Jürg Weibel
Doppelmord am Wisenberg
Kriminalroman
orte-Verlag
Copyright 2006 by orte-Verlag AG, CH-9427 Zeig-Wolfh...
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Jürg Weibel
Doppelmord am Wisenberg
Kriminalroman
orte-Verlag
Copyright 2006 by orte-Verlag AG, CH-9427 Zeig-Wolfhalden AR, abl. Mai 2006, CH-9413 Oberegg AI, Rütegg 278 und CH-8053 Zürich www.orteverlag.ch Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: BeneschDTP, Unterschleissheim Foto Titelbild: Jürg Weibel, Basel Foto des Autors: Regine Weibel, Basel Lektorat: Virgilio Masciadri Herstellung: Doris Benesch, München Druck: difo-druck, Bamberg Printed in Germany ISBN 3-85830-133-7
Detektiv Ernst Wicki von der Basler Kantonspolizei muss den Tod eines Landwirtes und seiner Ehefrau aufklären, die im kleinen Ort Blasingen erschossen und in der eigenen Scheune verbrannt aufgefunden wurden. Ein Eifersuchtsdrama mit Selbstmord, so scheint es. Wickis Spurensuche lässt ihn immer wieder ins Leere laufen. Als sich ein inhaftierter Neonazi in der Zelle erhängt und damit eine heiße Fährte zunichte macht, will Wicki schon aufgeben. Doch seine lebenslustige Freundin Melanie ermuntert ihn zu neuen Denkweisen. Schließlich kommt er in der Privatklinik, in der die Ermordete als Krankenschwester arbeitete, einen wichtigen Schritt weiter. Der mehrfach ausgezeichnete, im Mai 2006 mit 61 Jahren verstorbene Schweizer Schriftsteller wirft mit seinem lesenswerten Krimi einen Blick in die Abgründe einer scheinbar idyllisch und beschaulich lebenden Schweizer Gesellschaft. Griffige Personen, humorvolle Dialoge mit Schweizer Sprachkolorit und viel Alltagsrealismus lassen den Roman aus der Masse vergleichbarer Titel herausragen. Überall lohnende Krimikost (vgl. zuletzt „Ein Kind von Madonna“).
1 Asche
Das Schicksal war rasch und lautlos über die beiden Menschen gekommen, ihr Kampf kurz und ohne Bedeutung. Jetzt lagen sie da, in einer Stellung, die ihre endgültige sein würde. Der Mann lauschte. Ob man die Geräusche des Kampfes gehört hatte? Er blickte zum Fenster hinaus, das verdreckt war. Leise ging er zum Scheunentor, drehte am Schalter das dünne Licht ab, das die Laterne an der Wand verbreitete. Dann öffnete er behutsam das Tor – es knarrte kaum – und horchte in die Nacht hinaus. Alles ruhig. Tiefe nächtliche Stille, in die sich das regelmässige Plätschern des Wassers im Brunnen als etwas Vertrautes schmiegte. Auch im Stall neben der Scheune regte sich nichts. Die Tiere schliefen. Da, auf einmal ein kurzes, nervöses Gekläff, ganz in der Nähe. Eine männliche Stimme redete beruhigend auf den Hund ein. Der bellte noch ein paar Mal, dann blieb er stumm. Undeutlich zu erkennen: Ein nächtlicher Spaziergänger, der langsamen Schrittes vorbeiging, das Tier an der Leine. Der Mann zog die Tür geräuschlos zu. Er liebte Sätze wie «das Schicksal war rasch und lautlos über die Menschen gekommen». Sie hatten Poesie und nahmen der Sache das Unabänderliche. Er knipste eine Taschenlampe an. Sorgfältig überprüfte er die Lage der beiden Körper. So wie das Leben euch vereint hat, soll der Tod euch scheiden. Stand das in der Bibel? Fast hätte er gelacht ob seiner blasphemischen Idee. Aber zum Lachen blieb keine Zeit. Er zog die Handschuhe an seinen Fingern straff, schraubte mit geübtem Griff den Schalldämpfer von der Pistole und steckte ihn in die rechte Tasche seiner Lederjacke.
Er hatte auf die Brust unterhalb des Kinns gezielt und, da er ein guter Schütze war, ziemlich genau getroffen. Der Getroffene war in den Knien eingeknickt und vornüber gekippt. Die Finger seiner rechten Hand fühlten sich noch warm an, als der Mann die Pistole hineinlegte. Das Beil lag am Boden, nicht weit von der Leiche weg. Er hatte den Stiel nur mit Handschuhen angefasst. Übertriebene Vorsicht, vielleicht. Doch er dachte eben an alles. Es fehlte noch der Höhepunkt, der das Rätsel unauflösbar machte. Der Mann übergoss die Leichen mit der Flüssigkeit aus der mitgebrachten Plastikflasche. Dann benetzte er das herumliegende Stroh und die Holzgeräte, die in einer Ecke der Scheune standen. Er machte die Türe weit auf. Unmittelbar hinter dem Haus galt es, in den Schatten einer langgezogenen Baumgruppe einzutauchen. Es schien leicht, sich ungesehen in Sicherheit zu bringen. Von der Baumgruppe bis zum Wald waren es rund dreihundert Meter. Nur da war er ungedeckt, musste durch offenes Wiesland laufen. Im Wald wartete der Wagen. Den Hofhund brauchte er nicht zu fürchten. Er hatte ihn eliminiert, bevor die zwei Menschen kamen. Das Tier lag hinter der Scheune, wo er es hingelockt hatte. Regen setzte ein, in kräftigen Tropfen. Umso besser, dachte er. Regen wäscht Spuren weg. Er legte die mitgebrachte Schnur in schlangenförmigen Linien aus und durchtränkte sie mit der Flüssigkeit. Dann setzte er sie mit seinem Feuerzeug in Brand. Zeit zu verschwinden. Er warf die Plastikflasche zwischen die Leichen und schlüpfte durch die Tür. Der Regen wurde stärker. Der Mann tauchte in das Dunkel hinter dem Haus und entfernte sich mit raschen Schritten. Erst am Waldrand blickte er zurück. Noch war alles ruhig.
Er tastete sich durchs Dickicht zu seinem Wagen vor und kehrte mit dem Fernglas zurück. Die Wucht des Feuers überraschte sogar ihn selber. Gierig frass es um sich, schlug in meterhohen Flammen durchs Dach. Das verzweifelte Muhen der Tiere weckte die Menschen in einem Nachbarhaus, ein paar hundert Meter weit. Lichter gingen an. Zu spät, dachte er.
2 Wölfe
«Ein brutales Verbrechen ist immer furchtbar und ekelhaft. Wir erkennen im entmenschlichten Vorgang uns selber und schrecken zurück. Warum? Weil wir den Wolf wahrnehmen, der tief in uns schlummert. Das Raubtier, das wir für domestiziert hielten.» Scheidegger sass breitbeinig auf einem angesengten Balken und fuhr sich mit der Hand durchs struppige graue Haar. Unter der offenen Regenjacke spannte sich sein Hemd über dem Bauch. Sein glattrasiertes Gesicht hatte einen Ausdruck von Zufriedenheit. Wenn er doziert, ist er happy, dachte Wicki. Aber warum muss das gerade jetzt sein? Ernst Wicki stand schweigend mitten in der abgebrannten Scheune und blickte zum bewaldeten Wisenberg hinauf, der das Dorf Blasingen von Osten her umgrenzte. Eine Nebelbank hing davor, die die aufgehende Sonne verdeckte. Es war schon hell, der Himmel klar. Der Regen war weitergezogen. Wicki, hager, hochaufgeschossen, das Kinn voller Stoppeln, stocherte mit einem abgebrochenen Besenstiel, den er neben dem Misthaufen gefunden hatte, in der nassen Asche. Die schwarzen Leichen waren weggebracht worden, nachdem man sie fotografiert hatte. Wicki sagte: «Ein seltsamer Wolf, der Artgenossen tötet und verbrennt.» «Ist ja auch nur eine Metapher.» Du mit deinen Metaphern. Lass mich in Ruhe damit. Wicki blickte auf die Uhr. Kurz nach halb sieben. Er fühlte sich schlapp. Ein starker Kaffee auf den leeren Magen würde helfen. Und ein Kirsch. Obwohl Wicki Schnaps nicht mochte, verspürte er ein seltsames Verlangen danach.
«Das Beil ist ein uraltes Instrument. Es hat die Menschen von den ersten Tagen an begleitet. Jemanden damit umzubringen ist archaisch, wild, unzivilisiert.» Wicki bekam einen Hustenanfall. Der ätzende Geruch, der aus dem feuchten, verkohlten Gebälk aufstieg. Ekelhaft. Aber das war es nicht. Hör endlich auf zu rauchen. Dieser Satz tönte ihm seit Tagen in den Ohren, bedrängte ihn, liess ihm keine Ruhe. Er warf die halb abgebrannte Zigarette fort. «Hans, vielleicht hat sie der Kerl einfach erschossen und danach in Stücke gehauen. Aus ganz praktischen und nicht aus kulturhistorischen Gründen.» Der Stall war völlig eingeäschert, das Wirtschaftsgebäude bloss angesengt. Die Feuerwehr hatte gute Arbeit geleistet. Knöcheltiefe Lachen zeugten von den Wassermengen, die verspritzt worden waren. Wicki hatte sich in der Dunkelheit nasse Füsse geholt, während Scheidegger in Stiefeln, bequem und trocken, herumphilosophierte und eine Pfeife stopfte. Wicki war mit dem Besenstiel auf etwas gestossen, das wie ein Knochen aussah. Er gab dem Relikt einen unwirschen Tritt, sodass es ein paar Meter weit flog. Scheidegger beobachtete den Kraftakt erstaunt. Dann sagte er: «Wer mit der Pistole tötet, greift nicht zur Axt, um eine Leiche zu malträtieren.» «Ach was. Die eigene Frau mit dem Beil erschlagen, die Scheune anzünden und sich dann den Gnadenschuss geben? Was er wohl zu ihr gesagt hat, bevor er sie hinrichtete?» «Hinrichten? Wie kommst du denn darauf?» «Sah es denn nicht wie eine Hinrichtung aus? Erinnerte es dich nicht an Bilder von Gelynchten?» «Hör bloss auf mit dem Blödsinn, Ernst», brummte Scheidegger. «Wenn du von einer derartigen Vermutung ausgehst, sind wir schnell auf einer falschen Spur.» «Ist ja auch nur eine Metapher. Hast du gesehen, wie zierlich diese Frau war? Fast wie ein Kind. Daneben dieser
Felsbrocken von einem Mann. Die hatte nicht die geringste Chance. Zum Glück hat der Kerl Hand an sich gelegt. Sonst…» Wicki begann erneut zu husten. «Sonst was?» «Das pure Kotzen konnte einem kommen bei dem Anblick. Und ich meine nicht die Leichen, sondern die perverse Art, wie die Frau zugerichtet war. Dieser Dreckskerl – » «Jetzt reicht’s, Ernst. Versuch deine Emotionen in Griff zu kriegen. Gleich heulst du hier auf dem Platz los!» «Spotte du nur. In diesem Beruf bleibt eh nichts anderes übrig als ein bisschen Zynismus. Und ein paar philosophische Sprüche.» Wicki schleuderte den Besenstiel mit einer derart heftigen Geste fort, dass der an einem Mauerrest in Stücke brach. Scheidegger erhob sich und kam auf Wicki zu. «Was ist los mit dir?» «Gehen wir Kaffee trinken. In der Dorfbeiz warten sie darauf, uns die Würmer aus der Nase zu ziehen.» «Ernst, sag mal, spinnst du? Seit wann arbeiten wir nach der Holzhammer-Methode? Wir können uns doch jetzt nicht in der Dorf beiz sehen lassen. Willst du unbedingt auf die Titelseite des Blick?» «Nichts lieber als das. Übrigens brauche ich einen Espresso und einen Kirsch.» Wicki marschierte los, auf den Opel Variant zu, der neben dem Brandplatz stand. Mit einem flüchtigen Gruss verabschiedete er sich von den Leuten des Sicherheitsdienstes, die mit dem Errichten der Absperrungen beschäftigt waren. Scheidegger blickte ihm nach. Er klopfte die halbgerauchte Pfeife aus und zertrat die Glut in der nassen Asche. Ernst Wicki. Seit acht Jahren bei der Kripo. Ein Mann ohne Emotionen bei der Arbeit, so schien es. Ein verlässlicher Mitarbeiter, zurückhaltend, sachlich, meist das richtige Wort
auf der Lippe, wobei er mit Spott nicht zurückhielt, wenn er es für angebracht hielt. Und jetzt dieser Gefühlsausbruch. Scheidegger trat vor die Ruine hinaus und folgte Wicki zum Auto. An der Absperrung mit den Plastikbändern standen ein paar Leute mit verschlafenen Gesichtern. Ungekämmte Kinder, in der Nase bohrend, grosse, verständnislose Augen. Kaum Angst, eher Neugier. Männer, kahlköpfig, mit Tirolerhut oder Baseballmütze, in Stiefeln, an denen der Stallmist klebte. Menschen von hier, dachte Scheidegger. Ob sie die Opfer kannten? Zum wachhabenden Polizisten sagte er: «Es besteht absolutes Zutrittsverbot zum abgeriegelten Bezirk. Die Fotografen sind fertig. Jetzt macht sich der Kriminaltechnische Dienst an die Arbeit. Niemand hat da drin etwas zu suchen, der nicht legitimiert ist.» Der junge Kantonspolizist nickte eifrig.
3 Hosenträger Rauchschwere Luft im «Löwen». Der Geruch von Bier, Kaffee, Jauche, Männerschweiss. Ein Durcheinander von Stimmen, das sich abrupt in Schweigen verwandelte. Gesichter, alt und zerfurcht, dazwischen zwei, drei jüngere. Stumpenraucher, Bier- und Schnapstrinker. Wie im Theater, dachte Scheidegger einen Moment amüsiert. Es ist, als ob sie auf unseren Auftritt gewartet hätten. Er sagte: «Guten Tag.» Auch Wicki murmelte einen Gruss. Ein allgemeines Grummeln, aus dem einzelne Stimmen nicht herauszuhören waren. Scheidegger setzte sich mit Wicki in den hinteren Teil der Gaststube. Die Bedienung, eine Frau in den Vierzigern, hatte keine Eile. Die neuen Gäste wurden eingehend gemustert: vom Wirt, der hinter der Theke stand, übernächtigt, hemdsärmlig und in Hosenträgern; von der Stammtischrunde, wo allmählich das Gespräch wieder aufgenommen wurde; und von einem Spaniel, der ausgiebig an Scheideggers verdreckten Stiefeln schnüffelte. Wicki sagte: «Das Hundilein riecht die Leichen.» Scheidegger lachte. «Kann sein. Obwohl ich zwei Stunden im Wasser rumgestanden bin.» «Von wegen Nässe.» Wicki zeigte auf seine durchweichten Schuhe. «Du holst dir einen Schnupfen.» «Wenn’s bloss das wäre.» Endlich kam die Bedienung. Wicki bestellte einen Kaffee und einen Kirsch. Scheidegger bevorzugte Milchkaffee. Aus einem Körbchen nahm er ein Gipfeli und biss hinein. Er blickte in die Runde und sagte mit halbvollem Mund: «Man beobachtet uns.
Möchtest du nicht etwas zur versammelten Gemeinde sagen? Du wolltest doch in diese Beiz, Ernst.» Wicki erwiderte in leicht gereiztem Ton: «Ich will hier in Ruhe meinen Kaffee und meinen Schnaps trinken. Sonst nichts. Ist das etwa nicht erlaubt?» Scheidegger schmunzelte. «Natürlich. Wollte bloss testen, ob man dir die Würmer aus der Nase ziehen kann.» Er nahm sich ein zweites Gipfeli. Die Frau vom Service brachte die Getränke. Sie blieb einen Augenblick unschlüssig stehen. Dann sagte sie mit verhaltener Stimme zu Scheidegger: «Der Dulliger möchte Sie sprechen.» «Wie bitte?» «Ja… der… äh, der Wirt möchte mit Ihnen unter vier Augen reden.» «Soso. Hat er es denn eilig?» Diese Frage machte die Frau verlegen. «Ich weiss es nicht… Vermutlich schon.» «Wenn’s denn unbedingt sein muss – in zwanzig Minuten. Auch die Polizei macht mal Pause.» Sie nickte und zog sich zurück. Scheidegger ging auf die Toilette. Als er zurückkam, rauchte Wicki schweigend. Scheidegger holte eine Zeitung aus einem Schubfach neben der Theke und blätterte darin, ohne einen Artikel genauer zu lesen. Wicki schwieg noch immer. Er schien in Gedanken woanders zu sein, denn er nahm keine Notiz von den Gästen im Lokal. Scheidegger tunkte ein weiteres Gipfeli in die Tasse mit dem kalt gewordenen Kaffee. Das Gefühl von feindseliger Beobachtung liess ihn nicht los. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Die Gespräche am Stammtisch wurden in gewohnter Lautstärke geführt, mit gelegentlichen Seitenblicken zu ihrem Tisch. Der Spaniel hatte sich getrollt und lag schlafend vor der Theke.
Um das Schweigen zu unterbrechen, sagte Scheidegger: «Die Leute hier im Dorf sind vermutlich ganz durcheinander nach dieser Nacht. Ich wundere mich, dass der Gemeindepräsident nicht aufgekreuzt ist. Ich denke, er hätte uns was zu erzählen.» Wicki antwortete nichts. Ihn beschäftigte, was er vor einer Stunde gesehen hatte. Und das mehr als ihm lieb war. Das Gesicht einer jungen Frau. Ihr Körper, in Stücke zerhackt, völlig verbrannt, schwarz und übelriechend. Merkwürdigerweise war das Gesicht nur angesengt worden. Und die Ähnlichkeit dieses Gesichts mit einem, das er vor langer Zeit geliebt hatte, dünkte ihn so frappant, dass er einen Moment vor Schreck erstarrte. Tania tot. Es schien unfassbar. Dann erwachte er aus dem sekundenlangen Alptraum, erschöpft, erleichtert, aber noch immer schockiert von dem, was er vor sich sah. Erneut setzte Scheidegger an: «Wir werden den Wirt nur pro forma ausfragen. Zeugen, die sich freiwillig vor Aufnahme des Verfahrens melden, sind in der Regel wertlos.» Wicki meinte: «Vermutlich ein Wichtigtuer. Warten wir’s ab.» Was wohl mit Tania war? Er hatte sie vergessen in all den Jahren, nachdem sie Schluss gemacht hatte, und sie aus dem Bewusstsein verdrängt, um den wiederkehrenden Schmerz loszuwerden. Wie lange war es her? Hatte er auch das vergessen? Scheidegger beendete sein Frühstück. Er winkte der Bedienung und sagte: «Gibt es hier einen Raum, in dem wir ungestört sind?» Die Frau nickte. «Kommen Sie mit.» Scheidegger und Wicki nahmen im Säli Platz, wo ein paar Tische und Stühle für Feste und andere Anlässe standen. Der Raum roch nach Bodenwichse und abgestandenem Rauch. In einem Glaskasten hingen die Trophäen des Kegler- und
Schwingervereins Blasingen, drapiert mit rotweissroten Schärpen und Bändern. Der Wirt kam herein. Der Mann war schwer übergewichtig und hatte eine ungesunde, leicht gerötete Gesichtsfarbe. Sein braunes Haar stand in kurzen Locken wirr vom Kopf ab. «Guten Morgen, die Herren. Mein Name ist Dulliger. Wenn Sie noch etwas trinken möchten –, es geht auf meine Rechnung.» Scheidegger wies ihm einen Platz am Tisch zu und sagte: «Habe eben gefrühstückt. Danke. Nimmst du noch was, Ernst?» Wicki schüttelte den Kopf. Der Wirt blickte ins Leere. Dann begann er zu reden, mit einer bedächtigen Stimme, die unsicher klang: «Ich möchte eine Aussage machen.» Scheidegger sah dem Mann in die Augen. Er sah nicht wie ein Wichtigtuer aus. Die Falten um die Augen und sein abgehärmtes Gesicht mit den wulstigen Kinnbacken sprachen dagegen. «Das geht nicht, Herr Dulliger. Das Verfahren ist noch nicht eröffnet. Fahren Sie in die Ferien, dass es so pressiert?» Dulligers Pupillen verengten sich. Er war enttäuscht. «Ferien? Ein Wort, das ich nicht kenne. Geht es wirklich nicht? Ich dachte, je schneller man etwas zur Aufklärung dieser entsetzlichen Sache beitragen kann, desto besser.» Diese Überlegung schien vernünftig. Aber vermutlich hatte der Mann noch andere Motive. Scheidegger erklärte: «Es gibt eine bestimmte Untersuchungsroutine, die wir nicht gerne durchbrechen. Wir können ein Gespräch führen. Das gehört aber nicht zum formellen Verfahren. Dazu müsste von Rechts wegen Protokoll geführt werden, doch der Protokollist liegt noch in den Federn. Mein Kollege Wicki hilft aus und macht Notizen.»
Dulligers Blick hellte sich auf. «Von mir aus.» Scheidegger sah Wicki an. Dieser runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Er zog Notizbuch und Kugelschreiber aus seiner Jacke und legte beides auf den Tisch. Scheidegger fragte: «Also, wo brennt’s, Herr Dulliger?» Der Wirt biss sich auf die Lippen. «Ich sage es nicht gern, denn es tönt wie üble Nachrede auf einen Verstorbenen. Aber beim Grütter Adolf lief vieles nicht so, wie es sollte.» «Sie meinen den Besitzer des Hofs?» «Genau den. Der Hof war hoch verschuldet. Und das mit der Ehe konnte nicht gut gehen. Ausserdem – » «Moment mal, Herr Dulliger. Das geht mir zu schnell. Woher wissen Sie, dass der Hof verschuldet war?» «Das ganze Dorf weiss es. So was spricht sich halt herum.» «Was spricht sich herum?» «Adolf hat den Hof aus Verzweiflung angezündet. Daran war auch diese… Ehe schuld.» «Die Ehe?» «Man hat Augen im Kopf, Herr Kommissar. Als Wirt sieht und hört man mehr als die anderen.» Scheidegger wechselte einen Blick mit Wicki. «Adolf sass in letzter Zeit oft hier in der Beiz. Zu oft, fand ich. Abends um sieben kam er und trank ein Bier oder zwei. Es war immer dann, wenn seine Frau nicht nach Hause kam.» «Und manchmal wurden es mehr als zwei, nicht wahr?» Dulliger sagte, indem er sich vorbeugte: «Der Grütter Adolf war keiner von denen, die sich aus Kummer besaufen. Er sass da und brütete vor sich hin. Und manchmal redete er. Diese Frau war nichts für ihn. Wir haben alle gewusst, dass es mit ihr nicht gut geht. Sie stammte nicht aus der Gegend.» «Woher kam sie denn?»
«Aus Indien. Oder aus Südamerika. Niemand weiss es genau. Adolf heiratete in Basel. Keiner vom Dorf war dabei. Nicht mal seine besten Freunde. Er hatte niemanden eingeladen.» Scheidegger dachte: Vielleicht wollte er einfach all die Augen und Ohren los sein. «Arbeitete seine Frau auf dem Hof?» «Nur zu Beginn. Später ging sie auswärts. Das war der Anfang vom Ende.» Wicki notierte sich, wie es schien, diese Bemerkung. «Das verstehe ich nicht, Herr Dulliger», warf Scheidegger ein. «Das müssen Sie mir ausdeutschen.» «Der Grütter Adolf wollte, abgesehen von etwas Warmem fürs Bett, eine Frau, die zupacken konnte. Aber mit der war absolut nichts anzufangen. Sie konnte ja eine Kuh nicht von einem Muni unterscheiden. Was sollte sie da auf dem Bauernhof? Zuerst spazierte sie ein paar Wochen lang im Dorf herum, aber niemand verstand sie. Sie sprach kein Wort Deutsch. Wenn man sie anredete, schüttelte sie den Kopf und lächelte. Beim Einkaufen palaverte sie in ihrer Sprache und nahm dabei Daumen und Finger zu Hilfe. Im Dorf machten Witze darüber die Runde. Schliesslich entschied sich Adolf, sie da unterzubringen, wo sie wenigstens beruflich ihren Mann stehen konnte.» Eine hemdsärmlige Welt, dachte Scheidegger. Von Hosenträgern wacker zusammengehalten. «Beruflich?» fragte er. «In einem Spital in Basel. Anfangs ging das gut, sie nahm Sprachkurse. Doch je länger sie dort arbeitete, desto unpünktlicher kam sie heim. Adolf stellte sie zur Rede, aber dabei kam nichts heraus. Er vermutete, sie habe etwas mit einem der Doktoren. Ein attraktives Mädchen war sie ja, die… äh… Dolores. Sie brauchte nur mit dem Finger zu schnipsen, und die Männer leckten ihr aus der Hand.»
Eins von den Clichés über exotische Frauen, dachte Scheidegger. Er blickte zu Wicki hinüber. Der starrte gelangweilt zum Fenster hinaus. «Und das alles hat Ihnen Herr Grütter gesagt?» Dulliger nickte. «Der Adolf hatte ja niemanden, seit seine Mutter gestorben war. Da kam er halt in die Beiz und schüttete sein Herz aus.» «Moment», unterbrach ihn Scheidegger. «Er hatte doch seine Frau. Gab es denn keine Aussprachen mit ihr?» «Schon. Aber da war es wohl zu spät. Jedenfalls – » «Haben sich die beiden gestritten?» Dulliger lehnte sich zurück und schob die Daumen unter die Hosenträger. Er begann sich offensichtlich zu entspannen. «Also, wenn ich ehrlich bin: Der Adolf konnte ganz schön zulangen.» «Wie ist das zu verstehen?» «Er putzte jedem die Kutteln, der ihm auf die Zehen trat.» «Aha.» Scheidegger sah erneut zu Wicki hin. Ob er sich den Satz notiert hatte? War jedenfalls eine interessante Bemerkung. Er sagte: «Galt das auch gegenüber seiner Frau?» «Sie meinen…?» Dulligers Augen leuchteten. «Nein. Das glaube ich nicht. Aber wer kann schon wissen, was hinter verschlossenen Türen passiert, Herr Kommissar?» Wicki gab ein Geräusch von sich, das ein Lachen gewesen sein konnte. «Hast du noch eine Frage an Herrn Dulliger, Ernst?» «Er hat uns doch alles gesagt, nicht wahr?» Der ironische Unterton in Wickis Stimme war nicht zu überhören. Er klappte das Notizbuch zu. Dulligers Augen leuchteten und seine bleiche Haut hatte etwas Farbe bekommen. Er erhob sich schwerfällig und sagte: «Das stimmt.»
Scheidegger bemerkte: «Danke für Ihre Bemühungen. Wir werden Sie zu einem späteren Zeitpunkt bestimmt nochmals befragen. Aber Sie laufen uns ja nicht davon, nicht wahr?» Dulliger strahlte vor Selbstzufriedenheit. Er gab beiden Polizisten die Hand und verabschiedete sich.
4 Eso es el amor
Der Himmel spannte sich weit und klar über der Stadt, als Wicki mit dem Opel Variant nach Basel fuhr. Der Tag scheint zu halten, was er frühmorgens versprochen hat, dachte er. Schön und trocken. Ein wirklicher Frühlingstag. Zu idyllisch, um sich mit ekelhaften Verbrechen abzugeben. Das ist das Absurde an diesem Beruf. Wenn das Wetter danach ist, dass man sich am Leben freuen kann, kriegt man bei der Arbeit eins in die Magengrube. Er hatte Scheidegger im Glauben gelassen, er stelle das Auto in die Garage und verbringe die restlichen Stunden des Morgens in seinem Büro in Liestal. In Wahrheit fuhr er auf der Autobahn nach Basel. Seinem Chef mochte er von diesem Vorhaben nichts verraten. Nicht weil der die Eskapade missbilligt, sondern weil er sie nicht verstanden hätte. Wicki parkte den Dienstwagen in der blauen Zone hinter der Matthäuskirche. Er wohnte seit fünf Jahren in der Stadt, in Kleinbasel. Das war ihm als Beamter erlaubt, obwohl er für den Kanton Baselland arbeitete. Er winkte Hassan, dem Besitzer des Döner-Kebab-Ladens im Erdgeschoss, zu, der damit beschäftigt war, den blechernen Rolladen vor seiner Imbisstube herauf zu ziehen. Gemächlich stieg Wicki die Treppe zur Wohnung hoch, die im zweiten Stock lag. Eine krächzende Stimme drang an sein Ohr, als er die Tür öffnete: «Polizei Vollidioten! Alle verhaften!» Er zog leise seinen Mantel aus und hängte ihn an einen Haken. Er streifte die feuchten Schuhe und Socken von den Füssen und schlich ins Wohnzimmer, um Melanie nicht zu
wecken, die nebenan schlief. Er ging zu dem grossen Käfig beim Fenster und zog das schwarze Tuch weg, das darüber lag. «Na, alter Gauner, gut geschlafen?» «Polizei Vollidioten! Alle verhaften!» Der buntgefiederte Ära krächzte seinen üblichen Text und hüpfte dabei von der Schaukel auf den Ast, der im Boden des Käfigs verankert war, und wieder zurück. Wenn er einen Augenblick still sass, hielt er den Kopf schräg, wie um zu schauen, ob Wicki zuhörte. «Frühstück gefällig, Al Capone? Oder bist du schon gefuttert worden?» «Polizei Vollidioten! Alle verhaften!» «Jaja, verhafte sie nur! Aber ein paar Bullen weniger machen das Leben nicht interessanter. Jetzt kriegst du erst mal Körner und frisches Wasser. Oder möchtest du ein Kotelett zum Frühstück? Aber du bist ja weder ein Kondor noch ein Aasgeier!» Wicki kraulte dem Ära den Kopf, den dieser vertrauensvoll an die Gitterstäbe hielt. Dann steckte er ihm den Zeigfinger in den Schnabel. Jemand hatte ihn vor dieser Zärtlichkeit gewarnt. Ein Vogel von der Grosse Al Capones könne ihm glatt den Finger durchbeissen. Wicki lachte damals und sagte: Dann müsste ich halt lernen, links zu schiessen. Der Papagei war eigentlich ein Weibchen. Wicki hatte ihn wegen seinem Gekrächze Al Capone getauft, bevor er sein Geschlecht erfuhr. «Mit dem Vogel intim sein, aber mir keinen Begrüssungskuss geben, das würde dir so passen, nicht wahr?» Wicki bekam einen Knuff in die Seite. Melanie schmiegte sich an ihn, im offenen Morgenmantel, mit verschlafenen Augen. Er holte das Verlangte nach. «Musstest du denn so früh raus? Ich hab das Telefon läuten hören und dachte, es sei mein Handy. Ist ja unerhört, jemanden morgens um vier zu wecken!»
«Gehört zu meinem Job. Daran wirst du dich gewöhnen müssen, Mel.» «Daran werd ich mich nie gewöhnen, Häuptling. Küss mich.» Melanie biss Wicki in die Lippen und liess ihre Zunge vorschnellen. Dann sagte sie, indem sie ihn unschuldig anblickte: «Und was ist, wenn man dich holt und du steckst in mir drin?» Wicki musste wider Willen lachen: «Darauf weiss das Dienstreglement bestimmt eine Antwort.» Ihre Frivolität erinnerte ihn an die vergangene Nacht. Nach einem Nachtessen beim Italiener und einer guten Flasche Wein hatte Melanie ihn nach allen Regeln der Kunst verführt, obwohl er müde gewesen war und am liebsten in den traumlosen Schlaf gesunken wäre, der ihn in letzter Zeit immer wieder heimsuchte. Sie schlüpfte in rote Dessous und versprühte ein Parfüm über sich, das aus dem müdesten Rindvieh einen rasenden Stier mache, so behauptete sie. Wie Melanie das Ganze inszenierte, nötigte ihm einen gewissen Respekt ab, dennoch befremdete ihn ihre zügellose Art, den eigenen Körper zur Schau zu stellen, um ihn anzutörnen. Als ob sie seine Gedanken erraten hätte, sagte sie: «Bist du wegen mir so früh wieder da? Kommst du ins Bett zurück?» Sie öffnete den Morgenmantel aus hellblauer Seide und liess ihn über die Schultern gleiten. Dann streichelte sie Wickis Nase und Wange mit einem Lächeln, dessen Fröhlichkeit er mochte, weil sich darunter die Fähigkeit zum Genuss verbarg, zum Auskosten der Lust bis hin zur Laszivität. Ihre langen dunkelblonden Haare und ihre helle Haut waren schön, unzweifelhaft. Aber er war nicht in der Stimmung für die Zärtlichkeiten, die sie meinte. «Zieh das Ding wieder an, Melanie. Es ist jetzt nicht der Augenblick dafür.»
Er legte ihr den Morgenmantel über die Schultern. Sie kraulte sein Kinn, und er liess es einen Augenblick geschehen, als empfände er den Spott in der Geste nicht. «Wie schade, grosser Manitu. Ich hätte dir jetzt einen geblasen, wie man ihn nur Göttern bläst. Aber da du das Alltägliche vorziehst, soll dir das Himmlische vorenthalten bleiben. Zur Strafe wirst du dich eine Woche enthalten müssen.» Wicki verspürte keine Lust, auf diese Albernheit einzugehen. Sie passte nicht zur Situation. Aber es war ausgeschlossen, dass er Melanie etwas darüber verriet oder sich anmerken liess, warum er hier war. Nicht weil er fürchtete, dass sie eifersüchtig würde, sondern weil ihm das Gefühl zu kostbar war, das ihn hergetrieben hatte. Im Bewusstsein, dass er das Thema auf plumpe Art wechselte, sagte er: «Wann hast du den Termin beim Fotografen?» «Um elf. Fotografen sind keine Frühaufsteher. Sie haben mit Menschen zu tun, nicht mit Monstern und Verbrechern. Übrigens würde ich ihn ganz gern eine Stunde warten lassen, wenn mein Häuptling sich herablassen könnte, mir den Meister zu zeigen und mich von hinten zu nehmen. Aber da er sich anders entschieden hat, werde ich den Termin wohl oder übel einhalten müssen. Ciao, ich geh ins Bad.» Sie machte die Geste eines Handkusses, die aber auch anders gedeutet werden konnte, und lief davon. «Musst du denn gleich so ordinär werden, wenn es mal nicht nach deinem Kopf läuft!» rief ihr Wicki hinterher. Er ärgerte sich über die Bemerkung, die etwas Demütigendes hatte. Er fühlte sich in seiner Männlichkeit getroffen. Aber so war Melanie nun mal. Schön, intelligent und ganz gehörig von sich eingenommen. Kein Wunder, wenn ihr die Männer zu Füssen lagen. Sie hatte ein abgeschlossenes Ökonomie-Studium in der Tasche, zog es jedoch vor, ihr Geld als Model zu verdienen.
Angeblich, weil sie sich weder als Betriebswirtschafterin noch als Anlageberaterin betätigen wollte. Wenn mich die Männer anstarren, will ich wenigstens dafür bezahlt werden, war ihre allzu griffige Begründung für einen Job, den sie im Grunde verabscheute, wie Wicki zu spüren meinte, weil die Arbeit ihr Verlangen, als Mensch und nicht als Objekt behandelt zu werden, ungestillt liess. Aber auf die Befriedigung der Eitelkeit zu verzichten, war eben nicht einfach. Ob Melanie das eines Tages einsehen würde? Wicki wartete, bis das regelmässige Geräusch der Brause zu hören war. Dann durchwühlte er die Schublade seines Schreibtischs. Er fand die Fotos von Tania bald. Sie steckten in einem Umschlag. Er betrachtete das olivfarbene Gesicht mit den dunklen Augen, dem schmalen Mund und den kurzgeschnittenen schwarzen Haaren. Auf der Rückseite eines Bildes stand der Satz: Eso es el amor. Wie lange war es her, seit er Tania auf diese Lippen geküsst hatte? Sechs oder sieben Jahre? Und wie oft hatte er dem Impuls getrotzt, diese Fotos in Stücke zu reissen? Kurz nach ihrer Trennung war er aus der gemeinsamen Wohnung in Allschwil ausgezogen und hatte sich nach Basel abgesetzt, in eine winzige Bleibe. Den Schmerz im Getriebe der Menschen ertränken, das war seine erste Regung. Abend für Abend liess er sich vollaufen, auf jene hirnlose Art, die er an Männern und Frauen gleichermassen verabscheute. Aber war das die Frau, die er heute früh in den Ruinen gefunden hatte? Die Augenpartie und der Mund glichen sich frappant. War Tania tatsächlich die Gattin eines Bauern geworden, nachdem sie einen Polizisten verlassen hatte? «Sie ist schön», sagte eine Stimme hinter ihm. «Deine Ex?» Melanie stand da. Nackt. Wicki sagte, und er wusste, dass es fies war, aber die Versuchung, sich für die Demütigung von
zuvor zu rächen, war stärker: «Wir haben heut früh eine Frau aufgefunden, Mel. Eine schöne Frau – ermordet und verbrannt. Sie war dieser hier erschreckend ähnlich.» Melanie wurde aschfahl im Gesicht. Dann sagte sie leise: «Das ist ja furchtbar, Ernst.»
5 Lauwarmer Espresso
Wicki sass in Scheideggers Büro und zündete sich eine Zigarette an. Der Chef war Kaffee holen gegangen. Vermutlich hat er auf dem Flur einen Mitarbeiter getroffen, der ihm etwas absolut Wichtiges mitteilt, dachte Wicki. Der Kaffee wird wie stets lauwarm oder kalt hier ankommen. Dabei könnte sich Hans längst eine Espresso-Maschine ins Büro stellen lassen. Nur sein Ökotick hindert ihn daran. «Noch mehr heisses Wasser und Strom vergeuden, nein danke…» Der übliche Sermon zu diesem Thema. Dabei hatte Scheidegger das Radfahren, das er mit grosser Begeisterung betrieb, zugunsten von Squash in einer geheizten Halle aufgegeben. Schlanker war er dadurch nicht geworden, im Gegenteil. «Hier, die Obduktions-Resultate.» Scheidegger stiess die Tür mit dem Fuss auf. Das PVC-Mäppchen, in dem der Bericht steckte, diente als Tablett, auf dem er Pappbecher, Kaffeerahm und Würfelzucker balancierte. Wicki meinte mit spöttischem Lächeln: «Der Chef bedient den Subalternen. Das nennt man New Public Management, nicht wahr? Schöne neue Welt.» «Unser Verständnis von Demokratie, Ernst. Sind wir nicht alle im tiefsten Herzen Demokraten?» «Was hat Demokratie mit lauwarmem Espresso zu tun?» «Sorry, du magst ihn heiss. Hätte ich wissen müssen. Aber Ebi lief mir über den Weg, und ich wollte ihn noch etwas wegen der Bankkartenbetrügerei fragen. Soll ich dir einen frischen Kaffee holen?» «Nicht nötig.» Wicki nahm einen Becher und gab zwei Stück Würfelzucker hinein. Scheidegger ergriff vorsichtig den
anderen Becher und setzte sich auf die Tischkante. Wicki fragte: «Was meint der Kriminaltechnische Dienst zu den Todesumständen?» «Was du vermutet hast. Der Mann wurde durch einen Herzschuss getötet. Die verkohlten Leichen sind leider in einem Zustand, der eine Autopsie schwierig macht. Dass sie mit Benzin oder Ähnlichem Übergossen wurden, scheint gesichert.» «Der Tote hat demnach sich selber angezündet?» Scheidegger schaute Wicki einen Moment irritiert an. Dann sagte er: «Er hätte ja Benzin über die tote Frau und über sich selber schütten können, um sich dann, quasi als brennende Fackel, eine Kugel reinzujagen.» «War der Mann Buddhist?» Wieder Irritation bei Scheidegger: «Wie kommst du darauf?» «Weil die Buddhisten die Selbstverbrennung erfunden haben. Damals in Vietnam. Erinnerst du dich nicht?» «Ach so, deswegen.» Scheidegger dachte einen Moment nach. Dann sagte er: «Du hältst es also für unwahrscheinlich, dass der Mann sich selber in Brand steckte?» «Findest du es denn wahrscheinlich?» Wicki drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, der auf Scheideggers Schreibtisch stand. Er nahm den Bericht und blätterte darin. «Was war mit der Kugel?» «Stak im Schlüsselbeinknochen. Er muss von unten aufs Herz gezielt haben. Allerdings eine eher unübliche Art sich umzubringen. Übrigens hat er auch seine Frau erschossen. Zwei Treffer, einer in die Halsarterie und einer in die Niere. Als Folge davon muss sie verblutet sein.» «Wie ich es vermutet hatte. Und nach den Schüssen ging er mit dem Beil auf sie los.» «Es scheint so.»
Eine Zeitlang herrschte Schweigen. In Wicki stieg erneut das Bild von Tania auf, so wie er sie am Morgen des Vortags gesehen hatte. Bevor das Grauen von ihm Besitz ergreifen konnte, sagte er: «Der Kerl muss durchgedreht sein.» Scheidegger zog es vor, nicht darauf einzugehen. Er rührte in seinem Kaffee und trank ihn in kleinen Schlucken. Wicki besah sich die Aufnahme einer Kugel. Dann fragte er: «Entsprachen die Geschosse dem Pistolenlauf?» «Ja. Eine Smith & Wesson 908, Kaliber 9 mm.» Als Wicki weiterblätterte, stiess er auf die Fotos mit den Leichenteilen. Er vermied es, sie anzusehen. Stattdessen legte er den Bericht auf den Schreibtisch und trank seinen Kaffeebecher aus. Scheidegger nahm den Bericht auf und sagte, ohne die grässlichen Fotos aufzuschlagen: «Die Feuerwehr hat zu retten versucht, was zu retten war. Dabei veränderte sie die Lage der Körper.» «Aber die wissen doch, dass man nichts anrühren darf.» «Bedenke, dass zunächst keine Berufsfeuerwehr da war. Leute aus dem Dorf trafen als erste ein. Sie wurden aus dem Schlaf geholt und standen im Pyjama an der Spritze. Es ist ihnen zu verdanken, dass man das Vieh retten konnte.» «Das wird dem Mann, der sich und seine Frau umbrachte, viel nützen.» Scheidegger sagte: «Du bist eben kein Tierhalter, Ernst. Wer mit Tieren zusammenlebt, empfindet für sie wie für Menschen.» Wicki dachte an seinen Papagei. Aber er erwiderte nichts, denn Scheidegger hielt ihm ein Stück Blech entgegen. «Noch etwas zu dem Thema. Wurde in der Asche gefunden. Eine Hundemarke.» «Der Hund des Bauern?»
«Ja. Merkwürdig, dass das Tier nicht ausriss. Hunde fürchten nichts mehr als das Feuer. Das ist im Moment alles. Ich lasse dir den Bericht.» Wicki zerknautschte seinen Kaffeebecher und warf ihn in den Papierkorb unter Scheideggers Schreibtisch. «Danke. Hast du bei der Gemeindeverwaltung angerufen, Hans?» «Ja. Das Rätsel um den Gemeindepräsidenten ist gelöst. Er liegt seit einer Woche im Spital. Herzinfarkt.» Wicki erhob sich. «Den Preesi wollte ich mir vorknöpfen. Mal sehen, ob es unter diesen Umständen Sinn macht, auf der Gemeindeverwaltung mit den Recherchen anzufangen. Ohnehin werde ich die Leute in Blasingen einzeln befragen müssen.» «Darum kommst du wohl nicht herum. Ich kann dich leider momentan kaum unterstützen, weil uns seit heute eine Sache mit gefälschten Postzahlungen beschäftigt. Und dann ist da noch die Bankkartenbetrügerei. Hoffe aber, dass ich nächste Woche mehr Luft habe. Darf ich dir noch einen Rat geben?» Wicki, schon auf dem Weg zur Tür, wandte sich erstaunt um: «Und der wäre?» «Lass deine Emotionen aus dem Spiel, Ernst. Was immer es ist, das dich an dem Fall beschäftigt – du willst es mir ja nicht sagen, was ich verstehen kann, – halt deine Gefühle raus und gehe behutsam vor.»
6 Tante Emma-Laden
Wicki parkte den Opel Variant vor dem Volg-Laden im Dorfzentrum von Blasingen. Er stieg aus und blickte durchs Fenster ins Innere. Hier konnte er als erstes ein paar Basisinfomationen bekommen. Aber es war Mittagszeit und der Laden geschlossen. Wicki spazierte ein Stück weit die Dorfstrasse entlang. Ein herrlicher Tag, die Sonne sommerlich warm. In einem kleineren Laden mit Wollwaren und Spielsachen sah er eine alte Frau sitzen. An der Türe ein Schild: Hildegard Emmeter. Er ging hinein. Die Greisin starrte ihn lange an, doch seltsamerweise erwiderte sie seinen Gruss nicht. In den Regalen lagen Tücher, Näh- und Strickutensilien, Wolle, Spielsachen aus Holz und Plastik. Ein Durchgang führte in den hinteren Teil des Hauses. Wicki rief zweimal laut «Hallo». Es blieb still. Dann das Zuschlagen einer Türe und eine Stimme: «Ist jemand da?» Eine Frau um die Vierzig kam herein. Sie trug eine Schürze und hatte rostrotes Haar. Sie blickte Wicki mit aufmerksamen, dunkelbraunen Augen an. Er sagte: «Ich bin schon eine Weile hier. Mein Rufen wurde nicht beantwortet.» Die Frau entschuldigte sich. Sie habe im Keller den Besucher nicht gehört. Sie sei nicht die Besitzerin, sondern führe den Laden, seit ihre Tante schwerhörig geworden sei. Wicki stellte sich vor: «Kriminalpolizei Liestal, Wicki. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen im Zusammenhang mit dem, was gestern Nacht hier im Dorf geschah. Wie ist Ihr Name?» «Ich heisse Cornelia Zumwald.»
«Haben Sie Adolf Grütter näher gekannt, Frau Zumwald?» «Wir waren zusammen in der Primarschule. Er lebte die ganze Zeit hier im Dorf, bis auf ein paar Jahre, die er auf der landwirtschaftlichen Schule in der Ostschweiz verbrachte.» «War er ein guter Schüler?» «Der beste. Bis seine Mutter starb. Da ging’s mit seinen Leistungen bergab.» «Nahm er sich den Tod der Mutter zu Herzen?» «Ich denke schon. Mit seinem Vater hatte er kein gutes Verhältnis. Erst recht nicht, als er mit ihm allein lebte.» «Kannten Sie seinen Bruder?» «Den Stefan? Nein. Der war zehn Jahre älter und lebt seit langem in Australien.» «Gibt es sonst noch irgendwo Verwandte?» «Nicht dass ich wüsste.» Wicki machte sich Notizen. Frau Zumwald stand, die Hände auf dem Ladentisch verschränkt, da und wartete. Wicki sah ihr in die Augen, als er bemerkte: «Hatte Adolf Grütter Feinde im Dorf?» Sie wandte den Blick ab. «Wissen Sie, beliebt war er nicht gerade. Dazu war Adolf zu sehr ein Einzelgänger. Und er vertrug es nicht, wenn jemand ihn kritisierte.» «Wie reagierte er auf Kritik?» «Er war stets der erste, der mit Neuem experimentierte. Er versuchte es mit Melonen, dann mit Hanf. Zuerst lachten ihn die Leute aus. Dann, als sich der Hanf gut verkaufte, wurden sie neidisch und warfen ihm vor, er profitiere von der Drogensucht der Jugendlichen. Da wurde er ziemlich sauer.» Wicki staunte: «Verkaufte er den Hanf denn an Dealer?» Frau Zumwald schüttelte den Kopf. «Ich weiss es nicht, aber ich denke, es war alles legal. Hanf ist ein uraltes Naturprodukt und findet für vieles Verwendung, auch in der Medizin. Adolf behauptete, er verkaufe seinen Stoff an die Basler Chemie.»
«Das stimmte vielleicht nicht ganz, was erklären würde, warum ihm die Kritik sauer aufstiess.» «Schon möglich. Er war, wie gesagt, ein Eigenbrötler und liess sich nicht in die Karten blicken. Genauso verhielt er sich auch bei seiner Heirat.» «Erzählen Sie, das interessiert mich.» Frau Zumwald kam hinter der Ladentheke hervor, während Wicki sich einiges notierte. «Adolf heiratete vor fünf Jahren. Er tat es nicht hier in der Dorfkirche, sondern in Basel. Das hat die Leute zusätzlich gegen ihn aufgebracht. Vor allem seine ehemaligen Saufkumpane. Er war schon mal verheiratet, aber die erste Frau liess ihn im Stich. Sie nahm eines Tages das Postauto und wurde nie mehr gesehen. Später kam es zur Scheidung.» «Hatten sie Kinder?» «Nein.» «Und mit der zweiten Frau?» «Mit Dolores…?» Frau Zumwald zögerte, so als ob sie sich an etwas erinnern müsste. «Mit ihr hätte er wohl gerne Kinder gehabt. Aber das scheint nicht geklappt zu haben.» «Wie ist das zu verstehen?» «Dolores kam aus der Dominikanischen Republik, wenn ich mich nicht irre. Sie war sehr einsam, zumindest am Anfang. Oft schaute sie hier im Laden vorbei um zu plaudern. Deutsch war nicht ihre Stärke, aber mit der Zeit beherrschte sie es besser. Sie war eine fröhliche, aufgestellte Person. Wir haben oft zusammen gelacht.» Frau Zumwald hielt inne. «Und jetzt ist sie tot. Unfassbar.» Sie schluchzte leise. Wicki liess ihr Zeit, sich zu beruhigen. Auf einmal bemerkte die alte Frau mit einer viel zu lauten Stimme: «Muesch nid hüüle, Conny, dr Bappe chunnt bald wider zrugg!» Die Zumwald meinte, während sie sich die Tränen trocknete:
«Scho guet, Dante Hildi, ich waissjo, ass er chunnt.» Und zu Wicki: «Tante Hildegard meint, ich würde noch immer wegen Vaters Tod weinen. Er starb, als ich zwölf war. Erschlagen vom Blitz, beim Holzfällen.» Wicki ging nicht darauf ein. Er meinte: «Sie wollten mir noch erklären, warum die beiden Grütters keine Kinder hatten…» «Richtig. Dolores sagte, Adolfo sei enttäuscht, dass sie ihm keine Kinder gebäre. Er habe sich so auf Nachwuchs gefreut in seiner zweiten Ehe. Und es mache sie traurig, dass es nicht klappe. Aber vielleicht liege die Ursache ja bei ihm und nicht bei ihr. Leider wolle er um keinen Preis eine Abklärung, um das herauszufinden. Für ihn wäre klar, dass sie die Schuldige sei.» Wicki blickte auf die Uhr. Zeit, sich die Gemeindeverwaltung vorzuknöpfen. «Eine letzte Frage noch. Hat Adolf Grütter sich mit Männern geprügelt? Vielleicht weil er Kritik nicht vertrug?» «Adolf war ein ruhiger Mensch. Doch wenn man ihm zu nahe trat, konnte er schon mal ausrasten. Einmal spritzten ein paar Junge Unkrautvertilger auf seinen Hanf. Als Jux, hiess es hinterher, aber es war wohl eher, um ihm zu schaden. Adolf wurde fuchsteufelswild und gab keine Ruhe, bis er die Schuldigen herausgefunden hatte. Er lauerte den Übeltätern auf und prügelte drei von ihnen spitalreif.» Wicki notierte es kommentarlos. Dann verabschiedete er sich von der Händlerin: «Das war’s, Frau Zumwald. Danke für Ihre Mitarbeit.» «Gern geschehen. Herr Kommissar, darf ich Sie noch etwas fragen?» «Bitte.» Frau Zumwald flüsterte: «Er hat sie doch nicht umgebracht?» «Darüber darf ich keine Auskunft geben.»
7 Homepage
«Geschnetzeltes mit Rösti ist doch dein Lieblingsessen. Heute hast du’s kaum angerührt. Stimmt etwas nicht, Hans?» Marie-Louise hatte sich um halb eins mit Ralf und Nadine, die ausgehungert von der Schule kamen, an den Tisch gesetzt. Jetzt sass sie ihrem Mann gegenüber, der nach dreizehn Uhr eingetroffen war, und trank Kaffee. Hans sah müde aus. Er erklärte: «Wir haben momentan viel zu tun. Zum Fall in Blasingen und der Betrügerei mit den Bankkarten kommt noch die Sache mit den Postcheckkonti. Die Täter holen sich die Umschläge mit den Zahlungsaufträgen aus den Briefkästen, entfernen ein paar Einzahlungsscheine und legen solche mit eigenen Kontonummern hinein. Die Gesamtsumme muss dabei natürlich stimmen. Bis jemand herausfindet, dass die Zahlungen an die falsche Adresse gingen, haben diese Gauner locker ein paar Tausender eingeheimst.» «Unglaublich! Darauf muss auch zuerst jemand kommen! Was ist mit Blasingen?» Scheidegger hatte sich in all den Jahren, seit er bei der Kripo arbeitete, angewöhnt, seiner Frau detailliert über seine Arbeit zu berichten. Sie war Juristin. Ihr Sachverstand ebenso wie ihr klares Urteilsvermögen halfen ihm oft, die richtigen Fragen zu stellen oder aus Sackgassen herauszufinden. Er hatte in über 25 Jahren Ehe seiner Frau nur zweimal etwas vorenthalten: Einmal als er sich in eine völlig überflüssige Affäre mit einer jungen Mitarbeiterin stürzte, aus Rache, weil ein früherer Freund sich Marie-Louise mehr als freundschaftlich genähert hatte. Das zweite Mal war’s eine Kindsmisshandlung, deren
abscheuliche Details er seiner hochschwangeren Frau ersparen wollte. «Ernst hat mit den Befragungen begonnen. Die beiden Opfer waren vermutlich tot, bevor der Brand ausbrach.» «Tot?» «Ja. Sie sind in der Scheune umgekommen, die in Asche gelegt wurde. Ausserdem fand man in ihren Körpern Einschüsse.» «Waren sie verheiratet?» «Wie kommst du darauf?» Marie-Louise schaute ihrem Mann in die Augen. «Hat er sie umgebracht? Wäre nicht der erste solche Fall in den letzten Monaten.» Scheidegger zögerte. Sollte er ihr die ganze Wahrheit berichten? Schliesslich sagte er: «Mit einem Beil. Danach hat er vermutlich noch auf sie geschossen. Wicki ist zwar anderer Meinung, aber das ist hier irrelevant.» «Ist ja grauenhaft», sagte Marie-Louise nach einer Schrecksekunde. «Seltsam ist nur, dass der Täter sich offenbar selbst richtete.» «Warum seltsam?» Schritte waren zu hören. Marie-Louise hielt den Finger vor die Lippen und machte «Pscht!» Die achtjährige Nadine kam herein. Sie hatte ihren kleinen Rucksack prall gefüllt und trug ihn locker über der Schulter. «Hallo Paps!» «Hallo Nadine!» Sie hielt ihre Wange hin und Scheidegger gab ihr einen Kuss. «Ich muss früher zur Schule als sonst. Darf ich mir ein Stück Kuchen mit ins Turnen nehmen, Mam?» «Ja. Er steht im Kühlschrank. Aber schneide dir eine Tranche ab, bei der du nicht rot wirst, wenn du reinbeisst, Nadine.»
«Ralf holt sich noch viel grössere Stücke als ich, Mam!» rief das Mädchen lachend und verschwand in der Küche. Ralf war soeben die Treppe heruntergekommen. Er rauchte. Die Rapperfrisur mit der platinblonden Meche und der Lippenring liessen sein Gesicht jünger erscheinen, als es war. Das ist vermutlich nicht das, was er bezweckt, dachte Scheidegger. Aber Jugendliche haben in diesem Alter manchmal Wahrnehmungsstörungen. «Tag Papa. Was tratscht die kleine Wanze über mich?» «Ralf, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nur in deinem Zimmer rauchen darfst?» Marie-Louise nahm ihrem Sohn die Zigarette aus der Hand und zerdrückte sie energisch auf dem Unterteller der Kaffeetasse. Ralf grub in den Hosentaschen nach einem Kaugummi und steckte ihn zwischen die Lippen. Da kam Nadine aus der Küche zurück. Sie biss in ein Kuchenstück. «Paps, stimmt es, dass in Blasingen zwei Menschen verbrannt sind?» Scheidegger warf seiner Frau einen Blick zu. Dann sagte er: «Leider ist es wahr. Von wem weisst du’s?» «Tamara hat’s von ihrer Cousine, die in Blasingen wohnt. Das ganze Dorf half den Brand zu löschen. Stell dir vor, die Cousine wurde um fünf vom Lärm der Feuerwehrsirene geweckt und konnte zuschauen!» «Zuschauen?» «Eigentlich durfte sie ja nicht. Aber es war eine mega Aufregung. Da bemerkte niemand, dass sie und ihr Bruder sich hinter einer Holzbeige versteckten und die Männer beim Löschen beobachteten.» «Sitzt in Blasingen nicht diese Neonazi-Gruppe, die letztes Jahr ein internationales Meeting veranstaltete?» warf jetzt Ralf ein.
«Richtig», gab Scheidegger zur Antwort, froh darüber, vom Brand ablenken zu können. «Doch das Treffen fand nicht im Dorf statt. Und der Begriff Neonazis greift da wohl etwas zu hoch. Bloss weil diese Jugendlichen Hakenkreuze auf eine Holztür geschmiert haben und schwarze Kampfstiefel tragen, sind sie noch keine Neonazis, Ralf.» «Was sind Neonazis?» wollte Nadine wissen. «Halt die Klappe! Das verstehst du nicht. Dazu bist du wirklich noch zu klein.» «Stimmt das, Mam? Ralf ist immer so ein Grobian, wenn er mir etwas erklären soll!» rief das Mädchen und zog ihrem Bruder eine Schnute. Marie-Louise sagte: «Es wird Zeit fürs Turnen, Nadine. Hast du alles eingepackt? Erst noch hast du die Turnschuhe vergessen.» Sie nahm ihre Tochter kameradschaftlich beim Arm und ging mit ihr vors Haus, wo Nadines Fahrrad stand. Als die beiden draussen waren, nahm Ralf das Thema wieder auf: «Ich hab da Anderes gehört, Papa. Sie haben auf ihrer Homepage Zitate aus ‹Mein Kampf› kopiert und hetzen gegen die Ausländer. Zudem veranstalten sie Schiessübungen in einer Kiesgrube im Oberbaselbiet.» «Wer sagt das?» «Sandro, ein Kollege in der Parallelklasse. Weil er im Schützenkurs Freude am Rumballern bekam, fragte er die Boys an, ob er bei ihnen mitmachen dürfe. Sie willigten zuerst ein, liessen ihn dann aber doch nicht. Das wunderte ihn, denn er gilt als guter Schütze. Er meint, sie hätten ihn verarscht, weil er ihre Homepage kritisierte. Das ganze Getue mit Hitler und seinem Buch hält er für einen totalen Scheiss.» «Da hat er bestimmt nicht Unrecht. Und das mit dem Schiessen in der Kiesgrube ist wohl eher Bluff als Realität.» «Sandro behauptet das Gegenteil.» «Etwas behaupten kann jeder.»
«Er sagt, er sei dabei gewesen.» «Eben meintest du noch, sie hätten ihn abgewiesen.» «Sandro wollte es genau wissen.» Scheidegger sah seinen Sohn scharf an. «Wie meinst du das?» «Ich weiss nicht… Ach, ist doch egal.» «Komm jetzt, Ralf, keine Ausflüchte. Was wollte er genau wissen?» «Es ist… ich soll es nicht weiter erzählen. Sandro möchte nicht, dass diese Typen es erfahren.» «Glaubst du denn, dass ich etwas von dem, was wir hier besprechen, weiter berichte?» «Papa, wenn die Polizei etwas gegen diese Hitlerfreaks unternimmt, dann fällt es auf Sandro zurück. Glaubt er zumindest.» Scheidegger liess nicht locker. «Was hat er gesehen?» «Ich weiss es nicht. Ehrlich. Er sagte mir nur, er habe sich nachts an die Kiesgrube herangeschlichen, als sie eine Übung veranstalteten.» «Schiessereien?» «Frag ihn selber. Oder besser nicht. Sonst weiss er, dass ich nicht dicht gehalten habe.» Ralf klaubte einen frischen Kaugummi aus dem Papier und steckte ihn in den Mund. «Jetzt mal ganz im Ernst, Ralf. Wenn die Sache bloss eine kindische Spielerei wäre, würde sich dein Kollege keine Sorgen machen. Er ist da auf etwas gestossen, das ihn befremdet, und hat Nachforschungen angestellt, auf eigene Faust. Das kann man noch durchgehen lassen. Aber was er entdeckte, macht ihm Angst. Jetzt fürchtet er die Konsequenzen. Ich denke zu Recht. Dabei darf man ihn nicht allein lassen.»
Ralf schwieg. Er bereute es, geredet zu haben. Wenn die Polizei einschreitet, fällt alles auf mich zurück. Und ich bin der Verräter. Warum muss mein Vater ausgerechnet Polizist sein?
8 Aktenzeichen XY
«Kann ich mir mal die Einwohnerdatei ansehen?» «Eigentlich ist das Ottos Domäne. Und weil der auf der Geheimhaltungspflicht besteht, habe ich darauf üblicherweise keinen Zugriff. Aber jetzt liegt er im Spital und jemand muss den Zugang zu den Informationen offen halten, nicht wahr?» Wicki stand im hellen Büro der Gemeindeverwaltung, in dem ihn Frau Ruoss, die Sekretärin, pünktlich um zwei Uhr empfing. Er setzte sich vor einen Computer und sagte: «Wie geht’s ihm denn, dem Gemeindepräsidenten?» «Er hatte es schon lange auf dem Herz, dazu das Rauchen und Trinken. Von Bewegung hält er auch nicht viel. Bei seinem Gewicht schon eher riskant.» «Haben Sie das Passwort?» «Ja.» Die Sekretärin reichte Wicki ein Stück Papier. Dieser startete den Computer, während sie weiter redete. Er gab das Codewort ein und klickte in die Einwohnerdatei. Dort suchte er die Angaben zu Adolf Grütter und seiner Frau. Ob Grütters Hof verschuldet war, musste doch über die Steuererklärung herauszufinden sein. Wicki öffnete den Ordner (Gemeindesteuern). Erneut kam der Befehl, einen Code einzugeben. Einen Augenblick war Wicki verblüfft, bis ihm dämmerte, dass diese Datei natürlich speziell gesichert sein musste. Er sagte zu Frau Ruoss: «Wissen Sie den Code für die Steuererklärungen?» Sie lächelte: «Otto hat an alles gedacht. Hier ist er.» Wicki gab die Kombination ein und landete nach einigem Suchen in der gewünschten Datei. Grütter Adolf, Landwirt,
hatte im Vorjahr ein bescheidenes Steuersümmchen bezahlt, ca. 7200 Franken, auf einem Besitz von drei Hektaren. Das Haus und die Stallungen gehörten ihm, ebenso ein Gebäude im Dorf, in dem er zwei Wohnungen vermietete. Er hatte einen Traktor auf Pump gekauft, drei Kühe waren noch nicht abbezahlt. Insgesamt etwa 33 000 Franken Schulden. Das schien nicht viel bei einem Gesamtumsatz von 126000 Franken. Rechnete man die Pachtzinsen, Abzüge und restlichen Schuldzinsen weg, ergab sich ein Einkommen von rund 61000 Franken. Von wegen hoch verschuldet, dachte Wicki. Wie kommt der Löwenwirt dazu, eine solche Mär in die Welt zu setzen? Den müsste man sich vorknöpfen wegen übler Nachrede. Aber das geht bekanntlich nicht, weil Tote keinen Leumund haben. Wicki zündete sich eine Zigarette an. Kaum hatte er zwei Züge genommen, als Frau Ruoss in spitzem Ton sagte: «Können Sie nicht lesen?» «Wieso?» Sie wies stumm auf ein Plakat an der Wand. ‹Rauchen ist in der Gemeindeverwaltung verboten.› Wicki ging vor die Tür und rauchte die Zigarette draussen fertig. Dabei dachte er: Wenn es nicht stimmt, was Dulliger behauptet hat – was war dann der Zweck der Falschaussage? Vielleicht findet sich ja in Grütters Haus etwas, das uns weiterhilft. Er beschloss, zur Brandstätte zu fahren, obwohl es ihm widerstrebte, den Ort des grausigen Fundes jetzt schon wieder zu betreten. Aber Scheidegger hatte Recht: Er musste persönliche Gefühle aus der Sache heraushalten. Wicki lenkte den Wagen zum Dorfeingang von Blasingen, dann eine ansteigende Strasse hoch, die in zwei Kehren zum Hof Grütters führte. Je höher er hinaufkam, desto grandioser wurde die Aussicht. Rechts hinter ihm der Wisenberg, ein
beliebtes Ausflugsziel, vor ihm das Oberbaselbiet mit seinen Wellen und Hügeln, über die sich ein tiefblauer Himmel spannte. Nur ein paar Cumuli tummelten sich darauf. Der Polizist, der das abgebrannte Gehöft bewachte, nahm die Finger an die Mütze, als Wicki aus dem Variant stieg, und meldete sich: «Schlosser.» «Tag, Schlosser. Ich bin Wicki.» Der Mann rückte den Schlüssel zu Grütters Haus heraus. «Schon drin gewesen?» Schlosser verneinte. Er hatte es offensichtlich vorgezogen, den Nachmittag in der Frühlingswärme zu verbringen. «War jemand da?» «Nein.» Wicki öffnete die Tür des Bauernhauses – und wich zurück. Im verdunkelten Raum stank es ätzend nach Rauch. Er riss Fenster und Läden auf. Sonnenlicht flutete herein. Er schaute sich um. Die Wohnung war sauber aufgeräumt. Es sah aus, als hätte das Ehepaar eben abreisen wollen. Das Geschirr im Küchenbuffet hinter Glas, das Besteck säuberlich geordnet in den Schubladen. In der Wohnstube derselbe Eindruck. Alles reinlich, ausser ein paar Wasserflecken an den Wänden. Es schien, als sei am Abend vor dem Unglück noch der Staubsauger in Betrieb gewesen. Der Tisch aus Eiche war blank gescheuert. Selbst die Äpfel in einer Schale glänzten wie poliert im Sonnenlicht. Ein hauchdünner Russfilm war die einzige Spur des Ereignisses, das die kleine Welt hier auf den Kopf gestellt hatte. Wicki nahm sich einen Apfel, rieb ihn am Jackenzipfel ab und biss hinein. Dann betrat er das Büro des Hausherrn, oder besser, die technische Zentrale des landwirtschaftlichen Betriebs. PC, Scanner, Video, Beamer, Digitalkamera und jegliche Art von Zubehör. Wicki setzte den Computer in Gang. Er klickte in
einigen Dateien herum, ohne etwas zu finden, das von Interesse gewesen wäre. Vielleicht hatte Grütter ja auf der Steuerrechnung andere Angaben gemacht, als er zu Hause festhielt. An diesem einträglichen Spiel beteiligten sich Zehntausende harmloser Bürger, warum nicht ein Landwirt aus dem oberen Baselbiet? Landwirt. Wenn er an das Wort nur schon dachte, musste Wicki lachen angesichts des Technoparks, den er vor sich sah. Das Wort klang so verstaubt wie Ständerlampe oder Grammophon. Er fand Details zu einigen Schulden Grütters. Aber soweit er sich erinnern konnte, schienen die angegebenen Zahlen identisch mit jenen in der Steuererklärung. Grütter war ein ordentlicher Mensch gewesen. Wicki ass den Apfel gemächlich. Dann wischte er sich die Hände an den Hosen ab und öffnete den Ordner ‹Privates›. Darin fand er einen Stadtplan und eine Beschreibung von San Domingo. Ferner einen Schnellkurs für Spanisch – die ersten 300 Wörter in einer fremden Sprache. Wicki schmunzelte unwillkürlich. Er kannte das. Auch er hatte Spanisch zu sprechen versucht, als er Tania kennen lernte. Die nächste Datei war beschriftet mit «Aktenzeichen XY». Darin fanden sich Hinweise auf alte Sendungen des TV-Fahnders Zimmermann, der vor Jahren – unter dem Mantel der Verbrechensaufklärung – die Leute zum privaten Herumspionieren ermuntert hatte. Wicki schloss die Datei. Die darunter liegende hiess «Alte Heimat». Also doch was Bodenständiges, auch wenn man sich modern gibt. Das Anklicken brachte Verblüffendes zutage. Waffen erschienen auf dem Bildschirm. Pistolen, Revolver, Schnellfeuer-Gewehre, mit genauen technischen Daten: Gewicht, Kaliber, Reichweite usw. Keine Bilder aus Händlerkatalogen, sondern private Fotos. Zweimal wurde die Waffe von einer Hand gehalten, wie um die Echtheit des
Bildes zu verdeutlichen. Oberhalb des Daumens war am Handgelenk ein Reichsadler eintätowiert. Soso, der Herr Grütter ist ein Waffennarr, dachte Wicki. Eigentlich nicht erstaunlich. Die Smith & Wesson, mit der er sich und seine Frau erschossen hat, stammte vermutlich aus einer irgendwo im Haus verborgenen Sammlung. Zu dumm, dass wir nicht von Anfang an daraufgekommen sind. In der Legende zu einem Foto fand sich ein Vermerk: www.alte-heimat.ch. Wicki poolte sich ins Net ein und tippte die Adresse. Als die Website erschien, traute er seinen Augen nicht. Zitate aus Hitlers «Mein Kampf» standen da in trauter Nachbarschaft mit Sätzen, die offen rassistisch und ziemlich primitiv daherkamen. Gehetzt wurde gegen Afrikaner, Albaner, Türken und Juden. Ganz so, als gebe es in der Schweiz kein Gesetz gegen Rassismus in Wort und Schrift. Seltsam, dachte Wicki, dass ein biederer Bauer wie Grütter diese Adresse im PC speicherte – neben Fotos von Waffen, die zu tödlichen Spielzeugen werden können. War er ein heimlicher Nazi? Aber hätte er dann eine dunkelhäutige Ausländerin geheiratet? Wicki schloss die Datei und stellte den PC ab. Er stieg in den ersten Stock hoch. Die Schlafstube ebenso wie das Badezimmer sauber und aufgeräumt. Auch hier der Eindruck einer bevorstehenden Abreise. Ein alter Bauernschrank mit zahllosen Frauenkleidern. Ein paar Röcke an Bügeln, die an der Schranktüre und am Fenster hingen. Ein Koffer, leer – bis auf einen Gegenstand in einem Seitenfach des Deckels. Es war ein Schweizer Pass, handlich und neu. Ausgestellt für Dolores Grütter-Sanchez. Wicki besah sich das Bild der Frau. Ihre Ähnlichkeit mit Tania war doch nicht so stark. Hatte er Tania tot sehen wollen? Für Augenblicke wurde ihm heiss und kalt bei dem Gedanken, denn er hatte sie geliebt, noch Jahre
nach der Trennung, in einer bizarren Mischung von Verehrung und Enttäuschung. Wicki steckte den Pass in die Jackentasche. Er ging die Treppe hinunter und trat vors Haus. Schlosser stand in der Sonne und rauchte. Ein Traktor ratterte in der Ferne vorbei. Es war warm, viel zu warm für die Jahreszeit. «Hier ist der Schlüssel. Verriegeln Sie alle Fenster im Haus, wenn Sie abgelöst werden. Der nächste Regen kommt bestimmt.» Schlosser nickte und tippte mit der Hand an die Mütze. Wicki zog die Jacke aus und setzte sich in den Opel. Er liess die Wagentür offen, um die linde Aprilluft hereinzulassen. Dann wählte er auf dem Handy Scheideggers Nummer. Es dauerte einige Zeit, bis der Chef am Apparat war. Wicki berichtete vom Fund des Passes, von Grütters Steuern, von der rechtsextremen Homepage. «Ob das ein Zufall ist?» sagte Scheidegger. «Heut Mittag hat mir mein Sohn von einer derartigen Website berichtet.» Wicki hielt die Hand über die Stirn, weil ihn die Sonne blendete. «Wir müssen das Haus durchsuchen, Hans. Da gibt es bestimmt Waffen. Und Material zu den Nazibrüdern. Kannst du jemanden abdelegieren?» «Heute nicht, Ernst. Eilt es denn so? Bin erstaunt, dass du auf diesen Lausbubenkram so abfährst.» Wicki überhörte die Spitze. Er sagte: «Bevor wir das Haus durchsuchen, muss ich den Befund zur Schussdistanz kennen.» Es entstand eine Pause. Dann bemerkte Scheidegger: «Du glaubst an eine Abrechnung?» «Man muss so etwas mit in Betracht ziehen.» «Unter Neonazis?» Wicki sagte langsam und mit Bedacht: «Die Pistole, die am Tatort gefunden wurde, könnte jenem Mann gehören, der sie auf dem Homepage-Foto in der Hand hält. Vom Typ her dürfte es dieselbe sein. Wir müssen das überprüfen.»
«Na, dann gute Nacht. Das fehlte gerade noch, dass ein paar rechtsextreme Idioten uns hier im Baselbiet Schwierigkeiten machen!»
9 Outfit
Wicki hatte Melanie nicht bei sich zu Hause erwartet. Was wohl in sie gefahren war? Ein wunderschöner Frühlingsabend, der ihn heiter stimmte. Und Melanie schlief- hier bei ihm im Bett. Er beschloss, sich darüber zu freuen. Aus dem Wohnzimmer kam, auch das merkwürdig, nicht wie gewohnt die krächzende Stimme Al Capones, der Wicki eine Beschimpfung entgegenschickte. Melanie lag bäuchlings auf dem Bett, den Kopf in ein Kissen vergraben. Jetzt erst bemerkte Wicki: Sie schlief nicht, sie schluchzte. Er setzte sich auf den Bettrand und fuhr ihr sachte durchs Haar. Sie hob den Kopf und sagte mit roten Augen: «Musst du denn unbedingt in diesem hässlichen Quartier wohnen?» Wicki war überrascht. «Diese miesen Typen!» Sie schüttelte sich vor Ekel. «Was ist denn los? Kannst du nicht etwas deutlicher werden?» «Ich kam vom Bahnhof, der Fotograf war heute früher fertig. Ich beschloss, in deiner Wohnung auf dich zu warten. War guter Laune, freute mich auf den langen Abend und trällerte ein Liedchen. Da, auf dem Weg vom Tram hierher, machten mich zwei Typen an, dunkelhaarig, Lederjacken, einer trug einen Schnurrbart. ‹Wieviel?› sagte dieser frech und griff mir einfach an die Brüste, während der andere einen Finger in den Mund steckte und meinte: ‹Du machen Figgi mit uns zwei, ja?›, worauf beide dreckig lachten.» Wicki blickte Melanie aufmerksam an. Dann sagte er: «Hast du dich denn nicht gewehrt?»
«Ich war im ersten Moment so schockiert, dass es mir die Sprache verschlug. Schliesslich würgte ich heraus: ‹Haut ab, oder ich schreie so laut, dass die Polizei kommt!› Das machte denen überhaupt keinen Eindruck. Der eine meinte: ‹Nicht wollen Geld von Ausländer? Aber wir viel Kohle! Wenn du gut machen, du bekommen viel Kohle!› Ich blickte mich um, ob jemand in der Nähe war, den ich zu Hilfe rufen konnte. Aber ausser einem steinalten Opa, der langsam daherschlurfte, war ich allein…» Melanie begann erneut zu weinen. Wicki sagte: «Warum bist du nicht einfach davon gerannt?» «Das war auch mein erster Impuls. Aber mein Stolz liess es nicht zu, vor solchen Dreckskerlen einfach die Flucht zu ergreifen. Stattdessen sagte ich: ‹Wenn ihr nicht sofort verschwindet, rufe ich meinen Freund. Der ist bei der Polizei.› Und zückte mein Handy, um die Drohung wahr zu machen.» «Damit hast du sie wohl nur provoziert.» «Jedenfalls, der eine riss das Natel aus meiner Hand, während der andere mir den Arm umdrehte. Ich schrie, so laut ich konnte, aber er packte fester zu und zerrte mich in eine Garageneinfahrt. Da wurde ich von Panik ergriffen…» Melanie hielt inne. Sie schluchzte leise. Dann fuhr sie weiter: «Zum Glück sah ich ein Auto, das aus der Garage zu uns herauffuhr. Der Typ, der mich festgehalten hatte, liess mich los. Ich knallte ihm mit aller Kraft die Handtasche ins Gesicht und rannte los, vorne um das Auto herum, so dass der Fahrer brüsk bremsen musste. Diese feigen Machos waren so verblüfft von meiner Reaktion, dass ich ihnen entwischte. Erst vor deiner Haustür machte ich halt.» Wicki wusste nicht recht, was er von der Geschichte denken sollte. Zwar passierten hier im Matthäus-Quartier in letzter Zeit brutale Dinge, die ein widerliches Gesicht der sonst friedlichen Multikultiwelt offenbarten. Der Ritualmord eines
Türken an seiner Frau war Stadtgespräch gewesen, ebenso die mörderische Fehde zweier Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien. Aber dass zwei Männer, nach Melanies Schilderung auch Ausländer, bei hellichtem Tag eine Schweizerin überfielen, um sie zu vergewaltigen, war doch ein starkes Stück. Wicki betrachtete seine Freundin von der Seite. Sie trocknete ihre Tränen und sagte: «Warum erlauben sich Männer so etwas? Ich bin doch keine Nutte!» «Natürlich nicht, Mel. Aber hast du dir schon mal überlegt, was dein Äusseres in Männern auslösen kann? Du kleidest und schminkst dich wie…» Wicki zögerte. Er wollte Melanie nicht verletzen. «Wie wer?» Ihre Stimme klang geknickt, aber auch gereizt. Gefahr stand im Raum. «Melanie, ich habe dir schon oft gesagt, dass ich es mag, wie du dich anziehst und dein Äusseres pflegst. Aber…» «Gefalle ich dir nicht?» Ihr Schmollmund und die grossen Augen, die ihn fixierten, wollten nicht zu ihrer gegenwärtigen Stimmung passen. Wicki irritierte es, dass sie schon wieder zu flirten begann. «Vielleicht liegt da des Pudels Kern. Du ziehst auffällige, gewagte Klamotten an und oft bist du darin ganz schön sexy…» «Na und? Darf ich das etwa nicht? Ich bin schliesslich als Model tätig. Glaubst du, Naomi Campbell läuft privat wie eine Dorfschullehrerin herum?» «Da bin ich nicht so sicher. Aber du willst eben nicht nur mir gefallen. Das ist der Punkt.» «Eifersüchtig?» «Bestimmt. Aber darum geht es nicht. Für viele Ausländer, vor allem für Moslems, wirkst du in diesem Outfit wie eine Nutte. Kein Wunder, dass sich einige die Freiheit herausnehmen dich anzumachen.»
«Aber ich bin keine Nutte!» «Was mich angeht, musst du das nicht wiederholen. Ich hab’s kapiert.» «Diese verdammten Schweine!» Wicki beschloss das Thema zu wechseln: «Wo ist der Ara?» «Ich war so genervt ob seinem ewigen Gekrächze, dass ich ihn in die Toilette sperrte. Mit dem schwarzen Tuch drum herum, sonst hält er seinen Schnabel nicht.» «Im Zwischenstock? Was, wenn er die Nachbarn unten und oben aufscheucht?» Wicki spielte den Amüsierten, obwohl ihn Melanies Eigenmächtigkeit ärgerte. Wie in vielen alten Häusern des Matthäus-Quartiers war auch hier die Toilette im Zwischenstock. Melanie hatte sich schon oft beschwert, dass es unangenehm sei, am frühen Morgen auf der Treppe jemandem zu begegnen, während man zum intimsten Geschäft eile. Ihre Aktion trug den Charakter eines Racheaktes. Sie sagte spitz: «Die Schwerhörige aus dem Erdgeschoss hat er bestimmt nicht aufgeschreckt.» «Man hätte Al Capone entwenden können.» «Die Tür ist verriegelt. Ich bin doch kein Unmensch.» Wicki lächelte säuerlich. «Entlasse ihn aus dem Gefängnis und hole ihn herauf, Melanie. Er braucht noch ein wenig frische Luft, bevor er erneut in die Verdunkelung muss.» «Zu Befehl, grosser Manitu. Und was ist mit mir – wieviele Streicheleinheiten sind für mich vorgesehen?» Melanie erhob sich vom Bett und schlüpfte in die Pumps mit den halbhohen Absätzen, die vor dem Bett standen. Sie trug ein dunkelblaues T-Shirt und einen schwarzen Minijupe. Das ganze Abenteuer schien sie doch nicht so mitgenommen zu haben, wie es zuerst aussah. Sie legte ihre Arme um Wickis Hals und fragte leise, indem sie ihn mit ihren grossen grünen Augen ansah:
«Kriege ich wenigstens einen Kuss – als Trost für den erlittenen Schrecken?» Wicki küsste sie auf die Lippen und nahm sie in die Arme. Er streichelte ihren Nacken und blies über die blonden Härchen. Da entdeckte er über ihre Schulter hinweg auf dem Bett ein Foto von Tania, das unter dem grossen, zerknautschten Kissen hervorschaute. Einen Augenblick dachte er: Diese kleine Teufelin! Sie hat mir das Ganze nur vorgespielt. Er schob Melanie sachte von sich und blickte sie an. «Warst du überhaupt in Zürich?» Sie schaute mit unschuldigen Augen zurück. «Natürlich. Wie kommst du darauf?» Er ging zum Fenster, um die warme Abendluft herein zu lassen. «Dachte mir, vielleicht hat der Fotograf den Termin abgesagt. Sonst dauert die Modellsteherei ja zehn Stunden oder mehr. Du bist noch nie vor 22.00 Uhr zurück gewesen. Und heute gingst du ja erst gegen zehn Uhr weg.» «Was soll das? Schnüffelst du hinter mir her?» Melanie warf den Kopf in den Nacken und starrte Wicki an. Fältchen erschienen auf ihrer glatten Stirn und um die kleine Nase. «Interessant, dass du das sagst. Ich habe eher den Eindruck, dass du in meinen Sachen rumschnüffelst. Das Foto auf dem Bett zum Beispiel.» Melanie meinte mit einer Stimme, so unschuldig wie ihr Blick zuvor: «Du hast es liegen lassen.» «Aber doch nicht auf dem Bett. Und dazu unter dem Kissen.» Melanie wandte sich abrupt ab. «Was geht mich das an?» Sie huschte ins Badezimmer, um sich zu schminken. Wicki folgte ihr und trat hinter sie. Er blickte ihr über die Schulter. Erst jetzt, im Spiegel, fiel ihm auf, dass sie keine Lidschatten trug. Auch hatten ihre Tränen keine verschmierten Spuren um die Augen hinterlassen. Offensichtlich schminkte sie sich heute
zum ersten Mal. Er versuchte, ihren Blick zu fixieren. Doch Melanie tat ganz beschäftigt und konzentriert. Mit grösster Sorgfalt zupfte sie ein paar ungebärdige Wimperhärchen aus und strichelte an den Brauen herum. Dann zog sie sich zwei dünne blaue Lidschatten. «Was ist daran so spannend, einer Frau beim Schminken zuzuschauen?» «Einzig, dass sie dies sonst morgens um halb sieben so ausführlich macht.» «Darf ich meine übliche Routine nicht unterbrechen? So wie du mitten in der Arbeitszeit Pause machst, um dir irgendwelche Fotos anzusehen?» Sie bürstete sich ausgiebig das lange blonde Haar, das ihr vorne über die Stirn fiel, und schien dabei Wickis Reaktion zu beobachten. Er spürte das Verlangen, die Wahrheit zu erfahren, obwohl es bestimmt ein Fehler war, darauf zu bestehen. Er hasste es, belogen zu werden. «Du gibst also zu, nicht in Zürich gewesen zu sein?» «Soll das ein Verhör sein, Sherlock Holmes?» Melanie blickte Wickis Spiegelbild spöttisch an. «Natürlich nicht. Du bist ein freier Mensch, Mel.» «Wie grosszügig.» Sie fischte ein paar Haare aus dem Lavabo, drehte sich um und blies sie Wicki von der flachen Hand ins Gesicht. Er liess es geschehen, weil er hinter der Geste eine Zärtlichkeit zu spüren meinte. Spielerisch wollte er Melanies Hand packen, aber sie entzog sie ihm. Sie war schon aus dem Bad entwischt und liess ihn stehen. Er rief ihr nach: «Wo gehst du hin?» «Da, wo ich hingehöre.» Das sass. Wicki fühlte ein Brennen, tief im Innern, das er von früher zu kennen meinte. Melanie hatte ihre Jacke aus rotem Nappaleder übergeworfen und war im Begriff zur
Wohnungstür zu gehen. Er blickte sie an und sagte: «Ich dachte, wir beide gehören zusammen.» «Das habe ich auch gedacht.» Sie öffnete die Tür und verliess die Wohnung. Grusslos und ohne den Kopf zu wenden. Wicki machte keinen Versuch sie zurückzuhalten. Er trat ans Bett und klaubte die Fotos von Tania unter dem Kopfkissen hervor. Halb steckten sie im Umschlag, halb waren sie herausgerissen. Er schob alle zusammen ins Kuvert und warf dieses in der Küche in den Mülleimer. Das hätte ich schon längst tun sollen, dachte er mit Bitterkeit. Stattdessen habe ich die Bilder gehortet wie einen geheimen Schatz. Jetzt bekomme ich die Quittung dafür. Geschieht mir recht. Er holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Glenfiddich und goss sich ein halbes Glas voll. Dann setzte er sich ans offene Fenster und rauchte. Ab und zu nahm er einen Schluck. Es ist ein Missverständnis, sagte er sich. Aber was, wenn Melanie mir nicht glaubt? Er war ratlos und spürte, dass er mit dieser Situation ebenso wenig klar kam wie damals, als ihn Tania verlassen hatte.
10 Der anonyme Anrufer
Als Wicki am nächsten Morgen um halb acht das Büro von Scheidegger betrat, sass der am Schreibtisch und telefonierte. Er hatte einen Becher mit Kaffee vor sich und eine halbleere Schachtel mit Konfekt. Was er ins Telefon sagte, tönte für Wickis Ohren ungewöhnlich ärgerlich: «Dann bauen Sie halt andere Briefkästen, herrgottnochmal – am besten solche mit Öffnungen, in die nicht jedes Schlitzohr seine Finger reinstecken kann! Aber einfach zuwarten und uns die Schuld geben, weil wir mit den Nachforschungen nicht vorankommen, das ist ziemlich billig, meinen Sie nicht auch?» Nach beendetem Gespräch nahm er sich zwei Stück Konfekt und sagte entschuldigend: «Bei uns zu Hause ist die Kaffeemaschine kaputt. Marie-Louise hat mir zum Trost diese Köstlichkeiten gekauft. Willst du?» Wicki schüttelte den Kopf. Er hatte ein paar Gläser zuviel getrunken am Vorabend. Da mochte er nichts essen. Zudem interessierte ihn ein gelbes Mäppchen auf Scheideggers Tisch. Eine vom Kriminaltechnischen Dienst angefertigte Analyse über die Wirkung von Geschossen auf Objekte aus diversen Schussdistanzen. Scheidegger trank seinen Kaffee aus und sagte kopfschüttelnd: «So ein arroganter Kerl! Da wirft uns dieser Boss von der Postfinance vor, wir verschleppten die Untersuchung über die gefälschten Zahlungen. Mit jedem Tag, an dem nichts geschehe, verliere seine Firma Dutzende von Kunden, die ihre Konti anderswo eröffnen würden. Um Abhilfe zu schaffen, hatte er die tolle Idee, wir sollten die Briefkästen im ganzen Kanton überwachen lassen – an die achthundert!»
Wicki zog es vor, zu dieser Materie zu schweigen. Er fühlte sich auf einmal müde. Scheidegger holte sich im Flur noch eine Tasse Kaffee und spülte seinen Ärger hinunter. Dann machte er dem Konfekt den Garaus. Genussvoll kauend, deutete er auf das gelbe Mäppchen: «Habe noch mal mit dem KTD geredet. Sieht danach aus, als seien die Schüsse, die Grütter töteten, nicht aus nächster Nähe zum Körper abgegeben worden.» Er machte eine Pause, um zu sehen, wie die Neuigkeit auf Wicki wirkte. Der zeigte keine Regung und fragte bloss: «Wieviele?» «Drei.» «Und jener, der ins Herz und ins Schlüsselbein ging?» «Wurde abgegeben, als Grütter am Boden lag. Von oben.» «Merkwürdige Perspektive für einen Suizid.» «Ja. Die These, dass Grütter sich und seine Frau ermordete, ist damit wohl hinfällig.» Wicki erhob sich von seinem Stuhl und rief: «Herrgott, mir schwante so etwas. Wenn du sein Haus gesehen hättest, die ganze Ordnung, die Sauberkeit und die beiden Koffer, die darauf warteten fertig gepackt zu werden! Alles zur Abreise bereit. Als hätten die beiden eine Ferienreise machen wollen. Wer seine Frau und sich selber umbringen will, packt keinen Koffer und greift nicht zum Staubsauger.» «Dies ist der vorläufige Befund des KTD, Ernst. Was wir brauchen, sind Beweise für die These, dass es eine Drittperson als Täter gibt.» «Klar. Offen bleibt dennoch, warum die Dominikanerin so brutal zugerichtet wurde.» «Dominikanerin?» «Eine Frau im Dorf, Cornelia Zumwald, hat mir über Grütter Auskunft gegeben. Sie kannte ihn schon als Kind. Die Tote war seine zweite Frau und stammte aus der Dominikanischen Republik. Sie hiess Dolores Sanchez-Grütter. Hier.»
Wicki zog den Pass hervor. Scheidegger wischte sich die Finger, die Schokolade- und Zuckerspuren trugen, an einem Stück Papier ab und blätterte ihn durch. «Hübsche Frau. Sie ist ein schönes Stück jünger als er.» «Die beiden wollten Kinder. Aber es klappte nicht. Er scheint das ziemlich schwer verdaut zu haben. Überhaupt war Grütter ein Sonderling. Hanfpflanzer der ersten Stunde, aber mit seinen Ansichten im Abseits. Wenig Freunde, bloss Saufkumpane.» «Hanfpflanzer? War er da nicht registriert?» Wicki zog sein Zigarettenpäckchen hervor. «Schon möglich. Aber was bringt uns das?» «Vielleicht ist er ja mit dem Gesetz in Konflikt gekommen.» «Das hätten wir doch bereits vorgestern erfahren, als die Daten über ihn hereinkamen.» «Was ist mit ihr?» Scheidegger zeigte auf das Passbild. «Dolores wurde im Dorf nicht akzeptiert, vermutlich wegen ihrer Sprache, vielleicht auch wegen der Hautfarbe. Sie arbeitete in einem Spital. Frau Zumwald scheint ihre einzige Ansprechperson gewesen zu sein. Viel geholfen hat ihr das nicht.» «Wenn die zwei auf dem Weg in die Ferien waren, müsste das nachzuprüfen sein. Frau Grütter konnte ja im Spital nicht einfach weglaufen. Und jemand im Dorf muss gewusst haben, wann und wohin die beiden gehen wollten.» «Du meinst den Wirt?» Wicki sah Scheidegger an. Der lachte. «Dulliger weiss bestimmt Bescheid. Nur wollte er es nicht sagen, weil er uns Wichtigeres mitzuteilen hatte. Übrigens, die braune Homepage – warst du da schon aktiv?» «Nein. Es hat keinen Sinn, etwas zu unternehmen, bevor wir das Haus Grütters durchsucht haben.» Das Telefon läutete. Scheidegger nahm den Hörer ab.
«In der Nacht? Warum meldet er sich erst jetzt? Okay, stellen Sie durch.» Scheidegger legte die Hand auf den Hörer. «Jemand will uns etwas Wichtiges mitteilen. Im Zusammenhang mit dem Brand. Geh ans zweite Telefon!» Wicki schnappte sich den Apparat für Konferenzgespräche. Eine heisere Stimme meldete sich. «Ist dort die Kriminalpolizei? Ich möchte Ihnen was mitteilen, das Sie interessieren dürfte.» «Ihr Name?» «Tut nichts zur Sache.» Scheidegger sagte mit Nachdruck: «Anonyme Aussagen nehmen wir nicht entgegen.» «Dann eben nicht. Schade. Das, was ich gesehen habe, könnte von grosser Wichtigkeit sein.» Wicki schob Scheidegger einen Zettel zu. Darauf stand: Seine Nummer ist auf dem Display. Scheidegger nickte. «Was haben Sie denn gesehen?» «Bevor der Brand ausbrach, war ich mit Nestor unterwegs. Wie jede Nacht. Gegen zwei Uhr kann ich nicht mehr schlafen. Nestor läuft an der Leine, damit er nicht wildert. Wenn wir bei Adolf Grütter vorbeikommen, muss ich ihn stets festhalten, da der Sennenhund aufzuwachen pflegt, und dann bellen sich die Tiere an, bis wir ausser Sichtweite sind. Gestern hat der Hund von Grütter nicht angeschlagen. Das fand ich sehr merkwürdig, denn wir kamen relativ nah am Haus vorbei. Es war still, nur den Brunnen hörte man plätschern. Wir gingen weiter querfeldein, bis zur Strasse nach Hobelwald. Dort kam mir ein Auto entgegen.» «Erinnern Sie sich, welche Farbe es hatte?» «Ein weisser Toyota. Fuhr mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Erst als er ganz in meiner Nähe war, schaltete
der Fahrer auf Normallicht. So ein Idiot. Nicht viel, und er hätte mich über den Haufen gefahren.» «Sind Sie sicher, dass es ein Toyota war?» «Absolut. Ich hatte fünf Jahre lang den gleichen Wagen.» «Vielen Dank, Herr… Es ist wirklich schade, dass Sie uns Ihren Namen nicht mitteilen wollen.» Scheidegger blinzelte Wicki zu. «Das geht nicht. Ich lebe hier in B. und möchte nicht in die Sache hineingezogen werden.» Der Mann mit der heiseren Stimme hängte grusslos ein. Scheidegger meinte: «Schon wieder so ein Informant. Diesmal anonym. Das wird langsam heiter.» Wicki sagte: «Ich fahre gleich hin. Das freut den braven Kerl bestimmt, wenn ich ihm ein wenig auf den Zehen herumtrete.»
11 Der Spaziergänger
Neben dem Eingang ein Schild mit dem Namen: Paul Wyssbrod. Wicki klingelte. Ein Hund bellte drinnen. Nestor, dachte Wicki. Jemand sprach beruhigend auf das Tier ein. Dann öffnete eine ältere Frau. Ihre Haare waren zu einem Bürzi hochgesteckt. Sie hatte eine Schürze umgebunden und trug gelbe Plastikhandschuhe. Ihre Stimme klang unwirsch: «Wir kaufen nichts von Reisenden.» Nestor beäugte den Fremden gelangweilt. Zu viele Jahre Edelfrass aus der Dose hatten den Köter fett und träge gemacht. «Kriminalpolizei, Wicki. Frau Wyssbrod, ist Ihr Mann zu Hause?» «Er schläft. Wo brennt’s?» «Das sage ich ihm höchstpersönlich.» Die Frau starrte Wicki gehässig an. Wortlos drehte sie sich um und wies ihn ins Haus. Dann öffnete sie eine Tür und sagte in giftigem Ton in den Raum hinein: «Do hesch ‘s, wil s ‘Muul nid chasch halte. Jetz si si doo.» Wicki roch das scharfe Aroma von Pfeifentabak. Eine heisere Stimme sagte: «War isch do?» «He, Bolizei dank.» Ein Mann erschien, im Hemd, mit schlohweissem Haar. Brille, Schnurrbart, graue Filzpantoffeln. Wicki stellte sich vor. Der alte Mann murmelte einen Gruss und sagte, mit einer Stimme, aus der die Verärgerung deutlich herauszuhören war: «Wie hän si mi Name uusegfunde?»
Wicki sagte: «Ihr Anruf wurde registriert. Wir können nicht mehr als jedes Handy im Land kann.» «Gopjverdeggel! Do dra hätt i miesse dängge!» «Ich möchte mit Ihnen über Ihre Beobachtungen sprechen.» «Ich ha alles gsait, was i waiss.» Die heisere Stimme klang trotzig. «Mich interessieren ein paar Details. Darf ich reinkommen?» Wicki wartete die Antwort nicht ab. Er ging am Hausbesitzer vorbei in die gute Stube, die von Pfeifenqualm erfüllt war, und setzte sich aufs Sofa. Wyssbrod schloss die Tür. Er schlurfte zu einem niederen Tisch, auf dem er seine Pfeifen liegen hatte. Ein kleiner bronzener Jüngling sass keck da und hielt eine Schachtel Streichhölzer. Nicht weit davon, im Büchergestell, stand ein griechischer Diskuswerfer, auch er aus Bronze. Wicki staunte. Auf die Regale waren mehr als ein Dutzend edler männlicher Figuren verteilt. Der Hausherr stopfte sich eine Bruyere-Pfeife. Er schien seinen Frust noch nicht verdaut zu haben, denn er sagte mit heiserer Stimme: «Da es offensichtlich nicht zu vermeiden ist: Was wollen Sie noch von mir wissen?» Jetzt erst fiel Wickis Blick auf einen Bildband, der auf dem Tisch lag und das Gesicht eines schönen Schwarzen zeigte. «Die Afrikafotos der Leni Riefenstahl». Aha, dachte er. Noch jemand in diesem Kaff, der das braune Gesocks für attraktiv hält. Interessant. «Zunächst die exakte Zeit Ihres nächtlichen Spaziergangs.» Wyssbrod sagte spöttisch: «Damit kann ich dienen. Es war zwölf nach zwei.» «Wieso die genaue Angabe?» «Ganz einfach: Wenn ich das Haus verlasse, vergleiche ich meine Armbanduhr mit der Küchenuhr, die ein wenig nachgeht.»
Wicki notierte sich die Zeit in seine Agenda. Bei der BezirksFeuerwehr war die Brandmeldung um 03.37 Uhr eingegangen, also etwas mehr als eineinhalb Stunden später. «Wie lange brauchen Sie von hier bis zum Hof von Grütter?» «Nicht mehr als eine Viertelstunde – bei trockenem Wetter. Wenn’s regnet und der Matsch an den Schuhen klebt – » «Schon gut», unterbrach ihn Wicki. «Sie sagten am Telefon, der Hund Grütters habe nicht angeschlagen?» Wyssbrods Gesicht hellte sich ein wenig auf. «Richtig. Das fiel mir auf, und ich blieb stehen. Aber ich erinnerte mich, dass Dölf mir gesagt hatte, er fahre mit seiner Frau übers Wochenende weg. Mit dem Hund, nahm ich an.» «Dann spazierten Sie weiter, querfeldein, bis zur Strasse. Wann kamen Sie dort an? So exakt wie möglich, bitte.» Wyssbrod nuckelte an seiner Pfeife und hüllte sich in dichten Qualm. Wicki verspürte Lust zu rauchen, aber er unterdrückte sie, weil er den Hausherrn nicht um die Erlaubnis dazu fragen wollte. Der verscheuchte den Qualm mit der Hand und sagte: «Schwierig zu sagen. Ich schaue nachts nie auf die Uhr, weil sie über keine Leuchtziffern verfügt. Etwa vierzig Minuten nach dem Weggang von zu Hause.» «Das wäre 02.50. Haben Sie etwas Verdächtiges wahrgenommen? Ein Geräusch, einen Lichtschein vielleicht?» «Nein. Der Himmel war bewölkt und die Sicht nicht besonders gut. Auch fing es zu regnen an. Das Einzige, was mir noch auffiel, war der Toyota, der beinahe in mich hineinfuhr. Aber davon habe ich Ihrem Kollegen am Telefon schon berichtet.» «Wann bemerkten Sie den Brandausbruch?» «Meine Frau holte mich aus dem Bett, als die Scheune schon wie Zunder brannte. Ich schlafe nach dem Spaziergang immer tief.»
Wicki notierte sich die Bemerkung. Dann fragte er, indem er dem Alten in die Augen sah: «Sind Sie sich bewusst, dass Ihre Aussagen auch gegen Sie verwendet werden könnten? Sie haben ja keinen Zeugen für den Spaziergang, nehme ich an.» Wyssbrod nahm die Pfeife aus dem Mund. Für einen Moment war er sprachlos. Schliesslich sagte er, mit einer Stimme, die noch brüchiger klang als zuvor: «Meine Frau natürlich.» «In solchen Fällen ist das Alibi des Ehegatten unbrauchbar.» Jetzt verlor Wyssbrod sichtlich die Fassung. Er stammelte in leicht hysterischem Ton: «Aber… ich meine… ich wäre doch schön blöd, wenn ich die Polizei anrufen würde, um mich selber zu belasten!» «Sie könnten ja aus einem anderen Motiv angerufen haben.» Wicki beobachtete ihn, wie er die Pfeife in Brand zu setzen versuchte. Wyssbrods Hand zitterte, als sie das Streichholz über den Pfeifenkopf hielt. Zeit, ihm auf den Zahn zu fühlen, dachte Wicki. Wenn er was auszuspucken hat, soll er’s gleich tun. Er fragte: «Sie hatten offenbar freundnachbarliche Beziehungen zu Adolf Grütter. Wie gut kannten Sie ihn wirklich?» Die Antwort war überraschend. «Besser, als mir lieb ist.» «Was wollen Sie damit sagen?» Wyssbrod liess sich Zeit. Er stocherte mit dem Stopfer in seiner Pfeife herum und meinte schliesslich: «Ich war sein Lehrer, bis…» Um Zeit zu gewinnen, riss er ein neues Streichholz an der Schachtel an, die der Jüngling so schön mit seinen Armen umfing. Erfolglos. Als er weitersprach, vermied er es, Wicki anzusehen. «Ich weiss nicht, ob das hierher gehört.» «Überlassen Sie es mir, das zu entscheiden.» «Er war ein guter Schüler, bis seine Mutter starb. Da begann er aufzumucken und seine Leistungen liessen nach. Es kam zu einem schweren Konflikt, der zu seiner Relegation führte.»
Merkwürdig, dachte Wicki, davon hat mir die Zumwald nichts gesagt. «Musste er die Klasse wiederholen?» «Man schickte ihn ins Nachbardorf, nach Bamlingen. Dort beruhigte er sich. Später besuchte er die landwirtschaftliche Schule in Weinfelden. Da wurde ein flotter junger Mann aus ihm.» Wicki musste an die braune Website in Grütters PC denken. Aber da gab es vermutlich keinen Widerspruch. Der Alte ergötzte sich ja auch an den Fotos von Hitlers Liebkind, der Riefenstahl. Wicki beschloss, den Bohrer noch etwas tiefer hinein zu treiben. «War Grütter nachtragend?» «Wie meinen Sie das?» «Hatte er eine Wut auf Sie, weil Sie seinen Rauswurf aus der Schule veranlasst hatten?» Wyssbrod lächelte milde. «Nein, im Gegenteil. Wir wurden Freunde, als Dölf den Hof vom Vater übernahm.» «Ein gutmütiger Mensch also?» «Absolut. Eine ganz friedliche Seele. Konnte keiner Fliege etwas zuleide tun.» «Mir hat man aber gesagt, er habe ein paar Kollegen spitalreif geprügelt.» «So? Das höre ich zum ersten Mal.» Wicki überlegte, ob Wyssbrod log. Was für ein Interesse konnte er haben, die Vergangenheit eines Toten besser zu machen, als sie war? Dann sagte er: «Wirklich keine Gewalttätigkeiten? Auch nicht gegen seine Frau – blaue Flecken oder Ähnliches?» Wyssbrod blickte Wicki entsetzt an. «Gegen seine Frau? Wie kommen Sie darauf? Und woher soll ich das wissen? Ich respektiere die Intimsphäre anderer Menschen. Was sich hinter deren Haustür abspielt, geht mich nichts an.»
Wyssbrod brachte seine Pfeife wieder in Gang. Er paffte heftig, um zu prüfen, ob sie richtig zog. Wicki liess ihm die Verschnaufpause. Dann sagte er unvermittelt: «Warum versuchten Sie Ihren Namen am Telefon zu verschweigen?» Wyssbrod kam ins Stottern. «Weil ich… weil Dölf… er nahm bei mir ein Darlehen auf, und ich will nicht, dass man im Dorf darüber redet…» «Ein Darlehen? Wofür denn?» «Er wollte einen Geländewagen kaufen, verfügte aber nicht über genügend Flüssiges dafür.» «Er hätte den Wagen doch über einen Kreditvertrag oder mit Leasing beschaffen können. Warum ausgerechnet ein privates Darlehen?» «Vielleicht, weil ihm die Bank einen weniger günstigen Zins offerierte.» «Wie hoch waren denn Betrag und Zinssatz?» «35 000 Franken. Zu zweieinviertel Prozent.» Wicki entfuhr ein Pfiff der Verblüffung. «Da sind Sie zu Adolf Grütter aber sehr generös gewesen! Die Zinsen auf normalen Darlehen schwanken zwischen neun und vierzehn Prozent!» «Naja, es war eben ein Freundschaftsdienst!»
12 Der Einbruch
Wicki spazierte zu Grütters Haus hinunter und überprüfte die Zeit, die Wyssbrod angegeben hatte. Sie stimmte bis auf drei Minuten. Der Polizist, der das Grundstück bewachte, erhob sich von seinem Stuhl, als Wicki nähertrat, und grüsste. «Tag. Schlosser ist wohl heute nicht da?» «Er hat Bürodienst.» Wicki liess sich den Schlüssel geben und öffnete die Tür. Der Brandgeruch war noch immer da, ätzend und penetrant. Wicki sperrte ein Fenster in der Küche auf. Da fiel ihm eine herausgezogene Schublade am Büffet auf. Zwei Gabeln und ein Löffel lagen auf dem Boden. Er rief durchs Küchenfenster den Polizisten herbei. «Wann sind Sie hier eingetroffen?» «Um halb acht.» «Ist Ihnen nichts aufgefallen?» Der Polizist schüttelte den Kopf. Wicki stieg aufs Fensterbrett und sprang hinunter. «Kommen Sie mit.» Den Polizisten im Schlepptau ging er ums Haus herum. Ein Fenster auf der Hinterseite war offen. «So was», sagte der Polizist. «Aber es hat sich niemand dem Haus genähert.» «Diebe kommen in der Regel nachts.» Der Polizist wollte das Fenster öffnen, um hineinzuschauen. «Nicht berühren. Die Fingerabdrücke sind noch frisch. Wir wollen keine neuen darüber legen.» Wicki ging zur Eingangstür zurück und stieg die Treppe zum ersten Stock hoch. Alles war ziemlich durcheinander. Jemand hatte gewütet, offensichtlich auf der Suche nach etwas ganz
Bestimmtem. Herausgerissene Schubladen, deren Inhalt auf dem Boden verstreut war. Kleider und Wäsche, Papier, Büroutensilien, Disketten, CDs. Jede Menge Fingerabdrücke, dachte Wicki. Jetzt haben wir wenigstens einen Grund, um alles zu filzen. Der Uniformierte bückte sich, um Briefmarken aufzulesen, die herumlagen. «Lassen Sie alles liegen. Putzfrau spielen können Sie, wenn der Kriminaltechnische Dienst hier gewesen ist.» Der Mann sagte achselzuckend: «Alte Gewohnheit. Hier.» Er legte Wicki ein Stück Metall in die Hand. «Na, was haben Sie denn da gefunden?» Wicki beäugte den Fund. Es war ein Pin in der Gestalt eines Reichsadlers und etwas grösser als ein Daumennagel. Wicki gab ihn vorsichtig in ein Säckchen aus Plastik, das er zu diesem Zweck immer auf sich trug. Nun ging er vors Haus hinunter und zückte sein Handy. «Hans, jetzt wird’s aber Zeit für die Hausdurchsuchung. Letzte Nacht ist eingebrochen worden.» «Das Haus steht doch unter Bewachung.» «Wir vergassen, sie rund um die Uhr anzuordnen.» «Woher soll ich nur die Leute nehmen? Der Streifendienst hat schon gemeckert, als ich einen Mann für sieben Tage wollte.» «Und selbst das war zu wenig. Aber es spielt jetzt keine Rolle mehr. Der Dieb hat nach einem Gegenstand gesucht. Jedenfalls gibt es jetzt Fingerabdrücke. Und die sollten so schnell wie möglich registriert werden.» «Okay, ich schaue, was ich machen kann. Was ist, wenn ich keinen Aufpasser für das Haus finde?» «Dann kampiere ich in der Stube von Grütter. Er hat ein paar interessante Videos im Regal. Aktenzeichen XY ungelöst und Ähnliches für die gute Laune.»
Scheidegger lachte. «Was sagt deine Freundin, wenn du auswärts übernachtest?» «Gar nichts. Momentan ist Funkstille zwischen uns.» «Habt ihr euch gestritten?» Wicki mochte Scheideggers väterlichen Ton nicht. Er stellte lakonisch fest: «Kommt in den besten Ehen vor, nicht wahr, Hans?» «Wahrscheinlich hast du Recht.» Ein Ticken in Wickis Handy zeigte an, dass die Batterie am Ende war. «Hans, ich muss abbrechen. Hab vergessen, das Handy nachzuladen. Gehe jetzt etwas essen. Dann mache ich dem Gmeindspreesi einen Besuch.» «Aber der Mann liegt im Spital, nach einem Herzinfarkt!» Das Ticken wurde intensiver und rascher. «Na, irgendwie wird er ja weiterleben. Halte dich auf dem Laufenden. Bis – » Weg war die Verbindung. Pech, dachte Wicki. Ausgerechnet in dem Moment, da ich Melanie anrufen will. Ob sie noch immer gekränkt ist? Er ging zum Polizisten und bat ihn, sein Handy benutzen zu dürfen. Der Mann zog es ohne Zögern hervor. Wicki betrat das Haus und stellte in der Küche Melanies Nummer ein. «Hallo?» «Ich bin es. Wollte fragen, wie’s dir geht, Mel.» «Ganz passabel. Erwartest du was anderes?» «Melanie – » «Häuptling, du hast eine andere Frau, die dir mehr bedeutet. Ich wünsche dir alles Gute und viel Glück.» «Mel, das ist ein Missverständnis.» «Sie ist schöner als ich, ausserdem hat sie schwarze Haare, was dir besser gefällt als blond. Du liebst sie, denn du bewahrst Fotos von ihr auf.»
«Da liegst du völlig schief, Mel. Es sind Erinnerungen, nichts weiter.» «Dreissig Fotos sollen nichts mit Liebe zu tun haben? Das wäre ja gelacht.» «Es stimmt aber. Lass mich erklären.» «Das ist vielleicht nur eine Ausrede. Du willst mir nicht wehtun oder mich schonen, was ich ebenso hasse. Wenn du mit dieser Frau ein Verhältnis hast – » «Vor sieben Jahren, Melanie! Herrgott noch mal! Sie verliess mich, und ich habe sie nie mehr gesehen seither. Sie verschwand aus meinem Leben, und das war’s. Begreif doch endlich, dass es sich um ein Missverständnis handelt!» Schweigen. Nach langer Zeit sagte Melanie: «Und diese Frau ist… nicht im Brand umgekommen?» «Die Frau, die wir fanden, war Tania ziemlich ähnlich. Doch sie war halb verbrannt. Deshalb wurde ich einen Moment unsicher. Die tote Frau stammte aus Santo Domingo. Tania hingegen von den Kanarischen Inseln.» «Und wenn die Tote doch diese Tania wäre?» «Dann wäre eine ganze Menge schief gelaufen. Und ich bin vor sieben Jahren zum Glück mit dem Schrecken davongekommen.» «Nur mit dem Schrecken? Ich dachte, du hast sie geliebt.» Wicki überlegte. «Ja, das habe ich. Und es tat weh, als sie mich verliess. Genauso wie es wehtat, als du wortlos aus meinem Haus verschwandest.» «Du hast geglaubt, es sei für immer?» «Es tönte so, Melanie. Und ich hatte Schuldgefühle.» «Wieso?» «Weil ich dich anlog. Als du mich mit den Fotos von Tania sahst, machte es den Anschein, als würde mir diese Frau noch etwas bedeuten. Dem war nicht so. Aber ich liess dich in diesem Glauben, um mich zu rächen.»
«Zu rächen?» «Ja. Es klingt lächerlich, ich weiss. Als ich am Morgen ins Haus zurückkam, hast du mich mit deinen Sprüchen verletzt, und das wollte ich dir heimzahlen.» Melanie schwieg. Dann bemerkte sie: «Ich hab dich auch angelogen.» «Die Handy-Geschichte.» «Ich wollte dich eifersüchtig machen. Aber du hast darauf nicht reagiert. Die Story ist übrigens nicht von mir. Hab sie irgendwo gelesen.» «Sie war nicht übel, denn ich hätte sie fast geglaubt. Aber sie war doch ein bisschen überzogen.» Erneut eine lange, bedeutungsvolle Stille. Dann sagte Melanie: «Kommst du mich besuchen? Ich arbeite heute nicht.» «Ja. Ich muss noch ins Kantonsspital Liestal, um jemanden zu befragen, doch ich bin zwischen sechs und sieben bei dir.» «Liebst du mich?» «Jetzt noch mehr als zuvor.» Hatte er schon wieder gelogen?
13 Infarkt
Wimmer, der Gemeindepräsident von Blasingen, war ein Männlein mit Doppelkinn und munteren Augen. Er trug einen blauen Pyjama und sass, gestützt von einem dicken Kissen, aufrecht im Bett. Er war mit seinem Nachtessen beschäftigt, als Wicki das Zimmer betrat. Ein Stück Apfelkuchen und zwei Scheiben Brot mit Käse, dazu Milchkaffee. Wicki stellte sich vor. Wimmer warf ihm einen langen, nicht unfreundlichen Blick zu und sagte: «Ihren Besuch habe ich befürchtet.» «Demnach sind Sie informiert?» «Scheussliche Sache.» «Sie hatten Glück, dass Sie nicht da waren.» «Mir geht es gut. War nur ein Streifschuss. Aber der Arzt fand, ich sei überarbeitet, da wurde das Ganze etwas dramatisiert, damit ich mich hier erholen kann. Und dann geschieht dieser Brand, ausgerechnet in dem Moment! Man könnte es auch Pech nennen.» Über Wimmers Gesicht fuhr etwas wie ein Schmunzeln. Wicki sah ihm beim Essen zu und schwieg für eine Weile. Er hatte Lust auf eine Zigarette, aber hier im Zimmer war Rauchverbot. Dann sagte er: «Sie kennen sich aus in Blasingen, nicht wahr?» «Kann man wohl sagen, wenn man über 40 Jahre am selben Fleck hockt. Und 27 Jahre Gmeindspreesi gewesen ist.» Wimmer kicherte und nahm einen Schluck Milchkaffee. «So lange sind Sie schon der Häuptling im Dorf?» Wimmer bekam listige Äuglein. «Tja, die haben mich halt immer wieder gewählt. Zwar, in den letzten Jahren, mit der ganzen technischen Revolution, da war’s kein Zuckerlecken,
sondern harte Arbeit für einen alten Knaben wie mich. Das sehen die Bürger nicht, die einem das Vertrauen aussprechen.» Wicki zog einen Stuhl zum Bett hin und setzte sich. «Herr Wimmer, ich muss Sie jetzt mit ein paar Fragen belästigen.» «Schiessen Sie los. Ich weiss viel. Ich bin der Dorfpapst.» Erneut kicherte Wimmer. Hat etwas von einem Kobold, dachte Wicki. «Erinnern Sie sich an Grütters erste Frau?» «An Else? Natürlich.» Wimmer berichtete, dass der Haussegen bei Grütters schief hing, weil Dölf sich Kinder von Else erhofft hatte, die nicht kamen. Zudem habe sie gewisse Arbeiten auf dem Hof zurückgewiesen, weil sie nicht nach ihrem Geschmack gewesen seien. «Gab’s Zoff zwischen den beiden?» «Wegen nichts ist Else wohl kaum aus der Ehe spaziert.» «Wissen Sie Genaueres?» «Nein. Nur Vermutungen. Ich – » Wimmer unterbrach sich. Nach einer Pause fuhr er weiter. «Dölfs Vater, der Emil, war vor zwanzig Jahren meine rechte Hand im Gemeinderat. Wir wurden Freunde. Er erzählte mir alles, was ihn beschäftigte. Wie einem Beichtvater. Als sein Sohn im Zorn auszog…» «Adolf?» «Nein, Stefan, der Ältere. Der vertrug sich nicht mit Emil und wanderte nach Australien aus. Sehr zu dessen Ärger, weil nun kein Nachfolger für den Hof da war. Adolf hatte sich nie gross für die Landwirtschaft interessiert.» «Er war aber auf einer landwirtschaftlichen Schule.» Wimmer erklärte, diese Episode in Dölfs Leben habe den Charakter einer Strafaktion getragen. Adolf sei ein schwieriges Kind gewesen, besonders als seine Mutter überraschend starb. Emil habe die Gewohnheit gehabt habe, seine Söhne
durchzuprügeln, wenn einer von ihnen den Mund ungefragt aufmachte oder sich etwas zu Schulden kommen liess. Jeder der Knaben habe anders darauf reagiert. Während Stefan im Zorn davonlief, sei Dölf ruppig und widerspenstig geworden. Als er kräftig genug gewesen sei, habe er zurückgeschlagen. Das ging dem Vater, begreiflicherweise, gegen den Strich. Einmal brach er dem Sohn den Arm, als er mit einem Holzscheit auf ihn einschlug. «Und der liess sich das gefallen?» fragte Wicki. «Er wollte nicht zum Arzt, obwohl der Arm höllisch schmerzte. Hingegen drohte er dem Vater, er werde ihn umbringen, wenn der ihn das nächste Mal anfasse. Das war empörend für Emil. Aber das Prügeln liess er fortan sein.» Wicki dachte an den hünenhaften Menschen, den er vor zwei Tagen in der Ruine des Gehöfts vorgefunden hatte. «Hat Adolf seine Gattinnen geschlagen?» «Wohl kaum. Dazu empfand er viel zu grossen Respekt vor Frauen. Seine Mutter war ein gemütvoller, besonnener Mensch, das Gegenteil von Emil, der wegen einer Lappalie aufbrauste. Sie gab dem Buben jene Geborgenheit, die er nach ihrem Tod so sehr vermisste.» Wicki erhob sich und begann im Zimmer herumzugehen. Die Lust zu rauchen brannte teuflisch in seiner Brust. Er sagte trocken: «Der Bub soll ein paar Burschen spitalreif geprügelt haben.» Wimmer winkte ab. «Spitalreif? Ist wohl stark übertrieben. Die haben sich einen Jux erlaubt, der danebenging. Und Dölf wehrte sich. So was kann passieren.» «Auch in der Schule gab es Krach.» «Eine leidige Geschichte. Dölf war nach dem Tod der Mutter nicht gerade pflegeleicht. Er muckte auf, weil er sich in die Ecke gedrängt fühlte, und das kam schlecht an.» «Was meinen Sie mit ‹in die Ecke gedrängt›?»
Wimmer hatte sein Essen beendet und schob das Tablett auf das Nachttischchen neben dem Bett. «Nun… die Geschichte ist alt, ausserdem wohl verjährt. Ich weiss nicht, ob ich Ihnen das erzählen soll…» Wicki pflanzte sich vor dem Fussende des Bettes auf und sagte mit Nachdruck: «Lassen Sie mich entscheiden, ob es hierher gehört oder nicht. Jedes Detail, welches das Leben von Grütter erhellt, ist wichtig.» Wimmer lehnte sich zurück ins Kissen und überlegte. «Es gab eine Untersuchung in der Schulpflege. Dölfs Lehrer beklagte sich, der Junge sei frech geworden und habe ihn auf unanständige Weise beschimpft.» «Wyssbrod?» «Richtig.» «Welcher Art waren die Beschimpfungen?» «Darüber wurde nie gesprochen. Wyssbrod wollte es nicht. Weil Dölf auch eine Aushilfslehrerin verunglimpft hatte, wurde er von der Schule gewiesen.» «Und die Mitglieder der Schulpflege liessen das zu?» «Sie trauten sich nicht nachzufragen, obwohl sie ahnten, worum es ging. Der Wyssbrod Otto hatte damals grossen Einfluss im Dorf. Er leitete den Gesangsverein, half bei Steuererklärungen und gab einigen Schülern Nachhilfeunterricht.» «Was meinte der Vater dazu, dass sein Sohn weggeschickt wurde?» «Das war das Penible an der Sache. Emil konnte für Dölf nicht eintreten, weil die Schimpfworte, die der dem Lehrer angehängt hatte, aus seiner Küche stammten. Das gestand mir Emil hinterher.» «Adolf sprach aus, was der Vater ihm vorgeblasen hatte?» «Vorgeblasen ist gut!» Wimmer kicherte und hielt sich die Hand vor den Mund.
«Wie bitte?» «Dölf soll zu Wyssbrod gesagt haben, er lasse sich von einem Schwanzlutscher nicht anfassen.» «Wie kam der Knabe denn darauf?» Wicki musste an die Männerfiguren in Wyssbrods Stube denken. Wimmer erzählte, dass Wyssbrod bekannt dafür sei, dass er Buben mehr mochte als Mädchen. Ausserdem gebe es da ein paar Dinge, über die man im Dorf munkle. Er schaue den Knaben vor dem Turnen beim Ausziehen zu und mache sein Geschäft hin und wieder auf der Bubentoilette. Dölf zufolge habe Wyssbrod den Schülern den Hintern getätschelt, wenn sie eine Aufgabe brav gelöst hätten. Schlimm sei das alles ja nicht gewesen, dennoch habe niemand diese Dinge anzusprechen gewagt, und so sei der Schüler und nicht der Lehrer zur Rechenschaft gezogen worden. «Später sollen sich Grütter und Wyssbrod wieder vertragen haben. Dies behauptet der Lehrer zumindest.» «Soso. Na, wenn’s der Otto so sieht, dann ist das Ganze wohl wieder im Lot. Ich hatte nie den Eindruck, dass die beiden sich versöhnt hätten.» Wicki setzte sich wieder. Der Drang, eine Zigarette anzuzünden, war so stark, dass er sich wünschte, im Raucherzimmer Platz zu nehmen und in Ruhe eine zu paffen. «War Grütter verschuldet? Ich denke, Sie als Gmeindspreesi müssten Einblick in seine finanzielle Situation gehabt haben.» Wimmer lächelte. «Verschuldet? Nein. Dölf erbte den Hof, auf dem heute noch eine ansehnliche Hypothek liegt. Sonstige Schulden hatte er im üblichen Rahmen. Einzig das Auto…» «Der Geländewagen?» «Der kostete ihn ein Vermögen. Ich habe mich oft gefragt, woher das viele Geld dafür kam. Von den Lümmeln, mit denen er sich herumtrieb, lieh es ihm bestimmt keiner.»
Auf das Thema Geldbeschaffung einzugehen, hatte Wicki keine Lust. Daher fragte er: «Was für Lümmel meinen Sie?» «Nachdem Else weggegangen war, schloss sich Dölf ein paar Kumpanen an, mit denen er sich auf Sauftouren begab und in Discotheken herumtrieb, obwohl er dazu mit seinen dreissig Jahren eigentlich schon zu alt war. Das Üble daran: Diese Idioten spielten mit Waffen wie mit Kinderspielzeug herum. Nicht einfach mit Schrotflinten, sondern mit veritablen Schiesseisen. Davon verstehen Sie bestimmt mehr als ich. Mich ging’s ja nichts an. Aber es wurde geredet im Dorf. Und dass Dulligers Junge dabei war, machte die Sache nicht besser, im Gegenteil.» «Der Sohn des Löwenwirts?» «Ja. Noldi hat Automechaniker gelernt, einen seriösen Beruf. Aber er ist ganz besessen von Waffen.» «Verboten ist sowas nicht.» Wimmer runzelte die Stirn. Er beugte sich vor und seine Stimme bekam einen empörten Ton. «Aber dass die Kerle in einer Kiesgrube auf der andern Seite des Wisenbergs rumballern, wohl schon. Bei diesen Schiessereien soll Noldi einen Mann verletzt haben, der bei seinem Vater in der Küche arbeitete, einen Polen. Der alte Dulliger tat so, als habe er nichts gesehen und nichts gehört. Der Pole kam zwei Tage nicht zur Arbeit und spazierte mit einem dicken Verband am Arm durch die Gegend. Natürlich hätte Dulliger es lieber gesehen, wenn der Pole in der Baracke geblieben wäre, die er als Notunterkunft bewohnte. Aber er konnte ihm ja nicht das Spazieren verbieten, wenn er ihm schon kein Spitalbett offerierte.» «Spitalbett?» «Der Mann verlor viel Blut und wurde ambulant behandelt. Na, und weshalb wohl? Weil Dulliger ihn schwarz beschäftigte. Keine Krankenkasse, keine AHV, überhaupt
keine Sozialleistungen – eine lohnende Sache. Pech allerdings, wenn der eigene Sohn den Schwarzarbeiter anschiesst und den Papa in die Bredouille bringt.» Wicki erhob sich und machte Anstalten sich zu verabschieden. «Ich kann Sie an der Aufklärung dieses Sachverhalts nicht hindern», entgegnete Wimmer lebhaft. «Wenn Dulliger eins vor den Rüssel geknallt kriegt, umso besser. Ich habe ihn mehrmals gemahnt, für seine Angestellten die AHV zu bezahlen. Aber passen Sie auf, wenn Sie in diesem Sumpf wühlen. Gerade unter den Landwirten gibt es manchen, der darin fischen geht. Und auf der Kantonsverwaltung da drüben», er zeigte mit dem Finger zum Fenster hinaus auf ein grosses Gebäude, «pflegt man dabei ein Auge zuzudrücken. Manchmal auch beide.»
14 Fixsterne
Der Besuch im Kantonsspital rief Wicki in Erinnerung, dass auch Recherchen am Arbeitsplatz von Dolores Grütter fällig waren. Aber man konnte eben nicht überall sein, wenn man eine Sache allein untersuchte, für die gewöhnlich mindestens drei Leute zuständig waren. Er entschied sich, den Besuch in der Privatklinik auf den nächsten Tag zu verschieben und, wie versprochen, zu Melanie zu fahren. Wicki stieg in den Variant und freute sich auf den Abend. Beim St. Jakob-Stadion stauten sich Menschen und Autos. Eine Traube von Fans drängelte vor den Billethäuschen. Wicki mochte Fussball nicht besonders. Die Welle der Begeisterung, welche Basel erfasste, als der FCB sich für die Viertelfinals der Championsleague qualifizierte, war an ihm vorbeigerollt. Er gestand sich beschämt ein, dass er nicht einmal wusste, für welchen Match das Publikum hier geduldig auf Tickets wartete. Während er vor einem Rotlicht stand, besah er sich die Menschen, denen ein Fussballspiel Glück, zumindest aber ein paar Stunden Zerstreuung bedeutete. Glück, was war das? Hatte er es je kennen gelernt, dieses seltene Gefühl, das, kaum entstanden, erstickt und ausgelöscht werden konnte? Hatte man als Mensch überhaupt ein Anrecht darauf? Und warum quälte ihn die Erinnerung an Tania, seit er ihre Doppelgängerin gesehen hatte, wüst zugerichtet, ein Opfer ungezügelter Gewalt? Wicki hielt vor einem Blumenladen. Er sagte zu der Verkäuferin, die noch jünger war als Melanie: «Was würden Sie einer Frau schenken, die ebenso schönes blondes Haar hat wie Sie und dazu meergrüne Augen?»
Die Verkäuferin errötete und sagte lächelnd: «Schenken Sie ihr Rosen. Diese hier dürften zur Augenfarbe passen.» Wicki meinte zweifelnd: «Dieses Rubinrot? Ich weiss nicht…» «Zu blond passt es bestimmt, auch zu grün. Ausserdem…» «Ja?» «Die Rose ist doch eine symbolische Blume.» «Okay. Geben Sie mir drei. Nein, sieben.» «Diese Zahl hätte ich auch gewählt. Eine Glückszahl.» Wicki stellte den Opel zwei Strassen unterhalb von Melanies Haus in die blaue Zone. Sie wohnte in einer alten Villa auf dem Bruderholz, die ihrem Vater gehörte. Er blieb im Auto sitzen und zündete sich eine Zigarette an. Der Rundblick auf die gepflegten Vorgärten war erfreulich. Die Forsythien waren schon fast verblüht. Dafür begannen Rhododendren und Azaleen ihre roten und blauen Dolden zu entfalten. Melanie stand in einem gelben Bikini in der Haustüre. Wicki verneigte sich und streckte ihr den Strauss mit den Rosen hin. «Ernesto! Wie schön!» «Sie haben Stacheln.» «Was man mir auch nachsagt.» Sie küssten sich. Ihre Lippen fühlten sich kühl und sanft an. Sie roch nach Sonnenöl. Er umarmte sie und gab acht, ihre nackte Haut mit den Stacheln nicht zu verletzen. Dann küsste er sie auf das Schlüsselbeingrübchen am Hals. Lachend zog sie Wicki ins Wohnzimmer, dessen Glastüre auf den grossen Garten ging. Sie hüpfte hinaus, auf ein Salontischchen zu. Dort stand eine Flasche Glenfiddich. «Dein Leibgetränk. Ich hole noch Eiswürfel.» «Nicht nötig. Dieses Gift trinke ich pur.» «Gib mir auch ein Gläschen.»
Wicki setze sich auf den Boden der Terrasse. Melanie legte sich in einen bequem gepolsterten Lehnstuhl. Sie sah prachtvoll aus im gelben Bikini. Wicki streichelte ihr Knie und fuhr mit zwei Fingern das Bein hinunter: «Eine Bräunung wie Milchkaffee.» «Die hat der heutige Tag zustandegebracht.» «Pass auf, Mel. Sonnenstrahlen sind tückisch, auch im Frühling. Ein Schwager von mir hatte ein Melanom. Gefährliche Sache. Machte Metastasen. Zu viele Sonnenbrände in der Jugend.» «Ich passe auf, Häuptling. Im Modelbusiness ist tiefe Bräune ohnehin nicht gefragt. Makellos muss das Fleisch sein, wenn es ausgestellt wird.» Makellos bist du wirklich. Aber zerbrechlich siehst du aus. Wicki zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in den Garten hinaus. Die Sonne wärmte leidlich, obwohl es gegen fünf ging. Eine Zeitlang sassen sie da, in ihre Gedanken versunken. «Warum rauchst du eigentlich so viel?» «Muss ich darauf antworten?» «Ich denke schon. Um deine Gesundheit bin ich ebenso besorgt wie du um meine. Beim Rauchen ist das Risiko um einiges höher als beim Sonnenbaden.» Wicki schwieg. Er wusste längst, wie unsinnig sein Zigarettenkonsum war. Und Melanie sagte es ihm seit Wochen, ohne Erfolg. Sie setzte sich neben ihn auf den Boden, legte den Kopf an seine Seite und schlang den rechten Arm um seinen Hals. Er roch den Duft ihrer frisch gewaschenen Haare. «Wenn wir Kinder haben, dann…» Er blickte sie erstaunt an. «Was sagst du da?» «… ist es für sie kein gutes Omen, wenn ihr Daddy Kettenraucher ist.»
«Daran habe ich nie gedacht.» Sie küsste ihn auf den Nacken. «Zeit, darüber nachzudenken, Häuptling.» «Wieso? Willst du denn welche?» Sie legte den Kopf in seine Armbeuge und blickte in den blauen Himmel. «Es wäre das Schönste, was ich mir vorstellen kann.» Nach langer Zeit sagte er: «Ich denke auch oft daran. Man steht nicht mehr als einzelner Fixstern da, sondern hat eine Hinterlassenschaft. Die einzig Sinnvolle.» «Es klingt so schön, wenn du es sagst.» Sie nahm seinen Kopf in die Hände und küsste ihn auf die Lider. Dann sagte sie: «Möchtest du hier etwas essen oder wollen wir ins Restaurant?» Wicki lächelte. «Hier ist es gemütlicher.»
15 Kluges Köpfchen
Es gab vorgebratene Rösti aus der Tüte, ein Schweinssteak, vom Metzger gewürzt, und Mischsalat aus einem Cellophanbeutel. Melanies Ehrgeiz war es definitiv nicht, in der Küche zu glänzen. Wicki verzieh ihr die leicht versalzene Rösti und die zu lange gebratenen Steaks. Dafür hatte sie den Tisch schön gedeckt und mit zwei brennenden Kerzen versehen. Und der Wein war ein Glücksgriff, fand Wicki – ein Barolo aus dem Jahr 1988. Er hatte ihn im Keller unter etlichen verstaubten Flaschen gefunden. «Wie kommst du zu solchen Schätzen, Mel?» «Ein Geschenk von Vater. Zu meinem 20. Geburtstag. Wusste gar nicht, dass noch etwas da ist.» «Gelobt seien die Väter, die etwas von Wein verstehen. Hoffe, das meinen Kindern auch einmal beibringen zu können.» «Ich sehe dich noch keinen Kinderwagen herumstossen und vollgekackte Windeln wechseln.» «Werde ich das müssen?» «Absolut. Aber es ist so leicht, dass auch Männer mit zwei linken Händen darin erfolgreich sein können.» «Habe ich das denn?» Wicki blickte seine beiden Fäuste an, und Melanie lachte. «In der Liebe nicht, das kann ich bezeugen, Häuptling. Aber ein wundes Babyärschlein weckt nicht unbedingt die Zuneigung des Vaters. Da muss man sich überwinden können. Und weil du dich ungern zu einer Sache zwingst…» «Mit deiner Hilfe schaffe ich es, Mel. Auch mit zwei linken Händen.»
Er prostete ihr lächelnd zu. Sie dachte: Wie ich dieses Lächeln mag, die Wärme, die Freundlichkeit darin. Doch was verbirgt sich dahinter? Schmerz, Enttäuschung, Einsamkeit? Ob’s mit jener anderen Frau zu tun hat? «Kommt deine Arbeit voran?» Wicki wollte sich eine Zigarette anzünden. Doch er zögerte und liess es bleiben. Melanie bemerkte die Geste verwundert. Er gibt sich Mühe. Das ist schon ein Anfang. Wicki füllte die Gläser und sagte: «Wir stecken in einer Sackgasse. Wir wissen zwar, dass der Bauer seine Frau nicht umgebracht hat, aber vom wirklichen Täter fehlt jede Spur.» «Was tut man da als Kriminalist?» «Ich fürchte, wir müssen das ganze Dorf ausquetschen, bis wir auf Hinweise stossen, die uns zum Täter führen. Er legte den Brand, um Spuren zu verwischen und uns in die Irre zu führen. Und er tötete Grütters Hund.» «Grütter?» «Der Besitzer des Hofes. Er besass einen Appenzeller Sennenhund, der ebenfalls verbrannte.» «Dann hat der Täter den Hund erschossen, bevor das Feuer ausbrach?» «Möglich. Aber warum erschossen?» «Ein Sennenhund, sagtest du? Das sind treue Wächter. Sie wehren sich, sobald ein Fremder ihnen zu nahe kommt. Denen kannst du zwei Messerstiche nicht einfach so verpassen, um sie zum Schweigen zu bringen. Ernesto, der Hund bekam eine Kugel. Die Zeiten der Agatha Christie sind vorbei, in denen der Setter einer Landlady mit einem strychningetränkten Würfelzucker in die ewigen Jagdgründe befördert wurde.» Wicki warf ein: «Nimm es mir nicht übel, Mel, aber ich muss hier einen Punkt machen. Der Fall ist zu abscheulich, um darüber im Plauderton zu reden.»
Melanie biss sich auf die Lippen. «Sorry, ich wollte dich nicht beleidigen. Ich dachte, ich könnte dir behilflich sein…» «Wie kommst du darauf?» «Frauen lassen sich mehr vom Gefühl, vom Instinkt leiten, wenn sie an Probleme herangehen.» «Wie soll das hier weiterhelfen?» «Dafür müsstest du mir mehr erzählen. Aber das ist gegen die Schweigepflicht, ich weiss. Ich mache uns jetzt ein Dessert. Magst du Vanilleeis mit Früchten?» Er half ihr das Geschirr wegzuräumen und setzte sich auf die Terrasse. Die Aprilsonne war hinter dem Horizont verschwunden. Es wurde rasch kühl. Wicki genoss die frische Luft. Melanie brachte die beiden Desserts in zwei kegelförmigen Gläsern. Sie hatte sich frisch gekämmt und die Lippen nachgezogen. Das hellblaue Top zu dem schwarzen Jupe stand ihr gut, fand Wicki. Sie wirkte darin ein wenig älter und – täuschte er sich? – ernsthafter. Als er das Dessert ausgelöffelt und gebührend gelobt hatte, sagte er, gerade noch den Griff nach der Zigarette vermeidend: «Die Bemerkung von vorhin hat mich neugierig gemacht. Wie glaubst du, dass du mir weiterhelfen könntest?» Melanie blickte ihn an. Vielleicht habe ich den Ernst in seinen Augen noch lieber als das Lächeln. Weil der Vertrauen schafft. Und Geborgenheit. Die werde ich brauchen, wenn wir Kinder haben. Vater hat sie mir nie gegeben. Geschenke wie teurer Wein oder Schmuck waren das Äusserste an Zärtlichkeit, was er sich abverlangte. Sie sagte: «Erzähl mir mehr.» Wicki berichtete, was die Polizei bis jetzt herausgefunden hatte, ohne in die Details zu gehen. Vermutungen und Hypothesen liess er weg. Melanie hörte sich alles genau an und dachte längere Zeit nach, bevor sie sagte: «Was das Paar
angeht, so hast du bis jetzt nur von dem Mann geredet und das Gespräch über die Frau vermieden, was ich verstehen kann nach deinem Schreck am Tatort. Aber könnte es nicht eine Bedeutung haben, dass sie so brutal zugerichtet wurde?» Wicki runzelte die Stirn, als habe er nicht verstanden. «Ich weiss, dass du das Wort Instinkt nicht magst. Aber der sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Nicht der Doppelmord verwirrt mich, sondern die Inszenierung.» Er schien noch immer nicht zu kapieren. «Weshalb einen Hund, einen Mann und eine Frau gleichzeitig töten? Jeder dieser drei Morde für sich, das würde einen Sinn ergeben. Aber alle drei zusammen, das passt nicht. Drei so verschiedene Wesen zu hassen und zu erschiessen, erscheint unlogisch. Und noch etwas: Wer im Affekt tötet, dessen Hass ist mit der Tat erloschen. Er muss nicht noch das Haus der Getöteten und ihre Körper einäschern.» «Klingt vernünftig, von der Psychologie eines normalen Menschen her gesehen. Aber Mörder sind oft pervers und tun Dinge, die nicht nachvollziehbar sind.» «Moment. Da ist noch etwas. Wer ein bewohntes Haus anzündet, traut sich nicht, eine Pistole zu nehmen, um Aug in Aug zu töten. Gewöhnlich sind solche Leute dazu zu feige.» «Du meinst…?» Wicki dämmerte etwas. «Der Brand und die Morde widersprechen sich offensichtlich. Und die Morde sind für sich genommen unlogisch. Nach meinem Gefühl solltest du die Aufmerksamkeit mehr auf deren Inszenierung richten.» «Mel!» Wicki erhob sich. In seinen Augen war echte Begeisterung. Er kam um den Tisch herum und küsste Melanie auf die Stirn. «Setz dich. Ich bin noch nicht fertig.» Er zündete sich, ohne zu überlegen, eine Zigarette an. Als er Melanies verwunderten Blick sah, drückte er sie sofort aus. Sie
fuhr fort: «Diese Frau ist auf brutale Weise umgebracht worden, wie du sagtest – » «Dolores Grütter wurde mit einer Axt zerstückelt.» Melanie wurde bleich. Gefasst, aber leiser als zuvor sagte sie: «Heute tötet doch niemand mehr mit einem Beil.» «Vermutlich hast du Unrecht. Im Übrigen war sie schon tot, als der Täter zuschlug.» «Siehst du? Damit kostete das Zerstückeln der Leiche bloss unnötig Zeit.» Melanies Gesicht erhielt wieder Farbe. Wicki blickte sie ratlos an. Dann sagte er: «Der Mörder wollte uns also glauben machen, Grütter habe seine Frau auf so grässliche Art umgebracht, weil er sie hasste?» «Nein, das wäre die falsche Interpretation.» «Tut mir leid, Mel, da blicke ich nicht durch.» «Soll ich uns einen Espresso machen, Ernesto?» Wicki nickte. Melanie räumte die Dessertteller weg und setzte die Kaffeemaschine in Betrieb. Wicki erhob sich und ging zur Glastüre, die das Wohnzimmer gegen die Terrasse hin abgrenzte. Draussen war es dunkel geworden. Melanie zündete zwei Lampen an, die ein angenehmes Licht verbreiteten. Dann brachte sie den Kaffee. Wicki nahm auf dem Sofa Platz, Melanie setzte sich mit angezogenen Füssen neben ihn. Er gab Zucker in den Espresso und schlürfte ihn mit Behagen. Schliesslich sagte er: «Vielleicht kannst du mir jetzt erklären, was du vorhin meintest.» Sie trank den Kaffee in kleinen Schlucken, wie immer ohne Zucker. Das missfiel Wicki, weil sie es aus Schlankheitsgründen tat. Aber er sagte nichts. Melanie stellte das Espressotässchen auf den niederen Tisch, der neben dem Sofa stand. «Der Mörder hat sich verraten, indem er die Leiche mit dem Beil zerstückelte. Hätte er es nicht getan, wäre es schwieriger, hinter sein Motiv zu kommen.»
Wicki dachte nach. Melanie fragte: «Könnte die Frau ihm im Weg gewesen sein?» «Durchaus denkbar. Aber warum brachte er ihren Mann um und zündete das Haus an?» «Vielleicht zur Tarnung.» «Weshalb hätte er sie dann mit dem Beil so zugerichtet? Auch zur Tarnung?» Wicki runzelte zweifelnd die Stirn. Melanie liess sich Zeit, um zu überlegen. Sie tunkte einen Würfelzucker in den Kaffeerest am Boden des Espressotässchens und knabberte daran. Schliesslich liess sie sich vernehmen: «Er wollte sie vernichten, zerstören, ausradieren. Aus irgendeinem Grund, den wir nicht kennen.» «Klingt abenteuerlich, und, um ehrlich zu sein, etwas monströs. So etwas kann ich mir bei einem Sadisten vorstellen…» «Wer sagt denn, dass es keiner war?» Wicki blickte überrascht auf. Elektronische Musik war zu hören. Melanie sagte: «Das muss dein Handy sein, Ernesto. Meins ist abgeschaltet.» Wicki ging auf die Terrasse hinaus, wo seine Jacke lag. Er holte das Telefon heraus und sprach hinein. Melanie beobachtete ihn durch die offene Türe. Sein Gesicht verdüsterte sich. Schliesslich knurrte er: «Okay, dann komme ich halt.» Als er von draussen ins Zimmer trat, fluchte er leise. «Hätte ich bloss das verdammte Natel ausgeschaltet! Der Chef lässt mir selbst in der Freizeit keine Ruhe. Ich muss weg, Mel.» «Unser Abend hat doch gerade erst begonnen.» «Das ist nun mal so in diesem Job. Mal frühmorgens, dann spätabends. Scheidegger sagt, die Sache sei unaufschiebbar.» «Selbst wenn du bei deiner Freundin zu Besuch bist?» «Er bittet dich um Entschuldigung.»
Wicki tippte eine Nummer ins Handy ein. Sie war besetzt. Melanie legte die Hände um seinen Hals und sagte: «Dabei wollte ich mit meinem Häuptling übers Kinderhaben reden.» «Übers Kinderhaben oder übers Kindermachen?» «Über beides.» «Das muss bis morgen warten. Ist die Frage da noch aktuell?» Melanie knuffte Wicki in die Seite und gab ihm einen langen Kuss. Er drückte sie an sich und sagte ihr ins Ohr: «Danke fürs Nachtessen. Ich ruf dich morgen an.»
16 Der Adler
Als Wicki um halb acht wie stets sein Büro im 1. Stock der Kantonspolizei betrat, fand er ein verschlossenes Couvert auf dem Schreibtisch. Absender war die Privatklinik Heiligenfeld in Allschwil: Unterlagen über Dolores Grütter-Sanchez. Ein paar Daten über Herkunft, Wohnort, Einstellung, Qualifikation. Den Begleitbrief hatte Dr. Brander, Chefarzt und Anästhesist, unterzeichnet. Viel gab das Ganze nicht her. Dolores Grütter war als Hilfspflegerin eingestellt worden und hatte ihre Arbeit pünktlich und sauber verrichtet. Einige Angaben auf Spanisch belegten, dass sie in der Dominikanischen Republik als Pflegefachfrau gearbeitet hatte. Ein Foto lag bei. Scheidegger betrat das Büro, Pfeife rauchend. Wicki hielt ihm ein Blatt hin. «Was soll ich damit?» «Lesen.» Wickis Chef warf einen verständnislosen Blick darauf. «Dir ist doch klar, dass ich nicht Spanisch kann.» «Lies den Namen. Dann weisst du Bescheid.» «Sanchez? Die ermordete Frau?» «Dieses Papier wies sie als diplomierte Pflegefachfrau aus. Sie wurde aber als Hilfspflegerin eingestellt und durfte vermutlich Pisspötte leeren und so. Ziemlich erniedrigend, wenn du mich fragst.» Scheidegger sog an seiner Pfeife. Dann sagte er: «Die Gerichtsmedizin hat einen Zusatzbericht nachgereicht, in dem zu lesen ist, dass Frau Grütter schwanger war.» «Schwanger?» Wicki starrte Scheidegger ungläubig an.
«Damit fällt die These von ihrer Ermordung durch den Gatten endgültig in sich zusammen. Es war ja sein langjähriger Wunsch, Vater zu werden.» «Dann hat der Mörder drei Menschen auf dem Gewissen.» «Falls er ein Gewissen hat.» Wicki verfiel in Schweigen. Gedankenfetzen, Bilder jagten durch sein Hirn. Tania und die Kinder, die sie beide hatten haben wollen. Das Gesicht der mit dem Beil verwüsteten toten Frau. Die nackte Melanie, die ihn ins Bett zog, damit er ihr ein Baby mache. Der Kopf eines Embryos auf dem Ultraschallbild der Gebärmutter. Scheidegger sagte, und Wicki war es, als sei er weit entfernt in einem anderen Raum, in einer anderen Zeit: «Was machen wir mit den Burschen, die wir gestern hereingenommen haben? Schlage vor, du knöpfst dir den Dulliger vor. Die übrigen lassen wir frei.» Wicki meinte bedächtig: «Nicht bevor ich mit ihm geredet habe. Lass sie ruhig ein wenig schmoren. Möglicherweise weiss einer etwas, das Dulliger uns verschweigt.» Am Vorabend war Wicki ziemlich ungehalten in Liestal eingetroffen, nachdem Scheidegger ihn gegen neun Uhr bei Melanie angerufen hatte. Und seine Laune hatte sich nicht gebessert, als sie in einem verlassenen Steinbruch im Oberbaselbiet fünf junge Männer bei einer verbotenen Schiessübung überraschten und gleich verhafteten. Scheidegger hatte am späten Nachmittag vom Freund seines Sohnes Ralf einen Tipp bekommen und die nächtliche Aktion mit sechs Mann in die Wege geleitet. Einer der Burschen war Noldi Dulliger, der Sohn des Löwenwirts. Er protestierte heftig gegen seine Festnahme, weil er gar nicht geschossen habe. Aber ohne Waffenschein für die Pistole, die er auf sich trug, nützte ihm das nichts. Als Wicki jetzt die Zelle im Untersuchungsgefängnis betrat, sass Noldi Dulliger auf der Holzbank und rauchte. Sein Blick
wirkte gelangweilt, etwas zu gelangweilt. Er trug ein T-Shirt, kakifarbene Hosen und schwarze Bomberstiefel und roch nach Schweiss, als ob er sich seit vier Tagen nicht mehr gewaschen habe. Wicki musste sich beherrschen, um nicht sofort eine Zigarette anzuzünden. Melanie sah es richtig. Er hatte ein Suchtproblem. «Guten Morgen. Sanft geschlafen, Dulliger?» Der Häftling sagte mit Empörung in den Augen: «Wieso hält man uns hier fest? Nicht mal telefonieren durfte ich. Das ist gegen die Menschenrechte.» «Mit wem wollten Sie denn telefonieren?» «Mit meinem Anwalt.» Wicki lachte trocken. «Dazu ist zehn Uhr noch früh genug. Zuerst wollen wir ein wenig zusammen plaudern.» «Ich habe das Recht, die Aussage zu verweigern.» «Wohl zu oft im Kino gewesen, wie? Wir sind hier nicht in den USA, Dulliger. Aber Sie werden schon reden.» «Ich sage gar nichts», meinte Noldi trotzig. Wicki schwieg. Er sah dem jungen Mann in die Augen. Der wich dem Blick aus und schaute aus dem Zellenfenster. Wicki zog das Säckchen mit dem Reichsadler aus der Jackentasche und legte es auf seine rechte Hand. Dabei beobachtete er Noldis Reaktion. In dessen Augen schien es für einen Moment aufzublitzen. «Sind Sie im Tierschutzverein, Dulliger?» «Kann mich nicht erinnern.» «Auch nicht Hobby-Ornithologe?» «So ein Witz.» «Wie kommt dann dieses Vögelchen in Ihren Besitz?» Dulliger lachte spöttisch. «Das ist kein Vögelchen. Das ist ein Reichsadler.»
«Wie auf Ihrem Unterarm?» Wicki zeigte auf Noldis Tätowierung. «Soll wohl ein Erkennungszeichen sein – statt das Hakenkreuz der Reichsadler, hm?» «Darf man sich denn nicht einmal tätowieren lassen?» «Sicher. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Gehört der Adler Ihnen?» «Was geht das Sie an?» Wicki sah Dulliger durchdringend an. Dieser wich auch diesmal aus. Wicki sagte: «Ihre Fingerabdrücke sind drauf. Und auf der Rückseite steht N. D. Ob das wohl zufälligerweise Noldi Dulliger heisst?» «Keine Ahnung. Vielleicht heisst es ‹nicht diensttauglich›.» «Ach, mit einem Spassmacher haben wir’s zu tun. Doch der Spass wird Ihnen vergehen. Sie streiten also ab, der Besitzer des Adlers zu sein?» «Und ob.» «Das nützt Ihnen gar nichts. Ich habe ihn an einem Ort gefunden, wo ich Sie nie erwartet hätte. Schon gar nicht zu nachtschlafender Stunde.» Noldi zog es vor zu schweigen. Wicki sagte scharf: «Was hatten Sie in Grütters Haus zu suchen, Dulliger?» Noldi wand sich. Nach neuerlichem Schweigen bequemte er sich zu sagen: «Ich? Nichts. Seit Dölf tot ist, war ich nicht mehr dort. Schon aus Gründen der Pietät. Toten Kameraden gebührt Ehre.» «Heut nacht haben Sie aber erzählt, wie Sie in Grütters Haus eingebrochen seien. Und das vor zehn Zeugen.» Dulliger riss die Augen auf. «Vor zehn?» «Genau. Meine Kollegen und ich sassen oben am Rand des Steinbruchs und hörten zu. Wir hätten eine Bandaufnahme machen können, derart laut war Ihr Palaver von der angeblichen Heldentat. Mit Weisheiten gespickt wie: ‹Ein Waschlappen, wer nichts wagt›.»
Schweigen. «Dulliger, es sieht nicht besonders gut aus für Sie. Jedenfalls möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken. Mordverdacht ist ein unangenehmer Reisebegleiter, wenn man hinter Gitter wandert.» «Wieso Mordverdacht? Ich habe ein Alibi für die Nacht, in der Dölf umgebracht wurde. Ich war mit Kollegen unterwegs.» «Das wird Ihnen wenig nützen. Erstens sind Ihre Kollegen selber belastet. Und zweitens schossen Sie schon mal auf einen Menschen, und zwar mit einer Pistole desselben Typs wie die, die Sie gestern auf sich trugen. Auf den Polen, der bei Ihrem Vater arbeitete.» Dulliger war bleich geworden. Aber er spielte weiterhin den harten Kerl, was ihm nicht besonders gut gelang. «Woher wollen Sie das jetzt wieder wissen?» «Die Polizei verfügt über zuverlässige Quellen.» «Dann dürfte Ihnen bekannt sein, dass ich für den Unfall – denn das war es in Wirklichkeit – nicht belangt werden kann, weil der Polacke zurück in seine Heimat verreiste. Ausserdem hat er nie Klage erhoben.» «Wieso sollte er das, wenn es ein Unfall war? Nein, Freundchen, damit kommen Sie bei mir nicht durch. Der Grund, warum der Pole nie klagte, ist ein ganz anderer. Vielleicht unterhalten wir uns einmal darüber – in Anwesenheit Ihres Vaters. Der kann dazu bestimmt einiges sagen.» Wicki schickte sich an zu gehen. Als er an der Tür war, fragte Noldi: «He, wann werde ich freigelassen?» «Das sagt Ihnen vielleicht der Anwalt.»
Wicki ging den Flur entlang, in dessen Zellen die anderen nächtlichen Schützen untergebracht waren. Man hatte sie
getrennt, damit sie sich nicht untereinander verständigen konnten. Der diensttuende Beamte öffnete die Tür einer Zelle, in der ein junger Mann sass. Er hiess Gerhard Löffel und wohnte in Lausen. Laut seinen Aussagen, bei der ersten Einvernahme spät in der Nacht, machte er seit etwa einem Jahr bei der Einsatzgruppe mit, wie er das Unternehmen «Alte Heimat» nannte. Er stand im letzten Lehrjahr und war noch nicht volljährig. Damit fiel er unter den Jugendstrafvollzug, als Einziger der Gruppe übrigens, was die Sache besonders heikel machte, wie Wicki aus Erfahrung wusste. Aber mitgegangen hiess mitgehangen. Etwas, was der Junge noch lernen musste. Dafür war es unumgänglich, ihn ein wenig einzuschüchtern. Bei Noldi, offenbar robuster, war das wohl kaum gelungen. Aber man würde ja sehen, wie Gerry reagierte. «Tag Gerhard», sagte Wicki freundlich. «Hast du gut geschlafen?» Der Junge machte ein griesgrämiges Gesicht. «Nicht besonders.» Er erhob sich vom Bett, als Wicki die Zelle betrat. Seine Stimme klang unsicher. Und so stand er da. Es schien, als wisse er nicht wohin mit seinem Körper. Die Nacht im Gefängnis hatte ihm offensichtlich zugesetzt. «Setz dich. Wir müssen miteinander reden.» Der Junge gehorchte. «Was machen Sie mit uns… mit mir? Ich müsste längst an der Arbeit sein. Wenigstens sollte ich dem Lehrmeister Bescheid sagen. Sonst gibt’s Stunk.» «Tja, das geht jetzt nicht. Das hättest du dir vorher überlegen müssen. Wer Scheiss baut, muss die Konsequenzen tragen.» «Aber ich habe doch nichts gemacht! Die Pistole, die ich in der Hand hielt, war nicht einmal geladen!» Wicki versuchte sich zu erinnern. Tatsächlich war eine der Smith & Wesson nicht geladen gewesen. Aber ob es sich um
jene handelte, welche Gerhard der Polizei übergeben hatte, wusste er nicht mit Sicherheit. «Reden wir Klartext, mein Junge. Du stehst, wie deine Kumpanen, unter Mordverdacht. Ihr habt mit Pistolen vom selben Typ rumgespielt, mit dem euer Kollege Adolf Grütter und seine Frau auf brutalste Weise ermordet wurden. Dafür könnt ihr bis zu 20 Jahre Zuchthaus kriegen. Das ist allerhärtester Bunker.» «Aber ich habe mit dem Mord überhaupt nichts zu tun, Herr Kommissar! Im Gegenteil – wir waren alle mega schockiert, als wir von der Tat erfuhren!» «Und kaltblütig genug, drei Tage später in einer Grube, die ein paar hundert Meter vom Tatort entfernt liegt, mit einer Pistole rumzuballern, die Adolf Grütter getötet haben könnte.» Gerhard schwieg. Dann brach er in Tränen aus. Er warf sich aufs Bett und heulte wie ein kleines Kind. In einem mit solchen Ausbrüchen nicht vertrauten Menschen hätte die Szene Mitgefühl geweckt. Wicki beschloss, die Schraube noch etwas enger zu drehen. «Wenn sich herausstellt, dass deine Fingerabdrücke auf der Pistole sind, welche nicht geladen war, sieht’s etwas besser aus für dich. Aber noch nicht wesentlich. Entscheidend ist, dass du mir erzählst, was du weisst – über eure Gruppe, über den Schuss auf den Polen, über Dölf und seine Gewohnheiten, über Noldi und seine Beziehungen zu Neonazis und so weiter. Alles schön der Reihe nach. Und nicht einen Millimeter von der Wahrheit abgewichen! Ist das klar?» Gerhard sagte leise: «Die anderen werden mich als Verräter ansehen, wenn ich rede…» «Du bist doch ein intelligenter Junge. Sag, was ist wichtiger in diesem Moment: Dich von dem Mordverdacht zu befreien oder nicht als Verräter dazustehen? Wenn ihr wirklich nichts auf dem Kerbholz habt, dann wärst du ja blöd, vor den anderen den Helden zu spielen. Stimmt’s?»
Gerhard schwieg, was Wicki als Zustimmung deutete. «Ich lasse jetzt den Beamten kommen, der das Protokoll aufnimmt. Hast du schon gefrühstückt?» «Nein.» «Du bekommst eine Tasse Kaffee und ein Brötchen. Okay?» Der Junge schien erleichtert und sagte mit einem schweren Seufzer: «Danke.»
17 Reifenspuren
Wicki parkte den Wagen vor Grütters Gehöft. Er erkannte den Polizisten, der Wache hielt, wieder. «Was Nennenswertes passiert, seit die Leute vom Kriminaltechnischen Dienst hier waren, Schlosser?» «Ein Mann mit einem Hund kam vorbei und fragte nach Ihnen. Das ist alles.» «Um welche Zeit?» «Halb neun.» «Haben Sie ihn nach dem Namen gefragt?» «Nein.» «Das war eine Unterlassungssünde, Schlosser. Weisses Haar? Brille? Schnurrbart?» «Stimmt.» Wicki liess sich den Schlüssel zum Haus geben. Wieder der Geruch nach Moder und Rauch, als er aufschloss. Und der Duft einer Chemikalie, die er nicht identifizieren konnte. Er stieg in den ersten Stock hoch. Dort sah es aufgeräumt aus. Die Leute vom Kriminaltechnischen Dienst hatten ganze Arbeit geleistet. Im Schlafzimmer fand er unter einem Haufen Papier einen Umschlag mit Fotos. Ferienbilder, so schien es. Adolf Grütter, in schwarzen Badehosen am Sandstrand, lächelnd, muskulös und braungebrannt. Dolores, mit Sonnenbrille und blauem Bikini. Auch sie lachte. Beide unter einer Palme sitzend: Die Frau wirkte klein und zerbrechlich neben ihrem hünenhaften Mann. Doch sie schien glücklich. Dann eine Grossaufnahme von Dolores, die Wicki für einen Augenblick den Atem anhalten liess. Halb im Profil, eine schöne, gerade Nase, sanft geschwungene Augenbrauen,
goldene Ringe an den Ohren, verschmitzter Blick in Richtung Kamera. Die Ähnlichkeit mit Tania war verblüffend, so stark, dass Wicki sich das Foto ganz genau ansah, bis er am Hals ein Muttermal entdeckte, an das er sich nicht erinnern konnte. Grütters Frau war nicht Tania. Diese mochte sich irgendwo auf der Welt aufhalten. Mit der Sache hier hatte sie nichts zu tun. Er schob die Aufnahmen zurück in den Umschlag und steckte diesen in die Jackentasche. Dann stellte er Melanies Nummer auf dem Handy ein. Er trat zum Fenster. Am Rand einer grossen Wiese, vor einem langgezogenen Waldstück, spazierte ein Mann. Ein Hund lief voraus, für den er ein Holzstück in die Luft warf. Der setzte mit weiten Sprüngen nach und brachte es zurück. «Wer ist da?» fragte eine verschlafene Stimme. «Ich bin’s. Wollte wissen, wie’s dir geht, Mel.» «Häuptling! Ich dachte, du habest mich vergessen. Aus lauter Enttäuschung schlief ich wieder ein.» «Kein Arbeitstag heute?» «Der Fotograf rief um halb acht an und sagte, er sei krank. Wir verschoben die Sitzung auf nächste Woche. Da werde ich jeden Tag ran müssen, weil der Auftrag längst fertig sein sollte.» Wieder und wieder schleuderte der Mann das Aststück in die Wiese hinaus. Und der Hund apportierte begeistert. Wicki fragte: «Sehen wir uns heute? Ich habe eine unstillbare Lust, dich zu berühren, Melanie.» «Ist sie unstillbar?» «Das hängt ganz von dir ab.» «Komm doch einfach her.» «Geht nicht. Sitze im Gotthard-Hospiz und philosophiere über Lawinenhunde.»
Der Mann hielt in seinem Wurfspiel inne und blickte in den Wald hinein, während der Hund um ihn herumtänzelte. Melanie lachte. «Demnach dauert es noch etwas. Soll ich dir die Bettflasche warmstellen?» «Bitte nicht. Das tönt, als ob ich schon 83 wäre. Wenn du eine Flasche in die Hand nimmst, dann bitte eine, die man kaltstellen kann. Wie wär’s mit Prosecco?» Der Mann bog ein paar Zweige auseinander und schlüpfte ins Unterholz. Er bückte sich, um etwas aufzuheben. «Komm bitte bald. Am liebsten gleich.» «Tue mein Bestes.» Wicki hängte ein. Der Wald. Wie konnten wir vergessen, die Umgebung in einem weiteren Umkreis absuchen zu lassen? Der Spaziergänger war aus dem Unterholz herausgetreten. Er hielt ein kleines Stück Stoff in der Hand und breitete es über den Zweigen eines Busches aus. Wicki fand in der Küche einen PVC-Sack. Er sagte zu Schlosser, der es sich auf einem Gartenstuhl bequem gemacht hatte: «Mache einen Spaziergang. Lassen Sie niemanden ins Haus. Die Untersuchungen sind nicht abgeschlossen.» Er marschierte an einer Baumgruppe vorbei direkt zu dem Strauch am Waldrand. Bei dem Stofffetzen handelte es sich um ein Taschentuch. Es war feucht. Wicki fasste es mit zwei Fingern vorsichtig an und roch daran. Nun verstand er auch, warum der Spaziergänger daran geschnuppert hatte. Das Tüchlein duftete, wenn auch schwach, nach Benzin. In einer Ecke war eine Zwei in römischen Ziffern eingestickt. Wicki versorgte es in der PVC-Tüte. Und spürte, wie er erregt wurde. Das Jagdfieber. Er machte ein paar Schritte ins Unterholz und untersuchte Sträucher und Büsche. Da waren abgebrochene Brombeerzweige, dort zertretenes Astwerk von jungen Birken,
hier ein geknickter Holunder – eine Spur, die ins Innere des Waldes führte. Wicki folgte ihr, sich mehrmals in die Hocke begebend, um die beschädigten Zweiglein und Blätter genauer anzusehen. Im moosigen Untergrund ein Fussabdruck, dann noch einer. Wicki bog sorgsam das Astwerk auseinander, um keine zweite Spur zu legen. Dann waren die Abdrücke auf einmal wie weggeblasen. Er verstand nicht und blickte sich um. Der Waldrand war nur noch als heller Strich zwischen den Bäumen zu erahnen. Indianer müsste man sein, dachte Wicki und musste lächeln, da ihm sein innigster Bubenwunsch in den Sinn kam: sich wie Sitting Bull auf leisen Sohlen unerkannt durch den Busch zu bewegen. So wie der Häuptling hätte er sein mögen, edel, tapfer, unbeugsam, furchtlos, auch vor dem Tod und erst recht gegenüber den treulosen Weissen, welche die Sioux noch und noch verraten hatten. Wicki dachte nach. Was hätte Sitting Bull in meiner Lage getan? Da keine Fussspuren mehr zu sehen sind, wohl den Boden genau überprüft. Er kniete nieder. Die Erde war zentimeterdick mit feuchten Tannnadeln übersät. Sie federten jeden Schritt wie eine Matratze aus Schaumstoff ab. Selbst ein Mensch von einigem Gewicht hinterliess darauf keine Abdrücke. Sehr gut, sagte sich Wicki. Aber wie geht es weiter? Irgendwo muss die unterbrochene Spur in den Wald hineinlaufen. Der Mensch, der sie hinterliess, wird hier, unter diesen Tannen, kaum innegehalten haben, um einen Tanz zu Ehren des Mondes zu vollführen und die Geister des Waldes zu beschwören. Er war in Eile. Zudem konnte er in der Finsternis keinen Gedanken darauf verschwenden, Trittspuren zu vermeiden. Er wollte weg. Und wie gelang ihm das am schnellsten? Wicki sah in die Wipfel der Bäume hinauf, von denen der dicke Nadelteppich stammte. Sie standen ziemlich weit auseinander. Wenn der Mensch nicht zu Fuss durch das
Dickicht geflüchtet war, dann hatte er sich irgendwo auf den Sattel eines bereitgestellten Mountainbikes geschwungen. Oder er war motorisiert gewesen. Eine leichte Maschine, ein 125 ccm Bike, konnte man vermutlich durch das Unterholz steuern, aber sie hinterliess entsprechende Schäden an den Sträuchern, von denen hier nichts zu sehen war. Ein Wagen hingegen würde es nie durch das Unterholz schaffen. Er wäre an einen Waldweg gebunden. Wicki wusste jetzt, was er suchen musste. Er wandte sich nach verschiedenen Richtungen, bis er, versteckt hinter einer Baumreihe mit dichtem Unterholz und vom ursprünglichen Standort aus nicht zu entdecken, auf einen Pfad stiess, dessen Mergelboden vom Regen aufgeweicht war. Mit Wasser gefüllte Karrengeleise zeichneten sich auf dem Grund ab. Wicki ging in die Hocke und klaubte ein Stück lehmige Erde heraus. Gerade noch erkennbar ein gezacktes Rillenmuster. Wicki schaute sich um. Unzweifelhaft: Das Chassis des Wagens hatte auf seiner raschen Wegfahrt Äste und Zweige zerbrochen und Blätter zerfetzt. Endlich, dachte Wicki. Er fühlte sich erleichtert, und gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass sie ganz von vorne beginnen mussten.
18 Erste Klasse
Sollte er, wie versprochen, zu Melanie fahren? Er hatte grosses Verlangen nach dem Duft ihrer Haut, nach ihren zärtlichen Lippen. Wahrscheinlich empfing sie ihn mit irgendeiner Narretei auf dem schönen Leib. Und nach zwei, drei Gläsern Prosecco würden sie auf ihrem breiten Bett liegen, sich dem Rausch hingeben, ineinander verschlungen, die Gegenwart hinter sich lassen und kein Gefühl an die Zukunft verschwenden. Doch Wicki spürte, dass ihm das Danach, der öde Alltag, zuwider war. Grütters Fall musste neu aufgerollt werden. Viele Stunden akribischer Arbeit. Das ganze Dorf befragen. Das Haus durchsuchen. Alle Lügner noch mal drannehmen, damit sie neue Lügen auftischen konnten. Vielleicht müsste ich mal Ferien machen. Raus, ab in den Süden. Mit Mel in ein Hotel in der Nähe von La Spezia oder nach Sizilien. In den Sand liegen, Nichtstun, Spaghetti alle vongole und brasato al barolo, miteinander schlafen, eine Flasche Chianti reinziehen, Vögel im Flug beobachten, Kinder im Sand spielen sehen. Bambini, gehätschelt und verwöhnt von den Müttern und ignoriert von den Vätern, die unter dem Sonnenschirm dösen. Es war kurz nach elf, als Wicki den Opel auf dem Parkplatz der Privatklinik Heiligenfeld abstellte. Scheidegger hatte ihm mitgeteilt, dass er unabkömmlich sei. Die Sache mit den Postcheckbetrügern besitze Vorrang, die Leute auf der Postfinance hätten Druck gemacht. Wicki müsse die Befragung im Spital allein angehen. Neben dem Opel Variant parkte ein grosser, schwarzer BMW. Elegantes Vehikel, dachte Wicki. Schiebedach,
Ledersitze, getönte Scheiben. Auf den Rücksitzen Zeitungen in einer Sprache, die er nicht verstand. Die Dame am Empfang sah frisch frisiert und resolut aus. Sie trug ein lila Kostüm und eine Halsschleife in derselben Farbe. Wicki stellte sich vor und verlangte, den Leiter der Klinik zu sprechen. «Professor Ivanovic empfängt nur nach telefonischer Voranmeldung.» «Sie haben mich wohl missverstanden. Ich bin kein Patient, sondern von der Kriminalpolizei Liestal. Ich muss den Chefarzt dringend sprechen.» «Tut mir leid. Er kann Sie nicht empfangen.» «Wieso? Ist er krank?» «Nein. Er operiert. Immer um diese Zeit. Freitags, von 7.00 bis 15.00 Uhr.» Sätze, wie in Stein gemeisselt. «Aber der Professor macht auch mal Pause zwischendurch?» «Selten.» «Und nachmittags, ist er da abkömmlich?» «Nach 15.00 Uhr ist Visite.» «Wen visitiert er denn?» fragte Wicki, leicht verstimmt über die Sturheit des Elefanten, der sich ihm in den Weg stellte. «Unsere Erstklasspatienten. Sie beanspruchen all seine Aufmerksamkeit.» «Grossartig. Da müsste ich wohl Patient sein, um in den Genuss seiner Zuneigung zu kommen?» Die Frau verstand keine Ironie. Sie sagte: «Haben Sie denn eine Erstklassversicherung?» Allmählich wurde es Wicki zu dumm. Er hielt der Dame seinen Ausweis unter die Nase. «Können Sie lesen? Schön. Dann hören Sie mir zu, Madame. Lassen Sie dem Professor ausrichten, dass wir in einer Mordsache ermitteln. Als
Vorgesetzter von Frau Dolores Grütter steht er unter Auskunftspflicht.» «In einer Mordsache?» Die Augen der Dame wurden gross vor Neugier. «Sollte sich der Professor weigern auszusagen, nehmen wir ihn vom Operationstisch weg in Gewahrsam. Teilen Sie ihm das mit. Ich warte genau zehn Minuten auf seinen Bescheid.» Jetzt geriet das resolute Gesicht der Dame in Unordnung. Sie sprach hastig in einen Telefonhörer. Ein junger Mann in weissem Mantel tauchte auf, der sich als Doktor Schweingruber vorstellte und sich entschuldigte, dass Professor Ivanovic nicht selber erscheinen könne. Er sei mitten in einer Operation. Wicki sagte unverdrossen freundlich: «Das hat mir die Dame eben gesteckt. Trotzdem muss ich den Professor sprechen. Und zwar noch heute. Er kann sich zwischen zwei Blinddärmen bestimmt eine halbe Stunde freischaufeln, oder nicht?» Der Arzt blickte verstört. Dann sagte er in einem Anflug von Mut: «Professor Ivanovic ist Herzchirurg. Könnten Sie nicht mit mir vorliebnehmen?» «Nein. Der Klinikleiter ist hier gefragt und niemand anderes.» «Gut. Ich will schauen, was ich machen kann.» Wicki fühlte sich gründlich missverstanden. Jetzt wurde er grob. Und seine Stimme ganz leise: «Doktor, Sie haben wohl Tampons in den Ohren, wie? Hier wird nicht geschaut, sondern dem Professor unverzüglich meine Aufforderung mitgeteilt.» Er packte den Mann am Ärmel. «Ich ermittle in einer verdammt wichtigen Sache. Eine Mitarbeiterin dieses Spitals ist ermordet worden. Aber das ist Ihnen hier wohl noch gar nicht aufgefallen, wie? Also los, her mit dem Professor, oder hätten sie es lieber, wenn das Überfallkommando vorfahren würde?»
Der junge Doktor riss sich los und war schon unterwegs. Zehn Minuten später kam er eiligen Schrittes zurück, ein Handy in der Faust. «Professor Ivanovic möchte Sie sprechen.» Wicki sagte befriedigt: «Ausgezeichnet.» Der Chirurg setzte ihm auseinander, dass er sich mitten in einer komplizierten Operation befinde, die er unmöglich verlassen könne, nicht mal fünf Minuten. Selbstverständlich stehe er für ein Gespräch über die verstorbene Mitarbeiterin zur Verfügung, falls dies gewünscht werde. Das könne jedoch frühestens nach 15.00 Uhr geschehen, wenn die Operation vorüber sei. Ivanovics Stimme tönte höflich, was Wicki besänftigte. Wenigstens war der Chef kooperationswillig. So einfach ist das, dachte Wicki. Warum muss man den Leuten immer zuerst mit dem Zweihänder drohen? Er beschloss, in der Zeit bis zu seinem Termin mit dem Professor ein paar Befragungen durchzuführen. Um halb drei rief er Scheidegger an und informierte ihn über das Resultat seiner Arbeit. Wicki hatte eine Stinkwut und obendrein einen Mordshunger. Er habe das Mittagessen aus Zeitgründen fahren lassen, ein vollkommener Fehler, da seine Vernehmungen allesamt im Sand verlaufen seien. Über Frau Grütter habe er nicht viel mehr als Kollegenschelte vernommen. «Da ist Pflegefachfrau Olivia, 33 und eifersüchtig, so scheint es, weil Dolores mit ihrer kaffeebraunen Haut und dem aufreizenden Aussehen, obwohl verheiratet, sämtliche Männerblicke auf sich zog. Olivia liess, in ganz zivilisiertem Ton, keinen guten Faden an der Verstorbenen. Ferner haben wir Pflegefachfrau Britta, 42 und offensichtlich noch immer neidisch, weil Dolores von den Ärzten für Aufgaben ausserhalb des Pflegebereichs herangezogen wurde.»
«Du sagtest doch, sie sei bloss eine Art Putzfrau gewesen?» warf Scheidegger dazwischen. Wicki ging darauf nicht ein. «Und dann gibt es den Pflegefachmann Joseph, genannt Seppi, der sich ziemlich abfällig über die Tote äusserte, weil sie sich geweigert haben soll, Nachttöpfe zu leeren und blutige Bettlaken zu wechseln, was in einer Klinik, wo so viel operiert werde wie hier, eine absolute Selbstverständlichkeit sei, für echte ebenso wie für angebliche Pflegefachfrauen. Schliesslich ist da noch Assistenzarzt Schweingruber, welcher, so die Anspielung von Schwester Olivia, der schönen Dolores regelrecht nachgelaufen sei, während er selber angibt, Frau Grütter ein einziges Mal in der Kaffeebar begegnet zu sein und nichts über ihren Tätigkeitsbereich im Spital zu wissen.» «Wozu sich ärgern, Ernst? Die meisten Zeugen liefern wenig Konkretes. Das wissen wir doch längst.» «Hans, im Ernst: Ich kam mir angesichts dieser Mauer aus Missgunst und Heuchelei vor wie ein Schwachkopf. Ich setze jetzt auf den Leiter der Klinik, Dr. Ivanovic. Er machte auf mich einen freundlichen und zuverlässigen Eindruck – zumindest am Telefon. Ich ruf dich nach dem Gespräch mit dem Professor nochmals an.» Scheidegger staunte. Typisch für Ernst, diese Ungeduld, dachte er. Er bemerkte: «Ich soll dir übrigens von meiner Frau ausrichten, dass sie dich und deine Freundin morgen Samstag zum Essen einladen möchte. Ihr kommt doch?» Wicki meinte: «Ehrlich gesagt, ich entscheide nicht gern über Melanies Kopf hinweg.» «Okay. Gib mir Bescheid, wenn du mit ihr gesprochen hast.» Er wollte einhängen. Aber Wicki hielt ihn zurück: «Da ist noch was, Hans. Wir haben es versäumt, die Umgebung von Grütters Haus zu untersuchen.» «Das hat der KTD doch am ersten Tag gemacht.»
«Die suchten nur einen Umkreis von zwanzig Metern ums Haus herum ab.» «Worauf willst du hinaus?» «Im Wald hinter dem Haus habe ich heute morgen eine Trampelspur gefunden, die zu Reifenabdrücken führt.» «Und?» «Der KTD muss nochmals ran. Und zwar am Wochenende.» «Ist das nicht nebensächlich, Ernst? Die Reifenspuren zeigen, dass der Täter möglicherweise durch den Wald kam – » «- und durch den Wald flüchtete.» «Hoppla! Das sind ja ganz neue Perspektiven! Habe übrigens die Protokolle deiner Vernehmungen von Gerhard Löffel und Noldi Dulliger gelesen.» «Ja?» Wicki war gespannt, was sein Chef dazu meinte. Immerhin hatte er bei den jungen Männern mit nicht lupenreiner Methode gearbeitet. Scheidegger sagte bloss: «Bringt wenig Neues hinsichtlich der Neonazi-Szene, in der diese Burschen offenbar mitmischen. Pikant ist aber die Bemerkung von Gerhard, Noldi Dulliger spritze heimlich gestohlene Autos um, und das in der Garage, wo er als Mechaniker arbeitet.» «Da wartet jedenfalls eine Menge Arbeit auf uns. Und allein schaffe ich das nicht, Hans.» «Das ist mir klar. Aber ich kann jetzt unmöglich von dieser Postchecksache weg. Die Chefs da oben bei der Post laufen sonst Amok. Die scheuen sich übrigens nicht, auch über politische Kanäle Druck zu machen. Und wenn so was mal anfängt, dann wird’s bald ungemütlich hier im kleinen Liestal.» «Dann bis später.» Wicki hängte ein. Er war frustriert, weil sein Chef ihn in einer Sache im Stich liess, die nach seiner Meinung Priorität hatte. Ein Doppelmord passierte schliesslich nicht jeden Tag.
Und seine Frustration wuchs noch, als er sich punkt 15.00 Uhr am Schalter des Spitals zum Gespräch mit dem Professor meldete. Von der Empfangsdame erfuhr er, dass ein Notfall den Chirurgen am Erscheinen hindere. Wicki schluckte seinen Ärger hinunter und verschob den Termin notgedrungen auf den folgenden Tag, den Samstag, zumal die Frau am Desk bemerkte, Ivanovic sei in der folgenden Woche abwesend. Eine Zigarette im Mund, verliess er das Spital und setzte sich ans Steuer des Variant. Auf seinem Handy wählte er die Nummer Scheideggers. Da niemand antwortete, tippte er jene von Melanie ein. Sie sagte: «Es ist alles bereit. Wann kommst du, Häuptling?» Wicki konnte es kaum fassen. Ihre Stimme war wie Honig. Dabei hatte er Salzsäure oder Essig erwartet, weil er sie so lange hatte warten lassen. Seine schlechte Laune war wie weggeblasen. «Bin schon unterwegs, Mel. Was hast du getan seit meinem Anruf?» «Gebadet. Die Haare gewaschen. Mir in der Stadt ein neues Kleidchen erstanden. Und Prosecco gekauft, wie befohlen.» «Ein Kleidchen?» «Richtig.» «Da bin ich ja gespannt.»
19 Schwer und leicht
Wicki hatte Lust, Melanie ein Geschenk mitzubringen. In einer kleinen Boutique liess er sich eine Kette aus blauen Korallen zeigen. Die Farbe machte ihm keinen Kummer. Melanie trug alles mit Eleganz. Der Preis war übersetzt. Doch Wicki beschloss, für einmal den Krösus zu spielen. Sie öffnete die Tür in einem Kostüm mit Jacke und kurzem Jupe aus schwarzer Seide. Dazu trug sie schwarze Sandaletten mit hohen Absätzen. Auf dem hochgesteckten Haar sass ein Kunstwerk aus schwarzgefärbtem Stroh, mit breiter Krempe und kleinen, feuerroten Blumen. «Mel! Bist du es wirklich?» entfuhr es Wicki, der sich einen Moment lang schäbig vorkam in seinen Arbeitsklamotten. Nicht einmal geduscht hatte er, und sie roch nach einem neuen Parfüm, ebenso kühn wie ihr Aufzug. Sie freute sich über seine Verblüffung und küsste ihn auf die Lippen. Er machte zwei Schritte zurück. «Unglaublich. Ist dies das Fähnchen, von dem du am Telefon sprachst?» «Habe es zu einem Spottpreis bekommen. Gefällt’s dir nicht?» «Was für eine Frage. Du siehst fantastisch aus. Bitte dreh dich um und mach für ein paar Sekunden die Augen zu.» «Warum?» «Das wirst du gleich sehen.» Er wickelte die blaue Korallenkette behutsam aus dem Geschenkpapier. «So, und jetzt nimm den Hut ab.» Melanie lachte. «Was hast du vor?»
«Augen schliessen!» Er legte die Kette um ihren Hals und klickte den Verschluss zu. «Ich führe dich jetzt wie eine Blinde fort. Aber es wird nicht geblinzelt!» Vor dem Spiegel im Schlafzimmer sagte er: «Voilà.» «Ernesto!» rief Melanie. «Die hat ja ein Vermögen gekostet!» Sie griff nach der Kette und drehte sie in ihren Händen hin und her. Er sagte zufrieden: «Der Farbton passt zum Kleid.» Ihre Augen funkelten vor Freude. «Sie ist so schön! Schau, wie das Blau der Korallen schimmert!» Die Kette stellt das Tüpfelchen auf dem i dar an deiner heutigen Erscheinung, dachte Wicki. Ein Stück Natur. Alles andere ist künstlich. Doch dafür kannst du nichts. Du hast deinen Körper einer gierigen Industrie vermacht, und das blieb nicht ohne Folgen. Aber deine Seele ist noch rein. Melanie sagte fröhlich: «Ernesto, warum zeigst du so selten, dass du einen guten Geschmack hast?» «Weil der beim Verkehr mit Verbrechern und notorischen Lügnern nicht gefragt ist. Stell dir vor, ich käme im Massanzug zum Verhör mit einem Zuhälter. Der würde mich glatt für seinesgleichen halten.» «So hab ich es doch nicht gemeint!» lachte Melanie. Sie packte ihn vorsichtig an seiner Krawatte und zog ihn ganz nah an ihr Gesicht. Sanft küsste sie ihn auf die Augen und auf den Mund. «Wollen wir auf den Abend anstossen?» «Nur zu gern. Aber zuerst möchte ich duschen. Neben dir komme ich mir wie ein Ferkelchen vor.» «Lass das, bitte. Du kannst es später nachholen. Ich hab mich so gefreut auf diesen Moment.» Sie küsste ihn auf die Stirn und schleifte ihn an der Krawatte zum Bett. Auf einem Tischchen standen ein Eiskübel und zwei langstielige Gläser. Melanie näherte ihre Lippen seinem Ohr: «Ich habe die Pille abgesetzt.»
Wicki nahm sie um die Hüften und schaute ihr in die grünen Augen. Sie waren klar und hell. Er berührte ihre Wimpern mit den Lippen. Und spürte, wie der Geruch ihrer Haut ihn zu elektrisieren begann. «Bist du dir bewusst, was du tust?» Melanie strahlte. «Natürlich. Ich bin ja kein Teenager mehr, sondern eine Frau im gesetzten Alter von 29.» Er lockerte den Griff um ihre Hüften. «Du wirst deinen Berufaufgeben müssen. Und in deinem Business nach Jahren wieder einzusteigen, kann ich mir schlicht nicht vorstellen.» Melanie verschränkte die Arme hinter seinem Nacken. «Was für ein Unsinn, Häuptling! Deine Squaw will Mutter und Ehefrau werden, mit sieben Kindern, wenn möglich, und du sorgst dich um ihren Wiedereinstieg. Kaum zu glauben. Bitte mach die Flasche auf. Ich bin durstig!» Es war schön Melanie zuzuhören. Kinder zu haben schien irreal, weit weg, und war dennoch ein lang gehegter Wunsch von ihm. Nur das Tempo kam Wicki überstürzt vor. Was hatte sie wohl bewogen, auf die Pille ausgerechnet jetzt zu verzichten? Er füllte die Gläser. Sie prosteten einander zu. Melanie zog die Schuhe aus und setzte sich aufs Bett. Sie trank ihr Glas in einem Zug leer. Unwillkürlich musste Wicki lachen. Es sah so gar nicht nach feiner Dame aus. Eher nach Squaw. «Weshalb lachst du? Habe ich etwas Dümmliches, vielleicht gar Dämliches getan, grosser Geist?» Während er die Gläser füllte, legte sie Musik auf. Dann öffnete sie die Knöpfe des Kostüms und entkleidete sich. Übrig blieben ein paar schwarze Spitzen. Wicki kam sich albern vor in seinen Arbeitskleidern. Sie war so festlich eingestimmt, und er roch nach dem banalen Alltag. Am liebsten wäre er ins Badezimmer abgetaucht. Doch
Melanie packte ihn an einem Hosenbein und zerrte ihn aufs Bett. «Darf ich dich auskleiden?» «Mel, ich wollte doch zuerst…» «Häuptling, ich liebe deinen Duft. Er ist so… naturhaft. Du riechst nach Bäumen, nach Tannzapfen. Warst du im Wald?» Wicki staunte. Was für ein Geruchssinn. Sie kniete sich hin und löste geschickt die Krawattenschlaufe, knöpfte sein Hemd auf. Nach jedem geöffneten Knopf tupfte sie einen Kuss auf seinen Körper. Wicki schloss die Augen und genoss es. Er wusste, was jetzt kam. «Die Hosen, Manitu.» «Halt, das kitzelt.» Melanie lachte. Er öffnete die Augen. Ihre Pupillen waren ganz nah, gross und entrückt. Sie biss ihn zart in die Lippen. Gleichzeitig schob sie eine Hand in seine Boxershorts. Er liess es geschehen. Dann legte er sich hin und zog sie zu sich herunter. Ihren schwarzen Slip warf er in hohem Bogen ins Zimmer. Sie lachte. Er küsste lange ihre Brüste, ihren Bauchnabel, war mit der Zunge zwischen ihren Beinen. Sie wurde ganz wild, dann versanken sie im Rausch. Ihr Atem ging heiss und schnell, als sie sich auf ihn setzte. Er drang behutsam in sie ein. Die Lust verklärte ihr junges Gesicht, das blonde Haar hing ungebändigt in Strähnen herunter. Mehrmals peitschte es ihren Körper hoch, und sie schrie laut auf. Er schaute ihr dabei zu. Als er kam, schien ihm, als sei eine Ewigkeit vergangen, seit er Mel die Korallenkette umgelegt hatte, die jetzt ihr einziges Kleidungsstück war. Sie legte sich neben ihn und lauschte der Musik. Eine dunkle, männliche Stimme sang: Besame, besame mucho, como sifuera esta noche la ultima ves… Küss mich als wäre es heute Nacht
das letzte Mal, küss mich, ich habe Angst dich festzuhalten und danach zu verlieren. Melanie fragte: «Woran denkst du?» «Die Musik ist schön. Ich mochte dieses Lied schon immer.» Sie küssten sich lange. Dann sagte sie, den Kopf auf einem grossen Kissen: «Ich bin so glücklich und so müde. Vielleicht hat es ja beim ersten Mal geklappt. Oder findest du diesen Gedanken frivol?» Er schwieg. Erst in ein paar Wochen würde man es wissen. Manchmal konnte es Monate dauern, bis eine Frau schwanger wurde. Bei den Grütters hatte es jahrelang nicht funktioniert. Und dann war Dolores ganz überraschend schwanger geworden. «Reichst du mir mein Glas herüber?» Er stand auf, füllte es und brachte es ihr ans Bett. Melanie nahm einen Schluck und verkündete fröhlich: «Es tönt seltsam, wenn ich es sage, so profan. Ich verspüre Hunger. Dabei war es göttlich, einfach wunderbar. Ich war völlig weg, Häuptling. Dein Duft nach Tannzapfen hat mich narkotisiert.» «Jetzt übertreib nicht, Mel. Obwohl deine Wahrnehmung richtig wahr. Heut früh suchte ich im Tannenwald nach Spuren. Kann sein, dass da was an den Kleidern hängen blieb.» «Spuren? Erzähl!» «Es gibt nicht viel zu berichten. Ich habe noch mal den möglichen Rückzugsweg des Täters überprüft. Das Telefon mit dir brachte mich zufällig auf eine Spur. Ob sie uns weiterhilft, wird sich erst nächste Woche zeigen.» «Also nichts Heisses?» «Höchstens lauwarm. Aber wir müssen den geringsten Indizien nachgehen. Auch wenn sie uns vorerst in die Irre führen.»
20 Der Sprayer
Das Gebäude der Kantonspolizei in Liestal mit seiner Architektur aus Glas und Metall wirkte kalt und leer, als Wicki es um acht Uhr betrat. Samstag. Trüb. Ein Tag zum Vergessen. Auf dem Tisch in seinem Büro fand er das Verhörprotokoll, das er am Vortag Scheidegger überlassen hatte. Mit dem Vermerk ‹Gute Arbeit! Musste weg wegen der Postchecksache. Sehen wir uns morgen, bei mir zu Hause?› Die Einladung. Wicki hatte sie ganz vergessen. Er packte den Telefonhörer und holte Melanie aus dem Bett. Sie gab, halb im Schlaf, ihre Zustimmung. Bei Scheideggers Frau, MarieLouise, entschuldigte er sich für die späte Zusage. Doch sie schien hocherfreut. Wicki schlenderte durch die verwaisten Gänge zum Untersuchungsgefängnis. Noldi Dulliger sass auf der Bettkante und schlürfte Kaffee. Die Brötchen hatte er stehen gelassen. Er rauchte und versuchte, Wicki zu ignorieren. Der setzte sich auf einen freien Stuhl und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. «Im Hungerstreik?» «Geht Sie das was an?» «Wenn Sie sich kooperativ zeigen, Dulliger, kommen Sie auf Bewährung raus. Wenn nicht, wartet der Bunker.» «Sie können mich nicht festhalten. Dazu reicht die Sache im Steinbruch nicht aus. Und für die Mordnacht habe ich ein Alibi. Fragen Sie meinen Vater.» «Haben wir doch schon mal gehört. Bin gespannt, was Ihr Vater dazu meint, wenn er erfährt dass Sie an Ihrem Arbeitsplatz gestohlene Autos mit der Spraydose streicheln.»
Noldi wurde bleich. Er wandte sich ab, starrte zum Fenster hinaus und rauchte in kurzen, nervösen Zügen. Dann schrie er: «Ihr Scheisskerle! Ihr habt meine Kollegen dazu gebracht, mich zu verpetzen!» Es war noch Wut in seiner Stimme. Aber Wicki spürte, dass der Widerstand zu schwinden begann. «Dulliger, ich hab Sie gestern schon gewarnt. Wenn Sie sich nicht anständig benehmen, ist meine Geduld rasch zu Ende.» «Was wollen Sie von mir?» «Namen. Exakte Angaben zu den Autos und den Händlern. Wieviel Sie bis jetzt verdient haben und was Ihr Boss davon weiss. Und so weiter.» Noldi schien erleichtert, dass der Ermittler nicht mehr auf den Mord zu sprechen kam. Er erzählte, während Wicki Notizen machte. Angefangen hatte das Ganze vor zwei Jahren. Dulliger bekam von einem Kollegen einen Tipp, wie man sich ein ansehnliches Zubrot verdiente. Auf einem Parkplatz in Basel waren die Autos abzuholen. Dann musste man sie mit neuer Farbe streichen und in St. Gallen auf einem weiteren Parkplatz abstellen. Der Auftraggeber wünschte, dass die Arbeit in einer kleinen Bude gemacht werde. Nach Feierabend, damit es nicht auffalle. Die Bezahlung sei in bar erfolgt, mit einem Umschlag im Handschuhfach. «Wieviel?» «Das hängt vom Autotyp ab. Ein Mercedes bringt 1000 Euro, ein BMW etwas weniger. Ab und zu ein Rover oder ein Audi. Da sind dann 900 in der Tüte.» Ob Noldi bluffte? Die Summe schien Wicki zu hoch. Aber es handelte sich um teure Wagen. «Woher stammten die Autos?» Fast alle hätten deutsche Nummernschilder gehabt, verriet Dulliger. Ganz selten ein französisches. «Was meint Ihr Boss zu solcher Zusatzarbeit?»
Dem sei das wurscht, solange keine Spuren zurückblieben, meinte der Häftling mit einer wegwerfenden Bewegung. «Kein Versuch mich anzulügen, Dulliger! Sie sind gewarnt.» Noldi machte ein verkniffenes Gesicht. Er gestand, dass er dem Chef für die Benützung der Apparaturen zwischen 200 und 300 Franken bezahle. Bei zehn Wagen pro Jahr ein munteres Sümmchen in die Znünikasse des Chefs. Er grinste. Wicki rechnete nach. Dann sagte er: «Demnach blieben Ihnen etwa 9000 Euro pro Jahr. Also mehr als 14000 Franken. Haben Sie die Steuern dafür abgeliefert?» In Noldis Augen lag Häme. «Ich bin doch nicht blöd. Wer sägt schon den Ast ab, auf dem er sitzt.» «Sie werden eine Busse und Nachsteuern bezahlen müssen.» Wieder grinste Noldi: «Das muss ich aber dem Chef sagen.» Wicki hakte nach: «Nochmals zu den Autos. Wer fuhr sie nach St. Gallen?» Dulliger meinte nicht ohne Stolz, er habe das ganze Geschäft allein getätigt. Bloss, wenn er im Zug zurückgefahren sei, habe ihn gelegentlich ein Kollege am Bahnhof abgeholt. «Und die Auftraggeber? Namen, Nationalität und so weiter?» Noldi zögerte. Schliesslich behauptete er: «Keine Namen. Die Autos standen auf einem Parkplatz bereit, und ich musste sie auf einem anderen hinstellen. Der Schlüssel lag im Handschuhfach.» «Dulliger, die Story verfangt bei mir nicht. Wie hiess der Kontaktmann?» Noldi wand sich. Er blickte zum Fenster hinaus. «Ich erinnere mich nicht mehr…» «Denken Sie an meine Warnung!» «Ich glaube, der Mann hiess Petrovic oder so ähnlich.» «Sie haben ihn persönlich getroffen?»
«Beim ersten Mal übergab er mir die Schlüssel zu einem Mercedes 600. Er sagte, der Wagen sei vollgetankt. Ich solle ihn nur nachts bewegen.» «Dieser Petrovic vertraute Ihnen, einem Fremden, ein Auto an, das auf dem Markt 50 000 wert ist? Sie hätten damit glatt auf Nimmerwiedersehen abtauchen können.» Noldi lächelte. Nicht unsympathisch, fand Wicki. «Daran habe ich auch gedacht. Aber es war Ehrensache, sowas nicht zu tun.» «Ehrensache? In einem Geschäft mit gewerbsmässigen Betrügern? Die hätten Sie kalt gemacht, wenn sie von Ihnen über den Tisch gezogen worden wären.» «Möglich. Aber der Mann gab sich als Anhänger der Ustascha zu erkennen. Da war für mich die Sache geritzt.» «Wie bitte?» Jetzt war es an Wicki verblüfft zu sein. Noldi genoss es. «Petrovic sagte zu mir: ‹Du Freund von Nazi, ja? Ich gesehen auf Homepage. Ich auch Freund von Hitler. Mein Vater gewesen Ustascha im Zweiten Weltkrieg.› Er schenkte mir den kleinen Reichsadler, als ich die ersten Autos ablieferte.» «Und erst noch mit Monogramm. Eine rührende Geste. Wer waren denn die Ustascha?» Jetzt schlug Noldis grosse Stunde. Endlich konnte er den Überlegenen spielen. Während er sich eine frische Zigarette anzündete, holte er aus: «Die Ustascha gehörten zu den Kroaten im alten Jugoslawien. Sie bekämpften die Vorherrschaft der Serben seit eh und je. Im Zweiten Weltkrieg wurden sie dabei von der Wehrmacht unterstützt. Später mussten sie sich der Diktatur des Kommunisten Tito unterwerfen, und Tausende von ihnen wurden umgebracht.» «Der Deal mit den umgespritzten Kutschen war demnach ein Geschäft unter Gesinnungsfreunden. Tönt interessant, Dulliger. Haben Sie neben Autos auch anderes ausgetauscht? Zum
Beispiel Handfeuerwaffen als Bezahlung fürs Automalen? Ganz diskret – unter Nazifreunden?» Dulliger antwortete nichts. Sein überlegenes Grinsen verschwand. Er schien sich bewusst zu werden, weshalb er im Gefängnis sass. «Naja, egal. Darüber wird Sie der Untersuchungsrichter genauer befragen. Was ich noch wissen möchte: Sie haben doch regelmässig Grütters Cherokee überholt: Wo steht er?» «In unserer Garage.» «Wer hat den Schlüssel dazu?» «Der liegt im Schreibtisch des Chefs.» «Warum war der Geländewagen in der Brandnacht nicht vor dem Haus parkiert?» «Dölf wollte in die Ferien – ohne Cherokee, der bei uns in der Werkstatt blieb.» «Hatte Grütter keine Angst, der kostbare Schlitten könnte in seiner Abwesenheit eine andere Farbe bekommen?» Noldi lächelte. Fast ein wenig maliziös, fand Wicki.
21 Vater und Sohn
Der Professor war ein hagerer Mann Mitte sechzig, mit ergrauten Schläfen und dichtem, weissem Haar. Seine wachen blauen Augen musterten den Besucher aufmerksam, aber nicht unfreundlich. Er wies Wicki einen bequemen Ledersessel zu und nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Wicki reichte das Foto, das Dolores Grütter im Badekostüm zeigte, über die Tischplatte. «Sie erkennen diese Frau wieder, Herr Doktor?» Ivanovic betrachtete das Bild aufmerksam. «Es ist die Südamerikanerin, die vor acht Monaten eingestellt wurde.» Er fügte mit ernstem Blick hinzu: «Es tut mir leid wegen dem, was ihr zugestossen ist.» Dann gab er das Foto zurück. «Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass Frau Grütter nicht im Brand umgekommen ist. Sie wurde ermordet.» Der Professor runzelte die Stirn. Er schien bestürzt. «Da Frau Grütter in Ihrem Spital gearbeitet hat, gehe ich davon aus, dass wir auf Ihre Mithilfe bei der Aufklärung des Mordes zählen dürfen.» Der Professor fixierte Wicki. «Selbstverständlich, Herr Kommissar. Das heisst, soweit das unsere Kräfte und Möglichkeiten nicht übersteigt. Wir sind ein eingespielter Betrieb. Da erträgt es kaum Störungen von aussen. Das haben Sie ja gestern selber erlebt.» «Wir müssen Ihre Mitarbeiter befragen. Störungen sind da unumgänglich.»
«Solange der normale Ablauf deswegen nicht durcheinander gerät, ist das okay. Ich werde entsprechende Anweisungen geben, denn ich bin nächste Woche abwesend.» «Ich möchte Ihre Zeit nicht über Gebühr strapazieren. Aber ich habe da noch eine Frage, die keinen Aufschub verträgt.» «Bitte. Fragen Sie nur.» «Frau Grütter brachte aus der Dominikanischen Republik das Diplom einer Pflegefachfrau mit. Wurde sie als solche hier im Spital eingestellt?» Ivanovic sah Wicki mit leichter Irritation an. «Ich muss gestehen, dass ich die Antwort nicht weiss. Die Frage fällt in den Sachbereich von Oberarzt Brander, der die Anstellungen tätigt.» «Und Dr. Brander verfügt über die Kompetenz, in Ihrer Abwesenheit Auskünfte zu erteilen?» «Wenden Sie sich in allen Fragen an ihn. Er wird meine Instruktionen bekommen.» Der Professor erhob sich. Für ihn war das Gespräch beendet. «Ich danke Ihnen für Ihre Mühe, Herr Doktor», war alles, was Wicki erwidern konnte. Im ‹Löwen› in Blasingen steuerte Wicki auf einen Tisch abseits vom Getriebe zu und bestellte ein Bier. Der alte Dulliger schaute düster, als er den Kriminalbeamten entdeckte. Der Wirt stellte Kaffee und Wein auf den Tresen, schnitt Brot in Scheiben, zapfte Bier. Als die Bedienung das Bestellte brachte, fragte Wicki: «Haben Sie eine Menü-Karte?» «Selbstverständlich, Herr Kommissar.» Er entschied sich für Suppenfleisch mit Gemüse. Die Frau sagte: «Unsere Spezialität. Sie werden nicht enttäuscht sein.» Wicki blickte ihr in die Augen. «Sagen Sie Herrn Dulliger, dass ich ihn sprechen möchte.»
Als er gegessen hatte, erschien der Wirt an seinem Tisch. Er sah abgearbeitet und müde aus. Wicki erklärte ihm, dass er ihn um zwei Uhr im Büro der Gemeindeverwaltung erwarte. «Wieso dort? Können wir nicht hier…» Wicki schüttelte den Kopf. Er wollte die Vernehmung an einem neutralen Ort durchführen.
Dulliger traf verspätet ein, verschwitzt und mit rotem Kopf. Da das Gemeindehaus am Samstag geschlossen war, bat Wicki Frau Ruoss telefonisch um den Schlüssel. Sie brachte ihn kurz vor zwei Uhr vorbei. Wicki bedeutete dem Wirt Platz zu nehmen. Der Mann ist krank, dachte er, aber schonen kann ich ihn deswegen nicht. Dulliger sagte mürrisch: «Wieso halten Sie meinen Sohn fest?» «Die Fragen stelle ich hier, damit das klar ist.» Wicki setzte sich auf einen der Bürostühle. Nach einer Pause begann er: «Die Geschichte mit dem Polen gefällt mir gar nicht, Herr Dulliger.» «Ich verstehe nicht. Von welchem Polen reden Sie, Herr Kommissar?» «Von dem, der von Noldi verletzt wurde.» Dulliger schwieg. «Dass Sie die AHV für ihn nicht bezahlt haben, gehört nicht in mein Ressort. Aber Sie machen sich damit strafbar. Und es wirft ein schiefes Licht auf Ihre Tätigkeit als Geschäftsmann.» «Aber ich wollte doch – » «Ob Sie die übrigen Beiträge für die Sozialversicherungen beglichen haben, ist mir persönlich egal. Gravierend finde ich jedoch, dass der Pole, nachdem er von Noldi angeschossen worden war, nicht die notwendige ärztliche Behandlung erhielt. Und es dürfte Ihnen klar sein, dass die Verwundung
des Gastarbeiters durch einen Pistolenschuss der Polizei hätte gemeldet werden müssen. Wieso unterliessen Sie das?» «Ich – » Dulliger war perplex. Er blickte sich um, als könne er aus dem dunkleren Teil des Raums Hilfe erwarten. «Sie leugnen den Vorfall also nicht? Wäre auch nicht sehr klug. Ihr Sohn gibt zu, dass er auf den Polen geschossen hat, obwohl er es als Unfall darstellte. Wo steckt der Gastarbeiter jetzt?» Dulliger sagte mit belegter Stimme: «Der ist zurückgereist in seine Heimat.» «Gab es Komplikationen?» «Nein. Die Wunde ist verheilt.» «Wer war der behandelnde Arzt?» «Doktor Ivanovic.» Wicki glaubte nicht recht gehört zu haben: «Der?» «Ja. Ein Chirurg hat doch Erfahrung mit Gefässverletzungen.» «Wie kamen Sie dazu, ausgerechnet ihn um Hilfe zu bitten?» «Frau Grütter vermittelte den Kontakt.» «Aha.» So einfach ist das, dachte Wicki. Er blickte dem Wirt gerade in die Augen, als er fragte: «Wussten Sie, dass Ihr Sohn mit Waffen in der Landschaft rumballert?» «Das ganze Dorf weiss es. Leider.» «War Ihnen auch bekannt, dass er einer Neonazi-Gruppe angehört, die mit rechtsextremen Organisationen aus Deutschland Beziehungen pflegt?» Dulliger zuckte mit den Achseln. Seine Stimme hatte einen resignierten Klang: «Was kann ich als Vater dagegen tun? Der Junge ist volljährig.» Wicki insistierte in schärferem Ton: «Sie billigen es also, dass er mit Schusswaffen rumspielt, andere Menschen verletzt und Adolf Hitler verehrt?»
Der Wirt brauste auf. «Billigen? Mein Gott, nein. Ich habe ihm schon vor einem Jahr gesagt, er solle mit dem Blödsinn aufhören. Aber er lachte mich nur aus und sagte, mein politischer Horizont reiche nicht über ein Bierglas hinaus. Was wollte ich da erwidern? Ich hoffe, eines Tages wird er von selber gescheiter.» Wicki ärgerte sich über soviel Nachsicht. Er bemerkte in spitzem Tonfall: «Wissen Sie, dass Ihr Sohn gestohlene Autos umspritzt?» «Was sagen Sie da?» Die Überraschung des Vaters schien nicht gespielt. «Er verdient sich damit eine goldene Nase, wie er selber zugibt.» Dulliger schnaufte schwer. «Ist er deswegen festgenommen worden?» «Das werde ich Ihnen nicht verraten. Wir stehen in einem laufenden Verfahren.» Der Wirt sank in sich zusammen. «Herrgott, auch das noch! Als ob man sonst nicht genug Probleme hätte.» Er wischte sich den Schweiss von der Stirne. Wicki tat der übermüdete, allzu korpulente und kränkliche Vater auf einmal leid. Er sagte, und es kam weniger scharf heraus, als er es sich eigentlich vorgenommen hatte: «Herr Dulliger, ich habe die Angaben überprüft, die Sie zu Grütters finanzieller Situation gemacht haben. Keine davon entspricht der Realität. Was bewog Sie, uns ein derartiges Märchen aufzutischen, und das erst noch im Vorfeld der offiziellen Untersuchung?» «Ich… ich bekam es mit der Angst, die Sache könnte an Noldi hängen bleiben. Er war in letzter Zeit mit Adolf zerstritten, weil der ihm die Sache mit der Schussverletzung übelnahm. Noldi hielt Adolfs Pistole in der Hand, als der
Schuss auf den Polen losging, obwohl jener ihm den Gebrauch der Waffe verboten hatte.» «Wusste Grütter etwas von Noldis Geschäften mit den umgespritzten Autos?» Dulliger zögerte. Er schien nachzudenken. Dann sagte er: «Wenn ich es mir recht überlege, könnte er Bescheid gewusst haben. Aber er hätte Betrügereien dieser Art nie akzeptiert.» «Könnten die beiden sich deswegen in die Haare geraten sein?» Wieder zögerte der Wirt. Wicki verstand die Regung, und Dulliger wurde ihm allmählich sympathisch. Unter Umständen lieferte der Vater Verdachtsmomente gegen den eigenen Sohn, wenn er die Motive des Streits zwischen Noldi und Grütter offenlegte. Gerade das, was er mit der überstürzten Aktion gegenüber der Polizei vor ein paar Tagen hatte verhüten wollen. Dulliger erwiderte schliesslich mit merklich leiserer Stimme: «Noldi kam als Sturzgeburt auf die Welt und war lange schwächlich. Er wurde ein sehr behütetes Kind. Mag sein, dass meine Frau ihn deshalb zu wenig streng erzogen hat. Jedenfalls, vor der Mutter und vor Frauen hatte er nie Respekt. Weil Adolf seine Frau über ein Inserat suchte und kennen lernte, hielt Noldi sie für Freiwild. Er machte ihr den Hofplumpe Annäherungsversuche, die Adolf stark verärgerten. Die beiden prügelten sich deswegen sogar, und Noldi kriegte eins auf die Nase. Das kränkte ihn natürlich. Es mag seltsam klingen, aber ich dachte im ersten Moment, er sei umgebracht worden, als ich von dem entsetzlichen Verbrechen im Dorf hörte. Sobald ich vernahm, wer die Opfer waren, wurde mir bewusst, in welcher Gefahr Noldi schwebte.» Dulliger sah jetzt ganz geknickt aus. Wicki sagte in verändertem Tonfall: «Ihr Sohn hat behauptet, Sie könnten ihm ein Alibi für die Nacht verschaffen. Stimmt das?»
Dulliger verzog den Mund. «In seiner Phantasie vielleicht. Aber im Herumphantasieren war Noldi schon immer ein Hirsch. Könnte ich ihm ein Alibi garantieren, hätte ich mir kaum solche Mühe gemacht mit der Geschichte, die ich Ihnen erzählte.» Wicki erhob sich. Dulliger blieb sitzen und sah ihn von unten an: «Herr Kommissar, glauben Sie mir, mein Sohn ist kein Mörder. Schon gar nicht einer, der zwei Menschen umbringt und dann ein Feuer legt. Das weiss ein Vater ganz genau. Er weiss es hier drin.» Dulliger zeigte auf sein Herz. Eine rührende Geste, dachte Wicki. Aber wie viele Väter haben sich schon in ihren Söhnen getäuscht.
22 Blindekuh
Scheidegger hatte sich vor Jahren ein Haus mit einem grossen Garten in Ariesheim gekauft. Es war, neben seiner umfangreichen Bibliothek, sein ganzer Stolz. Melanie stand mit Wicki auf der Terrasse und genoss die Aussicht auf die Ruine Dorneck und die Weite der Birsebene, über der ein feiner Dunst lag. Mehrmals hatte das Wetter an diesem Samstag geändert. Typisch April eben. Jetzt, nach ein paar Stunden Sonnenschein, überzog sich der Himmel wieder. Marie-Louise brachte Selbstgebackenes heraus. Scheidegger öffnete eine Flasche und füllte vier Kristallgläser. Dann nahm er galant Melanies Arm: «Also, ich bin der Hans. Prost.» «Und ich die Melanie.» Sie lachte und prostete ihm zu. Wicki stiess mit Marie-Louise an. «Eine paradiesische Sicht», sagte Melanie bewundernd zur Gastgeberin. Die beiden standen am Eingang zum Garten, der mit blühenden Azaleen und Rhododendren umfriedet war. Scheidegger nahm Wicki beiseite. «Was Neues?» Wicki erzählte ihm sein letztes Gespräch mit Noldi Dulliger. Scheidegger nahm einen Schluck Wein und fragte: «Gibt das was her für uns?» «Noldi machte den Service an Grütters Cherokee», gab Wicki zur Antwort. «Wir müssen das unbedingt überprüfen.» Er hatte sein Glas schon leer getrunken und stellte es auf den Tisch. Scheidegger ergriff die Flasche und wollte nachschenken. Wicki schüttelte den Kopf. Er verspürte Lust auf eine Zigarette. Scheidegger sagte: «So leid es mir tut, Ernst, aber ich muss dich allein lassen mit der Sache. Die Postchecks halten mich mehr auf Trab, als ich möchte.»
«Mein lieber Hans», rief jetzt Marie-Louise. «Darf ich euch an den Tisch bitten? Es ist alles bereit.» «Das gefällt mir sehr», sagte Wicki sarkastisch, «weil unsere Effizienz damit noch grösser wird. Aber ich kann dich ja nicht zwingen, mich zu unterstützen. Gehen wir zu den Frauen rüber.» Scheidegger schenkte Rotwein ein, als sie an einem grossen Tisch aus Palisander Platz genommen hatten. Über ein Dutzend Schälchen, Schüsseln und flache Gefässe standen da. Indische Küche, mit wunderbaren Farben und Düften. «Marie-Louise hat ein Jahr in Kerala gelebt. Die Gewürze sind so stark, dass man sie entweder liebt oder verabscheut.» «Du übertreibst», sagte Marie-Louise, «es hängt von der Dosierung ab.» Sie hatte die Speisen auf einer grossen, drehbaren Platte angerichtet. «Zuerst müsst ihr Raita versuchen: Gurkensalat an Yoghurt, mit Rosinen, fein geschnittenem Gemüse und Koriander. Dazu gibt’s scharfes und mildes Lamm-Curry und Chicken Tandoori. Ferner Linsen mit Ingwer und ein LauchTomatengemüse mit Knoblauch. Zu allem isst man Nan, das flache Brot, oder Trockenreis. Guten Appetit.» Eine Zeitlang waren alle mit Probieren und Geniessen beschäftigt, sogen die Gerüche ein, liessen die intensiven Farben auf sich wirken, schmeckten die fremden Gewürze auf der Zunge. Dann sagte Marie-Louise: «Wo steht ihr denn mit eurer Untersuchung?» Wicki wechselte einen Blick mit Scheidegger. Er war überrascht, dass dessen Gattin das Thema zur Sprache brachte. Scheidegger sagte: «Der Fall ist vielschichtiger, als wir angenommen haben. Der Bauer brachte seine Frau nicht um, wie wir glaubten, denn er lebte zur Tatzeit selbst nicht mehr.» Marie-Louise hielt mit dem Essen inne. «So tötete ein Dritter die beiden?»
«Ja.» «Aber warum die Frau? Und warum auf so entsetzliche Weise? Ich habe noch nie von einem derart brutalen Verbrechen gehört. Es wirkt auf mich wie ein Fememord, eine Vendetta.» «Was meinst du dazu, Ernst?» fragte Scheidegger, bevor er ein Stück Lammcurry auf die Gabel spiesste. «Gibt es ein mögliches Motiv, über das wir noch nicht gesprochen haben?» Wicki zündete sich eine Zigarette an. Er fühlte, dass er unfähig war, die Spannung, die in ihm hochkroch, anders als über Nikotinzufuhr zu lösen. Er fürchtete Melanies Blick und vermied es, sie anzusehen, bevor er antwortete: «Die Sache ist wie verhext. Wir sind an einem toten Punkt angelangt. Der Brand wurde vermutlich gelegt, um die anderen Verbrechen zu vertuschen. Aber mehr wissen wir nicht. Ein paar Hinweise, einige Verdachtsmomente, jedoch kein Motiv.» «Hatte der Bauer Feinde?» wollte Marie-Louise wissen. «Grütter baute Hanf an, was weissgott nicht üblich ist in dieser Gegend.» Wicki zerdrückte die Zigarette in seinem Teller. «Da er damit geschäftlichen Erfolg hatte, gab es Neider, wie überall. Er verprügelte ein paar Jugendliche aus dem Dorf – wegen einem Dummejungenstreich, den sie ihm spielten. Aber all das reicht nicht aus als Erklärung für eine derart brutale Abrechnung – sofern es überhaupt eine war.» «Und die Burschen, die ihr festgenommen habt?» «Es gibt ein paar Querverbindungen zum Getöteten, der offenbar eine Zeitlang den Boss der Gruppe spielte. Eine Pistole, mit der sie in dem Steinbruch rumgeballert haben, gehört zum selben Typ wie die Tatwaffe. Sie befand sich im Besitz von Adolf Grütter, der sie auch registrieren liess. Allerdings lag sie bei ihm zu Hause im Schrank, als er ermordet wurde.» Wicki suchte Melanies Blick, doch sie schien mit ihren Gedanken woanders.
Marie-Louise liess nicht locker: «Sind diese Burschen wirklich Neonazis? Ralf, der einiges von eurer nächtlichen Razzia mitbekommen hat, bedrängt mich seither, weil Hans sich ihm gegenüber ausschweigt. Dabei habe er, so behauptet Ralf, dem Vater den entscheidenden Tipp gegeben.» Scheidegger meinte: «Im Haus des Henkers redet man nicht über Gehenkte. Das müsste Ralf wissen. Ich kann doch Details aus unseren Untersuchungen nicht an meinen minderjährigen Sohn ausplaudern. Dass wir hier unter Erwachsenen reden, ist was anderes. Was meinst du zur Frage von Marie-Louise, Ernst?» «Ich habe mit den Burschen geredet. Ihre Homepage und die heimlichen Treffen im Steinbruch, bei denen geschossen wird, sind Teil jenes Imponiergehabes, das Rechtsextreme in der Gruppe an den Tag legen, um akzeptiert zu werden. Vergessen wir nicht, dass es junge Leute sind, die auffallen und provozieren möchten, ganz ähnlich wie die Hooligans des FC Basel…» «In Liestal haben sie in einem Supermarkt wildfremde Menschen zusammengeschlagen», gab Marie-Louise zu bedenken. «Ich wage nicht daran zu denken, was passieren könnte, wenn Schusswaffen in die Hände solcher Typen gelangen.» «Das waren andere Leute, die mit unserem Fall nichts zu tun haben», entgegnete Wicki. «Ich will das Ganze nicht herunterspielen, aber man muss bedenken, dass die rechtsextreme Szene in letzter Zeit eine Beachtung in den Medien bekam, die sie nicht verdient.» Marie-Louise sagte: «Und weshalb nicht?» Scheidegger füllte die Rotweingläser nach und schwieg, als fühlte er sich von der Frage seiner Frau nicht angesprochen. Wicki fuhr fort: «Selbst wenn diese Burschen aus Blasingen Kontakte zu Neonazis in Deutschland und anderswo
unterhalten, sollte man nicht das Augenmass verlieren. Ich sehe den Reichstag nicht brennen, weil ein paar Wichtigtuer Schiessübungen in einem Steinbruch abhalten. Politische Ziele? Woher sollten sie die haben? Nirgendwo finden sich in den Familien dieser jungen Männer Erniedrigung, Ausgrenzung, soziale Not. Der Sohn des Wirts mag ein Filou sein, aber das ist eine andere Geschichte. Er benötigt den Konflikt mit dem Gesetz offenbar als Stimulans für ein Leben, das ihm sonst zu langweilig wäre. Natürlich werden wir ihn noch genauer unter die Lupe nehmen, aber ich glaube nicht, dass er als Täter in Frage kommt. Dazu ist er einfach zu wenig clever.» Eine Weile herrschte Schweigen. Alle waren mit dem Essen beschäftigt. Bis Marie-Louise sagte: «Das ganze Verbrechen erscheint im Grund widersinnig, geradezu grotesk. Aber irgendein Motiv dafür muss es doch geben, oder nicht?» «Leider stimmt das», räumte Wicki ein. «Und seine Absurdität hilft nicht weiter. Im Gegenteil. Sie blockiert.» «Weil ihr das Absurde nicht in eure Überlegungen mit einbezieht.» Alle blickten überrascht zu Melanie, die bisher still geblieben war, als ob das Gespräch sie überhaupt nichts anginge. Wicki zeigte sich am meisten verblüfft, denn er hatte einen Verweis wegen des neuerlichen Zigarettenkonsums befürchtet. Er meinte: «Liebe Mel, das hast du mir schon mal auseinandergesetzt. Aber ich kann nichts damit anfangen, weil mir die Angaben zu einem Täterprofil fehlen. Ich tappe, wie man so schön sagt, im Dunkeln.» «Dann hör auf, Blindekuh zu spielen.» Wicki sagte, leicht unwirsch: «Damit kann ich noch weniger anfangen.» «Halt», warf Scheidegger ein. «Erzähl weiter, Melanie.»
Dieser war Wickis veränderter Tonfall nicht entgangen. Einen Moment war sie irritiert wegen seiner Reaktion. Zwei Tage zuvor schien er noch begeistert von ihrer Idee. Warum jetzt diese Kehrtwendung? Sie suchte Wickis Blick und sagte: «Es fällt auf, dass sich eure Recherchen fast nur auf die Männerwelt konzentrieren. Frauen schieden bisher aus eurem Kalkül aus, ganz so, als ob es sie in diesem Fall gar nicht gäbe. Hast du versucht, Details über das Vorleben der toten Gattin zu erfahren?» «Ich sollte wohl nach Santo Domingo fliegen, um zu erkunden, aus was für einer Familie sie stammt?» «Warum nicht? Wenn es weiterhilft, wäre es sinnvoll. Und – » «Da muss mein Chef aber den grossen Check zücken», wurde sie von Wicki unterbrochen, «damit ich für Recherchen in die Karibik jetten kann! Ich fürchte, dass er das nicht tun wird, mit dem vom Landrat verordneten Ausgabenstopp im Genick.» «Lass das mal, Ernst», sagte Scheidegger. «Ich möchte Melanies Ideen zu Ende hören.» Melanie lächelte. Sollte sie dem Chef dankbar dafür sein, dass sie jetzt womöglich ihren Liebsten verärgerte? Sie beschloss, es darauf ankommen zu lassen. «Also: Was hast du über die Lebensgewohnheiten von Dolores Grütter erfahren, Ernesto? Gehörte der Hund ihr, der im Brand umkam? Hatte sie eine Katze? Kanarienvögel? Papageien?» Wicki schwieg. «Spielte sie Karten? Oder Schach? Liebte sie eine bestimmte TV-Serie? Trank sie Rum oder Wodka? War sie eitel oder schüchtern? Provozierte sie die Männer mit ihrem Outfit?» Melanie warf ihrem Geliebten einen beredten Blick zu. Wicki lachte. Er hatte verstanden.
«Welches war ihre Lieblingsfarbe? Was ass sie am liebsten? Konnte sie Auto fahren? Hatte sie Besuch von ihrer Insel? Fühlte sie sich wohl in der Schweiz? Oder wollte sie weg? Wie hat sie ihren Mann kennen gelernt? Warum kam sie überhaupt hierher?» Wicki sagte: «Okay, Melanie. Ich glaube, das genügt – » «Weshalb arbeitete sie in diesem Spital? War sie zufrieden mit dem Job? Wie kam sie mit dem Deutschen zurecht? Was verdiente sie? Wurde sie von ihrem Mann im Wagen ins Spital gefahren? Wenn nicht, wie kam sie von Blasingen jeden Tag nach Allschwil – » «Einverstanden, Mel», unterbrach sie Wicki. «Ich gebe zu, dass wir einiges versäumten. Aber erklärst du mir bitte den Zusammenhang von all dem mit der Verstümmelung der Frau?» «Der Täter hatte vielleicht mehr mit dem weiblichen als mit dem männlichen Opfer zu tun. Möglicherweise steckte er in einer Affäre mit der Frau, die er vertuschen wollte. Das ist es, was ich meine. Wenn sie das Ziel der tödlichen Aggression war und nicht ihr Mann, dann bekommt das Absurde einen Sinn. Die Verstümmelung könnte dann auf das Tatmotiv verweisen.» «Bravo! Glänzend!» rief Scheidegger. Zu seiner Frau gewandt, sagte er: «Hätte diese Argumentation nicht zu einer Juristin gepasst?» «Natürlich. Ab und zu müssen wir Frauen den Männern zeigen, wo’s lang geht, nicht wahr?» Marie-Louise legte den Arm um Melanies Schulter, und beide lachten. Nach dem Essen nahm Melanie Wickis Hand und streichelte sie sanft: «Sorry, Häuptling. Ich dachte, ich könnte dir helfen.» Wicki blickte in ihre meergrünen Augen und sagte: «Das hast du ganz ohne Zweifel getan. Jetzt bist du mittendrin in der Sache. Und ich lasse dich nicht mehr raus, Mel.»
23 Schmieröl
Sonntagmorgen, halb zehn. Wicki wollte gerade eine Dusche nehmen, als das Telefon klingelte. «Polizei Vollidioten! Alle verhaften!» «Beruhige dich, Al Capone. Dein Befehl wird ausgeführt. Und wenn es heute nicht gelingt, dann morgen. Okay?» «Polizei Vollidioten!» Es war Scheidegger. «Sorry, Ernst. Kriegte eben einen Anruf vom KTD. Die haben bis spät in den Morgen gearbeitet. Zwei überraschende Resultate, die ich dir unbedingt mitteilen wollte. Erstens: Das Baby in der toten Frau war nicht von Grütter. Eindeutiger DNA-Befund. Zweitens: Bei der chemischen Verbindung auf dem Taschentuch, das du gefunden hast, handelt es sich um ein hochprozentiges Wundbenzin, das nur in Apotheken zu erhältlich ist. Der KTD prüft gerade, ob die Substanz mit dem Lösungsmittel identisch ist, das beim Brand verwendet wurde.» «Polizei Vollidioten! Alle verhaften!» «Wie bitte? Was sagst du?» Wicki lachte, obwohl eigentlich nicht der Augenblick dazu war. «Al Capone hat seinen Kommentar abgegeben. Nimm’s nicht tragisch. Er hat einen etwas beschränkten Horizont.» «Du meinst deinen Papagei, der stets die Polizei verhöhnt? Kannst du ihm nicht Manieren beibringen?» «Zu spät, Hans. Er zählt 27 Lenze, ein Greis in ornithologischen Zeitbegriffen. Aber zum anderen: Wie steht’s mit den Reifenspuren im Wald? Ist da schon was rausgekommen?»
«Knobloch legt sich für ein paar Stunden schlafen. Dann macht er weiter.» «Danke für die News, Hans.» Wicki wollte das Gespräch beenden. Es war Sonntagmorgen und er verspürte Lust auf ein gemütliches Frühstück mit Melanie. Aber Scheidegger schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. «Wenn Grütter nicht der Vater des Kindes war, kommt er als Mörder der Frau nicht doch in Frage?» «Aus Eifersucht? Ich dachte, dagegen spreche die Lage der Einschusslöcher in seinem Körper. Und wozu hätte er sein eigenes Haus angezündet? Um die Spuren zu verwischen? Nein, er war nicht der Täter, Hans.» «Warten wir den Bericht ab. Dann werden wir’s sehen.» «Nochmals ein grosses Dankeschön an deine Frau für das wunderbare Essen!» «Werd ich ausrichten. Übrigens, du hast gestern Abend deine Zigaretten hier liegen lassen. Ich bringe sie morgen mit.» Melanie rief mit verschlafener Stimme: «Wer war das? Die Polizei?» «Schlaf weiter, Melanie. Es war Scheidegger, der mir mitteilte, dass ich die Zigaretten bei ihm liegen liess. Er hat meine Schweissausbrüche erlebt, wenn ich sie nicht bei mir habe.» «Sag ihm, er solle sie zum Müll werfen.» «Er wird mir nicht glauben, weil er weiss, wie ich leide.» «Schwindler.» Sie warf mit einem Kissen nach ihm. Er duckte sich und schmiss es zurück. Dann rannte er lachend aus dem Zimmer. Beim Frühstück sagte er: «Ich muss noch eine Ausfahrt machen. Bin nicht lange weg.» Melanie strich sich ein Brot mit Orangenmarmelade. Sie schaute Wicki mit zusammengekniffenen Augen an: «Da
steckt bestimmt dieser Hans dahinter. Kann er dich nicht wenigstens am Sonntag in Ruhe lassen?» «Du tust ihm Unrecht. Er hat mir keinen Auftrag erteilt.» «Warum musst du denn ausgerechnet am Sonntag arbeiten, dem einzigen gemeinsamen Tag, den wir haben?» «Ich bin in zwei Stunden wieder da, Mel. Das wirst du doch aushalten. Dann ist der ganze Sonntag für dich reserviert. Grosses heiliges Ehrenwort.» «Ich weiss nicht, Häuptling. Du liebst die Arbeit, und manchmal denke ich, du liebst sie mehr als mich.» Sie biss ins Marmeladebrot. «Das stimmt nicht. Mein Problem ist nur die unregelmässige Arbeitszeit.» Melanie nahm einen Schluck Kaffee. «Um was geht’s denn?» «Um eine Recherche in Blasingen. Ich möchte mir die Garage ansehen, in welcher der Wagen von Grütter überholt wurde. Und mir den Inhaber vorknöpfen.» «Am Sonntag?» «Das geht am besten, wenn sonst niemand in der Garage ist.» «Darf ich mitkommen?» Wicki blickte Melanie verblüfft an. Aber in ihren Augen war kein Schalk. «Es ist unüblich. Wenn du draussen im Wagen wartest, meinetwegen.» «Nein. Ich möchte mit reinkommen. Ich will beim Verhör, oder was immer du mit dem Garagisten anstellst, dabei sein.» «Das geht nicht. Du bist keine Polizeibeamtin.» «Wer hat gestern gesagt: ‹Jetzt bist du mittendrin. Und ich lasse dich nicht mehr raus›?» «Ich dachte dabei an deine Kreativität, Mel, an… deine Intelligenz – als Hilfe, als Inspiration im Hintergrund.» «Mach mich zur Assistentin. Da ist meine Intelligenz an deiner Seite, Häuptling. Vier Augen sehen mehr als zwei.»
«Das schon, aber…» «Lass mich das Protokoll schreiben. Ich stelle keine Fragen, sondern sitze still in einer Ecke und notiere, was du aus dem Opfer rausquetschst.» Wicki musste lachen. «Mel, es ist illegal, was wir tun. Aber nützlich könnte es sein.»
Walter Margreiter öffnete die kleine Tür, als geklopft wurde. Wicki schlüpfte hindurch und zog Melanie mit sich. «Guten Tag. Ich habe angerufen. Wicki, Kriminalpolizei Liestal. Dies hier ist meine Assistentin, Frau Lengenhagen. Tut mir leid, dass ich Sie am Sonntag störe, aber wir können darauf leider keine Rücksicht nehmen.» «Morgen. Kommen Sie herein.» Margreiter schenkte Melanie keinen Blick. Er war von der Natur nicht verwöhnt worden. Kleine, stechende Augen unter schwarzen Brauen. Tiefe Falten in den Wangen, eine scharf geschnittene Hakennase. Der schmale Mund entblösste gelbe Zähne, von denen zwei fehlten. Sein dunkles Haupthaar war lang und fettig. Er trug ein schwarzes Hemd und schwarze Hosen mit Bügelfalten, was seiner hageren Figur eine gewisse Eleganz verlieh. «Der Cherokee steht hinten. Ich hole die Schlüssel.» Wicki und Melanie betraten den dunklen Teil der Garage. Neonlicht flammte auf. Vor ihnen stand der bullige Wagen. Mit weissen Felgen und blank poliert. «Was für ein Bolide!» staunte Melanie. «Männer mit Potenzproblemen pflegen sich grosse Autos und grosse Hunde anzuschaffen.» Margreiter brachte die Schlüssel. Wicki entsperrte den Cherokee. Der Garagist nahm noch immer keine Notiz von Melanie.
«Ich werde den Wagen kurz durchsuchen. Meine Assistentin fährt ihn anschliessend nach Liestal zur genaueren Kontrolle. Bleiben Sie in der Nähe. Ich habe ein paar Fragen an Sie.» «Bin im Büro, wenn Sie mich brauchen.» Wicki setzte sich ans Steuer und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Melanie nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Wicki notierte sich den Stand des Kilometerzählers und überprüfte Benzinuhr sowie Ölstandsmesser. Die Rücksitze ebenso wie der Laderaum waren leer. Melanie sagte: «Suchen wir eigentlich was Bestimmtes?» «Nein. Mach bitte mal das Handschuhfach auf.» Darin fanden sie eine Strassenkarte und ein paar Formulare: Abgasdokumente, Bescheinigung für den 25 000 km-Service, ausgeführt durch die Garage W. Margreiter und unterzeichnet von N. Dulliger. Fahrzeugausweis. Internationales Unfallprotokoll. «Sonst noch was drin?» Melanie zog eine Hundeleine, eine Taschenlampe und ein Stück Zeitung aus dem Handschuhfach. Sie fragte: «Und was machen wir damit, Chef?» «Mitnehmen.» Melanie blickte sich um. Rasch legte sie den Arm um Wickis Hals und küsste ihn. Dann sagte sie laut: «Wie lange dauert die Sucherei hier noch?» «Fahren Sie den Wagen vors Tor, Frau Lengenhagen.» Melanie stieg aus, ging um den Cherokee herum und kletterte auf den Fahrersitz. Der Motor startete mit einem Donnergrollen. Flink legte sie den Rückwärtsgang ein und wendete. Dann schaltete sie auf Leerlauf, zog die Handbremse und wartete. Wicki stand vor dem Büro Margreiters. Der Garagist kam heraus, ein Stück Papier in der Hand, das er Wicki übergab. Dann betätigte er den Knopf des Toröffners. Langsam wurden
die beiden Torflügel zur Seite geschoben. Draussen war es hell und sonnig. Melanie fuhr langsam hinaus. Auf dem Vorplatz stellte sie den Wagen ab und stieg aus. Als sie durchs offene Garagentor wieder hereinkam, sagte Margreiter: «Hätte nicht gedacht, dass ein Weibsbild ‘nen Cherokee aus der Garage fahren kann. Es ist die Servolenkung. Ohne die wären Frauen am Arsch.» Melanie überhörte die Grobheit und wandte sich zu Wicki: «Soll ich den Wagen jetzt nach Liestal fahren?» «Ich brauche Sie fürs Protokoll. Das Auto kann warten.» «Okay, Chef.» Sie nahmen in dem engen Büro Platz. Margreiter blickte misstrauisch, als Melanie Kugelschreiber und Notizblock zückte. Wicki fragte: «War Adolf Grütter ein regelmässiger Kunde?» «Er liess den ganzen Service bei uns machen.» «Hatte er Schulden bei Ihnen?» «Alle Rechnungen bezahlt. Pünktlich zum Monatsende.» «Durfte seine Frau den Cherokee fahren?» Margreiters Augen funkelten. «Das war völlig unmöglich. Der Grütter Adolf hätte sie nie ans Steuer gelassen. Er fürchtete viel zu sehr, sie könnte das Auto beschädigen.» Wicki und Melanie tauschten einen Blick. «Chauffierte er seine Frau zur Arbeit nach Allschwil?» «Nein. Er hatte stets etwas dagegen, dass sie im Spital arbeitete.» «Wieso dagegen?» Margreiters Augen verengten sich. «Sie ging mit jedem ins Bett.» Wicki war verblüfft ob der Direktheit, mit welcher der Garagist diese Verleumdung in die Welt setzte. «Woher wissen Sie das so genau?» «Von Noldi Dulliger. Er erzählt, sie habe mit ihm gevögelt.»
Wicki blickte scharf in Margreiters Augen. Das Ganze klang völlig unwahrscheinlich. «Ausgerechnet Dulliger. Den müssten Sie doch kennen. Hat er Ihnen erzählt, dass er sich in seiner Freizeit als Neonazi verkleidete?» Margreiter blickte Wicki unbeeindruckt an. «Wie braun der Kaffeesatz ist, den jemand in der Tasse hat, lässt mich kalt, solange er solide Arbeit leistet.» «Auch wenn er nachts gestohlene Wagen umspritzt?» Margreiter schwieg. «Sie haben natürlich gewusst, dass die Autos gestohlen sind.» «N-nein…» «Noldi hat Sie als Mitwisser angegeben, Herr Margreiter. Ich erinnere Sie daran, dass wir in einem Fall ermitteln, bei dem zwei Menschen ums Leben kamen. Wenn Sie sich weigern, die Wahrheit zu sagen…» Der Garagist blickte irritiert zu Wicki, dann zu Melanie, die mit flinker Hand notierte, was gesagt wurde. Schliesslich brachte er langsam hervor: «Die ganze Sache fing an, als ich vor zwei Jahren vier Wochen mit einem Darmverschluss im Spital lag. Noldi nützte die Situation aus. Er brachte die Autos her und spritzte sie um. Immer nachts, wenn niemand in der Garage war.» «Warum haben Sie es ihm nicht verboten?» Margreiter schwieg erneut. «Weil Noldi Sie schmierte, nicht wahr. Wieviel?» Margreiter schien zu zögern. Wicki sagte: «Halten Sie’s mit der Wahrheit. Alles andere kommt Sie teuer zu stehen.» Margreiter machte ein missmutiges Gesicht. «Ich erhielt fünfhundert pro Wagen. Und hundert für die Infrastruktur.» «Da hat der gute Noldi aber arg untertrieben. Verriet er Ihnen auch, wieviel er für den einzelnen Auftrag bekam?» «Nein.»
«Wieso drückten Sie beide Augen zu und liessen der Sache den Lauf? Auf die Gesamteinnahmen Ihrer Garage gerechnet, machte das bisschen Schmieröl nicht viel aus.» «Ich hatte Schulden», sagte Margreiter zögernd. «Das Spital kostete viel Geld, weil ich unterversichert war. Die Umspritzerei kam da gelegen.» Wicki nickte Melanie zu. Er erhob sich. «Das war’s vorläufig. Wir kommen auf Sie zurück, Margreiter.» Der Garagenbesitzer schwieg. Er vermied Wickis Blick. «Sie wissen, dass wir Ihren Mechaniker verhaftet haben?» «Er kam freitags nicht zur Arbeit. Das ist alles, was ich mitbekam.» «Dulliger steht unter Mordverdacht.» In Margreiters Augen war das helle Entsetzen.
24 Das Versprechen
Melanie war Wicki bis vor Grütters Haus gefolgt, wo beide nebeneinander parkierten. Er stieg aus und ging zum Cherokee hinüber. Sie betätigte den Fensteröffner. «Bleib mal einen Moment sitzen, Mel. Da ist etwas nicht, wie es sein sollte.» Wicki zückte das Handy und telefonierte. «Grossartig. Die haben den Polizisten, der hier seit einer Woche aufpasst, abgezogen. Vermutlich wieder eine dieser unumgänglichen Sparmassnahmen. Der Schlüssel zum Haus befindet sich auf der Gemeindeverwaltung.» «Und wie kommen wir dazu?» «Durch Frau Ruoss, die Gemeindesekretärin. Hoffentlich ist sie nicht auf dem Sonntagsspaziergang.» Er stieg in den Opel und fuhr davon. Melanie hatte Zeit, sich umzusehen. Eine fast unwirkliche sonntägliche Ruhe lag auf der Brandstätte. Die ausgebrannte Scheune mit den verkohlten Balken und den Aschehaufen hatte etwas Unheimliches, trotz des Sonnenlichts, das auf sie fiel. Drei Raben hüpften im Gemäuer herum, als suchten sie nach Essbarem. Grauenhaft, dachte Melanie. Zu wissen, dass hier zwei Menschen umgebracht wurden. Sie fröstelte und wandte sich ab. Als sie in den Cherokee steigen wollte, um sich vor dem aufkommenden Wind zu schützen, bog Wicki von der Strasse in den Zufahrtsweg ein. Er rief: «Hast du dich umgesehen?» «Ein deprimierender Ort.» Sie betraten das Haus. Melanie blickte sich zögernd um – in der Küche, im Wohnzimmer, im Schlafraum mit dem Bett und
der Kommode, auf der die Töpfe und Tuben in einer Ordnung lagen, als seien sie von Dolores eben erst gebraucht worden. Melanie sagte: «Diese Wohnung macht mir Gänsehaut. Es ist, als ob man kein Recht hätte hier einzudringen, weil die Toten das Intimste, was ihnen gehörte, nicht auf natürliche Art verlassen haben. Als ob sie jeden Augenblick zurückkommen könnten.» Einen Augenblick schwiegen sie. Dann bemerkte Melanie: «Da ist etwas vergessen worden.» Es war ein bunt gemusterter Babypyjama, versehen mit Reissverschluss und winzigen Pantöffelchen. Sie öffnete eine Schublade an der Kommode. «Hier hat’s noch mehr davon.» Wicki schwieg. Auf einmal sagte Melanie mit erstickter Stimme: «War Dolores schwanger? Keine Frau kauft Babypyjamas auf Vorrat!» Wicki war betroffen. Er hatte es verschweigen wollen. «Sag mir die Wahrheit, Ernesto.» «Ja. Dolores erwartete ein Kind.» «Dann hat der Mörder drei Menschen umgebracht.» Melanie begann zu schluchzen. Wicki nahm sie in die Arme und war froh, dass er ihr den anderen, vielleicht noch brutaleren Teil der Wahrheit nicht verraten musste. Melanie sagte leise: «Der Ort beengt mich. Ich möchte weg.» «Okay. Warte im Cherokee auf mich. Muss im PC noch was nachschauen.» «Glaubst du, dass es im Auto weniger beängstigend ist?» «Es dauert fünf, vielleicht zehn Minuten.» «Ich bleibe.» Wicki schaltete im Nebenzimmer Grütters PC ein. Als er die persönlichen Dateien des Ermordeten gefunden hatte, sagte er zu Melanie, die ihm über die Schulter blickte: «Du sagtest gestern, ich solle aufhören Blindekuh zu spielen. Und versuchen, in der Verstümmelung der Frau nach dem Motiv zu
suchen. Wenn das stimmt, könnte die Bedeutung im Beil stecken, im Werkzeug selber. Vielleicht gibt es einen Hinweis auf eine Axt, die im Leben von Dolores irgendeine Rolle spielte. Ich hatte mal mit einer Italienerin zu tun, die als kleines Mädchen mitbekam, wie ihre Mutter jede Woche einem Huhn den Kopf abhackte. Seit damals hatte sie eine panische Angst vor Äxten.» «Ernesto, ich glaube, du bist auf dem richtigen Weg!» «Vielleicht finden wir nichts. Und der Einfall war ein Reinfall.» Wicki klickte sich durch diverse Dateien, ohne etwas Auffälliges zu finden. In einem Ordner waren Briefe, allerdings auf Spanisch. «Bedaure, dass mein Espanol auf der prähistorischen Stufe stehen blieb. Vermutlich enthalten sie Details über Dolores’ Leben. Wir müssen sie übersetzen lassen. Das wird einige Zeit dauern.» Er öffnete eine Datei mit der Legende ‹Presse›. Eine Reihe von Namen und Begriffen, die auf Zeitungsartikel verwiesen. Wicki klickte einen an: ‹Europarat kämpft gegen illegalen Organhandel›. Er öffnete den nächsten, der aus einer südamerikanischen Zeitung stammte. Der dritte war mit ‹Not drängt zum Verkauf der Niere› betitelt. Ein weiterer mit ‹Herz zu verschenken›. Ausserdem zwei Artikel in einer slawischen Sprache, die Wicki nicht identifizieren konnte. «Offenbar eine Dokumentation zu Organtransplantationen. Wahrscheinlich hat sich Dolores aus beruflichen Gründen dafür interessiert.» Melanie dachte nach. Dann sagte sie: «Moment mal. Da war doch ein Artikel im Handschuhfach. Natürlich!» Sie rannte die Treppe hinunter, bevor Wicki etwas erwidern konnte. Atemlos kam sie zurück. «Hier, sieh dir das an.
Dasselbe Thema: ‹Zu wenig Organspender in der Schweiz›. Kann das ein Zufall sein, Häuptling?» «Dolores könnte den Artikel im Handschuhfach vergessen haben. Oder auch ihr Mann. An sich beweist das noch gar nichts.» «Mein Gott, das Beil», flüsterte Melanie auf einmal. «Was sagst du?» «Die Verstümmelung!» rief sie und lachte kurz auf. «Melanie, bitte, bleib vernünftig!» «Hör zu, Ernesto. Ich vermute, dass wir hier einen Fingerzeig bekommen. Das Thema Organtransplantation verweist auf etwas anderes. Im Leben von Dolores hat es von einem gewissen Zeitpunkt an eine wichtige Rolle gespielt.» «Aber welche?» «Vielleicht wollte sie sich ein Organ ersetzen lassen – die Gebärmutter? Frauen haben solche Ideen, wenn sie sich verzweifelt ein Kind wünschen.» «Wir werden mehr wissen, wenn wir ihre Briefe verstehen.» «Darauf können wir nicht warten, Häuptling. Ist niemand im Dorf, der Dolores näher kannte und dem sie sich anvertraut hat? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie völlig abgekapselt lebte.» «Es gibt eine Frau, zu der sie sporadisch Kontakt hatte. Ich sprach mit ihr, bekam aber nicht den Eindruck, dass sie Näheres über Dolores weiss.» «Ernesto, wir müssen zu ihr.» «Melanie, was ist bloss in dich gefahren?»
Der Laden lag in der Nachmittagssonne. Wicki betätigte die Klingel, bis im ersten Stock ein Fenster aufging. Frau Zumwald erkannte ihn wieder. Wicki entschuldigte sich für die
sonntägliche Störung. Frau Lengenhagen, seine Mitarbeiterin, hätte ein paar Fragen zum Fall Grütter. Frau Zumwald kam herunter und liess Wicki und Melanie herein. «Fragen Sie ruhig. Ich habe Zeit.» Melanie blieb vor einem Regal mit Wollknäueln stehen. Sie nahm zwei dunkelviolette Kugeln heraus. «Diese Farbe suche ich seit langem. Toll, sie hier zu finden.» Wicki stutzte. Was sollte der Deal? Melanie legte einen Fünfzigfrankenschein auf den Ladentisch und liess den Blick durch den Raum schweifen. «Haben Sie Babykleider?» «Es ist einiges da, aber die Auswahl ist nicht gross.» «Im Haus der Familie Grütter fanden wir ein Babypyjama. Könnte es aus Ihrem Laden stammen?» Wicki hörte gespannt zu. Frau Zumwald sagte leise: «Dolores hat das Pyjama hier gekauft. Zwei Tage bevor…» Sie verstummte. Tränen traten ihr in die Augen. Melanie fragte behutsam: «Hat sie Ihnen gesagt wofür?» «Sie meinte, sie sei der glücklichste Mensch der Welt.» «Wusste ihr Gatte etwas von der Schwangerschaft?» «Sie wollte ihn mit dem kleinen Pyjama überraschen.» Frau Zumwald begann leise zu schluchzen. «Grauenhaft und unfassbar ist das alles. Sie wartete so sehnsüchtig darauf.» Melanie liess Frau Zumwald ihre Tränen trocknen. «Hatte Dolores Probleme mit dem Schwangerwerden?» «Ja. Sie hielt sich lange Zeit für unfruchtbar.» «Und wenn Adolf es gewesen wäre?» «Offenbar suchen Frauen den Fehler zuerst bei sich.» Frau Zumwald zuckte die Schultern und blickte Wicki entschuldigend an. Melanie sagte energisch: «Nicht alle Frauen. Wie kam Dolores damit klar, dass sie keine Kinder kriegen konnte?»
«Sie war verzweifelt. Oft sass sie nach der Arbeit hier und weinte, denn sie hatte Angst, Adolf könnte sich scheiden lassen und dann würde sie in ihr Land heimgeschickt.» «Wieso Angst?» Frau Zumwald sagte etwas leiser: «Wenn man aus solchen Verhältnissen stammt, will man nicht ins Elend zurück.» «Demnach hätte sie alles getan, um ein Kind zu bekommen?» «Wie meinen Sie das?» «Sprach sie davon, eine künstliche Befruchtung zu wagen?» Frau Zumwald dachte nach. «Nein. Sie war sehr gläubig und naturverbunden.» «Hat sie mit dem Gedanken gespielt, eine Transplantation vornehmen zu lassen, zum Beispiel der Gebärmutter?» «Dolores sprach nicht viel über ihren Kinderwunsch. Aber ich bin sicher, dass eine Organverpflanzung kein Thema für sie war, vor allem weil…» Frau Zumwald verstummte. «Ja?» «Ich sollte es nicht weitererzählen.» «Sie haben es ihr versprochen?» Melanie blickte zu Wicki. Da war auf einmal ein entferntes Rufen zu hören. Wicki deutete nach oben. Frau Zumwald ging in den Flur hinaus und rief: «Ich ha no im Laade z ‘tue, Dante Susi. Ich chum nochane wider uufe.» Sie lächelte verlegen, als sie zurückkam. «Meine Tante. Herr Wicki kennt sie schon. Sie ist schwerhörig.» «Frau Zumwald», sagte Melanie. «Sie haben Taktgefühl. Doch das Versprechen, das Sie der Toten gaben, ist jetzt nicht mehr bindend.» Frau Zumwald zögerte noch immer. Als Melanie ihr ermunternd zulächelte, sagte sie schliesslich: «Dolores schämte sich furchtbar. Sie wuchs in völliger Armut in der Hauptstadt von Santo Domingo auf. Die Leute dort besässen so wenig, sagte sie, dass sie ihre Seele dem Teufel verkaufen
würden, um aus dem Dreck herauszukommen. Viele Mädchen landeten schon mit Zehn oder Elf auf der Strasse, als Prostituierte, als Drogensüchtige. Sie habe Glück gehabt, weil ihr nach der Schule ein Kurs für Krankenpflege angeboten worden sei, finanziert vom Roten Kreuz. Dort lernte sie auch etwas Englisch. Ihre ältere Schwester dagegen wurde vom Unglück verfolgt. Deren Mann sei schwer krank und in der Folge arbeitslos geworden. Um die Arztkosten zu bezahlen, habe die Schwester eine Niere ihrer elfjährigen Tochter an ein Spital verkauft. Man sagte ihr, das mongoloide Kind sei ohnehin nicht lebensfähig. Für das Organ erhielt die Familie 3000 Dollar – ein unvorstellbares Vermögen.» Melanie sagte: «Solche Geschichten aus der Dritten Welt hört man oft. Leider. Was geschah mit der Tochter?» «Sie starb wenig später an einer Infektion.» Melanie warf Wicki einen Blick zu. Sie war bleich geworden. Endlich sagte sie: «Sie haben uns sehr geholfen, Frau Zumwald.» «Das ist richtig», fügte Wicki bei. «Wir danken Ihnen für die Informationen. Übrigens: Stimmt es, dass Adolf seine Frau über ein Inserat kennen lernte?» «Sie hat sich dazu nie geäussert. Es gibt böse Zungen im Dorf, die behaupten, er habe sie in… so einem Lokal in Zürich kennen gelernt. Doch Dolores war eine anständige Frau. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie da gearbeitet hat.» «Erwähnte Frau Grütter, dass sie mit Adolf in die Ferien fahren wolle?» «Nein. Sie waren bloss einmal weg, am Anfang ihrer Ehe. Damals glückte es Adolf, jemanden zu finden, der die Kühe molk und die Arbeit auf dem Hof erledigte. Aber da ihn der Mann mit der Milchabrechnung betrog, verging ihm die Lust, nochmals einen Stellvertreter zu suchen.»
25 Der Freundschaftsdienst
Der Montag trüb und regnerisch. Wicki verspürte keine Lust, aus dem Bett zu springen, als der Wecker läutete. Einen Augenblick gab er sich der Illusion hin, Melanie liege neben ihm, bis ihm bewusst wurde, dass er sie am Vorabend noch nach Hause gefahren hatte. Melanie. Ob sie ihn wirklich liebte? Sie war so viel jünger als er, ganze 13 Jahre. Und sie konnte jede Menge jüngerer Männer haben. Er stand auf und steckte die erste Zigarette an. Sie schmeckte ihm nicht. War Melanie daran schuld, mit ihren ausgesprochenen wie mit ihren stummen Ermahnungen? Nahm sie Einfluss auf ihn, vielleicht mehr als er zugeben mochte? Erstaunlich, wie sie sich mit sicherem Gespür und wacher Intelligenz in seinen Fall eingeschlichen hatte, in dem er an einem toten Punkt angelangt war. Warum liess er das zu? Von keiner anderen Frau hätte er Grenzüberschreitungen dieser Art akzeptiert. Natürlich durfte das, was er sich am Sonntag geleistet hatte, Scheidegger nicht zu Ohren kommen. Er würde sich mokieren und ihm, Wicki, einen Verweis erteilen, von Amtes wegen und mit Genuss. Wenn Scheidegger auch ein Flair für unkonventionelle Methoden hatte – diese goutierte er bestimmt nicht. Ernst, würde er sagen, was geht eigentlich in dir vor? Seit wann setzt die Polizei unprofessionelle Leute ein, die bei der Fahndung mithelfen sollen? Und Wicki müsste sich hüten zuzugeben, dass er Melanie die Mitarbeit nicht hatte ausreden können – wahrscheinlich aus Angst, ihre Liebe zu verlieren. Wicki befreite Al Capones Käfig vom Verdunkelungstuch und streute eine Handvoll Körner in das Steingutschüsselchen,
das als Futterkrippe diente. Der Ära plapperte, wohl zum Dank, seinen üblichen Spruch von der Verhaftung. Wicki, der keine Lust hatte, Kaffee allein in der Küche zu schlürfen, stieg zwei Treppen hinunter und setzte sich in Hassans Imbissbude. Dort trank er zwei Cappuccinos und ass ein Brötchen mit Käse und Tomate. Als er nach Liestal fuhr, begann es zu regnen. Seine Laune hatte sich massig gebessert. Daran würde das Wetter nichts ändern. Auf seinem Tisch fand er eine Notiz von Scheidegger und den Bericht des Kriminaltechnischen Dienstes. Er blätterte das mehrseitige Dossier durch. Enttäuschend, dachte Wicki. Nichts, was wir nicht gewusst oder zumindest vermutet haben. Er stellte die Nummer seines Chefs ein. «Was gibt’s?» Oha, dachte Wicki. Das tönt nicht nach Hans im Glück. «Bist du mit dem falschen Bein aufgestanden?» Die Stimme von Scheidegger klang zornig: «Ich komme mir vor wie ein taubstummer Kettenhund. Wollte eine Aktion in der Postcheckbetrügersache starten. Dazu hätte ich sechs Mann gebraucht, um flink und flott zuzubeissen. Aber man hat mir nur drei bewilligt. Angeblich, weil die Leute benötigt werden, um Schloss Ebenrain abzuriegeln, wo ein saudischer Ölprinz mit drei Regierungsräten und den Spitzen der Basler Chemie diniert. 60 Beamte, um 10 VIPs zu bewachen.» «60 Mann?» «Keiner weniger. Man wisse ja, wie raffiniert Terroristen vorgingen.» «Was machst du nun?» «Habe die Aktion aufs Eis gelegt. Und den Betrügern ein Mail geschickt. Wir kämen nächste Woche, aber dann sicher.» Wicki lachte. «In Blasingen wurde der Polizist abgezogen. Wahrscheinlich auch, um den Ebenrain zu schützen. Hast du den Bericht des KTD gelesen?»
«Im Westen nichts Neues.» «Könntest du veranlassen, dass die Gerichtsmedizin von Noldi Dulliger einen DNA-Test macht? Das Resultat müsste mit dem toten Embryo von Dolores Grütter verglichen werden.» «Wie kommst du auf diese Idee?» «Habe gestern den Cherokee beim Garagisten im Dorf geholt und diesen über den jungen Dulliger ausgefragt. Angeblich erzählt der rum, er sei mit Dolores Grütter im Bett gewesen. Wenn es stimmt, könnte das Baby von ihm stammen. Hans, ich brauche einen Durchsuchungsbefehl.» «Wozu?» «Für die Klinik, in der Dolores Grütter gearbeitet hat.» «Das sind ja ganz neue Töne, Ernst. Kannst du nicht in mein Büro rüberkommen? Ich besorg dir einen Espresso.» «Okay. Aber bitte keinen lauwarmen.» Wicki erstattete detailliert Bericht. Als er auf den Durchsuchungsbefehl zu sprechen kam, meinte Scheidegger: «So, wie ich dich kenne, willst du ans Archiv des Spitals heran. Anders gesagt: an die Patientendaten. Die fallen unters Arztgeheimnis.» «Auch wenn es um Mord geht?» «Das ist eine Frage, die der Richter entscheiden muss, der den Befehl ausstellt. Wieso liegt dir auf einmal so viel am Spitalarchiv?» «Es ist die Sache mit den Organtransplantationen. Dolores Grütter hat die Zeitungsartikel zu diesem Thema bestimmt nicht nur aus privaten Gründen gesammelt und im PC ihres Mannes abgelegt. Da muss es eine Verbindung zum Spital geben. Einer der Artikel war als PDF-Datei in einem Mail hergeschickt worden…» «Aber selbst wenn dieses aus dem Spital kam, beweist das noch gar nichts.»
«Ist mir bewusst», räumte Wicki ein. «Darum möchte ich ins Archiv. Ich bin überzeugt, dass wir da etwas Entscheidendes finden. Es ist die Spur, auf die mich Melanie aufmerksam gemacht hat.» «Melanie?» «Ich hatte, wie du weisst, zuerst Mühe mit ihrer These, hinter der Verstümmelung verberge sich ein Motiv, das speziell auf die Frau verweise. Aber je länger ich über alles nachdenke, desto klarer wird mir, dass wir in einer Sackgasse stecken. Wir haben weder ein Motiv noch einen Täter.» Scheidegger runzelte die Stirn. «Das sehe ich anders.» «Meinetwegen. Aber von letzterem weiss ich lediglich, dass er von aussen ins Haus eingedrungen sein muss. Ob er ein guter oder nur ein mittelmässiger Schütze war, wäre ein wichtiges Indiz. Zudem verstehe ich nicht, ob er zuerst Grütter und dann seine Frau getötet oder das Ganze in umgekehrter Reihenfolge inszeniert hat. In beiden Fällen sehe ich keine Ursache, die Frau hinterher zu zerstückeln. Es sei denn, ich mache mir die Überlegung Melanies zu eigen.» «Es kann Ende Woche werden, bis der Befehl da ist, Ernst.» «So lange kann ich nicht warten!» «Nichts zu machen.» «Himmelherrgott, ist das eine leidige Sache! Und was ist mit Dulliger, Hans? Lange können wir ihn nicht mehr festhalten. Dazu sind die Delikte zu harmlos.» «Harmlos? Lies mal das hier.» Scheidegger schob Wicki die Basler Zeitung hin. In einem kurzen Artikel wurde gemeldet, dass am Vorabend in einem Dorf in Südbaden betrunkene Skinheads einen Angolaner zu Tode geprügelt hatten. Sie hatten sich offen zu ihrer Nazi-Anhängerschaft bekannt, den Schwarzen beschimpft und in sadistischer Weise mit ihren Stiefeln traktiert, als er schon schwer verletzt am Boden lag.
Wicki sagte scharf: «Ich hab’s geschnallt. Kommst du mit zum Verhör? Dem Grossmaul täte es gut, mal etwas in die Zange genommen zu werden.»
Noldi Dulliger sass unrasiert auf dem Zellenbett und rauchte. Das Frühstück hatte er bis auf ein paar Schluck Kaffee stehen gelassen. «Sieh an, die Bullen. Was verschafft mir die Ehre? Seid ihr gekommen, um mich wegen Landfriedensbruch zu verknacken? Dafür könnt ihr mir nicht mal eine Woche anhängen. Da ich nicht vorbestraft bin…» «Halt die Klappe, Dulliger!» herrschte ihn Wicki an. «Du stehst uns jetzt Red und Antwort. Und wehe, wenn du uns nochmal anlügst!» Noldi setzte ein verschlagenes Gesicht auf, in dem eine Spur Unsicherheit nicht zu übersehen war. Er meinte in hochnäsigem Ton: «Ich habe alles gesagt, was ich weiss.» Wicki blickte ihm in die Augen. «Lüge Nummer eins: Dein Chef gab den Erlös aus dem Autoklau um einiges höher an als du. Nummer zwo: Grütter habe den Wagen in die Garage gestellt, weil er in die Ferien wollte. Was war der wirkliche Grund?» Noldi schwieg und sog heftig an seiner Zigarette. «Los, heraus mit der Sprache! Du solltest gemerkt haben, dass sich deine Sache nur verschlimmert, wenn du versuchst, uns an der Nase herumzuführen.» Noldi warf die Zigarette in einen Aschenbecher zu seinen Füssen und biss sich auf die Lippen. Dann zündete er eine neue an. «Drei Jahre sind dir sicher für die Umspritzerei. Die fällt unter gewerbsmässigen Diebstahl. Dazu kommt die Verschärfung durch unerlaubten Waffenbesitz, die
Sachbeschädigung bei der Schiesserei auf fremdem Grund und Boden, Landfriedensbruch und Gefährdung von Leib und Leben – dein Schuss auf den polnischen Gastarbeiter, um es konkret zu sagen. Das macht im Minimum fünf Jahre.» «Ich sage nichts, und wenn ihr mir mit zwanzig Jahren droht!» Wicki dachte: Der Scheisskerl hat sich Unterstützung beim Anwalt geholt, und der riet ihm zu schweigen, selbst wenn wir ihm etwas nachweisen könnten. Am Samstag war er ganz handzahm, nun schwimmt er wieder obenauf. In die Pause schaltete sich Scheidegger ein, freundlich wie bei einem Gespräch am Feierabendschoppen: «Herr Dulliger, vielleicht haben Sie einen gewichtigen Grund, uns etwas zu verschweigen. Okay, wir geben Ihnen Zeit. Eine andere Frage können Sie aber beantworten: Wie eng war Ihre Freundschaft mit Adolf Grütter?» Noldi blickte Scheidegger an. Nicht ohne Überheblichkeit sagte er: «Ich war Dölfs bester Freund, was glauben Sie denn? Wir haben zusammen die Einsatzgruppe gegründet und die Leute trainiert. Ich durfte als Einziger in Dölfs Cherokee herumfahren. Und ich hielt den Wagen im Schuss.» Wicki holte sein Zigarettenpäckchen hervor. Er steckte einen Glimmstengel an und sagte: «Davon konnte ich mich überzeugen. Gute Arbeit, Dulliger. Der Wagen läuft wie frisch geschmiert und geölt.» «Das will ich meinen. Vor zwei Wochen war er bei mir im 25000er-Service.» «Natürlich umsonst – ein Freundschaftsdienst?» hakte Scheidegger nach. Noldi lächelte. Es war ein falsches Lächeln. «Klar. Unter Kumpels macht man so was gratis.» «Sag mal, Dulliger, wie ist das eigentlich unter echten Freunden – steigt man da mit der Frau des anderen ins Bett?»
In Noldis Augen war etwas wie Triumph. «Kommt ganz darauf an.» Scheidegger sagte spitz: «Was hat denn das mit Freundschaft zu tun?» «Das ist meine Privatangelegenheit und geht Sie einen feuchten Furz an.» Der Satz kam wie eine Ohrfeige. Scheidegger war einen Moment sprachlos. Bei Wicki riss der Geduldsfaden. Er sagte gehässig: «Dulliger, reiss dich zusammen! Du bist hier nicht bei deinem braunen Pack. Wie kommt es, dass du in der Garage damit angibst, Grütters Frau sei mit dir im Bett gewesen? Hast du dir in der Phantasie einen runtergeholt?» Noldi hörte auf zu rauchen und drückte die Zigarette aus. Dann sagte er, den Blick zum Fenster hinaus gewandt: «Auf demütigende Fragen muss ich keine Antwort geben. Das steht in den Menschenrechten.» «Dulliger, ich warne dich zum allerletzten Mal! Wir haben eine Blutprobe von dem Kind. Die wird eben jetzt mit der deinigen verglichen. Falls das Kind von dir ist, möchte ich nicht in deiner Haut stecken.» «Welches… Kind?» stammelte Noldi. Er war kreidebleich. «Sag du mir was, dann sag ich dir was.» Wicki blickte Noldi in die Augen. Der schaute weg. Dann rief er plötzlich: «Das behauptet ihr nur, um mich weich zu klopfen!» «Denk mal ein bisschen nach. In einer halben Stunde bekommen wir den Befund. Da müssen wir dich nicht mehr weich klopfen, im Gegenteil. Dann hast du die Hosen gestrichen voll!» «Ich? Weshalb denn?» Noldi versuchte zu grinsen, aber es misslang ihm. Er war weiss im Gesicht, und um seine Nasenflügel erschienen rote Flecken.
«Du hättest ein schönes Motiv für den Mord an Dolores. Und ein ebenso handfestes für den an deinem guten Freund Dölf. Vergiss die Pistole nicht, die wir am Tatort fanden. Und in Grütters Haus waren deine Fingerabdrücke. Ganz frisch. Möglich, dass sie bei deiner Suchaktion nach dem Mord da hingekommen sind. Was aber, wenn du auf die beiden gewartet hast, spät in der Nacht?» «Ich habe ein Alibi.» Noldis Stimme klang heiser. «Darauf sind wir seit Tagen gespannt. Keiner deiner Kollegen kann dir eines geben. In jener Nacht schliefen sie alle zu Hause, wie kreuzbrave Buben. Dein Vater lässt dich in dieser Hinsicht auch im Stich. Aber vielleicht hat deine Mutti dich ja in dem Moment in den Schlaf gesungen, als Adolf umgebracht wurde.» Noldi starrte in eine Ecke. Er sprach jetzt ganz leise: «Meine Mutter hörte, wie ich heimkam. Ihr Schlaf ist leicht und sie steht auf, wenn nachts die Haustüre geht.» «Wann war das?» «Um halb zwei.» Wicki blickte zu Scheidegger, der ihm zuzwinkerte. «Sieht nicht gut aus für dich, Dulliger. Adolf und Dolores Grütter wurden um ein Uhr ermordet.» «Aber ich habe die beiden nicht umgebracht!» schrie Noldi auf einmal. Seine Augen waren weit offen, und um den Mund zuckte es. Er zündete sich hastig eine weitere Zigarette an. Wicki sagte: «Vielleicht erzählst du uns jetzt ein paar Details, damit wir deiner Version mehr glauben als den Indizien, die gegen dich sprechen.» Noldis Hand, welche die Zigarette hielt, zitterte. «Ich brauche einen Kaffee. Mir ist schlecht.» Während Scheidegger das Verlangte holte, fixierte Wicki den Häftling und sagte: «Bleib schön bei der Wahrheit, Dulliger,
und versuche nicht, uns zu verarschen. Wir werden alles haarklein überprüfen, was du berichtest. Wie war das mit Dolores?» «Die Sache ist komplizierter als ihr B…», er vermied das Schimpfwort gerade noch, «euch vorstellen könnt. Dolly wollte ein Baby, weil ihre Ehe mit Dölf in der Krise war. Er glaubte, sie habe was mit einem Arzt, weil sie oft spät nach Hause kam.» Noldi nahm einen Schluck Kaffee. «Einmal kam sie in der Garage vorbei, gleich nach der Arbeit, und völlig verzweifelt. Sie hatte im Spital einen Fight gehabt. Worüber sagte sie nicht. Sie setzte sich in den Cherokee und – » «War der Wagen in der Garage?» «Ja. Zufällig. Ich musste einen Ölfilter auswechseln…» «Und?» «Dolly sass da und meinte: ‹Machst du kleine Tour, Arnoldo? Ich dich was fragen wollen.› Sie sah gut aus, wie immer, und ich dachte: Eine kurze Spazierfahrt wird der Dölf nicht übel nehmen. Ich sage dem Chef Bescheid, dass ich sie nach Hause bringe, weil ihr nicht wohl sei, und setze mich ans Steuer. Kaum sind wir aus dem Dorf und auf der Hauptstrasse, zeigt sie auf eine Abzweigung, die in den Wald führt. Bei einem Rastplatz bedeutet sie mir anzuhalten. Ich denke, sie will sich hinsetzen und reden, und steige aus. Da hält sie mich zurück: ‹Arnoldo, ich dir gefallen?› Ich bin einen Moment platt. ‹Natürlich, Dolly, gar keine Frage. Du siehst toll aus.› Da legt sie mir die Hand aufs Knie: ‹Du wollen Sex mit mir?› Was sollte ich da antworten?» Wicki sagte in sarkastischem Ton: «Klingt wie ein Märchen, Dulliger. Jetzt kommt gleich die Episode, wo du zum ritterlichen Helden wirst. Mach es kurz – hast du mit ihr gevögelt?»
Noldi grinste anzüglich. «Dolly hat mich gebeten, ihr ein Kind zu machen, weil Adolf sich sonst von ihr scheiden lasse. Sie wolle nicht dahin zurück, wo sie herkomme. Sie weinte und flehte mich auf den Knien an. Schliesslich gab ich nach.» «Die Freundschaft zu Adolf hielt Sie nicht davon ab?» warf Scheidegger ein. «Es war doch ein Freundschaftsdienst. Und ein Fick, mehr nicht.» Das Grinsen auf Noldis Gesicht wurde verschlagen. «An welchem Tag fand dieser Freundschaftsdienst statt?» wollte Wicki wissen. «An einem Montag im Februar.» «Anfangs oder Ende Monat?» «So um den 18. oder 20. herum.» Wicki rechnete nach. Das Datum mochte stimmen. «Habt ihr euch danach noch öfter getroffen?» «Zwei oder dreimal. Es war immer ein Heidenspass!» «Spar dir deine blöden Sprüche. Wenn das Kind in Dolores’ Bauch von dir stammt, wird dir der Spass vergehen. Wusste Adolf von der Schwangerschaft?» Noldi schwieg. Scheidegger sagte: «Er war erbost, stimmt’s?» Der Bursche erwiderte heiser: «Er drohte mir, mich zum Krüppel zu prügeln, wenn das Baby von mir sei. Und er werde den Bastard abtreiben lassen.» Wicki hakte nach: «Gab’s andere Konflikte zwischen euch?» Wieder schwieg Noldi. Schliesslich räusperte er sich, bevor er bemerkte: «Dölf wollte den Cherokee verkaufen. Der Wagen stellte sich als untauglich für seinen Betrieb heraus. Er stellte ihn bei uns in die Garage und wartete auf einen Käufer.» «Wann war das?» «Anfang Januar. Bis im März passierte nichts. Dölf holte ihn, um ihn ‹zu bewegen›, wie er sagte. Schliesslich bot ich ihm an, das Auto an einen Händler zu vermitteln. Dölf wusste von
meiner Tätigkeit als Autolackierer, und sie passte ihm nicht. Aber ich nahm an, ihm sei es egal, an wen ich den Cherokee verkaufe. Ich nahm Kontakt mit Petrovic auf…» «Dem Kontaktmann der Diebesbande?» fragte Scheidegger. «Ja. Petrovic nannte ein Angebot.» «Wie hoch?» «18 000. Dölf schien darauf eingehen zu wollen. Aber dann schiss er mich bös zusammen und sagte, er wolle kein Geld von der Gaunerbande, zu der ich offenbar gehöre.» «Haben Sie ihm zu verstehen gegeben, dass die Offerte von Petrovic stammte?» warf Scheidegger ein. «Nein. Aber wenn er eins und eins zusammenzählte, war logo, woher das Angebot kam.» «Weiter», drängte Wicki. «Ich meinte zu Dölf, du kannst mich mal. Wer so blöd ist, einen Freundschaftsdienst zurückzuweisen, der soll seinen Edelschrott selber verkaufen. Da verbot er mir, je wieder in seinem Cherokee herumzufahren.» «Wann war das?» «Anfang April.» Wicki musterte Noldi mit kaltem Blick und sagte: «Deine Lügen sind zu durchsichtig, Dulliger. Die Wahrheit ist: Du wolltest Adolf über den Tisch ziehen. Der Preis, den du vorhin nanntest, liegt weit unter dem, was man für eine derartige Occasion verlangen kann. Nehmen wir mal an, dass Petrovic dir 30000 bot. Mit den 12000 aus dem Deal mit Grütter hättest du einen tollen Schnitt gemacht. Logisch, dass dein Freund sauer wurde. Aber weil er dich durchschaute, nicht weil du Mitglied einer Diebesbande bist. Ich würde genauso reagieren.»
26 Sackgasse
Als die Zellentür geschlossen wurde, warf Scheidegger einen Blick auf sein Handy, das einen Piepston von sich gegeben hatte. Er schüttelte den Kopf und sagte: «Nach dem, was er eben berichtet hat, könnte Dulliger ein Motiv für die beiden Morde gehabt haben.» Wicki zuckte die Achseln. «Das Motiv dürfte eher theoretischer Natur sein. Noldi ist ein Angeber, der gern mit Schiesseisen rumballert und in teuren Schlitten spazierenfährt. Aber ein eiskalter Killer, der zwei Menschen umlegt und so grausam zurichtet? Ich bin nicht mal sicher, ob er mit Dolores wirklich im Bett war. Er hat mich seltsam angesehen bei meiner Frage – wie ein geprügelter Hund. Der Kerl ist womöglich noch keusch, und was er uns berichtete, war ein Hirngespinst.» «Dann wäre auch die Cherokee-Story ein Stück Fiktion?» «Könnte sein.» Wicki überlegte. «Ich sehe zum Beispiel nicht ein, warum jemand einen kaum gebrauchten Wagen unter der Hand zu einem schlechten Preis loswerden möchte. Ein Geländewagen lässt sich heute jederzeit an die Garage zurückverkaufen – bei der Nachfrage. Und zu einem anständigen Preis. Unter der Hand gibt sein Auto nur weg, wer muss oder wer hofft, mehr zu lösen als üblich. Und das wollte Grütter offenbar nicht.» Scheidegger sagte: «Die Zeit, die Dulliger für die Mordnacht angibt, stimmt vermutlich auch nicht. Gehen wir in mein Büro?» «Moment.» Wicki hielt ihn am Arm fest. «Wyssbrod ging um 2.12 Uhr von seinem Haus weg und kam gegen 2.30 Uhr bei
Grütter vorbei, als der Sennenhund nicht mehr anschlug. Der Brand wurde kurz nach 3.00 Uhr gelegt. Die erste Meldung traf 3.37 Uhr bei der Feuerwehr ein. Die Schüsse auf Grütter und seine Frau wurden vor 2.00 Uhr abgegeben – sonst hätte sie Wyssbrod gehört.» Scheidegger meinte: «Damit könnte Dulliger also der Täter gewesen sein, wenn er um 1.30 Uhr heimkam, wie er sagte.» «Richtig, nur wie hätte er dann den Brand legen können? Das Haus brannte nicht, als Wyssbrod darauf zuging.» «Also hielt sich der Täter nach dem Mord fast eine Stunde in der Scheune auf, bevor er sie in Brand setzte. Und er muss gehört haben, wie Wyssbrod mit dem Hund vorbeispazierte.» Wicki sagte nachdenklich: «Vielleicht wusste der Mörder sogar, dass der Lehrer vorbeikommen würde. Und er plante das Intervall zwischen Mord und Brandlegung in den Tatablauf ein. Noldi jedenfalls hatte damit kaum etwas zu schaffen.» «Warum hast du ihn dann so eingeschüchtert?» «Ich wollte ihm einen Denkzettel verpassen. Auch weil mich diese Zeitungsnachricht über die Brutalität der Neonazis ärgerte.» «Musstest du ihn duzen?» warf Scheidegger ein. «Was die Menschenrechte angeht, hatte er zumindest in diesem Punkt Recht. Verhaftete duzen, das gibt es bei mir nicht, und mögen sie die grössten Schweinehunde sein. Sie haben ein Anrecht darauf, respektiert zu werden.» «Klingt schön und vernünftig,» räumte Wicki ein. «Doch wenn ein Angeklagter sich nicht anständig benimmt, bin ich ihm keinen Respekt schuldig. Muss ich mir denn alles gefallen lassen? Es gibt doch nicht nur die Würde des Angeklagten, sondern auch die des Polizeibeamten.» «Meinetwegen. Wie geht es jetzt weiter?» «Du forderst deine drei Männer an, und wir machen unsere Untersuchung im Spitalarchiv.»
«Muss dich leider enttäuschen, Ernst. Du musst mit mir allein vorlieb nehmen. Die drei anderen sind abkommandiert worden. Habe es eben per SMS erfahren.»
Wicki stützte den Ellbogen demonstrativ auf die Theke der Reception im Entree der Klinik. Scheidegger stellte sich daneben. «Wir müssen Dr. Brander sprechen. Wäre es möglich, ihn her zu bestellen oder sollen wir zu ihm ins Büro?» Die Dame am Empfang schien sich dunkel zu erinnern, dass sie Wicki irgendwann mal begegnet war. «Wen darf ich melden?» «Hauptmann Scheidegger und Wachtmeister Wicki, Kriminalpolizei Liestal.» Jetzt klingelte es bei der Dame. Mit einem Lächeln meinte sie: «Wenn die Herren einen Augenblick warten wollen. Dr. Brander wird gleich da sein.» Nach zehn Minuten, in denen Wicki drei Zigaretten rauchte, sagte Scheidegger: «Man lässt sich Zeit mit der Kriminalabteilung. Ob sie inzwischen Akten vernichten, die wir vielleicht bräuchten?» «Das ist schon das zweite Mal, dass man mich hier zum Warten zwingt. Dabei hasse ich Spitäler, seit mir in meiner Jugend der Blinddarm herausgenommen wurde. Der Geruch von Desinfektionsmitteln und Bodenwichse prägte sich mir damals unauslöschlich ein.» Endlich traf der Oberarzt ein. Er entschuldigte sich für die Verspätung und bat die Herren in sein Ordinationszimmer. «Was kann ich für Sie tun?» Wicki sagte trocken: «Herr Doktor, wir klären einen dreifachen Mord auf, und eines der Mordopfer hat hier gearbeitet.»
Oberarzt Brander machte ein verblüfftes Gesicht. «Das höre ich zum ersten Mal. Und wer ist das Opfer?» Jetzt war es Wicki, der aus dem Staunen nicht herauskam. «Dolores Grütter. Hat Doktor Ivanovic denn nichts davon gesagt?» «Er hat eine Andeutung gemacht, dass wir am Montag Polizei ins Haus bekämen.» «Aber er versprach mir, Sie aufzuklären!» Brander zuckte mit den Schultern. «Wahrscheinlich haben ihn die Fälle, die wir momentan im Haus haben, zu sehr absorbiert. Und der Notfall vom Freitag machte das Ganze nicht einfacher.» «Verschaffen Sie uns Zugang zu den Räumen, in denen die verstorbene Dolores Grütter arbeitete.» Brander sagte trotzig: «Das geht nicht.» Wickis Ton wurde ungeduldig. «Wieso?» «Ich kann Sie nicht in die Patientenzimmer hineinlassen. Und die Büros von Doktor Ivanovic sind unter Verschluss.» «Dann öffnen Sie sie.» «Es sind seine Privaträume. Sie bleiben zugesperrt, wenn er verreist.» Wicki meinte: «Dazu gibt es bestimmt Ersatzschlüssel.» «Dr. Ivanovic hat ausdrücklich verboten, diese zu benutzen.» Wicki spürte, wie er’s ihm Mühe bereitete, sich zu beherrschen. «Was ist mit den anderen Zimmern?» «Sie können alle überprüfen, die Ihnen wichtig erscheinen – ausser jene mit sensiblen Daten.» Wicki schaute zu Scheidegger hin. Sag doch auch mal was, dachte er. Doch Scheidegger schwieg und überliess ihm das Reden. «Sie scherzen wohl, Herr Oberarzt? Da bleiben ja gerade noch der Schwestern-Aufenthaltsraum, das Raucherzimmer und der Keller.»
«So ungefähr.» «Also nichts ohne Hausdurchsuchungsbefehl?» «Exakt. Tut mir leid.» Der Ton von Brander hatte etwas Süffisantes, was Wicki absolut nicht passte. Er dachte: Der Kerl ist von Ivanovic bestimmt instruiert worden. Scheidegger schaltete sich endlich ins Gespräch ein: «Werden hier Organverpflanzungen vorgenommen?» «Nein. Wir sind dafür nicht ausgerüstet. Wir führen gelegentlich kleine Gewebstransplantationen aus. Das ist alles.» «Arbeitete Frau Grütter mit Ärzten zusammen?» Brander nickte. «Mit Doktor Schweingruber und mit mir, sowie gelegentlich mit Doktor Ivanovic – » Scheidegger hakte nach: «Frau Grütter hat hier im Spital einen Schwangerschaftstest machen lassen. Wissen Sie, bei wem?» «Zufälligerweise ja. Auf den Wunsch von Frau Grütter hin wurde er von Professor Ivanovic vorgenommen.» «Tz, tz, tz,» entfuhr es Wicki. «Vom Chef persönlich! Macht er bei seinen Erstklasspatientinnen auch solche Tests?» Brander lächelte. «Aber nein. Professor Ivanovic ist Chirurg.» «Umso erstaunlicher, dass er Frau Grütter testete», meinte Wicki. «Offenbar ein Freundschaftsdienst. Wurde der Ehemann über das Resultat informiert?» «Nein. Auf Wunsch der Patientin nicht.» Wicki spottete: «Sie wissen aber gut Bescheid in einer Sache, die Sie nicht zu behandeln hatten.» Brander lächelte erneut. «Doktor Ivanovic hält mich über alles Medizinische auf dem Laufenden. Das ist nichts als natürlich.» Scheidegger nickte Wicki zu und sagte: «Wir möchten jetzt das Dossier der Patientin Grütter sehen.»
«Das ist unmöglich. Es steckt im PC von Professor Ivanovic.» Scheidegger änderte abrupt den Ton seiner Stimme. «Herr Doktor, jedes Patientendokument lässt sich auf dem zentralen Server der Klinik abrufen. Ich gebe Ihnen genau zehn Minuten Zeit, die Unterlagen über Frau Grütter zu beschaffen. Wenn sie bis dann nicht da sind, nehme ich Sie wegen Widerstands gegen polizeiliche Gewalt in Gewahrsam. Haben wir uns verstanden?» Brander wurde bleich. «Das ist Nötigung.» «Vergessen Sie’s, Doktor. Damit kommen Sie bei keinem Richter durch.» Brander stand auf und verliess wütend das Zimmer.
27 Die Nadel im Heuhaufen
Im geräumigen Keller des Spitals, einem der drei von Brander zugestandenen Orte, an denen die Polizei ihre Untersuchungen machen durfte, gab es medizinische Apparate, Kartons, ausrangierte PCs, elektrische Drähte und Kabel, Werkzeuge, Hunderte von Glas- und PVC-Flaschen. «Was steht da drauf? Meine Brille liegt im Auto.» Mit einer verkrümmten Säge deutete Scheidegger auf eine Kartonschachtel. Wicki beugte sich nieder. «Transmutane. Product made in France. 200 x 12 x 0,2 ml.» «Wieviele Schachteln mögen das sein? 30? 40? 50?» «Moment, das haben wir gleich.» Wicki zählte. «Exakt 64.» «Nehmen wir mal an, da sind Ampullen drin. 200 Packungen zu zwölf Stück á 0,2 ml Wirkstoff pro Ampulle. Dann sind in einer Schachtel, äh… 2400. Hier unten lagern demnach 64 mal 2400 Ampullen. Wieviele sind das total?» Scheidegger rechnete im Kopf. «Rund 150000. Wenn du diese Zahl durch die 50 Patienten rechnest, die sie hospitalisieren können, kommst du auf 3000 Ampullen pro Patient. Durch 365 Tage dividiert ergibt das mehr als 8 Jahre. Eine lange Zeit, wenn du mich fragst.» Wicki schnupperte. Da war ein penetranter Geruch, der ihm irgendwie bekannt vorkam. «Hier stinkt’s. Hans, wozu die ganze Rechnerei?» «Bei welchem Leiden muss man acht Jahre lang spritzen?» Wicki dachte nach. «Bei Zucker. Und Organtransplantationen, um die Immunreaktion des Körpers zu unterdrücken.»
«Entweder haben die hier jede Menge Zuckerkranker oder es werden Organe verpflanzt. Oder die Ampullen dienen einem anderen Zweck.» «Vielleicht treibt das Spital damit einen lukrativen Handel.» «Das muss ich genauer wissen. Schon wegen Branders Geheimniskrämerei.» Wicki nahm Scheidegger die Säge aus der Hand und fuhr über deren Zacken. «Scheint ein ausrangiertes Exemplar zu sein. Ob man damit noch Knochen in Stücke sägt?» Scheidegger lachte. Wicki schnupperte wieder und zeigte mit der Säge auf ein Regal. «Der Gestank kommt von hier.» Sie hielten ihre Nasen an ein paar Flaschen, bis sie auf eine offene PVC-Flasche stiessen, die den Geruch ausströmte, der Wicki bekannt vorkam. Ein spezielles Wundbenzin, das nur für Spitäler hergestellt wurde. «Was sagt der KTD über die Produkte, die beim Brand in Frage kamen? War da nicht von einer Art Benzin die Rede?» «Darüber wissen unsere Chemiker Bescheid. Aber der Inhalt der Flasche hier müsste identisch sein mit dem aus dem verkohlten Behältnis, das man in Grütters Hof fand.» Wicki lächelte. «Du glaubst, ich stelle einen Zusammenhang her zwischen dem Objekt hier und dem mutmasslichen Mörder. Und das magst du nicht. Es widerspricht deinem Denken, weil eine Indizienkette fehlt. Ich habe in den letzten Tagen etwas anderes gelernt, Hans: Kreativ zu sein und dem Instinkt zu vertrauen.» «Der Instinkt darf die Wahrnehmung der Wirklichkeit nicht verdrängen.» «Ich verknüpfe Fakten. Da ich ein Mensch bin, der sich gern an sie hält, nehme ich dieses Behältnis mit und halte es jemandem vom KTD unter die Nase. Aber vorher frage ich in der Spitalapotheke nach, ob in letzter Zeit eine Flasche verschwunden ist. Ist das nach deiner Methode, Hans?»
Scheidegger lachte. «Von mir aus kannst du die hier alle mitnehmen, solange das Vorgehen korrekt bleibt.» Die Überprüfung in der Spitalapotheke ergab: Zwei Flaschen des Wundbenzins blieben seit Monaten unauffindbar. Sie waren kurz vor Weihnachten verschwunden und vermerkt worden. Danach hatte dem Verlust niemand mehr Beachtung geschenkt. Als die beiden Kriminalbeamten das Spital verliessen, war es halb zwölf. Scheidegger sagte: «Ich fahre nach Hause, um zeitig zum Essen da zu sein und mit den Kindern ein vernünftiges Gespräch zu führen. Das bin ich mir als Familienvater schuldig. Ich werde zum x-ten Mal versuchen, Ralf von der Gefährlichkeit des Rauchens zu überzeugen, und Nadine wird die News vom Tatort wissen wollen.» «Melanie dringt ebenfalls in mich vom Rauchen abzulassen. Bislang ohne Erfolg. Ich schaffe es einfach nicht.» «Frauen sind da realistischer. Die meisten von ihnen hören auf, wenn sie ein Kind erwarten.» «Sei’s drum. Ich werde beim Türken ein Hammelkotelett bestellen und mich dann um die Nachforschungen kümmern, die wir vernachlässigt haben.» «Als da wären?» «Die Sache mit dem Beil zum Beispiel. Es kam mir in den Sinn, als ich vorhin die verkrümmte Säge in der Hand hielt. Der Täter muss es mitgebracht haben, als er in der Scheune auf Grütter wartete. Der KTD hat in seinem Bericht vermerkt, dass es sich um eine besonders leichte Konstruktion handelt, die erst seit kurzem auf dem Markt ist.» Scheidegger machte ein erstauntes Gesicht. «Du willst im Umkreis von 50 km alle Eisenwarengeschäfte und Hobbycenter abklappern, um herauszufinden, ob jemand ein Beil gekauft hat?» «Ungefähr.»
«Hat das auch mit Instinkt zu tun?» «Deine Methode, Hans. Eine Nadel im Heuhaufen suchen.» «Na, dann viel Erfolg!» «Danke. Ein wenig Aufmunterung schadet nichts.»
Das Kotelett bei Hassan roch zu stark nach Lammfett, und der Gurkensalat war auch schon besser gewesen. Wicki spülte den aufdringlichen Geschmack mit einem doppelten Espresso hinunter und machte sich auf den Weg. Die Geschäfte, die Äxte verkauften, waren nicht so zahlreich, wie er vermutet hatte. Dennoch würde es einige Zeit dauern, sie alle aufzusuchen. Als er vor einem Geschäft in Binningen parkierte, klingelte das Handy. «Die Gerichtsmediziner sind auf was Interessantes gestossen, Ernst. Noldi Dulliger ist der Vater des Kindes. Er hatte demnach allen Grund sich vor Grütter zu fürchten.» Wicki schwieg. Darauf sagte Scheidegger: «Ich bin gespannt, wie er es aufnimmt, dass er ein Kind zeugte, welches nicht zur Welt kommen durfte.» «Wirst du ihn darüber aufklären?» «Warum nicht? Es könnte zu seinem Reifeprozess beitragen. Und den hat er nötig.» «Da bin ich ganz deiner Meinung, Hans.» Nach einer Pause sagte Scheidegger: «Wir müssen ihn noch mal drannehmen, Ernst.» «Willst du Daumenschrauben anlegen, damit er gesteht?» «Darum kommen wir nicht herum.» «Das hat Zeit bis morgen. Ich bin beschäftigt.» Wicki hängte grusslos ein. Irgendetwas irritierte ihn an der Nachricht. Aber er konnte nicht herausbekommen, was. Er stellte Melanies Nummer ein. Sie war in der Frühe abgeflogen, nach Marrakesch, wo Aufnahmen von der nächsten
Wintermode gemacht wurden. Doch Wickis Handy kam nicht durch. Er war enttäuscht, weil er sich auf ihre Stimme gefreut hatte. Ob sie schwanger war? Die Idee gefiel ihm, sie als Mutter zu sehen, fern von den Tändeleien der Modeindustrie, ein Kind in den Armen, dem sie die Brust gab. Wie lange schon wünschte er sich eine solche Idylle? Und war er nicht von Tania darum betrogen worden? Nun schien sie auf einmal ganz nah. Später, um neunzehn Uhr, versuchte er es noch einmal. Es klappte. Sie sagte: «Das müsstest du sehen, Ernesto! Ein Meer von Bougainvilleas und Hibiskus, überhaupt ein einziger Blütentraum. Es würde dir gefallen.» «Oder zum Albtraum werden, weil hundertfünfzig Männeraugenpaare hinter meiner blonden Freundin herglotzen.» «Bist du eifersüchtig, Häuptling?» «Wärst du es nicht, wenn mir hundertfünfzig Haremsdamen zu Diensten wären, um mir jeden Wunsch von den Lippen abzulesen?» «Die Männer sind mir nicht zu Diensten. Die Einheimischen, die mich begleiten, halten bei den Aufnahmen die Sonnenschirme.» «Junge Berber mit grossen unschuldigen Augen?» «Sie sind tatsächlich unschuldig, Ernesto. Der eine ist elf und der andere dreizehn. Was macht deine Arbeit?» «Sie läuft grossartig. Ich wandere von Geschäft zu Geschäft, zücke meinen Ausweis und befrage hoch motivierte Angestellte, ob ihnen ein Kunde im Gedächtnis haften geblieben ist, der eine Axt kaufte. Ein einziger Verkäufer mochte sich an einen älteren Herrn erinnern, der ein Beil erstand, dieses aber wieder umtauschte, weil es ihm offenbar zu schwer war. Melanie, hörst du mich?» Wicki kam es vor, als sei die Leitung unterbrochen. Von weit her, wie durch einen Tunnel, hörte er Melanies Stimme, dann
war Funkstille. Sein erneuter Versuch, mit ihr Kontakt aufzunehmen, scheiterte. Wicki bemühte sich, seine Enttäuschung wegzuschieben, unter der sich nackte Eifersucht verbarg. Da klingelte das Handy, er griff hastig danach. Melanie hatte es offensichtlich noch einmal geschafft. Er spürte das Herz klopfen und fühlte sich wie ein verliebter Schuljunge. Scheidegger war dran und sagte: «Noldi Dulliger hat sich in seiner Zelle aufgehängt.» Spät in der Nacht, als Wicki die Leiche Noldis angesehen und die Fragen des Untersuchungsbeamten über sich hatte ergehen lassen, griff er zur Flasche Glenfiddich, die in seinem Kühlschrank stand. Der Whisky schien ihm die gebotene Medizin, sich über die kommenden Stunden der Schlaflosigkeit hinwegzumogeln. Etwa um drei Uhr rief, völlig überraschend, Melanie an. «Ernesto, ich denke immer noch darüber nach. Wie viele Läden hast du besucht?» Wicki sagte mit schwerer Zunge: «Etwa fünfhundert.» «Häuptling, deine Stimme klingt anders als zuvor.» «Was wolltest du mir sagen, Mel? Dass du mich heiraten willst? Wenn du ein Kind kriegst, reden wir darüber.» «Ernesto, was ist passiert?» «Nix. Nada. Niente. Bin bloss müde.» Melanie schwieg für ein paar Augenblicke. Dann fuhr sie fort: «Möchtest du wissen, worüber ich nachgedacht habe?» «Nein. Ja, doch.» «Machst du dich lustig über mich?» Wicki lallte: «Wie stets, Mel.» «Ernesto, wenn der ältere Herr die schwere Axt umtauschte, hat er wieder eine mitgenommen, eine leichtere vermutlich.» «Möglich.»
«Könnte das nicht jemand aus dem Spital sein, der Dolores kannte?» «Genauso gut könnte es Nelson Mandela oder der Papst sein.» «Ernesto, sagst du mir bitte, was los ist? Du nimmst mich auf den Arm.» Melanies Stimme kam glasklar durch den Äther, als ob sie im Zimmer sässe. «Mel, der ältere Herr kann nicht der Täter sein, denn der hat sich heut nachmittag erhängt.» «Erhängt?» Melanies Stimme wurde fast tonlos. Wicki stammelte: «Jawohl. Und ich habe ihn vermutlich dazu getrieben.» «Was erzählst du da?» «Der junge Dulliger hat sich in seiner Zelle getötet. Damit ist der Täter gefunden, nicht wahr? Fall erledigt. Basta. Reden wir nicht mehr darüber.» «Häuptling, du hast einen in der Krone. Etwas anderes ist nicht denkbar, wenn du solchen Unsinn daherredest. Erst gestern hast du mir die Gründe genannt, warum Dulliger nicht der Täter sein könne. Und jetzt soll auf einmal alles anders sein? Ich glaube dir nicht. Bist du denn noch da? Ernesto – » Erneuter Unterbruch. Wicki trank sein Glas aus und legte sich in Kleidern und Schuhen aufs Sofa.
28 Die Tochter des Spitalbesitzers
Wicki erwachte mit Kopfschmerzen. Das Telefon hatte geklingelt. Er griff nach dem Handy. Aber es war das Festnetz, das sich meldete. Scheidegger wollte wissen, wann er zur vereinbarten Sitzung anzurücken gedenke. «Wieso?» Wicki starrte in den Fernseher, wo die Wetterlage auf der Rigi, im Toggenburg, in Zermatt durchgegeben wurde. Grau in Grau, Nebel allüberall. Offenbar hatte er in der Nacht ferngesehen. Er spürte, wie sich sein Magen aus ihm herauszustülpen begann. Scheidegger sagte: «Weil du 30 Minuten Verspätung hast.» Wicki blickte auf sein Handgelenk. Es war 9.35 Uhr. «Haben wir denn eine Sitzung? Ach ja… Sorry Hans, ich komme nicht. Bin krank.» «Krank? Gestern warst du kerngesund. Was ist los, Ernst?» «Ich bin krank. Ende der Durchsage.» «Das versteh ich nicht.» «Ich auch nicht. Adieu.» Wicki hängte ein und wankte in die Küche. Dort leerte er Wasser in sich hinein. Das letzte Glas schüttete er sich über den Kopf. Jetzt war ihm ein wenig besser. Auf dem Küchentisch standen fünf leere Bierdosen. Bier und Whisky, eine Mischung, die sein Magen nicht vertrug. Wicki hätte viel dafür gegeben zwei Alka Seltzer runterspülen zu können. Aber nicht einmal ein Aspirin hatte er im Hause. Er tastete sich zurück zum Sofa, immer noch unsicher auf den Füssen, und schlief sofort wieder ein. Gegen elf Uhr erwachte er erneut.
«Herrgott, jetzt wird mir deine plötzlich Krankheit klar! Du hast vermutlich eine mittelschwere Alkoholvergiftung.» Scheidegger hielt die Whiskyflasche in der Hand. Wicki stöhnte und sagte: «Wie bist du reingekommen?» «Die Tür war unverschlossen. Einbrecher hätten hier ganz gemütlich alles ausräumen können.» «Der Papagei hält Wache.» Wicki erhob sich. An seinem linken Fuss fehlte ein Socken. «Mann, du siehst aus wie ein Penner nach einer Nacht am Rheinufer. Bist du in den Kleidern unter die Dusche gestanden?» Wicki versuchte zu lächeln. Aber sein Kopf schmerzte zu sehr. «Spare dir deine weisen Kommentare.» Er strich sich mit den Fingern durchs wirre Kopfhaar. Scheidegger beobachtete ihn eine Zeitlang stumm. «Dulliger?» Wicki schwieg. Er kramte in seinen Taschen umsonst nach Zigaretten; er hatte sie irgendwo liegen gelassen. «Du brauchst das nicht so an dich heran zu lassen, Ernst. Da war etwas dahinter, von dem wir nichts wussten. Ich sprach heut früh mit seinem Vater. Der muss seinem Filius vorgerechnet haben, wieviel er zu gewärtigen hätte, selbst wenn er aus der Sache mit Grütter ungeschoren heraus käme, was ja keineswegs sicher sei: Fünf Jahre im Minimum. Der angeschossene Pole ist nämlich überraschend in Blasingen aufgetaucht, beraten von einem Anwalt aus der EU. Der fordert 150000 Euro Schadenersatz für das lahme Bein seines Klienten. Wenn Noldi die nicht bezahlen könne, müsse er sitzen und die Summe abarbeiten. Tüten kleben und so ähnlich. Das soll dem jungen Grossmaul ziemlich eingefahren sein, wie der Vater erzählte.»
Wicki liess sich endlich mit leiser Stimme vernehmen: «Wann hast du es ihm gesagt?» «Gestern Nachmittag um drei Uhr.» «Und wann brachte er sich um?» «Abends um halb sieben fand ihn der Wärter, der ihm das Nachtessen brachte. Erdrosselt am Zellenfenster. Hatte Stoffstreifen aus der Matratze geschnitten und aneinandergeknüpft. Mit einem winzigen Stück Rasierklinge, das er versteckt hielt.» Wicki schwieg wieder. «Wir können es nicht ändern, Ernst. Die Untersuchung muss weitergehen.» «Als ob ich das nicht wüsste.» Nach einer Weile fuhr Wicki fort: «Ich möchte mich bei Ivanovic umsehen. Es gibt zwischen ihm und Dolores Berührungspunkte. Der Schwangerschaftstest ist nicht der einzige.» «Ivanovic?» «Vor seiner Villa stehen drei Autos. Ein BMW, ein Alfa Romeo und ein Toyota. Der Toyota hat dreckige Pneus. Habe es bemerkt, als ich gestern ums Haus streifte, weil ich wissen wollte, wo und wie er wohnt.» «Donnerwetter – das sagst du so seelenruhig daher, Ernst?» «Der KTD soll Abdrücke von den Reifen anfertigen. Währenddessen reden wir mit Frau Ivanovic.»
Die Villa der Ivanovics stand in einem grossen Garten auf dem Bruderholz, ein paar Strassen vom Haus entfernt, in dem Melanie wohnte. Vor der Garage standen die Wagen des Professors. Die Beamten des KTD hielten sich im Hintergrund, bis Scheidegger und Wicki im Haus verschwunden waren. Frau Ivanovic war Anfang vierzig, attraktiv, brünettes Haar, schwarze Augen, eine nicht zu übersehende goldene Kette um
den schmalen Hals und goldene Ohrringe. Ihre olivfarbene Haut betonte sie durch eine dunkelblaue Bluse und enge Hosen aus schwarzem Nappa. Lederne Sandaletten in derselben Farbe. Man hätte sie für eine Südländerin gehalten, wäre nicht ihr baslerischer Akzent gewesen. Sie führte die Polizisten in den Salon, an einen gläsernen Tisch, der von drei Ledersesseln umgeben war. Mit einer angenehm dunklen Stimme fragte sie: «Was möchten die Herren trinken? Whisky? Cognac? Kaffee?» Scheidegger entschied sich für Wasser, Wicki für Kaffee. «Darf man rauchen?» Frau Ivanovic lächelte und schob Wicki einen gläsernen Aschenbecher hin. Dann ging sie hinaus, um die Getränke zu holen. Scheidegger besah sich das Interieur. Wicki nahm die langen Reihen von Bänden in Augenschein, die das Büchergestell zierten. Plato, Shakespeare, Goethe, Flaubert, Zola, Balzac, Spinoza, Hegel, selbst Marx fehlte nicht. Ob der Professor gebildet war? Sein Konterfei stand eingerahmt auf einem Regal. Frau Ivanovic betrat den Raum mit einem Tablett, auf dem sich ein Glas und eine Mokkatasse sowie Kaffeerahm und Zucker befanden. Scheidegger sagte: «Ihr Mann ist im Ausland. Darf man erfahren, wo?» «Ivica ist auf einem Ärztekongress in Kroatien, seiner alten Heimat. Er fährt öfters hin, um seinen Kollegen das Wissen, das er hier erwirbt, weiterzugeben.» «Eine Art Entwicklungshilfe?» fragte Wicki. «Ja, er hat eine selbstlose Seite. Aber nicht nur die.» Das Lächeln war plötzlich von Frau Ivanovics Gesicht gewichen. «Er ist ein gefragter Chirurg, nicht wahr?» «Ja. Leider beschränkt sich die Nachfrage nicht nur auf die chirurgischen Fähigkeiten. Mein Mann hat sehr viel Charme. Und diesem erliegen die Leute. Allzuviele möglicherweise.»
Frau Ivanovics Augen hatten etwas Flackerndes bekommen. Um den Mund lag ein harter, bitterer Zug. Scheidegger sagte: «Sie wissen, warum wir hergekommen sind, Frau Ivanovic. Es geht um die junge Frau, die im Spital Ihres Mannes arbeitet und die vor einer Woche umgebracht wurde.» Die Dame des Hauses sagte kalt: «Es scheint sich um ein Eifersuchtsdrama gehandelt zu haben.» Das mochte Scheidegger nicht kommentieren. Wicki fuhr fort: «Wie lange lebt Ihr Mann schon in der Schweiz?» «Seit dreiundzwanzig Jahren. Er kam anfangs der Achtziger Jahre hierher.» «War er damals bereits als Chirurg tätig?» «Wir kennen uns seit sechzehn Jahren. Ivica arbeitete am Bezirksspital Rheinfelden als Stationsarzt. Er suchte eine Stelle als Chirurg und hatte Glück. Da mein Vater als Besitzer der Klinik Heiligenfeld in Pension gehen wollte, passte es gut, dass ein erfahrener Arzt die Leitung übernahm.» «Hat Ihr Vater Herrn Ivanovic die Klinik verkauft?» «Nein. Dazu besass Ivica zu wenig flüssiges Geld. Er fand eine bessere Lösung. Er heiratete mich. Mein Vater überliess ihm die Klinik zu einem guten Preis, und Ivica profitierte erst noch von seinen guten Beziehungen, um günstig an Kapital heranzukommen.» Frau Ivanovic lächelte. Aber etwas an ihrem Lächeln wirkte gequält und unecht. «Ich hatte mich Hals über Kopf in Ivica verliebt. Ich arbeitete in Rheinfelden als Physiotherapeutin und bildete mir was darauf ein, einen gut aussehenden Mann zu heiraten, der ein ausgezeichneter Arzt war. Zudem erschien die Lösung mit Vaters Spital als ideal.» «War sie es nicht?» «Ivica ist sehr tüchtig. Er zahlte einen grossen Teil der Schulden an meinen Vater zurück. Aber…» Frau Ivanovics
Stimme wurde leiser und begann brüchig zu werden. «Er ist ein Tier. Er ging mit jeder Schwester, die ihm über den Weg lief, ins Bett. Ivica kann keinen Rock sehen, ohne seine Urinstinkte zu befriedigen.» Einen Moment schien es, als würde ihr die Stimme versagen. «Ivica ist krank. Seine Sexsucht ist ungeheuer. Das wusste ich leider nicht, als ich ihn heiratete. In all den Jahren habe ich mich zum Gespött von Verwandten und Freunden machen lassen, stets bereit, ihm zu vergeben. Eigentlich ist er kein übler Kerl. Aber wenn es ums andere Geschlecht geht, setzt bei ihm der Verstand aus. Ich liess mir alles bieten, bis diese Südamerikanerin auftauchte.» «Sie meinen Dolores Grütter?» «Ich habe mich gewundert, dass Ivica sie überhaupt einstellte. Sie konnte kaum Deutsch, aber schon nach wenigen Wochen arbeitete sie mit Patienten, was normalerweise nur ausgebildete Schwestern tun dürfen.» «Frau Grütter verfügte über ein Diplom als Pflegefachfrau, erworben in der Dominikanischen Republik», warf Scheidegger ein. «Pah! Diplome aus diesen Bananenrepubliken werden doch bei uns nicht anerkannt!» «Für Ihren Mann war das Dokument offenbar gut genug.» «Für Ivica war sie gut genug, wenn Sie das meinen. Sie kam ihm gerade recht. So ein Luder! Sie war zwar verheiratet, gut katholisch, wie es sich gehört, und dennoch machte sie sich an ihn heran, schamlos und berechnend. Und er liess sich nicht zweimal bitten. Eine Farbige – das war Neues. Er musste sie haben. Es geilte ihn masslos auf.» «Weshalb machte sich Ihr Gatte die Mühe, Frau Grütter als Pflegefachfrau zu beschäftigen? Eine Affäre hätte er mit ihr auch haben können, wenn sie Hilfskraft geblieben wäre.» «Es war die Prämie, die sie aus ihm herausholte. Man weiss doch, wie berechnend Frauen sein können, speziell solche aus
Drittweltländern. In der Klinik hiess es, ihr Mann habe diese Schwarze in einem Nachtclub in Zürich aufgegabelt. Das sagt doch alles, wie raffiniert sie war. Diese Nutte missbrauchte zuerst einen Landwirt und dann einen Chirurgen für ihre Zwecke.» Es braucht immer Männer, die sich missbrauchen lassen, dachte Scheidegger. Es wäre interessant zu erfahren, was mit dem Ehepaar Ivanovic los war, dass eine angebliche Nutte aus den Slums von Santo Domingo sich zwischen sie schieben konnte. Wicki insistierte: «Was war der Zweck, für den Frau Grütter die Männer missbrauchte, wie Sie behaupten?» «Das ist doch sonnenklar. Mit der Heirat gelangte sie in den Besitz des Schweizerpasses. Und ihre Spitalkarriere verschaffte ihr soziales Prestige.» «Das macht keinen Sinn, Frau Ivanovic. Jemand, der in Südamerika als Pflegefachfrau gearbeitet hat, lässt sich hier nicht zur Prostituierten machen.» «Wie naiv ihr Männer seid!» Frau Ivanovics Stimme hatte wieder an Kraft und Volumen gewonnen. Sie sagte in verächtlichem Ton: «Eine Frau aus der Gosse überlegt es sich nicht zweimal, ob sie hier auf den Strich geht, um an einem Tag mehr zu verdienen als dort in einem ganzen Jahr. Wie sie im Spital eingestellt wurde, das hätten Sie sehen sollen! Eines Tages kam hier ein junger Mann vorbei, der sich als Mitarbeiter von Dragan Petrovic vorstellte.» «Dragan Petrovic?» «Der Schwager von Ivica, er arbeitet im Autohandel. Er ist mit Ivicas Schwester verheiratet und lebt in Zürich. Jener junge Mann fragte nach Ivica, was mich erstaunte, denn er hätte doch direkt ins Spital gehen können. Er legte aber Wert darauf, ihn zu Hause zu treffen.» «Wann war das? Erinnern Sie sich an das Datum?»
Wicki warf Scheidegger einen Blick zu. Auch der schien hellwach geworden. «Vor sieben oder acht Monaten. Nein, eher vor neun.» «Stellte sich der junge Mann vor?» «Nein, aber als er ging, sagte er, ich solle für Ivica eine Notiz hinterlassen. Er heisse einfach Noldi.» «Noldi? Klingt gar nicht wie ein kroatischer Name.» «Natürlich nicht. Er sprach waschechtes Baseldeutsch.» «Sagte er, was er von Ihrem Mann wollte?» «Nein. Aber ich erfuhr es, als er zum zweiten Mal kam. Ivica empfing ihn hier, im Salon, was mich erboste, denn der Kerl trug schmutzige Stiefel. Es ging um diese Dolores. Ich hörte wie der Typ sagte, er suche für die Frau eines Freundes eine Beschäftigung im Spital. Dragan Petrovic habe ihn an seinen Schwager verwiesen, der einem Privatspital vorstehe und vermutlich helfen könne.» «Wie reagierte Ihr Mann darauf?» «Er fragte: ‹Ist sie hübsch?› Darauf der andere: ‹Sie werden sich wundern. Eine wahre Perle. Schwarz. Und aus Südamerika.› Schliesslich sagte Ivica: ‹Ich werde sehen, was ich machen kann.›» Der Blick von Frau Ivanovic war kalt und abgelöscht, während sie fortfuhr: «Später kam sie zweimal hier vorbei, um im Auftrag meines Mannes etwas herzubringen – stellen Sie sich das vor! Wie sie sich in den Hüften wiegte, die geschmacklosen Ohrringe, die grellrot gefärbten Lippen als Kontrast zu ihrer dunkelbraunen Haut – all das sprach Bände. Ich hätte sie glatt umbringen können mit ihrem reizenden Lächeln und den sanften Augen, wenn sie in ihrem miesen Deutsch daherredete. Als ich erfuhr, dass sie verheiratet war, fühlte ich mich zuerst erleichtert. Doch als Ivica anfing, abends spät nach Hause zu kommen, hörte ich das Gras wachsen, und
mir wurde bewusst, dass solche Unschuldsweiber raffinierter vorgehen, als wir es uns je vorstellen können.» Ob sie mit einem Beil zuschlagen kann? Eine Pistole drückt sie bestimmt ab, ohne mit der Wimper zu zucken. Wicki musterte das Gesicht von Frau Ivanovic von der Seite her. Um den schmal gewordenen Mund hatten sich zwei scharfe Falten gelegt. Ihre schönen Augen blitzten vor Hass. Scheidegger sagte: «Sie und Ihr Mann besitzen drei Autos. Können Sie uns den Grund dafür sagen?» «Ivica ist ein Autonarr. Mit einem Schwager im Autohandel macht das jedoch keine Probleme. Er kriegt die Wagen bei Dragan Petrovic zu einem Spottpreis.» «Neuwagen?» «Ich denke schon, Ivica würde sich kaum mit einer Occasion begnügen, obwohl er kürzlich eine anschaffen wollte. Einen Wagen mit Vierradantrieb. Der stammte ausgerechnet vom Ehemann dieser angeblichen Krankenschwester. Ich sagte zu Ivica, ich würde mich nie mit ihm in ein Auto setzen, das nach Kuhmist rieche. Darauf lachte er und meinte: ‹Du hast Recht. Das Auto erinnert mich auch zu sehr an den Stallgeruch meines Dorfes!›»
29 Stress
Auf der Fahrt nach Liestal sagte Wicki: «Die Leute vom KTD arbeiteten so unauffällig, dass ich einen Moment zweifelte, ob sie überhaupt da seien. Wann bekommen wir die Resultate?» «Ich mag Ebi nicht drängen. Seine Leute haben viel zu tun. Zwei Selbstmörder und ein Banküberfall, die minutiöse Arbeit erfordern. Ich kann die Männer nicht nur für uns auf Trab halten. Erst letzten Samstag sind sie ausgerückt, um das Gelände um Grütters Hof herum zu untersuchen.» Wicki entgegnete: «Der Mörder läuft noch immer frei herum und wir müssen ihn dingfest machen.» «Sind wir denn heute nicht weitergekommen?» «Einen Moment dachte ich, Frau Ivanovic sei die Täterin. Aber dieses Verbrechen entstammt dem Hirn eines Mannes. Frauen mögen töten, aber sie legen hinterher nicht noch Brände. Hingegen könnte sie das Ganze in Auftrag gegeben haben.» Scheidegger dachte nach. «Ein Motiv hätte sie schon. Aber wohl kaum, um Adolf Grütter zu töten – sie kannte ihn ja gar nicht. Und bloss, weil er ihrem Mann einen Cherokee andrehen wollte…» «Das war doch dieser Petrovic, Hans. Noldi Dulliger erzählte uns die Geschichte anders. In der Version von Frau Ivanovic klingt sie übrigens plausibler.» «Und Petrovic? Da scheint etwas zu schlummern, das uns interessieren könnte.» «Seh ich auch so. Übernimmst du in seinem Fall die Nachforschungen?» Wicki, der für einmal nicht am Steuer
sass, sah Scheidegger von der Seite an. Der fuhr sich durchs struppige Haar und seufzte. «Ich? Wo soll ich das noch reinquetschen? Heut nachmittag ist die Beerdigung der beiden Grütters. Anstandshalber muss jemand von uns dabei sein. Morgen steigt die Razzia bei den Postcheckbetrügern. Dazu habe ich Bürokram zu erledigen. Am Donnerstag wollten wir das Spital in Allschwil filzen, wenn der Statthalter uns den Hausdurchsuchungsbefehl gibt.» «Ich sehe, mein Chef ist im Stress. Dagegen komme ich mir vor wie im Urlaub. Heut nachmittag die Fahndung nach dem Käufer des Beils, das heisst rumspazieren und Leute bequatschen. Danach Protokolle schreiben, eigentlich auch ein Ferienjob. Morgen dasselbe in Grün: Ich auf Zehenspitzen in einen Laden hinein, um ja keine Kunden aufzuscheuchen – denn da, wo die Polizei aus- und eingeht, bleibt die Kundschaft fern –, stelle meine immergleiche erste Frage und zücke ein Foto – » Wicki zog aus der Tasche ein Bild von Ivanovic und hielt es Scheidegger vor die Nase – «dann lasse ich dem Verkäufer 30 Sekunden Zeit, sich zu erinnern. Wenn es nicht klick! macht, ran an die nächste Verkäuferin und so fort.» «Woher hast du das Foto?» «Von der Website des Spitals heruntergeladen.» «Also, wo waren wir? Petrovic: übernimmst du ihn?» «Natürlich. Ich kann meinem Chef im Stress doch nicht zumuten, sich mit Zürcher Kollegen anzulegen, seit der FC Basel Schweizer Spitze ist und GC nöd.» Wicki hatte endlich Glück. Er stand wieder vor dem Laden, in den ein älterer Herr eine Axt zurückgebracht hatte, weil er sie zu schwer fand. Der Verkäufer wollte sich gerade aufs Rad schwingen, um den Feierabend anzutreten. Wicki zeigte ihm das Foto von Ivanovic. «Das könnte er sein.» «Sind Sie sicher? Schauen Sie das Bild genau an.»
«Moment.» Der Mann stellte sein Rad an eine Hausmauer, zog seine Handschuhe aus und hielt das Foto vor sich hin. «Ja, das ist er. Ich nahm an, der Kunde bringe die Axt zurück, weil sie ihm zu teuer sei. Aber dann kaufte er die kleinere und leichtere aus einer Titanlegierung, die doppelt so viel kostete.» «Würde diese Axt bei 2000 Grad schmelzen?» «Kaum. Die Titanlegierung sollte das verhindern. Ausserdem wird die Klinge noch speziell gehärtet.» «Kann ich mir ein Exemplar ansehen?» «Leider nein. Alle Äxte sind verkauft. Da es sich um ein teures Modell handelt, wird es nicht sogleich wieder bestellt. Wir mögen keine Ladenhüter.» Der Verkäufer zog seine Handschuhe wieder an und machte Anstalten wegzufahren. Wicki sagte: «Einen Augenblick noch, bitte. Gibt es irgendein Erkennungszeichen, das die Identifizierung der Axt erleichtern würde?» «Die Firma Svensson prägt auf jedes Werkzeug ihr Logo: Ein S, an dem ein V hängt. Das bringt selbst lang dauernde mechanische Abnützung kaum zum Verschwinden.» «Ausgezeichnet. Ich bringe Ihnen morgen eine Axt vorbei, und Sie sagen mir, ob sie aus Ihrem Laden stammt.» Der Verkäufer machte grosse Augen. «Handelt es sich um eine Tatwaffe?» «Darüber kann ich keine Auskunft geben. Vielen Dank für Ihre Hilfe.» «Nichts zu danken. Na so was!» Er setzte sich auf sein Bike und flitzte davon. Langsam beginnt das Mosaik Gestalt anzunehmen, dachte Wicki, als er in den Opel stieg. Der Mann kann sich zwar irren. Zudem ist damit noch nichts bewiesen. Weil keine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe zu sehen sind, hilft sie als Indiz wenig weiter. Aber wir kommen der Sache näher. Und
Melanie könnte Recht haben, dass in der Axt eine besondere Bedeutung steckt. Wicki zündete eine Zigarette an und startete den Motor. Er war mit sich zufrieden, obwohl er sich gestern Nacht so mies gefühlt hatte wie schon lange nicht mehr. Daran war nicht nur der Suizid des jungen Dulliger schuld gewesen. Gequält hatte ihn vor allem seine Eifersucht gegenüber Melanie. Er fühlte sich ohnmächtig, wenn er sie da unten in Marokko wusste, kam sich so machtlos und ausgeliefert vor, dass er hätte losheulen können. Sie war umschwärmt von Dutzenden von Kerlen, deren Religion es ihnen erlaubte, fremde Frauen wie ein Stück Vieh zu behandeln. Die schöne Melanie auf dem Souk von Marrakesch, feilgeboten wie eine Wassermelone oder ein handgewobener Teppich. Es war zum Verrücktwerden. Wicki ertappte sich dabei, dass er nach Hause fuhr statt nach Liestal. Er korrigierte die Fahrtrichtung, denn auf einmal kam ihm ein Gedanke, der ihn nicht mehr los liess. Wicki, Idiot, dachte er, mach dich auf die Socken, verlass dich nicht auf Hans, fang endlich diesen Mörder und, vor allem, zeig’s diesen Machos, die deiner jungen blonden Frau an die Bluse wollen. Wicki spürte, wie die Eifersucht in ihm hochkroch, an ihm zerrte und einen Rassenhass in ihm hochspülte, den er bei sich nicht vermutet hatte. Scheissaraber, funkte es in ihm. Wieso muss meine Melanie ausgerechnet in einem jener Länder ihren Körper zur Schau stellen, wo die Männer mehr Achtung vor dem Kamel haben, das sie durch die Wüste trägt, als vor einer ausländischen Frau? Was war davon zu halten, dass ein schönes blondes Wesen mitten in Marrakesch ihren Körper in einem Bikini präsentierte, selbst wenn das bloss vor der Kamera geschah? Musste sie das in den Augen jedes gläubigen Moslems nicht zur Hure stempeln, an der man sich vergreifen durfte?
Warum hatte er zugelassen, dass Melanie nach Marokko reiste? Sein Blick war völlig von seiner Arbeit verstellt und ohne klare Vorstellung von dem gewesen, was sich hier abspielte. Statt dass ihn das Erlebnis mit Tania wachsam gemacht hätte, war er nachlässig gewesen oder, schlimmer, eingeschüchtert. Er hatte sich nicht getraut, Melanie seine Meinung über diese Reise zu sagen, aus Furcht, sie zu verlieren, wenn er engstirnig und eifersüchtig reagierte. Seine gute Laune von vorhin war verflogen. Er steckte sich eine neue Zigarette an und inhalierte rasch. Daran zündete er eine zweite an, was ihm schon lange nicht mehr passiert war. Jeder Zug ein kleines Treppchen hinunter ins kühle Grab. Hatte er nicht in Liestal nachsehen wollen, ob die Axt eine Svensson war und das Markenzeichen trug, das der Verkäufer erwähnt hatte? Wenn er sich beeilte, konnte er kurz nach sechs in der Kantonshauptstadt sein. Vielleicht war noch jemand im Labor, der ihm Auskunft geben würde. Als er hinkam, war Ebi, der Chef des Kriminaltechnischen Dienstes, gerade dabei abzuschliessen. Er erklärte sich bereit die Axt zu holen. Darauf fand sich tatsächlich ein Logo, das demjenigen glich, das der Verkäufer erwähnt hatte, obgleich es schlecht zu erkennen war. Etwas später in seinem Büro wählte Wicki die Nummer der Zürcher Kriminalpolizei und erläuterte einem Kollegen sein Anliegen. Der in Zürich domizilierte Autohändler und Garagist namens Petrovic sei vermutlich in einen Mordfall in Baselland verwickelt. Liestal benötige alle verfügbaren Daten über den Mann. Und zwar sofort. «Wenn wir sie erst übermorgen kriegen, könnte der Täter abgehauen sein. Bei einem Doppelmörder verdammt unangenehm.»
«Ein Doppelmörder?» «Ja.» «Wir tun unser Bestes, Kollege. Ihr habt die Daten morgen.»
30 Mailbox
Wicki sass am nächsten Morgen an seinem Schreibtisch und döste halb, einen Kaffeebecher vor sich. Er war in Gedanken noch beim Telefonat mit Melanie. Sie hatte ihn sehr früh aus dem Schlaf geholt, mit ihrer hellen, fröhlichen Stimme. «Wo steckst du, Mel? Im Souk – mit den braven Buben, die den Scheinwerfer halten und dabei still zu Allah beten, dass er sie nicht in Versuchung führe?» «Wir machen Fotos in der Morgendämmerung», gab Melanie zurück. «Am Strand von Casablanca, Ernesto. Die Sonne ist eben aufgegangen und färbt das Meer ganz gelb. Traumhaft schön.» «Hast du etwas auf der Haut, oder dürfen dich die Jünglinge so nackt, wie Allah dich schuf, bewundern?» «Du mit deinen Männerphantasien! Wir fotografieren die Mode des nächsten Winters. Dicke Mäntel mit Pelzbesatz, lange Wollkleider, Hosen, Pullover, Stiefel und so weiter. Bist schlecht gelaunt, weil ich dich geweckt habe?» «Bewahre, nein», meinte Wicki. «Es freut mich, deine Stimme zu hören, Mel. Nur der Zeitpunkt ist etwas ungewöhnlich.» «Wer wird denn schon in der Früh von der Freundin in Marokko geweckt?» «Ich dachte, du seist meine Gattin.» «Das ist schöne Zukunftsmusik. Wie geht’s deiner Arbeit?» «Wir sind auf einer heissen Spur.» «Dann habt ihr die Jagd eröffnet? Schade, dass ich nicht dabei sein kann, wenn der Täter geschnappt wird.» «Sofern wir ihn kriegen.»
«Ist denn das nicht sicher?» «Mel, der Typ, hinter dem wir her sind, arbeitet wie ein Profi. Aber vermutlich wollte er zu clever sein.» «Das versteh ich nicht, Ernesto.» Wicki berichtete, was er am Vorabend bei dem Verkäufer und im Labor erfahren hatte. «Könnte die Tatwaffe nicht von jemand anderem gekauft worden sein?» wandte Melanie ein. «Daran habe ich auch gedacht. Doch der Verkäufer hat den Kunden auf dem Foto erkannt, einen älteren Herrn. Wenn wir kein Beil ebendieser Art bei ihm zu Hause finden, besteht dringender Verdacht, dass er der Täter ist.» «Kenne ich den älteren Herrn?» «Aus einem laufenden Verfahren darf ich keine Namen preisgeben, Melanie. Erst recht nicht am Telefon. Wenn du zurück bist, erfährst du alles.» «Dann ist es zu spät, und der Film gelaufen. Dass ich ausgerechnet jetzt, wo’s spannend wird, in diesem blöden Marokko sitzen muss! Kannst du keine Ausnahme machen? Ich werde schweigen wie das Grab.» «Sorry, Mel, es geht nicht.» «Dann nehme ich morgen den Flieger und rase zurück, damit ich beim Finale dabei sein kann.» «Dagegen habe ich nichts. Ich freue mich sogar, wenn du eher als geplant zurück bist.»
Scheidegger strahlte, als er Wickis Büro betrat. Der richterliche Hausdurchsuchungsbefehl war endlich erteilt worden. Eine Stunde später betraten acht Polizisten das Spital Heiligenfeld: Scheidegger und Wicki voraus, gefolgt von sechs Männern in Uniform. Die Dame am Empfangsdeck erkannte
Wicki wieder. Sie schaute ihn und seine Kollegen irritiert an. Er sagte freundlich: «Kriminalpolizei Liestal. Ist Doktor Ivanovic zurück?» «Professor Ivanovic? Nein.» «Wer weiss, wann er zurück sein wird?» «Vermutlich der Oberarzt, Doktor Brander.» «Wollen Sie ihn bitte sofort herbestellen?» Die Dame runzelte die Stirn. Sie sprach kurz ins Telefon und sagte: «Doktor Brander ist momentan unabkömmlich.» «Interessiert mich nicht. Sagen Sie ihm, wir hätten den richterlichen Befehl für die Hausdurchsuchung.» Die Dame redete erneut in den Hörer. «Doktor Brander lässt Ihnen ausrichten, er habe Sprechstunde. Er könne seine Patienten nicht einfach stehen lassen.» «Ich diskutiere weder mit ihm noch mit Ihnen. Ich mache Sie lediglich darauf aufmerksam, dass Sie, ebenso wie das gesamte Spitalpersonal, unter polizeilicher Aufsicht stehen. Es darf niemand das Gebäude verlassen.» Wicki winkte einen der Beamten herbei. «Pass auf die Türe auf, Kevin. Niemand geht raus, auch keine Patienten.» «Alles klar, Ernst.» Sie eilten die Treppen hinauf. In jedem Stock postierte Scheidegger einen Beamten mit dem Auftrag, niemanden vorbei zu lassen, es sei denn bei einem ausgewiesenen Notfall. Und dann galt es, Wicki oder Scheidegger per Funk zu benachrichtigen. Wicki liess sich im ersten Stock von zwei Schwestern den PC zeigen, an dem Dolores Grütter gelegentlich gearbeitet hatte. Auf seinen Befehl suchten sie in einer speziellen Datei nach deren Passwort und übergaben es ihm. Er klickte in den Dateien herum. Patientendaten, Hinweise auf einen Deutschkurs für Ausländer, ein paar Notizen auf Spanisch, die
aber, soweit er das beurteilen konnte, nichts enthielten, was mit ihrem Tod zu tun hatte. Sein Funkgerät meldete sich. «Komm mal rauf, Ernst. Ich habe was gefunden.» Wicki eilte aus dem Zimmer. Dem Beamten auf seinem Stock befahl er: «Es darf niemand rein in die Nummer 123. Ich möchte nicht, dass jemand am Computer manipuliert.» Scheidegger empfing ihn im Sprechzimmer von Ivanovic. «Sieh mal, auf was ich gestossen bin.» Wicki studierte den LCD-Bildschirm. Dann sagte er: «Eine Gebrauchsanweisung für Transmutane: Ist das nicht das Medikament, das wir im Keller fanden?» «Wird bei Organtransplantationen benützt, wie wir vermutet hatten. Hier hab ich noch was.» Scheidegger klickte ein anderes Dokument auf. «Eine Rechnung für 60000 Ampullen Transmutane!» rief Wicki erstaunt. «Per E-Mail aus Frankreich gesendet. Aber was hat das Ganze mit Dolores Grütter zu tun?» «Organhandel», sagte Scheidegger trocken. «Wie?» «Das Medikament gegen die Abstossungsreaktion steht vermutlich im Zusammenhang mit einem viel lukrativeren Handel – dem mit Organen. Ihm könnte Dolores auf die Spur gekommen sein. Sprach die Frau aus dem Geschäft in Blasingen nicht davon, dass Dolores Horror vor Transplantationen hatte?» «Das Kind ihrer Schwester musste eine Niere hergeben, damit man die Arztschulden des Vaters begleichen konnte. Aber wie wollen wir den Zusammenhang beweisen?» «Wir könnten die Mailbox öffnen. Eventuell finden sich da Hinweise.» «Du musst den Server knacken. Ob das so einfach geht?»
«Die müssen das Passwort rausrücken, wenn es sich um Gewalt oder Ähnliches handelt. Wir hatten damit Erfolg, als es darum ging, im vorigen Jahr den Ring für Kinderpornografie zu sprengen.» Scheidegger wählte eine Nummer auf dem Handy. Kurz darauf kam ein Rückruf, der das Passwort freigab. Gemeinsam öffneten die beiden Polizisten die Mailbox von Ivanovic. Auszüge aus einem Bankkonto mit sechsstelligen Beträgen. Rechnungen für die Lieferung von Organen, die nicht näher spezifiziert wurden. Dankschreiben auf Englisch für geliefertes «Material». Anweisungen, wo eine bestimmte Ladung abzuholen sei. Und Kommentare, seltsamerweise auf Deutsch, zum Markt für Organe, der momentan in Weissrussland und Moldawien besonders lukrativ sei, weil die Eltern, bei der dort herrschenden Armut, sich am ehesten willig zeigten, die Körper ihrer Kinder für «frisches Material» zur Verfügung zu stellen. Die Kurztexte machten nicht deutlich, wohin die Organe gingen. Scheidegger war sichtlich geschockt. «Der Herr Professor und seine sauberen Kumpane haben mit diesem Handel locker Hunderttausende von Franken in die eigenen Taschen geschaufelt – und das wahrscheinlich nicht einmal illegal, da der Organhandel in Europa, die Schweiz inbegriffen, noch keinen klaren gesetzlichen Bestimmungen unterliegt.» «Ziemlich monströs, das alles. Damit können wir ihn aber nicht einbuchten», sagte Wicki. «Selbst dann nicht, wenn wir ihn wegen illegalem Import von Organen vor den Kadi ziehen.» «Bestimmt kommt Steuerhinterziehung dazu.» «Auch die wird nicht ausreichen, um Ivanovic hinter Gitter zu bringen. Wir sind ganz nahe dran. Aber noch haben wir den Konnex zum Mord in Blasingen nicht.»
Scheidegger deutete auf den PC. «Einige Mails sind an seinen Schwager gerichtet. Ob wir da weitersuchen sollen?» «Da fällt mir ein: Haben die Zürcher das Material über Petrovic geschickt, das ich von ihnen anforderte?» «Ja. Der Mann gehörte einer Autoknackerbande an und sass deswegen zwei Jahre. Aber jetzt führt er eine Garage und treibt Handel mit Wagen für den Osten. Offenbar legal. Die Angaben decken sich mit dem, was uns Dulliger über seinen Job bei Petrovic berichtete.» Wicki fragte: «Haben die Zürcher ihn observiert?» «Eine Zeitlang. Da er die Garage legal betreibt und Steuern bezahlt, scheint er clean zu sein.» «Scheint?» Scheidegger lachte. «Na klar, die Zürcher können ja nicht Tag und Nacht einen Mitarbeiter hinstellen, der die Autos zählt, die in der Garage aus- und einfahren.» Wicki sagte bloss: «So hab ich es auch nicht gemeint. Es gibt heute unsichtbare Observierungsmethoden, von der Videokamera bis zum Bankauszug.» «Dazu ist der Fisch wahrscheinlich zu klein. In Zürich gibt es in der Finanzwelt grössere Hechte, welche die Polizei gerne ins Netz bekäme und die dennoch immer ein Loch finden, um durchzuschlüpfen.» «Machen wir weiter.» Sie durchsuchten die elektronische Post Ivanovics, die er, wahrscheinlich aus Bequemlichkeit, über Monate nicht gelöscht hatte. Einiges in Serbo-Kroatisch. Dann Notizen zum Organhandel. Privates, darunter Briefe, in denen er von Sexabenteuern erzählte. Geldangelegenheiten – alles in deutscher Sprache. Allmählich ergab sich ein diffuses Bild des Organhandels mit Staaten wie Moldawien, Ukraine und Weissrussland, der über Kroatien und teilweise über Serbien lief. Petrovic schien dabei eine Art Kurier zu spielen.
«Herrgott, sieh dir das an!» rief Scheidegger. Auf dem Bildschirm stand ein Mail, das Ivanovic an Petrovic geschickt hatte: Stell dir vor, Dragan: Die schwarze Hure hat unser Business entdeckt und mir Vorwürfe gemacht! Der übliche Dreck, wegen Moral, Würde, Ausbeutung der Abhängigkeit usw. Ich sagte ihr, sie solle die Finger von Dingen lassen, die sie nichts angehen. Aber sie ist ganz fanatisch. Das könnte unangenehm werden. Wir müssen etwas unternehmen. Wie wär’s mit einem Denkzettel? «Damit sind wir der Sache näher», meine Wicki. «Aber ein Denkzettel braucht keine Tötungsabsicht zu enthalten. Da kann sich Ivanovic leicht herausreden.» «Leider. Er wird seinem Schwager kaum Tötungsabsichten verraten haben, zumindest nicht per Mail. Dafür ist er zu clever.» «Vielleicht hat sich Petrovic zur Sache geäussert. Wir sollten die serbo-kroatischen Mails übersetzen lassen. Wie lange dauert so etwas?» Scheideggers Handy klingelte. Er sprach kurz hinein und machte grosse Augen. «Es ist der KTD. Wegen der Spurensicherung bei Ivanovic.» Wicki zündete sich eine Zigarette an, während er den Inhalt der Maildatei Ivanovics auf ein separates File kopierte. Scheidegger stellte das Handy ab und sagte mit sichtbarer Begeisterung: «Jetzt haben wir ihn! Die Abdrücke im Wald stammen von den Reifen des Toyota. In den Rillen befinden sich Erdreste aus dem Waldboden.» «Tönt ganz schön. Aber kein Richter wird ihn deswegen als Mörder von Dolores und Adolf Grütter verurteilen.» «Moment. Im Kofferraum des Toyota lag eine volle PVCFlasche, wie sie in der Apotheke des Spitals vermisst wird. Das Verbrennungsprodukt des Benzins deckt sich chemisch mit den Flüssigkeitsspuren aus der eingeäscherten Scheune.»
Wicki sah noch immer keinen Grund, um abzuheben. Er stellte fest: «Auch das reicht nicht, um Ivanovic festzunageln.» «Warten wir ab, was die Mails hergeben. Hast du was bei Dolores Grütter gefunden?» Wicki drückte seine Zigarette im Lavabo aus. «Nichts. Aber meine Suche ist noch nicht zu Ende. Dein Anruf kam dazwischen.» Die Tür öffnete sich. Herein kam Doktor Brander, mit bösem Blick und einer breiten Zornesader auf der Stirne. «Was machen Sie hier?» «Wir unterhalten uns,» sagte Scheidegger ruhig. «Und wir warten, bis der Herr Doktor für uns seine kostbare Zeit opfert.» «Da können Sie lange warten. Ich habe nämlich keine Zeit.» «Ihr Pech, Doktor Brander. Denn Sie haben uns angelogen. Hier werden doch Transplantationen gemacht. Das beweist das Lager mit den Transmutane-Ampullen im Keller.» Brander schnappte nach Luft. «Wie kommen Sie zu der Behauptung?» Scheidegger sah Brander mit scharfem Blick an. «150000 Ampullen Transmutane – was hat diese enorme Menge hier zu suchen, wenn die Chirurgie keine Transplantationen vornimmt?» «Darüber weiss einzig der Chef Bescheid. Ihn müssen Sie fragen, wenn Sie Genaueres erfahren möchten.» «Demnach wird das Transmutane nicht hier im Spital verwendet?» «Nein. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir nur kleine Gewebstransplantationen machen. Dafür braucht es keine Medikamente, um der Abstossungsreaktion des Körpers zu begegnen. Kann ich jetzt wieder gehen?» Wicki schaltete sich ein. «Eine Frage noch, Dr. Brander. Wer hat Frau Dolores Grütter eingestellt – Doktor Ivanovic oder Sie?»
«Doktor Ivanovic.» «War sie eine gute Mitarbeiterin?» Brander dachte einen Moment nach. «Soweit ich das beurteilen kann, arbeitete sie zuverlässig.» Wicki hakte nach: «Könnte eine Angestellte, sofern sie zur persönlichen Hilfskraft des Professors bestimmt worden wäre, Zugang zu seinem Computer bekommen?» «Das halte ich für undenkbar. Dazu müsste die Hilfskraft ja über sein Passwort verfügen. Und dieses kenne nicht einmal ich.» Als Brander gegangen war, meinte Scheidegger: «Der Kerl weiss einiges mehr, als er preisgibt. Vermutlich hat ihn Ivanovic präpariert.» «Da bin ich mir nicht so sicher. Wenn er seine Rolle als Untergebener akzeptiert hat, könnte es sein, dass er gar nicht alles wissen will, was um ihn herum vorgeht. Das käme Ivanovic natürlich entgegen.» «Ernst, wir müssen die Hausdurchsuchung abschliessen.» «Einverstanden. Was ist mit Ivanovics Schreibtisch?» Wicki deutete auf das massive Möbelstück. Dessen Schubladen liessen sich öffnen bis auf eine. Wicki rüttelte daran. «Haben wir keinen Schlüsselspezialisten dabei?» «Natürlich.» Der Mann brauchte keine fünf Minuten, um das alte Schloss zu knacken. Nachdem er sich verabschiedet hatte, durchsuchte Wicki die Schublade. Ein Pfiff der Überraschung entfuhr ihm. Unter Briefumschlägen und einer Zigarrenschachtel lag eine Pistole. Scheidegger triumphierte: «Na, wenn das nichts besagt!» Wicki wehrte ab. «Eine Pistole im Schreibtisch macht Ivanovic noch nicht zum Täter, den wir suchen.»
«Zusammen mit all den anderen Indizien? Na hör mal, Ernst, jetzt übertreibst du!» «Nein, ich möchte ganz sicher gehen. Ich habe schon eine Idee, wie ich dieses Problem lösen werde.» Wicki nahm die Pistole aus der Schublade und entlud sie. Er steckte die Patronen in die Tasche. Dann legte er die Waffe zurück. «Willst du mir diese Idee bitte verraten, sodass ich dir sagen kann, ob sie etwas taugt oder nicht?» «Das Einzige, was ich dir dazu sagen kann. Hans: Ich brauche das Taschentuch, das ich hinter Grütters Haus gefunden habe.» «Wozu denn?» «Darauf stehen die Initialen des Professors: Ivica Ivanovic. Ich hielt sie für römische Ziffern. Bis ich ihre wahre Bedeutung erriet, als ich hier im Schreibtisch auf seinem Briefpapier dieselben Zeichen sah.»
31 Stümperei
Wicki nutzte den Nachmittag, um Berichte zu schreiben und Gespräche mit dem KTD zu führen. Zwei Übersetzer übertrugen die Mails aus Ivanovics PC vom Serbo-Kroatischen ins Deutsche. Ihre Resultate brachten sie laufend herbei, sodass sich die Ausdrucke auf Wickis Pult stapelten. Er arbeitete bis spät in die Nacht und gönnte sich lediglich eine Tasse Kaffee und ein Sandwich. Viele Mails waren belanglos oder betrafen die Arbeit des Mediziners, durchsetzt mit unverständlichen Fachwörtern. Die Botschaften, die Ivanovic an Petrovic gesandt hatte, waren interessanter. Mal ging es um den Autohandel, an dem Ivanovic offensichtlich beteiligt war, oder um «das Material», das nie bei seinem wirklichen Namen genannt wurde. Allmählich erkannte Wicki, dass die Autoschiebereien direkt mit dem Organhandel in Verbindung standen. Jedes dritte oder vierte Mal, wenn Petrovic oder einer seiner Boten mit einem gestohlenen Wagen in den Osten führ, kam er mit «Ware» zurück, was er in seinen Mails stets mit «Lieferung o. k.» quittierte. Da sich die Mails über zwei Jahre zurückverfolgen liessen, waren Transporte zustandegekommen, deren Wert Wicki auf 1,2 Millionen Franken schätzte. Ein Riesengeschäft mit wenig Risiko, da Petrovic das «Material» jeweils direkt an seinen Bestimmungsort in Deutschland, Österreich oder Italien brachte. Nachts um zwölf war Wicki hundemüde. Aber er wollte die Durchsicht der Mails beenden, um sicher zu sein, dass er nichts übersehen hatte, wenn er zu seiner geplanten Aktion startete. Er las und las, aber nun tauchte nichts Aufregendes mehr auf.
Es war mühsam und langweilig, die sich ähnelnden Briefe medizinischen Inhalts durchzulesen. Mehrmals fielen Wicki die Augen zu. Aber er riss sich zusammen und las weiter. Plötzlich rüttelte ihn eine Nachricht hellwach. Diese karibische Nutte hat einen Anwalt konsultiert. Offenbar will sie aufs Ganze gehen. Die Sache wird jetzt wirklich gefährlich. Dragan, wir müssen – Irgendwann schlief Wicki ein. Morgens um halb acht weckte ihn eine Putzfrau. Nach einem starken Kaffee und zwei Zigaretten setzte er sich wieder vor den Berg von Mails. Endlich klingelte das Telefon. «Meier am Apparat.» «Ja?» «Er ist soeben zurückgekommen. Sah ihn durch den Spitaleingang hinein gehen. Soll ich ihm folgen?» «Nein! Bleiben Sie, wo Sie sind, Meier! Sollte er das Spital verlassen, folgen Sie ihm. Haben Sie jemanden, der fährt?» «Greiner sollte demnächst eintreffen. Er hat Bauchschmerzen und holt sich zu Hause gerade ein Aspirin.» «Bleiben Sie, wo Sie sind und halten Sie Kontakt. Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.» «In Ordnung.» Wicki rief Scheidegger an, der aber noch nicht im Büro war. Er hinterliess eine Meldung. Dann steckte er seine Dienstpistole in die Tasche und rannte zum Streifenwagen in der Garage. Er stellte die Sirene ein und brauste los. Den grellen Ton und das Aufsehen, das sie erregte, mochte er nicht. Aber es ging nicht anders. Er raste von Liestal nach Basel und dort quer durch die Stadt nach Allschwil. Noch ausser Hörweite des Spitals stellte er die Sirene ab.
Er parkte den Polizeiwagen hinter dem weissen Opel Variant. Meier sass hinter dem Steuer und kaute gemütlich an einem Apfel. «Ist Greiner gekommen?» «Nein, aber er hat sich gemeldet. Steckt irgendwo im Stau.» «Hören Sie zu, Meier. Ich gehe jetzt hinein und knöpfe mir den Professor vor. Sobald Greiner eingetroffen ist, überlassen Sie ihm den Wagen und warten auf mich im Empfangsraum neben der Rezeption. Sollte ich bis in einer halben Stunde nicht erscheinen, schlagen Sie Alarm. Sollte der Professor zum Ausgang gehen, müssen Sie ihm folgen. Sie haben einen Fahrer dabei und halten Kontakt mit der Zentrale. Noch Fragen?» «Nein.» «Okay. Bis später.» Wicki betrat die Eingangshalle und warf einen Blick zum Empfangsdesk hinüber. Die Dame war mit einem Patienten beschäftigt. Er ging unbemerkt vorbei, die Treppe hoch. Vor Ivanovics Sprechzimmer zog er das Taschentuch mit den Initialen hervor. Dann öffnete er die Tür. Der Professor sass hinter dem grossen Schreibtisch und telefonierte. Als er den Besucher erblickte, sagte er in den Hörer: «Ich rufe zurück…» Dann musterte er Wicki, bevor er fragte: «Haben Sie bei mir einen Termin?» «Nein, Herr Doktor! Ich bin kein Patient.» Ivanovic erhob sich von seinem Stuhl und kam auf Wicki zu. Er strahlte Würde aus in seinem weissen Mantel und betrachtete den ungebetenen Besucher aufmerksam. «Jetzt erinnere ich mich. Sie waren letzte Woche hier – wegen Frau Grütter. Wie lautete doch gleich Ihr Name?» «Wicki. Kriminalpolizei Baselland. Haben Sie das hier im Flur verloren? Ihre Initialen sind drauf.»
Wicki legte das Taschentuch auf den Schreibtisch. «So? Danke.» Ivanovic nahm es achtlos entgegen und schob es in eine Schublade. «Gern geschehen.» «Setzen Sie sich bitte. Was kann ich für Sie tun, Herr Kommissar?» Wicki nahm auf einem der mit Leder gepolsterten Stühle Platz. Er beugte sich etwas vor: «Herr Doktor, Sie haben bei Frau Dolores Grütter einen Schwangerschaftstest gemacht?» Ivanovic blieb unbewegt, als er sagte: «Das ist richtig.» «Wie alt war der Fötus zu jenem Zeitpunkt?» Der Professor dachte nach. Schliesslich erwiderte er, noch immer völlig ruhig: «Sechs Wochen.» Wicki lehnte sich zurück und sagte: «Für einen Chirurgen mit lauter Erstklasspatienten recht ungewöhnlich, zumal der Test an einer Angestellten der Klinik vorgenommen wurde. Haben Sie dafür eine Erklärung?» Ivanovic verkündete mit Sarkasmus in der Stimme: «Es ist keinem Arzt verboten, solche Tests zu machen. Und es gehört zu seinen Pflichten, einem Menschen in Not zu helfen.» «Der hippokratische Eid, nicht wahr? Eine Frage der Ethik, gewissermassen. Hätten Sie das Baby auch abgetrieben, wenn Frau Grütter in der Not Sie darum gebeten hätte, Herr Doktor?» In Ivanovics Augen war die reine Verwunderung. Aber sie kam Wicki gespielt vor. «Was bringt Sie darauf? Dazu bestand doch gar keine Veranlassung.» Wicki beugte sich erneut vor, als er sagte: «Sie irren, Herr Doktor. Das Kind stammte nicht vom Ehemann. Aber das ist eine andere Geschichte. Interessant finde ich, dass Sie sich auf den Ehrenkodex des Arztes berufen, der Leben schützen und retten will. Ich komme nämlich in einer öffentlichen Angelegenheit zu Ihnen. Herr Ivanovic, ich verhafte Sie wegen
Mordes an drei Menschen: an Adolf Grütter, an seiner Frau Dolores und an dem Baby, das Frau Grütter in sich trug.» Ivanovic sah Wicki erstaunt an und das nicht einmal unfreundlich. Er schien im Gegenteil amüsiert. «Sie müssen sich in der Adresse geirrt haben, Herr Kommissar.» «Keineswegs. Dolores entdeckte den Organhandel, mit dem Sie seit Jahren Geld verdienen – enorm viel Geld. Das hat Sie beunruhigt. Sie drohte Ihnen mit einer Anzeige. Das hat Sie alarmiert. Wir haben Ihre elektronische Post durchgekämmt, in der Sie darauf anspielen, Dolores umzubringen.» Wicki hatte die Bewegungen von Ivanovic im Auge behalten. Er wusste, was jetzt kam. Der Arzt öffnete eine Schublade und entnahm ihr die Pistole. Er sagte mit kaltem Blick: «Legen Sie sich auf den Boden, die Hände auf den Rücken.» Wicki tat keinen Wank. «Lassen Sie das Spielchen, Professor. Sie beisst nicht. Ich habe ihr gestern die Zähne gezogen.» «Dabei vergassen Sie, die Schublade wieder zu verriegeln. Ich habe sie nachgeladen.» Wicki durchfuhr es heiss und kalt. Jetzt nützte ihm auch seine Dienstpistole nichts mehr. Aber wenn Ivanovic bluffte? Wo konnte er zu diesem Zeitpunkt die Ersatzmunition für die Pistole her kriegen? In der Schublade war tags zuvor jedenfalls keine zu finden gewesen. Wicki sagte, um Zeit zu gewinnen: «Was wollen Sie tun? Meine Kollegen wissen Bescheid. Mich umzunieten wird Ihnen nichts nützen. Das Haus ist umstellt. Sie entwischen uns nicht.» «Legen Sie sich auf den Bauch, Kommissar. Kreuzen Sie die Arme auf dem Rücken, damit ich Sie festbinden kann. Und halten Sie den Mund.» Wicki sah ein, dass Widerstand zwecklos war. Er legte sich bäuchlings auf den Boden.
Als er die Arme auf dem Rücken verschränkte, spürte er einen harten Schlag am Kopf. Er sah, wie Ivanovic nochmals ausholte und wollte sich wehren. Zu spät.
32 In den Tiefen des Ozeans gibt es keine Stürme
Wicki erschrak. Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihn, als er seinen Kopf betastete. Eine Beule, gross wie ein Ei, unter einer Lage Verbandsstoff. Er spürte, wie eine Hand sanft über seine Stirn glitt. «Lass es bleiben, Häuptling.» Er schlug die Augen auf. Melanie hielt einen Finger vor die Lippen. «Keine Bewegung.» Sie küsste ihn auf den Mund. «Träume ich oder bin ich wach?» «Du träumst. Schlaf weiter.» Er liess sich treiben und spürte ihre Hand auf den Schläfen. Dann sagte er: «Ich habe echt geträumt, ich schwimme im Meer, tief unter Wasser. An Korallenriffen vorbei und an Höhlen, aus denen mich die Augen von Fischen anglotzten. Vollkommene Stille und eine Helligkeit, als ob gerade die Sonne aufgegangen sei.» «Klingt schön.» «Es war schön. Ich musste an einen Satz denken, den ich mal gelesen habe.» «Ja?» «In den Tiefen des Ozeans gibt es keine Stürme.» Sie betrachtete ihn schweigend. Er sagte mit geschlossenen Augen: «Wunderbar, dich hier zu haben, Mel. Wann bist du gekommen?» «Zu spät. Ich telefonierte mit Scheidegger, da ich dich im Büro nicht erreichte. Als ich erfuhr, dass du im Spital seist, hatte ich einen Riesenschreck. Aber als ich deine grosse Beule sah, war ich beruhigt.»
«So?» «Du hast die Sache offenbar allein regeln wollen. Der Häuptling auf dem Kriegspfad und keiner kann ihn davon abhalten!» Wicki öffnete die Augen und lächelte. «Es ging nicht anders, Mel.» «So werden Helden geboren. Mit Beulen und Kratzern.» «Wo bin ich überhaupt?» «Im Kantonsspital. Chirurgie.» «Chirurgie? Wieso denn das?» «Man vermutete ein Schädeltrauma. Du hast wirres Zeug dahergeredet. Aber dein Kopf ist härter, als man vermutete. Warum wurdest du zusammengeschlagen?» «Ich erinnere mich nicht mehr genau. Ich lag am Boden und Ivanovic schlug mit einem harten Gegenstand auf meinen Kopf.» Melanie machte ein zorniges Gesicht. «Dieser Bösewicht!» «Ist er abgehauen?» «Sie haben Petrovic, die zentrale Figur. Lass dir den Rest von Hans berichten.» «Ist er hier?» «Er respektiert es, dass die Geliebte den Helden zuerst sehen möchte.» «Und ich glaubte dich in Casablanca, in den Armen von Humphrey Bogart oder irgendeiner arabischen Kopie von ihm.» «Bogey ist tot, Häuptling.» «Küss mich.» Scheidegger hatte den Raum unbemerkt betreten. Er wartete, bis sich ihre Lippen voneinander lösten. Dann räusperte er sich. Wicki fragte: «Habt ihr Ivanovic?» «Und was, wenn nicht?»
«Dann waren meine Prügel umsonst. Ich hab ohnehin alles verscherbelt mit meiner Ungeduld und meiner Naivität.» Scheidegger schmunzelte. «Tja, ein Andenken hast du zumindest…» «Weil wir dem Schlüsselspezialisten aufzutragen vergassen, die Schublade in Ivanovics Schreibtisch wieder fachgerecht zu verriegeln. Der Kerl fand das geöffnete Geheimfach und die entladene Pistole. Da wusste er Bescheid. Er lud sie nach und hatte leichtes Spiel gegen mich. Ich kam mir vor wie ein Anfänger.» «Verdammt, du hast Recht. Jetzt wird mir auch klar, wieso er dich zusammenschlagen konnte. Ich hielt dich nie für einen begabten Boxer, aber dass du gegen diesen weisshaarigen Chirurgen Anfang Sechzig groggy gingst, das hat mich ziemlich erschüttert.» Scheidegger grinste. Wicki lachte ebenfalls. «Zum Schaden noch den Spott. Geschieht mir recht. Ich war nicht vorsichtig genug. Ich triumphierte, als er das Taschentuch mit seinen Initialen an sich nahm und einsteckte. Jetzt ist er geliefert, dachte ich. Aber ich hatte mich getäuscht. Der Kerl ist zäh. Ich glaube, wir haben ihn ziemlich unterschätzt.» «Das stimmt. Am Plan für deine Aktion war eigentlich nichts falsch – ausser dass du Ivanovic allein fangen wolltest. Mehreren Leuten hätte er niemals entwischen können.» «So ist er abgehauen?» «Ein Zollbeamter in Schaffhausen erkannte ihn aufgrund des Bildes, das wir an alle Grenzwachtposten gefaxt hatten. Sie fanden dort auch die Pistole auf ihm, mit der er dich zu Boden schlug. Weil Ivanovic keinen Waffenschein vorzuweisen hatte, nahm ihm der Zöllner den Pass und sämtliche Papiere ab. Dann liess er den Porsche, mit dem Ivanovic fliehen wollte, durchsuchen. Darin kam eine Tasche mit 150000 Euro zum
Vorschein, ausserdem die detaillierte Beschreibung einer Fahrtroute durch Deutschland und über die Tschechei nach Moldawien.» «Ein Wagen, den Petrovic für Organtransporte benutzte?» mutmasste Wicki. «So scheint es. Aber der Clou kommt noch: Weisst du, was man darin fand, als man ihn demontierte?» «Keine Ahnung.» «Eine Liste der Abnehmerkliniken in Deutschland, ein paar Schachteln Transmutane und einige Tausend Dollar, die im Porsche als eiserner Vorrat mitgeführt wurden, offenbar, damit man im Osten jederzeit bar bezahlen konnte.» «Hat Ivanovic gestanden?» Scheidegger schüttelte nachsichtig den Kopf. «Du bist zu ungeduldig, Ernst. Lass dir doch etwas Zeit. Ich wollte dir das Vergnügen, den Professor selber in die Mangel zu nehmen, nicht trüben. Er sitzt im U-Gefängnis und wartet auf die Vernehmung.» «Mit diesem Schädel kann ich kein Verhör durchrühren.» «Die Beule wird den Professor kaum stören, vermute ich, sondern eher freuen. Zudem hat er Zeit. Er wird sich gedulden, bis dein Kopf wieder mitmacht.» «Ich muss sofort hin!» Wicki machte Anstalten sich aus dem Bett zu erheben. Melanie und Scheidegger hielten ihn zurück. «Willst du den gleichen Fehler zweimal machen?» meinte Scheidegger. «Du musst fit sein, um einem Kerl wie Ivanovic gegenüberzutreten. Als halbes Wrack – da macht er sich nur lustig über dich.» Wicki liess sich zurück aufs Bett fallen. Der Kopf tat verdammt weh. «Vielleicht hast du Recht, Hans. Wir wollen es dem sauberen Chirurgen nicht allzu leicht machen. Und Petrovic?»
«Die Zürcher haben ihn ziehen lassen.» Wicki blickte Scheidegger an: «Der Kerl ist doch vorbestraft.» «Momentan liegt nichts gegen ihn vor. Solange wir keine Unterlagen für einen Haftbefehl liefern, läuft er frei herum.» «Das darf doch nicht wahr sein! Petrovic ist der engste Mitarbeiter von Ivanovic!» «Sag du das mal den Zürcher Untersuchungsbeamten. Die wissen nichts von den Mails, die du vorige Nacht in dich aufgesaugt hast. Woher sollen sie da Anhaltspunkte für eine Verhaftung nehmen? Für seine früheren Delikte hat Petrovic ja gebüsst. Und auf blossen Verdacht hin wird hierzulande niemand verhaftet.» «Du meinst, weil er am Organhandel beteiligt war? Aber das allein zählt doch nicht. Petrovic steckt tief in der Sache mit Dolores Grütter drin, ist Mitwisser und möglicherweise sogar Mittäter, was die beiden Morde betrifft.» «Daraus wird nichts, Ernst. Petrovic ist gestern Nacht nach Osteuropa abgehauen, eine halbe Stunde, nachdem sein Schwager das Weite gesucht hatte. Offiziell fuhr er zu einem Verwandten, der plötzlich krank geworden sei. Aber niemand in der Garage weiss, wohin er unterwegs ist. Ich denke mir, dass es ganz schön lange dauern kann, bis dieser Vogel wieder in die heimatlichen Gefilde zurück findet. Da halten wir uns lieber an den Professor. Es müsste schon seltsam zu und her gehen, wenn es uns nicht gelänge, ihn für den Mord an Adolf und Dolores Grütter hinter Gitter zu bringen.»
33 Der Rosenstrauch
Ein paar Tage später stand Wicki vor Melanies Haustür und klingelte. Er trug einen Hut, damit der Verband um seinen Kopf nicht so auffiel. In der Hand hielt er einen grossen Tontopf. Das Wetter, gar nicht wie im April, war in letzter Zeit fast sommerlich heiss gewesen, mit viel Sonnenschein und ein paar Regentropfen, die man aber, wegen der ungewohnten Wärme, kaum zur Kenntnis nahm. Wicki schwitzte unter seinem Hut. Am liebsten hätte er den Verband abgerissen. Aber die behandelnde Ärztin akzeptierte das wohl nicht – erst recht nicht, weil Wicki sich sonst kaum an ihre Anweisungen hielt. Er hatte schon im Spital lange Telefongespräche geführt statt zu ruhen, und war dann, zum Entsetzen der jungen Medizinerin, die vergeblich Einspruch erhob, drei Tage zu früh an die Arbeit zurückgekehrt. Melanie öffnete, in einen blauen Bademantel gehüllt. Ihr blondes Haar war nass, und ihre Füsse steckten in Espadrilles. «Ernesto! Ich dachte, du seist ans Spitalbett gefesselt!» «Ich musste dich sehen.» Sie umarmte ihn. Er küsste sie auf den Mund. Ihr frisch gebadeter Körper roch nach Mandelmilch. «Wie siehst du aus! Ganz verschwitzt! Und wozu dieser unsägliche Hut?» rief sie. «Nur zu, mach du dich auch lustig über mich. Geschieht mir ganz recht. Ich habe dir eine Rose mitgebracht, Mel. Wenn du sie gut pflegst, wird daraus eines Tages ein grosser, schöner Strauch mit Hunderten von Blüten. Sie heisst ‹Mozart›.» «Und womit habe ich ‹Mozart› verdient?»
«Ohne dich hätte ich den Fall Grütter nicht lösen können.» «Das kann ich mir nicht vorstellen.» «Das Ergebnis ist überraschend. Darum zählt deine Hilfe umso mehr.» Melanie schwieg, vor Verlegenheit, vor Freude. «Komm herein! Erzähl.» «Heute morgen, um halb vier, habe ich Ivanovic platt an die Wand genagelt. Ein hartes Stück Arbeit. Noch hat er nicht gestanden. Aber die Beweislast ist erdrückend. Er müsste intelligent genug sein um zu erkennen, dass wir ihn auch ohne Geständnis für mindestens fünfzehn Jahre unschädlich machen können. Als Chirurg hat er natürlich ausgespielt. Und erst recht als Frauenbetörer und Organhändler.» «Wieso erwähnst du das miteinander?» «Es gehört zusammen, Melanie. Seine Schwäche für Frauen wurde ihm zum Verhängnis.» «Das verstehe ich nicht.» «Ich werde es dir erklären. Hast du Zeit für einen kleinen Spaziergang? Wir könnten von hier zum Wasserturm und ein Stück weiter bis nach Reinach spazieren…» «Okay. Ich bin in zwei Minuten bereit.» Sie küsste ihn und verschwand im Schlafzimmer. Er stellte den Rosentopf auf die Terrasse in die Sonne. Noch verriet nichts an der kleinen Pflanze die Blütenpracht, die aus ihr emporwachsen würde. Doch Wicki wusste, wie so ein Busch aussah. Voll zarter, kleiner dunkelrosa Blüten, die das Entzücken Melanies hervorrufen würden. Sollte er ihr sagen, dass er den Tip vor Jahren von Tania, die etwas von Blumen verstand, bekommen hatte? Wahrscheinlich würde sie es falsch deuten. Besser, er gab es für seine eigene Idee aus. Ein schönes Geschenk war es allemal. Melanie trug eine gelbe Samthose und ein hellblaues T-Shirt. Um den Hals hatte sie lose einen schwarzen Pullover geknüpft.
Wicki verspürte grosse Lust sie zu umarmen und an sich zu drücken. Aber er liess es bleiben. Auf dem Weg zum Wasserturm hinauf hängte er sich bei Melanie ein. Er genoss das Licht, die Wärme, das Schattenspiel der Bäume und Häuser auf den Strassen. Einmal kläffte ein Hund hinter ihnen her. Oben auf dem Bruderholz setzten sie sich auf eine Bank. Wicki nahm den Hut ab und wischte sich die Schweissperlen von der Stirn. Schliesslich zog er sein Jackett aus. Er steckte sich eine Zigarette an, nahm zwei Züge und warf sie fort. Melanie sah es mit Verwunderung. Sie legte eine Hand auf sein Knie und küsste ihn auf die Wange. «Zur Belohnung», sagte sie und schmunzelte. Wicki sah sie einen Augenblick befremdet an. Dann verstand er. Er nahm ihre Hand in seine Rechte und begann zu erzählen. «Ivanovic war unter Tito Offizier in psychologischer Kriegsführung. Das behauptet er zumindest. Er wurde 1934 geboren und ist Kroate. Sein Metier lernte er als 19-jähriger bei den Briten. Nichts Ungewöhnliches, meint er, da es nach dem Krieg an älteren Jahrgängen gefehlt habe. Arzt wurde er erst später. Die Engländer trainierten Titos Geheimdienst und boten logistische Unterstützung, als Fortsetzung ihrer Hilfe für Tito gegen die Nazis…» «Wer ist Tito?» «Tito war der Begründer von Nachkriegsjugoslawien, dessen verschiedene Völker er dank seiner Autorität als Partisanenführer im Zweiten Weltkrieg zusammenhalten konnte. Als er starb, fiel Jugoslawien auseinander. Alte Rechnungen wurden beglichen – mit grauenhaften Folgen. Du hast bestimmt Namen wie Srebrenica, Vukovar oder Sarajewo gehört. Dort gab es Massaker an der Zivilbevölkerung, wie man sie im zivilisierten Europa nicht mehr für möglich hielt.»
Wicki machte eine Pause, um sich erneut eine Zigarette anzuzünden. Aber als er Melanies Hand auf der seinen spürte, liess er es bleiben. Sie sagte: «Warum erzählst du mir das alles? Hat es etwas mit den Morden zu tun?» «Die ganze Zeit über fragte ich mich, wie ein Mensch, der sich nach aussen hin gesittet und gebildet gibt, zwei Morde so kaltblütig planen und durchführen kann.» Melanie ergriff Wickis Arm. «Dann ist Ivanovic wirklich der Täter?» «Ja. Jedenfalls ist das meine Überzeugung gemäss den Indizien, die wir zusammengetragen haben. Obwohl er es zu Beginn des Verhörs bestritt und die Morde dem jungen Dulliger unterschieben wollte.» «Hatte er denn ein Motiv?» «Das war der Kernpunkt der ganzen Sache. Und du hast mir geholfen, meine Aufmerksamkeit darauf zu richten.» «Ist das nicht ein bisschen übertrieben, Häuptling?» Melanie streichelte sanft über seinen Kopfverband. «Das Entscheidende war die Entdeckung von Dolores Grütter, dass Ivanovic mit seinem Schwager einen schwungvollen Handel trieb: Autos gegen Nieren, etwas vereinfacht gesagt. Es war Ivanovics Pech, dass ihm in Dolores eine Frau gegenüber stand, die in der eigenen Familie erlebt hatte, welche Schrecken mit dem Organhandel verbunden sein können. Er unterschätzte ihren Widerstandswillen, vermutlich, weil er seinen Charme bei Frauen für unwiderstehlich hielt. Jedenfalls teilte sie ihm eines Tages mit, sie sei mit einem Anwalt in Kontakt getreten, wegen ihrer Mitwisserschaft in Sachen Organtransporte.» «Was tat Ivanovic?» «Was Sie über seine Machenschaften herausfand, wissen wir nicht. Aber mit grosser Wahrscheinlichkeit war es etwas, das den Professor in Panik versetzte. Daraufhin befragt, gab er an,
Dolores Grütter habe ihn bedroht, und er habe um seine materielle Existenz fürchten müssen.» «Hatte er Angst, es wäre auch als Chirurg um ihn geschehen?» «Ivanovic hat etwas von einem Spieler. Obwohl er ein erfolgreicher Chirurg war, stieg er in den Handel mit Organen ein. Daran reizte ihn das Geld, aber auch der Kick des Verbotenen und Heimlichen. Dann kam diese Frau daher, mit ihrem Trauma in Sachen Organhandel, und schon schien alles in Frage gestellt. Typen wie Ivanovic zögern in einer solchen Lage nicht lange. Sie eliminieren den Störfaktor, wie sie es gelernt haben. Und Ivanovic hatte als Geheimdienstmitarbeiter von Tito genügend Gelegenheit, sich mit Methoden zur Beseitigung unliebsamer Zeugen vertraut zu machen.» «Es ging also um die Frau, nicht um ihren Mann, wie ihr zuerst gedacht hattet?» «Ich sagte ja, du hast uns auf die richtige Fährte geführt. Die Verwendung des Beils verriet ihn. Ivanovic hätte Dolores Grütter auf verschiedene Arten umbringen können, zum Beispiel im Spital, mit einem vorgetäuschten Unfall, und niemand wäre darauf gekommen. Aber er war vorsichtig genug, hinter dem Anwalt, den Dolores kontaktiert hatte, jemanden zu vermuten, der Verdacht geschöpft hätte, wenn Dolores im Spital umgekommen wäre. Er dachte sich etwas Besonderes aus. Er würde sie zu Hause umbringen, zusammen mit ihrem Gatten, um ein Eifersuchtsdrama vorzutäuschen.» «Aber wozu das Beil? Und der tote Hund?» «Ivanovic war überzeugt, ein perfektes Verbrechen begangen zu haben. Als ich ihm sagte, die Tötung des Hundes sei das Dümmste gewesen, was er habe tun können, blickte er mich verständnislos an. Er hielt den Tiermord für das letzte Glied in seinem verbrecherischen Kunstwerk.»
«Du hast meine Frage nicht beantwortet, Ernesto. Warum brachte er den Hund um?» «Er dachte, ein bellender oder winselnder Hund würde in der Nachbarschaft bemerkt. Doch er bedachte nicht, dass eben der Umstand, dass der Hund nicht mehr bellte, ihn verraten könnte. Die Aussagen des ehemaligen Dorfschullehrers, der den anschlagenden Hund auf seinem nächtlichen Spaziergang vermisste, führten dazu, dass wir die Zeitspanne, in der der Mord passierte, ziemlich exakt festlegen konnten.» «Und wozu schleppte Ivanovic das Beil her? Um die getötete Dolores zu zerstückeln, wie du einmal vermutet hast? Aber weshalb denn, wenn die Frau, die seine Existenz bedrohte, nicht mehr am Leben war?» «Darüber musste ich lange nachdenken, ohne mir schlüssig zu werden. Zuerst meinte ich, Ivanovic habe das Beil an den Tatort mitgenommen, um die Verstümmelung dem Gatten der Toten unterzuschieben, als einen brutalen Akt der Eifersucht oder Rache. Doch die zweite Version, welche mit deiner Idee zusammenhängt, schien mir plausibler.» «Du meinst… – aber das wäre ja grauenhaft, Ernesto!» Melanie blickte Wicki mit aufgerissenen Augen an. Er sagte ruhig: «Darum kann ich mir schwer vorstellen, dass ein Mensch wie Ivanovic zur zivilisierten Welt gehören will.» Melanie fragte mit leiser Stimme: «Er zerstückelte sie aus sinnloser Wut, um sich an ihr zu rächen?» «Genau das denke ich mir.» «Und liess es so aussehen, als wäre der Gatte der Täter?» «Richtig.» Melanie überlegte einen Moment. Dann meinte sie: «Aber was für ein Motiv hätte Ivanovic denn gehabt, Dolores nicht nur zu töten, sondern sie über den Tod hinaus zu schänden, indem er ihren schwangeren Leib verunstaltete? Und er hat sie ja nicht nur zerstückelt, sondern auch noch verbrannt…»
«Ich kann mir bei einem Typen wie ihm nur ein Motiv vorstellen, das mit seiner verletzten Männlichkeit zu tun hatte. Vielleicht irgendwas im geschlechtlichen Bereich.» «Du meinst, er ertrug es nicht, von ihr als Liebhaber abgewiesen zu werden? Aber er hätte sie doch einfach entlassen können.» «Ist ja auch egal. Jedenfalls muss etwas vorgefallen sein, weswegen er Dolores bis aufs Blut zu hassen begann.» Wicki fuhr sich über die Stirn, um den Schweiss abzuwischen. «Hast du ihn deswegen befragt?» «Klar. Leider versteift er sich darauf, dass wir ihm alles schwarz auf weiss beweisen müssen. Dennoch hat er sich wider Willen verraten. Es gibt da ein Mail, in dem er seinem Schwager Petrovic mitteilt, «die schwarze Nutte» wolle sich an einen Advokaten wenden, um ihn wegen Organhandels anzuzeigen. Es werde jetzt Zeit, ihr einen Denkzettel zu verpassen. Ich las Ivanovic dieses Mail vor und wollte wissen, was er mit dieser Formulierung gemeint habe. Der Kerl stellte nicht einmal in Abrede, dass es sich bei der «schwarzen Nutte» um Dolores gehandelt habe. Er sagte bloss, diese miese Südamerikanerin habe ihn mehrfach zu erpressen versucht, um ihren Lohn aufzubessern. Aus Wut habe er dann das Mail an den Schwager verfasst.» «Damit gestand er unbewusst, dass er mit Dolores in einem persönlichen Verhältnis stand.» «Genau. Als Klinikleiter hätte er auf Distanz gehen und sich gegen den Verdacht wehren müssen, dass das Mail etwas mit einer seiner Mitarbeiterinnen zu tun hatte. Er hätte eine Lüge erfinden können.» «Und du hast ihm geglaubt, dass Dolores ihn erpresste?» «Nein. Es war eine Schutzbehauptung, aber zu wenig durchdacht. Weshalb sollte eine Frau, die aus den elendesten Umständen in der Dritten Welt in quasi paradiesische
Verhältnisse hineinheiratet, später einen Job in ihrem erlernten Beruf bekommt und schliesslich schwanger wird, ihren Brötchengeber um Geld erpressen wollen? Das passt doch nicht zu ihrem Geisteszustand und Charakter.» «Vielleicht, um mit dem Kind allein leben zu können, wenn ihr Mann sich von ihr scheiden lassen würde, weil das Kind nicht von ihm stammte…» «Das klingt scheinbar vernünftig, Mel. Aber denkt eine Frau so, wenn die Geburt des Kindes, das sie sich sehnlichst gewünscht hat, bevorsteht?» Melanie schwieg eine Zeitlang. Dann sagte sie: «Vielleicht hast du Recht, Ernesto. Allerdings sind wir Frauen unberechenbar, wenn wir das unterm Herzen tragen, was uns zu Müttern macht.» Wicki verstummte ebenfalls. Die Worte Melanies machten ihn betroffen. War es der Umstand, dass sie vielleicht selber bald ein Kind «unter dem Herzen tragen» würde, wie sie sich etwas altertümlich ausdrückte? Oder war in ihren Worten eine Botschaft versteckt, die besagte: «Wenn es zwischen uns einmal nicht klappen sollte, werde ich Mittel und Wege wissen, mich mit dem Kind allein durchzubringen»? Wicki spürte für einen Moment eine Angst, zu verlieren, was er sich als Wichtigstes und Innigstes wünschte: Einen Menschen, der den Faden des Lebens dereinst weiterspinnen würde, den er hier und jetzt auslegte. Tania hatte darauf nicht eintreten wollen. Was war mit Melanie? Sie legte die Hand auf seinen Kopf und streichelte ihn ganz zart. Dann sagte sie leise: «Ist etwas, grosser Manitu?»