliche und) zweckrationale Tätigkeit eines homo oeconomicus reduziert3, sondern als Handeln betrachtet, dessen Rationalität sich neben zweckrationalen beruflichen Kriterien auch aus kommunikativ verständigungsorientierten Zielen speist. Die Unterstellung, dass diese Vernunft möglich und erreichbar ist, richtet sich nicht an konkrete Akteure, sondern impliziert, dass bestimmte Prozesse kommunikativen Austausches zu vernünftigen Ergebnissen führen. Vor diesem Hintergrund bietet zum Beispiel das von Gottschlich formulierte Programm, in einer konzeptionellen Auseinandersetzung mit Journalismus „das Eigentliche kommunikativer Beziehungen zwischen Menschen“ in den Blick zu nehmen und es als Grundlage zu nutzen4, die Gelegenheit, einen theoretischen wie normativen Bezugspunkt zu identifizieren, von dem aus Journalismus erklärbar und verstehbar wird. Die Modelle öffentlicher Kommunikation von Habermas und Groth halten in diesem Sinne jeweils eine Verbindung zu einer (bei Habermas präzisen, bei Groth oft nur vagen) Vorstellung humankommunikativer Grundkonstanten und untersuchen Journalismus deshalb nicht ausschließlich und oft nicht einmal primär nach den zweckrationalen Prämissen gängiger Handlungsmodelle. Sie binden die Beschreibung des Massenkommunikationsprozesses zurück an Prinzipien der Humankommunikation, die vorläufig im Anschluss an Burkart wie folgt gefasst werden können:
1 2 3 4
Diese wird von der normativen Publizistik und einigen Medienethikern (vgl. Boventer 1984a; 1984b) vertreten. Dies legt z.B. Spinner (1985; 1988) in seinem Modell des Journalisten als Agenten der Gelegenheitsvernunft zugrunde; vgl. auch grundlegend aus ökonomischer Sicht: Heinrich 2002. Eine solche rational einseitig verkürzte Journalismus-Konzeption haben Fengler und Ruß-Mohl (2003; 2005a) vorgelegt, indem sie den journalistischen Akteur strikt mit dem Instrumentarium der Ökonomik beschreiben und so ausschließlich zweckrationale Kosten-Nutzen-Kriterien als rationalen Handlungsrahmen zulassen. Gottschlich 1999d, S. 314; vgl. auch Gottschlich 1980; Fabris 1979; Burkart 1998a.
1 Grundlagen eines kommunikativen Journalismus
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„Kommunikation liegt […] erst dann vor, wenn (mindestens zwei) Individuen ihre kommunikativen Handlungen nicht nur wechselseitig aufeinander richten, sondern darüber hinaus auch die […] allgemeine Intention ihrer Handlungen (= Bedeutungsinhalte miteinander teilen wollen) verwirklichen können und damit das konstante Ziel (= Verständigung) jeder kommunikativen Aktivität erreichen.“5
Kommunikation kann demnach nicht einseitig verlaufen, sondern bedarf der reziproken Bedeutungsvermittlung im Austauschprozess der Interaktionspartner. Eine kommunikative Beziehung wird durch Symbole konstituiert, durch die Interaktionspartner Bedeutungen miteinander teilen.6 Die entscheidende Symbolstruktur, durch die zwischenmenschliche Verständigung möglich wird, ist Sprache.7 Im Rahmen journalistischer Kommunikation werden derartige Postulate in Massenkommunikation8 übersetzt. Dieser Prozess ist bei Groth bereits als gesellschaftliches Zeitgespräch beschrieben worden, in dem Journalismus als ‚Medium‘ in einem Kommunikationsprozess zwischen gesellschaftlichen Ausgangs- und Zielpartnern eingesetzt wird. Gleichermaßen aber sind Journalisten eben nicht nur ‚Medium‘, sondern werden im Vermittlungsprozess selbst kommunikativ tätig, indem sie die sprachliche Manifestation des kommunikativen Inhalts bearbeiten und verändern.9 Journalistische Kommunikation ist demnach in ihrer sprachlichen und kommunikationsrationalen Struktur ein grundlegend – wenngleich spezifisch eingeschränkt – kommunikatives Geschehen. Massenkommunikation kommt als Substitut ehemals zwischenmenschlich gewährleisteter Koordination in den Blick; sie stellt Teile der sozialen Beziehungen wieder her, die in ausdifferenzierten Gesellschaften zerrissen sind. Sie wird dort entfaltet, wo technisch unvermittelte interpersonale Interaktion nicht möglich ist.10 Koordinationsleistungen kann medial vermittelte Massenkommunikation nur vollbringen, wenn die sie bedingenden medialen Strukturen 5 6 7
8
9 10
Burkart 1998a, S. 32. Andere, konkurrierende Kommunikationsmetaphern beschreibt Krippendorf (1994), der das Konzept der ‚Verständigung‘ in der Kommunikation aus konstruktivistischer Sicht kritisiert. Das ist ein Grundgedanke des Symbolischen Interaktionismus (vgl. Mead 1973 [1934]). Modellhaft abstrahiert, so Burkart (1998a, S. 60), setzt sich ein Kommunikationsprozess aus vier Komponenten zusammen: • Ein Kommunikator will etwas mitteilen • Ein Rezipient wird vom Kommunikator angesprochen. • Eine Aussage oder Botschaft im Sinne eines mitzuteilenden Bedeutungsinhaltes ist Gegenstand des Kommunikationsprozesses. • Ein Medium transportiert die Aussage. In zwischenmenschlicher Kommunikation übernimmt der Kommunikator einen aktiven Part, bleibt aber gleichermaßen auf den Rezipienten als Partner angewiesen. Erst wenn dieser auch rezipieren will, kann Kommunikation zustande kommen. In systemtheoretischer Überspitzung spricht Luhmann (1981b) davon, dass Kommunikation unwahrscheinlich sei, weil weder Verstehen, noch Erreichen des Empfängers, noch Erfolg gemäß der Intention des Kommunikators gewährleistet seien. Diese Unwahrscheinlichkeit, so Luhmann, gelte in besonderem Maße auch für journalistische Massenmedien, wenngleich diese so operierten, als wären die Probleme der Kommunikation bereits gelöst. Luhmann fragt damit nach dem Erfolg von Kommunikation – eine Perspektive, die dem Sprache innewohnenden Potenzial nicht ausreichend gerecht wird, da dieses nicht in strategischen Dimensionen alleine zu fassen ist. Hier zunächst deskriptiv verstanden als jener Prozess, „[…] bei dem Aussagen öffentlich (d.h. ohne begrenzte oder personell definierte Empfängerschaft), indirekt (d.h. bei räumlicher oder zeitlicher oder raum-zeitlicher Distanz zwischen den Kommunikationspartnern) und einseitig (d.h. ohne Rollenwechsel zwischen Aussagendem und Aufnehmendem), durch technische Verbreitungsmittel (sog. ‚Massenmedien‘) an ein disperses Publikum […] vermittelt werden“ (Burkart 1998a, S. 168). Ob ein Rollenwechsel wirklich so kategorisch ausgeschlossen werden kann, ist mit guten Gründen anzuzweifeln. Darauf verweisen auch die semantischen Grundpostulate der Nichtidentität (das Wort ist nicht die Sache, die es bezeichnet) und der Unvollständigkeit (das Wort repräsentiert die Sache nicht zur Gänze). (vgl. Burkart 1998a, S. 92) Sprache kann Realität nicht eins zu eins reflektieren, sondern immer nur rekonstruieren. Fabris (1979, S. 156f.) spricht von Massenkommunikation als „Kommunikationsersatz“.
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IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
kommunikative Öffentlichkeit nicht behindern. Fragen der Verfügung über öffentliche Kommunikationsmittel, des (privilegierten) beruflichen oder nicht-beruflichen Zugangs zur Öffentlichkeit sowie der Teilhabe ermöglichenden Mechanismen journalistischen Arbeitens sind ausgehend von diesem Postulat zu bewerten, das journalistisches Handeln darauf verpflichtet, Möglichkeiten öffentlicher Verständigung zu gewährleisten. Ein Konzept kommunikativen Handelns ermöglicht eine differenzierte Beschreibung der Vernunft jener Verständigungsprozesse, in die Individuen eingebunden sind und innerhalb derer Journalismus zumindest dann eine wichtige Rolle spielt, wenn solche Prozesse in einer komplexer strukturierten Gesellschaft ‚öffentlich‘ statt finden. Auf seinem Fundament lassen sich Hinweise darauf formulieren, wie Journalismus auch verstanden werden kann – jenseits von normativem Idealismus und systemischem Funktionalismus als ein Handlungsmodus, der gesellschaftliche Verständigung immanent zum Ziel hat und auf Vernunft orientiert ist. Aus dieser Perspektive steht „Aufklärung durch Vernunft“ im Zentrum; kommunikative Auseinandersetzung und Dialog ermöglichen „Sinnorientierung, historische Vergewisserung, Prüfung alternativer Herangehensweisen sowie die Suche nach Verstehen und Verständigung“.11 Diese Verständigung in komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen auch über räumliche, zeitliche und systemische Grenzen hinweg öffentlich zu ermöglichen, ist eine zentrale Aufgabe des kommunikativen Handelns eines journalistischen Diskursanwaltes. Grundlegend fundiert werden kann sie in der Annahme von Habermas, „[…] daß in sprachliche Kommunikation ein Telos von gegenseitiger Verständigung eingebaut ist“12, durch dessen (kontrafaktisches) Wirken kommunikative Interaktion eine eigenständige Rationalität entfaltet. Verständigung wird dabei als „Prozeß der Herbeiführung eines Einverständnisses auf der vorausgesetzten Basis gemeinsam anerkannter Geltungsansprüche“ interpretiert.13 Kommunikatives Handeln bezeichnet den Handlungsmodus, durch den Akteure verständigungsorientiert handeln können.14 Dabei wird im kommunikativen Handlungsmodell die Handlung explizit nicht mit ‚Kommunikation‘ gleichgesetzt15, sondern das kommunikative Handeln dient vorwiegend der Koordinierung der Handlungen teilnehmender Akteure, die jeweils bestimmte Ziele verfolgen. Im kommunikativen Handlungsmodus abstrahieren sie von ihren individuellen Zielen zugunsten einer Perspektive weitgehend voraussetzungsloser Verständigungsorientierung; ihr Handeln ist gerichtet auf Verstehen und Verständigung, auf die Reproduktion sozialer Bindungskräfte durch gemeinsamen Sprachgebrauch. Das Potenzial der Verständigung ist in der Grundstruktur der menschlichen Sprache selbst verankert, die darauf angelegt ist, dass Menschen, wenn sie miteinander reden, nicht nur propositionale Sachverhalte austauschen, sondern zugleich immer auch performativ zu einan-
11 12 13 14 15
Haas 1999, S. 52 Habermas 1985a, S. 171; ähnlich bereits Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 387. Habermas 1995b [1984], S. 355 Habermas hat in seiner soziologischen und philosophischen Konzeption dieses Handlungstypus eine der „elaboriertesten Theorien über das Zustandekommen verständigungsorientierter Kommunikation“ formuliert (Burkart/Probst 1991, S. 58). Auch Burkart (1998a, S. 29) bekräftigt: „Allein: kommunikatives Handeln ist noch nicht Kommunikation (!). Kommunikatives Handeln ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das Entstehen bzw. Ablaufen eines Kommunikationsprozesses. M.a.W. eine kommunikative Handlung ist ‚lediglich‘ ein (notwendiger) Anstoß, der Kommunikation entstehen lassen kann – aber nicht muß. ” Allerdings verwendet er den Begriff kommunikatives Handeln weit weniger spezifisch als Habermas eher im Sinne derjenigen Handlungen, die auf ‚erfolgreiche‘ Kommunikation, auf Interessenrealisierung, zielen. Das Habermassche Modell beinhaltet demgegenüber noch weitaus mehr qualitative Bedingungen jenseits dieser strategischen Komponenten.
1 Grundlagen eines kommunikativen Journalismus
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der in Beziehung treten.16 Gemäß dieser ‚Doppelstruktur‘ der Rede kommt Verständigung nur dann zustande, wenn die Kommunikationspartner nicht nur die geäußerten sprachlichen Symbole, sondern auch die damit verbundenen Handlungen einverständlich interpretieren.17 Der Vollzug sprachlicher Kommunikation ist nicht nur auf den Austausch von Informationen, sondern auch auf die Etablierung von Gemeinsamkeit angelegt – ein immanentes Ziel, dass einen bestimmten Modus sprachlicher Kommunikation darauf ausrichtet, vergesellschaftend zu wirken. Verständigung findet daher immer auf der „Ebene der Gegenstände“ und auf der „Ebene der Intersubjektivität“ statt.18 Da Journalismus sich in seinem Vermittlungs- und Kommentarhandeln der Sprache bedient, kommt auch er nicht hinter diese Struktur zurück.19 Journalisten müssen Sprache als ihr „wichtigstes Werkzeug“ daher in allen ihren Dimensionen so gut wie möglich beherrschen.20 Der Analyse zugänglich wird die Struktur der kommunikativen Vernunft durch die Entwicklung einer Universalpragmatik, die aus der sprachpragmatischen Analyse heraus allgemeingültige Bedingungen potenzieller Verständigung identifizieren und nachzeichnen soll.21 Sie ist das zentrale programmatische Anliegen der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ und soll die allgemeinen Strukturen der Rede aufzeigen, die jeder Sprechsituation inhärent sind, die im Vollzug von spezifischen Typen sprachlicher Äußerungen produziert werden und die dazu dienen, die vom linguistisch kompetenten Sprecher verwendeten Ausdrücke pragmatisch im Kommunikationskontext zu situieren.22 Die Ausformulierung des Verständigungskonzepts richtet sich daher auf „[…] das vortheoretische Wissen kompetenter Sprecher, die selber intuitiv unterscheiden können, wann sie auf andere einwirken und wann sie sich mit ihnen verständigen; und die zudem wissen, wann Verständigungsversuche fehlschlagen.“23
So wie die Linguistik für die Sprachfähigkeit soll die Universalpragmatik für die Kommunikationsfähigkeit allgemeine Regeln formulieren, in denen das Konzept der Verständigung enthal16 17 18
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Vgl. Gripp 1984, S. 47 Vgl. Burkart 1998a, S. 83 Ebd., S. 78ff. Diese handlungstheoretische Näherung an den Kommunikationsbegriff ist allerdings ausdrücklich nicht im Sinne eines ‚extremen Subjektivismus‘ zu sehen, da das Symbol- und Bedeutungsreservoir keineswegs immer nur an einen einzelnen Menschen gebunden ist, sondern zu weiten Teilen in einem phänomenologischen Sinne in die lebensweltlichen Hintergründe der Interaktion eingelassen ist (vgl. ebd., S. 54). Der journalistische Umgang mit Sprache ist bislang wissenschaftlich wenig beachtet worden. Eine Systematik ist zu DDR-Zeiten an der Leipziger Journalistik erarbeitet worden. Sie behandelt das Thema vorwiegend aus der Perspektive der Stilistik und setzt es dabei in Bezug zu journalistischen Aufgaben und Qualitätsdimensionen (vgl. Kurz u.a. 2000). Soziologische Aspekte der Formalpragmatik werden bislang kaum in Bezug auf Journalismus thematisiert. Kurz u.a. 2000, S. 29 Habermas grenzt seinen Entwurf von transzendentalpragmatischen Ansätzen ab, die weiterhin an dem Anspruch der Letztbegründung festhalten. Er betont, dass eine deduktive Letztbegründung von Argumentationsregeln nicht denkbar ist. Aufzeigen lässt sich ihm zufolge lediglich ihre Alternativlosigkeit, da sie von den Beteiligten an einer Diskussion unterstellt werden müssen, um diese Diskussion überhaupt zustande kommen zu lassen (vgl. Habermas 19997 [1983], S. 53ff.). Ein Standpunkt, der seit geraumer Zeit zu einer kontroversen Debatte zwischen Habermas und Apel (1988; 1989) geführt hat. Im Gegensatz zu Habermas beharrt Apel als Vertreter der Transzendentalpragmatik darauf, dass der argumentative Diskurs als Praxis nicht gewählt oder verweigert werden kann, weil seine Voraussetzungen letztlich nichthintergehbar und damit dem Sprechhandeln transzendent und durch die Philosophie letztbegründbar sind. Siehe zur Transzendentalpragmatik auch die Sammelbände von Dorschel u.a. 1993 und Kuhlmann/Böhler 1982. Vgl. McCarthy 1989, S. 313 Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 386
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IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
ten ist.24 Nach Habermas lassen sich nicht nur phonetische, syntaktische und semantische Merkmale von Sätzen, sondern auch bestimmte pragmatische Kennzeichen von Äußerungen in einem allgemeingültigen Rahmen rekonstruieren, anhand derer neben der linguistischen auch eine kommunikative Kompetenz identifiziert werden kann.25 Diese Regeln werden im kommunikativen Handeln eingelöst, in dem alle Beteiligten oder advokatorisch auch ihre Vertreter vorbehaltlos eine Verständigung über die gemeinsame Situation anstreben.26 Die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ ist damit auch eine immanente Kritik einer funktionalistischen Vernunft27 – und kann entsprechend eine geeignete Grundlage für eine Kritik des Funktionalismus in der Journalismustheorie bilden.28 Zweckrationalität und individuelle Nutzenmaximierung allein sind schließlich keine hinreichenden Maßstäbe zur Erklärung und zum Verständnis menschlichen Handelns. Auch wenn der systemische Funktionalismus seine Vorzüge, v.a. bei der Analyse der materiellen Reproduktion von Gesellschaft hat, so kann er doch soziale Zusammenhänge immer nur begrenzt erfassen, da er die sprachbasierten Verständigungsprozesse, welche die symbolische Reproduktion von Gesellschaft gewährleisten, analytisch in ihrem kommunikativen Eigensinn nicht zu konzipieren vermag. Ein Journalismusverständnis, das journalistisches Handeln als bloßes Erfüllen einer (programmierten) Funktion (z.B. Information oder Unterhaltung) begreift, benennt zwar wichtige Aspekte von Journalismus (in der Regel die systemisch strukturierten Vermittlungsfunktionen), bekommt ihn aber in seiner ganzen Breite und Phänomenologie nicht zu fassen. Journalismus ist vielmehr zwischen zweckrationalen und kommunikationsrationalen Einflussfaktoren hinund hergerissen.29 Wenn er a priori durch die Wahl einer funktionalistischen Theorie auf die Rationalität von Zweck-Mittel-Entscheidungen reduziert wird, dann ist es nicht einmal mehr möglich, das Verständigungspotenzial journalistischen Handelns überhaupt zu beschreiben. In umgekehrter Stoßrichtung gilt das Gleiche für etwaige Versuche, mit einer Reanimation des normativen Individualismus zu einer Suspendierung systemisch-funktionalistischer Erwägungen zu gelangen. Ein solcher Entwurf wäre ebenfalls unterkomplex. Vielmehr ist journalistisches Handeln explizit als ein zentraler Modus eines gesellschaftskonstitutiven öffentlichen kommunikativen Handelns zu verstehen: Es kann Anlass für Gespräche bieten und katalysierend den Gesprächszusammenhang zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen aufrechterhalten. Nicht zuletzt bietet sich in journalistischen Medien die Möglichkeit, selbst an gesellschaftlichen Gesprächen teilzunehmen. Der Journalist als Diskursanwalt handelt bei der Erfüllung seiner Vermittlungsaufgabe kommunikativ und mit Bezug zu einer gemeinsam mit seinen Ausgangspartnern, Zielpartnern und Rezipienten geteilten Lebenswelt.
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Vgl. Habermas 1995b [1984] Vgl. McCarthy 1989, S. 312 Auf die Möglichkeit advokatorischer Diskurse weist Habermas (19997 [1983], S. 104) selbst hin. In dieser Konzeption wird die Gültigkeit ethischer Normen von der Zustimmung der advokatorisch Vertretenen entunden. Die philosophisch grundsätzliche Kritik an der Diskursethik mit dem Blick auf ihren immanent advokatorischen Charakter (vgl. Brumlik 1986) kann hier pragmatisch vernachlässigt werden, da sie vorwiegend auf die Frage der Einbeziehung Ungeborener gerichtet ist. Relevant sind allerdings Erwägungen hinsichtlich der Möglichkeiten von nicht-advokatorischen Diskursen in modernen Gesellschaften, die von manchen a priori verneint wird (vgl. Fuchs 1997, S. 32). Demokratien wären dann ausschließlich von advokatorischen Diskursen geprägt. Nimmt man diese Prämisse ernst, dann stellt sich die Aufgabe, in der journalistischen Kommunikation ein diskursives Niveau zu halten, das Begründungsstrukturen transparent macht und das anschlussfähig für lebensweltliche Beiträge ist. Das gilt erst recht für optimistischere Modellierungen. So lautet auch der Untertitel des zweiten Bandes der Theorie (vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2). Baum 1994 hat sie u.a. in dieser Stoßrichtung verwendet. Vgl. Baum 1994, S. 67
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
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Insbesondere ‚kontextuelle Journalismussichten‘ verweisen darauf, dass die journalistische Kommunikation mit allgemeinen Modi menschlicher Kommunikation in Beziehung zu setzen ist, wenn sie erklärt und verstanden werden soll.30 Der genauere Blick auf die Prämissen der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ von Habermas und ihrer sprachphilosophisch hergeleiteten Modalitäten der Verständigung zwischen symbolisch interagierenden Akteuren soll genau in dieser Stoßrichtung Aufschluss darüber geben, inwiefern journalistisches Handeln in einem Konzept gefasst werden kann, das die beiden entfalteten Idealtypen des Journalismus – Vermittlung und Räsonnement – aus sich selbst heraus beschreibbar und begründbar erhält und einen Bezug zur vergesellschaftenden Kraft des auch journalistisch vermittelten gesellschaftlichen Gespräches weiterhin ermöglicht.31 Dabei wird Journalismus zunächst aus der mikrosozialen Akteursperspektive beschrieben und interpretiert. Aus dieser mikrosozialen Perspektive heraus, aus der makrosoziale Veränderungen von Gegenwartsgesellschaften, wie die von kritischer Sozialforschung überzeugend geschilderten Entfremdungs- und Verdinglichungsprozesse, ganz bewusst vorläufig ausgeklammert werden, lässt sich idealisierend zunächst nur eine positiv halbierte Moderne beschreiben, indem zwar die Möglichkeiten der Aufklärung durch Kommunikation betont, ihre Bedrohung durch systemische Einflüsse aber zunächst nicht weiter in Betracht gezogen wird. Die Verschiebungen im gesellschaftlichen Rationalitätsgefüge in Form einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch Systemimperative werden erst in Kapitel V in dieses Modell integriert.32 Zunächst steht die theoretische Entwicklung und argumentative Absicherung eines Idealtypus journalistischen Handelns im Zentrum, der sich jenseits von Vermittlung und Räsonnement bewegt. Dabei sind unterschiedliche Begriffsverwendungen voneinander zu unterscheiden: Zunächst wird darzustellen sein, inwiefern Journalismus als kommunikatives Handeln auf der verständigungsorientierten Grundstruktur von Sprache fundiert ist. Ein kommunikativ gehandhabter Journalismus zeichnet sich durch einen reflexiven Gebrauch dieser Kommunikativität aus. In seiner institutionalisierten und professionalisierten Form bildet er die Grundlage des diskursiven Journalismus, der sich aus seiner Kommunikativität heraus auch der Aufrechterhaltung und anwaltschaftlichen Betreuung des gesellschaftlichen Zeitgesprächs verpflichtet sieht und Diskursivität zur Selbstregulation nutzt.
2
Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
Die im handlungstheoretischen Konzept der Theorie kommunikativen Handelns verankerte Ausrichtung auf Verständigung ist in der Journalismusforschung bislang kaum näher untersucht worden. Diese Ansätze seien „[…] kritisch, haben die Idee der Aufklärung noch nicht aufgegeben und passen deshalb wohl nicht zum Zeitgeist“, vermutet Scholl.33 Aber die Aus30 31 32 33
Vgl. Haas 1999, S. 82ff. Da an dieser Stelle keine eigenständige Kritik des Theorie-Entwurfs von Habermas geleistet werden soll, wird Sekundärliteratur lediglich dann in die rekonstruktive Auseinandersetzung mit den Thesen einbezogen, um einzelne Aspekte für den vorliegenden Zusammenhang in Form von Arbeitshypothesen zu präzisieren. Es dürfte schon im Verlauf der folgenden Argumentation deutlich werden, warum eine weitergehende Überformung journalistischen Handelns durch eine ihm fremde Logik der Macht bzw. des Geldes zu schwer auszuhaltenden Spannungen oder in der Sprache von Habermas gar zu ‚Pathologien‘ führen kann. Scholl 2000, S. 411. Hug (1997, S. 277ff.) wiederum nimmt genau diesen Bezug auf die Aufklärung zum Anlass, das Programm der Habermasschen Theorie samt seiner Architektonik als den Problemen ausdifferenzierter Gesellschaften nicht mehr angemessen zu kritisieren. Seine Kritik kann als paradigmatisch für die systemtheo-
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IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
einandersetzung mit ihnen ist lohnenswert, weil sie in der Besinnung auf kommunikative Grundprinzipien zugleich Grundlagen eines verständigungsorientierten Journalismus ins Bewusstsein rufen.34 Im Folgenden soll daher die einleitend zitierte Prämisse Baums, dass „[…] der Originalmodus journalistischen Handelns verständigungsorientiert ist“35 und den Grundzügen kommunikativen Handelns entspricht, aufrechterhalten und ausformuliert werden. Die Konsequenzen eines Modells von Journalismus als kommunikativem Handeln betreffen sowohl die Konzeption eines Modus journalistischen Handelns als auch die Frage nach den Leistungen, die Journalismus für Gesellschaft erbringt. Beide Aspekte lassen sich kaum voneinander trennen, wenn mikrosoziale und humankommunikative Überlegungen zugleich auch Ausgangspunkt gesellschaftstheoretischer Konzeptionen sind. In der Habermasschen Theorie ist genau dies aufgrund der engen Verzahnung von interpersonaler kommunikativer Verständigung und Gesellschaftlichkeit der Fall. Auch deshalb sind einige der prominenteren kommunikationswissenschaftlichen Versuche, die Ideen kommunikativen Handelns theoretisch auf Journalismus anzuwenden, mit Erörterungen gesellschaftlicher Leistungen verknüpft.36 In diesem Kapitel wird es zunächst darum gehen, verschiedene der bereits angesprochenen grundlegenden mikrosozialen Annahmen zu einem kommunikativen journalistischen Handeln theoretisch zu fundieren: (1) Journalistisches Handeln lässt sich nicht ausschließlich mit den Kategorien beruflicher Zweckrationalität als Arbeit beschreiben, sondern beruht als Handlungsmodus auf einer lebensweltlich-kommunikativen Rationalität, die sich in sozialer Interaktion ausdrückt. (2) Journalistisches Handeln als kommunikatives Handeln beruht auf dem Aufbau einer – wie auch immer vermittelten – verständigungsorientierten Beziehung zwischen kommunikativ kompetenten Interaktionspartnern, zu denen neben gesellschaftlichen Kommunikatoren auch journalistisch Handelnde zählen. Journalistisches Handeln wirkt daher vergesellschaftend. (3) Journalistisches Handeln als kommunikatives Handeln ermöglicht Orientierung im gesellschaftlichen Zeitgespräch, indem es Sachverhalte reflexiv vermittelt. Die Reflexivität ist ihm in Form einer performativen Prüfung erhobener Geltungsansprüche immanent. (4) Journalistisches Handeln bezieht sich in einer normativen Interpretation des Konzepts kommunikativen Handelns auf demokratische Werte. Es schafft durch Inanspruchnahme der kommunikativen Kompetenz Voraussetzungen der Teilhabe am gesellschaftlichen Zeitgespräch.
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retische Verurteilung des Habermasschen Versuchs gesehen werden, eine gesellschaftlich übergeordnete Rationalität zu beschreiben, von der aus normative Urteile und Sinnzuschreibungen weiterhin möglich sind. Vgl. Burkart 1998b, S. 168 Baum 1994, S. 395 Während Gottschlich (1980) journalistische Antworten auf einen drohenden gesellschaftlichen Orientierungsverlust thematisiert, skizziert Fabris (1979) ein Journalismusmodell, in dem Fragen der kommunikativen Teilhabe im Zentrum stehen. Geißler (1973, S. 173) wiederum, der immerhin Motive der Öffentlichkeitskonzeption von Habermas aufnimmt, erörtert aus demokratietheoretischer Sicht unterschiedliche Modelle von Massenmedien und Basiskommunikation („Kommunikation der Staatsbürger (Basis) mit dem politischen Bereich“) und setzt diese zu Teilhabeerwägungen in Beziehung. Diese Versuche sollen näher betrachtet werden, da sie in der Verknüpfung von journalistischer Handlungstheorie und Leistungs-Analyse Aufschlüsse darüber versprechen, wozu Journalismus in der Lage sein kann. Sie geben damit potenziell Einblick in eine immanente Normativität journalistischen Handelns, die in seiner Kommunikativität begründet ist. Zugleich ist allerdings zu beachten, dass diese noch heute als für ihr Feld paradigmatisch anzusehenden Entwürfe vor der umfassenden Präsentation der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ erschienen sind und die Autoren insofern nur auf deren Vorarbeiten zurückgreifen konnten. Erst die Arbeiten von Baum (1994), Burkart (1998a; 1998b) und Kuhlmann (1999), der allerdings journalistisches Handeln nur am Rande explizit analysiert, konnten auf die voll entfaltete ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ zurückgreifen.
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
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Diese vier Kernüberlegungen zu einem als kommunikativ verstandenen Journalismus lassen sich in letzter Konsequenz nicht trennscharf behandeln, sondern sind zum Teil immanent miteinander verknüpft. Insbesondere die gesellschaftlichen Leistungen des Journalismus sind ohne die entsprechende Modellierung des journalistischen Handlungsmodus nicht zureichend zu begründen. Der Versuch, die einzelnen Komplexe im Folgenden unter Rekurs sowohl auf die makrotheoretischen Annahmen bei Habermas als auch auf die entsprechenden Überlegungen in der journalismustheoretischen Literatur zu skizzieren, wird daher ohne Überschneidungen und Unschärfen nicht zu leisten sein. Es soll dennoch versucht werden, erste Hinweise auf die möglichen Konturen einer zu entwickelnden Theorie journalistischen Handelns zu geben.
2.1
Arbeit und Interaktion
Die klassischen Journalismuskonzeptionen unterscheiden sich voneinander wie beschrieben darin, dass sie Journalismus entweder vorwiegend als ein berufliches Handeln (Vermittlung) oder aber weitergefasst als Derivat eines allgemeineren Handlungsmodus (gesellschaftliches Räsonnement) begreifen. Daraus ergeben sich auch jeweils unterschiedliche Rationalitätsannahmen, welche das Verständnis von Journalismus prägen. Diese sind reformulierbar, wenn sie zu der Unterscheidung von Arbeit und Interaktion in Beziehung gesetzt werden.
2.1.1
Journalismus im Spannungsfeld unterschiedlicher Handlungsrationalitäten
Journalistisches Handeln oszilliert zwischen den beiden Polen von Arbeit und Interaktion, da die journalistische Verberuflichung ihren Akteuren einen Spagat zwischen den Imperativen der formalen Organisation ihres Handelns als Arbeit und seiner materiellen Qualität als Kommunikation samt der entsprechenden Rationalitätsanforderungen abverlangt.37 Regelmäßig wird in der Journalismusforschung darauf verwiesen, dass der Idealtypus des Räsonnements auf die kommunikative Rationalität bürgerlicher Meinungsfreiheit abstellt, während der Idealtypus der Vermittlung vorwiegend auf eine berufliche Rolle hinzielt, die – zumindest auch – mit entsprechend zweckrationalen Erwägungen einhergeht.38 Diese Differenzierung korrespondiert mit einer soziologischen Unterscheidung zwischen Handlungsmodi und -rationalitäten:39 (1) Arbeit oder auch zweckrationales Handeln kann in den Dimensionen instrumentales Handeln (bezogen auf empirisch gestützte technische Regeln) und rationale Wahl (bezogen auf durch analytisches Wissen gestützte Strategien) konzipiert werden; es dient der Erreichung vorab definierter Ziele. Während technisch angeleitetes, instrumentales Handeln an der angemessenen Organisation der Mittel gemessen werden kann, ist der Erfolg strategischen Handelns abhängig von der prognostischen Leistung, das Verhalten der jeweiligen Partner auf der Basis von Werten und Maximen richtig einzuschätzen. (2) Kommunikatives Handeln kann – einem frühen Verständnis von Habermas folgend – als symbolisch vermittelte Interaktion begriffen werden, deren ‚Erfolg‘ nicht wie die Arbeit von empirisch überprüfbaren Kriterien abhängig ist, sondern in deren Verlauf allenfalls erho37 38 39
Vgl. Baum 1994, S. 209 Das gilt vor allem für die Ansätze, die in der Tradition zeitungswissenschaftlicher Theoriebildung nach Groth stehen. Vgl. für ein vergleichsweise aktuelles Beispiel: Langenbucher 1996. Vgl. Habermas 1969, S. 62ff.
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IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
bene Geltungsansprüche bestritten werden können. Dies geschieht in Verständigungsprozessen, die auf ein intersubjektiv hergestelltes Einverständnis der Interaktionspartner zielen und in denen gesellschaftliche Normen produziert oder bestätigt werden.40 Die tief sitzende Ambivalenz öffentlicher Kommunikation zwischen Elementen strategischer Vermachtung und Ökonomisierung sowie lebensweltlichen Emanzipationsansprüchen, die in diesen unterschiedlichen Handlungstypen begründet liegt und von Habermas in Bezug auf die kommunikativen Nutzungsmöglichkeiten der Massenmedien herausgearbeitet worden ist41, wird – wenngleich in der Regel ohne theoretischen Bezug – auch in der Journalismus- und v.a. in der Redaktionsforschung thematisiert.42 Eine besondere Rolle spielt sie in der kritischen Kommunikationsforschung, in der die Konkurrenz unterschiedlicher Logiken bzw. die Dominanz der medialen Berufslogik als eine Möglichkeit der Begründung kritischer Positionen dient.43 Im Kern geht es um die Frage der Balance zwischen den kommunikativen Möglichkeiten und den beruflichen Notwendigkeiten des Journalismus. Diese Balance hat sich im Verlaufe der Institutionalisierung des Journalismus zunehmend verschoben; das wurde bereits in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen historischen Entwicklungsstufen des Journalismus deutlich. Langenbucher zufolge sind es letztlich vermittelnde Mediator-Aufgaben gewesen, die zur Verberuflichung des Journalismus geführt haben, während dem Räsonnement verhaftete Kommunikator-Akte Gegenstand eines ‚Jedermannsrechts‘ sind.44 In den Rollenselbstbildern, die journalistische Berufsverbände und Gewerkschaften in Westdeutschland in 1950er bis 1980er Jahren entwarfen, ist ebenfalls ein deutlicher Trend weg von der Kommunikator- und hin zur Mediatorrolle festzustellen. Dieser Wandel im beruflichen Selbstverständnis, der auch in aktuellen JournalistenBefragungen bestätigt wird45, kann allerdings einhergehen mit einer „Entwertung des Berufs im Sinne einer material-normativen Entleerung der Rollenerwartungen“, die darauf zurückzuführen ist, dass zwar einerseits die Kommunikatorrolle aus sich heraus kaum mehr begründbar erscheint, andererseits aber auch die „Suche nach einem praktisch anwendbaren Orientierungsrahmen für die Mediator-Rolle“ noch nicht zu einem „verbindlichen, konsensfähigen Ergebnis“ gekommen ist.46 Im Zuge dieser Entwicklung lässt sich der Journalismus in seinen Ansprüchen reduzieren auf ein kaum mehr intellektuell selbstständiges Vermittlungshandeln. An die Stelle kommunikativer Interaktion tritt berufliche Arbeit als Leitbild. Im historischen Verlauf der Herausbildung moderner Medien „[…] wandelt sich damit die Rolle des Journalisten von der des zeitgenössischen Historikers und Kritikers zum meinungslosen Berichterstatter. Der Journalist gibt seine Position als unabhängiger Schreiber zugunsten einer ‚desintellektualisierten und technisierten Reporterstellung‘ auf. Er wird zu einem relativ passiven Glied in einer Kommunikationskette, einer hochkomplexen Organisation, die die Szenerie der Umwelt, der schein-
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Der Unterschied zwischen den beiden Handlungstypen lässt sich vor allem an den Folgen des jeweiligen Handelns verdeutlichen: Während die Sanktionsmechanismen bei misslungenen zweckrationalen Handlungen immanent aus einem direkten Bezug zum erklärten Handlungsziel abgeleitet werden können, zieht ein ‚inkompetentes‘ kommunikatives Handeln nur mittelbar, nämlich durch von außen an den Handlungszusammenhang herangetragene Normsanktionen Folgen nach sich (wenn man von dem Extremfall des Kommunikationsabbruchs einmal absieht). Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 573 Vgl. u.a. Altmeppen 1999; Rager/Werner 1992; Hienzsch 1990; Weischenberg 1981b; klassisch: Rühl 1979; Dygutsch-Lorenz 1971; 1973 Vgl. z.B. Prokop 1981; 1995; Schütt 1981. Auch Pross (1967; 1970; 1976) zielt in diese Richtung. Vgl. Langenbucher 1974/75 Vgl. Weischenberg/Malik/Scholl 2006a; Scholl/Weischenberg 1998; Schneider/Schönbach/Stürzebecher 1993 Langenbucher/Neufeldt 1988, S. 270
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bar allgemeinen Alltagserfahrungen, für das Publikum aufzeichnet. Seine eigene Meinung hat keine Bedeutung für die Apperzeption von Umwelt-Ereignissen. Wichtiger werden die Beherrschung technischer Fertigkeiten, das ‚Schreibenkönnen‘ und die Fähigkeit der Umsetzung komplexer Berichtereignisse in eine einfache Sprache.“47
Aus dieser Perspektive wird die Medienentwicklung seit der Aufklärung als ein Verfallsprozess einer vormals bedeutsamen kommunikativen journalistischen Aufgabe interpretiert, die sich aus dem Räsonnement herleitet. Die zunehmende Verberuflichung der journalistischen Arbeit führe, so die Argumentation, zu einer „wachsenden Entfremdung vom Publikum“, die kommunikative Komponenten journalistischer Tätigkeiten behindere und kommunikative Partizipation der Rezipienten erschwere.48 Eine solche Kritik ist aber nur dann begründet, wenn plausibel gemacht werden kann, dass Journalismus tatsächlich eine Form kommunikativer Interaktion ist und nicht von vornherein lediglich als ein beruflich-strategischer Umgang mit Kommunikation verstanden wird. „Mit der Stärkung partizipatorisch-demokratischer Entwicklungen im Journalismus und der gleichzeitigen Schaffung struktureller Voraussetzungen für mehr Mitbestimmung in den Kommunikationsunternehmen sowie verbesserter Chancen für die gleichmäßigere Entfaltung kommunikativer Kompetenz von möglichst großen Teilen der Bevölkerung verbindet sich somit die Hoffnung auf eine dynamische Weiterentwicklung demokratischer Verhältnisse in allen Lebensbereichen. Diese Hoffnung knüpft an die reiche historische Tradition eines den Idealen der Demokratie verschriebenen Journalismus und an die Erwartungen der Menschen in die befreiende Macht der Öffentlichkeit an.“49
Eine solche Perspektive nimmt die allgemeine handlungstheoretische Feststellung ernst, dass eine sprachlich koordinierte Interaktion rational unverkürzt nur im Modus des kommunikativen Handelns möglich ist, während alle strategisch ausgerichteten und damit viele in erster Linie beruflich orientierten und koordinierten Handlungsweisen demgegenüber defizitär bleiben. Im Hintergrund derartiger Überlegungen steht der Typus des kommunikativen Handelns, den Habermas weiter ausdifferenziert, indem er die zunächst scheinbar gleichberechtigt konzipierte Dichotomie zur Arbeit sowohl hinsichtlich der Anzahl von Typen als auch hinsichtlich der wechselseitigen Stellung auflöst und nunmehr teleologisches (zweckrationales), normenreguliertes und dramaturgisches Handeln als letztlich defizitäre „Grenzfälle“ eines kommunikativen Typus des Handelns kennzeichnet:50 Im teleologischen Handeln wählt der Akteur als einsam Handelnder Erfolg versprechende Mittel, um das Eintreten eines angestrebten Zustands zu bewirken. Versucht der Handelnde mit seiner Mittelwahl, Entscheidungen anderer Handelnder zu beeinflussen, ist von strategischem Handeln zu sprechen. Im normenregulierten Handeln richtet der Akteur als Mitglied einer sozialen Gruppe sein Handeln primär nach der Gültigkeit von in der Situation wirksamen Normen aus. Im dramaturgischen Handeln offenbart der Akteur vor anderen Interaktionsteilnehmern mehr oder minder gezielt subjektive Empfindungen, um bei diesem Publikum einen bestimmten Eindruck seiner Selbst zu erzielen. Erst im kommunikativen Handeln treten sprach- und handlungsfähige Subjekte einander gegenüber, um eine interpersonale Beziehung einzugehen, in der sie eine Verständigung über ihre Situation zum Zwecke der Handlungskoordinierung suchen und dabei von einander zu trennende Beziehungen zu ihrer materialen und sozialen Umwelt sowie zu sich selbst herstellen. Das langfristige Ziel der Journalistik kann vor diesem Hintergrund die Entwicklung einer Theorie des Journalismus 47 48 49 50
Fabris 1979, S. 69 Ebd., S. 50 Ebd., S. 14 Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 126ff.
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IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
sein, „[…] in der das journalistische Handeln eine Möglichkeit des kommunikativen Handelns vernünftiger und kommunikativ kompetenter Personen darstellt“.51 Habermas spricht dann von kommunikativen Handlungen, „[…] wenn die Handlungspläne der beteiligten Akteure nicht über egozentrische Erfolgskalküle, sondern über Akte der Verständigung koordiniert werden. Im kommunikativen Handeln sind die Beteiligten nicht primär am eigenen Erfolg orientiert; sie verfolgen ihre individuellen Ziele unter der Bedingung, daß sie ihre Handlungspläne auf der Grundlage gemeinsamer Situationsdefinitionen aufeinander abstimmen können.“52
In den anderen Handlungsmodi hingegen bauen die Handelnden keine reziproken Beziehungen zu anderen Interaktionsteilnehmern auf und kontextuieren ihr Handeln nur selektiv. In den drei Grenztypen kommt Sprache zwar zum Einsatz, allerdings nur in jeweils spezifischen und verkürzten Kontexten: Im zweckrationalen Handeln ist Sprache eines der Medien, mit denen die erfolgsorientierten Sprecher Wirkungen zu erzielen versuchen; im normregulierten Handeln fungiert Sprache als Träger kultureller Werte und konsensueller Überzeugungen, die mit jedem Sprechakt lediglich reproduziert werden; im dramaturgischen Handeln erscheint Sprache schließlich als ein Medium der Selbstinszenierung. Diese jeweils spezifischen Verkürzungen werden im kommunikativen Handeln aufgehoben: „Allein das kommunikative Handlungsmodell setzt Sprache als ein Medium unverkürzter Verständigung voraus, wobei sich Sprecher und Hörer aus dem Horizont ihrer vorinterpretierten Lebenswelt gleichzeitig auf etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt beziehen, um gemeinsame Situationsdefinitionen auszuhandeln.“53
In keinem der vier Handlungsmodelle wird die zielgerichtete Grundstruktur des Handelns suspendiert. Doch während sie im teleologischen Modell der alleinige Koordinierungsmechanismus ist, wird sie in den anderen Modellen durch andere und rational weitergehende Bedingungsfaktoren überformt. Auch kommunikatives Handeln enthält zielgerichtete Elemente, allerdings ist der entscheidende Koordinierungsmechanismus der Verständigungswunsch innerhalb der Handlungssituation und nicht primär die individuelle Zielerreichung.54 Diese Differenzierung unterschiedlicher Handlungsbegriffe ist umfassender als die Gegenüberstellung von instrumentellem und kommunikativem Handeln, zudem kommt als dritter Modus der Handlungskoordinierung ein ästhetisch-expressiver hinzu, der auf die Spezifika der subjektiven Welt der Sprecher und die damit verbundenen Geltungsansprüche besonders abstellt.
2.1.2
Kerngehalte kommunikativer Rationalität
Trotz der Erweiterung und Präzisierung bleibt dieser Katalog unterschiedlicher Handlungsbegriffe auf die Kategorie der kommunikativen Rationalität zugeschnitten. Er beabsichtigt keine umfassende soziologische Klärung verschiedener Handlungstypen, sondern ist von der Fragestellung nach den immanenten sozialen Bindungskräften des bestimmten Typus des kommuni-
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Haas 1999, S. 78 Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 385 Ebd., S. 142 Vgl. ebd., S. 150f. In letzter Konsequenz ist die Rationalität des Handelns erfolgsorientiert und die kommunikative Rationalität der Sprache verständigungsorientiert – beide Perspektiven werden im Begriff des kommunikativen Handelns zusammengebracht.
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
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kativen Handelns geleitet.55 Die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ versucht, in sprachlichen Verständigungsprozessen den Grundmodus sozialintegrativer Vergesellschaftung zu identifizieren, um der in der Moderne weitgehend entfesselten Kraft instrumenteller Rationalität ein theoretisch fundiertes Gegengewicht entgegenzusetzen. Sie geht davon aus, dass in sprachlichen Grundstrukturen eine eigenständige Rationalität angelegt ist, die sich (auch normativ) am Gelingen von Verständigungsprozessen zwischen vernunftfähigen Akteuren bemisst, die in der Lage sind, ihr Handeln in einer Kommunikationsgemeinschaft an intersubjektiv anerkannten Geltungsansprüchen auszurichten und die von ihnen erhobenen Ansprüche zu begründen, wenn diese in Zweifel gezogen werden.56 Auf diesem Wege stellen kommunizierende Akteure Einvernehmen über die Situation her, in der sie sich befinden: „Ein Geltungsanspruch kann von einem Sprecher gegenüber (mindestens) einem Hörer erhoben werden. Normalerweise geschieht das implizit. Indem der Sprecher einen Satz äußert, erhebt er einen Anspruch, der, wenn er ihn explizit machen würde, die Form annehmen könnte ‚es ist wahr, daß >p<‘ oder‚ es ist richtig, daß >h<‘, oder auch ‚ich meine, was ich sage, wenn ich hier und jetzt >s< äußere‘, wobei >p< für eine Aussage, >h< für die Beschreibung einer Handlung und >s< für einen Erlebnissatz stehen mögen. Ein Geltungsanspruch ist äquivalent der Behauptung, daß die Bedingungen für die Gültigkeit einer Äußerung erfüllt sind. Gleichviel ob der Sprecher einen Geltungsanspruch implizit oder explizit erhebt, der Hörer hat nur die Wahl, den Geltungsanspruch anzunehmen, zurückzuweisen oder einstweilen dahingestellt sein zu lassen. Die zulässigen Reaktionen sind Ja/Nein-Stellungnahmen oder Enthaltungen.“57
Habermas verweist in seiner Universalpragmatik auf drei verschiedene Geltungsansprüche, die mit einem kommunikativen Akt erhoben werden: • Wahrheit für Aussagen oder Existenzannahmen, • Richtigkeit für legitim geregelte Handlungen und deren normativen Kontext und • Wahrhaftigkeit für Äußerungen subjektiver Erlebnisse oder Empfindungen. Mit diesen Geltungsansprüchen setzt sich ein Sprecher gleichsam in Beziehung • zur objektiven Welt, über die ‚wahre‘ Aussagen möglich sind, • zur sozialen Welt, die aus legitim geregelten interpersonalen Beziehungen besteht, und • zur subjektiven Welt der nur dem Sprecher zugänglichen Empfindungen und Erlebnisse.58 Ein vierter Geltungsanspruch ist jeder Aussage inhärent, wird aber vorausgesetzt, weil ohne seine Einlösung eine Verständigung gar nicht erst möglich ist: die Verständlichkeit der Aussage. Sie bezieht sich nicht genuin auf die Pragmatik der Rede, sondern bereits auf Grammatik und Semantik. Vereinfacht ausgedrückt lassen sich die verschiedenen Aspekte eines Sprechaktes also wie folgt beschreiben: Kommunikativ handelnde Sprecher streben an: • • • •
55
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„sich verständlich auszudrücken, etwas zu verstehen zu geben, sich dabei verständlich zu machen und sich miteinander zu verständigen.“59
Habermas versucht in seinem Theorieentwurf eben nicht, wie Joas (1986, S. 149) aus einer streng handlungstheoretischen Perspektive kritisiert, eine letztgültige Differenzierung von Handlungstypen vorzulegen, sondern entlässt lediglich die Kommunikation „aus der Verbannung in die prallgefüllte Residualkategorie des nichtinstrumentalen Handelns“. Weitergehende Typologisierungen von Handlungskategorien liegen nicht in der Absicht der Theorie kommunikativen Handelns, da sie kein generelles Modell menschlicher Handlungen entwirft. Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 34ff. Ebd., S. 65 Vgl. ebd., S. 148ff. Habermas 1995b [1984], S. 354
180
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
Sprache wird in diesem universalpragmatischen Modell aus einer spezifischen Perspektive nur in Bezug auf ihre Fähigkeit, den Sprechern bei der Herstellung von Weltbezügen zu nutzen, betrachtet. Das kommunikative Handeln zeichnet sich im Vergleich zu anderen Handlungstypen dadurch aus, dass Handelnde sich nur in ihm der Sprache pragmatisch bedienen, um jeweils alle drei Geltungsansprüche zu erheben und damit gleichzeitig reflexive Bezüge zu allen drei Welten herzustellen. Kommunikativ Handelnde müssen damit rechnen, dass die von ihnen erhobenen Geltungsansprüche stets in Zweifel gezogen werden können. Sie nehmen daher nicht mehr direkt auf etwas in der objektiven, sozialen oder subjektiven Welt Bezug, sondern relativieren ihre Aussagen, indem sie schon während der Handlung die Einspruchsmöglichkeiten ihrer Interaktionspartner reflexiv berücksichtigen.60 Handlungskoordinierung zwischen kommunikativ Handelnden ergibt sich aus der Einigung über die wechselseitige Gültigkeit der erhobenen Ansprüche.
2.1.3
Interaktive Bezüge des Journalismus
Entsprechend der benannten Geltungsansprüche lassen sich unterschiedliche journalistische Herangehensweisen identifizieren. Ein Beispiel dafür ist mit Langenbuchers heuristischer Differenzierung zwischen der Erkundung, der Aufklärung und der Verantwortung genannt worden.61 Zwar bezieht er alle drei Haltungen auf die Wahrheit, aber mit Habermas kann – wie bereits erläutert – die Aufklärung, also vorwiegend das Räsonnement hinsichtlich sozialer Beziehungen, auf die soziale Richtigkeit und die Verantwortung auf die subjektive Wahrhaftigkeit des berichtenden Journalisten bezogen werden. Erkundung bleibt dann vorwiegend auf Wahrheit bezogen. So ergibt sich, um nur ein Beispiel herauszugreifen, das Postulat der Aufklärung aus der zunächst stets prekären Geltung des kommunikativ erhobenen Anspruchs der (sozialen) Richtigkeit, die erst dann als gesichert gelten kann, wenn der Kommunikationspartner (in diesem Fall der Journalist gegenüber dem Ausgangspartner) diesen Anspruch nicht (oder nicht mehr) explizit in Frage stellt. Journalismus lässt sich weitergehend grundsätzlich als Interaktion im Sinne eines kommunikativen Verständigungsprozesss beschreiben, wenn man mit Gottschlich von der Prämisse ausgeht, „[…] daß jeder der im medienvermittelten Kommunikationsprozeß beteiligten Partner in bestimmten Situationszusammenhängen im Kontext von Sozialität agiert, und zwar in der Weise, daß diese Situationen und ihre Merkmale nicht als handlungsdeterminierende Kräfte auftreten, sondern als Objekte, die von der handelnden Person interpretiert und definiert und damit sinnvoll konstruiert werden […].“62
Journalistische Kommunikation wird dann genuin als ein in einen symbolischen Kontext eingebetteter Austauschprozess, als kommunikatives Handeln, verstanden, in dessen Vollzug durch Verstehen der Aussagen des Anderen Verständigung und Sinnrealisierung – und damit letztlich Orientierung – möglich werden. Auch bei Klassikern der kritischen Medien- und Journalismusanalyse wie Enzensberger und Prokop wird journalistisches Handeln innerhalb der Massenmedien als eine Chance gesehen, der systemischen Formiertheit betrieblicher Ziele
60 61 62
In dieser Modellfigur wird deutlich, dass sich Habermas neben der Sprachphilosophie Austins und Searles auch stark auf den Symbolischen Interaktionismus Meads (1973 [1934]) bezieht. Vgl. Langenbucher 1993a Gottschlich 1980, S. 49
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
181
eine eigenständige Rationalität entgegenzusetzen.63 Insbesondere Prokop weist darauf hin, dass Journalisten Inhalte produzieren können, die nicht den Verwertungsabsichten der Konzerne – und damit der beruflichen Rolle im Sinne der Arbeit –, sondern der Sinnsuche mancher Teilpublika entsprechen. Er kennzeichnet hier ein kommunikatives Potenzial der „Kooperation der lebendigen Fähigkeiten und Talente“, das durch den systemisch auf Tauschabstraktionen wie die Unterhaltung gerichteten Rahmen des Mediensystems und seine Versuche der ‚Publikumsfixierung‘ zwar deutlich eingeschränkt, nicht aber vollkommen obsolet wird.64 Kommunikatives journalistisches Handeln hat die professionelle Aufgabe, „[…] die freie gesellschaftliche Kommunikation als Voraussetzung individueller wie gesellschaftlicher Entfaltung zu ermöglichen“ und dafür zu sorgen, dass die Mitglieder einer Gesellschaft Einblicke in ihnen gemeinsame soziale Entwicklungen erhalten.65 Die ‚Mitteilung‘ ist die ureigene journalistische Aufgabe, durch die kommunikative Interaktion mit dem Ziel der Verständigung möglich wird. „Herstellung von Sinn durch Mitteilung“ ist demnach für Gottschlich die genuine Leistung des Journalismus.66 „Mitteilung selbst ist Ergebnis situativ gebundener Interpretationsprozesse journalistischer Akteure und zugleich Bestandteil der symbolischen Umwelt des Rezipienten, auf der dieser seinerseits mit Interpretationsprozessen re-agiert. Aus der Möglichkeit der Entsprechung dieser wechselseitigen, auf das Thema bezogenen und in Akten der Antizipation von Erwartungshaltungen aneinander orientierten Interpretationsprozesse leitet sich die Chance auf Verständigung von Sinn ab.“67
Dieser Rückbezug auf die Kategorie der Verständigung ist auf der theoretischen Grundlage fundiert, auf der auch das Konzept des kommunikativen Handelns in der Lebenswelt beruht. Im Journalismus lassen sich anknüpfend an diese Vorstellungen Verstehens- und Verständigungsprozesse auf zwei Ebenen identifizieren: • Journalisten streben durch alltagssprachliche Aussagen Verständigung mit den Rezipienten – in der konzeptionell und ‚pragmatisch‘ reduzierten Form der Verstehbarkeit journalistischer Aussagen – an; • Journalisten ermöglichen dadurch, dass sie Themen öffentlich und zugänglich machen, dass Rezipienten sich mit ihrer (und über ihre) Umwelt verständigen.68 Hinter dieser doppelten Denkfigur lässt sich eine abgewandelte Vorstellung des klassischen Modells ausmachen, welches den Journalisten als Vermittler zwischen Ausgangs- und Zielpartner im gesellschaftlichen Zeitgespräch betrachtet.69 In dieser Ausgangsinterpretation Gottschlichs stehen allerdings nicht die lebensweltlichen oder beruflichen Ausgestaltungsoptionen dieser Aufgabe im Zentrum, sondern die kommunikativen Universalien, auf denen Journalismus beruht. Journalisten handeln kommunikativ, wenn sie gesellschaftliche Vermittungspro63 64 65
66 67 68 69
Vgl. Prokop 1974; Enzensberger 1974 [1970]. Bei Enzensberger steht hier die Radiotheorie Brechts (1972) Pate. Prokop 1974, S. 166 Gottschlich 1999c, S. 175. Dabei geht Gottschlich (1980, S. 16) zunächst von der – schnell als utopisch identifizierten – Zielvorstellung aus, „[…] daß mit der Verfügbarkeit über die Kommunikationstechnologien auch die Verfügbarkeit über jenes instrumentelle Wissen wächst, das die Basis schafft, sich an der Mitgestaltung der Welt schöpferisch, d.h. nicht in bedrückendem, sondern in befreiendem Bewußtsein der Vielfalt des Möglichen zu beteiligen.“ Zu gewährleisten, dass Massenmedien in diesem Sinne genutzt würden, sei Aufgabe eines professionell betriebenen Journalismus. Gottschlich 1980, S. 119 Ebd., S. 45 Vgl. ebd., S. 46 Dieses Modell kennzeichnet Gottschlich zwar als nicht mehr zeitgemäß, greift aber darauf zurück, um es zu modifizieren und um zeitgemäße Rollenanforderungen zu ergänzen.
182
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
zesse in Gang setzen. Diese Kommunikativität ist in der Regel beruflich verfasst, um ihre Gewährleistung zu garantieren. Daraus ergibt sich ein dialektisches Spannungsverhältnis, das journalistische Akteure im Vollzug ihrer Tätigkeiten aushalten müssen. In den Regeln der Habermasschen Universalpragmatik lassen sich Ankerpunkte für ein konkretes journalistisches Ethos identifizieren, mit dem Arbeit und Kommunikation des journalistisch Handelnden auf eine grundlegende und vernünftige Verständigungsabsicht verpflichtet werden. Oft werden Möglichkeiten der Verwirklichung einer umfassenderen Vernunft in der öffentlichen Kommunikation gar nicht mehr im etablierten massenmedialen Journalismus, sondern vorwiegend in gegenöffentlichen und alternativen Strukturen gesucht.70 Beruf und Kommunikativität werden dann – entlang der Kategorien Arbeit und Interaktion – als strukturierende Referenzen in scharfem Gegensatz betrachtet. Mit eindeutigen und einseitigen Sympathien: Besonders in der kritischen Auseinandersetzung mit Journalismus und Massenmedien der 1970er Jahre lässt sich ein – mit dem Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen maßgeblich korrelierender – Optimismus im Hinblick auf die kommunikative Qualität alternativer, nicht beruflich produzierter Medienprodukte ausmachen71, der angesichts der Reichweite und der Qualität dieser Angebote kaum aufrechterhalten werden kann.72 Vorbild für einem kommunikativen Journalismus sind aus dieser Perspektive die Angebote eines alternativen Journalismus (wie von Bürgern getragene Stadt(teil)-Magazine; Szene-Blätter oder auch journalistisch anspruchsvolle Produkte des ‚New Journalism‘), der mit begrenzter Reichweite außerhalb der Grenzen des privatwirtschaftlichen oder öffentlich-rechtlichen Mediensystems operiert. Die ehemals ‚neuen‘ Journalismusformen setzten sich auch inhaltlich von etablierten Vermittlungsformen ab: „An die Stelle einer ohnehin fiktiven Objektivität und einer abzulehnenden Haltung als scheinbar unbeteiligter neutraler Beobachter setzen die alternativen Journalisten die Forderung nach Fairneß und Offenheit sowie die aktive Teilnahme. Das Publikum – auf dessen Unterstützung als Informanten und Kritiker die alternativen Journalisten ebenso angewiesen sind wie als Käufer ihrer Produkte – hat ihrer Meinung nach das Recht zu erfahren, welchen politischen Standpunkt ein Journalist einnimmt. Professionelle journalistische Standards werden in der Befolgung dieser ungeschriebenen Regeln intellektueller Redlichkeit und nicht im Streben nach einer unmöglich erscheinenden Objektivität erblickt.“73
Es wurde erwartet, dass die Erfahrungen von Journalisten aus solchen alternativen Medien auch in die Arbeit der etablierten journalistischen Angebote einfließen und so Potenziale journalistischen Handelns reanimiert werden.74 Ein Beispiel dafür kann die Wiederentdeckung der Subjektivität des Reporters im so genannten ‚New Journalism‘ sein, der in den USA seinen Ausgang genommen hat, aber auch im deutschsprachigen Raum Nachahmer bis in die etablierten Medien hinein gefunden hat.75 Die Veränderungen im journalistischen Rollenverständnis, die sich bei den Protagonisten dieser journalistischen Bewegung feststellen lassen, korrespondieren offensichtlich mit Anforderungen eines kommunikativen Journalismus. Aber die Erfah70 71 72
73 74 75
Vgl. beispielhaft die Überlegungen von Oy (2005) zum Potenzial von Alternativmedien. Vgl. z.B. Fabris 1979; Enzensberger 1974 [1970]; Eurich 1980a; 1980b; für einen Überblick; Oy 2001, S. 18ff. In einigen damaligen Studien, die in den Laien-Angeboten Ausdrücke unverstellter Kommunikativität entdecken konnten, werden erstaunlich zuversichtliche Szenarien entwickelt: „Sollte sich die Bewegung des ‚LaienJournalismus‘ weiter ausbreiten, läßt sich als zukünftige Perspektive für das System der öffentlichen Kommunikation ein Kontinuum von Kommunikator-Tätigkeiten konturieren, das von verschiedenartigsten Formen des ‚Laien-Journalismus‘ über teilberufliche Funktionen eines ‚anwaltschaftlichen‘ Journalismus bis zu den derzeit dominierenden Erscheinungsformen des Medienjournalismus reicht.“ (Fabris 1979, S. 251) Fabris 1979, S. 241 Vgl. ebd., S. 197 Vgl. Haas/Wallisch 1991 und die Beiträge in Bleicher/Pörksen 2004.
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
183
rung hat gezeigt, dass sich diese alternativen Formen des Journalismus in der Regel nicht bis in die Kernstrukturen des verberuflichten, massenmedialen Journalismus durchsetzen, sondern eher wichtige Grundzüge einer alternativen Öffentlichkeit bilden. Sie können das vermeintliche Monopol der Massenmedien in Frage stellen, um kritischen und emanzipatorischen Angeboten den notwendigen Raum zu geben76, aber sie können das Monopol anscheinend weder brechen noch waren sie bislang erfolgreich in Versuchen der inneren Restrukturierung. Die Kritiker des etablierten Journalismus kaprizieren ihre Hoffnungen daher auf eine ‚dual market‘-Struktur, die sich aus einem großen etablierten Medienmarkt mit konventionell arbeitsteiligen Produktionsmustern und einem deutlich kleineren, zweiten Markt zusammensetzt, der weit weniger effizienzorientiert ist und stattdessen eher auf individuellen Produkten basiert.77 Ihr kommunikationspolitisches Ziel ist das „Nebeneinander von ‚Gegenöffentlichkeit‘ und Präsenz in den Massenmedien“.78 Dabei ist es viel versprechender, die Potenziale journalistischer Kommunikativität analytisch in den bestehenden systemischen Rahmen hineinzutragen und nach ihren dortigen Grundlagen und Spielräumen zu fragen. Schließlich verläuft schon der beklagte Verfall öffentlicher Kommunikation, nicht einsinnig und einseitig, sondern ist vielmehr die Kehrseite einer öffentlichen Kommunikation, die zugleich durch niedrigere Zugangsschwellen, ein deutlich erhöhtes Informationsaufkommen und entgrenzte Gesprächszusammenhänge charakterisiert werden kann. Wer auf alternative Medien zur Durchsetzung der Kommunikativität setzt, der erhöht kommunikative Qualität oftmals nur um den Preis einer neuerlichen sozialen oder kulturellen Exklusivität. Während also die klassische Suche nach einem alternativen Journalismus sich der Explikation alternativer Kommunikationsformen widmet, die den Journalismus als Beruf in einer zentralen Dimension ersetzen sollen, ihn aber nicht ersetzen können, wird in der vorliegenden Arbeit danach gefragt, welches kommunikative Potenzial der etablierte, berufliche Journalismus besitzt und wie es aktiviert werden kann. Oder wie Baum formuliert: Ziel ist es, „[…] die verständigungsorientierte Vernunft im Journalismus ausfindig zu machen, zu verstehen, was die kommunikative Kompetenz der JournalistInnen auszeichnet, wie autonom sie damit umgehen können, kurz: wie frei der Journalismus ist“.79 Ein solches Programm nimmt zur Kenntnis, dass sprachliche Vernunft in letzter Konsequenz unhintergehbar ist und deswegen auch nicht in Randbereiche delegiert werden kann, während die zentralen Institutionen gesellschaftlicher Öffentlichkeit zweckrationaler Vernunft überlassen werden.
2.2
Verständigung durch journalistische Kommunikation
Die normativen Grundlagen eines kommunikativen Journalismus liegen in den Grundstrukturen von Sprache – das gilt in besonderem Maße für die angenommene Verständigungsorientierung. Habermas entwickelt die starke These, dass der verständigungsorientierte Sprachgebrauch „[…] der Originalmodus ist, zu dem sich die indirekte Verständigung, das Zuverstehen-geben oder das Verstehen-lassen, parasitär verhalten“.80 Diese Verständigungsorientierung der Sprache ist das Fundament rationaler Interaktion im Gespräch: 76 77 78 79 80
Vgl. Eurich 1980b, S. 261 Vgl. Fabris 1979, S. 257 Ebd., S. 232 Baum 1994, S. 275; vgl. dazu auch die Beiträge in Langenbucher 1980. Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 388 Auf diese Formulierung spielt Baum (1994, S. 395) in seiner ähnlich gelagerten Aussage über den ‚Originalmodus‘ des journalistischen Handelns an.
184
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus „Wenn sprachliche Kommunikation nicht per se auf Verständigung ausgerichtet wäre und wenn die Begründung von Geltungsansprüchen nicht der ursprüngliche Weg zur Verständigung wäre, wäre soziale Interaktion weitgehend unmöglich.“81
Ausschlaggebend dafür sind sowohl kontrafaktische Idealisierungen als auch sprachimmanente Bindungskräfte. Diese zunächst mikrosozialen Mechanismen werden im Rahmen gesellschaftlicher – auch journalistischer – Kommunikationsprozesse zu entscheidenden Mechanismen gesellschaftlicher Verständigung und Integration. Journalistisches Handeln bedient sich der kontrafaktischen Unterstellungen von Vernunft und Herrschaftsfreiheit, auf denen Individualkommunikation beruht und die Voraussetzungen der Verständigungsorientierung sind. In diese Unterstellungen sind regulative Ideen wie das normative Öffentlichkeitsbild und seine idealtypische Beschreibung idealer öffentlicher Kommunikationszusammenhänge eingelassen. Journalistisches Handeln setzt somit auf wechselseitigen Erwartungen von Rationalität und Verständigungswillen auf und nutzt mit Sprache ein Medium, das im Kern auf Gemeinsamkeit zielt. Diese Grundlagen kommunikativen Handelns sind nicht als idealistische Forderung an Kommunikation, sondern als ein sprachimmanenter Anspruch von Kommunikation zu verstehen. Ein auf Verständigung orientierter Journalismus nimmt die Ziele der Aufklärung ernst, indem er die der Unmündigkeit des nicht aufgeklärten Menschen zugrunde liegende Uninformiertheit durch seine kommunikativen Vermittlungsleistungen zu beseitigen trachtet.82
2.2.1
Kontrafaktische Idealisierungen
Sprache orientiert und reguliert soziale Interaktion. Die Disposition der gewählten Sprechakte bestimmt die Einstellung des Kommunizierenden bzw. Handelnden gegenüber seinen Interaktionspartnern. Verständigung beruht auf einer rational motivierten und begründbaren Zustimmung zu den von den Sprechern erhobenen Geltungsansprüchen; sie unterscheidet sich von einer faktisch bestehenden Übereinstimmung dadurch, dass sie nicht durch strategische Einflussnahme oktroyiert werden kann, sondern nur aus dem kommunikativen Koordinierungsprozess und den in ihm gebildeten gemeinsamen Überzeugungen (wie implizit auch immer) erwächst. Die idealisierten, kontrafaktischen Argumentationsvoraussetzungen verlangen von den Teilnehmern an diskursiven Prozessen, dass sie im Sinne des Meadschen ‚role-taking‘ die Perspektive anderer Teilnehmer übernehmen und deren Interessen berücksichtigen. Dieser Gedanke des symbolischen Interaktionismus bildet eine Voraussetzung, auf die sich Beteiligte einlassen müssen, wenn ihre Bemühungen nicht ihren kognitiven Sinn verlieren sollen.83 „Weil vergesellschaftete Individuen im täglichen Umgang miteinander ebenso auf ein naiv für gültig gehaltenes ‚Wissen‘ von Werten angewiesen sind wie kooperativ handelnde Subjekte auf Tatsachenwissen im Umgang mit der Realität, sind sie gehalten, den moralischen Kerngehalt des entglittenen Traditionswissens aus eigener Kraft und Einsicht zu rekonstruieren. Sobald sie aber ohne weltanschauliche Rückendeckung ein universell verbindliches System von Regeln auszeichnen wollen, das aus intrinsischen Gründen verbindlich ist und eine sanktionsbewährte Durchsetzung erübrigt, bietet sich ihnen nur der Weg zum diskursiv herbeigeführten Einverständnis. Die Fortsetzung des kommunikativen Handelns mit diskursiven Mitteln gehört zur kommunikativen Lebensform, in der wir uns alternativenlos vorfinden.“84
81 82 83 84
Kuhlmann 1999, S. 46 Vgl. Burkart 1998a, S. 519 Vgl. Habermas 1999, S. 306f. Ebd., S. 317
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
185
Der diskursive Ansatz beruht auf einer idealisierenden Darstellung der Beziehung zwischen Sprecher und Hörer und der damit verbundenen Suspendierung strategischer Gehalte aus dem Interaktionszusammenhang. Seine Prämissen können daher auch nicht eins zu eins auf die Analyse journalistischer Kommunikations- und Handlungszusammenhänge übertragen werden, sondern bilden im besten Sinne eine regulative Idee. Diese ist angelehnt an die Unterstellung der idealen Sprechsituation85 und deshalb immer wieder der Kritik aus vermeintlich ‚realistischer Perspektive‘ ausgesetzt; gerade an dieser Stelle setzt auch die gängige, zumeist systemtheoretisch fundierte Kritik an, die aufgrund der hohen Normativität formalpragmatischer Annahmen deren Verwendbarkeit zur Analyse von Journalismus bezweifelt.86 Dabei führt allerdings die tief liegende Verankerung kommunikativen Handelns in den Grundannahmen des Sprachgebrauchs dazu, dass jedes Abweichen – das es zweifellos zahlreich gibt – als defizitär und letztlich als parasitär zu einer immanenten Normativität, von deren Geltung es zehrt, betrachtet werden muss.87 Viele vermeintlich ‚realistische‘ Einwände gegen solche ‚erhöhten‘ Anforderungen an die kommunikative Qualität der journalistischen Produkte unterliegen einem naturalistischen Fehlschluss, indem sie ein normatives Postulat aufgrund seiner Nicht-Einlösung verwerfen wollen.88 Oder aber sie ignorieren, dass Habermas selbst seinen Überlegungen den letztlich paradoxen Status zuweist, als in ihrem Realitätsgehalt zunächst nicht prüfbare Unterstellungen für Handeln trotzdem unerlässlich zu sein. Gerade in der ‚Theorie kommunikativen Handelns‘ wird normativen Forderungen der Verständigungsorientierung ein kontrafaktischer Status zugewiesen, der zugleich auf ihre Nichteinlösung und auf ihre dennoch begründbare Wirkung im kommunikativen Prozess verweist. Habermas hält eine ‚ideale Sprechsituation‘ dann für gegeben, wenn „[…] Kommunikationen nicht nur nicht durch äußere kontingente Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert werden, die sich aus der Struktur der Kommunikation selbst ergeben“89. In derartigen Situationen sind Verzerrungen von Kommunikation ausgeschlossen, Machstrukturen werden in ihrer Gültigkeit suspendiert. Eine ideale Sprechsituation beruht somit auf der formal unbegrenzten Möglichkeit, an Diskursen durch das Aufstellen von Sprachakten und das Kritisieren erhobener Geltungsansprüche teilzunehmen, sowie auf den weitergehenden Bedingungen der Suspendierung von Handlungszwängen im Diskurs durch Wahrhaftigkeit der Teilnehmer und durch das Ausklammern sozialer Macht, um so der Kraft des besseren Arguments jenseits zweckrationaler oder strategischer Überlegungen den Raum zu geben, rationale Ergebnisse zu befördern.90 85 86
87 88 89 90
Vgl. Habermas 1995c [1984] Vgl. z.B. Rühl 1980, S. 232. Beispielhaft ist die Kritik von Kiss (1987, S. 114) an Habermas, der die „lebensfremde Normativität seines demokratisch gemeinten intersubjektivistischen Ansatzes“ angreift und stattdessen die vollständige Aufgabe akteurstheoretischer Annahmen zugunsten einer auf systemische Mechanismen ausgerichteten, vermeintlich realistischeren Beschreibung von Gesellschaft fordert. Ähnlich argumentiert auch Hug (1997, S. 233ff.), der weniger auf Probleme der empirischen Einlösbarkeit zielt, als vielmehr auf vermeintliche theoriearchitektonische Probleme hinsichtlich der Rationalitätsannahmen und des Diskursmodells bei Habermas, die er beide im Vergleich zu differenzierungslogischen Annahmen der Systemtheorie für nur wenig erklärungskräftig hält. Insbesondere stellt er sich – auch hier im Einklang mit der gängigen systemtheoretischen Kritik und ihrem Beharren auf der Unmöglichkeit einer lebensweltlichen und entdifferenzierenden Rationalität in Öffentlichkeit – frontal gegen die Annahme der Verständigungsorientierung in kommunikativem Handeln. Das Beispiel, dass wir nur dann erfolgreich lügen können, wenn der Interaktionspartner die Prämissen der kommunikativen Verständigung anerkannt hat, mag ein Beleg dafür sein (vgl. Kuhlmann 2002, S. 184). Dabei ist in diskursethisch motivierten Beiträgen zur Medien- und Journalismusethik überzeugend diskutiert worden, inwiefern weitreichende Anforderungen an diese Qualität nach wie vor begründbar sind (vgl. z.B. Thomaß 2000; Loretan 1994; 1999; 2002; Arens 1996; Lesch 1996). Habermas 1995c [1984], S. 177 Vgl. ebd., S. 177f.
186
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
Habermas selbst verweist darauf, dass die Realisierungsmöglichkeiten einer solchen idealen Sprechsituation prekär sind, da empirisch vorfindbare Redesituationen Einflüssen und Limitierungen zum Beispiel durch Raum oder Zeit unterworfen ist und dementsprechend eine idealtypische ‚Reinheit‘ der geschilderten Bedingungen nicht gegeben sein kann. Allerdings ist eine ‚hinreichende Realisierung‘ der Bedingungen nicht ausgeschlossen, da etwaige Restriktionen z.B. durch institutionalisierte Verfahren aufgewogen oder mindestens neutralisiert werden können. Ob wir allerdings einen Diskurs führen oder nur unter Handlungszwängen einen (Schein-)Diskurs vorführen, können wir in der konkreten Situation nicht erkennen, sondern erst rückblickend bewerten. Das Konzept der idealen Sprechsituation kann deshalb wie folgt verstanden werden: „Die ideale Sprechsituation ist weder ein empirisches Phänomen noch bloßes Konstrukt, sondern eine in Diskursen unvermeidliche, reziprok vorgenommene Unterstellung. Diese Unterstellung kann, sie muß nicht kontrafaktisch sein; aber auch wenn sie kontrafaktisch gemacht wird, ist sie eine im Kommunikationsvorgang operativ wirksame Fiktion. Ich spreche deshalb lieber von einer Antizipation, von einem Vorgriff auf eine ideale Sprechsituation. Dieser Vorgriff allein ist Gewähr dafür, daß wir mit einem faktisch erzielten Konsens den Anspruch eines vernünftigen Konsenses verbinden dürfen; zugleich ist er ein kritischer Maßstab, an dem jeder faktisch erzielte Konsensus auch in Frage gestellt und daraufhin überprüft werden kann, ob er ein hinreichender Indikator für einen begründeten Konsens ist.“91
Diese „Idealisierungsleistung“92 stellt für Habermas die einzig denkbare Möglichkeit dar, das empirische Gelingen der kommunikativen Koordination des Handelns auch zu gewährleisten, indem die Interaktionspartner kontrafaktisch unterstellen, dass ideale Bedingungen des Erhebens und Einlösens von Geltungsansprüchen gegeben sind – das gilt letztlich auch für journalistisch vermittelte oder hergestellte Kommunikation. Ein solch ‚idealistisches Kommunikationsmodell‘ kann daher durchaus als potenzieller „Bezugsrahmen zur Entwicklung systemunabhängiger, wie auch systemabhängiger Theorien“ der Massenmedien und des Journalismus herangezogen werden.93 „Zur Verwirklichung des vollkommenen Öffentlichkeitsmodells ist der Idealfall der Kommunikation, d.h. uneingeschränkte herrschaftsfreie Diskussion, unabdingbar. Massenkommunikation ist also ein Phänomen der Veröffentlichung zur Herstellung von Öffentlichkeit.“94
Würden die Kommunikationspartner nicht dieser Annahme folgen, dann gäbe es keine Motivation, rationale Verständigung überhaupt anzustreben, weil diese nicht erreichbar schiene. Daran ändert auch eine faktische Uneinlösbarkeit dieser Idealisierungen nichts. Die Tatsache, dass Sprecher erkennen können, dass ihre ‚reale‘ Kommunikationssituation durch Manipulationsversuche oder Machtansprüche verzerrt wird, spricht im Gegenteil eher dafür, dass sie ein intuitives Verständnis für einen auf rational motivierter Zustimmung basierenden Verständigungszusammenhang besitzen, ohne das sie nicht in der Lage wären, diese Deformationen und den durch sie verursachten ‚heimlichen Zwang‘ sozialer Umstände wahrzunehmen.95 Journalistisches Handeln als kommunikatives Handeln impliziert folglich, dass die gesellschaftliche Verständigung solidarisch verlaufen kann und nicht macht- oder geldgesteuert sein muss. Besonders in dem regulativ idealen Bezug auf ein idealisiertes Öffentlichkeitsmodell liegt die Verpflichtung journalistischen Handelns auf die genannten kommunikativen Ideale, die 91 92 93 94 95
Ebd., S. 180 Holzer 1994, S. 95 Boguschewsky-Kube 1990, S. 124f. Ebd., S. 126 Vgl. Dubiel 2001, S. 105
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
187
nicht deshalb an Gültigkeit verlieren, weil sie empirisch nicht eingelöst sind, sondern letztlich als – mindestens ethische – Anforderungen an Journalismus gerade aus ihrer Prekarität heraus an Relevanz gewinnen. Ein Journalismus, der sich auf die strategische Herstellung von Kommunikation verlegt, die unter dem Deckmantel der Kommunikativität dritte Ziele, seien sie nun politisch oder ökonomisch, verfolgt, unterminiert dagegen letztlich seine eigenen Geltungsgrundlagen. In diesem Zusammenhang wird deutlich, warum die Forderung nach einer Trennung von journalistischer Vermittlung und journalistischer ‚Produktion‘, von Vermittlung und Eigenleistung ihren Sinn verlieren muss: Als sprachliches oder sprachanalog zu verstehendes Handeln bedient sich Journalismus der kommunikativen Ressourcen sprachlicher Verständigung. Eine Trennung von deren kommunikativem, interaktivem Grundgerüst, wäre nur um den Preis einer strategischen Kommunikationshaltung möglich, welche die kontrafaktischen Rationalitäts- und Verständigungsunterstellungen suspendieren und damit zu einem erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust beitragen würde. Sie würde Journalismus unterschiedslos machen zu Propaganda oder Public Relations, die sich in der Regel dieser strategischen Modi bedienen. Während Journalismus in der Verständigungsorientierung von Sprache fest verankert ist, nutzen Public Relations Sprache als ein Werkzeug um externe, meist wirtschaftliche oder politische Zwecke zu erreichen. Sie sind in der Regel nicht ergebnisoffen und diskursiv, sondern explizit auf persuasive Effekte gerichtet. Betrachtet man dagegen Journalismus als Anwalt des gesellschaftlichen Diskurses, dann ist diese Rolle primär auf der Basis diskursiver Kommunikationsmuster auszufüllen. Die Prüfung der Geltungsansprüche ist sowohl notwendiges Element kommunikativer Handlungskoordinierung als auch gesellschaftlich wünschenswerte, im weitesten Sinne ‚advokatorisch‘ oder ‚diskursrepräsentativ‘ zu verstehende Leistung eines journalistischen Handelns, das zwar auch eigene Interessen besitzt, diese aber nicht primär verfolgen kann, ohne seinen Bestand zu gefährden. Journalismus wird – in demokratischen Verfassungen auch rechtlich – dafür verantwortlich gemacht, dass eine Öffentlichkeit hergestellt wird, die den gesellschaftlich für notwendig erachteten Partizipationsanforderungen und Teilhabechancen gerecht wird. Diese Öffentlichkeit ist als Ideal nicht nur in top-down-Richtung zu verstehen, sondern – in Einklang mit der Idee eines ‚Zeitgesprächs der Gesellschaft‘ – als ein Kommunikationszusammenhang, in dem die Rollen der Ausgangs- und Zielpartner, der Kommunikatoren und Rezipienten, wechseln können. In dieser Öffentlichkeit soll idealtypisch jede Meinung buchstäblich ‚zur Sprache‘ kommen. Die gängigen Einwände gegen solche Forderungen – die Teilnahme aller sei nicht möglich, eine hinreichend rationale Verarbeitung der gesellschaftlichen Diskussionen empirisch nicht feststellbar – greifen in ihren pauschalen Fassungen zu kurz. Gerade weil eine Beteiligung aller in demokratischen Öffentlichkeiten faktisch nicht möglich ist, gewinnt schließlich die Idee, professionelle Journalisten damit zu beauftragen, gesellschaftliche Kommunikation vermittelnd und stellvertretend zu ermöglichen an Relevanz. Journalismus gewährleistet die allgemeine Zugänglichkeit, indem durch Publikation Information und Interessen transparent und ‚zugänglich‘ gemacht werden.96 Die angemessene Erfüllung dieser Erwartungen setzt die Einhaltung kommunikativer Standards in der Vermittlung voraus.
96
Vgl. Burkart 1998a, S. 518
188
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
2.2.2
Illokutionäre Bindungskräfte
Da journalistisches Handeln als kommunikatives Handeln auf im Diskurs erreichte Verständigung zielt, können die kommunikativen Leistungen des Journalismus auch als ein Beitrag zur gesellschaftlichen Integration verstanden werden.97 Konzipiert wird diese Integrationsleistung in der Forschung in den fünf Dimensionen (von der Mikro- zur Makroebene): (1) (2) (3) (4) (5)
„Bereitstellung gemeinsamer Themen / Wissensbasis Ermöglichen von Repräsentation Konstituieren von (politischer) Öffentlichkeit Vermittlung gemeinsamer Normen und Werte Konstruktion von Realität (Lebenswelt, Selbst- und Fremdbeobachtung)“.98
Allerdings sind die Aussagen über entsprechende Wirkungen meist eher Prämissen als empirische Ergebnisse.99 Das Modell kommunikativen Handelns macht es möglich, diese Prämissen zumindest mikrosozial zu begründen, da in den Fundamenten des kommunikativen Sprachgebrauchs Bindungskräfte angelegt sind, die sich vor allem in den illokutionären Bestandteilen des Sprechaktes sowie in den kontrafaktischen Unterstellungen der Verständigungsbereitschaft finden. Habermas begründet die sozial integrative Kraft der Verständigung mit einer hierarchisierten Typologie unterschiedlicher Sprechakt-Formen, welche ausgehend von einer spezifischen Sprecher-Intuition die soziale Interaktion durch je verschiedene Verwendungsweisen von Sprache in einer kommunikativen Handlung prägen:100 (1) Mit lokutionären Akten drückt ein Sprecher einen propositionalen Sachverhalt aus. Sie beziehen sich auf den Gehalt von Aussagesätzen oder von nominalisierten Aussagesätzen („etwas sagen“). (2) Mit illokutionären Akten vollzieht ein Sprecher eine Handlung, indem er etwas sagt. Sie beziehen auf den durch Behauptungen, Versprechungen, Befehle, Geständnisse u.ä. festgelegten Modus des verwendeten Satzes („handeln, indem man etwas sagt“). (3) Mit perlokutionären Akten erzielt ein Sprecher eine bestimmte Wirkung beim Hörer. Durch das Ausführen einer Sprechhandlung bewirkt er etwas in der Welt („etwas bewirken, dadurch daß man handelt, indem man etwas sagt“). Setzt sich eine Sprechhandlung aus einem propositionalen (d.h. lokutionären) und einem illokutionären Bestandteil zusammen, dann besteht das performative Ziel des Sprechers darin, zu handeln, indem er etwas sagt. Perlokutionäre Effekte hingegen werden erst in einem strategischen Handlungsmodus erzielt, in dem der Sprecher darauf zielt, bestimmte Wirkungen zu erreichen. In diesem Sinne kann Habermas perlokutionäre Effekte als von außen an die Sprechhandlung herangetragen verstehen, während ihr illokutionäre Effekte innewohnen, weil sie sich aus dem Vollzug einer von Sprache getragenen Handlung ergeben.101 Deshalb kann die 97 98 99 100 101
Fragen der Integrationsfunktion spielen in der Medien- und Journalismusforschung nach wie vor eine wichtige Rolle. Vgl. z.B. Vlasic 2004; Jarren 2000; Maletzke 1980b. Vgl. grundlegend zu sozialer Integration: Peters 1993. Vlasic 2004, S. 67 Vgl. ebd., S. 62 Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 388ff. Die illokutionären Satzteile eines Sprechakts sind anhand performativer Verben erkennbar. Aus propositionalen und illokutionären Bestandteilen zusammengesetzte Sprechhandlungen bestehen aus einem performativen Satzteil (Illokution) und einer daran anschließenden Sachaussage (Proposition): z.B.: ‚Ich verspreche dir, morgen zu kommen.‘ (vgl. Burkart/Lang 1995, S. 45) Sie sind als ‚selbstgenügsam‘ zu beschreiben, da sich in ihnen der Modus des kommunikativen Handelns identifizieren lässt, für den der Wunsch, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, keinesfalls notwendig ist.
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
189
Verständigungsorientierung des Handelns, das Streben nach einem Gemeinsamen in Sprache nicht gleichgesetzt werden mit in der Regel strategischen Persuasionsversuchen. Hier offenbart sich ein Abgrenzungskriterium, anhand dessen die Trennung unterschiedlicher öffentlicher Kommunikationsmodi auf neuem Fundament begründbar gemacht werden könnte.102 Dieses Kriterum markiert die Unterscheidung zwischen einem in erster Linie auf Illokutionen gerichteten Journalismus und den primär an Perlokutionen interessierten Public Relations, die sich Sprache strategisch bedienen.103 Wie eine übertriebene ‚Gesinnungspublizistik‘ müssten sich PR der Analyse ihrer illokutioären und perlokutinoären Fundamente stellen, bevor sie be- oder gar verurteilt werden würden. Journalismus hingegen benötigt den Bezug zu den illokutionären Bindungskräften der Sprache. „Mit der illokutionären Kraft seiner Äußerung kann ein Sprecher einen Hörer motivieren, sein Sprechaktgebot anzunehmen und damit eine rational motivierte Bindung einzugehen. Dieses Konzept setzt voraus, daß sprachund handlungsfähige Subjekte auf mehr als nur eine Welt Bezug nehmen können, und daß sie, indem sie sich miteinander über etwas in einer Welt verständigen, ihrer Kommunikation ein gemeinsam unterstelltes System von Welten zugrunde legen.“104
Die Möglichkeiten erfolgreicher Verständigung zwischen kommunikativ handelnden Interaktionspartnern sind in Form der illokutionären Bindungskräfte stets bereits in sprachliche Strukturen eingelassen: Sprecher können nicht nur grammatisch korrekte Sätze produzieren und verstehen, sondern besitzen darüber hinaus auch die Fähigkeit, die Kommunikationsmodi und die Verbindungen mit der Außenwelt, durch welche die alltagssprachliche Rede möglich wird, herzustellen und zu verstehen. Die rationale Motivation zur Annahme eines Sprechaktangebotes resultiert aus einem internen Zusammenhang zwischen Gültigkeit, Geltungsanspruch und Einlösung des Geltungsanspruchs. Der Sprecher stellt in einer kommunikativen Handlung durch den illokutionären Sprechakt eine Beziehung zu dem Hörer her, die auf der Gewähr beruht, dass er die erhobenen Geltungsansprüche gegebenenfalls durch rationale Begründungen einlösen kann, die einer Kritik des Hörers standzuhalten vermögen. Der illokutionäre Bindungseffekt erwächst also nicht aus der Gültigkeit des Gesagten, sondern aus dem „Koordinierungseffekt der Gewähr“ dafür, dass erhobene Geltungsansprüche eingelöst werden können.105 „Der Hörer akzeptiert mit seinem ‚Ja‘ ein Sprechaktangebot und begründet ein Einverständnis, das sich einerseits auf den Inhalt der Äußerung, andererseits auf sprechaktimmanente Gewährleistungen und interaktionsrelevante Verbindlichkeiten bezieht. Das sprechakttypische Handlungspotential kommt in dem Anspruch zum Ausdruck, den der Sprecher im Fall expliziter Sprechhandlungen mit Hilfe eines performativen Verbes für das, was er sagt, erhebt. Indem ein Hörer diesen Anspruch anerkennt, akzeptiert er ein mit dem Sprechakt gemachtes Angebot. Dieser illokutionäre Erfolg ist insofern handlungsrelevant, als mit ihm eine koordinationswirksame interpersonale Beziehung zwischen Sprecher und Hörer hergestellt wird, die Handlungsspielräume und Interaktionsfolgen ordnet und über generelle Handlungsalternativen Anschlußmöglichkeiten für den Hörer eröffnet.“106
102 103
104 105 106
Allerdings mit Einschränkungen, da auch Perlokutionen unter bestimmten Umständen als explikationsfähig betrachtet werden können. Vgl. dazu Kopperschmidt 1985, S. 105. Die Abgrenzung von Journalismus und PR auf Basis der Universalpragmatik wäre ein lohnenswertes Forschungsprojekt, das an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden kann. Zur Nutzbarkeit der Habermasschen Überlegungen für die PR-Konzeption vgl. auch Burkart/Probst 1991, zu einer auch handlungstheoretischen Perspektive auf PR allgemeiner: Zerfaß 1996. Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 376 Ebd., S. 406 Ebd., S. 398
190
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
In imperativen Äußerungen hingegen, die den illokutionären Effekt hinter Machtbeziehungen zurücktreten lassen und in denen perlokutionäre Effekte überwiegen, hat der Hörer aufgrund von den genuinen Sprechakt erweiternden Faktoren (gemeint ist v.a. ein externes Sanktionspotenzial, welches das Fehlen rationaler Motivation kompensiert) nicht die Möglichkeit, das Sprechaktangebot selbst bestimmt auf der Basis einer rationalen Prüfung der erhobenen Geltungsansprüche zu bewerten.107 Das erklärt auch die Defizite der klassischen publizistikwissenschaftlichen Modelle, die vorwiegend auf persuasive Kommunikation abgestellt haben. Nur in Zusammenhängen kommunikativen Handelns kann der Hörer eine Sprechhandlung stets unter jedem der drei Aspekte Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit prüfen, akzeptieren oder gegebenenfalls in Frage stellen.108 Nur unter diesen Bedingungen sind Aufklärung und demokratische Teilhabe im kleinen wie im größeren gesellschaftlichen Maßstab denkbar. Auch journalistisches Handeln ist daher als sprachliches Handeln – sofern es nicht a priori als strategisch (miss)verstanden wird – nie nur propositional zu gestalten, sondern involviert aufgrund der illokutionären Bestandteile eines Sprechaktes den Aufbau einer – und sei es noch so vermittelten – interaktiven Beziehung. Journalismus wirkt damit potenziell vergesellschaftend. Ein rein propositional fixierter Journalismus, wie er bisweilen in Vermittlungskonzepten gefordert wird, wäre ähnlich defizitär wie rein auf perlokutionäre Effekte angelegte Persuasion. Um zu überblicken, in welchem Umfang illokutionäre Bindungskräfte auch im journalistisch vermittelten Gespräch der Gesellschaft wirksam sein können, wären sprachtheoretische Analysen journalistischer Berichte und Kommentare notwendig, die auf explizite oder implizite Illokutionen und ihre kommunikative Wirkung fokussiert sein könnten. Die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ stellt mit diesen Grundkategorien ein Analyseraster bereit, das in der empirischen Journalismusforschung Verwendung finden kann, wenn zum Beispiel die in journalistischen Produkten hergestellte Beziehung zwischen dem vermittelnden Journalisten und seinen Rezipienten, aber auch seinen Ausgangspartnern, näher betrachtet werden soll. Innerhalb eines journalistischen Berichts lassen sich verschiedene kommunikative Beziehungen zwischen Ausgangspartnern (Sprechern), Journalisten und Zielpartnern (Rezipienten) identifizieren, die letztlich alle der oben dargestellten Logik kommunikativer Handlungskoordinierung zumindest abstrakt folgen. Diese Beziehungen sind komplexer als Humankommunikation, da zum Beispiel ein Journalist nicht nur die Propositionen eines Ausgangspartners vermittelt, sondern nicht selten den gesamten Sprechakt inklusive dessen illokutionären Bestandteilen, der 107 108
Vgl. ebd., S. 394 Der illokutionäre Satzbestandteil rückt dabei mitunter einen Geltungsanspruch in den Vordergrund. Der propositionale Bestandteil der Sprechhandlung wird dann durch einen internen Bezug zum illokutionären Bestandteil auf einen der drei Geltungsansprüche primär ausgerichtet. So können konstative, expressive und regulative Sprechhandlungen voneinander unterschieden werden (vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 414ff.) Sie werden durch jeweils klar auf einen Geltungsanspruch perspektivierende performative Verben eingeleitet (vgl. McCarthy 1989, S. 324). Kritische Modifikationen dieses Modells mahnt Wellmer (1989) an. Illokutionäre Sprechakte kennzeichneten nicht nur eine spezifische Beziehung, die ein Sprecher mit einem Hörer aufzunehmen gedenkt, sondern bilden zugleich „[…] eine komplexe Konstellation von charakteristischen Geltungsansprüchen, die, indem der Sprecher sie gegenüber dem Hörer implizit oder explizit erhebt, die spezifische illokutionäre Kraft – eine ‚rational motivierende Kraft‘ – bestimmen, die die Äußerung gegenüber diesem Hörer gewinnen kann“ (ebd., S. 365). Diese rational motivierende Kraft spricht nicht nur das Situations- sondern auch das Bedeutungs- und Weltwissen des Hörers an, das notwendig ist, um die Bedingungen bewerten zu können, unter denen die erhobene Aussage Akzeptanz finden kann. Auf die sprachphilosophische Debatte über das kommunikative Handeln soll hier nicht weiter eingegangen werden, da im vorliegenden Untersuchungszusammenhang die sprachphilosophischen Erörterungen nur mittelbar als Vorbereitung zur soziologischen Analyse verstanden werden und aus den Habermasschen Texten als Grundlage rekonstruktiv übernommen werden. Vgl. aber z.B. die Beiträge in Honneth/Joas 1986; Honneth u.a. 1989; sowie die Kritik von Balkenhol 1991.
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
191
als Ganzes dann wiederum die Proposition eines mit weiteren illokutionären Bestandteilen angereicherten Kommunikationsangebotes des journalistisch Handelnden wird. Ob der Aufbau einer illokutionär geprägten Kommunikationsbeziehung auch im Rahmen medial-journalistischer Kommunikation möglich ist, dürfte umstritten sein. Tatsächlich ist nicht davon auszugehen, dass in räumlich und zeitlich entzerrten sowie durch technische Medien vermittelten und potenziell einseitigen Kommunikationssituationen ein der Humankommunikation vergleichbarer Interaktionszusammenhang generiert wird. Allerdings kann auf eine Differenzierung von Habermas selbst zurückgegriffen werden, mit der er zwischen einem schwachen und einen starken Gebrauch kommunikativen Handelns unterscheidet, der sich danach bemisst, ob die Interaktionspartner ein tatsächliches Einverständnis über die erhobenen Geltungsansprüche erzielen, d.h. der Hörer die Argumente des Sprecher übernimmt, oder ob sie sich lediglich verständigen, d.h. der Hörer anerkennt, dass der andere im Lichte seiner Präferenzen gute Gründe hat, ohne diese gleich auch für sich selbst zu übernehmen. Diese Unterscheidung setzt an den Akzeptabilitätsbedingungen von Geltungsansprüchen an, die im kommunikativen Handeln erhoben werden, berührt aber nicht dessen prinzipielle Grundkonstruktion, die von illokutionär bestimmten Zielen geprägt ist:109 (1) Kommunikatives Handeln im schwachen Sinne (verständigungsorientierter Sprachgebrauch) ist für Habermas dann gegeben, wenn sich die Verständigung auf Tatsachen und akteursrelevante Gründe für einseitige Willensäußerungen wie einfache Imperative oder Ankündigungen bezieht. Die Akteure beziehen sich in diesem Fall auf Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsansprüche. Verständigung bedeutet hier, dass der Hörer die Wahrheit der Aussage, deren Aufrichtigkeit und Durchführbarkeit nicht anzweifelt. (2) Kommunikatives Handeln im starken Sinne (einverständnisorientierter Sprachgebrauch) ist geprägt davon, dass sich die Verständigung auch auf die normativen Gründe für die Wahl der Verständigungsziele selbst erstreckt. Die Akteure beziehen sich entsprechend auch auf intersubjektiv anerkannte Geltungsansprüche der Richtigkeit. Einverständnis bedeutet in diesem Fall auch, dass Sprecher und Hörer sich an gemeinsamen Werten orientieren und gegenseitige Verpflichtungen eingehen. Die Akteure gehen auch von einer gemeinsam unterstellten sozialen Welt aus. Erst in diesen Äußerungen bedienen sich die Interaktionspartner vollständiger illokutionärer Akte, die eine konstative, eine normative und eine expressive Geltungsdimension umfassen. Neu an dieser nachträglichen Differenzierung ist die Einführung eines normativ weniger anspruchsvollen Begriffs der schwachen kommunikativen Verständigung, die zwar ebenfalls handlungskoordinierend auf der Basis illokutionärer Effekte wirksam wird, dabei aber nicht von der Unterstellung gemeinsamer Werte ausgeht. Eine solche Verständigung im schwächeren Sinne ist in journalistisch vermittelter Kommunikation sogar einseitig zu erzielen, wenn Rezipienten die vom Ausgangspartner und/oder Journalisten erhobenen Geltungsansprüche anerkennen. Nach Vlasic ist das die Grundlage einer gemeinsamen Situationsdefinition: „Die übereinstimmende Definition von Situationen äußert sich in der gelungenen Koordination von sozialen Interaktionen in einer Gesellschaft. Diese basiert auf einer sozialisierenden Funktion der Massenmedien: Akteure erhalten durch die Rezeption von Medien das Wissen über allgemein anerkannte Werte und Normen. Darüber hinaus lernen sie Rollen und Handlungsmuster kennen, die in bestimmten Situationen erwartet werden, sowie die Codes, die solche Situationen anzeigen bzw. definieren.“110
109 110
Vgl. Habermas 1999, S. 116ff.. In der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ beziehen sich die Habermasschen Äußerungen zum kommunikativen Handeln weitgehend auf den kommunikativ starken Modus. Vlasic 2004, S. 178
192
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
Auf diese Wirkung journalistischer Medien spielt ein Praktiker wie der ehemalige ZeitHerausgeber Sommer an, wenn er deren Rolle als „Sinnvermittler in einer entgrenzten Welt“ verstanden wissen will.111 Eine über Vermittlung und Rezeption hinausgehende grundsätzlich diskursive Auseinandersetzung mit Wertestrukturen ist dabei nicht gefordert und kann wohl auch nicht konzipiert werden, ohne journalistisches Handeln normativ zu überfordern und Rezeptionsverhalten empirisch unhaltbar zu idealisieren. In Einzelfällen mag dies vorkommen, so dass auch ein stärkeres Einverständnis durch journalistische Kommunikation erzielt werden kann. Als Regelfall soll diese Annahme hier aber nicht zugrunde gelegt werden.
2.3
Orientierung durch reflexive Vermittlung
Aus der verständigungsorientierten Grundstruktur sprachlicher Kommunikation, von der sich auch journalistisches Handeln als eine spezifische Form öffentlichen Sprachgebrauchs nicht ohne weiteres frei machen kann, ergibt sich die Annahme, dass sich auch ein massenmedial verfasster Journalismus zumindest mit einem immanenten Verständigungsanspruch auseinandersetzen muss. Da journalistisch Handelnde in der Vermittlungsarbeit ‚Verstehen‘ anstreben müssen, um Relevanz beurteilen und Selektionsentscheidungen treffen zu können, sind sie gezwungen, Stellung zu den in den Vermittlungsgegenständen erhobenen Geltungsansprüchen beziehen. Das bedeutet, dass sie deren Akzeptabilitätsbedingungen selbst dann zu prüfen haben, wenn sie die betreffenden Aussagen ‚lediglich‘ vermitteln. Journalismus als kommunikatives Handeln zu konzipieren, bedeutet, ihm die Kompetenz zu dieser Prüfung nicht nur zuzugestehen, sondern sie zu einem immanenten Bestandteil des Handlungsvollzuges zu machen – in der Recherche oder im Interview gegenüber den Ausgangspartnern genauso wie dann im vermittelnden Kontakt mit den Zielpartnern. Zugleich erhebt eine journalistische Handlung wiederum eigene Geltungsansprüche – selbst in dem Fall, in dem vermittelt wird.
2.3.1
Verstehen und Reflexivität im Journalismus
Die eigenständige Kommunikativität journalistischen Handelns, die in der sprachlichen Auseinandersetzung mit den Vermittlungsinhalten auszumachen ist, wird vor allem in jenen Konzeptionen berücksichtigt, die sich interaktionistischen Aspekten journalistischen Handelns gegenüber offen zeigen. Schon den Ego-Alter-Figuren des symbolischen Interaktionismus und ihrer kommunikationstheoretischen Weiterführung durch Habermas kann die Einsicht entnommen werden, dass Bewertungsleistungen für den zunächst unmittelbar mit dem Ausgangspartner oder dessen Sprechakt-Ergebnissen interagierenden Journalisten performativ unausweichlich sind, weil dieser sonst gar nicht in der Lage wäre, Äußerungen zu verstehen, bevor er sie vermittelt. Ein quasi wertfreies Fragen nach dem ‚Warum?‘ ist nicht denkbar, wenn sichergestellt werden soll, dass der journalistische Vermittler die entsprechenden Antworten verstehen und bewerten kann, um sie angemessen weiter zu vermitteln. Viele interaktionistisch fundierte Arbeiten bewegen sich auf dieses Verständnis zu. Gottschlich wählt den Begriff der Übersetzung, um journalistisches Handeln zu beschreiben:
111
Sommer 2005, S. 143
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
193
„[…Z]u übersetzen sind vor allem abstrakte Daten über komplexe, öffentliche Tatbestände in anwendbare Informationen, die der einzelne in seine alltagsweltlichen Orientierungsmuster integrieren kann, die es ihm also ermöglichen, Sachverhalte nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie auch zu bewerten und in ihrer Relevanz einzuschätzen. Damit aber ändern sich grundlegend die Maßstäbe: es geht dann nicht mehr nur darum, sinnstörende Effekte zu vermeiden, sondern – positiv gewendet – darum, jeweils nach den möglichen sach- und publikumsgerechten sinn-konstituierenden Faktoren zu suchen, mit deren Hilfe an journalistische Transformationsprozesse von Wirklichkeit auch publikumsspezifische Entdeckungsprozesse anknüpfen können.“112
Diese Variante des Vermittlungskonzepts lässt sich demnach als Kronzeugin für die Annahme anführen, dass journalistisches Handeln notwendige kommunikative Modifikation und auch Einordnung des Vermittelten bedeutet. In letzter Konsequenz wird hier die Prüfung kommunikativ erhobener Geltungsansprüche durch Journalisten gefordert, da diese einen potenziell unverstellteren Zugang zu den für eine solche Prüfung relevanten Informationen haben. Nicht allein die Wiedergabe einer Äußerung oder eines Sachverhaltes, sondern auch die Darstellung der ihnen zugrunde liegenden Handlungsziele und Handlungsmaximen macht journalistisches Vermittlungshandeln aus. Aus dieser Sicht ist es die Aufgabe von Journalisten, stellvertretend für die Rezipienten die Frage nach dem ‚Warum?‘ eines berichteten Vorgangs zu stellen, damit diese ihn bewerten können, um so Betroffenheit und damit Teilhabe erlangen zu können.113 Journalistische Aufgabe ist demnach, nicht nur für die politisch gewählten Verfahrensweisen und Entscheidungsergebnisse Aufmerksamkeit herzustellen, sondern auch für die dahinter stehenden Motive und Denkprämissen sowie für die prognostizierten Folgen.114 Referenzpunkt ist die einordnende Interpretation als Erweiterung klassischer Übermittlung von ‚Fakten‘ und Aussagen. Journalistische Aussagen werden verstanden als „Interpretationen von Wirklichkeit“ (Geltungsanspruch der Wahrheit) und damit als „Ergebnis der – wenn auch nach Regeln, also konsentierter Bedeutungszuschreibung geführten – Auseinandersetzung der Journalisten mit der Umwelt im Rahmen und unter den Bedingungen subjektiv-individueller, wie auch objektiv-institutionalisierter Handlungsprämissen“.115 Problematisch verbleibt in diesen Überlegungen, dass der Begriff der Übersetzung – wie auch der der Vermittlung – in positivistischem Sinne das Vorhandenseins eines ursprünglich zu Vermittelnden zumindest suggeriert, das vom journalistisch Handelnden lediglich bearbeitet werden muss. Zu Recht ist kritisiert worden, dass eine solche Annahme Verständigung nicht an Kommunikation, sondern an einen funktionalen Informationsaustausch koppelt und damit zumindest potenziell zu einem ‚strategischen Ziel‘ journalistischen Handelns reduziert.116 Die Idee der sozialen Konstruktivität des Berichteten fällt ebenso aus dem Blick wie der Gedanke der kritischen Prüfung des ‚Übersetzten‘. Da Gottschlich sein Modell letztlich eben nicht kommunikationstheoretisch oder anhand der von ihm eingeführten Prämissen des Symbolischen Interaktionismus fundiert, sondern eine erkenntnistheoretische Perspektive einnimmt, aus der heraus journalistische Nachrichten wie ‚Fakten‘ erscheinen, die vorwiegend der Kon-
112 113 114
115 116
Gottschlich 1980, S. 207 Vgl. ebd., S. 182ff.; vgl. zur Bedeutung von Betroffenheit für Teilhabe auch die auf das lokale Umfeld gerichtete Studie von Rombach 1983, S. 196ff. Vgl. Gottschlich 1980, S. 103. Gemessen an diesem Anspruch kritisiert Gottschlich (1980, S. 123) den dominierenden Angebotscharakter journalistischer Nachrichten, die den ‚Relevanzkontext‘ eines berichteten Ereignisses nicht ausreichend darstellen und so oftmals Verstehen und Sinngenerierung auf Seiten der Rezipienten erschweren. Ebd., S. 118 Vgl. Baum 1994, S. 284
194
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
textualisierung bedürfen, gelingt es ihm nicht, kommunikative Maßstäbe der Interpretation auszuweisen.117 Begrifflich präziser erscheint daher ein Vorschlag Mertens, der von Journalismus, wenn auch auf gänzlich anderer makrotheoretischer Grundlage, die Leistung reflexiver Vermittlung erwartet. Er verweist dabei auf die Notwendigkeit, Aussagen im Prozess der Vermittlung rezipientengerecht zu verändern. Dazu gehört, dass Aussagen aktualisiert, verständlich gemacht und den Rezipienten näher gebracht werden müssen; und zwar indem Aktualität, inhaltliche Verkürzung und Kommentarfähigkeit gewährleistet sind118: „Die simultan zu erfüllende weitere Funktion des Vermittlers – die eigentliche Vermittlungsfunktion – liegt nun darin, daß er die auf ihren Informationskern reduzierte Aussage mit weiteren aussagefremden Elementen anreichert, die die eigentliche Aussage kommentieren, also bewerten. Vermittlung heißt demnach Aussagen zu machen, die bestimmte Informationen angemessen wiedergeben und zugleich deren Kommentation leisten, also eine Anbindung der Aussage an vorherrschende Relevanzkontexte erbringen können.“119
Mit dieser Forderung reagiert Merten auf den theoretischen Befund, dass Kommunikation – auch publizistisch vermittelte – notwendigerweise auf einer reflexiven Strukturierung im Rahmen relationaler Beziehungen zwischen den Kommunikationspartnern beruht. Anders als in der face-to-face-Kommunikation allerdings muss diese reflexive Strukturierung, das heißt das In-Beziehung-Setzen der kommunikativen Aussage zu ihren sachlichen, sozialen und zeitlichen Rahmenbedingungen, in der journalistischen Medienkommunikation durch einen Vermittler geleistet werden. Dabei ist – anschließend an Mertens Überlegungen – zu unterscheiden zwischen der medialtechnischen Infrastruktur, welche die materiale Grundlage für die Entgrenzung sozialräumlich gebundener Kommunikation bereitstellt und einem journalistischen Vermittlungshandeln, das sich auch auf symbolisch-interaktionistischer Ebene um das Zustandekommen der Kommunikation bemüht und entsprechend in die Verständigungsprozesse aktiv eingreift.120 Dazu bieten sich 117
118 119 120
Gottschlich (1980, S. 152) erkennt zwar dem Prinzip nach an, dass Journalismus als sozial verändernde Kraft wirksam werden kann, wenn er „Negation des handlungsdeterminierenden Bestehenden und Projektion (bzw. Antizipation) des Möglichen und Aufgegebenen“ als „konstitutive Merkmale“ eines verantwortungsbewussten journalistischen Handelns identifiziert. Aber der Rückbezug auf vermeintlich prekäre Legitimationsfragen hindert ihn daran, das weiter auszuformulieren, um Grundlagen für journalistische Berufskonzeptionen entweder in der Gesellschaftstheorie oder aber in der Empirie zu finden. Journalismus soll vorwiegend die Kritik von Gesellschaftsmitgliedern über die gesellschaftliche Wahrnehmbarkeitsschwelle heben. Obwohl eine journalistische Kritikfunktion zunächst als logisch-zwangsläufiger Ausfluss eines symbolisch-interaktionistischen Journalismusmodells erscheint, bezweifelt Gottschlich (1980, S. 96) ihre Zulässigkeit, da sie keine eigenständige Kompetenz aufweise. Statt den mit dem Konzept des symbolischen Interaktionismus eingeschlagenen Pfad weiter zu verfolgen, verbleibt Gottschlich in einfachen hermeneutischen Figuren, wenn er konstatiert, dass Sinn immer nur „Sinn für jemanden“ sei (ebd., S. 176), bzw. dass die Verstehbarkeit journalistischer Mitteilungen an ihre „Verwendbarkeit durch die Rezipienten“ und damit an eine kooperative Beziehung zwischen Kommunikator und Rezipient geknüpft sei. (ebd., S. 175) Baum (1994, S. 284) kritisiert: „Indem er Verständigung – qua journalistischer ‚Übersetzungsleistung‘ – zum strategischen ‚Ziel‘ journalistischen Handelns degradiert, verkommt die kommunikationstheoretisch begründete Vokabel zur Floskel.“ Vgl. Merten 1976, S. 174 Ebd., S. 175 Auch abstrakt systemtheoretisch lässt sich mit Blick auf die erwartete journalistische Reflexivität konstatieren, dass Journalismus „eine relativ stark vereinfachte Simulation anderer Systemperspektiven“ vornimmt; auch indem er seine Relevanz und Neuigkeitskriterien denjenigen Systemen entnimmt, die er der Umwelt des von ihm beobachteten Systems zuordnet (vgl. Kohring 1997, S. 256f.). Dies bedeutet z.B., dass Journalismus in der Berichterstattung über das Wirtschaftssystem nicht wirtschaftliche Kriterien zugrunde legt, sondern zum Beispiel gesellschaftliche oder politische, um seine eigenen Relevanzentscheidungen zu treffen. Dies begründet eine eigenständige Vermittlungsleistung. Für den Journalismus als gesellschaftlichen Funktionsbereich mag daher gel-
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
195
verschiedene Möglichkeiten an, die von der Bewertung anhand erwarteter Reaktionen Dritter bis zur Negation der Äußerung reichen können.121 Der Vermittler hat die Gelegenheit, zwischen diesen reflexiven Strukturierungsmöglichkeiten zu wählen, und gewinnt dadurch zusätzlich Einfluss auf den Kommunikationsprozess. Anschlussfähig sind in dieser Hinsicht Überlegungen, die Langenbucher in der Forderung nach journalistischer „Quellenkritik“ gebündelt hat.122 In diesem Modell, das dem Journalismus das historisch-praktische Erkenntnisinteresse geisteswissenschaftlicher Hermeneutik zuspricht123, verbindet er den Gedanken des Ausfindigmachens der Quelle mit dem ihrer angemessenen Einordnung und Vermittlung sowie einer Prüfung ihrer Geltungsansprüche. Journalismus prüft in diesem Verständnis die Gründe einer öffentlichen oder öffentlich relevanten Aussage.124 Dies bedarf keiner zusätzlichen Mandatierung oder Legitimierung, sondern ist ein konsequenter Ausfluss der Reflexivität kommunikativen Handelns, von der auch kommunikative Vermittlung geprägt ist. Journalistisches Handeln setzt – wenn es mehr sein soll als das simple Durchleiten fremder Information – auch vom vermittelnden Akteur das Verstehen der vermittelten Sachverhalte voraus und verlangt deshalb vom journalistisch Handelnden eine kommunikative Aneignungsleistung, die in der Prüfung der erhobenen Geltungsansprüche und im Beziehen einer Stellung zum Vermittelten zum Ausdruck kommt.125 Der Gedanke der reflexiven Vermittlung weist – auch terminologisch anschlussfähiger als metaphorische Begriffe wie ‚Übersetzen‘ – darauf hin, dass Vermittlung von Kommunikation selbst kommunikativ ist und sich damit zum Vermittelten in Beziehung setzen muss. Diese Reflexivität ist jedem kommunikativen Handeln, auch dem journalistischen, inhärent. Sie ermöglicht erst die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und kulturellen Deutungskontexten. Geißler warnt drastisch davor, Vermittlung ohne diese Eigenständigkeit journalistischer Kommunikation zu konzipieren: „Es wäre falsch, die Vermittlung bzw. Verstärkung von Interessen als eine ‚objektive‘, ‚unparteiische‘, ‚wertneutrale‘ Wiedergabe von Realität aufzufassen, wie es häufig getan wird, und dieser ‚objektiven‘ Berichterstattung die ‚subjektive‘, ‚parteiische‘ Kritik, Kommentierung oder Standortbestimmung gegenüberzustellen. Eine solche Etikettierung der Vermittler- bzw. Sprecherrolle mit erkenntnistheoretischen Kategorien verkennt (oder verschleiert), daß Realität nur – meist mehrfach – ‚subjektiv‘ gebrochen in den Massenmedien widergespiegelt werden kann.“126
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ten, dass er „sachlich-sozial kommunikativ getaktet“ arbeitet, wie Görke (1999, S. 304) schreibt; dass er also reflexiv gegenüber den ihn umgebenden Rationalitäten bleibt. Vgl. zu den verschiedenen Einordnungsoptionen – aus allerdings systemischer Sicht – Merten 1976, S. 175. Langenbucher 1986, S. 176. Der Autor richtet diese Forderung zunächst vornehmlich gegen einen sich als Verlautbarungsinstanz verstehenden Wissenschaftsjournalismus, verweist aber darauf, dass diese Kritikforderung auch an den politischen Journalismus gerichtet wird. Baum (1994, S. 295f.) greift diese Forderung in seiner Studie wieder auf. Vgl. dazu auch Pöttker 2004. Vgl. Kunczik 1988, S. 257 Werden diese kommunikativen Konstitutiva auf theoretischer Ebene suspendiert, wird Journalismus – wie in der legitimistischen Publizistik – seines kommunikativen Kerns entledigt. Übrig bleibt ein zweckrational berufliches Handeln, das sich im Befüllen von Zeitungsseiten, Programmplätzen oder Websites, in dem, was Neudeutsch ‚content production‘ genannt wird, erschöpft und jede Verbindung zu gesellschaftlichen Aufgaben längst gekappt hat. Beiträge zur sozialen Orientierung, geschweige denn zur kommunikativen Koordination von Gesellschaftlichkeit, sind von derartigen ‚Leistungen‘ nur noch höchst mittelbar über latente Folgen einer zufälligen kommunikativen Rezeption zu erwarten. Dass diese – angesichts der diesem Rezeptionsakt zugrunde liegenden Täuschung – zumindest potenziell in die Irre führen können, dürfte außer Frage stehen. Geißler 1979, S. 176. Bentele (1982, S. 131) spricht davon, dass Objektivität nur durch subjektive Akte hindurch möglich sei.
196
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
Auch in der Debatte über die Möglichkeit journalistischer Objektivität wird einer schlichten ‚Ausgewogenheit‘ der Berichterstattung eine Absage erteilt. Vielmehr entfalte sich aus dem Streben nach Objektivität ein kritisches Potenzial, das unter anderem zur Thematisierung von Strukturen und zur Erhöhung der Transparenz gesellschaftlicher Beziehungen führe.127
2.3.2
Orientierung in Gesellschaftlichkeit
Das Ziel journalistischer Vermittlungsleistungen ist angesichts der Verständigungsorientierung des Journalismus nicht nur Information, sondern weitergehend Orientierung als Herstellung einer gemeinsam geteilten Definition der sozialen Situation. Dies kann individuell wie gesellschaftlich gelten. Soziale Orientierung kann als eine „Rahmenfunktion“ der Massenmedien – bzw. präziser: des Journalismus – verstanden werden, da sie „Voraussetzung, Inhalt und Folge“ aller anderen journalistischen Aufgaben ist.128 In einem engeren Sinne wird soziale Orientierung als Folge der Rezeption medialer und journalistischer Kommunikationsangebote als eine „Grunddimension massenkommunikativer Leistungen“ verstanden, mit der einerseits gesellschaftliche Vermittlungsnotwendigkeiten zwischen unterschiedlichen Gruppen und sozialen Beziehungsfeldern umschrieben werden können sowie andererseits die Verbindung zwischen dem politischen Anspruch auf Öffentlichkeit und dem „sozialen Erfordernis der Ermöglichung zeit- und raumgerechten Verhaltens“ zum Ausdruck gebracht werden kann.129 In diesem Modell einer Orientierung durch Information wird eine normativ weitgehend anspruchslose Vorstellung der Beziehung zwischen massenmedialer Kommunikation und demokratisch-öffentlicher ‚Basiskommunikation‘ zugrunde gelegt, in der kommunikativ passive Bürger durch Medien und Journalismus ‚informiert‘ werden und aus der Verarbeitung dieser Informationen Orientierung ziehen können. Medien und Journalismus haben diesem Modell zufolge die Aufgabe, Aussagen aus bestehenden Elitendiskursen an die Bürger zu vermitteln, damit diese sich je nach Neigung und Bedarf zu Informations- und Orientierungszwecken ‚bedienen‘ können.130 Daneben sind auch andere normativ anspruchsvollere Überlegungen denkbar, die eine weitreichende sachlich-inhaltliche und intersubjektiv nachprüfbare Orientierung der Bürger anhand journalistischer medialer Kommunikation als konstitutiv für das Funktionieren einer Demokratie erachten.131 Dass schließlich schon die umfassende und kritische Orientierung über die eigene Situiertheit in Gesellschaft aufklärerische Wirkungen haben und durchaus kritisch-emanzipatorischen Sprengstoff bergen kann, ist eine alte Erkenntnis kritischer Kommunikationsforschung:
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Vgl. zu dieser Annahme Bentele 1982, S. 148; auch Aufermann 1982. Eurich 1980b, S. 135f; vgl. z.B. auch Haller 2002, S. 46; Burkart 1998a, S. 372; Bonfadelli 2001, S. 39 Stuiber 1983, S. 71f. Vgl. für diese Sicht Ronneberger 1964, S. 295: „Dem Publikum, d.h. den Konsumenten der Informationen, dienen die hergestellte Öffentlichkeit und die sich in ihr aussprechenden Interessen zur Orientierung in einem Spiel, das sie selbst zwar nicht mitspielen, dessen Bedeutung für ihre Existenz sie aber immerhin vermuten.“ Auch das Bundesverfassungsgericht spricht die Aufgabe einer derartigen Orientierung explizit an: „Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muß er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung.“ (BVerfGE 20, S. 174f. [„Spiegel-Verlag“]). In dem Urteil vom 5. Januar 1966 befasst sich das BVerfG mit der Verfassungsmäßigkeit von Durchsuchungen in Presseräumen.
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
197
„Aufklärende Tradition im Journalismus bedeutet, alle Informationen öffentlich zur Verfügung zu stellen, die Orientierung, Verhalten und Handeln ermöglichen, das gemeinschaftsbezogen ist. Umgekehrt ist alles Wissen, ist alles Handeln daran zu messen, welchen Stellenwert es für die Gesellschaft hat. Interessenpluralität deutlich zu machen wie auch die pluralen Interessengruppen immer wieder mit Informationen zu konfrontieren, ist die politische und kulturelle Leistung der Publizistik, gleichsam ihr Sollwert, ihr Maßstab, an dem sie empirisch zu messen ist.“132
Der Blick in die Journalismusgeschichte verdeutlicht, dass Orientierungsleistungen schon früh von den journalistischen Angeboten erwartet worden sind, die sich als eigenständig kommunikativ verstehen lassen. Nicht nur intersubjektivisch, sondern auch gesellschaftlich haben diese Leistungen seit der frühen Neuzeit an Bedeutung gewonnen und werden auch durch Journalismus erbracht, wie die historische Journalismusforschung herausarbeitet. „Der Verlust der traditionellen Sicherheit, individuelle Lebens- und Weltinterpretationen, die Ablösung kirchlicher Deutungsmuster durch säkulare, das Vertrauen auf Bildung, die Hoffnung auf Fortschritt und Veränderbarkeit der Welt, die Lösung vom Machtmonopol eines Obrigkeitsstaates: All diese Transformationen bedeuten, daß Reflexion und Diskurs an Bedeutung gewinnen. Damit steigt die Relevanz jener Medien, die den sich immer stärker entwickelnden Reflexionsprozeß und die sich forttragende Debatte mit neuen Informationen, Meinungen, Deutungsvorschlägen und Orientierungen versorgen. Journalismus entwickelt sich als ein Bereich zur Deckung dieses Bedarfs.“133
Als im Zuge der neuzeitlichen Gesellschaftsentwicklung die Umwelt der Menschen komplexer und differenzierter geworden war, gewannen Zeitungen und Zeitschriften als „Informationsund Orientierungsmittel“ an Relevanz, wie Groth hervorhebt.134 Maßgeblich die Herausbildung des schriftstellerischen Journalismus hat die Orientierungsaufgabe von Medien und Journalismus akzentuiert. Angesichts der wenig rezipientenfreundlichen Form der nachrichtlichen Berichterstattung früher Zeitungen, die allenfalls als „Medium defensiver Orientierung“ taugte135, erwuchs in breiten Teilen des potenziellen Publikums ein Defizit an Orientierungsund Deutungsangeboten für alle diejenigen, die auch Nachrichten rezipieren wollten, denen aber das Vorwissen zum Verständnis der voraussetzungsreichen Texte fehlte; ‚newe Zeitungen‘ oder Flugschriften konnten diese Aufgabe nicht adäquat erfüllen. Das Räsonnement der bürgerlichen Öffentlichkeit trachtete daher auch danach, die öffentliche Kommunikation zu einem Forum für Meinungs- und Willensbildungsprozesse zu weiten, in denen der Einzelne Orientierung finden konnte. Neue journalistische Angebote sollten die „Nachfrage nach weiterführender politischer Orientierung“ stillen.136 „Die unkommentierte sachliche Meldung der früheren Zeit galt jetzt als fade, ja sogar als Zeichen dafür, daß der Journalist die ihm gewährte Pressefreiheit nicht für seine ‚erzieherische‘ und kritische Aufgabe nutze. Journalisten stellten den Anspruch an sich selbst, Nachrichten nicht nur weiterzugeben, sondern auch einzuordnen und zu bewerten. Die Vermischung von Nachricht und Kommentar wurde selbstverständlich, ja sie galt sogar als Ideal des journalistischen Stils.“137
132 133 134 135 136
137
Pätzold o.J., S. 15 Blöbaum 1994, S. 125 Groth 1960, S. 124 Weber 1997b, S. 144 Weber 1994, S. 52. Bekannt geworden sind in diesem Zusammenhang vor allem die ‚Moralischen Wochenschriften‘, in denen geistig unabhängige Publizisten und Journalisten ihrem Publikum Ratschläge für ein gutes Leben zu geben trachteten, um die brüchig werdenden Moralvorschriften der Kirchen zu ersetzen (vgl. Körber/Stöber 1994, S. 216f.) Körber/Stöber 1994, S. 217
198
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
Gründe dafür sind aus der Sicht heutiger Medienhistoriker zum einen das Erfüllen einer Orientierungsfunktion für die Leser und zum anderen das Erfüllen einer Sprachrohrfunktion für diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, die selbst keinen Zugang zur öffentlichen Kommunikation haben, mit dem Ziel der Journalisten, ‚öffentliche Meinung‘ zu artikulieren.138 Der Gedanke, dass Journalismus für Orientierung sorgen könnte, ist damit an ein aktives Element der kommentierenden Einordnung gebunden. Journalismus schafft Orientierung entsprechend durch die Übermittlung und Vermittlung als relevant erachteter Informationen sowie durch die kompetente Bearbeitung und Bewertung dieser Informationen. Auch die kommentierende Einordnung dient letztlich der Vermittlung und Bearbeitung relevanter Informationen im Sinne einer grundlegenden Thematisierungsleistung.139 Die Erfüllung der Orientierungsaufgabe hängt von der Qualität der journalistischen Berichterstattung ab. Diese kann nach Rager anhand der fünf Maßstäbe Aktualität, Relevanz, Richtigkeit, Vermittlung und Ethik bewertet werden, für die Journalismus spezifische Entscheidungsprogramme entwickelt hat, nach denen diese Kriterien im Alltag ‚klein gearbeitet‘ werden können.140 In der Vermittlungsdimension geht es um Fragen der Gestaltung von Information, um Verständlichkeit ebenso wie um Formatwahl und Stil. Die Vermittlungskompetenz des Journalismus umfasst das Reportieren des Ereignisses ebenso wie das Einordnen und Nachfragen. Journalismus thematisiert nicht nur, sondern stellt auch Anknüpfungspunkte für die weitere gesellschaftliche Befassung mit dem berichteten Ereignis oder Thema bereit oder zeigt diese auf. Das kann auch dadurch geschehen, dass der Journalist selbstbewusst eigene Überlegungen und Interpretationen in der Vermittlung kenntlich macht, statt vermeintlich neutral das Geschehen zu rekonstruieren.141 Genauso sollten, so Rager, Vermittlungsformen erprobt werden, welche zum Beispiel durch unterhaltende Elemente die Rezeptionsschwelle senken und komplexe Inhalte durch angemessene Vermittlung auch denjenigen Rezipientengruppen nahe bringen, die solchen Inhalten eher fern stehen.142 Auch Lünenborg betont in ihrer Cultural Studies basierten Studie, dass die spezifische Leistung des Journalismus „nicht in der Vollständigkeit und Systematik der Datensammlung, sondern in der spezifischen Kontextuierung, der Herstellung von Deutungs- und Interpretationszusammenhängen“ liege.143 Dass eine angemessene Orientierung über gesellschaftliche Sachverhalte gerade jenseits der rein informatorischen Nachrichtenangebote geschieht, lässt sich auch Journalismuskonzepten entnehmen, die sich – in Abgrenzung zu den Routinen des Nachrichtenjournalismus – auf literarische und subjektivische Elemente der Berichterstattung beziehen.144 Haas sieht ein wesentliches qualitatives Merkmal dieser bisweilen unter dem Begriff ‚New Journalism‘ zusammengefassten Angebote darin, dass sie versuchen, die Herstellung von Kontexten für die Rezipienten zu gewährleisten und sich damit bewusst von den Angeboten der MainstreamMedien absetzen. Der zunehmenden Orientierungslosigkeit in der informatorischen und kommunikativen Inflation differenzierter Gesellschaften versucht der New Journalismus mit dem Nachrichtenwert ‚Zusammenhang‘ zu begegnen.145 138 139 140 141 142 143 144 145
Vgl. ebd., S. 217 Vgl. Rühl 1980 Vgl. Rager 2000, S. 80 Vgl. Wallisch 1995, S. 180 Vgl. Rager 1993. Dies gilt besonders für Jugendliche, die mit entsprechenden Angeboten an journalistische Informationsvermittlung herangeführt werden müssen (vgl. Rager 2003; Rager/Weber/Begemann 1996). Lünenborg 2005a, S. 197 Vgl. Haas 1999, S. 341 Vgl. ebd., S. 346f.
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
199
Die Angebote eines besonders auf solche Aspekte zielenden ‚neuen‘ oder literarischen Journalismus beziehen sich auf ein Objektivitätsverständnis, das die Authentizität der persönlichen Erfahrung gegenüber den abstrakten und repräsentativen Berichten klassischer journalistischer Texte hervorhebt. Durch den Verzicht auf die gängigen professionellen Abstraktionen sollen Rezeptionsbarrieren eingerissen werden, um ein Verstehen der berichteten ‚Zusammenhänge‘ aus der Perspektive des ‚betroffenen Individuums‘ zu erleichtern. Die Subjektivität der Erzählperspektive muss dabei nicht in einem Widerspruch zur ‚Objektivität‘ (bzw. zur subjektiven Wahrhaftigkeit) der berichteten Ereignisse oder ‚Fakten‘ stehen. Der häufig diskutierte vermeintliche Widerspruch von Subjektivität und ‚Objektivität‘ verliert an Schärfe, wenn er vornehmlich als Kennzeichnung unterschiedlicher Geltungsansprüche behandelt wird, die einmal die Wahrheit ‚objektiver‘ oder die Richtigkeit sozialer ‚Tatsachen‘ (Objektivität) und ein anderes Mal die Wahrhaftigkeit subjektiver Expressionen (Subjektivität) meint. Beides ist jedem kommunikativen Handeln stets inhärent. Subjektiv und objektiv zu berichten ist kein Widerspruch: „Objektivität läßt sich […] auch durch Offenlegung der Subjektivität, durch die Integration des Reporters in die Berichterstattung erreichen. Dadurch verlieren komplexere Themen ihre Abstraktheit, Zusammenhänge werden leichter nachvollziehbar.“146
Der nur scheinbare Gegensatz zwischen der Objektivität des Berichteten und der Subjektivität der Perspektive des Berichterstatters wird in solch einem Journalismusansatz überwunden. Durch die persönliche Identifizierbarkeit des Autors oder auch durch die Literarisierung der Berichterstattung werden Leseanreize geschaffen, die eine (verstehende) Rezeption erleichtern sollen.147 Lesern werden so kommunikative Angebote unterbreitet, die sich nicht zwangläufig in der oft als schematisch kritisierten Sprache der Nachrichten bewegen und gerade deshalb lebensweltliche Nähe und Orientierung bieten sollen. Dass unter dem Gesichtspunkt einer lebensweltnahen journalistischen Vermittlung und Kritik ein subjektiver und meinungsfreudiger Journalismus zur sozialen Orientierung beitragen kann, hat bereits Groth hervorgehoben: „Es ist also durchaus nicht so, daß die Beschränkung der Zeitung auf das Referat die Wirkungskraft der Presse ausschließt, dem Leser die Selbständigkeit der Urteilsbildung sichert; es kann im Gegenteil gerade das Referat oder die Form des Referats ein Mittel werden, ein unkritisches, das Gebotene nicht prüfendes Publikum zu leiten und irre zu leiten, während das Räsonnement den politisch geschulten Lesern, die sich selbst ein Urteil bilden wollen, die Möglichkeit einer gründlichen Orientierung gibt und deshalb von ihnen gesucht und gefordert wird.“148
146 147
148
Ebd., S. 348 Gerade für die „Vermittlung des unmittelbar nicht Erfahrbaren, Unbekannten und Unvertrauten“ bieten sich auch die literarischen Mittel der Fiktion und der Ästhetisierung an, um Informationen attraktiver zu gestalten; diese „Reliterarisierung des Journalismus“, kann so lange als zulässig, ja als begrüßenswert erachtet werden, wie sie ihren Rezipienten transparent macht, inwieweit welche Informationen fiktionalisiert oder ästhetisiert worden sind (Pöttker 1999b, S. 315f.). Vergleichbar mit dieser Literarisierung kann auch die Inszenierung journalistischer Berichterstattung, in der Terminologie von Rager und Rinsdorf (1999b, S. 6) die „spezifische Akzentuierung des publizistischen Inputs vor der Folie der vermuteten Informations- und Unterhaltungsbedarfe sowie der Rezeptionsgewohnheiten der jeweiligen Zielpublika”, als eine Aufgabe guter Journalisten verstanden werden, da sie Rezeptionsbarrieren senkt und durch das Bereitstellen von Zusammenhangswissen in eigens inszenierten Narrativen Orientierung erleichtert. Die Autoren sehen Analogien zwischen Journalismus und Theater: „Der Journalismus gehört ebenso wie das Theater zu den Systemen, die auf der Grundlage eines ästhetischen Codes Bedeutung erzeugen.“ (Rager/Rinsdorf 1999a, S. 133; vgl. auch Rager/Rinsdorf/Bodin 1999 sowie die Vorstudien Rager/Hartwich-Reick/Pfeiffer 1998 und Hartwich-Reick/Rager 1998) Groth 1928, S. 735
200
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
Historisch gilt das nicht nur für das Räsonnement, sondern für eine Vielzahl populärer journalistischer Vermittlungsformen. Für die Journalistik müsste dies bedeuten, dass eben nicht nur die Angebote des vermeintlich seriösen Informationsjournalismus allein ausschlaggebend sind für die Orientierungsleistung des Journalismus, sondern im gleichen Maße auch „unterhaltsame, beratende, ironisierende, marktschreierische, erzählerische, boulevardeske, populäre Formen der Herstellung und Bereitstellung von Themen zur öffentlichen Kommunikation“149, die bereits zu Aufklärungszeiten wichtige Bestandteile der Popularisierung von Wissensvermittlung150 und der Ausbreitung gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozesse waren. Letztlich lassen sich auch aus solchen historischen Beispielen Anforderungen an eine Orientierungsleistung des Journalismus deduzieren, die durch unreflektiertes Weiterleiten propositionaler Aussagen kaum zu erbringen ist. Sowohl der Metapher des Übersetzens als auch dem Konzept der reflexiven Vermittlung lässt sich die Idee der kommunikativen Prüfung von Aussagen entnehmen, aus der heraus – auf zunächst noch sehr einfachem Niveau – erste heuristische Ansätze eines Konzepts diskursiver Repräsentanz durch Journalismus als einer Facette der Rolle als Diskursanwalt entwickelt werden. Inwieweit Orientierungsleistungen durch Journalismus erbracht werden können, ist auch davon abhängig, inwieweit ein kommunikativer Journalismus innerhalb der Massenmedien zur Entfaltung gelangen kann. Nicht die Rückbindung an extern gesetzte moralische oder rechtliche Normen kann adäquate soziale Orientierung durch Journalismus gewährleisten, sondern die radikale Selbstprüfung kommunikativen Handelns und die argumentative Begründung der selbst erhobenen Geltungsansprüche. Eine solche Perspektive nimmt Journalismus nicht nur ernst, sondern erinnert ihn an seine immanente ‚Verpflichtung‘ auf Kommunikativität und Diskursivität.151 Es ist davon auszugehen, dass sich in der Analyse journalistischer Kommunikation Rationalisierungs- und damit Aufklärungseffekte beschreiben lassen, wenn man Journalismus als ein reflexives kommunikatives Handeln versteht, das sich selbst und anderen über seine eigenen Geltungsgrundlagen Auskunft zu geben vermag. Auch journalistisches Vermittlungshandeln beruht letztlich auf einer kommunikativen Reflexivität, die sich auch darin ausdrückt, dass – in Form von Übersetzungsleistungen oder gar von ‚Quellenkritik‘ – auch die vermittelte Kommunikation geprüft und sprachlich eingeordnet wird.152
2.3.3
Orientierung durch Diskurs
Diese Vorstellungen von Orientierung durch journalistische Bereitstellung und durch Rezeption unterschiedlich kommunikativer journalistischer Angebote lassen sich durch ein vollständig anderes Verständnis ergänzen, das der mikrosozialen Vorstellung der Orientierung durch 149 150 151
152
Klaus/Lünenborg 2000a, S. 204; vgl. auch Rager/Müller-Gerbes/Weber 1993; Brosda 2000c. Prakke (1960b) spricht diesbezüglich von der „Soziusfunktion der Presse“. Vgl. Pöttker 2002a Vgl. zu dieser Immanenz grundsätzlich Kopperschmidt 1985, S. 100: „Argumentationen sichern die kommunikativen Existenzbedingungen gesellschaftlich lebender und daher kooperationsbedürftiger Subjekte unter Bedingungen, die traditionsverbürgten Koordinationsmechanismen ihre Wirksamkeit genommen haben, die aber eine totale Umstellung auf außerargumentative Koordinationsmechanismen (wie Macht, Autorität, Geld, Tradition usw.) (noch) nicht zulassen.“ Journalismus konstituiert solch einen gesellschaftlichen Handlungsbereich. Von dieser Orientierung in einem tieferen Sinne ermöglichenden Reflexivität journalistischen kommunikativen Handelns nochmals zu unterscheiden ist die Frage, ob Orientierungsleistungen auf Partizipation zielen, ob sie also in einem offenen Diskurs gemeinsam oder aber vor einem weitgehend passiv rezipierenden Publikum in repräsentativen Expertendiskursen erbracht werden.
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
201
Rezeption eine makrosoziale Perspektive der Orientierung durch Diskurs zur Seite stellt. Während vor allem in der Kommunikationswissenschaft klassisch davon ausgegangen wird, dass durch journalistische Information den Rezipienten Orientierung ermöglicht wird, so rückt aus der Perspektive des Zusammenhangs von kommunikativem Handeln und lebensweltlicher Eingebundenheit Orientierung als das Ergebnis eines (gesellschaftlichen) kommunikativen Prozesses in den Blick. Medien und Journalismus tragen aus dieser Perspektive nicht mehr nur zur Vermittlung von Orientierungswissen bei, sondern sie werden als eine soziale Struktur betrachtet, die einen gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurs gewährleistet, in dem sich die Akteure über ihre soziale Situation in der Gesellschaft kommunikativ selbst orientieren. Diese zweite Perspektive, welche die ‚klassische‘ keinesfalls ersetzen, sondern um einen sozialwissenschaftlich makrosozialen Blickwinkel ergänzen soll, verweist in letzter Konsequenz auf die kommunikative Bedingtheit kultureller Verweissysteme und damit auf die Möglichkeit, sie diskursiv zu (re)produzieren und sich auf diesem Wege verstehend in ihnen zu orientieren. Sie bildet einen Rahmen, innerhalb dessen die orientierenden Aushandlungsprozesse in journalistisch-medialer Produktion und Rezeption beschrieben und verstanden werden können.153 Journalistisches Handeln trägt in erheblichem Maße dazu bei, dass sich Gesellschaft darüber verständigen kann, in welcher Situation sie sich befindet und welchen ethisch-politischen Zielen sie folgt. Damit ist vor allem die Aufgabe der Vermittlung des Zeitgesprächs angesprochen, in dem eine solche gesellschaftliche Situationsdefinitionen kommunikativ hervorgebracht, sowie Ziele und Mittel diskutiert werden. Zu gewährleisten, dass vergleichbare Vereinbarungen auch in ausdifferenzierten, sozial wie räumlich weit ausgedehnten Gesellschaften möglich bleiben, ist eine Aufgabe des Journalismus. In Modellen der Integrationsleistungen medialer oder journalistischer Kommunikation „[…] wird der integrierende Einfluss der Medien als Herstellung bzw. Ermöglichung übereinstimmender Definitionen von Situationen konzipiert“.154 Diese wird vor allem dann virulent, wenn bisherige Gewissheiten prekär werden und der erneuten Klärung bedürfen. Journalismus richtet sich – das zeigt die einschlägige Forschung zur Auswahl von Nachrichten mehr als deutlich – aus seiner eigenen aktualitätsund relevanzbezogenen Selektionslogik heraus eher auf Dissens, oder allgemeiner auf Veränderungen, mithin auf prekäre Geltungsansprüche.155 Dieser Umstand ist bereits historisch angelegt.156 Geltungsansprüche werden in kommunikativen Verständigungsprozessen dann prekär, wenn ein Interaktionspartner einen Einwand gegen einen erhobenen ‚objektiven‘, subjektiven oder sozialen Geltungsanspruch formuliert und den Partner somit dazu zwingt, die entsprechende Behauptung durch Argumente zu stützen. Dies geschieht in Form von Diskursen, in denen die Geltungsansprüche streng ausgerichtet an der Kraft des besseren Arguments einer Prüfung hinsichtlich ihrer Gültigkeit und Verallgemeinerbarkeit unterzogen werden. In der Theorie werden unterschiedliche Diskurse für die Bearbeitung der jeweils prekären Geltungsansprüche konzipiert: Geltungsansprüche der Wahrheit werden im theoretischen Diskurs, Geltungsansprüche der Richtigkeit im praktischen Diskurs expliziert und geprüft. Für 153 154 155 156
Diese Orientierungsleistung des Journalismus ist anschlussfähig an zeitungswissenschaftliche Konzeptionen des Zeitgesprächs der Gesellschaft, welches durch Journalismus zu gewährleisten ist und der Orientierung einer größeren sozialen Gruppe über ihre gemeinsame Situation zu dienen hat. Vlasic 2004, S. 148 Vgl. Weischenberg 2001, S. 23ff.; Wilke 1984a; Schulz 1976 Darauf verweist Wilke (1984a, S. 224f.), der in seiner historischen Studie zum Nachrichtenjournalismus konstatiert: „Massenmedien wurden sozial institutionalisiert zur periodischen Verbreitung von Neuigkeiten. Daß sich Neuigkeit als ein ebenso zentraler wie invarianter Nachrichtenwert darstellt, deutet darauf hin, daß es sich hier um eine anthropologische Konstante handelt.“
202
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
Geltungsansprüche der Wahrhaftigkeit gibt es – abgesehen von den Sonderformen des therapeutischen Diskurses (z.B. in der Psychiatrie) und des ästhetischen Diskurses (z.B. in der Kunst) – keine übergreifende Diskursform, da Wahrhaftigkeitsansprüche im strengen Sinne nicht argumentativ begründet, sondern nur durch Handlungskonsistenz belegt werden können.157 Die Geltungsansprüche der Wahrheit und der Richtigkeit aber hält Habermas, trotz der Differenzen in ihrer Konstitution, für prinzipiell miteinander vergleichbar; er billigt damit auch der Moral einen kognitiven Gehalt zu, dessen Unbedingtheit sich im weitesten Sinne aus der Unhintergehbarkeit lebensweltlicher Annahmen im Ganzen herleiten lässt.158 Die Annahme, dass Geltungsansprüche in rationalen Diskursen geklärt werden können, in denen potenzielle Einwände gegen den Anspruch des Sprechers erhoben werden, bindet sowohl die kognitive Wahrheit als auch eine kognitiv verstandene moralische Richtigkeit zurück an die argumentativ gestützte Rechtfertigung der auf sie bezogenen Äußerungen. Sie rekurriert damit auf einen internen Zusammenhang zwischen dem Geltungsanspruch und seiner Rechtfertigung, der eine Einlösung des Anspruchs für den Fall nahe legt, dass alle möglichen Einwände hinreichend zu entkräften sind. In diesem Fall können der problematisierte Gegenstand oder die problematisierte Norm aus Teilnehmerperspektive wieder in den Modus lebensweltlicher Selbstverständlichkeit zurückfallen. Beide bleiben aber potenziell fallibel, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass nicht doch in einer späteren Situation erneuter Problematisierung weitere Einwände erhoben werden können, die die zunächst akzeptierte Ursprungsaussage entkräften können; in diesem Sinne ist eine letztgültig ‚wahre‘ Aussage nicht möglich. Allerdings übersetzen die Teilnehmer in lebensweltlichen Verständigungsprozessen zunächst eingelöste Geltungsansprüche in als ‚wahr‘ oder ‚richtig‘ unterstellte Handlungsgewissheiten zurück, da Handeln ohne ein für die Situation als gesichert angesehenes Wissen kaum möglich wäre. Journalismus kann dazu beitragen, diese lebensweltlichen Fundamente gesellschaftsweit zu diffundieren. Während aber Geltungsansprüche der Wahrheit bezogen sind auf eine der Sprache zugängliche ‚objektive Welt‘, deren Eigensinnigkeit den Rechtfertigungen von Existenzannahmen widersprechen kann, konstituiert sich die ‚soziale Welt‘ intersubjektiv geteilter moralischer Normen ausschließlich im Diskurs. Geltungsansprüche der Richtigkeit bewähren sich nicht in einer vom Diskurs zu unterscheidenden Handlungspraxis, in der sich Unterstellungen bezogen auf die objektive Welt aufgrund von deren Eigensinnigkeit als unwahr erweisen können, sondern nur im Diskurs selbst. Ihnen fehlt ein genuin rechtfertigungstranszendenter Bezugspunkt, der „[…] über den Diskurs herausragt und die einsichtige Selbstbildung des Willens der Beteiligten transzendiert“.159 Der Entwurf eines gemeinsamen ‚moralischen Universums‘ fungiert somit als funktionales Äquivalent zur Transzendenz einer als gemeinsam unterstellten ‚objektiven Welt‘. Sobald wir in eine Argumentation eintreten, stehen die normativ anspruchsvollen Grundlagen dieser idealen inklusiven Gemeinschaft nicht mehr zur Disposition, auch sie greifen somit, wenn auch auf andere Weise als die ‚objektive Welt‘, über den Rahmen des kommunikativen oder diskursiven Verständigungsprozesses hinaus. Die Beschränkungen der Diskurspraxis werden allerdings durch das Aufgehen der ‚sozialen Welt‘ in ihrer sprachlichen Konstitution aus sich selbst heraus erzeugt. Richtigkeit lässt sich daher nicht an Wahrheit assimilieren, sondern nur als wahrheitsanalog verstehen. Durch diese Analogisierung kann auch in nachmetaphysischen Lebenswelt157 158 159
Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 39ff.; siehe auch Kuhlmann 1999, S. 38ff.; Brosda 2002a Vgl. zum Folgenden: Habermas 1999, S. 271ff.; abweichend: Kuhlmann (1999), der nur Geltungsansprüche der Richtigkeit, nicht aber solche der Wahrheit für diskursfähig und damit für kommunikativ belegbar hält. Habermas 1999, S. 297
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
203
Zusammenhängen eine binäre Kodierung von Richtigkeitsansprüchen, die zunächst nicht mehr denkbar scheint, aufrechterhalten werden, um so den normativ gestützten Zusammenhalt zu bewahren. Dass die Richtigkeit moralischer Normen in einem kognitiven Sinne als analog zur Wahrheit vermeintlich objektiver Tatsachenbehauptungen verstanden werden kann, lässt sich nach Habermas aus der Universalität des Geltungsbereichs erklären, den die Kommunikationsteilnehmer in praktischen Diskursen herstellen. Dieser auf Inklusion aller Betroffenen und Prüfung aller möglichen moralischen Argumente hin ausgerichtete Bereich bildet in seiner – wenn auch konstruktiven – Beschaffenheit, ein funktionales Äquivalent zu den potenziell manifesten Beschränkungen, die die ‚objektive‘ Welt den Geltungsansprüchen der Wahrheit auferlegt. In der intersubjektiven Konstitution einer Wir-Perspektive aller Beteiligten liegt der Schlüssel zum Moralverständnis einer sozialen Welt, die zwar nicht wie die ‚objektive‘ für die Teilnehmer unverfügbar ist, die aber einen ähnlichen Status dadurch erlangt, dass sie von allen geteilt wird, und damit für das Individuum ebenfalls nicht als Ganzes zur Disposition steht. Ein kommunikativer Journalismus trägt wesentlich dazu bei, dass diese ‚soziale Welt‘ auf gesellschaftlicher Ebene in Kommunikation geschaffen wird. Insofern ergibt sich eine erhöhte Notwendigkeit, von journalistischem Handeln den Bezug zu einer Diskursivität zu erwarten, die es erlaubt, kommunikative Konflikte auch kommunikativ zu be- und verarbeiten. Nur so kann journalistisches Handeln als ein Beitrag zum gesellschaftlichen Aushandeln von makrosozialen ‚Situationsdefinitionen‘ begriffen werden. Journalismus ist damit in erster Linie auf Situationen bezogen, in denen sich der verständigungsorientierte Grundcharakter von Sprache besonders prominent zeigt, weil kommunikative Alltagsroutinen nicht mehr ausreichen und miteinander kommunizierende Gesellschaftsmitglieder einen kritisch gewordenen Geltungsanspruch im Falle eines Dissenses auf einem anderen Weg der Kommunikation, dem Diskurs, zu begründen und zu klären versuchen. Augenscheinlich sind die journalistischen Nachrichtenfaktoren auch eine Reaktion auf das individuelle wie gesellschaftliche Bedürfnis, ungeklärte Situationen zu erkennen, zu strukturieren und einer Klärung zuzuführen. Rager verweist darauf, dass es nicht der Neuigkeitswert eines Ereignisses allein ist, der journalistisches Handeln bei der Selektion leitet, sondern dass Entscheidungen hinsichtlich der Relevanz eines Berichterstattungsgegenstandes hinzutreten müssen. Diese sind Schlüsselkriterien, wenn es darum geht zu beurteilen, von welcher Qualität journalistische Selektionsentscheidungen sind, die mit dem Blick auf die vermittlungsnotwendige Reduktion von Komplexität getroffen werden. Generell gilt daher, dass die Informationen weiter verarbeitet werden, die als „neu und wichtig“ eingestuft werden.160 Es kann davon ausgegangen werden, dass Vorgänge, in denen gesellschaftliche Konsense brüchig werden oder aber Ereignisse gegen Normen verstoßen und diskutiert werden müssen, zu genau diesen Informationen zählen. Wobei gleichzeitig anzunehmen ist, dass durch öffentliche Kommunikation weniger Konsense wieder hergestellt, als Korridore für Dissense definiert und grundlegende Verfahrensregeln der Konfliktregelung bekräftigt werden.161 Journalistisches Handeln hat das Potenzial, Bürgern Orientierung durch Informationsrezeption zu ermöglichen und Plattform bzw. Katalysator eines orientierenden gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurses sein zu können.162 In den Denkfiguren des symbolischen 160 161 162
Rager 2000, S. 81 Vgl. Peters 2001, S. 668 Dies ist ein Kernargument der Studie von Gottschlich 1980. Die interaktionistische Perspektive hat sich nur in Randbezirken etablieren können. In einem späten Text zeigt sich Gottschlich enttäuscht darüber, dass es auf seine Auseinandersetzung mit der Sinn- und Verstehensfrage im Journalismus „kaum Echo in der einschlägigen scientific community“ gegeben habe. „Zu sehr“, vermutet der Autor, „war das Fach mit sich selbst beschäftigt,
204
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
Interaktionismus ist jene Reflexivität des intersubjektiven Austausches angelegt, aus der sich Orientierung in der Handlungskoordinierung durch Kommunikation ergeben kann und die in Beziehung zu setzen wäre zu den Überlegungen hinsichtlich eines durch Journalismus auf Gesellschaftsebene konstituierten ‚kulturellen Diskurses‘, den zum Beispiel auch die Cultural Studies thematisieren.163 Leistet die traditionelle nachrichtliche Vermittlung von Informationen vorwiegend die enger begriffene Orientierung durch Information auf einer eingeschränkten propositionalkognitiven Ebene für ‚Eingeweihte‘, die über ausreichendes Vor- und Kontextualisierungswissen verfügen, so kann Journalismus in seiner ganzen Breite kommunikativer Möglichkeiten selbst als eine Quelle bzw. ein Forum der Orientierung im Gespräch verstanden. In den angesprochenen Angeboten lassen sich eben auch jene aktiveren Kommunikationsangebote finden, durch deren kritische Prüfung gemeinsame Situationsdefinitionen durch die Diskursteilnehmer ‚erarbeitet‘ werden. Der medial gewonnene Überblick ist eine zentrale Voraussetzung dafür, sozial im größeren Rahmen handlungsfähig zu sein.164 Aus der Perspektive einer lebensweltlich rückgebundenen Theorie kommunikativen Handelns lässt sich folglich die Erwartung formulieren, dass die Orientierungsaufgabe diskursiv erbracht wird, indem die Situationsdefinition kommunikativ rational von den Beteiligten erarbeitet wird. Journalistische Massenmedien werden so als Resonanzboden gesamtgesellschaftlicher Selbstverständigungsprozesse, mithin des klassischen ‚Zeitgesprächs der Gesellschaft‘, das Orientierung individuell durch Information verschafft und zudem sozial durch Diskurs generieren kann, betrachtet.165 Journalistisches Handeln ist demnach ausdrücklich als Teil der gesellschaftlichen kommunikativen Interaktionsprozesse zu verstehen, die sich allesamt auf die Verortung des Einzelnen und der Gesellschaft in der Welt beziehen – und zwar sowohl in ‚objektiver‘ wie in sozialer und normativer Hinsicht. In modernen Gesellschaften steht Journalismus vor der Aufgabe, die Orientierung in Gesellschaftlichkeit durch das Vermitteln und Stimulieren von Diskursen sowie die Orientierung in diesen Diskursen selbst zu gewährleisten. Journalistisches Handeln ist somit ein Beitrag zu einer kommunikativen Infrastruktur, durch die komplexe, ausdifferenzierte Gesellschaften beschreibbar und regulierbar bleiben.166
163 164
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166
zu sehr verstellte eine auf Medienkommunikation und Journalismus adaptierte Systemtheorie die Sicht auf Fragen kommunikativer Sinnstiftung und Sinnfindung“ (Gottschlich 1999b, S. 11). Unter Umständen erleben symbolisch-interaktionistische Ansätze in Verbindung mit Cultural Studies-Ansätzen (vgl. Krotz 1997), eine Renaissance, indem sie als handlungstheoretische Ergänzung kulturtheoretischer Überlegungen fungieren. Vgl. Klaus/Lünenborg 2000a, S. 208 Vgl. Pöttker 1996, der darauf hinweist, dass Journalismus seine Orientierungsaufgabe auch dadurch zu erfüllen hat, dass er Folgentransparenz herstellt, indem er den Einzelnen darüber aufklärt, dass sein individuelles soziales Handeln Folgen hat – auch wenn diese angesichts der Komplexität moderner Gesellschaften nicht unbedingt sofort sichtbar werden, sondern erst mit erheblicher Verzögerung und in vielleicht nicht direkt wahrnehmbarer Weise: „Aus gesellschaftstheoretischer Sicht verlangt das Gebot zu Wahrheit und Wirklichkeitsnähe dem Journalismus die Orientierungsleistung ab, die Deplaziertheit von subjektiver Rezeptivität (als Entfremdung) und interaktionsgemäßem Handeln (als Illusion) zurechtzurücken, indem in komplexen Strukturen schwer wahrnehmbare Handlungsfolgen transparent gemacht werden.“ (ebd., S. 113; vgl. auch Pöttker 1997) Allerdings geraten sie in der Erfüllung dieser Funktion auch zunehmend unter Druck und engen systemisch die Möglichkeiten eines orientierenden, reflexiven Journalismus ein: „In der Mediengesellschaft befindet sich der Journalismus in dem Dilemma, dass seine Informations- und Thematisierungsarbeit einer Dynamik unterworfen ist, die er nicht steuern kann, deren Verlaufsmuster er indessen kennen (lernen) sollte. Andernfalls wird er die ihm zugeschriebene Orientierungsfunktion nicht mehr erbringen können.“ (Haller 2002, S. 48) Zur Reflexivität von Journalismus gehört somit auch, dass er sich selbst über seine eigenen Handlungsspielräume aufklärt, um diese offen zu halten. Er muss Räume kommunikativer Partizipation an Gesellschaftlichkeit thematisieren, die journalistischem Handeln offen stehen. Vgl. Weßler 1999a, S. 219
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts 2.4
205
Teilhabe durch kommunikative Kompetenz
Auf Basis der skizzierten kommunikativen Rationalität journalistischen Handelns und ihrer Argumentativitäts- und Reziprozitätsanforderungen können spezifische qualitative Anforderungen an journalistische Leistungen für die Verfassung einer demokratischen Kommunikationsstruktur begründet werden, die sich nicht zuletzt daraus erklären, dass journalistisches Handeln als kommunikatives Handeln auf die kommunikative Kompetenz der gesellschaftlichen Ausgangs- und Zielpartner bezogen ist. Es muss diese Kompetenz bei Rezipienten voraussetzen; zugleich begründet diese (kontrafaktische) Unterstellung die Möglichkeit zur Entwicklung, Bewahrung und Erweiterung dieser Kompetenz. Um das zu gewährleisten bedarf journalistisches Handeln selbst spezifischer Kompetenzen wie • Fachkompetenz (instrumentelle Fähigkeiten und journalistisches Fachwissen), • Vermittlungskompetenz (Artikulationsfähigkeit, Präsentation und Darstellungsformen), • Sachkompetenz (Ressort-/Spezialwissen und Orientierungswissen).167 Ihre Gewährleistung ist eine notwendige, wenngleich noch nicht hinreichende Voraussetzung dafür, dass ein Vermittlungshandeln als kompetent gemäß der Maßstäbe kommunikativer Rationalität angesehen werden kann. Insbesondere die Vermittlungskompetenz kann entlang der formalpragmatischen Regeln normativ gehaltvoll reformuliert werden. Allerdings zielt kommunikative Kompetenz darüber hinaus auf Wechselseitigkeit und auf Verständigung über die gemeinsame Situation. Im Ergebnis trägt kommunikativ gehandhabter Journalismus auch zur Erweiterung von Teilhabemöglichkeiten bei. Journalismus kann Ungleichgewichte im Hinblick auf Information und Orientierung sowie kommunikativer und sozialer Teilhabe derart kompensieren, dass Bürger in komplexen Gesellschaften informiert, orientiert und damit letztlich handlungsfähig bleiben.168
2.4.1
Journalismus und kommunikative Kompetenz
Eine Voraussetzung von gesellschaftlicher Partizipation ist die Fähigkeit zur reflexiven Handhabung kommunikativer Interaktion. Diese Fähigkeit beschreibt Baacke mit dem Begriff der ‚kommunikativen Kompetenz‘.169 Er unterscheidet zwischen einer allgemeinen kommunikativen Kompetenz von Akteuren, die eine sprachlich und verhaltensmäßig fundierte Verständigungsfähigkeit erlangt haben, und einer situativen kommunikativen Performanz, die eine Aktualisierung dieser allgemeinen Kompetenz unter kontigenten Umständen beschreibt. In der Habermasschen Konzeption ist kommunikative Kompetenz in Abgrenzung zur linguistischen Kompetenz auf die sprachliche Rede und ihre rationale Struktur erhobener Geltungsansprüche bezogen; sie bezeichnet „[…] die Fähigkeit des verständigungsbereiten Sprechers, einen wohlgeformten Satz in Realitätsbezüge einzubetten“170. Mit dem Konzept der kommunikativen Kompetenz soll erklärt werden, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit ein grammatikalisch korrekter Satz auch eine soziale Äußerung wird.171 Die Entwicklung dieser Umsetzungsfähigkeit ist das Ergebnis sozialisatorischer Prozesse. Deswegen plädieren Medienfor167 168 169 170 171
Vgl. Weischenberg 1990c, S. 24 Vgl. Eder 1996 Vgl. Baacke 1973, S.101ff. Habermas 1995b [1984], S. 390 Vgl. Gripp 1984, S. 40
206
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
scher zwar dafür, im Medienhandeln geeignete Maßnahmen zur Beseitigung existierender Disparitäten bezüglich der Verteilung dieser Kompetenz zu ergreifen, weisen aber zugleich darauf hin, dass dies ohne entgegenkommende Strukturen interpersonaler Kommunikation wenig erfolgversprechend sein kann.172 Das Konzept der kommunikativen Kompetenz ist nicht in eins zu setzen, mit dem vor allem in der medienpädagogischen Debatte häufig verwendeten Begriff der „Medienkompetenz“, der spezifischer die Fähigkeit zur aktiv-konstruktiven wie passiv-instrumentellen Nutzung von Medien zur Kommunikation beschreibt.173 Baacke nennt konkret Medien-Kritik, Medien-Kunde, Medien-Nutzung und Medien-Gestaltung als Bestandteile dieser Medienkompetenz, die pädagogisch zu vermitteln seien.174 Eine erzieherische Herangehensweise an Medienkompetenz ist allerdings nicht in der Lage, alle Facetten des Begriffs abzudecken. Vielmehr erscheint es sinnvoll, einen allgemeineren kommunikativen Sozialisationsprozess zu unterstellen, dessen Entwicklung Medienpädagogik zwar stimulieren, angesichts einer Vielzahl anderer Faktoren aber nicht zureichend prägen kann.175 So gerät Medienkompetenz zu einem spezifischen Unterfall des normativ unterlegten Verständnisses kommunikativer Kompetenz nach Habermas, das zugleich allgemeiner in seinem Erklärungsanspruch und präziser in seinen Erklärungsmöglichkeiten ist. Kommunikative Kompetenz ist in diesem Rahmen eine in den skizzierten illokutionären Bindungskräften von Sprache und den sozial wirksamen kontrafaktischen Unterstellungen des kommunikativen und diskursiven Handelns verankerte, sozial bedingte personale Ressource, die für zwischenmenschliche Verständigung konstitutiv ist. Sie ist in abgeleiteter Bedeutung für den Umgang mit Medien und journalistischem Handeln relevant: Denn nur wenn kommunikative Kompetenz als gegeben unterstellt werden kann, ist es möglich, eine kritische und eigenständige Rezeption medialer und journalistischer Angebote zu erwarten, die sich nicht in einer Unterwerfung unter die in Medienbotschaften encodierten Bedeutungen oder unter bisweilen erratische Bedeutungszuschreibungen erschöpft. Mediale Kommunikation setzt auf entsprechende Prädispositionen des Publikums, wie die Fähigkeit zur selbstreflexiven und gesellschaftskritischen Verarbeitung der rezipierten Informationen; nur so sind ‚vernünftige‘ soziale Reaktionen auf das Rezipierte überhaupt erwartbar.176 Jüngere Forschungsergebnisse zeigen allerdings deutlich auf, dass spezifisch journalistische Medienangebote gerade bei einem jungen Medienpublikum zunehmend auf grundsätzliche Akzeptanzprobleme stoßen und daher die konkrete Nutzung journalistischer Medien entsprechender sozialisatorischer Leistungen bedarf, die durch Instanzen wie Familie und Schule erbracht werden müssen.177 Journalistisches Handeln setzt die subjektive Kompetenz zu verständigungsorientiertem Handeln voraus; seine Produkte sind – entsprechend flankiert – ein Beitrag zu Sozialisationsprozessen, in denen diese Kompetenz gestärkt wird.178 172 173 174 175 176 177 178
Vgl. Fabris 1979, S. 261; Aufermann 1976, S. 164 Vgl. Dichanz 1998 Vgl. Baacke 1996 Vgl. Kübler 1996 Vgl. Aufermann 1976, S. 164. Es lassen sich aber gegenteilige Tendenzen ausmachen, die darauf verweisen, dass „[…] die Auslagerung der zentralen Symbole alltäglicher Kommunikation in die Massenpublizistik zur Beschränkung kommunikativer Kompetenz führt“ (Rust 1982, S. 516). Vgl. Rager 2003 Zentral ist dafür die Glaubwürdigkeit der medialen Berichterstattung wie Bentele (1988) betont, da sie in der Lage ist, „Vertrauensmuster“ zu konstituieren, die weitere Rezeption beeinflussen (ebd., S. 408). Vertrauen in Journalismus, so Kohring (2002a, S. 97) kann sich sowohl auf die Themen-Selektivität, die Fakten-Selektivität, die faktische Richtigkeit (Glaubwürdigkeit) und die expliziten Bewertungen stützen. Zumindest in den ersten
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(Journalistische) Massenmedien können ergänzend neben anderen klassischen Institutionen wie Familie und Schule als „Sozialisationsagenten“ beschrieben werden.179 Sie sind Bestandteil derjenigen Institutionen, die das ‚Fakten- und Normenwissen‘ produzieren, reproduzieren und vermitteln, das als Bestandteil des lebensweltlichen Handlungshintergrundes anzusehen ist. In dieser Funktionalität liegt eine der langfristig zentralen Leistungen massenmedialer Kommunikate und Produkte.180 Neben Instanzen wie Schule oder Familie machen auch sie Gesellschaftsmitglieder mit kulturellen und sozialen Kontexten vertraut und sozialisieren sie in kommunikative Zusammenhänge hinein. Dabei leisten Massenmedien nach Meinung mancher Autoren eine „permanente Sozialisation“, die nicht an bestimmte Lebensabschnitte gebunden ist.181 Nachdem die Kritische Theorie fast totale Sozialisationserfolge der Massenmedien vermutete182, sind in den empirischen Studien der späteren Kommunikationsforschung differenziertere Ergebnisse erhoben worden. Auch wenn das Ausmaß der sozialisatorischen Effekte grundsätzlich kaum bestimmbar ist, so bleibt die schon 1970 konstatierte Grundtendenz zumindest teilweise relevant, „[…] daß die Moral- und Wertvorstellungen des Menschen, daß seine Verhaltensdispositionen, seine Bezugssysteme heute durch die Medien geformt werden“183. Auch für den Erwerb kommunikativer Kompetenzen ist der Umgang mit Medien von zentraler Bedeutung.184 Die angesprochenen Fähig- und Fertigkeiten reichen über den grammatikalischen oder ‚technischen‘ Umgang mit Sprache hinaus und umfassen daneben auch das Erlernen der kommunikativen, mithin auf Verständigung gerichteten Grundfunktionen von Sprache und kommunikativem Handeln. Auch darauf bezogen kann Journalismus sozialisatorische Wirkung entfalten, wenn er selbst kommunikativ gehandhabt wird: Journalistisches Handeln, das sich auf seine kommunikativen Wurzeln besinnt, erkennt Rezipienten als kommunikativ kompetente Kommunikationspartner nicht nur an, sondern aktiviert und stärkt deren ‚kommunikative Kompetenz‘ durch Inanspruchnahme. Dieser Interpretation liegt das Sozialisationsverständnis der Theorie des kommunikativen Handeln zugrunde, derzufolge Sozialisation ähnlich wie im symbolischen Interaktionismus als ein Prozess begriffen wird, „[…] in dem sich menschliche Wesen im Verlauf sozialer Interaktionen Symbolsysteme aneignen, mit deren Hilfe sie dann nicht nur ihre Umwelt interpretieren, sondern auch ‚Selbst-Bewußtsein‘ erlangen“.185 Aufgrund der potenziellen Transparenz und Begründungspflicht erhobener Geltungsansprüche und der Akzeptanz des Kommunikationspartners als ‚Partner‘ in der Kommunikation ermöglicht ein bewusst kommunikativ gehandhabter Journalismus zumindest ansatzweise ebenfalls eine solche Aneignung und Weiterentwicklung kommunikativer Kompetenzen. Er fordert insofern zur produk-
179 180 181 182 183 184 185
drei Fällen ist Vertrauen notwendig, um journalistische Kommunikation zu ermöglichen. Der Vertrauensbegriff kann dabei noch einmal differenziert werden in „Vertrauen als Einstellung (Vertrauensbereitschaft) und Vertrauen als Handlung (Vertrauenserklärung)“ (Kohring 2002b, S. 95 FN 2). Er ist damit umfassender und umgreifender als der meistens verwendete Glaubwürdigkeitsbegriff. Vertrauen kennzeichnet grundlegend eine soziale Ressource, die für erfolgreiche Kommunikation unter Bedingungen der Unsicherheit relevant ist. Maletzke 1980a, S. 21; vgl. auch ausführlich Maletzke 1963, S. 24ff. Vgl. Fabris 1979, S. 34 Pelinka 1974, S. 103 Vgl. den Überblick bei Bussemer 2005, S. 353ff. Zoll/Hennig 1970, S. 30f. Vgl. Rager/Oestmann/Werner 2000 Burkart 1998a, S. 151; vgl. Fabris 1979, S. 161: „Kommunikatives Verhalten, kommunikative Kompetenz und Artikulationsfähigkeit sind das Ergebnis spezifischer Sozialisationsprozesse, die von der frühkindlichen Sozialisation bis über die Erwachsenen-Sozialisation hinaus wirksam sind.“.
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IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
tiven Auseinandersetzung, zur Stellungnahme und zur Reaktion heraus. Kommunikativ kompetente Akteure sind in der Lage, in kommunikativ rationale Verständigungsprozesse unmittelbar einzutreten und auch vermittelte Aussagen hinsichtlich ihrer Kommunikativität einzuschätzen. Die derart geförderte kommunikative Kompetenz ist zugleich eine wichtige Voraussetzung zur als auch eine wichtige Folge der Entwicklung partizipativer und emanzipativer Handlungsmuster.186 Kommunikativer Journalismus erfüllt damit – wenn auch nur potenziell und gegenüber direkten Formen der Kommunikation sehr restringiert – eine Sozialisationsfunktion, die genuin auf Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen zielt. Die Verständigungsangebote ermöglichen – anders als vermeintlich rein bzw. dominant propositionale oder persuasive, perlokutionäre Sprechakte – eigene Stellungnahmen und Reaktionen. Selbst wenn in der Regel kein genuiner Dialog mit dem journalistischen Kommunikator zustande kommen kann, so sind vergleichbare kommunikative Angebote doch immerhin anschlussfähig an lebensweltliche Kommunikation im Rezipientenkreis und damit an eine weitere Prüfung und Verarbeitung der erhobenen Geltungsansprüche. Neben der sozialisatorischen Wirkung durch die Vermittlung kultureller Deutungssysteme leistet kommunikativer Journalismus somit potenziell auch einen Anstoß zur Inanspruchnahme kommunikativer Handlungsmuster. Die Erwartungen an einen kommunikativ kompetenten Journalismus lassen sich mit Loretan in konkrete Forderungen an kommunikativ kompetente journalistische Akteure fassen: „(1) Sie sollten in der Lage sein, normative Konflikte, die sich entweder im Rahmen ihrer spezifisch beruflichen Verfahren oder über die zu bearbeitenden Themen ergeben, auf einem postkonventionellen Niveau wahrnehmen und beurteilen zu können; (2) Ihre reflexiven Standards moralischer Selbstverpflichtung sollten sie auch unter Stress aufrechterhalten können; (3) Bezogen auf ihre Profession sollten sie über die Fähigkeit verfügen, die journalistischen Funktionen im demokratischen Gesellschaftssystem bestimmen und begründen zu können, um so die Maximen öffentlicher Kommunikation zum handlungsleitenden Motiv zu machen und ihre Geltung in ökonomischen, politischen und organisatorischen Strukturen mit innerer Überzeugung und Zivilcourage zu vertreten.“ 187
Durch eine entsprechende Handhabung eigener kommunikativer Angebote sind journalistische Akteure in der Lage, auch die kommunikative Kompetenz der Rezipienten zu stärken und damit Voraussetzung für Teilhabe an gesellschaftlicher Kommunikation überhaupt erst zu schaffen oder zu entwickeln. Ein normativer Begriff von kommunikativer Kompetenz kann dabei als eine „[…] übergreifende Kategorie, die spezifisch die Teilnahmechancen an der sozialen Kommunikation betrifft“, präzisiert werden.188 In dieser Definition, die wiederum auf das Zustandekommen sozialer Interaktion durch Sprache abstellt, wird deutlich, dass es nicht zuletzt die auch journalistisch sozialisierte ‚kommunikative Kompetenz‘ der Bürger ist, die über das Ausmaß von Partizipation und Demokratisierung eines Gemeinwesens mit entscheidet. „Der Kampf um eine demokratische Öffentlichkeit, um den allgemeinen Zugang zu Informationen und die Möglichkeit freier Meinungsäußerung für jedermann, ist ein zentraler Bestandteil der Geschichte der modernen Demokratie. Mit der schrittweisen Realisierung und der praktischen Weiterentwicklung kommunikativer Grundrechte verbindet sich daher die historisch begründete Hoffnung auf eine Erweiterung der politischen zur umfassenden sozialen Demokratie.“189
186 187 188 189
Vgl. Baacke 1973, S. 311ff. Loretan 2002, S. 287f.; vgl. auch Loretan 1999, S. 183. Wie diese Kompetenzen diskursiv entfaltet werden können, wird in Kapitel VI näher diskutiert. Fabris 1979, S. 154 Ebd., S. 11
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Wird Teilhabe von Bürgern am gesellschaftlichen Kommunikationsprozess vor dem Hintergrund eines anspruchsvollen Öffentlichkeitsmodells als normativ gewünscht erachtet, dann legt dies Bemühungen nahe, auch in der massenmedialen Kommunikation Formen der Wechselseitigkeit und des Wissens der Kommunikationspartner übereinander zu ermöglichen. Diese Modifikationen betreffen nicht nur die technische Seite des Vermittlungsvorgangs, sondern auch die Form der journalistischen Bearbeitung.190 Aus der Sicht eines kommunikativen Journalismusverständnisses lassen sie sich auch aus einer immanenten kommunikativen Normativität und den mit ihr verbundenen Annahmen zu einer kommunikativen Kompetenz deduzieren. Bislang allerdings, so Baum, konnte die Journalismusforschung kaum Erkenntnisse zu der Frage beisteuern, „[…] wie die Ansprüche einer demokratischen Öffentlichkeit, die eine gerechte Teilhabe aller mündigen Bürger am politischen Leben garantieren soll, mit den Mustern journalistischen Handelns intern verknüpft sind“.191
Dazu ist es notwendig, Gesellschaftlichkeit allgemein aus den Interaktionen kommunikativ kompetenter Akteure heraus zu erklären und dabei den Fokus der Journalismusanalyse auf die Frage auszurichten, inwiefern journalistisches Handeln dazu beiträgt, dass diese Interaktion gesellschaftsweit so zustande kommt, dass rationale Verständigungsprozesse möglich werden. Die journalistische Gewährleistung öffentlicher Kommunikativität ist ein Schlüssel dazu, dass die in offenen und inklusiven Kommunikationsprozessen geäußerte menschliche Vernunft als Legitimationsgrundlage von Recht und Herrschaft in modernen Demokratien verstanden werden kann. Anders als in elitentheoretischen top-down-Modellen wird hier der kommunikativen Teilhabe der Staatsbürger eine besondere Rolle zugesprochen – und zwar sowohl direkt hinsichtlich der Teilnahme an den gesellschaftsweit vermittelten Diskursen als auch indirekt hinsichtlich der Anschlusskommunikation in lebensweltlichen Kontexten.192 Ist das Ziel gesellschaftlicher Kommunikation die Partizipation der bislang als passives Publikum begriffenen Bürger, dann müssen journalistische Bemühungen auch auf kommunikativ kompetente Bürger treffen. Die Entwicklung des professionellen nachrichtlich orientierten Journalismus aber hat die Ausbildung entsprechender Strukturen für die Medienkommunikation bislang nicht gefördert. Um das Publikum als Veto-Macht im journalistischen Produktionsprozess zu stärken, sind die systematische Einbeziehung und Weiterentwicklung der Rezeptionsforschung als Feedback-Instrument193 sowie die Etablierung und Quasi-Institutionalisierung von Partizipationsmöglichkeiten denkbar194 – wenngleich auch problematisch, da sie einer Deprofessionalisierung Vorschub leisten und Dysfunktionalitäten nach sich ziehen können. Unstreitig ist aber, dass Kenntnisse über den Kommunikationspartner Voraussetzungen eines reflexiven Kommunikationsprozesses sind.195 190 191 192
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Vgl. Eurich 1980b, S. 170 Baum 1996, S. 243 Vgl. dazu Rust 1982, S. 519: „Die Integrationsfunktion der Massenpublizistik sollte sich in diesem Modell weniger über den Prozeß des agenda setting (wie die systemtheoretische Soziologie den Prozeß sah) als über ein stetes politisches Bewußtsein der Betroffenen, die ihre Stimme in eigener Sache erhoben, beweisen. ‚Umkehrproporz‘ in den Rundfunkanstalten, ‚bürgernaher Journalismus‘ der Presse – Authentizität der Kultur: das waren und das sind die Parolen, mit denen die Ergebnisse einer solchen Besinnung zusammengefasst werden.“ Vgl. Fabris 1979, S. 172ff.; für einen aktuellen Blick auf das Potenzial solcher Versuche vgl. Hohlfeld 2003. Skeptisch beurteilt Noelle-Neumann (1982b; 1993) den journalistischen Zugriff auf Forschungsergebnisse. Vgl. Fabris 1979, S. 126f. Diese Kenntnisse zu beschaffen, ist eine zentrale Aufgabe angewandter Medienforschung. Einer jüngeren Studie zufolge ist das Interesse der Journalisten an deren Informationen durchaus groß – bei gleichzeitiger
210 2.4.2
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus Partizipation an öffentlicher Kommunikation
Vor dem Hintergrund dieser normativen Überlegungen zu kommunikativer Kompetenz kommt ein demokratisch wünschenswerter Journalismus in den Blick, der soziale Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe fördert. Partizipation kann dabei in qualitativer Hinsicht als die „sachbewußte aktive Teilnahme und Einflußnahme von Betroffenen am gesellschaftlichen Lebensprozeß und damit auch dem politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß“ verstanden werden.196 Während der bereits skizzierten Orientierungsaufgabe des Journalismus die Annahme kommunikativ erbrachter, moralisch-praktischer Vermittlungsleistungen zugrunde liegt, verweist die Idee der kommunikativen Teilhabe in kritisch-emanzipatorischer Sichtweise weitaus stärker auch auf reflexiv radikalisierte Kommunikationsleistungen. Ob von Journalismus und Medien derartige partizipatorische Leistungen erwartet werden, ist vornehmlich eine Frage der zugrunde gelegten Demokratie- oder Gesellschaftstheorie und kann – entsprechend der unterschiedlichen Entwürfe – sehr unterschiedlich beantwortet werden.197 Die in der vorliegenden Arbeit adaptierte Perspektive kommunikativer Rationalität führt zu sehr weitreichenden Anforderungen an Orientierungs- und Teilhabe-Leistungen demokratischer Basiskommunikation und unterscheidet sich dadurch erheblich von normativ weniger anspruchsvollen Modellen – vor allem hinsichtlich der Erwartungen, die an Journalismus gerichtet werden, hinsichtlich der Handlungsräume und -freiheiten, die ihm extern zugewiesen werden, und hinsichtlich der Leistungen, die von ihm hinsichtlich der Ausweitung partizipativer Chancen erwartet werden.198 Begründet werden diese Anforderungen allerdings nicht auf der Basis externer moralphilosophischer Setzungen oder sonstiger Konzeptionen eines vermeintlich ‚guten und gerechten Lebens‘, sondern aus der universalpragmatischen Struktur humaner Sprache und Kommunikation heraus, die letztlich in jeder sozialen ‚Interaktion‘ für die Akteure unhintergehbar bleiben muss.199 In dem sich daraus ergebenden Modell einer
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Skepsis hinsichtlich der Folgen der Integration dieser Daten in den journalistischen Kommunikationsprozess. Diese Skepsis speist sich aus den unterschiedlichsten Quellen: Die Methoden werden angezweifelt, die Instrumentalisierung der Ergebnisse als Herrschaftswissen kritisiert, die vermeintliche Ausrichtung der Forschung auf Absatzoptimierung kritisiert und ganz generell die Gefahr eines angepassten Journalismus gesehen (vgl. Hohlfeld 2003, S. 376). Eurich 1980b, S. 257 Vgl. Geißler 1979, S. 173, demzufolge die Frage der Teilhabeorientierung einer öffentlichen Kommunikationssphäre eng mit der Form der Verbindung von journalistischen Massenmedien und demokratischer Basiskommunikation zusammen hängt, d.h. mit der Verbindung der „Kommunikation der Staatsbürger (Basis) mit dem politischen Bereich“, durch die Partizipationschancen definiert werden. Dabei beschreibt der demokratietheoretische Diskurs über Medien und Journalismus die journalistischen Aufgaben mit Blick auf die Ermöglichung eines unterstellten demokratischen Idealtypus und gelangt auf Grund differierender normativer Prämissen zu unterschiedlichen Rationalitätserwartungen (vgl. Geißler 1973, S. 47). Diese weitreichenden Anforderungen würden sich nicht ergeben, wenn eher ‚realistische‘ demokratietheoretische Konzepte zugrunde gelegt werden (vgl. Sartori 1997, S. 46ff.). Grundsätzlich kann aber gelten, dass Demokratie als politisches Konzept, ganz gleich in welcher konkreten Ausformulierung, eine normative Zieldimension beinhaltet, die auch in deskriptiven Analysen nicht aus dem Blick geraten sollte (vgl. ebd. 15ff.). Vgl. Kuhlmann 1985, S. 90, der davon spricht, dass wir „[…] immer schon unhintergehbar den Willen zur vernünftigen Argumentation haben“. Auf der Basis dieser fundamentalen Annahme unterscheidet sich ein kommunikativ fundiertes Demokratieverständnis von weniger anspruchsvollen Modellen des ‚Wettbewerbs unter Verzicht auf Rationalität‘, des ‚Vertrauens in die Person‘ oder der ‚öffentlichen Expertendiskussion, Zielkontrolle und Ideologiekritik‘ (vgl. Geißler 1973, S. 32ff.). Gemeinsam ist diesen Modellen, dass sie auf rudimentäre Informations- und Orientierungsleistungen von Journalismus und Massenmedien nicht verzichten. Immerhin kommen dem Journalismus aber auch im Modell einer öffentlichen Expertendiskussion, in der Bürger die
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211
allgemeinen, kritisch-rationalen Diskussion sind politische und gesellschaftliche Ziele jederzeit potenzieller Gegenstand einer öffentlichen Debatte, in der sie zunächst ideologiekritisch auf die sie fundierenden Werte und Interessen geprüft und dann im Hinblick auf Alternativen problematisiert werden. „Aus den Vorstellungen Habermas’ über Form und Inhalt demokratischer Willensbildung lassen sich die ‚demokratischen Funktionen‘ der [journalistischen, -cb-] Massenmedien ableiten: sie sind das Medium, das die externe Öffentlichkeit herstellt und dadurch die öffentliche Diskussion zwischen den Parteien, Verbänden und staatlichen Gremien und Institutionen ermöglicht. Gleichzeitig stellen sie die Verbindung zwischen externer Öffentlichkeit und organisationsinternen kritischen Diskussionen her. Die Inhalte der Massenkommunikation unterliegen denselben qualitativen Postulaten wie die gesamte politische Kommunikation: sie sind diskutant und kritisch-rational.“200
Journalismus vermittelt in diesem Modell nicht nur orientierende Information, sondern stellt Orientierung in den öffentlich geführten Diskussionen in dem beschriebenen makrosozialen Sinn bisweilen überhaupt erst her. Orientierung ist das Ergebnis eines kommunikativen Prozesses, an dem potenziell alle Bürger teilhaben können (müssen). Dieses Modell hat – trotz begründeter empirischer Einwände – Sinn als regulative Idee mit Blick auf einen Journalismus, der zumindest danach streben sollte, Diskussionen nicht nur zwischen Experten und vor Publikum zu vermitteln, sondern so inklusiv, kommunikativ und interaktiv zu gestalten, dass potenzielle Beteiligung aller als gewährleistet betrachtet werden kann. Es wird daher normativ erwartet, dass gravierende Unterschiede in der gesellschaftlichen Verteilung von Kommunikationschancen in der Öffentlichkeit korrigiert werden, um gleichmäßige Teilhabemöglichkeiten und damit gesellschaftlichen Pluralismus zu gewährleisten.201 Innerhalb der kritischen Medienforschung gehen die Meinungen darüber auseinander, ob dies innerhalb des massenmedialen Systemrahmens geschehen kann oder externe Kommunikationsformen vorzuziehen sind. Die Alternativen bewegen sich zwischen einem „Konkurrenzmodell der Aussagenproduktion“ und dem „Bauplan einer Gegenöffentlichkeit“ und beruhen auf unsicheren Voraussetzungen.202 Mehrere Optionen sind – auch komplementär – denkbar: (1) Vermittlung partizipationsrelevanter Information: In Konzepten, die auf einen teilhabeorientierten Journalismus innerhalb der etablierten Strukturen abstellen, wird zunächst auf Möglichkeiten verwiesen, durch journalistische Berichterstattung Grenzen von Öffentlichkeit aufzuheben und so die Borniertheit teilsystemischer Abgeschlossenheit mit entdifferenzierenden Informationen zu schwächen.203 Ein Beispiel dafür sind proaktive Vermittlungsstrategien hinsichtlich partizipationsrelevanter Informationen, die auf die Veröffentlichung relevanter Sachverhalte vor der politischen Entscheidung abzielen.204 Es ist als eine Professionalitätsregel journalistischer Kompetenz anzusehen, dass auf Partizipation gerichtete Aspekte einer Nachricht im Vordergrund stehen, um Rezipienten als handlungsfähige Subjekte der Öffentlichkeit
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Möglichkeiten der ‚Zielkontrolle‘ und der ‚Ideologiekritik‘ besitzen, weitreichende Aufgaben zu (vgl. ebd., S. 39). Geißler entnimmt dieses Modell den Schriften Geigers (1963); es ist zudem anschlussfähig an die Überlegungen Groths (1972, S. 114). Orientierung durch Medien und Journalismus impliziert hier Möglichkeiten, öffentliche Kommunikation zu regulieren, bei Fehlsteuerungen einzugreifen und das Erreichen vereinbarter Ziele zu kontrollieren. Aber die Verknüpfung von Orientierung und Teilhabe bleibt restringiert: Die „Trennung in rationale Mittelwahl und dezisionistische Zielsetzung“ ist konstitutiv für dieses Modell öffentlicher Expertendiskussionen, das professionelles Handeln über demokratische Partzipation stellt (Geißler 1973, S. 40). Geißler 1973, S. 47 Vgl. Geißler 1979, S. 178; Fabris 1979, S. 261 Baum 1994, S. 268 Vgl. Pöttker 1998a Vgl. Rombach 1983
212
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
anzusprechen.205 Partizipation bedarf umfassender Orientierung der Bürger durch journalistische Medien.206 (2) Herstellung kommunikativer Öffentlichkeit: Über die Bereitstellung umfassender Informationen hinausgehend kann auch erwartet werden, dass ein massenmedial verfasster Journalismus durch dezidierte Kritikorientierung partizipationsfördernd wirkt. Geißler nennt die ideologiekritische Herstellung von Transparenz, die Artikulation von Interessen und die pluralistische Kompensation durch Vertretung von Interessen, die in der bestehenden pluralistischen Machtstruktur benachteiligt sind, als dafür notwendige Aufgaben.207 Aus der journalistischen Gewährleistung von allgemeiner Zugänglichkeit und rationaler Diskussion in der Öffentlichkeit, soll sich diejenige kritische Publizität entwickeln, die Habermas als Gegenpol zur aus seiner Sicht oft manipulativen Publizität ressourcenstarker Kollektivakteure einfordert.208 Eine solche kritische Publizität würde die Kraft besitzen, öffentliche Diskurse anzustoßen, aus denen heraus sich lebensweltliche kommunikative Macht entwickeln kann, die ihrerseits auf den politischen Meinungsbildungsprozess wirkt.209 Ein diskursiver Journalismus könnte dazu einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, indem er die in einer stereotypisierten und technisierten passiven Vermittlung von Information angelegten Entfremdungstendenzen zugunsten einer aktiven eigenständigen Prüfung, Gewichtung und kommunikativen Transformation öffentlicher Kommunikationsangebote konterkariert und den Dialog in das Medium hineinverlagert, um den Rezipienten wenigstens „die reelle Chance einer passiven Teilnahme an der diskutanten Auseinandersetzung“ anzubieten.210 (3) Anwaltschaftlicher Journalismus: Ein noch stärker aktivisches Verständnis von Teilhabe fordert nicht nur die umfassende Vermittlung von Informationen und deren kommunikative Kritik, sondern darüber hinaus die anwaltschaftliche Unterstützung und Repräsentation unterprivilegierter Diskursteilnehmer, deren Interessen in der Öffentlichkeit vertreten werden sollen. Die Vorstellung des journalistisch Handelnden als Anwalt stammt nicht nur aus der in der Vermittlungstheorie des Journalismus favorisierten Idee der demokratischen ‚Repräsentation‘ gesellschaftlicher Interessen (gemäß ihrer gesellschaftlichen Artikulation), sondern auch aus dem im Räsonnement verankerten Gedanken des ‚Anwalts‘ solcher Interessen.211 Aus den Konzepten von Vermittlung (Referat) und Räsonnement können Eckpunkte eines anwaltschaftlichen Journalismus deduziert werden, der auf die Demokratisierung gesellschaftlicher 205 206
207 208 209 210
211
Vgl. Haller 1992, S. 206f. Vgl. Rombach 1983, S. 49. Diese Orientierung allerdings lässt sich in der Berichterstattung kaum auffinden, wie Rombach in seiner empirischen Analyse der Qualität von Lokalzeitungen hinsichtlich der Kriterien für partizipationsgerechte Berichterstattung herausarbeitet. Zu häufig fließen Informationen einseitig von oben nach unten, zu selten versuchen Journalisten auch den Sprachlosen in ihrer Berichterstattung eine Stimme zu geben. (vgl. ebd., S. 253). Die Gründe dafür macht Rombach (1983, S. 268f.) in den Rahmenbedingungen journalistischen Arbeitens aus: in der Nähe zur politischen und sozialen Elite, im Einfluss der Anzeigenkunden und in den Arbeitsbedingungen, die kaum Anreize für weitgehende Recherche oder besonders partizipationsorientierte Berichterstattung bieten. Vgl. Geißler 1979, S. 173 Vgl. Habermas 1990, S. 357 Vgl. Burkart 1998a, S. 518f. Geißler 1973, S. 61. Ähnlich argumentiert auch Vlasic 2004, S. 172: „Eine aktive Partizipation der Bürger ist eher selten, darüber hinaus kann ein zu hoher Grad der Partizipation in Demokratien eher hinderlich sein. Somit geht es auch hinsichtlich der Partizipationsmöglichkeiten weniger um das realisierte politische Handeln, als vielmehr die Wahrnehmung der eigenen Einflussmöglichkeiten, die Beurteilung der eigenen Kompetenzen in politischen Fragen sowie die wahrgenommene Legitimation, d.h. Effektivität und Problemlösungskompetenz, des politischen Systems und seines Personals.“ Vgl. Fabris 1979, S. 48
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
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Kommunikation hinarbeiten soll, indem er kommunikative Ungleichgewichte balanciert und verringert. „Anwaltschaftlicher Journalismus meint […] solche journalistischen Aktivitäten, die den Nicht-Mächtigen, den aufgrund gesellschaftlicher, sozialer oder auch individueller Lebensumstände Benachteiligten und Sprachlosen eine Stimme verleihen sollten.“212
An die Stelle des Prinzips der Distanz zum Berichterstattungsgegenstand tritt in diesem anwaltschaftlichen Journalismus das Prinzip der Teilnahme und der Ermöglichung von Teilhabe.213 Dadurch sollen in Reaktion auf moderne Veränderungen der kommunikativen Infrastruktur die sozialen Folgekosten von Prozessen der Ausdifferenzierung, der Konzentration und der Standardisierung kompensiert werden. Journalisten wird zugestanden, als „Anwälte des offenen Gesprächs zwischen Gruppen und Milieus“ einem kommunikativen Ausgleich verpflichtet zu sein, der das Ziel hat, ein öffentliches Gespräch überhaupt zu ermöglichen.214 (4) Journalistische Anleitung der Laien zur eigenständigen Produktion: Noch über das anwaltschaftliche Modell hinausgreifend, wird in manchen Modellen quasi eine Selbstabschaffung des Journalismus zugunsten lebensweltlicher Kommunikation verlangt. Journalisten werden hier vorwiegend als ‚Ermöglicher‘ gesehen, die den selbstständigen Produktionsprozess der Laien nur noch begleiten. Diese Rolle ist in der Regel nur in nicht kommerziell organisierten Kommunikationssystemen denkbar, weil nur diese die notwendige programmstrukturelle Flexibilität und Unabhängigkeit von Kapitalverwertungsinteressen besitzen215, und sie bedarf darüber hinaus einer ihr entgegenkommenden demokratischen Partizipationskultur, durch die kommunikative Tätigkeiten der Bürger gewährleistet werden.216 Insbesondere mit Blick auf das Fernsehen sind in den 1970er Jahren entsprechende Modelle entwickelt worden, die in einem breiten Angebot so genannter offener Kanäle mündeten.217 Partizipationsorientierte Journalisten sollen diesem Konzept zufolge ihre Arbeit weniger als Informationsvermittlung, und mehr als Gemeinwesenarbeit begreifen, um Zuschauer aus ihrer passiven Konsumentenrolle herauszuholen und ihre kommunikative Kompetenz im Umgang mit medialen Kommunikationssubstituten sowie ihre Partizipationsmöglichkeiten im gesellschaftlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess zu steigern.218 Damit verlässt diese Konzeption die Grundlage journalistischen Handelns und verweist auf medienpädagogische Konzepte, die in Kooperation mit Journalismus, aber kaum an dessen Stelle stattfinden können. Sie erscheinen sinnvoll im Hinblick auf eine Erhöhung der konstruktiven Medienkompetenz der Bürger, können aber – das haben die empirischen Erfahrungen nur zu deutlich gezeigt – die Leistungen eines massenmedial verfassten Journalismus nicht ersetzen. Das gilt bislang auch für die sich seit wenigen Jahren etablieren so genannten ‚Blogs‘, Online-Tagebücher von Laien oder Journalisten, die sich jenseits etablierter Medienstrukturen bewegen.219
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Fabris 1981a, S. 200f. Vgl. Fabris 1979, S. 210. Beispiele für erfolgreiche Partizipationsorientierung auch im massenmedialen Journalismus lassen sich durchaus finden. Beispiele sind TV-Vor-Ort-Sendungen und Formate, öffentlichrechtlicher Sender, in denen Betroffene explizit und umfassend einbezogen werden (vgl. ebd., S. 231). Pöttker 2002b, S. 12 Ausnahme ist der auch marktorientierte US-amerikanische Public Journalism. Vgl. dazu Abschnitt IV.2.4.3. Vgl. Fabris 1979, S. 166 Vgl. für einen Überblick Kamp 1997. Vgl. Fabris 1979, S. 205 Vgl. Bucher/Büffel 2005
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IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
Betrachtet man die romantisch verbrämte Selbstabschaffung des Journalismus zu Recht skeptisch, dann verbleiben für einen partizipationsfördernden Journalismus innerhalb der etablierten Strukturen drei Möglichkeiten: (1) die umfassende Vermittlung partizipationsrelevanter Informationen, (2) die kommunikativ-kritische Aktivierung kommunikativer Kompetenz sowie (3) die anwaltschaftliche Gewährleistung gesellschaftlicher Diskursbedingungen. Innerhalb der journalismustheoretischen Literatur findet sich zumindest mit Blick auf den zweiten und den dritten Aspekt ein nur gering ausgeprägtes Verständnis. Bis heute ist die Begründung der Kritikfunktion aus der Perspektive der Journalismusforschung schwer zu leisten. Dafür sind nicht zuletzt wissenschaftslogische Gründe verantwortlich: Schließlich ist eine solche Begründung innerhalb vieler der theoretischen Paradigmen – wie gewisse Spielarten des Funktionalismus, der Systemtheorie oder des Konstruktivismus zeigen – kaum mehr möglich. Und auch der Weg, die Kritikfunktion normativ-ontologisch oder aber mit den Mitteln der Geschichtsphilosophie von außen an den Journalismus heranzutragen, ist aus guten wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Gründen versperrt. Was bislang weitgehend bleibt ist der Hinweis auf die verfassungsrechtlich normierte Kritik und Kontroll-Funktion des Journalismus, der sich zwar – wenn nötig – pathetisch aufladen lässt, letztlich aber in einer Journalismustheorie als juristischer Import recht dürr anmutet. Hinzu kommen polemische Einwände, wie der von Kepplinger, dass nicht von einem anwaltschaftlichen, sondern einem „vormundschaftlichen Journalismus“ zu sprechen sei, da „[…] die journalistischen Anwälte in dieser Konzeption ihr Mandat […] nicht von ihrer Klientel der Rezipienten erhalten“.220 Auch Boventer erklärt eine anwaltschaftliche Rolle rundweg für unpassend, weil Journalisten nicht zu plädieren hätten, sondern Sachverhalte möglichst vielseitig und ausgewogen unparteilich darzustellen hätten.221 Derartige Kritik spricht Journalismus auch das Recht ab, medienfernen bzw. artikulationsschwachen gesellschaftlichen Gruppen wie Minderheiten den Weg zu einer öffentlichen Äußerung zu ebnen, weil so vermeintlich die gesellschaftlichen Proportionen ‚ideologisch‘ verzerrt würden.222 Diese Kritik ignoriert, dass schon das Postulat vermeintlicher Objektivität beständig zu einer Verschärfung bestehender Verzerrungen öffentlich repräsentierter Meinungen führt.223 Diese Einwände laufen ins Leere, wenn der Weg zum anwaltschaftlichen Journalismus über die theoretische Fundierung des Grothschen Modells eines journalistischen Gesprächsanwalts führt: Aus der Formulierung einer anwaltschaftlichen Position, die keine inhaltliche Positionierung oder gar einen Bias zugunsten einer Gruppe voraussetzt, sondern im klassischen Grothschen Sinne den Journalisten auf die Gewährleistung des gesellschaftlichen Gesprächs aller verpflichtet, geht die Notwendigkeit hervor, partizipationsfördernde Strategien anzuwen220 221 222
223
Kepplinger 1979b, S. 26 FN 92 Vgl. Boventer 1984a, S. 427 Während solch eine Pauschalkritik an jeder Form journalistischer Parteinahme ins Leere läuft, ist die Beobachtung zutreffend, dass alternative Journalismustypen dann, wenn sie z.B. weltanschauliche oder milieu-kulturelle Barrieren errichten, die genuine Stärke ihrer kommunikativen und lebensweltlichen Verankerung in Partikularismen weitgehend wieder aufgeben. Vgl. zur generellen Kritik an der Leistungsfähigkeit von Alternativmedien Starkulla (1988). Weitaus positiver bewertet Oy (2005) die kommunikativen Möglichkeiten der Gegenöffentlichkeit. Feststeht allerdings, dass solche ‚Journalismus‘-Angebote schon hinsichtlich ihrer technischen Reichweite auf sich selbst gestellt kaum imstande sind, auf gesamtgesellschaftlicher Ebene Öffentlichkeit zu gewährleisten. Sie zielen – wie beinahe alle zivilgesellschaftlichen Initiativen von gesellschaftlicher Relevanz – in letzter Konsequenz eben auch auf die weiterreichende Aufmerksamkeit der etablierten Medien (vgl. Habermas 1992, S. 451). Vgl. Rager 1973
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
215
den. Systemimmanent beruht dieser Weg auf der Hoffnung, dass veränderte Formen journalistischer Ausbildung, partizipationsfördernde Handlungsoptionen stärken können. Der anwaltschaftliche Journalismus kann so als „ein neues, noch in Entwicklung begriffenes Professionalisierungs-Konzept“ verstanden werden, das sich an lebensweltlichen Kommunikationsmustern orientiert und auf dieser Weise massenmedial induzierte Verkürzungen konterkariert.224 Merkmale dieses alternativen Professionalisierungskonzeptes, das in vielen Aspekten idealtypisch verstanden werden muss, um normative Überanstrengungen zu vermeiden, sind laut Fabris das „[…] aktive Eintreten für die Interessen unterprivilegierter Minderheitsgruppen, das persönliche ‚Betroffensein‘ als Kriterium für die Legitimierung einer authentischen journalistischen Berichterstattung, die möglichst intime Kenntnis des Berichterstattungsgegenstandes, der Verzicht auf den Anspruch allgemeiner – im Sinne von ‚objektiver‘ – Gültigkeit […] formulierter Aussagen, die offene Begründung der eigenen Parteinahme, die diese transparent und überprüfbar machen soll, die gemeinsam mit den Berichts-Betroffenen zu organisierende Medienarbeit, die Absage gegen eine strikt hierarchische und arbeitsteilige Organisation journalistischer Produktion“.225
Durch einen solcherart verstandenen Journalismus können die Grundzüge einer teilhabe- und verständigungsorientierten gesellschaftlichen Öffentlichkeit gewährleistet werden. Diese Potenziale dürfen aber nicht durch eine schon konzeptionelle Fokussierung auf LaienJournalismus in Randbereiche öffentlicher Kommunikation expediert werden. Verallgemeinerungsbedürftige Interessen können letztlich nur in einer gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit verhandelt werden, weltanschaulich vorgeprägte Teil- oder Alternativöffentlichkeiten allein sind dazu kaum in der Lage. Sie müssen zu einer umfassenderen öffentlichen Sphäre vernetzt werden, bzw. von einer solchen – professionell journalistisch gewährleisteten – Öffentlichkeit umgriffen werden. In gegenöffentlichen Strukturen und Massenmedien gleichermaßen sind kommunikative Gegentendenzen notwendig, um Partizipationschancen zu erhalten, die durch journalistischen Elitismus und medialen Funktionalismus bedroht sind.226 Die Aufgabe der Verständigungs- und Teilhabeorientierung stellt sich in erster Linie einem etablierten Journalismus, dessen kommunikative Wurzeln noch nicht ausgetrocknet sind.
2.4.3
Exkurs: Die US-amerikanische Perspektive des ‚Public Journalism‘
Die Diskussion über ‚anwaltschaftlichen‘ Journalismus, die vor allem in den 1970er Jahren in Deutschland geführt worden ist, besitzt ein Pendant in der hierzulande nur wenig rezipierten 224
225 226
Fabris 1979, S. 248f. Ob diese Hoffnungen allerdings realistisch sind, muss als offen betrachtet werden, wie Rust (1982, S. 522) einwendet : „Der Gedanke, daß Journalismus auf diesem Weg [der akademischen Ausbildung, -cb-] weniger anfällig für die Deformation durch eine konkrete Praxis und ihre Weltdeutung wird, daß umgekehrt die verallgemeinerten Fähigkeiten sogar zu einer Neustrukturierung der Praxis führen könnten, ist theoretisch plausibel, praktisch allerdings noch irrelevant. Denn die Frage bleibt offen, ob durch das akademische Planspiel auch der öffentliche Kredit wächst, der sich auf genau jene kompensatorischen oder emanzipatorischen Fähigkeiten bezieht, die in der Theorie der kommunikativen Kompetenz angelegt sind.“ Fabris 1979, S. 209 Vgl. Baum 1994, S. 267. Rust (1982, S. 525) weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass es nicht ausreichen kann, lediglich den etablierten Journalismus durch Ausbildung zu verbessern, wenn man auch dem alternativen Journalismus eine gesellschaftlich zunehmend zentrale Funktion hinsichtlich der Eröffnung kommunikativer Partizipationschancen zuweist. In diesem Falle müsse es darum gehen, den Journalismus in seiner ganzen Breite – und das bedeutet auch den alternativen Journalismus – durch Steigerung der kommunikativen Kompetenz seiner Akteure zu verbessern.
216
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
aktuellen US-Debatte über die demokratische Aufgabe des Journalismus.227 Dabei geht es um Konzepte von „Public Journalism“228, „Civic Journalism“229 oder „Participatory Journalism“230. Kern der Bewegung ist das Ziel, Rezipienten nicht als passive Konsumenten anzusprechen, sondern als aktive Bürger in ihren Teilhaberechten ernst zu nehmen.231 Entstanden sind die ersten diesbezüglichen Versuche in Form einer ‚experimentellen Bewegung‘, die durch enge Kooperation zwischen Theorie und Praxis geprägt ist. Es geht darum, einen ‚anderen‘ Journalismus zu betreiben und ihn zugleich auch konzeptionell so zu fassen, dass er als eine Alternative angesehen werden kann.232 Das partizipatorische Anliegen des ‚Public Journalism‘ ist die Erweiterung des klassischen Nachrichtenjournalismus zu einem Journalismus, der diskursive gesellschaftliche Kommunikation nicht nur darstellt oder vermittelt, sondern aktiv ermöglicht. Die ‚reine‘ Nachrichtenberichterstattung des etablierten ‚objective journalism‘ wird als nicht ausreichend betrachtet: „There’s also a job of improving the community’s capacity to act on the news, of caring for the quality of public dialogue, of helping people engage in a search for solutions, of showing how a community might grapple with – and not only read about – its problems.”233
Um diese Ziele zu erreichen, wendet sich der ‚Public Journalism‘ neben der Veränderung klassischer Berichterstattungsmuster (weg von den oftmals konfliktorientierten Nachrichtenfaktoren, hin zu verständigungsorientierten Formen des Ausgleichs) auch Vermittlungsformen zu, die klassisch außerhalb des Journalismus liegen und eher sozialarbeiterische Züge tragen. Schaffer spricht in diesem Zusammenhang von einer „guide-dog role“, die Journalismus für ein Gemeinwesen einnehmen könne.234 Rosen benennt „civic participation, deliberative dialogue, cooperative problem-solving, taking responsibility for the place where you live, make democracy work“ als Ziele, auf die ein teilhabeorientierter Journalismus hinarbeiten kann.235 Dabei lassen er und andere Theoretiker keine Zweifel daran, dass diese Ziele innerhalb des privatwirtschaftlichen Mediensystems erreicht werden sollen, schließlich sei ‚Public Journalism‘ auch eine Strategie für Verlagshäuser, um durch mehr Lesernähe die eigene Marktposition zu stärken.236 Besserer Journalismus, so die klare Rechnung, ist auch gut fürs Geschäft. Und besserer Journalismus erschöpft sich nicht in besser geschriebenen Geschichten, sondern bedarf darüber hinaus einer offeneren und partizipationsfördernden Organisation öffentlicher Diskurse durch Journalismus.237 Dabei begreifen sich Journalisten, die sich dem ‚Public Journalism‘-Konzept verpflichtet fühlen, als Anwälte des gesellschaftlichen Gesprächs und der Deliberation, nicht aber als Vertreter einer bestimmten Meinung oder Richtung; sie sehen sich weiterhin als neutrale
227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237
Vgl. den Überblick in Lünenborg 2005b Charity 1995; Rosen 1996; Merritt 1997 Schaffer 1997; Dillon o.J. Lasica 2003 Vgl. auch Public Journalism Network 2003: Der Gründungsdeklaration des Netzwerks zufolge soll Public Journalism Menschen als „political actors“ und nicht nur als „political consumers“ ansprechen. Vgl. Rosen 1997. Dass dies im suggerierten umfassenden Sinn gelingt, kann angesichts der bisherigen Evaluationsergebnisse des ‚Public Journalism‘ bezweifelt werden (vgl. Lünenborg 2005b, S. 151ff.) Rosen 1997, o.S. Schaffer 1997, o.S. Rosen 1997, o.S. Vgl. Fink 2001, S. 203f. Vgl. Schaffer 2002
2 Implikationen eines kommunikativen Handlungskonzepts
217
Wegbereiter öffentlicher Verständigung und weniger als Vorkämpfer einer bestimmten Idee.238 Deutlich umreißt Schaffer, was ‚Civic Journalism‘ nicht ist: „It’s not boosterism. It is not about editors sitting on community boards. It is not abandoning objectivity. And it’s not imposing a newspaper’s agenda on a community.”239
Stattdessen ist es die Aufgabe des ‚Civic Journalism‘, in Interaktion mit Lesern zu gelangen, um deren Fähigkeiten, als Bürger zu agieren, zu verbessern und damit gesellschaftliche und demokratische Strukturen zu stärken.240 Diese jüngeren Konzepte eines partizipationsorientierten Journalismus, die seit Anfang der 1990er Jahre in den USA diskutiert werden, sind als moderne Adaptionen älterer Konzepte wie ‚New Journalism‘ oder anderer alternativer Vermittlungsformen anzusehen, auf deren Diskurse v.a. hinsichtlich einer praktikablen Fassung des Objektivitätsbegriffs sie auch durchaus verweisen.241 Darüber hinaus sind sie von Interesse, weil sie die Möglichkeiten der Orientierung und der Partizipationssteigerung durch einen aktivierenden Journalismus in die bestehende Medienstruktur hineinverlagern und mit ökonomischen Gewinninteressen koppeln. Sie sind daher in kommunikationspolitischer Hinsicht weit pragmatischer als mancher bundesdeutsche Entwurf aus den 1970ern. Viele Autoren des stark praxisorientierten Diskurses des ‚Public Journalism‘ bemühen sich allerdings nicht um eine eigenständige journalismustheoretische Begründung ihrer Ansätze, sondern bedienen sich – soweit sie eine theoretische Grundlegung überhaupt anstreben – aus dem Fundus des US-amerikanischen Pragmatismus bzw. jüngerer kommunitaristischer Konzepte, die eine Stärkung des Lokalen auch normativ zu fassen suchen.242 Eine Ausnahme ist Rosen, der sich einer systematischen Grundlegung eines veränderten Journalismusverständnisses widmet, in dem er die Prämisse formuliert, dass Journalismus zwar stets als politisch anzusehen ist, dass er aber nicht das Volk repräsentiere, sondern der Idee der Öffentlichkeit verpflichtet sei.243 Ein Unterschied ums Ganze, der letztlich auf die Rolle des Diskursanwaltes zielt: „[…] while journalists do not represent the people, they do represent the public, and that is not the same thing. The people can settle matters by voting in and recalling their leaders. But the public never settles anything; it talks some more, it marches on, it joins in debate and hopefully it learns. […] The press is […] supposed to feed and sustain the public.”244
Auch wenn die Annahme, dass Journalisten Öffentlichkeit repräsentieren weder bedeuten darf, dass Journalisten hier einen Alleinvertretungsanspruch besitzen, noch dass sie in der Lage seien, Öffentlichkeit in ihrer Komplexität zu überblicken, so weist diese Konzeption doch immerhin darauf hin, dass Journalisten in Verantwortung für das Zustandekommen und Gelingen öffentlicher Kommunikation stehen. Daher stellt sich Rosen gegen Versuche, journalistische Parteinahme zu diskreditieren. Neutralität sei nicht möglich, da sich Journalisten nicht 238 239 240 241 242 243 244
Vgl. Merritt 1997 Schaffer 1998, o.S. Vergleichbare Versuche gibt es auch in Deutschland, wenngleich zumeist ohne die demokratieorientierte Emphase des ‚Public Journalism‘. Siehe z.B. die im ‚Lokalredaktionsdienst‘ des Verbandes der Lokalpresse in Ausgabe 11/1998 zusammengestellten Beispiele und Überlegungen zu einem besseren Dialog mit dem Leser. Vgl. Dillon o.J. Vgl. zum Konzept des Kommunitarismus klassisch Etzioni 1993. Vgl. Rosen 1996; 1999 Rosen 2003, o.S.
218
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
außerhalb der öffentlich diskutierten Themen und Ereignisse befänden, sondern mitten darin.245 Verhindert werden müsse eine übermäßige Politisierung des Journalismus, die Forderung nach einer unpolitischen Berichterstattung über Politik hingegen sei ‚absurd‘.246 Von derartigen Bemerkungen lässt sich eine Brücke zum Konzept eines diskursiven Journalismus schlagen, das im gesellschaftlichen Dialog (im Sinne eines ‚Public Journalism‘) explizit auf journalistische Wertungen setzt und zugleich darum bemüht ist, der einem solchen Journalismus zugrunde liegenden kommunikativen Rationalität den Raum zu geben, den sie benötigt.247 Für die US-amerikanischen Kommunikationswissenschaftler, die den ‚Public Journalism‘ als Konzept vertreten, bleibt damit trotz aller konkreten Reformvorschläge ein journalistisches Handeln, das in die Kommunikation potenziell entgrenzende Infrastruktur der Massenmedien eingebunden ist, unverzichtbar, um eine ausreichende Reichweite und die damit verbundene soziale Orientierung zu gewährleisten. Folgt dieses journalistische Handeln den normativen Mustern des gegenüber der Öffentlichkeit und dem gesellschaftlichen Gespräch anwaltschaftlich verpflichteten Journalismus, dann nutzt es zwar die systemisch-technische Infrastruktur der Massenmedien, versucht aber zugleich die Aporien der Verberuflichung des Mediatorhandelns durch Bewahren einer eigenständigen kommunikativen Kompetenz zu vermeiden. Charakteristika eines teilhabeorientierten journalistischen Handlungsmodus – auch jenseits des ‚Public Journalism‘, der letztlich mehr eine Wiederbelebung und Neuakzentuierung des anwaltschaftlichen Journalismus, denn ein ‚neues‘ Konzept darstellt248 – sind das Bemühen um Authentizität der Information, um Parteinahme für Unterprivilegierte und darum, die Beziehung zwischen Berichterstatter und Betroffenen als eine Beziehung zwischen Subjekten zu gestalten.249 Ziel eines so verstandenen Journalismus ist es, die kommunikative Kompetenz der Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen vorauszusetzen und zu entwickeln und somit kommunikative Verständigung in komplexen ausdifferenzierten Gesellschaften zu ermöglichen.
3
Implikationen einer lebensweltlichen Verankerung
In der Ausformulierung eines kommunikativen Journalismus-Konzepts sind Fragen der Gewährleistung eines geteilten lebensweltlichen Kommunikationshintergrundes und der Inklusion aller potenziell Beteiligten in kommunikative Meinungs- und Willensbildungsprozesse in den Mittelpunkt gerückt. Der öffentliche, durch Massenmedien und journalistisches Handeln gewährleistete Kommunikationsprozess kann verstanden werden als eine – angesichts der sozialen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften notwendige – Entgrenzung des lebensweltlichen Gesprächs. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass dieses entgrenzte öffentliche Gespräch über die verschiedenen, funktional definierten Systemgrenzen hinweg, idealiter 245
246 247 248 249
Public Journalism „[…] challenges the fiction of the journalist as someone without a political life“, konstatiert Rosen (1996, S. 76). Diese Betrachtungsweise steht frontal gegen eine systemtheoretische Perspektive, die in Journalismus explizit nichts anderes als einen Beobachter gesellschaftlicher Vorgänge zu sehen vermag (vgl. Hug 1997, S. 361). Vgl. Rosen 2003 Hoffnungen hinsichtlich der Entwicklung eines teilhabeorientierten Journalismus setzen Protagonisten des Public Journalismus in die so genannten ‚Weblogs‘. Diese würden aus den Public Journalism einen „Public‘s Journalism“ machen (Witt 2004) bzw. einem neuen „Participatory Journalism“ Auftrieb geben (Lasica 2003). Vgl. Lünenborg 2005b, S. 155f. Vgl. Fabris 1979, S. 259 Darüber hinaus ist wird vor diesem Hintergrund die Bedeutung der materiellen Verfügbarkeit medialer Produktionsmittel für alle Mitglieder einer Gesellschaft besonders hervorgehoben, durch deren Gewährleistung für wechselseitige Kommunikationsprozesse notwendig ist.
3 Implikationen einer lebensweltlichen Verankerung
219
genuin lebensweltlicher Interaktion vergleichbaren Regeln folgt, wenn es rationale Übereinkünfte produzieren soll. Es bleibt rückgebunden an die Ideen der allgemeinen Zugänglichkeit des Diskurses und der (sprachlich immanenten) Verpflichtung auf Rationalität der Teilnahme.250 Als kontrafaktische formalpragmatische Unterstellungen sind diese jedem kommunikativen Handeln inhärent, so dass sich auch journalistisches Handeln, sofern es nicht zweckrational-strategisch reduziert wird, ihrer Logik nicht entziehen kann. Sollen die gesellschaftlichen Leistungen journalistischen Handelns idealtypisch bestimmt werden, so ist dafür die Betrachtung seiner Leistungen für die Reproduktion und die Rationalisierung der Lebenswelt notwendig. Das auch makrosozial anschlussfähige Konzept der Lebenswelt stellt einen „Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln“ dar.251 Da Habermas ihn zunächst dem individualistischen phänomenologischen Denken entnimmt und dann zu einem gesellschaftstheoretischen Begriff weiter entwickelt, ergeben sich zwei unterschiedliche Begriffsverwendungen, die in der Verknüpfung formalpragmatischer Argumente der Kommunikationstheorie mit soziologischen Annahmen der Theorie der Moderne gründen. (1) Als formalpragmatischer Begriff kennzeichnet Lebenswelt den ungewussten Hintergrund und Horizont der Interaktion. Lebenswelt besteht demnach aus den Ressourcen kulturelles Hintergrundwissen, persönliche Fertigkeiten und eingelebte Solidaritäten, die den Teilnehmern in kommunikativen Interaktionen zur Verfügung stehen, die aber gleichermaßen als Restriktionen deren Handlungsspielraum begrenzen. (2) Als sozialwissenschaftlicher Begriff bezeichnet Lebenswelt außerdem – in sozialwissenschaftlich begründeter Objektivation aus der Beobachterperspektive – den gesellschaftlichen Bereich der intentional durch kommunikatives Handeln symbolisch reproduzierten sozialen Dimensionen.252 Habermas legt den Akzent in seinem Entwurf darauf, dass Lebenswelt beides ist: Voraussetzung und Ergebnis kommunikativer Handlungen. Daher nimmt er unterschiedliche Perspektiven ein, aus denen heraus er zum einen die Leistungen der Ressourcen für den Teilnehmer und zum anderen die Reproduktionsleistungen des kommunikativen Handelns für die symbolische Integration der Lebenswelt beschreibt. Dieser Perspektivenwechsel von der formalpragmatisch verstandenen Lebenswelt hin zu einem soziologischen Gesamtkonzept dient der „methodologische[n] Vergegenständlichung der Lebenswelt als grenzerhaltendes System“253, mit der die Grundbedingungen für einen zweistufig angelegten Gesellschaftsaufbau geschaffen werden. Die beiden Lebensweltkonzepte stehen allerdings nicht lose nebeneinander, sondern sind grundbegrifflich miteinander verklammert.254 Dadurch gewinnen die in mikrosozialen Konzep250 251 252
253 254
Auf diesen Zusammenhang verweist Burkart (1998a, S. 517) in seiner Auseinandersetzung mit Habermas. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 182 Vgl. dazu Balkenhol 1991, S. 136. Matthiesen (1983, S. 45) identifiziert in seiner Studie über den Lebensweltbegriff bei Habermas sogar vier Konzepte (LW I - LW IV), indem er die hier auch vorgenommene TeilnehmerBeobachter Differenzierung noch einmal danach differenziert, ob die Einstellung zur Lebenswelt „quasitranszendental/formalpragmatisch“ oder „mundan“ ist. Auf derartige Differenzierungen soll hier verzichtet werden, da es hier nicht in erster Linie um eine theoretische Auseinandersetzung mit der Habermasschen Theorie geht, sondern um deren modifizierte Anwendung zur Beschreibung eines spezifischen gesellschaftlichen Handlungsmodus und seines systemischen Rahmens. Die Unterscheidung zwischen einem formalpragmatischen Teilnehmer-Begriff und einem sozialwissenschaftlichen Beobachter-Begriff erscheint dazu ausreichend. McCarthy 1989, S. 535 Diese Verklammerung ist sowohl von soziologischer wie von philosophischer Seite der Kritik ausgesetzt, die an dieser Stelle nur angerissen werden kann. Joas (1986, S. 166f.) bemängelt, dass Habermas den Status der unterschiedlichen Verwendungen von Lebenswelt als ordnungstheoretischer Typus und als erkenntnistheoretische Position nicht hinreichend voneinander unterscheidet. Schnädelbach (1986, S. 28) kritisiert in ähnlicher Stoßrichtung die seiner Ansicht nach mangelhafte Verknüpfung der Beobachter- und der Teilnehmer-Perspektive:
220
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
ten fußenden Annahmen der Universalpragmatik gesellschaftstheoretische Relevanz. Den formalpragmatischen Ressourcen der Lebenswelt aus der Teilnehmerperspektive – Hintergrundwissen, Solidaritäten und Fertigkeiten – entsprechen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive die Lebensweltkomponenten Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit. Diese Komponenten werden zu analytischen Zwecken objektiviert und erhalten daher aus der Sicht des sozialwissenschaftlichen Beobachters als ‚symbolische Gegenstände‘ gegenüber dem kommunikativen Akteur, anders als das Hintergrundwissen der formalpragmatischen Lebensweltbestimmung, eine eigenständige Stellung, indem sie als Produkte vorangegangener Handlungsprozesse oder als tradierte Handlungsressourcen eingeführt werden.255 Dass dadurch das streng genommen nur implizite Hintergrundwissen zu einem expliziten und beobachtbaren Tatbestand wird256, ist eine notwendige rekonstruktive ‚Objektivation‘, nicht ein grundlegender Wechsel des Analysegegenstands. In der soziologisch-gesellschaftstheoretischen Perspektive richtet sich das Interesse des Forschers nicht mehr wie in der kommunikationstheoretischen Konzeption auf die Leistungen der Lebenswelt für das kommunikative Handeln, sondern vielmehr auf die Leistungen des kommunikativen Handelns für die symbolische Reproduktion der Lebenswelt. Während der Lebensweltbegriff aus der Teilnehmerperspektive als ein Wissensbegriff behandelt wird, versteht ihn der beobachtende Sozialwissenschaftler als einen – allerdings nur näherungsweise rekonstruierbaren und rekonstruierten – ‚Tatsachenbegriff‘. Das Lebenswelt-Konzept kann vor allem in seinem zweiten Verständnis genutzt werden, um die mikrosoziale Journalismusanalyse systematisch mit den bereits angerissenen gesellschaftsrelevanten Überlegungen zu Verständigung, Sozialisation, Partizipation und sozialer Integration zu verbinden. Vor diesem Hintergrund ist Journalismus ein zentraler Modus, die Ressourcen der Lebenswelt gesellschaftlich verfügbar zu halten, zu entwickeln oder zu verändern. Empirische Beispiele zeigen, „[…] dass die Funktion der Medieninhalte als ‚soziales Gleitmittel‘ zwar eine Relevanz für die Aufnahme und Erhaltung sozialer Interaktionen besitzt. Fundamentaler und gesellschaftlich tief greifender sind jedoch die mit den Massenmedien verbundenen, sozialisierenden bzw. kultivierenden Wirkungen. Medien sind ein wichtiger Maßstab zur sozialen Orientierung der Akteure“.257
Aus dem Bezug kommunikativen Handelns auf das Lebenswelt-Konzept lassen sich journalistische Aufgaben und Funktionen ableiten, die auf diese Wirkungen bezogen sind.258 Dazu ist an den erwarteten oder vermuteten Konsequenzen, Zielen und Leistungen des Journalismus anzusetzen, um zu Rückschlüssen darüber zu gelangen, welche qualitativen Merkmale ein
255 256 257 258
Auf der einen Seite versuche Habermas, Lebenswelt von ihrem „ursprünglichen phänomenologischbewußtseinsphilosophischen Einführungskontext“ abzulösen, um Raum für eine gesellschaftstheoretische Verwendungsweise zu gewinnen, andererseits aber wolle er die Teilnehmerperspektive beibehalten, aus der heraus Gesellschaft als Lebenswelt einer sozialen Gruppe gesehen wird. Das Lebensweltkonzept weist darin auch Überschneidungen zu einem sozialen Konstruktivismus auf, wie ihn Berger und Luckmann (1980) vertreten. Diesen Umstand hebt Dietz (1993) kritisch hervor. Vlasic 2004, S. 225 Begreift man journalistische Kommunikation als kommunikatives Handeln, dann wird aus dieser Perspektive das Publikum zu eben dem Gesprächspartner, der letztlich über die Bedeutung des kommunikativen Angebots entscheidet. Nicht mehr eine passive Informationsübertragung, sondern ein aktiver Vermittlungsprozess rückt ins Zentrum der Betrachtung. Die Perspektive ähnelt der, die auch von kulturwissenschaftlichen Annäherungen favorisiert wird (vgl. Pätzold 2002, S. 38). Weder die Unverbindlichkeit des radikalen Konstruktivismus noch der rigide Essentialismus klassischer normativer Setzungen á là Dovifat sind ausschlaggebend, sondern die kommunikative Beziehung, die durch journalistisches Handeln hergestellt wird und in deren Verlauf über die Bedeutung der Situation und des Kommunikationsvorgangs ein gemeinsames Verständnis erlangt werden kann.
3 Implikationen einer lebensweltlichen Verankerung
221
Journalismus besitzen muss, der diesen Erwartungen gerecht wird. Es geht nicht um eine erschöpfende Formulierung eines Kriterienkatalogs journalistischer Funktionen259, sondern um vorläufige und heuristische Überlegungen zu den Konsequenzen, die eine Umstellung journalismustheoretischer Erörterungen auf ein kommunikatives Modell nach sich ziehen könnten.260 Neben den bereits skizzierten Grundbegriffen Interaktion, Orientierung, Verständigung und Teilhabe handelt es sich bei den makrosozialen Leistungen des Journalismus primär um die Gewährleistung der gesellschaftsweiten Zugänglichkeit und Reproduktion symbolischer Ressourcen der Lebenswelt. Durch dieses Verfügbarmachen eines gemeinsamen kommunikativen Hintergrundes für das gesellschaftliche Zeitgespräch trägt journalistisches Handeln in modernen differenzierten Gesellschaften auch zur kulturellen Formierung, zur sozialen Integration sowie zur individuellen Sozialisation bei.261 Diese Leistungen können im Abgleich mit der Verschränkung von kommunikativem Handeln und Lebenswelt sozialwissenschaftlich beschrieben werden.
3.1
Teilnehmerperspektive: Formalpragmatisches Verständnis von Lebenswelt
In Auseinandersetzung mit phänomenologischen Konzeptionen kann Lebenswelt kommunikationstheoretisch als die Sphäre der kommunikativen Alltagspraxis verstanden werden, die durch eine gemeinsame Sprache zusammengehalten wird. „Die kommunikativ Handelnden bewegen sich stets innerhalb des Horizonts ihrer Lebenswelt; aus ihm können sie nicht heraustreten. […] Die Lebenswelt ist gleichsam der transzendentale Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen, wo sie reziprok den Anspruch erheben können, daß ihre Äußerungen mit der Welt (der objektiven, der sozialen oder der subjektiven Welt) zusammenpassen; und wo sie diese Geltungsansprüche kritisieren und bestätigen, ihren Dissens austragen und Einverständnis erzielen können. Mit einem Satz: zu Sprache und Kultur können die Beteiligten in actu nicht dieselbe Distanz einnehmen wie zur Gesamtheit der Tatsachen, Normen oder Erlebnisse, über die Verständigung möglich ist.“262
Die Lebenswelt bildet in einem solchen Verständnis den Hintergrund, vor dem Kommunikationsteilnehmer in konkreten Interaktionen in Aushandlungsprozesse der Situationsdefinition treten. In einem solchen Verweisungszusammenhang werden die Situationsbestandteile untereinander und die Situation als Ganzes mit der Lebenswelt verknüpft, um den konkret relevanten Ausschnitt durch Kommunikation zu aktualisieren, während die Lebenswelt als Ganzes weiterhin als „Selbstverständlichkeit“263 im Hintergrund das ungewusste Fundament des thematisierten Kontextes bildet. Die Lebenswelt ist daher im eigentlichen Sinne nicht reflexiv, sondern wird unhinterfragt als Rahmen und Basis der Handlungen herangezogen. Lebenswelt fungiert nicht nur als Kontext der Handlungssituation, sondern als Ressource für die Handelnden selbst. Sie ist ein „[…] Reservoir von Selbstverständlichkeiten oder unerschütterten Überzeugungen, welche die Kommunikationsteilnehmer für kooperative Deu259 260
261 262 263
Derartige Versuche reichen von kommunikationspolitischen oder legitimistischen Anforderungsprofilen bis hin zu abstrakten systemtheoretischen Funktionsbestimmungen. Rust (1982, S. 525) weist darauf hin, dass es viele unterschiedliche kulturelle Bezugsrahmen mit unterschiedlichen Rationalitäten gibt, in die ein Individuum eingespannt ist: „Die oft beschworene Rationalität wäre die Fähigkeit, diese widerstreitenden Aspekte in eine sinnhafte Beziehung zueinander zu bringen, die nicht nur die Vordergründigkeit der Alltagsgeschäfte, sondern auch deren Konsequenzen berücksichtigt.“ Vgl. grundsätzlich Vlasic 2004, S. 173: „Die individuell-sozialisierende Funktion der Medien schlägt sich als aggregiertes, kollektives Phänomen allgemein gesprochen in gemeinsamen Orientierungen nieder.“ Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 192 Ebd., S. 189
222
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
tungsprozesse benutzen“.264 Habermas bezieht diesen Lebenswelt-Begriff zunächst auf die beiden Komponenten Sprache und Kultur. Beide versorgen die Sprecher in einer Situation mit geteilten und als garantiert unterstellten Hintergrundüberzeugungen, die nicht thematisiert werden. Die Lebenswelt bildet einen sprachlich organisierten Fundus von Hintergrundannahmen, die auf dem Wege kultureller Überlieferung erhalten bleiben. In der Lebenswelt und vor dem Hintergrund ihrer Ressourcen findet alles soziale Handeln – auch das journalistische Handeln – statt; die Handelnden benutzen das präreflexive Wissen der Hintergrundannahmen nicht nur, sie revidieren und erneuern es auch durch Nutzung. Journalistisches Handeln trägt dazu bei, kulturelle Wissens- und Interpretationsressourcen zu überliefern und zu entwickeln. Im formalpragmatischen Sinne strukturiert Journalismus dadurch den lebensweltlichen Hintergrund zwischenmenschlicher Kommunikation und hält ihn verfügbar. Medienvermittelte Kommunikation und damit auch die Produkte journalistischen Handelns besitzen eine zentrale Bedeutung für die kommunikativen Möglichkeiten handelnder Subjekte in modernen Gesellschaften. Medien und Journalismus stellen maßgeblich den Deutungs- und Bedeutungsvorrat bereit, aus dem wir in kommunikativer Interaktion schöpfen; sie produzieren und reproduzieren kulturelle Verweissysteme.265 Habermas erweitert das der Phänomenologie entnommene Verständnis von Lebenswelt als kulturellem Hintergrundaspekt allerdings um – jeweils intuitive – individuelle Fertigkeiten (Wie werde ich mit einer Situation fertig?) und soziale Praktiken (Worauf kann ich mich in einer Situation verlassen?).266 Diese sind, ebenso wie das kulturelle Hintergrundwissen, durch einen paradoxen Status gekennzeichnet, da sie den Teilnehmern sowohl als Bestandteile der Handlungssituation wie auch als lebensweltlicher Hintergrund begegnen: Sie können einerseits als Persönlichkeitsstrukturen und gesellschaftliche Institutionen den Initiativspielraum des Handelnden begrenzen; sie können andererseits als persönliche Kompetenzen und eingelebte Solidaritäten Ressourcen für das kommunikative Handeln bereitstellen.267 Diese Ressourcen entfalten ihre Kraft für Verständigungsprozesse genauso wie die kulturellen Hintergrundüberzeugungen aus ihrem präreflexiven Status als unbewusste Erfahrungs- und Erwartungssicherheiten. Dass der grundlegende Modus der Lebenswelt aus der Teilnehmerperspektive einer der Selbstverständlichkeit ist, ergibt sich aus ihrer Komplementarität zum kommunikativen Handeln: Das Aushandeln übereinstimmender Situationsdefinitionen und die Klärung der gemeinsamen Handlungsabsichten bedarf jeweils eines festen Vorrats an nicht notwendigerweise zu hinterfragenden gemeinsamen Grundüberzeugungen, die ein Fundament für erfolgreiche Verständigungsprozesse bilden können. Erst durch diese Erwartungssicherheiten können Menschen im Gespräch miteinander kommunizieren. Ein guter Teil der unhinterfragt oder sogar ungewusst einem Kommunikationsvorgang hinterlegten lebensweltlichen Ressourcen hat medial vermittelt oder gar medial produziert Eingang in den lebensweltlichen Hintergrund gefunden. Journalistisches Handeln ermöglicht bisweilen überhaupt erst die interpersonale Anschlusskommunikation, ohne dass dieser Zusammenhang den Handelnden oder Kommunizierenden einsichtig sein muss, da Lebenswelt zur Gänze stets unverfügbar im Hintergrund des 264 265 266 267
Ebd., S. 189 Luhmann (1996, S. 9) hat das überspitzt in der Aussage: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ Angesichts der vielfältigen sozialen Eingebundenheit in modernen Gesellschaften kann diese Allaussage kaum allgemeingültig aufrechterhalten werden. Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 205. Durch die Berücksichtigung dieser Aspekte bricht Habermas mit einem rein kulturalistischen Verständnis von Lebenswelt bereits auf der Ebene der Teilnehmerperspektive. Vgl. Habermas 1995d [1984], S. 592f.
3 Implikationen einer lebensweltlichen Verankerung
223
Kommunikationsvorgangs verbleibt. Allenfalls Einzelheiten können hervorgehoben und diskutiert werden, für den Fall dass ihre Geltung in Frage gestellt wird. Die Gemeinsamkeit der Lebenswelt muss daher in einem radikalen Sinne verstanden werden, der nahe legt, dass sie als Ganzes nicht wie ein intersubjektiv geteiltes Wissen kontrovers werden, sondern höchstens zerfallen kann, da sie jedem möglichen Dissens voraus liegt.268 Die kommunikative Alltagspraxis ist nur möglich, wenn ausgeschlossen ist, dass alles ganz anders sein könnte. Nur die jeweils in einem situativen Kommunikationszusammenhang aktualisierten Geltungsansprüche in ihren Bezügen auf die ‚objektive‘, die ‚soziale‘ und die ‚subjektive Welt‘ eignen sich als Gegenstand kommunikativer Kontroversen. Werden in einer konkreten Situation Aspekte der Lebenswelt thematisiert und problematisiert, so wandelt sich deren Charakter: Aus der bis dahin ungewusst unterstellten Selbstverständlichkeit wird ein aktuelles kulturelles Wissen, das nun ebenso anzweifelbar ist wie alle anderen herangezogenen Geltungsansprüche. Die Vorinterpretation wird in Frage gestellt und bedarf nun in einem diskursiven Prozess entweder der Versicherung oder der Revision. Kommunikative Akteure schaffen und erhalten in diesen Prozessen selbst das Fundament, das sie benötigen um ausreichend Sicherheit und Gewissheit für ihr Handeln zu haben.269 Die Lebenswelt der Moderne zeichnet sich dadurch aus, dass die Prüfung kritisch gewordener Lebenswelt-Aspekte potenziell in jedem Bereich möglich geworden ist, nachdem vormals wirksame mythische oder traditionalistische Weltbilder ihre integrierende Kraft verloren haben und eine rationalisierte Lebenswelt sich auf den sozialen Integrationsmodus des kommunikativen Handelns umgestellt hat.270 Für diese Rationalisierung sind vor allem Veränderungen im gesellschaftlichen Normverständnis ausschlaggebend, die sich in einem abnehmenden Grad der Repressivität, in einem abnehmenden Grad der Rigidität und in einer Annäherung an einen Typ der Verhaltenskontrolle, welcher Rollendistanz und flexible Anwendung internalisierter aber reflexiver Normen möglich macht, ausdrücken.271 Journalistisches Handeln kann – wenn es sich seine Verständigungsorientierung bewahrt – dazu beitragen, dass derartige Rationalitätssteigerungen der Lebenswelt erreicht werden, indem vormals tradierte Normzusammenhänge dem Bereich des Unproblematisierten entnommen, diskutiert und nach einer Übereinkunft im Diskurs wieder der Lebenswelt überführt werden. In der Analyse dieser Leistungen ist Peters zu folgen, der ausführt, dass es vor allem die „eher graduellen und diffusen Wandlungen des kulturellen Repertoires, Veränderungen des öffentlichen Argumentationshaushalts, Verschiebungen des Spektrums von Kontroversen auf der Basis der Sedimentierung eines Bestands weitgehend akzeptierter Überzeugungen, Entwicklungen der Deutung zentraler Prinzipien oder Werte ebenso wie Änderungen spezifischer kollektiver Selbstdeutungen“ sind, die als potenzielle Wirkungen öffentlicher Diskurse angesehen werden können.272 Insofern trägt auch journalistisches Handeln in einem ganz breit verstandenen Sinne dazu bei, dass Lebenswelt sich rationalisiert und – in jeweiligen Ausschnitten – gesellschaftlich thematisierbar wird. Öffentliche Meinungsbildung wird vor dem Hintergrund lebensweltlicher Kommunikation idealtypisch an die Idee zurückgebunden, dass akzeptierte Begründung Grundlage von Legitimation und Integration ist. Öffentliche Diskussionen führen zu einer „Rationalisierung des öffentlichen Argumentationshaushalts“ und zu einer 268 269 270 271 272
Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 200 Vgl. dazu Gripp 1984, S. 94 Habermas (1988a) nennt daraus erwachsende intellektuelle Notwendigkeiten „nachmetaphysisches Denken“. Vgl. Habermas 1969, S. 98f. Peters 2001, S. 668. Weitaus pessimistischer ist Hug (1997, S. 280), der darauf verweist, dass Diskurs im Falle unvereinbarer Positionen sogar zu einer Verschärfung der Auseinandersetzung führen kann.
224
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
„Selbstaufklärung der Beteiligten“, beides hat indirekt auch eine „Rationalisierung aktueller politischer Entscheidungen“ zur Folge.273 Die Bedingungen für rationales Handeln in der Lebenswelt jedenfalls werden durch eine fortschreitende Umstellung lebensweltlicher Ressourcen auf kommunikative Übereinkunft zunächst verbessert.
3.2
Beobachterperspektive: Sozialwissenschaftliches Verständnis von Lebenswelt
Auf gesellschaftlicher Ebene können Massenmedien und Journalismus als zentrale Leistungsträger für das kulturelle Verweissystem verstanden werden. Populärkultur in modernen Gesellschaften zum Beispiel ist weitgehend mediale Populärkultur; und Medien gewinnen „zusehends eine die Welt erschließende Funktion“.274 Sozialwissenschaftlich betrachtet strukturiert Journalismus den kulturellen Wissensvorrat einer Gesellschaft mit. Die Gewissheiten, die wir formalpragmatisch ungewusst und unbewusst unseren kommunikativen Handlungen unterlegen, sind somit zu einem nicht geringen Teil als medial und journalistisch gewährleistet zu verstehen. Journalistisches Handeln ist auf Gesellschaft bezogen, kompensiert durch seine Vermittlungsleistungen in einer öffentlichen Sphäre partiell Folgen sozialer Differenzierung und trägt damit neben der kulturellen Reproduktion auch zur sozialen Integration und zur individuellen Sozialisation bei. Um diese Leistungen des Journalismus angemessen beschreiben zu können, ist ein nicht nur formalpragmatisches, sondern auch gesellschaftsbezogenes Verständnis der Lebenswelt zu formulieren. Innerhalb eines solchen Rahmens wird beschreibbar, inwiefern Lebenswelt gleichermaßen die Grundlage für das journalistische Handeln und für die Idee der politisch wirksamen verständigungsorientierten und partizipativen Öffentlichkeit bildet.275 Ein sozialwissenschaftlich gefasstes Verständnis von Lebenswelt erfordert einen analytischen Perspektivwechsel, der die Ermöglichungsbedingungen der Ressourcen der Lebenswelt für den Teilnehmer aus der Beobachterperspektive ebenso beschreibbar macht wie die Reproduktionswirkungen seiner Handlungen für den Bestand der Lebenswelt.276 Aus dieser soziologischen Perspektive kann der Prozess der Differenzierung und Rationalisierung von Lebenswelt in den Kategorien Kultur, Persönlichkeit und Gesellschaft gefasst werden. Dazu allerdings müssen Lebenswelt und ihre Bestandteile analytisch ‚objektiviert‘ werden, d.h. ein wissenschaftlich beobachtbares und analysierbares ‚Objekt‘ muss definiert werden, um dessen Wechselbeziehungen zum kommunikativen Handeln aufgeklärter Akteure als Reproduktionsbedingungen beschreiben zu können. Dieser Perspektivenwechsel ist explizit als ein methodisch-analytischer zu verstehen, da der thematisierte Teil der Lebenswelt nicht mehr deren Bestandteil ist, sondern sich der Raum der Lebenswelt immer aus dem unbewussten Hintergrundwissen der Teilnehmer konstituiert.277 Es ist nicht vorstellbar, dass der Sozialwissenschaftler sich über diese Beschränkung hinwegsetzen und in einem vergegenständlichenden Verständnis die Lebenswelt als Ganzes beschreiben kann.278 Lebenswelt als Bereich symbolisch reproduzierter Gegenstände kann aufgrund dieser erkenntnistheoretischen Grenzen nur in rekonstruktiver Näherung, nicht aber erschöpfender Beschreibung gefasst werden. Die als akteursabhängige 273 274 275 276 277 278
Peters 2001, S. 657 Göttlich/Winter 2000, S. 9 Vgl. Rust 1982, S. 510 Vgl. Habermas 1995d [1984], S. 593f.; Habermas 1986a, S. 370 Vgl. Habermas 1985a, S. 186 Vgl. Dietz 1993, S. 113
3 Implikationen einer lebensweltlichen Verankerung
225
Ressourcen eingeführten Lebenswelt-Komponenten lassen sich aus der gesellschaftstheoretischen Perspektive wie folgt definieren:279 • Kultur als verständigungssichernde und an ihren Geltungsansprüchen messbare Wissensund Interpretationsressource, kulturelle Überlieferung als Weitergabe dieser Ressource; • Gesellschaft als legitime Ordnung der Lebensweltangehörigen, soziale Integration als interpersonale Koordinierung von Handlungen und Stabilisierung der sozialen Identität der Lebensweltangehörigen; • Person als subjektive Kompetenz zu verständigungsorientiertem Handeln, Sozialisation als Erwerb dieser Kompetenz. Wie bereits erörtert, sind Persönlichkeit und Gesellschaft ebenso wie die Kultur nicht nur als begrenzende Faktoren der Kommunikationssituation zu verstehen, sondern in gleichem Maße auch als Ressourcen, auf die die Handelnden zurückgreifen können. Durch diese Erweiterung der Perspektive wird kommunikatives Handeln nicht nur als eine Überprüfung kulturellen Wissens verstanden, sondern darüber hinaus in den Stand des zentralen Modus der Sozialisation und der kommunikativen Vergesellschaftung gehoben.280 In der Lebenswelt vergewissern sich die Handelnden nicht nur ihrer kulturellen Wertegrundlagen, sondern sie bilden durch kommunikative Interaktionen auch individuelle Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten aus. Lebensweltliches Handeln stützt sich in diesem Sinne auf seine Ressourcen und erneuert, bestätigt oder verändert diese performativ. Die symbolischen Reproduktionsprozesse von Gesellschaft, die im der Lebenswelt verhafteten kommunikativen Handeln angelegt sind, umfassen daher gleichermaßen die kulturelle Reproduktion, die soziale Integration und die individuelle Sozialisation. In dem Maße, in dem Journalismus gesellschaftlicher Kommunikation nicht nur einen Rahmen, sondern auch einen Hintergrund gibt, schafft er die sozialen Voraussetzungen dafür mit, dass diese Kommunikation überhaupt statt finden kann. Journalismus strukturiert somit nicht nur das Feld der in Kommunikation behandelten Themen, er stellt auch als Vermittler des gesellschaftlichen Zeitgesprächs zwischen Ausgangs- und Zielpartnern die Verbindung zwischen den kommunikativ Handelnden her und bewahrt einen – wenn auch abstrakten – ‚Sinn für das Ganze‘.281 Die Nutzung von Medienangeboten kann zu „einer übereinstimmenden Definition von typisierten Situationen durch die Akteure einer Gesellschaft“ führen, konstatiert Vlasic.282 Da durch Rezeption medialer und journalistischer Angebote Grundlagen für den Erwerb relevanter Ressourcen (ökonomisch, human, kulturell, institutionell, politisch und sozial) 279 280 281
282
Vgl. zum Folgenden Holzer 1994, S. 98. Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 211 Die klassische Vorstellung einer gesellschaftlichen Integrationsfunktion des Journalismus und der Medien betont, dass Gesellschaft durch deren Vermittlungsleistungen für den einzelnen Bürger als Ganzes sichtbar wird und sich daraus Zugehörigkeitsgefühle und Identifikation erwüchsen, die den Bestand der Gesellschaft sicherten (vgl. Maletzke 1980b, S. 200f.). Vor dem Hintergrund einer funktionalistischen Sichtweise werden „Stufen der Integration durch Massenkommunikation“ identifiziert: Massenmedien tragen demnach zur Integration bei, indem sie die bestehende sittliche Ordnung vermitteln, zu ‚Massenloyalität‘ gegenüber rechtlichen, politischen und soziale Normen auffordern und zum Handeln gemäß eines gemeinschaftlichen allgemeinen Interesses auffordern, konstatiert Ronneberger (1985, S. 16), in seinem auch ideologisch, problematischen Integrationskonzept (vgl. Heinelt 2002, S. 111). Die Erwartung einer darüber hinaus reichenden Integration sozial differenzierter Gesellschaften durch Medien und Journalismus bedeutet hingegen eine schlichte Überforderung ihrer Kapazitäten. Dass eine faktische und ‚vollständige‘ Integration von Gesellschaft durch massenmediale oder journalistische Kommunikation kaum leistbar ist, dürfte außer Zweifel stehen; holistische Gesellschaftsvorstellungen haben weitgehend ihre Berechtigung verloren. Das gilt im Übrigen auch für negative Integrationsbegriffe, wie sie in der klassischen Kritischen Theorie z.B. von Adorno (1967) vertreten werden. Vlasic 2004, S. 136
226
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
zumindest potenziell gelegt werden und deren Verteilung relevant für gesellschaftliche Integration ist, kann ein Bezug zwischen medialer, journalistischer Kommunikation und sozialer Integration auch empirisch vermutet werden.283 Allerdings sind diese gegenüber den „materiellstrukturellen Bedingungen“ gesellschaftlicher Situationen, die über die Ressourcenverteilung zentral entscheiden, für die gesellschaftliche Integration eher sekundär.284 „Der wesentliche Einfluss der Massenmedien [und des Journalismus, -cb-] liegt darin, dass sie die Wahrnehmung und Beurteilung verschiedener Handlungsoptionen beeinflussen können.“285
Aus der Ausrichtung des Journalismus auf Öffentlichkeit heraus können orientierende, und damit mittelbar sozial integrierende Wirkungen journalistischen Handelns beschrieben werden286: Die Komplementarität von Journalismus und Öffentlichkeit ist als ein Spezifikum der Komplementarität von kommunikativem Handeln und Lebenswelt anzusehen. Der Gedanke einer kommunikativen Rationalisierung von Lebenswelt weist Öffentlichkeit als einem Raum sozialer Kommunikation einen zentralen Rang zu. Die hier statt findenden Kommunikationsprozesse zur Weitergabe und Erneuerung kulturellen Wissens tragen nicht nur zur sozialen Integration, sondern auch zur Sozialisation und damit zur Ausbildung personaler Identitäten bei. „Indem sich die Interaktionsteilnehmer miteinander über ihre Situation verständigen, stehen sie in einer kulturellen Überlieferung, die sie gleichzeitig benützen und erneuern; indem die Interaktionsteilnehmer ihre Handlungen über die intersubjektive Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche koordinieren, stützen sie sich auf Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen und bekräftigen gleichzeitig deren Integration; indem die Heranwachsenden an Interaktionen mit kompetent handelnden Bezugspersonen teilnehmen, internalisieren sie die Wertorientierungen ihrer sozialen Gruppe und erwerben generalisierte Handlungsfähigkeiten.“287
Rational motivierte sprachliche Verständigung bildet den zentralen Modus, über den sich eine Lebenswelt verändert oder erhält, deren Strukturmomente Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit sich zunehmend voneinander entfernen. Traditionelle Bindungen lösen sich zugunsten funktionaler Differenzierungen auf, verschwinden aber nicht zur Gänze.288 Das Konzept lebensweltlicher Rationalisierung vernachlässigt daher nicht die Kraft irrationaler kultureller Traditionen289, sondern verweist vielmehr darauf, dass solche – im kommunikativen Sinne – irrationalen Begründungsmuster nur noch als Sedimente in ungewusster Form tradiert werden können. Nur wenn sie vorreflexiv verbleiben, können sie weiterhin faktische Kraft entfalten. Sobald sie selbst zum Gegenstand des Diskurses werden – und das ist potenziell jederzeit möglich –, bedürfen sie der reflexiven und kommunikativen Überprüfung. Auch die grundlegenden Konstitutionsmechanismen von Institutionen als aus dem Akteurshandeln über lange Zeiträume aufstrukturierten Mechanismen der Handlungsermöglichung
283 284 285 286 287 288 289
Vgl. ebd., S. 109ff. Klaus und Lünenborg (2004) schlagen vor, diesen Zusammenhang zwischen Medienrezeption und vor allem kultureller Teilhabe anhand des Konzepts der ‚cultural citizenship‘ zu konturieren. Vlasic 2004, S. 224 Ebd., S. 225 Die Annahme steht auch hinter Rühls (1985c) – in Abgrenzung von Ronnebergers substantiellem Integrationsbegriff erhobener – Forderung nach einem funktionalen Verständnis ‚kommunikativer Integration‘, zu der Massenkommunikation und Journalismus durch Her- und Bereitstellen öffentlicher Themen Beiträge leisten. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 208 Vgl. ebd., S. 219f. Darauf, dass insbesondere religiöse Bindungen nach wie vor Relevanz besitzen, verweist Habermas in seinen jüngeren Werken; vgl. Habermas 2005; 2001 sowie Habermas/Ratzinger 2005. Diesen Vorwurf erhebt z.B. Alexander 1986.
3 Implikationen einer lebensweltlichen Verankerung
227
und des Zwangs gleichermaßen290 bleiben von der Rationalisierung der Lebenswelt zunächst weitgehend unberührt. Institutionen lagen auch in vormodernen Epochen nicht außerhalb des menschlichen Handelns, sondern konstituierten sich erst aus diesem heraus. Allerdings weist Habermas darauf hin, dass die zur Begründung der Institutionen zur Verfügung stehenden sinnstiftenden Zusammenhänge sich gewandelt haben. Nicht mehr ein gelebter Verweis auf metaphysische oder traditionell überlieferte Erzählungen wird zur normativen Begründung von Institutionen bemüht, sondern formale Verfahren der kommunikativen Verständigung, die jede Normsetzung von Tradition und Metaphysik entschlacken, werden als Referenz herangezogen, wenn es um die Aktualisierung und Reproduktion oder auch um die Veränderung institutioneller Mechanismen durch das Akteurshandeln geht. Entsprechend sieht auch Dubiel das „genuin Habermassche“ am skizzierten Lebensweltkonzept in der Tatsache, dass die gemeinschaftssichernde Hintergrunderfahrung zunehmend weniger in kulturell tradierten Elementen verbürgt werde, sondern die „Qual und zugleich die Chance der soziokulturellen Lebenswelt“ sich darin äußern, dass kulturelle Normen im Prozess wechselseitiger Verständigung von den Kommunikationsteilnehmern in der Lebenswelt immer mehr selbst erzeugt werden müssen.291 Ein kulturkritisch oftmals beklagter Zerfall kann so auch zu einer Chance für ein Mehr an Rationalität in einem bestimmten Teil der Gesellschaft werden. Gesellschaftliche Rationalisierung bedeutet entsprechend, die Bedingungen für die kommunikative Herstellung von Verständigung zu verbessern, indem Faktoren eliminiert werden, die eine vernünftige Lösung von Konflikten verhindern.292 Mit dieser Erkenntnis erweitert Habermas das enge instrumentelle Rationalisierungsverständnis, das der Weberschen und vielen an sie anschließenden Gesellschaftsanalysen zugrunde liegt293, um einen weiteren Aspekt der Rationalisierung. Diese erscheint nun nicht mehr als die einseitige Ausweitung zweckrationaler Geltungsbereiche strategischen und instrumentellen Effizienzhandelns, sondern in einer gesonderten Dimension auch als die verbesserte Ausgestaltung der Möglichkeiten kommunikativer Verständigung. Die dazu notwendigen rationalen Diskurse über allgemeine lebensweltliche Belange finden öffentlich statt. In der Öffentlichkeit vollzieht sich die Sozialintegration, in ihr bilden die Lebensweltangehörigen solidarische Strukturen der Gemeinschaft.294 Idealiter stellt Öffentlichkeit jene gesellschaftliche Sphäre dar, in der sich die Bürger über allgemeine Belange verständigen und durch deren Medien sie Einfluss auf das politische System nehmen können. Den institutionellen Kern der lebensweltlichen Öffentlichkeit in der Lebenswelt bilden „[…] jene durch Kulturbetrieb, Presse und später Massenmedien verstärkten Kommunikationsnetze, die die Teilnahme eines Publikums der kunstgenießenden Privatleute an der Reproduktion der Kultur und die Teilnahme des Staatsbürgerpublikums an der durch öffentliche Meinung vermittelten sozialen Integration ermöglichen“.295
290 291 292 293 294
295
Vgl. zu diesem Institutionenverständnis grundlegend Rehberg 1994; Giddens 1995. Dubiel 2001, S. 108 Vgl. Alexander 1986, S. 81 Vgl. Weber 1980 [1921] Vgl. dazu auch Vlasic 2004, S. 88. Dieser Annahme einer eigenlogischen, lebensweltlichen Integration widersprechen systemtheoretische Öffentlichkeitskonzeptionen (vgl. Kohring 1997, S. 263). Die prozeduralistische ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ geht davon aus, dass Öffentlichkeit die zentrale Instanz des kommunikativen Austauschs und der Vergesellschaftung ist. Vgl. für eine umfassende soziologische Auseinandersetzung mit Konzepten der sozialen Integration Peters 1993. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 471
228
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
Als ‚Umwelt‘ des politischen Systems markiert Öffentlichkeit jenen Bereich der Lebenswelt, in dem die Bürger durch Zustimmung staatliches Handeln legitimieren und durch Kritik Veränderungen erwirken sollen. In seiner entdifferenzierenden Kraft zur Herstellung von Öffentlichkeit kann Journalismus als ein Gegengewicht zur weit verbreiteten funktionalistischen und instrumentellen Rationalität ausdifferenzierter Systeme verstanden werden. Journalismus wirkt insofern integrierend, als er in der Lage ist, zumindest thematisch gebunden und zeitlich episodisch auch zwischen entlegenen gesellschaftlichen Bereichen und Akteuren zu ‚vermitteln‘. Soll diese journalistische Kommunikation als (Selbst-)Verständigungsprozess der Gesellschaft ‚erfolgreich‘ sein, so kann sie ohne einen gemeinsamen lebensweltlichen Hintergrund der Beteiligten, zu dem sie selbst wiederum performativ beiträgt, nicht auskommen. Dieser Umstand kann als eine nicht substantielle Integration beschrieben werden, die durch Kommunikation prozeduralistisch getragen wird: Indem Massenmedien „[…] gemeinsam geteiltes (Hintergrund-) Wissen bereitstellen, an den gemeinsam geteilten Wertekanon anschließen, Themen Relevanz verleihen etc. und damit soziale Beziehungen sichtbar und eben möglich werden lassen […]“, fungieren sie selbst in systemtheoretischer Terminologie als eine Art ‚Gedächtnis der Gesellschaft‘.296 Von dieser Leistung lassen sich Integrationswirkungen erwarten, die nicht mehr auf die ehemals unterstellte gesellschaftliche Einheit hinauslaufen können. Vielmehr wird beschrieben, dass Medien und Journalismus durch die Herstellung von Öffentlichkeit und die darin verfügbaren lebensweltlichen Ressourcen Anschlüsse zwischen unterschiedlichen Systemen herstellen können297 – oder in handlungstheoretischer Wendung: dass journalistisches Handeln, durch die kommunikative Vermittlung innerhalb einer allgemein (öffentlich) zugänglichen Sphäre, handelnden Akteuren Orientierung über ihre Situiertheit innerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs ermöglicht. (Journalistische) Medienkommunikation erzeugt die „Imagination von Einheit“ und sorgt zugleich dafür, dass gesellschaftliche Einheit zumindest in einem schwachen Sinne gewährleistet ist, indem mögliche Bezüge zwischen „sich autonomisierenden Teilbereichen der Gesellschaft“ beschreibbar bleiben.298 Journalismus kann als Teil der intermediären Infrastruktur verstanden werden, die moderne ausdifferenzierte Gesellschaften integriert und – so weit möglich – überschaubar und steuerbar hält. Diese Funktion kann nicht als ein explizites Ziel journalistischen Handelns beschrieben werden, sondern ist zu verstehen als eine latente Folge des Orientierung schaffenden reflexiven Vermittlungshandelns. Journalismus und Medien können Integration dabei sowohl durch Vereinheitlichung als auch durch das Herstellen von Verbindungen zwischen heterogenen gesellschaftlichen Teilen, deren Verschiedenartigkeit nicht infrage gestellt wird, leisten.299 Auch in dieser engen Verknüpfung von journalistischer Handlungsqualität (reflexive Vermittlung) und gesellschaftlicher Leistung (Orientierung / Integration) wird deutlich, dass die formalpragmatische und die gesellschaftstheoretische Perspektive auf Lebenswelt erst zusammengenommen die Möglichkeit eröffnen, den Komplex kommunikativen Handelns in lebensweltlichen Kontexten hinreichend in seinen verzweigten Dimensionen zu beschreiben.
296 297 298 299
Jarren 2000, S. 243 Vgl. Altmeppen/Donges/Engels 1999, S. 32 Jarren 2000, S. 244 Vgl. Pöttker 2002b, S. 23. Durch die im Zuge dieser Leistungen vorgenommene Reduktion der Komplexität sozialer Zusammenhänge wird soziale Identifikation als Bedingung von Integration ermöglicht, aber keineswegs gewährleistet.
3 Implikationen einer lebensweltlichen Verankerung
229
„Somit korrespondieren den unterschiedlichen Bestandteilen der Lebenswelt (Kultur, Gesellschaft, Persönlichkeit) entsprechende Reproduktionsprozesse (kulturelle Reproduktion, soziale Integration, Sozialisation), die an verschiedene Aspekte des kommunikativen Handelns anknüpfen (Verständigung, Koordinierung, Vergesellschaftung), welche selbst wiederum in den strukturellen Bestandteilen der Sprechakte (propositionale, illokutionäre, expressive) verwurzelt sind. Diese strukturellen Entsprechungen erlauben dem kommunikativen Handeln, seine verschiedenen Funktionen auszuüben und als passendes Medium für die symbolische Reproduktion der Lebenswelt zu dienen.“300
Das soziokulturelle Verständnis der Lebenswelt ist daher als ein aus dem formalpragmatischen Konzept des Kommunikationshintergrundes abgeleitetes zu verstehen. Die rekonstruktive und objektivierende Beobachterperspektive eines soziologischen Lebensweltverständnisses nimmt die Gesamtheit der unterschiedlichen Handlungs-, Handlungskoordinations- und Integrationsmechanismen innerhalb eines erweiterten Lebensweltverständnisses in den Blick. Ihre Erklärungskraft ist daher nicht im Bezug auf kommunikative Akte erschöpft, sondern der soziologische Lebensweltbegriff bildet eine gleichermaßen zur deskriptiven Gesellschaftsanalyse wie zur kritisch normativen Bewertung einzusetzende Folie. Die theoretische Prämisse eines immanenten Zusammenhangs zwischen kommunikativen Handlungen und der Reproduktion einer gemeinsamen Lebenswelt der Kommunizierenden verweist zudem auf den Zusammenhang zwischen der Differenzierung von Gesellschaft und der Genese journalistischer Vermittlungsangebote. Letztere ermöglichen jene räumlich, zeitlich und thematisch komplexer strukturierte Kommunikation des gesellschaftlichen Zeitgesprächs, die moderne Gesellschaften zur Lebenswelt-Reproduktion benötigen. Massenmedien können daher funktionalistisch als Institutionen sozialer „Adaption, Integration und Sozialisation“301 betrachtet und journalistisches Handeln in dieser massenmedialen Infrastruktur als ein wesentlicher Träger dieser Funktionen verstanden werden. Journalismus als kommunikativer Handlungsmodus ist auf die Reproduktion und diskursive Verflüssigung der symbolischen Grundlagen von Akkulturation, Vergesellschaftung und Sozialisation gerichtet. Diese Leistungen sind weniger als intendierte Folge einzelner journalistischer Handlungen zu betrachten, sondern lassen sich als Leistungen des Journalismus für Gesellschaft aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher ‚Objektivation‘ beschreiben.302 Journalismus erscheint vor dem Hintergrund des Lebenswelt-Konzeptes als Teil der gesellschaftlichen Erzählung: „Habermas [beschreibt] das Erzählen von Geschichten, die Produktion von Narrativität als eine Urform der Verständigung. Wir bestimmen unsere Position in der Welt, indem wir Erzählungen über diese Welt herstellen. Diese Erzählungen wiederum bilden das Material zur Vergewisserung unserer Selbst innerhalb der Funktionen und Strukturen der uns umgebenden Umwelt.“303
Wird journalistisches Handeln als kommunikatives Handeln verstanden, dann werden auch seine Beiträge zur diskursiven Reproduktion und Rationalisierung der Lebenswelt in ihren Dimensionen Kultur, Sozialisation und Person beschreibbar. Genau deshalb ist das Lebens300 301
302 303
McCarthy 1989, S. 533 Wilke 1984a, S. 230. Dieser Integrationsvorgang kann aus der Sicht eines Lebensweltkonzepts kritisch gegen die Massenmedien gewendet werden, wenn er nicht diskursiv, sondern durch symbolische Übernahmen der Systemerhaltung dient: „Die massenpublizistischen Medien lagern ihre Informationsstrategien um zentrale Symbole der Alltäglichkeit an, so daß in einem vielfältigen Spiel mit den Ausdeutungen der Kerngehalte sich die Ordnung der Dinge immer wieder bestätigt, zum Beispiel das Bild der Natürlichkeit sozialer und kultureller, politischer und intellektueller Hierarchien.“ (Rust 1982, S. 514) Noch kann dabei nicht zwischen Leistungen des Journalismus und der Massenmedien differenziert werden: Die Begriffe werden im nachfolgenden Zusammenhang vorläufig als Aspekte öffentlicher Kommunikation parallel (nicht synonym) verwendet. Lünenborg 2005a, S. 147
230
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
weltkonzept für der Entwicklung eines diskursiven Journalismusbegriffs von eminenter Bedeutung – zum einen in seiner formalpragmatischen Fassung als Handlungshintergrund des Journalisten, zum anderen in seiner sozialwissenschaftlichen Fassung zur Analyse und vor allem Begründung der Aufgaben, die Gesellschaft vom Journalismus erwarten kann. Schließlich fungiert der Journalist als Anwalt des gesellschaftlichen Diskurses immer auch als ein Anwalt der Lebenswelt.
3.3
Exkurs: Die konzeptionelle Herausforderung durch die Cultural Studies
Die Implikationen der Verschränktheit von kommunikativem Handeln und Lebenswelt haben – aus dieser Perspektive – in der Kommunikationswissenschaft bislang kaum systematisch Eingang gefunden.304 Allerdings lassen sie sich mit Überlegungen der Cultural Studies305 rückkoppeln, die sich auf die (Re-)Produktion kultureller Ressourcen beziehen und dabei nicht nur den Umgang der Rezipienten mit den medial zur Verfügung gestellten Ressourcen anders fassen, sondern zugleich den Blick freimachen für die makrosoziale Frage der Reproduktion lebensweltlicher Ressourcen durch Medien und Journalismus. „Unter der Perspektive der Cultural Studies ist Journalismus ein wesentlicher Bereich gesellschaftlicher Bedeutungsproduktion und -zirkulation. Er trägt zur Selbstverständigung der Gesellschaft bei, indem er das aktuelle Zeitgespräch initiiert und organisiert. Journalismus ist somit eine zentrale Instanz des kulturellen Diskurses mittels nonfiktionaler Medienangebote.“306
An diesem ersten Näherungsversuch fällt schon terminologisch die Nähe zu den bislang diskutierten Überlegungen auf. Auch hier ist von einem ‚aktuellen Zeitgespräch‘ die Rede, in dessen Verlauf kulturelle Ressourcen einer Gesellschaft produziert oder reproduziert werden können. Als Institution dieses Zeitgesprächs gerät Journalismus weniger in einer zweckrational dienstleisterischen Funktion in den Blick, als vielmehr in seiner kommunikativen Bedeutsamkeit für lebensweltliche Ressourcen. Journalismus hat als zentrale Funktion nicht der Wissensvermittlung zu dienen, sondern der „narrativen Herstellung eines gemeinsamen kulturellen Verständnisses“307 in entsprechender kommunikativer Interaktion. Dieser ‚cultural approach‘ vertritt in kommunikationstheoretischer Hinsicht einen ‚ritual view‘, „[…] der Kommunikation mit Ausdrücken wie ‚teilnehmen‘, ‚Gemeinsamkeit‘, ‚Bezug auf einen gemeinsamen Glauben‘ in Zusammenhang bringe und so auf die gemeinsamen Wurzeln des Konzepts Kommunikation mit ‚commonness‘ und ‚community‘ Bezug nehme. Dies ist nicht so zu verstehen, daß es um das (Mit-) Teilen von Informationen geht, über die dann Kommunikator und Rezipient verfügen, sondern daß Teilhabe an Kommunikation primär als Herstellung einer Verständigungsgemeinschaft gesehen wird und sich die Teilnehmer gegenseitig darin bestätigen, daß sie fundamentale und kulturell basierte Übereinstimmungen teilen.“308
304 305 306 307 308
Sie sind selbstverständlich auf anderer theoretischer Grundlage fester Bestandteil kommunikationswissenschaftlicher Diskurse. Aber erst die Perspektive der Verknüpfung kommunikativen Handelns mit lebensweltlichen Strukturen ermöglicht es, sie auch als Ergebnisse sozialer Kommunikationsprozesse zu begreifen. Bislang steht diese Bezeichnung weniger für einen einheitlichen Forschungszweig als vielmehr für eine Vielzahl unterschiedlicher Theorie- und Forschungsansätze. Klaus/Lünenborg 2000b, S. 414f.; siehe auch: Klaus/Lünenborg 2000a; zur Kritik siehe Scholl 2000. Klaus/Lünenborg 2002, S. 155; vgl. zur Kritik an dieser Kommunikationsmetapher Krippendorf 1994. Krotz 1992, S. 413
3 Implikationen einer lebensweltlichen Verankerung
231
Die Cultural Studies thematisieren in ihren Forschungen primär die Komplexe Kultur, Medien und Macht und ihr Verhältnis untereinander309 und zielen damit auch auf „wesentliche Kontexte des Journalismus“310. Medienanalysen betreiben sie „im Rahmen umfassender interpretativer Kulturstudien“, da ohne Berücksichtigung des Bedeutung generierenden kulturellen Gesamtrahmens Aussagen über die Rolle der Medien, die vielfach in diesen Zusammenhang eingebunden sind, kaum zu treffen sind.311 Im Ergebnis streben Cultural Studies „ein kritischkonstruktivistisches, nicht rein erkenntnistheoretisch begründetes Paradigma einer Kultursoziologie und Kommunikationswissenschaft“ an.312 Angesichts der Enttraditionalisierung moderner Gesellschaften und des Verlustes eingelebter Gewissheiten und Identitätsangebote begreifen die Cultural Studies kulturelle Zusammenhänge nicht als fixen Bedeutungsrahmen, sondern als heterogenes Reservoir symbolischer Ressourcen, dem ein „nie zu beendender Konflikt über Sinn und Wert von kulturellen Traditionen, Praktiken und Erfahrungen“ zugrunde liegt.313 Damit werden Prozesse angesprochen, die auch unter der Perspektive einer Rationalisierung von Lebenswelt thematisiert werden können: Alte, traditionell begründete Bedeutungs- und Begründungsmuster werden brüchig, neue müssen entwickelt und – so wäre hinzuzufügen: argumentativ – durchgesetzt werden. Der Prozess dieser Rationalisierung verläuft auf dem Weg diskursiver Situationsdefinitionen in kommunikativer Interaktion, durch die Teilnehmer und Beobachter Aufschlüsse über ihre soziale Situiertheit erlangen können. Lünenborg verweist in ihrem kulturtheoretischen Journalismus-Konzept nicht nur auf die Nähe zwischen Cultural Studies und Habermasschem Lebenswelt-Konzept, sondern auch auf das Potenzial des Letzteren, normative Maßstäbe auszuweisen, die einer kulturalistischen Verkürzung der Analyse vorbeugen können.314 Gemeinsam ist den beiden Analyseperspektiven der Cultural Studies und des lebensweltlich-kommunikativen Handelns, dass sie in modernen Gesellschaften die Produktion und Reproduktion des Vorrats an symbolischen Ressourcen, an Deutungsmöglichkeiten und Bedeutungsangeboten in permanenten kommunikativen Aushandlungsprozessen verorten. Ebenfalls gemeinsam ist ihnen, dass sie versuchen, diese Prozesse nicht nur zu analysieren, sondern bezogen auf sie ein kritisch-theoretisches Potenzial zu entfalten.315 „Ausgehend von Überlegungen aus dem Marxismus, der Kritischen Theorie, der Semiotik, der Linguistik und den Handlungstheorien geht es ihnen um die kontextuelle Erforschung – und Veränderung (!) – des Verhältnisses von Kultur, Medien und Macht.“316
Die Cultural Studies unterscheiden sich aber von dem Konzept einer kommunikativ integrierten Lebenswelt in erheblichem Maße dadurch, dass sie alltagssprachliche Kommunikationspro309 310 311 312 313 314
315 316
Vgl. Winter 1997, S. 47 Pätzold 2002, S. 36 Winter 1997, S. 58 Krotz 1997, S. 118 Winter 1997, S. 47f. Vgl. Lünenborg 2005a, S. 38ff. und S. 146f. Zugleich aber bleibt das Problem bestehen, dass die Cultural Studies-Analysen nicht in der Lage sind, zwischen den unterschiedlichen Beiträgen zum gesellschaftlichen Diskurs und ihrem rationalen Gehalt zu differenzieren. Analytisch dient dies der präziseren Beschreibung kultureller Reproduktionsprozesse und besonders der Aufweichung von Grenzen zwischen unterschiedlichen Reproduktionsmechanismen (vgl. ebd., S. 85ff.), sobald es aber notwendig wird, das Handeln von Akteuren in diesem Diskurs zum Thema zu machen – oder es gar vorzubereiten, wie die Journalistik es in ihrer Ausbildungsleistung tut – vermag die deskriptive kulturtheoretische Analyse nicht mehr zu genügen. Vgl. Winter 1997, S. 59; Krotz 1997, S. 117 Löffelholz 2003a, S. 40
232
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
zesse nur teilweise unter der Prämisse kommunikativer Rationalität und vielmehr unter Maßgabe existierender Macht- und Bedeutungsstrukturen analysieren. Ihre Perspektive ist weniger die der rationalen Integration von Gesellschaft, als vielmehr die des Umgangs mit einem gegebenen, wenngleich veränderbaren Bedeutungszusammenhang. Aber auch hier gilt: Kommunikation und kultureller, lebensweltlicher Hintergrund sind aufeinander bezogen. In Kommunikation wird Kultur geschaffen, ohne Kultur wäre Kommunikation nicht vorstellbar.317 Medien und Journalismus können sich von dieser Verschränkung nicht frei machen, sondern sind an der kommunikativen Produktion und Reproduktion kultureller Ressourcen beteiligt und können so für Orientierung sorgen: „Die Medien schaffen symbolische Karten der Welt, sie versuchen, den Bereich des ‚Wahren‘ zu definieren und üben Macht über diejenigen aus, die diese Bedeutungsrahmen anwenden, um mit ihrem alltäglichen Leben zurechtzukommen.“318
Aus der Perspektive der Cultural Studies wird betont, dass sich der lebensweltliche Deutungshorizont aus einer Vielzahl von Quellen speist, unter denen der mediale nur einer (wenn auch ein prominenter) ist, innerhalb dessen wiederum Journalismus neben anderen Medienangeboten (fiktionale Filme, Shows etc.) nur einen Bestandteil darstellt. Neben nichtjournalistischen Medienangeboten gehören journalistische Kommunikate aber in jedem Fall zu den Bedeutungsangeboten, die angesichts der Inanspruchnahme massenmedialer Verbreitungsmöglichkeiten die Chance auf eine höhere Reichweite haben. In der Terminologie der Cultural Studies kann man Journalismus daher als „bedeutungsproduzierendes Textsystem“319 oder gar als „das wichtigste textuelle System der Gesellschaft“320 verstehen. Die Überlegungen der Cultural Studies-Forschung werden in der Kommunikationswissenschaft besonders in der Wirkungsforschung und in der Medientheorie als anschlussfähig erachtet, da sie nicht nur auf die Eigenleistungen der Medien als ein „kulturelles Forum“321 für die Produktion und Reproduktion eben dieses Deutungs- und Bedeutungsvorrats einer Gesellschaft fokussieren, sondern auch auf ihre eigensinnige Inanspruchnahme durch Rezipienten.322 Das Verhältnis zwischen medialer ‚Kultur‘ und Rezipienten ist somit ein Kernthema des Cultural Studies-Forschungsansatzes, während die Produzenten der Medieninhalte bislang eher am Rand des Analyse-Ausschnitts stehen.323 Weniger die Encodierung von Bedeutung in Medienbotschaften (also die Kommunikatorforschung) als vielmehr die Prozesse der Decodierung dieser Botschaften stehen im Zentrum der Forschung.324 Kommunikation erscheint so tendenziell als „Bezugnahme und Einordnung und damit Rekonstruktion von strukturellen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen durch das gesellschaftlich positionierte Sub317 318
319 320 321 322 323 324
Vgl. Krotz 1997, S. 119 Winter 1997, S. 55. Renger (2000b, S. 480) adaptiert dieses Bild auch für journalistische Kommunikation. Klaus und Lünenborg (2000a, S. 195) fassen die gleiche Beobachtung so: Medien liefern im Zusammenspiel mit Kultur und Macht „Material für die (hegemoniale) Bedeutungsproduktion“ und stellen zugleich „Mittel zur Verhandlung und Neuorganisation gesellschaftlicher Dominanzverhältnisse“ bereit. Renger 2002, S. 224; vgl. grundlegend Renger 2000a; zum Textbegriff der Cultural Studies vgl. Fiske 1987. Renger 2000c, S. 223 Newcomb/Hirsch 1986 Vgl. Löffelholz 2003a, S. 40. Dies zeigt sich im Textbegriff der Cultural Studies, der dem Publikum weitreichende Autonomie bei der rezeptiven Bedeutungskonstruktion zubilligt (vgl. Fiske 1987, S. 14). Vgl. Lünenborg 2005a, S. 55 Vgl. Hall 1980; vgl. zu Rezeptionsprozessen grundlegend und einführend – auch jenseits der Cultural Studies – den transaktionalen Ansatz von Früh (1991), der dynamische Aushandlungsprozesse beschreibt und damit an Gehalt und Komplexität sowohl stimulus-response- als auch nutzenkalkulierende Ansätze deutlich übersteigt.
3 Implikationen einer lebensweltlichen Verankerung
233
jekt“.325 Ein meistens passiv interpretierter Akt wie das Lesen einer Zeitung werde, so Krotz, aus der Sicht von Cultural Studies-Ansätzen „[…] als ritueller und dramatischer Akt begriffen, über den der Leser in Bezug zu den gestaltenden und widerstreitenden Kräften der Gesellschaft trete und sich in verschiedenen gesellschaftlich wichtigen Rollen engagiere. Zeitunglesen sei dementsprechend eine in der und für die Mediengesellschaft typische, kulturell fundierte, die Gesellschaft reproduzierende und an ihr partizipierende Tätigkeit […].“326
Die zentrale Erklärkraft des Cultural Studies-Ansatzes mit Blick auf die Orientierungsleistungen journalistischer Kommunikation erschöpft sich nicht nur in Fragen nach Möglichkeiten der individuellen Rezeption journalistischer Angebote, sondern sie thematisieren zugleich besonders auch aktive und partizipative Aspekte gesellschaftlicher Kommunikation. Sie erlauben zumindest partiell, die journalistische Konstitution des Selbstgesprächs der Gesellschaft begrifflich auf eine Weise zu fassen, die viel grundlegendere Orientierungschancen eröffnet, auch wenn diese dann nicht zwangsläufig eingelöst werden. Journalismus wird in jüngeren Cultural Studies-Ansätzen, die sich von der Rezeptionsforschung partiell gelöst haben, nicht mehr nur als Generator eines bedeutungsgeladenen Textes verstanden, sondern in Anlehnung an die Foucaultsche Terminologie als ein ‚kultureller Diskurs‘, als ein Rahmen zur gesellschaftlichen Aushandlung von Bedeutungen. Journalismus wird aus dieser Perspektive als gesellschaftlicher (Struktur-)Zusammenhang begriffen, der mit kultureller (Re-)Produktion durch Kommunikation eng verbunden ist. Im Zentrum dieser jüngeren Journalismus-Ansätze der Cultural Studies stehen dabei nicht die Handlungen von Rezipienten oder Produzenten, sondern ein makrosozialer gesellschaftlicher Zusammenhang.327 Aus dieser Perspektive geht es bei der Frage der Orientierung durch Journalismus nicht um die Übermittlung einzelner Informationen, die in einen Zusammenhang gebracht werden, sondern in einem umfassenderen Sinne um Beiträge zur Organisation eines permanenten gesellschaftlichen Verständigungsprozesses. Dies involviert das Vermitteln von Informationen, aber auch das Herstellen von Zusammenhangswissen und das Eröffnen kommunikativer Teilhabemöglichkeiten, um durch Partizipation an kommunikativen Austauschprozessen Strukturen verstehen und verändern zu können. Das Publikum erhält in diesem Prozess der gesellschaftlichen Selbstverständigung eine prominente Rolle: Der Rezipient wird nach dem „Konzept der diskursiven Verhandlung“ als eigensinniger kommunikativer Akteur gesehen, der über Bedeutungszuweisungen unabhängig von den Intentionen des Journalisten bzw. Medienproduzenten entscheiden kann.328 Dies hat Auswirkungen auf das Verständnis der Handlungsmöglichkeiten des Journalisten; er wird „vom Macher zum Anbieter“, wie Pätzold ausführt: „Nicht der Journalist entscheidet über die Bedeutung seiner Texte, seines Produkts. Er kann für ein Thema kämpfen, kann durch Recherche und Engagement Intentionen der Aussage festlegen und kann durch die Anlage der Aussage in dem von ihm gewählten oder ihm zugewiesenen Genre den Interpretationsrahmen für die Bedeutungszuweisung des Rezipienten vorgeben. Er verfügt also über Mittel, im intermedialen Wettbewerb Aufmerksamkeit auf sein Thema oder seine Person zu lenken. Doch die Bedeutung, die sein Text, seine Aus325
326 327 328
Krotz 1997, S. 119. Die Orientierungsfunktion von Medien bezieht sich damit auch aus der Sicht der Cultural Studies darauf, aus dem kommunikativen Angebot einen Teil herauszuheben und als symbolische Ressource zugänglich zu machen. Dabei geht es nicht um Übersetzungs- oder Vermittlungsleistungen, sondern um ein weitgehend subjektives Encodieren und Decodieren medialer Botschaften, das von verschiedenen Einflüssen bestimmt und im Anschluss an Modelle der Zeichenübertragung analysiert wird (vgl. Hall 1980). Krotz 1992, S. 413 Vgl. Löffelholz 2003a, S. 40. Beschrieben wird Medienkonsum als Teilhabevoraussetzung an Gesellschaftlichkeit; vgl. dazu auch Klaus/Lünenborg 2004, S. 196ff.. Renger 2000b, S. 480; vgl. Renger 2000c, S. 222
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IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus sage erlangen, wird über das Genre und über das Format als Medientext in letzter Instanz durch den Rezipienten festgelegt. Die Bedeutungskonstruktion ist das Ergebnis der Texteigenschaften des Mediums und deren kontextueller Einbindung durch das Publikum.“329
In diesem Fokus auf das Publikum liegt aber zugleich auch das Problem des Cultural StudiesAnsatzes für die Journalismusforschung: Die Leistungen des Journalismus für die Herstellung derjenigen kommunikativen Angebote, die vom Publikum rezipiert werden, werden oft nur peripher erfasst, da die ungesteuerte Bedeutungszuweisung im Rezeptionsprozess untersucht wird, während der Produktionsprozess und die journalistischen Akteure eine geringere Rolle spielen. Insofern lässt sich auf der Basis der zur Verfügung stehenden Ergebnisse der Cultural Studies-Forschung kaum bestimmen, wie journalistisch zu handeln wäre, um Orientierungsleistungen für Rezipienten zu erbringen. Immerhin konstatieren Klaus und Lünenborg, dass es um die Analyse des Zusammenwirkens von journalistischen Produzenten und Rezipienten gehen müsse und beschreiben qualitative Eigenschaften journalistischen Handelns, die dieses Zusammenwirken erleichtern sollen: „Nur wenn Medientexte ‚erfolgreich‘, also sinnverstehend rezipiert werden, nur dann können gesellschaftliche Übereinkünfte erzielt werden. Nur wenn die aktuelle journalistische Textproduktion an diese sinnhafte Dekodierung verfügbarer Textangebote anschließt, auf widerständige Deutungen Bezug nimmt und diese zum Gegenstand der Auseinandersetzungen macht, kann Journalismus erfolgreich zur gesellschaftlichen Orientierung beitragen.“330
Die Autorinnen weisen hier indirekt auch darauf hin, dass journalistische Kommunikation mit lebensweltlichen Ressourcen eng verschränkt ist und entsprechende Bezüge zu berücksichtigen hat. Doch auch diese Beschreibung, die sich eher auf Fragen journalistischer Selektionsentscheidungen bezieht, kann nicht darüber hinweg sehen lassen, dass die Cultural Studies, wie Krotz zurecht anmerkt, keine Vorstellung davon besitzen, „[…] wie der konkrete Kommunikationsprozeß in konkreten Situationen verläuft“.331 Will man aber die wohl kaum zureichend beantwortbare Frage nach dem ‚Wie‘ der kommunikativen Beziehung zwischen Journalismus und Publikum immerhin nicht ganz suspendieren, sondern zumindest theoretisch weiter vorantreiben, so kommt man nicht umhin, neben den kulturellen Ressourcen selbst auch die handlungstheoretisch zu fassenden Modi ihrer Inanspruchnahme zu thematisieren. Die Produzenten dieser Ressourcen rücken dann in den Blick, gemeinsam mit der Frage, ob es nicht spezifische und beschreibbare Möglichkeiten der Encodierung des Kommunikats gibt, die bestimmte rationale Rezeptions- und Verarbeitungsweisen nahe legen. Dass dies möglich ist, argumentieren zum Beispiel kommunikative oder interaktionistische Handlungsmodelle, die sich mit der Produktion und Reproduktion symbolischer kultureller Ressourcen beschäftigen. Krotz schlägt daher vor, die handlungstheoretische „Leerstelle“ der Cultural Studies durch das komplementäre Konzept des symbolischen Interaktionismus zu schließen.332 „Symbolischer Interaktionismus und Cultural Studies berühren sich – wenn auch nicht explizit – im Begriff der Bedeutung als zentrales Konzept dafür, was für das Individuum handlungsleitend ist. Dabei ist unter ‚Bedeutung‘ nicht ein Zusatz, eine Art von außen hinzugefügtes ‚surplus‘ etwa eines Objektes zu verstehen, sondern eine Wahrnehmungsweise, in der sich dieses Objekt überhaupt erst als eigenständiges Phänomen, als 329 330 331 332
Pätzold 2002, S. 38. Journalistisches Handeln erscheint hier „als regelhaftes Herstellen medialer Texte, in denen aktuelle Informationen periodisch und formatiert mit optimalen Publikumserwartungen vorgegeben werden, die dann im Rezeptionsprozess ihre unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen erhalten.“ (ebd., S. 38) Klaus/Lünenborg 2000a, S. 204f. Krotz 1997, S. 122 Ebd., S. 122; vgl. dazu ausführlich Krotz 2001b.
3 Implikationen einer lebensweltlichen Verankerung
235
‚faktum‘ konstituiert. […] Menschen leben dementsprechend in einer Welt aus gedeuteten Symbolen, die sie als Gesellschaftswesen, aber zugleich auch im Hinblick auf die ihnen eigentümliche Identität in ihren Interaktionen konstruieren, und sie zeichnen sich durch die Fähigkeit zu symbolisch vermittelter Interaktion aus. Weil soziales Geschehen und soziale Strukturen aus dem sozialen Handeln der Menschen und damit aus ihren Interaktionen entstehen, wird damit das Bild einer durch und durch sozialen Welt unterstellt.“333
In der Kombination der kulturtheoretischen (lebensweltlichen) Perspektive der Cultural Studies und der kommunikativ-handlungstheoretischen Perspektive des symbolischen Interaktionismus lassen sich somit die Prozesse vergleichbar beschreiben und verstehen, die in der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ in die Formel der Reproduktion lebensweltlicher Ressourcen durch kommunikatives Handeln gefasst werden. Die Zusammenhänge von Sprechen und Sprache, von Handlung und Struktur, von Individualität und Gesellschaftlichkeit spielen dabei jeweils eine zentrale Rolle.334 Mehr noch als die Hinzunahme des symbolischen Interaktionismus verspricht das Lebensweltkonzept den erfolgreichen Brückenschlag zwischen Handlungstheorie und kritisch-emanzipatorischen Cultural Studies-Ansätzen, indem es grundlegend darauf verweist, dass das Handeln von Akteuren gesellschaftlich gebunden und daher nur in gesellschaftlichem Kontext nachvollziehbar ist.335 Es erlaubt im Rahmen der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ außerdem Aufschlüsse darüber, inwiefern bestimmte Handlungsmuster die Möglichkeiten gesellschaftlicher Orientierung in gemeinschaftlicher Kommunikation fördern. Entlang der Kriterien eines gesellschaftstheoretisch anschlussfähigen kommunikativen Handlungsmodells wird es möglich, unterschiedliche Kommunikationsleistungen zu differenzieren und anhand dieser Differenzierung auch die Validität von Orientierungsleistungen zumindest vorläufig zu bewerten. Das bedeutet nicht, dass nicht auch fiktionale Unterhaltungssendungen Orientierungsleistungen erbringen können – aus einer makrosozialen oder auch rezipientenorientierten Sicht sind diesbezüglich keine Differenzierungen begründbar.336 Dies ändert sich aber, wenn man formalpragmatisch die Sicht medialer oder journalistischer Akteure rekonstruiert: Hier ist ein Unterschied in der Rationalität und Argumentativität erhobener Geltungsansprüche und ihrer kommunikativen Prüfung im Vergleich zu journalistischnonfiktionalen Medienangeboten nicht zu negieren. Letztere sind im Gegensatz zu Unterhaltungsangeboten dem „Zwang des besseren Arguments“337 ausgesetzt. Diese Feststellung steht nicht im Gegensatz zu der kulturwissenschaftlichen Perspektive auf die Produktions- und Kommunikationsprozesse, in denen Bedeutungsmuster und gesellschaftliche Machtvorstellungen in journalistische Texte eingeschrieben werden. Vielmehr kann ein interaktionistisches oder kommunikatives Handlungsmodell erklären helfen, wie journalistisches Handeln eine Kommunikationsbeziehung fundiert, in deren Vollzug Bedeutung und Sinn in transaktionalen Aushandlungsprozessen generiert werden. Ein Aspekt dabei sind auch die Widersprüche, die sich zwischen encodierten und decodierten Botschaften ergeben338 und Folgekommunikation nach sich ziehen.
333 334 335 336 337 338
Krotz 1997, S. 123 Vgl. ebd., S. 123 Vgl. Lünenborg 2005a, S. 55 Siehe dazu z.B. Dörner 2000; 2001; Schicha/Brosda 2002. Habermas 1991, S. 13f. Darauf verweisen Klaus/Lünenborg 2000a, S. 199: „Journalismusforschung beobachtet, wie im Prozess der gesellschaftlichen Selbstverständigung, den der Journalismus federführend gestaltet, gemeinsamer kultureller Sinn durch das Aushandeln von Bedeutungen produziert wird. Von besonderer Relevanz sind dabei die Widersprüche und Konflikte, die zwischen den medialen Bedeutungsangeboten und der kontextgebundenen Bedeutungsproduktion des Publikums sichtbar werden.“
236
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
Das Feld der Publikumsorientierung des Journalismus ist zu weitläufig, um es im vorliegenden Rahmen auch nur einigermaßen zureichend durchmessen zu können. Sinn der Überlegungen ist es daher lediglich, Anschlussmöglichkeiten für eine weiter auszuformulierende Theorie des Journalismus als kommunikatives Handeln in seiner gesellschaftlichen Einbezogenheit zu identifizieren. Es erscheint viel versprechend, Cultural Studies-Ansätze und (symbolisch-interaktionistische) Handlungstheorien in Bezug auf Journalismus in je unterschiedlicher Erkenntnisrichtung als komplementär zu verstehen und zu den Annahmen der lebensweltlichen Gebundenheit kommunikativen Handelns in Beziehung zu setzen.
4
Zwischenfazit: Kommunikatives journalistisches Handeln
Die Überlegungen zu einem kommunikativen Handlungsmodus sind angestrengt worden, um die Einwände gegen die apriorische Trennung kommunikativer und vermittelnder journalistischer Leistungen, die sich bereits der Auseinandersetzung mit Groths Konzept des Journalismus entnehmen ließen, theoretisch zu fundieren. Mit dem skizzierten Modus kommunikativen Handelns lässt sich ein Verständnis journalistischen Handelns begründen, das einseitige Zuspitzungen auf Idealtypen und vor allem auf unzureichend begründete Rollenmodelle, wie sie in der normativen ‚Journalismustheorie‘ nicht selten zu finden sind, nicht mehr erlaubt, sondern vielmehr einen breiteren handlungstheoretischen Rahmen absteckt, innerhalb dessen Journalismus beschrieben werden kann. Außerdem erlaubt es dieser theoretische Rahmen, normative Postulate an Journalismus heranzutragen, die nicht als fremd gesetzt begriffen werden müssen, sondern als immanente Anforderungen zu verstehen sind. Eine daran anschließende kommunikationswissenschaftliche Journalismusforschung entwickelt eigenständige normative Ansprüche, indem sie praktische Anforderungen für einen „emanzipatorischen, verständigungsorientierten Journalismus“ als verständigungsorientiertes kommunikatives Handeln definiert und hinsichtlich ihrer Praktikabilität prüft.339 Diese theoretische Perspektive verweist über das Lebenswelt-Konzept zudem auf die fundamentale gesellschaftliche Eingebundenheit des Journalismus, die auch kulturtheoretisch orientierte Arbeiten betonen: „In diesem Sinne konstituiert Journalismus als wesentlicher Teil von Öffentlichkeit die Struktur von Gesellschaft und zugleich repräsentiert Journalismus symbolisch die soziale Ordnung durch die Art der Erzählung, die er von gesellschaftlichen Ereignissen liefert.“340
Im Kern geht es um die Möglichkeiten des Journalismus, einen kommunikativen Prozess in Gesellschaft zu fördern, „Brücken zwischen den Lebenswelten“ zu bauen, wie Ruß-Mohl schreibt.341 Potenziell beschreibbar werden diese Möglichkeiten dadurch, dass journalistisches Handeln nicht nur in zweckrationalen Kategorien gefasst wird, sondern im erweiterten Verständnis kommunikativer Rationalität, das über die Dichotomien der Idealtypen Vermittlung und Räsonnement, bzw. der Rollenvorstellungen Mediator und Kommunikator hinausgreift. Ein kommunikativ verstandener Journalismus bedient sich dieser Rationalität und zielt so auf reflexive Vermittlung, Verständigungsorientierung und Gewährleistung gesellschaftlicher Teilhabechancen. 339 340 341
Burkart 1998a, S. 519 Lünenborg 2005a, S. 164 Ruß-Mohl 2003, S. 26
4 Zwischenfazit: Kommunikatives journalistisches Handeln
237
Grafik 4: Kommunikatives journalistisches Handeln
[eigene Grafik, -cb-] Der Bereich des kommunikativen journalistischen Handelns umspannt und integriert dabei weitgehend die Rollenmodelle, die klassisch entfaltet werden. Wird Journalismus in seinen kommunikativen Grundlagen ernst genommen und nicht zu einem zweckrationalen Transporthandeln reduziert, dann beschreiben die unter den Überschriften Interaktion, reflexive Vermittlung, Verständigungsorientierung sowie kommunikative Kompetenz behandelten Zusammenhänge, inwiefern journalistisches Handeln performativ gesellschaftliche Leistungen durch Kommunikation erbringt. In der Regel beruht Journalismus dabei auf dem Umgang mit Sprache und der in sie eingelassenen Rationalität. Aber die Ausführungen der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ lassen sich ihrem Anspruch gemäß auf andere Kommunikationsmodi ausweiten – und damit als Leitfaden journalistischer Äußerungen auch jenseits linearer, schriftlicher Propositionalität heranziehen342: „Sprache ist für Habermas das humanspezifische Medium der Verständigung schlechthin, er geht davon aus, dass auch die Bedeutung nichtsprachlicher Ausdrucksformen (Gestik, Mimik etc.) stets sprachlicher Natur ist und damit alle Formen nonverbaler Kommunikation ihrerseits wieder auf Sprache verweisen.“343
342 343
Vgl. die Analyse theatralischer Medieninszenierungen von Meyer/Ontrup/Schicha 2000. Burkart/Lang 1995, S. 40
238
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
Die qualitativen Veränderung, die diese theoretische Fundierung gegenüber anderen Journalismusverständnissen begründet, ist vor allem die stärkere Betonung der interaktionistischen Struktur der Kommunikation und der Rationalität erhobener Geltungsansprüche. Die daraus folgenden Annahmen sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst.
Tab. 2: Charakteristika kommunikativen journalistischen Handelns Journalistisches Handeln gesellschaftstheoretische Verortung
Lebenswelt
maßgeblicher Handlungstypus
soziale Interaktion
Rationalitätsmodus
kommunikativ
Zielorientierung
verständigungsorientiert
gesellschaftliche Leistung
Reproduktion symbolischer Ressourcen
Aufgabe / Funktion
kommunikative Koordinierung gesamtgesellschaftlichen Handelns
Koordinierungsmechanismus
(ethische) Diskurse
Legitimationsgrundlage
Konsens
Aus der Konzeption journalistischen Handelns als kommunikativem Handeln lässt sich in erster Linie eine Kritik der bisherigen Journalismusforschung und -theorie ableiten, die sich gegen die Verkürzungen richtet, die sich aus Versuchen ergeben, Journalismus als professionelles oder berufliches Handeln unter den Imperativen zweckrationaler Vernunft zu beschreiben. Derartige Versuche, Journalismus als Erfüllung fremd gesetzter Vermittlungszwecke zu konzipieren, geraten, solange sie handlungstheoretisch ausgerichtet sind, früher oder später in die problematische Situation, die Subjektivismen journalistischen Handelns und Kommunizierens als nicht rollengerecht kritisieren zu müssen, und das obwohl diese doch kommunikativ durch die Eigensinnigkeit der Sprache, epistemologisch angesichts der Kontingenz subjektiver Erkenntnis und auch verfassungsrechtlich auf Basis des Gebots der Meinungsfreiheit akzeptiert werden müssten. Die Nicht-Berücksichtigung der kommunikativen Verständigungslogik des Journalismus führt dazu, dass jede Form des journalistischen Handelns, die einen Kern Subjektivität bewahrt, unter Rechtfertigungszwang gestellt wird. Im Ergebnis bedeutet das die bereits erwähnte kommunikative Entkernung des Journalismus auf konzeptioneller Ebene.344 In normativ handlungstheoretischer Fassung bleibt solchen Näherungen an Journalismus nichts anderes übrig, als die Frage nach der Legitimität journalistischer Handlungsspielräume zu stellen, ohne aber einen zureichenden Beurteilungsrahmen begründen zu können, der auf eine Auflösung der problematisierten Rollenkonflikte hinwirken könnte.345 Die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ dagegen lässt sich auch als ein Appell lesen, weitergehende kommuni344 345
Vgl. Baum 2005b Daher zielen die beschriebenen legitimistischen Klärungsversuche, deren Argumentationslogik sich selbst emanzipatorisch intendierte Entwürfe wie der von Glotz und Langenbucher (1969) nicht vollständig entziehen können, nur auf Teilaspekte journalistischer Kommunikation, während sie andere zentrale Aspekte abwerten.
4 Zwischenfazit: Kommunikatives journalistisches Handeln
239
kative Aspekte öffentlichen – journalistischen – Handelns, die in vielen Analysen moderner Gesellschaften aufgrund ihrer Fokussierung auf Funktionalismen und Zweckrationalität vernachlässigt werden, wieder mit in den Blick zu nehmen, nicht anstelle, sondern im Verbund mit den gängigen Kategorien, in denen Modernisierungsprozesse als instrumentelle Rationalitätssteigerungen beschrieben werden.346 Wenn journalistisch handelnde Akteure als Anwälte des gesellschaftlichen Diskurses betrachtet werden, dann werden Legitimationsfragen angesichts ihrer kommunikativen Reflexivität unnötig. Kommunikatives Handeln legitimiert sich durch die Offenheit und Debattierbarkeit seiner Geltungsansprüche performativ.347 Der Bezug zum Konzept kommunikativen Handelns verdeutlicht in letzter Konsequenz, dass journalistisches Handeln nicht scheitern kann. Nur wenn davon ausgegangen wird, dass ein direkter Zusammenhang zwischen persönlichen Haltungen und professionellen journalistischen Handlungen besteht und dass es wissenschaftlich möglich ist, direkt auf die Haltungen und Intentionen der Journalisten zugreifen und deren Richtigkeit anzweifeln zu können, lässt sich ein Scheitern technisch verstandener, vermittelnder Aufgaben konstruieren. Wenn man allerdings journalistisches Handeln als kommunikatives Handeln, betrachtet und davon ausgeht „[…] daß journalistisches Handeln den Imperativen sprachlicher Verständigung gehorcht, deren ‚Wirkung‘ im günstigsten Fall darin besteht, soziales Handeln zwanglos zu koordinieren, kann die Arbeit des Journalismus im Prinzip nicht scheitern, sondern unter dem Aspekt der Gültigkeit der jeweiligen Aussagen ‚nur‘ bestritten werden: das heißt immer: die Geltungsansprüche journalistischer Aussagen auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit zu prüfen, sie also den Bedingungen des moralisch-praktischen Diskurses zu unterziehen.“348
Für Journalistik und Kommunikationswissenschaft wäre es ein lohnenswertes Projekt, diese Prämisse weiterzuentwickeln. Dadurch würde die Entwicklung einer gesellschaftstheoretischen Perspektive in Form einer Kommunikationstheorie möglich, „[…] die am Ende unter journalistischem Handeln nur eine mögliche Form des kommunikativen Handelns zurechnungsfähiger Subjekte versteht“349 und Journalismus auf diese Weise in sein eigenes Recht neben andere Formen öffentlicher Kommunikation setzt. Dies wäre die Voraussetzung für ein Verständnis journalistischen Handelns, welches von Vernunft und Verständigung ausgehend gesellschaftliche Prozesse erklärbar und verstehbar macht. In den Blick geraten journalistisch handelnde Akteure als Instanz gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse: „Mit der sprachtheoretischen Erneuerung der Kritischen Theorie ist forschungslogisch der Weg frei zur Untersuchung gesellschaftlicher Kommunikation. Die kommunikative Vernunft souveräner Individuen verweist die Systemimperative auf ihren zwar wichtigen, aber nachgeordneten Stellenwert. Interaktiv können nur die Menschen, nicht aber die Medien sein.“350
Die Handlungstheorie des kommunikativen Modells konstituiert einen eigenständigen Handlungsmodus, in den sie Rationalitätsvermutungen einlässt. Sie bleibt – im Gegensatz zur Systemtheorie, die Individuen in die Umwelt des Systems expediert – theoretisch sensibel 346 347
348 349 350
Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 571ff. Genuine Legitimationsfragen richten sich an die Exponenten politisch oder ökonomisch fundierter medialer Machstrukturen. Nicht die Kommunikativität journalistischen Handelns, sondern die noch zu skizzierenden Systemcharakteristika medialer Institutionen bedürfen u.U. einer gesellschaftlichen Legitimation. Aus einer solchen Perspektive ließen sich, so Baum (1994, S. 280f.), vielleicht auch „[…] angebliche ‚Legitimationsprobleme‘ des Journalismus als Folge der Einengung emanzipatorischen Anspruchs journalistischen Handelns – und so als legitimistischen Rechtfertigungsversuch partikularer Herrschaftsinteressen – […] entlarven“. Baum 1994, S. 284f. Ebd., S. 275 Haas 1999, S. 53
240
IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
dafür, dass es Menschen sind, die handeln und die für eine Wissenschaft, die Handeln untersuchen und verbessern will, ansprechbar sein müssen. Zugleich aber umgeht sie die Probleme eines normativen Individualismus, von dem die frühe Publizistikwissenschaft genauso geprägt ist wie legitimistische Versuche. Die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ eröffnet aufgrund ihrer Verklammerung mikro- und makrosozialer Annahmen die Möglichkeit, sowohl das Handeln journalistischer Akteure zu rekonstruieren, als auch die gesamtgesellschaftlichen und demokratiekonstitutiven Aufgaben zu begründen, die Journalismus seit Aufklärungszeiten zugeschrieben werden. Das bedeutet nicht, dass jede journalistische Handlung diesen normativen Anforderungen auch genügt, sondern dass die kommunikative Rationalität der Sprache dem Journalismus nicht nur zugänglich ist, sondern seine genuine Grundlage bildet. Mit dem Konzept eines verständigungsorientierten Journalismus sollen keine empirischen All-Aussagen über Journalismus und seine Bindung an einen bestimmten Handlungsmodus getroffen werden. Schließlich ist schon aus einer streng akteurstheoretischen Perspektive offensichtlich, dass Journalisten in ihren Kommunikationsakten sehr wohl auch strategisch, dramaturgisch oder normenreguliert vorgehen können und dass sie somit in der Lage sind, ihr Handeln an unterschiedlichen Rationalitätsmaßstäben und Funktionserfordernissen auszurichten. Ein primär zweckrationaler Journalismus aber entfernt sich – aus grundsätzlich normativer Perspektive – von dem beschriebenen kommunikativen Fundament und wird defizitär. Dem kann durch entsprechende Ausbildungsleistungen entgegengewirkt werden, zum Beispiel indem Journalisten Grundkenntnisse der Wissenssoziologie und der Soziologie vermittelt bekommen, um sie in die Lage zu versetzen, die ihrer Berichterstattung zugrunde gelegten Annahmen über soziale ‚Realität‘ entsprechend zu relativieren und so auch umfassendere, orientierende Bezüge in ihrer Berichterstattung herzustellen.351 Vielfach eingeschränkt werden muss der Verständigungsspielraum journalistisch Handelnder allerdings, wenn auch die institutionellen und systemischen Restriktionen berücksichtigt werden, denen Journalismus heutzutage unterworfen ist.352 Prozesse der Verberuflichung können daher, durch die Induktion einer anderen Logik, die Verständigungsorientierung modernen journalistischen Handelns bedrohen. Im Spannungsfeld von sprachlicher Kommunikationsrationalität und beruflicher Zweckrationalität muss ein auf Verständigung gerichteter diskursiver Journalismus sich täglich neu bewähren.353 Dass er dazu zunächst prinzipiell in der Lage ist, liegt in der kommunikativ fundierten Autonomie lebensweltlicher Akteure begründet, die auch Journalisten zuzubilligen ist: „In kommunikativ strukturierten lebensweltlichen Kontexten sind bzw. bleiben die in modernen und damit notwendig komplexen Gesellschaften sozialisierten Individuen grundsätzlich in der Lage, die persönlichen und sozialen Entwicklungen zu verstehen , für die Folgen ihres Handelns Verantwortung zu übernehmen und sich mit Beteiligten über Lösungen anstehender normativer Konflikte zu verständigen (Sozialintegration bewusster, kommunikativ kompetenter Individuen).“354
Aus den komplexen Annahmen der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ kann eine normative Vorstellung von dem, was Journalismus sein soll, destilliert werden. Entsprechend weiterentwickelt könnte ein Verständnis eines diskursiven Journalismus über die Beschreibung des kommunikativen Handlungsmodus in der Lage sein, Journalisten als Subjekte einer Theorie und einer daraus abzuleitenden Ethik des Journalismus anzusprechen. 351 352 353 354
Vgl. zu dieser Forderung Kunczik 1988, S. 255ff. Diese sind heutzutage so stark geworden sind, dass sich viele Journalistikwissenschaftler von Versuchen, Akteure oder Handlungen in den Mittelpunkt theoretischer Anstrengungen zu stellen, abwenden. Darauf wird in Kapitel VI einzugehen sein. Loretan 1999, S. 156
4 Zwischenfazit: Kommunikatives journalistisches Handeln
241
Ein solches Verständnis stünde in engem Zusammenhang zu einem gesellschaftstheoretischen und gesellschaftskritischen Diskurs, aus dem heraus die aufklärerischen Kräfte des Journalismus zu stärken wären. Schließlich steht Habermas Kritik der funktionalistischen Vernunft einerseits in einer Tradition mit den älteren Vertretern der Kritischen Theorie355, vermeidet aber andererseits deren Aporien einer radikalen Vernunftkritik, indem er mit dem Modus des verständigungsorientierten Handelns eine pragmatische Perspektive aufzeigt. Anders als Horkheimer und Adorno, welche die letzten Überreste ‚vernünftiger‘ Erkenntnis nur noch in der Mimesis der Kunst entdecken können356, kennzeichnet Habermas den Rationalitätsbegriff der instrumentellen respektive der funktionalistischen Vernunft nicht nur als verkürzt, sondern konfrontiert ihn darüber hinaus mit einem weiterreichenden, kommunikativ fundierten Vernunftbegriff, den er im Anschluss an Mead in der sprachlichen Verständigung symbolisch strukturierter Interaktionsprozesse identifiziert. Ein auf diesem Handlungsbegriff konzipiertes Verständnis journalistischen Handelns wahrt den Bezug zu kommunikativen Grundbedingungen menschlicher Verständigung. Es entgeht so einer konzeptionellen A-Priori-Instrumentalisierung und verbleibt in demokratietheoretischer und -politischer Hinsicht im Wortsinne ‚ansprechbar‘. Habermas zielt darauf, die Vernunft der philosophischen Aufklärung in den nüchternen Kategorien moderner Sozialwissenschaften zu verankern. Auf diesem Wege stellt er sich gegen die moderne Vernunftkritik, welche die Möglichkeit aufgeklärten Lebens prinzipiell und zur Gänze in Frage stellt.357 Eine solche Kritik an Mängeln der Vernunftrealisierung in sozialen Zusammenhängen ist nur dann möglich, wenn sie mit vernünftigen Mitteln unternommen wird. Somit wird auch eine noch so kunstvolle Verneinung der Vernunft, zum Beispiel in poststrukturalistischen Ansätzen358, durch den performativen Selbstwiderspruch zum Beleg ihrer Existenz. Dagegen identifiziert eine sprachpragmatisch gewendete Kritische Theorie von vornherein eine Grundlage zur Verteidigung des Projekts der Moderne. Diese Perspektiverweiterung korrespondiert mit der theoretischen Feststellung, dass die Identifikation von Lebenswelt und Gesellschaft allein der Komplexität moderner Gesellschaften nicht gerecht werden kann, weil sich deren Integration in ihren zielgerichteten materiellen Reproduktionsbereichen auch über funktionale Zusammenhänge vollzieht, die zunehmend systemisch stabilisiert erscheinen und auch entsprechend beschrieben werden müssen.359 Hier sind Handlungsfolgen ausschlaggebend, nicht wie noch im Prozess der Verständigung Handlungsorientierungen. Deswegen bietet sich ein solches Verständnis von Journalismus dazu an, Fabris Forderung zu erfüllen, mit Blick auf journalistisches Handeln weniger über das Ob von
355 356 357 358
359
Diese haben ihre Kritik der instrumentellen Vernunft in der ‚Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno 1988 [1944]) und in ‚Der eindimensionale Mensch‘ (Marcuse 1970 [1964]) formuliert. Vgl. zur Abgrenzung der geschichtsphilosophischen älteren Entwürfe von der Habermasschen Theorie Dubiel 2001; Honneth 1982. Vgl. die dezidierte Kritik in Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 489ff. Das gilt gleichermaßen für eine konservative wie für eine reformerisch-emanzipatorische Vernunftkritik. Pias (2003) interpretiert die poststrukturalistischen Medientheorien zu Recht eher als eine „Kritik der Theorie“ denn als eigenständige Theorie. Aus dieser Perspektive sind zwar seit den 1970er Jahren ebenso gewichtige wie sperrige Beiträge für die Medientheorie formuliert worden, die sich aber in der Regel nur schwer in Forschung operationalisieren lassen. Ihre Leitthemen sind die Auflösung und das Verschwinden des Bestehenden und der Gewissheiten. Folgerichtig offeriert der Poststrukturalismus „keine Anwendungen, sondern allenfalls Anregungen, produziert keine Einführungen, sondern allenfalls Versuche von Auslassungen […]. Vor allem aber verfasst er keine Methodologie.“ (ebd., S. 286f.) Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 225f.
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IV Aspekte der kommunikativen Rationalität des Journalismus
Objektivität als über das Wie von Transparenzgeboten zu diskutieren.360 Wichtig werden in der Folge einer solchen Entscheidung Rahmenbedingungen des journalistischen Handelns wie • Werthaltungen und -überzeugungen, • Sozialisation und sozialer Status, • äußere Bedingungen, journalistische Handlungsspielräume, • rechtliche, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, • journalistische Arbeitsbedingungen in der Redaktion, • Verwertungsbedingungen für journalistische Produkte auf dem Medienmarkt. Um diese Rahmenbedingungen angemessen thematisieren zu können, ist die Zweistufigkeit des Aufbaus moderner ausdifferenzierter Gesellschaften zu berücksichtigen, der sich aus der Ausdifferenzierung spezialisierter Teilsysteme ergibt, die von subjektiv unkoordinierten Einzelentscheidungen gesteuert werden. Angesichts der daraus erwachsenden, zumindest partiell systemischen Steuerung moderner Gesellschaften ist auch die alleinige Rezeption des handlungstheoretischen Strangs der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ nicht ausreichend, um journalistisches Handeln praxisorientiert modellhaft in den Griff zu bekommen.361 Es wird im folgenden Kapitel zu diskutieren sein, inwiefern die Entfaltung der im journalistischen Handeln angelegten Kommunikativität durch die gesellschaftlichen und insbesondere medialen Rahmenbedingungen geformt wird.
360 361
Vgl. Fabris 1981b, S. 21ff. Zu Recht verbindet z.B. Fabris (1979, S. 139ff.) die Entwicklung eines Journalismuskonzepts mit einer Analyse der politischen und ökonomischen Voraussetzungen für Partizipation an Massenkommunikation.
V
Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
Dieses Kapitel markiert einen Perspektivwechsel im Argumentationsverlauf: Anstelle von idealtypischen Handlungsmodi stehen soziale Strukturierungs- und Systemausdifferenzierungsprozesse im Mittelpunkt der Analyse. Die bislang handlungstheoretische Argumentation wird – wie in der Einleitung angekündigt – ergänzt um eine systemtheoretische Perspektive. Zunächst ist weitgehend unter Auslassung von Struktur- und Systemüberlegungen argumentiert worden, um den Handlungstypus des journalistischen Handelns in seinen Facetten möglichst stringent entfalten zu können. Das Bild seiner Umsetzungschancen wäre allerdings wenig zutreffend, wenn journalistisches kommunikatives Handeln nicht in Beziehung gesetzt würde zu seinen medialen Umfeldbedingungen. Um diese Perspektive, die in der Regel eng mit gesellschaftlicher Kritik verknüpft ist, einzuführen, wird eine Systemkonzeption zu begründen sein, die an die bislang skizzierte handlungstheoretische Analyse anschlussfähig ist und die dazu beiträgt, dass im Zusammenspiel von kommunikativem Handeln und systemischer Steuerung gesellschaftliche Integration beschreibbar wird. (1). Vor dieser gesellschaftstheoretischen Folie lässt sich der historisch konstatierte Strukturwandel der Öffentlichkeit vorwiegend als (systemische) Ausdifferenzierung der Massenmedien interpretieren. Es wird zu zeigen sein, inwiefern sich Massenmedien mittlerweile als Bestandteile des ökonomischen Systems verstehen lassen und in ihren Routinen entsprechend nicht mehr einer lebensweltlich fundierten kommunikativen Vernunft, sondern einer Orientierung auf Profit folgen. Die zweckrational-instrumentelle Logik der Massenmedien lässt sich – dem hier zu entfaltenden Verständnis zufolge – nicht auf eine eigene Code-Differenzierung zurückführen, sondern basiert auf einer engen Verbindung zum wirtschaftlichen System (2). Die Folge ist, dass Journalismus maßgeblich in einem ökonomisch determinierten Umfeld statt findet. Aus der Ausweitung der ökonomischen Logik können sich Verluste kommunikativer Spielräume ergeben, die in Anlehnung an Habermas prozesshaft als ‚Kolonialisierung‘ der kommunikativen Logik des Journalismus durch systemisch bedingte Effizienz- und Profitzwänge beschrieben werden können. Gleichzeitig ist Journalismus auf ausdifferenzierte Medienstrukturen zur Erbringung der eigenen kommunikativen Leistungen angewiesen. Der Zuschnitt beruflicher Rollen, die Organisationsformen von Redaktionen sowie der Einsatz technischer Systeme können innerhalb dieses letztlich dialektischen Spannungsfeldes entweder als leistungssteigernde Strukturierung, als effizienzorientierte Mediatisierung oder als systembedingte Kolonialisierung des Journalismus interpretiert werden (3). Journalismus kann vor diesem Hintergrund als systemisch bestimmte Berufsarbeit konzipiert werden, deren kommunikative Potenziale im Widerstreit zu systemischen ‚constraints‘ stehen und sich ihre Spielräume dezidiert erhalten müssen – auch indem dieses Potenzial in seiner eigenen Logik durch die Kritik angesprochen wird (4).
244
1
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
Die Systemperspektive
Die institutionellen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen des journalistischen Handelns sind im bisherigen Argumentationsverlauf zwar nicht ausgeblendet, wohl aber bewusst unterbelichtet worden, um zunächst ein einseitig idealisiertes Bild der konzeptionellen Basis eines kommunikativen journalistischen Handlungsmodus zu skizzieren – ohne dabei die Grenzen seiner kommunikativen Rationalität sowie deren Wechselspiel mit anderen Vergesellschaftungs- und Koordinierungsmechanismen systematisch zu thematisieren. Die handlungstheoretische Perspektive zielt zwangsläufig stärker auf einzelne Akteure als auf soziale Zusammenhänge. Das Akteurshandeln muss aber zu strukturellen und systemischen Bedingungen in Beziehung gesetzt werden, um die empirischen Entfaltungsmöglichkeiten des idealtypisch isolierten Potenzials skizzieren zu können.1 Eine Analyse des Journalismus ist nicht vollständig ohne eine Auseinandersetzung mit den Wandlungsprozessen in Medienstruktur und -kultur.2 Die kommerzielle Nutzung der Presse macht es spätestens seit dem Strukturwandel im 19. Jahrhundert notwendig, die Versorgung mit ausreichend veröffentlichungsfähigem Material so zu organisieren, dass der ‚kommunikative Gebrauchswert‘ der Zeitung jeden Tag neu produziert werden kann, um gewinnbringenden Absatz zu gewährleisten. Die Produktion bedarf daher aus Verlegersicht nicht nur in den Bereichen Druck und Vertrieb, sondern auch in der Erstellung und Verarbeitung von Texten der Standardisierung. Der Einkauf fertiger Texte externer Schriftsteller reicht nicht mehr aus, sondern Medienbetriebe holen zu diesem Zeitpunkt die journalistische Arbeitskraft in den kapitalgesteuerten Produktionsprozess hinein.3 Durch „die industrielle Produktionsweise, verbunden mit zunehmender Arbeitsteilung und Produktstandardisierung“ hat sich, so Fabris, „eine massive Einschränkung für die journalistische Arbeit“ ergeben.4 Journalismus steht in der Gefahr, durch die Veränderung seiner Entfaltungsbedingungen „[…] endgültig auf den Zwischenhandel mit der Ware Information reduziert zu sein“.5 Dieser Trend weicht in letzter Zeit durch den vermehrten Einsatz von freien Journalissten und das gezielte Outsourcing ganzer Redaktionsbereiche wieder auf. Das Ergebnis dieser Entwicklungen ist allerdings nicht eine steigende Zahl publizistisch unabhängigerer freier Journalisten, sondern die Entwicklung einer ökonomischen in Bedrängnis geratenden Gruppe von Content-Zulieferern, die neben journalistischen produkten auch PR-Arbeiten erledingen, um ein genügendes Auskommen zu haben.6 Daher stellt die Entwicklung keine Revitalisierung eines kommunikativen, von Medienzwängeren unbelasteteren Journalismus’ dar, sondern ist ein weiteres Indiz für die Stärke ökonomischer Prämissen in den Medien. 1
2 3
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Um nur zwei klassische Beispiele zu nennen: Fabris (1979, S. 166) fordert notwendige kommunikationspolitische Konsequenzen, um einen teilhabeorientierten Journalismus wahrscheinlicher zu machen. Bentele (1982, S. 148) wiederum verweist aus der Objektivitätsdebatte heraus nachdrücklich darauf, dass aus Forderungen nach ‚objektiver Berichterstattung“ auch die „Forderung nach der Herstellung adäquater sozialer, redaktioneller, institutioneller Bedingungen“ ableiten läßt. In beiden Fällen bestehen die Autoren darauf, dass journalistische Leistungen empirisch angemessen nur zu fordern und zu bewerten sind, wenn ihnen entgegenkommende soziale Strukturen etabliert sind. Vgl. Jarren 1998a, S. 84 Vgl. Schütt 1981, S. 92 Was Schütt als einseitigen Prozess der Unterordnung unter verlegerisches Kapitalverwertungsinteresse beschreibt, lässt sich auch als Herausbildung einer eigenständigen journalistischen Rolle verstehen, die es zuvor gar nicht gegeben hat. So sieht Requate (1995, S. 399f.) in den Entwicklungen des 19. Jahrhunderts Veränderungen, die dazu führten, dass sich Journalismus als berufliche Tätigkeit von den publizistischen Äußerungen von Politikern oder Schriftstellern überhaupt erst differenzierte. Fabris 1979, S. 248 Baum 1996, S. 238 Vgl. Weischenberg/Malik/Scholl 2006b, S. 350
1 Die Systemperspektive
245
Baum stellt ganz grundsätzlich eine „Paradoxie journalistischen Handelns“ fest, die er in dem Widerspruch zwischen der Realität des Mediensystems und der normativen Dimension des Journalismus ausmacht.7 Er verweist damit auf den Umstand, dass Journalismus heutzutage eines Vermittlungsumfeldes bedarf, das journalistisch-kommunikativer Rationalität entgegensteht und ihre Entfaltung erheblich erschwert. Die Spielräume journalistischer Akteure werden deutlich verengt, indem sie auf ein vermeintlich professionelles Berufshandeln festgelegt werden, das den zweckrationalen Verwertungsimperativen der Medienbetriebe gehorchen soll.8 Genau diese Entwicklung der Unterordnung des Journalismus unter mediale Imperative kann aber nicht bis zur Aufgabe des Journalismus getrieben werden, da die kulturwirtschaftliche Produktion immer nur bedingt organisierbar ist. Journalismus bewahrt sich – wie alles lebensweltliche Handeln – eine Eigensinnigkeit, die zu weitreichende systemische Übergriffe abzuwehren versucht und damit letztlich ihre eigenen kommunikativen Geltungsgrundlagen stärkt. Wäre er dazu nicht mehr in der Lage, wäre er von strategisch orientierten Public Relations nicht mehr zu unterscheiden. Die Aufrechterhaltung dieser bereits beschriebenen Abgrenzung wird für einen unter Medienbedungungen agierenden Journalismus zunehmend bedeutsamer, da er – anders als die PR – nicht ohne bestandsgefährdende Folgen der systemischen Zweckorientierung subsumiert werden kann. Die damit verbundenen, vergleichsweise komplexen und ökonomische Entwicklungen einbeziehenden Analysen des ‚Strukturwandels der Öffentlichkeit‘ konnten von der klassischen Zeitungs- und Publizistikwissenschaft kaum nachvollzogen werden, weil diese in der Regel nicht das dafür notwendige Instrumentarium besaß.9 Die kommunikationswissenschaftliche Forschung hat den Fragen der Beziehung von Journalismus und Medien daher lange Zeit nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt, aber „[…] immerhin soviel, dass immer klarer wird, wie irreführend es ist, (tagesaktuelle) Medien und Journalismus einfach in eins zu setzen. Zumal die Journalistik als publizistikwissenschaftliche Teildisziplin bezieht denn auch systematisch den Journalismus auf den Strukturkontext der Medieninstitution. Langfristig mag so eine integrale Theorie der publizistischen Produktion Umrisse gewinnen. Gegenwärtig hat man allerdings den Eindruck, als würde auch dort das Verhältnis von Journalismus und Medien nicht grundsätzlich problematisiert und daher auch nicht systematisch diskutiert. Einer vergleichsweise gut entwickelten journalistischen Berufsforschung steht eben keine entsprechend intensive Analyse der Medienorganisation gegenüber, so dass die letztere in ihrer Eigenmacht und -rationalität als potentielle Stütze oder Gegenspielerin zum Journalismus in der Forschung wenig Profil gewinnt.“10
Die Analyse dieser medialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, welche einen kommunikativen Journalismus fördern oder behindern, erfordert einen Perspektivwechsel, der die Beschreibung sowohl der kommunikativen Möglichkeiten als auch der gesellschaftlichen oder ökonomischen Restriktionen des Journalismus erlaubt. Es geht im Folgenden um den Zustand des Journalismus unter den Bedingungen der massenmedialen Infrastruktur, die sich in modernen Gesellschaften ausdifferenziert hat und zurückwirkt auf journalistisches Handeln und die Verfasstheit bürgerlicher Öffentlichkeit. Auf welcher Rationalität basieren die Massenmedien? 7 8 9
10
Ebd., S. 240 Für Saxer (1993a, S. 293) ist es gar ein mögliches Szenario medialen und journalistischen Wandels, dass die Zukunft des Journalismus in Frage steht, sollten die Medien die „totale Einvernahmung oder Austreibung des Journalismus“ betreiben und so das „Ende seiner Geschichte“ markieren. Vgl. Bohrmann 2003, S. 173f. In der Regel steht bis heute dem „einheitlichen, untrennbaren Prozess des Wirtschaftens und Veröffentlichens in den Medienunternehmen […] eine analytisch-wissenschaftlich getrennte Reflektion gegenüber“, beklagen Altmeppen und Karmasin (2003c, S. 25) angesichts der nur geringen Berücksichtigung der Medienökonomie in der Kommunikationswissenschaft. Saxer 1993a, S. 292f.
246
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
Wie sind sie gesellschaftlich verankert? Auf diese Fragen sollen unter Zuhilfenahme der Systemperspektive vorläufige Antworten formuliert werden, um den materiellen Bedingungsrahmen journalistischen Handelns und seine ermöglichenden wie einschränkenden Wirkungen angemessen beurteilen zu können.
1.1
Massenmedien als System
Systemische Analysen haben sich als ein wichtiges Instrument der Medien- und Journalismusforschung erwiesen: Insbesondere aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive können Massenmedien als ein systemischer, zweckrational gesteuerter Zusammenhang betrachtet werden. Mit ihnen wird eine (nicht nur technische) Infrastruktur institutionalisiert, die notwendig ist, um die kommunikative Integration komplexer Gesellschaften über Öffentlichkeit zu ermöglichen11 – Dröge und Kopper sprechen von dem „zentralen gesamtgesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang“12, Jarren von der „zentralen Infrastruktur der modernen Gesellschaft“13. Diese Infrastruktur bildet sich in einem sozialen Differenzierungsprozess, in dessen Verlauf sich Routinen der medialen Vermittlung und Kommunikation nicht nur institutionalisieren, sondern gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen verselbstständigen, um die ihnen zugewiesene oder von ihnen angenommene soziale Funktion effizient zu erfüllen: Einzelne Medieninstitutionen differenzieren sich als mediale Teilsysteme aus (zum Beispiel Fernsehen) und bilden in ihrer Interaktion ein gesellschaftliches (Gesamt-)Mediensystem auf der Basis einer eigenständigen Operationslogik. Die Medienstrukturen entziehen sich immer mehr der gesellschaftlichen Steuerung, da die verschiedenen Medienteilsysteme ein hohes Maß an interner Autonomie besitzen und die Ergebnisse ihrer Interaktion nicht als Ergebnisse geplanter Gestaltung sozialer Entwicklungen verstanden werden können.14 Umgekehrt präfiguriert das (Gesamt-)Mediensystem eigenlogisch die Entfaltungsmöglichkeiten seiner medialen Teilsysteme.15 Systemtheoretiker sehen einen entscheidenden Vorteil dieser theoretischen Perspektive darin, dass sie schon „vom Ansatz her über eine isolierte Sicht auf Medien als bloße Techniken hinaus auf den komplexen gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem solche Techniken funktionieren und wirken“, verweise.16 Tatsächlich macht diese Theorieperspektive auch die Imperative beschreibbar, nach denen die materiellen Ressourcen reproduziert werden, die journalistische Akteure in ihrem Handeln in Anspruch nehmen. Die zunehmende Ausdifferenzierung und Selbststeuerung des Mediensystems zeigt sich in der Verfeinerung einer eigenen Selektionslogik und Präsentationsoptik17 sowie in zunehmender Selbstreferentialität medialer Thematisierungsleistungen.18 Daraus erwächst eine abstrakt zu fassende Funktionslogik des 11 12 13 14 15 16 17 18
Luhmann (1981b, S. 29) sieht in Massenmedien die Möglichkeit, unwahrscheinliche Kommunikation dennoch zu ermöglichen und in sozialen Systemen zu stabilisieren. Dröge/Kopper 1991, S. 130 Jarren 1998a, S. 74 Vgl. Schmidt 1990, S. 77; Jarren/Meier 2002, S. 130 Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass mediale Selektions- oder Darstellungslogiken unterschiedlich entfaltet sind, je nach dem, ob ein Mediensystem noch vorwiegend auf Schrift ausgerichtet ist, oder sich visuelle Medien bereits flächendeckend durchgesetzt haben. Schmidt 1990, S. 77 Vgl. Meyer/Ontrup/Schicha 2000; Meyer 1997, S. 67 Ein konkretes Beispiel der Selbstreferentialität ist die journalistische Berichterstattung über medial induzierte Ereignisse (vgl. Brosda 2002b).
1 Die Systemperspektive
247
Mediensystems, welche die Funktionserbringung der Medien für die Gesellschaft steuert. Diese Logik beeinflusst die medial zur Verfügung gestellten Informationsangebote, das ‚agenda setting‘ in gesellschaftlicher Kommunikation sowie die sozialen und individuellen Wirklichkeitskonstruktionen in einer Gesellschaft.19 Medien sind der zentrale Faktor in der Strukturierung öffentlicher Wahrnehmung geworden und besitzen in ihren Selektions- und Präsentationsroutinen erheblichen Einfluss auf die Konstitution von Öffentlichkeit. Luhmann nennt Massenmedien folglich „ein Instrument der Sofort-Integration, der Herstellung gemeinsamer Aktualität“, durch die eine gemeinsame Unterstellung von sozialer ‚Realität‘ erzeugt werde.20 Allerdings folgen die dazu entwickelten Routinen nicht nur einer eigenständig ausdifferenzierten medialen Logik, sondern werden im Gefolge weiterer historischer Umbrüche maßgeblich von einer umfassenden ökonomischen Logik in den Dienst genommen. Die Implikationen, die mit Begriffen wie massenmediales System oder Mediensystem verbunden werden, sind jedenfalls so unterschiedlich, dass von einer einheitlichen systemtheoretischen Perspektive weder in Bezug auf die Massenmedien, noch auf einen anderen Aspekt öffentlicher Kommunikation gesprochen werden kann.21 Schließlich ist nicht nur der ‚Medienbegriff‘ durch erhebliche Unschärfen geprägt, die vom ‚Aussagenträger‘ bis zur ‚voll entfalteten Kommunikationsinfrastruktur‘ reichen22, sondern auch der ‚Systembegriff‘ ist umgangssprachlich wie sozialwissenschaftlich nicht eindeutig definiert. Selbst innerhalb der systemtheoretischen Debatte ist kein einheitliches Verständnis des Systemcharakters der Medien auszumachen.23 Bisweilen impliziert die Verwendung des Systembegriffs überhaupt keine systemtheoretische Grundlegung der Betrachtungen24, sondern bezeichnet lediglich einen technisch-institutionell identifizierbaren sozialen Komplex – wie die ‚Medienbranche‘ oder diejenigen Vermittlungsinstitutionen, die sich um den ‚Kommunikationskanal‘ eines Verbreitungsmediums ansiedeln.25 Zu diesen definitorischen Unschärfen kommen weiterhin empirische Differenzen: Nicht alle Autoren, die sich systemtheoretischer Terminologie bedienen, gelangen zu dem Schluss, dass es sich bei dem, was sie ‚Mediensystem‘ oder ‚gesellschaftliches Subsystem der Massenkommunikation‘ nennen, um ein System handelt, das in seinem Organisationsgrad mit dem wirtschaftlichen oder politischen System vergleichbar wäre. Für Habermas zum Beispiel sind die modernen Massenmedien zunächst lediglich eine generalisierte Form der Kommunikation, die sprachliche Verständigung zwar kondensiert, aber lebensweltlichen Kontexten verhaftet
19
20 21 22 23 24 25
Vgl. Schmidt 1990, S. 78. Wobei Systemtheoretiker nicht davon ausgehen, dass das sich verselbstständigende Mediensystem seinerseits steuernd in Führung geht; aber es strukturiert das Spektrum gesellschaftlicher Kommunikation vor, mit dem sich auch andere Teilsysteme zumindest als Umweltirritation auseinandersetzen müssen. Die steigende Wichtigkeit der Medien drückt sich – systemtheoretisch betrachtet – auch darin aus, dass andere gesellschaftliche Teilsysteme in Form von Public-Relations-Institutionen Grenzstellen schaffen, um strukturelle Kopplungen zum Mediensystem zu bearbeiten (vgl. Brosda/Schicha 2002; Saxer 1999; Schweda/Opherden 1995; Faulstich 1992). Luhmann 1981d, S. 319 Vgl. Hohlfeld 2003, S. 99ff. Siehe Kapitel I.3.1 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Jarren/Meier 2002, S. 130 Darauf hat Rühl (1969) früh hingewiesen. Vgl. Siegert 2001, S. 169; Decker/Langenbucher/Nahr 1976, S. 5. Auch Böckelmann (1975, S. 37) konstatiert, dass das massenkommunikative System als ein Subsystem von Wirtschaft und Politik angesehen werden könnte; dafür spräche, dass Massenkommunikation „keine festen Sinngrenzen und relativ geringe Autonomie“ besitze. Im Ergebnis werden die Massenmedien dann in einem sehr allgemeinen Verständnis des Begriffs als ein System gesehen, das sich vor allem in organisatorischer und struktureller Hinsicht ausdifferenziert hat und somit Leistungen und Funktionen für Gesellschaft erbringt.
248
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
bleibt.26 Massenmedien lösen ihm zufolge sprachliche Konsensbildung nicht ab, sondern spezialisieren und spezifizieren diese kontextabhängig. Auf diese Weise seien Massenmedien in der Lage, die Beschränkungen einer raumzeitlich gebundenen Kommunikationssituation durch Abstraktion ihrer Bedingungen zu überwinden: „Sie […] lassen Öffentlichkeiten entstehen, indem sie die abstrakte Gleichzeitigkeit eines virtuell gehaltenen Netzes von räumlich und zeitlich weit entfernten Kommunikationsinhalten herstellen und Botschaften für vielfältige Kontexte verfügbar halten.“27
Dieser emanzipatorisch verstandenen Entschränkungswirkung der Massenmedien steht allerdings eine Hierarchisierungswirkung entgegen, die sich daraus begründet, dass die Massenmedien die Wirksamkeit sozialer Kontrollen in gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen deutlich verstärken können, da der Zugang zu Massenmedien und damit zu gesellschaftlicher Öffentlichkeit nur in einem sehr idealtypischen Sinn als ‚frei‘ angesehen werden kann und realiter Zugangsbarrieren existieren. Vor allem die auf massenmedialer Selektivität basierende „Medienmacht“ versetzt mediale Akteure und ressourcenstarke Sprechergruppen in die Lage, zumindest zeitweilig und in bestimmten Situationen kommunikative Macht zu entfalten bzw. ihre administrative oder soziale Macht in kommunikative Macht zu transformieren: „Die Massenmedien können Verständigungsprozesse gleichzeitig aufstufen, raffen und verdichten, aber die Interaktionen nur in erster Instanz von den Ja/Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsansprüchen entlasten; auch die abstrahierten und gebündelten Kommunikationen können nicht zuverlässig gegen die Widerspruchsmöglichkeiten zurechnungsfähiger Aktoren abgeschirmt werden.“28
Habermas schreibt den Massenmedien daher, wie eingangs bereits konstatiert wurde, ein „ambivalentes Potential“ zu.29 Weder laufe die Medienentwicklung linear auf eine Zentralisierung zu, noch dürfe die Widerständigkeit einer eigensinnigen kommunikativen Alltagspraxis gegenüber den Medienangeboten unterschätzt werden. Besonders letztere wirke auf die Medieninhalte und ihre Präsentationsformen zurück und verhindere so eine simple Inanspruchnahme der Medien zur Verbreitung ideologischer Aussagen. Diese Aussagen über Massenmedien bei Habermas sind so allgemein gehalten, dass sie konzeptionell für alle Leistungen heranzuziehen sind, die eine mediale Infrastruktur und ein mit ihr verbundener Journalismus gemeinsam erbringen. Auf dieses allgemeine Phänomen der Massenkommunikation kann die Feststellung eines ambivalenten Potenzials gemünzt werden. Die Gründe für deren ambivalente Stellung zwischen Entschränkung und Vermachtung kommunikativer Zusammenhänge liegen dagegen aber in der von Habermas nicht weiter thematisierten Binnenstruktur massenkommunikativer Produktion und Kommunikation – genauer in der Binnenstruktur von Massenmedien und journalistischem Handeln. Um diese zu analysieren ist zwischen Massenmedien und Journalismus zu differenzieren: Massenmedien bilden eine ökonomische und technische Infrastruktur für das kommunikative Handeln von Journalisten, 26 27 28 29
Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 573 Ebd., S. 573 Ebd., S. 573 Ebd., S. 573ff. Dieses Potenzial gerät allerdings nur dann in den Blick der Kommunikationswissenschaft, wenn diese nicht empiristisch verkürzt ist und „Dimensionen der Verdinglichung kommunikativer Alltagspraxis überhaupt berücksichtigt“; dabei warnt Habermas allerdings davor, einfach einer „gewissen Überprägnanz“ der kulturkritischen Thesen Adornos (1963a; 1963b; 1967) zu folgen, denen Befunde der Medienforschung hinsichtlich der Differenziertheit von Medienanstalten, hinsichtlich der Professionalität von Journalisten bezogen auf ihren gesellschaftlichen Auftrag und hinsichtlich des kritischen Gehalts vermeintlich rein unterhaltender Medienprodukte mittlerweile eindeutig widersprechen. Adorno (1969) hat selbst in einem späteren Aufsatz differenziertere Anmerkungen folgen lassen.
1 Die Systemperspektive
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mithin eine materielle Ressource. Sie lassen sich daher als zweckrational gesteuerter, systemischer Rahmen von der kommunikativen Rationalität journalistischen Handelns abgrenzen.30 Bevor auf diesen systemischen Charakter der Massenmedien eingegangen werden kann, ist der zugrunde liegende Systembegriff zu klären.
1.2
System und Struktur
Ausgangspunkt systemisch basierter Analysen auch der Massenmedien ist die Diagnose, dass eine gesellschaftliche Logik an Relevanz und Dynamik gewinnt, die auf der Ausdifferenzierung zweckrational gesteuerter sozialer Bereiche (Systeme) beruht: Die Etablierung eines Mediensystems dient primär nicht lebensweltlichen Verständigungsabsichten, sondern folgt einer Zweckrationalität, die durch Machterwägungen persuasiver Kommunikation oder durch Profiterwägungen kommerzieller Anbieter geprägt ist. Zugleich kann sie aber die infrastrukturellen (vorwiegend materiellen) Grundlagen effektiver und effizienter gewährleisten, derer Journalismus grundsätzlich bedarf. Dies geschieht durch die Rationalisierung und Professionalisierung medialer Produktionsroutinen, durch die Entfaltung eigener Bewertungsmaßstäbe für mediensystemische Operationen und durch die Entwicklung neuer Organisations- und Kooperationsformen.31 Medien können ohne Journalismus existieren, aber Journalismus letztlich nicht ohne Medien.32 Die Ausdifferenzierung eines Mediensystems ist Teil eines umfassenderen Prozesses der sozialen Differenzierung moderner Gesellschaften entlang unterschiedlicher steuernder Logiken, die sich von der kommunikativ reproduzierten bzw. integrierten Lebenswelt lösen und gesellschaftstheoretisch komplementär zu ihr betrachtet werden können. Voraussetzung der Bildung solcher systemischer Funktionszusammenhänge ist eine weitgehende Rationalisierung der Lebenswelt, d.h. ihre Umstellung von traditionellen Mustern auf kommunikative Reproduktionsmechanismen und formal verrechtlichte soziale Beziehungen. „Die Lebenswelt muß so weit rationalisiert sein, daß sittlich neutralisierte Handlungsbereiche mit Hilfe formaler Verfahren der Normsetzung und -begründung legitim geregelt werden können. Die kulturelle Überlieferung muß schon so weit verflüssigt sein, daß legitime Ordnungen traditionsfester dogmatischer Grundlagen entbehren können. Und Personen müssen innerhalb des Kontingenzspielraums abstrakt und allgemein normierter Handlungsbereiche schon so weit autonom handeln können, daß sie ohne Gefährdung der eigenen Identität von moralisch definierten Zusammenhängen verständigungsorientierten Handelns auf rechtlich organisierte Handlungsbereiche umschalten können.“33
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Vgl. auch Altmeppen (2006, S. 263), der prägnant darauf hinweist, dass „[…] Journalismus im Orientierungshorizont der Öffentlichkeit operiert, die Medien dagegen im Orientierungshorzont der Wirtschaft“. Dadurch erhöht sich nicht zuletzt die eigenlogische Steuerung der Massenmedien in einem Wechselspiel von Leistungs- und Publikumsrollen (vgl. Jarren 1998a, S. 84). Der Systembegriff steht hier in enger Verwandtschaft zum Strukturbegriff nach Giddens (1995), demzufolge sich auch dem Handeln der Akteure soziale Strukturen bilden, die künftiges Handeln präfigurieren zugleich aber offen für Veränderung durch Handeln sind. Daraus ergibt sich zwangsläufig eine graduelle Nähe zwischen den Begriffen Organisation und System: „Vielfach wird, vor allem alltagssprachlich, nicht zwischen Organisationen und Systemen unterschieden. Organisationen können dann als soziale Systeme aufgefasst werden, wenn sich dauerhafte Rollen- und Interaktionsstrukturen in ihnen ausprägen und sie über einen bestimmten Grad an Eigenkomplexität verfügen. Von Organisationsautonomie spricht man, wenn Organisationen relativ unabhängig von Einflüssen aus unterschiedlichen Umwelten, bspw. bei der Zielfindung oder Personalauswahl, entscheiden können.“ (Jarren/Meier 2002, S. 141) Vgl. Weber 2005, der darauf hinweist, dass die erste Zeitung 1605 ohne Journalisten entstanden ist. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 470
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V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
Erst wenn die Lebenswelt in dem beschriebenen Sinne rationalisiert ist, haben sich ihre einzelnen Bestandteile so weit in reflexive und formale Mechanismen verwandelt, dass es möglich ist, einzelne Handlungsbereiche vom integrierenden Modus des konsensstiftenden Sprachgebrauchs zu entkoppeln und aufgrund ihrer eher zweckrationalen, zielbestimmten Ausrichtung gemäß entsprachlichter Steuerungsmodi zu koordinieren. Diese Steuerungsmedien bilden sich demnach in einem sozial-evolutionären Prozess heraus. Bestimmte gesellschaftliche Bereiche der Zwecktätigkeit werden von Kommunikationsaufwand und Dissensrisiko entlastet, indem sie der Maßgabe der kommunikativen Vernunft entzogen werden. An ihre Stelle treten symbolisch generalisierte Steuerungsmedien, die sich auf empirisch motivierte Bindungen beziehen, einen zweckrationalen Umgang mit kalkulierbaren Wertmengen beschreiben und eine generalisierte strategische Einflussnahme auf die Entscheidungen anderer ermöglichen, ohne dafür sprachlich gestützte Konsensbildungsprozesse in Anspruch zu nehmen.34 Diese Steuerungsmedien können klar umrissene Bereiche materieller Reproduktion „gegenüber der Alternative von Einverständnis und fehlgeschlagener Verständigung neutralisieren“.35 Sie ersetzen in diesen Bereichen die integrative Kraft der Sprache und koppeln damit die Interaktion in ihrem konkreten Vollzug von der Lebenswelt ab. Diese Steuerungsmedien selbst allerdings bedürfen der förmlichen Rückkopplung an die Lebenswelt, d.h., ihre Konstitution muss in lebensweltlichen Kontexten z.B. durch rechtsförmige Fundamente begründbar sein.36 Die primären Ausdifferenzierungen nach diesem Muster betreffen das über das Steuerungsmedium Geld strukturierte Wirtschaftssystem und das über das Steuerungsmedium Macht strukturierte politisch-administrative System.37 Sie treten über ihre Grenzen hinweg mittels ihrer Steuerungsmedien mit ihren Umwelten in Kontakt. Diese Prozesse lassen sich bezogen auf das Wirtschaftssystem und seine Interaktionen mit Arbeitskräften und Konsumenten genauso beobachten wie bezogen auf das politisch-administrative System und seine Kontakte mit Staatsbürgern und Klienten. Dabei normiert das System im Verlauf seiner Ausdifferenzierung auch die Rollenmuster, nach denen Lebensweltakteure mit ihm in Kontakt treten können und konditioniert so deren Entscheidungsoptionen. Journalistische Berufsrollen sind dafür ein gutes Beispiel: Durch die mediale Verfasstheit des journalistischen Handelns werden seine Grundzüge zunehmend nicht mehr aus seiner Kommunikativität heraus bestimmt, sondern als ‚constraints‘ oder als Ermöglichungsstrukturen durch das Mediensystem gesetzt. Kommunikation wird als Arbeit funktionalisiert und gerät in den systemischen Gestaltungsspielraum. In diesem Zusammenhang ist bisweilen – im Gegensatz zu einer ‚machtfreien‘ Lebenswelt – irreführend von den Systemen als einer „normfreien Realität“ die Rede.38 Präziser ist es allerdings von ‚sittlich neutralisierten systemischen Handlungsbereichen‘ zu sprechen, da sich in den von Habermas als systemisch integriert beschriebenen Gesellschaftsbereichen nicht die
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Vgl. ebd., S. 273. Dieser Medienbegriff ist nicht kompatibel mit dem in der Analyse der Massenmedien zugrunde gelegten. Er bezeichnet im Anschluss an Parsons Austauschmöglichkeiten, die an Stelle sprachlicher Koordinierung treten. Wenn vom Medium Geld oder Macht die Rede ist, dann ist dieser Medienbegriff (Steuerungsmedium) gemeint. Ansonsten wird der weniger spezifische Begriff des Mediums verwendet, der einführend umrissen worden ist. Luhmann (1981b, S. 28f. u. 1997, Bd. 1, S. 190ff.) differenziert verschiedene „Kommunikationsmedien“ in „Verbreitungsmedien“ und „symbolisch generalisierten Medien“. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 393 Vgl. ebd., S. 398 Vgl. Habermas 1986a, S. 386; grundsätzlich: Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 173ff. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 483; vgl. auch kritisch dazu: Honneth 1989, S. 328.
1 Die Systemperspektive
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moralische Gültigkeit von Normen, sondern die Einstellung ihnen gegenüber verändert, indem ihre faktisch sanktionierte Geltung suspendiert wird.39 Auch für die Moderne ist an einem Primat der Lebenswelt festzuhalten, der aus der formalpragmatisch und evolutionstheoretisch begründeten Feststellung hergeleitet werden kann, dass die Entkoppelung der Systeme nur ‚weitgehend‘, nicht aber vollständig sein kann. Die Subsysteme sind ohne die sozialintegrative Kraft der Lebenswelt nicht denkbar, sondern bedürfen der institutionalisierten Verankerung in deren Strukturen. Das führt zu einer Situation, in der sich bestimmte gesellschaftliche Funktionsbereiche einerseits von der grundlegenden Logik der sozialen Integration einer Gesellschaft abkoppeln, andererseits aber die Systemintegration, die in den ausdifferenzierten Bereichen tendenziell die Führung übernimmt, wiederum auf die kommunikative Verständigung zumindest in Form eines legitimatorischen Unterbaus angewiesen bleibt. Einer dieser legitimationsbeschaffenden Gesellschaftsbereiche ist die (auch durch journalistisches Handeln konstituierte) Öffentlichkeit. Kritiker befürchten, dass eine empirisch konkretisierte Verwendung dieses zweistufigen Gesellschaftsmodells dazu verleitet, Gesellschaft nicht mehr als Ganzes zu betrachten, sondern sie in Einzelteile zu zerlegen, die weitgehend bezuglos verbleiben und nur mit größten theoretischen Anstrengungen und mit von außen an das Modell herangetragenen Annahmen doch noch zu einer Einheit zusammenzubinden sind.40 Ginge man makrotheoretisch von einem solchen absoluten Schnitt durch die Gesellschaft aus, dann bliebe der Journalismusanalyse tatsächlich nur die Möglichkeit, eine einseitige Unterwerfung des Journalismus unter kapitalistische Wirtschaftsimperative zu beschreiben, wie es Autoren mit polit-ökonomischem Hintergrund tun41 – allerdings ohne ein Instrumentarium der Kritik zu besitzen, dass die problematischen Konsequenzen des Primats systemischer Zwänge gegenüber lebensweltlichen Ansprüchen bearbeitbar machte. Grundlage der soziologischen Kritik an diesem Gesellschaftsbild ist vielfach der Eindruck, dass die Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt unnötig stark reifizierend und konkretistisch getroffen wird.42 Während Habermas in der theoretischen Herleitung Systeme allgemein als einen „analytische[n] Aspekt des gesellschaftlichen Handlungszusammenhangs“ beschreibt, objektiviert er diese unhandliche Annahme für die konkrete Gesellschaftsanalyse, indem er Systeme hier als einen „verselbständigte[n] Handlungsbereich moderner Gesellschaften“ begreift.43 Der Systembegriff wird folglich unterschiedlich verwendet: In einer allgemeinen Perspektive werden Systeme als theoretische Modellfigur eingeführt, um Prozesse der Systemintegration zu beschreiben. Aus einer spezielleren, historisch kontingenten Perspektive werden empirisch identifizierte, gesellschaftliche Systembereiche materieller Reproduktion modelliert, um die Auswirkungen der konkreten Systembildung zu einem konkreten historischen Zeitpunkt zu beschreiben. Erst der spezielle Systembegriff und die mit ihm verbundene analytische Betrachtung der Umstellung der materiellen Reproduktion auf durch Steuerungsmedien integrierte Systembereiche ermöglicht die Beschreibung eines zweistufigen Gesellschaftsaufbaus. Diese Konkretisierung 39 40
41 42 43
Vgl. Dietz 1993, S. 139 Vgl. für einen umfassenden Überblick Honneth/Joas 1986; Honneth u.a. 1989. Nach Rehberg (1994, S. 54) resultiert aus der Differenzierung in einen lebensweltlich-kommunikativ und einen systemisch-zweckrational integrierten Bereich die „Vorstellung unterschiedlicher Vergesellschaftungskomplexe“, der der „Gedanke des ‚Unversöhnten‘“ zugrunde liege. Auch Honneth (1989; S. 290) und Joas (1986, S. 164) kritisieren die tendenzielle Zuordnung der unterschiedlichen Integrationsmechanismen zu getrennten gesellschaftlichen Bereichen. Vgl. Schütt 1981; Dröge 1973; Holzer 1971; 1973 Vgl. Honneth 1989, S. 282 Dietz 1993, S. 117
252
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
ist als Ausarbeitung eines für die Moderne gültigen, historisch kontingenten Modells systemischer Koordinierungsmechanismen zu sehen. In ihm bleibt – trotz anders lautender Kritik – die Gesellschaft und ihre Integration als Ganzes das Untersuchungsobjekt. System- und Sozialintegration existieren nicht nur in ihrer jeweiligen analytisch konkretisierten Ausprägung von System und Lebenswelt nebeneinander, sondern sind auch in einem übergreifenden Gesamtblick auf Gesellschaft in allen Bereichen zu finden. Weder sind Systeme frei von kommunikativen Handlungen; noch ist die Lebenswelt freigestellt von schwächeren systemischen Mechanismen.44 Allerdings sind weder strategische Handlungen noch systemintegrative Mechanismen konstitutiv für die Reproduktion lebensweltlicher Zusammenhänge. Die Unterscheidung zwischen Lebenswelt und System als unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen ist zunächst lediglich die eines sozialwissenschaftlichen Analytikers und beruht auf der jeweiligen dominierenden Gültigkeit eines Integrationsmechanismus und seiner analytischen Zugänglichkeit. Dies bedeutet nicht, dass alle systemintegrativen Mechanismen innerhalb der ausdifferenzierten und sich entkoppelnden Systeme zusammengefasst sind, sondern lediglich die über Steuerungsmedien konkretisierten Funktionsbezüge. In diesen Bereichen ist primär nicht die kommunikative Verständigung, sondern die koordinierende Funktion des Steuerungsmediums ausschlaggebend für die Integration. In diesem Sinne kann von systemisch integrierten Bereichen gesprochen werden. Diese Form der zweckrationalen Handlungskoordinierung ist nach Habermas nur in den Bereichen der materiellen Reproduktion denkbar. Das schließt nicht aus, dass auch die Lebenswelt nach systemischen Kriterien untersucht werden kann, allerdings wäre dieser Versuch wohl weit weniger fruchtbar als die von Habermas präferierte Perspektive der Handlungstheorie45 – eine zentrale Differenz zu den Annahmen der Systemtheorie Luhmanns, die alle gesellschaftlichen Bereiche analytisch der Logik systemischer Ordnung unterwirft.46 Umfassende Systemfunktionalisierung betrifft nach Habermas somit nur Teile von Gesellschaft.47 Eine Entlastung der Lebenswelt und ihres kommunikativen Handlungsmodus ist 44 45
46 47
Vgl. Habermas 1986a, S. 388 Habermas (1986a, S. 381f.) selbst weist auf diese Möglichkeiten hin: „Es kann also keine Rede davon sein, daß ich den Funktionalismus auf Erscheinungen der materiellen Reproduktion beschränken wollte. Ebensowenig trifft es zu, daß sich Vorgänge der symbolischen und der materiellen Reproduktion nur unter jeweils einem der Aspekte erfassen ließen. Im Ansatz lassen sich alle Phänomene unter jedem der beiden Aspekte beschreiben, allerdings nicht mit gleicher Tiefenschärfe erklären. Wie eine Lebenswelt ihre materiellen Bestandsvoraussetzungen reproduziert, ist immer auch aus deren eigener Perspektive zugänglich; es hängt freilich vom Grad der Differenzierung einer Gesellschaft ab, ob diese Prozesse so unübersichtlich und komplex geworden sind, daß sie aus dieser Perspektive unzulässig verkürzt werden und unter dem Systemaspekt besser erklärt werden können. Umgekehrt wird die Systemanalyse stets auch die Beiträge erfassen, die kulturelle Tradition, Sozialintegration und Sozialisation zur Grenzstabilisierung in einer überkomplexen Umwelt leisten; dabei muß sie freilich die internen Beschränkungen, welche die symbolischen Strukturen der Steuerungskapazität jeweils auferlegen, als kontingente Daten mitbehandeln, ohne diese angemessen, beispielsweise mithilfe von Entwicklungslogiken erklären zu können.“ Vgl. z.B. Luhmann 1997, 2 Bde. Dass nur bestimmte Bereiche von Gesellschaft weitgehend auf die Systemintegration umgestellt werden können, begründet Habermas (1995 [1981], Bd. 2, S. 407) mit spezifischen Kriterien, die ein Steuerungsmedium erfüllen muss, um wirksam werden zu können: „Realwerte und Deckungsreserven müssen so beschaffen sein, daß sie eine empirisch motivierende Kraft haben. Die physische Kontrolle von Deckungsreserven muss möglich sein. Die Medien müssen gemessen, entäußert und deponiert werden können. Durch die normative Verankerung der Medien darf kein neuer Kommunikationsaufwand entstehen, dürfen keine weiteren Dissensrisiken verursacht werden.“ Diese Kriterien beziehen sich auf den Prototyp des Steuerungsmediums Geld, während Habermas Schwierigkeiten bei der Beschreibung des Steuerungsmediums Macht einräumt – allein schon deshalb, weil der Machterwerb und -besitz in demokratisch verfassten Gesellschaften in stärkerem Maße an Legitimation aus lebensweltlich-kommunikativen Kontexten gebunden sind. Dennoch begreift Habermas Macht als
1 Die Systemperspektive
253
aufgrund der eingeschränkten Funktionalität von Steuerungsmedien nur in den eng geschnittenen Bereichen der materiellen Reproduktion denkbar. Eine konsequente Verdichtung und Aufstufung von Vereinfachungs- und Entlastungsmechanismen hin zu einem vollständigen Ersatz von Sprache in den Bereichen symbolischer Reproduktion würde dagegen die Mechanismen der Sozialintegration gefährden: Kulturelle Reproduktion und individuelle Sozialisation lassen sich nicht auf Systemmechanismen umstellen, da Leistungen sprachlicher Koordination nicht vollständig durch andere Steuerungsmedien ersetzt werden können. Die Vorschläge, die sich diesbezüglich in systemtheoretischen Entwürfen finden lassen (z.B. Reputation etc.) wirken zwar unter Umständen handlungs- und kommunikationsentlastend, aber sie begründen keine Rationalitätssteigerung und minimieren daher nicht in letzter Konsequenz das Dissensrisiko, sondern haben allenfalls Wirkung, wenn sich die beteiligten Interaktionspartner zuvor auf ihre fallweise Geltung in der Situation geeinigt haben.48 Diese Beispiele zeigen aber immerhin – ebenso wie die konzeptionelle Behandlung der Massenmedien bei Habermas –, dass die vermeintlich klare Grenze zwischen der ‚reinen‘ spontanen Kommunikativität von Lebenswelt und der ‚reinen‘ systemischen Zweckrationalität nicht eindeutig definierbar ist, sondern dass es fließende Übergänge und Interpenetrationen zwischen den unterschiedlichen Koordinierungsmechanismen geben kann. Darauf verweisen insbesondere strukturierungstheoretisch fundierte Gesellschaftstheorien nach Giddens, die zweckrationale Institutionen nicht per se in den Systembereich abschieben.49 Ihnen zufolge bestimmen Institutionen einerseits aufgrund der durch ihre faktische Existenz vorhandenen Zwänge (‚constraints‘) den Handlungsspielraum gesellschaftlicher oder individueller Akteure, konstituieren sich aber andererseits durch die Aktionen der Beteiligten und Betroffenen.50 Raabe konstatiert entsprechend, „[…] dass Strukturen stets zugleich sowohl ermöglichenden (enabling) als auch restringierenden (constraining) Charakter haben“.51 Solche institutionentheoretischen Ansätze, wie sie zum Beispiel von Giddens vorgelegt worden sind, werden zunehmend auch in der Kommunikationswissenschaft diskutiert.52 Mit der Habermasschen Gesellschaftstheorie sind diese Überlegungen kombinierbar, wenn man sie auf lebensweltliche Institutionen bezieht, deren Etablierung sich mit dem Modell der Strukturierung gut nachvollziehen lässt. Der Zusammenhang von Struktur (Institution) und Handeln wird von Giddens weder funktional noch kausal gefasst. Er betrachtet ihn vielmehr als rekursiv dahingehend, dass Handeln Strukturen produziert und reproduziert, die wiederum Handeln ermöglichen und begrenzen. Während diese Strukturen außerhalb ihrer Anwendung im Handeln nur virtuell existieren und sich im Handeln rekursiv aktualisieren und verändern, sieht die Strukturierungstheorie Systeme als verfestigte Interaktionsmuster, die empirisch auffindbar sind.53 Giddens
48
49 50 51 52 53
symbolisch generalisiertes Steuerungsmedium, da es innerhalb politischer und administrativer Organisationen vor allem durch Amts- und Personenbindung sprachersetzende und integrierende Wirkung entfaltet. In ‚Faktizität und Geltung‘ versteht Habermas (1992, S. 427) nur noch die „auf Planung und Daseinsvorsorge spezialisierte öffentliche Administration“ als systemisch organisiert – und das nur „mit großem Abstand“ zu dem über Geld ausdifferenzierten Wirtschaftssystem. Denkbar sind hier, so Habermas (1995 [1981], Bd. 2, S. 412), allenfalls generalisierte Kommunikationsformen, die Sprache in ihrer Koordinationsfunktion nicht ersetzen, „[…] sondern durch Abstraktion lebensweltliche Komplexität lediglich entlasten“ können. In diesem Zusammenhang sind handlungskoordinierende Mechanismen wie Reputation, Einfluss oder Wertbindung als Beispiele zu nennen. Vgl. Giddens 1995 Vgl. Göhler 1994b, S. 26; siehe auch die weiteren Beiträge in Göhler 1994a. Raabe 2005, S. 165 Vgl. z.B. Raabe 2005; Jarren/Donges 2002a; 2002b; Altmeppen/Quandt 2002; Röttger 2000; Altmeppen 1999 Vgl. Röttger 2000, S. 144ff.
254
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
versteht sie als „[r]eproduzierte Beziehungen zwischen Akteuren oder Kollektiven, organisiert als regelmäßige soziale Praktiken“.54 Soziale Strukturen sind nicht als vom menschlichen Handeln losgelöste abstrakte Zwangs-Mechanismen zu verstehen, sondern als aus dem Handeln aufstrukturierte und dynamische gesellschaftliche Zusammenhänge, deren normierende, sozialregulierende Wirkung sich aus der Generalisierung von Prinzipien und Geltungsansprüchen in symbolischen Ordnungen herleiten lässt.55 Sie sind daher ebenso als „Synthesen zwischen personellen und sozialstrukturellen Voraussetzungen eines Ordnungsarrangements“ wie als „Vermittlungsinstanzen kultureller Sinnproduktionen, durch welche Wertungs- und Normierungs-Stilisierungen verbindlich gemacht werden“, zu betrachten.56 Ein solches Verständnis lässt Institutionen als gesellschaftliche Bereiche erscheinen, die in kommunikative wie systemische Bezüge eingespannt sind und in denen sich externalisierende wie internalisierende Prozesse identifizieren lassen.57 So verstanden können Institutionen auch als Bestandteile lebensweltlicher Vergesellschaftungsprozesse begriffen werden, da sie als symbolische Ordnungsleistungen stets an kommunikative Reproduktion rückgebunden sind.58 Anders als die Systemtheorie, die klare Rationalitätsgrenzen postuliert, thematisiert Giddens interne Verknüpfungen und damit auch Möglichkeiten der Veränderungen durch individuelles Handeln.59 Raabe beschreibt das beispielhaft für den Journalismus: „Zwar müssen sich auch neu heranwachsende Journalistengenerationen den Regeln des Journalismus ‚beugen‘. Aber sie werden bei der Konfrontation mit ihnen diese Regeln und die Art ihrer Einhaltung anders wahrnehmen und deuten – und dadurch auch zu einer entsprechend veränderten Handlungspraxis gelangen.“60
Für eine Analyse des Medienbetriebs bietet sich diese Perspektive an. Um aber die Durchsetzungschancen des kommunikativen Handelns in einem primär ökonomisch geprägten Umfeld zu beschreiben, verspricht die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ das normativ angemessenere analytische Raster zu sein. In ihrem Rahmen könnten Giddens’ Überlegungen vor allem 54 55 56
57 58
59 60
Giddens 1995, S. 77 Vgl. Rehberg 1994, S. 56 Ebd., S. 56f. Der dynamische Charakter von Institutionen oder auch institutionellen Mechanismen zeigt sich auch in den Schlüsselbegriffen, die Rehberg (1994, S. 57ff. ) für eine Analyse von Institutionen anbietet: • Symbolizität: Institutionen erwachsen aus der symbolischen Verkörperung ihrer Geltungsansprüche. • Transzendenzen: Institutionen ermöglichen über die Zwischenstufen Entsituationierung und Generalisierung eine Transzendenz von Normen, die dazu führt, dass werthaltige Geltungsansprüche nicht mehr nur an ihre ursprünglichen Entstehungszusammenhänge gebunden sind, sondern einen weitergehenden normativen Anspruch erheben können. • Leitideen: Institutionen sind gekennzeichnet durch ein Set von Ordnungsleistungen, die sich im Institutionalisierungsprozess herausbilden und in zentralen Leitideen formuliert werden können. Vgl. die Beiträge in Göhler 1994a. Nicht ausgeschlossen ist aber auch, dass solche Institutionen vorwiegend systemisch gesteuert werden oder gar ganz in den Bereich des Systems ‚abwandern‘. In seinen späteren Publikationen, gerade in der Rechtsphilosophie und -soziologie von „Faktizität und Geltung“ und in der dort vorgenommen Neuakzentuierung des Rechtsverständnisses als einem zentralen institutionellen Mechanismus kommt Habermas (1992) auf ein vergleichbares – lebensweltlich fundiertes – Institutionenverständnis zurück, das besonders auf die kommunikative Dynamik symbolischer Vergesellschaftungszusammenhänge rekurriert. In dieser Studie verändert Habermas vor allem seine bislang zugrunde gelegten rechtstheoretischen Annahmen, um eine politiktheoretisch fruchtbare Analyseperspektive zu gewinnen, die dem ambivalenten Status von Institutionen besser gerecht wird als die Annahmen der Kolonialisierungsthese. Das Recht erscheint hier als der zentrale Modus, über den die Lebenswelt die Rückbindung der Systeme an ihre eigene Rationalität gewährleisten kann. Recht steht dann nicht konträr zu diskursiven Prozessen, sondern ist – in seiner Institutionalisierung – vielmehr deren direktes Ergebnis. Vgl. Giddens 1995, S. 281ff.; vgl. auch Pöttker 1997 aus der Perspektive einer modernen Weber-Analyse. Raabe 2005, S. 192
2 Ausdifferenzierung der Massenmedien
255
zur Beschreibung von Institutionalisierungsprozessen in der Lebenswelt und in Grenzbereichen zwischen Lebenswelt und Systemen genutzt werden. Eine Integration der beiden Großtheorien verspräche eine Stärkung der Grundlagen (normativer) Handlungstheorie in den Sozialwissenschaften. Das kann hier nicht geleistet werden, aber im Folgenden soll immerhin entlang dieser rudimentären Skizze argumentiert werden.61 Dabei wird davon ausgegangen, dass es neben spontaner lebensweltlicher Kommunikativität und aus ihr erwachsenden lebensweltlichen Institutionen auch systemische Strukturen gibt, die einer eigenen Steuerungslogik unterliegen und deren Expansivität sich darin zeigt, dass sie die Rekursivität von Handeln und Struktur in der Lebenswelt durch eine Übernahme und ‚Umpolung‘ der Struktur austrocknen.
2
Ausdifferenzierung der Massenmedien
Die Analyse der organisatorischen und institutionellen Rahmenbedingungen des journalistischen Handelns bedarf der Differenzierung zwischen unterschiedlichen Rationalisierungsmechanismen. Adaptiert man die bisherigen Überlegungen, dann lässt sich konstatieren, dass Massenmedien allgemein die materiellen Grundlagen journalistischen Handelns konstituieren. Ohne die koordinierenden Leistungen in Redaktionen, ohne die infrastrukturellen Bereitstellungen von Produktion und Vertrieb wäre auf Öffentlichkeit bezogenes journalistisches Handeln kaum denkbar. Dabei steht außer Frage, dass die Rationalisierung der Medienorganisationen, die gemeinsam als gesellschaftliches Mediensystem in einem allgemeinen Sinne bezeichnet werden können, neben gesellschaftlichen Umbrüchen auch einer Steigerung der ökonomischen Rationalität in den Medien geschuldet ist.62 Diese Ausdifferenzierungsdynamik ist zugleich der Grund für ihre eigene Beschränkung, so „[…] dass das Mediensystem aus systemtheoretischer Perspektive einen eher schwachen Grad an Ausdifferenzierung aufweist. Medien als geldabhängige Organisationen sind immer auch eng mit dem ökonomischen System verknüpft, das für die Organisationen eine zweite und immer bedeutsamere Handlungsorientierung bietet.“63
Massenmedien sind daher kein gefestigtes Teilsystem wie das politisch-administrative oder das ökonomische System, sondern orientieren sich gleichzeitig auf mehrere und unterschiedliche teilsystemische Logiken. Darüber hinaus sind sie kaum in der Lage, ihre gesellschaftliche Leistung gegenüber anderen gesellschaftlichen Akteuren als exklusiv durchzusetzen. 61
62 63
Eine solcherart erweiterte Analyse des Handlung-Struktur-Zusammenhangs könnte die Habermassche Gesellschaftstheorie an einer entscheidenden Stelle voran bringen. In der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘, so kritisieren manche Autoren, manövriere der Autor seine Analyse in eine unnötig defensive Lage, weil er strukturiertere Sozialbereiche vermeintlich aus lebensweltlichem Zugriff entlasse (vgl. McCarthy 1986; Balkenhol 1991; Honneth 1989; Alexander 1986; Berger 1986). Deutlich werde dies an der Verwendung der Kategorie Macht, die, wie Habermas selbst ausgeführt hat, nur unter theoretischen Problemen als ein generalisiertes Steuerungsmedium darstellbar ist. Dadurch, dass er diesen Weg dennoch wähle, bekomme Habermas Politik schwer in den Blick. In einer Demokratie könne Politik nicht voraussetzungslos an einen systemischen Zusammenhang abgegeben werden und sei systemtheoretisch nicht angemessen zu beschreiben. (vgl. McCarthy 1986, S. 197). Die Strukturierungstheorie kann hier einen differenzierten Zwischenschritt markieren, indem sie die Differenz zwischen Lebenswelt und System kategorisch anders und damit im Ergebnis weniger scharf fasst. Journalisten bejahen einen steigenden Einfluss von Management und Marketing auf den Journalismus (vgl. Weber 2000, S. 161ff.) oder erwarten eine weitere „Kommerzialisierung der Nachricht“ (vgl. Weischenberg/Altmeppen/Löffelholz 1994, S. 107ff.). Jarren/Donges 2004, S. 48
256 2.1
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien Strukturwandel der Öffentlichkeit und der Massenmedien
Die Etablierung eines Mediensystems ist verbunden mit einem sich über Jahrhunderte erstreckenden Strukturwandel von Medien und Öffentlichkeit, für den am Anfang die gestiegene formale Relevanz von Öffentlichkeit als Legitimationsressource im demokratisch-politischen Prozess ausschlaggebend ist: Die intendierte Sicherung der formalen Funktionsfähigkeit von Öffentlichkeit entleert diese materiell ihres politischen Gehalts und trocknet ihre verständigungsorientierte Kommunikativität aus. Bereiche vormals sprachlicher Integration werden umgestellt auf die Funktionslogiken von Macht (Recht) und Geld und damit dem kommunikativen Zugriff der privaten Bürger entzogen. Anstatt als praktische Bedingung eines politischen Prozesses rückt Öffentlichkeit als positiv formuliertes staatsbürgerliches Partizipationsrecht in den Blick. Sie wird „eine durch institutionelle und verfassungsrechtliche Garantien zu gewährleistende öffentliche Aufgabe“.64 Damit einher geht nach Auffassung von Habermas eine soziale Dynamik, die zu einer inhaltlichen Entwertung öffentlicher Debatten führt. Ausschlaggebend dafür sind die Aufweichung der einst dichotomischen Grenze von öffentlich und privat aufgrund staatlicher und wirtschaftlicher Interventionen, die Zurückdrängung der patriarchalischen Kleinfamilie sowie das Verschwinden eines bürgerlichen Bewusstseins gesellschaftlicher Verantwortung.65 In der neu entstehenden Sphäre des Sozialen verschränken sich die vormals getrennten Bereiche des Öffentlichen und des Privaten so stark miteinander, dass sie einer selbstvergewissernden Vermittlung der bürgerlichen Öffentlichkeit offensichtlich nicht mehr in gleicher Weise bedürfen. Öffentlichkeit gerät stattdessen in den Status einer zwischen den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen vermittelnden Institution im Zentrum des demokratischen Prozesses. Der dazu nötigen Verrechtlichung von Öffentlichkeit folgt ihre Ökonomisierung. Das ehemals konstitutive Räsonnement verwandelt sich zum freizeitlichen Konsum.66 Die
64
65 66
Heming 1997, S. 66. Dadurch wird der Einbruch administrativer Macht (Recht und Bürokratie) sowie sozialer Macht (Wirtschaft) in die vormals rein auf kommunikativer Macht ruhende bürgerliche Öffentlichkeit möglich. Da Habermas in seiner vorangegangenen Rekonstruktion eine klar geschiedene ökonomische Ordnung von kleinwarenproduzierender Gesellschaft und Staat als quasi ‚natürlich‘ gesetzt hatte, kann er die Veränderungen, die der gesellschaftliche Wandel für die Öffentlichkeit mit sich bringt, nur noch als Zerfall einer ‚besseren‘ Ordnung beschreiben (vgl. ebd., S. 38ff.). Sobald soziale Konflikte und Gruppenbedürfnisse aufgrund der veränderten gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen in die öffentlichen Auseinandersetzungen eindringen, verliert die unterstellte Neutralisierung von Einzelinteressen im bürgerlichen Räsonnement ihre historische Plausibilität, die sie auch vorher allenfalls im Sinne einer Idealisierung besessen hatte. Vgl. Habermas 1990, S. 229ff.; vgl. auch Geiger 1963, S. 324ff. oder Sennett 1986, S. 252ff., der vor allem die sozialpsychologischen Folgen der Veränderungen von Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, mithin den vermeintlichen Verfall der öffentlichen Rolle der Bürger, im Blick hat. Vgl. Habermas 1990, S. 248ff. Diese Tendenz macht Habermas besonders am Leseverhalten fest, das nicht mehr auf kulturelle und politische Information, sondern auf belletristische Unterhaltung abzielte. Diese neuen Rezeptionsbedürfnisse korrespondierten mit einem Wandel im Medienbereich, in dem zunehmend nicht mehr publizistische, sondern ökonomische Kriterien ins Zentrum rückten. Im Bereich des Journalismus setzte sich das boulevardeske Prinzip der ‚yellow press‘ Ende des 19. Jahrhunderts durch, das auf eine Maximierung der Auflagenzahlen durch Fokussierung auf ‚human interest‘-Themen ausgerichtet war (vgl. ebd., S. 258f.). Adorno (1963a; 1963b) konstatiert eine Verstärkung dieser Transformation der Mediennutzung vom staatsbürgerlichen Akt zum freizeitlichen Konsum durch die Etablierung des Fernsehen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. auch vor anderem gesellschaftstheoretischem Hintergrund Anders 1988 [1956]; 1988 [1980] und Enzensbergers (1991 [1988]) Klage über das „Nullmedium“ Fernsehen). Rust (1977, S. 133ff.) sucht angesichts dieser Zerfallsszenarien nach Möglichkeiten sozialwissenschaftlicher Planung im Interesse der Aufrechterhaltung öffentlicher Kommunikationsstrukturen – eine Frage, die auch Habermas (2007) ähnlich aufgegriffen hat.
2 Ausdifferenzierung der Massenmedien
257
Partizipation der Bürger wird weitgehend auf eine passive Publikumsrolle reduziert, für die lediglich akklamatorische Aufgaben wichtig sind.67 Hier klingen zentrale Annahmen der Habermasschen Theorie der Moderne an: Die Zweckorientierung subsystemischer Rationalitäten, die nicht kommunikativ, sondern über symbolisch generalisierte Steuerungsmedien konstituiert werden, geht gegenüber ursprünglicher Lebensweltlichkeit in Führung. Zwischen Staat und Gesellschaft verkehrt sich das Prinzip der Publizität. Öffentlichkeit wird nicht mehr lebensweltlich konstituiert, sondern von der Systemseite begehbar und gestaltbar: Dies geschieht politisch durch die Verrechtlichung ihrer Rahmenbedingungen und ökonomisch durch die Kapitalisierung eines Presse- und Medienwesens, das sich – von politischen Aufgaben zunehmend freigestellt – stärker auf die profitorientierte Produktion von Angeboten für ein konsumierendes Publikum konzentrieren kann.68 Aus der Presse, die „Organ der Aufklärung“ gewesen ist, wird, wie Geiger beschreibt, ein Medienwesen, dass entweder Meinungen ‚macht‘ oder sich Massenmeinungen strategisch unterwirft, um den eigenen Absatz zu verbessern.69 Öffentlichkeit konstituiert sich oftmals nicht aus sich selbst heraus, sondern wird durch Parteien, Verbände und kommerzielle Massenmedien inszeniert und geschaffen. Das Ergebnis: „[…] aus einem Prinzip der (von seiten des Publikums gehandhabten) Kritik ist Publizität zu einem Prinzip der (von seiten demonstrierender Instanzen – der Verwaltung und der Verbände, vor allem der Parteien) gesteuerten Integration umfunktioniert worden“.70
Öffentlichkeit wird unter diesen Bedingungen vorwiegend strategisch hergestellt; Partikularinteressen werden als öffentliche Notwendigkeiten kaschiert.71 Im Ergebnis, so das apodiktische Urteil, das Habermas 1962 fällt, werde aus der einstmals bürgerlichen Öffentlichkeit und ihrer kommunikativen Rationalität ein vermachteter und ein ökonomisch gesteuerter gesellschaftlicher Bereich. Dieses einseitige Zerfallsszenario wird in seiner altliberalen Idealisierung einer elitären und sozial exklusiven bürgerlichen Öffentlichkeit allerdings den auch positiven, poli67
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71
Ähnlich setzt auch Prokops kritische Medientheorie an dem Befund an, dass Massenmedien einen passiven Rezipientenstatus fördern, durch den produktive Spontaneität in regressive Phantasie umgepolt wird (vgl. Prokop 1974, S. 80). Er unterscheidet im Anschluss daran eine Öffentlichkeit der Verbände, Parteien und Unternehmen von einer nicht organisierten Öffentlichkeit des Publikums (vgl. Prokop 1981, S. 46ff.). Während die erste Form der neu entstandenen Öffentlichkeit auf der Basis der Tauschabstraktion ‚Unterhaltung‘ gesellschaftlich dominierend ist, bildet die nicht organisierte, spontane Gegenöffentlichkeit ein widerständiges Potenzial, das gleichsam in besonderen Situationen als Korrektiv der Formiertheit bürgerlicher Öffentlichkeit fungieren kann. Sie kann den generalisierten und fixierten Angeboten der Medienbetriebe qualitative Alternativen entgegensetzen – an die Stelle von formal ausgewogener Repräsentanz treten dann freie Artikulation und Verarbeitung von Erfahrungen, an die Stelle von Legitimationsbedürfnissen lebendige Produktion (vgl. Prokop 1974, S. 157f.). Vgl. zu den Auswirkungen des Strukturwandels auf die Presse ausführlich: Baum 1994, S. 88ff. Geiger 1963, S. 329ff. Habermas 1990, S. 307. Diesen Befund scheint auch Baerns (1985) in ihrer Studie über die PR-Steuerung des Journalismus zunächst vollständig zu bestätigen. Vor dem Hintergrund späterer empirischer Überprüfungen (vgl. Schantel 2000; Bentele/Liebert/Seeling 1997; Schweda/Opherden 1995; Saffarnia 1993; Barth/Donsbach 1992; Fröhlich 1992) muss allerdings von differenzierteren Wechselverhältnissen ausgegangen werden (vgl. Brosda/Schicha 2002). Vgl. Habermas 1990, S. 289. Hoffnung auf eine Veränderung dieser Refeudalisierung von Öffentlichkeit knüpft Habermas nicht an die Leistungen von Journalismus oder Massenmedien, sondern lediglich an die Wirkungen einer kritischen Publizität, die notwendig zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kommunikationsbereichen vermitteln muss. Diese kritische Publizität ist darauf angewiesen, dass sich in den die Öffentlichkeit dominierenden Organisationen interne Öffentlichkeiten bilden, aus denen heraus informelle Meinungen auch über die Organisation hinaus in Umlauf geraten können (vgl. ebd., S. 357ff.).
258
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
tisch erkämpften Veränderungen der sozialen Ordnung nicht gerecht.72 Vor allem die Ausblendung jeglicher anderer Formen von Öffentlichkeit (proletarische Öffentlichkeit; Gegenöffentlichkeiten etc.) wurde früh kritisiert.73 Eine gleichberechtigte Einführung des Systembegriffs in eine handlungstheoretisch fundierte Gesellschaftstheorie macht es möglich, die Ausdifferenzierung eines zweckrational organisierten Gesellschaftsbereichs ‚Massenmedien‘ nicht mehr nur als Zerfall einer einstmals ‚heilen Welt‘ kommunikativer und zwischenmenschlicher Gemeinsamkeit zu sehen, wie es der ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ impliziert, sondern sie als ein legitimes Verfahren gesellschaftlicher Komplexitäts- und Leistungssteigerung zu beschreiben. Massenmedien können zugleich als Treiber und als Getriebene des Strukturwandels der Öffentlichkeit betrachtet werden. Ihre gesellschaftliche Etablierung ist eines der zentralen institutionellen Ergebnisse der Veränderung rechtlicher und ökonomischer Grundlagen öffentlicher Kommunikation – in mehrerlei Hinsicht: • Aus gesellschaftlicher Sicht kann die Institutionalisierung der Massenmedien als Antwort auf die zunehmende Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften verstanden werden. Massenmedien bilden einen „Knotenpunkt gesellschaftlicher Informations- und Vermittlungsleistungen“.74 Sie ermöglichen dadurch in sozialen Gemeinschaften, die nicht mehr allein auf direkter Interaktion ihrer Mitglieder beruhen, trotzdem kommunikativ fundierte gesellschaftliche Meinungs- und Willensbildungsprozesse. Sie bilden die materielle Grundlage des Journalismus und lassen sich damit auch als eine institutionelle Gewährleistung von Öffentlichkeit verstehen, die – in optimistischer Lesart – dem Zerfall öffentlicher Kommunikationsstrukturen entgegenwirken soll.75 • Aus politischer Sicht können Massenmedien als Bestandteil des intermediären Systems einer Gesellschaft betrachtet werden, gemeinsam mit Parteien, Verbänden und anderen gesellschaftlichen Organisationen. Verglichen mit diesen haben sie aber dahingehend eine „Sonderstellung“ inne, dass sie als Organisationen in der Regel keine eigene politischideologische Programmatik verfolgen, sondern als „Resonanzboden für externe Themen, Informationen oder Meinungen“ fungieren.76 • Aus volkswirtschaftlicher Sicht besitzen Massenmedien eine Schlüsselstellung, „[…] weil sie als Träger aktueller Informationsangebote das Schwungrad einer hochgradig differenzierten und anpassungsfähigen Wirtschaft in Gang halten“77. Genauso wenig wie auf eine Verkehrsinfrastruktur zum Transport von Waren und Dienstleistungen können moderne Volkswirtschaften zweckrational auf eine massenmediale Infrastruktur zur Gewährleistung von ‚Informationstransport‘ aller Art verzichten. Damit ist der infrastrukturelle Bereich umrissen, der als die materielle Ressourcenbasis journalistischen Handelns angesehen werden kann. Diese Infrastruktur soll das Zustandekommen von Öffentlichkeit gewährleisten, um Demokratie zu ermöglichen, fungiert aber zugleich als 72
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Daran anschließend bleiben auch soziale Konflikte als Motor öffentlicher Strukturbildung zu wenig beachtet. Die Bildung des Sozialstaates ist auch als Folge öffentlicher Auseinandersetzung zu betrachten. Dass auf materielle Sicherheit zielende staatliche Eingriffe in einem dialektischen Verhältnis dazu die konstitutiven Bedingungen einer liberalen Öffentlichkeit auszuhöhlen drohen, ist analytisch erst vor der Folie der Revisionen nachzuvollziehen, die Habermas in der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ formuliert. Vgl. klassisch: Negt/Kluge 1972. Altmeppen 1996a, S. 12 Vgl. dazu die Argumentation in Decker/Langenbucher/Nahr 1976, 376f. Jarren 1998a, S. 85 Prott 1994, S. 481
2 Ausdifferenzierung der Massenmedien
259
Rahmen des auf Öffentlichkeit genuin gerichteten journalistischen Handlungsmodus und beinhaltet Handlungsressourcen und -grenzen für journalistische Akteure.78 Habermas selbst hat in der Neuauflage von ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ 1990 zentrale Revisionen an seinem Modell formuliert, in denen er sich vor allen Dingen mit seinen Annahmen zur Passivität des Publikums und zur vollständigen Vermachtung und Kommerzialisierung der Öffentlichkeit auseinandersetzt. Er verweist weit weniger auf absolute Veränderungen und argumentiert mehr mit Tendenzen. Vor dem Hintergrund eines zweistufigen Gesellschaftsmodells erscheinen Verrechtlichung und Ökonomisierung nicht mehr per se als bedrohliche Eingriffe in lebensweltliche Strukturen und damit auch in eine spontan assoziative Öffentlichkeit. Erst unzulässig weitreichende Übergriffe auf deren sozialintegrative Kernbestandteile wie Identitäten, Solidaritäten oder gesellschaftliche Wissensbestände werden als problematisch bewertet.79 Ob diese Übergriffe stattfinden, kann prominent auch anhand der Massenmedien untersucht werden, die aufgrund ihres privilegierten Zugangs zu der lebensweltlich zentralen Sphäre der Öffentlichkeit für die Beziehungen zwischen kommunikativer Rationalität und systemischer Macht- und Geldrationalität eine zentrale Stellung einnehmen.80
2.2
Ökonomisierung der Massenmedien „Die Umfunktionierung des Prinzips der Öffentlichkeit basiert auf einer Umstrukturierung der Öffentlichkeit als Sphäre, die am Wandel ihrer vorzüglichsten Institution, der Presse, dingfest zu machen ist. Einerseits wird im Maße ihrer Kommerzialisierung die Schwelle zwischen Warenzirkulation und Publikumsverkehr eingeebnet; innerhalb des privaten Bereichs verwischt sich die klare Abgrenzung zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre. Andererseits hört aber Öffentlichkeit in dem Maße, in dem die Unabhängigkeit ihrer Institutionen nur mehr durch gewisse politische Garantien gesichert werden kann, überhaupt auf, ausschließlich ein Teil des privaten Bereichs zu sein.“81
Die Entwicklung der Presse (und der ihr nachfolgenden Medien) ist vor der analytischen Folie des ‚Strukturwandels der Öffentlichkeit‘ als eine sukzessive, politisch gestützte Eingliederung in das Wirtschaftssystem zu beschreiben.82 Aus einer kleinbetrieblichen Struktur, die sich zwar 78
79
80 81 82
Innerhalb der ‚Theorie kommunikativen Handelns‘ ist es möglich, diese systemischen Steuerungsmechanismen zu skizzieren und zu handlungstheoretischen Annahmen in Beziehung zu setzen. Verfolgt man diese Option, „[…] dann können die jeweiligen ausdifferenzierten Teilsysteme als systemische ‚constraints‘ von Akteurshandlungen konzipiert werden, die sowohl abstrakte substanzielle Ziele vorgeben als auch Mittel, um diese Ziele zu erreichen“ (Siegert 2001, S. 171): Die Perspektive, Medien als ‚constraints‘ für Akteure zu verstehen, die an öffentlicher Kommunikation teilnehmen wollen (vgl. Jarren/Meier 2002, S. 134), richtet den Blick auch auf die unterschiedlichen Rationalitäten von Kommunikation und Medienhandeln. Vgl. Habermas 1990, S. 49f. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Modifikationen steht die Analyse eines ‚Strukturwandels der Öffentlichkeit‘ paradigmatisch für Veränderungsprozesse in der öffentlichen Kommunikation und wird als Rahmen für Transformations-Analysen immer wieder herangezogen (vgl. zum Beispiel: Jarren/Imhof/Blum 2000). Mitte der 1990er Jahre hatte eine Kommission beim Bundespräsidenten in einem „Bericht zur Lage des Fernsehen“ die These von der Refeudalisierung der Öffentlichkeit aufgegriffen. Dort nehmen die Autoren Bezug zu den modernen Ausprägungen symbolischer Politikinszenierungen und resümieren: „Diese vom Fernsehen provozierte Entwicklung entspricht einer Rückkehr der höfischen Öffentlichkeit, weil sich die politische Repräsentation von der Vertretung des Volkes zur Darstellung des eigenen Amtes entwickelt.“ (Groebel u.a. 1995, S. 147) Als ein zentraler Bestandteil des Strukturwandels der Öffentlichkeit wird dabei der verdinglichende Einfluss wirtschaftlicher Profitlogik betrachtet, der sich – vermeintlich alles andere erstickend – über die kommunikativen Austauschprozesse lege (vgl. auch kritisch Jarren/Vowe 1995). Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 571ff. Habermas 1990, S. 275 Vgl. grundlegend zur Medienökonomie Heinrich 1994 sowie Altmeppen/Karmasin 2003a; 2003b.
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V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
auch wirtschaftlich erhalten musste, in der aber publizistische und politische Motive eine starke Rolle spielten und in der die verlegerische Tätigkeit oft eine Hilfsfunktion der journalistischen war, erwachsen große Betriebe, in denen (ökonomische) Verlegerinteressen immer offener die Inhalte bestimmen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lief die Geschäfts- und Massenpresse der an den Idealen der Aufklärung orientierten Gesinnungspresse weitgehend den Rang ab und etablierte wirtschaftliche Interessen als einen wesentlichen Faktor in den Medien.83 Natürlich ist die Entwicklung der Medien schon „spätestens seit der Einführung der Tausch- und Geldwirtschaft“ auch mit wirtschaftlichen Profitinteressen verbunden.84 Die These vom Strukturwandel lässt sich sogar dahingehend interpretieren, „[…] dass die kommerzielle Ausrichtung des Verlagswesens mit der Entstehung der bürgerlichen Presse seit Ende des 17. Jahrhunderts publizistisch unterlaufen wurde“.85 Eine durchgreifende Kommerzialisierung der Presse war nach den vernunftorientierten öffentlichen Auseinandersetzungen der Aufklärung demnach erst in dem Moment wieder möglich, in dem sich das Bürgertum als herrschende Klasse etabliert hatte und seine Forderungen (darunter auch die Pressefreiheit) weitgehend umgesetzt waren. Die Presse musste dann nicht mehr als „Kampfinstrument“86 eingesetzt werden, sondern konnte unter kommerziellen Gesichtspunkten genutzt werden. Aber wer deswegen die Kommerzialisierung der Presse im 19. Jahrhundert als eine Rückkehr zu einer noch viel älteren „Osmose zwischen Kommerz und Publizistik“ interpretiert87, die nur im Zeitalter der Aufklärung kurzzeitig durch emanzipatorische Forderungen nach Trennung der beiden Medienfunktionen unterbrochen wurde, der übersieht, dass im Zuge dieser Osmose spätestens seit der Kommerzialisierung der Medienbetriebe im 19. Jahrhundert einseitig vorwiegend die Profitlogik in den Journalismus einsickert. Während in der bürgerlichen Öffentlichkeit journalistisches Handeln eine Steigerung seiner Rationalität erlebt hat, begibt sich mit dem Erstarken kommerzieller Interessen in den Medienbetrieben die Presse auf einen weiterreichenden Ausdifferenzierungspfad. Dies ist keine schlichte Rückkehr zu einem bereits am Beginn der Zeitung stehenden Profitinteresse der Verleger, sondern fundiert einen potenziell weit schrofferen Gegensatz zwischen journalistischen und kommerziellen Medienaspekten als zu den Zeiten nur schwacher funktionaler Differenzierung in der Frühphase der Presseentwicklung.88 Rentabilitätsorientierungen werden zur konstitutiven Grundlage der 83
84 85 86
87 88
Vgl. dazu Roß 1999, S. 262; Meier 1999, S. 62. Dieser Hinweis ist von Bedeutung, weil er verdeutlicht, dass die seit Anfang der 1980er Jahre in der Bundesrepublik diskutierten Konsequenzen der Einführung des privatkommerziellen Rundfunks keinen historisch einmaligen Vorgang betreffen, sondern einen zweiten Ökonomisierungsschub. Es hat auch früher starke Brüche in der Medienentwicklung gegeben, in denen trotz weitgehend identischer Form die funktionale Identität bestimmter Medienbereiche verloren geht oder sich stark verschiebt – so z.B. von der bürgerlich-fraktionellen Gesinnungspresse zur Massenpresse im 20. Jahrhundert (vgl. Dröge/Kopper 1991, S. 136f.). Melischek/Seethaler (2000, S. 112) stellen fest, dass die Printmedien zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Entwicklung durchgemacht haben, die der Entkoppelung audiovisueller Medien von gesellschaftlichen Belangen ähnlich war und die erst durch NS-Diktatur gewaltsam abgebrochen wurde. Heinrich 2001, S. 159; vgl. Knoche 2001, S. 177 Winter/Karmasin 2001, S. 211 Schütt 1981, S. 88. Folgerichtig hat die Medienkritik der 1970er Jahre behauptet, dass die Pressefreiheit seit Entstehen der Massenpresse faktisch nichts anderes bedeute als „[…] Pressegewerbefreiheit für profitorientierte Verleger, deren Weisungen für die redaktionelle Arbeit sich der Journalist bei Strafe der Entlassung zu fügen hat“ (Zeuner 1973, S. 14). Auch wenn diese Einlassung als überpointiert angesehen werden kann, ist unbestritten, dass die Gewerbefreiheit der Pressefreiheit stets vorausging (vgl. Kopper 1982, S. 77). Darüber hinaus ist die Kommerzialisierung der Presse selbstverständlich ein zentraler Einflussfaktor der historischen Entwicklung des Journalismus gewesen (vgl. Requate 1995, S. 243). Winter/Karmasin 2001, S. 211 Stern-Rubarth (1960) spricht klassisch vom „Konflikt zwischen der Zeitung als moralischer Anstalt und als Wirtschaftsunternehmen“.
2 Ausdifferenzierung der Massenmedien
261
Massenmedien; klare wirtschaftliche Kriterien machen publizistische Entscheidungen unmöglich, „[…] die dauerhaft die Reproduktionsbedingungen des in einem gegebenen Unternehmen eingesetzten Kapitals überschreiten“.89 Die Ökonomisierung der Medien ist Teil einer funktionalistischen Rationalisierung von Gesellschaft, die sich historisch betrachtet mit der Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsweise etabliert hat.90 In dem Maße, in dem in ausdifferenzierten Gesellschaften das ökonomische System und seine zweckrationale Geldrationalität ihren Geltungsraum ausdehnen, nimmt potenziell die ökonomische Steuerung der Massenmedien zu.91 Spricht man von einer Ökonomisierung der Medien, so ist damit gemeint, dass ökonomische Steuerungsimperative zunehmend für Entscheidungen in den Medien ausschlaggebend werden und letztlich die koordinierende Funktion der Sprache durch das symbolisch generalisierte Medium ‚Geld‘ ersetzt wird.92 Ökonomische Prinzipien und Rationalitäten erlangen dadurch einen wachsenden Einfluss auf alle Bereiche der Medien und auf die weitere Entwicklung der Medieninstitutionen. Spätestens in den 1970er Jahren wird eine Übertragung wirtschaftlicher Profitmaximierungsstrategien auf die Medien beobachtet, mit der ein direkter Durchgriff des Ökonomischen auf den Journalismus verbunden ist.93 Die gegenwärtig als Ökonomisierung oder Kommerzialisierung debattierten Prozesse verweisen nicht auf das Aufkommen einer neuen Rationalität in den Medien, sondern nur darauf, dass die bereits im 19. Jahrhundert etablierte ökonomische Logik an Dominanz gewinnt.94 Es lassen sich medienbereichspezifisch ganz unterschiedliche Ökonomisierungstendenzen feststellen:95 • Auf individueller (journalistischer) Ebene ist die Durchsetzung von eher egoistischen Kalkülen der individuellen Nutzenmaximierung auf Kosten tradierter ethischer Erwägungen zu konstatieren.96
89 90
91 92 93 94
95 96
Dröge/Kopper 1991, S. 41 Vgl. ähnlich auch Winter/Karmasin 2001, S. 208: „Ökonomisierung ist als einer neben anderen Rationalisierungsprozessen zu verstehen, in denen Handeln unter die Bedingungen symbolisch generalisierter Kommunikation gerät – wo also Handeln zunehmend durch den Einsatz symbolisch generalisierter Medien wie Geld, Macht oder Recht usf. organisiert wird.“ Vgl. Meier/Jarren 2001, S. 156f. Jarren und Meier (2002, S. 112) verstehen unter Ökonomisierung „[…] die Ausweitung der ökonomischen Logik auf Strukturen und Prozesse […], die bisher einer anderen Logik folgten“. Vgl. Fabris 1979, S. 40f. Altmeppen 2001, S. 196. Karmasin und Winter plädieren angesichts dieser Differenzierung und der ihrer Meinung nach wenig konkreten Kategorie der Ökonomisierung dafür, den von ihnen auf Unternehmensebene angesiedelten Begriff der Kommerzialisierung zu verwenden. Sie sehen in Ökonomisierung eine sozialwissenschaftliche Kategorie „zur Bezeichnung eines Prozesses, in dem ökonomische (Zweck-)Rationalität als eine gesellschaftlich legitime und ethisch legitimierte Form der Begründung und der Koordination von Handlungen an Bedeutung gewinnt“, während Kommerzialisierung als wirtschaftswissenschaftliche Kategorie „zur Beschreibung und zum Verständnis oder zur Erklärung von Veränderungen in der Medienindustrie“ besser geeignet sei (Winter/Karmasin 2001, S. 208). In der Regel wird die Bezeichnung Kommerzialisierung analog zum Ökonomisierungsbegriff verwendet (vgl. Saxer 1998c, S. 10; Altmeppen 1996b, S. 257f.). Heinrich (2001, S. 159) hält es sogar explizit nicht für sinnvoll, zwischen beiden Begriffen Ökonomisierung und Kommerzialisierung zu differenzieren, sondern sieht in dem Begriff Kommerzialisierung lediglich eine eher abwertende Bezeichnung von Ökonomisierungsprozessen. Vgl. zur folgenden Differenzierung Heinrich 2001, S. 161ff. Fengler/Ruß-Mohl (2005b) sprechen von einer „Ökonomik des Journalismus“. Unter dieser Überschrift spreizen sie die unweigerlichen zweckrationalen Anteile journalistischen Handelns zu einer ökonomischrationalen Kosten-Nutzen-Orientiertheit jedes journalistischen Handelns auf. Sie überhöhen damit eine empirisch zutreffende Beobachtung zu einem theoretisch problematischen Handlungskonzept (vgl. auch Fengler/Ruß-Mohl 2005a).
262
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
•
Auf der Ebene der Unternehmung befindet sich der Kern von Ökonomisierungsprozessen. Grund dafür ist in erster Linie die immer striktere Anwendung von betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Analysen mit dem Ziel der Gewinnmaximierung bzw. Steigerung des Shareholder-Values. • Auf der Ebene des Marktes ist es in erster Linie der zweckrationaler Wirtschaftslogik verpflichtete Wettbewerbsmechanismus, durch den Unternehmen zur konsequenten Ökonomisierung gezwungen werden, wenn sie erfolgreich bleiben wollen. • Auf der Ebene der Politik lassen sich Ökonomisierungsprozesse eher allgemein darin finden, dass gerade der Medienbereich mit dem Blick auf eine Steigerung von Wettbewerbsmöglichkeiten weitgehend dereguliert wird und politische Akteure auf staatliche oder gesellschaftliche Steuerungs- und Regelungsversuche jenseits des Marktes verzichten. Ökonomisierung der Medien, das zeigt diese Systematisierung, ist nicht nur auf der Makroebene der Systembildung zu untersuchen, sondern vor allem auf der Meso-Ebene der Medienorganisationen, der Medienunternehmen, die durch die Bereitstellung materieller Leistungen und durch die Bündelung der Produktionsschritte dem journalistischen Handeln ein Fundament gibt97, durch die sich aber zugleich eine systemische Logik des Ökonomischen aus der Sicht handelnder Journalisten manifestieren kann. Medienbetriebe sind „erwerbswirtschaftliche Einheiten mit Profitstreben“98, deren institutioneller Betriebsablauf sich nach privatwirtschaftlichen Zwecken richtet.99 In Medienunternehmen sind die Aufgaben der Produktion und Zusammenstellung von Informationen, des Marketings, des Vertriebs, des Bereithaltens der Produktionstechnik sowie der Organisation und Verwaltung zusammengefasst und unter ökonomischen Gesichtspunkten organisiert.100 Dabei rücken vor allem die kaufmännischverlegerischen Aufgaben der Vermarktung und des Vertriebs stärker in den Mittelpunkt, während die klassischen journalistisch-publizistischen Bereiche der Produktion und Zusammenstellung von Information zunehmend an Gewicht für interne Entscheidungen verlieren.101 Profitorientierung und Wirtschaftslogik bestimmen – wenig überraschend – die Organisationsformen von Medienunternehmen.102 Systemtheoretisch gesprochen: „Medienunternehmen sind Leistungsorganisationen des Wirtschaftssystems und agieren dementsprechend nach wirtschaftlichen Kriterien. Als Wirtschaftsunternehmen handeln sie nach der Devise von Zahlung/Nichtzahlung, nicht nach dem Code von öffentlich/nicht-öffentlich, der für den Journalismus die zentrale Handlungsanleitung ist. Nicht die Veröffentlichungen, sondern die über Markthandlungen erfolgenden Zahlungen entscheiden über den Fortbestand und die künftige Entwicklung der Medienunternehmen.“103
Als Bestandteile des Wirtschaftssystems adaptieren Medienunternehmen – selbst wenn sie öffentlich-rechtlich organisiert sind – Strategien aus gewöhnlichen Industrien und unterscheiden sich in ihrer Orientierung kaum von anderen wirtschaftlichen Akteuren.104 Die Beschaffung, Bewirtschaftung und Mehrung von Geld ist ihr unternehmerisches Hauptziel, darauf sind
97 98 99 100 101 102 103 104
Vgl. Heinrich 1994, S. 143ff. Altmeppen 2001, S. 195 Vgl. Prott 1994, S. 490; Jarren 2003, S. 19 Vgl. Heinrich 2000, S. 148ff. Diese Tendenzen werden medienspezifisch ausdifferenziert. Es ist anzunehmen, dass sich dabei unterschiedliche Strategien z.B. im Vergleich von Qualitätszeitungen und Anzeigenblättern feststellen lassen. Vgl. Jarren 2003, S. 21 Altmeppen 2001, S. 196 Vgl. Baum 1996, S. 239f. Auf die Ähnlichkeiten zwischen klassischen Industriebetrieben und Medienunternehmen haben Aufermann, Lange und Zerdick (1973, S. 250) bereits vor über 30 Jahren hingewiesen.
2 Ausdifferenzierung der Massenmedien
263
Abläufe und Strukturen ausgerichtet.105 Die sich in solchen wirtschaftlichen Zielprogrammierungen ausdrückende Ökonomisierung der Medienunternehmen betrifft die Entscheidungsprämissen und -programme genauso wie die Ressourcenallokation und das produzierte mediale Angebot. Im Ergebnis führt dies zu einer „Ökonomisierung der Ökonomisierung“, da die steigende Relevanz wirtschaftlicher Faktoren kein Ergebnis naturwüchsiger Prozesse ist, sondern durch unternehmerische – und politische – Entscheidungen vorangetrieben wird.106 Es geht um rekursiv miteinander verbundene Regulierungs- und Strukturierungsprozesse: Medien beeinflussen mit ihren Strategien die Strukturen des Marktes, auf dem sie sich mit ihren Angeboten bewegen, während zugleich die Marktstrukturen Einfluss auf die Medienunternehmung haben. Im Ergebnis führt diese wechselseitige Verschränkung zu einer ‚spiralförmig‘ verlaufenden Ökonomisierung der Medien.107 Indem Medienunternehmen ihre Kapitalund Verhandlungsmacht einsetzen, um die Bedingungen des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs in ihrem Sinne zu ‚verbessern‘, sprich: politische Regulierung und Steuerung zu minimieren, tragen sie als „treibende Kraft“ zu einer Ausbreitung ökonomischer Marktrationalität wesentlich bei.108 Empirisch ist festzustellen, dass die technische Weiterentwicklung des Mediensystems tatsächlich meist nicht publizistischen Erwägungen folgt, sondern ein klassisches Anbietergeschäft ist, in dem Produkte und Bedürfnisse den ökonomisch geschaffenen Möglichkeiten nachwachsen.109 Eine historisch-materialistische Medienkritik sieht daher massenmediale Funktionen als ökonomisch und integrationspolitisch, nicht aber als lebensweltlich emanzipativ:110 • Medienbetriebe stellen mediale Produkte (dazu gehören auch Anzeigenplätze) her und verkaufen sie (kapitalökonomische Funktion); • Medien erzeugen ein spezifisches Konsumklima durch das Bewerben bestimmter Produkte und Dienstleistungen (warenzirkulierende Funktion); • Medien legitimieren und propagieren in ihren Produkten das derzeitige gesellschaftliche Organisationsprinzip, auf dem nicht nur ihre Existenz, sondern die gesamte Gesellschaftsverfassung aufbaut (herrschaftliche Funktion); • Medien bedienen – ausgerichtet an den vorher genannten Funktionen – die Informationsund Unterhaltungsansprüche der Rezipienten (regenerierende Funktion); • Medien bilden Absatzsphären für andere Unternehmen z.B. in der Elektronikbranche oder für Produktionsfirmen (absatzökonomische Funktion). Im Zuge der ‚Ökonomisierung‘ gewinnen Medien(organisationen) gegenüber dem politischen System und der Lebenswelt an Autonomie, so dass deren Regulierungs- und Steuerungsmöglichkeiten schwinden. Jarren und Meier sprechen von einem langsamen „Wechsel der Systemzugehörigkeit“, der Auswirkungen auf die Ausgestaltung medialer Institutionen hat.111 Die Ausweitung ökonomischer Logik steht dabei in einem prekären Wechselverhältnis zu dem Rückzug des Staates von seinen im Medienbereich einst als klassisch angesehenen Regulierungsaufgaben.112 In einem angenommenen Dreiecksverhältnis von Medien, Politik und Ökonomie lässt sich einerseits eine Differenzierung der Medien von der Politik und damit 105 106 107 108 109 110 111 112
Vgl. Heinrich 2001, S. 160f. Altmeppen 2001, S. 202 Vgl. Jarren 2003 Altmeppen 2001, S. 203f. Vgl. Dröge/Kopper 1991, S. 52f. Vgl. zum Folgenden Holzer 1994, S. 202f. Jarren/Meier 2002, S. 111f. Vgl. Meier/Jarren 2001, S. 146. Diese Entwicklung wird nachgezeichnet in Kopper/Rager u.a. 1994.
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V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
wachsende Autonomie, andererseits aber auch eine ‚Entdifferenzierung der Medien vom Wirtschaftssystem‘ ausmachen.113 Staatliche Medienpolitik beschränkt sich mittlerweile darauf, gemäß eines wirtschaftsliberal verstandenen Vielfaltspostulats ein außenplurales Angebot im Mediensektor zu gewährleisten, in dem der Wettbewerb für auch kommunikationspolitisch angemessene Bedingungen zu sorgen habe.114 Eine ordnungspolitische Regulation des Mediensystems oder eine zureichende Medienaufsicht hingegen werden von dieser Politik als „überholte Relikte einer übrigens eher kurzen Phase gesellschaftlicher Medienkontrolle […], die von der Medienwirklichkeit überrundet werden“, betrachtet.115 Insbesondere die Einführung des privat-kommerziellen Rundfunks kann als ein politisch herbeigeführter Ökonomisierungsschub diskutiert werden, basierend auf der medienpolitischen Entscheidung, Rundfunk und Fernsehen gegenüber privatwirtschaftlichen Akteuren zu öffnen und auf gesellschaftliche Regulierung in Teilen zu verzichten.116 Zum ersten Mal sind in Deutschland damit (auch journalistisch tätige) Medieninstitutionen etabliert worden, die weitgehend unabhängig von gesellschaftlichen und kulturellen Gruppen ausschließlich Kapitalinteressen verpflichtet sind und „keine publizistischen Traditionen“ besitzen.117 Neben die politischen, kulturellen oder publizistischen Leitbilder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk tritt im privat-kommerziellen Rundfunk eine alles umspannende wirtschaftliche Orientierung, die vor allem von den neuen Unternehmens- und Eignerstrukturen induziert wird.118 Die Kommerzialisierung des Rundfunks durch den Zutritt und den Wettbewerb kommerzieller Akteure manifestiert sich in mehreren miteinander verzahnten Entwicklungen, die denen in der Pressebranche stark ähneln:119 Im Rundfunkbereich etablieren sich neben den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten auch Verlegerkapital und neue mittelständische Unternehmen, die Profitinteressen verfolgen. Hinzu kommt, dass die immer komplexer werdenden Wertschöpfungsketten der Produktion im audiovisuellen Medienbereich auch für branchenfremde Unternehmen – meist Misch- oder Telekommunikationsunternehmen – attraktive Investitionsbereiche darstellen können. Im Ganzen betrachtet könnte dies mittelfristig dazu führen, dass die mittelständische Struktur auch aus den Bereichen der Medienbranche verschwindet, in denen sie sich zurzeit noch zu behaupten vermag, und sich kapitalstarke, global agierende Unternehmen weiterer Teile des Medienmarktes bemächtigen.120 Dadurch ist eine Forcierung der Integration der Massenmedien in das ökonomische System zu erwarten.121 113 114 115 116 117 118 119 120
121
Vgl. Imhof/Jarren/Blum 1999b, S. 11. Einer empirischen Untersuchung zufolge allerdings, bejahen zumindest befragte österreichische Journalisten zwar die wachsende Abhängigkeit von ökonomischen Parametern, verneinen aber eine wachsende Distanz zur Politik (vgl. Weber 2000). Vgl. Kopper/Rager u.a. 1994, S. 62ff. Roß 1999, S. 261. Stattdessen dominiert der Glaube an den Markt – ein Steuerungsinstrument, das im Mediensektor keineswegs verlässlich ist (vgl. Kopper/Rager u.a. 1994, S. 77). Vgl. für diesen Befund u.a. Branahl 1999a, S. 325; Meier/Jarren 2001, S. 155; Kopper/Rager u.a. 1994. Jarren 1998a, S. 77; vgl. Prott 1994, S. 503 Vgl. Jarren 1998a, S. 79 Vgl. zum Folgenden: Meier 1999, S. 66. Vgl. Knoche 2001, S. 182; Jarren/Meier 2002, S. 131. Hinzu kommt die Werbeabhängigkeit der Medienbetriebe, die Winter (2001, S. 41) konstatiert: „Es gibt kaum mehr eine materiale Basis für die Konstitution von Öffentlichkeit, die meist medial konstituierte Öffentlichkeit ist, die nicht zumindest auch über Werbung finanziert wäre. Diese Entwicklung verstärkt einen ökonomischen Kostenwettbewerb und erschwert einen Qualitätswettbewerb (vgl. Heinrich 1996) zwischen kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Anbietern, der ein Ausgangspunkt der politischen Deregulierungsbemühungen gewesen ist. Stattdessen stehen Kostensenkungen durch Integrations- und Rationalisierungsprozesse – vor allem Bemühungen um horizontale Integration zur Markterweiterung und um vertikale Integration zur Reduktion von Transaktionskosten (vgl. Meier 1999, S. 69) – auf dem Plan, um ein erfolgreiches Agieren im ökonomischen Wettbewerb zu ermöglichen. Auch Konzentrations-
2 Ausdifferenzierung der Massenmedien 2.3
265
Zur Annahme massenmedialer Autopoiesis
Während die beschriebenen Ökonomisierungstendenzen sich vor allem auf der spezielleren, historisch kontingenten Ebene eines sozialwissenschaftlich ‚objektivierten‘ Systembegriffs bewegen, heben andere systemtheoretische Analysen abstrakter und modellhafter auf die Vorstellung eines eigenständigen massenmedialen Systems ab. Diese Studien adaptieren die bereits diskutierten Überlegungen einer autopoietischen Systemkonzeption, die auf die operative Schließung und eigenlogische Selbstreproduktion gesellschaftlicher Systeme nach leitdifferentiellen Codes im Dienste der Reduktion gesellschaftlicher Komplexität ausgerichtet ist.122 Sie machen die Etablierung eines massenmedialen bzw. publizistischen Systems nicht an einer Entwicklung technischer oder medialer Infrastrukturen fest, sondern an spezifischen Leistungen, die durch Reduktion gesellschaftlicher Komplexität zur Möglichkeit gesellschaftlicher Ordnung beitragen.123 Ausschlaggebend ist die funktionalistische Steuerungsunterscheidung entlang des binären System-Codes innerhalb des Mediensystems. Darauf aufbauend skizziert Luhmann beispielsweise die Massenmedien als ein System, das nach dem Code von Information und Nichtinformation eigenständig operiert124; während Marcinkowski ein System Publizistik konstruiert, dem er die Leitdifferenz öffentlich/nicht öffentlich nicht in einem normativ aufgeladenen Sinn, sondern als binären Code zuschreibt, und dessen zentrale Leistung das Veröffentlichen ist, so dass Publizität als generalisiertes Kommunikationsmedium fungiert.125 Dominierende Perspektive dieser und vergleichbarer Analysen ist die Frage nach der ‚Funktionalität‘ der Massenmedien (wahlweise: der Publizistik, der Öffentlichkeit, des Journalismus etc.) für die Gesellschaft. Genannt werden zum Beispiel die „Ermöglichung der Selbstbeobachtung moderner Gesellschaften“126 oder das „Dirigieren der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems“127. Durch die Veröffentlichung von Themen werden Sachverhalte in Kommunikation übersetzt und damit der Gesellschaft überhaupt erst zur Verfügung gestellt.128 Indem diese Funktionen beschrieben werden, thematisieren systemische Analysen zunächst die makrosozialen Funktionen massenmedial gestützten journalistischen Handelns, die vor dem Hintergrund der Lebensweltperspektive mit dem begrifflichen Instrumentarium der kommunikationstheoretischen Gesellschaftsanalyse als ‚Leistungen‘ bereits thematisiert wurden. Für Luhmann zeichnen sich Massenmedien dadurch aus, dass sie „[…] ein Hintergrundwissen
122 123 124 125
126 127 128
prozesse schreiten unter dieser Zielsetzung voran (vgl. Heinrich 1994, S. 115ff.). Für die Presselandschaft sind diese Prozesse bereits vor gut drei Jahrzehnten eindringlich beschrieben worden (vgl. Aufermann/Lange/Zerdick 1973). Seit über einem Jahrzehnt lassen sich die Perspektiven der Angebotsvielfalt im Medienmarkt als „düster“ bezeichnen (Röper 1994, S. 542). Vgl. zur grundlegenden theoretischen Konzeption: Luhmann 1984. Vgl. Marcinkowski 1993, S. 36f. Vgl. Luhmann 1996, S. 36f.; diverse Vorstudien finden sich in Luhmann 1981a. Vgl. Marcinkowski 1993, S. 46ff. Der Autor begründet seine Kritik an der Vorstellung der Thematisierung als zentraler publizistischer Leistung mit der allgemeinen systemtheoretischen Feststellung, dass jedes soziale System spezifische Thematisierungsleistungen erbringen müsse und daher diese Differenzierung zu unspezifisch zur Identifikation eines Systems sei. In diesem Zusammenhang soll nicht auf Systemkonzeptionen eingegangen werden, die sich direkt auf Journalismus richten, wie sie zum Beispiel von Rühl (1980) oder Blöbaum (1994) vorgelegt worden sind. In diesem Abschnitt geht es ausschließlich darum, ob Massenmedien als ein autopoietisches System konzipiert werden können. Zur weitergehenden Beschäftigung mit dem Systembegriff in der Medienforschung siehe Abschnitt II.2.1 der vorliegenden Arbeit. Marcinkowski 1993, S. 118 Luhmann 1996, S. 173 Diese Perspektive adaptiert Rühl (1980) als ‚Thematisierungsfunktion‘ für das von ihm konstruierte soziale System Journalismus.
266
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
bereitstellen und jeweils fortschreiben, von dem man in der Kommunikation ausgehen kann“.129 Auch wird anerkannt, dass durch Massenkommunikation ein lebensweltlicher Hintergrund generiert wird – allerdings verbleibt die Erklärung dieses Prozesses funktionalistisch, ohne die kommunikative Teilhabe lebensweltlicher Akteure konzeptionell zu berücksichtigen.130 Gemeinsam ist den meisten dieser Konzeptionen außerdem, dass sie von einer zunehmenden Binnendifferenzierung des Systems ausgehen, die durch Steigerung der Eigenkomplexität zu erhöhter Leistungsfähigkeit im Umgang mit Umweltkomplexität führen soll. Darin werden „Ansätze einer autopoietischen Selbstreproduktion“ gesehen.131 Durch ihre Operationen stimuliere massenmediale Publizistik ständig neue Publizitätsinteressen in anderen Teilsystemen, die von ihm verarbeitet werden können; das publizistische System generiere seine eigenen Bestandsgrundlagen.132 Dieser Autopoiesis-Ansatz markiert den konzeptionellen Kontrapunkt zur Ökonomisierungsanalyse, indem er bedingungslos auf der Prämisse beharrt, dass Massenmedien einer genuin eigenständigen Logik folgen. So richtet sich auch Marcinkowski explizit gegen alle Auffassungen, „[…] die die publizistischen Medien in umfassende Entdifferenzierungsvorgänge im Sinne der Allopoiesis verwickelt sehen, etwa durch hierarchische Unterordnung gegenüber Politik oder Ökonomie“.133 Zwar weist er darauf hin, dass die Entwicklung der technischen Verbreitungsmedien der Publizistik extern induziert ist und nicht der Kontrolle des publizistischen Systems unterliegt. Aber auch hier sieht er keine Auswirkungen auf die Funktionsweise des Codes öffentlich/nicht-öffentlich.134 Diese Konzeptionen haben einen Erklärungswert, wenn sie als sozialwissenschaftliche Objektivationen makrostruktureller Sozialzusammenhänge angewendet werden. Aus der Perspektive der Luhmannschen Systemtheorie lassen sich auf der analytischen Ebene sozialwissenschaftlicher Objektivation wichtige Erkenntnisse für die Erforschung und das Verständnis der Massenmedien ziehen. So verdeutlicht sie besonders eindringlich die Schwierigkeiten des steuernden und regulierenden Eingriffs in bereits existierende Medienstrukturen. Die Systemtheorie hat zudem ihre unbestreitbaren Stärken, wenn es um die Beschreibung der Leistungen der Massenmedien für andere gesellschaftliche Bereiche (oder Systeme) oder der Funktionen für die Gesellschaft als Ganzes geht. Sie erleichtert die makrosoziale Beschreibung und Analyse der Austauschbeziehungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen in einer ausdifferenzierten Gesellschaft. Aus ihrem hohen Abstraktionsgrad und in dem Versuch, Komplexität stark auf jeweils eine dominierende Steuerungslogik zu reduzieren, folgen allerdings auch Probleme, welche die Erklärungsmöglichkeiten autopoietischer Systemkonzeptionen für andere Fragen einschränken: • Bestimmte Spielarten der Systemtheorie totalisieren – wie bereits einleitend thematisiert – eine zweckrational-funktionalistische Vernunft, ohne Spielräume für kommunikative Verständigung markieren zu können. Sie sind angesichts ihres oft formulierten Alleinvertretungsanspruchs kaum mit einem 129 130
131 132 133 134
Luhmann 1996, S. 121f. Die Realität der Massenmedien entsteht für Luhmann (1996, S. 153) nicht aus Interaktion, sondern aus Beobachtung zweiter Ordnung; damit ersetzt sie vergleichbare ‚Wissensvorgaben‘, die in vorangegangenen Gesellschaften zum Beispiel durch Weise, Priester, Adel und andere der Gesellschaft als privilegierte Beobachtungsergebnisse zur Selbststeuerung dienten. Die Übertragung derartiger systemtheoretischer Überlegungen, die eine Teilhabe des Publikums weitgehend negieren, auf die Journalismusanalyse kritisiert Lünenborg (2005a), die engagiert für eine kulturwissenschaftliche Perspektive plädiert. Marcinkowski 1993, S. 98 Vgl. zur Autopoiesis-Debatte überblickshaft die Beiträge in Communicatio socialis, Heft 1/2001. Marcinkowski 1993, S. 146 Vgl. ebd., S. 60
2 Ausdifferenzierung der Massenmedien
267
Journalismus-Verständnis in Einklang zu bringen, das in journalistischem Handeln eine Form kommunikativen Handelns sieht. Vielmehr drohen sie, Unterschiede zwischen Mediensystem und lebensweltlicher Kommunikation in der Annahme geschlossener, einheitlich gesteuerter Systemoperationen einzuebnen. Die beschriebene lebensweltlich fundierte eigensinnige Kommunikativität journalistischer Akteure ist vor diesem Hintergrund genuin nicht mehr konzipierbar, sondern muss ebenfalls der Leitdifferenz des Systems untergeordnet werden. • Es lassen sich konzeptionelle Zweifel formulieren, dass eine Ausdifferenzierung eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums ‚Publizität‘ und damit seine vollständige Ablösung von den illokutionären Bindungskräften lebensweltlichen Sprachgebrauchs überhaupt konzipierbar ist. Es ist kaum vorstellbar, ‚Publizität‘ normativ so entleert zu konzipieren, dass dabei am Ende ein symbolisch generalisiertes Medium entsteht, das in der Lage ist, Interaktionen vom Dissensrisiko zu entlasten. Würde man Publizität im Sinne dieser Ablösung schon von den umgangssprachlichen Grundlagen der Verständigungsorientierung weitgehend bis vollständig entkoppeln, dann würde eine durch Publizität hergestellte Öffentlichkeit ihre lebensweltlich notwendige Koordinierungsfunktion verlieren und tatsächlich nur noch Themen zur Kommunikation bereitstellen, ohne dass gewährleistet wäre, dass es auch die Themen sind, über die zu sprechen sich lohnt, weil sie der Koordinierung des Zusammenlebens dienen. • Die autopoietische Systemtheorie kann aufgrund der unterstellten operativen Geschlossenheit des Systems Ökonomisierungstendenzen nicht hinreichend beschreiben. Sie untersucht allenfalls Zonen struktureller Kopplung oder Interpenetration, in denen der Code Zahlung/Nichtzahlung gegenüber dem medialen Code an Bedeutung gewinnt.135 Auf das Ganze gesehen allerdings muss der das System konstituierende Code unangetastet bleiben, da andernfalls der Bestand des Systems in Gefahr gerät. Mit der Annahme der Steuerung der Medien durch einen primären und eigenständigen Code, demgegenüber wirtschaftliche Einflüsse nur eine „leicht handhabbare Zweitcodierung“136 sind, immunisieren sich autopoietische Ansätze konzeptionell gegen eine Analyse der Ökonomisierung und der Fremdsteuerung der Medien oder auch des Aufbrechens von Rationalitätskonflikten im massenmedialen System.137 Rühl hat schon 1993 versucht, einen Ausweg aus dieser Einseitigkeit der systemischen Medienanalyse zu finden, indem er ein System der „Marktpublizistik“ beschreibt, in dem sich Geldund Kommunikationsleistungen in einem eigensinnigen ‚Zirkel publizistischer Zahlungsver-
135
136 137
Vgl. Meier/Jarren 2001, S. 148. Für Siegert (2001, S. 169), die damit deutlich weiter geht als zum Beispiel Marcinkowski, wäre eine Ökonomisierung entsprechend dann feststellbar, wenn eine Zuordnung aller Handlungen, die zum Mediensystem gehörige Akteure vollbringen, zu den ihnen zu Grunde liegenden Rationalitäten bzw. Codes erfolgte und dabei eine Überproportionalität zugunsten des Wirtschaftssystems feststellbar sei. Das Medienunternehmen ist dann der Bereich, in dem die unterschiedlichen Funktionen des Mediensystems und des Wirtschaftssystems miteinander in Berührung kommen und in denen durchaus feststellbar sei, „[…] dass Geld als Handlungsorientierung für Veröffentlichungsakte an Bedeutung gewinnt“ (Siegert 2001, S. 170). Marcinkowski 1993, S. 183 Vgl. Grothe/Schulz 1993. Marcinkowski (1993, S. 183f.) versucht die Annahme der systemischen Selbstständigkeit zum Beispiel zu belegen, indem er beschreibt, dass selbst hohe Investitionen keine Garantie für publizistischen Erfolg geben können. Daraus zieht er den Schluss, dass es eine eigenständige publizistische Logik jenseits des Ökonomischen gibt, obwohl sich dieser Vorgang auch daraus erklären kann, dass – wie in fast jeder anderen Produktion – Produktqualität (und damit Markterfolg) niemals nur eine Folge des eingesetzten Kapitals ist, sondern das Ergebnis eines komplexen Prozesses, in dem viele Faktoren eine Rolle spielen können.
268
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
hältnisse‘ unter dem Steuerungsprimat des Ökonomischen zusammenfassen lassen.138 Das Ergebnis dieser Perspektive wäre allerdings immer noch die unterschiedslose Auflösung medialer und journalistischer Leistungen in einem zweckrational-ökonomischen Steuerungszusammenhang, der publizistische (d.h. sowohl mediale als auch journalistische) Leistungen primär unter der Perspektive ihrer monetären, sozialen, psychischen und zeitlichen Kosten betrachtet139 und somit Preiskalkulation auch dort durchsetzt, wo Kommunikationsrationalität vorherrscht. Für die Analyse der Massenmedien liefert diese Fundierung in Marktsteuerungstheoremen wertvolle Hinweise, übertragen auf den Journalismus allerdings führt sie zu Verkürzungen, die darin gipfeln, den journalistischen Akteur einseitig als Kosten-Nutzen-fixierten „homo oeconomicus“ zu betrachten140, anstatt die jedem Handeln inhärenten, in Berufsvorstellungen übersetzten und zum Teil systemisch geronnenen Zweckorientierungen zu lebensweltlichen Handlungsaspekten in Bezug zu setzen.
2.4
Konsequenzen der systemischen Ökonomie der Massenmedien
Für die weitere konzeptionelle Analyse der Spielräume eines kommunikativen Journalismus kann festgehalten werden: Massenmedien können als eine institutionelle Struktur konzipiert werden, auf die Journalismus angewiesen ist und die den Steuerungsimperativen des ökonomischen Systems unterworfen ist. Es existiert zweifelsohne eine „enge Verknüpfung mit dem ökonomischen System“.141 Medieninstitutionen entfalten darüber hinaus eine spezifische Eigenrationalität, indem sie politische, ökonomische, kulturelle u.a. Vorgänge gemäß einer ihnen eigenen Selektionslogik aufgreifen und bestimmten Präsentationsroutinen folgend in ‚Medienrealität‘ umwandeln.142 Diese Eigenrationalität geht allerdings gegenüber ökonomischen Imperativen nicht dergestalt in Führung, dass eine eigenständige, autopoietische Systemdifferenzierung der Massenmedien angenommen werden kann. Plausibel ist vielmehr, insbesondere die innere Organisation eines Medienbetriebes als Ergebnis einer rekursiven Strukturierung zu begreifen, die journalistisches Handeln durch entsprechende Arbeits- und Organisationsprogramme sowie Rollenvorgaben zugleich ermöglicht und einschränkt.143 Hier – in diesem Wechselspiel – lässt sich auch eine publizistisch-journalistische Logik verorten, ohne dass sie absolut gesetzt werden müsste, wie in der funktional-strukturellen Systemtheorie. Gesellschaftlich betrachtet sind Massenmedien weitgehend Bestandteil des ökonomischen Systems und folgen einem Marktmodell. Selbst die durch gesellschaftliche Akteure gesteuerten öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (Integrationsmodell) können sich der Logik des Marktes im Vergleich mit kommerziellen Anbietern kaum mehr entziehen. Mit dem hier angelegten Systembegriff lassen auch sie sich als ausdifferenzierte Organisationen beschreiben, 138 139 140 141 142
143
Rühl 1993a Vgl. für diese Sichtweise ebd., S. 143. Fengler/Ruß-Mohl 2005a Jarren/Donges 2004, S. 50 Vgl. Saxer 1998b, S. 60. Die eigendynamische Entwicklung medialer Strukturen, Ziele und Zwecke kann allerdings aufgrund des gesellschaftlichen Auftrags der Medien nur dann als erfolgreich betrachtet werden, wenn sie in ihrer Zieldefinition den Kernzielen der Gesellschaft zumindest nicht zuwiderläuft (vgl. Jarren/Meier 2002, S. 102). Deswegen gibt es regelmäßig Debatten, wenn branchenfremdes Kapital aus Profitinteresse im Mediensystem investiert wird. Ein jüngerer Fall ist die Übernahme der „Berliner Zeitung“ durch britische Investoren (vgl. Roether 2005). Vgl. zur allgemein kritischen Lage der Presseökonomie Röper 2004. Diese Perspektive legt Altmeppen (1999) seiner Studie zu „Redaktionen als Koordinationszentren“ zugrunde, die sich mit der Abgrenzung von medialer und journalistischer Logik befasst. Vgl. auch Altmeppen 2006.
2 Ausdifferenzierung der Massenmedien
269
die in erster Linie nicht sprachlich kommunikativ, sondern ökonomisch funktional über das Steuerungsmedium Geld integriert werden.144 Dabei handelt es sich nicht um fundamentale ‚Umpolungen‘, sondern um graduelle Veränderungen, die Entscheidungsprämissen und -programme genauso betreffen wie die Ressourcenallokation und das produzierte mediale Angebot.145 Diese lassen sich anhand der in der folgenden Tabelle zusammengefassten Charakteristika beschreiben.
Tab. 3: Charakteristika systemisch verfasster Massenmedien Massenmedien gesellschaftstheoretische Verortung
System
maßgeblicher Handlungstypus
Arbeit
Rationalitätsmodus
instrumentell / zweckrational
Zielorientierung
zweckorientiert
gesellschaftliche Leistung
Reproduktion materieller Ressourcen
Aufgabe / Funktion
Generierung von Programminhalten unter Maßgabe kommerzieller Verwertungs- und Profitinteressen
Koordinierungsmechanismus
symbolisch generalisierte Steuerungsmedien (Geld)
Legitimationsgrundlage
Effizienz
Dabei sind die Systeme nicht vollständig dem lebensweltlichen Zugriff entzogen, sondern bleiben prinzipiell, wenngleich faktisch oft nur noch eingeschränkt gestaltbar. Medienunternehmen richten ihre Abläufe und Strukturen aber in erster Linie so ein, dass sie insbesondere die erwünschte Gewinnmehrung gewährleisten können. Sie formulieren Erwartungen an das journalistische Handeln ihrer Organisationsmitglieder, das sie durch entsprechende Ressourcenallokation ermöglichen und durch Ablauf- und Strukturvorgaben einschränken. Vor dem Hintergrund eines differenzierteren zweistufigen Interpretationsschemas, wie es die ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ bereitstellt, ist die systemische Steuerung medialer Institutionen im Sinne der funktionalen Differenzierung im Hinblick auf materielle Reproduktion zunächst rational. Allerdings erscheint eine umfassende Marktsteuerung der Medien nach ökonomischen Effizienzmaßstäben nicht befriedigend: Aufgrund der intransparenten Konstruktion des Medienmarktes ist eine erfolgreiche Regulierung allein durch Rezipientennachfrage kaum zu erwarten.146 (Meritorische) Medienprodukte sind sowohl aufgrund ihres 144 145 146
Vgl. Jarren/Meier 2002, S. 112 Vgl. Altmeppen 2001, S. 198ff. Vgl. Heinrich 1999, S. 249. Altmeppen (1996b, S. 270f.) erörtert das zentrale Versagen einer Marktsteuerung durch Rezipienten mit einer eigentümlichen Folge des doppelten Werts der Medienprodukte, die deswegen einer klaren Bewertung unzugänglich bleiben müssen: „Ökonomisch ist ihr Wert geldbezogen. Geld ist ein symbolisches Tauschmedium, mit dem Interaktion in gesellschaftlichen Bezügen normiert wird. Geld ist an soziale Beziehungen gebunden und somit immer mit Kommunikation verbunden. Geld reguliert auf der einen Seite die Entscheidungen der Anbieter (über Kosten und Gewinnerwartungen) und reflektiert andererseits die Honorierung der Angebote (Akzeptanz und Nichtakzeptanz), es signalisiert eine Offerte und versucht ein komplementäres Verhalten zu stimulieren. Zustimmung (Kauf) signalisiert somit für den Anbieter auch entsprechende Ak-
270
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
intransigenten Charakters als ‚Erfahrungsgüter‘147, als auch aufgrund ihres dualen ökonomischen und publizistischen Wertes148 als nur bedingt marktfähig zu erachten. Allenfalls langfristige Investitionen in ein durch Qualitätsprodukte aufgebautes „Vertrauenskapital“ können sich hier auszahlen.149 Hinzu kommt, dass Marktsteuerung auf einem Anbietermarkt dazu zwingt, Produkte aktiv an Konsumenten zu verkaufen. Dieser Umstand kann dazu führen, dass – so eine ‚klassische‘ medienkritische Position – das Publikum aus Verkaufsgründen in „stetiger Bedürfnis-Spannung“ gehalten wird, indem Informationen stückweise geliefert und Zusammenhänge vernachlässigt werden.150 Durch die zunehmende Dominanz wirtschaftlicher Profitinteressen verändern sich die medialen Produkte, indem sie ihren vormals gegebenen meritorischen Charakter verlieren und die „Nachricht als Ware“ nunmehr „ähnlichen ökonomischen Bedingungen wie jedes Industrieprodukt“ unterliegt, wie Zoll und Hennig schon 1970 konstatierten.151 Zudem ist eine „zumindest tendenzielle Unterwerfung der Medieninhalte unter die Werbeträger-Funktion“ festzustellen.152 Auch dieser Befund ist nunmehr über ein Vierteljahrhundert alt und dürfte an Relevanz eher gewonnen haben. Schließlich wird es heutzutage immer schwieriger, „[…] privatwirtschaftlich agierende Unternehmen auf gesellschaftliche Ziele zu verpflichten […]“.153 Das Ergebnis ist eine „Entmeritorisierung von Medienleistungen“154, die als Waren und damit als Wirtschaftsgüter verstanden werden, während ihre gesellschaftliche Bedingtheit und Notwendigkeit letztlich nicht endgültig suspendiert, wohl aber weitest möglich zurückgedrängt wird. Diese Entwicklungen haben Auswirkungen auf die Reproduktionsbedingungen der lebensweltlichen Ressourcen einer Gesellschaft.155 Sie führen außerdem zu weitreichenden Veränderungen der Arbeits- und Lebenswelt der Journalisten, da die „Zweckrationalität einer kommerzialisierten Publizistik“ auf die Logik des journalistischen Handelns durchgreift.156 Der ökonomisch vorangetriebene Strukturwandel der Öffentlichkeit geht einher mit einem Strukturwandel der Presse und des Journalismus.157
147 148
149 150 151 152 153 154 155
156 157
zeptanzen. Diese Rückkopplung fehlt bei Medienprodukten mehr oder weniger stark, da die Medienakzeptanz über die Zuwendungshäufigkeit und -dauer der Konsumenten ermittelt wird und die Verfügbarkeit von Geld, üblicherweise grundlegend für die Teilhabe an ökonomischen Prozessen, bei Medienprodukten nicht oder nur eingeschränkt nötig ist. Wenn aber die Preis-/Leistungssteuerung entfällt, wird den Nachfragern die Orientierungsfunktion entzogen, sie können keinen Zusammenhang zwischen angebotener Leistung und Zahlung herstellen. Konsumentensouveränität existiert unter diesen Bedingungen kaum […].“ Vgl. Kiefer 2001, 183ff. Der Nutzen von Erfahrungsgütern kann sowohl von Produzenten wie von Rezipienten erst nach dem Konsum beurteilt werden. Die Dualität von Medien und ihren Produkten ist in den Kategorien wirtschaftlicher Logik nur bedingt angemessen zu erfassen. Dies zeigt sich in den Versuchen, die publizistischen Aspekte medialer Angebote als externalisierende Effekte wirtschaftlichen Handelns zu begreifen – eine ökonomistische Verkürzung, die aporetisch enden muss, da die gesellschaftlich wünschenswerten Funktionen den Medienprodukten inhärent sind und keinen zusätzlichen Effekt darstellen (vgl. Altmeppen 1996b, S. 265). Heinrich 1994, S. 103; vgl. ausführlich auch Heinrich/Lobigs 2003. Schütt 1981, S. 206 Zoll/Hennig 1970, S. 21 Fabris 1979, S. 39 Jarren 1998a, S. 80 Meier/Jarren 2001, S. 146 Krotz (2001a, S. 198) findet dafür apodiktische Worte: „Wir erleben heute die durchgängige Ökonomisierung von Werten und Normen, Begriffen und Bildern, Mythen und Ritualen, Ausdrucks- und Sprechweisen und zugleich eine Enteignung innovativer kultureller Kollektive; solange sie mehr als drei Menschen und dann auch positiv konnotiert benutzen, werden sie ihnen durch neue Bedeutungsgehalte, die auf Ökonomie und Konsum verweisen, weggenommen. Daran haben die Medien einen wesentlichen Anteil.“ Baum 1996, S. 247 Vgl. Dröge/Kopper 1991, S. 164; Blöbaum 2000
2 Ausdifferenzierung der Massenmedien
271
„Im Kern wird die Zurechnung von Handlungsfolgen in Geld ausgedrückt immer konsequenter; der Informationshandel wird mit den zunehmend differenzierten Abrechnungssystemen und den zunehmend differenzierten Lieferanten-Kunden-Beziehungen immer ökonomischer, d.h.: er wird immer mehr ein über Märkte vermittelter Austausch von individuell zurechenbaren Leistungen und individuell gezahlten Entgelten. Damit werden die klassischen Steuerungsmechanismen marktgerechter Produktion, nämlich Präferenzen und Preise, auch für den Informationshandel verstärkt zur Anwendung kommen. Im Kern schwinden damit die Freiräume für nicht auf den Shareholder-Value ausgerichtete Medienproduktionen, es schwinden also die Freiräume für intrinsisch motivierte Journalisten und Verleger.“158
Die weitreichende und zunehmend alternativlose Durchsetzung privatwirtschaftlicher Prinzipien im Medienbereich birgt die Gefahr, Ungleichgewichte in der gesellschaftlichen Kommunikation zu schaffen und die Möglichkeiten eines autonomen Journalismus einzuschränken.159 Die Etablierung der Massenmedien hat also ambivalente Konsequenzen für die kommunikative Verfasstheit moderner Gesellschaften. Die systemische Funktionalisierung der Massenmedien dient zunächst der effizienteren Reproduktion der materiellen Grundlagen gesellschaftlicher Kommunikation. In dem Moment, in dem ökonomische Steuerungsmechanismen gegenüber kommunikativer Koordinierung in Führung gehen, drohen dysfunktionale Folgen, die oft Gegenstand der Medienkritik sind160, aber letztlich jenseits apodiktischer Kritik zunächst als empirischer Bedingungsrahmen in einer Journalismusanalyse behandelt werden müssen.161 Eine umfassende gesellschaftliche Durchsetzung ökonomischer Kosten-NutzenRationalität kann mit dem Instrumentarium des zweistufigen Gesellschaftsmodells von Lebenswelt und System kritisiert werden, wenn sie andere gesellschaftliche Bereiche tendenziell ihrer eigenen Logik unterwirft und zunehmend auch auf den Bereich symbolisch-kultureller Ressourcen als verwertbares Reservoir durchgreift. Hier zeigen sich die Stärken der politökonomischen Sensibilität der Habermasschen Theorie, die eben auch in der Tradition analytischer Ansätze steht, die sich schon immer der Frage gestellt haben, „[…] wie sich die Dynamik des Wirtschaftssystems auf die Ordnungen auswirkte, die die Gesellschaft normativ integrier158 159 160 161
Heinrich 1999, S. 250 Vgl. Roß 1999, S. 261; Kopper/Rager u.a. 1994; Prott 1994, S. 482. Wie sich Kosten und Nutzen der Ökonomisierung zu einander verhalten, ist eine nicht entschiedene Frage (vgl. Meier 1999, S. 69). Vgl. den Überblick bei Oy 2001. Nicht zielführend ist, Journalismus nicht mehr von seiner medialen Verfassung zu trennen, wie es Teile der klassischen Medienkritik gemacht haben, weil sie eine generelle Dominanz des Ökonomischen unterstellen. Ergebnis ist eine resignative Analyse, die nur radikal auf eine ‚Revolution der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse‘ hoffen lässt (vgl. Holzer 1971, S. 226f.) – eine Perspektive, sie sich wissenschaftlich wie politisch überlebt hat. Auf die Erkenntnisse kritischer (materialistischer) Forschung allerdings vollständig zu verzichten, wäre ein Fehler. Vielmehr muss es darum gehen, ihre Befunde und Beobachtungen in einen Theorierahmen zu integrieren, der für die Beschreibung der Chancen moderner kapitalistischer Organisationsformen ebenso offen ist wie für die Darstellung ihrer problematischen dysfunktionalen Folgen für Gesellschaftlichkeit. Für die Medienwissenschaft haben sich in den letzten Jahren vor allem Meier (2003) und Knoche (2001) im Sinne einer solchen, der politischen Ökonomie folgenden Perspektive stark gemacht. Knoche beschreibt durchgreifende Kapitalisierungsprozesse innerhalb der Medienunternehmen. Dabei handele es sich um „[…] eine weitere historische Phase der fortschreitenden ‚Kapitalisierung‘ der privatwirtschaftlichen Medienindustrie, d.h. um eine radikale Subsumtion des gesamten Mediensystems unter die allgemeinen Kapitalverwertungsbedingungen.“ (Knoche 2001, S. 178) Dieser Prozess sei angemessen nur im Rahmen der politischen Ökonomie zu analysieren, konstatierte Dröge (1974, S. 78f.) schon in den 1970er Jahren und forderte daher auch die Entwicklung einer Medientheorie ausschließlich auf dieser Basis, die der spezifischen Stellung des Mediums als „Formbesonderung des Kapitalverhältnisses“ gerecht wird; das Medium sei aus dieser Perspektive heraus „Produktion von spezifischer Ideologie und spezifischen Verkehrsverhältnissen“. In den 1970er Jahren waren weitergehende materialistische Positionen verbreitet (vgl. Baacke 1974b, S. 8). Heutzutage kann die politische Ökonomie der Medien (lediglich) einen Platz in einem pluralistischen Theorienspektrum beanspruchen, das sich aus einer Vielzahl von Erkenntnisinteressen heraus auf unterschiedliche Untersuchungsgegenstände hin ausdifferenziert hat.
272
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
ten“.162 Heutzutage kann die politische Ökonomie zur medienökonomischen und kommunikationswissenschaftlichen Forschung den nicht bloß moralischen oder philosophischen, sondern gleichermaßen auch ökonomisch informierten Bezug zum Ziel der „Demokratisierung der öffentlichen Kommunikation“ beitragen.163 Ökonomisierung oder Kommerzialisierung der Massenmedien werden demnach problematisch, wenn sie in eine Dominanz wirtschaftlicher Logik münden, die journalistisches Handeln aus eigenem Recht erschwert.164 Die Frage, der sich die empirische Journalismusforschung angesichts dieses Befundes stellen muss, ist die nach den verbliebenen Möglichkeiten journalistischen Handelns in den Medienbetrieben, die in modernen Gesellschaften als Mediensystem die institutionelle Infrastruktur gesellschaftlicher Kommunikation konstituieren.
3
Ausdehnung systemischer Zweckrationalität
Journalistische Kommunikationslogik kann mit systemischer Logik an den Grundlagen der organisatorischen Rahmenbedingungen des Journalismus in Konflikt geraten: Besonders die Einrichtung eines organisatorischen Journalismus in den Redaktionen, die zunehmende Bedeutung der Technik und die Verberuflichung journalistischen Handelns in den modernen Massenmedien haben ambivalente Konsequenzen, da sie einerseits journalistische Leistungen überhaupt erst ermöglichen, zugleich aber andererseits die kommunikativen Grundlagen des Journalismus zu gefährden drohen. In der Erörterung des Verhältnisses von rekursiver Strukturierung durch kommunikatives Handeln und der Ausdehnung systemischer Logik (vorwiegend) durch ökonomische Imperative liegt der Schlüssel, um die empirisch verbliebenen Handlungsspielräume eines lebensweltlich grundierten kommunikativen Journalismus zu identifizieren.165 Feststellbar ist zunächst, dass die Redaktion den individuellen Journalisten als zentralen Referenzpunkt des Journalismus abgelöst hat.166 Aus systemtheoretischer Sicht werden daher in Redaktionen „Strukturelemente des Systems Journalismus“ wie Organisationen, Rollen und Programme ausfindig gemacht.167 Alternativen zu dieser Sichtweise haben es schwer, sich durchzusetzen: Das „Idealbild eines organisationsunabhängigen Persönlichkeitsjournalismus“ wird als Relikt einer romantisierenden Berufsideologie kritisiert, das in der ‚Wirklichkeit‘ des heutigen Journalismus keinen Platz mehr besitze.168 Und die klassische Medienkritik der 1970er Jahre steht vor dem Problem, dass ihre Arbeiten nicht selten „eine weitgehende (wenn auch erzwungene) Identität zwischen Medienorganisationen und Medienbeschäftigten“ konstruiert haben169, die in eine Pauschalkritik mündet, der es nicht möglich ist, auf Rationalitätskonflikte innerhalb der Medienbetriebe hinzuweisen. 162
163 164 165 166 167 168 169
Habermas 1995 [1981], Bd. 1, S. 19; vgl. Meier 2003, S. 216: „Politische Ökonomie […] fragt sich, auf welche Weise Gesellschaften sich organisieren, um das zu produzieren, was sie zur unmittelbaren Weiterexistenz benötigen. Gleichzeitig will sie herausfinden, was eine Gesellschaft ordnungspolitisch unternimmt, um die Erreichung ihrer politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ziele sicherzustellen.“ Meier 2003, S. 241 Vgl. Meier/Jarren 2001, S. 147 Vgl. Saxer 1993a, S. 300 Vgl. Rühl 1989, S. 262f. Blöbaum 1994, S. 49 Rühl 1989, S. 261 Holzer 1994, S. 210
3 Ausdehnung systemischer Zweckrationalität
273
In neueren systemtheoretischen Studien wiederum wird journalistisches Handeln vermeintlich ausschließlich zur Sache von Organisationen, Institutionen und Systemen. Dies führt latent dazu, dass der Charakter des Journalismus als kommunikatives Handeln in den meisten dieser Ansätze gar nicht mehr darstellbar ist. Er geht nicht verloren, sondern gerät mit dem Individuum gleichsam in den blinden Fleck der entsprechenden wissenschaftlichen Beobachtungen und Unterscheidungen. Es scheint, als sei dem Mediensystem jede kommunikative Vernunft im Laufe der Jahrhunderte ausgetrieben worden und als sei die theoretische Unterscheidung darauf reduziert, dies affirmativ zu beschreiben oder kritisch zu hinterfragen. Dass diese Analyse empirisch nicht allgemein gültig ist, zeigen Studien, die darauf beharren, dass im Journalismus die „Eigenlogiken von Markt, Technik und Organisationen“ genauso zur Geltung kommen wie der „Eigensinn publizistischer Individuen“.170 Auch die kritische Medienforschung hat in ihren Weiterentwicklungen einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, die innere ‚Zerrissenheit‘ der Medienproduktion zwischen ökonomistischem oder administrativem Rahmen einerseits und journalistischer Kommunikativität andererseits zu verdeutlichen. Für sie ist die Eigenständigkeit einer journalistisch-publizistischen Rationalität eine Möglichkeit, ein aktivierbares Kritikpotenzial in die hermetischen Systeme der Bewusstseinsindustrie hineinzutragen.171 In diesem Zusammenhang ermöglicht es das Habermassche Systemmodell, die Bildung systemischer Strukturen kritisch zu den Möglichkeiten lebensweltlicher Kommunikation und ihren eigenen Institutionen in Beziehung zu setzen. Anhand dieses Modells kann diskutiert werden, wie es um journalistisches Handeln im „Geflecht interner und externer Systemzwänge“ bestellt ist172, das dann unter Druck gerät, wenn mediensystemische Imperative seinen Geltungsbereich bedrohen. Die einer solchen Analyse zugrunde liegende Beobachtung, dass subsystemisch organisierte Bereiche ihren Geltungsraum sukzessive auf Kosten der Lebenswelt ausweiten, ist in der Soziologie zunächst kein neuer Befund, sondern kann mindestens bis zu Max Webers These der Bürokratisierung moderner Gesellschaften zurückverfolgt werden, die dort als „das spezifische Mittel, [einverständliches] ‚Gemeinschaftshandeln‘ in rational geordnetes ‚Gesellschaftshandeln‘ zu überführen“, erscheint, wobei mit ‚rational‘ präziser ‚zweckrational‘ gemeint ist.173 Und auch heutzutage sehen Soziologen wie Honneth ein noch immer wachsendes Ungleichgewicht zugunsten des Systems: Während die Rationalisierung zweckrationalen Handelns zunächst noch unter der Direktive gesamtgesellschaftlich geltender Normen stattgefunden habe und somit passiv der Rationalisierung der Lebenswelt gefolgt sei, habe sich dieses Kräfteverhältnis mit Fortschreiten des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts verschoben und führe dazu, dass sich der Umfang der subsystemisch zu beschreibenden Gesellschaftsbereiche zunehmend ausdehne, während der lebensweltlich bestimmte Geltungsbereich minimiert werde, weil immer mehr Handlungen unter das Organisationsprinzip der Zweckrationalität gerieten.174 Vor allem die Bedingungen von Öffentlichkeit verändern sich unter diesem Einfluss administrativer Macht erheblich. Als kommunikativ und diskursiv organisiertes legitimatorisches Fundament jeglicher sozialer Ausdifferenzierung wird sie tendenziell systemisch unterlaufen, um notwendige Legitimation unter Umgehung diskursiver Erörterungen funktionalistisch zu gewährleisten. Vormals kommunikative Prozesse werden so in den Steuerungsbereich des 170 171 172 173 174
Neverla 1998, S. 62 Vgl. Prokop 1974; Enzensberger 1974 [1970] Prott 1994, S. 493 Weber 1980 [1921], S. 569f. [eckige Klammer im Originaltext] Vgl. Honneth 1989, S. 294f.
274
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
Systems hineingeholt – aus einer demokratietheoretisch normativen Sicht, die in den Verständigungsprozessen der Lebenswelt die Basis einer demokratischen Steuerung moderner Gesellschaften sieht, wird ein erkennbar problematischer Prozess (1). Davon bleiben auch Massenmedien und Journalismus nicht unberührt. Journalistisches Handeln findet fast immer auch unter den beschriebenen Systembedingungen statt, die sich in organisatorischen Maßgaben, technischen Entwicklungen und Rollenerwartungen zeigen. Dies führt im Binnenverhältnis von Journalismus und Massenmedien zu einem potenziellen Rationalitätskonflikt, der als Strukturierung, Mediatisierung oder Kolonialisierung zu fassen ist (2). Dieser Konflikt soll hier mit Blick auf die verbleibenden Entfaltungsräume eines verständigungsorientierten Journalismus bewertet werden (3).
3.1
Kolonialisierung der Lebenswelt
In modernen Gesellschaften ist zu beobachten, wie gegenüber der Lebenswelt und ihren Konstituenten Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit weitgehend indifferente Systemzusammenhänge materieller Gesellschaftsreproduktion mittels ihrer generalisierten Steuerungsmedien in die Lebenswelt eindringen. Einfallstore für diese „Mediatisierung“175 bzw. „Kolonialisierung“176 sind die regelhaften Austauschbeziehungen lebensweltlicher Akteure mit den Systemen. Zwischen Wirtschaftssystem und Privatsphäre werden Arbeitskraft gegen Arbeitseinkommen und Güter oder Dienste gegen Nachfrage getauscht; zwischen Verwaltungssystem und Öffentlichkeit Steuern gegen Organisationsleistungen und politische Entscheidungen gegen Massenloyalität.177 Mitglieder der Lebenswelt interagieren hier in unterschiedlichen Rollenkontexten: Sie treten mit dem Wirtschaftssystem entweder als Arbeitnehmer oder als Konsumenten und mit dem staatlichen Verwaltungssystem entweder als Klienten oder als Staatsbürger in Kontakt.178 Sie begeben sich so – insbesondere als Arbeitnehmer und als Staatsklienten – in eine fremdbestimmte Interaktion mit formal organisierten Handlungsbereichen, auf die sie sich in ihren eigenen Handlungen einstellen müssen. Die kognitivinstrumentelle Logik der Systeme verdrängt so tendenziell moralisch-praktische Elemente der Lebensführung. Durch diesen Einfluss fremder Steuerungsmedien wird die kommunikative Alltagspraxis überformt und einseitig auf Zwecktätigkeit ausgerichtet rationalisiert, während die Verständigungsorientierung an Wert und vor allem an normierender Kraft verliert. Diese Veränderungen sind vor allem dann zu beobachten, wenn die Systeme aus ihrer eigenen Bestandsrationalität heraus die eigensinnigen Austauschleistungen der Lebenswelt instrumentalisieren, um ihren eigenen Fortbestand im Dienste der materiellen Reproduktion zu sichern. Dabei nehmen sie aufgrund ihrer Indifferenz gegenüber der symbolischen Reproduktion keine ‚Rücksicht‘ auf die Integrität lebensweltlich konstitutiver Prozesse, sondern berüh175 176
177
178
Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 277. Hier greifen systemintegrative Mechanismen ‚subjektiv unauffällig‘ durch die Handlungsorientierungen der Lebensweltteilnehmer hindurch. Ebd., S. 471. Hier ersetzen systemintegrative Mechanismen auch in der Lebenswelt die sozialintegrative Kraft kommunikativer Handlungsorientierungen. Kolonialisierung hebt nicht das prinzipielle Primat der Lebenswelt auf, sondern schwächt die Möglichkeiten der Lebenswelt-Handelnden, von der ‚Überlegenheit‘ ihrer kommunikativen Vernunft, im Sinne der beschriebenen umfassenderen Rationalität, Gebrauch zu machen. Vgl. auch Cohen/Arato 1994, S. 431. Sie weisen darauf hin, dass ein solches Gesellschaftsverständnis die klassische Unterscheidung des dualistischen Gesellschaftsbildes sprengt: Die Trennlinie zwischen öffentlich und privat verläuft nicht mehr horizontal zwischen Staat und Gesellschaft, wie in den dualistischen Modellen der liberalen Theorie, sondern vertikal. Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 472ff.
3 Ausdehnung systemischer Zweckrationalität
275
ren die Grundlagen sozialisatorischer, solidarischer und kultureller Vergesellschaftungsmechanismen.179 Die systemisch gesteuerten Sozialbereiche lösen sich nicht nur zunehmend von ihrer legitimatorischen Verankerung in lebensweltlichen Übereinkünften, sondern expandieren förmlich in ihre eigenen lebensweltlichen Legitimationsgrundlagen hinein. Die verflüssigten Fundamente lebensweltlich-kommunikativer Vergesellschaftung, kultureller Reproduktion und Sozialisation werden durch den Einfluss der bis in die Kernbereiche der Lebenswelt durchdringenden zweckgebundenen Systemrationalität zunehmend ausgetrocknet. Dieser Prozess einer ‚Kolonialisierung‘, in dem die Lebenswelt unter eine ihr fremde Steuerungslogik fällt, hat Folgen für die sinnhafte Integration moderner Gesellschaften, die Habermas als „pathologische Nebeneffekte“ kennzeichnet.180 Diese Konstellation befördert Legitimations- und Motivationsprobleme in Gesellschaften, in denen systemische (meist ökonomische) Krisen in die Lebenswelt zurückverlagert werden.181 Die zweckrationale Vernunft dehnt ihren Geltungsbereich so weit aus, dass durch die Unterordnung weiterer Sektoren des gesellschaftlichen Lebens unter administrative Planungsprozeduren oder ökonomische Marktmechanismen nicht-intendierte Nebenfolgen auftreten, die den fraglosen Charakter einstmals selbstverständlicher Geltungsansprüche aushöhlen und damit den Bereich der kulturellen Überlieferung und der sozialen Integration bedrohen.182 Auf gesellschaftlicher Ebene entsteht dadurch eine deformierte Sphäre politischer Öffentlichkeit, die durch das politische System weitgehend funktional zur Beschaffung von Legitimation für seine Operationen hergestellt werden muss, um Themen hervorzuheben, andere Probleme oder Argumente zu verdecken und dadurch der Meinungsbildung zu entziehen; das gilt in zunehmendem Maße auch für das Wirtschaftssystem und seine expandierenden Bemühungen um Public Relations, die angesichts ihrer persuasiven und perlokutionären Ausrichtung als Ausdruck einer Einengung kommunikativer Möglichkeit in Öffentlichkeit – und damit als Herausforderung für einen kommunikativen Journalismus – verstanden werden können.183 Die expansiven Tendenzen systemischer Steuerungsmechanismen werden begünstigt durch die Rationalisierungsprozesse innerhalb lebensweltlicher Bereiche, die Ausdifferenzierung überhaupt erst ermöglicht haben. Die substantielle Vernunft vormoderner Mythen und Weltbilder tritt auseinander in lediglich formal zusammengehaltene Bereiche von Erkenntnis-, Gerechtigkeits- und Geschmacksfragen, zu denen sich analog die Expertenkulturen von Wissenschaft, Moral und Kunst ausbilden, die lediglich den ihnen zufallenden Geltungsan-
179 180 181
182 183
Vgl. ebd., S. 477 Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 476f. Schon in seinen Betrachtungen zum Spätkapitalismus geht Habermas davon aus, „[…] daß der Grundwiderspruch der kapitalistischen Ordnung nach wie vor die private Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums ist; im Rahmen des Diskursmodells formuliert: der Grundwiderspruch ist die Unterdrückung verallgemeinerbarer Interessen durch ihre Behandlung als partikulare. Politische Entscheidungen, die das bestehende Organisationsprinzip der Gesellschaft spiegeln, lassen deshalb ispo facto keinen vernünftigen Konsensus zu. Sie können folglich nicht in einer allgemeinen und uneingeschränkten Diskussion dessen gerechtfertigt werden, was im Lichte gegenwärtiger und möglicher Umstände im besten Interesse aller Betroffenen liegt. Deshalb hängt die Stabilität der kapitalistischen Gesellschaftsformation von der ungebrochenen Wirksamkeit von Legitimationen ab, die einer diskursiven Überprüfung nicht standhalten würden. Das Problem besteht, kurz gesagt darin, den gesellschaftlich erzeugten Reichtum ungerecht und dennoch legitim zu verteilen.“ (McCarthy 1989, S. 407) Die zentralen Gesellschaftsprobleme betrachtet Habermas aus dieser Perspektive heraus als soziokulturelle Probleme, die aus den in die Lebenswelt verschobenen Folgen systemischer Steuerungsprobleme resultieren (vgl. Habermas 1973a, S. 66ff.). Vgl. McCarthy 1989, S. 420 Vgl. für eine aktuelle Kritik Leif 2005.
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V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
spruch bearbeiten.184 Der dialektische Prozess eines Vernunftgewinns bei gleichzeitig tendenziellem Verlust der Ganzheitlichkeit des Vernunftgebrauchs geht damit einher, dass die Indienstnahme der versprengten Ergebnisse der einzelnen Expertenkulturen für die kulturelle Alltagspraxis erschwert wird. Dem einzelnen Lebenswelt-Akteur ist der Zugriff auf die Leistungen von Wissenschaft, Moral und Kunst nicht zuletzt deshalb kaum mehr direkt möglich, weil seine weiterhin teilweise von einer naturwüchsigen Tradition bestimmte Alltagswelt und die zunehmend elitistischen Expertenkulturen weiter auseinander treten. Die Folge ist das „fragmentierte Bewusstsein, das der Aufklärung über den Mechanismus der Verdinglichung vorbeugt“185: Die Lebenswelt verarmt auch aus sich selbst heraus zunehmend und verliert nicht nur durch das wachsende Abhängigkeitsverhältnis zu den Systemen, sondern auch in ihrem innersten Kern die Kraft zur sozialen Integration von Gesellschaft. Kommunikatives Handeln wird, wenn auch nicht normativ, so doch faktisch geschwächt. Diese wechselseitige Verschränkung von eigener Schwäche der Lebenswelt und expansiver Kraft der Systeme verweist darauf, dass das Verhältnis des Primats der Lebenswelt zur Kolonialisierung der Lebenswelt durch systemische Zusammenhänge nicht hinreichend bestimmt – oder bestimmbar – ist186: Ordnete Habermas die Systeme von vornherein eindeutig einem Primat der Lebenswelt unter, dann würden diese lediglich zweckrationale Derivate kommunikativer Vernunft bleiben und keinen eigenständigen Steuerungszusammenhang konstituieren. Aus der Perspektive einer weitgehend lebensweltabhängigen Systemausdifferenzierung heraus wäre Habermas nicht mehr in der Lage, wie Dietz anmerkt, die Verdinglichungsprozesse zu beschreiben, die er in seiner Gesellschaftsanalyse im Blick hat.187 Umgekehrt aber ist die These einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch ein System nicht ohne weiteres mit der beschriebenen Prämisse vom genuinen Primat der Lebenswelt in Einklang zu bringen. Einen Ausweg aus diesem theoretischen Dilemma bietet die Unterscheidung zwischen einer generellen, abstrakten Theorieperspektive und einer konkreteren, empirisch orientierten, gesellschaftsanalytischen Vorgehensweise: Auf ihrer Basis kann die heuristische Differenzierung zwischen Entkoppelung und Kolonialisierung beibehalten werden. Während die Entkoppelung sich im Zuge gesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse zur Steigerung der Steuerungsfähigkeit komplexer Sozialsysteme beinahe zwangsläufig vollzieht, stellt die Kolonialisierung einen empirisch zu beobachtenden Unterfall dar, der zeitlich an die Gegenwartsanalyse gebunden ist, und nicht in gleichem Maße universellen Charakter beanspruchen kann. Diese Differenzierung bildet eine der zentralen Modifikationen gegenüber der traditionellen Kritischen Theorie: Es wird nicht mehr davon ausgegangen, dass jeder Ausdifferenzierungsprozess zwangsläufig negative ‚verdinglichende‘ Folgen nach sich zieht, sondern dass dafür spezifische weitere Bedingungen erfüllt sein müssen.188 Für eine zunächst provisorische Klärung des Verhältnisses der beiden System-LebensweltBeziehungen muss die Kolonialisierungsthese – ähnlich wie bereits der konkretistische Systembegriff – also als Beschreibung eines historisch-empirischen Vorgangs gekennzeichnet werden, der kommunikative Rationalität zwar bedrohen, nicht aber ausschalten kann – auch wenn Habermas seine resümierenden empirischen Aussagen in pessimistische Melancholie kleidet und ein düsteres Zukunftsbild zeichnet:
184 185 186 187 188
Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 481ff. Ebd., S. 522 Vgl. dazu Dietz 1993, S. 153 Vgl. ebd., S. 18 Vgl. Dubiel 2001, S. 101f.
3 Ausdehnung systemischer Zweckrationalität
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„Die Lebenswelt wird an verrechtlichte, formal organisierte Handlungsbereiche assimiliert und gleichzeitig vom Zufluß einer ungebrochenen kulturellen Überlieferung abgeschnitten. So verbinden sich in den Deformationen der Alltagspraxis die Erstarrungs- mit den Verödungssymptomen. Das eine Moment, die einseitige Rationalisierung, geht auf die Verselbständigung von mediengesteuerten Subsystemen zurück, die sich nicht nur jenseits des Horizonts der Lebenswelt zu einer normfreien Realität versachlichen, sondern mit ihren Imperativen in die Kernbereiche der Lebenswelt eindringen. Das andere Moment, das Absterben vitaler Überlieferungen, geht auf eine Ausdifferenzierung von Wissenschaft, Moral und Kunst zurück, die nicht nur das Autonomwerden von spezifistisch bearbeiteten Sektoren bedeutet, sondern auch die Abspaltung von den unglaubwürdig gewordenen Traditionen, die sich auf dem Boden der Alltagshermeneutik in entmächtigter Naturwüchsigkeit fortbilden.“189
Dieses Fazit erscheint angesichts der skizzierten theoretischen Grundannahmen als zu stark zugespitzt, und deswegen warnt Habermas auch grundsätzlich vor einer kulturkritischen und kulturpessimistischen Perspektive, die sowohl die Systemausdifferenzierung als auch die funktionale Spezialisierung der kulturellen Reproduktion in der Lebenswelt an sich als Ursachen der Bestandsgefährdung der Lebenswelt identifiziert. Nicht die Tatsache, dass Bereiche der materiellen Reproduktion systemisch integriert sind, gefährdet die Lebenswelt, sondern dass diese Bereiche zunehmend in die Kerne der Lebenswelt vordringen. Ebenso lassen nicht die Expertenkulturen aufgrund ihrer bloßen Existenz die Lebenswelt kulturell verarmen, sondern es sind ihr elitistischer Anspruch, ihre esoterische Ferne von der naturwüchsigen Traditionalität der Alltagskultur, die für das zunehmende Auseinandertreten von Moral, Wissenschaft und Kunst auf der einen und individueller Alltagserfahrung des Einzelnen auf der anderen Seite sorgen – eine Tendenz, die eingangs auch mit Blick auf die Praxisferne der Journalistik festgestellt wurde. Erst das Zusammenspiel von Verdinglichung durch Systemeingriffe und fragmentiertem Bewusstsein innerhalb der Lebenswelt lässt die Kolonialisierung der Lebenswelt zu: Die Systemimperative können die Assimilation kommunikativer Prozesse an ihre eigene zweckrationale Logik nur deshalb erreichen, weil das eigene fragmentierte Bewusstsein es den Mitgliedern der Lebenswelt nicht ermöglicht, diesen Einbruch einer fremden Logik in für Gesellschaft konstitutive Bereiche auch tatsächlich (als eine Gefährdung) zu erkennen. Für die Produkte eines eigensinnigen und lebensweltlich verhafteten Journalismus wird es schwieriger, in einer zunehmend kolonialisierten Öffentlichkeit gehört zu werden. Dabei gehört gerade ein diskursiver Journalismus zu eben jenen lebensweltlichen Widerstandsreserven, die eine vollständige Umstellung von Öffentlichkeit auf Systemrationalität verhindern können. Der kolonialisierende Eingriff stößt nämlich zwangsläufig an die eigensinnigen Grenzen der symbolischen Reproduktion, auf deren Erfüllung die Strukturen der Lebenswelt beharren. Die Erzeugung von Sinn ist durch zweckrationale Eingriffe nicht zu leisten. Auch deshalb müssen sich Public Relations und Propaganda der Logik kommunikativen Handelns zumindest dem Schein nach bedienen. Sie unterlaufen dadurch zwar perlokutionär deren grundlegende Rationalität, erkennen aber zugleich deren kontrafaktische Gültigkeit mit dieser strategischen Indienstnahme an. Sobald durchschaubar wird, dass die entsprechenden Bemühungen aus systemischen Kontexten heraus der gezielten Beschaffung von Legitimation gelten, sind sie weitgehend erfolglos und aus systemischer Sicht bisweilen sogar dysfunktional.190 Die Kolonialisierung lebensweltlicher Strukturen ist nicht zur Gänze möglich, sie stößt auf Widerstand. Dieses Widerstandspotenzial ist lebensweltlich in kommunikative Institutionen wie Journalismus eingelassen. 189 190
Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 483 Vgl. Habermas 1973a, S. 99
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Allerdings erschwert das Habermassche Modell die Darstellung dieser ‚Institutionen des Widerstands‘. Obwohl es in der theoretischen Modellierung der Lebenswelt selbst von deren symbolischer Integration durch Institutionen ausgeht191, tendiert es in der Kolonialisierungsanalyse bisweilen dazu, lebensweltliche Institutionalisierungsprozesse gleichsam ausschließlich als ein Einfallstor systemischer Logik in die Lebenswelt zu beschreiben, weil sie sich in ihren Strukturierungsleistungen dem systemischen Vergesellschaftungsmodus immer mehr angleichen und in den Systembereich abwandern. Ihre Internalisierungswirkungen scheinen dann zunehmend den Spielraum der gestalterischen Externalisierung des Handelns zu dominieren. Der politischen oder sozialen Institutionenanalyse bleibt im Anschluss daran meist nur noch die Möglichkeit, jede rechtsförmige Institutionalisierung als einen kolonialisierenden Akt gegenüber der Lebenswelt zu beschreiben. Rehberg kritisiert, dass dadurch der Eindruck entstehe, dass Habermas die Lebenswelt tendenziell als vor- bzw. außerinstitutionell verstehe und ihr damit einseitig die Zwanglosigkeit kommunikativer Interaktion zuschreibe, während dem (institutionellen) System hingegen Entfremdung und Verdinglichung unterstellt würden. Der Institutionenbegriff werde so auf ein weitgehend konservatives Verständnis der Repression eingeengt.192 Die theoretischen Annahmen der ‚Theorie kommunikativen Handelns‘ würden so letztlich in der empirischen Analyse unnötig konterkariert, indem die Dimension institutionellen Zwangs überakzentuiert und ihre kommunikative Ausgestaltung zu wenig beachtet werde. McCarthy betont sehr deutlich, dass im Rahmen des zweistufigen Gesellschaftsmodells gerade lebensweltliche Institutionen Träger des Widerstandes gegen systemische Kolonialisierung sind; er hat dabei insbesondere die Institutionen im Blick, „[…] die eine wirksam funktionierende Öffentlichkeit sicherstellen, in der praktische Fragen des allgemeinen Interesses der öffentlichen Diskussion unterzogen und auf der Grundlage diskursiv erzielten Einverständnisses entschieden werden können“.193 Dazu zählt auch ein diskursiv verstandener und gehandhabter Journalismus.
3.2
Journalistisches Handeln unter Systembedingungen
Überträgt man die theoretischen Prämissen des zweistufigen Gesellschaftsmodells auf journalistisches Handelns im Systemzusammenhang, ergeben sich differenzierte Interpretationsmöglichkeiten: Die organisatorischen Imperative, denen journalistisches Handeln ausgesetzt ist, können • lebensweltlichen Institutionalisierungen im Sinne einer Strukturierung, • rationalitätssteigernden systemischen Ausdifferenzierungen von Bereichen materieller Reproduktion im Sinne einer Mediatisierung (u.U. mit subjektiv unauffälligen Folgen für lebensweltliche Handlungsmuster, die sich daran orientieren) oder • dysfunktionalen Übergriffen systemischer Logik auf Lebenswelt im Sinne einer Kolonialisierung geschuldet sein. Vor diesem differenzierten Hintergrund können Rationalitätskonflikte untersucht werden, die in der Gegenüberstellung von Zweckrationalität (System) und kommunikativer Rationalität (Lebenswelt) begründet sind. Damit wird ein Maßstab zur Unterscheidung 191 192 193
Vgl. Habermas 1973a, S. 14: „Von sozialer Integration sprechen wir im Hinblick auf Institutionensysteme, in denen sprechende und handelnde Subjekte vergesellschaftet sind; Gesellschaftssysteme erscheinen hier unter dem Aspekt einer Lebenswelt, die symbolisch strukturiert ist.“ Vgl. Rehberg 1994, S. 64 McCarthy 1989, S. 546
3 Ausdehnung systemischer Zweckrationalität
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zwischen einer sinnvollen und notwendigen Ausdifferenzierung systemischer Bereiche und ihrem (pathologischen) Übergreifen auf lebensweltliche Zusammenhänge, die ohne Sinnverlust nur kommunikativ integrier- und steuerbar sind, gewonnen. Das entlang dieser unterschiedlichen Ausdifferenzierungen sich ergebende Verhältnis von systemischen Medienimperativen und kommunikativem Journalismus soll im Folgenden in Hinblick auf den von Neverla konstatierten Strukturwandel von Betrieb, Technik und Beruf untersucht werden194, der nicht ohne Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten journalistischer Akteure bleiben kann. Im Kern geht es um drei unterschiedliche Transformationsprozesse: die Bildung und Veränderung redaktioneller Strukturen (1), die zunehmende Induktion technischer Rationalität in den Redaktionsalltag (2) und die Herausbildung einer eigenständigen journalistischen Berufsrolle (3). Außerdem soll ein Blick auf die ambivalenten Potenziale der Reorganisation von Redaktionen für eine Wiederbelebung der Chancen eines kommunikativen journalistischen Handelns geworfen werden (4).
3.2.1
Ausdifferenzierung von Redaktionen
Journalistische Leistungen werden heutzutage in den seltensten Fällen von allein handelnden Individuen erbracht, sondern sind in der Regel das Ergebnis ‚organisierter Kommunikation‘ journalistischer Redaktionen.195 Zu diesem Phänomen des ‚organisatorischen Journalismus‘196 liegen ausführliche Studien vor, die sich mit der Etablierung von Redaktionen und der weiteren organisatorischen Ausdifferenzierung des Journalismus beschäftigen.197 Als Kennzeichen derartiger Prozesse werden schon früh „die arbeitsteilige Differenzierung, die Ressortbildung, die thematische Spezialisierung und die Auslagerung der Nachrichtenproduktion“ genannt.198 Auf der Makroebene kann vor allem die Ressortbildung als die ‚Spiegelung‘ einer bestimmten Differenzierung von Welt durch das Medium analysiert werden, während auf der Mikroebene die konkreten Strukturen der Arbeitsteilung und -organisation in der Redaktion untersucht werden. Ressortbildung ist damit sowohl ein Modus der Generierung von so genannter ‚Medienrealität‘199, als auch ein Modell medialer Betriebe, das beschreibt „[…] welche Rahmenbedingungen durch die Organisation gesetzt werden“200 und wie Mitgliedsrollen geregelt sind. In der Redaktionsforschung haben sich vorwiegend empirisch-deskriptive bzw. empirischanalytische Ansätze durchgesetzt, die auf abstrakten und komplexen (oft systemtheoretischen) Erörterungen beruhen.201 Sie sehen in der Redaktion die charakteristische Organisationsform 194 195 196 197 198 199 200 201
Vgl. Neverla 1998, S. 61 Vgl. Altmeppen/Donges/Engels 1999, S. 26f. Vgl. Rühl 1989 Vgl. Meier 2002a; Altmeppen 1999; Schütt 1981; Rühl 1980; 1979 Schütt 1981, S. 163 Vgl. Meier 2002a, S. 79f. Die Ressortstruktur hat weitreichende, v.a. auch gesellschaftspolitische Konsequenzen, die erkennbar bis in die Reproduktion lebensweltlicher Strukturen hineingreifen, indem durch die Ressorts und ihre Berichterstattung gesellschaftliche Wahrnehmungsprozesse strukturiert werden (vgl. ebd., S. 424). Altmeppen/Donges/Engels 1999, S. 26f. Laut Weischenberg (1992a, S. 289) lassen sich die Sichtweisen auf die Redaktionsbildung nach verschiedenen Forschungsansätzen differenzieren: • Die normative Publizistikwisssenschaft sieht Redaktion als ‚geistiges Zentrum‘ des Medienbetriebs; • die materialistische Medientheorie bewertet die Redaktion als ‚Produktionsbetrieb von Nachrichten‘; • Organisationssoziologie, Systemtheorie und Kybernetik konstruieren die Redaktion als ‚organisiertes soziales System‘.
280
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
des Journalismus, die sie als ein „soziales System“ interpretieren, welches sich „durch eine spezifische Binnenstruktur und durch Austauschbeziehungen zur Umwelt“ auszeichnet.202 Systemkonzeptionen thematisieren in der Regel nicht die Genese der Redaktion, sondern nehmen sie als Faktum der Gegenwart hin.203 Die für die vorliegende Analyse zentrale Frage ist allerdings die nach der Orientierung des redaktionellen Programms: Je nachdem, ob seine Imperative primär journalistisch oder aber ökonomisch-kommerziell bestimmt sind, ergeben sich Konsequenzen für die Handlungsspielräume journalistischer Akteure. Die systemischen bzw. institutionellen ‚constraints‘ sind entsprechend unterschiedlich zu bewerten. Drei Interpretationsstränge sind parallel zu den theoretischen Überlegungen – Strukturierung, Mediatisierung oder Kolonialisierung – konzipierbar: (1) Die Redaktion stellt eine lebensweltlich fundierte Institution dar, die journalistisches Handeln durch Strukturierung ermöglicht. Der in Redaktionen verfasste organisatorische Journalismus kann als die Etablierung von organisatorischen und institutionellen Strukturen betrachtet werden, welche die Erbringung journalistischer Leistungen in modernen Gesellschaften gewährleisten sollen. Er wäre dann ein Kommunikation ermöglichender struktureller Rahmen innerhalb lebensweltlicher Logik. Besonders aus historisch orientierten Arbeiten lassen sich Aufschlüsse über Prozesse der journalistischen Ausdifferenzierung von Redaktionen ziehen. Die Gründung von Redaktionen, für manche Autoren zugleich der Beginn des modernen Journalismus, fällt zusammen mit der im 19. Jahrhundert aufkommenden Notwendigkeit, aus einem Stoffangebot auszuwählen, das die Vermittlungskapazitäten des Mediums übersteigt. Erst dann wird es notwendig, Entscheidungsprogramme zu etablieren, mit denen die komplexer gewordene Umwelt bearbeitet werden kann.204 Durch die Einrichtung von thematischen Sparten und von daran angelehnten organisatorischen Ressorts werden Routineprogramme etabliert, nach denen die komplexe Welt in bearbeitbare Sinnzusammenhänge zerlegt wird und durch die Journalisten zugleich von Kommunikationsrisiken entlastet werden.205 Der Gliederung bislang ungegliederter Zeitungen folgt im Laufe des 19. Jahrhunderts die Bildung entsprechender redaktioneller Strukturen – auch dies ist zunächst zu betrachten als eine Möglichkeit, die Leistungsfähigkeit journalistischen Handelns durch Etablierung von veränderbaren, lebensweltlich verankerten Strukturen zu erhöhen. Passend zu den Sparten wurden Fachleute mit entsprechenden Vorkenntnissen in die Redaktionen hineingeholt, die ihre Themenbereiche kompetent bedienen sollten.206 In diesem Prozess bildeten sich die klassischen Ressorts Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport sowie Lokales heraus, die aber schon bald vielfältig ergänzt bzw. durchbrochen worden sind, um gesellschaftlichen Veränderungen
202 203 204 205
206
Während die normative Publizistikwissenschaft heute kaum mehr eine Rolle spielt, offerieren die ebenfalls umstrittenen Ansätze kritischer (oder materialistischer) Forschung nach wie vor wichtige Aufschlüsse über die Verfasstheit moderner Medienproduktion und damit journalistischen Handelns. Darauf weisen z.B. Scholl 1997a, S. 130f. und Weischenberg 1992a, S. 293 ausdrücklich hin. Blöbaum 1994, S. 51; vgl. Weischenberg 1992a, S. 294 Derartige historische Fragen stünden nicht im Zentrum einer funktional-strukturellen Systemauffassung, kritisiert Hienzsch (1990, S. 70). Vgl. Blöbaum 1994, S. 136; Meier 2002a, S. 119 Vgl. Blöbaum 1994, S. 205. Diese ‚Verspartung‘ des Zeitungsinhalts lässt sich im 18. Jahrhundert zunächst in Form des Gelehrten Artikels und des Feuilletons feststellen. Im 19. Jahrhundert setzte sich dann zunehmend die thematische Bündelung auch in Bezug auf andere Felder wie Wirtschaft durch. Erst als die Stofffülle es hergab, konnte die Zeitung durchgängig in Sparten unterteilt werden (vgl. Meier 2002a, S. 112ff.). Allerdings waren die Sparten und sich bildenden Ressorts in ihrer Präsenz noch nicht so etabliert wie heutzutage, sondern schwankten in Form, Umfang und Inhalt manchmal gar täglich in ganz erheblichen Ausmaß (vgl. Meier 2002a, S. 134).
3 Ausdehnung systemischer Zweckrationalität
281
gerecht zu werden – entweder indem die fünf Hauptressorts sich intern differenzierten, indem weitere Ressorts gegründet oder indem neue Organisationsmodelle quer zu den klassischen Ressorts eingeführt wurden.207 Einmal etabliert, verselbstständigen sich die Redaktionen und differenzieren sich in den Dimensionen Organisationen, Rollen und Programme weiter aus – sowohl hinsichtlich ihrer Größe als auch hinsichtlich ihrer Binnendifferenzierung.208 Auch die Bildung externer Nachrichtenagenturen als einer vorgeschalteten Selektionsinstanz ist als Bestandteil der Differenzierung zu betrachten.209 (2) Die Redaktion ist eine notwendige, effizienzsteigernde Ausdifferenzierung derjenigen Bereiche journalistischer Prozesse, die materieller Reproduktion dienen. Es kann davon ausgegangen werden, dass Redaktionen nur höchst selten ausschließlich ‚Erleichterungen‘ journalistischer Tätigkeiten durch Kooperation sind, sondern zumindest auch, wenn nicht vorwiegend, ein Mittel ökonomischer Effizienzsteigerung, mit dem die materiellen Ressourcen des Journalismus, auch zu seinem eigenen Vorteil, gewinnträchtiger gewährleistet werden können. Die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mehrerer Journalisten bei der Produktion journalistischer Leistungen ist dann eine Folge der systemischen Programmierung ökonomisch ausgerichteter Medienunternehmungen. Beide Logiken existieren in dieser Sichtweise in den Redaktionen parallel zueinander und strukturieren spezifische Bereiche. Weischenberg unterscheidet entsprechend zwei Schritte im Arbeitsprozess der Redaktion: Während bei der Recherche, bei Nachrichtenbeschaffung und Vorauswahl, inhaltliche Gesichtspunkte des ‚Veröffentlichungswertes‘ im Mittelpunkt stehen, entscheidet sich die Veröffentlichung und Aufbereitung nach organisatorischen, technischen und ökonomischen Faktoren, nach „Prinzipien der Präsentation“.210 Folgt man dieser Differenzierung, dann kann die Selektionslogik der Medien – zumindest in Teilen – noch als journalistisch fundiert betrachtet werden, während die Präsentationslogik der Medien weitgehend kommerziellen und technischen Imperativen unterlegen ist. In ihrer reinsten Form wird die These der rationalitätssteigernden Ausdifferenzierung in Systemkonzeptionen vertreten, die Rühls Pionierstudie der empirischen Redaktionsforschung von 1969 nachfolgen.211 Rühl betrachtet die Redaktion als soziales, umweltorientiertes System, das aus Bündeln von Erwartungen und Erwartungserwartungen sowie daran anschließenden Handlungen besteht. Die Redaktion steht unter dem Druck, auf nicht überschaubare und nicht vorhersehbare Vorgänge in ihrer Umwelt so zu reagieren, dass sie ihrer Bestimmung gerecht wird und zu fixen Zeitpunkten eine fixe Menge reproduzierbarer Aussagen selektiert, verarbeitet und zur Vervielfältigung bereit stellt.212 Handelnde Personen geraten aus dieser Analyseperspektive nicht in den Blick, sondern ausschließlich Rollenträger. Die Redaktionsforschung wird damit zu einem demonstrativen Abschied vom normativen Individualismus der klassischen Journalismusforschung: 207
208 209 210 211 212
Vgl. Meier 2002a, S. 135. Die ursprüngliche spartenspezifische Binnendifferenzierung der Redaktionen ist input-orientiert bestimmt worden von ausdifferenzierten Teilsystemen wie Politik, Wirtschaft, Sport oder Kultur. Von den späteren Ressortneugründungen können nur noch Wissenschaft und Medien als vergleichbar angesehen werden, während die Mehrzahl der hinzugekommenen Ressorts output-orientiert ist und auf die gezielte Ansprache von Zielgruppen setzt, ohne sich dabei der Beobachtung eines spezifischen Teilsystems zu widmen. Beispiele für derartige auf Ratgeber- und Unterhaltungsfunktion gerichtete Ressorts sind laut Meier: Reise, Auto, Mode, Service etc. (vgl. ebd., S. 141ff.). Vgl. Blöbaum 1994, S. 181 Vgl. Weischenberg 1992a, S. 316; Blöbaum 1994, S. 219 Weischenberg 1992a, S. 322 Im vorliegenden Text wird die erweiterte zweite Auflage der Studie Rühls, die 1979 erschienen ist, zitiert. Vgl. Rühl 1979, S. 67
282
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien „Als Handlungssystem ‚besteht‘ die Zeitungsredaktion grundsätzlich aus Handlungen und nicht aus Menschen schlechthin. Menschliche Handlungen werden durch Rollen in das Sozialsystem Zeitungsredaktion einbezogen. Aber nicht alle Handlungen, derer Menschen fähig sind, werden Redaktionsbestand. Vor allem als Personen bleiben Menschen eigenständige, relativ autonome Handlungssysteme, die neben ihren Bindungen und Verbindungen zur Zeitungsredaktion noch in eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Handlungssysteme (Familie, Verein, Kirche, Partei usf.) über Rollen eingebunden sind. Durch verschiedene sinnvolle Handlungszusammenhänge können sie Mitglieder einer Zeitungsredaktion werden; als Person, genauer: als (psychisches) Personalsystem stellen sie für die Zeitungsredaktion eines der vielen Systeme ihrer Umwelt dar, mit eigener Struktur, eigenen Interessen, Orientierungen, usf.“213
Kern dieser Prozesse ist ein zweckorientiertes und konditionales Entscheidungsprogramm, mit dem die systeminternen Operationen gesteuert werden.214 Das redaktionelle Entscheidungshandeln lässt sich nach Rühl zumindest analytisch in die Phasen der ‚Kollektion‘, ‚Selektion‘ und ‚Kondensation‘ unterteilen, in denen Redaktionen mit unvollständigen und ungewissen Informationen umgehen.215 Redaktioneller Journalismus schafft demnach keine neuen sinnhaften Inhalte und transportiert auch keine Informationen, sondern erschließt und transformiert die Informationsangebote sozialer Systeme gemäß regelhafter Routinen und etablierter Entscheidungsprogramme – mit dem Ziel, (durch Reduktion von Komplexität) die Zusammenhänge herzustellen, die im Vollzug gesellschaftlicher Differenzierung verloren gegangen sind.216 Dieses Redaktionsverständnis nähert sich kybernetischen Vorstellungen, denen zufolge die Redaktion eine unpersönliche „Meß- und Regelinstanz innerhalb eines Fließgleichgewichts [ist], die permanente Austauschbeziehungen zur Umwelt unterhält“.217 (3) Die Redaktion fungiert als Einfallstor für eine (ökonomische) Kolonialisierung des Journalismus, indem systemische Imperative den kommunikativen Prozess des Journalismus verdrängen. Eine dritte Interpretation legt nahe, den organisatorischen Journalismus als das Ergebnis eines Prozesses zu sehen, in dessen Vollzug sich sukzessive eine (ökonomisch) zweckrationale Effizienz- und Organisationslogik gegen die kommunikative Rationalität journalistischen Handelns durchgesetzt hat und immer noch mit ihr im Widerstreit steht.218 Für die These, dass redaktionelle Abläufe weitgehend den Gesetzen von Ökonomie und Technik unterstehen, lassen sich Belege in der Analyse ihrer Konstitutionsbedingungen219 oder auch der Dynamik ihrer Strukturen220 auffinden. In der Redaktionsforschung ist von Weischenberg bereits vor geraumer Zeit apodiktisch festgestellt worden, dass sich das industrielle Prinzip der ‚Taylorisierung‘ zunehmend auch im Journalismus durchsetzt, indem der Arbeitsprozess in bestimmte objektivierte Tätigkeiten 213 214 215 216 217 218
219 220
Ebd., S. 70f. Vgl. ebd., S. 78 Vgl. ebd., S. 273f. Vgl. Hienzsch 1990, S. 58; Weischenberg 1992a, S. 296 Hienzsch 1990, S. 70 Dass Konzepte für das Management und die Organisation von Redaktionen nicht ohne Schwierigkeiten aus der betriebswirtschaftlichen Managementlehre abgeleitet werden können, weil redaktionelles Arbeiten sich wesentlich von dem in ‚normalen‘ Unternehmen unterscheidet, hat Weischenberg (1992a, S. 303) besonders betont: • „Die Produktion kann nicht komplett arbeitsteilig und nach festen Routinen erledigt werden; • die Einzelentscheidungen können nicht zeitlich präzise aufeinander abgestimmt werden; • die Redaktion muss sich ständig an wechselnde Umweltsituationen und Umwelterwartungen anpassen; und • viele Entscheidungen müssen trotz Ungewissheit und Risiko getroffen werden.“ So richtet sich zum Beispiel die redaktionelle Personalstärke vorwiegend nach der Konkurrenzsituation auf dem Markt und weniger nach den Gegebenheiten des Berichterstattungsgegenstandes (vgl. Hienzsch 1990, S. 79). Redaktionelle Innovationen oder Veränderungen der Strukturen folgen in der Regel Managemententscheidungen (vgl. Meier 2002a, S. 99).
3 Ausdehnung systemischer Zweckrationalität
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zergliedert wird, deren angemessene Erfüllung von austauschbaren Arbeitskräften auf der Basis betrieblicher Anlernprozesse gewährleistet wird. Dies geschieht durch „die Programmierung redaktioneller Arbeitsanforderungen, die Quantifizierung von Arbeitsleistungen, den Verzicht auf systematische Ausbildung und auf Kreativität und im Extrem die Zerlegung der redaktionellen Produktion in automatisierbare Teilbereiche“ und mündet in der weitgehenden Austausch- und Steuerbarkeit der Rollenträger.221 Hienzsch spricht in diesem Zusammenhang von einer ‚Kybernetisierung‘ der Redaktionsarbeit, durch die Journalismus zu einer „Restgröße“ im medialen Prozess schrumpfe.222 Diesen Analysen zufolge geht das Potenzial, journalistische Leistungen zu produzieren, in redaktionellen Strukturen zunehmend verloren.223 Die Einflüsse zweckrationaler Effizienzlogik schlagen sich aus dieser Sicht insbesondere dadurch nieder, dass Organisationsabläufe im Hinblick auf unternehmerische Gewinnabsichten optimiert werden. Insbesondere aus der Sicht einer polit-ökonomischen Analyse der Journalismusgeschichte ist die Entstehung von Redaktionen nicht nur eine Entwicklung kooperativer Kommunikationsstrukturen, sondern „augenscheinlichstes Resultat der formellen Subsumtion“ des Journalismus unter das verlegerische Kapital224 – oder in anderen Worten: der Kolonialisierung der Kommunikativität journalistischen Handelns durch mediale Systemstrukturen. Der „Widerspruch zwischen den erweiterten Möglichkeiten des Arbeitsprozesses bei gleichzeitigem Zwang zur Verwertung immer größer werdender Kapitale“225 ist das organisatorische Pendant zur gesellschaftlichen Ambivalenz massenmedialer Kommunikation, die nicht nur die sozialräumliche Entschränkung, sondern eben auch die politische, soziale oder ökonomische Vermachtung gesellschaftlicher Kommunikationsvorgänge nach sich ziehen kann.226
3.2.2
Technisierung der Redaktion
Neben der Ausdifferenzierung redaktioneller Strukturen ist die Implementierung technischer Produktionsverfahren ein weiteres Konfliktfeld zwischen journalistischer Kommunikations221 222
223
224
225 226
Weischenberg 1981b, S. 154f. Hienzsch 1990. „Kybernetisierung der Redaktionsarbeit meint die zunehmende und immer weniger zu unterlaufende Verpflichtung der Stelleninhaber auf Regelzwänge. […] Empirisch ermitteln läßt sich redaktionelle Kybernetisierung möglicherweise über die drei Indikatoren Vielfaltsverlust, Funktionsakzentuierung und Deflexibilisierung.“ (ebd. , S. 48) Schütt (1981, S. 96f.) konstatiert, dass in einem „kooperativen, arbeitsteiligen Produktionsprozeß unter Leitung des Kapitals“ in den Redaktionen potenziell journalistische Eigenständigkeit verloren geht. Diese Veränderung hat zur Folge, dass individuelle Leistungen im Endprodukt kaum mehr erkennbar sind, sondern in einer Gemeinschaftsleistung aufgehen. Journalisten lösen sich in „scheinbar anonymen publizistischen Bürokratien und Großapparaten“ auf; individuelle Zurechung von Verantwortung erscheint kaum mehr möglich (Fabris 1979, S. 44) Vgl. auch die organisationssoziologischen Studien von Dygutsch-Lorenz 1971; 1973. Schütt 1981, S. 105. So betrachtet ist die Etablierung des redaktionellen Journalismus das Ergebnis der endgültigen Abtrennung der Journalisten vom Besitz der Produktionsmittel. Ihnen bleibe daher, so Schütt (1981, S. 94), keine andere Wahl mehr, als die „Unterordnung unter das Verlagskapital“, welches über die Produktionsmittel verfüge. Die Möglichkeit der individuellen ‚Vermarktung‘ journalistischer Produkte sei in der Phase der Kapitalisierung der Presse zunehmend schwieriger geworden. „Die massenhafte Anwendung journalistischer Arbeit in einem kooperativen, arbeitsteilig organisierten Produktionsprozeß; die Zusammenfassung kooperierender und konkurrierender Journalisten unter der einheitlichen Leitung des jeweiligen Pressekapitals kennzeichnet den Subsumtionsprozeß der journalistischen Arbeit.“ (ebd., S. 87). Aber auch freie Journalisten sind heutzutage in der Regel dazu gezwungen, ihre ‚Produkte‘ umfassend auf Marktgängigkeit auszurichten und Journalismus- und PR-Tätigkeiten parallel wahrzunehmen, um ein ausreichendes Auskommen zu haben. Ebd., S. 106 Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 571ff.
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V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
rationalität und systemischer Logik: Journalismus und Medien sind ohne die Verbreitungsmöglichkeiten der Technik, verstanden als die „Verwendung bestimmter Werkzeuge durch den Menschen“227, genauso wenig denkbar wie ohne redaktionelle Organisation. Neu hinzugekommen ist allerdings, dass auch die redaktionelle – und damit die journalistische – Arbeit selbst zunehmend technisch geprägt ist – und zwar unabhängig vom jeweiligen Medium. Relevant ist dies auch deshalb, weil technischer Wandel mit organisatorischem und institutionellem Wandel eng verknüpft ist.228 Bis in die 1970er Jahre hinein waren zumindest in bundesdeutschen Verlagshäusern die redaktionelle und die technische Arbeit in getrennten Bereichen organisiert: Redakteure sorgten für die Medieninhalte, während Setzer, Drucker u.a. das Produkt technisch herstellten. In den Redaktionen der audiovisuellen Medien sind derartige Grenzen bereits vorher verschwommen, wenngleich auch hier ein neuerlicher Entdifferenzierungsschub zwischen journalistischen und technischen Tätigkeiten festzustellen ist, der wie in den Printmedien mit der Einführung elektronischer Redaktionssysteme in den journalistischen Arbeitsprozess zusammenhängt. Pürer und Raabe sprechen angesichts der Veränderungen gar davon, dass dadurch der etablierte redaktionelle Journalismus von einer fünften Phase der Journalismusentwicklung abgelöst worden sei, die als Phase des redaktionstechnischen Journalismus bezeichnet werden könne und sich durch die Hineinnahme technischer Aufgaben – letztlich bis einschließlich der Druckvorstufe – in den redaktionellen Arbeitsprozess auszeichne.229 Unabhängig davon, ob diese Entwicklung ein eigenes Journalismusverständnis begründet, ist doch empirisch zutreffend, dass es Journalisten jedenfalls kaum möglich ist, den Einfluss der Medientechnik auf ihre eigene Tätigkeit zu verdrängen.230 Technische Rahmenbedingungen besitzen hohen Einfluss auf die Ausgestaltung des Journalismus, und es ist zu erwarten, dass dieser Einfluss eher zu- als abnehmen wird231 – nicht zuletzt auch, weil das „Prinzip der Pfadabhängigkeit technischen Wandels“ natürlich auch für den Technikeinsatz in Redaktionen und Medienbetrieben gilt.232 Technische Fähigkeiten werden im Zuge der Implementierung komplexer informations- und wissensverarbeitender Systeme in den Redaktionen in immer stärkerem Maße zu den Anforderungen an Journalisten hinzutreten und dabei quer zu den bekannten Kompetenzanforderungen Fachwissen, Sachwissen und Vermittlungswissen liegen.233 Dies gilt in besonderem Maße auch für Redaktionen des Online-Journalismus.234 Die Konsequenzen des Einsatzes der Technik sind allerdings nicht eindeutig abzusehen. Während aus mediensystemischer Sicht der Journalismus als ein in die technischen Neuerungen einzupassendes Steuerungsproblem begriffen werden kann, fordern abwägendere Analysen „Resistenz gegen die Kybernetisierung der Arbeitszusammenhänge“ – auch auf Kosten des Missverständnisses, man wolle die Rückkehr zu einer normativ-ontologischen Journalismuskonzeption.235 Praktiker erwarten im Zuge der Veränderungen des Journalismus sowohl eine „neue Arbeitsteilung“ als auch eine „neue Ganzheitlichkeit“.236 Auch im Fall der Technisierung 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236
Weischenberg/Hienzsch 1994, S. 455 Vgl. Kiefer 2003, S. 197ff. Vgl. Pürer/Raabe 1994, S. 37f. Vgl. Weischenberg 1995, S. 15; auch Weischenberg 1977b Damit rechnen die von Weischenberg, Altmeppen und Löffelholz (1994) befragten Praktiker. Kiefer 2003, S. 189 Vgl. Loosen/Weischenberg 2002, S. 98 Vgl. Neuberger 2003, S. 137 Weischenberg 1995, S. 66 Weischenberg/Altmeppen/Löffelholz 1994, S. 154ff.
3 Ausdehnung systemischer Zweckrationalität
285
von Redaktionen sind also unterschiedliche Interpretationen aufzufinden, die sich entlang der bereits bei den Redaktionen skizzierten Entwicklungen bewegen: (1) Die Technisierung der Redaktion dient der Ermöglichung journalistischen Handelns, insbesondere im Hinblick auf Verbreitung und Vervielfältigung. Der Einsatz technischer Hilfsmittel kann zunächst als eine fundamentale Grundlage dafür interpretiert werden, dass Journalismus überhaupt seiner Vermittlungsaufgabe nachkommen kann. Journalismus ist in seiner Vermittlungstätigkeit auf die technischen Kommunikationsund Verbreitungsmöglichkeiten der Medien angewiesen, um die „massenhafte Reproduktion von Aussagen“ zu meistern.237 Die Leistungen der Medien in modernen Gesellschaften sind daher nicht nur von den Wirtschaftsverhältnissen der Gesellschaft und von den organisatorischen Bedingungen ihrer Herstellung geprägt, sondern auch von den technischen Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen.238 So ermöglichen die audiovisuellen Darstellungskapazitäten von „Echtzeitmassenmedien“ wie dem Fernsehen eine ganz andere Form der Berichterstattung als zum Beispiel die Bedingungen der gedruckten Zeitung und können weitreichende gesellschaftliche Veränderungen nach sich ziehen.239 Mit Blick auf diese Komponenten der Vervielfältigung und des Vertriebs hat Technik im journalistischen Arbeitsprozess immer eine Rolle gespielt, wenngleich das zunächst bedeutete, dass sie den Rahmen und die Formatbedingungen vorgegeben hat. (2) Die Technisierung stellt eine notwendige, effizienzsteigernde systemische Ausdifferenzierung der Bereiche materieller Reproduktion dar. Mit der Technisierung des Medienbetriebs können systemische Mechanismen in den redaktionellen Prozess eingeführt werden, die zunächst der Effizienzsteigerung materieller Reproduktion dienen, aber auch die Induktion zweckrationaler Erwägungen in kommunikative journalistische Prozesse nach sich ziehen können. Die Arbeitsbedingungen journalistischer Akteure sind zunächst auch unabhängig von deren eigenem Zutun durch ökonomische und technische Imperative vorbestimmt. Zu inhaltlichen Veränderungen der journalistischen Arbeit führen neue Technologien vor allem dann, wenn sie vor dem Hintergrund der Gewinnerwartungen des Medienbetriebes implementiert und entsprechend genutzt werden. Je enger sie also an die Organisationsziele geknüpft sind, desto weniger können sie als rein zweckrational vernünftige Ausdifferenzierung begriffen werden. Altmeppen, Donges und Engels weisen daher zu recht darauf hin, dass die zu befürchtende, weil latent permanent drohende Gefährdung der journalistischen Arbeit, nicht in der Anwendung von Technik per se liege, sondern in der „Verknüpfung von technologischen Innovationen und ökonomischer Rationalität der Medienunternehmen“.240 (3) Die Technisierung führt zu einer problematischen Kolonialisierung journalistischen Handelns, indem redaktionelle Spielräume nicht mehr kommunikativ und kooperativ gestaltbar sind, sondern technisch vorgeprägt werden.
237 238 239 240
Hienzsch 1990, S. 84. Vgl. für einen Überblick über die Entwicklung der Medientechnik: Hörisch 2001; Weischenberg/Hienzsch 1994 Vgl. Weischenberg/Hienzsch 1994, S. 455 Wenzel 2001; vgl. auch klassisch Meyrowitz 1990a; 1990b Altmeppen/Donges/Engels 1999, S. 36. Die allgemeinen Klagen darüber, dass durch die Einführung der Redaktionstechnik die „geistig-schöpferischen Momente journalistischer Tätigkeit […] mit technischen Operationen verknüpft“ werden (Schütt 1981, S. 277), sind mittlerweile weitgehend verstummt. Neben den Befürchtungen, dass sich die Inhalte journalistischer Arbeit verschieben könnten, war ein Hintergrund der Kritik an der Technisierung der Redaktionen auch, dass sich diese vorwiegend an Kapitallogik orientiere und die Veränderung journalistischer Arbeitsprozesse entsprechend an ökonomischen Bedürfnissen orientiert vorantreibe.
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V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
Problematisch kann die Einführung technischer Errungenschaften im Medienbetrieb vorwiegend dann werden, wenn sie sich unter dem Primat der Profitlogik durchsetzt. In diesem Fällen besteht die Gefahr, dass technische Neuerungen weniger als Hilfsmittel der Steigerung kommunikativer Verständigungsrationalität dienen, sondern vielmehr in ihrer instrumentellen Logik zur Steigerung von Effizienz und damit von Profiten eingesetzt werden. Weischenberg nennt die elektronischen Systeme aus diesem Grund gar „Selbstschußanlagen für einen qualifizierten Journalismus“241 und bezieht sich dabei auf die Ergebnisse von Hienzsch, der feststellt, dass die durch Technik forcierte ‚Kybernetisierung der redaktionellen Arbeit‘ die Redaktionsarbeit ‚entsprachliche‘.242 Durch den Einsatz von Technik würden die Möglichkeiten der kommunikativen Interaktion am Arbeitsplatz zunehmend durch eine zweckrationale technische Logik eingeengt bzw. verdrängt.243 Die Tätigkeitsprofile von Journalisten würden auf die technisch induzierten Notwendigkeiten hin zugeschnitten und verengt, wobei bereits kleinste technische Innovationen zu vollständigen Veränderungen von beruflichen Rollen, von arbeitsorganisatorischen Abläufen oder von innerredaktioneller Koordination und Kommunikation führen könnten, ohne dass journalistisch-kommunikative Erwägungen dabei eine Rolle spielten.244 Nicht andere Mitarbeiter, sondern technische Gegebenheiten formulierten die beruflichen Anforderungen, „Mensch-Maschine-Einheiten“ optimierten die Organisation.245 Elektronische Redaktionssysteme würden sich sukzessive die journalistischen Arbeitsschritte unterordnen. Aus Journalisten würden „Bediener einer sie steuernden rationalisierten Fertigungstechnik ohne Entscheidungsbefugnis und weitgehend ohne publizistische Einflußnahme“, die sich diese zweckrationale Zuschneidung ihrer Tätigkeiten nicht eingestehen könnten, weil ihre berufliche Identität nach wie vor konstitutiv mit den Idealen Information und Öffentlichkeit verknüpft sei.246
3.2.3
Zwänge der Verberuflichung
Der dritte Komplex, in dem sich journalistische Kommunikationsrationalität und mediale Systemlogik potenziell konflikthaft begegnen können, sind die journalistischen Berufsrollen, die sich in modernen Medienbetrieben herausbilden. Differenzierung und Spezialisierung im redaktionellen Alltag ziehen ein verdichtetes journalistisches Tätigkeitsprofil nach sich, das als berufliche Arbeit gefasst wird. Beruf ist hier allgemein als „[…] Oberbegriff für spezialisierte Kenntnisse in gesellschaftlichen Feldern zu verstehen, die auch (aber nicht nur) erwerbsmäßig und zur Existenzsicherung genutzt werden können“.247 Als „Verberuflichung“ lässt sich in diesem Zusammenhang der „Prozeß der Ausbildung eines spezifischen Handlungsbereichs und einer spezialisierten Handlungsrolle aus einem Netzwerk von Tätigkeiten“ bezeichnen.248 241 242
243 244 245 246 247 248
Weischenberg, Vorwort zu Hienzsch 1990, S. 7 Vgl. Hienzsch 1990, S. 287: „Kybernetisierte Tätigkeitsprofile reduzieren offensichtlich auch die verbale Interaktion: Während das Redaktionspersonal durchschnittlich etwa 7,5 Prozent mit Gesprächen allgemeiner oder bereits auf Tagesthemen bezogener Natur verbringt, so kann dieser Anteil im Extrem bis auf 2,7 Prozent sinken […].“ Das kann als ein Vorgang der Kolonialisierung lebensweltlicher Strukturen verstanden werden. Vgl. dazu auch Brosda 2001; Steinmüller 1994; Eurich 1991 [1988]; Weingarten 1988. Vgl. Hienzsch 1990, S. 291 Ebd., S. 74 Ebd., S. 297 Neverla 1998, S. 57 Blöbaum 1994, S. 148
3 Ausdehnung systemischer Zweckrationalität
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Berufe – auch Kommunikationsberufe – bedürfen entsprechender institutioneller Strukturen, mit denen sie verknüpft sind. Sie können sowohl deskriptiv wie normativ gefasst werden: „Ein Kommunikationsberuf ist einerseits als eine Tätigkeits- und Qualifikationsschablone für die Produktion öffentlichkeitswirksamer Aussagen zu verstehen. Er bildet andererseits einen Bezugspunkt für die Verständigung im Kontext von Arbeits- und Erwerbshandeln.“249
Heutzutage wird grob vereinfacht deutlich, dass sich Berufe im Bereich des Journalismus weiter entlang spezifischer Tätigkeitsmuster ausdifferenzieren, während zugleich die übergeordneten Konturen eines ‚journalistischen Berufs‘ schwächer werden.250 Historisch betrachtet lässt sich konstatieren, dass sich der Journalistenberuf in Differenzierung zu den Tätigkeiten des Drucks und Vertriebs entwickelte, als die redaktionelle Auswahl und Bearbeitung fremder Texte wichtiger wurde.251 Motive und Folgen dieser Entwicklung können ebenfalls vor der Folie eines zweistufigen Gesellschaftsmodells unterschiedlich bewertet werden und sind erst empirisch zu klären. (1) Die Verberuflichung des Journalismus dient der Verbesserung der kommunikativen Qualität und Kapazität journalistischer Produkte. Die Verberuflichung des Journalismus kann zunächst als ein Weg zur Steigerung der Leistungsfähigkeit des Journalismus für demokratische Öffentlichkeit mit Blick auf die Vermittlungstätigkeit journalistischer Akteure verstanden werden. Verberuflichung journalistischer Tätigkeit ist demnach eine Reaktion auf „die ständig wachsende Bedeutung von Informations- und Kommunikationsprozessen für die gesellschaftliche Entwicklung angesichts der zunehmenden arbeitsteiligen Organisation des gesellschaftlichen Produktions- wie Reproduktionsprozesses“252, die journalistische Aufgabenerfüllung gewährleisten soll. Auch Langenbucher verweist darauf, dass eine demokratische Öffentlichkeit einer spezifischen und verberuflichten journalistischen Leistungserfüllung bedarf, um den Anforderungen an eine demokratisch organisierte gesellschaftliche Kommunikation nachzukommen. Das daraus abzuleitende Berufsbild beruht auf bestimmten Mindestanforderungen, die sich vor allem auf die Gewährleistung individueller Meinungsfreiheit durch journalistische Vermittlungsleistungen beziehen und auf einen durch Medien hergestellten demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozesses zielen.253 249 250 251
252 253
Engels 2002, S. 7 Vgl. ebd., S. 10 Vgl. Blöbaum 1994, S. 158f. Streitig debattiert wird die Frage, ob Journalismus eine Profession ist. Das Professionskonzept kann „als analytisches Konzept von individuellem Berufshandeln im gesellschaftlichen, historisch wandelbaren Kontext“ gefasst werden (Neverla 1998, S. 55), um eine analytische Kategorie zu gewinnen, mit der sich ein verberuflichter und professionalisierter Journalismus beschreiben lässt (vgl. zur Debatte, ob Journalismus auch als eine Profession verstanden werden kann neben Neverla 1998 auch Pöttker 1998a; Weischenberg 1977a; Kepplinger/Vohl 1976; sowie grundlegend: Lepsius 1964). Eine pragmatische Definition ist durchaus anschlussfähig gegenüber den Debatten über die Verberuflichung des Journalismus „Bezogen auf den Journalismus läßt sich Professionalisierung als die Regelhaftigkeit beruflichen Handelns im Mediensystem verstehen, vom Individuum interpretiert und umgesetzt. Professionalisierung ist das subjektive Korrelat des systemischen Charakters von Massenmedien. Die journalistische Arbeit unter dem Blickwinkel des Professionskonzepts zu betrachten, bedeutet, das systemspezifische Regelwerk durch die Brille des individuellen Handelns zu betrachten. Wie also Journalistinnen und Journalisten im Zuge ihrer beruflichen Tagesarbeit Positionen und Rollen, Aufgaben, Tätigkeiten und Kompetenzen aushandeln in Interaktion mit anderen Berufsangehörigen, mit Vorgesetzten, Auftraggebern, aber auch mit Interviewpartnern, Auskunftspersonen und nicht zuletzt mit dem (imaginären) Publikum.“ (Neverla 1998, S. 56f.) Fabris 1979, S. 257 Vgl. Langenbucher 1974/1975, S. 269f.. Er sieht das Berufsbild des Vermittlers, des Mediators, der gesellschaftliche Kommunikation im Grothschen Sinne durch Vermittlung zwischen Ausgangs- und Zielpartnern überhaupt erst ermöglicht, als zentral an. Auch andere Autoren wie Weischenberg (1983, S. 358) vertreten diesen
288
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Die traditionellen journalistischen Standesideologien verweisen folglich auch nicht in erster Linie auf ökonomische Begründungen für den Beruf.254 Dort werden nur selten „Routine und organisierte Tätigkeit“, allerdings umso häufiger „Kreativität und Ethik“ als zentrale Bestandteile journalistischer Arbeit genannt.255 Journalismus wird bisweilen als ein Beruf gesehen, in dem noch möglich scheint, nicht entfremdete Arbeit256 oder unter bestimmten Bedingungen gar ‚intellektuelle Arbeit‘257 leisten zu können. (2) Die Verberuflichung dient der Ausdifferenzierung funktionaler Austauschbeziehungen mit dem Ziel einer effizienteren Reproduktion materieller Ressourcen. Im historischen Rückblick zeigt sich, dass oftmals primär verlegerische, mithin ökonomische Entscheidungen ausschlaggebend für Ausdifferenzierung journalistischer Berufe waren, nicht journalistische Qualitätsüberlegungen.258 Verberuflichung sollte die effiziente Produktion von Medienprodukten gewährleisten. Berufliche Tätigkeit in Medienbetrieben ist daher an konkrete betriebliche Verhaltenserwartungen gebunden, die sich im Konzept der ‚Mitgliedsrolle‘ beschreiben lassen.259 Zu diesen Verhaltenserwartungen zählen nach Rühl die Zustimmung zu den Redaktionszwecken, die Anerkennung der Entscheidungsrechte der Redaktionsleitung, die Informationsverarbeitung nach dem Entscheidungsprogramm der Redaktion, die Identifikation mit der Redaktion, der Ausschluss der Mitarbeit bei Konkurrenzmedien, die Wahrung der redaktionellen Diskretion sowie die Orientierung am relevanten Recht. Nur wenn sie alle verbindlich bejaht werden können, ist eine Mitgliedschaft in der Redaktion möglich, dies gilt in besonderem Maße für die Anerkennung der Zwecke der Redaktion sowie der Entscheidungsrechte der Redaktionsleitung.260 Dadurch, dass diese Erwartungen in der Mitgliedsrolle formalisiert werden, wird die Redaktion organisatorisch gefestigt und der individuelle Redakteur zugleich von persönlicher Verantwortlichkeit entlastet. Umgekehrt aber wird vom Redakteur die Anerkennung fremdbestimmter Ziele und Zwecke des eigenen Tuns verlangt. Medienbetriebe streben in diesem Kontext zumeist nur eine ‚abstrakte‘ Professionalisierung journalistischer Akteure an, die parallel zu der „immer stärker wirksam werdenden Rationalisierung der ökonomischen Seite des Zeitungsgewerbes“ verläuft und die sich vorwiegend auf die zweckrationalen Aspekte des beruflichen und eben nicht des kommunikativen Handelns von
254 255 256 257 258 259
260
Standpunkt: „Das journalistische Rollenbild des Vermittlers, für das selbst Anwälte des anwaltschaftlichen Journalismus aus demokratietheoretischen Erwägungen plädieren […], hat dabei Priorität, da es der Primärfunktion der Massenmedien in den pluralistischen Demokratien entspricht. Unter dem Aspekt der Relevanz ist der Transport von Informationen die journalistische Primärrolle; alle anderen Rollenbilder spielen – jedenfalls für den etablierten Medientyp – nur eine komplementäre, sekundäre Rolle […].“ Die Problematik dieser einseitigen Betrachungen ist bereits ausgiebig diskutiert worden. Vgl. Fabris 1979, S. 39f. Saxer 1993a, S. 297 So aus materialistischer Perspektive Zeuner 1973, S. 26. So aus historisch-soziologischer Perspektive Geiger 1949. Vgl. die Befunde bei Requate 1995, S. 238 Vgl. dazu grundlegend Rühl 1979, S. 241: „Bei der Mitgliedsrolle handelt es sich um einen Komplex spezifischer, von allen anderen deutlich herausgehobener Erwartungen. Die Anerkennung der Erwartungen der Mitgliederrolle ist für alle diejenigen verpflichtend, die Mitglied der Redaktion werden wollen bzw. deren bereits bestehende Mitgliedschaft aufrechterhalten werden soll. Die Mitgliedschaftsrolle enthält mithin als Extremorientierung die Entscheidung über Eintritt und Austritt und bildet dergestalt die Voraussetzungen für die Übernahme anderer Rollen in der Redaktion.“ Das allgemeinere Konzept der Berufsrolle dagegen definiert die übergeordneten Erwartungen an alle Journalisten, während das spezifischere Konzept der Arbeitsrolle die Anforderungen an konkrete Posten in der Redaktion (z.B. Chef vom Dienst oder Volontär) beschreibt (vgl. Altmeppen 1999, S. 44f.). Vgl. Rühl 1979, S. 246ff.
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289
Journalisten bezieht.261 Insbesondere das Konzept des Informationsjournalismus ist daran anknüpfend zwar „ein pragmatisches, offensichtlich adäquates Konzept für unser vorfindbares Mediensystem“262, weil es in ökonomischer, organisatorischer und professioneller Hinsicht effizient ist. Aber diese Funktionalitäten werden damit erkauft, dass nicht Aufklärung oder Validität der Berichterstattung im Mittelpunkt stehen, sondern ökonomische Profit- bzw. öffentlich-rechtliche Proporz-Logik. Trotz aller Vermachtungs- und Ökonomisierungstendenzen gibt es aber begründeten Anlass, kommunikative Potenziale im journalistischen Arbeits- und Produktionsprozess zu kennzeichnen, um deutlich zu machen, wo die kommunikative Interaktion noch nicht vollständig in zweckrationaler Arbeit aufgelöst ist und vielleicht auch nicht aufgelöst werden kann. Schließlich „[…] stecken die Journalisten ja auch nicht von morgens bis abends in einer Zwangsjacke von Systemzwecken“263, sondern können sich Spielräume erkämpfen, um sich im Rahmen herrschaftsvermittelter Interessen einen gewissen Grad an Autonomie zu bewahren. Von anderen, insbesondere von industriellen Arbeitsformen unterscheidet sich der journalistische Berufsalltag klassischer Weise „durch ein vergleichsweise hohes Maß an zeitlichem Bewegungsspielraum, thematischer Kreativität, Abwechslungsreichtum und geforderter Qualifikation“, schreibt Prott schon 1976.264 Und selbst wenn der Redaktionsalltag in der Zwischenzeit zunehmend und unter Zuhilfenahme technischer Möglichkeiten auf die Optimierung informationsjournalistischer Leistungen hin strukturiert worden ist, scheinen nach wie vor einige klassische journalistische Rollen gesichert zu sein, zu denen vor allem „Reporter, Korrespondenten, Leitartikler, Publizisten, also eher klassische Berufsrollen ohne direkte Einbindung in die Zwänge redaktionellen Entscheidungshandelns“ zu zählen sind.265 Im Ergebnis ist der Berufsmarkt seit geraumer Zeit gespalten in wenige Kreative und viele eher passive Informationsjournalisten, die in funktional zergliederte Arbeitsprozesse eingegliedert sind.266 Ein Ergebnis der zunehmenden Bedeutung des Ökonomischen in den Redaktionen ist die Herausbildung von journalistischen Berufsrollen, die überwiegend Managementtätigkeiten zur Grundlage haben und mittlerweile gleichberechtigt neben klassischen journalistischen Rollen in den Redaktionshierarchien vertreten sind.267 Dieser Prozess deutet auf eine weitere Interpretation journalistischer Verberuflichung hin – auf das Überhandnehmen systemischer ‚constraints‘.
261
262 263 264
265 266 267
Dröge/Kopper 1991, S. 160; vgl. auch Prott 1976, S. 374: „Der Nachrichtenjournalismus siegt über den Meinungsjournalismus, der Redakteur wandelt sich auch im öffentlichen Erscheinungsbild mehr und mehr vom autonom-kritischen Zeitbeobachter zum relativ passiven Verbindungsglied im kommunikativen Feld, der das Geschehen für die Rezipienten lediglich aufzubereiten hat. Das alles aber verträgt sich schlecht mit unbeholfenen ‚Professionalisierungs‘-Versuchen.“ Weischenberg 1983, S. 357 Prott 1994, S. 493 Prott 1976, S. 128f. Angesichts dieser notwendigen und auch funktionalen Freiräume journalistischen Handelns lassen sich Forderungen nach Veränderungen im Journalismus erheben. Diese betreffen die Vermehrung der Ressourcen, um einen aktiven und recherchierenden Journalismus zu stärken, die bessere Nutzung der Medienkomplementarität, die Offenheit in der Journalistenrekrutierung, die Verbesserung der Journalistenqualifizierung und die Gestaltung der Medienorganisation mit Blick auf kreative und produktive Freiräume. Insbesondere die letztere Forderung, die darauf zielt, journalistische Initiative nicht durch Überorganisation zu blockieren, ist im Hinblick auf die Verhinderung systemischer Kolonialisierung von Interesse: Dezentrale Organisationsformen oder flexible Redaktionsstrukturen können als Wege angesehen werden, den Journalismus so zu organisieren, dass er mit den Tendenzen eines beschleunigten sozialen Wandels mitzuhalten vermag (vgl. Saxer 1993a, S. 301ff.). Weischenberg 1985, S. 194 Vgl. Weischenberg 1995, S. 17; vgl. zu einem autonomen Journalismus die Beiträge in Langenbucher 1980. Vgl. Siegert 2001, S. 171
290
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
(3) Die Verberuflichung ist das Einfallstor für eine problematische Kolonialisierung journalistischen Handelns, indem durch die funktionalisierten Austauschbeziehungen hindurch systemische Imperative in Führung gehen. Diese Interpretation zielt darauf ab, dass die ökonomische Rationalität der Medienbetriebe durch das Berufsverhältnis weitreichend auf das Handeln des Journalisten durchschlagen kann. Das journalistische Berufsbild verändert sich dadurch gravierend: Aus der Sicht eines Medienbetriebes werden sie vorwiegend bis ausschließlich als ‚Verlagsangestellte‘268 angesehen, während ihre Rolle als kommunikativ handelnde Akteure auf lebensweltlichem Fundament zunehmend vernachlässigt wird. Das führt zu einer schmerzlichen „Entzauberung des Berufs“269, die nicht zuletzt im Verlust der Möglichkeit begründet ist, den kommunikativen Grundzügen journalistischen Handelns unter den Bedingungen mediensystemischen Zwangs überhaupt noch gerecht zu werden. Der Journalismus, der heutzutage als Informationsjournalismus bezeichnet wird, kann in der Tendenz als ökonomisch kolonialisierte Variante des vermittelnden Journalismus betrachtet werden, weil dessen beschriebene kommunikative Reflexivität im Zuge der Formulierung einer medienbetrieblich umzusetzenden Berufsrolle durch ökonomische Verwertungsinteressen überlagert wird. Der Informationsjournalismus liefert die Beiträge, die die Medien benötigen, um sich in einer gesellschaftlichen Kommunikation behaupten zu können, die, wie Münch sie beschreibt, von kommunikativer Inflation geprägt ist.270 Demzufolge markieren die Medien die Bühne eines permanenten gesellschaftlichen Diskurses, der sich nicht mehr vordringlich durch die Logik sprachlicher Verständigung auszeichnet, sondern Routinen dramatischer und theatralischer Selbstinszenierung folgt. Ein sich wechselseitig verstärkender Kommunikationsprozess, in dem Kommunikation stets neue Kommunikation herausfordert, durchdringt dabei zunehmend alle Lebensbereiche der Gesellschaft. Im Ergebnis lassen sich eine „quantitative Steigerung der Kommunikation“, eine „enorme Beschleunigung der Kommunikation“ und eine „zunehmende Globalisierung der Kommunikation“ feststellen271 – jeweils angeheizt auch durch die Verwertungsnotwendigkeiten eines umfassenden Systems von Massenmedien, das die Spielräume journalistischer Akteure bestimmt. Diese ‚Kommunikation‘ allerdings besteht weniger in dem abwägenden Herstellen von Zusammenhängen im kommunikativen Diskurs, sondern im macht- und geldgesteuerten Beschleunigen der Zirkulation von Informationshappen. Die Handlungsautonomie beruflicher Journalisten beschränkt sich dann weitgehend nur noch auf Themenselektion und geringen Rechercheaufwand. „Gemessen daran, daß die öffentliche Kommunikation – ihrem demokratischen Anspruch nach – keine Grenzen kennt, die nicht in ihrem Namen bezweifelbar oder zu verschieben wären, bildet diese ‚Autonomie‘ nur den ausgesprochen traurigen Rest einer kommunikativen Mündigkeit, die auch dem journalistischen Handeln zu unterstellen ist […]. Ließ sich diese Ambivalenz bislang noch als paradoxe Gleichzeitigkeit von ‚Beschäftigungs-‘ und ‚Kommunikationsverhältnissen‘ im Journalismus verstehen, so greift die Kommerzialisierung des Mediensystems mittlerweile nicht allein auf die Folgen journalistischer Arbeit, sondern ebenso auf die verständigungsrationalen Orientierungen journalistischen Handelns durch. Denn der Druck eines hypertrophierenden Mediensystems wirkt sich auf den Journalismus inzwischen als Zwang zur Kommunikation aus, wie die ‚Gladbecker Geiselaffäre‘ und viele andere Beispiele zeigen können.“272
268 269 270 271 272
Vgl. Blöbaum 1994, S. 252; Rühl 1979, S. 219 Weischenberg 1995, S. 16 Vgl. Münch 1991; 1995 Münch 1993, S. 261f. Im Zuge dieser Entwicklung wird das Inszenierungspotenzial eines Berichterstattungsanlasses zunehmend zu einem wichtigeren journalistischen Auswahlkriterium (vgl. Rager 1999a). Baum 1996, S. 242
3 Ausdehnung systemischer Zweckrationalität
291
Diese Beobachtungen sind Beispiel dafür, wie sich die Veränderung der Rahmenbedingungen journalistischen Handelns direkt auf die in Berufsrollen eingelassenen Anforderungen an journalistisches Handeln auswirken kann. In der Ausrichtung des Journalismus auf das Ergebnis, auf die Produktion verkaufbarer kommunikativer Angebote, lassen sich auf der Handlungsebene kolonialisierende Effekte festmachen. Diese werden – ab einem gewissen Grad des Verlusts journalistischer Handlungsautonomie und Kommunikativität – auch auf gesellschaftlicher Ebene hinsichtlich der Leistungen des Journalismus für Öffentlichkeit sichtbar. In der Regel ist der vermittelnde Journalismus in funktionalistischer Radikalisierung der erörterten Dichotomie als Informationsjournalismus beruflich institutionalisiert worden, der nicht darauf ausgerichtet ist aufzuklären, sondern vorwiegend der kommerziell motivierten Auswahl und Verbreitung von Nachrichten dient, während die – bewusste und reflexive – kommunikative Prüfung von Geltungsansprüchen oftmals suspendiert wird.
3.2.4
Exkurs: Chancen und Risiken der Entdifferenzierung
Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass sich die organisatorischen Strukturen des Journalismus seit einigen Jahren in einer Umbruchphase befinden.273 Mehrere Gründe für den Druck zur Umgestaltung von Redaktionen lassen sich feststellen: • Durch die weitgehende Verschmelzung von redaktioneller Produktion und technischer Reproduktion in computergestützt arbeitenden Redaktionen sind ehemals geradlinige Organisationsstrukturen hinfällig geworden.274 • Thematisch stoßen die herkömmlichen Ressortstrukturen zunehmend an ihre Grenzen, da im Alltag immer mehr Themen auftauchen, die von verschiedenen Ressorts/Redaktionen behandelt werden können. • Aus ökonomischen Gründen wächst der Druck, alte Strukturen zu verändern, um Effektivität und Effizienz im redaktionellen Handeln zu erhöhen. • Und nicht zuletzt erhoffen sich manche von strukturellen und organisatorischen Veränderungen auch eine Stärkung des Journalistischen im Medienbetrieb. Mit den neuen Strategien des Redaktionsmanagements wird angesichts sich verändernder Bedingungen versucht, übergreifende ökonomische und journalistische Ziele zu formulieren und sie in eine Strategie umzusetzen. Redaktionsmanagement beschäftigt sich folglich mit der „gezielten und strukturierten Neuorientierung der Redaktion in einem gewandelten Mediensystem”.275 Im Kern geht es dabei um das Aufbrechen und Verändern der bisherigen redaktionellen Organisationsstrukturen, die sich v.a. in Zeitungen zu Hindernissen einer effektiven Zusammenarbeit verfestigt haben. Manche überkommenen Organisationen funktionieren oft nur deshalb, weil „unter der Oberfläche vermeintlicher Ordnung informale Kommunikationen,
273 274 275
Vgl. Meier 2002a, S. 330 Vgl. Weischenberg 1992a, S. 322 Meckel 1999, S. 12. Im Mittelpunkt des Redaktionsmanagements sollte idealiter kein reines Effizienzdenken stehen. Es gehe nicht nur darum mit möglichst wenig Aufwand, möglichst viel zu erreichen. Zentrale Kategorie sei vielmehr die Effektivität, also die Frage ob ein eingangs formuliertes Ziel auch erreicht werde. „Die Frage, die sich im Zuge redaktionellen Managements durch Organisation stellt, muß folglich nicht mehr lauten: Welches Personal haben wir und was können wir damit machen?, sondern sie muß lauten: Was wollen wir erreichen und welches Personal wird dafür benötigt?“ (Meckel 1999, S. 66)
292
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
Kooperationen und Verhaltensmuster“ entstanden sind und die dysfunktionalen Folgen einer zu starren redaktionellen Organisation kompensieren.276 Innovative Zeitungsredaktionen gehen vor allem von der traditionellen Gleichung ‚Ressort = Sparte‘ zunehmend ab und versuchen durch die Etablierung von Teamstrukturen zu effektiveren und angemesseneren Organisationsabläufen zu gelangen.277 Darüber hinaus gelangen die Redaktionen damit zu Strukturen, die einer Umwelt, die durch Differenzierung und Vernetzung sozialer Bereiche und Themen zugleich gekennzeichnet ist, potenziell wieder gerecht zu werden versprechen und weniger die Fiktion isoliert zu behandelnder Themenfelder tradieren.278 Auch dies ist ein Beispiel dafür, wie organisatorische Entscheidungen die Qualität journalistischen Handelns beeinflussen können. Altmeppen weist anhand der Untersuchung redaktioneller Strukturen in privatkommerziellen Rundfunksendern darauf hin, dass redaktionelles Handeln nicht nur Entscheidungshandeln ist, sondern in erheblichem Umfang von Koordinationsnotwendigkeiten geprägt wird. Weil gerade im privat-kommerziellen Rundfunk die Routineprogrammierung nur schwach ausgeprägt ist, werden permanent Koordinierungsleistungen mit Blick auf den Zweck des Unternehmens notwendig, die etwa ein Drittel und teilweise mehr als die Hälfte der Arbeitszeit in Anspruch nehmen können, um Arbeitsprozesse auf das Organisationsziel hin zu „ordnen, strukturieren und stabilisieren“.279 Dieser Koordinationsbedarf, steigt, wenn die Strukturierung der journalistischen Programme sinkt oder wenn der Personalbestand groß ist. In der Regel aber ist er nicht umfangreich formell institutionalisiert; Absprachen über Themenauswahl und -präsentation oder auch über Arbeitsverteilung etc. sind oftmals nicht nur in den klassischen hierarchischen Beziehungen der Redaktionsorganisation angesiedelt, sondern verlaufen nicht selten zudem auch informell quer zu den Strukturen der Organisation.280 Positiv betrachtet kann dieser Koordinierungsbedarf als Möglichkeit kommunikativer Steuerung von Redaktionsstrukturen gewertet werden. Altmeppen selbst setzt sein Modell auf der rekursiven Strukturierungstheorie auf und sieht dadurch eine Wechselbeziehung zwischen institutionalisierten organisatorischen Abläufen und dem Handeln der Redaktionsmitglieder, das diese Strukturen entweder durch Wiederholung bestätigt oder durch Abweichung verändert.281 Mit koordinierenden Handlungen reagieren Journalisten in Redaktionen auf die wenig vorhersehbaren Ereignisse der Umwelt, die Anschlusshandeln in der Redaktion nach sich ziehen können, wenn die Mitglieder der Redaktion angesichts bereits bestehender Routinen oder auf der Basis von Verständigung zu dem Ergebnis kommen, dass sie der Berichterstattung wert sind. Der Koordinierungsbedarf in den Redaktionen wächst noch einmal erheblich an, wenn die Arbeitsstrukturen weiter flexibilisiert werden und sich Redakteure dadurch beinahe permanent in neue Arbeitszusammenhänge und technische Gegebenheiten einarbeiten müssen.282 In vielen Redaktionen sind für diese Fälle keine Verfahren implementiert, sondern
276 277 278 279 280 281
282
Jonscher 1995, S. 495; vgl. Rager/Werner/Weber 1992, S. 139 Vgl. analytisch Meier 2002a, S. 428; siehe auch konkrete Entwürfe in Moss 1998 und Becker/Erlemann 1997. Vgl. Meier 2002a, S. 96 Altmeppen 1999, S. 11 Vgl. ebd., S. 139 Vgl. ebd., S. 86f.: „Durch die Bindung an Absprachen, die in den Koordinationen getroffen werden, ist Kontrolle in die Struktur der Arbeit direkt eingelassen. Über die sozialen Mechanismen wird zudem auch die ‚Redaktionslinie‘ internalisiert und habitualisiert, so daß sie sich als System dauerhafter Dispositionen verankern.“ Vgl. Meier 2002a, S. 433; Altmeppen 1999, S. 109f.
3 Ausdehnung systemischer Zweckrationalität
293
allenfalls ist die Erwartung eingelassen, dass sich die Journalisten selbständig koordinieren und eigenverantwortlich organisieren.283 Die nur vage Formulierung der Organisationsziele, die einen erheblichen Teil des Koordinationsbedarfs in einer Redaktion begründet, rührt auch daher, dass sie ursprünglich „auf einer Mischung aus Gewinnerwartung und normativen Funktionen“ beruhen.284 Im privatkommerziellen Rundfunk lässt sich dagegen zunehmend der Trend feststellen, dass die inhaltlichen Erwartungen im Organisationsziel wegfallen, weil sich der einzige „Organisationszweck Programmproduktion“ gegen publizistische Konzepte wie die Informationsfunktion auf ganzer Linie durchsetzt, wie Rager, Werner und Weber konstatieren.285 Die ganze Ambivalenz redaktioneller Organisationsmuster hinsichtlich der Frage, inwiefern sie nun Journalismus ermöglichen oder aber beschränken, zeigt sich in jüngeren Entwicklungen in den Redaktionen und in den Differenzen zwischen unterschiedlichen Medienbetrieben. Nur ein Beispiel: Hienzsch fordert als Gegengift zur dysfunktionalen Kybernetisierung der Zeitungsredaktionen vornehmlich eine Enthierarchisierung der Redaktionsarbeit, eine stärkere Vielfalt in den Arbeitsrollen und mehr Flexibilität im Arbeitsverlauf.286 Davon erhofft er sich eine Stärkung journalistischer Handlungslogik, die wieder die Spielräume bekommen könnte, die sie benötige. Genau diese Veränderungen journalistischer Produktionsprozesse lassen sich allesamt in den Redaktionen privat-kommerzieller Rundfunksender finden – ohne dort zu den erhofften Revitalisierungseffekten hinsichtlich der publizistischen Qualität zu führen.287 Hier zeigt sich eine weitreichende Entdifferenzierung des redaktionellen Arbeitens mit dem Ziel, dass jeder alles macht und journalistische Arbeitskraft dadurch aus ökonomischer Sicht flexibler und profitabler einsetzbar ist. „Privat-kommerzieller Rundfunk wird aufgrund eines knappen, aber präzisen Drehbuchs verfaßt – der wirtschaftlichen Rentabilität. Sie entscheidet über Existenz, Erhalt und je aktuelle Ausprägung der Sender und ihrer publizistischen Programme. Der ‚Kunstfehler‘ des Drehbuches liegt darin, daß die Rentabilität über ein publizistisches Produkt mit all seinen Implikationen hergestellt werden muß. So unterliegen Medienunternehmen den Bedingungen von wirtschaftlicher Effizienz, großbetrieblicher Produktionsweise und rationeller Technik, sie werden also mit den Kriterien von Industriebranchen verglichen. Journalistische Produkte sind aber eben nicht industriell zu fertigende Waren, da ihnen normativ konstituierende Bedeutungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zugeschrieben werden.“288
Die entlang dieses Drehbuchs durchgesetzten strukturellen Veränderungen in den Redaktionen sind entsprechend nicht darauf ausgerichtet, journalistische Kommunikativität zu stärken, sondern sie folgen vorwiegend der Einsicht, dass eine Taylorisierung der Redaktionsarbeit, wie sie in klassischen Zeitungsredaktionen lange Zeit zu finden war, nicht die effizienteste Art der Organisation redaktioneller Arbeit ist. Die flexible, sich selbst koordinierende Redaktion ist dagegen mit weniger Personalaufwand in der Lage, Programm herzustellen, da es keine unbemerkten ‚Leerläufe‘ in einzelnen ‚Ressortbunkern‘ mehr gibt, sondern die einzelnen Handgriffe in der technisierten Redaktion der Selbstfahrerstudios und elektronischen Nachrichtendienste zumindest aus betriebswirtschaftlicher Sicht komplett austauschbar geworden sind. Die biswei283 284 285 286 287 288
Vgl. Altmeppen 1999, S. 181. Werden diese Verfahren bei der Umstrukturierung der redaktionellen Organisation integriert, dann lässt sich festhalten, dass die Konferenzen zwar häufiger und länger werden, dass aber ansonsten der Zeitanteil für Koordination und Themenabstimmung in den Teams sinkt (vgl. Meier 2002a, S. 325). Altmeppen 1999, S. 43 Rager/Werner/Weber 1992, S. 19; vgl. Altmeppen 2001, S. 200 Vgl. Hienzsch 1990, S. 296 Vgl. Altmeppen 1999, S. 183 Ebd., S. 186
294
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
len gravierend negativen qualitativen Konsequenzen dieser Veränderungen aber lassen Altmeppen zu der – noch vorsichtig aufgestellten – These gelangen, dass journalistische Organisationen mit der Themenstrukturierung durch Ressorts, Spezialisierung oder Arbeitsteilung auch ein wesentliches journalistisches Strukturelement und damit eine wesentliche Ressource journalistischer Arbeit und journalistischen Handelns verlieren.289 Den Extremfall markiert sicherlich ein Redaktionsmanagement, in dem die Entdifferenzierung sich auch gegenüber anderen Verlagsabteilungen wie Anzeigen oder Vertrieb fortsetzt. Empirische Untersuchungen zeigen allerdings, dass die Entgrenzungspotenziale, die Journalismus diesbezüglich theoretisch besitzt, längst nicht vollständig realisiert werden, sondern „viele punktuelle Einflüsse“ festzustellen sind, die „[…] durch Strategien der Autonomiebewahrung des beeinflussten Systems möglicherweise leicht kompensiert werden […]“ können, wie Loosen und Scholl konstatieren.290 Das gilt auch für die angesichts neuer Medienformen zunehmend geforderten crossmedialen Arbeitsweisen, die an sich zwar eine Entgrenzung journalistischer Routinen bedeuten können, diese aber keinesfalls zwangsläufig nach sich ziehen müssen.291 Ungeachtet dessen sind die Veränderungen im strukturellen und systemischen Umfeld des Journalismus durch die neuen Medientechniken, vor allem im Bereich des Internets, erheblich.292 Hier betritt die Journalismusforschung Neuland – auch indem neue theoretische Ansätze zur Beschreibung und Erklärung herangezogen werden.293 Hinzu kommt noch ein weiterer gravierender Umbruch in der organisatorischen Gestaltung journalistischer Arbeit, der eng mit dem angedeuteten Bedeutungsverlust der Redaktionen als differenzierter journalistischer Leistungseinheiten einher geht: Journalistische Tätigkeiten werden aus der Redaktion hinaus auf Zulieferer verlagert.294 Die Folge ist allerdings auch hier eine weitere Ökonomisierung des Journalismus, da Kosten-Nutzen-Verhältnisse noch einfacher kontrolliert und effizienter gestaltet werden können, wenn das unternehmerische Risiko an Sub-Unternehmer ausgelagert wird, und der Medienbetrieb selbst nur mehr fertige Produkte einkauft. Altmeppen, Donges und Engels warnen daher davor, dass auch hinsichtlich der beruflichen Ausübung des Journalismus gravierende Veränderungen bevorstehen, durch welche die derzeitige Dominanz der Lohnarbeit als maßgeblicher Institution journalistischer Tätigkeit erheblich an Bedeutung verlieren werde. Maßgeblich sind dafür insbesondere neue Arbeitsformen und -routinen der Informationsgesellschaft, die sich von denen der Industriegesellschaft weitgehend unterscheiden.295 In der Konsequenz kann davon ausgegangen werden, dass auch eine Restrukturierung redaktioneller Arbeitsroutinen ambivalente Folgen nach sich ziehen kann. Während Befürworter mehr Flexibilität und damit eine Rückkehr journalistischer Kommunikativität erwarten, sehen Kritiker nicht selten in den neuen Strukturen nur eine weitere Stufe der Unterwerfung des journalistischen Produktionsprozesses unter ökonomisches Kalkül. Die flexible Teamarbeit soll, im Gegensatz zu den starren Mustern der an Fließbandarbeit orientierten arbeitsteiligen Taylorisierung, für eine noch bessere Ausschöpfung der Arbeitskapazitäten sorgen. Und was in 289 290 291 292 293 294 295
Vgl. ebd., S. 183; ähnlich auch Meier 2002a, S. 409. Loosen/Scholl 2002, S. 149 Vgl. Loosen 2005, S. 317f.; Engels 2002 Vgl. Neuberger 2002a, S. 103 Vgl. als ein Beispiel Quandt 2002, der gerade angesichts der Volatilität der neuen Medienformen für eine „strukturationstheoretische Annäherung an das Handeln in Online-Redaktionen“ plädiert und damit einen ‚dritten Weg‘ zwischen Systemtheorie und klassischer Akteurstheorie einschlägt. Vgl. Altmeppen/Donges/Engels 1999 Vgl. ebd., S. 275ff.
3 Ausdehnung systemischer Zweckrationalität
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den Outsorcing-Modellen auf den ersten Blick euphemistisch als Re-Etablierung journalistischer Eigenständigkeit interpretiert werden könnte, entpuppt sich de facto nicht selten als noch vollständigere Kontaminierung journalistischer Kommunikativität mit ökonomischen Imperativen, da der Zwang zur Vermarktung jedem journalistischen Handlungsakt unterlegt ist und die materiellen Freiräume des sozial abgesicherten Arbeitsverhältnisses entfallen, ohne dass die – theoretisch denkbaren – symbolisch sinnhaften Freiräume des zwanglosen Kommunizierens jenseits der beruflichen Rolle wirklich zugänglich wären.
3.3
Strukturierung, Mediatisierung oder Kolonialisierung des Journalismus
Der Blick auf die praktischen Rahmenbedingungen journalistischen Handelns und ihre medialen Imperative hat noch einmal verdeutlicht, dass nicht die Einführung zweckrationaler oder systemfunktionalistischer Elemente per se zu einer Beeinträchtigung journalistischer Handlungsspielräume führt, sondern dass es darauf ankommt, ob die strukturellen Bedingungen wie Organisationen, Technik und Rollen medial vorgeprägt werden oder journalistisch gestaltbar bleiben. Die Frage, ob Journalismus eine Phase der Strukturierung, der Mediatisierung oder gar der Kolonialisierung durchläuft, kann entsprechend nur jeweils kontingent beantwortet werden – ein Umstand, der generell für die Abgrenzung des Verhältnisses zweckrationaler und kommunikativer Rationalitäten gilt, wie Habermas konstatiert. „Wohl ist innerhalb der formal organisierten Handlungsbereiche der Koordinationsmechanismus der Verständigung partiell entmächtigt; aber die relative Gewichtung zwischen Sozial- und Systemintegration ist eine schwierige, und allein empirisch zu entscheidende Frage.“296
So definieren redaktionelle Organisationsstrukturen die journalistische Tätigkeit in medialen Großinstitutionen zwar vor, können sie aber nicht letztgültig bestimmen. Die Leistungsfähigkeit des Gestaltungsprinzips Organisation muss in manchen Situationen des Medienalltags gegenüber der interpersonalen Kommunikation297 und gegenüber koordinierender Interaktion298 zurückbleiben. Aus eigener Bestandsrationalität heraus belässt der institutionelle Rahmen der Medieninstitution daher – selbst wenn er ökonomisch gesteuert wird – Spielräume kommunikativen Handelns.299 Journalisten bringen als soziale Akteure, darauf verweist die HabitusAnalyse von Raabe, auch extra-journalistische Prägungen in ihr soziales Handeln mit ein.300 Dies kann aus Sicht des Medienunternehmens nur dann erfolgreich sein, wenn sie den Unternehmenszielen trotz des nicht verabsolutierten Zwangs folgen und versuchen, „[…] in Übereinstimmung mit der funktionalen Ausrichtung ihres Medienunternehmens jeweils optimale Thematisierungs- und Präsentationsleistungen zu erbringen“.301 Ob dies geschieht, weil ein kommunikativ ausgetrockneter Journalismus bereitwillig den Prämissen des ökonomischen Systems folgt, oder aber weil die organisatorischen Imperative im Einklang mit journalistisch296 297 298 299
300 301
Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 462 Vgl. Saxer 1993a, S. 301 Vgl. Altmeppen 1999 Eine individuelle Fallbehandlung muss möglich sein: „Medienprodukte […] sind Unikate, zumindest in der Herstellung. Eine Massenproduktion existiert nicht; egal ob Nachrichtensendung, Spielfilm, Zeitungsseite oder Werbetrailer – erst durch den Vertrieb oder die technische Verbreitung werden die Medienprodukte zu Massengütern.“ (Altmeppen 1996b, S. 265) Vgl. Raabe 2005, S. 180ff. Saxer 1994, S. 5
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publizistischen Zielsetzungen stehen, ist empirisch offen. Das Spannungsfeld lässt sich markieren und die Systemdynamiken lassen Kolonialisierungseffekte vermuten – theoretisch entscheidbar aber ist diese Frage nicht. Auch technische Innovationen im Redaktionsalltag, wie die Einführung moderner computergestützter Medientechnik, können sowohl zu einer Hierarchisierung als auch zu einer Dezentralisierung führen; sie können die weitere Standardisierung von Arbeitsabläufen vorantreiben oder für deren Individualisierung sorgen; sie können integrierend oder differenzierend auf den Produktionsprozess wirken; und sie können die Bildung neuer spezifischerer journalistischer Rollen befördern oder aber die Zusammenlegung vormals getrennter Produktionsschritte forcieren.302 Technik hat sowohl das Potenzial Arbeitsprozesse zu entlasten, als auch sie soweit zu verdichten, dass zweckrationale Zwänge die Räume der Verständigung besetzen. Aber selbst wenn letzteres geschieht, verbleibt ein Widerstandspotenzial. In den neu entstehenden Onlineredaktionen, deren Einrichtung maßgeblich vom stattfindenden Technisierungsschub getrieben wird, zeigt sich, dass es keineswegs neue Rollenmuster sind, die sich mit dieser Entwicklung herausprägen, sondern dass bislang „nur geringe Unterschiede zum traditionellen Journalismus“ festzustellen sind.303 Auch die erkennbaren Veränderungen – wie der weiter zunehmende Schwerpunkt auf Selektions- und Redaktionsaufgaben – liegen auf der Linie der bereits generell im Journalismus beschriebenen Verschiebungen und konstituieren kein neues Journalismusverständnis; maßgeblich für die Arbeit bleiben die Ideale des Informationsjournalismus.304 Tatsächliche Neuerungen dagegen, wie die ‚Weblogs‘ oder interaktive Formate, sind oftmals eher in einer „Grauzone um den Journalismus“ angesiedelt, die sich in Onlineformaten gebildet hat und in der para- und pseudojournalistische Formate eine wichtige Rolle spielen.305 Durch deren wachsende Bedeutung verschwimmen zugleich die Konturen der Online-Berichterstattung jenseits des relativ klar definierten Informationsjournalismus.306 Mit Blick auf die Institutionalisierung beruflicher Rollen hat sich die Literatur lange an idealisierten Modellen abgearbeitet. Aus einer solchen Perspektive kommt man beinahe zwangsläufig zu der Feststellung, dass die Rede vom Journalismus als Selbstverwirklichung derzeit wie ein „theatralische[r] Selbstbetrug“ erscheinen muss.307 Für die „Diskrepanz zwischen beruflicher Realität und beruflichem Bewußtsein der Journalisten“ sei mangelnde Selbstreflexion verantwortlich konstatiert Weischenberg308 und weist damit auch auf eine nachhaltige Schwächung lebensweltlicher Regenerationsmöglichkeiten des Journalismus hin. Andere Autoren erklären sich die ‚Illusion‘ einer schöpferischen und selbstbestimmten journalistischen Tätigkeit mit der Internalisierung mediensystemischer Zwänge, die von den Journalisten selbst nach vollzogener Anpassung als journalistische Normen ausgewiesen werden.309 In solchen Fällen 302 303 304 305 306 307 308 309
Vgl. Weischenberg 1981b, S. 166f. Löffelholz u.a. 2003, S. 485 Vgl. ebd., S. 483. Auch deswegen ist Rager (1999b) zuzustimmen, dass zunächst nicht zu vermuten ist, dass etablierte Medien wie die Tageszeitung durch die neuen Angebote bedroht sind. Neuberger 2000a, S. 310 Auf diese Entwicklung weist Loosen (2005) hin. Erste Unklarheiten lassen sich empirisch feststellen, wenn Online-Journalisten die Gestaltung von Webseiten im Kundenauftrag oder die Integration von E-CommerceAngeboten in journalistische Berichterstattung für unproblematisch halten (vgl. Neuberger 2000a, S. 316). Prott 1976, S. 119. Auch Saxer (1993a, S. 297) konstatiert etwas moderater, dass der Realitätsgehalt des „öffentlich in Zirkulation gebrachten Autostereotyps von Journalismus als Beruf“ nur sehr gering sei. Weischenberg 1981b, S. 158 Vgl. z.B. Zeuner 1973, S. 27. Möglich sei dies, weil die offizielle journalistische Standesideologie die Widersprüche der betrieblichen Produktion medialer Produkte durch ihren nach wie vor normativen Individualismus auf
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297
wäre eine Kolonialisierung des journalistischen Handelns weit gediehen, würde doch die diskursive Begründungsnotwendigkeit des Handelns, wenn überhaupt, nur vordergründig aufrechterhalten, während eine systemische Verwertungslogik journalistische Verständigungsabsichten frontal unterläuft. Dröge und Kopper stellen fest, dass „[…] – nicht zuletzt durch die Einschränkungen des journalistischen Arbeitsmarkts im Gefolge der Konzentrationsbewegung bestimmt – die Anpassungen des Berufsverständnisses an die ökonomischen Distributionsbedingungen des Mediums inzwischen offensichtlich zum reibungslos funktionierenden professionellen Selbstbewußtsein“ gehören.310 Aber auch hier gilt, dass es Reservate relativer journalistischer Handlungsautonomie selbst unter den Bedingungen eines elektronischen Informationsjournalismus geben kann, wenn „[…] aus der journalistischen Berufskultur gewissermaßen eine Gegenkraft gegen die Prozesse der Entindividualisierung des Journalismus heranwächst“311. Auf ein derartiges kommunikatives Potenzial vor allem an den Rändern des Mediensystems haben auch Fabris und Gottschlich bereits in ihren Studien verwiesen.312 Diese Kommunikativität auch in der Mitte des professionalisierten oder zumindest verberuflichten Journalismus wieder zu aktivieren, und damit auch den Einfluss ‚klassischer Formen‘ des Journalismus gegenüber der Informationskybernetik redaktioneller ‚Fakten‘-Auslese in beruflich institutioneller Hinsicht zu stärken, wäre ein lohnenswertes Projekt für die Journalistik, um Journalismus auch als Berufsarbeit mit seiner kommunikativen Grundlage diesseits einer mittelfristig dysfunktionalen Kolonialisierung zu versöhnen.313 Einige der lebensweltlich und extra-journalistisch vorgeprägten Aspekte journalistischen Handelns, die Raabe aufgrund ihrer nur geringen Kontrollierbarkeit im redaktionellen Produktionsprozess als „Kontingenzen in der journalistischen Beschreibung der Wirklichkeit“314 problematisiert, sind tatsächlich eher als Ausdruck einer genuinen, unhintergehbaren und für journalistisches Handeln konstitutiven Kommunikativität zu betrachten. Forderungen nach ihrer Standardisierung oder Kontrolle führen zu den beschriebenen Mediatisierungen und Kolonialisierungen. Notwendig wäre stattdessen, diese Kommunikativität bewusst zu entwickeln, sie aber durch verbesserte Leistungen mit Blick auf die journalistische Ausbildung auch entsprechend zu den Bestandsnotwendigkeiten medialer und redaktioneller Organisationsstrukturen in Verbindung zu setzen. Das wäre eine Alternative zu Konzeptionen für ein ‚medienethisch reflektiertes News-Management‘ als Antwort auf den Verlust des Journalistischen in Nachrichtenredaktionen.315 Differenzierungstendenzen in Redaktionen sind keineswegs allumfassend, sondern beschränken sich in deutschen Medienbetrieben in erster Linie auf thematische Untergliederungen, während die Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Arbeitsschritten ‚Recherche‘, ‚Schreiben‘ und ‚Redigieren‘ innerhalb der Ressorts so gering ausgeprägt ist, dass eine „formalisierte Rollendifferenzierung auf funktionaler Ebene“ vor allem in kleinen und mittleren Zei-
310 311 312 313 314 315
Probleme des einzelnen Journalisten reduziere und die Organisiertheit des journalistischen Produktionsprozesses nicht zur Kenntnis nehme. Der Arbeitsprozess erscheine ausschließlich als ein individueller Schöpfungsprozess, der vom Produkt her zu beurteilen sei, während die Arbeitsbedingungen, die durch die Redaktionshierarchien bestimmt würden, keine wesentliche Rolle spielten (vgl. ebd., S. 23). Dröge/Kopper 1991, S. 131 Saxer 1993a, S. 296 Vgl. Gottschlich 1980; Fabris 1979 Vorschläge dagegen, die ihre Hoffnung in alternative journalistische Rollenbilder und Berichterstattungsmuster konzentrieren, erscheinen Weischenberg (1983, S. 366) nicht ganz zu unrecht als „Rückzug aus der Realität“. Raabe 2005, S. 207 Für ein solches Nachrichten-Management plädiert Haller 1996, S. 40ff.
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V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
tungen, aber auch in den privat-kommerziellen Rundfunksendern, nach wie vor die Ausnahme ist.316 In der Entwicklung von Redaktionen wird anknüpfend daran in den zurückliegenden Jahren ein zunehmender Trend zur Entdifferenzierung festgestellt.317 Jüngere theoretisch ambitionierte Arbeiten der Redaktionsforschung verabschieden sich – wie gesehen – nicht zuletzt auch deshalb von den starren Systemkonzeptionen und betonen stattdessen die Flexibilität redaktioneller Organisationsstrukturen. Sie gehen davon aus, dass redaktionelle Strukturen und Programme zwar Vorgaben machen, aber das individuelle und kooperative Handeln nicht letztgültig determinieren können, sondern die Beziehung zwischen beiden als ein wechselseitiger Strukturierungsprozess zu sehen ist. In den Blick geraten dadurch journalistische Handlungsspielräume, die in systemtheoretischen Konzeptionen nicht beschreibbar sind, weil dort nur systemisch determinierte Rollenträger konzeptionell denkbar sind. Die Strukturen, in denen journalistisches Handeln stattfindet, erscheinen dann als ein sich öffnender „Korridor möglicher Handlungsweisen“, der sowohl von journalistischen als auch von ökonomischen Erwartungen geprägt wird, innerhalb dessen journalistische Akteure „eigenverantwortlich und selbständig“ handeln und der von den Akteuren (zumindest zum Teil) selbst bestimmt und verändert werden kann.318 Pätzold beschreibt, inwiefern zum Beispiel eine Reportage Ergebnis der Verschränkung individuellen Handelns und redaktioneller Vorgaben ist: „In der Vorarbeit werden durch redaktionelle Verfahren die Weichen gestellt und der Weg abgesteckt. In der Nacharbeit wird kontrolliert, ob der Autor mit seinem Produkt den richtigen Zielort erreicht hat. Die redaktionelle Leistung umschließt das Einzelprodukt, dessen schöpferische Mitte die individuelle Einzelleistung ist.“319
Das quer zu den Hierarchien des Entscheidungshandelns verlaufende Koordinierungshandeln, mit dem sich Journalisten gegen die Unsicherheiten ihre Alltags zu helfen versuchen, ist ebenfalls ein Indiz dafür, dass sich auch moderne Redaktionen keineswegs so sehr in Routinen erschöpfen, wie das eine systemische Analyse erwarten lässt.320 Ein aktivierbares journalistisches Potenzial scheint also vorhanden: In einer bemerkenswerten Pointe setzt Hienzsch daher seine Hoffnungen gerade auf das tradierte und anachronistische Selbstverständnis der Journalisten als eigenständige und gesellschaftlich verantwortliche Kommunikatoren. Zwar sei dieses einerseits kaum mehr mit den Bedingungen journalistischen Arbeitens in Einklang zu bringen. Zugleich aber bewahre es, wenn auch nur in Form plakativer Postulate, einen normativen journalistischen Anspruch. Diese publizistisch-journalistische Inanspruchnahme von Kommunikativität, die sich nicht ökonomischer Zweckrationalität und Effizienzlogik entnehmen ließe, drohe ansonsten in den kybernetischen Kreisläufen redaktioneller Arbeit verloren zu gehen. In Form der Berufsideologie werde sie immerhin verzerrt tradiert und verbleibe damit prinzipiell reaktivierbar321 – als Ausgangspunkt eines lebensweltlichen Widerstands, der einen diskursiven Journalismus möglich machen und eine funktionalistische Kolonialisierung journalistischer Organisationsstrukturen durch massenmediale Systemlogik verhindern soll. 316 317
318 319 320 321
Weischenberg 1992a, S. 287 Vgl. Meier 2002a, S. 330. Während in der Literatur noch die klassische, straff organisierte Ressortstruktur als Normalfall angegeben wird, verweisen Chefredakteure in Befragungen bereits auf weit flexiblere Strukturen und weitere Umstrukturierungsabsichten, mit denen die Sichtbarkeit von einzelnen Autoren und die Ausprägungen von querschnittsorientierter Teamarbeit weiter gefördert werden sollen. Altmeppen 1999, S. 52 Pätzold 1999, S. 170f. Vgl. Altmeppen 1999, S. 75f. Vgl. Hienzsch 1990, S. 297
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Zwischenfazit: Selbstbehauptung journalistischer Potenziale
In der Beziehung von Journalismus und Massenmedien sind realistische und normative Annahmen paradox ineinander verwoben. Massenmedien und Journalismus bedürfen einander, stehen aber trotzdem in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander. • Einerseits benötigt Journalismus für seine Berichterstattung die technische Infrastruktur der Massenmedien. Massenmedien wirken entgrenzend, indem sie Kommunikation aus zeitlichen oder räumlichen Restriktionen herausheben können. • Andererseits werden kommunikative Möglichkeiten des Journalismus durch eben diese technischen Bedingungen der Massenmedien sowie durch deren rechtliche und ökonomische Fundierung eingeschränkt. Massenmedien begrenzen und hierarchisieren Kommunikation, indem sie Zugang zu gesellschaftlichen Verständigungsprozessen beschränken und durch formale Vorgaben kommunikative Kreativität einengen. Aspekte der Emanzipation auf der einen sowie der Vermachtung und Ökonomisierung auf der anderen Seite sind schon in der Struktur der Massenmedien selbst eng miteinander verflochten. Massenmedien sind in dieser doppelten Bedeutung zur Kenntnis zu nehmen: Mediensystem, Medieninstitutionen und die Spezifika von Medienaussagen bilden explizit den Rahmen, der die Rollendefinition journalistischer Akteure mit bestimmt.322 Häufig wird in der Literatur der „Doppelcharakter der Medien als publizistische Leistungsträger und industrielle, also profitorientierte Unternehmen“ beschrieben.323 Bereits in der historisch-materialistisch informierten Medienkritik wird Medienunternehmen das Dilemma attestiert, „[…] öffentliche Institutionen mit einem verfassungsrechtlich legitimierten Auftrag sein zu wollen und hart konkurrierende, gewinn- und anzeigenorientierte, auf größtmöglichen Absatz angewiesene Wirtschaftsunternehmen sein zu müssen“.324 Medienunternehmen stützen sich sowohl auf eine journalistischpublizistische, als auch auf eine wirtschaftliche Komponente, die einander zumindest partiell strukturell widersprechen, aber zugleich aufeinander angewiesen sind.325 Weischenberg diagnostiziert eine „eingebaute Schizophrenie“, welche zu Widersprüchen zwischen den Erwartungen an die Medien und den Leistungen, zu denen sich Medien in der Lage sehen, führt.326 Nicht nur im Unternehmen, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene müssen die wechselseitigen Wirkungen von Profitorientierung und publizistischen Zielen in den Medien ständig balanciert werden.327 Das Verhältnis von Journalismus und Medien, so Saxer, ist entsprechend als „mehrdimensional“ zu betrachten.328 322 323 324 325
326 327
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Vgl. Weischenberg 1990a, S. 53 Altmeppen 1996a, S. 13; vgl. auch Jarren/Meier 2002, S. 110. Das Zwei-Säulen-Modell des privatkommerziellen Lokalfunks in NRW institutionalisiert die Widersprüchlichkeiten zwischen publizistischen und ökonomischen Absichten in der Dualität von Veranstalter- und Betreibergemeinschaft (vgl. Pätzold/Röper 1995, S. 11). Holzer 1971, S. 9 Journalistisches und wirtschaftliches Handeln haben durchaus auch Felder gemeinsamer Interessen: zum Beispiel die Maximierung der angesprochenen Personen. Doch schon bei der Frage nach der Art der Ansprache enden die Gemeinsamkeiten: Während sich Journalismus an kommunikativ kompetente Staatsbürger wendet, kennt ein Medienunternehmen in erster Linie Kunden. Die Organisation der Austausch- und Leistungsbeziehungen ist, je nachdem welches Rationalitätsprinzip dominant steuert, unterschiedlich. Weischenberg 1992a, S. 170 Diese Balance geht verloren: „Geht man von einer zunehmenden Subordination publizistischer Zielsetzungen unter ökonomischen Kriterien aus, so nehmen folglich die strukturellen Spannungen zwischen dem wirtschaftlichen und dem publizistischen Wettbewerb zu, da die Maximierung von Umsatz, Gewinn und Marktanteilen nicht notwendigerweise eine Optimierung von publizistischer Vielfalt und publizistischer Qualität zur Folge hat.“ (Meier/Jarren 2001, S. 151) Saxer 1993a, S. 292
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V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
Die hohen gesellschaftlichen Erwartungen an die journalistischen und publizistischen Leistungen der Medien führen dazu, dass deren Institutionalisierung prekär verbleibt: Soziale Anforderungen an Medien können auch im Widerspruch zu ökonomischen Erfordernissen stehen.329 Die Verpflichtung der Medien auf gesellschaftliche Kommunikation konfligiert potenziell mit ihrer privatwirtschaftlichen Basis; und das Prinzip der Medienfreiheit verhindert darüber hinaus auch ihre intensive Verrechtlichung – der Charakter der Medien bleibt daher instabil: „Der Institutionalisierung von Medienkommunikation ist also gewissermaßen ihre Entinstitutionalisierung immer wieder beigesellt“, wie Saxer resümiert.330 Eine Aufstrukturierung der Massenmedien zu einem eigenlogischen System im Luhmannschen Sinne ist angesichts der widersprüchlichen Anforderungen kaum möglich. Medienunternehmen agieren auf der Grundlage des ökonomischen Codes als Agenten einer übergreifenden zweckrationalen Profitlogik. Dabei sind Medien nicht als operativ geschlossenes System zu sehen331, sondern als eine institutionelle Struktur, die ökonomisch integriert und reproduziert wird, zugleich aber offen verbleiben muss für die kommunikativen Leistungen, die sie verkauft. Diese systemische Struktur hat Auswirkungen auf journalistisches Handeln: Wenn mediale Profit- oder Technikimperative das Primat in der Gestaltung der Infrastruktur gesellschaftlicher Kommunikation übernommen haben, so der düstere Ausblick der ‚kritischen‘ Journalismusforschung in den 1970er Jahren, dann werde die Verberuflichung zu einer Unterordnung des Journalismus unter das ökonomische System führen.332 Einige dieser Studien haben bereits früh das Binnenverhältnis von Massenmedien und Journalismus thematisiert und damit abseits ihres bisweilen ideologischen Eifers wertvolle Hinweise geliefert.333 Sie legen den Befund nahe, dass sich Kolonialisierungstendenzen finden lassen, dass also mediale Imperative journalistische Kommunikationslogik in Teilen verdrängen. Baum hat beschrieben, was eine potenzielle Unterordnung des Journalismus unter die Imperative des Mediensystems – selbst wenn dies in guter, weil unterstützender Absicht gemeint ist – bedeuten kann: „Gerade die ‚Alimentierung‘ und ‚Protektion‘ des Journalismus nämlich bedeutet die Austrocknung der ihn tragenden Idee, eine Umstellung auf ‚Steuerungsmedien‘, die nicht einer auf Verständigung gerichteten Vernunft entsprechen, sondern aus der Perspektive einer technischen, das heißt an Verfügungsgewalt interessierten Zweckrationalität installiert werden und so die ‚Sprache in ihrer Koordinationsfunktion ersetzen‘.“334
Diese Feststellung bedarf allerdings der Präzisierung, um nicht in der aporetischen Sackgasse eines melancholisch-resignativen Zerfallsszenarios zu münden: Journalismus bedarf materieller 329 330 331
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Vgl. dazu Kopper 1986, S. 165 Saxer 1998b, S. 58f. Auch einige systemtheoretisch informierte Autoren sehen Medien bzw. Journalismus derzeit als eine dynamische Form, die zwischen verschiedenen Ansprüchen anderer sozialer Systeme oszilliert. Die Abgrenzungen zu anderen Bereichen verschwimmen zusehends, von einer Autopoiesis könne keine Rede sein, allenfalls die Selbstthematisierung steige (vgl. Weber 2000, S. 166ff.). Vgl. dazu z.B. Schütt 1981; Prott 1976; Paetzold/Schmidt 1973; Berliner Autorenkollektiv Presse 1972. Rückblickend hat es allerdings den Anschein, als ob die Beziehungen zwischen medialem Umfeld und journalistischen Handlungsmöglichkeiten auch deshalb im Rest des Faches nicht zureichend untersucht worden sind, weil diese Perspektive zumeist nur von Ideologen einer materialistischen Weltsicht eingenommen worden. Vereinzelte Ausnahmen sind früh feststellbar (vgl. Hagemann 1957; Glotz/Langenbucher 1968; Starkulla 1965), aber die Vehemenz der Kritik der Verleger selbst an einer aus konservativer Sicht verfassten wissenschaftlichen Kritik privatwirtschaftlicher Medienverfassung (vgl. exemplarisch Binkowski 1966) zeigt deutlich, dass die Thematisierung dieses prekären Verhältnisses schwierig gewesen sein muss. Die langjährige Angewiesenheit der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft auf Legitimation durch Medienpraktiker, mag hierbei auch eine Rolle gespielt haben (vgl. Neveling 1973, S. 198). Baum 1994, S. 90
4 Zwischenfazit: Selbstbehauptung journalistischer Potenziale
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Ressourcen, die effizient nach ökonomischen Kriterien bereitgestellt werden. Diese unumgängliche und in ihrer Spannung auszuhaltende Abhängigkeit des Journalismus von medialen Imperativen kann dann in eine Kolonialisierung des Journalismus durch die Medien umschlagen, wenn es der Systemseite gelingt, sich den kommunikativen journalistischen Handlungsmodus prinzipiell unterzuordnen. In diesem Fall leistet die systemische Ausdifferenzierung nicht mehr die Reproduktion der zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Kommunikation notwendigen materiellen Ressourcen, sondern sie gefährdet darüber hinaus auch die Reproduktion ideeller und symbolischer Güter durch diese Kommunikation (und damit auch durch Journalismus) selbst. Die ökonomische Indienstnahme der Massenmedien führt, so Krotz, zu einer „ökonomischen Funktionalisierung kommunikativen Handelns“.335 Dadurch verändern sich die kommunikative Innenausstattung einer Gesellschaft und damit auch ihr Journalismus. Vor allem geraten wichtige Fragen der Organisation des Gemeinwesens, wie die Verfasstheit des Mediensystems, zunehmend aus dem Blick der Öffentlichkeit und der politisch-demokratischen Gestaltbarkeit.336 Dieser Prozess – Krotz nennt ihn, abweichend zum Begriffsgebrauch der vorliegenden Studie, ‚Mediatisierung‘ – schlägt darüber hinaus potenziell durch auf die Möglichkeiten der Etablierung einer rationalen öffentlichen Kommunikationssphäre. Eine Folge ist das „[…] abzusehende Ende eines Journalismus, der in einer klassischen Gemeinwohlperspektive die Informiertheit aller im Blick hat, zugunsten einer Funktionalisierung gesellschafts- und demokratierelevanter Informationen für definierte Zielgruppen, die auch über ihr Informationsinteresse der Werbeindustrie zugeführt werden sollen. Dies berührt die Demokratie in ihrem Kern.“337
Ergebnis ist der zu beobachtende Trend zu einem mit dem Gewinnstreben kompatiblen „Unterhaltungs-, Nutzwert-, Werbeumfeld-, Grenzgewinn-, Kauf-, Konzern- und Kaskadenjournalismus“.338 In der Rezipientenansprache rückt an die Stelle des politischen Bürgers der Kunde als Konsument.339 Münch merkt zu Recht an, dass ein solcherart vollständig kommerzialisiertes Kommunikationssystem unter Umständen zwar die Bedingungen der Produktion materiellen Wohlstands verbessert, dass diese Tendenz aber der gesellschaftlichen Etablierung einer öffentlichen Kommunikation entgegensteht, die Verständigung herbeiführen soll.340 Notwendig ist daher eben auch, dass die Finanzierung eines zunächst wirtschaftlich weniger bedeutsamen Qualitätsjournalismus gewährleistet ist341, dass Journalisten ausgebildet werden, die in der Lage sind, auf Basis eines soliden Hintergrundwissens und mit entsprechender Analysekompetenz Zusammenhänge in einer komplexen und differenzierten Welt verständlich zu machen, und dass Journalismus in der Lage bleibt, Spartengrenzen ebenso zu überschreiten wie er Bezüge zwischen lokalen, nationalen und globalen Ereignissen herzustellen vermag. Münch schreibt den Journalisten weitreichende Aufgaben im Hinblick auf ihren Beitrag zur „globale(n) Verständigung, Konsensbildung und Handlungskoordination“342 zu. Nur wenn dies alles gewährleistet sei, so Münch werde der Journalismus in der „Kommunikationsflut der 335 336 337 338 339 340 341 342
Krotz 2001a, S. 206 (Herv. von mir, -cb-). Letztlich hält er es für offen, welche Konsequenzen die „Abhängigkeit von ökonomischen Motiven und ökonomischen Zwängen“ nach sich ziehen wird (vgl. ebd., S. 214). Vgl. ebd., S. 209 Ebd., S. 207 Heinrich 2001, S. 165 Vgl. Blöbaum 2000, S. 139 Vgl. Münch 1993, S. 278 Wenngleich mit Heinrich (1996) vermutet werden kann, dass in der Differenzierung über Qualität durchaus Erfolgsmöglichkeiten auch in ökonomischer Hinsicht zu finden sind; vgl. auch Brosda 2005. Münch 1993, S. 276
302
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
modernen Kommunikationsgesellschaft“ nicht weggeschwemmt „wie ein Stück Treibholz aus vergangenen Zeiten“.343 Es ist offensichtlich, dass der ‚Journalismus‘, den ein ökonomisiertes Mediensystem in einer Gesellschaft hervorbringt, in der Kommunikation inflationär geworden ist, kaum in der Lage sein kann, diesen Anforderungen zu genügen. Die Inflation öffentlicher Kommunikationsangebote und -versuche untergräbt performativ die Grundlagen, auf denen öffentliche Verständigung kommunikativ nur möglich ist, weil „tatsächliche journalistische Aufklärung über gesellschaftlich problematische Sachverhalte“ vom allgemeinen Lärm einer „kommerziell kalkulierten Aufklärung“ kaum zu unterscheiden ist und so entwertet wird.344 In einem ökonomisierten Mediensystem setzt sich ein journalistischer Idealtypus durch, der in der Forschung mit der Metapher des ‚gatekeepers‘ beschrieben wird und in weitgehend ausdifferenzierten Mediensystemen nur einen geringen Autonomiegrad besitzt.345 Diese Form des Informationsjournalismus betont die Selektion von Nachrichten stärker als die Kommunikativität der Auseinandersetzung mit ihren Inhalten. Sie scheint – aufgrund ihrer funktionalistischen Anlage – besonders geeignet zu sein für ein Journalismusverständnis, das die organisatorischen und technischen Zwänge im Medienbetrieb hervorhebt und von einer selbstgesteuerten Kybernetisierung der Nachrichtenproduktion ausgeht.346 Der ‚gatekeeper‘ öffnet und schließt das Tor entsprechend des Fahrplans, der ihm medial und zumeist nach ökonomischen Interessen vorgegeben worden ist. Journalistisches Handeln wird damit in der Praxis zur bloßen Funktionserfüllung herabgewertet und durch entsprechende funktionalistische Studien zugleich wissenschaftlich in der neuen, normativ entkernten Leistungsrolle unter medialem Primat wieder legitimiert.347 Der Vermittlungsgedanke wird auf den reinen Nachrichtentransport reduziert. Haller konstatiert in Folge der Rationalisierung des Nachrichtenjournalismus in modernen, arbeitsteiligen Redaktionsstrukturen, „[…] daß journalistisches Handeln zu einer abhängigen Variablen der redaktionellen Organisation geworden ist, die wiederum auf die funktionalen Vorgaben des Mediensystems und seiner Ökonomie ausgerichtet ist“.348 In dieser Mehrstufigkeit wird deutlich, dass es darum gehen muss, die organisatorischen Strukturen des Journalismus zumindest teilweise nach journalistischen Imperativen zu gestalten, um das Spannungsverhältnis nicht einseitig in Richtung einer Dominanz des Medialen aufzulösen. Die ‚gatekeeper‘-Forschung fördert heutzutage gegenteilige Trends zutage: Nicht mehr nur individuelle Journalisten fallen unter den mediensystemischen Einfluss, sondern „die Institutionen der Aussagenentstehung mit ihren Einflußsphären und Entscheidungsprozessen“ stehen im Zentrum der Untersuchungen; die Betrachtungsweise hat sich vom individuellen über das institutionelle hin zum kybernetischen entwickelt.349 ‚Gatekeeper‘ sind heutzutage komplexe, sich selbststeuernde Funktions- und Regelkreisläufe des Journalismus unter Medienbedingungen, in denen journalistische Akteure als Rollenträger klar vorgeprägte Funktionen zu erfüllen haben. Wenn die Verberuflichung einer kommunikativen Leistungsrolle somit dazu führt, dass die systemische Berufsbeziehung die kommunikative Interaktionsbeziehung überlagert, dann verliert Journalismus einen guten Teil seiner Möglichkeiten, zur kommunika343 344 345 346 347 348 349
Ebd., S. 278 Baum 1996, S. 247 Vgl. für einen klassischen Überblick über die ‚gatekeeper‘-Perspektive Robinson 1973. Vgl. Weischenberg 1985, S. 196 So konstatiert zum Beispiel Neveling 1973, S. 201f.: „Der Journalist wird bei solchen Untersuchungen in soziologische Funktionspartikel zerlegt, die es ihm verunmöglichen, aus solchen Untersuchungen tatsächliche Aufschlüsse über seine berufliche Situation und Rolle und damit seine Arbeit zu gewinnen.“ Haller 1996, S. 40 Weischenberg 1992a, S. 310
4 Zwischenfazit: Selbstbehauptung journalistischer Potenziale
303
tiv rationalen Integration von Gesellschaft beizutragen. Sowohl die beschriebene Aufgabe der Orientierung durch reflexive Vermittlung, als auch das Ziel der Steigerung von Partizipationsmöglichkeiten durch Inanspruchnahme kommunikativer Kompetenz weichen dann den zweckrational begründeten Produktionsroutinen eines Nachrichtenjournalismus, bei dem das Verkaufen auf einem sich beschleunigenden Nachrichtenmarkt im Zentrum der Aktivitäten steht.350 Dadurch, dass sich Journalismus in seinen Handlungen den ökonomischen Imperativen unterordnet, verliert er auch seine gesellschaftliche Relevanz, weil er Gesellschaft als Objekt, über das berichtet wird, ansieht und nicht als dynamischen Zusammenhang, an dem er teil hat und für dessen Gestaltung er mit verantwortlich ist. Die Perspektive einer diskursiven Anwaltschaft droht im ökonomischen Partikularinteresse weitgehend verloren zu gehen.351
Grafik 5: Der ‚gatekeeper‘-Journalismus ausdifferenzierter Mediensysteme
[eigene Grafik, -cb-] 350
351
Diese Erkenntnisse lassen sich der US-amerikanischen ‚gatekeeper‘-Forschung entnehmen. Diese Studien, deren Übertragbarkeit auf den deutschen Journalismus natürlich einzuschränken ist, kommen u.a. zu folgenden Ergebnissen, die Weischenberg (1992a, S. 308f.) nennt: Journalisten benennen hier die hohe Bedeutung mechanischer Arbeitszwänge, internalisieren hierarchische Vorgaben, akzeptieren die Blattlinie als Teil der bürokratischen Struktur und besitzen kaum ausgeprägte Vorstellungen über ihr Publikum. Vgl. zu dieser Beobachtung Schütt 1981, S. 279. Hier kopiert Journalismus u.U. nur die vermeintlich beobachtende, objektivierende Perspektive, auf die sich eine empirisch-analytische Sozialwissenschaft oft zurückzieht.
304
V Strukturwandel der Öffentlichkeit – Ausdifferenzierung der Massenmedien
In Konsequenz ist damit die Gefahr der strukturellen Verunmöglichung von Diskurs oder Deliberation über ethisch-politische Ziele eines Gemeinwesens beschrieben. Der zu Beginn eingeforderte Maßstab, anhand dessen sich die dysfunktionalen Folgen einer vollständigen Ökonomisierung der Medien messen ließen, ist der Maßstab der Bedingungen der Möglichkeit kommunikativen Handelns auch innerhalb des Organisationsrahmens eines Medienunternehmens. In dem Moment, in dem Bereiche, die über die Leistungen kommunikativen Handelns zu symbolischen Ressourcen reproduziert werden, auf die zweckrationale Logik des Ökonomischen umgestellt werden, geraten sie unter eine Rationalität, die ihrer nicht entspricht, die eine Beantwortung notwendig zu bearbeitender Sinnfragen ausschließt und deren Gültigkeit in solchen Bereichen letztlich negative Folgen für das Gesellschaftssystem als Ganzes nach sich ziehen kann. Dann droht, was Habermas in einem aktuellen Einwurf drastisch und polemisch überspitzt beschreibt: „Es stimmt, die politische Öffentlichkeit ist Teil einer weiteren kulturellen Öffentlichkeit, und beide sind heute an die verschmutzten Kanäle des Privatfernsehens angeschlossen. In einem run to the bottom konkurriert auch noch das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit den heruntergekommensten Programminhalten und Präsentationsformen des Kommerzfernsehens. Die öffentlich-rechtliche Organisationsform, die gewiss auch ihre Probleme hat, war immerhin von dem richtigen Gedanken inspiriert, dass sich nicht alle gesellschaftlichen Funktionsbereiche schadlos auf den Markt umpolen lassen. Kultur, Information, Kritik sind auf eine eigene, eigensinnige Form der Kommunikation angewiesen. Jedenfalls sollten die Imperative der Einschaltquoten nicht in die Poren der kulturellen Kommunikation eindringen.“352
Die Kritik an der Dominanz des Ökonomischen in den Medien macht regulierende Eingriffe notwendig, die darauf zielen, die vom Mediensystem eben auch produzierten meritorischen Güter, auf die moderne Demokratien konstitutiv angewiesen sind, zu erhalten. Die medienpolitische Hoffnung auf eine Steuerung der Medien durch den freien Markt hingegen birgt stets die Gefahr, „[…] daß das Konzept des Wirtschaftsliberalismus im Pressebereich seine eigene Fiktion für Realität ausgibt“353, dass der Markt im Medienbereich weitreichend versagt, dies aber aufgrund der spezifischen Beschaffenheit medialer Güter als „Erfahrungsgüter“ nicht rechtzeitig bemerkt wird.354 Ein zureichender medienpolitischer Steuerungs- und Regulierungsrahmen für die Medien ist daher in jedem Fall unverzichtbar.355 Journalismus wiederum kann sein Widerstandspotenzial gegenüber ökonomisierten Massenmedien vorwiegend aus einer Steigerung seiner eigenen Rationalität ziehen. Er hat nur dann eine Chance, seine Eigenständigkeit gegenüber medialen Imperativen zu bewahren, wenn er darauf beharrt, eben keine medial vordefinierbare Form beruflichen Handelns zu sein, sondern eine eigenständige lebensweltliche Handlungslogik zu besitzen, die beruflich überformt wird und deren gesellschaftliche Leistungsfähigkeit hinsichtlich sozialer Orientierung und Partizipation gefährdet ist, wenn sie zu sehr unter das Profitprimat systemischer Medieninstitutionen gerät. Eine derart normative Herangehensweise an journalistisches Handeln steht in der Gefahr, diskreditiert zu werden: „Der Versuch, sich von der Zweckorientierung einer ökonomischen Rationalität zu emanzipieren, muß ihn [den Journalisten, -cb-] – zumindest im Licht der Medienökonomie – geradezu als unzurechnungsfähig erscheinen lassen.“356
352 353 354 355 356
Habermas 2001 [1998], S. 18 Kopper/Rager u.a. 1994, S. 79. Karmasin (1993; 1998) will deshalb anhand einer Wirtschaftsethik des Unternehmen die Sicherung auch gesellschaftlich funktionaler Strukturen der Medien gewährleistet wissen. Vgl. Kiefer 2001 Wie dieser Rahmen aussehen soll, ist Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Vgl. Langenbucher 2003; Imhof/Jarren/Blum 1999a; Schatz/Jarren/Knaup 1997; Wittkämper 1992; siehe auch Kap. VI. Baum 1996, S. 241; vgl. zu Widerstandspotenzialen des Journalismus vor dieser Analysefolie Brosda 2005.
4 Zwischenfazit: Selbstbehauptung journalistischer Potenziale
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Das darf aber nicht bedeuten, dass dieser Versuch nicht unternommen werden kann. Langenbucher hat in diesem Zusammenhang zu recht darauf hingewiesen, dass sich Journalismus nicht in Tätigkeiten des organisatorischen – also weitgehend redaktionellen – Journalismus erschöpft, sondern andere Rollenmuster, auch andere Berufsrollenmuster umfasst: „Der organisatorische Journalismus – wenn wir denn diese Art von redaktioneller und sonstiger Tätigkeit überhaupt so nennen wollen! – ist eine Dienstleistung, der autonome Journalismus eine Kulturleistung. Beide haben – extrem formuliert – nur das Transportmittel gemeinsam. Methodisch ähnlich ist auf den Einwand zu reagieren, hier sei gar nicht von Journalismus, sondern von Intellektualismus die Rede. Dies ist eine richtige Bemerkung, aber doch kein gewichtiger Einwand. Intellektualismus ist eine Leistung von prinzipiell nichtberuflichen Jedermannsrollen. Ihre Verberuflichung aber wird unvermeidlich, wenn entsprechende Leistungsanforderungen Dauerkonjunktur haben. Das ist in allen demokratischen Industriegesellschaften seit Ende des 19. Jahrhunderts der Fall. Deshalb gilt: ‚Autonomer Journalismus‘ ist die Verberuflichung intellektueller Leistungen.“357
Nur ein derart selbstbewusster Journalismus, der Legitimation aus sich selbst zu ziehen vermag und nicht darauf angewiesen ist, durch Medienlogik legitimiert zu werden, kann auch die Kraft finden, sich entsprechend effizient selbst zu regulieren und damit der Starrheit einer rechtlichen Regulierung so weit wie möglich zuvor zu kommen.358 Journalismus – das wird dabei auch deutlich – ist mehr als das, was heutzutage überwiegend als redaktionelles Handeln mit Journalismus gleichgesetzt wird. Zugleich mag daher aber auch weniger Handeln tatsächlich genuin journalistisch sein, als heute gemeinhin angenommen und deklariert wird.359 Die angemessene Selbstregulierung des Journalismus verspricht, dass kommunikative Leistungen auch mit den Maßstäben kommunikativen Handelns bearbeitet werden. Auf diese Weise werden auch die Gefahren einer weitergehenden Kolonialisierung durch andere gesellschaftliche Funktionsbereiche, sei es der Markt, sei es das Recht, eingedämmt. Journalismus setzt sich mit dem Anerkenntnis seiner Selbstregulierung allerdings auch einer alltagssprachlichen Laienkritik aus, da er sich letztlich keiner Spezialsemantik bedient, sondern öffentlich kritisierbar verbleibt, wenn er sich nicht einer anderen Logik unterwirft. Dieser Mangel an Immunität gegenüber öffentlicher Kritik ist allerdings nicht als Problem zu betrachten, sondern als demokratisch gewünschte Kommunikationsoffenheit einer gesellschaftlichen Institution, für die Öffentlichkeit und Kritik ohnehin komplementäre Anforderungen darstellen. Die Maßstäbe der Kritik und der Selbstregulierung eines kommunikativen Journalismus unter den Bedingungen und Zwängen moderner Medienbetriebe sollen im abschließenden Kapitel unter der Prämisse einer verfahrensorientierten Diskursethik, die ihre Normen aus den Fundamenten sprachlicher Verständigung deduziert, behandelt werden. Die Formulierung eines solchen diskurstheoretischen Fundaments des Journalismus kann auch verstanden werden als Beitrag zur Steigerung der Rationalität des lebensweltlichen Journalismus, der dadurch gegenüber der systemischen Rationalität der Massenmedien an Selbstbehauptungskraft gewinnt. Es ist eine offene Frage, inwieweit Journalismus sich als eine der Institutionen behauptet, die eine kommunikativ rationalisierte Lebenswelt aus sich heraus entwickeln müsste, um den Kolonialisierungstendenzen Einhalt zu gebieten und das eigene Primat behaupten zu können. 357 358 359
Langenbucher 1993b, S. 135 Vgl. den umfassenden Überblick über Mechanismen der Medien-Selbstkontrolle in Baum u.a. 2005. Damit soll keine neue Dichotomie in den Journalismus hineingetragen werden. Wohl aber ist zu beachten, dass ein kommunikativ entkerntes journalistisches Handeln eher medial gesteuerte und damit zweckrational fundierte ‚content production‘ ist und sich von lebensweltlicher Kommunikation insofern entfernt, als dass es oftmals ein nur noch strategisch auf kommunikative Rationalität bezieht, um Selbstlegitimation zu gewährleisten.
VI
Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
In diesem abschließenden Kapitel soll versucht werden, die bislang getrennt behandelten Komplexe des journalistischen kommunikativen Handelns und der massenmedialen Systemlogik miteinander zu verbinden. Dabei steht das Interesse im Zentrum, die Potenziale eines diskursiven Journalismus unter massenmedialen Bedingungen beschreibbar zu machen, seinen notwendigen Kontext zu qualifizieren und die zur Sicherung seiner Aufgaben notwendigen Steuerungsmechanismen zu skizzieren. Dazu wird zunächst die Kategorie der Öffentlichkeit noch einmal aufgegriffen und als Gegengewicht zu gesellschaftlicher Differenzierung sowie als gesellschaftlicher Resonanzboden kommunikativer Rationalität erörtert. Empirisch ist eine systemische Funktionalisierung von Öffentlichkeit festzustellen, während zugleich die – auch für Journalismus zentrale – normative Perspektive der demokratischen Relevanz ungebrochen aufrechterhalten und mikrosozial in diskurstheoretische und diskursethische Postulate übersetzt wird (1). Die theoretischen Überlegungen lassen sich in einem Prozessmodell demokratischer Meinungsbildung skizzieren, in dessen begrifflichem Rahmen sowohl einer diskursiven Öffentlichkeit als auch einem diskursiven Journalismus als ihrer institutionellen Vorkehrung ein zentraler Ort zugewiesen wird. Diskursiver Journalismus kann so als integraler Bestandteil demokratischer Verhältnisse angesehen werden (2). Diese theoretischen Annahmen sind abzugleichen an den empirischen Bedingungen von Öffentlichkeit, die sich insbesondere in ihrer massenmedialen ‚Überformung‘ ausdrücken. Es ist daher zu diskutieren, ob im Lichte empirischer Erkenntnisse ein normativ abgespeckteres Modell von ‚Medienöffentlichkeit‘ konzeptionelle Vorzüge gegenüber dem anspruchsvolleren Modell der diskursiven oder deliberativen Öffentlichkeit bietet (3). Daran anschließend lassen sich Kernüberlegungen zu einer Diskursethik des Journalismus formulieren, die sich sowohl für journalistische Diskurse über Ethik, d.h. für die diskursethische Formulierung journalistischer Normen, als auch für eine Ethik journalistischer Diskurse, d.h. für die journalistische Anwendung diskursethischer Prämissen, von Relevanz ist. Journalisten, so wird zu argumentieren sein, stehen als Diskursanwälte in besonderer Verantwortung. Ihre Aufgaben sind das Veröffentlichen, Vermitteln und Stimulieren des gesellschaftlichen Diskurses. Insbesondere haben sie die kritische Prüfung der im öffentlichen Diskurs erhobenen Geltungsansprüche zu leisten. Dieses zu begründende Anforderungsprofil bezieht sich nicht normativ-ontologisch auf gedachte idealtypische ‚journalistische Persönlichkeiten‘, sondern ist als normative Erwartung an den journalistischen Handlungsmodus geknüpft (4). Solch ein diskursiver Journalismus muss durch entsprechende mediale Rahmenbedingungen kommunikations- und medienpolitisch gewährleistet werden. Plädiert wird daher für eine ‚Media Governance‘-Struktur, in der eine Vielzahl unterschiedlicher Mechanismen unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Interessen zumindest auch diskursiv integriert werden (5). Eine heterarchische und kommunikative Steuerung durch Diskurse ist sowohl in der Selbstregulierung ethisch-journalistischer Diskurse als auch in der Fremdregulierung des Mediensystems durch politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Akteure konzipierbar – im Fall des Journalismus als dominierender Mechanismus, im Fall des Mediensystems als einer neben Macht und Geld (6).
1 Grundlagen einer diskursiv verstandenen Öffentlichkeit
1
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Grundlagen einer diskursiv verstandenen Öffentlichkeit
Im Verlauf des bisherigen Argumentationsgangs sind konzeptionelle Belege für die Vermutung zusammengetragen worden, dass Journalismus als kommunikatives und damit verständigungsorientiertes Handeln verstanden werden kann, das aus sich selbst heraus eine (mitunter kontrafaktische) Normativität entfaltet. Sowohl in der Journalismustheorie als auch in der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ lassen sich für ein solches Verständnis Anknüpfungspunkte finden, die in der Feststellung münden, dass Journalismus auf Verständigung orientiert ist, durch reflexive Vermittlung soziale Orientierung ermöglicht und durch Inanspruchnahme kommunikativer Kompetenz Teilhabemöglichkeiten eröffnet. Noch viel genereller kann festgestellt werden, dass die in der Journalismustheorie anfänglich verbreiteten Idealtypen des Referats und des Räsonnements jeweils einseitige Zuspitzungen von Aspekten der grundlegenden Kommunikativität des Journalismus darstellen – einer Kommunikativität, die ihre gesellschaftstheoretisch-normative Entsprechung in der Idee einer diskursiven bürgerlichen Öffentlichkeit findet. Im vorausgegangenen Kapitel ist dieses konzeptionelle Journalismusverständnis in Verbindung zu den notwendigen Rahmenbedingungen eines ökonomisch gesteuerten Mediensystems gesetzt worden, in dem die entsprachlichte instrumentelle Zweckrationalität einer funktionalisierten Nachrichtenproduktion dominiert. Allerdings wurde in der Erörterung dieser Veränderungen, die anhand der Prozesse der Redaktionsbildung, der Technisierung und der Verberuflichung exemplarisch vertieft wurde, auch deutlich, dass es sich dabei nicht um endgültige und vollständige Kolonialisierungsprozesse, sondern auch um notwendige Strukturierungsund Mediatisierungsschritte handelt, und dass es auch im Journalismus kommunikative Widerstandspotenziale gibt, deren mögliche Aktivierung nun im Zentrum dieses abschließenden Kapitels stehen soll. Während also die Skizze eines kommunikativen journalistischen Handlungsmodus zu einer Idealisierung journalistischer Möglichkeiten tendiert, steht die Darstellung der massenmedialen Einbettung des Journalismus in der Gefahr, ein zu pessimistisches Bild zu zeichnen. Beide Überspitzungen sind der Idealisierung der jeweiligen Perspektive geschuldet. Abschließend sollen beide Sichtweisen in einer zusammenfassenden Skizze integriert werden. Das folgende Kapitel richtet sich dabei stärker als die vorangegangenen auch auf die Beiträge journalistischen Handelns zur Konstitution und Integration von Gesellschaft. Ein exemplarischer Schwerpunkt wird auf politische Prozesse in Gesellschaft und die Rolle des Journalismus in ihrem Vollzug gelegt. Als gesellschaftliche Referenzfolie des Journalismus wird hier deshalb noch einmal das Konzept der Öffentlichkeit aufgerufen und gesellschafts- wie demokratietheoretisch präzisiert, um daran anschließend klären zu können, welche Rolle Journalismus in Öffentlichkeit spielen kann und welche internen und externen Vorkehrungen getroffen werden müssen, um dieser Rolle hinreichende Entfaltungsmöglichkeiten zu gewährleisten.
1.1
Öffentlichkeit zwischen Systemfunktionalisierung und demokratischer Relevanz
Öffentlichkeit ist im Verlauf der vorliegenden Studie zunächst als regulative Idee kommunikativer politischer Machtentfaltung eingeführt worden, in der sich die demokratische Normativität gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse ebenso manifestiert wie die Notwendigkeit der Entdifferenzierung in Kommunikation mit dem Ziel der sozialen Orientierung. Um diese politisch und gesellschaftlich zentrale öffentliche Sphäre in ihrem Bestand zu garantieren, ist
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VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
sie institutionalisiert, verrechtlicht und ökonomisiert worden – mit dem Ergebnis, dass ihre ursprüngliche kommunikative Rationalität unter Druck gerät.1 Tendenziell sind auch die Reservate kommunikativer Verständigung in lebensweltlich-öffentlichen Zusammenhängen unmittelbar durch subsystemische Imperative bedroht und führen überwiegend Rückzugsgefechte, ohne dynamisch oder regulierend auf die Systeme zurückwirken zu können. Öffentlichkeit ist dadurch zunehmend, wenn auch nicht deterministisch, dem Zugriff der Systeme und ihrer Steuerungsmedien ausgesetzt.2 Die meisten kommunikationswissenschaftlichen Konzepte beschränken sich folgerichtig darauf, Öffentlichkeit als einen gesellschaftlichen Raum zu konturieren, der systemischen Austauschprozessen dient, ohne daran qualitative Anforderungen zu knüpfen. Für Gerhards und Neidhardt zum Beispiel ist Öffentlichkeit „ein intermediäres System […], das zwischen dem politischen System einerseits und den Bürgern und den Ansprüchen anderer Teilsysteme der Gesellschaft vermitteln soll“, mithin ein „Kommunikationssystem, in dem die Erzeugung einer bestimmten Art von Wissen stattfindet“, die Erzeugung öffentlicher Meinung.3 Aus einer solchen systemtheoretischen Sicht bleibt zwar unbestritten, dass Öffentlichkeit eine Schwächung systemischer Determinierung bedeutet4, allerdings wird bezweifelt, dass daraus – angesichts der Fragmentierung moderner Gesellschaften – noch ein gesellschaftsumfassender, alltagssprachlich koordinierter Kommunikationszusammenhang entstehen könne. Lebensweltliche Zusammenhänge konstituieren aus dieser Sicht nicht mehr das zentrale Fundament.5 Denkbar sei daher lediglich, dass gesellschaftliche Teilsysteme einzelne ihrer spezifischen Themen unter der Maßgabe der Neutralisierung der Rollenanforderungen aller Teilnehmer als öffentliche Themen behandeln lassen. Öffentlichkeit ist demnach nichts weiter als „die Unterstellbarkeit der Akzeptiertheit von Themen“.6 Eine derart funktionalisierte Öffentlichkeit konstituiert sich aus Systemleistungen heraus und unterliegt damit der zweckrationalen instrumentellen Vernunft systemischer Vergesellschaftung. Dieser Systemanalyse ist zu entnehmen, dass Öffentlichkeit im Zuge ihres Strukturwandels auch von Systemseite aus begehbar geworden ist und dass gesellschaftliche Systeme zunehmend konstitutive Leistungen für Öffentlichkeit erbringen. Die Tatsache, dass die Bereitstellung von 1 2
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Imhof (2003) zeichnet nach, wie diese Veränderungen der öffentlichen Kommunikationssphäre auch das sozialwissenschaftliche Verständnis von Öffentlichkeit verändern. Vgl. zur grundsätzlichen Debatte um Öffentlichkeit in der Moderne vor allem die Beiträge in Neidhardt 1994a und Göhler 1995a. Diese fortschreitende Kolonialisierung führt innerhalb der Öffentlichkeit zu grundbegrifflichen Konflikten, die Habermas (1995 [1981], Bd. 2, S. 508f.) anhand eines Beispiels illustriert: „Die ‚öffentliche Meinung‘, die sich in ihr [der Öffentlichkeit, -cb-] artikuliert, bedeutet aus der Perspektive der Lebenswelt etwas anderes als aus der Systemperspektive des Staatsapparates. […] So gilt einerseits die demoskopisch erfaßte öffentliche Meinung oder der Wille von Wählern, Parteien und Verbänden als pluralistischer Ausdruck eines Allgemeininteresses, wobei der gesellschaftliche Konsens als erstes Glied in der Kette der politischen Willensbildung und als Grundlage der Legitimation betrachtet wird. Auf der anderen Seite gilt derselbe Konsens als Ergebnis der Legitimationsbeschaffung – er wird als das letzte Glied in der Kette der Produktion von Massenloyalität betrachtet, mit der sich das politische System ausstattet, um sich von lebensweltlichen Restriktionen unabhängig zu machen.“ Gerhards/Neidhardt 1990, S. 12 Selbst Luhmann (1979 [1970], S. 45) betont diese Wirkung von Öffentlichkeit: „Ins Soziologische übersetzt, besagt Öffentlichkeit soviel wie Neutralisierung von Rollenanforderungen, die aus engeren Teilsystemen der Gesellschaft stammen, damit auch eine Lockerung, wenn nicht Aufhebung der Selbstbindungen, die der einzelne durch Verhalten in engeren Systemen eingegangen ist.“ Gerhards und Neidhardt (1990, S. 15ff.) z.B. erkennen zwar an, dass allgemeinverständliche sprachliche Kommunikation die Basis von Öffentlichkeit bildet und sie dementsprechend ‚unabgeschlossen‘ ist. Aber sie versuchen, Öffentlichkeit differenzierungstheoretisch als ein Sozialsystem zu konzipieren. Dadurch geraten bisweilen entdifferenzierende Wirkungen von Öffentlichkeit aus dem Blick. Luhmann 1979 [1970], S. 46
1 Grundlagen einer diskursiv verstandenen Öffentlichkeit
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Themen und Informationen in modernen Gesellschaften durch verschiedene Gesellschaftsbereiche in funktionaler Differenzierung geleistet wird, gibt Öffentlichkeit eine strukturelle Festigkeit, die Assoziationen mit Begrifflichkeiten wie „gesellschaftliche Infrastruktur“7 rechtfertigt. Zugleich aber erscheint Öffentlichkeit nunmehr als der Raum, über den Lebenswelt und Systeme ihre weitgehend verdinglichten Austauschbeziehungen organisieren und der somit zum Einfallstor kolonialisierender Tendenzen geworden ist.8 Vor diesem Hintergrund ist auf normativer Ebene lediglich ein „ernüchtertes Konzept von Demokratie“ aufrechtzuerhalten9, in dem nicht mehr nach einer als unmöglich erscheinenden Versöhnung des Menschen mit der Natur gefragt wird, wie das noch in dramatisch-utopischem Gestus in der alten Kritischen Theorie der Fall war, sondern ‚nur‘ noch danach, wie Identität und Integrität der Lebenswelt angesichts systemischer Expansionstendenzen gewahrt bleiben können. Demokratie ist demnach nicht mehr der Frage einer vollständigen Unterordnung der Zweckrationalität unter die kommunikative Rationalität verpflichtet, sondern sie ist verantwortlich dafür, in politischen und wirtschaftlichen Fragen „eine Art Sicherheitszaun zwischen System und Lebenswelt“ zu errichten.10 Für die Errichtung dieses Sicherheitszaunes in Form einer weiterhin lebensweltlich begehund gestaltbaren Öffentlichkeit ist ein diskursiver Journalismus mit verantwortlich. Vor dem Hintergrund der mit der Moderne einhergehenden Auflösung traditioneller, religiöser, transzendenter oder metaphysischer Stützen der Vergesellschaftung werden lebensweltliche menschliche Handlungen zunehmend durch kontinuierliche wechselseitige Verständigungsprozesse koordiniert. Letztlich bedeutet dies, dass nur die Institutionen wirklich Legitimation beanspruchen können, die diese kommunikative Verständigung gewährleisten.11 Andere Formen der Herstellung von Integration und Legitimation mögen zwar in historisch konkreten Zusammenhängen faktisch überwiegen, allerdings sind diese durch zweckrationale Motivationen gestützt, die von einer sich auf sich selbst besinnenden kommunikativen Rationalität zerbrochen werden können, wenn lebensweltliche Akteure bereit sind, ihre Gestaltungsspielräume zu nutzen und das potenzielle Primat kommunikativer Übereinkunft gegenüber funktionalen Steuerungsmechanismen wieder stärker zur Geltung zu bringen. Dafür sind Voraussetzungen zu schaffen: „Wir stehen vor dem Problem, wie sich in autonomen Öffentlichkeiten Fähigkeiten zur Selbstorganisation so weit entfalten lassen, daß die radikaldemokratischen Willensbildungsprozesse in einer an Gebrauchswerten, überhaupt an Zwecken orientierten Lebenswelt auf Reglermechanismen und Randbedingungen der mediengesteuerten Subsysteme einen bestimmenden Einfluß gewinnen. Es geht darum, die systemischen Imperative eines interventionistischen Staatsapparats ebenso wie die des Wirtschaftssystems in Schach zu halten. Das ist eine defensiv formulierte Aufgabe, aber diese defensive Umsteuerung wird ohne eine radikale und in die Breite gehende Demokratisierung nicht gelingen können.“12
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Weßler 1999a, S. 39 Derartige Betrachtungen tendieren allerdings dazu, die komplexen Mischungsverhältnisse von kommunikativem Diskurs und Machthandeln unnötig auf systemische Funktionalismen zu reduzieren. Das gilt auch für die gesellschaftskritischen Passagen der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘: Durch ihren starken Fokus auf ein systemtheoretisches Politikverständnis geraten kommunikativ fundierte politische Anstrengungen zumindest im Willensbildungsprozess tendenziell aus dem Blick. In der Beschäftigung mit dem Öffentlichkeitsbegriff, der als genuin politisch ausgewiesen wird, werden außerdem die politisch relevanten gesellschaftlichen Thematisierungs-, Orientierungs- und Integrationsfunktionen nur marginal thematisiert. Dubiel 2001, S. 116 Ebd., S. 117 Vgl. ebd., S. 116 Habermas 1986a, S. 392f.
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VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
Die Aufgabe theoretischer Überlegungen ist es, entsprechende Mechanismen dieser radikalen und durchgreifenden Demokratisierung zu identifizieren und deren Potenziale zu erörtern. Auf diese Weise kann in den Annahmen kommunikativer Rationalität ein Maßstab der Kritik erhalten werden, der immanent an die gesellschaftliche Organisationsform herangeführt werden kann. Ein theoretisches Rekonstruktionsvorhaben auf der Basis der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ ist damit zugleich immer auch ein gesellschaftskritisches Projekt. Öffentlichkeit, so eine gesellschaftskritisch-praktische Konsequenz, muss von der verdinglichenden systemischen Beschreibung gelöst werden, um als fragiles, nicht-vermachtetes Netzwerk autonomer Teilöffentlichkeiten kritikfähig zu sein und in ihrer nicht-institutionellen Verfasstheit als Sensor für Probleme zu fungieren, die sich nicht in systemische Steuerungsprobleme übersetzen lassen.13 Hier steht ein kommunikativ basierter Journalismus in der lebensweltlich-gesellschaftlichen Pflicht. Habermas verweist in seinen jüngeren Arbeiten durchaus auf Spielräume in Journalismus und Medien, die eine lebensweltliche ‚Rückgewinnung‘ von Öffentlichkeit möglich erscheinen lassen. Diese Hinweise werden insbesondere in der rechts- und demokratietheoretischen Schrift ‚Faktizität und Geltung‘ im konzeptionellen Kontext eines Kreislauf-Modells öffentlichen Machtgebrauchs exemplarisch ausgearbeitet und führen zu einer differenzierten Neubewertung der Rolle massenmedialer Kommunikation.14 Öffentlichkeit werden vor diesem Hintergrund Aufgaben und Leistungen zugeschrieben, die stärker auf Vermittlungsaspekte zwischen Privatsphäre und Staatssystem fokussieren und somit bereits von vornherein auf den beiderseitigen Zugriff dieser Bereiche auf die öffentliche Kommunikationssphäre zugeschnitten sind.15 Öffentlichkeit kann daher in modernen differenzierten Gesellschaften als „[…] eine intermediäre Struktur, die zwischen dem politischen System einerseits, den privaten Sektoren der Lebenswelt und funktional spezifizierten Handlungssystemen andererseits vermittelt“16 und gleichzeitig als ein „Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen“17 konzipiert werden. Je nach theoretischer Perspektive lassen sich damit entweder die Austauschfunktion zwischen System und Lebenswelt (‚intermediäre Struktur‘) oder die Lebensweltverhaftung (‚Netzwerk für die Kommunikation‘) von Öffentlichkeit betonen. Auf diese Weise bleibt eine demokratierelevante epistemische Dimension öffentlicher Kommunikation weiterhin konzipierbar.18 13
14
15 16 17 18
Vgl. Heming 1997, S. 153. Die Segmentierungsprozesse moderner Gesellschaften führen dazu, dass sich – meist analog zu den gesellschaftlichen Subsystemen aber auch themenspezifisch – Teilöffentlichkeiten bilden. ‚Öffentlichkeit‘ differenziert sich entlang der Dimensionen Reichweite, Thematik und struktureller Zusammenhang in verschiedene Segmente aus (vgl. Habermas 1992, S. 451f.). Diese werden in der Öffentlichkeitssoziologie in Anlehnung an Gerhards/Neidhardt (1990, S. 12) als „Arenen“ bezeichnet, die keine abgeschlossenen, permanenten Veranstaltungen bilden, sondern sich vielmehr situativ zusammensetzen. Vgl. Habermas 1992. Schon bei der Neuauflage von ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ hat Habermas (1990, S. 49f.) darauf hingewiesen, dass er bei der Beurteilung von Demokratisierungschancen in komplexen Gesellschaften, in Bezug auf die Beschreibung einer Entwicklung vom politisch aktiven zum privatistischen, kulturkonsumierenden Publikum und mit Blick auf die ambivalente Einschätzung einer liberalen Öffentlichkeit heute zu differenzierteren und weniger apodiktischen Ergebnisse käme: „Vieles spricht dafür, daß das demokratische Potential einer Öffentlichkeit, deren Infrastruktur von den wachsenden Selektionszwängen der elektronischen Massenkommunikation geprägt ist, ambivalent ist.“ (vgl. auch Bermbach 1995, S. 25) Wichtig ist dafür das in der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ formulierte Verständnis von Massenmedien, die sowohl die Begrenzungen öffentlicher Kommunikation entschränken und damit emanzipierend wirken können, als auch durch ihre formalisierte Struktur und die Herausbildung eines eigenen Typus so genannter „Medienmacht“ öffentliche Kommunikation hierarchisieren und für den Einzelnen unzugänglich gestalten können. Vgl. Habermas 1989 Habermas 1992, S. 451 Ebd., S. 436 Vgl. Habermas 2006
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311
Öffentlichkeit ist zwischen den beiden jeweils zu ihr geöffneten gesellschaftlichen Bereichen (politisches) System und Lebenswelt positioniert, auch wenn sie grundsätzlich an den lebensweltlichen Modus der sprachlichen Integration gekoppelt ist, der im verständigungsorientierten Vernunftgebrauch begründet liegt: In der Öffentlichkeit hat sich bis heute keine ausdifferenzierte Spezialsemantik entwickelt, sondern sie ist in ihrer gesellschaftsintegrativen Funktion weiterhin der Allgemeinverständlichkeit der Umgangssprache verpflichtet und bindet durch ihre Vermittlungsleistungen Funktionssysteme wie Recht und Politik an diesen wenig differenzierten, dem Anspruch nach allgemeingültigen Verständigungsmodus des lebensweltlichen kommunikativen Handelns zurück.19 Für ein normativ fundiertes Modell deliberativer Politik bildet Öffentlichkeit den Raum innerhalb der (staatlich verfassten) Gesellschaft, in dem letztlich die Legitimation politischer Handlungsoptionen genauso debattiert wird wie grundlegende gesellschaftliche Wertekonflikte (praktische bzw. ethisch-politische Diskurse).20 Öffentlichkeit ist diesem Anspruch zufolge eine zentrale Instanz des lebensweltlichen Modus’ der symbolischen Integration sozial ausdifferenzierter und hochkomplexer Gesellschaften, indem sie wie bereits eingangs beschrieben eine – zwar schwache, aber immerhin vorhandene und aktivierbare – Struktur bereit stellt, die nicht an einzelne Subsysteme gekoppelt ist, sondern aus ihrem lebensweltlichen Anspruch heraus nach wie vor die gesamte Gesellschaft zu umspannen verspricht. Dabei ist davon auszugehen, dass sich spezifizierte Teilräume innerhalb der öffentlichen Sphäre bilden, in denen lebensweltliche Probleme ebenso wie die Folgen der System-Lebenswelt-Interaktionen in spezifischen Bereichen verhandelt werden. Öffentlichkeit ist somit als eine Möglichkeit zu verstehen, deren Realisierung zwar von spezifischen Rahmenbedingungen abhängig ist, deren Potenzial aber nicht außer Kraft gesetzt werden kann, ohne dass Bestand und Selbstverständnis einer demokratischen und pluralistisch offenen Gesellschaft in Gefahr geraten. Dabei umfasst diese Möglichkeit der öffentlichen Sphäre gleichermaßen alle drei fundamentalen Dimensionen, die Schmalz-Bruns identifiziert: Öffentlichkeit kann ihm zufolge verstanden werden • „als Medium kultureller Reproduktion und Produktion […], • als reflexive politische Praxis […], • als Form der Erschließung auch von kognitiven Rationalitätspotentialen zur Verbesserung der Qualität politischer Entscheidungen“.21 Diese Differenzierungen verweisen weniger auf gänzlich unterschiedliche Öffentlichkeitsbegriffe als vielmehr auf unterschiedliche perspektivische Zugriffe auf die Leistungsfähigkeiten eines öffentlichen Raumes bezogen auf je spezifische Fragestellungen. Punkt (1) verweist auf die soziologisch relevante Entdifferenzierungswirkung einer umgangssprachlich verstandenen und an die Lebenswelt angeschlossenen öffentlichen Sphäre; (2) bezieht sich auf die auch politikwissenschaftlich interessante Konstitution öffentlicher Diskurszusammenhänge, in denen Kollektive sich über ihre ethisch-politischen Ziele vergewissern und (3) bezieht sich vornehmlich auf die demokratietheoretisch inspirierte Aufhebung der Dichotomie zwischen Volkssouveränität und Rationalität in einem normativ fundierten Begriff von Öffentlichkeit.
19 20 21
Vgl. ebd., S. 427. Aufgrund der Orientierung auf das politische System entsteht der falsche Eindruck, dass Habermas Öffentlichkeit auf politische Fragen limitiert. Doch aufgrund ihrer Lebensweltverhaftung ist Öffentlichkeit thematisch nicht beschränkt, sondern gegenüber allen allgemeinen Themen offen. Die Konfliktorientierung von Öffentlichkeit ist auch systemtheoretisch beschreibbar, allerdings nur unter Abzug jeglicher Erwartung an Journalismus, zur Lösung von Konflikten aktiv beizutragen (vgl. Hug 1997). Schmalz-Bruns 1995, S. 44f.
312
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
Die im Begriff der ‚Sphäre‘ zugrunde gelegte Permanenz einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit trägt der Tatsache Rechnung, dass der systemische Input – neben der Gefahr der Kolonialisierung – auch eine Festigung und Kontinuität öffentlicher Zusammenhänge bewirkt. Öffentlichkeit ist in diesem Verständnis weder ein System22 noch ausschließlich ein beliebiger beinahe ubiquitärer Zustand, der durch jede Kommunikation zwischen zwei oder mehr Individuen zustande kommt23. Eher kann man in komplexen, in ihrem Aufbau durch das Recht gesteuerten Gesellschaften24 davon ausgehen, dass Öffentlichkeit einen juristisch abgesicherten sowie politisch und sozial gestaltbaren Raum der zwanglosen Kommunikation bildet.25 Zwanglos vor allem deshalb, weil a priori keine Zugangs- oder Themenbeschränkungen existieren oder zumindest deren Fehlen kontrafaktisch unterstellt wird. Öffentlichkeit konstituiert demnach einen Raum, in dem in umgangssprachlichen und damit grundsätzlich laienorientiert formierten Meinungsbildungsprozessen alle gesellschaftlich relevanten Themen behandelt und an das politische System zur Behandlung und Entscheidung herangetragen werden können.26 Ihre Durchlässigkeit ermöglicht es den Privatbürgern, in ihrer Rolle als Staatsbürger aktiv in den politischen Prozess einzutreten, sich zu Handlungsprogrammen zu äußern und gleichzeitig eigene Thematisierungsversuche zu unternehmen. ‚Hergestellt‘ wird diese Öffentlichkeit maßgeblich durch journalistische Kommunikation und mediale Angebote, die in der beschriebenen Weise den gesellschaftlichen Themenhaushalt prägen. Vollständig institutionalisiert werden kann Öffentlichkeit nicht, wie Habermas regelmäßig betont, da sie dann ihre Sensibilität und potenzielle Offenheit gegenüber lebensweltlichen Problemlagen durch die zwangsläufig auch ‚repressiven‘ Institutionalisierungswirkungen verlieren könnte. Wohl aber wirken in ihr – neben der rechtlichen Absicherung durch Meinungs- und Pressefreiheit – zivilgesellschaftliche Institutionen, die der Lebenswelt verhaftet sind. Dazu können auch journalistische Organisationen und Institutionen gehören, wie anhand historischer Belege bereits im „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ aufgezeigt wurde: „Eine Presse, die sich aus dem Räsonnement des Publikums entwickelt und dessen Diskussionen bloß verlängert hatte, blieb durchaus Institution dieses Publikums selbst: wirksam in der Art eines Vermittlers und Verstärkers, nicht mehr bloßes Organ des Informationstransportes und noch kein Medium der Konsumentenkultur.“27
Mögliche raumzeitliche Beschränkungen öffentlicher Begegnungen werden in massenmedial hergestellten Öffentlichkeiten zunehmend aufgelöst, indem Öffentlichkeit abstrahiert wird und durch ihre institutionelle Verankerung in rechtlich privilegierten Massenmedien eine faktisch weit umfassendere gesellschaftliche Relevanz erhält als die spontane öffentliche Kommunikation in der Lebenswelt.28 Problematisch werden diese Institutionen erst dann, wenn sie in den 22 23 24 25 26 27 28
Vgl. Hug 1997; Gerhards 1994 Vgl. Westerbarkey 1999 Vgl. Habermas 1992 Vgl. dazu Weßler 1999b, S. 174. In diesem Sinne sind auch die normativen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Kommunikationsordnung der Bundesrepublik zu verstehen (vgl. die Überblicksaufsätze von Kreidel 1967, Ricker 1976, Schumacher 1987 und Schwarz 1999 in Publizistik). Vgl. Habermas 1992, S. 435ff. Habermas 1990, S. 277 Weitere Differenzierungen von Öffentlichkeit sind denkbar: In öffentlichkeitssoziologischen Näherungen an die der Reichweite nach verschiedenen Formen von Öffentlichkeit werden folgende Ebenen von Öffentlichkeit unterschieden (vgl. zum Folgenden exemplarisch: Gerhards/Neidhardt 1990, S. 19ff.): • Kommunikation au trottoir (einfache kommunikative Interaktionen, z.T. spontan), • Veranstaltungen (thematisch zentrierte Interaktionen, mit Organisationsaufwand verbunden),
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Systembereich abzuwandern drohen oder aufgrund zunehmender Kapitalverwertungsinteressen nicht mehr in erster Linie dem Prinzip der öffentlichen Verständigung verpflichtet sind. Bezogen auf die Etablierung der Massenmedien ist diese Transformation ehemals lebensweltlicher Institutionen festzustellen. Daran anschließend lassen sich in Anlehnung an Prokops Unterscheidung zwischen einer ‚Parteien-, Verbands- und Produktionsöffentlichkeit‘ und einer ‚spontanen Gegenöffentlichkeit‘ zwei differente Modi von Öffentlichkeit konturieren, die sich darin unterscheiden, dass sie entweder systemisch oder lebensweltlich konstituiert werden, und in deren Differenziertheit auch die Widersprüche zwischen Mediensystem und kommunikativem Journalismus ihren Platz finden.29 Zwei unterschiedliche Bereiche gesellschaftlicher Kommunikation entfalten politische Relevanz: eine nicht-vermachtete Öffentlichkeit, die sich aus nicht-institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen situativ und spontan entwickelt, und eine vermachtete Öffentlichkeit, die von staatlichen und sozialen Institutionen zu Legitimationszwecken strategisch hergestellt wird. Habermas beschreibt die nicht vermachtete Öffentlichkeit wie folgt: „Die von Beschlüssen entkoppelte Meinungsbildung vollzieht sich in einem offenen und inklusiven Netzwerk von sich überlappenden subkulturellen Öffentlichkeiten mit fließenden zeitlichen, sozialen und sachlichen Grenzen. Die Strukturen einer solchen pluralistischen Öffentlichkeit bilden sich, innerhalb eines grundrechtlich garantierten Rahmens, mehr oder weniger spontan. […] Insgesamt bilden sie einen ‚wilden‘ Komplex, der sich nicht im ganzen organisieren läßt. Wegen ihrer anarchischen Struktur ist die allgemeine Öffentlichkeit einerseits den Repressions- und Ausschließungseffekten von ungleich verteilter sozialer Macht, struktureller Gewalt und systemisch verzerrter Kommunikation schutzloser ausgesetzt als die organisierten Öffentlichkeiten des parlamentarischen Komplexes. Andererseits hat sie den Vorzug eines Mediums uneingeschränkter Kommunikation, in dem neue Problemlagen sensitiver wahrgenommen, Selbstverständigungsdiskurse breiter und expressiver geführt, kollektive Identitäten und Bedürfnisinterpretationen ungezwungener artikuliert werden können als in den verfahrensregulierten Öffentlichkeiten.“30
Diese nicht institutionalisierten Strukturen korrespondieren mit einem Komplex institutionell geregelter demokratischer Verfahren, der ebenfalls Öffentlichkeit konstituiert: „Bei der Einrichtung parlamentarischer Verfahren bilden Entscheidungskompetenzen (und zugerechnete politische Verantwortlichkeiten) den Bezugspunkt, unter dem sozial abgegrenzte und zeitlich limitierte Öffentlichkeiten konstituiert sowie Verhandlungen argumentativ gestaltet und sachlich spezifiziert werden. Demokratische Verfahren in derart ‚veranstalteten‘ Öffentlichkeiten strukturieren Meinungs- und Willensbildungsprozesse im Hinblick auf die kooperative Lösung praktischer Fragen – einschließlich des Aushandelns fairer Kompromisse.“31
Diese stärker institutionalisierte Öffentlichkeit bildet in ihrer Struktur insgesamt einen ‚Rechtfertigungszusammenhang‘, da sie darauf angelegt ist, für die anstehenden und entschiedenen Probleme und Handlungsprogramme Legitimation zu erlangen, während die nicht-vermachteten öffentlichen Strukturen als ‚Entdeckungszusammenhang‘ fungieren, in dem Probleme identifiziert werden, die dann in den verfahrensregulierten Diskursen parlamentarischer Körperschaften
29 30 31
• Proteste (thematisch zentrierte Handlungen, mit Organisationsaufwand verbunden), • Massenmediale Kommunikation (durch Massenmedien organisierte Kommunikation). Habermas (1992, S. 452) differenziert in ähnlicher Weise zwischen episodischer Öffentlichkeit, veranstalteter Präsenzöffentlichkeit und abstrakter massenmedialer Öffentlichkeit. Kennzeichnend für diese Differenzierungen nach der Reichweite des jeweiligen Kommunikationszusammenhangs ist vor allem der Grad der Ausdifferenzierung sowie der Wechselseitigkeit von Sprecher- und Publikumsrolle. Vgl. Prokop 1974, S. 154ff. Habermas 1992, S. 374 Ebd., S. 373
314
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
bearbeitet werden.32 In diesem Wechselspiel allerdings ergänzt die deutlich fragilere zweite Ebene nicht bloß qualitativ die institutionalisierten demokratischen Verfahren, sondern sie ist vielmehr darüber hinaus für die Erzeugung von Legitimation mitentscheidend. In besonderen Krisensituationen steigt die Resonanz, die nicht vermachtete Öffentlichkeit im Kernbereich des politischen Systems erfährt.33
1.2
Diskurse und Diskursethik: Kommunikative Vernunft in der Öffentlichkeit
In einem Modell diskursiver Öffentlichkeit wird die gesellschaftliche Relevanz des kommunikativen Handelns Einzelner beschreibbar34, da anerkannt wird, dass das fragile Netzwerk lebensweltlicher Äußerungen auf humankommunikativer Ebene in unhintergehbaren Bedingungen kommunikativen Handelns verankert ist. „Mit der Entdeckung der dem Medium Sprache inhärenten Spannung zwischen Faktizität und Geltung gelingt es Habermas, den Gegensatz aufzuheben zwischen den normativistischen Ansätzen der praktischen Philosophie einerseits, die Gefahr laufen, den Kontakt mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verlieren, und den objektivistischen Ansätzen der Sozialwissenschaft andererseits, die alle normativen Aspekte ausblenden.“35
Die kommunikative Vernunft, auf die dieses deliberative Modell abstellt, ist als eine „prozedurale Vernunft […] in das verständigungsorientierte Handeln der Beteiligten eingelassen“.36 Es geht um eine Praxis gesellschaftlicher Kommunikation, in der sich die Beteiligten untereinander darüber verständigen, was sie für wahr, richtig und im Einzelfall für wahrhaftig halten. Diese intersubjektiven Klärungsprozesse finden in verschiedenen Diskursformen statt, die bereits diskutiert worden sind: Wahrheitsfragen sind Gegenstand theoretischer Diskurse, Richtigkeitsfragen werden in praktischen Diskursen diskutiert, während Wahrhaftigkeitsfragen nur in den Sonderfällen des ästhetischen bzw. des therapeutischen Diskurses diskursfähig sind, in der Regel aber als nicht begründungsfähig erscheinen müssen.37 Besonders der praktische Diskurs, in dem es um die Rechtfertigung von normativen Ansprüchen der Richtigkeit geht, ist für eine gesellschaftstheoretisch ambitionierte Diskurskonzeption von Interesse.38 Mit einer moralischen Argumentation versuchen die Beteiligten, einen durch einen gestörten Konsens hervorgerufenen Handlungskonflikt in reflexiver Einstellung durch die Formulierung eines neuerlichen Konsenses beizulegen.39 Ein solcher praktischer Diskurs bezieht sich grundsätzlich auf eine gemeinsam unterstellte Lebenswelt. Praktische Diskurse unterscheiden sich von theoretischen Diskursen, die sich (im erfahrungswissenschaftlichen Sinne) in Form vielfältiger 32 33 34 35 36 37 38
39
Vgl. ebd., S. 373 Vgl. Scheyli 2000, S. 59 Damit erfüllt sie in Ansätzen auch die Forderung nach der Stärkung der Folgenreflexivität sozialen Handelns, die Pöttker (1996; 1997) sowohl an die Soziologie als auch an den Journalismus richtet. Loretan 1994, S. 60 Loretan 2002, S. 267 Vgl. Arens 1996, S. 88 Vgl. ebd., S. 83. Kuhlmann (1999, S. 39ff.) weist darauf hin, dass der Begriff Diskurs je nach Verwendungsweise in seinem Bedeutungsgehalt leicht verschoben sein kann: „Diskurs kann einerseits allgemein den kommunikativen Prozess der Überprüfung von Geltungsansprüchen meinen. In dieser Bedeutung kann sich ein Diskurs auf Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit beziehen. Andererseits kann Diskurs im engeren Sinne die an Gründen orientierte Argumentation meinen. Dies ist nur für Aussagen sinnvoll, die den Geltungsanspruch der Richtigkeit erheben.“ (ebd., S. 44) Vgl. Habermas 19997 [1983], S. 77
1 Grundlagen einer diskursiv verstandenen Öffentlichkeit
315
Induktionen vor allem mit einer Kluft zwischen singulären Beobachtungen und allgemeinen Hypothesen auseinandersetzen40, dadurch, dass sie letztlich nicht handlungsentlastet geführt werden können, „[…] weil mit strittigen Normen das Gleichgewicht intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse berührt wird“.41 Im praktischen Diskurs sollen zum einen die individuellen Interessen jedes Teilnehmers zur Geltung kommen, ohne dass aber zum anderen die Solidarität der in Kommunikation vereinten Gemeinschaft dadurch gefährdet wird. Dies ist möglich aufgrund der eigenwilligen Mechanismen des Diskurses: Einerseits müssen alle Diskursteilnehmer davon ausgehen, dass sie als Freie und Gleiche an der Suche nach einer gemeinsam unterstellten Wahrheit oder Richtigkeit teilnehmen und dass entsprechend nur der Zwang des besseren Arguments zu richtigen und fairen Entscheidungen führt. Andererseits aber hält der kommunikative Austausch im Diskurs alle Teilnehmer zur gemeinsamen Rollenübernahme an und sorgt so dafür, dass der Diskurs als intersubjektive, gemeinsam erzeugte öffentliche Veranstaltung letzten Endes eben doch mehr ist als ein liberal verstandener Marktplatz des Ideenaustausches.42 „Im Diskurs reißt das soziale Band der Zusammengehörigkeit nicht, obwohl die Übereinkunft, die allen abverlangt wird, die Grenzen jeder konkreten Gemeinschaft transzendiert. Das diskursiv erzielte Einverständnis hängt gleichzeitig ab von dem nicht-substituierbaren ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ eines jeden Einzelnen wie auch von der Überwindung seiner egozentrischen Perspektive. Ohne die uneingeschränkte individuelle Freiheit seiner Stellungnahme zu kritisierbaren Geltungsansprüchen kann eine faktisch erzielte Zustimmung nicht wahrhaft allgemein sein; ohne die solidarische Einfühlung eines jeden in die Lage aller anderen wird es zu einer Lösung, die allgemeine Zustimmung verdient, gar nicht erst kommen können. Das Verfahren diskursiver Willensbildung trägt dem inneren Zusammenhang beider Aspekte Rechnung – der Autonomie unvertretbarer Individuen und ihrer Einbettung in intersubjektiv geteilte Lebensformen.“43
Die Diskurstheorie impliziert mit Blick auf diese Diskurse auch einen eigenständigen und spezifischen ethischen Ansatz. Diese Diskursethik ist explizit als eine Ethik kommunikativer Verständigungsorientierung und Rationalität angelegt. Zunächst ist sie zu verstehen als eine Auseinandersetzung mit den notwendigen Bedingungen praktischer Diskurse, in denen verbindliche Normen vereinbart werden. In einem erweiterten Sinne kann sie als ein Maßstab adaptiert werden, anhand dessen Anforderungen an kommunikative Handlungen (in Öffentlichkeit) und damit potenziell auch an journalistische Handlungen formuliert und bewertet werden können. Journalistische Ethik kann als „angewandte Teildisziplin einer allgemeinen Diskursethik öffentlicher bzw. zivilgesellschaftlicher Kommunikation“ konzipiert werden.44 Als Vorausbedingungen der Gültigkeit einer Diskursethik können die „postkonventionelle Moralbegründung als Antwort auf die Pluralisierung der Lebensformen“ und die „funktionale Differenzierung als ein Kennzeichen moderner Rationalität“ betrachtet werden.45 Die Diskursethik nach Habermas ist typischerweise deontologisch, kognitivistisch, formalistisch und universalistisch.46 Sie selbst macht keine inhaltlichen Vorgaben, sondern ist zunächst als eine prozedurale Moraltheorie zu verstehen, welche diejenigen Verfahren beschreibt, mit denen moralische und rechtliche Normen universell begründet werden können, und die inhaltliche Klärung den praktischen Diskursen belässt, die von Beteiligten und Betroffenen geführt 40 41 42 43 44 45 46
Vgl. ebd., S. 73 Ebd., S. 115f. Vgl. Habermas 1991, S. 13f. Ebd., S. 19 Loretan 1999, S. 157 Loretan 2002, S. 266 Vgl. Habermas 1991, S. 11f.; Arens 1996, S. 80; Loretan 1999, S. 159f.
316
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werden.47 Ihre Grundlage ist die „[…] transzendental- bzw. universalpragmatische Reflexion selbst, d.h. die methodische Bewusstmachung der Bedingungen, die immer schon ratifiziert haben muss, wer argumentieren will“.48 Sie bezieht dabei – anders als viele andere ausschließlich auf Individuen gerichtete Ethiken – in einem erweiterten Sinn die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften mit ein, indem sie ausgehend vom zweistufigen Gesellschaftsmodell ihren eigenen Geltungsbereich nicht von vornherein als uneingeschränkt betrachtet, sondern für Bereiche systemischer Koordinierung nur mittelbar Regulierungskompetenz beansprucht. Hier können dysfunktionale Folgen systemischer Aktionen in der Lebenswelt und die Legitimation der Ausdifferenzierung diskutiert werden; die Begründung einer einzelnen Systemoperation dagegen gehorcht nicht diskursiven, sondern funktionalistischen Gesichtspunkten. Die Geltung von Ethik oder Sittlichkeit ist in diesen Bereichen aus Effizienzgründen restringiert. Die Diskursethik ist ein überzeugendes Modell-Angebot für die Begründung normativer Anforderungen in ausdifferenzierten Gesellschaften, da sie aufzeigt, in welchen Dimensionen soziale Rollenträger ethische Verantwortung für ihr Handeln tragen.49 Begründungen für Meinungen oder Handlungen einzufordern, wie es ein diskursives Kommunikationsmodell tut, bedeutet schließlich, die Meinenden oder Handelnden nicht nur als rationale, sondern auch als verantwortungsfähige Personen anzusehen und anzusprechen.50 „Für die Diskursethik stellt sich die Frage nach dem Subjekt, das Verantwortung für sein Handeln und dessen Folgen übernehmen kann. In Auseinandersetzung mit den philosophischen Ansätzen der Moderne, kann die Diskursethik als eine kritische Theorie des Subjekts […] gelesen werden.“51
Eine diskursethische Perspektive geht davon aus, dass Individuen auf der Basis ihrer lebensweltlichen Sozialisation auch in komplexen Gesellschaften in der Lage sind, persönliche und soziale Entwicklungen zu erfassen und zu verstehen, für ihr eigenes Handeln im Rahmen dieser Entwicklungen Verantwortung zu übernehmen und ihr Handeln mit dem anderer Beteiligter kommunikativ zu koordinieren und sich gemeinsam über Lösungen zu verständigen. Grundlage einer solchen diskursiven Übereinkunft ist die nicht hintergehbare Faktizität spezifischer Argumentationsvoraussetzungen. Deren erste Formulierung findet sich in den bereits skizzierten Überlegungen zu einer idealen Sprechsituation.52 Diese sind weder als empirische Beschreibung noch als normative Forderung zu sehen, sondern als eine kontrafaktische Unterstellung, als eine Fiktion, die realiter Wirkungen entfaltet und die für Kommunikation letztlich unabdingbar ist: „Jeder, der ernsthaft den Versuch unternimmt, an einer Argumentation teilzunehmen, läßt sich implizit auf allgemeine pragmatische Voraussetzungen ein, die einen normativen Gehalt haben; das Moralprinzip läßt sich dann aus dem Gehalt dieser Argumentationsvoraussetzungen ableiten, sofern man nur weiß, was es heißt, eine Handlungsnorm zu rechtfertigen.“53
Diese allgemeinen pragmatischen Voraussetzungen kreisen, wie in anderen Moralen auch, um Vorstellungen von Gleichbehandlung, Gemeinwohl und Solidarität. Sie können auf die „Sym47 48 49 50 51 52 53
Vgl. Arens 1996, S. 89 Kopperschmidt 2000, S. 150 Vgl. Loretan 1999, S. 156; vgl. zur Bedeutung von Verantwortung im Medienhandeln auch Debatin 1998 Vgl. Kopperschmidt 2000, S. 34ff. Loretan 2002, S. 268 Vgl. Habermas 1995c [1984], S. 177 Habermas 1991, S. 12f.
1 Grundlagen einer diskursiv verstandenen Öffentlichkeit
317
metriebedingungen und Reziprozitätserwartungen des kommunikativen Handelns“ zurückgeführt werden, die sich aus den „wechselseitigen Zuschreibungen und gemeinsamen Unterstellungen einer verständigungsorientierten Alltagspraxis“ ergeben, wie Habermas schreibt.54 Die Maßstäbe der Diskursethik sind damit direkt in den kommunikativ handlungskoordinierenden Sprachgebrauch eingelassen. Sie lassen sich in Diskursregeln auffinden, wie sie zum Beispiel von Alexy expliziert55 und von Habermas aufgegriffen werden. Dabei handelt es sich um Forderungen nach Widerspruchsfreiheit in den sprachlichen Aussagen, um eine Verpflichtung auf Wahrhaftigkeit und um die Einhaltung von Fairnessregeln, die auf die gleichberechtigte Anerkennung aller anderen Teilnehmer an einem potenziell unabgeschlossenen Diskurs zielen.56 Diese Regeln sind keine Konventionen, sondern unabdingbare Voraussetzungen diskursiven Handelns. Jeder, der sich auf eine Argumentation einlässt, akzeptiert sie stillschweigend, weil sonst ein argumentativer Prozess mit dem Ziel rationaler Übereinkunft nicht zustande käme. Gegen diese Regeln kann man nicht argumentieren, ohne sich in einen performativen Widerspruch zu verstricken: Würde man Argumente gegen diese Regeln vorbringen, würde man sie doch gleichzeitig durch sein eigenes, ihnen gemäßes Handeln anerkennen.57 Habermas reicht – im Gegensatz zu Apel, der den Anspruch und die Notwendigkeit einer Letztbegründung von Normen aufrechterhält58 – dieser Nachweis performativer Widersprüche aus, um die Regeln zu identifizieren, ohne die eine erfolgreiche Argumentation unmöglich ist: Die Alternativlosigkeit der Regeln begründe deren Wirksamkeit zwar nicht letztgültig, aber sie mache sie dergestalt plausibel, dass weitere Begründungsversuche nicht notwendig seien.59 Aufbauend auf und abgeleitet aus diesen Kommunikationsregeln ist der Universalisierungsgrundsatz ‚U‘ der Kern der Diskursethik. Er soll das Moralprinzip ersetzen, mit dem in anderen Ethik-Konzeptionen versucht wird, die Idee des guten und sittlichen Handelns von moralischen Instanzen abzuleiten, indem er sich auf die Plausibilitätsannahmen der Argumentationsvoraussetzungen zurückzieht.60 Diesem Grundsatz ‚U‘ zufolge gilt eine Norm dann, 54 55 56
57 58 59 60
Ebd., S. 17 Vgl. Alexy 1978; 1983 Vgl. Habermas 19997 [1983], S. 97ff.: „(1.1) Kein Sprecher darf sich widersprechen. (1.2) Jeder Sprecher, der ein Prädikat F auf einen Gegenstand a anwendet, muß bereit sein, F auf jeden anderen Gegenstand, der a in allen relevanten Hinsichten gleicht, anzuwenden. (1.3) Verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen. […] (2.1) Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt. (2.2) Wer eine Aussage oder Norm, die nicht Gegenstand der Diskussion ist, angreift, muß hierfür einen Grund angeben. […] (3.1) Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. a. Jeder darf jede Behauptung problematisieren. b. Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. c. Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. (3.2) Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in (3.1) und (3.2) festgelegten Rechte wahrzunehmen.“ Leider setzt Habermas diesen Katalog – aufgrund seines anders gelagerten Interesses – nicht in Bezug zu massenmedialen Diskursen. Vgl. Habermas 19997 [1983], S. 86ff. Vgl. Apel 1988 Vgl. Habermas 19997 [1983], S. 105ff. Habermas (19997 [1983], S. 103) sieht im „Grundsatz der Verallgemeinerung, der als Argumentationsregel gilt und zur Logik des praktischen Diskurses gehört“, das einzig notwendige Moralprinzip.
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VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus […] wenn die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können.“61
Das anspruchsvolle Programm der Diskursethik lässt sich im Anschluss an diese Verallgemeinerungsregel auf den Grundsatz ‚D‘ bringen, der besagt, „[…] daß nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)“.62
Dieser ethische Grundsatz ‚D‘ ist damit Ausfluss des als Moralprinzip fungierenden Universalisierungsgrundsatzes. Er impliziert keine inhaltlich-materiellen Regelungen, sondern kennzeichnet formal die Bedingungen, denen Kommunikationsstrukturen genügen müssen, wenn sie ethisch-normativ akzeptable Diskursergebnisse produzieren sollen. Alle inhaltlichen Regelungen sind dagegen von realen (oder ersatzweise advokatorisch geführten) Diskursen abhängig; der Moraltheoretiker ist in ihnen nur ein Teilnehmer unter Gleichen.63 Die Diskursethik bleibt also formal: Die Inhalte werden erst durch die Akteure in Diskursen bestimmt. Dabei werden im Diskurs keine Normen erzeugt, sondern in Frage gezogene Ansprüche überprüft. Auf der idealen Ebene werden Symmetriebedingungen und Reziprozitätsbedingungen sowie die Gewährung egalitärer und zwangfreier Teilnahmechancen erwartet. Es sollen spezifische Bedingungen geschaffen werden, unter denen die am Diskurs beteiligten Akteure begründete Positionen und Interessen in den Diskurs einbringen können. In einem praktischen Diskurs werden immer zugleich die Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit debattiert. Wohl auch deshalb gleichen „[…] praktische Diskurse, wie alle Argumentationen, den von Überschwemmung bedrohten Inseln im Meer einer Praxis, in dem das Muster der konsensuellen Beilegung von Handlungskonflikten keineswegs dominiert“.64 Zu verhindern, dass diese Inseln untergehen, ist nicht zuletzt Aufgabe institutioneller Vorkehrungen, welche die Diskurse empirisch überhaupt erst möglich machen.65 Sie sind scharf zu unterscheiden von Diskursregeln, die zunächst einmal „nur eine Form der Darstellung von stillschweigend vorgenommenen und intuitiv gewußten pragmatischen Voraussetzungen einer ausgezeichneten Redepraxis“ sind.66 Institutionelle Vorkehrungen – also: intersubjektiv vereinbarte Institutionen oder Konventionen zum Beispiel in Form von Geschäftsordnungen und Verfahrensregeln – dagegen lassen sich von unhintergehbaren Unterstellungen kommunikativen oder diskursiven Handelns dahingehend unterscheiden, dass sie darauf zielen, kommunikative Austauschprozesse so zu organisieren, dass die Erfüllung der Diskursregeln als wahrscheinlich(er) erachtet werden kann.67 In dieser Differenzierung kann auch die Unterscheidung zwischen einer unhintergehbaren Kommunikativität journalistischen Handelns und seiner auch bewusst kommunikativen und damit diskursiven Handhabung verankert werden. Empirisch auffindbare Annäherungen an praktische Diskurse setzen „einen minimalen institutionellen Rahmen“ voraus, der sowohl nach innen als auch nach außen gewährleistet, 61 62 63 64 65 66 67
Ebd., S. 103 Ebd., S. 103 Vgl. ebd., S. 104f. Habermas konstatiert: „Nur ein intersubjektiver Verständigungsprozeß kann zu einem Einverständnis führen, das reflexiver Natur ist; nur dann können die Beteiligten wissen, daß sie sich gemeinsam von etwas überzeugt haben.“ (ebd., S. 77) Ebd., S. 116 Vgl. dazu auch Habermas 1986b, S. 30. Habermas 19997 [1983], S. 101 Vgl. ebd., S. 102
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dass ein Diskurs unter vielen Menschen überhaupt stattfinden kann.68 Diese Überlegung führt direkt hinein in die Kernüberlegungen des deliberativen Öffentlichkeitsmodells, demzufolge ein mediengestützter gesellschaftlicher Kommunikationszusammenhang und eine freiheitsichernde Rechtsverfassung im Zusammenspiel eine vernünftige Meinungs- und Willensbildung gewährleisten sollen.69 In Bezug auf die Formulierung dieser institutionellen Vorkehrungen ist das ‚Prinzip der Angemessenheit‘ von besonderer Bedeutung, das in Anwendungsdiskursen an die Stelle des in Begründungsdiskursen zentralen Universalisierungsgrundsatzes tritt.70 Die der Sprache inhärenten Diskursregeln werden in solchen institutionellen Vorkehrungen nach Angemessenheitserwägungen operationalisiert, zum Beispiel auch, um die Diskursivität von öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozessen zu gewährleisten. In dieser Übersetzungsleistung, der eine Verknüpfung zur sprachlichen Fundierung der ethischen Forderungen erhalten bleibt, liegt die Möglichkeit der Übertragung diskursethischer Überlegungen auf medienkommunikative Zusammenhänge im Allgemeinen und auf journalistisches Handeln im Speziellen.
1.3
Deliberative Demokratie: Öffentliche Bedingungen kommunikativer Vernunft „Zusammenfassend kann man die in der Aufklärung der Presse zugeschriebene Aufgabe in der politischen Basiskommunikation wie folgt formulieren: durch Information und Räsonnement über die politisch relevanten Fragen, dabei insbesondere durch die kritische Überwachung der staatlichen Aktivitäten soll die Presse die rationale Diskussion der bürgerlichen Öffentlichkeit anregen, Forum dieser Diskussion sein und gleichzeitig die Diskussionsergebnisse als politische Meinung des Volkes artikulieren, um sie für die Regierung sichtbar zu machen. Dadurch soll sie die kommunikative Verbindung zwischen Spitze und Basis […] herstellen und eine Entfremdung verhindern.“71
Die anspruchsvollen Annahmen der Diskurstheorie und der Diskursethik, die Präzisierungen des sprechakttheoretischen Konzepts kommunikativen Handelns darstellen, werden im Modell einer deliberativen Öffentlichkeit, die Prozesse rationaler kommunikativer Verständigung ermöglichen soll, mit den stärker empirisch fundierten Annahmen der gesellschaftstheoretischen Lebenswelt-System-Analyse zusammengeführt.72 Unter öffentlicher Deliberation wird eine „frei zugängliche argumentative Auseinandersetzung über Fragen des kollektiven Lebens“ verstanden.73 Das an den Freiheitsbegriff gekoppelte Konzept der Deliberation kennzeichnet öffentlichen Vernunftgebrauch als Grundlage persönlicher Mündigkeit und markiert damit letztlich ein „Freiheits- und Vernunfthandeln“, das in öffentlichen Prozessen intersubjektiver Überlegung und Beratung zu rationalen Urteilen führen soll.74 Es bedeutet eine moderne Revitalisierung aufklärerischer Räsonnement-Gedanken, die auf die problematischen geschichtsphilosophischen Annahmen absoluter Vernunft und Tugenden verzichtet.75 68 69 70 71 72 73 74 75
Müller 1992, S. 39. Habermas und Apel sprechen in diesem Fall von ‚Chairmanship‘, Müller spricht angesichts der damit implizierten weitreichenden Machtbefugnisse etwas unglücklich von ‚Diskurspolizei‘. Vgl. Loretan 1996, S. 39 Vgl. Habermas 1991, S. 140 Geißler 1973, S. 20 Vgl. zum Konzept der deliberativen Politik grundsätzlich: Habermas 1992, S. 349ff. Peters 2001, S. 656. Diese Öffentlichkeit muss bestimmte Merkmale und Leistungen besitzen, die wiederum normativ aufgeladen sind. Imhof 2003, S. 27f. Vgl. ebd., S. 48. Dass diese Perspektive so alt wie die Demokratie selbst ist, konstatiert Elster (1998b) in einem Überblick über die Geschichte der deliberativen Idee seit dem 5. Jahrhundert v. Chr.
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VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
Diese moderne Übersetzung der Diskurstheorie in ein bestimmtes Politik- und Öffentlichkeitsmodell ist nicht bruchlos möglich76: Während sich die Diskustheorie für sich genommen in partizipationsorientierte Prämissen übersetzen lässt, ist aus den Grundannahmen der System-Lebenswelt-Dichotomie und des Kolonialisierungsprozesses heraus zunächst nur schwer vorstellbar, wie Lebensweltangehörige dennoch als kommunikative Akteure an den systemischen Entscheidungsprozessen des politischen Systems teilhaben sollen.77 Dies gelingt nur wenn die Bipolarität zwischen Lebenswelt und System, die in der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ noch als beinahe unüberwindbar scheint, weitgehend zugunsten der Annahme eher wechselseitiger Vermittlungsprozesse zwischen kommunikativer und administrativer oder ökonomischer Macht aufgelöst wird. Nicht nur die Entkopplungs- und Kolonialisierungsthese erfahren im Zuge dieser argumentativen Verschiebung eine Modifikation, sondern auch die zugrunde liegenden diskurstheoretischen Annahmen müssen angepasst werden. Komplexe moderne Gesellschaften benötigen – neben den beschriebenen systemischen Mechanismen der Kommunikationsentlastung – Verfahren, welche die pragmatische Umsetzung des Ideals „kommunikativ verflüssigter Souveränität“78 zu leisten vermögen. Aus der Perspektive eines partizipatorisch und emanzipatorisch inspirierten diskursiven Demokratiebegriffs fällt Öffentlichkeit damit die Rolle einer zentralen Instanz zu, indem sie zum Grundstein eines deliberativen Politikverständnisses wird, das die Legitimation politischer Handlungsvorschläge von der rationalen Zustimmung der Betroffenen abhängig macht und sie als Produkt ihrer Diskurse sieht. Vor dem Hintergrund diskurstheoretischer Annahmen bezeichnet Öffentlichkeit den „Inbegriff derjenigen Kommunikationsbedingungen, unter denen eine diskursive Meinungs- und Willensbildung eines Publikums von Staatsbürgern zustande kommen kann“ und markiert daher einen zentralen „Grundbegriff einer normativ angelegten Demokratietheorie“, wie Habermas betont.79 Dabei darf den deliberativ-diskursiven Öffentlichkeitsstrukturen aber nicht idealistisch die Last aufgebürdet werden, allein für Integration und Steuerung komplexer Gesellschaften zuständig zu sein. Eine solche holistische Annahme wäre angesichts der Ausdifferenzierung von System und Lebenswelt nicht begründbar. Ein Vergesellschaftungsmodell rein auf der Basis diskursiver Kommunikationsabläufe ist kaum konzipierbar, da die entsprechenden Informations- und Entscheidungskosten für alle Beteiligten zu hoch wären.80 Die deliberative Demokratietheorie reagiert darauf, indem sie Öffentlichkeit in ein Modell integriert, das den institutionalisierten Routinemodus einer systemisch hergestellten Öffentlichkeit beschreibt, die allerdings auf die Vitalität darüber hinaus reichender diskursiver Strukturen legitimatorisch angewiesen ist. Dieses Modell ist in seinen wesentlichen Grundzügen prozeduralistisch ausgelegt; es setzt darauf, dass durch die Einrichtung bestimmter Verfahren das übergeordnete Ziel der Vernünftigkeit politischer Entscheidungen gewährleistet wird.81 Dieser Prozeduralismus vermag Diskurse der Macht und ihre impliziten Themenkataloge zu entzaubern, indem er den diskursethischen Grundsatz demokratietheoretisch auflädt.82 76 77 78 79 80 81 82
Vgl. die grundlegende Konzeption von Peters 2001. Vgl. Heming 1997, S. 141 Habermas 1989, S. 475 Habermas 1990, S. 38 Vgl. dazu Schuon 1995, S. 187. Diese vermeintliche Überlastung ist einer der Haupteinwände gegen das Konzept der deliberativen Demokratie, das in der Politikwissenschaft auch im Anschluss an Habermas international kritisch und kontrovers diskutiert wird (vgl. z.B. die Beiträge in Elster 1998a). Vgl. Scheyli 2000, S. 26 Vgl. Benhabib 1991, S. 158. Der Prozeduralismus ist andererseits der Kritik ausgesetzt, in seinem Formalismus unkritisch zu sein (vgl. z.B. Bermbach 1995, S. 32f.). Zu unrecht, wie Maus (1999, S. 730) betont: „Unter mo-
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„Das Diskursprinzip macht allgemein die Gültigkeit jeder Art von Handlungsnormen abhängig von der Zustimmung derer, die als Betroffene, an rationalen Diskursen‘ teilnehmen.“83
Ausgehend von einem solchen Verständnis kann Demokratie nicht auf die statische Festschreibung eines normativen Wertekonsenses reduziert werden, sondern muss sich und die ihr zugrundeliegenden Normen permanent bestätigen oder revidieren. Einzig die Verfahren, die die möglichst große Rationalität der kommunikativen Auseinandersetzungen gewährleisten können, vermag die Diskurstheorie an diesen Befund anknüpfend zu beschreiben, nicht aber bereits vermeintlich richtige Ergebnisse. Diese ergeben sich als a posteriori-Gemeinwohl immer erst am Ende eines Diskurses. Das deliberative Öffentlichkeitsmodell setzt damit trotz seines dezidierten Formalismus normative Standards84, die sich vorwiegend auf die Form öffentlicher Kommunikation beziehen. Über die alltagssprachliche Verankerung in lebensweltlichen Strukturen ist Öffentlichkeit an das Grundmuster kommunikativer Rationalität gebunden. Die normativen Konsequenzen eines solchen diskursiven Öffentlichkeitsbegriffs lassen sich in Bezug auf die Öffentlichkeitsfunktionen der Transparenz, der Validierung und der Orientierung zeigen:85 (1) Die Transparenzfunktion beschreibt die weitgehende Offenheit der öffentlichen Kommunikationssphäre zumindest für relevante Themen, je nach Öffentlichkeitsbegriff aber auch für eine wachsende Zahl von Akteuren. Das Modell diskursiver Öffentlichkeit fordert Offenheit für alle gesellschaftlichen Gruppen sowie für Themen und Meinungen unterschiedlichsten Ursprungs. Öffentlichkeit ist demnach nicht nur der Repräsentation der verschiedenen Akteursmeinungen verpflichtet, sie soll in einem weitergehenden Sinn auch die Partizipation zivilgesellschaftlicher Akteure am öffentlichen Räsonnement ermöglichen. Auf diese Weise erlangt das Publikum (zumindest mittelbar) selbst Akteurstatus. (2) Die Validierungsfunktion beschreibt die Aufgabe der Öffentlichkeit, verschiedene auch konträre Standpunkte nebeneinander zuzulassen und einer Prüfung zu unterziehen. In der diskursiven Öffentlichkeit werden an die öffentlichen Äußerungen normative Maßstäbe angelegt, die auf Basis diskurstheoretischer Annahmen den Grad ihrer Rationalität betreffen: Sie sollen einen diskursiven Charakter haben, der sich durch den Gebrauch von Begründungen, durch das respektvolle und diskursive Beziehen auf die Äußerungen anderer Sprecher und durch eine angemessene Komplexität der Aussage ausdrückt. Die Akteure in der Öffentlichkeit sollen dazu bereit sein, unter dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments ihre Position auch zu ändern.
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dernen Bedingungen raschen gesellschaftlichen Wandels, der alles objektiv ‚Gegebene‘ und damit letzte Gewißheiten über Normen verflüssigt, können nicht mehr Normen unmittelbar, sondern nur noch die formalen oder prozeduralen Prämissen der je neuen Verständigung und Konsensbildung über Normen auf Dauer gestellt und selber normativ ausgezeichnet werden.“ Der Prozeduralismus der Diskurstheorie, die gesellschaftliche Werteregulierung in Diskursen verankert, denen sie lediglich einen formalen Rahmen zu geben vermag, ist gerade in seinem radikalen Verzicht auf substantielle Normen als ‚kritisch‘ zu betrachten, da er jeder Festschreibung inhaltlicher Verhaltensregeln zugunsten derer demokratischer Regelung entsagt. In traditionalen oder metaphysischen ‚Begründungen‘ normativer Strukturen überlieferte Sittlichkeit verliert dadurch ihre Geltungsgrundlage. Habermas 1992, S. 196 Diese sind in der Diskurstheorie wiederum nur in formale Begründungszusammenhänge eingespannt, da Habermas sich dezidiert von der Geltungskraft einer tradierten Sittlichkeit zur Normbegründung verabschiedet hat und stattdessen Gründe für Normierungen in weiteren Erörterungen der bereits skizzierten sprachpragmatischen Annahmen fundiert (vgl. Habermas 19997 [1983]; 1991). Vgl. Gerhards/Neidhardt/Rucht 1998, S. 35ff.; auch Neidhardt 1994b, S. 8f.. Peters (1994, S. 51ff.) nennt Gleichheit, Offenheit und Diskursivität als die zentralen normativen Parameter von Öffentlichkeit.
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VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
(3) Die Orientierungsfunktion bezieht sich darauf, dass das Ergebnis öffentlicher Prozesse Mehrheitsmeinungen oder Konsense sind, die für die Gesellschaft orientierenden Charakter haben können. In einer diskursiv verstandenen Öffentlichkeit liegt das Ziel öffentlicher Kommunikation in der Herausbildung eines Konsenses oder zumindest einer rational begründeten Mehrheitsmeinung. Politische Entscheidungen sollen in öffentlichen Diskursen ihre Legitimation auch kommunikativ von Seiten lebensweltlich verankerter Akteure erhalten und so der reinen Zweckrationalität der Entscheidungssysteme entrissen werden. Eine diskursiv verstandene Öffentlichkeit konstituiert öffentliche Meinungen, die vom Publikum als überzeugend wahrgenommen werden und so politische Autorität auf der Basis kommunikativ erzeugter Macht erlangen können.86 Entscheidend für eine deliberative Demokratietheorie ist die Frage nach den Merkmalen, Leistungen und normativen Bewertungen, aus denen sich eine solche deliberative Öffentlichkeit speist, die eine entsprechende Politik überhaupt erst möglich macht. Peters nennt in diesem Zusammenhang als Merkmale die Gleichheit der Teilnahmebedingungen und Artikulationsmöglichkeiten und ihren grundsätzlichen Bezug auf reziproke Argumentativität in den Beiträgen.87 Dadurch erbringt eine deliberative Öffentlichkeit die Leistung der Rationalitätssteigerung; diese bezieht sich vor allem auf den öffentlichen Argumentationshaushalt und damit auch auf eine ‚Selbstaufklärung der Beteiligten‘. Die positive normative Bewertung dieser Merkmale und Leistungen, die deliberative Demokratietheorien vornehmen, beruht entweder prinzipiell auf der Wertschätzung rationaler Argumentationsverfahren oder aber auf der Erwartung eines rationaleren Outputs bzw. einer höheren Stabilität des politischen Prozesses durch eine bestimmte Form der Partizipation. Öffentliche Diskurse, so ist empirisch begründet zu behaupten, genügen in ausdifferenzierten und massenmedial geprägten Gesellschaften aufgrund der notwendigen symbolischen Kondensation und Komplexitätsreduktion nicht zwangsläufig den hohen Rationalitätsanforderungen eines herrschaftsfreien Diskursmodells: In einer quantitativen Dimension wird dies deutlich, weil nicht alle potenziell Betroffenen (gleichermaßen ausführlich) zu Wort kommen können; qualitativ betrachtet wird es zudem schwieriger, innerhalb dieser repräsentativen Verfahren die abstrakten und anspruchsvollen Normen der Diskurstheorie aufrechtzuerhalten.88 Dieses allerdings der Theorie zum Vorwurf zu machen, hieße, ihren rekonstruktiven
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Liberale Öffentlichkeitsmodelle dagegen stehen zum einen Autopoiesis-Konzepten der Systemtheorie, zum anderen liberalen Demokratietheorien nahe (vgl. Gerhards/Neidhardt/Rucht 1998, S. 28). Im Kern beziehen sie sich auf ein Marktverständnis öffentlicher Kommunikation, dem das Prinzip eines freien Gedanken- und Meinungsaustauschs in der öffentlichen Arena zugrunde liegt. Die zentrale Anforderung an Öffentlichkeit ist aus dieser theoretischen Sicht ihre Zugangsoffenheit. Dabei basieren sie auf folgenden Grundannahmen, zu den oben skizzierten drei Funktionen von Öffentlichkeit (vgl. zum Folgenden ebd., S. 29ff.; siehe auch: Gerhards 1997): • Transparenz: Im Sinne demokratischer Repräsentation müssen alle Positionen zu normativen, auf das Gemeinwohl bezogenen Fragen öffentlich transparent gemacht werden. Die Vielfalt der Meinungen soll in größtmöglicher Breite und Vollständigkeit wieder zu finden sein. • Validierung: Das „Wie“ der öffentlichen Äußerungen spielt in liberalen Modellen keine Rolle. Einzig das Gebot des wechselseitigen Respekts der Kommunikationsteilnehmer normiert deren Spielraum. • Orientierung: Die Öffentlichkeit erfüllt in der Regel eine Informationsfunktion für die Bürger. Eine Verpflichtung von Öffentlichkeit auf Konsens wird in manchen liberalen Modellierungen als dysfunktional angesehen, weil die Gefahr besteht, dass Wertkonflikte ergebnislos diskutiert werden und im Gegenzug für die pragmatische Lösung kompromissfähiger Fragen kaum Ressourcen bleiben. Vgl. Peters 2001, S. 656f. Vgl. Franz 2000, S. 10f.
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Charakter zu verkennen.89 Habermas hält daher mit guten Gründen an den Prämissen der Diskurstheorie grundsätzlich fest, betont aber deren prozeduralistischen Charakter, indem er ein normativ reduziertes Modell deliberativer Öffentlichkeit vor der Folie eines Konzepts deliberativer Politik entwickelt, das die doppelte Zugänglichkeit der Öffentlichkeit von systemischer wie lebensweltlicher Seite beschreibt und damit nicht von einer nur rein kommunikativ zu leistenden öffentlichen Vergesellschaftung ausgeht. Dieses Modell trägt sowohl dem systemübergreifenden Charakter von Öffentlichkeit Rechnung als auch der gesellschaftlichen Differenzierung zwischen systemischen und lebensweltlichen Vergesellschaftungsmodi. Ein deliberatives Politikverständnis verbindet die republikanische Betonung des öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozesses mit dem liberalen Verständnis einer rechtsstaatlichen Verfassung des Gemeinwesens und begreift letztere als den adäquaten Weg, die Bedingung des ersteren zu gewährleisten und im Sinne erhöhter kommunikativer Rationalität zu optimieren.90 Vernünftige politische Entscheidungen sind somit in erster Linie nicht von einer handlungsfähigen und vernunftbereiten Bürgerschaft abhängig, sondern „von der Institutionalisierung von Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen sowie vom Zusammenspiel der institutionalisierten Beratungen mit informell gebildeten öffentlichen Meinungen“.91 Deliberative Politik gewinnt ihre Legitimation durch die Erwartung, dass das diskursive Niveau der öffentlichen Debatten vernünftige Ergebnisse produziert. Die demokratietheoretische Interpretation der Diskurstheorie geht somit von einer „höherstufigen Intersubjektivität“ von Verständigungsprozessen aus, die sich sowohl in institutionalisierten demokratischen Verfahren als auch in den Meinungsbildungsprozessen informeller Öffentlichkeiten abbildet.92 In einem solchen theoretischen Design sind auch Kompromisse und verhandlungsbasierte Interessenausgleichsverfahren abbildbar, denn obwohl diese selbst nicht der Diskursrationalität verständigungsorientierter Kommunikation genügen, ist ihre Fairness an Verfahren und Voraussetzungen zu messen, die ihrerseits unter dem normativen Gesichtspunkt der Gerechtigkeit begründet werden müssen.93
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Es hat daher wenig Sinn, das Öffentlichkeitsmodell vermeintlich zu entschlacken und zum Beispiel auf eine „Vereinbarungswelt“ (Nullmeier 1995, S. 106) zuzuschneiden. Die Loslösung von kommunikativer Vernunft führt vor allem dazu, dass die einzelnen Teilnehmer ethisch überlastet werden durch hohe Anforderungen an ihre ‚Tugendhaftigkeit‘ und durch die illusorische Erwartung einer permanenten Vergesellschaftung. Habermas (1992; 1996) entwickelt dieses Konzept in Auseinandersetzung mit liberalen Demokratiemodellen, die den Rechtsstaatsgedanken betonen, und republikanischen Demokratiemodellen, die ihren Schwerpunkt auf Volkssouveränität legen. Das deliberative Modell beschreibt einen Mittelweg, der zwar normativ anspruchsvoller ist als das liberale Modell, aber nicht den ethischen Idealisierungen des republikanischen Modells folgt: „Die Diskurstheorie nimmt Elemente von beiden Seiten auf und integriert sie im Begriff einer idealen Prozedur für Beratung und Beschlussfassung. Dieses demokratische Verfahren stellt einen internen Zusammenhang zwischen pragmatischen Überlegungen, Kompromissen, Selbstverständigungs- und Gerechtigkeitsdiskursen her und begründet die Vermutung, daß unter Bedingungen eines problembezogenen Kommunikationsflusses und sachgerechter Informationsverarbeitung vernünftige bzw. faire Ergebnisse erzielt werden. Nach dieser Vorstellung zieht sich die praktische Vernunft aus den Menschenrechten oder aus der konkreten Sittlichkeit einer bestimmten Gemeinschaft in jene Diskursregeln und Argumentationsformen zurück, die ihren normativen Gehalt der Geltungsbasis verständigungsorientierten Handelns, letztlich der Struktur sprachlicher Kommunikation und der nichtsubstituierbaren Ordnung kommunikativer Vergesellschaftung entlehnen.“ (Habermas 1992, S. 359f.) Habermas 1992, S. 362 Ebd., S. 362 Vgl. Habermas 1996, S. 284. Für Fragen des Interessenausgleichs, so räumt Habermas (1985b, S. 243) selbst ein, mache es keinen Sinn, auf den Diskurs zurückzugreifen, sondern es müssten Verfahren der Vereinbarung und des Kompromisses gelten. Diese Differenzierung wird von Kritikern nicht hinreichend gewürdigt, die das Diskursmodell aufgrund vermeintlicher Interessenblindheit kritisieren (vgl. z.B. Hug 1997, S. 263ff.).
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Rechtlich konstituierte Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen normieren die Austauschprozesse zwischen System und Lebenswelt und eröffnen lebensweltlichen Akteuren einen Gestaltungsspielraum, der allerdings nicht so weit geht, dass durch die politisch deliberativen Verfahren gleichsam die Gesellschaft als Ganzes umspannt und durch die zugrunde liegenden rechtlichen Regelungen normiert werden könnte. Die politischen Vollzüge bleiben vielmehr in ein komplexes Beziehungsgeflecht eingebettet, in dem sie „weder Spitze noch Zentrum oder gar strukturprägendes Merkmal der Gesellschaft“ sind, sondern – im Anschluss an eine soziologisch distanzierte Perspektive – „ein Handlungssystem neben anderen“. 94 „Die sozialintegrative Kraft der Solidarität, die nicht mehr aus Quellen des kommunikativen Handelns allein geschöpft werden kann, soll sich über weit ausgefächerte autonome Öffentlichkeiten und rechtsstaatlich institutionalisierte Verfahren der demokratischen Meinungs- und Willensbildung entfalten und über das Rechtsmedium auch gegen die beiden anderen Mechanismen gesellschaftlicher Integration, Geld und administrative Macht, behaupten können.“95
Im Rahmen einer solchen öffentlichen Struktur, die demokratietheoretisch aufgeladen worden ist, kommt auch Journalismus eine besondere Verantwortung und Rolle zu, die mit den im Rahmen dieser Studie bereits entwickelten Überlegungen korrespondiert und zum direkten Ausfluss auch demokratietheoretisch relevanter Überlegungen wird.
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Journalismus in der diskursiven Öffentlichkeit
Ein deliberatives Öffentlichkeitskonzept erscheint als eine Möglichkeit, journalistisches Handeln direkt mit Öffentlichkeit und Demokratie in Beziehung zu setzen und normative Anforderungen entsprechend aus diesen Konzepten abzuleiten. In modernen, segmentierten Gesellschaften stellt die massenmedial gestützte Öffentlichkeit die zentrale Form der öffentlichen Kommunikationssphäre dar96, so dass auch der Vermittlergruppe der Publizisten oder Journalisten eine besondere gesellschaftliche Aufgabe zufällt. Für Peters ist in der Öffentlichkeit die „[…] wichtigste spezialisierte Teilnehmerrolle […] natürlich die des Journalisten, die ja weit mehr Funktionen ausüben als die des Türhüters und des Nachrichtenproduzenten oder -bearbeiters oder des Reporters. Als Kommentatoren und Leitartikler, Redakteure verschiedener Sparten, Korrespondenten usw. produzieren Journalisten einen beträchtlichen Teil auch der intellektuell anspruchsvolleren Beiträge zu öffentlichen Diskursen“.97
Eine Diskurstheorie der Öffentlichkeit sollte daher in ihrer normativen Orientierung vorwiegend die Kommunikativität journalistischen Handelns als zu bewahrenden Maßstab ansprechen, während die Massenmedien als die Infrastruktur zu betrachten sind, die dieses Handeln zugleich ermöglicht und beschränkt.98 Angesichts des zentralen Charakters von Öffentlichkeit sowohl in einem engeren demokratietheoretischen Sinne für die politische Übereinkunft in einem Staatswesen als auch in einem weiteren soziologischen Sinne für die Integration von 94 95 96 97 98
Habermas 1996, S. 291f. Habermas 1992, S. 363; vgl. Habermas 1996, S. 289 Vgl. Dörner 2000, S. 177 Peters 2001, S. 671f. Dass dieses Verhältnis letztlich kaum im Rahmen der Diskurstheorie allein konzeptionell zu benennen sein wird, liegt auch daran, dass weder Habermas noch Apel die „Textualität bzw. Medialität von Kommunikation“ in ihren Theorien thematisieren. Kommunikationsmedien und ihre Probleme können daher kaum allein auf der Basis ihrer Analyseansätze angemessen thematisiert werden. Vgl. dazu Arens 1996, S. 73.
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Gesellschaft durch partielle Entdifferenzierung ist ein umso schärferer Blick auf die zentrale Akteursgruppe der Öffentlichkeit, die Journalisten, beinahe zwangsläufig geboten. In den Ausführungen von Habermas kommen diese aufgrund des anders gelagerten Erkenntnisinteresses nur am Rande vor. Dabei sind Journalisten bis heute die Berufsgruppe, welche sui generis in ihrem professionellen Handeln darauf verpflichtet ist, die Kommunikationssphäre Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln.
2.1
Journalismus im demokratischen Prozess
Beispielhaft lässt sich die gesellschaftliche Relevanz journalistischen Handelns anhand seiner Stellung im politischen Prozess verdeutlichen. Mit den darauf fokussierten Erörterungen soll explizit nicht der Eindruck erweckt werden, Journalismus oder Öffentlichkeit beschränkten sich auf politische Aufgaben; ihre Bandbreite ist erheblich weiter gefasst und potenziell unabgeschlossen. Aber anhand dieses Beispiels lässt sich insbesondere die demokratische Relevanz journalistischen Handelns vor allem für die Aufrechterhaltung entsprechender öffentlicher Kommunikationsmöglichkeiten klar begründen. Es ist weitgehend Konsens, dass „Journalismus […] aktuell die ausgewählten oder selbst generierten Themen für die politische Debatte“ bereitstellt und so dazu beiträgt, „[…] die Komplexität der gesellschaftlichen Systeme zu reduzieren“.99 Auf diesen oder vergleichbaren Überlegungen gründen die Ansprüche deliberativer Demokratiemodelle an Journalismus. Die Fundierung normativer Anforderungen an das gesellschaftliche Zeitgespräch in den skizzierten diskursethischen Annahmen intersubjektiver Kommunikation und in einem daran anknüpfenden Modell deliberativer Politik hat Konsequenzen für das theoretische und das praktische Verständnis der öffentlichen Sphäre und damit auch für das Verständnis des sie gewährleistenden Journalismus. Während die Teilnahme an Öffentlichkeit unzweideutig mit der Befolgung der diskutierten Diskursregeln und den aus ihnen abgeleiteten demokratietheoretischen Prämissen zusammenhängt, ist der scharfe Kontrast zwischen diesen vermeintlichen Idealisierungen und dem Zustand öffentlicher Kommunikation in vielen modernen Gesellschaften nicht zu übersehen. Aber auch wenn das Modell deliberativer Öffentlichkeit sich empirisch nicht entsprechend seiner Modellannahmen auffinden lässt, so beansprucht es doch Gültigkeit als regulative Idee öffentlicher Kommunikation und als idealtypische Konstruktion, an der empirische Beobachtungen abgeglichen werden können. Eine analytische Konkretisierung von Öffentlichkeit ist ihre Verortung in einem Prozess-Modell politischer Handlungsvollzüge, in dem die verschiedenen Akteursgruppen entlang einer Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie des politischen Systems sortiert werden. 100 • Das Zentrum des politischen Systems besteht dem zufolge im Kernbereich aus den formalen Institutionen der Staatsgewalt und in einem weiteren Sinne aus den Institutionen mit Selbstverwaltungsrechten oder staatlich delegierten Kontroll- und Hoheitsfunktionen. Die das Zentrum umgebende Peripherie des politischen Systems differenziert sich in eine Input- und eine Output-Peripherie: • Die Output-Seite der Peripherie konstituiert sich aus jenen (vorwiegend klassisch korporatistischen) Spitzenverbänden, mit denen sich das Zentrum bei der Durchsetzung seiner politischen Vorhaben auseinandersetzen muss und die bisweilen genügend soziale und kom99 100
Rager/Rinsdorf 2002a, S. 48 Vgl. zum Folgenden: Habermas 1992, S. 430ff.; siehe auch Peters 1993, S. 322ff.
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VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
munikative Macht auf sich vereinen, um die Durchsetzung eines politischen Programms zu beeinflussen oder auch zu verhindern. • Die Input-Seite der Peripherie hingegen besteht aus den zivilgesellschaftlichen Akteursgruppen, die (nur) versuchen können, Interessen und Themen zu definieren und in den politischen Kreislauf einzuspeisen. Dazu sind ressourcenschwache partikulare Interessenvertretungen ebenso zu zählen wie Gruppen, die Kollektivgüter-Interessen vertreten.101 Diese Input-Seite der Peripherie, die ihren Einfluss vorwiegend durch die Entfaltung kommunikativer Macht geltend machen kann, trägt durch Thematisierungs- und Meinungsbildungsleistungen zur Konstituierung lebensweltlicher Öffentlichkeit bei.102 Daraus ergibt sich „[…] das Bild eines Prozeßmodells öffentlicher Regulierung, in dem die Mechanismen und Wirkungsweisen einer deliberativen Demokratie von den Voraussetzungen zehren, daß zum einen sich der politischadministrative Komplex, aus legitimations- sowie rationalitätsbedingten Notwendigkeiten, als hinreichend durchlässig für externe, lebensweltliche Anstöße erweist und zum zweiten, dass sich eine ‚Öffentlichkeit‘ kraft zivilgesellschaftlicher Strukturen zu konstituieren vermag, die nicht vom politischen System zu Legitimationszwecken ausgehalten werden kann […].“103
Öffentlichkeit bleibt durch die permanenten Input-Bemühungen zivilgesellschaftlicher Akteure zwar prinzipiell rückgebunden an lebensweltliche Zusammenhänge, aber in der Regel verlaufen die kommunikativen Kreisläufe innerhalb dieses Machtmodells vom Zentrum zur Peripherie. In den meisten Fällen wird Öffentlichkeit als kommunikativer Raum daher von Seiten des administrativen Kerns des politischen Systems, also von Regierung, Parlament oder Parteien, in Anspruch genommen und durch den Einfluss administrativer und sozialer Macht geprägt. Die Rückbindung der Öffentlichkeit zur Lebenswelt zeigt sich darin, dass sie in ihrer Verfasstheit ausreichend sensibel verbleibt, um in bestimmten Krisensituationen diesen Kreislauf zugunsten ihrer originäreren zivilgesellschaftlichen Akteure an der Peripherie zu durchbrechen. Die Ambivalenz der Massenkommunikation zeigt sich auch deutlich in den unterschiedlichen Funktionsweisen der durch sie konstituierten Öffentlichkeiten in Routine- respektive in Krisensituationen: Während die journalistisch vermittelnden Massenmedien normalerweise den Thematisierungsimpulsen des administrativen Zentrums folgen, öffnen sie sich in Krisensituationen für die in ihrer Informationspolitik schwächeren zivilgesellschaftlichen Akteure.104 Greifen ansonsten Selektionsmechanismen, die es den organisierten und vor allem den formalisierten Akteuren einfacher machen, die Medienagenda zu beeinflussen, so werden die entsprechenden Hürden für aus der Zivilgesellschaft heraus handelnde Sprecher in Krisenzeiten niedriger als in Routine-Situationen. Die Massenmedien reagieren so auf die höhere Sensibilität der Peripherie gegenüber den Problemen der Lebenswelt Gesellschaftliche Kommunikation in räumlich ausgedehnten und sozial differenzierten Gesellschaften ist einem solchen Modell zufolge auf Journalismus als soziale und Massenmedien als systemische Vermittlungsinstanz angewiesen.105 Die durch sie gestützten ‚institutionalisierten Diskurse’ sollen relevante Themen und Ansprüche öffentlich vermitteln und die kritische Bewertung öffentlicher Äußerungen in Form von rationalen Ja- oder Nein-Stellungnahmen der rezipirenden Bürgerinnen und Bürger befördern.106 Massenkommunikation fungiert „als 101 102 103 104 105 106
Vgl. Gerhards 1997, S. 3 Vgl. Habermas 1992, S. 431 Heming 1997, S. 182f. Vgl. Habermas 1992, S. 459ff. Vgl. Lesch 1996, S. 104 Vgl. Habermas 2006, S. 5
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dezentrale Organisation, die der Artikulation von Positionen in Abhängigkeit von Ressourcen ein allgemein zugängliches Forum bietet“107; insbesondere einem mediengestützten, kommunikativen und diskursiven Journalismus kommt in ihrem Rahmen die Rolle eines institutionalisierten Transmissionsriemens zwischen Öffentlichkeit und politischen Institutionen, zwischen informellen lebensweltlichen Gesprächen und formal organisierten Kommunikationsprozessen zu.108 Journalismus, als zentrale Institution der Herstellung von Öffentlichkeit, wird in modernen Gesellschaften empirisch mehrheitlich von Systemseite aus eingespannt. Aus der Perspektive eines vermittelnden Verlautbarungsjournalismus ergibt sich daraus zunächst kein Problem, erscheint doch lediglich ein bestimmtes gesellschaftliches Segment aktiver als andere. Habermas konfrontiert Journalismus allerdings mit normativen Postulaten, die aus dem deliberativen Charakter von Öffentlichkeit erwachsen. Er weist Journalisten eine Rolle zu, die in Teilen über die eines Mediators hinausgeht: Sie sollen als Kommentatoren öffentlicher Vorgänge selbst in die Rolle von Kommunikatoren, von Sprechern in öffentlichen Arenen, schlüpfen.109 Auch die regulative Idee journalistischer Tätigkeit, die Habermas aus Berufskodizes deduziert, geht von einem erweiterten Journalismusverständnis aus, das sich deutlich auf die früheren Annahmen zur publizistischen Tätigkeit in ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ bezieht – wenn auch in einem modifizierten, den Bedingungen moderner Medienkommunikation angepassten Sinn. Ein sich auch der eigenständigen Kommunikativität und Recherche verpflichtet fühlender Journalismus hat außerdem darauf zu achten, dass auch lebensweltliche Peripherieinteressen gesellschaftlich ausreichend Gehör finden. Er fungiert als Anwalt gesellschaftlicher Diskurse und mithin als ein Korrektiv in Fällen ungleicher Verteilung kommunikativer Artikulationschancen in der Öffentlichkeit.110 Einem diskursiven Journalismus kommt es weniger darauf an, die Vertreter unterschiedlicher Positionen in der Öffentlichkeit proportional zu repräsentieren, sondern darauf, den „Austausch von Argumenten mit dem Ziel rationaler Problemlösung“ auch durch journalistisches Handeln zu befördern.111 Das bedeutet, dass alle relevanten Positionen gleichermaßen zu beachten sind – nicht in erster Linie gemäß der Häufigkeit oder Lautstärke ihrer Artikulation, sondern vor allem auch hinsichtlich der Qualität ihrer Begründungen. Weil letztlich der Zwang zur Begründung auch von den mächtigsten Akteuren nicht vollständig außer Kraft gesetzt werden kann, ist eine vollständige Kolonialisierung von Öffentlichkeit nicht möglich – und kann durch einen kommunikativ kompetenten Journalismus zusätzlich erschwert werden: Schließlich können die Eliten die Ressourcen der Öffentlichkeit allenfalls „[…] zu monopolisieren suchen, ohne die Logik des Feldes kontrollieren zu können“.112 Habermas fordert – mit Blick auf die Massenmedien, aber im Rahmen der Terminologie der vorliegenden Studie müssten diese Forderungen eher an den Journalismus gestellt werden, da sie als Funktion eines systemischen Rahmens kaum umsetzbar scheinen – Anwälte eines aufgeklärten Publikums, die in der Selektion unparteilich vorgehen und in der Bearbeitung ihrer Themen die Geltungs- und Legitimationsansprüche des von ihnen zur Vermittlung Aufgegriffenen kritisieren.113 Damit bindet er journalistische Leistungen zurück an eine advo107 108 109 110 111 112 113
Franz 2000, S. 16 Vgl. Habermas 2006, S. 10 Vgl. zu der Doppelrolle von Journalisten in öffentlichen Diskurszusammenhängen ausführlich Brosda 2000a. Da Sichtbarkeit in öffentlichen Diskursen zwar auch eine Frage des Ressourceneinsatzes, aber keineswegs ausschließlich mit Macht und Geld allein zu erklären ist (vgl. Peters 2001, S. 673f.), würde eine vollständige Nivellierung der Unterschiede dem Gedanken einer deliberativen Öffentlichkeit widersprechen. Peters 2001, S. 674f.; vgl. zur Bedeutung von Argumenten in politischen Prozessen auch die Beiträge in van den Daele/Neidhardt 1996a; insbesondere dies. 1996b. Eder 1996, S. 150 Habermas 1992, S. 457
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VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
katorische Diskursbeziehung zwischen Journalisten, öffentlichen Sprechern und Publikum, in dem Journalisten stellvertretend für und in Verantwortung vor einem breiten Publikum kommunikativ agieren. In diesen starken normativen Anforderungen bündelt Habermas das emanzipatorische Potenzial, das er öffentlicher Kommunikation letztlich zuschreibt. Die Einordnung von Öffentlichkeit und Journalismus in ein Kreislauf-Modell der öffentlichen politischen Debatte mitsamt seiner Anerkennung systemischer Einflüsse zielt auf ein theoretisches Konzept, das weder den vermeintlichen Realismen liberaler Modelle noch der überanstrengten Normativität vollständig auf Emanzipation und Partizipation abstellender Modelle verwandt ist, sondern einen moderaten Mittelweg beschreiben soll, in dem kommunikative Verständigung zwar konstitutiv ist, andererseits aber angesichts gesellschaftlicher Komplexität nicht als einzige Ressource der Legitimation herangezogen wird.114 Öffentlichkeit stellt somit eine „Spannung zwischen der Rationalität verselbständigter sozialer Sphären wie der Wirtschaft, der bürokratischen Verwaltung und auch des privaten Alltags einerseits und der Macht öffentlicher Kommunikation andererseits“ her und belässt letzterer damit prinzipiell die Möglichkeit, öffentlich erhobene Geltungsansprüche zu betrachten, zu analysieren und zu beurteilen.115 Journalistische Massenmedien sind in diesem Modell eher näher am Zentrum des politischen (oder auch des ökonomischen) Systems zu verorten, während journalistisches Handeln enger an die Peripherie gerückt zu sehen ist. Es speist sich aus dem zivilgesellschaftlich bewirtschafteten Argumentationshaushalt und hat seine Wurzeln in der machtantagonistischen Position kommunikativ begründeter Gesellschaftlichkeit am Rande eines systemischen politischen Prozesses. Dadurch ist journalistisches Handeln idealtypisch sensibel für Belange zivilgesellschaftlicher Akteure, so lange es nicht so weitgehend von massenmedialen Imperativen überformt ist, dass es zur technizistisch verstandenen Funktionalität des ‚gatekeepers‘ zwischen Zentrum und Peripherie, zum Kommunikationsdienstleister eines ressourcenstarken politischen Systemkerns herabgewertet wird. Unabhängiges journalistisches Handeln kann die Rückkoppelung politischer Prozesse an Öffentlichkeit und damit an Lebenswelt gewährleisten, indem es kommunikative Macht entfaltet. Diese ist für Habermas im Anschluss an Arendt die „autorisierende Kraft, die sich in der Schaffung legitimen Rechts und in der Gründung von Institutionen äußert“.116 Administrative Macht kann die auf diesem Wege entstandenen Potenziale nur nutzen, nicht aber legitimieren oder gar selbst schaffen. Umgekehrt sind auch die Spielräume kommunikativer Macht begrenzt. Kommunikativ erzeugte Macht kann lediglich im Sinne einer Begrenzung der Macht des administrativen Systems wirksam werden. Sie kann den Einfluss des Zentrums limitieren und mittelbar Einfluss auf seine Entscheidungsroutinen nehmen, ohne dadurch allerdings den systemischen Modus des Machtgebrauchs zu ersetzen und so möglicherweise die funktionale gesellschaftliche Arbeitsteilung zu gefährden. „Kommunikative Macht wird ausgeübt im Modus der Belagerung. Sie wirkt auf die Prämissen der Entscheidungsprozesse des Verwaltungssystems ohne Eroberungsabsicht ein, um in der einzigen Sprache, die die belagerte Festung versteht, ihre Imperative einzubringen: sie bewirtschaftet den Pool von Gründen, mit denen die administrative Macht instrumentell umgehen kann, ohne sie aber, rechtsförmig verfaßt wie sie ist, ignorieren zu dürfen.“117
114 115 116 117
Vgl. Gerhards 1997, S. 5 Eder 1996, S. 152 Habermas 1992, S. 184 Habermas 1989, S. 475
2 Journalismus in der diskursiven Öffentlichkeit
329
Somit kann auch Journalismus jenseits der reflexiven Vermittlung des gesellschaftlichen Gesprächs in besonderen Situationen zu einem Instrument der lebensweltlichen Belagerung des politisch-administrativen Systems werden, um auf diese Weise soziale und solidarische Aspekte von Gesellschaftlichkeit zu vertreten.118
2.2
Journalismus als institutionelle Vorkehrung diskursiver Öffentlichkeit
Die Begrenzung der Einflussmöglichkeiten kommunikativ erzeugter Macht, d.h. der Macht spontaner nicht-institutionalisierter und nicht-vermachteter Öffentlichkeit, auf eine weitgehend passive Rolle, die nur in Ausnahmesituationen aktiviert wird, ist einer der Hauptgegenstände der republikanisch motivierten Kritik an diesem Öffentlichkeitsmodell. Es gebe vorschnell eine partizipatorische Interpretation preis, indem es der nicht-vermachteten Öffentlichkeit zwar einen konstitutiven Anteil an der gesellschaftlichen Meinungsbildung zuschreibe, ihr aber gleichzeitig jede ‚wirkliche‘ Beteiligung an gesellschaftlich verbindlicher Entscheidungsfindung konzeptionell versage.119 Kritisiert wird die Vorstellung, dass die politisch sich vollziehende Willensbildung zur Gänze innerhalb des institutionellen Kerns des politischen Systems, vor allem in den parlamentarischen Körperschaften, stattfinde, während die Peripherie-Akteure und die durch sie konstituierten nicht-vermachteten Öffentlichkeitsstrukturen lediglich an einer zwar notwendigen, aber nicht hinreichenden Meinungsbildung partizipierten.120 Habermas rechtfertigt den Unterschied zwischen diesen beiden Gleisen deliberativer Politik ausdrücklich121 und identifiziert das manifeste politische Handeln der Policy-Umsetzung in politische Verfahrensrichtlinien und Gesetze mit den Handlungen des politischen Systems, während zivilgesellschaftliche Öffentlichkeitsakteure an den der Entscheidung vor- und nachgelagerten Diskursen und Aushandlungsprozessen partizipieren. Journalismustheoretisch entspricht dies der Selbstverständlichkeit, dass Journalismus als öffentliche Instanz keine eigenständige politische Kapazität hat, sondern vielmehr das Vorfeld politischer Entscheidungen bestellt und als kommunikativer Transmissionsriemen zwischen Politik und Gesellschaft fungiert. Und auch demokratietheoretisch ist eine solche Sichtweise der ‚realistischen‘ Wendung des deliberativen Politikverständnisses angemessen, der zufolge nur das politische System ‚handeln‘ könne: „Es ist ein auf kollektiv bindende Entscheidungen spezialisiertes Teilsystem, während die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit ein weitgespanntes Netz von Sensoren bilden, die auf den Druck gesamtgesellschaftlicher Problemlagen reagieren und einflußreiche Meinungen stimulieren. Die nach demokratischen Verfahren zu kommunikativer Macht verarbeitete öffentliche Meinung kann nicht selber ‚herrschen‘, sondern nur den Gebrauch der administrativen Macht in bestimmte Kanäle lenken.“122
Allerdings bleibt in der Konzeption von Habermas die Frage offen, auf welcher Ebene es der informellen öffentlichen Meinung gelingen soll, den Gebrauch der administrativen Macht tatsächlich entscheidend zu lenken und so über kommunikatives Handeln Einfluss und Macht zu entfalten. Zwar wird die zentrale Bedeutung der Kommunikationsflüsse zwischen Öffent118 119 120 121 122
Dass ein Ausnutzen dieser Belagerungsoption dabei aus politischen wie ökonomischen Motiven strategisch möglich ist, steht dabei außer Frage. So zum Beispiel: Scheyli 2000; Heming 1997; Schmalz-Bruns 1995; Nullmeier 1995. Vgl. Scheyli 2000, S. 85; Thumfart/Waschkuhn 1995, S. 205f. Vgl. dazu ausführlich Scheyli 2000. Habermas 1996, S. 290
330
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
lichkeit und politischem Kernbereich betont123, aber zugleich werden kaum institutionelle Mechanismen benannt, durch die sich der demokratiekonstitutive Austausch auch im Routinemodus vollziehen und dadurch Stabilität und Partizipation sichern kann.124 Die an anderer Stelle in Bezug auf Diskurse erwähnte Figur der institutionellen Vorkehrung zieht Habermas dazu offensichtlich nicht in Betracht. Zwar verweist er darauf, dass sich dialogische und instrumentelle Politik in Deliberation verschränken können, wenn die entsprechenden Verfahren institutionalisiert worden sind125, aber er beschreibt lediglich die Vorgänge des Durchdringens zivilgesellschaftlicher Thematisierungsbemühungen in den Kernbereich des politischen Systems für den seltenen Fall des außerordentlichen Politikverarbeitungsmodus in krisenhaften Situationen. Der Routinemodus scheint weitgehend ohne den konkreten Input der Öffentlichkeit auszukommen. In dem Konzept bleiben die alltäglichen Leistungen des Journalismus und der Medien in der Öffentlichkeit weitgehend eine Leerstelle, weil zunächst lediglich dem Recht der „Status einer systemisch-lebensweltlichen Transferstelle“126 zugewiesen wird. Diese Entscheidung kann als „juridische Politikverkürzung“ kritisiert werden, weil sie nicht diejenigen Themen und Meinungen zu erfassen vermag, die in den subpolitischen Bereichen zivilgesellschaftlicher Arenen verbleiben, und daher ohne Chance sind, an das politische System herangetragen zu werden.127 Vor allem die Entscheidung, das Recht als den Kanal und Mechanismus auszuzeichnen, der die diskursive Meinungsbildung mit der institutionalisierten Willensbildung koppelt, resultiert in einem defensiven Verständnis von Öffentlichkeit, das tendenziell im Widerspruch zu dem Anspruch steht, Öffentlichkeit als Zentralkategorie einer deliberativen Demokratie zu begreifen.128 In der zweigleisigen Öffentlichkeitskonzeption von Habermas tragen die zivilgesellschaftlichen Akteure aufgrund des konzeptuellen Fehlens von stabilen Institutionen, die die Ergebnisse ihrer spontanen Verständigungsprozesse an die politischen Entscheidungsinstanzen vermitteln, eine schwer zu bürdende Last. Es fehlt ausgerechnet an diesem neuralgischen Punkt eines als prozeduralistisch konzipierten Öffentlichkeits- und Demokratiemodells bereits in der theoretischen Konzeption die Benennung derjenigen Prozeduren, die das für das Gesamtmodell zentrale Austauschverhältnis zwischen informellen Meinungs- und institutionalisierten Willensbildungsprozessen gewährleisten können.129 Um diese zu entwickeln, müsste man die von Schmalz-Bruns kritisierte Modellierung „einer intransigenten politisch-administrativen Entscheidungspraxis“130, die aus der System-Lebenswelt-Dichotomie heraus folgt, weiter abschwächen und der Lebenswelt entgegenkommende aktivierbare Demokratisierungspotenziale auch auf Seiten des institutionalisierten Teils des politischen Systems suchen. Gleiches gilt analog für andere Lebenswelt-System-Austauschprozesse. Einen diesbezüglich viel versprechenden Vorschlag machen Cohen und Arato in ihrer Zivilgesellschafts-Theorie:131 Sie bekräftigen die zivilgesellschaftliche Aufgabe, abgestufte Verbindungen zu den ausdifferenzierten Systemen zu unterhalten und durch diese Vermittlung den Einfluss der Lebenswelt auf die zweckrationalen Gesellschaftsbereiche aufrecht zu erhal123 124 125 126 127 128 129 130 131
Vgl. Habermas 1992, S. 362f. Vgl. zu dieser Kritik Scheyli 2000, S. 92; auch Schmalz-Bruns 1995, S. 52f. sowie Beiträge in Göhler 1995a. Vgl. Habermas 1996, S. 285 Heming 1997, S. 176 Meyer 1994, S. 243 Vgl. zu dieser Kritik Schmalz-Bruns 1995, S. 57. Vgl. zu dieser Kritik Scheyli 2000, S. 109. Schmalz-Bruns 1995, S. 52f. Vgl. Cohen/Arato 1994
2 Journalismus in der diskursiven Öffentlichkeit
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ten, ohne damit einer dysfunktionalen Entdifferenzierung Vorschub zu leisten. Sie sehen den Einfluss der zivilgesellschaftlichen Akteure daher weniger direkt auf die Systeme, als vielmehr auf eine jeweilige so genannte ‚politische‘ und eine ‚ökonomische Gesellschaft‘, die als kommunikationsoffene Vorhöfe das entsprechende System umgeben. Es ist nicht zu erwarten – und aus dem Blickwinkel der funktionalen Modernisierung der Gesellschaft auch gar nicht wünschenswert –, dass einmal vollzogene Differenzierungsprozesse rückgängig zu machen sind. Allerdings verweist die von Cohen und Arato angenommene Existenz politischer und ökonomischer Gesellschaften, die in Teilbereichen mancher Institutionen des intermediären Sektors zu finden sind, auf eine Möglichkeit für lebensweltliche Akteure, in bestimmten Situationen ihre eigenen Anliegen an die ausdifferenzierten Systeme herantragen zu können. Der Öffentlichkeit kommt auch hier die Aufgabe zu, zwischen Zivilgesellschaft und den jeweiligen ‚Gesellschaften‘ zu vermitteln.132 Dazu ist es notwendig, in den systemischen Umwelten Strukturen und Institutionen zu schaffen, die sensibel sind für die Probleme der Zivilgesellschaft.133 Das Modell von politischer und ökonomischer Gesellschaft eröffnet so die Möglichkeit, den Einfluss kommunikativer Macht über den Modus der Belagerung hinaus auch in Formen konstruktiverer und stabilerer Austauschbeziehungen zwischen Zivilgesellschaft und systemischen Gesellschaftsvorhöfen zu denken und zu konzipieren. Solche, die Systeme umgebenden, kommunikativen Resonanzböden wären insbesondere durch aktive Zivilgesellschaftsakteure sowie durch einen diskursiven Journalismus aktivierbar. Journalismus selbst wird im Rahmen dieser Vorstellung als eine institutionelle Vorkehrung gesellschaftlicher Diskurse beschreibbar. Seine Vermittlungsleistungen zwischen Zivilgesellschaft auf der einen und politischen oder ökonomischen Gesellschaften auf der anderen Seite können als eine konstitutive Grundlage dafür verstanden werden, dass zwischen diesen unterschiedlichen Bereichen kommunikativer Austausch und Diskurs überhaupt möglich werden. Die Erweiterung um kommunikationsoffene politische und ökonomische Instanzen würde in diesem Zusammenhang auch den Einwand abschwächen, dass es angesichts der systemischen Austrocknung lebensweltlicher Strukturen nur schwer einzusehen ist, dass spontane Assoziierung in der Zivilgesellschaft per se mit rationalen Entscheidungen konvergiert.134 Auch wenn die ‚Bewirtschaftung des Pools an guten Gründen‘ für politische Entscheidungen bisweilen die einzige Möglichkeit zivilgesellschaftlicher Akteure ist, um kommunikative Macht zu entfalten, so kann doch nicht davon ausgegangen werden, dass es diskurstheoretisch geboten ist, andere Öffentlichkeitsakteure von der gestaltenden Einflussnahme aus diesen Zusammenhang ausschließen zu können. Geht man von prinzipiell kommunikationsoffenen Systemzusammenhängen aus, dann verbietet sich eine derart apodiktische Aussage gleichsam von selbst. Es kann nur darum gehen, die diskursive Auseinandersetzung mit den lebensweltlichen Begründungszusammenhängen ihrer strategischen Indienstnahme vorzuziehen. Jede andere, nicht immanente Beschränkung würde gegen das Offenheitspostulat der Öffentlichkeit verstoßen. Empirische Analysen scheinen allerdings zu belegen, dass bei zivilgesellschaftlichen Akteuren keineswegs a priori von einer höheren Rationalität ihrer kommunikativen Einlassungen in 132 133
134
Vgl. ebd., S. 412 Vgl. ebd., S. 526: „While the democratization of civil society and the defense of its autonomy from economic or administrative ‘colonization’ can be seen as the goal of the new movements, the creation of ‘sensors’ within political and economic institutions (institutional reform) and the democratization of political society (the politics of influence and inclusion) which would open these institutions to the new identities and egalitarian norms articulated on the terrain of civil society, are the means of securing this goal.“ Cohen und Arato erweitern damit das zweistufige Gesellschaftsmodell um eine durchlässige Interpenetrationszone. So die Kritik von Bermbach 1995, S. 34.
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VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
öffentlichen Diskursen ausgegangen werden kann.135 Dies ist nicht zuletzt auch dem Umstand geschuldet, dass Zivilgesellschaftsakteure die öffentliche Aufmerksamkeitsschwelle mit dramatisierenden Überformungen des Sachverhalts erst strategisch überspringen müssen, weil ihnen nur wenig Sensibilität von Seiten der Politik und des medial eingespannten Journalismus entgegengebracht wird. Sie sind vermutlich oftmals gar nicht in der Lage, sich auf ihre Kommunikativität zu beziehen, da sie sich zunächst auf die Spielregeln der darstellungsorientierten Öffentlichkeit einlassen müssen, wenn sie Gehör finden wollen. Empirische Befunde, die für solche Situationen ein geringes Diskursniveau aufzeigen, können insofern auch als ein Beleg dafür gelesen werden, dass Journalismus in seiner derzeitigen Form nur noch geringe Sensibilität für die Belange der Peripherie besitzt und seine ihm eigene Kommunikativität aufgrund der Imperative eines ‚news‘-orientierten Mediensystems kaum zur Geltung kommen kann. Peripherieakteure werden entsprechend zu vorauseilendem Gehorsam genötigt, wenn sie dennoch öffentlich wahrgenommen – und das heißt medial-journalistisch ‚behandelt‘ – werden wollen. Daraus kann das normative Postulat gefolgert werden, dass Journalisten ihre alltagssprachliche Rationalität auch im beruflichen Handeln wach halten müssen. Und für den ‚Routine-Modus‘ gilt: Die Leistung der Meinungsbildung nicht-vermachteter Öffentlichkeitsstrukturen besteht in der „diskursiven Schaffung eines (alltags-)argumentativen Raumes akzeptierbarer moralischer Deutungen, […] auf die politisches Handeln rekurriert, um sich zu legitimieren“.136 Das flexiblere und differenziertere Modell deliberativer Öffentlichkeit markiert eine entscheidende und fällige Revision im Vergleich zu früheren Ausführungen, die noch von einer einseitigen Vermachtung (Kolonialisierung) des öffentlichen Raumes durch Akteure mit großer administrativer oder sozialer Macht ausgingen. Dadurch dass Öffentlichkeit ein ambivalentes Potenzial attestiert wird, ist die Möglichkeit eines aufklärerischen und diskursiven Wirkens darstellbar. Öffentlichkeit wird nicht nur deskriptiv als ein kommunikativer Raum oder eine Sphäre quer zur gesellschaftlichen Differenzierung konzipiert, sondern ihr werden gleichermaßen auch emanzipatorische Aufgaben zugeschrieben. Anknüpfend daran wäre es allerdings nur konsequent, wenn die beiden Konzepte vermachteter und nicht-vermachteter Öffentlichkeit nicht nur lose miteinander verbunden wären, sondern bereits in der Modellierung verschiedenste Mischungs- und Durchdringungsverhältnisse der beiden Modi berücksichtigen würden. Es ist daher lohnenswert, nach schwächeren, aber kommunikativ fundierten institutionellen Vorkehrungen für die Austauschprozesse zwischen dem politischen Systemkernbereich und den peripheren Öffentlichkeitsakteuren aus zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen zu suchen, die nicht den Charakter von Öffentlichkeit als kommunikativen und diskursiven Entdeckungszusammenhang gefährden.137 Hier kommt ein kommunikativ verstandener Journalismus ins Spiel, der in lebensweltlicher Rationalität verankert und sensibel für die Probleme zivilgesellschaftlicher Peripherie geblieben ist. Er kann als die Institutionalisierungschance kommunikativer Vernunft in einem politischen Prozess verstandenen werden, der ansonsten weitgehend durch Macht- und Profitkategorien überformt worden ist. Ein zwischen verschiedenen Ausgangspartnern im Sinne Groths vermittelnder Journalismus, der sich nicht 135
136 137
Vgl. Gerhards/Neidhardt/Rucht 1998, S. 186f. Allerdings betrifft diese Beobachtung das Diskursverhalten in einer hoch emotionalisierten Debatte über den Abtreibungsparagraphen § 218. Die Autoren gelangen zu dem Fazit, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure bezüglich des Diskursniveaus ihrer Äußerungen „relativ schlecht“ abschneiden. Sie treten in der Öffentlichkeit dadurch hervor, dass sie vernachlässigte Themen oder Meinungen durch einseitige Überspitzungen auf die Agenda des politischen Prozesses zu setzen versuchen. Franz 2000, S. 43 Ein Beispiel wäre die von Nullmeier (1995, S. 92) vorgeschlagene Implementierung einer „diskursiven Ordnungspolitik“ für die Öffentlichkeit.
3 Journalismus in der medial geprägten Öffentlichkeit
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nur als Relaisstation des politischen Diskurses, sondern mindestens als Katalysator begreift, besitzt das Potenzial, lebensweltlichen Stimmen eine angemessen belastbare Chance auf Gehör in der öffentlichen Deliberation zu geben. Allerdings ist ebenso offensichtlich, dass die Gewährleistung der Möglichkeit eines solchen Journalismus entsprechender Systembedingungen ausdifferenzierter in der Regel ökonomisch determinierter Massenmedien bedarf. Ein angemessen diskursives öffentliches Zeitgespräch ist ohne einen entsprechend ausgestatteten Journalismus nicht denkbar. Der Fokus liegt damit auf der prozeduralen Ausgestaltung öffentlicher Kommunikationswege durch die direkte institutionelle Stärkung und Gestaltung der vermittelnden Instanz. Beschreibbar wäre eine solche gesellschaftliche Instanz ‚Journalismus‘ aus der Makroperspektive zum Beispiel auch als ein soziales Feld, mithin als eine distinkte Sinnprovinz, die von spezifischen, distinkten Charakteristika geprägt ist, zugleich aber nicht eine Geschlossenheit besitzt, wie sie von der Systemtheorie unterstellt wird.138 Denn meist, so Raabe zu Recht, „[…] erweisen sich die Grenzen des journalistischen Feldes als weniger eindeutig, als es die Journalismustheorie oft glauben machen will“.139 Eine weitergehende, direkte Institutionalisierung von Diskurspartnern hingegen ist als problematisch anzusehen: Jede Auflösung der atomistischen Struktur lebensweltlicher Öffentlichkeit in dauerhafte ‚Diskurs-Parteien‘ oder ‚Diskurs-Organisationen‘ würde trotz aller stabilisierenden Auswirkungen auch eine Oligopolisierung nach sich ziehen, die den Kern einer prozeduralisierten Volkssouveränität unweigerlich zerstören würde.140 Der Bereich lebensweltlich öffentlicher Meinungsbildung entzieht sich weitgehend jeder Planung und Institutionalisierung und beruht lediglich auf den vagen Prämissen einer entgegenkommenden politischen (oder allgemeiner kommunikativen) Kultur, deren Vorhandensein institutionell nicht zu gewährleisten ist.141 Andererseits kann es auch nicht darum gehen, dem Kernbereich des politischen Systems seine unzweifelhafte Funktion der „Synthese der Meinungsbildung“142 theoretisch abzusprechen. Aufgrund ihrer Machtorientierung und der daraus resultierenden Zweckrationalität ist Politik wohl auch nicht in der Lage, in jedem Fall und auf sich selbst gestellt eine eigene kommunikativ begründete inhaltliche Legitimation ihrer Handlungen beizubringen.143 Eine Berücksichtigung der institutionellen Absicherung kommunikativer Austauschprozesse könnte dagegen – ohne die Fragilität lebensweltlicher Zusammenhänge und die institutionelle Ausdifferenzierung des politischen Systems zu gefährden – den normativ geforderten Einfluss der außerinstitutionell erzeugten Einigungen auf die politische Willensbildung erhöhen und stabilisieren und auf diese Weise zu einer weitergehenden Demokratisierung des politischen Kommunikationsprozesses als Ganzes beitragen.
3
Journalismus in der medial geprägten Öffentlichkeit
Es spricht einiges dafür, dass die journalistisch vermittelte Öffentlichkeit am ehesten in der Lage ist, das geforderte transmissive Bindeglied zwischen Lebenswelt und politischem System zu bilden. Die Erwartungen, die in diesem Rahmen an journalistische Medien herangetragen 138 139 140 141 142 143
Vgl. Raabe 2005, S. 188ff. Ebd., S. 197 So die Kritik Nullmeiers (1995, S. 97f.) an entsprechenden Forderungen nach festeren Diskursstrukturen. Vgl. Habermas 1996, S. 292 Franz 2000, S. 14 Vgl. ebd., S. 35
334
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
werden, sind daher eindeutig: Journalistische Massenmedien sollen eine Infrastruktur bereitstellen, die in differenzierten Gesellschaften das öffentliche Gespräch über gemeinsame Angelegenheiten ermöglicht.144
3.1
Das öffentliche Potenzial der Massenmedien
Massenmedien bilden den weitest möglichen Öffentlichkeitszusammenhang, der in ausdifferenzierten Gesellschaften denkbar ist. Diese Erhöhung der Reichweite ist nur um den Preis einer erheblichen Abstraktion denkbar, die mit einer Ausdifferenzierung verschiedener Rollen von Öffentlichkeits-Akteuren einhergeht. Die wechselseitige Eingebundenheit, die Habermas für die episodische Öffentlichkeit beschreibt und die in ihrer umgangssprachlichen Verankerung ein wesentliches Kriterium für die prinzipielle Zugangsoffenheit von Öffentlichkeit ist, wird abgelöst durch eine Unterscheidung zwischen Arenen-Akteuren und Galerie-Publikum und einer Differenzierung der Akteure in spezifische Funktionsträger, lebensweltliche Gruppierungen und spezialisierte Vermittler.145 Die in Massenmedien unter anderem verbreiteten journalistischen Vermittlungsleistungen besitzen das Potenzial, heutzutage einen kontinuierlichen Austausch zwischen den Meinungsbildungsprozessen der Akteure nicht-vermachteter Zivilgesellschaft und den Willensbildungsund Entscheidungsprozessen vermachteter politischer Institutionen herbeizuführen. Zugleich aber, scheinen sie nur in seltenen Fällen in der Lage zu sein, im Sinne einer deliberativen Demokratie tatsächlich eine Sphäre zu schaffen, die den weitreichenden normativen Vorgaben an verständigungsorientierte und rationale Kommunikation über Absichten, Ziele und Handlungsprogramme in Politik und Gesellschaft genügen kann.146 Habermas fasst diese Entwicklungen unter der Beobachtung der Vermachtung öffentlicher Kommunikation durch Massenmedien als eine Facette des zwiespältigen Potenzials ihrer Vermittlungstätigkeiten zusammen. Er sieht das ambivalente Potenzial der Massenkommunikation somit als Pendant zur makrosozialen Unterscheidung von Lebenswelt und System.147 Die emanzipatorischen Aspekte, die trotz der Dominanz ökonomischen Kalküls in den Massenmedien selbst nach wie vor feststellbar sind, lassen sich an unterschiedlichen Entwicklungen vor allem des medialen Umfeldes festmachen. Dazu zählt Habermas schon 1981, • •
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„[…] daß die Sendeanstalten konkurrierenden Interessen ausgesetzt sind und ökonomische, politischideologische, professionelle und medienästhetische Gesichtspunkte keineswegs bruchlos integrieren können; daß sich Massenmedien den Verpflichtungen, die ihnen aus ihrem journalistischen Auftrag erwachsen, normalerweise nicht konfliktfrei entziehen können;
Vgl. Hügli 1992, S. 70. Je enger die gesellschaftliche Meinungs- und Willensbildung mit dem Postulat der Rationalität gesellschaftlicher Verständigungs- und Entscheidungsprozesse verknüpft wird, desto anspruchsvoller müssen die Rationalitätsannahmen werden, die sich auf diese Meinungs- und Willensbildung beziehen (vgl. Schmalz-Bruns 1995, S. 50). Habermas (1992, S. 453 ff.) unterscheidet zwischen Akteuren aus spezifischen Funktionsbereichen, Akteuren aus der Zivilgesellschaft und Publizisten. Peters (1994, S. 57 ff.) differenziert weiter zwischen Repräsentanten von Kollektivakteuren, Experten mit eigener Sachautorität, Advokaten nicht artikulationsfähiger Anspruchsgruppen oder Sachprobleme, öffentlichen Intellektuellen und Journalisten, die auch als Kommentatoren in eine Sprecherrolle wechseln können (vgl. auch Neidhardt 1994b, S. 14; Gerhards/Neidhardt/Rucht 1998, S. 39). Vgl. Meyer/Schicha/Brosda 2001; Franz 2000; Kuhlmann 1999; Gerhards/Neidhardt/Rucht 1998 Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 571
3 Journalismus in der medial geprägten Öffentlichkeit • • • •
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daß die Sendungen keineswegs nur oder auch nur überwiegend den Standards der Massenkultur entsprechen, und selbst dann, wenn sie die trivialen Formen populärer Unterhaltung annehmen, sehr wohl kritische Botschaften enthalten können […]; daß ideologische Botschaften ihre Adressaten verfehlen, weil die intendierte Bedeutung unter Rezeptionsbedingungen eines bestimmten subkulturellen Hintergrundes in ihr Gegenteil verkehrt wird; daß sich der Eigensinn der kommunikativen Alltagspraxis gegen einen unvermittelten manipulativen Zugriff der Massenmedien zur Wehr setzt; und daß die technische Entwicklung der elektronischen Medien nicht notwendig in Richtung einer Zentralisierung der Netzwerke verläuft, wenn auch ‚video-pluralism‘ und ‚television democracy‘ vorerst nicht viel mehr als anarchistische Visionen sind.“148
Im Kern verweist diese heutzutage sicher ergänzungsbedürftige Liste noch einmal auf die doppelte Struktur der Medienbetriebe, auf die Kommunikativität journalistischen Handelns, auf die Eigensinnigkeit eines lebensweltlich basierten Rezeptionsverhaltens und auf die zumindest eingeschränkt mögliche Steuerung technischer Entwicklungen. Sie alle weisen zumindest auf Potenziale dafür hin, dass kommunikatives Handeln in Massenmedien und damit in Öffentlichkeit auch heutzutage noch möglich ist. Eine vollständige massenmediale Systembildung oder auch nur ein vollständiges Abwandern in den Bereich ökonomischer Steuerung ist angesichts dieser immanenten Widerstände kaum möglich. Stattdessen bleiben mindestens Restbestände kommunikativer Sozialintegration zum Beispiel in journalistischen Redaktionen erhalten, die Massenmedien wiederum in ihrer Rolle als Institutionen der Gewährleistung von Öffentlichkeit rechtfertigen. Allerdings sind starke Einschränkungen hinsichtlich der faktischen Umsetzbarkeit des emanzipatorischen Potenzials der Massenmedien zu formulieren. Die bereits in Kapitel V diskutierte Kernfrage ist, ob massenmediale ‚constraints‘ einen kommunikativ-diskursiven Journalismus noch erlauben, oder ob sie ihn funktionalistisch so weit überformt haben, dass er nicht mehr möglich ist. Besonders in Bezug auf die entdifferenzierende und gesellschaftsintegrierende Kernfunktion von Öffentlichkeit ist Skepsis geboten, inwieweit massenmediale Kommunikationszusammenhänge tatsächlich in der Lage sind, die vorhandene Segmentierung der Gesellschaft in ausdifferenzierte unabhängige Teilsysteme mit je eigenen Spezialsemantiken durch den Gebrauch der Alltagssprache zu überwinden. Habermas formuliert apodiktisch: „Die Spezialsprachen laugen die Umgangssprache – so wie die Funktionssysteme die Lebenswelt – derart aus, daß weder die eine noch die andere einen Resonanzboden darstellt, der für die Thematisierung und Behandlung gesamtgesellschaftlicher Probleme hinreichend komplex wäre. Die politische Öffentlichkeit kann unter dieser Prämisse einen solchen Resonanzboden schon deshalb nicht bilden, weil sie zusammen mit dem Publikum der Staatsbürger an den Machtkode angeschlossen ist und mit symbolischer Politik abgespeist wird.“149
Tatsächlich lässt sich weniger dramatisch feststellen, dass die Frage der Vergleichbarkeit von interpersonaler und medialer Kommunikation die entscheidende Prämisse für die Übertragung diskurstheorethischer Postulate auf medienkommunikative Zusammenhänge ist. In der vorliegenden Arbeit wird durchgängig davon ausgegangen, dass humankommunikative Interaktion und journalistische Medienkommunikation zwar nicht in eins zu setzen, aber aufgrund ihrer immanenten Verknüpfung immerhin prinzipiell vergleichbar sind.150 Auf dieser Basis wird das kommunikativ fundierte Konzept der Öffentlichkeit zu Medien in Beziehung gesetzt. 148 149 150
Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 574f. Habermas 1992, S. 417 Die Möglichkeit dieser Übertragung ist umstritten. Angesichts der internen Verfasstheit der Massenmedien, so Kritiker, werde deutlich, „[…] dass die symbolische Interaktion über Massenmedien den transzendentalpragmatischen Bedingungen aufgrund ihres Konventionalcharakters nicht entspricht und somit eine Anwendung
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VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
Feststellbare empirische Asymmetrien zwischen den Ansprüchen kommunikativen journalistischen Handelns und den Zwängen des Mediensystems machen vor dieser analytischen Folie nicht die Anwendung einer Diskurstheorie des Journalismus und der Medien unmöglich, sondern sind vielmehr eine politisch aufzugreifende Aufforderung, durch eine aktive, keineswegs nur wirtschaftsliberal agierende Medienpolitik die Bedingungen zu schaffen, die ein kommunikativer und vor allem diskursiver Journalismus in den Massenmedien benötigt, um demokratiepolitisch gewünschte Aufgaben der reflexiven Vermittlung und der Eröffnung kommunikativer Teilhabechancen zu erbringen. Folgt man dieser medienpolitisch motivierten Zielvorstellung, dann wird deutlich, dass ein solches Projekt nicht individualethisch angelegt werden kann, sondern auf der Etablierung intersubjektiver Verständigungs-Verfahren beruht.151 Diese Verfahren richten sich sowohl darauf, dass Journalisten diskursiven Anforderungen an kommunikatives Handeln im beschriebenen Sinne genüge tun können. Sie beziehen aber auch die Formulierung und Veränderung dieser Verfahrensnormen sowie andere journalistischer Qualitäts- und Ethikmaßstäbe mit ein. Denkbar ist in diesem Zusammenhang eine engere Verzahnung individualethischer Postulate mit Ansätzen von Professions- und Institutionenethiken, durch die sich, wie Teichert anregt, die direkten Ansprachemöglichkeiten der Individualethik mit dem stabilen hohen Verantwortungsgrad einer institutionalisierten Ethik vereinbaren ließen.152
3.2
Das Konzept der Medienöffentlichkeit
Die entscheidende strukturelle Frage ist aber zunächst, wie die von Öffentlichkeit erwarteten Leistungen in politischer oder sozialer Hinsicht in eben diesen medialen Kontexten erfüllt werden153, die nicht ausschließlich am Maßstab lebensweltlicher Kommunikationsrationalität gemessen werden können.154 Eine Möglichkeit hat Weßler beschrieben, indem er in Abgrenzung zu liberalen und diskursiven Modellen von Öffentlichkeit ein zwar an die bislang erörterten Spezifika anschließendes, aber nichtsdestotrotz vom Anspruch her eigenständiges Modell von Medienöffentlichkeit zu entwickeln versucht, das sich gleichermaßen auf strukturelle, funktionale und prozessuale Aspekte von Öffentlichkeit bezieht:155
151
152 153 154 155
höchst problematisch ist“ (Hütig 2003, S. 114). Der Medienkommunikation fehle die Spontaneität und Kreativität humankommunikativer Interaktion; Objektivitäts- und Seriösitätsansprüche würden durch Konventionen gestützt, so dass die in der Transzendental- oder Universalpragmatik auf argumentativen Figuren angelegten normativen Strukturen gar keinen Bezug mehr zur medial vermittelten Kommunikation hätten (vgl. ebd., S. 117). Eine solche Position geht davon aus, dass Medien nach den Dimensionen der Zweckrationalität und der Instrumentalität zu betrachten sind, während kommunikative Handlungskoordinierung in ihnen keine Rolle mehr spielt. In der vorliegenden Arbeit hingegen ist deutlich geworden, dass diese Unterstellung im Hinblick auf individuelle Annahmen journalistischer Akteure im kommunikativen Vermittlungshandeln nicht haltbar ist. Müller 1992, S. 43: „Die Frage nach der Medienmoral „[…] kann nicht nur individualethisch beantwortet werden, sondern hat immer auch ihren institutionellen Bezug: Der beste Wille einzelner Journalisten sichert die ethisch unverzichtbare Gemeinwohlfunktion eines Mediums nicht, wenn es insgesamt unter nacktem Zwang von Einschaltquote oder Auflageziffer steht. Der ethische Journalist braucht ein ‚moralisches‘ System, in dem er wirksam werden kann.“ Vgl. Teichert 1996, S. 767 Vgl. zur Bedeutung der Medien für den politischen Prozess z.B. Jarren/Donges 2002a; 2002b; Meyer/Schicha/Brosda 2001, S. 22ff.; Meyer 2001; Jarren/Sarcinelli/Saxer 1998; Jarren/Schatz/Weßler 1996. Habermas (2004, S. 47) sieht in massenmedialer Öffentlichkeit Prominenz dominierend, während in politischer Öffentlichkeit „die Verständigung über ein Thema […] an die Stelle persönlicher Selbstdarstellung“ trete. Vgl. zum Folgenden Weßler 1999a, S. 44; auch die Beiträge in der Einführung von Jarren/Weßler 2002.
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In struktureller Hinsicht konzipiert Weßler Medienöffentlichkeit als „gegliedertes, offenes Feld“: Sie zeichnet sich durch eine weitgehende Trennung zwischen Sprecher- und Publikumsrolle aus. Darüber hinaus ist in Gestalt der Massenmedien eine Vermittlungsinstanz etabliert worden, die die Zugänglichkeit einschränkt. • In funktionaler Hinsicht ist Medienöffentlichkeit zu verstehen als ein „Resonanzkörper für alle Aspekte persuasiver Kommunikation“. Dabei sind zunächst rationale und emotionale, normative und empirische Aspekte öffentlicher Kommunikation in den Blick zu nehmen.156 • In prozessualer Hinsicht ist Medienöffentlichkeit gekennzeichnet durch eine Abfolge von episodischen Kommunikationszusammenhängen, in denen Ereignisse und Ruhephasen einander abwechseln. Diese Mediendiskurse weisen einerseits ein gewisses Maß an Regelmäßigkeit auf, ohne aber einer immanenten Tendenz zu mehr Reflexivität oder gar Konsens zu folgen. Mit seiner strukturellen Bestimmung lehnt sich Weßler eng an die in der Literatur weitgehend konsentierten formalen Zugangskriterien für Öffentlichkeit an, doch in den beiden anderen Punkten setzt er sich deutlich vom diskursiven Modell von Habermas ab. Dies dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass Weßler nicht zwischen Massenmedien und Journalismus differenziert, sondern auf die mediale Figurierung öffentlicher Kommunikation abstellt und damit den mediensystemischen Beitrag zur Konstituierung von Öffentlichkeit – aus der Perspektive seiner Untersuchung zu Recht – betont. Während Habermas in Hinblick auf Aufgaben und Leistungen von Öffentlichkeit mit den kontrafaktischen Rationalitätsunterstellungen der Öffentlichkeitsakteure weitreichende normative Maßstäbe aufrechterhält, wendet sich Weßler zunächst von diesen ab und legt ‚persuasive‘ Kommunikationsbemühungen anstelle der Verständigungsorientierung – also perlokutionäre statt illokutionäre Effekte – zugrunde, um das Konzept empirisch operationalisieren zu können.157 Aus der gleichen Erkenntnis speist sich auch die Veränderung der Perspektive in prozessualer Hinsicht, in der der Autor nicht mehr von linearen Lerneffekten in der Medienkommunikation ausgeht.158 Mit seinen Modifikationen reagiert Weßler auf die Beobachtung, dass mediale Kommunikation keinesfalls allein der kommunikativen Rationalität des Diskurses nach Habermas verpflichtet ist. Denn tatsächlich sinken die Durchsetzungschancen von Verfahren diskursiver Verständigung in einer Öffentlichkeit, deren zentraler Koordinationsmodus zunehmend nicht mehr argumentative Beiträge sind, sondern die (theatralisch-)präsentativ auf Medienlogik gerichteten Darstellungsqualitäten ihrer Teilnehmer.159 Die durch Massenmedien konstituierte öffentliche Kommunikationssphäre dehnt dann sich und ihre kommunikativen Angebote inflationär aus und bedroht so den Wert jeder Form gesellschaftlicher Kommunikation. Die heutige Gesellschaft sei somit zwar zentral vom ‚Diskurs‘ geprägt, so Münch; allerdings ohne die Rationalisierungsfolgen, welche die Diskurstheorie erhofft habe.160 Stattdessen stellten sich Diskurse in der Kommunikationsgesellschaft als je variable Mischungsverhältnisse von Macht-, Darstellungs- und Verständigungskomponenten dar. Münch bezieht sich hier vor allem auf die Mischungsverhältnisse, die diskursive und präsentative Darstellungsformen in medialen Inszenierungen aufweisen: 156 157 158 159 160
Inwiefern zum Beispiel auch emotionale Kommunikation diskursiv sein kann, wird diskutiert in Brosda 2002a. Diese Ausrichtung auf persuasive Elemente lässt sich auch in den Selbstdarstellungsstrategien öffentlicher Akteure ausfindig machen (vgl. Brosda/Schicha 2003). Vgl. Weßler 1999a, S. 229; ein Befund der auch von Gerhards/Neidhardt/Rucht (1998) gestützt wird. Vgl. Schicha 2007 Vgl. Münch 1991, S. 95
338
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus „Es ist bei weitem nicht so, daß allein das bessere Argument zählt und daß das Wort eines jeden gehört werden würde und das gleiche Gewicht habe. Die Szene wird von Aktoren beherrscht, die über eine gute Darstellungskunst verfügen und durch die Wahl der richtigen Worte am richtigen Platz überzeugen können. Die Konkurrenz auf diesem Markt der öffentlichen Darstellung von Politik zwingt zu einer ständigen Präsenz in der öffentlichen Debatte. Es zählt nur, was öffentliche Aufmerksamkeit erlangt. Dadurch findet eine ständige Überflutung der öffentlichen Debatte mit Darstellungen statt.“161
Angesichts dieser Beobachtungen ist es möglich, breite Teile medial vermittelter Öffentlichkeit als darstellungsorientierte Öffentlichkeit zu beschreiben, in der Fragen der Präsentation von Inhalten aufgrund struktureller Rahmenbedingungen wie der kommerziellen Kopplung der Medienbetriebe an das ökonomische System an Bedeutung gewinnen.162 Unstrittig scheint dabei zu sein, dass die Medienöffentlichkeit in den visuell geprägten elektronischen Massenmedien sich nicht ohne weiteres empirisch an Rationalitätsanforderungen messen lassen kann, die unter historisch gänzlich anderen Umständen in der Zeit der Aufklärung als regulative Idee entwickelt worden sind.163 Vielmehr kann man mit Neidhardt konstatieren, dass in modernen Gesellschaften nicht nur Wahrheit durch Konsens, sondern auch Konsens durch Kompromiss und in letzter Konsequenz bisweilen sogar rationale Übereinkunft durch pure Konsonanz ersetzt wird.164 Diese Konsonanz ist vielfach die Folge massenmedialer Meinungsbildung, die in ihren abstrahierenden und symbolischen Reduktionen der thematisierten Sachverhalte entsprechend zu konsumierende und zu akzeptierende Deutungsangebote unterbreitet. Trotz all dieser Einschränkungen, die auf erschwerte Durchsetzungsbedingungen für einen an diskursiver Öffentlichkeit orientierten Journalismus hinweisen, gilt, dass – mindestens in der Form normativ reduzierter Anforderungen – die Macht der Öffentlichkeit auch in massenmedialer (Über)Formung erhalten bleibt und spätestens in Krisensituationen aktivierbar ist: „Sicherlich ist quantitativ der größere Teil öffentlicher Kommunikation ‚Erlebniskommunikation‘. Dies ist der Normalzustand öffentlicher Kommunikation, was auch alltäglich in Form von Zuschauerquoten gemessen und vermessen wird. Doch sind solche Normalzustände prekär, wenn sie politisch mobilisiert werden. Was die Zuschauerquoten politisch macht, ist die Macht, die in ihrer Mobilisierbarkeit begründet ist. Politische Öffentlichkeit ist ein realer Machtfaktor mit der Option, politisches Handeln unter Legitimationsdruck zu setzen und damit unter Argumentationszwang zu stellen. Das konsumierende Publikum kann sich empören; das ist die Macht öffentlicher Meinung.“165
Vor dem Hintergrund dieser empirischen Entwicklungen löst Weßler zwar nicht die Bindung der Medienöffentlichkeit an lebensweltliche Rationalitätskriterien auf, allerdings lockert er sie und ergänzt sie zudem um systemische Vermachtungstendenzen. Er will mit seinem Modell den Blick explizit auf das richten, „[…] was zwischen Vermachtung und Diskurs an Kommunikationsweisen und Prozessen in der Medienöffentlichkeit existiert“.166 Das Ziel ist die Entwicklung operationalisierbarer Praxismaßstäbe, die einerseits über das liberale Öffentlichkeitsmodell hinausgehen, andererseits aber ‚realistischer‘ sind als die regulativen Ideen des diskursiven Modells, das sich zur Bestimmung von Mängeln in der medialen Kommunikation Weßlers Ansicht nach aufgrund seiner hohen normativen Standards kaum eignet. Zu diesem Zweck muss er sein Modell der Medienöffentlichkeit in weit stärkerem Maße an eine konkrete 161 162 163 164 165 166
Ebd., S. 96 Vgl. Rucht 1994. Umstritten ist allerdings, ob in dieser Form von Öffentlichkeit ein substantieller Verlust an Rationalität zu beobachten ist, oder vorwiegend eine Transformation, wie Dörner (2000, S. 176) nahe legt. Vgl. Meyer/Ontrup/Schicha 2000 Vgl. Neidhardt 1994c, S. 21 Eder 1996, S. 148 Weßler 1999a, S. 235
3 Journalismus in der medial geprägten Öffentlichkeit
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gesellschaftliche Ausprägung anschließen, während es Habermas aus einer gesellschaftstheoretischen Sicht möglich bleibt, auf Potenziale hinzuweisen, die angesichts konkreter Phänomene, wie der Kolonialisierung von Öffentlichkeit, oftmals strukturell nur schwer umsetzbar erscheinen mögen. Weßler gelangt in seiner an der Empirie ausgerichteten Konkretisierung zu normativen Anforderungen an Massenmedien, die er – einem einfachen Systemmodell folgend – nach Input-, Throughput- und Output-Leistungen der Öffentlichkeit gruppiert:167 • Auf der Input-Seite bedeutet die Forderung nach größtmöglicher Offenheit medienöffentlicher Diskurse, dass ressourcenschwache Akteure nicht übergangen werden dürfen. • In der Throughput-Dimension muss Öffentlichkeit vor allem gesellschaftliche Lernfähigkeit erhalten, indem sie einen episodischen Deutungswandel ermöglicht, einen problembezogenen Deutungshintergrund bereitstellt, Abwägung und Vermittlung zwischen verschiedenen Deutungen und Positionen ermöglicht, und lagerübergreifende Vermittlungsversuche nicht der vereinfachenden Konstruktionslogik der Medien zum Opfer fallen lässt. • Auf der Output-Seite ist Kontinuität zentral. Das bedeutet, dass öffentliche Mehrheitsmeinungen bestreitbar bleiben und Verständigungsprozesse ergebnisoffen angelegt sind. Weßler konzipiert diese Erwartungen an massenmedial vermittelte öffentliche Kommunikation im Hinblick auf die ihnen zugrunde liegenden Verständigungsprozeduren anspruchsloser als Habermas; ob der Output durch Konsensbildung oder durch Aggregation der Individualmeinungen zustande kommt, ist aus seiner Sicht zweitrangig.168 Dennoch ist dieses Modell weit anspruchsvoller als liberale oder systemtheoretische Näherungen an Öffentlichkeit, indem Vorgaben bestimmt werden, die über die liberalen Postulate Offenheit, Transparenz und Markt hinausgehen und die wesentlichen Funktionen einer öffentlichen Sphäre, die die symbolische Reproduktion von Gesellschaft koordiniert, auch weiterhin betonen. Aber auf der Basis eines derartig modifizierten Gesamtmodells der Medienöffentlichkeit allein kann die Frage nicht beantwortet werden, welches tatsächliche Potenzial journalistisches Handeln hat und wie es dem Erhalt einer kommunikationsrationalen Postulaten verpflichteten öffentlichen Sphäre dient. Immerhin weist Weßler darauf hin, dass Journalisten eine „Infrastrukturfunktion“ innerhalb medienöffentlicher Diskurse erfüllen können, da sie weniger stark Interessenkoalitionen zugeordnet sein müssen (auch wenn sie es oftmals sind), sondern Spielräume zu abwägenden, ambivalenten und damit ordnenden und transparenzschaffenden Aussagen besitzen.169 „Massenmedien und Journalismus sind daher nicht Verhinderer, sondern potentielle Unterstützer dynamischer und innovativer öffentlicher Diskurse. Die informelle Strukturierung medienöffentlicher Diskurse braucht die formelle Struktur eines differenzierten Mediensystems mit voll ausgebauten Redaktionen und gut ausgebildeten Journalisten.“170
In seinem Fazit spricht Weßler damit an, dass das Mediensystem zur Erfüllung seines normativen Auftrages sowohl der medienpolitischen Strukturierung als auch eines kompetenten journalistischen Handelns bedarf, das sich an spezifischen qualitativen und ethischen Standards messen lassen muss. Mit dem Modell der Medienöffentlichkeit allein lässt sich allerdings nicht erklären oder verstehen, wie Journalismus in seiner gesellschaftlichen Repräsentanzfunktion die von ihm erwarteten infrastrukturellen Leistungen erbringen kann, die auch der Steigerung des öffentlichen Diskursniveaus dienen und auf diese Weise Informations- und Partizipationsmög167 168 169 170
Vgl. zum Folgenden ebd., S. 237ff. Vgl. ebd., S. 239 Ebd., S. 219 Ebd., S. 239
340
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
lichkeiten verbessern. Zwar werden die Anforderungen an den Output des Mediensystems ‚realistisch‘ nach unten korrigiert und in konkrete Anforderungen an mediale Strukturen übersetzt, aber regulative Idealnormen für journalistisches Handeln lassen sich einem solchen empirischen Analyse-Modell nur zum Teil entnehmen. Ein Öffentlichkeitsmodell, das normative Ansprüche an die journalistische Praxis aufrechterhalten soll, wie es Weßler zu Recht einfordert, muss ein eigenständiges Verständnis journalistischen Handeln entwickeln und dieses in Bezug setzen können zu den Strukturen des massenmedialen Systems, die seine Verwirklichung befördern oder ihr entgegenstehen. Für eine solche eben auch ethische Frage bildet – auch von Weßler unbestritten171 – das deliberative Öffentlichkeitsmodell nach wie vor eine ergiebige Grundlage, da gleichermaßen die Sprecher (und damit die Journalisten) wie die systemische Struktur verantwortlich adressiert werden.
3.3
Journalistische Kommunikativität in der Medienöffentlichkeit
Auch wenn die als ein weitgehend kommerziell ausgerichtetes System verfassten Massenmedien vor allem auf Profitmaximierung ausgerichtet sind, können journalistische Akteure als kommunikativ Handelnde empirische Spielräume diskursiver Verständigung einfordern und schaffen. Empirische Studien bestätigen weitgehend die kontrafaktische Geltung der auf einen Diskurs bezogenen Normen des deliberativen Öffentlichkeitsmodells: Sie werden regelmäßig vor allem von journalistischen Akteuren als qualitative Bezugsgröße herangezogen, um die Debatte metakommunikativ einzuordnen. Journalisten (zumindest der Qualitätszeitungen) legen als Kommentatoren in Diskursen durchaus ein ‚pragmatisches Diskursmodell‘ zugrunde und erwarten von den anderen Sprechern die Einhaltung bestimmter, diskursiver Öffentlichkeit nahe stehender Kriterien.172 Dazu gehört, dass in einer öffentlichen Debatte relevante Gesichtspunkte des Themas rational behandelt und Chancen für eine Kompromissbildung aufgezeigt werden. Doch während die Journalisten den anderen Sprechern diese Anforderungen kontrafaktisch entgegenhalten, entwickeln sie gleichermaßen ein ökonomisches Verständnis des Diskurses und fordern bei abnehmenden Grenzerträgen diskursiver Auseinandersetzungen auch das Ende einer Debatte und den Abschluss der Meinungsbildung. (Kommunikativ handelnde) Journalisten erfüllen somit in ihren metakommunikativen Äußerungen die Rolle einer Selbstkontrollinstanz der Öffentlichkeit, die das Einhalten kommunikativer und normativer Standards überwacht, die an Öffentlichkeit pragmatisch angelegt werden. Es wäre daher voreilig, die hohen normativen Kriterien eines diskursiven Öffentlichkeitskonzepts beiseite zu legen und sich mit dem scheinbaren Verlust der Steuerungsfunktion ethischer Handlungsprämissen einfach abzufinden. Denn auch wenn zum Beispiel die öffentliche Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Interessengruppen oder die Abwägungen journalistisch-redaktionellen Handelns immer häufiger zweckrational und strategisch bestimmt sind, so bleibt doch die Figur des Gesprächs zwischen gleichberechtigten Beteiligten als kontrafaktische Unterstellung selbst in diesen Situationen wirksam. Sprecher in Öffentlichkeit müssen Verständigungsbereitschaft signalisieren, selbst wenn sie tatsächlich versuchen, mit persuasiver Kommunikation ihre Absichten strategisch durchzusetzen. Und auch der Journalismus lebt nicht zuletzt von der ihm unterstellten Orientierung auf rationale Verständigung. Selbst wenn gegen die Grundlagen des öffentlichen Gesprächs verstoßen wird, kann der Bezug 171 172
Vgl. ebd., S. 234f. Zugleich aber, so Weßler, sei das Modell zur empirischen Analyse nur begrenzt geeignet. Vgl. Gerhards/Neidhardt/Rucht 1998, S. 174ff.
3 Journalismus in der medial geprägten Öffentlichkeit
341
zu ihnen nicht gelöst werden, ohne dass dies gravierende Nachteile für die Beteiligten nach sich ziehen würde. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass es in ausdifferenzierten und zunehmend polyarchischen Gesellschaften keinen archimedischen Punkt mehr geben kann, von dem aus gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse bestimmt oder gesteuert werden können, sondern dass sich Vernunft nur als Vernunft des Gespräches aktualisieren kann.173 Sind die sittlichen Grundgerüste einer Gesellschaft erst einmal kommunikativ verflüssigt, dann ist keine endgültige Gewissheit mehr herzustellen, dann sind selbst erreichte Konsense stets prekär. In Zeiten des Wertepluralismus kann Öffentlichkeit nicht zur Ruhe kommen, sondern allenfalls eine Auseinandersetzung zu einem für alle im Moment akzeptablen Ergebnis führen.174 Um das tatsächliche Unterstützungspotenzial des Journalismus für innovative und dynamische Diskurse in der Öffentlichkeit benennen zu können, ist es sinnvoll, weiterhin auf die Ambivalenzannahme von Habermas zurückzugreifen, die sich im Widerstreit von lebensweltlich verhaftetem Journalismus und systemisch organisierten Massenmedien analytisch fassen und interpretieren lässt. Vereinfacht ließe sich sagen: Wann immer sich der massenmedial-systemische Rahmen durchsetzt, sind Hierarchisierungen und Beschränkungen der sozialkommunikativen Zusammenhänge zu beobachten, während eine Dominanz des journalistischen Handlungsmodus die Chance für eine Entschränkung des Kommunikationszusammenhangs und damit für das Einbeziehen anderer in den Diskurs erhöht. An den weiterreichenden normativen Annahmen von Habermas so dezidiert festzuhalten, widerspricht grundsätzlich nicht den Ausführungen Weßlers, sondern ist Ausfluss eines unterschiedlichen Analyseinteresses. Während es Weßler um eine empirische Operationalisierung eines Modells von Medienöffentlichkeit geht, stehen in dieser Studie theoretischnormative Fragen im Mittelpunkt. In diesem Rahmen dienen die gesellschaftstheoretischen Annahmen von Habermas der Verortung von Journalismus und Massenmedien, während die diskurstheoretischen Annahmen – aus der Objektivation kontrafaktischer Unterstellungen deduzierte – Idealnormen darstellen, welche dann wiederum mit Weßler in Praxisnormen übersetzt werden können. Habermas selbst verweist auf die hohe Abstraktheit und damit auch Unwahrscheinlichkeit der Umsetzung, die seinem normativen Modell von Öffentlichkeit innewohnt. „Die Idee eines Willensbildungsprozesses, an dem alle Betroffenen als Freie und Gleiche teilnehmen, ist eins, die Organisation von meinungs- und willensbildenden Diskursen und Verhandlungen, die unter gegebenen Umständen dieser Idee möglichst nahe kommen, ein anderes.“175
Gleichwohl lohnt es, die Idee diskursiver Prozesse zu bewahren, um einen normativ fundierten Maßstab nicht aus der Hand zu geben, dessen regulative Funktion als Idealnorm bei der gesellschaftstheoretischen Verortung journalistischer Aufgaben hilfreich sein kann. Mit ihr kann der (makrosoziale) Rahmen umrissen werden, in dem die Rollen- und Funktionsbestimmung des journalistischen Handelns in modernen und segmentierten Gesellschaften erfolgt. Um es zusammenzufassen: Journalisten schöpfen die Grundlagen ihres Handelns aus der lebensweltlichen Verankerung des journalistischen Handlungsmodus, der nicht nur in seiner historischen Genese, sondern auch in der umgangssprachlichen und entdifferenzierenden Qualität der Öffentlichkeit im kommunikativen Handeln der Lebenswelt begründet ist. Andererseits aber sind Journalisten eingebunden in einen massenmedial geprägten systemischen 173 174 175
Habermas (1988b) spricht von der „Einheit der Vernunft […] in der Vielheit ihrer Stimmen“. Vgl. Haller/Holzhey 1992b, S. 15 Habermas 1985b, S. 254
342
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
Rahmen, der weitgehend den Imperativen des administrativen bzw. des ökonomischen Systems unterworfen ist und ihrem genuinen Handlungsmodus der Kommunikation mindestens in Teilen zuwider läuft. Auch unter diesen ambivalenten Bedingungen bleibt es die zentrale gesellschaftliche Aufgabe des Journalismus, Möglichkeiten öffentlicher Information und Deliberation zu gewährleisten. Dazu muss ein kommunikativer Journalismus seine diskursiven Möglichkeiten auch unter den systemischen Bedingungen seiner Verberuflichung in Massenmedien erhalten. Wie solche Spielräume aus der Selbstregulierung journalistischen Handelns und aus der Fremdregulation medialer Infrastruktur heraus zu gewährleisten sind, ist Gegenstand der abschließenden Erörterungen.
4
Handlungsbedarf I: Die ethische Herausforderung des diskursiven Journalismus
Die deliberative Demokratietheorie rückt die im Rahmen der Auseinandersetzung mit den kommunikativen Wurzeln des Journalismus bereits theoretisch ausgezeichneten Aufgaben der Verständigung, Orientierung und Teilhabe und deren Bezug zur spontan-assoziativen Formierung zivilgesellschaftlicher Netzwerke in den Blick. Als Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates fokussiert sie insbesondere auf die Spannung zwischen der Faktizität vermachteter Kommunikationsräume und den Geltungsansprüchen kommunikativen Handelns, indem sie die Empirie einer weitgehend massenmedial-systemisch geprägten Öffentlichkeit systematisch zur Kenntnis nimmt und mit kommunikativen Grundlagen kontrastiert, welche sie wiederum in Form von Handlungsoptionen gleichsam aus dem Innersten der öffentlichen Sphäre heraus, als normative Spannung kritisch zur Geltung bringt. Kommunikative Vernunft muss sich demnach ihre Entfaltungsräume innerhalb systemischer ‚constraints‘ suchen. Die Normativität kommunikativen Handelns, also auch journalistischen Handelns, entfaltet sich innerhalb systemisch überformter öffentlicher Foren, birgt aber die Kraft, zweckrationale Kolonialisierung von innen heraus zu sprengen. Ob das möglich ist, hängt nicht zuletzt von der ethischen Verfasstheit des Journalismus und der Medien ab. Vor allem Loretan hat anknüpfend an diese Befunde versucht, die in Kommunikation selbst eingelassene Ethik jenseits moralphilosophisch überladener oder systemtheoretisch dürrer Entwürfe mit Blick auf mediengestützte öffentliche Kommunikation zu beschreiben.176 Aufbauend auf eine Rezeption der Diskursethik lässt sich so die Ethik eines Journalismus entwerfen, der in der Lage ist, unter den Zwängen des Mediensystems zu operieren, ohne dabei journalistisch normative Selbstansprüche hinsichtlich Kommunikativität und Diskursivität vollständig preiszugeben.177
176 177
Vgl. Loretan 2002; 1999; 1996; 1994 Die Forderung nach einer für empirische System-Bedingungen sensiblen Ethik haben Rühl und Saxer (1981) vehement erhoben. Sie fundieren ihre Ethik im Prinzip der ‚Achtung‘, das „eine besondere, im Kommunikationsprozess hergestellte Struktur für normatives Erleben von Mitmenschlichkeit“ meint (ebd., S. 487); sie grenzen sich scharf von individualistisch argumentierenden Ansätzen ab und werden im Gegenzug scharf von deren Vertretern angegriffen (vgl. Boventer 1984b). Thomaß (2003) zeigt, wie das sperrige Prinzip der ‚Achtung‘ in journalistische Praxisnormen übersetzt werden kann, indem sie fünf ethische Prinzipien mit Blick auf fünf unterschiedliche Beziehungsobjekte und -subjekte journalistischer Akteure deduziert (Quellen: Informantenschutz; Objekte der Berichterstattung: Persönlichkeitsschutz; Öffentlichkeit: Anwendung angemessener Methoden der Recherche; Rezipienten: Fairness und Sorgfaltspflicht; Kollegen/Peers: Vermeidung von Interes-
4 Handlungsbedarf I: Die ethische Herausforderung des diskursiven Journalismus
343
„Auf der gesellschaftspolitischen Ebene rekonstruiert die Diskursethik die emphatischen Ansprüche intentionaler Vergesellschaftung und sozialer Verständigung in modernen Gesellschaften (Ideengeschichte der Aufklärung, Begründung von emanzipatorischen Lebensentwürfen und demokratischer Politik, von Privatheit und Öffentlichkeit).“178
Auf der Grundlage der Diskursethik und mit ihrer Beratung lässt sich eine Ethik des journalistischen Handelns formulieren, die weder individualistisch noch institutionalistisch verkürzt ist, sondern versucht, beide Perspektiven fruchtbar zu verbinden.179 Übernimmt man diese Prämissen, dann ist es möglich, eine einseitige und überzogene Zuweisung von Verantwortung an journalistisch Handelnde zu verhindern. Eine Ethik des Journalismus hat die Bedingungen praktischen Handelns zu berücksichtigen, ohne dabei aber dem essentialistischen Fehlschluss der Unterwerfung normativer Anforderungen unter empirische Einlösbarkeit zu folgen. Es geht vielmehr darum, das Spannungsfeld von Ideal- und Praxisnormen im Journalismus mit den Mitteln der Diskursethik zu durchmessen.180 Eine solche Adaption der Diskursethik eröffnet konzeptionell den Weg zu einem Modell eines diskursiven Journalismus unter den systemischen Medienbedingungen in einer demokratisch relevanten deliberativen Öffentlichkeit. „Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns bietet für die Medienethik das Gerüst einer gehaltvollen Akteurstheorie, welche die Leistungen systemisch ausdifferenzierter Problemlösungen für moderne Gesellschaften ausdrücklich anerkennt (Vernunft funktionaler Differenzierung) und sie dennoch aus der Perspektive von Beteiligten kritisch zu werten vermag.“181
Bereits im Anschluss an die Auseinandersetzung mit dem handlungstheoretischen Modell des Journalisten als Gesprächsanwalt ist erörtert worden, inwiefern die Überlegungen zu einem Modell des Journalisten als Diskursanwalt weiter vorangetrieben werden können. Journalistisch handelnde Akteure wären demnach in erster Linie der Möglichkeit gesellschaftlicher Diskurse verpflichtet; ihr kommunikatives Handeln hätte der Prämisse zu folgen, dass kommunikative Koordination gesellschaftlichen Handelns möglich ist und dass vor allem Fragen der Richtigkeit normativer Strukturierungen aber auch der Wahrheit von Realitätsunterstellungen in kommunikativer Interaktion gleichberechtigt, solidarisch und vernünftig von allen Betroffenen bearbeitet werden können. Die Diskurstheorie sensibilisiert dafür, dass diese Möglichkeit existiert; und die Diskursethik hat das Potenzial, die entsprechenden prozeduralen Vorkehrungen zu beschreiben, um derartige Kommunikationsleistungen zu ermöglichen. Journalistische Vermittlungsleistungen können vor diesem theoretischen Hintergrund als eine Diskurs ermöglichende Institutionalisierung betrachtet werden, da sie durch die Vermittlung zwischen Ausgangs- und Zielpartnern das gesellschaftliche Gespräch, und damit die Voraussetzung der kommunikativen Koordinierung überhaupt, gewährleisten. Schon die Frage, welche Themen von öffentlichem Interesse sind und damit in der Öffentlichkeit verhandelt werden sollen, ist Gegenstand diskursiver Verfahren oder in ihren Prozeduren diskursiv abgesicherter Entscheidungsprozesse. In diesem Sinne können Journalisten als Diskursanwälte verstanden werden, die im Rahmen der gesellschaftlichen – und damit auch: medialen –
178 179 180 181
senkonflikten). Auch Debatin (1997) plädiert dafür, individualistische und organisatorische Betrachtungsweisen zueinander in Beziehung zu setzen, wenn ein medienethisches Konzept praxistauglich formuliert werden soll. Loretan 2002, S. 281 Die Diskursethik steht quer zu der Systematik von Pürer (1992, S. 314), die zwischen journalistischer Individualethik, Ethik des Medien-Systems und Publikumsethik unterscheidet. Sie kann, je nach analytischem Interesse, auf jede dieser Dimensionen bezogen werden. Vgl. Brosda/Schicha 2000; Birnbacher 2000 Loretan 2002, S. 281
344
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
Möglichkeiten versuchen, einen rationalen Diskurszusammenhang zu stimulieren, aufrechtzuerhalten und gegebenenfalls durch eigene Impulse weiter zu entwickeln. In der immanenten Betonung einer kommunikativ eigenständigen Rolle liegt dabei auch die Unterscheidung zu der Konzeption einer von kommunikativen Gehalten explizit zu trennenden Mediator-Aufgabe des Journalisten, wie sie aufbauend auf klassischen Vermittlungskonzepten z.B. in den frühen Schriften von Langenbucher zu finden ist.182 Massenmedial gestützter Journalismus dagegen kann vor dem Hintergrund eines diskurstheoretischen Verständnisses als eine zentrale gesellschaftliche Diskursinstitution gesehen werden, die darauf gerichtet ist, Kommunikativität durch reflexive Vermittlung zu bewahren und sie dadurch auch in lebensweltlichen Anschlussdiskursen zu ermöglichen. Inwiefern dies tatsächlich der Fall ist, ist eine empirisch kontingente Frage, die nicht zuletzt abhängig ist von den Handlungsspielräumen, die sich journalistisch Handelnde innerhalb tendenziell zweckrational gesteuerter Mediensystemstrukturen bewahren können. Als Vermittler von Diskursen ebenso wie als Teilnehmer an Diskursen handeln Journalisten letztlich immer auch kommunikativ – sie sind Mediatoren und Kommunikatoren gleichermaßen, eine Trennung der Vermittlung von Kommunikation ist schon aufgrund der Sprachbasiertheit journalistischen Handelns nicht konzipierbar. Die daraus folgernde ethische Grundanforderung an journalistische Akteure ist, so zu handeln, dass sie Diskursivität ermöglichen und nicht verhindern.
4.1
Diskurse über Ethik: Diskursethische Formulierung journalistischer Normen
Die Diskursethik, aus der heraus Normen eines diskursiven Journalismus zu begründen sind, ist zunächst auf die Begründungsdiskurse einer Theorie der Moral beschränkt. Sie ist nicht selbst Moral, sondern gibt Hinweise, welchen Regeln die Formulierung von Normen folgen muss, um akzeptable Ergebnisse berechtigt erwarten zu können. Dadurch zeigt sie auf, wie moralisches Handeln möglich ist und wie seine Voraussetzungen zu beschreiben sind. Die Diskursethik zielt in ihrer Geltung auf jede Form von kommunikativer Interaktion und nimmt dabei zugleich den (institutionellen) Kontext dieser Interaktion mit in den Blick. Sie beschränkt sich darauf, prozedurale Normen zu identifizieren und im Hinblick auf die von diesen Normen betroffenen Verfahren der Normfindung gegenüber der Praxis beratend tätig zu werden. Materielle Hinweise auf das Gute und Gerechte selbst sind von ihr zunächst nicht zu erwarten, sondern können nur in Kommunikation nach den diskurstheoretisch bereits ausgezeichneten Verfahren von den Beteiligten in gemeinsamer Kommunikation eruiert werden. In dieser Selbstbeschränkung liegt die Kraft der Diskursethik, da gerade ihre normative Bescheidenheit es ihr ermöglicht, die Praxis dazu anzuleiten, in den eigenen Anwendungsdiskursen den von ihr formulierten Hinweisen zu folgen. Eine diskurstheoretisch begründete Medienethik benennt die Unhintergehbarkeit bestimmter prozeduraler Standards kommunikativer Interaktion, aber sie nimmt den Beteiligten nicht die Aufgabe ab, diese Standards bezogen auf Situation und Kontext ihres eigenen Handelns zu deuten und in entsprechende Praxisnormen zu transformieren. „Die Diskursethik kann die Beteiligten praktischer Diskurse beraten, ihre kommunikativen Regeln zu überprüfen und im Hinblick auf die unvermeidlichen Idealisierungen des Diskurses zu transzendieren. Entsprechend rekonstruiert sie universalpragmatische Prinzipien der Verständigung wie Öffentlichkeit des Zugangs, gleichberechtigte Teilnahme, Wahrhaftigkeit der Teilnehmer, Zwanglosigkeit der Stellungnahme. In prakti182
Vgl. Langenbucher 1974/75
4 Handlungsbedarf I: Die ethische Herausforderung des diskursiven Journalismus
345
schen Diskursen bringt sie diese als normativ gehaltvolle Argumentationsregeln zur Geltung und macht Vorschläge, wie die zu verhandelnden Probleme nach Reichweite ihrer Geltungsansprüche (Gerechtigkeit, gutes Leben, Zweckmäßigkeit) zu sortieren wären […].“183
Die Diskursethik ist damit attraktiv für Theorien der Ethik des Journalismus, in denen die Begründbarkeit von Normen und die Reichweite ihrer Geltung im Zentrum stehen. Mehr noch als den Normen selbst wird dem Prozess der Formulierung von und der Einigung auf Normen eine besondere Relevanz zugeschrieben. Es geht, wie Thomaß anmerkt, immer weniger um die Frage „Was soll ich tun?“ und immer mehr um die Frage „Wie können wir uns darüber einig werden, was wir tun sollten?‘“.184 Journalismusethik kann dabei keine privilegierte Erkenntnis beanspruchen, sondern allenfalls die Berücksichtigung der angemessenen kommunikativen Prozeduren erleichtern. Ebenso wie der diskursethisch argumentierende Philosoph hat auch der Medienethiker darauf zu verzichten, für stellvertretende praktische Diskurse zur Beantwortung moralischer Fragen eine hervorgehobene Rolle zu beanspruchen, da sich seine Kompetenz auf die Verfahren beschränkt, während er im Hinblick auf praktische Fragen selbst auf die gleiche alltagssprachlich verankerte Vernunft zurückgeworfen ist, der sich alle Beteiligten bedienen. Er verfügt „über keinen privilegierten Zugang zu moralischen Wahrheiten oder inhaltlichen Orientierungen“.185 Für das Verhältnis von Medien und Wissenschaften bedeutet dies, dass beide die gleichen Geltungsansprüche behandeln und von einer Hierarchisierung ihrer Diskurse daher Abstand zu nehmen ist. Diese Feststellungen knüpfen an die eingangs formulierten Gedanken zur Stellung des sozialwissenschaftlichen Beobachters zur Praxis an. Als Teilnehmer an sozialen Prozessen – und als solche sind auch journalistische Diskurse zu verstehen – kann der Sozialwissenschaftler die Strukturen sozialer Interaktion zunächst nicht transzendieren, sondern ist im Gegenteil, darauf angewiesen, zu Geltungsansprüchen Stellung zu nehmen, deren Prüfung ihm nur durch alltagssprachliche Teilnahme überhaupt ermöglicht werden kann. Der wissenschaftliche Diskursteilnehmer mag besser informiert, methodisch versierter oder auch argumentativ redlicher sein, einen qualitativ anderen, privilegierten Erkenntnisstatus hat er hingegen nicht. Trotzdem darf sich auch die diskursiv gehandhabte Medienethik nicht abdrängen lassen in eine Position, in der ihr nur der schmaler werdende Geltungsbereich zwischen Recht und Markt bleibt: Weder soll sie die klassische Berufsideologie duplizieren, noch schlicht Publikumserwartungen wiederholen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, diese auf ihre Leistungsfähigkeit hinsichtlich der gesellschaftlichen und demokratischen Erwartungen an journalistische Kommunikation zu überprüfen. Sie kann zwischen deliberativen Anforderungen zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit und den Bedingungen institutionalisierten Medienhandelns vermitteln und damit zugleich für die Folgen journalistischen Handelns sensibilisieren. Ihr Ziel ist es, dass ein diskursethisch sensibilisierter Journalismus seine Ausrichtung auf eine kompetente öffentliche Meinungsbildung stärker betont und damit „[…] das Mediensystem in seiner strukturellen Verfasstheit auf diesen immanenten Zielwert offener demokratisch verfasster Gesellschaften hin [ausrichtet]“.186 In dem Verzicht der Diskursethik auf materielle Denkvorgaben und der daraus sich ergebenden Verständigung der Betroffenen über die formalen Maßstäbe ihres Handelns sieht Rager einen wesentlichen Vorteil gegenüber traditionellen Fixierungen:
183 184 185 186
Loretan 2002, S. 280 Thomaß 2000, S. 362 Loretan 2002, S. 273 Ebd., S. 283
346
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus „Viel mehr als eine präskriptive Ethik mit Absolutheitsanspruch oder normativen Leitsätzen ist die Diskursethik geeignete Grundlage der Fragestellung, welches journalistische Handeln mehrheitlich erwünscht sein könnte und den Interessen vieler Menschen gerecht wird. Das Verfahren ähnelt zudem der journalistischen Praxis, in der der Konsens darüber, was (ethisch) richtig ist, oft auch nur in der Diskussion unterschiedlicher ethischer Argumente und nach Kompromissen auf allen Seiten zustande kommt.“187
So verstanden könne der ethische Diskurs als Instrument journalistischer Selbststeuerung zu einer Dimension journalistischer Qualität werden.188 Debatin sieht ein solches Steuerungspotenzial einer Medienethik als vorwiegend intern und indirekt wirksam an, indem ethische Selbstbindungen „Handlungsorientierung und kritische Maßstäbe der Reflexion“ bereitstellen und den Rahmen legitimen journalistischen Handelns abstecken.189 Dies gelingt umso angemessener und besser, je umfassender medienethische Reflexion individuelle und organisatorische Verantwortung zueinander und miteinander in Beziehung setzt und somit trennschärfer ansprechbar macht. Denn trotz aller Näherungen der Praxis an ein auch ethisch fundiertes Verständnis journalistischen Berufshandelns bleibt Journalismus ein moralisch sensibles Feld: „Die moralische Verantwortung der Medienschaffenden (Journalisten, Redakteure, Autoren, Korrespondenten, Agenturen usw.) bezieht sich zunächst auf Fragen der Wahrheit von Information, der Vielfalt von Meinungen und der Authentizität von Darstellungen. Moralisch sensibel sind dabei gleichermaßen die Gewinnung von Informationen und Meinungen (z.B. Recherche und Interviewpraktiken, Seriosität von Quellen, Informanten und Persönlichkeitsschutz) wie ihre Selektion (Aktualitäts- und Sensationsprimat, Quotenfixierung, Minderheitenpositionen etc.) und ihre Verarbeitung (z.B. Darstellung, Dekontextuierung, Veränderung, Auslassung und Inszenierung, Verwandlung von Information in Unterhaltung).“190
Die Einhaltung beruflicher oder professioneller Qualitätsstandards kann die Bearbeitung dieser grundlegenden Fragen erleichtern, so Debatin, indem sie eine „verantwortungsethisch motivierte Innensteuerung der Medienschaffenden“ gewährleistet.191 Eine freiwillige journalistische Selbstkontrolle kann in diesem Zusammenhang dazu beitragen, eine publizistische Ethik nicht nur durchzusetzen, sondern auch diskursiv durch ethische Argumentation weiterzuentwickeln.192 Eine solcherart auf sanfte ‚Steuerung‘ zielende Diskursethik trägt außerdem dem Umstand Rechnung, dass ethische Standards im Journalismus stetig weiterentwickelt werden müssen, da sie genauso wie Qualitätsvorstellungen ständigen Veränderungen unterliegen. Nicht zuletzt deshalb liegt es nahe, die Urteile des Publikums in die Qualitäts- und auch in die Ethikdebatte des Journalismus einzubeziehen.193 Die Etablierung von Mechanismen der Selbstkontrolle und Selbstregulation kann auch eine Antwort auf die Feststellung sein, dass die Diskursethik ohne eine Lehre der Diskursinstitutionen „weitgehend irrelevant“ wäre, weil ihr die Mechanismen der Umsetzung ihrer prozeduralen Normen fehlen.194 Rezipiert man die Diskursethik allein, kann man zu dem Befund kommen, dass an diesen Institutionen noch mangelt, nimmt man aber die deliberativdemokratietheoretischen Überlegungen mit in Betracht, dann lassen sich erste Ansatzpunkte einer solchen institutionell fokussierten Erörterung finden. Die zum Beispiel auf verfahrensre187 188 189 190 191 192 193 194
Rager 2000, S. 79 Vgl. ebd., S. 79 Debatin 1997, S. 300 Debatin 1998, S. 121. Ein Extrembeispiel dafür, dass Journalismus Kontextualisierungsleistungen nicht erbringt, sondern entlang medialer Routinen im Wortsinne ‚heißläuft‘, ist der 11.9.2001 (vgl. Brosda 2002b). Debatin 1998, S. 122 Vgl. Baum 2005c, S. 116ff., der diesen Umstand unter Rückgriff auf Habermas thematisiert und konzipiert. Vgl. Rager 2000, S. 83ff.; vgl. zur Publikumsethik grundsätzlich Funiok 1996b. Weischenberg 1992a, S. 197
4 Handlungsbedarf I: Die ethische Herausforderung des diskursiven Journalismus
347
gulierten Verhandlungen abstellenden Modelle auf Journalismus und auf Journalistik zu übertragen, wäre eine Aufgabe einer diskursethischen Journalistik, die die Verfasstheit der Diskurse über Ethik zum Beispiel in Selbstkontrollgremien oder in wissenschaftlicher Begleitung gestalten will. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, entsprechende ethische Diskurse durch angemessene institutionelle Vorkehrungen zu stärken und ihre Ergebnisse so zu kommunizieren, dass sie in der Praxis zur Kenntnis genommen werden und Relevanz entfalten können. „Die Medienethik bzw. die Ethik massenmedialer Kommunikation müsste so konzipiert werden, daß sie sich selbst als diskursiv versteht, d.h. daß sie in ihren eigenen Begründungs- und Anwendungsdiskursen die Bedingungen, Beschränkungen und Möglichkeiten medialer Kommunikation eruiert, nicht zuletzt mit dem Ziel, ihrerseits massenmediale Diskurse zu initiieren, zu stimulieren und im Blick auf ihre partizipatorischen, emanzipatorischen und advokatorischen Möglichkeiten und Grenzen zu reflektieren.“195
Entsprechend dynamisch gehandhabt können ethische Kodizes der journalistischen Praxis zu einem gelebten und laufend weiter entwickelten ethischen Gerüst journalistischen Handelns werden, das sich in ständigem Abgleich mit praktischen Anforderungen befindet. Ziel könnte ein umfassender und positiv formulierter Katalog von Geboten eines guten Journalismus sein.196 Journalistische Ethikkodizes bieten insbesondere die Möglichkeit, einen Diskursrahmen zu definieren, aus dem heraus sich weitere, ethischer Debatte und Kontrolle verpflichtete Institutionen bilden bzw. etablieren können. Von Interesse sind in diesem Zusammenhang vor allem die Normen einer prozeduralen Ethik, die auf Prozesse zur Entwicklung und Sicherung weiterer Normen abhebt. Daher konzentriert sich die „[…] weitergehende Nutzbarmachung der Diskursethik für die journalistische Ethik […] auf die Frage, wo und wie Betroffene Diskurse zur Entwicklung von Normen führen können, die den bei Habermas gestellten Anforderung zumindest ansatzweise gerecht werden“.197
Presseräte und ähnliche Selbstkontrollgremien, in denen ethische Diskurse etabliert sind, können als „Diskursverfahren zur Klärung normativer Fragen der journalistischen Praxis“ verstanden werden.198 Auch die Orte der Journalistenausbildung sind denkbare Institutionen der diskursiven Klärung journalistischer Ethik. Dadurch rückt die Journalistik als eine eben auch ethische Disziplin in den Blick.
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Arens 1996, S. 96 Vgl. Brosda u.a. 2004. Ein solcher Katalog, verbunden mit entsprechenden organisatorischen Strukturen, ist die Grundlage einer zureichenden journalistischen Selbstkontrolle journalistischer Akteure im Rahmen einer komplexen modernen Medienordnung: „Die Stärkung professioneller Standards und die – freiwillige – Etablierung von entsprechenden Verfahren, Organisationsregeln wie auch Organisationen (der professionellen Selbstkontrolle) muss als entscheidende Voraussetzung für die Wahrnehmung von Selbstverantwortung und Selbstkontrolle angesehen werden: solange es nämlich an Verfahrensregeln und institutionalisierten Formen für die professionelle Selbstverständigung fehlt, kann Selbstverantwortung allenfalls partiell wahrgenommen werden.“ (Jarren/Donges 2000, S. 246) Thomaß 2000, S. 362 Loretan 2002, S. 285. Deswegen ist es sinnvoll, diese spezifischen Gremien der Selbstkontrolle nicht mit Akteuren anderer gesellschaftlicher Funktionsbereiche zu belasten (vgl. Jarren/Donges 2000, S. 247).
348 4.2
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus Ethik für Diskurse: Journalistische Anwendung diskursethischer Prämissen
Wird die Diskursethik auf die journalistische Praxis übertragen, dann verlangt sie vorwiegend nach Bewertungen der ‚Angemessenheit‘ kommunikativer Handlungen.199 Sie richtet sich auf die Einhaltung der skizzierten Diskursregeln und verlangt von kommunikativen Akteuren die prinzipielle Akzeptanz grundlegender Verständigungsregeln. Der Terminus ‚Angemessenheit‘ verdeutlicht in diesem Zusammenhang, dass die Diskursethik durchaus aus dem Bereich der Idealnormen in Praxisnormen übersetzbar ist, die Gegenstand von Anwendungsdiskursen sein können. Eine diskursethisch fundierte Medienethik hat daher das Potenzial, Maßstäbe zu liefern, anhand derer die Verfasstheit gesellschaftlicher Kommunikation mit Blick auf die normativen Anforderungen, einer demokratischen Öffentlichkeit empirisch untersucht und qualitativ bewertet werden könnte. Fördert journalistisches Handeln Partizipation und Emanzipation? Nimmt es sich der Aufgabe der advokatorischen Vertretung der vom gesellschaftlichen Zeitgespräch ausgeschlossenen Stimmen an? Diese Fragen lassen sich auf der Basis der Diskursethik an Journalismus stellen; und sie lassen sich mit empirischer Journalismus- und Medienforschung bearbeiten.200 Aus dem Dialog zwischen einer diskursiven Medienethik und einer empirischen Forschung, die sich praktischen Fragen nicht verschließt, können Vorschläge für die Verbesserung des Journalismus erwachsen.201 Diesen Weg zu beschreiten, wäre für die Journalistik mehr als nur nahe liegend. Im Kern geht es darum, aus der Diskursethik Hinweise auf eine ‚Ethik für Diskurse‘ zu gewinnen, um von den Begründungsdiskursen der philosophischen Ethikformulierung zu den Anwendungsdiskursen einer an ‚wahren‘, richtigen und gerechten Ergebnissen orientierten Praxis zu gelangen.202 In dieser Ethik lägen Handlungsimperative auch für einen kommunikativen, besser: für einen diskursiven Journalismus. „Die angewandte Ethik wird als Disziplin verstanden, die sich bei moralischen Entscheidungsproblemen mit Normen, Werten und Grundorientierungen des Menschen auseinandersetzt. Als Theorie des richtigen Handelns entwickelt sie Kriterien und vermittelt eine Handlungsorientierung in moralisch relevanten Entscheidungssituationen und dient letztlich der Handlungskoordination im Umgang mit anderen Menschen.“203
Die idealen Voraussetzungen abstrakter Modelle gelten zunächst als Resultat normativethischer Überlegungen, die jedoch in dieser Form noch keine praktische Hilfe bei konkreten Handlungsentscheidungen liefern können. Es ist außerdem problematisch, wenn in einer Normendiskussion lediglich Begründungsverfahren behandelt werden und das Problem der Durchsetzung von Entscheidungen nicht berücksichtigt wird. Die Anwendung solcher Durchsetzungsverfahren hat auf der Basis eines Normenbegründungsverfahrens für die Praxis zu erfolgen. Während im theoretisch-idealen Begründungsdiskurs ‚reale‘ Sachzwänge ‚kontrafaktisch‘ ausgeschaltet werden, sind Anwendungsdiskurse oftmals von Beschränkungen gekennzeichnet, zu denen Knappheit der Zeit, Herrschafts- oder Gewaltverhältnisse und das Informationsgefälle zu rechnen sind, die institutionelle Vorkehrungen (Geschäftsordnungen etc.) erforderlich machen, um durch Übereinkunft eine Annäherung an die Bedingungen des idealen Diskurses zu gewährleisten. Die Beziehung zwischen den theoretischen und den praktischen Fragen der Ethik, also zwischen Normbegründung und Normanwendung, ist als ein Kontinuum zu begreifen: Die 199 200 201 202 203
Vgl. Meyer/Schicha/Brosda 2000, S. 285ff.; Loretan 2002, S. 278 Arens 1996, S. 95f. Vgl. Loretan 2002, S. 279; vgl. auch den Überblick im Sammelband von Rath 2000. Vgl. Kopperschmidt 2000, S. 147ff. Brosda/Schicha 2000, S. 8
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von der normativen Ethik formulierten Prinzipien, die sich auf moralisch bzw. sittlich gutes und richtiges Handeln und Unterlassen beziehen, sind aus der Sicht der Diskursethik schließlich keine ‚objektiven‘ Werte. Metaphysische Deduktionen und Verweise sind im Zuge der Rationalisierungsprozesse der Moderne durch intersubjektive Vereinbarungen ersetzt worden, die zunächst nur Gültigkeit für eine zeitlich und kulturell kontingente Situation beanspruchen können. Der jeweils eingenommene moralische Standpunkt ist begründungspflichtig geworden. Diese Begründungspflicht ist zurückgebunden an ein ‚framework‘ akzeptabler Begründungsweisen und Argumente, das in theoretischen Ethik-Konzepten wie der Diskursethik identifiziert wird, um in der Praxis besser zur Anwendung zu gelangen. Die Diskursethik kann daher vermittels ihrer Übersetzung in eine angewandte Ethik der Medienkommunikation auch unter den schwierigen empirischen Bedingungen massenmedial vermittelter Kommunikation für kommunikative Möglichkeiten in Interaktion sensibilisieren. Will man diese Ethik mit Blick auf die journalistische Kommunikation unter Medienbedingungen explizieren, dann erfordert das angesichts der Verhältnisse zunächst eine größere medienethische Akzeptanz auch gegenüber systemtheoretischen Überlegungen. Dies ist mit der Diskurstheorie nach Habermas zu gewährleisten, da diese sich auf ein Gesellschaftsmodell bezieht, das kommunikative und systemische Integrationsmechanismen nebeneinander beschreibt „Denn selbstverständlich sind die medialen Strukturen der Kommunikation systemisch organisiert und in verschiedene, partiell vernetzte Subsysteme eingebunden. Die normative Pointe besteht für Habermas jedoch darin, daß der intersubjektiv geteilte Raum der Öffentlichkeit an die einfachen Interaktionen der Lebenswelt zurückgebunden ist. Diese grundlegende Dialektik von kommunikativer Vernunft und Systemrationalität ist auch bei der Konzeption einer diskursethisch inspirierten Medienethik zu berücksichtigen.“204
Kern einer Operationalisierung der Diskursethik als Medien- und Journalismusethik ist die immanente Verknüpfung des diskursiven Handelns in kommunikativer Interaktion mit der Herstellung einer öffentlichen Sphäre, deren demokratisch-normative Idee nicht zuletzt von dieser Diskursivität geprägt ist. Öffentlichkeit und Deliberation sind im Rahmen des skizzierten Demokratiemodells zwei eng auf einander bezogene Konzepte205: Wie ausgeführt, gewährleistet Öffentlichkeit durch den von ihr bereitgestellten Kommunikationsraum die Rationalität moderner Lebenswelten und schließt diese kommunikativ an die ausdifferenzierten Subsysteme (v.a. an das politisch-administrative System) an. Sie erfüllt einerseits eine Transmissionsfunktion zwischen Lebenswelt und System, ist aber andererseits letztlich an Lebenswelt, Kommunikativität und Diskursivität rückgekoppelt. Im öffentlichen Austausch generieren kommunikativ Handelnde – anders als strategische Akteure, die einander als Objekte betrachten – mit ihren gemeinsam ausgehandelten Deutungs- und Bedeutungsangeboten einen gemeinsamen sozialen Raum. Die Entwicklung von Solidarität und Vertrauen als Grundlagen der Öffentlichkeit ist damit der kommunikativen Interaktion immanent.206 Moral kommt in öffentlichen Diskursen damit nicht nur auf der prozeduralen Ebene der Form des kommunikativen Austausches, sondern auch auf inhaltlicher Ebene hinsichtlich der Auswahl der öffentlichen Themen ins Spiel.207 Ohne ein gewisses ‚moralisches Pathos‘, so 204 205 206 207
Lesch 1996, S. 100 Vgl. Imhof 2003 Vgl. Loretan 1996, S. 43 Vgl. Hügli 1992, S. 71f. Eine diskursive Öffentlichkeit fordert den Diskurs über ihre Grenzen: „Moralische Gesichtspunkte bei der medialen Herstellung von Öffentlichkeit als rationalen Diskursprozess zur Geltung zu bringen, ist deshalb besonders heikel, weil zur Herstellung von Öffentlichkeit die Grenzüberschreitung gehört, das heißt, für sie ist das Grundelement von Polemik und die bis ans Äußerste gehende Kritik konstitutiv. Öffentlichkeit ist per se respektlos, sie ist auf Sichtbarmachen von etwas gerichtet, was man verborgen hält, das
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VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
mutmaßt Lesch, hätte demokratische Öffentlichkeit keine Zukunft; sie bedürfe derjenigen Bürger, die bereit sind, Themen, die sie als Unrecht empfinden, unter dieser Maßgabe in das gesellschaftliche Gespräch einzuführen; und sie bedürfe der Medienmacher, die sich moralisch Werten wie Transparenz und demokratisch-öffentlicher Kontrolle verpflichtet fühlen.208 Diese Moral des Öffentlichen ist auch nach dem Strukturwandel der Öffentlichkeit aufzufinden. Selbst unter rein kommerziellen Gesichtspunkten produzierte Medieninhalte können sich ihren Anforderungen nicht entziehen.209 Deduziert man aus der Diskurstheorie konkrete medienethische Maßstäbe, dann gerät prominent die Prüfung der Akzeptabilitätsbedingungen von Geltungsansprüchen in den Blick.210 Folgt man der Interpretation von Arens, dann implizieren die Prozeduren der Diskursethik vornehmlich drei ethische Universalien, die im Hinblick auf eine Ethik der Medienkommunikation herauszuarbeiten sind.211 • Wahrheit: Hiermit ist gemeint, dass Kommunikationsteilnehmer die ‚Wahrheit‘ sagen, Wahrheitsansprüche anderer anerkennen und eine gemeinsame ‚Wahrheit‘ anstreben. Für journalistische Kommunikation ist von besonderer Bedeutung, dass genügend Informationen vermittelt werden, um auch als Rezipient die vermittelten Wahrheitsansprüche in ihrer Diskursivität erkennen und beurteilen zu können. • Wahrhaftigkeit: Hiermit ist gemeint, dass die Kommunikationsteilnehmer, nicht nur für ‚wahr‘ gehaltene Informationen mitteilen, sondern auch weder sich selbst noch andere über die eigenen Interessen, Absichten und Erwartungen täuschen.212 • Gerechtigkeit: Hiermit ist gemeint, dass Kommunikationsteilnehmer gerechte Kommunikationsbeziehungen schaffen und erhalten. Zentralbegriffe in dieser Dimension, die besonders mit Blick auf journalistisches Handeln Bedeutung besitzen, sind (a) Partizipation im Sinne von Teilnahmechancen am Diskurs, (b) Emanzipation durch eine Gewährleistung einer ‚idealen Kommunikationsgemeinschaft‘ (Apel) bzw. eines ‚herrschaftsfreien Diskurses‘ (Habermas) und (c) Advokation im Sinne der Artikulation von Interessen, Ansprüchen und Bedürfnissen derjenigen, die dazu selbst nicht in der Lage sind. Diese ethischen Anforderungen korrespondieren weitgehend mit den Grundstrukturen der Sprache und den in einem Sprechakt erhobenen Geltungsansprüchen. Auf deren Prüfung verlegt sich die Diskursethik zunächst, in dem sie – in einem sehr bescheidenen Selbstverständnis – immanent ansetzt, um entsprechende Argumentationsvorgänge der Prüfung erhobener Geltungsansprüche zu ermöglichen.
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man verschweigt, Insofern sind bei der Öffentlichkeitsarbeit der Medien Normverstöße als Verletzungen von Identität und Sozialität gleichsam vorprogrammiert. Um so mehr gilt: die publizistische Pflicht, das Verborgene aufzudecken, das Verschwiegene zur Sprache zu bringen, muss ein diskursiver Prozess auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennung sein. Wie ist zu gewährleisten, dass er als solcher Prozess, der zugleich offensiv hinter die Fassaden des Scheins dringt, im Einklang steht mit den diskursethischen Prinzipien der Gerechtigkeit und Solidarität?“ (Müller-Doohm 1999, S. 227f.) Vgl. Lesch 1994, S. 52. Hügli (1992, S. 73) geht sogar so weit, dass er den Journalist als „Moralist vom Dienst“, sieht, der sich seiner öffentlichen Aufgabe bewusst sei und entsprechend moralisch kompetent handele. Manchmal vollzieht sich eine solche moralische Kritik auch vor dem Hintergrund eines medial-journalistischen strategischen Abgrenzungsinteresses, wie die Inszenierungskritik der Medien bei großen politischen Ereignissen zeigt, mit der die Berichterstatter ihre Souveränität betonen (vgl. Brosda 1999). Vgl. Habermas 1995 [1981], Bd. 2, S. 574f. Vgl. dazu theoretisch Wellmer 1989. Vgl. zum Folgenden Arens 1996, S. 90ff. Vgl. zur Begründung des Konzepts der Wahrhaftigkeit Mieth 1996.
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„Was wahr ist, kann nicht ein Autor oder eine Redaktion entscheiden. Es kann sich nur im Laufe einer öffentlichen Diskussion herausstellen, zu der – gemäß den Diskursregeln – im Prinzip alle Diskutanten, Informationen und Argumente (einschließlich provokativer Mutmaßungen) zugelassen sind. Für diese Offenheit zu sorgen, wenn nötig gegen kontroverse Interessen, ist die konstitutive Aufgabe des Journalistenberufs.“213
Die Diskursethik zielt darauf, dass sich kommunikative Rationalität entfalten kann, insofern soll eine an sie anschließende Journalismusethik daran mitwirken, in Medien und Journalismus Bedingungen herzustellen, in denen die Unterstellung von Verständigungsorientierung ebenso wenig a priori ausgeschlossen ist wie die Möglichkeit der Prüfung der Akzeptabilität von Geltungsansprüchen. Sie thematisiert die „Bedingungen der Möglichkeit verständigungsorientierter Kommunikation“, gleicht sie an den Strukturen des Mediensystems ab und strebt an, sie in diesen Strukturen zur Geltung zu bringen.214 Etliche bereits etablierte Verfahren der journalistischen Diskursvermittlung und -teilnahme lassen sich als Institutionalisierung dieser Möglichkeiten verstehen. Es lohnt sich daher, die Ergebnisse von Praxisdiskursen zu berücksichtigen, in denen sich normative Näherungen an ein Selbstverständnis journalistischen Handelns finden lassen, das implizit auch auf kommunikative und diskursive Grundzüge verweist. In dem detaillierten „Berufsbild Journalistin/Journalist“, das der Deutsche Journalisten-Verband erarbeitet hat, heißt es zum Beispiel mit Blick auf die hier diskutierten gesellschaftlichen Aufgaben des Journalismus: „Journalistinnen und Journalisten haben die Aufgabe, Sachverhalte und Vorgänge öffentlich zu machen, deren Kenntnis für die Gesellschaft von allgemeiner, politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Bedeutung ist. Durch ein umfassendes Informationsangebot in allen publizistischen Medien schaffen Journalistinnen und Journalisten die Grundlage dafür, dass jede Bürgerin und jeder Bürger die in der Gesellschaft wirkenden Kräfte erkennen und am Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung teilnehmen kann.“215
Diese vergleichsweise präzise Beschreibung journalistischer Aufgaben beinhaltet eine klare normative Komponente, indem Journalismus nicht nur als Informationsvermittler beschrieben wird, sondern diese Vermittlung zugleich in eine immanente Beziehung zum Funktionieren des demokratischen Prozesses gesetzt wird. Im weiteren Verlauf verweist das Papier des DJV u.a. auch auf den Ethik-Katalog des Deutschen Presserates, der zumindest in einigen Bereichen als konkrete alltagspraktische Richtschnur für journalistisches und redaktionelles Handeln dienen kann. Ihm zufolge fällt Journalismus normativ die Aufgabe zu, die Wahrheit zu achten, die Menschenwürde zu wahren und die Öffentlichkeit wahrhaftig zu unterrichten.216 Daraus folgen konkrete Gebote vor allem für die journalistische Sorgfaltspflicht im Umgang mit Sachinformationen und für die Abwägung zwischen öffentlichem Interesse und Menschenwürde. Sowohl hinsichtlich der Auswahl als auch hinsichtlich der Behandlung der journalistischen Kommunikationsinhalte haben sich außerdem Konventionen wie Nachrichtenfaktoren oder diverse Recherche- und Präsentationsregeln etabliert, die eine angemessene Vermittlungsleistung des Journalismus gewährleisten sollen. Vernachlässigt wird in diesen Konventionen allerdings tendenziell der Umgang des Journalisten mit den vermittelten Aussagen oder Sach213 214 215 216
Pöttker 2000c, S. 129f.; zum Verhältnis zwischen universeller Moral und Berufsethos vgl. auch Pöttker 1999a. Loretan 2002, S. 275 So der Beginn des „Berufsbilds Journalistin/Journalist“, das der DJV-Verbandstag 1996 beschlossen hat. Auf der DJV-Homepage abrufbar unter http://www.djv.de/downloads/berufsbild1.pdf (29.9.2005). So der erste Punkt der Publizistischen Grundsätze (Pressekodex), die vom Deutschen Presserat beschlossen und dem Bundespräsidenten Gustav W. Heinemann am 12. Dezember 1973 in Bonn überreicht wurden [hier zitiert in der Fassung vom 13. September 2006]. Vgl. auch umfassend die Beiträge in Baum u.a. 2005.
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VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
verhalten selbst. Eine diskursethisch informierte Anforderung würde sich darauf beziehen, nicht nur den propositionalen Aussagenteil, sondern auch die Argumente der Aussage weiter zu vermitteln und so eine Prüfung enthaltener Geltungsansprüche anhand vermittelter Begründungen zu ermöglichen.217 Auf den prominenten Status dieser (stellvertretend vorgenommenen) Prüfung durch Journalisten ist bereits im Rahmen der Begründung eines kommunikativen Journalismus-Konzepts hingewiesen worden. Der Schwerpunkt der Argumentation lag dort allerdings auf dem Umstand, dass journalistisch Handelnde nicht umhin kommen, zu den Geltungsansprüchen einer von ihnen vermittelten Aussage Stellung zu beziehen, wenn davon ausgegangen wird, dass zu einer erfolgreichen Vermittlung auch das Verstehen dieser Aussage gehört. Daneben gilt, dass diese reflexive Vermittlung auch dazu beiträgt, orientierende Leistungen für Rezipienten zu erbringen, denen selbst der Überblick fehlt (fehlen muss), um vergleichbare Bewertungen eigenständig zu leisten. Hier kommt die immanente Kommunikativität des Journalismus zum Ausdruck, die in der Journalismustheorie bisweilen als Störfaktor der reibungslosen Nachrichtenmaschinerie gesehen wird. Das geschieht vorwiegend dann, wenn wie in den Konzepten eines sehr reduzierten Informationsjournalismus nicht ausreichend berücksichtigt wird, dass journalistisches Handeln wie jede Kommunikation prinzipiell der Doppelstruktur der Rede unterliegt und damit sowohl eine propositionale wie auch eine illokutionäre Dimension besitzt. Informationsjournalistische Konzepte wie die legitimistische Publizistik zum Beispiel reduzieren Journalismus vorwiegend auf seine kognitiv-instrumentelle, mithin propositional relevante Dimension und thematisieren daher ausschließlich Fragen seiner Objektivität sowie damit verbundene Ausgewogenheits- und Neutralitätspostulate.218 Betrachtet man die journalistische Kommunikativität dagegen mit einem diskursiven Journalismusmodell als einen zentralen Bestandteil des Geflechts von Kommunikation, Öffentlichkeit, Medien, Journalismus und Demokratie, dann richtet sich der Blick weniger auf Fragen der Objektivität von Information, als vielmehr auf Fragen ihrer Richtigkeit, ihrer angemessenen Begründungstiefe sowie der Transparenz ihrer Argumentation. Wenn es um diese, nicht mehr nur propositionalen, sondern eben vor allem performativen Aspekte journalistischen Handelns und Kommunizierens geht, werden die Fragen journalistischer Ethik komplex.219 Aber auch mit Blick auf diese performativen Aspekte hat Journalismus Routinen ausgebildet: Sie lassen sich zumindest an intersubjektiver Nachprüfbarkeit, an der Begründetheit der Argumente sowie an der Darstellung unterschiedlicher Positionen – oder übersetzt in journalistische Postulate: an gründlicher Recherche, Quellentransparenz und -vielfalt – messen, wie Rager ausführt.220 Mit der Anwendung dieser Verfahren versetzt Journalismus sein Publikum in die Lage, die erhobenen Geltungsansprüche zu prüfen und abzugleichen.221 Da diese Prü217 218 219 220 221
Vgl. Kuhlmann 1999, S. 61ff. Vgl. kritisch dazu Baum/Scholl 2000, S. 105. Vgl. ebd., S. 106 Rager 2000, S. 82 Dennoch sind insbesondere Fragen der ästhetischen Kritik oder gar der therapeutischen Kritik (z.B. der Wahrhaftigkeit einer Politikeraussage) nach wie vor hoch problematisch. Hier werden, wie Baum und Scholl argumentieren, Wertstandards auf ihre Angemessenheit hin überprüft. Dieser Vorgang kann verstanden werden als „eine Form der (Selbst-) Vergewisserung, die immer auch auf die Frage zielt, welche Form des Lebens für mich gut ist, wie ich leben möchte“ (Baum/Scholl 2000, S. 106). Werden die Ergebnisse dieser Prüfungen von den Betroffenen in Frage gestellt – was wahrscheinlich ist –, dann wird in Konsequenz ein ethisch-existenzieller Diskurs eröffnet (vgl. Habermas 1991, S. 111f.), der die Grundlagen der Existenz jedes Einzelnen in Zweifel zieht. Aus journalistischer Kritik wird ein Diskurs ums Ganze, der Journalismus unter Umständen strukturell in Bedrängnis bringen kann. Dass Journalismus für diese Grenzfälle tatsächlich Routinen auszubilden vermag, die
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fung aber zugleich nur begrenzt möglich ist, weil das Publikum nicht in jedem Fall Zeit und Ressourcen zu einer umfangreichen argumentativen, diskursiven Prüfung hat222, ist zugleich Vertrauen in die journalistischen Kommunikationsleistungen notwendig, wie Kohring betont: „Als Rezipient delegiert man die Beobachtung von Gesellschaft an den Journalismus und muss sich nun auf die journalistische Berichterstattung verlassen, ohne sie im Moment der Rezeption überprüfen zu können […] Da diese Rezipienten ja gerade nicht über durch eigene Beobachtungen gewonnenes Prüfwissen verfügen, um die Angemessenheit der journalistischen Selektivität und Faktendarstellung bewerten zu können, sind sie statt dessen auf Vertrauen angewiesen.“223
Dieses Vertrauen kann nicht unbedingt sein, sondern bleibt immer „eine riskante Vorleistung“224 und bedarf daher wo möglich der Überprüfung durch Beurteilung der Vermittlungsqualität und der Vorerfahrungen mit dem spezifischen Medienangebot oder dem Journalismus allgemein. Dazu noch einmal Kohring, der das Problem systemtheoretisch umkreist: „Vertrauen durch Journalismus trägt zwar zur Lösung des Komplexitätsproblems bei, in dem sich jeder soziale Akteur befindet. Gleichzeitig wird aber nun auch das Problem des Vertrauens in Journalismus akut. Es geht, anders gesagt, um die Beobachtung (und Kontrolle) des Vertrauens in den Beobachter (und Kontrolleur) von Vertrauen.“225
Reformuliert man diese Überlegungen, dann geht es um die Akzeptabilität der Geltungsansprüche, die durch Journalismus vermittelt werden und die Journalismus selbst erhebt, vor dem Hintergrund eines nur unzureichenden Prüfwissens, das durch Vertrauen und Vorerfahrungen kompensiert werden muss.226 Journalistische Akteure übernehmen hier als Anwälte gesellschaftlicher Diskurse auch die Verantwortung, das für ihre Vermittlungsleistungen notwendige Vertrauen nicht zu zerstören, sondern durch entsprechende Diskursivität eine Prüfung ihrer kommunikativen Angebote zu ermöglichen. Während propositionale Fragen wahrheitsorientierter Geltungsansprüche von der Journalismusforschung in erkenntnistheoretischen Debatten behandelt werden und performative Fragen wahrhaftigkeitsorientierter Ansprüche in letzter Konsequenz nicht diskursiv zu behandeln sind, rücken vor allem Geltungsansprüche der Richtigkeit und der Umgang mit ihnen in den Blick einer Ethik journalistischer Diskurse. Wie bereits ausgeführt unterliegen diese in besonderem Maße einer Begründungspflicht. Es erscheint geboten, von journalistischer Vermittlung im Interesse öffentlicher Diskurse zu verlangen, dass die Begründungen für ethisch-politische Behauptungen, die vorwiegend auf Richtigkeitsansprüche zielen, transparent gemacht werden. Explizite Begründungen sind zu referieren, implizite Begründungen aufzuzeigen.227 Journalisten als Anwälte gesellschaftlicher Diskurse haben dadurch eine besondere
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die diskursive Ungewissheit seiner Kritik in diesen Bereichen zu verringern imstande sind, kann bezweifelt werden. Stattdessen setzt sich Journalismus mit derartigen ästhetischen oder therapeutischen ‚Übergriffen‘ stets der Gefahr aus, seinen vermeintlichen Kompetenzbereich zu überschreiten und nun seinerseits zwar nicht in Legitimationsprobleme, wohl aber in Begründungsschwierigkeiten in Bereichen zu kommen, die einer Begründung kaum bis gar nicht zugänglich sind. Vgl. Rager/Rinsdorf 2002a, S. 50 Kohring 2002a, S. 96 Ebd., S. 98 Kohring 2002b, S. 103 Heinrich und Lobigs (2003, S. 259) sehen als Grundlage dieses Vertrauens die „Institution des funktionsfähigen journalistischen Wettbewerbs“, die dann vorliegt, „[…] wenn die Institutionen der Wettbewerbsordnung und der journalistischen Kultur gemeinsam in einem Reputationsgleichgewicht wirksam werden“. Diskursregeln sind dazu als Kriterienkatalog notwendig, allerdings offensichtlich nicht hinreichend. Sie verpflichten Diskursteilnehmer vor allem auf Widerspruchsfreiheit, Fairness und subjektive Wahrhaftigkeit. Ei-
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VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
Verantwortung, die in der Bewahrung kommunikativer Potenziale durch eine reflexive und an den Maßstäben kommunikativer Rationalität orientierte Vermittlung liegt: „Nur sie [die politischen und medialen Akteure, -cb-] haben die Möglichkeit, stellvertretend für die Bevölkerung Begründungen für strittige Geltungsansprüche einzufordern und zu kritisieren, insofern wäre der Repräsentationsgedanke auch im Sinne einer ‚diskursiven Repräsentanz‘ zu verstehen.“228
Wenn die gesellschaftlich und politisch Handelnden Begründungen liefern, dann sollte der Journalist sie vermitteln, tun sie dies nicht, ist er dazu angehalten, sie durch Recherche hinzuzufügen. Auch eine aufmerksame Interpretation einer Pressemitteilung oder einer öffentlichen Äußerung sowie deren Einordnung in den Gesamtzusammenhang können Aufschluss über Begründungen und Motive geben. Hier greift die bereits angesprochene Forderung Langenbuchers nach einem Journalismus als „Quellenkritik“.229 Sie bietet, wie Baum bekräftigt, „[…] den kommunikationstheoretischen Weg für eine ‚epochenadäquate Journalismustheorie‘ an, die sich zudem als Diskursethik aller normativistischen Engpässe entledigen könnte […]. Denn vom Journalismus ‚Quellenkritik‘ zu fordern, heißt ja nichts anderes, als ihm die Suche nach Gründen für öffentliche Aussagen, Handlungen und Entscheidungen zuzutrauen.“230
Auch Pätzold fordert solch eine eigenständige interpretative Rolle im Sinne verstehender Berichterstattung, wenn er die journalistische Relativierung politischer Symbolsysteme für wünschenswert erachtet. Damit spricht er direkt und explizit die kommunikative Kompetenz journalistischer Akteure an, die eben auch darin zum Ausdruck kommt, dass sie politische Symbole auf alltagssprachliche Verständigungsstrukturen hin relativieren und damit der Kritik der Bürger zugänglich machen.231 Vor dem Hintergrund der Diskurstheorie wird hier noch einmal deutlich, dass es von der Art journalistischer Vermittlung abhängt, ob eine diskursive Öffentlichkeit in ausdifferenzierten Gesellschaften gegenüber systemischer Logik überhaupt eine Chance der demokratischen Koordinierung gesellschaftlicher Entwicklung entfalten kann. Journalismus soll auch darauf zielen, das Selbstbewusstsein von Bürgern gegenüber der „scheinbaren Zwangsläufigkeit moderner Institutionen“ zu stärken, indem deren Abhängigkeit vom Handeln ihrer Klienten transparent gemacht wird; einen solchen Journalismus nennt Pöttker „Aufklärungsjournalismus“: Während der klassische Informationsjournalismus politische Vorgänge in seiner Vermittlung oftmals institutionell verkürzt und der Boulevardjournalismus sich aus Gründen ökonomisch motivierter Publikumsmaximierung beinahe ausschließlich an den Bedürfnissen der Rezipienten ausrichtet, vermag dieser Aufklärungsjournalismus, die „tatsächlich vorhandenen, aber durch die funktionale Differenzierung auch zwischen ihren bewußtseinsbildenden Institutionen verborgenen Verbindungsfäden zwischen ‚System‘ und ‚Lebenswelt‘“ sichtbar zu machen.232 Journalismus ermöglicht damit Teilhabe durch Orientierung; Journalisten werden zu den „Zusammenhangsexperten“, die Langenbucher fordert.233
228 229 230 231 232 233
ne Begründungspflicht hingegen postulieren sie nur für das Angreifen einer Aussage oder Norm, die nicht Gegenstand der Diskussion ist (vgl. Habermas 19997 [1983], S. 98). Sie umfassen nicht die Begründungspflicht für Handlungsabsichten, die in der allgemeinen Argumentationstheorie herausgearbeitet wird (vgl. Kopperschmidt 2000; Kuhlmann 1999). Die Formulierung von journalistischen Entscheidungshilfen zur Identifizierung begründeter Aussagen ist bislang ein Desiderat. Eine allgemeine Übersicht gibt Kuhlmann 1999, S. 61ff. Kuhlmann 1999, S. 132 Vgl. Langenbucher 1986; siehe auch IV.2.3.1. Baum 1994, S. 296 Vgl. Pätzold 1980, S. 31f. Pöttker 1996, S. 114ff. Langenbucher 1987b, S. 148
4 Handlungsbedarf I: Die ethische Herausforderung des diskursiven Journalismus 4.3
355
Diskursvermittlung und Diskursteilnahme
An diesen Beispielen wird abschließend noch einmal deutlich, dass die in klassischen Entwürfen getrennten Rollenvorstellungen der Vermittlung und der kommunikativen Teilnahme kaum mehr zu trennen sind, sondern fließend in einander übergehen und sich vorwiegend anhand des Grades kommunikativer Eigenleistung differenzieren. Journalisten haben eine „Doppelrolle im Diskurs“ inne: Sie sind nicht nur Vermittler von Diskursen, sondern auch deren Teilnehmer.234 Sie bewegen sich keineswegs nur auf einer metadiskursiven Ebene, sondern produzieren in ihren Texten, Bildern oder Statements selbst begründungspflichtige Aussagen, die ihrerseits von Dritten diskursiv in Zweifel gezogen werden können.235 Die von Journalisten im Interesse der sozialen Orientierung geforderte interpretative Einordnung eines Vorgangs in Diskurszusammenhänge geht weit über eine (hypothetische) reine Vermittlungsfunktion des Journalismus hinaus. Die Herstellung einer verständigungsorientierten Öffentlichkeit in diesem Sinne erfordert vom Journalisten vor allen Dingen auch Eigeninitiative und Eigenleistung, die in den Dogmen des nur vermeintlich neutralen Informationsvermittlers nicht zu fassen sind.236 Das Freilegen von Begründungen und Motiven für politisches und gesellschaftliches Handeln ist eine der zentralen Aufgaben, die eine journalistische Diskursethik einfordert. Wallisch sieht darin ein Kriterium für journalistische Qualität: „Die Qualität des Journalismus darf demnach nicht länger darin liegen, bloß ein Transportmittel für die Überlegungen anderer zu sein. Der Journalist muß sich emanzipieren, sich und seine Überlegungen stärker in den Mittelpunkt stellen, letztlich soll Journalismus Kommunikation auf einer Ebene ermöglichen und nicht bloß Verlautbarungsjournalismus ausüben.”237
Journalisten sind also durchaus zur aktiven Teilnahme an gesellschaftlichen und politischen Diskursen aufgefordert – indem sie einerseits selbst ihre Stimme erheben und andererseits in einer Art der ‚Quelleninterpretation‘ auf die Suche nach Begründungen und Motiven für Absichten und Handlungen anderer gehen.238 Dazu gehört unter Umständen auch die bewusste Inszenierung von öffentlichen Diskursen für diejenigen Publika, die ansonsten durch 234
235 236 237 238
Brosda 2000a. Am deutlichsten wird das sicherlich in der Darstellungsform Interview (vgl. Friedrichs/Schwinges 1999): Hier interagiert ein Journalist direkt mit einer anderen Person. Zunächst gelten hier die üblichen Diskursregeln, allerdings müssen die meisten Interviews, v.a. in Talkshows, als inszenierte Diskurse gesehen werden, die einer strategischen Kommunikationshaltung verpflichtet sind (vgl. die Beiträge in Tenscher/Schicha 2002). Ein anderes Beispiel für diskursives Handelns im Journalismus ist der Kommentar, in dem Journalisten ein „ausdrückliches Mandat zu öffentlicher Meinungsäußerung“ erhalten (Eilders/Neidhardt/Pfetsch 1997, S. 179). Sie präsentieren sich in der expliziten Darstellung ihrer eigenen Einschätzung des Handelns anderer als eigenständige Akteure im öffentlichen Diskurs. Während der Journalist im Interview in erster Linie in Mikrozusammenhängen an einem direkten interpersonalen Diskurs teilnimmt, partizipiert der Kommentator direkt und explizit in einem größeren, bisweilen gesellschaftsweiten Diskurszusammenhang (vgl. Eilders/Neidhardt/Pfetsch 2004). Viele weitere diskursive Anschlussmöglichkeiten sind alltäglich: Bei der Recherche sind Journalisten z.B. auf interpersonale Gespräche angewiesen. Und Rezipienten ziehen journalistische Berichte als Grundlage für Anschlussdiskurse in der Lebenswelt heran. Diese Erschütterung der Annahme eines privilegierten journalistischen Kommunikationsstatus ist eine der konstitutiven Annahmen einer integrativen Sicht auf Journalismus (vgl. Lünenborg 2005a, S. 216ff.). Solche Entwicklungen werden durch äußere Ereignisse befördert. So beobachten Ludes/Staab/Schütte (1997, S. 143) in den USA nach Vietnam-Krieg und Watergate-Skandal, dass „[…] das Ideal der neutralen Informationsvermittlung durch das Konzept des kritisch-interpretativen Nachrichtenjournalismus ersetzt worden” ist. Wallisch 1995, S. 180 Eine Tendenz zu einem solchen Journalismus lässt sich heutzutage in dem sich politisierenden Kulturjournalismus finden, der dezidiert seine kommunikativen Spielräume auch in der Analyse politischer Vorgänge nutzt (vgl. Reus/Harden 2005; Haller 2003).
356
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
klassische Berichterstattung nicht erreichbar wären.239 Rager und Rinsdorf konstatieren, dass Journalismus durch entsprechende wirkungskalkulierte Aufbereitungen, die dazu dienen, die Vermittlungs- und Rezeptionschancen kommunikativ rationaler Auseinandersetzungen zu erhöhen, als „eine Art Katalysator“ für gesellschaftliche Debatten wirken kann.240 Eine rein ‚faktenorientierte‘ Berichterstattung gehe oftmals an den Bedürfnissen des Publikums vorbei, während kommunikativere (auch unterhaltendere Formate) die Verständnis- und damit auch die Verständigungshürden absenken und so gesellschaftliche Anschlussdiskurse stimulieren können.241 Eine strategische Komponente tritt hier neben die journalistische Kommunikativität – nicht an ihre Stelle –, um die für das Zustandekommen eines journalistischen, kommunikativen Verständigungsprozesses notwendige Formatangemessenheit zu gewährleisten.242 Diese verschiedenen Facetten kann eine diskursiv fundierte Medien- und Journalismusethik behandeln: Da die Diskursethik ihren Fokus weniger auf den Vorgang des Einklagens von Rechten als vielmehr auf das Procedere ihrer gemeinschaftlichen Entwicklung durch die Betroffenen legt, ist sie schließlich auch der Versuch einer Antwort auf das Problem, „[…] daß in einer fragmentierten und sich enorm beschleunigt verändernden Medienwelt Werte immer aufs neue in einem Konsensprinzip entwickelt werden müssen“, wie Thomaß schreibt.243 Für eine Medien- bzw. Journalismusethik ist diese Erweiterung des ethischen Fokus bei gleichzeitiger Spezifizierung der Perspektive eine besondere Chance, wenngleich die Diskursethik innerhalb der Kommunikationswissenschaft eine „durchaus widersprüchliche Aufnahme“ hat erfahren müssen244: „Eine diskurstheoretisch begründete Medienethik lässt sich von der normativen Programmatik öffentlicher Kommunikation leiten. In kritischer Auseinandersetzung mit den Sozialwissenschaften rekonstruiert sie Gefährdungen und Bedingungen für die Möglichkeiten verständigungsorientierter Kommunikation in modernen Gesellschaften.“245
Dabei, so Loretan weiter, besteht sie – auch gegen die Dominanz wirtschaftlicher Erwägungen in Medien und Medienpolitik – auf dem „Zielwert verständigungsorientierter öffentlicher Kommunikation“246; schließlich hängt die weitere Entwicklung der Möglichkeiten einer durch Journalismus symbolisch und durch Massenmedien materiell getragenen deliberativen Öffentlichkeit wesentlich davon ab, wie sich die Rollenträger in Politik, Medienunternehmen und journalistischen Redaktionen verhalten. Besonders Journalisten und Politiker tragen als die „Professionellen der kommunikativen Macht“247 in ihrem Handeln Verantwortung dafür, dass sich kommunikative Rationalität gegenüber zweckrationalen Erwägungen behaupten kann. Neben thematischer Sach- und journalistisch-methodischer Fachkompetenz ist in diesem Zusammenhang vor allem die bereits in Kapitel IV beschriebene allgemeine kommunikative Kompetenz der Journalisten gefragt.
239 240 241 242 243 244 245 246 247
Vgl. entsprechende Ergebnisse zur Rezeptionswirkung unterschiedlicher Vermittlungsformate in der Studie von Rager/Rinsdorf 2002c. Rager/Rinsdorf 2002a, S. 50 Ähnlich auch Pätzold (1999, S. 158) mit Blick auf die Reportage: „Die Ästhetik der Reportage stärkt die Information. Das ist ihre Leistung in einer Zeit unbegrenzter Beliebigkeiten medialer Vermittlungen.“ Vgl. Rager/Rinsdorf 2002a, S. 56 Thomaß 2000, S. 359f. Ebd., S. 361 Loretan 1999, S. 157 Ebd., S. 179 Loretan 1996, S. 39
5 Handlungsbedarf II: Die politische Herausforderung der systemischen Massenmedien
357
Eine diskursethisch fundierte Journalismusethik wird somit nicht von außen durch das Mediensystem hindurch appliziert, sondern in die systemisch gerahmten journalistischen Handlungsprozesse hineingetragen, indem sie direkt an der Vitalisierung der originären Kommunikativität des journalistischen Handelns ansetzt. Die Diskursethik leistet diese Aufgabe, indem sie auf die der kommunikativen Interaktion immanenten kontrafaktischen Rationalitätsunterstellungen setzt, die für das Gelingen von Verständigung unabdingbar sind und deshalb auch als ethische Maßstäbe begriffen werden können.248 „Indem Medienethik Dimensionen ethischer Verantwortung der beteiligten Rollenträgerinnen und -träger herausstellt, leistet sie einen Beitrag zur Sensibilisierung der normativen und kommunikativen Kompetenz der Betroffenen. Gegen überfordernde Moralisierungen nimmt sie umgekehrt Journalistinnen und Journalisten in Schutz, wenn diese aus strukturellen Gründen nicht ethisch handeln können. Konflikte publizistischen Handelns werden im Horizont einer diskursethischen Argumentation als komplexe Situationen verstanden, in deren Strukturen bereits widersprüchliche normative Erwartungen eingegangen sind.“249
Den Journalismus gegenüber zu großen Erwartungen in Schutz zu nehmen, erfordert die ethische Berücksichtigung der zunächst sehr grundsätzlichen Beobachtung, „[…] dass die Einbettung des Journalismus in ein kommerzielles, wettbewerbsorientiertes Mediensystem und in eine liberale Medienpolitik sowie seine organisatorische Verfasstheit zugleich die Bedingungen für den modernen Journalismus darstellen“.250 Vor diesem Hintergrund lassen sich Schwierigkeiten bei der Durchsetzung diskursiver Verfahren oder auch eine kolonialisierte, rein zweckrationale Ausübung des Journalismus zwar empirisch zutreffend beschreiben, allerdings nur sehr bedingt moralisch-praktisch rechtfertigen.
5
Handlungsbedarf II: Die politische Herausforderung der systemischen Massenmedien
Die Perspektive eines zweistufigen Gesellschaftsmodells verlangt nicht nur nach der Beschreibung diskursiv-ethischer Mechanismen der Selbstregulierung des Journalismus, sondern zugleich auch nach der Kennzeichnung politischer Mechanismen der Ausgestaltung medialer Systembedingungen. Diese sind spätestens seit der Einsicht notwendig, dass die im Liberalismus wurzelnde und in einem kommunikativ fundierten Modell tradierte „Hoffnung auf Selbststeuerung des Kommunikationsprozesses“ sich insbesondere in medialer Kommunika-
248
249 250
Baum und Scholl (2000, S. 98) haben darauf aufmerksam gemacht, dass sich diesbezüglich zwischen der diskurstheoretischen und der konstruktivistischen Begründung einer journalistischen Ethik – trotz aller Unterschiede in den theoretischen Ausgangspunkten – deutliche Gemeinsamkeiten feststellen lassen: Beide versuchen, Maßstäbe für einen guten Journalismus im Journalismus selbst anzusiedeln. Während der Konstruktivismus dazu vornehmlich auf reflexive Selbststeuerung kognitiv autonomer individueller Beobachter setzt, geht die Diskurstheorie vom formalpragmatisch bestimmten, intersubjektiv-kommunikativen Austausch, vom Diskurs, aus: „Im Unterschied zu den externen Steuerungsabsichten von Politikern oder wissenschaftlich (und politisch) unterstützten Media Watch Institutionen setzen der Konstruktivismus auf die ethisch-reflexive Selbststeuerung des Systems und die Diskurstheorie auf den moralisch-praktischen Diskurs der Beteiligten und Betroffenen. Beide Theorieangebote eint die Skepsis gegenüber Ansätzen, die ethische Verstöße durch Sanktionen verhindern wollen, obwohl sie unterschiedlich optimistisch sind, was die sanktionsfreie Durchsetzung des ethischen Reflexionspotenzials angeht.“ (ebd., S. 106) Loretan 2002, S. 287 Baum/Scholl 2000, S. 98
358
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
tion nicht erfüllt.251 Eine erfolgreiche Steuerung durch medienethische Reflexion basiert auf „Freiwilligkeit, entgegenkommenden sozialen Strukturen und langfristigen Stabilisierungsprozessen“, wie Debatin betont.252 Der sich aus diesem Voraussetzungsreichtum ergebende interne und indirekte Charakter medienethischer Steuerung reicht u.U. zur Koordination journalistischer Berufsnormen aus, ist aber zu schwach, um allein auch gegenüber den organisatorischen oder systemischen Rahmenbedingungen der Massenmedien wirksam zu sein. Ein Massenmediensystem stellt ein „festgefügtes Ensemble eigener Strukturgesetzlichkeiten“253 dar, das politisch, wirtschaftlich oder auch gesellschaftlich geprägt wird. Seine Entwicklung ist pfadabhängig, so dass einmal getroffene Grundsatzentscheidungen nicht einfach rückgängig zu machen sind, sondern Folgeprozesse und -institutionalisierungen bestimmen.254 Es bedarf institutioneller Vorkehrungen, zum Beispiel in Form eines angemessenen Regulationsrahmens, damit die Massenmedien im Sinne ihrer gesellschaftlich relevanten Aufgaben – wie Information oder Orientierung – funktionieren.255 Diese Vorkehrungen können auch dazu dienen, das stets prekäre Verhältnis zwischen öffentlichen und privaten Interessen im Medienbereich, das zunehmend in Richtung ökonomischer Imperative zu kippen droht, in Balance zu halten.256 „Die Funktion der Medien, und damit auch die Ausdifferenzierung des Mediensystems, müssen durch politische Steuerung gesichert bzw. erst geschaffen werden […].“257
Die Idee der Steuerung der Massenmedien geht davon aus, dass in einem arbeitsteiligen Prozess die institutionellen Rahmenbedingungen, unter denen Journalisten und Medien operieren, beeinflussbar sind, auch wenn zugleich funktionale Teilsysteme als Orientierungshorizonte diese Möglichkeiten sozial begrenzen.258 ‚Kommunikationspolitik‘ kann daher nach Ronneberger als „die mehr oder minder verbindliche Regelung von Kommunikationsverhältnissen, vornehmlich im Bereich der öffentlichen Kommunikation“ verstanden werden.259 Sie ist ein „geplantes und zielorientiertes Handeln zur Durchsetzung oder zur Schaffung oder Einhaltung von Normen im Bereich der Information und Kommunikation im öffentlichen oder im eigenen Interesse“.260 Dabei gewährleistet sie politischen Einfluss auf die Massenmedien und begrenzt diesen zugleich.261
251 252 253 254 255
256 257 258 259 260 261
Glotz 1965, S. 23. Wie früh das der Fall ist, zeigen die von Roegele (1965) und Lerg/Steininger (1975) zusammengetragenen kommunikationspolitischen Dokumente. Debatin 1997, S. 301 Kopper 1992, S. 71 Vgl. Jarren 2002 Vgl. Branahl 1992, S. 86. Bezogen auf das Rundfunksystem konstatiert Donges (2002, S. 278), „[…] dass Publizistik als teilsystemischer Orientierungshorizont […] zu ‚schwach‘ ist, um gegenüber den anderen Handlungsorientierungen zu bestehen und daher erhalten, abgesichert und ggf. ausgebaut werden muss. Ziel politischer Steuerung ist daher mit anderen Worten die Absicherung der funktionalen Differenzierung des Rundfunksystems, die in akteurtheoretischer Sicht ja auf das Handeln von Akteuren (und nicht auf evolutionäre Prozesse wie in der systemtheoretischen Argumentation) zurückgeführt wird.“ So im öffentlich sehr kontrovers diskutierten Fall Berliner Zeitung vs. Montgomery aus 2005 (vgl. Roether 2005 sowie die Dokumentationen und Beiträge in epd medien, Nr. 83 vom 22.10.2005). Jarren/Donges 2004, S. 47f.; vgl. zur Einführung in die Steuerungs- und Regulierungsdebatte: Donges 2002, S. 65ff. Vgl. Donges 2002, S. 111 Ronneberger 1978b, S. 93 Tonnemacher 2003, S. 21 Vgl. Vowe 2003b, S. 112
5 Handlungsbedarf II: Die politische Herausforderung der systemischen Massenmedien
359
Es ist zu unterschieden zwischen kommunikationspolitischen Aufgaben, die sich auf die gesamte Bandbreite gesellschaftlicher Kommunikation beziehen, und medienpolitischen Aufgaben, die direkt oder indirekt auf Fragen der strukturellen Ausgestaltung des Mediensystems zielen.262 Diese Grundsatzentscheidungen werden von einem ganzen Ensemble gesellschaftlicher Akteure getroffen, die an der Steuerung der Bedingungen gesellschaftlicher Kommunikation beteiligt sind. Kopper betont, dass der „[…] gesellschaftliche Verfahrensprozeß, der (a) sowohl vor der institutionellen und (b) auch vor der Ausdrucksebene des Massenmediensystems liegt, für ein zureichendes Verständnis von Kommunikationspolitik das größere Gewicht hat“.263 Dieser gesellschaftliche Verfahrensprozess wird insbesondere in modernen ‚Governance‘-Ansätzen als Bezugspunkt gewählt, denen es vorwiegend darum geht, Verfahren zu beschreiben, nach denen Massenmedien gesteuert werden können. Diese ‚Governance‘Ansätze sind – anders als viele klassische Regulierungsmodelle264 – anschlussfähig an die Annahmen deliberativer Demokratie- und Öffentlichkeitsmodelle. Im Folgenden sollen zunächst Instrumente und Ziele kommunikationspolitischer Steuerung allgemein dargestellt werden (1), bevor ein daran anschließender ‚Governance‘-Ansatz näher skizziert wird (2).
5.1
Instrumente und Leitideen der Kommunikations- und Medienpolitik
Mit der Schaffung einer positiven, rechtlich gesicherten Ordnung, der staatlich-politischen Intervention bei Marktversagen, dem ökonomischen Marktmodell und dem Modell der unternehmerischen (Selbst-)Verantwortung können klassisch vier grundlegende kommunikationspolitische Ordnungsmodelle unterschieden werden.265 (1) Rechtliche Steuerung: Klassische kommunikationspolitische Modelle betonen die ordnungspolitisch fokussierte und auf rechtlicher Normierung basierende Gestaltung der Medienordnung, in der das formale Recht und die Rechtssprechung eine erhebliche Bedeutung besitzen.266 In einzelnen Steuerungsbereichen ist eine „Verrechtlichung der Kommunikationspolitik“267 zu konstatieren, die Ausdruck einer weitgehend demokratischen Zielen folgenden Ausgestaltung des Mediensystems ist.268 Das Recht erfüllt die Aufgabe, einen grundlegenden kommunikationspolitischen Ordnungsbedarf zu befriedigen. Diese wird erbracht durch „Vorgaben für die inhaltliche Gestaltung der Massenmedien (Inhaltsnormen), ihre Organisation (Organisationsnormen) und die Regelung der Rahmenbedingungen […], unter denen sie arbeiten“.269 Abgesehen von grundsätzlichen Entscheidungen über die Verfassung der Kommunikationsordnung fungieren rechtliche Normen in der Regel als Schrankennormen für die Medienfreiheit, indem sie „in erster Linie dem Schutz der Allgemeinheit (Staatsschutz, Jugendschutz, Schutz des inneren Friedens) und der Wahrung der Rechte Dritter (Ehrenschutz, 262 263 264
265 266 267 268 269
Vgl. zu dieser Unterscheidung Jarren 1994, S. 135f. Kopper 1992, S. 74; vgl. Vowe 2003b, S. 119 Regulierung meint, so weit nicht anders spezifiziert, Fremdregulierung: Sie kann als „[…] intendierter Staatseinfluss verstanden werden. Der Akteur Staat greift in ein gesellschaftliches Teilsystem ein, wobei dies nicht in Form von Geboten und Verboten geschehen muss“ (Puppis u.a. 2004, S. 104). Unter Regulierung lässt sich die Korrektur von Marktergebnissen durch Verhaltensbeeinflussung privater Unternehmen und durch öffentliche Unternehmen mit öffentlichen Aufgaben verstehen (vgl. Heinrich 1994, S. 39). Vgl. zu dieser Differenzierung in vier Modelle Jarren 1999. Vgl. zur rechtlichen Regulierung Branahl 2002; 1999a; Schulz 1996; grundsätzlich: Branahl 1996. Ronneberger 1995, S. 199 Vgl. dazu Saxer 2002 [1981], S. 77 Branahl 2002, S. 75
360
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
Persönlichkeitsschutz, Urheberrecht)“ dienen.270 Aktive Gestaltung gesellschaftlicher Kommunikation ist mit diesem Instrumentarium weder gewollt noch möglich. Recht kann Mediensysteme letztlich nur „subsidiär“ normieren, weil allzu starre rechtliche Regelungen dem Geist der Medienfreiheit widersprechen.271 Schon Rühl warnt daher davor, Kommunikationspolitik allein oder auch nur vorwiegend als ein rechtliches Problem zu betrachten.272 (2) Politisch-administrative Steuerung: Politik ist als gemeinwohlorientiertes Handeln zu Interventionen in das Mediensystem berechtigt, benötigt aber aufgrund der besonderen rechtlichen Stellung der Medien (Staatsfreiheit) ein hohes Maß an allgemeiner öffentlicher Zustimmung, um Medienregulierungsversuche erfolgreich zu unternehmen.273 Direkte staatliche Steuerung beschränkt sich im Medienbereich weitgehend auf wettbewerbsrechtlich abgesicherte Eingriffe und auf Struktursteuerung zur Gewährleistung ausreichender Medienzugänge.274 Steuernde Eingriffe des politisch-administrativen Systems in die Massenmedien sind in Form von Ordnungspolitik (z.B. Einführung einer ‚dualen Rundfunkordnung‘), Infrastrukturpolitik (z.B. Zuweisung von Frequenzen oder Verkabelung), Medien-Organisationspolitik (z.B. Formen der Rundfunkorganisation und -kontrolle beim öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk) und Personalpolitik (z.B. Besetzung von Positionen in Aufsichts- und Lizenzierungsgremien der ‚Landesmedienanstalten‘) denkbar.275 Löffelholz interpretiert auch die Einrichtung der universitären Journalistik als einen strategisch politischen Steuerungsversuch, der nicht nur das Marktversagen im Bereich der Ausbildung kompensieren sollte, sondern zugleich über das Instrumentarium des Hochschulrechts auch politische Einflussmöglichkeiten auf das angehenden Journalisten zu vermittelnde Wissen schaffen sollte.276 (3) Wirtschaftliche Steuerung: Ökonomische Prämissen bestimmen – wie dargelegt – maßgeblich die De-facto-Verfasstheit des Mediensystems. Grundlage dafür ist die historisch gewachsene Trennung zwischen der individualrechtlich normierten Pressefreiheit und den auf soziale und wirtschaftliche Strukturen abzielenden Vorschriften im Handels- und Wirtschaftsrecht.277 Ökonomisch verfasste Medienorganisationen genießen daran anschließend auf der Basis der Gewerbefreiheit innerhalb marktwirtschaftlicher Systeme weitgehende Freiheiten, die staatliche oder gesellschaftliche Eingriffe mit dem Ziel der Steuerung erschweren.278 Der Umsetzung gesellschaftlicher Kommunikationsziele ist mit wirtschaftspolitischen Konzepten nur in geringem Umfang gedient, da diese zwar auf eine marktgängige Vielfalt, nicht aber auf eine gesellschaftlich notwendige publizistische Qualität oder auf ausreichende demokratische Aufgabenerfüllung abzielen.279 Selbst bei prinzipieller Akzeptanz des ökonomischen Marktmodells muss eine gesellschaftliche oder politische Gestaltung des Marktrahmens als notwendig erachtet werden, um ökonomisch getriebene Konzentrationsprozesse zu unterbinden oder
270 271 272 273 274 275 276 277 278
279
Branahl 1999b, S. 182 Saxer 2002 [1981], S. 80 Vgl. Rühl 1973, S. 7 Vgl. Jarren 1996b, S. 214 Vgl. Jarren 1998b, S. 26 Vgl. Jarren 1994, S. 109f. Vgl. Löffelholz 1990 Vgl. Kopper 1982, S. 70 Ökonomische Steuerungsprämissen erschweren sowohl die Fremdsteuerung durch andere gesellschaftliche Bereiche wie Politik oder Kultur als auch die Selbststeuerung nach publizistischen Kriterien (vgl. Roß 1999, S. 261). Die Dominanz von Profítstrategien bedroht überdies journalistische Handlungsräume, indem journalistische Qualität kommerzieller Erfolgslogik untergeordnet wird (vgl. Branahl 1999a, S. 325). Vgl. Heinrich/Lobigs 2003, S. 267; vgl. auch die Beiträge in Rager/Weber 1992a.
5 Handlungsbedarf II: Die politische Herausforderung der systemischen Massenmedien
361
Zugangsmöglichkeiten für Rezipierende offen zu halten.280 Es geht dabei mindestens um auch die Korrektur von Marktversagen. (4) Steuerung durch Selbstkontrolle: Die Etablierung von Selbstkontrollmechanismen erfolgt in der Regel reaktiv, um politische oder rechtliche Eingriffe zur Stützung publizistischer Qualität abzuwehren.281 Es kann definitorisch differenziert werden zwischen Selbstorganisation, bei der sich die Regeln nur auf eine Organisation oder Institution beziehen, Selbstregulierung, bei der private Akteure wie Medienunternehmen Regeln für ihre ganze Branche formulieren und durchsetzen, sowie regulierter Selbstregulierung oder Co-Regulierung, bei der die Steuerung eines Sektors oder einer Branche entweder gemeinsam mit dem Staat oder zumindest in dessen Auftrag von privaten Akteuren vorgenommen wird.282 Eine solche Selbstregelung des medialen Angebots markiert eine Schnittstelle zu den bereits beschriebenen Diskursen über journalistische Ethik.283 Auch Medien als Institutionen werden so auf eine soziale Verantwortung hin verpflichtet, deren Erfüllung sie mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen im Zusammenspiel von medialen und journalistischen Imperativen allein oder im Diskurs mit ihren gesellschaftlichen Stakeholdern leisten sollen. Während Konzepte der Selbstregulierung bereits auf ein prozedurales Verständnis verweisen, strebt die klassische ‚Kommunikationspolitik‘ noch nach der konkreten Benennung medialer Qualitätsziele, die durch regulierende (Fremd-)Eingriffe gesichert werden sollen. Zumeist werden abstrakte Leitideen wie Autonomie, Vielfalt und Ausgewogenheit284 oder Qualitätsmerkmale wie Angemessenheit und Funktionalität285 genannt, die sich auf den Inhalt medialer Berichterstattung beziehen. Tonnemacher sieht als Ziele von demokratischer Kommunikationspolitik u.a. • die Informations- und Meinungsfreiheit, • die Freiheit und Unabhängigkeit von Presse, Rundfunk, Film und Neuen Medien, • die Vielfalt im Informations- und Kommunikationsangebot, • die Qualität der journalistischen Produkte sowie • die Ausgewogenheit im Informations- und Kommunikationsangebot als Ganzem.286 Neben derartigen medialen Produkt- oder Struktureigenschaften stehen bisweilen auch gesellschaftliche Ziele im Zentrum kommunikationspolitischer Steuerung. So sollen nach Ronneberger mediale Kommunikationsprozesse durch Kommunikationspolitik so gesteuert werden, dass ein freiheitlich-demokratisches System seinem Wesen gemäß erhalten und entwickelt werden kann.287 Kommunikationspolitik soll demnach versuchen, die maßgebliche Infrastruktur gesellschaftlicher Kommunikation zu gewährleisten. Wenn die Absicherung einer „[z]eitnahe[n] Reflexion über gesellschaftliche Entwicklungen“288 oder einer „offenen, freien und möglichst vollständigen Diskussion der verschiedenen Standpunkte“289 als Ziele von kommunikationspolitischer Steuerung genannt werden, dann weil dies von gesellschaftlicher
280 281 282 283 284 285 286 287 288 289
Vgl. Jarren/Donges 2004, S. 59 Vgl. Jarren 2002 Vgl. Puppis u.a. 2004, S. 10 Vgl. dazu Saxer 2002 [1981], S. 80 Vgl. Ronneberger 1978b, S. 215ff. Vgl. Saxer 2002 [1981], S. 76 Vgl. Tonnemacher 2003, S. 49 Vgl. Ronneberger 1966, S. 400 Jarren 1998b, S. 25 Tonnemacher 2003, S. 47
362
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
Relevanz ist.290 Insbesondere das Postulat medialer Vielfalt ist bis heute eine der zentralen Leitideen kommunikationspolitischer Überlegungen.291 „Publizistische Vielfalt ist kein Selbstzweck. Sie hat eine ‚dienende‘ Funktion: Sie dient dem Prozeß der demokratischen Meinungs- und Willensbildung. Das theoretische Konzept, das den Forderungen nach publizistischer Vielfalt zugrunde liegt, ist der Pluralismus […].“292
Vielfalt dient laut Rager und Weber der demokratischen Meinungs- und Willensbildung; sie bedeutet, dass die im gesellschaftlichen Gespräch vertretenen Meinungen und Informationen in möglichst großer Bandbreite weiter vermittelt werden, und kann sowohl durch die (marktwirtschaftliche) Gestaltung einer breiten Medienkonkurrenz (Außenpluralität) als auch durch Programmvorgaben (Binnenpluralität) politisch gesichert werden.293 Die Durchsetzung dieser Norm wird nicht zuletzt dadurch kompliziert, dass sie kaum präzise formulierbar ist, sondern meist nur relativ konkretisiert werden kann – zum Beispiel als „ein Angebot, das in unterschiedlichen Marktsegmenten der Massenmedien größtmögliche Vielzahl und Unterschiedlichkeit von Informationen und Meinungen repräsentiert“.294 Generell sind Kommunikations- und medienpolitische Konzeptionen in Demokratien, die Medienfreiheit als Unabhängigkeit vom Staat konzipieren, mit einem „Legitimationsdefizit“295 oder zumindest mit „knappen Legitimationsressourcen“296 belastet. Staatliche Medienpolitik befindet sich in der paradoxen Situation, durch staatliche Eingriffe in das Mediensystem eben dessen Freiheit auch von staatlichen Eingriffen zu gewährleisten. Ein Umstand, der zu dem Diktum „Die beste Medienpolitik ist gar keine Medienpolitik“297 geführt hat und der sich regelmäßig in der nur beschränkten Umsetzbarkeit von Steuerungsversuchen ausdrückt – umso mehr seit die Vorstellung eines steuernden Staates als politisches Leitbild unter Druck geraten ist und viele ehemals staatlich oder gesellschaftlich regulierte Bereiche privatisiert werden. Im Gegenzug ist von medienkritischer Seite schon früh eine ‚Medienpolitik von unten‘ gefordert worden, die Aussicht auf Erfolg besitze, weil ihre Diskussionen außerhalb der Massenmedien stattfänden.298 Richtig daran ist, dass medienpolitische Interventionsversuche heutzutage ohne gesellschaftliche Zustimmung kaum Aussicht auf Erfolg besitzen, weil Staat 290 291
292 293
294
295 296 297 298
Schon Siebert, Peterson und Schramm (1963) haben darauf hingewiesen, dass die Ausgestaltung des Mediensystems eng mit gesellschaftlichen Leitbildern verwoben ist und autoritäre, libertäre, soziale und kommunistische Gesellschaften deshalb je eigene Medienverfassungen ausgeprägt haben. Vgl. dazu Rager 1982, S. 3ff. Kopper (1992, S. 50) kritisiert, dass das „Vielfalts-Paradigma“ nicht nur als „Fundament der kommunikationspolitischen Auseinandersetzungen“ fungiere, sondern „im Kern eine Art Ersatz- oder auch Pseudotheorie für die operative Seite der öffentlichen Kommunikation“ bilde. Vgl. zum Vielfaltsbegriff aus ökonomischer Sicht auch Heinrich 1994, S. 105ff. Rager/Weber 1992b, S. 8 Vgl. Rager/Weber 1992b, S. 8ff.. Das außenplurale Vielfaltspostulat geht davon aus, dass Vielfalt am besten durch „freie Marktkonkurrenz“ garantiert werden kann (Saxer 1992, S. 111). Das binnenplurale Vielfaltspostulat ist in der Bundesrepublik vor allem rechtlich durch die Rundfunkurteile des Bundesverfassungsgerichts ausformuliert worden (vgl. Branahl 1992, S. 91). Rager/Weber 1992b, S. 10. Empirisch lässt sich feststellen, dass Medienpolitik hinsichtlich der Vielfaltssicherung wenig erfolgreich gewesen ist (vgl. Jarren 1996b). Saxer (1998a, S. 44) nennt die chronische Schwäche der Linkspresse und die Pressekonzentration als maßgebliche Probleme bei der Etablierung eines pluralistischen Medienmarktes. Rager/Weber (1992b, S. 14ff.) regen daher an, die auf Binnenpluralismus zielenden Konzepte des Rundfunks teilweise auf den Printsektor zu übertragen. Saxer 1993c, S. 6. Auch Ronneberger (1978b, S. 89) spricht „Legitimationsprobleme der K-Pol“ an. Saxer 1992, S. 114 Johannes Groß: Medienpolitik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.12.1971, S. 1, zit.n. Rühl 1985a, S. 305 Vgl. Fabris 1976, S. 44
5 Handlungsbedarf II: Die politische Herausforderung der systemischen Massenmedien
363
gegenüber der Medienwirtschaft über „geringes rechtliches und ökonomisches ‚Drohpotential‘“ verfügt.299 Medienpolitik bleibt „ein nur schwach institutionalisiertes und stark fragmentiertes Politikfeld“.300 Dies findet seinen Ausdruck • in einem hohen Maß an ‚Gewaltenteilung‘, • in formalisierten Formen der ‚Politikverflechtung‘, • in geringer Professionalisierung im politisch-administrativen System und • in starken Einflüsse aus dem juristischen Bereich.301 Direkte gesellschaftliche Steuerung der Medien und noch mehr der Medieninhalte muss vor diesem Hintergrund als prekär erscheinen. In erster Linie können vielmehr die systemischökonomischen Strukturaspekte der Massenmedien wie Marktverfassung oder organisatorische Vorgaben durch politisch-administrative Maßnahmen formal gestaltet werden.302 In den meisten anderen Bereichen der Mediensteuerung sind dagegen aufwändigere Interaktionssysteme notwendig, in denen der Steuerungsbedarf (diskursiv) verhandelt werden kann.303 Vor diesem Hintergrund benennt Donges das Markieren von Trennlinien zwischen Publizistik und Ökonomie auf den Ebenen der institutionellen Ordnung und der Akteurskonstellation, die Sicherung der Grenzen des Teilsystems zu und des Austauschs mit anderen Teilsystemen sowie die Förderung der Beziehungen zwischen dem Teilsystem und gesellschaftlichen Gruppen bzw. Akteuren (insbesondere auch zum Publikum) als normative Ziele von Steuerung im Medienbereich.304 Ergebnis könnte auch eine Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Bereichen der der Informationsproduktion im Mediensektor sein, wie sie Heinrich im Anschluss an je unterschiedliche Steuerungslogiken vorschlägt:305 • In einem Forumsbereich, für den der ökonomische Wettbewerb prinzipiell kein geeignetes Regelungsmodell ist, sollen meritorische und öffentliche Informationen zugänglich sein, die in einer Demokratie konstitutiv für das Funktionieren des Gemeinwesens sind. Für diesen Bereich müssen ständig neue flexible Organisationsformen entwickelt und implementiert werden. • Im Bereich der privaten Gebrauchswertinformationen, also v.a. der Unterhaltung, ist es dagegen sinnvoll privatwirtschaftliche Marktstrukturen die notwendigen Steuerungsleistungen erbringen zu lassen. Politik setzt hier lediglich einen ordnungsrechtlichen Rahmen.
299 300
301 302 303 304 305
Jarren 1996b, S. 207. Die Möglichkeit der Kontrolle der Marktkräfte nimmt zunehmend ab (vgl. Meier 2004, S. 4). Ein „politischer Steuerungsverlust“ (Jarren/Donges 2004, S. 52) ist empirisch feststellbar. Jarren/Donges 2004, S. 55. Jarren (1994, S. 115) beklagt das Fehlen von „theoretisch begründeten Leitbildern oder Leitideen für die Entwicklung des Mediensystems“. Ein Grund dafür ist, dass eine wissenschaftliche Kommunikationspolitik, von der diesbezügliche Anregungen zu erwarten gewesen wären, lange Zeit als emergierendes eigenständiges Fachfeld nicht vollständig etabliert war, sondern sich zwischen verschiedenen ideologischen Polen bewegte (vgl. Rühl 1985a). Schon 1973 forderte Rühl eine systemisch begründete wissenschaftliche Kommunikationspolitik, die effektiv der Entwicklung angemessener kommunikativer Rahmenbedingungen der öffentlichen Kommunikation dient und Probleme weder schlicht auf Gewinnstreben reduziert, noch sie durch rhetorische Besänftigungen verharmlost. Er beklagte damals vor allem „Umgangssprache und Rechtsnormativismus“ als zentrale Probleme der frühen Fachentwürfe (Rühl 1973, S. 6). Vgl. Jarren 1994, S. 116 Vgl. Jarren 1996b, S. 212f. Die „strukturelle Garantierung publizistischer Vielfalt“ (Saxer 1992, S. 126) ist in dieser Hinsicht viel versprechender als zum Beispiel inhaltliche Vorgaben. Medienpolitisch werden zahlreiche Instrumente ausprobiert, um dem Steuerungsbedarf gerecht zu werden. Dazu zählen Pilotprojekte ebenso wie zeitlich befristete Regelungen, prinzipielle Grundsatzentscheidungen oder die Einrichtungen von Kommissionen zur Verhandlung oder Evaluation (vgl. Jarren 1994, S. 116). Vgl. Donges 2002, S. 184f. u. 278 Vgl. Heinrich 1999, S. 258f.
364
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
Mit der Herausnahme der meritorischen und öffentlichen Medieninformation aus der reinen Marktsteuerung würde nicht zuletzt der Einsicht Rechnung getragen, dass sich die in modernen Demokratien für Meinungs- und Willensbildungsprozesse zentralen publizistische Vielfaltspostulate in einer von ökonomischen Codes geprägten Umwelt nur schwer durchsetzen. Durch die für solch ein Vorhaben konstitutiven prozeduralen Maßnahmen werden „neue Wege der Verbindung von Selbständigkeit und Fremdverpflichtetheit“ beschreibbar, die Saxer bereits vor einem Vierteljahrhundert von den Steuerungsversuchen der Kommunikations- und Medienpolitik gefordert hat.306
5.2
‚Media Governance‘ als Steuerungsalternative
Aufgabe eines kommunikationspolitischen Steuerungsansatzes in einem zunehmend komplexeren Wechselspiel zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist es, die journalistische und mediale Verantwortung gegenüber der Gesellschaft politisch-sozial zur Geltung zu bringen. Medien- und Kommunikationspolitik ist als „ein eigenständiges – und nicht allein politischadministrativ geprägtes – sowie hoch flexibles Handlungssystem“307 aufzufassen, das die Strukturen des Mediensystems mitbestimmt und zu diesem Zweck alle unterschiedlichen Stakeholder medialer Leistungen in öffentlichen Diskurs- und Entscheidungszusammenhängen integriert. Meier verwendet für ein solches zu etablierendes Regelungsnetzwerk unterschiedlichster Akteure den Begriff „Media Governance“.308 Der Begriff ‚Governance‘ ist maßgeblich von der Politikwissenschaft geprägt worden.309 Er bezeichnet zunächst ganz allgemein die „geordnete Interdependenzbewältigung in Akteurskonstellationen“.310 Als eine formale „Regelungsstruktur“, in der staatliche Institutionen gemeinsam und in Kooperation mit privaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren den gesellschaftlichen Regelungsbedarf bearbeiten, umfasst ‚Governance‘ somit „das Gesamt aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte: von der institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Selbstregelung über verschiedene Formen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure bis hin zu hoheitlichem Handeln staatlicher Akteure“, wie Mayntz ausführt.311 Die Herausforderung vor der politische Akteure gleich welcher institutionellen Herkunft stehen, lautet: „Politische Steuerung in einer funktional differenzierten statt der Gesellschaft“.312 Der Begriff ‚Governance‘, der dieses Phänomen zu fassen versucht, schillert in seiner Bedeutung in Abhängigkeit von seinem jeweiligen Anwendungsfeld. Allerdings lässt sich ein in verschiedenen Konzepten konstanter Begriffskern ausmachen, der folgende Aspekte integriert:313 • die Steuerung oder Koordination als Management von Interdependenzen zwischen meistens kollektiven Akteuren;
306 307 308 309 310 311 312 313
Saxer 2002 [1981], S. 80 Jarren 1996b, S. 211. Ronneberger (1995, S. 191) spricht von einem „Sozialsystem“. Meier 2004, S. 6. Nach Fertigstellung der vorliegenden Studie ist ein umfassender Debattenband zum Konzept der ‚Media Governance‘ (vgl. Donges 2007) erschienen, der hier leider nicht mehr berücksichtigt werden kann. Vgl. zu dem Begriff einführend die Beiträge in Benz 2004a. Lange/Schimank 2004, S. 27 Mayntz 2004, S. 66 Donges 2002, S. 106 Vgl. Benz 2004b, S. 25
5 Handlungsbedarf II: Die politische Herausforderung der systemischen Massenmedien
365
•
die Fundierung von Steuerung und Koordination auf einer institutionalisierten Kombination unterschiedlicher Regelsysteme wie Markt, Hierarchie, Mehrheitsregel, Verhandlungsregeln u.ä.; • die Etablierung von Interaktionsmustern und Modi kollektiven Handelns im Rahmen von Institutionen wie politischen Netzwerken, Vertragsbeziehungen oder wettbewerbsbedingter Anpassung; • das Überschreiten von Organisationsgrenzen durch die verschiedenen ‚Governance‘Mechanismen mit dem Ziel eines kooperativen Zusammenwirkens von ‚Insidern‘ und ‚Outsidern‘ in der politisch-gesellschaftlichen Steuerung. Kern von ‚Governance‘ im kooperativen Staat ist die Etablierung so genannter „Politiknetzwerke“, in denen der Staat zwar Erster unter Gleichen ist, aber in Verhandlungen zwischen den Repräsentanten unterschiedlichster staatlicher, politischer, gesellschaftlicher oder privater Akteure kein alleiniges Steuerungsprimat mehr besitzt.314 ‚Governance‘-Konzepte betonen insbesondere „die gewachsene Bedeutung von Verhandlungen und Verhandlungssystemen für die Entwicklung und Implementation von Politik im kollektiven Interesse“.315 Staat muss dabei nicht notwendigerweise an Macht verlieren, sondern kann durch die Umstellung von Hierarchie auf Heterarchie sogar neue Gestaltungsmöglichkeiten gewinnen.316 Zunehmend werden auch in medienpolitischen Konzepten die Möglichkeiten einer Steuerung der Massenmedien auf der Grundlage von ‚Governance‘-Konzeptionen diskutiert. Vor allem Jarren und Donges haben Vorschläge unterbreitet, die auf verhandlungsbasierte Steuerungsmodelle abstellen.317 Ihnen geht es um einen Regulierungsansatz, der vor allem auf eine „Regulation der Verfahren“ sowie auf „flexible Netzwerkstrukturen“ setzt, in denen medienpolitische Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden.318 Dazu ist der Ausbau jener intermediären Organisationen notwendig, die das Zentrum des politisch-administrativen Systems mit seiner zivilgesellschaftlichen Peripherie verbinden, da zivilgesellschaftliche Akteure an den Massenmedien und ihrer Ausgestaltung nach wie vor nicht ausreichend partizipieren. Es müssen Akteure etabliert und gefördert werden, die in der Lage sind, mögliche Steuerungsbedarfe zu artikulieren, um auf dieser Basis dem politisch-administrativen System – sei es in Verhandlungen, sei es administrativ – zu ermöglichen, Steuerungsprozesse anzustoßen, ohne dadurch die verfassungsrechtlich garantierte Medienfreiheit zu gefährden. Zu derartigen Akteuren gehören vor allem solche Organisationen, welche die Interessen des Medienpublikums, das aus sich selbst heraus keinen eigenständigen Status als Kollektivakteur entwickeln kann, eine Stimme geben können.319 Jarren und Donges schlagen ein „Mehrebenen-AkteurModell“ vor, in dem die vorhandenen Aspekte einer ‚Media Governance‘ nach Akteuren, Regelungsbereichen und -mechanismen differenziert werden:320 • Handlungsebene 1: Steuerung durch staatliche Instanzen und politische Akteure, die ordnungspolitische und medienstrukturelle Probleme behandeln; 314 315 316
317 318 319 320
Mayntz 2004, S. 69 Ebd., S. 71 Zum Beispiel, indem Staat Initiativmöglichkeiten in gesellschaftlichen Bereichen erhält, die er sonst ganz ökonomischer o.ä. Steuerung preisgeben müsste (vgl. Jarren/Donges 2000, S. 239). ‚Governance‘-Strukturen folgen dem staatlichen „Interesse der Aufrechterhaltung der eigenen Handlungsfähigkeit in einem sich verändernden institutionellen Kontext“ (Mayntz 2004, S. 72). Vgl. Jarren/Donges 2000; Donges 2002 Jarren/Donges 2000, S. 234 Vgl. ebd., S. 237f. Vgl. zum Folgenden ebd., S. 258f.; Donges 2002, S. 32.
366
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
•
Handlungsebene 2: Steuerung durch eine Regulierungsbehörde, die ökonomische Medienakteure zu Selbstorganisation und -regulierung anhält; • Handlungsebene 3: Steuerung durch wissensbasierte Organisationen und gesellschaftliche Akteure, welche die Reflexion von Programm- und Inhaltsfragen leisten321. Politisch-administrativen Akteuren fällt hier die Aufgabe der Gestaltung der Zusammensetzung, der Strukturen, der formalen Regeln und der Ziele derjenigen Verhandlungs- und Reflexionssysteme, mithin derjenigen ‚Politiknetzwerke‘ zu, in denen sich die verschiedenen Akteure begegnen und miteinander interagieren können.322 „Das politisch-administrative System muß zur Realisierung dieser Konzeption einen breiten Kommunikationsraum zwischen Staat und Gesellschaft organisieren, normativ absichern und mit unterschiedlichen Institutionen entsprechend der genannten Ansätze versehen bzw. deren Bildung anregen (von der Staatsaufsicht bis hin zur Selbstkontrolle), in denen dann – unter staatlicher Mitwirkung oder öffentlicher Teilhabe bzw. Teilnahme – Beobachtungs-, Diskussions- und Verhandlungsprozesse stattfinden.“323
Diese Aushandlungs- oder Diskursprozesse lassen sich kaum inhaltlich im Sinne einer leistungsbezogenen Steuerung normieren: Erstens kann heutzutage kaum mehr davon ausgegangen werden, dass alle Anforderungen an das Mediensystem tatsächlich erfassbar sind; zweitens sind die bereits bekannten Anforderungen in der Regel so widersprüchlich, dass sie sich kaum in qualitative Gebote übersetzen lassen, und drittens können die Sanktionsnotwendigkeiten für den Fall der Nichteinhaltung solcher Gebote ein prekäres Einfallstor für parteipolitische Machtinteressen darstellen.324 Formale Vorgaben im Sinne einer prozessorientierten Steuerung müssen daher genügen, damit die beteiligten Akteure auf fairen Wegen zu gemeinsamen Ergebnissen gelangen können, ohne dass soziale oder politische Macht jede Verhandlung a priori überflüssig machen. Dazu können Verfahrensrichtlinien genauso wie Partizipationsvorschriften oder Evaluationsprozesse beitragen.325 Solche prozessorientierte Steuerung ist – wie ein deliberatives Demokratiemodell verdeutlicht – nicht gleichzusetzen mit schwacher Steuerung, sondern kann sehr wohl auch weitreichende, aber dabei formale Vorgaben bedeuten, die auf indirekte Verhaltensregeln statt auf direkte Qualitätsvorschriften zielen.326 Diese prozeduralen Regeln betreffen die Beziehungen zwischen politischen Organisationen und Medienorganisationen in der allgemeinen Öffentlichkeit, die Austauschverhältnisse auf medienwirtschaftlichen Märkten und die Beziehungen innerhalb der jeweiligen Medienorganisationen.327 Jarren unterscheidet konkret vier Verhandlungszonen, in denen kommunikationspolitisch relevante Steuerungsfragen behandelt werden, die der prozeduralen Regelung bedürfen:328 321
322 323 324 325 326 327 328
Hierzu schlagen Jarren und Donges (2000, S. 248ff.) die Etablierung einer unabhängigen „Stiftung Media Watch“ für die systematische Analyse der Medienentwicklung und die Einrichtung eines Medienrates als allgemeines Sachverständigengremium vor, um die gesellschaftliche Diskussion mit Informationen zu versorgen und zugleich eine Instanz zu etablieren, die den Diskurs als institutionelle Vorkehrung stabilisieren und lenken könnte. In eine ähnliche Richtung gehen Vorschläge für eine „Stiftung Medientest“ (vgl. Krotz 1996). Auch im ‚Bericht zur Lage des Fernsehens für den Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland‘ (Groebel u.a. 1995) lassen sich Überlegungen finden, die auf die Etablierung entsprechender Diskursvorkehrungen zielen. Vgl. Jarren/Donges 2000, S. 250ff. Jarren 1996b, S. 219 Vgl. Donges 2002, S. 284 Vgl. ebd., S. 279ff. Die Gestaltung solcher Verhandlungsprozesse ist u.a. Gegenstand entscheidungstheoretischer Modelle, die auf strategische Tauschbeziehungen zwischen den einzelnen Akteuren abstellen (vgl. Vowe 2003a, S 212ff.). Vgl. Donges 2002, S. 279 Vgl. Vowe 2003a, S. 216 Vgl. Jarren 2002
5 Handlungsbedarf II: Die politische Herausforderung der systemischen Massenmedien
367
• • • •
im Medienbetrieb selbst zwischen Medienorganisationsakteuren und Journalisten, auf der Ebene kollektiver Akteure (Verbände), zwischen kollektiven Akteuren und Medienbetrieben sowie auf der Ebene von Regulierungsbehörden, in denen neben Vertretern aus Medien und Journalismus auch staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure vertreten sein können. In allen Bereichen sind ‚Spielregeln‘ notwendig, nach denen verschiedene Stakeholder ihre Anliegen vorbringen und miteinander verhandeln können. Im Idealfall handelt es sich dabei um institutionelle Vorkehrungen, die auch diskursive Austauschprozesse im beschriebenen Sinne zulassen; mindestens aber ist die Fairness von Verhandlungsprozessen zu gewährleisten. Das betrifft auf einer Meta-Ebene auch die Verhandlungsbedingungen der Regulierer: „So wie der Spielraum der kommunikativen Akteure wird auch der Spielraum der regulierenden Akteure durch Regulierungen begrenzt – durch Regeln für die Entscheidung. Die sind im politisch-rechtlichen Ordnungsrahmen festgelegt, der seinerseits in grundlegenden Orientierungsmustern wurzelt.“329
Die Trennung von grundsätzlichen, prozeduralen Entscheidungen erster Ordnung und situativen, leistungsbezogenen Entscheidungen zweiter Ordnung trägt der zunächst formalistischen Ausgestaltung demokratischer politischer Prozesse Rechnung. Sie gewährleistet den Konsens über die Verfahren, in denen inhaltliche Dissense ausgetragen werden können, und stabilisiert so selbst bei fundamental unterschiedlichen medien- und kommunikationspolitischen Zielen den Raum gemeinsamen Handelns.330 Auf diese Differenz stellt Saxer in seiner Unterscheidung zwischen kommunikationspolitischer Strategie und kommunikationspolitischer Taktik ab, in der er grundlegende „Entscheidungen über kommunikationspolitische Entscheidungsprämissen“ zur Gestaltung medialer Innovationen (Strategie) von situativen und selektiven „Entscheidungsaktivitäten“ zur Ermöglichung von Intervention (Taktik) trennt.331 Das Primat der prozeduralen Regulierung gegenüber einer substantiellen Klärung konkreter Problemfragen ist grundsätzlich die Voraussetzung dafür, „kooperative Entscheidungsformen und -strategien“ mit dem Instrumentarium medienpolitischer Gestaltung zu ermöglichen.332 Damit ist nicht gesagt, dass es nicht auch weiterhin Medienbereiche gibt, die der ordnungsund strukturpolitischen Steuerung durch das politisch-administrative System bedürfen. Insbesondere dort, wo Kernfragen ökonomischer Profitorientierung berührt sind, wäre ein allein auf öffentliche Deliberation abstellendes Konzept diskursiver Steuerung sicherlich zu schwach, um systemische Macht einzudämmen.333 Aber auch hier gilt, dass sich die Medienstrukturpolitik, die den Ordnungsrahmen des Mediensystems bestimmt, der öffentlichen Diskussion – und damit auch zivilgesellschaftlichen Stakeholdern – stellen muss, und im Zweifelsfall dem zwanglosen Zwang des besseren, im öffentlichen Diskurs dargebrachten Arguments zu folgen hat; so wie es in Fragen der Medieninhalte schon jetzt üblich ist.334 329 330 331 332 333
334
Vowe 2003a, S. 223 Vgl. ebd., S. 224 Rühl 1973, S. 13ff. Jarren 1994, S. 108. In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass einige rundfunkrechtliche Dokumente explizit auf anerkannte journalistische Grundsätze und damit auf außerrechtliche Normen Bezug nehmen (vgl. Branahl 1999b, S. 187). Dieser Einbezug in das Recht ist eine Chance der partiellen Selbststeuerung. Vgl. Donges 2002, S. 286f. Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement hat vor dem Hintergrund des Einstiegs von Kapitalinvestoren in die deutsche Presselandschaft eine „subsidiäre Ordnungspolitik“ in der Pressefusionskontrolle gefordert, die es den publizistischen Verlegern ermögliche, sich im Rahmen gesetzlich geregelter Rahmenbedingungen auch durch Kooperationen selbst zu helfen (Clement 2005, S. 35). Habermas (2007) plädiert gar für begrenzte staatliche Interventionen. Vgl. Jarren 1996b, S. 218
368
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus „Der Diskussion, Begründung und Etablierung von Ordnungsmodellen und Leitbildern kommt unter den Bedingungen eines raschen Wandels im Informations- und Kommunikationssektor eine gleichsam stabilisierende Funktion zu: politische und ökonomische Akteure wie auch die Gesellschaft werden auf Entwicklungspfade hin orientiert – so indem Normen verhandelt, Ziele partiell vorgegeben und Verhandlungsgegenstände festgelegt werden.“335
Medienpolitik folgt damit der Einsicht, dass die Gestaltung gesellschaftlicher Kommunikation niemals nur rechtlich oder wirtschaftlich geschehen kann, sondern allgemeineren, gesellschaftlichen und kulturellen Grundsätzen zu folgen hat.336 Die vor dem Hintergrund dieser Feststellung zu klärende Frage ist allerdings, wie die Interessen, die an die Ausgestaltung der Massenmedien herangetragen werden, in ein vernünftiges und demokratisch legitimierbares Zusammenspiel gebracht werden, das in letzter Konsequenz bereits den normativen Anforderungen an deliberative Öffentlichkeit zu folgen hat, die es selbst gewährleisten soll. Steuerungsversuche im Sinne einer ‚Media Governance‘ bedürfen somit gesellschaftlicher Diskurse über Medien und die Qualität ihrer Angebote, zum Beispiel auch in Form eines etablierten Medienjournalismus337, wenn sie rückgekoppelt sein sollen an die diskursiven Verfahren einer deliberativen Politik, in die auch zivilgesellschaftliche Akteure eingebunden sind. Eine medienkritische Öffentlichkeit und Transparenz von Medienstrukturen und -produktionsbedingungen sind daher unerlässliche Voraussetzungen für Diskurse über die Verfasstheit des Medienangebotes und den daraus folgenden Steuerungsbedarf. Auch Wissenschaft kann als ein Akteur wesentliche Beiträge zu dieser ‚Governance‘-Struktur leisten.338 Jarren und Donges schlagen gleich eine ganze Reihe von Modifikationen der bisherigen medienpolitischen Prozesse vor, die alle in Richtung der Etablierung einer ‚Media Governance‘-Struktur weisen, ohne diesen Begriff zu verwenden. Sie fordern • die Etablierung von Verhandlungssystemen mit konkreten Aufträgen, • die Transparenz von Teilnehmern, Zielen und Ergebnissen dieser Verhandlungssysteme, 335 336 337
338
Jarren/Donges 2000, S. 241 Vgl. Glotz 1965, S. 30. Schon der lange Jahre ausgetragene Konflikt zwischen dem libertären (privatwirtschaftliche Presse) und dem sozial planenden Modell (öffentlich-rechtlicher Rundfunk) könne letztlich nur politisch weltanschaulich geklärt werden, konstatierte Glotz (1965, S. 27ff.). Malik (2002, S. 120) unterscheidet zwischen Medienjournalismus und „Journalismusjournalismus“. Während ersterer noch als Fremdreferenz anzusehen sei, funktioniere letzterer nach der Maßgabe der Selbstreferenz. Da sich ein System aber nicht bestandsgefährdend selbst thematisieren könne, verbleibe dieser Journalismusjournalismus an der Grenze zur Selbst-PR. Er könne Reflexivität beweisen, indem er einzelne Missstände thematisiere, aber er sei kaum zu einer umfassenden Reflexion seiner Operationen fähig (vgl. ebd., S. 124). Tatsächlich lässt die systemtheoretische Perspektive keinen anderen logischen Ausweg, als den von Malik beschriebenen. Fasst man Journalismus dagegen von vornherein als das diskursive Handeln kommunikativer Akteure, dann ist er in toto als ein diskursives Netzwerk zu begreifen, dem die Reflexion des eigenen kommunikativen Handelns immer mindestens latent immanent ist. Dass diese nicht dauerhaft stattfindet, ist hingegen medialen Funktionsimperativen geschuldet, die erfüllt werden müssen, um die materiellen Grundlagen des Journalismus zu erhalten. Malik (2002, S. 128) hingegen konstatiert vor dem Hintergrund ihrer theoretischen Grundentscheidungen zwingend: „Eine fünfte Gewalt, die den Journalismus kontrolliert, kann der Journalismus selbst nicht sein. Nur mit dieser eingeschränkten Erwartungshaltung, die keine umfassende, sondern allenfalls eine partielle Selbstkritik prognostiziert, kann die Selbstthematisierung angemessen problematisiert […] werden.“ Stellt man die Beschreibung journalistischer Selbstthematisierung von zweckrationalen Kriterien um auf Kommunikativität, dann wird deutlich, dass sich Journalismus gar nicht kontrollierend über sich selbst erheben muss, um sich zu thematisieren, sondern dass die Thematisierung in den illokutionären, sozial wirksamen Bestandteilen journalistischer Sprechakte bereits immanent und somit in jeder journalistischen Kommunikation enthalten ist. In der Konsequenz ist die Explikation dieser Redebestandteile möglich und u.U. auch in kritischer Haltung bestandssichernd, da sie Anschlusskommunikation wahrscheinlicher macht, indem diskursive Beziehungen entstehen. Vgl. Vowe 2003b, S. 122
5 Handlungsbedarf II: Die politische Herausforderung der systemischen Massenmedien
369
•
die Optimierung vorhandener Steuerungsinstrumente und ihre Ergänzung durch anreiz-, informations- oder wissensbasierte Instrumente, • die Stärkung von Regulierungsbehörden mit Blick auf die Etablierung von Verhandlungssystemen und die Förderung von wissensbasierten Organisationen und gesellschaftlichen Reflexionsinstanzen sowie • die Etablierung neuer Akteure neben den bekannten ökonomischen und politischen, die zum Beispiel die Interessen des Publikums vertreten.339 Eine im beschriebenen Sinne nicht-hierarchische Regelungsstruktur entspricht nicht nur den beschriebenen Anforderungen an ein modernes Konzept demokratischer Selbstbestimmung, sondern sie verspricht angesichts ihres inklusiven Charakters, zum Beispiel durch Öffnung in Richtung Zivilgesellschaft, auch eine höhere Legitimation und Rationalität der Entscheidungen.340 Es ist zu erwarten, dass sie den im Diskursprinzip formulierten hohen Anforderungen an eine deliberative Regelung gesellschaftlicher Belange zumindest idealiter gerecht werden kann.341 ‚Media Governance‘ unterliegt schließlich selbst den Bedingungen, die sie gestalten und verändern soll, da sie selbst elementar auf öffentliche Diskurse angewiesen ist, die in den Strukturen des gegebenen Mediensystems stattfinden müssen. „Da Öffentlichkeit in der modernen Gesellschaft weitgehend über Massenmedien hergestellt wird, unterliegt der Prozess der Problembenennung, vor allem der Prozess der Problemvermittlung, den medialen Selektionsprinzipien. Die Selektion erfolgt aufgrund der Verfasstheit der jeweiligen Medien (privat vs. öffentlichrechtlich), ihrer ökonomischen Ausrichtung, und sie ist abhängig vom publizistischen Profil sowie vom redaktionellen Programm und den Nachrichtenfaktoren. Strukturvielfalt im Mediensystem erhöht die Möglichkeiten einer medienkritischen Reflexion in den Medien. Das macht darauf aufmerksam, dass einer Steuerung bzw. Regulierung durch (medienkritische) Öffentlichkeit, also einer Form der medialen Regulierung, Grenzen gesetzt sind.“342
Steuerung im Sinne einer ‚Media Governance‘ wird daher nur erfolgreich sein können, wenn sie auch auf die Resonanz eines diskursiven Journalismus stößt, dessen Handlungsspielräume sie von außen zu erweitern versucht. Sie korrespondiert daher mit den Instanzen journalistischer Selbstregulierung, ohne formell mit ihnen zu konvergieren. Journalistische Selbstkontrollinstanzen sollten nicht mit politischen, ökonomischen oder gesellschaftlichen Akteuren vermischt werden, sondern zunächst allein die kommunikative Rationalität des Journalismus zur Geltung kommen lassen.343 Sie sind als kollektive Akteure einzubinden in die beschriebenen Verhandlungsnetzwerke einer modernen ‚Media Governance‘, die der Durchsetzung gesellschaftlicher Anforderungen an das mediale System Rechnung tragen soll. Die immanente Reflexivität einer zu entwickelnden Struktur von ‚Media Governance‘ ergibt sich also daraus, dass sie letztlich die durch sie herzustellenden Bedingungen bei der 339
340 341
342 343
Vgl. Jarren/Donges 2000, S. 258. Bereits an anderer Stelle fordert Jarren (1996b, S. 216) eine Optimierung und Erweiterung der Steuerungsinstrumente in Richtung von Anreizen, Angeboten, Überzeugungen, Information und Verhandlungen. Und Donges (2002, S. 286) betont: „Neben Recht und Geld kann sich Steuerung auch stärker als bisher auf Information und Wissen als Medium politischer Steuerung stützen“, z.B. in Form von Transparenzvorschriften, professioneller Expertise, Forschungsförderung oder Institutionen der Wissensaufbereitung bzw. -vermittlung. Vgl. Mayntz 2004, S. 72 Zugleich beinhaltet die Orientierung auf Verhandlungen, an denen die Betroffenen potenziell beteiligt sind, aber auch eine potenzielle Gefährdung schneller und pragmatischer Regelungserfolge, da durch die Inklusion Konflikte bereits in den Entscheidungsfindungsprozess hineingeholt werden, die vorher erst in der Implementationsphase relevant wurden (vgl. Mayntz 2004, S. 73). Die Entscheidungen dürften im Gegenzug stabiler sein. Jarren/Donges 2000, S. 240 Vgl. für eine entsprechende Forderung Jarren/Donges 2000, S. 247.
370
VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
Formulierung ihrer Steuerungsansätze selbst bereits zu berücksichtigen und anzuwenden hat. Nur eine Radikalisierung der Kommunikativität und der Diskursivität im Prozess der Steuerung kann somit den Weg zu demokratietheoretisch und -politisch akzeptablen Ergebnissen hinsichtlich der Gestaltung institutioneller Vorkehrungen moderner Öffentlichkeit weisen.
6
Zwischenfazit: Diskursivität in Journalismusethik und ‚Media Governance‘
In diesem Kapitel ist die These entfaltet worden, dass Massenmedien und journalistisches Handeln in einem unauflöslichen Bezug zur demokratischen Verfasstheit einer Gesellschaft stehen und entsprechend spezifischen Anforderungen zu genügen haben, um demokratische und deliberative Prozesse zu ermöglichen. Beide stellen zentrale institutionelle Vorkehrungen einer deliberativen Öffentlichkeit dar – basierend auf lebensweltlich-journalistischer Kommunikationsrationalität und weitgehend ökonomisch fundierter massenmedialer Systemrationalität. Das deliberative Demokratiemodell bildet einen geeigneten Referenzrahmen zur Beschreibung dieser spezifischen Bedeutung, da es einen plausiblen Mittelweg zwischen anspruchslosen formalistisch-liberalen und normativ überforderten republikanischen Demokratiemodellen darstellt und darüber hinaus den demokratischen Prozess als ein Mischungsverhältnis aus prinzipiell öffentlicher Verständigung und systemisch basiertem, aber legitimiertem Machthandeln skizziert. „Massenmedien […] bilden als Gesamtheit eine besondere politische Institution mit eigenen internen Entscheidungsstrukturen. Ihre Funktion besteht nicht nur in der Vermittlung von Informationen, sondern auch in der Erzeugung und Verstetigung von öffentlicher Auseinandersetzung. […] Dadurch können sie den Grundkonsens der Staatsbürger für sich in Anspruch nehmen, wo andere Öffentlichkeiten und eine vielfältige Artikulation von Meinungen aufgrund mangelnder politischer Beteiligung fehlen. Die Massenmedien wirken dann gewissermaßen als ‚Platzhalter und Interpret‘ der politisch passiven Staatsbürger.“344
Für die Entwicklung eines diskursiven Journalismusverständnisses ist dabei die immanente Normativität des deliberativen Modells von entscheidender Bedeutung, weil es Maßstäbe beschreibt, an denen sich öffentliche Kommunikationsleistungen in ihrer demokratischen Qualität ausrichten können und die folglich auch eine Richtschnur für die praktische Verbesserung des Journalismus durch eine ausbildende Journalistik bereitstellen. Die Qualität öffentlicher Kommunikation muss ein gesellschaftliches Anliegen sein. Als konstitutive Voraussetzungen demokratischer Politik unterliegen Journalismus und Massenmedien daher auch entweder indirekt (Journalismus) oder direkt (Massenmedien) dem steuernden Einfluss politischer Initiativen. Je nachdem ob ein gesellschaftlicher Bereich systemisch oder lebensweltlich koordiniert wird, dominieren unterschiedliche Regulations- und Steuerungsmechanismen und verändern sich die Zutrittsbedingungen zu Öffentlichkeit. Journalistische Akteure schaffen einen sich selbst regulierenden Kommunikationszusammenhang, der lebensweltlicher Kommunikativität und Diskursivität folgt und aus dem professionelle Berufsnormen erwachsen können, deren Befolgung wiederum die (ethische und kommunikative) Qualität journalistischer Produkte gewährleisten kann. Die Rahmenbedingungen dieses journalistischen Diskurses können politisch geschaffen werden, eine direkte Intervention systemischer Logik hingegen wäre – auch unter Verweis auf ein höheres Gemeinwohl 344
Dietz 1995, S. 128
6 Zwischenfazit: Diskursivität in Journalismusethik und ‚Media Governance‘
371
dysfunktional. Stattdessen hat sich der journalistische Diskurs gegenüber lebensweltlichen Anliegen kommunikativ sensibel zu zeigen. Journalistische Rationalität steigert sich im Diskurs. Ein diskursiver Journalismus markiert die Verwirklichung kommunikativer Rationalität unter den Bedingungen weitreichender mediensystemischer Ausdifferenzierung.
Grafik 6: Diskursiver Journalismus
[eigene Grafik, -cb-] Die institutionellen Rahmenbedingungen des journalistischen Handelns, die wie beschrieben in einem medialen Systemzusammenhang organisiert sind, unterliegen zumindest auch der Steuerung des politisch-administrativen Systems, das sie unter Aufbringung demokratisch legitimierter Macht zur gesellschaftlich erwünschten Funktionserfüllung zwingen kann. Doch auch hier ist der Einsatz systemischer Mechanismen allein prekär, da er die kommunikativen Reservate des Journalismus in den Medien zugleich und unterschiedslos mitbedroht. Es ist daher für ein Konzept der ‚Media Governance‘ plädiert worden, in dem eine Regelungsstruktur errichtet wird, die alle medialen Stakeholder integriert. Es ist die Aufgabe des Staates, u.a. durch rechtliche Vorgaben die prozeduralen Voraussetzungen für diese ‚Media Governance‘ zu schaffen, ohne dabei materielle Vorgaben zu machen. Im Sinne eines deliberativen demokrati-
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VI Diskursive Öffentlichkeit – diskursiver Journalismus
schen Prozesses steht auch hier die Etablierung von Verfahren im Vordergrund, in deren Vollzug die konkrete Ausgestaltung des Mediensystems behandelt werden kann. Das Diskursprinzip ist somit sowohl in der Selbstregulierung journalistischer Akteure als auch im breiteren gesellschaftlichen Diskurs der Kommunikations- und Medienpolitik die letztlich ausschlaggebende formale Norm. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die politische Gestaltung der Bedingungen von Öffentlichkeit immer auch an die Grundlagen von Politik selbst rührt und daher keiner der beteiligten Akteure (auch nicht das politischadministrative System) über ein Letztentscheidungsrecht in grundsätzlichen Fragen der journalistisch-medialen Verfassung verfügen kann. Wie von Habermas beschrieben, fungiert auch hier das Recht als Transmissionsriemen für lebensweltliche Anforderungen an gesellschaftliche Konstitutionsbedingungen. Diskursiver Journalismus ist selbst ein Teilnehmer an den Diskursen über seine systemisch-materiellen Grundlagen. Wahrnehmen können wird er diese Chance aber nur dann, wenn er sich selbst seine kommunikativen Grundlagen erhält. Ein diskursiver Journalismus ist Voraussetzung und Resultat einer diskursiven Öffentlichkeit, da seine institutionellen Rahmenbedingungen wiederum in deliberativen politischen Prozessen einer umfassenden ‚Media Governance‘ bestimmt werden, für die eine diskursive Ausgestaltung von Öffentlichkeit und eine freiheitliche Deliberation konstitutiv sind. Es ist letztlich auch eine Aufgabe zivilgesellschaftlicher Akteure, einem diskursiven Journalismus die Breschen ins Mediensystem zu schlagen, die er benötigt, damit er gesellschaftlich nutzbringend sein kann. Die Etablierung einer universitären Journalistik gehört zu solch einem Programm dazu.
VII
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Fazit und Ausblick
Zusammenfassung
Als praxisbezogene Wissenschaft steht die Journalistik vor der Aufgabe, ein Verständnis ihres Untersuchungsgegenstandes zu formulieren, das einen Dialog mit der Praxis ebenso ermöglicht wie die Verwirklichung kritisch-emanzipatorischer Potenziale. Der Blick auf die derzeit im Fach diskutierten journalismustheoretischen Entwürfe offenbart allerdings bisweilen ein derart hohes Abstraktionsniveau und eine derart weitreichende Abstinenz gegenüber der Begründung normativer Anforderungen, dass die der Journalistik zunächst immanenten Versprechen nur mehr selten eingelöst werden können. Mittlerweile wird daher versucht, die Kluft zwischen den „zwei Kulturen“ (Haller) ‚praktischer Journalismus‘ und ‚wissenschaftliche Journalistik‘ dadurch zu verkleinern, dass integrativ akteurs- und systemtheoretische Überlegungen zusammengeführt werden, um sowohl den Anforderungen praktischer Verwertbarkeit als auch wissenschaftlicher Theoriefortbildung zu genügen. Dabei überwiegen mal systemtheoretische Argumentationsfiguren, die den journalistischen Akteur in systemischen Zwängen buchstäblich eingeschlossen sehen, und mal strukturierungstheoretische Annahmen, die einen rekursiven Prozess zwischen Akteurshandeln und sozialer Strukturierung bzw. Systembildung beschreiben. Mit der vorliegenden Arbeit soll ein Journalismus-Verständnis begründet werden, das anschlussfähig ist • an die handlungsorientierten Annahmen journalistischer Praktiker, • an die systemtheoretischen Überlegungen der kommunikationswissenschaftlichen Journalismusforschung, • an die normativ-praktischen und kritisch-emanzipatorischen Potenziale der Journalistik und nicht zuletzt auch • an die gesellschafts- und demokratietheoretisch relevanten Überlegungen einer kommunikationstheoretisch fundierten ‚kritischen‘ Gesellschaftstheorie. Zunächst sind dazu vorbereitend mögliche alternative wissenschaftstheoretische Fundamente der universitären Journalistik besichtigt worden, die sich als Wissenschaft des Journalismus sowohl der Erforschung des Journalismus als auch der Ausbildung künftiger journalistischer Praktiker verpflichtet sieht. Hier ist die Möglichkeit einer produktiven Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Praxis und die theoretische Unhintergehbarkeit eines von beiden geteilten lebensweltlichen Raumes betont worden. Sozialwissenschaftler, auch Journalistikforscher, sind immer schon in die sozialen Zusammenhänge eingebunden, die sie untersuchen. Diese Annahme macht einen reinen Beobachterstatus, wie er epistemologisch bisweilen angenommen wird, konzeptionell nicht mehr möglich, sondern zwingt zum Abbau künstlich errichteter Barrieren zwischen Wissenschaft und Journalismus. Eine privilegierte wissenschaftliche Erkenntnisposition ist nicht mehr konzipierbar und damit auch keine gegenüber der Praxis hervorgehobene Stellung wissenschaftlich-theoretischer Befunde. Eingebunden in
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VII Fazit und Ausblick
gemeinsame kommunikative und diskursive Zusammenhänge wirkt Journalistik vielmehr auf Journalismus ein, um diesen in seiner gesellschaftlichen Aufgabenerfüllung zu verbessern. Anschließend an diese wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Vorklärungen sind die Idealtypen skizziert worden, mit denen sich das angestrebte Journalismus-Verständnis auseinanderzusetzen hat. In den dazu notwendigen historischen Betrachtungen standen vor allem der Idealtypus bürgerlicher Öffentlichkeit und die damit eng verbundenen journalistischen Idealtypen der Vermittlung (Referat) und des Räsonnements im Mittelpunkt. Sie fundieren eine normative Dichotomie, die sich sowohl in den thematisierten und bisweilen stark einseitig überdehnten Rollenvorstellungen von Vermittler und Kommentator als auch in gängigen journalistischen Trennungsgeboten (z.B. zwischen Nachricht und Kommentar) bis zum heutigen Tag gehalten hat. Im Rückblick auf normative journalistische Handlungskonzeptionen konnte herausgearbeitet werden, dass diese sich entweder in publizistikwissenschaftlicher Tradition auf den räsonierenden oder aber in zeitungswissenschaftlicher Tradition auf den vermittelnden Idealtypus zurückführen ließen. Eine Ausnahme markiert die Vermittlungskonzeption von Otto Groth, der schon früh verdeutlicht hat, dass sich zwar Aufgaben und Funktionen des journalistischen Werkes unterscheiden lassen, dass sich aus diesen gesellschaftlichen Erwartungen allerdings keine ebenso eindeutigen journalistischen Handlungstypen deduzieren lassen. In seinen Ausführungen zum ‚produzierenden Journalismus‘ weist er vielmehr darauf hin, dass Vermittlung kein gleichsam teilnahmsloses Durchleiten von Information bedeutet, sondern das Ergebnis einer journalistisch-kommunikativen Eigenleistung ist. In Groths Konzeption wird der Journalist damit als Anwalt des gesellschaftlichen Zeitgesprächs gefasst, der gegenüber gesellschaftlichen Diskursen eine advokatorische Aufgabe besitzt, die nicht dichotomisch entweder auf Vermittlung oder Räsonnement verkürzbar ist. Diese überwiegend noch historisch hergeleiteten Hinweise bilden den Ausgangspunkt einer systematischen Rekonstruktion des produzierenden Journalismusverständnisses vor dem Hintergrund der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘. Journalismus, so die Kernannahme der Argumentation, ist lebensweltliches und verständigungsorientiertes Handeln. Sein Referenzrahmen ist eine in den Grundstrukturen von Sprache fundierte Formalpragmatik, die es kommunikativ kompetenten Sprechern erlaubt, Verständigung über ihre Situation und ihre zu koordinierenden Handlungspläne zu erreichen. Journalismus fungiert auf gesellschaftlicher Ebene als ein Substitut oder mindestens als ein Korrelat dieser im Regelfall intersubjektiven Kommunikationsprozesse. Er kann somit als eine Form sozialer Interaktion beschrieben werden, die performativ soziale Verständigung, soziale Orientierung und soziale Teilhabe ermöglicht. Darstellbar werden diese Leistungen, wenn Journalismus nicht nur als zweckrationales Berufshandeln konzipiert wird, sondern auch seine immanente Sensibilität für die lebensweltliche Verankerung seiner Kommunikativität berücksichtigt wird. Dadurch wird anerkannt, dass sich journalistische Akteure in ihrem Handeln lebensweltlich-symbolischer Ressourcen bedienen, die aus Teilnehmersicht unhintergehbar sind und zugleich im Vollzug des kommunikativen Handelns rationalisiert und reproduziert werden. Ein idealtypisches Journalismus-Verständnis, das in diesem Sinne journalistisches Handeln als kommunikatives Handeln fasst, macht es möglich, dass normative Anforderungen nicht mehr aus fremd gesetzten Ethiken oder Rechtsregulierungen importiert werden müssen, sondern aus den kommunikativen Grundlagen des Journalismus selbst deduziert werden können. Anknüpfungspunkte für diese Analyseperspektive bieten sowohl die praxologischen Versuche eines ‚Public Journalism‘ in den USA als auch die kulturwissenschaftlichen Interpretationsmuster der Cultural Studies, die gleichfalls auf die Eingebundenheit des Journalismus in die kommunikative Reproduktion sozialer und kultureller Strukturen abstellen. Mit dem Instrumentarium der ‚Theorie
1 Zusammenfassung
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des kommunikativen Handelns‘ wird es möglich, journalistische Akteure als kommunikativ Handelnde anzusprechen und auf Verständigungsrationalität zu verpflichten. Für sich allein genommen ist diese auf unverkürzte Kommunikationszusammenhänge abstellende Analyse allerdings nicht ausreichend. Sie ist zu ergänzen um die Analyse derjenigen materiellen Ressourcen öffentlichen Kommunikationshandelns, die in Form moderner Massenmedien institutionalisiert und letztlich systemisch organisiert worden sind. Im Blick stehen dabei zunächst Medienunternehmen, die ausgerichtet an wirtschaftlicher Profitlogik die Rahmenbedingungen journalistischen Handelns strukturieren und bisweilen auch kolonialisieren. Journalistisches Handeln hat sich angesichts dieser Situation mit einem wachsenden ökonomisch-systemischen Druck auseinanderzusetzen. Insbesondere redaktionelle Strukturen, technische Innovationen und berufliche Differenzierungen befinden sich in der prekären Lage, entweder strukturierende, mediatisierende oder aber kolonialisierende Effekte darzustellen, je nachdem, ob journalistisch kommunikative oder aber medial systemische ‚Interessen‘ im Prozess der Institutionalisierung und Ausdifferenzierung überwiegen. Letztlich kann vor diesem Hintergrund unterschiedlicher Steuerungsbereiche in der öffentlichen Kommunikation zwischen einem kommunikativen Journalismus, der lebensweltlich verankert ist und zur Reproduktion lebensweltlicher Strukturen beiträgt, und einem massenmedialen Systemzusammenhang, der zweckrational nach ökonomischen Effizienzkriterien gesteuert wird und vorwiegend nicht publizistischen, sondern profitorientierten Interessen dient, unterschieden werden. Beide sind immanent aufeinander angewiesen und folgen dennoch unterschiedlichen Logiken. Zwischen den beiden gesellschaftlichen Steuerungs- und Koordinierungsmechanismen kann es – zumindest im Hinblick auf das Zustandekommen öffentlicher Kommunikation – vielfältige Mischungsverhältnisse geben, die unter Hinzunahme von strukturierungstheoretischen Annahmen beschrieben werden können. Dabei erfüllt die Annahme einer – in Anlehnung an die Habermasschen Annahmen zu Lebenswelt und System konzipierten – grundlegenden Zweistufigkeit von Journalismus und Massenmedien eine für die Situationsanalyse öffentlicher Kommunikation notwendige Ordnungsfunktion und ermöglicht so die präzisere Benennung von Steuerungsbedarfen und -mechanismen. Diese Frage ist abschließend neben der öffentlichen und demokratierelevanten Aufgabe des Journalismus in den Blick genommen worden. Vor dem Hintergrund eines deliberativen Demokratieverständnisses, das Öffentlichkeit einen hohen Stellenwert beimisst, erscheint ein diskursiver Journalismus als eine zentrale institutionelle Vorkehrung gesellschaftlicher Diskurse. Journalismus ermöglicht gesellschaftliche Deliberation und Verständigung. Er besitzt das Potenzial, mögliche Vermachtungs- und Kolonialisierungstendenzen wenngleich nicht auszuschalten, so doch mindestens zu verringern oder durch eigenes diskursadvokatorisches Handeln zurückzudrängen. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, bedarf Journalismus allerdings einer spezifischen internen wie externen Ausgestaltung. Anschließend an die Annahme unterschiedlicher Koordinierungsmechanismen ist hier für eine journalistische Diskursethik plädiert worden, die darauf setzt, dass journalistisches Handeln seine Rationalität durch die Radikalisierung seiner Kommunikativität steigern kann. Journalistische Akteure deliberieren die Maßstäbe ihres Handelns und folgen im beruflichen Handeln – idealiter – den formalpragmatischen Grundsätzen sprachlicher Verständigung. Diesen Grundsätzen kann kontrafaktische Wirkung zugeschrieben werden, da Kommunikation ohne die u.U. gar nicht einlösbaren Unterstellungen von ‚Wahrheit‘, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit nicht gelingen könnte. Journalismus vermittelt gesellschaftliche Diskurse und ist selbst Teilnehmer an diesen Verständigungsprozessen. Diese gesellschaftlichen Diskurse können als prinzipiell unabgeschlossen betrachtet werden, da jeder erzielte Konsens stets nur vorläufig ist und durch neuerliches Anzweifeln von
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VII Fazit und Ausblick
Geltungsansprüchen, das oft von Journalisten selbst vorgenommen wird, wieder prekär werden kann. Die Handlungsräume eines solchen diskursiven Journalismus müssen medial ermöglicht werden. Dazu ist es notwendig, dass Medien – anders als Journalismus – einem gesellschaftlichen Steuerungsprozess unterworfen werden. Es ist dargestellt worden, dass diese ‚Media Governance‘ in ausdifferenzierten Gesellschaften weder allein ökonomisch noch politischadministrativ geleistet werden, sondern ebenfalls diskursiven Maßstäben folgt, weil sonst systemische Kolonialisierungsfolgen auf Journalismus durchgreifen würden. Notwendig ist heutzutage – auch jenseits der öffentlich-rechtlichen Organisationsform – eine ebenso komplexe wie spezifisch ausdifferenzierte Steuerungs- und Regelungsstruktur, in der auch gesellschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure beteiligt sind, um die ‚Interessen‘ einer deliberativen Öffentlichkeit angemessen zu vertreten. Auch ein diskursiver Journalismus selbst ist im Rahmen einer solchen reflexiven Struktur, zum Beispiel in Form eines redaktionell etablierten Medienjournalismus, an der Ausgestaltung seiner eigenen Rahmenbedingungen beteiligt. Während Journalismus also – abgesehen von den üblichen rechtlichen Grenzen, die aus dem Konflikt mit anderen Rechtsgütern erwachsen – der Selbststeuerung durch radikalisierte Kommunikativität in Selbstkontrollorganen, Berufsverbänden, Redaktionen etc. überlassen bleiben sollte, stehen Gesellschaften vor der Aufgabe, die Verfasstheit von Rahmenbedingungen und Inhalten ihrer Mediensysteme aktiv zu gestalten, um den Journalismus, den sie zur Aufrechterhaltung deliberativer Demokratie benötigen, weiter zu ermöglichen. Die grundsätzlich unterschiedlichen Charakteristika des journalistischen Handelns und der systemischen Massenmedien sind in der folgenden Tabelle noch einmal summarisch zusammengefasst.
Tab. 4: Unterscheidung zwischen journalistischem Handeln und Massenmedien Journalistisches Handeln
Massenmedien
gesellschaftstheoretische Verortung
Lebenswelt
System
maßgeblicher Handlungstypus
soziale Interaktion
Arbeit
Rationalitätsmodus
kommunikativ
instrumentell / zweckrational
Zielorientierung
verständigungsorientiert
zweckorientiert
gesellschaftliche Leistung
Reproduktion symbolischer Ressourcen
Reproduktion materieller Ressourcen
Aufgabe / Funktion
kommunikative Koordinierung gesamtgesellschaftlichen Handelns
Generierung von Berichterstattung unter Maßgabe kommerzieller Verwertungs- und Profitinteressen
Koordinierungsmechanismus
(ethische) Diskurse
symbolisch generalisierte Steuerungsmedien
Legitimationsgrundlage
Konsens
Effizienz
2 Merkmale eines diskursiven Journalismus
2
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Merkmale eines diskursiven Journalismus
Kernanliegen der Studie sind zum einen die Auszeichnung des Journalismus als kommunikativem Handlungsmodus von eigenständiger Rationalität und Normativität und zum anderen die Konzeption des Verhältnisses von Journalismus und Massenmedien als ein Verhältnis zwischen lebensweltlicher und systemischer Rationalität. Die jüngeren Entwicklungen des Journalismus sind vor diesem Hintergrund als Rationalitätskonflikt zwischen System und Lebenswelt, zum Teil auch als Kolonialisierung des Journalismus durch die ökonomisch gesteuerten Massenmedien, beschrieben worden. Darstellbar wird diese Beziehung vor der Folie der Zweistufigkeit von journalistischem Handeln und massenmedialem System. In dieser Konstellation bedrohen strategisch-ökonomische Partikularinteressen am Profitpotenzial journalistischer Leistungen tendenziell die journalistisch-publizistische Eigenständigkeit. Dagegen kann sich Journalismus vor allem mit einer Steigerung seiner Rationalität zur Wehr setzen – zum Beispiel durch die Formulierung einer diskursiven und damit kommunikationsbezogenenen eigenen Ethik journalistischen Handelns. Dadurch ist Journalismus u.U. in der Lage, sein demokratisches Potenzial zu markieren und sich von der tradierten, aber zunehmend obsoleten Berufsideologie zu entfernen, ohne deren Kerngehalte samt ihrer geschilderten normativen Schutzfunktion vor einer medialen Funktionalisierung aufgeben zu müssen. In der Formulierung einer diskursiven Ethik des Journalismus und in der Etablierung einer ‚Media Governance‘-Struktur liegt die Chance, der eigentümlichen Stellung des Journalismus zwischen lebensweltlichem Handlungsmodus und systemischen Medienzwängen angemessen zu begegnen, ohne von vornherein normative Maßstäbe aufzugeben oder die ‚Realität der Massenmedien‘ auszublenden. Fluchtpunkt einer journalistischen Diskursethik als Steuerungsinstrument journalistischen Handelns ist die Idee einer deliberativen Öffentlichkeit, in welche die kommunikativen Machtressourcen einer demokratischen Gesellschaft eingelagert sind, die bei Bedarf gegenüber den systemischen Kernbereichen rationalisierter Politikformulierung oder Gesellschaftsentwicklung aktiviert werden können. Geht man in der Beschreibung und Analyse journalistischen Handelns davon aus, dass dieses im Originalmodus verständigungsorientiert, also kommunikativ und bisweilen auch diskursiv, ist, dann erscheint der Akt des Veröffentlichens von Informationen in einem anderen Licht, als es liberale Modelle zunächst nahe legen. Die Vermittlung von Information in Öffentlichkeit hinein ist mit instrumenteller Zweckrationalität nur unzureichend zu fassen, sondern involviert auf Seiten der Journalisten kommunikative Stellungnahme bzw. diskursive Prüfung, um das für eine reflexive Vermittlung notwendige Verstehen der berichteten Kommunikationsinhalte zu gewährleisten. Daraus erwachsen die bereits skizzierten gesellschaftlichen Leistungen des Journalismus: • Durch Gewährleistung gesellschaftlicher Kommunikation ermöglichen Journalisten soziale Verständigung. • Durch reflexive Vermittlung ermöglichen Journalisten soziale Orientierung. • Durch performative Inanspruchnahme der kommunikativen Kompetenz ihrer Rezipienten ermöglichen Journalisten soziale Teilhabe. Journalisten fungieren in diesen Dimensionen als Anwälte des gesellschaftlichen Diskurses, die durch die Aufgabe (sprachlicher) Vermittlung weitreichend in interaktive Verständigungsprozesse einbezogen sind, deren Vermittlung stets zugleich auch Teilnahme bedeutet. Im Bedarfsfall folgt aus dieser Einbezogenheit die Aufgabe einer diskursiven Repräsentanz, einer anwaltschaftlichen Verpflichtung auf ein gesellschaftliches Zeitgespräch bzw. auf öffentliche Delibe-
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VII Fazit und Ausblick
ration in einem zweifachen Sinne: Zum einen können Journalisten stellvertretend für ihr Publikum die Akzeptabilität erhobener Geltungsansprüche prüfen bzw. die Informationen herbeiholen, die eine solche Prüfung durch das Publikum ermöglichen. Zum anderen haben sie die Möglichkeit, auch diejenigen Stimmen in einen zumindest partiell vermachteten Diskurs einzuführen, denen aus eigener Kraft die Ressourcen für eine Teilnahme fehlen. Wenn von einer advokatorischen Komponente des kommunikativen bzw. diskursiven Journalismus gesprochen wird, dann ist damit zunächst nicht gemeint, dass sich Journalisten zu Anwälten bestimmter Standpunkte machen, sondern dass sie als Anwälte den Bedingungen der Möglichkeit öffentlicher Diskurse verpflichtet sind. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Journalisten nicht auch selbst Stellung bezögen. Ganz im Gegenteil: Im Zusammenhang mit der kommunikativen Grundstruktur des Journalismus ist erörtert worden, dass Involviertheit notwendige Voraussetzung journalistischen Verstehens ist. Dies kann bis zu einem gewissen Grad virtuell und handlungsentlastet geschehen, wie in der wissenschaftlichen Diskursteilnahme auch, – vollständig entkoppeln aber können sich journalistisch Handelnde nicht. Die Annahme, oder auch nur die wissenschaftliche Suggestion, sie könnten es, wäre insofern dysfunktional, als dass sie eine Reduktion von Verantwortlichkeit impliziert, die faktisch nicht begründbar ist. Die Unhintergehbarkeit kommunikativer Verantwortung begründet zugleich auch den Umstand, dass journalistisches Handeln keiner weitergehenden eigenständigen Legitimation bedarf, sondern immer schon aus seiner eigenen Kommunikativität heraus abgesichert ist, sofern es sich nicht unter der Dominanz perlokutionärer Absichten strategisch in Dienst nehmen lässt. Zugleich kann kommunikatives journalistisches Handeln letztendlich nicht scheitern, sondern allenfalls in seinen erhobenen Geltungsansprüchen bestritten werden. Einzige Ausnahme wäre ein journalistisches Handeln, das nicht in der Lage wäre, einen gesellschaftlichen Vermittlungsprozess oder Diskurs in angemessener Weise herzustellen. Auch in diesem Falle aber wäre es kaum die einzelne journalistische Aktion, der ein Scheitern zu attestieren wäre, sondern es müsste die Gesamtverfassung journalistischer und medialer Vermittlungsstrukturen kritisch im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit hinterfragt werden. Die weitergehende Ausformulierung einer Diskursethik journalistischen Handelns erscheint als ein lohnenswertes, eigenständiges Projekt, mit dem diese Perspektive auf Journalismus ‚realistisch‘ vertieft werden könnte. Ausgehend von einer kritischen Theorie der Öffentlichkeit und gemeinsam mit einer ‚Media Governance‘-Konzeption geht sie in ihrem normativen Anspruch einerseits über die empirisch-analytischen Fragen der Angemessenheit hinaus und reduziert andererseits ethische Fragen nicht auf Individualentscheidungen. Basierend auf einem handlungstheoretischen Fundament, in das in den letzten Jahren zunehmend auch systemische Ansätze integriert worden sind, nimmt sie in einer stereoskopen Optik vielmehr beide Aspekte gleichermaßen in den Blick. Die Kopplung der Normgeltung an rationale Begründungen erscheint als ein unserer Zeit angemessenes Konzept journalistischer Ethik. Da die Diskursethik übergreifend alle Entscheidungen an das Rationalitätsprinzip knüpft, hat sie für den Journalismus eine zweiwertige Bedeutung: Zum einen kann sie zur Begründung journalistischer Normen und Handlungsroutinen herangezogen werden, zum anderen müssen aber auch die berichteten Inhalte, sofern sie gesellschaftliche oder politische Zusammenhänge betreffen, diskursiven Charakter haben. Die normative Basis journalistischen Handelns ist damit in dem Kompetenzbereich verankert, mit dem sich Journalisten gegenüber ‚einfachen Bürgern‘ nicht abgrenzen können: der kommunikativen Kompetenz. Sie wird allenfalls in der Vermittlungskompetenz spezifiziert, bezieht sich aber zurück auf die Grundlagen humankommunikativer Verständigung, auf Reflexivität, Argumentativität und wechselseitige solidarische Anerken-
2 Merkmale eines diskursiven Journalismus
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nung. Auch wenn diese Aspekte in der oftmals unidirektionalen und anonymen Kommunikationssituation massenmedialer Programm- oder Produktgestaltung kaum einlösbar sind, unterlegen sie doch als kontrafaktische Unterstellung einen zwar nicht reziproken aber vermittelt kommunikativen Prozess (fiktiver) Interaktion. Die vorgenommene Analyse lenkt den Blick auch auf die empirisch verbliebenen Potenziale eines diskursiven Journalismus und damit auf die Frage, inwiefern diese normativen Anforderungen – ganz gleich ob sie theoretisch unhintergehbar sind oder nicht – jenseits eines Status als regulative Idee praktische Relevanz entfalten. Wenn empirische Hinweise auf einen solchen diskursiven Journalismus auffindbar sind, dann lassen sich aus der Analyse seiner medialen Ermöglichungsbedingungen auch Hinweise für den Steuerungsprozess der ‚Media Governance‘ finden. Hier liegt, neben der Praxis-Vermittlung, eine der Hauptaufgaben der wissenschaftlichen Journalistik. Während die Systemtheorie und ihre funktionalistisch reduzierten Annahmen in den letzten Jahren und Jahrzehnten zum Paradigma der Medienwissenschaften geworden sind, liegt der reiche Fundus einer Kommunikationstheorie der Diskursethik auch hinsichtlich der Operationalisierung in der empirischen Forschung brach. Er böte allerdings die Chance, ein in Theorie und Praxis ‚realistisches‘ und dennoch normativ gehaltvolles Journalismus-Bild zu zeichnen, das deutliche ethische Implikationen beinhaltet. Dieses würde nicht mehr überholte Kriterien wie „Objektivität“ und „Neutralität“ in den Mittelpunkt rücken, sondern zum einen die Frage nach der Richtigkeit der vorgeschlagenen Handlungsoptionen und zum anderen Aspekte der handwerklichen Voraussetzungen und der Angemessenheit eines journalistischen Handelns, das sich explizit als kritisch und interpretierend versteht. Es lassen sich Reservate eines entsprechend anspruchsvollen Qualitätsjournalismus aufzeigen, dem eine den Diskurs ordnende und regulierende Leistung zugeschrieben werden kann: Ein diskursiv verfasster Qualitätsjournalismus rationalisiert, versachlicht und integriert die in zahllose räumlich, zeitlich und thematisch gegliederte Teilöffentlichkeiten zerfallene gesellschaftliche Kommunikation und ermöglicht so die notwendige Orientierung über den Zustand des gesellschaftlichen Diskurses. Vermittelt über Leitmedien im Printbereich bzw. Leitsendungen im Fernsehen hat er auch Effekte auf die Berichterstattung anderer Medien, die sich an seinen Inhalten und Thesen ausrichten1, zugleich aber u.U. in stärkerem Maße auch von profitorientierten Imperativen getrieben werden. Im Konzept des Qualitätsjournalismus wird somit das diskursive Potenzial journalistischen Handelns sichtbar, das sich unter entsprechenden massenmedialen Rahmenbedingungen entfalten kann. Münch schlägt vor, Qualitätsjournalismus eine regulierende Aufgabe zuzuweisen: Wie Notenbanken durch Zinspolitik die Geldmenge und damit den Wirtschaftskreislauf steuerten, so könne auch ein selbstbewusster Qualitätsjournalismus durch eine analytische, auf Zusammenhänge gerichtete, erklärende und reflektierende Berichterstattung und Kommentierung die Verfasstheit des gesellschaftlichen Zeitgesprächs regulieren.2 Er stelle damit „das wichtigste Bollwerk gegen die inflationären, deflationären und rezessiven Tendenzen der unkontrollierten Kommunikationsflut“ dar.3 Auch für Habermas bilden journalistische Qualitätsangebote wie die überregionalen Tageszeitungen 1
2 3
Vgl. de Weck (1999, S. 1), ehemals Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“, der 1999 noch eine „Blüte“ der Qualitätspresse konstatierte: „Deutschland hat eine Vielfalt guter nationaler und regionaler Blätter wie kein anderes Land; ihr Kapital sind die Leser, die sich mit Schlechtem nicht zufrieden geben.“ Nur fünf Jahre später allerdings weisen Perger/Hamann (2004, S. 3) daraufhin, dass sich die Funktion des Leitmediums zu der Boulevardzeitung „Bild“ verschoben hätte, die mittlerweile sehr wirkungsmächtig das Tableau der öffentlich zu debattierenden Themen, ihr Framing bestimme und damit eine „Art medialer Leitfunktion“ ausübe. Vgl. Münch 1993, S. 276f. Ebd., S. 277
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VII Fazit und Ausblick
„das Rückgrat für die diskursive Innenausstattung einer freien politischen Meinungs- und Willensbildung“, eine „[…] argumentative Substanz, die weder die regionale Tagespresse ersetzen noch ein durch Privatisierung bedrängtes Fernsehen wettmachen kann […] Die überregionale Tagespresse ist lebenswichtig für eine politische Kommunikation, die ihren Eigensinn behält“.4
Sie bedarf – wie andere qualitativ hochwertige Mediensegmente auch – der gesellschaftlichen Stärkung. In dieser Hinsicht steht auch die universitäre Journalistik in der Pflicht.
3
Aufgaben und Perspektiven einer kritischen Journalistik
Die Journalistik besitzt sowohl den Anspruch als auch das Potenzial, auf Journalismus einzuwirken. Sie gerät damit in die Position, auf einen demokratiekonstitutiven Bestandteil öffentlichen Handelns Einfluss auszuüben, um ihn im Interesse der Gesellschaft zu verbessern. „Eine integrative Journalistik betrachtet Journalismus als Form der diskursiven Selbstverständigung der Gesellschaft“, ist entsprechend der Perspektivvorschlag, den Lünenborg dem Fach unterbreitet und der anschlussfähig ist an die Annahme der lebensweltlichen Verankerung journalistisch-kommunikativen Handelns.5 Aus dieser Perspektive ist offensichtlich, dass Journalistik sich nicht auf die Perfektionierung einer medial präfigurierten Zweckrationalität der Produktion medialer Inhalte beschränken kann, sondern dass sie daneben das kommunikative Rüstzeug angehender Journalisten zu benennen und zu vermitteln hat. Die universitäre Journalistenausbildung ist eine Gelegenheit, systematisches Wissen über die ‚Aufgabe‘ des Journalismus zu lehren und so eine Sensibilität für kommunikative Rationalität und lebensweltliche Verantwortlichkeit zu wecken, die Journalisten in ihrem Berufsleben aktiv benötigen, wenn sie sich gegen mediale Imperative behaupten wollen. Zu verhindern, dass die journalistische Lebenswelt austrocknet, ist eine der wichtigsten – und vor allem eine der demokratisch relevantesten – Herausforderungen für die Journalistik. Sie kann dazu beitragen, dass sich Journalismus seine Unabhängigkeit insofern bewahrt, als dass Journalisten zur Selbstregulierung ihres Handelns befähigt sind und sich in internen Diskursen über Maßstäbe und Richtlinien ihres guten Handelns verständigen. Als eine praxisorientierte Wissenschaft ist die Journalistik vorwiegend den Anwendungsdiskursen verpflichtet, die sich mit der Angemessenheit verschiedener Handlungsmöglichkeiten auseinandersetzen. Allerdings ist sie in diesen Diskussionen über die Kriterien eines guten und gesellschaftlich wünschenswerten Journalismus, die ein Teil einer umfassenderen ‚Media Governance‘-Struktur sind, nur eine Teilnehmerin neben anderen auch. Zusätzliche Relevanz entfaltet sie in folgenden Aspekten: • Sie liefert empirische Informationen über Zustand und Entwicklungen des Mediensystems, über journalistische Optionen im (z.B. nationalen oder genrebezogenen) Vergleich, kurz: über den strukturellen Rahmen und die latenten Handlungsfolgen des Journalismus. • Sie hat das Potenzial einer diskursethischen Begleitung der journalistischen Praxis, indem sie an die Prozeduren einer angemessenen Normfindung erinnert und sich selbst an den Diskursen über die ethischen Grundlagen journalistischen Handelns beteiligt. 4 5
Habermas 2003, S. 20; vgl. auch Habermas 2007. Lünenborg 2005a, S. 84
3 Aufgaben und Perspektiven einer kritischen Journalistik •
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Sie kann als eine zentrale Instanz der Ausbildung des journalistischen Nachwuchses nicht nur Sach- und Vermittlungskompetenz journalistischer Akteure stärken, sondern sie darüber hinaus auch für ihre allgemeine kommunikative Kompetenz sensibilisieren. Um diese praktischen Leistungen erbringen zu können, steht die Journalistik als junge Disziplin vor der Aufgabe, ihre wissenschaftstheoretischen Grundlagen und ihr Verständnis von Journalismus entsprechend in theoretischen Diskursen zu klären und gemäß gesellschaftlicher Erwartungen anschlussfähig zu fundieren. Die Journalistik kann Journalisten dabei anleiten, in der Anwendung ihrer Vermittlungskompetenz auch den Anforderungen an allgemeine kommunikative Kompetenz gerecht zu werden. Im Erfolgsfall steigert dies die Leistungen des Journalismus für soziale Orientierung durch reflexive Vermittlung und für Teilhabemöglichkeiten an Öffentlichkeit durch Inanspruchnahme kommunikativer Kompetenz. Eine Journalistik, die sich darauf ausrichtet, Qualität und Leistungsfähigkeit des Journalismus zu steigern, kommt nicht umhin, journalistisch Handelnde immer wieder auf diese Grundierung ihres Handelns aufmerksam zu machen und ihnen Wege aufzuzeigen, wie sie ihre Kompetenzen gesellschaftlich gewinnbringend einsetzen können. Die Journalistik verschafft sich so nicht nur Interaktionsmöglichkeiten mit Journalismus in praktischen Diskursen, sondern sie schärft auch ihr Profil als Demokratiewissenschaft, die darauf zielt, dass die Grundlagen organisierter gesellschaftlicher Kommunikation in modernen Demokratien vom Typ der Bundesrepublik den deliberativen Leitlinien kommunikativer Vernunft verpflichtet bleiben. Sie kann daran mitwirken, indem sie mit Nachdruck auf die kommunikativen Wurzeln journalistischen Handelns verweist und so journalistisch Handelnde in die Lage versetzt, auch unter den Imperativen eines weitgehend ökonomisierten Mediensystems die Kommunikativität und Diskursivität ihres Handelns zu behaupten. Dazu ist es zum einen notwendig, die kommunikative Kompetenz durch Sensibilisierung für die Argumentations- oder Diskursregeln zu stärken. Zum anderen ist an institutionellen Rahmenbedingungen zu arbeiten, die kommunikativen Journalismus möglich machen. Um das zu erreichen, ist der Unterschied zwischen systemisch verfassten Massenmedien und kommunikativem journalistischen Handeln klar zu markieren. Eine Verschleierung des zumindest potenziell dialektischen Verhältnisses von Journalismus und Massenmedien wäre kontraproduktiv, da sie den von Kolonialisierung bedrohten Journalismus in seiner Eigenrationalität schwächen würde. Umgekehrt sind romantische Forderungen nach einer Entdifferenzierung öffentlicher Kommunikationsstrukturen angesichts der Pfadabhängigkeit der Entwicklungen unrealistisch und würden überdies auf eine Kommunikationsverfassung zielen, die in ihrer Leistungsfähigkeit den differenzierten Bedürfnissen moderner Gesellschaften nicht gerecht werden könnte und höhere Diskursqualität mit dem (zu hohen) Preis sozialer Exklusivität bezahlen müsste. Notwendig ist es daher, journalistische Potenziale innerhalb der bestehenden ausdifferenzierten mediensystemischen Strukturen zu stärken. Die Journalistik kann das emanzipatorische Potenzial des Journalismus gegenüber diesen systemischen Imperativen anzusprechen. Dazu muss sie sich der kommunikativen Eigenlogik des Journalismus nicht nur verpflichtet fühlen, sondern sich selbst dieser Rationalität bedienen. Um diesen Weg weiter zu beschreiten, wären noch etliche Desiderate zu diskutieren, die in dieser ersten Näherung an die Perspektive zwangsläufig unterbelichtet bleiben mussten. Abschließend sollen einige dieser Anknüpfungspunkte genannt werden: • Auf theoretischer Ebene, wäre es von heuristischem Wert, die Integrationsmöglichkeiten von Strukturierungstheorie und ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ zu prüfen, um zu differenzierteren Darstellungsmöglichkeiten hinsichtlich lebensweltlicher Institutionalisierun-
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VII Fazit und Ausblick
gen und Strukturierungen zu kommen. Damit einher ginge auch die weitere Ausformulierung, Präzisierung und Operationalisierung eines gegenüber (insbesondere kommunikativem) Handeln offenen Systembegriffs, der hier noch recht vage verbleiben musste. • In konzeptioneller Hinsicht sind vor allem der Publikumsbegriff und damit einhergehend die Beschaffenheit der kommunikativen (Interaktions-)Beziehung zwischen journalistisch Handelnden und Rezipierenden diskussionswürdig. Auch Spezifizierungen der Annahmen im Hinblick auf verschiedene Genres und Formate sind abgesehen von wenigen kulturwissenschaftlich orientierten Arbeiten noch selten. In diesem Zusammenhang muss auch der investigative Recherche-Journalismus noch einmal gesondert thematisiert werden, da er im Besonderen auf eine aktivische Informationsbeschaffung durch Journalismus verweist, die hier nicht spezifisch behandelt worden ist. Dabei geht es um absehbare Modifikationen und Präzisierungen hinsichtlich auch strategischer Kommunikationsmotive mit Blick auf eine höherrangige Kommunikativität in deliberativer Öffentlichkeit. • In praktischer Hinsicht von Interesse wäre die Operationalisierung der vor allem diskursethisch grundierten Überlegungen in journalistikwissenschaftliche Curricula und in institutionalisierte Anwendungsdiskurse in der Praxis. Gleiches gilt für die Institutionalisierung einer journalististikwissenschaftlichen Medienkritik, die zum Ziel hat, kommunikative Potenziale anzusprechen und zu stärken Ebenso wie die hier vorgelegten Überlegungen wären auch alle diese Präzisierungen nicht werturteilsfrei, sondern der Idee eines Journalismus verpflichtet, der mehr sein soll als ‚content production‘ oder ‚content management‘. Es geht um einen Journalismus, der sich seiner kommunikativen Grundlagen versichert und diese selbstbewusst im Interesse des öffentlichen Diskurses einsetzt. Forderungen nach einem Ende der Kolonialisierung des Journalismus durch ökonomische Imperative haben nur dann Sinn, wenn sie mit einer Revitalisierung eines diskursiven Journalismus einhergehen. Hierzu kann die Journalistik wertvolle Dienste jenseits der in der Praxis gängigen Mischung aus ideologischer Selbstüberhöhung und Defaitismus leisten, indem sie kommunikative Potenziale identifiziert und bekräftigt. Journalistik und Journalismus können den Weg zu einer solchen Stärkung journalistischer Eigenrationalität und damit letztlich zur Stärkung demokratischer Möglichkeiten als Beteiligte an einem gesellschaftsweiten Aufklärungsprozess nur gemeinsam gehen. Sie können sich die Wegstrecke überdies wechselseitig erleichtern, wenn sie einander auch als Weggefährten anerkennen und miteinander im Gespräch bleiben.
Literatur
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Index
anwaltschaftlicher Journalismus 212ff., 218 Argumentativität 205, 235, 322, 378 Beobachter 32, 35, 57, 59, 67f., 86, 88ff., 93, 95f., 159, 182, 220, 231, 345, 353 Berufsideologie 40, 272, 298, 345, 377 constraints 33, 96, 243, 250, 253, 280, 289, 335, 342 Cultural Studies 13, 56, 167, 198, 204, 230ff., 374 Deliberation 216, 304, 319, 330, 333, 342, 367, 372, 375, 378 Demokratietheorie 73, 320, 322, 342 Diskursanwalt 33, 98, 161, 163, 165, 170, 172, 200, 217, 306, 343 Diskursethik 34, 305f., 314ff., 342ff., 354ff., 375, 377ff. diskursive Repräsentanz 165, 200, 354, 377 diskursiver Journalismus 29, 31ff., 173, 212, 218, 240, 277, 298, 306, 309, 327, 331, 335f., 342ff., 348, 369, 371f., 375ff., 382
Erkenntnistheorie 56, 75, 159 Ethik 38, 96, 131, 165, 198, 240, 288, 306, 315ff., 336, 342ff., 350ff., 361, 377f. Funktionalismus 40, 56, 170, 172, 214f. gatekeeper 302, 303, 328 Gegenöffentlichkeit 183, 211, 313 Geltungsansprüche 17, 27, 35, 85, 87ff., 159, 164f., 170, 174, 176, 178ff., 184ff., 189ff., 195, 199ff., 205, 207f., 221, 223, 225f., 235, 238f., 248, 254, 275, 291, 306, 315, 328, 342, 345, 350ff., 376, 378 gesellschaftliches Zeitgespräch 98, 140, 147f., 151ff., 155f., 167, 169, 174, 181, 187, 198, 204, 221, 325, 348, 377 Gesellschaftstheorie 15, 20, 29f., 75, 80, 101, 107, 118, 163, 166, 210, 253, 258, 373 Gespräch zur Zeit Siehe gesellschaftliches Zeitgespräch Gesprächsanwalt 141, 143, 162, 343 Gesprächsmetapher 116 Handlungskoordinierung 16, 43, 88, 117, 177f., 180, 187, 190, 204, 252
Diskursivität 18, 34, 200, 203, 319, 342, 344, 349, 350, 353, 370, 381
Handlungstheorie 16f., 22, 35, 60, 96, 143, 235f., 239, 252, 255
Diskursprinzip 321, 369, 372
Humankommunikation 13, 74, 168, 190f.
Diskurstheorie 20f., 29, 35, 160, 315, 319ff., 336f., 342f., 349f., 354
institutionelle Vorkehrungen 34, 318f., 332, 358, 370
Emanzipation 30, 101, 299, 328, 348, 350
Inszenierung 346, 355
Erkenntnisinteresse 20, 62, 76, 83ff., 93, 95f., 195
Integrationsleistung 188, 201
Index
435
Interaktion 13, 16f., 27, 49, 67, 157, 167, 169f., 174ff., 180ff., 188, 205, 208ff., 217, 219, 221f., 230f., 235, 237f., 246, 250, 258, 274, 278, 286, 289, 295, 335, 343ff., 349, 357, 374, 376, 379
Kommunikatorrolle 117, 138f., 176
Journalismusforschung 20f., 40, 42, 47f., 52, 58, 63f., 69, 71, 77f., 90, 93, 95, 98, 100, 102f., 119, 131f., 136, 138, 141, 144, 149, 160, 173, 175, 190, 197, 209, 214, 234, 236, 238, 246, 272, 281, 294, 300, 353, 373
korrespondierender Journalismus 98, 121, 123, 125
Journalistenausbildung 44, 47ff., 64, 68, 95, 347, 380 Journalistik 12ff., 21f., 29f., 32, 34ff., 41, 43ff., 60ff., 68ff., 80, 83, 90, 92ff., 143, 146f., 177, 200, 239, 245, 277, 297, 347f., 360, 370, 372f., 379ff.
Lebenswelt 16ff., 26, 28f., 33f., 75, 87, 89, 96f., 106, 112, 117, 165, 167, 172f., 178, 181, 188, 202, 219ff., 236, 238, 241, 249ff., 263, 270f., 273ff., 305, 309ff., 314, 316, 319f., 324, 326, 328, 330, 333, 335, 341, 349, 354, 375ff., 380
journalistische Qualität 50, 336, 346, 355
Legitimismus 141
Kolonialisierung 96, 173, 243, 274ff., 280, 282f., 285, 290, 295, 297f., 301, 305, 312, 327, 332, 339, 342, 377, 381f.
mass communication research 46, 77
Kommunikationspolitik 34, 358f., 361, 364 Kommunikationstheorie 15, 21, 58ff., 85, 91, 219, 239, 379 Kommunikationswissenschaft 14, 21, 23, 32, 35ff., 45, 47ff., 52ff., 59f., 62, 70, 75ff., 81ff., 86, 90f., 94f., 99, 104, 201, 230ff., 239, 253, 356 kommunikative Kompetenz 33, 93, 128, 167, 172, 174, 177, 183, 205ff., 213f., 218, 237, 303, 307, 354, 356f., 377, 378, 381
Konsenstheorie der Wahrheit 75, 89 Konstruktivismus 35, 56f., 59ff., 69f., 86, 90f., 93, 137, 158, 214
Kritische Theorie 13, 15f., 19, 57, 79ff., 84f., 92ff., 207, 231, 239, 241, 276, 309 kritischer Rationalismus 40, 82, 84, 159
Massenmedien 14f., 21, 23, 25f., 28, 33, 37, 47, 49, 53, 61, 76, 96, 140, 163, 166f., 176, 180, 182f., 186, 191, 195f., 200, 204, 207, 211, 215, 218, 220, 224, 226ff., 243, 245ff., 253, 255ff., 261, 264ff., 268f., 271f., 274, 290, 299ff., 304f., 312, 324, 326ff., 333ff., 356ff., 362f., 365, 368ff., 375ff., 381 Media Governance 34, 306, 364f., 368ff., 376ff. Mediatisierung 243, 274, 278, 280, 295, 301 Mediator 176, 236, 344 Medienöffentlichkeit 306, 336ff.
kommunikative Macht 113, 212, 248, 326, 328f., 331, 356
Medienpolitik 264, 336, 356f., 359, 362ff., 368, 372
kommunikative Vernunft 16, 28, 134, 171, 239, 243, 250, 273, 276, 314, 319, 332, 349, 381
Mediensystem 20, 55, 69, 246f., 250, 255, 267, 272f., 289, 291, 299, 302, 304, 313, 339, 345, 357, 360, 362, 366, 369, 372
Kommunikator 116, 139f., 142, 162, 176, 208, 230, 236
Nachrichtenfaktoren 203, 216, 351, 369
436 Nachrichtenjournalismus 115, 198, 216, 302f. Objektivität 70, 86, 89, 134, 138, 152, 158, 182, 196, 199, 214, 242, 352, 379 Öffentlichkeit als Sphäre 19, 28, 30, 33, 103, 105ff., 110, 113, 116f., 166, 215, 224, 227f., 259, 275, 301, 307, 310ff., 321, 324f., 332, 334, 337, 339, 342, 349 bürgerliche 98, 101ff., 107, 109, 113f., 117ff., 123, 125, 127, 134, 148, 167, 197, 256f., 260, 307, 319 deliberative 22, 29, 33, 103, 306, 319, 322f., 325, 343, 356, 368, 370, 376f., 382 diskursive 33, 306, 314, 321, 324, 329, 338, 354, 372 Strukturwandel der 14, 21, 98, 107, 166, 243, 256, 258, 270, 312, 327, 350 Ökonomisierung 25, 28, 167, 176, 256, 259, 261ff., 267, 272, 294, 299, 304 Orientierungsaufgabe 196ff., 204, 210 Orientierungsleistung 197, 200, 233ff. Partizipation 177, 205, 208ff., 220, 233, 257, 304, 321f., 328, 330, 348, 350 politische Ökonomie 46, 272 Positivismus 78, 81f. Positivismusstreit 80, 82 Pressefreiheit 40, 49, 117, 130, 137, 197, 260, 312, 360
Index 320ff., 327f., 334f., 338, 346, 352, 356, 363, 369, 378 Publizistikwissenschaft 12, 32, 36, 39, 46, 63, 76, 82, 92, 99, 139ff., 143, 160, 240, 245 Qualitätsjournalismus 301, 379 Quellenkritik 195, 200, 354 Räsonnement 32, 98, 108ff., 115, 117ff., 125f., 128, 131, 133ff., 139f., 143, 145, 148ff., 153, 155f., 161, 164, 167f., 173, 175ff., 180, 197, 199f., 212, 236, 256, 307, 312, 319, 321, 374 Rationalität instrumentelle 16, 19, 179, 228, 239 kommunikative 16, 18ff., 32, 66, 75, 98, 106, 166, 168, 174f., 178, 205, 210, 218, 232, 236, 240, 244f., 249, 257, 259, 276, 278, 282, 306, 308ff., 321, 323, 337, 351, 354, 356, 369, 371, 380 Redaktion 44, 58, 121, 128f., 242, 272, 279ff., 285, 288, 291ff., 351 redaktioneller Journalismus 98, 121f., 128ff., 282, 284 Reduktion von Komplexität 57, 203, 282 Referat 32, 119, 128f., 131, 133, 137, 143, 148f., 153, 155ff., 163, 199, 374 reflexive Vermittlung 33, 167, 192, 194f., 200, 228, 236f., 303, 307, 329, 336, 344, 352, 377, 381
Propaganda 82, 153, 166, 187, 277
Regulierung 263f., 269, 305, 326, 361, 367, 369
Prozeduralismus 320
Rekonstruktivismus 35, 89, 137
Public Journalism 215ff., 374
Ressorts 280, 291, 294, 297
Public Relations 166, 187, 189, 245, 275, 277
Rezipienten 29, 75, 136, 150, 172, 177, 181, 187, 190f., 193f., 198, 201, 205, 207f., 211f., 214, 216, 230, 232ff., 263, 352ff., 377
Publikum 28, 48, 62, 104, 110f., 114, 117, 119ff., 123, 126, 130, 139, 142, 149, 154, 156, 163, 165, 177, 182, 197, 199, 206, 209, 211, 227, 233f., 257, 259, 270, 312,
Rollenerwartungen 98, 176, 274
Index
437
Rollenmuster 32, 136, 144, 155, 168, 250, 296, 305
Verberuflichung 129, 175ff., 218, 240, 272, 286ff., 300, 302, 305, 307, 342
schriftstellernder Journalismus 98, 118, 121f., 125ff., 129, 133f.
Vermittlerrolle 138, 140
soziale Integration 16ff., 188, 220f., 224ff., 227, 229, 240, 251ff., 275f., 335 Sozialisation 52, 118, 206f., 220f., 224ff., 229, 242, 253, 275, 316 Steuerungsmedien 16, 19, 26, 33, 250ff., 257, 269, 274, 300, 308, 376 Strukturierung 14, 62, 164, 194, 243, 247, 253, 268, 272, 278, 280, 292, 295, 339, 373 Subjektivität 134, 138, 182, 199, 238 symbolischer Interaktionismus 184, 192, 234f. Systemtheorie 17, 22, 35, 50, 56, 57, 59ff., 65ff., 90, 93, 96, 104, 214, 239, 252, 254, 266ff., 333, 379 Teilhabe 113, 167, 170, 174, 190, 193, 205, 208ff., 212f., 221, 230, 266, 342, 354, 366, 374, 377 Theorie des kommunikativen Handelns 15f., 18, 20ff., 26, 90, 160, 163f., 166f., 171ff., 179, 190, 235, 237f., 240, 242, 254, 269, 307, 310, 320, 374, 381 Theorie und Praxis 11, 13, 39, 42, 44, 49ff., 53, 55, 64, 75, 92, 216 Universalpragmatik 30, 166, 171, 179, 182, 220
Vermittlung 23f., 32, 34, 48, 51, 72, 93, 119, 131, 133, 135, 144f., 147ff., 160ff., 173, 175, 187f., 192ff., 198f., 201, 204, 208, 211f., 214, 228, 236, 246, 256, 327, 330, 339, 343f., 351ff., 370, 374, 377, 379 Verständigung 11, 15, 18ff., 29, 34, 43, 66, 69, 74, 77, 85, 87, 92f., 95, 118, 166, 168ff., 173f., 177ff., 183f., 186ff., 191, 193, 205ff., 217f., 220f., 226f., 229, 237, 239ff., 247, 250ff., 266, 287, 290, 292, 295f., 300ff., 305, 307ff., 313, 319, 328, 337, 340, 342ff., 357, 370, 374f., 377f. Verständigungsorientierung 16, 26f., 29f., 167, 170, 183ff., 189, 223, 236f., 240, 267, 274, 315, 337, 351 Vertrauen 197, 270, 349, 353 virtuelle Teilnahme 35, 87, 91, 378 Werturteilsstreit 81f. Zeitgespräch der Gesellschaft Siehe gesellschaftliches Zeitgespräch Zeitungswissenschaft 32, 36, 39, 42, 45, 110, 114, 116f., 140, 141, 143, 168 Zivilgesellschaft 326, 331, 334, 369 zivilgesellschaftliche Akteure 326, 328, 330f., 365, 367f., 376