Lazaros Miliopoulos Atlantische Zivilisation und transatlantisches Verhältnis
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Atlantische Zivili...
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Lazaros Miliopoulos Atlantische Zivilisation und transatlantisches Verhältnis
Lazaros Miliopoulos
Atlantische Zivilisation und transatlantisches Verhältnis Politische Idee und Wirklichkeit
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage Januar 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Monika Mülhausen / Tanja Köhler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15292-9
Meinen E ltern
Inhalt
Vorwort .................................................................................................................................................. 15
Einfiihrung in das Thema 1.
Einleitung .....................................................................................................................................
17
Erkenntnisinteresse und erkenntnisleitende Fragestellungen ............................................. 2.1 Die Suche nach ,,Sicherheit durch Identit~it" und die Rolle Huntingtons ................. 2.2 Die Identit~it des ,,modernen Menschen" im Widerstreit: Peter L. Berger und Ulrich Beck ............................................................................................................................ 2.3 Die normative, zivilisatorische, geographische und politische Weitreiche des Westens und die Akmalit~it der deskriptiven Perspektive Oswald Spenglers ............ 2.4 Die M6glichkeit der weitergehenden Politisierung .........................................................
23 23 25 28 30
Stand der Forschung: Der Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation" i m Lichte der Geschichtsphilosophie und des geschichtswissenschaftlichen Forschungsstandes ........ 32 Ziel der Arbeit: Theorie der ,,Atlantischen Zivilisation" als ,,politische Idee" m d e r Tradition des politischen Atlantizismus seit 1939/47 .......................................................... 38 5.
Zusammenfassung ...................................................................................................................... 44
6.
Aufbau ........................................................................................................................................... 45
II
Einleitende Begriffsabgrenzungen Zur Operationalisierbarkeit des Atlantikbegriffes in Abgrenzung zum Begriff des , , W e s t e n s " . ...................................................................................................................................
49
2.
Abgrenzung des Zivilisationsbegriffes vom Moralbegriff ................................................... 50
III
Theoretischer Bezugsrahmen und methodologischer Problemaufriss
1.
Methodologische Abgrenzung v o m einseitigen Systemstrukturalismus ........................... 55 Das Problem der Verbindung ,,westlicher Freiheit" mit dem Prinzip des Werteneutralismus ....................................................................................................................... 59 2.1 Die Herausforderung eines wermeutralen Freiheitsbegriffes durch den terroristischen Islamismus .................................................................................................. 59
8
Inhalt 2.2 Das grundsiitzliche Problem eines wertneutralen Freiheitsbegriffes in existentieller Hinsicht nach Eric Voegelin ............................................................................................... 64 2.3 Das Problem eines wertneutralen Freiheitsbegriffes in philosophischer Hinsicht nach Eric Voegelin ............................................................................................................... 66 2.4 Kulturkritische Relevanz der philosophischen K_ritik am ,,westlichen" Werteneutralismus ................................................................................................................ 68 Methodologische Schlussfolgerungen und Probleme ........................................................... 3.1 Die historische Herleitung des Begriffs des Westens .................................................... 3.2 Der Begriff des Westens im Kontext eines historischen Essentialismus: H o m e r und Herodot ......................................................................................................................... 3.3 Der Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation" als ideelles Angebot und dazugeh6rige Fragestellungen ..................................................................................................................... 3.4 Die ,,Atlantische Zivilisation" als politische Idee und bildliches Symbol: Ein projektierender ,,Mythos" des Westens? ........................................................................... 3.5 Das Essentialismusproblem ................................................................................................ 3.6 Das Empirieproblem aus geschichtswissenschaftlicher und positivistischer Sicht .. Problemerwiderung .................................................................................................................... 4.1 Die zentrale Bedeutung der Idealtypusanalytik ............................................................... 4.2 Das Empirieproblem aus der Sichtweise der Hermeneutik und die synthetische Erkenntniskraft als geschichtswissenschaftliches Sinnkriterium .................................. 4.3 Das Empirieproblem aus der Sichtweise der Politikwissenschaft ............................... a) Der nicht-empirische Gehalt des Begriffs des Politischen als eigener Gegenstand ............................................................................................................................ b) Das Problem der Relevanz von Ideen und Werten in der Politik .......................... 4.4 Identitiitsprojektierende und ideologische Folgerungen aus der Essentialismuskritik .............................................................................................................. a) Posthistorische Mythen universaler Idealismusnegation (Fukuyama, Bolz) .......... b) Die anfessentialistische Betonung ,,projektiver Identitiit" bei Ulrich Beck und die menschenrechtsuniversalistische Partikularismuskritik ........................................... 4.5 Antworten .............................................................................................................................. a) Das kantische ,,Als-Ob-Modell" als theoretische Begriindung menschlichen ,,Angewiesenseins" auf Ideen ............................................................................................. b) Die Begrfindung des Partikularismus im Kontext der Eigenrealitiit des Politischen .............................................................................................................................. c) ,,Kosmopolitischer Skeptizismus" und ,,geltungstheoretischer Kontextualismus" als resultierende theoretische Pr~imissen ....................................... d) M6glichkeiten und Grenzen der Vereinbarung von kollektivem Stolz und individueller Freiheit ............................................................................................................
5.
Abschliel3ende Anmerkungen zur identit~itspolitischen Rolle der Eliten .......................
69 69 70 71 72 74 75 76 76 77 78 78 80 82 83 84 87 87 89 94 98 101
Inhalt IV
9
Der Zivilisationsbegriff Das singuldre Zivilisationsverstiindnis: Die positiv oder negativ normativierte und als universalisierbar a n g e n o m m e n e Singularzivilisation ........................................................... 1.1 D e r kulturalistische Zivilisationsbegriff .......................................................................... a) D e r Kulturbegriff ........................................................................................................... b) D e r Zivilisationsbegriff im radikalkulturalistischen Ansatz ................................... c) Steht der Kulturalismus dem westlichen Zivilisationsbegriff entgegen? ............. 1.2 Angelsiichsische und franz6sische Versionen einer imperialen Singularzivilisation ............................................................................................................... 1.3 Zivilisationsidee, Christentum, ,,politische Religionen" und die Idee der Zivilreligion ..........................................................................................................................
2.
103 103 103 104 106 108 111
Singulares Zivilisationsverst~indnis im soziogenetischen Ansatz von N o r b e r t Elias .... 115 Das plurale Zivilisationsverstiindnis ...................................................................................... 3.1 D e r morphologisch-kulturalistische Ansatz seit Spengler und T o y n b e e .................. 3.2 D e r anthropologische Ansatz und die Theorie der ,,Geozivilisationen" als Basis eines politisch-technisch-kulturellen Zivilisationsbegriffes ......................................... 3.3 Natur und Zivilisation zwischen Kulturrelativismus, n o r m a t i v e m Pluralismus und Universalismus .................................................................................................................... a) Die anthropologische Igxitik am Relativismus nach R o b e r t B. E d g e r t o n ............ b) Das ,,kulmrsimative" Sein des Menschen und das Entgrenzungspostulat der ,,reflexiven Modernisierung" ............................................................................................ c) Die Identitiitsformel der antirelativistischen Kulturanthropologie nach Richard A. Shweder .......................................................................................................................... d) Die Verfallstheorie von Brooks Adams .....................................................................
118 118 120 123 123 125 129 132
V
Die ideologische Dimension des singul~iren Zivilisationsbegriffs
1.
D e r radikalliberale T r a u m von der ,,Weltzivilisation" ........................................................
135
Liberales Zivilisationsverstiindnis und ideologisches K a m p f e l d des 19. j ahrhunderts ........................................................................................................................
137
M o d e m e Zivilisation, Marxismus, Totalitarismus: Zwischen ,,siikularisierter Gnosis", Dialektik der Aufldiirung und ,,gnostischem W a h n " im 20. J a h r h u n d e r t ...... 140 Strukturelle Gewalt westlicher Zivilisation und die ,,kommunikative Rationalitiit" nach Habermas ..........................................................................................................................
VI
145
Varianten des atlantischen Mythos und heutige Bedeutungen Platonischer Ursprung: Begriff, Wirkung und Bedeutung des Ur-Atlantizismus .......... 149 1.1 Begriff und Wirkung .......................................................................................................... 149
10
Inhalt 1.2 Die Bedeutung fiir den Westen nach Eric Voegelin .................................................... a) Symbol westlicher Denkimaginationskraft: Das erfundene Bild dutch Versenkung in den Mythos der Idee des Guten als Abbild Amerikas ...................... b) Das Prinzip der Verbindung von Idee und Wirklichkeit im Sinne der ,,Teilnahme" der Idee an der Wirklichkeit .....................................................................
153 153 157
Antiplatonische Variante: Die wissenschaftsutopische Umdeutung m d e r Neuzeit ..... 159 2.1 Francis Bacons ,,Nova Atlantis". ...................................................................................... 159 2.2 Die Bedeutung fiir den Westen: Angewandte Forschung zum Zwecke allgemeiner Wohlfahrt und technischer Fortschrittsoptimismus ............................... 160 Die fnktionale Variante: Nordischer Atlantismythos und okkultistische Pervertierung im 20. Jahrhundert ..................................................................................................................... Die Variante des differenzierten Neoplatonismus: Dynamisierung atlantischer Phantasie durch revolution~ire All- und Raumrealisierung im 15. Jahrhundert ............. 4.1 Die Entdeckung des Kolumbus als planetarische Raumrevolution .......................... a) Entstehungsbedingungen ............................................................................................ b) Herausbildung eines ,,transatlantischen Sozius" und Dynamisierung des Raumes ................................................................................................................................. c) Machtgewinn, Machtverlust und innerweltliche Identitiitsbildung Europas ...... d) Die Entfesselung menschlicher Phantasie im platonischen Rahmen ................... 4.2 Die erkenntnistheoretischen und wissenschaftlichen Folgen der Allraumrevolution - ein lexikalischer lJberblick ........................................................... 4.3 Die kulmrelle Hochbliite der neuen europiiischen Zivilisation .................................. 4.4 Geistige Voraussetzungen im griechisch-r6mischen Denken und die christliche Dimension der planetarischen Raumrevolution ........................................................... Die technizistische Variante: Die Dynamisierung des Antiplatonismus und die Verabsolutierung naturwissenschaftlicher Denkungsart als Entfremdungsprozess ..... 5.1 Die Entfesselung menschlicher Phantasie im surrealistischen Sinne, Weltentfremdung und die Politisierung der technischen Zivilisation ....................... 5.2 Die heutige Bedeutung: ,,Atlantische Zivilisation" als konsumistisches und technizistisches Modell und Bollwerk westlicher Idealismusnegation? .................... 5.3 Polifische Entgegnung und normative Gegenposition ................................................
162
164 165 165 167 169 170 172 179 181
186 186 190 194
VII Begriffe ,,Atlantischer Zivilisation" Der geozivilisatorische Begriff: Nukleus 1492 ~ o e c k m a n n , Verlinden, Femfindez-Armesto) .................................................................................................................
199
Der historische Begriff: ,,Atlantische Zivilisation" als Frucht und Folge der ,,Atlantischen Revolution" 1760-1800 im Sinne eines (offenen?) Epochenbegriffs ..... 2.1 Die ,,Atlantische Revolution" als Kulminationspunkt ................................................. 2.2 Die Kxitik am europ~iischen Charakter Amerikas ......................................................... 2.3 Die amerikanische Verfassung als Gegenargument .....................................................
202 203 205 207
Inhalt
11 a) Mischverfassungsorientierte Erfmdung des pr~isidentiellen Regierungssystems als euroatlantischer Angelpunkt ........................................................................................ b) Der europiiische Hintergrund amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit: Zur Y-d;,irung der Begriffe ,,Mischverfassung, Republik, D e m o k r a t i e " . ............................. c) Fazit ................................................................................................................................. 2.4 Die Doppelrevolutionsthese im Widerstreit .................................................................. 2.5 Zur Kliirung des m o d e m e n Demokratiebegriffs in europiiisch-atlantischer Geistestradition ...................................................................................................................
3.
Die ,,Atlantische Zivilisation" als politischer Begriff (Arendt, Schabert) ........................
207 210 213 216 227 229
VIII G e s c h i c h t e I: Der v o r m o d e r n e Gehalt ideenhistorischer E x i s t e n z des W e s t e n s 1.
Geographische Voraussetzungen ............................................................................................
233
2.
,,Weltachsenzeit" (500 v.Chr.) und hellenische Wissenschaft ............................................
235
Das r6misch-christliche Erbe ................................................................................................... 3.I Erstmalige Repriisentation einer einheitlichen Existenz des Westens und der moderne Gehalt des trinitarischen Christentums ......................................................... 3.2 K a m p f und Trennung zwischen Kirche und Staat ....................................................... 3.3 Die Christentumsinterpretafon von Hannah Arendt .................................................. 3.4 Versuche der Wiederverg6ttlichung der Welt und der G n o s f z i s m u s im christlichen Zeitalter nach der Interpretation Eric Voegelins ....................................
242
Neue Untertypen der Repriisentation westlicher Existenz von der Spiitantike bis zum Mittelalter ........................................................................................................................... 4.1 Das mittelalterliche Europa im Zivilisations- und Geschichtsvergleich: Dynamische Offenheit der Machtkonstellation in diachroner Perspektive ............. 4.2 Staatliche und rechtliche Zentralisierung und die Entstehung der souveriinen und monarchisch regierten Nationalstaaten ........................................................................... 4.3 Keltisches und germanisches Stiidtewesen, der Kommunalismus und die Dynamik des Kapitalismus ............................................................................................... 4.4 Pax sit c h r i s t i a n a - Kurze Anmerkung zum Komplex ,,ICrieg und Friede" ............
242 245 246 248
251 251 255 260 262
Die geistige Dimension der Entwicklung des europiiischen Zivilisationssystems im sp~iten Mittelalter ........................................................................................................................ 262 5.1 Freiheitstradition und Rechtsstaat in genossenschaftlichen Staatsvorstellungen im Deutschen Reich und in Grol3britannien ....................................................................... 262 5.2 Die radikale Trennung zwischen Glauben und Wissen und die m o d e m e Wissenschaft seit ca. 1250 ................................................................................................. 264 Islam und Judentum in der Zivilisationsbildung des Westens zwischen Mittelalter und Neuzeit ................................................................................................................................ 6.1 D e r Islam und die ,,westliche Christenheit" im Mittelalter ......................................... 6.2 Anmerkungen zum Verhiiltnis zwischen Judentum und Christenmm .....................
265 265 267
12
Inhalt
IX
G e s c h i c h t e II: D i e Atlantische Revolution und der m o d e r n e W e s t e n
1.
Die amerikanische Revolution in aflantischer Perspektive .................................................
272
2.
Die Ursachen der Amerikanischen Revolution ....................................................................
273
Klassische und m o d e m e Dimensionen des amerikanischen Republikanismus ............. 3.1 Die Rolle der griechischen politischen Philosophie im amerikanischen Ordnungs- und Verfassungsfindungsprozess ............................................................. 3.2 Die Position von J o h n Adams, die Prioritiit der freiheitlichen Verfassung im Kontext nationaler Souveriinitiit und die Posterioritiit der Volkssouver~initiit ........ 3.3 Klassische Regierungsformelemente der Republik im m o d e r n e n Verfassungsstaat ................................................................................................................... 3.4 Der Freiheitsbegriff als Legitimationsquelle zwischen v o r m o d e r n e m und m o d e m e m Verstiindnis und die Tradition Machiavellis .............................................. 3.5 Zwischenfazit: Die klassische U m r a h m u n g des amerikanischen Republikanismus ................................................................................................................. 3.6 Die Aristokratiedebatte zwischen Adams und Jefferson als Beispiel fiir die Bedeutung des klassischen Verstiindnisses im amerikanischen Republikanismus .. 3.7 Das neue Element: Der moderne Verfassungsprozeduralismus und die Verbindung von Republikanismus und Technologie ................................................... 3.8 Weitere Streitpunkte ........................................................................................................... a) Der Republikanismus als Ausfluss 6konomischer Interessen? Eine kurze Anmerkung .......................................................................................................................... b) Freiheitsbegriff, Indianerbekiimpfung und die Sklaverei ........................................
276
Das Zeitalter der sich demokratisierenden Nationalstaaten im atlantischen Raum zwischen dem 18. und dem 20. J ahrhundert ........................................................................ 4.1 Die Rolle der Nation in der atlantischen Zivilisationsgemeinschaft ......................... 4.2 Die USA als Nation und der atlantische Charakter amerikanischer Nationalstaatlichkeit ...........................................................................................................
276 280 287 290 296 303 308 312 312 312
317 317 322
Das H e r a u f k o m m e n des europiiischen Totalitarismus zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert ................................................................................................................................. 5.1 Die gnostische Verkorrumpierung der westlichen Entwicklung im Hochzeitalter der Ideologien ..................................................................................................................... 5.2 Die Rolle der USA zwischen Atlantischer und Industrieller Revolution und die soziale Frage in Europa .....................................................................................................
335
Weltbiirgerkrieg 1917-1945 und Wendejahre: Die Politisierung der westlichen Zivilisation im Kalten Kxieg ....................................................................................................
339
Die geopolitische Auseinandersetzung im Atlantischen Raum zwischen Raumrevolution und 20. Jahrhundert ....................................................................................
342
332 332
Inhalt X
13 Politische Systeme und GeseUschaften des Westens im ph~inomenologischen Querschnitt Demokratische, recht~che und wirtschaftliche Verfassungen .......................................... 347 1.1 Institutionen ........................................................................................................................ 347 1.2 Partizipation u n d Werteinstellungen ............................................................................... 352 Die westlichen Systeme u n d Gesellschaften in globaler Perspektive u n d die ,,pazifische H e r a u s f o r d e r u n g " ................................................................................................ 353 Innerwestliche Grundsatzfragen im transatlantischen Widerstreit .................................. 3.1 D e m o k r a t i e u n d Elite ........................................................................................................ a) Die Existenz v o n Parteien u n d die Frage der Demokrafisierung westlicher Systeme ................................................................................................................................. b) Liberale Kxitik ................................................................................................................. c) Elitentheoretische Krifik ............................................................................................... 3.2 D e r inneramerikanische W e r t e k o n f l i k t - eine G e f a h r fiir den liberalen Westen? .. 3.3 Die Frage der Kulturrevolution ...................................................................................... a) Die Vergesellschaftung des Politischen ..................................................................... b) Die Frage des Patriotismus u n d die europiiische Immigrationsfrage ................... c) Die Frage des H e r o i s m u s ............................................................................................. d) Die Frage der Religiositiit ............................................................................................. e) Fragen des Rechts .......................................................................................................... f) Das P r o b l e m inszenierter Gewalt in der westlichen Medienrealitiit ...................... 3.4 Die positive Seite der inneratlantischen P r o b l e m d i m e n s i o n e n ..................................
.
358 358 358 362 366 368 371 374 377 379 383 388 389 392
Resfimee: Die Frage der kulturellen Substanz Amerikas und des Westens u n d der H e d o n i s m u s ............................................................................................................................... 393
XI
Der Westen im Lichte der Theorie Intemationaler Beziehungen und geopolitischer Betrachtungen
1.
Internationale Regimebildung: Die aktuellen Positionierungen der Theorieschulen .... 409
2.
Westliche Reghnebildung u n d europiiische Integration ..................................................... 415
3.
Fazit ............................................................................................................................................. 418
XlI
Perspektiven des transatlantischen VerhSltnisses
1.
Zwischen Y-duft u n d Zerwiirfnis: Das P r o b l e m der Machtasymmetrie .......................... 422 Ideologisierung der Aul3enpolitik: Europ~iische und amerikanische Illusionen ............. 427 2.1 Europiiische Tr{iume u n d das P r o b l e m des Moralismus ............................................. 427 2.2 Amerikanische Triiume und das P r o b l e m des Missionarismus .................................. 429
14
Inhalt
3.
D i e G e f a h r e n eines europiiisch-amerikanischen A u s e i n a n d e r d r i f t e n s ............................ 436
4.
D i e Position des skeptischen Realismus ...............................................................................
438
Praktische F o l g e r u n g e n ............................................................................................................ 5.1 Nachbarschaftspolitik: ,,Atlantische Zivilisation" u n d Russland ............................... 5.2 Islampolitik u n d T e r r o r i s m u s b e k ~ i m p f u n g .................................................................... 5.3 Die A u s g e s t a l t u n g der Europ~iischen Verteidigung ..................................................... a) Kritische B e s t a n d s a u f n a h m e ........................................................................................ b) Anti-atlantische O p t i o n e n ............................................................................................ c) Atlantische O p t i o n e n .................................................................................................... 5.4 Politisierungsperspektiven der atlantischen Sicherheitsallianz (Karl W. D e u t s c h , H a n s J. M o r g e n t h a u ) .......................................................................................................... 5.5 Rfickschau z u m Abschluss: Die europiiischen Fehler ..................................................
441 441 442 449 449 452 453 456 462
XlII Schlussbetrachtung 1.
B e f u n d e .......................................................................................................................................
469
2.
Schlussfolgerungen ...................................................................................................................
471
Literaturverzeichnis ............................................................................................................................
479
Vorwort
Diese Studie ist die leicht iiberarbeitete Fassung der Dissertationsschrift mit dem Titel ,,Der Begriff der Atlantischen Zivilisation als politische Idee". Die Arbeit wurde im Sommersemester 2006 von der Philosophischen Fakult~it der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universit;,it Bonn angenommen. Sie entstand im Wesentlichen zwischen 2002 und 2005 am Seminar fiir Politische Wissenschaft der Universitiit Bonn, heute Institut fiir Politische Wissenschaft und Soziologie. Zu besonderem Dank bin ich meinen beiden Gutachtem Prof. Dr. Frank Decker und Prof. Dr. Christian Hacke verpf~chtet, die das Dissertationsvorhaben erm6glicht und meine Arbeit mit regem Zuspruch betreut und begleitet haben. Prof. Decker m6chte ich im Besonderen danken fiir seine Ratschliige und die optimalen Rahmenbedingungen, unter denen ich diese Arbeit vollenden konnte. Mein besonderer Dank gilt auch Dr. Volker Kronenberg ffir seine tatkriiftige Unterstiitzung als Vorsitzender der Priifungskommission und fiir seine ideelle Begleitung wiihrend meines Promotionsstudiums. Prof. Dr. Tilman Mayer danke ich ebenfalls sehr herzlich fiir zahlreiche Impulse und Hilfestellungen, die er mir in vielfacher Form vermitteln konnte. Lieber Dank gebiihrt Prof. Dr. Manfred Funke, der reich in Studium und Lehre sehr gepriigt hat und von dem ich viel gelernt habe, ebenso meinen stiindigen geistigen Wegbegleitern Jiirgen Peters und Pater Miron. Mein weiterer Dank gilt stud. phil. Marcel Solar und stud. phil. Dominik Rudolf, ohne deren tatkr~iftiges Zutun bei der Literaturbeschaffung einiges beschwerlicher gewesen w~ire. Tiefer Dank geb/ihrt meiner lieben Katja, nicht nur dafiir, dass sie da ist, ffir Ihre Geduld und Energie, sondern auch fiir die miihevolle und sorgf;iltige K_leinarbeit, der Sie sich beim Durchlesen des Manuskripts fiir diese Druckfassung unterzogen hat. Alle verbleibenden Miingel gehen natiirlich zu meinen Lasten. Liebend danken m6chte ich meinem Bruder, der mit Rat und Tat zur Seite stand. Mein ganz pers6nlicher Dank gebiihrt vor allem meinen Eltern, die stets an meiner Seite waren und mir viel Kraft gaben. Ihnen m6chte ich die Arbeit geme widmen.
Bonn, im September 2006
Lazaros Miliopoulos
I. Einffihrung in das T h e m a
1. Einleitung Es ist ein Gefiihl starker zivilisatorischer Verbundenheit, welches durch die Tat eines ganz neuartigen, suizidalen Massenterrorismus am 11. September 2001, dem Tag der Attacke auf die USA, schlagartig ins Bewusstsein der Menschen in den ,,westlichen Gesellschaften" geriickt ist. Auch wenn dieses Geffihl seit den heftigen Auseinandersetzungen um den Irakkrieg 2003 wieder abgekfihlt ist, ja vereinzelt gar in seiner Berechtigung in Frage gestellt wird, kann weiterhin festgehalten werden, dass sich die Akteure des neuen internationalen Terrorismus grunds~itzlich zum ,,Feind des Westens" erkliiren. Die Anschl~ige des 11. Septembers 2001 haben zugleich Schlagworten wie ,,GlobaF~sierung", ,,Interdependenz", ,,global village" und ,,Transnationalit~t" eine ,,dunkle Sinndeutung" gegeben und den internationalen Beziehungen ,,einen neuen, beunruhigenden Charakter" verliehen. 1 Doch was am Ende als emotionales Destillat fiir die Feinde der Terroristen in ,,positiver" Hinsicht iibrigbleibt, ist das Empfinden, einer Zivilisationsgemeinschaft anzugeh6ren, die den Terroristen Anlass zur Feindschaft gegen den ,,Westen" gibt. Welche Realit~it besitzt abet jene zivilisatorische Existenz des Westens? Und warum ist sie bei den Terroristen in dieser Form - als Feindbegriff- derart ,,politisch"? Anscheinend entspricht der politische Gehalt des Westens, wie ihn die Terroristen anzunehmen scheinen, fiberhaupt nicht dem vorzufindenden Modus der zivilisatorischen Realitiit des Westens, einer Realitiit, yon der wir annehmen k6nnen, dass es sie gibt. Wenn es sich also um keine politische Realit~it im vollgiiltigen Sinne handelt: Hat die zivilisatorische Realitiit des Westens dann iiberhaupt das Potential, eine derart substantielle politische Realit~it zu sein? Und aus welchen Griinden wiire es erwiigenswert, das Potential, wenn es denn gegeben ist, in eine reale politische Kraft zu iiberfiihren? Bei der letzten Frage schliel3t nun das erkenntnisleitende Interesse dieser Arbeit an. Es geht um die Frage der Identit~it des modemen, westlichen Menschen und der westlichen Welt vor dem Hintergrund des Neuen Internationalen Terrorismus. Die Identitiit ist aufgrund des Modemitiitsmerkmals und erst recht aufgrund undeterminierter postmoderner Merkmale der ,,westlichen Welt" an sich schon iiuBerst schwierig im Sinne einer einheitlichen Identit~it zu beantworten. Jedenfalls stellt sich m Verbindung mit dem neuen Feind des Westens nicht nut die Frage der Identitiit auf neue Weise (aufgrund der ge~inderten Bedingungen), sondern es stellt sich auch die Frage des Schutzes der existentiellen Voraussetzungen dieser Identitiit. Zum ersten wie zum zweiten Punkt bleibt festzuhalten, dass die Identitiitsfrage des Westens unter den veriinderten Bedingungen die Frage nach der Notwendigkeit einer ,,Politisierung" oder politischen Substantialisierung des Begriffs und der zivilisatorischen Realit~it des Westens impliziert. Die Hypothese, welche diese Notwendigkeit bejaht, lautet also: Braucht der 1Christian Hacke,AuJ~en-und Sicherheitspolitik,in: HerfriedM~inkler,Politikwissenschaft.Ein Grundkurs,Hamburg 2003, S. 324-373, 358f.
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Kapitel I
,,Westen" heute eine ,,Identitiit", so mfisste diese nicht nur eme zivilisatorische oder historische sein, sondern zugleich eine politische. Die Frage, die hieran anschliegt, ist die Frage der M6glichkeit: Inwieweit kann - erst recht nach den Verwerfungen wiihrend des Irakkrieges 2003 emer zivilisatorischen Realitiit des Westens (der , , W e s t e n " als gemeinsame Lebensform und Zivilisation) fiberhaupt ein politischer Rang zugeordnet werden? Dieser politische Rang wiire mindestens zu bestimmen als die ,,Einheit des Westens" m einem ,,eigenstiindigen" und ,,gesamtpolitischen" Werte- und Symbolkontext. Zur Aufgabe der politischen Symbolik geh6rte die ,,Aufgabe der gegenseitigen Vermittlung von gemeinsamen Werten". 2 Im Maximalfall wiire der Symbolkontext der Kern eines institutionellen Kontextes westlicher Politik als Ausfluss einer alle Politikbereiche umschliefienden gesamtpolitischen Strategie. Seit dem Irakkrieg 2003, den zahlreichen extralegalen MaBnahmen gegen ,,feindliche Kombattanten" im Rahmen des amerikanischen Antiterrornotstandes und dem Aufkommen eines neuen amerikanischen Missionarismus 3 wird nun jedoch nach fiber ffinfzig Jahren die Einheit des Westens nach innen wie nach auBen ernsthaft relativiert oder in Abrede gestellt. Das antitotalitiire Moment des inzwischen iiuBerst blutigen Irakkrieges ist in der Zwischenzeit- trotz aller berechtigten ICritik- in allen bedeutsamen, europ~iischen Debatten mehr und mehr m Vergessenheit geraten. Wenn es die ,,westliche Zivilisation" als vorpolitische Einheit wirklich gibt, stellt sich daher die Frage, ob mit den jfingsten Entwicklungen die grundlegenden Normen jener Zivilisation wirldich noch geteilt werden oder ob sie auf eine derart verschiedene Art und Weise vertretbar sind, dass wit zwischen dem , , e i n e n " und dem ,,anderen Westen" differenzieren mfissen. 4 Ein bildiches Symbol oder gar ein ,,Mythos des Westens" im Sinne einer ,,Atlantischen Zivilisation" wiire damit als Konzept schlicht hinf~illig oder zu ,,revolution~ir", denn ,,before there can be a shift in our policies [between the USA and Europe], there must be a shift in our imaginations. ''5 Die Perspektive, die nun aber hypothetisch angenommen wird, lautet, dass die Relativierung einer im universalhistorischen Vergleich kulturhistorisch zweifelsohne gegebenen euroamerikanischen Werteeinheit erneut eine Entfremdungserscheinung innerhalb des Westens selbst darstellt, die heute daraus resultiert, dass die einzige Voraussetzung daffir, sich der gegebenen Werteeinheit bewusst zu werden und sie daraufhin vielleicht sogar in politische Handlung umzuwandeln, nicht mehr gegeben ist. Die Voraussetzung besteht darin, endlich wieder alle amerikanischen E r s c h e i n u n g e n - auch die gesellschaftspolitischen- so aufzugreifen, dass sich europiiisches Denken selbst darin erkennt. Aus intellektueller Antriebslosigkeit heraus, so k6nnte vielleicht bemiingelt werden, wird gar nicht wahrgenommen, wie , , k u l m r e u r o p S i s c h " die kritisierten, ja geradezu stigmatisierten Erscheinungen in den USA eigentlich sind bzw. welchen Anteil europiiisches Denken an allem Amerikanischen ffir sich beanspruchen kann. Danach wird aber m vielen intellektuellen Zirkeln in Europa fiberhaupt nicht mehr gefragt. Danach zu suchen, sich in ahem Amerikanischen wiederzuerkennen, sei es noch so problematisch aus einer ganz subjektiven Warte heraus, war indes die fruchtbare Kunst eines Tocquevil-
2 Stephanie Schick, ,,Ein Freund, ein guter Freund, das ist das S&&ste, was esgibt aufder Welt". Anna~erungen an die Bedeutung yon Freunds&aft aus kommunitarfstischer Per~ektive, in: Anton Hauler / Werner Kremp / Susanne Popp (Hg.),Die USA als historisch-polilische und kulturelle Herausforderung. Vermittlungsversuche,Trier 2003, S. 13-24, 20. 3 Vgl. Gerhard Besier / Gerhard Lindemann, Im Namen der Freiheit. Die amedkanische Mirsion, G6ttingen 2006. Vgl. zur Tradition Kurt R. Spillmann,Amerfkas Ideologie des Friedens. UrJpr~'nge, Formwandlungen und geschichtliche Auswirkungen des ameKkanischen Glaubens an den Mythos yon einerft#dlichen Weltordnung, Bern 1984. 4Vgl.Jfirgen Habermas, DergeJ~altene Westen, Frankfurt a.M. 2004. s David Calleo, The AtlanticFantasy: The U.S., N A T O andEurope, Maryland 1970, S. X.
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le. 6 Zugleich erlauben die Unterschiede ja genau jenen Grad an Selbstkritik, den die Freiheit braucht, um iiberleben zu k6nnen. Der Spiegel, der den ,,distanzierten Blick" auf sich selbst erlaubt, ist immer der andere Tell des Zivilisationszusammenhangs. v Europa braucht Amerika, um die Distanz zu sich selbst aufzubringen, und Amerika Europa aus genau dem gleichen Grund. 8 Ist vielleicht ,,Europa", gedacht als reiner, unlzistorischer Konstruktivismus, basierend auf der Stunde Null eines negativen Griindungsmythos 9, sich seiner eigenen Wertigkeit nicht mehr bewusst? Trauten wit uns aber wieder an eine philosophische Begriindung der Einheit des Westens heran, so stellte sich die Frage des konkreten Symbols, sobald die Frage gestellt wiirde: Wie kann die philosophische Wirklichkeit politisch realisiert werden? Es geht beim Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation", das sei vorausgeschickt, nun nicht datum, nur Zivilisationsforschung zu betreiben und eine euro-amerikanische Wertegemeinsamkeit zu ergriinden. Das ist schon oft zu Geniige getan worden. Eine minimale Wertegemeinsamkeit auf internationaler Ebene alleine reicht nicht, um aus ihr eine politische Solidaritiit abzuleiten (sonst hiitte es z.B. im Europa des 19. Jahrhunderts keine innereuropiiischen Kriege geben dfirfenl~ Drei Dinge miissen nach aller - europiiischen- Erfahrung hinzukommen, um gemeinsame Werte zu Voraussetzungen solidarischen Handelns zu machen und eine konsistente ,,Wertegemeinschaft" zu erm6glichen11: Die Beseitigung der Rivalit~itvon Staatsriisons Die Schaffung iihnlicher oder gleicher Staatsverfassungen Und schliel31ichder politische Wille, die gegebenen Gemeinsamkeiten untereinander feierlich zu best~itigen, um auf dieser Basis Politiken zu koordirtieren, gemeinsame Aktionen zu ilaitiieren, die eigenen Wertsetzungen durchgehend zu CiberprCifen,gegenseitig zu vermitteln und im Bedarfsfall neuartige Werte zu setzen sowie Regelungenund Organisationsstmkturen durchzusetzen. Gerade beim letzten Punkt wird sich zeigen miissen, inwieweit die atlantische bzw. ,,westliche Wertegemeinsamkeit" politische Wirkung im Sinne einer wahrhaft interessen- und wertezentrierten solidarfschen Aktionsgemeinschaft zeitigen kann. Da letzteres zu wiinschen wiire, geht es in diesem Buch datum, fiber die ,,Wertegemeinsamkeit" hinaus zu gehen und genau jene Operationalisierung der gegebenen zivilisatorischen K o m p o n e n t e systematisch anzustreben, die es braucht, um dem Begriff der ,,Wertegemeinschaft" einen mehr als nur rhetorischen Klang zu geben. Es geht darum, der ,,Zivilisation" mit Hilfe eines bildlichen Symbols, gar vielleicht eines politischen Mythos, ein wirklich allgemeinpolitisches Prof'tl zu geben und es nicht bei einem ,,biindnispolitischen" Proffl zu belassen, das immer hiiufiger ,,nach dem Ende des Kalten K_rieges" als obsolet denunziert wird. Die praktische Zielsetzung ist also eine ,,Politisiemng" des Westens im Sinne der Herbeifiihrung einer atlantischen Willens- und Aktionseinheit, i.e. einer atlantischen Handlungsmaxime, Handlungseinheit und Handlungselite. Es geht auch darum, bestimmte romantische Traditionen Europas aus ihrem A n f Amerikanismus zu befreien, ohne selbst eine Vers6hnung yon Romantik und Amerikanismus 6 Vgl. Alexis Clerel de Tocqueville, Die Demokratie in Amerika. Eine Auswahl, hg. v. Friedrich August Frhr. vonder Hey&e, Regensburg 1955. 7 Vgl. exemplarisch Lucien Febvre et. aI. (Hg.), Le Nouveau Monde et l'Europe, Neuchfitel 1955. Vgl. Tilo Schabert, Die Atlantfirche Zivilisation. Uber die Entstehung der einen Welt des Wes/ens, in: Peter Haungs (Hg.), Europ~Tsierung Europas?, Baden-Baden 1989, S. 41-54, 54. 9 Auf Deutschland bezogen kann z.B. dieser Mythos in einer diskurstheoretischen Einbettung betrachtet werden bei JCirgen Habermas, Die Normalita't einer Berliner Republik, Frankfurt a.M. 1995. 10 Die Argumentation stammt von Barry Buzan, From International to World Society? English School Theo~ and the Social Slructure of Globalk'ation, Cambridge 2004, S. 146. 11Vgl. im folgenden ebd., S. 146f.
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bzw. Atlantizismus herbeifiihren zu wollen. Das Ziel ist nicht die Romantisierung des Transatlantizismus, s o n d e m dessen politische Substantialisierung in einem Voegelinschen Sinne12: D e r W e s t e n soll nicht nur als ,,Repriisentant seiner eigenen Existenz" oder gar als Repriisentant eines rein iisthetischen Ideals, sondern als ,,Repriisentant einer W a h r h e i t " in E r s c h e i n u n g treten. I-Liebei handelt es sich nicht u m eine ,,absolute Wahrheit", sondern u m die , , L e i d e n s c h a f t fiir eine Wahrheit" im politischen R a u m bzw. u m die 15berzeugung von einer Sache, die im politischen R a u m als sinnvoll erachtet werden kann. D e r Westen wiirde sich just in d e m Mom e n t eine ,,politische O r d n u n g " verschaffen, in d e m er erreicht, dass sich seine ,,Repriisentation der Wahrheit" dutch Verteidigungsf':ihigkeit u n d U b e r z e u g u n g (peitho) i m I n n e r e n durchsetzt und sein Wahrheitsbegriff sich zugleich mit einer kosmischen O r d n u n g vertriige, die als solche me , , b e w i e s e n " , sondern nur religi6s ,,geglaubt" oder vernunfttheoretisch und philosophisch e r k l o m m e n werden kann. ,,Politische O r d n u n g e n " sind insofern u n v o l l k o m m e n und uniiberwindlich endlich, ein Schutzsystem, ein Bet~iubungsmittel gegen die Angst vor der Sinnlosigkeit. D e r W e s t e n besitzt n u n als Gesamtzivilisation zweifelsohne das Potential, eine Repr~isentanz im Sinne einer ,,Repriisentation v o n Existenz u n d Wahrheit" zu entfalten, unabhiingig davon, wie weit m a n heute davon entfernt ist. Die O p t i o n einer ,,Atlantischen Zivilisation" wird also i m m e r offen stehen, weil sich Amerikaner und Europ~ier nicht einfach in u n u m k e h r barer F o r m v o n ihrem historischen K o n t e x t verabschieden k6nnen. Die Frage, ob ein ,,Verbindlichkeitssprung ''13 im Sinne einer ,,Atlantischen Zivilisation" erfolgen soll, will der Verfasser v o n vorneherein positiv beantworten. Es geht u m nichts weniger als die m e h r und m e h r verlorengehende kulmrelle I ~ a m m e r zwischen Amerika u n d Europa. Die als ,,Kulturbruch" charakterisierte E r o s i o n der kulturellen Verankerung des Atlantizismus wird nicht nur v o n W e r n e r Weidenfeld als eine ernsthafte Gefahr des westlichen Z u s a m m e n h a l t s u n d der westlichen Oberlebensf'~ihigkeit angesehen. 14 Die Notwendigkeit, diese A n t w o r t e n als Alternative zu anderen W e s t k o n z e p t i o n e n zu entwickeln ist in Zeiten eines transatlantischen ,,Kulturbruchs" m e h r denn je gegeben. Die K o n z e p t i o n e n v o n Jiirgen Habermas, Jacques Derrida o d e r - in einer anderen Spielklasse - eines Harald Mi,iller 15 bieten genauso wenig zufrieden stellende A n t w o r t e n auf das P r o b l e m wie der demokratiepolitisch missionarische Eifer 16 einer bestimmten, in den USA traditionell verwurzelten biindnisskeptischen F o r m 17 des amerikanischen
12Vgl. im folgenden Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaftder Politik. Eine Einfiihrund~ hg. yon Peter J. Opitz, ND M/inchen 2004; Ders., Ordnung und Geschichte. Band X." Aufder Suche nach Ordnung, hg. von Paul Caringella und Gilbert Weiss, M/inchen 2004. 13Wemer Weidenfeld, Abschied yon der liebgewonnenenRoutine, in: Zeitschrift fCirKulturaustausch, 42. Jg. 2/98, S. 26-29, 27. 14Vgl. ebd., S. 26-29. 15 M/iller fordert notfalls konfrontativ gegen Amerika gerichtete europS_ische Weltordnungsvisionen ein (vgl. Haratd M/iller, Supermacht in der Sackgasse? Die Welfordnung nach dem 11. September, Bonn 2003, S. 144f.). Leiser, abet dennoch europ~istisch verengt argumentiert Tzvetan Todorov, Die verhinderte Weltma&t. Refelexionen eines Europderr, M/inchen 2003. 16Vgl. zur Gefahr aus einer liberalen, abet grundsS_tzlichdemokratieskeptischen Sichtweise heraus insbesondere Fareed Zakaria, The Future of Freedom. IlliberalDemocra~ at Home and Abroad, New York 2003. iv Vgl. insbesondere George Washingtons Abschiedsrede vom 17. September 1796: ,,Warum unser Schicksal mit dem irgend eines Teiles von Europa verflechten und unser G1/ick in Plackereien europ~iischen Ehrgeizes, europS_ischer Feindschaften, Interessen, Launen oder Gr613en verwickeln? - Die richtige Politik f/ir uns ist, an dauernden B/indnissen mit irgendeinem Teil der Cibrigen Welt gl/ic-ldich vorbeizukommen (...). Wit mCissen immer darauf achten, uns dutch entsprechende Einrichtungen in einer achmnggebietenden Verteidigungsstellung zu halten; dann dCirfen wit auch in aul3ergew6hnlichen schwierigen Lagen auf vor/ibergehende BCindnisse n-fit Sicherheit vertrauen." (zitiert nach Fritz Wagner, USA. Geburt und Aufstieg der Neuen Welt- Ges&ichte in Zeitdokumenten 1607-1865, M/inchen 1947, S. 162f.); vgl. ferner die Ausf/ihrungen Wagners ebd., S. 169ff.
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Neokonservativismus. 18 In einem alternativen Sinne wie in diesem Buch wird der Begriff ,,Atlantische Zivilisation" heute schon von einigen Seiten gebraucht, z.B. von David Calleo oder auch in D e u t s c h l a n d in vereinzelten publizistischen Artikeln best i mmt er Politikwissenschaftlet. 19 D o c h eine solche politische Idee darf nicht auf Sand gebaut sein. Es k 6 n n t e ja i m m e r h i n sein, dass die ,,transatlantische Partnerschaft" mit dem Wegfall der B e d r o h u n g ihren G e m e i n samkeit stiftenden Sinn verloren hat; es ist nicht auszuschlielBen, dass sie sich in Z ukunft an den a u f k o m m e n d e n Rivalitiiten aufreiben wird. A b e t war die eigentliche Grundlage der Partnerschaft nicht doch v o n kulturellem Wert und subkutaner Dauerhaftigkeit, so dass sie seit der Zeitenwende 1990 auch politisch hiitte umgemiinzt werden k6nnen? Die dafiir nowendige politische Idee muss auf einer Imagination aufbauen, die der Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation" erm6glicht. Dabei ist die Imagination vor d e m H i n t e r g r u n d eines europ~iischen Erfahrungsstoffes, bestehend aus einem gewaltoffenen Surrealismus, kein Selbstzweck. Die m o d e m e n Grol3verbrechen der , , w e s t l i c h e n " Menschheit waren allesamt Folgen einer m o d e m e n ,,Entfesselung der Phantasie". Im D e n k e n des 18. u n d 19. Jahrhunderts wurde alle Macht fiir Phantasie gefordert, bis schliel31ich im 20. J a h r h u n d e r t auch in der Praxis ,,der Stolz, der H o c h m u t [und] die Eifersucht" die ,,Vemunft als Herrin der Phantasie" vertrieben haben. 2~ D e r v o r m o d e r n e , christliche oder antike Vernunftbegriff wurde als ,,naiv", , , u n n i i t z " oder ,,inhaltslos" abgetan. D e r N e n n e r blieb dabei der gleiche: Die Phantasie sollte im R a h m e n eines letztlich surrealistischen Freiheitsverstiindnisses 21 entfesselt werden. N u r wenn die Imagination kein Selbstzweck ist, k6nnte die imaginative Kraft des Begriffes ,,Atlantische Zivilisation" die groge Chance darstellen, den Westen nicht nut neu, phantasievoller u n d berauschender, sondern vor allen D i n g e n besser zu denken und auf diesem Wege ein Gefiihl des a n g e me s s e n e n Pathos fiir ihn zu erm6glichen. ,,Natiirlich wiire es falsch, daraus nun den Schluss zu ziehen, dass eine Freiheit [..] menschlicher Imagination nur erfahren kann, wer ein Gewalttiiter ist. ''22 Jede ,,Entfesselung" der Phantasie zu niederen Zwecken ist v o n einer Moti-
18Habermas greift diesen zu Recht an, aber bewertet ihn zugleich fiber: vgl.Jfirgen Habermas, Was bedeutet der Denkmalsturz? l,/erschlie/~enMr nicht die Augen vor der Revolution der Weltordnung: Die normative Autoritat Amerikas liegt in Tru'mmern, h~: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. April 2003, S. 33. Habermas wfirde den Vorwurf der 0berbewermng wohl als ,,Trivialisiemng" verstehen: ,,Funktionen wie die geostrategische von Machtsphiiren und Ressourcen (...) m6gen eine ideologiekritische Betrachtung aufdriingen. Abet diese konventionellen Erkliimngen trivialisieren den noch vor anderthatb Jahren unvorstellbaren Bmch mit Normen, denen die Vereinigten Staaten bisher verpflichtet waren." Dass sich ,,vor anderthalb Jahren" der gr613teTerrorangriff aller Zeiten in den USA abgespielt hatte, deutet Habermas nut an. Doch noch entscheidender erscheint dem Verfasser dieser Arbeit zu betonen, dass das, was Habermas als ,,Trivialisierang" bezeichnet, genau jenes formuliert, was aus einer realistischen Perspektive der einzig wirklichkeitsadiiquate Weg ist, die amerikanische Politik zu erNiiren oder gar zu verstehen. 19Vgl. beispielsweiseJfirgen Chrobog, Debatte iiber die Grundlagen der Atlantischen Zivilisation, in: Frankfurter Allgemeine Zeimng, 2.7.2001; Ludger Kfihnhardt, Editorial." Atlantische Gemeins&aft brauchtgrundlegende Erneuerung, in: ZEIreport Nr. 11, Juli 2002, S. 1; Christian Hacke, Deutschland darf nichtJunio~oartner Frankreichs bMben. Das Land muss Zu seiner klassis&en GMc/.gewicht~politik Z~schen Paris und Washington Wdickfinden, in: Die Welt, 14. Juli 2004; vgl. mit Bezug auf Hacke femer Tim B. Mfiller, Au/~enpolitik als missionarischer Trip. Pla'doyerfiir einen neuen Realismu~:"Eine Tagung in M~nchen untersucht, was der Pra'sident der Vereinigten Staaten yon HansJ. Morgenthau lernen k&nte, in: Sfiddeutsche Zeitung, 3. November 2004, S. 15; Matthias Oppermann, Die Kunst des Wirklichen. Was isl in der Politik schon realistisch? Eine Miin&ener Tagung iiber Hans j. Morgenthau, in: Frankfurter Allgemeine Zeimng, 2. November 2004, S. 37. 20 Vgl. aui3erordentlich beeindruckend: Tilo Schabert, Modernita't und Geschichte. Das E,\Joeriment der modernen Zivilisation, Wfirzburg 1990, S. 75-85, insbsd. S. 77. al Vgl. dazu und in Bezug auf anhaltende Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, die sich gegenwiirtig verstiirken: Tilo Schabert, Gewalt und Humanita't. Oberphilosophis&e undpolitis&e Mani/estationen yon Modernita't, Freiburg i.Br. 1978, S. 293305. ~_2Vgl. ebd., S. 297.
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vation abhiingig, die jeglicher Phantasie im Wesentlichen entgegensteht. Vor der Phantasie Angst zu haben, wiire indes der schlechteste aller Riickschliisse, den man ziehen kann. 23 In der Frage der philosophischen Basis der Imagination will sich der Autor als ,,Beutesammler" erweisen, wie er nach der ,,Nova Atlantis" von Francis Bacon beschrieben wird: Wiihrend in Bensalem der ,,JSger" fiir transdiszipliniire Fragen, der ,,Pionier" fiir die Experimentideen, der , , K o m p i l a t o r " fiir die Experimentberechnungen, der ,,Wohltiiter" fiir die praktische A n w e n d u n g des Wissens zust;,indig ist und der ,,Lichth;findler" in fremde Liinder f'~ihrt, u m dort Informationen zu sammeln und die Erfmder und Experimentierer die materielle Basis des Wohlergehens sichern, ist der ,,Beutesammler" (oder ,,RSuber '~ dafiir zustiindig, die in Biichern festgehaltenen Kenntnisschiitze zu sichern. 24 Und ein Letztes erscheint noch wichtig: D e r Autor will sich nicht scheuen, i m m e r wieder explizit die Frage aufzuwerfen, ob er mit seinem Ansatz nicht einem ,,vorget~mschten" Idealismus aufsitzt, getreu dem Ausspruch Charles de Gaulles, dass der , , A t l a n t i z i s m u s " nichts weiteres sei als ,,will to power ... cloaked in idealism. ''2s Die Frage, ob und wenn ja, inwiefem das zutrifft, muss immer bedacht werden, damit der allgemeinen Erkenntnis Geniige getan wird, dass eine ,,politische Imagination" nicht auf Sand gebaut werden darf, wenn sie denn einen Sinn haben soll. Die Position des Autors hierbei fuBt auf zwei A n n a h m e n : Z u m ersten sieht er es als berechtigt und militiir-, macht- und geopolitisch sogar als unabdingbar an, darauf hinzuweisen, dass amerikanische AuBenpolitik und die (angebliche oder wirkliche) Zielsetzung des Schutzes einer westlichen Wertegemeinschaft analytisch voneinander geschieden werden miissen. Ein indirekter Z u s a m m e n h a n g zwischen amerikanischer Aul3en- und Geopolitik sowie iibernationaler Zivilisations- oder gar Wertegemeinschaft besteht natiirlich trotzdem gleichsam auf einer zweiten Ebene, die auf die erste zuriickwirkt. Die zweite A n n a h m e lautet, dass es in dem Moment, in dem diese beiden E b e n e n nicht voneinander geschieden werden, zu einem ,,blinden Atlantizismus" k o m m e n kann, der de facto nicht von einem missionarischen, ,,amerikanischen ''26 Unilateralismus unterschieden werden k6nnte, dem die Amerikaner als einzig verbliebene Weltmacht mehr und m e h r anheim fallen. 2v Eine solche ,,Vision" wiirde sich durch bereitwillige und unhinterfragte U n t e r o r d n u n g der Europiier im Sinne eines akzeptierten und gutgeheil3enen Vasallentums unter den politischen Willen eines ,,Neuen R o m s " auszeichnen. Die atlantischen G e m e i n s a m k e i t s b e k u n d u n g e n wiirden sich in einem solchen K o n t e x t auf sehr gef'~ihrliche Weise den Solidaritiitsbekundungen der ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes anniihern: Solidaritiitsbekundungen ohne jegliche gesellschaftliche und kulturelle Basis.
23 ,,Alle echten Konservativen sind dieser Uberzeugung: Phantasie ist das wichtigste Verm6gen des Menschen" (Friedrich Heer, DerKonse~ative und die Reaktion, in: Die Neue Rundschau, 69. Jg. 1958, S. 490-527, 497. 24 Vgl. Francis Bacon, Neu-At/anti3; hg. yon Hans Schulze, Berlin 1959, S. 99f. Daneben gibt es in einer Rekapitulationsphase wissenschafflicher Fortgiinge noch die ,,Leuchten", die ,,Pffopfer" und die ,,Naturinterpreten". 25 zitiert nach David Calleo, The Atlantic Fantasy: The U.S., NATO and Europe, Maryland 1970, S. 100 (iihnlich Eberhard Straub, q,"erwestlichung'als Er~ehungsprogramm, in: Rainer Zitelmann / Karlheinz Weil3mann / Michael Grol3heim (Hg.), Westbindung. Chancen und FOsikenfigrDeutschland, Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 323-342, 327). 26 In gewisser Weise ist der Zivilisationsmissionarismuszahlreicher Amerikaner des 20. Jahrhunderts (mit Abstrichen auch der Missionarismus Wilsons, Roosevelts und Bushs jr.) ja geradezu ,,unamerikanisch": Sind die USA im Inneren nicht aus ,,Machtmisstrauen, Diktamrfurcht, Korrumpierungsangst und Ablehnung stehender Heere", also aus einem tiefgreifenden Vorkehrungsbewusstseinheraus entstanden, statt aus einem Blickavinkelder optimistischen und staatsautoritiiren Zukunftsverhe~ung im Sinne eines harmonieorientierten Perfektionismus, der an die Vervollkommnungsfiihigkeit der Menschen glaubt? (vgl. zu diesem Aspekt auch Margarita Mathiopoulos, Amerika: Das E~,Joerimentdes Fortschritts. Ein VergMch despolitischen Denkens in Amerika und Europa, Paderbom/M/inchen u.a. 1987, S. 143). 27Vgl. Peter Bender, DasAmerikanische und das Rb'mischeImperium, in: Merkur 617/618 (9/10, 54. Jg.), S. 890-900, 898f.
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Es geht aber nicht um Vasallenmm als Leitprinzip, so sehr es auch eine klare Tendenz gibt, dass dieses mit jeder Zunahme des machtpolitischen Vorsprungs der USA gegenfiber allen anderen eine reale Notwendigkeit der Weltpolitik darstellen k6nnte. Es geht auch nicht um einen noch darfiber hinausgehenden, unhinterfragten ,,Hurra-Amerikanismus ''28, sondern darum, eine ,,historisch-kulmrelle Verbindung des europ~iischen und amerikanischen Zivilisationsmodells ''29 zu l i n d e n - m der Tradition etwa Arendts, Morgenthaus, Mannheims, Carl Joachim Friedrichs, Voegelins, Fraenkels, Bergstraessers, Golo Manns und Brachers. Ganz allgemein gesprochen bedeutet das auch, dass die Vorstellung von der ,,Notwendigkeit einer zuk~nftigen europ~iischen Einheit" zum Muster einer ,,Atlantischen Zivilisation" geh6ren muss - e r s t recht angesichts einer ,,amerikanischen Gefahr" im Falle eines moralistischen Unilateralismus amerikanischer AuBenpolitik und eines v611ig ungebundenen auBenpolitischen ,,American Exceptionalism". Die Alte Welt ist sozusagen dazu angehalten, sich zu einigen, um sich der Neuen Welt weiterhin 6ffnen zu k6nnen 3~ um nicht von einer Neuen Welt, die vielleicht ins Geschichtslose schlittern k6nnte, fiberw~iltigt zu werden. Solange die Alte Welt sich in der Neuen nicht mehr erkennt, verf'~illt sie jedoch selbst ins Geschichtslose: Daher geht es auch um eine ,,Europ~iisierung Europas"31, allerdings nicht in einem marxistischen oder rein europ~iistischen Sinne, sondem in einem geradezu klassischen, der das historische, politisch als solches immer noch wirksame Amerika auch als ,,Nation Europa" begreift. Es handelt sich hier also um eine Riickbesinnung. Ein politischer Atlantizismus kann also nut auf eine ann~ihernd symmetrische transatlantische Aktionseinheit beruhen. Einen Atlantizismus z.B. aus einer historisch zweifelhaften ,,Dankesschuld" heraus zu begrfinden kann zwar emsthafte und vielleicht sogar verstehbare Motive verbergen, l~iuft aber auf eine Aufl6sung einer transatlantischen Handlungsmaxime hinaus, da ,,Dankbarkeit" politisch nichts weiter bedeuten kann als Unterordnung. Gerade das hat aber nichts mehr mit einem starken Atlantizismus zu tun, so dass die Unterscheidung zwischen einem blinden und verldtschten sowie einem reellen Atlantizismus schon einmal vorab zur Kl~irung des Motivgedankens ffihren sollte.
2. Erkenntnisinteresse und erkenntnisleitende Fragestellungen 2.1 Die Suche nach ,,Sicherheit durch Identita't"und die Rolle Huntingtons
Die Funktionen eines politisch identifizierbaren Werte- und Symbolbezugs einer ,,Einheit des Westens" sind in den vorhergehenden Ausfiihrungen schon benannt worden: eine identit~itspolifsche und eine sicherheitspolitische im weitesten Sinne, also unter Einschluss der Frage ,,Sicherheit durch Identit~it". Die letztgenannte Funktion kann defmiert werden als die Schaflung der M6glichkeit als westliche ,,Gesamteinheit" extremistischen Anfeindungen gegenfiber nicht mehr sprach- und geistlos zu bleiben und damit in einem viel umfassenderen Sinne beschiitzt zu sein.
28 Margarita Mathiopoulos, Amerika: Das Ex~e,iment de.; Fortschritts. Ein VergMch des pol#ischen Denkens in Amerika und Europa, Paderborn/M/~nchenu.a. 1987, S. 167. 29Ebd., S. 166. 30Das kann auch im Sinne yon Herbert George Wells, Die Zukunft in Ame,ika, Stockholm 1911, S. 399f., verstanden werden; kulturpessimistischgewendet:Edouard Rod, Reflets d'Amerique, Paris 1905, S. 95f. bzw. 113. 31 Vgl. Margarita Mathiopoulos, Ame,ika: Das Ex~e,iment des Forlschdtts. Ein Vergleich despolitischen Denkens in Ame,ika und Europa, Paderborn/MCmchenu.a. 1987, S. 169.
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Kapitel I
D e m n a c h erscheint es heute anmal3end zu glauben, ein politisches Verstiindnis des ,,Westens" w~ire ein genuines M o m e n t weltpolitischer Ordnungsstiftung, vielleicht gar verstanden als unabdingbare Voraussetzung eines ,,kulturellen Dialogs", der den milit~irischen K a m p f gegen einen antiwestlichen Terrorismus ersetzen k6nnte oder unbedingt flankieren miisste. Das neue westliche Wertebewusstsein sollte sich damit begniigen, sich als eine produktive Reaktion auf den Terrorismus zu verstehen und sich als ein wichtiges Element zur Verhinderung eines geistigen Verblassens des Westens anzusehen. ,,Indem wir wahrnehmen, wie andere unter Berufung auf ihre Kultur und Identitiit die uns so selbstverstiindliche Demokratie als Ganzes oder einzelne ihrer Elemente zuriickweisen, werden wir auf die Besinnung und Reflexion unserer eigenen kulturellen und politischen Identit~it im Rahmen der westlichen Demokratie zuriickverwiesen. ''32 Es geht insofern im weitesten Sinne um eine Verteidigungsperspektive und zugleich um eine geistige Mobilmachung, die durchaus den Nebeneffekt haben kann, den ,,kulturellen Dialog" zu erleichtem statt zu erschweren, wenn die Wertmal3st~ibe an die freiheitlichen und pluralistisch wirkenden Errungenschaften gekoppelt bleiben, ohne f r e n c h kulturelle Inklusionen zu verleugnen. 33 Das Wort ,,Verteidigungsperspektive" solI indes nicht suggerieten, dass dem Westen ernsthaft grol3e B16cke als Feinde in der Weltpolitik entgegenstehen, set es die ,,islamische Zivilisation" oder die ,,konfuzianische Zivilisation" oder schlicht der , , R e s t " . 34 China h~itte zwar das Machtpotential, sich als Kernstaat einer Grol3zivilisation dem Westen in einem imperialen Sinne auch kulturell entgegenzusetzen, doch gibt es keine stichhaltige ideenllistorische Herleitung dafiir, dass dies in absehbarer Zukunft wirklich passieren k6nnte. Allerdings bedeutet die Absenz eines derartigen Kemstaates nicht, dass der Westen nicht in seinem kulturellen Kern und mit klarer eliminatorischer Zielsetzung angefeindet wird, und zwar in der Tat auf eine ganz neuartige - kulturalistische - Art und Weise. Der politische Islamismus hat hier die Rolle des Avantgardisten iibemommen. Wenn es richtig ist, dass es im politischen Handeln des ,,Westens" heute darum gehen muss, Zerrbilder in aul3erwestlichen Kulturr{iumen zu korrigieren, dann geht es immer auch darum aufzuzeigen, warum der Westen mehr darstellt als radikalen Materialismus und moralische Verderbnis. W~ihrend es bet der Beseitigung von Zerrbildem des Islam im Westen darum geht, auch die ,,positiven" Aspekte der islamischen Zivilisation in den Vordergrund zu riicken, so muss doch das gleiche mit der ,,westlichen Zivilisation" erfolgen. 35 Hier kann Huntingtons Ansatz in seinem Buch ,,Kampf der Kulturen" durchaus als erste wichfge, wenn auch in mancherlei Hinsicht konkretisierungs- und ergiinzungsbediirftige Grundlage herangezogen werden. 36
32Michael Th. Greven, Einfiihrungsvortrag: Demokralie- eine Kultur des Westens, in: Michael Greven (Hg.), Demokratie - eine Kultur des Westens? 20. Wissenschqftlicher Kongre/f der deutschen Vereinigungfigr Politische Wissenschqfi, Opladen 1998, S. 19-35, 29. 33Vgl. auch Wolfgang Schiiuble, Scheitert der Westen? Deutschland und die Neue Weltordnunj~ M/inchen 2003, S. 181. Damit steht Sch~iubles Buch im gewissen Gegensatz zu Joschka Fischer, Die Riickkehr der Geschichte. Die Welt nach dem 11. September und die Erneuerung des Westens, K61n 2005: Fischer fasst das Islamismusph{inomenkaum als kulturelles,sondem als Modernisierungsproblem auf und stellt seinen Begriff des Atlantizismus auf den Boden einer universalistischen Menschenrechtsorthodoxie. 34 Diese Kritik scheint berechtigt (vgl. z.B. Stephanie Lawson, Introduction. A New Agenda for International Relations?, in: Dies. (Hg.), The New Agenda for International Relations. From Polarization to Globalization in World Politics?, Cambridge 2002, S. 3-18, 13). 3s Vgl. Udo Steinbach, Interessen und Handlungsmb'glichkeiten Deutschlands im Nahen und Mittleren Osten, in: Joachim ICrause, Kooperative Sicherheitspolitik. Strategische Ziele und Interessen, in: Karl Kaiser / Joachim K_rause(Hg.), Deutschlands neue Aufdenpolitik. Band 3: Interessen und Strategien, Mfinchen 1996, S. 189-194, 193. 36 Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, MCinchen 2002; Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion uvischen VernunJt und Fundamentalismus, Hamburg 1995.
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In Bezug auf Huntington sollte in diesem Zusammenhang auch einmal die pazifierende und dialogische Komponente seines Werkes zur Kenntnis genommen und gewiirdigt werden. Ohne Huntingtons Prognose eines ,,Kampfes der Kulturen" w~ire me vor diesem Kampf, gewamt worden. Und Huntington selbst hat im ()brigen in Bezug auf die Warnungen den Anfang gesetzt. So wurde in kritischen Situation immer wieder vor einem ,,Kampf der Kultuten" yon westlicher Seite aus dann immer gewarnt, wenn die Gefahr am grfl3ten war, dass dieser Kampf ausbricht, i.e. nach entsprechend terroristischen Anschliigen mit dem Versuch einer kulturellen Legitimationsaneignung. Es scheint hilfreich sich vorzustellen, wie (nicht nut) die amerikanische C)ffentlichkeit auf Terroranschliige reagiert h~itte ohne eine entsprechende Sensibilisierung und Immunisierung, die in der Heraufbeschwfrung und der damit einhergehenden Kritik des ,,Kampfes der Kulturen" liegt. So betonte George W. Bush in seiner Rede am 20. September 2001, dass er den Glauben der Muslime respektiere und dass er die Terroristen nut als Verriiter am muslimischen Glauben betrachten kfnne. Entsprechend warnten und wamen nach islamistischen Anschl~igen westliche Politiker aller Couleur immer wieder vor einem ,,Kampf der Kulturen". Das Szenario yon Huntington zeitigt also eine nicht zu unterschiitzende Immunisierungsfunktion: Es ist e b e n - in einem wertneutralen S i n n e - nicht selbstverstiindlich, dass Ausschreitungen und Gewalttaten gegen Ausl~inder, vor ahem gegen Araber und Muslime, in nur begrenzter Weise den Anschliigen - ob in New York, Madrid oder L o n d o n - folgten. Der diesbeziigliche Beitrag yon Huntingtons Schreckenszenario sollte unter diesem Aspekt mit besonderer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen werden.
2.2 Die Identitdt des ,,modernen Menschen "im Widerstreit: Peter L. Berger und Ulrich Beck
Identit~itspolitische Fragen erf'fillen nun nicht nur eine sicherheitspolitische Funktion, sondern noch einen ganz eigenen Kern, womit beim Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation" die identit~itspolitische Funktion eines politisch identifizierbaren Werte- und Symbolbezugs einer ,,Einheit des Westens" angeschnitten ist. Diese Funktion bezieht sich aufgrund des Modernit~itsgehalts des gesamten ,,Westens" auf das ffir die Moderne typische ,,Unbehagen in der Modernit~it". Im Falle einer modemen positiven Idenftiit des Westens miisste vermittels einer reflektierten Reanimation eines iibernationalen Ehrbegriffs im Sinne einer ,,Ehre des Westens" einero Privatismus und Hyperindividualismus des ,,heimatlos"37 gewordenen ,,Westlers" gegenfiber den mehr und mehr nut noch als technokratischen und anonym begriffenen, weil ,,~iul3erlichen", ,,femen", und vfllig verregelten Institutionen in einem kulturellen Sinne ,,Einhalt" geboten werden. Institutionen def'mieren wit als formal gesetzte Normen und informelle Regeln, die verhaltenssteuemd wirken, unabhiingig davon, ob sie einen Zweck oder eine Funktion in etwas haben, was aul3erhalb yon ihnen liegt. Und unter dem Begriff der ,,Heimatlosigkeit" lassen sich dabei nach Peter L. Berger Erscheinungen ,,prekiirer Identit~it" des modemen Menschen zusammenfassen, die sich aus Spannungs-, Angst, Anomie- und Entfremdungszust~inden, aus Rollendistanzen, aus ,,impression management", hinausgeschobenen Vitalbedfirfnissen, pluralen Lebenswelten und Identitiiten sowie s~ikularisierenden Momenten zusammensetzen. Die prekiire Situation folgt aus einer Widersprfichlichkeit der Modemit~it heraus: ,,Auf der einen Seite ist die moderne Identitiit unabgeschlossen transitorisch, fortlaufendemWandel ausgesetzt. Auf der anderen Seiteist ein subjektivesReich der Identitiitder haupts~ichlicheHalt des Individuumsin der Wirk37Vgl. Peter L. Berger / Brigitte Berger / Hansffied Kellner, Das Unbehagenin der Modernitat, Frankfurt a.M. / New York 1975, S. 74.
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Kapitel I lichkeit. Etwas sich fortwiihrend Wandelndes soll das ens realissimum sein. Es ist deshalb nicht s dass der moderne Mensch an einerpermanenten Identita'tskrise leidet, ein Zustand, der zu starker Nervositiit f/ihrt"38
Traditionale Institutionen 39 n e h m e n dutch die Regelungssysteme mnerhalb biirokratisierter, sachlich-neutraler Systeme fiir das individuelle ,,Privatleben" des Querschnitts des m o d e r n e n Menschen stark an Bedeutung ab. Das jedoch weiterhin hmreichend bestehende Verlangen des Einzelnen nach einer sinnerfiillten 6ffentlichen O r d n u n g 4~ mag es von b e s t i m m t e n postmodernen Theoretikern auch bestritten werden 41, finder im K o n t e x t althergebrachter Modernisierungsparadigmata auch keine befriedigende Antwort. Die klassischen Paradigrnata der Aufkliirung gingen davon aus, dass der Mensch durch immer kompliziertere Technologien im Endeffekt nut noch ,,entlastet" wird, und z w a r - und spiitestens das stellt eine l}bertreibung d a r - als Voraussetzung seiner (individuellen) Befreiung im Sinne der individuellen ,,Selbstverwirklichung". Anfang der siebziger J ahre formulierte es die Bergersche Wissenssoziologie in Riickgriff auf Arnold Gehlens Institutionenlehre folgendermaBen: ,,Es scheint uns klar zu sein, dass die ungeziigelte Begeisterung fiir die totale Befreiung des Ich v o n d e r ,Unterdriickung' der Institutionen gewisse grundlegende Erfordernisse des Menschen nicht in R e c h n u n g stellt, insbesondere die der Ordnung". 42 Gerade angesichts der Furcht des m o d e r n e n Menschen vor der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz wirkt eine konsistente ,,politische O r d n u n g " unter Einschluss eines 6ffentlichen Wahrheitsbegriffes oder entsprechenden Wahrzeichens auch nach Voegelin in starker Weise entlastend. Eine derartige O r d n u n g beantwortet zwar nicht die Frage nach dem Sinn, gibt dem m o d e r n e n Menschen aber die Symbolisierung eines Sinns an die Hand, mit der seine Verwirrung in konkreter Symbolik politisch geziihmt und aufgefangen werden kann; die Verwirrung des m o d e m e n Menschen dariiber, dass das M o m e n t der existentiellen U n o r d n u n g etwas Unnatiirliches sein muss angesichts der frappanten Bestiindigkeit natiirlicher Abliiufe, von denen er sich anscheinend entfremdet h a t - sei es die Bestiindigkeit des Wechsels der J ahreszeiten, des Klimas, des Wachsens und Vergehens, der G e b u r t und des Todes, der Regelm~iBigkeit der Bewegung der Gestirne oder )~hnliches. 43 N a c h Peter L. Berger ist nun ,,die Grundkonstitution des Menschen [..] so beschaffen, dass er so gut wie unvermeidlich wieder Institutionen konstruieren wird, die ihm eine geordnete Wirklichkeit bieten. Eine Riickkehr zu Institutionen wird ipso facto eine Riickkehr zur E h r e sein. ''44 Die Wiederherstellung der Voraussetzungen von , , O r d n u n g " und , , O f f e n t l i c h k e i t " durch die reflektierte Rekonstruktion v o n ,,Ehre" k6nnte sich nun in einer postulierten ,,Ehre des Westens" auf besonders sensible Weise realisieren. Jedenfalls sollte nicht nut aus einer konservativen oder rechten Perspektive die ,,Spekulation" erlaubt sein, ,,dass eine Wiederent38 Peter L. Berger / Brigitte Berger / Hansfried Kellner, Das Unbehagen in der Modernita't, Frankfurt a.M. / New York 1975, S. 71. 39 Der Traditionalbegriff ist im Sinne Max Webers zu verstehen, so wie er den Traditionsbegriff in der Herrschaftssoziologie definiert: ,,Traditional soll eine Herrschaft heiBen, wenn ihre Legitimitiit sich stiitzt und geglaubt wird auf Grund der Heiligkeit alt/iberkommener (,von jeher bestehender') Ordnungen und Herrengewalten." (vgl. Max Weber, Wirtschafi und Gesellschaft. Grundriss der verstehendenSo~ologie, ND Neu Isenburg 2005, S. 167). 40 Vgl. Peter L. Berger / Brigitte Berger / Hansfried Kellner, Das Unbehagen in der Modern#a?, Frankfurt a.M. / New York 1975, S. 71. 41 Vgl. dazu die Ausfiihrungen iiber die ,,Postmodeme" bei Hans van der Loo / Willem van Reijen, Modernisierung. Projekt undParado-c, 2. Aufl., Miinchen 1997, S. 283f. 42 Peter L. Berger / Brigitte Berger / Hansfried Kellner, Das Unbehagen in der Modernita't, Frankfurt a.M. / New York 1975, S. 84. 43Vgl. Dietmar Herz, Die platonische Philosophie als Schb'pfeffnpolitischer Ordnung. Die Platon-Inte~retation yon Eric Voegelin, in: Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VI: Platon, hg. von Dietmar Herz, M{inchen 2002, S. 343-389, 346. 44 Peter L. Berger / Brigitte Berger / Hansfried Kellner, Das Unbehagen in der Modernitd't, Frankfurt a.M. / New York 1975, S. 85.
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deckung der Ehre in der kiinftigen Entwicklung der modernen Gesellschaft sowohl empirisch plausibel als auch moralisch wiinschenswert ist. ''45 Dass dieser Gedanke fiber die ,,konservatir e " oder ,,rechte" Begrifflichkeit yon ,,Ehre" hinausgeht, versteht sich yon selbst, sobald realistischerweise vor Augen gefiihrt wtirde, dass die Rekonstruktion des Ehrbegriffs ,,schwerlich in Gestalt einer regressiven Restauration traditioneller Kodexe vor sich gehen wird. ''46 ,,Das spezielle ethische K_riteriumf/it alle kiinftigen Instimtionen und f/ir die Ehrenkodexe, die sie im Gefolge haben werden, wird sein, ob sie die Entdeckung der menschlichen Wfirde (...) in sich integrieren und stabilisieren k6nnen. ' ~ 4 7 Hier k6nnte also die politische Substantialisierung oder gar Instimtionalisierung des ,,Westens", der ja zugleich ffir die ,,menschliche Wiirde" steht, vermittels einer geistigen Herleitung oder Konstruktion eines entsprechenden ,,Ehrbegriffs" die beste Gewiihr bieten. Eine Identitiitsstiftung indes, die z.B. aufgrund der Tatsache, dass der Identitiitsbegriff in der Tat ein Krisenbegriff der Moderne ist 48, diese Identitiit an rein , , m o d a l e n " Begriffen wie , , G e m e i n s c h a f t " oder , , G e m e i n s c h a s festmacht, ohne ,,Identit~it" positiv ffillen zu wollen fiber Begriffe wie z.B. ,,Wfirde" und ,,Freiheit", wiire am Ende vielleicht anf~illiger ffir phobische oder ,,negatorische" Retardationen als man es bei ,,gefahrlich essentialistisch" anmutenden Identitiitskonstruktionen mit inhaltlicher Ffillung oft vermutet. Die mit der inhaltlichen Ffillung einhergehende ,,Essentialisierung" ist ja zugleich eine, die m ihrer Wirkungsweise von den Inhalten abhiingt. Gerade Letztere werden aber in betont anti-essentiellen Ansiitzen nicht fair genug wahrgenommen. 49 Mit Bezug auf den Zivilisationsbegriff hat das dann die Folge, dass dieser schon als solcher als ,,gefahrlich essentialistisch" stigmatisiert wird, ,,historisch kontaminiert durch die Bedeutungsschichten des kulturellen Imperialismus, Eurozentrismus, ja sogar Rassismus. ''s~ Es ist bezeichnend, dass einem beim Begriff der ,,Zivilisation" als allererstes nicht die nun einmal westlich fiberlieferten ,,zivilisatorische Werte" einfallen, well diese kulturell und herkunftshistorisch bstimmt sind. Hier entbl6Ben sich die solcherart aggressiv gestimmten Kritiker des metaphysischen Realismus als die eigentlichen- sowohl unhistorischen als auch giinzlich k u l t u r f e i n d l i c h e n - Dogmatiker: So begrfindet Ulrich Beck seine grundsiitzliche Ablehnung des Zivilisationsbegriffes damit, dass dieser Begriff einem ,,kulturellen Indeterminismus" widerspreche, der aber doch letztlich selbst nichts darstellt als eine ideologische Doktrin. Dieser Doktrin setzt Beck die Vorstellung entgegen, dass der Zivilisationsbegriff eine Real_it{it der Ersten Moderne wiederbelebe, die in seinen Augen anscheinend nur als ,,imperiale" oder ,,koloniale" in Erscheinung tritt. Begriffe wie ,,Wfirde", ,,Ehre", ,,Freiheit", ja sogar ,,Liebe", von denen sich ja auch Ulrich Beck in sehr vermittelter Weise leiten liisst, haben keine zivilisatorische Realitiit zu sein: Umso bedauerlicher, als es ja gerade diese Werte sind, die mit Hilfe des Zivilisationsbegriffes einer Essentialisierung unterzogen werden, was ihre gesell-
4s Peter L. Berger / Brigitte Berger / Hansffied Kellner, Das Unbehagen in der Modernita't, Frankfurt a.M. / New York 1975, S. 85. 46Ebd. 4vEbd. 48Vgl. ebd. 49 Vgl. sehr sch6n die Kritik am pauschalen Anti-Essentialismus yon Karl Popper, der jede Form des Essentialismus als ideologisches Strukturmerk:mal einer in der Tat problematischen ,,geschlossenen Gesellschaft" charakterisiert, bei Armin Pfahl-Traughber, Klassische Totalitarismuskonzepteauf dem Pdfstand- Darstellung und Kritik der Ansa'tze yon Arendt, Friedrich, Popper und Voegelin, in: Uwe Backes / Eckhard Jesse (Hg.), Jahrbuch Extremismus und Demokratie, 16. Jahrgang 2004, Baden-Baden 2004, S. 31-58, 41f. so Vgl. Ulrich Beck / Edgar Grande, Das kosmopolitischeEuropa. Gesellschaftund Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt a.M. 2004, S. 198 und 200fi
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Kapitel I
schaftliche Kraft fiberhaupt erst wieder praktisch erwirken k6nnte, ja sogar fiber die nun einmal gegebenen Zivilisationsgrenzen hinaus; also genau fiber jene kulturellen Grenzen hinaus, von denen Ulrich Beck glaubt, dass sie durch den Zivilisationsbegriff ,,klammheimlich essentialisiert" werden. Beck nimmt zwar die Art und Weise sowie morphologische Abschottung der Zivilisationseinteilung Huntingtons berechtigterweise zum kritischen MaBstab, setzt diese jedoch mit jeglichem Zivilisationsverstiindnis insgesamt gleich, als ob Huntington der renommierteste aller Zivilisationstheoretiker sei.
2.3 Die normative, zivilisatorfsche, geographische undpolitische Weitreiche des Westens und die Aktualitdt der deskrfptiven Perspektive Oswald Spenglers Die Frage, die sich in Bezug auf die M6glichkeit einer sicherheits- und identitiitspolitischen Substantivierung, i.e. eine Politisierung des Westens zun~ichst einmal stellt, ist die, was heute schon mit dem Begriff des ,,Westens" in einem politischen Kontext gemeint ist. Gehen wit zun~ichst einmal vom Alltagsgebrauch m der politischen Sprache aus, so sehen wir die entwickelten Industriestaaten Amerikas und Europas als integrativen Bestandteil des ,,politischen Westens" an. Der Begriff des Westens beinhaltet hierbei eine interessenpolitische, zivilisatorische sowie ideengeschichtlich-normative Grundverbundenheit zwischen den Nationen des entsprechenden geographischen Grol3raumes. Die normativen Elemente, die vor dem Hintergrund der ,,westlichen Geschichte" auf der Hand liegen, sind das personale Unverduflerlichkeitspostulat (Mensch als Zweck) als die allgemeingfiltigste N o r m des ,,Westens" und eine Tradition der ,,Freiheit". Was daraus als Lebens- und Kulturraum resultiert, ist mit der systematischen Implementierung elementarer Bfirger-, Personen- und Menschenrechte und/oder der christlich-personalistischen Religion ausgeffillt. Die normative Grenzziehung ist grundsiitzlich nicht geographisch beschriinkt, hiingt also normativ v o n d e r Frage ab, ob eine bestimmte, der Menschenwfirde vorausgehende Freiheitstradition, gegeben ist oder nicht. Diese besagt, dass Freiheit nur dann qualitativ gegeben ist, wenn dem Willen zum Handlungsakt ein Erkenntniswille vorausgeht, der wiederum die M6glichkeit und die Uberlegung der Wahl zwischen Handlungsakten m6glich macht. Damit schliel3t sich zugleich ein Kreis, da Freiheit nichts anderes ist, als genau diese Wahl zu haben. Da Erkenntniswille die Pflicht voraussetzt, nicht das zu tun, was man sich Oeidenschaftlich) wfinscht, ist Freiheit natiirlich unm6glich nur auf der Basis der reinen Wfinschbarkeiten erreichbar: Diese Entdeckung ist eine der wichtigsten aller abendliindischen Errungenschaften. Freiheit ist nut m6glich, wenn die Wahl m6glich ist. Die Wahl ist nur m6glich, wenn Erkenntnis vorhanden ist. Freiheit ist nut tatsiichlich gegeben, wenn der Wahl die Tat dutch den wirklichen Willen zur Tat folgt. Der Wille wiederum kann genauso wie die Suche nach der M6glichkeit der Wahl nur einer Pflicht des Menschen entspringen, es niimlich so zu tun, wie es sich ffir einen Menschen, der fiber den Instinkten stehen kann, nun einmal wesenhaft ,,geziemt". Ohne das Geffihl der Verpflichtung, das Richtige zu tun und durch die M6glichkeit der Wahl das Richtige herausfmden zu wollen, kann es keine Freiheit geben. Alles andere ist immer nur das, was als ,,Freiheit" verkauft wird, aber nichts anderes darstellt als die Unterwerfung des ,,Menschen" unter das tierische Primat instinktiver Begehrlichkeiten. Letzteres kann durchaus angenehm, ja genussvoll sein; mit Freiheit hat der sich zum Tier machende Mensch allerdings nichts gemein. 51
sl Vgl., sehr sch6n zusammengefasst,MichaelNovak, VMon einesAmerikaners. Europa und Amerika im globalenZusammenhane~in: Die politischeMeinungNr. 422 (01/2005), S. 25-32, 27f.
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Geographisch ist es nun auch vor normativer Folie augenscheinlich, dass dutch die Grenzziehung auf der Basis der vorgezeichneten Wertestruktur (christlich s2 (iberlieferte Unantastbarkeit der Menschenw/.irde / qualitative Freiheit 53 / Pflicht zur Menschenwiirde 54 / Herausbildung einer V61kerrechtsstruktur 55) historfsch eindeutig der friihauf ,,kulturstaatlich" konfigurierte Raum Nordamerika - Europa - Australien, in den institutionellen IJberlieferungen der Raum Nordamerika - Westeuropa - Australien, vielleicht noch Mitteleuropa oder gar Mittel- und Osteuropa, abgesteckt ist. Bildlich gedacht wird dieser Lebensraum immer auf den Begriff des ,,Westens" gebracht. Auch wenn sich nach dem Irakkrieg eine hiervon abweichende Differenzierung zwischen Amerika und Europa in Bezug auf den Begriff des ,,politischen Westens" vereinzelt breit m a c h t - was in dieser Form und Intensitiit nach 1945 ganz neu i s t - so hat sich die ideengeschichtliche Basis nicht ver~indert. Dass nun nicht nur die interessenpolitische, sondern auch die innerzivilisatorische Grundverbundenheit zwischen Amerika und Europa bestritten wird, k6nnte sich - vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund - als fahrliissig erweisen, ganz gleich, ob nun das zivilisatorische Element als eine technische Lebensform oder als die gr6Btdimensionierte Entit{it menschlicher Kulturformen definiert wird. Da die detaillierte Definition des Zivilisationsbegriffs im starken MaBe v o n d e r jeweiligen Theorie abh~ingig ist, soil es in der Einleitung zun~ichst bei dieser Begriffsanniiherung bleiben. Die Definition des Begriffes der Zivilisation wird im theoretischen Teil der Arbeit zu leisten sein. D o c h schon auf der Basis der nunmehr erfolgten ersten Begriffsann~iherung l~isst sich die vereinzelt in Mode gekommene Anzweiflung der innerzivilisatorischen Grundverbundenheit zwischen Amerika und Europa zumindest in Frage steilen. Das soll hier mit einem kurzen Exkurs fiber Oswald Spengler geschehen. Nicht einmal dieser namhafte deutsche Zivilisationsdenker, der ,,deutsche Kultur" so sehr im Gegensatz zur ,,angelsiichsischen Zivilisation" sah, konnte es zu Wege bringen, die innerzivilisatorische Grundverbundenheit zumindest zwischen Angelsachsen und Deutschen ernsthaft zu bestreiten. Er kontrastierte zwar das , , p r e u B i s c h e " mit dem ,,englischen Weltgeffihl", wie er es nannte, wusste aber, dass sich diese grundverschiedene, auf gegenseitigen K_rieg gestimmten ,,Weltgefi,ihle" des ,,Wikingers" und ,,Freih~ndlers" auf der einen und des ,,Ordensritters" und ,,Verwaltungsbeamten" auf der anderen Seite innerhalb eines abendliindischen ,,Kulturk6rpers" bewegten. 56 Nicht einmal Spengler hat die historische Dimension eines ,,abendliindischen" Zivilisationsbegriffs amputieren und aus dem Begriff einen reinen, v611ig unhistorischen Zukunftsbegriff machen k6nnen, obwohl er einen scharfen politischen Gegensatz zwischen Einzelgliedern der , , a b e n d l ~ n d i s c h e n " Zivilisation konstatierte. Einen ,,zivilisatorischen" Qualit;,itsunterschied erster G(ite aus rein gegenwartsbezogenen politischen Interessen- und Wertegegensiitzen zwischen Amerika und Europa zu konstruieren, wiirde in diesem Sinne jeglicher begriffsgeschichtlichen und etymologischen Grundlage zivilisatorischer Verbundenheit entbehren.
s2 Vgl. insbesondere Nikolaus Lobkowicz, Was ist eine Person?, in: Karl Graf Ballestrem / Hans Buchheim / Manfred H~itdch / Heinz H~irten (Hg.), So~alethik und PoliK;che Bildung. Festschriftj'ur Bernhard Sutor gum 65. Geburtstag, Paderbom u.a. 1995, S. 39-52. s3 Vgl. insbesondere Raymond Aron, Uber die Freiheiten. Essay, Frankfurt a.M. 1968. s4 ,,Man muss sie doch wenigstens einmal gesehen haben, bevor man sie ins gesetzliche Glaubensbekenntnis aufnimmt." (Botho Straui3, Anschwellender Bocksgesang, in: Heimo Schwilk / Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewusste Nation. ,,Anschwellender Bocksgesang"und weitere Beitrdge Zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. 1994, S. 19-40, 24.) 5s Vgl. Ernst Reibstein, Va'lkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis- Band l: l/on der Antike bis wr Aufklarung, Freiburg 1958, S. 3. s6 Vgl. Oswald Spengler, Preu.ffentumundSo~alismus, M(inchen 1919, S. 31 und 50.
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Im Ubrigen sind im Unterschied zu Wemer Sombarts Wort von den ,,Kr~imern und Kriegem" im Biichlein von den ,,Hiindlern und Helden ''sT bei Spengler nicht nur die ,,Ordensritter" (also die Deutschen), sondem eben auch die ,,Wildnger" (also die Angelsachsen) die wahren ,,Helden". Ihre letzte ,,Grol3tat", die Kolonisierung Nordamerikas, hielt Spengler in gemeinsamen, abendliindischen Ehren. sg Nicht einmal der Zweite Weltkrieg kann somit bedeuten, dass die eine ,,westliche Zivilisation" als ,,abendliindischer Kulmrk6rper", schlicht vorhanden in ideengeschichtlicher Hinsicht, widerlegt wurde. Wie soil er dann heute, wo ein Krieg zwischen Amerika und Europa wohl trotz Bush, Cheney, Schr6der und Chirac in weiter Ferne liegt, widerlegt sein? Den Zweiten Weltkrieg haben ja am Ende - entgegen der Prognosen (und wohl auch nationalistischen Hoffnungen) Spenglers 59 - bekanntlich die ,,Freih~mdler" gewonnen, und es sei dahingestellt, ob aus dem Grunde, dass die deutschen ,,Preul3en" mit H i t l e r - einem zweiten Nero statt Augustus - 6berhaupt gar nicht zum Zuge kamen oder sich schlicht selbst erledigten. Seit 1945 sind damit, k6nnte man nun metaphorisch behaupten, Amerikaner an die Stelle der britischen ,,Wildnger" und ,,Freih~indler" und ,,Briisseler Europ~ier" an die Stelle der deutschen ,,Verwalmngsbeamten" getreten. Den Part der ,,Ordensritter"/,ibernehmen indes vielleicht noch die europiiischen Nationalisten, ansonsten ist Europa nicht mehr sehr heroisch gestimmt. Jedenfalls sind ,,Amerika" und ,,Europa" als Nachlassverwalter des abendliindischen Kulmrk6rpers die beiden neuen Zivilisationspfeiler der westlichen Hemisphiire. Daher haben wir zun~ichst einmal vom gel~iufigen transatlantischen Kontext des Begriffs Westen auszugehen. Wie wird nun, gesetzt dem Fall es ist erwiinscht, eine Politisierung in diesem Kontext iiberhaupt erm6glicht?
2.4 Die Mb'glichkeit der weitergehenden Politisierung
Wenn nun nach der M6glichkeit einer geistig potenten, und damit der eigenen zivilisatorischen Tradition angemessenen ,,Politisierung" gefragt wird, k6nnte es angesichts der neuen terroristischen Retardationen, aber auch der westlichen Identitiitssehnsiichte, nicht mehr ausreichen, wenn die westliche Zivilisation ihre Wertigkeit alleine mit dem Projekt der Moderne und deren durchaus vorhandenen Errungenschaften (Wissenschaft, Leistung und technischer Fortschritt) verbindet, weil diese Komponenten keine ausreichenden Bindekriifte entfalten k6nnen, um der zivilisatorischen Gemeinsamkeit einen politischen Wert beizumessen. Eine derartig kulturneutrale Definition einer westlichen Zivilisation wiirde der Tiefe und Ambivalenz dieser Zivilisation nicht gerecht werden: Modeme Errungenschaften wie Wissenschaft, Leismng und technischer Fortschritt, saint einer schillernden Konsumgesellschaft sind zwar ,,typisch westlich" und damit auch keineswegs ,,iiberholt" bzw. politisch annullierbar oder iiberwindbar. Doch eine politische Annullierung ist auch gar nicht n6tig, um die politisch relevanten Tiefenschichten westlicher Zivilisation zu eruieren. Im Gegenteil wird sogar bei den Konsumerscheinungen nach den ideellen Wertigkeiten gefragt werden miissen - solange sich diese Erscheinungen selbst nicht explizit kulmrlos machen, indem sie als instrumentalisierte Waffen gegen ihre eigenen historischen und sittlichen Voraussetzungen von interessierter Seite radikal in Stellung
57Vgl. Wemer Sombart,Hdndler und Helden. PaMotischeBesinnungen, Miinchen /Leipzig 1915, S. 81. sa Vgl. MichaelTh6ndl, Wie eft stirbt das Abendland? Oswald Spenglers These vom zweifachen Un/ergang, in: Archiv fiir Kulturgeschichte, Bd. 2004, Heft 1, S. 441-461,458. s9 Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlande.~. Umrkse einer Mo~hologie der Weltgesc/.dchte, 15. Aufl., M/inchen 2000, S. 1144.
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gebracht werden. Es geht bei jeglichem Konsumverhalten nicht immer nur um das Materielle, und ideelle Wertigkeiten ,,abendliindischer Priigung" sind sogar dort ausfmdig zu machen, wo sie vielleicht gar nicht vermutet werden, z.B. im Bereich einer vitalistischen Freiziigigkeit, einer permissiven Freude am Leben und an der K6rperlichkeit. Doch was ist mit der politisch relevanten Tiefenstruktur westlicher Zivilisation gemeint? Ein nationeniibergreifender Zivilisationsbegriff muss, unabhiingig von den Ph{inomenen einer wissenschaftlich-technischen Herstellungszivilisation, in dem Moment, in dem der historische Zivilisationsbegriff politisch werden soll, den religi6sen und kulturellen Kern inkludieren, welcher ohnehin die unabdingbare Voraussetzung fiir alle Phiinomene der ,,typisch westlichen" Freiheit und Lebenslust ist; sei diese Lebenslust dann in dieser oder jenen Auspriigung , , s c h l e c h t " oder ,,gut", st6rend oder erfrischend, banal, modisch, sentimental oder doch von einer gewissen Giite, einem emotional beriihrenden Reiz. Nur die religi6sen und kulturellen Wurzeln k6nnen also zu einem ernstzunehmenden, auch normativen Zivilisationsverst;,indnis fiihren, das auch wirklich die Bindungen entfalten kann, welche die ,,westliche Zivilisation" mit einer politischen Form und einem politischen Freiheitsverst~indnis identifizierbar macht, weil nur diese Bindungen die typisch westliche Individualitiit mit kultureller Partikularitiit iiberhaupt vereinbar machen. Nur auf diese Weise der Erfragung kultureller Voraussetzungen kann von einem essentiellen Gehalt des ,,Westens" iiberhaupt gesprochen werden. Der normative Aspekt, wie er diesbeziiglich auf ganz verschiedene Weise von Philosophen wie Hannah Arendt, Leo Strauss und Eric Voegelin entwickelt wurde, liegt dabei darin, dass in der politischen Erfahrungswelt des Westens der ,,gemeinsame geistige Grund" entdeckt werden kann, ,,welcher der Analyse der gesclfichtlich-sozialen Welt einen operativen Begriff von Humanitiit vermittelt. ''6~ Die heute zunehmend in Vergessenheit geratene Erkenntnis, dass konsistente Ordnungsbildung jeglicher Art immer auch die Betiitigung eines gemeinsamen Willensgehaltes voraussetzt 61, wiirde so wieder zur Geltung kommen und die ,,westliche Zivilisation" innerlich stabilisieren. Zugleich miisste die westlich tradierte Auffassung der , , O r d n u n g " wieder in den Mittelpunkt riicken: Politische Ordnung als Ausfluss einer ,,Suche des Menschen nach einer adiiquaten Symbolisierung des Sinns ''62 und als ,,Bedingung der M6glichkeit, erstrebenswerte Ziele zu verwirklichen". 63 Die Voraussetzung dieser Ordnungswissenschaft ist und bleibt im Ubrigen das Bestreben ,,die Idee von der Kontinuitiit antiker Denkformen in der angelsiichsischen politischen Ideenwelt und der in ihr griindenden institutionellen Ordnung ''64 nicht auszublenden, sondern sie endlich wieder st~irker ins Bewusstsein zu tragen. Als gr613ter Irrtum der modernen Politik- und Sozialwissenschaft k6nnte sich heute herausstellen, dass konsistente und notwendige ,,Ordnung" alleine durch ein blo13 verniinftiges und zugleich geschichts- und traditionsloses Sich-,Vertragen' einer ,,Vielheit" entstehen k6nne. Dieser Vorstellung wird die Angewiesenheit jeglicher anzustrebenden ,,Ordnung" auf
6oJ/irgen Gebhardt, Uber das Studium der politischen Ideen in philosophisch-historfscher Absicht, in: Udo Bermbach (Hg.), Politische Theoriengeschichte. Probleme einer Teildis~plin der Politischen W~rsenschqft, Opladen 1984, S. 126-160, 145. 61Vgl. Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934. 62bzw. ,,Suche nach der Wahrheit der menschlichenExistenz" (Dietmar Her5 Die platonische Philosophie als Sch6pferin politischer Ordnung, Die Platon-Interpretationyon Eric Voegelin, in: Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VI: Platon, hg. yon Dietmar Her5 Miinchen 2002, S. 343-389, 349). 63 Dietmar Herz, Die wohlerwogene Republik. Das konstitutionelle Denken des politisch-philosophischen Ia'beralismus, Paderbom u.a. 1999, S. 25; vgl. femer Ernst Wolfgang B6ckenf6rde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Re&tJphilosophie, StaatstheoKe und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1992, S. 60. 64J/irgen Gebhardt, Ober das Studium der politischen Ideen in philosophisch-historischer Absichl, in: Udo Bermbach (Hg.), Politische TheoKengeschichte. Probleme einer Teildis~plin der Politischen Wissenschafi, Opladen 1984, S. 126-160, 145.
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Kapitel I
,,menschliche Bedingtheit in geistig-politischer Existenz ''65 entgegengesetzt; eine Bedingtheit, v o n der m a n sich im Ubrigen nur unter I n k a u f n a h m e des Verlustes eines brauchbaren Erfahrungsstoffes dessen, was ,,wir" i m Westen als , , H u m a n i t 5 t " entdeckt haben, , , b e f r e i e n " oder ,,16sen" kann. Besonders problematisch erscheint die wissenschaftliche B e h a n d l u n g politischen D e n k e n s u n d politischer Theoriegeschichte u n d Theorie durch Wissenschaftler, die der menschlichen Bedingtheit in geistig-politischer Existenz anscheinend nur wenig abgewinnen k f n n e n . Hier erstaunt doch i m m e r wieder, so hat es einmal V o e g e l m - E x e g e t Jfirgen G e b h a r d t treffend auf den P u n k t gebracht, ,,ein unreflektierter Empiriebegriff sowie die Unklarheit fiber die eigenen ideengeschichtlichen Voraussetzungen, w e n n es u m die Analyse geschichtlichsozialer Wirklichkeit geht. ''66
3. Stand der Forschung: Der Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation" im Lichte der Geschichtsphilosophie und des geschichtswissenschaftlichen Forschungsstandes In A n l e h n u n g an Eric Voegelin u n d andere Ordnungswissenschaftler sowie in Weiterffihrung v o n H a n n a h Arendts Zukunftsprojektion ,,Atlantische Zivilisation ''67 u n d in Ankniipfung an eine Reihe anderer Denker, die diesen Begriff in erster Linie historisch gebraucht haben - so z.B. R o b e r t R. Palmer, Historiker an der Princeton University u n d Jacques G o d e c h o t , Historiker an der Universit~it T o u l o u s e - k6nnte n u n ein derartiges ordnungswissenschaftliches u n d philosophisches Verstiindnis des ,,Westens" ganz klar aus der abendEindischen Tradition griechisch-rfmischer, christlicher (also nicht n u t genuin , , w e s t l i c h e r " i m engen geographischen Sinne) u n d (seit Jefferson, W a s h i n g t o n und Adams) aus der Tradition europ;,iisch-atlantischer Kulturgeschichte gespeist sein und zugleich als Versuch gelten, an die Traditionen einer , , A t lantischen Revolution" bzw. ,,Okzidentalen Revolution" (Heinz Gollwitzer) anzukniipfen68:
65 J/irgen Gebhardt, Ober das Studium der politischen Ideen in philosophisch-historfscher Absicht, in: Udo Bermbach (Hg.), Politische Theorfengeschichle.Probleme einer Teildis~J)lin der Politischen Wissenschaft, Opladen 1984, S. 126-160, S. 151. 66 Ebd., S. 154. Ein Beispiel daffr ist die EinfCihmngvon JCirgen Hartmann, Wozupolitische Theorfe? Eine krftische Einfiihrungfiir Studierende und Lehrende der PolilikMssenschaft, Opladen / Wiesbaden 1997. Der Autor w/irde eine Kritik in dem hier vollzogenen Sinne wahrscheinlich v611ig unbek/immert als einen naserCimpfenden ,,Bildungsroyalismus" o.ii. ~itisieren. 67Vgl. Hannah Arendt, Ober die Revolution, 4. Aufl., M/inchen 2000, insbsd. S. 277-362. 6s Vgl. Robert Palmer, Das Zeitalter der d~mokratischen Revolution, Frankfurt a.M. 1970; Jacques Godechot, France and the Atlantic Revolution of the Eighteenth Centu~, 1770-1799, New York 1977; Jacques Godechot/Robert Palmer, Le Problame de l'Atlantique du XVIIIame au XXame Siacle, in: Hans Ebert (Hg.), Rela~oni del X Congresso Interna~onale di Scienze Storiche (= Storia Contemporanea V), Florenz 1955; deutsche 0bersetzung: Jacques Godechot / Robert Palmer, Das Problem des Atlantiks vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Ernst Schulin (Hg.), Universalgeschichte, K61n 1974, S. 295-317; Heinz Gollwitzer, Geschichte des wellpolitischen Denkens, Band 1: Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum Beginn des Imperialismus, Gfttingen 1972, S. 253f., 282 und 218 (Begriff der ,,okzidentalen Revolution"); vgl. femerhin (insbesondere zu den Akzeptanzproblemen in der Historikerzunft der f/infziger Jahre) Bernard Bailyn, Atlantic Histo{7. Concepts and ContourJ, Cambridge / London 2005, S. 24-30; Andreas Eckert, Gr~raum Atlanlik. Eine neue methodische Idee der Geschichtswissenschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Juni 2005; Alexander Schwan, Deutschland und der Westen - eine wieder aktuelle Diskusdon, in: Klaus W. Hempfer / Alexander Schwan (Hg.), Grundlagen derpolitischen Kultur des Westens. Ringvorlesung an der Freien Univerrita't Berlin, Berlin / New York 1987, S. 7-26, 13ff; Thomas Nipperdey, Der Umbruch zur bil'rgerlichen Gesellschaft seit der Amerikanischen und Fran@'sischen Revolution, in: Klaus W. Hempfer / Alexander Schwan (big.), Grundlagen derpolitischen Kultur des Wesfens. Ringvorlesung an der Freien UniversiMt Berlin, Berlin / New York 1987, S. 169189, 170. In diesem Kontext gebraucht den Begriff auch Hartmut Wasser, Die groJYe Vision: Thomas Je~erson und der amerikanische Westen, Wiesbaden 2004, S. 56. K_ritischgegen Palmer und Godechot aus sozialistischer Sichtweise Immanuel Wallerstein, The Modern World System III. The Second Era of Great Exy)ansion ~ the Capitalist World-Economy 1730-1840s, San Diego u.a. 1989, S. 1-54, insbsd. 38ff.
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,,Bei aller W/_irdigung der sehr erheblichen nationalen Verschiedenheiten erlaubt uns die Bezugnahme auf den ,Westen' als eine Gesittungsgemeinschaft und zusammengeh6rige gesellschaftliche Gr6Be, die revolution{iren Erhebungen in Europa und Amerika unter einheitlichen Gesichtspunkten zusammenzufassen. In den politisch, wirtschaftlich und sozial fortgeschrittenen Liindern diesseits und jenseits des Atlantischen Ozeans hatten groBe Teile der nichtprivilegierten Bev61kerungsschichten einen Reifezustand erreicht, der die Fortfiihrung der bisherigen Regierungsweise und die Aufrechterhaltung der bis dahin geltenden Gesellschaftsordnung nicht mehr zuliefi. Diese Tatsache ist der gemeinsame Nenner fiir die amerikanische, die franz6sische und die ihnen zugeordneten kleineten Revolutionen. ''69 D e r Begriff ,,Atlantische Zivilisation" fmdet sich in diesem Z u s a m m e n h a n g auch bei Tilo Schabert, Jacques F r e y m o n d , sehr p r o g r a m m a t i s c h u n d visioniir bei inspirierenden A d - H o c E n t w i i r f e n v o n G e l e h r t e n u n d Politikern, wie z.B. R o b e r t Strausz-HupS, Christian Hacke, L u d g e r K i i h n h a r d t , Jiirgen Ch~:obog oder W e m e r K r e m p . 7~ In diesem publizistischen u n d politischen Sinne wird der Begriff heute jedoch i n s b e s o n d e r e im englischsprachigen R a u m gebraucht. 71 Als vision~irer A u s d r u c k einer friedlichen, westlichen K o m m e r z - u n d Populiirkulm r fmdet sich der Begriff auch bei W o l f J o b s t Siedler 72 u n d (als ,,euro-atlantische Zivilisation") bei Vitclav Havel, W l o d z i m i e r z Cimoszewicz, Vikor J u s c h t s c h e n k o u n d a n d e r e n mitteleuropiiischen P o l i t i k e m (auch bei ausgewiesenen L i n k e n bis hin zu I o n Iliescu) 73, aus n e o k o n s e r v a t i v e r Sichtweise bei Michael N o v a k u n d D a v i d F r u m 74 sowie in einem eher historischen K o n t e x t bei Jacques Pirenne, Charles Verlinden, Felipe F e m f i n d e z - A r m e s t o , Michael K r a u s (City Universi69 Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolilischen Denkens, Band 1: Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum Beginn des Imperialismus, G6ttingen 1972, S. 253f. 70 Vgl. Robert Strausz-Hup~ / James E. Dougherty / William R. Kintner, Building the Atlantic World, New York / Eavanston / London 1963, S. 10f. und 13; J~irgen Chrobog, Debatte iiber die Grundlagen der Atlantischen Zivilisation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.7.2001" Ludger Kiihnhardt, EditoriaL" Atlantis&e Gemeinschaft brau&t grundlegende Erneuerung, in: ZEIreporl Nr. 11, Juli 2002, S. 1; unter vielen: Christian Hacke, Deutschland darf nicht Junioq)artner Frankreichs bhiben. Das Land muss Zu seiner klassischen Gleictgewichtff)olitik ~schen Paris und Washington wriickfinden, in: Die Welt, 14. Juli 2004; Tilo Schabert, Die Atlantische ZMlisation. ([Tberdie Entstehung der einen Welt des Westens, in: Peter Haungs (Hg.), Europa'isierung Europas?, Baden-Baden 1989, S. 41-54. Vgl. zu Christian Hacke ferner Tim B. MOiler, AuJ~enpolitik als missionarischer Trip. Pla'doyerfih einen neuen Realismus: Eine Tagung in Miinchen untersucht, was der Pr;4sident der Vereinigten Staaten yon HansJ. Mongenlhau lernen k&nte, in: S/iddeutsche Zeitung, 3. November 2004, S. 15; Matthias Oppermann, Die Kunst &s Wirklichen. Was ist in der Politik schon nalistisch? Eine Miin&ener Ta~,ung iiber Hans J. Morgenlhau, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. November 2004, S. 37; Ders., Die EntscheidungJ'ur die politische Wes&indung nach 1945, in: Rainer Zitelmann / Karlheinz WeiBmann / Michael GroBheim (Hg.), Westbindung. Chancen und IO'sikenJ~r Deutschland, Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 129-150, 148; Werner Kremp / Gerd Mielke (Hg.), Atlantischepolitische Kultur- Dimensionen und Pera]oekliven,Trier 1996; Wemer Kremp / Berthold Mayer (Hg.), Religion und Zivilreligion im Atlantischen Biindnis, Trier 2001; Vgl. ferner Klaus W. Hempfer / Alexander Schwan (Hg.), Grundlagen derpolithchen Kultur des WeshnJ, Berlin / New York 1987; Peter Bender, WeltmachtAmerika. Das Neue Rom, 3. Aufl., Stuttgart 2003, S. 262f. 71 Vgl. auch die Ausfiihrungen in Charles A. Beard / Mary R. Beard, The Amerhan Spirit. A Study of the Idea of Civilization in the United States, Nachdruck / 2. Aufl., New York 1971, S. 20f.). Vgl. auf den Kalten Krieg bezogen David Calleo, The Atlantic Fantasy: The U.S., N A T O and Europe, Maryland 1970, S. 103; vgl. ferner als ,,graue Literatur" den Beitrag einer Studentin aus Wisconsin: Erin S. LaPorte, Is the Omaha milkman welcomed here? Our values? Where? The trouble with many, many Atlantic Axrodations. . ., in: http://www.uwm.edu/People//laporte/Atlantic.service/atlantic.assns2.htm, 2.8.2004, 20:44 Uhr; auf der ,,gleichen intellektuellen Ebene" den Artikel eines gewissen Linksaktivisten namens Rafael Leyre, der den Begriff absolut negativ gebraucht: Rafael Leyre, A n Essay on Violence, Tradition and Modernity, in: http://www, essayvtm,netfirms, corn/index, htm#toc, unter folgendem Kapitel (,,Modernity"): http://www.essayvtm.netfirms.com/Modernity.htm#Modernity,17.8.2004, 17:47 Uhr. 72 Vgl. WolfJobst Siedler, Deutschland, ein GlaJ])erlenJ?iel,in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. August 1994, S. 26. 73 Vgl. unter vielen: V~clav Havel, The Cge& Republic and lhe Great Historic" Challenge, in: The Congress of Prague, ed. Gerald Frost / William E. Odom, Washington 1997, S. 161f., zitiert nach: Stanley Kober, N A T O E~qoansion Flashpoint Nr. 3, in: Foreign Policy Briefing Nr. 48 (Cato Institute), 11. Februar 1998, S. 1-21, 8 (Kober bewertet den Begriff kritisch). 74 Michael Novak, North Atlantic Community, European Community. Divergent Paths and common values in Old Europe and the United States, in: National Review Online (http://www.nationalreview.com). Auszug einer Rede vor der Hayek Foundation am 3. Juli 2003 in PreBburg).
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ty N e w York), Frederick Tolles, D.W. Meinig und Ernst Nolte. 7s Als Feindbegriff sogar k6nnen wir die ,,Atlantische Zivilisation" interessanterweise bei sektiererischen , , E u r a s i e r n " w i e Alexander Dugin v o r f m d e n 76 oder auch in der Betitelung eines prosowjetischen, kommunistischen Gesellschaftsgem~ildes v o n Andrfi F o u g e r o n aus d e m Jahre 1953, des fiihrenden Vertreters eines ,,sozialistischen Realismus" in Frankreich, das unter d e m Titel ,,Civilisation Atlantique" im L o n d o n e r Tare (Modern) M u s e u m besichtigt werden kann. A n s c h e i n e n d kann die ,,Atlantische Zivilisation" im politischen Sinne als ein Geriist verstanden werden, dass mit verschiedenen ideologischen Standpunkten vereinbar ist. Als politisches Projekt hatte sie z.B. auch Barry Goldwater, der streitbare ,,Vater des amerikanischen Konservativismus", in einer Rede vor der 28. National C o n v e n t i o n als damaliger Priisidentschaftskandidat der Republikanischen Partei der USA 1964, damals n o c h in einem antikommunistischen Kontext, auf folgende sehr einfache F o r m e l gebracht: ,,I can see and I suggest that all thoughtful man must contemplate the flowering of an Atlantic civilization, the whole world of Europe unified and free, trading openly across the world. This is a goal far, far more meaningful than a moon shot.''v7
K n a p p vierzig Jahre spiiter schrieb Michael Novak, einer der proftliertesten, n u n m e h r neokonservativen K 6 p f e in den USA: "To speak of E u r o p e is also to speak of the extension of its noble and distinctive civilization of the N o r t h Atlantic, so as to include those far-off children of Europe: Canada and the United States. ''Ta Z u s a m m e n f a s s e n d kann festgehalten werden, dass mit d e m Begriff der Atlantischen Zivilisation in einem politischen K o n t e x t die neue ordnungspolitische Situation, wie sie seit 1945 im Westen existiert, eine symbolische und zugleich projektiv offene Artikulation fmdet: Diese neue ordnungspolitische Situation hat Charles Taylor folgendermal3en zusammengefasst: ,,Die Stabilitiit westlicher D e m o k r a t i e n resultiert aus einer endlich erreichten V e r s c h m e l z u n g von
7s Vgl. als ersten summarischen Oberblick Bernard Bailyn, Atlantic Histo~7. Concepts and Contours, Cambridge / London 2005, S. 4-56; Andreas Eckert, GroJ~raum Atlantik. Eine neue methodische Idee der Geschichtswissenschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Juni 2005; vgl. im Einzelnen: Tilo Schabert, Die Atlantische Zivilisation. Uber die Entstehung der einen Welt des" Westens, in: Peter Haungs (Hg.), EuropaTsierung Europas?, Baden-Baden 1989, S. 41-54; der Begriff ,,Atlantische Zivilisation" wird ferner programmatisch und theoretisch emsthaft verwendet bei Jacques Pirenne, Die groJ~en Striimungen in der Weltges&ichte. Von der Antike bis zum Abschluss des Zweiten Weltkrieges- Band 3, Bern 1949, S. 704-719 (,,Die Schaffung einer atlantischen Zivilisation dutch die Ausdehnung des Liberalismus in den Vereinigten Staaten und in Sfidamerika"); Charles Verlinden, Les Origines de la Civilisation Atlantique. De la Renaissance ~ l'Age des Lumiares, Neuchfitel / Paris 1966; Jacques Freymond, Die Atlantische Welt, in: Golo Mann / Alfred Heul3 / August Nitschke (Hg.), Propyla'en Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, Band X, Berlin / Frankfurt a.M. 1986, S. 223-299, 226; Felipe Fern~indezArmesto, Civilizations, Basingstoke/Oxford 2000, S. 487-555; Ders., Millennium. Die Weltges&ichte unseresJahrtausends, 5. Aufl., M/inchen 1998, S. 18f.; Michael Kraus, The Atlantic Civilization. Eighteenth-Centu{7 Origins, Ithaca/New York 1949; Frederick Tolles, Quakers and the Atlantic Culture, New York 1960; Kurt von Boeckmann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924, S. 336-385; Ernst Nolte, Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?, Mfinchen 1998, S. 497-515; Felipe Fem~indez-Armesto, Before Columbus. E:,Joloration and Colonization from the Mediterranean to the Atlantic, 1229-1492, Philadelphia 1987, S. lf." D.W. Meinig, The Shaping of America. A GeographicalPerJpective on 500 Years of Histo.ry - I/ol. 1: Atlantic America 1492-1802, New Haven / London 1986, S. 1-76 und 257-267 (dazu gesellt sich noch Bd. 2: Continental America, New Haven / London 1993)' Holger Afflerbach verwendet die Begriffe ,,atlantische Welt" und ,,atlantische Gesellschaft" (vgl. Holger Afflerbach, Das enlfesselte Meer. Die Geschichte des Atlantik, Mfinchen 2001). Vgl. femerhin aus asiatischer Perspektive Gary Y. ONhiro, Common Ground, Princeton 2001, S. 16f. 76 Vgl. Sergej Duvanov, Eurasism as a philosophy q/justifjing inferiority, in: Central Asia Bulletin, 29 November 2001, s. http: //iicas. org/english/an_en_03_l 2_01.htm. ~7Zitiert nach http://www.washingtonpost.com/wp-srv/politics/daily/may98/goldwaterspeech.htm va Vgl. Michael N ovak, North Atlantic Community, European Community. Divergent Paths and common values in Old Europe and the United States, in: National Review Online (http://www.nationalreview.com), 23. Juli 2003, 10:45 a.m. (Auszug einer Rede vor der Hayek Foundation am 3. Juli 2003 in Prel3burg).
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nationaler Identit~it u n d u n d freien Regimes, so dass heute atlantische L~inder stolz darauf sind, eine d e m o k r a t i s c h e Zivilisation zu teilen. ''79 N e b e n der eher seltenen V e r w e n d u n g des Begriffs in e i n e m politischen K o n t e x t florieren in N o r d a m e r i k a gescl~ichtswissenschaftliche S t u d i e n p r o g r a m m e in ,,Atlantic H i s t o r y " u n d ,,Atlantic Civilization", die sich zu den universalhistorischen B e t r a c h t u n g e n ,,westlicher Zivilisation" y o n A r n o l d j. T o y n b e e u n d William Caroll q u i g l e y (essentialistisch) 80, T h o m a s Sowell (kulturalistisch) 81, H a n s Freyer (traditionell) 82, William H. McNeill (dynamischkonstruktivistisch) 83, F e r n a n d Braudel (strukturalistisch) 84 I m m a n u e l Wallerstein (sozialistisch) 85, L e f t e n Stavros Stavrianos (narrativ), Douglass Cecil N o r t h (statistisch u n d 6 k o n o misch) s6, D a v i d S. L a n d e s (kapitalistisch-traditionell) 87, D a v i d Gress (geschichtsphilosophisch, interpretativ) ss, J.M. Roberts (popul~ir) s9 u n d J o h n U. N e f (sozialhistorisch) 90 hinzugesellten. Die Studieng~inge w e r d e n i n s b e s o n d e r e am History D e p a r t m e n t der Florida International University in Miami u n d am D e p a r t m e n t of History der University of Prince E d w a r d Island in C h a r l o t t e t o w n in K a n a d a angeboten. Die v o m groBen US-Historiker B e r n a r d Bailyn ins L e b e n gerufene, vitale u n d institutionalisierte atlantische G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g 91, fmdet jedoch in E u r o p a bedauerlicherweise k a u m P e n d a n t s , ganz zu schweigen v o n politikwissenschaftlichen Ans~itzen. Die atlantische G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g ist in den U S A u m B e r n a r d Bailyn so weit gediehen, dass sie sich inzwischen in k o m p l e t t e n M o n o g r a p h i e n u n d Qualifnkationsarbeiten
79 Charles Taylor, Die Debat/e .~schen Liberalismus und Kommunitarismus, in: Axel Honneth (Hg.), Kommunitaffsmus. Eine Debat/e iiber die moralgchen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt / New York 1994, S. 103-130. so Vgl. Arnold j. Toynbee, Der Gang der Weltgeschichte.A~tieg und Verfall der Kul/uren, 3. Aufl., Stuttgart 1955; William Caroll Quigley, Tile Evolu/ion of Civiliza/ions. An Introduc/ion to HistoricalAna~sis, Indianapolis 1979; Oswald Spengler, Der Un/epgang des"Abendlandes. Umd~:reeinerMo~hologie der Weltgeschichte, 15. Aufl., Mfinchen 2000. 81 Vgl. Thomas Sowell, Races and Culture. A World View, New York 1994. 82Vgl. Hans Freyer, Weltges&ichteEuropas, 2. Aufl., Stuttgart 1954. 83Vgl. William H. McNeill, The Rise of the West. A Histo~ of the Human Community," with a Relro~pectiveEssay, Chicago 2001; Ders., The Rise of the West. After Twenty-Five Years, in: Stephen K. Sanderson (Hg.), Civiliza/ions and World Systems, Walnut Creek / London / New Delhi 1995, S. 303-320. 84Vgl. Femand Braudel, Die Geschichte der Zivilisation. 15.-18. Jahrhundert, Mfinchen 1979. 85Vgl. Immanuel Wallerstein, The Modern World System I. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Centu~, New York u.a. 1974; Ders., The Modern World System II. Mercantilism and the Consolidation of the European World-Economy 1600-1750, New York u.a. 1980; Ders., The Modern World System III. The Second Era of Great Ea,Joansion of the Capitalis/ World-Economy 1730-1840s, San Diego u.a. 1989. 86Vgl. Douglass Cecil North, The Rise ~the Western World. A New Economic Histo,ry, Cambridge 1973. 87 Vgl. David S. Landes, Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin 1999 (vgl. auch, Nathan Rosenberg / LE Birdzell, How ~he West Grew Rich. The Economic Transformation of the Industrial World, New York / London 1986); Leften Stavros Stavrianos, A Global Histo~. From Prehisto~ to the Present, 4. Aufl., Englewood Cliffs 1988. 88Vgl. David Gress, From Plato to NATO. The Idea ~the West and its Opponents, London u.a. 1998. 89 Vgl. J.M. Roberts, DerTriumph desAbendlandes, Dfisseldorf/Wien 1986. 90Vgl. John U. Net', War and Human Progress. An Essay on the Rise of Industrial Civilization, New York 1963. 91 Vgl. Bernard Bailyn, Atlantic Histo~. Concepts and Contours, Cambridge / London 2005; Bernard Bailyn, The Idea of Atlan/ic I-Iisto~, in: Itinerario, Bd. 20 (1996), S. 19-44; David Armitage, Three Concepts ~AtlanticHisto~, in: David Armitage / MichaelJ. Braddick (Hg.), The British Atlantic World 1500-1800, Basingstoke / New York 2002, S. 11-27; H. Hale Bellot, Atlantic Histo.ry, in: History Bd. 31 (1946), S. 61f.; Jack P. Greene, Beyond Power:.Paradigm Subversion and Reformulation and the Re-Creation g the Ear~ Modern Atlantic, in: Ders, Inte~reting Early America. HistoriographicalEssays, Charlottesville (Va.) 1996, S. 17-42; Paul Butel, The Atlantic, New York 1999; Wichtige Einzeluntersuchungen u.a. sind: Daniel Walker Howe, American I-Igto~ in an Atlantic Context, Oxford 1993; Daniel T. Rodgers, Atlantic Corsa~ngs.Social Politics in a Progressive Age, Cambridge (Mass.) 1998; Kevin H. O'Rourke / Jeffrey O. Williamson, Globalization and Histo~: The Evolution of a Nineteenth-Centu{2 Atlantic Economy, Cambridge (Mass.) 1999; Alison Games, Migration and the Origins"of the English Atlantic World, Cambridge (Mass.) 1999; David Eltis, Atlantic I-Iisto~ in Global Per~ective, in: Itinerario - European Journal of Overseas History, Bd. XXIII (1999), S. 141-161; Alison Games, Tea&ing Atlantic Histo~, in: ebd., S. 162-173.
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kritisch selbst reflektiert u n d e n t s p r e c h e n d f r a g m e n t i e r t . So u n t e r s c h e i d e t e i n e r i h r e r P r o t a g o n i s t e n , D a v i d A r m i t a g e y o n d e r C o l u m b i a U n i v e r s i t y , z w i s c h e n vier T r a d i f i o n s s t r i i n g e n u n d drei I d e a l t y p e n b i s h e r i g e r a t l a n t i s c h e r G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g : Traditionsstra'nge: White (and Green9e) Atlantic Histo{793: der klassische und immer noch wichtigste Traditionsstrang, der sich auf die Idee einer ,,Atlantischen Zivilisation" als Ergebnis einer abendliindischen Geschichtsentwic "~ung mit atlantischem Kulminationspunkt im Zeitalter der transatlantischen Aufkliirung bezieht. Der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg k6nnen als politische Motivationswurzel dieser Wissenschaftstradition gelten. In der vorliegenden Arbeit wird yon diesem Traditionsstrang ausgegangen. Black Atlantic Histo{7: Die politische Motivationswurzel setzt hier nach dem amerikanischen B/irgerDieg an. Die entsprechenden Werke am Ende des 19. Jahrhunderts 94 werden im Verlaufe der Herausbildung der durch den Zweiten Weltkrieg und Kalten Krieg motivierten atlantischen Geschichtsschreibung reanimiert, erweitert und fortentwickelt sowie in kritischer Reservehalmng gegen/iber der ,,White Atlantic History" - nicht ganz zu Unrecht und rnit gewissem Erfolg- als zentraler Bestandteil einer atlantischen Geschichtsschreibung eingefordert. 9s Red Atlantic Histo{7: dieser marxistische Strang bezieht sich auf die Geschichte der multinationalen, -ethnischen und kulturellen ,,ArbeiterHasse" im Rahmen eines ,,atlantischen Kapitalismus". 96 Atlantic Histo~: dieser Strang reflektiert und vereinigt alle drei o.g. Traditionsstriinge miteinander. 9v Idealtypen98 Circum-Atlantic Histo~: transnationale Geschichtsschreibung, d.h. die internen und extemen Einfl~sse, Wirkungen und Bedeutungen des transatlantischen Denkens und Handelns betreffend in Bezug auf die Nationalstaaten und Gesellschaften innerhalb eines atlantischen Zivilisationsraumes - yon diesem Idealtypus wird in der vorliegenden Arbeit ausgegangen, allerdings nicht nut in einem ereignis- oder strukmrhistorischen 99, sondem hauptsiichlich in einem ideengeschichtlichen Kontext.100
92 In dieser strittigen und eher fragw/.irdigen Eventualbezeichnung findet sich ein besonders betonter Bezug auf entsprechende Besonderheiten der amerikanisch-irischen Geschichte (vgl. David Armitage, Three Concepts of Atlantic Histo~, in: David Armitage / Michael J. Braddick (fig.), The British Atlantic World 1500-1800, Basingstoke / New York 2002, S. 11-27, 14). 93 Vgl. Victoria de Grazia, The White Atlantic. American Market Culture in the Making of Twentieth-Centu~ Europe, Cambridge (Mass.) 2003. 94 Vgl. die Literaturangaben bei David Armitage, Three Concepts of Atlantic History, in: David Armitage / Michael J. Braddick (Hg.), The British Atlantic World 1500-1800, Basingstoke / New York 2002, S. 11-27, 14, Fn. 10 (aufgef/ihrt auf S. 251). 95 Vgl. Paul Gilroy, The Black Atlantic. Modernity and Double CondousnesJ, Cambridge (Mass.) 1993; Eric Williams, Capitalism and Slaveu, London 1944; Philip D. Curtin, The Atlantic Slave Trade. A Census, Wisconsin (Mad.) 1969; John Thornton, Africa and Africans in the Making of the Atlantic World 1400-1800, 2. Aufl., Cambridge 1999; David Eltis, The Rise of African Slaveu in the Americas, Cambridge 2000; Deborah Gray White, WES', There is a Black Atlantic, in: Itinerario European Journal of Overseas History, Bd. XXIII (1999), S. 127-140. 96 Vgl. Peter Linebaugh / Marcus Rediker, The Many-Headed Hydra. Sailors, Slaves, Commoners, and the Hidden I-Iisto{y of the Revolutiona{7 Atlantic, Boston (Mass.) 2000;. 9v Vgl. z.B. Joseph Roach, Cities of the Death. Circum-Atlantic Performance, New York 1996. 98 Vgl. ilTl folgenden David Armitage, Three Concepts of Atlantic Histo{7, in: David krmitage / Michael J. Braddick (Hg.), The British Atlantic World 1500-1800, Basingstoke / New York 2002, S. 11-27, 15-25. 99 Vgl. u.a. David Armitage / Michael J. Braddick (Hg.), The British Atlantic World 1500-1800, Basingstoke / New York 2002; Alison Games, Migration and the Origins of the English Atlantic World, Cambridge (Mass.) 1999; Ian K. Steele, The English Atlantic. A n Ex2oloration of Communication and Community 1675-1740, New York 1981; Bernard Bailyn, Voyagers to the West. A Passage in the Peopling of America on the Eve of the American Revolution, New York 1987; Kenneth G. Davies, The North Atlantic World in the Seventeenth Centu{y, Oxford 1974; Hugh Thomas, The Slave Trade. The Story of the Atlantic Slave Trade, New York 1997; Kees van der Pijl, Imperialism and Class Formation in the North Atlantic Area, Amsterdam 1983. 100 Vgl. bisher u.a. John G. A. Pocock, The Ma&iavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975; Bernard Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, 13. Aufl., Cambridge (Mass.) 1967.
Einf/ihrung in das Thema
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Trans-Atlantic Histo~: internationale Geschichtsschreibung, d.h die internen und externen Einfliisse, Wirkungen und Bedeutungen der atlantischen Staatenwelt betreffend in Bezug auf die Nationalstaaten und intemational-vergleichende Geschichtsschreibung in einem atlantischen Kontext.101 Cis-Atlantic Histo{7: nationale oder regionale Geschichtsschreibungen in einem atlantischen Kontext. 1~
I m Vergleich zur atlantischen G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g in den U S A u n d auch in E u r o p a , w o sich n e b e n G o d e c h o t , P a l m e r u n d Verlinden i n s b e s o n d e r e die Wirtschaftshistoriker Max Silb e r s c h m i d t 1~ (Universitiit Ziirich) u n d Vitorino MagalhS_es G o d i n h o aus P o r t u g a l 1~ sowie die Historiker Pierre C h a u n u (Frankreich) l~ Charles Verlinden u n d Jacques Pirenne 106 (beide Belgien) h e r v o r g e t a n haben, w a r u n d ist die Situation in D e u t s c h l a n d , mit einigen p o t e n 6 e l l e n Lichtblicken in der G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t (z.B. die Vergleichende G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t u n d transnationale G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g an der Universit~it in K o n s t a n z ) diesbeziiglich eher defizitiir. N o r d a m e r i k a p r o g r a m m e u n d k o m p a r a t i v e Geschichtsstudiengiinge h a b e n zwar durchaus ,,atlantische G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g " als einen Bestandteil unter vielen, abet eben nicht als H a u p t g e g e n s t a n d , wie dies in A m e r i k a hiiufig der Fall ist. Allerdings hat sich in den letzten J ahren der Historiker T h o m a s Fr6schl mit A r b e i t e n aus d e m Bereich der atlantischen G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g hervorgetan, l~ D a n e b e n gibt es eine iiuBerst instruktive kurze A b h a n d lung des Historikers H o r s t P i e t s c h m a n n iiber die ,,Geschichte des atlantischen Systems 15801830".108 Schautafel: ,,Atlantische" Studienga'nge und -programme, die sich in Nordamerika und Gr~britannien finden: Harvard International Seminar on Atlantic History unter der Leitung yon Bernard Bailyn (Cambridge, MA, USA); Carleton University, Committee on Atlantic Studies (USA); Atlantic World Workshop at New York University (USA); College of the Carolinas, Florida International University, PhD program, Atlantic Civilization (USA); College of the Carolinas, Carolina Low Country & Atlantic World (USA); New York University, PhD programs, Atlantic History, African Diaspora History (USA); University of Michigan Atlantic Studies Initiative (USA); UNC Chapel Hill, Transatlantic Masters Program (USA); University of Pittsburgh, Program in Atlantic History (USA); University of Texas at Arlington, Program in Transatlantic History (USA); Yale University, Gilder Lehrman Center for the Study of Slavery,
,01 Vgl. wirtschaftshistorisch Ralph Davis, The Rise of the Atlantic Economies, London 1973. Vgl. fernerhin Claudia Schnurmann, Atlantische Welten. Englander und Niederla'nder im amerikanisch-atlantischen Raum, Wien 1998. 102Vgl. z.B. Huguette und Pierre Chaunu, Seville et l'Atlantique 1504-1650, 8 Bde., Paris 1955-59; David Harris Sacks, The Widening Gate. Bristol and the Atlantic Economy 1450-1700, Berkeley (Calif.) 1991; David Hancock, Citizens of the World. London Merchants and the Integration of the British Atlantic Community 1735-1785, Cambridge 1995; Fran-~n W. ICnight / Peggy Liss (Hg.), Atlantic Port Cities. Economy, Culture, and Society in the Atlantic World I650-1850, Knoxville (Tenn.) 1991; Pieter C. Emmet / William W. Klooster, The Dutch Atlantic, I600-1800: Eo,~ansion without Empire, in: I6nerario - European Journal of Overseas History, Bd. XXIII (1999), S. 48-69; Sylvia MarzagaUi, The French Atlantic, in: ebd., S. 70-83; Carla Rahn Philipps, The Iberian Atlantic, in: ebd., S. 84-106. 103 Vgl. Max Silberschmidt, WirtschaftshistorischeA~ekte der Neueren Geschichte. Die atlantische Gemeins&aft, in: Historische Zeitschrift, 171 (1951), S. 245-261. Vgl. zu Silberschmidts politischen Sichtweise eines ,,One-World-Atlantizismus" Ders., The United States and Europe. FOvak and Partners, London 1972. ,04 Vgl. Vitorino Magalh~es Godinho, Problames d'&onomie atlantique. Le Portugal, lesflottes du sucre et lesflottes de l'or (16701770), in: Annales, Economies, Soci&&, Civilisations, Nr. 5 (1950), S. 184-197. ,0s Vgl. Huguette und Pierre Chaunu, Seville et l'Atlantique 1504-1650, 8 Bde., Paris 1955-59. Vgl. zu Chaunu auch Bernard Bailyn, Atlantic Histou. Conceptsand Contours, Cambridge / London 2005, S. 31f. 106Vgl. Jacques Pirenne, Die groJYenStrh'mungen in der Weltgeschichte. Von der Antike bis zum Abschluss des Zweiten WeltkriegesBand 3, Bern 1949, S. 321-1012 (,,Die Bildung einer atlantisch-maritimen und liberalen Kultur 1789-1830'~ insbesondere auch S. 704-719 (,,Die Schaffung einer atlantischen Zivilisation dutch die Ausdehnung des Liberalismus in den Vereinigten Staaten und in SCidamerika"). 10v Vgl. Thomas Fr6schl, Um 1776/81: Atlantische Revolution, in: Anette V61ker-Rasor (Hg.), Fr~he Neuzeit, Miinchen 2000, S. 107-124. Eine Monographie von Fr6schl zu den ,,USA in atlantischer Perspektive" steht im Studien-Verlag kurz vor der Erscheinung (November 2006). ,08 Vgl. Horst Pietschmann, Geschichte des atlantischen Systems, 1580 - 1830. Ein historischer Versuch zur Erkla'rung der ,,Globalisierung'~ienseits nationalgeschichtlicherPerspektiven, Hamburg 1998.
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Kapitel I
Resistance, and Abolition, Yale Center for International and Area Studies (USA); Lehigh University, The Atlantic World (1500-1900), History Dept. (USA); Brown University, Transatlantic Studies, Department of Hispanic Studies (USA); University of Birmingham, MA in Transatlantic Studies (UK); University of Central Lancashire, MA in Transatlantic Studies (UK); University of Dundee, Institute for Transatlantic, European, and American Studies (ITEAS) (VI<:) Und in Europa: Centre de recherche en histoire atlantique et littorale (Boulogne, France) ; Centre de recherche en histoire intemationale et atlantique (Nantes, France); Scotland's Transatlantic Relations Network (STAR); Universit~ de Nantes avec l'Universit~ de al Rochelle, D.E.A, RELATIONS INTERNATIONALES ET HISTOIRE DU MONDE ATLANTIQUE 0VranDeich); Maastricht Center for Transatlantic Studies (Niederlande/Schweden)
Publikationen: Atlantic Studies (University of Sussex); International Journal of Maritime History (Memorial University, Neufundland, Kanada), Itinerario. European Journal of Overseas History (Universitiit Leiden); Transatlantica (Association frangaise d'fitudes am&icaines)
4. Ziel der Arbeit: Theorie der ,,Atlantischen Zivilisation" als ,,politische Idee" in der Tradition des politischen Atlantizismus seit 1939/47 Ist der im Begriff ,,Atlantische Zivilisation" enthaltene Zivilisationsbegriff n u n als politische Idee theoretisch gangbar u n d was soll in einem projektiven K o n t e x t mit d e m Begriff gemeint sein? Es ist zuniichst einmal ratsam, die Arten der , , G e m e i n s c h a f t " des Westens u n d den Begriff der ,,politischen Idee" ins Blickfeld zu n e h m e n . D a ist z u m einen das K o n z e p t der ethnographischen Gemeinschaft des Westens im Sinne eines ,,singuliirzivilisatorischen" Charakters (der Westen = die ,,Zivilisation" im Sinne der ,,Kultiviertheit"). D e r ethnographische Diskurs als M e t h o d e fmdet seinen A n f a n g bei Herodot. 1~ Die Sitten u n d Gebriiuche v o n M e n s c h e n g r u p p e n k 6 n n e n dabei als ,,Reflexionsformen kultuteller A b g r e n z u n g ''11~ dienen u n d anhand folgender Kriterien unterschieden werden: die N a h rung, die I~eidung, die W o h n u n g , das Sexualverhalten, die Familienbeziehungen, die Stellung v o n Frauen, die E r z i e h u n g der Kinder, F o r m e n v o n Abhiingigkeit, Begriibnisriten, die Strafjustiz oder die Unterscheidung v o n sozialen Riingen. Es ist ein (relativ) leichtes in diesem ethnographischen K o n t e x t eine A b g r e n z u n g der ,,westlichen Zivilisation" zu anderen Zivilisationen v o r z u n e h m e n , auch heute noch, im Zeitalter der ,,Globalisierungen", ,,Glokalisierungen" u n d ,,Hybridisierungen". D o c h gilt es n u n in dieser Arbeit, den Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation" als politische Idee zu entwickeln. Politische Ideen sind in A n l e h n u n g an Eric Voegelin nicht ,,realitiitsbeschreibend" (das m a c h t die politische ,,Theorie'~), sondern gestaltend. Sie schaffen politische Wirklichkeit u n d sind zugleich Bestandteil der Realitiit, in d e m M o m e n t , in d e m sie wirken, sie sind also nicht zwangsliiufig reine Propositionen. 111 Das Bewusstsein, das durch eine ,,politische Idee" ausge16st w e r d e n soll, kann nach Voegelin nur fiber das bildliche Symbol erreicht werden. 112 Dieser wird - so die H y p o t h e s e dieser A r b e i t - mit d e m Symbol des ,,Atlantischen" abgedeckt. Es geht also beim Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation" nicht nur u m eine (vage) ,,Vision", sondern u m eine ,,politische Idee" im Voegelinschen Sinne. Die politische Idee in diesem Sinne 109Vgl. Herodot, Geschichtenund Geschichte, 2 Bde., hg. v. Carl Andresen u.a., Z~rich / M~nchen 1973/1983. 110Vgl. J~rgen Osterhammel, Kulturelle Grenzen in der ExJ)ansion Europas, in: Ders., Geschichtswissenschaftjenseitsdes Nationalstaates. Studien zur Be~ehungsgeschichteund ZivilisationsvergMch, G6ttingen 2001, S. 203-239, 232-239. 111 Vgl. Dietmar Herz, Die platonische Philosophie als Schb~firinpolitischer Ordnung. Die Platon-Inte~retation von Eric Voegelin, in: Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VI." Platon, hg. von Dietmar Herz, MCinchen 2002, S. 343-389, 351. 112Vgl. Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VI." Platon, hg. von Dietmar Herz, M~nchen 2002, S. 232. Vgl. zur Struktur des mythischen Denkens insbesondere auch Ernst Cassirer, Vom Mythus des Staates, ZCirich 1949, S. 7-24 und Peter Kemper (Hg.), Macht des Mythos- Ohnma&t der Vernunfi, Frankfurt a.M. 1989.
Einffihmng in das Thema
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bietet zugleich ,,eine Art Kompensation fiir die frustrierende Erfahrung des einzelnen, m d e r modernen Gesellschaft nicht in der Bedeutung wahrgenommen und anerkannt zu werden, die jeder emzelne sich selber zumisst", eine Kompensation also fiir das ,,Grundgefiihl, Riidchen im groBen Getriebe zu sein", so wie es ,,m den Anf~ingen der Industriegesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert wie ein Schock iiber die Menschen" kam. 113 Um jedoch die ,,politische Idee" des Westens m diesem Sinne analytisch zu erm6glichen, ist nicht nut nach Konzepten der histotischen und ethnographischen Gemeinschaft des Westens zu fragen, sondern auch nach Konzepten der ideellen ~hilosophischen oder wertrational konstruierten), nach der ideen-, struktur- und ereignishistorischen sowie nach der politischen Gemeinschaft in (jiingster) Geschichte und Gegenwart zu suchen. Erst die Vereinigung dieser vier Elemente schafft am Ende die analytischen Voraussetzungen jener ,,politischen Idee" des Westens, als deren m6glicherweise vorziiglich geeignetes Begriffssymbol die Bezeichnung ,,Atlantische Zivilisation" analytisch untersucht und normativ erwogen werden soil. Der Reiz der Bezeichnung ,,Atlantische Zivilisation" im Kontext einer ,,politischen Idee" des Westens liegt darin, dass in der Bezeichnung ein Begriffssymbol oder gar ein bewusstseinserzeugender Mythos dieser Idee genauso enthalten ist wie die eher neutrale Kulturkreisbezeichnung ,,Zivilisation". Was ist nun aber mit den drei genannten analytischen Bestimmungsfaktoren der zu entwickelnden ,,politischen Idee" gemeint, die neben der ethnographischen Gemeinschaft des Westens hinzukommen? Mit der ideellen Dimension ist zun~ichst einmal ein ,,Weltbild" des Westens angesprochen, welches durch eine ,,Idee" des Westens geschaffen wird. Ideen, also auch die ,,Idee des Westens" sind dabei idealtypisch (nach Max Weber) nicht nut von materiellen Interessen, sondern auch von ideellen Interessen zu scheiden. Ideelle Interessen beeinflussen unmittelbar das Verhalten (bei Weber ,,Handeln'~ der Menschen, w~ihrend Ideen nur die ,,ideellen Interessen" unmittelbar beeinflussen. Die ,,ideellen Interessen" indes stehen als unmittelbar verhaltensbestimmende Faktoren nicht alleine, sondem wirken sich zusammen (oder im Konflikt) mit ,,materiellen Interessen" auf das Verhalten der Menschen aus. ,,Ideen" sind nun immer von einer kohiirenten Wertauslegung des Sinnganzen abhiingig. Die ,,Idee des Westens" wiire demnach wie alle ,,Ideen" Bestandteil einer ailgemeinen Sinndeutung von ,,Welt". Dabei ist es nach Max Weber nicht notwendig, diese (philosophische) Sinndeutung im Sinne des ,,Verlangens nach einer koh~irenten Weltauslegung ''114 als ,,objektive Wahrheit" zu defmieren, wiihrend Eric Voegelin und mit ihm der abendliindische Platonismus und der christliche Katholizismus nur die ,,Idee" eines normativ-ontologisch herzuleitenden ,,guten" als (voilwertige) ,,Idee" akzeptieren k6nnen. Max Weber indes scheint jegliches ,,Verlangen nach einer kohiirenten Weltauslegung" als einen ,,Willen zur Macht" zu verstehen, als ein Verlangen also, welches ,,das als sinnlos empfundene Leiden, als sinnvoll, n~imlich als vereinbar mit der Perspektive seiner lJberwindung erkliirt. ''11s Der Unterschied zwischen Max Weber und Nietzsche wiirde demnach nur darin bestehen, dass Gott nicht als ,,tot" erkliirt werden muss, damit ein ,,Wille zur Macht" erscheint. Der Wille zur Beherrschung des innerweltlichen Leids wiire zugleich die Funktion einer Idee Gottes. Bei Weber geht es insofem nicht um eine ,,Eigenlo~&" der ,,Ideen", sondem um die ,,Dynamik eines psychischen Bediirf-
113Wemer Becket, ,,,Lllle Staatsgewaltgeht vom Volke aus"- Ein kritisches Plddoyergegen die Ideologieder Volkssouverdnitdt, in: WolfgangLeidhold (Hg.),Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnung, W6rzburg 2000, S. 243-255, 250. 114Artur Bogner, Zivilisation und Rationalisierung. Die ZivilisationstheorieMax Webers, Norbert Elias'und der Frankfurter Schule im Vergleich, Opladen 1989, S. 179. lls Ebd. (,,Es ist der Wunsch nach Bewiiltigungdes Leidens, der das Interessean rationalerSinndeutungdes Sinnlosen entstehen liisst'~.
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Kapitel I
nisses und seiner [Max Webers Ansicht nach] niemals ganz befriedigenden ErFtillungen. ''116 Die universale oder auch ,,objektive" Geltung der ,,Ideen" ~iuBert sich bei Max Weber nur m diesem Punkt ihres ,,universal giiltigen" Ursprungs. Aus d e r - ganz allgemein f o r m u l i e r t - weiterhin gegebenen Unvollkommenheit und Undurchsichtigkeit eines Sinnganzen resultieren indes h6chst verschiedenartige religi6se Weltbilder und ,,in der (iberwiegenden Mehrzahl der Fiille" wurden diese ,,in ganz anderen Bahnen als m einer kontinuierlichen und umfassenden Rationalisierung der ,Welt' vorangetrieben ''117 - mit einer letztendlich zuf~illigen, nichtdestotrotz gewaltigen Ausnahme: dem religi6sen Weltbild des Judentums und Christentums, insbesondere der protestantischen Auspriigung des Letzteren. Ob nun d i e s e m - sowohl nietzscheanisch und ,,psychologisch" beeinflussten- Ideenverstiindnis Max Webers gefolgt wird, wonach also ,,Ideen" als bisher immer unerfiillte Heilsideen verstanden werden 118, oder dem klassisch-platonischen Ideenversfi,indnis eines Eric Voegelin: Die Gemeinsamkeit zwischen Webers Verstiindnis wertrationalitiitserzeugender ,,Ideen" und dem normativ-ontologischen Ansatz besteht auf jeden Fall darin, und das soll als Kriterium in dieser Arbeit entscheidend sein, dass Ideen ,,jene zu iiberpers6nlicher Geltung gelangten Auffassungen" sind, die von ,,Interessen" idealtypisch klar geschieden werden miissen. 119Jegliche theoretische Form des ,,Materialismus", also der Erhebung von ,,Physis" (biologischer K6rperlichkeit bzw. ,,Leiblichkeit" und natiirlicher Materie bzw. empirisch wahrnehmbarer ,,AuBenwelt") zum ,,Allprinzip" kann in diesem Kontext per defmitionem (bei Max Weber) und auch philosophisch qualitativ (bei Voegelin, abet indirekt auch bei Weber) keine ,,Idee" sein. Mit der ideen-, struktur- und ereignishistodschen Dimension des ,,Westens" ist nunmehr die Geschichte des Westens vor dem Hintergrund seiner ,,Idee" gemeint. Zum einen werden die einzelnen typischen ,,Ideen" des Westens kanonisch herausgearbeitet, aber zugleich im Kontext der historisch wirksamen ,,nicht-intentionalen Verflechmngen von Intentionen und ,Ideen '''12~ betrachtet. Den letzteren Kontext linden wir in den analytisch herausragenden strukturhistotgschen Werken zur westlichen Zivilisationsgeschichte vor: Neben Max Weber, Norbert Elias und Femand Braudel sind hier als K]assiker auch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno erwiihnenswert, die eher ideenhistorisch verfahren. Dariiber hinaus gesellt sich der ganze vorhin vorgestellte zeitgen6ssische Zweig westlicher und ,,atlantischer" Zivilisationsgeschichte hinzu. Zu deren herausragenden Vertretern geh6ren nicht nur reine Strukturhistoriker wie Felipe Fernandez Armesto oder Jiirgen Osterhammel, sondern auch Ideenhistoriker wie Bernard Bailyn. Die mit Bailyn schon verkniipfte Vorstellung einer substantiellen ,,ideellen Gestalt" des Westens in der Geschichte linden wit indes auf normativ sehr unterschiedliche Weise in den Werken von Voegelin, Toynbee, Spengler, Burckhardt und in zeitgen6ssischen Abhandlungen, wie denjenigen von Robert R. Palmer, Quentin Skinner, Maurizio Viroli, John A. Pocock oder eben Bernard Bailyn wieder. Ideenhistorische Sichtweisen ,,westlicher Gemeinschaft" wie z.B. bei Voegelin gehen dabei nicht von den kanonisierbaren ,,Ideen" des Westens m d e r Geschichte, sondem von einer ,,Idee des Westens" als solcher aus.
116Artur Bogner, Zivilisation und RationalMerung. Die ZivilisationstheorieMax Webers, Norbert Elias' und der Frankfurter Schule im Vergleich, Opladen 1989, S. 180. 117Ebd., S. 181. 11sVgl. dazu auch ebd., S. 181: ,,Die Heterogenitiitvon Gedanke und Realitiithaben die Menschen in immer wieder emeuerten Anliiufen zu logischer Systematisiemngzu fiberwinden getrachtet- noch stets n-fitunvollkommenenErfolg." 119Vgl. ebd., S. 180; kritisch: Wolfgang Schluchter, Die EntMcklung des ok~dentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers GeselZrchaftsgeschichte,Tfibingen 1979, S. 206. 120Artur Bogner, Zivilisation und Rationalisierung. Die Zivilisationstheot~eMax" Webers,Norbert Elias' und der Frankfurter Schule im Vergleich, Opladen 1989, S. 182.
Einffihmng in das Thema
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Die historische Sicht reflektiert die Differenz zwischen ,,Idee" und ,,Verhalten" bzw. ,,Idee", realem sowie geplanten ,,Ereignis". Von der ,,politischen Idee" unterscheidet sich der historische Blick auf den Westen darin, solange er sich nicht selbst von einer (politischen) Idee leiten liisst, dass er zum einen nicht projektiv ist und sich auf Vergangenes und dem daraus resultierenden Status des Gegenwiirtigen konzentriert und zum anderen, dass alle ,,Ideen" analytisch unter dem Vorbehalt gefasst werden, dass sie immer nur ,,auf paradoxem Wege Wirkung erlangen" k6nnen, worm nicht nur nach Max Weber die ,,Tragik" oder ,,Ironie" zahlreicher Realisationsversuche von Ideen in der Wirklichkeit liegt. 121 Auf dieser Reflexionsbasis kann schliel31ich vor dem Hintergrund der phiinomenologisch herausgearbeiteten Besonderheit einer ethnographisch und ideen-, struktur- sowie ereignishistorisch einheitlichen ,,westlichen Zivilisation" als solcher eine philosophische N o r m des Westens entwickelt (,,Idee") und konkret nach normativ wiinschbaren Konzepten einer politischen Gemeinschaft des Westens gefragt werden (,,ideelles Interesse"). Die Verbindung von ,,Idee" und ,,ideellem Interesse", dutch die das Realisierbarkeitspostulat in der Frage der konkreten Realisation der philosophischen Idee (resp. Norm) ins Spiel gebracht werden soll, bildet schliel31ich die ,,politische Idee". Eine wichtige Briickenfunktion zwischen der historischen Realit~it und der politischen Idee erfiillt nun der politische Zustand der jiingsten Geschichte und Gegenwart, das zeitgeschichtliche und politische Signum des ,,Westens", wie es uns heute entgegentritt. Die Realisierung des Konzepts einer politischen Gemeinschaft des Westens ist dabei entscheidend: Sie erfolgte seit nach 1945 und soll aufgrund der Bedeutsamkeit fiir die Frage der M6glichkeiten einer politischen Einheit des Westens - i.e. im Sinne einer integrierten Willens-, Handlungs- und Entscheidungseinheit 122- niiher beleuchtet werden123: Die ,,politische Gemeinschaft" des Westens hat sich konkret durch die Begriindung der N A T O in einer embryonalen Form realisiert. 124 In den J ahren des Zweiten Weltkrieges lagen jedoch im Ansatz schon weitergehendere Konzepte vor. Joumalisten wie Clarence K. Streit, Forrest Davis, Walter Lippmann, Wissenschaftler wie Friedrich August von Hayek und r6misch-katholische Historiker wie Ross H o f f m a n v o n d e r Fordham University (in Anlehnung an Salvador de Madariaga und Antonio de Oliveira Salazar) oder Carlton J.H. Hayes von der Columbia University, zugleich Vorsitzender der Amerikanischen Historikervereinigung (,,American Historical Association"), sind hierbei die wichtigsten Referenzen. Damals herrschten jedoch noch Konzepte unter generell weitgehender Auslassung Deutschlands und Ostmitteleuropas vor, die aus der politischen Gemeinschaft des ,,Westens" ausgeschlossen waren. 125 Die abendliindisch-christliche Motivation eines explizit antikommunistischen und christlich gepriigten Atlantizismus war indes in den Konzeptionen von Hoffman besonders stark. 126 Sogar Hermann Rauschning, 1933-1934 noch NSDAP-Politiker und Vorsitzender des Danziger Senats, prophezeite 1941 - fiinfJahre nach seiner Emigration und 121Vgl. Armr Bogner, Zivilisation und Rationalisierung. Die Zivilisationstheorie Max Webers, Norbert Elias' und der Frankfurter Schule im Vergleich, Opladen 1989, S. 170. 122Hier orientiert sich der Autor an den entsprechenden staatstheoretischen Ans{itzen yon Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934; Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, M/inchen 1928, S. 128. 123Vgl. insgesamtinsbesondere Christopher Coker, Twilight of the West, Boulder / Oxford 1998, S. 29-53. 124Der Begriff ,,Community" ist selbst kein Bestandteil des NATO-Vertrages, wurde aber anliisslich der Vertragsunterzeichnung vom kanadischen Aul3enminister Lester Pearson ausdrCicklich postuliert (vgl. Lord Ismay, NATO. The First Five Years 1949-1954, Utrecht o.J. (1955), s. 150). 12sVgl. insbesondere vor dem Hintergmnd des Zweiten Weltkrieges die antideutschen Propagandaspitzen bei Forrest Davis, The Atlantic System. The Stop ofAnglo-American Control of the Seas, New York 1941, S. 320, 329. 126Vgl. Bernard Bailyn, Atlantic Histo~> Conceptsand Contours, Cambridge / London 2005, S. 12; Patrick Allitt, Catholic Intellectuak and Conservative Politics in America 1950-1985, Ithaca (NYC) 1993, S. 49-58; Ders., Catholic Converts. British and American Intellectuals Turn to Rome, Ithaca (NYC) 1997.
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Kapitel I
kurz nach seiner Niederlassung in den USA - mitten in den Wirren des Zweiten Weltkrieges das H e r a u f k o m m e n eines atlantischen ,,Empires" demokratischer Nationen. 12v Im Zeitalter des Kalten I
127Vgl. Hermann Rauschning, The Redemption of Democrag. The Coming Atlantic Empire, New York 1941. Vgl. aus nationalsozialistischer Sicht das antisernitische Propagandawerk yon Otto Schiifer, Imperium Americanum. Die Ausbreitung des Machlbereiches der Vereinigten Staafen, Essen 1944. 128Vgl. David Gress, From Plato to NATO. The Idea of the West and its Opponen& London u.a. 1998, S. 46. 129 Vgl. Istvan Szent-Miklosy, The Atlantic Union Movement, New York 1965. 130 Vgl. Robert Strausz-Hup~ / James E. Dougherty / William R. Kintner, Building the Atlantic World, New York / Eavanston / London 1963, insbsd. S. 35-66. ~31Vgl. Clarence Kirshman Streit, Union Now! A Proposalfor a Federal Union of the Democrades of the North Atlantic, London 1939; Ross Hoffman, Europe and the Atlantic Community, in: Thought XX (M~irz 1945), zitiert nach: Carlton J.H. Hayes, The American Frontier- Frontier ~ What?, in: The American Historical Review, Bd. LI (1945/46), S. 199-216; Ross Hoffman, The Great Republic, New York 1942; Ders., Durable Peace, New York 1944; Forrest Davis, The Atlantic System. The Sto~y of Anglo-American Control of the Seas, New York 1941, S. 329 (antideutsch ausgerichtet); Walter Lippmann, Die AuJ~enpoIitik der Vereinigten Staaten, ZCirich 1944, S. 123-144 und 210-213; Ders., The Public Philosophy, Boston 1955, S. 101 und 104; Karl Deutsch u.a., Political Community and the North Atlantic Area. International Organization in lhe Ia'ght Historical E~\ygerience, New York 1969; Jacques Freymond, Die Atlantische Welt, in: Golo Mann / Alfred HeuB / August Nitschke (Hg.), Propyla'en WeZtgeschichte. Eine Universalgeschichte, Band X, Berlin / Frankfurt a.M. 1986, S. 223-299, 280283. Vgl. zur Atlantic Union-Idee zusammenfassend auch Maja Brauer, WeltJ?/deration. Modellglobaler Gesellschaftsordnung, Frankfurt a.M. 1995, S. 105-108. Vgl. femerhin zum Atlantizismus der vierziger und fiinfziger Jahre David Armitage, Three Concepts ~Atlantic Histo{% in: David Arrnitage / Michael J. Braddick (big.), The British Atlantic World 1500-1800, Basingstoke / New York 2002, S. 11-27, 14f.; Bernard Bailyn, Atlantic History. Concepts and Contours, Cambridge / London 2005, S. 6-9. 132Vgl. Bernard Bailyn, Atlantic Histo{y. Concepts and ContourJ, Cambridge / London 2005, S. 9ff. 133Vgl. Walter Lippmann, The Defense oJ/he Atlantic world, in: The New Republic, 17. Februar 1917, S. 60, zitiert nach: Walter Lippmann, Early writings, New York 1970, S. 69-75.
Einf(ihrung in das Thema
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I m G r u n d e geh6rte D e u t s c h l a n d - so fuhr L i p p m a n n f o r t - zur ,,atlantischen Zivilisation" dazu u n d sollte ein m~ichtiges und loyales Mitglied der atlantischen Welt sein. Es wfirde aber von Kr~iften beherrscht, so L i p p m a n n 1917, die es von der westlichen Welt separierten. Das Ziel der amerikanischen Kriegffihrung mfisse es daher sein, D e u t s c h l a n d nicht zu erobern, wie R o m Karthago erobert habe, sondern zu gewinnen, wie Lincoln den Sfiden zu gewinnen bestrebt war. TM Die K o n z e p t e aus d e m Kalten IGrieg knfipften genau hier an und sind in ihrer politischen Ausrichtung heute n o c h iiberaus bemerkenswert. Bei Karl W. D e u t s c h hatten sie damals ihren wichtigsten K e r n in der Minimaldefinition v o n inter- und transnationaler , , G e m e i n s c h a f t " , will sagen, dass trotz aller Differenzen beim U m g a n g der Gemeinschaftsmitglieder im R a h m e n einer ,,pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft" der ,,Emsatz kriegerischer Mittel u n d e n k b a r geworden ist ''135, gingen aber bei anderen , , A t l a n t i k e r n " schon damals insofern weiter, als m a n aufgrund der ,,Geburt des Atomzeitalters ''136 auch innerhalb des ,,Westens" fiber die rein nationalstaatlich abgesicherte Friedensmotivation hinaus wollte, u m wirklich ,,Sicherheit" zu erlangen. 137 D e r Journalist Clarence K. Streit tr~iumte 1939 sogar v o n einem nordatlantischem Bundesstaat u n d sah ihn als einzige Chance, die erfolglose Politik des V61kerbundes zu beenden. Streit schwebte die Schaffung einer U n i o n ffihrender demokratischer N a t i o n e n nach d e m USVorbild vor, der Constitutional Convention v o n Philadelphia aus d e m Jahre 1787. H e u t e empfiehlt sich geradezu eine N e u e n t d e c k u n g der vision~iren, ja naiven Kraft, die in jenem merkwfirdig b e e i n d r u c k e n d e n Bestseller ,,Union N o w " aus der doch ansonsten eher nationalistisch gepr~igten Zeit des Zweiten Weltkrieges steckt. 138 Dass diese S t i m m e n einer ,,atlantischen Idee" erst nach 1945 an e m s t h a f t e m G e w i c h t gewannen, zeigt indes eines m d e r Tat: ,,Nicht das Bewusstsein der Zugeh6rigkeit zu einer atlantischen G e m e i n s c h a f t hatte zu einer transatlantischen Z u s a m m e n f a s s u n g der Kr~ifte geffihrt, sondern die Umst~inde, die G e m e i n s a m k e i t der Gefahr. ''139 Aber diese Umst~nde, so hieB es v o n fiberzeugten Atlantikern schon in den sechziger Jahren, ,,k6nnten vielleicht nach 1960 die N a t i o n e n E u r o p a s und Amerikas dazu bringen, ihre A n s t r e n g u n g e n n o c h intensiver zusamm e n z u f a s s e n u n d das, was nur ein v o n Widrigkeiten der Zeitl~iufe erzwungenes Bfindnis war, in eine dauerhafte Verbindung zu verwandeln. ''H~ Bis heute ist das - trotz aller Verfestigung des N A T O - B f i n d n i s s e s - nicht wirklich erreicht worden. Bedauerlicherweise nicht, m 6 c h t e m a n gerne hinzuffigen.
134Vgl. Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens. Band II." Zeitalter des Impeffalismus und der Weltkriege, G6ttingen 1982, S. 356 ff. und S. 391f. 135 Gebhard Schweigler, Die Atlantische Gemeinschaft. Schicksal, Sicherheit und Werte, Ebenhausen 1997, S. 31. Vgl. als Quellengrundlage Karl Deutsch u.a., Political Commun(ty and the North Atlantic Area. International Organization in the Iaght of HistoffcalE~,j)erience, New York 1969, S. vi. 136 Vgl. Jacques Freymond, Die Atlantische Welt, in: Golo Mann / Alfred HeuB / August Nitschke (Hg.), Propyla'en Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte,Band X, Berlin / Frankfurt a.M. 1986, S. 223-299, 281. 137 Vgl. Jacques Freymond, Die Atlantische Welt, in: Golo Mann / Alfred HeuB / August Nitschke (Hg.), Propyld'en Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte,Band X, Berlin / Frankfurt a.M. 1986, S. 223-299. 138Vgl. zur ,,Union Now"-Bewegung auch Russel B. Nye, This Almost Chosen People. Essays in the Histo{7 ofAmerican Ideas, 2. Aufl., Michigan 1967, S. 95f. Vgl. zu Streit auch Ernst Nolte, DeutschlandundderKalte Krieg, M(inchen 1974, S. 166. 139Jacques Freymond, Die Atlantische Welt, in: Golo Mann / Alfred Heul~ / August Nitschke (Hg.), Propyl;ien Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte,Band X, Berlin / Frankfurt a.M. 1986, S. 299. 140Ebd.
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Kapitel I
5. Zusammenfassung Das Fazit fiir die ideengeschichtlich orientierte Politikwissenschaft 141 besteht also in der lohn e n d e n Aufgabe, ein Zivilisationsmodell als politische Idee des Westens systematisch vor d e m H i n t e r g r u n d einer historischen Wirklichkeit zu entwerfen sowie diese Idee als alternatives A n g e b o t in die zivilisationspolitische Debatte einzubringen; das k 6 n n t e besonders jetzt, zu einem Zeitpunkt, da nicht m e h r nach einer g e m e i n s a m e n transatlantischen ,,Vision" gefragt wird, v o n n 6 t e n sein. In diesem normativen Sinne: ,,Die heute erforderliche transatlantische N e u b e s t i m m u n g muss also, w e n n sie erfolgreich sein will, beiden P a r m e r n nicht nur eine gemeinsame Agenda zweckrationalen Handelns liefem, s o n d e m ihnen auch eine N e u b e s t i m m u n g ihrer Identit~iten erm6glichen, die den Partner auf der anderen Seite miteinbezieht. ''142 Schliel31ich handelt es sich in der Tiefe u m eine Identitiitskrise aufgrund eines fehlenden Identifiitsbewusstseins. 143 Gerade jetzt also k6nnte das wiinschenswert sein, weil auch die Riickbesinnung i m m e r wieder Wege aus der K_rise weist und well ein n o c h nicht verfi,igbarer politischer Symbolismus im Falle seiner Freisetzung entlastend wirkt 144, auch w e n n Politiker, die das Pragmatische und ,,Unvisioniire" gerade dort fordem, wo die ,,Geschichte" was ganz anderes hergibt, etwas Anderes suggerieren m6gen. In diesem K o n t e x t kann dialektisch gedacht werden. N u r so erwehrt sich der Westen der Gefahr, in eine politische Sackgasse zu geraten. Die Gefahr wiirde d e m n a c h konkret dann bestehen, w e n n in einer Phase der E n t w e r t u n g transatlantischer G e m e i n s c h a f t nicht m e h r die ,,Werte", sondern n u r n o c h die ,,Interessen" betont wiirden. Die Vertiefung y o n Wertekrisen kann nicht dadurch v e r m i e d e n werden, dass m a n ,,Werte" einfach ausspart. Die E n t f r e m d u n g wiirde aus d e m W e g b r e c h e n der Responsivitiit zwischen d e m europ~iischen u n d amerikanischen ,,Wertesystem" folgen, welches eine letztlich doch nur b e q u e m e und kurzsichtige Aussparung der innerwestlichen Wertediskussion darstellen wiirde. 145 Die Folge w~ire der Verlust jeglicher S e l b s t k r i t i k - sowohl in Amerika, als auch u n d gerade im m a n c h m a l ~iul3erst selbstgerechten Europa. 146
141 Vgl. gut Methodologie mit zahlreichen weiterffihrenden Literaturangaben Ruth Zimmerling, Wissenschaft und Verantwortung. Ist die traditionelle Gegeniiberstellung von empiKscher und normativer Politikwissens&aft haltbar?, in: ZPol 1/96, S. 51-82. Vgl. zum ambitionierten und basalen Begriff ,,politische Ideengeschichte" Bernard Willms, Politis&e Ideengeschichte, Politikwissenschaft und Philosophie, in: Udo Bermbach (Hg.), Politische Theotiengeschichte. Probleme einer Teildim~[plin der Politischen Wissenschaft, Opladen 1984, S. 33-64. 142Werner Weidenfeld, Kulturbruch mit AmeKka? Das Ende transatlantischer Selbstverstdndlichkeit, Gfitersloh 1996, S. 11. 143Vgl. Charles A. Kupchan, Forging a New Transatlantic Relationship : Atlantic Union?, in: Christoph Bail / Wolfgang H. Reinicke / Reinhardt Rummel (Hg.), EU-US Relations: Balancing the Partners/@. Taking a Medium-Term Per~ective, Baden-
Baden 1997, S. 98-101,100. 144 Bezogen auf die Freisetzung eines ,,Mythos" im Sinne einer hinter dem Symbol freigesetzten Bildnarration des (grogen) Ganzen: ,,Der Mythos leugnet nicht die Dinge, seine Funktion besteht im Gegenteil darin, von ihnen zu sprechen. Er reinigt sie nur einfach, er macht sie unschuldig (...), er gibt ihnen eine Kdarheit (...)" (Roland Barthes, Mythen des AlltagJ, Frankfurt a.M. 1964, S. 131). Barthes ging davon aus, dass der Mythos als ,,entpolitisierte Aussage" zu verstehen sei und sprach yon ,,ideologischem Missbrauch", da er der kritischen Gesellschaftsanalyse anhing. Dass er den Mythos als ,,unpolitisch" qualifiziert, ist dann nicht fiberzeugend, solange kein - wie bei Barthes der Fall emanzipatorischer Politikbegriff vertreten wird. Allerdings hat Barthes insofem recht, dass eine marxistischlinksrevolutioniire Sprache (bei Barthes heil3t das dann schlicht ,,revolutioniir'~ eigentlich ,,keine mythische Ausdmcksweise sein kann" (ebd., S. 135), well diese Sprache aus einem emanzipatorischen Impetus nur als nichtmythische ,,Objektsprache" operieren darf, nicht als ,,Metasprache". ,,Linke Mythen" gebe es insofem nut, solange ,,die Linke nicht die Revolution ist", solange die ,,Revolution" bereit sei, ,,sich zu masNeren, ihren Namen zu verschleiem, eine unschuldige Metasprache hervorzubringen (...)" (ebd.) 14sVgl. exemplarisch Waldemar Zacharasiewicz (Hg.), gransatlantische Di~erenzen / Transatlantic Differences, Wien 2004. 146Vgl. zu letzterem Urteil insbesondere Matthias Rfib, Der atlantische Graben. Amerika und Europa auf getrennten Wegen, Wien 2004.
Einfiihrung in das Thema
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In einer zusammenfassenden Wiederholung der entscheidenden Gedankeng~inge innerhalb der Einleitung liisst sich das Ziel der Arbeit im folgenden Sinne beschreiben: Das Ziel der Arbeit besteht darin, den geschichtswissenschaftlich, zivilisationstheoretisch und politikphilosophisch tradierten Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation" in seinem Potential als projektive politische Idee systematisch freizulegen. Das Bewusstsein, das durch eine ,,politische Idee" erreicht werden soll, kann nach Voegelin nur iiber das bildliche Symbol erreicht werden oder gar einen ,,Mythos ''14v, wobei der Mythos im Voegelinschen Sinne gemeint ist, dessen anspruchsvolle Bedeunmg und positive Wiirdigung dargelegt werden muss, damit zumindest ,,rational" ungerechtfertigten Einwiinden gegen den Gebrauch des Mythosbegriffes in diesem Kontext der Boden entzogen ist. Weiterhin geh6rt dargelegt, inwiefem das bildliche Symbol mit dem Begriff des ,,Atlantischen" abgedeckt wird. Auch hier geht es u.a. darum, etwaige Missverst~indnisse, die bei unreflektiertem Gebrauch des Begriffes auf der Basis m6glicher, aber nicht zwingender Assoziationen und Begriffstraditionen erfolgen k6nnten, zu vermeiden. Auf dieser Reflexionsbasis soll schlieBlich vor dem Hintergrund der phiinomenologisch herausgearbeiteten Besonderheit einer ethnographisch und ideen-, struktur- sowie ereignishistorisch einheitlichen ,,westlichen Zivilisation" als solcher eine philosophische Idee des Westens entwickelt (,,Idee'O und konkret nach normativen Konzepten einer politischen Gemeinschaft des Westens gefragt werden (,,ideelles Interesse"). Die Verbindung von ,,Idee" und ,,ideellem Interesse", dutch die das Realisierbarkeitspostulat in der Frage der konkreten Realisation der philosophischen Idee ins Spiel gebracht werden soll, bildet schlieBlich die ,,politische Idee", um die es am Ende gehen soll. Die realpolitische Basis fiir die Entwicklung einer solchen politischen Idee ist spiitestens seit 1947 gegeben, als sich die USA mit der Truman-Doktrin endgiiltig zu einer europiiischen Macht entwickelt haben. Die erkenntnisleitende Motivation des Autors speist sich dabei zuniichst aus zwei herausfordernden Entwicklungen unserer Zeit: Zum einen geht es um die Identitiitsfrage des ,,modernen Menschen", so wie sie insbesondere von Soziologen und Kulturanthropologen wie Peter L. Berger, Thomas Luckmann, abet auch Arnold Gehlen aufgeworfen wurde und zum zweiten um die Herausforderungen eines ,,Neuen Transnationalen Suizidalterrorismus" islamistischer Gruppierungen.
6. Aufbau
Nach der Einfiihrung in das Thema soll nun im Hauptteil nach der Herausarbeitung einleitender Begriffsabgrenzungen, des theoretischen Bezugsrahmens sowie der Vertiefung des methodologischen Ansatzes auf der Basis der Abwehr essentialismuskritischer und partikularismuskritischer Generalansiitze (Kapitel II und III) die Anniiherung an die ,,Atlantische Zivilisation" auf der Basis der heuristischen Idealtypus- und Begriffsbildung und der politisch-ideologischen Bedeutungen in Bezug auf die Begriffe ,,Zivilisation" (Kapitel IV und V) und ,,Atlantizismus" erfolgen (Kapitel VI und VII). Im IV. Kapitel wird insbesondere der Begriff der ,,Zivilisation" im Vergleich zum Begriff der ,,Kultur" gekliirt und zwischen einem herk6mmlich ideologischen (singuliiren) Zivilisationsverstiindnis und einem soziologischen sowie einem anthropologischen Alternativverst~indnis im Spannungsfeld zwischen singularem und pluralem Zivilisationsbegriff unterschieden. Im V. Kapitel wird sodann das herk6mmliche Zivilisationsverst~indnis in seinem ideologisch-politischen Gehalt bestimmt werden miissen. Im VI. Kapitel soll schlieBlich der Begriff des Atlantischen als Mythos in der westlichen Ideengeschichte in allen 14vVgl. Eric Voegelin, Ordnungund Geschichte.Band VI."Platon,hg. von DietmarHerz, Miinchen2002, S. 232.
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Kapitel I
relevanten Varianten vorgestellt werden. Dabei gilt es, die neu-alten Bedeumngen gezielt im Lichte des im 15. Jahrhundert mit der Entdeckung Amerikas neu realisierten ,,atlanfischen Raumes" in den Mittelpunkt zu rficken und nach den damit einhergehenden normativen Zivilisationsmodellen des Westens zu fragen, um im folgenden Kapitel VII die Begriffe der ,,Atlantischen Zivilisation", wie sie bisher in der Tradition und Kontinuitiit der atlantischen ,,Raumrealisierung" des 15. Jahrhunderts vorliegen, niiher vorzustellen und zu typologisieren. Am Ende erschlieBt sich dann ein Verstehenszusammenhang, der den Blick frei macht fiir die Verflechtung zwischen dem historischen ,,Gehalt" des Begriffs des , , W e s t e n s " seit der Antike und dem Christentum, der revolution{iren ,,Raumreafisierung" resp. ,,Raumrevolution" des 15. Jahrhunderts, der ,,Atlantischen Revolution" des 18. Jahrhunderts, den totalit~iren Verwerfungen eines ,,s{ikularisierten Gnostizismus" seit 1789 und dem Begriff der Atlantischen Zivilisafion als politische Idee und die Denkbarkeit ihrer Vollendung seit etwa 1947/55. Ursprung und Voraussetzung des aufgezeigten Verflechtungszusammenhangs ist dabei der historische Gehalt des Begriffs des Westens resp. die ,,historische Existenz" des ,,Westens" seit der Antike. Sie ist aufgrund ihres konditionalen Charakters fiir jede llistorisch und ideengeschichtlich verankerte Identitiitsbildung als auch fiir die Herausbildung der ,,modemen Zivilisation" des Westens von besonderer philosophischer und historisch-genetischer Bedeutung: Es wird also zwischen einem , , v o r m o d e r n e n " und einem , , m o d e r n e n " Erbe westlicher Zivilisation unterschieden. Aus diesem B l i c k ~ k e l iiberlagert in der westlichen Entwicklung eine moderne ,,Geschichte II" eine vormoderne ,,Geschichte I", kann aber letztere me substituieren; die Moderne ist demnach immer eine ,,Paramoderne" im Sinne einer ,,unendlichen Weltsuche. ''148 Erst dieses Bewusstsein macht die Realiserung einer ,,atlantischen Zivilisation" im Lichte ihrer hier vorgenommenen Definition als politische Idee denkbar. Die griechische Antike und das Christenturn riicken in den Mittelpunkt der Betrachtung der vormodernen Geschichtsentwicklung (VIII. Kapitel), die amerikanische Revolufon in atlantischer Perspektive bei der Betrachtung und Analyse des modernen Laufs der Ereignisse (IX. Kapitel). Vor diesem historischen Hintergrund soil es schlieBlich um eine exemplarisch und phiinomenologisch orientierte Betrachtung gegenwiirtiger politischer Realit~iten und Bedingungen der politischen Systeme und Gesellschaften einerseits und der welt-, auBen- und sicherheitspolitischen Rolle des transatlantischen Westens in der Internationalen Politik andererseits gehen (Kapitel X bis XII). Die Betrachtung erfolgt also in zwei Richtungen: Einmal nach innen, wenn es darum geht zu konstatieren, wie sich die einzelnen Glieder des Westens untereinander verhalten und einmal nach auBen, wenn es datum geht die Verhaltensfragen auf das Verhiiltnis zum demjenigen Teil der Welt zu bestimmen, der nicht zum Westen geh6rt. Von daraus ermittelten Handlungsperspektiven ableitend m6chte der Verfasser schlieBlich auf normative und praktische Kernfragen vorstoBen, niimlich die Frage der identitiitstheoretischen Essenz einer transatlantischen Selbst- und Riickbesinnung in der Innenperspektive und die Frage in der Aufienperspektive, unter welchen Voraussetzungen welches konkrete politische Verhalten aus der Sichtweise einer ,,westlichen Gemeinschaft" heraus m6glich, unabwendbar oder wiinschbar w~ire. Zuniichst werden also die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den politischen Systemen und Gesellschaften des Westens kursorisch und phSnomenologisch herausgearbeitet und die Vergleichsergebnisse kulturphilosophisch und zivilisationstheoretisch eingeordnet (Kapitel X). Die enge transatlantische Dimension (Vergleich Europa - USA) spielt dabei eine zentrale Rolle. Zur zivilisationstheoretischen Einordnung geh6rt auch die schluss148Vgl. Tilo Schabert, Moderni/a'tund Ges~ichte. Das Ea,ygetfmentder modernen Zivilisafion, Wflrzburg 1990, S. 71ff. und 108. Vgl. ferner Gfinter Rohrl-noser, Kampfum die Mit/e. Der moderneKonservativismusha& dem S&eitern der Ideologien,Mfinchen 1999, S. 329f.
Einf{ihrung in das Thema
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folgernde Herausarbeitung der Potentiale, Handlungsperspektiven und Begrenzungen des Westens im Kontext des eigenen theoretischen Generalansatzes, also des Ansatzes der ,,Atlantischen Zivilisation" als ,,politische Idee". Letzteres kann jedoch nut auf der Basis einer Einordnung der innerwestlichen Gememsamkeiten und Unterschiede in globaler Perspektive erfolgen. Dazu ist es n6tig, im Anschluss an den innerwestlichen Vergleich und die damit einhergehende kulturphilosophische Betrachtung eine solche globale Perspektive einzunehmen: Im Rahmen der ,,politischen Systeme und Gesellschaften" des Westens stellt sich also auch die Frage, worin die Unterschiede zwischen westlichen und nicht-westlichen politischen Systemen und Gesellschaften bestehen. Die Skizzierung der entscheidenden Unterschiede zwischen westlichen und nicht-westlichen Realit~iten bildet somit auch den Abschluss des X. Kapitels. Im XI. und XII. Kapitel soil dann der Frage nachgegangen werden, wie das transatlantische Verhiiltnis im Rahmen der Internationalen Politik einzuordnen ist. Die Voraussetzung zur Beantwortung der Frage in praktischer Hinsicht ist zun~ichst einmal die Kl~irung des Charakters der transatlantischen Beziehungen im Kontext der Theorie der Internationalen Politik (XI. Kapitel). Hierbei muss ein Blick auf zivilisationspolitisch relevante Bestandteile von Reghneund Integrationstheorien im Spannungsfeld zwischen idealistischen und realistischen Denkans~itzen geworfen werden, um auf dieser Basis schlieBlich zu den Grundfragen des transatlantischen Verh~iltnisses im Rahmen der gegenw~irtigen weltpolitischen Lage vorzustoBen. Die aktuellen Probleme des transatlantischen Verh{iltnisses in der Weltpolitik spielen in diesem Zusammenhang namrgem~il3 eine herausgehobene Rolle: Wie positioniert sich der transatlantische Westen im Rahmen der gegenw~irtigen politischen Entwicklungen und wie sind diese Positionierungen im Lichte der ,,Atlantischen Zivilisation" als ,,politische Idee" zu bewerten? Kursorische Beriicksichtigung soil dabei auch die Positionierung im AuBenverh~iltnis zu Russland, der islamischen Welt und China fmden. Am Ende wird nach praktischen Optionen und Fehlerquellen m der ,,AuBenpolitik des Westens" gefragt (Kapitel XII). In der Schlussbetrachtung schlieBlich werden die normativen Perspektiven ,,Atlantischer Zivilisation" als ,,politische Idee" unter betonter Wiedermiteinbeziehung der historischen Dimension zusammenfassend aufgez~ihlt und in Bezug auf abschlieBende politikphilosophische Fragestellungen noch einmal vertieft (Schlussbetrachmng).
II. Einleitende Begriffsabgrenzungen
1. Zur Operationalisierbarkeit des Atlantikbegriffes in Abgrenzung zum Begriff des ,,Westens" D e r Begriff ,,Atlantische Zivilisation" wiire neben seiner ,,Unbelastetheit" in nicht-westlichen Kulturkreisen einerseits politisch dynamischer und andererseits geo-historisch exakter als der Begriff des ,,Westens". Die politische D y n a m i k wirkt sowohl nach innen als auch nach auBen. N a c h auBen b e k e n n t sich der Westen zur B e t o n u n g des Prinzips kultureller G e m e i n s a m keiten der ,,einen Welt". Die ,,Atlantische Zivilisation" verbindet diese iiul3ere D i m e n s i o n mit einer geographisch konkreteren Selbstfindung des atlantischen Westens (Wertfrage zwischen E u r o p a und Amerika). D a z u k o m m t n o c h das ,,atlantische Bild" einer ,,Sammlung des N o r dens" (westrussisch-amerikanische Anniiherung), u n d eines dialog- u n d kooperationsbereiten A r m s in den V o r d e r e n Orient (Mittelmeer, arabisches E r b e u n d ,,Euro-Islam'~ sowie zwischen Lateinamerika u n d Westafrika (Sfidatlantik). Kulturhistorisch bezieht sich das atlantische M o m e n t auf m e h r e r e Brficken aus Wasser: A u f den Atlantischen O z e a n als Kernbrficke zwischen Amerika u n d Europa, aber eben auch auf die kulturhistorisch fiberaus b e d e u t s a m e n Meeresausliiufer, auf die N o r d - und Ostsee und d e m N f r d l i c h e n E i s m e e r bis Russland auf der einen Seite u n d d e m bis z u m V o r d e r e n Orient reichenden Mittelmeer u n d Schwarzen Meer auf der anderen, ganz zu schweigen v o n den zahlreichen Flfissen, die v o m O z e a n mannigfaltigst ins Landesinnere reichen149: ,,Damit stehen wir vor d e m kulturgeographisch wichtigsten Merkmal dieses Ozeans, seinen vielen u n d starken A r m e n , mit denen er nach beiden Seiten tief in das Innere der K o n t i n e n t e hineinfasst ''is~ und zwar sowohl fiber die N o r d - als auch fiber die Ostsee. ,,Die geographische Fliiche, die die Atlantische Welt umfasst, ist veriinderlich. ''151 D e r kulturell sich i m m e r im Wechselkontakt mit d e m pazifischen u n d lateinamerikanischen R a u m befmdliche amerikanische Pfeiler 152 und der sich m_it Eurasien, )~gypten, d e m arabischen R a u m u n d d e m N a h e n und Mittleren , , O s t e n " jahrtausendelang im W e c h s e l k o n t a k t befmdliche europiiische Pfeiler k6nnte so, im R a h m e n eines regionalnachbarschaftlich offenen, politisch 149Als da wiiren: Oranje, Kongo, Niger und Senegal in Afrika; Guadalquivir, Guadiana, Tajo, Duero, Gironde, Loire, Seine, Maas, Rhein, Weser, Elbe, Klar-Elf, Glommen, Themse, Severn und Shannon in Europa; St. Lorenz, Mississippi, Rio Grande, Orinoco, Amazonas, San Franzisco und La Plata in Amerika. Wird die Ostsee als Ausliiufer noch hinzugenommen, kommen die Oder, die Weichsel, die Memel, D/ina, Newa, Tome-Elf, Ume-Elf, Indals-Elf und DalElf hinzu: ,,Lauter groBe, lange, meist schiffbare Strfme, in denen das Meet mit Ebbe und Flut stiindig in das Land hineinatmet" (Kurt von Boeck:mann, Vom Kultumich des Meem, Berlin 1924, S. 304). is0 Kurt von Boeckmann, I/om Kulturreich desMeeres, Berlin 1924, S. 304. 151 Vgl. Jacques Freymond, Die Atlantische Welt, in: Golo Mann / Alfred HeuB / August Nitschke (Hg.), Propylden Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte,Band X, Berlin / Frankfurt a.M. 1986, S. 223-299, 224. ls2 Der sich auf der Basis einer rein geographischen Sichtweise nat/irlich als konzeptioneller Hemmschuh einer ,,atlantischen" Sicht-weise entpuppen m/isste. Der Begriff des Atlantizismus geht daher in dieser Arbeit fiber das rein Geographische hinaus (vgl.J/irgen Osterhammel, Europa in der atlantischen Welt- Zeitschichten einer Krise, Wien 2004, S. 17f.). Der kulturelle Einfluss des Pazifiks auf Amerika ist jedoch l{ingst nicht mehr zu unterschiitzen (vgl. ebd., S. 40) und soll dutch den mehr ,,historisch-politischen" Begriff des ,,Atlantischen" hier auch nicht negiert werden.
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Kapitel II
wertvollen und konstruktiven Verhiiltnisses zu diesen Regionen, daftir btirgen, eine gef~ihrlich iiberdehnte Selbstreferentialitiit des Zivilisationsmodells zu verhindern, vor der i m m e r g e w a m t wird, o b w o h l der Westen als politische Symbol- oder Aktionseinheit ja nicht wirklich existiert. 153 Das P r o b l e m eines zu fixpunktartigen, universalhistorisch irreftihrenden 154, geographischplanetarisch irreal a n m u t e n d e n und in mythologisch-symbolpolitischer Perspektive vielleicht zu u n b e s t i m m t wirkenden Begriffs wie desjenigen des ,,Westens ''155 wfirde indes einer lJberpriifung unterzogen werden, o h n e auf einen kritiktheoretischen, letztlich zu stark negierenden Z u g a n g angewiesen sein zu miissen. D a m i t wiire die M6glichkeit gegeben, einen nicht n u t ,,allein negatorisch ''156 u n d damit extremismusanf~illigen oder p h o b i s c h e n Identit~itsbegriff freizulegen. Z u m letzten bedeutet das atlantische E l e m e n t in der ,,Atlantischen Zivilisation", dass ,,der O z e a n selbst mit seinen g r o g e n H a n d e l s r o u t e n u n d den Wirtschaftsbeziehungen der dynamische Hauptfaktor bei der Ausbildung der m o d e r n e n westlichen Zivilisation gewesen ist. ''157 Sowohl das m o d e m e E u r o p a als auch das m o d e m e Amerika k 6 n n e n als ,,Sch6pfungen des Meeres" betrachtet werden. 158 Mit dieser D y n a m i k verbindet sich ein Prinzip der blutsunabh~ingigen Offenheit in der Frage der sittlich-normativ zu definierenden Zugeh6rigkeit (,,wer sich zu den W e r t e n und der Symbolisierung der kulturellen Uberlieferung dieser Werte bekennt, geh6rt dazu'~ M_it radikalen Varianten des Multikulturalismus 159 sollte das jedoch nicht verwechselt werden.
2. Abgrenzung des Zivilisationsbegriffes vom Moralbegriff D e r Zivilisationsbegriff als zentraler Bestandteil einer ,,Atlantischen Zivilisation" bedarf n u n einer grunds{itzlichen VorabklS_rung. Es geht hier nicht darum, den Begriff schon positiv zu defmieren, doch sollten grob irref/ihrende Assoziationen von vornherein v o m Begriff geschieden werden. D a es sich bei den ins Auge gefassten Assoziationen u m normative Aufladungen handelt, die gesellschaftlich, politisch u n d historisch eine groBe Rolle spielen, soll diese negati153Eine weitgehend seri6se Variante der IZritik findet sich z.B. bei Jack Goody, The East in the West, Cambridge 1996, S. 7-10. 154 Vgl. zum Einfluss des ,,Orients" auf die westliche Zivilisation die sch6ne Zusammenfassung von Harry Elmer Barnes / Henry David, The Histo{7 of Western Civilization. Volume One, New York 1935, S. 181" "We know that the History of Greece is altogether inseparable from that of the Orient." Wobei folgende Erg~inzung unabdingbar erscheint: ,,Even though we no longer hold to the view that there was a hiatus between oriental and Hellenic civilization, and though we fully recognize the debt of Greece to the Orient, the characteristic Hellenic contributions to Western civilization have been in no way minimized by recent historical scholarship. The Greeks after all, did release man in some measure from the domination of tradition and from what has been called the state system of the Orient." (ebd.); vgl. femer Jack Goody, The East in the West, Cambridge 1996. lS5Vgl. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Va'lkemcht des Jus Publicum Europaeum, K61n 1950, S. 260f. Vgl. zur wechselhaften Geschichte der Lokalisiemng des objektiv ja nicht verortbaren Nullmeridians: Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens. Band I: Vom Zeilalter der Entdeckungen bis zum Beginn des Imperialismus, G6t6ngen 1972, S. 54-58 und Sibylle M~ihl,Jerusalem in mittelalterlicher Sicht, in: Die Welt als Geschichte. Eine Zeitschrift f/it Universalgeschichte, 22. jg. (1962), s. 11-26, 17-20. ls6 Frank Decker, Der neue Recht~oopulismus, 2. Aufl., Opladen 2004, S. 31. ls7Jacques Godechot / Robert Palmer, Das Problem des Atlantiks vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Ernst Schulin (Hg.), Universalgeschichte, K61n 1974, S. 295-317, 308. ls8 Vgl. ebd. ls9 Damit sind Vorstellungen gemeint, dass Mitglieder einer Gruppe ohne ein sp/irbaren Mindestgrad an gemeinsamer Kultur, der sich zumindest in einem koh{irenten Symbolsystem niederschlagen muss, /iberhaupt eine soziologisch erfassbare ,,Gesellschaft" aufweisen k6nnten. Diese Vorstellung ist aus einer kulturanthropologischen und ethnologischen Sichtweise sehr zweifelhaft.
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ve Scheidung schon an dieser Stelle vorgenommen werden. Dabei handelt es sich hauptsiichlich um die normative Veredelung des Begriffs ,,Zivilisation" i m Sinne von etwas ,,H6herwertigem" und zugleich ,,Friedlichem". Die ,,Zivilisierten" unterschieden sich demnach von den , , I r r a t i o n a l e n " - friiher gab es zusiitzlich die rassische Scheidung von den , , W i l d e n " - nicht nur in einem wertneutralen und deskriptiven, also einem im modernen Kontext vielleicht noch erschliegungsfahigen Sinne, sondem auch in einem qualitativen, der die ,,Irrationalen" (oder ,,Wilden") als minderwertige Wesen dek3ariert und deklarierte. Zugleich k6nnen und konnten sich auf dieser Basis nur die ,,Zivilisierten" per defmitionem als Zivilisationsbestandteil defmiefen. ,,Zivilisation" geht in diesem Verstiindnis mit ,,Modemitiit" einher, die nach Tilo Schabert als ,,eine Umbildung der Realit~it nach der Mal3gabe eines priitentiv g6ttlichen Menschen ''16~im Rahmen eines rein innerweltlichen Konkurrenzverh~iltnisses zwischen ,,Mensch" und ,,Kosmos" defmiert werden sollte. Mit dem Anbeginn dieser ,,Moderne" geht die Trennung des Menschen yon seiner natiirlichen Umwelt einher. 161 Die ,,Zivilisation" wiire demnach immer die ,,modeme Zivilisation" o d e r - nach Tilo S c h a b e r t - die ,,zivilisierte" Form ,,modemer Kultur"; also eine Entsprechung der Spannung zwischen der letztlich ewigen Realit~it menschlicher Machtunvollkommenheit in Natur, Geschichte und Kosmos und dem m o d e m e m Anspruch der ,,Vollendung" einer ,,modernen Zivilisation", repr~isentiert durch die ,,Kultur" der Modeme. 162 Die ,,moderne Zivilisation" ist demnach im Sinne eines ,,Reiches des Menschen auf Erden" zu verstehen, ,,welches sich auszeichnen wiirde dadurch, dass in ihm alle N atur nichts anderes mehr als eine Erscheinung menschlicher Machtvollkommenheit sei. ''163 Die I~arstellung, die in der Einleitung erfolgen muss, ist nun nicht die Vemeinung der These, dass es wissenschaftlich oder theoretisch Sinn machen k6nnte, yon einem derartigen, singularen Zivilisationsverstiindnis auszugehen, der These also, dass die ,,Zivilisation" nut als ,,eine" Zivilisation definierbar sei, und zwar als das ,,Moderne" im Unterschied zum ,,Religi6sen" oder ,,Kosmologischen". Es geht jedoch datum, dass jetzt schon klargestellt werden sollte, dass es auch unter Annahme eines solchen ,,singularen Zivilisationsverst~indnisses" fragwiirdig w~ire, wenn: - Erstens diese Singularitiit anhand einer moralischen Qualitiit festgemacht wiirde, das Unterscheidungskriterium zwischen ,,Zivilisation" und ,,Nicht-Zivilisation" also ein rein priiskripfives (sollensbezogenes) wiire (womit nicht geleugnet wird, dass normative und priiskriptive Elemente in dieser Arbeit eine tragende Rolle spielen). Das singulare (einheitlichuniversalistische) Zivilisationsverst~indnis ist zugleich ein singuldres (yon der moralischen Einzigartigkeit ausgehendes); - Zweitens dieses Unterscheidungskriterium mit der Paarverbindung ,,Frieden und Rationalitiit" verbunden wfirde, da dies einem fli,ichtigen Blick auf die Geschichte oder die ,,Zivilisationsanthropologie ''164 nicht standhielte. Wie schon angedeutet sollen damit nicht die normativen Pr~imissen dieser Arbeit geleugnet werden, doch handelt es sich nicht um eine moralphilosophische oder zivilisationsmissionarische, also ethische Abhandlung, sondem um eine politikphilosophische und ideengeschichtliche. Die Unterscheidung zwischen Politischer Philosophie und Moralphilosophie in einem distinktiven Sinne mag umstritten sein, bildet abet auf jeden Fall den Ausgangspunkt dieser 160Tilo Schabert, Gewalt und Humanitdt. Oberphilosophische undpolitische Manifestationen von Modernitdt, Freiburg i.Br. 1978, S. 29. i61Vgl. ebd., S. 136-144und 193-221. 162Vgl. ebd., S. 274ff. 163Ebd., S. 272. 164Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940, S. 330-341.
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Kapitel II
Arbeit. Die Politische Philosophie ist demnach nicht der allgemeinen Moralphilosophie untergeordnet, sie ist also qualitativ mehr als nur eine Spezifitiit eines moralphilosophischen Normativismus. In Bezug auf den Zivilisafionsbegriff lohnt es sich an die Werke yon Norbert Elias, Hannah Arendt, Eric Voegelin und Theodor W. Adorno sowie an die totalifiiren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in hochindustrialisierten, hochkomplexen und -bfirokrafischen, also rationalgesteuerten Systemen, zu erinnern: Die Gewaltprozesse im Europa des 20. J ahrhunderts machen deutlich, in welchem Ausmal3 , , M o d e r n i t S t " , , , Z i v i l i s a f o n s p r o z e s s " und evtl. rationalisierte, aber im Kern doch per defmitionem irrationale , , G e w a l t " miteinander verbunden werden k6nnen. 165 Es ist sogar so, dass Modernit~it eine spezifische Gewalt im Modus einer gewaltdifigen Aneignung von Umwelt durch den , , m o d e r n e n " Menschen beinhaltet. 166 Aul3erdem entsteht Gewalt in der Modernifiit gleichsam automatisch durch das zwingende Auseinanderklaffen von m o d e m e m Anspruch und Wirklichkeit und die in der M o d e m e angelegte Chaos- und Anomiegenese. 167 Diesen Anspruch versuchen ja letztlich auch alle postmodernen Kritikentwfirfe zu relativieren, viele durchaus aufgrund des dadurch initiierten Gewaltpotentials. Trotz der Tatsache also, dass die ,,eine" m o d e m e Zivilisation selbst, also die westliche - als normative Geschichtsphilosophie des Fortschrittes verstanden - Affekt-, also Gewaltkontrollmechanismen intendierte und intendiert, 168 war sie in der historischen Realit~it kontinuierlich gewaltbehaftet. Diese immer wieder ,,ausbrechende" Gewaltbehaftung k6nnen indes begrfindeterweise mit dem intendierten Affektkontrollmechanismus selbst erkliirt werden. Eine moderne Gewalt w~ire demnach typologisch von einer vormodernen zu scheiden, ohne dass dadurch klare Aussagen fiber den Realit~its-, Intensit~its- und Brutalitiitsgrad der jeweiligen Gewaltformen getroffen wfirden. Das entscheidende Kriterium fmdet sich hingegen in der Planung, Strukmrierung und Systematik von Gewalt; das, was sich am Gewaltphiinomen zwischen Moderne und Vorm o d e m e ver~inderte, war sozusagen nichts welter als die Programmsprache. Der ,,gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang ''169 ffihrte demnach in der m o d e m e n Entwicklung langfristig dazu, dass die ,,Bedrohung, die der Mensch ffir den Menschen darstellt (...) durch die Bildung von Gewaltmonopolen einer strengeren Regelung unterworfen ''17~ ( , , b e r e c h e n b a r ''171) wird: ,,Die Gewalt ist kaserniert. "172 Der damit in Gang gesetzte Prozess bedeutete jedoch nicht automatisch das Ende der Gewalt, s o n d e r n - bei Norbert Elias im Kontext der Staatenkonkurrenz einerseits und der Angsterzeugung durch fiberbordende Affektkontrolle andererseits 173 das Heraufkommen einer nicht ,,nur" willkfirlichen, chaotischen, in diesem Sinne ,,brutalen", sondern einer m o d e m e n , strukturellen, systematischen und manchmal totalen Gewalt, i.e.
16sVgl. RaymondAron, Plddoyerfiir das dekadente Europa, Frankfurt a.M. 1978, S. 357. 166Vgl. Tilo Schabert, Gewalt und Humanitdl: Oberphilo~phische und politische Manifestationen yon Modernitdl, Freiburg i.Br. 1978, S. 28f. 167Vgl. ebd., S. 269-288. 168Vgl. Norbert Elias, Uber den Prozess der Zivilisation - So~ogenetische undpsychogenetische Untersuchungen. Band I." Wandlungen des Verhaltens in den westlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt a.M. 1997. 169 Vgl. Norbert Elias, CTberden Prozess der Zivilisation- So~ogenetische undpsychogenetische Untersuchungen. Band II." Wand&ngender Gesellschafi. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1997, S. 323-346; Norbert Elias, Zivilisation, in: Bernhard SchS.fers (Hg.), Grundbegriffe der So~ologie, 7. Aufl., Opladen 2001, S. 445-449. 170Norbert Elias, Uber den Prozess der Zivilisation- So~ogenetz2;cheundpsychogenetische Untersuchungen. Band Ih Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf w einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1997, S. 336. 171Ebd. 17~_Ebd. 1~3Vgl. ebd., S. 444-465. ..
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zugleich einer staatlich programmierten ihrer Art. Das staatliche G e w a l t m o n o p o l wird m diesem Sinne ,,nicht [..] zur Verhinderung der Gewalttat beniitzt, sondern zu ihrer Durchffihrung. ''174 Kantisch betrachtet kann das damit begrfindet werden, dass der westliche Zivilisationsprozess seinen Angelpunkt in der Idee der Freiheit land. ,,Die Zivilisierung der latenten Gewaltbereitschaft des Menschen ''17s war insofern erst def-mitiv m6glich mit der praktischen Realisierung der Idee der Freiheit. D o c h genau diese Idee der Freiheit im Sinne des ,,liberum arbitriurn" hatte immer den Preis, sich ffir das B6se (defmiert als Mangel an Gutem) entscheiden zu k6nnen, ,,etwa in dem Sinne, in dem Richard III. beschloss, ein B6sewicht zu werden ''176 - und in dem Moment, wo sich die Freiheit politisch durchsetzte, bezog sich diese ,,eigentiimliche Offenheit" nicht mehr auf den einzelnen Menschen als personalen Meister seiner selbst, sond e m auf eine ganze Zivilisation: Auch diese also konnte sich n u n m e h r zum Guten, bisher Unerreichbaren, zum Vernfinftigen und Sittlichen, aber eben genauso auch ,,zum B6sen b e s f m m e n . ''Iv7 j u s t ,,diesen Spielraum macht die Dimension der Freiheit aus ''1v8 - und eben nicht der Natur, wie oft im Z u s a m m e n h a n g mit Kant kolportiert, wobei die Natur des Menschen bei Kant natfirlich einen ,,Hang", aber eben keinen , , Z w a n g " zum B6sen impliziert. 179 ,,Ffir Kant ist ausgemacht, dass, wet fiber die Freiheit redet, auch fiber das B6se reden muss. ''18~ Und das B6se war mit der kollektiven Durchsetzung der Freiheit auf der Basis immer feiner ziselierter und rationalisierter Verhaltenskontrollmechanismen u n d - t e c h n i k e n n u n m e h r auch als , , k o l l e k t i v e s " und zugleich kollektiv-systematisches B6ses mfglich geworden, genauso wie das kollektiv-systematische Gute, Sittliche.
,74 MichaelWolfssohn, Nationalstaat und Multikultur. Ober den deutschen Zivilisationsbruch und seine Folgen, in: Heimo Schwilk / Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewusste Nation. ,,Anschwellender Bocksgesang" und weitere Beitr~'ge Zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. 1994, S. 267-290, 273. ~v5Vgl. R/idiger Safranski, Destruktion und Lust. ([7berdie Wiederkehr des Bh'sen, in: Heimo Schwilk / Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewusste Nation. ,,Anschwellender Bocksgesaneo"und weitere Beitra'ge Zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. 1994, S. 237-248, 241. 176Hannah Arendt, Freiheit undPolitik, in: Die Neue Rundschau, 69. Jg. (1958), S. 670-694, 674. 17vR/idiger Safranski, Destruktion und Lust. Uber die Wiederkehr des Bh'sen, in: Heimo Schwilk / Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewusste Nation. ,,Anschwellender Bocksgesang" und weitere Beitra'ge Zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. 1994, S. 237248, S. 244. lv8 Ebd. lv9Vgl. ebd. 180Ebd.
III. Theoretischer Bezugsrahmen und methodologischer Problemaufriss
1. Methodologische Abgrenzung vom einseitigen Systemstrukturalismus B e s t i m m t e kritische u n d p o s t m o d e r n e K o n z e p t i o n e n versuchten nun, eme ,,L6sung" aus der im v o r h e r g e h e n d e n Kapitel er6rterten , , m o d e r n e n Gewalt" zu linden, wie sie im 20. Jahrhundert schliel31ich frappierend m E r s c h e i n u n g getreten war. D a g e g e n gab es i m m e r wieder den normativ-ontologischen Versuch, die , , M o d e m e " gegen G e f a h r e n durch Riickgriff auf ,,vorm o d e r n e " Muster, die nicht instrumentell, s o n d e m als normativ-religi6ser oder mstitutionsphilosophischer Selbstzweck verstanden wurden, zu immunisieren. D o c h die , , k r i t i s c h e n " K o n zeptionen setzten sich seit den siebziger J ahren p e u / t peu genauso durch wie bestimmte neu in E r s c h e i n u n g tretende systemanalytische Radikalismen, die sich auf die K_ritische Theorie beriefen. Die daraus resultierenden D o m i n a n z p o s i t i o n e n in den m o d e r n e n Sozialwissenschaften sind in der F o r m der v o r h e r r s c h e n d e n (de)konstruktivistischen, , , d e l i b e r a t i v e n " u n d neomarxistischen T h e o r i e n anzutreffen. A u c h bestimmte systemanalytische T h e o r i e n 181 m/issten dazugeziihlt werden: Diejenigen n~imlich, welche durch ihren theoretischen Systemansatz eine ,,zweite Realitiit" suggerieren, u n d die dariiber hinaus den Begriff der , , K o m p l e x i t ~ t " i m Sinne der fortschreitenden Ausdifferenzierung v o n Teilfunktionen, zweifelsohne eines der gr613ten u n d abgrenzbarsten Ausweise einer hochentwickelten westlichen Zivilisation, geradewegs zu einer unumst6Blichen rationalen Wirklichkeit, evtl. s o g a r - zumeist unbeabsichtigt oder u n b e w u s s t implizit zu einem n o r m a t i v e m Wert, erheben. Letzteres bringt im K e r n die Gefahr der Vet-
181Als allgemeine Grundsiitze seien in Erinnemng gemfen: Das System ist ein Ganzes, indem Teile oder Elemente in einem intensiven wechselseitigen Wirkungszusammenhang stehen; es gibt keine eindimensionale Kausalitiit, sondem eine Interdependenz, in der sich alle Systemelemente wechselseitig bestimmen und zugleich bestimmt werden; die Systemforschung impliziert die Frage nach der Eunktionalitdt (nach den Aufgaben) der einzelnen Elemente auf das Ganze und ffir das Ganze hin; die Systeme werden als autopoietische Selbsterhaltungssysteme verstanden; ihre gmndlegenden Funktionen liegen nach Parsons in der Anpassung (adaption), Zielerreichung (goal attainment), Aufrechterhaltung (integration) und Erhaltung yon (individuell intemalisierten) Wertmustem (latent pattern maintenance); die ,,Gesamtgesellschaft" wird als umfassendes System definiert; Wirtschaft, Politik, Gemeinschaft, Kulmr sind demnach nut ,,Subsysteme"; die Funktion des politischen Systems nach Parson besteht in der Herstellung bindender Entscheidungen ffir das gesamtgesellschaftliche System; ein ,,Fortschritt" wird in der Ausdifferenzierung dieser Funktionssysteme gesehen, die vermittels ,,evolutioniirer Universalien" (B/irokratie, Marktorganisation, universelle Normen im Rechtssystem, allgemeine und freie Wahlen) erfolgt; nach Easton werden im politischen System Werte und Gfiter autoritativ verteilt; die Funktion des .Regiemngssystems" besteht in der Verwandlung yon Inputs in Outputs, der Staat ,,degeneriert" zum reinen Umwandlungsautomaten, der sowohl nach Effizienz-, als auch nach Wertegesichtspunkten ,,arbeitet". Vgl. zum Begriff der ,,evolutioniiren Universalien" Talcott Parsons / Gerold M. Platt, Die amerikanische Universita't. Ein Beitrag zur So~ologie der Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1990; Talcott Parsons, Evolutiondre Universalien der Gesellschaft, in: Wolfgang Zapf, Theorfen des so~alen Wandels, K61n/Berlin 1969, S. 55-74; vgl. fernerhin zur Systemtheorie David Easton, A System An@sis of Political Ia)9, New York 1965; NiNas Luhmann, So,ale Systeme, Frankfurt a.M. 1984; Talcott Parsons, Towards a General Theo{7 ~Action, Cambridge 1951; Ders., Essays in SociologicalTheo{7, Glenoce 1963; Ders., Social Structure and Per/'onality, Glenoce 1964). Vgl. zur zivilisationstheoretischen Kritik an Parsons und am Systembegriff: Norbert Elias, Uber den Prozess der Zivilisation - So~ogeneLischeundpJychogenetische Untersuchungen. Band I." Wandlungen des Verhaltens in den westlichen Oberschichten des Abendlandej; Frankfurt a.M. 1997, S. 17-73.
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Kapitel III
blendung und Abwertung genuiner akteurs-, willens- oder geistzentrierter, auch irrationaler, ,,gefi~hlszentnerter" Antriebs- und Ursprungsfaktoren (Vilfriedo Paretos ,,Residuen 'q82) in sogenannten ,,gesamtgesellschaftlichen Systemen" des Westens mit sich. Inpraktikabilitiit der Wissenschaft dutch totale Entindividualisierungs- und Anomieerzeugung, damit einhergehende Wettbewerbsvernichtungen und ,,Verflechtungsfallen" unterschiedlichster Art im Kontext der absoluten Verselbst~indigung von ,,Teilsystemen", eine Wirklichkeitsverkennung in Bezug auf menschliche Handlungspotentiale und die Verkennung der handlungsbezogenen Denkaufgabe der Politikwissenschaft als praktische Wissenschaft k6nnten die Folgen sein. Das wissenschaftstheoretische Problem einer radikal strukturalistischen Systemtheorie kann sehr anschaulich anhand einer Aussage des Protagonisten des Pragmatismus, James Dewey, verdeutlicht werden. Arnold Gehlen bezog sich in seiner Anthropologie darauf. Er hielt den Wahrheitsbegriff des Pragmatismus mit guten Gr/~nden f/,ir das einzig schl/~ssige Sinnkriterium einer jeden wissenschaftlichen Theorie: ,,Das Gesch~ift [business] des Denkens ist es nicht, die schon den Dingen zukommenden Merkmale in lJbereinstimmung zu bringen oder zu wiederholen, sondern sie als M6glichkeiten von dem anzusehen, was sie durch eine festgestellte Operation werden k6nnen. ''183 Gehlen zeigte im lJbrigen auf, inwiefem dieser pragmatische Gedanke im deutschen Idealismus des 18. und 19. Jahrhunderts schon bestimmendes Grundthema war 184 - d e r Gedanke also, ,,das Bewusstsein als ein Aktionssystem innerhalb der menschlichen Weltbegegnung zu fassen (...) weg von Exzentrit~it und Vereinzelung (...), hin zu etwas [..] Fruchtbarem 'q85, was ein Handlungsproblem aufl6st und die ,,Leistungsf~ihigkeit in der Richtung auf die Zukunft ''186 erm6glicht. Und gerade die Politikwissenschaft hat damit zu k~impfen, dass ihr Gegenstand (genauso wie die Religion, Moral und Philosophie) selbst Bestandteil jener ,,instinktiven Antriebslage" des Menschen, ,,intakt" handeln zu wollen, ist, was ja {iberhaupt das genannte Sinnkriterium der Wissenschaft gebiert. 18v Was indes Gehlen am Pragmatismus kritisierte, fiihrt zu einem zweiten angesprochenen Problem der heute vorherrschenden Systemanalysen in wissenschaftstheoretischer Hinsicht: Gehlen kritisierte am Pragmatismus die Vorstellung, dass die bessere Kontrollierbarkeit menschlichen Verhaltens zum Zwecke einer bestimmten Probleml6sung nur auf Erfahrungen zur/ickzugreifen habe, die zugleich wirklich experimentell und empirisch kontrollierbar seien und dass der Pragmatismus postulierte, dass das zur Probleml6sung v611ig ausreiche, da mit diesen (,,kontrollierbaren") Erfahrungen das gesamte Erfahrungsspektrum des Menschen ausgesch6pft sei. 188 Der Erfahrungsbegriff des Pragmatismus ist damit zugleich rational wie allumfassend- genauso wie der (/ibergeordnete) Systembegriff der Systemanalyse. Doch eine anthropologisch verbiirgte ,,irrationale Erfahrungsgewissheit", die zugleich f{ir jeden einzelnen Menschen handlungsbestimmend zu sein scheint, d.h. die Tatsache, dass Individuen meistens, besonders im Falle der Verarbeitung von St6rungen - schon aus Griinden eines fundamentalen Informationsdefizits (bzw. eines ,,Schleiers der Unwissenheit") und einer erwfinschten Selbstentlastung im Falle des Misserfolgs - eben nicht rational, sondern emotional und irrational (bzw. /iberzeugungsbasiert) handeln 189, steht dem Kontrollierbarkeits- und Rationalit~itspostulat des Pragmatismus, aber auch dem Koh~irenz- und Rationalit~itspostulat der System182Vgl. Vilfredo Pareto, Traitgde sociologieg&&ale,Paris 1917/1919, ~ 888-1396. 183Zitiert nach Arnold Gehlen, Der Mensch. SeineNatur und seineStellungin der WelL,Berlin 1940, S. 324. 184Vgl. ebd., S. 325f. 18sEbd., S. 325f. 186Ebd., S. 323. 187Vgl. ebd., S. 345. 188Vgl. ebd., S. 330. 189Vgl. grundlegend ebd., S. 330-341.
Theoretischer Bezugsrahmenund methodologischerProblemaufriss
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theorie entgegen. Wiihrend ersteres nicht schwer zu begrfinden ist (es gibt individuelle Handlungen in sozialen Interaktionen, die nicht rational begriindbar und damit nicht im pragmatischen Sinne kontrollierbar sind), zeigt die Fiille von Beispielen, die Gehlen in seiner Anthropologie auffiihrt, dass es theoretisch eben nicht nur aus kritisch-rationaler Selbstbescheidenheit, sondern auch aus anthropologisch plausiblen Gr/inden heraus nicht ausgeschlossen werden sollte, davon auszugehen, dass z.B. als , , a u t o p o i e t i s c h " und ,,pfadabhiingig" defmierte politische Systeme sich, ausgehend von (elitenzugeh6rigen) Akteuren, die iiberzeugungsbasiert handeln, von ,,innen heraus" institutionell veriindern (bzw. ,,erneuern '~) lassen k6nnten, ohne dass es deswegen zur Totalabl6sung eines politischen Systems durch ein anderes kommen miisste. Daft,Jr k6nnte insbesondere die anthropologisch verbiirgte Existenz ganzer innergesellschaftlicher ,,Gruppen relativ stabiler instinkt- und gefiihlsartiger Komplexe ''19~ (Paretos , , R e s i d u e n " ) sprechen, die eine potentiell immense kollektive Tragweite ,,irrationaler Erfahrungsgewissheiten" impliziert. Der ,,Gefiihlshaushalt" einer Gesellschaft kann bei entsprechenden Handlungen einer wiederum iiberzeugungsbasierten Elite (sei diese nun rational oder irrational motiviert) gezielt gegen eine systemische Rationalitiit in Stellung gebracht werden, ohne damit unbedingt einen politischen Umsturz intendieren zu miissen (wobei letzteres bei einem entsprechend radikalen Ansatz der Eliten oder sonst irgendwelcher Gruppierungen in der Tat eher unwahrscheinlich ist). Das Entscheidende ist: Der , , G e f ~ h l s h a u s h a l t " innerhalb einer modernen Einzelgesellschaft, ob nun angst-, mut-, wutbestimmt oder sonst wie iihnlich emotional geartet, ist vom Potential her jederzeit in der Lage, fiir systemimmanente radikale Ver~inderungen durch ,,emotionale Fiihrung" in Beschlag genommen zu werden. Als historische Paradebeispiele k6nnten daf/,ir der Ubergang v o n d e r IV. zur V. franz6sischen Republik oder evtl. sogar in e i n e m - systemanalytisch g e s p r o c h e n - ,,gesamtgesellschaftlichen" Rahmen, die Begriindung eines komplett neuen (politischen) Teilsystems innerhalb eines stabilen amerikanischen Gesellschaftssystems im 18. Jahrhundert, angefiihrt werden. Im amerikanischen Fall iibernahmen die antiloyalistischen Republikaner die ,,emotionale Fiihrung", im franz6sischen Fall sogar eine Einzelperson, Charles de Gaulle. Zu den Dingen, die einen ,,dogmatischen" Systemanalyfker in Verzweiflung bringen k6nnten, geh6rte demnach frei nach Nietzsche nicht nur die fiir Pragmatiker problematische Erkenntnis, ,,dass das Unlogische fiir den Menschen n6tig ist", sondern auch die Erkenntnis, dass die Tatsache, dass dies so ist, grundsiitzlich die M6glichkeit er6ffnet, fiber die massenhafte Lenkung yon Emotionalifiiten und Einbildungskriiften in einer Gesellschaft systemische Rationalit;,iten herauszufordern - sei es zum Zwecke einer Systemkonservierung, Systemiiberwindung oder aber eben zum Zwecke einer radikalen Systememeuerung. Zusammenfassend liisst sich die Gefahr eines rationalistischen und puren Systemstrukturalismus als ,,handlungsverunm6glichender ''191 Immobilismus bzw. Inflexibilismus einer die Naturwissenschaft kopierenden, statischen und festgefahrenen Sozialwissenschaft benennen. Die Wissenschaft verfehlt mit einem derartigen Ansatz zugleich die Anforderungen ihres ganz eigenen Sinnkriteriums. Und eine so verfahrende Politikwissenschaft stiinde im absoluten Widerspruch zu ihrem eigenen, erkenntnis-unabhiingigen Antriebsmoment. 192 So wie in einer technisch-industriellen ,,zweiten Welt" ganz neue und v611ig naturferne Bed/irfnisse des Menschen e n t s t e h e n - mit der Gefahr, ,,dass die menschlichen Handlungen nicht mehr zur Welt
190Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der We& Berlin 1940, S. 333. 191 Vgl. zum Begriff der Freiheit im Sinne der ,,Handlung als wesentliches Anfangen" Hannah Arendt, Freiheit und Politik, in: Die Neue Rundschau, 69. Jg. (1958), S. 670-694, insbsd. 685-691. 192Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der We& Berlin 1940, S. 345f.
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zuriickfmden, sondern sich ins Unendliche raffmieren und in sich selbst weiterlaufen ''193 - so besteht genau diese Gefahr auch in einem bestimmten Intellektualismus im Denken und in der Wissenschaft, welcher von bestimmten radikal strukturalistischen Systemanalysen erreicht ist. Wie sollte da noch die Existenz (und F6rderung) derartiger Wissenschaften legitimiert werden? Auch kann vor diesem Hintergrund der Vorstellung einer ,,Eigenrealit~it des Politischen" behauptet werden, dass ein systemtheoretischer Rationalitiitsbegriff das Politische nicht wirklich abzudecken vermag, da es nach Denkans~itzen von Bernard Crick, Hannah Arendt, Michael Oakeshott oder Hans Buchheim auch eine reale kategoriale Differenz zwischen einem sachlogischen ,,politischen System" und dem eigenlogischen , , P o l i f i s c h e n " zu geben scheint, es sei denn, das ,,Politische" wiire im System integriert. D o c h ist es iiberhaupt integrierbar? Crick und Arendt sowie Oakeshott und Buchheim wiirden es w o h l - die einen normativ, die anderen eher s o z i a l o n t o l o g i s c h - zurecht bestreiten. 194 Hans Buchheim geht folgerichtig von einer ,,Ontologie der P o l i t i k " aus, die wiederum , , S o z i a l o n t o l o ~ e " ist, ,,angewandt auf die Eigenart" des ,,Sonderfalls" Politik. 195 Im soziologischen Bereich besteht im lJbrigen eine entsprechende Gefahr im sogenannten soziologischen Strukturalismus: So verfiel z.B. ein derart scharfsinniger und intellektuell beeindruckender Soziologe wie Pierre Bourdieu einem neuen Dogmatismus und Illusionismus, als er den wissenschaftlich berechtigten und durchaus fruchtbaren Ansatz verfolgte, Biographien und Kulturen auf gesellschaftliche Produktionsbedingungen und sozialen , , H a b i t u s " und Milieus zurfickzuffihren. 1% Der Ansatz von Bourdieu, der sich insbesondere gegeniiber den neueren, freilich ebenso anti-essentialistischen, abet im Gegensatz zum Relationismus Bourdieus geradezu euphorischen Individualisierungsansiitzen der (deutschen) Soziologie um Ulrich Beck 197, sehr positiv abhob, lief jedoch Gefahr, unter Leugnung des Einflusses strukturalistisch nicht eruierbarer ,,natiirlicher Gaben und Distinktionen" im sozialen Sein, einem neuen existenz-, lebenssinn- und individualskeptischen Dogmatismus und damit einhergehenden politischen Illusionismus zu verfallen. An diesem Beispiel freilich wird, solange der sozialen Strukturierung pers6nlicher Laufbahnen plausiblerweise etwas abgewonnen wird, die Ambivalenz und der beunruhigende Mangel an normativer oder rationaler Perfektabilit~it sozialen Seins deutlich, mit der auch in der Wissenschaft, gerade in der Politikwissenschaft in einem affirmativen und normativ konstruktiven Sinne umzugehen i s t - unter Inkaufnahme des Vorwurfs, das reine Herrschaftswissen eines Sozialingenieurs zu verbreiten. 198 Systemtheoretische oder strukturalistische Ansiitze also, welche erstens einer weitverbreiteten rationalitiitsgl~iubigen Anthropologiefeme der heutigen Sozialwissenschaften erliegen, zwei tens nicht die destruktiven Folgen ihrer Verabsolutierung sowohl im inner- als auch im auBerwissenschaftlichen Kontext erkennen und reflektieren, oder gar ddttens in def~itistischer Ausrichtung die solcherart destruktiven Elemente als unaufl6sbare ,,Naturnotwendigkeit" - im 193Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940, S. 349. 194Vgl. Bernard Crick, Eine Lanzefdr die Politik, Mfinchen 1966; Hans Buchheim, Theo,ie der Politik, Wien 1981; Michael Oakeshott, On human conduct (1975), Oxford 1991; zum Vergleich: Michael HenkeI, Vom Sinn einerphilosophischen Theo,ie der Politik. Bemerkungen zum Theo,iebeg,iJ bei Hans Buchheim und Michael Oakeshott, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), PolitischesDenken. Jahrbuch 2004, Berlin 2004, S. 167-187. 19sVgl. Hans Buchheim, Beitra'gezur Ontologie derPolitik, Mfinchen 1993, S. 7. 196Vgl. insbesondere Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. K,#ik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 11. Aufl., Frankfurt a.M. 1999. Vgl. zum Begriff des Habitus Pierre Bourdieu, Zur So~ologie der ~mbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1970, S. 125-158. 197Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft.A u f dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986. 198 So der Vorwurf des linken Bourdieus gegenfiber jeglichen staatsphilosophisch fiberlieferten Politikwissenschaften (vgl. die Zusammenstellung in Wemer Fuchs-Heinritz / Alexandra K6nig, Pierre Bourdieu. Eine Ein~hrune~ Konstanz 2005, S. 299-302).
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Zweifelsfalle mit katastrophalen Auswirkungen - einfach hinnehmen, sollten nicht das gesamte methodologische Feld der Politikwissenschaft ausmachen. Erst recht nicht, wenn auch bei den Systemtheoretikern die empirische Gewissheit fiber ihre eigenen theoretischen Voraussetzungen und Folgerungen (z.B. die Vorstellung absoluter ,,Unreformierbarkeit politischer Systeme" aus ,,Systemgrfinden" heraus) nicht erlangt werden kann. Zumindest ein Einbau eines methodologischen Falsifnkationsvorbehaltes, wie ihn der K_ritische Rationalismus postuliert, geh6rt zur Systemanalyse unbedingt dazu, wenn sie angewendet wird und Sinn machen soll.
2. Das Problem der Verbindung ,,westlicher Freiheit" mit dem Prinzip des Werteneutralismus 2.1 Die Herausforderung eines wertneutralen Freiheitsbegtgffes durch den terrodstischen Islamismus
Eine K e r n a n n a h m e dieser Arbeit lautet, dass mit Ausnahme der wissenschaftlich fruchtbaren Systemansiitze ~99, viele der anderen erwiihnten, betont anti-essentialistischen K o n z e p f o n e n angesichts der heutigen weltpolitischen Lage -politisch immer mehr obsolet werden. Oder anders formuliert: Eine Uberdosis an evtl. sehr notwendigem Anti-Essentialismus ffihrt schnell zur ,,politischen L ~ h m u n g " . 2~176Zumindest scheint sich die Frage nach der Werte-Altemative jetzt immer stiirker und vernehmbarer zu stellen. Die heterophile Beliebigkeit bestimmter p o s t m o d e m e r und die werteerodierende und dennoch letztlich ortlose, utopisch bleibende Kraft der fundamentalkritischen Theorien unter den Besagten sowie das ganze Konglomerat des rein konstruktivistischen und zugleich wertneutralitiitsbasierten Liberalismus 2~ werden immer stiirker kulturalistische Gegenreaktionen in einer immer kleineren Welt mit waffen- und psychotechnisch immer gr6Beren destrukfven Auswirkungen ausl6sen oder sind derarfigen Gegenreaktion in einem schon erheblichem MaBe ausgesetzt. Das Problem ist die Tatsache, dass die Terroristen heute vorgeben, eine religi6se Wahrheit zu repriisentieren. Das macht sie zwar nicht automatisch zu einem veritablen politischen Massenph~inomen, doch ist die E m p ffinglichkeit fflr religi6se Wahrheiten, weil diese essentiell sind, grundsiitzlich sehr groB. Das Verlangen, seinem eigenen Leben einen Sinn zu geben und im Glauben diesem Verlangen gerecht zu werden und seine Erffillung zu linden, kann einen versch~irften antiliberalen G r u n d z u g bekommen, sobald der Liberalismus jegliche Glaubens- und Sinninhalte aus dem 6ffentlichen Raum eskamotiert, um sich damit s e l b s t - unter dem Banner des ,,Wermeutralis199Ein wichtiges Ergebnis in der Politikwissenschaft ist sicherlich, dass der komplexe Wirkungszusammenhangyon Gesellschaftund politischer Ordnung in die Politikanalysesystematischmit einflieBt. Dabei sind die Thesen, die Georg Brenner mit seiner Differenzierung zwischen Regierungssystemund politischen System eingebracht hat, in der Politikwissenschaft als wichtiger Vorbehalt anzusehen (vgl. Georg Brunner, Vergleichende Regierungslehre. Ein Studienbuch, Paderborn 1979). 200 So der grundsikzlich essentialismusskeptischeMichael Th. Greven, Einfiihrungsvortrag: Demokratie - eine Kultur des Westens, in: Michael Greven (Hg.), Demokratie - eine Kultur des Westens? 20. WissenschaftlicherKongr~ der deutschen Vereinigungfiir Politisc& Wissenschq/t, Opladen 1998, S. 19-35, 32, Fn. 51. 201 D.h. ein Konstruktivismus, der sowohl fiberindividuelle Faktoren als auch das Individuum als Konstruktionen auffasst. Der klassische, reine Liberalismus wie z.B. bei Popper oder Albert, aber auch bei Rawls, Hayek und Nozick (letzterer ohne konservative oder sozialmoralische Beimischungen, wie z.B. bei John Locke, aber auch bei Adam Smith), kam nat/.irlich rile ohne einen Konstruktivismus aus, bezog ihn abet nicht auf das Individuum selbst, das letztendlich als ontologisches Prinzip angesehen wurde (vgl. zu dieser ,,Metaphysik des Individuums": Anthony Arblaster, The Rise and Decline of Western Liberalism, Oxford u.a. 1985, S. 38f.). Der radikale Konstruk6vismus indes wirft dem klassischen Liberalismus genau diese Metaphysikvor und geht einen Schritt weiter, indem er behauptet, dass die ganze Realit~iteine konstmierte ist.
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m u s " - als angebilchen ,,politischen Liberalismus" zu legitimieren. Nun ist hierin kein Automatismus zu erkennen in dem Sinne, dass die Zunahme eines angeblich ,,liberalen" Wertenihilismus (der sich als Neutralismus ausgibt) und die daraus resultierende Zunahme eines anfliberalen Wertefundamentalismus zwangsliiufig in defmitiv freiheitszerst6rende Gewaltaktionen miinden muss. Doch die heutige Situation ist zumindest die, dass das terroristische ,,Angebot" in der Zunahme eines antiliberalen Wertefundamentalismus einen geistigen Rfickhalt erkennen kann, was seinen Aktionen einen politisch viel wirksameren Charakter verleiht im Vergleich zu allen anderen terroristischen Aktivitiiten, die es im 19. und 20. Jahrhundert gegeben hat, insbesondere im Vergleich zu den Ilnksextremistischen Terroristenzellen der siebziger und achtziger J ahre des 20. J ahrhunderts. D e m islamistischen Terrorismus gelmgt es, einen Feind auszumachen, der bei Massen von Menschen in der Tat das Potential besitzt, als ,,Feind" wahrgenommen zu werden. Zwar wird der islamistische Terrorismus an Aura verlieren, je st~irker er die ,,Masse" (U-Bahn-Stationen wie in London und Madrid, touristische Amiisier- und Vergniigungsmeilen wie in Bali oder gar Schulen wie in Beslan) und nicht mehr wichtige ,,Symbole" des ,,Westens" oder des ,,Judentums" wird treffen wollen (wie die WTC-Tiirme in New York, Botschaften und Synagogen wie in Istanbul und Djerba), doch die Wirksamkeit des islamistischen Terrorismus, die aus seinen Aktionen immer noch folgt, ist im viel st~irkeren Mal3e massenwirksam als dies noch bei Gruppierungen wie IRA, RAF, Baader-Meinhof-Gruppe, Action Directe, Rote Brigaden oder 17. November der Fall war. Gruppen wie die niederliindische Hofstad-Gruppe mit ihren Verbindungen nach Spanien, Marokko, Italien, Belgien, Syrien, Irak und zur A1 Quaida, aus welcher der M6rder von Theo van Gogh, Mohammed Bayrou, hervorging, k6nnen sich im Gegensatz zu den linken Gruppierungen des 20. Jahrhunderts einer gewissen sozialen Basis sicher sein. 2~ Der islamistische Terrorismus braucht also nicht einmal in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu gelangen, um eine weltpoiltisch relevante Wirksamkeit zu erreichen. Diese Wirksamkeit zeigt sich beim islamistischen Terrorismus konkret in dreierlei Hinsicht: Erstens: Das Feindbild des islamistischen Terrorismus deckt sich mit einem Feindbild, welches eine Vielzahl von musilmischen Gl~iubigen, die nicht terroristisch agieren, ja welche den Terrorismus gar aus reilgi6sen Griinden verurteilen, teilen. Das gemeinsame Feindbild ist eine Variante eines Ilberalen ,,Wertenihilismus", den sie als eine Gefahr ihrer eigenen reilgi6sen Wahrheit defmieren, den sie z.T. als Sinnbild des Liberailsmus schlechthin begreifen und den sie auf jeden F a l l - entgegen der Selbstwahrnehmung ,,wahrer" Wertenihilisten- als eine konkurrierende (,,satanische" oder ,,kreuzzfigler~sche") Wahrheit begreifen, welcher ihrer Wahrheit entgegensteht. Es gibt in diesem Kontext auch in konkreter politischer Hinsicht ,,kleinste gemeinsame Nenner" zwischen Terroristen und ,,Volk". Einer lautet: Mekka und SaudiArabien sind besetzt von Ungl~iubigen, von amerikanischen Soldaten und - zu allem Obel amerikanischen Soldatinnen und die A1-Aksa-Moschee und Jerusalem sind in feindlicher Hand. Was die islamistischen Terroristen jedoch sehr gut kaschieren k6nnen, ist nun die Tatsache, dass in ihren Augen das Verbrechen des ,,Westens" nicht darin Ilegt, was er tut, sondern was er ist. 2~ Sonst miisste ,,der Islam" vielleicht stiirker anerkennen, dass es z.B. der ,,Westen" war, der die Moslems in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo vor {)bergriffen geschiitzt hat, und zwar unter Inkaufnahme kriegerischer Handlungen gegen Christen. Aber das wird im antiwestlichen Diskurs schilcht ignoriert. Und damit ist ein zweiter Punkt angeschnitten.
202Vgl. Robert S. Leiken, Europe'sAng{7Muslims, in: ForeignAffairs, Bd. 84, Nr. 4, 07/08-2005, S. 120-135, 126. 203So Daniel S. Hamilton, Die Zukunft ist nicht mehr, was sie war."Europa, Amerika und die neue wellpoli/ischeLage, Stuttgart 2002, S. 38.
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Zweitens: Mit der Entgegensetzung y o n ,,Islam" und ,,I
2o4 Zitiert nach Bernard Lewis, I_acence to Kill. Usama bin Ladin's Declaration of Jihad, in: Foreign Affairs, 11/12-1998, S. 14-19, 15. 20sVgl. zum weltpolitischen Anspmch: Bassam Tibi, Der neue Totalitarismus. ,,Heihger Krieg " und westliche Sicherheit, Darmstadt 2004; Ders., Die Revolte gegen den Westen in der neuen internationalen Umwelt: Das Beispiel der islamischen Zivilisation, in: Karl Kaiser / Hanns W. Maull (Hg.), Deutschlan& neue AuJ~enpolitik. Band 2: Herausforderungen, Mfinchen 1995, S. 61-80, 61f. und 70;John Kelsay, Islam and War, Kentucky 1993, S. 115ff. 206Vgl. Bassam Tibi, Der neue TotalitarismuJ. ,,Heiliger Krieg"und westliche Sicherhe#, Darmstadt 2004; Ders., Die Revolte gegen den Westen in der neuen internationalen Umwelt." Das Beispiel der islamischen Zivilisation, in: Karl Kaiser / Hanns W. Maull (Hg.), Deutschlands neueAuJ~enpolitik. Band2: HerauJorderungen, Miinchen 1995, S. 61-80, 73. 207Bassam Tibi, Die Revolte gegen den Westen in der neuen internationalen Umwelt." Das Be@iel der islamischen Zivilisalion, in: Karl Kaiser /Hanns W. Maull (Fig.), Deutschlands neue AuJ~enpolitik. Band 2: Herausforderungen, M~inchen 1995, S. 61-80, 73. 208 Die Beliebtheitswerte fiir Bin Laden waren 2003 in arabischen und islamischen Liindern auBerordentlich hoch. Inzwischen hat sich die Situation, insbesondere in der Tiirkei und im Libanon, entspannt (vgl. The Pew Global Attitudes Project (Hg.), Islamic Extremism: Common Concernfor Muslim and Western Publics. Supportfor Terror Wanes Among Muslim Publics- 17-Nation Pew GlobalAttitudes Survey, Washington 2005, S. 6f. (s. auch www.pewglobal.org, 14. Juli 2005). Vgl. fernerhin Ian Bumma / Avishai Margalit, Ok~dentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde, Miinchen / Wien 2005, S. 24. 209Vgl. Ian Buruma / Avishai Margalit, Ok~dentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde, Miinchen / Wien 2005. Der Begriff ,,Okzidentalismus", der bei Buruma und Margalit als Beschreibung jener Geisteshaltung analog zum Begriff ,,Orientalismus" von Said gebraucht wird, ist m.E. jedoch verwirrend, da sich mit dem vereinzelt auftretenden Begriff ,,Okzidentalismus" bisher immer prowestliche Einstellungen verbunden haben. Problematisch erscheint m.E. auch der zu kompilatorische Charakter der Schrift, die allerdings mit der Behauptung, dass die ,,antiwestliche" Geisteshaltung zugleich Bestandteil der westlichen Geschichte ist, einen wichtigen Ansatz entwickelt (vgl. Mark Siemons, Die verweigerte Unlerscheidung. [an Burumas und Avishai Margalits Ba'rendienst am Westen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Febmar 2005, S. 36).
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tinnen heiliges Land in Saudi-Arabien? Warum unterstiitzen die Amerikaner die Unterdr/,/ckung der Muslimbriiderschaft in Agypten? Warum intervenieren die Amerikaner im Irak mit dem (kolportierten) Argument, sie bek~impften damit den Islamismus (was sie so nicht taten)? Warum hat Israel so viel Macht und Pal~istina nicht? Im Rahmen einer Wahrnehmung ,,kultureller Globalisierung" verdichtet sich das Ganze zu einem Geflecht, das Benjamin Barber als ,,Jihad vs. McWorld" bezeichnet hat. 21~Jedenfalls kann konstatiert werden - und das ist die negative Entwicklung dabei - dass sich nicht nur im Westen K_lischees ~ber den ,,Islam" ausgebreitet haben, sondem im islamischen Raum Klischees/,iber den Westen, nach denen dieser ,,materialistisch und moralisch verderbt" sei. 211 Drfttens schaffen es die Terroristen sehr geschickt, die normative Schw~ichung des ,,Westens" noch weiter zu potenzieren, indem sie durch die Art und Weise der Lokalit~it ihrer Aktionen eine innerzivilisatorische Spaltung zwischen westlichen Kriiftegruppen bef6rdem, die auch nur deswegen auseinanderfallen k6nnen, well der angesprochene Werteneutralismus dazu beigetragen hat, dass die eine (,,abendl~ndische") Idee des Westens sich in mehrere ,,Ideen des Westens" fragmentiert hat. Welche verschiedenen ,,Ideen des Westens" hat nun der westliche Werteneutralismus und nihilismus im Westen idealtypisch provoziert? Z u m einen das (z.T. als ,,neokonservativ" titulierte) Festhalten an den christlichabendl;,indischen Essentialismen zusammen mit einer normativen E r h 6 h u n g der modernen technisch-wissenschaftlichen Zivilisation. Die historischen Wurzeln des Begriffs des ,,Westens" werden zum Ausgangspunkt genommen. Diese Wurzeln liegen in der ersten universalhistorisch-sprachlichen Fassung der Differenz europ~iischer Zivilisation und asiatischer (persischer und indischer) Kulturen in Herodots Histodaz ~12 und der homerischen Iliade. Eine weitere Idee stellt diejenige der Obsoletheit eines normativ erh6hten ,,Westens" auf der Basis eines partikularen, aber ,,wertneutralen", sogenannten ,,politischen Liberalismus" dar. Dieser defmiert sich so, dass er sich nicht mit Gruppen vertr~igt, die fundamentale N o r m e n in den 6ffentlichen Raum tragen oder tragen wollen, z.B. Gruppen, die vielleicht datum k~impfen wollen, dass die Herrschenden eine ,,Wahrheit Gottes" oder ontologisch hergeleitete moralische Prinzipien in ihrem verantwortlichen Handeln anerkennen. 213 Dieser ,,politische Liberalismus", solange der Wertneutralismus also nicht allein als Ausfluss eines rein methodischen Individualismus verstanden wird, ist gerade aufgrund seiner ,,Dialogunf';ihigkeit" stark gef'~ihrdet, an den fundamentalistischen Weltrealit~iten der heutigen Zeit zu scheitern. Z u m drftten schlieBlich existiert noch die Idee der Obsoletheit eines normativ erh6hten , , W e s t e n s " aufgrund eines ethisch orthodoxen Menschenrechtsuniversalismus, der alle Partikularismen, auch diejenigen, die sich innerhalb des ,,Westens" ~iuBern, moralisch und politisch mit allen zur Verfiigung stehenden Mitteln bek~impft und sich selbst als der ,,wahre", aus den eigenen Fehlem lemende , , W e s t e n " versteht, der zugleich anti-abendl;,indischer ,,Nicht-Westen" sei. Sein Problem ist letztlich, dass er unhistorisch zu sein scheint, deshalb auch auBerhalb des Westens nicht so verstanden werden kann, wie er sich selbst versteht, und dass er zum zweiten einen ,,innerwestlichen Biirgerkrieg" heraufbeschw6ren k6nnte, weil er den Traditionalismus
Vgl. Benjamin Barber, Jihad vs. McWorld, in: The Atlantic Monthly, Nr. 269 (1992), S. 53-63. 211 Udo Steinbach, Interessen und Handlungsmb'glichkeiten Deutschlands im Nahen und Mittleren Osten, in: Joachim IGrause, Kooperative Sicherheit~olitik. Strategische Ziele und Interessen, in: Karl Kaiser / Joachim Krause (fig.), Deutschlands neueAuJknpolitik. Band 3: Interessen und Strategien, MCinchen1996, S. 189-194, 193. 212Vgl. Herodot, Geschichtenund Geschichte, 2 Bde., hg. v. Carl Andresen u.a., Z/hrich / M/~nchen 1973/1983. 213Was damit gemeint ist, l~sst sich sehr sch6n an den Urspr6ngen jeglicher religi6s motivierten Politik veranschaulichen. Vgl. z.B. im Falle des Christentum, wo die Urspr6nge der ,,christlichen Politik" im 4. Jahrhundert n.Chr, liegen Eric Voegelin, Die neue Wissenschaftder Politik. Eine EinJ~hrung, ND M~inchen2004, S. 97f. 210
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verachtet. Damit wfirde er zugleich Gefahr laufen, sich zum nfitzlichen Idioten eines islamistischen Anti-Okzidentalismus zu machen, da eine ,,Spaltung des Westens" in dessen Interesse liegen muss. Auch die hier vorgestellte Fragmentierung der westlichen Idenfitiit als eine zwangsliiufige Folge der westlichen ,,Pluralitiit der Lesarten" (Habermas) nutzt zuniichst dem islamistischen Terrorismus, da der ,,Westen" der islamistisch propagierten ,,Wahrheit" keine eigene ,,Wahrheit" entgegensetzen will oder weil er aus einem erkenntnistheoretischen Ansatz 214 heraus sich nicht als Repr~isentant einer ,,Wahrheit" defmieren kann, aber die Negativitiit dieser ihm eigenen Erkenntnistheorie auch in politischer Hinsicht zum inneren ,,Wertkriterium" erhebt. Das war schon im K a m p f des ,,Westens" gegen die ,,Wahrheiten" des K o m m u n i s m u s ein Problem, doch konnte sich hier zugunsten des ,,Westens" auswirken, dass der Kommunismus, der ja dem ,,westlichen Denken" entsprang, nach den Erfahrungen des Stalinismus und der Ineffiziens der sozialistischen Planwirtschaft sowie aufgrund seines z.T. vulg~iratheistischen Charakters ffir die Masse der einfachen Menschen nie so recht fiberzeugend sein konnte wie es anscheinend der allgemeine Islamismus zur Zeit ffir eine bestimmte Anzahl von Muslimen ist. AuBerdem sollte nicht unterschiitzt werden, dass sich aus religi6ser Selbstverstiindlichkeit vide unter den 1,3 Milliarden Muslimen einer ,,Wahrheit" fief verpflichtet ffihlen und sich daher geradezu gezwungen sehen, an bestimmten westlichen Lebensformen Anstol3 zu nehmen - d a s passiert wiederum in dem Moment mit absoluter Sicherheit, in dem sich westliche ,,Grunds~itze" yon jeglichen ,,Wahrheiten" entfernen und wenn westliche Protagonisten eines Wertenihilismus versuchen, ffir sich selbst und - vermittels eines universalen Anspruchs - fflr die Fremden auf der ganzen Welt ,,Wahrheiten" zu neutralisieren, damit der Westen oder gar die gesamte ,,Menschheit often, tolerant" u n d - angeblich- ,,frei" sein k6nnen. Die faktischen Resultate des islamistischen Terrorismus sind auf mittelbare Weise entsprechend folgenreicher als die Resultate der Terroristen der vorangegangenen Generation: Der islamistische Terrorismus schafft es im Ansatz, unter Ausnutzung freilich entsprechender Schw~ichen sowohl auf amerikanischer als auch auf europiiischer Seite, den Eindruck zu vermitteln, einen Keil sowohl innerhalb des Westens als auch einen weiteren Keil zwischen islamische und nicht-islamische Bev61kerungsteile innerhalb des Westens im Allgemeinen und innerhalb Westeuropas im Besonderen treiben zu k6nnen. Das ist viel mehr, als sich z.B. die RAF je hiitte ertriiumen k6nnen. Die Terrorangriffe des 11. September 2001 k6nnen also in diesem Gesamtkontext als ein Fanal verstanden werden ffir die Tatsache, dass der Westen ,,zurfickkehren" sollte zu einer Werteposition. Gegenwiirtig repr~isentiert der Westen nur eine ,,Existenz", aber keine ,,Wahrheit" im Voegelinschen Sinne (nicht zu verwechseln mit einer ,,objektiven Wahrheit", sondern zu verstehen als ein politischer und historischer Wahrheitswertbegriff), und macht sich damit als angeblicher ,,Feind der Religion" und somit auch als ,,Feind des Islams" angreifbar. Das ffihrt am Ende dazu, dass er sich der daraus resultierenden Angriffe rein geistig nicht mehr erwehren kann, sondern nut noch milifiirisch. N u n ist mit der Einfflhrung des unumst6131ich anmutenden Wahrheitsbegriffs ein wunder Punkt des westlichen und erst recht des modernen wissenschaftlichen Selbstversfiindnisses erreicht, so dass es sich empfiehlt, darauf hinzuweisen, 214 Vgl. Hans Albert, Kritischer Rationalismu~: Vier KapiLel zur Kt#ik illusiona'ren Denkens, Tfibingen 2000, S. 7-16. Das Erkenntnisproblem des Wahrheitsbegriffs aus einer rationalen Erkenntnistheorie heraus besteht im sogenannten ,,Mfinchhausen-Trilemma": Eine Fordemng nach wahrheitsbasierten Aussagenbegrfindungen hat entweder ,,die Wahl zwischen einem nicht durchffihrbaren unendlichen Regress, einem unbrauchbaren logischen Zirkel" oder ,,dem Abbruch des Begrfindungsverfahrens an einem Punkt, bei dem die Begrfindungsfordemng suspendiert wird", zur Folge (ebd., S. 13). Vgl. femerhin Hans Albert, Traktat iiberdie kdtische Vernunfi, 4. Aufl. Tfibingen 1980, S. 11-15.
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dass sich der Autor - wie schon mehrmals a n g e d e u t e t - re_it diesem Begriff an dem Voegelinsche Repr~isentations- und Geschichtsverstiindnis orientiert. Der Wahrheitsbegriff hat in diesem Z u s a m m e n h a n g immer eine historische Roile zu spielen, kann sich partikular aufspalten, ist also nicht universaler, naturalistischer oder objektiver Natur und kann damit auch nicht als philosophisch ,,reiner" (d.h. logischer und widerspruchsloser) Wahrheitsbegriff gelten. Das ist jedoch nur folgerichtig, da es sich eben nicht um einen philosophischen Wahrheitsbegriff handelt, s o n d e m um die M6glichkeit eines solchen im Rahmen eines ordnungswissenschaftlichen Verst~indnisses. Der ordnungswissenschaftliche Wahrheitsbegriff steht einer (platonischen) Referenzwahrheit, welche bei Voegelin - zumindest in seinen F r i i h w e r k e n - eindeutig gegeben ist " zwar nicht per defmitionem entgegen, ist abet auf keinen Fail mit ihm identisch. Er hat nicht nur eine philosophische, sondern eben auch eine existentielle Bedeutung. Die Frage lautet also zugespitzt, wie auf ,,Wahrheiten" verzichtet werden soil, wenn , , O r d n u n g e n " auf solche existentiell angewiesen seien? A u f der Basis des Voegelinschen Ansatzes soil nun die grundsi&zliche Problematik eines wertneutralen Freiheitsbegriffs in dieser ,,existentieilen Hinsicht" er6rtert werden.
2.2 Das grundsdtzliche Problem eines wertneutralen Freiheitsbeg~ffes in existentieller Hinsicht nach E ~ c Voegelin W a r u m muss es ein Problem darstellen, dass sich der Westen auf den militi&ischen K a m p f gegen die islamistischen Terrorzellen beschriinken soil, anstatt sich darum zu bemiihen, danach zu fragen, ob, und wenn ja, welche Art von ,,Wahrheit" er denn vielleicht doch repriisentiert? Die islamistischen Terrorzeilen k6nnten doch nie an Gef~ihrlichkeit so zunehmen, dass sie die Sehnsucht auch der Muslime nach Frieden, Wohlstand und materieller Zufriedenheit in einer globalisierten Welt einfach so annullieren k6nnten. Abgesehen von der Tatsache, dass die Frage der ,,Repriisentation von Wahrheit" (nicht zu verwechseln mit der ,,Wahrheit" selbst) auch ein politikphilosophischer Selbstzweck fiir den Westen sein k6nnte, ist zun~ichst mal an eine historische These zu verweisen und an eine damit einhergehende, erfahrungsges~ittigte Warnung Eric Voegelins zu erinnern: Er sah den Fehler des m o d e m e n politischen Denken des Westens darin, dass der Versuch von Thomas Hobbes - d e s Begrt/nders dieses D e n k e n s - ,,die Geschichte zu einer immerw~ihrenden [wertneutralen] Verfassung erstarren zu lassen", daran scheitert, dass ein derartig wertneutrales niemals als ,,immerw~ihrendes Endreich" m6glich ist, weil die ,,Quelle der St6rungen" - die Wahrheitssuche und das Wahrheitsbediirfnis der M a s s e n - in Krisenzeiten immer zum Totengr~iber eines solchen - angeblichen - , , E n d r e i c h e s " mutieren muss. 215 Die ideologischen Biirgerkriege des 20. Jahrhunderts waren demnach nur m6glich gewesen, ,,weil der neuzeitliche Staat sich gegegeniiber der Wahrheit f/,ir neutral erkl~irte. ''216 Zwei Stellen aus Voegelins ,,Neue Wissenschaft" miissen zur Erl~iuterung etwas ausffihrlicher zitiert werden: ,,Hobbes vereinfachte in der Tat die Struktur der Politik, indem er die [anthropologische und soteriologische21r] Wahrheit aus ihr entfernte. Das ist ein verst~indlicherWunsch ffir einen Menschen, der seine Ruhe haben will; gew~ w{ire alles viel einfacher ohne Philosophie und Christentum. Wie aber kann man sich ihrer entledigen, ohne 21sVgl. Eric Voegelin, Die neue WissenschaftderPolitik. Eine Einfdhrune~ND M~inchen 2004, S. 169. 216G(inter Rohrmoser, Kampfum die Mitte. Der moderneKonservativismusha& dem S&eitern der Ideologien,M/~nchen 1999, S. 106. 217Diese Begriffe werden erl~iutertin: ebd., S. 89-93 (vgl. femerhin Michael Henkel, Eric Voegelin zur Einfighrune$Hamburg 1998, S. 125f.).
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die Erfahrungen der Transzendenz abzuschaffen, die zur Natur des Menschen geh6ren? Auch zur L6sung dieses Problems fiihlte sich Hobbes durchaus f'ahig: er verbesserte den von Gott geschaffenen Menschen und schuf einen Menschen ohne solche Erfahrungen. An diesem Punkt betreten wir jedoch die h6heren Regionen der gnostischen Traumwelt. (...) Um seine Stellung gegen die kiimpfenden Kirchen und Sekten zu behaupten, musste Hobbes bestreiten, dass deren Eifer von einer wenn auch fehlgeleiteten Wahrheitssuche beseelt sei. Ihr Kampf musste, vom Standpunkt [einer yon Hobbes mustergiiltig durchexerzierten] immanenten Existenz aus gesehen, als ein ungeziigelter Ausdmck ihres Machttriebs interpretiert und ihr vorgeblich religi6ses Anliegen als Tamung ihrer existentiellen Leidenschaft entlarvt werden (...) Diese grol~artige psychologische Leismng wurde jedoch teuer erkauft (...) [Hobbes] musste (...) das Leben der Leidenschaft als die Namr des Menschen deuten. "21g D e r leidenschaftszerfressene, religi6se Eiferer, der semen G l a u b e n mit seiner libido dominandi verkniipfte, w u r d e nicht m e h r als etwas Unnatiirliches verstanden, sondern im Gegenteil als das Abbild der angeblich ,,wahren N a t u r " des Menschen. Die Religiositiit der Eiferer als Antriebsfaktor spielt schlieglich iiberhaupt keine Rolle mehr. Die W a h r h e i t s d i m e n s i o n menschlichen H a n d e l n s als ,,Quelle der St6rung" wird in einem mechanistischen K o n s t r u k t z u m Verschwinden gebracht. Die Kritik entziindet sich n u n daran, dass hier aus gutgemeinten Griinden, n~imlich der ,,sehr verniinftigen Idee ''219 der Schaffung v o n i n n e r e m Frieden u n d Sicherheit, menschliche Realit~iten konstruktivistisch ,,zurechtgebogen" werden mussten. O d e r anders formuliert: ,,Mit Hobbes' Pr~missen ist es ffeilich leichter, die Haltung des Deserteurs zu rechtfertigen, als den lebensgef'ahrlichen Einsatz der groBen Menge f{ir die Sache der Freunde bzw. des eigenen politischen Kollektivs zu er~iiren. ''22~ Was ist aus diesen Ausfiihrungen in Bezug auf den Westen u n d dessen H e r a u s f o r d e r u n g durch seine Feinde heute zu gewinnen? Die Erkenntnis lautet zuniichst, dass ein politisches K o n g l o merat, welches keine ,,Wahrheit" repriisentiert (insofem nach Voegelin auch keine ,,politische O r d n u n g " sein kann) m d e m M o m e n t , in d e m es mit einer konkurrierenden ,,Repriisentation einer Existenz" (also mit einer durchsetzungsf'~ihigen, kraftvollen politischen Formation) in einem Krieg zusammenst6Bt, d e m Untergang geweiht ist, sobald der potente G e g n e r denn zugleich eine ,,Wahrheit" repriisentiert, die Massen iiberzeugt. Dabei ist es irrelevant, ob sich die H e r a u s f o r d e r u n g v o n innen oder von auBen vollzieht. I m AuBeren w~ire n u n in Bezug auf den Islamismus z.B. an einen Kernstaat zu denken, der v o n radikalen Islamisten gekapert wiirde, oder an eine kriegerische, radikalislamistische Massen- bzw. Partisanenbewegung. Die bisherigen islamistischen Theokratien waren indes zu schwach, ob aufgrund der schiitischen u n d nicht-arabischen Ausrichtung (Iran), der H e r a u s f o r d e r u n g e n durch andere Religionen im Inneren (Sudan) oder aufgrund der innenpolitischen Fragrnentierung und eines primitiven Wribalismus der e n t s p r e c h e n d e n , , G o t t e s k r i e g e r " (Afghanistan vor der Befreiung). Natiirlich muss n u n betont werden, dass der terroristische Islamismus trotz seiner unzweifelhaften Gef~ihrlichkeit u n d exterminatorischen D~imonie im Einzelnen in seiner operativen Wirklichkeit eine Angelegenheit einzelner Terroristen bleibt, dass er also wahrscheinlich eher nicht zu einer Kraft der Massen aufsteigen kann und aus d e m K a m p f der Terroristen eine Angelegenheit v o n Partisanen m a c h e n kann. Worin liegt der Unterschied zwischen Terroristen u n d Partisanen? D e r Partisan greift nach der Kontrolle des Bodens und nach der K a p e r u n g des territorialen Staates, er entwickelt sich zu einer soldatischen A r m e e f o r m a t i o n . Fiir den isolierten Terroristen oder Guerillero geht es hingegen nur u m die Aktion, u m einen K a m p f 218Eric Voegelin, Die neue Wissenschaft derPolitik. Eine Einf~ihruns ND Miinchen 2004, S. 169 und 186. 219Ebd., S. 186. 220 Panajotis Kondylis, Das Politische und der Mensch. Grundziige der So~alontologie - Band 1: So,ale Beziehune~ Verstehen, Rationalitdt, Berlin 1999, S. 247.
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iiberhaupt erst zu provozieren und den Mechanismus eines Kampfes iiberhaupt erst zu initiieren. Der islamistische Terrorismus ist vor diesem Hintergrund noch weit davon entfernt, auch nur ann~ihernd die Kraft zu entfalten, einen absoluten kriegerischen ZusammenstoB zwischen einer ,,westlichen Ordnung" bzw. westlichen ,,Repr{isentation von Wahrheit" und einer nichtwestlichen ,,Wahrheit" heraufzubeschw6ren, wie es sich sehr selten in der Geschichte ereignere: Zuletzt in Osteuropa beim Aufeinandertreffen zwischen der ,,Wahrheit" der islamischen Kalifatsordnung der osmanischen T/_irken und der christlich-orthodoxen ,,Wahrheit" der byzantinischen Ostr6mer im 15. J ahrhundert, die mit dem Niedergang Konstantinopels endete, und in Westeuropa beim Aufeinandertreffen der politischen Theologie der Mongolen Dschingis Khans (vertreten dutch Kuyuk Kahan) und der r6misch-katholischen ,,Wahrheit" des Papstes, Frankreichs und des Kaiserreiches (vertreten dutch Papst Innozenz IV.) im 13. Jahrhundert, welches beinahe zur Ausl6schung des Westreiches gef'~'~rt h~itte. 221 ,,Grunds~itzlich scheint eine koordinierte weltweite Mobilisierung des Fundamentalismus gegen den Westen", der an solche historischen Kulminationspunkte heranreichen w6rde, ,,sehr unwahrscheinlich". 222 Der Islamismus wird ,,kaum in der Lage sein, das Ideal der islamischen ,Umma' Jim Sinne einer schlagkr~iftigen ,F6deration der St~imme '223] in eine weltpolitische Realitiit zu verwandeln ''224, auch wenn der arabische Nationalismus zuniichst einmal gescheitert ist und keine Alternative zu bieten scheint. 225 Es bleibt aber festzuhalten, dass es den Islamisten gelingt, ,,weltweit antiwestliche Einstellungen mit destabilisierenden Wirkungen zu mobilisieren. ''226 Es stellt sich nun die Frage, inwieweit eine westliche ,,ReprS.sentation yon Wahrheit" auch unabh~ingig yon der islamistischen Bedrohung politikphilosophischer Selbstzweck sein kann.
2.3 Das Problem eines wertneutralen Freiheitsbegrfffes in philosophischer Hinsicht nach Erfc Voegelin
Die Frage des Wermeutralismus lautet: Sollte man sich nicht darauf ,,einigen", dass der ,,Westen" als ,,Monadismus" nicht mehr als etwas verstanden werden soil, das irgend eme ,,Wahrheit" repr~isentiert? Der ,,Werteneutralismus" stelh ,,die Giiltigkeit einer Wahrheit in jedem Fall in Frage". 227 Jedoch schlummert ja gerade in ,,wertneutralistischen" Antworten eine typische ,,Wahrheit" des ,,Westens". Die Antwort, warum das so ist, lautet schlicht und einfach: Weil die o.g. Frage iiberhaupt gesteilt wird. ,,Das bloBe Aufwerfen" solcher Fragen ,,ist schon zum Teil ihre Beantwortung", denn ,,durch unser Fragen haben wit uns selbst zum Repr~isentanten der Wahrheit erhoben, in deren N a m e n wir fragen, wenn auch Wesen und Ursprung dieser Wahrheit nicht deutlich erkennbar sind. ''228 Bezogen auf die , , W e r m r t e i l e " bedeutet das, dass
221An diesem Beispiel beschreibt Voegelin ausf6hrlich und sehr eindrucksvoll das theoretische Problem des Aufeinandertreffens zweier Gesellschaften als Repr~isentanten zweier unterschiedlicher Wahrheiten (vgl. Eric Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik. Eine Einfiihrung, ND MCinchen 2004, S. 70-73). Unter dem Vorzeichen der S~ikularisierungtritt dieses Problem schlieBlich in der modemen Welt zwischen ,,Wahrheiten" auf, die allesamt einerwestlichen (modernen, gnostischen) Entwic~ung entspringen - z.B. das Aufeinanderprallen zwischen westlich-liberaler ,,Wahrheit" und marxis6sch-leninistischer ,,Wahrheit" im Kalten Krieg (vgl. ebd., S. 73). =2 Bassam Tibi, Der neue Totalitarismus. ,,HeitigerKrfeg" und westliche Sicherhdt, Darmstadt 2004; Ders., Die Revoltegegen den Westen in der neuen internationalen Um~uelt:Das Beiqoiel der islamischen Zivilisation, in: Karl Kaiser /Hanns W. Maull (Hg.), Deutschlands neueAujYenpolitik. Band 2: Herausforderungen, M6nchen 1995, S. 61-80, S. 75. 223Ebd., S. 76. 224Ebd. 225Ebd., S. 75ff. 226Ebd., S. 75. zzr Ebd., S. 74. z2s Ebd.
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diese letztlich nur von denjenigen w a h r g e n o m m e n und ,,erfunden ''229 werden, die auBerhalb eines ordnungswissenschaftlichen Referenzsystems 230 stehen. Dass die Vertreter der Werturteilsfreiheit t r o t z d e m innerwissenschaftlich einen Objektivitiitsanspruch nur f/ir sich beanspruchen, liegt in der Ursache begr/indet, dass nach ihrer Vorstellung alle Urteile klar als ,,Werturteile" oder , , T a t s a c h e n u r t e i l e " b e s t i m m b a r seien. D a s beinhaltet abet eine ganz spezifische Wahrheitsposition, welche bei den ,,NeutraF~sten" eine besonders radikale F o r m annimmt. Voegelin nannte diese typisch westliche Wahrheitsposition ,,theoretische Wahrheit", welche z u m Zeitpunkt ihrer Perfektionierung im antiken Griechenland den ,,imperialen Wahrheiten" des asiatischen O s t e n s entgegenstand. Diese ,,theoretische W a h r h e i t " hatte in der Zeit zwischen d e m 9. und 2. J a h r h u n d e r t v.Chr., insbesondere u m 500 v. Chr. herum, ihren klassischen A u s g a n g s p u n k t zuniichst einmal in verschiedenen Regionen der Erde, in China, in Indien, in Persien, in Israel u n d eben in Hellas. Karl Jaspers entwickelte in diesem Z u s a m m e n hang die T h e s e v o n d e r weltzivilisatorischen ,,Achsenzeit" u m 500 v.Chr.231: N a m e n wie K o n fuzius, Lao-tzu, Buddha, Deutero-Jesaja, Pythagoras und Heraklit spielen hierbei eine tragende Rolle. D o c h Eric Voegelin hat in seinen Studien i m m e r wieder unterstrichen, dass sich die E n t f a l t u n g der ,,theoretischen W a h r h e i t " am k o n s e q u e n t e s t e n im W e s t e n vollzog: ,,Wit m/issen uns der b e s o n d e r e n F o r m zuwenden, die dieser A u s b r u c h im W e s t e n a n g e n o m m e n hat. D e n n nur im A b e n d l a n d hat dieser A u s b r u c h infolge b e s o n d e r e r historischer Umstiinde, die in anderen K u l t u r e n nicht v o r h a n d e n waren, semen H 6 h e p u n k t in der Begr/indung der Philosophie im griechischen Sinne u n d insbesondere einer Theorie der Politik erreicht. ''232 U m g e k e h r t b e d e u t e t das auch, dass , , w e s t l i c h e " N a t i o n e n nur als solche tituliert w e r d e n k6nnen, w e n n sie in irgendeiner F o r m v o n d e r hellenischen Philosophie beeinflusst sind. 233 D e r Respekt eines N a t h a n s vor ,,jeglicher O r d n u n g und vor jeglicher Wahrheit fiber die O r d n u n g ''234 d/irfe, so Voegelin, ,,nicht zu einer T o l e r a n z v e r k o m m e n , die die Unterschiede im Rang, sowohl hinsichtlich der Suche nach der W a h r h e i t als auch im Hinblick auf die erlangte Einsicht unbeach229Die Bezeichnungen ,,Werturteil" und ,,wertfreie Wissenschaft" ziihlten bis zum 19. Jahrhundert nicht zum philosophischen und ,,sozialwissenschaftlichen" Vokabular. ,,Der Ausdruck ,Werturteil' ist an sich sinnlos; er empfangt seinen Sinn nut aus einer Situation, in derer den Tatsachenurteilen gegen/ibergestellt wird; und diese Situation wurde dutch das positivistische Dogma geschaffen, nut Tatsachenurteile, betreffend die phiinomenale Welt, seien ,objektiv', w~qrend Urteile ~iber die richtige Ordnung von Mensch und Gesellschaft ,subjektiv' seien. Nut Urteile der ersten Art k6nnten als ,wissenschaftlich' gelten, wiihrend die der zweiten Art pers6nliche Vorzugsakte und Entscheidungen ausdriickten, die (...) ohne objektive GCiltigkeit seien." (Eric Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik. Eine EinJ~hrun~ ND M~inchen 2004, S. 28). 230 ,,Wissenschaft ist die Suche nach der Wahrheit betreffend das Wesen der verschiedenen Seinsbereiche. Wissenschaftlich relevant ist daher alles, was zum Erfolg dieser Suche beitriigt. Tatsachen sind insofem relevant, als ihre Kenntnis zur Erkenntnis des Wesens beitriigt, wiihrend Methoden insofern adiiquat sind, als sie mit Erfolg als Mittel zu diesem Zweck angewendet werden k6nnen. Verschiedene Gegenst{inde der Untersuchung erfordem verschiedene Methoden. Ein Staatswissenschaftler, der sich mit den Problemen der platonischen Politeia beschiiftigt, wird nicht viel Verwendung f/it mathematische Methoden haben; ein Biologe, der eine Zellstruktur untersucht, wird nicht viel Verwendung f/ir die Methoden der klassischen Philologie oder die Prinzipien der Hermeneutik haben. Diese Aussagen sind trivial - abet die Missachtung trivialer Wahrheiten dieser Klasse ist eines der typischen Merkmale der positivistischen Haltung, und datum ist es gelegentlich n6tig, das Selbstverstiindliche breitzutreten." (Ebd., S. 23). 231 Vgl. Karl Jaspers, Ursprung und Ziel der Geschichte, M~inchen 1949, S. 19-42. Es k6nnen noch mindestens zwei Achsenzeiten zwischen 8500 und 4700 und zwischen 3100 und 1200 v. Chr. hinzugefiigt werden (vgl. Peter von Sivers, Zur Achsenzeit im Mittleren Osten (600-500 v. Chr.), in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Probhme politischer Ordnune~ Wiirzburg 2000, S. 159-173, 162f.) 232 Vgl. Eric Voegelin, Die neue Wissenschafi der Politfk. Eine EinJ~hrune~ ND M~inchen 2004, S. 75. 233 So Allan Bloom, Der Niedergang des amerikanis&en Geistes. Ein t la'd~er/~ir die Erneuerung der westlichen Kultur, New York 1987, S. 42. 234 Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band IV: Die Welt der Polis - Gesellschaft, Mythos und Geschichte, hg. yon J/,irgen Gebhardt, Miinchen 2002, S. 41f.
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tet l~isst."235 Deshalb unterscheidet Voegelin auch zwischen ,,ph~inomenalen" und ,,philosophischen" Eurozentrismus: Der ph~inomenale sei angesichts des fortgeschrittenen Wissens durchaus aufzugeben, doch ,,darf der Geschichtsphilosoph den Eurozentrismus der Position und der MaBstiibe nicht aufgeben, denn es gibt nichts, was er an seiner Stelle setzen k6nne. ''236 Geschichte werde zwar ,,iiberall gemacht, wo Menschen leben", ihre Philosophie sei jedoch ein ,,westlicher Symbolismus ''237, empfangen durch das Dreieck Israel-Hellas-Christenmm. Auf diese Feststellung wird in der Arbeit zuriickzukommen sein.
2.4 Kulturk ff tische Relevan z der philosophischen Ktitik am ,,westlichen " Werteneutralismus
Auch wenn nun die theoretisch, methodologisch oder sozialwissenschaftlich motivierte Ablehnung einer objektiven Wahrheit, in dem Moment, in dem diese Ablehnung zum Bestimmungselement eines politischen, eines ,,liberalen" Verst~indnisses des Westens gemacht wird, selbst eine ,,Representation von Wahrheit" darstellt, i.e. im Sinne eines Ausflusses im oben genannten Sinne einer ,,theoretischen Wahrheit", dann stellt sich immer noch die Frage, ob das der normativ einzig m6gliche Ansatz als Voraussetzung einer ,,Polifisierung" des Westens ist. , , N o r m a t i v " wiirde in diesem Kontext bedeuten, dass posmliert wird, dass der politische Raum von fundamentalen Wertepositionierungen weitestgehend freigehalten werden sollte, damit (angeblich auf diese Weise) ein pragmatischer und freier Raum iiberhaupt entsteht. Dabei wird insbesondere im akademischen Betrieb des Westens auf besonders auff~illige Art und Weise deutlich, dass die ,,Relativifiit der Wahrheit" selbst kein Bestandteil mehr der theoretischen Erkenntnis zu sein scheint, sondem eine Art unhinterfragbares und doktrin~ir vermitteltes ,,sittliches Postulat". 23s Das ist jedoch paradox: Werteneutralismus wird zu einer Frage der Moral. Sie 16st das Naturrechtsdenken nicht nur ab, sondern ersetzt es in dessen Glaubenscharakter. 239 Ein ernsthaftes Freiheitsproblem besteht insofem, als hieraus immer wieder Intoleranz gegeniiber den Prinzipientr~igem des Fundamentalen und Absoluten (den ,,Fundamentalisten") erwiichst, ohne dass diese Intoleranz - insbesondere von jungen Intellektuellen und angehenden Akademikern im W e s t e n - in irgendeiner anspruchsvollen Weise als Standpunkt verteidigt werden k6nnte. Von den jungen Menschen kann die eigene Intoleranz gegen ares Fundamentalistische deswegen nicht als Standpunkt verteidigt werden, weft sie h~iufig nicht merken, dass ihnen der , , A n t i f u n d a m e n t a l i s m u s " von arrivierten Akademikem indoktriniert und nicht in irgendeiner Weise ,,frei vermittelt" wurde. Die Antwort auf die Frage, worin der Fundamentalismus dann eigentlich besteht, verliert aus diesem Blickwinkel schnell an klaren Konturen. Zwar soll hier nicht in abstrakter Weise einem fundamentalistischen Dogmatismus das Wort geredet werden, doch scheint die Kritik an der fehlenden Metaebene in der ganzen Fundamentalismusdebatte mehr als berechtigt zu sein. Der allfiigliche Grundsatz insbesondere des europiiischen Westens heute lautet pauschal formuliert: ,,Relativismus ist notwendig, urn aufgeschlossen sein zu k6nnen (...) Aufgeschlossenheit (...) ist die groBe Offenbarung unserer Zeit. ''24~ Doch sogar die Begriindung dieses Grundsatzes wiirde 235Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band IV." Die Welt der Polis- Gesellschqfi,Mythos und Geschichte, hg. yon Jiirgen Gebhardt, M/inchen 2002, S. 42. 236Ebd., S. 42. 237Ebd. 238Vgl. sehr treffend Allan Bloom, Der Niedergang des ametgkanischen Geistes. Ein Pliidoyerj~r die Erneuerung der westlichen Kultur, New York 1987, S. 27f. 239Vgl. ebd. 24oEbd., S. 28.
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eigentlich eine Kulturkenntnis voraussetzen, die viele, welche sich diesen Grunds~itzen beugen, gar nicht besitzen, um fiberhaupt zu fiberprfifen, ob das, was ihnen vermittelt wurde, denn ffir sie nach einer prfifenden, ja wissenschaftlichen Abwiigung, einsichtig ist. Politisierung muss, so wfirde die Gegenthese lauten, fiber das Denken m Kategorien des Werteneutralismus hinausgehen, allerdings in einem sehr bestimmten Sinne, damit die theoretische Wahrheit nicht am Ende begraben wird: Politisierung wiirde demnach das Bewusstmachen einer repriisentierten Wahrheit oder eines Bedeutungskerns des Westens fiber symbolische Formen bedeuten, zum langfristigen Zwecke der Erschaffung einer politischen Ordnung des Westens.
3. Methodologische Schlussfolgerungen und Probleme 3.1 Die histotgsche Herleitung des Begnffs des Westens Wenn fiberhaupt, dann beschriinkt sich die neuzeitliche Politikforschung, wenn es um die Betrachtung der politisch-institutionellen Ahnlichkeiten der entwickelten O E C D - W e l t geht, bestenfalls und gr6Btenteils auf die Fragestellung, worin denn die Ursachen ffir die Herausbildung dieser Welt liegen; die gesellschaftlichen, rechtlichen, wirtschaftlichen, ab und zu auch der religi6sen und geistigen (kulturellen) Verhiiltnisse, die den Westen fiberhaupt erst tragf~ihig machten und machen. Der Westen wird damit oft zu einer abhiingigen Zielvariable und zu einem rein konstruierten, wenn auch dadurch nicht weniger handlungsbestimmenden ,,Bild" von Realit~it, das aber nicht Abbild ist, sondern ein ,,Vorstellungsschema", mit dem wir uns die Welt fasslich, ,,begreifbar" machen wollen. 241 In dieser Arbeit wird nun der Westen im Gegensatz dazu als geschichtsontologische Erkliirungsvariable herangezogen. Die ontologische Lesart besagt, dass Menschen, die behaupten, dass es keine ,,Wahrheit des Westens" giibe, weil es generell ,,keine Wahrheit giibe" ohnehin damit auffordem, ihre Position nicht zu teilen. Und die protagoriiische Entgegnung, dass Wahrheit relativ sei, ist zwar empirisch nachvollziehbar, aber dennoch ein Widersinn. D e n n logisch gesehen bleibt es Nonsens, eine Wahrheit zu relativieren. Und den Relativismus zu Ende gedacht, mfissten wit uns eingestehen, dass unser aller subjektive Realitiiten eine jeweils ganz eigene Welt fiir sich sind und es nichts Reales gibt, was diese miteinander verbmdet: Im Kern nicht einmal das heraklitische Werden und Vergehen. Ein Universum wiire nicht vorhanden, nur ein unendliches Pluriversum der subjektiven Wahrnehmungen wfirde bleiben. Mit Ortega y Gasset gesprochen, der die ,,Wahrheit" als ,,eine zum Wesen des Menschen geh6rende Notwendigkeit ''242 erkennt, k6nnte man den W a h r h e i t s v e r n e i n e r n - die auf ihre Weise Essentialisten sind - h6flicherweise folgende Antwort geben: ,,Mit dieser Ansicht vermag ich nut eines zu tun: sie zu achten und sie nicht zu teilen. ''243 Eine gr6Btenteils verborgene, aber erahnte Denktradition, die v o m ,,Logos" fiber den ,,Katholizismus" bis hin zum ,,Abendland" und schlie_glich hin zum ,,Westen" reicht, soil damit
241Vgl. Reinhold Zippelius,AllgemeineSlaatslehre,13. Aufl., MCinchen1999, S. 5. 242 JOSC Ortega y Gasser, Der Aufstand der Massen, ND Stuttgart 1957, S. 47. Platon stellte die entscheidende Frage, inwiefem ein ,,Leben ohne Wahrheitsdrang" fiir den Menschen (iberhaupt ,,lebenswert" sein k6nne? Ortega y Gasser interpretiert das folgendermal3en: ,,Ohne den Menschen gibt es keine Wahrheit, aber ohne Wahrheit auch keinen Menschen." (ebd., S. 48). 243So in Bezug aufNietzscheJos~ Ortega y Gasset, DerAufstandderMassen,Stuttgart 1957, S. 47.
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zum philosophischen Ausgangspunkt des Westens g e n o m m e n werden. 244 Des Begriff des Westens in diesem Kontext will Aufschluss geben fiber Urspriinge westlicher Denktraditionen und damit zugleich fiber Wirkungen auf nunmehr geronnene Emstellungen und Erwartungen des M e n s c h e n - unter Einbeziehung der Fragestellung, ob solche Denktraditionen nicht noch heute m der Lage sind, Einstellungen und Erwarmngen der Menschen selbst zu erzeugen. Wit k6nnen unabh~ingig yon dieser Frage zumindest davon ausgehen, dass Bilder unsere Art, die Welt wahrzunehmen, nicht nut priigen, s o n d e m dass wit auf eine solche Art der Priigung als Menschen angewiesen sind. Andererseits werden auch ,,historische Bilder" auf mehrere, wiederum orientierungsrelativierende Ursachenfaktoren verteilt, also auf Ursachenfaktoren, die einen unvollst~indigen Realit~itscharakter aufweisen: auf die Stereotypen einer Gesellschaft, auf das psychosoziale Umfeld, auf das Bewusstsein auf der Basis informationeller, medialer und literarischer Quellen, abet auch auf die konkrete W a h m e h m u n g der bildlich denkenden Beobachter. 245 Nur ist auch besagte W a h m e h m u n g nichts welter als ein Ausschnitt. Reichen nun solche Muster aus, um einen Begriff wie denjenigen des Westens historisch zu fassen oder miissen der Begriff des Westens und das dazugehfrige Begriffsdenken nicht selbst als wichtige, vielleicht gar wichtigste Voraussetzung der Existenz des Westens begriffen werden? Haben nicht alle aufgeziihlten orientierungsrelativierenden Ursachenfaktoren, die fi,ir den Entstehungsprozess yon Bildem mal3geblich sind, nicht selbst eine ,,erste Ursache", die wiederum im ,,Bild" enthalten ist? In Bezug auf den historischen Gehalt des Begriffs des Westens soll diese Frage in dieser Arbeit bejaht werden. Die Art und Weise der Herleitung des Begriffs des Westens ist demnach eine historisch-essentialistische.
3.2 Der Begrfff des Westens im Kontext eines histotfschen Essentialismuse% Homer und Herodot
Die Wurzeln des Westens im historisch-essentialistischen Kontext sind in der ersten universalhistorisch-sprachlichen Fassung der Differenz europ~iischer Zivilisation und asiatischer (persischer und indischer) Kulmren in Herodots Hisr 247 vorzufmden, abet auch in der homerischen Iliade, in'welcher der Autor im Ubrigen auf sehr sublime Weise zu erkennen gibt, dass er mit den asiafschen Trojanern, mit Paris, Priamos, aber insbesondere auch Hektor sympathisiert. 248 Bei Herodot n u n m e h r wurde die eigene Zivilisation (die Welt der Hellenen) yon den Barbaren (die Welt der Perser, Babylonier und Inder) m einem ethnographischen Kontext rational getrennt. ,,Europa erf~ihrt sich in der Polarit~it zu Asien. ''249 Bis zur alexandrinischen Grol3tat 25~ reichte Asien und der Osten bis nach Vorderindien, danach bis zum Himalaya, und mit Marco Polo Ende des 13. Jahrhunderts entdeckte der ,,Westen" schliel3lich China. 251 244Vgl. Christopher Dawson, Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einfi&rung in die Geschichte der abendla'ndischen Einheit, 2. aufl., Kfln 1950 (Original: Christopher Dawson, The Making of Europe, London 1932). 245 Vgl. Andrew M. Scott, The Functioning of Lhe International System, New York 1967, S. 47. 246Vgl. Kurt Goldammer, Der Mythus yon Ost und West. Eine kultur- und religionsgeschichtlicheBetrachtund~ Miinchen/Basel 1962. 24vVgl. Herodot, Geschichten und Geschichte, 2 Bde., hg. v. Carl Andresen u.a., Zfirich / Miinchen 1973/1983. 248Vgl. Henri Baudet, Paradise on Earth. Some Thoughts on European Images of Non-European Man, New Heaven / London 1965, S. 77, Fn. 2). 249Tilo Schabert, Die Atlantische Zivilisation. Uber die Entstehung der einen Welt des Westens, in: Peter Haungs (Hg.), Europa7 sierung Europas?, Baden-Baden 1989, S. 41-54, 42. 2s0 Immer noch gmndlegend Johann Gustav Droysen, Geschichte des Hellenismus. 1. Theil." Geschich/eAlexander des Groogen [1877], hg. von Erich Bayer, Miinchen 1952/53. 251Vgl. zur Geschichte der Entdeckung Chinas durch den Westen insbesondere Gianni Guadalupi, China. Eine Entdeckungsreise vom Altertum bis ins 20. Jahrhundert, Miinchen 2003.
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Mit der griechischen Zivilisation waren die Idee der Freiheit, die Entdeckung der D e m o kratie und die kritisch-rationale Einstellung geboren. 252 Und mit den kulturellen Konfrontationen wurde der Blick der Griechen selbst, auf diese eigene Kultur, durch den Blick auf die anderen m6glich, und er machte den intelligenten und kritischen Menschen somit in Bezug auf sich selbst auch kritikffihig. 253 H e r o d o t lieferte hierfiir das entscheidende Beispiel: Darius machte den Griechen, die ihre toten Viiter verbrannten, klar, dass das fiir die Kallatier, ein indisches Volk, nicht in Frage kiime. Letztere hatten die fiir griechische Augen schauerliche Angewohnheit, ihre toten Viiter zu essen. Dies war indes den Griechen genauso schauerlich wie den Eindruck, den die Kallatier von den Griechen hatten: Die toten Viiter verbrennen und nicht essen - d a s war fiir die Kallatier entsetzlich und unheilig, und sollte unausgesprochen bleiben. 254 In einer F o r m symbolischer und philosophischer , , E r i n n e r u n g s k u l t u r " wird nun kontinuierlich in der intellektuellen Tradition des ,,Westens" an den Ideen der Freiheit, an der historischen Traditionsbildung in Bezug auf die eigene Kultur, an der kritisch-rationalen Einstellung festgehalten - in manchmal auch ambivalenter 255 Abgrenzung zur anderen Kultur: ob bei den Griechen zur asiatischen, persischen, babylonischen und indischen, bei den R6mern zur afrikanischen (Hannibals Karthago) oder bei den europiiischen Christen in Abgrenzung von den Arabern, Mongolen und Tiirken. ,,Griechen wie R6mer verharrten bei der Vorstellung einer Ost-West-Spannung, bei einem gegensS.tzlich konstruierten Verstiindnis menschlicher Zivilisation, obwohl sich zugleich die geographische Lehre durchsetzte, wonach die Erdfl~iche dreigeteilt sei, niimlich in Europa und Asien, und in Libyen (d.h. Afrika). ''256 Und in dieser groBen Tradition des Bildes von ,,Europa" im Westen und ,,Asien" i m Osten stand und steht auch heute noch die auf der klassisch-abendliindischen Betrachtung aufbauende christliche Betrachtung des ,,Westens".257 Das christliche Verstiindnis rekurriert auf die schlichte Tatsache, dass alle staatstheoretischen Begriffe des Abendlandes, auf denen der ,,Westen" aufbaut, ,,siikularisierte theologische - und das heil3t eben konkret: christliche - Begriffe sind. ''258
3.3 Der Beg, fff der ,,Atlantischen Zivilisation "als ideelles Angebot und dazugehb'~'ge Fragestellungen
Auch im Hinblick auf die ,,Atlantische Zivilisation" als ,,politische Idee" sind wir auf das alte philosophische Problem des Bezugs des ,,Bildes" zur Realitiit der Aul3enwelt zuriickgeworfen. Zuniichst stellt sich die Frage, welchen Wahrheits- und Wirklichkeitscharakter die Ideen an sich besitzen. O h n e hier die philosophische Kemfrage entscheiden zu miissen (was also 252 Vgl. Karl Popper, Uber den Zusammenprallder Kulturen, in: Ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vortra'ge und Aufsa'tze aus dre~igJahren, M/.inchen/Zllirich 1984, S. 127-136, 132f.; vgl. natCirlich auch Jakob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte,Berlin 1955. 2s3Vgl. ebd., S. 134; vgl. zu Spiitwirkungen dieser kritisch-rationalen Kulturgeschichte des ,,Westens" im 18. Jahrhundeft auch Michael ICraus, The Atlantic Civilization. Eighteenth-Centu{7Origins, Ithaca/New York 1949, S. 8. 254Vgl. Herodot, Historiai III 58 (Herodot, Geschichtenund Geschichte. Band 1, hg. v. Carl Andresen u.a., Z/irich / M/inchen 1973, III 58, S. 245). 2ss Vgl. die radikale Selbstkritik des Eratosthenes, die )~.gyptophilie der Spartaner, des Isolates und Platons. Diese Tradition reichte bis hin zum Bild des ,,edlen Wilden" im 18. Jahrhundert (vgl. Henri Baudet, Paradise on Earth. Some Thoughts on European Images of Non-European Man, New Heaven / London 1965, S. 56f.). 256Tilo Schabert, Die Atlantische Zivilisation. Uber die Entstehung der einen Welt des Westens, in: Peter Haungs (Hg.), Europa?sierungEuropas?, Baden-Baden 1989, S. 41-54, 42. 25vVgl. ebd., S. 43. z58Norbert Bolz, Das konsumistischeManifest, M/inchen 2002, S. 40; vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre yon der Souvera'nita't, 2. Aufl., M/inchen/Leipzig 1934; vgl. z.B. auch zur ,,Religionsfreiheit" Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat. Gestalt, Grundlagen, Gefa'hrdungen,T/ibingen 1995, S. 376f.
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Kapitel III
,,Wahrheit" sei und ob sie als Begriff nicht besser - nicht nur in der Wissenschaft - v611ig aus dem Verkehr gezogen werden miisste), k6nnte nun zugespitzt danach geschaut werden, welchen Sinn es iiberhaupt macht, eine politische Idee zu erarbeiten. Die entscheidende Frage wiirde lauten, ob generationeniibergreifende ,,Traditionen" des Westens, die mittels historischgenetischen Denkens als Essentialismen eruierbar w~iren und in ,,Ideen" transformiert wiirden, /iberhaupt auf die Grundlagen und Bedingungen des aktuellen Westens einwirken k6nnten, und zwar unabh~ingig oder wenigstens zum Teil unabhiingig von materialistischen Grundlagen? 259 Hier schwingt die alte politiktheoretisch belangvolle Fragestellung mit, ob nicht der Ursprung gesellschaftlichen Wandels auch oder gar haupts~ichlich in der von Materialisten als ,,Uberbau" bezeichneten Kultur und in der Politik anzusiedeln ist statt in der materiellen ,,Basis", wobei das nicht bedeuten muss, wie oft insinuiert wird, dass die Ideen alleine die Welt ver~indern. Faktisch veriindern tun sie ohnehin nur die ,,Ereigrfisse". D o c h was macht den ,,Realismus" aus: die ,,Ereignisse" von den ,,Ideen" zu trennen oder gerade dieses nicht zu tun, indem die Ereignisse als von den Ideen oder gar vom Nachvollzug einer gegebenen Ideenwelt abhiingig angesehen werden? Und wenn nun ,,gesellschaftlicher Wandel" wirklich kulturell initiierbar wiire, k o m m t die normative Kemfrage ins Spiel: Welchen ,,Wandel" k6nnte die Abrufung ,,westlicher" Denktraditionen dann heute konkret initiieren? U m damit die Wahrheitsfrage nicht in einem erkenntnistheoretischen Kontext aufzuwerfen 26~ sollte hinzugefiigt werden, dass es bei der Beantwortung der Frage zuniichst einmal nicht relevant zu sein hat, ob die ,,Atlantische Zivilisation" nun als ,,konstruierte" zu verstehen ist (im Sinne einer ,,imaginierten Gemeinschaft ''261) oder selbst sogar auf eine Essen z zuriickgefiihrt werden soll. D e r Begriff ist zuniichst zu verstehen als ein ideelles Angebot, welches zugleich ereignis- und ideenhistorisch gut rekonstruierbar zu sein scheint. So stellen sich dann in Bezug auf die Frage, ob das Angebot denn ,,hilfreich" sein kann, Nachfolgeprobleme praktischer und politischer Art: Also welches politische Verhalten k6nnte mit der Idee einer ,,Atlantischen Zivilisation" heute in welcher Weise beeinflusst werden?
3.4 Die ,,Atlantische Zivilisation"alspolitische Idee und bildliches Symbol: Ein projektierender ,,Mythos" des Westens? Bezogen auf die vorhergehende Er6rterung der Fragestellung, ob das ,,westliche Denken" die eigenen Voraussetzungen des Westens beeinflusst, lautet die Frage in einer politischen Zuspitzung auch, ob der Westen einen Mythos braucht. ,,Mythos" soll jetzt zun~ichst einmal schlicht als ,,bildliches Denken" verstanden werden, artikuliert in Form von pathoszentrierten Erziihlund Bildsymbolen auf der Basis eines Ereignissediments, wobei die Bildsymbole zugleich, in dem M o m e n t wo sie geschaffen sind, dem Mythos einer (weiterfiihrenden) Erz~ihlung zugefiihrt werden, d.h. ein mythologisches System geschaffen wird. 262 Der Logos indes soll als ,,begriffliches Denken" verstanden werden, artikuliert in Form von vemunftzentrierten Erkl~i-
259Vgl. z.B. die klare Position von David Calleo, The Atlantic Fanta{y: The U.S., NATO and Europe, Maryland 1970, S. 4. 260Vgl. zur Problematik Hans Albert, KritischerRationalzlrmus. Vier Kapitel zur Kritik illusiona'renDenkens, T/ibingen 2000, S. 7-16. 261Vgl. exemplarisch mit Bezug auf die ,,nationale Gemeinschaft" Benedict Anderson, ImaginedCommunities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983. 262Vgl. Thomas Jung, V0m Verlassen des Planeten. Skizzen Zu einer,,weltges&ichtlichenAbsicht", in: Dieter Kamper / Ulrich Sonnenmann (Hg.), Atlantis zum Bekpiel, Darmstadt 1986, S. 194-218, 200f.
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rungen u n d Sprachsymbolen (Begriffsprache). 263 Die historische Essenz des Westens und die politische Idee der ,,Atlantischen Zivilisation" k 6 n n e n also in ein emotional bzw. unreflektiert zugiingliches, symbolisches Bild gefasst werden. I m R a h m e n des Begriffes ,,Atlantische Zivilisation" wird demzufolge eine A u s e m a n d e r s e t z u n g mit d e m Mythosbegriff in Bezug auf den Begriff des , , A t l a n t i s c h e n " erfolgen mfissen. Es sei wiederholt, dass das Bewusstsein, dass durch eine ,,politische Idee" erreicht werden soil, nach Voegelin nur fiber das bildliche Symbol u n d einen Mythos erreicht werden kann. Dabei ist das Wissen u m die Eigenrealitiit des Politischen, zugleich ein Schutz ffir den Vordenker einer ,,politischen Idee", sich vor einer Wahnidee zu schfitzen: W e n n der philosophische Spieler ,,das Gefiihl verliert, dass, wenn er mit dem Mythos spielt, gef'~ihrlicheKriifte durch ihn wirken; wenn er etwa beginnt, nach dem dutch Symbole dargestellten Objekt zu suchen oder versucht, seine Existenz zu beweisen oder zu widerlegen, wird er dabei nicht nur seine Miihe verschwenden, sondem wom6glich seine Seele verlieren.'264 Andererseits ist es wichtig zu erkennen, dass Voegelin zurecht betont, dass ein Mythos ,,niemals ,unwahr' sein [kann], denn hiitte er keine Erfahrungsgrundlagen in den B e w e g u n g e n der Seele, die er symbolisiert, giibe es ihn gar nicht. ''26s K a n n ein Mythos (aufgrund v o n mangelnd e m Erfahrungswissen) an sich nicht ,,unwahr" sein, so kann er durchaus , , u n w a h r " werden, w e n n sich ein entsprechendes Erfahrungswissen im Laufe der Zeit ansammelt. 266 Das erlaubt auch ein bewusst sch6pferisches Spiel mit einem fiberlieferten Mythos, so wie es Platon letztlich im Timaios initiiert, als er ,,Atlantis" erfmdet. Dass es ,,Atlanfs" nicht gab, bedeutet eben nicht, dass die Wahrheit des Mythos pervertiert oder negiert wird. 267 Mythen wirken zwar nicht per defmitionem stabilisierend, aber Gesellschaften ohne Mythen k 6 n n e n nicht zu einer Stabilisierung dieser Gesellschaften beitragen, weil die Gesellschaften ffir die partizipierenden Mitglieder v o n keiner Idee getragen werden. Diese Idee wird aber aus dieser Sichtweise gebraucht: W e n n n u n also ,,die inhere Freiheit z u m Mythos zu einer F o r d e r u n g nach Freiheit v o m Mythos v e r k o m m t , hat dies e r n s t z u n e h m e n d e Auswirkungen auf die Stabilitiit v o n Pers6nlichkeit u n d Gesellschaft. ''268 Die Einffihrung des Begriffes der ,,Atlantischen Zivilisation", so liisst sich n u n z u s a m m e n fassen, hat die Verdichtung eines Lebens- und K u l m r r a u m e s , des , , W e s t e n s " , zu einem gem e i n s a m e n Sinn- u n d E r f a h r u n g s r a u m fib sich letzterer mit nationalen Mythen - gallischer K a m p f gegen die R6mer, Franz6sische Revolution, Oktoberrevolution, H e r m a n n m y t h o s e t c . vergleichen; allerdings standen diese nationalen Narrationen aus einem platonischen Verstiind-
263 Das Wort ,,Symbol" leitet sich her vom griechischen ,,symballein", das so viel wie ,,zusammentreffen, sich begegnen" heil3t. Symbol hiel3 urspriinglich ,,das abgebrochene Stfick eines W~irfels oder sonstigen Gegenstandes, dessen Bmchrand zu dem seines anderen Teiles passte und sich zusammenfiigen lieB. Gastfreunde gaben einander solche zwei Hiilften zum Zwecke spiiteren Wiedererkennens ... Im iibertragenen Sinn bedeuten Symbole Dinge, die zufolge. einer inneren Analogie etwas Geistiges vergegenwiirtigen." (Dorothea Forstner, zitiert nach Arnold Rabbow, dtvLexikon politischer Symbole A-Z, M{inchen 1970, S. 5). Vgl. ferner Willard van Orman Quine, Die Wurzeln der Refereng, Frankfurt a.M. 1976; Carl G. Jung, DerMensch und seine Symbok, Olten u.a. 1968; Felipe Fern~indez-Armesto, Ideas that changed the world, New York 2003, S. 14f. und JCirgen Gebhardt, Uber das Studium der politischen Ideen in philosophischhistorfscherAbsicht, in: Udo Bermbach (Hg.), Politische Theotfengeschichte. Probleme einer Teildis~plin der Politischen Wissenschaft, Opladen 1984, S. 126-160, 155-158. 264Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VI." Platon, hg. von Dietmar Herz, Miinchen 2002, S. 232. 26s Ebd. 266Vgl. ebd., S. 224. 26vVgl. ebd., S. 224fi 268Ebd., S. 226.
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Kapitel III
ms h e r a u s n i c h t i m m e r u n t e r d e m V o r b e h a l t , so eingesetzt zu w e r d e n , wie es p r a k t i s c h u n d n o r m a t i v sinnvoll erschien.
3.5 D as Essentialismusprob lem Wiire n u n ein s o l c h e r M y t h o s - b e z o g e n a u f d e n W e s t e n u n d u n t e r n o t w e n d i g e r w e i s e jetzt s c h o n v o r w e g g r e i f e n d e r B e r i i c k s i c h t i g u n g der b e k a n n t e s t e n i n h a l t l i c h e n A s s o z i a t i o n e n , die h e u t e in A n l e h n u n g an J o h n Rawls u n d d e m liberalen M e n s c h e n r e c h t s u n i v e r s a l i s m u s 269, a b e r auch in irriger 27~ A n l e h n u n g an J a m e s M. B u c h a n a n u n d der n o r m a t i v e n A u f l a d u n g e n 6 k o n o m i s c h e r P o l i t i k t h e o r i e n , m i t d e m , , W e s t e n " v e r b u n d e n w e r d e n - n i c h t eine ,,Lebensliige"? 271 V e r b i n d e n sich m i t d e m B e g r i f f des , , W e s t e n s " n i c h t Begriffe wie ,,WertneutraFlt~t", ,,Sozialt e c h n o l o g i e " , ,,S;~kularit;~t", , , V e r n u n f t " u n d , , P l u r a l i s m u s " , die s c h o n e i n m a l jegliche essentialistische o d e r k u l t u r e t h i s c h e F u n d i e r u n g a u s s c h l i e g e n ? U n d dabei ist n i c h t n u t die F u n d i e r u n g des W e s t e n s als P a r t i k u l a r i s m u s g e m e i n t , s o n d e r n auch die F u n d i e r u n g des ,,westlichen U n i v e r s a l i s m u s " , der d e m n a c h nur als , , K o n v e n t i o n " , als , , V e r e i n b a r u n g " a u f g e f a s s t w e r d e n miisste, k e i n e s w e g s als ,,Wahrheit", weil diese in e i n e m w i s s e n s c h a f t l i c h e n K o n t e x t u n a u s s p r e c h b a r g e w o r d e n sei. 272 Ist es aber n u n n i c h t so, dass die A t t a c k e n des 11. S e p t e m b e r 2001 ,,weniger einer kulturellen u n d ethisch n e u t r a l e n liberalen G e s e l l s c h a f t s o r d n u n g als einer b e s t i m m t e n liberalen L e b e n s w e i s e (...) g u t e n L e b e n s ''2v3 galten, die aber die Attent~iter g e r a d e n i c h t als ,,gutes L e b e n " a69 Der liberale Menschenrechtsuniversalimus unterscheidet sich vom vormodemen darin, dass er den Menschen als ,,Individuum" definiert und nicht als Teil eines kosmischen Ganzen: Mensch, Sch6pfung und Natur waren indes in der Antike von einer kosmischen und g6ttlichen Gewalt, bestenfalls namens ,,Vernunft", durchdrungen. Die Idee der Natur- und Menschenrechte wurde zum ersten Mal etwa 300 v. Chr. von den Stoikem um Zenon herum systematisch entwickelt, vorher schon in Ans{itzen von den Kynikern um Diogenes von Sinope. Der gem~igten Tradition des Stoizismus folgten schliei3lich Cicero, Seneca, Epiktet und Marcus Aurelius (vgl. stark zusammenfassend auch Karl Dietrich Bracher, Geschichte und Gewalt. Zur Politik im 20. Jahrhundert, Berlin 1981, S. 30ft.) 2v0 Irrig deswegen~ weil Buchanan sich als Vertreter der politischen Theorie versteht und nicht der politischen Philosophie und nut in diesem Kontext Fragen der normativen Vertretbarkeit der pers6nlichen Moral von Individuen aus seinem Wissenschaftskonzept verbannt. Allerdings betont Buchanan, dass auch in der ,,politischen Theorie", wie er sie versteht, normative Fragestellungen eine Rolle spielen, wenn es datum geht, als Theoretiker Vorschliige zu machen f/ir die ,,Verbesserung" politischer Ordnungen, Regelsysteme und Institutionen: ,,Problems of social organization need to be moral problems." (James M, Buchanan / Gordon Tullock, The Calculus of Consent, Ann Arbor 1962, S. 310). Buchanan geht also durchaus yon einem normativen Individualismus aus (vgl. ebd., S. 11-15), trennt allerdings strikt zwischen den moralischen Voraussetzungen f/it n6tige normative Beurteilungen der Funktionsweise und -,,effizienz" von Regelsystemen einerseits und der Rolle pers6nlicher Moral (die spiele kaum eine Rolle in der Politik) sowie des pers6nlichen Willens im Falle des Vorhandenseins moderner Verfassungsdemo~atien andererseits (der pers6nliche Wille spiele nut ein sehr geringe Rolle in modemen und komplexen, langfristig aus kontraktualistischem Interessenkalk/il der nat/irlichen Individuen resultierenden Verfassungsdemo~atien, weil diese sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie es schaffen, die Politik von der Moral zu trennen und sie zu einer ,,Wissenschaft" zu machen, nachdem die ,,Institutionen, dutch welche kollektive Entscheidungen herbeigef/ihrt werden, sich selbst zu einem Objekt der Ver~inderung machen nur aufgmnd der Tatsache, dass es eine zweite, ,h6here Form' der kollektiven Entscheidungsfindung Nbt" i.e. die Entscheidung der ,,Verfassung"; vgl. ebd., S. 310ff.). Vgl. zur philosophischen Kritik Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags,Darmstadt 1994, S. 342-351. 271 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einerMo~hologie der We/tgeschichte, 15. Aufl., M/inchen 2000, S. 466. 272 Zu letzterem Problem, d.h. zur m6glicherweise h6chst problematischen Infragestellung des westlichen Universalismus dutch einen (radikalen) Werteneutralismus vgl. Joyce Appleby, laberalism and Republicanism in Historical Imagination, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1993, S. 230f. 273 Kai Haucke, Zukunft durch VerJpa'tung. Helmuth Plessners Vision eines deutschen Be#rages zum poliIischen Humanismus Westeuropas, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), PolitischesDenken. Jahrbuch 2004, Berlin 2004, S. 147-166, 165.
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empfanden? Die k o m m u n i t a r i s c h e Kadtik an Rawls 274 betont d e m e n t s p r e c h e n d die situative Position der G e m e i n s c h a f t s e i n b i n d u n g eines jeden Subjekts u n d den normativen V o r r a n g einer gemeinsam geteilten ,,Idee des G u t e n " vor der Rawlschen Idee der gleichen Rechte eines jeden individuellen Atoms. 2v5 W e n n n u n sowohl der Essentialismus eines Michael Sandel 2v6 als auch die ethische K o n struktion eines Charles Taylor 277 abgelehnt w e r d e n sollten, weil genau das, also die p o s t m o d e r ne Dekonstruktion, als ,,westliche" Errungenschaft gefeiert wiirde, k6nnte es dann iiberhaupt n o c h einen (sinnvolles) bildliches Symbol oder gar einen Mythos geben, vielleicht eine Art Mythos des N o m i n a l i s m u s bzw. der universalen Idealismusnegation? Wie verhiilt es sich dann n o c h mit d e m Begriff einer ,,Atlantischen Zivilisation"? U n d widerspricht nicht jeglicher politische Partikularismus d e m Universalismusansatz ,,westlicher Philosophie"? Die mit diesen mythologischen, essentialismus- und partikularismuskritischen Fragen einhergehenden konkurrierenden Theorieans~itze miissen im F o l g e n d e n beriicksichtigt werden. N a c h ihrer Kritik wird der in dieser Einleitung skizzierte methodologische Ansatz - die V e r b i n d u n g eines historischen Essentialismus u n d eines analytischem N o r m a t i v i s m u s - vertieft, weitergefiihrt u n d vervollstiindigt. N e b e n der Essentialismus- und Partikularismuskritik soll jedoch vorher n o c h ein weiteres methodologisches P r o b l e m er6rtert werden, das sich aus der Tatsache ergibt, dass wir es bei der ,,westlichen Zivilisation" als historischen K e r n der ,,Adantischen Zivilisation" mit einem G e g e n s t a n d mit vielen empirischen ,,Fallzahlen" zu tun haben: das E m p i r i e p r o b l e m aus geschichtswissenschaftlicher u n d positivistischer Sicht.
3.6 Das Empirfeproblem aus geschichtswissenschaftlicher undpositivistischer Sicht
Dass eine U n t e r s u c h u n g des politisch-philosophischen Gehalts des ,,Westens" eine unziihlbar groge Anzahl v o n empirischen D a t e n mit sich bringt, ist unbestritten ein methodisches Merkmal u n d auch P r o b l e m der vorgelegten Arbeit. 27g Hier trifft zu, was schon der Kultursoziologe Pieter Jan B o u m a n in Bezug auf den Begriff der ,,Kultur" in Kultur und Gesellschaft der Neuzeit geschrieben hat: ,,Schon aufgrund unserer unzulitnglichen Terminologie stehen wir der endlosen Verschiedenheit der Erscheinungen machtlos gegeniiber. Die Vorstellung, die wit uns yon einer bestimmten Kultur [oder eben Zivilisation] in der Vergangenheit bilden, beruht auf einer sehr subjektiven Auslese der Fakten. Mit statischen Begriffen versuchen wit den historischen Verlauf, der dynamisch par excellence ist, zu erfassen. Kultur [und erst recht ,,Zivilisation"] ist ein gewisses MaB von Einheit, die wit in der groBen Vielfalt der Lebensiiuf~erungen entdecken. In Wirklichkeit
274Vgl. John Rawls, PolitischerIa'beralismus, Frankfurt a.M. 1998. 275Vgl. Michael Sandel, Ia'beralismand the lamits ofJustice, Cambridge (Mass.) 1992. 276Vgl. ebd. 277 Charles Taylor wendet sich aus kommunitarischer Sichtweise gegen die Ontologie (vgl. Charles Taylor, Aneinander vorbeh die Debatte ~schen Ia'beralismusund Kommunitatfsmus, in: Axel Honneth (Hg.), Kommunitaffsmus. Eine Debatte #ber die moralischen Grundlagen modernerGesellschaften, Frankfurt a.M. / New York 1993, S. 103-130). Er tritt f~ir die Ergiinzung der Selbstverantwortung und der Selbstverwirklichung dutch ein transzendentales Moment ein, ohne die Begr/indung der Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung in Frage stellen zu wollen mit dem Ziel, eine allgemeine Synthese yon individueller Identitiit und Moralitiit herzustellen (vgl. insbesondere Charles Taylor, Sourcesof the Self. The Making of the Modern Identily, Cambridge (Mass.) 1989). 278 Aus rein empirischer Sicht bietet alleine das Konzept ,,Politische Kultur" auf der Basis yon Umfragedaten und Erkenntnisse der Psychologie eine gangbare Methode (vgl. zusammenfassend Jean Blondel, ComparativeGovernment.An Introduction, New York City u.a. 1990, S. 75f.).
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Kapitel III kann Kultur [oder eben ,,Zivilisation"] niemals die reine Einheit eines Lebensstiles [bzw. Kulturenzusammenhangs] sein, weil absterbende alte Formen sich mit aufkeimendemneuen Leben vermischen.'279
Der universalhistorische Charakter der ,,westlichen Zivilisation" setzt eine solche ,,totalisierende" Erfassung einer ,,Zivilisation" aus einer Vogelperspektive voraus, die m der Geschichtswissenschaft jedoch schon als ,,unprofessionell" gelten k6nnte. 28~ Das System der um 1500 entstandenen ,,atlantischen Welt" in seiner Gesamtheit darzustellen ,,ist schier unm6glich", so auch der Atlantikhistoriker Holger Afflerbach. 281 Aus einer positivistischen Sichtweise heraus kann diese Arbeit schlieBlich ebenfalls nicht als wissenschaftliche Abhandlung gelten, sondem wiirde wohl unter das Diktum der ,,Sozialethik ''282 fallen. D e n n o c h k6nnen Historiker in der heutigen Zeit der grogriiumigen Vemetzungen zumindest eine lohnende Aufgabe darin sehen, ,,Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsentwiirfe der Globalisierungstheoretiker mit Vergangenheitssubstanz aufzuf/.illen. ''%3 Gibt es aber dar/.iber hinaus Argumente, die trotz der empirischen Unwiigbarkeiten und der positivistischen Grundsatzkritik fiir die gesamtzivilisatorische Dimension eines wissenschaftlichen Ansatzes sprechen?
4. P r o b l e m e r w i d e r u n g 4.1 Die zentrale Bedeutung der Idealtypusanalytik
Die ,,westliche Zivilisation" kann in einem wissenschaftlichen Kontext allgemein verstanden werden als Idealbild in Gestalt eines in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhiinge, der durch eine bewusst einseitige Konstruktion und Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen wird und inhaltlich den Charakter einer ,Utopie' (Weber) besitzt. Ein solches Konstrukt ist in der Tat, ,,in der artifiziellen Reinheit seines Realitiitsgehaltes und seiner begrift~chen Intention, nirgends empMsch vorfindbar."284 Spiiter bezeichnete Weber diese Begriffsbildungen als ,,I d e a l t y p e n ". Dies ist denn also auch als der entscheidende methodische Zugang in Bezug auf die historische Wirklichkeit der ,,westlichen Zivilisation" in dieser Arbeit zu verstehen. Es geht in der Tat um Aussagen mit gr6Btm6glicher Reichweite. Mehr als eine Anniiherung an die Essenz der historischen Wirklichkeit kann und darf aus diesem Grunde nicht erwartet werden. Auch in Bezug auf das Essentialismusproblem ist die Idealtypusanalytik relevant. U m einer m6glichen essentialismuskritischen Anzweiflung des wissenschaftlichen Charakters dieser Arbeit zu entgegnen, kann demnach die ,,westliche Zivilisation", auch wenn sie in ihrer historischen Wirklichkeit als ,,substantiell" verstanden wird, nie als Ganze in ihrer Substanz exaktwissenschaftlich, sondem nut idealtypisch erfasst werden, lJber Idealtypusanalytik hinaus gibt es in Bezug auf das Empirieproblem noch drei weitere Argumente gegen die 279PieterJan Bouman, Kultur und Gesellschaft der Neuzeit , Olten / Freiburg (Br.) 1962, S. 15. 2s0Vgl.J(irgen Osterhammel, So~algeschichte im ZivilisationsvergMch, in: Ders., Geschichtswissenschaftjenseitsdes Nationalstaates. Studien zur Be~ehungsgeschichte und ZivilisationsvergMch, G6ttingen 2001, S. 46-72, 58f. und Ders., ,~-Ib'herer Wahnsinn'{ Universalhistorfsche Denkstile im 20. Jahrhundert, in: ebd., S. 170-182, 173-177. 2sl Holger Afflerbach, Das en~sselte Meer. Die Geschichte desAtlantik, M/~nchen2001, S. 189. 2s2Vgl. Wilhelm K. Essler, RudolfCarnap (J89J-J970), in: Otfried H6ffe (Hg.), Klassiker der Philosophie. Band II, 3. kufl., M(inchen 1995, S. 385-408, 407f. 2s3Jiirgen Osterhammel, Internationale Geschichte, Globalisierung und die Pluralitdt der Kulturen, in: Wilfried Loth / J/irgen Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen- Ergebnisse- Aussichten, M/~nchen2000, S. 387-408, 389. 2s4 Markus Lilienthal, Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05), in: Gerhard Gamin / Andreas Hetzel / Markus Lilienthal, Inte~retationen. Hauptwerke der So~alphilosophie, Stuttgart 2001, S. 94-107, 96f.; vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsdtze wr Wissenschaftshhre, 6. Aufl., T/~bingen1985, S. 190 [Hervorhebungim Text].
Theoretischer Bezugsrahmenund methodologischerProblemaufriss
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Kxitiker des ,,totalisierenden" Ansatzes: Ein hermeneutisches Wissenschaftsverstiindnis, die Frage nach dem ,,Sinn der Geschichte" und die politikwissenschaftliche Zielsetzung dieser Arbeit.
4.2 Das Empmeproblem aus der Sichtweise der Hermeneutik und die synthetische Erkenntniskraft als geschichtswissenschaftliches Sinnktgterium
Z u m ersten sei auf das hermeneutische Verstiindnis nach Wilhelm Dilthey hingewiesen285: Er betonte, dass nur wenn die Kultur (oder eine ,,Zivilisation") in ihrer Gesamtheit wahrgenommen wird, sie auch verstanden werden kfnne. Die zahlreichen Kultursegmente mfissen nicht alle in gleicher Weise abgedeckt werden und (letztlich) in einem reinen Additionsverfahren aufgeziihlt werden, was ohnehin fiber die sprachlichen Fiihigkeiten eines jeden Menschen, auch des fleiBigsten Wissenschaftlers, hinausgehen wfirde. Kultur wird hingegen als ,,diachroner Lebenssinn" verstanden, der sich in einer jeden Kultur selbst objektiviert. Daher sollte eben der Gesamtkultursinn das entscheidende Moment einer kulturwissenschaftlichen Untersuchung sein und nicht die Beschr~inkung auf einzelne Segrnente. Eine ideographische, ,,individualisierende" Betrachtung der Kulturphiinomene kann als einzige das ,,kulturelle System" in einer angemessenen Form erfassen. Die Kulturph~inomene fungieren dabei als Sinntriiger von geistigen Lebenswerten und die Kultur wird als Synthese von Symbolsystemen defmiert. Diese Synthese ist zugleich ein geistiger Kosmos, der iiul3eren Organisationsweisen entgegensteht. Es geht um die Einzigartigkeiten einer Kultur und Zivilisation, nicht um nomothetisch ohnehin nicht eruierbare Gesetzmiil3igkeiten in ihr. Ein Rfickgriff auf idealtypische Metaphern ist dabei freilich in der dann anzuwendenden Wissenschaftssprache unumgiinglich: Dieser Rfickgriff ist nun einmal der einzige Weg, ,,der Grfl3e dessen, was geschieht, Ausdruck zu geben. ''286 Damit sind wir beim zweiten Punkt angelangt: ,,Schon Nietzsche hat in seiner ,,Unzeitgemiil3en Betrachtung ,Vom Nutzen und Nachteil der Historie ffir das Leben' auf die Gefahr aufmerksam gemacht, dass eine l~storische Forschung, die ,vergleichsgfiltige Inhalte in unendlicher Ffille' anbiete, zum lJberdruB [sic!] an der Geschichte ffihre. ''287 Spezialistentum als solches ist unentbehrlich, darf aber nicht zum Verzicht auf den Versuch einer ,,totalisierenden" Zusammenfassung verleiten. So wfirde letztlich Geschichte auch als Wissenschaft um ihren Sinn gebracht und die Wissenschaft als solche zu einer ,,Methode zur Multiplikation von Fragen ''288 degenerieren. Und k6nnte die Geschichte als Gegenstand der Wissenschaft nicht an sich einen ,,Universalit'fitscharakter" aufweisen? 289 Beweisen liisst sich dieser Charakter jedenfalls genauso wenig wie das Gegenteil. ,,Darum kann Geschichte nur Wissenschaft sein, wenn sie die Kraft zur Synthese behiilt. ''29~ Dass das immer schwieriger wird, ist eher ein beunruhigendes Zeichen. Beunruhigend insofem, als dass ,,Professionalisierung" der sozialen und geistigen Wissenschaften in bewusster Verneinung ,,totalisierender" Reflexion sich am Ende viel2asVgl. im folgenden Wilhelm Dilthey, Der Aufbau dergesc/dchtlichen Welt in den GeistesM.~:renschafien,hg. v. Manfred Riedel, Frankfurt a.M. 1981; Thomas Jung, Geschichtedermodernen Ku/turtheorie,Darmstadt 1999, S. 59-68. za6J.M. Roberts, Der Triumph desAbendlandes, Dfisseldorf/Wien 1986, S. 10. 287Theodor Schieder, Vom Sinn der Geschichte, in: Otmar Franz (Hg.), Vom Sinn der Gesc/dchte, Stuttgart 1976, S. 11-36, 25. 288 So mit Bezug auf die Staatswissenschaften Stefan Breuer, Der Staat. Entstehune~ Typen, Organisationsstadien, Reinbek 1998, S. 11. 289 Vgl. Theodor Schieder, Vom Sinn der Geschichte, in: Otmar Franz (Hg.), Vom Sinn der Geschichte, Stuttgart 1976, S. 1136, 27. 290 Ebd.
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leicht als ,,Implosion" dieser dann mehr und mehr gesellschaftlich marginalisierten und diskriminierten Wissenschaften herausstellen kfnnte. Die Voraussetzung ihrer gesellschaftlichen Implosion wiire demnach der Verlust aller synthetischen Erkenntniskraft und ihre damit unbewusst herbeigeffihrte Antiquiertheit. Da es sich nun bei der vorliegenden Arbeit nicht um eine geschichtswissenschaftliche (Vergleichs)Arbeit handeln soil, sondem um die ideengeschichtlich ,,gedeckte" Herleitung eines Begriffes einer politischen Idee, sollte die Professionalitiit der Arbeit ohnehin auch nur diesem Ansatz entsprechend eingesch;~itzt werden, womit das dritte Argument angesprochen ist: Der nicht-empirische Gehalt des Begriffs des Politischen als zentraler Gegenstand der Politikwissenschaft und damit der nicht-empirische Gehalt der ,,politischen Idee" als Gegenstand dieser Arbeit. Diesem Aspekt soll im folgenden Kapitel gesondert nachgegangen werden.
4.3 Das Empirieproblem aus der Sichtweise der Politikwissenschaft
a) Der nicht-empirische Gehalt des Begriffs des Politischen als eigener Gegenstand Dem Verfasser ist bewusst, dass aus einer rein empirischen und historisch-komparativen Sicht vermutlich eine gewisse Forschungsfeme einerseits und ein I3bergewicht einer ,,gelehrte[n] Spekulation einer ,philosophical history '''291 andererseits krifsch konstatiert werden k6nnte. Doch der Verfasser betreibt hiermit ohnehin keine rein empirische oder historische, sondem eine ideengeschichtliche, praktisch-philosophische und politikwissenschaftliche Arbeit. Dass diese Arbeit nicht in allen ihren Aussagen einen empirischen Inhalt haben kann, sondem praktische ,,Haltungen" und ,,Stellungnahmen ''292 systematisieren und auch einer systematischsynthetischen und normativ-analytischen Oberprfifung unterziehen wird, soll also nicht geleugnet werden. Zuniichst muss betont werden, dass die positivistische Priimisse, dass ,,praktische Haltungen" und ,,Stellungnahmen" fiberhaupt kein wissenschaftliches Sinnkriterium darstellen, nichtexakte ,,Wissenschaften", wie z.B. der Politikwissenschaft, ihres wissenschaftlichen Anspruches berauben. Insofern muss gegeniiber der positivistischen K_ritik gehofft werden, dass diese, wenn sie schon die klassische Politikwissenschaft als ,,nicht-wissenschaftliche Sozialethik" (bzw. ,,Politikethik") verstehen muss, so denn wenigstens den Weft der solcherart ethischen Abhandlungen zu wfirdigen versteht. Schliel31ich geh6ren auch nach Rudolf Camap ,,die Wertaussagen und die Probleme und Diskussionen fiber Wertaussagen ganz gewiss zu den wichtigsten Problemen und Gespriichsstoffen zwischen Menschen - nicht nut zwischen Philosophen". 293 Zwar glaubt er, dass man diese ,,Probleme" und ,,Diskussionen" nicht als ,,Erkenntms" auffassen kann 294, doch gibt es fiberzeugende Grfinde, sich diesem ,,Glauben" im Hinblick auf die ,,Politikwissenschaft" nicht anzuschliel3en - gerade wenn die Politikwissenschaft als eine verstanden wird, die mindestens eine Solldimension bereits im Gegenstand selbst umfasst, jedenfalls geschichtlich und sogar empirisch nicht yon dieser beweisbar getrennt werden kann. In diesem Sinne hat auch die K_ritik einer sich als explizit nicht-philosophisch verstehenden Geschichtswissenschaft ffir die Politikwissenschaft keinerlei kategorische Relevanz. 291J/irgen Osterhammel, So~algeschichte im Zivilisa/ionsvergleich, in: Ders., Geschichtswissenschaftjense#s des Nationak'taates. Studien wr Be@hungsgeschichteund Zivilisationsvergleich, G6ttingen 2001, S. 59. 292 Vgl. Wilhelm K. Essler, RudolfCarnap (1891-1970), in: Otfried H6ffe (Hg.), Klassiker der Philosophie. Band II, 3. aufl., M/inchen 1995, S. 385-408, S. 407. 293Zit. nach ebd. 294Vgl. ebd.
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N a c h D o l f Sternberger und Hans B u c h h e i m liegt die ethische Qualitiit der Politik in ihrer Angewiesenheit auf Frieden; w e n n z.B. nach Sternberger ,,Politik" einhergeht mit der verbindlichen Regelung v o n Sachverhalten fiir ein Kollektiv als A n t w o r t auf konflikttr~ichtige P r o b l e m e dieses I<2011ektivs295; oder w e n n nach B u c h h e i m z.B. die Politik als ein Sonderfall der Sozialontologie betrachtet wird und damit v o n d e r Interaktion sich gegenseitig minimal als Personen akzeptierender M a c h t m e n s c h e n abhiingt, also Menschen, die etwas sozial bewirken wollen, das ihnen ,,aus der Interaktion mit anderen P e r s o n e n zuwiichst." Solange die Akteure Personalitiit nicht v611ig eliminieren (und das tun sie auch dann - n o c h - nicht, w e n n sie unmoralische, aber keine vernichtende Machttechniken anwenden), haben wir es d e m n a c h mit ,,Politik" zu tun. Das einzige, w o r a u f jedoch ,,Politik" sowohl bei Sternberger als auch bei B u c h h e i m angewiesen wiire, ist ein Z u s t a n d des Friedens. Frieden wird dabei bei B u c h h e i m nicht als Nicht-K_rieg defmiert, aber auch nicht als - letztlich u n d e f m i e r b a r e r - ,,humaner Weft", s o n d e m - nach A u g u s t i n u s - als die Existenzvoraussetzung eines jeden M e n s c h e n (auch des Riiubers u n d des Triebtiiters!) ,,die Ruhe seiner O r d n u n g , die nicht gest6rt ist", zu linden. Frieden ist also demnach die ,,lZbereinstimmung eines Dinges oder Lebewesens mit sich selbst. ''296 O b n u n die kollektive P r o b l e m l 6 s u n g durch oder im ,,Frieden" oder etwas davon unabhiingig, kollektiv-verbindlich u n d regulatorisch sich vollziehendes ,,Sinnvolles" ist: Alle sozialen Begebenheiten, auf die Politik aufbaut, gehen auf I n t e n t i o n e n zuriick, also auf ,,Objektivierungen gemeinten Sinnes".297 Diese Objektivierungen sind jedoch in der politischen Wirklichkeit fluenter und unterschiedlicher Natur: sie k 6 n n e n in unterschiedlicher Weise als ,,guter Sinn" oder ,,b6ser Sinn" oder ,,realer Sinn" oder ,,idealer Sinn" verstanden werden. D o c h was daraus folgt, ist der Ansatz, dass Politikwissenschaft i m m e r auch , , W e r t e w i s s e n s c h a f t " bedeuten muss, im Sinne einer Wissenschaft v o n den Werten. U n d da diese Werte eben nicht exakt erfassbar sind, bzw. solange sie im Objektbereich in all ihren praktischen Beziigen, auch in ihren Folgen, nicht exakt erfassbar, also messbar, sind, muss ihre Systematisierung im Aussagebereich erfolgen. O h n e eine empirisch letztgiiltige Basis kann sich der positivistisch gestimmte Beobachter jetzt n u t nach Begrifflichkeiten richten, also nach der blogen B e n e n n u n g von Werten; nur wird er hiervon keinerlei Erkenntnisgewinn ableiten: Wiihrend Werte an sich in der Politik eine Rolle zu spielen scheinen, hS_tten sie in dieser ,,Wissenschaft v o n der Politik" keine B e d e u t u n g auBer ihren N a m e n . Das Politische wird so nicht vollstiindig erfasst. Das kann in einem wissenschaftlichen K o n t e x t sehr zielfiihrend sein, wiire denn aber nichts weiter als eine allgemeine Sozialwissenschaft von der Politik, keine Politikwissenschaft. 298 D e r Politikwissenschaftler k6nnte n u n aber die 295Vgl. Dolf Sternberger, Begd~ der Politik als Wissenschaft, in: Heinrich Schneider (Hg.), AuJgabe und Selbstverst?indnisder Politischen Wissenschqfi, Darmstadt 1967, S. 3-19. 296 Hans Buchheim, Aurelius Augustinus' Fdedensbegri~aZr Konzept einer modernen Theorie des Friedens, in: Ders., Beitra'ge zur Ontologie derPolitik, Mfinchen 1993, S. 73-91, 75. a97Vgl. Hans Buchheim, Beitra'gezur Ontologie der Politik, M/inchen 1993, S. 8. 298Politik wire ffir eine solche ,,Sozialwissenschaft yon der Politik" demnach nichts weiter als eine soziale Machtbeziehung im Sinne des Strebens ,,nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen Menschengmppen, die er umschliel3t." (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden So~ologie, ND Neu Isenburg 2005, S. 1043). Macht wiederum ist nach Weber die ,,Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung seinen eigenen Willen gegenCiberanderen auch bei deren Widerstreben durchzusetzen" (ebd., S. 38) und Herrschaft die Tatsache, ,,ffir einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam finden;" (vgl. ebd.) Die Chance dazu (also flit einen Befehl Gehorsam zu finden) besteht indes nut dann, wenn der Befehl legitimiert wird (vgl. ebd., S. 157). Legitimitiit ist der Akt der Anerkennung dutch den Befehlsempfanger (vgl. ebd.). Dabei gibt es keine Kopplung der Legitimitiit an bestimmte Werte, sondem nur an den Akt der Anerkennung (vgl. ebd., S. 157ff.). Dieser Akt kann wiedemm idealtypisch durch Legalitiit, Tradition, Charisma oder b0rokratische Effizienz gewiihrleistet werden (vgl. ebd., S. 159-188). ,,Po~tik" ist also - so liisst sich zusammenfassen- nichts weiter als ein Derivat aus einer Kombination aus ,,Macht" und ,,Staat". Sicherlich handelt es sich hier um eines der
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W e r t e auch - ebenso o h n e eine empirisch letztgiiltige Basis - a u f ihre Stringenz, Giiltigkeit u n d Plausibilitiit hin systematisieren u n d auch iiberpriifen. Die einzige Alternative zu diesem n o r m a t i v e n Verstiindnis innerhalb der Politikwissenschaft wiire letztlich die Beschr~inkung des Faches auf eine ,,Lage- u n d H a n d l u n g s a n a l y s e " im Sinne einer ,,Entscheidungswissenschaft", welche die reine, moralfreie E n t s c h e i d u n g z u m A u s g a n g s p u n k t des Wissenschaftsbegriffes macht. 299
b) D a s P r o b l e m der Relevanz v o n I d e e n u n d W e r t e n in der Politik W i s s e n s c h a f t s m e t h o d o l o g i s c h ist die R e d u k t i o n des O n t o l o g i s c h e n a u f die E n t s c h e i d u n g o d e r aber auch - nach B u c h h e i m - a u f die ,,primiir situativ orientierte I n t e r a k t i o n als solche" in der Politikwissenschaft im Vergleich z u m n o r m a t i v e n A n s a t z eine iiberaus klare u n d einleuchtende Alternative, die oft auch scharfsinnige u n d wichtige E r g e b n i s s e zeitigt. 3~176 Z w a r erscheint d e m Verfasser der R e d u k t i o n i s m u s des D e z i s i o n i s m u s oder des ,,primiir-situativen PolitiktatsacheVerst~indnisses" ein l'fflfreiches I n s t r u m e n t eines Politikwissenschaftlers zu sein, d o c h nicht n u r das sich in der E n t s c h e i d u n g iiuBernde Agieren, ob n u n ,,prim;ar-situadv" (Buchheim) o d e r rein dezisiv (Schmitt), s o n d e m auch das politische D e n k e n u n d Fiihlen miisste nicht n u r als G r u n d lage aller Politik, s o n d e r n als G r u n d b e s t a n d t e i l des Politischen a n g e s e h e n werden. O h n e dieses politische D e n k e n u n d Fiihlen wiiren kollektiv verbindliche E n t s c h e i d u n g e n als solche v o n A n f a n g an genauso wenig m6glich wie prim~ir situative Interaktionen, es sei d e n n es handelte sich bei diesen D i n g e n u m ,,dei ex machina", u m m e t a p h y s i s c h e Seinsurspriinge, w o b e i das im Falle B u c h h e i m s schon a u f g r u n d des Interaktionscharakters nicht m6glich ist. Solange jedoch E n t s c h e i d u n g e n als E n t s c h e i d u n g e n im n o r m a t i v e n Nichts o h n e diesen religi6sen G l a u b e n o d e r I n t e r a k t i o n e n n u r als solche als ,,Politik" definiert w e r d e n 3~ w e r d e n s i e - ~ihnlich wie bei den W e r t e n in den reinen S o z i a l w i s s e n s c h a f t e n - n u t i h r e m N a m e n nach erfasst; es sei denn, was n u r im Falle des D e z i s i o n i s m u s Carl Schmitts der Fall ist, m a n setzt eine m e t a p h y s i s c h e Qualitiit einer , , E n t s c h e i d u n g im n o r m a t i v e n N i c h t s " - gleichsam als n a c h z u a h m e n d e G o t t e s t a t - voraus. O h n e diese Setzung ist die souveriine E n t s c h e i d u n g (die , , E n t s c h e i d u n g pur") nie wichtigsten Pha'nomene der Politik, aber Politik selbst kann kein Derivat einer bestimmten Form einer sozialen Beziehung (also der ,,Macht") sein, solange sie als unabhiingig betrachtet wird. Politik nach Weber ist indes eine rein soziologische Kategorie, eine ,,Soziologie der Macht" in Verbindung mit der Dimension des ,,Staates". Nun kommt also bei Webers Definition noch der ,,Staat" hinzu, so dass es, solange es eine Machtbeziehung gibt, keine ,,Politik" existiert, solange der ,,Staat" nicht in Erscheinung tritt - was ja nicht nur nachvollziehbar, sondem auch sehr wichtig ist zum Zwecke der Abgrenzung der ,,Politik" von der reinen Form der ,,Machtbeziehung", wie sie auch innerhalb einer Familie, eines Unternehmens oder eines Vereins auftreten kann, ohne gleich deswegen von ,,Politik" sprechen zu mCissen. Doch muss das heiBen, dass ,,Politik" immer davon abhiingt, ob der ,,Staat" als ,,Referenz-Entitiit" in Erscheinung tritt, z.B. auch fiir Einzelpersonen oder Miichtegruppen (z.B. ,,Parteien", die regieren, also die Macht des ,,Staates" aus~iben wollen)? Nach der Begr/indung des neuzeitlichen ,,Staates" tritt ,,PoFltik" in der Tat nur in diesem Beziehungsgeflecht auf. Doch wie verhiilt es sich mit der Zeit davor, welche den modemen Staat iiberhaupt erst hervorgebracht hat und zur Legitimation des Staates herangezogen werden muss? Hat ,,Politik" keinerlei vorstaatliche, keinerlei anthropologische Bedeutung? Wie soll das mit der Tatsache einhergehen, dass der Begriff der ,,Politik" selbst noch vor der Entstehung der neuzeitlichen Staaten ~iberhaupt begrCindet worden ist, niimlich in der Welt der hellenischen Poleis. Die Definitionen von Max Weber sind iiul3erst wichtig, doch sie reichen nicht aus, um den Gegenstand des Politischen roll zu erfassen und eine vollgiiltige Politikwissenschaff damit zu begrfinden. 299 Vgl. z.S. Volker Beismann / Markus Josef Klein (Hg.), Politische Lageanalyse. FestschriftJ~r Hans-Joachim Arndt zum 70. Geburtstag am 15. Januar 1993, Bmchsal 1993. 300Vgl. grundlegend zu dieser Richtung: Carl Schmitt, Der Begrf~ des Politischen. Text yon 1932 mit einem Vorwort und drei Collarien, 7. Aufl., Berlin; Julien Freund, L'essence dupolitique, Paris 1965 und Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Opposilorum. ([TberCarl Schmitt, Berlin 1988. 301 So Hans Buchheim, Theorie derPolitik, Wien 1981, S. 104f.
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eine w i r k l i c h u n a b h i i n g i g e V a r i a b l e in d e r Politik, weil sie i m m e r v o n i n t e m e n o d e r e x t e m e n n o r m a t i v e n K o n t e x t e n abhiingig ist. 3~ M i t dieser S e t z u n g (Politik = G o t t a u f E r d e n = E n t s c h e i d u n g ) sieht es natiirlich w i e d e r a n d e r s aus, d o c h ist das letztlich eine S a c h e des Glaubens: E i n e , , O n t o l o g i e d e r P o l i t i k " wiire d e m n a c h n i c h t s w e i t e r als d e r S c h e i n e i n e r , , O n t o l o g i e d e r E n t s c h e i d u n g " bzw. eine , , O n t o l o g i e G o t t e s a u f E r d e n " . E i n p o l i t i k w i s s e n s c h a f t l i c h e r D e z i s i o n i s m u s o h n e religi6se B e g r i i n d u n g ist i m m e r eine r e d u k t i o n i s t i s c h e A n g e l e g e n h e i t . Als F a z i t b l e i b t f e s t z u h a l t e n , dass s o g a r w e n n d e r B e t r a c h t e r n o c h so stark y o n e i n e m de f a c t o m a c h t - i m S i n n e v o n g e w a l t z e n t r i e r t e n A g i e r e n eines j e d e n M e n s c h e n in d e r G e s c h i c h t e i i b e r z e u g t ist ( n a c h d e m M o t t o ,,am E n d e s e t z e n sich i m m e r die M a c h t m e n s c h e n u n d das , R e c h t d e r Stiirkeren' in d e r G e s c h i c h t e d u r c h " ) , er es s c h w e r h a b e n wird, das D e n k e n , F i i h l e n , ja a u c h P h a n t a s i e r e n 3~ d e r M e n s c h e n aus d e m P o l i t i s c h e n k o m p l e t t a u s z u s c h l i e B e n , weil er s o n s t u n t e r s c h i e d l i c h e P h a s e n k r e i s l i i u f e d e r G e s c h i c h t e l e u g n e n miisste. Z u d i e s e m P u n k t sei Ernst Troeltsch herangezogen: ,,Der Mensch ist kein bloBes Namrwesen, auch nicht in der Politik (...). Vor allem erhebt sich Liber dem Bereich der Politik und des naturalistischen Kxiiftespiels ein Reich des Geistes und der Religion, das die Individuen der einzelnen V61ker unter sich aus ganz anderen ICriiften und Motiven verbindet. Dieses Reich schafft eine geistige Einheit und Verbundenheit der Menschen, die immer wieder den rohen, wenn auch intellektuellen noch so verfeinerten BedLirfnissen der bloJ~enPolitik entgegenwirkt. Es ist zarter und verletzlicher als das Reich der natiirlichen Bed~irfnisse und Kriifte und kann manchmal ganz yon den Leidenschaften zerfetzt erscheinen. Abet es stellt sich immer wieder her und hat doch breitere und tiefere Wurzeln als alle Politik, weil es mit dem Glauben an einen Sinn und ein Ziel des Lebens zusammenh{ingt, den die Politik ~iberhaupt nicht gew{ihren kann. [Doch] die letztere hat Sinn als Voraussetzung und Vorstufe, welche die materiellen Verhiiltnisse schafft, in denen das geistige Leben gedeihen kann. Ebendeshalb kann es nicht ausbleiben, dass jenes zweite Reich auf dieses erste immer wieder zuriick~virkt und nach allen naturalistischen Katastrophen es sich wieder dienstbar macht. "3~ Politik ist i m m e r ein K a m p f z w i s c h e n G e w a l t u n d F r e i h e i t , z w i s c h e n u n f r e i h e i t l i c h e r u n d f r e i h e i t l i c h e r M a c h t . I n s o f e r n k a n n m a n n i c h t iiber Politik s p r e c h e n , , , o h n e i m m e r a u c h fiber Freiheit zu sprechen, und man kann nicht von Freiheit sprechen, ohne immer schon iiber Politik zu s p r e c h e n . ''3~ E s gibt also zwei E b e n e n v o n Politik 3~ u n d n u r die eine v o n b e i d e n ist die S a c h e d e r D e z i sionisten. D a s heiBt nicht, dass die D e z i s i o n i s t e n o b i h r e r b e s t e c h e n d e n S c h a r f s i n n i g k e i t in B e z u g a u f die E b e n e d e r , , b l o B e n " Politik z u R e c h t in d e r P o l i t i k w i s s e n s c h a f t eine groBe R o l l e 302 Die Dezision ist als solche normativ ungebunden, muss abet in ihren Folgen Normen nicht entgegenstehen, umschlielBt sie gar in der Realitiit, well sie im Entscheidungsakt Normen begrCindet. Dezision entsteht im normativen Nichts um im damit geborenen normativen Raum fortzugelten: Dabei widerspricht sogar die Entscheidung fiir das Amoralische nut in camouflierter Form der Normativitiit des Handelns: Machiavellis ,,Fiirst" muss sich - unter bestimmten Voraussetzungen - moralisch geben, um seinem amoralischem Ziel, niimlich an der Macht zu bleiben, sie zu sichem und zu erweitem, niiher zu kommen. Das Ziel ist natiirlich nach Machiavelli nur solange amoralisch, wie der F{irst darin eben ein letztgiiltiges Finalziel, also keine geschichtsphilosophische Funktion sieht, oder in seinem Machthandeln keinem geschichtsphilosophischen Finalziel bewusst oder unbewusst zuarbeitet, z.B. der L6sung unl6sbar erscheinender, bCirgerk_riegsiihnlicher Probleme innerhalb eines Staates oder der GrCindung eines ,,guten", ,,grol3en" Reiches oder Staates, z.B. eines einheitlichen Staates italienischer Nation (vgl. Niccol6 Machiavelli, Il Ptincipe / Der Fiirst, hg. yon Philipp Pdppel, ND Stuttgart 2003, Kapitel XVIII, S. 139 und Kapitel XXVI, S. 199-207). 303 Auf letzteren Aspekt macht z.B. deutlich: Hans Albert, Freiheit und Ordnung. Der europa~sche Beitrag wr Lh'sung des ordnung~olitischen Problems, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschaft undpolitische Ordnung. Analysen Zu Theot# und Empitie demokratischer Regierungssysteme, Opladen 1986, S. 61-69, 64: In der Politik spiele demnach die ,,Phantasie" eine ,,erhebliche Rolle". 304 Ernst Troeltsch, Der Histodsmus und seine ([]berwindung. Fiinf Vortr~'ge yon Ernst Troeltsch, Berlin 1924, S. 101 f. 305 Hannah Arendt, Freiheit undPolitik, in: Die Neue Rundschau, 69. Jg. (1958), S. 670-694, 670. 306 )khnlich argumentiert Vitorio H6sle in seiner Unterscheidung zwischen dem ,,ICratischen" und dem ,,Politischen" (vgl. Vitorio H6sle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik fil'r das 21. Jahrhundert, M~inchen 1997, S. 95-104).
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spielen mfissen, da die ,,bloBe Politik" als solche erkennbar existiert. Jede politische ,,Idee" hat auch diese ,,Wirldichkeiten" zu reflektieren, wenn sie nicht von der politischen Faktizit~it vergewalfigt werden soll. 3~ Nur ausffillen kann bloge Fakfizit~it das Politische eben doch nicht, indem einfach behauptet wird, die ,,bloBe Politik" sei Politik ,,an sich". Und wenn das, wie bei den meisten Dezisionisten, nicht ,,inhaltlich" gemeint ist, sondern nur zum Zwecke einer wissenschaftlichen Unterscheidung behauptet wird, also einer Unterscheidung zwischen dem, was ,,polifisch" und dem, was nicht ,,politisch" zu sein hat, ohne inhaltlich zu bestimmen, was denn das ,,Polifische" nun ,,an sich" sei, so ist die Rfickfflhrung auf das daffir notwenige Unterscheidungskriterium ( , , E n t s c h e i d u n g " i m normativen Nichts als Voraussetzung der ,,Freund-FeindUnterscheidung 3~ nur unter Inkaufnahme eben einer bewussten ,,Inhaltslosigkeit" m6glich. Gibt man der Verlockung nach, der hier ohne Frage zum Ausdruck k o m m e n d e n Asthetik der Scharfsinnigkeit und kristallinen Klarheit den Vorzug zu geben, fibersieht man am Ende, dass dabei die st~irkere, abet schwieriger zu erklimmende )~sthetik der Ffille und Ganzheit von vomherein verloren geht. Und ,,wenn Politik nicht mehr als Problem der Ph~osophie, sondern als Problem einer technischen Wissenschaft von den Mitteln der Machtanwendung und Machterhaltung verstanden wird (...), dann verliert sie ihr Kriterium. ''3~
4.4 Identita'tsprojektierende und ideologische Folgerungen aus der Essentialismuskrftik
Wertneutralit~it wird nicht nur dezisionistisch, sondem auch individualistisch begrfindet: Auch wenn J o h n Rawls, der Verfasser des ,,Politischen Liberalismus", nach der Kritik des K o m m unitarismus einger~iumt hatte, dass seine Gerechtigkeitskonzeption in einem unaufhebbarem historisch-normativen Kontext steht, der mit dem Begriff der ,,Tradition westlicher Demokratien" zu kennzeichnen w~ire3~~ ging er in seiner Neutralit~itskonzeption davon aus, dass keinerlei ,,umfassende, philosophische und moralische Auffassung" vonn6ten sei, um Neutralifiit flberhaupt zu erm6glichen. 311 Rawls verbindet den Liberalismus mit einem strikten Wertneutralismus. Der Liberalismus nach Rawls ,,gibt das Ideal einer politischen als einer moralischen Gemeinschaft, die dutch eine umfassende moralische Lehre vereint wird, auf. ''312 Unabh~ingig davon, ob die absolute Entgegensetzung von Moral und Politik im liberalen Kontext bei John Rawls nachvollzogen wird oder nicht, kann zumindest von einem Spannungsfeld zwischen Liberalismus und Essentialismus ausgegangen werden. Daher ist es noch vor der begriffstheoretischen, historischen und normativen Analyse angebracht, danach zu fragen, ob der Begriff ,,Atlantische Zivilisation" als polifische Idee, nicht in sich widersprfichlich ist, wenn von den methodologischen Voraussetzungen in den vorangegangenen Kapiteln ausgegangen werden soil (Verbindung von historischem Essentialismus und analytischem Normativismus). Daffir mfissen die idenfit~itsprojektierenden und ideologischen Folgerungen aus der Essenfialismus30vVgl. z.B. die Kritik an Habermas, dass dieser genau das nicht me: Ernst Vollrath, Zwei Begriffe des Politischen?Jiirgen Habermas und die sta'm-;&e Fakti~ta't des Politischen, in: Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), PolitischesDenken. Jahrbuch 1994, Stuttgart / Weimar 1995, S. 175-192. 308 Vgl. grundlegend Mathias Schmitz, Die Freund-Feind-Theorie Carl Schmitts: Entwurf und Entfaltund~ K61n / Opladen 1965. 309 Martin Sattler, Naturrech/ und Geschichte- Hans Kelsen, Leo S/rauss und Eric Voegelin, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnung, Wfirzburg 2000, S. 563-589, 578. 310Vgl. John Rawls, Der Vorrang des Re&ts und die Idee des Guten, in: Wolfgang Hinsch (Hg.), Die Idee despolitischen Liberalismus. Au~'tze 1978-1989, Frankfurt a.M. 1992, S. 364-397. 311 Clemens Kauffmann, ,,Clash of Views"." WasJehlt dem politischen lJberalismus zur Moral des 21. Jahrhunderts?, in: Walter Schweidler (Hg.), Werte im 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2001, S. 195-215, 201ff. 312Ebd., S. 202.
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kritik (letztere als konkurrierender Ansatz westlicher Identit~,itsbildung) beleuchtet werden. Die bei Rawls anzutreffende Verbindung yon Liberalismus und Essentialismuskritik hat im Endeffekt zwei entsprechende Ansiitze zur Folge: Erstens: Die ,,Atlantische Zivilisation" sollte als materielle Herstellungszivilisation begriffen werden ohne inhaltliche Weiterungen: Sie wiire entweder iiberfliissig oder als ein Mythos westlicher Idealismusnegation zu gebrauchen. Die gewisse Inhaltslosigkeit dieses technokratischen Zivilisationsbegriffes k6nnte auch im Sinne einer in toto bejahten und gutgeheil3enen Funktionslogik einer Markt- und Konsumgesellschaft zu einem normativ erstrebenswerten Ziel des hedonistischen Menschen erhoben werden. 313 Zweitens: Ein Begriff wie die ,,Atlantische Zivilisation" sollte wie alle ,,Zivilisationsbegriffe" als Unbegriff vermieden werden, um eine zuniichst einmal westliche, potentiell aber universale Identitiitsbildung im Sinne einer absolut essentialismusfreien ,,projektiven IdentitY,it '' zu erm6glichen. 314 Der Westen muss letztlich seine Identitiit im Versuch seiner eigenen Aufhebung lokalisieren, da der Sinn des Westens darin liege, jegliche partikularen Identitiiten auf Erden im Sinne eines orthodoxen Menschenrechtsuniversalismus und Weltregierungsdenkens zu iiberwinden. Der Begriff der Atlantischen Zivilisation muss als Partikularbegriff h6chst problematisch wirken, da er als partikularer Idenfitiitsbegriff im Widerspruch zur universalen Idee der ,,Weltzivilisation" stehe. 315
a) Postlfistorische Mythen universaler Idealismusnegation (Fukuyama, Bolz) D e n Westen als Motor eines posthistorischen Fortschrittsmythos universaler Idealismusnegation hat Francis Fukuyama in seinem Buch ,,Ende der Geschichte" herausgearbeitet. Fukuyama erwartete das Ende der faktischen Relevanz aller Ideologien und politischen Wahrheitspositionen, somit auch das Ende des ,,politischen Westens" sowie die allmiihliche Ankunft einer dezenten und informellen , , W e l t r e ~ e r u n g " . 316 Der Medientheoretiker Norbert Bolz hat nun diesen Mythos im Sinne der Absenz von ,,Wahrheiten" und grundsiitzlichen Wertepluralitiiten sogar in einer eher fatalistischen Manier, zum Konsumwohle aller ,,letzten Menschen" offensiv vertreten: Die ,,modeme Gesellschaft", der sich Norbert Bolz verpflichtet wissen will, habe ,,nichts mehr zu bieten als formale Demokratie, Liberalismus und soziale Marktwirtschaft. ''317 Und alles, was iiber diese als wertfreie technische Apparatur verstandene Maschinenlogik im Sinne einer normativen Wirklichkeit hinausgeht (also im Sinne eines iiber das Geniel3en und Konsumieren lfinausgehenden, willentlichen ,,Sollens"), hat keine K_raft mehr, seine ,,negative" Rolle zu s p i e l e n - so lange das marktwirtschaftliche Konsumsystem in s i c h - gleichsam autom a t i s c h - funktioniert; und davon ist nach Bolz auch auszugehen. Die Menschen sind als Konsumenten gliicklich und k6nnen sich in einem materiellen und wertfreien Kontext zugleich 313Vgl. Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, M/inchen 2002; vgl. ferner Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, M/inchen 1992. 314Vgl. exemplarisch Ulrich Beck / Edgar Grande, Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderhe, Frankfurt a.M. 2004. 31sVgl. exemplarisch Darcy Pdbeiro, Ametgka und die Zivilisation. Die Ursachen der ungleichen Entwicklung der amerikanischen Vi~lker, Frankfurt a.M. 1985, S. 94-97 oder Dan Diner, Das Ende despolilischen Westens, in: Frank yon Auer (Hg.), Amerika und Europa. Eine alte Be@hung vor neuen Herausforderungen, M6ssingen-Talheim 1993, S. 21-26. 316Vgl. Dan Diner, Das Ende despolitischen Westens, in: Frank yon Auer (Hg.), Ametika und Europa. Eine alte Be@hung vor neuen Herausforderungen, M6ssingen-Talheim 1993, S. 21-26, 21. 31v Norbert Bolz, Das konsumistische Manifist, M/inchen 2002; vgl. femer Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, M/inchen 1992, S. 39.
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Kapitel III
,,entlasten" u n d erfiillen. ,,Werte", ,,Wahrheiten" oder nicht 6 k o n o m i s c h herleitbare ,,Pflichten" steilen in diesem System lustvoller Leichtigkeit e i n e n - f r e n c h t o l e r i e r b a r e n - F r e m d k 6 r per dar. Aber Bolz ist Hug genug hinzuzufiigen, dass es ,,eben nicht die V e r n u n f t " sei, die uns diese ,,Minimalwerte" diktiert habe, s o n d e m ,,vielmehr das unwahrscheinliche, erstaunliche Resultat der Geschichte abendliindischer Rationalitiit. ''31g Hinter den , , M i n i m a l b e g r i f f e n " u n d d e m ,,Geschichtsresultat" verbergen sich indes so viele Weiterungen, Glaubenssysteme, Mythen, Sinnfragen, dass es geradezu iiberquellt an theoretischen u n d politischen ,,Wahrheiten". Bolz begniigt sich aber mit den ,,Minimalbegriffen" und den ,,Resultaten" als solchen, letztlich v611ig abgekoppelt v o n ihrer A u f g e h o b e n h e i t in ein essentielles Muster historischen Seins, u n d fmdet - f o l g e r i c h t i g - im durch und dutch antifundamentalistischen, in gewisser Weise femininen 319 , , K o n s u m i s m u s " das ,,Heft" des Westens. Hier sollte angemerkt werden, dass der , , K o n s u m i s m u s " v o m Materfalismus zu scheiden ist. Letzterer hat sich als iiuBerst problematisch erwiesen, indem er im Sinne einer verabsolutierten Verfiigbarkeits- u n d Machbarkeitsideologie 32~ zu einer allgiiltigen , , S u b s t a n z " des , , W e s t e n s " sdlisiert wurde, w o m i t der Mythos eines ungezdgelten Materialismus entstehen konnte, der zwischen d e m 18. und 20. J a h r h u n d e r t groBe Teile des , , W e s t e n s " in so gewaltiger F o r m ,,entsittlichte", dass daraus ungeahnte, apokalyptisch a n m u t e n d e Totalitarismen u n d H e k a t o m b e n resultierten (da ist ein kulturell aufgeschlossener Begriff v o n , , K o n s u m i s m u s " in der Tat erholsamer).
b) Die antiessentialistische B e t o n u n g ,,projektiver Identitiit" bei Ulrich Beck u n d die menschenrechtsuniversalistische Partikularismuskritik Eine wichtige Frage, die sich in allen diesen Versuchen der Politisierung v o n Inhaltslosigkeiten iiuBert, scheint heute zu sein, ob ein nominalistisches System iiberhaupt widerspruchsfrei ,,mythisiert" werden kann und ob das politisch iiberhaupt Sinn macht. Sind nach derartig einschneidenden Modernisierungsschiiben, wie sie die westliche Welt in der jiingsten Vergangenheit erlebt hat, ,,hochindividualisierte Gesellschaften iiberhaupt n o c h integrierbar"? 321 O d e r soil m a n sich auf den ,,Wohlfahrtsstaat" als Identifnkationsmerkmal konzentrieren, was deswe-
318 Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, Mtinchen 2002; vgl. ferner Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, Mtinchen 1992, S. 39. 3;9 Vgl. Arnold Gehlen, Matriarchat (1973), in: Ders., Die Seele im te&nischen Zeitalter und andere so~alp~ychologischeund kulturana[ytische S&riften, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M. 2004, S. 542-551,545. 320 Vgl. die Definition von ,,totalitiirer Herrschaft" bei Hans Buchheim, Totalitiire Herrschaft, Mtinchen 1962, S. 24, die in Verbindung mit der Vorstellung, dass dieser Totalitarismus nut unter der Voraussetzung eines ideologisierten Materialismus tiberhaupt m6glich ist, als Basis des Begriffs ,,Totalitarisrnus" in dieser Arbeit dienen soll: ,,Totalitiire Herrschaft ist also der Anspruch auf die uneingeschriinkte Verfiigbarkeit der Welt und somit auch des sozialen Lebens, umgesetzt in politische Aktion; ihre Organisation und Methoden sind Merkmale zweiten Ranges." Die materialistische Voraussetzung liegt in der Tatsache, dass man sich frei von jeglichen sittlichen Bindungen ab einem gewissen Zeitpunkt tiberhaupt vorstellen konnte, die ,,Welt" und die Menschen in ,,uneingeschriinkter Verfiigbarkeit" zu halten, ohne dam_it im Glauben Unm6gliches, zugleich etwas B6ses, Verwerfliches und sittlich Unm6gliches zu tun: Der Tyrann konnte nie so ,,ungebunden" sein und konnte auch nicht die Weltvernichtung und -umgestaltung im Auge haben, wie das dann beim totalit~iren Herrscher der Fall war. Vgl. femerhin Bernhard Crick, Grundformen politischer Systeme. Eine histotische Skizze und ein Modell, Mtinchen 1975, S. 110f.; Juan j. Linz, Totalita're und autorita're Regime, hg. v. Raimund K_riimer,Berlin 2000. 32~Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim, IndividualMerung in modernen Gesellschq/ten- Perspektiven und Kontorversen einer subjektorientierLen So~ologie, in: Dies. (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994, S. 10-39, 33.
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gen s c h o n p r o b l e m a t i s c h wiire, da dieser n i c h t i m g e s a m t e n , , W e s t e n " wirklich ideell a k z e p t i e r t w i r d u n d in der F u n k t i o n als I n t e g r a t i o n s i n s t a n z in vielerlei H i n s i c h t in der T a t sehr p r o b l e m a tisch sein k 6 n n t e . 322 D i e F r a g e n bleiben: Ist die I n t e g r a t i o n h o c h i n d i v i d u a l i s i e r t e r G e s e l l s c h a f ten vielleicht d o c h n i c h t ein e k l a t a n t e r W i d e r s p r u c h in sich? Wie viel E n t i n d i v i d u a l i s i e r u n g m i i s s t e eine I d e n t i t i i t s s t i f t u n g e n t h a l t e n , o h n e dass die G e s e l l s c h a f t e n i h r e n freiheitlichen C h a rakter verlieren u n d wie z w i n g e n d ist die E r f o r d e r l i c h k e i t einer A n t w o r t a u f diese Frage? W a s L e t z t e r e s betrifft, ist a u c h in der e m p i r i s c h e n P o l i t i k w i s s e n s c h a f t z u m g r o B e n Teil klar, ,,dass m o d e r n e G e s e l l s c h a f t e n b e s t i m m t e F o r m e n der Identitiit a u s b i l d e n m i i s s e n , u m i h r e n Z u s a m m e n h a l t zu sichern". 323 Allein in der F r a g e n a c h d e m , , W i e " w i r d die Schwierigkeit eines ,,zu s u b s t a n t i a l i s t i s c h e n " A n s a t z e s deutlich, d e n n n a c h h e r r s c h e n d e r M e i n u n g ist eine s y m b o l i s c h a u f g e l a d e n e I n t e g r a t i o n w e s t l i c h e r G e s e l l s c h a f t e n n u t - w e n n i i b e r h a u p t - als ,,projektive Integration" a u f der Basis der E i n s i c h t in die U n m 6 g l i c h k e i t einer w e r t e g e b u n d e n e n , weil d a n n a n g e b l i c h , , r e p r e s s i v e n " I n t e g r a t i o n , m 6 g l i c h . U n d sie w i r d d a n n i m m e r beschr~inkt a u f die L 6 s u n g v o n P r o b l e m e n m e n s c h l i c h e r , , L e b e n s f i i h r u n g " (Arbeitslosigkeit, U m w e l t z e r s t 6 r u n g etc.) 324 start etwa a u f eine ,,Idee" o d e r eine , , P h i l o s o p h i e " eines e m o t i o n a l e n und geisti-
322 Das Problem beim Wohlfahrtsstaat, abgesehen vonder Frage aus normativer Sichtweise, ist die Frage, ob er nicht in zu intensivem Mage die Lebens/ibergiinge der Individuuen (Erwerbseintritte, -austritte, Heirat, Scheidung, Krankheir, Invaliditiit, Bildungseintritt, Bildungsaustritt) regelt und definiert. Ein weiteres Problem ist der individualistische Zuschnitt des Solidaritiitsanspruchs, solange ,,der Staat Individuuen zu Empf~ingern seiner Gaben macht und nicht die Familien, zu denen sie geh6ren." Der Wohlfahrtsstaat in dieser Form f6rdert somit in direkter Weise die Aufspaltung der Haushalte, die Erh6hung der Scheidungsraten und die I~nderlosigkeit (vgl. Karl Ulrich Mayer / Walter M/iller, IndividualMerung und StandardMerung im Strukturwandel der Moderne. Lebensverla'ufe im Wohlfahrtsstaat, in: Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.), IOskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellrchaften, Frankfurt a.M. 1994, S. 265-295, 291). Das Problem dabei ist aus der Perspektive der aufgestellten Integrationsfrage in dreifacher Hinsicht relevant: Erstens schaufelt sich der Wohlfahrtsstaat dutch die Heraufbeschw6mng einer demographischen Krise in Verbindung mit der fehlenden Reflexion fiber dessen Abhiingigkeit von demographischen Faktoren sein eigenes Grab. Zweitens intensiviert der Wohlfahrtsstaat in direkter Art und Weise die Individualisierung der Gesellschaft und damit indirekt die Pluralisierung der Lebensstile, was im Widerspruch zu einer angeblichen Integrationsfunktion steht. Die ,,Solidarit~it" als kollektives Bewusstsein indes als m6glicher Integrationskatalysator ist an Erfahrungen mit kollektiven Lebensformen gebunden, auf die der Wohlfahrtsstaat eben gerade nicht zugeschnitten ist. DEttens (und aus einer anderen PerJpektive) ist der betreuende Charakter des Wohlfahrtsstaates jetzt schon zu freiheitseinschriinkend, gar entm/indigend, so dass eine f/it die Integrationsaufgabe notwenige Veriinderung seines Zuschnitts stiirker auf kollektive Lebensformen dieses normative Problem wahrscheinlich noch vergr613em w/irde. Der Wohlfahrtsstaat (alleine) kann aus dieser Perspektive Ciberhaupt nicht freiheitlich-integrierend, sondem nur zwangsintegrierend und uniformierend wirken. Dazu kommt noch aus demo -lcratiepolitischer Sicht, dass der Wohlfahrtstaat, je stiirker er ausgebaut ist, umso mehr durch Komplexitiitsverdichtung die Differenz zwischen Regierenden und Regierten (den ,,Betreuten '~) erh6ht und die demokratietheoretisch notwendige Responsivitiit zwischen diesen beiden untergriibt (vgl. Dieter Fuchs, Demokratie und Beteiligung in der modernen Gesellschaft: einige demokratietheoretische Oberlegungen, in: Oskar Niedennayer / Bettina Weste (Hg.), Demokratie und Parti~pation. Festschtiftfiir Max Kaase, Wiesbaden 2000, S. 250-280, 262). Zwar ist ,,Komplexitiit" im Sinne einer Ausdifferenzierung von Funktionssystemen ein Ausweis zivilisatorischer Entwicklung, doch birgt sie immer dann Gefahren in sich, wenn sie einen ihrer zentralen Genesefaktoren, den Wettbewerb, vernichtet. 3~_3Frank Decker, Der neue Rechtspopulismua; 2. Aufl., Opladen 2004, S. 31. 324 Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gemsheim, Individualisierung in modernen Gesellschaften- Perspektiven und Kontorversen einer subjektorientierten So~ologie, in: Dies. (Hg.), tOskante Freiheiten. IndividualMerung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994, S. 10-39, 35. Dabei gibt Ulrich Beck zu, dass diese ,,projektive Integration" eine Utopie sei, da sie nut im Modus der stiindigen methodischen Selbstreflexion und Selbstbeobachtung einer hochkomplexen Gesellschaft einen Integrationsbeitrag leisten kann (vgl. ebd.). Doch wenn die ,,projektive Integration" eine Utopie ist, warum wird dann die wertegebundene Integration (entweder bezogen auf zivilisatorische Werte oder auf ,,nationale Werte") ob ihrer NichtRealisierbarkeit als schlechtere Variante dargestellt? (vgl. ebd., S. 34f.). Richtig scheint indes der Einwand yon Beck gegen eine fadenscheinige Wertintegration auf der Basis materieller Interessen zu sein. Okonomie, absolut betrachtet, kann nur Anomie produzieren (vgl. ebd., S. 34f.).
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Kapitel III
gen Z u s a m m e n h a l t s , die ja eine W e r t e - I n t e g r a t i o n v o r a u s s e t z e n wfirde. D e r W e s t e n sei ganz allgemein ,,nicht substantialistisch definierbar. ''325 Sicher ist es nicht falsch, w e n n b e h a u p t e t wird, das der W e s t e n nicht den einen essentiellen K e r n hiitte, w o b e i der unschliissige U m k e h r s c h l u s s lauten k 6 n n t e , dass Essentialismen in keiner Weise positiv defmierbar seien. 326 Natfirlich passt die heutige A r g u m e n t a t i o n der Essentialismuskritiker in die p o s t m o d e r n e A u f l f s u n g aller E i n h e i t s i d e e n u n d der g e r a d e z u p a r a d o x a n m u t e n d e n Substituierung dieser E i n h e i t s i d e e n letztlich d u r c h eine neue Idee, niimlich die einer A r t der ,,radikalen Vielheit". Die ideale I n t e g r a t i o n v o n Gesellschaften wird a u f dieser G r u n d l a g e d a n n in G e m e i n s c h a f t s s t r u k t u r e n gesehen, ,,die sich nicht d u r c h ihre angebliche Natfirlichkeit legitimieren ''327, auch w e n n z u g e g e b e n wird, dass es n o c h eine ,,empirisch offene F r a g e " sei, ob sich diese Strukturen wirklich ,,stabilisieren" lieBen. 32g D a s P r o b l e m a t i s c h e an diesem Ansatz scheint darfiber hinaus die Unf';ihigkeit seiner Verfechter zu sein, z u m i n d e s t fiber das P r o b l e m einer n e u e n westlichen ,,Einzigartigkeit" in diesem K o n t e x t zu reflektieren, der darin besteht, s o w o h l den historischen K o n t e x t der eigenen kulturellen Existenz wie auch die in diesem Z u s a m m e n h a n g kontextlogische Zielgerichtetheit allen D e n k e n s als Wirklichkeit m e n s c h l i c h e n Verhaltens u n d kulturellen Seins des M e n s c h e n zu negieren, u n d das i n m i t t e n eines Meeres anderskultureller Einheitsideen. 329 Nach auJYen ruft die P r o b l e m a t i s i e r u n g einer ,,Essentialisierung" des W e s t e n s eine Infragestellung des Partikularismus hervor. Es wird also in Frage gestellt, ob u n d wie ein ,,liberales
32s Richard Herzinger / Hannes Stein, Endz.eit-Prophetenoderdie Offendve der Anliwestler. Fundamentalismus,Antiamerfkanismus und Neue Rech& Reinbek 1995, S. 11. 320 So ebd., S. 11f. Der Ansatz von Herzinger leidet schon daran, dass er den Westen mit der Aufldiirung identifiziert. Ein kapitaler Kurzschluss. Nicht nut Novalis und Eichendorff werden in einem tendenziell antideutschen Rahmen in einer sehr abstrusen Art und Weise ideologisiert (es ist die kaum mehr ertriigliche These yon der direkten Linie deutscher Romantik zum Nationalsozialismus unter ziemlich erschreckender Vernachliissigung entscheidender zeitnaher Konstellations faktoren realpolitischer Art). 327Ulrich Beck / Wolfgang Bonfi / Christoph Lau, TheoriereflexiverModernMerung- Fragestellungen,Hypothesen, Forschungsprogramme, in: Ulrich Beck / Wolfgang BonB (Hg.), Die ModernMerungder Moderne, Frankfurt a.M. 2001, S. 11-59, 35. 328Ebd. 329Vgl. (allerdings z.T. in einem verschw6rungstheoretischen Zerrspiegel) Hans-Peter Raddatz, Vom Allah zum Terror? Der Djihad und die Deformierung des Westens, Miinchen 2002, S. 290 u. 329. Zum Begriff ,,Zerrspiegel": Raddatz geht (geradezu abenteuerlich) davon aus, dass die anderskulturelle Einheitsidee des Islam yon einer gnostisch orientierten Weltelite (,,Machtkartell", inH. des Vatikans) dazu benutzt wiirde, christliche und willensfreiheitliche Restbestiinde der westlichen Zivilisation mittelfristig auszul6schen, um eine ,,neue", (im typischen gnostischen Sinne) ,,Gott ebenbiirtige" Welt aus modernisiertem Darwinismus, biopolitischen Autoritarismus und einem hochentwickelten, netzwerklogischen Maschinentechnizismus zu schaffen, in welcher der (politische) Islam auf der Basis seines seit 700 n. Chr. historisch wirksam gewordenen Sozialdarwinismus nunmehr nut als reine, machtpolitische ,,Nutzbasis" fungieren wiirde. Die Eliminerug freiheitlicher Restbestiinde wiirde iiber den Weg einer Ideologie des ,,Dialogs" und eines ,,momentistischen" Postmodernismus erfolgen, welcher den (politischen) Islam bewusst verharmlose, um {iber die Schaffung ,,hybrider Kulturen" kulturalistische Gegenreaktionen des Westens hervorzurufen, die wiederum angesichts der geschaffenen Machtfakten keine Chance h~itten, sich zu behaupten und somit schlussendlich samt einer Inangriffnahme aller freiheitlichen Traditionen des ,,Westens" als ,,Sackgasse" tituliert w(irden und zusammen mit den historischen Traditionen und christlichen Freiheiten in den Orkus der Geschichte beffrdert wiirden (vgl. zum Begriff des ,,Momentismus" ebd., S. 335). Angesichts dieses verschw6rungstheoretischen Uberschusses (kombiniert mit fragwiirdigen Zitaten aus zweiter und dritter Hand) erscheint es problematisch, Raddatz im dritten Tell seines Buches als seri6sen Wissenschaftler ernst zu nehmen. Andererseits abet schafft sein historischer Wirklichkeitssinn und seine skeptische Haltung gegenCiber Postmodernismus und politischer Menschenrechtsorthodoxie die Ausgangsbasis fiir eine {iuBerst treffende Beschreibung der totalitiiren Seiten bestimmter postmoderner Weltordnungsvorstellungen, besonders derjenigen Michael Hardts und Antonio Negris (vgl. ebd., 326-330; vgl. ferner den entlarvenden Satz bei Michael Hardt / Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M. 2002, S. 106: ,,Sobald wit uns als die Affen oder Cyborgs, die wit sind, betrachten, k6nnten wir unsere Mfglichkeiten verwir"ldichen.").
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System" nach aujDn iiberhaupt partikularisiert Werden diirfte. 33~ L e b t der ,,Westen" nicht v o n einem ethisch o r t h o d o x e n M e n s c h e n r e c h t s u n i v e r s a l i s m u s 331 als M o d e r n i s i e r u n g s p a r a d i g m a , der jegliche Relativierung dieser ethischen O r t h o d o x i e vermittels traditionaler, ,,wahrer", m a r k t f e r n e r I n t e g r a t i o n s m u s t e r negieren muss? Sind Partikularismen nicht als ein Verrat des ,,Westens ''332 an sich selbst bzw. als Verrat an einer typisch westlichen ,,Fortschrittsidee" universalen Z u s c h n i t t s 333 anzusehen? I n s b e s o n d e r e v o r d e m H i n t e r g r u n d der richtigen Feststellung, dass ein ,,aufldiirerischer G r u n d c h a r a k t e r der westlichen K u l t u r ''334 ja ,,Modernisierung u n d Globalisierung" gerade deswegen f6rdert, weil damit die H o f f n u n g v e r b u n d e n ist, ,,dass alle K u l t u r e n d u r c h K o o p e r a t i o n v o n e i n a n d e r l e m e n u n d m i t e i n a n d e r koexistieren k 6 n n e n . ''33s Andererseits sollte d o c h z u m i n d e s t klar sein, dass sich eine ,,westliche Identitiit" - wie jegliche I d e n t i t i i t - d o c h eigentlich nur als O x y m o r o n mit einem o r t h o d o x e n M e n s c h e n r e c h t s u n i v e r s a lismus v e r b i n d e n kann, da die V o r a u s s e t z u n g einer jeglichen Identit~it eine W i r - D e f m i t i o n zu sein hat. O h n e die D e f m i t i o n des , , A n d e r e n " ist aber die W i r - D e f m i t i o n logisch unm6glich. 336
4.5 Antworten a) D a s kantische , , A l s - O b - M o d e l l " als theoretische B e g r i i n d u n g m e n s c h l i c h e n ,,Angewiesenseins" a u f I d e e n Die identitiitsprojektierende Idealismusnegation als Folge eines essentialismuskritischen Ansatzes widerspricht der t r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o p h i s c h e n H e r l e i t u n g einer I d e a l i s m u s b e d i n g t h e i t kollektiven u n d subjektiven D e n k e n s u n d H a n d e l n s des M e n s c h e n u n d k~ime der (unm6gli-
~30 F/it schiidlich halten das z.B. Richard Herzinger / Hannes Stein, Endzeit-Propheten oder die Offensive der Antiwestler. Fundamentalismua, Antiamerikanismus und Neue Rechte, Reinbek 1995, S. 228f. Sie verkn/ipfen den Partikularismus mit dem Isolationismus und der Appeasement-Politik der Westm{ichte im 20. Jahrhundert,/ibersehen dabei jedoch, dass sich die ideologisch motivierten Interventionismen damals nicht auf die ganze Welt bezogen wie sie es heute tun. Wir haben heute jedenfalls eine ganz andere Bezugsgr6i3e: Es geht nicht mehr um europiiische Christen oder Juden, sondem um Muslime, Afrikaner, Chinesen, wenn von Interventionen die Rede ist. Der amerikanische Interventionismus oder Nicht-Interventionismus solhe in diesem Lichte anders bewertet werden als noch im 20. Jahrhundert. Die entwickehen Schreckenszenarien, welche die beiden Autoren schlieBlich mit ihrem Schreckgespenst eines ,,isolationistischen" Amerikas verbinden (vgl. ebd., S. 230) sind nicht nur spekulativer, sondem noch mehr belustigender Natur. 331 So ein Menschenrechtsuniversalismus wird z.B. vertreten ebd., S. 49 und S. 228. 332 Vgl. Ulrich Beck / Wolfgang Boni3 / Christoph Lau, Theorie rcflexiver Modernisierung- Fragestellungen, Hypothesen, tVorschungJJorogramme,in: Ulrich Beck / Wolfgang Bonl3 (Fig.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a.M. 2001, 34f. 333 In diesem Sinne Mark Terkessidis, Kulturkampf. Volk, Nation der Westen und die Neue Rechte, K61n 1995, S. 117-120. Zu welchen falschen und ziemlich generalisierenden politischen Schlussfolgemngen die Umschreibung einer Kulturalisierungsstrategie des Westens im Sinne einer ,,Ethnifiziemng des Politischen" (S. 121) bei Terkessidis f/ihrt, kann an seiner Gefahrenperzeption abgelesen werden: ,,Beispielhaft soll lediglich den hahlosen und keiner realen Bedrohung entsprechenden antiislamischen Diskursen des ,Westens' nachgegangen werden, die im/ibrigen zusammen mit der entsprechenden ,westlichen' Politik zu einem betriichtlichen Tell zur Radikalisiemng des Islamismus [sic!] beigetragen haben." (S. 138) Abgesehen vonder Tatsache, dass der Islamisrnus sich in seinen grundsiitzlichen historischen Ansiitzen fiber die Zielsetzung, das islamische Kalifat zu restituieren, definiert, kann einem die von Terkessidis geradezu apodiktisch formulierte Negation jedweder Bedrohung der im ,,Westen" etablierten Freiheit durch den Islamismus aus dessen Anlage heraus, schon Angst und Bange machen in Sorge um das Freiheitsverstiindnis und die intellektuelle Befffhigungen des sprachbegabten, aber doch dutch und dutch ,,antifaschistisch" durchwirkten Autors. 334 Christian Hacke, AuJ~en- und Sicherhei@olitik, in: Herffied MCinkler (Hg.), Polifikwissenschq[t. Ein Grundkurs, Hamburg 2003, S. 324-373, 358. 335 Ebd. 336 Vgl. Chris Brown, International Political Theory and the Idea 3 World Community, in: Ken Booth / Steve Smith (Hg.), InternationalPoliicalTheo{7 Today, Cambridge 1995, S. 90-109, 100-106.
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Kapitel III
chen) Abschaffung des M e n s c h e n gleich. N a c h d e m kantischen , , A l s - O b - M o d e l l " ist die Substanz 33v in einem theoretischen R a h m e n zun~ichst einmal nichts weiter als eine begriffliche ,,Kategorie" reiner A n s c h a u u n g und Basis der sogenannten ,,kategorischen Relationsurteile". Das transzendentale Schema der ,,Substanz" w~ire nach K a n t die ,,Beharrlichkeit des Realen in der Zeit". D a m i t ist aber zugleich gesagt, dass , , S u b s t a n z " genauso wie alle , , K a t e g o r i e n " des reinen Verstandes nicht ein D i n g ,,an sich" beschreiben. Allerdings kann der Mensch in einer praktischen W e n d u n g die Substanz metaphysisch begrfinden (ihr also einen letzten G r u n d zuordnen), da der aufgekEirte Mensch weiB, dass ihm die vollst;,indige Erkl~irung der Welt nicht m6glich ist, aber ihm eben genauso bewusst ist, dass alle M e n s c h e n nach unbedi ngt en Erkl~irungen ffir das Ganze suchen, weil sie darauf angewiesen sind. Die L 6 s u n g dieser Ant i nomi e bietet die U n t e rs c he i d u n g zwischen dem D i n g ,,an sich" (wo auch Freiheit m6glich ist) und der Erscheinung. N a c h K a n t ist n u t auf der Basis der E rschei nung des notwendigerweise gedanklich Konstituierten, E r f a h r u n g m6glich, doch auch das, was fiber E rfahrung hinausgeht (das , , T r a n s z e n d e n t e ' ~ ) , kann auf jeden Fall ,,gedacht werden". ,,Substanz" als Sinneinheit fiber das ,,Dauerhafte in der Zeit" hinaus ist jedoch auf der Basis der E rfahrung alleine eine schiere Unm6glichkeit; doch ist der Mensch in der Lage, darfiber zu reflektieren, dass das Kategorien des Verstandes sind und erst auf dieser Basis E r f a h rung fiberhaupt m6glich ist. ,,Rein" ist die Er fa h r u n g also nicht, und das kann der Mensch zugleich reflektieren. So denkt der Mensch mit selbstregulierender Notwendigkeit das ,,Reine", ein ,,An sich" (eine regulative Idee, einen regulativen G e b r a u c h der ,,reinen Vernunft"). Das , , A n sich" ist in seinem theoretischen Inhalt zwar unerreichbar (also , , i n t e l l e k t u e l l " unbegreit~ch und unbeweisbar), aber trotzdem vorstellbar und als praktische H a n d l u n g s m a x i m e richtungsgebend (also praktisch durchaus begreiflich). Die Substanz als ,,Sinneinheit" ist also etwas, fiber dessen m6gliche A u f h e b u n g in einem erfahrungs-unabh~ingigen K o n t e x t sich der Mensch ein Bild m a c h e n kann. Zwar kann er dieses Vorgestellte nicht inhaltlich nachvollziehen (er kann es also nicht , , e r f a h r e n " oder voll erfahrbar machen), er kann auch nicht beweisen, ob es irgendeine ,,Sinneinheit" wirklich gibt; doch
33v Der Begriff schlief3t an den Universalienstreit an: Demnach gibt es innerhalb des Substantialismus bzw. Essenfialismus (,,es gibt elementare Qualit{iten, die sich auf Quantit{iten nicht zurfickfiihren lassen") schon einen bedeutsamen Unterschied: Aristoteles (und mit ibm Thomas yon Aquin) verwarf die platonische Ansicht, dass das n'fit Allgemeinbegriffen - Universalien - bezeichnete (Bsp.: Staat, Kirche, Gerechtigkeit etc.) eine yon den individuellen Realit~iten unabh{ingige, selbst;,indige Existenz hat, als ob die Allgemeinbegriffe diesen Realit~iten vorausgehen w(irden (also im engeren Sinne gar nicht ,,bezeichnet" werden brauchen, ihr Sein nicht in einem anderen haben) und die bezeichneten ,,Dinge" den Realit~itenohne Zutun dieser Realit~itenzugrunde liegen (wie die platonischen Ideen). Zwar teilt Aristoteles die Vorstellung, dass die bezeichneten Dinge ,,in und ffr sich wirklich existieren", also substantiell vorhanden sind, ihr Sein nicht in einem anderen, sondem - essein se - in sich selbst haben (Aristoteles finder daffir die Bezeichnung ousia = ,,Substanzen" = ,,Wesentlichkeiten"), doch existieren die Dinge nut in Verbindung n-fit ihrer Bezeichnung dutch den Menschen, gehen ihrer ,,Benennung" also nicht voraus (,,Ich bezeichne etwas und schaffe somit etwas Substantielles": das Individuelle schafft dutch Abstraktion ein ,,Wesen"). Der Nominalismus, der im 14. Jahrhundert von Wilhelm yon Ockham und Duns Scotus ausging und bei Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert kulminierte, verwarf indes beide Lehren und setzte dem Essentialismus die ,,Lehre von der Benennung" entgegen: Demnach g~ibe es keine ,,Substanzen" auf der diesseitigen Welt, die auf der Basis eines theologischen Voluntarismus nunmehr als einzige erforschbare Welt angesehen wurden: Allgemeinbegriffe sind insofem blof3 Namen zur Zusammenfassung des Ahnlichen, eine Fiktion ~ctum)! Der Allgemeinbegriffkommt bei Ockham ohne jegliche Zuhilfenahme einer ,,Gestalt" oder eines ,,t~itigen Verstandes" zustande wie noch bei Thomas yon Aquin, sondem dutch die Steigerung von einem ,,erstern Wirken / Anspannen der geistigen Kr~ifte" (actus primus- intentio prima, Wahrnehmen) auf einen zweiten (actus secundus - intentio secunda, Abstrahierende Annahme: Zusammenfassung des Ahnlichen). Direkter Gegenstand der Wissenschaft sind somit die Begriffe und S{itzeund nicht das ,,Reale". Allerdings glaubte Ockham, dass eine Erkenntnis des Realen auf dieser Grundlage dann m6glich ist. Die Folgen waren sehr unterschiedlich: Hobbes reduzierte die nominalistische Erkenntnis auf einen methodologischen Materialismus, Locke drehte das ganze um und ging von einem Fundamentalempirismus aus, der de facto materialistisch wirkte und Ren~ Descartes nahm den Nominalismus zum Anlass, an allem ,,Reellen" ernsthaft zu zweifeln und entwickelte den anthropozentrischen Rationalismus.
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kann er diese Unfahigkeit nicht auf eine andere , , W a h r h e i t " , sondern - fiber den Weg der Reflexion und des gedanklichen Beweises seiner riiumlich/zeitlich (also theoretisch) bedingten Erkenntnisunf~ihigkeit gegenfiber dem ,,An sich" (der ,,letzten Wahrheit") - nur a u f seine Beschra'nktheit zuriickfiihren. Diese wiederum erm6glicht ihm, das zu ran, worauf er ohnehin angewiesen ist: in einer Wendung ins Praktische die Sinngegebenheit einer , , S u b s t a n z " als eine Kategorie eines idealen ,,An Sich", praktisch im Sinne eines ,,Als ob" anzunehmen. Zugleich ist damit die Notwendigkeit gegeben, die Substanz als ,,sinnhafte" zu verstehen; nicht als eine objektive, sondem eine rein subjektive Notwendigkeit. Die Sinneinheit wird , , k o n s t r u i e r t " , aber nicht nut einfach so, sondern mit gutem Grund. Die Konstruktion ist lebensnotwendig, ob ffir das einzelne Subjekt oder eben ffir das gemeinsame Gruppensubjekt.
b) Die Begriindung des Partikularismus im Kontext der Eigenrealit~it des Politischen Ffir die Begrfindung des Partikularismus ist zuniichst einmal MacIntyres Universalismusrelativierung hilfreich. In der Universalismusfrage differenziert MacIntyre fast schon in Burkescher Manier zwischen Konkretion und Abstraktion: Der Partikularismus hat aus diesem Blickwinkel einen klaren praktischen Vorrang, unter Realitiitsbedingungen kann sich der Mensch von diesem konkreten Gemeinschaftsbezug kaum distanzieren. Insbesondere der Patriotismus wird zu einer unverzichtbaren Bfirgertugend ffir eine moralisch gefestigte Gesellschaft. 338 Dass diese Formen des Partikularismus selbst einen universalen Wert haben, darauf hat Michael Walzer in seiner Unterscheidung zwischen ,,covering-law-Universalismus" und ,,reiterafivem Universalismus" aufmerksam gemacht. 339 ,,Moderne Gesellschaften, so MacIntyre, wiirden ihren Untergang besiegeln, wollten sie mit dem Liberalismus radikal ernst machen, da ohne Patriotismus [oder Zivilisafionspatriotismus] jeder Wille zur Selbstbehauptung nach auBen fehle. ''34~ Und auch eine universalisfische Moral, und das ist das Entscheidende, ist, um wirksam sein zu k6nnen, an parfikularisfische Voraussetzungen gebunden, obwohl der Partikularismus nach den abstrakten Wertungsmal3stiiben einer universalisfischen Moral, das gibt MacIntyre zu, als ,,absolute N o r m " inakzeptabel ist. 341 D o c h ist es angesichts der partikularen Festschreibungen der , , M e n s c h e n r e c h t e " paradox, dass Menschen Menschenrechte erst haben sollen, wenn diese als , , p o s i f i v i e r t e " Rechte artikuliert werden. 342 Und wie pardox ist es erst, dass in einer partikularen Kultur wie derjenigen der USA der Universalismus zugleich traditionell ist. 343 Aus dieser Sicht vermag man ,,das Politische nur dann zutreffend zu erfassen, wenn man sich seines phiinomenalen Charakters bewusst ist, wenn man die daraus resultierende Partikularitiit nicht als defizitiiren Modus einer anzustre-
33~Vgl. Alisdair MacIntyre, Ist PatriotLrmus eine Tugend?, in: Axel Honneth (Hg.), Kommunitarismus. Eine Debatte iiber die moralischen Grundlagen moderner Gesellschq[ten, Frankfurt a.M. / New York 1993, S. 84-102. Kritisch Sibylle T6nnies, Der westliche Universalismus. Eine Verteidigung klassischer Positionen, Opladen 1995. 339 Vgl. Michael Walzer, ZweiArten des Univerralismus, in: Babylon, Beitriige zur jfidischen Gegenwart, Heft 7/1990, S. 725. 340Christoph Horn, Einfiihrung in die Politische Philosophie, Darmstadt 2003, S. 108. 341Vgl. ebd. 342 Vgl. Lothar R. Waas, ,,Natiirliches" Recht in "positivierter" Gestalt, das sich aus PJlichten herMtet? Von der Paradox4e der Menschenrechte, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Politisches Denken. Jahrbuch 2004, Berlin 2004, S. 107-123, 109f. 343Vgl. SibylleT6nnies, Der westliche Universalismus. Eine l/erteidigung klasdscher PoJ~tionen, Opladen 1995, S. 248.
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b e n d e n Totalitiit verkennt, s o n d e r n gerade u m g e k e h r t als Quelle bfirgerlicher Freiheit. ''344 U n d andererseits: Inwieweit stellt das Recht auf eine eigene zivilisatorische E n t w i c k l u n g o h n e hegemoniale Fremdeinfliisse nicht selbst ein universales M e n s c h e n r e c h t dar, das d a n n allerdings zugleich ein G r u p p e n r e c h t wS.re? Es geht hierbei im E n d e f f e k t u m nichts weniger als das ,,Selbstbestimmungsrecht der V61ker", wie es im m o d e r n e n V f l k e r r e c h t existiert u n d in begrimdeter Weise als grol3e kulturelle E r r u n g e n s c h a f t der m e n s c h l i c h e n G e s c h i c h t e a n g e s e h e n w e r d e n kann. Was wiiren die praktischen K o n s e q u e n z e n , w e n n dieses Recht durch das ,,Mens c h e n r e c h t " vollends u n t e r w o r f e n wfirde? Grunds~itzlich stellt sich die Frage, ob ein n u t individualistischer Ansatz nicht das eigentliche P r o b l e m in B e z u g auf den eingeforderten Inhalt v o n , , M e n s c h e n r e c h t e n ''345 ist, was zugleich auch auf die ideologische U m s t r i t t e n h e i t der inhaltlichen Ffillung v o n , , M e n s c h e n r e c h t e n " hinweist 346. Die U m s t r i t t e n h e i t spielt sich im fibrigen auch in der Frage ab, w a n n einem W e s e n als , , M e n s c h e n " fiberhaupt Rechte z u k o m m e n , w a n n also die mit den , , M e n s c h e n r e c h t e n " k o r r e s p o n d i e r e n d e , aus der alttestamentarischen Genesis u n d d e m C h r i s t e n t u m hergeleitete 34v u n d letztlich nur m e t a p h y s i s c h als ,,erlebnisf'~ihig" begrfindbare 34g ,,Menschenw/irde" erreicht ist, die ja fiber die biologische A n o r d n u n g des Menschen hinausgeht u n d mit b e s t i m m t e n M e n s c h e n p f l i c h t e n zusammenh~ingen muss, damit das S o n d e r r e c h t der h u m a n e n Spezies als eine L e b e w e s e n g r u p p e unter vielen fiberhaupt gerechtfertigt w e r d e n kann. 349 In diesem K o n t e x t hat der ,,Mensch" nur als ,,freies, geistiges u n d gottebenbildliches W e s e n " wirklich eine Menschenwiirde, aber ,,eben dieser M e n s c h entzieht sich der erfahrungswissenschaftlichen Sicht auf die Natur". 35~ S c h o n seit d e m A u f k o m m e n des (noch nicht ,,personalen ''351) M e n s c h e n w i i r d e r e c h t s in vorchristlicher Zeit geh6rt daher auch der A n s p r u c h des M e n s c h e n dazu, ,,auch in seinen M f g l i c h k e i t e n geachtet zu w e r d e n ''352 u n d
344Hans-Gerd Schmitz, Zum Tode yon Ernst Vollraths, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), PolitischesDenken. Jahrbuch 2004, Berlin 2004, S. 197-199, 199. 34sVgl. Christoph Horn, EinJ~hrung in die Politische Philosophie, Darmstadt 2003, S. 87f. 346 Vgl. die Zusammenfassung bei Josef Isensee, Die vielen Staaten in der einen Welt- eine Apologie, in: Zeitschrift f/,ir Staats- und Europawissenschaften 1/2003, S. 7-31, 27f. ,,Menschenrechte sind normativ unfertig: Recht im Werden." (ebd., S. 28). 347 ,,Verfehlungen der christlichen Kirche gegen die MenschenwCirde - auch dutch mangelnde Toleranz - widerlegen nicht die Herkunft der MenschenwCirde aus dem Christentum." (Christian Star&, Der demokratische Verfassungsstaat. Gestalt; Grundlagen, Gefa'hrdungen,T/ibingen 1995, S. 194). 348Vgl. sehr schfn ebd., S. 193-203, insbsd. 200ft. 349 Vgl. Lothar R. Waas, ,,Natiirliches" Recht in "positivierter" Gestalt, das sich aus Pflichten herleitet? Von der Paradox4e der Menschenre&te, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Politisches Denken. Jahrbu& 2004, Berlin 2004, S. 107-123, 110f. und 115. Vgl. grunds~itzlich kritisch zum Argument yon der Notwendigkeit, Menschenw/irde als Mensch selbst ,,herstellen" zu m/issen Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat. Gestalt, Grundlagen, Gef?l~rdungen, T/ibingen 1995, S. 201. Das zentrale Argument von Starck lautet: ,,Wet entscheidet"? Starck geht in seinem Pl~idoyer f/it eine unbegrenzte Menschenw/irdegarantie nach Karl Jaspers davon aus, dass ,,der Mensch mehr ist, als er yon sich weil3 (...) er ist metaphysisch often." (ebd.). Lothar Waas pl~idiert im 13brigen daf/ir, die Menschenrechte nicht als ,,natfirliche", sondem als ,,vertragliche" zu begreifen, da er den z.B. von Christian Starck skizzierten religifsen Kern des Menschenw/irde-Aspektes im Kontext eines ,,universalen Geltungsanspmches" der Menschenrechte ,,frei von religi6sen Priimissen" als ein Legitimationsproblem interpretiert (vgl. ebd., S. 115f.). Er bezieht sich dann folgerichtig auf den Hobbeschen Individualismus als Voraussetzung rechtsstaatlichen Gedankenguts und sogar modemer ,,Menschenrechte" (vgl. ebd., S. 116-123). 3s0 nach Helmuth Plessner: Kai Haucke, Zukunft dutch Ver~pa'tung. Helmuth Plessners Vision eines deutschen Beitrages gum politischen Humanismus Westeuropas, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), PolitischesDenken. Jahrbu& 2004, Berlin 2004, S. 147-166, 150. 351 Vgl. Nikolaus Lobkowicz, Was ist eine Person?, in: Karl Graf Ballestrem / Hans Buchheim / Manfred H{ittich / Heinz H/irten (Hg.), So~alethik und Politische Bildung. Fests&rif(/~r Bernhard Sutor zum 65. Geburtstae~ Paderbom u.a. 1995, S. 39-52, 51f. 3s2 Helmuth Plessner, Die Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kr#ik des so~.alen Radikalismus (1924), in: Gesammelte Schriften. Band V, hg. von Dux/Marquard/Strfker, Frankfurt a.M. 1981, S. 81.
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mit der Wirklichkeit einer ,,antagonistischen Seele" (zwischen Anspruch und Wirklichkeit) so umzugehen, dass am Ende das ,,gelingende L e b e n " als ,,Strebensziel" und ,,Form guten Lebens" daraus entstehen kann, statt dass der einzelne Mensch im ,,tragischen Kollidieren" yon Anspruch und Wirklichkeit oder im radikalen Vereinfachen untergeht. 3s3 M6glich erscheint dieser Weg nach Helmuth Plessner in der Distanz der ,,Persona" (des gottesebenbildlichen Menschen in Maske), also in der Distanz eines Menschen ,,zu sich selbst, aus der heraus sich die Person spielerisch, theatralisch hervorbringen kann". 354 Erst dann steht das Leben einer Person ,,im Einklang mit sich selbst. ''355 ,,Es gibt kein wahres Gesicht ohne Maske ''356 Iautet die Kemaussage im Sinne der ,,Schaubiihne als moralische Anstalt" nach Schiller, des Spielverst~indnisses Kants im Begriff der , , A n m u t " oder der klassischen Bildungsidee in Goethes Wilhelm Meister. 35v Die individuelle und gesellschaftliche Angewiesenheit der Menschen auf Masken, um in Wiirde leben zu k6nnen, entspricht im Politischen ihrer Angewiesenheit auf den gerechten ,,Staat" oder die gerechte ,,Polls". D e n Menschen nur als natiirliches Lebewesen in seinen individuellen Menschenrechten ohne jeglichen situativen Kontext zu betrachten, wird dem Menschen als Personenwesen nicht gerecht. Hieraus erwiichst nun die Frage der Menschengruppenrechte. Das Gegenargument gegen diese lautet immer, dass daraus ein organizistisches Recht von Kulturen (oder Zivilisationen alias ,,GroBraumkulturen '~ entsteht. Dieses Priiservationenargument von einem Eigenwert der Kulturen auf Kosten individueller Freiheiten (auch zum Zwecke der Gerechtigkeitserfi,illung fiir kiinftige Generationen einer Kultur) muss aus einer streng liberalen Sichtweise und individualethischen Orthodoxie heraus, wonach Menschenrechte nur von Einzelnen getragen werden k6nnen (zweifelsohne die z.Z. stark vorherrschende Lehre im Westen) abgelehnt werden. Abgesehen jedoch von der Tatsache, dass nicht nur aus einer kommunitarischen einerseits und relativistischen Sichtweise andererseits die moralische M6glichkeit von Gruppenrechten anders beurteilt wird als bei den Liberalen 3s8, ist aus einer politischen (statt ethisch orthodoxen Sichtweise) auch immer wieder auf den praktisch relevanten Unterschied in der Behandlung von allochthonen Minderheiten und autochthonen Mehrheitskulturen hinzuweisen. Wenn es um die Beantwortung aller dieser Fragestellungen geht, so ist zu betonen, dass die Unterscheidung zwischen konkreter politischer Wirklichkeit als Analysesujet der Politikwissenschaft und der ,,Eigenrealitiit des Politischen" (im Gegensatz zu einer ,,reinen Lehre" der Moralphilosophie) auch hier ganz besondere Fragen erzwingt. Diese Fragen miissten demnach folgendermaBen lauten: Ist es nicht so, dass die Aberkennung des Rechtes auf kulturelle Priiservation ein groBes politisches und unter bestimmten Umstiinden auch demokratietheoretisches Legitimationsproblem aufweist? Geh6rt genau das Reklamieren kultureller Eigenwerte nicht zur politischen Handlungsfreiheit dazu? Anders formuliert: ,,Die mo-
353Vgl. Kai Haucke, Zukunft durch Ver~aIung. Helmuth Plessners Vision eines deutschen Beitrages zum politischen Humanismus Westeuropas, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Politisches Denken. Jahrbuch 2004, Berlin 2004, S. 147-166, 159. 3s4Ebd. 35sEbd. 356Ebd., S. 161; vgl. femer sehr sch6n Helmuth Plessner, Die ver~a'tete Nation. Uber diepolitis&e Verfighrbarkeit bi~rgerlichen Geistes, Stuttgart u.a. 1969, S. 159. 35vVgl. auch Kai Haucke, Zukunft dutch VerSa'tung. Helmuth Plessners VMon eines deutschen Beitrages zum politischen Humanismus Westeuropas,, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Politisches Denken. Jahrbu& 2004, Berlin 2004, S. 147-166, 160 und 163-166. 358Vgl. insgesamt zum Spannungsfeld Georgios Chatzimarkakis (Hg.), Freiheit und Gemeinsinn. Vertragen sich Liberalismus und Kommunitadsmus?, Bonn 1997.
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Kapitel III
d e m e E m a n z i p a t i o n hat den M e n s c h e n aus den Bindungen der H e r k u n f t befreit. ''359 A b e r wird diese Befreiung nicht ,,terroristisch, w e n n der einzelne in der M o d e m e nicht m e h r bleiben darf, was er kraft H e r k u n f t schon ist"36~ U n d wie verhiilt es sich, w e n n dieses Bediirfnis des Einzelnen v o n einem Recht der Mehrheitskultur abhiingt, sich gegen andere Einzelne der Minderheit bis zu einer gewissen G r e n z e zu artikulieren und abzugrenzen? U n d w e n n das alles n u n aus der Sicht einer individualistischen M e n s c h e n r e c h t s o r t h o d o x i e kein ,,Recht" darstellen k6nnte, so wird es doch ,,politisch" als Recht w a h r g e n o m m e n . U n d ist das nicht die konkrete politische Wirklichkeit, die der Politikwissenschaftler ins Blickfeld zu n e h m e n hat? D e r Politikwissenschaftler H e n n i n g O t t m a n n b e h a u p t e t zu Recht, dass die Politische Philosophie ,,heute nicht nur eine Philosophie des M e n s c h e n u n d einer i m m e r m e h r sich verein e n d e n W e l t "361 sein kann: ,,Vielmehr hat sie auch und gerade heute ihren Ort. "362 N i c h t die philosophische Abstraktion alleine kann doch das Sujet des Politikwissenschaftlers, nicht einmal des Politikphilosophen sein, s o n d e m dessen politische Wirksamkeit u n d die daraus abzuleitenden Implikationen fiir die Frage der Erreichung m o r a l p h i l o s o p h i s c h e r Zielsetzungen, die n u n wieder ins Spiel k o m m e n m6gen. 363 U n d w e n n eine politische Wirksamkeit eines ethisch o r t h o d o x e n Standpunktes samt seiner V o r a u s s e t z u n g e n in einem b e s t i m m t e n k o n k r e t e n (politischen) K o n t e x t iiberhaupt nicht v o r z u f m d e n ist oder aufgrund der ,,unausrottbaren" Existenz des Politischen nach all unserer (historischen) K e n n t n i s niemals v o r z u f m d e n sein wird, ist er dann fiir den Politikwissenschaftler als ,,reine L e h r e " iiberhaupt n o c h relevant? Besteht die Problematik nicht darin, dass die , , O r t h o d o x e n " der ,,externen Sphiire oder E b e n e der politischen Realitiit einen i n t e m e n idealen MaBstab ohne Beachtung der theoretisch nicht aufhebbaren realen kategorialen Differenz dieser D i m e n s i o n e n " entgegenstellen, u n d dann auch n o c h diesen Mal3stab ,,als etwas Politisches auftreten [..] lassen"? 364 Die E n t g e g e n s e t z u n g des friih v e r s t o r b e n e n und ,,politischten" deutschen Politikwissenschaftlers Bernard Willms lautete, dass die St~irke einer wirklichen Politikwissenschaft doch nut ,,aus der N e u v e r p f l i c h t u n g der Philo-
3s9 Henning Ottmann, Vom Nutzen und Nachteil der Philosophiej~r die Politik. Laudatio auf Norberto Bobbio zur Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stutlgart, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Polilis&es Denken. Jahrbuch 2004, Berlin 2004, S. 191-195, 195. 360Ebd. 361 Ebd. 362Ebd. 363 Nach Michael Oakeshott und Hans Buchheim indes wfrde sogar dieser Philosophiebegriff zu weir ffhren: Entscheidend ffr Oakeshott und Buchheim ist, dass Philosophie immer das ,,Ganze" zu erfassen hat. Beide versuchen daher, den Weg zum konkret Politischen als vorstaatliche Realitiit menschlicher Interaktionen fiber eine rein auf das ,,Politische" bezogene Abstraktion zu erfassen, und zwar aus der Perspektive einer durch die Existenz des Staates nunmehr nur auf abstraktem (terminologisch bei Buchheim geradezu artifiziellem) Wege wieder erkennbaren Konkretheit, die sich z.B. in der ,,Alltagserfahrung" und der ,,Welt der Praxis" wiederfindet und nichts mehr mit moralphilosophischen Zielsetzungen als Bedingung des Politischen zu tun haben. Politik ist demnach ,,prim~ir situativ orientierte Interaktion" und Politische Philosophie habe als ,,praktisch anwendbare" oder gar normative Philosophie nicht danliber hinaus zu gehen. Allerdings gibt Buchheim zu bedenken, dass die engen Grenzen seiner Theorie durch einen umfassenderen, allgemeineren Theorieentwurf aufgehoben werden miissten, wenn seine Theorie denn anwendbar sein sollte - nur wiire sie nach Buchheim dann eine Theorie, welche das ,,Politische" aufhebt. In der klassischen Politikwissenschaft wird indes zwischen politike theoria und politike epistgme unterschieden. Buchheim verbleibt mit seinem Konzept bei derpolitike theoda (vgl. Hans Buchheim, Theorie der Politik, Wien 1981, S. 104f.; Michael Henkel, Vom Sinn einer philosophischen Theoffe der Politik. Bemerkungen zum Theoriebegriff bei Hans Bu&heim und Michael Oakeshott, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Politisches Denken. Jahrbu& 2004, Berlin 2004, S. 167-187, 180ff.). 364 Bezogen auf Jfrgen Habermas: Ernst Vollrath, Zwei Begrr des Politirchen?J~rgen Habermas und die st?irdsche Fakt@'t~'t des Politischen, in: Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), PoliLischesDenken. Jahrbuch 1994, Stuttgart / Weimar 1995, S. 175-192, 183. Vgl. auch Volker Gerhardt, Politik ist mehr als die Summe yon Moral und Re&t, Merkur 54 (2000), S. 265-270.
Theoretischer Bezugsrahmenund methodologischerProblemauffiss
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sophie auf ein substantielles Politikverst~indnis resultieren" k6nne. 365 ,,Was wiederum bedeutete, dass auch die Politikwissenschaft ein solches Verstiindnis ihres eigenen Gegenstandes (...) entwickeln miisse. ''366 Die Befassung mit Philosophie alleine ist eben noch keine Philosophie. 367 Und Willms fiigte in Anlehnung an die aristotelische Sozialanthropologie hinzu, dass eine Philosophie ohne ,,Einbeziehung der Einbezogenheit" jeglichen menschlichen Handelns und Denkens in Strukturen politischer Eigenrealit~it praktisch nicht ernst genommen werden k6nne und auch ihre ,,philosophische Dignitiit" verl6re, womit er abet nicht einer reinen ,,politisierenden" Meinungsphilosophie (oder ,,Ersatzphilosophie '~) das Wort reden wollte. 368 Das wiirde dem platonischen Methodenideal der Dialektik entgegenstehen, dessen sich jeder Philosoph entgegen aller heute vorherrschenden ,,eristischen" Ideale bedienen muss, wenn er denn wirklich emsthafte Philosophie betreiben m6chte. Besteht niimlich die Methode der Dialektik gerade darin, im kontradiktorischen Austausch der erdachten Argumente ,,zum [..] Sein eines Dinges vorzustol3en ''369, dient die Eristik dem ,,Wettbewerb" geschlossener Argumentationssysteme - ein Wettbewerb, der letztlich nut auf den rhetorischen Ehrgeiz, Siegeswillen und den machtgesteuerten Selbstdarstellungsmotiven der Wettbewerber (,,Wissenschaftler") beruhen kann, um sich in einer metaphysisch, ontologisch oder ethisch regellosen Kunst des Widerspruchs, in einem effekterhaschenden ,,Fechten mit Worten" artikulieren zu k6nnen. Aus philosophischer Sicht wiire das nichts weiter als eine ,,Spielerei mit sinnentleerten W6rtem". 37~ Beides also, ethische Orthodoxie und ,,plakative" Meinungsproduktion, verhindert den Kern aller Philosophie: das reale ,,Denken". Was die ethische Orthodoxie betrifft (oder die ,,Ungeschichtlichkeit yon Wahrheit") pr~igte Willms folgenden einpriigsamen Satz: ,,Das ,Poll tische' ist allemal das Schiboleth, an dem sich reelle Philosophie ausweist oder ein ,Begriff des Politischen' ist der entscheidende Ausweis der Griindlichkeit des Denkens - in der Philosophie ebenso wie in der Politikwissenschaft. ''371 In berufspolitischer Wendung tritt auch noch Max Webers W a m u n g in Erinnerung: Bedenkt ein Machthaber, der bestimmte Werte vertritt und durchsetzen will, Riickwirkungen nicht, die aus der Eigenrealit~it des Politischen entspringen, ist er nach Weber als reiner Gesinnungsethiker zum Scheitern verurteilt, da reine Gesinnungsethik im politischen Handeln zu einem inkonsequenten Umgang mit Macht fiihren muss. Macht wird in Bezug auf die Durchsetzung eigener Vorstellungen immer als eine Chance, abet keineswegs als eine Garantie verstanden. Am Ende sind alle hier aufgeworfenen Fragestellungen und Hypothesen in einem theoretischen Sinne so aufzul6sen, dass Gemeinschaftsbezogenheit (die z.B. dutch eine Politisierung der westlichen Zivilisation institutionell artikuliert wiirde) als etwas begriffen werden k6nnte, was iiberhaupt nicht das Problem des westlichen Universalismus tangiert; dass also die beiden Momente - Gemeinschaftsbezogenheit und Universalidit - auf ganz verschiedenen Ebenen, einer empirischen, psychologischen, kulturanthropologischen und (konkret) politischen auf der
365Bernard Willms, Politische IdeengeschichG Politikwissenschaft und Philosophie, in: Udo Bermbach (Hg.), Politische Theoriengeschichte. Probleme einer Teildis~.'plin der Politischen Wissenschaft, Opladen 1984, S. 33-64, 45.
366Ebd. 367Ebd., S. 47. 368Vgl. ebd., S. 46f. 369Vgl. Platon, Politeia, 532a, in: Ders., Sa'mtliche Werke, Band 4, hg. yon Wolfgang Stahl, o.O. 1999, S. 119-387, 306. 3~0 Vgl. insgesamt Tilo Schabert, Gewalt und Humanit~'t. Uber philosophische und pol#ische Manifestationen yon ModernitY't, Freiburg i.Br. / M/.inchen 1978, S. 72-76 und 91f. 3vl Bernard Willrns, Politische Ideengeschich& Pol#ikwissenschajt und Philosophie, in: Udo Bermbach (Hg.), Pol#ische Theonengeschichte. Probleme einer Teildis~plin der Politischen Wissens&aft, Opladen 1984, S. 33-64, 49.
94 einen und einer moralphilosophischen, abstrakten und letztlich , , u n p o l i f s c h e n " ren Seite, anzusiedeln seien. 372
Kapitel III auf der ande-
c) ,,Kosmopolitischer Skeptizismus" u n d ,,geltungstheoretischer K o n t e x t u a l i s m u s " als resultierende theoretische Priimissen In Bezug auf das weltpolitische D e n k e n ist die theoretische Priimisse dieser Arbeit in Anlehn u n g an die v o r h e r g e h e n d e Begriindung des Partikularismus diejenige eines ,,kosmopolitischen Skeptizismus ''373 u n d ,,geltungstheoretischen Kontextualismus ''374. Ultra posse nemo obh'gatur,,Sollen setzt K 6 n n e n voraus": ,,Dass etwas Inhalt einer Vorschrift ist, setzt voraus, dass das Subjekt der Vorschrift dieses Etwas tun kann ''37s, sonst gleite das Sollen im K o n t e x t eines ,,totalen E n g a g e m e n t s " schnell ins Irrationale ab und k6nne daher nicht gebraucht werden. 376 D e r Kritische Rationalismus machte dieses Prinzip in seinem Versuch, die Distanz zwischen Sachaussagen u n d Soll-S~itzen zu ,,iiberbriicken" zu einem der wichtigsten Br/_ickenprinzipien. A u c h w e n n der Kritische Rationalismus im Ausschlussverfahren (in Bezug auf die Frage: ,,was kann gek6nnt werden?") manches Mal iibertreibt (es darf ja nicht vergessen werden, dass nicht nur ,,Sollen K 6 n n e n impliziert", s o n d e m auch , , K 6 n n e n Sollen"377): Das Realisierbarkeitspostulat als methodisches I n s t r u m e n t der Politikwissenschaft ist in bestimmten, n o r m a t i v ambitionierten Ansiitzen der zeitgen6ssischen Politikwissenschaft verloren gegangen. Es geht hierbei nicht u m die A b l e h n u n g des N o r m a t i v i s m u s im Sinne eines verabsolutierten E m p i r i s m u s 378, s o n d e m u m einen politisch realistischen u n d damit politikwissenschaftlich verantwortbaren Normativismus. D e m n a c h ist beim ,,kosmopolitischen Skeptizismus" bzw. ,,geltungstheoretischen K o n t e x tualismus" davon auszugehen, dass es fiir eine konsistente globale R e c h t s o r d n u n g oder gar fiir eine tragf;ihige Weltinnenpolitik ,,unerfiillbare Giiltigkeitsbedingungen ''379 gibt. Ein iibertrie-
372So {ihnlich z.B. auch Rainer Forst, Konte:,te der Gere&tigkeit. Polit~rchePhilosophiejenseits yon Liberalismus und Kommunitarfsmus, Frankfurt a.M. 1994. 373Der Begriff stammt yon Wolfgang Kersting, wobei Kersting diesen Skeptizismus nicht teilt (vgl. Wolfgang Kersting, Globale Rechtsordnung oder weltweite VerMlungsgerechtigke#? Ober den systematischen Grundrffl einer politischen Philos~hie der internationalen Be~ehungen, in: Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson / Karl Graf Ballestrem (Hg.), Politisches Denken. Jahrbu& 1995/96, Stuttgart / Weimar 1996, S. 197-246, 198.). Ein Pliidoyer fiir einen Universalstaat finder sich auch bei Vitorio H6sle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik J~r das 21. Jahrhundert, Miinchen 1997, S. 932-943. 374 Wolfgang Kersting, Globale Re&Isordnung oder weltweite Verteilungsgere&tigkeit? Uber den systematischen GrundriJ~ einer politischen Philosophie der internationalen Be~ehungen, in: Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson / Karl GrafBallestrem (Hg.), PolitischesDenken. Jahrbuch 1995/96, Stuttgart / Weimar 1996, S. 197-246, S. 199. 37s Georg Henrik von Wright, Norm andAction, London 1963, S. 109. 376Vgl. Hans Albert, Traktat igberkritische Vernunft, 4. Aufl., T~ibingen 1980, S. 4ff. 377 Die Frage muss also auch immer lauten, wie das Sollen auf das K6nnen sich auswirkt, wenn es selbst nicht am K6nnen orientiert ist. Und diese Frage ist au& rational erfassbar und in einen Probleml6sungsansatz im Sinne der kritisch-rationalen ,,Idee der ~itischen Prfifung" integrierbar. Damit k6nnte auch ein theoretisches Gegenargument zu heutigen engen Fassungen der Theorie der sogenannten (institutionellen) ,,Pfadabhiingigkeit" gegeben sein. Das K6nnen ist auf jeden Fall nicht statisch zu verstehen, sondem akteurs-, willens- und geistesabhiingig. 378 Vgl. zur berechtigten Kritik Ruth Zimmerling, Wissenschaft und Verantwortung. Ist die traditionelle Gegenigberstellungyon empirischer und normaliver Politikwissenschaft haltbar?, in: ZPol 1/96, S. 51-82, 68-72. Vgl. in einem anderen Kontext Jfirgen Habermas, Theorie des kommmunikativen Handelns. Band 1." I-Iandlungsrationalita't und geselk'&aftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 1995, S. 170f. 379 Wolfgang Kersting, Globale Re&tsordnung oder weltwe#e Verteilungsgerechtigkeit? Ober den systematischen Grundrffl einer politisoben Philosophie der internationalen Be~ehungen, in: Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson / Karl GrafBallestrem (Hg.), PolitischesDenken. Jahrbuch 1995/96, Stuttgart / Weimar 1996, S. 197-246, 198.
Theoretischer Bezugsrahmen und methodologischer Problemaufriss
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bener, fiber die G r e n z e n des K a n t s c h e n Begriffes des K o s m o p o l i t e n h i n a u s t r e i b e n d e s ,,Weltstaatsdenken" oder ,,Weltinnenpolitikdenken" im Sinne eines , , k o s m o p o l i t i s c h e n Kognitivism u s " - solange dieses D e n k e n sich nicht ehrlicherweise selbst als ,,Utopie" d e f m i e r t - gebiert d e m n a c h nichts weiter als lauter ,,begriffliche Chim~iren". 38~ D a m i t soil die Realit;,it einer ,,Tansnationalisierung" der Weltpolitik, also die Realit;,it einer ,,transnationalen Gesellschaft" zwischen Staaten u n d N i c h t - R e g i e r u n g s - O r g a n i s a t i o n e n (Firmen, K i r c h e n u n d Religionsorganisationen, zivilgesellschaftlichen, 6kologischen u n d humanitiiren Organisationen, V e r b r e c h e r syndikaten, Terroristen) seit d e m E n d e des 19. J a h r h u n d e r t s , nicht geleugnet werden. 381 Die ,,transnationale Gesellschaft" sollte allerdings nicht mit einer durchaus im E n t s t e h e n begriffenen 3g2, aber p o l i f s c h nicht sehr einflussreichen 383 ,,Weltgesellschaft" zwischen I n d i v i d u e n 384, o d e r gar mit einer potentiellen o d e r tell- u n d irrigerweise schon als real w a h r g e n o m m e n e n ,,internationalen Zivilgesellschaft" verwechselt werden. 385 Mit d e m A u f k o m m e n des A1Q u a i d a - T e r r o r i s m u s scheint letztere n o c h ,,utopischer" g e w o r d e n zu sein als n o c h 1990, als der Begriff fiberhaupt erst aufkam. 386 Fiir eine p o l i f s c h relevante ,,Weltgesellschaft" fehlt alleine schon die ethische Basis, da die , , A u t o n o m i e des I n d i v i d u u m s " als ein , , G r u n d d o g m a des Liberalismus" - ob n u n aus sozialen 387 oder kulturellen 388 G r i i n d e n - keinesfalls universal als natiirliche T a t s a c h e a n e r k a n n t wird, so dass es m f g l i c h w~ire, sie d u r c h die E r h e b u n g in den ,,Rang v o n V f l k e r r e c h t s s u b j e k t e n " zu einem , , G r u n d d o g m a der T h e o r i e der internationalen
38o Wolfgang Kersting, Globale Rechtsordnung oder weltweite Verteilungsgerechtigkeit? Uber den systematischen GrundriJ~ einer politischen Philosophie der internationalen Be~ehungen, in: Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson / Karl Graf Ballestrem (Hg.), Politisches Denken. Jahrbuch 1995/96, Stuttgart / Weimar 1996, S. 197-246, 198 Vgl. zur K_ritik: Bernard Willms, Politische Ideengeschichte, Politikwissenschaft und Philosophie, in: Udo Bermbach (Hg.), Politische Theoriengeschichte. Probleme einer TeildL@plin der Politischen Wissenschaft, Opladen 1984, S. 33-64, 48. Vgl. als Exempel das Wortgeklingel und die Chimiire vom ,,allgemeinwohlorientierten Weltstaat" bei Martin Albrow, Abschied vom Nationalstaat, Frankfurt a.M. 1998, S. 266-284. Vgl. als Beispiel fCir ein solcherart postuliertes Weltstaatsdenken in philosophischer Hinsicht Karl Jaspers, UrJprung und Ziel der Geschichte, MCinchen 1949, S. 246-266. Jaspers tr~iumte von einer welteinheitlichen, ,,weltinnenpolitischen", nationalstaatsauflfsenden f6deralen und demokratisch-,,soziaF~stischen" Weltordnung. 381 Vgl. Karl Kaiser, Transnationale Politik, in: Ernst-Otto Czempiel (Fig.), Die anachronistische Souvera'nitat. Zum Verha'ltnis yon Innen- undAuJ~enpolitik, K61n 1969, S. 80-109. Vgl. femerhin Robert O. Keohane / Joseph S. Nye (Hg.), Transnatiohal Relations and World Politics, Cambridge 1972; Joseph S. Nye, Das Paradox" der amerikanischen Macht. Warum die ein~.ge Supermacht der Welt Verb~ndete braucht, Hamburg 2003. 382Vgl. Barry Buzan, From International to World Society? English S&ool Theo~ and the Social Structure of Globalisation, Cambridge 2004, S. 14. 383Vgl. ebd., S. 269f. 384 Barry Buzan will den unergiebigen Inhalt des Begriffs ,,Weltgesellschaft" durch einen anderen, wissenschaftlich verwertbaren Inhalt ersetzen: Er schliigt vor, ,,Weltgesellschaft" als System der Gesamtinteraktionen zwischen Staaten und (sich bspw. zivilisatorisch definierenden) Staatenb/indnissen, Nicht-Regiemngs-Organisation und einzelnen Individuen zu verwenden (vgl. ebd., S. 202ff.). Zur Entwicklung des Begriffs vgl. ebd., S. 27-89. Die erste groBe Monographie zum Thema - eher idealistisch - stammte von John W. Burton, World Society, Cambridge 1972. 38s So z.B. Alejandro Col~s, International Civil Society. Social Movements in World Politics, Cambridge 2002, hier z.B. unter weitgehender Ausblendung und Unterschiitzung der Machtdimension sowie unter normativer Verkennung der Funktion weitgehend unregulierter Aktivitiiten von pr~tgkonomis&en Non-Governmental-Organizations, also von intemationalen Konzernaktivitiiten in einem geofkonomischen Wettbewerbskontext (der immer wieder AusmaBe eines ,,Raubtierkampfes" annehmen kann): ColOrs gibt zu, dass es ihm urn ein politisches Konzept eines neuen ,,sozialistischen Intemationalismus" geht (vgl. ebd., S. 188). Weiterfiihrende Literaturangaben zu dieser ,,Schule" finden sich ebd., S. 10 und 180 und bei Barry Buzan, From International to World Society? English S&ool Theo{7 and the Social Structure of Globalisation, Cambridge 2004, S. 77-87. 386 Vgl. Barry Buzan, From International to World Society? English S&ool Theo{7 and the Social Structure of Globalisation, Cambridge 2004, S. 80 und 85f. 387Vgl. James Mayall, Worlds Politics'. Progressand its Lam#s, Cambridge 2000. 388Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Miinchen 2002.
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Kapitel III
B e z i e h u n g e n " zu machen. 389 Die ,,transnationale Gesellschaft", wie wit sie heute vorfinden, hat im Ubrigen mit einer ausgefeilten Weltethik 39~ nicht wirklich etwas grunds~itzlich gemeinsam. Sie ist eher zwischen einem K a n t i s c h e m K o s m o p o l i t i s m u s u n d traditioneller ,,Intemationaler P o l i t i k " zwischen Nationalstaaten anzusiedeln. A u B e r d e m hat sich am grunds~itzlichen P r o b l e m des Weltstaatsdenkens, also an der Plausibilitiit des Kantischen D i k t u m s v o m gef'~ihrlichen D e s p o t i s m u s eines Weltstaates, im K e r n nichts gdindert. 391 Wie soil m a n als ,,Asylsuchender" einem , , W e l t s t a a t " i m Notfall entfliehen k6nnen? 392 D a n n doch lieber ,,hier und dort eine Freistatt ''393 linden als nirgendwo: ,,Die Menschheit als solche kennt keine Minderheiten, damit auch keinen Minderheitenschutz. Diesen kann n u t ein System gew~ihren, das sich selbst als partikular, nicht abet ein solches, das sich als universal-allgemein begreift. ''394 A b g e s e h e n davon entfiele mit der Staatenkonkurrenz zu allem Ubel auch n o c h die M6glichkeit des , , V e r f a s s u n g s v e r g l e i c h s " u n d damit die M6glichkeit zu ,,heilsamer Selbstkritik". 395 Das Staatenpluriversum ist d e m n a c h eine wichtige F o r m der Gewaltenteilung. 396 Darfiber hinaus bedeutet es ganz grunds~itzlich auch Freiheitsgarantie im Spannungsfeld zwischen Allgemeinheit u n d Konkretion: ,,Der neuzeitliche Staat ist der Begriff der Entwickeltheit der konkreten Allgemeinheit unter G e l t e n d m a c h e n des B e s o n d e r e n - d.h. der Freiheit. ''39v Diese Sicht wird nicht nur v o n konservativer Seite e i n g e n o m m e n : Insbesondere Will Kymlicka hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die nationale Identit~it ,,gerade deshalb ein sicheres F u n d a m e n t fi,ir die individuelle A u t o n o m i e u n d Ich-Identit~it" liefere, weil sie eben ,,nicht auf geteilten Wertvorstellungen beruht. ''398 Die resultierende Notwendigkeit einer ,,Nationalphilosophie" auf der Basis der Grundsatzposition, dass es als einzig politisch relevanten Philosophiegegenstand n u t das uns gegenwdrtig konfrontierende Ergebnis einer historischen Entwicklung geben kann (also keine ,,Zukunftsfiguren'~), war indes schon zu Zeiten y o n Bernard Willms - auf der Basis seiner ganz eigenen theoretischen P o s i t i o n i e r u n g - nicht die einzige M6glichkeit politischer Philosophie, weil die reale Basis, das Ergebnis historischer Entwicklung, die ,,Welt der G e g e n w a r t " nicht m e h r nur aus nationalstaatlicher Macht bestand. Fiir ein die heutigen Realit~iten umgreifendes politisches, ,,offensives D e n k e n " - zwanzig Jahre nach Willms u n d zehn Jahre nach der Wiedererlangung der v o n Willms unter widrigsten Umst~inden so sehr erkiimpften ,,deutschen Freiheit" (i.e. der deutschen Wiedervereinigung) - ist das erst recht der Fall. Die , , N a t i o n a l p h i l o s o p h i e " bleibt
389 So zurecht Clemens Kauffmann, ,,Clash of P%ws": WasJehlt dem politischen Iaberalismus zur Moral des 21. Jahrhunderts?, in: Walter Schweidler (Hg.), Werte im 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2001, S. 195-215, 211. 39oDiese versuchen z.B. zu konzipieren: Charles R. Beitz, Political Theo~ and International Relations, Princeton, NJ 1979; ferner Brian Barry, The Iaberal Theo~ ofJustice. A Critical Examination ~the Prindple Doctrines in ,A Theo~ ofJustice' by John Raw/s, Oxford 1973. 391Vgl. Josef Isensee, Die vielen Staaten in der einen Welt- eineApologie, in: Zeitschrift f6r Staats- und Europawissenschaften 1/2003, S. 7-31, insbesondere S. 22: ,,Der Alptraum des 21. Jahrhunderts, ,the clash of civilizations', wie er insbesondere zwischen der islamischen und der westlichen Kultur droht, kann durch das vielstaatliche System der Erm6glichung und Hegung yon Besonderheiten eher aufgefangen werden als durch einen Weltstaat, den ein Weltbfirger~ieg in Flammen setzen \vfirde." Vgl. zur Relativierung der ,,Globalisiemng" fernerhin Kenneth N. Waltz, Globaligation and American Power, in: The National Interest, spring 2000, S. 46-56. 392 Vgl. Josef Isensee, Die vielen Staaten in der einen Welt- eine Apologie, in: Zeitschrift f6r Staats- und Europawissenschaften 1/2003, S. 7-31, 26. 393 Ebd. 394Vgl. ebd., S. 24. 395Vgl. ebd., S. 24f. 396Vgl. ebd., S. 25f. und Norberto Campagna, CarlSchmitt. Eine Einfiihruneo~ Berlin 2004, S. 276. 397Bernard Willms, Poli/ische Ideengeschichte,PolitikMssem'chaft und Philosophie, in: Udo Bermbach (Hg.), Politische Theoriengeschichte. Probleme einer Teildis~plin der Politischen Wissenschaft, Opladen 1984, S. 33-64, 48. 398Will Kymlicka, Multikulturalismus und Demokratie. ([TberMinderheiten in Staaten und Nationen, Frankfurt a.M. 2000, S. 75.
Theoretischer Bezugsrahmen und methodologischer Problemauffiss
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zwar weiterhin eines der wichtigsten Zugiinge zu einem wirklichen politischen Denken, das diesen N a m e n verdient. N u t fiihrt das politische Denken heute - auf der gleichen konkreten Basis einer gegenwiirtig relevanten und damit einzig politikphilosophisch nutzbaren ,,conditio h u m a n a " zwischen freiheitlicher Besonderheit und begriffener A l l g e m e i n h e i t - fiber die Nation hinaus. Inzwischen ist auch ein auf ,,Zivilisationen" anwendbarer geltungstheoretischer Kontextualismus, der bei Willms oder Isensee nur in Bezug auf den Nationalstaat innerhalb des ,,Staatenpluralismus" zum Ausdruck kommt, fiir den anthropologischen Partikularismus von gr6Berer Bedeutung. Zivilisationen haben zwar keine formalrechtliche Bindungskraft, dafiir aber jetzt schon eine potentiell politische, welche nur noch abgerufen werden mfisste. Dabei besagt der ,,anthropologische Partikularismus" nichts weiter, als dass ,,die Grammatik unserer normativen Diskurse partikularistisch" ist; ,,normative Begriffe haben eine gemeinschaftsrelative und gemeinschaftskonstitutive Bedeutung. ''399 Sie dienen alleine ,,der politischkulturellen Selbstverstiindigung einer partikularen Gruppe, verlieren jenseits der [partikularen] Grenzen ihre Bedeutung und verbindliche Ordnungsfunktion. ''4~176 Die ,,Welt" ist insofern kein ,,normativer Kontext ''4~ sondern nur eine ,,normative Konstruktion", wS.hrend die konkrete Erfahrung im Partikularen entweder nut einen partikularen Konstruktivismus gebiert (Hobbes) oder gar fiber das Konstruktivistische hinausgeht (praktische Philosophie). Die ,,Welt" ist demnach kein umfassender ,,Geltungsraum moralischer Priidikate", jedenfalls ist sie das immer nur in einem graduell iiul3erst schwachen Sinne. Es gibt keine politische, das Moralische konkretisierende , , W e l t g e m e i n s c h a f t " und erst recht kein ,,einheitliches Subjekt einer identitiitsbildenden Weltgeschichte". Es gibt keine ,,globale Selbstverstiindigung mit einer ubiquitiir verbindlichen normativen Grammatik; folglich gibt es auch keinen gemeinsamen begrifflichen Fundus, der eine Welthermeneutik bei ihrer Suche nach den heimlich regierenden und inmitiv vorab anerkannten Prinzipien aufldiiren k6nnte. ''4~ Was es als universalen K.onsens gibt, ist weiterhin nicht mehr als ,,menschenrechtliche Semantik". 4~ Es gibt kein ,,einheitlichmoralisches Weltbewusstsein. ''4~ ,,Die Bedingung der M6glichkeit" eines ,,weltstaatskonstituierenden" oder gar Distributionsgerechtigkeit 4~ erm6glichenden Kosmopolitismus f~illt mit den ,,Grfinden seiner faktischen l~)berflfissigkeit" zusammen. 4~
399 Wolfgang Kersting, Globale Re&tsordnung oder weltweite Verteilung~gere&tigkeit? Uber den systematischen GrunddJZ einer politischen Philosophie der internationalen Be~ehungen, in: Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson / Karl Graf Ballestrem (Hg.), PolitischesDenken. Jahrbuch 1995/96, Stuttgart / Weimar 1996, S. 199. 400Ebd. 401Vgl. im folgenden ebd. 402Ebd. 403Josef Isensee, Die vielen Staaten in der einen Welt - eine Apologie, in: Zeitschrift ffir Staats- und Europawissenschaften 1/2003, S. 7-31, 27. 404 Wolfgang Kersting, Globale Rechtsordnung oder weltweite Verteilungsgere&tigkeit? ([Tber den systematischen GrundriJ~ einer politischen Philosophie der internationalen Be~ehungen, in: Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson / Karl Graf Ballestrem (Hg.), PolilischesDenken. Jahrbu& 1995/96, Stuttgart / Weimar 1996, S. 199. 40s Wolfgang Kersting tritt zusammen mit John Rawls ffir eine Weltrechtsstaatskonzeption auf der Basis des ,,kosmopolitischen Kognitivismus" ein. Beide berufen sich auf Kants ,,Ewigen Frieden", abet glauben zugleich, entscheidend fiber ihn hinausgehen zu k6nnen (vgl. ebd., S. 200f.). Sie grenzen sich darnit yon einer noch weitergehenden kosmopolitischen Ausrichtung ab, den Weltsozialstaatskonzeptionen z.B. eines Charles Beitz, der ffir eine internationale Gerechtigkeitsethik als Primiirbedingung des Kosmopolitischen eintritt und seinem Lehrer John Rawls einen halbierten Gerechtigkeitsbegriff zum Vorwurf macht (vgl. Charles Beitz, Political Theo{7 and International Relations, Princeton 1979). Dass die Intemationalisierung des Rawlschen Gerechtigkeitsbegriffes im Sinne von Charles Beitz aus der Sichtweise eines gemiii3igten kosmopolitischen Kognitivismus sehr problematisch ist, macht Wolfgang Kersting in Anlehnung wiederum an Rawls in seinem Aufsatz sehr sch6n deutlich (vgl. Wolfgang Kersting, Globale Rechtsordnung oder we/tweite Verteilungsgere&tigkeit? Uber den ~ystematischen GrundtgJ~einerpolitischen Philosophie der internationalen Be~ehungen, in: Volker
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Kapitel III
d) M6glichkeiten u n d G r e n z e n der Vereinbarung v o n kollektivem Stolz u n d individueller Freiheit Da einer neosubstantialistischen W e n d e sehr leicht D o g m a t i s m u s und eine ,,romantische Vorliebe f/.ir das Gef'~ihrliche" vorgeworfen werden kann 4~ stehen identit~itsstiftende Ideen unter Generalverdacht. Eine m e t h o d i s c h e Immunisierungsnotwendigkeit gegeniiber d e m V o r w u r f des , , D o g m a t i s m u s " ist auf der Basis einer grunds~itzlich a n z u s t r e b e n d e n Kritikf'~ihigkeit des eigenen m e t h o d i s c h e n Ansatzes nicht zu leugnen. In dieser Arbeit sollen in diesem Z u s a m m e n h a n g die kritischen Relativierungen, die Max W e b e r und I m m a n u e l K a n t bei ihren m e t h o dischen Zug~ingen angewandt haben, herangezogen werden: N a c h W e b e r d/_irfen aufgrund seines Werturteilsfreiheitspostulats 408 in der Wissenschaft ,,Idealtypen" bekanntlich me als normatives Ziel, sondern nur als E r k e n n t n i s m e d i u m verstanden werden u n d nach K a n t ist ein ,,Ding an sich" auf keine Weise f/.ir den M e n s c h e n erfahrbar, allerdings das ideelle Postulat eines solchen praktisch unabdingbar. Die in der Arbeit angewandten n o r m a t i v e n D e u t u n g e n werden d e m n a c h i m m e r als Begriffe reflektiert, die aus einer Vorurteilsannahme zugunsten eines ,,neuen Substantialismus" resultieren, also nie ,,objektiv wahr", sondern eben einfach nur ,,wahr" im Sinne y o n ,,als wahr verstanden" (Weber) oder eben ,,praktisch wahr" (Kant) sein k6nnen. U n d die Differenzierung zwischen ,,regulativer Idee" im Sinne K a n t s u n d ,,objektiver Sinneinheit" im Sinne eines D o g m a s k6nnte die M6glichkeit bieten, kultur- und zivilisationsstolze Gef6hle positiv zu w e n d e n und sie nicht wieder leichtfertig auf d e m Altar der trockenen Behauptung, dass ,,Stolz anachronistisch geworden ''4~ sei, zu opfem. Die stolze Bejahung der eigenen zivilisatorischen Werte vollzieht sich d e m n a c h - unbewusst oder b e w u s s t - in einem , , A l s - O b " - M o d u s , der m e h r als eine , , K o n s t r u k t i o n " darstellt, da er praktisch unverzichtbar ist und sich gerade deshalb auch mit liberalen Werten verbinden kann, nicht m e h r nur mit kulturkonservativen, partikularistischen oder antiuniversalistischen. So w~ire zu verstehen, wie sich ein romantischer, idealistischer und auch aggressiver Charakter in den B/.ichern Fallacis (oder in den AuBerungen Pim Fortuyns) mit starken liberalen, weil autonomiezentrierten, wertetoleranten u n d sogar leiblich-genusszentrierten Bezi~gen verkniipfen kann: So positioniert z.B. Fallaci junge, sich in der Offentlichkeit dezent liebevoll k/issende Menschen, gegen ein diametral entgegengesetztes Bild islamistisch-rigoristischer Intransigenz u n d sieht zugleich keinen Wider-
Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson / Karl Graf Ballestrem (Hg.), Politzirches Denken. Jahrbuch 1995/96, Stuttgart/Weimar 1996, S. 197-246, 220-237). 406Vgl. ebd., S. 199f.; dieser Kontextualismus kann z.B. sehr deutlich veranschaulicht werden anhand des Werkes eines der radikalsten Kontextualisten: Panajotis Kondylis, Planetadsche Politik ha& dem Kalten K~fed~Stuttgart 1992. 407Vgl. z.B. die K_ritik an B(icher wie das yon Oriana Fallaci, Die Wut und der Stolao 5. Aufl., M{inchen 2002; vgl. zum /~berw~iltigendenPublikumserfolg (insbesondere in Italien und Frankreich) Walter Laqueur, Krfeg dem Westen. Terrorfsmus im 21. Jahrhundert, Berlin 2004, S. 258. 408 Was allerdings nicht besagt, dass Wissenschaft keinem normativen Zweck dient. F(ir Max Weber geht es bei der Anwendung der Werturteilsfreiheit auch datum, die gesinnungsethische Wertpr{imisse eines Wissenschaftlers durch das als ,,wissenschaftlich-methodische Mittel" verstandene Prinzip der Werturteilsfreiheit auf seine Tauglichkeit in der praktischen Politik hin abzuprfifen, um daraus dasjenige praktische Handeln zu ~iren, das den ethisch-politischen Zweck der Wertpriimisse in der Realitiit und angesichts eines Pluralismus der Werte bestm6glich (im Sinne yon verantwortungsethisch) zur Verwirklichung bringt. Wertungen, auch eigene, werden also immer auch in ihren Nach- und RCickwirkungen durchdacht. Eine ~thnliche Wissenschaftsethik verfolgt Karl Popper: Demnach kann auch derjenige, der sich am deskriptiven Ansatz orientiert, nicht werturteilsfrei sein, h6chstens kritikf'~ihig. Der Grund besteht bei Popper darin, dass er einsieht, was Voegelin einst Weber vorgeworfen hat, dass also das Wertefreiheitspostulat selbst einen Wert darstellt, und ohne den Wert der Wissenschaftsfreiheit w{ire das Wertefreiheitspostulat ohnehin nicht anwendbar. 409 Ebenso kritisch Michael Novak, Vision eines AmedkanerJ. Europa und Amerfka im globalen Zusammenhang, in: Die politische Meinung Nr. 422 (01/2005), S. 25-32, 26.
Theoretischer Bezugsrahmen und methodologischer Problemaufriss
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spruch darin, einerseits im ganzen Buch ein symbolisch-praktisches Bekenntnis zur ,,Freiheit" zu erdichten und zugleich die ,,zu" liberalen Antisymbolisten, A t o m i s t e n bzw. Werterelativisten als , , L u x u s z i k a d e n " zu verunglimpfen. 41~ Man kann im U b r i g e n - n e b e n der ,,Piirchenromantik" - n o c h andere assoziative Bilder hinzufiigen, die z u m ,,Lebensgefiihl" des , , W e s t e n s " wie die Luft z u m A t m e n dazugeh6ren: Z u m Beispiel die Frau als menschliche Person: O h n e die Unterschiede zwischen M i i n n e m und Frauen damit zwangsliiufig zu negieren u n d auch ohne eine feministische Variante des Frauenverst~indnisses zu vertreten, so kann doch behauptet werden, dass es (seit etwa d e m 20. Jahrhundert) ein typischerweise im , , W e s t e n " anzutreffendes P h i i n o m e n ist, dass es Frauen soziaimoralisch gestattet ist, allein u n d in G r u p p e n ,,in Bars und Restaurants zu gehen, Alkohol zu trinken, sich ebenso liissig anzuziehen wie Miinner, ihre K 6 r p e r unpuritanisch [dezent] zu entbl6Ben ''411 und s i c h - erm6glicht durch die revolutioniire ,,Automation und Mechanisierung ''412 der Haushaltsgeriite, v o n d e r ,,kreatiirlichen Last des Haushaltes ''413 - ein St-tick weit zu befreien. 414 Die Romantisierung (und Vervollstiindigung) des Liebesbegriffs 41s, die aus der christlichen M o n o g a m i e entsprang, welche nicht m e h r wie zu R o m s oder Athens Zeiten durch die Sklaverei ,,temperiert" war, schuf die historischen Voraussetzungen der Idealisierung der Frau durch den Mann, welche ,,die primitive Vorstellung des Urpatriarchats abl6ste, die Frau bloB als eine Art Lasttier des Mannes zu verstehen. ''416 Ein weiteres Besipiel ist das moderne Reisen und die damit v e r b u n d e n e Meereslust des ,,Westlers", so wie sie der Historiker Alain Corbin m seinem Werk ,,Le territoire du vide" gezeichnet hat: das Reisen, scheinbar ohne sachlichen Zweck, und die sich in der Aufldiirung entwickelnde u n d in der R o m a n t i k kulminierende ,,Lust am Meer" und an der Kiiste u n d den Sandstrand, ob n u n in der Literatur, der Malerei, der Psychologie, der Asthetik, oder gar im Bereich der Hygiene u n d der sozialen Welt. Eine Lust, welche die sprachlose, mittelalterliche Tabuisierung des Meeres u n d Angst vor seiner schauerlichen Unterwasser-Riitselhaftigkeit, die F u r c h t vor der im Meer auffmdbaren Theatralik der Leere, des Wechselspiels zwischen Ruhe, Leere, Gewalt und Grausamkeit abl6ste. A n die Stelle der Angst trat ein spielerischer, neugieriger u n d hedonistischer Umgang, welcher die Sch6nheit der s c h a u m u m w o b e n e n Meereswellen und das stoische E l e m e n t des Z u s a m m e n t r e f f e n s der E l e m e n t e Wasser, Luft u n d Erde, in den Mittelpunkt einer nicht m e h r angst-, sondern faszinationsbehafteten N a t u r b e o b a c h m n g riickte. Z u m Tragen kam eine Asthetik der B a d e n d e n sowie eine schauerliche )~sthetik des K a m p f e s zwischen Mensch u n d Wattenmeer. 41v 410Eine weitere sch6ne Bezeichnung findet sich in einem Kommentar einer indischen Zeitung in Zusammenhang mit den Ausftihrungen Arundhati Roys 2001 in der FrankfurterAllgemeinen Zeitung, dem Guardian und in Le Monde: ,,Champagnersozialisten" (vgl. Walter Laqueur, Krieg dem Westen. Terrorismusim21. Jahrhundert, Berlin 2004, S. 255). Man k6nnte auch ,,Kaviarlinke" dazu sagen. 411Herbert von Borch, Amerika. Dekadenz und Grille, M/inchen / ZCirich 1981, S. 189. 41~_Ebd. 413Ebd. 414Ebd., S. 189f. 41s Liebe soll in Anlehnung an Vitorio H6sle als das ,,F/ihlen von Werten" def'miert werden (Vitorio H6sle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethikfiir das 21. Jahrhundert, M/inchen 1997, S. 377f.). Dernnach ist der Mangel an Liebensw/irdigkeit und -f';ihigkeit die Quelle des tyrannischen Charakters (vgl. ebd., S. 463). 416Arnold Gehlen, Matriarchat (1973), in: Ders., Die Seele im technischenZeitalterund andere so~alp~chologischeund kulturanalytische Schriften, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M. 2004, S. 542-551,545. ,,Seitdem haben die Miinner angefangen zu idealisieren, zuniichst die Frauen und das Verhiiltnis zu ihnen, sodann aber hat sich ganz allgemein eine idealisierende Stimmung entwickelt (...) und in der neueren Geschichte einen unberechenbar groBen Einfluss ausge/ibt." (Clemens Theodor Perthes, FriedrichPerlhesLeben, Gotha 1855, S. 175f., zit. nach s.o., S. 545f.). 417Vgl. fabelhaft Alain Corbin, Meereslust. DasAbendland und die Entdeckung der Ki&te, Frankfurt a.M. 1994.
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Kapitel III
Das ist aul3erhalb des Westens in grol3en Teilen dieser Welt nicht immer eine Selbstverstiindlichkeit: Sei es das 6ffentliche P~irchen und die (bis hin zum Kitsch) inszenierte Liebesund PS_rchenromantik in freiziigiger Form, die Frau als 6ffentliche, menschliche Person, die Lust am Reisen und die Faszination gegeniiber der Natur und dem Meer sowie die Entdeckung des Strandes, bis hin zum therapeutischen Einsatz im Rahmen von Thermalkuren oder zu Phiinomenen wie Aquarien, Strandpromenaden und einer Kultur des Badeanzugs (und in unserem Zeitalter sogar der Br~iunung). Besteht denn nun, auch auf dieser Basis ,,gesellschaftlicher" und personaler Freiheiten, die Mtglichkeit einer Verbindung mit einer F o r m des Idealismus, des Kulturkonservativismus (,,wit sind stolz auf unsere Traditionen") und eines nominalistischen , , K e m l i b e r a l i s m u s " , und zwar so, dass diese Mtglichkeit auch wirklich den ganzen , , W e s t e n " umfasst? Wiire die Alternative nicht eine Verabsolutierung des Absurden auf der Basis der ,,Erkenntnis", dass es die ,,eigenen Errungenschaften" als solche nicht kollektiv und emotional erfahrbar in einem freiheitlichen Gemeinwesen geben kann? Und fiihrte diese Verabsolutierung nicht letztlich zu destruktiver Selbstverachtung, destruktiv in einem politischen und in einem demographischen Sinne? 418 K a n n ,,Freiheit ohne Sinn" iiberhaupt ,,Freiheit" sein? Gibt es also ,,tiefe", ,,dichte" Aspekte gerade der ,,westlichen Kultur" auch im Sinne der ,,liberalen" Kultur, und sind diese Aspekte ,,wissenschaftlich" iiberhaupt erfassbar? In welchem wissenschaftsmethodologischen Modus kann, wenn iiberhaupt, diese Erfassung erfolgen? Und spiitestens kier sind wir bei einer sehr politischen Betrachtung angelangt: Ist auf der Basis eines mtglichen, jetzt in Grundziigen skizzierten Neosubstantialismus eine Verbindung von ,,Stolz und Freiheit" als psychologische und politische Identitiitsstiftung realistisch? Besteht die Mtglichkeit, diese Verbindung auch wirklich nicht im Sinne einer Risiko- oder gar Gefahrenmaximierung, sondern vielleicht, im Gegenteil, der Sicherheitsmaximierung zu verstehen? Besteht also die Gefahr der freiheitlichen Ordnungen heute nicht mehr so stark in ihren ,,Feinden", sondern in ihrem eigenen metaphysischen Defizit? Ist vielleicht, auf der Basis einer m t g l i c h e n Gefahrenapperzeption vor dem Hintergrund einer mtglichen Unabwendbarkeit des Aufstiegs substantialistischer Bewegungen ,,von unten" (und diese sind heute eher islamisch statt christlich419), die rationalisierende Aufnahme der angesprochenen Gefiihlsregungen im , , W e s t e n " sogar nicht unabdingbar? Gibt es gar eine normativ begriindbare elementare ,,Freiheit" oder gar Notwenigkeit einer Freiheit der Menschen zur Selbstbehauptung im symbolischen Bekenntnis, die der linksliberalen These v o n d e r ,,Repressivit~it" jeglicher symbolischer Einschw6rungen auf , , W e r t e g e m e i n s a m k e i t e n ''42~ widerspricht, die aber den Menschen im ,,Westen" in Verbindung mit einem westlichen Kulturrelativismus vorenthalten wird? Wovon hiingt das Angebot fiir symbolische Bekenntnisse ab und kann es selbst diese Freiheitsbe-
418 So z.B. Michael Novak, VMon eines Amedkaners. Europa und Amerika im globalen Zusammenhang, in: Die politische Meinung Nr. 422 (01/2005), S. 25-32, 25f. Vgl. zur demographischen Dimension: Pierre Chaunu, Die Wuezeln der Freiheit, M/inchen 1982, S. 261. 419Vgl. sehr schtn Michael Novak, Vision einesAmerikaners. Europa undAmerika imglobalen ZusammenhanA in: Die politische Meinung Nr. 422 (01/2005), S. 25-32, 26: ,,Es gibt jedoch in Europa immer noch zumindest eine zahlenmN3ig starke und immer st{irkerwerdende Gruppe, f/it die das Leben einen Sinn, ein Ziel und eine Richtung hat - der breite Strom der Muslime, die ganz often und legal nach Europa kommen. Ohne einen Laut iiberw{iltigendie Muslime den Wohlfahrtsstaat von innen heraus, ganz einfach mit ihrer Fruchtbarkeit und ihrem Optimismus. Was sie 1565 in Malta, 1571 bei Lepanto oder 1683 vor Wien nicht mit Waffengewalt erreichen konnten, erreichen sie jetzt fast ohne Gegenwehr allein mit dem Vorteil, den ihnen ihr Zielbewusstsein im Vergleich zu der Doktrin der Absurdit{it des Lebens bietet." 420Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim, IndividualMerung in modernen Gesellschafien- Perqoektiven und Kontorversen einer subjektorientierten So~ologie, in: Dies. (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994, S. 10-39, 34.
Theoretischer Bezugsrahmen und methodologischer Problemauffiss
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wegungen o d e r - i d e e n aus der Perspektive eines n o r m a f v e n Modells, z.B. eines personalen Unver{iul3erlichkeitspostulats, kanalisieren? U n d wer ist der Adressat? Das ,,Ful3volk" oder die ideenembringenden und implementierenden Eliten?
5. A b s c h l i e B e n d e A n m e r k u n g e n zur identit~itspolitischen Rolle der Eliten In Bezug auf die letzte Frage sollte noch das glitenverstiindnis vorgestellt werden, y o n dem der Verfasser ausgeht: A m Anfang steht die Hypothese, dass die Frage der im v o r h e r g e h e n d e n Abschnitt erwogenen ,,Kanalisierung" sowohl die ,,Elite" als auch die ,,Masse" betrifft, dass es sich aber beim Elite- und beim Massenverhalten u m eine dimorphe Erscheinung handelt, d.h. die Verhaltensweisen stehen zwar nebeneinander, sind aber stark unterschiedlich. Dabei sollte die Irrationalitiit und Manipulierbarkeit der Masse zwar nicht, wie bei Schumpeter 421, zum Credo erhoben, aber auch nicht geleugnet oder eskamotiert werden. A u f die Elite bezogen ist zu konstatieren, dass Weltbilder auch ,,die oftmals unbewusste kognitive Landkarte politischer Eliten" formen und ,,Ausgangspunkt" ,,flit deren [aul3en]politische Ordnungsvorstellungen und Strategieentscheidungen" sind. 422 Bei ,,Eliten ''423 handelt es sich demnach nie alMne u m , , M a c h t g r u p p e n " (so Vilfredo Pareto, Gaetano Mosca, Robert Michels) oder ,,Funktionseliten ''424, s o n d e m auch u m , , W e r t e l i t e n " (so z.B. Ortega y Gasset, Jacob Burckhardt, T.S. Eliot, Alfred Weber, Arnold Gehlen, Wilhelm R6pke, aber auch Oswald Spenglers ,,Preul~en"425). Zur , , F u n k t i o n " der Eliten geh6rt demnach auch die Vorgabe bzw. das A n g e b o t von Perzeptionen, die zu ,,shared meanings" (gemeinsam getragenen Uberzeugungen) fiihren: Geteilte Uberzeugungen indes konstimieren nach T h o m a s K u h n ein Paradigma, welches ,,ein ,Begriffsnetz' darstellt, mit dem die Mitglieder der Gesellschaft die Welt betrachten. ''426 Entscheidend ist jedoch, dass dieses sozial durchaus wirksame und wichtige Paradigma (,,politische Kultur") ,,nicht selbst soziale Handlungswirklichkeiten oder konkrete Politiken ''427 bestimmt. Zwar substituiert politische Kultur nicht Interessen, Macht und Wirtschaft, aber sie steht d e n n o c h Interessen, Macht und Wirtschaft nicht nach: Sie ist ein ,,komplementiirer Er421Vgl. Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, So~alismus und Demokratie, 3. Aufl., M/inchen 1972. 422 Katja R/ib / Jfirgen Wilzews~, Dominan z statt Abs&reckuneg. Amedkanische Auagenpolitik nach dem 11. September, in: Wemer Kremp / J/irgen Wilzewski (Hg.), Weltmacht vor neuer Bedrohung. Die Bush-Administration und die US-AuJ~enpolitik ha& dem AngffJ aufAmetika, Trier 2003, S. 9-20, 12; vgl. theoretisch Gottfried-Karl Kindermann, Wettverstdndnis und Ideologie als Faktoren auswdrtiger Politik, in: Ders. (Hg.), Grundelemente der Weltpolitik. Eine Einfdhrun~ 2. Aufl., M/inchen 1981, S. 107-126, 110. 423Der Begriffgeht zurfick auf lat. eligere = auslesen. 424 V g l . Mrs Jaeggi, Die gesellschaftliche Elite, 2. Aufl., Bern/Stuttgart 1967. 42s Oswald Spengler ist der erste Denker, der das Bild einer gesamtwestlichen Elite gezeichnet hat, wenn auch unter starken profaschistischen Vorzeichen (er hielt Mussolini f/ir einen Vertreter dieser Elite): ,,Ich m6chte fiber den Begriff Preul3entum nicht missverstanden werden. Obwohl der Name auf die Landschaft hinweist, in der es eine miichtige Form gefunden und eine grol3e Entwicklung begonnen hat, so gilt doch dies: Preui3entum ist ein Lebensgefiihl, ein Instinkt, ein Nichtandersk6nnen, es ist ein Inbegriff von seelischen, geistigen und deshalb zuletzt doch auch leiblichen Eigenschaften (...) Es ist liingst nicht (...) jeder Preul3e ein ,Preul3e'." Und: ,,Nicht jeder ist Preul3e, der in PreuBen geboren ist; dieser Typus ist 6befall in der weil3enWelt m6glich, und wirklich, wenn auch noch so selten, vorhanden." (erstes Zitat: Oswald Spengler, Preuj~entum und So~aIismus, M/inchen 1919, S. 29; zweites Zitat: Oswald Spengler,Jahre der Entscheidung. Erster Tell: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung~ M/inchen 1933, S. 139). Vgl. auch Michael Th6ndl, Wie oft stirbt das Abendland? Oswald Spenglers These yore z'weifachen Untergang, in: Archly fiir Kulturgeschichte, Bd. 2004, Heft 1, S. 441-461,452-457. 426 Hans Vorliinder, Hegemonialer Idberatismus. Politisches Denken und politische Kultur in den USA t 776-1920, Frankfurt / New York 1997, S. 66. 427 Ebd.
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Kapitel III
kl~irungsansatz". 428 Auf dieser Grundlage erscheint es sehr plausibel nach Pareto davon auszugehen, dass Werte und Machtbehauptung von ,,Eliten" nicht so einfach voneinander zu trennen sind, da Revolutionen (im Sinne von gewaltt~itigen Rebellionen) nie von der Konstitution von Eliten zu trennen sind: ,,Wenn sich in den oberen Schichten (...) dekadente Elemente ansammeln, die nicht mehr fiber die zur Machtbehaupmng tauglichen Residuen verffigen, (...) w~ihrend in den unteren Gesellschaftsschichten sich qualitativ {iberlegene Elemente herausbilden ''429, dann sind die Voraussetzungen ffir Umsmrze gegeben: Ob nun ,,oben" oder ,,unten", ob nun bei den ,,herrschenden Eliten" oder den ,,nichtherrschenden Eliten", entscheidend ist die Frage, was diese ,,qualitativen Elemente" denn in der heutigen Zeit sein mfissen. Genau diese fiir die transatlantisch-westlichen Eliten zur Verfiigung stehenden ,,qualitativen Elemenre" sollen in der Arbeit anhand der politischen Idee ,,Atlantische Zivilisation" in den n~ichsten Kapiteln entwickelt werden. Entscheidend ist am Ende, ob die Eliten nach diesen qualitativen Elementen, i.e. Werten der ,,Atlantischen Zivilisation" handeln oder nicht. In diesem Sinne sah z.B. James Bryce in seinem Opus Magnum ,,Die Zukunft der Demokratie" (1921) ,,verbliiffenderweise", wie es Hans-Peter Schwarz einmal formulierte, die Bedrohung der ,,Demokratie" nicht gegeben durch ,,neue F o r m e n der Tyrannis, sondern die M6glichkeit, dass bei den gebildeten Schichten und Funktionseliten der zivilisierten Staaten ,die Liebe zur Freiheit' einer apolitischen Indifferenz Platz machen k6nnte. ''43~ Und nach James Bryce liisst sich die ,,Qualit~it" des Westens im Begriff der Freiheit als Weft zusammenfassen.
428Hans Vorl~inder, HegemonialerLJberalismus. PolitischesDenken undpolitische Kultur in den USA 1776-1920, Frankfurt / New York 1997, S. 66. 429 Vgl. Vilfredo Pareto, Traitg de sodologieggngrale,Paris 1917/1919, ~ 2057. 43o Hans-Peter Schwarz, Die Zukunft der Demokratie im 20. Jahrhundert, in: Manfred Funke u.a. (Hg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestaltpolitischer Herrschaft in Deutschland und Europa, Bonn 1987, S. 598-613, in Anlehnung an James Bryce, Modern Democracies,London 1921, S. 659.
IV. Der Zivilisationsbegriff
Die Begriffsgeschichte des sich im 17. und 18. Jahrhundert einbiirgemden Zivilisationsbegriffs ist vielschichtig und komplex. Der Begriff wurde m verschiedenen Liindem, zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Autoren unterschiedlich gebraucht. 431 Ffir die Zwecke dieser Arbeit reicht es aus, wenn zusammenfassend von einem singularen und einem pluralen Zivilisationsverstiindnis ausgegangen wird. Ersteres geht von einer Weltzivilisation aus, letzteres von mehreren ,,Zivilisationen" in der Welt. Das Singularverstiindnis liisst sich noch einmal unterteilen in ein normativ aufgeladenes Singuldrverst'andnis, das von der positiven oder negativen Einzigartigkeit der e i n e n - angestrebten oder abgelehnten-Zivilisation ausgeht, und einer primiir neutralen Interpretation, das die eine, einheitliche Zivilisation als ein sich im Wandel befmdliches Resultat einer historischen Prozessdynamik auffasst.
1. Das singuldre Zivilisationsverstfindnis: Die positiv oder negativ normativierte und als universalisierbar angenommene Singularzivilisation Die ,Zivilisation' als kollektive und universalisierbare Smgularitiit in einem normativ positiven oder negativen Sinne ist ein Ausfluss eines genuin westlichen Universalismus. Wir k6nnen beim smguliiren Zivilisationsverst~indnis zwischen einem kulmralistischen (negativ gewendeten und explizit nicht universalistischen) und einem imperialen (positiv gewendeten) Zugang unterscheiden. Die kulmralistischen Zugiinge gehen yon einem nicht-universalistischen Kulmrbegriff aus, die imperialen Zugiinge yon emer - singularen - Zivilisation als normafiv priiferierte und potentiell universal existente ,,Weltzivilisation" sowie als praktisch durch den partikularen Zivilisationstr~iger zu universalisierende Lebensform.
1.1 Der kulturalistische Zivilisationsbegffff
a) Der Kulturbegriff Der moderne Kulturbegriff land in einem noch strikt antinaturalistischen Sinne zum ersten Mal beim italienischen Geschichtsphilosophen Giambattista Vico (1668-1774) seine philosophisch-systematische Anwendung. 432 Die ,,Kultur" stand der ,,Natur" als Medium der Sittlichkeit und Humanit~it in einem normativ positiven Sinne gegeniiber. In Analogie zum methodischen 0berpriifungsprinzip im cartesianischem Rationalismus (,,methodischer Zweifel") und dem daraus folgenden mathematischen Formalismus begriindete Vico das ,,vom Menschen Geschaffene" als neues 15berpriifungsprinzip. Mit der ,,Kultur" wurde also auf den menschli431 Vgl. J6rg Fisch, Zivilisation, Kultur, in: Otto Brenner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. HistotischesLexikon zurpolitisch-so~alenSprache in Deutschland(Band 7), Stuttgart 1978, S. 679-774. 432Vgl. im folgenden ThomasJung, Geschichteder modernenKulturtheoffe,Darmstadt 1999, S. 17-27.
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Kapitel IV
chen Geist geschlossen. Ffir jede geschichtliche Kultur gibt es demnach eine ,,forma mentis", d.h. eine die faktische Kultur formende Geistesmentalitiit, so dass Kulturfakten zu jeweiligen Mentalitiiten einer geschichtlichen Kultur verdichtet wurden. In seiner Geschichtsschreibung versuchte Vico dementsprechend, Geschichte von der Geschichte des menschlichen Geistes her zu verstehen, wobei er die ,,Kulturminiaturen" als methodische Spezialitiit entwickelte: in winzigen Kulturdetails - Briiuchen, Mythen, Redensarten, Metaphem e t c . - k f n n e eine ganze Welt wiedererkannt werden, in der sich eine ganze Kultur widerspiegelt. In impliziter Verbindung dieser Begriffstradition mit den normativen und iisthetischen Aspekten, die sich in einer Kultur iiul3ern, sieht der amerikanische Kulturanthropologe Richard Shweder in der ,,Kultur" die ffir eine zusammenhiingende Gruppe von Menschen (Shweder spricht von ,,Gemeinschaft") ,,typischen Ideen darfiber, was wahr, gut, schfn und effizient ist", die just dann , , k u l t u r e l l " werden, sobald diese Ideen fiber Wahrheit, Gfite, Schfnheit und Effizienz sozial ererbt und gewohnheitsmiiBig sind und sich als ,,tats~ichlich konstitutiv ffir verschiedene Lebensweisen"433 innerhalb dieser Gemeinschaft herausstellen. Kulturen unterscheiden sich demnach durch verschiedene Wert- und Tugendsysteme. 434 Zugleich mfissen insbesondere die Praktiken der Gemeinschaft betrachtet und mit den Wertigkeiten verglichen wetden. 435 Letzteres ist das entscheidende Bindeglied aller Kulturdefmitionen, die nicht die Idee oder die normative Idee alMne als das entscheidende Element des Kulturellen ansehen, sondem die Verbindung yon materieller Form und Idee: Die Verbindung entsteht durch den symbolischen Ausdruck yon Sinngehalten. Kultur ist zugleich ,,Lebenss61", und zwar Lebenss61 einer zusammenhiingenden Gruppe yon Menschen im Sinne einer ,,Gemeinschaft" (im Sinne von Ferdinand Tfnnies). Auf dieser Basis kann nun eine Definition des Kulturhistorikers Pieter Jan Bouman aufgegriffen werden. Die Kultur als ein derartiger ,,Lebensst~" ist demnach ,,die Einheit yon Geist und materieller Form, der organische und unergrfindliche Zusammenhang zwischen Glauben und Kunstausdruck, zwischen Intellekt und Technik, zwischen Bedarf und wirtschaftlicher Organisation. ''436 Ihren H f h e p u n k t fmdet diese Einheit im symbolischen Ausdrficken yon Sinngehalten als tragendes ,,empirisches" Merkmal yon ,,Kultur".
b) Der Zivilisationsbegriff im radikalkulturalistischen Ansatz Der radikalkulturalistische Ansatz geht von einer Entgegensetzung von , , K u l t u r " und ,,Zivilisation" aus. Die Priimisse dieser Entgegensetzung ist die These vom absoluten Gegensatz ,,oberfliichlicher Zivilisation" und ,,tiefer Kultur"43v: D e m n a c h wird die ,,Zivilisation" defmiert als ein gigantisches Aggregat von Maschinen, Instrumenten, Apparaturen und mit ihnen verwobenen, sich selbst steuemden Institutionen, ohne dass diesem Aggregat eine tiefere Sinnstiftung beigegeben ist oder dieses Aggregat zu einem bestimmten h6heren Zweck eingerichtet wurde, 433Richard A. Shweder, Moralische Landkarten, ,,Erste-Welt"Uberheblichkeit und die Neuen Evangelisten, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (Hg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschrittprd'gen, Hamburg / Wien 2000, S.207232, 212f. 434 Vgl. Vitorio Hfsle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethikj~r das 21. Jahrhundert, M/inchen 1997, S. 378. 435Vgl. Richard A. Shweder, Moralische Landkarten, ,,Erste-Welt"Uberheblichkeit und die Neuen Evangelisten, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (Hg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschritt prd'gen, Hamburg / Wien 2000, S.207-232, S. 213. 436Pieter Jan Bouman, Kultur und Gesellschaft der Neuzeit , Olten / Freiburg (Br.) 1962, S. 12. 437 Diese Unterscheidung wurde auch immer wieder innerhalb des angelsiichsischen Raumes vorgenommen: Vgl. eindrficklich ein Zitat eines bekannten Reverend in den USA aus dem Jahre 1936, Reverend Harry Emerson Fosdick, abgedruckt in: Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Civilization in the United States, Nachdmck / 2. Aufl., New York 1971, S. 22f. ..
Der Zivilisationsbegriff
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dass dem Menschen und der Welt gerecht werde. Der profane und materielle Aspekt, welcher im Kulturbegriff Shweders und Boumans anzutreffen ist, spielt in diesem v611ig vergeistigten Kulturverst{indnis keine Rolle mehr. Philosophisch geht die Tradition auf Immanuel Kant zuriick, der den Kulturbegriff als eine rein normative Kategorie entfaltet hat. 438 Kultur fundiert demnach in der Sittlichkeit des einzelnen Menschen als Vernunftidee und wird als Idealitiit der Sittlichkeit (das Sittengesetz) in Form einer Kultivierung des einzelnen Menschen defmiert. Die ,,Zivilisierung" soll dabei der Mittel zum Zweck sein und ist daher profangebunden bzw. bildet eine ,,zweiter Natur" aus. Die ,,Kultivierung" indes steht fiir das tiefe Bewusstwerden der in jedem Menschen angelegten Aufgabe, sich zu versittlichen, in v611iger Losl6sung von lebenspragmatischen Nfitzlichkeitserwiigungen. Demnach war bei Kant die ,,Kultur" zwar ein h6heres Prinzip als die ,,Zivilisation", wurde aber nicht zugleich als Kontrapunkt verstanden: Die Zivilisation erfiillt aus kantischer Perspektive die praktischen Zwecke, die Kultur die ideelle Wertsetzung. Kultur ist demnach - jetzt nach Max W e b e r - nicht mehr als ,,ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens". 439 Erst am Anfang des 20. J ahrhunderts setzt sich in Deutschland die Vorstellung durch, die ,,Zivilisation" als eine Art Monstrum der Entnormativierung und , , E n t g e i s u g u n g " alles menschlichen Lebens im Modus einer absoluten Extemalisierung des Industrialismus nach aul3en wie nach innen, zu verstehen. Dazu gesellt sich aus radikalkulturalistischer Sichtweise eine weitere Interpretation, die m6glichen geistigen Aspekten der zivilisatorischen Apparatur jegliche philosophische Realit~it abspricht. Geistige Ph~inomene im Zusammenhang mit dem Begriff der Zivilisation k6nnten nur als ,,moderne Inventionen" begriffen werden, da sie lediglich materialistischen Prinzipien entsprmgen k6nnten. Die Vertreter des Kulturalismus behaupten, dass der eigene, vormoderne Normativismus sich mit der negativ charakterisierten Zivilisationsapparatur iiberhaupt nicht vertr~igt. 44~Der eigene Normativismus wird in diesem Rahmen als ,,Kultur" defmiert und zugleich in einer idealisfschen Reinheit per definitionem der Zivilisation radikal entgegengesetzt. Der historische Ursprung des Kulturalismus ist in der geistesgeschichtlichen Entwicklung Deutschlands zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert anzusiedeln, insbesondere jedoch zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Hier sei nut kurz auf die kulturalistischen Str6mungen in den Kulturtheorien von Friedrich Nietzsche, Georg Simmel, Alfred Weber, Oswald Spengler und spiiter Hans Freyer hingewiesen. 441 Das normative Denkgeriist, dass hinter dieser Entgegensetzung eines als ,,angels~ichsisch" und franz6sisch defmierten Zivilisationsmodells und dem deutschem Kulturalismus steht, bildete sich auf deutscher Seite im Kontext der Definition der ,,Kultur" als , , N i c h t - Z i v i l i s a t i o n " endgiiltig im Vorfeld des Ersten Weltkrieges 1914 aus. Tho-
438Vgl. im folgendenThomasJung, Geschichte dermodernen Kulturtheorie, Darmstadt 1999, S. 33-37. Max Weber, Die Objektivita't so~alwissenschaftlicher und so~alpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsatze zur Wissenschaftslehre, 6. Aufl., Tfibingen 1985, S. 180. 440 Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Civilization in the United States, Nachdmck / 2. Aufl., New York 1971, S. 19. 441 V g l , Friedrich Nietzsche,Jenseits yon Gut und B&, hg. yon Volker Gerhardt, Stuttgart 1988; Georg Simmel, Philosophie des Geldes, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M. 1989; Alfred Weber, Kultu~geschichte als Kulturso~ologie, Mfinchen 1950; Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Mo~hologie der Weltgeschichte, 15. Aufl., Mfinchen 2000; Hans Freyer, Theorie desgegenwa'rtigen Zeitalters, Stuttgart / Zfirich 1955; Ders., Schwelle der Zeiten. Beitra'ge ~ur So~ologie der Kultur, Stuttgart 1965; zusammenfassendThomas Jung, Geschichte der modernen Kulturtheorie, Darmstadt 1999. 439
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Kapitel V
mas Manns ,,Betrachtungen eines Unpolitischen" und W e m e r Sombarts ,,H~indler und Helden" k6nnen hier als symbolische H6hepunkte dieser Entwicklung genannt werden. 442 Der historische Ursachenhintergrund ist an der tragischen Unausgeglichenheit zwischen deutscher Reichsidee und Nationalstaatlichkeit im Verlaufe des 20. Jahrhunderts und an der zeitlichen Koinzidenz zwischen Griindung des deutschen Nationalstaates und der fortgeschrittenen Humanismusskepsis am Ende des 19. Jahrhunderts festzumachen. Diese beiden historischen Merkmale verg6nnten es Deutschland nicht, all seine Vielfalt an humanistisch orientierten Traditionen, die es insbesondere seit der preuBischen Kulturbliite, der Weimarer Klassik und siiddeutschen Romantik seit dem 18. und 19. Jahrhundert zur Fiille gab, nationalstaatlich zu bi~ndeln- was nicht einmal im Gegensatz zu einem kulturnationalen Reichspatriotismus 443 hiitte stehen miissen, abet durchaus im Gegensatz zu einem imperialen und rein v61kischen Reichsnationalismus, wie er sich dann letztendlich aufgrund einer ,,Zeitfalle" in der Geschichte der Deutschen ausbildete. 444 Deutschlands K a m p f ,,gegen den Westen, sein ~iuBerliches Anderssein" war letztlich ,,nur der Widerschein des Anderen in ihm selbst ''445 oder, in den Worten Plessners, ein Protest ,,in Wahrheit gegen sein eigenes Geschick. ''44d
c) Steht der IZulturalismus dem westlichen Zivilisationsbegriff entgegen? Wird davon ausgegangen, dass die ,,Kultur" profane und materielle Aspekte impliziert und die ,,Zivilisation" wiederum geistige und kulturelle, so w~ire der Unterschied zwischen , , K u l t u r " und ,,Zivilisation" eine Frage der Gr6Benordnung und Dichte kultureller Ph~inomene: Eine Zivilisation ist demnach eine aufgrund ihrer Gr6Be viel stiirker auf das materielle Konstrukt abhebende ,,GroBkultur", w~ihrend in der Einzelkultur dem ,,Symbolischen" und Geistigen naturgem~iB ein h6herer Wert beigemessen wird. In ihrer Struktur jedoch ist die Kultur nicht von der Zivilisation zu unterscheiden: Verschiedene, aber verwandte I(ulturen bilden den Grundboden fiir eine ,,Zivilisation". Die historische Unterscheidung zwischen einer ,,Zivilisationsform" des ,,atlantischen Systems" auf der einen Seite und einer ,,Kulturform" PreuBendeutschlands, Russlands, aber auch , , E u r o p a s " auf der anderen Seite 447 sollte demnach eben nicht als eine zivilisationstheoretisch sinnvolle Dichotomie betrachtet werden, s o n d e m als eine Ausgeburt psychologischer Konstruktionen auf der Basis manifester 6konomischer, geopolitischer Interessendivergenzen unter Verabsolutierung gewichtiger, abet zivilisationsspezifisch bzw. zivilisationshistorisch irrelevanter Unterschiede. Der Gegensatz zwischen ,,atlantischem Westen" und ,,kontinentaler Mitte" wird aus diesem B l i c k ~ k e l nicht als zivilisatorischer,
Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1918; Werner Sombart, Handler und Helden. PaMotische BeWnnungen, M/~nchenu.a. 1915.
442 Vgl,
443 Das ist freilich ~itisch, sobald die ,,Kultur" sich nach auBen hin abgrenzt. Dann kann sie nicht mehr wirklich ,,identit~itsstiftend" sein, sondem verf/]hrt zu einem dunklen, gr~blerischen Zweifeln. Dass das in Deutschland geschehen ist, brachte Helmuth Plessner mit dem lutheranischen Protestantismus in Verbindung (vgl. Helmuth Plessner, Die ver~a'tete Nation. Uber diepolitische Vera~dhrbarkeitb~'gerlichen Geistes, Stuttgart u.a. 1969, S. 79). 444 Vgl. ebd. 445Kai Haucke, Zukunft durch VerSa'tung. Helmuth Plessners Vision eines deutschen Beitrages zum politischen Humanismus Westeuropas,, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Politisches Denken. Jahrbuch 2004, Berlin 2004, S. 147-166, 152. 446Helmuth Plessner, Die ver~a'tete Nation. Uber diepolitische Vera#dhrbarkeitb~'rgertichenGeistes, Stuttgart u.a. 1969, S. 40. 447 Vgl. zur ,,europ~iischen Dimension": Alexander Schmidt, Reisen in die Moderne, Der Ame~ka-Diskurs des deutschen Biirgertums vor dem ersten Weltkrieg im europa'ischen VergMch, Berlin 1994, S. 285.
D er Zivilisationsbegriff
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sondern als ideologischer und geopolitischer Gegensatz betrachtet. 44g Die Theorie eines zivilisatorischen Gegensatzes auf der Basis einer sogenannten ,,Sonderwegtheorie" deutscher Geschichte ist geschichtswissenschaftlich jedoch unhaltbar. 449 Die Annahme eines absolut gegenkulturalistischen, angels~ichsischen Zivilisationsmodells ist genauso wie der Radikalkulturalismus eine ideologische Erscheinung. Der radikale Antikulturalismus ist demnach eine Auspriigung eines liberalen Ideologiemodells, das zwar gegen Deutschland gerichtet immer wieder eine Rolle gespielt hat, jedoch nicht in toto mit dem ,,Westen" identifiziert werden sollte. Die politische Ausgestaltung der ,,westlichen Zivilisation", wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg ,nit der Etablierung der O E C D ausgepr~igt hat, ist aus der Sichtweise dieses Ideologiemodells nichts welter als eine Ausdehhung eines zuniichst auf die angels~ichsischen Nationalstaaten eingeengten atlantischen Zivilisationssystems, das einem mitteleurop~iischen, insbesondere preul3endeutschen und russischen Zivilisationssystem diametral entgegenstand. D e m n a c h sei der Erste Weltkrieg in erster Linie, also in ausschlaggebender Weise, ein K a m p f zwischen Zivilisationen gewesen, und zwar einer westlich-atlantischen, einer germanischen und einer ostslawisch-russischen, wobei die letzten beiden auch zusammengedacht werden k6nnten. Der ,,atlantische Westen" stand demnach aus zivilisatorischen Griinden fiir einen ,,puren" und zugleich menschenrechtsuniversalistischen ,,Individualismus ''45~ und zwar in einem diametral entgegengesetzten und angeblich ,,zivilisatorisch" zu erkliirenden Gegensatz zum ,,souver~init~itsgl~iubigen" Europa und insbesondere zu ,,autoritiiren" Staaten wie Deutschland und Russland. Die Begriindung der O E C D und die Westintegration Deutschlands k6nne daher nur als eine Vereinnahmung, vielleicht sogar Vernichtung einer Zivilisation durch eine andere betrachtet werden, wobei nach 1945 Deutschlands Zivilisa6on als der entscheidende Verlierer dastiJnde bzw. eine ,,Amerikanisierung", ,,Verwestlichung" oder eben ,,Atlantisierung" Deutschlands und Europas im Sinne einer zivilisatorischen Kolonisierung seinen Anfang g e n o m m e n habe, die von den ,,Besiegten" langfristig ob ihrer normativen und materiellen Vorziige positiv in einem Mage begr/il3t wurde, dass zur v611igen Entfremdung yon der eigenen Zivilisation f/ihrte. A u f angels~ichsischer Seite wurde der deutsche Radikalkulturalismus 1914 dementsprechend hiiufig sehr pauschal als Camouflage eines angeblichen deutschen Aggressionswillens wahrgenommen.
448 Vgl. aus der Perspektive eines angelsiichsischen Fundamentalismus Forrest Davis, The Atlantic System. The Stop qf Anglo-American Control of the Seas, New York 1941, S. 329 (im Widerspruch zum Begriff "peverted Germany" auf S.
331). Dieses antideutsche Atlantizismusversdindnis hat sich (naturgemN3) zwischen 1941 und 1949/55 entwickelt und hier und da bis heute im anglo-amerikanischenKulturraum gehalten. Vgl. im Rahmen der negativen Sonderwegstheorie auch Ralf Dahrendorf, Gesellschaftund Demokratie in Deutschland, M/inchen 1965. 449 Vgl. bezogen auf Deutschland David Blackboum / Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte b~rgerliche Revolution von t 848, Frankfurt a.M. / Wien 1980; David P. Calleo, Legende und Wirklichkeit der deutschen Gefahr. Neue Aqoekte zur Rolle DeutschIands in der Weltgeschichte von Bismarck bis heute, Bonn 1980; vgl. femerhin im Vergleich Deutschland zum/ibrigen Europa: Alexander Schmidt, Reisen in die Moderne, Der Amerika-Diskurs des deutschen BiirgerZums vor dem ersten Weltkrieg im europdischen VergMch, Berlin 1994; vgl. weiterhin Kai Haucke, Zukunft durch Ver~dtung. Helmuth Phssners Vision eines deutschen Beitrages zum politischen Humanismus Westeuropas, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), PolitischesDenken. Jahrbuch 2004, Berlin 2004, S. 147-166; schiirfer: Eberhard Straub, , Verwestlichung' als ErrffehungqOrogramm, in: Rainer Zitelmann / Karlheinz Weil3mann / Michael Grol3helm (Hg.), Westbindung. Chancen und Risikenj~r Deutschland, Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 323-342, 341f. Vgl. schliel3lich noch Paul Kennedy, Aufstieg und Fall dergroyen Mdchte. Okonomischer Wandel und militanscher Konflikt yon 1500 bis 2000, Frankfurt a.M. 1989, S. 329. 4s0 Zu den ersten historischen Betrachtungen des tatsiichlich unterschiedlichen ,,Individualismus-Verstiindnisses zwischen Amerika und Europa vgl. Yehoshua Arieli, Individualism and Nationalism in American Ideology, Cambridge (Mass.) 1964, S. 193-198.
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Kapitel IV
Diese Sichtweise entsprach genauso wenig der Wirklichkeit wie die damalige deutsche Vorstellung von der absoluten ,,Kulmrlosigkeit" nicht-deutscher ,,Zivilisationen". 4sl Fiir die nicht vorhandene philosophische Dimension dieser ideologischen Verblendungskonstellation sei insbesondere auf das groBe Werk des Philosophiesoziologen Randall Collins verwiesen. Er hat die ideologisch motivierte Entgegensetzung zwischen , , k o n t i n e n t a l e m " und ,,angelsiichsischem" Denken (anstelle einer geographisch keineswegs so einfach zu verortenden Entgegensetzung zwischen analytischer und metaphysischer Philosophie innerhalb des ,,Westens") zurecht als eine desastr6se ,,Ideology of the Continental-Anglo-Split" bezeichnet, und sie mit folgenden berechtigten Attributen abgefertigt: ,,polemisch", ,,stilisiert", ,,krude", ,,inkonsisten t", ,, p artis anis ch".452 Wiihrend also der kulturalistische Strang die ,,eine Zivilisation des Westens" als eine negative Lebensform ansah, gab es im Westen selbst ~iber einen l~ingeren historischen Zeitraum positive Entsprechungen dieses Singularverstiindnisses. Deshalb sollte nicht vergessen werden, dass insbesondere der deutsche Radikalkulturalismus im Rahmen der vergleichsweise sp~iten Nationalstaatsgrikldung zugleich eine Reaktion auf die positiven Singularversfiindnisse der etablierten, westlichen Nationalstaaten v o n d e r ,,einen Zivilisation in der Welt" war, als deren jeweilige Tr~iger sich diese Nationalstaaten immer wieder sahen. Insbesondere im Zeitalter des Imperialismus manifestierte sich bei allen diesen Staaten die Idee einer geschichtsphilosophischen Mission, d.h. als historisch auserw~ihlte Tr~igemation das Zivilisationsprinzip des Westens oder der eigenen Nation in die ganze Welt zu tragen.
1.2 AngelMchsische und franza'sische Versionen einer impe,ialen Singularzivilisation
Das liberale Missionsdenken entsprang dem Zeitalter der Aufld~irung im 18. Jahrhundert. Die franz6sische Wendung der klassischen Begriffe ,,politeia" und ,,civitas" bei Turgot, Condorcet 4s3 und Guizot 454 (bei dem auch Tocqueville in die Schule gegangen ist 455) und das Vie> Stadien-Schema von Adam Smith (J~iger, Hirten, Ackerbauer, H~indler) 456 schufen die Voraussetzung fiir die Vorstellung einer singuliiren, ,,progressiv" sich gegen ,,pr6jug&" (,,Vorurteile") 457 durchsetzende Universalzivilisation. Der , , P r o g r e s s i s m u s ''4s8 setzte den Begriff der ,,Zi451Vgl. z.B. Hans-Christof Kraus, Anmerkungen zur Begff~'- und Thesenbildung bei Carl Schmitt, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Politisches Denken. Jahrbuch 1998, Stuttgart / Weimar 1998, S. 161-176, 173f. 452Vgl. Randall Collins, The Sodology of Philosophies. A Global TheoG of Intellectual Change, Cambridge (Mass.) / London 2000, S. 751f. 4s3 (Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat H~bert, Marquis de) Condorcet, Esquisse d'un tableau histoffque des progr& de l'esprit humain (1794), hg. von Wilhelm Alff, Frankfurt a. M. 1963. Eine sch6ne Zusammenfassungunter besonderer Berficksichtigung der kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise findet sich in Urs Bitterli, Die, Wilden' und die ,Zivilisierten'. Grundziige einer Geistes- und Kulturgeschichte der europa'isch-~berseeischenBegegnune~MCinchen1976, S. 289-297. 454Vgl. Frangois Pierre Guillaume Guizot, Histoire de la civilisation en Europe depuis la chute de l'Empire romainjusqu'd la R&olutionfranfaise, Paris 1853. 455Vgl. Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Civilization in the United States, Nachdmck / 2. Aufl., New York 1971, S. 170. 456 Vgl. Adam Smith, Lectures on Jurisprudence, hg. v. Ronald L. Meeks, Oxford 1978, S. 14. Die Wirkungsweise innerhalb des vierten Stadiums untersucht Smith in seinem Hauptwerk (vgl. in deutscher 0bersetzung: Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine UntersuchungseinerNatur und seiner Ursachen, MCmchen1978). 4s7Vgl. paradigmatisch Condorcet, Esquisse d'un tableau historique desprogr& de l'esprit humain (1794), hg. von Wilhelm Alff, Frankfurt a. M. 1963, S. 40. 458Vgl. zum ,,Progressivismus" Harry Elmer Barnes, An Intellectual and Cultural I-IistoG of the Western World. Volume 2: From the Renaissance through the Eighteenth CentuG, New York 1965, S. 828-840 (zu Turgot ebd., S. 832f.; zu Condorcet ebd., S. 833ff.)
Der Zivilisationsbegriff
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vilisation" denjenigen der , , W i l d h e i t " , der ,,Barbarei" und der angeblichen ,,Dumpfheit" und ,,Unaufgekliirtheit" des monarchisch-klerikalfeudalen ,,MJttelalters ''459 entgegen, wobei sich nach dieser Lehre Wildheit, Barbarei und Unaufgekliirtheit wiederum insbesondere - hier also in einem antirousseauistischen S i n n e - bei primitiven N a t i o n e n artikulierte. 46~ ,,Zivilisation" als Alternative zum ,,Barbarismus" war jedoch nicht allem eine Frage der gesitteten und kultivierten Manieren (welche im {)brigen die Amerikaner nach Tocqueville nicht besal3en 461) - bei den meisten ,,Progressisten" wurde die Essenz des ,,Zivilisatorischen" allein im ,,humanen Fortschritt" im rational-aufldiirerischen Sinne geortet. Dieses VerstS.ndnis land sich im 19. Jahrhundert auch bei Amerikareisenden progressionistischer G e s i n n u n g wie z.B. dem Argentinier D o m i n g o Faustino Sarmiento oder dem Polen Henryk Sienkewicz. Da sie in den ,,guten Manieren" keinerlei Ausweis zivilisatorischer Reife erkennen wollten, war auch fiber die zivilisatorische Gfite des Amerikaners nichts aufgrund der , , u n m a n i e f f l c h e n " Verhaltensweisen in Amerika gesagt. 462 Die Aufgabe des zivilisierten Menschen, in dem Falle der Franzosen, Briten und (langfristig eben auch) Amerikaner 463, war es demnach nicht, sich h6flich und manierlich zu verhalten, sondern das Licht der Zivilisation weiterzutragen an die noch unaufgekliirte Menschheit. Diese wurde insbesondere bei den Indianem, Afrikanern und ,,Pygrn'aen" lokalisiert, doch reichte die Spannbreite auch bis zu den Deutschen, die bei b e s t i m m t e n Progressionisten, erst recht im 20. Jahrhundert, als noch nicht ganz durchzivilisierte Spr6sslinge wilder Germanenst~imme betrachtet wurden. Letzterem Bild entsprechend wurde z.B. im 20. Jahrhundert der Nationalsozialismus in Deutschland als ,,Zerst6rer" der einen Zivilisation gebrandmarkt und dem Zivilisationsbegriff somit in absoluter Weise entgegengestellt. Nationalsozialismus und Zivilisation schlossen und schlieBen sich demnach gegenseitig aus, der Nationalsozialismus wird zuniichst als ein historischer ,,Rfickfall" gewertet. Zugleich geh6rte zu den radikalen Spielarten des progressionistischen Zivilisationsbegriffes die Vorstellung, in der Andersartigkeit des ,,Unzivilisierten" eine gottgewollte Minderwertigkeit zu sehen, welche die angeblich ,,gerechte" Herrschaft fiber ihn erlaubt, was sich als Verhaltensweise bis auf die iberischen Konquistadoren des 16. Jahrhunderts zur/.ickverfolgen l~isst464,
459 Der Begriff wurde zum ersten Mal gepriigt bei Christoph Cellarius, Historia universalis brevita ac pera5Oicueexposita in antiquam et medii aevi ac novam divisa, Jena 1708. 460Dass es sich hierbei (auch) um eine Projektion eigener ,,Wildheiten" handelte, also um r{iuberische und gewaltt~itige Outlaw-Erscheinungsformen der eigenen Zivilisation, welche zum Zwecke der Austreibung und Verdriingung in etwas ,,Fremdes" hineinprojiziert wurden, erscheint als eine Widerspiegelung bestimmter anthropologischer Gmndkonstanten recht plausibel zu sein (vgl. das faszinierende Buch yon Roger Bartra, Wild Men in the Looking Glass: the Mythic Origins of European Otherness, Ann Arbor 1994). 461 Vgl. Patrice Higonnet, Alex4s de Tocqueville 1805-1859, in: Marc Pachter / Frances Wein (big.), Abroad in America. Visitors to the New Nation 1776-1914, Reading (Mass.) u.a. 1976, S. 53-62, 55. 462 Vgl. Irving A. Leonard, Domingo Faustino Sarmiento 1811-1888, in: Marc Pachter / Frances Wein (Hg.), Abroad in America. VMtors to the New Nation 1776-1914, Reading (Mass.) u.a. 1976, S. 105-113, 109f.; Longin Pastusiak, Hen~k Sienkewicz 1846-1916, in: Marc Pachter / Frances Wein (Hg.), Abroad in America. Visitors to the New Nation 1776-1914, Reading(Mass.) u.a. 1976, S. 176-185, 185. 463 Vgl. zur Ubemahme und Amerikanisiemng (Neonationalisierung in Verbindung mit einer De-Ethnisiemng) des singuliiren Zivilisationsverstiindnissesvon Condorcet bei Jefferson, Paine, J. Adams, Mercy Warren, Benjamin Rush, J.Q. Adams u.a.: Charles k. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Cidlization in the United States, Nachdmck / 2. Aufl., New York 1971, S. 98-167. 464 Vgl. z.S. die Argumentation des spanischen Denkers Juan Gin& de Sepfilvida auf der Indianerkonferenz im Jahre 1550 in Valladolid, zusammengefasst bei Ulrich Beck, Verwu~elter Kosmopolitismus."Entwicklung eines Konzepts aus rivalisierenden Begrif/soppositionen, in: Natan Sznaider / Rainer Winter, Einleitung, in: Ulrich Beck / Natan Sznaider / Rainer Winter (Hg.), GlobalesAmerika? Die kulturellen tVolgender Globalisierun~ Bielefeld 2003, S. 25-43, 36f.
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Kapitel IV
aber auch von vielen A m e r i k a n e r n gegeniiber Indianern und Schwarzen im 19. bis weit in die sechziger Jahre des 20. J ahrhunderts 465 vertreten wurde. N a c h angelsiichsischer, franz6sischer u n d z.T. eben auch spanischer Vorstellung war (und ist) die ,,Zivilisation" also als eine S u m m e nationaler, geistiger Werte zu verstehen, die zu einer ,,Veredelung" des M e n s c h e n fiihrten. 466 Gegen/iber den primitiven V61kern machte die iberisch-friihamerikanische, die angelsiichsisch-britische (insbesondere viktorianische) und schliel31ich auch z.T. die friihe US-amerikanische Variante der zivilisatorischen Mission das Christentum zu einem K e r n der jeweiligen zivilisationsmissionarischen u n d -chauvinistischen Botschaften 467, wS_hrend die franz6sische ,,mission civilatrice" seit d e m 18. J a h r h u n d e r t i m m e r stiirker als eine Zivilisation der U m g a n g s f o r m e n , der Freiheitsmoral, der Aufldiirung u n d im 20. J ahrhundert schlieglich auch des laizistischen Republikanismus verstanden wurde. 468 Die angelsiichsische u n d amerikanische Vorstellung v o n d e r singul~iren Zivilisafon gestaltete sich indes n o c h zu Zeiten sozialdarwinisfscher und rassistischer V e r f o r m u n g e n z u m E n d e des 19. Jahrhunderts 469 ganz im Sinne der einen d e n n o c h ,,christlichen Zivilisation"; zumindest waren entsprechende Gegengewichte v o r h a n d e n , welche die sozialdarwinistischen Machbarkeitcredos, i m m e r wieder zu relativieren m d e r Lage waren. Das singul~ire Zivilisafionsverstiindnis basierte hier hiiufig (mit einzelnen A u s n a h m e n ) auf einem religi6sen K e r n des Zivilisationsbegriffes, der sich zugleich mit d e m Bild einer ,,kommerziellen Zivilisation" verbinden konnte4V~ ,,the reason why we love the church is because we get our civilisafon from it. ''471 Die n e u e n Machbarkeitscredos waren d e m e n t s p r e c h e n d zun~ichst eine rein europiiische Angelegenheit. Zwar setzten sie sich im K o n t e x t des amerikanischen Imperialismus mit einiger V e r z 6 g e r u n g dann - E n d e des 19. Jahrhunderts - auch rasch in den USA an einflussreichen Stellen in Politik u n d Wissenschaft lest. 472 D o c h w~ihrend in E u r o p a die Relativierung der AP r i o r i - D o g m e n erst mit Hilfe der sozialdarwinisfschen Interpretation der Evolutionsbiologie im V e r b u n d mit der Lebensphilosophie z u m ersten Mal auch in der breiten C)ffentlichkeit u n d in systematischer Weise erfolgte, hatte diese Relativierung in den USA schon h u n d e r t Jahre
465Der Wahlerfolg von George Wallace bei den Pr~isidentschaftswahlen 1968 m6ge als Beleg clienen. 466Vgl. Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Civilization in the United States, Nachdmck / 2. Aufl., New York 1971, S. 22, ferner S. 62-97. 46vVgl. ebd, S. 22; vgl. ferner zu Groi3britannien J/irgen Osterhammel, Nation und Zivilisation in der britischen Historiographie yon Hume bis Macauly, in: Ders., Geschichtswissenschaftjenseits des Nationalstaates. Studien zur Be~ehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, G6ttingen 2001, S. 103-150, 137-142; Felipe Fem(mdez-Armesto, Ideas that changed the world, New York 2003, S. 330f. 468Vgl. Eberhard Straub,, Verwestlichung' als Er~ehungyprogramm, in: Rainer Zitelmann / Karlheinz Weil3mann / Michael Grol3heim (Hg.), Westbindung. Chancen und Ra'sikenj~r Deutschland, Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 323-342, 337-341. 469 Vgl. generell als Einf/ihrung zum amerikanischen Sozialdarwinismus Richard Hofstadter, Sodal Darwinism in American Thought 1860-1915, London 1944; Vgl. zum wissenschaftlich verbr~imten, europ{iischen Rassismus George L. Mosse, Rassismus. Ein Krankheits~ysmptom in der europdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, K6nigstein/Ts. 1978; Felipe Fern~indez-Armesto,Ideas that changed the world, New York 2003, S. 318f.; Joseph Arthur Graf de Gobineau, Essai sur l'Inegalitd des Races Humaines, Paris 1853-1855; Robert Knox, The Races of Men, London 1850. 470Vgl. zu den Urspriingen: Louis B. Wright, Religion and Empire. The Alliance between Piety and Commerce in English Expansion 1558-I625, New York 1965. 4VlReverend Norman Peale vonder Marble Collegiate Reformed Church in New York City 1941, zifert nach Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Civilization in the United States, Nachdruck / 2. Aufl., New York 1971, S. 22. 472So z.B. bei Brooks Adams, nach welchem die radikale und eingeiibte Anpassungsbereitschaft an nattirliche Verh~iltnisse durchaus dem Menschen helfen k6nnte, ,,}ene Knechtschaft unter der Tradition abzuschCitteln, die so oftmals die Menschen vonder Unterwerfung unter das Unvermeidliche zurCickgehaltenhat, so lange, bis es zu sp{it war." (Brooks Adams, Das Herz der Welt, Wien/Leipzig 1908, S. 271). Vgl. auch sehr ~itisch (und mit einem iiul3erst ,,links6konomistischen" bzw. sozialimperialistischen Erkliirungsansatz) Hans-Ulrich Wehler, Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur EntMcklung des Imperium Americanum 1865-1900, G6ttingen 1974, S. 43-73.
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friiher spfirbare 6ffentliche Wirksamkeit e n t f a l t e t - damals jedoch nicht auf darwinistischer, s o n d e m auf politikphilosophischer u n d v e m u n f t e t h i s c h e r Grundlage. D e r Sozialdataxfnismus kam in gewisser Weise n u n ,,hinzu", miindete aber nicht in einen staatlich-programmatischen Rassismus, wie er sich schliel31ich im 20. J a h r h u n d e r t - unter b e s t i m m t e n geopolitischen K o n s t e l l a t i o n e n - in Mitteleuropa ereignen sollte. Die ,,Wertigkeit des Blutes" wurde in den USA trotz aller sozialdarwinistischer und imperialistischer Aufwallungen me zu einem A b s o l u t u m einer ganz neuen, rassistischen F o r m der ,,Zivilisationsmission" (im Sinne der Herrschaft einer ,,Herrenrasse" fiber den Rest der Welt oder den K e r n eines kontinentalen Raumes). I m Gegenteil fiihrte die weitergehende Relativierung der A - P r i o r i - D o g m e n langfristig zur Tradition des amerikanischen Pragmatismus u m J o h n Dewey, William James oder Charles Sanders Peirce 473 u n d einem demokratiepolitischen Missionsidealismus sp~itestens seit 1898, der in den Eintritt der USA in das imperialistische Zeitalter miindete. 474 Das ideologische Ergebnis war im Falle der USA indes eine ganz neue F o r m der Nationalisiemng der vorgestellten Zivilisationstr~igerschaft, d.h. nicht ein europ~iisches ,,Blutsvolk" (ob das britische oder das franz6sische) galten n u n m e h r als Tr~iger u n d Abbild des zivilisatorischen Fortschrittes, s o n d e m der Amerikaner als ein Mensch, welcher einer von i h m selbst auf breiter w e s t l i c h e r - also europ~iischer 475 - Kulturgrundlage konstruierten N a t i o n angeh6rte; einer Nation, welche das Prinzip der Zivilisation selbst nationalisierte. Die Voraussetzung der Nationalisierung war dabei zuniichst einmal die Enteuropiiisierung des Zivilisationsbegriffes. Dabei k a m e n zwei neue Zivilisationsbegriffe ins Spiel: D e r Begriff der nicht m e h r europiiischen, s o n d e m der ,,westlichen" Zivilisation z u m einen 476 und die Idee der v o n Amerika getragenen umversalen Singul~,irzivilisation z u m anderen. 477 Die Idee der singuliiren Universalzix~lisation auf christlicher Grundlage wurde also zu einer Nation zusammengefasst 478, w~ihrend der Begrift des ,,Westens" bzw. des ,,wahren W e s t e n s "479 die Enteurop~iisierung bezweckte.
1.3 Zivilisationsidee, Chffstentum, ,,politische Religionen" und die Idee der Zivilreligion
Die Vorstellung v o n d e r religi6s begriindbaren Zivilisation als Quelle sowohl der britischen als auch der amerikanischen Zivilisationsmission ffihrte in Grol3britannien u n d auch in den USA 473 Vgl. Henry Steele Commager, Der Geist Amerikas. Eine Deutung ameffkanischen Denkens und Wesens von 1880 bis zur Gegenwart, Zfirich / Wien / Konstanz 1952, S. 129-149; Bruce Wilshire, WilliamJames's Theo~ of Truth Phenomenological~ Considered, in: Peter Caws (Hg.), Two Centuffes of Philosophy in America, Guildford u.a. 1980, S. 104-112. Eine immer noch sehr instmktive Zusammenstellung von Schrifttum zum amerikanischen Pragmatismus findet sich bei Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichtepolitischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1985, S. 40. 474 Vgl. z u m Aufstieg der USA Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der groJ?enMdchte. Okonomischer Wandel und milit~rischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt a.M. 1989, S. 368-378. 475 Das betont Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Vb'lkerre&t desJus Publicum Europaeum, K61n 1950, S. 262 bzw. Bernard Fay, CivilisationAmericaine, Paris 1939, S. 9. 476Vgl. Arthur P. Whitaker, The WesternHem@here Idea. Its Rise and Decline, Ithaca 1954. 477Vgl. zur Aufnahme und Intensiviemng dieses Zivilisationsverst{indnisbei den amerikanischen Pr{isidenten Franklin Delano und Theodore Roosevelt sowie Woodrow Wilson im 20. Jahrhundert Frank Ninkovich, Modernity and Power. A Histo~ of the Dominion Theo~ in the Twentieth Centu~, Chicago / London 1994, S. xi-xii, 4f., 38, 41,101-104, 120. Vgl. zur isolationistischen Gegenposition von Herbert Hoover ebd., S. 69-98. 478 Vgl. die Ausffihmngen zu Benjamin Rush in ebd., S. 124-126. Hinzugeffigt werden muss: Die religi6se Offenheit der ,,New Nation" beschr~inkte sich zun{ichst einmal faktisch nat/irlich nur auf die Konfessionen des Christentums und (vielleicht noch) auf die Konfessionslosen. Die AusschlieBung der Indianer und Schwarzen von den Bfirgerrechten im 19. Jahrhundert sollte vielleicht nicht nur auf rassentheoretische, sondem auch auf religi6se Motive hin st~irker untersucht werden. Damit soll indes kein Vorwurf an die Religion als solche verbunden sein. 479Vgl. Carl Schmitt, DerNomos derErde im Vb'lkerre&tdesJus Publicum Europaeum, K6in 1950, S. 265f.
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der vierziger Jahre des 20. J a h r h u n d e r t s dazu, dass der N a t i o n a l s o z i a l i s m u s durchaus als antichristliches u n d damit zugleich - in diesem politischen Z i v i l i s a t i o n s k o n t e x t - zivilisationsfeindliches P h i i n o m e n aufgefasst wurde, was eine wichtige A h n l i c h k e i t z u m totalitarismustheoretischen I n t e r p r e t a t i o n s a n s a t z der ,,politischen Religionen" aufweist, welche den Nafionalsozialismus wie alle a n d e r e n Totalitarismen im K e r n als Ersatzreligion u n d antichristliches Ph~inom e n auffasst. D a s antichristliche M o m e n t der Totalitarismen des 20. J a h r h u n d e r t manifestierte sich dabei als eine A r t Politisierung antichristlicher u n d l e b e n s p h i l o s o p h i s c h e r M a x i m e n des 18. u n d 19. J a h r h u n d e r t s . D a z u geh6rten48~ die pauschale Diffamiemng des Christentums als sklavischen Aberglauben (Voltaire) die Entgegensetzung von Wissenschaft und christlicher Gnadenlehre (Diderot) bzw. von Wissenschaft und Religion (Voltaire) die Idee eines gewaltlegitJmierenden ,,allgemeinen Willens" in abstracto ,,von unten" im Kontext eines Vernunffimmanentismus (Rousseau) die Idee des ,,neuen Menschen" im Jakobinismus (Rousseau, Robbespierre) und Sozialismus / Kommunismus (Marx, Engels) die Idee des naturalistischen (Holbach) oder materialistischen Immanentismus (La Mettrie, Marx) und der M6glichkeit einer radikalen Religionskritik (Feuerbach, Marx) die Idee der Prioritiit des (individuellen) Willens zur Macht (Schopenhauer, Nietzsche) und der SelbstaTergotrang des Menschen als Antwort auf den ,,Tod Gottes" (Nietzsches Idee des heroischen lDbermenschen) die Idee der Herrenmoral, d.h. dass (individuelle) Willensmacht und Recht nicht voneinander zu trennen sind (Nietzsche) N i c h t i m m e r diese I d e e n als solche (z.B. bei D i d e r o t o d e r Nietzsche481), aber die A r t der Politisierung fiihrten n u n auf der einen Seite zur Idee des T r i u m p h e s eines guten, g e r e c h t e n ,,neuen M e n s c h e n " (Jakobinismus, Leninismus, Bolschewismus), auf der a n d e r e n zur Idee des T r i u m phes eines kollektiven Willens auserwiihlter , , H e r r e n m e n s c h e n " - letztlich im Sinne eines Mixes aus Materialismus u n d m e t a p o l i f s c h e n A n a r c h o n i h i l i s m u s (Faschismus, Nationalsozialismus 482, Stalinismus). Die V o r a u s s e t z u n g fiir letztere S o n d e r e r s c h e i n u n g e n (im Vergleich zu den ideologisch nicht m i n d e r totalit~iren P r o t o t y p e n J akobinismus, Leninismus, Bolschewismus) war die ideologische V e r q u i c k u n g l e b e n s p h i l o s o p h i s c h e r M a x i m e n mit militaristischen u n d nationalistisch-sozialistischen (bzw. gleicheitsuniformistischen u n d maschinistischen)
48oVgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellune~ EA 1819, 2 Bde., hg. v. Roll Toman, K61n 1997; Friedrich Nietzsche, Also Jprach Zarathustra, ND K61n 1980; Ders., Jenseits von Gut und Bh'se, hg. von Volker Gerhardt, Stuttgart 1988. 481 Allerdings erscheint zu letzterem die K_ritik yon Eric Voegelin treffend zu sein. Er erkennt in der Vorstellung der Selbstvergottung des Menschen als einzig m6gliche ,,tr6stende" Antwort eines neuen suchenden Diogenes auf die Frage nach den Konsequenzen der ,,Ermordung Gottes durch den Menschen" einen magischen Trick, auf dem man nicht hereinfallen sollte. Zur Natur des Menschen geh6rt es, dass er nicht Gott sein kann, auch wenn er ihn ,,ermordet": ,,Ein Ding kann seine Natur nicht ver~indern; wer versucht seine Natur zu ,~indern', zerst6rt das Ding. Der Mensch kann sich nicht zum Ubermenschen wandeln; den Versuch, den lDbermenschen zu schaffen, ist der Versuch, den Menschen zu ermorden. Auf dem Gottesmord folgt im geschichtlichen Prozess nicht der Ubermensch, sondem der Menschenmord" (Eric Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, Mfinchen 1959, S. 76f.), es sei denn der ,,M6rder Gottes" richter sich an die Weisung des Golem aus einer kabbalistischen Golemlegende des 12. Jahrhunderts (Buch Jezirah), in so einem Fall nicht mehr weiter nach ,,vorwiirts" (in die Sackgasse) zu stfirmen, sondem den magischen Gottesmord wieder rfickg{ingig zu machen, was indes nach Nietzsche nicht m6glich sei: Es ist in der Tat die grot3e Frage, welches Rezept es gibt zur Zerst6mng der magischen Kreamr (des neugeschaffenen, sich selbst vergottenden Menschen), doch das Fragen an sich ffihrt schon zur Revision der Selbstvergottung, sogar zur Denkbarkeit der Option, jegliche Selbstvergottung schon im Ansatz zu vemichten (vgl. insgesamt ebd., S. 68-77). 482Vgl. zur Nihilismuspespektive insbesondere Hermann Rauschning, Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dr#ten Reich, Zfirich u.a. 1938.
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Ideen. Daraus resultierte am E n d e ein Konglomerat, das neben traditionellen lebensphilosophischen Vorstellungen n o c h folgende Ideen beinhaltete: Die Idee der Entindividualisiemng der Herrenmoral und deren Anwendung auf eine physisch-materiell bestimmbare Y-dasse yon Menschen (,,Herrenrasse" im Falle des Nationalsozialismus oder ,,Arbeiter- und BauemHasse" im Falle des Bolschewismus und Stalinismus) Die Idee, dass ,,Gleichheit" doch einen Sinn habe, aber nur durch eine physisch-materielle Uniformi6it auf der Basis eines kollektiven Machtwillens hergestellt werden k6nne Speziell beim Faschismus und Nationalsozialismus die Idee, dass Kampf und K_riegeine Gesellschaft ernsthaft so weit bef6rderten, dass der Krieg ein Selbstweck sei und nicht prima'r um des Friedens willen geffihrt werden mfisse Speziell beim Nationalsozialismus der rassistische ,,Antisemitismus" und das Feindbild des ,,jfidischen Bolschewismus".483 D e r Begriff der singuliiren ,,Zivilisation" im Falle Grol3britanniens und insbesondere der USA ging jedoch, wie schon angedeutet, i m m e r mit einer den ,,politischen Religionen" entgegensteh e n d e n christlichen Identitiit einher. Allerdings handelt es sich um ein , , z i v i l r e l i ~ 6 s e s " Christentum, welches hier zum Tragen kommt. Entscheidender Ausgangspunkt der in der angelsiichsischen Zivilisationsidee zum Ausdruck k o m m e n d e n , , Z i v i l r e l i N o n " war die betonte Miteinbeziehung der christlichen Religion. Die dahinterstehende staatstheoretische Tradition reicht auf T h o m a s H o b b e s zuriick, der nach dem A u f k o m m e n des Protestantismus und weiterer schismatischer Kirchen und gnostischer Bewegungen in der Frfihen Neuzeit zurecht erkannte, dass ,,ohne eine unbestrittene Ziviltheologie 6ffentliche O r d n u n g unm6glich war. ''484 Die darauf aufbauende ,,Zivilreligion" der Angelsachsen wird hier freilich im Vergleich zum Begriinder des Begriffs ,,Zivilreligion" im 18. Jahrhundert, Jean-Jacques Rousseau, weitergefasst und von jeglichen antichristlichen Spitzen in der Tradition der (auch bei Machiavelli vorzufmdenden) Vorstellung von der Ungeeignetheit des Christentums als ,,bfirgerliche Religion "485 befreit. 486 Auch wenn bei Rousseau die Zivilreligion letztlich kulmrreligi6se Inhalte postuliert (Existenz Gottes, Unsterblichkeit der Seele), spielen diese keinerlei eigenstiindige Rolle und werden schon gar nicht aus dem Christentum abgeleitet. Sinn und Zweck des Ganzen ist die Einigung auf Grundwahrheiten, die Loyalit~iten der Biirger in einer freiheitlichen O r d n u n g garantieren sollen. Die franz6sischen Ideen zivilisatorischer Mission hatten in entsprechender Weise nie einen derart starken christlichen Charakter wie die britischen und amerikanischen Pendants. D e n n o c h ist der aus Rousseaus Idee der Zivilreligion abgeleitete Laizismus eben nicht v61lig irreligi6s: zum G r u n d k a n o n seiner biirgerlichen Religion geh6rte bei Rousseau insbesondere die Toleranz gegeniiber Religionen. Eine ,,Zivilreligion" muss also nicht politisch verkorrumpieren, nur weil sie laizistischer Natur ist. Allerdings besteht die Gefahr bei laizistischen Doktrinen darin, dass sobald eine Zivilreligion ,,der Aufgabe, K o n s e n s und Integration zu stiften"
483]~S ist strittig, ob und inwiefem Antibolschewismus und Antisemitismus miteinander einhergingen oder voneinander zu unterscheidende Zielsetzungen sind. Femerhin ist der Urspmng des Antisemitismus und das Verhiiltnis yon Antijudaismus und Antisemitismus ein h6chst umstrittenes Feld. 484Eric Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik. Eine Einfdhrune~ ND Mfinchen 2004, S. 167. 48s Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsd'tze des Staatsrechts, hg. yon Hans Brockard, Stuttgart 2003, Viertes Buch, 8. Kapitel, S. 140-153. 486 Vgl. insgesamt auch Rolf Schieder, Was ist Zivilreligion?, in: Wemer Kremp / Berthold Mayer (Hg.), Religion und Zivilreligion im Atlantischen Biindnis, Trier 2001, S. 37-46.
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nicht gerecht werden kann, diese selbst zu einem ,,Einfallstor fiir siikularisierte Heilslehren u n d Ideologien ''487 werden kann, wie es in Frankreich im Falle des Jakobinismus geschehen ist. A u c h in den totalitiiren ,,politischen Religionen" bzw. Ersatzreligionen des 20. Jahrhunderts (dem Bolschewismus u n d d e m Nationalsozialismus) k o n n t e sich das Christentum als transzendente Religion nicht nur in kemer Weise oder kaum m e h r symbolisch im 6ffentlichen R a u m als Bestandteil ziviler Religiositiit geltend m a c h e n 48a, sondern wurde zugleich durch eine rein innerweltliche Staatsreligion abgel6st. H e r m a n n Lfibbe hat gezeigt, dass ein siikulares ~X~quivalent die (kulmrelle) Religion nicht in ihrer K o n t i n g e n z a n e r k e n n u n g s - u n d bewiiltigungsfunktion substituieren kann. 489 K o m m t eine Substitution zustande, so hat das eine innerweltliche Moralisierung zur Folge, welche ,,die Nichterweislichkeit der moralischen O r d n u n g der Welt "49~ als Tatsache negiert. Die Folge im rechtlichen K o n t e x t ist ein Staat, der aufgrund der N e g a t i o n einer metaphysisch begriindeten Menschenwiirde erheblich an Macht gewinnt. D e r M e n s c h innerhalb dieses Staates w{ire dieser Macht restlos ausgeliefert. D o c h der Staat hat ,,nichts mit Metaphysik zu ran, insbesondere darf er weder G l a u b e n n o c h Metaphysik zur Pflicht machen, n o c h sich selbst unmittelbar metaphysisch begriinden. ''491 In diesem Z u s a m m e n h a n g haben sich die angelsiichsischen Zivilisationsideen als resistent erwiesen. Das entspricht der Tatsache im Kleinen, dass ,,fromme Leute" zu einer ,,Rationalitiit" f~ihig sind, ,,die m a n braucht, u m gegen Verlockungen groBer P r o p h e t e n resistent zu sein. ''492 I m zwanzigsten J a h r h u n d e r t setzte sich schliel31ich insbesondere in den USA die E r k e n n t nis durch, Triiger einer christlichen, u n d doch zugleich einer fiber das Christliche hinausgehenden, nationalen Zivilreligion und iibernationalen Zivilisationsidee zu sein. Teils handelte es sich dabei u m eine , , w e s t l i c h e " Zivilisationsidee 493, wonach die Essenz der westlichen Tradition in
487Henning Ottmann, Politik und Religion im modernen S~aat, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Probleme politischer Ordnund~ W/irzburg 2000, S. 99-108, 101. Henning Ottmann benutzt hier einen liberalkonservativen Ideologiebegriff (vgl. auch Ulrich Matz, Zur Diahktik yon totalitd'rer Ideologie und pluralistischer Gesellschaft, in: Manfred Funke u.a. (Hg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa, Bonn 1987, S. 554-566, 560-564 und mit weiterf/ihrenden Literaturangaben Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1985, S. 166-169). Aus sozialistischer Sichtweise macht ,,liberale Ideologiefreiheit" keinen Sinn, weil ,,Ideologie" welter definiert wird als bei liberalen Denkem (vgl. z.B. exemplarisch Anthony Arblaster, The Rise and Decline of Western Iaberalism, Oxford u.a. 1985, S.322-326). Zum liberalen und konservativen, ,,engen" Ideologiebegriff und zu seiner wissenssoziologischen und damit wissenschaftlichen Berechtigung vgl. insbesondere das sogenannte ,,Thomas-Theorem" (vgl. William I. Thomas, The Definition of the Situation, in: Manis, Jerome / Bernard Meltzer (Hg.), Symbolic Interaction:A Reader in Sodal P~chology, 2. Aufl., Boston 1972, S. 331-336; vgl. zur politikwissenschaftlichen Nutzung Wemer J. patzelt, EinJ~hrung in die Politikwissenschaft. GrundriJ~des Fa&es und studiumbegleitende Orientierung~ 5. Aufl., Passau 2003, S. 42f.). Auf den Punkt gebracht hat das Ideologieproblem indes die ewig gfiltige Sentenz des Joseph Freiherr von Eichendorff zur Grundlage dass ,,aller Absolutismus, er mag nun auf der Seite der Revolution oder der Reaktion, auf Seiten der geselligen Ordnung oder gesellschaftlichen Unordnung liegen, vom Ubcl ist und durch einen gewissenwiderwiirtigen Familienzug der Unnamr sich wechselseitig iihnlich sieht." (zitiert nach Friedrich Heer, Der Konservative und die Reaktion, in: Die Neue Rundschau, 69. Jg. 1958, S. 490-527, 506). 488 Z.B. dutch Gottesanrufe in Verfassungspr~iambeln und in Amtseiden, in Reden, in Kruzifixen und anderen religi6sen Symbolen im 6ffentlichen Bereich etc. 489 Vgl. Hermann L/ibbe, Religion nach derAuJkla'rune~ Graz/Wien/K61n 1986, S. 228 und 336. Vgl. zur Kritik an der Position L/ibbes insbesondere Norbert Hilger, Deutscher Neokonservativismus- das Beispiel Hermann Ligbbes, Baden-Baden 1995, S. 300-303. 490Hermann L/ibbe, Theodizee undLebenssinn, in: Archivio di filosofia 56 (1988), S. 407-426, 423. 491 Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat. Gestalt, Grundlagen, GefdSrdungen, TCibingen 1995, S. 203. 492Hermann L/ibbe, Fach- und andere Idioten. ([Tberdie Verantwortung in der wissenschaftlich-technischenZivilisation, in: Bodo von Oreiff (Hg.), Das OrwellscheJahrzehnt und die Zukunfi der Wissenschaft, Berlin 1981, S. 80-89, 89. 493 Vgl. Robert N. Bellah, Civil Religion in America, in: Daedalus 96, 1967, S. 1-21. Heute spricht Bellah nurmehr von ,,public philosophy".
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der amerikanischen Idee , , e i n g e s c h m o l z e n " sei 494, tells wurde die Idee mit der Vorstellung yon Amerika als Tr~iger einer ,,Weltzivilisafion ''495 verquickt. Zugleich beherbergt die christlich gepr~igte amerikanische Zivilreligion- im Gegensatz zu den Vorstellungen Rousseaus fiber die Toleranz- und politischen Tugendf~ihigkeiten des C h r i s t e n t u m s - atheistische Vorstellungen als gleichberechtigte Erscheinungen, solange sie die im Glauben festgelegten ethischen Standards auf anderem Wege ffir sich akzeptieren oder gar begriinden. 496 Die in gesellschaftlicher Hinsicht religi6s gepr~igten USA sind aus christlicher Perspektive seit dem 20. J a h r h u n d e r t - aufgrund der radikalen Veriinderungen der religionspolitischen Bedingungen in E u r o p a - zu einer bewahrenden Kraft geworden. 497
2. Singulares Zivilisationsverst~indnis im s o z i o g e n e t i s c h e n Ansatz yon Norbert Elias 498
Durch den Versuch, das Deutungsmuster der Trennung zwischen Kultur und Zivilisation dadurch zu iiberwinden, dass es selbst kultursoziologisch analysiert wurde, schuf Norbert Elias die Grundlage fiir einen soziologisch-historischen Zivilisationsbegriff, der s i c h - enmormativiert dutch einen sozialpsychologischen A n s a t z - als vorziigliches Interpretationsmuster der letztlich ,,emen", westlichen Zivilisierung der Lebens- und Politikwelt seit dem spiiten Mittelalter bis hin zum Massenzeitalter der Jetztzeit darbot. Ausgehend v o n d e r Feststellung, dass die Trennung von Kulmr und Zivilisafion auf den Adel-B/irger-Antagonismus des 18. J ahrhunderts zuriickzuffihren sei, wird der Zivilisationsansatz des franz6sischen A d d s und der im Aufldiimngszeitalter mit diesem Adel paktierenden franz6sischen Vemunftelite auf ,,psychound soziogenetische" Ursachen in der Vergangenheit zurfickgeffihrt und als das Wechselspiel zwischen gesellschaftlichem Wandel (Soziogenese) dutch zunehmende affektive Selbstkontrolle (Psychogenese) einerseits und affektive Selbstkontrolle dutch gesellschaftlichen Wandel andererseits interpretiert. Dieses Wechselspiel ist hierbei die entscheidende Defmitionsbasis des letztlich einen Zivilisationsprozesses, der historisch Mar im Westen (im ,,Abendland '~) angesiedelt ist. Psychogenese und Soziogenese werden indes nur aus analytischen Gr/inden auseinandergehalten - tatsS.chlich gehen sie m Form einer im Verhiiltnis zur ,,Gesellschaftlichkeit des Menschen" apriorischen , , K o n f l g u r a f i o n " zusammen. Nicht das individuelle Bewusstsein bestimmt das soziale Sein oder das soziale Sein das Bewusstsein, sondem der ,,Verflechtungszusammenhang" zwischen beiden ist die Grundlage der Gesellschaftlichkeit bei Elias:
494 SO die Bezeichnung bei Michael Z611er, Zivilreligion und Politik. Das amerikanische Beispiel, in: Karl Graf Ballestrem / Hans Buchheim / Manfred Hiittich / Heinz H~rten (big.), So~alethik und Politische Bildung. FestschriftJ~r Bernhard Sutor zum 65. Geburtstag, Paderbom u.a. 1995, S. 113-123, 121. 495 Vgl. gu letzterem z.B. die embryonale Position des in diesem Kontext politisch erfolglosen Woodrow Wilson (vgl. Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Civilization in the United States, Nachdruck / 2. Aufl., New York 1971, S. 565). Vgl. ferner zur Position Louis Finkelsteins w{ihrend des Zweiten Weltkrieges Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Civilization in the United States, Nachdruck / 2. Aufl., New York 1971, S. 538-542. Und zu Thomas Paine als Vorliiufer vgl. Alfred Owen Aldridge, Thomas Paine's American Ideology, Newark/London/Toronto 1984, S. 283. 496gs sei in diesem Kontext z.B. an die atheistischen Moralsystemeyon Bertrand Russell oder Felix Adler erinnert. 497Vgl. Eric Voegelin, Die neue Wissenschaft derPolitik. Eine Einj~hrung, ND M/inchen 2004, S. 196. 498 Vgl. Norbert Elias, Ober den Prozess der Zivilisation- So~ogenetische undpJTchogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1997; Ders., Zivilisation, in: Bernhard Schiifers (Hg.), Grundbegriffe der So~ologie, 7. Aufl., Opladen 2001, S. 445-449; Armr Bogner, Zivilisation und Rationalisierung. Die Zivilisationstheorie Max Webers, Norbert Elias' und der Frankfurter Schule im VergMch, Opladen 1989, S. 18-65.
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Kapitel IV ,,Man scheint nut die Wahl zu haben zwischen Theorieansiitzen, die so angelegt sind, als ob die Einzelmenschen jenseits der Gesellschaft als das eigentlich Existierende, das eigentlich ,Reale' und die Gesellschaft als eine Abstraktion, als nicht eigentlich existierend zu betrachten seien, und anderen Theorieansiitzen, die die Gesellschaft als ,System', als ,soziales Faktum sui generis', als eine Realitiit eigener Art jenseits der Individuen herstellen. ''499 "
U n d weiter: ,,Man begniigt sich mit den M e t a p h e r n v o m , I n n e r n ' u n d v o m ,Aul3ern, abet m a n m a c h t keinen Versuch, das ,Innere' ernstlich im R a u m e aufzuzeigen", s~176 D i e s e r ,,Verflecht u n g s z u s a m m e n h a n g " b e s t e h t auch in der Frage der Erkenntnis: ,,Die Frage der Philosophen ist lediglich, ob er [der Mensch] die[se] Erkenntnis [einer] Kausalverknfipfung hier und jetzt aufgrund seiner Erfahmng gewinnt, ob diese Verknflpfung re_itandern Worten eine Eigent/imlichkeit der beobachtbaren Tatsachen ,aul3erhalb seiner' ist, oder ob sie eine durch die Eigenart der menschlichen Vemunft vorgesehene Zutat des menschlichen ,Inneren' zu dem ist, was yon ,aul3en' durch die Sinnesorgane in das ,,Innere" hineinstr6mt. "s~ (...) ,,Die Gedanken steuern hilflos zwischen der Scylla irgendeines Positivismus und der Charybdis irgendeines Apriorismus. ''s~ (...) ,,Der Prozess- der einzelne Mensch als Prozess im Heranwachsen, die Menschen zusanm~en als Prozess der Menschheitsentwicklung - wird in Gedanken auf einen Zustand reduziert. "s~ Die ,,Soziogenese" setzt bei Elias insofern schon vor d e m Rationalismus an u n d beginnt mit der M o n o p o l i s i e r u n g einiger H e r r s c h e r h i i u s e r im Mittelalter. D a s hat zur Folge, dass die territorial nicht einheitlichen P e r s o n e n v e r b a n d s s t a a t e n des Mittelalters d u r c h absolutistische Staaten abgel6st w e r d e n , die sich a u f der G r u n d l a g e des B o d i n s c h e n Souveriinitiitsprinzip (Gew a l t m o n o p o l des Staates) zu einheitlichen, geschlossenen, territorialgebundenen Nationalstaaten entwickeln. D a s B o d i n s c h e Souver~initiitsprinzip setzt sich in der Spanne zwischen 1648 u n d 1919 schrittweise gegen das k o n k u r r i e r e n d e (und fast schon vergessene) K o n z e p t des Althusius durch, der in A n l e h n u n g an die antiken D e n k e r (insbesondere an Aristoteles) v o n einer subsidi{ir u n d ,,v61kisch" geteilten Souveriinit~it v o n Reichsgebilden ausging, welche verschiedenste G e m e i n s c h a f t e n symbiotisch miteinander zu einer multinationalen Einheit v e r e i n e n sollte. 5~ Diese Idee einer ,,souver~inen G e m e i n s c h a f t v o n souveriinen G e m e m s c h a f t e n " sollte ,nit d e m N i e d e r g a n g des H a b s b u r g e r Reiches ein (vorliiufiges) E n d e linden. Die mittelalterlichen P e r s o n e n v e r b a n d s s t a a t e n v o r der Zeit B o d i n s Althusius' basierten indes a u f lose zusammenhS_ngenden Feudalgebieten u n d u n g e n i i g e n d e n V e r w a l m n g s s t r u k m r e n u n d w a r e n im Z u g e p e r m a n e n t e r kriegerischer E r o b e r u n g s z i i g e raschen V e r s c h i e b u n g e n v o n territorialen H e r r s c h a f t s a n s p r i i c h e n ausgesetzt. Die damit e i n h e r g e h e n d e m a n g e l n d e B i n n e n -
499 Norbert Elias, Uber den Prozess der Zivilisation- So~ogenetische undp~ychogenetische Untersuchungen. Band I: Wandlungen des Verhaltens in den westlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt a.M. 1997, S. 54. 5o0Ebd., S. 52f. s01 Ebd., S. 50f. s0a Ebd., S. 51. s03 Ebd., S. 50. s04 Dieses Souveriinitiitskonzept wollen heute die ,,Europa-Union", die ,,Gesellschaft der bedrohten V61ker" und sonstige Verfechter des ,,Europa der Regionen", abet auch die ,,v61kische Rechte", emsthaft als Europa-Idee revitalisieren: vgl. zu letzterem Alain de Benoist, Sch&e vernetzte Welt. Eine Antwort aufdie Globalisierun2~ T/.ibingen 2001, S. 296299. V61lig untypisch f/ir die (gem{il3igte) Rechte in Frank_reich wendet sich die Nouvelle Droite de Benoists eindeutig gegen den Bodinschen Nationalismus und den dan-fit einhergehenden zentralistischen ,,Souver{inismus", wie er auch yon Le Pens FN zu weiten Teilen vertreten wird (vgl. ebd., S. 305-337). Entsprechend fordert de Benoist ,,die Autonon'fie von Korsika und der Bretagne, Gr/indung einer Region ,Baskenland', Wiedervereinigung der Normandie und yon Savoyen, R/ickkehr des Departments Loire-Adantique zur Bretagne, F6rderung der Zweisprachigkeit im Elsal3, Zusammenlegung der Gemeinden, Abschaffung der Departements zugunsten der Regionen und L{inder, Ausweitung des Spielraums yon Vereinigungen und lokaler Demokratie und nat/irlich Anerkennung der V61ker Frankreichs". (S. 331f.)
Der Zivilisationsbegriff
117
differenzierung (geringer Grad an innerer gesellschaftlicher Differenzierung und Organisationsdichte) wies wenig Affektkontrollmechanismen auf. Die Legitimation staatlicher Macht vollzog sich im Rahmen eines normativ-religi6sen Dreiecks ,,la police, la religion et la justice" und auch die K6nige wurden theoretisch dieser Legitimation konstitutionell unterworfen. Bodin zog sich dementsprechend aus der mittelalterlichen Tradition mehr und mehr zurfick und brach schliel31ich mit ihr. s~ Damit war zugleich der historische Weg zum Absolutismus der Frfihen Neuzeit theoretisch vorgezeichnet. Der Absolutismus fiihrte schlieBlich fiber eine wesentliche Straffung der Organisationsdichte zu einer Erh6hung des ,,Interdependenzniveaus", zu einem stiirkeren Verflechtungsniveau und damit zu einer sfiirkeren subjektiven Verhaltenssteuerung. Die entstandenen Beziehungsgeflechte werden bei Elias indes nicht statisch, sondern h6chst aktional verstanden, so dass es im Zivilisationsprozess auch zu Konkurrenz, Gewalt und kriegerischen Auseinandersetzungen, abet auch ,,barbarischen" R/ickfiillen kommt, welche gar durch die Verbindung von gegebenen Affektkontrollmechanismen und Massenideologien im 20. Jahrhundert neue H6hepunkte erreichen. Die Erkliirung der Straffung der Organisationsdichte, also der Monopolbildung des Staates im Bereich des Bodens, der Gewaltausfibung, der Steuererhebung und auch des Strafrechtes, liegt nach Elias in der europ~iischen Monopolisierungstendenz im 11. Jahrhundert. Als Begriindungen fiihrt Elias heran: iiul3ere und innere Expansion (Besiedlung, Rodung), Bev61kerungsexplosion, Herausbildung der Stiidte, Herausbildung der Geldwirtschaft anstelle der Naturalwirtschaft s~ zunehmende Differenzierung (Ausdifferenzierung von immer mehr Teilfunktionen), damit einhergehende Erh6hung des Interdependenzniveaus. Die daraus folgende Begrfindung eines verwaltungszentrierten Infrastruktursystems, das die Affektkontrolle, also das berechenbare, regulierte und kontrollierte Verhalten jedes Einzelnen, nun sowohl erfordert als auch erm6glicht, geht zugleich einher mit einer neuen Konkurrenzsituation nach augen, die ebenso als , , F i g u r a t i o n " die modeme Gleichgewichtsfrage in den iiul3eren Beziehungen in die Welt setzt. Nun erfolgt allmiihlich die Monopolbildung. Wenn wir nun die institutionelle Monopolbildung zeitlich betrachten, so f~illt auf, dass die (nationaldynastischen) Monopolbildungsprozesse hin zu ,,Nationalstaaten" erst weit spiiter als im 11. J ahrhundert abgeschlossen sind und in eine Zeit fallen, in der ganz Europa planetarisch nach Westen expandiert. Es ist die Zeit um die sogenannte ,,Raumrevolution" herum, die Zeit der Entdeckung und Eroberung Amerikas 1492: der nationaldynastische Staat Grol3britannien etabliert sich zwar schon 1485, doch derjenige Spaniens erst 1556, derjenige Frankreichs 1589 (Russland folgt erst 1698, Preul3en schliel31ich 1713). 5o7 Es ist einleuchtend, wenn angesichts jener zeitlichen Koinzidenz von Monopolisierung und Weltentdeckung- fiber Elias hinausgehend und ihn historisch-politisch ergiinzend - behauptet wird, dass sich diese neuen dynastischen Monopole in Europa gerade aufgrund der neuartigen Weltexpansion so rasch und so erfolgreich haben stabilisieren k6nnen, und zwar im folgenden Sinne: ,,When the royal income notably increased through various forms of revenue derived from the discoveries, commerce, and colonization of the New World, the ~ngs gradually acquired a standing army and administrative bu-
sos Vgl. Quentin Skinner, The Foundation of Modern Political Thought. Volume Two: The Age of Reformation, Cambridge 1978, S. 297-301. s06Vgl. auch Fernand Braudel, Die Geschichte der Zivilisation. 15.-18. Jahrhundert, M/inchen 1979, S. 501-520. s0vVgl. Harry Elmer Barnes, An Intellectual and Cultural Histo~ of the Western World. Volume 2: From the Renaissance through the Eighteenth Centu~, New York 1965, S. 660.
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Kapitel IV reaucracy of their own. They were then able to continue with zest the struggle of centuries to destroy the local and decentralized feudal order and to establish centralized national states.''s~
Hinzugeffigt werden muss, dass es sich bei der Weltexpansion aufgrund der besonderen Entwicklung in E u r o p a nicht u m eine ,,europiiische" Expansion im vollen Sinne handelte, s o n d e m u m ,,Imperialismen bestimmter V61ker", wenn fiberhaupt: S61dner wie Andrea Braccio aus Montone, Privatunternehmer, Abenteurer, Individualisten, Seeleute (wie z.B. Kolumbus), Entdecker, Siedler, Menschen und Aristokraten mit einem ausgepr~igten ritterlichen Verhaltenskodex s~ o d e r - sp~iter- europ~iische Auswanderer (alles andere also als Vertreter eines staatlichen Kollektivs), leiteten in viel st;,irkerem Mage die politischen Geschicke Europas, als irgendwelche Imperialisten eines gesamteurop~iischen Kollektivs. 51~
3.
D a s p l u r a l e Z i v i l i s a t i o n s v e r s t ~ i n d n i s 511
3.1 Der mophologisch-kulturalistische A n s a t z seit Spengler und Toynbee
Die ,,Zivilisation" selbst als kulturelle Ausdrucksform zu begreifen, ist der Ausgangspunkt des morphologisch-kulturalen Zivilisationsansatzes und zugleich die wichfigste historische Quelle der pluralen Zivilisafionsbegriffe. So defmierten Oswald Spengler, Arnold Toynbee, Caroll Quigley und Pitrim Sorokin die , , Z i v i l i s a f i o n " als die am weitesten gefasste kulturelle Enfitiit. s12 Diese D e f m i f o n fibernimmt heute auch Samuel P. H u n 6 n g t o n . s13 W~ihrend Spengler v o n einem kulturkritischen Zivilisationsbegriff in radikalkulturalisfischer Tradition ausging, bestand der Unterschied zwischen T o y n b e e und Sorokin darin, dass Sorokin versuchte, Zivilisafonen als ,,kulturelle Supersysteme" mit systemstrukturalisfschen Ansiitzen zu erfassen, womit er im Vergleich zu Toynbee zu relativ stark abweichenden Zivilisafionseinteilungen kam, sowohl in Bezug auf die Abgrenzung zwischen den einzelnen Zivilisafionen als auch in Bezug auf die A b g r e n z u n g e n zwischen den Phasenkreisliiufen innerhalb der Zivilisafionen. )~hnlich kulturell orientiert ging Alfred Ka:oeber vor, genauso wie dessen Schiiler Philip Bagby. 514 Eine ,,Kultur" ist somit der wesentliche Baustein einer ,,Zivilisafon" im angels~ichsischen Zivilisationsverst~indnis. Die einzige A u s n a h m e bildet David Wilkinson, der versucht, Zivilisationen als soziopolitische und zugleich grunds~itzlich , , p o l y k u l t u r e l l e " Einheiten zu bestimmen. 515
sos Harry Elmer Barnes, An Intellectual and Cultural Histo{y of the Western World. Volume 2: From the Renaissance through the Eighteenth Centu{7, New York 1965, S. 659f. s09 Vgl. insbesondere Felipe Fem~mdez-Armesto, Millennium. Die Weltgeschichte unseresJahrtausends, 5. Aufl., Mfinchen 1998, S. 210f. 510Vgl. ebd., S. 200. sll Vgl. als ersten Oberblick Matthew Melko, The Nature of Civilizations, in: Stephen K. Sanderson (Hg.), Civilizations and World Systems, Walnut Creek / London / New Delhi 1995, S. 25-45. s12Vgl. Pitrim Sorokin, Sodal and Cultural Dynamics, 4 Bde., Boston 1954; Arnold J. Toynbee, Der Gang der Weltgeschichte. Aufstieg und Verfall der Kulturen, 3. Aufl., Stuttgart 1955; William Caroll Quigley, The Evolution of Civilizations. An Introduction to Historical Analysis, Indianapolis 1979; Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Mo~ohologie der Weltgeschichte, 15. Aufl., Mfinchen 2000. Sl3 Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 2I. Jahrhundert, Mfinchen 2002, S. 51-54. 5~4 Vgl. Philip Bagby, Culture and Histo~. Prolegomena to the Comparative Study of Civilizations, London / New York / Toronto 1958, S. 159-222, insbesondere 159-165. s15 Vgl. David Wilkinson, Central Civilization, in: Stephen K. Sanderson (Hg.), Civilizations and World Systems, Walnut Creek / London / New Delhi 1995, S. 46-74.
Der Zivilisationsbegriff
119
Auch der Ansatz der strukturalistischen Zivilisationsgeschichte von Fernand Braudel geht letztlich von einem kulturell verankerten Zivilisationsbegriff des Westens aus, auch wenn er dabei eine besondere Variation vornimmt. Die ,,Zivilisation", wie sie sich bei ihm vor dem kulturellen Hintergrund emer Vielzahl yon ,,Kulturen" des Westens entwickelt habe, bezieht sich nurmehr auf die Formen der technischen Naturbeherrschung. Solange ,,Kultur" ganz fiir sich alleine steht und nicht mit anderen Kulturen zivilisationsbildend in Erscheinung tritt, wird sie als eine isolierte und primifve Vorstufe von ,,Zivilisation" dargestellt. So unterscheidet Braudel in seinem Spiitwerk Civilisation Mat&~elle et Capitalisme fiir das 16. Jahrhundert zwischen den primitiven Kulturen irn damaligen Schwarzafrika und- der europiiischen Zivilisation. 516 Die Ubersetzung des Werkes von Braudel macht indes auf die hier und da immer noch auftretenden Schwierigkeiten re_it einem solchen Zivilisationenverstiindnis in der deutschen Sprache aufmerksam: Das Werk wurde einfach ,,Die Geschichte der Zivilisation" genannt 5.7, womit zum einen die materielle Seite der europ~iischen Zivilisation, auf die sich Braudel beschriinkte, zum Allgemeinprinzip der ,,Zivilisation" als solcher erhoben wurde und zum zweiten diese ,,Zivilisat_ion" zugleich als die einzig denkbare erscheint. Der Vorzug des kulturalistischen und morphologischen Ansatzes liegt darin, dass in dem Moment, in dem die Zivilisation als eine ,,grol3kulturelle" Form aufgefasst wird, eine ,,Vielseitigkeit der Beziehungen (...) zwischen politischem, geistigem und wirtschaftlich-sozialem Leben ''518 zum Vorschein kommt, die so weder in einer rein geisteszentrierten Geschichtsbetrachttmg (wie z.B. die Burckhardts), noch in der materiellen Geschichtsbetrachtung, auch derjenigen Braudels, zu linden ist. Und im Vergleich zu Hegel besteht die Qualitiit einer morphologischen Zivilisationengeschichtsschreibung darin, dass die Weltgeschichte nicht mehr als ,,ein grol3er, einheitlicher Prozess stiindig fortschreitender Selbstverwirklichung des Weltgeistes ''519 angesehen wird. Die Weltgeschichte ,,zerf~illt hier in viele ,Abliiufe' jeweils zeitgebundener, also vergiinglicher Kulturen. ''52~ Das wird durch den Begriff der ,,Morphologie" zum Ausdruck gebracht. Mit den grol3en politischen Sch6pfungen sinkt also ,,eine Kultur nach der anderen d a h i n - nur dass bei Toynbee am Ende alle Hoffnung sich an die Uberzeitlichkeit, die ewige Wahrheit des abendliindischen Christentums klammert, w~ihrend Spengler die Zeichen des unaufhaltsamen Verfalls auch hier zu beobachten meint. ''521 Bei Spengler wurde die ,,Zivilisation" als die langjiihrige Verfallsform einer jeden ,,Hochkultur" verstanden. Die wissenschaftliche Problematik, die sich nun in Bezug auf den Zivilisationsbegriff- unabh~ingig von der geschilderten deutschen Eigentiimlichkeit im Kultur- und Zivilisationsverstiindnis - zwangsl~iufig ergibt, ist die gleiche, wie sie sich in Bezug auf den Kulturbegriff darstellt: ,,Die Komplexitiit des Begriffes ,Kultur' als Ausdruck der typischen Lebensformen einer Bev61kerung steht jeder einfachen Operatonalisierung entgegen. ''522 Wenn die ,,Kulturen" elementare Bausteine von Zivilisationen darstellen, gilt dieser Warnung erst recht fiir den Begrift der ,,Zivqlisation". Empirische Ans~itze m einem posiuvistischen Sinne sind fiir die Erfassung dieser politisch relevanten Wirklichkeit untauglich. Dazu kommt noch ein spezifisches
sla Vgl. Fernand Braudel, Die GeschichtederZivilisation. 15.-18.Jahrhundert, M/inchen 1979, S.15. 517Fernand Braudel, Die Geschichteder Zivilisation. 15.-18. Jahrhundert, M/inchen 1979. s18 Gerhard Ritter, Zum Begriffder ,Kulturgeschichte'. Ein Diskussionsbe#rag, in: Historische Zeitschrift, Nr. 171 (1951), S. 293-302, 302. 519Ebd. 520Ebd. 521Ebd. 52zJ/irgen B~ihr,BevbTkerungsgeographie,3. Aufl., Stuttgart 1997, S. 150.
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Kapitel IV
Problem der genauen Abgrenzbarkeit zwischen den Kulmren bzw. Zivilisationen. 523 Dass das Ursprungswerk des morphologischen Ansatzes, Oswald Spenglers ,,Untergang des Abendlandes", kein wissenschaftliches Werk ist, mag auch damit zusammenhiingen. Spenglers Opus ist redes trotz aller damit einhergehenden giicken s24 als ein ,,monumentales Beispiel historischer D i c h m n g ''525 zu wiirdigen. D e r Einfluss des Radikalkulmralismus auf Spenglers Denken sollte in der Auseinandersetzung mit seinem Zivilisationsverst~indnis nicht unberiicksichtigt bleiben: Dementsprechend kurzsichtig war sicherlich seine Vorstellung, das , , E l e m e n t a r - V i t a l e " nut als ,,Lebensliige" der westlichen Zivilisation abtun zu miissen. Spengler interpretierte infolgedessen den Westen im K e r n als ein pures Geld-Macht-Konglomerat. 526 Nach Spengler ist also das ,,Elementar-Vitale" gerade das tragische M o m e n t des Zivilisatorischen 527, insoweit es sich auf eine religi6se, kiinstlerische, philosophische Zukunft oder ein sozialethisches Ziel richtet (Spengler benutzte als Metapher die damals - 1 9 2 2 - noch revolutioniirkonservative Ordnungsvorstellung ,,Drittes Reich"), wiihrend angeblich hinter ahem ,,Zivilisatorischen" der nackte Materialismus stehe. Die Tragik der Moralisten und Philosophen im Zeitalter der ,,Zivilisation" bestiinde demnach darin, dass ,,in der tiefsten Tiefe ein dumpfes Gef'tihl nicht schweigen will, dass dieser ganze atemlose Eifer die verzweifelte Selbstt~iuschung einer Seele ist, die nicht ruhen darf und kann. ''52a Es ist eine sehr entscheidende Frage fiir das Schicksal und die Zukunft einer jeglichen, auch unserer Zivilisation, ob das wirklich zutrifft.
3.2 Der anthropologische A n s a t ~ 29 und die Theorie der ,,Geozivilisationen"als Basis eines po litisch-technisch-kulture llen Zivilisationsbegrfff es
Die empirisch iiberzeugendste Zivilisationsdefmition im Kontext des pluralen Zivilisationsansatzes fmdet sich in der Anthropologie: Sie sieht in der ,,Zivilisation" zun~ichst nicht mehr als jeden Versuch des Menschen, mit Hilfe yon Techniken mit den Widrigkeiten der N a m r umzugehen und ihnen zu widerstehen. 53~ Die Techniken k6nnen sich dabei v o m Niveau her sehr stark unterscheiden: Wie die Maschine geh6rt auch ein einfaches Holzwerkzeug dazu. Da alle Menschen per defmitionem als zum Zwecke der Naturbeherrschung werkzeugbedienende Wesen gelten, gilt es nur nach der ,,Form" der Zivilisation zwischen V61kern und Nationen zu unterscheiden. ,,Zivilisationen" entstehen demnach im Falle einer (notwendigerweise auch 523 Vgl. Jfirgen Osterhammel, Internationale Geschichte, Globalisierung und die Pluralita't der Kulturen, in: Wilfried Loth / JCirgen Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen- Ergebnisse- Aussichten, M/inchen 2000, S. 387-408, 389 und 398f. 524So werden retardierende Momente - als ein Beispiel unter vielen - innerhalb des Ubergangs des Abendlandes in die Sp{itphase der Hochkultur fibersehen. Aul3erdem werden Wechselverhiiltnissezwischen den Kulmrkreisen (auch in diachroner Hinsicht) oder Regenerationsphasen von Kultur~eisen und Zivilisationen, z.B. im Bezug auf das Abendland die Phase nach 1492, untersch{itzt. 5z5Harry Elmer Barnes, So~ologie der Geschichte. Theorien gur Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gesellschaft, Wien 1951, S. 123. s26 Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Mo~ohologie der Weltgeschichte, 15. Aufl., Mfinchen 2000, S. 1177. SeTEbd., S. 466. 528Ebd. (vgl. femer Nietzsches ,,ewige Wiederkunft" in Friedrich Nietzsche, Also ~)rach Zarathustra, ND K61n 1980). 529Vgl. die leserliche0bersicht fiber die anthropologischenGrundpositionen: Robert B. Edgerton, Traditionelle Oberzeugungen und Praktiken: Gibt es bessere und schlechtere?, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (big.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschrittpra'gen, Hamburg / Wien 2000, S. 165-183, 165-173. 530 Vgl. Harry Elmer Barnes, So~ologie der Geschichte. Theoffen zur Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gesellschaft, Wien/Stuttgart 1951, S. 76.
D er Zivilisationsbegriff
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n a c h aul3en k r i e g e r i s c h e n 531) B e w e g u n g v o n M e n s c h e n g r u p p e n hin zu e i n e m , , Z u s t a n d physischer K o n z e n t r a t i o n " , w e l c h e r einen , , Z u s t a n d p h y s i s c h e r Z e r s t r e u u n g " abl6st. 532 Alle M e n s c h e n sind in d i e s e m Sinne, da n a t u r k u l t i v i e r e n d e W e s e n , Zivilisationstriiger. D i e ,,Zivilisation e n " sind d a h e r iiul3erst zahlreich u n d u n t e r s c h i e d l i c h . E i n e b e s o n d e r e Qualitiit b i l d e n dabei die St~idtebildungen ab. Fiir Philip B a g b y stellte die H e r a u s b i l d u n g kleiner st~idtischer S t r u k t u ren i m Sinne einer H o c h f o r m der N a t u r b e h e r r s c h u n g gar ein e n t s c h e i d e n d e s D e f m i t i o n s k r i t e r i u m fiir eine Zivilisation dar. 533 I n die gleiche R i c h t u n g weist der Z i v i l i s a t i o n s b e g r i f f v o n M a t t h e w Melko: D a m i t v o n einer z i v i l i s a t i o n s b i l d e n d e n K u l t u r e i n h e i t die R e d e sein k a n n , m u s s diese in ihrer T e c h n i k der N a t u r b e h e r r s c h u n g eine b e s t i m m t e G r 6 B e n o r d n u n g , Komplexit~it u n d D y n a m i k erreichen. 534 W i c h t i g i m U n t e r s c h i e d zu den m o r p h o l o g i s c h e n Ans~itzen u n d z u m s y n t h e t i s c h orientierten Philip B a g b y , w e l c h e r die kulturellen W e r t e u n d die I d e e n g e s c h i c h t e als explikative E l e m e n t e b e w u s s t m i t einschliegt 535, ist bei e i n e m der gegenw~irtig f i i h r e n d e n b r i t i s c h e n Zivilisatio n s h i s t o r i k e r , Felipe F e m ~ i n d e z - A r m e s t o , dass die Zivilisation n i c h t n a c h i h r e n U r s p r i i n g e n , n~imlich der K u l t u r u n d w i e d e r u m d e r e n V o r a u s s e t z u n g (bei H u n t i n g t o n ) , der Religion, deftniert wird, s o n d e m als eine F o r m v o n , , G e o z i v i l i s a t i o n " . S o g a r w e n n die Zivilisation als D i s t a n z i e r u n g v o n d e r N a t u r v e r s t a n d e n wird, ist sie letztlich selbst nur ein Teil einer ,,natiirlichen" U m w e l t k u l t i v i e r u n g s t r a d i t i o n u n t e r vielen, s36 "My purpose is to change the way we think about civilization: to present it as a relationship between one species and the rest of the nature, an environment re-fashioned to suit human uses - not a phase of social development, nor a process of collective self-improvement, nor the climax of a progressive story, nor just a suitable name for culture on a large scale, nor a synonym for excellence endorsed by elites. I am not trying to impose a new definition on an old world. On the contrary, I am re-formulating a traditional usage. Whenever the world 'civilization' is properly used, it suggests a type of environment ''537 (...) "I propose to define [civilization] as a type of relationship: a relationship to the natural environment, recrafted, by the civilizing impulse, to meet human demands. By 'a civilization' I mean a society in such a relationship. ''538 (...) ,,Wherever humans can survive, civilization can happen. ''s39 D i e Zivilisation als V e r f a l l s f o r m l e h n t F e r n f i n d e z - A r m e s t o i n t e r e s s a n t e r w e i s e gerade d e s w e g e n ab, weil sie eine , , E n t w i c k l u n g " impliziere: ,,Societies change all the time but in different ways. They do not develop, evolve or progress (...). They conform to no model, work towards no telos. ''s4~(...) ,,Progress towards any historical climax - whether it is the classless society or the Age of the Holy Spirit or the Thousand-year Reich or liberal democracy or some other ,end of history' - is illusory. ''541 531 Problematisch erweist es sich freilich, wenn diese Tatsache auch als Mal3stab f/ir zuk/inftiges Handeln in dem Sinne genommen wird, dass ,,Expansion" und ,,vitaler Fortschritt einer Zivilisation" immer mit einander einhergehen m/issten. So argumentierten die Imperialisten (vgl. z.B. Theodor Roosevelt, Gesetz der Zivilisation und des Verfalls, Vorwort in: Brooks Adams, Das Gesetz der Zivilisation und des Verfalls, Wien / Leipzig 1907, S. VII - XXIV, XXII). 532 So in Anlehnung an Brooks Adams: ebd., S. IX. s33 Vgl. Philip Bagby, Culture and Histou. Prolegomena to the Comparative Study of Civilizations, London / New York / Toronto 1958, S. 163. 534Vgl. Matthew Melko, The Nature of Civilizations, Boston 1969. 53s Vgl. Philip Bagby, Culture and Histou. Prolegomena to the Comparative Study of Civilizations, London / New York / Toronto 1958, S. 187. 536Vgl. Felipe Fem~indez-Armesto, Civilizations, Basingstoke/Oxford 2000, S. 25. s3v Ebd., S. xiii. s38 Ebd., S. 5. s39 Ebd., S. 27. 540 Ebd., S. 4. s41 Ebd. (vgl. auch S. 10 und 30).
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Kapitel IV
A u c h w e n n er keiner wie auch i m m e r gearteten Teleologie unterliegt, akzeptiert FemfindezA r m e s t o jedoch einen ,,Prozesscharakter" des Zivilisationsbegriffs. Alle franz6sischen W o r t e mit der E n d u n g ,,-ization" implizieren den ,,Prozess". D e r Prozess ist abet nicht linear, sond e m reine Bewegung, die sich in einem ,,refashioning of nature" ausdriickt. 542 A u f einer Metaebene verbindet Fem~indez-Armesto seinen Ansatz schlieBlich mit einem singularen Zivilisationsmodus. Sein singulares Verst~indnis orientiert sich abet konsequenterweise an keinerlei lineare oder teleologische Entwicklung, s o n d e m wird im folgenden K o n t e x t verstanden: ,,Civilization is used as a name for the totality of human societies, rather than a property or character.''s43 (...) ,,All the societies I call civilizations do indeed have something in common: their programmes for the systematic refashioning of nature. That does not mean that there are any limits to their possible diversity. By calling this book 'Civilizations' in the plural I repudiate the claim that civilization is indivisible.''s44 Wie sich an Fern~indez-Armesto zeigen liisst, ist die A n t h r o p o l o g i e , , b e s c h e i d e n e r " als die Morphologie. Sie g e h t - in allen F a c e t t e n - von den materiellen Endresultaten einer Zivilisation aus. W~ihrend die Zivilisation bei H u n t i n g t o n sich als gr6Btdimensionierte kulturelle Entitiit defmieren liisst, muss in der A n t h r o p o l o g i e n e b e n den symbolischen F o r m e n der , , K u l t u r " der Standard an Medizin, Naturwissenschaft u n d Technik u n d auch die Wirtschaft mit herangezogen werden. Eine Zivilisationsform ist d e m n a c h i m m e r eine V e r b i n d u n g religi6ser, technischer u n d sozialer K o m p o n e n t e n . 545 Hieran schlieBt auch ein weitgehend neutral gehaltenes, politisch-technisch-kulturelles Zivilisationsverstiindnis an, wie es insbesondere v o n Alfred L. K r o e b e r entwickelt wurde. Dabei ist es am E n d e praktisch irrelevant, inwiefern die Zivilisation selbst als etwas ,,Natiirliches" angesehen wird oder nicht. Das Verstiindnis einer jeden Zivilisation als ,,natiirliche" F o r m eines allgemeinen M o d u s der Geozivilisationen ist nur v o n theoretischem Belang. N a c h K r o e b e r lassen sich d e m e n t s p r e c h e n d folgende Defmitionskriterien einer Zivilisation aufstellen546: 1. 2. 3. 4. 5.
Isolierbarkeitvon den anderen Zivilisationen in Zeit und Raum (geographischeDimension) Religion(und Kultur) )~_hnlichkeitder politischen und militiirischen Entwicklung, mit einer Tendenz zur F6deration oder gar zu einer Einheit Technologische und 6konomische Eigenschaften ,,Stil"(definiert als Art, wie die Zivilisation Dinge hervorbringt)
I m relativistischen Sinne sind die Zivilisationen auf dieser Basis allein deskriptiv zu unterscheiden, w~ihrend sie bei den antirelativistischen T h e o r e t i k e m auch qualitativ unterschieden werden. D a m i t stellt sich die grundsiitzliche Frage des Z u s a m m e n h a n g s zwischen Zivilisationstheorie u n d kulturellem Relativismus. In dieser Arbeit soil die vielschichtige Problematik des kulturellen Relativismus 54v in der Kulturanthropologie unter d e m Aspekt der Naturadaptivit~it kultureller F o r m e n betrachtet werden. D e m n a c h ist das Zivilisationsverst~indnis bei den Kul-
542Vgl. Felipe Fern~indez-Annesto, Civilizations, Basingstoke/Oxford 2000, S. 20. 543Ebd., S. 5 s44 Ebd., S. 18. s45Vgl. auch Otfried H6ffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, M/inchen 1999, S. 31. 546Vgl. im folgenden Alfred L. Kroeber, The delimitations ofdvilizations , in: Journal of Intellectual History XlV (1953), S. 264-275; Ders., A n Anthropologist Looks at Histo{7 , Berkeley / Los Angeles 1963; Ders., Style and Civilization , Berkeley / Los Angeles 1963. 547 Vgl. den typologisierenden Uberblick von Melford E. Spiro, Cultural Relativism and the Future of Anthropology, in: George E. Marcus (Hg.), Rereading Cultural Anthropology, Durham / London 1992, S. 124-151.
Der Zivilisationsbegriff
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turrelativisten ein rein mechanisches, naturadaptives, bei den Antirelativisten ein kulturinkludierendes und ontologisches.
3.3 N a t u r und Zivilisation zwischen Kulturrelativismus, normativem Pluralismus und Universalismus
Die relativistische Schule im beschriebenen Kontext 54s stellt die unterschiedlichen Formen der Naturbeherrschung durch den Menschen ohne jegliche Miteinbeziehung eines kulmrellen oder sittlichen A-Prioris dar. Bei allen Zivilisationen herrscht demnach eine vollkommene Adaptivit~it gegeniiber der natiirlichen Umwelt der jeweiligen Zivilisationstriiger vor. Die unterschiedlichen kulturellen Formen orientieren sich an klimatisch und genetisch bedingten, unterschiedlichen Formen der Naturbeherrschung. Bei den Antirelafvisten in diesem Kontext sind es hingegen die sich yon der Natur auch unabhiingig entwicklungsf'~ihigen kulturellen Formen, die als selbstst~indige Kraft ins Blickfeld geraten. Deren Entstehungszusammenh~inge werden freilich auch klimatisch und biogenetisch erkliirt, doch werden diese Formen aufgrund ihrer letztlich noch unerforschbaren Unabhiingigkeit als eine K_raft mterpretiert, welche die jeweiligen Zivilisationen aus einer westlichen Perspektive in unterschiedlich fortgeschrittener Art und Weise beeinflussen. Fortschrittsmal3stiibe sind hierbei die ,,Effizienz", die Gr613enordnung und die Dichte der Namrbeherrschung. In diesem Sinne hat die Zivilisation einen Prozesscharakter und gilt dementsprechend als ,,advance based on an increasing mastery over the harshness of physical life ''s49, w~ihrend bei den Relativisten die Defmition in eine statische umgeschrieben werden miisste z.B. ,,civilization as a f o r m of mastery of the harshness of physical life". Bei bestimmten antirelativistischen Ansiitzen aul3erhalb der engen Grenzen der Kulmranthropologie und auf der Basis einer geozivilisatorisch mofvierten Definition der Zivilisation als ,,Bewegung hin zu physischer Konzentration" (welche die Namrbeherrschung erst erm6glicht) gilt die Staatsbildung in der westlichen Zivilisation dementsprechend als der H6hepunkt einer iibergeordneten Gesamt-,,Zivilisation", die wiederum rein materiell zu verstehen sei. 55~
a) Die anthropologische Kritik am Relativismus nach Robert B. Edgerton In Reaktion auf den Adaptivismus der relativistischen Schule entwickelt der amerikanische Kulmranthropologe Robert B. Edgerton unter Heranziehung anthropologischer Untersuchuns48Vgl. entsprechend die bei Robert B. Edgerton (Traditionelle Oberzeugungen und Praktiken: Gibt es bessere und schlechtere?, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (Hg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschrittprdgen, Hamburg / Wien 2000, S. 165-183, 168-171) zitierten Ans{itze: Clyde Kluckhohn / Dorothea Leighton, The Navaho, Garden City 1962, S. 240; John Cawte/N. Djagamara/Murray Barrett, The Meaning of Subindsion of the Urethra to Aboriginal Australians, in: British Journal of Medical Psychology 39(1966), S. 245-253; Armando R. Favazza, Bodies under Siege: SelfMutilation in Culture and Psychiat{% Baltimore 1987; Donald T. Campbell, On the Conflicts Between Biological and Social Evolution and Between Psychology and Moral Tradition, in: American Psychologist 30 (1975), S. 1103-1126, 1104; Marvin Harris, Adaptation in Biological and Cultural Science, in: Transactions of the New York Academy of Science 23 (1960), S. 59-65. Edgerton vergleicht den hier zum Tragen kommenden Adaptivismus mit der Logik eines ,,Doktor Pangloss", wie sie in Voltaires Candide gezeichnetwird (vgl. S. 169 im Aufsatz yon Edgerton). 549 Die Aussagen des Kulturanthropologen Ezra Parmalee Prentice (Ezra Parmalee Prentice, Hunger and Histo~. The Influence of Hunger on Human Histo~, New York u.a. 1939, ND Idaho 1951) wiedergebend: Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spit#. A Study of the Idea of Civilization in the United States, Nachdruck / 2. Aufl., New York 1971, S. 30. Kursivbetonungendes Verfassers. 5s0Vgl. z.B. Brooks Adams, Das Gesetz der Zivilisation und des Verfalls, Wien / Leipzig 1907, S. XXVI.
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Kapitel IV
gen v o n maladaptiven Praktiken bei Walter Goldschmidt, Klaus-Friedrich Koch, Christopher R. Hallpike ssl u n d aus eigener Feder ss2 ein antirelativistisches Verstiindnis eines pluralen Zivilisationsbegriffes u n d reiht sich somit allgemein in eine Tradition der amerikanischen Kulturanthropologie, wie wit sie bei Alfred Kroeber, G e o r g e Peter Murdock, abet auch in der A n t h ropologenschule u m Franz Boas ss3 (neben Kroeber: Paul Radin, Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert, Karl Heussi) ss4 und bei den Spiitwerken v o n R o b e r t Redfield sss (Theorie der f o l k societies) vorfmden. Bei Robert B. E d g e r t o n wird nicht n u t die v o l l k o m m e n e Adaptivitiit gegenfiber der natfirlichen U m w e l t der jeweiligen Zivilisationstriiger, sondern auch der sogenannte ,,epistemologische Relativismus" angegriffen: D e m n a c h sei ebenso wenig wie o.g. Adaptivitiit bewiesen worden, ob es grundlegende kognitive Unterschiede zwischen verschiedenen K u l m r e n gibt. ss6 Jiirgen O s t e r h a m m e l hat in einem Aufsatz fiber die Universalgeschichte einmal sch6n herausgearbeitet, wie der Strang der bei E d g e r t o n z u m Tragen k o m m e n d e n n o r m a t i v e n Relativierung eines a n g e n o m m e n e n kulturellen Relativismus ein G r u n d z u g im D e n k e n des spiiter ffir imperialistische Zielsetzungen in Beschlag g e n o m m e n e n , , A n t h r o p o g e o g r a p h e n " Friedrich Ratzel war. ss7 Die Schlussfolgerung bei E d g e r t o n lautet, dass m a n nicht v o n der A n n a h m e ausgehen sollte, ,,(...) dass jede dauerhafte, traditionelle Uberzeugung oder Praxis in einer/iberlebensf~ihigen Gesellschaft adaptiv ist. Stattdessen sollte man davon ausgehen, dass jede Uberzeugung und Praxis in ein Kontinuum ihres adaptiven Wertes eingeordnet werden kann. Vielleicht ist die jeweilige Uberzeugung einfach neutral oder akzeptabel, vielleicht n/itzt sie einigen Mitgliedern der Gesellschaft, schadet jedoch anderen. Manchmal schadet sie auch allen."ss8 ..
Was daraus resultiert, ist eine fiber die reine Adaptivitiit hinausgehende soziale Evolution, die in der Anthropologie u n d der Geschichtswissenschaft mit e n t s p r e c h e n d e n ,,Theorien der Sozialevolution ''559 (z.B. bei W e b e r oder Toynbee) abgedeckt wird. D e r antirelativistische Strang ist bei E d g e r t o n kein moraluniversalistischer Ansatz. D e m n a c h gibt es ,,fiberhaupt keine universellen Zfige in der Entwicklung" der Zivilisationsformen auf E r d e n ,,oder sie sind im Falle ihrer Existenz unerforschbar. ''56~ Letzteres ffihrt zu einer wissenschaftlich geradezu gebotenen E n t s c h e i d u n g ffir eine eklektische und damit einigermagen empirische Haltung gegenSSl Walter Goldschmidt, The Culture and Behavior of the Sebei, Berkeley 1976, S. 353; IZlaus-Friedrich Koch, War and Peace in Jalgmo: The Management of Conflict in Highland New Guinea, Cambridge 1974, S. 159; Christopher R. Hallpike, The Konso of Ethiopia: The Study of the Values of a Cushitic Society, Oxford 1972; Ders., The Ptindples of SocialEvolution, Oxford 1986. ss2 Vgl. in Reaktion auf Kirkpatrick Sale (Das verlorene Paradies. Chtistoph Kolumbus und die Folgen, M/inchen u.a. 1991) Robert B. Edgerton, Triigerische Paradiese. Der Mythos von den gliicklichen NaturvbTkern, Hamburg 1994 (Original: Sick Societies. Challenging the Myth of Promitive Harmony, New York 1992). ss3 Vgl. Franz Boas, The Mind of Primitive Man, ND New York 1965; vgl. auch Harry Elmer Barnes, So~ologie der Geschichte. Theorien zur Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gesellschaft, Wien/Stuttgart 1951, S. 77-83. ss4 Vgl. die Ubersicht bei Eno Beuchelt, Ideengeschichte der VbTke~O~chologie, Meisenheim a.G. 1974, S. 229-260. sss Vgl. Clyde Kluckhohn, EthicalRelativily: Sic et Non, in: Journal of Philosophy 52 (1955), S. 663-677; Robert Redfield, The Primitive World and Its Transformations, Ithaca 1953, S. 163. ss6 Vgl. Robert B. Edgerton, Traditionelle Uberzeugungen und Praktiken." Gibt es bessere und schlechtere?, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (Hg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschrittprdgen, Hamburg / Wien 2000, S. 165-183, 172. Edgerton wendet sich gegen: Ernest Gellner, Relativism and Universals, in: Martin Hollis / Steven Lukes (Hg.), Rational@ and Relativism, Oxford 1982, S. 181-256; Dan Sperber, Apparent[7 IrrationalBeliefs, in: ebd., S. 149-180. ss7 Vgl. JClrgen Osterhammel, Raumerfassung und Universalgeschichte, in: Ders., Geschichtswissenschaftjenseits des Nationalstaates. Studien zur Be~ehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, G6ttingen 2001, S. 151-169, 16lf. ss8 Robert B. Edgerton, Traditionelle Uberzeugungen und Praktiken." Gibt es bessere und schlechtere?, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (Hg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschrittprdgen, Hamburg / Wien 2000, S. 165-183, 180. ss9 Harry Elmer Barnes, So~ologie der Geschichte. Theorien w r EntMcklungsgeschichte der menschlichen Gesellschaft, Wien/Stuttgart 1951, S. 73. s60 Ebd., S. 72. ..
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fiber der Kulturentwicklung. 561 Die historische Auspr~igung des antirelativistischen Stranges der Kulturanthropologie hatte der Kulturhistoriker Harry Elmer Barnes einmal treffend ,,Kultureinzelfallstudium ''562 genannt. Die herausragendsten Vertreter des ,,Kultureinzelfallsstudiums" waren Wissenschaftler wie Max Weber und Arnold Toynbee. In bewusst hermeneutischinterpretativer Ausrichtung entwickelte jedoch insbesondere Clifford Geertz diesen Ansatz weiter und schuf eine semiotisch-kulturhermeneutische Verfahrensweise, die wiederum relativierend wirkte. Geertz entledigt sich des Problems des Adaptivismus und aller weiteren Fragen, die sich der Anthropologie aus einer universalen Vogelperspektive stellen, indem er ,,Kulturen" und sich fiberlappende ,,Kulturmuster" als rein hermeneutisch zugiingliche, in sich selbst ersch6pfende ,,Bedeutungssysteme" und ,,symbolische Handlungen" defmiert, die er durch Interpretation ihrer kulturinhiirenten Bedeutungen in einen verstiindlichen Zusamenhang zu bringen versucht. In diesem Rahmen muss es schlicht zu einer radikalen Vemeinung jeglicher kultureller Universalien unter Einschluss einer Beurteilung kultureller Praktiken kommen, wenn auch der ,,Kultur" ein ganz besonders starkes Eigenrecht gegenfiber den Ansiitzen der funktionalistischen Relativisten eigerS_umt wird. s63 Die fiber diese letztlich rein ethnologische Betrachtungsweise hinausgehende Ankniipfung an die komparativ offenen Ans~itze des ,,Kultureneinzelfallsstudiums", also derjenigen Ansiitze, welche die Resultate dieses Studiums universal u n d / o d e r aus einer eigenen, kultursubjektiven Position einzuordnen versuchen linden sich indes insbesondere bei Alfred Kroeber. Er konnte und wollte eine ,,Totalitiit der historischen Entwicklung" nicht negieren: ,,Die Zivilisationen im weiten Sinne sind so etwas wie vage umrissene Stiicke der Totalitiit der historischen Entwicklung. Es ist manchmal notwendig oder nfitzlich, diese Bruchstficke vom 6brigen historischen Korpus zu trennen und so, aber mit Bedacht, gewisse Aspekte, die man besonders ausgewiihlthat, ins Licht zu rficken."s64
b) Das , , k u l t u r s i t u a t i v e " Sein des Menschen und das Entgrenzungspostulat der ,,reflexiven Modernisierung" In der Frage der kulturellen Universalien geht der gem~iBigte Antirelativismus der Kulturanthropologie, der den wissenschaftlich n6tigen kulturellen Relativismus auf einer Metaebene selbst relativiert, von einer spezifischen Form der Differenzierung aus im Falle der Beurteilung, ob jemand, der ffir jemand zweites wesensm~iBig anders ist, trotzdem gleichwertig sein kann. Die Differenzierung erfolgt dabei zwischen ,,Innen" und , , A u B e n " , zwischen ,,Ich und Wir Gleiche" und , , I c h / W i r und D u / I h r Andere/r". Die Differenzierung lautet: Der ,,Andersartige" hat immer gleichwertig zu sein im AuBenmodus ,,Ich/Wir und D u / I h r A n d e r e / r " , aber kann nicht als gleichwertig betrachtet werden im Innenmodus ,,Ich und Wir Gleiche", wo er ja die eigene (vielleicht menschenrechtsuniversale / kosmopolitische) Wertigkeit zu untergraben in der Lage w~ire. Das grunds~itzlich politische Problem dabei ergibt sich immer, wenn sich - was m6glich und in der heutigen globalisierten Welt auch sehr hiiufig der Fall i s t - beide Ebenen 561 Vgl. Harry Elmer Barnes, So~ologie der Geschichte. Theot#n zur Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gesellschaft, Wien/Stuttgart 1951, S. 79. s62Vgl. ebd., S. 73. 563Vgl. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung: Beitrdge zum Verstehen kultureller Systeme., Frankfurt a.M. 2002 (engl. Originalausgabe: Inte~retation of Culture 1973); Ders., Welt in Stiicken. Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts, Wien 1999. 564Alfred L. Kroeber, The delimitations of civilizations, in: Journal of Intellectual History XIV (1953), S. 264-275, Quelle fibersetzt nach Jacques Godechot / Robert Palmer, Das Problem des Atlantiks vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Ernst Schulin (Hg.), Universalgeschichte,K61n 1974, S. 295-317, 307.
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vermischen u n d miteinander abgewogen werden miissen. Das geschieht im Spannungsfeld zwischen A n e r k e n n u n g des Andersartigen und Verteidigung des Eigenen: in der Innenpolitik also im K_raftfeld zwischen Assimilation, Integration, Segregation oder Vermischung, m der Augenpolitik im K_raftfeld zwischen Integration, Kooperation, Diplomatie u n d Krieg. Als typisch fiir diese Haltung kann folgende Einstellung y o n Shweder gedeutet werden: ,,Und w~ihrend ich gewiss an die Wichtigkeit u n d moralische Anstiindigkeit unserer eigenen Lebensweise glaube, glaube ich nicht an unsere moralische Oberlegenheit fiber den Rest der Welt. ''565 U n d weiter: ,,Viele Menschen in der s/idlichen Welt sind in ihren eigenen Spielarten eines tiefen Ethnozentrismus befangen, genau wie wit. Infolgedessen k6nnen ,an&re' uns oft nicht verstehen, eben weil sie unsere Bedeumngen nicht kennen, nicht wissen, worauf wir hinauswollen, und viele Aspekte unserer Lebensweise, besonders die Besonderheiten unseres Familienlebens und unsere sexuellen Ideale, yon ihrem moralischen Standpunkt aus unverst{indlich finden. Sie sind genauso blind f/it unsere moralischen Grundsiitze und unsere Rationalit{itwie wit fiir die ihren. ''s66 Kulturkritisch formuliert: ,,Jede VerheiBung der universalen Einheit geht an der Tatsache vorbei, dass der M e n s c h anders als das Tier nicht an sich existieren kann, sondern i m m e r schon in einer ,Situation' steht ''567, ob diese zuf~illig existiert oder nicht, ist dabei fiir die Tatsache selbst v611ig irrelevant. Shweder betonte m diesem Z u s a m m e n h a n g zurecht, dass ,,die Version des kulturellen Pluralismus [..] dem Universalismus nicht entgegen[steht]. Die Kulturtheoretiker zerfallen nicht in nut zwei Gmppen, die ,radikalen Relativisten', die glauben, dass ,alles geht' und die ,uniformen Universalisten', die glauben, dass nut eine Sache ,geht'."56a Shweder glaubt zwar, wie er schreibt, ,,lest" an den Universalismus, abet an emen ,,Universalismus o h n e Uniformitiit". s69 Es gebe zwar universal bindende Werte (etwa ,,Gerechtigkeit, Wohlt~itigkeit, A u t o n o m i e , Opferbereitschaft, Freiheit, Treue, Heiligkeit, Pflicht'~), doch werden diese ,,objektiv wertvollen Ziele im L e b e n unterschiedlich, heterogen, und nicht auf emen g e m e i n s a m e n N e n n e r wie ,Niitzlichkeit' oder ,Lust' zu bringen" sein u n d stehen sogar ,,inhiirent im W i d e r s p r u c h " zueinander. 57~ Bei der K o m p r o m i s s b i l d u n g , welche Ziele welche Rangsmfe einnehmen, spielen Kulturen als ,,unterschiedliche Werttraditionen" eine entscheidende Rolle. 571 Shweder n e n n t seine Sichtweise k o n f u s i o n i s f s c h u n d pluralistisch und zugleich kulturalistisch. Diese Sichtweise kann n u t auf der Basis der Differenzierung zwischen ,,Innen" u n d ,,Aul3en" erfolgen. W e t die Gleichwerfgkeit aller betont o h n e diese Differenzierung vorzun e h m e n , wie z u m Beispiel der deutsche Soziologe Ulrich Beck, n i m m t letztlich eine kulturrela6vistische Haltung ein. 572 Beck kann auf dieser Basis eine allzu dichotomisierende E n t g e g e n s6s Richard A. Shweder, Moralische Landkarten, ,,Erste-Welt"Oberheblichke# und die Neuen Evangelisten, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (Hg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortscht#tpra'gen, Hamburg / Wien 2000, S.207232, 210. s66Ebd., S. 231, Fn. 2. s6: Karlheinz Weii3mann, Herausforderung und Entscheidung. Uber einen politischen Verismus fiir Deutschland, in: Heimo Schwitk / Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewusste Nation. ,,Anschwellender Bocksgesang" und weitere Beitr?ige Zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. 1994, S. 309-326, 315. s68 Richard A. Shweder, Moralische Landkarten, ,,Erste-Welt"Oberheblichkeit und die Neuen Evangelisten, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (Hg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschtitt pra'gen, Hamburg / Wien 2000, S.207232, 214. 569Ebd. sv0Ebd. svl Vgl. ebd., S. 215. svz Vgl. Ulrich Beck, Vet~vurzelter Kosmopolitismus: Entwicklung eines Konzepts aus rivalisierenden Beg@Csoppositionen, in: Natan Sznaider / Rainer Winter, Einleituneo in: Ulrich Beck / Natan Sznaider / Rainer Winter (Hg.), Globales Amerika? Die
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setzung zwischen einem E n t g r e n z u n g s p o s t u l a t seiner ,,reflexiven Modernisierung" und einem ,,ethnozentrischem Universalismus des W e s t e n s " als ,,fiberwindbarem A n a c h r o n i s m u s " , der mit ,,Fremdenhass" ,,unauflfslich" v e r b u n d e n sei, konstruieren, s73 O h n e ,,radikalisierte Modernitiit, die ihren westlichen Fundamentalismus abstreift ''s74 im R a h m e n einer ,,Epistemologie der Ungewissheit ''5v5 gibt es fiir Beck nut die Alternative, in einer globalisierten Welt m e h r oder weniger unterzugehen. Dass die e m p f o h l e n e Radikalrelativierung des eigenen ,,Ethnozentrismus" - inklusive einer Denationalisierung 576, die damit einhergehen s o l l - faktische Selbstverneinung des Westens bedeutet, liisst den Beckschen Ausweg aus seinem Untergangsszenario indes fahl erscheinen: D e m westlichen Beobachter die eigene Kultur oder Zivilisation als Mal3stab zur m f g l i c h s t nicht-naiven, reflexiven Bewertung anderer Zivilisationen zu nehm e n u n d dem westlichen M e n s c h e n den R a h m e n zu entziehen, in d e m er seiner Pr~iferenz ffir die eigene kulturelle L e b e n s f o r m symbolisch u n d praktisch A u s d r u c k verleihen kann, bedeutet letzlich, unabhiingig v o n d e r evidenten Unnat/.irlichkeit dieses Vorgangs, jegliche Stabilisierung u n d Integration der eigenen Kultur zu untergraben: Die A l t e r n a f v e des Untergangs ist letztlich auch.., ein Untergang. Das grundsiitzliche P r o b l e m bei Beck ist, dass der Wille des M e n s c h e n zur Macht und Freiheit in einem sicheren R a h m e n nur fiber die Konstituierung eines kollektiven Selbstbewusstseins auf der Basis eines kulmrellen Identifikationsraumes und Z u s a m m e n g e h f r i g k e i t s g e ffihls, das aufgrund eines zivilisatorischen Fortschrittes eben weit fiber das nur Lokale hinaus ins ,,Nationale" weiterreicht, nicht als das angesehen wird, was es ist: als eine unfiberwindbare anthropologische G r u n d k o n s t a n t e , und eben nicht als ,,biologische Metaphorik", die dutch irgendeinen - ob ansonsten durchaus smnvollen oder n i c h t - Bewusstseinssprung (,,reflexive Modernisierung ''57v oder magische K o m p l e t t a b s a g e an die M o d e m e 578) iiberwunden w e r d e n kann. D e r kulturanthropologische Blick ist realistischer: ,,Da die kulturalen Formen grundsiitzlich variabel seien, mfl3ten sich Individuen und v.a. Gruppen immer wieder bestiitigen, dab ihre Lebenswelt die Richtige sei. Die Ordnungsbest~itigungund -st~irkung erfolgt sowohl fiber eine Binnenstiirkung als auch fiber eine Abgrenzung yon fremden Lebenswelten''s79
kulturellen Folgen der Globalisierung, Bielefeld 2003, S. 25-43, 37f.; Johannes Willms / Ulrich Beck, Freiheit oderKapitalismus. UMch Beck im Ge~ra'ch mit Johannes Willms, Frankfurt a.M. 2000, S. 118. s73 Ulrich Beck, Verwurzelter Kosmopolitismus." Entwicklung eines Konzepts aus ffvalMerenden Beg~ffsoppositionen, in: Natan Sznaider / Rainer Winter, Einleitung, in: Ulrich Beck / Natan Sznaider / Rainer Winter (Hg.), GtobalesAmerika? Die kulturellen Folgen der Gtobalisierung, Bielefeld 2003, S. 25-43, S. 39. sv4 Ulrich Beck / Wolfgang Bonl3 / Christoph Lau, Theorfe reflexiverModernisierung- Fragestellungen,Hypothesen, Forschungsprogramme, in: Ulrich Beck / Wolfgang Bonl3 (Hg.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a.M. 2001, S. 11-59, 26. 575Vgl. Ulrich Beck / Wolfgang Bonl3 (Hg.), Die Modernisierungder Moderne, Frankfurt a.M., S. 61-146. 576 Ulrich Beck favorisiert zwar einen ,,verwurzelten Kosmopolitismus", will abet die Verwurzelung auf die lokale Heimat beschr~inkt wissen, explizit nicht auf die ,,nationale" (vgl. Ulrich Beck, Verwur~lter Kosmopolitismus: Entwicklung eines Kongepts aus rivalisierendenBegriffsoppositioven,in: Natan Sznaider / Rainer Winter, EinMtung, in: Ulrich Beck / Natan Sznaider / Rainer Winter (Hg.), GlobalesAmerfka? Die kulturellen Folgen der Globalisierune~Bielefeld 2003, S. 25-43, 41). 577Vgl. Ulrich Beck, RMkogesellschaft.Aufdem Weg in eine andereModerne, Frankfurt a.M. 1986, S. 279-374. 57s Vgl. Martin Albrow, Abschied vom Nationalstaat, Frankfurt a.M. 1998, S. 96: Die ,,Moderne" wird auf die mittelbare oder unmittelbare Kontrolle individuellen Handelns dutch den nationalen Staat reduziert. Folgerichtig wird betont: ,,Wenn sich der Staat der [vom Staat nicht mehr kontrollierten] Selbstbestimmung des Sozialen beugen muss, ist die Moderne an ihrem Ende angelangt." Nut: Nichts spricht kurz- bis mittelfristig wirklich daffr, dass der Staat das tun wird, auch im Zeitalter der Globalisierung nicht. Alles was darauf hindeutet (,,Antiglobalisierungsbewegung", transnationale Akteure) ist nichts weiter als ein Konglomerat yon Erscheinungen, n-fit denen sich der Staat arrangiert, solange er nicht dadurch substantiell gef'~ihrdetwird. 579Christina Arndt, Die Menschenrechte-partikularistische Ansa'tze wr Begriindung ihrer Universal#& Diss., Hamburg 2000, S. 142, Fn. 269. Arndt orientiert sich an den anthropologischen Untersuchungen von MelvilleJ. Herskovitz (Man and his
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Kapitel IV
Die nationalen Sichtweisen, welche Ulrich Beck ja hinter sich lassen m 6 c h t e 58~ sollten in diesem Z u s a m m e n h a n g z u v 6 r d e r s t als E i n h e i t e n eines historisch sich artikulierenden Willens v e r s t a n d e n werden, der heute n o c h im K o n t e x t individueller Bekenntnisse zur ,,Nation" in allen Bev61kerungen u n d V61kem der westlichen Nationalstaaten, auch in D e u t s c h l a n d , auf sehr vitale Weise existiert. Jedenfails e n t b e h r t die Aussage, dass ,,die groBe M e h r h e i t der Indiv i d u e n " ihre Identit~it nicht m e h r innerhalb ,,exakter" K a t e g o r i e n wie ,,Volk u n d Nationalitiit", ,,Geschlecht o d e r Alter" b e s t i m m t 581, jeglicher empirischer Grundlage. 582 Dass virtuelle Sph~irenr~iume o d e r der T o p o s der ,,Angst" in einer ,,Risikogesellschaft" indes solche O r t e wie ,,Volk", , , N a t i o n " , ,,Geschlecht" oder ,,Alter" als Gemeinschaftsr~iume n a h e z u ersetzen soil, m a g ffir einen b e s t i m m t e n Typus v o n (zuv6rderst westlichen) M e n s c h e n richtig sein; daraus abet genauso starke Identitiiten ableiten zu woilen wie bei k o n k r e t u n d physisch verorteten, funktional integrierten Gesellschaften 583, das zeugt d o c h y o n einer gewissen Abstraktionsgl~iubigkeit, die nicht m e h r e r k e n n e n kann, dass es einen U n t e r s c h i e d zwischen virtueller u n d physischer Realitiit g i b t dergestalt, dass erstere ffir A n o m i e E r s c h e i n u n g e n aus der N a m r der Sache heraus anf'~illiger sind. Spiitestens in d e m M o m e n t , i n d e m ein M e n s c h z.B. m L o n d o n o d e r Mfinchen durch einen B o m b e n a n s c h l a g direkt am Ort des G e s c h e h e n s urns L e b e n k o m m t , wird klar, dass die physische Realit~it ffir ihn (und seine IdentitY, it) eine viel st~irkere, g r u n d l e g e n d e r e B e d e u t u n g h a b e n muss, als v o n b e s t i m m t e n Soziologen an der jeweiligen Stadtuniversit~it a n g e n o m m e n . I m lJbrigen ist die ,,Asiatin aus Ostafrika", die in L o n d o n lebt u n d ,,jedes J a h r " nach Indien f~ihrt u n d ,,Kontakt zu ihrer Schwester in den U S A " h~ilt s84, unter allen Asiatinnen z u s a m m e n g e n o m m e n sicherlich i m m e r n o c h die groBe A u s n a h m e und wird das auch in a b s e h b a r e r Zeit b l e i b e n - aber auch das geht wohl heutzutage weir fiber das F a s s u n g s v e r m 6 g e n eines a k a d e m i s c h e n K o s m o p o l i t i s m u s eines letztlich d o c h arg a b g e h o b e n e n Tells der Soziologie hinaus, s85 U n d Solidaritiit nur aus ,,Angst" works. The Science of CulturalAnthropology, New York 1949, S. 69; Cultural Relativism. Per~ectives in Cultural Pluralism, New York 1973, S. 21). ss0 Beck glaubt, dass nationale Kategorien einen ,,Container" darstellen, in dem sich jemand begibt, der wissenschaftliche Erkenntnisse anstrebt fiber eine Welt, die allerdings aul3erhalb des ,,Containers" liegt. Die ,,Containertheorie" ist zwar zugegeben ein sch6nes Bild, doch die ,,Containersicht" ist eher dort anzusiedeln, wo nicht alle Kreise menschlichef, sozialer und politischer Existenz wahrgenommen werden. Beck setzt sich insofem in einen zwar riesigen, dennoch einengenden ,,Glokalcontainer". Dass er den Begriff des ,,Universalismus" als eine Form westlichen Kulturstolzes genauso ablehnt wie den Nationalstolz (er favorisiert den Begriff ,,Globalit{it", vgl. Johannes Willms / Ulrich Beck, Freiheit oder Kapitalismus. Ulrich Beck im Gespra'chmitJohannes Willms, Frankfurt a.M. 2000, S. 12), macht seine ,,Containerhaltung" nunmehr auch in einem zivilisationstheoretischen Sinne deutlich: Der Begriff des ,,Universalismus" in diesem kulturstolzen Sinne zeigt, dass es Partikularwertigkeiten gibt, ob nun substantieller oder konstruierter Art, die zwar einer ,,Globalit{it" in theoretischer Reinheit (vielleicht) entgegenstehen m6gen, doch sp{itestens in der Praxis dennoch unverzichtbar sind. Und die Praxis manifestiert sich in konkreter Politik. Politikvvissenschaftlich ist das Modell der ,,reflexiven Modemisierung" schon aus diesem Grunde unfruchtbar - zumindest solange die angestrebte Reflexion keinen Raum l~isst ffir genau jenen partikularen Stolz, den Beck auszumerzen vorhat: den Stolz eben, sich seines eigenen Universalismusverst~tndnisses, seines eigenen ,,Fortschrittes" und all der zumindest vorgestellten kulturellen Voraussetzungen genau jener ,,Eigenheiten" rfihmen zu k6nnen, ohne dem ,,Anderen" damit etwas vorzuschreiben, aufzusetzen, aufzuoktroyieren, abet auch ohne zu vers{iumen mit aller gebotenen und selbstbewussten Deutlichkeit klar zu machen, dass jener dieses auch tunlichst vermeiden sollte. s81 So Martin Albrow, Abschied vom Nationalstaat, Frankfurt a.M. 1998, S. 236. sag Das gesteht auch Albrow ein, erwartet allerdings ffir die n~ichste Zukunft diesbezfiglich bahnbrechende empirische Ergebnisse, die seine Theorie best~itigen (vgl. ebd., S. 298-304) s83Vgl., S. 245. s84Vgl. ebd. sss Das erkl{irt, warum Albrow traditionelle Gemeinschaften auf dieser Welt, die er als eine Realit~it durchaus wah> nimmt, als ,,nicht charakteristisch ffir das soziale Leben im Globalen Zeitalter" ansieht (ebd., S. 252). Da es sich immer noch - auf globaler Ebene - u m eine prim~ire Realit~it handelt, sollte man diese Aussage wohl als normativgeleitete verstehen.
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heraus erzeugen zu wollen, erscheint angesichts der A b s t r a k t i o n des ,,globalen Angstgef'uhls", das z u d e m schlussendlich d o c h eher friktions- statt b i n d u n g s s t i f t e n d e n wirkt, schlicht ein untaugliches Mittel fiir die Schaffung global u m f a s s e n d e r ,,IdentitSten", die diesen N a m e n wirklich verdienen. R e s s o u r c e n k n a p p h e i t fiihrt eher zu einer K a m p f s i t u a t i o n zwischen den M e n s c h e n u n d z u m W e t t b e w e r b v o n ,,Identit~ten" statt zu einer ,,Solidaritiit aus Angst". s86 D e r W e t t b e w e r b zwischen ,,IdentitSten" iindert natiirlich nichts an der Tatsache, dass dadurch falschlicherweise einheitliche ,,Zivilisationsgefahrdungen" der ,,einen Welt" zu sehr in den H i n t e r g r u n d geraten k6nnten. Es ist ja m der Tat rich6g, d a s s e s 6kologische P r o b l e m e gibt, deren ,,Ungreifbarkeit" sich erst in einem ,,verwissenschaftlichten W i s s e n " b e w u s s t machen l~isst u n d die ,,nicht direkt auf Primiirerfahrungen zu beziehen sind. ''sat D o c h diese Probleme lassen sich nicht auf einer n e u e n M a s s e n b e w u s s t s e i n s e b e n e 16sen, s o n d e r n nur d u t c h eine integrierte u n d kluge Politik der fiihrenden Welteliten auf diesem Planeten. Diese Politik wird allerdings auch weltweite Friktionen u n d , , U m w e l t s c h a d e n s a b w i c k l u n g e n " mit sich bringen miissen (was in der umweltpolitischen Strategie stiirker beriicksichtigt w e r d e n miisste). Es spricht zur Zeit jedenfalls k a u m etwas dafiir, dass sich auf der Basis eines k o s m o p o l i t i s c h e n Bewusstseins die ,,Zivilisationsverelendung" mittels einer umweltpolitischen ,,Kehre", die das Rad gewissermaBen neu erfmdet, v611ig u m k e h r e n lieBe, s88
c) Die Identitiitsformel der antirelativistischen K u l t u r a n t h r o p o l o g i e nach Richard A. Shweder Die Position des n u n schon m e h r m a l s angefiihrten K u l t u r a n t h r o p o l o g e n Shweder f'tihrt aus Becks u n d A l b r o w s widersinniger Alternative ,,Untergang oder U n t e r g a n g " heraus: Es ist das Pliidoyer fiir die A n e r k e n n u n g partikularer Identitiiten als k u l t u r a n t h r o p o l o g i s c h e G r u n d k o n stante. Shweder bringt ein iiberaus plastisches Beispiel fiir seine Ansicht u n d n e n n t es den ,,Igitt-Effekt". Dieser Effekt beweist die Pr~isenz u n d Wirksamkeit kultureller U n t e r s c h i e d e innerhalb eines universalistischen Rahmens. s89 Das ausfiihrliche Zitat z u m ,,Igitt-Effekt" soll aufgrund der Plastizitiit des Beispiels weitgehend ungekiirzt w i e d e r g e g e b e n werden: ,,Es ist (...) m6glich, dass moralisch anstiindige und v611igrationale Menschen (...) die Praktiken des anderen mustern und ,igitt' sagen. Ich nenne das den ,gegenseitigen Igitt-Effekt', under ist in der Welt von heute allenthalben zu beobachten. V61ker, die beschneiden, und V61ker, die nicht beschneiden, 16sen fast unfehlbar den gegenseitigen Igitt-Effekt aus. Dieser Effekt wird m6glich, weil objektive Werte an sich nichts dariiber aussagen, ob es richfig oder falsch ist, eine Ehe zu arrangieren oder- v611igentgegengesetzt- Heirat (gerade auch) yon Liebe abhiingig zu machen[Sg~ ob es gut oder schlecht ist, gr6Bere S{iugetierewie Ziegen oder Schafe zu opfem beziehungs5s6 Vgl. z.B. Panajotis Kondylis, Globalisierun& Politik, Verteilune~ in: Tages-Anzeiger (Z/irich), 29. November 1996, zitiert nach: Panajotis Kondylis, Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien wr Globalisierung, Heidelberg 2001, S. 73f.; Die Bezeichnung ,,Solidaritiit aus Angst" finder sich in programmatischer Form bei Ulrich Beck, Risikogesellschaft. A u f dem Weg in eine andereModerne, Frankfurt a.M. 1986, S. 66. s87 Ulrich Beck, RJsikogesellschaft.Aufdem Weg in eine andereModerne, Frankfurt a.M. 1986, S. 68. s88 Das wird abet suggeriert ebd., S. 69. 589 Bei K{ing hat dieser Rahmen einen ,,weltethischen" Weft (vgl. z.B. Hans Kiing (Hg.), Ja zum Weltethos. Per~ektiven f#r die Suche nach Otientierune~Mfinchen / Z{irich 1995). Vgl. fernerhin Vitorio H6sle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik f#r das 21. Jahrhundert, Miinchen 1997, S. 1069ff. 590 Eine der groBartigsten und faszinierendsten Ideen des modemen Westens, was in dieser kulturellen Besonderheit (wohl aus Griinden zu starker Selbstverstiindlichkeit als Vorstellung) oft nicht deutlich genug gesehen wird (vgl. Felipe Fern~mdez-Armesto, Ideas that changedthe world, New York 2003, S. 200f. und Herbert von Botch, Ametika. Dekadenz und Gr6JYe,M/inchen / Ziirich 1981, S. 191f.). AuBerdem handelt es sich um eine Idee, die erst mit dem Romantizismus und Subjektivismus des 19. Jahrhunderts stark an Dynamik gewonnen hat und heute immer noch nicht de facto als Regel angesehen werden sollte (da das Konzept der ,,romantischen Liebe" in einer 6konomisierten Gesellschaft
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Kapitel IV weise zu schlachten, ob es zutriiglich oder unzutriiglich ist, seine Eltem in ein Altersheim zu stecken, ob es verwerflich oder 16blich ist, eine grol3e Familie zu haben, ob es moralisch oder unmoralisch ist, einen F6ms abzutreiben, ob es empfehlenswert oder veriichtlich ist, Miidchen wie Jungen zu ermutigen, durch eine rituelle Initiation in Verbindung n'fit Ver~inderungen am Genital in einen Bund rnit Gott einzutreten (oder vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu werden). Moralisch anstiindige und v611ig rationale Menschen k6nnen fiber solche Dinge geteilter Meinung sein, selbst wenn sie zahlreiche objektive Werte gemeinsam haben. ''sg~ (z.B. ,,Grausamkeit ist b6se" oder ,,Man soll Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln'~
E s ist sicherlich verniinftig, i m Sinne eines friedvollen M i t e i n a n d e r s a l l g e m e i n m o r a l i s c h e G e m e i n s a m k e i t e n z w i s c h e n d e n , , K u l t u r e n " zu b e t o n e n , a b e r es wiire gef~ihrlich, das T r e n n e n d e aus d e n A u g e n zu verlieren. 592 U m ein sehr e x t r e m e s Beispiel h e r a n z u z i e h e n : I m i n d i s c h e n S u b k o n t i n e n t des 19. J a h r h u n d e r t s m u s s t e n sich die b r i t i s c h e n K o l o n i a l h e r r e n gar m i t d e m G e d a n k e n a u s e i n a n d e r s e t z e n , dass es fiir I n d e r einen k u l t u r e l l e n Sinn hatte, dass die W i t w e eines V e r s t o r b e n e n m i t v e r b r a n n t w e r d e n m u s s t e . 593 ,,Kultureller P l u r a l i s m u s " k a n n n o c h w e i t e r e I m p l i k a t i o n e n h a b e n , die p r o v o k a n t sin& , , D a z u g e h 6 r t die B e h a u p t u n g , dass der V o r s t a n d der , A m e r i c a n A n t h r o p o l o g i c a l A s s o c i a t i o n ' etwas Richtiges u n d Mutiges tat, als er 1947 e n t s c h i e d , die M e n s c h e n r e c h t s e r k l ~ i r u n g der U N O als D o k u m e n t des E t h n o z e n t r i s m u s a b z u l e h n e n " , well er ,,andersartige L e b e n s f o r m e n " n i c h t zulasse 594, iihnlich wie m a n es h e u t e in A s i e n i m N a m e n der ,,Asian v a l u e s " b e h a u p t e t . 59s starken Angriffen ausgesetzt ist: vgl. insbesondere Norbert Bolz, Das konsumistische Ma@st, M/inchen 2002; vgl. ferner Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, M~nchen 1992, S. 135f.). In diesern Kontext sollten auch die Modelle verstanden werden, welche die ,,romantische Liebe" - eher irref/ihrend- als ,,altmodisches" Element charakterisieren. Die reine (nicht 6konomisierte) Form der Institutionalisiemng der ,,romantischen Liebe" in Amerika und Europa, am ,,ges/indesten" in Form der sich ,,nat/irlich ergebenden" (harmonischen, selbstlosen, alltagstauglichen und romantischen) Bindung von Menschen, ist seit dem 19. Jahrhundert durchgehend ein h6chst gesellschaftsrevolutioniires Element geblieben und in diesem Sinne nicht yon Kernprinzipien einer genuin christlichen Freiheitslehre zu trennen ist, welche/iberhaupt die intellektuelle (kon~et: sa~amentale) Basis f/ir die (maritale) Institutionalisiemng bildet. Zur ,,Nat/irlichkeit" von Liebesbindungen vgl. Robert N. Bellah / Richard Mansen / William M. Sullivan / Ann Swidler / Steven M. Tipton, Gewohnheiten des HeHens. Individualismus und Gemeinsinv in der amerikanischen Gesellschaft, K61n 1987, S. 120, 123. Zur Unterscheidung zwischen einer letztlich konfusen ,,therapeutischen Haltung" zur Liebe und einem religi6s tradierten (j/idischen und christlichen) Liebesverstiindnis vgl. in einer sehr guten Zusammenfassung ebd., S. 138ff. Die ,,romantische Liebe" entspringt letztlich der christlichen Monogamie, die vom Christentum aus asketischen Gr/inden obligatorisch gemacht wurde. ,,In Griechenland und Rom entsprach sie dem Interesse an der Beschriinkung der Zahl legitimer, vollberechtigter B/irger, dort war sie durch die Sklaverei temperiert." (Arnold Gehlen, Matriarchat (1973), in: Ders., Die Seele im te&nischen Zeitalter und andere so~alp~chologische und kulturat~@tische Schdften, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M. 2004, S. 542-551, 545). Vgl. femerhin Vitorio H6sle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethikj~r das 21. Jahrhundert, M/inchen 1997, S. 852-856, der zugleich auch in diesem Zusammenhang klarstellt, dass die Eingliederung der Frauen in die Wirtschaftssphiire ein Gebot der Gerechtigkeit sei, dessen Umsetzung man allerdings in den Folgewirkungen (Emanzipationsfalle, I~nderlosigkeit) einzufangen bem/ihen sein sollte (vgl. ferner S. 722f. und 757f.). Zu den Gefahren einer zu starken Romantisiemng der Liebe in Verbindung mit einer reinen Emotionalisierung (zu definieren als Liebe als Sehnsucht nach der v611ig als Selbstzweck empfundenen Liebe unter Gef~ihrdung der eigenen kulturellen, ritualisert-monogam strukturierten Voraussetzungen ebd., S. 722 und 852f.). Zur gerechten Symmettle und wirldichen Liebesqualitiit einer monogamen Zweierbeziehung vgl. ebd., S. 852f.). s91 Richard A. Shweder, Moralische Landkarten, ,,Erste-Welt"CIberheblichkeit und die Neuen Evangelisten, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (Hg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschrit@ra'gen, Hamburg / Wien 2000, S. 207232, 232, Fn. 6. s92 Vgl. auch Samuel P. Huntingtons ,,Prinzip der Gemeinsamkeiten": Samuel P. Huntington, Kampfder Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, MCinchen 2002, S. 52. s93 Auf dieses Beispiel macht aufmerksam: Allan Bloom, Der Niedergang des amerikanischen Geistes. Ein Pliidoyerfiir die Erneuerung der westlichen Kultur, New York 1987, S. 28. 594 Vgl. Richard A. Shweder, Moralische Landkarten, ,,Erste-Welt"Oberheblichke# und die Neuen Evangelisten, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (Hg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortsch,#t pra'gen, Hamburg / Wien 2000, S.207-232, 215. sgs Vgl. J/irgen Gebhardt, Gibt es eine Theot# tier Menschenrechte?, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (big.), Politisches Denken. Jahrbuch 1998, Stuttgart / Weimar 1998, S. 1-15, 12.
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D e r Antirelativismus Edgertons oder Shweders bezieht sich also nicht auf die universalistische Menschenrechtsidee, sondern auf die Kulturen. Es handelt sich um eine Gegenposition zum Kulturrelativismus, nicht zu einem Menschenrechtsrelativismus. Es kann french versucht werden, Menschenrechte kulmrell zu kontextualisieren, wie das zur Zeit oft von Menschenrechtsuniversalisten vorgeschlagen wird: So wiirde nach Hans-Richard Reuter z.B. die Klitorisbeschneidung wie auch jegliche Form der Folter auf jeden Fall gegen die Menschenrechte verstofien, weil diese Erscheinungen das Prinzip der kfrperlichen Unversehrtheit verletzen, das fiber allen kulturellen Gruppenrechten stehen und auch in nicht-westlichen Kulturkreisen vermittelbar sein miisse. Allerdings sollte im Gegenzug menschenrechtswidriges Handeln vorliegen, wenn alte Eltern unter den Bedingungen emer afrikanischen Sippenmoral in einem Altersheim untergebracht werden oder wenn ,,die Abschaffung des Instimts der Polygamie" oktroyiert werde, ,,solange die daraus folgende Ehelosigkeit v~n den betroffenen Frauen als soziale Entwertung w a h r g e n o m m e n wird. ''596 Die Problematik, die hier zum Tragen kommt, kann genauso auf die Frage der politikwissenschaftlich relevanten Partizipationsrechte angewandt werden. 597 Die kulturelle Fragmentierung dieser Welt zeigt auf doch sehr eindringliche Weise, dass letztverbindliche Regelungen, die fiber einen Kulturraum hinaus gelten oder legitim sein sollen, die kulturelle Unterschiedlichkeit zumindest anerkennen miissen. Gerade aufgrund dieser Tatsache ist es geboten, die Frage zu stellen, inwieweit eine interaktionale oder oktroyierende Regelung zwischen mehreren Zivilisationen iiberhaupt sinnvoll ist. Die Problematik l~isst sich nicht nur am Beispiel der ,,Menschenrechte" festmachen. Auch ein Begriff wie ,,Fortschritt" ist z.B. eindeutig kulturell gebunden. Ein , , G u t " wird kulturell benannt: Je mehr man davon bekommt, desto ,,fortschrittlicher" ist eine Kultur. B e k o m m t man immer weniger davon, befmdet man sich im , , N i e d e r g a n g " . 598 Was diese ,,Giiter" sind (was also ,,gut" ist), kann freilich innerhalb einer Kultur unterschiedlich defmiert werden, insbesondere m westlichen Kulturen, ist also nicht nur ,,kulturell", sondern auch normativ gebunden. Stellt die Pflege der Eltern im Alter ein Gut dar, so befindet sich der Westen hier m einem ,,Niedergang". Ist es jedoch die Ausmerzung ansteckender Krankheiten, so bef~inde sich der ,,Westen" demnach im ,,Fortschritt". Ein weiteres Beispiel: ,,Wenn die Maximierung der Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind die ersten neun Monate nach der Geburt/iberlebt, als Erfolgsmal3stabgilt, sind die USA objektiv fortgeschrittener als Afrika und Indien. Wenn die Maximiemng der Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind die ersten neun Monate nach der Empf'~ingnis (im Bauch der Mutter) Ciberlebt, als Erfolgsmal3stab gilt, sind Afrika und Indien (mit ihren relativ niedrigen Abtreibungszahlen) objektiv fortgeschrittener als die U S A . "599 Wird schliel31ich ein yon Evolutionsbiologen hochgehaltenes Gut als Mal3stab fiir den Erfolg des Westens genommen, und zwar die ,,Fortpflanzungstauglichkeit" (oder die ,,genetische 596 Hans-Richard Reuter, Menschenrechte zwischen Universalismus und Relativismus. Eine Problemanzeige, in: Zeitschrift filir Evangelische Ethik, 40. Jg., 1996, S. 135-147, 145. )~hnlich argumentiert auf der Basis des Versuchs, eine interkulturell gnliltige Anthropologie zu begrfnden Otfried H6ffe, Vernunft und Recht. Bausteine Zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt a.M. 1996. s97Vgl. Gunter Schubert, Die Menschenrechte z'wischen Universalita't und Partikula,ita't, in: Michael Greven (Hg.), Demokratie - eine Kultur des Westens? 20. Wissenschaftlicher Kongrej? der deutschen VereinigungJ~r Politische Wissenschaft, Opladen 1998, S. 123-136, 134. s9s Vgl. Richard A. Shweder, Moralische Landkarten, ,,Erste-Welt"Uberheblichkeit und die Neuen Evang,elisten, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (Hg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschritt pra'gen, Hamburg / Wien 2000, S.207-232, 215. 599 Ebd.
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Kapitel IV
Reproduktion des eigenen Stammes oder der eigenen Ahnenreihe"), dann bef~inden wir im Westen uns auf jeden Fall im , , N i e d e r g a n g " . 6~176Ein letztes Beispiel f/ir die Inkoh~irenz der Wertigkeiten innerhalb einer Kultur ist die Lebenserwarnmg einer Population: je h6her sie ist, ,,desto gr6ger die Wahrscheinlichkeit funktionaler Schiidigung" und ,,desto gr6ger die aggregierte Menge von Schmerz, die diese Population erlebt." Ist Langlebigkeit in diesem Rahmen bei Lichte besehen wirklich ein , , E r f o l g s m a l 3 s t a b " ? 6~ ,,Und wenn Langlebigkeit ein Erfolgsmal3stab ist, warum dann nicht auch Menge oder reine Bev61kerungsgr6ge, mit China und Indien an der Spitze? ''6~ Und warum die Lebenserwarttmg bei der Geburt? ( w a r m also nicht die Erwartung ab 40 oder die Erwartung ab der Empf~ingnis?) Urteile fiber den , , F o r t s c h r i t t " sind also ebenso kulturspezifisch und nicht universalisierbar, wie die Antwort auf die Frage, was eigentlich ,,Menschenrechte" wirklich sind. Das heil3t nicht, dass solche wertspezifischen Urteile, auch wenn sie sich auf die , , a n d e r e " Kultur beziehen, moralisch verwerflich sind. Sie sollten nur, bezogen auf die andere, nicht zu Werthandlungen aus dem normativen U'berlegenheitsgefiihl oder-verst~indnis heraus ers ohne die Riickfrage der Sinnhaltigkeit, Y-dugheit oder politisch gebotenen Relativierung dieses Handelns zu stellen.
d) Die Verfallstheorie von Brooks Adams Wenn nun die Frage gestellt wird, ob es eine nicht-kulturalistische Verknfipfungsm6glichkeit zwischen dem anthropologischen und dem morphologischen Ansatz gibt, dann muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass das morphologische ZivilisationsverstS.ndnis lange vor der Niederschrift des ,,Untergangs des Abendlandes" bei Brooks Adams - amerikanischer H_istoriker um die Jahrhundertwende -- in Erscheinung trat. Das, was Spengler spiiter als VerfaUsform namens ,,Zivilisation" verstand, war bei Brooks Adams immer nur die Endphase einer Zivilisation, da Adams von einem anthropologischen Zivilisationsbegriff ausging. Das, was Spengler sp~iter als ,,Kulturphase" bezeichnete, bildete bei Adams das Herzstiick einer jeden Zivilisationsphase. Brooks Adams dient vor diesem Hintergrund als ein gutes Beispiel dafiir, dass der anthropologische Ansatz ohne Probleme mit einer zyklischen Verfallstheorie verkniipft werden kann: nach Brooks Adams 16st langfristig jede Zivilisation aus anthropologischen Griinden immer ihren eigenen Verfall aus. Der Verfall vollzieht sich dabei in Form einer ,,physischen Konzentration" einer Menschengruppe im Modus der technisch-arbeitsteiligen Naturbeherrschung: Jede Zivilisation lebt zu Beginn von der Kraft der Imagination (der Vorstenung), welche allerdings nur in Verbindung mit einer (seit der Antike) okzidental iiberlieferten Rationalitiitsmotivation 6~ - die Naturbeherrschung fiberhaupt erst in Gang setzt. Doch die Naturbeherrschung habe immer zwangsliiufig zur Folge, dass der Typ des ,,imaginativen Menschen ''6~ in
600Richard A. Shweder, Moralische Landkarten, ,,Erste-Welt"([Tberheblichkeit und die Neuen Evangelisten, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (Hg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschrittprdgen, Hamburg / Wien 2000, S.207232, 215 601Vgl. ebd., S. 216. 602Ebd. 603Darauf verweist Charles Verlinden, Les Origines de la Cidlisation Atlantique. De la Renaissance d l'Age des Lumiares, Neuchattel / Paris 1966, S. 447. 6o4 Dieser ,,wird nie seine Natur verleugnen, mag auch die Natur selbst sich gegen ihn erkl{iren; die Eigenart seines Charakters ist in den Windungen seines Gehims begr/indet, under wird den Materialisten immer hassen." (Brooks Adams, Das Gesetz der Zivilisation und des Ve~Calls,Wien / Leipzig 1907, S. 219).
D er Zivilisationsbegriff
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F o r m des ,,Priesters ''6~ des ,,Soldaten ''6~ u n d des ,,K/.instlers ''6~ v o m , , 6 k o n o m i s c h e n M e n s c h e n " (dem M e n s c h e n des Besitzes, H a n d e l s u n d Kapitals) verdriingt werde. A m E n d e bleib e n i m m e r als u n v e r m e i d l i c h e , , E n d p r o d u k t e aller Zivilisation" zwei T y p e n des , , 6 k o n o m i schen M e n s c h e n " iibrig: der , , W u c h e r e r " u n d der ,,Bauer" (im Sinne eines ,,Ausgebeutet e n ' ) . 6~ ,,Es tritt d a n n e n t w e d e r eine stationiire P e r i o d e ein, in der der ganze politische K 6 r p e r v e r k n 6 c h e r t u n d verkfimmert, o d e r eine Periode vollstiindigen Verfalls. ''6~ Fiirwahr, das ist ,,keine heitere T h e o r i e ''61~ wie v o n T h e o d o r e R o o s e v e l t im V o r w o r t zu B r o o k s A d a m s Zivilis a t i o n s b u c h kritisiert wurde. R o o s e v e l t war sich jedoch bewusst, dass sich zivilisatorische S t r u k t u r e n n u t d u r c h B e w a h r u n g der , , i m a ~ n a t i v e n " M o m e n t e v o r i h r e m Verfall beschfitzen k 6 n n e n . 611 Was B r o o k s A d a m s , unabhiingig v o n seinem radikalen Pessimismus, erkannte, war, dass der pure C ) k o n o m i s m u s innerhalb einer Zivilisation n a c h aller historischen E r f a h r u n g die zivilisatorische Uberlebensf~ihigkeit langfristig gef~ihrdet.
605 In diesem Kontext kann das Christentum als eine innerwestliche Revolution des ,,imagina6ven Typus" angesehen werden (vgl. Brooks Adams, Das Gesetz der Zivilisation und des Ve~falls, Wien / Leipzig 1907, S. 431). 606 Vgl. dazu die spekulative Geschichtsbetrachtung Adams. fiber den engen Zusammenhang zwischen ,,ima~nativen" bzw. ,,emotiv" motivierten ,,Soldaten" (,,K~npfem" oder Idealisten) und dem Hang dieser zur (reinen) Liebe zu Frauen, was zugleich die entscheidende Machtressource der Frauen in der Geschichte darstellte (solange also der ,,imagina6ve Typ" vorherrschte). Diese Machtressource ist demnach eine, welche die Frauen (heute in Verbindung mit ,,6konomischen Menschen'O nicht mehr besitzen; freilich im Austausch gegen die M6glichkeit, sich selbst mit den ,,6konomischen Menschen" - und auf diese Weise mit den M~innern - in einem materialistischen Kontext gleichzustellen und damit - im materialistischen Kontext und gegen den Preis der Gefahr der allgemeinen Unfruchtbarkeit - an Macht zu gewinnen (vgl. ebd., S. 424-429). 6o7Dieser ist im sehr engen Sinne als eine Person zu verstehen, deren Kunst ,,von Grund aus wahr und ehrlich" - auch im Sinne yon marktfern- zu sein hat (vgl. ebd., S. 429f.) 608 Vgl. Theodor Roosevelt, Gesetz der Zivilisation und des Verfalls, Vorwort in: Brooks Adams, Das Gesetz der Zivilisation und des Verfalls, Wien / Leipzig 1907, S. VII - XXIV, X. 6o9Ebd. 610Ebd. 61i Vgl. ebd, S. XIXf.
V. D i e i d e o l o g i s c h e D i m e n s i o n des singuliiren Z ivili s atio ns b e gri ffs
1. Der radikalliberale T r a u m von der ,,Weltzivilisation"
Der ideologische Zivilisationsbegriff entstand im Zeitalter der Aufldiimng. Da die Aufld~irung als Folge emes jahrtausendlang w~ihrenden Zivilisationsprozesses ,,Freiheit, Gleichheit und Briiderlichkeit" unter dem Banner der Selbstbestimmung potentiell ffir alle Menschen einfordert, geht es am Ende um eine Ann~iherung an die Realisierung der einen friedlichen und harmonischen ,,Weltzivilisation". Sowohl vor dem Hintergrund eines pluraltheoretischen als auch vor demjenigen eines singulartheoretischen Zivilisationsansatzes stellt sich aufgrund des politisch-ideologischen Kontextes der Zivilisationsbegriffsentstehung im 18. Jahrhundert die Frage nach der ,,Fortschrittlichkeit" bzw. Finalitiit- entweder der einen (westlichen) Zivilisation oder der gesamten , , Z i v i l i s a t i o n e n e n t w i c k l u n g " . In der ,,Weltzivilisation" wird ein in praktischer Politik umsetzbares Leitideal gesehen, dass mindestens als normatives Leitideal zu fungieren habe. ,,Weltzivilisation" wird aus diesem Blickwinkel der ,,Menschheit" und dem Menschen als Teil einer ,,Menschheit" philosophisch gerecht. 612 Die Franz6sische Revolution erh~ilt dabei den Charakter einer epochemachenden, weltgeschichtlichen Z~isur, welche die M6glichkeit zur defmitiven Befriedung des gesamten Menschengeschlechts s c h a f f e - ,,das vergisst sich nicht mehr", so hat es Kant einmal formuliert. Der ,,Ewige Friede" von Immanuel Kant gibt em beredtes Beispiel ffir diese Ansicht: Gerade die dem ,,Despotismus" entgegenstehende, europ~iische Pluralit~it und der damit verbundene , , W e t t e i f e r ''613 der V61ker, Staaten, Sprachen und Glaubensarten mfisste, obgleich er urspriinglich wechselseitigen Hass bef6rderte, ab einem bestimmten Zeitpunkt in Zivilisierung umschlagen, und Kant glaubte, der Zeitpunkt wiire mit der Franz6sischen Revolution gekommen. Die Franz6sische Revolution bot aus dieser Sicht geschichtsphilosophisch die M6glichkeit, das althergebrachte V61kerrecht, ein von Staaten um ihrer Interessen willen aktiv benutzbares ,,Koexistenzrecht", v611ig hinter sich zu lassen. 614 Schon Hegel zweifelte jedoch, ob ein Erm6glichungsprinzip fiir die ,,Einstimmung" eines Staatenbundes ~ la Kant grunds~itzlich erreichbar sei 61s und Gentz betonte, dass allein auf der Basis eines sich machtpolitisch von selbst herstellenden ,,syst&me de contrepoids" V61kerrecht realistisch sei. 616 Ein Friedensbund ~ e d u s padficum), der ,,alle K_riege auf immer zu endigen
612Vgl. heute insbesondere Ottfried H6ffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierun~ Mfinchen 1999, S. 29-33. 613Immanuel Kant, Zum ewigen Fffeden. Ein philosophischer Entwu~ c (K&igsberg 1795), in: K6niglich PreuBische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kants gesammelte Schffften. Abt. 1" Werke, Bd. 8: Abhandlungen nach 1781, Berlin 1912 (Nachdr. 1923, 1969), S. 341-386, 367. 614Vgl. ebd., S. 355. 61s Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundffsse (Berlin 1821). Mit Hegels eigenhdndigen Notizen und den m•ndlichen Zusdtzen , Frankfurt a.M. 1986, ~ 333, S. 499f. 616Friedrich Oentz, Uber den ewigen Fffeden (1800), in: Kurt yon Raumer (Hrsg.), Ewiger Fffede. Fffedensrufe und Fffedenffoldne seit derRenaissance, Freiburg / M{inchen 1953, S. 479f.
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Kapitel V
suchte ''617 sei o h n e iibergeordnete Z w a n g s g e w a l t unm6glich, so Gentz. K a n t indes stellte sich einen B u n d republikanischer Staaten als F r i e d e n s g a r a n t e n vor, da d e m o k r a t i s c h e R e p u b l i k e n keinen K_rieg u n t e r e i n a n d e r fiihrten. 618 Faktisch i m p l e m e n t i e r t w e r d e n k 6 n n t e das V61kerrecht d e m n a c h d u t c h eine miichtige, aufgekliirte, friedensgeneigte, junge Vorreiterrepublik, welche diesen B u n d anfiihrt: Z u Zeiten K a n t s dachte m a n vielleicht an Frankreich, heute denkt m a n an die USA. 619 Die I n t e r v e n t i o n einer Freiheitsallianz gegen A g g r e s s o r e n o h n e , , f o r m a l e " R e c h t s d u r c h s e t z u n g , zwecks Selbstverteidigung o d e r kollektiver Friedenssicherung, wiire jedenfalls, kantisch gesehen, r e c h t m i i B i g - ob die I n t e r v e n t i o n auch priiventiv erfolgen k 6 n n t e , 15.sst indes die Friedensschrift offen. Die D u r c h s e t z u n g der ,,Weltzivilisation" k 6 n n e also (im G e g e n s a t z z u m heute geltenden V61kerrecht 62~ sogar unter A n w e n d u n g milit~irischer Mittel erfolgen. D a s s zur E r r e i c h u n g der Weltzivilisation G e w a l t a n g e w e n d e t w e r d e n miisse, wird im 20. J a h r h u n d e r t schliel31ich zu einer denkerischen G r u n d l a g e des aul3enpolitischen Idealismus der U S A v o n W o o d r o w Wilson 621 bis zu den N e o k o n s e r v a t i v e n heute. D i e , , W e l t z i v i l i s a t i o n " als ,,normatives Leit- u n d Fortschrittsideal" geht in einem gr613eren K o n t e x t mit emer erwfinschten E m a n z i p a t i o n des I n d i v i d u u m s aus g e w a c h s e n e n Strukturen einher, was w i e d e r u m als Selbstverwirklichung des E i n z e l n e n im R a h m e n einer absoluten (bei K a n t n o c h rein praktischen) A u t o n o m i e interpretiert wird. Es handelt sich bei der ,,Weltzivilisation" also zwangsl~iuf-lg u m eine Idee des universalistischen Liberalismus. D e r Liberalismus kann dabei defmiert w e r d e n als eine politisierte F o r m des n u r w e l t i m m a n e n t transzendenzf'~ihigen Individualismus, also als Ideologie der ,,praktischen T r a n s z e n d e n z " . Die w e l t i m m a n e n t e o d e r , , p r a k t i s c h e " T r a n s z e n d e n z ist dabei nach E r n s t N o l t e 622 ,,die gedankliche M6glichkeit, 6~7 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer EntwurJ" (Kb'nigsberg 1795), in: K6niglich Preui3ische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kants gesammelte Schrifien. Abt. 1: Werke, Bd. 8."Abhandlungen ha& 1781, Berlin 1912 (Nachdr. 1923, 1969), S. 341-386, 356. 618 Friedenspolitische Relevanz entwickelt die Republik nun dadurch, dass in ihr die Kriegsentscheidung auch faktisch, und nicht nut als rechtlicher Anspruch, beim Staatsvolke liegt (vgl. ebd., S. 351). Kant behauptet nicht, dass Republiken nie Kriege beginnen, nut, dass betroffene Staatsv61ker das ,,sehr bedenken" wiirden (ebd.). Vgl. die k_lassische Gegenargumentation bei Niccol6 Machiavelli, Discorsi. Slaat und Politik, hg. yon Horst Gfinther, Frankfurt a.M. / Leipzig 2000, 1. Buch, 5. Kapitel, S. 30f.; Vgl. zur gegenw{irtigen Diskussion die berechtigten kritischen Anmerkungen von Werner Link, Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an der S&welle zum 21. Jahrhundert, 3. Aufl., Miinchen 2001, S. 23-27; Michael W. Doyle, Iaberalism and World Politics, in: American Science Political Review 80 (1986) 4, S. 1151 - 1169 (Begriff des ,,demokratischen Friedens"); Ernst Otto Czempiel, Kants Theorien. Ode,. Warum sind die Demokratien (noch immer) nicht./~'edlich?, in: Zeitschrift ffir Intemationale Beziehungen Jg. 3 (1) 1996, S. 79-10; Thomas Risse-Kappen, Democratic Peace - War like Democracies?A Social Constructivist Interpretalion of the Ldberal Argument, in: European Journal of International Relations 1995 (4), S. 491-517. 619Vgl. im Sinne einer unbewussten Entwicklung zu einem ,,Weltstaat" Sibylle T6nnies, The Powers that Be, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Februar 2005, S. 13. 620 Vgl. zum Unterschied zwischen Kosovokrieg 1999 und Irakd,:rieg 2003 in diesem Zusammenhang die knappen Ausfiihrungen dazu yon Jfirgen Habermas, Was bedeutet der Denkmalsturz? Verschli~en Mr nicht die Augen vor der Revolution der Weltordnung." Die normative Autoritd't Amerikas liegt in Trh'mmern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. April 2003, S. 33: Demnach konnte sich die nachtr{iglich eingeholte Legitimation des Kosovo~ieges auf drei Umstande stfitzen, die im Irakkr-ieg 2003 nicht gegeben waren: ,,auf die Verhinderung einer (nach damaligem Kenntnisstand) in Gang befindlichen ethnischen S{iuberung, auf das ffir diesen Fall erga omnes geltende v61kerrechtliche Gebot der Nothilfe so'vie auf den unbestrittenen demo~atischen und rechtsstaatlichen Charakter aller Mitgliedstaaten des ersatzweise handelnden Milit{irbiindnisses." Nichtsdestotrotz war der Kosovokrieg eindeutig v61kerrechtswidrig und Habermas suggeriert aus rein politischen Motiven das Gegenteil. Das macht seine Argumentation, er sei grunds{itzlich gegen ein ,,revolution{ires Prinzip" in der ,,V61kerrechtspolitik", trotz der Richtigkeit der aufgeffihrten Unterschiede, unglaubwfirdig. Stattdessen k6nnte behauptet werden, Habermas vertritt - genauso ,vie seine neokonservativen Erzfeinde, wenn auch nicht so radikal - eine ,,Revolution" in der V61kerrechtspolitik. 621 Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study qf the Idea of Cidlization in the United States, Nachdruck / 2. Aufl., New York 1971, S. 563-567. 622 Vgl. Ernst Nolte, Der Faschismusin seiner Epo&e, 5. Aufl., Miinchen 2000, S. 515-545. Vgl. generell zur Brillianz Noltes auch die Einsch{itzung von Felipe Fern~indez-Armesto, Ideas that changed the world, New York 2003, S. 365. Vgl.
Die ideologische Dimension des singuliiren Zivilisationsbegriffs
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dem Einzelnen und Partikularen ein [innerweltliches] Ganzes und Universales gegenfiberstellen zu k6nnen, genauer gesagt: die F~ihigkeit, das ,Ganze' und ,Allgemeine' zu denken und damit den Gegensatz yon Transzendenz und Immanenz als ,Seinsstruktur' zu bestimmen. ''623 Wiihrend die theoretische Transzendenz ,,das Hinausgreifen des Denkens fiber alles Gegebene und Gehbare in Richtung eines absoluten Ganzen" im Sinne des Uberweltlichen bedeutet und somit jenseitsreligi6sen Charakter besitzt, hat die praktische Transzendenz (die logisch und historisch der ,,theoretischen Transzendenz" folgt), rein innerweltlichen Charakter. Die individuelle praktische Transzendenz besteht dabei in der Selbstbestimmung unter dem Gesichtspunkt eines allgemeinen Vemunftgesetzes (praktisches Verm6gen nach Immanuel Kant) und damit in der M6glichkeit des ,,Neuanfangs" in der Moderne; und die gesellschaftlich-politische und ideologisierte Form der praktischen Transzendenz schliel3lich ist die unabliissige Erweiterung der Zusammenhiinge zwischen den Menschen (Sublimierung und Abstrahierung der Zusammenhiinge) und die Herauslfsung der Menschen aus fiberlieferten Bindungen bis hin zur Antastbarkeit natiirlich-geschichtlicher Urmiichte (Mythos/Religion), also bis hin zu einer alles in Frage stellenden Art eines ,,metastatischen Glaubens ''624 und einem damit einhergehenden ,,politischen Messianismus ''62s, der das typisch jfidisch-christliche Motiv des Exodus radikal politisiert. 626 Der Messianismus ist die ,,grol3e Verlockung der westlichen Polifik. ''627 Der Unterschied des liberalen Individualismus zu einem herk6mmlichen, ebenfalls neuzeitlichen, aber zugleich neoantiken Individualismus - wie er ohne jeden Zweifel politiktheoretisch am stiirksten in den Schriften Machiavellis und kfinstlerisch in den Werken der westlichen Renaissance und des Barock zur Geltung k a m - besteht darin, dass der Individualismus der Renaissancezeit ohne jeden Naturrechts- und Menschenrechtsuniversalismus, also ohne jedwede Art ,,vollkommener Immanenz" operiert und start dessen einem radikalen Partikularismus, einem erotischen Genuss-Subjektivismus, einem virilem und vitalistischem Tugendheroismus huldigt. 628 Erst der liberale Individualismus des 18. J ahrhunderts machte die ,,Weltzivilisation" als ein zentrales normatives Leitideal zu einem bestimmenden Faktor des politischen Denkens. Aus radikalliberaler Sicht werden nun alle Brfiche auf dem Wege zur allseits befreienden ,,Weltzivilisation" als ,,retardierende Momente" als ,,Rfickf~ille", als antiweltzivilisatorische (sprich ,,antizivilisatorische") oder anti-westzivilisatorische (sprich ,,antiwestliche") Reaktionen und Repressionen verstanden.
2. Liberales Zivilisationsverst~indnis und ideologisches Kampfeld des 19. Jahrhunderts Das Verm6gen der biirgerlichen Gesellschaft im Gegensatz zum (Alt)Konservativismus, die theoretische und die praktische Transzendenz zusammenzubinden, hatte die I
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Seienden zur Folge, so dass ,,Philosophie und Religion nicht mehr mit Selbstverstiindlichkeit als die emzigen M6glichkeiten der Beziehung zum Ganzen empfunden werden. ''629 Es traten nunmehr die sich zum Liberalismus und dessen Zivilisationsverstiindnis ,,verhaltenden Ideologlen" hinzu. Zugleich fiihrte der Liberalismus im Kontext des transatlantischen Zivilisationszusammenhanges, so wie er sich seit etwa 1760 auch ideologisch herausgebildet hatte (im Sinne einer Art liberalen Internationale) zu einer ,,Intemationalisierung" des gesamten politischen Denkens des Westens. 63~ So entstanden nach dem Aufkommen der liberalen Internationale zun~ichst eine radikal-jakobinische Internationale und eine konservative Intemationale (die ,,Heilige Allianz"), sp~iter eine sich explizit als solche bezeichnende sozialistische Intemationale und eme katholische Intemationale (,,Ultramontamsmus'~ 631 Dabei k6nnen alle diese ,,ideologischen Weltparteien ''632 nach Voegelm als siikularisierte Formen des modemen Gnostizismus des Westens verstanden werden, dessen historischer Ursprung im puren, ,,ungebrochenen", ,,radikalen" Individualliberalismus anzusiedeln ist. 633 Darauf soll im n~ichsten Kapitel n~iher eingegangen werden. Wie verhielten sich nun die Ideologien im Kontext des nunmehr ebenfalls neugeschaffenen Zivilisationsparadigmas zueinander? Der (Alt)Liberale versuchte, der praktischen Transzendenz im Rahmen der von ihm geschaffenen Zivilisationstheorie zum Durchbruch zu verhelfen, und zwar mit dem Ziel, emen Ubergang in emen andersarfgen, besseren Zustand der Geschichte zu schaffen, ob aus radikaler, ,,ungebrochener" Sicht fiir die ,,Welt", oder zun~ichst einmal fiir den ,,Westen" oder eine ,,Nation". Der Altliberalismus verband diese progressiveEinstellung mit seinen sozio6konomischen Anspriichen und mit einer sehr freien Individualethik, aus der in Europa (im Gegensatz zu den USA) vor dem Hintergrund der sozialpolitischen Ausgangslage TM die ,,soziale Frage" entstand. Der Liberale unterscl~ed sich vom Jakobiner darin, dass er die Progression evolutioniir verstand, weil Neues und Altes als nicht klar und zeitpunktartig voneinander zu trennende Wirkfaktoren der Geschichte angesehen wurden. Der Jakobinerwar indes nicht nur theoretisch, sondem auch praktisch radikal und ,,ungebrochen" liberal. Er hat den gnostischen Gehalt des Liberalismus bereitwillig aufgegriffen und in Taten umgesetzt. Jede Reform der Liberalen unterschied sich von denjenigen der Reformkonservativen in der Zielsetzung. Fiir den Liberalen sind Reformen bestenfalls immer Mittel zur schrittweise erfolgenden Erneuerung im Sinne der individualistischen Emanzipation, mindestens aber der Versuch, das (Besitz-)Biirgertum als potentiellen Triiger eines neuen Freiheits-, vielleicht Menschengedankens, in der neuen Machtstellung gegen umstiirzlerische oder reaktion~ire Herausforderungen zu schiitzen. Die Reformen im Kontext eines Zivilisationsparadigmas werden immer im Rahmen der Leitidee v o n d e r Ann~iherung an eine ,,Weltzivilisation" betrachtet. Nun hat sich die franz6sische Revolution- ,,im bodenlosen Vernunftglauben fanatisch gegriindet" - keineswegs als die ,,Quelle moderner Freiheit" erwiesen. 635 Diese hat ,,vielmehr in der Kontinuitiit echter Freiheit in England, Amerika, Holland und der Schweiz" ihren Boden. 636 Dort hatten die Reformkonservativen das Sagen, welche die franz6sische Katastrophe
629 Ernst Nolte, DerFaschismus in seinerEpoche, 5. Aufl., M(inchen 2000, S. 519. 630 Vgl. Klaus von Beyme, Politische Ideologien im Zeitalter der Ideologien. 1789-1945, Wiesbaden 2002, S. 966. 631 Vgl. ebd., S. 966f. 032 Heinz Gollwitzer, Geschichte des welIpolitischen Denkens, Band 1: Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum Beginn des Impedalismus, G6ttingen 1972, S. 257. 633 Vgl. Eric Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik. Eine Einfiihruneo~ N D Miinchen 2004, S. 138-142. 634 Industrialisierung auf der Basis feudalistischer Strukturen, damit zusammenhiingender Revolutionsentwicklungen (insbesondere in Frankreich) und zahlreicher territorialer, z.T. kleinteiliger Nationalstaatskriege s35 Karl Jaspers, Ursprung und Zielder Geschichte, MCinchen 1949, S. 175. 636 Ebd.
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k o m m e n sahen. D e r Reformkonservative stimmt R e f o r m e n d e m e n t s p r e c h e n d i m m e r zu, u m K a t a s t r o p h e n a b z u w e n d e n u n d das Bewahrenswerte vor den K a t a s t r o p h e n zu beschiitzen. Die ,,Weltzivilisation" ist fiir den Konservativen ein F r e m d w o r t , da er m d e r Herausl6sung des Einzelnen aus partikularen u n d korporativen, iiberindividuellen Strukmren keinen Sinn sehen kann. Z u diesen Strukturen geh6ren alle Elemente, die d e m Idealbild einer ,,Weltziviglsation" entgegenstehen. Hierin bestand auch die G e m e i n s a m k e i t aller Konservativen: D e r Altkonservative unterschied sich m diesem Z u s a m m e n h a n g v o m Reformkonservativen darin, dass sich der Altkonservative jeglichen R e f o r m e n verweigerte. Die Zielsetzung des Altkonservativen war es, die liberalen Fortschritte zuriickzudrehen, aufzuhalten oder aber ,,nur" im Z a u m zu halten. D e r Sozialist schlieBlich antwortete auf die ,,soziale Frage", i n d e m er die Unvereinbarkeit dieser Frage mit der liberalen Vorstellung v o m Ubergang in einen andersartigen, besseren Z u s t a n d der Geschichte u n d daher die Erweiterung des politischen u n d biirgerlichen Gleichheitsbegriff u m einen materiellen Gleichheitsbegriff einforderte u n d praktisch dafiir auf evolutioniirem Wege kiimpfte. D u r c h den Auftritt des Sozialismus kam es zu einem politischen A n s p r u c h der nicht-wahlberechtigten und nicht-besitzenden Schichten, deren D r u c k den Liberalismus allmiihlich zu einer im Liberalismus trotz aller A b g r e n z u n g e n 637 ohnehin schon angelegten O f f n u n g gegeniiber d e m demokratischen Prinzip veranlasste (materielle ,,Chancengleichheit" u n d Wahlrecht fiir alle), was wiederum den funktionsabhiingigen Wert der Arbeitskraft auf eine fiir den Arbeiter positive Weise beeinflusste. Die soziale Frage wurde eingediimmt, es bildeten sich (Massen)-Demokratien 638 heraus. Die reformorientierten, praktisch evolutioniiren Sozialisten und Sozialdemokraten versuchten in diesem R a h m e n weiter an der Verbesserung der materiellen Z u g a n g s c h a n c e n breiter sozialer Schichten auf der unteren Skala der Klassenhierarchie zu arbeiten, u m so die ihrer Meinung nach wirklichen Voraussetzungen eines Ubergangs in einen andersartigen, besseren Zustand der Geschichte zu schaffen. D e r liberal-optimistische Zivilisationsansatz wurde also in seinen normativen Zielsetzungen v o m Sozialismus geteilt, doch wurde die Glaubwiirdigkeit der biirgerlichen Triigerschaft angezweifelt, i n d e m die A n g e m e s s e n h e i t der Mittel zur Erreichung der maximalgesetzten u n d radikal postulierten praktisch-transzendenten Zielsetzung schlicht an der Realitiit gemessen wurde. Es ist eine Sache des Realismus, dass diese Realitiit- gleichsam auf d e m unendlichen Wege zur , , W e l t z i v i l i s a t i o n " - gekennzeichnet ist dutch ,,Briiche" eines ,,metastatischen Glaubens", aus d e m die Ideologien des 19. J a h r h u n d e r t s unter A n b e g i n n eines radikalen Liberalismus erwach-
637Vgl. Anthony Arblaster, The Ra;eandDecline of Western Liberalism, Oxford u.a. 1985, S. 75-79. 638 Unter ,,Massendemo~atie" sei eine Staatsform verstanden, die alle Staatsb/irger in gleicher Weise, unabhiingig von ihren Einkommen und Venn6gen oder sonstigen personalen Kriterien an der Entscheidungsbildung beteiligt: Sie ist insofern zu identifizieren mit dem heute giingigen Demokratieverstiindnis, das yon der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahlen unter Absenz jeglichen Zensus- oder Pluralwahlsystems ausgeht (vgl. z.B. Kurt L. Shell, Demokratie, in: Axel G6rlitz (big.), Handlexikon zur Politikwissens&aft. Band 1: Absolutismus- Monarchie, Reinbek 1973, S. 57-62, 58f.), allerdings unter Beachmng dreier Ausschlusskriterien: der Nationalitiit der (ira Unterschied zu antiken Demokratien ,,menschenrechtlich" nicht diskrirninierbaren oder zu dis~irninierenden) Einwohner als Voraussetzungskriterium einer Stimmberechtigung, der Strafrechtstreue und dem Alter des Individuums, dessen Wahlberechtigung in Frage steht. Der Sinn der Einf/ihmng des Begriffs der ,,MassendemoDatie" besteht nur im Kontext eines historisch-typologischen Verstiindnisses der unterschiedlichen Demokratieformen und -verstiindnisse, die es in der Geschichte gegeben hat und soil - u m der Einfachheit, nicht um eines Normativismus willen - auch nut in diesem Kontext benutzt werden. Die Massendemokratie tendiert dazu, die soziale Gleichheit als notwendiges Konstituens der Demokratie zu begreifen: Nach einer restriktiven Auslegung d/irfe ,,kein Teil der Bev61kemng durch fehlende Bildung vonder M6glichkeit, seine eigenen Interessen zu erkennen, ausgeschlossen" sein (Kurt L. Shell, Demokratie, in: Axel G6rlitz (Hg.), Handlex4kon zur Politikwissenschafi. Band 1: Absolutismus- Monarch& Reinbek 1973, S. 57-62, 59). Eine extensive Auslegung w/irde aus der ,,M6glichkeit" eine ,,Verpflichmng" machen, wobei dann die Grenze hin zu einem ,,sozialistischen" System nicht mehr trennscharf gezogen werden k6nnte.
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sen sind. Die Kontinuit;,it des neuen ,,metastatischen Glaubens<' in den totalit~iren B e w e g u n g e n des 20. Jahrhunderts er6ffnet den Blick ftir das Z u s a m m e n s p i e l zwischen westlicher Zivilisationsstruktur und Totalitarismus.
3. Moderne Zivilisation, Marxismus, Totalitarismus: Z w i s c h e n ,,s~ikularisierter Gnosis", Dialektik der Aufld~irung und ,,gnostischem Wahn ''639 im 20. Jahrhundert D e r am E n d e des v o r a n g e h e n d e n Kapitels eingeftihrte Begriff des ,,metastatischen Glaubens'<
- ein Begriff des Politikwissenschaftlers Tilo S c h a b e r t - trat zum ersten Mal in aller Deutlichkeit bei Robespierre auf. Schabert hat den Begriff folgendermaBen umrissen: ,,Im Modus dieses Glaubens wird das revolution{ire Motiv radikalisiert. Aus der materialen Anlage jeder Gesellschaft, emeuert werden zu k6nnen, isoliert der metastatische Glaube das Moment der Emeuerung, das solchermaBen exklusivtibertragbar wird. In dieser Isolation der Emeuerung yon der erneuerungsbedtirftigen Gesellschaft gedeiht das prinzipielle Dogma des metastatischen Glaubens, im erfolgten Ubertrag sei nut noch das Neue schlechthin enthalten und deshalb ein Verfallsprozess ftirderhin ausgeschlossen. Die Logik des metastatischen Revolution{its teilt eine verkommene Gesellschaft in zwei Gesellschaften auf, die sich gegeneinander ausschliefien, da sie ein ,qualitativer Sprung' trennt: eine ftir immer vergangene alte und eine ftir ewig vollkommen neue Gesellschaft.'<640 ..
Eine aus dem Realismus geborene K_ritik des Liberalismus k o m m t also nicht umhin, den Zivilisationsprozess und seine Ideologisierung im R a h m e n eines ,,liberalen Systems" mit m o d e r n e n G e w a l t p ro z e s s e n in einen geschichtstheoretischen Z u s a m m e n h a n g zu bringen. V o n ganz groBer Relevanz sind hier, was die zivilisationstheoretischen Zusammenh~inge betrifft, die ontologischen und politikphilosophischen Totalitarismustheoretiker (Hans Maier und das K o n z e p t der ,,Politischen Religionen ''641, I~-daus H o m u n g , Eric Voegelin, H a n n a h Arendt, z.T. Karl Dietrich Bracher und Carl Joachim Friedrich) und T h e o d o r W i esengrund A d o m o , der Begriinder der linken Kulturkritik. Im F o l g e n d e n soll insbesondere der Ansatz v o n Voegelin 642, abet auch von A d o r n o und A r e n d t herangezogen werden. Eric Voegelin erfasst (im Gegensatz zu Arendt) den Liberalismus, Sozialismus und K o m m u n i s m u s folgerichtig als E r s c h e i n u n g s f o r m e n grunds~itzlich einer s~ikularisierten Bewegung des m o d e r n e n Gnostizismus:
639Vgl. Johanna Prader, Der gnostische Wahn. Erfc Voegelin und die Zersta'rung menschlicher Ordnung in der Moderne, Wien 2006. 640Tilo Schabert, (2Derdenfranaj'sischen Fall schizophrener Revolution, in: Ders. (Hg.), Der Mensch aa Scha'pfer der Welt. Formen undPhasen revoluliona'renDenkens in Frankreich I762 bis 1794, Mtinchen 1971, S. 7-33, S. 13 (vgl. ferner ebd., S. 27-33) 641Vgl. Eric Voegelin, Die politischen Religionen, Wien 1938; Norman Cohn, Das Ringen um das tausendja'hrige Reich. Revolutiona'rer Mesadanismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalita'ren Bewegungen, Bern / Mtinchen 1961; Hermann Ltibbe, Sa'kularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen BegKffs, Freiburg / Mtinchen 1965; Ders., Zustimmungsfa'hige Moderne, Mtinchen 2003; Hennann Rauschning, Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit des Dr#ten Reiches, Ztirich 1938; vgl. als Sekund~irliteramr Klaus Hildebrand (Hg.), Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehund~ Existen z und Wirkung des Totalitarismua, Mtinchen 2003; Hans Maier (Hg.), Totalitarfsmus undpolitische Religionen. Konzepte des DiktaturvergleichJ, 3 Bde., Paderborn 1996, 1997, 2003; Ders. (Hg.), Wege in die Gewalt. Die modernenpolitischen Religionen, Frankfurt a.M. 2000; Ders., Politische Religionen. Die totalita'ren Regime und das Chrfstentum, Freiburg u.a. 1995; Michael Ley, Apoka~pse und Moderne. AufsaTze w politischen Religionen, Wien 1997; vgl. ferner Kurt R. Spillmann, Amerikas Ideologie des Friedens. Ur~riinge, Formwandlungen und ges&ichtliche Auswirkungen des amerfkanischen Glaubens an den Mythos yon einerfriedlichen Weltordnuneo Bern 1984. 642Vgl. zu Person und Werk Regina Braach, Eric Voegelinspolitische Anthropologie, Wtirzburg 2003; Michael Ley u.a. (Hg.), Politische Religion? Politik, Religion und Anthropologie im Werk yon Eric Voegelin, Mtinchen 2003; Hans-J6rg Sigwart, Das Politische und die Wissenschaft. Intellektuell-biographische Studien zum Friihwerk Eric Voegelins, Wtirzburg 2005; Michael Henkel, Eric Voegelin zur EinJdihrund~ Hamburg 1998.
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,,Man sollte auch nicht die innere Folgerichtigkeit und Ehrlichkeit dieses Oberganges vom Liberalismus zum Kommunismus bestreiten; denn wenn der Liberalismus als die immanente Erl6sung von Mensch und Gesellschaft verstanden wird, ist der Kommunismus zweifellos sein radikalster Ausdmck. "643 Voegelin unterschied jedoch unterschiedliche ideologische Kriifte v o n e i n a n d e r , die sich zwischen zwei Fliigelvarianten der I m m a n e n t i s i e r u n g des siikularisierten G n o s t i z i s m u s schoben: ,,In jeder Welle der gnostischen Bewegung werden die fortschrittlichen und utopischen Varianten die Tendenz zeigen, einen politisch rechten F1/igel zu bilden, der die letzte Vollendung einer allm{ihlichen Evolution/iberl{isst und sich mit der Spannung zwischen dem Erreichten und dem Ideal zufriedengibt [der Liberale also], w{ihrend die aktivistische Variante dahin tendiert, einen politisch linken F1/igel zu bilden, der die Gewalt zur Verwirklichung des vollkommenen Reiches einsetzt [der revolution{ire Marxist also]. Die Streuung der Gl{iubigen yon der Rechten zur Linken wird zum Teil durch pers6nliche Faktoren wie Begeistemngsf'~ihigkeit, Temperament und Ausdauer bestimmt; zum anderen, und vielleicht bedeutsameren Teile, ergibt sie sich jedoch aus der Beziehung der Gl{iubigen zur ~.vilisatoris&en Umwelt, in der sich die gnostische Revolution vollzieht. "644 Letzteres b o t u n d bietet den Platz fiir die M i s c h f o r m e n zwischen ( g e b r o c h e n gnostischem) Liberalismus u n d (nicht g n o s t i s c h e m u n d gemiil3igtem, ,,koalitionsf~ihigem") K o n s e r v a t i v i s m u s u n d m a c h t e den Platz frei fiir die ,,westliche Z i v i l i s a f o n " , so wie sie sich als potentielle ,,Atlan6sche Zivilisation" politisch ausgebildet hat: als ein insgesamt traditionalistisch, klassisch und christlich gebrochener Gnostizismus: ,,Wir k 6 n n e n y o n einem Bereich der Sekund~irideologien sprechen ''645, so die I n t e r p r e t a t i o n Voegelins. , , D e n n m a n d a f t nicht vergessen, dass die westliche Gesellschaft nicht durch u n d durch m o d e r n ist, s o n d e m dass die Modernit~it etwas in ihr G e wachsenes, [in] ihrer klassischen u n d christlichen T r a d i t i o n E n t g e g e n g e s e t z t e s ist. ''646 U n d im zeitgen6ssischen, angeblich , , p o s t m o d e m e n " K o n t e x t hat das - in etwas a n d e r e n W o r t e n Tilo Schabert formuliert: ,,Wir leben [..] im Zeitalter einer f o r t d a u e m d e n V e r z 6 g e r u n g der M o d e r n e . ''647 E r n e n n t diese Phase der u n e n d l i c h e n Brechung, in der wir n u n m e h r alle leben, nicht , , P o s t m o d e r n e " , s o n d e m z u t r e f f e n d , , P a r a m o d e r n e " , verliingerte, g e b r o c h e n e M o d e r n e also 648, o d e r wie er es formuliert: ,,Das m o d e r n e Bewusstsein ist blockiert.". 649 D i e M o d e r n e iiberdeckt dabei ,,ein ausgedehntes G e w e b e , das aus v o r m o d e r n e n Kulturen, jahrtausendalten L e b e n s w e i s e n , p r i i m o d e m e n I3berlieferungen, altgeschichtlichen Zivilisationsformen, v o n der Modernitiit u n b e r i i h r t e n Sozialgebilden besteht. ''65~ Sogar der angeblich so religionsfeindliche V e m u n f t i d e a l i s m u s k o n n t e sich als , , I d e a l i s m u s " n u t in den B a h n e n einer religi6s v o r g e g e b e n e n G o t t e s i d e e - gleichsam als R e l i g i o n s e r s a t z - durchsetzen. 6sl ,,Geschichte I I " iiberlagert ,,Geschichte I", wird aber letztere nie substituieren k 6 n n e n ; die M o d e r n e ist eine ,,unendliche Weltsuche. ''652 D e r g e b r o c h e n e G n o s t i z i s m u s schafft dabei einen merkwiirdigen ,,Zwitterbe-
643 Eric Voegelin, Die neue Wissenschqfi der Politik. Eine Einfiihrung, ND M/inchen 2004, S. 183. Vgl. zur Kritik: Jan Assmann, Der Sonderweg des chrfirtlichenAbendlandes. Eric Voegelin sti~et Feindschqfi z'wischen Geist und Ordnung und bestreitet der Neuzeit die Legitimit?it, in: Frankfurter Allgemeine Zeimng, 3. Juni 1994, S. 10; Hannah Arendt, A Rep/y, in: The Review of Politics XV, 1953, S. 76-84, 80. 644Ebd. (Kursivbetonung vom Vf. dieser Arbeit). 64s Eric Voegelin, Anamnesis, M/inchen 1966, S. 328f. 646Eric Voegelin, Die neue Wissenschafi der Politik. Eine Einfiihrun~ ND M/inchen 2004, S. 183. 647Tilo Schabert, Modernila't und Ges&ichte. Das Experiment der modernen Zidlisation, W/irzburg 1990, S. 70. 648Vgl. insgesamt Tilo Schabert, Modernit?it und Geschichte. Das Experiment der modernen Zivilisation, W/irzburg 1990. 649Ebd., S. 70. 6s0 Ebd. 6sl Vgl. z.B. Carl Becket, The Declaration of Independence. A Study in the Histo{7 of Political Ideas, New York 1922, S. 278. 6s2Vgl. Tilo Schabert, Modernita't und Geschichte. Das Ex~oeriment der modernen Zivilisation, W/irzburg 1990, S. 71ff. und 108.
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reich des Ordnungsdenkens [..], der als Ph~inomen der Zeit ebenso charakteristisch" sei, ,,wie die Ideologien selber, zu denen er in Opposition steht. ''653 ,,Wiire in der westlichen Gesellschaft nichts anderes vorhanden als der Gnostizismus, dann wiire der Schritt nach [inks nicht aufzuhalten" gewesen und die Zerst6rung der ,,Traditionen der westlichen Gesellschaft" war insofern immer ein wichtiges Anliegen der iiul3ersten Linken. 654 D o c h in den immer wiederkehrenden Pendelschliigen zuriick zur 6ffentlichen Ordnung konnte sich der radikale Gnostizismus eben nur als ,,iiul3erste Linke" in einem differenzierten Spannungsbogen defmieren: Die durch die Politik der Sozialdemokratie und des gemiil3igten Sozialismus eintretende Beeinflussung des Wertes der Arbeitskraft zugunsten des Arbeiters wurde in diesem Sinne von den Marxisten auf der Basis einer objektiven Wertlehre, und damit auf der Basis der Unterschiitzung der Funktionsabhiingigkeit des Arbeitskraftwertes, nicht voraus- und spiiter von den Leninisten gar als ,,AusverkauP' angesehen (Begriff des ,,Sozialfaschismus" im 20. Jh.). Im Gegenteil zu den evolution~iren Kriiften des Sozialismus behaupteten die ,,orthodoxen" Marxisten (Theorie und Praxis werden nicht getrennt), dass das angeblich historisch-strukturell bedingte Auseinanderklaffen von ,,objektivem Wert der Arbeit" und ,,Wert der Arbeit als austauschbare Ware" im Rahmen einer Verelendungstheorie auf ein angeblich unvermeidliches revolutioniires Prinzip hinf/_ihrt. Hinter dem revolutioniiren Prinzip verbarg sich indes, auf der Grundlage einer humanistischen lJberh6hung der liberalen Vorstellung v o m lJbergang in einen andersartigen, besseren Zustand der Geschichte, die Ersetzung dieser Vorstellung durch eine andere vom Ubergang in ein ,,Jenseits der Geschichte" (kommunistische Endgesellschaft)! Dieser Glaube war nichts weiter als die Neuauflage des erw~ihnten ,,metastatischen Glaubens" der Jakobiner, nun allerdings im Kontext einer sich verschiirfenden sozialen Frage vor dem Hintergrund der alles niederreil3enden Industrialisierung und der damit einhergehenden Urbanisierung des europiiischen Liberalismus (im Gegensatz zum weiterhin zum grol3en Teil agrarisch gepriigten Liberalismus in den USA). Der orthodoxe oder revolutiondre Marxismus war in diesem Sinne abet nicht ein Moment gegen die praktische Transzendenz, sondern zunS_chst ,,nichts anderes als die bisher entschiedenste Selbstbejahung der praktischen Transzendenz" (Kraus). Nach Nolte forderte der Marxismus als Maximalposition der praktischen Transzendenz eine maximale Gegenposition heraus: den Faschismus. Der Faschismus unterschied sich insofern vom antiliberalen und antisozialistischen (AIt)Konservativismus, als er sowohl die praktische als auch die theoretische Transzendenz negierte und einer absoluten partikularorientierten Immanenz (,,Nation und Imperium") anhing. Der Nationalsozialismus ist in dieser Hinsicht ein ,,Radikalfaschismus" (,,Rasse" statt ,,Nation und Imperium") und nicht vom Paschismus zu trennen. 655 Da sich indes der Konservativismus immer wieder aufgrund der realen Durchsetzung der ,,praktischen Transzendenz" von seinen Leitvorstellungen 16sen musste, verdichtete sich die konservative Position auf ein historisches ,,Dilemma", das in Deutschland nach 1918 auf der
6s3Eric Voegelin,Anamnesis, M/inchen 1966, S. 329. 6s4Vgl. Eric Voegelin, Die neue WissenschaftderPolitik. Eine Einfdhrune~ND M/inchen 2004, S. 183f. 6ss Vgl. Ernst Nolte, Der Faschismus in seinerEpoche, 5. Aufl., MCinchen2000, S. 511. Anders Karl Dietrich Bracher, der nicht schon im Faschismus, den er als italienische Sonderform des autoritiiren Nationalimperialismus und zugleich als theoretisch zwar angelegten, aber praktisch nie ausgepr~igten, weil unperfekten Totalitarismus ansieht (der Faschismus hat eben die absolut partikularorientierte Immanenz hie erreicht, s. Rolle des K6nigs, der Kirche und die praktischen Folgen des theoretischen Rassismus), sondern im Nationalsozialismus die maximale Gegenposition eines ins Totalit~ire gesteigerten Marxismus-Leninismus unter Lenin und Stalin lokalisiert, wobei Marx mit der Herausl6sung seines Gegenstandes aus allen moralischen Bez/igen in Gefolge seiner 0berbautheorie, seines Enteignungs- und seines ,,proletarischen" Diktamrbegriffs sowie anderer iihnlicher Theorieansiitze durchaus als Vorl~iufer des Totalitiiren angesehen wird.
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Basis eines ganzen K o n g l o m e r a t s v o n konstellations- und strukturabh~ingigen Gri,inden 656 im Sinne einer ,,Konservativen Revolution" abgeschiittelt werden sollte 657, was jedoch scheiterte bzw. nicht z u m Zuge kam oder k o m m e n konnte. Erst nach d e m Nationalsozialismus verband sich auch in D e u t s c h l a n d der Konservativismus, solange er nicht an den Rand gedr~ingt wurde, mit d e m liberalen Rechtsstaat, der parlamentarischen D e m o k r a t i e und der Marktwirtschaft sowie der zwischenstaatlichen K o o p e r a t i o n u n d C)ffnung. I m antikommunistischen Kontext, auf der Basis der totalitiiren E r f a h r u n g und im Zuge deutschkonservativer Vorausentwicklungen im R a h m e n der ,,Konservativen Revolution ''658 n a h m d a b e i - n e b e n einer stabilitiitsorientierten, neo-ontologischen u n d neo-organologischen Institutionenlehre - die Marktwirtschaft u n d der ,,Ordoliberalismus" den wichtigsten Platz era, so dass ein ,,technokratischer Konservativismus" begriindet werden konnte. 659 Die These nun, dass im Verlaufe der ideologischen Entwicklung der ,,westlichen Zivilisation" Gewalt in F o r m y o n m o d e m e n Totalitarismen (eben Bolschewismus, Stalinismus, Radikalfaschismus, Nationalsozialismus) als Ausfluss einer ,,Ideologisierung" einer an sich unschuldigen Zivilisationsidee angesehen werden kann, stellt sich bei Voegelin als irrig heraus. Schon in der w6rtlichen Etablierung des Zivilisationsbegriffes in der Politischen Ideengeschichte bei C o n d o r c e t und T u r g o t ist der ideologische Zugang angelegt: im liberal-optimistischen u n d zugleich im umversal-liberalen Sinne. Da diese beiden Ans~itze jedoch nicht auf gewaltzentrierte Politikbegriffe aufbauen (Condorcet und T u r g o t legitimierten keine Gewaltanwendung), stellt sich die Frage, ob es sich bei den Gewaltprozessen des 20. J ahrhunderts nicht wom6glich u m ,,retardierende E l e m e n t e " handelt, die ,,antizivilisatorischer" oder ,,antiwestlicher" N a m r sind. Dagegen sprechen jedoch zwei Argumente: Dass die radikalen, gewaltzentrierten Ans~itze schon am Anfang der N e u e s t e n Zeit in der franz6sischen Jakobinerherrschaft allgegenw~irtig waren und dass sich die Jakobiner (wie sp~iter auch die K o m m u n i s t e n ) genau auf die Zielsetzungen der liberal-optimistischen ,,Zivilisationsanhiinger" beriefen, allerdings radikale Mittel zur sofortigen, umstiirzlerischen Erreichung des neuen Geschichtszustandes als E n d p u n k t eines (bzw. des!) Zivilisationsprozesses einforderten.
6so Kriegserfahmngen in Verbindung mit einem Monarchiesturz von aul3en, einer revolutioniiren Bedrohung im Inneren und einer unmittelbaren Bedrohung in geographischer Nachbarschaft, Kriegsschuldfrage und nationale Demfitigung, sozialhistorische und ideengeschichtliche Stmkmren, geographische Lage. Vgl. als deutsche Reaktion exemplarisch Kurt von Boeckmann, I/om Kulturreich des MeereJ, Berlin 1924, S. 400: ,,Aber - diese inneren Bindungen an den Westen hat der unselig-selige Versailler Vertrag zerrissent Wo frCiher Anhimmelung und gliiubige Nachahmung waren, sind heute erwachende Ablehnung und Hass." 6s7 Die Zielsetzungen bestanden demnach in der Aristokratisiemng der Masse, der korporativen Verflechtung von Staat, Industrie, Bauemtum und Handwerk, der gesellschaftlichen Etabliemng soldatischer Werte und in Denkfiguren des Partikularismus, Nationalismus und Kulturalismus. Typischer Ausspmch: ,,Deutschland hat nichts mit dem untergehenden Abendlande zu schaffen. Wenn es will!" (Kurt von Boeckmann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924, S. 404). 658 Damit sind die nietzscheanischen, technozentrierten und massenbejahenden Bestandteile der ,,Konservativen Revolution" gemeint, wie sie z.B. bei Oswald Spengler, Moeller van den Brock, Hans Freyer, Ernst Jfinger und dem jungen Gottfried Benn vorzufinden sind. Nicht zu diesen Vorliiufem geh6ren indes die naturzentrierten (6kologischen), klassisch-iisthetischen, religi6s beeinflussten, nostalgischen und reaktioniiren Richtungen, wie z.B. der GeorgeKreis (Stefan George, Ludwig Klages, Rudolf Borchardt, Friedrich Gundolf), Hugo von Hoffmannsthal, der konservativ-mssophile junge Thomas Mann, Friedrich Georg J/inger und auch Rudolf Pannwitz, der trotz seines nietzscheanischen Eigenverstiindnisses versuchte, Christentum, Orientalistik und Nietzscheanismus miteinander zu vereinbaren. Botho Straul3ens Konservativismus heute steht im Obrigen in der Tradtition der letzteren Pdchmng, deren historische Linie im Kreuzschatten des Nationalsozialismus Miinner wie Wolfskehl, Kantorowicz und Stauffenberg hervorbrachte. 6s9 Zur theoretischen Problematik des letzteren vgl. das zentrale Werk yon Michael Grof3heim, Okologie oder Technokratie? Der Konservatismus in der Moderne, Berlin 1995.
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Die E r f m d e r des politischen Zivilisationsbegriffes, also T u r g o t und Condorcet, m 6 g e n zwar keine Gewaltphilosophie entwickelt haben, waren aber selbst Tell eines Zivilisationsprozesses, der etwas anderes darstellte, als das, was Condorcet und Turgot unter Zivilisation verstanden. Aus diesem Blickwinkel k6nnen die Gewaltprozesse als Bestandteile des Zivilisationsprozesses selbst angesehen werden. Und genau das liefert in Verbindung mit dem Gnostizismusansatz Voegelins auch die Erkliirung dafiir, warum sich gewaltzentrierter Radikalismus iiberhaupt mit ,,hehren" Idealen verbinden konnte, d.h. die Ideologien sich im K o n t e x t eines friedlichen, optimistischen Zivilisationsbegriffes derartig gewaltsam entwickeln konnten, wie das in E u r o p a unter den J a k o b i n e m im 18. und unter den totalitiiren Diktatoren im 20. Jahrhundert der Fall war. Wird die Abfolge des Prozesses v o n d e r ,,Aufldiirung" zu einer in ihr selbst angelegten Gewalt bei Voegelin mit der gewalttiitigen Zielsetzung aller ,,emanzipatorischen Aufldiirung" erkl~irt, so verhiilt sich das bei T h e o d o r W. A d o r n o eher u m g e k e h r t - was allerdings nicht bedeutet, dass sich daraus die Vorstellung ableiten liisst, es w~ire anders m6glich gewesen (dafiir ist die ,,Dialektik der Aufldiirung" im Ansatz zu pessimistisch). N a c h A d o r n o schlug die Aufkliirung letztlich nicht aufgrund einer Aufldiirungs- und Emanzipationsradikalitiit, sondern aufgrund der fehlenden Aufldiirungsreflexivitiit in den Irrationalismus urn. Allerdings bedeutet das zugleich, dass die ,,Aufld~rung" als solche genau dieses Umschlagen eben nicht v e r h i n d e m konnte und dass ein Umschlagen nach einer Aufldiirung im liberal-universalen Sinne letztlich immer em Umschlagen unter Massenbedingungen sein muss - also viel gewaltvoller als punktuelle Irrationalismen m der Vormoderne. U n d ob sich die punktuellen Irrationalismen in der V o r m o d e m e nun summierten (s. DreiBigjiihriger Krieg) oder nicht, war im Endeffekt dem Zufall iiberlassen. Ein ,,Umschlagen" nach der Aufldiirung kann indes i m m e r nur planma~ig, das Maximum an Gewalt hervorbringen. Das ,,Umschlagen" nach der AufldS_rung ist immer total, weil die Aufkliirung universal und i m m a n e n t ist. D e r immanente Ganzheitsanspruch der Aufldiirung bedeutet im Falle eines Umschlages die Totalitiit der Vernichtung. Es ist letztlich irrelevant, ob diese Totalitiit der Vernichtung mit zum eigentlichen K e r n der ,,Aufld~rung" geh6rt 66~ oder ob es sich um eine ,,Fehlentwicklung" handelt: Die ,,Fehlentwicklung" ist jedenfalls eine manifeste Gefahr, sobald die ,,Aufld~rung" im R a h m e n der singularen Zivilisationsidee die Biihne betritt. Dass die angebliche Fehlentwicklung selbst als Teil der ,,Aufld'firung" angesehen wird, hiingt im Obrigen bei A d o r n o und H o r k h e i m e r davon ab, dass es sich bei der ,,Aufld~irung" nicht nut um eine Philosophie der Befreiung des Menschen aus seiner eigenen Unmiindigkeit, s o n d e m auch u m eine Philosophie der neuen F o r m der Beherrschung durch neue Eliten handelt: ,,Wo immer die intellektuellen Energien absichtsvoll aufs Draui3en konzentriert sind, also/iberall, wo es urns Verfolgen, Feststellen, Ergreifen zu tun ist, um jene Funktionen, die aus der primitiven 0berwiiltigung des Getiers zu den wissenschaftlichen Methoden der Naturbeherrschung sich vergeistigt haben, wird in dem Schematisieren leicht vom subjektiven Vorgang abgesehen und das System als Sache selbst gesetzt. Das vergegenst~indlichteDenken enthiilt ,,vie das kranke die Willkfir des der Sache fremden subjektiven Zwecks, es vergisst die Sache und tut ihr eben damit schon die Gewalt an, die spiiter in der Praxis geschieht. Der unbedingte Realismus der zivilisierten Menschheit, der im Faschismus kulminiert, ist ein Spezialfall paranoischen Wahns, der die Natur entv61kert und am Ende die V61ker selbst.'661
600 ,,Die neue Ordnung des Faschismus ist Vernunft, die sich selbst als Unvemunft enthfillt." (Max Horkheimer, The End of Reason,in: Studies in Philosophy and Social Sciences, Nr. IX/1941, zitiert und fibersetzt nach Max Horkheimer, To tglostou ldgou,hg. von St6fanos Rozanis, Athen 1984, S. 59). 661Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik derAuJkldrung. PhilosophischeFragmente(EA 1944), Frankfurt a.M. 1969, ND 1989, S. 202.
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Der Nationalsozialismus wird insofern von Horkheimer und Adorno natiirlich nicht vom ,,Westen" isoliert, selbstverstiindlich ohne deshalb seine spezifische Bestialitiit zu leugnen. Der Modus des Umschlagens wird von Adorno und Horkheimer sch6n beschrieben: Die Zivilisation ist demnach immer zugleich ein ,,Sieg der Gesellschaft fiber die Natur", nut dass im Falle eines Umschlags das Ziel der Naturbeherrschung v611ig von der Selbsterhaltung entkoppelt wird. Die Rationalitiit der Naturbeherrschung wird selbst zu einem Mythos im Sinne eines Fatums. Der Zweck wird zum Instrument und genau das wird dann gleichsam verg6ttert. Auch Hannah Arendt brachte das Aufkommen des Liberalismus und den Totalitarismus im 20. Jahrhundert in einen historischen Zusammenhang. Unter einem ganz anderen Blickwinkel als bei Horkheimer und Adorno und einem nicht derart christlich-theologischen wie bei Voegelm gilt bei Hannah Arendt die ,,Entpolitisierung" des Menschen und seine Degradierung vom homo politicus zu einem animal laborans et consumens nicht nur als eine ,,notwendige Bedingung des Totalitarismus", sondern sie ist - , , o b man es gem h6rt oder nicht" - eine ,,Form" des (radikalen) Liberalismus. 662 Hannah Arendts These lautete, dass in der politischen Tradition der Moderne der 6ffentliche Raum ffir politisches Denken und Handeln gegen diese Form der Degradierung nicht ausreichend geschfitzt worden sei, well das Wissen um seine Bedeutung fiir ein politisches Gemeinwesen verlorengegangen war. Daher habe keine politische Macht mehr existiert, die den Widerstand der Bfirger gegen den Totalitarismus hiitte ermutigen k6nnen. Macht- verstanden als politische Macht- ist daher ffir Arendt einer der Schlfisselbegrifle ffir den 6ffentlichen Raum und steht im Gegensatz zum Begriff der , , G e w a l t " . Ffir sie ist politische Macht zentral fiir das Verstiindnis politischen Handelns und fiir den Sinn von Politik. Nur an dieser spezifisch politischen Macht ist sie interessiert. Macht ist zugleich als ,,ein Intensitiitsgrad geschichtlicher Freiheit" zu verstehen und politische Macht ist auch nicht abhiingig von Institutionen, sondern eine besondere Kategorie des zwischenmenschlichen Handelns. Als Fazit aller Uberlegungen zum westlichen Zivilisationsbegriff sollte am Ende folgendes festgehalten werden: ,,Der Totalitarismus des 20. Jahrhunderts ist kein Betriebsunfall der Moderne. Er ist nicht der vielbeschworene ,Riickfall'. Er ist die Konsequenz eines Stranges der Modernitiit selbst. ''663
4. Stukturelle Gewalt westlicher Zivilisation und die ,,kommunikative Rationalit~it" nach Habermas Es stellt sich die Frage, ob die Gewalttiitigkeit der westlichen Moderne auf nicht-moralischem, nicht-religi6sem oder nicht-essentialistischem Wege zurfickgedriingt und ob der emanzipatorische Fortschrittsglaube der Linken und Liberalen in Bezug auf die ,,westliche Zivilisation" nicht doch mit der zivilisatorischen Realit~it vers6hnt werden kann. Der wichtigste Ansatz zu dieser Frage fmdet sich bei Jfirgen Habermas. Er krifsiert den Versuch, die Selbstkritik der Vernunft so in die letzte Konsequenz zu treiben, wie es Adorno getan hatte. Habermas verteidigte einerseits die Moderne samt ihres ,,vemiinftigen Gehalts", hielt aber andererseits im Rahmen eines diskursethischen Begriindungsprogramms lange Zeit 662 Vgl. G/inter Figal, Offentliche Freiheit: Der Streit von Macht und Gewalt. Zum Begriff des Politischen bein Hannah Arendt, in: Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Politisches Denken. Jahrbuch 1994, Stuttgart / Weimar 1995, S. 123-136, 129. 663Henning Ottmann, Politik und Religion im modernen Staat, in: WolfgangLeidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnung, WCirzburg2000, S. 99-108, 102.
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an einer wiederum aus kritisch-rationaler Sicht eher ,,vor- bzw. p o s t m o d e r n e n " Letztbegriindung lest. 664 Der deutsche Soziologe distanziert sich bis heute vom ,,rein deduktiven" bzw. konsequenten Fallibilismus des K_ritischen Rationalismus. 66s Im Unterschied zu Adorno mindern bei Habermas die Sprache und das Argument im Rahmen einer von ihm ausgearbeiteten ,,kommunikativen Rationalitiit ''666 das postaufldiirerische Unrecht. Das Ideal der Willensbildung in Demokratien und das Ideal der Menschenrechte ziihmten dariiber hinaus den auch bei Habermas in erster Lime negativ beurteilten ,,Kapitalismus". Die yon Habermas propagierte Diskursethik geht von einer rationalen Verst;,indigung im Sinne eines ,,umfassenden Konsenses" aus, in der alle Diskutanten als rationale Teilnehmer h6rbar sein k6nnten und sollten. D e n Argumenten wird zugleich eine normative Rationalitiit zugestanden, die ziemlich strikt mit einem abstrakten Menschenrechtsuniversalismus verkniipft wird. Die emanzipatorische Zielsetzung bildet dabei die Erm6glichung einer ,,hoch entwickelten kommunikativen Infrastruktur mb'glicher Lebensformen". 667 Auch wenn Habermas diese Zielvorstellung v o m , , U t o p i s m u s " einer ,,historischen Artikulation einer gelungenen Lebensform" abgrenzt 668, scheint seine eigene Zielsetzung bei Lichte betrachtet die Erreichung eines ebenso unerreichbaren neuen historischen Gesellschaftszustandes zu implizieren. D o c h soll es in dieser Abhandlung nicht darauf ankommen, welche Habermasschen , , E m a n z i p a t i o n s z i e l e " erreichbar sein m6gen oder nicht, s o n d e m auf die Frage, ob eine ,,kommunikative Rationalit~it" im Habermasschen Sinne die strukturelle Gewalt der m o d e m e n Zivilisation des Westens wirklich aufl6sen kann. Das Problem, dass irrationale, also argumentationsverweigemde Akteure keine legitimierende Wirkung auf die Regeln einer Kommunikation ausiiben k6nnen, hat insbesondere Hans Albert in seiner grundsiitzlichen Kritik an Karl-Otto Apel und Jiirgen Habermas in den Mittelpunkt geriickt: Der sogenannte ,,Dezisionismus-Einwand" von Karl Popper, auf den sich Hans Albert bezieht, macht deutlich, dass ,,man die Annahme von Argumenten immer verweigern kann ''669, ohne dass man deswegen aus einer Sprachgemeinschaft ausscheiden muss, ,,denn der zwischenmenschliche Verkehr mit den Mitteln der Sprache ist primiir ein Austausch von Wiinschen, Bitten, Anweisungen und Informationen, bei dem die argumentative Dimension der Sprache nicht in Anspruch g e n o m m e n werden muss. ''6v~ Im Obrigen ,,kann sogar der Irrationalist, der nicht an die rationale Bedeutung von Argumenten glaubt, selbst Argumente benutzen, weil er ihre Wirkung auf andere kennt. ''6vl Und auch im ,,Westen" ist es immer noch nicht vollends uniiblich, ,,in g.e.wissenBereichen die Annahme yon Argumenten zu verweigem und dadurch gewisse Bestandteile des eigenen Uberzeugungssystemsgegen Kritik zu immunisieren. Der Einwand, diese Haltung sei inkonsequent, braucht einen Verfechter solcher Verfahrensweisenin keiner Weise zu st6ren, denn er ist ja nicht gehalten, die These von der prinzipiellen Bedeutung rationaler Argumente ffir alle Probleme zu akzeptieren. Es pflegen mitunter sogar
664 Vgl. Hans Albert, Kr#ik des transgendentalen Denkens. Von der Begrdndung des Wissens zur An@se der Erkenntn@raxis, T/ibingen 2003, S. 176-182. a6sVgl. Jfirgen Habermas, Moralbewus~tsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983, S. 89f. 666Vgl. Jfirgen Habermas, Theorie des kommmunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1995. 667Jfirgen Habermas, Theorfe des kommmunikativen Handeln~: Band 1."Handlungsrationalitdt und geselkchqfiliche Rationalisierund~ Frankfurt a.M. 1995, S. 113. 66sEbd. 669Karl Popper, Die of[ene Geselk&aft und ihre Feinde. Band II."Falsche Propheten, Bern 1958, S. 284. 670Hans Albert, Kdtik des transzendentalen Denkens. Von der Begrdndung des Wissens w r Analyse der Erkenntnispraxis, T/ibingen 2003, S. 118. 671Ebd.
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sehr plausible ,Begr/indungen' daffir vorgebracht zu werden, dass in bestimmten Bereichen rationale Argumentation oder Kritik aussichtslos sei."672 Wie schon angedeutet, glaubt nun H a b e r m a s in A n l e h n u n g an Apels ,,transzendentalem Sprachspiel" einen , , B e g r f i n d u n g s m o d u s " geschaffen zu haben, der zwar keine Letzbegriindung impliziere (davon hat sich H a b e r m a s inzwischen losgesagt), aber d e n n o c h ein ,,intuitives Regelwissen" der ,,sprach- u n d handlungsf'~ihigen Subjekte" schaffe, das ,,in gewisser Weise nicht fallibel" sei. 673 Dariiber hinaus wird am Postulat der ,,kommunikativen Rationalit;,it" festgehalten. Die Ve r b i n d u n g einer k o m m u n i k a t i o n st heoret i schen Aufl6sung der ,,Objektivitiit der Erkenntnis im Sinn ihrer mtersubjektiven Geltung" mit einer letztlich weiterhin aufrechterhaltenen D o g m a t i k der L e t z t b e g r i i n d u n g - n u n m e h r in Bezug auf Bewusstseinsrealitiiten und nicht m e h r auf sprachinhaltliche Relevanzen - macht die Ambivalenz im Hinblick auf den angeblich , , m o d e r n e n Vernunftgehalt" der H a b e r m a s s c h e n Theorie deutlich. 674 ,,Der Idealismus der Kantschen Konstitutionstheorie verbindet sich mit dem Relativismus der modemen Konsenstheorie, so dass Intersubjektivit~itund rationale Diskussion nut noch innerhalb einer dem jeweiligen Rahmen verpflichteten Gemeinschaft m6glich sind und die Idee der objektiven Wahrheit tats~ichlichmehr oder weniger offen der Konsensidee geopfert wird"6vs [ob diese objektive Wahrheit nun ansonsten ontologisch/dogmatisch/religi6s geffillt oder kritisch-rational einfach nut angenommen wird]. (...) ,,Nicht mehr die zutreffende Darstellung wirklicher Zusammenh~ingewird dann angestrebt, sondem die Herstellung von Aussagensystemen, die auf Zustimmung der betreffenden Gemeinschaft treffen k6nnen."6v6 D e n daraus resultierenden Relativismus n o c h als ,,modern" zu bezeichnen, erscheint aus diesem Blickwinkel n u n m e h r doch sehr fragwfirdig: ,,Man kommt dadurch zu der These, dass die Wahrheit relativ auf das jeweils vorliegende Sprachspiel, auf die Tradition, innerhalb derender betreffende Denker operiert, oder - um einen der beliebtesten Ausdrficke zu benutzen - auf das jeweilige Paradigma ist, so dass darCiber hinausgehende WahrheitsansprCiche von vonherein sinnlos sind."677 Charles Taylor hat in einem k o m m u n i t a r i s c h e n K o n t e x t am deutlichsten auf ein weiteres Problem des Diskursansatzes aufmerksam gemacht: Rationale Verstiindigung auf einer rein formalen Basis ist d e m n a c h nicht v o r radikalen Begriindungen gefeit, weil sie selbst v o n derartigen Begriindungen, also von starken Wertungen, abhiingig ist. 678 D e r rationale Diskurs alleine, also o h n e die Frage nach d e m ,,guten Leben", kann nicht begriindeterweise ,,moralisch" sein, so wie es H a b e r m a s behauptet, weil er i m m e r in einen Rationalitiitswahn miinden kann, der unmoralische, d.h. , , n i c h t - g u t e " Folgewirkungen zeitigen kann. Das kommuni kat i onst heoret i sche Sprachspiel im K o n t e x t eines diskursiven Austausches bleibt indes ein Abstraktum, dass sich in der konkreten Realit~it zwischenmenschlicher Sprachinteraktionen nicht automatisch in einem 672Hans Albert, Kfftik des transzendentalen Denkens. Von der Begr#ndung des Wissens w r Ana~se der Erkenntni4oraxis , T/ibingen 2003, S. 118. 673J/irgen Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handel& Frankfurt a.M. 1983. 674 Vgl. Hans Albert, Kfftik des transzendentalen Denkens. Von der Begru'ndung des Wissens zur Ana~se der ErkenntniffOraxis, T/ibingen 2003, S. 199; Vgl. auch Uwe Steinhoff, Kritik der kommunikativen Rationalitd't. Eine Gesamtdarstellung und Analyse der kommunikationstheoretischenj#ngeren Krftischen Theoffe, Marsberg 2001. 675Hans Albert, Kritik des transzendentalen Denkens. Von der Begr#ndung des Wissens zur Analyse der Erkenntni~)raxis, T/ibingen 2003, S. 199. 676Ebd. 677Ebd. 678Vgl. Charles Taylor, Die Motive der Verfahrensethik, in: Wolfgang Kuhlmann (Hg.), Moralitd't und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt a.M. 1986, S. 101-134.
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m~iBigenden Sinne auf m6gliche Ausgrenzungen von Akteuren auswirkt, welche in einem radikalen Rationalit~itskontext als ,,irrational" abgestempelt werden. Habermas' Versuch der ,,Errettung" eines m o d e r n e n Immanentismus zum Schutze der ,,westlichen Zivilisation" vor sich selbst in einem nicht-ontologischen und -essentiellen Sinne scheint also zum Scheitem verurteilt zu sein.
VI. Varianten des atlantischen Mythos und heutige Bedeutungen
1. Platonischer Ursprung: Begriff, Wirkung und Bedeutung des Ur-Atlantizismus 1.1 Begffff und Wirkung
D e r ,,Atlantik" als Bezeichnung eines Weltozeans ist vor allen Dingen eine europiiische Erfmdung. 679 Er war in der griechischen K u l m r ,,von Anfang an" als solcher w6rtlich vorhanden, obwohl ein Land, das dem Atlantik seinen N a m e n gegeben h~itte (so wie Indien dem Indischen Ozean), in der hellenischen Antike nicht existierte. Schliel3lich war die Bezeichnung ,,Atlantisches M e e t " seit H o m e r gel~iufig und ,,Hoi Atlantes" (Atlas und die Atlanter) galten den Griechen zur Zeit Platons als Meeresriesen. Die in der Mythologie iiberlieferte Verpflichtung v o n Atlas, die SS.ulen des Herakles zu tragen, habe dem Meet seinen N a m e n gegeben, so die plausibelste und allgemeinste Erkl{irung unabhiingig von Platons ,,Atlantis". 6a~ D e m n a c h erfolgte die N a m e n s g e b u n g ohne das Vorhandensein eines atlantischen Territoriums. Beweisbar ist diese Erkliirung jedoch nicht, weil die entsprechenden etymologisch verwertbaren Quellen fehlen. Was dieser Interpretation indes bis heute entgegensteht, ist die Vorstellung, dass es ein Territorium gegeben haben mi.isse, nach dem der Ozean benannt w o r d e n sei. Zwei rS_tselhafte Quellen, welche die westliche Menschheit bis heute nie haben ruhen lassen, k 6 n n e n fiir diese These herangezogen werden. D e r Quellenurheber ist kein geringerer als der in vielerlei I--Iinsicht gr6gte iiberlieferte Philosoph aller Zeiten: Platon alias Sokrates. Bei den Quellen handelt es sich u m die platonischen Dialoge ,,Timaios" und ,,Kritias", die bis heute ,,den Zauber verklungener Melodien"681 besitzen. Ein weiterer Aspekt der Faszination ist die Tatsache, dass der Atlantisbericht der kosmologischen Grundauffassung der Antike aufffillig widerspricht. So heil3t es in Platons , , P h a i d o n " , dass die Erde etwas gewaltig GroBes seine miisse und dass die Menschen
679 So zurecht David Armitage, Three Concepts of Atlantic Histo{y, in: David Armitage / Michael J. Braddick (Hg.), The British Atlantic World 1500-1800, Basingstoke / New York 2002, S. 11-27, 12. 680 Eine (sehr) alternative Deutung fiiihrt den Begriff nicht auf den mythologischen Atlas, sondem auf den germanischen Namen ,,Athal" (= ,,edel", Athala, Athalaffch, lat. Atalaffcus, indisch Adal) zurfick, der im Rahmen einer Seeund Kontinentalv61kerwanderung (u.a. auch der Doffer) am Ende der Bronzezeit 1300 bis 1100 v.Chr. Einzug in Gffechenland erhalten habe. ,,Atlantis" k6nnte demnach aus dem Germanischen als ,,Land der Edlen" gedeutet werden. Dass der begriffliche Sinn verloren gegangen sei, verhalte sich ~ihnlich der Tatsache, dass die Ureinwohner Ameffkas Indianer genannt wfirden, obwohl man l{ingst well3, dass Ameffka nicht die Ostkfiste Indiens sei (vgl. Alfred Heffng-Affbach, Atlantis ging unter- Europa du auch? Anfang und Endzeit Europas, ein Pld'doyerf#r unser Uberleben, Genf 1973, S. 194f.). Tla~3im Gffechischen bedeutet indes nicht ,,edel", sondem, passend zur Geschichte des Namenstr{igers Atlas, ,,ich leide, ich dulde." Interessanterweise triigt (wohl zuf~illigerweise)die altmexikanische Gottheit Quetzalco(ttl (Quetzalco-fttl) die gleiche Wurzel. In der altmexikanischen Sprache heil3t atl ,,Wasser". ,,Zwischen ,Wasser' und ,Leiden' liegt das ganze Atlantis." (Dimitff S. Mereschkowskij, Das Geheimnis des Westens. Atlantis- Europa, Leipzig / Zfiffch 1929, S. 129). 681Otto H. Muck, Alles iiberAtlantis. Alte Thesen - Neue Forschung, DCisseldorf/Wien 1976, S. 46.
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Kapitel VI ,,vom Phasis bis zu den Siiulen des HeraHes nur in einem kleinen Teil wohnen um das Meet hemm, wie Ameisen oder Fr6sche um einen Sumpf, und dass viele andere anderwiirts an vielen solchen Often wohnen. ''~
Diese Aussage ist nicht vereinbar mit dem damals unhinterfragten Weltbild, wie es sich nach sumerisch-babylonischer 13berlieferung in F o r m eines kreisf6rmigen O k e a n o s u m eine Erdscheibe herum, in einer schalenf6rmigen, kristallenen Himmelsfeste darstellte. 6g3 Sokrates war der erste, der aus reiner Imagination heraus, aber nicht ohne rationales Bemiihen, die E r d e als eine freischwebende Kugel ansah. 684 Aristoteles sollte Sokrates hierin folgen und neue rationale Begriindungen anfiihren, die sich zum groBen Teil als richtig herausgestellt haben. 68s D e r Atlantisbericht entspricht also unserer Gewissheit, dass es jenseits des Ozeans ein Festland mit lebendigen M e n s c h e n gibt. Explizit ist im Dialog i i b e r l i e f e r t - und das ist in der Tat vor d e m H i n t e r g r u n d des damaligen WeltverstS_ndnisses sehr bemerkenswert, auch (oder gerade) w e n n es nur eine u m Rationalitiit bemiihte Imagination gewesen sein sollte - d a s s sich gegeniiber der Insel Atlantis ein riesiges Festland befand. V o n der Insel Atlantis aus, die ,,vor der Miindung, welche ihr in eurer Sprache [also der hellenischen Sprache] die Siiulen des Herakles heil3t [also vor der Miindung der Stral3e von Gibraltar]" lag, und welche ,,gr613er ''686 gewesen sein soll als ,,Asien und Libyen z u s a m m e n " , konnte man damals, so die explizite (~berlieferung, ,,nach den iibrigen Inseln hiniibersetzen [man stelle sich einfach die Bahamas-Inseln vor], und von den Inseln auf das ganze gegeniiberliegende Festland, welches jene recht eigentlich so zu n e n n e n d e Meer [das Atlantische Meet ist gemeint] umschliel3t [was freilich nur z u s a m m e n mit einem Briickenkontinent einen Sinn ergiibe]. ''687 Wird der letzte Halbsatz weggelassen [also der Briickenkontinent] so haben wir h i e r - im 4. J a h r h u n d e r t v. Chr. w o h l g e m e r k t - nicht geringeres als (zumindest) die Imagination eines E u r o p a westlich gegeniiberliegenden riesigen Kontinents, was aus unserer heutigen Warte nichts anderes ist als die Vorstellung Amerikas. 688 A u c h w e n n die konkrete geographische Lokalisierung auf der Basis der platonischen Quellen nicht mit der geographischen Lage A m e rikas in Einklang gebracht werden kann, so ist alleine diese abstrakte K o n g r u e n z mit u n s e r e m heutigen planetarischen Weltbild frappant. N u n war es bisher in der T h e o r i e a n w e n d u n g nicht sehr ergiebig, der wissenschaftlichen U n t e r s u c h u n g des Timaios- u n d des K_ritias-Dialogs eine Authentizitiitsannahme voranzustellen: Es gibt keinerlei sicheren Beweise oder gar klare physische Indizien dafiir, dass es ,,Atlantis" oder gar ,,Ur-Athen", welches ja nach den Dialogen einen , , a t l a n 6 s c h e n " Angriff abwehren 682Platon, Phaidon, 58, in: Ders., Sdmtliche Werke, Band 3, hg. yon Wolfgang Stahl, o.O. 1999, S. 147-212, 203. 683Vgl. Holger Affierbach, Das en~sse& Meer. Die Geschichte des Atlantik, M/inchen 2001, S. 44ff. Dass Atlas nicht die Welt als Himmelsgew61be,sondern als eine Weltkugel tmg, ist demnach eine spiitere Vorstellung. 684Vgl. ebd., S. 46. 68s Dazu geh6rt u.a. die Charakterisiemng der Mondphasen als Schattenbildung der Erde (vgl. ebd.) Vgl. zu den imponierend genauen Erdumfangberechnungen des Aristoteles: Heinrich Prell, Die Vorstellungen de.;Altertums yon der Erdumfangsldnge, Berlin 1959. 686Es ist strittig, ob damit ,,gr613er" im geographischen Sinne oder gr6i3er im Sinne von ,,bedeutender" gemeint gewesen war. Bei einer Authentizitiitsannahme w/irde ersteres bedeuten, dass es einen durch Kontinentaldrift, Meeresspiegelanhebung und Planetoideneinschlag untergegangenen Br/ickenkontinent zwischen Amerika und Europa gegeben haben m/isste, was sehr unwahrscheinlich und geradezu phantastisch anmutet und auch ozeanographisch h6chst umstritten ist (vgl. Otto H. Muck, Alles iiber Atlantis. Alte Thesen - Neue Forschung, D/isseldorf/Wien 1976) oder dass ,,Atlantis" - wie z.B. bei Spanuth oder bei Cousteau - anderswo als im Atlantischen Ozean gesucht werden m/isste (was allerdings wiedemm nach Ansicht vereinzelter Altermmsforscher den Quellen zu stark widersprechen wfirde). Zweites wiedemm machte eine Lokalisiemng einer dann nicht mehr so gigantisch grol3en Insel ,,Atlantis", auch (wortgetreu) inn Atlantischen Ozean, realistischer. 68vPlaton, Phaidon, 58, in: Ders., Sdmtliche Werke, Band 3, hg. von Wolfgang Stahl, o.O. 1999, S. 147-212, 203. 688Vgl. Samuel Eliot Morison, The European Discove~ of America. The Northern V~agesA.D. 500 - 1600, New York 1971, S. 8.
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konnte, bevor Atlantis dann spiiter unterging, gegeben hat. Zwar b e t o n e n nicht nut Amateurforscher immer wieder, dass auch die homerischen E p e n yon der ,,seri6sen" Wissenschaft bis zu den auf diese Wissenschaft sich umwiilzend auswirkenden Ausgrabungen Schliemanns bei Hissarlik und der E n t d e c k u n g Trojas immer wieder als ,,reme E r f m d u n g e n " abgetan wurden, doch macht die Berficksichtigung der gesamten platonischen Philosophie eine Auslegung, die y o n Atlantis als reinen Mythos ausgeht, sehr plausibel. Das mindert jedoch keineswegs die Bedeutung der platonischen ,,Entdeckung Amerikas vor der Entdeckung", im Gegenteil. 689 D u t c h ,,Imagination" (so wfirde man heute sagen), allerdings auf der Basis emer strengen, epistemischen Philosophie im platonisch-idealistischen (systematisch-dialektischen) Sinne (also auf der Basis rationalen Bemfihens) konnte sogar Wirkliches in einem ,,remen Mythos" vorw e g g e n o m m e n werden. Dass dieses Wirkliche am E n d e auch wahrhaftig entdeckt wurde, sollte nicht yon der mythischen Imaginationskraft getrennt werden, denn diese wirkte sich - letztlich fiber J ahrhunderte - motivierend und belebend auf die spiiter immer wieder religi6s beschnittene europiiische Wissenschaft und Entdeckungsforschung, auch und gerade bei K o l u m b u s , aus. In A n l e h n u n g an Kardmal d'Aillys ,,Tractatus de imagine m u n d i " und der Feststellung in der alttestamentarischen Apokryphe Esra, die Erde sei sechsmal gr6Ber als die MeeresflS_che, stellte sich K o l u m b u s gegen die aus der Antike fiberlieferten Planetenberechnungen des Eratosthenes, die etwa zwei Jahrtausende lang als Referenzautoritiit der Geographie und Astronomie dienten. K o l u m b u s ging jedoch davon aus, dass der Seeweg nach Indien u m 25 Prozent kfirzer sei als in der Berechnung des Eratosthenes 69~ was sich zwar als Fehler herausstellte 691, allerdings mit dem grol3en Glfick ffir Kolumbus, dass ein ganzer neuer K o n t i n e n t ,,dazwischenkam". Die Inspiration und Motivation bezog der Admiral dabei aus allerlei alten und neuen W e s t m y t h e n 692, abet eben auch aus der intensiven Beschiiftigung und Auseinandersetzung mit der antiken Mythologie und Wissenschaft. 693 Die Idee, sich einen direkten Seeweg fiber den Westen nach Asien vorzustellen, steht nicht alleine m der Motivationstradition antiker Imaginationskraft. Auch die ritterlichen GroBtaten Alexanders des Grol3en 694 und nicht zuletzt die Reisen Marco Polos vor dem Hintergrund einer reichen antiken lJberlieferung in Bezug auf das Phiinomen ostasiatischen Reichtums 095, mfissen hier genannt werden. D e r ritterliche Idealismus des gesamten Mittelalters war dabei ffir K o l u m b u s ein nicht zu unterschiitzendes Bindeglied zur Neuzeit. 6% Die religi6se Beschneidung der Wissenschaft, die in anderen Kulturkreisen fiblich w a r insbesondere sei hier auf den Niedergang der muslimischen Wissenschaft seit der Abkapselung 689Ob Amerika selbst gemeint war (so vermutet es z.B. Dimitri S. Mereschkowsk_ij,Das Geheimnis des Westens. AtlantisEuropa, Leipzig / Z/irich 1929, S. 118f.) ist nicht nut eine/iberaus k~hne, sondern auch v611igunbeweisbare Behauprang. 69oVgl. Felipe Fern~indez-Armesto,Ideas that change the World, New York 2003, S. 218. 691Vgl. Holger Afflerbach, Das en~sselte Meet. Die Geschichte desAtlantik, M~nchen 2001, S. 167ff. 692Vgl. Loren Baritz, The Idea of the West, in: American Historical Review 66 (1961), Nr. 3, S. 618-640, 628f.; Paul Butel, The Atlantic, New York 1999, S. 46. ,,Wenn er so glaubte, dann kann man wohl sagen: die neue Welt ward aus dem Glauben geboren; aus dem Unglauben des Aristoteles ward abet nichts geboren." (Dimitri S. Mereschkowsldj, Das Geheimnis des Westens. Atlantis- Europa, Leipzig / Z~rich 1929, S. 118). Vgl. femerhin Holger Afflerbach, Das en~sselte Meer. Die Geschichte des Atlantik, M/inchen 2001, S. 116f. und 164ff. (zu den vielen vorhandenen nicht-griechischen Westmythen, unabhiingig yon Kolumbus, vgl. ebd., S. 108-114). 693Vgl. z.B. ebd., S. 165 und Samuel Eliot Morison, The European Discove{7 of America. The Northern VoyagesA.D. 5 0 0 1600, New York 1971, S. 7f; ausfilihrlicherebd., S. 26f. 694Vgl. Felipe Fern~indez-Armesto,Millennium. Die Weltgeschichteunser~sJahrtausends, 5. Aufl., M/inchen 1998, S. 211. 69sVgl. Holger Afflerbach, Das enlfesselteMeet. Die Geschichte desAtlantik, M/inchen 2001, S. 57f. 696Darauf hat insbesondere hingewiesen: Felipe Fern~ndez-Armesto, Millennium. Die WeltgeschichteunseresJahrtausends, 5. Aufl., MCinchen 1998, S. 210ff.
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des islamischen Theologie im Mittelalter nach Ibn Chaldun verwiesen 69v - konnte in E u r o p a me zum Niedergang aller Wissenschaft fiihren, im Gegenteil. So wie das christliche, mittelalterliche E u r o p a nicht ohne das antike D e n k e n zu verstehen ist, ist die europiiische Wissenschaft nicht ohne die griechische Philosophie und deren Motivationskraft fiber das stiindige Fragen, Staunen, D e n k e n und E r d e n k e n des W a h r e n im Mythischen, zu verstehen: ,,Atlantis ist da, und darum k o m m t auch Kolumbus; es k o m m t auch em neuer Aristoteles, Bacon von Verulam, mit einem ,Neuen A t l a n t i s ' - Amerika. ''698 {Jberhaupt also ,,(...) darf der Einfluss, den das Aufblfihen des antiken Gedankengutes im Humanismus seit Anfang des 15. Jahrhunderts auf das beginnende Zeitalter der Entdeckungen nahm, nicht zu gering veranschlagt werden. Denn der Beginn der portugiesischen Entdeckungsfahrten riel, anfangs vielleicht zuf~illig,mit der verstiirkten Rezeption antiker Schriften zusammen."699 Die Ubersetzung der Schriften des Ptolemaios, welche u m 1400 nach Italien gelangten, bildete hierbei ein Schlfisselereignis. Das Werk wurde 1406 von dem Florentiner J acopo Angelo de Scarperia ins Lateinische fibersetzt und sollte sich bis in die Mitre des 16. Jahrhunderts zur ,,zentralen geographischen Autoritiit" entwickeln. 7~176 Eine quellenhistorisch einwandfrei i.iberlieferte Stelle, welche indes die Schubkraft des fabelhaften Imaginiiren in Bezug auf eine vollziehende E n t d e c k u n g in geradezu frappanter Weise symbolisiert, ist die V a ~ a Histona des kaiserzeitlichen Buntschriftstellers Aelian (Stelle III 18) aus dem Jahre 3 5 3 / 3 5 2 v. Chr., in der fiber das Achte Buch der umfangreichen , , P h i l i p p i k a " des schwadronierenden (oder Platon gar parodierenden) Historikers T h e o p o m p v o n Chios berichtet wird: In der Geschichte ist v o n einer w u n d e r s a m e n Begegnung K 6 n i g Midas mit Silen, dem viiterlichen Begleiter des Gottes Dionysos, die Rede. Bei dieser Gelegenheit habe sich Midas von Silen viel erziihlen lassen, darunter auch folgendes: ,,Aul3er den bekannten Erdteilen- Europa, Asien, Libyen (Afrika) - gibt es noch einen unbekannten yon ungeheurer Gr6Be; da dehnen sich unendliche Wiesen, und die Weiden niihren Herden der verschiedenartigsten groBen und starken Tiere.''v~ O b es nun die Parodie des Platon war, die T h e o p o m p als Berichterstatter trieb, oder seine Neigung ,,zihmlich schwiilstige Composita ''7~ zu verfassen - er hatte sich etwas Wirkliches vorgestellt, v~ Unabh~ingig von T h e o p o m p sei noch einmal betont, dass der aufgekliirte ,,Mythos" der griechischen Philosophie, also das bildliche D e n k e n des philosophisch hergeleiteten Wahren, die Motivation der europ~iischen Wissenschaft plastisch machte; besonders dann, wenn der Mythos angebliche religi6se Wahrheiten (womit nicht die Religion als solche gemeint ist) zu konterkarieren in der Lage war. D e r atlantische Mythos ist hierfiir ein herausragendes Beispiel, denn die gr613te Provokation dieses Mythos im Mittelalter war nicht unbedingt die A n n a h m e der Existenz von Atlantis, sondern die Tatsache, dass es 9000 Jahre vor Chrisms eine Hochzi697 Vgl. auch Christopher Dawson, Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einfdhrung in die Geschichte der abendla'ndischen Einheit, 2. Aufl., K61n 1950, S. 157-160. 698Dimitri S. Mereschkowskij, Das Geheimnis des Westens. Atlantis- Europa, Leipzig / Z/_irich1929, S. 41. 699Holger Afflerbach, Das en~sselte Meer. Die Geschichte desAtlantik, Mfinchen 2001, S. 159. v00Vgl. ebd., S. 159f. und S. 338, Fn. 208. v01_Alianus, Varia HisIoria, III 8, zitiert nach ebd., S. 119. v02Und weiter: ,,Es were vihl Nies-Wurtz n6thig / timb so ein Gehim yon der ihm ankliibenten Thorheit zu saubern!" (Arno Holz, Daphnis. Lyrisches Portrait aus dem 1Z Jahrhundert, Konstantinopel / Leipzig 1904, S. 68). 703Vgl. zum Quellentext insgesamt Heinz-Gfinther Nesselrath, Theopomps Meropis und Platon: Nachahmung und Parodie, in: G6t6nger Forum ffir Altermmswissenschaft, 1. Jahrgang 1998, S. 1-8.
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vilisation im ,,Westen" und das ,,Ur-Athen" im ,,Osten" gegeben haben soll. Das Problem bestand darin, dass die Datierung 9000 Jahre vor Christus lange vor der biblischen Zeitangabe der Genesis lag. Es wird sehr verstiindlich, dass aus einer mittelalterlichen Perspektive gerade deswegen, und nur deswegen, das Diktum des Aristoteles, Platon habe Atlantis erfunden, unhinterfragt fiir wahr gehalten wurde. Etwas anderes konnte nicht sein. Letzteres ~indert natiirlich nichts an der Tatsache, dass Aristoteles nach herrschender Mein u n g d e r Wissenschaftler, insbesondere auch der gelernten Historiker 7~ und Philosophen, wohl eine richtige Annahme vertreten hat. Wiire es anders, und davon soll in dieser Arbeit schon aus grundsoliden wissenschaftlichen Griinden heraus nicht ausgegangen werden, so w~ire der Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation" grunds~itzlich problematisch, sobald er auf die heutige Zeit angewendet wiirde. Denn Atlantis w~ire in diesem Fall nicht die mythische Frucht und das Symbol europiiischen und westlichen Denkens, sondem eine historische Wirklichkeit, wie auch die ,,atlantische" Hochzivilisation eine historische Wirklichkeit wiire. Die einzige Briicke, die dann in einem unmittelbar historischen Sinne noch geschlagen werden k6nnte, wiire die auf dieser hypothetischen Basis keinesfalls abwegige Annahme, dass es sich bei der minoischen Kultur auf Kreta und Thera (Santorin) um eine Weiterfiihrung der ,,atlantischen" Zivilisation nach der Deukalischen Flut handeln k6nnte. FreNch wiire es m6glich, h~itte es also eine ,,Atlantische Hochzivilisation" lange vor unserer Zeitrechnung gegeben, dennoch eine Briicke zum westlichen Denken zu konstruieren: Diese hiitte jedoch keinen unmittelbar historisch-genetischen Zusammenhang mit ,,Atlantis", sondern einen mittelbaren, dialogischen. Der Westen w~ire demnach, verkiirzt gesagt, von Anfang an ,,von aul3en" inspiriert, und zwar so stark, dass das ganze westliche Denken unter dem Vorbehalt betrachtet werden miisste, dass es keine originiire K_raft besiil3e, sondern nichts weiteres sei als eine Form der Nachahmung im Modus einer von aul3en induzierten Inspiration. Eine ,,Atlantische Zivilisation" in einem heutigen politischen Sinne k6nnte demnach in erwiinschter historischer Korrektheit nur als eine ,,Neo-Atlantische Zivilisation" gedacht werden und miisste dann auch eigentlich so benannt werden, wenn iiberhaupt. Doch diese Arbeit geht ja gerade nicht von einer vollen Authentizitiitsannahme in Bezug auf die betreffenden platonischen Dialoge aus, sondem von einem platonischen Mythos, der wiederum heute in einem politischen Sinne mythisch ausgelegt werden miisste, wenn die ,,Atlantische Zivilisation" einen Begriff darstellen soll, der politische Bedeutung zu erlangen hat.
1.2 Die Bedeutungf~r den Westen nach Eric Voegelin a) Symbol westlicher Denkimaginationskraft: Das erfundene Bild durch Versenkung in den Mythos der Idee des Guten als Abbild Amerikas Nun gebe es, was die mythischen Auslegungen des Atlantikbegriffs heute auf der Basis der UrAtlantizismus betrifft, drei m6gliche ihrer Art: Zum dnen k6nnte ein grol3m~ichtiges, das westliche Europa, ]~gypten und weite Teile Asiens beherrschende Atlantis, zum zweiten der Kriegsgegner ,,Ur-Athen" jeweils als symbolisches Vorbild des ,,Westens" entwickelt werden, wobei sich ,,Ur-Athen" gerade auf der Basis der folgenden Sentenz gut eignen wiirde: ,,Die V61ker
704 Entscheidend war das Diktum Eduard Meyers (1855-1930) gegen/iber dem ,,Atlantisforscher" Adolf Schulten, wonach Atlantis nur als eine ,,reine Fiktion" angesehenwerden k6nne.
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innerhalb der herakleischen Pfeiler v e r d a n k t e n ihre Freiheit der T a p f e r k e i t Athens. ''7~ Die Alternative z u m Drftten wiire in gewisser Weise differenzierter u n d k o m p l e x e r , d a d u r c h aber auch authentischer: D e r ,,ahistorische G r u n d z u g " des M y t h o s miisste viel ernster g e n o m m e n w e r d e n u n d zugleich als solcher zu einem symbolischen V o r b i l d des ,,Westens" entwickelt werden. Hier soll v o n der dritten Alternative ausgegangen werden: Dass der M y t h o s v o n Atlantis ,,ganz u n d gar eine E r f m d u n g Platons zu sein scheint ''v~ wie Eric Voegelin es z.B. formuliert hat, wiire d e m n a c h das A u n d O jeglicher Symbolisierung heute. U n d die Stimmen, welche , , A t l a n t i s " n u r als politisch-allegorisches M o m e n t jener Zeit interpretieren (mit B e z u g a u f das sizilianische K 6 n i g t u m D i o n y s i o s ' II. 7~ wiiren im U b r i g e n fiir die e n t s p r e c h e n d e H e r l e i t u n g der m y t h i s c h e n B e d e u t u n g genauso belanglos wie die Vorstellung, dass es Atlantis wirklich g e g e b e n habe. A u c h dass der M y t h o s y o n Solon erzS_hlt w o r d e n sein soll, wiire irrelevant, v~ W e n n w i r e s z u s a m m e n f a s s e n wollen, heil3t das, dass die , , E r f m d u n g " selbst, u n d zwar als , , E r f m d u n g " u n d nichts anderes, den , , W e s t e n " am besten zu symbolisieren in der Lage ist. Freilich muss gefragt werden, w o r a u f sich die , , E r f i n d u n g " i i b e r h a u p t bezieht: ,,The m o s t striking thing a b o u t Plato's b o o k is n o t the i n v e n t i o n o f Atlantis b u t the divination o f a n o t h e r continent, o f a n o t h e r world, o f a n o t h e r ocean. ''7~ E i n e r a n d e r e n Welt, wie sie also etwa 1800 Jahre nach P l a t o n d a n n Wirklichkeit w u r d e vl~ - eine Wirklichkeit, welche der V o r s t e h e r des G a s t h a u s e s in der ,,Nova Atlantis" v o n Francis B a c o n ,,Grol3-Atlantis" g e n a n n t hatte u n d die
70s Eric Voegelin, Ordnung und GescMchte. Band VI." Platon, hg. von Dietmar Herz, M/inchen 2002, S. 210. v06 Ebd., S. 216. (vgl. insbesondere auch H. Diller, Der Atlantisbedcht ah platonischer Mylho,~, in: Richard Weyl (Hg.), Atlantis entril'tselt? Wissenschqftler nehmen S tellung Zu J~rgen Spanuths Atlantis-Hypothese, Kiel 1953, S. 7-12, 8f.) Die wenigen enrnstzunehmenden unter diesen, die in strikter Orientierung am Text Atlantis zu verorten suchten, kamen bis heute zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, sowohl in quellenhistorischer, archiiologischer als auch mineralogischer Hinsicht: So datiert z.B. Barbara Pischel den Atlantisuntergang auf die Jahre 9800-8600 v.Chr., Spanuth auf 1200 v. Chr (in der Zeit des quellenmiil3igbezeugten Einbruchs von n6rdlichen V61kern oder ,,Nordseev61kern" in Agypten zu Zeiten Ramses' III, die freilich auch alas der )~gais und K_leinasienals aus der Nordsee stammen k6nnten). So verortete Adolf Schulten Atlantis in Guadalquivir (SCidspanien bei Cadiz/Tartessos), Mortimer Wheeler und Jacques-Yves Cousteau rund um Thera (Santorin), Wilhelm Brandenstein, Angelos Galanopoulos und James W. Mayor auf Kreta, wobei Atlantis - entgegen der quellenmS_13igen Ortsangabe, abet ozeanographisch eher abgesichert - mit einem Zentrum minoischer Kultur bis zum Vulkanausbmch um 1500 v. Chr. gleichgesetzt wurde (wof/ir die quellenm{il3igverb/irgte Stadtkultur in Atlantis spriiche). Otto Muck wiedemm sieht in der Atlantiserziihlung das Bild eines im 12. bis 9. Jahrtausend v. Chr. dutch ein Ansteigen des Meeresspiegel um 200-250 Meter weitgehend untergegangenen BrCickenkontinents zwischen einem yon Ph61xiziem entdeckten Amerika und Europa, dessen Restsockel in den Bahamas und Azoren zu lokalisieren seien (iihnlich Dimitri S. Mereschkowskij, Das Geheimnis des Westens. Atlantis- Europa, Leipzig / Z/irich 1929, S. 120-125). Auch Barbara Pischel sieht Atlantis in den Tiefen des Ozeans versunken, beschriinkt sich bei der Lokalisierung des Restsockels jedoch auf die Azoren. Spanuth indes lokalisierte - in vielen Details seiner Beweisf~hrung wissenschaftlich fragw/irdig, wenn auch in der Gmndidee (eines ,,nordischen Atlantis") nicht immer abgelehnt - Atlantis auf dem Meeresboden um Helgoland (Vgl. Otto H. Muck, Alles iiber Atlantis. Alte Thesen - Neue Forschung, D/isseldorf/Wien 1976, Barbara Pischel, Die Atlantische Lehre. Uberretzung und Intepretation der Platon-Texte aus Timaios und Kdtias, Frankfurt a.M. 1982; J~rgen Spanuth, Atlantk: Heimat, Reich und S&icksal der Germane& T/ibingen 1965). Eine alternative Deutung entwickelt Alfred Hering-Aribach explizit als Hypothese, der die atlantische Kultur mit einer gesamteurop{iischen, einheitlichen Kontinentalkultur identifiziert, die es im Bronzezeitalters gegeben haben k6nnte (Alfred Hering-Aribach, Atlantis ging unter - Europa du au&? Anfang und Endzeit Europa~, ein Pla'doyerJ~r unser Uberleben, Genf 1973, S. 196). Neuerdings gibt es auch eine Irlandtheorie. v07Phyllis Young Forsyth verstand als Philologe z.B. ,,Atlantis" als Allegorie auf das sizilianische K6nigtum Dionysius' II. (vgl. Phyllis Young Forsyth, AtlantiJ, The Making ~Myth, Montreal / London 1980). v0aVgl. Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VI." Hahn, hg. yon Dietmar Herz, M/inchen 2002, S. 216. v09Germ~in Arciniegas, America in Europe. A Histou qfthe New World in Reverse, San Diego / New York / London 1986, S. 12. 710Vgl. ebd., S. 1lff.
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heute gemeinhin als ,,Amerika" bekannt ist. vll ,,Bevor Amerika von den Europ~iern entdeckt wurde, war es schon von ihnen erfunden worden. ''712 Um nun die Hypothese, dass es die Kraft der ,,Erfmdung" sei, die den ,,Westen" symbolisiere, genauer zu erliiutern, soll zuniichst erkl~irt werden, was denn mit dem ,,ahistorischen Grundzug" iiberhaupt gemeint ist. Eric Voegelin gilt hier als der entscheidende Denker, der diesen Grundzug auf systematische Art und Weise brillant herausgearbeitet hat. Entscheidend ist zun~ichst die Mythosdefmition von Voegelin, die in Anlehnung an Platon weit ~ber das rein deskriptive (daher keineswegs falsche, abet eben ,,oberfl~ichliche") Verst~indnis als ,,bildliches Denken" hinausgeht: Die Definitionsbasis ist demnach ein kollektives Unbewusstes, dass bei Platon dutch den Begriff der anamnesis abgedeckt wird. Diese Dimension des Unbewussten lautet, bezogen auf unsere Fragestellung: Woher kommt der ,,Westen"? Was ist sein ,,Ursprung"? Bezogen auf Platon: Woher kommt die ,,ldee"? Was ist Ihr Ursprung? Und was hat sie mit der Realit~it zu tun? Der Mythos bildet wie gew6hnlich die groBe Erzdhlung , welche auf solche Fragen antwortet. Das Besondere an Platon ist nun nach Voegelin, dass die Bilder, aus der sich die Erz~ihlung zusammensetzt, die Anstrengung des Erz~ihlers erfordem, ein ,,Unbewusstes" freizulegen, welches ihn mit einer ,,Wahrheit" verbinde. Diese Anstrengung, die zugleich immer als ein Versuch angesehen wird, der durchaus an der Erfahrung scheitem kann, durchbricht erstens die Schicksalsergebenheit der Menschen gegeniiber urreligi6sen Ritualen m Anbetracht der bis bedingungslos akzeptierten Urmythen theogonischer Priigung und zweitens ist die Erziihlung dutch die Anstrengung, Bilder fi,ir die Erz~ihlung iiber etwas, was ,,wahr" ist, zu (er)finden, immer mehr als nur eine ,,reine Erfmdung", die zum Zwecke der Erlangung bestimmter materieller Giiter oder Durchsetzung materieller Interessen zweckvoll w~ire. Das gilt erst recht bei der Suche nach einer Erz~ihlung iiber die eine Wahrheit und der dazugeh6rigen Generierung empirisch fnktionaler Bilder. Da Platon in der einen Wahrheit die einzig denkbare Idee aller Ideen im Sinne einer ,,Idee des Guten" erkennt, darf in der erziihlerischen Dichtung dieser Idee alles Mimetische in Bezug auf die empirische Realit~it keine Rolle spielen, wie z.B. im Mythos eines lebensweltlich, empirisch fassbaren ,,Volkes", sei es das Volk der Athener oder ein angeblich vorhandenes Volk der Atlantier. Die Bedeutung der Erz~ihlung wird hierdurch automatisch komplexer, der ,,Mythos der Idee" ist demnach ein Mythos, der sich als ,,einfacher Mythos" (z.B. ~ber das Volk der Atlantier) codiert, aber im Emzelnen aufgeschl~sselt geh6rt. Das soll n~iher erl~iutert werden: Das ,,Himmel-Paradigma" in der Politeia (die Welt des Seins ist ,,iiber uns") und der ,,Mythos der Seele", i.e. die Erkenntnis, dass es eine ewige, unsterbliche Seele gibt, m~ssen zun~ichst einmal ,,durch die Zustimmung des Unbewussten authentisiert werden. ''713 Neben der himmlischen ,,Seele" (also dem ,,Mythos der Seele" in der Politeia) gibt es jedoch auch eine kollektiv-lebensweltliche. Damit ist der yon Platon in der Politeia angegriffene homerische, dichterisch mimetische ,,Mythos des Volkes" gemeint. 7H Der Atlantismythos ist jedoch nicht nur eine mimetische Dichtung fiir Platon, i.e. kein ,,Mythos der Atlantier" oder der ,,Ur-Athener", sondern Dichtung der ,,Idee selbst. ''715 Das ,,Unbewusste" am Mythos iibernimmt dabei eine heuristische Funktion f{ir das Idealistische: Die Idee der ,,gerechten Polis", wie sie in der Politeia epistemisch (i.e. nach Platon dialektisch und ,,periagogisch") entwickelt wird, w~ichst im Unbewussten eines Mythos zu einer Art ,,vollen Gestalt" 711Vgl. Francis Bacon, Neu-Atlantis, hg. yon Hans Schulze, Berlin 1959, S. 67. 712Winfried Fluck, Kultur, in: Willi Paul Adams / Peter L6sche (Hg.), La'nderbericht USA, Geschichte- Politik- Geographie - Wirtschaft- Gesellschafi- Kultur, 3. Aufl., Bonn 1998, S. 719-803, 725. 713Eric Voegelin, Ordnungund Geschichte. Band DT."Platon, hg. yon Dietmar Herz, M~inchen2002, S. 216. 714Vgl. ebd., S. 216ff. 715Ebd., S. 219.
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heran. 716 Auch in der Politeia fmdet sich ein iihnliches Bild in der ursprfinglichen, gerechtigkeitsunbedfirftigen ,,gesunden Polls": ,,Die ,Polis der Idee', die wie in einem statischen Bild entfaltet worden war, soil nunmehr in einem Epos als in der Geschichte tiitig vorgeffihrt werden ''717 und eine Realitiitsform bekommen. Der Atlantismythos ist gleichsam das westlich verortete ,,Gedicht der Idee". Was abet bedeutet nun das ,,Unbewusste" bei Platon? Nach platonischem Verst~indnis ist das ,,Unbewusste" ein Medium: Dahinter stand die ,,Vorstellung, dass in der Tiefe des Unbewussten ein kosmischer omphalos der Seele existiert ''718. Durch diesen omphalos str6mten kosmische K_r{ifte in die Seele. Der ,,Mythos" als symbolische Artikulation des ,,Unbewussten" war demnach eine Art ,,CIffnung zum Kosmos in der Tiefe der Seele", eben durch das ,,SichVertiefen" in einen Gegenstand fiber die empirische Wissensaneignung hinaus719: Schliel31ich gibt es ja nach platonischem Verstiindnis das, worfiber sich der Mensch Wissen aneignet bzw. woriiber er sich gewahr wird, schon vor seiner Erfahrung. Das Wissen exakt darfiber wird phantasievoll in einen mythischen Symbolismus geordnet: Ein ,,wirklicher" Mythos konnte demnach ,,niemals ,unwahr' sein, denn hiitte er keine Erfahrungsgrundlagen in den Bewegung e n d e r Seele, die er symbolisiert, giibe es ihn gar nicht. ''72~ Kann em Mythos aus dieser Perspektive an sich nicht ,,unwahr" sein, so kann er es jedoch in Hinsicht auf das, was der Mythos w6rtlich beinhaltet, durchaus werden, wenn sich ein entsprechendes Erfahrungswissen im Laufe der Zeit ansammelt. 721 Der metaphysische Mythosbegriff Platons war also kritischrational eingebettet, ein empirischer Falsifikationsvorbehalt gegenfiber dem w6rtlichen Gehalt war eingebaut, wie schon in der Einleitung in Bezug auf den Mythosbegriff Voegelins und Platons klargestellt wurde. Der ,,Mythos" wurde damit in Weiterffihrung der Ideen Anaximanders', Anaxagoras', Empedokles' und Parmenides' endgfiltig revolutioniert. Er stand nicht mehr als ,,Urgrund des Seres" ffir die einzig m6gliche Sprache des Menschen im Zugang zu seiner Aul3enwelt, die er nur von G6ttern und dem Schicksal vorgegeben fand, sondern war der Zugang zu einem ,,unbewussten Wissen" fiber die Seinsrealitiit von ,,Ideen", welche die M6glichkeit des Menschen sind, die Aul3enrealit~it kritisch zu fiberprfifen und das Schicksal zum Zwecke eines fibergeordneten Guten in die eigene Hand zu nehmen. Dieser Mythosbegriff befreite den Menschen yon seinem Glauben, dem Schicksal nut im Rahmen rimeller und magischer Handlungen beikommen zu k6nnen, ohne dass diese ,,Befreiung" mit dem Verlust des Mythos erkauft wurde, was in platonischer Hinsicht ohnehin einen Widerspruch bedeuten wfirde. Es sei wiederholt, dass nach den Ausffihrungen in der Einleimng dieser Arbeit auch schon herausgearbeitet wurde, dass der Mythos in diesem platonischen Sinne nicht dutch ,,Vemunft" und ,,Wissenschaft" vollstiindig zu ersetzen ist. 722 ,,Wenn die innere Freiheit zum Mythos zu einer Forderung nach Freiheit vom Mythos verkommt, hat dies emstzunehmende Auswirkungen auf die Stabilit~it yon Pers6nlichkeit und Geseilschaft. ''723 So formulierte Voegelin seine Kritik an Comtes Geschichtsphilosophie, die ihr Ziel ,,in der Uberwindung des Mythos dutch ,positive Wissenschaft'" hat. 724 Mythen sind jedoch aus platonischer wie aus Voegelinscher 716Vgl. Eric Voegelin, Ordnungund Geschichte.Band VI."Platon,hg. von Dietmar Herz, M/inchen 2002, S. 217. 717Ebd., S. 219. 718Ebd., S. 223. 719Vgl. ebd. 72oEbd., S. 223. 721Vgl. ebd., S. 224. 722 Vgl. ebd., S. 224f. 723Ebd., S. 226. 724Ebd.
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Sicht mehr als nut ,,Begriffe" oder ,,fiberprfifbare Hypothesen". 725 ,,Infolge dieser Einstellungen werden die Symbole des Mythos aus der Verankerung im Unbewussten gelfst". 726 Der Mythos diirfe jedoch me ,,wfrtlich", sondern solle ,,symbolisch" verstanden werden. 727 Die Verwissenschaftlichung des Mythos birgt dann neben der Tatsache, dass der Mythos als solcher nicht erfasst wird, die Gefahr, dass die Symbole des Mythos zu ,,innerweltlichen illusorischen Gegenstiinden" entarten und dass der ,Mensch' anthropomorphisch wird und somit entweder vereinzelt oder absolut gesetzt wird. 72a Das Symbol in diesem Kontext wird defmiert als ,,nicht-objektive Realit;,it in objektiver Form ''729. In politischer Hinsicht hat das Symbol die ,,Aufgabe der gegenseitigen Vermittlung yon gemeinsamen Werten". 73~ Die Ordnung wird, allgemein gesprochen, auf der Basis der menschlichen Erfahrung der Teilhabe an einem transzendenten, g6ttlichen Grund begrfindet.
b) Das Prinzip der Verbindung von Idee und Wirklichkeit im Sinne der ,,Teilnahme" der Idee an der Wirklichkeit Wie ist nun , , A t l a n t i s " als Mythos der Philosophie konkret zu interpretieren? Atlantis ist zuniichst einmal als das Element des Werdens in der historischen Ordnung (der ananke) zu verstehen, im Kontrast zu Athen als das Element des Seins in dieser (des nous). Das entscheidende nun ist, dass beide in einem dialektischen Verh~iltnis zueinander stehen. Nur so kann das absolute (wahre) Sein (die Idee) wirkm~ichtig bleiben und den irdischen Schein zurfickdriingen: ,,Obwohl Atlantis die Gegenpolis zur athenischen ,Polis der Idee' ist, und als wohlhabend und miichtig, barbarisch und wom6glich unheilvoll charakterisiert wird, ist ihre Ordnung von den G6ttern gewollt und in keiner Weise unehrenhaft. ''731 Somit ist im Timaios und im Kr#ias ,,der Inhalt von Platons Welt fiber die Politeia hinausgewachsen. Z u m Reich der ,Idee' wurde das gleichwertige Reich des Werdens [mit schachbrettartiger, reil3bretthaft-rationaler Topographie] dazugenommen. ''v32 Platon hat also erkannt, ,,(...) dass es mehr als ein Prinzip gibt, auf dem eine politische Ordnung in der Geschichte errichtet werden kann. Die Ordnung der ,Idee' bleibt zwar die hfchste, doch kfnnen Ordnungen yon nicht [viel] geringerer Qualit~it mit ihr in Streit geraten.'733 Das Fazit nach Eric Voegelin lautet, dass die ,,Existenzlust" im ,,selben hfchsten Mage gfttlich list] wie ihre 15berwindung durch den Aufstieg in das intelligible Reich. ''734 Die Dinge sind also zum einen der Idee als Urbild nachgebildet, zum anderen aber ist die Idee weiterhin ,,fiber den Dingen". Metaphorisch deutet alles daraufhin, dass die Idee die Dinge nut an Ihr teilnehmen Eisst. Auch der Verfall von Atlantis kann sich so an der Zunahme sekundiirer ]iul3erlich725 Vgl. Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VI: Platon, hg. yon Dietmar Herz, M/inchen 2002, S. 226. v26Ebd. 727Vgl. ebd. 7z8Vgl. ebd., S. 227. 7z9Ebd., S. 232. 73oStephanie Schick, ,,Ein Freund, ein guter Freund, das ist das S&&ste, was es gibt auf der Welt'{ Anna'herungen an die Bedeutung yon Freundschaft aus kommunitaffstischer Per~ektive, in: Anton Hauler / Werner Kremp / Susanne Popp (Hg.), Die USA als historisch-politische und kulturelle Herausforderung. Vermittlungsversuche, Trier 2003, S. 13-24, 20. 731Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VI: Platon, hg. yon Dietmar Herz, M/inchen 2002, S. 248. 732Ebd., S. 250. 733Ebd.. 734Ebd., S. 255.
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keiten festmachen lassen. D o c h gibt es bei Platon auf Erden eben keine dogmatische Verordnung, den Gegensatz zwischen Ideen bzw. Tugendorientierung und der ,,sekund~iren Welt" roll ausbrechen zu lassen. Mit ,,Atlantis" bekommt auch die ,,sekundiire Welt" bei Platon eine mythische Tiefenebene. Somit ist ,,Atlantis" em Synonym fiir alle sekundiirweltliche Mythen, die in einem dialektischen Zusammenhang zu einer Wahrheitsidee stehen. Die Gemeinsamkeit zwischen dem Prinzip ,,pursuit of happiness" und der Naturrechtslehre ist damit symbolisch vorgezeichnet. Die ,,sekund~ire Welt", also auch die Lust- und Nutzenorientierung, ist unumgehbar. Genauso unumgehbar ist jedoch der regelm~il3ige Verfall des Sekundiiren, der mit dem Vetfall der sozialen und politischen Repriisentation der einen Wahrheitsidee einhergeht. Es ist kern Zufall, dass der Untergang yon Atlantis im Kritias zugleich als die Widerspiegelung des Untergangs von Athen (vergleichbar der Darstellung des Untergangs Persiens im Persai des Aischylos) interpretiert wird. v35 Wie vollzieht sich der Untergang yon ,,Atlantis"? ,,Die Wollust des Gottes kann nicht mehr als einen Anschein yon ,Form' schaffen. Seine Ordnung ist yon Anfang an durch ihren Kompromiss mit der Sterblichkeit beeintriichtigt und wird am Ende in formloses Fliel3en zur/ickfallen ... Der Kfftiasendet damit, dass Zeus eingreift"736 Zeus wollte also am Ende Besonnenheit durch Ziichtigung wiederherstellen. Zwar bricht der Kritias genau an dieser Stelle leider ab (Stelle 121c: Nachdem Zeus alle G6tter zusammenberu-
fen hatte, ,,sprach er ...'), doch nach Voegelins Spekulation entspricht diese Stelle derjenigen i m Timaios 41a-d, wiire also mit der Neugeburt des Menschen auf der Basis des Scheitems der
Gesellschaft im Ganzen zu vervollstiindigen. 737 Diese Chance der Verkniipfung prim~irweltlicher Wahrheit und sekundiirweltlicher Existenzrealit~it k6nnte nun heute im Verh~iltnis ,,Wissenschaft" und ,,Wahrheit" bestehen, vielleicht auch im Verh~iltnis zwischen ,,Kultur" und ,,Technik" (in diesem Kontext zwischen Europa und Amerika) oder im Verhiiltnis zwischen ,,Glaube" und ,,Lust" (auch in diesem Kontext zwischen Amerika und Europa). Diesen Chancen stehen immer die Griinde des atlantischen Untergangsparadigmas entgegen: Sittenverfall ist immer schon der Anfang vom Ende gewesen. D o c h es ist nicht nut der ,,Sittenverfall", der zum Untergang fiihrt: Die Insel Atlantis verf~illt auch deshalb, weil sie auf ihre Realitiit besteht und sie verabsolutiert. Und es wiire sinnvoll, diese Interpretation auf Athen auszuweiten: Athen sttinde demnach im Negativen fiir die Verabsolutierung des prim~irweltlichen Elementes (das Sittliche, das G6ttliche, das Ideelle), was dem Charakter einer ,,politischen Ordnung" widersprechen wiirde, w~ihrend Atlantis die Verabsolutierung des sekundiirweltlichen Elementes, i.e. einen doktriniiren Immanentismus repr~isentierte (das Physische, Materielle, Oberfl{ichliche). Angenommen, Platon hat die beiden Welt- und Gesellschaftsmodelle (das verabsolutierte Urbane und das verabsolutierte Parochiale) absichtlich am Ende symbolisch ,,verworfen": ,,Dies zeugte yon einer beispielgebenden Ethik der Erkenntnis. ''v38 Verbleibt man indes beim ,,Sittenverfall", so beinhaltet er bei Platon jedoch nicht nut ein apokalyptisch-negatives Moment, sondem insgesamt drei Dimensionen: ,,(1) der Abfall yon 735Vgl. Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VI: Platon, hg. von Dietmar Herz, M/inchen 2002, S. 249. 736Ebd. 737Ebd., S. 255f. 738 So Winfried Maid, Logos AtlantikoJ: Verdorbenes Plan~piel oder Spielplan des Verderbens?, in: Dieter Kamper / Ulrich Sonnenmann (Hg.), Atlantis zum Be@iel, Darmstadt 1986, S. 24-53, 49. Maid versteht den Atlantismythos Platons als Theorie eines strategischen Nullsummenspiels (vgl. ebd., S. 47f.).
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der rechten Ordnung im Inneren, (2) das auswiirtige Unheil, das dieser Abfall anrichten k6nnte und (3) die Hoffnung auf Erneuerung. ''739 Genau letzteres k6nnte der Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation" als politische Idee ausdriicken, und zwar vor dem Hintergrund der ,,beispielgebenden Ethik der Erkenntnis", die vorhin angesprochen wurde: Die Erneuerung nimmt also Abschied yon der Verabsolutierung von Gesellschaftsmodellen. Sie mischt das ,,Gute" mit dem ,,Wirklichen", die Idee des Besten und der besten Verfassung auf der kleinen Fl~iche (,,UrAthen") mit der Wirklichkeit eines transgressiven, pluralen, groBfliichigen, biirokratischen, apparathaltigen und technisch hochentwickelten Machtimperiums. Entscheidend bei der ,,Erneuerung" ist schliel31ich auch die Schaffung der Bedingungen ~iul3erer Stiirke durch genau jene ,,Emeuerung": ,,Der Niedergang und die Emeuerung einer Politie im Inneren und der auswS_rtige Aufstieg und Fall historischer M~ichte sind yon derselben Substanz und ihre Bedeutung ist miteinander verzahnt. ''74~
2. Antiplatonische Variante: Die wissenschaftsutopische Umdeutung in der Neuzeit 2.1 Francis Bacons ,,Nova Atlantis"
Wie Platon mit Atlantis den idealen Entwurf in die Vergangenheit projizierte, so orientierte sich Francis Bacon, der in der N e u z e i t - nach langer Zeit der mittelalterlichen AtlantisT a b u i s i e r u n g - den atlantischen Mythos Platons unter ganz gegenteiligen philosophischen Vorzeichen wieder aufgriff, an eine imaginiire Zukunft. Diese Imagination diente Bacon zugleich als eine dem Platonismus ostentativ entgegensetzte Projektion, die ein ,,neues Zeitalter" symbolisieren sollte. Auch wenn der Atlantisbezug Bacons keine inhaltlichen Schnittmengen mit der platonischen Philosophie in einem positiven Sinne beinhaltet 741, so kniipft Bacon doch mit dem Wort direkt an die mit dem Untergang des vorhistorischen Atlantis verkniipfte Hoffnung auf Erneuerung an (es sei nochmals an den Timaios-Dialog erinnert). Beides zusammenzudenken heil3t das ,,Reich des Werdens", die Insel Atlantis bei Platon also, in die Neuzeit zu iiberfiihren, so dass Bacons Atlantis durchaus sehr viel mit Platons Atlantis gemein hat. Beide Ordnungen stehen fiir die Ordnung sekundiirweltlicher Natur. Das ,,Reich des Werdens" kann in gewisser Form nun, nach seinem erdachtem Untergang bei Platon, bei Bacon wieder auferstehen. Der groBe Unterschied liegt nun in der tendenziellen Verabsolutierung dieses ,,Reich des Werdens" bei Bacon, was zuniichst in der Natur der Sache liegt, da sich die sekundiirweltliche Ordnung und der Technizismus, Materialismus und Empirismus von der Scholastik und emem sich auf einen (radikalisierten) Neoplatonismus berufenden Mittelalter emanzipieren muss. Doch auch bei Bacon h a t - trotz all seiner eigentiimlichen antiplatonischen und hellenoskeptischen Emanzipationsarroganz 742 - die Technik und Naturwissenschaft noch keinen G6tzensta-
739Vgl. Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VI." Platon, hg. von Dietmar Herz, M/inchen 2002, S. 250. 740 Ebd. 741 Richard Saage, Utopische Profile. Band I: Renaissance und ReJbrmation, M/,inster 2001, S. 149. 742 Vgl. Francis Bacon, Das neue Organon, hg. v. Manfred Buhr, Berlin 1962, Buch 1, Aph. 71, S. 76f. Die Baconsche Arroganz unterschied ihn in negativer Weise yon denjenigen modernen Wissenschaftlem, welche sich dem Baconschen Experimentialismus auf ganz besonders ausgezeichnete Weise als wfirdig erwiesen: Sowohl Galilei als auch Kepler wiesen sich beide zeitlebens als Verfechter Platons aus (vgl. Ernst Cassirer, Die Antike und die Entdeckung der ex'akten Wissenschaften, in: Ders., Philosophie und ex'akte Wissenschaft, hg. yon Rudolph Berlinger, Frankfurt a.M. 1969, S. 11-38, 16fi und 28-37).
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ms erlangt, wenn auch die geistige Absicherung des neuen Wissens bei ihm auf nicht sehr tiefschfirfendem, weil eben nicht wirklich philosophischem Fundament steht. Die Absicherungen sind eher betulicher, partriarchalisch-konservativer Natur und stehen damit von vornherein, auch als Konservativismen gegen die Uberwucherung des Neuen, auf einem eher passiven, sehr brfichigem Fundament. Das, was Bacon vielleicht nicht ahnen konnte, war, dass sein betulicher Patriarchalismus und die m o d e m e Wissensgesellschaft, die er zugleich entwarf, auf mittelfristige Sicht immer mehr einen Widerspruch bilden mussten, insbesondere weil Bacon die moralisch-konservative Qualitiit der Wissenschaftler fiberschiitzte. Die Geschichte seither hat gezeigt, dass immer da, wo die konservative Philosophie sich zusammen mit den technischen und wissenschaftlichen (und letztlich auch sozialen) Fortschritten dynamisieren konnte und sich dadurch nicht im Fortschritt aufheben liess, sich die M6glichkeit eines lebensf~ihigen und sinnerfiillten, weil nicht auf das Sekund~irweltliche verabsolutierten Neu-Atlantis wirklich ergeben sollte. Worin besteht nun aber der erw~ihnte Patriarchalismus bei Bacon? Das Volk auf NeuAtlantis ist ,,voller Fr6mmigkeit und Menschenliebe", christlich, dennoch mit ,,freier und offener Lebensart ''743 und interessiert sich nicht fiir Gold und Silber. Die monogame und heterosexuelle Ehe indes s t e h t - im Gegensatz zu Platons Politeia - fiber allem und die Kinder wetden als zweites Leben verstanden. 744 Zugleich handelt es sich um ein halb-autarkes System mit ausgepriigter sozialer Hierarchie745: Der Auslandsaufenthalt von Ausl~indern betr~igt maximal sechs Wochen, ein lebenslanges Bleiberecht wird bei Verzicht auf das Riickkehrrecht ins Herkunftsland gewiihrt, es gibt keine Schifffahrtsausfuhr mit Ausnahme von zwei Schiffen alle zw61f Jahre zum Zwecke der Wissenserkundung auf der ganzen Welt und zum Zwecke des Wissenstransfers. 746 Die Rolle der Philosophen bei Platon fibernehmen die Naturwissenschaftler, denn ,,Bacon hielt der gesamten Wissenschaft seiner Zeit vor, dass die bisher nicht in der Lage war, die Erfindungen zu rationalisieren und Effekte systematisch zu erzeugen. ''747 Damit einher ging die Idealisierung der anwendungsorientierten Wissenschaft und des praktischen Wissens, versinnbildlicht durch den ,,Technologietempel" im ,,Hause Salomons ''74g, in dem politische Leitung und wissenschaftliche Grundlagenforschung ffir das allgemeine Ganze konzentriert wurde. Damit hatte Bacon ,,insgesamt die Praxisidee in der neuzeitlichen Wissenschaft und die Informations- und Wissensgesellschaft antizipiert. Im Mittelpunkt steht die Verbesserung von Lebensbedingungen und allgemeiner Wohlfahrt. ''v49
2.2 Die Bedeutungfiir den Westen: Angewandte Forschung zum Zwecke allgemeiner Wohlfahrt und technischer Fortschr#tsop timism us Das amerikanische Wissenschaftsmodell des 20. Jahrhunderts repriisentierte im Verlaufe der Geschichte das Baconsche Ideal am deutlichsten: Die ,,Einsicht in die Notwendigkeit von
743Amo Waschkuhn, PolitischeUtopien,M/inchen/Wien 2003, S. 65. 744Vgl. Francis Bacon, Neu-Atlantis, hg. von Hans Schulze, Berlin 1959, S. 82-85. 745Vgl. ebd., S. 76 (es gebe in Nova Atlantis unteranderemB/irger, ,,die nicht yore niedersten Range" seien) 746Vgl. ebd. 747Amo Waschkuhn, PolitischeUtopien,M/inchen/Wien 2003, S. 64. 748Vgl. Francis Bacon, Neu-Atlantis, hg. von Hans Schulze, Berlin 1959, S. 88. 749Amo Waschkuhn, PolitischeUtopien,M/inchen/Wien 2003, S. 64.
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angewandter wie theoretischer F o r s c h u n g gleichermaBen ''7s~ war dann (neben d e m gewonnenen Krieg 1917/18) der entscheidende Hebel des Aufstiegs des amerikanischen Naturwissenschaftsmodells gegeniiber d e m lange Zeit iiberlegenen deutschen Wissenschaftsmodell, dessen prinzipielle Schwiiche jedoch von Beginn an die einseitige B e t o n u n g der theoretischen Forschung war. 751 D e r amerikanische , , F o r s c h u n g s s t i l " habe sich ,,langfristig" als der schliel31ich , , e r f o l g r e i c h e r e " erwiesen. ,,Fehlte den Amerikanern zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch weitgehend das Interesse an theoretischer Forschung (und nicht zuletzt auch das notwendige theoretisch-mathematische Instmmentarium), so konnten sie doch auf eine starke experimentalphysikalische Basis bauen. Auf dieser Grundlage entfaltete sich die Theorie, sobald finanzielle Ressourcen daf/ir bereitgestellt, instimtionelle und organisatorische Reformen durchgef/ihrt wurden und die Haltung von Staat, C)ffentlichkeit und privaten Organisationen, vor allem philanthropischen Stifmngen, gegen/iber der ,reinen' Wissenschaft sich gewandelt hatte. ''7s2 Insgesamt vertrat Bacon eindeutig einen technischen Fortschrittsoptimismus, den Skeptiker wie z.B. Utopieforscher A r n o W a s c h k u h n als ,,heute fragwfirdig" charakterisieren zu miissen glauben, v53 U n d es ist m d e r Tat richtig, dass dieser Optimismus nur berechtigt wiire, w e n n die Wissenschaftler mit jenem in der ,,Nova Atlantis" vorfmdbaren, h o h e n E h r e n - u n d Sittenkodex den Staat beherrschen wiirden. Wir wissen, dass das nicht so ist. Die Wissenschaftler waren in der gesamten neuzeitlichen Entwicklung zeitlebens i m m e r nur I n s t r u m e n t e des Staates, ob zu einem guten oder zu einem schlechten Zweck. Diese Kritik am O p t i m i s m u s in Bezug auf die Rolle der Wissenschaftler im K o n t e x t der politischen Macht berechtigt jedoch nicht, die technokratische Idee Bacons als ,,fragwiirdig" (i.e. unmoralisch) zu kritisieren. Moralisch fragwiirdige Folgen angewandter Wissenschaften (z.B. der A t o m e n e r g i e oder der Gentechnologie) sind in der Geschichte i m m e r nur dann eingetreten, w e n n gegen die sittlichen Bindeprinzipien v o n ,,Neu-Atlantis" und die durch Bacon eingeflochtene Geheimhaltungsabsicht der Wissenschaftler verstoBen wurde. 754 Wissenschaftliche Arbeit ist insofern in Bensalem ,,nicht Selbstzweck, s o n d e m [..] einer moralischen Verantwortung unterworfen. ''7s5 Allerdings zieht Bacon in d e m M o m e n t einen fragwiirdigen Schluss, in d e m er die Wissenschaft deswegen sakralisiert u n d sie in den Stand der Priesterschaft erhebt. 756 Ein weiteres P r o b l e m des steifen u n d relativ blutleeren O p t i m i s m u s in der ,,Nova Atlantis" besteht nicht im technisch-wissenschaftlichen Charakter der G e m e i n w o h l o r g a n i s a t i o n u n d der damit z u s a m m e n h i i n g e n d e n Technokratie, sondern im gleichzeitigen Fehlen des Politischen. 75v Das Politische bleibt in der ,,Nova Atlantis" ausgespart u n d verliert damit an o r d n e n d e r Kraft. Diese V e r b m d u n g hatte Bacon, der zu sehr an die ,,Emanzipationskraft der Wissenschaft" 7s0 Gabriele Metzler, Begegnungen mit einer anderen Moderne. Deutsche Physiker und die USA yon derJahrhundertwende bis 1933, in: Michael Wala / Ursula Lehmkuhl (Hg.), Technologie und Kultur. Europas Blick auf Amerfka w,m 18. b~r zum 20. Jahrhundert, K61n / Weimar / Wien 2000, S. 97-120, 119. 751Vgl. ebd., S. 97-120. 7s2 Ebd., S. 119; vgl. ferner Margarita Mathiopoulos, Amerika: Das E~\2oeriment des Fortschritt~. Ein Vergleich des politischen Denkens in Amerika und Europa, Paderbom/M/inchen u.a. 1987, S. 180-183. 753Amo Waschkuhn, Politische Utopien, M/inchen/Wien 2003, S. 69. 754Die Gegenargumentation wird z.B. angedeutet in Marie Louise Bemeri, Reise durch Utopia, Berlin 1982, S. 129f. Vgl. als Quelle: Francis Bacon, Neu-Atlanlis, hg. von Hans Schulze, Berlin 1959, S. 100f. 755Christoph Wulf, Atlantis." Traum und Schicksal der Neuzeil , in: Dieter Kamper / Ulrich Sonnenmann (Hg.), Atlantis zum Beispiel, Darmstadt 1986, S. 140-150, 142 und 146. 7s6Vgl. Francis Bacon, Neu-Atlantis, hg. von Hans Schulze, Berlin 1959, S. 101. 757Vgl. Christoph Wulf, Atlantis: Traum und Schicksal der Neuzeit , in: Dieter Kamper / Ulrich Sonnenmann (Hg.), Atlantis zum BeiJpiel, Darmstadt 1986, S. 143.
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glaubte 758, nicht herstellen wollen. Eine , , W o h l s t a n d s z i v i l i s a t i o n ''759 o d e r - in einem veriinderten ideologischen K o n t e x t - ,,Marktzvilisation ''76~ alleine, w i e es letztlich bei Bacon vorgezeichnet ist, ist nicht in einem zweckdienlichen Sinne politisierbar. Freilich ist der Wohlstand ein entscheidender Bestandteil der westlichen Zivilisation bzw. einer potentiellen ,,Atlantischen Zivilisation" und die Neutralisierungen der technischen Gesellschaften sind aus liberaler Sichtweise auch als wichtige Errungenschaften anzusehen; nur lebt der Wohlstand von politischen und kulturellen Voraussetzungen, die im Falle einer Verabsolutierung der ,,westlichen Zivilisation" als ,,Wohlstandszivilisation", z.B. im Inglehartschen Sinne einer ,,postmaterialistischen Weltanschauung ''v61, nicht mehr gegeben wiiren: D e r , , W o h l s t a n d " wiire vermittels der fortwiihrenden Realit~it ,,von auBen" hineingetragener I
3. Die fiktionale Variante: Nordischer Atlantismythos und okkultistische Pervertierung im 20. Jahrhundert 762 Bei rechten Bewegungen in Deutschland seit Anfang des friihen 20. J ahrhunderts kam es verm e h r t zu einer ideologischen ,,Idolatrie des N o r d e n s ''76s, die mit der Gleichsetzung von Thule und Atlantis auf der Basis der seit dem Friihhellenismus einsetzenden volks- und geschichtsmythischen Uberlieferung Atlantis' als Heimat der sogenannten H y p e r b o r e e r - der B e w o h n e r ,,jenseits des N o r d p o l s " - einherging. Die erste Verbindung von Atlantis mit nordischen Gefflden geht auf den Schweden O l o f Rudbeck den )klteren (1630-1702) zuriick (Botaniker aus Uppsala), der Schweden mit Atlantis identifizierte. Eine weitere friihe K o p p l u n g mit dem N o r d e n (hier jeweils N o r w e g e n und Gr6nland) liegen bei Jean Bailly (,,Lettres sur l'Atlantide" 1799, Bailly wurde 1793 guillotiniert) und beim Oeologen E d u a r d SiiB (,,Das Antlitz der E r d e " 1888) vor. 764 Die erste ,,Verquickung der Atlantis-Erziihlung mit einem spirituell verbriimten Rassismus" findet sich schlieBlich bei der Begriinderin der T h e o s o p h i e Helena Blavatsky (,,Die G e h e i m l e h r e " 1888) in Anlehnung an Bulwer Lyttons ,,harmlosen, utopischen Phantasieroman
758Vgl. Christoph Wulf, Atlantis: Traum und Schicksal der Neuzeit, in: Dieter Kamper / Ulrich Sonnenmann (Hg.), Atlantis zum Bes Darmstadt 1986, S. 144. 759Vgl. Paul Butel, The Atlantic, New York 1999, S. 298. 760Vgl. Stephen Gill, Globalization, Market Civilization and Disdplinary Neo-Iaberalism, in: Millenium 24,3 (1995), S. 399423. 761,,Die Weltanschauung, die die westliche Gesellschaft seit der industriellen Revolution beherrscht hat, wird nach und nach dutch eine neue ersetzt." (Ronald Inglehart, Modernisierung und PostmodernMerung. Kultureller, Mrtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1998, S. 51) - allerdings gibt Inglehart zu, dass die ,,postmodemen Werte" von einer Voraussetzung abhiingen: ,,der sicheren Existenz" (ebd.). Die abet genau wird aller Voraussicht nach in Zukunft immer st~irker- z.B. durch den djihadistischen Terrorismus - herausgefordert werden. 762Vgl. als Quellen z.B. Edmund I~13, Welt-Eis-Lehre, Leipzig 1931; Ders., Die letzte Ka'nigin yon Atlan/is, Leipzig 1931; Ders., Die SingschwYne yon Thule, 2. Aufl., Leipzig 1939; Sekundiirliteratur:Robert Bowen, Universal Ice: Sdence and Ideology in the N a ~ State, London 1993; Brigitte Nagel, Die Welteislehre: Ihre Geschichte und ihre Bedeutung im ,,Dr#ten Reich" in: Christoph Meinel / Peter Voswinckel (Hg.): Median, NaturMssens&qfi, Te&nik und Nationalso~alismus. Kontinuita'ten und DiskontinuitYten, Stuttgart 1994, S. 166-172. 763Karl Heinz Bohrer, Der Mythos vom Norden. Studien z.ur romantischen Geschicht~prophetie,K61n 1961, S. 2. 764 Vgl. Franz Wegener, Das atlantidische Weltbild. Nationalso~alismus und Neue Rechte auf der Suche nach der versunkenen Arian/is, Gladbeck 2001, S. 17.
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,The coming race"'. 765 Ihr folgten William Scott-Elliot, Alfred Partzsch (,,Abriss einer vorgeschichtlichen V61kerkunde" 1904), Peryt Shou (Pseudonym fiir Albert Schulz, ,,Die Esoterik der Atlantier in ihrer Beziehung zur ~igyptischen, babylonischen und j/.idischen Geheimlehre" 1913) und Eginhard (Pseudonym f/.ir Max Duphorn, ,,Atlantis. Eine untergegangene Welt" 1922). Auch in der , , A n t h r o p o s o p h i e " kam es zu iihnlichen Entwicklungen (Rudolf Steiners ,,Chronik des Akasha", Guido yon Lists Vorstellung einer durch das Christentum entmachteten arischen Priesterschaft, der sog. ,,Armanenschaft" et.al.). Dass der N o r d p o l kein so gliickliches, sch6nes Land gewesen sein kann, wie es sich der jahrtausendalte nordische Utopismus lange Zeit ausmalte, sollte erst aufgrund der Entdeckung des Nordpols durch Peary 1909 endgfiltig festgestellt werden. D e n n o c h hielt das rechtsokkultistische Lager an der Vorstellung fest, im N o r d e n hochkulturelle Lebensformen m der Tradition der , , H y p e r b o r e e r " zu entdecken. Das Lager orientierte sich dabei an die h6chst esoterische, damals dennoch einflussreiche Lehre in Hanns H6rbigers , , G l a z i a l - K o s m o g o n i e " (1913) und der darin enthaltenen Theorie der ,,Welteislehre" (die entsprechende esoterische Spekulation ging von Planeten-Erde-Kollisionen auf der Basis von Umlaufbahnschrumpfungen mit regelmiiBigen zusammenstoBinduzierten Katastrophenzeiten aus, bis auch die Erde in der Sonne verglfihen w/.irde). In einem erweiterten Kontext ist auch die Tibet-Expedition der nationalsozialistischen SS unter Beteiligung des Rechtsokkultisten Frenzolf Schmid (,,Urtexte der ersten g6ttlichen O f f e n b a r u n g - Attalantinische Ur-Bibel" 1931) hier anzusiedeln. Es entwickelten sich ~iuBerst obskure Atlantislehren mit klarem rassentheoretischen Bezug 766, die trotz (oder gerade wegen) ihres esoterischen Extremismus nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland einen nicht zu untersch~itzenden politisch-kulturellen Einfluss auf die damaligen Funktionseliten ausfibten. So lehnte sich das okkulte Weltbild des jungen Adolf Hitler in starkem MaBe an J6rg Lanz von Liebenfels h6chst suspekte These v o n d e r Kreuzung der arischen G6ttermenschen mit Tieren an, die Liebenfels als Grundlage der Entstehung menschlicher Rassen und der niederrassisgen ,,Tschandalenv61ker" (benannt nach einer altindischen Bezeichnung fiir Mischlinge) deutete, (,,Theozoologie oder die K u n d e von den Sodoms)~fflmgen und dem G6tter-Elektron'~). 767 AuBerdem sei auf die Atlantisvorstellung des nationalsozialistischen Chefideologen Alfred Rosenberg hingewiesen, die sich mit der Idee von ,,Atlantis" als ,,nordischem Mittelpunkt der Sch6pfung" klar in der Tradition des rechtsokkuli-
765 Vgl. Franz Wegener, Das atlantidische Weltbild. Nationalso~alismus und Neue Rechte auf der Suche nach der versunkenen Atlantis, Gladbeck 2001, S. 18f. Vgl. zur Verb~ipfung yon indo-europ{iischer Geschichte und ,,arischem Mythos" Harry Elmer Barnes / Henry David, The Hislo{y of Western Civilization. Volume One, New York 1935, S. 163ff. Vgl. zum wissenschaftlichen Untergmnd des sp~iter ideologisch in ganz Europa eingespannten phantastischen Mythos, also zur Affinitiit euro-asiatischer Sprachen und dem Sanskrit des antiken Indiens: Franz Bopp, VergMchende Grammatik des Sanskrit, Zend, G,iechischen, Lateinischen, Latauirchen, Gotischen und Deutschen, 6 Bde., Berlin 1833-52. Vgl. zur wissenschaftlichen Diskussion im 19. Jahrhundert: Theodor P6sche, Die Ader: Ein Beitrag zur histo,ischen Anthropologie, Jena 1878. Vgl. zur Ideologisiemng:Joseph Artur Graf von Gobineau, Essai sur L'Inggalitg des Races Humaines, Paris 1853-1855; Robert Knox, The Races of Men, London 1850; Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderls, 2 Teile, Mfinchen 1899. Vgl. zur wissenschaftlichen Entzaubemng des Begriffs der ,,arischen Rasse" im ansonsten jedoch ebenso rassentheoretisch beeinflussten Buch yon William Z. Ripley, The Races o[Europe. A SociologicalStudy, New York 1899. v66 Hermann Wirths ,,Der Aufgang der Menschheit" 1928, Rudolf John Gorslebens ,,Hoch-Zeit der Menschheit" 1930, Siegfried Kadner ,,Die arktisch-atlantische Urheimat" 1931, Herbert Reichsteins ,,Gel6ste R~itsel ~iltester Geschichte - v o n Atlantis, Edda und Bibel" 1934, Karl Georg Zschaetzschs ,,Atlantis. Die Urheimat der Arier" 1934, Albert Hermanns ,,Unsere Ahnen und Atlantis" 1934, Otto Hausers ,,Atlantis - Der Untergang einer Welt" 1936, Heinrich Pudors ,,V61ker aus Gottes Athem. Atlantis-Helgoland, das arisch-germanische Rassenhochzucht- und Kolonisationsmutterland" 1936. 76~Vgl. Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Leh~ahre einesDiktators, 8. Aufl., M/mchen/Z/~rich 1998, S. 295.
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tistischen Strangs des ,,atlantidischen M y t h o s " bewegte. 76g Die rassistische Pervertierung des nordischen Atlantismythos basierte auf der Amalgamierung diverser Rassentheorien mit einem w t r t l i c h e n Verstiindnis der platonischen Uberlieferung y o n der gtttlichen A b s t a m m u n g der Atlantier u n d der platonischen Begriindung des Untergangs y o n Atlantis mit der V e r m i s c h u n g der Atlantier mit Sterblichen, die als ,,Rassenvermischung" uminterpretiert wurde. 769 D e r Einfluss dieser L e h r e n im Zeitraum etwa zwischen 1900 u n d 1940 muss im {)brigen nicht so zu verstehen sein, dass der propagierte Okkultismus innerlich geteilt wurde. Massenfaszinierende, schillernde ,,Entfesselungsmythen" okkultistischen Charakters k o n n t e n abet zumindest die F u n k t i o n der mtellektuellen Interpenetration einer unterwiesenen Masse y o n M e n s c h e n z u m Zwecke der D u r c h s e t z u n g emes reinen Machtmaterialismus erfiillen, so wie ihn einmal Julius Evola auf jenen kaltbliitigen, misanthropischen N e n n e r gebracht hat: ,,Der Herrscher muss Herr der (...) Mythen bleiben, er darf nicht, an sie glaubend, selbst den Illusionen unterliegen und ein Besessener werden.[..]; er darf ihnen keinerlei absoluten Weft beimessen, er muss sie kaltbl/itig als Mittel benutzen, als faszinierende Instmmente, mit denen er - bei genauer Kenntnis der Massenpsychologie - die beabsichtigten Einfl/isse aus/iben kann (...). Die Idee hat Weft, so lange und so weir sie wirkt: nicht weil sie ,gut', ,richtig', ,wahr' usw. ist; das alles ist nut Dunst gegen/_iberihrer RealitS_tals Ideen-Kraft. Die ,suggesfiven Potentiale' mit denen die verschiedenen Ideen geladen sind, zu/iberpr/ifen, abzuw~igen, zusammenzustellen, zu gebrauchen, zu entladen oder zu unterbinden, das ist die hthere, unsichtbare und gef'ahrliche Kunst der Herrschaft, die, mit Bewusstsien ge/ibt, man ansprechen kann als ,nit der ,MaNe' im htheren Sinne kommunizierend. "77~ Die hier z u m Ausdruck k o m m e n d e Mythentheorie (~ihnlich der von G e o r g e Sorel) versteht den Mythos nur in einem machtinstrumentellen Sinne u n d reduziert ihn auf eine reine K_raftquelle im U m g a n g mit der ,,Massengesellschaft". Es sei n o c h einmaI auf die m d e r E m l e i t u n g vorgestellten Theorie Eric Voegelms v o m ,,wahnsinnig" g e w o r d e n e n philosophischen Spieler erinnert, i.e. des Spielers, der einer ,,Wahnidee" verfallen ist: W e n n der philosophische Spieler d e m n a c h ,,das Gefiihl verliert, dass, w e n n er mit d e m Mythos spielt, gef~ihrliche KrMte durch ihn wirken (...) wird er dabei nicht nur seine Miihe verschwenden, s o n d e m w o m 6 g l i c h seine Seele verlieren. ''7vl Das N e u e an Sorel und Evola war nun, dass sie nicht nur das Gefiihl verloten, dass mit ihrem Mythenbegriff geffihrliche Kxiifte durch sie wirkten, s o n d e m dass sie es kaltbliitig darauf a n k o m m e n liel3en. D e r Mythosbegriff, welcher der ,,Atlantischen Zivilisation" im Sinne emer politischen Idee nach Voegelin entspricht, hat also mit okkultistischen u n d materialistischen Ansiitzen nichts gemein.
4. Die Variante des differenzierten Neoplatonismus: Dynamisierung atlantischer Phantasie dutch revolution~ire All- und Raumrealisierung im 15. Jahrhundert I m 15. J a h r h u n d e r t vollzog sich n u n die Dynamisierung der atlantischen Phantasie durch eine faktische Raumrevolution. Sie bestand zun~ichst aus zwei miteinander z u s a m m e n h i i n g e n d e n P a r a m e t e m . D e r Z u s a m m e n h a n g besteht in der logischen Abh{ingigkeit des emen v o m anderen Parameter772: Z u m einen relevant ist die E n t d e c k u n g Amerikas u n d ,,erstmalige E r f o r s c h u n g 768Vgl. Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigenGestaltungskiimpfe unserer Zeit, 12. Aufl., M/inchen 1943, S. 25. 769 Vgl. Franz Wegener, Das atlantidische Weltbild. Nationalso~alismus und Neue Re&re auf der Suche nach der versunkenen Atlantis, Gladbeck 2001, S. 68. 770Julius Evola, Heidnischer Imperialismu.~, Leipzig 1933. 771Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VI: Platon, hg. yon Dietmar Herz, M/inchen 2002, S. 232. 772Vgl. Germ~in Arciniegas, America in Europe. A Histo~ of the New World in Reverse, San Diego / New York / London 1986, S. 6.
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und I n b e s i t z n a h m e der ErdoberflS_che dutch die europiiische Menschheit ''773, i.e. eine planetaffsche Raumrevolution und zum zweiten die ,,Erfindung des Teleskops" u n d die ,,Entwicklung einer neuen Wissenschaft, welche die N a t u r der Erde v o m Gesichtspunkt des sie u m g e b e n d e n Universums aus betrachtet ''774 resp. eine Allraumrevolution.
4.1 Die Entdeckung des Kolumbus alsplanetatgsche Raumrevolution
Christopherus K o l u m b u s , ein hispanisierter G e n u e s e aus mittelstiindischen Verhiiltnissen, sollte erst auf seiner dritten Entdeckungsreise im Jahre 1498, die ins kontinentale Herzland Amerikas fiihrte 7v5, allmiihlich begreifen (wenn auch bis zu seinem T o d e me vollst~,indigV76), dass er etwas ganz Neues entdeckt hatte 777- also n o c h kurz vor d e m Florentiner Amerigo Vespucci 778, nach d e m jedoch bekannterweise - auf A n r e g u n g des K a r t o g r a p h e n Martin Waldseemiiller (1507) 779 - die N e u e Welt schlussendlich b e n a n n t wurde. 780 Zwar bezog Waldseemi_iller die Bezeichnung ,,Amerika" nur auf das fiir eine Insel gehaltene Siidamerika und liel3 die Bezeichnung ,,Amerika" sogar wieder fallen 781, abet der wohlklingende N a m e hatte sich da schon durchgesetzt. Im Jahre 1538 i i b e m a h m G e r hard Mercator fiir den gesamten Kontinent, der im Jahre 1520 - n a c h der Expedition yon Magellan - zum ersten Mal im G l o b u s y o n Johannes Sch6ner als eigenstiindiger Erdteil angesehen wurde, was sich schlieBlich in der Cosmographia universalis des Sebastian Miinster 1541 als spekulative Ansicht endgiilfg verfestigte.
a) E n t s t e h u n g s b e d i n g u n g e n Fiir den Begriff der planetarischen Raumrevolution ist es nun entscheidend, dass die Entdeckung des K o l u m b u s mit der potamisch strukturierten (d.h. an Flussliiufen entstehenden) Verstiidterung E u ro p a s seit dem 11. J a h r h u n d e r t und d e m a u f k o m m e n d e n kommerziellen
773 Hannah Arendt, Vita Acliva oder vom ti#igen Leben, Stuttgart 1960, S. 244. Eine kurze, eindrucksvolle Beschreibung der Auswirkung dieser Revolution auf das Denken der Menschen gibt mit Bezug auf Vespucci Germ(m Arciniegas, America in Europe. A Histo{7 of the New World in Reverse, San Diego / New York / London 1986, S. 5. 774Hannah Arendt, l/itaActiva oder vom tYtigen Leben, Stuttgart 1960, S. 244. Vgl. generell (mit hegelianischen Ansiitzen) Alexander Koyr~, Von dergeschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt a.M. 1992. 775Vgl. zu den Fahrten des Kolumbus Felipe Fem~mdez-Armesto(Hg.), Atlas of World Exploration, London 1991, S. 4451 und Charles Verlinden, Les Origines de la Civilisation Atlantique. De la Renaissance ~ l'Age des LumiFres, Neuch~ttel / Paris 1966, S. 30-34. 7760brigens genauso wie Amerigo Vespucci (vgl. Adalbert Klempt, Die SYkularisierung der universalhistoris&en Auffassung im 16. und 1Z Jahrhundert, G6ttingen / Berlin / Frankfurt a.M. 1960, S. 109; Samuel Eliot Morison, The European Discove~7 of Ametica. The Southern VoyagesA.D. 1492- 1616, New York 1974, S. 297). Vgl. zu Kolumbus Holger Afflerbach, Das en~sselte Meer. Die Ges&ichte des Atlantik, M/inchen 2001, S. 174-177. 777 Vgl. Samuel Eliot Morison, The European Discove{7 of Ametgca. The Southern Voyages A.D. 1492 - 1616, New York 1974, S. 155 und 266. 778Vgl. ebd., S. 288. 779 Vgl. Martin Waldseem/iller, Cosmographie Introduclio, hg. yon Franz von Wieser, Stragburg 1907, Kapitel IX (vgl. ferner Samuel Eliot Morison, The European Discove{7 of America. The Southern VoyagesA.D. 1492 - 1616, New York 1974, S. 289-294). 780Vgl. Holger Afflerbach, Das en~esselteMeer. Die Geschichte des Allanlik, M/inchen 2001, S. 178ff. und 182 und Adalbert Y-dempt, Die SYkularisierung der universalhistorischen Auflassung im 16. und 1Z Jahrhundert, G6ttingen / Berlin / Frankfurt a.M. 1960, S. 109. Dass Kolumbus eine ,,Neue Welt" entdeckt haben muss, behauptete als Erster der italo-spanische Historiker Petrus Martyr schon 1493. 781Vgl.Joachim G. Leithiiuser, Mappae Mundi. Diegeistige Eroberung der Welt, Berlin 1958, S. 220.
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Kapitel VI
I n t e r e s s e n g e g e n A d e l u n d G e i s t l i c h k e i t einherging: D i e v o r h e r g e h e n d e n E n t d e c k u n g e n A m e rikas, wie sie - iiberliefert v o n d e n W i k i n g e m u n t e r L e i f E r i k s s o n i m J a h r e 1001 - erfolgte 782 o d e r wie sie vielleicht - a u f sehr v a g e m F u n d a m e n t v e r m u t e t - v o n p h 6 n i z i s c h e n S e e f a h r e r n in der A n t i k e erfolgt sein sol1783, h a t t e n o c h keinerlei r e l e v a n t e n A u s w i r k u n g e n a u f die W e l t g e schichte g e h a b t 784. Mit d e n W o r t e n Carl S c h m i t t s , hatte die , , p r ~ i k o l u m b i s c h e " E n t d e c k u n g A m e r i k a s v o n G r f n l a n d h e r ,,weder eine p l a n e t a r i s c h e R a u m r e v o l u t i o n bewirkt, n o c h stand[en] sie i m V e r l a u f einer solchen. ''785 D a s s es zur R a u m r e v o l u t i o n k a m , steht also i m u n m i t t e l b a r e n Z u s a m m e n h a n g m i t der T a t s a c h e , dass der K a u f m a n n z u m n e u e n A d e l i g e n , der biirgerliche G e l e h r t e z u m n e u e n Priester w u r d e . 786 ,,Die w e s t e u r o p i i i s c h e Marinitiit w a r [eine] stiidtische E r s c h e i n u n g . ''787 D i e i m L a u f e der t e c h n i s c h e n , w i r t s c h a f t l i c h e n u n d geistigen E n t w i c k l u n g i m m e r w e i t e r ,,auf e n g e n R a u m e sich d r i i n g e n d e n u n d b e h i n d e r n d e n W e s t v 6 1 k e r Europas"788 w a r e n g e r a d e zu priidestiniert fiir die atlantische M e e r e s i i b e r b r i i c k u n g a u f g r u n d der r a s a n t e n B e v f l k e r u n g s 782 Vgl. Helge Ingstad, Die erste Entdeckung Amerikas, Berlin 1966; Rudolf. P6rtner, Die Wikinger-Saga, 2. Aufl., Dfisseldoff' 1971; EHks Saga rauda, zitiert nach: Urs Bitterli (Hg.), Die Entdeckung und Eroberung der Welt. Dokumente und BeHchte - Erster Band." AmeHka, Afrika, Mfinchen 1980, S. 33f.; vgl. f,erner Samuel Eliot Morison, The European Discovery of America. The Norlhern Voyages A.D. 5 0 0 - 1600, New York 1971, S. 41-50; Jacques Godechot, Histoire de l'Atlantique, Bordas 1947, S. 30-34 (zu unbewiesenen Atlantik/iberf,ahrten ebd., S. 34f,.); vgl. f,emer Paul Butel, The Atlantic; New York 1999, S. 23-31; Felipe Fem/mdez-Armesto (Hg.), Atlas of World ExJ)loralion, London 1991, S. 75; Kurt yon Boeckrnann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924, S. 308f'.; Jared Diamond, Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 460-463. 783Vgl. zu den Entdeckungsf'ahrten der Ph6nizier und Karthager Paul Butel, The Atlantic, New York 1999, S. 9-14, und Holger Afflerbach, Das enlfesselte Meer. Die Geschichte desAtlantik, Mfinchen 2001, S. 37ff.: Sicher ist die Entdeckqang der Kanaren und Madeiras dutch die Ph6nizier. Die Authentizit{it fiberlief,erter Quellen, welche die Entdeckqang Britanniens durch den Ph6nizier Himilkon nach einer Umsegelung an der iberischen Kfiste entlang bzw. dutch den Griechen Pytheas 330 v. Chr. (fiberlief,ert dutch Plinius), wahrscheinlich zun{ichst auf' dem Landweg, dann auf dem Seeweg bis zur Insel ,,Thule" (deren Lokalisierung bis heute umstritten ist), bezeugen, ist unsicher (vgl. auch Samuel Eliot Morison, The European Discove{7 ~America. The Norlhern VoyagesA.D. 500 - 1600, New York 1971, S. 5f.). Das heist indes nicht, dass ph6nizisch-britische, abet auch griechisch-britische Handelswege nicht aus jener Zeit sicher fiberlief,ert sind: allerdings nut auf' dem Landweg dutch Gallien, um die damalige Seesperre der Karthager herum. Vgl. zur Denkbarkeit, zugleich abet Unwahrscheinlichkeit einer frCihirischen Landung auf' Amerika: Samuel Eliot Morison, The European Discovery of America. The Northern Voyages A.D. 500 - 1600, New York 1971, S. 26f,f,. und - mit Bezug auf, das wohl nicht-authentische "Irish Stone Village" bzw. "Mystery Village" in New Hampshire - S. 30f. (vgl. f'ernerhin Holger Af'flerbach, Das en~sselte Meet. Die Geschichte des Atlantik, Mfinchen 2001, S. 109f,. und Paul Butel, The Atlantic, New York 1999, S. 22); vgl. zu weiteren, nach heutigem Kenntnisstand nicht-authentischen ,,Entdeckungssagen" von angeblichen Amerikaentdeckungen in pr{ikolumbianischer Zeit Samuel Eliot Morison, The European Discovery of America. The Northern VoyagesA.D. 5 0 0 - 1600, New York 1971, S. 81-94 und 105-109: Widerlegt werden die Entdeckungserz~ihlungen fiber den walisischen Prinz Madoc 1170, fiber die venezianischen Zeno-BrCider und ,,Prinz Zichmni" (zuniichst identifiziert als Henry Sinclair, Earl of Orkney und Caithness, wahrscheinlich abet ein baltischer Pirat namens Wichmann) sowie fiber den Portugiesen Joao Vaz Corte Real, den Piraten Pining und Pothorst und dem polnischen ,,Entdecker" Jan of Kolno (bzw. Johannes Scovus Polonus). 784 Vgl. German Arciniegas, America in Europe. A History of the New World in Rever;e, San Diego / New York / London 1986, S. 6; Kurt von Boeckmann, I/om Kulturwich des Meeres, Berlin 1924, S. 362-366. Zum potamischen Charakter verweist Boeckmann zurecht auf' Paris und London: Beide St~idte (wie auch Berlin) sind ,,weder ausgesprochene Landst~idte, noch vollwertige Seest~idte" (S. 366). Zu den Atlantikf,ahrten im Mittelalter vgl. Felipe Fern~ndez-Armesto, Before Columbus. E~\Joloration and Colonization from the Mediterranean to the Atlantic, 1229-1492, Philadelphia 1987; Ders. (Hg.), Atlas ~ World E~,;~loration, London 1991, S. 42f,.; Pierre Chaunu, L'E~\5Oansion Europdenne. Du XIIIe au X V e siacle, Paris 1969; Christophe Picard, L~cc;an Atlantique musulman. De la conq& arabe ~ l'epoque almohade, Paris 1997; Charles Verlinden, Les Origines de la Civilisation Atlantique. De la Renaissance d l'Age des Lumiares, Neuch~tel / Paris 1966, S. 9-13 und 26-30; zum 15. Jahrhundert: Charles Verlinden, Les Origines de la Civilisation Atlantique. De la Renaissance d l'Age des Lumiares, Neuch~ttel / Paris 1966, S. 13-25. 785Vgl. Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtund~ 4. Auflage, Stuttgart 2001, S. 67f'. 786Vgl. Kurt von Boeck:rnann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924, S. 363. 787 Ebd., S. 362. 788 Ebd., l/om Kullurreich des Meeres, Berlin 1924, S. 307.
Varianten des atlantischen Mythos und heutige Bedeutungen
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entwicklung in Europa, die den 2 Millionen kiT].2 grol3en Raum zwischen Mittelmeer und Atlantik, der zu 80 Prozent gerodet war, zu einem ,,monde plein" machte, v89 Die daraus resultierende geographische Enge und Vielgliederigkeit Europas v9~ ffihrte zu einem riiumlichen Ausbruch. ,,Europa warf seinen Uberfluss nach Amerika hinfiber. ''791
b) Herausbildung eines ,,transatlantischen Sozius" und Dynamisierung des Raumes Die sukzessive fiber den Atlantik sich vollziehende und heranwachsende Hinfiberffrderung yon Menschenmassen (germanischer und romanischer bzw. germanisch/romanisch-iberischer Abstammung) ffihrte schliel31ich zu einem ,,aufnehmende[n] und zurfickstrahlende[n] (...) transatlantischen Kultursozius". 792 Die Voraussetzung waren damit geschaffen, dass Westeuropa sich sowohl ,,innerlich und ~iugerlich nach der mediterranen Befruchtung [gemeint ist die Christianisierung der Germanen und die Neuentdeckung antiker Philosophie und Wissenschaft unter germanischem und romanischem Vorzeichen] zu einer atlantisch-potamischen Kfistenkulmr" entwickelte. Die atlantische Meeresfiberbrfickung liisst langfristig die ,,zun~ichst yon Ost nach West verlaufende Zivilisationsbewegung yon Amerika mit neuer missionarischer Kraft nach dem Osten zuriickstrfmen. ''v93 Die Entdeckung des neuen K o n f n e n t s ,,schien die f3berzeugung zu best~itigen, dass der Fortschritt menschlicher Zivilisation dem Gang der Sonne yon Osten nach Westen folge und somit mit der Besiedlung Amerikas ein neues Kapitel menschlicher Zivilisationsgeschichte aufgeschlagen w u r d e . ''v94 Am Ende dieses Prozesses ist zumindest Westeuropa, wenn nicht gar ganz Europa kulturphysiognomisch einem atlantischeurop~iischen Kulturreich zuzuordnen, so dass jeder Versuch das zu leugnen oder jede Unf~ihigkeit das zu erkennen, als ein Ausbund eines kulturphysiognomischen Reduktionismus oder Isolationismus zu werten w~ire. Zugleich brachte die ,,Raumrevolution" eine Verriiumlichung des Atlantischen Ozeans (,,from place to space") v95 bzw. eine Entteritorialisierung des kontinentalen Raumes mit sich. Die Raumrevolution 6ffnete zugleich das Meerverstiindnis, weil das n u n m e h r fiberbrfickte Gew~isser einen offenen Ozean darstellte, der im Gegensatz zum geschlossenen, bis dahin seepolitisch relevanten Mittelmeer r~iumlich nicht mehr kontrollierbar abgesteckt werden konnte, trotz des entsprechenden Versuchs das durch die piipstliche Demarkationslinie zwischen pormgiesischer und spanischer Einflusssphiire im Jahre 1493 zu erreichen. ,,Mit dem weltpolitischen Anschwellen der westeurop~iischen Teilmiichte und ihrer Schifffahrt im 16. J ahrhundert wurde diese Unm6glichkeit politischer Beherrschung eines Weltmeerraumes langsam offenbar, im 17. Jahrhundert dann den vorauseilenden unter den marinen Rivalen vollkommen bewusst. ''796 Doch die Streichung des Meeres als riiumlich, und zwar fl~ichig oder lmienffrmig positiv zu fassender, stafscher Faktor aus der Weltpolitik hatte nicht etwa das Ende auswiirti789Vgl. Pierre Chaunu, Die Wurzeln der Fr~iheit, M/inchen 1982, S. 130ff. und 293. vg0Vgl. Fernand Braudel, Die Geschichte derZivilisation. 15.-18. Jahrhundert, M/inchen 1979, S. 53ff. v91Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen igber die Philosophie der Geschichte, ND Stuttgart 1961, S. 141. 792Kurt yon Boeckmann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924, S. 308. 793In Anlehung an Gervinus: Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens. Band I, Gfttingen 1972, S. 451. 794Winfried Fluck, Kultur, in: Willi Paul Adams / Peter Lfsche (Hg.), La'nderbeffcht USA, Geschichte - Politik - Geographie - Wirtschaft- Gesellschaft- Kultur, 3. Aufl., Bonn 1998, S. 719-803, 725. 79s D.h. der Atlantik konnte nunmehr/iberhaupt als ,,Raum" wahrgenommen werden: Vgl. Luis Adao da Fonseca, Prologue. The Discove{7 of Atlantic Space, in: George D. Winius (Hg.), Portugal, The Pat/.~nder. Journeys from the Medieval toward the Modern World 1 3 0 0 - ca. 1600, Madison 1995, S. 5-19, 15if. ~96Vgl. Kurt von Boeckrnann, Vom Kulturreich des Meet~J, Berlin 1924, S. 339.
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ger Machtpolitik zur Folge: Im Gegenteil. Das Meer wurde nunmehr immer stiirker eben nicht als das, was es am Anfang der Raumrevolution vielleicht zu sere schien, also eine im kalkulationstechnischem Eventualfall verzichtbare Basis merkantilen Handelns, sondern als em machtpolitisch unverzichtbarer ,,strategischer Raum", also ein Raum von strategischen Punkten, nicht mehr Fldchen oder Linien, angesehen 797, was die M6glichkeiten ausw~irtiger Machtpolitik sogar noch erweiterte. Die Weltpolitik wurde damit raumumgreifender, strategischer und dynamischer. Kurt von Boeckmann erwiihnt ein anschauliches historisches Besipiel, das diesen Umschwung deutlich macht: Hatte Grol3britannien demnach noch 1684 aufgrund der zu hohen Unterhaltungskosten Tanger aufgegeben, was auf eme rein merkantile Motivation hindeutete, konzentrierte die gleiche Seemacht ganze zwanzig Jahre spS.ter, im Spanischen Erbfolgekrieg, ,,ihre Kxiifte auf Gibraltar, eroberte diese Meersperre und gab sie nie wieder auf, obwohl ihre Erhaltung ganz andere Summen verschlang als Tanger. ''798 ,,Das Meer wird politisch zum Operations- und Kampfplatz ''v99 und den K a m p f um das Meet werden schliefilich im 20. Jahrhundert die USA fiir sich entscheiden. Die iiberseeische Expansion ist ,,kein Randph{inomen der Geschichte Europas w~ihrend der letzten J ahrhunderte, sondern einer ihrer wesensbestimmenden Momente"800, nicht nur in politisch- und sozialhistorischer, sondern auch in umweltgeschichtlicher Hinsicht. 8~ Der Erfolg der Expansion endet mit der Ausdehnung Europas auf der ganzen Welt 8~ deren Phase wiederum mit der Franz6sischen Revolution und der )q_gyptenexpedition Napol4ons 1802 eingel~iutet wird und im machtpolitischen Niedergang Europas 1917-1956 endet. Der Versuch, den Atlantischen Ozean in alteuropiiischer Manier territorialpolitisch abzustecken (die p~ipstliche Demarkationslinie aus dem Jahre 1493/94 803 bildete den Kristallisationspunkt dieses Versuches8~ musste also aufgrund der Weitliiufigkeit, Fliissigkeit und damit Nicht-Beherrschbarkeit und Ungreifbarkeit des Ozeans, scheitern. 8~ So entwickelte der Niederl~inder Hugo Grotius - gegen den spanisch-portugiesischen Monopolanspruch - die Idee der ,,Freiheit der Meere" (Mare Liberum 1609). ,,Mit dem weltpolitischen Anschwellen der westeuropiiischen Teilmiichte und ihrer Schifffahrt im 16. Jahrhundert wurde diese Unm6glichkeit politischer Beherrschung eines Weltmeerraumes langsam offenbar ''8~ just zu jenem Zeitpunkt, als das Weltmeer iiberhaupt als ,,Raum" begriffen werden konnte. In Verbindung mit dem aufkommenden K o r s a r e n m m zu Diensten der anti-iberischen Seemiichte Frankreich, Niederlande und Grogbritannien war das auch die Ursache des Entstehens der virulenten transatlantischen Piraterie, die erst im 19. Jahrhundert eingediimmt werden konnte. 8~ ,,Chevalereske" Korsaren wie Francis Drake, Jack Hawkins und Jean Bart und wilde Piraten wie Henry Morgan, Edward Mansvelt, Edward Teach (,,Blackbeard the Pirate"), Rock der Brasilianer,
797Vgl. Kurt von Boeckmann, l/om Kulturreich des Meeres, Berlin 1924, S. 340. 798Ebd., S. 339. 799Ebd., S. 340. 800J/irgen Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisalion des Westens, M/inchen 2000, S. 24f. 801Vgl. Alfred W. Crosby, EcologicalImperialism. The BiologicalE:,~ansion of Europe, 900-1900, 2. Auflage, Cambridge u.a. 2004. Mit dem Begriff wird auf die globale Ausbreitung europS_ischerPflanzen, Mikroorganismen und Krankheiten, Tiere und Landwirtschaftstechniken rekurriert. 802Vgl. Wilbur Cortez Abbott, The EJx~ansion of Europe. A I-Iisto{7 of the Foundations of the Modern World, 2 Bde, London 1919. 803Vgl. Tordesillas-Vertrag uvischen Spanien und Portugal (1494), in: Ernst Reibstein, Vb'lkerrecht. Eine Geschichteseiner Ideen in Lehre und Pra~4s- Band 1." Vom Ausgang derAntike bis wrAufklfirund~ Freiburg / M/inchen 1958, S. 274-277. 804Vgl. Holger Afflerbach, Das enlfesselteMeer. Die GeschichtedesAtlantik, M/inchen 2001, S. 194f. 805Vgl. Kurt von Boeckmann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924, S. 339. 806Ebd. 807Vgl. Holger Afflerbach, Das en~esselteMeer. Die GeschichtedesAtlantik, MCinchen2001, S. 196-208.
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B a r t h o l o m e u s der Portugiese oder der besonders grausame Frangois L ' O l o n n o i s haben transatlantische Geschichte geschrieben. Zugleich entwickelte sich der gesamte westeuropiiisch-amerikanische R a u m zu einer Art ,,gitterartigem Flusssystem" u n d zerteilte sich ,,auf eine sehr grol3e Zahl v o n St~idten. ''8~ So n i m m t das Landinnere beiderseits des Ozeans ,,marine Ziele, Gesichtspunkte, M e t h o d e n , Mal3stiibe auf, die es niemals aus der A n s c h a u u n g erlebt hat ''8~ und hat selbst nichts m e h r mit einem ,,Land" im geopolitischen Sinne zu tun, s o n d e m kann als ein ,,Areal mit Schienen, Fabriken u n d G r u b e n ''81~ betrachtet werden. ,,Keine Kultur der Erde hat dann auch n u t entfernt so viele Grol3stiidte hervorgebracht wie die westeurop~iisch-amerikanische, n a c h d e m sie (...) die vielen natiirlichen Stragen auch noch durch kiinstliche V e r b i n d u n g e n iiberboten hatte. ''811
c) Machtgewinn, Machtverlust u n d innerweltliche Identitiitsbildung E u r o p a s D u r c h den Hinzutritt eines n e u e n ,,atlantischen R a u m e s " kam es zugleich zu einer relativen Verkleinerung des europiiischen Raumes. K o n r a d A d e n a u e r hat dieses M o m e n t in V e r b i n d u n g mit d e m konstatierten, in der Raumrevolution angelegten u n d spiiter sich auch technisch vollziehenden E r d s c h r u m p f u n g s p r o z e s s in seinen E r i n n e r u n g e n einmal in folgende, eindrucksvoll schlichte W o r t e gefasst: ,,Wenn man die gewaltige Landmasse Amerikas sich vergegenwiirtigt, wenn man dann die unendliche Wassermasse des Pazifischen Ozeans sieht, diese ungeheuren Riiume, und dann auf Ostasien st613t, auf die Japaner mit ihren hundert Millionen, auf dem Festland auf die Chinesen mit ihren sechshundert Millionen [heute fiber 1 Milliarde], dann wird einem sehr Mar, dass das, was dort geschieht, auf uns zurCickwirkt und dass wit dafiir einen offenen Blick haben mfissen, dass wit uns an die Weite und an die trotzdem vorhandene enge Verbundenheit der Kontinente gew6hnen mfissen, um eine richtige Politik treiben zu k6nnen. "81a Indes ging die Verkleinerung E u r o p a s mit dem Effekt einher, dass europiiische IKulturprinzipien riiumlich in einem einmaligen Sinne expandieren k o n n t e n und sich E u r o p a an den ,,westlichen" G e s t a d e n des Atlantischen Ozeans auf der Basis einer einmaligen ,,tabula rasa" ganz neu, auf der Basis aller historischen E r f a h r u n g der eigenen Zivilisation, in reflektierter, nichtsdestotrotz religi6s inbriinstiger und kulturstolzer Art u n d Weise, griinden konnte. 813 Zugleich blieb das ,,Neue E u r o p a " mit d e m Alten ozeanisch verbunden. D e r Effekt des offenen u n d zugleich lebendigen Zugangs als entscheidendes ozeanisches Paradigma 814 schuf zugleich die V o r a u s s e t z u n g dafiir, dass das N e u e mit d e m Alten v e r b u n d e n blieb und sich eben nicht vol- . lends v o m Alten abkoppeln konnte: ,,The sea", sollte der amerikanische Aul3enminister D e a n A c h e s o n etwa 450 Jahre nach der E n t d e c k u n g Amerikas dutch K o l u m b u s in einer Rundfunkansprache verlauten lassen, ,,does not separate people as m u c h as it joins them, t h r o u g h trade, travel, mutual understanding and c o m m o n interests. F o r this .. reason ... N o r t h America and
8o8Kurt yon Boeckmann, Prom Kulturreich desMeeres, Berlin 1924, S. 367. 809Ebd., S. 366. 810Ebd. 811Ebd., S. 367. 812Konrad Adenauer, Etinnerungen 1959-1963 (Band IV), Stuttgart 1968, S. 31. 813 Vgl. Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikanischen Einzektaatsverfassungen. Zur ideengeschichtlichen und verfassungsgeschichtlichenKomponente der amerikanischen Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin 1968, S. 28. 814 Vgl. zum 6kumenischen Charakter des Begriffs ,,Okeands" und zur Begriffsgeschichte die zusammenfassenden Ausf/ihrungen bei Holger Afflerbach, Das en~sselte Meer. Die Geschichte desAtlantik, M/inchen 2001, S. 21f.
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Western Europe have formed the two halves of what is m reality one community, and have maintained an abiding interest in each other. ''81s Dariiber hinaus lag es in dem Moment, in dem die mnereuropiiischen Rivalitiiten auf iiberseeische Territorien verlagert werden konnten, nicht nut in der Logik des Geistes, sondern auch m d e r Logik der Macht, dass sich nunmehr Schritt fiir S c h r i t t - trotz der fortbestehenden innereuropiiischen Rivalitiiten - eine kollektive Identitiit der , , E u r o p ~ e r " und spiiter des Westens im Kontext der Abgrenzung gegeniiber den , , A n d e r e n " entwickeln konnte, die sich nicht mehr nut auf das Christentum alleme zu berufen brauchte. 816 Damit lag es zugleich in der Logik der internationalen Beziehungen, dass mit der auBereuropiiischen , , L a n d n a h m e " blutige und anarchisch konfigurierte Konflikt- und Grenzlinien in Europa potentiell mittels Exports unbiindigen Gewaltverhaltens domestiziert (Entstehung eines modernen Kriegsrechts) und z.T. m , , F r e u n d s c h a f t F u ~ e n " (Akzeptanz der jeweils anderen, konfessionell iiberbauten Machtsphiire) umgewandelt wurden, av Damit wurden zugleich die machtpolitischen Grundlagen fiir die Siikularisierung Europas geschaffen, , , L a n d n a h m e " auBerhalb Europas und innereurop;,iische Siikularisierung standen also in einem machtpolitischen Zusammenhang. Mit der letzten ,,gesamteurop~iischen Landnahme" auf der Berliner Kongo-Konferenz 1885 beginnt schlieBlich allm;,ihlich der Niedergang der europazentrischen Weltordnung. a8
d) Die Entfesselung menschlicher Phantasie im platonischen Rahmen Das Neuartige, das Amerika von der europiiischen Zivilisation abhebt, war die Neuheit, Unerforschtheit und Wildnis, mit der die Europiier in Amerika konfrontiert wurden. 819 Kuriositiit und Neugier schufen neue Dimensionen und Perspektiven auch und gerade im Denken. Zugleich wurde wiederum die E m e u e r u n g des Denkens in Europa im Sinne der Entprovinzialisierung dutch immer neue Entdeckungen auf aufsehenerregende Weise weiter verstiirkt. Die erwiihnte Denkbarkeit, z.T. aber auch die pure Faktizitiit der Realisierbarkeit platonischer Utopievorstellungen, die im Christentum fortgefiihrt und konserviert worden waren, gaben dem Denken eine neuartige, ungew6hnlich revolutioniire Motivation weiterzumachen, alles in Frage zu stellen, neu anzufangen, nach den Sternen zu greifen; aber bestenfalls auch das , , A n d e r e " zu tolerieren, es nicht nur als zu vernichtendes ,,Fremdartiges", sondern als ,,noch nie da Gewesenes", die eigenen Wahrheiten oder Vorurteile, auch religi6sen Prinzipien, relativierendes oder modifizierendes Wesen wahrzunehmen. 82~Die daraus resultierende geistige Eigengewichtigkeit der Raumrevolution bestand also darin, dass durch sie und die mit ihr emhergehenden Welt-
8~sDean Acheson, Address: The Meaning ~the North Atlantic Pact, Department of the State Bulletin, March 27, 1949, S. 384-388, 385. 816Vgl. Paul Kennedy, Aufslieg und Fall der grggen MYchte. Okonomischer Wandel und milita'KscherKonJlikt yon 1500 bis 2000, Frankfurt a.M. 1989, S. 66 und Wilfried yon Bredow, Turbulente Welt-Ordnung. Inlernationale Politik am Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart / Berlin / K61n 1994, S. 28f. av Vgl. Carl Schmitt, DerNomos derErde im Vb'lkerrecht desJus Publicum Europaeum, K61n 1950, S. 60-69 und Wilfried yon Bredow, Turbulente Welt-Ordnung. Internationale Politik am Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart / Berlin / K61n 1994, S. 2831. a8 Vgl. Wilfried von Bredow, Turbulente Welt-Ordnung. Internationale Politik am Ende des 20. JahrhundertJ, Stuttgart / Berlin / K61n 1994, S. 30fi 819Vgl. Manfred Henningsen, Der Uall Amerika. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdra'ngune~ M/inchen 1974, S. 153. 820Vgl. Harry Elmer Barnes, An Intellectual and Cultural Histo{7 of the Western World. Volume 2: From the Renaissance through the Eighteenth Centu{y, New York 1965, S. 662ff. und im folgenden Germ~mArciniegas, America in Europe. A Histo~ of the New World in Reverse, San Diego / New York / London 1986, S. 49-71.
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endfremdung die Utopie, so wie sie seit Platon immer wieder erdichtet wurde, nun pl6tzlich in Teilen zur Realitiit wurde. Flankiert und verstiirkt wurden diese neuartigen atemberaubenden europiiischen Grundbefindlichkeiten in der anbrechendenden Neuzeit durch die ebenso vonstatten gehende , , A l l r a u m r e v o l u t i o n " , die mit der ,,planetarischen Raumrevolution" einherging. Voraussetzung dieser Dimension ist also das {)berraschungs- und N o v u m - M o m e n t , das in der Entdeckung Amerikas liegt: Amerika ist ja ,,recht eigentlich eine Uberraschung: seine Existenz war gar nicht vorgesehen. ''821 Wie aber nun herausgearbeitet, war nicht alles nur , , n e u " dabei: Platon konnte in gewisser Weise als geistiger ,,Entdecker Amerikas" historisch bestiitigt werden. Das machte Hoffnungen, auch weiteren Teilen des utopischen Denkens niiher zu kommen, da Atlantis immer auch als eine Utopie verstanden wurde. Der Kern aller Utopien bestand darin, den Ort des ,,Politischen" zu verbannen und ihn gegen einen ,,Un-Ort" eins herstellungsorientierten und zugleich kommunistischen Schlaraffenlandes auf Erden einzutauschen. 822 So sind die Gemeinschaften der holliindischen Mennoniten in Nordamerika, die religi6sen Gemeinschaften um Johann Conrad Beissel in Pennsylvania, die kommunistischen Kolonien eines Coleridge und Southey, eines George Rapp und all der anderen pietistischen, prophetistischen, methodistischen und fourieristischen Gemeinschaften 823 nicht nur in ihrer religi6sen Dimension zu betrachten, s o n d e m auch als Beweis anzusehen, dass es fiir die Umsetzung kommunistischer Ideen nun zum ersten Mal in der Geschichte wirklich einen reellen Boden zu geben scllien. Die bis auf Platons Politeia zuriickzuverfolgende Utopie der kommunistisch modellierten Gemeinschaftsordnung wurde nun als religi6se Gemeinschaftspraxis aus der alten ,,Ortlosigkeit" in eine sehr konkrete Realitiit iiberfiihrt. Ohne die wirkliche Entdeckung einer riiumlichen ,,Neuen Welt" wiire diese Revolutionierung der menschlichen Imagination, nie m6glich g e w e s e n - und gerade diese Revolutionierung schlug die Briicke zwischen der Antike und der Christenzeit in einem ganz eigentiimlichen Rahmen, unter etwa folgendem Motto: ,,Das neue Atlantis kann nun geboren werden, ein Paradies auf Erden, seht, es ist m6glich! Die wahrhaftige Entdeckung einer Neuen Welt ist die tabula rasa, die uns guten Menschen [und das waren damals die bibeltreuen Christen] das m6glich macht!" Die Revolutionierung der Imagination des Europiiers war indes keine ,,Neue Welt", genauso wenig wie Platons Atlantis ,,Utopie" war start Mythos einer Idee. Der Europiier hat in Amerika natiirlicherweise ,,eigentlich nichts entdeckt, was nicht schon in ihm selbst, in seinem Bewusstsein, enthalten war. ''824 Entsprechend unf~ihig war er natiirlich, und zwar als Mensch, nicht als , , E u r o p ~ e r " , das wirklich Neue, das Fremde, ,,iiberhaupt wahrzunehmen. ''825 Der Europiier ,,entdeckte sich selbst", hatte nunmehr die einmalige M6glichkeit, in den eigenen Spiegel zu schauen. 826 Europa wurde sich selber bewusst, indem es Amerika als mythischen Ort schuf.827 Die Revolutionierung des utopischen Denkens bzw. die Konstituiemng seiner Realisierung vollzog sich nicht unter utopischen, s o n d e m unter christlichen Vorzeichen und in einer christ821 Max Silberschmidt, Das Verhd'ltnis Amerika-Europa: Ein historischer Oberblick, in: Friedrich A. Lutz (Hg.), Amerika Europa. Freund undFO>ale, Z/irich / Stuttgart 1970, S. 9-32, 9. s22Vgl. zur neuzeitlichen Geschichte der Utopie analytisch Richard Saage, Politische Utopien derNeuz.eit, Darmstadt 1991. 823Vgl. Germ~in Arciniegas, America in Europe. A Histo{7 of the New World in Reverse, San Diego / New York / London 1986, S. 70f. 824J/irgen Beneke, Anfa'nge. Amerika aft mythischer Ort, in: JCirgen Beneke / Francis Jarman / David Whybra (Hg.), Aspekte amerikanischerKultur, Hildesheim/Z/irich / New York 1989, S. 1-16, 1. 825Ebd. 826Vgl. ebd. 827Vgl. ebd., S. 1 und 3.
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lich-platonischen Tradition. Revolutioniert wurde nicht die menschliche und europiiische Lebensform, sondern die Situation: Entscheidend war die Revolutionierung als solche, nicht diejenige des Denkens und der Priigekraft der Uberlieferung. Utopische Ideale, v o n d e r individuellen Willensfreiheit bis 1Gq zum Kommunismus und die emanzipatorische Utopie von der Abschaffung jeglicher Politik konnten nun aber dennoch als eine ,,auf Erden m6gliche" gedacht werden. Die historische Ironie bestand darin, dass diese Revolutionierung letztlich aus einer normativen T~iuschung resultierte, die aus dem Neuen das Unm6gliche ableitete. Diese Ableitung kann als die ziigellose Variante der ,,Entfesselung der Phantasie" in einem politischutopischen und potentiell surrealistischen Kontext verstanden werden. Doch der Kommunismus hatte gerade in der ,,Neuen Welt" langfristig die kleinste aller Chancen. Dennoch fand auch l~er eine ,,Entfesselung menschlicher Phantasie" in politischer Hinsicht statt, sie war nut eingebunden in das Kontinuum einer historischen, westlichen Ganzheit. Denn was war der m~il3ige Liberalismus in den USA im 18. Jahrhundert selbst anderes als eine ,,Utopie" aus dem Blickfeld des teils feudal, teil absolut-monarchisch gepr~igten, geistig-strukturell in mittelalterlichen Denkkategorien verhafteten Europa des 15. Jahrhunderts, ja sogar noch des 18. Jahrhunderts? Doch zur Verlebendigung bzw. , , E n t u t o p i s i e r u n g " dieser Utopie hat die amerikanische Verfassungsrevolution auf singul;,ire Art und Weise beigetragen. 828 So wirkte die Phantasie in Nordamerika mehr nicht nur revolutionierend, sondem in der Tat ordnungsstiftend in einem ganzheitlichen Sinne, sie war ,,politisch", nicht nur ,,utopisch", subjektiv, berauschend oder irreal; sie war realistisch und konkret, nicht nur fantastisch oder abstrakt.
4.2 Die erkenntnistheoretischen und wissenschaftlichen Folgen der Allraumrevolution- ein lexikalischer ~7berblick
Die zweite wichtige Raumrevolution ging mit der Erfmdung des Teleskops einher und war das Ergebnis eines l~,ingeren Wissenschaftsprozesses in Europa, der schon um etwa 1250 einsetzte 829 und die Niitzlichkeit quantitativer Termini posmlierte. Ein hierin beobachtbares, durchaus als intrinsischer, friinkisch-,,europiiischer Genius" zu bezeichnendes Ph~inomen, als dessen groBartigste Vertreter Wilhelm yon Ockham und Johannes Gutenberg zu erw~ihnen wiiren, hatte seinen Ursprung wohl in den hervorragenden geoklimatischen und historischinstitutionellen Bedingungen im kleinteiligen und vegetativ ;,iul3erst reichhaltigen Nordwesten Europas und der geistigen Entwicklung einer letztlich individualisierend wirkenden christlichen Scholastik 83~ wie sie sich nach der Christianisierung der Merowinger im 8. J ahrhundert und der damit einsetzenden kulturellen Entwicklung des Frankenreiches und seiner zahlreichen Nachfolgek6nigtiimer realisieren sollte. Mit der Allraumrevolution war nun insbesondere verbunden: der konkrete Bedeumngsverlust der Metapher der ,,Ferne" in Bezug auf menschliches, irdisches Leben, der ,,Erdschrumpfungsprozess" durch Weltentfremdung 831 und die Bef6rderung des Skeptizismus als Grundlage des modemen Rationalismus. g32 Die dadurch in Gang gesetzten Ideen in italienischen, britischen und deutschen Kapitalen bilden das Fundament der technisch-wissenschaftlichen 828Vgl.Jacques Godechot, Franceand the Atlantic Revolution of the Eighteenth Century, 1770-1799, New York 1977, S.42f. 829Vgl. Alfred W. Crosby, The Measure of Reality. Quantification and Western SocMy 1250-1600, Cambridge 1997. 830Vgl. zu letzteremJacques LeGoff, Die Intellektuellen im Mittelalter, 2. Aufl., Stuttgart 1987, S. 96 und Johann Baptist Mfiller, DiepolitischenIdeenkreiseder Gegenwart,Berlin 1992, S. 17. 831Hannah Arendt, Vita Acliva odervom td'tigenLeben, Stuttgart 1960, S. 246. 832Vgl. ebd., S. 255.
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S t r a h l k r a f t d e r sich h e r a u s b i l d e n d e n , , w e s t l i c h e n Z i v i l i s a t i o n " . 833 W i t k 6 n n e n v i e r P h a s e n u n t e r s c h e i d e n , die an d i e s e r Stelle i i b e r b l i c k s a r t i g v e r a n s c h a u l i c h t w e r d e n : 834
1. Phase: A u f l 6 s u n g des t h o m a s i s c h e n W e l t b i l d e s ( D u n s Scot-us) u n d A u f k o m m e n lismus (Wilhelm von Ockham)
i m 14. Jh. n. Chr. u n d des h u m a n i s t i s c h e n
des N o m i n a -
Menschenwiirde-
p r i n z i p s des G i o v a n n i P i c o della M i r a n d o l a (De dignitate hominis 1486) Der Nominalismus, der im 14. Jahrhundert von Wilhelm von Ockham und Duns Scotus ausging und bei Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert kulminierte, verwarf den aristotelischen und scholastischen Essentialismus und setzte dem Essentialismus die ,,Lehre v o n d e r Benennung" entgegen: Demnach giibe es keine ,,Substanzen" auf der diesseitigen Welt, die auf der Basis eines theologischen Voluntarismus nunmehr als einzige erforschbare Welt angesehen wurde: Allgemeinbegriffe sind insofem blo13 Namen zur Zusammenfassung des Ahnlichen, eine Fiktion ~ctum)! Der Allgemeinbegriff kommt bei Ockham auch ohne Zuhilfenahme einer ,,Gestalt" oder eines ,,tiitigen Verstandes" zustande wie dies bei Thomas von'Aquin der Fall war, sondem durch die Steigemngvon einem ,,ersten Wirken / Anspannen der geistigen Kriifte" (actus primus- intentio prima, Wahmehmen) zu einem zweiten (actus secundus- intentio secunda, abstrahierende Annahme, Zusammenfassung des )khnlichen). Direkter Gegenstand der Wissenschaft sind somit die Begriffe und S{itze und l~cht das ,,Reale". Allerdings glaubte Ockham, dass eine Erkenntnis des Realen aufdieser Grundlage dann m6glich ist. Die Folgen waren sehr unterschiedlich: Hobbes reduzierte die nominalistische Erkenntnis auf einen methodologischen Materialismus, Locke und Bacon drehten das Ganze um und gingen von einem Fundamentalempirismus aus, der (insbesondere bei Locke) de facto materialistisch wirkte. Ren~ Descartes nahm schlieBlich den Nominalismus zum Anlass, an allem ,,Reellen" ernsthaft zu zweifeln, entwickelte den anthropozentrischen Rationalismus und verfeinerte die axiomatisch-deduktive Methodik, die insbesondere in der Mathematik eine groBe Rolle spielt.
2. Phase: D i e E n t w i c k l u n g des m o d e r n e n E m p i r i s m u s , c a r t e s i a n i s c h e n M a t e r i a l i s m u s u n d m o demen Rationalismus Rationalismus: Ffr Ren~ Descartes war die Wahrheit keine Offenbamng mehr, sondem eine Gewissheit, die sich der Mensch von einem Dinge verschafft. Von den ,,reellen" empirischen Dingen konnte sich der Mensch jedoch genauso wenig Gewissheit erhoffen wie von jeglichen Glaubensinhalten. Aber erst das Wissen, das von allen Zweifeln methodisch gereinigt und abgesichert ist, darf als gesichertes Wissen anerkannt werden. Der einzige Ausweg aus einem ,,wissensvemnm6glichenden" Skeptizismus bot die Selbstgewissheit des Denkens (cogitatio). Woran der Mensch nicht zweifeln konnte, war das Zweifeln selbst, und dass das Zweifeln immer eines in der Ich-Form sein konnte: Cogito ergo Jwm. Die Selbstgewissheit des Denkens ffhrte zur Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt und dem Bilden yon Welt dutch das Subjekt (ego). Die Selbstgewissheit wurde durch den reduktiven Schritt eines methodischen und meditariven Zweifels generiert. Die denkerische Bestimmung yon Traum und sinnlich wahrgenommener Wirklichkeit in den Meditationen war dabei der eine Ausgangspunkt. Der zweite war die Anzweiflung der Mathematik fiber das Argument des ,,b6sen Gottes" - deus malignu~. Wenn Gott allmiichtig ist, wamm soll er den Menschen sich nur manchmal t~iuschen lassen? Er mfsste es doch durchgehend tun, sowohl in der Wahmehmung als auch in den gfltigen Axiomen der Mathematik. Und auch der Atheismus riiumt den Zweifel nicht aus: Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Gott gegenfber unvollkommener Urheber den Menschen doch letzlich noch viel st{irker tiiuschen muss, als wenn es Gott gebe, indem er ihn immer tiiusche. Der methodische Zweifel des Descartes zeichnete sich allgemein dadurch aus, dass jegliche Tatsachenbeziehung des Menschen dutch radikale Infragestellung annulliert wurde und eine Konzentration auf reine Gedankenrelationen sowie das Operieren n'fit reinen Begriffen erfolgte. Zwar behauptete Descartes nicht, dass alles falsch sei, was Menschen ffr wahr hielten, doch giibe es durchgehend Grfnde, die einen Zweifel m6glich machten (,,was wiire wenn...'~ Die Grfnde, an allem zu zweifeln, bestanden indes darin, dass Descartes in keinem Fall Grfnde land, nicht zu zweifeln. Nur dass ,,ich bin" kann nicht angezweifelt werden: Auch wenn der deus malignus nrich tiiuschen sollte, so tiiuscht er doch MICH. Indem ich zweifle, vergewissere ich mich meiner Existenz. Descartes unter-
833 Vgl. u.a. Charles Verlinden, Les Origines de la Civilisation Atlantique. De la Renaissance ~ l'Age des Lumiares, Neuch~tel / Paris 1966, S. 274-278 und 282f. und Darcy Ribeiro, Amerika und die Zivilisation. Die Ursachen der ungleichen Entwicklung der amerikanischen Vh'lker, Frankfurt a.M. 1985, S. 66. 834 Im Folgenden enge Anlehnung an Gottfried Gabriel, Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Von Descartes Zu Wittgenstein, 2. Aufl., Paderborn u.a. 1998; Lothar Kreimendahl, Hauptwerke der Philosophie. Rationalismus und Empirismus, Stuttgart 1994; Nikolaus Wenturis / Walter van Hove / Volker Dreier, Methodologie der So~alMssenschaften. Eine Einfiihrung, Tfbingen 1992, S. 5-47; Reinhold Zippelius, Geschichte derStaatsideen, 4. Aufl., Mfnchen 1971, S. 60-68.
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Kapitel VI
schied auf dieser Grundlage zwischen der Form des Denkens (cogitare) und der inhaltlichen Bestimmung (Geist, cogitatio, idea, Bilder von den Dingen). Beides setzte er der Erkenntnis entgegen, dass cogitare ja schon inhaltlich bestirnmter Geist ist. Das Denken hatte nunmehr eine formale und eine inhaltliche Seite. Auch das Gottesverstiindnis wurde rationalisiert. Gott galt nunmehr als denkerische Inhaltsbestimmung und in dieser Form als Resultat subjektiver Endlichkeitserfahrung, die zur inhaltlichen Bestimmung des Unendlich-Seins ,,auBerhalb yon rnir" dutch den Begriff ,,Gott" fiihrte. Der radikale Zweifel wurde generell zur Methode, genauso wie die ,,analytische Methode", die Descartes dem aristotelischen Syllogismus entgegensetzte (er nannte ihn ,,synthetische Methode"). Die Kritik an der ,,synthetischen Methode", die nur auf Defil~tionen und Theorien zurfckgreifen konnte, lautete nicht ganz zu Unrecht, dass sie als solche alleine keinerlei neuen Erkentnisse generieren k6nne. Die ,,analytische Methode" des Descartes setzte indes denkerisch bei einem konDeten Problem an (nicht emprisch) und griff dabei denkerisch auf das Zurfck, was mit Evidenz feststehe (auf das Grundlagenwissen also, auf analytische S~tze durch Analyse der Begriffe). Erst jetzt, nach einem dedukdven Vorgehen also, setzte bei Descartes das Erfahrungswissen ein. Bei Aristoteles ging indes die Induktion der Deduktion voraus.
Cartesianischer Materialismus: Nach Aristoteles war der physikalische Gegenstand stets eine Verbindung aus Materie und Form und die Materie bloB potentiell ein Gegenstand - s i e bedarf im aristotelischen Kontext immer der Aktualisierung durch eine Form (z.B. bedarf der Baum einer spezifischen Form seiner Materie, des Holzes, um ein Baum zu sein). Aristoteles zog alas diesem Hylemorphismus den SchluB, dass bis ins Kleinste die Form, nicht die Materie, Entstehungsursache {iul3erer Gegenstiinde sei. Descartes drehte diese Ansicht einfach urn: Unmittelbar gegeben ist nicht die Form, sondem die Materie (z.B. das Holz. Die Form des Holzes ist nicht die Ursache, dass aus dem Holz ein Baum ,,wird", sondem dass das Holz selbst einen Baum ,,bildet'~ Die ,,Form" wird ffr ,,obskur" erkl~rt, nicht-beobachtbar, empirisch nicht fiberprffbar, rnit mythologischen F~ihigkeiten behaftet: Ist etwa die Form dafiir verantwortlich, wenn ein Baum verbrennt? Descartes warf damit Aristoteles zwar ungerechtfertigterweise vor, aus Formen Entitiiten zu machen und Materien ihre Gegenstandsqualitiit abzusprechen (ffr Aristoteles waren Formen rile besondere Entitiiten, sondem vielmehr Ordnungs- und Stmkturprinzipien ffr materielle Gegenstiinde), doch trat trotzdem die Materie nun eindeutig in den Vordergrund und machte die ,,Form" als Ursache materieller Realitiit v611ig obsolet. Letztere war nunmehr nicht - w i e bei Aristoteles - potentiell, sondem aktuell vorhanden. Mechanik: Eine alternative Weiterffhrung des Nominalismus bildete die Ztmlickffhrung der ,,Substanzen" auf eine zeitlose, unveriinderliche Beziehung variabler Gr6Ben. Die Erkenntnis ffhrte zu keiner einzigen ,,substantiellen Form", sondem nur zur prozessbestimmenden und formerzeugenden Mechanik. Erkenntnis wird demnach hergeleitet fiber die Analyse der Ursachen, einen methodischen Aufbau und die Konstruktion des Gegenstandes aus seinen Bedingungen. Selbst das Subjekt der Erkenntnis ist keine ,,Substanz", sondern steht in einem Funktionszusammenhang. Alles, was darfber hinaus geht, wird aus der Wissenschaft herausgedriingt. Thomas Hobbes hat versucht, diesen Ansatz auf die Politikwissenschaft anzuwenden und David Hume versuchte aus der mit dem Reduktionismus einhergehenden Verneinung jeglicher apriorischen Bestimmung eine Wissenschaftstheorie zu entwickeln und vemeinte das Prinzip der Willensfreiheit als wissenschaftlich haltbare ,,Lehre", ohne jedoch den Kausalmechanismus als etwas darzustellen, von dem wir wissen, dass er wirklich existiert. Nur wird die Notwendigkeit, die den Dingen und der Kausalitiit zugesprochen wird, als Ausgangspunkt ffr die ,,Lehre" der Willensfreiheit gesehen, so dass diese am Ende als etwas dargestellt werden kann, die posteriorisch in kontradiktorischer Beziehung gesetzt wird zu etwas, yon dem wir gar nicht wissen k6nnen, ob es existiert. Humes Ansatz wurde spiiter vom Kantianismus negiert. Empirismus: Der EmpMsmus verbindet diesen theoretisch reduktionistischen Ansatz des Mechanismus und Funktionalismus rnit einer - letztlich ,,philosophischen" - Aufwertung der sinnlichen Gegebenheiten: So band der ,,hypemfchterne" Francis Bacon den Begriff der ,,objektiven" Erkenntnis in einem explizit antiplatonischen und antiaristotelischen Sinne 83s strikt an die sinnliche Gegebenheit, das ,,Experiment" und die Induktion. TM John Locke ging noch weiter und
835Vgl. Francis Bacon, Das neue Organon, hg. v. Manfred Buhr, Berlin 1962, Buch 1, Aph. 71, S. 76f. Bacon wirft zwar im ~assen Unterschied zu bescheideneren modemen Wissenschaftlem wie Kepler und Galilei - Platon und den griechischen Philosophen Eitelkeit und Naivitiit vor, ist abet im Vergleich zu Ihnen in Gestus und Sprache an eider und selbstgerechter Selbstiiberschiitzung (vgl. inbsd. Aph. Nr. 78, S. 84) nicht zu fiberbieten. Die naive Betulichkeit und sprachliche Schlichtheit seines ,,Nova Atlantis" ist im Obrigen um ganze Stadien infantiler als der Geist und die Sprache Platons. Bacon verschweigt, dass der Vorwurf des einen {igyptischen Priesters, bei den Griechen handelte es fiir immer und ewig um unverbesserliche, schwiirmerische und prahlerische Kinder, bewusst von Platon selbst betont, fiberliefert und wahrscheinlich sogar bewusst erfunden wurde. Dass das, was Bacon verschweigt, die Oberlieferung also - gar in authentischer Form - demjenigen zu verdanken ist, dem er die tollste Naivitiit, B16dheit und Infantilitiit vorwirft, macht auf die Problematik seines barbarenhaften Tons aufmerksam. Vgl. zu dieser Problematik der fibertiebenen Absonderung gegenCiber den ,,alten Griechen" insbesondere auch Ernst Cassirer, Die Antike und die Entdeckung der ex'akten Wissenschaften, in: Ders., Philosophie und exakte Wissenschaft, hg. yon Rudolph Berlinger, Frankfurt a.M. 1969, S.
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en~vickelt letzlich eine neue Form des Substantialismus: Dinge, die ,,primiire" und ,,sekundiire Qualitiiten" aufweisen (die also messbar und dem Menschen fiber Sinnesorgane vermittelbar sind) werden als iiuBere Gegenstiinde vorausgesetzt, die wirklich ,,an sich" als Originale existieren und die {iber die Methodik der Differenzierung zwischen ,,realer Essenz" (was die Dinge an sich sind) und ,,nominaler Essenz" (was wir spontan daraus machen) als etwas erkannt werden k6nnen, was zwar nie gan z erkannt werden kann (Perspektivismusproblem bei Sinnewahmehmungen), aber dennoch wirklich existiert und was im Modus einer ,,sensitiven Erkenntnis" auch substantiell als etwas Auj~eres erfahrbar ist. Zwar ist auch nach Locke sinnvolles Zweifeln darfiber m6glich, ob eine Idee in unserem Geist tatsiichlich eine Entsprechung in der AuBenwelt habe; dass aber Ideen in unserem Geist tats{ichliche Entsprechungen in der AuBenwelt haben, kann als solches nicht in Zweifel gezogen werden. Demnach ist die ,,sensitive Erkenntnis" zwar selbst nicht so gewiss, aber es ist gewiss, dass es sie gibt. Der Ansatz wurde yon David Hume spiiter weitergeffihrt, aber auch Ditisiert: Die Idee geht demnach alleine auf den ,,Eindmck" zurCick und nicht auf das Ding an sich. Dennoch bildet der empirische ,,Eindruck" und die damit einhergehende ,,Vorstellung" alleine die Basis eines wissenschaftlichen SinnDiteriums, das nur auf eine Weise denkbar ist: als empiristisches Sinnk_riterium sprachlicher AusdrCicke. Der Ansatz wird spiiter vom Logischen Empirismus wietergefiihrt, der wiedemm in Anlehnung an David Hume, aber auch an Kant vom Kritischen Rationalismus kritisiert wird.
3. Phase: D i e E n t w i c k l u n g d e r N a t u r w i s s e n s c h a f t u n d d e s E x p e r i m e n t i a l i s m u s (Galilei, K e p l e r , N e w t o n ) u n d das A u f k o m m e n b a h n b r e c h e n d e r I d e e n u n d E r f m d u n g e n .
Kopemikus,
Die ,,Raumrevolution" des 15. Jahrhunderts lieB irrationalen Motivationen, die mit irrational gewordenen Inhalten einherhingen (z.B. dass die Sonne um die Erde kreise) keinen Platz mehr. Die Entdeckung des kiihnen Abenteurers Kolumbus zwang die Wissenschaft (oder besser den Wissenschaftsbetrieb) geradezu zur Revolutionierung der Erkenntnis. Zu dieser Revolutioniemng geh6ren: die bahnbrechenden astronomischen Hypothesen des Kopernikus und Galilei die Idee der induktiven Experimentalwissenschaft (Francis Bacons ,,New Organon") a37 die Idee des ,,Cogito ergo sum" des Descartes (,,Meditationes de prima philosophia '~ und die rationalistischen Ideen von Spinoza (,,Tractatus theologico-politicus") und Leibniz a3a Die Idee eines mechanisch konstmierten Universums (Isaac Newtons ,,Philosophiae naturalis principia mathematica") Die Idee der mechanischen Nutzbarmachung yon NaturD{iften und die Schaffung einer sekundiiren (mechanisch-technischen) Welt a39 Bahnbrechende Einzelwissenschaftstheorien von Christian Huyghens, Edmond Halley, Robert Hooke, Christopher Wren (Mechanik), Robert Boyle und Hooke (Chemie), John Ray (Biologie), Jan Swammerdamm und William Harvey (Anatomie), Francesco Maria Orimaldi, Huyghens und Jean marci (Optik), William Petty und Gregory King (Statistik) GrCindungen von naturwissenschaftlichen Akademien in Rom (1601, Accademia dei Lincei), Aix-enProvence, London (1660, Royal Society), Paris (1666, kcademie Frangaise des sciences)
11-38. Freilich iindert das l~chts an der Tatsache, dass Bacon wichtige und richtige K_ritikpunkte gegen das Anwendungsdefizit hellenischer Philosophie und Wissenschaft entwickelte (mit Ausnahme seiner geistes- und politikwissenschaftlichen Ansicht ,,more geometrico / experimento", vgl. Francis Bacon, Das neue Organon, hg. v. Manfred Buhr, Berlin 1962, Buch 1, Aph. 127) und selbst mit seiner Idoltheorie und Erkenntnistheorie nicht nur als sehr selbstbewusster und arroganter, sondem als sehr wichtiger Denker des Abendlandes gelten muss. Und seine Selbstsicherheit ist nicht nut st6rend, sondem zugleich {iberaus aufregend und zugleich die Ursache einer ganz besonders eindringlichen, klaren, scharfen, wertvollen und beeindmckenden Bildersprache, die er insbesondere in der K_ritik am Ciberlieferten Wissenschaftsbetrieb im ,,neuen Organon" entwickelt. Der Reiz liegt insbesondere darin, dass es sich hierbei um ein Pliidoyer ffir wissenschaftliche Niichtemheit handelt. 836 Vgl. ebd., S. 23ff. und Buch 1, Aphorismen 19, 22, 40, 71, 97-113 (S. 45s 51, 76f., 107-119). 837Vgl. Francis Bacon, Das neue Organon, hg. v. Manfred Buhr, Berlin 1962. 838 Vgl. Ren~ Descartes, Meditationen dber die Erste Philosophie, hg. v. Gerhart Schmidt, Stuttgart 1971; Benedictus de Spinoza, Theologis&-Politischer Traktat, Cibers. v. Carl Gebhardt, 5. Aufl., Miinchen 1955; Gottfried Wilhelm Leibniz, Herrn Gotlfffed Wilhelms Freiherrn yon Leibnit z Theodicee, hg. v. Hubert Horstmann, Berlin 1996. 839 Vgl. zum Begriff der ,,sekundiiren Welt" Tilo Schabert, Gewalt und Humanitdt. ([Tberphilosophische undpolitische Manifestationen yon Modernitdt, Freiburg i.Br. / MCinchen 1978, S. 25 und Hans Freyer, Schwelle der Zeiten. Beitrdge z.ur So~ologie der Kultur, Stuttgart 1965.
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Kapitel VI
In diesem Zusammenhang sind die mannigfaltigen Erfindungen und naturwissenschaftlichen Entdeckungen in Italien, den Niederlanden, Fran-~eich, den USA und Deutschland zu sehen, die z.T. wiederholt und unabhiingig voneinander erfolgen, bevor sie angewendet wurden, s4~Die wichtigsten sollten kurz aufgefiihrt werden: -
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Das Teleskop und die Entdeckung der Monde des Jupiters durch Galileo Galilei Das Mikroskop und die Entdeckung der Mi~oben und weiterer mi~obiologischer Lebensformen durch Anton van Leuwenhoek Die Entdeckung unh6rbarer T6ne durch Marin Mersenne Die Entdeckung der mechanischen Kraft dutch Isaac Newton Die vielf;tltigen Erfindungen und Entdeckungen des Robert Hooke (Elastitzitiit, Hookesches Gesetz der Festk6rpermechanik, Verbrennungsgesetze, Entdeckung der Pflanzenzellen) Die vielie;iltigen Erfindungen in der Waffenrechnik (Kanonen, bewegliche Artillerie, Schiffsartillerie, Arkebusen, Musketen, Gewehre) Die Durchsetzung der schon zwischen 1440 und 1450 erfundenen Buchdruckerkunst eines Gutenberg, Waldfogel und Coster TM Die revolutioniire Erfindung yon Bank:noten in England 1667 und der modernen Papier-, Bank- und Kreditgeldwirtschaft im allgemeinen (kurz: die Erfindung des ,,Kapitalismus") 842 Die Entdeckung des Oxygens dutch Joseph Priestley und Antoine Lavoisier Die Erfindung einer Rechenmaschine und die Entdeckung zahlreicher gerometrischer, algebraischer und physikalischer Gesetze dutch Blaise Pascal Die Entdeckung der Elektrizitiit durch Luigi Galvani Die Entdeckung yon Gesetzen der Elektritittsleimng und die Erfindung des Blitzableiters durch Benjamin Franklin Die Erfindung der Dampfmaschine durch James Watt Die Erfindung des Logarithmus duch John Napier (17. Jh.) und die Erfindung des biniiren Zahlensytems dutch George Boole s43 (1820er Jahre) und der darauf aufbauenden kf_instlichen Intelligenz im 20. Jahrhundert Die zahlreichen Erfindungen und Entdeckungen des 20. Jahrhunderts, u.a. die Relativitiitstheorie (Albert Einstein), die Quantenmechanik (Niels Bohr, Werner Heisenberg) und die Atombombe.
Am Ende dieser Entwic-ldung steht die Verkleinerung der Welt und Transnationalisierung der Politik nicht nut im politischen (,,weltdemoDatischen" und ,,menschenrechtsuniversalen'O, sondern auch im technischen Sinne: zum einen durch die waffenrevolution~ire Erfindung der Massenvernichtungs- und Langstreckenwaffen, zum anderen dutch die entfesselte Verkehrs- und Kommunikationstechnik am Anfang des 20. Jahrhunderts: Deren Etappen bestehen in der Ausbreitung des Telegraphen im 19. Jahrhundert 844, der telegraphischen Nachrichtenverteilung mit Gnlindung der Associated Press in der zweiten H{ilfte des 19. Jahrhunderts, die Entwic'ldung des Radios im 20. Jahrhundert, dem Ausbau des Fernsehens und der Mediensatellitentechnik in der zweiten Hiilfte des 20. Jahrhunderts bis hin zum explosionsartigen Wachstum des Internets zwischen dem 20. und dem 21. Jahrhundert. Durch den Verlust des weltlichen Technikrnonpols im Verlaufe des 20. Jahrhunderts haben wires heute am Ende dieser Entwicklung, im Stadium der postkolonialen Selbstbehauptung, mit einer ,,globalisierten", polyzentrischen Weltgesellschaftstechnik und Weltwirtschaftsstruktur zu tun. 845
840Vgl. Fernand Braudel, Die Geschichte der Zivilisation. 15.-18. Jahrhundert, Mtinchen 1979, S. 465t:. 841 Vgl. ebd., S. 430-435. 842Vgl. zur westlichen Papiergeldwirtschaft insgesamt ebd., S. 521-539. 843 Bsp.: Die Zahl 27 wird mit der Zahlenreihe 11011 ausgednlickt. Die Zahlenreihe steht fiir folgende Rechenoperation: lx1+ 1x2+0x4+ lx8+ lx16. 844 Vgl. Christian Holtorf, Nabelschnur in die Welt. I/or 150 Jahren wurde das erste transatlantische Telegrafenkabel gelegt. Es fiihrte um die Welt, weil es um die Welt ging - und war der Geburtshelfer des Interne& in: taz Magazin, 5. Januar 2002, Seite v. s4s Vgl. Darcy 1Libeiro, Amerfka und die Zivilisation. Die Ursa&en der ungleichen EntMcklung der amerikanischen Vh'lker, Frankfurt a.M. 1985, S. 85.
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D i e in E u r o p a zur G e l t u n g g e k o m m e n e n E r k e n n t n i s t h e o r i e n , wie sie e x k u r s a r t i g v o r g e s t e l l t w u r d e n , b i l d e t e n d e n A u f t a k t zu einer k o n t i n u i e r l i c h e n w e s t l i c h e n T r a d i t i o n des k o m p l e x e n D e n k e n s . Als typisch ,,westlich" k 6 n n e n in der E n t w i c k l u n g bis z u m 20. J a h r h u n d e r t f o l g e n d e D e n k t r a d i t i o n e n h e r v o r g e h o b e n w e r d e n (vierte Phase): Der Kantianismus versuchte das Spannungsverhiiltnis zwischen Empirismus und Rationalismus mit Hilfe einer komplexen Transzendentalphilosophie zu {iberwinden. Die Politische Arithmetik 846, angestoBen yon John Graunt, William Petty und Edmund Halley (im 17. und 18. Jh.), f(ihrte zur Erlangung allgemeiner Aussagen auf induktive Weise mit Hilfe yon Daten, die durch Beobachtung und andere Methoden systematisch erhoben wurden. Condorcet (1743-1794) entwickelte die ,,mathSmatique sociale" und erste Ansiitze zur Spieltheorie. Es kam zu Berechnungen m6glicher Wahlentscheidungen, aufbauend auf Jacob Bernoulli, dem Begrfinder der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Methoden wurden unter Adolphe Qu&elet (1796-1847) weitergefiihrt. ,,Statistical Societies" entstanden in England 1830-1850 im Zuge der sozialen Begleiterscheinungen der industriellen Revolution: Es kam zu Datensamm]ungen mit Hilfe detaillierter Frage- und Beobachtungsb6gen, z.B. zur Wohnsituation oder zu Gesundheitsproblemen der Arbeiterschaft, deren Lesestoff und Lebenseinstellung, zur Ausstattung von Arbeiterwohnungen rnit sanit{iren Einrichtungen etc. Die Methoden wurden in den USA weitergefiihrt. Arthur L. Bowley (1869-1957) wandte erstmalig das Stichprobenverfahren an. Der Gedanke, dass durch Teilerforschungen dennoch zuverliissige Informationen fiber die Gesamtheit zu erlangen sind, setzte sich jedoch erst spiiter endg
Der N e u k a n t i a n i s m u s (Cohen, Natorp, H6nigswald) beharrt darauf, dass das, was als Tatsache bezeichnet werden kann, als nicht gegeben angesehen werden kann, sondern nur als eine Leistung der Vernunft im Sinne der ,,Erkenntnis als Erzeugung". Erkenntniswahrheit ist nicht mehr durch ein Vergleich mit der Wir-ld_ichkeit oder mit festgestellten Tatsachen, sondern vielmehr in einem dem Erkennmisakt (Prozess) immanenten MaBstab begriindet, ,,das heiBt in jenen Werten bzw. in jenem System von Werten, deren Seinsweise als das ,Geltende' bestimmt wird." Die Lebensphilosophie (Nietzsche, Bergson, Simmel, Scheler, Khges) {ibernimmt in gewisser Weise den positivistischen Erkenntnisbegriff von Auguste Comte, jedoch unter Einbeziehung der Frage nach dem Erkenntnissinn: Erkenntnis f{ir Nietzsche wird zum Mittel und Ausdruck fiir die Steigerung des Lebens, ,,Erkenntnis der Erkenntnis" hingegen als ,,naiv" und ,,pessimistisch" wahrgenommen. Die Analy, ische Philosophie von George Edward Moore (1873-1958), Bertrand Russell (1872-1970) und Wittgenstein (1889-1951) stellt sich sowohl gegen die Hermeneutiker als auch gegen die Idealisten und versucht tiber die analytische Sprachphilosophie Philosophie und Exaktheit wieder miteinander zu vers6hnen.
846 Vgl. im folgenden J~irgen R. Win•er / J~irgen w. Falter, Grundzigge der politikMssenschafilichen Forschungslogik und Methodenlehre, in: Arno Mohr, Grundziige derPolitikwissenschaft,MCinchen/Wien 1995, S. 65-141, 68-76. 84vVgl. im folgenden Wilhelm Dilthey, DerAuJbau dergeschichtlichenWelt in den Geisteswissenschaften,hg. v. Manfred Riedel, Frankfurt a.M. 1981; Thomas Jung, Geschichteder modernen Kullurtheorie, S. 59-68.
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Kapitel VI
Der Intentionalismus und die Ph~nomenologie (Husserl) gehen hingegen yon einem ,,Sinngehalt meinender Akte" aus. Sie entwickeln als neuen Gegenstand gegentiber den ,,Tatsachen" das ,,Wesen" (eidos) eines Dinges, das ,,Irreale". Das ,,transzendental reduzierte Phiinomen" wird zum Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung und darnit auch der Erkenntnis. Das reine Bewusstsein ist somit das ,,absolute Sein", und die Erkenntnis zur Wesenserkenntnis und somit zu einer Beschreibung der ,,artbezogenen" Gehalte, die wiederum nach einer Beschriinkung auf das innerweltliche Sein (d.h. in reiner Immanenz) einsichtig gemacht werden k6nnen. Das ,,transzendental reduzierte Phiinomen" indes elimimert nach Husserl nicht den gegenstiindlichen Bezug. Damit wird entgegen der Lebensphilsophie die Gegenstandsorientierung bewahrt. Der Personalismus (Brenner, Ebner, Buber, Rosenzweig, Blondel, Lavelle, Bjerdjajew) behauptet, dass die M6glichkeit der Selbsterfahrung nut im Rahmen des Dialogs, der Liebe und des Glaubens m6glich ist, ansonsten dem Menschen der Weg zur Erkenntl~s versperrt ist (sowohl zur Erfahrungserkenntnis als auch zur spekulativen Erkenntnis). Entscheidend ist also das ,,Zwischen" (das nicht systematisierbar, i.e. prinzipiell often ist). Die Freiheit der Existenz besteht im verstehenden Nachvollzug der ,,Du-Erfahmng". Der Logische Empirismus (Avenarius, Mach, Schlick, ,,Wiener K_reis", Camap) in der Tradition des Empirismus will ,,Sinnaussagen nut in Form von Beschreibungsprotokollen festhalten, die den Aussagenkorpus von Probanden wiedergeben." Die Empiriker ,,suchen statistische Invarianzen in Aussagen, nicht abet die in Aussagen sedimentierte und mit Sinnbedeutungen belegte subjektive Erlebniserfahrung" und wenden das ,,Erkliiren" gegen das ,,Verstehen" der Hermeneutik. Das Erkenntnisproblem wird - in Anlehnung an David Hume - ,,nicht mehr dutch die Frage nach der konstimtiven Bedeutung des Apriori bzw. nach dem Verhiiltnis yon subjektiver Gewissheit und absoluter Wahrheit zu umschreiben und zu exponieren" versucht, sondem die Forscher ,,beschriinken sich lediglich darauf, die methodischen Voraussetzungen einer ,exakten' Beschreibung und Erkl~irung yon Phi~nomenen zu diskutieren. ''848 Andererseits wird in Anlehnung an Auguste Comte der Positivismus propagiert: Die Wissenschaft begntigt sich l~cht nut mit der Feststellung des Gegebenen, d.h. des Tatsitchlichen im Sinne des physisch Erfahrbaren, sondern lehnt die Metaphysik explizit im gesamten Wissenschaftsprozess als ,,unwissenschaftFmh" ab. Die Motivation in der logisch emprisch orientierten Sozialwissenschaft lautet in diesem Kontext auch wissenschaftliche Erkenntnissiitze tiber einen Objektbereich nicht-analytischer Natur, z.B. die Politik, zu erreichen. Camaps und Neurath versuchen in diesem Kontext eine konstruierte wissenschaftliche Universalsprache zu entwickeln und zugleich die wissenschaftlichen Grundlagen mathematisch zu axiomatisieren sowie die Resultate der Sprachanalyse und Sprachkritik miteinander in Einklang zu bringen, was im Endeffekt nicht gelingen sollte. Bei Popper 849 erfolgt ein noch extensiverer Gebrauch der Logik als bei den Logischen Empiristen, aus deren Schule er kommt. Popper verwendet die Erkenntnis David Humes, dass induktive Schltisse nicht in der Lage sind, allgemeine Aussagen herbeizuftihren (,,Induktionsproblem") als Kritik gegen den Logischen Emprismus, indem Popper betont, dass nicht Beobachmngen, sondem Theorien die Basis der Wissenschaft bilden; eine Erkenntnis, die auch schon bei Kant in dessen Aussage, dass jede Erfahrung Annahmen tiber allgemeine Gesetze voraussetze, in anderer Weise vorhanden war. Theorien indes mtissen jederzeit mit der Erfahmng konfrontiert werden. Beobachtungen gehen der Theorie nicht mehr voraus, sind aber mal3gebliche Priifungsinstanz (Falsifizierbarkeitshypothese). Popper verbindet damit in gewisser Weise David Hume mit John Herschel (1792-1871), der schon zu seiner Zeit herausgefunden hatte, dass die Art und Weise der Entdeckung von Theorien for die Richtigkeit der Theorie irrelevant sei und so pragrnatisch zwischen einem Entdeckungs- und einem Begrtindungszusammenhang unterschied - blindes Raten k6nne demnach ,,durchaus gleichberechtigt neben einem sorgfaltigen induktiven Voranschreiten stehen. Fiir die Giiltigkeit einer Hypothese komme es lediglich darauf an, ihre logischen Konsequenzen dutch Beobachtung zu bestiitigen." Neben der Anwendung der Induktion stellte die Formulierung von Hypothesen die zweite M6glichkeit dar, zu Theorien zu gelangen: Theorien entstiinden ent-weder aus fortgeschrittenen induktiven Verallgemeinerungen oder dutch die Einftihrung k~hner Hypothesen. Die Metaphysik bekam auf diese Weise bei Popper wieder einen wissenschaftlichen, wenn auch nut methodologischen oder heuristischen Wert. Theorien sind demnach also genausowenig Offenbarungen der Vemunft (ldassischer Rationalismus) wie sie aus Sinneswahmehmungen hergeleitete Verallgemeinerungen (Empirismus) darstellen, sondem ,,Erfindungen" (Konstruktionen).
848 Nikolaus Wenmris / Walter Van hove / Volker Dreier, Methodologieder So~alwissenschaften.Eine Einfdhrung, Ttibingen 1992, S. 38. 849 Vgl. Karl Popper, Logik derForschun~ 4. Aufl., Ttibingen 1971.
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Der daraus resultierende Kritische Rationalismus geht vom Dreischritt Hypothese (Annahme), strenge Tests (systematische Widerlegungsversuche),Falschheit oder ,,Bewiihrung" (vorliiufigeRichtigkeit) aus. Der E x i s t e n t i a l i s m u s verbindet die Lebensphilosophie, die Phiinomenologie und den Personalismus miteinander: die theoretisch-wissenschaftliche Reflexion wird lediglich als eine ,,uneigentliche Seinsart" wahrgenommen. Die Suche nach der Eigentlichkeit und UrsprCinglichkeit der menschlichen Existenz (,,Sinn yon Sein'~ wird mit Hilfe eines phiinomenologisch-analytisch erarbeiteten Daseins- und Weltbegriffs hergeleitet. Heideggers ,,Sinn yon Sein" in diesem Kontext ist nicht objektivierbar. Zugleich ist abet Sein und Dasein nicht trennbar, da der Mensch das einzige Wesen ist, das sich zu seiner Existenz in fragender Form verhiilt. Die Aufhebung der Seinsart des Menschen erfolgt nut, um sie sodann als ,,Dasein" wieder einzuffihren. Die Erkenntnis ist nichts welter als ,,eine Seinsart des In-der-Welt-Seins." Thomas Kuhn und Irnre Lacatos f/ihren die Reflexionen der westlichen Philosophie auf eine neue kritische Spitze: Alle Widerlegungen von Theorien sind aufgrund des resistenten Verhalten der Wissenschaftler unm6glich. Wissenschaftler erfinden zeitlebens sogenannte ,,rettende Hypothesen" (Irnre Lacatos). Der Wissenschaftsfortschritt basiere lediglich auf einer irrational motivierten )~nderung der Uberzeugung der Wissenschaftlergemeinde (Kuhn). Sie ist nicht rational (,,Wider den Methodenzwang", Paul Feyerabend) der Westen macht sich e~vas vor, wenn er sich das einbildet. H a n n a h A r e n d t beschreibt den Anfang der ganzen hier skizzierten Entwicklung in Bezug auf die naturwissenschaftlichen Errungenschaften treffend und eindrucksvoll als die Findung des ,,archimedischen Punktes", d.h. desjenigen Punktes, der bei Archimedes als der Ort beschrieben wurde, der mechanische Kraft auf der Basis eines minimalen Kxafteinsatzes ausl6sen kann. Die Erfindung des Teleskops bildete damit den archimedischen Punkt nicht nur der westlichen Zivilisationsgeschichte, s o n d e m der gesamten Weltgeschichte. Arendt n a h m hier, ohne es zu verraten, Bezug auf einen Gedankengang, wie er schon im Ansatz bei Plutarch, vollendeter bei Rousseau und in Anlehnung daran bei T h o m a s Paine entwickelt wurde: Dass dasjenige, was Archimedes in Bezug auf die mechanische Kraft theoretisch herausgefunden hat, auch auf die Prinzipien der ,,Vernunft" und ,,Freiheit" angewendet w e r d e n kann. Rousseau formulierte es folgendermagen: dass es logisch auch fiir den ,,wirklichen G l o b u s " umsetzbar sein miisse, ,,mit einem kleinen Finger" den ganzen Globus zu ,,bewegen", wie m a n es mit dem Globus im Arbeitszimmer tun k6nne und es nun d a t u m gehe, diesen einen Punkt zu finden, der diese ganzheitlichen Folge einer minimalen Bewegung wie derjenigen des einen Fingers m6glich macht. T h o m a s Paine (dessen P s e u d o n y m 1775 hieB ,,Atlanticus ''85~ schrieb entsprechend: ,,Had we a place to stand upon, we might raise the world".851
4.3 Die kulturelle Hochbliite der neuen europa?'schen Zivilisation Die grundlegenden Erfindungen der Friihen Neuzeit gingen einher mit dem Einsetzen einer kulturellen Hochbliite und neuen konfessionellen und zugleich gegenreformatorischen Str6m u n g e n zwischen dem 16. und 17. J ahrhundert in den italienischen, spanischen, franz6sischen, mitteleurop~iischen und fl~imischen Kulturzentren eines sich herausbildenden atlantischen Zivilisationszusammenhanges. Die neuen konfessionellen Str6mungen waren z.B. die Lutheranet, Calvinisten, H u g e n o t t e n (ausgehend v o n Martin Luther aus Deutschland), die jesuitische G e g e n r e f o r m a t i o n (ausgehend von Ignatius von Loyola aus Spanien/Baskenland), der antijesuitische J ansenismus (augehend von Comeine Jansen aus Flandern), der gallisch-anglikanische Synkretismus (ausgehend von Jacques Bfinigne Bossuet aus Frankreich), der Deismus (ausge-
as0Vgl. Alfred Owen Aldridge, ThomasPaine'sAmerican Ideology,Newark/London/Toronto 1984, S. 28f. 851Zitiert nach ebd., S. 142.
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Kapitei VI
h e n d y o n H u g o Grotius aus den Niederlanden), der Q u i e t i s m u s (ausgehend v o m r 6 m i s c h e n Priester Miguel de Molinos aus Spanien), der Pietismus (u.a a u s g e h e n d v o m mystizistischen Blaise Pascal aus Frankreich, d e m E r f m d e r der b e r i i h m t e n ,,Pascalschen Wette", schlieBlich y o n J e a n de L a b a d i e aus den N i e d e r l a n d e n , mit starken lutherischen Ausliiufem in Siidwestdeutschland), das Q u i i k e r t u m (ausgehend v o n G e o r g e F o x aus GroBbritannien) u n d der Puritanismus (ausgehend v o n J o h n W i n t h r o p , J o h n C o t t o n , R o g e r Williams u n d sp~iter v o n William P e n n aus N o r d a m e r i k a ) . 852 Die kulturellen E n t w i c k l u n g e n , die in erster Linie zuniichst aus einer sich mit d e m R e n a i s s a n c e - E r b e v e r b i n d e n d e n k a t h o l i s c h e n G e g e n r e f o r m a t i o n entsprangen, lassen sich a n h a n d folgender E r s c h e i n u n g e n skizzieren853: Als Grundsteinlegung der klassischen Musik die Werke von Monteverdi aus Mantua und seiner ,,Nachfolger" Cavalli, Cesti, Carissimi; die Oratorien von Heinrich SchCitz; die Orgelwerke von Frescobaldi (Rom/Antwerpen); Dietrich Buxtehude (L{,ibeck), Sweelinck und Gabrieli; die Erfindung des ,,concerto grosso" durch Corelli; die Violinwerke yon Amati, Guamieri und Stradivari; die bahnbrechenden Symphoniewerke yon Hiindel, spiiter (ira 18. Jahrhundert) Bach. Neben der Oper in Italien muss noch auf das Heraufkommen der Zarzuelas in Spanien, des Ballets in Frankreich, der Maskeraden in Grol3britannien und der Singspiele in Deutschland hingewiesen werden. In der Arch#ektur die gmndlegenden Werke Michelangelos und in der Kunst der Anbmch des barocken Zeitalters. Architektur und Kunst vereinigten sich auf beeindmckende Art und Weise in ganz Europa: in Rom (verschiedene Paliiste, Sant Pedro, Sant Agniese), Venedig (Santa Maria della Salute, Dogana), Turin (Kirche San Lorenzo), Lecce (Santa Croce), Neapel, Sardaigne (Kathedrale Sassari), Madrid (Panaderia), Salamanca (ayuntamiento), Paris (Louvre), Miinchen (Theatinerkirche), Prag (Palast Czernin), Salzburg (Residenzplatz), Karlsmhe, Mannheim, Potsdam, Wien (Karlskirche, Melkabtei), Dresden, Wfirzburg, Stockholm (K6nigspalast). Die Architekten kamen ebenso aus ganz Europa (Werke Le Vigmoles, Berninis, Borromil~s, Longhenas, Benonis, Guarinis, Donosos, Churriguerra, Perraults, Le Bruns, Barellis, Lucallis, Carattis, Dorios, Fischers von Erlach, Faydherbes, Wrens und Vanburgs). In der Skulpturkunst wiire noch Pierre Puget zu erwiihnen. Transatlantische Auswirkungen entfaltete die europiiische Architekmr in zahlreichen Bauten in Mexiko, Ecuador, Brasilien und Peru. In der Malerei Ode bahnbrechenden Werke yon Caravaggio, und die nachfolgenden Werke Corregios, Zampieris, Albanis, Mignards, Le Nains, Philippes de Champaigne, Ribieras, Zubar~ms und Murillos. In Spanien, Flandem und Holland die Werke von Velazquez und Antoine van Dijcks sowie Paul Rubens, Domenikos Theotokopoulos (El Greco), Rembrandts van Rijn, Frans Hals', Jacob Ruysdaels und Jan Vermeer de Delft. Und schlieBlich die Bl{ite insbesondere der ffanz6sischen La?eratur unter Racine und Corneille Die kulturellen V e r i i n d e r u n g e n w a r e n die ,,Tonalitiit der R a u m r e v o l u t i o n ''854. Riiume u n d R a u m w a h r n e h m u n g e n v e r i i n d e m sich d u r c h g e h e n d : ,,Die Malerei der Renaissance beseitigt den R a u m der mittelalterlichen gotischen Malerei ''855, in der A r c h i t e k t u r w e r d e m Figuren nicht m e h r an Pfeilem u n d M a u e m , , a n g u l i e r t " , s o n d e r n frei in den R a u m gestellt 856, die Musik stellt ihre M e l o d i e n u n d H a r m o n i e n ,,in den H 6 r r a u m unseres s o g e n a n n t e n tonalen Systems ''857 u n d ,,Theater u n d O p e r lassen ihre Figuren sich in der leeren Tiefe eines szenischen B i i h n e n r a u m e s bewegen."ssg
8s2Vgl. Charles Verlinden, Les Origines de la Civilisation Atlantique. De la Renairsance ~ l'Age des Lumiares, Neuch~tel / Paris 1966, S. 278-281 und 283. 853Vgl. die Zusammenfassung von Charles Verlinden, Les Origines de la Civilisation Atlantique. De la Renaissance ~ l'Age des Lumiares, Neuch~tel / Paris 1966, S. 265-274. 854Carl Schmitt, Land undMeer. Eine weltgeschichtlicheBetrachtune~ 4. Auflage, Stuttgart 2001, S. 68. 85s Ebd., S. 68 856Vgl. ebd., S. 68f. 857Ebd., S. 69. 858Ebd., S. 69.
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4.4 Geistige Voraussetzungen im grfechisch-rb'mischen Denken und die chrfstliche Dimension der planeta~schen Raumrevo lution
N o c h viel stiirker als bei der ,,Allraumrevolution" ist die antike Wissenschaft als zwingende denkerische Voraussetzung der planetarischen Raumrevolution zu begreifen. ,,The philosophers and writers of ancient Greece and Rome laid a scientific basis for the discoveries of the fifteenth and sixteenth centuries. ''859 Die antike Wissenschaft wurde zugleich - wie schon e r w i i h n t - zu einem beherrschenden Motivationsmoment beim grol3en Genuesen Christopher Kolumbus. Es ist fast schon bedriickend, wie stark heute dieses zivilisatorische M o m e n t der Antike in der breiten C)ffentlichkeit dutch die Legende der angeblich im Mittelalter vorherrschenden Erdscheibentheorie an den Rand gedr~ingt wurde. 86~ Eine ,,Atlantische Zivilisation" miisste sich wieder des Kontinuums zwischen sich ereigneter Raumrevolution im 15. J ahrhundert sowie Philosophie und Imagination im antiken Zeitalter bewusst werden. Da ist es sehr hilfreich, sich an die beeindruckende Geschichte der westlichen Erdkugelvorstellung zu erinnern. Im deutschsprachigen Schrifttum demontierte zuletzt Reinhard Kriiger auf sehr eindriickliche, quellenanalytisch fabelhafte Weise die Legende (bzw. den ,,vulgiiren Fehler ''861) von der Erdscheibentheorie in der Nachantike. 862 In Anlehnung an die Kugel- und Antipodenfnktion Platons, die sogar von Cicero, dann von Lukian, Hyginus, Ovid, Manilius, und schliel31ich insbesondere von Pomponius Melas, Plinius und letztlich Ptolemaios weitergefiihrt wurde, ist es eigentlich ein Leichtes, die Erdscheibentheorie als Legende der Aufkl~irungsmodernisten zu entlarven. Nicht die Erdscheibe war das Problem, sondern das Abriicken vom geozentrischen Weltbild (dass sich also die Sonne um die starre Erde bewege), und auch in diesem Punkt kann auf die Antike hingewiesen werden: Das geozentrische Weltbild wagten Aristarch von Samos (und im 10. Jahrhundert n.Chr, der groBe persische Astronom A1-Biruni) anzuzweifeln, bis schlieglich Kopernikus in seinem Werk , , D e revolutionibus orbium caelestium" im Jahre 1543 den Beweis fiir das heliozentrische Weltbild fiihren konnte. 863 Auch dass sich die Weltentdeckung durch einen gliiubigen Christenmenschen, wie es Kolumbus zweifelsohne war, vollzogen hat, wird heute nicht immer in einem ad~iquaten Sinne in die geschichtsphilosophische Waagschale geworfen: Es ist b e z e i c h n e n d - sowohl fiir den , , A d m i r a l " selbst als auch fiir den Stellenwert des christlichen Glaubens in Geschichte und P o l i t i k - dass die italienische Namensbezeichnung fiir , , E m e r i c h ''864, getragen von einem florentinischen SproB einer reichen, Medici-gertreuen Familie, den heiligen Christopherus als Namensgeber verhindem konnte. Amerigo, selbst nicht sehr religi6s, war zuniichst BanNer
859Samuel Eliot Morison, The European Discove{7 ofAmerica. The Northern l/oyages A.D. 500 - 1600, New York 1971, S. 9. 860Vgl. Holger Afflerbach, Das en~esselteMeer. Die Geschichte desAtlantik, M/inchen 2001, S. 167. 861So Samuel Eliot Morison, The European Discove{7 of America. The Northern Voyages A.D. 500 - I600, New York 1971, S. 6. 862Vgl. auch Holger Afflerbach, Das en~esselteMeer. Die Geschichte desAtlantik, M/inchen 2001, S. 45. 863Vgl. Reinhard Kr/iger, Das Oberleben des Erdkugelmodells in der Spa'tantike (ca. dO v.u.Z - ca. 550). Eine Welt ohneAmerika II, Berlin 2000; Gerhard Simek, Erde und Kosmos im Mittelalter. Das Weltbild vor Kolumbus, M/inchen 1992; Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtlicheBetrachtung, 4. Auflage, Stuttgart 2001, S. 58. Das heisst nicht, dass in der mittelalterlichen Geographie nicht auch Kombinationsmodellevertreten wurden (vgl. insbesondere die Quellenarbeitenin David C. Lindberg, >'on Babylon bis Bestiarium. Die Anfa'nge des abendla'ndischen Wissens, Stuttgart u.a. 1994. Vgl. zur antiken Geographie Eckart Olshausen, EinJ~hrung in die Historische Geographie der Alten Welt." Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991. Vgl. theoretisch auch Thomas Kuhn, Die StrukturMssenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1967). 864Vgl. Samuel Eliot Morison, The European Discove{7 of America. The Southern Voyages A.D. I492 - 1616, New York 1974, S. 276.
182 u n d R e e d e r 865 u n d , , E m e r i c h " ist eine E r w e i t e r u n g s f o r m b u t e wie , , K a m p f " , , , R e i c h t u m " , , , M a c h t " . 866
Kapitel VI o s t g o t i s c h e r B e z e i c h u n g e n fiir A t t r i -
F r e N c h iindert das alles n i c h t s an d e r G e w a l t des Bildes v o n d e r R e i n k a r n a t i o n des C h r i s t o p h e r u s in Kolumbus867: So wie C h r i s t o p h e r u s d e n reil3enden Fluss v e r m i t t e l s seines G l a u b e n s i m m e r u n d i m m e r w i e d e r i i b e r q u e r t e u n d d a m i t i i b e r b r i i c k t e , bis er eines T a g e s m i t Jesus die g a n z e W e l t a u f s e i n e n S c h u l t e r n t r u g ( d e m Atlas ~ihnlich!) u n d dafiir m i t B l u m e n , F r i i c h t e n u n d P a l m e n b e l o h n t w u r d e , so i i b e r b r i i c k t e a u c h K o l u m b u s - C h r i s t e n m e n s c h d u r c h u n d d u r c h , i m u n e r s c h i i t t e r l i c h e n W i l l e n u n d f e s t e n G l a u b e n an G o t t g68 u n d an P s a l m 8 des N e u e n T e s t a m e n t e s 869- d e n A t l a n t i k , die g a n z e W e l t a u f s e i n e n S c h u l t e r n t r a g e n d u n d ein L a n d e n t d e c k e n d , das z u n i i c h s t n i c h t aus c h i n e s i s c h e m G o l d , s o n d e m aus , , B l u m e n , F r i i c h t e n , P a l m e n " bestand. D i e u n c h r i s t l i c h e , , A m e r i k a " - B e z e i c h n u n g iindert a u c h n i c h t s d a r a n , dass die E n t d e c k u n g d e r N e u e n W e l t d u r c h d e n gl~iubigen C h r i s t e n m e n s c h e n C h r i s t o p h e r u s K o l u m b u s die V o r a u s s e t z u n g dafiir schuf, dass ein zu j e n e r Z e i t v o m o s m a n i s c h e n I s l a m m a s s i v h e r a u s g e f o r d e r t e s , i m O s t e n des e u r o p i i i s c h e n T e r r i t o r i u m s an seiner e i g e n e n Politik s c h e i t e r n d e s 87~ C h r i s t e n t u m in E u r o p a u n d ein s o z i o 6 k o n o m i s c h d a m a l s in vielerlei H i n s i c h t e h e r d a h i n s i e c h e n d e s E u r o -
865 Seine erste Fahrt zur See unternahm er mit Ojeda erst 1499 als Financier des Untemehmens (also nicht wie Waldseemfller auf der Basis falscher Angaben des Vespucci glaubte, 1497, ein Jahr vor der Befahmng des kontinentalen Amerikas dutch Kolumbus). Amerigo brach seine Mitfahrt sogar aufgmnd der harten Seewirklichkeit schon im Juni 1500 ab, kehrte dem Schiff unter Ojeda den Rfcken und schipperte im kleinen Boot zurCick nach Sevilla. Amerigos Amerikabeschreibungen 1504 (vgl. Amerigo Vespucci, Mundus Novus, hg. yon Robert Wallisch, Wien 2002) f/ihrten jedoch rasch zu einer Popularisiemng seiner Person in Florenz und auch am portugiesischen Hole, was am Ende die uns bekannte Benennung zur Folge hatte. Es sollten nunmehr die Brasilienfahrten des Vespucci folgen (vgl. Samuel Eliot Morison, The European Discove~ ofAmerfca. The Southern Voyages A.D. 1492 - 1616, New York 1974, S. 279f.), die ~ihnlich wie bei Columbus - eindrfckliche Berichte fiber Kulmr und Leben der amerikanischen Eingeborenen zur Folge hatten (vgl. ebd., S. 284ff. und 292), die er im Gegensatz zu Kolumbus ffr das breite, europNsche Publikum zug~inglich machen konnte (vgl. ebd., S. 288f.). Eine angemessene Wfrdigung seiner Person finder sich ebd., S. 294297. Morison schliel3t mit den Worten: ,,So, here's to you, Amerigo! Liar though you were, you made three long transatlantic voyages, wrote entertainingly about them, and played your cards so cleverly as to be elected to the exclusive club of the immortals." (ebd., S. 297). 860 Anderseits: Das einzig authentische Bild, das wit von Amerigo Vespucci haben ist das eines handzahmen Knabens im Kreis einer um die heilige Jungfrau Maria gruppierten Vespucci-Familie im Familienpotriit, das in damals fblicher Weise mit der visualisierten Anbetung der Marienfigur verbunden wurde. Der Jungfrau am n{ichsten stand der ICqabe Amerigo. Das Bild wurde um 1468 herum gemalt, als Amerigos Cousin Marco mit der berfhmten, Amerigo gegenfber gleichaltrigen (damals 15@hrigen) Simonetta Vespucci (die Venus des Boticelli und ,,sch6nste Frau yon Florenz") verheiratet wurde, mit der Amerigo t~iglichen Kontakt hatte, was schon damals zu einem gewissen Zauber um seine Person gef/ihrt hatte, besonders nachdem Simonetta durch ihren frCihen Tod an Tuberkulose (1476) als unsterbliche Sch6nheit in die Annalen der Geschichte einging (vgl. ebd., S. 278). a6v Vgl. zum Urspung des Triigermotivs Hildegard Frfbis, Die Wirklichkeit des Fremden. Die Darstellung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert, Berlin 1995, S. 108f.; vgl. auch Dimitri S. Mereschkowskij, Das Geheimnis des Westens. Atlantis- Europa, Leipzig / Z/irich 1929, S. 118. 8~8 Vgt. Samuel Eliot Morison, The European Discove~ of America. The Southern l/~yages A.D. I492 - 1616, New York 1974, S. 27 und insbesondere auch S. 52f., 60 und 141f. 869 ,,Du [Herr] hast ihn [den Menschen] wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast Du ihn gekr6nt / Du hast ihn zum Herrn gemacht fiber Deiner H~inde Werk, alles hast Du unter seine Ffl3e getan / Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere / die V6gel unter dem Himmel und die Fische im Meet und alles, was die Meere durch~eht [also von Meer zu Meer und yon Flui3 zu Flui3] / Herr, wie herrlich ist Dein Name in allen Landen [also bis ans Ende der Welt]" [Kursivbetonung vom Verfasser]. 870 Als symbolische Kulmination einer bestimmten Form historischer Perversion (und bitterer D;,imonie) kann in diesem Zusammenhang der Fall Konstantinopels 1204 betrachtet werden (vgl. eindringlich in Anlehnung an Edward Gibbons Geschichte des Verfalls und Untergangs des Rh'mischen ReicheJ'. Brooks Adams, Das Gesetz der Zivilisation und des l/erfalls, Wien / Leipzig 1907, S. 215-221; Felipe Fern~ndez-Armesto, Millennium. Die Weltgeschichte unseresJahrtausends, 5. Aufl., M/inchen 1998, S. 92f.).
Varianten des atlantischen Mythos und heutige Bedeutungen
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pa 8vl, einen b e f r e i e n d e n W e g gen W e s t e n gewiesen bekam. Wiihrend die islamischen (omajiadischen u n d abbassidischen) O f f e n s i v e n zwischen d e m 8. u n d 13. J a h r u n d e r t die M a c h t p u n k t verlagerung des christlichen E u r o p a s a u f das sich christianisierende N o r d w e s t e u r o p a vorantrieben, ffihrten die o s m a n i s c h e n O f f e n s i v e n im 14. u n d 15. J a h r h u n d e r t zur Begfinstigung der Suche emes direkten Seeweges fiber den Atlantik nach Asien. D i e Idee, den direkten Seeweg ffir technisch fiberbrfickbar zu halten, k o n n t e sich nach den Atlantikfahrten der P o r t u g i e s e n 8v2 allmiihlich entwickeln u n d n a h m in 13berlegungen des Florentiner Arztes u n d N a t u r g e l e h r t e n Toscanelli ihren A u s g a n g 873, der im Briefkontakt mit K o l u m b u s stand. D i e s e r ,,Weg nach W e s t e n " sicherte d e m C h r i s t e n t u m am E n d e schliel31ich e m e u t einen historischen W e l t t r i u m p h (freNch mit all den blutigen, politischen BegleiterscheinungenSV4). Allerdings ging der E r f o l g des , , C h r i s t e n t u m s " mit einem m e h r u n d m e h r konquistadorischen ,,christlichen" Spanien einher, in dessen D i e n s t e n K o l u m b u s g e s t a n d e n hatte u n d lag somit jedoch weniger in der P e r s o n des vatikanischen Papstes begrfindet, da die ,,Wirksamkeit der piipstlichen G e w a l t ffir die O r d n u n g der W e l t e r o b e r u n g durch die Europ~ier endgiiltig erlosch ''875 - trotz der Tatsache, dass zuniichst einmal n u r eine pS.pstliche V e r l e i h u n g die innereuropiiische Legitimationsbasis fiir die B e h e r r s c h u n g amerikanischer Territorien bilden konnte. D a s P a p s t t u m war jedoch ein zu ,,europ~iisches A m t ''876 in den ersten J a h r z e h n t e n des 16. J a h r h u n d e r t s , viel zu wenig ,,nationale M a c h t " , als dass es im Zeitalter der aufkomm e n d e n N a t i o n a l s t a a t e n n o c h eine gewichtige Rolle hiitte spielen k6nnen. D e r machtpolitische E r f o l g der europiiischen N a t i o n e n , welcher in der G e f a n g e n n a h m e u n d Liquidation des Inka871 Vgl. Felipe Fern~indez-Armesto, Mil~nnium. Die Welgeschichte unser~sJahrtausends, 5. Aufl., MCinchen 1998, S. 200f. und Femand Braudel, Chinesen, Araber... hatte nur Europa eine Chance?, in: Rainer Beck (Hg.), 1492. Die Welt gur Zeit des Kolumbus, M/inchen 1992, S. 187-197. 8v2Vgl. Holger Afflerbach, Das en([esselteMeer. Die Geschichte des Atlantik, MCinchen 2001, S. 118-157 und Ralph Davis, The Rise of the Atlantic Economies, London 1973, S. 1-14. 8v3Vgl. Holger Afflerbach, Das entfesselteMeer. Die Geschichte desAtlanlik, M/inchen 2001, S. 158f. 8v4 Etwas fiberspitzt: ,,Die moderne Auffassung, dass Religion und Humaln_itiit zusammengeh6ren (...) gilt [..] nicht f/ir das ,real existierende Christentum', wie es sich in der Geschichte offenbart hat." (Hans Albert, Freiheit und Ordnung. Der europa?sche Beitrag zur La'sung des ordnung~olitischen Problems, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschaft undpolitische Ordnung. Analysen Zu Theorie und Empirfe demokratischerRegierungssysteme, Opladen 1986, S. 61-69, 62); vgl. ferner ebd., S. 68f., Fn. 4. Mit Blick auf den politischen Augustinismus des Mittelalters im allgemeinen sei verwiesen auf die sehr differenzierte, abgewogene, aber dennoch klare Beurteilung bei Pierre Chaunu, Die Wurzeln der Freiheit, Mfinchen 1982, S. 101ff. Es sollte an dieser Stelle im 0brigen nicht vers~iumt werden, darauf hinzuweisen, dass Kirchenv{iter und P{ipste vor dem hochmittelalterlichen Kampf der Kirche gegen die h~iretischen Bewegungen der Katharer, Albigenser und der Waldenset die Anwendung yon Folter noch ausdrCicklich ablehnten. Erst 1252 erliei3 Papst Innozenz IV. seine berCihmtberiichtigte Bulle A d ex't@anda, welche im r6misch-katholischen Kirchenrecht die Folteranwendung in der Tradition des paganen R6mischen Rechtes begrCindete. In Bezug auf das Verhalten der Christen in Amerika ist des weiteren darauf hinzuwiesen, dass insbesondere die Konfrontation der christlichen Eroberer mit dem mystisch-~iegerischen Opferkult der Azteken eine (letztlich erschreckend massenhafte) Vernichtung von Eingeborenen dutch die ,,Allerheiligste Inquisition" auf ganz besondere Weise befeuern musste. Die altmexikanische Opferwut und die Zelebriemngen yon rasender Grausamkeit und rasender Wollust (Massenopfemngen, die in die Zigtausende gingen, massenhafte und mehrt{igige Opferz/ige, Bau von Tempelpyramiden aus geopferten Menschen, kannibalische Opferriten - ,,Theophagie" - Kinderopfer, grauenhafte Matter- und K_reuzigungsrimale) mussten den Katholiken, insbesondere auf der ersch/ittemden Expeditionsreise unter der FCihmng von Cortes, wie Formen einer geschw/irartigen Satansreligion erscheinen, die mit Schwert, Eisen und Feuer bis ins Letzte ausgemerzt geh6re (einen Einblick in diese Dimension geben die Zeichnungen des Kodex Fejevary-Mayer in der Bibliothek zu Liverpool). Die Idee yon spanischen Predigern, einen ,,Heiligen Krieg" f/ihren zu mCissen, sollte im Ubrigen fairerweise auch nicht abgetrennt vom islamischen ,,Vorbild" jener Zeit betrachtet werden. Andererseits hat der ,,Westen" nat/.irlich brutale Conquistadorengestalten wie z.B. Hernando Cortes oder wie Francisco Pizarro in seiner Geschichte ,,wie Kinder ein Vogelnest". 87s Adolf Rein, Uber die Bedeutung der iiberseeischen AusdehnungJ~r das europa'x;'cheS/aaten-System. Ein Beitrag zur BildungsGeschichte des Welt-Staaten-Systems, in: Historische Zeitschrift 137, 1928, S. 28-90, 34. 8~6Ebd.
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Kapitel VI
H e r r s c h e r s u n d , , S o n n e n g o t t e s " Atahualpa in Cajamarca durch den Statthalter Claudio Pizarro im J a h r e 1532877 kulminierte, schwiichte das Heilige R 6 m i s c h e Reich mit der Zeit entscheidend. s78 Allerdings b e d e u t e t e der europiiische Aufstieg zugleich in einer sehr langfristigen Perspektive die machtpolitische 13berfliigelung Chinas 879 d u t c h E u r o p a u n d richtete sich in einem religionspolitischen K o n t e x t kurz- bis mittelfristig e n t s c h e i d e n d gegen den Islam, dessen ,,arabische Variante" indes schon seit d e m 13. J a h r h u n d e r t (seit d e m E i n b r u c h der M o n g o l e n in Mittelasien) im s t ~ e n Macht-verfall begriffen war. 88~ ,,Die E r o b e r u n g des Atlantik v e r h a l f E u r o p a fiir J a h r h u n d e r t e zu uneingeschrS.nkter Vorherrschaft. ''881 In B e z u g a u f den Islam ist die B e d e u t u n g der A t l a n t i k e r o b e r u n g nicht so u n m i t t e l b a r einsichtig wie z.B. bei direkten milit~irischen E r f o l g e n v o n Christen gegen islamische G e g n e r in priikolumbianischer Zeit: also 732 bei T o u r s u n d Potiers, der R i i c k e r o b e r u n g T a o r m i n a s 902, T o l e d o s 1085, der E r o b e r u n g J e r u s a l e m s 1099 (Fall 1187), A k k o n s 1191 (Fall 1291), C 6 r d o b a s 1236, Sevillas 1248 u n d G r a n a d a s 1492. 882 Die E n t d e c k u n g A m e r i k a s kann indes im G e g e n s a t z zu jenen E t a p p e n s i e g e n als ein endgiiltiger Sieg der Europiier gegen V e r s u c h e einer militiirischen E r o b e r u n g des g e s a m t e n K o n t i n e n t s durch den Islam gedeutet werden. D i e Welt des Islam (,,dar-al-Islam") k o n n t e ab jenen Z e i t p u n k t definitiv nicht m e h r das christliche E u r o p a , das ,,Haus des K r i e g e s " (dar-al harb), e r o b e m u n d in G e s a m t h e i t zu seinem , , D h i m m i t u m " machen 883, was als eine , , G n a d e " fiir E u r o p a u n d den , , W e s t e n " b e z e i c h n e t w e r d e n k6nnte, auch w e n n eine solche B e z e i c h n u n g heute als umstritten gelten sollte. 884
877Vgl. eindr/icklich Jared Diamond, Arm und Reich. Die Schicksale menschlicherGesells&aften, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 69-87. Der Angriff der gerade mal 168 (!) Konquistadoren unter Pizzaro ereignete sich im Verlaufe einer Audienz, welche dem Herrscher (dem weir fiber 50 Tausend Soldaten unterstanden) samt seines unbewaffneten Herrschertrosses im Lager der Konquistadoren in der Vorstadt, unter dem Versprechen, dass keine Gewalt angewendet werde, vorgeschlagen wurde und mit dem Ziel ihn (direkt) im christlichen Glauben zu unterweisen. Der Mitre des 16. Jahrhunderts immer nach diesem Strickmuster ablaufende Angriff muss den/iberraschten Indianern wie eine aui3erirdisch /iber sie hereinbrechende, monstr6se Apokalypse vorgekommen sein - Pferde und Kanonen waren ihnen giinzlich unbekannt. 878 ,,Der Ausgang der Herrschaftszeit Karls V. hat gezeigt, dass die wir'ldichen Voraussetzungen zur Erneuerung des Imperiums der mittelalterlichen Welt in den Verhiiltnissen des 16. Jahrhunderts nicht mehr gegeben waren." (ebd., S. 38). Es kam zum Aufstieg Frankreichs (unter Franz I., dermit den Protestanten und T/irken koalierte), Groi3britanniens (unter Elizabeth I.) und der Niederlande. Das neue Prinzip der ,,Freiheit des Ozeans" stellte sich gegen den r6mischen Universalismus und tat sein Ubriges. Im 17. Jahrhundert spielten Universalreiche keine Rolle mehr. Der wichtigste machtpolitische Gegensatz vollzog sich dementsprechend zwischen einem britischen Prinzip des ,,mare clausum" und dem niederliindischen Festhalten am Grundsatz des Grotius ,,mare liberum" (vgl. ebd., S. 51f.). 879Vgl. Felipe Fern(mdez-Annesto, Ideas that changedthe world, New York 2003, S. 219. 880Vgl. K.N. Chaudhuri, The Containment of Islam and the Background to European Expansion, in: Felipe Fern(mdez-Armesto (Hg.), The Global Opportunity, Cambridge 1995, S. 299-313, 305. 881 Femand Braudel, Die Geschichte der Zivilisalion. 15.-18. Jahrhundert, M/inchen 1979, S. 431. 882 Siege, denen folgende Niederlagen entgegenstanden: 8. Jh. Damaskus, Antiocheia, Jerusalem, Alexandria; 711/12 Jerez, Toledo, Sevilla, Merida, Malaga, Granada; 827-902 Niederlagen in Sizilien, Fall Jerusalems 1187, Attaleias 1207 (Antalya), Akkons 1291, Brussas 1326 (Bursa), Nikaias, Nikomedias und Ancyras 1326-59 (Iznik, Izmid, Ankara), Adrianopels 1361 (Edirne), Niederlage auf dem Amselfeld 1389, Eroberung Bulgariens, der Walachei, Fall Smymas 1424 (Izmir), Semendrias 1439 (Semerovo), Vamas 1448, Konstantinopels 1453 (Istanbul), Moreas (Peleponnes') und Trapezunts 1461 (Trabzon), Belgrads 1521, Siege S/ileymans bei Moh~ics 1526 gegen die Ungam, Fall Temesvars 1552, Szigetv(trs 1566. 883 Fast wie ein Fanal wirkte die Seeschlacht bei Lepanto (Naupaktos) im Jahre 1571. Folgende weitere Siege christlichef Heere sollten sich nach der ,,Raumrevolution" ereignen: Abwehr der Belagerungen bei Wien 1529, bei G/ins (K6szeg) 1532 und bei Erlau (Eger) 1552, erstmaliger Sieg gegen ein osmanisches Hauptheer bei Mogersdorf / St. Gotthard 1664, 1683 Sieg am Kahlenberg (mit der symbolischen Anekdote der Erfindung des ,,Croissants" in Wiener B{ickereien), R/ickeroberung Ofens (Budas) 1684, Sieg von Moh/tcs 1687 (R/ickeroberung Ungams), 1697 Sieg bei Zenta und 1716 bei Peterwardein bei Novi Sad durch Prinz Eugen, Siege Russlands in den T/irkenkriegen 1768-1774 und 1787-1792, die dan-Lit einhergehende R/ickeroberung der Krim (1783) und die R/ickeroberungen im 19. und 20. Jahrundert durch die Freiheitskiimpfe der balkanischen Christen (1827 Sieg der britisch-franz6sisch-russischen Flotte
Varianten des atlantischen Mythos und heutige Bedeutungen
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,,Vergleicht man im 16. und 17. Jahrhundert die europiiische Expansion nach Ubersee und die zuniichst noch kraftvollen Vorst613e der Tfirken nach S/idosteuropa, so kann kein Zweifel bestehen, welcher der beiden Bewegungen der h6here universalgeschichtliche Rang zukommt. Die islamische Welt und das Osmanische Reich im besonderen vermochten nicht, sich in einem MaBe zu regenerieren, wie es f/it eine auf die Dauer erfolgreiche Auseinandersetzung mit der Christenheit erforderlich gewesen wire. An Konkurrenz in Ubersee war fiber Indien und Ostafrika hinaus nicht zu denken. Der Islam verharrte bis ins 19. Jahrhundert und verschiedentlich noch liinger in seinem Mittelalter. Die friedlichen Beziehungen zwischen ihm und der Christenheit, noch mehr ihre gegenseitige Feindschaft, bleiben nach wie vor lebhaft, und der Hauptschauplatz ihrer Auseinandersetzungen, die Mittelmeerzone, sank nie zu einem toten Winkel der Weltpolitik herab. Aufs ganze gesehen vollzog sich jedoch, langsam zwar, abet stetig, eine Verlagemng des weltpolitischen Gravitationszentrums zum Atlantischen Ozeans hin und zur Staatenwelt seiner Anrainer. ''sSs W a s die T h e s e betrifft, dass das C h r i s t e n t u m letztlich a u f g r u n d der R a u m r e v o l u t i o n e r n s t h a f t z u r i i c k g e w o r f e n w u r d e , weil das P a p s t t u m n u n m e h r seine starke o r d n u n g s p o l i t i s c h e F u n k t i o n verlor, die es a u f d e m e u r o p i i i s c h e n K o n t i n e n t v o r der R a u m r e v o l u t i o n n o c h b e s e s s e n h a t t e a86, sollte diese z u m i n d e s t relativiert w e r d e n : Schliel31ich k o n n t e sich die r 6 m i s c h - k a t h o l i s c h e Kirche a u f der Basis ihrer spiiteren E r n e u e r u n g S i i d a m e r i k a z u w e n d e n u n d es in sehr erfolgreicher, w e n n a u c h blutiger Weise, z u m M i s s i o n s f e l d m a c h e n . D i e G e g e n r e f o r m a t i o n , die sich in E u r o p a irn 17. J a h r h u n d e r t f o r m i e r t , b e z o g ihre geistige K_raft g e r a d e aus einer E r h e b u n g der E n t d e c k u n g A m e r i k a s zu einer religi6sen, geistigen , , B e w u s s t h e i t " des r 6 m i s c h e n K a t h o l i z i s m u s . D a s liisst sich b e s o n d e r s s c h 6 n an T h o m a s C a m p a n e l l a s k a t h o l i s c h e r I n t e r p r e t a t i o n der A m e r i k a - E n t d e c k u n g v e r d e u t l i c h e n , as7 H i e r wird sehr deutlich, dass die E n t d e c k u n g n i c h t als g e o g r a p h i s c h e , s o n d e m als religi6se T a t s a c h e b e g r i f f e n w u r d e u n d ,,gerade der K a t h o l i z i s m u s w a r in seiner e x t e n s i v e n R i c h t u n g b e s o n d e r s d a z u b e s t i m m t , diese geistige E r w e r b u n g zu v o l l b r i n g e n . ''a88 K o l u m b u s selbst h a t t e i m U b r i g e n die religi6s-politische D i m e n s i o n seiner E n t d e c k u n g in s e i n e m R e i s e b u c h 1498 in f o l g e n d e r p r o p h e t i s c h e r W e i s e n i e d e r g e s c h r i e b e n : ,,And your Highness will gain these vast lands, which are an Other World, and where Christianity will have so much enjoyment, and our faith in time so great an increase. I say this with very honest intent and because I desire that your Highness may be the greatest lords in the world, lords of it all, I say; and that all may be with much service to and satisfaction of the Holy Trinity. ''889
bei Pylos (Navarino), Sieg der Russen 1878, Sieg des Balkanbundes im 1. Balkan~ieg 1912/1913). Erst die Niederlage Griechenlands gegen die T/irkei 1922 brachte diese Siegesserie zu einem Ende (endg/iltiger Verlust Smyrnas (Izmirs) und yon Gebieten in Ostthrakien). Eine ganz besonders symbolische Wirkung entfaltet bis heute der Sieg Napoleons 1798 im (mameluckisch beherrschten) )~gypten, weil er die modeme Kolonialisierung der muslimischen Welt dutch den Westen initiierte, welche vor dem Hintergrund eines ,,niederlageresistenten" koranischen Glaubens bis heute als ,,Schock" oder ,,Dem/itigung" empfunden wird. Vgl. zur maritimen EntwicMung des Osmanischen Reiches vor und (etwa) wiihrend der Entdeckungsfahrten Andrew C. Hess, The Evolution ~ the Ottoman Seabourne Empire in the Age of the Oceanic Discoveries, 1453-1525, in: Felipe Fern~indez-Armesto (Hg.), The Global Opportunity, Cambridge 1995, S. 196-223. 884 Dass die christlichen und j/idischen Gemeinschaften in islamisierten Riiumen/iberleben konnten, heil3t eben nicht, dass sie nicht ,,einer erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Diskriminierung ausgesetzt" waren (JCirgen Biihr, BevbTkerungsgeographie, 3. Aufl., Stuttgart 1997, S. 160). Im 0brigen sei noch der Differenzierung wegen hinzugef/igt, dass heutige islamische Rechtsgelehrte dem dar al-islam und dem dar aI-harb noch ein dazwischengeschobenes ,,Haus des Islam" oder ,,Haus des Vertrags" hinzugeffigt haben (dar al-sulh oder dar al-ahd): Damit sind diejenigen Liinder gemeint, die yon Nichtmuslimen regiert werden, die aber den Islam tolerieren. 88s Vgl. Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Band 1: Vom Zeitalter der Entdeckungen bis gum Beginn des Imperialismus, G6ttingen 1972, S. 53f. 886Vgl. auch ebd., S. 82. 887Vgl. Werner Fritzemeyer, Christenheit und Europa. Zur Geschichte des europa'ischenGemeinschaftsgefiihk von Dante bis Leibnig M/inchen / Berlin 1931, S. 78-84. s88 Ebd., S. 83. 889 zitiert nach Samuel Eliot Morison, The European Discove{7 of America. The Southern Voyages A.D. 1492 - 1616, New York 1974, S. 157.
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Kapitel VI
Das schrieb Christopherus Kolumbus, der ,,Admiral des Westens", vierzehn J ahre, nachdem er noch als junger, genuesischer Seefahrer auf seiner , , R o x a n a " die chiotischen Mastix-Hiindler vor kriegerischen Osmanen beschiitzt hatte. 89~ Es ist ein beeindruckendes christologisches Assoziationsfeld, das sich hier um die Entdeckung Amerikas 1492 rankt. Die Roxana-Episode indes verweist noch einmal auf die Tatsache, dass die St6rung des kontinentalen, europiiischen Ostasienhandels dutch die vordringenden Tiirken mit dazu beitrug, dass - vor dem Hintergrund einer im Vergleich zur Antike weiterentwickelten Nautik des ,,Westens" - nunmehr iiberhaupt ein Interesse an der Unterstiitzung k/ihner Westfahrtpliine aufkam. 891
5. Die technizistische Variante: Die Dynamisierung des Antiplatonismus und die Verabsolutierung naturwissenschaftlicher Denkungsart als Entfremdungsprozess 5.1 Die En~sselung menschlicher Phantasie im surrealistischen Sinne, Welten~remdung und die Politisierung der technischen Zivilisation
Wie schon angedeutet, vollzog sich die Entfesselung der menschlichen Phantasie als Folgewirkung der Raumrevolutionen nicht nur in einem klassisch gebundenen, ,,politischen" Sinne, s o n d e m konnte jederzeit in einen neuartigen, gewaltoffenen Surrealismus miinden. Wie auch schon in der Einleitung dieser Studie dargelegt, liegt es auf der Hand, dass im Denken des 18. und 19. Jahrhunderts z.T. alle Macht fiir Phantasie gefordert, bis schliel31ich im 20. Jahrhundert auch in der Praxis ,,der Stolz, der H o c h m u t [und] die Eifersucht" die ,,Vemunft als Herrin der Phantasie" vertrieben haben. 892 Der vormodeme, christliche oder antike Vemunftbegriff wurde als ,,naiv", ,,unniitz" oder ,,inhaltslos" abgetan. Der Nenner blieb dabei der gleiche: Die Phantasie sollte im Rahmen eines letztlich surrealistischen Freiheitsverstiindnisses 893 entfesselt werden. Die antplatonische Ausrichtung der wissenschaftspolitischen Umdeutung des atlantischen Mythos bei Francis Bacon wurde dabei in zweierlei Hinsicht dynamisiert: Z u m einen galten die technischen M6glichkeiten nunmehr als Voraussetzung der Politisierung der Technik im Sinne der Propagierung einer ,,technisch-wissenschaftlichen Zivilisation" als Selbstzweck oder der Verabsolutierung einer ,,Wohlstandszivilisation" oder ,,Marktzvilisation" im Sinne einer Neutralisierung des Politischen; zum anderen galten sie gar als Mittel zur Erreichung einer die gesamte politische Biirgerschaft umfassenden kommunistischen Bediirfnisgesellschaft. Die unmittelbare philosophische Reaktion auf die Auswirkungen der Allraumrevolution, i.e. der Aufl6sung der Zweiteilung zwischen Himmel und Erde, war indes zuniichst einmal nicht der Jubel einer entfesselten Phantasie, sondern der Zweifel des Descartes, so wie es Hannah Arendt in ihrer bahnbrechenden Interpretation in ihrer V i t a activa dargelegt hat. 894 Die einzige ,,Heimst~itte mit Gewissheit" fiir die menschliche Seele konnte demnach nur mehr nur die 89o Vgl. Samuel Eliot Morison, The European Discove~ of Ameffca. The Southern Voyages A.D. 1492 - 1616, New York 1974, S. 13 und Urs Bitterli, Die Entdeckung Amerikas. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt, M/inchen 1991, S. 45. Vgl. zum kriegerischen Charakter der seldschukischen T/irkenvorfahren Felipe Fem~indez-Armesto, Millennium. Die WeltgeschichteunseresJahrtausends, 5. Aufl., M/inchen 1998, S. 116. 891 Vgl. zu diesem Zusammenhang Holger Afflerbach, Das en~esselteMeer. Die Geschichte des Atlantik, M/inchen 2001, S. 58. 892 Vgl. aul3erordentlich beeindruckend: Tilo Schabert, Modernita't und Geschichte. Das E~,J)eriment der modernen Zivilisation, W/irzburg 1990, S. 75-85, insbsd. S. 77. 893Vgl. dazu und in Bezug auf anhaltende Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, die sich gegenwiirtigverst~irken: Tilo Schabert, Gewalt und Humanita't. ([Tberphilosophischeundpolitische Manifestationen von Modernita't, Freiburg i.Br. 1978, S. 293305. 894Hannah Arendt, Vita Activa odervom ta'tigenLeben, Stuttgart 1960, S. 255.
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,,unnachgiebige Verzweiflung" sein. 89s Die Zweifel mussten jedoch nicht nur die religi6sen Wahrheiten, sondern insbesondere auch den menschlichen Sinneswahmehmungsapparat erfass e n - schlieBlich basierte das geozentrische Weltbild auf klar menschlich beschriinkten, technischen nicht erweiterten, empirischen Erkenntnissen! Mit den Worten Sullivans: ,,Das, was wit von unseren Apparaten ablesen k6nnen, sagt fiber die wirklichen Eigenschaften in dem Bilde Eddingtons nicht mehr aus, als eine Telephonnummer von dem aussagt, der sich meldet, wenn wir sie wiihlen. ''896 Und mit Hannah Arendt: ,,Historisch gesprochen ist es, als babe Galileis Entdeckung handgreiflich demonstriert, dass [...] unsere Sinne, also die Organe, die uns Wirklichkeit vermitteln, uns betrfigen k6nnten"897, was einer Bestiitigung einer ,,uralten Furcht ''898 der Menschen gleichkam. Diese Tatsache wird noch verstiirkt dutch den Umstand, dass jede empirische Kleinigkeit universal eingebunden ist, also sich alles in einern Raum abspielt, der immer die menschliche Wahmehmungss bei weitem iibersteigt. 899 Eine Konsequenz fmdet sich schlieBlich in der Wissenschaft nach Einstein, die davon ausgeht, dass letztlich sowohl die geo- als auch das heliozentrische Annahme ,,sich mit dem Phiinomen in Einklang bringen lassen", da der ,,Unterschied nur eine Differenz des jeweils gew~ihlten Bezugspunktes ist. ''9~176 Unser einziges Bezugssystem, das Weltall, ist um keinen Mittelpunkt mehr zentriert. 9~ Die Scheidung zwischen rationaler Wissenschaft und irrationaler Wirklichkeit scheint nach Einstein ein Problem zu sein, und die erschfittemde Verunsicherung, die das bedeutete, wirkte sich historisch auch in einem gesellschaftlichen Sinne irrational aus. 902 Die praktische Schlussfolgerung des Cartesianismus war schlieBlich jedoch nicht ein radikaler Skeptizismus oder eine esoterische Spekulation oder der Glaube, sondem eine Form der Reduktion: Der Verstand mfisse sich , , i m Felde seiner eigenen Erkenntnisformen und Begriffe" bewegen und nur auf dieser Basis sei ,,eine gesicherte Erkenntnis" m6glich. 9~ Das wichtigste Instrument h i e r b e i - auch um einen universalkosmischen Standpunkt, wenn nicht empirisch, so doch verstandesmiiBig, zu beziehen - war und ist die Abstraktion irdisch gegebener Sinnesdaten von einer riiumlich ungebundenen Mathematik, ohne allerdings, wie bei Platon, hinter der Mathematik philosophisch ein fiberverstandesm~iBiges und erkennbar wahres, zugleich ewiges und ideales Sein zu posmlieren. 9~ Gegenstand der Mathematik konnte demnach nur ,,die Struktur des menschlichen Verstandes selbst" sein, die ,,AuBenwelt" nut eine ,,res extensa".9~ Mathematische Stimmigkeit kann insofem nicht auf eine teleologisch begrfindete Universalharmonie oder ein singuliires menschliches Geistpotential hindeuten. 9~ Zugleich waren somit schon im 15. Jahrhundert die Grundlagen ffir die Entstehung des Nihilismus und Existentialismus der Massenmodeme gegeben. 9~
89sHannah Arendt, Vita Activa oder vom ta'tigen Leben, Stuttgart 1960, S. 255 (in Anlehnung an Bertrand Russell). 896Ebd., S. 256. 897Ebd., S. 256. 898Ebd. 899Vgl. ebd., S. 257. 9ooEbd. 9ol Vgl. ebd. 902Auf diesen frappierenden Zusammenhang weist hin: Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichtepolitischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1985, S. 44. 903Hannah Arendt, Vita Activa oder vom ta'tigen Leben, Stuttgart 1960, S. 259. 904Vgl. ebd., S. 259f. 90sEbd., S. 260f. 906Vgl. ebd., S. 261. 90vVgl. ebd., S. 255 und 266.
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Kapitel VI
Die W e l t e n t f r e m d u n g ging mit der Erweiterung geo- und astrophysikalischer (,,universalwissenschaftlicher") M6glichkeiten einher und damit mit der G e b u r t einer sekundiiren Welt, die sich dadurch auszeichnete, dass sie n u n m e h r ,,Prozesse des Weltalls" in eine rein irdische , , N a t u r " hineinleitete 9~ und zwar Prozesse, die im R a h m e n ihres eigenen Stoffwechsels und ihrer eigenen Materie nie aufflndbar und rekonstruierbar gewesen wiiren. Die praktische K o n sequenz war die Herausbildung einer neuen H o c h t e c h n o l o g i e , die sich bis heute in folgende ,,unheimlich" a n m u t e n d e E r r u n g e n s c h a f t e n auff'~ichert9~ -
planetarischeErweitemng des Vemichtungspotentials des Menschen, sowohl bezogen auf das ,,organische Leben" als auch auf die Erde als Ganze
-
Erweiterung der Herstellungsrn6glichkeitenyon Elementen, die in der irdischen Namr nicht vorkommen Verwandlungsm6glichkeitenzwischen Masse und Energie bzw. Strahlung M6glichkeitdes Menschen zur Schaffung massentechnischer, techno-organischer Materie TechnizistischeZielvorstellungen bis hin zu organischer Materie91~
Die M6glichkeit w e l m m g r e i f e n d e n Tuns des M e n s c h e n mittels Technik, generierbar v o m Standpunkt eines Universal-Absoluten, korrespondiert paradoxerweise mit d e m Verzicht auf die Beziehung des Universal-Absoluten auf m e h r als nut auf die universale Absolutheit der Giiltigkeit der Namrgesetze. W o b e i letztere ja selbst nur als E x t e n s i o n e n verstandesmiiBiger Fiihigkeiten beweisbar sind u n d nicht als ,,ewige Wahrheiten". Dieser Verzicht bedeutet konkret den Verzicht auf das ,,uralte Verm6gen, in universal giiltigen, absoluten", philosophischen Erkenntnisbegriffen zu denken. 911 Die ,,universalen Geset ze" k 6 n n e n nur entdeckt, gehandhabt, benutzt, aber nicht , , v e r s t a n d e n " werden. 912 In den Naturwissenschaft hatte das zur Folge, dass die heraklitisch-sophistische Defmition des Seins als reine B e w e g u n g in ein namrwissenschaftliches A x i o m u m g e w a n d e l t wurde. Das Kausalitiitsprinzip, in der mechanistischen Lehre n o c h angelegt, wurde, mit d e m Kulminatio n s p u n k t der Evolutionsbiologie, ad a b s u r d u m gefi_ihrt. 913 ,,Das eigentlich Geniale an der kartesischen Selbstreflexion liegt unter anderem eben darin, dass sie das Gespenst des Zweifelns an der Realit~it der AuBenwelt dadurch bannte, dass sie alles weltlich Gegenstiindliche in den Bewusstseinsstrom versinken und durch die Prozesse des Bewusstseins entsubstantialisieren lieB."914 [...] ,,Das Einzige, was [am Ende] als Gegenstand der Selbstreflexion greifbar vorliegt, ist nat/irlich der biologische Prozess des leiblichen Organismus."91s Die Subjekt-Objekt-Aufspalmng des cartesianischen Rationalismus wird mit Hilfe der eigenen Leiblichkeit wieder aufgel6st, die Entwicklung wird v o m Naturalismus u n d der neoheraklitischen L e b e n s p h i l o s o p h i e bis hin zu Biologismen eines Marx, Nietzsche und Bergson begleitet (Sein = ,,Leben"). 916 Letztere Entwicklung zeichnet sich dadurch aus, dass sie die herk6mmliche Seinswirklichkeit nicht nur in Frage stellt oder ausklammert, s o n d e m ,,an die Stelle der
908Vgl. Hannah Arendt, Vita Activa oder vom s Leben, Stuttgart 1960, S. 262. 909Vgl. ebd., S. 263. 910 Vgl. zusammenfassend Florian Seidl, Fliegen in der Flasche- oder kann Biologie Ideologie sein?, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnung, W/,irzburg 2000, S. 199-214, insbesondere 204-214. 911Hannah Arendt, Vita Activa oder vom t?itigen Leben, Stuttgart 1960, S. 264. 912 Vgl. ebd.; vgl. aus einer kulturalistischen Sichtweise -~itisch z.B. Kurt yon Boeckmann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924, S. 377f. 913vgl. Hannah Arendt, Vita Activa oder yore ta'tigen Leben, Stuttgart 1960, S. 305. 914Ebd., S. 274. 91sEbd., S. 305. 916Ebd., S. 305, 313 und 370 Fn. 78.
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Seinswirklichkeit eine ,zweite Realitiit '''917 setzt, und zwar in wissentlich tiiuschender und manipulativer Absicht im Sinne einer ,,Revolte gegen Gott". 918 Das mit dieser F o r m menschlichen H o c h m u t s einhergehende Kulturverstiindnis musste sich auf die materiellen Aspekte des Lebens beschra'nken: ,,Kultur" wurde n u n m e h r mit technischem Fortschritt verwechselt. 919 Die Philosophie als einflussreichste Wissenschaft verlor im Zuge dieser Entwicklung erheblich an gesellschaftlichem Wert. ,,So wurden die Philosophen entweder Wissenschaftstheoretiker, ohne dass doch die Wissenschaften selbst yon ihren Theorien irgendeinen Gebrauch machen konnten, oder sie wurden in der Tat, was Hegel von ihnen ausdrCicklich gefordert hatte, die Ausdrucksorgane des Welt- und Zeitgeistes, das Sprachrohr gleichsam, dutch das sich die jeweilige Gestimmtheit der Zeit in begrift~cher Klarheit und Exaktheit aussprach."92~ Das P r o b l e m heute besteht f r e n c h darin, dass das physikalische Weltbild auf der Basis des wissenschaftlichen , , F o r t s c h r i t t s " nicht nur wie eh und je nicht wirklich sinnlich w a h m e h m b a r u n d vorstellbar ist, sondern dass es auf der Basis der fortentwickelten, n u n m e h r v o m sinnlichnatiirlichen Rekurs v611ig abgeschnittenen ,,reinen Mathematik" inzwischen auch ,,undenkbar" ge w o rd e n ist, ,,unfassbar [auch im R a h m e n der] Begriffe und Kategorien des menschlichen Verstandes. 921 Analog zu dieser sekundiiren Welt sind heutige E r f m d u n g e n auf Technik angewiesen, vollziehen sich also nicht, wie n o c h bei Galilei auf der Basis reiner E r f a h r u n g ohne komplexe technische I m p l e m e n t i e r u n g derselben. 922 Das Experimentieren selbst ist gegenw~irfig ,,bereits eine Art u n d Weise des Fabrizierens ''923, des A r e n d t s c h e n ,,Herstellens". Das P r o b l e m besteht darin, dass die Wissenschaftler inzwischen die ,,technische A n w e n d b a r k e i t " der Resultate unterschiitzen, weil sie das ,,reine Wissen" zum , , Z w e c k " des , , H e r s t e l l e n s " erheben; der Herstellungsprozess tritt somit in den Mittelpunkt, nicht m e h r das Hergestellte selbst, wie n o c h in der Friihen Neuzeit. 924 Das Hergestellte als Selbstzweck hat daher heute nur n o c h einen Wert in der Kunst. 92s Politisch handeln im A r e n d t s c h e n Sinne k 6 n n e n heute nur n o c h (Natur-)wissenschafder! 926 D e r beschriebene Prozess hatte nun in der Staatstheorie den Versuch zur Folge, mit wissenschaftlicher Exaktheit zuverliissige politische Institutionen, vergleichbar mit der Zuverliissigkeit technischer Apparaturen, , , h e r z u s t e l l e n " . 927 Politische Systeme mit technischer Selbststeuerung (nach H o b b e s das ,,kiinstliche Lebewesen") w u r d e n ins Blickfeld g e n o m m e n . 928 D e r Mensch l~isst sich zusehends nicht m e h r zuv6rderst von Zwecken, sondern von Prozessen leiten. 929 Die hinter dieser A l l r a u m r e v o l u f o n stehende D e n k u n g s a r t ist wie alle b e s t i m m e n d e n 917Eric Voegelin, Wissenschafi, Politik und Gnosir, M/inchen 1959, S. 46. 918Ebd. 919 SO Pieter Jan Bouman, Kultur und gesellschaft der Neuzeit, Olten / Freiburg (Br.) 1962, S. 17. 920Hannah Arendt, Vita Activa oder yore t?itigenLeben, Stuttgart 1960, S. 287. 921Ebd., S. 281. 922Vgl. ebd., S. 288. 923 Ebd. 924 Vgl. ebd., S. 290f. 92s Vgl. ebd., S. 316 (wobei Hannah Arendt, dieses ,,klassische" Kriterium als einziges Kriterium der Kunst zuliisst. ,,K/instler", die sich mittels Kunst ,,ausdrCickenwollen", sind demnach entweder Scharlatane oder sich prostituierende Unwissende, nur keine K/instler eben. Dieses/iberlieferte (und damit ursprCinglich einzig wahre) Kunstverstiindnis hat zur Folge, dass Hannah Arendt unter den skeptisch beiiugten abstrakten K/insten den Expressionismus ganz sicher nicht als Kunst ansieht (vgl. ebd., S. 372 Fn. 90). 926Vgl. ebd., S. 316. 927Vgl. ebd., S. 291. 928 Vgl. ebd., S. 29 lf. 929 Vgl. ebd., S. 292.
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Kapitel VI
historischen Denkungsarten die Denkungsart einer Gelehrtengesellschaft, einer ,,Gelehrtenund Geisterrepublik", die ,,verm6ge der Akkumulation und Organisation einer allseitig geschulten und kontrollierten Vorstellungskraft ''93~ eine radikale )~nderung der westlichen Denkungsart vorgenommen hat, die schliel31ich im 20. Jahrhundert ,,zu einer politisch nachweisbaren Realitiit sich entwickelte. ''931 Man k6nnte diese Denkungsart eine verabsolutiert naturwissenschaftliche nennen.
5.2 Die heutige Bedeutung: ,,Atlantische Zivilisation "als konsumistisches und technizistisches Modell und Bo llwerk westlicher Idealismusnegation ? Die naturwissenschaftliche Denkungsart ist eine Derivation westlichen Denkens. Auf der Basis der Transformation und Renovation iiberkommener und iiberlieferter Denkungsarten ist dieses Derivat nichts weiter als die moderne ,,westliche Zivilisation", wie sie sich in sich selbst erschbpft. Sie kann nun als eine technische Form emer anzustrebenden (sich evtl. noch im embryonalen Status befindlichen) politischen Zivilisation verstanden werden - entweder im transatlantischen Beziehungsnetz oder in der ganzen W e l t - oder als Identifizierung yon technischer und anzustrebender politischer Zivilisation im Sinne einer technischen Neutralisierung des Politischen als ,,menschheitliche", universale Weltvision. Technik fungiert also als vorpolitische Voraussetzung einer politischen Wirksamkeit der westlichen Zivilisation im Sinne der ,,Atlantischen Zivilisation" oder gar im Sinne einer ,,Weltzivilisation" oder sie ist selbst das Ziel des durch sie ausgel6sten Zivilisierungsprozesses im Sinne einer ,,technischen Herstellungszivilisation" und nichts weiter als das. Angesichts der angenommen Definition der ,,Atlantischen Zivilisation" als Zukunftsprojektion und politisches Projekt zugleich, stellt sich spiitestens an dieser Stelle folgende Frage: Warum kann die technische Herstellungszivilisation des modemen Westens nicht selbst als das entscheidende Merkmal einer ,,Atlantischen Zivilisation" fungieren? Kann das System der USA nicht gerade als ein gelungenes System technischer Selbststeuerung verstanden werden, dass genau diese technische Neutralisierung des Politischen, wie sie vom Standpunkte des Technizismus bejaht wird, symbolisiert? Ist mit der Unabhiingigkeit der USA eine neue Zivilisationsstufe des Westens nicht in diesem rein technizistischen Sinne zu ihrer Vollendung gekommen und kann diese im Rahmen der vorhandenen Definitionen als das entscheidende Merkmal einer nunmehr potentiell vorhandenen, sich im 20. Jahrhundert schliel31ich politisch herausbildendenden ,,Atlantischen Zivilisation" angesehen werden? Die normative These wiirde demnach lauten: Atlantische Zivilisation als genuine und vorhandene Herstellungszivilisation. Wiirde man v o n d e r technizistischen Vision ausgehen, wiire die ,,Atlantische Zivilisation" eine Form ,,politisierter" Technik, gepriigt von Konsumismus, Mobilit~it und Mode- bzw. Massenprodukten, welche in der Tat als Wahrzeichen der technisch-wissenschaftlichen Seite der westlichen Zivilisation gelten k6nnen. Diese Vision wurde in Anlehnung an Norbert Bolzens ,,konsumistisches Manifest" schon in der Einleitung als posthistorischer Mythos universaler Idealismusnegation mit dem Argument des politischen Angewiesenseins auf ,,Ideen" negiert, doch ist das nur eine abstrakte Erwiderung gewesen. Sie setzt voraus, dass Technizismus und Konsumismus per se keine ,,Ideen" sein k6nnen, was nur aus einem streng immateriellen Ideenbegriff heraus erkliirbar ist. Dieser ist zwar schon vorgestellt und auch begriindet worden, doch ist es dennoch legitim, ,,Ideen" auch anders zu defmieren. So geht nicht nut die linke 930Hannah Arendt, Vita Acliva oderyoreta'tigenLeben, Stuttgart 1960, S. 265. 931Ebd.
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Ideologiekritik, s o n d e m eine Vielzahl von weiteren m o d e r n e n Ideenbegriffen von einem ganz anderen Ideenverstiindnis aus. D e m n a c h wiire es m6glich, auch materialistische ,,Ideen" zu vertreten. Daher ist es sinnvoll auch auf dieser Ebene dem posthistorischen Mythos einer universalen Idealismusnegation, der hier als technizitischer Idealismus aufritt und die ontologische Idealismusnegation entweder aus seiner Sicht negiert oder allgemem kaschiert, zu entgegnen. D e r Technizismus und Konsumismus lebt yon grol3en Wahrzeichen und technischen, insbesondere amerfkanischen E r f m d u n g e n der m o d e m e n , technischen Zivilisation des Westens. Es ergibt sich in der Tat ein sehr eindriickliches Bild von einer tjpisch westlichen Zivilisation, wenn diese Wahrzeichen und E r f m d u n g e n einfach nut aufgez~ihlt werden: Die groJDn Wahrzeichen: Tankstellen, Neonlicht, Automobile (Henry Ford 1903), Wolkenkratzer 932 (Der Begriff entstand 1889), ,,Stahlskelettbauweise" mit Aufzug 933, Flugzeuge, Autobahnknoten, Klimaanlagen, Rasierapparate, Heimprodukte, Kfihlschriinke (Insbesondere ametikanische) E~ndungen, die das Alltagsleben der westlichen Zivilisation bestimmen, in alphabetischer Reihenfolge: Action Man (Enkel der Zinnsoldaten, 1964), aluminiumfolie (1903), ampel (1914), Anonyme
alkoholiker (1934), Anrufbeantworter (1950), (kaum zu untersch~itzen) antibabypille 934 (1960), Atombombe (1942), Badeanzug (1914, Bikini 1946), Barbiepuppe (1959), B/ichsen6ffner (1858), Remington Schreibmaschine (Ende 19. Jh.), B/istenhalter (1913), Cellophan (1926), Cocktail (1806), Coca Cola (1899), Comic (1890), Computer (1946), Dampfb/igeleisen (1929), Deodorant (1919), Dosenbier (1935), Edelstahlbesteck (1921), E-Gitarre (1947), Eis am Stiel (1904/1921 mit Schokoladen/iberzug), E-Werk (1882), Fahrstuhl (1857), Femsehapparat (1928), Fernsehserie (1932), Fischsstiibchen (1953), Fliegband (1913), Flipper (1930), Fotokopierer (1907), Frisbee (1957), Oeschirrsp/ilmaschine (19. Jh.), Ol/ihbirne (1879), Oummischlauch (1870), Haartrockner (1920), ,,Hamburger" (1904), Jeans (1873), Jeep (1940), Jumbo (1970), Kiiseecken (1921), Kartoffelchips (18./19. Jh.), Kaugummi (1872), Ketchup (1876), Y-dimaanlage (1902), Kreditkarte (1958), Kreuzwortriitsel (1913), K/ihlschrank (1913), Kugelschreiber (1945), Kunststoffe (Zelluloid) 1872, Bakelit 1907, Zellophan 1912, Vinyl 1928, Plexiglas 1930, Nylon 1937, Lycra 1958), LPs 1948, Lautsprecher 1913, Meinungsumfragen (nach Gallup 1930), Mikrowelle (1952), ,,Monopoly" (1924), Motek (1925), Musikbox (1906), Hintergrundmusik (1934), Niihmaschine von Isaac Singer (1846-51, 1854), Versandhandel (1872), Narkose (1842), Nylonstr/impfe (1939), Papiertaschent/icher (1914), Pappkarton (1926), Parkuhr (1933), Phonograph und Berliner-Plattenspieler (1877), Polaroidkamera (1947, in Farbe 1963), Politesse (1960), Popcorn (1907), Privatfernsehen (1941), Radio (1906), Rasierapparat (1903), Registrierkasse (1879), Reil3verschluss (1893), Rollfilm (1889), Rolltreppe (1900), Satelliten/ibertragung (1962), Sch6nheitswettbewerb (1921), Mars-Schokoriegel (1932), Scrabble (1931), Skateboard (1963), Smoking (19. Jh.), Sport/ibertragung (Boxkampf 1921), Sonnenbrille (30er), Sonnenschutzmittel (1940), Spielautomat (1889), Stacheldraht (1867), Stewardel3 (1930), Superldeber (50er), 932Dass die Wolkenkratzer nicht in Europa entstehen konnten, hat damit zu tun, dass die Stadtpolitik der europiiischen Regiemngen am Anfang des 20. Jahrhunderts darauf abzielte, ,,eine optische Konkurrenz f/_ir die staatlichen und "~rchlichen Repriisentationsbauten zu verhindern - ein wichtiger Grund dafiir, dass den Europ{iern die Analogien aus dem Kirchenbau angesichts der amerikanischen Dimensionen einfielen." (Alexander Schmidt, Reisen in die Moderne, Der Ametika-Diskurs des deutschen Biirgertums vor dem ersten Weltk~eg im europa'ischen VergMch, Berlin 1994, S. 260). Die Wolkenkratzer in den USA wurden im Ubrigen auf private Initiative hin gebaut, wiihrend die Stadtentwicklung in Europa stiirker in staatlicher und kommunaler Hand lag (vgl. ebd., S. 262). Vgl. zu den Wolkenk_ratzem in den USA auch Mark Girouard, Die Stadt. Menschen, Hauser, Pla'tze - Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. / New York 1987, S. 318-324 und Paul Goldberger, Wolkenkratzer. Das Hochhaus in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1984. 933 Vgl. dazu auch Alexander Schmidt, Reisen in die Moderne, Der Amerika-Diskurs des deutschen Biirgertums vor dem ersten Wellkrieg im europa'ischen Vergleich, Berlin 1994, S. 270. 934 Vgl. zu den umwiilzenden, auch gef'~ihrlichen Konsequenzen dieser Erfindung: Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, M/inchen 2002, S. 136; Dem Verfasser ist bewusst, dass das Wort der ,,Gef'~ihrlichkeit" gegen alle guten Regeln der Political Correctness verst613t. Trotzdem sieht er sich dazu gezwungen, an dieser Stelle darauf hinzuweisen. Was damit ganz n/ichtern gemeint ist, kann bei Norbert Bolz nachgelesenwerden. ..
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Kapitel VI
Tampon (1931), Tankstelle (1905), Horowitz-Waschenlampe (1895), Weddyb~ir (nach B~irenj~iger Th. Roosevelt 1902), Telefon (1876), Tesafilm (1925), Tiefkiihlkost (1930), Toaster (1926), Toilettenpapier (1879), Wopfkratzer (1917), Wupperdosen, T-Shirt (1942), Vaseline (1870), Videospiel (,,Pong" 1972), Warenhauskette (Woolworth 1879), Waschmaschine (1907), Wegwerfbecher (1908), Werbeagentur (1888), Zahnpasta (1892); dazu typisch europ~iische Markenzeichen wie die Pizza aus Italien, Bier und Weihnachtsmann aus Deutschland oder FulBball aus England. Modeerscheinungen: Trendsportarten (Windsurfing, Snowboarding, Bungee Jumping, Freeclimbing, Paragli-
ding, Basketball, Streetball, Baseball, Football) und Bekleidungsmoden: Doppelkappnahthosen (,,Jeans"), T-Shirts, schwarze Perfecto/ Bronx-Lederjacke, ,,bubble-up"-Mode, Nylon (Erfindung von den Amerikanem Wallace Carothers und Julian Hill 1932, Revolutionierung der Damenmode von den biederen Baumwollbfistenhaltern zum ,,Wonder Bra", ,,petticoats" start ,,Baumwollunterr6cke"), Sportswear, Stadtmode, Design-, Teenager- und Fashionverst~indnis (heute: Karl-Kani-Kultur, Streetstyle, Baseballcappies,, Nikes, Sneakers 93s, ,,hang-off-your-butt-Hosen", Breakdancer, Bandanas-Kopftiicher, Jeans im Dean-, Madonna- oder Kani-Look, Madonna-Look (nuttig-ordin~ir, unversch~imt, frech, unkultiviert), Cutie-Look (Britney Spears), Trendsetting/Styletribing (NylonstrCimpfe, Easy-Rider-Sonnenbrillen, Brando-Unterhemden, Hippie-Mode, Kapuzenshorts, San Francisco 49er-Jacken etc.), ,,Sex-Appeal", Deodorants, hipper Lifestyle, Fitness, Aerobics seit den Achtzigern (hot music, sexy clothes, hautenger Bodysuit, Lycra-Leggings, weil3e Jogging-Schuhe, Schweil3band), Sonnenstudiobr~iune in den achtziger Jahren, molliger Kurvenstartypus in den Ffinfzigern und drifter Twiggy-Typus in den Sechzigern, MountainBikes und Radlerhosen, abet auch italienische und franz6sische Markenqualit~it wie z.B. Versaci, Escada, Dior. Die Hippiekultur fiihrte schlieBlich zu neuen kulturrevolution~iren Modeverst~indnissen: multikulturelle Unisex-Kleidung, afghanische Schaffeljacken, peruanische Ponchos, Mfitzen, Eskimostiefel, marokkanische Galabejas, Indienhemden, Sandalen, ledeme F ransentaschen, Silberschmuck, Jeans mit Patchwork, Oberk6rperblumenbemalung, Batik-T-Shirts und Punkmode als europ~iische Modifikation. Die Gegenkultur wimmelte indes von Preppies, Poppern (Polo-Ralph-Lauren-Mode), Yuppies, woraus sich ein neuartiger Markenzwang ableitete (bei M~innern ffihrte dieser zu gedeckten Stoffarben, einem neuen Krawattenstil und der Renaissance der Hosentr~iger, bei Frauen zu Business-Kostfimen, kurzen R6cken, Seidenblusen und Kaschmir-Pullovem). Dieses konsumentistisch-mobile Wahrzeichenkonglomerat ist im Kern ein individualistisches und konsumistisches Erlebniskonglomerat. Insbesondere der Automobilindividualismus, in spezieller Form das Motorradwesen, begeistert die Menschen, elektrisiert sie, macht sie ,,frei", und ist somit eines der mitreiBendsten Momente. 936 Das Konglomerat hat abet auch einen besonderen Lebensqualit~itsaspekt: Bezeichnend hierffir ist die Tatsache, dass mit Beginn des 20. Jahrhunderts parallel zur Wolkenkratzerkultur in den USA breite Suburbanisierungstendenzen sowohl in Europa als auch m den USA FuB fassten: So entstanden bis hinein in das Arbeitermilieu mehr und mehr bfirgerliche Einfamilienh~iuser nach dem standardisierten Fertighausprinzip, welche die Mietshauskultur sukzessive abl6sten. U m 1900 z.B. war diese Entwicklung besonders stark in Detroit ausgepr~igt. 937
935In den 1870er Jahren wurde die Vulkanisation dutch die US Rubber Company erfunden, wodurch eine Rohrgummi-Sohle rnit einem Leinen-Oberschuh verbunden werden konnte (seit 1909 kam es zur ,,Converse-All-Star"-Mode, seit 1979 zur ,,Nike-Air-Cushion-Sole"-Mode). ,,Nike Air" zeichnete sich dutch eine GaseinschweiBung in eine Plastikhfille in der Sohle aus. 936Vgl. Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, Mfinchen 2002; vgl. ferner Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, Mfinchen 1992, S. 93f. 937Vgl. Alexander Schmidt, Reisen in die Moderne, Der Amedka-Diskurs des deutschen B~rgertums vor dem ersten Weltkdeg im europ~'ischen VergMch, Berlin 1994, S. 262f.
Varianten des atlantischen Mythos und heutige Bedeutungen
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Dieses K o n g l o m e r a t ist derart ,,komplex und raffmiert geworden ''93a, dass es von einer gewissen Ignoranz zeugen wiirde, ihm nicht einen eigenen zivilisatorischen Wert fiir den Westen beizumessen. Wird es in einer westlichen Zivilisation jedoch als das entscheidende oder gar alleinige Zivilisationsmerkmal w a h r g e n o m m e n 939, und das wiire die Option, so kann sich, auf die Zukunft gerichtet, dieses Zivilisationsverstiindnis letztlich nut mit der ,,Vision" einer qualitativen Erlebnissteigerung verkniipfen. D e r K o n s u m e n t i s m u s wird m e h r und m e h r v o n d e r Materie als konsumierbares Objekt gel6st und dutch eine neue K o n s u m o b j e k t d i m e n s i o n abge16st, welche dutch folgende - heute schon keineswegs u n b e k a n n t e n - E l e m e n t e bestimmt ist 94~ wie Shopping als Lifestyle, People processing dutch Marken und F o r m e n des Zerebralkonsums - ein Begriff von Arnold Gehlen, der besagt, dass der K o n s u m sich auf sich selbst bezieht. Sogar die Kontrolle des Genusses wird genossen, der Idealismus, die Ethik und das Abenteuer werden also ebenso konsumiert und b e k o m m e n einen Verkaufs- und Marktwert Alle gegenliiuflgen Subkulturen, welche den K o n s u m grundsiitzlich n e g i e r e n - solange sie das Potential aufweisen, trotzdem konsumistisch verwertbar zu sein - werden selbst zu Markenartikeln. 941 Schlussendlich stehen diese neuen K o n s u m o b j e k t d i m e n s i o n e n als Instrumente einer sekundiirweltlichen Erlebnissteigerung in Verbindung mit noch weitergehenderen Bewusstseinsund Intelligenzformen, organischen Stofflichkeiten und Kulmrbewusstseinformen, die am E n d e visioniir miteinbezogen werden miissten. Das ist der IQlackpunkt: Was am E n d e zwangsliiuflg resultieren muss, ist eine Mischung aus modernisiertem Darwinismus, H i m - und Neurobiologismus und einem hochentwickelten Maschinentechnizismus, verkn/ipft mit den Grundprinzipien des erliiuterten Konsumismus. Die Grundlage dieser Zivilisation wiire ein Mix aus ,,Zukunftsvisionen ''942, der auf der Vorstellung aufbauen wiirde, dass nicht nut physische Realitiit (insbesondere die biogenetischen Strukmren eines G e h i m s , die ,,Hardware" sozusagen), sondern auch menschliches Bewusstsein elektronisch nachbaubar w[ire. 943 Das menschliche Bewusstsein wird in diesem K o n t e x t f r e n c h nut als ein Sekundiirphiinomen 944 und der ,,freie Wille" als eine ,,6konomische Ausdrucksweise fiir einen in der Sprache der objektiven Welt recht kompliziert auszudriickenden Sachverhalt ''945 begriffen, was diese Vorstellung letztlich zu einer unpragmatischen, ideologischen ihrer Art macht. 946 Beim australischen H i m f o r scher Peter Singer wird gar in letzter K o n s e q u e n z diese Vorstellung gegen die ,,unangefochtene moralische O r t h o d o x i e europS.ischer Zivilisation" positioniert. 947 D a r a u f aufbauend entfaltet 93s Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, M/inchen 2002; vgl. femer Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, MCinchen 1992, S. 97. 939 So eben Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, Miinchen 2002; vgl. femer Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, M/inchen 1992. 940 Vgl. ebd., S. 98-122. 941Das System des Konsumismus/ibergreift also auch Negationen des Konsums dutch Zielgruppen, ,,die sich dadurch definieren, dass sie keine Zielgruppen sein wollen. Man kann dem Kunden sogar aufdem Markt suggerieren, dass er mit der Firma gegen den Markt konspiriert." (ebd., S. 112). 942 Vgl. im folgenden zusarnmenfassend Florian Seidl, Fliegen in der Flasche - oder kann Biologie Ideologie sein?, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnune~ W/irzburg 2000, S. 199-214, 205-214. 943Vgl. Paul M. Churchland, Die Seelenmaschine, Heidelberg / Berlin / Oxford 1997; Dietrich D6mer, BauplanJ~r eine Seele, Reinbek 1999. 944 Vgl. Florian Seidl, Fliegen in der Flasche - oder kann Biologie Ideologie sein?, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen undProblemepolitischer Ordnung, W/irzburg 2000, S. 199-214, 206f. 945Nach Hans Moravcek, zit. ebd., S. 207; vgl. femer Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, Berlin 1998. 946 Vgl. Florian Seidl, Fliegen in der Flasche - oder kann Biologie Ideologie sein?, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnung, W/irzburg 2000, S. 199-214, 212. 947 Vgl. Peter Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 1984, S. 108 u. 172; Helmut Kasper, Unantastbar? Die W~'rde des Menschen vor dem Hintergrund des"naturMssenschaftlichen Weltbildes, in: Karl Graf Ballestrem / Hans Buchheim / Manfred Hiittich / Heinz H/irten (Hg.), So~alethik und Politis&e Bildung. Fests&riftJ~ir Bernhard Sutor w m 65. Geburtstaj~ Paderbom u.a. 1995,
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Kapitel VI
sich die Vorstellung von der Wfinschbarkeit einer forcierten Entwicklung erlebnisf;ihiger Automaten und die Verbindung zwischen Mensch und Roboter (,,robotronische Gesellschaft"). Die Vorstellung, , , P h S n o t y p e n " w i e Sprache, Gruppe und Kultur, die als ,,kulturell vererbte Verkfrperungen erfolgreicher Gene ''948 begriffen werden, elektronisch nachzubauen 949, schlieBt sich an. Neue Beherrschungsformen k6nnten fiber in Verbund mit der Neuro-, Gen-, Psycho- und In-Vitro-Technik und -Wissenschaft angestrebt werden, mit dem Ziel einer normativen Grundierung der gentechnischen Stiihlung des physischen Lebens in Bezug auf Gesundheit und Intelligenz. Mythen miissen in diesem Kontext ,,aus der materiellen Welt des Universums und des Menschen ''9s~ neu gebildet w e r d e n - zum Zwecke eines ,,gemeinsamen Uberlebens" eines Lebenssammelbeckens aus organischen und kiinstlichen Lebewesen.
5.3 Politische Entgegnung und normative Gegenposition
N u n l~isst sich iiber normative Positionierungen streiten. Gegen die technizistischen Visionen normativ Position zu beziehen, kann nicht auf emem axiomatischen Beweiswege erfolgen. Zun~ichst sollte zu bedenken gegeben werden, dass der Zweck einer normativen U b e r h f h u n g einer Herstellungszivilisation letztlich nichts anderes implizieren kann als die Legitimation eines destruktiven egoistischen Verhaltens (auch wenn das nicht beabsichtigt ist). 951 Da es darfiber hinaus in der Geschichte des 20. J ahrhunderts in Bezug auf die Frage der Sicherung von Frieden und Wohlstand zahlreiche Beispiele ffir den ganz konkreten Misserfolg derartiger Versuche der Politisierung des erkenntnistheoretischen Reduktionismus gibt, k o m m t noch die Frage der materiellen Zweckm~iBigkeit h i n z u - wenn auch in mittel- bis langfristiger Sicht. Ein zwangsl~iufige Folge in der Zielsetzung das vorpolitische Ph~inomen der Technik zu politisieren und das herk6mmlich Politische dadurch zu neutralisieren besteht darin, dass die ,,vorpolitische" Gemeinsamkeit ein Derivat einer philosophischen Entsubstantialisierung und der damit zusammenh~ingenden Ausklammerung der Wahrheitsfrage aus allen, auch sozialen Wissenschaften 952, w~ire. Das politische Problem ist jedoch, dass sich die ,,eigentliche Konsistenz der Wirklichkeit" aus dem Ereignis und dem unabh~ingigen Handeln ableitet, so dass durch die Tatsache, ,,ira Modus des Herstellens zu handeln", das Ereignis selbst theoretisch ausgeschaltet wfrde, obwohl es in der Wirklichkeit vorhanden war und - so di.irfte vermutet w e r d e n - ffir immer vorhanden bleibt, da es zum Menschen geh6rt. 9s3 Entsprechend l~isst sich auch in der politischen Theorie formulieren: ,,Die politische Philosophie der Neuzeit, deren gr6Bter Vertreter Hobbes geblieben ist, scheitert an dem unl6sbaren Dilemma, dass der Rationalismus irreal und der Realismus irrational ist". 9~4 Und solange das Dilemma durch den AusS. 17-37, 33ff. Mit der Kritik an der Position yon Singer und an iihnlichen Positionen ist im Obrigen ,,nichts gegen die Bem/ihungen der Psychologie, der Medizin, der Verhaltenswissenschaft usf. eingewandt, nur gegen deren philosophische und die Rechtsordnung beherrschende AnsprCiche." (so in einem iihnlichen Zusammenhang Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat. Gestalt, Grundlagen, Gefa~)rdungen,TLibingen 1995). 948 Florian Seidl, Fliegen in der Flasche - oder kann Biologie Ideologie sein?, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. tVormen und Problemepolitischer Ordnung, W/irzburg 2000, S. 199-214, 206. 949 V g l . Richard Dawkins, The Extended Phenotype, New York 1982. 9s0 Florian Seidl, !Vliegen in der Flasche - oder kann Biologie Ideologie sein?, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnung, W/irzburg 2000, S. 199-214, 209. 951Vgl. ebd., S. 212. 9s2Vgl. Hannah Arendt, Vita Acliva oder vom tdtigen Leben, Stuttgart 1960, S. 283f. und Eric Voegelin, WissenschaJt, Politik und GnodJ; MCinchen 1959. 9s3Vgl. Hannah Arendt, l/Sta Activa oder vom tdtigen Leben, Stuttgart 1960, S. 293. 954 Ebd.
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bruch irrationaler Grol3ereignisse nicht deutlich sichtbar wird (wie zuletzt in der ersten Hiilfte des 20. J ahrhunderts), versuchen die Gesellschaften des Westens ihre eigene Selbstt~iuschung zwecks normativer Altemativlosigkeit weiter und weiter voranzutreiben, allerdmgs mit der Gefahr, dass sich die M e n s c h e n in diesen Gesellschaften selbst iiberfl/issig machen. Die normativen Standpunkte v o n H a n n a h Arendt, die sie im technisch u n d konsumgesellschaftlich keineswegs derartig , , p o s i t i v i s m u s m y t h i s c h " iiberh6hten Zeitalter des Kalten I~ieges entwickelte, gelten in dieser Hinsicht heute erst recht. Sie prognostiziert auf der Basis eines behaviorismusskeptischen, normativen Standpunkts, der die Vergesellschaftungsprozesse im ,,Westen" als Gefahr ,,t6dlichste[r] [sic!I, sterilste[r] Passivitiit ..., die die Geschichte je gekannt hat ''gss u n d als Vertierung des M e n s c h e n 956 rezipiert: ,,In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt yon denen, die ihr zugeh6ren, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits v61liguntergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualitiit aufzugeben, bzw. die Empfindungen zu bet{iuben, welche noch die Mfihe und Not des Lebens registrieren, urn dann v61lig ,bemhigt' desto besser und reibungsloser ,funktionieren' zu k6nnen. ''9s7 V o n einem universalwissenschaftlich-behavioristischen o d e r - b i o l o g i s c h e n Standpunkt aus k 6 n n t e sich in diesem R a h m e n ,,die m o d e r n e Motorisierung wie ein biologischer Mutationsprozess ausnehmen, in dessen Ablauf der menschliche K 6 r p e r sich schneckenartig mit einem Metallhaus umgibt. ''958 Die Frage der MenschenadS.quatheit des Technizismus stellt sich z u d e m vor d e m H i n t e r g r u n d der Tatsache, dass jeder materialistische Monismus, wie er in emer Ideologisierung der Herstellungszivilisation anzutreffen w~ire, ja o h n e einen ph~inomenalen Dualismus nie m6glich sein k6nnte. 959 Es geht hierbei nicht u m die Adiiquatheit der Vorstellungen in Bezug auf den M e n s c h e n in der Masse oder in seinem Angewiesenheit als politisches Lebewesen zu handeln, s o n d e m n o c h tiefer in Bezug auf den M e n s c h e n als personales, sittliches Potential. Die technisch-wissenschaftliche Zivilisation des Westens briiuchte also eine Idee, die sie iiberragt. %~ Es geht dabei nicht u m reinen Antitechnizismus, der in seiner Stumpfheit technizistischen Radikalismen problemlos das Wasser reichen k6nnte. Jacques F r e y m o n d hatte zwischen ,,Atlantischer Zivilisation" und ,,Atlantischer G e m e i n s c h a f t " unterschieden u n d wiirde die Politisierung der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation des Westens als ,,Atlantische G e m e i n schaft" bezeichnen, wiihrend er die ,,Atlantische Zivilisation" mit der technischwissenschaftlichen Zivilisation gleichsetzte. 961 Verstehen wir indes die ,,Atlantische Zivilisati955Hannah Arendt, Vita Activa oder vom ta'tigen Leben, Stuttgart 1960, S. 315. 956Vgl. ebd. 9s7 Hannah Arendt, Vita Activa oder vom tatigen Leben, Stuttgart 1960, S. 314. 9s8 Ebd., S. 315. 959Artikulation in Worten und Taten bilden auch in der evolutionsbiologischen Betrachtung zwangsl~iufigdie theoretische Pr~imisse - auch wenn der Biologismus das implizit einfach leugnet, so ist das dennoch eine unumst6131iche Tatsache (vgl. Florian Seidl, Fliegen in der Flasche - oder kann Biologie Ideologie sein?, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen undProblemepolitischer Ordnung, W/irzburg 2000, S. 199-214, 210ff.): ,,Trotz Kopemikus sagen wit immer noch ,Die Sonne geht auf' und werden auch weiterhin - trotz Darwin - sagen ,Wit haben einen K6rper' [start ,Ein K6rper hat uns']" (ebd., S. 212). 96oVgl. Kai Haucke, Zukunft durch Venpa'tung. Helmuth Plessners Vision eines deutschen Beitrages zum politischen Humanismus Westeuropas, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Politisches Denken. Jahrbuch 2004, Berlin 2004, S. 147-166, 166. 961 ~fgl. Jacques Freymond, Die Atlantische Welt, in: Golo Mann / Alfred HeuB / August Nitschke (Hg.), Propyla'en Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, Band X, Berlin / Frankfurt a.M. 1986, S. 223-299, 226.
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Kapitel VI
o n " selbst als eine ,,politische Idee", so fallen die Begriffe ,,Atlantische Zivilisation" u n d ,,Atlantische G e m e i n s c h a f t " , so T i e sie F r e y m o n d v e r w a n d t hatte, in eins. U n d was im Falle der Herstellungszivilisation schon an k o n s u m e n t i s t i s c h e n W a h r z e i c h e n vorgestellt wurde, so k6nh e n auch fiir die jetzt a n g e s p r o c h e n e PotentialitS_t einer kulturell t i e f e r g e h e n d e n ,,Zivilisation des W e s t e n s " als V o r a u s s e t z u n g einer ,,politischen G e m e i n s c h a f t " W a h r z e i c h e n g e f u n d e n w e r d e n , welche alle K o n s u m a r t i k e l z u s a m m e n in gewisser Weise iiberragen. D a z u ziihlen z.B. die V e r f a s s u n g der Vereinigten Staaten u n d die Staatsverfassungen sowie zahlreichen Verfass u n g s u r k u n d e n in E u r o p a o d e r die sich an E u r o p a o r i e n t i e r e n d e n UniversitS_tsgriindungen in den U S A 962 u n d die daraus resultierende amerikanische Universitiitskulmr ( z u s a m m e n mit den zahlreichen europ{iischen Universitiiten u n d den gr613ten , , W a h r z e i c h e n " in diesem Z u s a m m e n h a n g : O x f o r d (in L o n d o n ) u n d C a m b r i d g e (am River C a m im O s t e n Englands) Die hieraus folgenden T h e s e n gegen die technizistische Variante lauten also: 1. 2. 3. 4.
5.
Die USA sind mehr als nut ein System der technischen Selbststeuerung mit konsumentistischen Folgeerscheinungen im gesellschaftlichen Bereich. Die normative Position Arendts ist berechtigt und richtig: Die ,,Atlantische Zivilisation" ist eine politische Zukunftsprojektion. Die ,,Atlantische Zivilisation" als politische Idee ist poten6ell schon existent in der westlichen Herstellungszivilisation: Diese ist embryonal zu einer ,,Atlantischen Zivilisation" zu verstehen. gine ,,reine Substantialisiemng" des Westens ist nicht m6glich und auch nicht w/inschenswert, eine Mythisierung hingegen schon. Mythisierung bedeutet jedoch die Schaffung eines koh~irenten Kultursymbolsystems, das auf einen Wahrheitsgehalt der westlichen Zivilisation hinweist, der zwar nicht explizit definiert wird, abet aus dessen angenommener Existenz heraus politische ,,Vereinbamngen auf Absolutheiten" getroffen werden (die Absolutheit der personalen Menschenw/irde, sittlichen und pers6nlichen Freiheit). Eine Substantialisierung ist also nut im Rahmen der Eigenrealitiit des Politischen m6glich. Bei einer ,,reinen Substantialisierung", also ohne die ,,Repr~isentation von Wahrheit", w{ire eine ideologisierte (also unvermittelte, nicht durch fieie Einsicht erfahrene) Metaphysik am Werk (,,das absolute Wahre"), die in ihren normativen Wirkungen mit dem Materialismus oder Biologismus (bzw. mit einer Verabsolutiemng der ,,Repr{isentation von Existenz '~) gleichzusetzen w~ire: Beides hiitte die Verhinderung von Freiheit zur Folge.963 Es sei noch einmal daran erinnert: ultra posse nemo obligatur- ,,Sollen setzt K6nnen voraus". Hier ist auch der Begriff der ,,politischen Idee" nach Voegelin anzusiedeln: Die ,,Repr~isentation yon Wahrheit" muss zugleich auf Entscheidungsrealit~iten und -m6glichkeiten basieren, der ,,Repr{isentation von Existenz". Das hat Konsequenzen nach aul3en und nach innen: Nach aul3en vemnm6glicht es die Eigenrealit~it des Politischen, die ,,Atlantische Zivilisation" einfach auf die ganze Welt auszudehnen und nach innen sind techno~atische L6sungen nie durch politischen Willen annullierbar.
I m O b r i g e n geht eine histoffsch vorhandene S e l b s t b e w u s s t s e i n s w e r d u n g der M e n s c h e n im pIanetarischen W e s t e n iiber die technisch-wissenschaftlichen G r u n d g e m e i n s a m k e i t e n hinaus. D a r a u f verweisen i n s b e s o n d e r e die h e r k 6 m m l i c h e n historischen Verstiindnisse ,,Atlantischer Zivilisat_ion", T i e sie in der G e s c h i c h t w i s s e n s c h a f t entwickelt wurden. Diese sollen n u n im n~ichsten Kapitel vorgestellt w e r d e n , u m am E n d e die genuin politischen Begriffe ,,Atlantischer Zivilisation" zu vertiefen T i e sie v o n H a n n a h A r e n d t u n d Tilo Schabert er6rtert w u r d e n . D e r e n A n 962 Bundesuniversitdten: Harvard in Cambridge, Massachusets (1636), Yale in New Heaven, Connecticut (1701), Princeton in Princeton, New Jersey (1746), Columbia in New York City (1754), Virginia in Charlottesville (1825), California in Berkeley (1868), Dacvis, Irvine, Los Angeles, Merced, Riverside, San Diego, San Francisco, Santa Barbara, Santa Cruz, Kalifonien; weitere Griindungen (Staatenuniversitdten): Chapel Hill in Chapel Hill, North Carolina (1795), Georgia in Athens (1801), California State Universities (1880), MIT in Boston; Privatstiftungen: Duke in Durham, North Carolina; (1838), Comell in Ithaca, New York (1865), Vanderbilt in Nashville, Tennessee (1872), John Hopkins in Baltimore, Maryland (1876), Stanford in Stanford, Kalifornien (1887, zusammen n-fit dem Center for Integrated Systems, CIS), New York University in NYC (1919); Religionsgebundene Universitdten: Georgetown in Washington D.C., Notre Dame in Cotabato, Indiana (beide katholisch), Brandeis in Waltham, Massachusetts, Yeshiv in NYC (Bronx) (beide j/idisch), Brigham Young in Yovo, Utah (mormonisch); Oral Roberts in Tulsa, Oklahoma (protestantisch/kreationistisch). 963Vgt. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, M6nchen / Z/.irich 1998, S. 425.
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sicht liisst sich jetzt schon zusammenfassend so formulieren, dass erst die Eingiel3ung eines westlichen Selbstbewusstseinswerdungsprozesses in ein handlungsanleitendes Motiv die ,,Atlantische Zivilisation", die nur als Potential vorhanden ist, m6glich macht. 964 Und das kann wiederum nur auf einem Wege erfolgen, der Substantialisierung der eigenen vorpolitischen Voraussetzung, also der zivilisatorischen Gemeinsamkeit sowohl im Kontinuum zwischen vormodemen Urpriingen und modemen Ordnungsentwiirs als auch auf der Basis einer modernen zivilisationshistorischen Gruppenerfahrung, wie sie in den bisherigen geschichtswissenschaftlichen Begriffen ,,Atlantischer Zivilisation" zum Tragen gekommen ist.
964Vgl. auf den Kalten Krieg bezogen David Calleo, The Atlantic Fantasy: The U.S., NATO and Europe, Maryland 1970, S. 103.
VII. Begriffe ,,Atlantischer Zivilisation"
1. Der geozivilisatorische Begriff: Nukleus 1492 (Boeckmann, Verlinden, Fern~ndez-Armesto) Die Hauptthese der atlantischen Geschichtsschreibung lautet, dass Nordamerika und zumindest Westeuropa im atlantischen Raum mindestens bis zu einer Phase der ,,Abl6sung" Nordamerikas vom europiiischen Mutterland als eine groBregionale Einheit verstanden werden milssen. Beide Teilkontinente waren nach der Raumrevolution dauerhaft politisch, konfessionell und sozio6konomisch verbunden. Der Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation" in der Geschichtswissenschaft und in der Theorie der historischen Geozivilisationen ist von der Bedeutung des Begriffes als ,,politische Idee", wie er in dieser Arbeit entwickelt wird, zu scheiden. Dennoch soll die geozivilisatorische und historische Betrachtung aufgrund der fiir die Entwicklung der ,,politischen Idee" wichtigen Erkenntnisse vorgestellt werden. Der Begriff ,,Atlantische Zivilisation" als Epochenbegriff und geozivilisatorischer Begriff inkludiert noch einmal deutlich die anthropologische Dimension des Zivilisationsbegriffes und das plurale Zivilisationsverstiindnis. Die ,,Atlantische Zivilisation" wird dabei anhand bestimmter zivilisationsspezifischer Merkmale mit anderen historischen Zivilisationsformen verglichen. Die westliche Zivilisation wurde demnach schon mit der Raumrevolution zu einer geographisch neuqualifizierten, eben ,,atlantischen ''965, wiihrend zugleich die Welt der Menschen eine ,,universale" wurde, d.h. es wurde die Grundlage dafiir geschaffen, dass das ,,Nebeneinander abgeschotteter menschlicher Existenzriiume" in einmaliger Weise iiberwunden wurde. 966 Dieset Zivilisationsprozess hatte langfristig zur Folge, dass ein europiiisches dutch ein ,,atlantisches Zeitalter" abgel6st wurde. 967 Der vorl~iufige E n d p u n k t dieser Entwicklung einer ,,atlantischen Welt ''96s, also der Beginn eines ,,atlantischen Zeitalters" in der Weltpolitik des Westens, kann sp~itestens 1941-1955, friihestens 1917 angesetzt werden, wobei sich aus historischer Perspektive die Frage stellt, ob das ,,atlantische Zeitalter" 1989 mit dem Ende des Kalten Krieges zu einem Ende gekommen ist oder nicht und ob bzw. inwiefem es yon einer ,,Globalgesellschaft" oder - traditioneller gedacht - yon einem ,,Pazifischen Zeitalter" abgel6st werden k6nnte. Abet zuriick zum historischen Nukleus der ,,atlantischen Epoche" aus geozivilisatotischer Perspektive. Dieser Nukleus findet sich demnach in der Friihen Neuzeit: Der belgische Historiker Charles Verlinden unterschied in Bezug auf diese Zeit zwischen den entscheidenden
Charles Verlinden, Les O,igines de la Civilisation Atlantique. De la Renaissance d l'Age des Lumiares, Neuch~tel / Paris 1966; Jacques Godechot / Robert Palmer, Das Problem des Atlantiks vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Ernst Schulin (Hg.), Universalgeschichte,K61n 1974, S. 295-317, 297. 966 Vgl. sehr eind~cklich Pierre Chaunu, Die Wurzeln derFreiheit, M/~nchen 1982, S. 216ff. 967 Vgl. Ernst Wolf, Religionsgeschichtliche und theologische A~ekte der europdischen Integration, in: Karl Dietrich Bracher / Christopher Dawson / Willi Geiger / Rudolf Smend (Hg.), Die moderne Demokratie und ihr Recht. FestschffftJ~r Gerhard Leibholz zum 65. Geburtstag - Band 1: Grundlagen, Tfibingen 1966, S. 625-647, 625. 96sHolger Afflerbach, Das en~esselte Meer. Die Geschichte desAtlantik, Miinchen 2001, S. 189. 965 Vgl.
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Kapitel VII
,,Seezivilisafionen": einer indischen Rand-, einer russischen und islamischen Zwischen- und einer japanischen, chinesischen und atlantischen Fliigelzivilisation. 969 Die atlantische Fliigelzvilisation war dabei aufgrund des Entdeckungscharakters ihrer Entstehungsgeschichte die technisch fortschrittlichste und integrierte langfristig den gesamten afrikanischen Kontinent in ihren Zivilisationsraum. Desweiteren umfasste sie in einzigartiger Weise einen Raum, der insgesamt drei Kontinente einschloss. N u t der islamische Zivilisationsraum reichte mit Asien und einem nunmehr immer st~irker schrumpfenden Teil in Europa anniihemd an diese Machtballung heran. Die sich herausbildende ,,Atlantische Zivilisation" in diesem (historischen) Verstiindnis hatte als einzige einen Binnenozean. 97~ ,,The long crossing through the centuries towards which its history beckons, makes us understand more vividly the dreams and the realties that inspired the development of a Western civilization that deserves the name ,Atlan~C'.~971
Schon im deutschsprachigen Raum in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist der Begrift ,,Atlantische Zivilisation" in einem geozivilisatorisch-historischen Rahmen w6rtlich gebraucht worden. Der Kultur- und Geohistoriker Kurt von Boeckmann, der grob zur deutschen Schule der Geopolitik um Karl Haushofer gerechnet werden kann und zugleich 1927 als erster Intendant der Rundfunkgesellschaft ,,Deutsche Stunde in Bayem" (die Vorliiuferorganisation des heutigen Bayerischen Rundfunks) bayerische Rundfunkgeschichte geschrieben hat, brachte im dritten Teil seiner 1924 verlegten Monographie ,,Vom Kulturreich des Meeres ''972 eine zivilisationshistorische Analyse unter Benutzung des Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation". 973 Das Verstiindnis des Terminus ist - fiir den Atlantikbegriff in Deutschland zu Boeckmanns Zeit eher ungew6hnlich - nicht v61kischer Natur. Boeckmann bezieht die ,,Atlantische Zivilisadon" also nicht auf den alten platonischen ,,atlantidischen Mythos" und stellt nur sehr am Rande einen Zusammenhang mit einer deutschnafionalen Kulturtfiigertheorie her. 974 Diese steht als reine Spekulation (die als solche auch yon Boeckmann kenntlich gemacht wird) nicht im Mittelpunkt seiner Arbeit und spielt in Bezug auf den Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation", so wie Boeckmann den Begriff versteht, keine Rolle. Und in diesem Kontext wird der Begriff, wie erwiihnt, iiberhaupt erstmals w/Srtlich gebraucht. Zwar ist Boeckanns Werk generell nicht ganz frei von z.T. sehr kiihnen, z.T. auch v61kisch beeinflussten Spekulationen 97s, doch kann im GroBen und Ganzen dennoch behauptet werden: Der Begriff ,,Atlantische Zivilisation" hatte seinen Ursprung nicht etwa in den Vereinigten Staaten, sondern in einem Buch aus dem damals zutiefst kulturalistischen Deutschland der zwanziger Jahre. Entsprechend negativ bewertete Boeckmann freilich am g n d e den Begriff der stiidtisch strukturierten ,,Atlantischen 969Vgl. Charles Verlinden, Les Origines de la Civilisation Atlantique. De la Renaissance ~ l'Age des Lumiares, Neuch~tel / Paris 1966, S. 431-448. 97oVgl. ebd., S. 447. 971Paul Butel, The Atlantic, New York 1999, S. 4. 972Kurt von Boeckmann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924. 973 Vgl. ebd., S. 336-385. 974 Vgl. ebd., S. 334f. 975 Vgl. insbesondere ebd., S. 313-336, wo Boeckrnanns Versuche, einen direkten Zusammenhang zwischen germanischen und polynesischen Mythen und Kulmrformen aufzuzeigen, auf geradezu fantastische Weise (mit sehr intensiven Bez/igen z.B. zur isl~indischen ,,Edda") kulminieren. Andererseits relativiert Boeckmann auch, zwar mit einem bedauemden Unterton, abet nichtsdestotrotz: ,,Welt, sehr welt liegt heute das nordische Meerseelentum hinter uns. Seine Sch6pfungen sind mehr Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, der Unterhaltung und Jugendbildung als inneren Erlebens. Es ist bezeichnend, dass der moderne Verlagsbuchhandel die nordische Mythik vorwiegend als Jugendliteramr behandelt. Der Mensch des 20. Jahrhunderts weil3 mit diesen Dingen innerlich nichts mehr anzufangen. Dies ist schon lange so." (ebd., S. 336f.).
Begriffe ,,Atlantischer Zivilisation"
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Zivilisation", und stellte sie einem l~indlichen Denken der alten G e r m a n e n und der romantischen M~irchendichter des 19. Jahrhunderts entgegen. 976 Was war nun die Kernaussage yon Boeckmanns atlantischer Zivilisafonstheorie? Boeckmann unterschied in seiner Kulmrtypologie zwischen pazifischer Inselkultur, mittell~indischer Kiistenkulmr und atlantischer Flusskultur. ,,Ira Atlantischen Ozean schlieBlich gelangen wir bei tier Betrachmng neuer mariner Kulturerscheinungen in das st~irkste Abschw~ichungsgebiet der pazifischen Gegenwelt, zugleich aber in ein Gebiet gesteigerten Vorherrschens tier merkantilen und politischen Bildungen. ''9v7 Das ist fiir die zwanziger Jahre, mit Ausnahme sicherlich der bei Boeckmann sehr weitgehenden Theorie yon der ,,pazifischen Gegenwelt", schon sensationell nah an den sp~iteren Verst~indnissen ,,Aflantischer Zivilisation", wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg gebildet haben. Westeuropa ist in diesem Kontext schon rein geographisch ,,nichts anderes als ein groges Kiistengebiet, das sich yore Mittelmeer vor allem dutch seine Lage an einem offenen Meere, durch seine gr6Bere r~iumliche Tiefe und dadurch unterscheidet, dass es [.4 yon m~ichfgen Wasserl~iufen matin aufgelockert, in gewissem Sinne sogar in Felcler aufgeteilt ist". 978 Geozivilisatorisch argumentiert heute auch Felipe Femfindez-Armesto: Er kennzeichnet die planetarische Raumrevolution als ,,The Atlantic breakthrough ''9v9 mit der Folge der Herausbilclung yon ,,Atlantic-spanning empires" am Ende des 18. Jahrhunderts (Spanien, Portugal, Frankreich, GroBbritannien, auf niedrigerer Skala: Niederlande, D~inemark, Deutsches Reich, Schweden, Schotfland, Kurland). 98~Armestos Hauptaugenmerk liegt desweiteren erstens auf den Aspekt des Sklavenhandels im ,,Goldenen Dreieck" zwischen Europa, Amerika und Afrika (Eintausch der Sldaven gegen Rohstoffe in Amerika, Weiterverarbeitung der Rohstoffe in Amerika, europ~iische Sldavenhandelswaren nach Afrika TM) und zweitens auf der stiidtischen Struktur als zentrale Bestandteile in der Entstehungsphase der ,,Atlanfschen Zivilisation". 982 D a m n a c h vollzog sich die Entwicklung der Neuen Welt als Ausdehnung Europas aus vier Griinden heraus: ,,[...] abolition of the slave trade; acculturation of the Black slaves in a society dominated by white values; the decisive shift of the demographic balance of the Americas caused by huge accessions of white settlers in the nineteenth century; and above all the fact that the consttuent environment of Atlantic civilization- the ocean - was traversible only by technologieswhich Europeans could control. Only in consequence of these changes could Atlantic civilization become 'western civilization', which is another name for a white civilization of western European origin. ''983 Zur stiidtischen Strukur der so enstehenden ,,Atlantischen Zivilisation" vermerkt Fern~ndezArmesto zusammenfassend:
Kurt yon Boeckrnann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924, S. 337: ,,In Stiidten und Residenzen hatte eben ein ganz anderer Geist zu herrschen begonnen, ein Geist, der sich von dem irrationalen Zauber der Mythen vtllig abgeltst hatte." 977Ebd., S. 28. 978Ebd. 979Vgl. Felipe Fern;indez-Armesto,Civilizations , Basingstoke/Oxford 2000, S. 500. 980Vgl. ebd., S. 505. 981Vgl. Jacques Godechot / Robert Palmer, Das Problem des Atlantiks vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Ernst Schulin (Hg.), Universalgeschichte, Ktln 1974, S. 295-317, 302. 982 Vgl. Felipe Fern~mdez-Armesto,Civilizations , Basingstoke/Oxford 2000, S. 512-523. 983Ebd., S. 519. 976 Vgl.
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Kapitel VII ,,Perhaps the most conspicuous proof that the civilization they helped to found or transmit was truly an Atlantic civilization lies in their cities - those old indices of civilisation, according to conventional checklists. In colonial cities, the citizen's self-image is embodied. The streets laid out, the buildings erected, in the early centuries of the European presence in America, were based on classical Greek and Roman models, which were at the height of their esteem in western Europe during the period of the colonization and settlement of the New World.'984
2. Der historische Begriff: ,,Atlantische Zivilisation" als Frucht und Folge der ,,Atlantischen Revolution" 1760-1800 im Sinne eines (offenen?) Epochenbegriffs %5 Als historischer E p o c h e n b e g r i f f , wie er in den fiinfziger J ahren insbesondere bei R o b e r t R. P a l m e r u n d Jacques G o d e c h o t entwickelt wurde, ist die ,,Atlantische Zivilisation" zuniichst a u f einen historischen Zeitabschnitt beschr~inkt, der zwar fiber die amerikanische Unabhiingigkeitserkliirung zeitlich hinausgeht, aber im 19. J a h r h u n d e r t dann zu einem defmitiven E n d e k o m m t . D a m i t ist nicht gesagt, dass die Atlanfikhistoriker politisch-kulturelle u n d auch geopolitische Folgewirkingen aus der Zeit der ,,Atlantischen Zivilisation" bestritten, d o c h w u r d e n diese , , T r a d i t i o n e n " , w i e sie insbesondere im Kalten Krieg im Umkreis der N A T O zur Wirkung kamen, v o m Begriff selbst geschieden. Die Phase der atlantischen G r o g r e g i o n b i l d u n g nach 1945 w u r d e andererseits nicht gerne betrachtet, da sie e n t w e d e r fiir die Historiker n o c h zu aktuell war oder weil sie als eine rein sicherheitspolitische GroBregion o h n e eine b e s o n d e r s starke zivilisatorische A c h s e verstanden wurde. Aus diesem geschichtswissenschaftlichen Blickwinkel heraus k 6 n n t e die Phase der 1492 einsetzenden regionalen Einheit des transatlantischen Westens, die in der geozivilisatorischen Betrachtung eher im Mittelpunkt steht, als die historische Phase einer ,,Atlantischen Zivilisatio n " nur insofern verstanden werden, als dass sie in einem System konzentrischer Kreise einen wichtigen, abet iiuBeren Kreis repriisenfert. 986 Die innere Kreise indes w e r d e n durch die sogenannte ,,Atlantische R e v o l u t i o n " oder die angels~ichsische G e m e i n s a m k e i t zwischen N o r d a m e rika u n d GroBbritannien verk6rpert. D e n letzteren P u n k t b e t o n t e z.B. der USA-Historiker Willi Paul Adams: ,,Die Nachfolgestaaten des britischen Empires in Nordamerika blieben auch nach der anfiinglichen Kolonisierung Bestandteile eines europiiisch-nordamerikanischen Kulturkreises, eines Wirtschaftskreislaufs und Arbeitskriiftemarktes und eines Einsatzgebietes milit~irischer Macht. Englands Sprache, Kultur und intellektuelles Leben verbanden die englischen Kolonialgesellschaften untereinander und mit dem Mutterland. Der amerikanische Protestantismus ist vom Puritanismus bis zur sozialreformerischen Social Gospel-Bewegung um 1900 eine Variante des englischen. r D a z u k o m m e n die Sprache u n d die ethnische Z u s a m m e n s e t z u n g der A m e r i k a n e r als weitere F a k t o r e n einer im engen Sinne kulturellen G e m e i n s a m k e i t zwischen den USA, K a n a d a und GroBbritannien n o c h hinzu. 988 D o c h bildete sich dariiber hinaus bzw. d a r u m h e r u m eine er984Felipe Fem6ndez-Armesto, Civilizations , Basingstoke/Oxford 2000, S. 523. 9as Vgl. Robert Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution. Eine vergMchende Geschichte Europas und Amerikas von 1760 bis zur Franzh'sischen Revolution, Frankfurt a.M. 1970; Michael Kraus, The Atlantic Civilization. Eighteenth-Centu{7 Origins, Ithaca/New York 1949; Felipe Fem6ndez-Armesto, Civilizations , Basingstoke/Oxford 2000. 9a6Vgl. Robert Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution. Eine vergMchende Geschichte Europas und Amerikas yon 1760 bis zur Franzb'sischen Revolution, Frankfurt a.M. 1970, S. 14: ,,Das vorliegende Werk hat zum Ziele, die westliche Welt in einem kritischen Zeitpunkt ihrer Geschichte als Einheit zu behandeln, oder rnit anderen Worten, wie es ldirzlich formuliert wurde, die ,Atlantische Zivilisation' darzustellen, eine Bezeichnung, die wahrscheinlich im 18. Jahrhundert der Wahrheit n~iher kam als im 20. Jahrhundert." 987Willi Paul Adams, Die U S A vor 1900, Mtinchen 1999, S. 2. 988Vgl. ebd.
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weiterte atlantische Dimension internationaler Zivilisationsgemeinschaft: Die ,,Glaubens-, Diskussions- und Missionsgemeinschaft" des Puritanismus erstreckte sich z.B. auf die USA, England, Deutschland, Holland und die Schweiz. 989 ,,Die Naturbeobachter und Experimentatoren des Zeitalters der Aufldiirung- z.B. Benjamin Franklin - waren korrespondierende Mitglieder der Akademien und Wissenschaftlichen Gesellschaften in London, Stockholm und Paris. ''990 In den symbolischen Formen lehnten sich die USA schon in der Anfangsphase an ,,katholische" Sinntracht, Werbemacht und Bildpracht an. 991 Das Kapitolgeb~iude in Washington, schon iiuBerlich dem Vatikan iihnlich, und seine vielfachen Kopien in den Hauptst~idten der ginzelstaaten, zeigten diese Anlehnung am deutlichsten. 992 Das dahinter stehende Verst~indnis war ein zutiefst ,,europ~iisches": Das Verstiindnis in der geistigen Nachfolge des Imperium R o m a n u m zu stehen. 993 Der H6hepunkt dieser europiiisch-amerikanischen Phase ist der zweitere inhere K_reis ,,Atlantischer Zivilisation", das ,,Zeitalter der demokratischen Revolutionen" (bzw. das Zeitalter der ,,Atlantischen Revolution") etwa zwischen 1760 und 1800, das insbesondere yon Palmer, Godechot und Michael K_raus in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten gestellt wurde. 994 Die Phase nach der Raumrevolution bis zum 18. Jahrhundert wird bei Michael K_raus deswegen auch als Zeitalter der ,,embryonischen Atlantischen Zivilisation" bezeichnet, die noch zugleich durch den Ostanschluss Europas fiber Indien und dutch eine starke Rtickanbmdung des ,,alten Kontinents" an 6stliche Philosophien gekennzeichnet war. 995 Die entscheidende Schwelle stellt wie bei Robert R. Palmer das 18. Jahrhundert dar, dessen Grundcharakter gepr~igt war v o n d e r Verbreitung der neuen Ideen und der Revolutionierung der Institutionen auf der Basis eines Neuen Denkens und auf der Basis der Umpflanzung europ~iischer Bev61kerungen und Institutionen (zuniichst aus Spanien, Portugal, Frankreich, den Niederlanden und England) nach Nord- und Siidamerika und den vorgelagerten und dazwischenliegenden Inseln und Inselchen. 996
2.1 Die ,,Atlantische Revolution" als Kulminationspunkt
Der Begriff der ,,Atlantischen Revolution" von Robert Palmer und Jacques Godechot 997 verbindet nun im Besonderen ,,(...) die Franz6sische Revolution, die meist f(ir sich oder allenfalls im europ{iischen Kontext betrachtet worden war, mit dem amerikanischen Unabh{ingigkeitskampfund zugleich mit den Bewegungen in Holland und Belgien
989Willi Paul Adams, Die USA vor 1900, MCinchen1999, S. 2. 990 Ebd. 991 Vgl. Werner K_remp, Ist der Amerikanismus ein Katholi~smus?, in: Anton Hauler / Wemer Kremp / Susanne Popp (Hg.), Die USA als histonsch-politischeund kulturelle Herausforderung. Vermittlungsversuche, Trier 2003, S. 117-141,121. 992VgI. ebd., S. 121f. 993 Vgl. ebd., S. 121; vgl. femerhin Michael Z611er, Washington und Rom. Der Katholi~smus in der amerikanischen Kultur, Berlin 1995. 994 Vgl. insbesondere Robert Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution. Eine vergleichende Geschichte Europas und AmeEkas yon 1760 bis zur Franzh'sischen Revolution, Frankfurt a.M. 1970. 995Vgl. Michael K_raus, The Atlantic Civilization. Eighteenth-Centu~ Origins, Ithaca/New York 1949, S. 2. 996 Vgl. ebd., S. 3. 997 Vgl. Jacques Godechot, Les r&olutions (1770-1799), Paris 1970, S. 271-287 (Begriff der ,,r~volution atlantique": S. 273); Ders., France and the Atlantic Revolution of the Eighteenth Century, 1770-1799, New York 1977, S. 1-26. Godechot verwendet altemativ auch den Terminus ,,Revolution des Westens" (vgl. Ders., France and the Atlantic Revolution of the Eighteenth Century, 1770-1799, New York 1977, S. 8).
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Kapitel VII [nach Godechot zu ergiinzen: Italien, westliches Deutschland mit der Schweiz, Gro13britannien998], so dass dem Betrachter ein einheitliches Phiinomen entgegentritt, das die Randgebiete des Atlantischen Ozeans als Zentrum der Welt erscheinen liisst, wo der Kampf der Dernokratie gegen den bisher herrschenden Feudalismus gefiihrt und gewonnen wird."999
I n einem gr6Beren Verstiindnis bringt das Bild v o n der ,,Atlantischen R e v o l u t i o n " in beeindruc k e n d e r Weise z u m A u s d r u c k , dass E u r o p a o h n e N o r d a m e r i k a seiner gr613ten E r r u n g e n s c h a f t b e r a u b t wiire. 1~176176 ,,Amerikas R e v o l u t i o n war auch E u r o p a s R e v o l u t i o n " . 1~176Die historischen Triiger der als singulares M o m e n t aufgefassten ,,Atlantischen R e v o l u t i o n " w a r e n in erster Linie die neubiirgerlichen Schichten eines mittels des U b e r s e e h a n d e l s sozial e m p o r g e s t i e g e n e n H a n delsbiirgermms, dass v o n den G e s t a d e n des A t l a n t i s c h e n O z e a n s den A n g r i f f a u f die feudale O r d n u n g startete: aus L o n d o n / Liverpool, aus Paris, R o u e n , A n t w e r p e n , A m s t e r d a m , H a m burg, N e w York, Philadelphia, B o r d e a u x u n d Le Havre. 1~176D e r A t l a n t i k b e z u g ist augenf'~illig: Alle diese Stiidte liegen an mit d e m A t l a n t i s c h e n O z e a n v e r b u n d e n e n ,,Str6men oder B u c h t e n , in die Str6me miinden, u n d [sind] d u r c h diese Str6me mit einem Hinterland, einer terrestrischen Basis v e r b u n d e n . ''1~176Die e n t s p r e c h e n d e n stiidtischen Schichten reichten g e o g r a p h i s c h v o n Amerikas Ostkiiste bis hin zur elbischen Ostgrenze. Die in m a r k a n t e r Weise viel liindlicher gepriigten 1~1766stlich d a v o n gelegenen L a n d s t r i c h e (von O s t e l b i e n bis Russland) z e i c h n e t e n sich indes zuniichst einmal nicht d u r c h A u f g e s c h l o s s e n h e i t gegeniiber den revolution;,iren Prinzipien aus u n d verblieben v o r e r s t bei d e m o h n e h i n s c h o n v o r h e r v o m ,,atlantischen W e s t e l b i e n " differierenden O r d n u n g s p r i n z i p der feudalistischen Leibeigenschaft. l~176Die revo998Vgl. Jacques Godechot, Les r&olutions (1770-1799), Paris 1970, S. 279. 999 Eine sehr sch6ne Zusammenfassung yon Ernst Nolte, Historis&e Existen z. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?, M/,inchen 1998, S. 497. Ernst Nolte stellt zwar lest, dass der Begriff in der Forschung nicht unumstritten ist (ebd.), bejaht ihn abet im Kern im Verlaufe seiner Arbeit, verstiirkt ihn nut noch mit dem Begriff der ,,Industriellen Revolution" (S. 497f.). 1000Das ist die wichtigste Botschaft in Hannah Arendt, Ober die Revolution, 4. Aufl., M/inchen 2000. 1001Tilo Schabert, Die Atlantische Zivilisation. Uber die Entstehung der einen Welt des Westens, in: Peter Haungs (Hg.), Europ?ii sierung Europas?, Baden-Baden 1989, S. 41-54, 52. 1002Vgl. Jacques Godechot, France and the Atlantic Revolution of the Eighteenth Centu{7, 1770-1799, New York 1977, S. 8; Charles Verlinden, Les Origines de la Civilisation Atlantique. De la Renaissance d rAge des Lumiares, Neuch~ttel / Paris 1966, S. 287-291. Vgl. zu Liverpool und New York Paul Butel, The Atlantic, New York 1999, S. 224-231; Robert G. Albion, The Re'se of New York Port 1815-1860, Newton Abbott 1972; Francis E. Hyde, Ia've~oolandthe Mersey, Newton Abbott 1971. Vgl. zu Amsterdam konzise Pierre Chaunu, La Civilisation de l'Europe des Lumiares, ND Paris 1993, S. 470; zu Antwerpen ebd., S. 472f.; zu London ebd., S. 500-503; zu Paris ebd., S. 513ff.; vgl. zu Antwerpen femerhin Fernand Braudel, Die Dynamik des Kapitalismus, 2. Aufl., Stuttgart 1991, S. 87f. und zu London ebd., S. 90f.; Fernand Braudel, Die Geschichte der Zivilisation. 15.-18. Jahrhundert, M/inchen 1979, S. 625-636; David Hancock, Citizens of the World London Merchants and the Integration of the British Atlantic Communily 1735-1785, Cambridge 1995. 1003Kurt von Boeckmann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924, S. 337. 1004London, Paris und Neapel ziihlten Mitre des 18. Jahrhunderts jeweils mehr als 500 Tausend Einwohner, Hamburg, Liverpool, Amsterdam, Nantes und Bordeaux lagen (neben Lissabon, Madrid, Rom, Mailand, Wien, Venedig, Marseille und Barcelona) jeweils bei oder/iber 100 Tausend und unziihlige Stiidte westlich der Elbe zwischen 50 und 100 Tausend Einwohnern. CIstlich der Elbe indes erreichten nut drei Stiidte die Marke von Hunderttausend: Warschau, Moskau und das ex nihilo gegrfindete St. Petersburg (Jacques Godechot, France and the Atlantic Revolution of the Eighteenth Century, 1770-1799, New York 1977, S. 11). Spiitestens 1786 kam schliel31ichBerlin dazu, Dresden (1852) und Leipzig (Mitre des 19. Jahrhunderts) noch viel spiiter (vgl. zum stiidtischen Charakter der ,,Atlantischen Zivilisation" auch Kurt von Boeckmann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924, S. 337). )~_hnlichwie Berlin orientierte man sich in Kopenhagen und G6teborg, weniger auch in Stockholm stadtarchitektonisch eng an das grol3e (atlantische) Vorbild Amsterdam (vgl. Pierre Chaunu, La Civilisation de HTurope des Lumiares, ND Paris 1993, S. 470; vgl. zu Berlin ebd., S. 474, zu Kopenhagen ebd., S. 480; zu Stockholm ebd., S. 529). Die rnusikalischen Zentren bis zum 18. Jahrhundert befanden sich in Deutschland (Hiindel, Bach, Telemann), in Paris (de la Lande, Couperin, Rameau), in Wien (Haydn, Mozart, Gluck, Beethoven), in Neapel (Scarlatti) und Venedig (Vivaldi). 1005Vgl. Jacques Godechot, France and the Atlantic Revolution of the Eighteenth Centu~, 1770-1799, New York 1977, S. 10f. Die Bauembefreiung setzte in PreuBen erst 1799 ein (in C)sterreich 1781).
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lutioniiren B e w e g u n g e n a u f d e m Balkan w e r d e n m diesem Blickwinkel als Spiitfolgen, nicht Bestandteil der ,,Atlantischen R e v o l u t i o n " betrachtet 1~176w o b e i die griechischen u n d sp{iteren italienischen u n d mittel- sowie osteuropiiischen, i n s b e s o n d e r e p o l n i s c h e n u n d z.T. auch ungarischen W i d e r s t a n d s - u n d E i n i g u n g s b e w e g u n g e n 1~176die T r a d i t i o n e n der , , A t l a n f s c h e n Revolution" m i t t e n in E u r o p a revitalisierten. I m m e r dort, w o die B e w e g u n g e n also u n t e r republikanischer Ffihrung y o n Vb'lkern ausgingen, k a m die ,,Atlantische R e v o l u t i o n " mitten in einem zuriickschreitenden u n d ab etwa 1848 zugleich v o m Marxismus u n d Nihilismus i m m e r st{irker b e d r o h t e n E u r o p a i m m e r wieder zur G e l m n g - bis am E n d e die allmiihliche Zerriittung der abendl{indischen W e r t e gegen E n d e des 19. J a h r h u n d e r t s in grol3en Teilen E u r o p a s zu einer B e w e g u n g z u g u n s t e n eines ,,totalitiiren D r i t t e n " fiihrte. Es hat lange Zeit gebraucht, bis sich der nationale R e p u b l i k a m s m u s auch in jenen Liindern am E n d e hat d u r c h s e t z e n k 6 n n e n , w o er zu einem Fanal g e w o r d e n war: Endgiiltig w u r d e n Italien erst 1946, G r i e c h e n l a n d erst 1974 u n d P o l e n u n d U n g a r n erst 1989 zu freien Republiken.
2.2 Die Kritik am europa'ischen C h a r a k t e r A m e d k a s
D e r Begriff der ,,Atlantischen R e v o l u t i o n " ist m der F o r s c h u n g nicht unumstritten, l~176A m e r i ka wird bei den Kxitikern als eigenst~indiges, v o n E u r o p a sowohl inhaltlich als auch materiell v611ig unabhiingiges G e b i l d e verstanden, im Sinne der L o s u n g L o c k e s ,,So w a r anfangs (...) die ganze Welt ein A m e r f k a ''1~176u n d eben nicht im Sinne eines ,,unfertigen E u r o p a s ''1~176Interessant, aufschlussreich u n d w e i t e r b r i n g e n d ist dabei der geschichtsphilosophische Perspektiven-
1006 Vgl. Jacques Godechot, Les r&olutions (1770-1799), Paris 1970, S. 278f.
1007Vgl. zu den geistigen Verbindungslinien zum amerikanischen Freiheitsbegriff z.B. Germ(m Arciniegas, America in Europe. A Histo{7 of the New World in Reverse, San Diego / New York / London 1986, S. 193ff. Die Polen hatten lange vor den Franzosen eine freiheitliche Verfassung, die erste in Europa nach der amerikanischen, entstanden unter direktern amerikanischem Einfluss im Jahre 1791 (vgl. ebd., S. 196). Nach Arcingeas ist die Revolution in den USA als nationale Revolution ehermit den Bewegungen in Polen und Italien zu vergleichen als n-fit der Revolution in Frankreich (vgl. ebd., S. 296). Das ist problematisch. Zwar war die amerikanische Unabhiingigkeitsbewegung eine nationale Unabh~ingigkeitsbewegung, doch eine Bewegung ohne eine Abstammungsgemeinschaft, auf die sich die Nationalisten berufen konnten. Aus diesem Grunde war auch das Wirken Thomas Paines so wichtig fiir die Initialziindung der amerikanischen Revolution. Dennoch ist eines an Arciniegas Ausffihrungen wichtig und richtig: Die amerikanische Revolution war eine im Kern angelegte Verfassungsrevolution mit blutsneutralen Zuschnitt, die sich jedoch zuniichst einmal dutch eine neonationalistische Unabhiingigkeitsbewegung in Szene setzte. Die dutch die M6glichkeit dieser neuen Nationsgrfindung in Gang gesetzte ,,Atlantische Revolution" lebte also durchaus von einer kemeuropS.ischen Voraussetzung, niimlich dem tiefen Streben nach regionaler und nationaler Unabh{ingigkeit und erweckte zugleich deren M6glichkeit, dem Streben ein politisches Gesicht zu leben. Diese zutiefst dialektischen Bezfige zeigen, dass in der amerikanischen Unabh{ingigkeitsbewegung und Verfassungsrevolution Aspekte enthalten sind, die durchaus im Sinne von Arciniegas mit den nationalen Unabh{ingigkeitsbestrebungen im Europa der Nicht-Atlantik-Anrainer des 19. Jahhrunderts, insbesondere der Griechen, Polen, Ungarn und Italiener, in einem direkten Zusammenhang stehen. Nut sollte dieser Zusammenhang nicht verabsolutiert werden. Vgl. z.B. zu Mazzinis und Kossuths Amerikabegeistemng Geoffrey Barraclough, EuroJ)a, Amedka und Russland in Vorstellung und Denken des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 203 (1966), S. 280-315, 288f.; vgl. zu Kossuth auch Elmar Bako, Louis Kossuth 1802-1894, in: Marc Pachter / Frances Wein (Hg.),Abroad in America. Visitors to the New Nation 1776-1914, Reading (Mass.) u.a. 1976, S. 124-133. 100s Vgl. als Ubersicht: Jacques Godechot, Les r&olutions (1770-1799), Paris 1970, S. 273; Peter Amann, The Eighteenth Century Revolution, French or Western?, Boston 1963; kritisch: George Rude, Revolutionary Europe 1783-1815, New York 1964, S. 220ff.; vgl. ferner auch das Atlantikverstiindnis bei Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study ofthe Idea of Civilization in the UnitedStates, Nachdruck / 2. Aufl., New York 1971, S. 165. 1009John Locke, Zwei Abhandlungen iiber die Regierung, hg. v. Walter Euchner, Frankfurt a.M. 1977, II. Buch, 9. Kapitel, 49, S. 230. 1010Manfred Henningsen, Der Fall Amerika. Zur So~al- und Bewusslseinsges&ichteeiner Verdrgingun~ M/inchen 1974, S. 78.
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Kapitel VII
wechsel: Bei den ICritikern kann auch die G e s c h i c h t e E u r o p a s ,,aus den E r f a h r u n g e n [eines] n e u e n Sozialexperiments'q~ n a m e n s A m e r i k a begriffen, die amerikanische R e v o l u t i o n 1~ auch als ,,Sozialprozess eigener A r t ''1~ v e r s t a n d e n werden. D a s P r o b l e m liegt in der Verabsolutierung dieser Sichtweise, wie z.B. bei H e n n i n g s e n , der die T h e s e v o m ,,Modell eigener A r t ''1~ o d e r v o n der absoluten ,,EigenstS.ndigkeit eines amerikanischen Zivilisationsprozesses ''1~ aufstellt, so wie es auch gewichtige D e n k e r der amerikanischen Friihgeschichte im u n b e w u s s ten W i d e r s p r u c h zu ihren eigenen K o n z e p t i o n e n getan haben. 1~ A u c h die radikalkulturalistische Variante betont, dass E u r o p a nichts mit A m e r i k a zu tun habe, da sich A m e r i k a ganz u n d gar als A n t i - E u r o p a gegri,indet habe. 1~ Letztes ist g e n a u s o eine tibertriebene Perspektive wie eine eurozentrische, in der A m e r i k a als ,,Neues E u r o p a " o d e r gar n u r als ,,europiiische Exklave ''1~ gedeutet wird, z u m Beispiel bei Hegel: E r erwartete im Z u g e einer stadienartig v o r a n s c h r e i t e n d e n Staatenbildung langfristig die , , E u r o p ; i i s i e r u n g " der USA. Die Staatenbildung in den U S A habe dabei auch das , , B e d f i r f n i s des K 6 n i g t u m s " zu durchschreiten, u m in die , , W e l t g e s c h i c h t e " einzutreten 1~ so H e g e l damals: ,,Was n u n das Politische in N o r d a m e r i k a betrifft, so ist der allgemeine Z w e c k n o c h nicht als etwas Festes fiir sich gesetzt, u n d das Bediirfnis eines festen Z u s a m m e n h a l t e n s ist n o c h nicht vorhanden... ''1~176 Die V o r a u s s e t z u n g hierfiir war nach Hegel das H e r a u f k o m m e n eines ,,Unterschiedes der St~inde", also starker sozialer Ungleichheit, da n u r diese den einen y o r e a n d e r e n abhiingig m a c h e u n d erst a u f diese A r t u n d Weise iiberhaupt das Bediirfnis nach einem ,,organischem Staat"
1011Manfred Henningsen, Der Fall Amedka. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdra'nguns Mtinchen 1974, S. 78. 1012Einen guten Uberblick tiber die Geschichte der amerikanischen Geschichtsschreibung diesbeztiglich bietet Erich Angermann, Die Amerikanische Revolution im Spiegel der Geschichte, in: Erich Angermann (Fig.), Revolution und Bewahrung. Untersuchungen zum Spannungsgefdge yon revolutiona'rem Selbstversta'ndnis und politischer Prax4s in den Vereinigten Staaten yon Amerika, Mtinchen 1979, S. 13-88 (= Historische Zeitschrift, Beiheft Nr. 5). 1013Manfred Henningsen, DerFallAmerika. ZurSo~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdra'ngun~ Mtinchen 1974, S. 78. 1014Vgl. ebd., S. 79. 101sEbd., S. 157. Amerika wird nicht als nietzscheanisch-negative oder tocquevillesche-positive Erftillung, sondem als das Ende Europas verstanden. Henningsen sieht im Amerikaner sogar die praktische Vorwegnahme des nietzscheanischen ,,Ubermenschen". Da sich dieser von europS,ischen Kulturstandards 16st, k6nnte nattirlich betont werden, dass jegliche Emanzipation nicht yon ihrem ,,Urs.p.rungsfeld" zu trennen ist, sondem sich geradezu (negativ) tiber dieses Feld definiert. Wenn tiberhaupt von einem ,,Ubermenschen" in Amerika gesprochen werden kann (was aufgrund der Gottespr{isenz dort zu bezweifeln wiire), dann mtisste zumindest zugegeben werden, dass sich dann doch kein anderer als der ,,Europ~er" in Amerika mit Hilfe seiner selbst (seiner philosophischen 0berliefemng) dutch etwas Neues (Raumrevolution und Konfrontation mit einer neuen Dimension yon Wildnis) als ,,EuropS.er" aufhob. Er selbst blieb abet dan'fit der entscheidende Referenzpunkt. Was indes Henningsen mit dem ,,Ubermenschen" im Blick hat, ist eher der ,,letzte Mensch": ,,In dieser ,Welt" [des letzten Menschen] haben Philosophen, Wissenschaftler, Ktinstler, diese Repriisentanten europiiischer ,Zivilisation' nur noch eine Dienstmagdfunktion gegentiber der Praxis gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion, die ganz auf Bedtirfnisbefriedigung eingestellt ist, wahrzunehmen. AIs Interpreten sind sie tiberfltissig geworden." (ebd., S. 159). Das ftihrt zu der absolut/iberzeichneten These yon der ,,Obsoletheit Tocquevilles" oder auch Burkes (ebd., S. 160). 1016Vgl. zu letzterem Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Civilization in the United States, 2. Aufl., New York 1971, S. 164. Als Proposition der amerikanischen Denker zwischen 18. und 19. Jahrhundert wird betont: "In the nature of things, civilization in the United States, being fundamentally different from civilization in Europe, must continue to differ, for history is irreversible." 101vVgl. Main de Benoist, Sch&e vernetzte Welt. Eine Antwort aufdie Globalisierund~Ttibingen 2001, S. 89f. 1018 So z.B. Wemer Kaltefleiter, Die freien Gesellschaften- eine kleine radikale Minderheit?, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschaft und politische Ordnung. An@sen Zu Theorie und Empirie demokratischer Regierungssysteme, Optaden 1986, S. 70-80, 71. 1019Vgl. ebd., S. 206ff. und Manfred Henningsen, Der FallAmerika. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdra'ngun~ MCinchen 1974, S. 95. 1020Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen tiber die Philosophie der Geschichte, ND Stuttgart 1961, S. 145. . .
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entstehen k6nne. 1~ Bis dahin verharrten die USA im ,,biirgerlichen Zustand", eine ,,biirgerliche Gesellschaft ohne Staat. ''1~ Das Amerika nach Hegel in diesem Sinne noch ,,europSisiert" werden ,,musste", ist freilich der Beweis, dass in den USA eine eigenstiindige Revolution stattgefunden hat, da die USA aus einer rein eurozentrischen Perspektive heraus nicht von vorne herein als fiir die anbrechende Zukunft funktionierende groBstaatliche Republik verstanden werden konnten (so auch Hennigsenm23). Das war im 13brigen auch die Uberzeugung der amerikanischen Verfassungsviiter, so zumindest der amerikanische Kulturhistoriker Charles A. Beard. 1~ Und auch der m den USA sich manifestierende protoamerikanische Puritanismus war mit etwas ganz Neuartigem konfrontiert: Der amerikanischen Wildnis. 1~
2.3 Die amerfkanische Ve~assung als Gegenargument
a) Mischverfassungsorientierte Erfmdung des priisidentiellen Regierungssystems als euroatlantischer Angelpunkt Dass die USA dennoch auf einem historischen Entwicklungszustand in Europa aufbauten 1~ macht sich sehr deutlich in der ,,Neuen Mischverfassung" des neugegriindeten Staates bemerkbar. Eine nationalstaatliche Verfassung, geboren aus der Verbindung zwischen europiiischer Entwicklung, sozialgeographisch giinstiger Voraussetzungen und eigenst;,indiger, geistiger Revolution, konnte das ewige Gesetz der Verfassungskreisliiufe endlich wieder fiir liingere Zeit iiberwinden. Das machte als Ganzes die eigentliche Revolution aus, den Neuanfang im Arendtschen Sinne. Das , , N e u e " an der ,,Mischverfassung" nahm in der revolutioniiren Erfindung der priisidentiellen Regierungsform seinen Ausgang. Wobei die Mischverfassung nicht im Sinne einer gemischten ,,Staatsform" zu verstehen ist, da es diese seit Machiavellis ,,Principe", wo er streng zwischen Republiken und Fiirstentiimern unterschied 1~ aber erst recht seit Bodin, der zwischen status reipublicae und ratio gubernandi unterschied 1~ gar nicht geben kann.
,021 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen fiber die Philosophie der Geschichte, ND Stuttgart 1961, S. 145f. ,022Ebd., S. 146. 1023Vgl. Manfred Henningsen, Der FallAmerika. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdrdngung, Mfinchen 1974, S. 95. 1024 Vgl. Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of CMlization in the United States, Nachdruck / 2. Aufl., New York 1971, S. 164. 102sVgl. DanielJ. Boorstin, The Genius ofAmerican Politics, Chicago / London 1953, S. 36-65; Manfred Henningsen, Der Fall Amerika. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdrdngung, Mfinchen 1974, S. 153; Karl Dietrich Bracher, Proddentia Americana: Ur~r#nge des demokratischenSendungsbewusstseinsin Amerika, in: Alois Dempf / Hannah Arendt / Friedrich Engel-Janosi (Hg.), Politische Ordnungund Existen z. lVestgabefiir Eric Voegelin zum 60. Geburtstae~M/inchen 1962, S. 2748. 1026Vgl.John Adams, A Defenceof the Constitution of government of the UnitedStates ofAmerica. Against the Attack ofM. Turgot in his letter to Dr. Price, dated 22"u March, ND Aalen 1979 (Reprint of the 3rd edition, Philadelphia 1797), Volume 1, S. 148ff. ,o27Vgl. Niccol6 Machiavelli, Ilprincipe / Der F#rst, hg. yon Philipp Rippel, ND Stuttgart 2003, Kapitel 1, S. 9. 1028Spiiter bei Kant gab es die entsprechende Unterscheidung zwischenJbrma impeffi und forma regiminis (vgl. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischerEntwurf (K&igsberg 1795), in: K6niglich Preul3ische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kants gesammelte Schrifien. Abt. 1: Werke, Bd. 8: Abhandlungen nach 1781, Berlin 1912 (Nachdr. 1923, 1969), S. 341-386, 351).
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U n t e r ,,Mischverfassung" ist im ideengeschichtlichen Sinne eine Regierungsart oder Regierunsgs/brm zu verstehen. 1~ In diesem ideengeschichtlichen K o n t e x t reaktivierte in einer n e u e n Zeit der a n b r e c h e n d e n Gleichheit die revolutioniire E r f m d u n g der pr~isidentiellen Regierungsform das W e s e n u n d die F u n k t i o n des monarchischen Elements dutch T r a n s f o r m a t i o n - mittels , , E n t e r b u n g " , Popularisierung u n d zeitadiiquater Integrierung des Prinzips der Einerherrschaft in die neue Zeit. Die , , M i s c h v e r f a s s u n g " als ,,neue" zu bezeichnen ist auch deswegen v o n fiberaus groBer Relevanz, weil sie, auch innerhalb des damaligen Zeitrahmens des 18. Jahrhunderts, nicht an sich das N o v u m darstellte, denn eine m o d e r n e und bew~ihrte , , M J s c h v e r f a s s u n g " (als Regierungsform im weitesten Sinne) gab es damals schon, n{imlich im G e w a n d der ,,konstitutionellen Monarchie" mit ,,doppelter Exekutive" im Mutterland der USA, in GroBbritannien, was M o n t e s q u i e u trotz einiger unkorrekter S a c h a n n a h m e n im 6. Kapitel seines De L ' E s p r f t des Lois i m K e r n fiberzeugend u n d plausibel erfasste. Dieses F a k t u m wurde auch v o n den antirepublikanischen Kriiften N o r d a m e r i k a s als wichtiges A r g u m e n t gegen die , , R e p u b l i k " angewandt 1~176 eine ,,Mischverfassung" habe sich im R a h m e n einer m o n a r c h i s c h e n Staatsform (ira unseren heutigen Verstiindnis) doch hervorragend bew~ihrt. D o c h ging es in Amerika u m m e h r als nur die inhere Ordnung: D e r Selbstbehauptungswille der amerikanischen Parlamente und der amerikanischen Naturrechtslehre richtete sich gegen gegen die ,,feme" britische Parlamentssouver~initS_t und die britische Parlamentsverfassung. 1~ D e r Autonomiewille der Amerikaner gegen das britische Parlament war also ab einem bes t i m m t e n Zeitpunkt eben nicht m e h r mit d e m damals n o c h durchaus eingefleischten n o r d a m e rikanischen C o m m o n w e a l t h - R o y a l i s m u s in Einklang zu bringen; genauso wenig wie eine Naturrechtsvorstellung, die das N a t u r r e c h t n u n m e h r explizit fiber die britische Parlamentssouveriinifiit stellte. 1~ U n d da sich d e r - im Gegensatz zur Situation w~ihrend der Franz6sischen Revolution - durchaus geliebte K 6 n i g 1~ (z.T. auf der Basis eines intensiven ,,Geffihlsmonarchismus ''1034 auf breiter Basis) nicht gegen das britische Parlament auf die Seite seiner I h n liebenden, sich jedoch gerne - unter Einschluss der Loyalisten 1~ - selbst steuerpolitisch u n d legislativ organisieren wollenden und naturrechtsgliiubigen amerikanischen U n t e r t a n e n schlug, kam es zur H i n w e n d u n g zu einer ganz neuen, eigentfimlichen Art eines ,,demokratischen Royalrepublikanismus" einer kleinen Schicht y o n aktiven RevolutionS.ten. Diese W e n d u n g w u r d e 1029 Vgl. Gerhard Jean Daniel Aalders, Die Theorie dergemischten Verfassung im Altertum, Amsterdam 1968; Harald yon Bose, Republik und Mischverfassung- zur Staatsformenlehre der Federalist Papers, Bonn (Diss.) 1989, S. lf. 1030Vgl. Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikanischen Einzelstaatsverfassungen. Zur ideengeschichtlichen und verfassungsgeschichtlichenKomponente der amerikanischen Revolution, 1775-1780, Diss., Berlin 1968, S. 145. 1031Vgl. Carl Becket, The Declaration of Independence. A Study in the t-Iisto{7 of Political Ideas, New York 1922, S. 80-134. Zum Gegensatz zwischen ,,Naturrechtslehre" und ,,Parlamentsverfassung" vgl. Randolph G. Adams, Political Ideas of the American Revolution. Britannic-American Contributions to the Problem of Imperial Organigation 1765 to 1775, 3. Aufl., Durham 1958, S. 128-149. 1032Vgl. ebd. 1033Noch am 4. Mai 1776, also genau acht Wochen vor der Unabh~ingigkeitserH~irung, erschien in der Poetenecke des ,,Pennsylvania Ledger" z.B. folgendes Gedicht: May the eyes of the King soon be @ened to see, We are his good subjects, his slaves we'll not be; Leave ourfreedom untouch'd, then united we'll sing: Come upfillyour bumpers here's God save the King. (Zitiert nach Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikanischen Einzelstaatsverfassungen. Zur ideengeschichtlichen und verfassungsgeschichtlichenKomponente der amerikanischen Revolution, 1775-1780, Diss., Berlin 1968, S. 161). Das heiBt indes nicht, dass es zu jenem Zeitpunkt auch Mare republikanisch orientierte Stimmen zu vemehmen gab, abet die waren damals immer noch nicht selbstverstiindlich. 1034So ebd., S. 162. 103sVgl. Marion Breunig, Die AmerikanBche Revolution ak Biirgerkrieg, M/,inster 1998, S. 325.
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relativ pl6tzlich mit J o h n A d a m s ' Wirken und Paines antimonarchischem P a m p h l e t , , C o m m o n Sense 'q~ in Bewegung gesetzt. Die Revolutioniire stellten sich nun dem Loyalismus entschieden entgegen, zogen die iiberwiegend neutrale amerikanische Bev61kerung auf ihre Seite o d e r eher mittelbar und ohne jegliche Exzesse gegen Neutrale (wie spiiter in Frankreich) - schiichterten die Loyalisten ein. 1~ 60 bis 100 T a u s e n d britische Loyalisten w u r d e n enteignet u n d mussten nach K a n a d a fliehen, k o n n t e n aber z.T. wieder in die USA zuriickkehren. 1~ Mit d e m n u n m e h r rasch a u f k o m m e n d e n antibritischen , , R o y a l r e p u b l i k a n i s m u s " , der sich fiir einen kurzen Zeitraum ganz pers6nlich auch gegen den britischen K 6 n i g G e o r g III. richtete 1~ kam es zur E r f m d u n g der pra'sidentiellen Regierungsform, also zur H e r a n z i e h u n g des in der Verfassungsgeschichte stf~rksten m o n a r c h i s c h e n Regierungsformelements (ideengeschichtlich betrachtet) im R a h m e n einer republikanischen Staatsform (nach heutigem Verst~indnis)l~176 N o c h nie hatte das monarchische E l e m e n t (als Regierungsformelement), auch und gerade nicht in der Zeit des Perikles mit der M6glichkeit der Wahl eines ,,obersten Strategen" oder in der Zeit der republikanischen Verfassung R o m s mit der M6glichkeit der Wahl zweier K o n s u l n und eines Diktators, n e b e n den vielen aristokratischen Regierungsformelementen, eine so zentrale institutionelle und derart direkt demokratisch legitimierte Stellung inne wie in den neu entstandenen USA. J o h n A d a m s priigte sogar den Begriff der ,,limited m o n a r c h y " und ,,monarchical republic"l~ und so war es gar nicht einmal sehr weit hergeholt, dass einer der Hauptvorwfirfe der Anti-Federalists gegen/iber der amerikanischen Verfassung darin bestand, ,,dass der Priisident eine K o p i e des englischen K6nigs sei. ''1042 D i e s e m Charakter entsprach auch die Symbolik: N e b e n d e m ,,Capitol" als Bezeichnung des Kongresses und d e m , , S e n a t " als Bezeichnung der Zweiten K a m m e r , w~ihlten die Amerikaner die Bezeichnung , , A u g u s t u s " fiir ihren ersten Priisidenten G e o r g e W a s h i n g t o n aus. 1043 ,,Augustus" war das Sinnbild einer guten Monarchie! D e r Pr~isidentialismus war als monarchisches E l e m e n t so stark pr~isent, dass in den USA selbst n o c h lange nach 1776 im G e h e i m e n vereinzelt an einer , , W e i t e r f ~ h r u n g " i m Sinne der Installation einer preul3ischen Monarchie (fiber General von Steuben als Mittelsmann) gearbeitet wurde. 1~ Ni cht dest ot rot z waren die Unterschiede zwischen britischem K 6 n i g t u m und amerikanischer Priisidentschaft in den Punkten 1036 ,,.As a man who is attached to a prostitute is unfitted to choose or judge of a wife, so any prepossession in favor of a rotten constitution of government will disable us from discerning a good one." 103vVgl. Marion Breunig, Die Amedkamirche Revolution ak" B#rgerkried~ M~nster 1998, S. 323ff. Auch die Gewaltaktionen gegen die Loyalisten, die es in der Tat gab und die diesen auch angedroht wurden, hielten sich im Vergleich zu Frankreich in Grenzen, auch wenn Breunig vemutet, dass die ungesetzlichen Lynchaktionen stark untersch{itzt w/irden: Er ist dabei letztlich auf Vermutungen angewiesen (vgl. ebd., S. 327f.) 1038Vgl. Manfred Henningsen, Der FallAmerfka. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdra'ngung, M/inchen 1974, S. 131; vgl. insgesamt auch Marion Breunig, Die Amerikanische Revolution als B#rgerkrieg, M/inster 1998. 1039Vgl. Harald von Bose, Republik und Mischverfassung- zur Staat.formenlehre der Federal#t Papers, Bonn (Diss.) 1989, S. 72. 1040Vgl. Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerfkanischen Einzelstaatsverfassungen. Zur ideengeschichtlichen und verfassungsgeschichtlichenKomponente der amerikanischen Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin 1968, S. 151-182. 1041Zitiert nach Harald yon Bose, Republik und Mischverfassung - zur Staatsformenhhre der Federalist Papers, Bonn (Diss.) 1989, S. 83. 1042Ebd., S. 73. Die wundervoll kari"lderende Entgegnung von Alexander Hamilton findet sich in Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorfe und Verfassungskommentar der amerfkanischen Gr#ndervy ter, hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderborn u.a. 1994, Artike167, S. 406-410. 1043Vgl. Peter Bender, DasAmerfkanische und das Ra'mische Imperium, in: Merkur 617/618 (9/10, 54. Jg.), S. 890-900, 890. Vgl. generell zum Thema Peter Bender, Weltmacht Amerika. Das Neue Rom, 3. Aufl., Stuttgart 2003 und Heinz Gollwitzer, Geschichte des wellpolitischen Denkens. Band I: Vom Zeita/ter der Entdeckungen bis zum Beginn des Imperialismus, G6ttingen 1972, S. 489-498. 1044Vgl. mit Quellenangaben Oskar Prinz yon Preul3en, Wilhelm II. und die Vereinigten Staaten yon Amerfka. Zur Geschichte seiner ambivalenten Be~ehun2~ Neuried 1997, S. 35f.
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augenscheinlich, die mit der Legitimation des mit den jeweiligen Positionen einhergehenden Prinzips einer ,,personalen Einerherrschaft" einhergingen: Der amerikanische Priisident konnte im Rahmen des impeachment angeklagt und gestiirzt werden, wiihrend fiir den britische K6nig der Grundsatz gait: ,,The IGng can do no wrong". Der Priisident war zwar - wie der K6nig in Grol3britannien- nicht politisch fiir seine Handlungen verantwortlich zu machen, abet rechtlich schon. Aul3erdem kam eine politische Verantwortlichkeit des Priisidenten gegeniiber dem Volk zumindest in indirekter Form in Betracht, da der Priisident gewiihlt werden musste. Dieses ,,populistische" oder ,,plebiszitiire" Moment gab und gibt dem Einerprinzip einen demokratischen Charakter, welcher in Grol3britannien nicht vorhanden war. D e n n o c h wurde das Einerprinzip so sehr gestiirkt, wie es im Rahmen einer demokratischen Legtimitationsgrundlage nut irgend m6glich war, was dazu fiihrte, dass (de jure bis heute) die Wahl des amerikanischen Priisidenten indirekt zu erfolgen hat und das impeachment (auf Bundesebene) nicht vom Volk, s o n d e m vom Repr{isentantenhaus auszugehen hat.
b) Der europiiische Hintergrund amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit: Zur K15.rung der Begriffe ,,Mischverfassung, Republik, Demokratie" Wenn nun die ganze Zeit von ,,monarchischen" Regierungsformelementen die Rede war, so muss sp{itestens jetzt aus methodischen Griinden auf den schon angedeuteten Umstand aufmerksam gemacht werden, dass streng zwischen dem ideengeschichtlichpolitikwissenschaftlichen Gebrauch der genannten Begriffe , , R e ~ e r u n g s f o r m " , ,,Mischverfassung" und ,,Staatsform" und einem modernen, komparatistisch-politikwissenschaftlichen Gebrauch der Begriffe unterschieden werden muss. Nach letzterem ist die Republik nicht als , , R e N e r u n g s f o r m " , sondem immer als ,,Verfassungsform" von der ,,Monarchie" zu unterscheiden. 1~ Eine ,,Mischverfassung" kann es im strengen Sinne als Mischung von Staatsformen, nicht geben. Als Regierungsformen werden indes nur priisidentielle von parlamentarischen unterschieden. Geht es bei der ersten Unterscheidung um Repr~isentationsstruktur und Machtlegitimation einer Exekutive, so geht es bei der zweiten um die Machtverteilung im Rahmen der vorgegebenen Repr~isentationsstruktur und im Verhiiltnis zu den anderen Gewalten. Eine Verbindung von ,,Pr~isidentialismus" als Regierungsform und ,,Monarchie" alleine als Staatsform ist auf der Grundlage beider Ansiitze ausgeschlossen, womit zugleich das revolutioniire M o m e n t der amerikanischen Verfassungsgebung wiedergegeben ist: Die Abschiittelung der absoluten und erblichen Monarchie. Was mit der Erfindung des Pr~isidentialismus revolutioniert wurde, also mit der politischen Nicht-Abberufbarkeit eines demokratisch via (faktischer) Direktwahl einberufenen Regierungschefs, ist jedoch in nuce nichts anderes als eine sehr alte Errungenschaft ,,abendlSndischer" P o l i t i k t h e o r i e - die elektrisierende Idee der ,,Mischverfassung", in der das monarchische wie auch das republikanische Element nicht aus dem Begriff der ,,Staatsform", s o n d e m aus dem Begriff der ,,Regierungsform" abgeleitet werden. Auf der Basis von Machiavelli 1~ und Montesquieu 1~ kann auch kein zwingender Unterschied zwischen der Philosophie der ,,Mischverfassung" und dem Begriff der ,,Republik" konstruiert werden und Montesquieu selbst konnte sogar auf der Basis des Verst~indnisses der
,04sVgl. Harald von Bose, Republik und MischverJassung- zur Staatsformenlehreder FederalistPapers, Bonn (Diss.) 1989, S. 2f. 1046Vgl. Niccol6 Machiavelli, Discorsi. Staat und Politik, hg. von Horst G/inther, Frankfurt a.M. / Leipzig 2000, 1. Buch, 2. Kapitel, S. 19-25. 104vVgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de la Br&de et de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, bearb, v. Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 2.-8. und 11.-13. Buch, S. 106-200 und 213-260.
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Republik als ,,Regierungsform" schliel31ich sogar seine ber'fihmte Unt erschei dung zwischen der ,,aristokrafschen Republik", u n d der (reprS.sentativ- oder direkt-) ,,demokratischen Republik" treffen (Sparta, Athen, Rom). 1048 Machiavelli indes schiitzte in semen , , D i s c o r s i " , in denen er nach der richtigen Mischung zwischen ,,Fiirsten-, Adels- und V o l k s e l e m e n t e n " in einer ,,Republik" fragte 1~ die Adelsherrschaft im Venedig seiner Zeit als ,,Republik" ein, ebenso wie R o m und Sparta, wobei er an R o m besonders die Institution des Volkstribuns, die G r 6 g e und Dynamik der Biirgerschaft und die allgemeine Wehrpflicht schiitzte. 1~176 Dass er aus diesem Grunde der r6mischen Republik als Vorbild fiir Florenz u n d Italien den V o r z u g gegeniiber Sparta und Venedig gab, weist auf den starken ,,(national)demokratischen Charakter" seiner Vorschliige hin (der eindeutig stiirker war als bei Montesquieu), doch wiire es verkehrt, das ,,Prinzip der Volkssouveriinitiit" als ein E l e m e n t des machiavellischen Republikanismus anzusehen. m51 Letztlich liegt Machiavellis ,,revolution;,irste" Erkenntnis in seiner Republikanismusbetrachtung o h n e hi n nicht so stark m seiner neuartigen, 5_ul3erst positiven Einschiitzung der freiheitserm6glichenden , , V o l k s d y n a m i k " , s o n d e m viel eher in seiner Entdeckung, dass eine ,,Vollkommenheit" in der ,,Mischung aller drei Regierungsformen" aus einem Konflikt von M~ichtegruppen im I n n e r e n eines Staates heraus entsteht: ,,aus der Uneinigkeit zwischen Volk u n d Senat". E n t s p r e c h e n d miisse die ,,vox populi" als republikanische Eigentfimlichkeit einen Freiraum besitzen und sich in b e g r e n z t e m MaBe ,,austoben" k6nnen, damit eine ,,Republik" zu , , M a c h t " u n d ,,Freiheit" gelangen kann: ,,Mir scheint, wer die KSxnpfe zwischen Adel und Volk verdammt, der verdammt auch die erste Ursache f/it die Erhaltung der r6mischen Freiheit. Wer mehr auf den Liirm oder das Geschrei solcher Kiimpfe sieht als auf ihre gute Wirkung, der bedenkt nicht, dass in jedem Gemeinwesen die Gesinnung des Volkes und der Grofien verschieden ist und dass aus ihrem Widerstreit alle zugunsten der Freiheit erlassenen Gesetze entstehen. (...) Man k6nnte zwar einwenden, das sei eine ungew6hnliche, fast wilde Art, wie das ganze Volk gegen den Senat und der Senat gegen das Volk schrie, wie es durch die Stragen tobte, die KauflS.den geschlossen wurden, das ganze Volk aus Rom auszog, lauter Dinge, die beim Lesen freilich erschrecklich klingen. Aber jeder Staat muss seine Mittel und Wege haben, dem Ehrgeiz des Volkes Luft zu machen, besonders die Staaten, die sich bei wichtigen Dingen des Volkes bedienen wollen.''1~ Mit diesem konfliktorientierten Republikbegriff n a h m Machiavelli best i mmt e zentrale Aspekte des modernen Republikbegriffs vorweg, wie er sich dann in den Vereinigten Staaten ausgestaltet hat. Zugleich bereitete er mit seinem (hier und da antichristlich zugespitzten) N a t i o n s g e d a n k e n sowohl der Siikularisierung der mittelalterlichen Politik 1~ als auch der nationalistischen Uberh 6 h u n g eines kollektiven Selbst den Boden. Die S~ikularisierung der Staatstheorie w u r d e allerdings ohne antichristliche Zuspitzungen m e h r - yon Bodin weiter- und y o n H o b b e s schlieglich zu einem ersten wichtigen E n d e gefiihrt. 1~ 1048Vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de la Br&de et de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, bearb, v. Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 2. Buch, 2. und 3. Kapitel, S. 106-114. 1049Vgl. Niccol6 Machiavelli, Discord. Staat und Politik, hg. yon Horst GCinther, Frankfurt a.M. / Leipzig 2000, 1. Buch, 2. Kapitel, S. 25. 1050Vgl. ebd., 1. Buch, 2.-6. Kapitel, S. 19-37. 10Sl So in der Obersetzung von Maurizio Virolis ,,Repubblicanesimo": Maurizio Viroli, Die Idee der republikanischen Freiheit. Von Ma&iavelli bis heute, M/inchen / Z/irich 1999, S. 13. 10s2Niccol6 Machiavelli, Discord. Staat und Politik, hg. von Horst G/inther, Frankfurt a.M. / Leipzig 2000, 1. Buch, 5. Kapitel, S. 27f. 1053Vgl. Wemer Fritzemeyer, Chrfstenheit und Europa. Zur Geschichte des europa?'schenGemeinschaftsgefiihls von Dante bis Leibni~ Mfinchen / Berlin 1931, S. 32-35. 10s4Vgl. ebd., S. 85-90 und 125-131 und (zu BoNn) Quentin Skinner, The Foundation of Modern Political Thought. Volume Two: The Age of Reformation, Cambridge 1978, S. 297-301.
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D o c h bevor zu diesen Aspekten vorgedrungen werden kann, sei noch einmal betont und ausgeffihrt, dass der v o r m o d e m e Republikbegriff, auch der machiavellische 1~ nicht ein ,,Prinzip der Volkssouveriinitiit" (bzw. eine ,,demokratische Republik" im Sinne Montesquieus) zum Pfeiler hatte. Neben dem republikanischen Gebot der ,,Herrschaft des Gesetzes" war der zweite Pfeiler die Mischung der drei ,,Regierungsformen", die in der r6mischen Geschichte explizit an die Stelle eines absoluten K6nigtums und zugleich gegen ihn traten, desjenigen K6nigrams also, welches seinen Ursprung der Sage nach in Romulus hatte. Damit ist klar, dass die Republik sich aus dem Gegensatz zum reinen Prinzip der Monarchie (als ,,Regierungsform '~) defmierte, doch war die Republik nicht mit der Demokrafie (als ,,Regierungsform") identisch, genauso wenig wie sie ein Prinzip der ,,Volkssouver~initiit" implizierte- ein Begriff, der ohnehin erst viel sp~iter auftauchte. Aus dem klassischen Republikanismus stammte folgerichtig auch das sp{itere Wort yon der ,,Adelsrepublik": Dieses Wort hat nicht nut bei Machiavelli, sondem auch bei Montesquieu einen Sinn. Bei Montesquieu verhielt es sich - genauso wie bei Machiavelli- so, dass auch die erbliche Aristokratie (nicht allein die Wahlaristokratie) mit einer ,,Republik" im Sinne der guten ,,res publica" zusammengedacht wurde: geblfitsaristokratische ,,Regierungsarten" galten auch bei Montesquieu noch nicht als unrepublikanisch: ,,Sobald in der Republik das Volk als K6rperschaft die souveriine Macht besitzt, haben wit eine Demokratie vor uns. Sobald die souver~ine Macht in den Hiinden eines Teils des Volkes liegt, heil3t sie Aristokratie. ''1~ Entscheidend ffir die ,,Demokratie" in dieser am klassischen Verstiindnis orientierten Definition ist also, dass es keine politische (nicht rechtliche) Instanz geben daft, ,,auger eine vom Volk [Staatsbfirger] legitimierte, die die letzte Entscheidung fiber die Gesetze hat, unter denen das Volk die [Staatsbfirget] lebt. ''1~ Dazu kommt noch, dass eine ,,demokrafische Republik", die zugleich ,,gem~il3igte" Regierungsform bei Montesquieu zu sein hatte (urn letztlich nicht als ,,Despotie" zu gelten), nut auf der Basis einer klaren repr~isentativen Verfassung oder Verfassungspraxis (und hier ziihlt Montesquieu das klassische Athen mit seiner hierarchischen Gesellschaftsstruktur berechfgterweise hinzu 1~ und in Verbindung mit einem aristokratischen Wahlverfahren (Wahl durch Abstimmung statt Wahl durch Los 1~ sowie der Geheimheit der A b s f m m u n g e n in den Vertretungsk6rperschaften (im Gegensatz zum demokratischen Gebot der 6ffentlichen Stimmabgabe des Wahlvolkes) fiberleben k6nnte. 1~176 Die grol3e europ~iische Tradition der ,,Mischverfassung" kam indes nicht nut fiber Machiavelli und Montesquieu (bzw. Aristoteles) nach Amerika, sondern fand sich auch im Rahmen des fiberlieferten erbmonarchischen Verstiindnisses GroBbritanniens und des britischen Commonwealths. Hier kam die Idee der ,,Mischverfassung" insbesondere in Verbindung mit einer
1055Die Definition von Republik alMnig als ,,Nicht-Monarchie" wird m.E. f'alschlicherweiseMachiavelli zugeschrieben. Das wfirde nur Sinn machen, wenn man sich auf dem ,,I1principe" beschriinkte. Mit der Heranziehung der ,,Discorsi" wird der machiavellische Republikbegriff ,,"ldassisch" und komplexer. Aul3erdem muss auf Denker hingewiesen werden, die schon lange vor Machiavelli Republiken yon ,,Prinzipaten" oder dem Begriff ,,perpetua potestas" schieden: Vgl. Susanne Hauser, Untersuchungen gum semantischen Feld der Staatsbegriffe yon der Zeit Dantes bis Zu Machiavelli, Z/irich 1967, S. 89f. und Harald von Bose, Republik und Mischverfassung- zur Staatsformenlehre der Federalist Papers, Bonn (Diss.) 1989, S. 71f. 1056Charles-Louis de Secondat, Baron de la Br&de et de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, bearb, v. Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 2. Buch, 2. Kapitel, S. 106. 1057Kurt L. Shell, Demokratie, in: Axel Gfrlitz (big.), Handlexikon z.ur Politikwissenschaft. Band 1: Absolutismus- Monarchie, Reinbek 1973, S. 57-62, 58. 1058Vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de la Br&de et de Montesquieu, I/om Geist der Gesetze, bearb, v. Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 2. Buch, 2. Kapitel, S. 105f. 10s9Vgl. ebd., S. 109f. 106oVgl. ebd., S. 108.
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sich im 18. Jahrhundert herausbildenden ,,doppelten Exekutive" zur Anwendung (unter Georg I. und Walpole), bis der britische Mischverfassungstyp schliel31ich in den USA von jeglicher institutionalisierter Blutsbezogenheit abgel6st wurde und dennoch - wie erarbeitet - unter Heranziehung des in der Geschichte aller Republiken stS.rksten monarchischen Regierungsformelementes (der priisidentiellen Regierungsform in transformierter Form) mit der republikanischen Staatsform (im modemen) Sinne auf einmalige Weise vers6hnt werden konnte.
c) Fazit Nach dem Gesagten in Bezug auf die Traditionen amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit k6nnen die USA nicht als ,,unhistorisches" Land oder als ,,Sozialprozess ganz eigener Art" tituliert werden. Dementsprechend stellte Ernst Fraenkel in seiner Einleitung im Lehrbuch ,,Das amerikanische Regierungssystem" v611ig richtig fest, dass es die USA waren, welche ,,die Fiihrung im K a m p f um die Erhaltung der abendliindischen Tradition" iiberhaupt iibemehmen konnten. 1~ Die Position von Henningsen und von einigen amerikanischen Griinderv~itern selbst 1~ dass die USA im Gegensatz zu Europa fiir das schlechthin Neue stehen, geh6rt insofern genauso relativiert wie eine rein eurozentrische Perspektive. Beide Perspektiven gehen zu stark von einer Gegensatzbeziehung zwischen den USA und Europa aus. Schon Leopold von Ranke warnte 1824 davor, diesen realitiitsverfremdenden Gegensatz zum Mal3stab zu nehmen und ,,Europa und Amerika in einem Gegensatz [zu] betrachten", wo ,,lediglich eine Entwicklung diesseitiger Geschlechter" stattfand. 1~ Bezogen auf die sozio6konomische Entwicklung indes ist nicht Henningsen, s o n d e m durchaus Hegel zu stiitzen: D e m n a c h mussten die USA sich erst einmal urbanisieren und modernisieren, um in die Weltgeschichte auch faktisch eintreten zu k6nnen (potentiell, philosophisch und theoretisch, sind sie es ja schon mit der Atlantischen Revolution). 1~ Hiitte Hegel auf dieser Basis Amerika Anfang des 19. Jahrhunderts als ein ,,Land der Zukunft ''1~ defmiert, wiire das im Nachhinein absolut nachvollziehbar gewesen. Im Begrifflichen traf Hegel also durchaus den Nagel auf dem Kopf: Amerika war unter Vorbehalt einer ausstehenden Urbanisierung und Modemisierung nach europa'ischen Mal3st{iben durchaus ein ,,Land der Zukunft". Allerdmgs sind die USA, im Gegensatz zum Verstiindnis Hegels, ein Land, das kraft seines genuin revolutioniiren Charakters auf der Basis einer europiiischen, niimlich hier liberalaufldiirerischen Geistesstr6mung (Locke, Montesquieu), ein eigenstiindiges Modell fiir einen entwicklungsf'ahigen grol3staatlichen Republikanismus abgab und immer noch abgibt. Dazu waren und sind bis heute die Vereinigten Staaten aus eigener revolutioniirer und normativer Substanz in der Lage. 1~
1001Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 17. 1062Vgl. Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study ~ the Idea of Civilization in the United States, Nachdruck / 2. Aufl., New York 1971, S. 164. 1003Leopold yon Ranke, Sa'mtliche Werke, Bd. 33/34, Leipzig 1885, am Ende der nicht paginierten Einleitung, zitiert nach: Willi Paul Adams, Willi Paul Adams, Die USA vor 1900, M/inchen 1999, S. 140. 1064Vgl. als Gegenargumentation Manfred Henningsen, Der Fall Amerika. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichte einer Verdra'ngune$ M/inchen 1974, S. 95ff. 1065Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Die Vernunft in der Ges&ichte, hg. v. H. Hoffmeister, 5. Aufl., Hamburg 1955, S. 209f. 1006Vgl. zu Hegel auch Charles k. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Civilization in the United States, Nachdruck / 2. Aufl., New York 1971, S. 148f.
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Revolutioniir war demnach in den USA nicht nur die amerikanische Verfassung als solche und als ,,neorepublikanische" (oder, im Sinne v o n Dietmar Herz, ,,philosophisch liberale"l~ s o n d e m zugleich die Realisierung der Verfassungsaxiome, die Verfassungspraxis, m s b e s o n d e r e die Realisierung des sogenannten ,,Grundrechtskonstitutionalismus" (Y-claus Stern), die Verbindung zwischen Macht und Freiheit 1~ abet auch die Erm6glichung der Stabilisierung und Stabilitiit dieser Verfassungspraxis durch die (historisch wahrscheinlich fast zwangsl~iufige) Erfindung der priisidentiellen Regierungsform. Die amerikanische Revolution war eine , , V e r f a s s u n g s r e v o l u t i o n ''1~176i m ganzen Sinne des Wortes ,,Verfassung". Sie war damit zugleich eine ,,konservative Revolution 'q~ weil sie durch die Tatsache, dass sie das ,,Neue" in der Tradition der gemiiBigten Philosophien eines Aristoteles, Lockes und Montesquieus, der genuin politischen Philosophie eines Machiavelli und der britischen Verfassungstheorie und - d e b a t t e des 18. Jahrhunderts (Watts, Neal, Burgh, Priestley, Price, Trenchard, G o r d o n 1~ herleitete, die Grundlagen dafiir schuf, dass die ,,Verfassungsarchitektur" die Biirger nicht iiberfordern konnte, s o n d e m im Gegenteil, ihrer Natur gerecht wurde. 1073 Sp~itestens hier ist auch auf die kolonialen Selbstverwaltungstraditionen und auf die britische Verfassungspraxis, die den Weg schon vorbereiteten, hinzuweisen: D e r ,,Mayflower C o m p a c t " 1620, die freien ,,townmeetings" 1635 in Massachusetts und die ,,Fundamental Orders of Connecticut" von 1639, die erste Btirgerrechtscharta der Geschichte von Rhode Island unter Roger Williams 1647 bis hin zur ,,Charta of Privileges" m Pennsylvania 1701. Was die britische Geschichte hin zum ,,rule of law" betrifft, sind die ,,Magna Charta" 1215, die ,,Petition o f Rights" 1627, der ,,Habeas Corpus Act" 1679 und die ,,Bill of Rights" 1689 sowie der ,,Act o f Settlement" 1701 und der ,,Septinnial Act" 1716 zu nennen. 1~ Die amerikanische Verfassung setzte und setzt O.e. ,,die Verfassung als politische Idee ''1~
,,(...) die staatlich-politische EntwicMung organisch fort, die sich in den nordamerikanischen Kolonien auf der Grundlage des englischen Verfassungsrechts des 17. Jahrhunderts angebahnt hatte. Bereits vor Ausbruch der amerikanischen Revolution war Nordamerika das freiest regierte Land der damaligen Welt.'q~
1067Vgl. Dietmar Herz, Die wohlerwogeneRepublik. Das konstitutionelle Denken despolitisch-philosophischen Ia'beralismus, Paderborn u.a. 1999, S. 38. 1068Ebd. 1069Vgl. Margarita Mathiopoulos, Amerika: Das Experiment des Fortschritts. Ein VergMch despolitischen Denkens in Amerika undEuropa, Paderbom/Mtinchen u.a. 1987, S. 186-190. 1070Margarita Mathiopoulos, Amerika: Das Experiment des Fortschritts. Ein VergMch des politischen Denkens in Amerika und Europa, Paderbom/Mtinchen u.a. 1987, S. 190 (im engeren Sinne findet sich der Begriff auch bei Angela und Willi Paul Adams, Die Entstehung der Vereinigten Staaten und ihrer Verfassung. Dokumente 1754-1791, Mtinster 1995, S. 316). 1071Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungs~ystem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 29. 1072Die letzten beiden verfassten in London 1720-1723 ,,Cato's Letter". 1073Vgl. zum Konservativismus der amerikanischen Revolution auch Daniel J. Boorstin, The Genius of American Politics, Chicago / London 1953, S. 80-94. 1074Vgl. zur Geschichte des britischen Parlamentarismus (nach Kluxen zugleich des Parlamentarismus tiberhaupt): Kurt Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, Frankfurt a.M. 1983, S. 17-172; vgl. zur Theorie der britischen Verfassungspraxis: Dietmar Herz, Die wohlerwogeneRepublik. Das konstitutionelle Denken despolitisch-philosophischen IJberalismus, Paderbom u.a. 1999, S. 71-77. 1075Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungs{Tstem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 29; vgl. auch Raymond Aron, Pla'doyer fiir das dekadente Europa, Frankfurt a.M. 1978, S. 288; vgl. insgesamt zur Bedeutung der Religionsfreiheit als Antriebsmotot Georg Jellinek, Die Erkla'rung derMenschen- undBiirgerrechte, 2. Aufl., Leipzig 1904, S. 35-45, und die Gegenthese bei Karl Dietrich Bracher, Geschichte und Gewalt. Zur Politik im 20. Jahrhundert, Berlin 1981, S. 35f.; Vgl. zur Bedeutung der englischen Verfassungpraxis noch Karl Dietrich Bracher, Geschichte und Gewalt. Zur Politik im 20. Jahrhundert, Berlin 1981, S. 36f.
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D e r Ausbruch der amerikanischen Revolution gegen Grogbritannien kann vor diesem Hintergrund mit der Vorstellung erkliirt werden, dass die britische Parlamentssouveriinit{it aus amerikanischer Sicht dem eigenen, angelsiichsischen Verstiindnis von ,,rule of law" entgegenstand. Eine ,,rule of law" k f n n e nur in einem ,,government of law and not of m e n " verwirklicht werden. Die entsprechende Apparatur dieses technischen , , R e c h t s s t a a t e s " sollte schliel31ich das gewaltenteilige politische System und die unabhiingige Verfassungsgerichtsbarkeit der USA abbilden. Politisch wirksam wurde also die europa'ische Freiheitstradition paradoxerweise aufgrund einer antikolonialistischen, nationalen Revolution der Amerikaner gegen das (alte) E u r o p a in der F o r m GroBbritanniens. 1~ Indes, ,,(...) verfassungsgeschichtlich gesehen stellt das amerikanische Regiemngssystem eine Fortsetzung der englischen Rechtsentwicklung (...) dar bei gleichzeitigerAblehnung der damals modemen Tendenzen der englischen Verfassungsentwicklung - dem Kabinettssystem;geistesgeschichtlichgesehen stellt das amerikanische Regierungssystem eine Fortsetzung der europiiischen revolutioniiren Ideen (...) dar bei gleichzeitigerAblehnung der damals modemen Ideen des Modephilosophen jener Zeit: Jean Jacques Rousseau".1~
Dariiber hinaus sollte nicht fibersehen werden, inwieweit die Entwicklung der englischen Verfassungstheorie seit Fortescue im 15. J a h r h u n d e r t bis zur Vollendung im 17. J a h r h u n d e r t nicht nur v o m eigenen Common Law, sondern auch fiber die Aneignung des Gedankenguts der italienischen Renaissance, insbesondere Machiavellis, beeinflusst war. 1~ Insofern ist, trotz aller eigenstiindigen Entwicklung, N o r d a m e r i k a (Kanada miteingeschlossen) ein ,,far-off children o f E u r o p e ''1~ und das l~isst sich geistig sogar bis hinein in den inzwischen radikal antieuropiiisch uminterpretierten, ,,durchamerikanisierten" tVrontier-Gedanken Turners zurfickverfolgen: Turners ,,Zurfick zur N a t u r " hatte klare ,,europiiische Antezedenzien" und seine Sprache war der europiiischen Philosophie entlehnt. 1~176 Die amerikanischefrontier ist immer zugleich die Augengrenze der ,,europ~iischen" und der ,,westlichen" Zivilisation gewesen. 1~ D e r franz6sische Zivilisationshistoriker Pierre Chaunu hat einmal die Bezeichnung ,,Europe sans rivage ''1~ entwickelt und verstand hierunter den geistigen Wirkraum, des nicht an seine geographischen Gestade g e b u n d e n e n Europas. U n d Nordamerika geh6rt zu diesem ,,uferlosen Europa". Die ,,Atlantische Revolution" ist nun aber auf zwei E b e n e n nachvollziehbar: nicht nur als die Verbindung zwischen amerikanischer Verfassungspraxis, englischer Rechtsgeschichte, europ~iischem G e d a n k e n g u t u n d philosophischem Idealismus (der nicht yore angels~ichsichen Raum zu trennen istl~ s o n d e m auch in einer Epochenperspektive, welche die Revolutionierung des gesamten Westens zwischen 1776 und 1989 - oder gar bis heute - einschliel3t. In 1076Vgl. Daniel J. Boorstin, The Genius ofAmerican Politics, Chicago / London 1953, S. 70. 1077Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungs~stem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 37. 1078Vgl. Dietmar Herz, Die wohlerwogene Republik. Das konstitutionelle Denken despolitisch-philosophischen Iaberalismus, Paderborn u.a. 1999, S. 73. 1079Michael Novak, North Atlantic Community, European Community. Divergent Paths and common values in Old Europe and the United States, in: National Review Online (http://www.nationalreview.com), 23. Juli 2003, 10:45 a.m. (Auszug einer Rede vor der Hayek Foundation am 3. Juli 2003 in Prel3burg). 1080Vgl. Golo Mann, Vom Geist Amerikas. Eine Einf~hrung in amerikanisches Denken und Handeln im z~van~gstenJahrhundert, Stuttgart 1954, S. 24. ,081Vgl. insbesondere Carlton J.H. Hayes, The American Frontier- Frontier of What?, in: The American Historical Review, Bd. LI (1945/46), S. 199-216. 1082Pierre Chaunu, Die Wurzeln derFreiheit, M/inchen 1982, S. 293. ,083 Vgl. Randall Collins, The Sodology of Philosophies. A Global Theo~ of Intellectual Change, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) / London 2000, S. 663-687 und 751ff. und David P. Calleo, Legende und Wirklichkeit der deutschen Gefahr. Neue Aspekte zur Rolle Deutschlands in der Weltgeschichte yon Bismarck bis heute, Bonn 1980, S. 211-224. Calleo k_ritisiertinsbesondere die Verallgemeinemng in Ralf Dahrendorf, Gesellschaftund Demokratie in Deutschland, M/inchen 1965.
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diesem Z u s a m m e n h a n g sei auch auf die oftmals untersch~itzten ,,Europ~iisierungen" Amerikas in der Geschichte hingewiesen: insbesondere auf den B/.irgerkrieg zwischen 1861-1865 und seine Rechts-Links-Implikationen 1~ aber auch auf die Modernisierung, Industrialisierung u n d Militarisierung Amerikas am E n d e des 19. Jahrhunderts u n d deren Eintritt in den Imperialisruns.1085 ,,Europa ist nicht o h n e Amerika u n d Amerika ist nicht ohne E u r o p a zu denken. ''1~ Beide stehen in einem , , a r c h e t y p i s c h e n V e r h S l t n i s " zueinander und weisen genauso eine biniire Strukm r auf wie M a n n u n d Frau, Licht u n d Dunkel, Lust und Schmerz, Aussage u n d alternative Behauptung, Ruhe u n d Bewegung, O b e n u n d u n t e n oder Osten u n d Westen. Amerika u n d E u r o p a sind ,,Schwestern, die sich ebenso ~ihneln, wie sie voneinander verschieden sind". 1~
2.4 Die Doppelrevolutionsthese im Widerstreit
Bezogen auf die politische B e d e u t u n g der amerikanischen und franz6sischen Revolution gehen die G e g n e r des Begriffs ,,Atlantische Revolution" y o n einer angeblichen ,,Legende" der beiden ,,Revolutionen in einem Geist ''l~ aus. Klaus v o n Beyme z.B., der das W o r t der ,,Legende" ins Spiel brachte, stiitzt sich dabei auf die Radikalitiit der Jakobiner. 1~ Dabei fibersieht er, in einer gewissen Analogie zu seinem Widerpart Palmer 1~176dass die Debatte in den Vereinigten Staaten nicht frei v o n jakobinischen Einflfissen war. Aus dieser Debatte heraus ist zu erkl~iren, weshalb sich der B e g r i f f , , D e m o k r a t i e " in den USA fiberhaupt durchsetzen konnte: Das W o r t ist in Amerika mit T h o m a s Paines ,,Rights of M a n " 1791 erst fiber die europ~iische Revolution nach Amerika g e k o m m e n . 1~ Bis heute spricht m a n in den USA etwas fiberspitzt v o m Konflikt zwischen der Fraktion der ,,jacobins" und der sich letztlich durchsetzenden ,,anglomans 'q~ (wozu die Federalists, insbesondere J o h n Adams, gehfrten) 1~ ganz zu schweigen y o n der Vielzahl der probritischen Loyalisten, die bei der Betrachtung der Amerikanischen Revolution allzu oft unter d e m Tisch
1084Vgl. Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, Miinchen 1974, S. 95-99. 108s Das Wort von der ,,Europgfisierung" Amerikas in diesem Zusammenhang gebraucht treffend: Golo Mann, Vom Geist Amerikas. Eine Einfiihrung in amerikanisches Denken und I-Iandeln im zwan~gsten Jahrhundert, Stuttgart 1954, S. 9 (vgl. insgesamt Max Silberschmidt, Der Aufitieg der Vereiniglen Slaaten yon Amerika z.ur Weltmacht. Staat und Wirtschaft der USA im 20. Jahrhundert, Aarau 1941). Eine andere Sichtweise nimmt ein: Richard W. Alstyne, The Rising American Empire. A provocative Ana/ysis of the Origins and Emergence of the United States as a National State, New York 1974. Alstyne setzt den amerikanischen Imperialismus schon in den Anf'angen der amerikanischen Geschichte an. Vgl. ferner HansJ/irgen Schrfder, Amerika al~"Modell? Das Dilemma der Washingtoner AuJdenpolitik gegeniiber revolutiondren Bewegungen im 20. Jahrhundert, in: Erich Angermann (Hg.), Revolution und Bewahrung. Untersuchungen zum Spannungsgefiige yon revolutiondrem Selbstverstdndnis undpolit~rcher Praa-is in den Vereinigten Staaten yon Amerika, M/inchen 1979, S. 189-242, 193 (= Historische Zeitschrift, Beiheft Nr. 5). lo86Tilo Schabert, Die Atlantische Zivilisation. [Tberdie Entstehung der einen Welt des Westena, in: Peter Haungs (Hg.), Europdisierung Europas?, Baden-Baden 1989, S. 41-54, 41. 1087Ebd., S. 42. 1088I~aus yon Beyme, Vorbild Amerika? Der Einfluss der amerikanischen Demokratie in der Welt, Miinchen 1986, S. 20. 1089Vgl. Klaus yon Beyme, Vorbild Amerika? Der Einfluss der amerikanischen Demokratie in der Welt, M~inchen 1986, S. 21. 1090Palmer glaubt zwischen Robespierrschem Terreur und Demokratie unterscheiden zu kfnnen, indem er den Terror allein auf die Person Robespierre, dessen ,,Ehrgeiz" und ,,Fanatismus" zurOckfiihrt (vgl. Robert Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution. Eine vergleichende Geschichte Europas und Amerikas von 1760 bis wr Franzb'sis&en Revolution,
Frankfurt a.M. 1970, S. 28). lo91Vgl. ebd., S. 32. 1092Vgl. Joyce Appleby, Liberalism and Republicanism in HisLoricalImaginafion, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1993, S. 202f. lo93Das wird auch bei yon Beyme herausgearbeitet: vgl. Klaus von Beyme, Vorbild Amerika? Der Einfluss der amerikanischen Demokratie in der Welt, M~nchen 1986, S. 21.
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fallen. 1094 D e r gesamteuropiiische O r t der D e b a t t e springt schon anhand der Begriffe ins Auge 1~ die durch die Replik T h o m a s Paines auf die T h e s e n von E d m u n d Burke in N o r d a m e r i k a Einzug hielten. 1~ Nicht nur T h o m a s Paine, s o n d e m auch E d m u n d Burke wurde damit zu einem sehr wichtigen Referenzpunkt, ja zum europiiischen Vertreter der gemN3igten Revolutioniire Amerikas, in der amerikanischen Debatte: ,,The ablest defender of the Revolution - in fact, the greatest political theorist of the American Revolution - was also the great theorist of British conservatism, E d m u n d Burke 'q~ schrieb Daniel j. Boorstin. U n d Joyce Appleby hat systematisch herausgearbeitet, dass der franz6sische T o p o s fi_ir die amerikanische Politik am E n d e des 18. Jahrhunderts geradezu k e n n z e i c h n e n d wurde: ,,The F r e n c h Revolution was the catalyst in breaking up the consensus a m o n g the leaders of the Ameri can Revolution because it carried with it an insistent philosophical question that had not yet been resolved ''I~ - mit der philosophical question ist die Frage ,,(mehr) Gleichheit oder (mehr) Freiheit?" gemeint. Desweiteren iibersieht Beyme, dass der Jakobinismus in Frankreich ja erst nach 17911~ bzw. 1793 ( E n t h a u p t u n g Ludwigs XVI.) voll zur G el t ung kam. N o c h 1789 k o n n t e n sich gemiigigte Amerikaner wie J o h n Marshall und G e o r g e Washington stolz fiber die Wichtigkeit und Richtigkeit der Ereignisse in Frankreich 5.ul3ern und die ,,Exportf'~ihigkeit" amerikanischer Weisheit loben. 11~176 Z u d e m wird auger A c h t gelassen, dass auch die Franzfsische Revolution, wie R o b e r t R. Palmer in seiner A b h a n d l u n g mustergiiltig darlegen k o n n t e 11~ nicht von links, s o n d e m v o n rechts ihren Anfang n a h m und sich erst 1791 - nach einer Phase der Auseinandersetzungen zwischen gemiil3igt-liberalen Anglophilen und demokratisch gesinnten Amerikainterpreten 11~ - endgiiltig in das politische Gegenteil verkehrte. Symptomatischerweise kam es kurz nach d e m A b l e b e n Franklins (1790) 11~ zu dieser Verkehrung, wobei die Radikalitiit der am E n d e erfolgreichen radikalen Amerikainterpreten in Frankreich wi ederum durch eine ,,Missinterpretation ''11~ der amerikanischen Revolutionsideale beg/instigt wurde. Diese Missinterpretation fiihrte auch zu den Entt~iuschungen im Verhiiltnis der radikalen franz6sischen 1094 Dem amerikanischen Loyalismus und dem B/irgerkriegscharakter der Amerikanischen Revolution hat sich im deutschen Schrifttum insbesondere angenommen: Marion Breunig, Die Amerikanische Revolution al~"Bi#gerkrieg, M/inster 1998. 109sVgl. femerhin Joyce Appleby, Iaberalism and Republicanism in Historical Imagination, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1993, S. 204. 1096Vgl. Charles A. Beard / Mary R. Beard, The Rise of American Civilization , ND New York 1947, Volume I, S. 364-366. 109~DanielJ. Boorstin, The Genius ofAmerican Politica, Chicago / London 1953, S. 72f. 1098Joyce Appleby, Iaberalism and Republicanism in Historical Imagination, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1993, S. 203. 1099Die Revolution wird ,,blutig": ErstCirmung der Tuilerien, Niedermetzelung der Schweizergarden und Inhaftierung des K6nigspaars 1792, die ,,Septembermorde", i.e. Ermordung von etwa 1000 Gef'~ingnisinsassendurch den Stral3enmob im September 1791 (insbesondere von Priestern, die den Eid auf die Verfassung verweigerten). 1100Vgl. Charles A. Beard / Mary R. Beard, The l~re of American Civilization , ND New York 1947, Volume I, S. 360. 1101Vgl. Robert Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution. Eine vergleichende Geschichte Europas und Amerikas yon 1760 bis zur Franzh'sis&en Revolution, Frankfurt a.M. 1970. 1102Vgl. Joyce Appleby, Liberalism and Republicanism in Historical Imagination, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1993, S. 234238. Zu den Anglophilen geh6rten z.B. Montesquieu und (mit Abstrichen auch) Frangois de La Rochefoucauld, Voltaire, die Marquise Henriette Lucie de La Tour du Pin, Anne Louise Germaine de Stael (die mit Benjamin Constant liiert war), Trophime Gerard Marquis de Lally-Tollendal, Stanislas de Clermont-Tonnere (ermordet 1792), Chr&ienGuillaume de Lamoignon de Malesherbes (hingerichtet 1794), Jean Joseph Mounier, Pierre Victor de Malouet, Jean Baptiste Antoine Suard, Jacques Mallet du Pan und Jean Louis de Lolme aus Genf. Zu den ,,Amerikanisten" geh6rten z.B. Anne Robert Jacques Turgot, Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat de Condorcet und Pierre Samuel du Pont de Nemours, Gabriel de Riqueti Comte de Mirabeau, und sp~iter auch Lafayatte, Siey&sund der junge Talleyrand. 1103Vgl. zu den sehr empathischen Reaktionen in Frankreich Durand Echeverria, Mirage in the West. A Histo{7 of the French Image of American Society to 1815, 2. Aufl., Princeton (NJ) 1968, S. 170f. 1104So die richtige Bezeichnung ebd., S. 70 (vgl. ferner ebd., S. 78). Vgl. femerhin Joyce Appleby, Liberalism and Republicanism in HistoricalImagination, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1993, S. 235.
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, , A m e f J k a M s t e n " zu J o h n Adams nach 1787. Ein sich anbahnender jakobinischer Antiamerikanismus konnte jedoch zur gleichen Zeit durch den (blinden) Enthusiasmus fiir Thomas Paine und John Stevens 11~ wieder in einem proamerikanischen Sinne aufgefangen werden. Man kann - sehr frei nach J oyce A p p l e b y - zwischen drei Phasen des franz6sischen Amerikanismus unterscheiden: Zur ersten geh6rten z.B. Protagonisten wie Anne Robert Turgot, Caritat de Condorcet und Pierre Samuel du Pont, Mirabeau und La Rochefoucauld, zur zweiten Personen wie der Marquis de La Fayette, Pierre L'Enfant (der spiitere Erbauer Washingtons D.C.), Adrien D u p o r t (1792 nach GroBbritannien gefliichtet), Abb~ Siey&s, G W Jean Target und der junge Talleyrand. 11~ Die zweite Phase f'allt unter anderem mit dem Besuch Thomas Paines in Paris im Jahre 178711~ und mit dem Aufenthalt Jeffersons in Paris 1784178911~ zusammen. Der am Oft priisente Jefferson spielte eine wichtige Rolle bei der Erstellung der ersten Entwiirfe der franz6sischen Menschenrechtsdeklaration. 11~ Zur dritten Phase z~ihlen schlieBlich die radikalisierten , , A m e r i k a n i s t e n " wie Pierre L o u i s Prieure (1816 als K6nigsm6rder aus Frankreich verbannt), die nunmehr immer stiirker unter dem Einfluss Jean Jacques Rousseaus, Thomas Paines, John Stevens und des physiokratischen Antifeudalismus eines Quesnays und Turgots den franz6sischen Jakobinismus begriindeten. Die Anglophilen indes standen fiir eine gemiiBigte Variante der Aufldiirung in der Tradition Montesquieus, Lockes und Pufendorfs, der als erster den Begriff der christlich initiierten Idee der Menschenwiirde philosophisch ausarbeitete. 111~ Die erste und zweite Generation der ,,Amerikanisten" gingen da schon weiter und gruppierten sich um die Ideen Voltaires, Diderots, Helvetius'. Die dritte Generation schlieBlich spielt ihre Rolle auch in der nunmehr v o r g e n o m m e n e n Phaseneinteilung der Aufldiirung in einer letzten, radikalen, abgehobenen und eigenstiindigen ,,dritten Phase".1111 Von den Anglophilen unterschieden sich die ,,Amerikanisten" zun~ichst einmal darin, dass sie fiir das Prinzip der Volkssouveriinitiit sowie fiir ein adelsfreies und (im Gegensatz zu den USA seit 1787) unikamerales Parlament eintraten, was allerdings in F r a n k r e i c h - im Unterschied zu Nordamerika - die Absetzung eines K6nigs und Entmachtung des Adels erforderte. Die spezielle franz6sische , , M i s s i n t e r p r e t a t i o n " jedoch, insbesondere in der dritten, nunmehr jakobinischen Phase des franz6sischen ,,Amerikanismus", ist mit der sozialpolitischen Vorstellung von Amerika verbunden und entstand vor dem Hintergrund der groBen sozialen Notlage in Frankreich zum Zeitpunkt der Revolution: Diese Realitiit wurde zunehmend einer idealisierenden Vorstellung eines sozial absolut harmonischen Amerika entgegengestellt, was den Humus der ,,Missinterpretation" bildete. Wenn der Blickwinkel auf diesen Aspekt, also die Rezeption des ,,sozialen Amerika" beschr~inkt wird, dann erscheint die Hauptthese von Durand 1105 Bei John Stevens handelt es sich um einen Pamphletisten gegen John Adams (vgl. Joyce Appleby, Liberalism and Republicanism in Historical Imagination, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1993, S. 243f.) 1106Vgl.Joyce Appleby, Liberalism and Republicanism in Historical Imagination, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1993, S. 240. 1107Vgl. Durand Echeverria, Mirage in the West. A Histo{7 of the French Image of American Society to 1815, 2. Aufl., Princeton
(NJ) 1968, S. 119f. 1108Vgl. Tilo Schabert, Die Atlantische Zivilisation. Uber die Entstehung der einen Welt des Westens, in: Peter Haungs (Hg.), Europdisierung Europas?, Baden-Baden 1989, S. 41-54, 51. 1109Vgl. mit vielen weiterfi~hrenden Quellen- und Literaturangaben Wemer Heun, Die politische Vorstellungswelt Thomas Jeflrersons, in: Historische Zeitschrift 258 (1994), S. 359-396, 377. 1110Vgl. n-fit entsprechenden Quellenangaben Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat. Gestalt, Grundlagen, Gefa'hrdungen, Ttibingen 1995, S. 194. 1111Vgl. zu dieser Phaseneinteilung der Aufldiirung David Lundberg / Henry F. May, The enlightened Reader in America, in: American Quarterly 28 (1976), S. 262-293; Donald S. Lutz, The relative Influence of European Writers on Late EighteenthCentury American Political Thought, in: American Political Science Review, 78 (1984), S. 189-197 und Lucien Jaume, CiZizen and State under the French Revolution, in: Quentin Skinner / Bo Str~th (Hg.), States and Citizens. Histo~, Theo~, Pro~Oec/s, Cambridge 2003, S. 131-144.
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Echeverria m seiner grundlegenden Arbeit fiber das franz6sische Amerikabild im franz6sischen Revolutionszeitalter sehr plausibel: Dass die Idealisierung Amerikas in diesem K o n t e x t - also aufgrund der derartig diametral entgegengesetzten sozialen Lage in F r a n k r e i c h - eine iiberdrehte Idealisierung war und als solche als ,,Symptom ''1112 der franz6sischen ,,maladies ''1113 betrachtet werden sollte. Die soziale Notlage verleitete also die franz6sischen Revolution~ire dazu, die politischen Revolutionsideale der Amerikaner in soziale Revolutionsideale zu transformieren, auch vor dem Hintergrund der verh~iltnismiiBig entspannten, in Frankreich damals glorifizierten, sozialen Lage in Amerika. 1114 A m besten wurde diese folgenreiche , , V e r f a l l s g e s c h i c h t e " der Atlantischen Revolution von H a n n a h Arendt in ihrem Buch ,,On the Revolution" geistig durchdrungen. 1115 Richtig ist danach, dass die USA in Frankreich am E n d e einer historischen Entwicklung aus b e s t i m m t e n Griinden nicht m e h r schulbildend wirkten, abet am Anfang taten sie es durchaus, und zwar durchgehend - ob nun die Revolutionsideale der groBen Miinner Amerikas vor dem franz6sischen Hintergrund richtig verstanden wurden oder nicht: Amerika war in Frankreich durchgiingig als briiderliches Exempel freiheitlicher G e s i n n u n g priisent. 1116 AuBerd e m sollte auch nicht vergessen werden, dass nach der Niederlage der Franzosen im Siebenjiihrigen Krieg gegen die Briten in Amerika nach der Nationalstaatsbildung 1787/88 systematisch darauf hingearbeitet wurde, das ozeanische Gleichgewicht der Miichte wieder herzustellen 1117, was die pro-franz6sische Stimmung bis etwa 1791/95 in Amerika noch einmal auf sehr breiter E b e n e ansteigen lieB. Ein franz6sischer Antiamerikanismus indes, der fiber den nachvollziehbaren Antiamerikanismus der Royalisten hinausging, sollte sich schlieBlich erst unter einem Tell der nach Amerika emigrierten franz6sischen Liberalen um 1794 herausbilden (wie z.B. bei Talleyrand). 1118 Die am meisten hervorstechenden, langfristigen Ergebnisse jedoch des wahrhaft revolutioniiren und liberalkonservativen Einflusses, abgesehen von der enthusiastischen B e w u n d e r u n g der amerikanischen Revolution 1776 und insbesondere Benjamin Franklins, sp~iter auch Jeffersons, Lafayettes und Washingtons 1119 bei den franz6sischen Philosophen und republikanisch gesinnten Intellektuellen - wie eben Voltaire, La Rochefoucauld, d'Auberteuil, Regnier, Diderot, Raynal, Condorcet, Cr[vecoeur, M m e d'Houdetot, Morellet oder Abb6 Mably 112~ - waren letztlich in denkerischer Hinsicht Tocquevilles groBes Werk , , D e la d4mocracie en Amerique" im Jahre 1835, mit welchem sich das europiiische D e n k e n in Amerika selbst erkannte 1121 und in
1112Durand Echeverria, Mirage in the West. A Histo{7 of the French Image ~Amerfcan Society to 1815, 2. Aufl., Princeton (NJ) 1968, S. 174. 1113Ebd. 1114Vgl. auch Charles A. Beard / Mary R. Beard, The Rise of Amerfcan Civilization, ND New York 1947, Volume I, S. 442. 111sVgl. Hannah Arendt, Uber die Revolution, 4. Aufl., Miinchen 2000. 1116Vgl. Joyce Appleby, D'beralism and Republicanism in I-IistorfcalImagination, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1993, S. 232. 111vVgl. Adolf Rein, Uber die Bedeutung der ~berseeis&enAusdehnungf~r das europa'ischeStaaten-System. Ein Beitrag zur BildungsGeschichte des Welt-Staaten-Systems, in: Historische Zeitschrift 137, 1928, S. 28-90, 70fi 1118Vgl. Durand Echeverria, Mirage in the West. A Histog of the French Image of Amerfcan Society to 1815, 2. Aufl., Princeton (NJ) 1968, S. 180 und 182f. 1119Vgl. zu Jefferson beispielsweise ebd., S. 121f.; zu Franklin: Charles A. Beard / Mary R. Beard, The FOse of Amerfcan Civilization, ND New York 1947, Volume I, S. 245f. 1120Vgl. Durand Echeverria, Mirage in the West. A Histo{y of the French Image of Amerfcan Society to 1815, 2. Aufl., Princeton (NJ) 1968, S. 39-50, 68-78 und 140-147 (vgl. speziell zu Cr&vecoeurS. 147ff.; zu Condorcet 152ff.) 1121Vgl. Alexis Clerel de Tocqueville, Die Demokratie in Amerfka. Eine Auswahl, hg. v. Friedrich August Frhr. vonder Heydte, Regensburg 1955; Max Siberschmidt, WirtschaftshistotfscheA,~ekte der Neueren Geschichte. Die atlantische Gemeinschaft, in: Historische Zeitschrift, Nr. 171, 1951, S. 245-261; Ders., Das Verha'ltnis Amerika-Europa: Ein historfscher ([Tber..
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praktischer Hinsicht das A u f k o m m e n einer Vielzahl v o n R e v o l u t i o n e n u n d g e s c h r i e b e n e r V e r f a s s u n g e n in K o n t i n e n t a l e u r o p a . Alleme zwischen 1789 u n d u n d 1813 - im revolutioniiren u n d n a p o l 6 o n i s c h e n Z e i t a l t e r - e n t s t a n d e n 58 V e r f a s s u n g e n ~122: Gesch,#bene Verfassungen:
Genf 1791, 1794, 1796 Polen 1791 (2x) Frankreich 1791, 1793 (nicht in Kraft getreten), 1795, 1799, 1802, 1804 ,,Cispadane Republik" 1797 ,,Cisalpine Republik" 1797, 1798 Ligurien 1797, 1802 (2x) Schweiz 1798 (2x), 1801 (2x), i802 (2x), 1803 Valais 1798, 1802 ,,R6mische Republik" 1798 Niederlande: 1798, 1801, 1805, 1806 (3x) ,,Parthenopische Republik" 1799 Lucca 1799, 1801, 1805 ,,Italienische Republik" 1802 K6nigreich I talien 1805-1810 (neun lokale Verfassungsstatuten) W/.irttemberg 1806 Frankfurt a.M. 1806, 1810 (2x) Wars chau 1807 Westfalen 1808 (2x) Bayem 1808 (3x) Neapel und Sizilien 1808 Spanien 1808, 1812 Schweden 1809 Weimar 1809 K6then 1810, 1811 (2x) Sizilien 1812 Revolutionen1123.
1794 Polen, 1795 Niederlande (Grfindung der Batavischen Republik, in Anlehnung an die germanischen Batavier), 1796 Italien (Mailand, Grfindung der Zisalpinischen Republik), 1797 Italien (Rom, Grfindung der R6mischen Republik), 1798 Irland, Niederlande (zum zweiten Mal), Schweiz (Gr/.indung der Helvetischen Republik, in Anlehnung an die keltischen Helvetier), Italien (Neapel, Grfindung der Parthenopeischen Republik, in Anlehnung an die Sirene Parthenope) U n d schliel31ich vollzog sich zur gleichen Zeit mit der D e k l a r a t i o n der M e n s c h e n r e c h t e u n d der A b s c h a f f u n g der Folter als Mittel zur E r f o r s c h u n g der W a h r h e i t in Strafsachen 1124 Revolu-
blick, in: Friedrich A. Lutz (Hg.), Amerfka - Europa. Freund und Pdvale, Zfirich / Stuttgart 1970, S. 9-32, 14. Vgl. auch Dietrich Gerhard, Die EntMcklung der ame,fkanischen Gesellschaft als ein Problem vergMchender Geschichtsbetrachtuns in: Ders., Alte und Neue Welt in vergleichenderGeschichtsbetrachtung, G6ttingen 1962, S. 159-172, 161. 1122 Vgl. Henry Bertram Hill, The Constitutions of Continental Europe: 1789-1813, in: The Journal of Modern History, Bd. VIII (1936), Nr.1, S. 82-94. Vgl. fernerhin Jacques Pirenne, Die green Stra'mungen in der Weltgeschichte. Von der Antike bis zum Abschluss des Zweiten Weltk,feges- Band 3, Bern 1949, S. 321-645. 1123Vgl. Robert Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution. Eine vergMchende Geschichte Europas und Amerikas yon 1760 bis zurFranza'sischen Revolution, Frankfurt a.M. 1970, S. 16. ,124 Die typisch westliche ICritik an der typisch westlichen Rechtsinstimtion der Folter geht zuriick auf den spanischen Theologen Juan Luis Vives (1522), den franz6sischen Rechtsphilosophen Michel de Montaigne (1580), den kalvinistischen Geistlichen Anton Praetorius aus Deutschland und auf Johannes Grevius aus den Niederlanden (1602 und 1624), den Theologieprofessor Jakob Schaller aus Stral3burg (1657), den franz6sischen K6nigsberater Augustm Nicolas (1681), den franz6sischen Philosophen Pierre Bayle (1686), den deutschen Rechtsphilosophen Christian Thomasius (1705), schliel31ich auf Montesquieu (1748), Voltaire (duchgiingig) und den italienischen Juristen Cesare Beccaria (1764).
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tioniires. Angesichts der jiingsten Strafrechtsdebatten in A m e r i k a sollte s o w o h l v o n den sogen a n n t e n , , F o l t e r g e g n e m " als auch y o n den B e f i i r w o r t e m der ,,Folter" bzw. der Verrechtlic h u n g y o n b e s t i m m t e n F o r m e n der G e w a l t a n w e n d u n g e n im N o t s t a n d aufgrund einer neuartigen, gef;ihrlichen Sicherheitslage 1125 nicht vergessen w e r d e n , dass die Folter in den Vereinigten Staaten schon vermittels der S t a a t s g r i i n d u n g - y o n A n f a n g an also - eine absolute rechtliche U n m 6 g l i c h k e i t war; zu einer Zeit also, als in Grol3britannien n o c h gefoltert wurde. In E u r o p a w u r d e die Folter als Rechtsinistimtion zuniichst in Preul3en unter Friedrich d e m G r o B e n abgeschafft, allerdings nicht fiir die F~ille y o n H o c h v e r r a t , L a n d e s v e r r a t u n d M a s s e n m o r d e n . Bis etwa 1830 folgte die A b s c h a f f u n g der Folter auch in den a n d e r e n d e u t s c h e n Staatsterritorien u n d in G e s a m t e u r o p a . D i e Fiille an n e u e n g e m e i n s a m e n Verfassungsrealit~iten, politischen Revolutionszielen u n d zentralen R e c h t s e n t w i c k l u n g e n scheinen die ,,Anstrengungen, die amerikanische gegen die europ~iische, u n d die europiiische gegen die amerikanische G e s c h i c h t e auszuspielen, ad absurd u m [zu] fiihren. ''1126 ,,Es ist kein Zufall, dass Amerika erst in seiner europiiischen Dimension wir-ldich Amerika ist, und ebenso wenig Zufall ist es, dass Europa erst in seiner amerikansichen Dimension Europa ist. Europa kannte Amerika, bevor es Amerika entdeckt hatte. Und Amerika spricht zu Europa, selbst wenn es sich von Europa scheinbar abwendet (...) Die zivilisatorische VerheiBung, dem Menschen sei alles erreichbar, wenn er nur weir genug vorstiel3e, diese Verheil3ung gewann, wie jedermann well3 [sic!I, ihre besondere amerikanische Gestalt in den Vereinigten Staaten. Aber sie hatte natfirlich zuvor ihre Gestalt durch Europa erhalten, durch das Europa im Zugriff auf die Welt, durch das Europa in der Projektion seiner Zivilisation dorthin, wo die Verheii3ung in besonderem MaBe wahrscheinlich war - Amerika. Der Aufbmch Europas in die Modeme land in Amerika sein Ziel." 112v D e n radikaldemokratischen K o n t r a p u n k t der ,,Atlantischen R e v o l u t i o n " m E u r o p a setzen indes in der T a t P e r s o n e n wie die Jakobiner, die Rousseauisten u n d Babeuf, welche - mit Ausn a h m e Rousseaus selbst natiirlich - alle zur dritten Phase der , , A m e r i k a n i s t e n " geziihlt w e r d e n miissen u n d b e h a u p t e t e n , dass die A m e r i k a n e r ihre eigene R e v o l u t i o n verraten hiitten. Z u dieser dritten Phase kam, wie schon angedeutet, ausgerechnet in den U S A unter den gemiiBigtliberalen F r a n z o s e n n u n ein ganz n e u e r Amerikaskeptizismus, ja z.T. A n t i a m e r i k a n i s m u s u n d A m e r i k a h a s s hinzu. D e n historische H i n t e r g r u n d bietet die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten seit 1791 zun e h m e n d z u m Asyl der gemiil3igten Liberalen Frankreichs 1128 w u r d e n , abet auch der franz6sischen K o n s e r v a t i v e n u n d Royalisten, den eigentlichen O p f e r n der jakobinischen Barbarei: D e r beriihmteste E m i g r a n t diesbeziiglich war sicherlich der junge, melancholische Chateaubriand, der angeekelt u n d angsterfiillt v o m franz6sischen Stral3enmob u n d dessen G e w a l t h o r r o r - wie so viele andere F r a n z o s e n (es w a r e n w o h l etwa 10 bis 25 T a u s e n d ) - fliehen musste. 1129 112sVgl. z.B. im Sinne eines rechtlichen, demokratischen, i.e. transparenten Umgangs mit einer (bedauerlichen) empirischen Realitiit: Alan M. Dershowitz, Why Terrorism Works. Understanding the Threat, Re~onding to the Challenge, New Haven / London 2002, S. 131-163. Nach Lorenz Jiiger geht es Dershowitz dabei ,,allein" datum, ,,das internationale Recht der israelischen Praxis anzugleichen und diese damit gleichsam rCickwirkend akzeptabel zu machen." (Lorenz Jiiger, Schlagerschatten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.06.2004, S. 35). Vgl. femer Josef Isensee, Tabu imfreiheitlichen Staat. Jenseits und diesseits des Rationalit?it des Rechts, Paderbom u.a. 2003, S. 57f. 1126Margarita Mathiopoulos, Amerika: Das ExJoeriment des Fortschritts. Ein Vergleich des politischen Denkens in Amerika und Europa, Paderborn/M/inchen u.a. 1987, S. 169. 1127Tilo Schabert, Die Atlantische Zivilisalion. (tiberdie Entstehung der einen Welt des Westens, in: Peter Haungs (Hg.), Europdi sierung Europas?, Baden-Baden 1989, S. 41-54, 47. 1128Vgl. Durand Echeverria, Mirage in the West. A Histo~ of the French Image of American Society to 1815, 2. Aufl., Princeton ~ j ) 1968, s. 175ff. 1129 Vgl. ebd., S. 178.
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Aber unabhiingig von den Konservativen stellt sich die Frage, wie es zum Amerikaskeptizimus u n d - h a s s unter den emigrierten Liberalen k o m m e n konnte? Letzteres erkliirte insbesondere Durand Echeverria auf eine sehr plausible und quellengestiitzte Art und Weise. Dabei bekriiftigte er zum einen die Ansicht, dass diese Entwicklung mit der Tatsache zu erkliiren sei, dass lmksliberale Franzosen mit einer erniichternden, eben nicht, wie von Cr&vecoeur einst ausgemalt, bukolischen amerikanischen RealitS.t konfrontiert wurden, betonte abet zum anderen, dass das alleine nicht ausgereicht hiitte, um die neue Einstellung wirklich zu erkl{iren. Daher machte Echeverria darauf aufmerksam, dass in den F5llen, wo es sich um franz6sische Aristokraten mit liberaler Einstellung handelte (und davon gab es sehr viele im Asylland Amerika), die Enttiiuschung deshalb so schwer wog, weil sich diese Aristokraten im E x i l - als wiltde das Heimweh nicht schon schlimm genug sein - als Schullehrer, KleinhS.ndler, Farmer oder Musiker verdingen mussten, und das zudem in e i n e r - aus franz6sischer Warte aus g e s e h e n doch sehr primitiv anmutenden Alltags- und Umgangskulmr, mit der sie nicht gerechnet hatten. 113~Dazu kam noch die in auBenpolitischen Fragen seit 1794/95 endgiiltig antifranz6sische W e n d u n g der amerikanischen Mehrheitspartei, der F6deralisten unter Alexander Hamilton. 1131 Echeverria betont aber noch eine weitere Tatsache, die er ftir noch entscheidender hielt: Dass n~imlich der Schrecken fiber die Radikalitiit der Jakobiner auf das vorher gliihend gefeierte amerikanische Beispiel zur/.ickprojiziert wurde. Amerika wurde zunehmend zur Projektionsfl~iche einer hassgenerierenden Erniichterung fiber das Scheitern der eigenen Revolution. Franz6sische Liberale waren zu Skeptikern geworden und verbanden ihre Skepsis mit einer aus einem gewissen Selbsthass heraus resultierenden Ablehnung Amerikas. '132 Andererseits wandten sich aus bitterer E r f a h r u n g - viele Franzosen vom orthodoxen liberalen Menschenrechtsuniversalismus der naiven Progressivisten (wie Condorcet einer war) ab. Dieser Universalismus hatte (und hat bis heute) das Problem, dass er (gegen die friihen Warnungen Montesquieus) historische Kontexte revolution~irer Entwicklungen schlichtweg leugnet und damit zu Fehleinschiitzungen kommt. Da nun , , A m e r i k a " von vorneherein (und nicht ohne iiberschieBend idealistisches amerikanisches Zutun) mit dieser F o r m des Progressivismus identifiziert wurde (,,objektiv" betrachtet zu Unrecht1133), kam es zu einer generellen Verneinung des so interpretierten ,,Amerikanischen Traums" und seines Urhebers Amerika. Zusammenfassend kann behauptet werden: ,,The de-europeanization of America had begun in the French mind 'q134 - allerdings erst um die Jahrhundertwende zwischen dem 18. und 19. J ahrhundert, also nach jenem unbeschreiblichen Schisma zwischen denjenigen Franzosen, welche in den Amerikanern das , , V o l k der Philosophen" sehen wollten, und dem realen Amerika. Es handelt sich hierbei also um einen ,,Verfall", denn der , , A n f a n g " hatte noch einen ganz anderen Charakter. Dieser war bestimmt durch die historische und politische Erkenntnis, dass die amerikanische Revolution die Voraussetzung ihrer eigenen Ausbreimng im geistigen Urheberkontinent der amerikanischen R e v o l u t i o n - in Europa - war. ~35 Die Folgen des ,,Verfalls" -
1130Dass das freilich auch eine Rolle spielte, betont Durand Echeverria, Mirage in the West. A History of the French Image of American SocieIy to 1815, 2. Aufl., Princeton (NJ) 1968, S. 184ff. und 188. 1131Vgl. ebd., S. 187 und 207ff. 1132Vgl. ebd., S. 183. 1133Der ,,rasante amerikanische Aufstieg" f~hrte ja gerade zur Verkn/ipfung von Konservativismus und Liberalismus (vgl. Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen. Deutsche Zeitschriften yon 1789 bis 1830, Stuttgart 1998, S. 232). 1134Durand Echeverria, Mirage in the West. A Histo{7 of the French Image ~American Society to 1815, 2. Aufl., Princeton (NJ) 1968, S. 207. 113sVgl. das entsprechende Dikmm bei (Made Jean Antione Nicolas de Caritat H~bert, Marquis de) Condorcet, Esquisse d'un tableau historique desprogr& de l'esprit humain (1794), hg. yon WilhelmAlff, Frankfurt a. M. 1963, S. 293.
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bzw. der franz6sischen E m i i c h t e r u n g wirkten sich redes in den 1790er J a h r e n rasch a u f das gesamte europ~iische D e n k e n aus. 1136 Dass n u n auf der a n d e r e n Seite Frankreich u n d E u r o p a (insbesondere Genf) 1776-1785 a u f die U S A politisch , , s c h u l b i l d e n d " wirkten, wird auch v o n v. B e y m e nicht bestritten. 1137 Geradezu beispielhaft erscheint z.B. der EinfluB v o n de L o l m e s ,,Constitution o f E n g l a n d " a u f das D e n k e n v o n J o h n Adams. 1138 D a z u k a m n o c h die fmanzielle U n t e r s t i i t z u n g der amerikanischen Unabhiingigkeitskiimpfer durch eine Vielzahl v o n F r a n z o s e n . 1139 U n d schlieBlich sei a u f den merklichen Einfluss der franz6sischen Verhiiltnisse a u f das D e n k e n J e f f e r s o n s hingewiesen 114~ der sich v o n 1784 bis 1789 als amerikanischer B o t s c h a f t e r in Paris aufhielt: ,,So ist mehrfach beobachtet worden, dass Jefferson sich zu Anfang dutch einen zurCickhaltenden Konservatismus auszeichnete und keineswegs zu den Bef/irwortern eines radikalen Umbruchs geziihlt werden konnte. Der Aufenthalt in Frank_reich hat indes die egalitiir radikalen Z/ige seines Denkens verschiirft und ihn zu einer lebenslangen Sympathie f/ir Frankreich in aui3enpolitischen Fragen bewegt und gleichzeitig in seiner Abneigung gegen/iber England und dessen politischem System best{irkt."1141 N e b e n Franklin u n d J e f f e r s o n hielten sich auch Jay, Marshall, Madison, M o n r o e , J o h n A d a m s u n d J o h n Quincy A d a m s als D i p l o m a t e n in E u r o p a (Frankreich, E n g l a n d , Spanien, Niederlande, PreuBen, Russland) a u f u n d wiesen allesamt ein groges Bildungswissen fiber europiiische G e s c h i c h t e u n d Regierungslehre auf, an welches wahrscheinlich, so der r e n o m m i e r t e U SHistoriker Carlton j. Hayes 1946, nicht einmal viele der amerikanischen P h . D . - A b s o l v e n t e n in G e s c h i c h t e heranreichen. 1142 A b e t auch n o c h im g e s a m t e n 19. J a h r h u n d e r t w a r der intellektuelle Einfluss eindeutig europ~iischer N a m r u n d iiuBerte sich in der amerikanischen Politikdebatte im S p a n n u n g s f e l d zwischen drei groBen mtellektuellen S t r 6 m u n g e n : d e m antiprogressivistischen R o m a n t i z i s m u s , d e m weitergefiihrten Progressivismus bzw. Saint-Simonismus u n d d e m Mitte des 19. J a h r h u n d e r t s a u f k o m m e n d e n Darvcinismus. 1143 I n s o f e m ist es am E n d e eine Defmitionsfrage, was n u n ,,Revolutionen in einem G e i s t " b e d e u t e n m 6 g e n u n d wie weit die D o p p e l r e v o l u t i o n s t h e s e reicht. Grundsiitzlich darf nicht iibersehen w e r d e n , was D u r a n d E-
1136Vgl. Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Dirkurren. Deutsche Zeitschdften yon 1789 bis 1830, Stuttgart 1998, S. 224f. 1137Vgl. z.B. Charles A. Beard / Mary R. Beard, The IUse ~American Civilization , ND New York 1947, Volume I, S. 442; vgl. zum Verhalten der Franzosen in Amerika (Marie Jean Antione Nicolas de Caritat Hfibert, Marquis de) Condorcet, Esquisse d'un tableau hirtorique desprogras de l'e.prit humain (1794), hg. yon Wilhelm Alff, Frankfurt a. M. 1963, S. 79-115. Demnach nahmen in den USA gerade die einfachen Franzosen die neuen Ideen stark auf. Vgl. auch den sehr informationsreichen, wenn auch im Prokrustesbett des Marxismus verhafteten Artikel yon Samuel Bemstein, Amerikanische Freunde der FranzUsischen Revolution, in: Walter Markov (Hg.), Maximilien Robespierre 1758-1794. Beitra'ge Zu seinem 200. Geburtstaj~ Berlin 1958, S. 371-393. 1138De Lolme war ein einflussreicher Genfer Rechtsgelehrter, und Verfasser des Gesetzeskommentars ,,Constitution of England" (Vgl. Robert Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution. Eine vergleichende Geschichte Europas und Amerikas yon 1760 bis zur Franzb'sischen Revolution, Frankfurt a.M. 1970, S. 161; Joyce Appleby, Dberalism and Republicanism in HistoricalImagination, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1993, S. 197-203 und 206f.). 1139Vgl. Margarita Mathiopoulos, Amerika: Das Experiment des Fortsc/.Mtts. Ein VergMch des politischen Denkens in Amerika und Europa, Paderborn/M/inchen u.a. 1987, S. 146. 1140Vgl. Conor Cruise O'Brien, The LongAf/air: ThomasJe~erson and the French Revolution 1785-1800, Chicago 1996. 1141Werner Heun, Die politische Vorstellungswelt Thomas Jef/ersons, in: Historische Zeitschrift 258 (1994), S. 359-396, 377f. Vgl. jedoch als konkurrierende Interpretation bzgl. Jeffersons Fran~eichbild Tilo Schabert, Die Atlantische Zivilisation. ([7ber die Entstehung der einen Welt des Westens, in: Peter Haungs (Hg.), Europdisierung Europas?, Baden-Baden 1989, S. 4154, 51. 1142Vgl. Carlton J.H. Hayes, The American Frontier - Frontier of What?, in: The American Historical Review, Bd. LI (1945/46), S. 199-216, 204t:. 1143Vgl. Charles A. Beard / Mary R. Beard, The l~'se of American Civilization , ND New York 1947, Volume I, S. 729-734.
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Kapitel VII
cheverria in seiner Arbeit in Bezug auf die breite Bev61kerung und die Philosophen Frankreichs schrieb: ,,This sentiment of French-American brotherhood and comradeship in arms against the forces of tyranny was a very real emotion, felt by Frenchmen of all classes.'1144 Dass Washington und Hamilton die USA in den Revolutionskriegen neutral hielten, ist iibrigens auch kein G e g e n a r g u m e n t gegen die Doppelrevolutionsthese114s: Unabh~ingig davon, dass die AuBenpolitik y o n der Innenpolitik fiir die amerikanischen F6deralisten grundsiitzlich getrennt geh6rte 1146, land die I~:iegserkliirung der Girondisten gegen das feudale E u r o p a ja erst im April 1792 s t a t t - die Interventionen PreuBens, Osterreichs und Englands fanden also zu einem Zeitpunkt start, wo die ,,Revolution in einem Geiste" schon m e h r und m e h r der Vergangenheit angeh6rte. Trotz der Tatsache, dass es eine ,,Atlantische Revolution" gegeben hat, verfielen also am E n d e aufgrund der unterschiedlichen p o l i f s c h e n Entwicklungen E u r o p a und Amerika in zwei m e h r und m e h r entgegengesetzte Lager: ,,Die fiiir heutige Vorstellungen yore ,Westen' konstimtive kulmrelle und politische Solidarit~itEuropas und Nordamerikas ist erst langsam entstanden. Amerika selbst - der Norden wie der S/iden - hat sich zuniichst in der Rhetorik mehrerer Griindergenerationen gegen die Alte Welt entworfen, yon der es sich in den Jahrzehnten um 1800 politisch lossagte und der es 1823 in der Monroe-Doktrin ein f/,irallemal weltpolitische Schranken setzte."114v D e n n o c h ist das nicht m e h r als ,,historische 8emantik"1148: Die ,,westliche" Solidaritiit, wie sie dann nach 1945 zutage trat, war von Anfang an in der amerikanischen Revolution als Bestandteil einer ,,Atlantischen Revolution" potentiell gegeben, so die Schlussfolgerung aus der ,,atlantischen" Doppelrevolutionsthese. D e n ,,Westen" gab es sozusagen, ,,bevor davon gesprochen wurde."1149 Eine weitere These, die Beyme der Doppelrevolutionsthese entgegensetzt, muss der Vollstiindigkeit halber n o c h angeschnitten werden. Sie besagt, dass bei den Verfechtern des Begriffs ,,Atlantische Revolution" der altenglische Charakter der Amerikanischen Revolution unterschiitzt werde 115~ wobei die altenglischen Freiheiten als Grundprinzip der Amerikanischen Revolution gelten, der holistische Rationalismus indes als G r u n d p r m z i p der Franz6sischen Revolution gilt, welches dem Charakter der englischen Freiheit stark entgegenstehe. 1151 )~hnlich argumentierte J o h n Smart Mill in On Liberty und auch nach Manfred Henningsen war Amerika d e m n a c h eine , , F o r t s e t z u n g der englischen Geschichte unter etwas veriinderten Partizipationsbedingungen". 1152 Abgesehen v o n d e r Tatsache der schon erwiihnten europiiischen, y o n der
Durand Echeverria, Mirage in the West. A Histo{7 of the French Image of American Society to 1815, 2. Aufl., Princeton (NJ) 1968, S. 170. 114sSo Kdaus von Beyme, VorbildAmerika? DerEinfluss der amerikanischen Demokratie in der Welt, MCinchen 1986, S. 21. ,146 Die USA batten aul3enpolitisch damals noch keine andere Wahl, als sich zurfickzuhalten (vgl. sehr sch6n Amulf Baring, Unser neuer Gr~enwahn. Deutschland ~schen Ost und West, 2. Aufl., Stuttgart 1989, S. 192). 1147Jiirgen Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, M/inchen 2000, S. 20. 1148Ebd., S. 23. 1149 Ebd. 11s0So auch Daniel J. Boorstin, The Genius of American PoliIics, Chicago / London 1953, S. 66-98. In einen iihnlichen Zusammenhang (allerdings ohne ideengeschichtliche Vertiefung) bringen die amerikanische Geschichte Wolfgang Effenberger / Konrad L6w, Pa,v Americana. Die Geschichte einer Weltmacht yon ihren angelsa'chsischen Wurzeln bis heute, M/inchen 2004. 1151Vgl. Klaus yon Beyme, VorbildAmerika? DerEinfluss der amerikanischen Demokratie in der Welt, M~inchen 1986, S. 21. 11s2Manfred Henningsen, Der FallAmerika. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdrdngune~ M/inchen 1974, S. 146. 1144
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englischen C o m m o n - L a w - T r a d i t i o n unabhiingigen D i m e n s i o n der englischen Verfassungsentwicklung seit d e m A u f k o m m e n der italienischen Renaissance 1153, die in z.T. miihevollen u n d grol3artigen ideengeschichtlichen Quellenstudien herausgearbeitet w u r d e n 1154, iiberblickt diese Sicht der Dinge nicht, dass e i n - zugegebenermaBen d i a l e k t i s c h e r - Z u s a m m e n h a n g zwischen altenglischen Freiheiten und d e m holistischem Rationalismus bestand; u n d dass die Antizipation u n d Rezeption altenglischer Freiheiten in Frankreich auf der Basis der rationalistischen Vorlaufphilosophie (Montesquieu), aber auch auf der Basis einer anglomanischen LockeV e r e h r u n g m der deistischen Philosophie Voltaires 1155, ideengeschichtlich auch iiber Frankreich auf die ,,tabula rasa" N o r d a m e r i k a gewirkt hat 1156, wobei zuniichst (urn 1776 herum) m a n c h e s darauf hindeutet, dass eine {iuBerst unabh~ingige Locke-Rezeption n o c h ein bestimmtes Obergewicht hatte. 1157 I n s b e s o n d e r e der Wortlaut der von T h o m a s Jefferson e n t w o r f e n e n Declaration of Independence liisst sich direkt a u f J o h n Locke zuriickfiihren. 1158 D o c h insbesondere M o n t e s q u i e u war eine Autoritiit, auf die sich z.B. die Federalists - im Gegensatz zu Locke explizit bezogen. 1159 Vermittelt wurde das G e d a n k e n g u t m erster Linie iiber englische D e n k e r u n d Pamphletisten wie Watts, Neal, Burgh, spS.ter Priestley, Price und den Verfassern der , , C a t o - L e t t e r " , J o h n T re n c h a r d und T h o m a s G o r d o n . 116~ D a z u kam der in englischer Tradition stehende, typisch amerikanische Puritanismus, der sich mit einem heilsgeschichtlichen, sowohl antikatholischen u n d - a u g u s t i n i s c h e n als auch antilutheranischen Milleniarismus verquickte. Eine Vormachtstellung kann, angesichts der Ereignisse und V o r d e n k e r des amerikanischen Republikanismus im 18. Jahrhundert, diese Tradition indes - trotz ihres pr~igenden Einflusses auf die politische Kultur N o r d a m e r i k a s bis h e u t e - nicht beanspruchen. 1161 Die jiingste F o r s c h u n g
11s3Vgl. Dietmar Herz, Die wohlerwogeneRepublik. Das konstitutionelle Denken despolitisch-philosophischen Liberalismus, Paderborn u.a. 1999, S. 73. Vgl. zur byzantinischen Dimension der italienischen Renaissance Christopher Dawson, Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einfuhrung in die Geschichte der abendldndischen Einheit, 2. Aufl., K61n 1950, S. 172-188. 1154Insbesondere hervorzuheben ist Bernard Bailyn, The IdeologicalOrigins of the American Revolution, 13. Aufl., Cambridge (Mass.) 1967. Bailyn belegte in seiner bahnbrechenden Arbeit die unterschiedlichen, z.T. eben stark europiiischen Traditionsstr{inge, anhand einer sorgf'~iltigenAusarbeimng der breit angelegten amerikanischen Revolutionspamphlete. 11s5Vgl. Harry Elmer Barnes, An Intellectual and Cultural I-Iisto{7 ~the Western World Volume 2: From the Renaissance through the Eighteenth Centu~, New York 1965, S. 797f. 1156Vgl. zum ,,tabula-rasa" Argument auch das deutsche Schrifttum um 1820, zusammengestellt u.a. bei Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen. Deutsche Zeitschriften yon 1789 bis 1g30, Stuttgart 1998, S. 340f. 1157Vgl. grundlegend Louis Hartz, The Liberal Tradition in America. An Inte~oretation of American Political Thought since the Revolution, New York 1955 und Carl Becker, The Declaration of Independence. A Study in the Histo~ of Political Ideas, New York 1922, S. 27. Vgl. femerhin Gottfried Dietze, The Federalist. A Classic on Federalism and Free Government, Baltimore 1960; David F. Epstein, The Political Theo~ of the Federalist, Chicago / London 1984. Allerdings sind Hartzens und Beckers Sicht der Dinge inzwischen - nach den Arbeiten von Rossiter, Bailyn, Sk_innerund Viroli - sehr umstritten. Vgl. dazu Dietmar Herz, Die wohlerwogene Republik. Das konstitutionelle Denken des politisch-philosophischen IaberalismuJ, Paderbom u.a. 1999, S. 127ff. Herz unterscheidet zwischen ,,liberal-republikanischer Interpretation" (Hartz, Becket), ,,synk_retistisch-republikanischerTradition" (Bailyn) und ,,humanistisch-republikanischer Interpretation" (Pocock). Vgl. zu Hartz schliel31ich noch Hans Vorl{inder, ,,American Creed'; liberale Tradition und politische Kultur der USA, in: Franz Grel3 / Hans Vorliinder (Hg.), Ldberale Demokratie in Europa und den USA. Festschriftfiir Kurt L, Shell, Frankfurt a.M. / New York 1990, S. 11-33, 20f. 1158Darauf macht zurecht aufmerksam Harald yon Bose, Republik und Mischverfassung- zur Staatsformenlehre der Federalist Papers, Bonn (Diss.) 1989, S. 49f. Vgl. zu Lockes Einfluss auf die Federalists ebd., S. 51-55. 11s9Vgl. ebd., S. 58ff. 1160Vgl. Bernard Bailyn, Political EJx~erience and Enlightenment Ideas in Eighteenth-Centu~ America, in: The American Historical Review, Bd. LXVII (1961/62), Nr. 1, October, 1961, S. 339-351,344. 1161Im Sinne einer derartigen Vormachtstellung argumen6ert insbesondere Sacvan Bercovitch, The Puritan Origins of the American Self, New Heaven / London 1975. Vgl. hingegen Nicholas Gier, Religious Liberalism and the Founding Fathers, in: Peter Caws (Hg.), Two Centuries oJPhilosopt?y in America, Guildford u.a. 1980, S. 22-45.
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von Pocock, Bailyn, Skinner und Viroli betont auf sehr iiberzeugende Weise den bis dahin sehr unterschiitzten Einfluss des antiken und machiavellischen Republikanismus im D e n k e n der amerikanischen Verfassungsviiter, worauf noch einzugehen sein wird. 1162 In einem praktischen Kontext bezogen sich amerikanische Revolutioniire indes auch noch auf ganz andere Quellen als Frankreich oder Grol3britannien: Einige z.B. auf ihren ganz eigen e n - inzwischen klar gegen Grogbritannien g e r i c h t e t e n - Puritanismus, bei anderen galten wiederum die Niederlande als staatliches Vorbild, ein Land, das die Prinzipien der Aufld~imng eines J o h n Locke, abet eben auch emes Franzosen wie Burlamaqui 1163, im Gegensat z zum mehr und mehr verachteten System in GroBbritannien, praktisch am besten beherzigte. In einem anonymen Artikel in der ,,Pennsylvania Gazette" v o m 11. O k t o b e r 1775 fmdet sich dazu z.B. folgende Sentenz: ,,Die Art und Weise republikanischer Regierung, die in England versucht worden ist, ffihrte nicht zu Frieden und Sicherheit. Aber sie wurde unseres Wissens auch nie voll verwirklicht. In den Niederlanden war sie erfolgreichef."1164
Welches Fazit kann in einer ideenpolitischen Betrachtung gezogen werden? Auch bei Annahme der Richtigkeit der Doppelrevolutionsthese steht also am Ende die Erkenntnis, dass es aufgrund eines ,,Verfalls" der Atlantischen Revolution - langfrfstig in der Tat zwei ganz unterschiedliche Entwicklungen im nachrevolutionS.ren Amerika und Frankreich gegeben hat, wobei sich zum Zeitpunkt des Verfalls die trotz der Verfeindung 1776 miteinander verwandten politischen Kulturen Grol3britanniens und Amerikas wieder entscheidend anniihern konnten. Die wichtigste Folge des ,,Verfalls" zwischen Amerika und Frankreich kann indes auf folgenden N e n n e r gebracht werden: ,,Die amerikanische Revolution war mit den neuformulierten Grundsiitzen des Konservati[vi]smus vereinbar, die franz6sische nicht. ''1165 Friedrich Gentz betonte etwa, dass die Revolution in Europa im Gegensatz zum ,,constitutionsmiil3igen Widerstand" gegen ,,constitutionswidrige BeschliAsse" des britischen Parlaments in den USA nicht rechtmiiBig sein konnte. Amerika und Europa gingen zuniichst einmal getrennte Wege. Der europiiische Konservativismus eines D e Maistre, Bonald oder Adam MiAller klinkte sich aufgrund des umstfirzenden Charakters der sich jakobinisch artikulierenden Revolution in Frankreich aus dieser , , N e u f o r m u l i e r u n g " weitgehend aus. N u r , , v e r r S u m l i c h t e n " zumeist die antiliberalen Konservativismen Europas demokratische Strukturen, wie sie sich in den USA ausgebildet hatten, beschriinkten also deren Geltung rS.umlich auf Nordamerika, dem ,,Land 1162Vgl. John G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975; Bernard Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, 13. Aufl., Cambridge (Mass.) 1967 (Bailyn sieht indes einen sehr starken Bezug zum spezifischen Republikanismus des Zeitalters der Aufldiirung, weniger der Antike); Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic. 1776-1787, Chapel Hill 1969; Maurizio Viroli, Die Idee der republikanischen Freiheit. Von Machiavelli bis heute, M/inchen / Z/irich 1999. 1163Vgl. Jean Jacques Burlamaqui, Prindpes du droit naturel, Oenf 1747; Ders., Prindpes du droitpolitique, Oenf 1751. VgL Zum grol3en Einfluss Burlamaquis in den USA Ray Forrest Harvey, Jean Jacques Burlamaqui. A Liberal Tradition in American Constitutionalism, Chapel Hill 1937 und Ursula Maria von Eckardt, The Pursuit of Happiness in the Democratic Creed, New York 1959, S. 180f. 1164Vgl. zum Einfluss der Niederlande ,,Antonius", To the People of Pennsylvania, in: Pennsylvania Gazette, 11. Oktober 1775, in Obersetzung bei Angela und Willi Paul Adams, Die Entstehung der Vereinigten Staaten und ihrer Ve~fassung. Dokumente 1754-1791, M/inster 1995, S. 160-163, 161; Don Higginbotham, The American Republic in a Wider World, in:Jack P. Greene, The American Revolution. Its Characterandldmits, New York / London 1987, S. 164-170, 164. 1165Y-clausvon Beyme, Vorbild Amerika? Der Einfluss der amerikanischen Demokratie in der Welt, M/inchen 1986, S. 21 (vgl. auch Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen. Deutsche Zeitschriften yon 1789 bis 1830, Stuttgart 1998, S. 351; Margarita Mathiopoulos, Amerika: Das E~,Joeriment des Fortschritts. Ein VergMch des politischen Denkens in Amerika und Europa, Paderbom/Mfinchen u.a. 1987, S. 125f.; Daniel J. Boors6n, The Genius of American Politics, Chicago / London 1953, S. 80-94).
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o h n e Geschichte", wie m a n n u n m e h r zu sagen pflegte. 1166 ,,Der Prozess der Verriiumlichung politischer S t m k t u r e n stand in unmittelbarer Wechselwirkung zur postulierten Geschichtslosigkeit Amerikas. ''~16r D e n amerikanischen Konservativen wurde v o n dieser gem~iBigten Seite deren Liberalismus gelassen, n u t hatte dieser im ,,constitutionsm'fiBigen" E u r o p a nichts verloren. Die liberalkonservativen USA als Modell zu v e r d a m m e n , war n u t die Sache eines kleinen Teils des europiiischen Konservativismus, z.B. Friedrich Schlegels, der ein amerikafeindliches Gefiihl z u m Ausdruck brachte. ,,Es ist eigentlich wohl eine Ungerechtigkeit, wenn man diese Revolution immer nur die franz6sische nennt, oder ausschliel31ich als solche betrachtet; es war eine politische Krankheit, ein epidemisches V61ker-Obel des ganzen Zeitalters(...). Die eigentliche Pflanzschule aller dieser zerst6rerischen Principien, die revolutioniire ErziehungsAnstalt ffir Frankreich und das fibrige Europa war Nord-Amerika gewesen."1168 Schlegel sah in den ,,nordamerikanischen Grundsiitzen" die eigentliche Ursache der Entwicklungen in Frankreich 1169, darf allerdings, speziell in dieser politischen Frage, nicht als repriisentativ fiir die ganze Romantik 117~ und erst recht nicht fiir den mitteleuropS.ischen Konservativismus jener Zeit angesehen werden. 11vl Franz6sische Monarchisten reihten sich da schon eher in iihnliche Sichtweisen ein, spitzten das ganze gar in einem offensiveren Stone antiamerikanisch zu, befanden sich jedoch, wie z.B. Simon Linguet, im gesamten philosophischen Diskurs m der Minderheit. 1172
2.5 Z u r Kla'rung des modernen Demokratiebegriffs in europaTsch-atlantischer Geistestradition
Aus Montesquieus Repriisentations- u n d Gewaltenteilungsmodell u n d der Geschichte der ,,Atlantischen Revolution" leitet sich ein niichterner Demokratiebegriff ab, der auch heute n o c h v611ig hinreichend ist, u m als Bedingung einer , , m o d e m e n D e m o k r a t i e " zu fungieren. ,,Demokratie wird dabei verstanden als ein System, bei dem die Machtzuweisung in regelmiiBigen Abstiinden in freien, gleichen und geheimen Wahlen erfolgt, in denen dementsprechend rechtsstaatliche Prinzipien und die wesentlichen Menschenrechte verwir"ldicht sind.''n73 D a z u hat alle Staatsgewalt in politischer Hinsicht (nicht in rechtlicher) v o n den wahlberechtigten Staatsbiirgem, d e m Staatsvolk, auszugehen, bzw., soziologisch gesprochen, y o n einer ,,sehr
1166Vgl. Volker Depkat, Amedkabilder in politischen Dirkursen. Deutsche Zeitschdften yon 1789 bis 1830, Stuttgart 1998, S. 319-341, bsd. 341f. 116vEbd., S. 342. 1168Friedrich Schlegel, Sa'mtliche Werke Bd. 14, Philosophie der Geschichte, Wien 1846, S. 226, zitiert nach ebd., S. 20. 1169Vgl. Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen. Deutsche Zeitschriften yon 1789 bis 1830, Stuttgart 1998, S. 336. 11v0Das Einhergehen yon kultureller Revolutionsbegeisterung in einem romantischen Sinne kann z.B. sehr sch6n an der Geschichte Lord Byrons studiert werden (vgl. zusammenfassend Anthony Arblaster, The tO'se and Decline of Western Iaberalism, Oxford u.a. 1985, S. 219f.). 1171 So abet Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen. Deutsche Zeitschtgften yon 1789 bis 1830, S. 335f. (als amerikafeindlich, allerdings in einem zwar hasserfollten, abet dennoch rein defensiven Sinne, sind anzusehen: Friedrich Schlegel,Johann Georg Hiilsemann); Johann Georg H/ilsemann war spiiter Diplomat in Metternichs Diensten. nvz Vgl. Durand Echeverria, Mirage in the West. A Histo{7 of the French Image of Amedcan Society to 1815, 2. Aufl., Princeton (NJ) 1968, S. 62ff. 1173Werner Kaltefleiter, Die freien Geselkchaften-eine kleine radikale Minderheit?, in: Max Kaase (Fig.), Politische Wissenschaft undpolitische Ordnung. Ana[Tsen Zu Theorie und Empirie demokratischer Regierungssysteme, Opladen 1986, S. 70-80, 71.
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Kapitel VII
h o h e n A n z a h l ''1174 v o n G e s e l l s c h a f t s m i t g l i e d e r n , d e n e n B e t e i l i g u n g q u a W a h l r e c h t zugebilligt wird. B e t e i l i g u n g s p r o z e d u r e n h a b e n alleine die F u n k t i o n , v e r a n t w o r t l i c h e s , z u r e c h e n b a r e s , friedliches u n d r e c h e n s c h a f t s p f l i c h t i g e s , zugleich n i c h t a l t e m a t i v l o s e s R e g i e r e n zu e r m 6 g l i c h e n . D i e B e t e i l i g u n g selbst j e d o c h stellt k e i n e n d e m o k r a t i s c h e n E i g e n w e r t dar. N i c h t die , , M a x i m i e r u n g v o n B e t e i l i g u n g s c h a n c e n " ist priorit~ir, s o n d e m die , , M a x i m i e r u n g v o n p o l i t i s c h e r V e r a n t w o r t l i c h k e i t 'qlvs u n d die S i c h e r s t e l l u n g v o n G e s i n n u n g s f r e i h e i t . 1176 , , D e m o k r a t i e " ist n i c h t m der L a g e (oder m u s s n i c h t in der L a g e sein), M i n d e r h e i t e n h e r r s c h a f t a b z u s c h a f f e n . I h r grol~er W e r t g e g e n i i b e r a n d e r e n F o r m e n der M i n d e r h e i t e n h e r r s c h a f t liegt a b e t darin, Durchliissigkeit, p o l i t i s c h e n W e c h s e l u n d ,,eine A r t r e d u z i e r t e r E x p o s t - K o n t r o l l e " m i n d e s t e n s zu e r m 6 g l i chen. 11vv D i e s e r D e m o k r a t i e b e g r i f f ist realistisch, e m p i r i s c h u n d restriktiv 1178 u n d steht in der
1174 Norberto Bobbio, Die Zukunft der Demokratie, Berlin 1988, S. 9. Eine andere Position nimmt ein Grol3teil der heutigen Politikwissenschaft ein, in Deutschland w~iren z.B. - mit Abstufungen zwischen systemtheoretischen und partizipatorischen Ansiitzen - zu nennen: Ulrich von Alemann, Claus Offe, Fritz Vilmar u.v.a. Mit dem Demo~atiebegriff ist demnach gemeint, dass die Demo~atie unter allen Staatsformen dem ,,Komplexit~tsgrad" einer deontologisierten Welt (wie derjenigen der modemen westlichen ,,Gesamtgesellschaften") am ehesten gerecht wird. Zum weiteren Vorzug der Demo~atie wird gerechnet, dass die normativ als wertvoll erachtete ,,Komplexit{it" unter allen denkbaren politischen Komplexit~itsreduktionen im Falle der Demokratie am stiirksten erhalten bleibt und die Demo~atie dennoch (grundsittzlich) in der Lage ist, verbindliche Entscheidungen zu produzieren (vgl. Niklas Luhmann, Komplex4ta't und Demokratie, in: PVS 10 (1969), S. 314-325). Der normative Weft einer Demokratie speist sich also aus der Tatsache, dass die fortschreitende Komplexit~it irn Sinne yon Ausdifferenzierungen jeglicher Funktionssysteme (u.a. des ,,politischen Systems") in einem ,,gesamtgesellschaftlichen" Zusammenhang, schlussendlich einen ,,evolutioniiren" Fortschritt darstellt (vgl. Talcott Parsons, Evolutiona're Universalien der Gesellschaft, in: Wolfgang Zapf, Theorien des so~alen Wandels, K61n/Berlin 1969, S. 55-74). Der Weft der ,,Demokratie" wird nicht normativ-politisch (ob nun liberal, partizipatorisch oder traditional), nicht individualistisch, subjektiv oder psychologisch hergeleitet, sondem systemfunktional. Dabei wird auf die wissenschaftlich nachvollziehbare Annahme rekurriert, dass die angesprochenen ,,evolution{iren Universalien" der ,,modernen Demo~atie" vorausgehen m/issen. Unter den obwaltenden modemen Bedingungen machen die systemfunktionalen Leistungen der Demo~atie ihren Weft aus. Das Abschirmen der ,,Demokratie" vor ,,kurzatmigen" politisch-kompetitiven Prozessen gewinnt vor dem Hintergrund dieses funktionalistischen Verst{indnisses bei den heutigen Politikwissenschaftlem stark an Relevanz (vgl. in Deutschland z.B. die Arbeiten von Fritz W. Scharpf, Artur Benz, Claus Offe, Gerhard Lehmbruch etc.). Dass ,,Komplexitiit", zweifelsohne ein Ausweis an zivilisatorischer Entwicklung, immer dann, wenn sie Wettbewerb unm6glich macht, zugleich eine Gefahr sein kann, wurde und wird indes yon anderen Autoren stiirker betont (z.B. Max Weber, Schumpeter, Hayek, Erich Weede). 117s Nach Bemd Guggenberger, Demokratie / Demokratiefheorie, in: Dieter Nohlen (Hg.), Wa'rterbuch Staat und Politik, Bonn 1991, S. 70-80, 74. Vgl. zu diesem Modell in deutscher Sprache: Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 4. Aufl. Stuttgart 1968. 1176Vgl. auch die handlungsanleitende ,,minimale Definition yon Demokratie" als Gegensatz zu auto~atischen Regierungen (definiert als ungehinderte Machtdurchsetzung von Oben nach Unten) bei Norberto Bobbio, Die Zukunft der Demokratie, Berlin 1988, S. 8-11. 1177Vgl. Bemd Guggenberger, Demokratie / Demokratietheorie, in: Dieter Nohlen (Hg.), Wb'rterbuchStaat und Politik, Bonn 1991, S. 70-80, 75; n'fit Abstrichen Joseph A. Schumpeter, Kapilalismus, So~alismus und Demokratie, 3. Aufl., M/inchen 1972. Schumpeter sieht trotz allem vermittels Demokratie (als Symptom eines immanent verletzlichen Kapitalismus) den Sozialismus geradezu zwangsliiufig aufkommen. Deshalb fragt er des 6fteren nicht nut /iberhaupt nicht, was Demokratie weft ist, sondem auch nicht, wozu sie gut sein kann. Die Frage, die am Ende bleibt, ist nut noch, wie sie funktioniert. Allerdings darf auch nicht iibersehen werden, dass Demokratie nach Schumpeter, solange sie kompetitiv ausgestaltet ist (d.h. solange Einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines veritablen Konkurrenzkampfes urn c~e Stimmen des Volkes erwerben), als begrenztes zwar, abet dennoch wirksames Mittel dienen kann, in einer Massengesellschaft Entscheidungen und politische Fiihrung und damit Freiheit zu erm6glichen. Ob ein wirldicher Wettbewerb vorhanden ist, hiingt yon Einzelfaktoren ab. Mit die wichtigsten wiiren ausgiebige Meinungs-, Presse- und Diskussionsfreiheit, starke Regierungschefs und generelle Elitendominanz im Bereich der Gesetzgebung. An die Schumpetersche Vorstellung der kompetitiven Ausgestaltung von Demok_ratie orientierte sich anschliel3end auch die (stark reduktionistische) Demokratietheorie yon Anthony Downs, Okonomische Theorie der Politik, T/ibingen 1968 (vgl. insgesamt auch Manfred G. Schmidt, Demokratietheoden. Eine Einfiihrung, 3. Aufl., Opladen 2000, S. 197-225). 1178Entsprechende Demo~atiedefinitionen yon Otto Stammer und Josef Schumpeter finden sich bei Paul Noack, Was ist Politik? Eine Einfiihrung in ihre Wissenschaft, MCinchen / Z/irich 1976, S. 129.
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Tradition Montesquieus, nicht Rousseaus. R o u s s e a u b e g r e n z t e ihn im G e g e n s a t z zu M o n t e s quieu auf die direktdemokratische Verfassung 1179, die eben - in Weiterffihrung b e s t i m m t e r T h e o r i e n M o n t e s q u i e u s 118~ - nur in kantonalverfasster F o r m , auf der Basis einer ganz b e s o n ders stark ausgepr~igten t u g e n d h a f t e n Frugalit~it seiner B e w o h n e r , w e n n schon nicht m6glich, so d o c h n a h b a r sei. 1181 N u r jene Kleinheit des Staates k 6 n n t e das Prinzip der Mischverfassung als Regierungsart z u m Z w e c k e der V e r h i n d e r u n g y o n Willkiir obsolet m a c h e n 1182, u n d genau jene K l e m h e i t war im Falle Cromwell u n d der unter ihm resultierenden Willkfirherrschaft nicht gegeben. I~lemfliichige Territorien, die sich dieser W a h r h e i t in der Geschichte am ehesten wiirdig erwiesen, waren u n d sind z.B. das klassische A t h e n 1~83 o d e r e b e n die neuzeitliche Schweiz. I n s o f e m trafen sich M o n t e s q u i e u u n d R o u s s e a u in der VorsteUung, dass D e m o k r a t i e - ob n u n ,,demokratische Republik" oder ,,direkte D e m o k r a t i e " - n u t in kleinen R~iumen wirklich funktionieren k6nne. M o n t e s q u i e u erblickte jedoch viel eher in der ,,Mischverfassung" eine freiheitsspendende L 6 s u n g der D e m o k r a t i e p r o b l e m a t i k , w~ihrend R o u s s e a u sich an die Begriffe der (abstrakten) ,,volontfi generale" und der ,,Volkssouver~init~it ''1184 orientierte u n d fiir plebiszit~ire 11a5 u n d teilweise auch autoritiire Vorstellungen pl~idierte.
3. Die ,,Atlantische Zivilisation" als politischer Begriff (Arendt, Schabert) Der Ansatz, die ,,Atlantische Zivilisation" als politische Idee zu er6rtern, geht nun, wie s c h o n m e h r m a l s angedeutet, nicht v o m historischen, s o n d e r n v o n einem politischen Verstiindnis aus. ,,Atlantische Zivilisation" wird als potentiell v o r h a n d e n e s , erdachtes symbolisches W e r t e s y s t e m einer geglaubten, also als Realitiit a n g e n o m m e n e n u n d f/.ir w a h r gehaltenen Handlungszivilisation innerhalb einer westlichen Herstellungszivilisation u n d zugleich als H a n d l u n g s m y t h o s z u m Z w e c k e der H e r a u s b i l d u n g u n d politischen Realisierung einer n o r m a t i v u n d materiell gebote1179Die politische und rechtliche Entscheidung liegt demnach direkt beim Volk (Biirgerversammlungen, Volksgerichte). 1180Vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de la Br~de et de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, bearb, v. Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 8. Buch, 16. Kapitel, S. 197f. (wobei Montesquieu sogar die ,,Republik" und eben nicht die Demokrade im Auge hatte). 1181Vgl. den berCihmten Abschnitt in Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsdtze des Staatsrechts, hg. yon Hans Brockard, Stuttgart 2003, Drittes Buch, 4. Kapitel, S. 72ff. 1182Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsdtze des Staatsrechts, hg. yon Hans Brockard, Stuttgart 2003, Drittes Buch, 4. Kapitel, S. 73. 1183Vgl. ebd., Drittes Buch, 15. Kapitel, S. 103ff. 1184Das Verstiindnis von ,,Volkssouveriinitiit" ist ideell keine rein westliche Idee: Im 18. Jahrhundert (zur Zeit der Manchu-Dynastie) in China entwickelten Huang Tsung-Hsi und L/i Liu-Lang die Idee, dass die Prinzipien nach denen sich die Herrscher zu richten hiitten, yore Volk ausgehen m/issten. Allerdings hatte die Idee im Gegensatz zum Westen keine unmittelbaren praktischen Konsequenzen mit sich gebracht (vgl. Felipe Ferndndez-Armesto, Ideas that change the World, New York 2003, S. 240f.) 1185 Der Verfasser unterscheidet klassisch zwischen direkter, plebsizitiirer und repriisentativer Demokratie. Demnach wiire der Begriff ,,direkte Demo~atie" seines Erachtens heute eher - n'fit Ausnahme der M6glichkeit von BCirgerversammlungen auf lokaler Ebene - obsolet. Besser wiire es, von ,,direktdemokatischen Elementen", noch besser yon ,,plebiszit~iren Elementen", im (nicht wahrscheinlichen) Eventualfall von ,,plebiszitiirer DemoDatie" zu sprechen. Die Direktwahl von Personen wiire demnach weder mit dem Begriff der ,,direkten Demokratie", noch mit dem sachentscheidungsbezogenen Begriff der ,,plebiszitiiren Demokratie" in Verbindung zu bringen (es sei denn, es gebe die M6glichkeit eines imperativen Mandats oder eines damit damit quasi-identischen Recall-Verfahrens). Der direkt gewiihlte Mandatstr~iger repriisentiert genauso wie der auf anderem Wege gewikhlte Mandatstriiger den Volkswillen. Der einzige Unterschied in priisidentiellen Regiemngssystemen besteht darin, dass a) die Legitimationskette in der Wahl des Regierungschefs k/irzer ist und b) die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative stiirker ausgepriigt ist als in parlamentarischen Regierungssystemen.
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nen Handlungszivilisation betrachtet. Die ,,atlantische Revolution" i s t - auch das sei wiederholt - auf zwei Ebenen nachvollziehbar: nicht nur als historische Verbindung zwischen amerikanischer Verfassungspraxis, englischer Rechtsgeschichte, europ~iischem Gedankengut und Idealismus sondem auch in einer Epochenperspektive, welche die Revolutionierung des gesamten Westens zwischen 1776 und 1989 - oder gar bis heute - einschliefit. Die Epochenperspektive ist also mithin projektiv. Dabei sind Amerika und Europa ,,Schwestern, die sich ebenso ~ihneln, wie sie voneinander verschieden sind". 1186 Nach diesem Verst~indnis yon ,,Atlantischer Zivilisation" spielt der Begriff in historischer Hinsicht nur als embryonale Form eine logische Rolle. Ansonsten wird vom projekfven Charakter des Begriffs als ,,politische Idee" ausgegangen. Was die Begriindung des Begriffs ,,Atlantische Zivilisation" betrifft, sind msofern zivilisationshistorische Modi, solange sie yon einer abgeschlossenen oder sich einem Ende zuneigenden Epoche ausgehen (z.B. bei Michael Kraus), nicht von Belang. Ganz entscheidend im voilgiiltigen Sinne eines projektiven und politischen Verst~indnis haben den Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation" insbesondere Hannah Arendt und Tilo Schabert verwendet, wobei der Ansatz Schaberts mit dem von Eric Voegelin weitgehend identifiziert werden kann. Die zivilisationshistorische Begriffsfolie, von der bei einem derartigen Verstiindnis Atlantischer Zivilisation auszugehen ist, soil nun folgendermagen aussehen: Die westliche Zivilisation begrfindete sich im Zusammenspiel von antiker (hellenischer und r6mischer) Uberlieferung, Christentum und davon sich ,,emanierenden" gnostischen Heillehren sowie einer christlichgermanischen Synthese im Mittelalter. Die moderne westliche Zivilisation basiert auf der im 15. Jahrhundert im Wechselspiel mit der fiberlieferten Philosophie, Mythologie und Wissenschaft der ,,westlichen Zivilisation" sich ereignenden Raumrevolution. Die westliche Zivilisation erschuf sich also in einer zweiten Zivilisation wieder. 1187 In der modernen westlichen Zivilisation waren von Anfang an sowohl die Kraft der freiheitlichen Revolutionen unter modernen Vorzeichen eingedenk der abendl~indischen Freiheitstradition im Kontext einer ,,Atlantischen Revolution" als auch die s~ikularisierte Formen der gnostischen Heilslehren angelegt. In der ,,Atlantischen Zivilisation" in diesem Sinne liegt die Betonung in der Transformation wichtiger alteuropiiischer Uberlieferungen und Geistestraditionen in ein neues mechanistisch mediatisiertes Zeitalter des Fortschritts, Friedens und der Freiheit auf der Basis der ,,Atlantischen Revolution". Diesem normativen Ideal muss die historische Erfahrung innerhalb des atlantischen Raumes bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges entgegengesetzt werden. Die ,,westliche Zivilisation" entpuppte sich als nahezu immerw~ihrendes Schlachtfeld zwischen den europiiischen und amerikanischen Nationalstaaten. 1188 Die Ideen der ,,Atlantischen Revolution" in der Tradition des europ~iischen Humanismus konnten sich erst mit einer fast zweihundertjiihrigen Verz6gerung auf okzidentalem Boden nach 1945 festsetzen. Nun entwickelte sich die ,,westliche Zivilisation" in der Tat in historisch beeindruckender Weise, auch unter den Gefrierbedingungen des Kalten K_rieges, allerdings unter Amputation des gesamten, politisch-historich eindeutig in westlicher Tradition stehenden ostmitteleurop~iischen Raumes, zu einem Raum des Friedens und der Freiheit. So erlebte die ,,atlantische Welt" einen weltgeschichtlich einmaligen Zivilisationssprung, der sich 1989 potentiell sogar auf Gesamteuropa ausdehnen konnte, obwohl er vereinzelt von altneuen Nationalismen herausgefordert wurde (lugoslawienkrieg 1992-1995). 1947 lebte einer der Exponenten dieses Ansatzes, der groge franz6sischen Historiker und
1186Tilo Schabert, Die Atlantische Zivilisation. Uber die Entstehung der einen Welt des Westens, in: Peter Haungs (Hg.), Europdisierung Europas?, Baden-Baden 1989, S. 41-54, 42. 1187Vgl. Alfred L. Kroeber, Is Western Civilization desintegratingor reconstituting?, in: Proceedings of the American Philosophical Society 95 (1951), S. 100-107. ,188Vgl.Jacques Godechot, HMoire de l'Atlantique, Bordas 1947, S. 73-326.
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Atlantikkenner Jacques Godechot, noch in der Hoffnung auf eben jenen Zivilisationssprung, wie er im Endeffekt trotz aller Probleme und Riickf~ille im Grol3en und Ganzen zwischen 1945 und heute eintrat: ,,Une civilisation atlantique va-t-elle naitre, fonde~ sur l'humanisme de la vieille Europe r&is~ par le machinisme am&icain? Quelle magnifique conclusion ~ l'histoire de l'Atlantique, si l'Oc&n pouvait devenir le th4fitre de l'6panouissement d'une civilisation occidentale off l'homme, lib&6 par la machine, pourrait enfin se consacrer tout entier ~tun ideal de progr~s et de paix.. 'q189 Was ist jedoch der tiefere politische Gehalt einer sich aus der ,,Adantischen Revolution" speisenden Zivilisation? Wiihrend Nietzsche den Sinn des Endes der iiberlieferten ,,westlichen Geschichte" durch den Anbruch der Massendemokratie in Amerika als Best~itigung einer totalen Sinnverfehlung des ,,Westens" versteht, sieht Tocqueville darin den Sinn des , , W e s t e n s " ,,zur wahren Erfiillung kommen. ''119~ Hannah Arendt und Tilo Schabert haben im weiteren Verlauf der Geschichte den Freiheitsbegriff angefiigt, der diese Entwicklung normativ gehaltvoll macht: Nach Hannah Arendt besteht die Gabe der Freiheit im ,,Anfangen K6nnen", das Handeln wird in diesem Sinne defmiert als ,,Neues Anfangen". 1191 Erst durch das ,,Anfangen K 6 n n e n " wird ,,Freisein" zu einer ,,greifbaren Realit~it". Diese metaphorisch mit dem initium der Natalit~it des menschlichen Lebewesens in Verbindung gebrachte Freiheit 1192 ist somit ,,der eigentliche Raum des Politischen", der nut dann gegeben ist, wenn das ,,Anfangen K 6 n n e n " dann auch in Anspruch g e n o m m e n wird, also mittels ,,Handlungen" realisiert wird. Damit ist Freiheit nicht alleine vom institutionell-organisatorischen Geriist des Handelns abh~ingig. Freiheit verschwinde sofort, ,,wenn das Handeln aufh6rt, das Sichverhalten und Verwalten anf'~ingt oder auch einfach die Initiative erlahmt, neue Anf'~inge in die Prozesse zu werfen, die durch das Handeln entstanden sind. ''1193 Das politische Problem, dass Arendt seit der Friihen Neuzeit konstatiert, ist die Vergesellschafmng des Politischen und die Erhebung eines , , h a r m l o s e n " wissenschaftlichen Ideals, des Behaviorismus, zu einem ,,politische[n] Ideal einer Gesellschaft, die nichts kennen will als das ,Glfick' des Allt{iglichen. ''1194 Das ganze wird auch abgedeckt mit dem W6rtchen von der ,,technisch-wissenschaftlichen Zivilisation" oder ,,Wohlstandszivilisation" des Westens. Die Fragen, die mit Hilfe des wissenschaftlichen Sachverstandes und der Kompetenz der Experten einer Entscheidung zugef'tihrt werden k6nnen, sind nicht politisch. Erst wenn der wissenschaftlich-technische Sachverstand nicht ausreicht oder nicht zu einer eindeutigen Entscheidungsfindung fiihrt (also immer wenn die Technokraten nicht mehr weiter wissen) ist Politik gefragt. Im Umkehrschluss muss das allerdings auch bedeuten: Die Technokratie in ihren Grenzen hat ihren Sinn. 1~9~ Wenn die Politik das iindern zu k6nnen glaubt, iiberschiitzt sie sich und schwiicht sich damit auch. D o c h die Zivilisation des Westens wird mit dem Begriff der ,,technisch-wissenschaftlichen Zivilisation" in ihrer Potentialit~it als auch in ihren Voraussetzungen nicht vollstiindig abgedeckt, sondern nur in ~iul3eren Symptomen oder ihren inneren Konsequenzen, die, wenn sie
1189Jacques Godechot, Histoire de t'Atlantique, Bordas 1947, S. 333. t190Manfred Henningsen, Der Fall Amerfka. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdra'ngune~ MCinchen1974, S. 156; vgl. fernerhin Alexis Clerel de Tocqueville, Die Demokratie in Amerika. Eine Auswahl, hg. v. Friedrich August Frhr. yon der Heydte, Regensburg 1955, S. 62ff. 1191Vgl. Hannah Arendt, Vita Acliva oder vom ta'tigen Leben, Stuttgart 1960, S. 166. 1192Vgl. ebd. 1193Hannah Arendt, Freiheit und Politik, in: Die Neue Rundschau, 69. Jg. (1958), S. 670-694, 693. 1194Hannah Arendt, VitaActiva oder yore ta'tigenLeben, Stuttgart 1960, S. 44. t195Vgl. auch Raymond Aron, Die industrielle Gesellschaft. lg Vorlesungen, Frankfurt a.M. / Hamburg 1962, S. 61.
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allumfassend werden, zugleich Symptome einer Entfremdung darstellen. 1196 Und gerade die amerikanische Geschichte, das zeigt Arendt sehr deutlich, ist n i c h t - trotz anderslautender Vorurteile - d e r alleinige und entscheidende Ausgangspunkt einer derartigen Entfremdung, weil das ,,amerikanische Denken" geradezu Technik, Wissenschaft und Macht mit der Idee und mit der Freiheit verbindet. Die amerikanische Geschichte wird vor diesem Hintergrund von Hannah Arendt als ,,revolutioniire" begriffen. Die amerikanische Verfassungsgebung stellt den wichtigsten modernen Akt freiheitlicher Handlung in der Modeme dar, sie wird als , , V e r f a s s u n g s r e v o l u t i o n ''1197 bewertet, unabhiingig yon Erkliirungsmustem, die auf eine 6konomische Interessendifferenz als Ursache der amerikanischen Revolution abzielen. 1198 Zugleich ist die amerikanische Entwicklung durchaus auch als soziale und 6konomische Revolution zu betrachten. 1.99 Tilo Schaberts Ansatz geht in iihnlicher Weise von der Atlantischen Zivilisation als der ,,Kultur der Freiheit" aus, wie sie zwischen Europa und Amerika im 18. Jahrundert entstand. 12~176 Die gemeinsame Fragestellung auf beiden Seiten des Atlantiks lautete und lautet: ,,Wie kann die politische Macht, durch die ahem es eine menschliche Gesellschaft gibt, so gestaltet werden, dass es die Macht der Freiheit ist? ''12~ Schabert illustriert die transatlantische Relevanz dieser Fragestellung anhand jener Orte, an denen just im 18. Jahrhundert diese Fragen noch intensiv gestelh wurden: im Cafd Procope in Paris bei Buffon, Raynal, Voltaire, Diderot, d'Alembert, Abbfi Mably, Turgot und Helv~tius und in der Green Dragon Tavern in Boston bei John Hancock, Samuel Adams, dessen Neffen John Adams, James Otis, Paul Revere, Benjamin Church und joseph Warren. 1202Europa braucht Amerika, um die Distanz zu sich selbst aufzubringen, und Amerika braucht Europa aus dem gleichen Grund. ,,Amerika und Europa existieren in Freiheit. Sie existieren in ihr, indem es beide, Europa und Amerika gibt. In der atlantischen Zivilisation haben sie sich vereint, zu einer Welt der Freiheit. Und sie haben sich getrennt, um diese Welt zu erhalten. ''12~
1196Eine ,,Entfremdung" ist immer dann gegeben,wenn ein Symptomoder eine praktische Konsequenz eines Wertes mit dem Weft an sich verwechseltwird, obwohl der Weft immer noch eine zwingende Voraussetzung f/it die Erhaltung des Symptomsoder auch der Konsequenzen darstellt. 1197 Vg]. Angela und Willi Paul Adams, Die Entstehung der Vereinigten Staaten und ihrer Verfassung. Dokumente 1754-1791, Mfinster 1995, S. 316-350. 1198Vgl. auchJacques Godechot, France and the Atlantic Revolution of the Eighteenth Cen/uT, 1770-1799, New York 1977, S. 34. 1199 Vgl. ebd., S. 38-41 und 41-45. 1200Tilo Schabert, Die Atlantische Zivilisation. Ober die Entstehung der einen Welt des Westens, in: Peter Haungs (Hg.),Europa'i sierung Europas?, Baden-Baden 1989, S. 41-54, 50. 1201Ebd. 1202Vgl. ebd. 1203Ebd., S. 54.
VIII. G e s c h i c h t e I" Der v o r m o d e r n e Gehalt ideenhistorischer E x i s t e n z des W e s t e n s
,,Den Barbaren hat Gott das Gesetz und die Propheten gegeben, den Hellenen die Philosophie, so dass die Ohren beider vorbereitet sein sollten, das Evangelium zu h6ren." Alexandrien, Stomateis IV "Angels do not speak. For they understand each other through a sort of instantaneous mental reading, and they know everything they are allowed to know; not by any use of language but by watching the Divine Mind." Dante Aligheri, Serendipities N a c h d e m nun die Begriffe ,,Zivilisation" und ,,Atlantizismus" und das theoretische Grundverhiilmis zwischen ,,Atlanfischer Revolution" und ,,Atlantischer Zivilisation" erarbeitet worden ist, stellt sich die Frage nach der konkreten ideenhistorischen Existenz der ,,westlichen Zivilisation", auf deren Basis am Ende die ,,Atlantische Zivilisation" normativ gefiillt werden kann. Die Existenz der ,,westlichen Zivilisation" kann nur als Existenz emer kulmrbedeutenden Denkfigur verstanden werden. Dass kulturbedeutende Denkfiguren im Modus yon klassifizierenden ,,Idealtypen" zur Erkl~irung oder Uberpriifung einer Erkliirung menschlichen Handelns herangezogen werden k6nnen und sollten, ist dabei eine methodologische Gegenposition zur 6konomistischen Zentrierung des marxistischen Geschichtsbegriffes. Wie schon in der Einleitung der Arbeit ausformuliert, miissen ,,kulmrbedeutende Denkfiguren" als instrumentell verstandene ,,Idealtypen" defmiert werden1204. Es ist im Weiteren zwischen dem v o r m o d e m e n und dem m o d e r n e n Gehalt ,,westlicher Zivilisation" Cozw. historischer Existenz des ,Westens") zu unterscheiden. Es sei wiederholt, dass die M o d e m e aus der Sichtweise des Verfassers (ira Sinne Eric Voegelins und Tilo Schaberts) ,,ein ausgedehntes Gewebe" ist, ,,das aus v o r m o d e r n e n Kulmren, jahrtausendealten Lebensweisen, priimodemen 0berlieferungen, altgeschichtlichen Zivilisationsformen, v o n d e r Modernitiit unberiihrten Sozialgebilden besteht. 'q2~ ,,Geschichte II" iiberlagert also ,,Geschichte I", wird abet letztere me substituieren k6nnen, da die Moderne, so Schabert zurecht, eine ,unendliche Weltsuche 'q2~ sei.
1. Geographische Voraussetzungen Aus einem pluralen Zivilisationsverstiindnis ergibt sich nun die Tatsache, dass Zivilisationen immer ihren geographischen Ort haben miissen. Zivilisationen sind demnach immer Geozivilisationen. Der geographische Oft ist dann zugleich eine entscheidende Erkliirungsvariable zur 1204Die Definition lautet noch einmal zur Erinnemng: ,,Idealbild historischer oder historisch-politischer,nicht futurologischer Phiinomene in Gestalt eines ,in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenh{inge', welche durch eine bewusst einseitige Konstmktion und Steigemng bestimmter Elemente der Wir'~chkeit gewonnen wird und inhaltlich den Charakter einer ,Utopie' (Weber) besitzt." 1205Tilo Schabert, Modernita't und Geschichte. Das Experiment der modernen Zivilisation, Wfirzburg 1990. 1206Vgl. Tilo Schabert, Modernita't und Geschichte. Das Experiment der modernen Zivilisation, Wfirzburg 1990, S. 71ff. und 108.
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Kapitel VIII
Geschichte der jeweiligen Zivilisation und eines der wichtigsten Bestimmungsfaktoren jeglicher kultursoziologischen oder gar politikwissenschaftlichen Zivilisationsbetrachtung. So l~isst sich der Aufstieg des , , W e s t e n s " in der Geschichte m erster Lime mit klimatischen und geographischen Besonderheiten erkl~iren. J ared Diamond, emer der renommiertesten historischen Naturwissenschaftler, hat hierzu ein bahnbrechenden Buch verfasst (,,Arm und Reich"). 12~ Entscheidend ffir den Aufstieg Europas und des Westens seien demnach insbesondere der Unterschied zwischen eurasischer Ost-West-Achse und amerikanischer Nord-SfidAchse sowie die Geschichte der menschlichen Besiedlung der Erdkontinente gewesen. Die eurasische Ost-West-Achse erleichterte die Ausbreitung von Pflanzen- und Tierarten sowie vieler ffir den menschlichen K o n s u m und die menschliche Nutzung geeigneten Wildpflanzen u n d - t i e r e . Dieser vegetative Reichtum brachte zu dem Zeitpunkt, als die Menschen im damaligen vegetativen und tierbiologischem Zentrum in Mittelasien sesshaft wurden, eine Vielzahi domestizierter Pflanzen- und Tierarten hervor, die es aufgrund der fehlenden Ausbreitungsm6glichkeiten in Amerika vor dem Hmtergrund der dortigen geographischen Nord-SfidAchse nicht geben konnte. Der Domestikationsvorsprung im mittelasiatischen Westen ffihrte zu Nahrungsfiberschfissen und Vorratshalmngen, abet auch zu vegetativer Erosion aufgrund von Rodungen, so dass sich die groBen, sesshaften und geschichteten Gesellschaften allm~ihlich von Mittelasien fiber das Mittelmeer bis in den N o r d e n und Nordwesten Europas verlagerten, wo die reiche Vegetation vor dem Hmtergrund eines sehr niederschlagsreichen Klimas einer Fl~ichenrodung letztendlich standhalten konnte. Die Landwirtschaft erreichte nunmehr im nordwestlichen Europa ihren technischen H6hepunkt. Die unmittelbare materielle Folge der Sesshaftigkeit war indes die revolutioniire Fortentwicklung der politischen Organisation, Schriftsprache und der Technik, die sich insbesondere milit~irisch eindrucksvoll auswirkte: Die europ~iischen und chinesischen Heere waren im 15. Jahrhundert mit Pferden, Kanonen, Stahlschwertem und seeti.ichtigen Schiffen ausgestattet, w~ihrend die Bewaffnung der amerikanischen Indianerheere der Inka- und Aztekenst~imme auf Axte, Hacken und Beile beschr~inkt blieb, so dass im 15. und 16. J ahrhundert die Kollision zwischen den politisch expansiven Europ~iern (die Chinesen hatten sich Mitte des 15. Jahrhunderts ffir den Isolationismus entschieden) und den Inkas und Azteken milit~irisch schnell zugunsten der Konquistadoren entschieden wurde (Cortes und die mit ihm verbfindeten, fiberaus grausamen Tlaxcalteken gegen die Azteken und Pizarro gegen die Inkas). Die Indianerst;,imme wurden zus~itzlich dutch ihren anf'~inglichen Glauben an die Ankunft einer ,,weiBen Gottheit" geschw~icht. 12~ AuBerdem fi.ihrte die Nutztiervielfalt m Europa 12~ zu einer st~irkeren I m m u n a b w e h r gegen Infektionskrankheiten, welche die Europ~ier schlieBlich nach Amerika emschleppten, was schwerwiegende Auswirkungen auf die diesbezfiglich wehrlosen Indianerst;,imme haben sollte. 121~ Die Besiedlung der Erde dutch die Menschen, von denen angenommen wird, dass sie monophyletischer Natur sind 1211 und aus vegetationsarmen, afrikanischen Ursprungsgebieten stammen, erfolgte im fibrigen in Eurasien und Polynesien in einer Zeitspanne zwischen 1 Mil-
1207Vgl.Jared Diamond, Arm und Reich. Die Schicksale menschlicherGesellschqften, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2003. 1208Vgl. Holger Afflerbach, Das en~sselte Meer. Die Geschichte desAtlantik, Mtinchen 2001, S. 184f. 1209Vgl. Femand Braudel, Die Geschichte der Zivilisation. 15.-18. Jahrhundert, Mtinchen 1979, S. 364-377. 1210Vgl. Alfred W. Crosby, The Columbian Exchange. Biologicaland Cultural Consequences of 1492, Westport 1972, S. 35-63 und Darcy Ribeiro, Amerfka und die Zivilisation. Die Ursachen der ungMchen EntMcklung der amerikanischen Vblker, Frankfurt a.M. 1985., S. 147-152. Zum Bev61kerungsr6ckgangbei den Inkas kam es w~ihrend der Conquista jedoch noch nicht so sehr wegen der Epidemien wie bei den Azteken, sondem eher wegen der Zerst6rung der Em~ihrungsgmndlagen, also aufgrund der strikt reglementierten Arbeitsorganisation der Inkas auf der Grundlage der Bew{isserungswirtschaft (vgl. ebd., S. 192). 1211Vgl. Karl Jaspers, Urayorungund ZielderGeschichte, Mtinchen 1949, S. 65ff.
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lion und 20.000 Jahren v.Chr., wiihrend Amerika, in das die Menschen, nach bisheriger K e n n t nis fiber die Beringpassage einwanderten, bis 12.000 v.Chr, vfllig menschenleer war, was natfirlich auch aus den Anfangsbedingungen heraus zu einer v e r z f g e r t e n Entwicklung der menschlichen Kulturgeschichte in Amerika (im Vergleich zu gurasien und Polynesien) ffihrte. 1212
2. ,,Weltachsenzeit" (500 v.Chr.) und hellenische Wissenschaft Die ,,Atlantische Zivilisation" ist nur dann zu erfassen, wenn sie auf einem ,,gesamtokzidentalen Bildungszusammenhang ''1213 aufbaut, der im hellenischen K u l t u r r a u m beginnt und bis in die heutige Zeit seine Nachwirkungen zeitigt. ,,Die klassische lJberlieferung ist so sehr ein Teil der westlichen Kultur geworden, dass wir uns ihres Einflusses auf unsern Geist nicht m e h r bewusst sind. ''1214 Studenten lesen auch immer n o c h dieselben Bficher und formen, wenn sie gelassen werden, ,,ihren Geist nach denselben V o r b i l d e m wie die r6mischen Vorgiinger achtz e h n h u n d e r t Jahre frfiher. ''1215 Entscheidend in der Geburtsstunde der Wissenschaft im hellenischen Zeitalter war die Erfmdung des A r g u m e n t s i m normativ anzustrebenden Dreieck zwischen Klarheit, Stringenz und Logik als Basis eines Rationalitiitsbegriffes, welcher der methodisch-systematischen Infragestellung aller realen Ph~inomene folgte1216: Dieses K e r n e l e m e n t westlicher Philosophie verbindet alle groBen westlichen D e n k e r von Sokrates bis Wittgenstein. In O p p o s i t i o n zur AchsenzeitThese y o n Karl Jaspers sollte durchaus betont werden, dass die aristotelische A n a [ j t i c a Posteriora, ,,das bis heute grundlegende Werk analytischen D e n k e n s " ist. Das technologisch sich zwar stets rasch fortentwickelnde, aber groBriiumig-geschlossene, zentralistisch organisierte China 1217 brachte im sogenannten ,,Achsenzeitalter" genauso wenig ein solches W e r k hervor wie das kastenhierarchisch strukturierte Indien. 1218 Was die vorgtfechischen, insbesondere die ersten uns bekannten stiidtischen Zivilisationen 1219, die iigyptische und m e s o p o t a m i s c h e (Sumerer, Babylonier, Assyrer, Chaldiier), aber auch andere orientalische und frfihiigiiische Zivilisationsformen wie die hethitische, die aram~iische, die ph6nizische, die hebriiisch-kanaanitische (,,Israel") und hebriiisch-judaische (,,Judah"), die lydische sowie die persische (mit der ,,relig16s" ungemein einflussreichen, priimanich~iischen Himmel-H611e-Philosophie des Zoroaster bzw.
1212Vgl. Jared Diamond, Arm und Reich. Die Schicksale menschlicherGesellschaften, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 45-68. 1213Der Begriff stammt von J/irgen Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, Miinchen 2000, S. 21. 1214Christopher Dawson, Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einfiihrung in die Geschichte der abendla'ndischen Einheit, 2. Aufl., Kfln 1950, S. 59. 121sEbd., S. 60. i216Vgl. Platon, Euthyphron, 15e; Walter Reese-Schiifer,Antikepolitische Philosophie zur Einfiihrung, Hamburg 1998, S. 15f.; Harry Elmer Barnes, A n Inlellectual and Cultural History of the Western World. Volume I: From Earliest Times through the Middle Ages, 3. Aufl., New York 1965, S. 123f. 1217Vgl. zu China: Jared Diamond, Arm und Reich. Die S&icksale menschlicher Gesell~chaften, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 510-517. 1218Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band IV." Die Welt der Polis- Gesellschaft, Mythos und Geschichte, hg. yon Jiirgen Gebhardt, M/.inchen 2002, S. 41f. (zum grundsiitzlichen West-Ost-Unterschied vgl. auch Mehdi Padamsee, The Nous and the Nabi. The Greek and the Hebrew Traditions in the Histo{7 of Western Culture, New Delhi 1991 und Frank R. Pfetsch, Theoretiker der Politik, Paderbom 2003, S. 43. Vgl. zur Kritik an Voegelin zusammenfassend Peter von Sivers, Zur Achsenzeit im Mittleren Osten (600-500 v. Chr.), in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnuns Wiirzburg 2000, S. 159-173, 173. 1219Vgl. Gideon Sjoberg, The Origin and Evolution of Cities, in: Scientific American 213 (3), S. 55-62 und Oswald Spenglet, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einerMo~hologie der Weltgeschichte, 15. Aufl., MCinchen 2000, S. 674f.
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Kapitel VIII
Zarathustra 122~ anbetrifft 1221, so ist auf den folgenden entscheidenden geistesgeschichtlichen Unterschied aufmerksam zu machen: Es ist zweifelsfrei richtig, dass anthropologisch verstandene ,,Zivilisationen" als solche ihren Anfang in den orientalischen, insbesondere in der ~igyptischen Zivilisation 1222 genommen haben; und insbesondere die letztere iibte einen erheblichen Einfluss auf die hellenische Zivilisation aus. 1223 g s ist natiirlich genauso richtig, dass die ,,griechische Zivilisation" im ersten grofien Zusammenprall der Zivilisationen, also im Verlaufe der Perserkriege, zur vollen Reife gelangen konnte. 1224 Mit ,,Zivilisationen" sind in Anlehnung an den anthropologischen Zivilisationsbegriff, von dem ja in dieser Arbeit ausgegangen wird, grol3fliichige, qualitative, dauerhafte und sehr systematische Versuche der Naturbeherrschung dutch den Menschen und seiner dutch ihn hergestellten Technik gemeint, und zwar so, dass diese Versuche nunmehr starke strukturelle Folgen zeitigten, und zwar in der Verbindung von kultureller, politischer u n d - in der F o l g e - technischer Dimension: M_it der kulturellen Dimension einer ZiviIisation ist die Verfeinerung und soziale Vertiefung iibematiirlicher Glaubenssysteme gemeint und damit einhergehend die Entstehung stammesiiberwindender Konventionalisierungen kultureller Art in Verbindung mit entsprechend bindenden kulturellen GroBtheorien, welche wiederum durch die Konventionalisierungen symbolisiert werden. In Agypten waren die Erfmdung des lautbezogenen, wenn auch nicht vollstiindig phonetischen ,,Alphabets", die Erfmdung des (Mond-)Kalenders und des SechzigSekunden-Taktes einer Minute sowie die Entwicklung eines numerischen Dezimalsystems die entscheidenden konventionsschaffenden Angelpunkte zixqlisatorischer Kultur. 1225 Die damit verbundene politische Dimension einer Zivilisation ist ausgefiillt von der evolutioniiren Herbeif'tihrung politischer und sozialpolitischer Einheiten, die sich auf ein stammesiiberwindendes Territorium beziehen und zugleich eine entsprechend weitergehende Komplexitiit des Herrschaftssystems (mit Bediensteten und Botentr~igern) aufweisen. Die daraus resultierende Folge ist die technische Dimension einer Zivilisation bzw. sind die mit der Kultivierung und Vermassung technisch-handwerklicher Begabungen einhergehenden Massengi.iter technischer Naturbeherrschung. Die iigyptische Zivilisation z.B. hat dem Menschen und sp~iter insbesondere der westlichen Zivilisation die Strom- und Bew~isserungstechnik, die Textilbekleidung, die Erfmdung des systematischen Gebrauchs von Leinen, Gl~isern und Metallen (auger Aluminium), die Z~ihmungstechniken, die Vieh- und Pferdezucht und die Milcherzeugung, die Erfmdung des Rades und der Siiulen geschenkt. 1226 Allerdings beruhte nun diese ,,origm~ire Zivilisation" )~gyptens, welche also die Abhebung des ,,zivilisierten Menschen" vom ,,pr~ihistorischen Menschen" historisch initiierte, auf einer sehr diinnen, sich theogonisch legitimierenden Herrenschicht und der Unterdriickung und
1220Vgl. Jal Dastur Cursetji Pavry, The Zoroastrian Doctrine of a Future Lafe. From Death to the IndividualJudgment, New York 1929. 1221Vgl. zu den einzelnen Zivilisationsformen Harry Elmer Barnes / Henry David, The Histo~ of Western Cidlizatfon. Volume One, New York 1935, S. 76-177. 1222Vgl. ebd., S. 79 (Barnes betitelte sein )~gypten-Kapitel folgerichtig: ,,Egypt achieves civilization", vgl. ebd., S. 76115). 1223In/,iberspitzter und problematischer, weil propagandistischer Form wurden neben den bestehenden arischen und indogermanischen die ph6nizischen, alt~igyptischenund die damit angeblich einhergehenden ,,afrikanischen" Elemente herausgearbeitet bei Martin Bemal, SchwarzeAthene. Die afroasiatischen Wurzeln dergriechischenAntike, M~nchen 1992. Zur Kritik am Afrozentrismus und an Bemal vgl. Mary R. Lefkowitz / Guy MacLean Rogers (big.), Black Athena Revisited, London 1996. 1224Vgl. Karl Popper, Ober den Zusammenprall der Kulturen, in: Ders., A u f der Suche nach einer besseren Welt. Vortr~'ge und Aufsatze aus dreijYigJahren,M/inchen/Z/irich 1984, S. 127-136, 128. ~225Vgl. Harry Elmer Barnes / Henry David, The Histo~ of Western Civilization. Volume One, S. 103-108. 1226Vgl. ebd., S. 174 und Karl Jaspers, Ur~orungund Zielder Geschichte, M/inchen 1949, S. 69.
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A u s b e u t u n g einer m a s s e n h a f t e n S k l a v e n s c h i c h t , die das H e r r s c h a f t s v e r h i i l t n i s rein g l a u b e n s miiBig legitimierte u n d d a m i t j e d e n A n s a t z s k e p t i s c h e n D e n k e n s v o n v o r n h e r e i n ausschloss. D e r M y t h o s w a r in j e n e r S i t u a t i o n zugleich d e r U r g r u n d alles Seins: H e r r s c h a f t u n d t r a d i t i o n a l legitimierte P r i e s t e r s c h a f t b i l d e t e n k o n s e q u e n t e r w e i s e eine in t o t o u n w i d e r s p r o c h e n e , d o m i n i e r e n d e Einheit. 1227 Mit der T h e o g o n i e b r a c h der g r i e c h i s c h e G e i s t endgi.iltig. 1228 D i e A u l 3 e r g e w 6 h n l i c h k e i t des g r i e c h i s c h e n Zivilisationsbeitrages ist also geistiger u n d t h e o r e t i s c h e r , n i c h t m a t e r i e l l e r u n d p r a k t i s c h e r a a t u r 1229, w o b e i s o w o h l die materielle D i m e n s i o n als a u c h die p r a k t i s c h - t e c h n i s c h e D i m e n s i o n d e r M e n s c h h e i t s g e s c h i c h t e m i t Hilfe der t h e o r e t i s c h e n E r r u n g e n s c h a f t e n v o r n e u en P e r s p e k t i v e n stand. 123~ D e r g r i e c h i s c h e Z i v i l i s a t i o n s b e i t r a g b e s t a n d a m E n d e i n s b e s o n d e r e in f o l g e n d e n , z.T. in K o n k u r r e n z z u e i n a n d e r s t e h e n d e n I d e e n : 1.
2. 3.
Die Idee, dass Wahrheit nicht nur tiber einen mythischen Urgrund (von der ,,G6tterwelt") vorgegeben ist als entscheidender Schritt yon der Theogonie zur Kosmogonie. Die ,,Wahrheit" kann durch Gr/inde und GegengrCinde erforscht werden, das pr/ifende Denken und der beweisende Logos (Anaximander) halten Einzig wie auch die Idee, dass alles Seiende yon einem Unendlichen - ,,apeiron" - komme, eine der gr613ten Errungenschaften der abendliindischen Philosophie. Die Idee der Eigenrealitiit der Vernunft (u.a. Sok_rates), der Realitiit des Erdachten (des Rationalen) und des vem/inftigen Rechts bzw. der Gerechtigkeit (SoDates, Platon) Die Idee der Existenz universaler Konzepte und der Einheit der Wahrheit (u.a. Anaxagoras, Parmenides, Platon 1231)
1227Vgl. Harry Elmer Barnes / Henry David, The Histo~ of Western Civilization. Volume One, New York 1935, S. 181. 1228 Vgl. u.a. Harry Elmer Barnes, An Intellectual and Cultural Histo{7 of the Western World. Volume I: From Earliest Times through the Middle Ages, 3. Aufl., New York 1965, S. 122ff. 1229,,The outstanding contributions of the Greeks to human culture lay in the realm of mind and the emotions" (Harry Elmer Barnes / Henry David, The t-Iisto{7 o/'Western Civilization. Volume One, New York 1935, S. 249). 1230Warum sich die zivilisatorische Entwicklung von Ost nach West verschob und gerade in Griechenland zugunsten des ,,Westens" kulminierte, ist umstritten. Der geo -ldimatische Faktor der sukzessiven Rodung im vormals bewaldeten, jedoch niederschlagsarmen und primiir vergleichsweise unproduktiven Vorderasien - zum Zwecke der dort ins Leben gerufenen Viehzucht und des Ackerbaus - ergibt in Verbindung mit der zeitnahen Abnahme der vorderasiatischen Landwirtschaft im Mittelmeerraum [dem spiiter das gleiche Schicksal wie Vorderasien ereilen sollte] vielleicht eine plausible, eher naturwissenschaftliche Er~iimng (vgl. Jared Diamond, Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 508f.): ,,Die Gesellschaften Vorderasiens und [spiiter auch] des 6stlichen Mittelmeerraumes hatten somit das Missgeschick, in einer 6kologisch besonders empfindlichen Region beheimatet zu sein. Indem sie die eigene Ressourcenbasis zerst6rten, begingen sie 6kologischen Selbstmord." (ebd., S. 509). Hinzu kommt in der sp{iteren Entwicklung wohl auch die Relevanz der Tatsache, dass Europa in viel geringerem Ausmal3e anf'~illig war flit Naturkatastrophen als Asien (vgl. Eric Lionel Jones, The European Miracle: Environments, Economies and Geopolitics in the Histo~ of Europe and Asia, Cambridge 1981). 1231 Der erkenntnistheoretische Unterschied zwischen Sok_rates / Platon und den Sophisten bestand darin, dass nach sok:ratischer Lehre auch bei Annahme des Logos anstelle des Mythos das ,,absolute Eine" nicht verschwunden sei, da es auf dem Wege des Denkens beweisbar und erkennbar wiire, wiihrend nach sophistischer Lesart der Logos so ambivalent und vieldeutig sei, dass er auf ein ,,absolutes Eines" nicht hinf/ihren k6nne, so dass der Logos selbst als ,,Wahrheit" zu betrachten wiire. ,,Wahrheit" und subjektive Auffassung fielen so zusammen. Die Sophisten lehnten es ab, ein ontologisches Sein (,,ine'~ anzuerkennen (Protagoras: ,,Der Mensch ist das MaB aller Dinge'~ Die Wahrheit sei zwar der ,,Logos", doch dieser sei zu ambivalent und vieldeutig, nicht einheitlich. Die Aporie indes, die Sok_rates dem entgegnete, war, dass der Logos selbst nicht die Wahrheit sein k6nne, doch der Logos die Wahrheit ,,habe" und sie auch erkenne; Sok_rates glaubte, die Aporie durch dialogische Prozesse aufl6sen zu k6nnen; der Logos ist als dialektischer Prozecf zwischen Wissen und Nichtwissen zu verstehen: entsprechend kommt der Mensch nut/iber den Dialog zum Wissen. Kurzum: Unbewegt k6nne das Sein nicht sein, denn dann k6nnte es keine Erkenntnis geben, da diese auf einer Denkbewegung (Logos) beruhe - allerdings k6nne das Denken auch zu keinem Ergebnis f/ihren, wenn alles Bewegung wiire, nicht einmal zu dem Ergebnis, dass Sein Bewegung ist. Ruhe und Bewegung, Identitiit und Verschiedenheit sind nicht selber Sein, sondern verbinden sich ggfs. mit ihm und auch untereinander und so ist auch erkenntnisphilosophisch nunmehr die Dialektik entscheidend und der deduktive ,,Dihairesismus" der Sophisten ist nut ein
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Kapitel VIII 4. 5. 6.
7. 8.
Die Idee eines dynamischen und pluralen Universums (u.a. EmpedoNes, Heraklit, DemoDit) Die Idee der Unerfahrbarkeit der Realit{it und der Scheinbarkeiten in der Wahmehmung (u.a. Sokrates) Die platonische Idee dialektischer Erscheinungen und eines dialektischen Seinsganzen 1232, die daraus resultierende Methodik und die (bei Platon philosophisch gebundene 1233) Rhetorik. Dazu geh6ren Techniken wie die sokratische Miieutik, die Methode der Ironie, die Methode der Hypothesenbildung, die Methode der Umwendung der Blickrichtung bzw. des Perspektivenwechsels, die Methode der dialogischen Teilnahme als Unterwert der Definition 1234und die Dialektik selbst als Methode. 123s Die Idee der Eigenstiindigkeit der ,,Ideen" als Teil eines Ganzen und damit als Grundlagen der Erkenntnis (Platon) 1236 Die Idee der Relativitiit yon Wahrheit (u.a. Protagoras): ,,Alles fliei3t, es gibt nichts festes, alles ist relativ" (Heraldit) 1237
Teil dieser Dialektik (vgl. Olof Gigon / Laila Straume-Zimmermann, Platon.. Lexikon der Namen und Begriffe, 2. Aufl., Zfirich u.a. 1995) 1232Wit k6nnen nicht wissen, was die Idee ist, denn ,,jedes einzelne ist verschieden yon den fibrigen, nicht dutch seine eigene Natur, sondern dutch seine Teih~ahme an der Idee des anderen (Dialektik)" (Soph. 255 E). 1233 Sokrates zu Polos: ,,Ich nenne die Fiihigkeit des Kochens und die Rhetorik die Gabe des Schmeichelns und sage, dass das schimpflich ist, mein lieber Polos - d a s s Koch und Redner das Angenehme zu treffen versuchen, abet nicht das Beste; deshalb sage ich, das Redenk6nnen ist keine Techl-tik." 1234 Die anspruchsvolle ,,Methode der Teilnahme" verlangt ein allmiihliches Aufsteigen zur korrekten Begriffskliirung, Begriffsdefinitionen werden indes - so gut es geht - vermieden, weil die Gefahr besteht, etwas mit Worten erNiiren zu miissen, von denen man ebenso wenig weii3 wie von dem zu definierenden Begriff. 123s Das ist zugleich die anspmchsvollste platonische Technik: ,,Nach Arten zu unterscheiden, nicht dieselbe ffir eine andere oder eine andere ffir dieselbe zu halten" (Soph. 253 BCD). Trennen und Mischen ist die Aufgabe der Dialektik, die Trennung setzt die Zusammensetzung voraus, die Mischung wiederum die Trennung. Wird die Dialektik als Spielzeug gebraucht, so wird sie zur ,,antilogike", d.h. zur Technik des Widersprechens. Die Technik der Trennung wird mit dem Schneiden verglichen: l?;s soll alles yon dem Begriff weggeschnitten werden, was ihm fremd zu sein scheint, und diese Tiitigkeit muss solange fortgesetzt werden, bis der Begriff v611ig rein und von allen irgendwie fremden Zutaten befreit ist. Schneiden indes ist irnmer ein Schneiden dutch die Mitte. Die Namr wird dann entdeckt in der Idee des Anderen, der Anithese (z.B. sch6n - nicht sch6n, grog - nicht grol3, gerecht - nicht gerecht). Arten des Nicht-Seins geh6ren zum Sein wie die Idee des Seins selbst. Die Ideen sind nun die Gmndlagen der dialektischen Methode. Die Dialektik hat die Aufgabe, die Ideen voneinander zu trennen und miteinander zu mischen, die wichtigste (Misch-) Verbindung ist die Idee des Seins und des Nicht-Seins. Sie erm6glicht dam_it eine praktische Verwendung der Idee dutch die doxa. Die Dialektik bedient sich einer Idee, um eine andere zu t-mden. Die Ideen sind damit zugleich die Gmndlage aller Erkenntnis, der theoretischen und der praktischen. 1236 Ideen liegen sozusagen ,,in der Luft". Daher kann auch nut derjenige et-was mit seiner ,,Idee" leisten, wenn sie im Einklang steht mit der Realitiit - nut hielBe das nach Platon, dass dieser Mensch in seinem Denken und Handeln der Realitiit der Idee entspriiche, die er wiederum ,,entdeckt" hat. Die Notwendigkeit der Ideen versucht Platon auf mehreten Wegen zu beweisen. Eines der bekanntesten Versuche ist die folgende Herleitung: Wenn das Gleiche in der Erinnerung (anamnesis) nicht das ,,Gleiche an sich" ist (oder dasselbe), wenn der Mensch z.B. eine Lyra betrachtet und sich an eine Idee einer Lyra erinnert, um so die Lyra ,,Lyra" zu nennen, dann verhiilt es sich, so Platon, ebenso mit jeder Erkenntnis: ich sehe etwas und vergleiche es mit dem Gleichen an sich, das Gleiche an sich ist eine Idee, an die der Sehende sich zuriickerinnert, ergo: ,,Das was ich jetzt sehe, ist verschieden vom wahren Sein und es ist notwendig, dass ich vorher das gekannt habe, von dem ich sage, es habe sich ihm angeiihnelt" - ,,dann mfissen wit das Gleiche an sich im Voraus kennen und zwar vor der Zeit, als wit das erste Mal das Gleiche sahen und darfiber nachdachten, dass alles dieses darauf abzielt so zu sein wie das Gleiche an sich, abet unvollkommen ist." Die Dinge sind also einem Urbild (,,Idee '~ nachgebildet. In der Wahrnehmung nehmen sie an der Idee teil. Die Wahmehmung erfolgt fiber Erinnerung. Diese platonische Lehre vom angeborenen Prinzipienwissen hat schlielBlich Aristoteles abgelehnt (vgl. Olof Gigon / Laila Straume-Zimmermann, Platon. Lex4kon derNamen und Begnf/~, 2. Aufl., Zfirich u.a. 1995). la37 Weder die Wahmehmung noch Wahrgenommenes existieren an sich, sondem beide konstimieren sich erst dutch die Bewegung zwischen ihnen. Auf diese Weise entsteht zum Beispiel die Wahmehmung ,,Rot" dutch den Zusammenstoss des Auges rnit einem Impuls, der die Wahmehmung ausl6st. Abet weder gibt es da einen roten Gegenstand noch eine getreue ,,Widerspiegelung", sondem was dem einen rot erscheint, mag ffir den anderen lila sein. So bleibt als letzte Wahrheit der Wahmehmung nut, dass sie Selbstwahmehmung ist - da das Objekt ebenso wenig Sein hat wie das sich stiindig veriindemde Subjekt. Diese Wahmehmung muss immer wahr sein, denn es gibt gar keinen MalBstab, anhand dessen ich sie als triigerisch verwerfen k6nnte. Platon entgegnete, dass Werden ohne Anfang schlicht fiber die menschliche Spra&e hinausgehe und somit nut Sprachlosigkeit zur Folge haben k6nne, die es abet nicht gebe (Sprache muss demnach auf irgend eine natiirliche Ordnung basieren).
Geschichte I: Der vormoderne Gehalt der ideenhistorischen Existenz des Westens 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
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Die Idee des Menschen als ,,MaB aller Dinge" (u.a. Protagoras) Die Idee des Materialismus und Atomismus (u.a. Demok_rit und Epikur) und die einer gottlosen oder zufallsfixierten Natur (Anaxagoras' Sonnen- und Mondverstiindnis) 1238 Die Idee der Trennung von Philosophie/ Wissenschaft und Theologie (u.a. Anaxagoras, Platon) Die rationale Systematisierung der Idee des Guten und der Idee Gottes (u.a. Platon) 1239 Die Idee der Eigenrealit~it yon Zahlen (Pythagoras, z.T. Platon) Die I dee der Logik (der logischen Uberpr/ifung und Operationalisierung yon Wissenschaft 1240)und die Idee der Differenzierung zwischen Induktion und Deduktion (u.a. Aristoteles, aber auch Platon) Die hippokratische Idee der Medizin als Wissenschaft (anstelle der magie). 1241
D i e griechische Geistesart hat sich schlieBlich schlaglichtartig fiir einen M o m e n t in der G e schichte mit einer politischen Priisenz des n e u e n Geistes v e r b u n d e n . Es h a t t e n sich a l s o - spiitestens im 5. J a h r h u n d e r t v. Chr. - miichtige politische I n s t i t u t i o n e n a u f der Basis eines fein zergliederten P o l i s - S y s t e m s a u f eine A r t u n d Weise herausgebildet, dass sich der ,,griechische G e i s t " u n d das d a m i t e i n h e r g e h e n d e N o v u m eines s y s t e m a t i s c h e n (aber zugleich o n t o l o g i s c h g e b u n d e n e n ) W i s s e n s c h a f t s s y s t e m s zu e i n e m Meilenstein der G e i s t e s g e s c h i c h t e entwickeln k o n n t e . D i e hellenischen Poleis w a r e n in d i e s e m Sinne die f/ir das l J b e r l e b e n u n a b d i n g b a r e n H e i m s t i i t t e n eines n e u g e b o r e n e n Geistes, der w i e d e r u m a u f die politischen O r d n u n g e n zurfickwirkte u n d s o g a r - fiber den o n t o l o g i s c h g e b u n d e n e n Rechtsbegriff, der im Z u g e der D i s k u s s i o n e n u m den Sinn des ,,Seins" n a c h u n d n a c h a u f k a m - den W e g zu den direkten D e m o k r a t i e n Attikas ebnete. D a m i t v e r h a l f der G e i s t der P h i l o s o p h i e u n d W i s s e n s c h a f t der hellenischen K u l t u r zu e i n e m in der M e n s c h h e i t s g e s c h i c h t e ganz n e u e n ,,liberal-legal stage o f civilization"1242: , , G r e e c e was the first society to enter the legal-liberal stage o f civilization"1243, eine Stufe, welche erst im 18. J a h r h u n d e r t n.Chr, im G e f o l g e der ,,Glorious R e v o l u t i o n " 1 6 8 8 / 8 9 im m o d e m e n Zeitalter ,,wirklich" erreicht w e r d e n sollte. 1244 Seit d e m A u f k o m m e n des , , A b e n d l a n d e s " in G r i e c h e n l a n d k e n n t die W e l t also die ,,Idee der politischen Freiheit". 1245 D a h e r ist die politische Freiheit ein ,,abendl~indisches P h i i n o m e n " . 1246 D a s ist i n s o f e r n keine A b w e r t u n g nicht-abendliindischer Kulturkreise, als dass ,,politische Freiheit" an sich keine b e s o n d e r e B e d i n g u n g geistiger Gfite ist. 1247 D o c h ist sie als grogartiger W e r t m e n s c h l i c h e r O r d n u n g a u f sehr b e s t i m m t e Weise w f i n s c h e n s w e r t u n d v o n unschiitzbarer praktischer Gfite. Sie ist die politische B e d i n g u n g sozialer , , E u d a i m o m e " . D e r Geist, der sich s o w o h l in politi-
1238Zufalls- und gottskeptische Theorien spielten auch in der chinesischen Philosophie zwischen dem 3. und dem 1. Jh. v. Chr. eine wichtige Rolle (Lieh Zhu - d e r Begrfinder des Taoismus, Chen Tse, abet insbesondere Wang Ch'ung). 1239 Auch das N~itzliche ist demnach nichts anderes als eine Erscheinungsweise des Guten. Wie die Dinge in der Wahrnehmung an der Idee ,,teilnehmen", so nehmen zugleich alle Ideen an der Ursache von allem teil: Platon sieht in der Qualitiit dieser All-Ursache das Erstrebenswerte zum Zwecke der Erreichung des GlCicks und nennt es das Gute. Konsequenterweise kann bei Platon nut das sein, was gut ist, alles andere ist Schein und Irrtum (vgl. auch die Gleichnisse in der Politeia: Linien-, Sonnen- und H6hlengleichnis). 1240Aristoteles stellte sich gegen Platons Lehre vom angeborenen Prinzipienwissen und dessen anamnesis-Theorie und entwickelte stattdessen die ,,beweisende Wissenschaft": vom Wissen im strengen Sinn kann nut die Rede sein, wenn der Grund erkannt wird, warum etwas so ist, wie es ist und wenn man die Gewissheit hat, dass es nicht anders sein kann. Grund he~t dasjenige, was die Warum-Frage beantwortet. Aristoteles. unterschied vier Typen von GrCinden und Ursachen: Was ist es? Was muss sein, wenn notwendig dieses sein soll? Was bewegt zuerst? Weswegen? (Ursache). 1241Ahnliche Entwicklungen gab es zur gleichen Zeit in China. 1242Vgl. Harry Elmer Barnes, An Intellectualand CulturalHisto~ of the Western World. Volume I." From Earliest Times through the Middle Ages, 3. Aufl., New York 1965, S. 119f. 1243Ebd., S. 120. 1244So m.E. die vfllig korrekte Einschiitzung von Harry Elmer Barnes ebd. 1245Karl Jaspers, UraJorungund Ziel der Geschichte,M~inchen 1949, S. 88. 1246Ebd., S. 214. 1247Vgl. ebd., S. 215.
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Kapitel VIII
scher Freiheit als auch in politischer Knechtschaft entfalten kann, hat in politischer Freiheit einfach nut seine Voraussetzungen im gewaltfreien Raum. Hier kann er sich frei entfalten, ohne sich im K a m p f gegen Gewalt, Willkiir oder gar gegen entsprechend ausgestattete Formen der Ydeinheit und D u m m h e i t durchsetzen zu m/issen und dabei french - physisch betrachtet scheitem zu k6nnen. GroBe Gedanken verlangen in politischer Freiheit keine Opfer ab und hierin liegt die Giite der politischen Freiheit fiir die Gr613e des Geistes. 1248 Zugleich muss betont werden, dass die hergebrachte Realitiit der gewaltsamen Unterdriickung und Ausbeutung yon Menschen, welche stets in K_riegsverliiufen zu Ka'mchten wurden 1249, auch yon den Griechen nicht in Frage gestellt wurde. Das war indes auch gar nicht m6glich zu jener Zeit, als ein ausgereifter (menschenrechtlicher) Individualismus, so wie wit ihn in der Moderne kennen, iiberhaupt gar nicht existierte. 125~Die Idee der ,,natiirlichen Sklaverei" von Aristoteles sollte freilich eine rationale Begrfindung fiir etwas geben, was innerhalb des gesamten Westens wohl erst im 19. und 20. Jahrhundert endgiiltig iiberwunden werden konnte. Warum nun die erw~ihnten, neuartigen politischen Instimtionen Griechenlands nicht von , , ~ o n i s c h e r " Dauer waren, wie z.B. diejenigen Roms, haben Zivilisationsforscher mittlerweile plausibel herausgearbeitet. Da diese Frage vor dem Hintergrund eines geistigen Zusammenhangs zwischen antiker griechischer Staatsordnung und , , n e o g r i e c h i s c h e r " amertkanischer Staatsordnung wichtig erscheint, sollen die Griinde hier noch einmal kurz zusammengefasst werden. Zuvor sei abet der erwS_hnte geistige Zusammenhang skizziert. Der bestand darin, dass es vor der Griindung der USA intensive Vergleiche zwischen griechischer Ordnung und amerikanischen Ordnungsvorstellungen gegeben hat. Die Begriinder der politischen O r d n u n g in den USA hatten, hiiufig sehr systematisch und gut durchdacht, aus den Stabilitiitsdefiziten der griechischen Staatengeschichte ihre Lehren gezogen. Die hellenische Poliswelt stellte fiir die amerikanischen Griinderv~iter eine politisch-institutionelle Gr6Be dar, die dadurch eben mit dem Ziel einherging, die griechische Geistesgr613e, die als ,,ewige Wahrheit" bewundert wurde, wenn nicht fiir die ,,Menschen" oder die eigene ,,Nation", so doch fiir die ,,Eliten", die Gestalter politischer Ordnungen, wieder fruchtbar zu machen oder sie schlicht als eine der grol3en Sinninstanzen menschlichen Denkens neben der stark mit der Antike verwobenen christlichen Religion zur Richtschnur des eigenen Denkens und Handelns zu erheben, so wie es sich wohl heute noch gebiihren wiirde. Die Griinde fiir d i e - universalhistorisch b e t r a c h t e t - fehlende Dauerhaftigkeit der politischen Institutionen der antiken Poliswelt, die also yon den amerikanischen Griinderv~item fiber 1500 Jahre spiiter als negative Projektion innerhalb eines zugleich euphorisch bejahten hellenischen Kulturerbes angesehen wurden und in diesem Sinne systematisch und im besten
1248Vgl. Karl Jaspers, Ursprung und Zielder Geschichte, M/inchen 1949, S. 215. 1249Vgl. dazu auch Vitorio H6sle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik J~ir das 21. Jahrhundert, M/inchen 1997, S. 413. ~2s0Vgl. Anthony Arblaster, The Rise andDecline of Western Ia'beralism, Oxford u.a. 1985, S. 22f. NatCirlichist diese Aussage zu differenzieren: Dass nicht der Individualismus in Griechenland geboren wurde, steht nicht im Gegensatz zur richtigen Behauptung, dass ein wichtiger Zivilisationsbeitragin jener Zeit geleistet wurde, der sich spiiter mit dem neu entstandenen Individualismus geistig in Verbindung setzen liel3: Dieser Beitrag bestand in der in Griechenland zum Tragen gekommenen Entdeckung der M6glichkeit einer ,,bewussten Innerlichkeit pers6nlichen Selbstseins". Damit war die ,,Losl6sung vom Gmnde der Namr und der menschlichen Gemeinschaft", ein ,,Hineintreten ins Leere" in einem individualistischen Kontext mh'glichgeworden (vgl. KarlJaspers, UrJprung und Ziel der Geschichte, M/inchen 1949, S. 89).
Geschichte I: Der vormoderne Gehalt der ideenhistorischen Existenz des Westens Sinne des W o r t e s normativ-politikwissenschaftlich sen1251:
analysiert wurden-
241 sind f o l g e n d e g e w e -
Die Emphase philosophischer Spekulation und Abstraktion unter starker Vernachl~issigung praktischer Lebensangelegenheiten Eine gewisse gesellschaftspolitische Indifferenz im Sinne einer Absenz republikanischen Engagements Die aristoDatische Abneigung gegen/iber jeder Form manueller Arbeit Der Mangel, trotz gegebener und aus heutiger Sicht immer noch immens beeindruckender theoretischer Grundlagen 12s2, keine Methodologie und Technik entwickelt zu haben, um eine tragf'ahige experimentelle bzw. angewandte Wissenschaft zu begrfinden. 1253 Das Fehlen einer industriellen Entwicklung auf der Basis der schemenhaft gebildeten Manufaktursysteme vor dem Hintergrund der fliichendeckend sklavenbasierten Produktionswirtschaft, die zwar auch im s/idlichen Teil der USA gegeben war, abet nach einem blutigen B/irgerkrieg abgeschafft wurde. Mangel an Kapital- und Kreditstmkturen und an einem ausgefeilteren Handelssystem Allgemeiner Mangel politischer Einheit vor dem Hintergrund agonal konfigurierter Kleinteiligkeit des "nationalen Systems": ,,The whole history of Greece may be viewed as a struggle between the tendencies of unity and separatism. And from this struggle - which was at once military, political, economic and ideological separatism emerged the victor. Arrayed against a common Greek language, Panhellenic Games, oracles and religious leagues, a Panhellenic religion largely created by the Homeric epics, and a feeling among the Greeks to the effect that they were all alike - which made for a sense of unity - were the powerful separatist elements in the city-state concept and in the political and geographic divisions of Greece. The disruptive forces were stronger."1254
1251 Vgl. im folgenden Harry Elmer Barnes / Henry David, The Histo.ry of Western Civilization. Volume One, New York 1935, S. 214. 1252 Dazu geh6rt insbesondere die geometrische Mathematik bei Thales von Milet, Pythagoras, Euklid, Apollonius, Hipparchos (der die Breiten- und Liingenberechnung etablierte), die Atomphysik des Demokrit und theoretische Vorformen der Mechanik sowie mathematische Theorien bei Archimedes (u.a. Entdeckung wichtiger mechanischer Kraftgesetze, wie des hydrostatischen Prinzips oder des Gesetzes von den Fliehkriiften, wichtiger Gravitationstheorien sowie die Erfindung des Flaschenzugsprinzips; in der Mathematik folgte die Entdeckung der Quadratur der Parabel, die Bestimmung des anniihernden Verhiiltnisses von Durchmesser und Umfang des Kreises und die Berechnung der Kugeloberfliiche). In der Astronomie ziihlt zu den Errungenschaften: das (richtige) heliozentrische Weltbild yon Philolaos yon Kroton und Aristarchos von Samos, die Erdachsentheorie sowie die eindrucksvoll korrekten ErdeSonne-Distanzberechnungen von Aristarchos yon Samos (ihm folgte als letzter f/it lange Zeit Seneca), die ziemlich genauen Erdumfangsschiitzungen des Aristoteles und die entsprechenden Berechnungen sowie die Theorie von einer S/idmeerpassage unterhalb Afrikas des Erasthothenes, die theoretische Festlegung des Prinzips der Tag- und Nachtgleiche und die beeindruckenden Jahresberechnungen des Hipparchos sowie die Theorie der vier Sinne des HippoDates, des BegrCinders des bis heute vollgnliltigen ethischen Kanons der Medizin. Aristoteles (ira Vergleich zu vorhergehenden Forschern eher bescheiden) konnte in biologischen Fragen, die sich auf die Pflanzen- und Tierkunde bezogen, Akzente setzen. Die organische Evolutionstheorie wurde von Aristoteles begrCindet, erste Ansiitze zur Genwissenschaft sind auch gegeben. 12s3 ,,Auch Platon hat sich immer wieder in die Probleme der Astronomie vertieft - und der Timaios zeigt, wie sehr er fLir den Reiz dieser Probleme empf'~inglich war. Aber er konnte, er durfte sich diesem Reiz nicht ohne Einschriinkung hingeben. Der Dialektiker in ihm war es, der den empirischen Forscher warnte und der ihm die freie Entfaltung verwehrte. ,,To~ ~ v oopctvm goc(sobmv; die Erscheinungen des Himmels wollen wir an ihrem Orte lassen, wollen wir in der sinnlichen Welt, der sie angeh6ren, stehen lassen. Wit, die Philosophierenden sollen sie nicht um ihrer selbst willen betrachten; .wit wollen sie nut als Beispiel, als Paradeigmata benutzen, als Erliiuterungen und Verdeutlichungen f/.ir bestimmte mathematische Probleme und mathematische Grundverhiiltnisse." (Ernst Cassirer, Die Antike und die Entdeckung der exakten Wissenschaften, in: Ders., Philosophie und exakte Wissenschaft, hg. von Rudolph Berlinger, Frankfurt a.M. 1969, S. 11-38, 35). 12s4Harry Elmer Barnes / Henry David, The Histo{7 of Western Civilization. Volume One, New York 1935, S. 214.
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Kapitel VIII
Dazu k o m m e n die von (historischen) Naturwissenschaftlern 1255 betonten geo-klimatischen Bedingungen, welche die aufsfiegserm6glichende Landwirtschaft im 6stlichen Mittelmeerraum (Viehzucht und Ackerbau) zugleich zu Voraussetzungen eines 6kologischen Niedergangs machten, da aus der Inkongruenz von anfallenden Rodungsnotwendigkeiten auf der einen und geringen Niederschlagsmengen und niedriger Primiirproduktivit{it auf der anderen Seite der geographische Raum auf Dauer versanden bzw. vegetativ erodieren musste. 1256 Ein ,,fibriges taten die vielen Ziegen, die iiberall grasten. ''1257 Nord- und Westeuropa, welches das Erbe der Antike antreten sollte, lag (und liegt) indes in ,,einer weniger empfmdlichen, niederschlagsreicheren Umwelt mit rasch nachwachsender Vegetation". 1258
3. Das r6misch-christliche Erbe 3.1 Erstmalige Reprdsentation einer einheitlichen Existen z des Westens und der moderne Gehalt des Mnitar~schen Chrfstentums
Auf der Basis der nachtriiglichen Vereinigung des hellenistischen Ostens und des r6mischitalischen Westens spiitestens unter Augustus (Schlacht bei Actium vs. Antonius und Cleopatra) kam die politische und soldatische Ordnungskraft Roms zu einem Ende und schuf damit die M6glichkeit der ,,Ubertragung der hellenischen Uberlieferung auf den keltisch-gallischen und germanischen Kulturraum. ''1259 Zugleich vollzog sich immer stiirker das Auftreten neuer universaler (,,6kumenischer") Ordnungs- und Geschichtssymbolismen, deren Anfang schon m der persischen GroBreichbildung angesiedelt werden k6nnen, die jedoch ihren H6hepunkt erst mit dem Aufkommen des Christentums und dem Untergang des R6mischen Reiches linden sollten und als Einliiutung eines ,,6kumenischen Zeitalters" angesehen werden k6nnen, das damit durch die Raumrevolutionen im 15. J ahrhundert schlieBlich m eine moderne Dynamisierung (Vorgeschichte der ,,Globalisierung '~) fiberffihrt werden kann. 126~Doch die Bildung einer konsistenten, lebensf'~ihigen westlichen Weltsph~ire dutch r6mische Macht- und Willensst~irke steht dazu in einem gewissen Spannungsverhiiltnis. Rom, das mit der Magistratur, dem Senat, der Volksversammlung und dem Volkstribunat eine resistente Mischverfassung aufwies, verschmolz seine institutionelle Stabilitiit mit einer zivilreligi6sen, opferbereiten Staatsgesinnung und priigte das Rechts- und Staatsdenken des Abendlandes auf priigende Art und Weise. Die Ableitung des Gemeinwohls aus der utilitas publica fflhrte indes bei Cicero zu einem wichtigen neuen (utilitaristischen) Verstiindnis in der Rechtstheorie, das mit der Idee des Rechts aller VbTker (ius gentium) und dem Konzept des bellum iustum (des gerechten Krieges) die Grundlagen fiir die Idee eines universalen Imperiums des Westens schuf. Dariiber hinaus 1255 Zur Unterscheidung zwischen historischen Namrwissenschaften (Astronomie, Klimatologie, 0kologie, Evolutionsbiologie, Geologie und Paliiontologie) und exakten Namrwissenschaften (Physik, Chemie, Molekularbiologie)vgl. Jared Diamond, Arm und Reich. Die Schicksale menschlicherGesellschaften, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 522-528. lZ56Vgl. ebd., S. 508f. 1257Ebd., S. 508. 1258Ebd. 1259Christopher Dawson, Die Gestaltung des Abendlandes. Eine EinJ~hrung in die Geschichte der abendla'ndischen Einheit, 2. Aufl., K61n 1950, S. 21ff. (vgl. zur sp~iteren Rolle des gallischen Raumes ffir das Aufkommen der westeurop{iischen Zivilisation Harry Elmer Barnes / Henry David, The Histo{7 of Western Civilization. Volume One, New York 1935, S. 397442). 1260Vgl. Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VIII: Das Okumenische Zeitalter- Die Legilimita't tierAn/ike, hg. von Thomas Hollweck, Mfinchen 2004 und Ders., Ordnung und Geschichte. Band IX: Das Okumenische Zeitalter - Weltherrschaft und Philosophie, hg. v. Manfred Henningsen, Mfinchen 2004.
Geschichte I: Der vormoderne Gehalt der ideenhistorischenExistenz des Westens
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wurde der namrrechtliche Ansatz des Stoizismus weiterentwickelt, mit dem neuen imperialen Gedanken verbunden und so die Universalisierung des Wahrheitsbegriffs und somit die Vorstellung einer universellen Repriisentation von Wahrheit durch den , , W e s t e n " erm6glicht. Die nun im R6mischen Reich seit der Spiitantike zum Tragen gekommene Existenz unter Oott 1261 zeichnete sich - durch die eigene Unsterblichkeit einer jeden menschlichen Person als Personalisierung der in der Antike a n g e n o m m e n e n ,,Unvergiinglichkeit des K o s m o s " aus. 1262 Die Welt als h6chstes Gut wurde nun vergiinglich, an ihrer Stelle trat im Judentum (im Kontext der Weiterentwicklung des von Zoroaster erstmals entwickelten Monotheismus durch Deuterojesaja 1263) das unsterbliche Leben eines Volkes und damit potentiell das unendliche menschliche Leben. Das Christentum vollendet die im Platonismus angelegte Idee der ,,Unsterblichkeit der Seele", so dass schliel31ich die antike Vorstellung von der ,,Unvergiinglichkeit des K o s m o s " vollends verdriingt werden konnte. 1264 Eric Voegelin trifft den Punkt, wenn er behauptet, dass im Verlaufe der Entwicklung von Sokrates zum Christentum die ,,Entwicklung der Seele" der Prozess zu sein schien, ,,in dem der Mensch sich selbst entg6ttert hat. ''126s Wie soll das zu verstehen sein? Voegelin interpretiert den Tatbestand des antiken Polytheismus nicht wie fiblich als ,,anthr o p o m o r p h e Darstellung des G6ttlichen", sondern als theomorphe Symbolisierung menschlichef Seeleninhalte. 1266 Das heiBt, dass das Erkenntnisdefizit des Menschen nicht die Folge eines naiven G6tterglaubens ist, der von einem mythischen Urgrund allen Seins ausgeht. Diese theogonische Anschauung ginge fiber die M6glichkeit des primitiven Menschen hinaus und wiire bzw. ist nichts weiter als eine Interpretation aus heutiger Zeit. Die theogonische Anschauung war demnach gegeben als eine, die etwas v611ig ,,Gottfremdes" artikulierte: ,,G6ttliches und Menschliches geht noch ineinander ''126v, weil der Mensch sich nicht von etwas G6ttlichem trennen kann, weil er sich ins Ganze hinein allgegenwiirtig macht, weil er sich selbst in den Mittelpunkt der Welt stellt, indem er seine eigene Seele, sein eigenes Verhalten divinisiert, seine Seeleninhalte t h e o m o r p h symbolisiert. Erst die griechische Philosophie entg6ttert den Menschen, Schritt ffir Schritt; und der damit in Gang gesetzte Prozess ist ,,die Entwicklung der Seele" als ein Prozess, in dem der Mensch zum Bewusstsein der , , M e n s c h l i c h k e i t " und eben nicht mehr der g6ttlichen Allgegenwiirtigkeit ,,seines Seelenlebens ''1268 kommt: ,,Erst mit dieser seelischen Konzentration wird es m6glich, sich als von einem welt-transzendenten G o t t angesprochen zu erleben. ''1269 Das ,,Maximum" dieser , , S e e l e n e r s c h l i e B u n g " bzw. ,,die Differenzierung und Konzentration der Seele" scheint in ,,Plato, und deutlicher noch in Aristoteles, erreicht." Hier k o m m t die maximal kon-
1261Eric Voegelin, Ordnung und Ges&ichte. Band IV." Die Welt der Polir - Gesellschaft, Mythos und Ges&ichte, hg. yon J/irgen Gebhardt, Mfinchen 2002, S. 41. 1262Vgl. Hannah Arendt, Vita Activa oder vom tdtigen Leben, Stuttgart 1960, S. 306. 1263Vgl. dazu und zur Besonderheit des ,,apeiron" yon Anaximander: Peter von Sivers, ZurAchsenzeit im Mittleren Osten (600-500 v. Chr.), in: WolfgangLeidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnung, W/irzburg 2000, S. 159-173, 168fi und 171fi 1264Vgl. Hannah Arendt, I/ita Activa oder vom tdtigen Leben, Stuttgart 1960, S. 306-312 (zum Unterschied zwischen Judentum und Christenmm in diesem Zusammenhang vgl. ebd., S. 308). 126sVgl. den Brief Eric Voegelins an Leo Strauss vom 22. April 1951, abgedmckt in: Peter j. Opitz (Hg.), Bffefwechsel iiber ,,Die Neue Wissenschaft der Politik ", Freiburg / Mfinchen 1993, S. 36. 1266Vgl. ebd. 1267Ebd. 1268 Ebd. 1269Ebd., S. 36f.
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zentrierte Seele zum Verstiindnis des transzendenten Seres und orientiert sich zu ihm ,erotisch', ,,ohne jedoch A n t w o r t zu finden. ''12v~ Diese A n t w o r t schlieBlich bietet die Offenbarung des Juden- und des Christenmms bzw. die Interpretation der Offenbarung durch das Offenbarungswissen, wie es unter anderem bei Augustinus zur Geltung kam. G o t t wendet sich dem Menschen zu. Es entsteht die Idee der Liebe Gottes zur Welt. 1271 Diese Anschauung ist nun, insbesondere auf der Basis der christ_lichen Erbsfindenlehre, ein entscheidender Angelpunkt der neuzeitlichen Denkungsart, da sie auf Weltabsenz basiert. N a c h d e m das Christentum den friihantiken (vorsokratischen) D r a n g nach ,,weltlich-irdischer Unsterblichkeit" rasch zurfickgedriingt hatte, konnte es folgendes postulieren: Es gibt eine Welt hier, und eine Welt fiber uns! Es gibt den , , M e n s c h e n " - universal gleich in der M6glichkeit unter G o t t zu sein 1272 - und es gibt Gott. 1273 U n d w~ihrend bei Aristoteles ein Band zwischen schon erdachtem G o t t und dem ,,Menschen" im Sinne der aristotelischen ,,philia" nicht m6glich war, ist mit dem C h r i s t e n m m das Band zwischen G o t t und Menschen n u n m e h r gegeben, auch wenn das erst von T h o m a s von Aquin (mit Hilfe des Begriffs ,,amicitia") und nicht so sehr von Augustinus philosophisch artikuliert wurde. 1274 Die Relativierung bei Augustinus' finder sich indes in der harte G n a d e n und Priidestinationslehre des I~rchenvaters, basierend auf der Erbsfindenlehre und dem Bilde eines Gottes, der letztlich an den H611enqualen des Menschen - gleich ob der Mensch f r o m m ist oder n i c h t - seine Gerechtigkeit oder seine gniidige Barmherzigkeit und Giite demonstrieten kann und sich durch dieses uneingeschriinkte, den M e n s c h e n ins Erb~irmliche dr/ickende V e r m 6 g e n als das auszeichnet, was g r i s t : ,,Gott" eben. 1275 Das Entscheidende nun ist wohl, dass wenn das lJberweltliche v o m Weltlichen getrennt wird, das Weltliche einen ganz neuen Stellenwert bekommt: Eine innerweltliche Logik wird nun denkbar und auch ,,erdacht" und damit zugleich von P r o b l e m e n geschieden, die der Logik nach nicht mnerweltlich sind, so dass nach Augustinus das Offenbarungswissen (sapientia, nahe verwandt dem aristotelischen nous) anstelle der ,,epistemischen" M6glichkeit der Einsicht in die ,,Idee des G u t e n " Platons tritt 1276. An die Stelle des ,,schneidend-scharfen Messers der eleatischen Dialektik" tritt nun der Glaube an Gott. 1277 D e r entscheidende Satz lautet bei Voegelin so: ,,Das Offenbarungswissen ist [nunmehr] im Bau menschlichen Wissens das Wissen u m die Vorgegebenheiten der Erkenntnis ''1278. O b nun die m o d e r n e n Wissenschaftstheoretiker von den ,,empirischen Sinnlosigkeiten" eiher ,,wahren Erkenntnis" sprechen oder Christen von einer fiir die Wissenschaft unzugiingliden Brief Eric Voegelins an Leo Strauss yore 22. April 1951, abgedruckt in: Peter j. Opitz (Hg.), Briefwechsel iiber ,,Die Neue Wissenschaft der Politik ", Freiburg / MCinchen 1993, S. 37. 1271Vgl. auch Felipe Fern~indez-Armesto,Ideas that changed the world, New York 2003, S. 160fi 12v2Vgl. den Brief des Paulus an die Galater (3,28): ,,Hier ist nicht Jude, noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, 1-tierist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Jesus Chrisms." 1273Vgl. Ulrich Matz, Zum Einfluss des Christentums auf daspolitische Denken der Neuzeit, in: G/inther R~ther (Hg.), Geschichte der christlich-demokratischen und cristlich-so~alen Bewegungen in Deutschland. Grundlagen, Unterdchtsmodelle, Quellen und Arbeitshilfinj~r diepolitische Bildung, Bonn 1987, S. 27-56, 31-35. 1274Vgl. den Brief Eric Voegelins an Leo Strauss yore 22. April 1951, abgedruckt in: Peter J. Opitz (Hg.), Briefwechsel iiber ,,Die Neue Wissenscbaft der Politik ", Freiburg / M~nchen 1993, S. 37. 12vsVgl. die beeindmckende Interpretation yon Kurt Flasch, Augustin. Einf#hrung in sein Denken, 2. Aufl., Stuttgart 1994, S. 180-226. 1276Vgl. Eric Voegelin an Leo Strauss vom 22. April 1951, abgedmckt in: Peter J. Opitz (Hg.), Bdefwechseliiber ,,Die Neue Wissenschaft derPolitik" Freiburg/M/inchen 1993, S. 37. 127vVgl. die hervorragende Stelle bei Ernst Cassirer, Die Antike und die Entdeckung der exakten Wissenschaften, in: Ders., Philosophie und exakte Wissenschaft, hg. yon Rudolph Berlinger, Frankfurt a.M. 1969, S. 11-38, 20f. 1278Eric Voegelin an Leo Strauss yore 22. April 1951, abgedruckt in: Peter J. Opitz (Hg.), Br#fwechsel #ber ,,Die Neue Wissenschaft der Politik ", Freiburg / M~nchen 1993, S. 37. 1270 Vgl.
Geschichte I: Der vormodeme Gehalt der ideenhistorischen Existenz des Westens
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chen, weil offenbarten ,,Wahrheit", fiihrt in der K o n s e q u e n z , solange die sapientia keinen evidenten empirischen Gewissheiten entgegensteht, zu iihnlichen wissenschaftsmethodologischen Ergebnissen: zu der T r e n n u n g zwischen Wissenschaft und philosophischer Erkenntnis u n d zwischen Wissenschaft und Glaube, zwischen ,,scientia" und der ,,sapentia". ,,Injektionen menschlicher Phantasien in Wissensbereiche, die durch ,Offenbarung' gekliirt sind 'q279 klassifizierte Augustinus als ,,fantastica fornicatio". Eine hierin angelegte Koinzidenz zwischen Moderne und Christentum, wird heutzutage kaum m e h r deutlich genug betont, weil iibersehen wird, dass Glaube als Glaube auf nichts anderes A n s p r u c h erhebt als darauf, ,,eine Wahrheit zu sein, die sich nicht aus d e m Buche der N a t u r herauslesen liisst." 12g0
3.2 Kampf und Trennung zwischen IG'rche und Staat Politisch spiegelt sich die Koinzidenz zwischen Christentum und M o d e r n e im augustinischen Zwei-Welten-Prinzip wieder 1281, das im paulinischen Losungsprinzip ,,Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist" zusammengefasst ist und die T r e n n u n g zwischen Kirche und Staat zur Folge hatte. Das , , Z w e i - W e l t e n - P r i n z i p " verbindet sich im Christentum mit der Vorstellung der Universalgleichheit aller M e n s c h e n vor Gott, was im absoluten Gegensatz zum Selbstverstiindnis der Antike 1282, aber auch best i mmt er alttestamentarischer lJberlieferungen stand. D e r universalistische Ansatz liisst sich an m e h r e r e n Stellen im N e u e n Testam e n t deutlich machen:
Mt. 8, 5-12: ,,(...) Ich sage euch: Viele werden yon Osten und Westen kommen und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen; die aber, f/ir die das Reich bestimmt war, werden hinausgeworfen in die iiul3erste Finsternis (...)" Mk., I 1, 17: Gottes Tempel solle ein Haus des Gebetes ,,fiir alle V61ker" sein. Mt,, 21, 43: ,,Das Reich Gottes wird euch weggenommen und einem Volk gegeben werden, das die erwarteten Fr/ichte bringt." Mt., 24, 1O: D aher wird das Evangelium vom Reich ,,auf der ganzen Welt" verk/_indetwerden. Mt., 28, 19-20: [Jesus zu seinen J/ingem:] ,,Datum geht zu allen V61kem und macht alle Menschen zu meinen J/ingern (...)" Lk., 22, 19-20: Die Postulierung des ,,Neuen Bundes" beim Abendmahl. G e g e n die griechische Skepsis richtete sich dabei auch der Auferstehungsglaube, der sich an der A u f e r s t e h u n g Christi orientierte und im K e r n die Auferstehung aller M e n s c h e n (,,der Toten") beinhaltete. Z u m zweiten fordert das Christentum von den Gliiubigen nicht, nach formalen G e s e t z e n zu handeln, sondern nach den G e b o t e n der christlichen Liebe. Diese G e b o t e beinhalten eine besonders anspruchsvolle, zerbrechliche F o r m der Niichstenliebe. Die diese Liebe mit L e b e n fiillende, individuelle Gewissenseinsicht eines jeden C h r i s t e n m e n s c h e n ist dabei eine unabdingbare Voraussetzung.
Eric Voegelin an Leo Strauss vom 22. April 1951, abgedruckt in: Peter J. Opitz (Hg.), Briefwechseliiber ,,Die Neue Wissenschaft der Politik ", Freiburg / M/inchen 1993, S. 39. 1280Vgl. Pierre Chaunu, Die Wurzeln derFr~iheit, M/inchen 1982, S. 279. 1281 Vgl. insbesondere ebd., S. 105. 1282Vgl. exemplarisch Augustinus, De civitate Dei, VI, 2, zu Marcus Varro: ,,Was soll man da anders denken, als dass dieser scharfsinnige und beschlagene, abet nicht dutch den Heiligen Geist innerlich frei gewordene Mann unter dem Bann der Briiuche und Gesetze seines Staates gestanden habe" (Aurelius Augustinus, Vom Got/esstaat (2 Bde.), hg. v. Karl Hoenn, Z/irich 1995, Band 1, S. 327). 1279
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V o r diesem H i n t e r g r u n d ist es nicht von der H a n d zu weisen, dass in Wahrheit ,,die Gemeinschaft der Aufldiirung eine siikularisierte F o r m der Gemei nschaft des C h r i s t e n m m s " darstellt. 1283 D e r ,,politische A u g u s f n i s m u s " des Mittelalters, der vor d e m H i n t e r g r u n d der Lehre yon der grundsiitzlichen christlichen H6herwertigkeit der Kirche gegeniiber d e m Staat m ein e m eschatologischen Kontext, die Spiritualisierung des Weltlichen u n d Politischen und die U n t e r o r d n u n g des Staates unter die Kirche einforderte, muss v o n der augustinischen Lehre getrennt werden. I n d e m die Kirche versucht, im augustinischen Sinne den eschatologisch verstandenen Gottesstaat ,,auf E r d e n " zu wahren und zu schiitzen, ist die Kirche gerade dann nichts weiter als ein weltliches Gef'~iB des christlichen Glaubens auf Erden. Die Kirche k 6 n n e zwar eher in der Lage sein als der Staat, die christliche Lehre zu achten, doch ist sie als weltliches Gerbil3 nur eine gebrochene und fehlbare Vertreterin des eschatologisch verst andenen Gottesstaates auf Erden. Das Kainsmal des Staates, der in seinem U r s p r u n g nichts weiter sei als eine ,,Riiuberbande", kann nicht im R a h m e n der civitas permixta zwischen Gottesstaat u n d Teufelsstaat, in welchen sich auch die Kirche zu bewegen hat, vollstiindig v o n der Kirche femgehalten werden. D e r A n s p r u c h bestand am E n d e darin, eine ausgepriigte Skepsis gegen alle weltlichen Miichte zu hegen, mit der Zielsetzung sich in der Kirche ,,jenseitig" zu orientieren u n d vielleicht n o c h auf einen christlichen Herrscher zu hoffen. Keine Instanz auf E r d e n k 6 n n t e jedoch wirklich dauerhaften Frieden schaffen und auch die Kirche wiirde v o n Menschen gefiihrt, die im Sinne der Spezies allesamt v o n Anfang an in ihrer ganzen Existenz durch die Erbsiinde gezeichnet w e r d e n - egal wie f r o m m sie sich verhalten. D e r v o m augustinischen D e n k e n zu trennende ,,politische Augustinismus" war insofern eine jahrzehntelange Verfehlung des Christentums durch fehlbare Christen1284: Das Christentum ist jedoch ,,von N a t u r aus radikal antitheokratisch. ''1285 Dass jede freiheitliche Gesellschaft heute zwangsliiufig auf dem ,Zwei-Welten-Prinzip' beruht 1286, bringt iiuBerst wichtige K o n s e q u e n z e n mit sich, die z.T. m Vergessenheit geraten sind: ,,Ohne Kirche gibt es kein ffeiheitliches System. Der Liberalismus fordert geradezu die Existenz einer Kirche, in welcher Form auch immer (...) Denn in unserem dualistischen System hat die zivile Gesellschaft fiber Sein, Schicksal, Tod und sogar fiber den Sinn der Freiheit nichts zu sagen (...) Die zivile Gesellschaft well3 [..] rein gar nichts fiber den Sinn der Freiheit eines Eigenbewusstseins unter dem Blick des Todes (...). Ohne religi6se Gesellschaft bricht die zivile Gesellschaft zusammen; ist die religi6se Gesellschaft zu miichtig, so macht die von ihr absorbierte zivile Gesellschaft der religi6sen Gesellschaft von innen her den Garaus. Lange Zeit hindurch war letzteres die einzige Gefahr. Der Aufldiirung abet gelang die Wamung vor dieser Gefahr so gut, dass die zivile Gesellschaft mittlerweile am Untergang oder am Streik oder an der Perversion der Kirchen [in Westeuropa] zugrundezugehen [sic!] beginnt."1287
3.3 Die Chffstentumsintetpretation von Hannah Arendt Ziehen wir H a n n a h A r e n d t heran, geht die Koinzidenz zwischen M o d e r n e und Christentum sogar n o c h weiter, allerdings in einem kritischen Sinne: Die Z wei -W el t en-Unt erschei dung hat zwar zu Weltabsenz und platonischer Leibvergessenheit unter f r o m m e n Gl~iubigen gefiihrt, 1283Pierre Chaunu, Die Wurzeln derFreiheit, Mfinchen 1982, S. 97. 1284Vgl. ebd., S. 101ff. und 271f. (die Christenheit des ,,politischen Augustinismus" vergal3, dass ,,Gottes Gewalt Liebe heil3t"). 1285Ebd., S. 104. Mit Theokratie ist hier eine Priesterherrschaftgemeint. Vgl. die ungew6hnliche, alternative Wortbedeutung yon ,,TheoDatie" bei Eric Voegelin, Die neue Wissenschaftder Politik. Eine Einfiihrung, ND Mfinchen 2004, S. 97t-. 1286Vgl. Pierre Chaunu, Die Wurzeln derFreiheit, Mfinchen 1982, S. 104. 1287Ebd., S. 112.
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doch unter den gemeinen Christenmenschen musste sich auf lange Sicht der Mensch bejahend zum ,,Leben selbst", und zwar zum Leben als organisches, bekennen und es ehren. Das ,,Leben" musste unter Zuriickdriingung euthanasiezentrierter und eugenischer Vorstellungen immer stiirker in den Mittelpunkt geraten. Trotzdem schemt es iibertrieben, das Christenmm im Kontext einer angeblichen ,,christlichen Verabsolutierung des Lebens 'q288 mit dem Naturalismus und der Lebensphilosophie der Neuesten Zeit in einem letztlich trotz aller Relativierungen 1289 engen philosophischen und politischen Zusammenhang zu bringen 129~ ohne zumindest die genauso ,,unbezweifelbare ''1291 Tatsache zu beriicksichtigen, dass das Christentum - hier in Anlehnung und Ubernahme platonischer D e n k e l e m e n t e - das Prinzip des ewigen Seins nicht als einen ,,Prozess" ohne moralischen Sinn auffassen kann und auch nicht Realitiit oder ,,Leben" rein v o m ,,Bewusstsein" her konstituiert. 1292Letzteres wiire jedoch die Voraussetzung fiir die Erhebung des ,,Lebens" zu einem All-Prinzip. AuBerdem objektiviert das Christentum nun einmal das Leben nicht in irgendeiner Weise als leiblich-organisches, auch nicht als individuelles, sondem nut als personales, und zwar im Modus einer weitergehenden moralischen Objektivierung. 1293 Das Christenmm stellt Gott dem Menschen entgegen und macht zugleich den Menschen zum Abbild Gottes. ,,Leben" wird ganz anders defmiert als beim verweltlichten Mensch. ,,Leben" h~ingt insbesondere nicht v o n d e r Physis ab, sondem alleine v o n d e r Empfa'ngnis. Die Verabsolutierung des individuellen und physisch greifbaren ,,Lebens" stellt demnach, z.B. in Bezug auf befruchtete Eizellen, nichts weiter als eine ,,Kultur des Todes" dar, weil sie das Leben reduziert, ohne jedoch einem K6rperlichkeitsideal des Lebens zu unterliegen. Das menschliche ,,Leben" ist aus christlicher Perspektive zugleich wertgebunden. Es untersteht als solches einem moralischen Prinzip 1294, welches der ,,Idee des Guten" Platons entspricht. Zugleich ist dem Menschen ja, wie gesehen, der Weg endgiilfg abgeschnitten zu dem, was er in emem vorphilosophischen Zustand tat: Zwar nicht das eigene organische ,,Leben" zu divinisieren, aber durchaus die eigene Seele. Ob nun die eigene Seele oder das ,,Leben" de facto vollstiindig divinisiert werden, ist aus christlicher Sicht im Endeffekt ein gleiches Ubel. D o c h wiihrend die Seele aus christlicher Sicht n u n m e h r fiir jeden Menschen die seine ist und kein Teil der Welt, tritt ja nicht stattdessen die Verg6ttlichung des menschlichen ,,Lebens" ein, sondern ,,nur" die Teilnahme des fleischlichen Lebens am G6ttlichen: Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sicherlich ist damit eine Aufwertung des ,,Lebens" verbunden, jedoch nicht im verabsolutierenden Sinne, wie bei Arendt suggeriert. In einem anderen Punkt ist Arendt eher zuzustimmen: in der Aufwertung des Prinzips der Arbeit durch das Christentum. Aus der Haltung des moralisch gebotenen Respekts aller Personen in Gleichheit, auch der arbeitenden, konnte sich auf der Basis der altgriechischen Arbeitsphilosophie, deren Tr~iger aus den Machteliten bestimmter und wichtiger kultureller Zentren der hellenischen Zivilisation 1295 stammten und die ,,Arbeit" ~iul3erst negativ bewerteten (der 1288Hannah Arendt, Vita Activa odervom ta'tigenLeben, Stuttgart 1960, S. 308. 1289 Vgl. ebd., S. 309, 311. 1290So ebd., S. 306f. 1291So bezogen auf das eigene Argument der ,,christlichen Verabsolutierung des Lebens" ebd.. 1292Vgl. insbesondere auch den Brief Eric Voegelins an Leo Strauss vom 22. April 1951, abgedmckt in: Peter J. Opitz (Hg.), Briefwechseliiber,,Die Neue Wissenschaftder Politik ", Freiburg / M/inchen 1993, S. 38f. 1293 Vgl, Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Cvilization in the United States, 2. Aufl., New York 1971, S. 12-15. 1294Vgl. ebd. 129sDiese Einschriinkung, die von Hannah Arendt nicht gemacht wird, ist wichtig, um keinen historischen Irrt-fimem zu erliegen: ,,It is a common error to represent the Greeks as people who all looked down upon manual labor as degrading. It is rarely made clear that the Hellenes held maW different views on this question." Und: ,,Many Greeks
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,,Sklave" war per defmitionem ,,doulos", also ,,Arbeiter"), das Denken ja nut in Richmng einer Aufwermng der Arbeit bewegen. ,,The Greek conception of labor as the function of slaves they [the Christians] challenged by proclaiming the worthiness of all labor, by decrying slavery and mitigating its harshness. ''1296 Daraus allerdmgs in historischer Ubersch~itzung der Negativit~it der altgriechischen Arbeitsinterpretation 1297 den Riickschluss zu ziehen, das Christentum w~ire haupt- oder gar alleinursiichlich fiir die herstellungsorientierte Lebensweise des sich angeblich schon im Mittelalter voll ausbildenden H o m o Faber der Neuzeit gewesen, geht dann vielleicht doch zu weit. Schliel31ich hatte die Raumrevolution in ihren Auswirkungen auf das utopische D e n k e n ein ganz eigenes Gewicht, und kann als eigenstiindiger Faktor fiir die Herausbildung eines herstellungsorientierten Zeitalters gewertet werden, das vom christlichen Charakter der Zeit und der Eroberer deutlich genug abgetrennt werden kann und sollte. 1298 Ob nun mit dem Zeitalter der Renaissance wirklich, wie Hannah Arendt suggeriert, eine handlungspolitische Lebensfiihrung paganen Charakters (dann auch mit entsprechendem Staatskult) h~itte wiederbegriindet werden k6nnen, ist am Ende wohl auch eher fraglich. Hannah Arendt fragt jedoch zurecht, welchen Weg die Entwicklung wohl gegangen wiire, ,,wenn der archimedische Punkt [die Erfmdung des Teleskops] siebzehnhundert J ahre friiher entdeckt worden w~ire.''1299 Was Arendt indes wohl untersch~itzte: Alle offenbarungsnegierenden Ordnungsphilosophien oder -wissenschaften dieser Welt, also auch ihre eigene, neoantike Handlungsphilosophie, sind auch im christlichen Rahmen m6glich, k6nnen relevant und sinnvoll, gut oder zweckvoll sein - abet immer nur in einem innerweltlichen, vom g6ttlichen Universum und der mit ihm zusammenhiingenden ,,absoluten Wahrheit" abgetrennten Sinne. Genau das hat Eric Voegelin immer wieder iiberzeugend dargelegt. Aus der Sicht der philosophischen Position Hannah Arendts, die politische Handlung zu reanimieren, wiirde eine solche ,,innerweltliche" Akzeptanz und Giiltigkeit auch v611ig ausreichen.
3.4 Versuche der WiedervergJttlichung der Welt und der Gnostizismus im chr~stlichen Zeitalter nach der Inte~retation Eric Voegelins
August_ins Theorie der Parusie-Verschiebung, also die Abkehr des I~irchenvaters von der heilgeschichtlichen Vorstellung des R6mischen Reiches als Reich Gottes, erfolgte nach der ersten Pliinderung Roms durch die Ostgoten unter Alarich. Knapp hundert J ahre nach dem konstantinischen Erlass des Mailiinder Toleranzedikts 313 im Gefolge des militiirischen Erfolgs gegen Maxentius an der Milvinischen Briicke und unter dem Einfluss yon Eusebius von Caisareia und knapp zwanzig Jahre nach der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion (sowohl im were opposed not to manual labor as such, but to manual labor carried to excess." (Harry Elmer Barnes / Henry David, The Histo~ of Western Civilization. Volume One, New York 1935, S. 209). Insbesondere die Spartaner k6nnen als sehr arbeitsbejahende Gmppe der hellenischen Zivilisation gelten. Abet auch die so~atische Philosophie stellte sichim Unterschied zu Aristoteles, an dem sich freilich Arendt in erster Linie orientiert - gegen eine zu starke philosophische Ablehnung der Arbeit. 1296Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Civiligation in the United States, Nachdruck / 2. Aufl., New York 1971, S. 14. 1297Vgl. wie schon erw~ihnt Harry Elmer Barnes / Henry David, The Histo~ of Western Civilization. Volume One, New York 1935, S. 209. 129aVgl. insgesamt: Germ(m Arciniegas,America in Europe. A Histo~ of the New World in Reverse, San Diego / New York / London 1986, S. 49-71. 1299Hannah Arendt, Vita Activa oder vom ta'tigenLeben, Stuttgart 1960, S. 310 (vgl. auch S. 311, wo Hannah Arendt fiber m6gliche ,,erdgebundene Techniken" im Zeitalter der Renaissance his kin zur Flugmaschine ohne universale Erweiterungen spekuliert).
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Ostteil als auch im Westteil des R6mischen Reiches unter Theodosius und unter dem Einfluss des Mailiinder Bischofs und westlichen Kirchenlehrers Ambrosius) leitete der "Sacco di Roma" durch Alarich im neuen Zeitalter der V61kerwanderung den endgiiltigen Niedergang des altwestrfmischen Reiches era, welches 476 mit der Abdankung des Romulus Augustus sein deftnitives Ende fand. Die Gemeinde des Christentums jedoch hatte sich nach einer dreihundertjiihrigen Geschichte der Verfolgung und des Martyriums im Gefolge der paulinischen Missionsreisen in I~einasien, Griechenland und Rom und der Griindung der petrinischen Gemeinde in Rom sowie des Wirkens der Evangelisten (Matthiius, Lukas, Markus, Johannes) 70 bis 100 n.Chr, zu einer institutionalisierten Kirchengemeinde fortentwickelt, die sich auf der Basis der Beschliisse des Konzils von Niciia 325-29 innerlich als Kirche festigen konnte. Der Monotheismus wurde dabei durch das mysterienreligi6se Postulat der Heiligen Dreifaltigkeit modifiziert. Das Grundgeheimnis bildete hierbei die gottmenschliche Natur Christi, die im Konzil kirchlich festgelegt, i.e. zum Dogma erhoben wurde. Die mit der Erhebung des Christentums zur rfmischen Staatsreligion einhergehenden Versuche der heilsgeschichtlichen Herleitung einer besonderen Symbiose zwischen rfmischen Kaisermm und Christentum auf der Basis der religionspolitischen lJberhfhung des Zusammenfalls J esu Geburt mit dem glorreichen Friedenszeitalter des Augustus trieben Augustinus an, das amtskirchliche, athanasisch-rechtgliiubige und katholische Christentum sowohl gegen neuheidnische Anwiirfe als auch gegen chiliastische, arianische oder manich~iische Anfeindungen zu verteidigen. Das augustinische Wirken war ein Meilenstein in der Frage der Konservierung der Struktur der Geschichte aus christlicher Sichtweise: Die Wiederkunft des Messias war nunmehr in der Insftution der Kirche ,,aufgehoben", die Heilsgeschichte ist fi,ir die Gliiubigen seither bereits in der christlichen Kirche gegenw~irtig. So kam es zu einer Verschmelzung des in dieser Hinsicht einpassungsf;ihigen Christentums mit der Welt in Gestalt der Institution K_irche, die sich jedoch zugleich, wenn auch als ,,gebrochenen Vertreterin" Gottes auf Erden, vom Staat als Symbol des menschlichen Kainsmals, abzugrenzen hatte - ob als spiritualisierende Kraft auf das Weltliche ausgerichtet mit der Zielrichtung, den Staat im Sinne des christlichen Niichstenliebegebotes zu beeinflussen oder sich gar fiber den Staat zu stellen; oder als spirituelle Kraft in Fixierung auf das Monastische und Jenseitige, mit der Zielrichtung, sich im Kontext einer vita contemplativa und in der friihchristlich-paulmischen Tradition zum Staat loyal, abet auch passiv, zu verhalten (was im Falle der paulmischen Tradition auch unter Inkaufnahme des M~irtyrertods zu verstehen war, so wie ihn sowohl Paulus als auch Petrus als Begriinder der christlichen ekklesia erlitten hatten). Aus diesem Spannungsfeld zwischen spiritualisierender Aktivit~it und spiritueller Passivit~it in Bezug auf das Staatliche resultierten im Mittelalter schliel31ich vor dem Hintergrund der Herausbildung einer eigenstiindigen, innerweltlichen Bischofsordnung (Episkopate und Patriarchate 13~176 die uns bekannten politischen Richtungen, Traditionen und auch die konfessionell-liturgischen Auseinanderentwicklungen zwischen Rechtgl~iubigkeit und (germanisch-)rfmischem Katholizismus. Die Einpassungsf~ihigkeit des Christentums resultierte nach Eric Voegelins/iberzeugender Analyse aus der Entdivinisationswirklichkeit im Sinne einer Entgfttlichung des Menschen, wie sie durch das Juden- und Christentum weltgeschichtlich wirkm~ichtig werden konnte. Im Christentum realisierte sich die Entdivinisation dabei im Kontext einer trinitarischen Struktur, einer 1300Die historischen Patriarchate waren die Patriarchate in Rom (gegrCindetdutch Petms und Paulus), Byzanz bzw. Konstantinopel (Apostel Andreas), Alexandria (EvangelistJohannes Markus), Antiochien (Petrus und Paulus), und nat-CirlichJerusalem (Apostelpatriarchat).
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vermittels der zahlreichen ,,Kirchenv~iter" mediatisierten Vermittlung der Offenbarung im Neuen Testament sowie des in der Bibel festgelegten universalen Prinzips der Gewissenseinsicht. Das Neue Testament verbietet ja nicht nut das Falsche bzw. gebietet nicht nur, das Richtige zu tun, sondern propagiert eine Gewissenseinsicht, fordert vom Menschen also, das ,,aktiv Richtige" zu tun, ohne das konkret auszubuchstabieren, sondern im GroBen und Ganzen a b s t r a k t - also anhand von nicht-konkreten und nicht positiv gesetzesf6rmigen Glaubenss~itzen wie der Niichstenliebe oder der Gottesebenbildlichkeit- zu postulieren. Opponierende Sektenbewegungen gnostischer Auspr{igung (die sich auch und gerade gegen eine sich , , v e r k o r r u m p i e r e n d e " Kirche wandten) meldeten sich nun in der Geschichte immer wieder zurfick. Ihr Wirken richtete sich durchg~ingig gegen die augustinische Tradition der Abkehr von heilsgeschichtlichen Erwartungen in einem innerweltlichen Kontext. Der Begriff des Gnostizismus wird hierbei in einem philosophischen Sinne verstanden und steht ffir die Vorstellung v o n d e r gesamten irdischen Geschichte als Heilsgeschichte, in welcher die Welt als zerst6rungs- bzw. befreiungsw6rdige ferne Emanation eines weltabsenten Gottes gedeutet wird. Der radikale Gnostizismus schl~igt dabei vor dem Hintergrund der transzendenten Realit~iten des menschlichen, sozialen und politischen Seins in zunehmende Weltfeindschaft aus. Die augustinische Interpretation betrachtet die Welt hingegen als eine unentrinnbare Realit~it f/.ir den Siindermenschen, allerdings unter der tr6stenden Bedingung eines der Welt zugewandten und sich ihr offenbarenden Gottes. Augustinus kann so als Gegenpart der ,,parusitischen Gnosis" verstanden werden. Letzterer ,,geht es datum, die als unvollkommen und ungerecht erfahrene Seinsordnung zu zerst6ren und durch eine vollkommene und gerechte Ordnung aus menschlicher Sch6pferkraft zu ersetzen. ''13~ Auf der Basis der solcherart sich restaurierenden christlichen Heilserwartungen innerhalb des millenaristischen Christentums traten diese christlichen Bewegungen in Schfiben - dabei abet sukzessive in einem zunehmenden MaBe- in die geschichtliche Existenz der "westlichen Christenheit" ein 13~ so wie sich diese seit der Christianisierung der Germanen unter dem Merowingerk6nig Chlodwig im 7. Jahrhundert und der fr{inkisch-p~ipstlichen Symbiose unter Karl dem GroBen im 8. und 9. J ahrhundert in einem westr6misch-christlichen (vatikanischen) Sinne konstituierte. Der erste groBe Angriff gegen die Amtskirche erfolgte im Zuge der Auseinandersetzung um den Ikonoklasmus im 7. J ahrhundert (damals noch in Konstantinopel, der neuen Kapitale des weiterhin bestehenden (Ost-)R6mischen Reiches). Nach dem Schisma der "westlichen Christenheit" in eine West- und in eine Ostkirche 1054 und der Entstehung einer nicht-z61ibat~iren und andererseits hesychastisch-monastischen Tradition der Ostkirche 13~ sowie dem allm~ihlichen Untergang Ostroms 1204-1453, setzten sich die Angriffe nunmehr gegen die vatikanische Amtskirche fort. Die wichtigsten Angriffe erfolgten dabei im Gefolge der Spiritualen des Franziskus im 13., der Kathararer im 15. und schlieBlich der Puritaner im 17. Jahrhundert. Die im augustinischen Christentum angelegte S~ikularisierung geht schlieBlich auch mit der S~ikularisierung des Gnostizismus und dem Aufkommen der m o d e m e n politischen Bewegung des emanzipatorischen und praktisch transzendenten Liberalismus einher. Der Positivismus Auguste Comtes, der Marxismus und der Nationalsozialismus werden schlieBlich in der (in 1301Eric Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, MCinchen 1959, S. 65; vgl. auch Michael Henkel, E~'c Voegelin zur Einfi&rung, Hamburg 1998, S. 95-114. 1302Vgl. klassisch Norman Cohn, Das neue irdische Paradies. Revolutiona'rerMillenarismus und myslischer Anarchismus im mittelalterlichen Europa, Reinbek 1988. 1303Entscheidende theologische Grundlage war die Unterscheidungdes 6stlichen Kirchenlehrers Gregor von Palamas zwischen der f6r den Gl{iubigenerfahrbaren ,,Energie" Gottes auf der einen und der f~irihn unerfahrbaren ,,Substanz" auf der anderen Seite.
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diesem Punkte sehr umstrittenen) Geschichtsphilosophie Eric Voegelins als s~ikularisierte Form dieser opponierenden Sektenbewegungen gnostischer Auspriigung interpretiert. Dieser neue Gnostizismus f/ihrte dort, wo institutionell keine Vorkehrungen gegen die radikale Spiritualisierung des Politischen getroffen wurden (also auBerhalb der USA und Grol3britanniens) zu einem erfolgreichen modernen Gnostizismus, dessen zentrale These die gleiche blieb wie im alten Gnostizismus: Die Vorstellung von der vollkommenen Erl6sung yon Welt und Menschheit durch die Herbeiffihrung einer ,,Neuen Welt" nach Zerst6rung der Alten und die Vorstellung v o n d e r Selbstvergottung des Menschen, i.e. die In-Eins-Setzung von Glauben und Wissen im Kontext einer absoluten Immanentisierung allen Lebenssinnes. Der Positivismus Auguste Comtes wird hier als Sinnbild der Verwissenschaftlichung des gnostischen Immanentismus im Zuge einer ganz besonderen Radikalisierung der Wiederverg6ttlichung interpretiert. Eric Voegelins grol3e Leistung im Zusammenhang mit seiner Gnostizismus-Theorie bestand darin, die zentrale Bedeutung der Geschichtskonstruktion des Gioacchino di Fiore aus dem 11. Jahrhundert ffir das geistesgeschichtliche Verst~indnis der gnostischen Hiiretiker, bis hin in die Zeit der siikularisierten Formen in der Moderne, herausgearbeitet zu haben. Fiore entwickelte eine radikale trinitarische Eschatologie und immanentisierte den Geschichtssinn in einem christlichen Kontext. Anhand des Begriffes des "Dritten Reiches", wie er von Fiore gepr~igt wurde, versuchte Voegelin seine Theorie v o n d e r SS.kularisierung des Gnostizismus in m o d e m e n Ideologien zu veranschaulichen. Es ist im lJbrigen dem Erlanger Politikwissenschaftler Matthias Riedl zu verdanken, dass inzwischen eine quellenhistorische Arbeit zu Fiore vorliegt, die weit fiber Voegelin hinausreicht. 13~
4. N e u e Untertypen der Repr~isentation westlicher Existenz von der Sp~itantike bis z u m Mittelalter 4.1 Das mittelalterliche Europa im Zivilisations- und GeschichtsvergMch: Dynamische Offenheit der Mach tkonste llation in diachro ner Perspektive
Im Mittelalter wurden nach der Konversion Chlodwig des Merowingers zum katholischen Glauben die griechisch-r6mische und jfidisch-christliche Tradition 13~ fiber die Germanen in eine Form einer ganz besonderen triadischen Struktur fiberffihrt, die das Heraufkommen eines ,,europ~iischen Systems" von ,,einander im Rahmen der ,C)ffentlichkeit' begegnenden Parteien ''13~ erm6glichte. Die typisch germanische ,,Dualitiit eines starken Heerkfnigtums und eines machtvollen Kriegeradels ''13~ wurde dutch die Aufnahme des Christentums auf sehr ambivalente Weise verstiirkt und stabilisiert. Zun~ichst einmal ist die Aufnahme des Christentums selbst mit der Tatsache zu erkliiren, dass es sich bei den germanischen Volksstiimmen (im Gegensatz zu den Arabern und Osmanen) gerade nicht um Glaubensk~impfer handelte. Die im triadisch-augustinischen Christentum selbst angelegte Dualit{it zwischen I~rche und Staat gesellte sich der gegebenen Dualit{it zwischen Kfnig und starkem (nicht nur dienendem) Adel 1304Vgl. Matthias Riedl,Joachim von Fiore. Denker der vollendetenMenschheit, W/irzburg 2004. 130sFrank R. Pfetsch, Theoretikerder Politik, Paderbom 2003, S. 43. 1306Ernst Nolte, Deutschlandund der Kalte Krieg, MCinchen1974, S. 73. 1307Ebd., in Anlehnung an Otto Hintze, WeltgeschichtlicheBedingungen der Repra'sentativverfassunj~in: Gerhard Oestreich, Staat und Verfassung. GesammelteAbhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte,2. Aufl., G6ttingen 1962, S. 140-185; Vgl. fernerhin Heinrich Mitteis, Der Staat des hohen M#telalters. Grundlinien einer vergMchendenVerfassungsgeschichtedes Lehnszeitalters, Weimar 1962.
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hinzu. Allmiihlich auch in einem gesamteuropiiischen R a h m e n machte die eine DualitS_t (K6nig - Adel) die A u f h e b u n g der jeweils anderen Dualitiit (Kirche - Staat), auch im Unterschied zur byzantinischen Tradition, unm6glich. Die E i n o r d n u n g der Priesterschaft in eine Staatsordnung (durch einen ,,totalen" Sieg des K6nig- und Kaisertums gegen den Y-derus) konnte genauso wenig gesamteuropiiisch erreicht werden wie die Etablierung einer spiritualistischen Theokratie (durch die Setzung des Staates als ,,organisierten Glauben ''13~ unter Inkaufnahme der Entmachtung des weltlichen K6nig- und Kaisertums). Das r6mische Papsttum behauptete sich in diesem Rahmen, konkret in den welthistorischen Kiimpfen des Investiturstreits, als eine ,,auton o m e Macht". 13~ Spiiter sollte ihm dies im vorreformatorischen Zeitalter die anglikanische Kirche in Grogbritannien nachmachen. Zugleich konnte es im gesamteuropS.ischen R a h m e n auch nicht zu einer E i n e b n u n g zwischen K 6 n i g t u m und Adel bis hin zur reinen Dienstbarkeit des Adels gegeniiber dem K6nig (wie im absolutistischen Frankreich des 17. J ahrhunderts) bzw. umgekehrt zu einer reinen Dienstbarkeit des K6nigs gegeniiber einem machtvollen Adel (wie z.B. beim Kaiser des Heiligen R6mischen Reiches gegeniiber den Fiirsten im 17. J ahrhundert oder im franz6sischen K6nigreich im Falle der Bartholomiiusnacht im 16. Jahrhundert) kommen. Das ,,europiiische System" blieb innerhalb der triadischen Struktur zwischen glaubensneutralem Heerk6nigtum, glaubensneutralem Kriegsadei und triadisch-augustinischem Christenglauben samt seiner geographischen Kleinteiligkeit und (geo)politischen System- und Staatenvielfalt immer ein offenes ,,sea-minded system ''131~ - zum einen aufgrund seiner Komplexidit, zum anderen aus geographischen Griinden. Es unterschied sich in beiderlei Hinsicht v o m geschlossenen System in China der Ming-Dynastie und dem saturierten und auf andere Weise geschlossenen System des Islam (inklusive des im 16. J ahrhundert islamisierten Indien) auf dieser Grundlage immer stiirker. 1311 ,,Gleichsam in den Liicken dieser triadischen Struktur entstanden [nun] die sich selbst verwaltenden St~idte 'q312, insbesondere in Mitteleuropa, innerhalb des ,,offensten Teilsystems", im Heiligen R6mischen Reich Deutscher Nation also. Diese Stiidte bildeten schliel31ich ,,ein
1308Vgl. Ernst Nolte, Deutschland und derKalte Krieg, M/inchen 1974, S. 74. 1309Vgl. ebd. 1310Vgl. Immanuel Wallerstein, The Modern World System: Capitalist Agriculture and the Origins ~the European World Economy in the Sixteenth Centuu, New York 1974. 1311vgl. zu China, das schon im 11. Jahrhundert auf der Basis des Taoismus technisch (z.B. ausgefeilte Papier- und Drucktechnik) und technologisch, auch warren- und navigationstechnisch (Schiel3pulverund Kompass), hochentwickelt war: Jared Diamond, Arm und Reich. Die Schicksale menscMicher Gesellschaften, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 510517 (vgl. zum Schiel3pulverFemand Braudel, Die Geschichte der Zivilisation. 15.-18. Jahrhundert, M/inchen 1979, S. 417f.). Geographisch bef6rdert wurde die politische K_leinteiligkeitEuropas durch die grol3e Anzahl europ~scher Halbinseln und K/istenzerkl6ftungen und dutch die vielen hohen Gebirge im Gegensatz zum sehr viel gleichmN3igerenVerlauf der chinesischen K/,isten und den weniger barrierenreichen Anh6hen und den vergleichsweiseriesigen FlCissen(Yangte und Gelber Flul3) auf dem chinesischen Festland (vgl. auch Femand Braudel, ,,Chinesen, Araber... hatte nur Europa eine Chance?" in: Rainer Beck (Hg.), 1492. Die Welt w r Zeit des Kolumbus, M/inchen 1992, S. 187-197; Holger Afflerbach, Das en~sselte Meer. Die Geschichte des Atlantik, M/inchen 2001, S. 89ff.). Vgl. zur EntwicHung in China weiterhin das volumin6se Standardwerk yon Joseph Needham, Science and Civilization in China (bisher 7 B{inde), Cambridge 1956-2004 und zum maritimen Imperialismus Chinas 1405-1433 mit den legend~irenUbersee-Expeditionen des Admirals Cheng Ho und der ,,Einstellung" dieses Imperialismus aus politischen GrCinden: Paul Kennedy, Aufstieg und Fall dergroJ?enMa'chte. Okonomischer Wandel und milita~scher Konflikt yon 1500 bis 2000, Frankfurt a.M. 1989, S. 33-37; Robert Finlay, The Treasure-Ships of Zheng He: Chinese Maritime Imperialism in the Age of Discover, in: Terrae Incognitae 23, 1991, S. 1-12; vgl. auch Kuei-Sheng Chang, The Ming Maritime Enteg)rise and China's Knowledge ~Africa prior to the Age of Great Dicoveries, in: Felipe Fern:indez-Armesto (Hg.), The Global Opportunity, Cambridge 1995, S. 121-132. Vgl. auch David Held / Anthony McGrew / David Goldblatt/Jonathan Perraton, The Global Transformation. Politics, Economics and Culture, Stanford 1999, S. 90. Vgl. zum Islam: Holger Afflerbach, Das en~sselte Meer. Die Geschichte desAtlantik, M/inchen 2001, S. 91C 1312Vgl. Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, M/inchen 1974, S. 74.
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viertes u n d einzigartiges E l e m e n t der G e s a m t s t r u k t u r ''1313, das ,,von der antiken Polis so verschieden wie y o n den blol3en M e n s c h e n a n s a m m l u n g e n chinesischer o d e r orientalischer Stiidte ''1314 war. D a s feudalistische L e h e n s s y s t e m , das mit d e m gleichzeitigen A u f k o m m e n der europ~iischen St~idte zwischen d e m 11. u n d 14. J a h r h u n d e r t seinem N i e d e r g a n g entgegensah, war ja selbst ein klarer A u s b u n d der ,,triadischen Struktur", also jener k o m p l e x e n O f f e n h e i t des Systems; w o b e i sich der Begriff der , , O f f e n h e i t " a u f die Frage der Rolle k o r p o r a t i v e r S t r u k t u r e n ( A d d , I
1313Ernst Nolte, Deutschland und derKalte Krfeg, Mfinchen 1974, S. 74. 1314Ebd.; vgl. zum Unterschied im Vergleich zu orientalischen St~idten: Fernand Braudel, Die Geschichte der Zivilisation. 15.-18. Jahrhundert, Mfinchen 1979, S. 573ff. und 596ff. 131sVgl. hierzu insbesondere Maurice Hugh Keen, Das l~ttertum, Mfinchen u.a. 1987. 1316Vgl. Norberto Bobbio, Die Zukunft derDemokratie, Berlin 1988, S. 51 und 58f. 13iv Die pyramidale Stmktur folgte automatisch aus dem Sinnkem des ,,Feudalismus (lat. Feudum = Lehen, auch ,,beneficium", ,,tenere"): Die Krone ,,vergab" oder ,,schenkte" also Herrschaftsbefugnisse an Kronvasallen (Add, Kirche); Der Adel wiederum (Herztge, Pfalz-, Mark-, Land- und Burggrafen) und die Kirche (Bisch6fe, Reichs{ibte) verliehen Amts- und Kriegsdienste an Aftervasallen (Ritter, Dienstmahnen, mit Landgaben versehene ]~bte, Ministeriale). Die Bauern (oder Hintersassen) schliel31ichwaren als Htrige (Unfreie) verpflichtet, die Amts- und Kriegsdienste der Gmndherren gegen Naturalabgaben und Arbeitsdienste einzutauschen. Dabei handelte es sich um sogenannte Frondienste, die entweder an Fronhtfen (curtis, mansi indominicati) geleistet wurden, also an zentral vom Grundherten oder yon einem von ihn bestelltem Verwalter (villicus*, major) betriebenen Htfen, oder eben in selbst;,indig bewirtschafteten Bauerngfitem (mansi, hobae). Die vom villicus verwaltenden Villen reichten vom schlichten biiuerlichen Einzelgeh6ft bis zur dtrflichen Siedlungsgemeinschaft. 1318Vgl. Harry Elmer Barnes / Henry David, The Histo{7 of Western Civilization. Volume One, New York 1935, S. 559-562 und 608fi 1319Demnach konnte neben dem Tod eines Lehnvertragspartners auch dessen Untreue (sogenannte Felonie) zu einer Aufl6sung der Gefolgschaft ffihren.
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Kapitel VIII
Der Niedergang des skizzierten Lehnsystems war nun also durch die Tatsache, dass es von einer zivilisationshistorisch h6chst relevanten ,,triadischen Struktur" iiberw61bt wurde, schon am Anfang angelegt. Das Mittelalter erscheint in dieser Perspektive eine Art unvermeidliche Durchgangsperiode, als eine Art embryonale Form der fmalen Selbstorganisation eines ,,europ~iischen Systems" auf der Basis seiner zivilisatorischen Voraussetzungen. Der postembryonale Status wurde durch das Aufkommen der europ[iischen Stiidte und die unter germanischromanischen Vorzeichen erfolgende Renaissance, die wiederum von byzantinischen Gelehrten in Italien init~ert wurde, eingel;,iutet. Trotz der klaren normativen Gegens[itze zwischen der Anthropologie und der Freiheitsphilosophie der Aufld[irung ist vor diesem Hintergrund zu konstatieren, dass ohne die Art und Weise des Charakters des genuin germanisch-romanischen Mittelalters eine Aufld[irung nie m6glich gewesen w~ire, denn institutionalisierte personale Abh{ingigkeitsverh~iltnisse, wie es sie im Feudalismus gab, waren ja auf der ganzen Welt historisch nicht nur nichts uniibliches, sondern, unter Einr[iumung kleiner, lokaler Ausnahmen, die Regel. Wie kam es aber zur Renaissance und sp~iter zur Aufkl~irung, die sich beide letztlich gegen genau jene institutionalisierten personalen Abh~ingigkeitsverhiiltnisse stellten? Das ist die entscheidende Frage. Was eine Besonderheit dieser ,,Abl6sungs- oder Emanzipationserscheinungen" ausmacht, ist die Tatsache, dass sie zugleich nut in Europa zugkr[iftig genug zur Geltung kamen. Zugkr[iftig genug fiir die potentielle Etablierung eines neuartigen, nunmehr kontinentalen Freiheitsraumes in der Geschichte der Menschen. Die Griinde dafiir m/issen also konsequenterweise im mittelalterlichen Europa selbst gesucht werden. Es ist schon angedeutet worden, dass der Niedergang des Feudalsystems nicht alleine auf der Basis des Aufkommens der europ[iischen St[idte erfolgte. Die vorausgehende Entstehung des mittelalterlichen Dienstadels (im Rahmen der sogenannten comes, also der Grafschaften / Verwalmngsbezirke) kann jedoch nut solange als eine weitere Erkl[irungsvariable dienen, wie sie selbst in ihren Ursachen erkl[irt wird. Die Urspriinge liegen in der Kontinuit[it und den Traditionen des germanischen Geburtsadels. Dieser Geburtsadel, der sich als unabh~ingig und machtvoll verstand und sich auch entsprechend verhielt, st[irkte noch einmal den Stand des Adels gegen die Zentren im Allgemeinen. Der seit merowingischer Zeit existente Dienstadel erfuhr dann einen markanten Aufschwung unter Karl dem Grogen im 9. Jahrhundert n. Chr. und 16ste die Stammesbezogenheit des vorhergehenden Adelssystems allm~ihlich auf. Zugleich kam es zum Aufstieg des Landadels, zur Entstehung von Kirchen im adeligen Besitz (,,Eigenkirchen", Pfarrkirchen), und zur Herausbildung des Vogtwesens, so dass Adelige nunmehr im Dienste der K16ster standen. Die wichtigste Ursache fiir die ,,Verdienstlichung" des Adels liegt indes nach der Theorie des Zivilisationssoziologen Norbert Elias in der damaligen Notwendigkeit einer Anniiherung an das, was wit heute als modeme verwaltungszentrierte Infrastruktursysteme kennen. Die Notwendigkeit folgte der zunehmenden Ausdifferenzierung von immer mehr Teilfunktionen und initiierte sie zugleich. Die Ursache des Ausdifferenzierungsprozesses lag in der Erh6hung des gesellschaftlichen ,,Interdependenzniveaus" dutch iiuBere und innere Expansion (Eroberungen, Besiedlung und Rodung, Bev61kerungsanstieg und damit einhergehende Handels- und Verkehrsintensivierung). Nach Parsons und Luhmanns systemtheoretischen Begrifflichkeiten k6nnen die daraus resultierenden Ausdifferenzierungsprozesse unter dem Begriff der ,,Komplexit[it" gefasst werden, die in der Tat eines der hervorstechendsten Merkmale der westlichen und auch einer m6glichen ,,Atlantischen Zivilisation" darstellt. So ging nach Norbert Elias das entstehende und zugleich auf Organisation von arbeitsteiligen Prozessen angewiesene, ,,komplexe" Verwal-
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terwesen mit einer z u n e h m e n d e n Selbstdisziplinierung einher. Die n e u e n D i e n s t s y s t e m e bzw. die A n n i i h e r u n g e n daran e r f o r d e r t e n u n d e r m 6 g l i c h t e n also m i m m e r stiirkeren Mal3e ein b e r e c h e n b a r e s , reguliertes u n d kontrolliertes V e r h a l t e n jedes Einzelnen. 132~
4.2 Staatliche und rechtliche Zentralisierung und die Entstehung der souvera'nen und monarchisch regierten Nationalstaaten N i c h t zuletzt die Stiirke des n u n e n t s t e h e n d e n Dienstadels fiihrte zu einem derart angestiegenen I n t e r d e p e n d e n z n i v e a u , das neue asymmetrische K o n k u r r e n z s i t u a t i o n e n e n t s t e h e n liel3, die sich erst a u f einer h 6 h e r e n Stufe wieder a u f ein G l e i c h g e w i c h t e i n p e n d e l n k o n n t e n : Die n e u e n G e g e n g e w i c h t e w a r e n die Nationalstaaten. Innerweltlich u n d sich potentiell unabhiingig v o m biblischen G o t t als ,,souveriin" def-mierende N a t i o n a l s t a a t e n bildeten somit die neue Smfe der M o n o p o l b i l d u n g u n d der damit e i n h e r g e h e n d e n territorialen A r r o n d i e r u n g s p r o z e s s e u n d 16sten den mittelalterlichen , , P e r s o n e n v e r b a n d s t a a t " ab. 1321 A b e r die E n t w i c k l u n g verlief unterschiedlich: In F r a n k r e i c h z.B. dr~ingte auf diesem W e g e ,,die M o n a r c h i e als staatliche Zentralgewalt die aristokratischen Einzelgewalten [bis zur Mitte des 18. J ahrhunderts] Schritt fiir Schritt zuriick, P o l e n hingegen war a u f d e m W e g e zur Adelsrepublik des ,Liberum Veto'. I n D e u t s c h l a n d war s o w o h l die T e n d e n z zur Stiirkung der kaiserlichen Z e n t r a l g e w a l t u n d damit zur A u s b i l d u n g eines , m o d e m e n Staates' e r k e n n b a r wie die entgegengesetzte T e n d e n z zur Verselbstiindigung der Regionalfiirstentiimer. ''1322 E r s t die R e f o r m a t i o n m a c h t e die M6glichkeit eines theoretisch durchaus d e n k b a r e n starken k a t h o l i s c h e n Zentralstaates in D e u t s c h l a n d zunichte. Zugleich war jedoch die R e f o r m a t i o n nicht stark g e n u g (wie z u m Beispiel m den N i e d e r l a n d e n im K a m p f gegen Spanien 1568-1648), u m das d u t c h sie e n t s t a n d e n e politische N a t i o n a l b e w u s s t s e i n auch des breiteren Volkes m D e u t s c h l a n d m die E t a b l i e r u n g eines protes1320Vgl. insbesondere Norbert Elias, Ober den ProgeJ~der Zivilisation. So~ogenetischeund psychogenetische Untersuchungen, 2 Biinde, Frankfurt a.M. 1997: Elias versteht den Zivilisationsprozess als Affektkontrollmechanismus, und zwar nicht als statischen, sondern als einen h6chst ,,aktionalen", mit Gegenreaktionen behafteten. Interessante~veise versteht er den Rationalisierungsprozess als einen Teil eines Zivilisationsprozesses, der sich nicht zuv6rderst durch eine anthropozentrisch wirkende ,,Idee" eines Ockhams und eines anfolgenden rationalistischen Theoriegebiiudes eines Descartes' und der damit einhergehenden Systemtheorie yon Parsons, sondem durch eine ,,Konfiguration" aus psycho- und soziogenetischen Prozessen entfaltete (vgl. ebd., Band 1, S. 70f.). 1321 Vgl. Norbert Elias, Ober den Proz~ der Zivilisation. So~ogeneti~'&eundp~yjchogenetischeUntersu&ungen,2 Biinde, Frankfurt a.M. 1997: Die Monopolisiemng einiger Herrscherhiiuser im Mittelalter hatte zur Folge, dass die territorial nicht einheitlichen Personenverbandsstaaten des Mittelalters dutch absolutistische Staaten abgel6st wurden, indem sich die Staaten auf der Gmndlage des Bodinschen Souveriinitiitsprinzips (Gewaltmonopol des Staates) zu einheitlichen, geschlossenen, territorialgebundenen Nationalstaaten entwickelten. Die mittelalterlichen Personenverbandsstaaten basierten demgegenLiber auf lose zusammenhiingenden Feudalgebieten und ungen/igenden Verwaltungsstrukturen und waren im Zuge permanenter ~iegerischer Eroberungsz/ige raschen Verschiebungen von territorialen Herrschaftsanspr/ichen ausgesetzt. Die damit einhergehende mangelnde Binnendifferenzierung (geringer Grad an innerer gesellschaftlicher Differenziemng und Organisationsdichte) wies wenig Affektkontrollmechanismen auf. Das veriinderte sich mit dem Absolutismus, der/iber eine wesentliche Straffung der Organisationsdichte (Monopolbildung des Staates im Bereich des Bodens, der Gewaltaus/ibung und der Steuererhebung) zu einer Erh6hung des ,,Interdependenzniveaus", zu einer stiirkeren Verflechtung und damit zu einer stiirkeren subjektiven Verhaltenssteuemng f/ihrte. Vgl. auch als Oberblick: Thomas Jung, GeschichtedermodernenKulturtheoHe,Darmstadt 1999, S. 157-167. 1322Ernst Nolte, Deutschlandund der Kalte Krieg, M/inchen 1974, S. 74. Damit sind Ereignisse angesprochen wie z.B. die Entwicklungen hin zu einem kollegial-f/irstlichen ,,Reichsregiment" der Kurf/irsten als Garanten des nationalen Zusammengeh6rigkeitsgef/ihls in den Wirren des 14. und 15. Jahrhunderts, die Reichsreformbemiihungen unter Maximilians I. und Karls V., die Absolutismusbestrebungen Karls V. und Ferdinands II. (,,teutsche Nation") und die dutch die Glaubensspaltung noch befl/igelte Gegenentwicklungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Schmalkaldischer Bund 1531 gegen den ,,spanischen Servituten" Karl V. und ,,papistische Unfreiheit" bis zum Deutschen F/irstenbund 1785).
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tantischen Zentralstaates, umzumiinzen, fiir den es schon im 16. J ahrhundert durchaus zusehends erste artikulierte nationalprotestantische Anspriiche gegeben hatte. 1323Im Gegenteil: Die Reformation entfesselte einen Fanatismus des Glaubenskampfes, der nicht die Zentralisierung, sondern die Herausforderung der kaiserlichen Zentralgewalt durch regionale Territorialgewalten und sogar das enge Biindnis dieser mit nicht-deutschen Kriiften erm6glichte (damit ist insbesondere das Biindnis mit dem K6nig von Schweden gegen Wallensteins Truppen im Dreil3igjiihrigen K_rieg gemeint). 1324Dennoch kam es auch in Deutschland zu staatlicher Zentralisierung und staatlich gelenkter Verrechtlichung der zwischenmenschlichen Beziehungen, wenn auch in landsmannschaftlich und konfessionell stark zersplitterten Territorialkontexten (was sich spiiter im deutschen F6deralismus niederschlug). Die dieser deutschen Entwicklung entgegenstehende staatliche Zentralisierung hatte in theoretischer Hinsicht ihren Ausgangspunkt Anfang des 16. J ahrhunderts im praktischen, durch und durch politischen Einsatz Machiavellis fiir die Einigung Italiens zu einem Nationalstaat 132s und etwa sechzig bis siebzig Jahre spiiter m d e r Bodinschen Souveriinitiitslehre, mit der Jean Bodin auf die Hugenottenkriege reagierte. Das Entscheidende am Bodinschen Ansatz war die Einfiihrung des siikularen Prinzips nationalstaatlicher Souveriinit{it. Wenn auch der Begriff der Souveriinitiit nicht vollends aus religi6sen und insbesondere aristotelisch-patriarchalischen Beziigen bei Bodin gel6st wurde, so hatte er dennoch das noch vollkommen religi6se Legitimationsprinzip des territorial nicht-arrondierten Personenverbandsstaates, i.e. das Prinzip des Gottesgnadentums und die Vorstellung der Legitimation des K6nigs als Stellvertreter Gottes auf Erden m Analogie zu Jesus als die rechte Hand Gottes, vollends abl6sen k6nnen. Nicht mehr die Sakralisierung des K6nigsamtes bot nun die Legitimationsbasis des K6nigmms, sondern das siikularisierende und am Ende vollends siikulare Prmzip staatlicher (also rein innerweltlicher) Souveriinitiit zum Zwecke der Herstellung von Sicherheit und Ordnung, insbesondere zum Zwecke der Unterbindung blutiger konfessioneller Auseinandersetzungen und Biirgerkriege im Inneren des Nationalstaates. Zugleich trug das nationalstaatliche Prinzip die Deftnition der ,,Nation" als jetzt mehr und mehr kulmrelles und weniger religi6ses Identifikationsobjekt in sich, das also allmiihlich von seinen gebliitsrechtlichen Bedeutungen abgel6st werden sollte. ,,Nationes" als kulmrelle Gemeinschaftsgruppen hatten im Mittelalter jedenfalls noch keinen Volkscharakter, sondem inkludierten in erster Linie die Mitgliedschaft von Edelleuten, also Repriisentanten des souveriinen Staates dynastischer und adeliger Abstammung. Den Kulminationspunkt der staatlichen Zentralisierung in theoretischer Hinsicht bildete schlieBlich Thomas Hobbes: er vollendete im Voegelinschen Sinne die bei Machiavelli und Bodin angelegte ,,Theorie der Repriisentation" gegen die existentielle Unordnung, wie sie sich bei Machiavelli im Krieg zwischen den fremdbeeinflussten italienischen Stadtstaaten, bei Bodin in den Hugenottenkriegen und bei Hobbes im Biirgerkrieg zwischen gnostischem Immanentismus (Puritanern) und Transzendenzglauben (Katholiken und Anglikanern) abspielte. Hobbes kniipfte nun die Legitimation einer rechtlichen und staatlichen Ordnung an die Bedingung der allgememen Zustimmungsf'~ihigkeit dieser und verabsolutierte den Staatsbegriff gegeniiber jeglichen religi6sen Implikationen, m dem er die Souveriinitiit des Nationalstaates nicht mehr mit einer religi6sen Konstruktion, sondern mit der Natur des Menschen als solcher begriindete. Dabei stellte er sich dennoch gegen die aristotelische Philosophie des ,,zoon politikon" und
1323Der Begriffder ,,Teutschen Libertiit" taucht nun in Ausrichmnggegen eine als ,,papistisch" gebrandmarkte, kaiserliche Universalmonarchie auf. 1324Vgl. Ernst Nolte, Deutschlandund der Kalte Kdeg, M/inchen 1974, S. 74. 13asVgl. zur Rolle Machiavellis in Bezug auf den modernen weltlichen Staat Ernst Cassirer, Vom Mythus des Staates, Z/irich 1949, S. 176-183.
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enmormativerte den aristotelischen Vernunftbegriff. Er setzte also in seiner Betrachtung des Menschen im Naturzustand einen pathoszentrierten (bzw. leidenschaftszentrierten) Vernunftbegriff anstelle des alten entelechischen (bzw. logos- und autarldezentrierten). Wiihrend der logoszentrierte Vernunftbegriff des Aristoteles die M6glichkeit der Menschen beschrieb, dutch sprachliches und kulturelles Handeln auf dem Wege ethischer, 6konomischer und politischer Tugendbegriffe eine in ihnen selbst angelegte sittliche Zielsetzung zu erlangen, die am Ende im Falle ihrer Erreichung das grol3e Gliick bot, in ,,Autarkie" die menschlichen Leidenschaften und Begierden @athos) zu besiegen und damit wirklich unabhiingig zu sein, ging der pathoszentrierte Vemunftbegriff von einem instrumentellen Vernunft- und Sprachverstiindnis mit Bezug auf den Machtwillen des Menschen aus. Sprache und Vernunft sind demnach keine Instrumente der sittlichen Vervollkommnung mehr, sondern werden im Naturzustand zum Zwecke der Befriedigung des Machtwillens eingesetzt. Vernunft wird dabei lediglich als die dem Menschen im Unterschied zum Tier gegebene M6glichkeit verstanden, zeitiibergreifend und damit strategisch zu denken. Die Intensitiit des Machtstrebens im Naturzustand folgt nun aus dem einzigen wirklichen ,,Ziel" des Menschen, dem Selbsterhaltungsstreben, das sich in der Phase vor der Etablierung des Staates innerhalb eines Zustandes der absoluten Unsicherheit bewegt. Die Unsicherheit des Naturzustandes s wiederum aus dem gottgegebenen Recht eines jeden im Naturzustand, nach ganz eigenem, individualistischem Urteil alles ihm Erdenkliche zu tun, um sein Leben zu sichern. Die daraus naturgesetzlich resultierende Intensivierung der Angst vor dem Tode, des summum malum eines jeden Menschen nach Thomas Hobbes, hat die Entscheidung grogpartikularer Menschengruppen zur Folge, in vollstiindiger Gegenseitigkeit alle natiirlichen Rechte an einen eingesetzten Staatsherrscher, den ,,Leviathan", vertraglich abzugeben 1326, um in Ruhe und Zufriedenheit, ohne die unertrS.gliche Angst vor dem Totgeschlagenwerden im Naturzustand, leben zu k6nnen. Der ,,Leviathan" selbst ist, um nach Hobbes seine Funktion auch wirklich erfiillen zu k6nnen, nicht an den Vertrag gebunden und muss grundsiitzlich in allen seinen Entscheidungen respektiert werden bzw. wird solange von den Untertanen getragen, wie er als absolute Macht seine Ordnungs- und Friedensfunktion objektiv erfiillt. Das Risiko im Rahmen dieses Staates aufgrund der Machtfiille des ,,Leviathans" aus ungerechtfertigten Griinden das Leben zu verlieren ist damit zwar nicht vollstiindig beseitigt, doch um ein Vielfaches minimiert. Thomas Hobbes siedelte also die Vertretung Gottes auf Erden beim Staat an, nicht im Prinzip des Gottesgnadentums oder in der Personalit~it des Monarchen, erst recht nicht mehr in der Kirche. Der absolute Staatsbegriff bei Thomas Hobbes erfolgte auf der Basis der Erforderlichkeit des Schutzes des Individuums. Auch die hier zum Tragen k o m m e n d e radikal individualistische Sichtweise von Hobbes setzt sich von Aristoteles ab: Dessen Vorstellung v o n d e r selbstverstiindlichen Ungleichheit der Menschen in Bezug auf ihr Verm6gen, dutch Vernunft ein autarkes Leben zu erreichen wird nunmehr dutch einen egalitiiren Atomismus ersetzt. Thomas Hobbes' Beitrag zur ideenhistorischen Existenz kann nun in folgenden Worten von David P. Calleo zusammengefasst werden: The political system ,,must enjoy a sufficient general consensus so that its citizens freely obey the laws and officials, even when they disapprove with them. A free society is based, in the classic metaphor, on the tacit social contract among its various groups, a pact to live together and acknowledge a common interest and a common au-
1326Vgl. zum westlichen Vertragsdenken mit unterschiedlichen Gewichtungen:James M. Buchanan / Gordon Tullock, The Calculus ~r Consent, Ann Arbor 1962; Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags,Darmstadt 1994; Ders., Theoriender so~alen Gerechtigkeit,Stuttgart/Weimar 2000.
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Kapitel VIII thority and to carry on competition within certain rules and institutions. When enough people withdraw from this pact, freedom cannot survive. That is the basic conclusion of western political speculation. ''1327
A m E n d e der hier skizzierten Praxis u n d T h e o r i e der Staatsgenese in E u r o p a sollte n o c h a u f einen e l e m e n t a r e n N e b e n a s p e k t der E n t w i c k l u n g a u f m e r k s a m g e m a c h t werden: E i n e der interessantesten M o m e n t e des europiiischen Staatsgeneseprozesses war, dass V e r b r e c h e n s b e k i i m p fung in E u r o p a u n d in D e u t s c h l a n d i i b e r h a u p t erst im 14. J a h r h u n d e r t zu einer 6ffentlichen A u f g a b e wurde. Die im R a h m e n des K i r c h e n r e c h t s seit d e m 13. J a h r h u n d e r t a n g e w a n d t e n F o l t e r v e r f a h r e n gegen , , U n g l S u b i g e " f a n d e n n u n m e h r im 14. J a h r h u n d e r t auch in der weltlichen G e r i c h t s b a r k e i t Einzug. Die A u f l 6 s u n g alter Stammes- u n d S i p p e n s t r u k m r e n im Verlaufe des N i e d e r g a n g s des L e h e n s y s t e m s hatte zu landliiufigen P h i i n o m e n e n v o n V e r a r m u n g , E n t wurzelung, Mobilisierung u n d einem e n t s p r e c h e n d rasanten Anstieg der Kriminalitiit in F o r m v o n allt~iglichen Raubiiberf;illen u n d M o r d e n der s o g e n a n n t e n ,,landschiidlichen L e u t e " gefiihrt. Das sich ausbildende, teilweise stark organisierte G e w e r b s - u n d G e w o h n h e i t s v e r b r e c h e r turn b e d r o h t e v o r allem die iiberall e n t s t e h e n d e n Stiidte u n d deren H a n d e l s z e n t r e n . D a s iiberk o m m e n e d e u t s c h e Strafverfahrensrecht, das die Strafverfahren in erster Linie den B e t r o f f e n e n selbst iiberlieB, w u r d e angesichts der n e u e n H e r a u s f o r d e r u n g e n zu einer s t u m p f e n Waffe. 1328 Unabhiingig y o n dieser rein humanitiir b e t r a c h t e t d o c h sehr a m b i v a l e n t e n Strafrechtsentwicklung in einem sich , , m o d e r n i s i e r e n d e n " E u r o p a , ist am E n d e festzuhalten, dass das ,,spann e n d s t e " M o m e n t an der E n t s t e h u n g der mittelalterlichen K o n k u r r e n z s i t u a t i o n in einer weltweit u n d welthistorisch einmalig d y n a m i s c h e n K o n s t e l l a t i o n v o n M~ichtegruppen in E u r o p a darin bestand, dass w i r e s a u f der einen Seite mit starken M o n o p o l b i l d u n g e n u n d M o n o p o l b i l d u n g s t e n d e n z e n zu tun h a b e n - e n t w e d e r in einem kontinuierlichen, statischen M o d u s (Frankreich 1329, Grol3britannien 133~ ansatzweise P o l e n 1331) oder in einem s p a n n u n g s r e i c h e n u n d bluti1327David Calleo, The AtlanticFantasy." The U.S., N A T O andEurope, Maryland 1970, S. 111. 1328Vgl. insgesamt Dieter Baldauf, Die Folter. Eine deutsche Re&tsgeschichte, Wien 2004. 1329Frankreichs Weg in Stichworten: Vertrag von Verdun 843, Dynastie der Karolinger, der Kapetinger und der Valois, Hundertjiihriger Krieg (Frankreich f';illt nach der Eroberung der Normandie 1417-1419 dutch Heinrich V. von England zeitweise unter englischer Herrschaft, Heirat Heinrichs mit der Tochter Karls VI., Anerkennung Heinrichs V. als K6nig von Frankreich bis zum Auftreten der 1431 hingerichteten Jeanne d'Arc mit der langfristigen Folge der Kr6nung Karis VII. in Reims 1429), R/ickeroberung von Paris 1436 und aller anderen Gebiete bis 1453 mit Ausnahme yon Calais, Erhebung der franz6sischen Kirche zur Gallikanischen Nationalkirche durch die Pragmatische Sanktion von Bourge 1438, Einverleibung des Herzogtums Burgund unter Ludwig XI. nach dem Tod Karls des Kfihnen 1477, Hugenottenkriege und ,,Pariser Bluthochzeit" zwischen Heinrich yon Navarra und Margaret yon Valois, ,,Ersch6pfungskompromiss" 1589 (Toleranzedikt des zum Katholizismus konvertierten ersten franz6sischen K6nig aus dem Hause der Bourbonen, Heinrich (IV.) yon Navarra). 133o Groagbritanniens umschlungener Weg in Stichworten: Herausbildung des angelsiichsischen K6nigtums 883 unter dem westsiichsischen K6nig Alfred dem Grol3en gegen die Diinen, Umwandlung in einen normannischen Feudalstaat unter Wilhelm dem Eroberer 1066, Herausbildung eines Angevinischen Reiches unter der Dynastie Anjou-Plantaganet im 12. Jahrhundert bis hin zur Herausbildung eines neuen, nunmehr antifranz6sischen englischen Nationalbewusstseins unter Richard L6wenherz, Herausbildung des englischen Parlamentarismus im 13. Jahrhundert, den Dynastien Lancaster und Tudor, Trennung der englischen Kirche yon Rom dutch die Suprematsakte Heinrichs VIII. 1534, Rekatholisierungsbem/ihungen Marias der Katholischen, gegen die schottische K6nigin Maria Stuart gerichtete Wiederherstellung der Anglikanischen Kirche unter Elisabeth I., Religionswirren, blutiger B/irgerkrieg zwischen Parlaments- und K6nigsheer und Kriege gegen Schotten und Iren unter den Elisabeth nachfolgenden Smarts 1603-1649 und nach 1658, Puritanerrepublik 1649-1658 unter Oliver Cromwell, emeute Zuspitzung der Glaubensfrage nach dem 0bertritt J akobs II. zum Katholizismus, Spalmng des Parlaments in der Frage der Thronfolge zwischen antikatholischen Whigs und royalistischen Tories, ,,Ersch6pfungskompromiss" 1688 unter Wilhelm von Oranien, dem Schwiegersohn Jakobs II. und damit einhergehenden ,,Glorious Revolution" (Begrfindung der konstitutionellen Monarchie und der ,,Declaration of Rights" 1689, d.h. der Festsetzung des Rechts des Parlaments auf Gesetzgebung und Steuerbewilligung). 1331 Polens Weg in Stichworten: Vereinigung der slawischen Stiimme zwischen Oder und Weichsel unter dem Geschlecht der Piasten spiitestens im 10. Jahrhundert, Erhebung des litauischen Grol3ffirsten Wladyslaw II. Jiagello zum polnischen K6nig unter dem Druck der polnischen Magnaten 1386 und daraus resultierende Abl6sung der Piasten
Geschichte I: Der vormodeme Gehalt der ideenhistorischen Existenz des Westens
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g e n K a m p f m o d u s ( D e u t s c h l a n d 1332) - d a s s a b e r a u f der a n d e r e n Seite d u r c h die H e r a u s b i l d u n g d e r Stiidte d e n territorialen M o n o p o l b i l d u n g e n p o t e n t i e l l e n t g e g e n s t e h e n d e Fliehkriifte ents t a n d e n , o b w o h l die H e r a u s b i l d u n g d e r Stiidte selbst zuniichst e i n m a l als ein U n t e r t y p u s g e n a u jener M o n o p o l b i l d u n g a n g e s e h e n w e r d e n m u s s , d e r e r sie p o t e n t i e l l e n t g e g e n s t a n d e n . A u g e r d e m soil n i c h t v e r g e s s e n w e r d e n , dass n e u e r d i n g s d a r a u f h i n g e w i e s e n wird, dass die S t i i d t e trotz aller w i r t s c h a f t l i c h e n F r e i h e i t e n - d e n A u t o r i t a r i s m u s u n d Z e n t r a l i s m u s d e r sich spiiter f o r m i e r e n d e n N a t i o n a l s t a a t e n - im k l e i n e n M i k r o k o s m o s d e r , , P o l i z e y o r d n u n g e n " - s c h o n v o r w e g n a h m e n . 1333 A b g e s e h e n d a v o n ist zu k o n s t a t i e r e n , dass es e b e n n i c h t n u r die Selbstiindigkeit u n d Machtfiille des sich h e r a u s b i l d e n d e n D i e n s t a d e l s in E u r o p a war, w e l c h e die geseilschaftliche , , B i n n e n d i f f e r e n z i e r u n g " in so g r o g e m A u s m a g e v o r a n t r i e b e n , die ja parallel z u r M o n o p o l b i l d u n g s t a t t f a n d , s o n d e m a u c h die T a t s a c h e , dass a u f g r u n d einer ganz e i g e n t i i m l i c h e n ,,triadis c h e n " M a c h t s t r u k t u r a u c h n o c h die e u r o p i i i s c h e n Stiidte e n t s t e h e n k o n n t e n u n d sich die Bin-
dutch die Dynastie der Jagellonen, Lubliner Union 1569 zwischen Polen und Litauen, daraus resultierender weiterer Machtgewinn des polnischen Adels dutch die Errichtung riesiger Latifundien in den neugewonnenen, dtinnbesiedelten ruthenischen Wojwodschaften (RotreuBen, heute Ukraine), schliel3lich 0berfiihrung Polens zu einer ,,k6niglichen Republik" (Rzeczpospolita Szlachekka), einer aristokratischen Wahlmonarchie 1572 auf der Basis des ,,Libemm Veto", was sich ftir Polen langfristig- spiitestens ab 1652 - als verh{ingnisvolles Einstimmigkeitsprinzip erweisen sollte. 1332Stichwortartig: Nach den stabilen Dynastien der Ottonen / Sachsen (919-1024) und der Salier (1024-1125) kam es 1125 zu einer umstrittenen K6nigswahl, da sie vom GeblCitsrecht abweichte. Lothar III. von Sachsen wurde von den Staufern nicht akzeptiert. Die Bestimmung des welfischen Schwiegersohns Heinrich des Stolzen (seit 1126 Herzog von Bayem) dutch Lothar III. zum Thronfolger scheiterte 1138 an der Wahl des schwiicheren Staufers Konrads III. Der Ausgleich nit den Welfen unter Friedrich Barbarossa 1156 (Bayem ging an Heinrich den L6wen, die Babenberger erhielten als Entschiidigung 1155-1246 das abgetrennte Osterreich als selbstiindiges Herzogtum) wiihrte nicht lange: 1180 wurde Heinrich der L6we nach einem Streit nit dem Papst und einer militiirischen Niederlage gegen die Lombarden geiichtet und musste sich auf sein Erbland Braunschweig, 1181 gar nach England zurCickziehen (Bayem fiel an die Wittelsbacher, die Steiermark wurde selbstiindig, Westfalen fiel an den Erzbischof yon K61n). Nach der kurzen Regierungszeit Heinrichs IV. nach dem Tode Friedrich Barbarossas kam es 1197 zu einer bedeutenden Machtstellung des Papstes Innozenz III., der sich gegen eine deutsch-sizilianische Vereinigung auf der Basis der 1186 erfolgten Heirat Friedrich Barbarossas mit der Tochter des unteritalienisch-sizilianischen Normannenk6nigs Roger striiubte. Die Machtfiille des Papstes ergab sich aus dem Umstand, dass der Sohn und Thronfolger Heinrichs IV. nit gerade zwei Jahren noch unmtindig war. Es entbrannte der staufisch-welfische Thronstreit aufs neue: Otto IV., Sohn Heinrichs des L6wen, wurde unter Einfluss von Innozenz zum neuen Kaiser 1198-1215 gewiihlt. Innozenz brach jedoch nit Otto IV., nachdem dieser, im Btindnis nit England, einen Unteritalienzug anging. Innozenz stellte rnit UnterstCitzung Frankreichs Friedrich (Roger) II. als Gegenkaiser auf gegen das Versprechen Friedrichs, Sizilien nicht mit dem Reich zu vereinigen. Nachdem die staufisch-piipstlich-franz6sische Partei bei der Schlacht yon Bouvines 1214 erfolgreich war, wurde Friedrichs Sohn Heinrich (VII.) Stellvertreter Friedrichs in Deutschland (1222), doch ftihrte ein nicht erfCilltes Kreuzzugsversprechen Friedrichs zum Bann dutch Papst Gregor IX. (1227-1241). 1245 kam es dutch Wahl yon Gegenk6nigen, zur Absetzung des 1250 verstorbenen Friedrich II. sowie zum Niedergang des staufischen K6nigrams. Die Durchsetzung des Wahlk6nigtums 1273 nach der Hinrichtung des letzten Staufers Konradin dutch Karl von Anjou stiirkte schlieBlich die Kurfs (zeitweise insbesondere das K6nigreich B6hmen, besonders unter Karl IV.). Die niichsten Jahre waren gekennzeichnet durch die Konfrontationen zwischen Rudolf von Habsburg und Ottokar von B6hmen (1273), Ludwig IV. dem Bayem und Friedrich dem Sch6nen yon Osterreich (1314-1347), der Festlegung der Kurfiirstenbefugnisse in der ,,Goldenen Bulle" unter Karl IV. (1356), dem emeuten Aufstieg des Hauses Habsburg unter Maximilian I. und Karl V. (1493-1556, Nachfolger bis 1619), der Konfrontation zwischen Karl V. und Franz I. von FranDeich, der Vereinigung des Kaiserreiches nit Spanien, dem Aufkommen der Reformation unter Luther und dem Ausbrechen der Reformationskriege, zuniichst bis 1555 (Augsburger Religionsfriede), dann abet, mit Beginn der Gegenreformation nach der Exekution der Reichsacht gegen die evangelische Reichsstadt Donauw6rth im Jahre 1607 unter Rudolf II. von Habsburg, bis zum bitteren, blutigen H6hepunkt zwischen 1618 und 1648 und langfristig dem Aufkommen eines selbst~indigen K6nigreiches Preul3en (1701). 1333Darauf weist hin: Almut H6fert, Statea, citiea, citizens in the later Middle Ages, in: Quentin Skinner / Bo Str~tth (Hg.), States and Citizens. Histo~, Theo{7, Proapects, Cambridge 2003, S. 63-75, 70.
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Kapitel VIII
nendifferenzierung somit um noch einen Teil intensiver (als schon in historisch revolutioniirer Weise gegeben) ausgestalten konnte.
4.3 Keltisches und germanisches Stadtewesen, der Kommunalismus und die D y n a m i k des Kapitalismus
Die europ~iischen Stiidte standen der nationalstaatlichen Monopolbildung aufgrund ihrer besonderen Struktur im Weltvergleich am Ende der Entwicklung deutlich entgegen, obwohl sie, sowohl in der generellen Entwicklung als auch in ihrer eigenen inneren Ordnung, mit zur nationalstaatlichen Monopolbildung beigetragen hatten. A m sfiirksten konnten sich dementsprechend insbesondere die Sfiidte im zerkliifteten Kaiserreich in Mitteleuropa als Gegengewicht zum Modell des m o d e m e n Nationalstaates entwickeln. Alleine die in diesen Stiidten sich ausformenden Umwiilzungen der Geschlechterbeziehungen 16ste grundlegende gesellschaftliche und wirtschaftliche Ver~inderungen a u s . 1334 Mit der Herausbildung der europ~iischen Variante der Stadtkultur, war jedoch (auf lange Sicht) insbesondere die Herausbildung einer systematisierten Geldwirtschaft anstelle der Namralwirtschaft und die Herausbildung einer ganz neuen Klasse yon Menschen verbunden: dem grol3stiidtischen Bildungs- und Besitzbiirger, dem sfiidtischen Handwerker und dem landfli.ichtigen Arbeiter. F e m a n d Braudel hat auf die Eigenart der abendl~indischen Stiidte im Vergleich zu den anderen Kontinenten, abet auch im Vergleich zu den antiken Stiidten, folgende wichtige Punkte herausgearbeitet 1335' -
Ausgepr{igteSelbstverwalmngsstmkmren zu Lasten des sich zusammen mit der Stadtkultur herausgebildeten Territorialstaates (wenn diese Stmkmren auch nach innen autorit~irsein mochten) AusgepriigteVielzahl und architektonischeVerschiedenheitder Sfiidte Kleinheitder Sfiidte im Vergleich insbesondere zu China, z.B. Peking (aber auch im Vergleich zu Delhi und Konstantinopel).1336
Die Griinde fiir die Herausbildung der europ~iischen Variante der Stadtkulmr miissen wohl in der ,,triadischen" und ,,dynamischen" Struktur des Mittelalters gesehen werden, denn Braudel, der eine Wirtschafts- und Technikgeschichte fiber die materiellen Aspekte der ,,europ~iischen Zivilisafon" verfasste, konnte fiir die Herausbildung keine triftigen Griinde benennen. Allerdings hat Braudel meisterhaft herausgearbeitet, warum sich diese dezentrale und eigenartige Stadtstrukmr m Europa stabilisieren und letztlich mehr und mehr gegen den Zentralstaat in historisch einmaliger Weise durchsetzen k o n n t e - hier bildete der ganz auf Londons Machtstellung fixierte, die Machtstel_lung Amsterdams peu ~ peu beseitigende britische Imperialismus des 16. und 17. J ahrhunderts den entscheidenden Angelpunkt. 133v Die Griinde liegen demnach in der auf lange Sicht fiir das insulare und atlantische Grol3britannien vorteilhaften Raumrevolution im 15. Jahrhundert 133gund dem damit einhergehenden Aufstieg der Hafenstiidte und der
1334Darauf verweist Lewis Mumford, Die Stadt. Geschichte undAusblick, K61n / Berlin 1961. 133sVgl. Fernand Braudel, Die Geschichte der Zivilisation. I5.-18. Jahrhundert, Mfinchen 1979, S. 577-598. 1336Vgl zu Peking ebd., S. 616-625. 1337Vgl. Femand Braudel, Die Dynamik des KapitalismuJ; 2. Aufl., Stuttgart 1991, S. 90ft. 1338So eher andeutungsweise Femand Braudel, Die Geschichte der Zivilisation. 15.-18. Jahrhundert, Mfinchen 1979, S. 598: ,,Es stellt sich die Frage, wie sich die chinesischen Sfiidte entwickelthiitten, wenn Chinas Dschunken zu Beginn des 15. Jahrhunderts das Kap der Guten Hoffnung entdeckt und diese Chance zu einer Erobemng der Welt ausgenutzt h~itten." Zur letztendlichen UmsegelungAfrikas durch die Europiier vgl. Gfinther Hamann, Der EinMtt der siidlichen Hemiapha're in die Europa?'sche Geschichte. Die Erschli~ung des Afrikaweges ha& Asien vom Zeitalter Heindchs des Seefahrers bis Zu Vasco da Gama, Graz/Wien/K61n 1968.
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Weiterentwicklung der Geldwirtschaft zu einer Bank-, Papier- und Zinsgeldwirtschaft 1339, die das Fundament fiir die Dynamik des Kapitalismus abbildete. 134~ Die sich auf das menschliche Verhalten disziplinierend auswirkende Arbeitsteilung des Verwalterwesens auf dem Lande wurde - wie schon auch m Bezug auf die Verwaltung erwiihnt - im stiidtischen Mikrokosmos noch einmal mikoskopisch nachgeahmt. Die Stadt verwaltete sich zunehmend selbst, insbesondere im relativ ,,freien" und bis zum A u f k o m m e n der Reformation im Inneren relativ friedlichen Mitteleuropa. Die S tadt intensivierte also in diesem Rahmen die sich im ganzen Land abspielenden Modernisierungsprozesse im Kleinen und der mitteleurop~iische (insbesondere auch deutsche) Kommunalismus machte dabei durchaus den Anfang. Erst mit dem Niedergange Deutschlands in den Wirren des DreiBigj~ihrigen Krieges /,ibernahmen die groBen Metropolen mehr und mehr i n Westeuropa die Vorreiterrolle. Der Aufstieg der Stiidte war die langfristige Voraussetzung fiir das Entstehen einer subsistenz- und produktionsorientierten Marktwirtschaft merkantiler Bauart, welche wiederum in dem Moment, in dem die Machtelite eines gesamten Nationalstaates, i.e. konkret die parlamentarische Machtelite GroBbritanniens im 1 8. J ahrhundert, diese neuen Form der stiidtischen Marktwirtschaft entschieden unterstiitzten, die Voraussetzungen fiir den europiiischen und spiiterhin weltweiten Aufstieg des Kapitalismus und Industrialismus schuf. Das sich mit seiner Metropole L o n d o n identiflzierende Machtmodell GroBbritanniens war dafiir schon aufgrund der britischen Insellage eine naheliegende Entwicklung. 1341 Was Deutschland betrifft, ist am Ende noch betonenswert, dass es trotz aller geographischen Hindernisse vielleicht doch nicht ,,schlechthin als ausgeschlossen gelten" sollte, dass unter anderen politischen Bedingungen ein ,,vom Zentrum her vereinheitlichender Prozess in Gang" hiitte k o m m e n k6nnen, der ,,(...) die spiitere EntwicHung in Russland antizipiert und sowohl der Kirche wie dem Adel wie den Stiidten ihre relative Selbst~indigkeitgenommen und dann angesichts der Zahl und der bevorzugten Lage der Deutschen einen Zustand in Europa geschaffen hiitte, der nicht modern, sondern vielmehr uralt gewesen wiire und Europa politisch auf diejenige Stufe der Weltrnonarchie gestellt hiitte, auf der China und das Osmanenreich standen.'1342 Dass die politischen Bedingungen andere waren, lag m Deutschland schlieBlich am konfessionellen Konflikt: ,,Es war die Reformation, welche diese M6glichkeit zunichte machte. ''1343 Abgesehen von den Entwicklungen in Mitteleuropa muss noch die keltisch-gallische Urbanit~itskultur als Grundlage europ~iischer Stiidteentwicklung ins Blickfeld fenommen werden: Insbesondere der Zivilisationshistoriker Harry Elmer Barnes (vor seiner Zeit als Revisionist in Bezug auf den Nationalsozialismus) betonte, dass es nicht ausreiche, immer nur die ,,germanischen" Anteile in der geschichtsphilosophischen Betrachtung des europ~iischen Stiidtewesens zu betonen. Barnes riickte hingegen die Rolle der Kelten in den Vordergrund: zum einen anhand Galliens, das urspriinglich mit einem hohen iberisch-ligurischen und keltischen Anteil versehen war, bis es nach der Latimsierung einen keltisch-r6mischen Charakter gewann; zum anderen anhand des keltisch beeinflussten Altbritanniens (inkl. der Bretagne), das durch die r6mische Eroberung lange Zeit durch germanische K_rieger vor emer vollstiindigen Eroberung geschiitzt gewesen war.
1339 Vgl. Fernand Braudel, Die Geschichte der Zivilisation. 15.-18. Jahrhundert, M/inchen 1979, S. 578f. u. 583. 1340Vgl. insgesamt Femand Braudel, Die Dynamik des Kapitalismus, 2. Aufl., Stuttgart 1991. 1341Vgl. ebd., S. 90ff. 1342Ernst Nohe, Deutschlandund der Kalte K~'eg, M/inchen 1974, S. 74f. 1343Ebd., S. 75.
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Galliens stiidtische Struktur und der urbane Charakter verdeutlichte Barnes anhand der h6chst ausgefeilten Manufaktur-, Alltags- und Agrartechnik: Dazu geh6ren insbesondere die ausgefeilten Techniken in der Holz-, Fisch- und Metall-, Glas- und Porzellan-, Textil- und Flachsverarbeitung. Dazu kamen neue Jagd- und Jagdhundtechniken, ein systematisches W~ihrungswesen sowie die Verfeinerung der Wein- sowie die Entwicklung der Bierproduktion. 1344 Dass diese Manufaktur-, Alltags- und Agrartechnik wirklich eine direkte Brficke zur ,,modernen Zivilisation" hiitte schlagen k6nnen, insbesondere unter der Voraussetzung des Wegfalls iiul3erer Bedrohungen in Verbindung mit der eher matriarchalischen Naturreligion der Kelten, wie Barnes behauptete 1345, ist letztlich eine h6chst spekulative, ja in vielerlei Hinsicht problematische und fragwfirdige Hypothese, sollte aber in der zivilisationshistorischen Debatte fiber die historische Existenz des ,,Westens" nicht unberiicksichtigt bleiben.
4.4 Pax sit christiana - Kurze Anmerkung zum Komplex ,,Krieg und Frfede" Die Dynamik Europas zwischen Mittelalter und Neuzeit hatte schlieBlich noch eine weitere ambivalente Folge ffir die ,,neuzeitliche Grunddisposifion Europas" bzw. des ,,neuzeitlichen Zivilisationsproffls" des ,,Westens": Die Dynamik von Bellizismus und Irenismus. Auf der einen Seite war die Grunddisposifion eine h6chst kriegerische, auf der anderen hatten aber gerade deswegen in Europa irenistische (also friedensbewegte) Str6mungen einen relativ starken Stand im intellektuellen Diskurs, verglichen mit anderen Zivilisationen: ,,Friede durch Recht" und ,,Friede durch S~ikularisation des Politischen" waren die daraus folgenden und prakfisch wirksamen Leitgedanken. Beide Leitgedanken waren die ,,in den Grundfesten des europiiischen Zivilisationstypus verankerten Pfeiler jener Neuordnung Europas in den drei groBen Friedensschliissen der Mitte des 17. J ahrhunderts": dem Westf;ilischen Frieden 1648, dem Pyreniienfrieden 1654, und dem Olivaer Frieden 1640.1346 Die europiiische Idee des ,,Friedens durch Siikularisafion des Politischen" war indes
,,(...) dutch eine Dialektik charakterisiert, die die religi6seDynamik nicht kappte, sondem ins Weltliche hineinnahm und damit die Durchschlagskraftund die Legitimit~itpolitischen und gesellschaftlichenHandelns entscheidend stiirkte. In einem so verstandenen,s~ikularisierten'Kontext hatte ,Friede' eine religi6seund sakraleDimension, auch wenn er pragmatisch-s{ikularzustande kam.'q34v
5. Die geistige Dimension der Entwicklung des europ~iischen Zivilisationssystems im sp~iten Mittelalter 5.1 Freiheitstradition und Rechtsstaat in genossenschaftlichen Staatsvorstellungen im Deutschen Reich und in Grofdbrftannien Auf der Basis der beschriebenen Struktureigenschaften des mittelalterlichen Systems konnte sich in Europa eine Freiheitstradition entwickeln, welche neben dem Hauptfaktor Christentum und der naturrechtlichen lDberlieferung der Antike als dritte Wurzel ffir die spiitere Herausbil-
Harry Elmer Barnes / Henry David, The Histo{7 of Western Civilization. VolumeOne, New York 1935, S. 416ff. 1345Vgl. ebd., S. 436. 1346Vgl. Heinz Schilling,Europa zwischenKneg und Frieden, in: Marie-Louisevon Plessen (Hg.), IdeeEuropa. Entwiirfe zum ,,EMgen Frieden" Berlin 2003, S. 23-32, S. 26-30, zitierte Stelle:S. 26. 1347Ebd., S. 28. 1344 Vgl.
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dung m o d e m e r Menschenrechte eine Rolle spielen sollte. Diese Freiheitstradition besal3 wiederum mehrere K o m p o n e n t e n : -
die Freiheit der Stiidte und Reichsstiidte, insbesondere in Mitteleuropa verbunden mit einer starken kommunalen Rechtsbildung die damit einhergehenden stiindischen Freiheitstraditionen als weiterer Bestandteil eines gegen/iber den k6niglichen und adeligenReichsherrschem oder K6nigen herrschaftslimitierendenGewohnheitsrechtes die Herausbildung eines Vertragsrechtes zwischen Herrschem und starken landadeligen Stiinden, welche in Polen 1505 und in Grol3britannien1688 das volle Gesetzgebungsrechtbekamen. In Polen konnte sich die Konstmktion nicht halten, da hier ,,ohne eine Dosis vereinheitlichende[r] absolutistische[r] F/irstenmacht [..] aus einem Stiindesystem kaum ein parlamentarisches Regime entstehen" konnte.1348
Die Folgen dieser neuen Freiheitstradition waren mannigfaltig: So erfolgten z.B. Anspriiche auf rechtliches G e h 6 r vor Gericht oder St~inderiiten im Falle von Restitutionsfragen im Kriegsfall oder Eingriffen der Fiirsten in Leben, Freiheit, Gesundheit und Eigentum. Die erwiihnten St~inderiite fungierten also als institutionelle E x p o n e n t e n einer korporatistischen Vertragspartnerschaft mit den Fiirsten. Erst der Absolutismus der Friihen Neuzeit sollte in Kontinentaleuropa die korporatistischen Freiheitsrechte mehr und mehr zuriickdriingen: Norberto Bobbio umschrieb diese neue Herrschaftsform einmal konsequenterweise als Verbindung von ,,Monokratie" (welche die Macht in einer Hand vereinigt) und ,,Autokratie ''1349, wiihrend Montesquieu in der Spiitzeit des franz6sischen Absolutismus den Sonnenk6nig in seinen ,,Lettres Persannes" konsequenterweise mit einem orientalischen D e s p o t e n verglich. D o c h insbesondere in England hielt sich - in einem nationalstaatlichen Kontext bis in die Aufldiirung h i n e i n - die mittelalterliche Freiheitstradition; dort auf der Basis der ,,Magna Charta L i b e r t a t u m " aus dem Jahre 1215. Die Magna Charta legte den Gesetzesvorbehalt fiir alle Bestrafungs- und Verhaftungsmal3nahmen, die gegen freie Miinner gefiihrt werden sollten, fest. Die Feudalherren bekamen institutionelle Kontrollrechte in Steuerfragen und auch gegeniiber der k6niglichen Verwaltung. Die kontinuierliche Rechtstradition auf nationaler Ebene fiihrte iiber die ,,Petition of Rights" des englischen Parlamentes (1628) bis hin zur , , H a b e a s - C o r p u s - A k t e " (1679), in der das rechtliche G e h 6 r und das Recht auf Haftentschiidigung bei rechtswidrigen Verhaftungen festgeschrieben wurde. 135~Die Verfassungsrevolution in Frankreich nimmt dementsprechend, wie Robert R. Palmer zeigen konnte, in der Entmachtung der stiindischen Parlamente ihren Anfang. Damit geht Palmers These des aristokratischen Institutionalismus einher, der sich seit etwa 1760 ausbildete: Die demokratische Revolution basierte insofern auf dem Wunsch der Massen, die sich herausgebildeten, somit gegebenen und zugleich aristokratisch geformten verfassungsmiiBigen K6rperschaften derart ,,umzuformen", so dass sie, die Massen, ,,die Mitgliedschaft in jenen K6rperschaften [..] erzwingen" konnten. 13sl Unabhiingig davon fiihrte am Ende die Amerikanische Revolution zu einer starken F6rderung der demokratischen Revolution in Europa. 1352
1348 Y-clausvon Beyme, Die parlamentadsche Demokratie. Entstehung und Funktionsweise 1789-1999, 3. Aufl., Opladen / Wiesbaden 1999, S. 23. 1349 Vgl. Norberto Bobbio, Die Zukunfi derDemokratie, Berlin 1988, S. 59. 1350Vgl. Frederick WilliamMaitland, The ConstitutionalHisto{7 of England, 6. Aufl., Cambridge 1920; Henri L~w-Ullman, The English Legal Tradition. Its sourcesand histo~, London 1935. 13sl Vgl. Robert R. Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution. Eine vergleichendeGeschichteEuropas und Ametgkas yon 1760 bis wrFranzSsischen Revolution, Frankfurt a.M. 1970, insbsd. S. 35. 1352Vgl. ebd., S. 36.
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5.2 Die radikale Trennung zwischen Glauben und Wissen und die moderne Wissenschaft seit ca. 1250 Wie schon in Bezug auf den Begriff der ,,Allraumrevolu6on" erw~ihnt, war die Erfmdung des Teleskops das Ergebnis eines l~ingeren Wissenschaftsprozesses in Europa. Dieser setzte schon um etwa 1250 an 1353, und zeichnete sich dadurch aus, dass er die Nfitzlichkeit quantitativer Termini postulierte (Wilhelm von Ockham / Johannes Gutenberg). Der Beginn der ,,Modernit~it" als geistesgeschichtlicher Prozess ist hier anzusetzen. Die im 15. Jahrhundert erfolgenden Raumrevolutionen verhalfen der ,,Modernit~it" in diesem Sinne zum praktischen Erfolg. ,,Modernit~it" in diesem Sinne beginnt mit der Abkehr von den augustinischen und aquinistischen Versuchen, trotz der grunds~itzlichen Scheidung, wie sie seit Augustinus im mittelalterlichen Wissenschaftsdenken verankert war, Glauben und Wissen miteinander zu vereinbaren. So hatte die sapientia bei Augustinus noch eine epistemologische Qualitiit, im Sinne des ,,Glaubenswissens", defmiert als unmittelbare Einheit zwischen Ausdruck von Wahrheit und der Wahrheit selbst und gleichgesetzt mit dem christlichen Glauben. Das nicht-religi6se Erkennen wurde zwar als unabdingbare Voraussetzung einer Einsicht in die Wahrheit gewfirdigt, doch als eine unmittelbare wurde genau diese Wahrheit im augustinischen Wissenschaftsverstiindnis schon im Glauben ausgesprochen. Augustinus sah insofem das Wissen (die verg~ingliche scientia im Unterschied zur unverg~inglichen sapientia) als eine F o r m des ,,gesonderten Ausdrucks" von Wahrheit an, welcher der ,,Weisheit" (sapientia) entgegensteht. 1354 Thomas von Aquin indes 16ste sich zwar vom hier zum Tragen k o m m e n d e n Neoplatonismus der augustinischen Wissenschaftstheorie, setzte aber in seiner Wiederhinwendung zu Aristoteles die Substanzenlehre des antiken Philosophen in einen hierarchischen Rahmen: an der Spitze stand G o t t - die h6chste weltliche Substanz fiir Thomas war demnach die Kirche, die zweith6chste das R6mische Reich. G o t t hatte als h6chste Substanz von Welt zugleich einen entsprechend vollgflltigen, wissenschaftlichen Realit~itscharakter. In diesem Rahmen war die Erkenntnis zwar keine F o r m der Erinnerung wie im platonischen und augustinischen Sinne mehr (memorfa), s o n d e m intellektuelle Vernunftleistung in Anlehnung an der aristotelischen Wahmehmungslehre. Allerdings kam die intellektuelle Leistung ohne einen stabilen Rahmen in F o r m einer ewigen Wesensordnung flberhaupt nicht in Gang. Die ganze Wissenschaftstheorie des von Aquin war also trotz ihrer vielen wichfigen Neuheiten 1355 auf eine unveriinderlich garantierte Wesensordnung der Dinge angelegt. Diese Ordnung wird durch ,,die Wahrheit Gottes" unveriinderlich vorgegeben: Es gibt keine Vernunft ohne gottgegebenen Rahmen. 1356 Der Prozess der Abkehr v o n d e r mittelalterlichen Wissenschaftstheorie nahm nun mit dem im sechsten Kapitel schon eingiingig beschriebenen Nominalismus von Duns Scotus und Ockham semen erkenntnistheoretischen Anfang. Diese Tradifionsabkehr war gekennzeichnet durch den Unglauben, fiber die Vernunftleismng einen direkten intellektuellen Zugang zu einer 1353Vgl. Alfred W. Crosby, The Measure ~Reality. Quantification and WesternSociety 1250-1600, Cambridge 1997. 1354Vgl. Nikolaus Wenturis / Walter Van hove / Volker Dreier, Methodologie der So~.alw~senschqften. Eine Einfiihrune~ Tfibingen 1992, S. 21f. 135sDazu geh6rt die Theorie des medialen Charakters yon Erkenntnis, i.e. der Erkenntnis im Sinne einer Nachbildung (similitudo) einer Erscheinung (~oecies).Die Nachbildung (similitudo) basiert dabei auf der Herstellung einer relationalen Gleichf6rmigkeit von Subjekt und Objekt: das Ding wird nicht nach Art und Weise seines Dingseins erkannt, sondern als Kompositum von Materie und Gestalt und Objekt und Subjekt im Erkennen nicht zu trennen. Similitudo basiert einerseits auf einer ,,aktiven T~itigkeit" des Verstandes (intellectusagenJ). Das logische Gebilde, das entsteht, ist eine ,,dutch Anspannung des Geistes erzeugte Vorstellung". Andererseits gibt .. es nicht nut beim Erkennenden einen Vet~inderungsprozess, sondem auch beim Gegenstand, bis es zu einer ,,Ubereinstimmung" (adaequatio) zwischen Erkennendem und Erkanntem kommt. 13s6 Vgl. insgesamt Nikolaus Wenturis / Walter Van hove / Volker Dreier, Methodologie der So~alwissenschaften. Eine Einf~hrung, Tfibingen 1992, S. 24f.
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unveriinderlich garantierten, gottgegebenen Wesensordnung der Dinge schaffen zu k6nnen. Der Mensch trat nunmehr v611ig losgel6st von einer Gottesordnung in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Die Allmacht Gottes wurde jetzt als vollends ,,unerforschlich" gesetzt. Die Grundlage fiir den modernen Rationalismus war geschaffen. 1357 Die Entwicklungen gingen mit der weiteren Expansion des europiiischen Universit~itswesens einher, wie es sich nach der Rezepfion antiker Quelleniiberlieferungen aus dem arabischen Kulturkreis allmiihlich gebildet hatte: Dozenten und Studenten hatten sich in Gilden und Korporationen zusammengeschlossen. Auf der Basis von Kolleggeldern fiir die Dozenten kam es zu einem sich selbst organisierenden Wissenschaftssystem, das sich zumeist in eine Grundstufe (,,artes liberales") mit den Bestandteilen Tffvium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik) und eine Spezialisierung mit drei ,,oberen" Fakult~iten (Theologie, Medizin, Jurisprudenz) aufteilte. Die ,,artes liberales" entwickelten sich weiter zu ,,Arfistenfakult~ten", welche die M6glichkeit boten, nach eineinhalb Jahren mit einem Bakkalaureatexamen abzuschliel3en und zu Tutoren avant la lettre (eingeschriinkte Lehrbefugnis) zu avancieren oder in weiteren eineinhalb J ahren mit einem Magisterexamen abzuschliegen (voile Lehrbefugnis). In den ,,oberen" Fakultiiten konnten dann die Doktorenfitel angestrebt werden. Bei den Theologen betrug die Studiendauer nach dem Magister neun Jahre: Mit der ,,lectio" und ,,dictio" (Vorlesung und Diktat) hielten gruppendidaktische Formen Einzug in das Ausbildungssystem. So entstanden die Universitil'ten in Bologna (1088), Paris (1150) und Oxford (1167), in Deutschland schliel31ich in Wien (1365), Heidelberg (1385), K61n (1388) Leipzig (1409) sowie (als erste protestantische Hochschule 1527) in Marburg.
6. Islam und Judentum in der Zivilisationsbildung des Westens zwischen Mittelalter und N e u z e i t 6.1 Der Islam und die westliche Chtgstenheit im Mittelalter
Kurz nach dem Eintritt Mohammeds in die Weltgeschichte stand die sich erst im 8. J ahrhundert in Westeuropa etablierende Christenheit in ihren Aul3engrenzen von Anfang an, die alteingesessene Christenheit des Ostr6mischen (Byzantinischen) Reiches schon seit dem 7. Jahrhundert, in einem h6chst spannungsvollen Kriegsverhiiltnis zum arabischen Islam. Im Osten kam es noch unter den Kalifen der ,,Rechtleitung" nach Mohammed (Abu Bakr, Umar, Uthman, Ali) zur Eroberung von Damaskus, Antiochien und Alexandria. Die schiirfsten Christenverfolgungen u n d - m a s s a k e r ereigneten sich unter dem Omajiadenherrscher Umar II. um 700, dem Abbasidenkalifen Harun um 800, unter A1-Mutawakkil (urn 850) und schlieBlich (gegen die Georgier und Armenier) unter dem Seldschuken Ars Aplan um 1050. Die Zerst6rung der Jerusalemer Grabeskirche dutch Kalif A1-Hakim 1007 und die Eroberung Jerusalems und ganz ]~gyptens sowie Akkons wenig spiiter durch die Seldschuken (unter der Fiihrung des Sunniten Saladin) nahm Papst Urban II. 1095 zum Anlass, den Ersten Kreuzzug auszurufen, der 1099 zur Riickeroberung Jerusalems fiihrte. 1291 fielen jedoch Jerusalem und Antiochien wieder den Muslimen in die Hiinde. Aus dem Staat der Rum-Seldschuken in Nikaia (Konya), die 1100-1300 im Kampf gegen die Kreuzfahrer standen, erwuchs 1258 die Osmanendynastie, aus welcher sich das Osmanische Reich zu einer starken Militiirmacht entwickeln konnte, der 1453 schliel31ich Konstantinopel und damit das ganze Byzantinische Reich 13svVgl. als ersten Uberblick: Reinhold Zippelius, GeschichtederStaatsideen,4. Aufl., MCinchen1980, S. 60-63.
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zum Opfer fallen sollte. Im Westen eroberten die omajiadischen Araber zusammen mit den Berbern und Mauren Jerez, Toledo (711), Sevilla, Merida, Malaga, Granada (712) und wurden schliel31ich 732 erst bei Tours und Poitiers (Schlachtniederlage gegen die Truppen des Karl Martell) aufgehalten. Aus dem ehemaligen westgotischen Kfnigreich in Spanien entwickelte sich im 10. J ahrhundert das Emirat von Cordoba als Gegenkalifat zum abassidischen Kalifat in Bagdad, welches 750 das Omajiadenkalifat aus Damaskus beerben sollte. Das intensive und blutige Verhiiltnis zwischen Islam und Christentum im Mittelalter fiihrte zugleich zu einem Kultur- und Kommunikationsaustausch zwischen den beiden verfeindeten Zivilisationen. Die Beitr~ige zur Zivilisationsbildung, welcher der Islam dem sich entfaltenden Europa beisteuerte, waren im globalen Vergleich die damals bedeutungsvollsten Zivilisationseinfliisse, die eine Zivilisation auf eine andere ausiibte. Zu diesen Beitriigen des Islam, der im 10. und 11. Jahrhundert seine kulturelle Hochbliite erlebte (A1-Razi, Avicenna (Ibn Sina), Firdausi), gehfrt insbesondere die wichtige Rolle der Araber in der Frage der Uberlieferung antiker Quellen und Kenntnisse. Die historische Voraussetzung dieser Entwicklung ist in der Spiitantike anzusetzen. Die Entwicklung des Christentums in der Auseinandersetzung mit der Antike fiihrte in der Schwellenzeit zwischen Spiitantike und friihem Mittelalter zu einem befangenen Verhiiltnis des Christentums zum Bildungsgut der Antike. Den Kulmmationspunkt bildete die SchlieBung der platonischen Akademie durch Kaiser Justinian 529. Gleichzeitig kam es zur Eroberung Syriens einschlieBlich Paliistinas im 7. Jahrhundert durch Muslime. Die Muslime mussten sich nicht von der Antike emanzipieren, so dass das in den christlichen Schulen noch weitgehend erhaltene Bildungsgut der Antike mit bestimmten muslimischen Gruppierungen, insbesondere mit der Gedankenwelt der ,,liberalen", philosophisch interessierten Mutaziliten, amalgamieren konnte. Dabei erlangte die arabische Aristoteles-Perzeption, die arabischen Astronomie (Sternund Landkarten) und die arabischen Mathematik groBe Bedeutung. Als bedeutendste Uberlieferungen der islamischen Kultur kfnnten vielleicht genannt werden: Die Schilderung Indiens durch den Chwarezmier Abu Raihan al-Beruni (urn 1000), der Platonismus von al-Farabi, die Geschichtsschreibung von Ibn A1-Athir und spiiter von Ibn Sina (Avicenna) und die Aristoteles-Kommentare von Ibn-Rushd (Averroes). Der Widerstand der ,,Orthodoxen" im islamischen Kulturkreis (die Biicher von Averroes wurden 1194 in Sevilla verbrannt) basierte auf der Uberzeugung, dass der Koran und die Hadith schon alle Wahrheit fiber die Welt im ganzen enthielten und die Kenntnis der empirischen Realitiit irrelevant sei, was den intellektuellen Niedergang des arabischen Islam einleitete. Der entscheidende Schlag gegen die islamische Kultur und Wissenschaft erfolgte schlieBlich durch den Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert. Im Westen hatten sich in der Zwischenzeit akademische Zellen gebildet. Aus dieser neuen Bliite im Abendland sollte schlieBlich die Universitiitskultur erwachsen, wie sie im vorhergehenden Unterkapitel zur Wissenschaft schon in ihrer Entfaltung beschrieben wurde. Die islamische Beeinflussung der sich herausbildenden westlichen Zivilisation machte sich aber nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Sprache sowie den Emiihrungsweisen und der Alltagskultur der Europ~ier bemerkbar, wie die folgende Ubersicht illustrieren sollte: - Erfindungdes Alkohols als chemisches Destillationsprodukt zwischen dem 9. und 10. Jahrhundert (das Wort ,,Alkohol" stammt aus dem Arabischen1358) - Arabische Zahlen und Fortentwicklung der ,,algebraischen" Mathematik (das Wort ,,Algebra" stammt aus dem Arabischen)
~3ssDer ursprCinglichfilirden feinen Staub des Kajalstiftes benutzte Stoff ,,al kuhl" bildet die Basis f/ir unseren Begriff ,,Alkohol".
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- Wfrter (z.B. im Deutschen ,,Admiral", ,,Havarie", ,,Ermattung" ,,Arsenal", ,,Konditor", ,,Amulett", ,,Talisman", ,,Elixier", ,,D areast", ,,Simsalabim", ,,Zi ffer", ,,Chiffre" ,,Tarif", ,,Risiko", ,,Reibach", ,,Raz zia", ,,Rasse", ,,Massage", ,,Kandare", ,,Karat", ,,Kaglber", ,,Kadi", ,,Kabel", ,,Gala", ,,Fanfare", ,,Amalgam'~ und Farbenbezeichnungen (z.B. ,,kzur" oder ,,Lila" oder Lack) - alle aufgeffihrten Wfrter stammen (auch im Folgenden) aus dem Arabischen.1359 - Lebensmittel (Limonade, Soda, Sorbet, Kaffee136~ Mokka, Aprikosen, Artischocken, Estragon, Safran, Reis, Spinat, Ingwer, Kfimmel, Sesam, Auberginen, Marzipan, Orange, Haschisch, Berberitze) - Der Zucker (arab. ,,sukkar'o) gelangte fiber Arabien ins Abendland1361 - MusiNnstmmente (Mandolinen, Laute, Gitarre) - Alltagsgegenstiinde (Baldachin, Sofa, Matratze, Jacke, Mfitze, Gamaschen, Koffer, Tasse, Karaffe, Diwan, Kuppel)
6.2 Anmerkungen zum Verhdltnis zwischen Judentum und Chdstentum
Das C h r i s t e n m m ist ideenl~istorisch betrachtet zuniichst einmal eine Ableimng des alttestamentarischen J a h w e - M o n o t h e i s m u s im K o n t e x t der Botschaft Jesu yon der messianischen Erfiillung jiidischer Prophetie. N e u am Christentum war der universalistische Ansatz, der natiirlich, auch im Unterschied zum J u d e n m m , mit einem Alleinvertretungsanspruch einherging. Die neue Verkiindung des Christenmms indes war der Gesalbte selbst (,,Christds"), der als ,,Sohn G o t t e s " in die Welt kam. D a s alte jiidische Volk, dem Jesus yon Nazareth aus ethnographischer Sicht angehfrte, hatte in seinen letzten K~impfen 115-117 und 132-135 n. C h r . - nach der Z e r s t f r u n g des jiidischen Tempels 70 n. Chr. durch die R 6 m e r - seine Unabhiingigkeit im K a m p f gegen Rom, wie sich spiiter herausstellen sollte, fiir eine sehr lange Zeit verloren. Die Kiimpfe zwischen R o m und dem ,,Volk Israel" orientierten sich aus jiidischer Perspektive an alttestamentarischen ICriegshelden wie Joshua und Saul, an ziimenden P r o p h e t e n wie Jesaja und Jeremia und an kiimpferischen Traditionen wie jene der antihellenistischen Makkab~ier. Erst mit der endgiiltigen Niederlage Simeon Ben Kosebas gegen die T r u p p e n des r f m i s c h e n Kaisers Hadrian 1351362 schied das ,,Volk Israel" als weltlicher Triiger aus der Geschichte aus und wurde auf semen religifsen Kern, das ,,Judentum", zuriickgefiihrt. N u n traten i m m e r stiirker die jiidischen Schriftgelehrten als Fiihrer des dezimierten Judentums in den Vordergrund, bspw. Esra. Es entstanden origin~ire, nicht-hierarchisch aufgebaute Volkskirchen, die Gelehrten traten als Lehrer in Versammlungsriiumen oder Synagogen in Erscheinung, es entstanden mehrere Schulen (u.a. in Jawne, heute Tel Aviv, oder Sura, wo schlieBlich etwa um 500 n.Chr, der ,,Talmud", die ,,Lehre", entwickelt wurde). Zugleich gewannen die Christen heidnischer Herkunft gegenfiber den Christen jiidischer Herkunft (griechischst~immige ,,Hellenisten" und jiidischst~,immige ,,Hebriier") - durch die paulinische Abkehr yore Prinzip der Unterweisung y o n Neuchristen unter die Gesetzesvorschriften des J u d e n t u m s sowie dutch die damit einhergehende Verbreirang des Christentums im gesamten R f m i s c h e n Reich - die Oberhand. Die lange Diasporageschichte des J u d e n m m s , die mit der Vertreibung aus Jerusalem und der Versklavung der Juden 135 durch Hadrians T r u p p e n beginnt und sich nach der Ankunft der m o h a m m e d a n i s c h e n Lehre in Mekka und Medina im Spannungsbogen zwischen Mittlerem und V o r d e r e n Orient, Mittelmeerraum und Iberischer Halbinsel noch intensiviert, fiihrte seit 1359Vgl. Nabil Osman, KleinesLexikon deutscher Wb'rterarabischerHerkunft, 5. Aufl., Mfinchen 1997. 1360Vgl. Femand Braudel, Die Geschichte der Zivilisation. 15.-18. Jahrhundert, M/inchen 1979, S. 271. 1361Vgl. ebd., S. 234. 1342Hadrian benannte Jerusalem in ,,Aelia Capitolina" um und liel3im Zentrum der Stadt ein Jupiter-Heiligtum erbauen.
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der mohammedanischen Lehre in Mekka und Medina im Spannungsbogen zwischen Mittlerem land Vorderen Orient, Mittelmeerraum und Iberischer Halbinsel noch intensiviert, ffihrte seit dem Mittelalter zu einer Pr~isenz des Diasporajudentums von Spanien fiber Westeuropa (Sepharden) nach Mittel- und Osteuropa (Aschkenasen) bis hin zum Byzantinischen Reich, nach der Flucht der sephardischen Juden im Gefolge der Reconquista in Spanien im Spiitmittelalter und an der Schwelle zur Neuzeit in verstiirktem Mage auch in Siidosteuropa und dem sich dort etablierenden Osmanischen Reich. Der ,,Talmud" mit all seinen Geboten und Verboten ffir alle denkbaren Einzelsimationen auf der Grundlage der Tora (der heiligen Schrift des Judentums) machte die Erhalmng der jfidischen Identitiit unter diesen Umstiinden fiberhaupt erst m6glich und wurde zur Lebensgrundlage des Diasporajudentums. Das VerhS.ltnis zwischen Juden- und dem sich emanzipierenden Christentum in diesem historischen Umfeld war seit dem Hochmittelalter in ganz Europa von starken innergesellschaftlichen Spannungen gepriigt, besonders in Spanien, Frankreich und dem Deutschen Reich, abet auch in England. Die damit verbundenen historischen Entwicklungen linden h~iufig im Begriff des ,,westlichen" oder ,,christlichen Antijudaismus" ihren Niederschlag 1363, was vom m o d e m e n Antisemitismus zu scheiden ist, da sich letzterer auf eine rassistische Abqualifizierung des Judentums bezieht, wiihrend sich beim ersten komplexe, kulturell-religi6se und sozialhistorische Elemente zu einer religi6sen Abqualifizierung des Judenmms amalgamieren. Der so defmierte Antijudaismus tobte sich in semen gewalttiitigen Formen (Pogromen, Verbrennungen, Massakern) insbesondere im Zeitalter der K,reuzzfige im 11. Jahrhundert und zwischen Spiitmittelalter und Frfiher Neuzeit (13. bis 16. Jahrhundert) in Europa aus. Die antijudaischen Figuren kreisten dort, wo sie nicht aus irrationaler Abneigung vor dem Hintergrund einer antijfidisch zugespitzten Uberlieferung des Verhaltens des Hohepriesters Kaiphas und des Volkes in der Frage des Barabbas (Matthiius 27, 20-25) 1364 erfolgten, um die eklektische Problematisierung bestimmter ,,antiheidnischer" und explizit antichristlicher Passagen des Talmuds 1365, die auf das Christentum bezogen wurden, wobei der intensive Eklektizismus aufgrund der Rivalitiit der Glaubensfiberzeugungen im damaligen historischen Kontext in der Natur der Sache lag. Dazu kamen die Ressentiments der analphabetischen Masse gegeniiber den schriftgebildeten jfidischen Familien und deren allw6chentlichen Sabbatfeiern. Was die Problematik des Eklektizismus betrifft, seien nur zwei relativierende Punkte erwiihnt, wobei sich der erste auch auf m6gliche Eklektizismen aus jfidischer Sichtweise anwenden liisst. Der Passage in Matt. 27, 25 kann der R6merbrief 11,25-32 entgegengesetzt werden: ,,Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fiille der Heiden zum Heil gelangt ist / und so wird ganz Israel gerettet werden wie geschrieben steht (Jesaja 59,20;Jeremia 31,33) [....]Im Blick auf das Evangelium sind sie [dieJuden] zwar Feinde um euretwillen; abet im Blick auf die Erw{ihlungsind sie Geliebte um der Viiter willen. / Denn Gottes Gaben und Berufung k6nnen ihn nicht gereuen (...). Denn Gott hat alle [ob Heidenchristen oder Juden bzw. alle Menschen] eingeschlossenin den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.'q366
,363Vgl. als Standardwerk Israel Shahak,Jewish I-Iisto{7,Jewish Religion. The Weight of Three Thousand Years, London 1994. 1364Insbesondere Matt. 27, 20: ,,Aber die Hohenpriester und )kltesten/iberredeten das Volk, dass die um Barabbas bitten, Jesus abet umbringen sollten"; Matt. 20, 25: ,,Da antwortete das ganze Volk und sprach: Sein Blur komme/iber uns und unsere Kinder!" 136sVgl. z.B. Reinhold Mayer (Hg.), Der babylonischeTalmud, 5. Aufl., M/inchen 1979, S. 216f. und 618. 1366R6mer 11, 25f; 11,28ff.; 11,32.
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Zum anderen war die Frage der Feindseligkeit gegen die iibrige Welt im Kreise des Talmud umstandsgebunden und daft auch nicht dazu fiihren, die ,,wahren Perlen ''1367 religi6ser Ethik im Talmud zu iibersehen, wie etwa den Spruch: ,,Die gedemiitigt werden und nicht demiitigen, die ihre Schmd'hungen anhb'ren und nicht erwidern, die aus Iaebe handeln und sich iiber ihre Leiden freuen - iiber sie sagt die Schrifi ,Die ihn lieben, sind Me der Aufgang der Sonne in ihrer Gewalt. ,,136a
Trotz aller Schwierigkeiten und Komplexe im jiidisch-christlichen Verhiiltnis im Verlaufe des Mittelalters und (insbesondere) der Friihen Neuzeit darf sowohl die symbiotische Beziehung im Verhiiltnis zwischen Judentum und Christentum in religionshistorischer Hinsicht, insbesondere vor dem Hintergrund der alttestamentarischen Dimension der christlichen 13berlieferung und Glaubenslehre, als auch die Relativierung der historischen Probleme vor dem Hintergrund der islamisch-jiidischen Problematik nicht aus den Augen verloren werden. Was Letzteres betrifft, ist auf die koranische Uberlieferung der Vertreibung und Vemichtung der jiidischen St~imme Banu al-Nadir aus Chaibar und Banu Quraiza durch Mohammeds Soldaten hinzuweisen. Ahnlich gewalttiitige Aktionen gegen Juden finden sich im Neuen Testament nicht. Inwieweit die Behandlung der Juden im islamischen Raum aufgrund der geringeren Anzahl gewaltsamer Ubergriffe pauschal als , , b e s s e r " beurteilt werden kann, erschliel3t sich erst, wenn einmal emsthaft der zwar mittelbare, aber ungemein restriktive Charakter der ,,strukturellen Gewalt" der sogenannten islamischen ,,Dhimmitiimer" ins Blickfeld der Beurteiler geraten wiirde. H_ier hat insbesondere die britisch-iigyptische Islamforscherin Bat Ye'Or vorziigliche Vorarbeiten zum Thema geleistet, die nicht mehr unter den Tisch fallen sollten. 1369 Aul3erdem sollte das tolerante Wirken des Ostgotenk6nigs Theoderich in Italien zwischen dem 5. und 6. J ahrhundert, der westgotischen Arianer in Spanien bis zum Ubertritt Rekkareds I. zum Katholizismus 587, Karls des GroBen im 9. J ahrhundert, Papst Eugens III. und insbesondere Bemhards von Clairvaux im 12. Jahrhundert (Bulle Sicut Ludaeis), die Toleranzschriften der Humanisten Nikolaus von Kues und Johannes Reuchlins, ganz zu schweigen v o n d e r dann allerdings nicht unter christlichen Vorzeichen - sich entfaltenden Judenemanzipation im Zeitalter der Aufldiirung (18. Jahrhundert), wofiir die Ringparabel Lessings im ,,Nathan der Weise" als Symbol steht, betrachtet werden. -
1367So Ernst Nolte, Historische Ex4steng M/inchen 1998, S. 337. 1368Reinhold Mayer (Hg.), Der babylonische Talmud, 5. Aufl., M/inchen 1979, S. 397. 1369 Vgl. Bat Ye'or, The Dhimms Jews and Christians under Islam, 4. Aufl., Rutherford (NJ) 1996; Dies., Der Niedergang des otientalischen Chrfstentums unter dem Islam, 7. - 20. Jahrhundert: Zwischen Djihad und Dhimm#ude, Griifelfmg2002 (mit starker Berficksichtigungauch des Judentums).
IX. Geschichte II: Die Atlantische Revolution und der m o d e r n e Westen
Die E n t s t e h u n g und ideenhistorische Existenz der ,,westlichen Zivilisation" auf der Basis der V o r m o d e r n e kann im folgenden Sinne zusammengefasst werden: ,,Aus der mediterranen Vergangenheit sind der westlichen Welt zwei grol3e Substanzmassen der Ordnung fiberliefert worden: (1) die klassische Politik und (2) die jfidisch-christliche Ontologie yon Mensch, Gesellschaft und Geschichte.'1370 N u n geht es u m die mit der Raumrevolution entfesselte Modernit~it der ,,westlichen Zivilisation" im R a h m e n der sogenannten ,,Geschichte II". D a m i t nun die ,,Atlantische Zivilisauon" als politische Ideee vertieft werden kann, muss also ihre embryonale F o r m als , , m o d e m e westliche Zivilisation" nicht nur technisch-wissenschaftlich, s o n d e m auch politisch-historisch erfasst werden. Folgende Entwicklungen waren bei der Herausbildung einer m o d e m e n Zivilisation des Westens in politisch-historischer Hinsicht kennzeichnend: Im Bereich der Politik, des Rechts und derpolitischen Kultur. Festigung und Fortentwicklung eines souveriinitiitsbasierten Nationalstaatensystems, das A u f k o m m e n der Nations- und Volksidee, die Aufldiirung und S~ikularisierung und das A u f k o m m e n des Liberalismus, die politische ,,Atlantische R e v o l u f o n " , Konservativismus, Sozialismus u n d Totalitarismus. Im Bereich der Gesellschaft, des Handels und der Technik: Festigung und Heraut'kommen neuer Untertypen der Repriisentation westlicher Existenz dutch angewandtes Wissen: Handels- und K o n k u r r e n z p r m z i p , Merkantilismus, subsistenz- und tauschorientierte Marktwirtschaft (als Unterschicht) und zins- und konzernf6rmiger Kapitalismus (als Oberschicht) 1371, Technik und Industrie. Wit k6nnen grob unterscheiden zwischen der politischen ,,Atlanuschen Revolution" und der technisch-industriellen und kapitalistischen Revolution des 19. und 20. J ahrhunderts. Damit stud die beiden Schliisselbegriffe der , , m o d e m e n westlichen Zivilisation" angesprochen, die nun abschlieBend quellenanalytisch und ideengeschichtlich analysiert werden sollen. D e r H a u p t s c h w e r p u n k t soll dabei aufgrund der zentralen B e d e u m n g fiir den in dieser Arbeit ent-
1370Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaftder Politik. Eine Einfiihrune~hg. von Peter J. Opitz, Mfinchen 2004, S. 16. )~hnlich Frank R. Pfetsch, Theoretikerder Politik, Paderbom 2003, S. 43. ,,Die westliche Kultur ist von zwei Denktraditionen bestimmt, der antiken griechisch-r6mischen und der antiken hebritischen [bzw. christlichen]. Die romanischen und germanischen Traditionen k6nnen als Ergiinzungen und Weiterfilihmngenbegriffen werden." Frank R. Pfetsch, Theoretiker der Politik, Paderbom 2003, S. 43. 1371Der Verfasser orientiert sich hierbei an die entsprechende Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen und den entprechenden Definitionen bei Femand Braudel, Die Dynamik des Kapitalismus, 2. Aufl., Stuttgart 1991. Demnach ist die ,,allt{igliche"und tausch- und konkurrenzorientierte Marktwirtschaft,,ihrem Wesen nach nur das Verbindungsglied zwischen Produktion und Konsumtion" (ebd., S. 43), wiihrend der Kapitalismus sich durch eine ,,komplexere Strukmr" und Herrschafts- und Gewinnorientiemng auszeichnet. Die Herrschaftsorientiemng besteht im Bestreben eines jeden guten Kapitalisten Verwertungs- und Produktionsprozesse in Str~ingenund im Ganzen weitestgehend zu dirigieten oder zu kontrollieren, meistens nicht aus altmistischen Grfinden (was jedoch per definitionem nicht ausgeschlossen ist), sondern damit am Ende Geldgewinn abgesch6pft werden kann (vgl. ebd., S. 48f.).
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Kapitel IX
wickelten Begriff der ,,politischen Idee" eindeutig bei der ,,Atlantischen Revolution" liegen. Es kann schon jetzt festgehalten werden, dass sich die moderne ,,westliche Zivilisation" innerhalb dieser Phase zu ihren eigenen vormodemen Bedingtheiten in unterschiedlicher Form verhalten hat und dass das ,,angelsiichsische Zivilregime", wie es sich nun mit der ,,Atlantischen Revolution" festigen sollte, als ,,der prinzipiell und weltgeschichtlich bedeutsame Versuch" gelten kann, die beiden ,,Massen von vormoderner Ordnungssubstanz" (also ,,die klassische Politik und die jfidisch-christ~che Ontologie von Mensch, Gesellschaft und Geschichte") ,,ad{iquat zu institutionalisieren- zuerst fiir den Nationalstaat alten Stils und heute fiir die modeme Industriegesellschaft. ''1372
1. Die amerikanische Revolution in atlantischer Perspektive
Die Phase der Entstehung der nationaldynastischen Souver~initiiten wurde entscheidend flankiert von der bestm6glichen machtpolitischen Ausnutzung der ,,Raumrevolution" durch die neuen Machtzentren, die nationalabsolutistischen Dynastien, die, beginnend 1485 m England, weiterlaufend 1556 m Spanien, 1589 in Frankreich, schliel31ich 1698 in Russland und 1713 in Preul3en, in Europa das Zepter in der Hand hielten. Die freiheitlichen Bewegungen des 18. J ahrhunderts waren zun~ichst einmal mittelstiindische Bestrebungen gegen die aus der Monopolbildung heraus erfolgte Ubermacht des Royalismus. Die soziale Basis dieser Gegenbewegung hatte genauso wie absolutistische Dynastien ihren Ursprung in den europiiischen Modernisierungsentwicklungen zwischen Spiitmittelalter und Frfiher Neuzeit, so wie sie u.a. yon Norbert Elias soziologisch beschrieben wurden. Wie die nationaldynastischen Monopolbildungen, so lassen sich auch die einer monarchischen lJbermacht widerstrebenden, antiroyalistischen Bewegungen in eine iibersichtliche Zeitreihe bringen. Der Kulminationspunkt dieser Entwicklung ist in der ,,Atlantischen Revolution" anzusiedeln und die erwiihnte Zeitreihe ist dabei folgende: die polnische Verfassungsgebung 1505 (Konstitution von Radom), die radikale Rebellion in Grol3britannien zwischen 1645 bis 1649 (verbunden mit der Liquidation des K6nigs) und die ,,Glorious Revolution" 1688-89, die amerikanische Revolution 1775-1783 und die Franz6sische Revolution 1789-1791, ihr Scheitern 1791-95, die nachfolgenden (gescheiterten) Rebellionen und Revolutionen 1820, 1830 und 1848 in Kontinentaleuropa, die gescheiterte russische Revolution 1905 und schlieBlich die ,,Friedliche Revolution" 1989-1991 in Mittel- und Osteuropa. Die amerikanische Revolution kann aus einem normativen Revolutionsverstiindnis heraus als der entscheidende gelungene H6hepunkt jener Bewegungen angesehen werden, da die Abschiittelung des Royalismus hier nicht nut auf einem erfolgreichem und zielf/ihrenden Wege erfolgte, sondern etwas ganz neues in der Weltgeschichte schuf: die grol3fliichige, nationalstaatliche Republik. Machtpolitisch handelte es sich bei der ,,Atlantischen Revolution" also auch um den Endpunkt einer Entwicklung, die aufgefasst werden kann als ein ,,(...) Kampf zwischen Zentralinstitutionen des aufsteigenden nationalen Staates und den unterschiedlich stmkturierten, doch stets in gewisserWeise privilegierten Stiinden des Reiches, die sich zusehends ihrer Machtposition verlustig gehen sahen.'q373
1372Eric Voegelin, Die Neue WissenschaftderPolitik. Eine Einfiihrung, hg. von PeterJ. Opitz, Mfinchen 2004, S. 16. 1373Jfirgen Gebhardt, Die Krise des AmedkanismuJ: Revolutiond're Ordnung und gesellschaftlichesSelbstverstd'ndnis in der amerikanischen Republik, Stuttgart 1976, S. 48.
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Z u s a m m e n mit den E r g e b n i s s e n der englischen R e v o l u t i o n e n liisst sich dabei langfristig der historische T r i u m p h des nationalstaatlichen P a r l a m e n t a r i s m u s u n d der nationalstaatlichrepublikanischen Repriisentativverfassungen ausmachen. B e t r a c h t e n wir die A m e r i k a n i s c h e R e v o l u t i o n im N~iheren. 1374
2. Die U r s a c h e n der A m e r i k a n i s c h e n Revolution D i e ereignishistorischen U r s a c h e n der amerikanischen Unabhiingigkeitserkliirung liegen zuniichst einmal im erfolgreichen Siebenjiihrigen Krieg G r o B b r i t a n n i e n s gegen Frankreich, K a n a da u n d Spanien ( G e w i n n K a n a d a s , Louisianas u n d Floridas137s), was zu einer Zentralisierung des britischen I m p e r i u m s in F r a g e n der Aul3enverteidigung im W e s t e n gegen die (inzwischen z.T. b e w a f f n e t e n u n d berittenen 1376) Priirieindianer fiihrte, also zu einer ,,Intensivierung der Reichspolitik ''13v7 auch in A m e r i k a - bei gleichzeitiger A u f l o c k e r u n g des Z u s a m m e n h a l t s des I m p e r i u m s a u f g r u n d des Wegfalls der nur mit Hilfe des britischen Milit~irs k o n t r o l l i e r b a r e n F r a n z o s e n an den ehemals weiter 6stlich gelegenen W e s t g r e n z e n . U m die Aul3engrenzen besser zu s i c h e m (auch v o r l a n d h u n g r i g e n Kolonisten13V8), k a m es zur Z i e h u n g einer provisorischen Scheidelinie zwischen K o l o n i s t e n u n d n o r d a m e r i k a n i s c h e n Priirieindianern, die n u n durch ein kleines H e e r geschiitzt w e r d e n sollten, zu dessen F i n a n z i e r u n g indes die K o l o n i s t e n h e r a n g e z o g e n w e r d e n sollten. 1379 D a s a u f dieser Basis erfolgte Zuckergesetz1380 u n d die spiitere S t e m p e l s t e u e r g e s e t z g e b u n g 1381 s c h w e m m t e schlieBlich v o r h a n d e n e 6 k o n o m i s c h e , soziale u n d religi6se D i f f e r e n z e n zwischen b e s t i m m t e n I n t e r e s s e n g r u p p e n der K o l o n i s t e n (James Otis, H o p k i n s , Patrick Henry) u n d den Briten (unter K a b i n e t t s c h e f Greenville) an die Oberfliiche, die in k o n k r e t e n K o n f l i k t a u s t r a g u n g e n zwischen G o u v e r n e u r e n , welche die britische Parlamentspraxis fiir ihre Machtstellung ausnutzten, u n d kolonialen Legislaturen miindeten. 1382 D e r 1374Vgl. als ereignishistorische Einf/ihrung und im Folgenden insbesondere John R. Alden, A t-Iisto{7 of the American Revolution, New York 1969.
1375Vgl. u.a. den Friedensvertrag yon Paris vom 10. Februar 1763, abgedruckt in D.B. Horn / Mary Ransome (Hg.), English HistoricalDocumenta. Vol. 10: 1714-1783, London 1957, S. 936-942.
1376 Neben nordamerikanischen PrS_rieindianem land derartige Umwandlung in der indianischen Militiirtechnik nur noch bei den araukanischen Indianem in S/idchile und bei den Pampasindianem in Argentinien start. Dementsprechend sind die nordamerikanischen Priirieindianer, die araukanischen und die Pampasindianer diejenigen Indianerstiimme, die sich am liingsten (etwa drei Jahrhunderte lang) der europ{iisch-atlantischen Invasion erwehren konnten (vgl. Jared Diamond, Arm und Reich. Die S&icksale menschlicher Gesellschaften, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 79). 1377 So die priignante Formulierung in J/irgen Gebhardt, ,,The Federalist" (1787/88), in: Hans Maier / Horst Denzer (Hg.), Klassiker despolitischen Denkens. Von John Locke bis Max Weber, 5. Aufl., M/inchen 2001, S. 73-86, 83. 13v8Vgl. insbesondere die Pro~amation Georgs III. am 7. Oktober 1763, abgedruckt u.a. in Angela und Willi Paul Adams, Die Entstehung der Vereinigten Staaten und ihrer VerJassung. Dokumente 1754-1791, M/inster 1995, S. 22ff. 1379Vgl. Otto Vossler, Geist und Geschichte. Von der Reformation bis w r Gegenwart, M/inchen 1964, S. 63. 1380Abgedruckt in Edmund S. Morgan (Fig.), Prologue to Revolution. Sources and Documents on the Stamp Act Crisis 17641766, Chapel Hill (NC) 1959, S. 4-8; vgl. zur negativen Reaktion der Kolonisten ebd., S. 8ft. und zu der weiteren Diskussion insbesondere ebd., S. 17-23. 1381Vgl. die dokumentarische Auswahl aus dem Stamp Act vom 22. Miirz 1765 in Angela und Willi Paul Adams, Die Entstehung der Vereinigten Staaten und ihrer Verfassung. Dokumente 1754-1791, M/inster 1995, S. 34-37; vgl. ferner die entsprechenden Volldokumente in Henry Steele Commager (Hg.), Documents of American I-Iisto{7, 9. Aufl., Englewood Cliffs (NJ) 1973. Vgl. femerhin Robert Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution. Eine vergleichende Geschichte Europas undAmerikas yon 1760 bis w r Fran~'sischen Revolution, Frankfurt a.M. 1970, S. 180f. 1382Vgl. Max Beloff (Hg.), The Debate on the American Revolution 1761-1783, 2. Aufl., London 1960, ND 1963, und Angela und Willi Paul Adams, Die Entslehung der Vereinigten Staaten und ihrer Verfassung. Dokumente 1754-1791, M/inster 1995, S. 37-57 und insbesondere die BeschlCisse des Stamp Act Congress vom 19. Oktober 1765, abgedruckt in Edmund S. Morgan (Hg.), Prologue to Revolution. Sources and Documents on the Stamp Act Crisis 1764-1766, Chapel Hill (NC)
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Kapitel IX
eigentliche politische K o n f l i k t spielte sich also me zwischen d e m britischen K 6 n i g u n d den in der groBen M e h r h e i t k6nigstreuen, sich als ,,gute Briten" b e t r a c h t e n d e n , ja geradezu republikfeindlichen K o l o n i s t e n 1383 ab, s o n d e r n zwischen d e m i m m e r st~irker v o m P r e m i e r m i n i s t e r b e h e r r s c h t e n britischen P a r l a m e n t sowie den k6niglichen G o u v e m e u r e n a u f der einen u n d den kolonialen Legislaturen a u f der a n d e r e n Seite. D e r daraus resultierende u n d allm~ihlich i m m e r st~irker w e r d e n d e , eigentiimlich z w i s c h e n k o n t i n e n t a l e G e g e n s a t z zwischen G o u v e r n e u r e n u n d Kolonistenlegislaturen fiihrte schon 1701 z u m Inkompatibilitiitsgebot u n d z u m Institut der ,,Amtsklage" im ,,Act o f Settlement ''1384 u n d kann als historische U r s a c h e des amerikanischen Priisidentialismus gelten. 1385 D i e gegen eine zu m~ichtige G o u v e m e u r s e x e k u t i v e gerichteten G e w a l t e n k o n t r o l l m o m e n t e w u r d e n spiiter bei den Federalists unter Antizipation des spiiteren T o c q u e v i l l s c h e n D i k t u m s v o n d e r m6glichen ,,Tyrannei der M e h r h e i t ''1386 auch auf eine m6glicherweise zu starke, m m o rit~itenfeindliche Legislative iibertragen1387: Die Legislative w u r d e in v e r s c h i e d e n e Zweige aufgeteilt, differenzierte u n d basisartikulationsfreundliche A m t s z e i t - u n d R o t a t i o n s r e g e l u n g e n 1388, die f6derative O r d n u n g , die Verfassungsgerichtsbarkeit u n d der neu erfundene, origin~ir amerikanische Priisidentialismus w u r d e n auch aus diesen G r i i n d e n unterstiitzt. 1389 A b e r zuriick zur britisch-amerikanischen Ausgangslage des 18. J a h r h u n d e r t s : D i e 6 k o n o m i schen, sozialen u n d religi6sen D i f f e r e n z e n biindelten sich in der F o r & r u n g nach einer eigenstiindigen nationalen Staatsverfassung, n a c h d e m die Einzelstaatsverfassungen a u f g r u n d viel zu starker d i r e k t d e m o k r a t i s c h e r E l e m e n t e - also so, wie die klassische T h e o r i e es vorausgesagt hatte - versagten. 139~ D e n Besitzbiirgern A m e r i k a s ging es schlieBlich ab etwa 1773 darum, die U n a b h i i n g i g k e i t s b e w e g u n g nicht in die H~inde des M o b s fallen zu lassen, was letzlich wesent-
1959, S. 62f. sowie die Boykottabsprache der New Yorker Kaufleute vom 31. Oktober 1765, abgedruckt ebd., S. 106. Vgl. zu den weiteren Entwicklungen die Dokumente in Angela und Willi Paul Adams, Die Entstehung der Vereinigten Staaten und ihrer Verfassung. Dokumente 1754-1791, M/inster 1995, S. 58-139. Vgl. auch die Ausf/_ihrungen von Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 221 und Dick Howard, Die Grundlegung der ameG kanischen Demokratie, Frankfurt a.M. 2001, S. 77-87. ,383 Vgl. Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten ame,fkanischen EinzelstaatsverJassungen. Zur ideenges&ichtlichen und ve{fassungsgeschichtlichen Komponente der amerikanis&en Revolution, 1775-1780 (Diss.) Berlin 1968, S. 129-150 und 152-155; Daniel J. Boorstin, The Genius ofAmerfcan Politics, Chicago / London 1953, S. 72f. ,384 Vgl. J/irgen Oebhardt, ,,The Federalist" (1787/88), in: Hans maier / Horst Denzer (Hg.), Klassiker des politischen Denkens. VonJohn Locke bisMax Weber, 5. Aufl., M/inchen 2001, S. 73-86, 83. 138sVgl. Ernst Fraenkel, Das amerfkanische Regierungssystem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 221. 1386Vgl. ganz sch6n Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-ArtikeZ Politirche Theorie und Verfassungskommentar der amerfkanischen Griindervdter, hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderborn u.a. 1994, Artikel 10, S. 50-58, 54: ,,Wie das 6ffentliche Wohl und individuelle Rechte vor der Gefahr einer solchen Faktion gesch/itzt und gleichzeitig Geist und Form eines demokratischen [popula,] Regierungssystems gewahrt werden k6nnen, ist der zentrale Gegenstand unserer Untersuchung." ,387 Vgl. ebd., Artikel 48, S. 299-304, 300-303; vgl. ferner Manfred G. Schmidt, Demokratietheoffen, 3. Aufl., Opladen 2000, S. 126f.' Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikankchen Eingelstaatslerfassungen. Zur ideengeschichtlichen und verfassungsgeschichtlichenKomponente der amerfkanischen Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin 1968, S. 415-422. Vgl. zum minderheitenskeptischen Verst;indnis der Amerikaner in der FrCihphase der demokratischen Entwicklung: Allan Bloom, Der Niedergang des amerfkanischen Geistes. Ein Plddoyerfiir die Erneuerung der westlichen Kultur, New York 1987, S. 35fi ,388 Vgl. zur Vorgeschichte in den Einzelstaaten Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikanischen Einzelstaatsverfassungen. Zur ideenges&ichtlichen und verJassungsgeschichtlichen Komponente der ame,fkanischen Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin 1968, S. 422-442. ,389 zur Verfassungsgerichtsbarkeit vgl. z.B. Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorfe und Verfassungskommentar der amerikanischen Griindervdter, hg. yon Angela und Willi Paul Adams, Paderborn u.a. 1994, Artikel 78, S. 469-477, 472f.; zur Legislative: Artikel 52-66, S. 318-406. ,39o So die Einsch{itzung von Dick Howard, Die Grundlegung der amerfkanischen Demokratie, Frankfurt a.M. 2001, S. 23.
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lich zur K o n s t i t u i e r u n g des K o n t i n e n t a l k o n g r e s s e s in Philadelphia fiihrte. 1391 Virginia schloss sich der U n a b h i i n g i g k e i t s b e w e g u n g an, da es sich d u t c h die A n n u l l i e r u n g seiner G e b i e t s a n spriiche im W e s t e n b e d r o h t fi.ihlte. 1392 Es entstand die nationale Staatsverfassung der ,,Vereinigten Staaten v o n A m e r i k a " , also die Staatsverfassung einer F t d e r a t i o n , fiir welche 1 7 8 7 / 8 8 die Federalists folgende militiirischen u n d 6 k o n o m i s c h e n A r g u m e n t e auff'fihrten1393: Schutz vor einer Bedrohung durch europiiische Miichte (2.-5. Artikel), Schutz vor inneramerikanischen Auseinandersetzungen (6. und 7. Artikel), insbesondere um das Territorium im amerikanischen Westen (7. Artikel), gemeinsamer Aui3enhandel auf der Basis einer gemeinsamen Handelsflotte und Kriegsmarine als Schutz vor europ~iischen Einmischungen (11. Artikel), effektivere Zolleinnahmen durch effektivere, ",veilgeb/indelte Grenzkontrollen an der Atlantikk/iste statt Schmuggel im Inneren und Umlagemng der Finanzlasten auf die Landwirtschaft (12. Artikel) und Kosteneffizienz zentraler Verwaltungen (13. Artikel). Mit der F o r d e r u n g nach einer eigenstiindigen nationalen Staatsverfassung unter d e m D a c h einer F t d e r a t i o n v e r q u i c k t e n sich die europiiisch-amerikanischen D i f f e r e n z e n zugleich mit der zivilisationshistorisch u n d politisch-insfitutionell wichtigsten Frage: derjenigen der inhaltlichen A u s g e s t a l t u n g der n e u e n nationalstaatskonstituierenden u n d damit zugleich nationalstaatlichen Verfassung. 1394 D e r Repriisentationsgedanke w u r d e n u n m e h r unterschiedlich gesehen: W u r d e er in E n g l a n d a u f der Basis eines iiberaus differenzierten, besitzaristokratischen W a h l r e c h t s parlamentarisch u n d besitzaristokratisch interpretiert, so k a m er in den K o l o n i e n , w o das G r o s der Steuerzahler, w e n n auch hier mit Einschriinkungen 1395, viel st~irker wahlberechtigt war als in Grol3britannien, nicht n u t im Sinne einer Repr;,isentation der V e r m t g e n d e n auf, s o n d e m auch im Sinne der Repriisentation v o n ,,mercantile t o w n s " , ,,country t o w n s " u n d ,,counties" bis hin zur Idee der Repriisentation m t g l i c h s t aller Steuerpflichtigen, einer V o r f o r m der Repriisenafionen aller Biirger (,,one man, one vote"). 1396 U n d wiihrend der alte englische R e c h t s g r u n d s a t z ,,no taxation w i t h o u t r e p r e s e n t a t i o n " in den U S A als verletzt a n g e s e h e n wurde, herrschte in E n g l a n d s G r u n d b e f m d l i c h k e i t das glatte 1391 Vgl. Angela und Willi Paul Adams, Die Entstehung der Vereinigten Staaten und ihrer VerJassung. Dokumente 1754-1791, M/inster 1995, S. 91-100. 1392Vgl. ebd., S. 108. ,393 Vgl. im folgenden Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gdinderd~'ter, hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderborn u.a. 1994; zur Verfassungsdebatte: Bernard Bailyn (Hg.), The Debate on the Constitution. Federalist and Antifederalist SpeecheJ, Articles, and Letters during tile Struggle over Ratification, 2 Biinde, New York 1993. 1394Die Verfassung der Vereinigten Staaten konstimierte Staat und Nation und begrfindete eine politische Ordnung. Das macht in der Tat ihre ,,philosophische Liberalitiit" aus (vgl. Dietmar Herz, Die wohlerwogene Republik. Das konstitutiohelle Denken despolitisch-philosophischen Liberalismus, Paderbom u.a. 1999, S. 36). Das heil3t aber nicht, dass es ,,keine der Staatsgr/indung vorgeordneten Faktoren gab" (so Herz ebd.): Das, was sie konstituierte, war als Konstruktion durchaus ,,vorgeordnet" - schliel31ich konstituierte die Verfassung ja nicht etwas vtllig Neues, sondem eben ,,Staat" und ,,Nation". Und in der Frage der ,,Nation" orientierte sich die theoretische BegrCmdung durchaus auch an Orientierungspunkten kultureller Gemeinschaft. Auch in der normativen Gmndlegung der amerikanischen Verfassung galt als unabdingbare Voraussetzung einer amerikanischen Ftderation die Konstimiemng als Nation auf der Basis kultureller Gemeinsarnkeiten (vgl. z.B. Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gr~nderva'ter, hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderbom u.a. 1994, Artikel 2, S. 6f.). Nur ist es richtig, dass nicht diese Gemeinsarnkeiten die Konstitution bedingten, sondem dass die Konstitution sich auf diese Gemeinsamkeiten beriefi Insofem ist die amerikanische Verfassung in der Tat nicht kommunitarischen, sondern ,,philosophisch-liberalen" und zugleich neorepublikanischen Urspmngs. ,395 Vgl. Willi Paul Adams, Republikanische Verfassung und biirgerlic/,e Freiheit. Die Verfassungen undpolitischen Ideen der amerikanischen Revolution, Neuwied 1973, S. 332-348; Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 44. 1396Vgl. ebd., S. 406-415; femer Otto Vossler, Geist und Geschichte. Von der ReJormation bis wr Gegenwart, M/inchen 1964, S. 63f. und Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, MCmchen 1974, S. 630, Fn. 47.
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Gegenteil vor: ,,Engliinder u n d Engliinder v e r s t e h e n sich nicht mehr. ''1397 Zugleich stand in E n g l a n d das P a r l a m e n t nicht (mehr) unter, s o n d e m fiber d e m Recht, es e n t s t a n d ein G e g e n satz z w i s c h e n englischer ParlamentssouverS_nitiit u n d althergebrachten, verbrieften englischen Rechtsgrundsiitzen1398, die indes in A m e r i k a zu n e u e m L e b e n erweckt w u r d e n . 1399 Eine Vertretung der K o l o n i s t e n in der englischen Z e n t r a l r e g i e r u n g scheiterte indes schon ,,an geographischen G r i i n d e n ''14~176 u n d eine k o m p e n s a t o r i s c h e A b s i c h e r u n g der R e c h t e der K o l o n i s t e n d u t c h eine geschriebene V e r f a s s u n g u n d zustiindige Gerichtsbarkeit w a r e n a u f der Basis der ParlamentssouveriinitS.t ffir die Briten o h n e h i n ,,undenkbar". 14~ D a s war die G e b u r t s s t u n d e eines ,,amerikanischen Institutionalismus ''14~ der langfristig zu Institutionen einer eigenstiindigen Verfassungsgerichtsbarkeit der U S A ffihren sollte. 1403
3. Klassische und moderne Dimensionen des amerikanischen Republikanismus 3.1 Die Rolle der grDchischen politischen Philosophie im amerfkanischen Ordnungs- und Ve~assun gsjqndungspro zess
Mit der G r f i n d u n g der U S A sollte n u n die v o n den Grfindungsviitern aus e i n e m freiheitsphilos o p h i s c h e n B/irgerverst~indnis heraus idealisierte athenische D e m o k r a t i e des klassischen Zeitalters wieder aus der T a u f e g e h o b e n werden. In diesem Z u s a m m e n h a n g der R e z e p t i o n antiker Staats- u n d P h i l o s o p h i e v o r s t e l l u n g e n spielten i n s b e s o n d e r e J o h n A d a m s , T h o m a s J e f f e r s o n u n d J a m e s M a d i s o n in der amerikanischen politischen P h i l o s o p h i e eine grol3e Rolle. Diese P e r s o n e n (auch Jefferson) w a r e n sich bewusst, dass die athenische D e m o k r a f i e als ,,gute S t a a t s o r d n u n g " unter ernsthaften Stabilitiitsdefiziten litt. D i e s e galt es n u n zu beseitigen, u m die perikleische D e m o k r a t i e , so die ,,Vision", in eine ganz ,,Neue Zeit" zu transformieren. D i e attische D e m o k r a f i e des klassischen Zeitalters sollte so a u f eine neue A r t u n d Weise a n g e w e n det u n d damit in ihrer Werthaltigkeit realisiert werden: ,,If it can, there is a reason to h o p e for
1397Otto Vossler, Geist und Geschichte. Von der Reformation bis zur Gegenwart, M~nchen 1964, S. 64. 1398Vgl. ebd. 1399 Vgl. Randolph G. Adams, Political Ideas of the American Revolution. Britannic-American Contributions to the Problem of ImperialOrganization 1765 to 1775, 3. Aufl., Durham 1958, S. 128-149. 1400Otto Vossler, Geist und Geschichte. Von der Reformation bis zur Gegenwart, M/inchen 1964, S. 65. 1401Ebd. 1402Vgl. Klaus yon Beyme, Vorbild Amerika? Der Einfluss der amerikanischen Demokratie in der Welt, Mfinchen 1986, S. 12f.; Jiirgen Heide~ng, Zum symbolischen Stellenwert der Ve{fassungen in der politischen Tradition der USA, in: Hans Vorliinder (Hg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 123-136. 1403Dieser ,,amerikanische Institutionalismus" war derart stark, dass die Amerikaner z.B. auf die auf diesem Wege 1803 entstandene Verfassungsgerichtsbarkeit im Jahre 1865 nicht verzichteten, obwohl das Gericht mit dazu beitrug, dass ein ganzer B/irgerkrieg ausbrach: Im Urteil Dred Scott vs. Sandorf 1857 verteidigte das Gericht bezeichnenderweise den eigentumsrechtlichen Anspruch eines Plantagenbesitzers auf ,,Wiedereinsetzung des Eigentums an einem SHaven, der in einen freien Staat gebracht worden war." (vgl. Dick Howard, Die Grundlegung der amerikanischen Demokratie, Frankfurt a.M. 2001, S. 20). Dick Howard hat indes zurecht betont, dass der Fall aus dem Jahre 1857 beweise, dass es nicht alleine die Institutionen seien, welche die amerikanische Republik ausmachen. Es geht auch um einen freiheitlichen Geist in der nationalen Identit{it, den Abraham Lincoln im darauffolgenden B/irgerkrieg 1861 bis 1865 dann auch auf den Entwurf einer zivilisierten nationalen Identit{it gebracht hat, welche die wohlverstandene Rebellion eines Freiheitskampfes mit umfasst und diesen Kampf eben nicht alleine aus institutionalistischen GrCinden verwirft. Die zentrale ,,Institution" muss die Institution der Freiheit bleiben (vgl. auch Erich Angermann, Abraham Lincoln und die Erneuerung der nationalen Identit& der Vereinigten Staaten yon Amerika, M~nchen 1984).
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all equality, all the liberty, and every other g o o d fruit o f an Athenian democracy, w i t h o u t any o f its ingratitude, levity, convulsions, or factions. ''1404 Erwiihnenswert erscheint dabei unter a n d e r e m die H e r a n z i e h u n g der griechischen PolisStruktur als M o m e n t der G e g e n a r g u m e n t i o n der Federalists gegen die Anti-Federalists: Einer K o n f 6 d e r a t i o n drohte d e m n a c h ,,wie einst der griechischen Poliswelt ein p e r m a n e n t e r Spann u n g s z u s t a n d zwischen Anarchie u n d Tyrannei, der letzthin z u m V e r s c h w i n d e n der republikanischen O r d n u n g fiihren werde. ''14~ A u c h hier g e w a n n e n also die Federalists ihre A r g u m e n t e , in diesem Fall f/Jr den Bundesstaat, aus ihrem Wissen u n d ihrer K e n n t n i s fiber die politische Welt der Antike, aus ihrer V e r b u n d e n h e i t mit den ,,republikanischen O r d n u n g e n " in dieser Welt u n d ihrer Sensibilitiit fiir die G e f a h r d u n g e n jener O r d n u n g e n durch b e s t i m m t e Strukurdefizite, welche n u n m e h r beim Bau einer n e u e n republikanischen O r d n u n g beseitigt w e r d e n sollten. E n t s c h e i d e n d war dabei die F u r c h t vor den K o n s e q u e n z e n der antiken Verfassungskreislauftheorie, es w u r d e nach L 6 s u n g e n A u s s c h a u gehalten, wie diese zu d u r c h b r e c h e n sei. 14~ N a c h J o h n A d a m s war es die fehlende ,,real authority" im demokratischen Athen, die dort zu einer labilen Situation fiihrte u n d in der Niederlage Athens im P e l e p o n n e s i s c h e n Krieg kulminierte. 1407 ,,The people in each of the United States have, after all, more real authority than they had in Athens. Planted as they are over large dominions, they cannot meet in one assembly, and therefore are not exposed to those tumultuous commotions, like the raging waves of the sea, which always agitated the ecclesia at Athens. '14~ In diesem Z u s a m m e n h a n g konstatierten die Federalists zudem, dass im Unterschied zur griechischen Poliswelt die Gef'fihrdung der inneren Stabilitiit Amerikas auch n o c h in einem sehr viel intensiveren Ausmal3e v o n ,,aul3en", namentlich den Nationalstaaten E u r o p a s , kam. 14~ B e z o g e n auf die D e m o k r a t i e f r a g e sind insbesondere die R e z e p t i o n e n v o n J o h n A d a m s relevant: So verglich A d a m s auf iiberzeugende Weise soziale u n d politische Unsicherheiten eines jeden A t h e n e r Biirgers mit seiner Zeit u n d brachte die P r o b l e m e A t h e n s mit der dort installierten V e r f a s s u n g s f o r m direkter D e m o k r a t i e (die v o n d e r Verfassungspraxis zu scheiden ist) z u s a m m e n . Hi~ N e u in den U S A u n d den ihr v o r h e r g e h e n d e n K o l o n i e n war d e m n a c h die besondere B e t o n u n g der Gewaltenteilung u n d der Repriisentation, auch w e n n beides in der atti-
1404 John Adams, A Defence qjcthe Constitution of Government of the United States of America. Against the Attack of M. Turgot in his letter to Dr. Price, dated 22"~ March, 1778, ND Aalen 1979 (Reprint of the 3rd edition, Philadelphia 1797), Volume 1. 140sJfrgen Gebhardt, ,,The Federalist" (1787/88), in: Hans Maier / Horst Denzer (Hg.), Klassiker des politischen Denkens. Von John Locke bis Max- Weber, 5. Aufl., M/inchen 2001, S. 73-86, 79; auch Jefferson argumentierte so (vgl. Karl Lehmann, Thomas JeFerson. American Humanist, New York 1947, S. 114). 1406Vgl. J/irgen Gebhardt, ,,The Federalist" (1787/88), in: Hans Maier / Horst Denzer (Hg.), Klassiker des politischen Denkens. Von John Locke bis Max" Weber, 5. Aufl., M/inchen 2001, S. 73-86, 79f. 140vVgl. John Adams, A Defence of the Constitution ~Government of the United SLates ofAmerica. Against the Attack of M. Turgot in his ktter to Dr. Price, dated 22"~ March, 1778, ND Aalen 1979 (Reprint of the 3rd edition, Philadelphia 1797), Volume 1, S. 284f. 1408Ebd., Volume I, S. 285. 1409 Vgl. den Ausspmch Madisons in Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Griinderva'ter, hg. yon Angela und Willi Paul Adams, Paderbom u.a. 1994, Artikel 12, S. 65: ,,M6gen die Amerikaner es fiir unter ihrer W/irde halten, Werkzeuge europS~scher Gr613e zu sein! M6gen die dreizehn Staaten, lest verbunden in einer engen und unaufl6slichen Union, gemeinsam ein groi3es amerikanisches System schaffen, das der Beherrschung dutch alle transatlantischen Miichte und Einfl/isse/iberlegen ist und die Bedingungen f/ir die Beziehungen zwischen der alten und der neuen Welt selbst diktieren kann!" 1410Vgl. John Adams, A Defence of the Constitution of government of the United States ofAmerica. Against the Attack of M. Turgot in his letter to Dr. Price, dated 22 "d March, 1778, ND Aalen 1979 (Reprint of the 3~dedition, Philadelphia 1797), Bd. III, S. 396f.
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schen D e m o k r a t i e in der politischen Prams, z.T. auch in der (aristotelischen) Theorie, keine F r e m d w 6 r t e r waren. Die normative Wiirdigung der heutigen liberalen D e m o k r a t i e sollte sich daher nicht nur auf M o n t e s q u i e u u n d Locke 1411, s o n d e m auch auf Praktiken u n d Theorien der Antike beziehen. Die s o z i o 6 k o n o m i s c h e und agonale Struktur des athenischen Polislebens machte die D e m o k r a t i e repriisentativer und gewaltenteiliger als es in der direktdemokratischen ,,Verfassung" u n d der los-, d.h. zufallszentrierten und damit verm6gensunabhiingigen (ergo ,,demokratischen") Selektionsstruktur bei der Auswahl der H e r r s c h e n d e n den Anschein hatte. Es ist eben nicht so, dass ,,Repriisentation" u n d auch ,,Gewaltenteilung" in der attischen Demokratie iiberhaupt ,,keine Rolle ''1412 spielten. Die Identit;,it y o n Regierenden u n d Regierten lag zwar in Reinheit vor, aber in jener Reinheit nur in der Theorie (und freilich im R a h m e n der damaligen Regelung der ,,Staatsbiirgerschaft"). Die attische D e m o k r a f e kam der identitiitsbasierten Direktdemokratie weltgeschichtlich in der Tat am niichsten, auch in der Moral u n d im Selbstverstiindnis, doch in der Prams war sie mit ihr me identisch. 1413 Rousseau selbst, was heute oft in Unkenntnis der einschliigigen Quellen iibersehen wird, hat das klar u n d deutlich vor A u g e n gefiihrt: , , N i m m t m a n den Begriff [der Demokratie] in der ganzen Sch~irfe seiner B e d e u t u n g [und bei dieser Zielsetzung wird Rousseau fortan im Text exakt verbleiben], dann hat es niemals eine echte Demokratie gegeben, u n d es wird sie niemals geben ''H14, so dass Rousseau am E n d e b e h a u p t e n kann: ,,Wenn es ein Volk v o n G 6 t t e m gebe, wiirde es sich demokratisch regieren. Eine so v o l l k o m m e n e Regierung passt fiir M e n s c h e n nicht 'q415 - ergo auch nicht fiir die Griechen. Die lokale Selbstregierung als Kernbestandteil der attischen Herrschaft des D e m o s (der ja nur einen Bezirk des Ganzen, der Polis, umfasste) wird bei Rousseau zwar nicht bestritten, doch die zugrundeliegende M6glichkeit, , , u n u n t e r b r o c h e n auf den Marktplatz v e r s a m m e l t " zu sein, wird zugleich in einen unmittelbaren Z u s a m m e n h a n g mit der Existenz der Sklaverei gebracht, welche diese MuBe und Freiheit iiberhaupt erst m6glich machte. 1416 U n d es ist schon b e t o n t worden, dass die Z u s a m m e n k u n f t auf der agor~i im R a h m e n des D e m o s i m m e r n o c h was anderes ist als die grol3en gesetzgebenden u n d richterlichen Volksvers a m m l u n g e n der ganzen Polls an der Pnyx. Die Polis war im Gegensatz z u m D e m o s faktisch nie eine wirklich direktdemokratisch-identitiitsbasiert regierte politische Einheit. A n diese praktische Tradition versuchte m a n n u n in den USA anzuknfipfen. Bei der U n t e r s c h e i d u n g zwischen klassischem u n d m o d e r n e m Republikanismus sind n u n zwei Abgrenzungskriterien v o n Bedeutung: Z u m einen das Kriterium der existentiellen politi-
1411So z.B. Peter Graf Kielmansegg, Das Experiment der Freiheit. Zur gegenwa'rtigen Lage des demokratischen Verfassungsstaate,,, Stuttgart 1988. Gegen eine pr~is~iptive Vorstellung von liberaler Demokratie richtet sich grunds~itzlich die Demo~atietheorie von Giovanni Sartori, Demokratielheorie, Darmstadt 1992. Die Betonung des partizipativen Moments als entscheidendes pr~iskriptives Moment der antiken Demokratie und zugleich als Basis einer pr{iskriptiven Vorstellung auch f/Jr die moderne Demo~atie heute, und zwar im Sinne eines partizipationstheoretischen Anniihemngswertes, wird wiedemm von Theoretikem wie Pateman, Barber, Habermas, aber auch Etzioni und Taylor vertreten (vgl. Carole Pateman, Parti@ation and Democratic Theo~, Cambridge 1970; Benjamin R. Barber, Strong Democrat. Participato~ Politicfor a New Age, Berkeley 1984; J/irgen Habermas, Fakti~tat und Geltung, Frankfurt a.M. 1992; vgl. insgesamt auch Dieter Fuchs, Demokratie und Beteiligung in der modernen Gesellschqfi: einige demokratietheoretische Uberlegungen, in: Oskar Niedermayer / Bettina Weste (Hg.), Demokratie und Parti~pation. FestschriftJ~rMax Kaase, Wiesbaden 2000, S. 250-280, 270). 1412So z.B. Dieter Fuchs, Demokratie und Beteiligung in der modernen Gesellschaft: einige demokratietheoretische ([Tberlegungen,in: Oskar Niedermayer / Bettina Weste (Hg.), Demokratie und Part@pation. Festschriftj~r Max* Kaase, Wiesbaden 2000, S. 250-280, 260. 1413Genau das suggerieren oft diejenigen, die sehr stark auf die Unterschiede zwischen antiker und modemer Demokratie und Demokratietheorie abstellen start sich auf die wichtigen Gemeinsamkeiten zu besinnen (Sartori, Hartmann). 1414Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschqftsvertrag oder GrundMtze des Staatsre&ts, hg. yon Hans Brockard, Stuttgart 2003, Drittes Buch, 4. Kapitel, S. 72. 1415Vgl. ebd., Drittes Buch, 4. Kapitel, S. 74. 1416Vgl. ebd., Drittes Buch, 15. Kapitel, S. 104f.
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schen Ordnung (klassische Republik als Regierungsform bzw. Herrschaftstyp im Rahmen einer Mischverfassung oder modeme Republik als demokratische Staatsform). Zum anderen spielt die Legitimationsquelle politischer Ordnung eine Rolle (klassische Republik als ,,allgemeinwohlabgeleiteter" legitimierter Herrschaftstyp oder modeme Verfassungsrepublik im strengen liberalen Sinne mit individualorientierter Legitimation des Herrschaftstyps). Nach diesem Raster ergiibe sich folgendes Bild: In der Frage der Legitimationsquelle gibt es in der politischen Philosophie des amerikanischen Nationalstaates zuniichst einmal unterschiedliche Positionen. Wiihrend bei John Adams und Alexander Hamilton wichtige modeme Elemente in einer weiterhin tugendbezogenen Republiktheorie vorkamen, die aber zugleich auf etwas v611ig Neues wiesen, blieb Jefferson sehr stark beim klassischen Republikanismus stehen, allerdings mit einem immer stiirker werdenden Partizipationsenthusiasmus. 141v Einen puren Modernismus linden wir jedoch bei allen drei Vertretem nicht, auch nicht bei Adams und Hamilton. Im Querschnitt kann zusammengefasst werden, dass generell ein modemes und ein klassisches Verstiindnis miteinander vereinigt wurden. 141aDer liberale Individualismus ging also und geht im amerikanischen Idealverstiindnis mit einem politikphilosophischen Republikanismus u n d dariiber hinaus - einem religi6s orientierten kulmrellen Traditionalismus einher. Die amerikanische Verfassung als solche indes (also ihre Legitimation ohne ihre kulturellen Voraussetzungen) ist das neue Element, das zur politikphilosophischen Legitimation hinzutritt: Die Verfassung als solche ist ein reiner Staatsmechanismus, der ve~assungstheoretisch nut auf eine individualistische Legitimationsquelle zuriickzufiihren ist. Somit entstehen im Kern zwei ganz unterschiedliche und dennoch beiderseits giiltige Legitimationen: eine politikphilosophische unter Einschluss der modernen Verfassungstheorie und eine rein verfassungstheoretische. Warum die politikphilosophische Dimension die verfassungstheoretische einrahmt, soll im Verlaufe dieses Kapitels n~iher begriindet werden. Zuvor muss darauf hingewiesen werden, dass wit es beim Kriterium der existentiellen politischen Ordnung mit einer iihnlich strukturierten Vereinigung klassischer und moderner Theorie zu tun haben, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Wiihrend bei der Legitimationsquelle die vormoderne Frage der politischen Philosophie die moderne Verfassungstheorie umrahmt, weil letztere einen Zweck in Bezug auf die zentrale Allgemeinwohlfrage der klassischen Politikphilosophie erfiillen soll (wie noch zu begriinden wiire), umschliel3t die moderne Staatsformentheorie in der existentiellen Dimension die vormoderne Regierungsartenphilosophie. Die Vereinigung kann hier auf folgenden Nenner gebracht werden: Der amerikanische Verfassungsstaat ist eine klassische Republik als Regierungsform bzw. Herrschaftstyp, so wie er bis dahin im Rahmen einer Mischverfassung iiberliefert war, nun abet im Rahmen einer modernen repriisentativ-demokratischen Staatsform. Das schl{igt sich auch in der amerikanischen Verfassung als solcher nieder: In ihren Staatsformaspekten ist sie eine moderne republikanische Verfassung, denn sie ist keine Mischverfassung mehr, sondern eindeutig die Verfassung einer repriisentativ-demokratischen Staatsform. In ihren Regierungsformaspekten in diesem modemen Rahmen ist sie jedoch eine iiuBerst klassische Auspr~igung republikanischer Verfasstheit, mit iiuBerst starken Antiwillkiir-, Rechtsstaats- und Gewaltenteilungselementen, die dem demokratischen Gewicht der Staatsform zugleich als Gegengewichte entgegenstehen. Allerdings ist die 1417Eine auch hierzu alternative Sicht der Dinge findet sich bei Joyce Appleby, Iaberalism and Republicanism in Historical Imagination, 2. Aufl., Cambridge(Mass.) 1993, S. 291-319. Vgl. zu Hamilton und Jefferson auch Ludwig Beutin, Hamilton undJe~erson, in: Historische Zeitschrift,Bd. 177 (1954), S. 495-516. 1418Das zieht sich wie ein toter Faden bei Richard Hofstadter, The American Political Tradition and the Men Who Made It, New York 1973, S. 3-21; ferner Margarita Mathiopoulos, Amerika: Das Experiment des Fortschritts. Ein Vergleich des politischen Denkens in Amerika und Europa, Paderbom/MCinchenu.a. 1987, S. 213.
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Verfassung selbst nicht wertgebunden, s o n d e m rein prozeduralistisch , was wiederum ihre Modernit{it und ,,Liberalit{it" ausmacht und was nut mit der m o d e r n e n Verfassungstheorie verstanden werden kann. N u n sollen diese Thesen im Einzelnen auf ihre Stichhaltigkeit iiberpriift werden.
3.2 Die Position von John Adams, die Prforfta't derfreiheitlichen Ve~assung im Kontext nationaler Souverdnita't und die Posteriorita't der Volkssouverdnitdt
Das m o d e r n e Republikverst{indnis (Republik = Demokratie), so wie es heute Defmitionsgrundlage der komparativen Staatsformenlehre der Politikwissenschaft ist, war zwar ein basaler Grundbestandteil der Republikbetrachtungen in den amerikanischen Einzelverfassungen zwischen 1776 und 1780 (auf der Basis der A n e r k e n n u n g des Kontinentalkongresses 1776ff. als h t c h s t e Autorit{it1419), doch e r s c h t p f t e sich das Republikverst{indnis nicht darin, aul3er in der Position von T h o m a s Paine in einem betont ,,antiklassischen" Kontext. 142~Das m o d e m e Republikverst{indnis wurde indes auf der anderen Seite grunds{itzlich bejaht: Ganz besonders augenf~illig wird das bei James Madison, der Demokratie und Republik im Sinne einer ,,unmixed republic" auf eine Weise zusammendachte 1421, ohne dass er das klassische Verst{indnis dadurch substituierte: Er erreichte das, indem er einen wichtigen graduellen Unterschied zwischen den beiden Begriffen (im Sinne von repr{isentativ und direkt) konstatierte 1422 und die repr{isentative Struktur der amerikanischen Republik klassisch begriindete. D e m n a c h war es in einer Republik wiinschenswert, dass neben der Nicht-Existenz eines sich erblich qualiflzierenden K t n i g s , die klassisch aufgrund von Gewaltenteilungsiiberlegungen begriindet wurde, ein darfiber hinausreichendes Willkiirverbot durch ein ausgefeiltes System der Gewaltenteilung und des Rechtsstaates v o r h a n d e n sein sollte, welches die rein demokratische Legitimation konterkarierte und eine republikanischen Regierungsform iiberhaupt stabilisierte: Die elektorale Basis sowie die Ausgestaltung der ,,Volkssouver{init{it" spielten also fiir die richtige Ausgestalmng der Republik keine eigenst{indige Rolle, schon gar nicht in einer direktdemokratischen Lesart. Es ging bei der Einf'uhrung v o n Biirgerwahlrechten zun{ichst u m die Verhinderung einer auf der Basis klassischer Gewaltenteilungserw{igungen negativ bewerteten erblichen Monarchie. N o c h weiter ging J o h n Adams, indem er die Republik selbst - im Gegensatz zu Madison klassisch als Regierungsart ertrterte.
1419Vgl. Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikanischenEinzelstaatsve~fassungen. Zur ideengeschichtlichenund verfassungsgeschichtlichenKomponente der amerikanischen Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin 1968, S. 51-127, Zusammenfassung auf S. 126f.; vgl. femer ebd., S. 129-150. 1420Vgl. Alfred Owen Aldridge, Thomas Paine'sAmerican Ideology,Newark~London~Toronto 1984, S. 243. ,,It could the mist of antiquity be taken away and men and things viewed as they then really were, it is more than probable that they would admire us, rather than we them." (zitiert nach ebd.). Aldrige zusammenfassend: Paine ,,admitted that the Greeks and the Romans possessed the spirit of liberty in the abstract, but accused them of using their power in practice to enslave the rest of mankind." (ebd., S. 283). 1421Vgl. Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen G~'nderva'ter, hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderbom u.a. 1994, Artikel 39, S. 225-232, 226f. und Artikel 14, S. 74-80, 74ff. Vgl. als Sekund;,irliteratur Harald von Bose, Republik und Mis&verfassung- zur Staatsformenlehreder FederalistPapers, Bonn (Diss.) 1989, S. 88-92. 1422 Vgl. Harald von Bose, Republik und Mischve~fassung- zur Staatsformenlehre der Federalist Papers, Bonn (Diss.) 1989, S. 95-124.
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In A n l e h n u n g u n d Weiterf'dhrung v o n M o n t e s q u i e u 1423 m a c h t e A d a m s die E x i s t e n z der ,,Republik" selbst d a v o n abh~ingig, dass das ,,Gesetz" h e r r s c h e 1424 und, im U n t e r s c h i e d zu E n g land 1425, dass alle B e w o h n e r des Staates v o r d e m G e s e t z gleich zu sein haben, w o b e i dieses Prinzip mit der Institution der Sklaverei u n d d e m Ausschluss bloBer (nicht-besitzender) ArbeitskrS, fte v o m W a h l r e c h t (bis spS_testens zur ,,Jacksonian Revolution") 1426 k o n f o r m g e s e h e n wurde. D i e , , R e p u b l i k " als government w u r d e also bei J o h n A d a m s (im U n t e r s c h i e d zu Madison) als gema~igte Regierungsform v e r s t a n d e n ,,in which all men, rich and poor, magistrates and subjects, officers and people, masters and servants, the fist citizen and the last, are equally subject to the laws. ''1427 W e n n der N e o p a n l o g i s m u s im Sinne der N a m r g e s e t z l e h r e bei M o n t e s q u i e u als der e n t s c h e i d e n d e H i n t e r g r u n d der A d a m s c h e n Sichtweise h e r a n g e z o g e n wird, ist auch schnell klar, dass m_it , , G e s e t z e n " m e h r gemeint ist als mit ,,gefassten Beschliissen". D i e , , G e s e t z e " sind d e m n a c h n u r dann wirklich Gesetz, w e n n sie eine (freilich je nach politischer K u l t u r unterschiedliche) Positivierung der als harmonisch interpretierten N a t u r g e s e t z e darstellen. 1428 E n t s c h e i d e n d war also im B e z u g a u f den , , R e p u b l i k " - B e g r i f f bei J o h n A d a m s (wie iibrigens spiiter auch bei Kant) nicht nut die repra'sentative Legitimationsstruktur der Exekutive (die Position Madisons) 1429, schon gar nicht die v o n M a d i s o n u n d Paine b e t o n t e A b l e i t u n g des R e p u blikbegriffes aus d e m Prinzip der Volkssouver~initiit (bei M a d i s o n n u r in formaler Hinsicht), s o n d e r n eine am WillkiirmaBstab v o r g e n o m m e n e E i n o r d n u n g der rechtspolitischen Ausgestal-
1423 Montesquieu unterschied zwischen willkfirlicher (gesetzesloser) und gesetzestreuer ,,Verfassung" und ansonsten nur zwischen ,,Regierungsformen", /ibrigens wie auch Rousseau in dieser Frage (Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsa2ze des Staatsrechts, hg. yon Hans Brockard, Stuttgart 2003, Drittes Buch, 1.-7. Kapitel, S. 61-84). I424 Vgl. Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikanischen Einzelstaatsve~Cassungen. Zur ideengeschichtlichen und verfassungsgeschichtlichen Komponente der amerikanischen Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin 1968, S. 179. 1425 Der Unterschied dieser Republikbetrachtung zu Englands Situation wird bestritten bei Randolph G. Adams, Political Ideas of the American Revolution. Britannic-American Contributions to the Problem of Imperial Organization 1765 to 1775, 3. Aufl., Durham 1958, S. 122f.. 1426Vgl. Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 44f 14zvJohn Adams, A Defence of the Constitution of Government of the United States of Ame~ca. Against the Attack of M. Turgot in his letter to Dr. Price, dated 22 "e March, 1778, ND Aalen 1979 (Reprint of the 3rd edition, Philadelphia 1797), Volume III, S. 159f. 1428Das ist eine logische Folge folgender zwei Behauptungen von Montesquieu: 1. Dass die Voraussetzung der Positivierung selbst eine menschheitsgeschichtliche Folge eines ,,nat-firlichen Gesetzes" ist (genau gesagt des vierten dieser Sorte), niimlich eine Folge des Wunsches des Menschen ,,nach Zusammenleben in Gesellschaftsform" (vgl. CharlesLouis de Secondat, Baron de la Br&de et de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, bearb, v. Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 1. Buch, 2. Kapitel, S. 102) und 2. dass ,,positive Gesetze" dazu da sind, diese Folge, nfmlich einen Kriegszustand sowohl im Inneren als auch im )~ul3eren, durch Rechtsstiftung wieder zu beenden, da dieser Kriegszustand im Widerspmch zu seiner eigenen Voraussetzung steht, niimlich dem Wunsch ,,nach Zusammenleben [eben nicht ,,Zusammensterben '~] in Gesellschaftsform" (vgl. ebd., 1. Buch, 2. und 3. Kapitel, S. 102). Das vierte nat/irliche Gesetz ist somit Grundlage jedes ,,positiven Gesetzes". Sollte ein ,,positives Gesetz" nun das vierte nanlirliche Gesetz missachten (z.B. durch Stiftung yon Unrecht mittels eines - dann sogenannten - ,,Gesetzes", eine M6glichkeit, die Montesquieu noch nicht kannte), dann w/irde dieses angebliche ,,Gesetz" der Voraussetzung seiner eigenen Existenzberechtigung widersprechen. Wenn etwas der Voraussetzung seiner eigenen Existenzberechtigung widerspricht, kann es sich dann noch als das ausgeben als was es zu existieren scheint? Diese Frage zu bejahen, bedeutete hier den Satz vom logischen Widerspmch zu verletzen. Also: Ein solches angebliches ,,Gesetz" auf der Basis der Begrifflichkeit Montesquieus als ,,Gesetz" zu bezeichnen, ist logisch widersprfichlich, also sachlich falsch. 1429I~assisch: ,,Eine Republik, womit ich ein Regierungssystem meine, in dem das Konzept der Repriisentation verwirklicht ist (...)" (Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die IVederalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Griinderv~'ter, hg. yon Angela und Willi Paul Adams, Paderborn u.a. 1994, Artikel 10, S. 50-58, S. 55); ,,Die beiden entscheidenden Unterschiede zwischen einer Demokratie und einer Republik sind: erstens, die Delegierung der Herrschaftsgewalt an eine ldeine Zahl gew{ihlter Bfirger in letzterer; zweitens, eine gr613ere Zahl von Bfirgem und ein gr6t3eres Territorium, auf das die Republik ausgedehnt werden kann." (ebd.).
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tung eines nicht-monarchischen Staates. Entscheidend fiir die Beurteilung ist demnach das von der Staatsform als unabhiingig angesehene Instrument der innerstaatlichen Machtverteilung. Die nicht-monarchische Staatsform der USA spielte hierbei f6r die Republikanismusdefmition nut insofern eine Rolle, dass eine Monarchie grunds~itzlich als despotieanf~iUig angesehen wurde und nicht wegen des grundsiitzlichen Inegalitarismus erblicher Legitimationsanspriiche. Die Einordnung von Adams unternahm schon Montesquieu auf systematische Weise in seiner Unterscheidung zwischen ,,despotischen" (Despotien143~ ,,entarteten" (den von Natur aus entarteten Despotien 1431, will sagen den letztlich gleichkommenden Entartungen von D e m o kratie, Aristokratie und Monarchie 1432) und ,,gemiif~igten Regierungsformen" (Monarchien, aristokratische Republiken, demokratische Republiken und Mischverfassungen1433). Die Partizipation der Bev61kerung an der Regierung und Gesetzgebung oder gar ihre verfassungskonstituierende Position nahm aus dieser traditionellen Sichtweise eine untergeordnete Rolle ein. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie in dieser ,,klassischen" Schule und bei John Adams keine Rolle spielte. Die Partizipation, nicht als Selbstzweck, abet als M~iBigungs- bzw. Machtteilungselement, war durchaus unverzichtbar. Dass das Wort , , D e m o k r a f e " in der amerikanischen Verfassungsurkunde nirgendwo auftaucht, und - etwa ab 17761434 und ganz deutlich schlieBlich in den tVedera/ists- eindeutig dem Begriff der (reinen) ,,Demokratie" entgegengestellt wird, hat indes nicht nur damit zu tun, dass unter dem Begriff ,,Demokratie" (tendenziell) nur die direkte Demokratie verstanden wurde 1435, sondem dass sie bei vielen Exponenten der liberalen Aufldiirung und auch bei Griindungsv~itern der USA, wie z.B. (entsprechend) bei Montesquieu und Adams, eben (iberhaupt kein Selbstzweck war. Das steht sicherlich in einem gewissen politischen Gegensatz zum jungen Jefferson und interessanterweise auch zu Hamilton; im emotionalen Sinne eindeutig auch im Gegensatz zu Thomas Paine, obwohl auch Paine im ,,Common Sense" nirgendwo die Bezeichnung ,,Demokratie" benutzt hat, diese im heutigen Sinne aber mit dem Worte , , R e p u b l i k " umschrieb. Allerdings stand damit auch Paine interessanterweise in einem gewissen Gegensatz zu radikalen britischen Whigs wie Trenchard und Priestley und schlieBlich zu amerikanischen Pamphletisten ,,vie Richard Price, welche den Begrift der Demokratie explizit gebrauchten. 1436 Der Gegensatz bestand zwischen den Verfechtem der abwehrrechtlichen, gesetzesf6rmigen ,,civil liberty" auf der einen Seite und den E x p o n e n t e n der mit dem Freiheitsbegriff deckungsgleich gebrauchten, aber partizipationsorientierten ,,political liberty" auf der anderen Seite 1437 - die wiederum nicht zu verwechseln ist mit der gesetzesf6rmigen ,,libert6 politique"
1430Vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de la BrSde et de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, bearb, v. Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 2. Buch, 5. Kapitel, S. 117f. 1431Vgl. ebd., 8. Buch, 10. Kapitel, S. 192f. 1432Vgl. ebd., 8. Buch, 2.-9 Kapitel, S. 184-192. 1433Vgl. ebd., 2. Buch, 2.-4 Kapitel, S. 106-117 und 11. Buch, 6. Kapitel, S. 216-230. 1434 Vgl. Harald von Bose, Republik und mischve~fassung - zur Staatsformenlehre der Federalist Papers, Bonn (Diss.) 1989, S. 85ff. 1435So Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 39. 1436Vgl Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikanischen Einzelstaatsverfassungen. Zur ideengeschichtlichenund verfassungsgeschichtlichen Komponente der amerikanischen Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin 1968, S. 264, 267, 269f. und 275ff. Eine grundlegende Quellenedition zu wichtigen amerikanischen Pamphleten vor 1765 stellte Bernard Bailyn zusammen (Bernard Bailyn, Pamphlets of the American Revolution 1750-1776, Volume 1: 1750-1765, Cambridge (Mass.) 1965). F6r die Zeit nach 1765 bietet sich die Quellensammlungyon Max Beloff an: Max Beloff (Hg.), The Debate on the American Revolution 1761-1783, 2. Aufl., London 1960, ND 1963. 143vVgl. Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikanischen Einze~taatsverfassungen. Zur ideenges&ichtlichen und verfassungsgeschichtlichenKomponente der amerikan&'hen Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin 1968, S. 265ff. und S. 275-279.
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bei Montesquieu. 1438Bei T h o m a s Paine verhS_lt es sich indes so, dass auch er Volkssouveriinit{it u n d Partizipation als sehr wichtige politische Zwecke ansah, ffir die er sich kiimpferisch einsetzte, dass aber die ,,Republik", die bei ihm als nicht-monarchische Staatsform fungiert, fiir ihn ein Mittel zu einem n o c h viel gr6Beren Zweck darstellt: Die Souveriinitiit des unberechenbaren ,,Willens" durch die SouveriinitS_t eines objektiven ,,Rechts" in einem letztlich prozeduralistischen Sinne abzul6sen. 1439 Die beste und m e n s chengerecht est e aller P r o z e d u r e n sah er in der (nicht als solche artikulierten) D e m o k r a t i e mit genereller Stimmenrechtsgleichheit. D o c h stilbildend in den USA und erst recht in Grol3britannien waren eben nicht die radikalen Politikrevolutioniire, sondern die sich durchsetzenden kontinuitiitsorientierten (in gewisser Weise sicherlich ,,konterrevolutioniiren") G e d a n k e n der gem~il3igten Verfassungsviiter, welche die Traditionen der politischen Verfassungsphilosophie von Aristoteles fiber Locke bis Montesquieu gerade nicht ffir fiberholt hielten. 144~Eine ,,Republik" k o n n t e somit sowohl bei J o h n A d a m s als auch bei M o n t e s q u i e u als von vornherein positiv besetzte ,,Anti-Willkfir-Regier u n g s f o r m " keine schlechte Regierungsform sein. Zwar ist bei Montesquieu von der M6glichkeit der ,,Entartung" der Prinzipien einer Republik die Rede 1441, w e n n niimlich die ,,Gesetzlichkeit" einer ,,Republik" durch Verfall zugunsten der Willkfir Einzelner verloren gehen sollte, doch kann eine ,,entartete" Republik ja logischerweise nicht mit einer ,,Republik" gleichgesetzt werden. Es ist d e m n a c h im R a h m e n dessen, was wit heute unter einer nicht-monarchischen ,,Staatsform" subsumieren k6nnen, i m m e r wieder unterschieden worden, ob es sich dabei wirklich u m eine ,,Republik" handelte, nitmlich auf der Basis des MaBstabes der faktischen U n t e r b i n d u n g v o n Willkfirherrschaft, die v o n einer eben nicht-monarchischen Staatsform ausging (oder ausgeht), oder nicht. T r o t z d e m ist auf einen gewichtigen Unterschied zwischen Mont esqui eu u n d A d a m s n o c h einmal hinzuweisen: Bei A d a m s sollte es auf der Basis v o n Volkswahlen - w e n n auch repriisentativ vermittelt fiber z.T. sehr lange Legitimationsketten und unter (bis heute geltendem) Ausschluss plebiszitiirer E l e m e n t e auf B u n d e s e b e n e - bei der Besetzung aller staatlichen Gewaltenpositionen eine Legitimation nur fiber das Prinzip der Volkssouver~initiit geben, wS.hrend bei
1438Vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de la Br&de et de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, bearb, v. Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 11. Buch, 3. Kapitel, S. 214. 1439Vgl. Joyce Appleby, Ia'beralism and Republicanism in Historical Imagination, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1993, S. 320. 1440Eine andere Position vertritt Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikanischen Einzelstaatsverfassungen. Zur ideengeschichtlichen und verfassungsgeschichtlichen Komponente der amerikanischen Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin 1968, S. 279: ,,Merkmal des amerikanischen Republikanismus wurde nicht die Sicherung der Freiheit durch die Herrschaft allgemeingKiltiger Gesetze, sondem die Ausweitung der Anzahl derjenigen, die am Zustandekommen der Gesetze mitwirkten." Das ist insofem nicht nachvollziehbar als keine der Forderungen der partizipationsorientierten Revolution{ire sich in den USA haben durchsetzen kfnnen, sondem im Gegenteil nut die Forderungen ihrer innerrevolution{iren Gegner: Nicht das Einkammerparlament, sondem das Zweikammerparlament setzte sich dutch und die Forderungen, die fiber die Beschr{inkungen der Regierenden dutch ein fiber ihnen stehendes Gesetz, die Zusdmmung des Volkes zu allen Gesetzen dutch Wahl von Repr{isentanten, die Gewaltenteilung und gegenseitigeKontrolle der Regierungsorgane hinausgingen, wurden ja gerade nicht realisiert, als da w{iren: mehr Parlamentssitze ffir die frontier-Bezirke, fl{ichendeckende Amtszeitbegrenzungen, das Verbot von )~mterh{iufungen ffir die Parlamentarier oder die Ablehnung einer selbst{indigen Exekutive in Person des Pr{isidenten, etwa noch mit Vetorecht (vgl. ebd., S. 272f.). Das revolution{ire Moment bei den partizipationsskeptischen Revolution{irenindes bestand darin, dass sie ,,die Sichemng der Freiheit durch die Herrschaft allgemeingnliltigerGesetze" nunmehr in einem grol3fl{ichigen Nationalstaat durchsetzen konnten, und zwar im Rahmen einer nicht-monarchischen, republikanischen Staatsform, im Rahmen einer repr{isentafive Demokrane. Die Partizipation bildete in diesem Rahmen nichts weiter als eines von vielen, aufgrund der historischen Ausgangslage das sicherlich wichtigste MN3igungs- und Steuerungselement ,,politischer Freiheit" im Sinne Montesquieus. 1441Charles-Louis de Secondat, Baron de la Br&de et de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, bearb, v. Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 8. Buch, 2. - 5. Kapitel, S. 184 - 189.
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Montesquieu in seinen Idealkonstrukfionen 1442 eine ,,Mischverfassung" gerade die Mischung zwischen demokratisch und erblich legitimierten Repriisentanten implizierte. In den USA waten sich also ab einem bestimmten Zeitpunkt um 1775 ,,selbst die Vertreter einer bewusst antidemokrafischen Parteimeinung [..] darfiber einig, dass auf die Mitwirkung breiter Bev61kerungsgruppen bei der Handhabung der Staatsgewalt nicht verzichtet werden k 6 n n e . ''1443 Die Folge ist, dass ,,dem Prinzip der Volkssouveriinitiit [..] in dem Verfassungssystem der USA voll Rechnung getragen ''1444 wurde: ,,Es gibt keine staatliche Tiifgkeit, die nicht direkt oder indirekt aus Wahlen hergeleitet ist ''1445 lautete nun das Prinzip. Zugleich wurde das Wahlrecht bis 1837 peu ~ peu auf alle nicht-schwarzen Amerikaner ausgeweitet. Was Montesquieu hingegen fiir Frankreich letztlich bezweckte, war die ,,wirkliche" Mischung von Elementen, die Montesquieu als Regierungsformelemente verstand, die wit heute allerdings als Staatsformen ansehen (und zwar , , R e p u b l i k " und , , M o n a r c h i e " / , , A r i s t o k r a t i e " ) . Bei Adams indes bestand das Element der , , M i s c h v e r f a s s u n g " darin, verschiedene Staatsformelemente (aus heutiger Sicht) im Modus von Regierungsformelementen (in seiner Sicht) im Kotpus einer vollwertigen Volkssouveriinitiit als Quelle aller staatlichen Gewalt zu mischen; jedoch nicht als (,,demokratischen") Selbstzweck, sondern nur, weil eine ,,monarchische" oder auch ,,aristokrafische Republik" im Sinne Montesquieus in den Vereinigten Staaten keinerlei soziopolitische Grundlage hatte. Diese soziopolitische Grundlage war bei Montesquieu indes sogar biographisch gegeben (i.e. die Adelsbindung). 1446 Wiihrend also Montesquieu mit seiner , , M i s c h v e r f a s s u n g " aus heutiger Sicht auf eine nicht-republikanische Staatsform beharrte, und zwar Ietztlich fiir eine ,,konstitutionelle, parlamentarische Monarchie" pliidierte, trat Adams auch aus heutigem Verstiindnis ffir eine vollwertige, allerdings ,,konstitutionell gebundene, repriisentativ-demokratische Republik" ein. Der Unterschied zu James Madison besteht darin, dass nach J o h n Adams nicht das ,,Demokratische" an der ,,repriisentativen Demokratie" - also die Tatsache dass die Staatsgewalt v o m Volke a u s g e h t - eine (ganz neue) begriffskonstimierende Wirkung ffir den Republikbegriff entfaltete, sondem nur das gewaltenteilige bzw. technologische Moment. In einer Sentenz des alten John Adams aus dem Jahre 1819 wird zwar deutlich, dass auch ffir ihn die Demokratie tatsiichlich nichts anderes sei als eine Republik, doch letztlich nur ,,so wie eine Eiche ein Baum ist. ''1447 Da es noch andere B~iume aul3er der Eiche gibt, mfisste es auch nichtdemokratische Formen der Republik geben. Entscheidender Korpus der ganzen ,,republikanischen" Regierungsformen bei Montesquieu als auch bei Adams, so liisst sich zusammenfassen, ist ihr nicht-despotischer bzw. ,,nichtentarteter" Charakter und die konstitufionelle Bindung der Quelle als auch der Ausfibung aller staatlichen Gewalt. Im repriisentativ-demokratischen Republikanismus von Adams hatte das zur Folge, dass auch die Volkssouveriinitiit als Quelle aller staatlichen Gewalt eigentlich keine absolute ,,SouverSnit~t" darstellt, sondem konstitufionell eingebunden ist. In der gem4/digten franz6sischen und kontinentaleuropiiischen Lesart konnte dieses Verstiindnis ,,demokratisiert" werden, indem seit Benjamin Constant davon die Rede war, dass sich die Souver{initiit des
1442Die wichtigste ist natCirlich diejenige ,,0bet die Verfassung Englands" (vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de la Br&de et de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, bearb, v. Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 11. Buch, 6. Kapitel, S. 215230). 1443Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem,4. Aufl., Opladen 1981, S. 40. 1444Ebd., S. 42. 1445 Ebd. 1446Vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de la Br&de et de Montesquieu, Vom Geist der Gese/ze, bearb, v. Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 2. Buch, 3. Kapitel, S. 111-114. 1447Zitiert nach Harald von Bose, Republik und MischverJassung- zur Staatsformenlehre der Federalist Papers, Bonn (Diss.) 1989, S. 106.
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Volkes im Akt der Verfassungsgebung ersch6pfe. Bis zur erneuten Verfassungsgebung ist die , , V o l k s s o u v e r ~ n i t ~ t " in der Verfassung ,,aufgehoben". 1448 Was die Ursprungslegifimafion der Vereinigten Staaten betrifft, wiire es gar vielleicht besser y o n ,,Naturrechtssouver~initiit" oder, im Sinne von Montesquieu, von einer , , N a t u r g e s e t z s o u v e r ~ n i t ~ t " zu sprechen, aus religi6ser Sicht gar vielleicht von einem souveriinen, personalen UnveriiuBerlichkeitspostulat (,,inalienable rights"), letztlich auf Basis der ,,Gottesebenbildlichkeitssouveriinitiit". Rechtlich inkorporiert und polifisch wirksam arfikuliert sich diese , , S o u v e r ~ n i t ~ t " i m paramount law, der Idee eines ,,unantastbaren Rechts" in einem hierarchisierten Rechtssystem, das wiederum mit einer stiindigen Verfassungsgerichtsbarkeit ausgestattet ist. 1449 Zusammenfassen liisst sich das ganze mit dem politikwissenschaftlich eher problematischen Begriff der , , V e r f a s s u n g s s o u v e r ~ m i t ~ t " : W e n n damit zum Ausdruck gebracht wird, dass der Zweck der , , V e r f a s s u n g e n " darin besteht, ,,die Macht der Regierenden, also auch der Gesetzgeber [oder auch des , , V o l k e s " ] , zu beschriinken" und dass ,,Verfassung und Gesetze" insoweit ,,nicht auf gleicher E b e n e gesehen werden "145~k6nnen, dann wird damit etwas richfiges beschrieben. D e r schon in der Antike ,,in voller l/--darheit ''1451 ausgebildete Begriff der ,,Verfassung" im Unterschied zum Gesetz bekam zum ersten Mal in der Weltgescllichte eine klare polifische Relevanz 1452, und zwar im R a h m e n einer die , , V o l k s s o u v e r ~ n i t ~ t " einschriinkenden und den pouvoir constituant seiner Souveriinitiit entledigenden ,,Souveriinitiit" einer Verfassung. Allerdings ist es, wie schon angedeutet, grundsiitzlich fraglich, ob auf dieser Basis fiberhaupt noch von ,,Souveriinitiit" im Sinne der ,,absoluten, nicht-kontrollierbaren, allumfassenden und unteilbaren" Macht die Rede sein kann. H53 Es geht ja, wenn der Begriff der ,,Verfassungssouveriinitiit" in den M u n d g e n o m m e n wird, nicht m e h r um Konsfitution von Macht, sondern nur um die Legitimation derselben, nicht m e h r um souveriine Macht an sich, s o n d e m u m ein , , V e r f a h r e n " in einer niedrigeren polifischen Dimension. 1454 Carl Schmitt hat in seinen Schriften auf der Basis eines politischen SouverS_nit~itsverstiindnisses richfigerweise darauf hingewiesen, dass sich ,,Souveriinitiit" im A u s n a h m e z u s t a n d auBerhalb des status constitufionalis iiuBert und auch auBerhalb einer eventuellen konsfitutionellen Notstandsregelung anzusiedeln w~ire. 1455 D o c h ein (methodisch sinnvollerweise) kontextualisierter, also konsfitufionsimmanenter Souveriinitiitsbegriff liisst es zu, v o n einer abstrakten und konstruierten ,,Verfassungssouve-
1448 Vgl. Martin Kriele, Ein.fiihrung in die Staatslehre. Die geschichtlichenLegitimit/itsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaatea, 2. Aufl., Opladen 1981, S. 275ff. 1449Vgl. Hans Vorliinder, Die Suprematie der Verfassung. Ober das SpannungsverMltnis yon Demokratie und Konstitutionalismus, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnung, W/irzburg 2000, S. 373-83, 378f. 1450Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikanischen Einzektaatsverfas~ungen. Zur ideenges&ichtlichenund verJ&sungsgeschichtlichenKomponente der amerikanis&en Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin 1968, S. 236. 1451Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, T/ibingen 1909, S. 6. 1452So die treffende Bezeichnung bei Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikanischen Einzelstaatsve{fassungen. Zur ideenges&ichtlichen und verfassungsgeschichtlichen Komponente der amerikanischen Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin
1968, S. 236. 1453Vgl. Martin Kriele, Einfdhrung in die Staatslehre, Hamburg 1975, S. 11lff.; Hans Vorl{inder, Die Suprematie der Verfassung. Ober das SpannungsverMltnis yon Demokratie und Konstitutionalismus, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Probleme politischer Ordnung, Wfirzburg 2000, S. 373-83; vgl. zum amerikanischen Souveriinitiitsbegriffim Unterschied zum europiiischen Randolph G. Adams, Political Ideas of the American Revolution. Britannic-American Contributions to the Problem of Imperial Organization 1765 to 1775, 3. Aufl., Durham 1958, S. 167-192. 1454 Vgl. grundlegend Carl Schmitt, Politirche Theologie. Prier Kapitel zur Lehre yon der Souver/init/it, 2. Aufl., M/inchen/Leipzig 1934;Julien Freund, L'essence dupolitique, Paris 1965. 1455,,Souveriin ist, wer fiber den Ausnahmezustand entscheidet." (Carl Schrnitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre vonder Souver/init/it, 2. Aufl., M/inchen/Leipzig 1934, S. 11).
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riinit~it" zu sprechen. 1456 Mit d e m amerikanischen K o n s t i m t i o n a l i s m u s war fiir das amerikanische D e n k e n also nicht nur die N a t i o n als N a t i o n der Souveriin, s o n d e r n die , , V e r f a s s u n g " k a m als e n t s c h e i d e n d e Neuartigkeit der gegriindeten amerikanischen N a t i o n hinzu. 1457 Aus der Tatsache, dass das, ,,was ein Volk will [..] v611ig anarchisch ''1458 ist, z o g e n die A m e rikaner n u n eine weitere wichtige K o n s e q u e n z : ,,Ein Volk zwingt sich n i c h t - es wird gezwungen. Es regiert sich n i c h t - es wird regiert. 'q459 D e r Unterschied: Das Volk ist souveriin, weil es sich dafiir selbst die Verfassung gibt. Die , , V e r f a s s u n g " i6ste wie in E u r o p a adelige Nationsprinzipien ab, aber sie relativierte zugleich die M a c h t des , , V o l k e s " . Die nationale Souveriinitiit, die in einem antikolonialistischen K a m p f errungen w e r d e n musste, blieb praktisch die entscheidende politische V o r a u s s e t z u n g des neuartigen K o n s t i t u t i o n a l i s m u s - u n d zun~ichst einmal auch das e n t s c h e i d e n d e politische Ziel der Amerikaner, auch w e n n der alteurop~iische Begriff der ,,Souver~initiit" m den USA nicht als Prinzip so sehr b e t o n t w u r d e wie in Frankreich. D a s ,,national birth certificate" war jedenfalls nicht die Menschenrechtserkliirung, sond e m die Unabhiingigkeitserkl~irung. 146~ A u f dieser nationalfreiheitlichen Basis v e r b a n d e n u n d v e r b i n d e n sich Gesetzes- u n d Volks-,,Souver~initiit" n u n aber zur Souver~initiit einer freiheitlichen, eben souveriinitiitsskeptischen, damit im Ubrigen auch siikularisierenden Verfassung. 1461 Eine praktische Folge dieses Verst~indnisses in der Innenpolitik ist es, dass A m e r i k a n e r im A l l g e m e i n e n diejenige Regierung fiir am besten halten, ,,die am wenigsten regiert. ''1462 ,,Die Regierung existiert eher, u m 13bel zu verhindern, als W o h l t a t e n zu vollbringen. 'q463 Erst dieser im K e r n v611ig u n d e m o k r a t i s c h e , zugleich dogmatische 1464, d e m Verst~indnis ,,staatlicher" o d e r , , p e r s o n a l e r " Souveriinitiit gegeniiber sehr skeptische 1465 u n d fiir das moralische u n d praktische F u n k t i o n i e r e n einer m o d e r n e n D e m o k r a t i e (im Sinne einer personalistischen Freiheitsmoral) u n a b d i n g b a r e Z u g m a c h t die als ,,repriisentative D e m o k r a t i e " a n z u s e h e n d e Verfassung fiir den A m e r i k a n e r zu einer lebensf~ihigen Republik. 1456D.h. nicht, dass der dezisionistische falsch ist. Ohne den (methodisch sinnvollen) Kontext einer kons6mtionellen Normallage stellt der dezisionistische Souver{init~itsbegriffin der Tat den einzig schlCissigen seiner Art dar, auch wenn er yon Carl Schmitt in einem antiliberalen Sinne politisiert wurde (eine andere Meinung vertritt Hans Vorl~inder, Die Suprematie der Verfassung. ([Tberdas Spannungsverh~'ltnis yon Demokratie und Konstitutionalismus, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnung, W/irzburg 2000, S. 373-83, 376f. und Fn. 9). 1457Vgl. iihnlich Randolph G. Adams, Political Ideas of the American Revolution. Britannic-American Contributions to the Problem q[Imperial Organization 1765 to 1775, 3. kufl., Durham 1958, S. 187. 1455Maurice Duverger, Diepolitischen Parteien, T/ibingen 1959, S. 429. 1459 Ebd. 1460Vgl. DanielJ. Boorstin, The Genius ofAmerican Politics, Chicago / London 1953, S. 70. 1461Entsprechend hatten auch die Anf'~inge nationaler Geschichtsschreibung in Europa 200 Jahre frCiher einen eindeurig siikularisierenden Charakter gehabt, ob nun bei Commines, bei Machiavelli, Gucciardini oder Wimpfeling (vgl. dazu Wemer Fritzemeyer, Christenheit und Europa. Zur Geschichte des europa'ischen Gemeinschaftsgefuhls yon Dante bis Leibnig MCinchen / Berlin 1931, S. 29-45). 1462Dick Howard, Die Grundlegung der amerikanischen Demokratie, Frankfurt a.M. 2001, S. 18. 1463Ebd. 1464Vgl Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikanis&en Einzelstaatsverfassungen. Zur ideengeschichtlichen und verfassungsgeschichtlichenKomponente der amerikanischen Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin 1968, S. 228f. 1465Vgl. Randolph G. Adams, Political Ideas of the American Revolution. Britannic-American Contributions to the Problem of Imperial Organization 1765 to 1775, 3. Aufl., Durham 1958, S. 185f. Im amerikanischen politischen Denken existierte und existiert demnach keine Theorie des ,,Staates", sondem nut die Theorie einer Gesellschaft per Kontrakt miteinander verbundener Menschen, keine ,,Staatslehre", sondem nur eine ,,Re~emngslehre" und keine SouverS.nit~iteiner ,,Nation", im Kern eben auch nicht des ,,Volkes", sondem die SouverS.nitS.twenn nicht Gottes, dann doch des naturrechtlich (und zugleich christliich-religi6s) legitimen ,,Gesetzes" als Voraussetzung der Herrschaftsbefugnis eines Volkes/iber sich selbst (vgl. ebd., insbesondere S. 186f. und 190ff.). VorlS_ufer des Denkens yon der Souver~init{it des legitimen Gesetzes waren, unter kosmologischen Legitimit{itsgesichtpunkten, Aristoteles (aber auch Platon) und Montesquieu, unter christlichen Legitimit~itsgesichtspunkten Thomas von Aquin (aber auch Augustinus) und unter naturgesetzlichchristlichen LegitimitS_tsgesichtspunktenJohn Locke.
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Die direkte Demokratie als Richtschnur erscheint aus diesem Blickwinkel eher als eine Gefahr fiir die Freiheit yon Regierung. Sowohl John Adams als auch Montesquieu gingen dieser T r a d i f o n nach davon aus, dass das Willkiirverbot bzw. M~iBigungsgebot in einer groBfliichigen Republik kaum mit einer dann sehr uniibersichtlichen reinen F o r m der ,,direkten Demokratie" in Vereinbarung zu bringen w~ire 1466 - sogar wenn es auf der Gegenseite entsprechende Grundrechtskataloge gebeben h~itte, ,,war doch das Denken [...vom aristotelischen Begriff] der Ochlokrafe beherrscht ''1467, was bei den amerikanischen Verfassungsv~item schliel31ich zu der klaren Halmng fiihrte, ,,dass Vorkehrungen gegen die ,Tyrannis' einer uneingeschriinkten Herrschaft der Mehrheit rechtzeitig getroffen und verfassungsmiil3ig verankert ''146a werden mfissten. Die Funktion der Demokratie war in erster Lime eine gewaltenteilige: sie sollte ,,die friedliche I3bertragung der Macht yon einer politischen Partei auf eine andere 'q469 institutionell und praktisch erm6glichen.
3.3 Klassische Regierungsformelemente der Republik im modernen Ve~assungsstaat
Der Verfassungsstaat war vom Ursprung her eine europaTsche Errungenschaft, die in der englischen , , V e r f a s s u n g s e n t w i c k l u n g " in nicht-kodifizierter F o r m angelegt war (und - trotz geflissentlich tradierter , , P a r l a m e n t s s o u v e r ~ n i t ~ t " - immer noch angelegt ist) und in den USA in schriftlicher F o r m umgesetzt werden konnte. Der voll ausgebaute Verfassungsstaat konnte sich dann nach 1945 endlich auch in Europa auf breiter Front durchsetzen147~ im deutschen Grundgesetz 1949 und in Frankreich seit den siebziger Jahren, als eine Entwicklung hin zum materiellen Priifungsrecht des Verfassungsgerichtes stattfand. 1471 Die englische Verfassungsentwicklung k o m m t mit ihrer zwar nicht kodifizierten, aber dennoch existenten , , F u n d a m e n t a lisierung von Rechten und Staatsorganisationsprinzipien ''1472 - entgegen einem oberfliichlichen Anschein also - einer ,,Verfassung, wie sie die nordamerikanische und konfinentaleuropiiische Tradition kennt, sehr nahe. ''1473 Die Menschen- und Bflrgerrechtskataloge in der amerikanischen Verfassungsentwicklung indes sind auch, wie die Demokratie, als ein integraler Bestandteil eines Anfiwillkiirmechanismus einer repriisentafiv-demokrafischen Verfassung zu verstehen. 1474 Auf der expliziten Formulierung und Achtung von unantastbaren Menschen- und Biirgerrechten basiert auch der Unterschied zwischen der amerikanischen und einer rousseauisfischen Tradition: Zwar war auch bei Rousseau die vom Volke ausgehende Regierungsgewalt an ein Allgemeinwohl gebunden und damit theoretisch beschriinkt, aber es ist bekannt, dass die 1466Vgl. z.B. andeumngsweise Charles-Louis de Secondat, Baron de la Br&de et de Montesquieu, V0m Gei,t der Geset~, bearb, v. Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 2. Buch, 2. Kapitel, S. 107; vgl. ferner Ernst Fraenkel, Das ametqkanische Regierungssystem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 39f. 14G7Ernst Fraenkel,Das ametgkanische Regierungssystem,4. Aufl., Opladen 1981, S. 40. 146sEbd. 1469Dick Howard, Die Grundlegung der ametikanischen Demokratie, Frankfurt a.M. 2001, S.19. 1470Vgl. als kmappe Ubersicht der gesamten historischen Entwicklung in Westeuropa Wolfgang Ismayr, Die politischen Systeme Westeuropasim VergMch, in: Ders. (Hg.), Diepolitischen Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 9-52, 9-14. 1471Vgl. Udo Kempf, Das politische System Frankreicha, in: Wolfgang Ismayr (Hg.), Die politischen Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 283-321,300K i472 Hans Vorliinder, Die Supr~matie der Verfassung. Uber das SpannungsverMltnis yon Demokratie und Konstitutionalismus, in: Wolfgang Leidhold (Fig.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnung, W/irzburg 2000, S. 380. 1473 Ebd. 1474Vgl. zur Geschichte der Menschenrechte insbesondere Ludger Kfihnhardt, Die Universalita'tder Menschenrechte, Bonn 1987.
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Rousseausche Formel vom Allgemeinwohl eine interpretationsbediirftige, keine explizite Formel war. Die amerikanischen Bills of Rights z~ihlten hingegen -,,kasuistisch wie der Dekalog der Israeliten", de facto im Rahmen einer Verbotsliste - explizit auf, ,,was den Regierenden und der Wiihlermehrheit verwehrt war. ''1475 In diesem Sinne kann davon gesprochen werden, dass trotz des Individualismus und verfassungsgemiigen Prozeduralismus in den Vereimgten Staaten der einzelne nur im Rahmen eines naturrechtsbasierten Gemeinwohlganzen an sich denken konnte. Dass sich in den USA dabei notwendigerweise auf sehr markante Weise Spannungen in der politischen Praxis ergaben 1476, machte und macht nicht die Schwiiche, sondern die Stiirke und Stabilit{it des politischen Systems der USA aus. Der reale Streit der ,,Einzelnen" im Rahmen eines unantastbaren, religi6s fundierten Naturrechtsganzen, auf das sich ein ,,Volk" einigte, trat an die Stelle der utopischen Fiktion einer unmittelbaren Beherrschung des ,,Volkes" durch sich selbst. 14v7Demzufolge gab es in den USA auch fiir (politische) Glorifizierungen yon Gewalt, soziale Exterminationsvorstellungen oder rachsiichtige Egalitarismen keine Chance. 14va Der Tugendobsession der Jakobiner kann eine paternalistische Tugendperspektive in Amerika entgegengesetzt werden: ,,In den USA wurde pragmatisch und realistisch einerseits das Tugenderfordernis auf eine elit~ire Minderheit der geeigneten Wiichter des 6ffentlichen Wohls reduziert und andererseits die Enttiiuschung fiber das Fehlen an virtue produktiv in eine verfassungstheoretische Innovation umgesetzt.'q479 Eine zentrale Voraussetzung der amerikanischen Regierungsform im Sinne der ,,Mischverfassung" im klassischen Sinne bildete nun insbesondere die revolution~ire Erfindung der prS.sidentiellen Regierungsform und die Anbindung dieser an ein filigran ausgestaltetes System der checks and balances; dessen wichtigste Voraussetzung war 1787/88 die Einsetzung eines bikameralistischen Parlaments, das in Anlehnung an die artifiziell-aristokratischen (oder blutsaristokratischen) Elemente Montesquieus, einen gleichwertigen, nunmehr in der Zusammensetzung und Rekrutierung sich eher an ,,leisttmgsaristokratischen" Elementen orientierten (so votierte Adams h{iufig f/it eine Grundbesitzklausel des passiven Wahlrechts 148~ und dem Repriisentantenhaus absolut gleichwertigen Senat mit einschloss. Im Hinblick auf den Demokratiecharakter der amerikanischen Verfassung ist allerdings zu betonen, dass sowohl durch die Anbindung der Senatoren als auch des PrS.sidenten an eine (im Falle des PrS.sidenten faktische) Direktwahl in den USA in der US-Verfassung ein Mares direktdemokratisches Element gegeben ist, was sogar John Adams im Falle des PrS.sidenten (die Direktwahl der Senatoren erfolgte erst ab 1911) sehr bewusst war. Die Zwischenschaltung 147sWilli Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikanischen Einzelstaatsverfassungen. Zur ideengeschichtlichenund verfassungsgeschichtlichen Komponente der amerikanischen Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin 1968, S. 230f. Vgl. fernerhin Georg Jellinek, Die Erkl?irung derMenschen- undB#rgerrechte, 2. Aufl., Leipzig 1904, S. 5-8. 1476 Vgl. auf der Basis einer Ciberzeugenden,allgemeinen Gemeinwohldefinition den entsprechenden Hinweis bei Otto Heinrich vonder Gablentz, Einfiihrung in die Politische Wissenschaft, K61n / Opladen 1956, S. 328. Die Definition lautet: Das ,,Gemeinwohl" ist ein ,,Zustand, indem alle Kr~ifte des Gemeinwesens den f/ir dauerhafte friedliche Entfaltung gn]nstigsten Gleichgewichtszustand erreicht haben." (ebd.). 1477Vgl. auch Margarita Mathiopoulos, Amerfka: Das Experiment des Fortschritts. Ein Vergleich des politischen Denkens in Amerika und Europa, Paderbom/MCinchen u.a. 1987, S. 144f. Die Fiktion spielte zuletzt bei der ,,68er"-Bewegung eine zentrale Rolle. Vgl. Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie und andere Schriften wr Kdtik der Politik, Freiburg i.Br. 1990. 1478Vgl. Margarita Mathiopoulos, Amedka: Das Exy)erfment des Fortschritts. Ein Vergleich despolitischen Denkens in Ameffka undEuropa, Paderborn/M/inchen u.a. 1987, S. 145. 1479Ebd., S. 146. 1480Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerfkanischen EinzeZ~taatsverfassungen. Zur ideengeschichtlichenund verfassungsgeschichtlichenKomponente der ame,fkanischen Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin 1968, S. 179.
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eines W a h l m i i n n e r g r e m i u m s bei den Priisidentenwahlen sollte m V e r b i n d u n g mit d e m m o n a r chischen R e g i e r u n g s e t h o s des Priisidentialismus u n d d e m an den E i n z e l s t a a t s p a r l a m e n t e n g e b u n d e n e n Senat den d i r e k t - d e m o k r a t i s c h e n Charakter der Priisidentenwahlen z u g u n s t e n des , , m o n a r c h i s c h e n " u n d ,,senatsaristokratischen" Regierungsverstiindnisses stark relativieren. 1481 D i e auch in diesem K o n t e x t zu v e r s t e h e n d e Einr~.umung einer starken, aber d e n n o c h nicht u n b e g r e n z t e n Machtstellung des Priisidenten im politischen System, wie sie d u r c h das Prinzip der politischen N i c h t - A b b e r u f b a r k e i t u n d das I n s t r u m e n t des E x e k u t i v v e t o s iiber alle Legislativbeschl/.isse auf der einen, des Legislativvetos gegen den Priisidenten a u f der a n d e r e n Seite, geschaffen wurde, k o n n t e schlieBlich im 20. J a h r h u n d e r t vermittels der ,,imperialen Priisidentschaft" w i e d e r u m als ein G e g e n g e w i c h t zu den n u n m e h r (seit 1911) d i r e k t d e m o k r a t i s c h legitim i e r t e n S e n a t o r e n v e r s t a n d e n werden. Die N i c h t - A b b e r u f b a r k e i t des amerikanischen Priisidenten u n d seiner Minister w u r d e z u m d e m o k r a t i e t h e o r e t i s c h e n G e g e n p r i n z i p des sich in G r o B b r i t a n n i e n heraussch~ilenden Prinzips der zuniichst rechtlichen 1482, spiiter politischen Ministerverantwortlichkeit, die dort mit der B e z e i c h n u n g Walpoles als ,,First L o r d o f T r e a s u r y " in der H e r r s c h a f t s z e i t K 6 n i g G e o r g s I. (1714-1724) u n d der politischen A b s e t z u n g Walpoles 1742 ihren A n f a n g n a h m u n d s i c h - trotz ,,letzter" W i d e r s t ~ n d e in der Herrschaftszeit G e o r g s III. (1760-1820) 1483 - i m 19. J a h r h u n d e r t endgiiltig durchsetzte. 1484 ,,In A m e t i k a hat die Beseitigung eines rechtlich unverantwortlichen Monarchen zur S c h a f f u n g eines rechtlich verantwortlichen Prdsidenten gefiihrt u n d maBgeblich dazu beigetragen, dass es zur Begr/.indung eines politisch verantwortlichen Ministetiums niemals g e k o m m e n ist. ''148s In E u r o p a indes setzte sich die politische Verantwortlichkeit des Regierungschefs u n d spiiter der Regierung als Kollektiv v o r d e m P a r l a m e n t dutch: -
-
-
in England de facto seit der Absetzung Walpoles 1742, de jure seit 1830 in FranDeich de facto seit Vill&le 1827 und der Julirevolution 1830, de jure seit 1849/1873 in Ditnemark de jure seit 1849 in den Niederlanden de facto und de jure seit der Budgetverweigemng und dem Misstrauensvotum 1868 in Norwegen de facto seit 1872, seit 1884 auch als Verantwortlichkeit der gesamten Regierung, de jure seit 1908 in Schweden seit 1917
1481Vgl. Klaus von Beyme, Vorbild Ametika? Der Ein/luss der ametikanischen Demokratie in der Welt, Miinchen 1986, S. 52f. 14821610, 1621 (Mompesson u.a.), 1626 (Buckingham), 1640 (Stratford), 1701 (Somer), 1715 (Oxford), 1742 (Walpole, poli/isch geendet), 1805 (Melville) (vgl. Klaus von Beyme, Die parlamentarische Demokratie. Entstehung und Funktionsweise 1789-1999, 3. Aufl., Opladen / Wiesbaden 1999, S. 66f. und 96). 1483Dazu ziihlt die Einsetzung der juristischen Minister "ldage gegen Melville im Jahr 1805. 1484Vgl. Ernst Fraenkel, Das amedkanische Regierungs~stem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 244ff. und 248f.; Klaus von Beyme, DieparlamentarischeDemokratie. Entstehung undFunktionsweise 1789-1999, 3. Aufl., Opladen / Wiesbaden 1999, S. 69; Kurt Kluxen, Geschichteund Problematik des Parlamentatgsmus, Frankfurt a.M. 1983, S. 112-117 und 118 (zum Regierungswechsel Wellington/Grey); Die Ministerverantwortlichkeit entstand aus dem Zusammenwirken der drei Prinzipien ,,The -king can do no wrong", ,,supremacy of law" und Parlamentssouveriinitiit. Staatsmiinner mussten anstelle des formal unverantwortlichen Monarchen Staatsakte verantworten. Diese Bereitschaft, die Verantwortung fiir k6niglich erlassene Staatsakte zu tragen, kniipften sie nach 1688/89 zunehmend an die emsthafte Bereitschaft des K6nigs, sich beratschlagen zu lassen. Daraus folgte die Gegenzeichnung, die sich allmiihlich yon einer Deckung des K6nigs durch den Staatsmann zu einer formellen Pflicht zur Legitimation der Entscheidungen des Ministers durch die nunmehr nachgelagerte Gegenzeichnung des K6nigs entwickelte. Das Verfassungsinstimt der Ministeranklage wurde in GroBbritannien 1783-1784 vom Verfassungsinstitut des Misstrauensantrags als ,,Tadelsvotum" abgel6st (vgl. femerhin zur Entstehung des Begriffs ,,parlamentarisches Regierungssystem" im 19. Jahrhundert I~daus yon Beyme, Die parlamentarische Demokratie. Entstehung undFunktionsweBe 1789-1999, 3. Aufl., Opladen / Wiesbaden 1999, S. 29-37. Der Begriff des ,,Premierministers" sollte sich in GroBbritannienformal erst 1937 durchsetzen). 148sErnst Fraenkel, Das amerikanischeRegierungssystem,4. Aufl., Opladen 1981, S. 245.
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in Preugen erfolgloserVersuch der Durchsetzung fiber die Budgetverweigerung1862, schliel31ichin Deutschland de facto und de jure erst seit 1918, Abbruch 1933-1945, dann wieder seit 1949 in Piemont-Italien de jure seit 1863, Abbruch 1922-1945.
Was nun den demokratischen Charakter des diesen parlamentarischen Systemen entgegengesetzten Inkompatibilitiitsprinzips des amerikanischen Priisidentialismus betrifft, k6nnen wir heute sowohl im Falle des Priisidenten als auch bei den Senatoren von starken direktdemokratischen Elementen des amerikanischen Regierungssystems sprechen, auch wenn das urspriinglich nicht intendiert war. Im Falle des ,,Regierungsethos" ist es gar in der heutigen Mediendemokratie so, dass die plebiszitiiren F o r m e n der Volkseinbindung (ira Sinne einer Instrumentalisierung und des Versuchs der direkten Beeinflussung von Volkes Meinung) stiirker beim Priisidenten als beim Senat anzusiedeln sind 1486, denn letzterer pflegt heute einen Stil, der als eine Art ,,oligarchisches Regierungsethos going public" bezeichnet werden kann.
3.4 Der Freiheitsbegdff als Legitimationsquelle zwischen vormodernem und modernem Verst2indnis und die Tradition Machiavellis
Die These, dass nun das Individuum alleine am Anfang der politischen Philosophie des amerikanischen Republikanismus gestanden habe, ist aufgrund des ganzen vorgestellten legitimationsphilosophischen Kontextes als problematisch anzusehen. Das wird umso deutlicher, wenn noch die beiden anderen Referenzautoritiiten des amerikanischen Republikanismus neben Montesquieu ins Blickfeld geraten, Adam Smith und John Locke: Beide zeichneten sich in ihren Philosophien dadurch aus, den radikalen Selbsterhaltungs- und Aggressionsindividualismus von Thomas H o b b e s in die Schranken zu weisen: Bei Adam Smith geschah das indes eindeutig in einem individualistischen Kontext, indem er - optimistischer als Thomas Hobbes den Individualismus iiber das Argument der Emotionalitiit, der Empathie und dem WiHen nach sozialer Anerkennung des nackten Individuums mit moralischem Handeln zu vers6hnen suchte. D o c h bei John Locke, der neben dem ohnehin nicht sehr individualistisch ausgerichteten Naturgesetzphilosophen Montesquieu in der Frage der Legitimation am stiirksten die amerikanische politische Philo sophie beeinflusst hat, ist der Individualismus in sehr starkem Mal3e in einen normativen, religi6s-naturrechtlichen Kontext eingebunden. 148v Locke hatte den Hobbeschen Vemunftbegriff wieder normativiert und zu einem bestimmten Teil entindividualisiert. 1488Die Entindividualisierung erstreckte sich dabei nicht nur auf die Vernunft (dass es also neben der individuellen V e m u n f t eine iiberindividuelle gebe), sondern positionierte sich auch gegen die atomistische Vorstellung von T h o m a s Hobbes und jeglichen ,,reinen" individualliberalen Gedankengiingen (z.B. bei Jeremy Bentham), dass alle Individuen natiirlicherweise- und in G l e i c h h e i t - auf eine Weise egoistisch seien, dass daraus im Naturzustande (Hobbes) bzw. im utilitaristisch ungeregeltem Zustande (Bentham) nur ein friedloser (Hobbes) oder lustminimierender (Bentham) Zustand resultieren k6nne.
1486Vgl. Ernst Fraenkel, Das amedkanische Regierungssystem,4. Aufl., Opladen 1981, S. 247f. Eine entsprechende Entwic~ung des Priisidentenamtes ,,in plebiszit~irerRichtung" war ansonsten schon unter Jackson zu beobachten (vgl. Klaus von Beyme, VorbildAmerika? Der Einfluss der amerikanischenDemokratiein der Welt, M/inchen 1986, S. 53). 1487Vgl. diesbez/iglichdas bahnbrechende Werk yon John Dunn, The PoliticalThought ~John Locke. An HistoricalAccount of the Argument of the ,Two TreatisesoJGovernment',Cambridge 1969. 1488Vgl. zu Amerika Bernard Bailyn, The IdeologicalOrigins ~the American Revolution, 13. Aufl., Cambridge (Mass.) 1967, S. 56. (vgl. insgesamt zu diesem Gesamtzusammenhangeindmcksvoll Anthony Arblaster, The Ra'seand Decline of Western Laberalism, Oxford u.a. 1985, S. 30-33).
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N e b e n d e m durchaus m o d e r n e n Individualismusprinzip, das bei L o c k e zur G e l t u n g k o m m t (das I n d i v i d u u m habe aus sich heraus eigene Rechte, unabhiingig v o n k o s m i s c h e n , traditionalen, institutional-korporativen, biogenetischen oder sonstigen sphiirischen E i n g e b u n d e n h e i ten) 1489 wies i n s b e s o n d e r e O t t o Vossler i m m e r wieder auf ,,wesentliche, archaische, mittelalterliche E l e m e n t e " hin. 1490 I n s b e s o n d e r e die N a t u r r e c h t s v o r s t e l l u n g v o n J o h n L o c k e wird angesprochen1491: ,,Das Wesentliche steht unabiinderlich lest, vor ihm, fiber ihm und ohne ihn: die gottgestiftete Naturrechtsordnung unter den Menschen. Die Sache, das Was ist ein ffir allemal gegeben, hier vermag der [bei Locke durchaus theoretisch erstmals entwickelte] Consens [sic!] gar nichts; lediglich die Methode, das Wie, die technische und instrumentelle Frage, auf welche Weise, dutch welche Einrichtungen das ewig unverrCickbare Recht am besten erkannt und gesch/itzt werden k6nne, das allein ist Bereich und Zustiindigkeit des Menschen, seines Consenses. '1492 D e m n a c h ist L o c k e kein ,,pl6tzliche[r] E n t d e c k e r fertiger, m o d e m e r u n d heute giiltiger Erkenntnisse", s o n d e r n ein ,,(...) grol3e[r] Vermittler, der zwischen den Zeiten steht, der verschiedene Gedanken, alte und neue, aus verschiedenen Epochen aufnimmt und in sein System harmonisch vers6hnt, der ehrwfirdige mittelalterliche Vorstellungen und Ideale in die rationalistische Sprache seiner Zeit fibersetzt.'1493 J o h n L o c k e stand wie erwiihnt mit der (graduellen) Entindividualisierung der H o b b e s c h e n Freiheitslehre nicht alleine. A u c h A d a m Smith muss hier in seinem Versuch, individuelle Freiheit u n d Moral m i t e i n a n d e r zu v e r s 6 h n e n , eingereiht werden. Inwieweit es sich beim Freiheitsbegriff v o n A d a m Smith w i r k l i c h - im Vergleich zu H o b b e s - u m einen entindividualisierenden handelt, muss o h n e h i n umstritten bleibt, da A d a m Smith Moral mit individuellen ,,moralischen Gef'fihlen" gleichsetzt, die allerdings jeder M e n s c h besitze - u n d hier genau ist ja der U n t e r s c h i e d zwischen d e m optimistischen A d a m Smith u n d d e m M i s a n t h r o p e n H o b b e s anzusetzen: Die , , E n t i n d i v i d u a l i s i e r u n g " bei A d a m Smith im Vergleich zu T h o m a s H o b b e s erfolgt also auf sehr indirektem Wege. E n t s c h e i d e n d ist hierbei die Spiegelmetapher1494: D e r M e n s c h spiegelt sich im a n d e r e n u n d wird dadurch zu einem moralischen Wesen, solange ihm die Freiheit g e g e b e n wird, sich selbst - o h n e jegliche apriorische Moralvorstellungen - zu defmieren. Somit fmdet A d a m Smith - wie auch J o h n Locke, w e n n auch unter ganz a n d e r e n V o r z e i c h e n aus einem D i l e m m a des ,,reinen Liberalismus" heraus, o h n e damit antiliberal zu sein; was aber i n s b e s o n d e r e J o h n L o c k e i m m e r wieder den V o r w u r f des W i d e r s p r u c h s eingebracht hat. A b e r auch A d a m Smiths K o n z e p t der reinen Selbstregulierung des moralischen Haushaltes, der ja letztlich auf der Basis des E g o i s m u s basiert, ist berechtigten Angriffen ausgesetzt: E n t w e d e r kann der Ansatz - ob der U n m 6 g l i c h k e i t apriorische Moralvorstellungen aus der Realit{it zu v e r b a n n e n - als als u t o p i s c h o d e r schlicht als a n t h r o p o l o g i s c h falsch bzw. zu pauschal angesehen werden. 1489Das ,,modeme" Individualismusprinzip sollte indes nach Maurizio Viroli nur dann auch als ,,liberal" angesehen werden, wenn es zugleich universalistisch ist: Nicht ein bestimmtes Individuum, nicht eine bestimmte partikulare Kollektivindividualiiit, sondem alle Individuen alias ,,Menschen" in Gleichheit haben demnach aus sich heraus eigene und gMche Rechte (vgl. auch die Bemerkungen Virolis zum Machiavellischen Individualismusprinzip: Maurizio Viroli, Die Idee der republikanischen Freiheit. Von Machiavelli bis heute, Mfinchen / Zfirich 1999, S. 12). 1490 Vgl. Otto Vossler, Geist und Geschichte. Von der Reformation bis zur Gegenwart, M/inchen 1964, S. 43-53, bsd. S. 52. 1491 Vgl. im geistesgeschichtlichen Kontext auch Carl Becker, The Declaration of Independence. A Study in the Histo~ of PoliticalIdeas, New York 1922, S. 24-79. 1492Otto Vossler, Geist und Geschichte. Von der Reformation bis wr Gegenwart, Mfinchen 1964, S. 51. 1493Ebd., S. 52. 1494vgl. Adam Smith, Theorie der ethischen Gefiihle, hg. v. Walther Eckstein, 2. Aufl., Hamburg 1977, Kapitel 1, S. 1-31.
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Das D i l e m m a des Liberalismus besteht darin, dass alle M e n s c h e n als ,,Individuen" gleich sein sollen, aber zugleich der Egoismus, auf dem diese Gleichheit aufbaut, die Ungleichheit anstrebt: D e r namrhafte E g o i s m u s des M e n s c h e n bei T h o m a s H o b b e s hat doch nichts anderes z u m Z i e l - nach einer ersten, defensiven Phase der ,,reinen" Angst aller M e n s c h e n vor d e m T o d - als d e m Individuum die Machtakkumulierung zu verschaffen, die es zur eigenen Befriedigung braucht, aber nur erreichen kann, w e n n es ein anderes I n d i v i d u u m nicht als Zweck, s o n d e m als Mittel fiir seine eigenen, egoistischen (letztlich triebgesteuerten) Zwecke behandelt. So h a b e n auch Intellektuelle wie der Marquis de Sade, La Mettrie, Max Stimer oder auch Friedrich Nietzsche auf der Basis des Radikalindividualismus ganz andere K o n s e q u e n z e n gezogen als es J o h n Locke u n d A d a m Smith getan batten, i n d e m sie den Gleichheitsgrundsatz im Prinzip vollstiindig ablehnten oder gar v e r h 6 h n t e n , nicht - wie bei den Konservativen - weil er nicht einer nicht-individualistischen Moral entsprach, sondern weil der G r u n d s a t z selbst als eine Art letztlich nicht-individualistischer ,,Moral" angesehen wurde. 1495 In der Sichtweise des modernen Republikanismus steht n u n aber legitimationstheoretisch ,,das in seinen Rechten defmierte Individuum [..] am Anfang der politischen Theorie"1496; n u r ,,die Privatinteressen des Individuums werden als legitim anerkannt. ''1497 A u f die D e m o k r a t i e b e z o g e n bedeutet das: ,,That no love of frugality ever existed as a passion, but always as a virtue, approved by deep and long reflection, as useful to individuals as well as the democracy. 'q498 Eine auf letztlich altruistische T u g e n d e n aufbauende , , A l l g e m e i n w o h l - O r i e n t i e r u n g " wird in ihrem Realitiitsgehalt bestritten: Start Vaterlandsliebe gebe es bei M e n s c h e n innerhalb eines gesellschaftlichen Z u s a m m e n h a n g s zun{ichst eine , , F a k t i o n e n l i e b e " , so dass alle Freundschaftsaffekte auf einer F r e u n d - F e m d - E i n t e i l u n g innerhalb des ,,Vaterlandes" u n d fiber dessen Wirkungskraft hinaus basieren 1499. Absolute Armutsideale indes hiitten o h n e h i n nie existiert, auBer in den Phantasien ,,enthusiastischer Schriftsteller". ls~176 U n d auch die Religion kann keine iiberzeugende politische ,,Barriere" gegen Unterdri,ickung sein. ls~ Die amerikanischen Verfassungsviiter entwarfen aus dieser Sichtweise ,,eine Verfassung fCir jene Menschen, die Hobbes in Behemoth als die f/ir die Stabilitiit eines Gemeinwesens gefa3rlichsten bezeichnet: die Vertreter von [zwecDationalen] Interessen, diejenigen mit festen politischen Uberzeugungen und vor allem dieienigen, die vom Ehrgeiz getrieben nach Macht streben. ''15~
1495Im Falle des Marquis de Sade ging der (rein auf das Sexistische reduzierte) Individualismus am deutlichsten mit der Zertrfimmerung aller Tugendmoral und dem Recht des ,,Stiirkeren" (des Nicht-Tugendhaften) einher, wobei es im Falle des Marquis umstritten scheint, ob seine Schriften und Pathologien nut aus einem antiklerikalen Provokationskontext heraus zu erk_l{irenseien oder als emstgemeintes ideologisches Gewaltprogramm aufgefasst werden sollten (zu letzterem tendiert/iberzeugend Roger Shatmck, Tabu. Eine Kulturgeschichte des verbotenen Wissens, M/inchen / Z~rich 2000, S. 281-368). 1496Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen. Deutsche Zeitschriften yon 1789 bis 1830, Stuttgart 1998, S. 365. 1497 Ebd. 1498 John Adams, A Defence of the Constitution of Government of the United States of America. Against the Attack of M. Turgot in his letter to Dr. Price, dated 22 "d March, 1778, ND Aalen 1979 (Reprint of the 3rd edition, Philadelphia 1797), Volume III, S. 493f.; vgl. femer Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 40f. 1499 V g l . Adams, John, A Defence of the Constitution of Government of the United States of America. Against the Attack of M. Turgot in his letter to Dr. P,ice, dated 22 "~ March, 1778, ND Aalen 1979 (Reprint of the 3rd edition, Philadelphia 1797), Volume II, S. 386s 1500Vgl. sehr deutlich ebd., Volume III, S. 313; femer Bd. II, S. 387. 1501Vgl. Madisons Gesamtdarstellung der Arbeit des Verfassungskonvents (24. Oktober 1787 an Jefferson), in: Angeta und Willi Paul Adams, Die Entstehung der Vereinigten Staaten und ihrer Verfassung. Dokumente 1754-1791, M/inster 1995, S. 335-347, 342. 1502Dietmar Herz, Die wohlerwogene Republik. Das konstitutionelle Denken despolitisch-philosophischen D'beralismus, Paderbom u.a. 1999, S. 39.
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Uber Institutionen und die richfige Regierungsform irides kann die Faktionenbildung, also die U n o r d n u n g stiftende Eigensucht, nicht nur geziihmt werden; 15~ sie kann, und das macht sie zur wirklichen ,,Aristokratie" im w6rtlichen Sinne, das Eigeninteresse des rafionalen Einzelnen mit Hilfe des ,,Gesetzes" (gegen die Unordnung) und der ,,Freiheit" (gegen Irregularitiit und WilLkiir) auf eine allgemeine E b e n e bringen. Diese E b e n e entfalte am E n d e verm6ge der ,,Veredelung" / ,,Verfeinerung" (,,refinement ''15~ des Einzelinteresses eine praktisch wirkende, aus Eigenliebe resultierende ,,Vaterlandsliebe". 15~ Die ,,Vaterlandsliebe" wird dann so stark sein, dass sie eine im emsthaften (Biirgerkriegs-)Sinne Unordnung stiftende Faktionenbildung unm6glich machen kann. Sie ist eine besondere F o r m der ,,aufgekliirten" Vaterlandsliebe, die sich zwar ihres eigenen Aufgekliirt-Seins nicht bewusst sein muss, aber dennoch, im republikanischen Rahmen, als solche affekfive Bindung erwirken kann. 15~ D e r Republikanismus in den USA verbindet nun abet auch in der Freiheitsvorstellung ein skeptisches Menschenbild und einen negativen Freiheits- und Gesetzesbegriff mit einem ldassischen Begriff des Republikanismus und ist als eine m o d e m e Weiterfiihrung insbesondere der Discord des Machiavelli anzusehen. Insbesondere neorepublikanische Theorien, die zugleich gegeniiber Pococks (land Hans Barons) Ansatz eher ,,revisionisfisch" sind, machen in den vergangenen J ahren stark darauf aufmerksam. Hier haben sich insbesondere Quentin Skinner, Philip Pettit 1s~ und Maurizio Viroli 15~ durch ausgezeichnete und eindrucksvolle Arbeiten fiber Machiavelli proffliert. 15~ A u f jeden Fall bleibt zu bemerken, dass der negative Utilitarismus eines Karl P o p p e r und eines jungen Ralf D a h r e n d o r f sowie die negative Freiheitsdefmition y o n Hayek (Freiheit als Abwesenheit y o n Z w i i n g e n - auch etwas nicht zu tun) als niichteme Sondererscheinungen des 20. Jahrhunderts erscheinen, die sich zwar in vielerlei Hinsicht durch Bedeutungsreduktion iiberzeugend gegen den marxistischen Freiheitsbegriff positionieren, andererseits allerdings einen relativ diirftigen politischen Freiheitsbegriff im Vergleich zum ebenso antimarxistischen, republikanischen D e n k e n derjenigen entwickelt haben, die explizit an einem ,,atlantischen Republikanismus" ankniipften: Dazu geh6ren neben Pocock, Skinner und Viroli 151~auch derart unterschiedliche Ausnahmegestalten wie R a y m o n d A r o n 1511, H a n n a h
ls03Vgl. Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und VerJilssungskommentar der amerikanischen Griinderv?iter, hg. yon Angela und Willi Paul Adams, Paderborn u.a. 1994, Artikel 10, S. 50-58, insbesondere S. 51: ,,Es gibt zwei Methoden, die negativen Auswirkungen solcher Faktionen abzustellen: zum einen, die Beseitigung der Ursachen, zum anderen, die Beherrschung der Konsequenzen (...). Auf nichts trifft der Satz, das Heilmittel sei schlimmer als die Krankheit, besser zu als auf die erste Methode." ls04Vgl. zum Begriff Angela und Willi Paul Adams, Einleitung, in: Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Ver[assungskommentar der amerikanischen Gr~'nderva'ter, hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderbom u.a. 1994, S. lxxix. ls0s vgl. Willi Paul Adams, Republikanische Verfassung und biirgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der ameHkanischen Revolution, Neuwied 1973, S. 405f. 1506Vgl. Adams, John, A Defence of the Constitution of Government of the United States of America. Against the Attack of M. Turgot in his letter to Dr. PHce, dated 22 "~ March, 1778, ND Aalen 1979 (Reprint of the 3rd edition, Philadelphia 1797), Volume III, S. 387. 150vZur Problematik des Begriffes Petitts ,,Vernunftrepublik": Maurizio Viroli, Die Idee der republikanischen Freiheit. Von Machiavelli bis heute, M~nchen / Z~rich 1999, S. 17. 1508Vgl. Maurizio Viroli, Die Idee der republikanischen Freiheit. Von Machiavelli bis heute, MCmchen / Z~rich 1999. 1509Vgl. zusammenfassend Carl K.Y. Shaw, Quentin Skinner on the Proper Meaning of Republican Liberty, in: Politics, Bd. 23, No 1, Februar 2003, S. 46-56. 1510Vgl. zum Freiheitsbegriff Maurizio Viroli, Die Idee der republikanischen Freiheit. Von Machiavelli bis heute, M~nchen / Z~rich 1999, S. 14f. 1511Vgl. insbesondere zum antimarxistischen, antimaximalistischenVerstiindnis von Freiheit (,,es gibt keine eine souveriine Freiheit, sondern immer nut Freiheiten im Plural): Raymond Aron, Ober die Freiheiten. Essay, Frankfurt a.M. 1968, S. 11-47; vgl. ebd., S. 48-95 zum ,,positiven" oder ,,reellen" Freiheitsbegriff, der die Kategorien ,,Macht", ,,Krieg" und
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Arendt, David P. Calleo, Isaiah Berlin, Charles Taylor, aber auch Leo Strauss und Allan Bloom. 1512 Trotz aller Unterschiede scheint eine zutiefst ,,atlantisch-republikanische" Gemeinsamkeit iiugerst wichfig zu sein: Die Abwesenheit von Zwang, etwas (nicht) zu tun, reicht nicht aus, um Freiheit zu konstituieren. Das wiire sogar widersinnig und wiirde vermittels der ideologischen Kaschierung von Freiheitsbeschneidung, die mit einem derartigen Freiheitsgrundsatz einhergeht, gar zu Lasten yon Freiheiten bestimmter Gruppen in der Gesellschaft gehen, die nicht v o n d e r ,,Abwesenheit von Zwang" profitieren, sondem im Gegenteil, stark dabei an Freiheiten verlieren k6nnen. D.h. nicht, dass z.B. die ,,Abwesenheit von Zwang" als wirtschaftspolifische Losung nicht unter bestimmten Voraussetzungen (die z.Z. in vielen westlichen Wohlfahrtsstaaten anzutreffen sind) konsequent durchgesetzt werden muss, weil das im iibergeordneten Interesse einer Gesellschaft l~ige; dies wiire dann allerdings kein ideologischer Grundsatz, sondem ein Gebot wirtschaftspolitischer Vemunft und in diesem Sinne freiheitsf6rdemd. Die , , K o n s f i t u f i o n " von Freiheit als Voraussetzung ihrer Existenz ist also an die Fiihigkeit gekoppelt, etwas Reifliches willentlich tun zu k6nnen. Erst dann kann ,,Freiheit" iiberhaupt sein. Die Organisation der Freiheiten auf der Basis von Entscheidungen, Regeln und Zuteilungen im Inneren - unter weitest gehender Ausschaltung von Willkfir- und die Bereitschaft nach augen im Notfall auch den Krieg durchzufechten, um die Freiheiten zu schfitzen1513: Das sind die einzig m6glichen Varianten der Realisierung von F r e i h e i t - oder anders formuliert: Reelle Freiheit ist immer ,,polifische Freiheit". In Verbindung mit der republikanischen Tradition und Machiavelli entsteht somit ein genuiner ,,amerikanischer Individualismus", der sich dadurch auszeichnet, dass er durch den religi6s fundierten Naturrechtsgedanken, wie er mustergiiltig bei John Locke zu linden ist, einen stark voluntaristischen Individualismusbegriff Machiavellis in einem (liberalen) menschenrechtsuniversalistisch orientierten Individualismusbegriff einbettet, ohne ihn jedoch de facto, als eine Form des inegalitiiren Willens-, Macht- und normativ ungebremsten Freiheitsindividualismus, vollends abzustreifen. Letzteres ist deswegen so entscheidend, weil dieser inegalitiir ausgerichtete Individualismus im amerikanischen Denken als informelle Voraussetzung einer jeden Freiheit in Gleichheit angesehen wurde und angesehen wird: Die vemunftphilosophisch und naturrechtlich gebotene Herrschaft des Gesetzes und der alte freiheitliche Drang zur souveriinen Entscheidung, das zu tun, was der Einzelne (der Monarch oder der Aristokrat) oder ein ganzes , , V o l k " (im Sinne einer nationalen Determinante) will, werden im klassischen Republikbegriff zusammengedacht. Nach Maurizio Viroli ist es die ,,liberale und die demokratische Theorie", die ,,jeweils eines dieser beiden Prinzipien betonen" und dem anderen einen geringeren Wert beimessen: Der Liberalismus betont die ,,Herrschaft des Gesetzes", die Demokratie den ,,Willen eines Volkes". 1514 Man miisste wohl noch die ,,elitiire Theorie" hinzufiigen, die, bis hin zur problematischen Vorstellung einer ,,kommissarischen Diktatur", den Fiihrervhllen eines Einzelnen oder einer Einzelgruppe hervorkehren wiirde. Aus republikanischem Blickwinkel wiire die Verfalls,,Knappheit" von Freiheit sowie ,,Entscheidungs- bzw. Zuteilungsnotwendigkeit"immer mitdenkt, um keinem unrealistischen oder reduktionistischen Freiheitsbegriff zu verfallen. 1512Vgl. zum platonischen Amerikaverstiindnis des letzteren: Allan Bloom, Der Niedergang des ametgkanischen GeisteJ: Ein Pla'doyerfiir die Erneuerung der westlichenKultur, New York 1987, S. 46. 1513Dass ein ,,Liberaler", der einerseits die Unfreiheit der 6konomischen Gesetze, andererseits die Eventualbedingungender Freiheit im Krieg nicht bedenkt, nicht die Fiihigkeit besitzt, ein politisch f'ahiger und emstzunehmender Liberaler zu sein, ist eine der wichtigsten, heute noch ~iul3erst aktuellen, Grundpositionen yon Raymond Aron gewesen (vgl. Raymond Aron, ([Tberdie Freiheiten. Essay, Frankfurt a.M. 1968). 15~4Vgl. Maurizio Viroli, Die Idee der republikanischen Freiheit. Von Ma&iavelli bis heute, Mfinchen / Zfirich 1999, S. 13.
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form dieser ,,elitiiren Theorie" eine ,,Theorie der souveriinen Diktatur", also die Vorstellung eines ,,souveriinen Entscheiders", der anstelle des Volkes (im N a m e n seiner Person oder im N a m e n eines ,,totalen Staates") alles tun darf, was er w i l l - o d e r gar das gleiche Prinzip in vorgestellter Identitiit mit diesem Volk (also im Sinne des , , m o d e r n e n Totalitarismus", welcher ,,diktatorische" und ,,demokratische Theorie" miteinander verkniipft u n d einem gnostizistischen, ,,metastatischen G l a u b e n " in den ,,neuen M e n s c h e n " anhiingt1515). A u c h die F o r m der subjektiven Willensdimension ist also im klassischen Republikbegriff enthalten, allerdings ohne jeglichen totalit~iren Charakter, da der Totalitarismus bis z u m Her a u f k o m m e n der m o d e r n e n ,,demokratischen Theorie" der ,,VolkssouverSnitSt" nicht als politische Ideologie denkbar war. Die subjektive Willensdimension k o m m t im klassischen Republikbegriff in der sogenannten ,,monarchischen R e g i e r u n g s f o r m " z u m Tragen, welcher einer , , v o l l k o m m e n e n Republik ''1516 ,,beigemischt" ist. Diese , , R e ~ e r u n g s f o r m " , das sei kurz wiederholt, ist in der ,,Republik" aufgrund des republikanischen Prinzips ,,Herrschaft des Gesetzes" begrenzt, artet deswegen nicht zur ,,Tyrannis" aus u n d wirkt als ,,gezShmter" Elitismus nur n o c h positiv auf das Gemeinwohl. W e n n n u n alle diese Beschreibungen korrekt sind, ,,miissen wir fortan Liberalismus und D e m o k r a t i e gleichermagen als Teil des umfassenderen u n d inhaltsreicheren Republikanismus betrachten" - aber auch vitalistische u n d voluntaristische F o r m e n des Ciisarismus (z.B. N a p o leon III.), des Nationalismus u n d der politischen R o m a n t i k (z.B. der RisorgimentoNationalismus oder vdlkische F o r m e n nationalliberaler Freiheitsbewegungen in Mittel-, Ostund Siidosteuropa) miissten so betrachtet werden. A b e r auch der Faschismus? Mag m a n Mussolini glauben, so kiime j e m a n d e m vielleicht in den Sinn, dass der ,,Duce" nicht ohne G r u n d in einem Republikaner wie Machiavelli sein groges Vorbild sah und 1943 eine ,,faschistische Republik" (die v o n Said) aus der Taufe hob. A b g e s e h e n v o n Griinden opportunistischer Getriebenheit im J ahre 1943 bzgl. Sald (angesichts der damaligen militiirischen Umstiinde), handelt es sich hierbei u m eine doch eher verquere und absurde Vorstellung, da der Faschismus eben insofern totalitiirer Bauart war, als er durch seinen ,,metastatischen G l a u b e n " an den ,,neuen M e n s c h e n faschistischen Typs" in der gleichen gnostisch herbeigesehnten Vorstellung von der Uniformit~it einer gleichgeschalteten Masse verharrte, die jeden freiheitlichen u n d defmitionsgemiiB konflikthaften Vitalismus u n d Subjektivismus einer jeden Republik schon im Ansatz unterdriickte. Insofern stellte der Faschismus w o h l auch keine wirklich vollgiiltige Verfallsform eines amputierten klassischen Republikanismus dar, da er als Ideologie keinerlei Spiitform eines relevanten Bestandteils des klassischen Republikanismus abbildet. E r fmdet im
1sis Wurde im nationalsozialistischen Deutschland beides sehr eng miteinander verbunden, so spielte im faschistischen Italien das ,,demokratische Element" eine - im Vergleich - etwas geringere Rolle: Es iiul3erte sich nur in der Uniformitiit der soldatisch marschierenden, nationalistischen Masse und in der Identitiit zwischen Duce und ,,Nation" sowie Partei und Staat unter Akzeptanz und symbolischer Fdrderung des traditionalen Monarchismus und (z.T.) des rdrnischen Katholizismus, nicht abet in einer Vorstellung, dass der ,,Fiihrer" Volkes Wille in Person sei und diesen Wille im Namen der ,,Uberlegenheit der arischen Rasse" nut mehr ausfiihre. Entsprechend orientierte sich der Faschismus in seiner Symbolik an klar elitiiren Motiven, z.B. dem Liktorenb/indel, das nicht flit die Macht des Volkes oder der Volkstribune, sondem ffir die Macht des Konsuls, Imperators oder Statthalters stand, w~ihrend die Nationalsozialisten mit Hiders Flagge zum einen mit der Swastika (dem HakenDeuz) den ,,metastatischen Glauben" (an den ,,Sieg eines arischen Herrenmenschen"), zum anderen aber eben - rnit der beherrschenden roten Farbe und dem Begriff ,,Sozialismus" - einem Demokratismus huldigten, der sich an der Vorstellung einer Identitiit zwischen Fiihrer und Volk orientierte (vgl. auch ansatzweise Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichtepolitischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1985, S. 159f.). lS16Vgl. Niccol6 Machiavelli, Discord. Staat und Politik, hg. yon Horst G~nther, Frankfurt a.M. / Leipzig 2000, 1. Buch, 2. Kapitel, S. 25.
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klassischen Republikanismus, den er angeblich degeneriert, keinerlei wirkliche Voraussetzungen. Er kann damit i,iberhaupt keine Degenerationsstufe dieses Republikanismus sein. N e b e n den autoritiiren Formen yon radikal partikularistischen Bewegungen (antiliberale Varianten des staatlichen oder v61kischen Nationalismus) oder gar diktatorischen ,,Willensdiktaturen" (z.B. Napoleons III.) k6nnen als solche m o d e m e n Amputationsformen noch der Demokratismus der ,,jakobinischen Republik" und der freiheitserstickende Glaube an die Allherrschaft des 6konomischen Gesetzes sowohl des Manchesterliberalismus als a u c h - in abgewandelter F o r m - des Marxismus angesehen werden. Damit sind die vulgiirsten Muster einer einseitigen Ausblendung der jeweils eigenen Aufgehobenheit yon ,,Demokratie", ,,Voluntarismus", ,,Nationalismus", ,,Liberalismus", ja sogar ,,Sozialismus" in der republikanischatlantischen Tradition aufgeziihlt. In dem Moment, in dem diese Ausblendung stattfand, waren also die republikanisch-atlantischen Traditionen der eigenen ,,politischen Ideen" ausgeklinkt. Erst die Riickbesinnung auf diese Traditionen macht eine ,,Atlantische Zivilisation" greifbar.
3.5 Zwischenfazit: Die klassische Umrahmung des amerfkanischen Republikanismus
Es ist umstritten, inwieweit sich nun der erliiuterte positive Freiheitsbegriff wirklich als Bestandteil eines individualismuszentrierten Freiheitsansatzes aufrechterhalten liisst oder nicht yon der Setzung iiberindividueller Werte (oder ,,Gesetze" bzw. ,,Naturrechte'~) abh~ingen muss. Die Einordnung yon Machiavellis ,,Discorsi" in diesem Zusammenhang f~illt entsprechend unterschiedlich aus. Die einen sehen in seinem positiven Freiheitsbegriff einen individualistischen (modemen) Ansatz, die anderen einen iiberindividuellen Zugang, der in Bezug auf die positive Freiheit auf die ,,virth" als kosmisches Prinzip zuriickzufiihren sei. Klare v o r m o d e m e , kosmologische, transzendente, religi6se, naturgesetzliche und naturrechtliche und damit zugleich allgemeinwohlabgeMtete Ans~itze zur Begriindung einer expliziten positiven Freiheit finden sich bei den Republikphilosophien in der aristotelischen ,,Politik", in Harringtons ,,Oceana" und bei Montesquieus Begriffen der ,,amour de l'6galit6", ,,frugalit6" und ,,de la pattie ''1517 als moralische Basis einer jeden Freiheit in der Demokratie, bis hin zu den politischen Idealen Rousseaus und Mablys, der schottischen Moralphilosophie und schliel31ich auch den amerikanischen Verfassungsviitem. Modemistische Theoretiker wie Volker Depkat, Rudolf Speth oder Manfred G. Schmidt haben zwar Recht, wenn sie betonen, dass das in europ~iischen Amerikadiskursen nicht gesehene Neue der ,,modeme Republikanismus" war 1518, doch bedeutet das nicht, dass die USA nicht zugleich den klassischen Republikanismus reanimierten. 1519 Letzterer ist zwar nicht in der
1sly Charles-Louis de Secondat, Baron de la Br~de et de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, bearb, v. Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 3. Buch, 3. Kapitel, S. 120-122 und 4. Buch, 5. Kapitel, S. 138f. 1518Vgl. Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen. Deutsche Zeitschriften von 1789 bis 1830, Stuttgart 1998, S. 378f. Rudolf Speth, Inte~retation. Hamilton, Madison, Jay, in: Peter Massing / Gotthard Breit (Hg.), Demokratie-Theorien. Von derAntike bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Bonn 2003, S. 145-148, 148; iihnlich: Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien, 3. Aufl., Opladen 2000, S. 112. Rudolf Speth will anscheinend nur bei den Anti-Federalists eine wirksame Verbindung zum klassischem Republikanismus erkennen und hier auch nur zur direkten Polisdemok_ratiestart zum Grundsatz der ,,gernischten Verfassung". ls19 Vgl. John G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975; Bernard Bailyn, The Ideological Origins ~ the American Revolution, 13. Aufl., Cambridge (Mass.) 1967 (Bailyn sieht indes einen sehr starken Bezug zum spezifischen Republikanismus des Zeitalters der Aufkla'rung, weniger der Antike); Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic. 1776-1787, Chapel Hill 1969.
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Kernverfassung ls2~ abet in dem Freiheits- und Bfirgerverstiindnis der zugefiigten Bill of Rights und in der Declaration of Independence, insgesamt in Theorie und Praxis der neu gegriindeten USA aufgehoben: ,,Was wit in der Riickschau als Republikanismus u n d Liberalismus zu trennen versuchen, bildete in der historischen Situation der Verfassung des amerikanischen Bundesstaates ein Ganzes. "1521 Hier sollten wit uns auf die Ausfiihrungen James Madisons konzentrieren: ,,Ich bin mir sehr wohl der Umstiinde bewusst, die das amerikanische Regierungssystem von anderen demokratischen [popular] Systemen der Antike wie der Moderne unterscheidet, und die iiul3erste Umsicht erfordem, wenn man R~ckschl/isse yon Fall zu Fall schliel3t. Doch nachdem man diese Uberlegungen zu Gen/ige betrachtet hat, kann man immer noch behaupten, dass es viele Punkte der Gleichartigkeit gibt und diese Beispiele sehr wohl unsere Beachtung verdienen."1522 Herfried Miinkler hat z.B. oft darauf aufmerksam gemacht, dass die origmiire Leistung der politischen Ideengeschichte, gerade der amerikanischen Schule, darin besteht, die KontinuitS.t des politischen D e n k e n s zwischen Antike und M o d e r n e herausgearbeitet zu haben. Die bahnb r e c h e n d e Erkenntnis, die mit den Schriften y o n Bailyn, P o c o c k u n d W o o d einherging, war jene, dass die amerikanische Revolution nicht eine E r s c h e i n u n g s f o r m der Aufldiirung (alleine) darstellt, s o n d e m als letzter grol3er Akt der originiir byzantinisch-italienischen, in E n g l a n d tradierten und fiber E n g l a n d nach Amerika weitergebenen Renaissance verstanden werden muss.
1523
,,Was in der politischen Ideengeschichte hier herausgearbeitet wurde, aber vorerst in Sozialwissenschaften, Philosophie und Geschichte eher peripher zur Kenntnis geworden ist, ist eine durchgehende Tradition des politischen Denkens, welche die Synthesis der Gesellschaft nicht sozio6konomisch, sondern politisch gedacht hat und zwar dutch Bestimmung dessen, was ein B/irger im Sinn von civis sei. Ihr Zentralbegriff ist die B/irgertugend, diese spezifische sozio-moralische Disposition, welche das Zusammenleben der B/irger als societas civium in der republica erst erm6glicht."1s24 N a c h Bernard Bailyn, G o r d o n W o o d , J o h n Pocock, Caroline Robbins, Clinton Rossiter und neuerdings auch Eric N e l s o n sowie nach einer ~iugerst wichtigen empirischen Quellentextuntersuchung v o n D o n a l d S. Lutz 152s k 6 n n e n wir insgesamt etwa sechs Traditionsstriinge und Quellen des amerikanischen Republikanismus herausarbeiten, o h n e dass einer Tradition ein auBerordentlicher Primiirrang bzw. Sekundiirrang zugeordnet werden kann:
1520 Darauf macht aufmerksam: Dietmar Herz, Die wohlerwogene Republik. Das konstitutionelk Denken des politischphilosophischen Ia'beralismus, Paderbom u.a. 1999, S. 47. Nach Dietmar Herz m/isste ,,"ldassischer Republikanismus" mit ,,werteorientierter Verfassung" und ,,moderner Republikanismus" mit ,,republikanischer" und ,,liberaler" Verfassung charakterisiert werden. Der Republikbegriff bezieht sich bei Herz auf das Gewaltenteilungsprocedere, der ,,Liberalismus" auf die wertneutral-individualistischeGrundannahme der Verfassung. 1521Angela und Willi Paul Adams, Einleitung, in: Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikef Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen GriindervS"ter,hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderborn u.a. 1994, S. lxxxvii. ls22Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Grh'nderv?iter,hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderbom u.a. 1994, Artikel 63, S. 380-388, 383f. 1523Vgl. zusammenfassend Joyce Appleby, Liberalism and Republicanism in Historical Imagination, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1993, S. 280-285. 1524 Herfried M~nkler, Zivilgesellschaft und Biirgertugend. Bedii~n demokratisch vetfaJ~te Gemeinwesen einer so~o-moralischen Fundierung?Antrittsvorlesung 10. Mai 1993, Berlin 1994, S. 13. 1sis Vgl. Donald S. Lutz, The relative Influence of European Writers on Late Eighteenth-Centre.7American Political Thought, in: American Political Science Review, Bd. 78, 1984, S. 189-197.
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die Schriften des klassischen Altertums ls26, des Zeitalters der Renaissance und James Harringtons 1527 die Schriften des Rationalismus im Aufldiirungszeitalter, sowohl des franz6sischen als auch des englischen (William Blackstones ,,Commentaries on the Laws of England 'qs28) die Schriften des englischen Common Law die Schriften der schottischen Auflditrung und der Einfluss von David Hume 1529 die politische und soziale Theorie des neuenglischen Puritanismus der englische B/irgerk_riegsliberalismusin der Commonwealth-Periode und der darn_it einhergehende Einfluss der Whigs.ls3~
D i e V e r f a s s u n g selbst indes, also als nackter Text, ist v611ig neuartig, da rein prozedural. W e n n sie W e r t e theoretisch a n n e h m e n wiirde, d a n n k 6 n n t e sie es als ,,republikanische" V e r f a s s u n g freilich nur so tun, dass am E n d e die n o r m a t i v e A u f f a s s u n g als eine, in der V e r f a s s u n g gef6rderte M6glichkeit existieren kann, aber nicht ,,die A u f f a s s u n g des Staates sein kann. ''1531 Madison spricht in seiner K o m m e n t i e r u n g s o w o h l v o n den n o r m a t i v orientierten ,,passions" als auch v o n den ,,interests", die d u t c h ein ausgefeiltes G e w a l t e n t e i l u n g s s y s t e m zu kontrollieren sind 1532, ,,ohne dabei die tiefer liegenden U r s a c h e n der Zwietracht, n~imlich die Freiheit, in Frage zu stellen. ''1533 D e r z u g r u n d e l i e g e n d e Freiheitsbegriff indes war jedoch kein individualisfischer, s o n d e r n ein klassischer u n d hellenischer, a u f ganz b e s o n d e r e Art u n d Weise bei T h o mas Jefferson. a534 N u r der G u t e u n d Verniinftige, n u t der u n t e r G l e i c h e n H a n d e l n d e ist wirklich ,,frei". E n t s p r e c h e n d klar k o n n t e J e f f e r s o n z u m A u s d r u c k bringen, dass die G r i e c h e n als ,,erste zivilisierte N a t i o n der Weltgeschichte", im K o n t e x t eines n o r m a t i v e n Verstiindnisses der einen Singuliirzivilisation, das ,,Ideal A m e r i k a s " zu sein hatten, ls3s Die G r i e c h e n v e r e h r u n g war keine Sache v o n J e f f e r s o n alleine: Ihre groBe B a n d b r e i t e ist an der A r c h i t e k t u r des damaligen A m e r i k a s erkennbar, s o w o h l in der ,,offiziellen A r c h i t e k t u r der amerikanischen D e m o k r a t i e " (insbesondere der streng klassizistisch gehaltene S u p r e m e C o u r t sticht hier hervor), als auch im Alltag, ob n u n beim Architekturstil amerikanischer Bankgeb~iude, amerikanischer Z e n t r a l b a h n h6fe o d e r amerikanischer Schulgebiiude, ob in Virginia, in Illinois oder im Mittleren W e s t e n -
1526 Vgl. Eric Nelson, The Greek Tradition in Republican Thought, Cambridge 2004. 1527Vgl. James Harrington, Oceana 1656, hg. v. Hermann Klenner und Klaus Udo Szudra, Leipzig 1991, Alois Riklin, Die Republik yon James Harrington 1656, Bern 1999 und G/inter Nonnenmacher, Theorie und Geschichte. Studien Zu den politischen Ideen yon James Hardngton, Meisenheim/Glan 1977. 15z8Vgl. William Blackstone, Commentaries on the Laws of England. With Notes of Reference to the Constitution and Laws of the Federal Government of the United States and ~the Commonwealth q[ Virginia, hg. v. S. George Tucker, ND South Hackensack, N.J. 1969. ls29 In fiberbetonter Form finder sich eine Abhandlung dieses Traditionsstranges bei Gary Wills, Inventing America: Jefferson9 Declaration of Independence, New Jersey 1978. Eine reii3erische Kritik vollzieht Ronald Hamowy, Jefferson and the Scottish Enlightenment. A Critique of Garry Wills's Inventing America: Je~brson:r Declaration of Independence, in: William and Mary Quarterly, Bd. 36, 1979, S. 503-523. Die Kritik konnte dutch die Untersuchung von Donald S. Lutz generell best~itigt werden (vgl. Donald S. Lutz, The relative Influence of European Writers on Late Eighteenth-Century American Political Thought, in: American Political Science Review, Bd. 78, 1984, S. 189-197, 196). 1530Vgl. dazu insbesondere die bahnbrechende Arbeit von Caroline Robbins, The Eighteenth Centu{y Commonwealthman." Studies in the Transmission, Development and Circumstances of English Laberal Thoughtfrom the Restoration of Charles II until the War with the Thirteen Colonies, Cambridge 1961. Vgl. auch Clinton Rossiter, Seedtime of the Republic, New York 1953. lS31Vgl. Dietmar Herz, Die wohlerwogeneRepublik. Das konstitutionelle Denken despolitisch-philosophischen Liberalismus, Paderborn u.a. 1999, S. 49. 1532Vgl. Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Griinderva'ter, hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderbom u.a. 1994, Artikel 10, S. 50-58. 1533Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien, 3. Aufl., Opladen 2000, S. 117. 1534Vgl. Karl Lehmann, Thomas Jefferson. American Humanist, New York 1947, S. 154f. (eher ~itisch Bernard Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, 13. kufl., Cambridge (Mass.) 1967, S. 27f.). 1535Vgl. Karl Lehmann, Thomas Jefferson. American Humanist, New York 1947, S. 208f.
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so viel hellenische Architektur wie W a s h i n g t o n hat nicht einmal das neuzeitliche A t h e n zu bieten.lS36 Dass n u n also trotz des hellenischen Einflusses ls3v ein qualitativer Freiheitsbegriff in der Kernverfassung nicht auftrat, m a c h t den modernen und zugleich liberalen Charakter der amerikanischen (Kern)Verfassung aus. Diese Mischung aus N e u u n d Alt ist das Faszinierende an ,,UrAmerika". Staats- u n d politiktheoretisch entscheidend ist also, dass nicht n u t der klassische Republikanismus, s o n d e m auch der neue Republikanismus bei den amerikanischen Verfassungsviitern v o n strukturellen Voraussetzungen eines klassischen Verstiindnisses abhiingig war u n d ist, u n d zwar ohne A u s n a h m e n : Sogar James Madison 1538 ermahnte die Amerikaner dazu, dass ,,das G e m e i n w o h l , das tatsiichliche W o h l der groBen Masse des Volkes, das h6chste zu verfolgende Ziel ist". 1539 D e r m o d e m e Republikanismus ist d e m n a c h - auch bei M a d i s o n - n u t das Mittel, die normativ-ontologischen Ziele des klassischen Republikanismus endlich wieder u n d dauerhaft zu verwirklichen. Z u r , , G r u n d w a h r h e i t " dabei geh6rte u n d geh6rt, dass eine republikanische Regierungsform, fiir sich in ihrer ,,Materialit~t" m o d e r n u n d mechanisch, nur dann iiberleben k6nne, ,,wenn sie v o n einem Geist der T u g e n d und einer Sorge f/,ir das Gem e i n w o h l getragen wiirde. 'qs4~ Somit hat der neue amerikanische Republikanismus in semen Anfangen eindeutig einen klassischen Idealcharakter, w e n n auch mit graduellen Unterschieden in der e n t s p r e c h e n d e n philosophischen Debatte (z.B. zwischen Hamiltonianern u n d J effersonianem, die sich hier allerdings nicht kontradiktorisch gegeniiberstanden1541). Das steht indes nicht der B e h a u p t u n g entgegen, dass mit d e m ganz n e u e n Design des klassischen Republikanismus etwas zugleich typisch Amerikanisches entstanden ist, was es so in Kontinentaleuropa, u n d in geschriebener, feierlich kodifizierter u n d nicht-monarchisch eingebetteter F o r m , in G e s a m t e u r o p a bisher nicht gegeben hatte. Margarita Mathiopoulos hat es einst auf folgenden P u n k t gebracht, wobei sich der Begriff der ,,Europ~ier" im folgenden Satz n u t auf die kontmentaleuropiiische Tradition beziehen sollte1542: ,,Wiihrend sich die Europiier (...) vorwiegend mit den idealen Bedingungen menschlichen Denkens, Fortschritts und menschlicher Vernunft auseinander setzten, beschriinkten sich die Amerikaner seit der Unabhiingigkeit auf die realen Bedingungen menschlichen Denkens, Fortschritts und menschlicher Vemunft. "1s43 Ein E n d e des klassischen Republikanismus in Amerika lag hierin jedoch keineswegs, da an der Idee des kosmisch eingebundenen Allgemeinwohls festgehalten w u r d e - allerdings o h n e sich anzumaBen, dieses Allgemeinwohl iiber die A n n a h m e seiner Existenz hinaus in dogmatischer
1536Vgl. Carlton J.H. Hayes, The American Frontier - Frontier ~ What?, in: The American Historical Review, Bd. LI (1945/46), S. 199-216, 209. 1537Vgl. dazu insbesondere Eric Nelson, The Greek Tradition in Republican Thought, Cambridge 2004. 1538Vgl. zu Madisons elitiirer sozialpolitischer Gmndhaltung: Charles A. Beard / Mary R. Beard, The FOse of American Civilization, ND New York 1947, Volume I, S. 334f. ls39Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theotie und Verjassungskommentar der ametikanischen G~'ndervater, hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderborn u.a. 1994, Artikel 45, S. 278-284, 279. 1540Robert N. Bellah / Richard Mansen / William M. Sullivan / Ann Swidler / Steven M. Tipton, Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der ametikanischen Geselk'chaft, K61n 1987, S. 290. 1541Vgl. ebd., S. 290-293, und Joyce Appleby, Laberalism and Republicanism in Historical Imagination, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1993, S. 291-319. 1542Auf den angelsiichsischen Beitrag verweist richtigerweise Ernst Fraenkel, Das ametikanische Regierungs~stem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 171. 1543Margarita Mathiopoulos, Ametgka: Das E-,J~eriment des Fortsch,#ts. Ein VergMch des politischen Denkens in Ametika und Europa, Paderbom/Miinchen u.a. 1987, S. 213; vgl. femerhin Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 169ff.
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Weise konkret-inhaltlich zu fiillen, aber auch ohne es auf nicht-prozeduralem Wege allen Menschen unter der Bedingung seiner inhaltlichen E n t d e c k u n g im Notfall aufzwingen zu wollen, wie das bei Rousseau der Fall war. Das Allgemeinwohl ist irdisch nur m e h r auf prozeduralem Wege b e h e r r s c h b a r - abet das heiBt nicht, dass dieses allgemeine W o h l nicht selbstversdindlich exisfiert, weil eine ,,objekfive Wahrheit" existiert und weil es das , , G u t e " i m menschlichen Leben wirklich gibt als eine Entit~it, welche dem B6sen entgegensteht. U m das Gute miisse sich der Mensch bemiihen: A u f formal insfitufionellem Wege sei es denn auch in einem ausgekliigeltem System der Checks und Balances in der Tat erreichbar, und es werde flankiert durch eine auf diesem Wege eben nicht m e h r korrumpierbare, handfeste biirgerliche Tugend, einem ,,natiirlichen Liberalismus", einem ,,American Mind" bzw. dem ,,American Creed". 1544 D e r darin zum Ausdruck k o m m e n d e Exzeptionalismus Amerikas 1545 war jedoch kein ,,amerikanisfischer" Selbstzweck, so wie es ansatzweise Boorstin, Hartz oder spiiter D a h r e n d o r f und Lipset darstellten. 1546 D e r Wert des ,,American Creed" bestand in der Flankierung eines a n g e n o m m e nen ,,Guten", so wie es in bester abendl~indischer Tradition iiberliefert und philosophisch entfaltet wurde. N u r T h o m a s Paine ~iul3erte sich aufgrund seines universalistischen Individualismus in skepfischer Weise gegen die klassische Uberlieferung. Er riickte die ,,menschheitliche" Gleichheit aller Individuen, welcher er mit ,,Freiheit" zusammendachte, in den Mittelpunkt seiner Uberlegungen und entwickelte auf dieser Basis eine gegen Burke gerichtete antipartikularistische Sichtweise (,,Rights of Man"), die er mit seinem Republikbegriff zu verbinden suchte. D o c h sogar Paines Ansatz kann mit den normafiven Bestandteilen des klassischen Republikanismus in Verbindung gebracht werden: Umschrieben werden k f n n t e er als die Einsicht in einen politisch-technisch m6glichen Sinnentsprechungsautomatismus eines in diesem normativen K o n text instrumentell eingebundenen Individualismus. Diese Vorstellung des Individualismus als Werkzeug des G u t e n unter bestimmten technologischen Systemvoraussetzungen war bei Hamilton, Madison, Adams und Jefferson auf jeden Fall pr~isent. 1547 Die Kehrseite eines Individualismus, der als reiner Selbstzweck verstanden wiirde (also ohne das ,,Gute", ohne ,,Vernunft" oder ohne das ,,Sch6ne 'q548) ist aus einer klassischen Perspekfive heraus eine kosmische Ortlosigkeit des Einzelnen, die in ,,Volksvertierung" und V o l k s v e r d u m m u n g umschlagen muss: entweder in eine radikale Entpolitisierung mit dem 1544Vgl. Hans Vorl~inder, ,,American Creed'; liberale Tradition undpolitische Kultur der USA, in: Franz Grel3 / Hans Vorl~inder (Hg.), Liberale Demokratie in Europa und den USA. Festschriftfiir Kurt I~ Shell, Frankfurt a.M. / New York 1990, S. 1133; Gunnar Myrdal, The American Dilemma. The Negro Problem and Modern Democrag, New York 1944, S. 3-25; Louis Hartz, The La'beral Tradition in America. An Inte~oretation of American Political Thought since the Revolution, New York 1955; Daniel J. Boorstin, The Genius of American PoliticJ, Chicago / London 1953; Wemer Sombart, Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Soualismus?, T/ibingen 1906. ls45Vgl. Hans Vorl~inder, ,,American Creed'; liberate Tradition undpolitische Kultur der USA, in: Franz Grel3 / Hans Vorl{inder (Hg.), Liberale Demokratie in Europa und den USA. Fesls&riftfiir Kurt I~ Shell, Frankfurt a.M. / New York 1990, S. 1133, 12. ls46Vgl. Louis Hartz, The Laberal Tradition in America. A n Inte~retation of American Political Thought since the Revolution, New York 1955; Daniel J. Boorstin, The Genius of American Politics, Chicago / London 1953; Ralf Dahrendorf, Die angewandte Aufkla'rung. Gesellschaft und So~ologie in Amerika, M/inchen 1963; Seymour Martin Lipset, The First New Nation. The United States in Historical and Comparative Perspective, New York 1973. Ders., American Exceptionalism. A Double-Edged Sword, New York 1996; fernerhin Max Lemer, Amerika - Wesen und Werden einerKultur. Geist und Leben der Vereinigten Staaten yon heute, Frankfurt a.M. 1957. Vgl. zur K_ritik an Lipset J/irgen Gebhardt, Die Krise des Amerikanismus. Revolution?ire Ordnung und gesellschaftliches Selbstverst?indnis in der amerikanischen Republik, Stuttgart 1976, S. 268ff. ls47 Vgl. zu Jefferson in diesem Zusammenhang insbesondere Werner Heun, Die politische Vorstellungswelt Thomas Jeffersons, in: Historische Zeitschrift 258 (1994), S. 359-396. 1548Die Ambivalenz der ~assischen Asthetik indes besteht wohl darin, dass sie sowohl im Guten als auch im Willentlichen, Lebendigen, Unb~indigenund Gewaltsamen liegen kann. Hierin mag der wichtigste Unterschied zwischen einem platonischen K_lassizismusund einer K]assik der Renaissance im Sinne eines Machiavellis gesehen werden.
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Resultat einer den eigenen menschenwiirdezentrierten Verfassungsgrundsiitzen entgegenstehenden, neuen techno-aristokratischen Ubermenschenklasse oder in eine ,,Verfassungsgef~ihrdung" durch Anarchisierung bzw. Verbindung von Pluralisierung und Willk6r. Deshalb war der A u s g a n g s p u n k t des ,,modemen Republikanismus" bei den Verfassungsviitem der USA durchaus eine altbekannte, also keine ,,neue" normative Allgemeinwohldoktrin, die sich gegen die ,,factions" stellte und danach suchte, bi~rgerliche Tugenden auch in einem grol3fl~ichigen Staat sicherzustellen. Marktwirtschaft, Kapitalismus und Individualismus waren in dieser Zielperspektive ,,biirgerlicher Tugend" zun~ichst einmal also entweder gar nicht als vorrangige Elemente vorhanden, was insbesondere G o r d o n W o o d sehr sch6n herausarbeiten konnte ~549 oder es k6nnte auch behauptet werden, dass der amerikanische Individualismus zu Anbeginn keineswegs nur ,,utilitaristisch" oder ,,expressiv", sondern ,,biirgerlich" in einem klassischen Sinne war. Dazu kam der spezifische Umstand, dass jene amerikanische Biirgerschaft dariiber hinaus auch, in gesellschaftlicher Hinsicht, ,,biblisch-religi6s" ausgerichtet war. lss~ Die Allgemeinwohldoktrin zentrierte sich jedenfalls um einen qualitativen, nicht individualistischen, nicht liberalen und nicht 6konomischen, eben klassischen, tugendphilosophischen Freiheitsbegriff. ,,Die Demokratie der Federalist Paper ist [also] /,iberwiegend normativ-analytischer Bauart" auf der Basis eines ,,nicht geringen" Erfahrungsschatzes. 1551 Man kann diese zutreffende Zusammenfassung von Manfred G. Schmidt mit der Bedeutung des etwas verwirrenden Begriffs der ,,liberalen Ethik" Duvergers in Verbindung bringen: ,,Der Demokratie fehlt es nicht an einer Ethik; sie tritt fiir die liberale Ethik ein, die soviel Weft ist wie andere auch. ''1552 Allerdings beschriinkt sich der K a m p f der Parteien in diesem Rahmen nicht auf Weltanschauungsfragen bzw. darf sich nicht darauf beschriinken. Was dazu k o m m e n muss, damit die Voraussetzungen der ,,liberalen Ethik" nicht verletzt werden, ist eine teilweise Beschriinkung des Kampfes der Parteien auf Fragen der ,,politischen Technik". 1553 Ob die jiingsten ,,kulturkiimpferischen" Grundziige der heutigen innenpolitischen Debatte Amerikas, die spiitestens nach dem A u f k o m m e n des Progressivismus Ende des 19. Jahrhunderts 1554, friihestens gar seit der Auseinandersetzung zwischen siikularen Aufldiirern und Religi6sen in den Anfangszeiten der USA (Jefferson vs. Dwight) 1555 eine durchaus manifeste historische Dimension aufweist, wirklich eine emsthafte Herausforderung oder gar Gefahr fiir die tiefergehende Tradition der ,,liberalen Ethik" in Amerika darstellen 1556, wird in der vor dem Hintergrund der hier vorgen o m m e n e n historischen Analyse noch untersucht werden miissen. D o c h soll der Blickwinkel zuniichst bei der historischen Interpretation verbleiben. 1549Gordon Wood versteht den amerikanischen Republikanismus im Kern gar als ,,a final attempt to come to terms with the emergent individualistic society that threatened to destroy once and for all the communion and benevolence that civilized men had always considered to be the ideal of human behaviour." (Gordon S. Wood, The Creation qfthe American Republic. 1776-1787, Chapel Hill 1969, S. 418f.). 1550So Robert N. Bellah / Richard Mansen / William M. Sullivan / Ann Swidler / Steven M. Tipton, Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesel&hafi, K61n 1987, S. 174. 1551 so zutreffend Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien, 3. Aufl., Opladen 2000, S. 124. Vgl. zu den ,,Federalist Papers" insgesamt: Gottfried Dietze, The Federalist. A Classic on Federalism and Free Government, Baltimore 1960; David F. Epstein, The Political Theo{7 of the Federalist, Chicago / London 1984; Catharina yon Oppen-Rundstedt, Die Integoretation der amerikanischen Verfassung im Federalist, Bonn 1970. 1552Maurice Duverger, Diepolitischen Parteien, T/ibingen 1959, S. 274. 1553 Ahnlich, wenn auch nicht in graduellem, sondem eher in einem Alternativzusammenhang (,,entweder-oder") gestellt: Maurice Duverger, Diepolitischen Parteien, Tfibingen 1959, S. 274. 1554Vgl.James Davison Hunter, Culture Wars. The Struggle to defineAmerica, New York 1991, S. 78-82. 1555Vgl. James Davison Hunter, Der amerikanische Kulturkrieg, in: Peter L. Berger (Hg.), Die grenzen der gemeinschaft. Konflikt und Vermittlung inpluralistis&en Gesel~chaf/en, GCitersloh1997, S. 29-84, 33. 1556So im Endeffekt ebd., S. 73f.
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In diesem Kontext ist in Bezug auf die Anfike festzuhalten, dass diese nicht nur in normafiver Hinsicht in der amerikanischen Verfassungsdebatte 1787/88 allgegenwiirtig, sondern, wie schon gezeigt wurde, auch als wichfiger Vergleichsmal3stab in Bezug auf die Frage der StabilitS_t freiheitlicher Ordnungen von Bedeutung war. 155v Das deutet darauf hin, dass die klassischen republikanischen Werte der Anfike eme wichtige Rolle im Selbstverstiindnis der ,,Kombattanten" auf beiden Seiten spielen mussten - denn warum sollte man aus den F e h l e m und Andersarfigkeiten der antiken Poleis irgendwelche Riickschliisse auf die Struktur der zu griindenden, neuen Republik ziehen, wenn die normafiven Grundsiitze der antiken Vergleichsrepublik keine Rolle spielen sollten? Die Grunds~itze des klassischen Republikanismus selbst waren es, welche anscheinend interessierten. Die intensive Rezepfion der atfischen Demokrafie und klassischen Staatsphilosophie in der Verfassungsdebatte vor der Begriindung der USA 1558 zeigt: Die amerikanische Verfassung ist ,,Kompilation und Neusch6pfung zugleich". 1559 Moderne Untersuchungen haben bewiesen, dass trotz aller Unterschiede der ,,gedankliche Kern sowohl der antiken als auch der m o d e r n e n Demokrafie die Wertetriade von Demokratie, Freiheit und Gleichheit ist. ''156~ Die L6sung fiir die neu zu schaffende Struktur der klassisch tradierten ,,republikanischen O r d n u n g " setzte sich fiir die Federalists aus neuen, prozeduralen Strukturprinzipien zusammen. D o c h stellte die Prozedur nicht das Ordnungsprinzip, sondern die Ordnungsstruktur dar, damit die O r d n u n g selbst, niimlich eine ,,gute Ordnung", die gottgef~illige, freiheitliche und republikanische Ordnung, aufrechterhalten werden konnte. Die Federalists renormativieren also durchaus die Funkfion des Staates und relativieren das redukfionistische Menschenbild von T h o m a s Hobbes nicht nur im Sinne von John Locke, s o n d e m im Sinne auch der klassischen, antiken Allgemeinwohlorientierung: ,,Gerechtigkeit ist der Zweck von Regierung. ''1561 Zugleich vergesellschaften Sie aber die antike Gerechtigkeitsfunkfion des Staates: ,,sie [die Gerechfigkeit] ist [zugleich] das Ziel von Gesellschaft [civil society]". 1562 Die ,,Gesellschaft" selbst konnte also zivil sein, wiihrend bei den Alten die Zivilit~it nur durch einen sich natiirlich entwickelnden, staatlich gesetzten 6ffentlichen Raum, der von der Gesellschaft in allen Belangen geschieden war, greifbar wird. Erst die Uberwindung des Gesellschaftlichen erm6glichte hier iAberhaupt Zivilitiit. Ernst Fraenkel hat das Modell der Verbindung von Individualismus- und Allgemeinwohlorientierung im 20. Jahrhundert pluralismustheorefisch erweitert: Die Ordnungsstruktur ist
15svVgl. insbesondere Harald yon Bose, Republik und Mischverfassung- zur Staatsformenlehre der Federalist Papers, Bonn (Diss.) 1989, S. 35-38. lss8 Vgl. exemplarischJohn Adams, A Defence of the Constitution ~ Government of the United States of America. Against the Attack of M. Turgot in hit letter to Dr. Price, dated 22 "~March, 1778, ND Aalen 1979 (Reprint of the 3rd edition, Philadelphia 1797), Volume 1, S. 260-285. Vgl. Harald von Bose, Republik und Mischverfassung- z.ur Staatsformenlehre der Federalist Papers, Bonn (Diss.) 1989, S. 34-38. Die Griechenbegeistemngherrschte insbesondere bei Thomas Jefferson vor, der seine hervorragenden Sprachkenntnisse auch mit HiKe eines griechischen Freundeskreises pflegen konnte (Vgl. Karl Lehmann, ThomasJe~erson. American Humanist, New York 1947, S. 57). lss9 Dietmar Herz, Die wohlerwogene Republik. Das konstitutionelle Denken des politisch-philosophischen Iaberalismus, Paderbom u.a. 1999, S. 9. 1560Dieter Fuchs, Demokratie und Beteiligung in der modernen Gesellschafi: einige demokratietheoretische Oberlegungen, in: Oskar Niedermayer / Bettina Weste (Hg.), Demokratie und Parti~pation. Festschriftfiir Max Kaase, Wiesbaden 2000, S. 250-280, 258. Vgl. femer Mogens Herman Hansen, The Ancient Athenian and the Modern Iaberal View of laberty as a Democratic Ideal, in: Josiah Ober / Charles Hedrick (Hg.), Demokratia. A Conversation on Democracies, Andent and Modern, Princeton, NJ, 1996, S. 91-104; Dietmar Herz, Die wohlerwogeneRepublik. Das konstitutionelle Denken despolitisch-philosophischen Iaberalismus, Paderbom u.a. 1999. ~s61Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen G~'ndervYter, hg. yon Angela und Willi Paul Adams, Paderborn u.a. 1994, Artikel 51, S. 313-318, 317. 1562Ebd.
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d e m n a c h plural, die ,,gute O r d n u n g " selbst oder das , , A l l g e m e i n w o h l " (so Fraenkel) n i c h t - ein Allgemeinwohl im Obrigen, auf welches m a n sich bei Fraenkel einigt," m a n ,,erreicht" oder ,,entdeckt" es also nicht als a priori Gegebenes wie sogar n o c h bei den amerikanischen Republikan e m iiblich, sondern man einigt sich a posteriori am E n d e eines Diskussionsprozesses darauf. M o d e r n e Industriegesellschaften erreichen nach Fraenkel auf dieser Basis nur dann ein Freiheitsoptimum, w e n n sie die Herausbildung eines Gruppenwillens unter Ber/.icksichtigung der Gruppenwillen gestalten und der , , G e m e i n w i l l e " nicht untergeht angesichts einer totalen Herrschaft der Gruppenwillen. D e r Pluralismus wird zugleich entliberalisiert, in d e m er als ,,Gruppen r e c h t " u n d nicht als Addition v o n individualen Einzelrechten begriffen wird. Unabhiingig davon, ob letzteres wirklich einleuchtend ist, kann herausgestellt werden, dass der Pluralismus graduell verstanden wird: W e n n er also bis ins Letzte ausgereizt wird, ist er als ,,pluralistische Anarchie" in seiner d e s t r u k f v e n Wirkung v o m Totalitarismus nicht m e h r zu unterscheiden, so Fraenkel. 1563
3.6 Die Affstokratiedebatte zwischen A d a m s undJefferson als Bei~)iel fiir die Bedeutung des ktassischen Verstdndnisses im ametf kanischen Repub likanismus Mit d e m amerikanischen ,,Republikanismus" ging nun bei vielen Griindungsviitern, insbesondere bei J o h n A d a m s ls64, aber auch bei T h o m a s Jefferson eine aristokratische Geistesart einher. ls6s A d a m s und Jefferson tauschten im R a h m e n ihres inzwischen beriihmten pers6nlichen Briefwechsels 1s66 auf der Basis der A u f n a h m e der antiken Aristokratietheorie, ihre Positionen aus. Zwei neue, revolutioniire E l e m e n t e m der Aristokratietheorie k 6 n n e n dabei auf diese beiden Griindungsviiter zuriickgef"fhrt werden, die zeigen, in welcher Tradition sie sich in ihrem Verstiindnis von Republik bewegten: Es war weniger eine demokratische, s o n d e m eher eine elifstische u n d ideenphilosophische:
Erstens: Die theoretische Vers6hnung von Aristokratie und demokratischer Wahlrechtsgleichheit zwischen den Staatsb/irgern in einem grol3fliichigen Territorialstaat im Rahmen einer modemen Repriisentatiwerfassung (im Gegensatz zu Rom mittelfristig sogar ohne jegliches Zensuswahlrechtlsar), und zwar mit der Zielsetzung, wirklich eine stabile Aristokratie zu schaffen, ohne die Nachteile einer puren Erbaristokratie in Kauf nehmen zu m/issen, auf der Basis der Beantwortung der Fragestellung, wie die AristoDatie in einem hauptsiichlich aristok_ratischen System in Schach gehalten werden kann (das Adamsche Aristokratiepostulat)
1563Vgl. Ernst Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement derfreiheitlich-rechtstaatlichenDemokratie, in: Ders., Deutschland und die westlichenDemokratien, 4. Aufl., Stuttgart 1968, S. 165-189. 1564Vgl. Joyce Appleby, Ia'beralism and Republicanism in HistoricalImagination, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1993, S. 199f. ls65Vgl. zur allgemeinen Priisenz der aristokratischen Geistesart zu jener Zeit ebd., S. 208f. 1566Einen beeindruckenden und sch6nen Aufsatz fiber die bemerkenswerte Freundschaft jener beiden Pers6nlichkeiten hat Hartmut Wasser zum Anlass eines Emeritierungssymposiums, dass zu seinen Ehren gegeben wurde, verfasst: Hartmut Wasser, Versuch iiber das Wesenpolitischer Freundschaft. Von der Be~ehung ZadschenJohn Adams und ThomasJefferson, in: Anton Hauler / Wemer ICremp / Susanne Popp (Hg.), Die USA als historisch-politischeund kulturelle Herausforderung. Vermittlungsversuche, Trier 2003, S. 183-190. 1soyVgl. zur EntwicHung in den USA Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten ametikanischen Einzelstaatsve~fassungen. Zur ideengeschichtlichen und verfassungsgeschichtlichenKomponente der amerikanischen Revolution, 1775-1780 (Diss.), Berlin 1968, S. 329-394. Zuniichst gab es in allen dreizehn Einzelstaaten zwischen 1776 und 1780, aul3er in dem damals noch nicht als Staat zugelassenen Vermont, Besitzqualifikationen im Wahlrecht. Der Streit drehte sich datum, ob nun ein Steuerzahlwahlrecht ausreicht (so z.B. Thomas Paine) oder eine h6here Art der Qualifikation (Verm6gen, Landbesitz) erforderlich sei (so z.B. John Adams).
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Kapitel IX Zweitens: Die Unterscheidung zwischen ,,natfirlicher Aristok_ratie"~s68 und ,,arffizieller Pseudo-Aristokratie", und die Frage, wie das politische System die ,,natCirliche Aristokratie" bef6rdern kann (das Jeffersonsche Aristokratiepostulat).
D e n Ausgangspunkt bildete Adams Aristokratiedefmition: ,,The five Pillars of Aristocracy, are Beauty, Wealth, Birth, Genius and Virtues. ''1569 Jefferson unterscheidet nun in einem Antwortbrief ausfiihrlich die ersten drei Charakteristika yon den letzten zwei. D e m n a c h gebe es durchaus eine ,,natiirliche Aristokratie" unter den Menschen, bezogen auf ihren Genius und die ,,Virt~. 1570 Diese ,,natural aristocracy" auf der Basis der natiirlichen Gaben und Talente, welche sich in Europa als Idee erst im 14. Jahrhundert herausgebildet hatte (und damit weit sp~iter als in China) 1571, sei jedoch nach Adams weiterhin yon der ,,artificial aristocracy" zu unterscheiden. Die Frage, die Jefferson daran anschliegt, lautet: ,,May we not even say that that form of government is the best which provides the most effectually for a pure selection of these natural aristoi into the offices o f government? ''1572 W~ihrend Adams fiir ein Oberhaus eintritt, dass den ,,Pseudo-Aristokraten" (so Jefferson) ein Mittel gibt, sich zu beteiligen, damit diese kein Schaden aus aul3erparlamentarischer Position heraus anrichten, pliidiert Jefferson fiir einen kompletten politischen Ausschluss der Personen, die sich nur aufgmnd yon iiul3eren Giitem (Sch6nheit, Geburt, Verm6gen) profNeren konnten. 1573 Adams teilt zwar Jeffersons Unterteilung zwischen ,,natiirlicher" und ,,artifizieller" Aristokratie 1574, allerdings stellt er sich die Frage, was denn nun den Genius und die Virt-fl ausmache, wie also bestimmt werden kann, ob jemand natiirlicherweise ein Aristokrat ist oder nicht. Das sei kaum objektiv bestimmbar. Umso mehr nicht, als auch Genius und Virtfl auf gleiche Weise d e m Prinzip des Angeborenseins verhaftet seien wie die Grundlagen der ,,artifiziellen" Elemente. ,,Fashion has introduced an indetermined use of the word 'Talents'. Education, Wealth, Strength, Beauty, Stature, Birth, Marriage, graceful Attitudes and Motions, Gait, Air, Complexion, Physiognomy, are Talents, as well as Genius and Science and Learning"; ganz zu schweigen yon der sehr hiiufig in der Geschichte vorfmdbaren Vermischung artifizieller und nat/irlicher Elemente. 1575 So ist der Gentleman erst aus seiner Bildung heraus ein solcher und die ist nichts weiter als ein Produkt ,,artifizieller Aristokratie"; abet auch ein ungebildeter, ,,einfacher M a n n " kann einen ihn genauso qualifizierenden ,,gesunden Menschenverstand" besitzen doch ist dieser nicht genauso ,,ungerechterweise" angeboren, wie die M6glichkeit des ,,artifiziellen Aristokraten" sich trotz angeborener Unf~ihigkeiten zu einem wirldichen Aristokraten bilden zu lassen? FreNch muss aus diesem Blickwinkel der ,,common man" die M6glichkeit ls68Der Begriff geht aufJames Harrington zuriick.. lS69John Adams an Thomas Jefferson am 2. September 1813, abgedmckt in: Lester j. Cappon (big.), The Adams-Jefferson Letters. The Complete Correjy)ondencebetween ThomasJefferson and Abigail and John Adams, Neudruck Chapel Hill / London 1987, S. 370-372, 371. 15v0Thomas Jefferson an John Adams am 28. Oktober 1813, abgedmckt in: Lester J. Cappon (Hg.), The Adams-Jefferson Letters. The Complete Corre4~ondencebetween ThomasJefferson and Abigail and John Adams, Neudmck Chapel Hill / London 1987, S. 387-392, 388. 1571Vgl. Felipe Fem~mdez-Armesto,Ideas that changedthe world, New York 2003, S. 196f. 1572Thomas Jefferson an John Adams am 28. Oktober 1813, abgedmckt in: Lester J. Cappon (Hg.), The Adams-Jefferson Letters. The Complete Corre~ondence between ThomasJefferson and Abigail and John Adams, Neudmck Chapel Hill / London 1987, S. 387-392, 388. 1573Vgl. ebd. 1574John Adams an Thomas Jefferson am 15. November 1813, abgedmckt in: Lester J. Cappon (Hg.), The AdamsJefferson Letters. The Complete Correspondencebetween ThomasJefferson and Abigail and John Adams, Neudmck Chapel Hill / London 1987, S. 397-402, 397. 1575Vgl. sehr sch6n John Adams an Thomas Jefferson am 19. Dezember 1813, abgedmckt in: Lester J. Cappon (Hg.), The Adams-Jefferson Letters. The Complete Corre~oondencebetween Thomas Jefferson and Abigail and John Adams, Neudmck Chapel Hill / London 1987, S. 406-409.
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besitzen, auch w e n n er kein gebildeter G e n t l e m a n ist, seinen ,,gesunden M e n s c h e n v e r s t a n d " , w e n n er ihn besitzt, auch einbringen zu k6nnen. Nur: ,,silly clowns and illiterate mechanics ''1576 wird es t r o t z d e m i m m e r geben u n d w e n n es in b e s t i m m t e n Fiillen anders ist, d a n n eben nicht n u t aus einem a n g e b o r e n e m ,,Talent" der e n t s p r e c h e n d e n Pers6nlichkeiten heraus, s o n d e m vielleicht aus einer ebenso a n g e b o r e n e n Z u g a n g s m 6 g l i c h k e i t zur Bildung. Aus diesem Blickwinkel ist der Begriff der ,,Aristokratie" absolut relativ. F, rst recht ist a u f dieser Basis eine objektive ,,W~thlbarkeit" natiirlich-aristokratischer Pers6nlichkeiten eine Illusion, o h n e dass A d a m s die Inferioritiit der ,,Artifiziellen" gegeniiber den ,,Natiirlichen" aus seiner individuellen Sicht l e u g n e t - die ,,Artifiziellen" sind auch aus seiner Sicht M a c h t m e n s c h e n o h n e G e n i u s o d e r o h n e wissenschaftliche u n d akademische Bef'~ihigung u n d Bildung, o b w o h l diese ihnen m6glich g e w e s e n wiiren. T r o t z d e m schreibt A d a m s in B e z u g a u f die ,,artifizellen Talente": ,,Any one o f these Talents, that in fact c o m m a n d s or influences true Votes in Society, gives to the M a n w h o possesses it, the Character o f an Aristocrat, in m y sense o f the W o r d [ K u r s i v b e t o n u n g d.Vfs.]. ''157v N i c h t die Bef~ihigung, s o n d e m die M a c h t p o s i t i o n m a c h t j e m a n d e n z u m ,,Aristokraten"; auch die artifiziell e r w o r b e n e Machtposition, d e n n jede andere F o r m der ,,Aristokratie" ist nicht realistisch m6glich. Eine Aristokratie aus dieser Sichtweise ist nicht m e h r die ,,Herrschaft der Besten", d e n n die kann es gar nicht geben; allerdings ist es d u r c h a u s die H e r r schaftsform, die es den ,,Besten" erm6glicht, an die H e r r s c h a f t u n t e r vielen anderen, die eben auch nicht zu den Besten g e h 6 r e n , zu gelangen. Was fiir eine desillusionierende Niichternheit, die hier im Spiel i s t - aber auch was fiir eine neue, realistische P e r s p e k f v e , die in B e z u g a u f den Begriff der ,,Aristokratie" z u m Z u g e k o m m t . U n d n u n der Briickenschlag z u m favorisierten Regierungs- u n d Wahlsystem: D a s Regierungssystem, eine gewaltengeteilte, bikameralistische Republik, im G e g e n s a t z zu den Vorstellungen y o n T h o m a s Paine 1578 u n d T h o m a s J e f f e r s o n mit O b e r h a u s (Senat) 1579 u n d mit rechtsstaatlichen E l e m e n t e n versehen, muss v e r b u n d e n w e r d e n mit d e m Prinzip des allgemeinen, gleichen Wahlrechts. D i e Erwartung: Die ,,natiirlichen" A r i s t o k r a t e n k 6 n n t e n sich durch dieses W a h l r e c h t v e r m 6 g e ihrer Talente u n d ihrer Virtti am besten positionieren, b e m e r k b a r m a c h e n , Einfluss ausfiben, aber nur in K o n k u r r e n z zu den ,,artifiziellen" Aristokraten. L e t z t e r e w e r d e n ls76 Eine Bezeichnung, die ein Reverend aus Virginia, John Bullman, 1774 in antirepublikanischer Absicht yon der Kanzel sprach, zitiert nach Philip Davidson, Propaganda and the American Revolution, 1763-1783, Chapel Hill 1941, S. 293. Am Rande: Ein Problem erwiichst f/ir eine Demokratie immer dann, wenn dem ,,silly clown" eingeredet wird, er m/isse sich politisch engagieren, auch wenn er einsichtig genug ist, sich selbst dafi_ir unffihig zu halten: In einer Anekdote des Aristophanes in den ,,Acharniern" kommt die Gefahr sch6n zur Sprache: Demnach versuchte eines Tages in Athen ein verantwortungsloser Poet, einen Wurstmacher davon zu/iberzeugen, dass auch er sich yon nun ab mit den Staatsangelegenheiten befassen m/.isse. Als der Wurstmacher seine Unfahigkeit beteuerte, kl~irte der Poet ihn fiber die neue Philosophie auf, die jetzt in Athen gelte: Man brauche gar keine besonderen Kenntnisse zu haben, in den 6ffentlichen Angelegenheiten mitsprechen zu k6nnen. Das werde von niemanden mehr erwartet. Wie beim Wurstmachen brauche man nut alles kriiftig durcheinander zu mengen". In den Worten eines sarkastischen Journalisten des ,,Pennsylvania Ledger" aus demJahre 1776: ,,mix, jumble, disturb and confound all matters!" 1577John Adams an Thomas Jefferson am 15. November 1813, abgedruckt in: Lester j. Cappon (big.), The AdamsJefferson Letter,: The Complete Correspondence between Thomas Jefferson and Abigail and John Adams, Neudmck Chapel Hill / London 1987, S. 397-402, 398. 1578Thomas Paine iinderte jedoch 1793 seine Meinung aufgmnd der Erfahrungen mit der Franz6sischen Revolution (vgl. Alfred Owen Aldridge, Thomas Paine's American Ideology, Newark~London~Toronto 1984, S. 150). 1579Vgl. zur anthropologisch-philosophischen Begrfindung in Anlehnung an Machiavelli, Montesquieu und Harrington: John Adams, A Defence of the Constitution of Government of the United States of Ameffca. Against the Attack of M. Turgot in his letter to Dr. Price, dated 22"d March, 1778, ND Aalen 1979 (Reprint of the 3rd edition, Philadelphia 1797), Volume I, S. 128-141; Vgl. zu Machiavellis These vom "a-posteriori-Politen" ebd., S. i33f. und zu Montesquieus Gesetzesformel ebd., S. 128; vgl. femer zum Bikameralismus im Vergleich zwischen Adams und Paine: Alfred Owen Aldridge, Thomas Paine's American Ideology, Newark~London~Toronto 1984, S. 202f. und 233ff.
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jedoch immer auch eine Rolle spielen und in einer Republik die Masse zu iiberzeugen wissen. 15g~Eine ~ihnliche Position nahm Jean-Jacques Rousseau in seiner Regierungsformenlehre ein, als er die Wahl-Aristokratie im Vergleich zur natiirlichen oder erblichen Aristokratie als die ,,Aristokratie im eigentlichen Sinn ''1581 bestimmte. Allerdings ist nicht zu vergessen, dass die ,,Regierung" bei R o u s s e a u - im starken Gegensatz zu John Adams - nut eine Zwischenposition zwischen dem Volk und dem Verfassungssouveriin einnahm, der wiederum als Triiger einer allzu abstrakten ,,volont6 gfn&ale" fungierte. 1582 Daher wiire Rousseau das zugespitzte, offene und sch6ne Fazit, dass John Adams am Ende seiner Uberlegungen zieht, sehr fremd gewesen: ,,Ich glaube, dass in der Masse der Biirger die st~irkste Sicherheit fiir deren eigene Rechte beruht, und bin fest iiberzeugt, dass das Unheil, welches aus Volksbetrug erw~ichst, weniger sch~idlich ist, als jenes, welches aus dem Eigennutz seiner Fiihrer entspringt. ''1583 Jefferson hingegen glaubt, in einer gewissen Weiterfiihrung Montesquieus 1584, dass die Menge im allgemeinen verm6ge des allgemeinen Wahlrechts in der Lage sei, die wahren, echten Aristokraten von den Pseudo-Aristokraten in einer objektiven Art und Weise voneinander unterscheiden zu k6nnen, also die qualifizierten (die ,,guten" und die ,,weisen '~) Personen fiir die Regierungsiimter objektiv auswiihlen zu k6nnen. 1585 ,,In some instances, wealth may corrupt, and birth blind them; but not in sufficient degree to endage the society. ''1586 Parallel dazu tritt Jefferson fiir ein fl~ichendeckendes und talent- bzw. begabtenf6rdemdes, zugleich (gegen einen m6glichen Klerusadel gerichtetes) laizistisches Schulsystem ein. 158v Was bleibt am Ende? Die USA in der Vorstellung yon Jefferson und Adams geben das einmalige Beispiel, wie Masse und M o d e m e mit den Prinzipien der Aristokratie vers6hnt wetden k6nnen, und zwar im Kontext einer demokratischen Staatsform. Das Problem: Die Vers6hnung erfolgt in den Repr~isentatiwerfassungen demokratischer Regierungssysteme (also in gewaltenteilungs- und gesetzesherrschaftsbasierten Verfassungen), wie sie sich nun (faktisch) yon den USA ausgehend auch in ganz Europa verbreitet haben, nicht immer zugunsten der ,,natiirlichen" Aristokratie, sondern durchaus immer wieder oder gar in Sequenzen auch verstiirkt zugunsten einer ,,artifiziellen" Aristokratie (die heute von Geburtsadel auf Personalisier u n g - Sch6nheit / Aussehen, Statur, Attitiiden, Emotionen und informale H a l t u n g - iibergegangen ist). Die ,,natiirlichen" Aristokraten haben jedoch im Rahmen freiheitlicher Repriisentativverfassungen M6glichkeiten, sich solcher Entwicklungen rechtzeitig (auf der Basis ihrer Intelligenz, I/-dugheit, Durchsetzungskraft und Tugenden) zu erwehren und die Wiihlerschaft wieder in ihrem Sinne, eventuell unter Zuhilfenahme ,,artifizieller" Instrumentarien, zu gewin1580John Adams an Thomas Jefferson am 15. November 1813, abgedmckt in: Lester J. Cappon (Hg.), The AdamsJefferson Letters. The Complete Correspondence between T/,omas Jefferson and Abigail and John Adams, Neudmck Chapel Hill / London 1987, S. 397-402, 398. ls81Jean-Jacques Rousseau, Vom Geselk'&qftsvertragoder Grunds/itze des Staatsrechts, hg. von Hans Brockard, Stuttgart 2003, 3. Buch, 5. Kapitel, S. 75. ls82Vgl. zu einem positiven Verstiindnis der ,,volont~ generale" Robert Palmer, Das Zeita/ter der demokratischen Revolution. Eine vergleichendeGeschichte Europas und Amerikas von 1750 bis zur Franza'dschen Revolution, Frankfurt a.M. 1970, S. 138-143. Vgl. jedoch zum Abstraktionsproblem Hans Maier,Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), in: Hans Maier / Horst Denzer (Hg.), Klassiker despolitischen Denkens. Zweiter Band." Von John Locke bis Max Weber, S. 57-72, 72. ls83 In einem Brief yon John Adams an John Taylor vom 28. Mai 1816, zitiert nach Fritz Wagner, USA. Geburt und Aufstieg der Neuen Welt- Geschichte in Zeitdokumenten 1607-1865, MCinchen1947, S. 166. ls84 Vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de la Br&de et de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, bearb, v. Kurt Weigand, Stuttgart 1994, 2. Buch, 2. Kapitel, S. 108. ls8s Vgl. Thomas Jefferson an John Adams am 28. Oktober 1813, abgedmckt in: Lester J. Cappon (Hg.), The AdamsJe~erson Letters. The Complete Correspondence between Thomas J~rson and Abigail and John Adams, Neudmck Chapel Hill / London 1987, S. 387-392, S. 388f. ls86Ebd., S. 389. 1587Vgl. ebd., S. 389f.
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nen. Y-dugheit miisste dabei ,,nur" mit Durchsetzungskraft (Virt6) gekoppelt werden. Da in freiheitlichen Ordnungssystemen hierzu alle M6glichkeiten gegeben sind, werden sie die vielleicht auch nutzen und so auch ihre Klugheit erst wirklich unter Beweis stellen. Damit ist zugleich besagt, dass sich ein repriisentativ-freiheitliches Repr~isentativsystem (wom6glich mit einem Oberhaus oder Senat versehen) auf der Basis einer absoluten Stimmengleichheit ohne Einschriinkungen in einem ,,freien Spiel der Kriifte" am stabilsten entwickeln miisste. Die Herleitung der radikalen Stimmenrechtsgleichheit war insofern, zumindest bei Adams, keine rein egalitiire, sondern im Gegenteil dergestalt, dass der Befund von Ernst Nolte, die USA k6nnen als ,,erster Staat der Linken ''1588 gelten, nicht ohne Relativierung akzeptiert werden sollte. Zwar kam die europiiische Reaktion dutch die Propagierung und schrittweise Realisierung der Stimmrechtsgleichheit zu einem defmitiven Ende, doch Nolte selbst nimmt eine Relativierung vor, ohne jedoch konsequenterweise seine Betitelung deswegen zu veriindern. Jedenfalls iiberzeugt Noltes These, dass Amerika noch im Verlaufe des 19. Jahrhunderts ,,europiiischer" war, ,,als es dachte, auch wenn es [so Nolte trotzdem] der ,erste Staat der Linken' blieb. ''1589 Er macht das letztlich am Prinzip der Stimmrechtsgleichheit fest. Doch war die Begriindung und der Kontext der Propagierung und Umsetzung nut bei Thomas Paine ein , , d e m o k r a 6 e m o r a l i s c h e r " . Jeffersons, abet insbesondere Adams Erliiuterungen waren ganz anderer Natur: Sie waren liberalaristokratisch. Es ging darum, iiber die Stimmenrechtsgleichheir, also fiber , , B e t e i l i g u n g s p r o z e d u r e n " ,,rechenschaftspflichtige Verantwortung" und ,,Zurechenbarkeit von Entscheidungen" zu erm6glichen und sichtbar zu machen. Der theoretische Kern der lJberlegung lautete, dass ,,der geringe Einfluss des einzelnen in der Masse der Wiihler [..] zur Logik des republikanischen Systems ''159~ geh6re. Die Rolle des Volkes wurde um einer langfristigen Beschriinkung seines Einflusses willen erweitert: Die Beschriinkung bestand in der ,,Ausiibung des allgemeinen Wahlrechts". 1591 Mehr Rechte sollte das Volk nicht bekommen, das Wahlrecht war ein Minimum und ein Maximum zugleich. Die ,,Fetischisierung des Begriffs , D e m o k r a t i e '''1592 heute verleitet dazu, dieses aristokratische Moment einer ,,jeden guten Republik" aus den Augen zu verlieren. Und an dieses Moment kniipften konsequenterweise Pers6nlichkeiten an bzw. gingen ihnen voraus, die ihren aristokratischen Habitus nie versteckten wie Montesquieu, Burke und auch Tocqueville. Das, was sich Novalis in seinem subjektivierenden J~sthetizismus als eine vers6hnende, gleichzeitig gegen jegliche universale Zerst6rungsgefahren absolut notwendige Vermittlungsoption zwischen (einem hier doch sehr konkreten Bluts-)Adel und Biirgertum vorstellte, die ,,gereinigte katholische Kirche" und eine neue Form der Religiosit~it, kam nicht zur Geltung, weil es der Masse zuviel abverlangte. Aber die Vermittlungsoption als solche wurde unter ganz anderen Vorzeichen in den Vereinigten Staaten und in GroBbritannien durchaus aufgenommen, wobei der Adelsbegriff in den USA abstrakter Natur war. Die Option der Vermittlung von Elite und Demokratie besteht demnach in einem Programm politischen Handelns im aristotelischen Sinne, in einer neuen Form des alten Republikanismus unter Hinzunahme eines innovativen Verfassungstaatsgedankens, in der Wiederbelebung und Erneuerung der klassischen Aristokratiephilosophie, in der bereitwilligen Belebung eines idealistischen Neoklassizismus und in der
1588Vgl. Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, MCinchen1974, S. 89-100. 1589Vgl. ebd., insbesondere S. 91f. 1590Wemer Becker, ,/4lle Staatsgewaltgeht vom Volke aus " - Ein kritisches Plddoyergegen die Ideologie der Volkssouverdnitdt, in: WolfgangLeidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und ProblemepolitfircherOrdnung, W/_irzburg2000, S. 243-255, 255. 1591Ebd., S. 254. 1592So ebd., S. 255.
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B e a c h m n g des alten p o l y b i s c h e n Ideals einer Mischverfassung 1593 a u f der Basis eines neuartigen Gleichheitsgedankens: der Gleichheit aller v o r d e m Gesetz u n t e r d e m D a c h einer allgem e i n e n G o t t e s z u v e r s i c h t , die d e m M e n s c h e n jedoch Platz z u m A t m e n liil3t.
3.7 D a s neue Element: Der moderne Vetfassungsprozeduralismus und die Verbindung von Republikanismus und Technologie Die amerikanische K o n z e n t r a t i o n auf die O r d n u n g s s t r u k t u r u n t e r Vernachliissigung objektiver o d e r ,,wahrer" O r d n u n g s p r i n z i p i e n hatte n u n in den U S A neue, p r o z e d u r a l e Strukturprinzipien zur Polge. 1594 Die Basis bildete die A b l e i t u n g legitimer H e r r s c h a f t v o n d e r Z u s t i m m u n g der Regierten in V e r b i n d u n g mit einem klaren, europS.isch lange tradierten ls9s Repr2isentationsprinzip 1596, das spiiter v o n R o b e r t Dahl, in V e r b i n d u n g mit der G e w a l t e n t e i l u n g s p h i l o s o p h i e v o n der Antike bis M o n t e s q u i e u , u m den wichtigen Begriff der Responsivitat erweitert wurde, die d u r c h die Periodizitdt v o n W a h l e n u n d die M6glichkeit eines Regierungswechsels strukturell erzeugt w e r d e n muss. 1597 A u f dieser Basis erst, also v o r d e m H i n t e r g r u n d der W e i t e r e n t w i c k l u n g einer schon in der Antike angelegten Freiheitsphilosophie, k a n n hier v o n einem ,,neuen" K r i t e r i u m im , , B e d e u t u n g s h o r i z o n t der D e m o k r a t i e ''1598 g e s p r o c h e n werden. D e r s c h o n in der A n t i k e v o r g e d a c h t e Z u s a m m e n h a n g zwischen D e m o k r a t i e u n d (politischer) Freiheit finder sich bei Aristoteles: ,,Ein Z e i c h e n der Freiheit ist aber der U m s t a n d (...), dass m a n wechselweise beh e r r s c h t wird u n d herrscht. 'qs99 D a z u k a m e n n u n n o c h folgende Prinzipien:
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Gewaltenteilungund Gewaltenverschra'nkung durch Obertragung des antiken Leitbilds der ,,gemischten Verfassung" und dessen Weiterf/ihrung bei Montesquieu. Unabh?ingigkeitund Unabsetzbarkeit der Richter und unabh/ingige Verfassungsgerichtsbarkeit, die 1787 schon im angelsiichsischen Begriff des ,,rule of law" angelegt war und 1803 in den USA zum Durchbruch kam. grol3riiumigesTerritorium16~176 im Rahmen einer Fiideration (nach Dahl das sogenannte ,,Problem der Gr613enordnung"). Der neue Ansatz, der yon den Federalists in Anlehnung an Ausf/ihrungen von David Hume in seinem ,,Idea of a Perfect Commonwealth" (1752)16~ postuliert wird, besteht in der Behauptung, dass gerade
1593Vgl. dazu Harald von Bose, Republik und Mischverfassung- zur Staatsformenlehre der Federalist Papers, Bonn (Diss.) 1989, S. 27-34. ls94 Vgl. Jfirgen Gebhardt, ,,The Federalist" (J787/xg), in: Hans Maier / Horst Denzer (Fig.), Klassiker des politischen Denkens. Von John Locke bis Max" Weber, S. 80. ls9s Vgl. auch Madisons Ehrerbiemng europa'ischen Geistes in diesem Zusammenhang in Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Griinderva'ter, hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderbom u.a. 1994, Artikel 14, S. 75. 1596Vgl. ebd., Artikel 10, S. 50-58, 55. 1s97Vgl. Robert A. Dahl, Po[Tarc/.y. Participation and Opposition, New Heaven 1971, S. 1-9. Empirische Smdien haben die Responsivitiit in sogenannten ,,liberalen Demokratien" bisher immer stark genug unter Beweis gestellt (vgl. u.a. John D. Huber / Birmingham G. Power, Congruence between Citizens and PolifTmakers in Two Visions of Iaberal Democraf7, in: World Politics Nr. 46, S. 291-326; James A. Stimson / Michael B. McKuen / Robert S. Erikson, Dynamic Representation, in: American Political Science Review Nr. 89, S. 543-565; Bernhard Wessels, System Characteristics Matter" Empirical Evidencefrom Ten Representation Studies, in: Warren E. Miller u.a., Polif7 Representation in Western Democracies, Oxford 1999, S. 137-161. ls98 So Dieter Fuchs, Demokratie und Beteiligung in der modernen Gesellschaft."einige demokratietheoretische ([Tberlegungen,in: Oskar Niedennayer / Bettina Weste (Hg.), Demokratie und Parti~pation. Festschriftfiir Max* Kaase, Wiesbaden 2000, S. 250-280, 260. 1599Aristoteles, Politik, Schriften zurStaatstheorie, hg. v. Franz F. Schwarz, Stuttgart 1989, VI. Buch, 2, 1231b2f., S. 300. 1600Vgl. Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungsk~ tar der amerikanischen Griinderva'ter, hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderbom u.a. 1994, Artikel 10, S. 50-58, 55f. 1601 Inzwischen ist die Quelle vollstiindig im Intemet eingespeist: David Hume, Idea of a Perfect Commonwealth, in: http://w~vav.constimtion.org/dh/perfcomw.htm.
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bei einem strikt repra'sentativenModell pluralistischer Demokratie die ffeiheitliche Wirkung umso stiirker wird, destogr~J~erdas Territorium ist. Z u r Gewaltenteilung Die Gewaltenteilung bezog sich auf zwei F u n d a m e n t e , auf die Verteilung der Regierungsgewalt auf m e h r e r e Instimtionen u n d auf die materiell-rechtliche Begrenzung der Exekutivgewalt durch naturrechtlich begriindete G r u n d - und M e n s c h e n r e c h t e eines Individuums. J o h n Locke als amerikanische Referenzautoritiit steht dabei in der Tradition der klassischen Gewaltenteilungstradition emes Aristoteles 16~ und 6ffnet die Tiir fiir die spiitere Perfektionierung der Lehre durch Montesquieu, d e m zweiten V o r d e n k e r der amerikanischen Gewaltenteilung. Die Lehre lebt in einem normativen R a h m e n v o n ,,Freiheit" i m Sinne der V e r h i n d e r u n g v o n Willkiir, v o n einem teilweise sehr gut begriindeten Optimismus, dass erst ,,bei funktionierender Kontrolle [..] der Einsatz amoralischer Mittel aus Griinden der Selbsterhaltung [also im Sinne Machiavellis] weder zuliissig, n o c h [so einfach] m6glich, n o c h erforderlich "1603 w~ire. Z u r Ve~assungsget~chtsbarkeit: Die Naturrechtslehre bot auch die demokratische Legitimation der sich in den USA bildenden Verfassungsgerichtsbarkeit, die indirekt e m e m I m p e t u s gegen GroBbritannien entsprang, der sowohl exekutiv- als auch (gegen das britische Parlament gerichtet) legislativkritischer N a t u r war. Die Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit wurde u n d wird abgeleitet aus einem ,,durch Vernunft u n d C o m m o n Sense inspirierten Urteil", das als solches zugleich ,,die Autoritiit des Volkes" wiederherstellt. 16~ D e r V o r w u r f der amerikanischen Kolonisten gegeniiber den Briten, die c o m m o n - l a w - T r a d i t i o n in E n g l a n d durch die Lehre der L o n d o n e r Parlamentssouveriinitiit auch in amerikanischen Angelegenheiten durchb r o c h e n zu haben 16~ fiihrte zu emer Kodifizierung des Verfassungsrechts mit zustiindiger Verfassungsgerichtsbarkeit, die 1803 sogar das richterliche Priifungsrecht an sich riss und sich somit gegen Traditionen in den Einzelstaaten richtete, die auch dort zuniichst einmal auf eine Parlamentssouveriinitiit ohne Revisionsk6rperschaften hindeuteten. 16~ Dabei bezog sich der Supreme Court auf das neue, allgemeine Menschenrechtsverstiindnis der USA u n d ein damit einhergehendes vorverfassungsrechtliches ,,rule of law", das ,,Gerichte kraft eigener Legitimation zur Gerechtigkeitsfindung" berechtigt. 16~ Z u m j~derativen Modell: In A n l e h n u n g an Rousseaus D i k t u m v o n d e r Neutralisierung der Sonderinteressen durch Pluralisierung im intermedi~iren Bereich zwischen Staat u n d Gesellschaft 16~ wird n u n m e h r im Gegensatz zu Rousseau gerade die A b l e h n u n g direktdemokrati1602Weitere Vorformen der ,,~beralen" Theorie bei Aristoteles hat sehr sch6n herausgearbeitet: Dietmar Herz, Die wohlerwogeneRepublik. Das konstitutionelle Denken despolitisch-philosophischenLiberalismus, Paderbom u.a. 1999, S. 62-71. 1603Frank R. Pfetsch, TheoretikerderPolitik, Paderbom 2003, S. 131. 1604Jiirgen Gebhardt, ,,The Federalist" (178 7/ 88), in: Hans Maier / Horst Denzer (Hg.), Klassiker despolitischen Denkens. VonJohn Locke bisMax Weber, 5. Aufl., Miinchen 2001, S. 73-86, 86, vgl. insg. S. 85f. 160sVgl. Daniel J. Boorstin, The Genius ofAmerican Politics, Chicago / London 1953, S. 72f. 160GVgl. in Jiirgen Gebhardt, ,,The Federalist" (1787/88), in: Hans Maier / Horst Denzer (Hg.), Klassiker des politischen Denkens. VonJohn Locke bisMax Weber, 5. Aufl., Mfinchen 2001, S. 73-86, 84f. 1607Vgl. Thomas Fleiner, Re&tsvergleichende ([Tberlegungenzum Staatsversta'ndnis in den Ldndern mit anglo-amedkanischer und kontinentaleuropa'z;cherRechtsordnung. Rechts- und staa@hilosophi~che some kulturelle A~ekte, in: Peter Hiiberle / Martin Morlok / Wassilios Skouris (Hg.), Staat und VerJ&sung in Europa. Ertra'ge des MssenschaftlichenKolloquiums Zu Ehren yon Prof. Dr. Th. Tsatsos ausAnlaogseines 65. Geburtstages,Baden-Baden 2000, S. 43-51, 48 und 51. 160s,,Je ~einer ein Gemeinwesen ist, desto weniger Parteien und Sonderinteressen werden darin existieren. Je weniger Parteien und Sonderinteressen bestehen, desto hiiufiger kann sich eine Mehrheit aus derselben Partei bilden. Je weniger Personen eine Mehrheit bilden k6nnen, und je enger sie beieinander leben, desto leichter falltes ihnen, ihre Pliine zur UnterdrCickung anderer zu koordinieren und ins Werk zu setzen." (Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der ametikanischen Gtiindervater, hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderbom u.a. 1994, Artikel 10, S. 50-58, 57).
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scher E l e m e n t e abgeleitet, u m die P l u r a l i s i e r u n g - auf der G r u n d l a g e eines g r o g e n Territoriu r n s - u m s o w i r k s a m e r zu gestalten: ,,Vergr613ert man das Gebiet, so umfasst es eine gr613ere Vielfalt yon Parteien und Interessen, damit aber wird es weniger wahrscheinlich, dass eine Mehrheit des Ganzen ein gemeinsames Motiv hat und die Rechte anderer B~rget verletzt. Sollte ein solches gemeinsames Motiv dennoch existieren, dann ist es fiir alle, die davon angetrieben sind, schwieriger, sich ihrer Stiirke bewusst zu werden und gemeinsam zu handeln. ''16~ Ein G e g e n s a t z z u m M o n t e s q u i e u s c h e n Territorialansatz, der nicht nur fiir , , D e m o k r a t i e n " im R o u s s e a u s c h e n Sinne, s o n d e r n auch fiir gewaltenteilige ,,Republiken" (ob n u n , , d e m o k r a t i s c h " o d e r ,,aristokratisch") im M o n t e s q u i e u s c h e n Sinne zu gelten hat, w u r d e indes mit g u t e m G r u n d nicht gesehen: Die U S A w a r e n im historischen Vergleich territorial viel zu grog, u m in einer Kontinuitiit mit den grol3fl~ichigen Staaten der europiiischen G e s c h i c h t e zu stehen, die M o n t e s q u i e u im Blickfeld hatte bzw. h a b e n konnte. ,,Wenn M o n t e s q u i e u fiir Republiken eine geringe A u s d e h n u n g empfiehlt, so geht er dabei v o n D i m e n s i o n e n aus, die weir unterhalb der G r 6 g e fast aller unserer Staaten liegen", so A l e x a n d e r H a m i l t o n im 9. Artikel der Federalist Papers. 1610 ,,Wenn wir daher seine [Montesquieus] Gedanken zu dieser Frage fCir absolut mal3geblich halten, dann bleibt uns nut die Alternative, uns entweder gleich in die Arme der Monarchie zu fl~chten oder uns in unziihlige, winzige, eifers~chtige, rivalisierende, von Aufstiinden gesch~ttelte Republiken [commonwealths] aufzuspalten, die elende Brutstiitten endloser Zwietracht und bedauemswerter Objekte des allgemeinen Mitleids oder der Verachtung w~iten. "1611 Dass sich die Organisation eines d e r m a g e n grol3en T e r r i t o r i u m s iiberhaupt gewaltenteilig auswirken kann, hiingt dabei in erster Linie v o m repriisentativen u n d f6derativen Charakter des Regierungssystems ab: N u r durch ein ,,repubgtkanisches" (was hier g l e i c h b e d e u t e n d ist mit ,,demokrafisch-repr~sentatives") Gebiet, k 6 n n e - im U n t e r s c h i e d z u m , , d e m o k r a t i s c h e n Regier u n g s s y s t e m " (also d i r e k t d e m o k r a t i s c h e n bzw. plebiszitiirdemokratischen System) - e i n ,,gr6Beres G e b i e t " iiberhaupt ,,beherrschbar" sein. 1612 G e g e n die A r g u m e n t a t i o n der AntiFederalists, die a u f den G r u n d s a t z ,,Freiheit nur durch Y-deinteiligkeit" beharrten, w u r d e der f6derative Charakter sogar (mit g u t e m G r u n d ) a u f den v o n den Anti-Federalists zu ihren Z w e cken angefiihrten M o n t e s q u i e u zuriickgefiihrt: ,,Die Vorschliige Montesquieus sind welt davon entfemt, im Gegensatz zu einer Union der Staaten zu stehen, vielmehr behandelt er die FODERATIVE REPUBLIK ausdr/ic'ldich als einen Weg, das Gebiet eines auf dem Willen des Volkes beruhenden Regierungssystems auszudehnen und die Vorteile einer Monarchie mit denen des Republikanismus zu vers6hnen. '1613 H a m i l t o n bezieht sich dabei a u f M o n t e s q u i e u s A u s f i i h r u n g e n fiber Lykien. 1614 J e f f e r s o n , der sich in der Phase der amerikanischen V e r f a s s u n g s g e b u n g 1784 bis 1789 in Paris aufhielt, sollte sich am E n d e dieser A r g u m e n t a t i o n anschliegen. 1615 1609 Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und l/erfassungskommentar der amerikanischen Gr~'nderva'ter,hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderbom u.a. 1994, Artikel 10, S. 50-58, 57.
1610Ebd., Artikel 9, S. 46. 1611Ebd., Artikel 9, S. 47. 1612Vgl. ebd., S. 57. 1613Ebd., Artikel 9, S. 47. 1614Vgl. ebd., Artikel 9, S. 49f. 161sVgl. Wemer Heun, Die politische Vorstellungswelt Thomas Jeffersons, in: Historische Zeitschrift 258 (1994), S. 359-396, 380f.
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Wird nun im Schnittfeld zwischen Repr~isentationsprinzip, Periodizit~it von Wahlen, Gewaltenteilung, Verfassungsgerichtsbarkeit und F6deralismus der reine Verfassungsprozeduralismus der amerikanischen Verfassung betrachtet, so f~illt auf, dass es sich hierbei um ein Phiinomen technologischer Bauart handelt. 1616 Der amerikanische Verfassungsprozeduralismus steht in der Tradition des sozialen Automatenmaschinendenkens seit der Antike sowie Hobbes' und Lockes' mechanistischen Weltbildem, weitergeffihrt yon Adam Smith (in sozialtheoretischer 15bertragung der Gedankengebiiude Descartes' und Newtons). Der Automatenmechanismus ist also keine ,,moderne", sondern kulturhistorisch westliche, im besten Sinne des Wortes ,,atlantische" Erscheinung: Ihren Anfang nimmt diese Erscheinung, wie schon in den Ausffihrungen fiber die ,,Raumrevolution" und Hannah Arendts Vita Activa ausgeffihrt in der alexandrinischen Schule: Pythagoras, Euklid, Archimedes und Heron wiesen den Zahlen einen eigenen Realitiitscharakter zu, konzipierten die Entwicklung selbststeuernder Geriitschaften und spfirten Mechanismen und Androiden a u f - damals jedoch noch ,,meist ohne konkrete gesellschaftliche Anwendung"161v: Die Wiederaufnahme sollte erst in der Renaissance erfolgen. Entscheidend scheint nun, dass in den USA ,,Technologie" im Kontext des alten Automatenmechanismus und ,,Republik" miteinander vereinbart werden. Die amerikanische Verfassungstheorie ist demnach bis heute ausgefeilte ,,politische Technologie ''1618 und die Verfassung selbst die entscheidende Maschine: Die Verfassung ist eine, die sich technisch selbst steuert. Sie ist ein h6chst komplexer und funktionstfichtiger Zweckautomatismus. Die ,,selbstregulative Logik ''1619 der US-Verfassung bezieht sich sowohl auf das Prinzip ,,Balance of Power" als auch auf ,,Checks and Balances": Gouverneure und der Priisident thronen in diesem Sinne in den Staatstrukturen der USA ,,als zentrale Regulatoren fiber dem milden Chaos gegeneinander und miteinander wirkender K_riifte, genau wie der Fliehkraftregler auf der Dampfmaschine. ''162~Die etymologische Wurzel ,,Gouverneur" Oat. Gubernator, gr. Kybernetes) steht zuf~illigerweise sogar ffir Kybemetik. Das metaphysische Moment des Republikanismus wiire demnach die rohstoffgebundene, der Maschine zugeffihrte Energie. Zuviel Energie birgt die Gefahr der politischen Uberhitzung 1621, zuwenig kann die Maschine ins Stocken geraten lassen.
1616Vgl. Michael Foley, Laws, Men and Machines. Modern American Government and the Appeal of Newtonian Mechanics, London 1990; Siegfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, 2. Aufl., Hamburg 1994; Michael Kammen, A Machine that Would Go by Itself. The Constitution in American Culture, New York 1987; Daniel J. Boorstin, The Republic of Technology. Reflections on Our Future Community, New York 1978; Thomas P. Hughes, American Genesis. A Centu~ of Invention and Technological Enthusiasm, New York 1990; Richard B. Day / Ronald Beiner/Joseph Masciulli (Hg.), Democratic Theo{7 and TechnologicalSodety, New York 1988; Hans J. Kleinsteuber, Die VerJassung der USA - Modell einer technologischen Republik? Zurpolitischen Logik selbstregulativerMaschinen, in: Michael Wala / Ursula Lehrnkuhl (big.), Technologie und Kultur. Europas Blick auf Amerika vom l g. bis zum 20. Jahrhundert, K61n / Weimar / Wien 2000, S. 122. 1617Hans J. Y-deinsteuber,Die Ve~assung der USA - Modell einer technologischen Republik? Zurpolitischen Logik selbstregulativer Maschinen, in: Michael Wala / Ursula Lehmkuhl (Hg.), Technologie und Kultur. Europas Blick auf Amerika vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, K61n / Weimar / Wien 2000, S. 1 - 22, 6.; vgl. femer Alfred Owen Aldridge, Thomas Paine's American Ideology, Newark~London~Toronto 1984, S. 142; Hannah Arendt, Vita Activa oder vom tiitigen Leben, Stuttgart 1960, S. 310; (MarieJean Antione Nicolas de Caritat H~bert, Marquis de) Condorcet, Esquisse d'un tableau historique desprogr& de l'esprit humain (1794), hg. yon Wilhelm Alff, Frankfurt a. M. 1963, S. 127ff.). 1618Vgl. DanielJ. Boorstin, The Republic of Technology. Reflections on Our Future Community, New York 1978, S. 49-60. 1619Hans j. Y-deinsteuber,Die Verfassung der USA - Modell einer technologischen Republik? Zurpolitischen Logik selbstregulativer Maschinen, in: Michael Wala / Ursula Lehmkuhl (Hg.), Technologie und Kultur. Europas Blick auf Amerika vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, K61n / Weimar / Wien 2000, S. 1 - 22, 15. 1620Ebd. 1621Vgl. ebd., S. 20.
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3.8 Weitere Streitpunkte
a) D e r Republikanismus als Ausfluss 6 k o n o m i s c h e r Interessen? Eine kurze A n m e r k u n g A n dieser Stelle ist n o c h a u f die Strittigkeit in der Frage der Ursachen der so typisch amerikanischen H e g e m o n i a l e t h i k ,,Liberalismus" mit samt seiner klassischen Anteile hinzuweisen. 1622 D i e G r u n d f r a g e lautet: H a t t e die ,,liberale E t h i k " der U S A 6 k o n o m i s c h e o d e r ideelle Ursachen? D a s s die ,,liberale E t h i k " als E r g e b n i s einer A l l g e m e i n w o h l d e f m i t i o n der amerikanischen VerfassungsvS.ter in klassisch-republikanischer Tradition a n g e s e h e n w e r d e n kann, wird hiiufig der 6 k o n o m i s c h e n Interessenlage u n d -motivation der Verfassungsviiter entgegengestellt. Fiir die Frage der normativ-analytischen Stringenz ist jedoch die Motivation n u t bedingt relevant, es sei denn, alle n o r m a t i v e n u n d geistigen P h i i n o m e n e w e r d e n im Sinne einer l J b e r b a u t h e o r i e a u f 6 k o n o m i s c h e I n t e r e s s e n u n d Gesetzmiil3igkeiten zuri,ickgefiihrt. Fiir den Z w e c k der H e r ausarbeitung, geistesgeschichtlichen E i n o r d n u n g u n d systematischen l J b e r p r i i f u n g der n o r m a tiv-analytischen Bauart u n d Stringenz der Positionen der Federalists sollte indes klar sein, dass es nicht im e n t s c h e i d e n d e n Mal3e relevant ist, ob diese A r g u m e n t e n u n aus 6 k o n o m i s c h e r Interessenlage o d e r aus einem n o r m a t i v e n Bewusstsein heraus a u f g e w o r f e n wurden. 1623 U m es deutlicher zu formulieren: I d e e n sollten wieder so v e r s t a n d e n w e r d e n , wie sie g e m e i n t sind, u n d nicht u n t e r der st~indigen marxistischen Priimisse, dass sie etwas ,,anderes" kaschieren. A u f die Schwiiche einer rein 6 k o n o m i s t i s c h e n Sichtweise auf die A m e r i k a n i s c h e R e v o l u t i o n hat in vorziiglicher Weise Daniel j. B o o r s t i n hingewiesen: ,,In this age of Marx and Freud we have begun to take it for granted that, if people talk about one thing, they must be thinking about something else [...]. From such a point of view, there is perhaps never much political or legal thought worth talking about [...]. But such an approach would bleach away the peculiar tone of our history and empty our Revolution of its unique significance. Therefore, even at the risk of seeming n~ve, I should like to consider the outlandish possibility that men like Jefferson and Adams all long meant what they were saying".1624
b) Freiheitsbegriff, Indianerbek~impfung u n d die Sklaverei D a s e m s t h a f t e s P r o b l e m des amerikanischen Freiheitsbegriffes, als es sich erstmals welthistorisch v e r n e h m b a r in der U n a b h i i n g i g k e i t s b e w e g u n g iiugerte, stellt indes z u m einen die in den U S A bis 1865 etablierte Institution der Sklaverei dar, u n d z u m anderen der U m g a n g der US1622Vgl. grundlegend Louis Hartz, The Liberal Tradilion in America. A n Inte~retation of American Political Thought since the Revolution, New York 1955 und Richard Hofstadter, The American Political Tradition, New York 1948, ND 1973. 1623Vgl. zur 6konomischen Dimension der Amerikanischen Verfassungsrevolution die Arbeiten yon Jackson Turner Maine, The Sodal Structure of Revolutiona~ America, Princeton 1965, Robert McGuire / Robert L. Ohsfeldt u.a., A n Economic Model of Voting Behavior over Specific Issues at the Constituional Convention of 1787, in: Journal of Economic History 46 (1986), S. 79-112, sowie den allerdings in zentralen Daten widerlegten Charles Beard, A n Economic Inte~retation of the Constitution of the United States, ND New Brunswick / London 1998. Die Widerlegungen sind zu finden bei Robert E. Brown, Charles Beard and the Constitution."A Critical Ana~sis of an Economic Inteq)retation of the Constitution, Princeton, New Jersey 1956 und Forrest McDonald, We the People." The Economic Origins of the Constitution, Chicago 1958. In der Arbeit von McGuire wird mit wirtschaftswissenschaftlichen Methoden bewiesen, dass die 6konomische Motivation der Federalists im ,,commercial cosmopolitism" lag, also in der Teilnahme der Staaten am internationalen Markt, wiihrend es bei den Anti-Federalists um Steuerfreiheit in den weniger en~vickelten Staaten ging (,,agrarian localists'~ vgI. auch, die Literatur zusammenfassend, Willi Paul Adams, Die USA vor 1900, M/inchen 1999, S. 170; Angela und Willi Paul Adams, Einleitung, in: Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikankchen Griinderva'ter, hg. yon Angela und Willi Paul Adams, Paderbom u.a. 1994, S. ixciii, xxix-xxxi. 1624DanielJ. Boorstin, The Genius of American Politics, Chicago / London 1953, S. 76f.
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Amerikaner mit der autochthonen, indianischen Bev61kerung. Bei den Sklaven hatte Lincoln nach vielen Jahrzehnten des inneren und 6konomischen Kampfes die defmitive Antwort gegeben: Die Versklavung afrikastiimmiger Personen und die ,,amerikanische Freiheit" sollten und diirften nicht miteinander einhergehen. Auch was die Indianer betraf, konnte die Bek~impfung derselben, v o n d e r ja bis zum bitteren Ende (der Reservathaltung) nicht abgeriickt wurde, aus amerikanischer Sicht genauso wenig wie die Institution der Sklaverei als ein kolonialistisches Problem betrachtet werden, da die amerikanische Unabhiingigkeitsbewegung sich ja gegen den englischen Kolonialismus stellte und auf dieser Basis ein revolution;ires, neues politisches System begriindete. Der Umgang mit den Sklaven und Indianem muss folglich direkt mit den geistigen Urspriingen des (freiheitlichen) Systems in Verbindung gebracht werden. Da nach diesen Grundlagen immer wieder ein universales Menschenrechtsprinzip als das alleinig oder hauptsiichlich Entscheidende angesehen wird, ergibt sich ein theoretischer Widerspruch aus dem faktischen Umgang der angelsiichsischen Amerikaner mit den Indianern. Dieser Widerspruch kann in dem Moment aufgel6st werden, in dem der Betrachter erkennt, dass eben nicht, auch nicht als Grundlage der Verfassung der Vereinigten Staaten, wie in einer Zuspitzung und Verabsolutierung der Position eines Thomas Paine immer wieder suggeriert wird, die individuellen , , M e n s c h e n " an sich den theoretischen Mittel- und Angelpunkt des revolutioniiren Aktes bildeten. Zun~ichst einmal bestand jedoch das revolutioniire Element theoretisch durchaus darin, Freiheitsrechte an alle Menschen zu adressieren - ohne dass diese jedoch als solche zu Beginn der amerikanischen Unabh~ingigkeit faktisch umgesetzt wurden. Andererseits war es nun m6glich, die deklamierten Menschenrechte in Zukunft auch faktisch einzufordem. Diese Differenzierung zwischen Realitiit und inhaltlichem Potential ist einer Argumentation iihnlich, die zum Beispiel Thomas Hobbes als Vordenker des Liberalismus einordnet. Indem Hobbes mit seiner Idee des Gesellschaftsvertrages ,,die Legitimation einer rechtlichen und staatlichen Ordnung an die Bedingung der allgemeinen Zustimmungsf;ihigkeit dieser Ordnung kniipft, dient sie zugleich als Vehikel der Kritik gegeniiber herrschaftlichen Verh~iltnissen, die jener Bedingung entsprechen. ''162s Und schlieBlich wurde der absolute Staatsbegriff bei Thomas Hobbes auf der Basis der Erforderlichkeit des Schutzes des Individuums hergeleitet: Dieser individualistische Grund konnte daher spiiter auch gegen diesen absoluten S taat gewendet werden, und das sei nun schon bei Hobbes angelegt. 1626)~hnlich verh~ilt es sich mit der amerikanischen Verfassung und den Sklaven, deren Befreiung in der Verfassung, unter deren Jurisdiktion sie als Sklaven defmiert wurden, selbst angelegt war. Doch wie ist es zu erkliiren, dass die amerikanischen Verfassungsviiter vor dem Hintergrund des sich durchsetzenden Individualliberalismus Sklaverei und Indianerbenachteiligung nicht von vorneherein ernsthaft abzuschaffen versuchten? Hier spielt in theoretischer Hinsicht der Einfluss John Lockes auf das politische Denken der Verfassungsviiter eine wichtige Rolle. Im Vergleich zu Hobbes hatte Locke, wie schon erliiutert, den Vernunftbegriff wieder zu ei-
1625Peter Koller, Die neuen Vertragstheorien, in: Karl Graf Ballestrem / Henning Ottmann (Hg.), Politische Philosophie des 20. Jahrhunder& Miinchen 1990, S. 281-306, 282, in Anlehnung an: John W. Gough, The Social Contract. A Ct#icalStudy of its Development, 2. Aufl., Oxford 1957; Karl Graf Ballestrem, VertragstheoretischeAnsa'tze in derpolitischen Philosophie, in: Zeitschrift fiir Politik 30 (1983), S. 1-17. 16z6Vgl. z.B. Anthony Arblaster, The lOse and Decline of Western Liberalism, Oxford u.a. 1985, S. 132-137;vgl. femerhin in diesem Sinne Bernhard Willms, Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan, Miinchen / Ziirich 1987 und Dietmar Herz, Die wohlerwogene Republik. Das konstitutionelle Denken despolitisch-philosophischenlaberalismus, Paderbom u.a. 1999, S. 78-85.
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nem bestimmten Tell normativiert und entindividualisiert. 162v Die Entindividualisierung erstreckte sich dabei nicht nur auf die Vernunft (dass es also neben der individuellen Vernunft eine iiberindividuelle gebe), sondern positionierte sich auch gegen die atomistische Vorstellung von Thomas Hobbes und jeglichen rein individualliberalen Gedankeng~ingen (z.B. bei Jeremy Bentham), dass also alle Individuen natiirlicherweise - und in Gleichheit- egoistisch seien in einem Umfange und in einer Art und Weise, dass daraus im Naturzustande (Hobbes) bzw. im utilitaristisch ungeregeltem Zustande (Bentham) nut ein friedloser (Hobbes) oder lustminimierender (Bentham) Zustand resultieren k6nne. So hatte aber auch die ,,Einsicht" des Menschen, einen Staatsvertrag einzugehen, nicht mehr den Charakter einer reinen, ~iuBeren Zwangsgesetzm~iBigkeit, sondem wird als Folge einer verniinftigen Einsichtsfdhigkeit (vor dem Hintergrund eines selbstverst~indlich auch hier vorhandenen ,,Drucks" des Naturzustandes) betrachtet. Der schon bei Hobbes notwendige Partikularismus des gedachten Vertragsabschlusses muss mit den Voraussetzungen der Einsichtsf~ihigkeit der entsprechenden, vertragsabschlieBenden Gruppen in Verbindung gebracht werden. Die Voraussetzung jener Einsichtsf~ihigkeit ist nun bei John Locke die Arbeitsf~ihigkeit, i.e. die Arbeit und Besitzaneignung als anthropologische u n d - im Rahmen einer Selbstbewusstwerdungsphilosophie - auch moralische Grundqualit~it des Menschen. Dieser Aneignungsund Selbstwerdungsprozess ist nichts anderes als die Zivilisierung der menschlichen Umwelt durch arbeitsabh~ingige Kultivierung der natiirlichen U m w e l t - und kultiviert am Ende den arbeitenden Menschen selbst. Der Staatsvertrag wird erst nach mehreren Kultivierungsschritten abgeschlossen, u.a. nach der Einfiihrung des Geldes, um die sich schon im Naturzustand herausgebildeten zivilen Strukturen durch ihre Verabsolutierung innerhalb eines positiven und institutionell abgesicherten Rechtsrahmens a b z u s i c h e r n - und zwar gegen den nunmehr als primitiv und zivilisationszersetzend wahrgenommenen Naturzustand. Die Positivierung der ,,natiArlichen Rechte" auf Recht, Leben und Eigentum bei John Locke wird also auf der Basis der (modernen) Scheidung zwischen ,,civil society" and ,,natural state", und zwar unter dem Dache eines universalen Vernunft- oder monotheistischen Gottesprinzips, von ,,einsichtigen" und ,,zivilisierten" Gruppen von Menschen postuliert. Wer seine ,,nat-iArlichen Rechte" sch/_itzen und bewahren will, muss diese Scheidung konsequenterweise nachvollziehen, sich also selbst ,,zivilisieren", sonst tr~gt das ganze Konzept nicht mehr, da es an der kulturellen Voraussetzung zur Institutionalisierung und Positivierung des Schutzes der ,,natiirlichen Rechte" von vornherein mangeln wiirde. Nun ist der Schritt nicht weir zu der Vorstellung, dass es Gruppen von Menschen gibt, die es in der Frage der Einsichtf~ihigkeit und Kultivierung nicht so weit gebracht haben wie andere, z.B. aus der Sichtweise der amerikanischen Lockeaner, Schwarze und Indianer. ,,The state of nature, as defined m opposition to everything European and Christian, could not coexist with civil s o c i e t y - that was clear. ''1628 Die Frage fiir die Amerikaner bestand nun darin, ob die amerikanischen Urv61ker, die im ,,Naturzustand" vorgefunden bzw. m verabsolutierendem MaBe in einem solchen hineingedacht wurden, im Rahmen eines Erziehungsprozesses igberzeugt werden sollten, in den zivilen Stand einzutreten (sich zu ,,zivilisieren", so z.B. Thomas Jefferson1629), ob sie, wenn sie im ,,Naturzustand" verbleiben wollten, zur/.ickgedr~ingt und gegebenenfalls bek~impft werden sollten, oder ob sie nicht doch im Sinne des damaligen
1627Vgl. zu AmerikaBernard Bailyn, The IdeologicalOrigins of the American Revolution, 13. Aufl., Cambridge (Mass.) 1967, S. 56. (vgl. insgesamtzu diesemGesamtzusammenhangeindrucksvollAnthony Arblaster, The Rise and Decline of Western Liberalism, Oxford u.a. 1985, S. 30-33). 1628BarbaraAmeil,John I_s~ckeand America. The Defenceof English Colonialism,Oxford 1996, S. 210. 1629Vgl. ebd., S. 168-200.
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Internationalen Rechtes als ein erobertes Volk angesehen und so mit dem Status y o n ,,Eroberten" aul3erhalb jeglichen Vertragsstatus belegt werden sollten, so dass ihnen gegeniiber entsprechende Mittel der Gewalt im Falle einer Insurrektion bzw. Insubordination angewandt werden diirften (so Chief Justice J o h n Marshall 1823163~ was ja in dieser F o r m tatsiichlich mehrfach geschah. Z u s a m m e n f a s s e n d gelangte Barbara Ameil v o m University College in L o n d o n in ihrer Ph.D.-Arbeit fiber den hier kurz wiedergegebenen Z u s a m m e n h a n g zwischen europiiischem Liberalkontraktualismus und Indianerpolitik zu folgenden Ergebnissen: ,,Because aboriginal people were never truly ,natural men', nor could they ever accept the precepts of ,civil society', their very existence undermines the duality inherent in liberal thought between nature and culture, between passion and reason, between wasteland and private property. One could risk a charge of ahistoricism by claiming that the polytheistic Amerindian posed first the postmodem challenge to Enlightenment thought before the notion of modernity was even conceived."1631 Zur K e n n z e i c h n u n g der US-Indianerpolitik den Begriff des ,,Genozids" zu verwenden, k6nnte sich d e m n a c h - trotz der vielen T o d e s o p f e r n unter den U r e i n w o h n e m und der moralischen Verwerflichkeit des Vorgehens der weiBen S i e d l e r - als problematisch erweisen. D e r Begriff k6nnte auch dazu beitragen, die Distanz einzuebnen, die nicht nur theoretisch zwischen kontraktualistischen Europiiern und naturbehafteten Indianern bestand, s o n d e m auch realhistorisch und materiell: als Distanz zwischen ,,(...) natumah in bdeinen Gruppen lebenden Indianem n6rdlich des Rio Grande, die, ohne fiber Schrift[1632], Rad, Zugtiere, Eisenwerkzeuge und SchieBpulver zu verffigen, ein grenzenlos anmutendes Territorium verteidigen mussten, und den Eindringlingen, deren Rfistung und Technik der Naturbeherrschung einen ganz anderen Entwicklungsstand erreicht hatte.'1633 Jedenfalls gab es in N o r d a m e r i k a im Gegensatz zu bestimmten Conquistadorenfeldziigen im Siiden des Kontinents keine geplanten Eroberungsfeldziige. 1634 D e n n o c h muss festgehalten werden, dass die Behandlung der Indianer zu den tragischen und schauerlichen, negativen Seiten der amerikanischen Geschichte geh6rt. In diesem Punkte war die Amerikanische Revol u f o n ganz und gar nicht friedvoll. Was nun die Institution der Sklaverei betrifft, muss noch intensiver nach den ideengeschichtlichen Ursachen und K o n s t r u k t i o n e n gefragt werden, da es sich bei der Sklaverei in den USA u m ein P r o b l e m der gesetzlichen Konstitution handelte. Die D o p p e l r e v o l u t i o n u m 1800 hatte somit fiir die afrikastiimmigen Sklaven (zuniichst) ,,kaum eine Bedeumng. 'q635 Die Institution der Sklaverei war dutch das Gesetz , , k o n s t i t u i e r t " , musste sich also in einem gesetzlichen R a h m e n voUziehen und durfte in der Behandlung der ,,Sklaven" keine elementaren naturgesetzlich gebotenen Rechte verletzen. Das heutige Verstiindnis von der ,,Gleichheit vor dem Gesetz" schliel3t diese Betrachtungsweise inzwischen natiirlich aus, doch muss erw~ihnt werden, dass die detaillierte gesetzliche Konstituierung der Sklaverei fiir die damaligen Verh~iltnisse eine relative Neuheit in der Sklavengeschichte darstellte. Eine voll ausgepriigte Skla1630 Vgl. Barbara Ameil, John Locke and Ametgca. The Defence of English Colonialism, Oxford 1996, S. 197. 1631Ebd., S. 210. 1632Vgl. dazu auch die Ausfilihrungen yon Jared Diamond in Bezug auf die Inka-Kultur, Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 84f. 1633Willi Paul Adams, Die USA vor 1900, Mfinchen 1999, S. 18. 1634Vgl. ebd. 1635Jfirgen Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, Mfinchen 2000, S. 31.
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vengesellschaft hat es im iibrigen nur im siidlichen Teil der USA gegeben. 1636 D a h e r ist die These, dass das I m p o r t i e r e n v o n Sklaven (...) den WeiBen das P r o b l e m einer undisziplinierten weiBen Arbeiterklasse [ersparte] u n d [..] den weiBen E i n w a n d e r e r n eine u m s o stiirkere u n d uneingeschriinkte A n n a h m e liberaler Einstellungen u n d I d e e n [erm6glichte] ''163v mit Vorsicht zu genieBen. A u c h die Tatsache, dass damals nur unter d e m D a c h der ,,simple inequality" eine ,,relative inequality ''1638 als A r g u m e n t rassischer Ungleichheit g e b r a u c h t wurde, unterscheidet die m o d e r n e Sklavengesellschaft v o n der antiken. 1639 H e u t e wird das Prinzip der ,,relative inequality" selbstverstiindlich n u t auf der Basis eines strengen, individualistischen Leistungsprinzips als taugliches A r g u m e n t angesehen. Z w i s c h e n den skizzierten E n t w i c k l u n g s p o l e n ,,Sklavengesellschaft" u n d ,,Leistungs- oder Biirgergesellschaft" lag n u n auch das k o m p l e t t e 19. J a h r h u n d e r t , das in der B e t r a c h t u n g der Sklavenfrage in A m e r i k a nicht unter d e m Tisch fallen sollte. In der Tat handelt es sich u m eine ,,groBe welthistorische T e n d e n z " einer historisch revolutioniiren, einmaligen Sklavenbefreiung. Das wird heute leider nicht g e n u g betont, genauso wenig wie der kollaborative Charakter des transatlantischen Sklavenhandels zwischen weiBen Plantagenbesitzern u n d schwarzen Fiirsten, H e r r s c h e r n u n d Stiimmen: ,,Auf afrikanischer Seite funktionierte das Sklavenangebot jahrhundertlang mit groBer Verliisslichkeit. Affika lieferte stets die in Amerika ben6tigte Menschenware und dies zu Preisen, die auf freien Miirkten ausgehandelt und den Afrikanern keineswegs diktiert wurden. "164~ U m auf das erste A r g u m e n t z u r i i c k z u k o m m e n : N e b e n der Tatsache der Existenz eines sklavenbasierten Kapital- u n d P l a n t a g e n k o m p l e x e s am A n f a n g der amerikanischen Nationalgeschichte gab es also durchg~ingig die revolution~ire T e n d e n z hin zu einem defmitiven E n d e ,,der v o n WeiBen gefiihrten Sklavenhaltersysteme".1641 Z w a r sollte dieses E n d e nicht alleine als ein ideell motiviertes missverstanden werden, d o c h h a b e n die I d e e n des C h r i s t e n t u m s 1642 u n d der Aufldiirung im K o n t e x t einer ,,metropolitanen Reformpolitik ''1643 n e b e n u n d z u s a m m e n mit F a k t o r e n wie ,,internationaler D r u c k " u n d ,,sozialer D r u c k " oder , , 6 k o n o m i s c h e N o t w e n digkeit ''1644 zu diesem historischen Ereignis beigetragen. Diese T e n d e n z liisst sich m u s t e r h a f t an folgender Ubersicht veranschaulichen1645:
1636Vgl. J(irgen Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, MCinchen 2000, S. 28. 1637Hans Vorliinder, Hegemonialer IJberalismus. Politisches Denken und politische Kultur in den USA 1776-1920, Frankfurt / New York 1997, S. 49. 1638 Zur Begrifflichkeit vgl. Willi Paul Adams, Republikanismus und die ersten amerikanischen EinzelstaatsverJassungen. Zur ideengeschichtlichen und ve{fassungsgeschichtlichen Komponente der amerikanischen Revolution, 1775-17g0 (Diss.), Berlin 1968, S. 287. 1639Vgl. Moses I. Finley, Andent Slave~7 andModern Ideology, London 1980. 1640J~irgen Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, Miinchen 2000, S.44: ,,Die einheimische Dominanz auf afrikanischer Seite liisst sich als Zeichen der Abwehrstdrke gegen eine europiiische koloniale Invasion lesen." (vgl. insgesamt S. 43f.). 1641Ebd., S. 33. 1642Das ist differenziert zu betrachten: Die Institution der Sklaverei wurde z.B. vom Heiligen Stuhl in einem innerweltlichen Zusammenhang erst 1839 abgelehnt, vorher auf der Basis der Theodizee mehr recht geduldet als gutgeheiBen (vgl. ebd., S. 46f.). Der Abolitionismus indes speiste sich in besonders starke Weise aus der christlichen Religion (vgl. ebd., S. 54f.). Christliche Lesarten der S-ldavereikritik unterschieden sich desweiteren oft von universalistischen in dem Sinne, dass Menschen nach christlichem Verst~indnis kein allgemeines Recht darauf h{itten, nicht gequiilt zu werden, sondern, ,,dass es siindhaft und moralisch verwert~ch sei, qualen Zuzufiggen." (ebd., S. 57) 1643Ebd., S. 32. 1644Vgl. zur Fragwiirdigkeit nach den jiingsten Ergebnissen der Forschung ebd., S. 36. 164sVgl. ebd., S. 31f. und 56f.
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1794-1802: kurzfristige Aufhebung der S~averei im frz. Kolonialreich 1807." Grol3britannien erk_liirtdie S~averei f/it unrechtrnS_13ig 1833-38: Sklavenbefreiung im gesamten British Empire 1848: Sklavenbefreiung im franztsischen Herrschaftsbereich 1861: Aufhebung der biiuerlichen Leibeigenschaft im russischen Zarenreich 1863: Sklavenbefreiung in Surinam, der grtl3ten holliindischen Karibikkolonie 1865: Zusammenbruch des miichtigsten Sklavereistaates der Welt, der S/idstaatenkonftderation in Nordamerika 1886." Beendigung der Sklaverei in der spanischen Kolonie Kuba 1888: Sklavenbefreiung in Brasilien (1,2 Millionen Menschen).
,,Selten hat es innerhalb emes iihnlich k u r z e n Z e i t r a u m e s eine iihnlich tiefgreifende Diskreditierung einer lange n a h e z u u n a n g e f o c h t e n e n I n s t i t u t i o n gegeben. 'q646 Z w a r sind die G r i i n d e nicht in reiner F o r m in einem ,,fief v e r w u r z e l t e n okzidentalen Freiheitsstreben ''164v zu suchen, da d e m n a c h die m o d e m e Sklaverei aus primiir 6 k o n o m i s c h e n G r i i n d e n heraus gar nicht hiitte e n t s t e h e n diirfen, d o c h die A b s c h a f f u n g der Sklaverei ist v o n d e r m o r a l i s c h e n Y~ifik, w e l c h e r die Sklaverei a u f g r u n d eines universalistischen Freiheitsbegriffs ausgesetzt war, nicht zu trennen. 1648 Dass das E n d e der Sklaverei nicht sogleich das E n d e der U n t e r d r i i c k u n g b e d e u t e t e (z.B. d u t c h den Imperialismus auf der Welt oder die Rassegesetze in den USA) wird damit f r e n c h nicht bestritten. 1649 D o c h potentiell u n d am E n d e fakfisch ist die m o d e m e ,,westliche Zivilisation" u n d damit eine potentielle ,,Atlantische Zivilisafion" i m m e r zugleich auch per d e f m t i o n e m eine ,,sklavenfreie Zivilisafion ''16s~ u n d u n t e r s c h e i d e t sich damit v o n allen a n d e r e n historischen Zivilisationen, die es bis dahin gab sowie v o n ihren ideell-historischen V o r l i i u f e m v o r der Zeit der ,,Atlantischen Revolution". ,,Die Unabh{ingigkeitserkliimngder Konftderation vom 4. Februar 1861 war deshalb mehr als eine inneramerikanische Angelegenheit. Sie war eine innerok~dentale Rebellion gegen die gerade eben m/ihsam ermngenen normativen Gmndlagen des ,Westens'. 'q6sl
4. Das Zeitalter der sich demokratisierenden Nationalstaaten im atlantischen Raum z w i s c h e n d e m 18. und d e m 20. Jahrhundert 4.1 Die RoWe der N a t i o n in der atlantischen Zivilisationsgemeinschaft
Die westliche Zivilisation b a u t a u f einer Kultur- u n d Polifikentwicklung auf, die als ein weiteres klar konturiertes Alleinstellungsmerkmal (neben Freiheit, D e m o k r a t i e u n d M e n s c h e n w i i r d e ) eine N a t i o n s - , Staats- u n d N a t i o n a l s t a a t s b i l d u n g aufweist. 1652 ,,In der Verschriinkung v o n N a -
1646J/irgen Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, M/inchen 2000, S. 33. ~64vEbd., S. 53. 1648Vgl. ebd., S. 53f. (Okonomische GesetzmiiBigkeiten haben zwar zum Aufkommen der modernen Sklaverei beigetragen, abet nicht notwendigerweise zum Ende der Sklaverei gef/ihrt. Allerdings hatte die - wohl sachfalsche - Behaupmng von Adam Smith, Sklaverei sei relativ unprofitabel, den Abolitionismus gestiirkt; vgl. Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, ND M/inchen 1978). Dass die Industrielle Revolution des atlantischen Systems vonder Realitiit der Sklaverei abhing (so die These yon Eric Williams, Capitalism and Slave{7, London 1944) ist inzwischen eher widerlegt (vgl. David S. Landes, Ders., Wohlstand undArmut derNationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin 1999, S. 136ff.). 1649Vgl. J/irgen Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, M/inchen 2000, S. 34f. 1650Ebd., S. 64. 16sl Ebd., S. 65f. 1652Vgl. Peter Alter, Nationalismus, Frankfurt a.M. 1985, S. 125.
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tionalitiit und Universalitiit griindete [auch] der globale Erfolg westlicher Zivilisation. ''1653 Ohne die historische Voraussetzung einer Nationalstaatsbildung hiitte es wohl nicht zur M6glichkeit der Herausbildung einer m o d e r n e n westlichen Zivilisation und einer potentiellen ,,Atlantischen Zivilisation" k o m m e n k6nnen, da sich ,,Freiheit und D e m o k r a t i e " im m o d e m e n Sinne nur im R a h m e n eines nationalen ,,Ausdrucks- und Volkswillens" historisch vollzogen. 1654 Die Frucht dieses Vollzugs liisst sich anhand yon drei Quellen deutlich machen: 1. 2.
3.
Der 85. Artikel der Federalists Papers: ,,Wit sind eine Nation. Unsere Nation wird der Welt ein Vorbild sein. Deshalb werden wit eine Neue Nation sein: Bundesstaatlich und gewaltenteiligregiert." Die Abschiedsbotschaft George Washingtons: ,,Der Name eines Amerikaners, der jedem yon euch in nationaler Beziehung zukommt, muss immer der Stolz eures Patriotismus sein, mehr als irgend eine Benennung nach 6rtlichen Unterscheidungen - Mit ganz geringen Unterschieden habt ihr dieselbe Religion, dieselben Sitten, Gebriiuche und dieselben politischen Grundsiitze."1655 Dritter Artikel der franz6sischen Menschenre&tserkla'rung. ,,Der Urspmng aller Souveriinitiit liegt ihrem Wesen nach in der Nation; keine K6rperschaft und kein einzelner kann eine Gewalt aus/iben, die nicht ausdrCicklich aus dieser SouverS_nitiithervorgeht."
A u f die Quellen wird n o c h im Einzelnen eingegangen werden, da es hier amerikanische u n d franz6sische Besonderheiten in der Nationsvorstellung gab und gibt. Allerdings bleibt eines jetzt schon festzuhalten: ,,Der Staat als solcher k o m m t ohne N a t i o n [im Sinne eines partizipierenden ,,organisierten Staatsvolkes"] aus, die D e m o k r a t i e abet nicht. ''16s6 D e r Nationalstaat hat sich als der ,,genuine N i i h r b o d e n der D e m o k r a t i e erwiesen", weil er auf einem ,,konsistenten personalen Substrat" beruhte, das den fiir die D e mokrat i e erforderlichen ,,engen Z u s a m m e n halt" und die ,,Solidaritiit" der staatskonstimierenden G r u p p e iiberhaupt m6glich machte. 1657 D e r nationsskeptische oder , , p o s t n a t i o n a l e " Irrglaube in diesem K o n t e x t k 6 n n t e darin bestehen, dass aus einem ,,moralischen Selbstbetrug" heraus - ohne wirklich b6se A b s i c h t - nicht erkannt wird, dass es ohne kulturelle G e m e i n s a m k ei t en und gemeinsame kulturelle Identit~iten keine wirkliche ,,Solidarit~t" innerhalb einer G r u p p e von M e n s c h e n geben kann, weil nichts ernsthaft dagegen spricht, dass ,,Solidarit~t" aufgrund der ,,Knappheit v o n Ressourcen", insbesondere der Ressource , , Z e i t " , als ,,notwendig selektiv" erachtet werden muss. 16ss Nichts E m s t h a f t e s liisst sich als Beweis, aber auch als U n t e r m a u e r u n g des absoluten normativen Grundsatzes heranfiihren, dass der Mensch dem M e n s c h e n in abstracto V e r a n t w o r t u n g schulde. V e r a n t w o r t u n g schulde der Mensch nur einem konkreten anderen Menschen, ob nun die K o n kretheit mit einer ,,Fami]ie", einem ,,Beruf", einer , , F r e u n d s c h a f t " oder einem , , I n t e r e s s e " v e r b u n d e n wird. ,,Solidaritiit erwiichst aus riiumlicher Niihe, aus g e m e i n s a m e n Interessen. Sie verfestigt sich in Institutionen wie Familie, Betrieb, Gemei nde, Staat. D e r Staat, der auf der
16s3 Kai Haucke, Zukunft durch l/er~a'tung. Helmuth Plessners Vision eines deutschen Beitrages zum politis&en Humanismus Westeuropas, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Politisches Denken. Jahrbuch 2004, Berlin 2004, S. 147-166, 153. 1654Vgl. auch die Anmerkungen von Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf ,,Zum ewigen Frieden". Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995, S. 50. 1~s5Vgl. Fritz Wagner, USA. Geburt und AuJ)tieg der Neuen Welt- Geschichte in Zeitdokumenten 1607-1865, M/inchen 1947, S. 160. 16s6Jfirgen yon Alten, Die gan z normale Anarchie. Jetzt erst beginnt die Na&kriegszeit, Berlin 1994, S. 74; vgl. ferner Josef Isensee, Die vielen Staaten in der einen Welt .- eine Apologie, in: Zeitschrift fiir Staats- und Europawissenschaften 1/2003, S. 7-31, 11. 1657Vgl. Josef Isensee, Die vielen Staaten in der einen Welt- eineApologie, in: Zeitschrift f/ir Staats- und Europawissenschaften 1/2003, S. 7-31, 24 und 30. l~ssVgl. zu den Formuliemngen in einem anderen Kontext ebd., S. 30.
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Nation als Solidargemeinschaft grfindet, ist der stiirkste und stetigste Garant und Mittler von Solidaritiit, als solcher dutch keine kosmopolitische Instanz zu ersetzen. ''1659 Diese Solidaritiitsdimension sowohl im Politischen als auch im Historischen wird in der Beschriinkung auf einen rein ,,negativen", nicht-qualitativen Freiheitsbegriff, der kollektive Kulturidentitiiten einerseits und normative Aufladungen oder die schlichte Notwendigkeit konkreter Ordnungsbegriffe andererseits nur noch als A u s b u n d ,,unfreiheitlicher" M o m e n t e ansieht (entgegen der Ansicht der ,,atlantischen Republikaner", z.B. eines R a y m o n d A r o n 166~ nicht m e h r gesehen. N o r m a t i v e Identitiitsfiguren, zu denen letztlich auch ,,Freiheit" und ,,Demokratie" geh6ren, abet auch konkrete Ordnungswerte, insbesondere ,,Staat" und , , O r d n u n g " selbst, werden als ,,substantiahstische" K o n s t r u k t i o n e n ohne realen K e r n begriffen 1661, sei dieser auch n u r - wie beim , , m o d e m e n Staat" - ein dezisionistischer Nominalismus in H o b besscher und Schmittscher Tradition. a662 Bei Niklas L u h m a n n ist der Staat nur noch ,,die Formel fiir die Selbstbeschreibung des politischen Systems. ''1663 Die Entwicklung ging mit der praktischen Zurfickdriingung des klassischen Staatszweckes dutch den Leistungs-, Vorsorgeund Wohlfahrtsstaat einerseits sowie der Zurfickdriingung des ,,Nationalstaates" dutch die ,,Globalisierung ''1664 andererseits einher. Die ffir den Bau einer ,,Atlantischen Zivilisation" notwendigen fiberindividuellen und qualitativen Interpretationen eines Freiheitsbegriffes artikulierten sich kulturell bisher i m m e r im R a h m e n der ,,Nation" als Voraussetzung eines freiheitserm6glichenden fiberindividuellen Artikulations- und Existenzwillens einerseits, eines demokratieerm6glichenden fibermdividuellen Beteiligungsforums kultureller Provenienz andererseits. Sie artikulierten sich weiterhin in der willentlichen A n e r k e n n u n g des konkreten Ordnungswertes eines modernen, ,,souver~nen" Staates und der freiheitlichen Verbindung dieses Ordnungswertes mit wertelitS.rem, spiiter auch , , d e m o k r a t i s c h e m " Artikulationswillen hin zum ,,Nationalstaat"; bestenfalls artikulierten sie sich auch auf der Basis einer Sinngebung politischer Repriisentation, welche ,,Nationen", ,,Staaten" oder ,,V61ker" ,,beseelte", also welche durch politische lJberzeugung der Repriisentierten durch eine ,,weise" politische Ffihrerschaft zustande kam und die A n e r k e n n u n g der Repr;,isentation von Wahrheit fiber die staatliche und nationale Existenz zur Folge h a t - was wiederum grundsiitzlich vollendete politische Freiheit bedeuten soll: Repriisentiert also der Repriisentant nicht nur Andere und seine eigene Existenz auf der Basis seines Machtwillens und seiner Selbstbehauptung, sondern repriisentiert er zugleich und darfiber hinaus eine wertvolle ,,Wahrheit" - d a s ,,Gute", z.B. ,,politische Freiheir", ,,Sittlichkeit", ,,moralische Verantwortung", , , T u g e n d e n " u.5.. - dann ist der repriisentierte politische K 6 r p e r gerecht und seine einzelnen Individualglieder - soweit der Mensch in der Lage ist, frei zu sein - wirldich ,,frei".
1659Josef Isensee, Die vielen Staaten in der einen Welt- eineApologie, in: Zeitschrift flit Staats- und Europawissenschaften 1/2003, S. 31 (Isensee verweist als Lehrstiick-Beispielauf die Elbekatastrophe 2002, als Deutsche in erster Linie - mit ganz starkem Abstand in der Hilfe gegenCiber anderen Nationen - Deutschen halfen, umgekehrt Tschechen das gleiche mit Tschechen taten - ebenso mit ganz starkem Abstand in der Hilfe gegen/iber anderen Nationen - wiihrend den Chinesen, die unter weir schlimmeren Wasserplagen litten, weder Tschechen noch Deutsche wirkdich helfen wollten oder konnten). 1660Vgl. Raymond Aron, ([Tberdie Freiheiten. Essay, Frankfurt a.M. 1968. 1661Vgl. kritisch zum Problem dieses Begriffes Bo Stdtth, The State and its Critics:k" there apost-modern challenge?,in: Quentin Skinner / Bo Str~tth (Hg.), States and Citizens. Histo{7, Theo~, Pro~ects, Cambridge 2003, S. 167-190. 1662Vgl. JCirgenyon Alten, Die ganz normaleAnarchie. Jetzt erst beginntdie Nachkriegs~it, Berlin 1994, S. 32f. 1663Stefan Breuer, DerStaat. Entstehune~ Typen, Organisationsstadien,Reinbek 1998, S.11. 1664Vgl. David Held / Anthony McGrew / David Goldblatt / Jonathan Perraton, The Global Transformation. Politics, Economics and Culture, Stanford 1999, S. 49-61.
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Andererseits ist das Zivilisationsparadigma selbst ein Ausweis einer nationalstaatsrelativier e n d e n Entwicklung, die Carl Schmitt 1963 im V o r w o r t zur N e u a u s g a b e seines ,,Begriffs des Politischen" in etwas iibertriebener F o r m m folgende W o r t e gekleidet hat: ,,Der europ~iische Teil der Menschheit lebte bis vor kurzem in einer Epoche, deren juristische Begriffe ganz vom Staate her gepriigt waren und den Staat als Modell der politischen Einheit voraussetzten. Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Dar0ber ist kein Wort mehr zu verlieren. "1665 D a sich n u n seit der Friihen N e u z e i t die ,,Nation" im R a h m e n des Nationalstaates politischinstimtionell artikulierte 1666 u n d bis heute als einziges ,,organisiertes Staatsvolk" ist 166v, stellt sich die Frage ob ,,Zivilisationen" o d e r andere iibernationale E i n h e i t e n als politische gelten k 6 n n e n o d e r nicht, also einer k o n k r e t e n Willenseinheit wie der eines ,,Staatvolkes" o d e r einem k o n k r e t e n O r d n u n g s b e g r i f f wie d e m des Staates o d e r einem kulturellen Identit;,itsbegriff wie d e m der , , N a t i o n " nahe k o m m e n o d e r diesen gar ersetzen k 6 n n e n oder sollen. E i n e n , , W e l t s t a a t " kann es zuniichst einmal per d e f m i f o n e m solange nicht geben, wie plausiblerweise - u n d frei nach Carl S c h m i t t - d a v o n ausgegangen wird, dass ein ,,Staat" sich iiberh a u p t erst defmieren liisst, w e n n m e h r e r e Staaten existieren. U n d dass eine W e l t r e g i e r u n g u n d ein weltweites , , G o o d G o v e r n a n c e " o h n e Weltstaat in Sinne eines o r t h o d o x e n M e n s c h e n rechtsuniversalismus 1668 - m gerechter Weise so funktionieren, dass m a n M i n d e s t a n f o r d e r u n gen universaler M e n s c h e n r e c h t s g l e i c h h e i t m einem individualistischen K o n t e x t gerecht wird, muss sich erst n o c h zeigen. Realpolitisch plausibel ist es trotz aller technikinduzierten Phiinom e n e der ,,Globalisierung" nicht wirldich. 1669 Die v o r h e r g e h e n d e n A u s f i i h r u n g e n m 6 g e n n u n gezeigt haben, dass eine ,,Atlantische Zivilisation" etwas anderes darstellt als eine ,,Nation" o d e r einen ,,Staat"; dass aber das Zivilisatio n s p a r a d i g m a keines der beiden ersetzen kann, w e n n es d e n n e n t s t e h e n soll, s o n d e m eine wichtige Ergiinzung in einer , , g l o b a l i s i e r t e n " Welt darstellt, die geradezu den B e s t a n d u n d die B e w a h r u n g wichtiger kultureller E i n h e i t e n u n d k o n k r e t e r O r d n u n g s w e r t e durch Bewussts e i n s w e r d u n g iiber die eigene kulturelle ,,Pfadabh~ingigkeit" g e r a d e z u gebietet u n d auch e r m 6 g licht. D a z u gesellt sich n o c h die Tatsache, dass der individualethisch o r t h o d o x e M e n s c h e n -
1665Carl Schmitt, Der Begrfff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Collar#n, 7. Aufl., Berlin 2002, S. 10 (vgl. zur Kritik JOrgen yon Alten, Die gan z normale Anarchie. Jetzt erst beginnt die Nachkriegszeit, Berlin 1994, S. 71). 1666Der ,,Nationalstaat" grfindet demnach auf einem ,,Volk", ,,das, vor jeder rechtlichen Definition durch die Staatsangeh6rigkeit, dutch den politischen Willen zu gemeinsamer staatlicher Existenz geeint, also in sich konsistent ist, gleich, an welche Merkmale wirPdicher oder vermeintlicher Gemeinsamkeit (Abstammung, Geschichte, Kultur, Sprache, Religion etc.) die Willenseinheit ankn0pft." (Josef Isensee, Die vielen Staaten in der einen Welt - eine Apologie, in: Zeitschrift for Staats- und Europawissenschaften 1/2003, S. 7-31, 11, Fn.9). Dieser Nationalstaatsbegriff ist inhaltlicher Natur und von der reinen Form ,,Nationalstaat", die unabhiingig ist yon der ,,nationalen Fundiemng", eindeutig zu trennen (vgl. ebd.). Nationalstaatskritiker gehen vom Gegenteil aus: Dass der ,,modeme Staat" im Gewande des Nationalstaates sich dutch die Nation artikuliere und damit erst Emotionen, Geffihle und Triebe erzeuge und stmkturiere start sie repressiv im Zaume zu halten (vgl. Martin Albrow, Abs&ied vom Nationalstaat, Frankfurt a.M. 1998, S. 93f.). Aus diesem Blickwinkel ist der ,,Staatsb/_irger" immer ein vom Staat ,,kolonialisierter" Mensch, der im Zeitalter der ,,Globalitiit" die M6glichkeit besitzt, sich vom ,,Kolonialherren" zu befreien (vgl. ebd., S. 194), aber nut, well er auf seine ,,fr0here Beziehung zur Natur" zur0ckgeworfen wird (vgl. ebd., S. 211). Ubrigens kann sich die Naturbeziehung auch in einer ,,ethnischen Identitiit" manifestieren, in einem ,,kulturellen Raum" also, der ,,eher durch Globalitiit als dutch Territorialitiit" definiert ist (ethnische Gemeinschaftsbildung in der Diaspora) oder sich von territorialen Einbindungen zu separieren sucht (nationale Minderheiten). Dass allerdings die Entkopplung yon ,,Nation" und ,,Staat" und die ,,Diaspora" zum ,,dominanten Modus ethnischer Gemeinschaftsbildung im Globalen Zeitalter werden wird" ist eine 0bertriebene und einseitige Aussage, die jeder empirischen Grundlage entbehrt (vgl. ebd., S. 307). 166vVgl. JOrgen von Alten, Die gan z normale Anarchie. Jetzt erst beginnt die Na&kriegszeit, Berlin 1994, S. 74. 1668Vgl. einfiihrend Volker Rittberger / Bernhard Zangl, Internationale Organisationen, 3. Aufl., Opladen 2003, S. 320-324. 1669Vgl. Panajotis Kondylis, Das Polit#che im 20. Jahrhundert. Von den Utopien w r Globalisierung, Heidelberg 2001. . .
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rechtsuniversalismus, der sich als solcher gegen den Nationalstaat defmiert, an einem fundam e n t a l e n Selbstwiderspruch leidet: , , W i r haben die Menschenrechte nicht, weil sie in den [nationalstaatlichen] Menschenrechtserkldrungen stehen, sondern sie stehen dort, weil wir sie haben. Dass wir sie haben, wiissten wir aber nicht, wenn sie nicht dort stiinden. ,4670 U n d mit Daniel J. B o o r s t i n als selbstbewussten, sich stark als N i c h t - E u r o p i i e r d e f m i e r e n d e n 1671 A m e r i k a n e r gesprochen: , , O u r national birth certificate is a Declaration o f I n d e p e n d e n c e and n o t a Declaration o f the Rights o f Men. ''1672 Eine ,,Atlantische Zivilisation", die sich postnational defmiert, wiire indes nicht n u t illusion~ir, s o n d e r n g e r a d e z u gegenstandslos u n d imperialistisch. Calleos Begrfindungsansatz A n f a n g der siebziger J ahre erscheint heute d e m n a c h aktueller d e n n je: ,,We cannot resolve the problems of nationalism by abolishing nations, or rather all nations except the United States. The nation-state remains very much alive ... it is impossible to organize political communities based on democratic consent within any wider context. Without that consensus, a federal state can only be imperial. Attempts to impose such an imperial order, masquerading as federalism, probably constitute a graver threat to peace in the long run than the possibility of a return to the unstructured nationalism of the prewar-era. '1673 Allerdings ist die letzte G r u n d l a g e u n s e r e r westlichen K u l t u r natiirlich ,,nicht das einzelne Volk, s o n d e r n die Einheit des Abendlandes. ''1674 Aus einer nafionalstaatlichen Sichtweise sind die I m p l i k a t i o n e n dieses abendliindischen Bewusstseins fiir eine polifische Haltung, w e l c h e nationale Identitiit gutheiBt u n d diese einem iibertriebenen N a t i o n a l i s m u s entgegensetzt, a u f sehr eindrfickliche Weise v o n D o l f Sternberger theoretisch entfaltet w o r d e n : Mit d e m vielfach als ,,antiheimatlich" m i s s v e r s t a n d e n e n Begriff des , , V e r f a s s u n g s p a t n o t i s m u s " hatte Sternberger 1675 gegen das , , n e g a f v - n a f o n a F l s f i s c h e ''1676 D e u t s c h l a n d der 1968er ,,die W i e d e r g e w i n n u n g einer n a f o n a l e n Identitiit im Sinn, die i m m e r n o c h national g e b u n d e n bleibt, n u n aber zivilpolitische u n d zivilreligi6se Ziige triigt. ''1677 Es ist die E r m 6 g l i c h u n g v o n antitotalitiir k o n n o t i e r t e r ,,geschichtlicher Freiheit" im A r e n d t s c h e n Sinne 1678, die nationale Identitiit bieten kann. W o indes ,,die V e r f a s s u n g allein die B e s t i m m t h e i t des G e m e i n w e s e n s a u s m a c h e n soll, ist n u r ein Mangel an geschichtlicher Freiheit o f f e n b a r g e w o r d e n ''1679, sei die V e r f a s s u n g n o c h so brillant u n d glorreich. In D e u t s c h l a n d mangelte es nach 1945 / 1968 / 1986168~ i n s o f e r n jahrelang an 1670Lothar R. Waas, ,,Natiirliches" Re&t in '~odtivierter" Gestalt, das sich aus Pflichten herMtet? l/on der Paradox4e der Menschenrechte, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), PolitischesDenken. Jahrbuch 2004, Berlin 2004, S. 107-123, 109. Vgl. fernerhin Karl Dietrich Bracher, Geschichte und Gewalt. Zur Politik im 20. Jahrhundert, Berlin 1981, S. 38-43. 1671Vgl. Daniel J. Boorstin, America and the Image of Europe. Reflectionson American Thought, ND Gloucester (Mass.) 1976. 1672Daniel J. Boorstin, The Genius ofAmerican Politics, Chicago / London 1953, S. 70. 1673David Calleo, The Atlantic Fantasy: The U.S., N A T O and Europe, Maryland 1970, S. 113. 1674 So Christopher Dawson, allerdings nut auf Europa bezogen (Die Gestaltung des Abendlande.,: Eine Einfiihrung in die Geschichte der abendla'ndischenEinheit, 2. Aufl., K61n 1950, S. 14). 16vsVgl. Dolf Sternberger, Verfassung~aMotismus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Mai 1979, S. 1. 1676Vgl. Josef Isensee, Die Verfassung als Vaterland. Zur Staatsverdra'ngung der Deutschen, in: Armin Mohler (Hg.), Wirklichkeit als Tabu. Anmerkungen zur Lage, M/inchen 1986, S. 11-36. 1677So die sch6ne Umschreibung bei Claudia Kinkela, ,,Aufbenachbarten Spuren". Zu DolfSternbergers und Hannah Arendts Begriff des Politischen, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnun~ W/irzburg 2000, S. 403-421, 416. Vgl. ferner Volker Kronenberg, Patriotismusin Deutschland. Per~ektivenJ~r eine welto~ene Nation, Wiesbaden 2005, S. 189-202. 1678 Es sei noch einmal an die Definition von G/inter Figal erinnert: ,,Geschichtliche Freiheit" bedeute demnach, ,,Geschichte so zu erziihlen, dass sich filir das Handeln ein sinnhafter Zusammenhang bildet." (G/inter Figal, Offentliche Freiheit: Der Streit yon Macht und Gewalt. Zum Begriff des Politirchen bei Hannah Arendt, in: Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Poh?ischesDenken. Jahrbuch 1994, Stuttgart / Weimar 1995, S. 123-136, 136). 1679 Ebd. 16s0Ende des Historikerstreits zu Ungunsten einer Historisierung des Nationalsozialismus.
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Kapitel IX
,,geschichtlicher Freiheit", und die Bemiihungen seit etwa 19791681 / 1989 / 19941682 / 19981683 sie zuriickzuerlangen, erweisen sich als ein sehr miihsamer Weg, der liingst noch nicht abgeschlossen scheint.
4.2 Die U S A als Nation und der atlantische Charakter amet~kanischer Nationalstaatlichkeit
,,We the people of the United States (...) do ordain and establish this Constitution of the United States of America." Es ist strittig, ob der Begriff der nationalen Volkssouveriinitiit, der sich hier in der Priiambel der amerikanischen Verfassung artikuliert, als das entscheidende M o m e n t der amerikanischen Revolution angesehen oder diesem universalhistorisch nur ein instrumenteller Charakter zugemessen werden soil - im Kontext einer Vorstellung v o n d e r schrittweisen Aufl6sung jeglicher ,,Souver~tnit~t". Der israelische Amerika- und Ideenhistoriker Yehoshua Arieli sah dementsprechend zwei miteinander in Konflikt stehende Realitiiten amerikanischen Demokratie- und Selbstverstiindnisses. 1684 Wiihrend die eine die reale ,,politische Souveriinit;,it" nach der amerikanischen Verfassungsgebung nur noch als ein Auslaufmodell betrachtet wird, da die , , G e s e l l s c h a f t " vermittels der ,,Verfassung" die ,,Regierungen" nur noch als ,,Agenten" einsetzt, um langfristig die ,,politische Souveriinitiit" als die letzte alter ,,problematischen" Machtanballungen aus der Welt zu schaffen 168s, so orientiert sich die ,,traditionelle" Sichtweise am Begriff der ,,nationalen Souveriinitiit". Diese wiederum baut in den USA auf einem Nationsprinzip auf, das in seiner Ausrichtung als umstritten gilt: Inwiefern handelt es sich wirklich um einen ,,multikulturellen" Nationsbegriff, der hier zum Ausdruck kam und bis heute das Land patriotisch einigt? Gibt es einen monokulturellen Kern und wie weit reicht dieser in der nationalen Identitiitsbildung der Amerikaner in Geschichte und Gegenwart? Und schlieBlich: Welche atlantische Relevanz besitzt jener Kern? Zuniichst einmal bleibt in Bezug auf die Souveriinitiitsfrage festzuhalten, dass die ,,politische Souveriinitiit" des amerikanischen Nationalstaates weiterhin existiert, ein groBes Machtpotential innehat, sowie zuletzt, und das ist entscheidend, von den Biirgern nicht in Frage gestellt wird, sondem weiterhin als identitiitsstiftender F a k t o r - trotz aller Relativierungen im Zeitalter der Globalisierung- hochgehalten wird. Nicht nur politische und historische Ereignisse, sond e m auch die entsprechenden Nationalstolzwerte sprechen eine eindeutige Sprache, die in etwa genauso hoch zu bewerten sind wie in alien anderen Nationalstaaten der atlantischen Welt. Dieses partikulare Eigenwertverstiindnis k o m m t in den USA (neben der religi6sen Dimension) ganz besonders im ,,Pledge of Allegiance to the United States of America" zur Geltung: ,,Ich gelobe Treue auf die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika, auf die Republik, die eine Nation unter Gott ist, vereinigt durch Freiheit und Gerechtigkeit fiir alle." Der amerikanische Nationalstolz verbindet sich dabei mit einem ausgepriigten verfassungsstaatlichen Institutionalismus. 1686
Dolf Sternberger, Verfassung~atriotismus, Frankfurter Allgemeine Zeimng, 23. Mai 1979, S. 1. 1682Vgl. Heimo Schwilk / Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewussteNation. ,,AnschwellenderBocksgesang"und weitereBeitra'geZu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. 1994. 1683Vgl. Egon Bahr, Der deutsche Weg. Selbstverstdndlichund normal, M/inchen 2003; Gregor Sch611gen,Der Auftritt. Deutschlands Riickkehr auf die Weltbiihne, M/.inchen 2003. 1684Vgl. Yehoshua Arieli, Individualism and Nationalism in American Ideology, Cambridge (Mass.) 1964, S. 158-180 und 346f. 1685Vgl. ebd., S. 169. 1686Vgl. Y-clausvon Beyme, Vorbild Amerika? Der Einfluss der amerikanischen Demokratie in der Welt, M/inchen 1986, S. 12f. 1681 Vg|.
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Andererseits ist das ,,amerikanische Projekt" me ein ,,reines" multikulmrelles Projekt gewesen. Die atlantische Relevanz der historisch-politischen Inklusion europiiisch-weiBer Kulturtradition sowohl dutch den amerikanischen Nationalstaat als auch durch seine Verfassung lassen sich an zwei Punkten verdeutlichen: an historischen D e m o g r a p h i e d a t e n und an der sprachlichen und kulturellen Ausrichmng der amerikanischen ,,Melting-Pot"-Politik. Zu den historischen Demographiedaten: N a c h dem E n d e der amerikanischen Sklaveneinfuhr, sind zwischen 1820 und 1970 anniihernd 36 Millionen Europiier (zun~ichst in erster Linie Engliinder, Schotten, Iren, in zweiter Holliinder, Franzosen, Deutsche, Schweizer: alle also - auger die S c h w e i z e r - Atlantik-Anrainer) und nut etwas mehr als 76 Tausend Afrikaner und 1,3 Millionen Asiaten (starker Anstieg seit 1950) eingewandert. 168v Es gab bis zum 20. J a h r h u n d e r t drei groBe europiiische Einwanderungsschiibe, die bis heute die demographische Z u s a m m e n setzung in den USA beeinflussen (immer noch sind etwa 80% der US-Amerikaner europiiischer Abstammung). D e r erste Schub der Angelsachsen vollzog sich durchgehend zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert. Es folgten Deutsche und Polen seit dem 19. Jahrhundert, Russen (meist aus deutschen Siedlungsgebieten) im 19. Jahrhundert. Ab dem 19. J a h r h u n d e r t bekam die Einwanderung eindeutig eine kontinentaleuropiiische Dimension. 1688 ,,Das ,Europa', das auswanderte, bildete kein zusammenhiingendes Sozialfeld, sondern zerfiel m die historischen, nationalen und ethnischen Subfelder." Die Europiier wurden ,,sich erst im Prozess der ,Amerikanisierung' ihrer prekiiren gemeinsamen Herkunft bewusst. ''1689 Seit der kontinentalen Dimension europS_ischer E i n w a n d e r u n g lag eine wichtige Gemeinsamkeit in den Erfahrungen ,,elementarer sozialer Hoffnungslosigkeit" der europ{iischen Unterschichten, insbesondere der zins- und pachtabhiingigen Bauern. 169~ Immigrationszahlen: 1783-1815." 250 Tsd. Europiier (Engliinder, Franzosen, Iren, Hessen), 60 bis 100 Tausend britische Loyalisten fl/ichten nach Kanada (sie wurden entschiidigungslos enteignet) 1820-1970:6,92 Millionen aus dem Deutschen Reich und Deutschland (Deutsche und Polen),"5,18 Millionen Italiener; 4,79 Millionen Engliinder; 4,71 Millionen Den; 4,30 Millionen Bewohner des Habsburgerreiches, Osterreicher und Ungam, mitteleuropiiische V61ker: B6hmen, Tschechen, Slowaken, Polen, Italiener, Jugoslawen),. 3,97 Millionen Kanadier (zumeist Angelsachsen),'3,35 Millionen Russen; 1,3 Millionen Asiaten (Chinesen und Japaner, insbesondere im 20. Jahrhundert),' 1,27 Millionen Schweden; 853 Tsd. Norweger; 730 Tsd. Franzosen," 573 Tsd. Griechen," 486 Tsd. Polen,"361 Tsd. Diinen; 359 Tsd. Pormgiesen,"351 Tsd. Holliinder; 342 Tsd. Schweizer; 198 Tsd. Belgier Migrationswellen nach Hansen1691: 1830-1860: Schotten, Waliser, Iren, Deutsche (oberes Rheintal), Belgier, Holliinder, Norweger 1860-1890: Engliinder, Schweden, Diinen, Deutsche aus Preul3enund Sachsen, B6hmen aus C)sterreich 1890-1914: Italien, Griechenland, Polen, Russland, europiiische T/irkei, Ungam R/ick~vanderung 1908-1912 insbesondere nach Italien, Osterreich, Russland, Griechenland, Ungam und teilweise Jugoslawien1692
1687Vgl. Manfred Henningsen, Der FallAmerika. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdra'ngung., S. 127ff. 1688Zahlen aus dem American Almanac. The US Book of Statistics and Informations for 1972, New York 1972, zitiert nach: Manfred Henningsen, Der Fall Amerika. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichte einer Verdra'ngung, M~nchen 1974, S. 128ff. a689Manfred Henningsen, DerHalIAmerfka. ZurSo~al- undBewusstseinsgeschichte einer Verdra'ngunj~ M~nchen 1974, S. 132. 1690Vgl. ebd., S. 133. 1691Marcus Lee Hansen, The Atlantic" Migration 1607-1861. A I-Iisto{7 ~the continuing Settlement of the United States, New York 1961, S. 9ff. 1692Manfred Henningsen, Der Fall Amerfka. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichte einer Verdra'ngung, M~nchen 1974, S. 137f.
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Kapitel IX Chronik des ethnischen Charakters der USA1693: 1607-1820: protestantisch-angels{ichsisch (LM: ideell franz6sisch, symbolisch zunehmend ,,katholisch-barock!'~) 1820-1880: katholisch-irische, skandinavische und deutsche Komponente ab 1880: ost- und stideuropS_ischeGruppierungen 1924: Gegenbewegung des amerikalfischen Nativismus begtinstigt englische, irische, deutsche und skandinavische Gmppe 1694 Einwanderungsquotiemngen seit 1921: 1921: Immigration Act, Einfilihrung eines Einwanderungsanteilzensus 1924: Festlegung einer oberen Einwanderungsgrenze (150 Tsd. pro Jahr) 1929: verst~irkte nationale Quotiemng (,,nordischer Sieg'~), Orientierung an einem auf 1920 bezogenen Bev61kerungsanteilzensus unter Abl6sung des Einwanderungsanteilzensus 1952: Weiterftihrung des Quotensystems (bis 1968: allgemeine 20-Tausend-Begrenzung pro Land aus der 6stlichen Hemisphiire bei einem Gesamtpool von 170 Tsd. Einwanderem pro Jahr; ftir die westliche Hemisph~ire galt ein Gesamtpool yon 120 Tsd. im Jahr ohne nationale Aufschltisselung).1695
A u c h in der normativen G r u n d l e g u n g der amerikanischen Verfassung galt als unabdingbare Voraussetzung einer amerikanischen F6deration (bzw. , , U n i o n " , w i e sie in der Verfassung selbst bezeichnet wird) die Konstituierung als N a t i o n auf der Basis kultureller, partikularer Gemeinsamkeiten. Das N o v u m war nun, dass diese G e m e i n s a m k e i t auBer bei der Sprache im R a h m e n einer r~iumlich am weitest gehenden, kulmrell gegebenen G e m e i n s a m k e i t s d i m e n s i o n deflniert wurde und aufgrund des F6derationscharakters der N a t i o n in der Verfassung selbst nicht v o n d e r , , N a t i o n " , sondern n u t von der ,,Union" die Rede ist. D e n n o c h ist anhand der Ausf/ihrungen der Federalists klar zu belegen, dass es u m die Konstituierung einer neuen N a t i on ging, die allerdings den Begriff der ,,nationalen SouverS_nitiit" vermied und stattdessen stiirker auf die ,,neue N a t i o n " u n d den Begriff der ,,nationalen Freiheit" setzte. Das m a c h t den wichtigsten d o k u me n t a r i s c h e n Unterschied zu den Franzosen aus, bei denen der Begriff der ,,nationalen Souveriinitiit" auch explizit eine groBe Rolle spielte (im zitierten 3. Artikel der franz6sischen Menschenrechtserkliirung) und bis heute in Frankreich expliziten Verfassungsrang besitzt. 1696 Die USA selbst waren eine ,,nationale Idee" (und damit zugleich eine ,,europiiische") und defmierten sich als solche im Sinne einer potentiellen ,,Nation E u r o p a " , deren K e r n eine ,,Neuenglische N a t i o n " war. Die Plausibilit~it dieser Entwicklung ist vor d e m geozivilisatorischen H i n t e r g ru n d einfach zu eruieren: ,,Amerika" war zuniichst einmal als Begriff erst eine , , W i r k l i c h k e i t " vor dem Hintergrund der europiiischen Atlantikmeeriiberbriickung und die Vereinigten Staaten stellten in ihren Anf~ingen, zugleich also am E n d e eines innereurop~iischen K a m p f e s u m die V o r m a c h t in Amerika, nichts weiter dar als ,,den ethnischen [und angelsiichsisch konturierten] Pfeiler der [europiiischen] Meeresiiberbriickung ''169v - unter d e m D a c h
1693Nach Manfred Henningsen, Der FallAmerfka. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichte einer Verdra'ngun~ Mtinchen 1974, S. 138. 1694Antideutsche Zusammenh{inge waren nut in den 50er Jahren gegen radikalliberale und sozialistische Deutsche erkennbar und bei Benjamin Franklin gegen die Palatine Boors (vgl. Marcus Lee Hansen, The Atlantic Migration 16071861. A Histo{7 of the continuing Settlement of the United States, New York 1961, S. 273f.; J6rg yon Uthmann, Volk ohne Eigenschaften. Amerfka und seine Widerspru'che, Stuttgart 1989, S. 43 1695Vgl. insgesamt Manfred Henningsen, Der Fall Amerfka. Zur So~al- und Bewusstseinsges&ichte einer Verdra'ngun~ Mtinchen 1974, S. 140f. Viele Ost- und Stideurop{ier begaben sich nach 1924 tiber den Umweg nach Kanada, das wie Mexiko (20er Jahre: ftinfstellige Ziffem) nicht quotiert wurde, in die USA. Auf der Basis ging der amerikanische Nativismus wieder zurtick. 1696Vgl. insbesondere Ladan Boroumand, La guerre desprfndpe,}, Les assemblges rdvolutionnairesface aux droits de l'hommes et la souverainetd de la nation, mai 1789 -juillet 1794, Paris 1999 ; vgl. femerhin Alain de Benoist, Sch&e vernetzte Welt. Eine Antwort aufdie Globalisierund~Ttibingen 2001, S. 284-289. 1697Kurt von Boeckmann, Vom Kulturreich desMeeres, Berlin 1924, S. 307f.
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europiiischer Kulturnormvorstellungen, aber in V e r b i n d u n g mit einer revolution~iren Staatsstrukmr, wobei die ,,Revolution" wiederum auf europiiischen Politik- und Philosophie/iberlieferungen fuBte. Das es sich zum grogen Teil unbewusst, aber logischerweise wirklich u m eine neue ,,Nation E u r o p a " handelte, kann, wie schon erwiihnt, am deutlichsten anhand der ,,Federalist Papers" bewiesen werden: N a c h J o h n Jay (,,Publius ''169a) k o n n t e n sich die Ameri kaner als N a t i o n konstimieren, weil sie auf der Basis kultureller Merkmale im R a h m e n eines nationalen Befreiungskrieges eine kollektive Identit{it herausgebildet hatten. 1699 Folgende K_riterien, die auf die Staatsbi,irger angewandt w u r d e n ( a u s g e n o m m e n waren also die Schwarzen) u n d auf die sich i n s o f e m der nationale Stolz berufen musste, w u r d e n genannt: A b s t a m m u n g , Sprache, Religion, politische Tradition, Sitten und GebrS.uche. A n g e w a n d t auf das Nationsverstiindnis sind diese Begrifflichkeiten mit einer rein multikulturellen oder gar mischkulturellen ,,Neuen N a t i o n " nicht vereinbar. ,,Jays Begriff der Nation war nicht etwa nut der eines erfolgreichen Milit~irbfindnisses. In der poetischen Sprache des Grfindungsmythos formulierte Jay zur gleichen Zeit wie Herder die Einheit yon Volk und Nation und behauptete die E~stenz ihrer entscheidenden Merkmale in den Vereinigten Staaten in Form eines Staatsterritoriums, eines Staatsvolks und einer nationalen Kultur.''iv~176 In den W o r t e n Jays war das amerikanische Volk i n s o f e m ein ,,(...) Volk, das von denselben Vorfahren abstammt, dieselbe Sprache spricht, sich zum selben Glauben bekennt, f/ir dieselben Grundsiitze politischer Herrschaft eintritt, in Sitten und Gebriiuchen sehr iihnlich ist und sich darfiber hinaus nach gemeinsamer Beratung, nach Einsatz gemeinsamer Waffen und Anstrengungen in einem langen und blutigen K_rieg Seite an Seite seine allgemeine Freiheit und Unabhiingigkeit im edlem Kampf errungen hat.. (...) Bei allen grol3enVorsteltungen haben wit ohne Ausnahme ein Volk." 1701 G e o r g e W a s h i n g t o n betonte in seiner Abschiedsbotschaft v o m 17. Sept ember 1796 n o c h einmal seine Ansicht, dass es in den USA selbstverst~indlich eine nationale Leitkultur gebe: ,,Der Name eines Amerikaners, der jedem von euch in nationaler Beziehung zukommt, muss immer der Stolz eures Patriotismus sein, mehr als irgend eine Benennung nach 6rtlichen Unterscheidungen - Mit ganz geringen Unterschieden habt ihr dieselbe Religion, dieselben Sitten, Gebriiuche und dieselben politischen Gmndsiitze.''17~ W a s h i n g t o n bezieht in seiner Rede explizit die Religion mit ein. 17~ U n d sogar T h o m a s Paine betonte, in einem anti-englischen Kontext, dass (eben nicht England, s o n d e m ) E u r o p a ,,the parent country o f America" sei. 17~ Nicht nur die amerikanische Bev61kerung, auch die amerikanische D e m o k r a t i e ist o h n e den europ~iischen K o n t e x t schlicht nicht zu verstehen. O h n e 1698Benannt nach dem altr6mischen Republikbegrfinder Publius Valerius Publicola (vgl. zur Bedeutung Harald von Bose, Republik und Mischverfassung - zur Staatsformenhhre der Federalist Papers, Bonn (Diss.) 1989, S. 34f.). 1699 Vgl. Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel Politische Theotie und Vetfassungskommentar deramerikanischen Gr#nderva'ter, hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderbom u.a. 1994, Artikel 2, S. 6f. 1700Angela und Willi Paul Adams, Einleitun~ in: Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Arfikel Poh?ische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Griindervd'ter, hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderborn u.a. 1994, S. xlviii. 1701Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theotie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gm'nderva'ter, hg. yon Angela und Willi Paul Adams, Paderbom u.a. 1994, Artikel 2, S. 6f. 1702Vgl. Fritz Wagner, USA. Geburt und Aufstieg der Neuen Welt- Geschichte in Zeitdokumenten 1607-1865, Mfinchen 1947, S. 160. 1703Vgl. ebd., S. 162. 1704Thomas Paine, Common Sense Addressed to the Inhabitants ofAmerica [A New Edition 1776], in: Ders., Common Sense and Other Political Wfftings, hg. v. Nelson F. Adkins, New York 1953, S. 3-52, 21.
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Kapitel IX
Einschriinkungen von einem amerikanischen ,,Exzeptionalismus" zu sprechen 17~ erscheint mit den Uberzeugungen derjenigen, die mal3geblich an der Erschaffung Amerikas beteiligt waren, iiberhaupt nicht konform zu gehen. Ganz im Gegenteil: ,,Der europakundige Jay betrachtete die amerikanischen Umstiinde nicht als paradiesisch exzeptionell, sondern lediglich als Chance, aus den Fehlem der Europ~ier zu lemen. ''17~ Im Weltbild der Federalists waren die Vereinigten Staaten auch ,,(...) kein Eiland republikanisch tugendhafter Genfigsamkeit fern der korrupten Alten Welt. Die ExKolonialengl~inder wussten vielmehr, dass ihr Territorium Bestandteil des Nordatlantischen Wirtschaftsraumes blieb und sie entweder eine aktive Rolle in dem sich entfaltenden Welthandelssystem spielen oder trotz nornineller Unabhiingigkeit weiterhin zugunsten der Interessen der europiiischen Miichte ausgenutzt werden wfirden.'qv~ Als Nation exzeptionell besser regiert zu werden als europ~iische Nationen, das war sicherlich die Vorstellung der Federalists, aber eben als Nation und nichts anderes als das. Die Federalists konnten sich gegen die Anti-Federalists aufgrund ihrer eindeutigen nationalpolitischen Rhetorik durchsetzen, lv~ Nicht die Federalists, sondern die letztlich gescheiterten Anti-Federalists empfanden die Vorstellung als Amerikaner so zu sein wie ,,andere Nationen auch" als Herabsetzung start als schlichte Realitiitsbeschreibung. 17~ Das hat auch Tocqueville deutlich gesehen, indem er in Amerika eben nicht nur Europas Zukunft sah, sondern ,,zugleich das Erbe Europas". lv1~ Das fiir die amerikanische Staatsverfassung so wichfge Repr;,isentationsprinzip konnte nicht ,,europ~ischer" sein: Entsprechend feierlich vermerkte Madison im 14. Federalist-Artikel, dass die Amerikaner ,,[dem] Europa [der Moderne]" das ,,wichtige Prinzip der Repriisentation" zu ,,verdanken" hiitten. 1711 Die amerikanische Nationsvorstellung fusste nun auf zwei verschiedenen kulturellen Grundmustern, auf der Vorstellung, das ,,wahre, unverf~ilschte" England zu sein und sich von einer Korrumpierung angelsiichsischer Freiheit im britischen Mutterland zu befreien oder auf einer erweiterten Vorstellung, im Sinne einer nationalen Mission der gesamten europiiischen Uberlieferung der Freiheit eine stabile politische Ordnung anheimzugeben und als Nation die lang ersehnte Realisierung und Verteidigung einer genuin europiiischen und christlichen Freiheitstradition zu artikulieren; einer Freiheitstradition, die in den real existierenden Ordnungen der Alten Welt keine dauerhafte, stabile F o r m gewinnen konnten: Human#as, Christian#as, Libertas Ameticanum. Was die allgemeinen Sitten und Gebriiuche betrifft, sollte der Betrachter sich die europiiische Eigentiimlichkeit amerikanischer Verhaltensweisen vor Augen ffihren, die trotz Modifikationen bis heute in den USA vorherrschen, bevor er der Versuchung unterliegt, eine zivilisationstheoretische Scheidung zwischen einer exzeptionellen ,,amerikanischen Zivilisation" und einer angeblich ganz anders gearteten ,,europ~iischen Zivilisation" vorzunehmen. U m an eini-
1705Die Tradition geht auf den katholisch-amerikanischen Reformer Isaac Hecker zurfick (vgl. Felipe FernfindezArmesto, Ideasthat changedthe world,New York 2003, S. 336). 1706Angela und Willi Paul Adams, EinMtung, in: Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikd Politische Theorie und Verfassungskommentarder amerikanischen G~'nderva'ter, hg. von Angela und Willi Paul Adams, Paderborn u.a. 1994, S. xlix. 1707Ebd., S. lviii. 17o8vgl. ebd., S. xlix-1. 1709Vgl. ebd., S. 1. 1710So z.B. Ernst Nolte, Deutschlandund der Kalte Kriee~Mfinchen 1974, S. 94. Vgl. Alexis Clerel de Tocqueville, Dee Demokratie in Amerika. Fine Auswahl, lag. v. Friedrich August Frhr. yon der Hey&e, Regensburg 1955, S. 64. 1711 Vgl. Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Dee Uederalist-Artikel. PolitischeTheorieund Verfassungskommentar der amedkanischenG~'ndervYter,hg. yon Angela und Willi Paul Adams, Paderborn u.a. 1994, Artikel 14, S. 75.
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gen Beispielen plastisch zu verdeutlichen, was gemeint ist: Amerika und Europa unterscheiden sich in Sitten und Gebriiuchen von anderen Zivilisationen z.B. dadurch, -
dassdort grundsiitzlich der Sonntag als Ruhetag gilt und dass Menschen an Sonntagen Messen besuchen ( in Amerika inzwischen stiirker als in Europa) dass grundsiitzlich beim Mittagstisch mit Messer und Gabel gegessen wird und nut im Falle des modemen Fastfood eine Ausnahme gemacht wird dass sich der alltiiglicheKleidungsstilzwischen Amerika und Europa gleicht und sich stark vom alltiiglichen Kleidungsstil anderer Zivilisationenunterscheidet (allerdingsinzwischen mit zunehmender Ausnahme bei der stiidtisch aufgewachsenenWeltjugendin aui3erwestlichenErdteilen).
Amerika und GroBbritannien unterscheiden sich als K e m r a u m von der ,,atlantischen" und von anderen Zivilisationen indes im Besonderen dadurch, dass dort grundsiitzlich Englisch gesprochen wird oder landauf, landab in Theatern und Schulauffiihrungen William Shakespeare und J o h n Milton gespielt wird. Z u d e m kann die Tatsache, dass die Amerikaner theoretisch nicht (und schon gar nicht faktisch) versuchten, sich agitatorisch in innerenglische Belange einzumischen, um dazu beizutragen, den K6nig zu stiirzen bzw. das Parlament zu entmachten oder gar England dutch amerikanische Fiihrung (geistiger oder personeller Art) zu ,,befreien", als historisch zwingender Beweis dafiir angesehen werden, dass sich die Amerikaner nicht als neues, ,,wahres England" verstanden und verstehen. Das einzige angelsiichsische N ationalkriterium, dass iiberhaupt nicht (oder nur ganz marginal) relativiert wurde, war also die englische Sprache. Diese anglistische Beschriinkung kann allerdings auf der Basis des neuenglischen Charakters der ,,Proto-USA" als eine praktisch naheliegende Zustimmung und technische Vereinbarung der spiiteren Generationen angesehen werden. Insbesondere der mit dem amerikanischen Nationalbewusstein einhergehende ve~assungsstaatliche Institutionalismus bezieht sich indes kulturhistorisch betrachtet auf Errungenschaften gesamteuropa'ischen Denkens. Wir haben also, k6nnte man scherzhaft hinzufiigen, unseren europ{iischen Bundesstaat schon einmal gehabt, in gewisser Weise sogar schon den gesamteuropiiischen Nationalstaat: in den USA des 19. Jahrhunderts. In diesem Verstiindnis kann Carlton j. Hayes, dem Priisidenten der American Historical Association nut beigepflichtet werden, als er in einem aufsehenerregenden Aufsatz 1946 klarmachte, dass die radikale Dichotomie zwischen ,,Alter Welt" und ,,Neuer Welt", die seit dem Frontier-Gedanken Ende des 19. J ahrhunderts starken Einfluss auf das amerikanische Selbstverstiindnis ausiibte, ein grol3es Problem nicht nur fiir die Europiier, sondern auch fiir die Amerikaner darstellt: ,,This dichotomy in our thinking is the result, let me repeat, of ignorance, of self-centered absorption in local or sectional concerns, and of nationalist propaganda. It is unrealistic, contrary to basic historical facts, and highly dangerous for our country at the present and in the future. ''1712 Eine generelle These gegen die Realitiit eines europiiisch gebundenen amerikanischen Kulturalismus lautet in zugespitzter Form, Amerika sei projektiv ein kulturelles N e u t r u m und entwickelte sich zu einem ganz neuartigen N a f o n s p r o j e k t ohne jegliche kulturelle Inklusionen. Amerika repriisentiere einen reinen Vernunftuniversalismus und vollzieht eine widerspriichlich anmutende Verkniipfung zwischen Volkssouveriinitiit und kultureller Neutralitiit: Amerika das sei nicht nur politisch, sondern auch kulturell eine ,,New Nation".
lv,2 Carlton J.H. Hayes, The American Frontier- Frontierof What?, in: The American Historical Review, Bd. LI (1945/46), S. 199-216, 203.
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Kapitel IX
Ein grundsiitzliche Problem dieser Betrachtung liegt m der Ausblendung der historischen Tatsache, dass die Etablierung der amerikanischen F6deration in der gesamten Weltgeschichte iiberhaupt die erste punktuelle Ausdrucksform des (postulierten) Prinzips nationaler Selbstbestimmung eines gesamten ,,Volkes" in einem groBfl~ichigen Lande war, wobei sich das ,,Volk" (,,The American People") auch in Nordamerika in erster Lime kulturell defmierte. 1713 Die Nationalstaatsidee mit der Idee des Selbstbestimmungsrechtes eines groBen, sich selbst kulmrell begreifenden Nationsvolkes zu v e r b i n d e n - diese Idee wurde interessanterweise in den USA iiberhaupt erst praktisch geboren. Die amerikanischen Revolutioniire als Repr~isentanten des ,,Volkes" erhoben dabei ihren Selbstbehauptungswillen zun~ichst einmal nicht aus einem Individualismus oder 'freiheitlichen Konstitutionalismus heraus, sondern aus einem reinen Souveriinit~itsstreben lv14, ohne jedoch dabei in irgendeiner Weise eine kulturell angels~ichsisch zentrierte Eigendefmition abwehren zu wollen. Das besondere war in der Tat, dass sich die Amerikaner als ,,souver~ine Nation" nicht gegen eine fremde Kultur konstituierten, sondern sich von Grogbritannien aus rein antikolonialistischen Grtinden lossagen wollten, lv15 Dennoch konnte die Unabhiingigkeit nut unter Betonung einer nationalkulturellen Einheit erreicht w e r d e n und diese war in den Vereinigten Staaten von einer angels~ichsischen Eigendefmition abh~ingig. Und genau hier setzt das Problem an, dass besteht, wenn wir von einer ,,New Nation" im Sinne einer Nation sprechen, welche sich im Vergleich zu ,,vorhergehenden" selbstbestimmungsbasierten Konstituierungen, also unter Bezugnahme auf ein gesamtes ,,Volk" (people) ,,erstmals" nicht kulturell konstituiert habe. Das trifft gleich in zweierlei Hinsicht nicht zu. Zum einen ist noch einmal festzuhalten, dass es diese ,,vorhergehenden" selbstbestimmungsbasierten Konstituierungen ja iiberhaupt gar nicht gegeben h a t - alle vorhergehenden Nationalstaatskonstituierungen waren nicht selbstbestimmungsbasiert, sondern monarchisch angeordnet und durchgesetzt. Hier machten also die Amerikaner iiberhaupt den Anfang. Zum anderen wurde die kulturelle Eigendefmition des sich selbst als ,,Nation" konstituierenden Volkes in den repriisentativen Griindungsdokumenten u n d - p a p i e r e n eindeutig festgeschrieben. Die ,,kulturelle" Selbstbeschreibung kennzeichnete das ,,amerikanische" Volk in seinen Sitten und Gebr~iuchen bewusst als gutes britisches, wenn nicht gutes ,,europ~iisches" Volk. Es gait nut nunmehr festzuschreiben, dass dieses britischeurop~iische Volk sich regional selbst in Freiheit regieren und verwalte wollte. Da der britische K6nig nicht dabei half, dass dieses f/_ir die Kolonisten lebenswichtige und ihre Freiheit symbolisierende politische Subsidiaritiitsprinzip verwirklicht wurde, waren sie am Ende gezwungen, sich vom britischen K6nigtum loszusagen, i.e. ein politisches System ganz neu zu erfmden, und sich als Nation auf den gegebenen kulturellen Grundlagen des in Amerika lebenden europ~iischen ,,Volkes", aber eben neuerdings auf den Grundlagen eines ,,Volkes", zu konstituieren. Damit wurden die U S A der erste moderne, kulturell lokalisierbare Nationalstaat, der sich vollends auf das ,,Volk" berfef. Mit der Existenz der USA kommt es also iiberhaupt erst zur Idee der Selbstbestimmung eines sich als Nation konstituierenden Volkes und zugleich zur Anwendung dieser Idee - jener Idee, die sp~iter in Frankreich beim Abb6 Siey&s gegen eine bereits bestehende herrschende KJasse von ,,volksfremden" Unterdriickern angewendet werden sollte. Die Unterschiede zwischen amerikanischem und franz6sischem Nationsmodell bestanden dabei zuniichst (nur) in folgenden Punkten:
1713Vgl. Yehoshua Arieli, Individualismand Nationalism in AmerfcanIdeology,Cambridge(Mass.) 1964, S. 1. 1714Vgl. Dick Howard, Die GrundlegungderamerfkanischenDemokralie,Frankfurt a.M. 2001, S. 29. i715Vgl. DanielJ. Boorstin, The GeniusofAmerican Politics,Chicago / London 1953, S. 70ft.
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der UnterdrCicker als Volksgegner und ,,Nationsfeind" in Personalunion war in den USA riiumlich viel weiter entfemt als in Frankreich. Die Loyalisten galten demgemiil3 als die Agenten eines anderen Staates, wiihrend die Monarchisten in Frankreich einen inneren Feind darstellten, damit viel stiirker als potentielle B/irgerk_riegspartei wahrgenommen werden mussten.1716 die bereits bestehende UnterdrCickung war in Frankreich eine eindeutig ,,innere" Angelegenheit, wiihrend in den USA die Trennlinie zwischen ,,Innen" und ,,Aul3en" schwer zu ziehen ist. der ,,volksfremde" und damit nationsfremde UnterdrCicker war in den USA der britische Parlamentarier (noch mehr als der K6nig) und damit weit weniger oppressiv als der Erste und der Zweite Stand im noch nahezu feudal organisierten ,,Ancien R ~ r n e " in Frankreich.
Die U n t e r s c h i e d e w a r e n jedoch wichtig genug, u m in B e z u g a u f den N a t i o n a l i s m u s im weiteren V e r l a u f der G e s c h i c h t e durchaus zwei ganz v e r s c h i e d e n e E n t w i c k l u n g e n in G a n g zu setzen. 1717 In V e r b i n d u n g mit d e m i m m e r stS_rker national i i b e r h 6 h t e n amerikanischen Individualismus u n d damit e i n h e r g e h e n d e m Staatsskeptizismus 1718 hatten wir es in A m e r i k a primiir mit einer eigentiimlich nationalfreiheitlichen 1719 E n t w i c k l u n g zu tun, in F r a n k r e i c h u n d E u r o p a indes z u n e h m e n d mit einer primiir nationaletatistischen (bzw. ,,souveriinistischen") u n d nationalistisch-v611dschen (bzw. f6derativen ,,reichs- oder volksnationalen") E n t w i c k l u n g , die sich w i e d e r u m z.T. mit der nationaletatistischen (z.B. in Siidosteuropa) o d e r (allerdings lange Zeit erfolglos) mit der nationalfreiheitlichen, republikanischen Tradition (z.B. in P o l e n 172~ z.T. in G r i e c h e n l a n d , Italien u n d Siidosteuropa) verband. F e s t z u h a l t e n ist abet, dass die Idee der nationalen S e l b s t b e s t i m m u n g eines Volkes gegen f r e m d e U n t e r d r i i c k u n g zuniichst einmal eine amerikanische E r f m d u n g war. D a s , , N e u e " in den U S A b e s t a n d nicht in der kulturellen N e u t ralitiit der g e s c h a f f e n e n Nationalstaatlichkeit, s o n d e m in der Schaffung der Nationalstaatlichkeit a u f der Basis der Idee eines freien u n d gleichen Volkes, dass sich n u n allerdings nicht m e h r als ,,Blutsvolk", s o n d e m als ,,Biirgerschaft" defmierte. D e n n o c h ist es wichtig, die amerikanische B e s o n d e r h e i t zu b e s c h r e i b e n u n d zu erkliiren. Spiitestens bei der Erkliirung wird deutlich, dass kulturelle Realitiiten in den U S A in der T a t graduell ein anderes G e w i c h t hatten u n d h a b e n als in Frankreich u n d im U n t e r s c h i e d zu spiketen, ,,franz6sisch inspirierten" Nationalstaatsgriindungen u n d - b e s t r e b u n g e n in E u r o p a . Z u letzteren g e h 6 r e n auch (paradoxerweise) die sich explizit gegen die franz6sischen F r e m d b e s a t z u n g d e f m i e r e n d e n v61kischen N a t i o n a l b e w e g u n g e n , i n s b e s o n d e r e die deutsche, welche durch die antifranz6sische W e n d u n g den stiirksten partikularistischen Charakter g e w a n n u n d zu einem n e u e n (eben ,,v61kischen") Paradigma fiir den g e s a m t e n mittel-, ost- u n d siidosteuropiiischen R a u m aufsteigen sollte. 1716 Entsprechend vers6hnlich gingen die siegreichen, amerikanischen Revolution{ire mit loyalistischen Kapimlanten und r/ickkehrwilligen Exilanten der Loyalistenfraktion urn. 1717Vgl. im Ansatz Hans Vorliinder, ,,American Creed'; liberale Tradition undpolitische Kultur der USA, in: Franz Grel3 / Hans Vorliinder (Hg.), Iaberale Demokratie in Europa und den USA. Festschriftfiir Kurt I~ Shell, Frankfurt a.M. / New York 1990, S. 11-33, 18. 1718In Amerika speiste sich aus der Idee der individuellen Selbstbestimmung sogar ziemlich frCih die Idee bestimmter Minderheiten, fiber sich hinauszuwachsen und nationale ,,Souveriinitiiten", auch die amerikanische, als ,,kollektiven Glaubensgrundsatz" bzw. ,,soziales" und ,,/iberindividuelles" Bewusstsein in Frage zu stellen (vgl. Yehoshua Arieli, Individualism and Nationalism in American Ideology, Cambridge (Mass.) 1964, S. 169). Paradoxerweise wurde jedoch der universale Individualismus, aus dem jeglicher Nationsskeptizismus entspringt, zu einem der wichtigsten nationalen Symbole und Bewusstseinsinhalte der amerikanischen Nation selbst, insbesondere nach dem B~rgerk_rieg 1861-1865 (vgl. ebd., S. 344ff.). Eine erweiterte nationale Identitiitsstiftung unter Hinzunahme eines ,,sozialen" Kollektivbegriffs einerseits und eines ,,kulmrellen" andererseits erfolgte schliei3lich im 20. Jahrhundert: Zum einen dutch das ,,Progressive Movement", zum anderen dutch Theodor Roosevelts ,,New Nationalism" (vgl. ebd., S. 346f.). 1719Als Paradebeispiel der nationalfreiheitlichen Linie kann gelten: Daniel J. Boorstin, The Genius 9fAmerican Politics, Chicago / London 1953. 1720Vgl. zu Polen auch Ernst Nolte, DeutschlandundderKalte Krieeo M~nchen 1974, S. 167-172.
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Kapitel IX
Bei allen vorgestellten Nationsverstiindnissen handelt es sich d e n n o c h u m lediglich graduell unterschiedliche Konzepte. Alle vorgestellten Nationalideen haben einen gleichartigen partikularen Selbstbestimmungscharakter im Sinne der E r f m d u n g einer nationalen Homogenitiit auf der Basis kultureller Gemeinsamkeiten. Ist der Nationalstaatsgedanke in den USA jedoch am stiirksten mit der Idee eines ,,menschenrechtlichen" Individualismus u n d Menschenrechtsuniversalismus verbunden, so ist in Frankreich die Idee des ,,sittlich inspirierten, zivilisierten" Edelvolkes u n d in Mittel- u n d O s t e u r o p a die Idee des qua N a t u r u n d ,,Ursprung" zur Selbstb e s t i m m u n g berechtigten A b s t a m m u n g s v o l k e s am st~irksten mit der Nationalstaatsidee verkoppelt. D o c h so wie in Frankreich u n d auch in D e u t s c h l a n d (hier insbesondere bei Herder) die Selbstbestimmung als ein Ausfluss des ebenso akzeptierten u n d gutgeheiBenen M e n s c h e n rechtsuniversalismus (bzw. bei H e r d e r der ,,Humanit5t") angesehen wurde u n d die selbstbesthnmungsbasierte Nationalstaatsidee eine Frucht der m e n s c h e n r e c h t s p o s t u l i e r e n d e n Aufldiirung war, so vollzog sich in den USA u m g e k e h r t die nationale Konstituierung nicht im luftleeren, im ,,kultur- oder volksleeren" Raum. D a h e r manifestierte sich in den USA das B e s o n d e r e eben nicht als Multikulturalismus im Sinne eines ,,hybriden" Interkulturalismus (oder Mischkulturalismus), s o n d e m im Sinne eines ,,kulturellen Pluralismus" unter d e m D a c h einer urspriinglich europiiisch gepriigten Staatsbiirgernation mit zivilisatorischer Strahlkraft u n d unter A n e r k e n n u n g einer selbstverstiindlich propagierten nationalen Kultur. A n letztere werden alle E i n w o h n e r einer N a t i o n fiber die Schulpflicht gebunden. Die A c h t u n g der individuellen Kultur eines jeden Einzelnen bleibt dessen ungeachtet natiirlich diesem selbst iiberlassen, solange er die Rechte Dritter qua kultureller Selbstartikulation nicht verletzt. D e r kanadische Philosoph Will Kymlicka hat in seinen Arbeiten auf den ~iuBerst wichtigen P u n k t hingewiesen, was die Pflege einer stabilen nationalen Kultur der a u t o c h t h o n e n Mehrheit in freiheitlichen O r d n u n g e n auszeichnet: Die Verbindung v o n gesellschaftlich u n d politisch lebenswichtigen Bindungen innerhalb dieser O r d n u n g e n mit einem Ha'chstmajY an individueller F r e i h e i t - in nationsvergessenen Diskursen wird das h~iufig iibersehen. Was ist mit der Verbindung ,,Integration u n d Freiheit vermittels starker u n d selbstbewusster nationaler K u l m r " gemeint? Es bietet sich an, Will Kymlicka fiir diese linke Variante der I
1721Will Kymlicka, Multikulturalismus und Demokratie. UberMinderheiten in Staaten und Nationen, Frankfurt a.M. 2000, S. 74f.
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den USA statt des iiberlieferten Begriffs u n d K o n z e p t s des ,,melting pots ''1722 im Sinne emes culturalpluralism (Amerika als ,,Gottes Schmelztiegel") 1723 das des ,,Patchwork Quilt" favorisieren 1724, irn Sinne v o n ,,E pluribus plures" statt ,,E pluribus unum. ''1725 Das iiberlieferte K o n zept des culturalpluralism 1726 oder des amerikanischen ,,Kaleidoskops ''1727 bestreitet zwar eine kulturelle Homogenitiit Amerikas, betont aber stattdessen eben nicht die Mischung der Kulturen. Das (im Grol3en u n d G a n z e n iiul3erst friedliche) N e b e n e i n a n d e r kultureller G r u p p e n , die sich im wesentlich ethnisch, rassisch oder religi6s defmieren, soil im privaten R a u m nicht angetastet werden, aber im 6ffentlichen R a u m ist ein Mares Bekenntnis - w e n n nicht zur ,,Nation" so wenigstens z u m euro-atlantischen Zivilisationsraum in einer stabilisierenden Weise vonn6ten. Das Bekenntnis hat dabei selbstverstS_ndlich der Tatsache R e c h n u n g zu tragen, dass dieser Zivilisationsraum v o n den euro-atlantischen u n d b e s t i m m t e n nationalen Kulmrprinzipien nicht so ohne weiteres abl6sbar ist, was in den USA spiitestens in der N u t z u n g der Amtssprache deutlich z u m Ausdruck k o m m t . 1728 Wird diesem Aspekt nicht R e c h n u n g getragen, besteht die Gefahr der E n t f r e m d u n g der a u t o c h t h o n e n Bev61kerungen, z.B. der zahlenmiiBig weiterhin b e h e r r s c h e n d e n weiBen Bev61kerung (fiber 80 P r o z e n t 1729) in den USA. Weil3e A m e rikaner wiirden sich i m m e r stiirker v o n dieser Abart des traditionellen Amerikanismus abwenden, wie es schon jetzt in konservativen Bewegungen zu b e o b a c h t e n ist. Die Folge k 6 n n t e ein entsprechend neuartiges Stabilitiitsdefizit und auch eme E n t f r e m d u n g der Mehrheiten v o n den geistig-kulmrellen G r u n d l a g e n und Voraussetzungen der Freiheit im Lande sein. 173~ Diese ,,Freiheit im L a n d e " indes ist an sich, w i e kritisch angemerkt w e r d e n k6nnte, in der Tat ein historisches Unikat, weil es grundsiitzlich an alle Menschen gerichtet ist. Es lebt aber d e n n o c h v o n kultureilen Voraussetzungen und zugleich davon, dass diese in N o r d a m e r i k a regelmiiBig symbolisch inszeniert werden. 1731 N u t unter dieser wichtigen Einschr~inkung sollte die amerikanische Besonderheit gesehen werden, die in der Tat darin besteht, dass die amerikanische Geseilschaft v o n Anfang an als ,,unique, absolutely different from all the historic societies 'q732 im folgenden Sinne beschrieben werden konnte: ,,Only here had the universal rights of m a n been translated into a living reality. ''1733 D e r Einzelne hat dabei im R a h m e n der iiberlieferten Freiheit also durchaus das Recht u n d die Freiheit, ,,sich in u n d zwischen diesen G r u p p e n zu bewegen u n d seine pers6nliche Identit~it zu b e s t i m m e n " , was zugleich als das ,,Ideal des amerikanischen kultureilen Pluralismus" be-
1722 Vgl. als Ursprungsquelle Jean de Cr&vecoeur, Lettres d'un cultiva/eur amgricain (1784), ND Paris/Genf 1979., S. 13-46, insbsd. S. 35. Vgl. auch Y-clausHarpprecht, Derfremde Freund. Amerika - Eine innere Geschichle, Stuttgart 1982, S. 39. t723Israel Zangwill, The Melting Pot. Drama in FourActs, 2. Aufl., London 1914. 1724Vgl. Austin Ranney, Pol#ics in the United States, in: Gabriel A. Almond u.a. (Hg.), Comparative Politics Today. A World View, 8. Aufl., New York City u.a. 2004, S. 743-786, 753; Hans Vorliinder/Dietrich Hermann (Hg.), Nationale Identita't
und Staatsb~rgerschaft in den USA. Der Kampf um Einwanderun2~ Biirgerrechte und Bildung in einer multikulturellen Gesells&aft,
Opladen 2001, S. 13. 1725Vgl. Hans Vorliinder / Dietrich Hermann (Hg.), Nationale Identitd't und Staatsbiirgerschaft in den USA. Der Kampf um Einwanderun~ Biirgerre&te und Bildung in einer multikulturellen Gesellschaft, Opladen 2001, S. 16. 1726Vgl. Horace Mayer Kallen, Cultural Pluralism and the American Idea. A n Essay in Sodal Philosophy, Philadelphia 1956; Ders., Culture and Democraf7 in the United States. Studies in the Group Psychology of the American Peoples, New York 1924. 1727Vgl. Lawrence H. Fuchs, The American Kaleidoscope: Race, Ethnicity, and the Civic Culture, Hanover/London 1990. 1728Vgl. Willi Paul Adams, Die USA vor 1900, MCinchen 1999, S. 16. 1729Daten von 1990 nach Angeben des Washingtoner Bureau of the Census, vgl. Austin Ranney, Politics in the United State J, Gabriel A. Almond u.a. (Hg.), Comparative Politics Today. A World View, 8. Aufl., New York City u.a. 2004, S. 743786, 747. 1730 Vgl. Arthur Jr. Schlesinger, The Disuniting of America. Reflections qf a Multicultural Society, New York 1992. 1731Vgl. Daniel J. Boorstin, The Genius of American Politics, Chicago / London 1953. 1732Yehoshua Arieli, Individualism and Nationalism in American Ideology, Cambridge (Mass.) 1964, S. 78. 1733Ebd., S. 79.
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z e i c h n e t wird. 1734 Dieser pluralistische Charakter auf der gesellschaftlichen Ebene steht aber
einer monokulturalistischen Variante auf der politisch-6ffentlichen Ebene gegeniiber. Kulturelle und auch religi6se Gruppenrechte diirfen nicht auf staatlicher Ebene, z.B. auch auf 6ffentlichen Schulen oder Universitiiten, geltend gemacht werden, wiihrend jedoch an einer angelsiichsisch-christlich orientierten Symbolik in der amerikanischen Zivilreligion festgehalten wird. Die seit den siebziger Jahren im Rahmen der sich vollziehenden Kulturrevolution yon links aktivierten Gegner dieses Modells, die sowohl in Amerika als auch in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, das ,,patchwork quilt" favorisieren, bezeichneten sich indes als ,,Multikulturalisten".1735 Damit haben sie den urspriinglich aus Kanada stammenden Begriff des Multikulturalismus im Sinne eines ,,Nebeneinanderlebens" usurpiert und ihn im Sinne eines 6ffentlichen Kultumeutralismus, unter weitest gehender F6rderung eines ,,hybriden" Mischkulturalismus und einer auf das gesellschaftliche Zusammenleben bezogenen Antidiskrimimerungspolitik und -rhetorik, umgewandelt. 1736 Entscheidender Ausgangspunkt des klassischen Multikulturalismus indes ist der strikte kulturelle Neutralismus und die rigide Zuriickhaltung des Staates in kulturellen Fragen, so wie es sich allerdings in keinem westlichen Nationalstaat findet, nicht einmal in Kanada oder in den USA. Die Einheitskultur in den USA ist z.B. nicht nut eine Resultante multikulturellen Zusammenlebens, sondem entspringt einer kulturell zentrierten Wertevorgabe. Sogar der strikteste Werteneutralismus eines Staates in Bezug auf Kulturen und Religionen ist yon kulturellen und kulturhistorischen Voraussetzungen abhiingig, die eindeutig yon monokultureller Bauart sind. 1737 Die Abh~ingigkeit besteht erst recht in liberalen Gemeinwesen, welche den Neutralismus zugleich an unumst6131iche Verfassungswerte binden. Diese Verfassungswerte an sich sind mit bestimmten kulturellen Positionierungen aul3erwestlicher Provenienz nicht vereinbar, was zeigt, dass diese Grundwerte selbst einen h6chst kulturellen Eigenanteil besitzen.
5. Das H e r a u f k o m m e n des europ~iischen Totalitarismus zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert 5.1 Die gnostische Verkorrumpierung der westlichen Entwicklung im Hochzeitalter der Ideologien
Bei den Kxiegen des 20. J ahrhunderts handelte es sich, aufgrund ihres ideologischen Gehalts im nachrevolutioniiren Zeitalter, um ,,Weltbiirgerkriege": Die Ideologien gingen also von Derivaten der Ideen von 1789 aus, die ja wiederum ein Kernelement auch der ,,Atlantischen Revolution" darstellten. Die Derivate bestanden aus der faschistischen, nationalsozialistischen und marxistisch-leninistischen Ideologie, welcher der ,,Atlantischen Zivilisation" entgegenstanden. Das 19. Jahrhundert war ein Vorlauf des Kriegsausbruchs zwischen den Ideologien. Diese wurden dabei bis 1922 auf vier Tr~igerriiume/-nationen iibertragen: erstens Westeuropa/USA,
1734In Anlehnung an Horace Kallen: Willi Paul Adams, Die USA vor 1900, M/inchen 1999, S. 16 (vgl. Horace Mayer Kellen, Cultural Pluralism and the American Idea. An Essay in Social Philosophy, Philadelphia 1956). 1735Vgl. z.B. Daniel Cohn-Bendit / Thomas Schmid, Heimat Babylon. Das Wagnis der multikulturellen Demokratie, Hamburg 1992; gemiiBigt ,,antinational" Dieter Obernd6rfer, Die offene Republik. Zur Zukunft Deutschlands und Europas, Freiburg i.Br. 1991; radikal ,,antinational": Mark Terkessidis, Kulturkampf Volk, Nation, der Westen und die Neue Rechte, K61n 1995. 1736Vgl. in Bezug auf die USA: Willi Paul Adams, Die USA vor 1900, M~nchen 1999, S. 16. 1737Vgl. Charles Taylor, Mullikulturalismus und die Politik der Anerkennuneo Frankfurt a.M. 1997. Vgl. ferner Volker Kronenberg, Integration in Zeiten des Wanddr. Zuwanderung und demographische Krise als gesellschaft~olitische Herausforderungen, in: Zeitschrift f/ir Politik 2/2005, S. 169-178, 174f.
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zweitens Deutschland, Italien, Mittel- u n d Osteuropa, dr#tens das sowjetisierte (also v611ig ,,unrussische") Russland und viertens die Triigerraume der v o r m o d e r n e n Gegenrevolution: im Osten das nicht-sowjetisierte, ,,weiBe" Russland, das seit der Idee der Panorthodoxie, des ,,Dritten R o m s " und des religi6s gepriigten Panslawismus offensiv eingestellt ist (wirksam bis zum E n d e des russischen Biirgekrieges 1922), und im Westen das rein defensive, katholische Spanien (wirksam bis zur A b d a n k u n g Francos 1976). Seit 1922 kam es auf dieser Basies zu einem neuen ideologischen K_riiftefeld: W e s t e u r o p a repriisentierte n u n m e h r das aristokratisch-freiheitliche, das repr~isentativ-demokratische oder das konstitutionelle Prinzip, D e u t s c h l a n d das nationalsozialistische, Italien das faschistische, und die Sowjetunion das marxistisch-leninistische. Die marxistisch-leninistische Ideologie wurde Russland 1917 (-1989) v o n atfl3en aufgezwungen. Die nationalsozialistisch-radikalfaschistische Ideologie setzte s i c h - nach der Machtergreifung des Faschismus 1922 in I t a l i e n - 1933 m Deutschland und 1938 in Osterreich durch, gefolgt von den Faschisten in der Slowakei und Ungarn. Die vormoderne Gegenrevolution fand n u r m e h r im francistischen Spanien (bis 1976) u n d - zwischenz e i t l i c h - im nationalistisch-katholischen Polen der zwanziger Jahre statt. Die freiheitlich-at~stokratische Tradition der ,,atlantischen Revolution" (die aristokratische Revolution) wurde also getragen v o n den ,,westlichen Nationen", insbesondere den USA u n d Grol3britannien, seit 1875 auch von Frankreich u n d - z.T. sehr k i i n s t l i c h - seit 1918 v o n den ostmitteleuropiiischen Staaten. Sie spaltete sich, ausgehend v o n Frankreich, zwischenzeitlich in eine entfremdet imperialistische, z.T. rassistische (USA 1898-1921, Grol3britannien, Frankreich), in eine isolationistische und partikularistische (USA v o n 1796-1812, 1815-1854, 1870-1898, 1921411738) sowie schliel31ich in eine gemiil3igte neoatlantisch-westliche ( U S A spiitestens seit 1941)Linie auf. A m E n d e miindete sie unter Einbeziehung Nord-, West-, Siideuropas, Deut schl ands u n d der USA in die neoatlantisch-antikommunistische bzw. neoatlantische Tradition im Zeitalter des Kalten Krieges ein (1947-1989). Das kaiserliche D e u t s c h l a n d vor 1918 geh6rte zivilisatorisch (im morphol ogi schanthropologischen Sinne) zum , , W e s t e n " dazu 1739, entwickelte sich aber aus geopolitischen, wirtschaftlichen und geopsychologischen Griinden zum erkliirten kulturalistischen Feind des angelsiichsischen ,,atlantischen Systems ''174~ indem es best ehende groge kulturelle Unterschielv3a Allerdings ist der Begriff des ,,Isolationismus" durchaus relativierungsbed/irftig; es ist besser, vom ,,formalen Isolationismus" zu sprechen (vgl. Willi Paul Adams, Die USA im 20. Jahrhundert, M/inchen 2000, S. 50f.). Vgl. insgesamt William Appleman Williams, The Legend ~Isolalionism in the 1920s, in: Science and Society 18 (1954), S. 1-20; Klaus Schwabe, Der ametikanische Isolationismusim 20. Jahrhundert. Legendeund Wirklichkeit, Wiesbaden 1975. 1739Bemerkenswert erscheint auch die Tatsache, dass es in der Geschichte nicht nur kontinentaleuropiiische AnsprCiche auf die Kaiserw/irde gab. Grol3britanniens ,,Empire "-I dee ist insbesondere in der Zeit der Smarts und dann erst recht in der Zeit des Puritanismus (,,ein anderes Rom im Westen") von Vorstellungen einer britischen Form der Kaiserw/irde nicht zu trennen (vgl. Adolf Rein, ([Tberdie Bedeutung der #ber,eeischenAusdehnung,/~r das europa'ischeStaaten-System. Ein Be#rag wrBildungs-Geschichte des Welt-Staaten-Systems,in: Historische Zeitschrift 137, 1928, S. 28-90, 50 und 54-58). lv40Vgl. Forrest Davis, The Atlantic" System. The Sto{7 ofAnglo-American Controlof the Seas, New York 1941. Forrest Davis nahm diese Ideologie auf und entavarf (freilich zu Kriegszeiten) eine Gegenideologie, niirnlich einen ,,Anti-NaziAtlantizismus", den er zugleich in einem geschichtsphilosophischen Antideutschtumszusammenhang brachte, indem er in naiver Weise den Nationalsozialismus (dessen ,,Ordnungscharakter" er schon richtig als rassisch-hierarchischen charakterisiert) und einen angeblich typisch deutschen Barbarismus, den er wiedemm mit der Kulmralismusideologie gleichsetzte, zusammendachte (vgl. insbesondere S. 329: ,,The Nazi regime is an escape into the primitive barbarism of the German tribes. Opposed to this archaic movement, the spokesmen of an Atlantic world promise a continuation and a betterment of classical, liberal, Christian civilization.") Wiihrend die erste Aussage historisch fragwiirdig ist (was bedeutet in geschichtswissenschaftlicher Hinsicht denn die letztlich rein normativ-agitatorische Losung ,,primitiver Barbarismus" - oder altemativ ,,rassischerdberlegenheit" - in Bezug auf die ,,deutschen Stiimme"?) k_rankt die zweite an einer weiteren historischen Fehleinschiitzung (dass der Nazismus ausschliel3lich eine ,,archaische", und zwar archaisch-germanische Erscheinung gewesen sei) und falschen geschichtsphilosophischen und politischen Schlussfolgemn-
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Kapitel IX
de (d.h. hier v61kischer G e r m a n o z e n t r i s m u s 1741 v e r s u s r a s s e n i d e o l o g i s c h e r Z i v i l i s a t i o n s i m p e rialismus 1742) u n d p o l i t i s c h e U n t e r s c h i e d e (d.h. hier m o n a r c h i s c h - p r e u l 3 i s c h e r v e r s u s r e p u b l i k a n i s c h - p r a g m a t i s c h e r K o n s e r v a t i v i s m u s ) i i b e r b e t o n t e u n d zu zivilisatorischen U n t e r s c h i e d e n e r h o b bzw. grundsiitzlich die E x i s t e n z des , , W e s t e n s " aus n a t i o n a l i s t i s c h e n G r i i n d e n ad a b s u r d u m ffihrte. 1743 D u t c h die I d e o l o g i s i e r u n g k a m es zu einer v e r m i t t e l t e n E n t n a u o n a l i s i e r u n g des militiiris c h e n K a m p f e s u n d der A b l 6 s u n g der , , N a t i o n " o d e r des , , V o l k e s " als einzige Triiger des K a m p f e s d u r c h das B l u t s v o l k (die Rasse), die p o l i t i s c h e F r e i h e i t ( v o n d e r I d e e der , , M e n s c h lichkeit" bis zur I d e e der Zivilisation), o d e r d u r c h die ,,I<2lasse" u n d die ,,ewige Freiheit". A m E n d e der k o n t i n e n t a l e u r o p S . i s c h e n E n t w i c k l u n g s t a n d der T o t a l i t a r i s m u s als ein ,,Resultat zivilisatorischer S e l b s t z e r s t 6 r u n g ''1744, wie es H e n n i n g s e n f o r m u l i e r t , o d e r - n a c h V o e g e l i n als eine g n o s t i s c h e V e r k o r r u m p i e r u n g des Zivilisatorischen. A u s dieser Sichtweise k o m m t es,
gen: dass die ,,westliche Zivilisation", wie sie sich sp{itestens nach 800 n.Chr, einige Jahre nach der Christianisierung der Germanen gebildet hatte, wozu neben den Skandinaviern, Goten und Vandalen im Norden und den Teutonen also Franken, Alemannen, Bajuwaren, Burgunder und Friesen - im Westen, die (teutonischen) Angeln, Sachsen und J/iten Britanniens ja bekanntlich dazugeh6rten, politisch nut als ,,nicht-deutsche" oder ,,antideutsche" Zivilisation zu verstehen wiire. Davis' Verstiindnis yon ,,Atlantischer Zivilisation" (den Begriff gebraucht er auf S. 320) ist insofem nichts weiter als antideutsche Kriegspropaganda. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch der Ausspruch ,,there can be no compromise between the Atlantic world and German reaction" (ebd., S. 336) einen sehr laden Beigeschmack, weil in dem Moment, wo Bismarck als angeblicher Wegbereiter eines neuen europiiischen Radikalmonarchismus (vgl. ebd.) mit Hitler politisch gleichgesetzt wird (vgl. ebd.), nicht klar wird, was mit ,,German reaction" eigentlich genau gemeint ist. Fairerweise sei noch darauf verwiesen, dass Davis in einer anderen Textstelle (S. 331) betont, dass ,,the Nazi Cult has been peverting Germany", was der Wirklichkeit wieder niiher kommt. Aul3erdem geh6rt zur ganzen Wahrheit dazu, dass Davis zugleich fiiir eine friedliche Integration Deutschlands in den Westen pliidierte (sehr sch6n ebd., S. 337f.), was allerdings, niihme der Leser Davis' Antideutschtumspropaganda auf S. 329 zum Nennwert, mit der Zerst6rung der ,,deutschen Kultur" hiitte einhergehen m/issen. 1741 Vgl. exemplarisch den Gr/indungsaufruf des Allgemeinen Deutschen Verbandes (sp~iter Alldeutscher Verband), abgedruckt in: Otto Bonhard, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, Leipzig/Berlin 1920, S. 248f. 1742Vgl. exemplarisch Josiah Strong, Our Count{7. Its Possible Future and Its Present Crisis, New York 1885, S. 213f. und 222. Gerade in den Vereinigten Staaten stand dieser Form des Imperialismus jedoch noch ein relativ n/ichtemer machtpolitischer Seemachtsimperialismus (Alfred Th. Mahan, The Interest of American in Sea Power. Present and Future, Boston 1898) und eine These entgegen, die aufgrund der starken Senkung der Zinsen in Europa ffir die USA als wichtigen Anlagemarkt ffr Auslandskapital die finanzielle Notwendigkeit sah, auch imperialistisch zu handeln (vgl. Charles A. Conant, The United States in the Orient. The Nature of the Economic Problem, Boston / New York 1900, S. 29ff.). 1743 Vor diesem Hintergrund scheint es berechtigt, die Existenz des ,,Westens" mindestens im 19. Jahrhundert als solche anzuzweifeln und sie als reinen Kampfbegriff hinzustellen (so z.B. Eberhard Straub, q/erwestlichung' als Erziehung~)rogramm, in: Rainer Zitelmann / Karlheinz Weil3mann / Michael Grol3heim (Hg.), Westbindung. Chancen und RisikenJ~r Deutschland, Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 323-342). Trotzdem ist die Verabsolutierung dieser Argumentation nicht/iberzeugend, da sie den Begriff des Westens nicht essentiell oder geschichtsphilosophisch betrachtet (und in diesem Sinne war der Westen auch politisch eine Wirklichkeit im embryonalen Stadium), es sei denn die Argumentation w~ire materialistisch oder w/irde auf der Vorstellung basieren, das ,,wahre Deutschland" sei wesenhaft kein Teil des ,,Westens". Aul3erdem ist eine Lust an der Provokation in Rechnung zu stellen, die durch die Behauptung, Deutschland und der Westen h{itten in Wir -ldichkeit nichts miteinander gemein, evoziert wird, vielleicht sogar aus guten Grfinden, um bestimmte Argumentationstabus aufzubrechen. Unabh{ingig von der letztgestellten Frage der Motivation gilt es anhand der oben erwiihnten Unterscheidung zwischen denjenigen, die den Begriff des ,,Westens" als historische Wirklichkeit mindestens des 19. Jahrhunderts bestreiten (z.B. Straub) und denjenigen, die ihn selbst oder das, was ihn inhaltlich ausmacht, nicht aus einem/iberschiessenden Normativismus, sondem aus einem genauso ernstzunehmenden Wirklichkeitssinn heraus geschichtsphilosophisch vertreten (z.B. Nolte mit den Begriffen und Deutungen der Begriffe ,,Liberales System", Atlantische Revolution, Industrielle Revolution, Modernisierung, Imperialismus), zu differenzieten. Vgl. zu Nolte: Ernst Nolte, Historische Ex4sten z. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?, M/inchen 1998, S. 497f., abet insbesondere S. 534 (Die ,,philosophische Dimension" k6nne demnach ,,als Durchbruch der praktischen Transzendenz gekennzeichnet werden", also als Durchbruch der Auffassung, ,,in einem System von ,Kulturstaaten' zu leben oder Teil einer Zivilisation zu sein, die den 0bergang in einen andersartigen Zustand der Geschichte, abet nicht in ein ,Jenseits der Geschichte' darstellte."). 1744Manfred Henningsen, Der FallAmerika. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdrdngune$ Mfinchen 1974, S. 216.
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wie schon im vierten Kapitel erliiutert, z u m Aufstieg des m o d e m e n Totalitarismus nur, sobald erkenntnistheoretisches ,,menschliches Fragen" in der Wissenschaft u n d in der Gesellschaft sozialwirksam verboten wird. 1745 ,,Wir sehen die drei groBen Typen sich abzeichnen, fiir die ein menschliches Fragen praktisch unm6glich ist: den sozialistischen Menschen (im Marxschen Sinne), den positivistischen Menschen (im Comteschen Sinne) und den nationalsozialistischen Menschen. "1746 Letzterer, somit genauso wie der Bolschewist ein genumer Bestandteil der westlichen Zivilisationsgeschichte, u n d zwar zu verstehen als Abfallerscheinung in Bezug auf die der westlichen Zivilisationsgeschichte eigenen normativen Voraussetzungen, konnte sich - auf der Basis einer ,,verkrampften, zwiesp~iltigen Natur, deren b6se Triebe dutch keinerlei 15berlieferung religi6shumanit~irer Art ausgeglichen w u r d e n ''174v also n u t z u m kaltbliitigen , , L e o p a r d e n m e n s c h e n " entwickeln. Eine weitere Seite des Problems westlicher Zivilisationsgeschichte nach 1789 war die mit positivistischen S t r 6 m u n g e n einhergehende, rein materialistische Sichtweise historischen Fortschrittes, sei es n u n der materielle Fortschritt aller in Gleichheit (aus linksmaterialistischer Perspektive) oder der materielle Fortschritt der Stiirkeren (nicht ,,Besseren") zu Lasten der Schwiicheren (aus rechtsmaterialistischer Perspektive). Die Problematik dieses Fortschrittsbegrifles hat Harry E l m e r Barnes sehr sch6n zusammengefasst: ,,If material progress ends by creating a civilization so complex that mankind is unable to control it, and it terminates in devastating world wars, then certainly technological advances since 1750 are not indicative of progress as a whole. '1748 Diese Sichtweise muss nicht zur Folge haben, dass wissenschaftlich-technischer Fortschritt verneint wird. Es wird indes der Realit~it ins Auge gesehen, dass wissenschaftlich-technischer Fortschritt und Kultur i m m e r zeitlich divergieren. Dieser ,,cultural lag "1749 darf me ignoriert werden, w e n n m a n d e m ,,Menschen" und seiner , , O r d n u n g " gerecht w e r d e n m6chte. Die Folge einer solchen Ignoranz muss das Verlangen der ignorierten M e n s c h e n nach einer schnellstm6glichen Beendigung aller wissenschaftsnotwendigen u n d nicht n o t w e n d i g e n Relativierungen sein, weil der Relativismus i m m e r zugleich als Destruktion w a h r g e n o m m e n werden muss. G e h t die Destruktion iiber die ,,Aufnahmem6glichkeit" kulturell eingebetteter M e n s c h e n hinaus, so vertrauen sich die Menschen zwangsl~iufig der nackten Vitalit~it an, u m an die Stelle des destruktiven Relativismus ,,lViihrung '', ,,Entschlossenheit" u n d ,,Entscheidung" zu setzen.
5.2 Die Rolle der U S A zwischen Atlantischer und Indus#feller Revolution und die soziale Frage in Europa Mit Voegelin, Strauss, aber auch M o r g e n t h a u und H e l m u t h Plessner, heute auf ganz besonders fulmmante Weise mit d e m 1992 verstorbenen Straussianer Allan B l o o m aus Chicago 175~ wird
1745Vgl. Eric Voegelin, Wissenschaft,Politik und Gnosia, Miinchen 1959, S. 29ff. 1746Ebd., S. 38. 1747So treffend pieterJan Bouman, Verschwgrungder Einsamen. WeltgeschichteunseresJahrhunderts, Innsbruck 1954, S. 355. 1748Harry Elmer Barnes, An Intellectualand Cultural I-Iisto~ of the Western World. Volume 2: From the Renaissance through the Eighteenth Century, New York 1965, S. 842. 1749Der Begriff geht zuriick auf William F. Ogbum, Sodal Change, Viking 1950. 1750Eine Biographie des ~iberlebensgroBenBloom verfasste sein Weggef;ihrte Saul Bellow, Ravelstein, K61n 2000.
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n u n gerade Amerika ,,zum Repriisentanten einer Tradition, v o n d e r europ~iische P h i l o s o p h e n es bisher ausdriicklich ausgeschlossen hatten. ''1751 Amerika machte den kulmrellen Verfall eben nicht zu seinem politischen Schicksal (wie z.B. Deutschland), s o n d e m setzte diesem Verfall das Politische entgegen. Die amerikanische Nationalstaatlichkeit bringt nach Voegelm u n d Strauss das ,,Erfahrungs- u n d Bewusstsemserbe des W e s t e n s " auf den P u n k t u n d bewahrt es vor d e m ,,Absinken auf das Niveau einer unverbindlichen Tradition ... i n d e m sie die M6glichkeit des existentiellen Nachvollzugs" betont. 1752 ,,Diese O r t s b e s t i m m u n g in der Weltgeschichte des Geistes ist die endgiiltige A u f h e b u n g " der europ~iischen , , V e r d r ~ n g u n g " Amerikas. 1753 A n der Feststellung, dass die Vereinigten Staaten ,,eine der h6chsten u n d elementarsten E r r u n g e n schaften des rationalen Strebens" nach d e m ,,guten L e b e n " repr~isentieren, ist eben nichts zu ~indern. 1754 Die s o z i o 6 k o n o m i s c h e n G r u n d l a g e n der Amerikanischen Revolution haben zu diesem U m s t a n d gef/.ihrt: die Abwesenheit des Mittelalters, der Religionskriege u n d der Nationentradition 1755 sowie des Feudalismus 1756, die v o r m o d e m e n Z/.ige, die Radikalitiit der Reformation u n d der aus all diesem resultierende , , A m e r i k a n i s m u s 'qv57 in Amerika hebelten den s o z i o 6 k o n o m i s c h e n Ansatz des Marxismus u n d den v61kischen Nationalismus in A n w e n d u n g auf die Vereinigten Staaten aus. 175s Mit alledem jedoch hatte E u r o p a zu kiimpfen. So trat schlieBlich im Zeitalter der Industriellen Revolution in den USA keine Proletarisierung ein. Die amerikanische ,,Kulturstufe", so ein Ausdruck aus d e m ,,Kapital" v o n Karl Marx, kehrte ,,das europ~iische Modell eines sozialhistorischen Phasenablaufs" u m 1759, unabh~ingig v o n der Fragestellung, ob das P h a s e n m o d e l l / ~ b e r h a u p t auch auf E u r o p a angewendet richtig ist. D e m n a c h erkl~irt sich die s o z i o 6 k o n o m i s c h e Situation in den USA folgendermaBen: , , W e i l A m e r i k a - u m die europiiische Modellanleihe einmal bis zu ihrer absurden G r e n z e zu treiben sozialhistorisch zuriickschreitet, niimlich Arbeiter zu B a u e m werden und damit das Kapital bedrohen, ist der amerikanische Lebensstandard so hoch. 'q76~ N a c h Manfred H e n n i n g s e n habe Marx diese Aporien zeitweise erahnt, aber letztlich nicht/.iberwunden, sondern in A n l e h n u n g an Hegel, verdr~ingt. 1761 H e n n i n g s e n geht natiirlich zu weir, w e n n er implizit behauptet, das Mittelalter direkt f/.ir das A u f k o m m e n der ,,sozialen Frage" im 19. J a h r h u n d e r t ,,verantwortlich" m a c h e n zu k6nnen. N u r durch die Abwesenheit des Mittelalters habe sich in Amerika der ,,Uberbau" (oder die , , G e i s t e r w e l t " , so H e n n i n g s e n w6rtlich) praktisch verwirklichen k6nnen. 1762 ,,lJbersetzt m a n die historische Wirklichkeit Amerikas in die Marxschen Kategorien, 1751Manfred Henningsen, Der FallAmedka. Zur So~.al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdra'nguns MCinchen 1974, S. 219. 1752Ebd. 17s3Ebd., S. 220. 1754Vgl. Allan Bloom, Der Niedergang des ameffkanischen Geistes. Ein Pla'doyerJ~r die Erneuerung der westlichen Kultur, New York 1987, S. 46. 17ss Vgl. kurz zu den Folgen in Europa im Unterschied zu den USA: David Calleo, The Atlantic Fantasy: The U.S., N A T O and Europe, Maryland 1970, S. 104. 1756Vgl. Dietrich Gerhard, Die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaftals ein Prob~m vergleichenderGeschichtsbetrachtung, in: Ders., Alte und Neue Welt in vergMchenderGeschichtsbetra&tung, G6ttingen 1962, S. 159-172, 162-166. 1757Vgl. Seymour Martin Lipset, The first New Nation. The United Stales in Histoffcal and Comparative Per~ective, New York 1963. 1758Vgl. Hans Vorl~inder, ,,Ameffcan Creed'; liberale Tradition undpolitische Kultur der USA, in: Franz Grel3 / Hans Vorl~inder (Hg.), Liberale Demokratie in Europa und den USA. Festschffft./~r Kurt L~ Shell, Frankfurt a.M. / New York 1990, S. 1133, 18. 17s9Vgl. Manfred Henningsen, Der FallAmedka. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdra'ngung, MCinchen 1974, S. 115. 1760Ebd. (vgl. auch Michel Guillaume Jean de Cr&vecoeur, Lettres d'un cultivateur amgffcain (1785), hg. v. Guillaume de Bertier de Sauvigny, Paris u.a. 1979). i761Vgl. auch Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Kffeg, M/~nchen 1974, S. 99f. 1762Vgl. Manfred Henningsen, DerFallAmerika. ZurSo~al-undBewusstseinsges&ichle einer Verdra'ngung, M/inchen 1974, S. 118.
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dann hat in Amerika die Emanzipation bereits stattgefunden, bevor sie in Europa iiberhaupt artikuliert worden ist. ''1763 Das Problem freilich ist hierbei, dass die durch die Absenz des Mittelalters ,,bereits stattgefundene" Emanzipation keine ,,Emanzipation", sondern eine auf europiiischer Renaissance und Friiher Neuzeit aufbauende , , N e u g r f i n d u n g " war, welche im Rahmen einer freiheitlichen Revolution die Linien der europ~iischen Gegenemanzipation mit einschloss und sie sogar institutionell republikanisieren, ja im Rahmen einer Repriisentativverfassung fiir die damals weitest gehende Demokratisierung 6ffnen konnte - freilich befliigelt und in der weiteren politischen Entwicklung stabilisiert dutch die weitgehende Absenz einer Unter- oder Bettlerschicht: So wurden ,,die englischer Tradition entsprechenden Mindestbesitzklauseln m den Wahlrechtsgesetzen der Einzelstaaten" bis 1830, insbesondere unter Andrew Jackson und seiner Demokratischen Partei, abgeschafft, weil die Reformer ,,im Unterschied zu den Griinderviitern keine Tyrannei besitzloser W{ihlermehrheiten" mehr fiirchteten. 1764 In Europa indes, so kann nun antimarxistisch argumentiert werden, kam es eben nicht allein verm6ge des vorher bestehenden Mittelalters zu einem geschichtsdeterministisch zu verstehenden Auseinanderfallen von Idealit~it und Materialit~it (,,Philosophie" und ,,Proletariat"), sondem entscheidend war die Radikalisierung der , , E m a n z i p a t i o n " , unter anderem mittels eben dieses Postulats, dass also Idealit~it und Materialitiit in einem geschichtsdeterministischen Rahmen voneinander zu scheiden seien (in einem Sinne also, der Hegels ebenfalls vorhandenen Geschichtsdeterminismus durchaus auf den K o p f stellte1765). Anderenfalls wiirde die These von Henningsen schlicht bedeuten, dass sich die Prophezeiung des Historischen Materialismus ohne die Entdeckung Amerikas bewahrheitet hiitte und Europa kommunistisch geworden wiire. Eine nach Ansicht des Verfassers wenig stichhaltige These, da die unsittliche Evidenz der ,,sozialen Frage" in Europa die Sozialreform aus sich selbst gebar, solange die Europ~ier (insbesondere die Sozialdemokraten unter ihnen) sich an die idealistische Tradition des Sittengesetzes, gerade m Abgrenzung zu Marx, hielten, und somit die Tradition des ,,Wohlfahrtsstaates" begriindeten, der schliel31ich nach dem Zweiten Weltkrieg institutionalisiert werden konnte und zur Weiterfiihrung bzw. ,,Vergesellschaftung" des liberalen Staatsbegriffs fiihrte: von den klassischen Ordnungsleismngen des Staates hin zur gesellschaftlichen Infrastruktur (Verkehr, Wissenschaft und Bildung ,,fiir alle") und Daseinsvorsorge der Bev61kerungen. lv66 Die ideologischen Uneinsichtigkeiten des 20. Jahrhunderts in Europa k6nnte Henningsen mit seinem Ansatz indes nur auf der Basis einer marxistischen oder imperialismustheoretischen Argumentationslinie erkliiren und nicht auf der Basis der sittlichen Verfehlung des MarxismusLeninismus selbst (der wiederum nicht verwechselt werden sollte mit einem utopischen Kommunismus). Eine Verfehlung, die von Anfang an gegeben war und auch keine zwingende Antwort auf die soziale Frage darstellte. Diese Antwort war n~imlich mit einem nicht ins Eschatologische gesteigertem, zugleich sozialem Liberalismus durchaus vereinbar, und zwar in praktischer und theoretischer Frontstellung gegen die als Utopien gekennzeichneten und damit gleichgesetzten Theorien sowohl der marxistischen Eschatologie als auch des klassischen Man-
1763Manfred Henningsen, Der Fall Amerika. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichte einer Verdra'ngune~ M/inchen 1974, S. 119. 1~64Willi Paul Adams, Die USA vor 1900, M/inchen 1999, S. 8f. 1765Vgl. Walter Theimer, DerMarxismus. Lehre - Wirkung - Kr#ik, 8. Aufl., T/ibingen 1985, S. 33-67; Manfred Henningsen, DerFallAmerika. Zur So~al-und Bewusstseinsgeschichte einer Verdra'ngung, M/inchen 1974, S. 162; vgl. femerhin GerdKlaus Kaltenbrunner (Hg.), Hegel und die Folgen, Freiburg (Br.) 1970. 1766 Vgl. insgesamt zur Geschichte der europ~iischen Wohlfahrtsstaatsidee und des Wohlfahrtsstaates Douglas E. Ashford, The Emergence of the Welfare States, New York City 1986; vgl. k:ritisch Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage, MCinchen 1971 und Gerd Habermann, Der Wohlfahrtsstaat. Die Geschichte eines Irrwega, Berlin 1997.
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chesterliberalismus. 1767 SchlieBlich ffihrte die Antwort, auch angesichts der kasemensozialistischen Bedrohung aus dem Osten, sp~itestens seit den sechziger und siebziger J ahren des 20. J ahrhunderts zum ,,Wohlfahrtsstaat" - anders ausgedrfickt: zur ,,klassenlosen Gesellschaft auf der Basis der { ) b e ~ d u n g der Giiterknappheit" start auf der Basis des Gemeineigenmms1768; ob nun auf dem Wege einer schleichenden Enteignung (Eingriffe eines steuernden Wohlfahrtsstaates ohne explizite Einwilligung der Eigenmmer) oder eben auch auf dem Wege eines liberalen Sozialstaates unter gerechter Interaktion zwischen Staat und Eigentiimer einerseits bzw. Eigenmmer und Sozialtransferempf~inger andererseits. Die heutige ,,klassenlose Gesellschaft" der westlichen Massendemokratien kann durchaus als eme ,,Karikamr des Kommunismus" angesehen werden, wobei der Grund ihrer Existenz als Karikatur einfach darin liegt, ,,dass sie nur als Karikatur verwirklicht werden konnte". 1769 Insbesondere der ,,Wohlfahrtsstaat" kann als zeitbedingte, nunmehr massendemokratische Realisierung der kommunistischen Utopie des 19. Jahrhunderts angesehen werden 177~ die auf zwei Fundamenten fuBt: der Abwehr des sowjetischen Kasemensozialismus einerseits und der Abmfung sittlicher bis (christlich-)religi6ser Fundamente andererseits. Dass indes die sittliche Verfehlung des Marxismus-Leninismus historisch wirksam wurde, ist auf viele Faktoren zur/,ickzufiihren, die eben nicht (nur) sozio6konomischer, sondem politischer, geopolitisch-zivilisationshistorischer, kulmreller und milit~irischer Natur sind. Den historischen Angelpunkt bildet hierbei die Einschleusung Lenins nach Russland wiihrend des Ersten Weltkrieges. Doch die politischen und zivilisationshistorischen Hmtergrfinde kommen insbesondere dann ans Licht, wenn nicht, wie iiblich, nur der Marxismus als fehlendes Element in der amerikanischen Geschichte berficksichtigt wird, der in den USA als linker Antidemokratismus und damit zugleich als Antiamerikanismus verstanden wurde 1771, sondern auch der rechte Antidemokratismus: Nicht nur die Lehre von Marx und Lenin vermochte sich in den USA nicht durchzusetzen, sondern ebenso wenig auch Str6mungen ,,vonder Art eines Nietzsche und Spengler, eines Pareto, Mosca oder Sorel 'q772 bzw. eines Paul de Lagarde, Julius Langbehn oder Moeller van den Bruck. 1773 Zwar wird immer wieder der amerikanische Besitzindividualismus in Anlehnung an Sorels Bewunderung der aggressiven amerikanischen ,,robber barons" in eine Traditionslinie mit dem rechten Bild des ,,l]bermenschen" gestellt 1774, doch wird das ganze Spannungsfeld zwischen anarchischem Besitzindividualismus und republikanischer Ordnung dabei zu eng auf den Besitzindividualismus gekiirzt und die politische M6glichkeit der Z~ihmung, konkret unter Priisidenten wie Roosevelt, Kennedy, Johnson und Clinton, nicht angemessen gewiirdigt. Also nicht das fehlende Mittelalter alleine ist relevant fiir das Ausbleiben des Extremismus in Amerika, sondern mindestens genauso das antiabsolutistische nationale Selbstverst~indnis und die lange Tradition der Selbstverwaltung in Nordamerika, die eine revolution{ire ,,Emanzipation" des von der staatsraisonbestimmten Herrenschicht ,,beherrschten Volkes" unn6tig machte; beides erfolgte auf der Basis einer moralischen und sittlichen oder religi6sen Selbstver-
,767Vgl. Douglas E. Ashford, The Emergence ~the Welfare States, New York City 1986, S. 5f. ,768Vgl. Panajotis Kondylis, Utopie undgeschichtliches Handeln, in: Volker Beismann / MarkusJosef Klein (Hg.), Politische Lageana~se. Festschdftfiir Hans-Joachim Arndt zum 70. Geburtstag am 15. Januar 1993, S. 163-175, 174. 17~9Ebd. 1770Vgl. ebd. ,771Vgl. Otto Vossler, Geist und Geschichte. Von der Reformation bis wr Gegenwart, MCmchen1964, S. 66f. 1772Ebd., S. 67. 1773Vgl. Fritz Stern, Kultu~essimismus alspolitische Gefahr. Eine An@se nationaler Ideologie in Deutschland, M~inchen1986. 1774Vgl. paradigmatisch Manfred Henningsen, Der Fali Ameffka. Zur So~al- und Bewusstseingeschichle einer Verdrd'ngung, M/~nchen 1974, S. 244f.
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stiindnisgrundlage, die ihre Wurzeln in der klassischen und christlichen Tradition hatte. Diese Elemente haben den ,,Geist der maBvollen Demokratie" als nationales Leitprinzip in einer F o r m geschaffen, die sich jeder gewaltideologischen Anfechtung entziehen konnte. 177~
6. Weltbiirgerkrieg 1917-1945 und Wendejahre: Die Politisierung der westlichen Zivilisation im Kalten Krieg Mit dem K_riegseintritt der USA in den Ersten Weltkrieg 1917 wurde der K a m p f der Ideologien allmiihlich eingeEiutet. Zugleich kam es zur Riickbindung der Vereinigten S taaten an ihre europiiische Bestimmung. ,,[1917] waren amerikanische Rekruten auf ihren Fronteinsatz in Frankreich vorbereitet worden, indem man ihnen jene kulturellenTraditionen niiherzubringen suchte, f/it deren Verteidigung sie ihr Leben aufs Spiel setzen sollten. So begannen Amerikaner damit, sich ebenfalls als Erben der europiiischenKultur zu sehen.'q776 Die Folge war die Begriindung des (akademischen) Denkens und ein konzeptionelles Bewusstsein der 1917 noch sehr stark westeurop~iisch-atlantisch ausgerichteten ,,Western Civilization", die mit der Tatsache korrespondierte, dass die ,,Finanzierung des Ersten Weltkrieges [..] die amerikanische Wirtschaft noch enger mit der europiiischen ''1777 verband, indem die USA zum ,,Gl~iubiger Europas 'qTvs avancierten (mit der Folge des Ausgreifens der amerikanischen Depression 1929-1932 auf die gesamte Weltwirtschaft1779). Erst nach 1945 erweiterte sich das politische Denken fiber die ,,westliche Zivilisation" in seiner Dimension um Deutschland, das f/it den Aufbau einer atlantischen Gemeinschaft einen sehr aktiven Beitrag leisten konnte. 1989 schliel31ich wurde das Denken m den Kategorien des Westens mindestens um Mittel- und Ost-, wenn nicht gar um Gesamteuropa erweitert. Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass der gesamteuropiiisch-atlantische Charakter schon 1945 angelegt war, im Hinblick auf die ,,zu befreienden" und ihrem Ursprung zuriickzufiihrenden MOE-Satellitenstaaten: Der politische Atlantizismus hatte einen zuniichst nut umrisshaften, spiiter immer deutlicher das christliche Slawentum potentiell mitumfassenden Charakter (s. Ungamaufstand, Prager Friihling, Danziger Aufstand, Perestroika). Im atlantischen Z u s a m m e n h a n g der Zeit nach 1945 bis etwa 1957 ist zu konstatieren, dass ,,der Startschuss fiir einen Zusammenschluss Westeuropas [..] nicht in Europa [rid], s o n d e m in den Vereinigten Staaten von Nordamerika ''178~ auf der Basis eines Papiers zweier angelsiichsischer Nationalisten (und eben nicht unbedingt ,,Atlantizisten'O 1781, Churchill und Roosevelt, die der historische Zufall und die Gefahr der Traditionen westlicher Zivilisation dutch den Totalitarismus nicht nur zueinandergefiihrt, sondern gezwungen hat, derart eng zusammenzuarbeiten, dass zum ersten Mal in der Geschichte die Traditionen der westlichen Zivilisation (die
1775Vgl. Otto Vossler, Geist und Geschichte. Von der Reformation bis zur Gegenwart, M/inchen 1964, S. 70ft. 1776Hagen Schulze, Die WiederkehrEuropas, Berlin 1990, S. 17. 1777Willi Paul Adams, Die USA im 20. Jahrhundert, M/inchen 2000, S. 52. 1778Ebd. 1779 Vgl. zusammenfassend ebd., S. 55f. 1780Ludolf Herbst, OptionJ~r den Westen. Vom Marschall-Plan bis zum deutschfranzb'sischen Vertrag, M/inchen 1989, S. 35. 1781So die zumindest auf Churchill, abet wohl - trotz oder vielleichtgerade wegen der ,,One-World"-Rhetorik- auch auf Roosevelt bezogen zutreffende Charakterisierungbei Forrest Davis, The Atlantic System. The Story of Anglo-American Control of the Seas, New York 1941, S. 316f. Churchills "living religion", wie Davis anschaulich und zutreffend schreibt, war immer das britische Empire (ebd., S. 316).
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bei Churchill w o h l rhetorisch, bei R o o s e v e l t w o h l p r o g r a m m a t i s c h u n d a u f sehr naive u n d militiirisch h 6 c h s t p r o b l e m a t i s c h e Weise 1782 mit einer ,,Weltzivilisation ''1783 identifiziert wurde), einen politischen, ja militiirischen G e h a l t bekamen: Die ,,Atlantik-Charta" war geboren. 1784 E r s t dieses D o k u m e n t k a n n als ,,das wirkliche G r i i n d u n g s d o k u m e n t eines atlantisch erweiterten politischen W e r t e - O k z i d e n t a l i s m u s gelten ''178s, w e n n dieser auch erst im Verlaufe des K a l t e n Kxieges, also auBenmduziert (fiber die s o w j e t i s c h - k o m m u n i s t i s c h e B e d r o h u n g ) , ins B e w u s s t sein der freien N a t i o n e n des W e s t e n s riicken sollte. 1786 D e r tragende G e d a n k e der ,,AtlantikC h a r t a " war der Begriff der Freihei~. -
-
die Freiheit des Gedankens, der Rede, der )~ul3erung, die jedermann zusteht die Freiheit eines jeden, Gott auf seine Weise zu dienen die Freiheit yon Not und die Freiheit vor Furcht, die sowohl Einzelnen als auch den V61kem im Ganzen zustanden, letztlich also die Freiheit und das Recht eines jeden Einzelnen und eines jeden Volkes, sich gegen jedwede Form der geistigen oder physischen Vers~avung, Demontage oder Vernichtung mit allem zu Verfiigung stehenden Mitteln zu wehren. Die Vorstellung, dass die ,,V61ker" ihre ,,Regierungsformen" selber w~ihlen d~irften.
U S - A u B e n m m i s t e r D e a n A c h e s o n brachte 1949 den a m e r i k a n i s c h e n S p i l l - O v e r - I m p u l s zur D a u e r h a f t i g k e i t des n u n m e h r zuniichst rein militiirisch aus der T a u f e g e h o b e n e n ,,atlantischen Systems" a u f folgende Formel: ,,It is clear that the North Atlantic Pact is not an improvisation. It is the statement of the facts and lessons of history. We have learned our history lesson from two world wars in less than half a century [...] We have also learned that if free nations do not stand together, they will fall one by one. The stratagem of the aggressor is to keep his intended victims divided, or, better still, set them to quarrelling themselves.1787 Z w i s c h e n 1945 u n d 1955 w e n d e t e sich E u r o p a , u n d zwar angefiihrt v o n W e s t d e u t s c h l a n d u n t e r A d e n a u e r , aber i n s b e s o n d e r e auch Erhard, defmitiv an A m e r i k a als das E r b e der eigenen Zivilisation. D e r eigenst~indige deutsche Beitrag z u m A u f b a u dieser politischen G e m e i n s c h a f t ist nur selten richtig gewiirdigt worden. E r bestand nicht nur in der y o n A d e n a u e r u n d n o c h m e h r v o n E r h a r d grundsiitzlich gewollten sicherheitspolitischen V e r a n k e r u n g D e u t s c h l a n d s im atlantischen Westen, s o n d e m in einem weiteren Punkt, der bisher k a u m im K o n t e x t eines genuin d e u t s c h e n Beitrages zur E r m 6 g l i c h u n g einer vollwertigen ,,Atlantischen Zivilisation" w a h r g e n o m m e n w u r d e u n d der primiir d e m Wirken L u d w i g E r h a r d s entsprang. D i e s e r un-
1782Vgl. in/iberspitzter Form: Dirk Bavendamm, Roosevelts Krieg 1937-1945 und das R~'tsel von Pearl Harbor, M~inchen / Berlin 1993, S. 459-464; Benjamin Colby, Roosevelts scheinheiliger Krieg. Amerikas Betrug und Propaganda im Kampf gegen Deutschland, 2. Aufl., MCinchen 1978. Colby zeichnet Roosevelts Vorgehen und insbesondere dessen unerbittliche Zielsetzung, eine bedingungslose Kapitulation Deutschlands herbeizufiihren, als eine Folge kalkulierter prosowjetischer Aul3enpolitik, wobei die Antriebsmomente und Motive Roosevelts im Uneaten gelassen werden. In suggestiver Form scheint die Motivation Roosevelts als eine ideologische (naiv-kommunismusfreundliche bis kryptosozialistische) verstanden zu werden. 1783Vgl. Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Civilization in the United States, Nachdruck / 2. Aufl., New York 1971, S. 570; vgl. dazu auch Samuel S. Fels, This changing world, Houghton Mifflin 1933; Simon Patten, The New Basis of Civilization , Macmillan 1921; vgl. ferner Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Civilization in the United States, Nachdruck / 2. Aufl., New York 1971, S. 621-657. 1784Vgl. Charles A. Beard / Mary R. Beard, The American Spirit. A Study of the Idea of Civilization in the United States, Nachdruck / 2. Aufl., New York 1971, S. 568-573. 178sJiirgen Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, M~inchen 2000, S. 21f. 1786Darauf verweist zurecht Jacques Freymond, Die Atlantische Welt, in: Golo Mann / Alfred HeuB / August Nitschke (Hg.), Propyla'en Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, Band X, Berlin / Frankfurt a.M. 1986, S. 223-299, 226-247. 1787Dean Acheson, Address: The Meaning of the North Atlantic Pact, Department of the State Bulletin, March 27, 1949, S. 384-388, 385f.
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sch~itzbar wichtige Beitrag lag in der ,,Beharrlichkeit, mit der D e u t s c h l a n d den Liberalisierungsversuchen nachging" und damit in der wirtschaftspolitischen U m k e h r des europiiischen Denkens, welche zwischen 1948 und 1960 den W e g in D e u t s c h l a n d und E u r o p a dafiir ebnete, am N u t z e n sozialistischer Losungen, L 6 s u n g e n und M e t h o d e n oder eines ,,dritten Weges" zwischen Kapitalismus u n d K o m m u n i s m u s i m m e r m e h r zu zweifeln. Man sollte nicht vergessen, wie sozialistisch das D e n k e n in E u r o p a kurz nach d e m II. Weltkrieg gepriigt war, insbesondere in Frankreich und Italien aber auch bei den Labours in GroBbritannien u n d den Sozialdemokraten unter Schumacher in Deutschland. D e r Erfolg der ,,sozialen Marktwirtschaft" in D e u t s c h l a n d gab die Initialziindung dafiir, dass die sozialistischen Parteien sich ,,iiberall in E u r o p a " v o n ,,marxistischen Vorstellungen" 16sten 1788, also yon den entscheidenden Endausl~iufern der jakobinischen Gegenposition zur politischen Idee einer freien ,,Atlantischen Zivilisat_ion". Die Sozialisten E u r o p a s sahen n u n m e h r , dass die marxistischen Vorstellungen ,,fiberholt erschienen", sie ,,nahmen in ihre P a r t e i p rogramme elastischere L6sungsvorschliige auf. ''1789 Nicht nur die unabdingbare amerikanische V o r m a c h t war es am Ende, welche die ,,Atlantische G e m ei n s c h a f t " politisch konsistent machte - das hiitte sie auch alleine me geschafft. Das daniederliegende D e u t s c h l a n d schaffte es also nach d e m Krieg, seine Fiihigkeiten n u n m e h r wieder fiir eine segensreiche Sache einzusetzen u n d erreichte durch das beharrliche Wirken sowohl Adenauers als auch Erhards, dass andere Liinder in E u r o p a seinem Beispiel folgten: ,,Frankreichs F~nfte Republik war mutig genug, die yon Antoine Pinay und Jacques Rueff vorgeschlagene Stabilisierungspolitik in Angriff zu nehmen. In England hatte die konservative Regiemng mancherlei Mai3nahmen zu treffen gewagt, die als unpopulir gegohen hatten, und war daraufhin von einer gefestigten Wiihlermajoritit im Amt bestiitigt worden; (...) indirekt war das eine Verbeugung vor der liberalen Wirtschaftspolitik, der damit ein entscheidender Beitrag zum erstaunlichen Wiederaufbau der europiiischen Wirtschaft bescheinigt wurde.'179~ Die friedenspolifische Dividende des deutsch-amerikanischen Z u s a m m e n g e h e n s lieB den Krieg aus Europa, zuniichst aus Westeuropa, verschwinden u n d u n d e n k b a r werden. Victor H u g o s Europavision wurde Wirklichkeit: ,,Der Tag wird kommen, an dem die beiden grol3enLindergmppen, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinigten Staaten von Europa, sich von Angesicht zu Angesicht die Hiinde fiber die Meere reichen werden, ihre Waren, ihren Handel, ihre Industrie, ihre K/inste, ihre Genies austauschend, die Erde urbar machend, die Wildnis kolonisierend, die Sch6pfung unter der Aufsicht des Sch6pfers veredelnd, um aus der Kombination dieser beiden unendlichen Kriifte - der BrCiderlichkeit der Menschen und der Allmacht Gottes - das Wohlergehen f/it alle zu erzielen!"1791 Die Frage heute lautet, ob der W e s t e n als politische Aktionseinheit o h n e die ,,geliehene E m phase des A n t i k o m m u n i s m u s ''1v92 a u s k o m m e n kann u n d a u s k o m m e n wird. Z u n e h m e n d wird der 1945/1955 politisch substantialisierte Westen als nichts anderes interpretiert als die ,,Negation des O s t e n s " im Kalten Krieg, der n u n m e h r - genauso wie der W e s t e n im Sinne einer
1788Vgl. Jacques Freymond, Die Atlantische Welt, in: Golo Mann / Alfred Heul3 / August Nitschke (Hg.), Propylaen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte,Band X, Berlin / Frankfurt a.M. 1986, S. 223-299, 295. 1789Ebd. 1790Ebd. 1791Victor Hugo, Discours d'ouverture aupremier Congrds de la Paix, Paris 1850. 1792Bemd Ulrich, Die deutsche Ianke und der Westen, in: Rainer Zitelmann / Karlheinz Weil3mann / Michael Groi3heim (Hg.), Westbindung. Chancen und RisikenJ~rDeutschland, Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 243-258, 249.
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politisch substantialisierten F o r m - der Vergangenheit angeh6re, so etwa Ulrich Beck. 1793 Zwar tritt Beck im Unterschied zu ,,verbissenen" Europ~iisten ffir ein transatlantisches E u r o p a ein 1794, geht abet ansonsten v o m ,,alten Westen" aus, der durch einen neuen Kosmopolitismus, welcher den Transatlantizismus zu u m r a h m e n h~itte, zu ersetzen sei. 1795
7. Die geopolitische Auseinandersetzung im Atlantischen Raum zwischen Raumrevolution und 20. Jahrhundert Wie liisst sich nun die Herausbildung des politischen atlantischen Westens geopolitisch erkl~iren? Die A n t w o r t auf diese Frage soll das Kapitel fiber die atlantische Revolution und den m o d e r n e n Westen abschliegen. Die sich spiitestens im 16. J ahrhundert durch die planetarische Raumrevolution ,,stfirmisch [..] herausbildende weltpolitische Marinit~it ''1v96 hatte historisch auf lange Sicht trotz ihres zuniichst einmal rein westeuropiiischen, kfistenbezogenen Charakters klare ,,terrestrische Rfickwirkungen". 1797 In den W o r t e n Boeckmanns sprang der Funke fiber eine mit mariner H o c h spannung geladenen europ~iischen Kfistenterrasse ,,auf vorwiegend terrestrische Gebiete wie PreuBen, Deutschland, Osterreich und [unter Peter dem GroBen] Russland" fiber. 1798 Die Einrichtung von Marineministerien, die Installierung und schrittweise Explosion der Marinebudgets und das Aufstellen entsprechender Kontingente m diesen L~indem waren die Folge. 1799 ,,Bald waren alle GroBmiichte der Erde, m o c h t e n sie von N a t u r aus noch so terrestrisch veranlagt sein, mit E l e m e n t e n mariner Politik hemmungslos durchsetzt. "18~176 Langfristig hatten dabei diejenigen M~ichte das gr6Bte machtpolitische Gewicht, die in der ,,terrestrischen Verankerung mariner Politik" die gewaltigste ,,Tiefe" mitbrachten. Hier ist die geopolitische Zielsetzung aller kriegffihrenden, atlantischen Seemiichte zu sehen. Spanien, das durch die E n t d e c k u n g Amerikas zur ersten wirklichen Weltmacht aufstieg, konnte seine Position nicht halten: Mit dem massenhaften I m p o r t von G o l d und Silber, das zun~ichst ffir eine Absicherung der Weltmachtrolle geeignet schien, kam es m Spanien aufgrund der geschlossehen ( , , m e r k a n f i l - s a l v a t i o m s t i s c h e n " statt kapitalistischen 18~ Wirtschaftsstruktur und (befreiungskampfbedingten 18~ Rfickst~indigkeit lg~ zu einer nicht vorhergesehenen, fiberdurchschnittlichen Geldinflation. Die Reichtfimer Amerikas waren natfirlich yon groBer und wichtiget B e d e u t u n g ffir den spanischen Staatshaushalt, doch die Erwartung, sie wfirden den Reichturn und damit die Waffeninvestitionen des Landes so stark vergr6Bem, dass es unangreifbar wfirde, war aufgrund der gewaltigen Inflationswirkung nicht eingetreten. So reichten die Reich1793Vgl. Ulrich Beck, Derfeindlose Staat, in: Die Zeit, 23. Oktober 1982, S. 65; vgl. ferner Bernd Ulrich, Die deutscheDnke und der Westen, in: Rainer Zitelmann / Karlheinz WeiBmann / Michael Grol3heim (Hg.), Westbindung. Chancen und RisikenJ~rDeutschland, Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 243-258, 250ff. 1794 Vgl, besonders die klugen Passagen gegen den ,,Europiiismus" yon Habermas und Derrida in Ulrich Beck / Edgar Grande, Das kosmopolz?ische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt a.M. 2004, S. 326f. Vgl. fernerhin ebd., S. 46. 179sVgl. ebd., S. 46. 1796Kurt von Boeckmann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924, S. 340. 1797 Ebd. 1798Ebd. 1799 Vgl. ebd., S. 342. 1800Ebd. 1801Vgl. zu den Begriffen Darcy Ribeiro, Amerika und die Zivilisation. Die Ursa&en der ungleichen Entwicklung der amerikanischen Vb'lker, Frankfurt a.M. 1985, S. 68ff. 1802Vgl. ebd., S. 66f. 1803Vgl. ebd., S. 75f.
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tfimer Amerikas ,,bei weitem nicht aus, um die unerh6rten Belastungen emes ununterbrochenen Mehrfrontenkrieges gegen die Franzosen, Tfirken, Niederliinder, Engliinder und im Atlantik [gegen die Piraten], der fiber 140 Jahre dauerte, auszugleichen. ''18~ Die G e b u r t des Freihandelsprinzips I8~ in Holland und England, das sich mit einem ,,weltpolitischen Antihispanismus" gegen das katholisch-weltpolitische Denken eines Thomas Campanella verband 18~ ist dabei aus dem weltpolitischen Wunsch erkliirbar, sich neben den Spaniem und Portugiesen (seit der Annexion Pormgals durch Spanien 1580 nur neben den Spaniem) ,,uneingeschr~inkt am Welthandel beteiligen zu dfirfen". 18~ So erfolgten mit der Zeit die A b l f s u n g der iberischen durch die holliindische und franzfsische Seevorherrschaft (spanischniederliindischer Krieg 1588-1606 und franzfsisch-spanische Kriege im 16. Jahrhundert) und anschlieBend die A b l f s u n g der holliindischen und franzfsischen durch die britische Seevorherrschaft 18~ die wiederum dutch die Seevorherrschaft des Staates mit der historisch maximalen terrestrischen T i d e , den USA, 1917-1941 abgelfst wurde. 18~ Der Versuch Deutschlands, fiber die Eroberung einer iihnlichen geopolitischen Tiefe im kontinentalen Osten Europas im Zusammenklang mit der E r o b e r u n g mariner Ausgangsbasen im Rahmen eines breiteren, kontinentalen Kfistensaums im Nordwesten Europas, diese neue Seevorherrschaft milit~irisch herauszufordem, scheiterte endgfiltig im Zweiten Weltkrieg. Die europiiische K u l m r war ,,in einem sehr realen Sinn das Ergebnis eine jahrhundertelangen Kampfes gegen die asiatische Invasion. ''181~ Diesen K a m p f brauchten die Vereinigten Staaten nicht mehr zu ffihren: Nachdem sie schlieBlich 1898 und 1899 mit dem Gewinn Kubas, Puerto Ricos, der Philippinnen und Guams ffir die eurasische GroBmacht Russland zu einer 6stlichen G e g e n m a c h t geworden waren, konnten sie nunmehr auf das europiiische Gleichgewichtssystem mittelbar Einfluss ausfiben. U m ihre Hilfsquellen yore Mississippi und yore Atlantik auf direktem Wege im Pazifik einsetzen zu k f n n e n , lieBen sie schlieBlich den Panamakanal bauen. Von da an lag ,,die wirkliche Trennungslinie zwischen Ost und West im Atlantischen Ozean. ''181~ Nach Brooks Adams war Amerika durch die E r f f f n u n g der Panamaroute sogar endgfiltig zum eigentlichen geopolitischen Drehpunkt der Erde g e w o r d e n - er nannte ihn ,,das Herz der Welt": Die , , D r e h p u n k t t h e o r i e " Mackinders, wonach weiterhin das eurasische Herzland als D r e h p u n k t begriffen wurde, hatte abet nicht wirklich an Plausibilitiit verloren - nur hatten die Vereinigten Staaten aufgrund der fehlenden geopolitischen Gegenschlagsm6glichkeiten Russlands bessere M6glichkeiten als die europiiischen GroBmiichte, den inneren und ~iuBeren Halbkreis um das eurasische Herzland herum als Einflusssphiire in Beschlag zu nehmen. D e n n o c h 1804Holger Afflerbach, Das en~esselte Meer. Die Geschichte des Atlantik, M/inchen 2001, S. 208; Hellmut Diwald, Der Kampf um die Weltmeere, M/inchen / ZCirich1980, S. 195. 1805Vgl. Hugo Grotius, De Mad libero et P. Merula De Maribus, Lugduni Batavomm 1633. 1806Vgl. zu Campanella: Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens. Band I." Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum Beginn des Imperialismus, Gfttingen 1972, S. 83-108. Vgl. zum Antihispanismus ebd., S. 115. 1807Ebd., S. 68 (vgl. femer ebd., S. 111, 130f. und 133f.). Vgl. zu Richard Hakluyt als typischen Exponenten britischen Weltdenkens im 17. und 18. Jahrhundert ebd., S. 115-141. 1808Eckdaten: Navigation Act 1651-1849, holl~indisch-britische See-~iege 1652-54, 1665-67, 1672-74, anschliel3end Verlust Neu-Amsterdams an die Briten, Umbenennung in New York, Durchsetzung Grol3britanniens gegen Frankreich im SiebenjiihrigenKrieg 1756-63. Die Navigationsakte des britischen Parlamentes aus dem Jahre 1651 besagte, dass beim seeischen Warenimport nur britische Schiffe oder Schiffe des Urspmngslandes der eingefiihrten Ware die britischen Hiifen anlaufen durften. 1809Vgl. Kurt von Boeck:mann, Vom Kulturreich des Meeres, Berlin 1924, S. 344ff. 1810Halford j. Mackinder, The GeographicalPivot of History, in: The GeographicalJournal, Bd. XXIII, 1904, S. 421437, zitiert nach: Halford J. Mackinder, Der geographische Drehpunkt der Geschich& in: Josef Matznetter (Hg.), Politische Geographie, Darmstadt 1977, S. 57. 1811Ebd., S. 75.
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war die Er6ffnung des Panamakanals insofern eine wichtige geopolitische Entlasmng der USA gegeniiber Eurasien, als der Handel des nord6stlichen Asiens nunmehr in gr613erer Masse nach Westen floss und alle Verkehrsadem des Ostens damit zumindest relativ an Bedeutung verloren. 1812 Zuvor mussten die Amerikaner noch die goldhaltige kalifornische Erde Mexikos fiir sich erobem. W~ihrend Brooks Adams die M6glichkeit eines eurasischen Gegengewichts wegen der revolution;,ir neuartigen planetarischen Verkehrsbindungssituation grundsiitzlich ausschloss, blieb Halford Mackinder skeptisch: ,,Die Veriinderung des Gleichgewichts der K_riiftezugunsten des Drehpunktzustandes, was auf eine Ausdehnung fiber die Randliinder Eurasiens hinausliefe, wfirde die Benutzung von riesenhaften kontinentalen Hilfsmitteln ffir den Flottenbau erm6glichen, und das vereinigte Weltreich kiime dann in Sicht. Dieser Fall k6nnte eintreten, wenn Deutschland sich mit Russland verb/inden w/irde.'1813 Letzteres h~itte einen Krieg zwischen einem mit Frankreich verbi,indeten Staat des sogenannten iiul3eren Bogens (Grol3britannien, Siidafrika, Australien, USA, Kanada, Japan) u n d e m e r Macht des mneren Bogens (Deutschland, Osterreich, Tiirkei, Indien, China) heraufbeschw6ren k6nnen, wobei Frankreich, Italien, Agypten, Indien und Korea als Briickenk6pfe hiitten benutzt werden k6nnen, um die K_riegsflotten des iiul3eren Bogens dutch Landstreitkr~ifte zu entlasten und zugleich die Drehpunktm~ichte dazu ,,zu zwingen, Landstreitkr~ifte aufmarschieren zu lassen und sie so daran zu hindem, ihre ganze Kraft auf den Flottenbau zu konzentrieren. ''1814 Die geopolitische Position w~ire also auch im Falle des negativen Szenarios, i.e. im Falle eines emtshaften deutsch-russischen Zusammengehens, nicht wirklich fiir die USA verloren. Da dieses emsthafte Zusammengehen aufgrund der damit einhergehenden Juniorpartnerrolle eines in der Mittelposition eingeengten deutschen Nationalstaates ohnehin nicht im deutschen Interesse lag, kam es am Ende zum Versuch Deutschlands, gegen Russland aus der Mittellage auszubrechen. Auf dieser Basis konnten schliel31ich die USA im 20. Jahrhundert den K a m p f um das Meer fiir sich entscheiden 1815, auch gegen Grol3britannien: Zwar sind die seestrategisch iiberaus wichtige Insel St. Helena und auch Gibraltar, indirekt ebenfalls Malta und Zypern bis heute unter britischer Kontrolle, doch zugleich schwindet die Kontrolle fiber so wichtige Stiitzpunkte wie Indien und Ceylon/Colombo. N o c h entscheidender aber ist, dass das 20. Jahrhundert im Zuge geo6konomischer, marinen-, waffen- und rohstofftechnischer Entwicklungen die im Prinzip schon zu Beginn angelegte machtpolitische Virmalit~it der stiitzpunktbezogenen Seeherrschaft der Briten zu einem ausschlaggebenden Faktor fiir die realen machtpolitischen Verh{iltnisse werden liel3. Die USA manifestierten sich dabei am Ende als die entscheidende Weltmacht, weil sie auf just diesen Feldern durch technische Revolutionen, 6konomische Potentiale und die indirekte Rohstoffkontrolle zentraler Stiitzpunkte im Mittleren Osten (zur Zeit auch zunehmend indirekt in Zentralasien) sowie den Einfluss auf wichtige ehemalige britische Seestiitzpunkte wie ]~gypten, Aden, Australien, Ostafrika und Singapur sehr stark an Macht gewinnen sollten. Wie Grol3britannien nach der Herausbildung des russisch-britischen Gegensatzes 1816 im 18. und 19. Jahrhundert, so hatten (und haben bis heute) die USA gleichsam jenen geopolitisch so wichtigen ,,insularen Charakter"; nur eben in einer anderen, dem la12Vgl. Brooks Adams, Das Her z der Welt, Wien/Leipzig 1908, S. 243. 1813Halford j. Mackinder, The Geographical Pivot of History, in: The GeographicalJournal, Bd. XXIII, 1904, S. 421437, zitiert nach: Halford J. Mackinder, Der geographische Drehpunkt der Geschichte, in: Josef Matznetter (Hg.), Politische Geographie, Darmstadt 1977, S. 75. 1814 Ebd. 181sVgl. Hellmut Diwald, Die Erben Poseidons. Seemachtpolitik im 20. Jahrhundert, Mfinchen 1984. 1816Vgl. Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Band 1: Vom Zeitaller der Entdeckungen bis zum Beginn des ImpetgalirmuJ, G6ttingen 1972, S. 217f. und 319ff.
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globalen postraumrevolutioniiren Maschinenzeitalter des 20. J ahrhunderts und d e m Globalisierungszeitalter angemessenen GrgBe. 181v ,,Die alte Antithese y o n H e g e m o n i e und Gleichgewicht wird Jim 19. Jahrhundert] endgiiltig ins Mondiale erweitert. ''1818 Jedes US-Kxiegsschiff war n u n m e h r (und ist) dabei ,,ein auf das Wasser hinausgetragenes".1819
1817Vgl. Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, 4. Auflage, Stuttgart 2001, S. 101; Alfred Th. Mahan, The Interest ofAmerican in Sea Power. Present and Future, Boston 1898. 1818Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Band 1: I/om Zeitalter der Entdeckungen bis zum Beginn des Imperialismus, G6ttingen 1972, S. 324. 1819Kurt von Boeckmann, Vom Kulturreich desMeeres, Berlin 1924, S. 341.
X. Politische Systeme und Gesellschaften des Westens im phfinomenologischen Querschnitt
1. Demokratische, rechtliche und wirtschaftliche Verfassungen 1.1 Institutionen
Das Modell des amerikanischen Verfassungsstaates setzte sich nach 1945 endgi~tig in West-, nach 1989 in Gesamteuropa durch. Es wurde french in keinem europ~iischen Land - auch in Deutschland n i c h t - ,,pauschal iibemommen", la2~ N u r die Verfassungsgerichtsbarkeit in Verbindung mit dem konkreten ,,Grundrechtskonstimtionalismus" (I~aus Stern) war in L~indern wie Japan oder Italien neu. 1821 Auch die Siidliinder in den siebziger Jahren orientierten sich nicht mehr prim~ir am amerikanischen Modell. 1822 D e n n o c h kann v o m amerikanischen ,,Urmodell ''1823 gesprochen werden. Als entscheidende konstitutionelle Untersuchungsprinzipien haben sich auf der Basis des Gewaltenteilungsprinzips auf der einen Seite die Parameter der geographischen Distribufon der Gewalten und Autoritiiten (zentralistisch- u n i t a r i s c h - f6derativ - konf6deral), auf der anderen Seite die strukturelle Gewaltenteilung (autoritiir - parlamentarisch - gemischt - priisidentiell) herausgesch~ilt. Entscheidend ist nun, dass es zu den Errungenschaften innerhalb einer Atlantischen Zivilisation geh6rt, autorit~ire Systeme im Rahmen dieses Untersuchungsmusters (wie sie z.B. heute in )~gypten oder Nigeria vorherrschen) zu exkludieren, weil sie das Gewaltenteilungsprinzip aufheben. 1824 Im westlichen Zivilisationsrahmen bewegte sich nunmehr die Diskussion dariiber, welche Systeme der repr~isentativen Demokratie nun die ,,besseren" seien: Die parlamentarischen oder die priisidentiellen. Wurde traditionellerweise auf der einen Seite das parlamentarische Premierministersystem mit alternierenden Mehrheiten, also in Verbindung mit einem relativen Mehrheitswahlsystem, ob seiner Stabilitdt favorisiert, gerade auch in Abgrenzung zu den extremismusanf~illigen parlamentarischen Systemen Deutschlands und Frankreichs in der Zwischenkriegszeit (und in Frankreich noch zwischen 1946-1958), so betonte eine andere Gruppe von Wissenschaftlem und Publizisten die Leismngsf~ihigkeit der proportionalparlamentarischen Systeme Skandinaviens, die zugleich nur moderate ideologische Unterschiede zwischen den Parteien, also einen moderaten Parteienwettbewerb, auszuweisen hatten und, trotz populistischer Gegenstr6mungen, immer noch aufzuweisen haben. 1825 Die Vereinigten Staaten spielen indes mit ihrem rein priisidenfellen System eine Ausnahmerolle. Der Kritikpunkt mangelnder Handlungsf~ihigkeit - hier vor dem Hintergrund des 1820Klaus von Beyme, Vorbild Amerika? Der Einfluss der amedkanischen Demokratie in der Welt, Mfinchen 1986, S. 43, vgl. den sehr instruktiven 0berblick auf S. 38-43. 1821Vgl. ebd., S. 39-43; vgl. als lJbersicht zu Japan Frances Rosenbluth / Michael F. Thies, Politics in Japan, in: Gabriel A. Almond u.a. (Hg.), Comparative Politics Today. A World View, 8. Aufl., New York City u.a. 2004, S. 317-364, 331. 1822Vgl. Klaus von Beyme, Vorbild Amerika? Der Einfluss der ame,ikanischen Demokratie in der Welt, M/.inchen 1986, S. 43. ~823Ebd. 1824Gabriel A. Almond u.a. (Hg.), Comparative Politics Today. A World View, 8. Aufl., New York City u.a. 2004, S. 106. 1825Vgl. ebd.
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Kapitel X
Phiinomens ,,divided government ''1826 - iihnelte demjenigen, der in Bezug auf das Weimarer System und die 3. und 4. Republik Frankreichs immer wieder aufgeworfen wurde; mit dem Unterschied french, dass Antisystemparteien vor dem Hintergrund der amerikanischen Verfassungsgeschichte und des relativen Mehrheitswahlsystems nie Erfolg hatten, und auch angesichts der Tatsache, dass es in den Vereinigten Staaten me eine hervorgehobene Rolle der Parteien im politischen Prozess gab 1827 und somit der Parteienwettbewerb gerade in nichtkulturellen, also wirtschaftlichen, aul3enpolitischen und systembezogenen Fragen, nicht als scharfer Wettbewerb angesehen werden konnte und kann. Als Erkliirungsmuster ist nicht nur das amerikanische Parteiensystem isoliert heranzuziehen. Zu dieser moderaten Situation tragen insbesondere bei: das f6derative System, das Zweikammersystem und die strikte T r e n n u n g zwischen Kongress und Regierung, also die ,,Reinheit" des amerikanischen Priisidentialismus, eine (in Europa) immer wieder unterschiitzte Voraussetzung der Freiheit und Unabhiingigkeit von Repr~isentanten und Senatoren der legislativen Gewalt. 1828 Unabhiingig v o n d e r Unterschiedlichkeit der Demokratietypen und demokratischen Verfahrensweisen liisst sich festhalten, dass die historisch-zivilisatorische Verbundenheit zwischen den USA und Europa seit 1949/1991 mit einer sehr gesicherten Verbundenheit in der Frage der institutionellen Ausformung der Innenpolitik im Sinne der repriisentativen Demokratie als Staatsform einhergeht. Jede ,,Demokratie des Westens" ist heute ,,eine Mischung von liberalkonstitutionellen und demokratischen Elementen. ''1829 Im folgenden seien noch einmal die konstitutionellen Gemeinsamkeiten und dazugeh6rigen graduellen Unterschiede erwiihnt: 1.
Prin@ der VolkssouverYnita't und Gewaltenteilung
-
parlamentarischeund priisidentielleDemok:ratien Mehrheits-und Verhandlungsdemokratien183~ Unikameralismusvs. Bikameralismus Zentralismusvs. F6deralismus
-
-
2.
Vielparteiensystemeund demokratisches Wahlre&t
-
Wahlsysteme:Mehrheits- oder Verhiiltniswahlrecht Zweiparteienoder Mehrparteiensysteme Gemiil3igterPluralismus oder polarisierterPluralismus UnterschiedlicheKonfliktlinien Parteienfamilien:Linksextremismus, Linkssozialismus, Linkspopulismus, Gr/ine, Sozialdemokratie, Christdemokratie, Liberalismus,Konservativismus,Rechtspopulismus,Rechtsextremismus Freie Presse:, Medienvielfalt (substantiell unterschiedliche Positionen in Zeitungen, Radio- und Femsehkaniilen, unterschiedliche Kinoprogramme) undfreie ~entliche Meinung (keine substantiellenBehindemngen dutch Konzentrationen oder staatliche Interventionen), limitierte Toleranz gegenfiber gewaltbejahenden Meinungen, Versuch der Uberzeugungfiber den Diskurs
-
3.
N e b e n dem Verfassungsstaat ist also der politische Pluralismus und das Mehrparteiensystem entscheidend. Der westliche Grundkonsens besteht bei den Parteien insbesondere darin, dass Parteien zur Durchfiihrung demokratischer Wahlen als erforderlich erachtet werden und dass diese Parteien auf eine dauerhafte Tiitigkeit hin angelegt sein miissen, lJberall im Westen ist ein Schutz der Griindungs- und Bet~itigungsfreiheit der Parteien gegeben und ein Mindestmal3 an Vgl. Gabriel A. Almond u.a. (Hg.), Comparative Politics Today. A World View, 8. Aufl., New York City u.a. 2004, S. 106. 182vVgl. z.B. Maurice Duverger, Diepolitischen Parteien, Tfibingen 1959, S. 403. 1828Vgl. zusammenfassend zum Zusammenhang Gabriel A. Almond u.a. (Hg.), Comparative Politics Today. A World View, 8. Aufl., New York City u.a. 2004, S. 112. 1829Paul Noack, Was ist Politik? Eine Einfiihrung in ihre Wissenschaft, Mfinchen / Zfirich 1976, S. 127. 1830Vgl. Roland Czada, DimemJonen der Verhandlungsdemokratie. Konkordanz, Ko~)oraKrmus, Politikverflechtung, polls-Heft Nr. 46/2000, Hagen 2000. 1826
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Organisationsstrukturen vorzufmden (im Vergleich zu Amerika lg31 haben die Parteien m Europa meist einen h6heren Organisationsgrad und erffillen Aufgaben, die fiber die Austragung yon Wahlk;,impfen hinausgehen, die meisten europiiischen Parteien sind Massenparteien). Dass diese Gememsamkeiten bei den Parteien bestehen, hat seine Wurzel in der konstimtionellen Gemeinsamkeit des Westens: In allen Staaten gibt es die Kombination zwischen rechtlicher Anerkennung der Volkssouver~initiit und repr~isentativem Demokratiemodell. Das ist das fibereinstimmende Demokratieverstiindnis der ,,Atlantischen Zivilisation". Parteien besitzen insofern fiberall in Europa die gleiche Transmissionsfunktion und in allen Staaten gibt es die Tendenz zu Massenparteien. Die Unterschiede liegen auf einer untergeordneten Ebene, z.B. in der Frage der Regelung der (grundsiitzlich fiberall abgesicherten) Parteienfmanzierung und in der Frage des formalrechtlichen Stares und Legitimationsstatus der Parteien. Die institutionelle Garantie einer freien 6ffentlichen Meinung macht darauf aufmerksam, dass wit in Bezug auf die Organisation der Gesellschaften bei allen westlichen Formen - mal mehr, mal weniger ausgepriigt- pluralistische Mittelstandsgesellschaften 1832 beobachten k6nnen. Der Pluralismus l~isst sich dabei als ,,autonom legitimierte Demokratie" defmieren (nach Ernst Fraenkel), d.h. dass zivilgesellschaftliche, regionale, religi6se, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Interessenakteure yon sich aus im politischen Aktionsfeld in selbstorganisierter Form in Erscheinung treten. Der Pluralismus in den westlichen Systemen lebt yon bestimmten Grundsiitzen, die in diesen Systemen fiberall anzutreffen ist. Dazu geh6rt ein bestimmtes Toleranzgebot im Streit der Interessen, die Achmng vor der Meinung der politischen Gegner, die weitgehend friedliche Austragung der Interessenkonflikte, die grundsiitzliche Gewiihrleistung, eine wirksame Interessenvertretung ffir alle, die den Wettkampf akzeptieren, zu garantieren, ein bestimmter Grad an Minderheitenschutz in Bezug auf politische und personale Minderheiten und die Gew~ihrleismng auch eines sozio6konomischen Mindestschutzes. In diesem Rahmen kann der Pluralismus selbstverstiindlich unterschiedliche Formen annehmen und reicht vom radikalen Pluralismus zum gemiil3igten (liberaler Korporatismus) und yore gemiil3igten Pluralismus zu einem substimierenden Korporatismus. Entscheidend ffir die Einteilung der jeweiligen Systeme ist die yon Siaroff entwickelte Korporatismusskala. 1833 Inzwischen finden sich in der entwickelten Pluralismusforschung fiberzeugende Kriterien ffir die jeweilige Einteilung der westlichen Systeme im Spannungsbogen zwischen Pluralismus und Korporatismus, welche auch noch das Mal3 an parteipolitischer Konkordanz 1834 und an gegenmajoritiirem Insftufonalismus, also an Verhandlungszw;,ingen im Staat lg35 miteinbeziehen. D a m n a c h k6nnen wir im Rahmen westlicher pluralistischer Systeme grob zwischen drei Liinderclustem unterscheiden: Die skandinavischen Systeme zeichnen sich dutch ein starkes Mal3 an Korporatismus, verbunden mit einem niedrigen Mal3 an Parteienwettbewerb, aus. Die mittelwesteuropaTschen Systeme (mit Ausnahme Belgiens) sind gepriigt yon (mindestens zwei) stark ausgepr~,igte verhandlungsdemokratische Strukturen, wobei starke Trends zu einem stiirkeren Parteienwettbewerb in C)sterreich und den Niederlanden zu konstatieren sind, w~ihrend sich in Deutschland die allm;,ihliche Ausdifferenzierung des Parteiensystems z.Z. eher umgekehrt 1831Vgl.John F. Bibby, Politics, Parties, and Election in America, 4. Aufl., Belmont (Ca.) 2000. ls32Vgl. Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien.Eine Einfi#Jrung, 3. Aufl., Opladen 2000, S. 55-78. 1833Vgl. Alan Siaroff, Co~oratism in 24 Industrial Democrade.~.Meaning and Measurement, in: European Journal of Political Research Nr. 36 (1999), S. 175-205. 1834Vgl. Jan-Erik Lane / David McKay / Kenneth Newton, PoliticalData Handbook. OECD Countries, Oxford 1991, S. 117ff. Ein hohes Mal3 ist vorhanden, wenn in einem langjiihrigen Durchschnitt mehr als 60 Prozent parlamentarischer Regiemngsunterstiitzung konstatiert werden kann 183sVgl. die Schmidt-Skala in Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien.Eine Einfiihrung, 3. Aufl., Opladen 2000, S. 352.
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auswirkt. Diese Entwicklung ktnnte nach einer Phase der Etablierung eines fluiden und polarisierten Vielparteiensystems jedoch - dem niederl~indischen und 6sterreichischen Beispiel ents p r e c h e n d - im Sinne einer st~irker symmetrischen Rechts-Links-Blockbildung unter Hinzutreten lmkssozialistischer und evtl. rechtspopulistischer K_difte revidiert werden. Die s~dwesteuropdischen (inklusive Frankreich und Italien und noch mit Ausnahme Portugals) und angelsdchsischen Systeme sind (wie auch das japanische System im Ubrigen) sind viel st~irker konkurrenzdemokratisch und nicht-korporatistisch gepr~igt. Die Regierungssystembesonderheit in den USA liegt dabei im pr~isidentiellen System und in Frankreich in der (informellen) Institution der Cohabitation im Falle nicht-gleichgerichteter Ausrichtung im Spannungsfeld zwischen dem sehr m;,ichtigen Staatspr~isidenten und dem Parlament. Allerdings spricht einiges dafiir, dass mit der Reform des franztsischen Wahlsystems (Verkiirzung der Amtszeit des Pr~isidenten, Parallelisierung von Parlaments- und Pr~isidentenwahlen) die Cohabitation fiir l~ingere Zeit der Vergangenheit angehtren ktnnte. Weitere zentrale Gemeinsamkeiten in den politischen Systemen des Westens finden sich im Bereich der Exekutiven: Hier sttBt der Beobachter im Westen allenthalben auf ausgepr~igte Staats- und Finanzbiirokratien, 6ffentliche Dienstleistungen und der Existenz yon klaren, zweckrationalen Policy-Zyklen. lg36 Das policy making kann dabei entweder als rational, komprehensiv, synoptisch oder aktiv, sukzessiv-limitiert, inkrementell bzw. reaktiv gekennzeichnet und dementsprechend typologisiert werden. Das westliche B/./rokratiekonzept steht indes/.iberall in den westlichen Systemen in einem durchgiingig w~ihrenden Spannungsfeld zwischen einem sich selbst produzierenden System und der Notwendigkeit der Erhaltung biirokratischer Funktions- und Leistungsf'~ihigkeit (Frage des strategisch und bfirokratisch eingebauten B/./rokratieabbaus und der B/./rokratiedurchl~issigkeit dutch organisierte oder intermediiire Verfahren). Neben den Gemeinsamkeiten zwischen den politischen Systemen im engeren Sinne lassen sich augenf'~illige )~quivalenzen im Bereich der rechtlichen und wirtschaftlichen Systeme auffiihren: Es ist unnttig, noch einmal gesondert auf die rechtsstaatliche Grundgemeinsamkeiten der westlichen Systeme hinzuweisen. Wir haben es durchg~ingig mit richterschaftlich abgesicherten Verfassungsstaaten zu tun, ob nun im Einzelnen formale Verfassungsgerichtsbarkeiten oder kodifizierte Einheitsverfassungen existieren oder nicht. Unterhalb dieser Ebene ergeben sich nat-tirlich auch im Bereich der rechtlichen Systeme graduelle Unterschiede im transatlantischen Vergleich: Insbesondere stehen sich die Common-Law-Tradition in den USA und GroBbritannien und die Kodifnkation des Privatrechts sowie die Absonderung des Offentlichen Rechts in Kontinentaleuropa gegen/.iber. 1837 Allerdings wurde auf Verfassungsebene in den USA die unabhiingige Verfassungsgerichtsbarkeit eingefiihrt, die es in dieser Form in GroBbritannien nicht gibt. Ein weiterer starker Gegensatz besteht in der Frage der Todesstrafe, die in 36 Einzelstaaten in den USA existiert. Die rechtsphilosophische Basis bildet der Schuldund Sthnegedanke. Recht und Justiz haben in diesem Kontext nicht nur eine Friedensfunktion, sondern eine politische Funktion zu erf/.illen. Eine ;,ihnliche Struktur zwischen gemeinsamen institutionellen Rahmen und graduellen Unterschieden in der nachgelagerten Ausgestaltung fmdet sich im Bereich der wirtschaftlichen Systeme: Ein entscheidender Unterschied innerhalb der Marktwirtschaften in wirtschaftsphiloso1836Vgl. Percy Allum, State andSociety in Western Europe, Cambridge 1995, S. 353-412. 1837Vgl. die Ubersicht in Ernst Fraenkel, Das amezfkanische Regierungssystem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 23-26 und Thomas Fleiner, Rechtsvergleichende Uberlegungen zum Staatsverstandnis in den La'ndern mit anglo-amerfkanischer und kontinentaleuropa7scher Rechtsordnung. Rechzs- und staatJphilosophische ar;wie kulturelle Aspekle, in: Peter H~iberle / Martin Morlok / Wassilios Skouris (Hg.), Staat und VerJassung in Europa. Ertra'ge des Mssenschaftlichen Kolloquiums Zu Ehren yon Prof. Dr. Th. Tsatsos aus AnlaJYseines 65. Geburtstages, Baden-Baden 2000, S. 43-51.
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phischer Hinsicht spielt sich zwischen einem sozialdarwinistischen und einem moralphilosophischen Konkurrenzprinzip ab. Letzteres gibt dem Wettbewerb einen gewaltenteiligen, antiwillkiirlichen Sinn: ,,dog eat dog". 1838 Das heutige Rezeptionsproblem besteht darin, dass die Europiier den Amerikanern ersteres vorwerfen, wiihrend sie letzteres in Verbindung mit der Lehre vom kompetitiv ausgerichteten Pragmatismus (also der Lernbereitschaft desjenigen, der im Wettbewerb unterliegt) als Legitimation ihrer freiheitlichen Wirtschaftsordnung heranziehen. 1839 Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage des Verh~iltnisses einer subsistenz- und tauschorientierten Marktwirtschaft und einer zinsorientierten, virtuellen und konzernf6rmigen Struktur des Kapitalismus. Die beiden Begriffe hatte F e m a n d Braudel aus historischer Sicht als Gegensatz herausgearbeitet: ,,Folglich ,schwimmt' [der] Kapitalismus auf einer doppelten Schicht, die aus dem materiellen Leben und der wirklichen Marktwirtschaft gebildet wird. Er repriisentiert den Bereich der groBen Profite. Ich habe also aus dem Kapitalismus einen Superlativ gemacht.'184~ Die geschichtswissenschaftlich herausgearbeitete Auffassung Braudels ist iiberzeugend. An der Bewertung k6nnen sich aber trotz dieser Differenzierung die Geister scheiden, da das Kapitalprinzip nicht nur nicht ohne die subsistenzorientierte Marktwirtschaft aufrechterhalten werden k6nnte und diese daher nur bis zu einem gewissen Punkt ,,ausbeuten" d/.irfte, sondem weil andererseits die Produktivitiit der Marktwirtschaft ohne das Kapitalprinzip nie so hiitte gesteigert werden k6nnen, dass daraus Fordismus, Meritokratie und Massenwohlstand h~itten resultieren k6nnen. Die Frage ist immer, wie mit dem Kapital umgegangen wird, das der Kapitalismus akkumuliert. Die Planwirtschaften, ebenfalls eine westliche Erfmdung, sind konsequenterweise allesamt 1989ff. gescheitert, wiihrend das Kapital in den marktwirtschaftlichen Systemen nach den Erfahrungen der zwanziger Jahre nicht mehr die marktwirtschaftlichen Strukturen hat zerst6ren k6nnen, wie die Skeptiker und Leninisten immer wieder behaupteten. Die Phase der ,,Globalisierung", in welche nun die Welt nach dem Fall des Sozialismus getreten ist, gewinnt in 6konomischer Hinsicht den Charakter eines Siegeszugs sowohl des Kapitalismus als auch der Marktwirtschaft. Entlang der Frage der Bewertungen in diesem Kontext haben sich nun unterschiedliche Formen des Kapitalismus im Westen herausgebildet. Nach Gosta Esping Anderson kann in den saturierten Industriegesellschaften des Westens Liberal Welfare (USA, GroBbritannien), Conservative/Co{poratist Welfare (Frankreich, Deutschland und Italien) und Social Democratic Welfare States (Schweden) unterschieden werden I841, nach Peter Hall und David Soskice 1842 zwischen Organized oder Coordinated Market Economies (OME), Liberal Market Economies ( L M E ) und Mischformen. O M E s basieren demnach entweder auf steuerfinanzierte Sozialleistungen (Skandinavien) oder beitragsfinanzierte Sozialleistungen (Mittelwesteuropa), wobei sich aufgrund demo-
1838Vgl. Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel. PolitischeTheolgeund Ve~assungskommentar der amedkanischen Gr~ndervaTer,hg. yon Angela und Willi Paul Adams, Paderbom u.a. 1994, 10. Artikel, S. 50-58. 1839Vgl. Michael Novak, North Atlantic Community, European Community. DivergentPaths and commonvaluesin Old Europe and the UnitedStates, in: National Review Online (http://www.nationalreview.com), 23. juli 2003, 10:45 a.m. (Auszug einer Rede vor der Hayek Foundation am 3. Juli 2003 in PreBburg). 1840Femand Braudel, Die Dynamik des Kapitalismus, 2. Aufl., Stuttgart 1991, S. 99. Vgl. auch die priignante Erliiuterungin Femand Braudel, Die Geschichteder Zivilisation. 15.-18.Jahrhundert,M/inchen 1979, S. 12ff. 1841Vgl. Oosta Esping-anderson, The Thee Worldsof Welfare Capitalism, Cambridge 1990. 1842Vgl. Peter Hall / David Soskice (Hg.), Varieties of Capitalism: The InstitutionalFoundations of ComparativeAdvantage, Oxford 2001.
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graphischer Probleme auch in Mittelwesteuropa (Deutschland, Osterreich, Schweiz, Beneluxstaaten) ein eindeutiger Trend zur Steuerfmanzierung konstatieren liisst. Die LMEs orten die beiden Wissenschaftler in den USA, in GroBbritannien, Irland, Kanada, Australien und Neuseeland, die Mischformen in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und der Tiirkei. Nach den Einstellungen in Bezug auf staatliche Sozialverantwortung gefragt (gem. International Social Survey Program 1996, Government Responsibility for Dealing with Social Issues) f'~illt auf, dass Schweden und Westdeutsche viel marktorientierter eingestellt sind als ihr System und dass in der grunds~itzlichen Marktorientierung ein starker Abstand zwischen stark marktorientieren Amerikanern und Westdeutschen auf der einen und dem Rest auf der anderen Seite zu verzeichnen ist.
1.2 Partizipation und Werteinstellungen
Die iiul3erst niedrigen Wahlraten in den USA werden oft als Ausweis einer niedrigen demokratischen Partizipation im Unterschied zur europiiischen interpretiert. D o c h sind diese Raten nicht sehr aussagekriiftig, da Wahlen zuniichst einmal institutionell zu scheiden sind: hier zum Regierungseinberufungsparlament, dort zu den stark legislativen F6derations- und Arbeitsparlamenten, i.e. Senat und Repriisentantenhaus. D o c h auch bei der Direktwahl des USPriisidenten hiilt sich die Beteiligung in Grenzen. Allerdings stellen Wahlen nur eine besondere Form der Partizipation dar. N i m m t der Betrachter alle m6glichen Partizipationsformen zwischen den USA und Europa zur Kenntnis, so ergibt sich ein Bild der inneratlantischen Ununterscheidbarkeit: Neben den Wahlen wiiren da noch die Kampagnenaktivit~iten (andere von einer Wahl iiberzeugen, Wahlkampf- und Parteiveranstaltungen besuchen, fiir eine Partei oder einen Kandidaten arbeiten), kommunale Aktivitiiten (Petitionen unterzeichnen, in oder mit Biirgerrechtsgruppen arbeiten) sowie Protestaktivit~iten (an gesetzesmiil3igen Demonstrationen teilnehmen, an Boykotten teilnehmen, an inoffiziellen Streiks teilnehmen) heranzuziehen. 1843 In Bezug auf die Wertedimension f6rdem die Daten aus dem Word Values Survey 19951998 die relevantesten Werte zu Tage1844: Die Gesellschaften wurden dabei auf zwei Dimensionen der kulturvergleichenden Varianz untersucht: Inglehart 1845 nennt die Dimensionen ,,Traditionell contra weltlich-rationale Autoritiit" (wobei gemeint ist: traditionell-konservative contra emanzipatorisch-liberale Werteinstellungen) 1846 und ,,Uberlebens- versus Selbstartikulationswerte ''1847. Selbstartikulationswerte werden dabei problematischerweise nur als postmaterielle Selbstartikulationen in einem liberal-emanzipatorischen Sinne verstanden.
1843Vgl. RussellJ. Dalton, Citizen Politics in Western Democracies, 2. Aufl., Chatham 1996, Kapitel 3 und 4. Vgl. insgesamt Ronald Inglehart, Kultur und Demokratie, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (Hg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den IVortschrittprdgen, Hamburg / Wien 2000, S. 123-144, 127-131. 1845Vgl. Ronald Inglehart, Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicherund politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1998, S. 122. 1846Fragestellungen: Bedeutung von Familienbanden, Respekt vor der Autoritiit (einschliel3lich relative Akzeptanz der Milit;,irherrschaft), Vermeidung von politischem Konflikt, Hang zum Konsens, Betonung der Religion, Betonung absoluter Mal3st{ibe, konservative Familienwerte, Bef/irwormngyon Grol3familien, Haltung zu Scheidung, Abtreibung, Euthanasie und Selbstmord, Betonung sozialen Konformismus (anstelle individuellerLeistung), Mal3 an Nationalstolz und nationalistischer Perspektive (vgl. ebd., S. 127). 1847 Fragestellungen: Betonung von Selbstartikulation, subjektivem Wohlbefinden und Lebensqualitiit, zunehmende Betonung des Umweltschutzes und von Fraueninteressen, zunehmende Forderung nach Mitsprache am Entscheidungsprozessen im wirtschaftlichen und politischen Leben (vgl. ebd., S. 128). 1844
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Anhand der Daten lassen sich nun , , Z i v i l i s a t i o n e n c l u s t e r " abbilden. 1848 Eine zivilisationenorientierte ,,Kulturgeographie unserer Welt" kann damit einstellungsempirisch untermauert werden. 1849 Es f'~illt auf, dass westliche und nicht-westliche Gesellschaften sich in der Frage der Werthaltungen grundsiitzlich unterscheiden. D o c h ergeben sich auch im innerwestlichen Vergleich auff';illige Unterschiede: In der Dimension traditionell/liberal sind demnach die Amerikaner (nach den Iren) die konservativste Gruppe. Die englischsprachigen Protestanten wiederum sind ebenso konservativer als die Katholiken, wobei die nicht-englischsprachigen Protestanten wiederum die Liberalsten sind. Zugleich haben die USA (wie alle westlichen Nationen) einen h o h e n Wert der Selbstartikulation, gefolgt von den katholischen L~indern. Und: Die orthodoxen Liinder (Griechenland wurde nicht untersucht) sind genauso liberal orientiert wie die westeurop~iischen (und allesamt viel liberaler als die USA), haben aber im Weltvergleich die stiirksten Oberlebenswerteraten, sind also (wie erw~.hnt: auger Griechenland) h6chst materialistisch orientiert. Damit k6nnte behauptet werden, dass der ex-kommunistische Charakter der O r t h o d o x e n eindeutig stiirker ist als der christlich-orthodoxe, da letzter von seiner Werteinstellung eindeutig traditionell-konservativ, abet zugleich immaterialistisch orientiert ist. Das bedeutet im Schluss, dass es immer auch auf die Institutionalisierung von Selbstartikulationen von Werthaltungen ankommt, wenn Wertepriigungen erzeugt werden sollen. Damit liegt es in der Natur der Sache, dass gerade offene Gesellschaften sich dadurch auszeichnen, immer wieder eine (durchaus konflikttriichtige) Diskussion tiber auch fundamentale Werthaltungen zu fiihren, und dass daraus resultierende innergesellschaftliche Briiche nicht grundsiitzlich als freiheits- oder demokratiegef'~ihrdend aufgefasst werden sollten. Was die Gef';ihrdung betrifft, k o m m t es nut auf den Extremgrad aller m6glichen Wertepositionen an, nicht auf ihre Inhalte an sich, unabhiingig von der Frage eines expliziten Extremitiitsgrades. Eine extreme materialistische Orientierung ist genauso wenig demokratief6rdernd wie eine extreme Wertorientierung. Jedenfalls bleibt am Ende festzuhalten, dass Diskussionen tiber Werte an sich schon Auswirkungen auf die gesamte Wertestruktur der (natiirlich m6glichst fiir Reversibilit~iten offen zu haltenden) politischen Entscheidungen zeitigen, wenn auch die vorhandenen Werthaltungen selbst in kurz- bis mittelfristiger Perspektive relativ stabil bleiben. 185~Welche Werte sich durchsetzen, ist also eine Frage der Bereitschaft zur politischen Auseinandersetzung.
2. Die westlichen Systeme und Gesellschaften in globaler Perspektive und die ,,pazifische Herausforderung" Im Vergleich zu nicht-westlichen Zivilisationen s i n d - unabhiingig von den kulturhistorischen D i c h o t o m i e n - die Unterschiede an den politischen Systemen einerseits und an der sozio6konomischen Dynamik andererseits festzumachen. In politischer Hinsicht sind immer noch klare Unterschiede zwischen den freiheitlich-republikanischen Verfassungsstaaten im Westen (plus ~848Vgl. Ronald Inglehart, Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, Mrtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1998, S. 137f. (allerdings sind diese Cluster nicht beim sogenannten dynamischen ,,Wertewandel", also der Liberalisierungyon Einstellungen, zu verzeichnen. Hier sind die )~hnlichkeitengroB, besonders zwischen der jungen Generation prosperierender auBerwestlicherund westlicher Gesellschaften:vgl. ebd., S. 188 und 205-214 Islamische Gesellschaften wurden jedoch nicht untersucht. Eine weitere Einschriinkung ist in der Tatsache zu beobachten, dass der Wandel - auch nach Inglehart zu einem Ende zu kommen scheint. Nicht nut Inglehart sieht die niedrigen Fertilitiitszahlenunter Postmaterialistenals untrCiglichesIndiz dafiir an: Vgl. ebd., S. 468-472). 1849 Vgl. ebd., S. 137f. 1850S. auch das eindeutige Schaubild in Ronald Inglehart, Kultur und Demokratie, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (Hg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschrittpra'gen, Hamburg / Wien 2000, S. 123-144, 139.
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Kapitel X
Japan) u n d den nicht-westlichen LS_ndern zu konstatieren. Mit A u s n a h m e der neodemokratischen Schwellensysteme (Tiirkei, Indien, Mexiko, Brasilien, Siidkorea, T a i w a n u n d mit starken autoritiit e n G e s e l l s c h a f t s s t r u k t u r e n I n d o n e s i e n , Thailand, Malaysia, Singapur, Nigeria) lassen sich die vorindustriellen N a t i o n e n politisch-institutionell nach Gabriel A. A l m o n d d e m n a c h folgendermaBen stichwortartig einteilen1851: -
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,,neotraditionalepolitische Systeme" (Saudi-Arabien und Scheicht/imer am Persischen Golf: Karat, Vereinigte Arabische Emirate): autoritiir-oligarchische Ordnung strukmreller Natur, Einschriinkung der politischen Freiheiten dutch plutok:ratische Strukmren, kaum liberale Freiheiten, selektive Modernisierung, hoher Versorgungsund Wohlfahrtsstandard ,,personaigej~ Systeme" (subsaharische Staaten, z.B. Kongo): autoritiir-oligarchische Ordnung personaler Namr, kaum politische Freiheit durch Verabsolutierung traditioneller Klientel-, Stammes- und Erbstrukturen, kaum liberale Freiheiten, labile Sicherheitsstrukturen, keinerlei Modernisierung, sintflutartig niedriger Versorgungsstand (bzgl. Gesundheit, Alphabetisierung, Wachstum, Lebenserwartung), kurz: Aftnut ,,Kletikalmobilisierende bz'w. islamisch-revolutiona're Kletikal-Regime" bzw. islamische Theokratien (schiitisch im Iran, sunnitisch ehemals in Afghanistan und in Teilen Pa~stans sowie TadschiNstans, Turk:menistans und Tschetscheniens, starke Bewegungen in )~gypten und Algerien, neuerdings auch im Irak18S2):autoritiir-oligarchische Ordnung Nerikaler Natur, mobilisierendes Moment, kaum politische Freiheiten, selektive Modernisierung bei den Schiiten (Libyen, Iran, hier eindeutig technok_ratisch-distributive Elemente, s.u.) oder keine bei den Sunniten (ehemaliges Afghanistan), antiwestliches Kulmrkampfprimat ,,technokratisch-repressive" Oligarchien (ehmg. Indonesien, teilw. Tfirkei, Teile Sfidamerikas, Syrien, )~gypten, Pakistan): autoritiir-oligarchische Ordnung struktureller Natur, bestehend aus einer Koalition von politisch und wirtschaftlich aktiven Zivilisten, Milizioniiren und Milit{irs, zum Zwecke einer Klientelpolitik oder eben einer expertoDatisch-aristokratisch vorgestellten, extensiven Wachstumspolitik, kaum liberale Freiheiten, selektive Modernisierung, im Unterschied zu den neotraditionalen Systemen keine traditionalistische, sondern expertoDatisch oder interessenklientelistisch ausgerichtete Selektion ,,technokratisch-distributive" Ex~ertokratien (,,Entwicklungsdiktaturen"), z.B. das vordemoDatische Sfidkorea: zur extensiven Wachstumspolitik kommen noch kurzfristige sozialpolitische Zielsetzungen hinzu, die allerdings nicht traditional oder religi6s-ideologisch eingeschriinkt sind (neben Landreformen, Industrialisierung kommen noch Bildungsrefonnen hinzu ,,technokratisch-mobilMerende" Systeme (ehmg. Sowjetunion und der ganze Ostblock, Kuba, China, Vietnam, Nordkorea, das ehmg. Taiwan, das ,,ideologische" Syrien, das ehemalige Mexiko, faschistische Systeme in der europiiischen Geschichte): revolutioniir-technok_ratischeEinparteienregime, die faktische technok_ratische Repression unterliegt einem fiberragenden ideologischen (kommunistischen, panarabischen oder nationalistischem) Prinzip, das nicht religi6s oder traditionell eingeschriinkt wird, das aber, im Gegensatz zu den ,,technokratisch-distributiven" Regimen, immer nut ein Kollektixqprinzip,kein Individualprinzip sein kann.
Als Erkliirungsfaktoren fiir diese U n t e r s c h i e d e sollten nicht die K u l t u r e n an sich h e r a n g e z o g e n werden. S o z i o 6 k o n o m i s c h e n t s c h e i d e n d ist es, dass die E x i s t e n z einer breiten Mittelschicht als V o r a u s s e t z u n g einer f u n k t i o n i e r e n d e n D e m o k r a t i e ls53 in diesen Liindern oft fehlt. F r e N c h ist die fehlende Existenz auch v o n kulturellen U r s a c h e n abhiingig. 1854 Kulturell lassen sich (idealtypisch) die auBerwestlichen Systeme als statische K u l t u r e n im G e g e n s a t z zu den progressiven
18sl Vgl. Gabriel A. Almond u.a. (Hg.), Cbmparative Politics Today. A World View, 8. Aufl., New York City u.a. 2004, S. 152f. 1852Besonders brutal war z.B. die kurze Schreckensherrschaft der Mullahs im irakischen Falludscha bis zur erl6senden Befreiung dutch die Amerikaner. Diese ganz besonders brutale Schreckensherrschaft wurde yon den europ~iischen Medien in skandal6ser Weise ignoriert! (vgl. Ned Parker, In Falluds&a: ,,Wir lebten in st?/ndiger Angst", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. November 2004, S. 8). 1853Vgl. Erich Weede, EntMcklungsla'nder in der Weltgesellschaft, Opladen 1985. 18s4Vgl. Werner Kaltefleiter, Die freien Gesellschaften- eine kleine radikale Minderheit?, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschaft undpolitische Ordnung. Ana[Tsen W Theorie und Empirie demokratischer Regierungs~steme, Opladen 1986, S. 70-80, 75f.
Politische Systeme und Gesellschaften des Westens im phiinomenologischen Querschnitt
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o d e r d y n a m i s c h e n K u l m r e n des W e s t e n s k e n n z e i c h n e n . 1855 D e m n a c h stehen sich, nach k o n kreten Kriterien geordnet, folgende kulmrelle Muster gegeniiber: -
In der Zeitorientierung stehen dynamische Zukunftsorientiemngen statischen Vergangenheits- und Gegenwarts-
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Im Arbeitsverstdndnis spielen in den dynamischen Systemen Wohlergehen, Strukturiertheit des Arbeitsprozes-
fixierungen gegen/iber.
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ses, Verquickung mit finanzieller Belohnung, Befriedigung und Selbstachtung eine sehr zentrale Rolle und verbinden sich mit ausgepriigten Orientiemngen an Werte wie Fleil3, Kreativitiit und Leismng. Dem stehen unstrukturierte Arbeitsprozesse und das grundsiitzliche Verstiindnis der Arbeit als Last in statischen Kulturmustem entgegen, was nat/irlich in Zusammenhang mit der Abhiingigkeit der Betroffenen von schwerer k6rperlicher Anstrengung im Abreitsleben in einem nachvollziehbaren Zusammenhang steht. Im Investitionsverstdndnis erweisen sich dynamische Systeme als proaktiv, rational und optimistisch und bewerten Investitionen grundsiitzlich positiv, wiihrend statische Systeme hierin einen Eingriff in den traditionalen Status Quo erblicken. In der Frage der materiellen Geniigsamkeit im Falle des unverho~ten Aufstiegs f/ihren dynamische Systeme zu mehr Diszipliniertheit und Genfigsamkeit bei den Betroffenen. Im Er~ehungs- und Bildungsverstdndnis wird in dynamischen Kulmren in der Edukation der Schlfissel zum Aufstieg und Fortschritt angesehen, wiihrend sie bei den statischen Kulmren nur eine nebensiichliche Bedeumng f/Jr die Massen besitzt und als Elitenangelegenheit angesehen wird. Im Gemeinschaftsverstdndnis stehen natiirliche Gemeinschaften (Familie, Nation) in dynamischen Kulturen nicht alleine: Es werden auch andere gebildet oder die natiirlichen konstruktivistisch reflektiert. Statische Kulmren beschriinken sich auf die Familie und pflegen ein unreflektiertes Nationsverstiindnis In der Korruptionsdichte stehen sich niedrige Indexaverte und hohe Indexwerte gegenfiber. ,,Gerechtigkeit und Fairness" gilt in dynamischen Kulturen ohne Ansehen der Person als wichtige normative Voraussetzung gesellschaftlichen Zusammenlebens, wiihrend es in statischen Kulturen dutch klientelistische, nepotistische, fatalistische, evtl. auch rein materialistische Verst~indnisse/_iberlagertwird. Das Autoritdtsverstdndnis zeichnet sich in dynamischen Kulmren durch Horizontalitiit und Begrfindungsnotwendigkeit aus und steht der Vertikalitiit und Tabuisiemng in statischen Kulmren gegen/iber. In der Frage der Sdkularisierung haben wit es bei dynamischen Kulmren mit einer Trennung von zivilen und religi6sen Strukturen zu tun, wiihrend statische Kulmren starke Verquickungen, evtl. auch abergliiubische Strukmren aufweisen.
In A n l e h n u n g an W e b e r u n d P a r s o n s liisst sich z u s a m m e n f a s s e n , dass dynamische K u l m r e n d y n a m i s c h e Gesellschaften erzeugen helfen u n d letztere sich d a d u r c h auszeichnen, dass Klass e n b e z i e h u n g e n in sozialen Systemen leistungsbezogen u n d nicht klientelistisch bzw. askriptiv strukturiert stud, dass eine h o h e soziale u n d r~iumliche Mobilitiit u n d keine soziale Stagnation v o r h a n d e n ist, dass Systeme der Neutralitiit u n d Sachlichkeit affektiven Systemen gegeniiberstehen, es einen h o h e n G r a d an Arbeitsteilung gibt, S t a d t - L a n d - K o n t i n u u e n , U b e r f o r m u n g e n des U m l a n d e s u n d ein a b s c h m e l z e n d e r S t a d t - L a n d - G e g e n s a t z (,,counterurbanization") vorh e r r s c h e n d ist u n d H y p e r u r b a n i s i e r u n g s f o r m e n nicht v o r k o m m e n . 1856 D a r i i b e r hinaus zeichn e n sich d y n a m i s c h e Gesellschaften d a d u r c h aus, dass k o m p l e t t diametral z u e i n a n d e r s t e h e n d e A l t e r s s t r u k t u r e n in den Bev61kerungen vorliegen 18s7, w o b e i u m s t r i t t e n ist, inwieweit das - trotz aller Relativierungen 18s8 - als ein Verfallszeichen angesehen w e r d e n sollte. Stark unterschiedliche Haushaltsgr613en 18s9, W i r t s c h a f t s w a c h s t u m statt Wirtschaftsstagnation u n d die D o m i n a n z
1855Vgl. im folgenden Lawrence E. Harrison, The Pan-American Dream, New York 1997 und Ders., Zur Fb'rderung eines fortschrittlichen kulturellen Wandels, in: Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (big.), Streit um Werte. Wie Kulturen den tVortschrittprdgen, Hamburg / Wien 2000, S. 311-326, 315f. 1856Vgl. J/.irgen Biihr, Bevb'lkerungsgeographie, 3. Aufl., Stuttgart 1997, S. 75-80, 83f. u. 90-97. Vgl. ferner Katja Gelinsky, Amerikas Stddte schrumpfen. San Francisco alsgrofler Verlierer, in: Frankfurter Allgemeine Zeimng, 2. Juli 2005, S. 9. 1857Vgl. Jfirgen Biihr, Bevb'lkerungsgeographie, 3. Aufl., Stuttgart 1997, S. 107-111. 1858Vgl. beispielsweise Frank Schirrmacher, Das Methusalem-Komplott, Mfinchen 2004. 1859Vgl. Jfirgen Biihr, Bevb'lkerungsgeographie, 3. Aufl., Stuttgart 1997, S. 114f.
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Kapitel X
des sekund~iren und tertiiiren Sektors im Wirtschaftsleben 186~ gar das Vorhandensein ,,postindustrieller Gesellschaften ''1861, vollenden den Kriterienkatalog. Wird anhand dieser Vielzahl an Kriterien die Situation zwischen den OECD-L~indern und dem Rest der Welt niiher unter die Lupe genommen, bestiitigt sich das Bild dessen, was auf der Hand zu liegen scheint, eine Zivilisationsbesonderheit des kulturhistorisch resultierenden Westens auch m den gesellschaftlichen und sozio6konomischen Zusammenhiingen und eine in diesem Rahmen vorzufindende, deutliche transatlanfische Gemeinsamkeit. Rep~isentativ fi.ir dieses Ergebnis sind z.B. auch die neuesten Erhebungen yon A l m o n d und Verba, die im Zeitraum zwischen 1990 und 1998 getiitigt worden sind. 1862 Dabei wurden folgende Liinder untersucht: Grol3britannien, Frankreich, Deutschland, USA und Japan auf der einen Seite und Brasilien, China, Agypten, Indien, Mexiko, Nigeria und Russland auf der anderen. Es f~illt auf, dass kaum Unterschiede zwischen den USA und Westeuropa (inklusive Japan ls63) ins Gewicht fallen. Im Verh~iltnis zwischen westlichen und nicht-westlichen Gesellschaften ist indes weiterhin eine betr~ichtliche Vielzahl yon Differenzindikatoren ausfmdig zu machen, d.h. Indikatoren, welche die These der strukturellen Differenzen zwischen dem Westen und dem Rest untermauem. Die im Vergleich zwischen den USA und Europa einerseits und zwischen der OE C D und dem Rest andererseits auff~illigen Ausnahmen yon der Grundstruktur zweier ziemlich konvergenter Grol3einheiten (westliche Zivilisation und der Rest) sind sehr iiberschaubar; es sind genau drei an der Zahl: Bei den Bildungsausgaben des Staates (in Prozent des Bruttosozialprodukts; Daten yon 1997) fallen Deutschland und Japan hinter Brasilien, Mexiko und (ira Falle Japans) )~gypten zuriick. Bei den Totschl~igen und Morden pro K o p f durchbrechen die USA die Einheit der O E C D - G r u p p e und liegen hinter Russland, Brasilien und Mexiko, wenn auch mit geh6rigem Abstand, an vierter Stelle (Erhebungszeitraum 1987-1995). Schliel31ich fallen in den USA im transatlantischen Vergleich einige abweichende Indikatoren auf, auch wenn das nicht so weit geht, dass die Dichotomie zwischen O E C D - L i i n d e m und NichtO E C D - L i i n d e m dabei aufgel6st wird: So zeichnen sich die USA in diesen Rahmen durch relativ niedrige Zeitungslektiire und relativ hohen Femseh- und PC-Konsum, andererseits aber auch durch eine relativ hohe Schulbesuchquote im terti~iren Schulbildungssegment aus, wobei letzteres sich mit einer ganz eigenen, nivellierenden Segmentstruktur im Bildungssektor erkliiten liisst und daher nicht unbedingt in positiver Hinsicht hervorgehoben werden kann. 1864 Diesen abweichenden Indikatoren stehen wie erwiihnt eine Ffllle der sogenannten Differenzindikatoren (wie oben beschrieben) entgegen, die der Vollstiindigkeit halber kurz aufgez~ihlt werden sollen: In den westlichen Liindem gibt es im Unterschied zu den nicht-westlichen Liindem demnach keine Unterem~ihrung (0 %), breite Konsumm6glichkeiten einer Masse yon Menschen fiber die materiellen Grundbediirfnisse hinaus, einen sicheren Zugang zu sauberem
J/irgen B{ihr, Bevb'lkerungsgeographie,3. Aufl., Stuttgart 1997, S. 139. 1861Vgl. Alain Touraine, Die postindustrielle Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1972; Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt / New York 1975 (Ira Unterschied zum Begriff der ,,postmodemen Gesellschaft" wird die Relevanz der Modeme im nachindustriellen Zeitalter nicht fiber Geb/ihr revidiert). Entscheidendes Merkmal der postindustriellen Gesellschaft nach Bell ist die Tatsache, dass - nach der Phase der Gmndlegung der Gesellschaft mittels Verfiigbarkeit fiber die Produktionsmittel und spiiter mittels der Bfirok_ratie- das ,,theoretische Wissen" zu einem grundlegenden Rohstoff der Gesellschaftwird. 1862 Vgl. die Statistiken in Gabriel A. Almond u.a. (Hg.), Comparative Politics Today. A World View, 8. Aufl., New York City u.a. 2004, S. 141ff. 18~3Japan ist als Beweis anzusehen, dass der Westen nicht mit einer ,,wissenschaftlich-technischen" Zivilisationgleichzusetzen ist: Japan beweist nicht-westliche Wege in die technisch-wissenschaftlicheModernitiit (vgl. auch S.N. Eisenstadt, Multiple Modernities in an Age oifGlobalization , in: CanadianJournal of Sociology24 (1999), S. 283-295). 1864Vgl. Austin Ranney, Politics in the United States, in: Gabriel A. Almond u.a. (Hg.), Comparative Politics Today. A World View, 8. Aufl., New York City u.a. 2004, S. 743-786, S. 777f. 1860 Vgl.
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Wasser (100% Zugang), sichere sanitiire Anlagen (100% Zugang), hohe Gesundheitsausgaben des Staates, die allesamt fiber 5 Prozent des Bruttosozialproduktes liegen, einen hohen Anteil der Naturwissenschaftler (fiber 2 Prozent der jeweiligen Gesamtbev61kerungen), eine hohe Lebenserwartung (fiber 75 Jahre), eine niedrige Kindersterblichkeit (unter 10 Promille pro Geburt186s), eine relativ niedrige Geburtsrate (unter 2.11866), ein intensive Zeimngslektiire (fiber 200 Zeitungen ~_ 1000 Personen mit emer hohen Spannbreite im Westen), eine hohe Femseherdichte (fiber 500 Fernseher ~ 1000 Personen mit einer hohen Spannbreite im Westen und bei den Nicht-OECD-Liindern), eine hohe Telefonanschlussdichte (fiber 500 Telefonanbindungen fi 1000 Personen), eine hohe PC-Dichte (fiber 200 PCs fi 1000 Personen), hohe Schulbesuchquoten in der Sekundar- und Tertiiirstufe (fiber 90/40 Prozent), eine sehr niedrige Analphabetenrate (unter 1 Prozent, zusammen mit Russland) 186v, keine ausufemde milit~irische oder strukmrelle polizeiliche Gewalt (mit Abstrichen auch in Brasilien, Mexiko und Indien). N u n stellt sich die Frage, inwieweit der hier zum Ausdruck k o m m e n d e Zivilisationszusammenhang im transatlantischen Verhiiltnis durch eine pazifische Herausforderung relativiert werden k6nnte. Schon im 19. J ahrhundert gab es die Vorstellung, dass nach dem Aufstieg Amerikas die Zivilisationsbewegung nach Westen bis nach China, Japan und Sibirien ,,weiterwandern" wiirde, und von dort aus bis zum zweiten Umlauf der Erde. Man steigerte sich vereinzelt in eine Vorstellung hinein, Europa als m6glichem neuen ,,Orient" zu begreifen und Amerika als Part der globalen Mitte. 1868 Der Giiteraustausch zwischen den USA und dem pazifischen Raum ist nun in der Tat inzwischen gr613er als derjenige zwischen den USA und Europa (allerdings nur, wenn Kanada nicht mit eingerechnet wird). 1869 Der Unternehmergeist wandert mehr und mehr in den pazifischen Raum ab: Langfristig k6nnte ,,die paziflsche Herausforderung" die Vorherrschaft einer potentiellen ,,Atlantischen Zivilisation" bedrohen. 18v~ D o c h die transatlantischen Handelsstr6me sind im Gegensatz zu den transpazifischen ,,ausgewogen und daher vergleichsweise konfliktfrei 'qfvl, auBerdem sind die Direktinvestitionen im transatlantischen Raum jeweils auf einem sehr hohen Anteilsstand (je fiber 50 Prozent in Europa und fiber 60 Prozent in den USA) 1872. Dass amerikanische Direktinvestitionen in Europa auch gegeniiber dem Weltdurchschnitt des Direktinvestitionsanstiegs zwischen 1982 und 1995 (+9,9 % jS.hrliche Wachstumsrate) iiberdurchschnittlich gestiegen sind (+ 11, 1 % ) , relativiert die transpaziflsche Herausforderung um ein weiteres. Aul3erdem sprechen auch
1865Vgl. auchJ/irgen Biihr, Bevb'lkerungsgeographie, 3. Aufl., Stuttgart 1997, S. 190-193. 1866Vgl. Gabriel A. Almond u.a. (Hg.), Comparalive Politics Today. A World View, 8. Aufl., New York City u.a. 2004, S. 209, 216ff. und 232-235. F/ir einen kulturellen Faktor spricht dabei, dass ,,selbst die h6chsten [vor hundert Jahren] in Nordwest- und Mitteleuropa registrierten Werte [..] welt unter den heute beobachteten einzelner Staaten der Dritten Welt" blieben (ebd., S. 210f.). 1867Vgl. ebd., S. 134. 1868Vgl. Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denken~: Band I: Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum Beginn des Imperialismus, G6ttingen 1972, S. 459f. und Ders., Geschichte des wel~olitischen Denkens. Band II." Zeitalter des Imperfalismus und der Weltkriege, G6ttingen 1982, S. 339f. 1869Vgl. Gebhard Schweigler, Die Atlantische Gemeinschaft. Schicksal, Sicherheit und Werte, Ebenhausen 1997 und insgesamt auch WolfgangH. Reinicke, Die Transatlantische Wirtschaftsgemeinschaft. Motorfiir eine neue Partners&aft?, G/itersloh 1997. 1870Vgl. Felipe Fem~mdez-Armesto,Millennium. Die Weltgeschichte unseres Jahrtausends, 5. Aufl., M/inchen 1998, S. 691844. 1871Gebhard Schweigler,Die Atlantirche Gemeinschqfi. Schicksal, Sicherheit und Werte, Ebenhausen 1997, S. 44. 18v2Vgl. ebd., S. 44f. und Andreas Mihm, (,,ami.'~ Nicht Mars, nicht Venus- Merkur regiert die transatlantischen Be~ehungen. Trotz Irak-Streits und Asien-Booms ist die Wirtschaft yon Europa und Amerika so tief verwoben Me no& hie, in: Frankfurter Allgemeine Zeimng, 28. Mai 2004.
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folgende Zahlen fi,ir atlantische Relafionen1873: Die amerikanischen Investitionen alleine in die Niederlande waren in den vergangenen acht Jahren zehn Mal gr6Ber als in China (und zweimal gr613er sogar als in Mexiko). Die amerikanischen Invesfitionen in Ostmitteleuropa sind heute schon um 60 Prozent umfangreicher als die in China. Die EU investiert heute alleine in Texas mehr als die USA in Japan und 75 Prozent der europiiischen Auslandsinvestitionen gelangen heute in die USA. Alleine Siemens beschiiftigt 70 000 Amerikaner in den USA. Aul3erdem gibt es einen eindeutigen und kontinuierlichen ,,Trend wachsenden Handels" zwischen Amerika und Europa, trotz Asien-Euphorie, trotz Nafta, trotz Irakkrieges und trotz transatlantischer Handelsscharmiitzel. 41% des BSP und fiber 50% des Handels- und Investitionsflusses der Welt entfallen auf die beiden Wirtschaftsr~iume. Die USA und Europa sind eindeutig immer noch die ,,twin turbines of the global economy "1874 und werden das auf absehbare Zeit auch bleiben. 1875 Was oft unterschS_tzt wird, ist die Tatsache, dass es im Rahmen von personellen Netzwerken starke gegenseitige Interpenetrationen und Verflechtungen transnafionaler Art gibt. So ist auf das Weltunikat eines atlantischen Netzwerkes hinzuweisen, dass anhand der Personalverflechtungen im Sinne von Doppelfunktionen zwischen den gr613ten Industriekonzemen und Banken Europas und Amerikas empirisch leicht nachzuweisen ist. 1876Die Besonderheit liegt dabei nat/,irlich in der aus diesen personellen Verflechtungen heraus resultierenden inneratlantischen Kapitaldynamik. Die Herausbildung von beachtlichen Mengen originiir atlantischer Kapitalkr~ifte ist schliel31ich die Folge. D e n handelspolitischen Herausforderungen fiir diesen h6chst interdependenten Wirtschaftsraum k6nnte durch abgestimmte und integrationsf'~ihige Handelspolitiken eines einheitlich agierenden Westens begegnet werden. Zu den gemeinsamen Herausforderungen z~ihlen insbesondere die Begegnung der Billigkonkurrenz Chinas und Indiens, die Aufrechterhaltung von Protektionsfreiheit der Weltwirtschaft insoweit, als dass keine Depression generiert wiirde, eine integrierte Energie- und Umweltstrategie, welche die Abhiingigkeiten der nordatlantischeuropiiischen Wirtschaften yon fossilen Energietriigern abbauen helfen wiirde, eine integrierte Abstimmung in Bezug auf die schrittweise und kluge Zuriickfiihrung des westlichen Agrarprotektionismus und die Verhinderung einer Dollarkrise dutch globale Finanzreformen. 1877
3. Innerwestliche Grundsatzfragen im transatlantischen Widerstreit 3.1 Demokratie und Elite
a) Die Existenz von Parteien und die Frage der Demokratisierung westlicher Systeme Die westlichen Vermassungsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts hatten zur Folge, dass die Ablehnung von Parteien auf der Basis eines zwar theoretisch weit verbreiteten, aber trotz alle1873Vgl. im folgenden: Andreas Mihm, Nicht Mars, nicht Venus- Merkur regiert die transatlantischen Be~ehungen. Trotz IrakStreits und Aden-Booms ist die Wirtschaft yon Europa und Amerika so tier verwoben Me noch hie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Mai 2004 und William Drozdiak, The North Atlantic Drift, in: Foreign Affairs, Bd. 84, Nr. 1, 1/2-2005, S. 88-98, 89. 1874William Drozdiak, The North Atlantic Drift, in: Foreign Affairs, Bd. 84, Nr.1, 1/2-2005, S. 88-98, 89. 1875Vgl. allerdings zu den l{ingerfristigenEntwicklungen neuerdings Meinhard Miegel, Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft?, Berlin 2005. 1876Vgl. insbesondere Meindert Fennema, International Networks of Banks and Industry, Den Haag 1982; Stephen Gill, American Hegemony and the Trilateral Commission, Cambridge 1990; vgl. aus sozialistischer Sichtweise Kees van der Pijl, Imperialism and Class Formation in the North Atlantic Area, Amsterdam 1983. 1877Vgl. William Drozdiak, The North Atlantic Drift, in: Foreign Affairs, Bd. 84, Nr. 1, 1/2-2005, S. 88-98, 90.
Politische Systemeund Gesellschaftendes Westensim phiinomenologischenQuerschl~itt
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dem ,,ganz und gar fiktiven Begriff von Demokratie ''1878 die neue ordnungspolitische Gef~ihrdung westlicher Systeme ausmachte. Die Fiktion, oft f';ilschlicherweise in Anlehnung an Rousseau als reale M6glichkeit entworfen, besteht in Vorstellung, das Volk k6nne sich durch sich selbst oder dutch nationale Repriisentanten selbst regieren, es k6nne als Regiertes identisch sein mit seiner Eigenschaft als Regierendes. 1879 In&s: ,,Alle Regierung ist ihrer Natur nach oligarchisch". 188~ Folglich offenbart die Beobachtung der politischen Erscheinungen unserer Zeit eine deutliche Tatsache, dass n~imlich in den L~indern, die eine gewisse Stufe der materiellen Zivilisation und einen gewissen Lebensstandard erreicht haben, Freiheit gleichbedeutend ist mit dem Bestehen von Parteien. "1881 Wenn allerdings auf der Basis der Argumentation von Duverger Parteien zu ,,gegnerischen Organisationen" werden, ,,die um Macht k~impfen, indem sie W~ihlerstimmen wie einen weichen Teig benutzen, der sich nach Belieben formen liisst''1882, dann ist eine Entsicherung in Bezug auf das entscheidende Merkmal einer hohen materiellen Zivilisationsstufe gegeben: niimlich, dass mit dem Prinzip der Parteienbildung das Prinzip der Freiheit einhergehen muss. Die Parteienbildung muss demnach zu einem guten Teil auf der Wahmehmung der Zielfmdungs- und Rekrutierungsfunktion der Parteien beruhen (letzteres in einem zwischen den sozialen Schichten und Gruppen wettbewerbsf6rderlichen Sinne), sonst erlahmt die Dynamik der Freiheitssicherung durch Parteienbildung in einem Land. Dieses Gebot muss nicht bis auf das Prinzip der ,,alternierenden Regierungen" zugespitzt werden, das ja in bestimmten politischen Systemen starker demokratischer Qualit~it (insbesondere in Skandinavien und der Schweiz) auch nicht gegeben ist. Ob aber eine gegensiitzliche Entwicklung Richtung ,,Altemativlosigkeit zwischen den Parteien" und ,,mehr direkte Demokratie", wie sie ansatzweise in Europa vor sich geht (mit allerdings anwachsender populistischer Parallel- und Gegenstr6mung), nicht einen Schritt zuriick zu Parteiennegation oder Korrumpierung der Parteien zugunsten einer bestimmten bevorzugten I~asse bedeuten k6nnte 1883 (die heute nicht die I~asse der Verm6genden wiire, sondem die I~asse der ,,FunkfonSre'~ ist sicherlich eine ganz entscheidende Frage, die gerade im Vergleich zwischen europiiischem und amerikanischem Stand eine zentrale Rolle spielt. Als Wasserscheide k6nnte jedoch der in atlantischer Tradition zustandegekommene Demokratiebegriff gelten, der jeglichen partizipationstheoretischen Anreicherungen normativer oder ideologischer Bauart eine normative Absage erteilt: Demnach kommt es - auf der Basis einer demokratischen Legitimationskette 1884 - immer darauf an, ob eine ,,Machtzuweisung in regelm~iBigen Abstiinden in freien, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen erfolgt ''1885 egal ob es nun direktdemokratische Elemente in einem System gibt oder nicht. Sobald das gewiihrleistet wird, ist dem autokratischen Prinzip, d.h. der Machtentfaltung von ,,oben nach unten", ein Gegengewicht gegeben, was wiederum Freiheit erm6glicht. J edenfalls machen direkt-demokratische Elemente im Kontext dieses restriktiven Demokratiebegriffes ein System
1878Maurice Duverger, Diepolitischen Parteien, T~ibingen1959, S. 429. 1879 Vgl. ebd. 1880Ebd., S. 431. 1881Ebd., S. 430. 1882Ebd. 1883Vgl. ebd. 1884Die politischen (nicht rechtlichen) Entscheidungensind immer auf den Wahlakt des Staatsvolkeszur6ckzuf/~hren. 188sWerner Kaltefleiter,Die freien Gesellschaften- eine kleine radikale Minderheit?, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschaft undpolitische Ordnung. Ana[ysen W Theorie und Empirie demokratischerRegierungssysteme,Opladen 1986, S. 70-80, 71.
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nicht ,,demokratischer" bzw. die elektorale Vorherrschaft einer b e s t i m m t e n Partei macht ein System, solange freie Wahlen stattfmden, nicht ,,undemokratischer". ,,Demokratisierung" ist f r e n c h m einem anderen Stone m6glich: In der Transformation eiher ,,politischen D e m o k r a t i e im engen Sinne" zu einer ,,gesellschaftlichen D e m o k r a t i e " , indem Verwaltungs- und nicht-staatliche Gesellschaftssysteme, insbesondere U n t e r n e h m e n , ebenso einem a n t i - , , a u t o k r a t i s c h e m " D r u c k der ,,Ausbreitung der aufwS_rtsgerichteten Macht" ausgesetzt w e r d e n sollen. 1886 D o c h auch das ist, abgesehen v o n der normat i ven und politischen Fragwfirdigkeit 1887, nicht relevant fiir die Frage, ob eine , , D e m o k r a t i e " v o r h a n d e n ist oder nicht. A u c h diejenigen linken Stimmen, die jener , , D e m o k r a t i s i e r u n g " anhiingen, abet dabei einen kiihlen K o p f bewahren, wie das z.B. N o r b e r t o B o b b i o verk6rperte, akzeptieren diese iiberaus wichtige Defmitionsgrundlage. Bobbio zweifelte gar als geborener Skeptiker an der M6glichkeit, ,,Demokratisierung" in jenem (sozialistischen) Sinne zu erreichen, o b w o h l er selbst dieser Vorstellung normativ stark anhing. 1888 Fiir einen tragf~ihigen Begriff der ,,Demokratie" sind diese Dinge jedoch grundsiitzlich irrelevant: Diese sollte sich in der Tat auf das beschriinken, was Bobbio ,,politische D e m o k r a t i e im engen Sinn" nannte. Sie ist i m m e r z u repriisentativ, alles andere ist eher Fiktionalismus. 1889 Das mag wie eine heroische Vereinfachung klingen, ,,und vor d e m Hi nt ergrund kompl exer D e m o k r a t i e t h e o r i e n fast als trivial erscheinen ''189~ schafft aber grol3e und diffuse T heori eprobleme aus der Welt, die fiir die Frage der prinzipiellen G e m e i n s a m k e i t westlicher D e m o k r a t i e n ohnehin nicht relevant erscheinen. E m e m o d e r n e D e m o k r a t i e ist d e m n a c h auch dann gegeben, w e n n keine ,,ideale" oder weitgehend ,,ideale D e m o k r a t i e " erreichbar oder v o r h a n d e n ist. D e m o k r a t i e meint d e m n a c h auch die ,,Durchsetzung einer weitgehend desinteressierten und desinformierten Mehrheit gegeniiber einer vielleicht etwas st~irker interessierten und etwas besser informierten Minderheit, wie sie das Mehrheitsprinzip zumindest zul{isst. 'q891 U n d aus 1886Vgl. Norberto Bobbio, Die Zukunfi derDemokratie, Berlin 1988, S. 50ff. und 55. 1887Bobbio glaubt (wie letztlich Habermas und die ganze partizipatorische Linke in dieser Frage) die Vergesellschaftung von Demokratie herbeif/ihren zu k6nnen, ohne dan-fit der Gefahr erliegen zu m/issen, fiber die Aufweichung und Unterh6hlung der Trennung zwischen privatem und 6ffentlichem Raum die Untergrabung einer freiheitlichen Pluralit{it als Voraussetzung einer antiotalitSxen, ,,politischen Demokratie" herbeizufi2ihren. Die (nicht-linke) Gegenthese lautet, dass durch die Vergesellschaftungder Demokratie sich grundsiitzlich die potentiellen Herrschaftsmittel ,,monokrafischer" Gruppen (also Gruppen, welche unter Ablehnung jeglicher ,,polykratischer" oder pluralistischer Elemente die Macht in einer Hand vereinigt wissen wollen) rasant vervielfachen w/irden und wgleich die Gefahr des (evtl. irrationalen) Umschlagens in die ,,demokratische" Bejahung einer Mono~atie dutch die Masse aufgrund yon Machtverlusten im privaten Bereich rasch zunehmen w/irde. Das Zusammengehen von maximalem Herrschaftspotential der Monokraten und ,,demok_ratischer" Bejahung der ,,Monokratie" bildet indes die ma.,:imale Symbiose von Demo~atie (alias Massenherrschaft yon unten nach oben) und Mono~atie (alias Vereinigung aller Macht in einer Hand) - ein rousseausistisches Gesellschaftsmodell, vor dem im 19. Jahrhundert schon Tocqueville zurecht gewamt hatte (,,Tyrannei der Mehrheit") und das im 20. Jahrhundert als ,,Totalitarismus" in Erscheinung trat (vgl. zu dieser totalitarismustheoretisch inspirierten ,,demokratisiemngsskeptischen" Haltung in der deutschen Debatte exemplarisch Wilhelm Hennis, Demokratiderung: Zur Problematik eines Begrif]5, in: Martin Greiffenhagen (Hg.), Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, M/inchen / Z/irich 1973, S. 47-70; Karl Dietrich Bracher, Geschichte und Gewalt. Zur Politik im 20. Jahrhundert, Berlin 1981, S. 292ff.; mit Bezug auf die These vom angeblichen ,,Demokratiedefizit" der ,,restaurativen" Adenauer-Ara in Deutschland Hans-Peter Schwarz, Modernisierung oder Restauration? Einige VorJi~agenzur kiinftigen So~algeschichtsforschungUber die Ara Adenauer, in: Kurt D/iwell / Wolfgang K611mann (Hg.), Vom Ende der Weimarer Republik bis zum Land NordrheinWesSalen, Wuppertal 1984; schliel3lich mit starkem sozialstaatsskeptischem Einschlag Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestelltam Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., MCinchen 1971). 1888Vgl. Norberto Bobbio, Die Zukunft der Demokratie, Berlin 1988, S. 52-55. 1889Vgl. ebd., S. 50. 1890Wemer Kaltefleiter, DieJreien Gesellschaften- eine kleine radikale Minderheit?, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschaft undpolitische Ordnung. Ana~sen Zu Theorie und Empirie demokratischer Regierungssysteme, Opladen 1986, S. 70-80, 73. 1891 Erich Weede, Selbstgefdhrdungstendenzen yon freiheitlichen Demokratien, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschafi und politische Ordnung. Ana~sen Zu Theorie und Empirie demokratischerRegierungssysteme, Opladen 1986, S. 83-96, 83.
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liberaler Sicht muss eine solche Existenzform demokratischer Mehrheitsherrschaft nicht einmal schlecht sein, weil es aus liberaler Sicht gar nicht auf die Mitbestimmung ankommt, sondern allein darauf, ob das politische System ,,erfolgreich" ist oder nicht. 1892A m erfolgreichsten ist es aus liberaler Sicht dann, wenn pers6nliche Freiheitsr~iume und der Rechtstaat auf Dauer garantiert sind, und hier hiitten sich demokratische Mehrheitsherrschaften b e w i i h r t - trotz des faktischen Verzichts der meisten Biirger ,,auf Mitbestimmung dutch rationale Ignoranz", die in diesen Systemen gef6rdert wird. 1893 A u f die Mitbestimmung k o m m e es eben nicht an, wenn der Erfolg eines politischen Systems charakterisiert werden soll. D e n n o c h kann nach den Bedingungen der M6glichkeit solcherart m o d e m e r Demokratien gefragt werden: Hier korrespondiert der Verlust der freiheitssichemden Zielfmdungsfunktion und Rekrutierungsfunktion der Parteien insbesondere in vielen Teilen Europas (mit dem Effekt populistischer Gegenbewegungen und hoher Wiihlerfluktuation) oft mit dem bewussten Einsatz des Bildes yon der weitest gehenden Partizipation des Volkes als Idealzustand und als einzige Antwort auf den angeblich einzig richtigen normativen Wert der Demokratie im Sinne einer ,,Selbstregierung des Volkes". Die weiterhin avantgardistisch-kulturrevolutioniire Zielsetzung dieser Normativit~it ist es doch letztlich, solange sie nicht rein funktionalistisch und systemtheoretisch begriindet wird, fiber diesen Weg einerseits das freiheitssichemde Mehrheitsprinzip der im o.g. Sinne defmierten ,,modernen Demokratie" auszuhebeln, um im Verbund mit einer entsprechenden Beeinflussung der 6ffentlichen Meinung viele im Kern nicht mehrheitsf'~ihige gesellschaftlich-kulturelle Veriinderungen herbeizufiihren und andererseits durch die bewusste ,,reine Konstruktion des Verstandes" bzw. dem bewussten reinen ,,Spiel mit Worten" im Umgang mit dem Demokratiebegriff ein ,,ausgezeichnetes Rechtfertigungsmittel fiir den Gehorsam" der faktisch Gezwungenen gegeniiber den die gesellschaftlichen Veriinderungen auf diesem Wege implementierenden Zwingenden einzusetzen. 1894 Die Vertreter gemiil3igter Varianten direkt-demokratischer Elemente indes streben an, einerseits angeblichen ,,Schaden von Individuen abzuwenden, der durch kollektive [Mehrheits]Entscheidungen entstehen kann ''1895 und andererseits Funktionsprobleme von Verb~inde- und Parteienkonkurrenz in komplexen politischen Systemen abzumildern. Letzteres stellt in der Politikwissenschaft insofern einen Streitpunkt dar, als es umstritten ist, ob die Strukturprobleme eines komplexen politischen Systems in Bezug auf Politiksteuerung (d.h. Aggregation konsenss Interessen und Integration yon Interessen einerseits, Durchsetzung einer koh~irenten und konsistenten Politik andererseits) durch mehr Parteienkonkurrenz, ,,Entflechtung" und ,,zyklische Politiksteuerung" oder dutch mehr direkte Demokratie (d.h. Interessenvermittlung im Rahmen plebiszitiirer Verfahren, welche augerparlamentarische oder parlamentarische Minderheiten ausnutzen k6nnen1896), liberalen Korporatismus 1897 und Kon-
1892 Vgl. Erich Weede, Selbstgefa'hrdungstendenzenvonfreiheitlichenDemokratien, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschaftund politische Ordnung. An@sen W Theorie und Empirie demokratischerRegierunga~steme, Opladen 1986, S. 83-96, S. 87f. 1893Vgl. ebd., S. 88. 1894In Anlehnung an Maurice Duverger, Diepolitischen Parteien, T/ibingen 1959, S. 429. 189s Erich Weede, Selbstgef?~rdungstendenzen yon freiheitlichen Demokratien, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschaft und politische Ordnung. An@sen W Theorie und Empirie demokratischerRegierungssysteme,Opladen 1986, S. 83-96, 84. 1896Die Vorstellung ist die, dass bei niedrigen Abstimmungsquoren, wie sie z.B. bei den Verfassungsinitiativen (de facto Gesetzesinitiativen) in der Schweiz gegeben sind, eine stabile Politiksteuemng eine breite Ber/icksichtigung gesellschaftlicher Interessen erfordert. 189vAlso nicht - wie in der Schweizer Konkordanzdemokratie - ein die pluralistische Parteienkonkurrenz substituierender Korporatismus.
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sensualismus 1898 einer L 6 s u n g zugefiihrt werden sollen. 1899 Dabei spielt der T r e n d zu Vielparteiensystemen in Europa, der sich seit etwa den siebziger Jahren vollzieht, eine nicht unwichtige Rolle: Einerseits fiihrt diese Entwicklung zu i m m e r st~irker , , m a n u f a c t u r e d " statt ,,earned majorities ''19~176 in politischen Systemen mit m e h r h e i t s d e m o k r a t i s c h e n Wahlsystemen (GroBbritannien, Frankreich, teilweise Griechenland) bzw. zu ein- oder zweifarbig dominierten Parteiensystemen (Irland, Spanien, Griechenland, teilweise Deutschland, Osterreich, Portugal). Andererseits entwickeln sich abet bei den Vielparteiensystemen ganz unterschiedliche F o r m e n des Pluralismus, welche sich durchaus mit Mehrheitslagerbildungen k o m b i n i e r e n lassen u n d damit trotz h o h e r effektiver Parteienzahl und Verhiiltniswahlsystems - eher einen kompetitiven Charakter zwischen ,,Rechts" u n d ,,Links" aufweisen; sogar im Falle eines m e h r ,,polarisierten Pluralismus", der zwischen den Parteien der Mitte nicht automatisch zu Kompetitivitiitsverlusten fiihren muss - es sei denn, es ist rein mathematisch nicht anders m6glich (Bsp.: Italien, Frankreich bei E u r o p a w a h l e n u n d die Niederlande nach d e m Scheitern der violetten Koalition, tendenziell inzwischen auch Diinemark, wo sich die Regierung eher v o n einer lagerverwandten Partei tolerieren liisst, als dass sie ad-hoc-Mehrheiten sucht). In anderen politischen Systemen indes geht ein Vielparteiensystem stiirker mit K o n k o r d a n z e l e m e n t e n , offenen Minderheitenregierungen u n d wechselnden I<2oalitionen einher (z.B. Schweden, N o r w e g e n , teilweise Belgien). Kompetitivitiitsreduktionen im Parteiensystem in einen alternativlosen Z u s a m m e n h a n g mit d e m (existenten) T r e n d z u m Vielparteiensystem zu bringen, erscheint also sehr fragwiirdig, w e n n auch Vielparteiensysteme, dort, wo sie neu entstehen, zumindest eine vorher nicht prS_sente Konkordanzalternative zumindest denkbar m a c h e n u n d auch faktisch i m m e r wieder in die Richtung wirken u n d wirken werden. 19~ -
b) Liberale ICritik Tocqueville kritisierte zu seiner Zeit (etwa fiinfzig Jahre nach der Unabhiingigkeitserkl~irung) die amerikanische D e m o k r a t i e als eine, die n o c h nicht i m m u n wiire gegen eine tyrannische Gleichf6rmigkeit u n d sah die Jacksonische Ausgestaltung des amerikanischen Priisidentialis-
1898Vertreter: Fritz W. Scharpf, Gerhard Lehmbruch, Franz Lehner; Liinderbeispiele: Schweden, Norwegen, Osterreich. 1899Die Kritik an konkordanzdemokratischen und korporatistischen Systemen, die durchaus eine hohe Integrationsleistung erbringen, entz/indet sich in erster Linie an den empirisch nachweisbaren hohen Interaktions- und Entscheidungskosten dieser Systeme nach Abw{igung zwischen Konsensfindungskosten und Willk/irkosten (vgl. als theoretische Grundlage James M. Buchanan / Gordon Tullock, The Calculus of Consent, Ann Arbor 1962 und James M. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit, T/ibingen 1984, S. 54-74). Dazu geh6ren fehlende Innova6onsfiihigkeit, Immobilismus, Zeitprobleme, Reformunf'~ihigkeiten,Anpassungs- und Flexibilitiitsprobleme, aber auch Defizite staatlicher Macht. Als Preis for die hohen Integra6onsleistungen k6nnen wohl die inzwischen sich verfestigten populistischen AntiWohlfahrtsstaats-Parteien in den entsprechenden L~indern gelten, sogar in der Schweiz. Die einzige Ausnahme diesbezCiglich bildet Schweden (andererseits heil3t das nicht, dass nut in Wohlfahrtsstaaten populistische Parteien re/,issieren, s. Frankreich, Italien, Polen u.a.; allerdings besitzen die populistischen Parteien in politischen Systemen nit konsensualistischer Ausrichtung eine Hat darauf zugeschnittene antikonsensuale Protestausrichtung, die sich allerdings in antiwohlfahrtsstaatliche Programme einerseits, aber inzwischen st~irker noch auf wohlfahrtchauvinistische - und als solche eigentlich wohlfahrtsstaatsgetreue - Programme andererseits ausdifferenziert). 1900Die finden sich z.Z. aul3er im priisidentiellien System der USA nur noch in Malta. 1901Vgl. Wolfgang Ismayr, Die politischen Systeme Westeuropasim VergMch, in: Ders. (Hg.), Die politischen Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 9-52, 47. Vgl. zur politikavissenschaftlichen Diskussion um die sogenannte ,,Parteiendifferenzthese" zusammenfassend Percy Allure, State and Sodety in Western Europe, Cambridge 1995, S. 545-548. Percy Allum verweist auf die italienischsprachigen Langzeitstudien, die in den letzten zwanzig Jahren die Parteiendifferenzthese zu einem guten Teil best~itigenkonnten.
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mus skeptisch. 19~ Und in der Tat ist es ja so, dass sich das amerikanische System im Verlaufe der Zeit ,,demokratisierte": Das Prinzip der indirekten Wahlen wurde im Falle des Pr~isidenten mehr und mehr obsolet, das Zensuswahlrecht in den Einzelstaaten bei den Wahlen zum Repriisentantenhaus wurde nach und nach abgeschafft und im 20. J ahrhundert sollte schlieBlich auch bei den Senatswahlen die indirekte Wahl hinf'~illig werden, so dass die augerdemokratisch hergeleiteten und legifimierten Legislafivkontrollfunktionen stark relativiert wurden. 19~ Fiir das 20. Jahrhundert hatte Ernst Fraenkel infolgedessen geschlussfolgert, dass, ,,seitdem alle Gewalten des amerikanischen Regierungssystems demokratisch sind, [..] dem Gewaltenteilungssystem nur noch eine verfassungsrechtliche, jedoch nicht mehr eine verfassungssoziologische Bedeut u n g ''1904 zukam. Tocqueville erkannte diesen amerikainternen Demokratisierungstrend frfihzeitig an und forderte daher fiber die 1787/88 getroffenen Regelungen hinaus die gesonderte Wfirdigung weiterer, gesellschaftlicher Gegengewichte: in der Freiheit der Assoziationen, der Pressefreiheit, der Propagierung konservativer Allgemeinwohltugenden und der Herausstellung bremsender Sitten und Gebriiuche sah er wichtige miiBigende Faktoren, welche die ,,Demokrafie" i m Zaume halten konnten. 19~ Nicht ,,mehr Demokratie", sondem weniger davon war seine Losung. Die Frage nach ,,mehr Wettbewerb" oder ,,mehr Konsens" (im politischen System wohlgemerkt) hiingt letztlich stark von der demokratietheoretisch angenommenen Konsensnotwendigkeit ab, womit zugleich ein entscheidender Zusammenhang mit dem Ziel gegeben ist, ,,Schaden von Individuen abzuwenden, der durch kollektive [Mehrheits-]entscheidungen entstehen kann". Theoretiker wie James Buchanan oder Friedrich August Hayek traten in die FuBstapfen von Tocqueville. Erich Weede hat in einem sehr instruktiven Beitrag zu dieser Frage betont, dass sich dieses Ziel theoretisch auch dadurch erreichen lasse, ,,dass man die Entscheidungsbefugnis des Kollektivs einschriinkt" und den Individuen mehr Freiraum liisst. Daffir mfisste man jedoch bereit sein, ,,vor allem dort die Entscheidungsbefugnis des Kollektivs einzuschriinken, wo das Bedfirfnis der von externen Effekten betroffenen Individuen nach einem Vetorecht" am stiirksten ist. 1906 Wenn man davon ausgeht, dass das vor allem bei majoritiir gewfinschten und zentralistisch initiierten Umverteilungsentscheidungen gilt, dann wird klar, dass direktdemokratische Elemente sozialdemokratische, etatistische und kollektive Umverteilungsvorstellungen eher bef6rdern k6nnten und die aus liberaler Sichtweise bevorzugte Notwendigkeit, dem Kollektiv Verteilungsentscheidungen (endlich wieder) zu entziehen, konterkarieren wflrden19~ ,Je mehr dem Kollektiv [diesel entzogen sind, desto eher kann man als Individuum Abweichungen vom Einstimmigkeitsprinzip tolerieren, also etwa das Mehrheitsprinzip akzeptieren (...) Wfinschenswert wiire demnach, Staaten auf verteilungspolitische Absfnenz festzulegen. Der Staat solle sich [in erster Linie] um die Beschaffung kollektiver Gfiter bemfihen (...),,1908.
1902Vgl. Alexis Clerel de Tocqueville, Die Demokralie in Amerika. Eine Auswahl, hg. v. Friedrich August Frhr. yon der Hey&e, Regensburg 1955., S. 156-160. 1903Vgl. Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 224f. 1904Ebd., S. 225. 190sVgl. Alexis Clerel de Tocqueville, Die Demokratie in Amerika. Eine Auswahl, hg. v. Friedrich August Frhr. vonder Heydte, Regensburg 1955, S. 161-171. 1906 Erich Weede, Selbstgefa'hrdungstendenzen yon freiheitlichen Demokratien, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschaft und politische Ordnung. Ana[ysen W Theorfe und Empirie demokratischerRegierungssysteme, Opladen 1986, S. 83-96, 84. 190vVgl. ebd. 1908Ebd.
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Allerdings muss einger{iumt werden, dass diese Sichtweise empirisch an ihre Grenzen st613t, wenn die Schweiz oder einzelne US-Bundesstaaten in Betracht gezogen werden. Unabhiingig von dieser Einzelfrage sieht Erich Weede grunds~itzlich ein, dass kein moderner Staat mehr auf Verteilungsentscheidungen verzichten kann 19~ es geht ihm um Intensit~it. Freilich nehmen Marktpreisverzerrungen als Selbstgef'~ihrdungen freiheitlicher Demokratien auf der Basis der in ihnen gewiihrten Koalitionsfreiheit zu 191~ solange erstens kein staatlicher Ordnungsrahmen besteht, der Marktpreisverzerrungen, welche durch die Koalifionsfreiheit zustande kommen, effekfiv und im ausreichenden Mal3e verhindert (repressive Gegenstrategie), zweitens politische Interventionen sich zugunsten von Interessenakteuren auswirken, welche die Koalitionsfreiheit in Anspruch nehmen und es keine polifischen Akteure gibt (oder ,,polifische Untemehmer"), welche erfolgreich ffir sich damit werben, verkrustete Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukmren in Angriff zu nehmen (vgl. Reagan, Thatcher; politische Gegenstrategie) und drittens Verkrustungen m Wirtschaft und Gesellschaft nicht durch Abbau von AuBenhandelshemmmssen wirksam entgegengetreten wird (aul3enwirtschaftspolifische Strategie). 1911 Fareed Zakaria, der gegenwiirtige Chefredakteur von ,,Newsweek", hat zudem in seiner jfingsten Monographie, ein Publikumsbuch, zahllose Beispiele yon Niveauverlusten, Trivialisierungen und Insfitutionenbeschiidigungen auch als Preis direktdemokratischer Elemente in den Gliedstaaten der USA, insbesondere Kalifornien, aufgez~ihlt. 1912 Dementsprechend liegen auch in James M. Buchanans konsfitutionen6konomischer Regelsystemtheorie die Voraussetzungen ffir das Erreichen individueller Handlungsinteressen (auf der verfassungskonsfitutionellen Ebene) weniger in Regelsystemen, welche den Forderungen nach mehr ,,Konsensregeln" oder mehr direkter oder mehr majorftfirer Demokratie entspringen, sondern in Regelsystemen, die durch ,,mehr Verfassungsstaat" (bzw. ,,weniger Demokratie ''1913) zustande kommen k6nnten. Weder die majorit~itsorienfierte Parlamentssouveriinitiit noch irgendwelche direktdemokrafischen Mehrheitsregeln oder gar kostentriichtigen Einstimmigkeitsregeln schaffen diejenigen Verfahrensregeln auf ,,konsfitufioneller Ebene", also des kollekfiven Entscheidens auf der Ebene der ,,Regeln fiir Handlungsregeln", von der Biirger und deren individuelle Freiheit auf einer post- oder subkonsfitutionellen Ebene am meisten profitieren 1914, sondem ,,mehr Verfassungsstaat". Dieses Mehr kann dann z.B. auf folgenden zwei Wegen erreicht werden: Im Sinne James Buchanans 1915 durch ,,Beschneidung, zumindest Erschwerung der Ausiibung der Kompetenz" eines Parlamentes ,,durch die Verfassung ''1916 Hier k6nnten auch direkt-demokratische Elemente eine Rolle spielen. Eher k~imen jedoch Bestimmungen in Frage, die staatliche Besteuerungsm6glichkeiten oder die Schuldenaufnahme verfassungsrechtlich effektiv 1917 begrenzen oder bestimmte Referenden mit wirtschaftspolitischer Steuerwirkung erm6glichen. Allerdings stellen sich bei diesen Punkten Effizienz- und 1909Vgl. Erich Weede, SelbstgeJ?#.~rdungstendenzenvonfreiheitlichenDemokratien, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissens&aft und politische Ordnung. An@sen Zu Theorie und Empirie demokratischerRegierungJ~steme, Opladen 1986, S. 83-96, 85. 1910Vgl. insgesamt Mancur Olson, The Rs andDecline of Nations, New Heaven 1982. 1911Vgl. Erich Weede, Selbstgefa'hrdungstendenzenvonfreiheitlichen Demokratien, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschaftund politische Ordnung. An@sen Zu Theorie und Empi, fe demokratischerRegierungs~steme, Opladen 1986, S. 83-96, S. 90f. 1912Vgl. Fareed Zakaria, The Future of Freedom. IlliberalDemocra~ at Home and Abroad, New York 2003, S. 161-198. 1913Vgl. Percy Allum, State and Society in WesternEurope, Cambridge 1995, S. 555. 1914 Vgl. Geoffrey Brennan / James M. Buchanan, Die Beg~'ndung yon Regeln. Konstitufionelle Politische Okonomie, T/,ibingen 1993 und James M. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit, Tfibingen 1984, S. 69-74. 1915Vgl.James M, Buchanan / Gordon Tullock, The Calculus of Consent, Ann Arbor 1962. 1916 Manfred E. Streit, Marktwirtschaftliche Ordnung~olitik im demokratischen WohlJahrtsstaat, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschaft undpolitische Ordnung. An@sen Zu Theode und Empirfe demokratischerRegierungssysteme,Opladen 1986, S. 97-110, 105. 1917Dieses Attribut geh6rt in Bezug auf den Europ{iischen Stabilit~itspaktbetont.
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Juridifizierungsprobleme. 1918 Im Stone Friedrich August Hayeks und in Weiterfiihrung von Buchanan 1919gebe es zudem die theoretische M6glichkeit durch eine ,,institutionelle Aufteilung der Kompetenzfiille 'q92~ emes Parlamentes Effiziensteigerungen zu evozieren. Das Parlament wiirde demnach m zwei K a m m e r n unterteilt, die Gesetzgebungskompetenz vertikal aufgeteilt zwischen Grundsatz- und Richtlmiengesetzgebung auf der emen und laufender Gesetzgebung (saint Kontrolle der Regierung) auf der anderen Seite. Nach Hayek k6nnte die Kompetenzabgrenzung vom Verfassungsgericht iiberwacht werden. 1921 Die zweite K a m m e r wiire demnach m ihren Kompetenzen nicht derart emgeschr~inkt, wie das msbesondere m den politischen Systemen des Westens der Fall ist 1922 - mit Ausnahme der USA, der Schweiz, Deutschlands und Italiens, wobei nur in Italien die f6derative K o m p o n e n t e keme Rolle spielt und nur m den USA und in der Schweiz das Vetopotential ,,divergierender Mehrheiten" durch das Parteiensystem entsch~irft wird, wiihrend sich im Falle Deutschlands die Frage stellt, ob aufgrund der Weisungsbefugnis der Exekutivvertreter im Bundesrat iiberhaupt von emer vollwertigen ,,Zweiten K a m m e r " die Rede sere kann. 1923Dazu passt, dass nur m den USA, der Schweiz und Italien die Abgeordneten der Zweiten K a m m e r durch Wahlen unmittelbar legitimiert sind. Hayek geht indes bei semen Vorschliigen sowohl bei der Ausdifferenzierung der Funktiohen und Kompetenzen zwischen den beiden K a m m e r n als auch bei den verfassungsstaatlichen ,,Demokratiehiirden" sehr welt, so dass sere Modell eher n'fit der Institution unabh~ingiger Zentralbanken als mit den heute gegebenen zweiten K a m m e r n zu vergleichen w~ire. Es ist jedenfalls eme Idee emes so (immer) noch nicht vorhandenen bikameralen Parlamentarismus, die Hayek entwickelt. Nach diesem ganz andersartigem Modell also (sowohl im Vergleich zu Deutschland, der Schweiz und den USA, als auch im Vergleich zu Italien) k6nnte nun zu einer Grundsatzgesetzgebungsentscheidung z.B. die Beantwortung der Frage fallen, ob eine Steuerprogression verboten wird oder nicht. Die Grundsatz- und Richtliniengesetzgebung k6nnte hades auch auf die Bereiche der Verteidigungspolitik erstreckt werden, wo ebenfalls ha freiheitlichen Demokratien das Problem besteht, dass aufgrund der ,,Freiheitlichkeit" des Systems Funktionalitiitsverzerrungen entstehen. N o c h welter als Hayek geht Erich Weede, der sich sowohl m der Wirtschafts- als auch m d e r Verteidigungspolitik Organe vorstellen kann, die den Organisations- und Funktionsprinzipien einer Europiiischen Zentralbank bzw. Bundesbank gehorchen, also dem Bereich einer kurz- bis langfristigen parlamentarischen Gesetzgebung komplett entzogen werden, indem sie als staatliche Einrichtung mit Verfassungsrang im Kontext emer Verfassungsgesetzgebung installiert wiirden. 1924 1918 Vgl. Manfred E. Streit, Marktwirtschaftliche Ordnungspolitik im demokratischen Wohlfahrtsstaat, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschaft undpol#ische Ordnung. Analysen Zu Theorie und EmpMe demokratischer Regierungs~ysteme, Opladen 1986, S. 97-110, 105. 1919 Vgl. James M, Buchanan / Gordon Tullock, The Calculus of Consent, Ann Arbor 1962, S. 233-248. 1920Manfred E. Streit, Marktwirtschq[tliche Ordnung~olitik im demokratischen Wohlfahrtsstaat, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschaft undpolitische Ordnung. Analysen Zu Theorie und Empirie demokratischer Regierungssysteme, Opladen 1986, S. 97-110, 105. 1921Vgl. ebd. und Friedrich August yon Hayek, Recht, Gesetggebung und Freiheit. Band 3: Die Verfassung einer Gesellschaftfreier Menschen, Landsberg/Lech 1981, S. 156. 1922 Vgl. Wolfgang Ismayr, Die politischen Systeme Westeuropas im Vergleich, in: Ders. (Hg.), Die politischen Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 9-52, 30f. Kaum eine Rolle spielen die zweiten Kammem hingegen in Osterreich, Belgien und Spanien (jeweils mit f6derativer Komponente) und in Frankreich, Irland und Grol3britannien, den Niederlanden und Norwegen. abgeschafft wurden solche Kammern gar in Diinemark (1953), Schweden (1974) und Island (1991). 1923 Vgl. ebd. und Wolfgang Ismayr, Das politische System Deutschlands, in: Ders. (Hg.), Die politischen Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 407-444, 415f. 1924 Vgl. Erich Weede, Selbstgef/l~rdungstendenzen vonfreiheitlichen Demokratien, in: Max Kaase (Hg.), Politische Wissenschaft und politische Ordnung. Analysen W Theorie und Empirie demokratischer Regierungssysteme, Opladen 1986, S. 83-96, 95.
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Hayek indes begnfigt sich mit seiner ,,zweiten Kammer", die durch detaillierte Zusammensetzungsregelung jedoch an expertokratischem Elitencharakter und an Stabilit~it gewinnen soll. Im Unterschied zu den Senatswahlhfirden im politischen System Italiens, die sich nur auf das Wahlalter beziehen (passives Wahlrecht ab 40 Jahre, aktives ab 251925) geh6rt zu den viel weitergehenden Regelungen Hayeks eine parteienunabh~ingige Besetzung, eine lange Amtsdauer der Abgeordneten (15 Jahre) und entsprechende Wahl- und Altersregelungsmodi (einmalige Wahl im Leben, z.B. Wahl der 45@hrigen aus ihrer Mitte mit dem Ergebnis - nach 15 Jahren einer legislafiven Versammlung von M~innern und Frauen zwischen 45 und 60 Jahren und einem jiihrlich sich vollziehenden Ersatz der Kammer zu einem Ffinfzehntel - es wfirden immer jeweils die 60-j~ihrigen abtreten). Die Realisierungschancen indes diirften aus Grfinden der Pfadabh~ingigkeit wohl bei beiden Vorschl~igen eher gering sein, so dass die gr6Bere Hoffnung in die zuvor erw~ihnten politischen MaBnahmen gesetzt werden sollte. Doch auch diese sind aus einem Sperrldinkeneffekt, einem Gefangenendilemma und einer Plethora struktureller Gegenspieler im wohlfahrtsstaatlichpluralistischen System kaum zu erfflllen. Allerdings hat es immer wieder radikale Wirtschaftsreformen in westlichen Industriegesellschaften gegeben, die letztlich nur auf den polifischen Willen bestimmter politischer Akteure zurfickzuf/.ihren sind (z.B. Reagan, Thatcher, Bildt, Persson, j. Rasmussen, P. Rasmussen, Kostow, Aznar). Dort, wo es nicht gelungen ist, verkrustete Strukturen aufzubrechen (insbesondere in Deutschland und Frankreich), stellt sich die Frage, ob der polifische Druck auf die wirtschaftspolitischen Akteure nicht durch weiter steigende Arbeitslosigkeit, soziale Unruhen, unabweislich drohendem oder tatsiichlichem Kollaps von Sozialsystemen oder einer extensiven Schattenwirtschaft noch viel weiter wird steigen mfissen, bis es zu Ver~inderungen kommt. Die Schattenwirtschaft scheint indes das wichtigste ,,spontane Korrektiv der unzureichenden politischen Beherrschbarkeit der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung" darzustellen. 1926 -
c) Elitentheoretische Kritik Eine weitere Antwort auf die radikale Variante einer normativen Direktdemokrafietheorie 1927 bietet die Forcierung einer freiheitsf6rdernden Bewusstseinsver~inderung. Diese mfisste jedoch zun~ichst- im Sinne einer Verbindung von Weft- und Funkfionselitentheorie- bei den Eliten selbst ansetzen. Was demnach ins Bewusstsein zu gelangen hat, w~ire eine Art der ,,Ehrlichkeit", so wie sie Maurice Duverger schon 1959 auf den Punkt gebracht hat: ,,Die alte Formel v o n d e r ,Regierung des Volkes durch das Volk' muss ersetzt werden durch ,Regierung des Volkes durch eine aus dem Volk hervorgegangene Elite '''1928, wobei die Wendung ,,durch eine aus dem Volk hervorgegangene Elite" nicht in einem populistischen oder gar v61kischen Sinne missverstanden werden sollte. Die K_ritik indes, dass in der westlichen Zivilisation heute ein Spannungsmoment zwischen einer Wert- und Funktionselitentheorie, d.h. zwischen Grund1925 Vgl. dazu Gfinter Trautmann, Daspolitische Sysfem Italiens, in: WolfgangIsmayr (Hg.), Die politischen Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 509-547, 513ff. 1926 Manfred E. Streit, MarkLwirtschaftliche Ordnung~olitik im demokratis&en Wohlfahrtsstaat, in: Max Kaase (fig.), Politis&e Wissenschaft undpolitische Ordnung. An@sen W Theorie und Empirie demokratir&er Regierungssysteme, Opladen 1986, S. 97-110,
106. 1927Vgl. beispielsweiseUlrich yon Alemann, Parti~pation- Demokratisierung- Mitbestimmun~ Opladen 1978; Udo Bermbach (Hg.), Theotfe und Praxis der direkten Demokratie, Opladen 1973; Bemd Guggenberger/ Claus Offe (Hg.), Grenzen der Mehrheitsdemokralie, Opladen 1984; Fritz Vilmar, Strategien der Demokratisierung, 2 Bde., Darmstadt 1973. 192sMauriceDuverger, Diepolits Parteien, Tfibingen 1959, S. 431.
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werten und einer vor sich gehenden Differenzierung und Pluralisierung des Wissens, der kulturellen Werte und der Funktionen, auch innerhalb der Eliten selbst gegeben ist, sollte freilich zur Kenntnis genommen werden, um sich gegen zu autoritiire Konsequenzen zu immunisieren. D e n n o c h wiire die Idee einer ,,Atlantischen Zivilisation" wertlos, wenn sie nicht mit einer Wertelitentheorie verbunden wiirde. Politikwissenschaft hat also immer auch eine Arkandisziplin zu sein (womit Habermas Wendung im umgekehrten Sinne aufgenommen ist): Politische Wissenschaft ist vor allen Dingen das Studium von Eliten, sowohl im Sinne yon (politischen) Machteliten als auch im Sinne von (politischen) Werteeliten. Gerade im Bereich der AuBenpolitik formen ,,Weltbilder (...) die oftmals unbewusste kognitive Landkarte politischer Eliten und sind Ausgangspunkt fiir deren auBenpolitische Ordnungsvorstellungen und Strategieentscheidungen. ''1929 Elitenstruktur und Elitenkultur bewegen sich indes nicht im luftleeren Raum. U m ein richtiges Bild v o n d e r U'berlebensf~ihigkeit und Struktur einer Elite zu bekommen, ist es unvermeidlich, auf die gegenseitigen Einwirkungen zwischen Elite und Masse und den daraus resultierenden Handlungsweisen der nichtsdestotrotz vorhandenen Machteliten hinzuarbeiten. Keineswegs muss auf der Basis einer Elitenkonzeption, wie manches Mal der Vorwurf lautet, die gesellschaftliche Mehrheit nur als ,,Residualkategorie sozialwissenschaftlicher Analyse" verstanden werden. 1%~ Die Einwirkungsfaktoren spielen als Untersuchungsgegenstand eine sehr wichtige Rolle in Bezug auf die Frage der Rekrutierung von Eliten und auf die Frage der Konsens- und Konfliktpotentiale zwischen Elite und Masse und zwischen Eliten untereinander. Das methodische Problem freilich besteht darin, dass in der Elitenforschung ,,das Konzept der Responsivitiit vage und nur sehr schwer operationalisierbar" ist. 1931 D e n n o c h ist es unvermeidlich, sie ins Blickfeld zu nehmen, wenn der Begriff der ,,Elite" in m o d e m e n , massendemokratischen Gesellschaften umfassend erschlossen werden soil; diese zeichnen sich gerade dadurch aus, dass es in den Massen selbst immer wieder zu Werteliten kommt, welche ehemalige und nunmehr nur angebliche Eliten 1932, die auBerhalb dieser ,,Masse" stehen, eines Tages iiberrunden und wom6glich sugar ersetzen. 1933 In diesem Bewusstseinsrahmen spielten Parteien natiirlich immer noch eine nicht nut unverzichtbare, sondern geradezu freiheitserm6glichende Rolle, weil sie Werteliten, Funktionseliten und Gesellschaft miteinander verzahnen. Der Wert der Freiheit kann von einer Elite nur dann vermittelt werden, wenn diese den Streit um die Sache institutionalisiert und lebendig macht. A u f dieser Basis gewinnt sugar eine systemlogisch einleuchtende Stiirkung direktdemokratischer Elemente als Ergiinzung und Unterfiitterung des hier skizzierten Demokratieverstiindnisses einen normativen Wert, wenn aus systemlogischen Gesichtspunkten heraus denn wirklich nachgewiesen wiirde, dass kompe1929 Katja Riib / Jiirgen Wilzewski, Dominan z statt Abschreckung. Amedkanische AuJ~enpolitik nach dem 11. September, in: Werner Kremp / Jiirgen Wilzewski (Hg.), Weltma&t vor neuer Bedrohung. Die Bush-Administration und die US-AuJ~enpolitik nach dem Angd~aufAmedka, Trier 2003, S. 9-20, 12. 1930So die treffende Bezeichnung des K_ritikansatzes bei Ursula Hoffmann-Lange, welche die Elitekonzeption indes bejaht (Ursula Hoffmann-Lange, Eliten, in: Ludger Helms / Uwe Jun (Hg.), Politische Theotge und Regierungslehre. Eine Einf~hrung in die politikMssenschaftliche Institutionenforschung, S. 239-266, 241). 1931Vgl. ebd., S. 261. 1932Nach Spengler k6nnte man in einem gesamtwestlichen Kontext von ehemaligen (,,weiBen") Eliten abendliindischer Priigung sprechen, die im Zuge einer Zivilisationsentwicklung (eines ,,langsamen Heraufdriingens urmenschlicher Zustiinde in eine hochzivilisierte Lebenshaltung'~ ihre abendliindische Verankerung verlieren und auf das Stadium yon Angeh6rigen liingst erloschener Zivilisationen oder yon echten ,,Urmenschen" retardieren (vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Um,isse einer Mo~hologie der Weltgeschichte, 15. Aufl., M{inchen 2000 und Michael Th6ndl, Wie oft stirbt das Abendland? Oswald Spenglers These rum z~vei[achen Untet~gang, in: Archly fiir Kulmrgeschichte, Bd. 2004, Heft 1, S. 441-461,452-457). 1933 Vgl. Jose Ortega y Gasser, DerAu~tand derMassen, ND Stuttgart 1957, S. 75f.
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titiv zueinander aufgestellte Parteien alleine nicht mehr zu solcherart Freiheits- und Streiterm6glichung in der Lage sind. 1934 Andererseits ist nicht nut aus einer normativen Begriindung heraus eine Bewegungsfreiheit von politischen Eliten v o n n t t e n , sondern aus rein systemischen Stabilit~itserwiigungen heraus, die sich selbst auf die ,,Stabilitiit der Demokratie" beziehen k t n nen. Hier sind die demokratietheoretischen Erkenntnisse von Gabriel A. Almond und Sidney Verba aus dem Jahre 1963 immer noch aktuell: Erst eine Situation der Ausgewogenheit zwischen Interessenartikulation und Partizipation auf der einen Seite und einer stabilen und nicht hinterfragten Staatsmacht auf der anderen stabilisiere demnach das demokratische System, unter billigender Inkaufnahme eines ,,demokratischen Mythos", an dem jedoch sowohl von Seiten der Eliten als auch von Seiten der Bevtlkerung geglaubt werden miisse. Weitergehende demokratische Effekte k t n n t e n iiberhaupt nur auf dieser Basis erreicht werden, ohne dass der Mythos, der darin besteht, dass mehr Partizipationsmtglichkeiten angenommen werden als wirklich bestehen, jemals aufgehoben werden ktnnte, es sei denn unter Geffihrdung und fahrliissiger Aufopferung des eigenen (demokratischen) Systems. 1935 Parteienwettbewerb sollte i n s o f e r n - neben staatlicher M a c h t - auch als Bestandteil der angesprochenen Bewegungsfreiheit politischer Eliten verstanden werden: Das, was sich seit Duverger indes im Parteienwettbewerb ver~indert hat, ist die Tatsache, dass sich die Fragen zwischen Rechts und Links von einer soziotkonomischen st~irker auf eine kulturelle Ebene hin verlagert haben und es auf dieser Basis zu einer Umkehrung des Ausspruches Duvergers kommen muss, dass die Parteien fiir ,,die Linken notwendiger" seien als fiir die Rechte. 1936
3.2 Der inneramerfkanische Wertekonflikt-eine Gefahr fiir den liberalen Westen?
Auf den Westen bezogen kommt es nun auf die Frage an, ob und wie eine philosophische Einheit in einem ethisch-normativen Sinne mit dem Prinzip des Parteienpluralismus in Einklang gebracht werden kann. Hier ist nun unmittelbar an die liberale Rezeption des antiken, klassischen Republikanismus anzukniipfen. Wie schon untersucht, ist der Parteienpluralismus im Rahmen einer liberalen Ethik anzusiedeln, die der ,,politischen Technik" ihren eigenen sittlichen, stabilit~itsftrdernden und sogar normativen Wert zubilligt, und zwar zusammen mit der Akzeptanz der Wahrheitsfrage im 6ffentlichen Raum und deren Symbolisierung als Voraussetzung der Mtglichkeit der Normativierung von Machtk~impfen, die von den Parteien ausgefochten wird. Unvereinbar mit diesem normativen Rahmen ist die absolute Beschr~inkung des Wahlkampfes auf Wahrheitsfragen, doch diirfen diese genauso wenig aus dem 6ffentlichen Raum verbannt werden, da sie als genuin politische Momente unartikuliert bleiben warden, so dass sich das ,,System" von der sittlichen Existenz und W a h m e h m u n g seiner ,,Mitglieder" entfremden und damit seine eigenen Voraussetzungen untergraben, also seine auf das Individuum bezogene (oder in platonischer Lesart: Individualseele) makroskopischen Eigenschaften verlieren wiirde. Das soll im Folgenden niiher erliiutert werden.
1934Das wiire eine Untersuchung wert: K6nnen direktdemokratische Elemente unter den heute obwaltenden Bedingungen elitendemoDatischenVorstellungen gerecht werden, und wenn ja, unter welchen genauen Voraussetzungen? 193sVgl. Gabriel A. Almond / Sidney Verba, The Civic Culture. PoliticalAttitudes and Democracyin Five Nations, Princeton (NJ) 1963, S. 478; vgl. femer Arend Lijphart, The Structure of I~rence, in: Gabriel A. Almond / Sidney Verba (Hg.), The Civic Culture Redsited, ND London / New Delhi 1989, S. 37-56, 50ff. Allerdings erscheint clef Zusammenhang, den Lijphart zwischen clirekter DemoDatie und damit k/instlich herbeigeffihrter Ungleichheit herstellt (vgl. ebd., S. 51), in clieser pauschalen Form unterkomplex zu sein. 1936Maurice Duverger, Diepolitischen Parteien, T~ibingen 1959, S. 431.
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Natfirlich stellen nicht-pragmatische, kulturkiimpferische Auseinandersetzungen um Grundsatzfragen immer eine Herausforderung ffir den Liberalismus und Pluralismus dar, wenn sie auch nicht als Bedrohung wahrgenommen werden sollten, da der grundsiitzliche Streit eines der wichtigsten Bestimmungselemente der tVreiheit ist. Derartige Grundsatzfragen sind jfingst in aller medial aufgestachelten Heftigkeit in den USA ausgebrochen, und zwar im Zuge der Formierung der rechten Reaktion der achtziger und neunziger J ahre auf fortdauemde linke gesellschaftspolitische Provokationen des Mehrheitsempfindens des amerikanischen Volkes (z.B. in der Abtreibungs-, Schwulen- und Bekenntnisfrage1937). Sie linden auch in Europa subkulturelle und ansatzweise parteipolitische Verbreitung, wenn auch die iiul3erst resistenten linksliberalen Meinungssysteme, abet auch die hedonistischen Einstellungen in Europa ihre Hegemonialstellung in diesen Fragen bisher relativ leicht verteidigen k6nnen. Hiiufig werden der Pluralismus und die erwiihnte ,,liberale E t h i k " missverstanden. Der Ausbruch von Meinungsverschiedenheiten iiber moralische, gesellschaftspolitische oder ideologische Grundsatzfragen sollte trotz aller Unkenrufe nut dann als Problem angesehen werden, wenn es andererseits gerade eben an ,,liberaler Ethik" mangelt. Die ,,liberale E t h i k " besagt in der Tat MaJ~igung, insofem sind bestimmte kulmrkiimpferische Entwicklungen in den USA, die sich peu ~ peu seit dem A u f k o m m e n der kulturrevolutioniiren Bewegungen der sechziger J ahre entfaltet haben, in der Tat nicht v611ig problemlos; insbesondere, wenn sie zudem den Weft des repriisentativen Parlamentarismus - ob nun implizit oder e x p l i z i t - nicht mehr anerkenhen 1938 oder gar die ,,liberale Ethik" in ihren historisch-normativen Voraussetzungen nicht mehr respektieren wollen, weil sie den metaphysischen Realismus der Klassik und die Bibelkulmr, die trotz aller Siikularisierung hinter dieser Ethik stehen, als das eigentliche Problem auffassen 1939- sei es aufgrund einer revolutioniiren Gesinnung der Religions- oder gar der ,,Patriarchalismus"-Kritik. Eine gewalttiitige Eskalation des normativen Konflikts in den USA ist damit durchaus vorstellbar geworden. 194~ Es k o m m t letztlich auf die Methode und Art und Weise sowie auf die Tiefe der Auseinandersetzung an, nicht auf die inhaltliche Auseinandersetzung als solche. Steht der Ton im unangemessen Verhiiltnis zu den Spielregeln des normativen Schlagabtausches (z.B. ein fiber ein tolerierbares MaB hinausgehender Mangel an Sachorientierung durch pers6nliche und diffamierende Insinuationen) oder werden gar die Spielregeln selbst durch die Infragestellung ihrer historischen Wirklichkeitsvoraussetzungen angezweifelt (Verbannung metaphysischer und religi6ser Legitimation der Anerkennung 6ffentlicher Spielregeln), so ist ein gewaltsamer Ausbruch des normativen Konflikts denkbar. D e m n a c h sollte festgehalten werden, dass das Problem in den USA zur Zeit nicht der ,,Kulmrkampf", die ,,Polarisierung" und der ,,emste gesellschaftspolitische Graben" zwischen Links und Rechts ist, sondern der mediale Schauplatz, der Ton, die Rhetorik und der damit einhergehende Mangel an Reflexion der Kombattanten fiber die ethische Metaebene ihrer eigenen Debatte: Das fehlende ,,Making sense of the battle", ob
193v Moral Values waren z.B. nach allen bekannten Wahlumfragen das wichtigste Thema bei der USPriisidentschaftswahl 2004 zwischen Bush jr. und Kerry. Es geht um Fragen wie farnilienpolitische Rechtsfordemngen der Homosexuellen, Spiitabtreibungenund Abtreibungen, religi6se Symbole an 6ffentlichen Schulen, Gebet bei Sportveranstalmngen, Medien- und Kunstfreiheit. 1938Die ,,Pathologie" dieser Bewegungen, solange sie in einer reinen Gesinnungsethik verharren, findet sich, in Bezug auf den deutschen Pazifismus der achtzigerJahre, auf einer sprachlich iiuBerst erffischenden Weise veranschaulicht bei Kurt Kluxen, GeschichteundProbkmatik des Parlamentatismus, Frankfurt a.M. 1983, S. 267ff. 1939Vgl. den alarmierenden Befund bei James Davison Hunter, Der amedkanische Kullurkdeg, in: Peter L. Berger (Hg.), Die Grenzen der Gemeinschaft. Konflikt und Vermittlung in pluralistischen Gesellschafien,GCitersloh 1997, S. 29-84, 73f. 1940Vgl. ebd., S. 74.
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nun rechts oder links 1941, wobei die Linke mit der Aufkfindigung des Konsenses b e g o n n e n hatte. 1942 Inzwischen fehlt es nicht an Stimmen, die ,,in der bloBen Suche nach normativen Gemeinsamkeiten [z.B. ,,H6flichkeit, Geselligkeit und Fairness '~] eine neue Mehrheitstyrannei ,im Schafspelz' vermuten. ''1943 In Amerika wird in n~ichster Zukunft vieles v o m Verhalten ziviler Institutionen abh~ingen, i.e. von philanthropischen Vereinigungen, Schulen, Biirgerorganisafionen, I ~ r c h e n etc. Sie stehen inzwischen vor der Herausforderung, ,,in dem gegenwiirtigen normativen Konflikt dem D r u c k nicht nachzugeben, sich auf eine der Seiten in diesem Konflikt zu stellen. ''1944 Grundsiitzliche, gesellschaftspolitische Fragen mfissen abet n i c h t - schon gar nicht des ,,Liberalismus" oder des ,,Pluralismus" wegen - konsensuell v611ig aufgel6st werden, im Gegenteil. Pluralismus als Grundbestandteil der ,,liberalen Ethik" mit institutionalisierter Standpunktlosigkeit zu verwechseln, ist ein Irrglaube - und der Begriff der ,,Toleranz" ist im N a m e n einer ahistorischen ,,liberalen E t h i k " inzwischen bis zur Unkenntlichkeit vergewaltigt worden: ,,Toleranz" bedeutet keineswegs die Verpflichtung eines jeden Einzelnen, v o m Anderen die ,,Tolerierbarkeit" seiner tiefsten lDberzeugungen einfordem zu mfissen oder dessen Diskursbeteiligung fiber ein Thema, das fiir diesen T a b u ist, ob nun rechts oder links motiviert. 194s D e r Begriff der ,,Toleranz" miisste wieder zu einem nut sehr schwer zu erringenden zivilisatorischen Akt ,,liberaler E t h i k " vorstoBen: Es k6nnte positiv wirken, die moralischgesellschaftspolifische Sezession des Niichsten auszuhalten , d.h. die seit der Kulturrevolution der sechziger J ahre v611ig unabh~ingig voneinander existierendenden ,,moralischen Galaxien" zu ertragen, solange die Privatsphiire eines jeden Einzelnen geachtet wird undjegliche gesellschaftspolitische Position, wenn nicht geteilt, so doch re~ektiert wird. Das hiege im Zweifelsfalle eben m e h r nebeneinander als miteinander leben zu wollen und gesellschaftspolitische Mehrheiten in Art und Gestus der eigenen (inhaltlich freizubleibenden) Meinungsartikulation im 6ffentlichen Raum aus moralischen Erwiigungen heraus zu respektieren und zu akzeptieren. V o n diesem Leitbild sind nicht nut die vereinzelt iiuBerst radikalen Auspriigungen der kulturkiimpferischen Grundzfige der amerikanischen Debatte weir entfemt, s o n d e m auch die gesinnungspolizeilchen Grundziige der gegenwiirtigen europiiischen Offentlichkeiten. Die generelle These besagt also, dass eine Beschr~inkung des Parteienkampfes auf Fragen der reinen Machttechnik (,,politischer K a m p f ohne Prinzipien ''1946) die republikanische D e m o kratie genauso stark geffihrdet 1947 wie eine radikale Ideologisierung der parteipolifischen Auseinandersetzung. 1948 Es sollte nicht iibersehen werden, dass sich gerade das Parteiensystem in auchJames Davison Hunter, Culture Wars. The Struggle to defineAmerica, New York 1991. Vgl. James Davison Hunter, Der amerikanische Kulturkrieg, in: Peter L. Berger (Hg.), Die grenzen der gemeinschaft. Konflikt und Vermittlung in pluralistischen Gesellschaften, Giitersloh 1997, S. 29-84, 74f. 1943Ebd., S. 75. 1944 Ebd. 1945Vgl. James Davison Hunter, Culture Wars. The Struggle to defineAmerica, New York 1991, S. 325. 1946Vgl. Maurice Duverger, Die politischen Parteien, T~ibingen 1959, S. 423. Duverger erwiihnt die damalige USA als Beispiel, was so im 20. Jahrhundert nicht richtig war und schon gar nicht (mehr) ist, es sei denn, der Betrachter nimmt einen marxistischen Standpunkt ein. In der Tat sind altlinkssozialistische oder ausgepriigt wohlfahrtsstaatliche Prinzipien in den USA parteipolitisch kaum wirkmiichtig, dafiir aber klar linksliberal bis kulturrevolution~ire versus Har wertkonservativd 1947Das wiire der Fall in europiiischen Staaten mit gesellschaftspolitisch ,,zu liberalen" oder sozialpolitisch ,,zu wohlfahrtsstaatlichen" konservativen Parteien, z.Z. in Deutschland, Osterreich, Schweiz, Niederlande, Belgien, FranDeich und in Skandinavien, wobei in Skandinavien (allerdings ohne Schweden), in Osterreich, der Schweiz, in Frankreich, den Niederlanden und Belgien rechtspopulistische Reaktionen erfolgten. 1948Diese war jahrzehntelang in Frankreich und Italien zwischen kommunistischen und nicht-kommunistischen Parteien anzutreffen und kann heute in Frankreich, in Italien sowie in den MOE-Staaten im Spannungsfeld zwischen rechtsextremen/kommunistischen und republikanischen Parteien verfolgt werden. 1941 V g l .
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den USA weiterhin sehr stabil hiilt. Die jiingste ideologische Polarisierung wirkt sich in keiner Weise auf die Stabilitiit des dortigen Parteiensystems aus. D o c h eines belegt die amerikanische Situation eindeutig: Die Vorstellung, dass sich ein erfolgreich praktizierter Pluralismus darin ersch6pft, normative Konflikte zu verhindem, scheint sich als unrichtig herauszustellen. Gerade der am erfolgreichsten praktizierte, amerikanische Pluralismus ,,schafft nun einen tiefgreifenden Konflikt von Werten und @berzeugungen. ''1949 Die ,,IdeoloNe" darf jedoch auch aus grundsiitzlichen Erwiigungen nicht gegen die ,,Technik" ausgespielt werden: Weil letztere sich als Prinzip natiirlich selbst aus einer manifesten Ideologie speist. Das Prinzip der Werteneutralitiit ist ein ideologisches. Wird nur dieses als Basis einer republikanischen Demokratie zugelassen, ist die Demokratie ideologisiert und iihnelt de facto einem System der Einheitspartei im Sinne Duvergers, das durch ein formales Mehrparteienprinzip nur verschleiert wird. Anti-Ideologismen indes, die sich gegeniiber dem Prinzip der Wertneutralitiit selbst strikt ,,wertneutral" verhalten wollen und auf dieser Ebene jegliches weltliche ,,-Ismus"-Prinzip ablehnen, z.B. aus einer religi6sen Sichtweise, haben in einem solchen System/.iberhaupt keine M6glichkeit mehr, sich in der Offentlichkeit einzubringen, weil sie jedes Engagement als ein Verrat der eigenen Zielvorstellungen ansehen miissten. Das System verliert so seinen freiheitlichen Charakter und verliisst damit seine eigene philosophische Grundierung, bis es von auBen unter Druck geriit.
3.3 Die Frage der Kulturrevolution Die gesellschaftliche Dimension des transatlantischen Verh~iltnisses wird im Wesentlichen von der skeptischen Haltung Europas zu Amerika als Gesellschaftsmodell mitbestimmt. Die europiiische Linke und die europ~iische Kulturkritik haben seit dem Nationalsozialismus in diesem Zusammenhang eine paradox anmutende Konversion erlebt. Das vor der neuen kulturrevolutioniiren Bewegung 1968 zum Tragen k o m m e n d e patrizische Demokratieverstiindnis einer immigrierten linksmotivierten Kulturelite mit klaren europiiischen und kulturpatrizischen Auspizien wurde am deutlichsten von Theodor W. Adorno repriisentiert. Manfred Henningsen hat die Einstellung Adornos und Horkheimers in der Dialektik der Aufkldrung einmal als ,,Apperzeptionsverweigerung eines falschen Bewusstseins" dargestellt. 19s~Dabei wird klargestellt, dass Adorno und Horkheimer sich keineswegs gegen die ,,habituelle Verinnerlichung von Sozialisationserfahrungen, in denen sich die Phasen der europiiischen Sozialgeschichte riickspiegeln "1951 stellen, sondern im Gegenteil versuchen, sie fiir sich in einem fatalistisch-kulturpessimistischen Modus so lange es geht zu erhalten, weil sie wissen dass sie dieser bildungsbiirgerlichen Welt des ,,Faustus-Milieus"1952 verhaftet sind und bleiben. ,,Sind Horkheimer und Adomo 1949 nach Deutschland zur/ickgekehrt, weii sie das ,amerikanische' Ende der Zukunft zwar realisierten, ihm im zerst6rten Europa abet noch flit eine historisch zuf~illige Schonfrist zu entgehen hofften?"19s3
Peter L. Berger, Allgemeine Betrachtungeniiber normative KonJlikte und ihre Vermittluns in: Peter L. Berger (Hg.), Die Grenzen der Gemeinschaft.Konflikt und Vermittlung inpluralistischen Geselkchaften,GCitersloh 1997, S. 581-614, 587. 1950Manfred Henningsen, DerFallAmerika. ZurSo~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdrdngune~M/inchen 1974, S. 201. 19SlEbd. 1952Ebd. 1953Ebd., S. 202. 1949
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A d o m o u n d H o r k h e i m e r setzten mit ihrer H a l m n g , so H e n n i n g s e n weiter, T o c q u e v i l l e fort, i n d e m sie seine negative T h e s e bzw. P r o g n o s e v o n der V e r p e s t u n g aller Freiheitsriiume d u r c h eine Radikalisierung der ,,Tyrannei der M e h r h e i t " eingel6st sahen. 1954 ,,Die Dialektik ist H o r k heimers u n d A d o m o s L e i c h e n r e d e auf ihr M_ilieu. ''1955 N i c h t der ,,cultural lag, die Zuriickgeblieb e n h e i t des a m e r i k a n i s c h e n Bewusstseins hinter d e m Stand der T e c h n i k " sei die U r s a c h e der v o n k o n s t a t i e r t e n ,,Barbarei der Kulturindustrie": ,,Zurfickgeblieben hinter der Tendenz zum Kulturmonopol war das vorfaschistische Europa. Gerade solcher Zurfickgebliebenheit abet hatte der Geist einen Rest von SelbstS.ndigkeit, seine letzten Tr~iger ihre wie auch immer gedriickte Existenz zu verdanken. '1956 Die Frage ist n u n m e h r , ob der Pessimismus, b e z o g e n a u f das Milieu, berechtigt ist, u n d ob die Barbarisierung der K u l t u r nicht a u f einer o n t o l o g i s c h e n E b e n e , w e n n nicht reversibel, so d o c h abwehrfreiheitlich (durchaus im v o n A d o r n o g e z e i c h n e t e n W e g e des ,,Nicht-Identifizierbaren ''1957) aufgefangen w e r d e n k6nnte. W e n n das zu v e r n e i n e n bedeutet, bei der amerikanischen Realit~it a n g e k o m m e n zu sein u n d alles andere als ,,Fetischisierung der europiiischen K u l t u r ''1%8 zu v e r d a m m e n (wie H e n n i n g s e n meinte), d a n n wird das P r o j e k t der ,,westlichen Zivilisation" an den Befmdlichkeiten E u r o p a s scheitem, weil eine ,,westliche Zivilisation" sowie eine ,,Atlantische Zivilisation" o h n e ,,europiiische K u l t u r " in der T a t u n d e n k b a r ist. I n t e r e s s a n t ist es nun, dass H e n n i n g s e n die gesamte , , 6 8 e r - B e w e g u n g " als eine F o r t f i i h r u n g der o b e n g e n a n n t e n Fetischisierung ansieht. Somit wird eine direkte Linie z w i s c h e n den amerikakritischen Attitiiden des jungen T h o m a s Mann, emes A l e x a n d e r D 6 b l i n , aber auch der Vertreter der ,,Konservativen R e v o l u t i o n " der W e i m a r e r Republik 1959 mit den s t u d e n t i s c h e n C h a o ten u n d A d o r n o j i i n g e m der sechziger Jahre gezogen: ,,Die Proben zur Revolution im klassisch europS_ischen Sinne gehen auf dem Kontinent weiter. Der bewusstlose Stupor, der sich in der Anlehnung an leninistische und stalinistische Vorlagen enth/illt, unterstreicht, wie wenig das ,Amerika' der Dialektik verstanden worden ist. Der R/ickzug auf die Modelle der russischen Oktoberrevolution, in der die franz6sische Revolution zu ihrem konsequenten europS.ischen Ende gef/ihrt worden ist, legt nahe, dass die Dynamik der Geschichte noch immer in die Formen der europiiischen Sozialgeschichte gegossen wird. Die historischen Y-dassengegens~itzeEuropas, die sich als Bilderwelt im revolution~iren Bewusstsein abgelagert haben, verhindern den Nachvollzug der Einsicht, dass Europa mittlerweile mehr Amerika als einer eigenen Ge1954Manfred Henningsen, Der FallAmerika. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdra'ngun~M/inchen 1974, S. 201. 1955Ebd., S. 200. 1956Theodor W. Adomo / Max Horkheimer, Dialektik derAufkla'rung. PhilosophischeFragmente (EA 1944), Frankfurt a.M. 1969, ND 1989, S. 140. ~957Vgl. Theodor W. Adomo, Negative Dialektik, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1982. 1958Manfred Henningsen, Der FallAmerika. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdra'ngun~ M/inchen 1974, S. 201. 1959Die indes vom Denken des jungen Thomas Mann und auch Hugo von Hofmannsthals zu scheiden sind: ,,Die Parameter von Thomas Manns Welt entstammten der vorindustriellen b/.irgerlichen Gesellschaft, der Epoche der Weimarer Klassik, der (...) stadtbiirgerlich-rnittelstiindischen Ordnung" (Stefan Breuer, Ein Mann der Re&ten?, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), PolitischesDenken. Jahrbuch 1997, Stuttgart / Weimar 1997, S. 119-140, 137). Breuer merkt an, dass sich das Denken Manns zwar gegen eine angels{ichsische ,,Wohlstandsbegeisterung", einen typisch franz6sischen und s/iddeutschen ,,r6mischen Katholizismus" und auch gegen einen modernen National- und Linksliberalismus in Deutschland richter und dennoch einen strengen frfihliberalen, keinen ,,konservativ-revolution~iren" oder neonationalistischen Charakter aufweist. Mann stellte sich gegen den (technisch-),,zivilisatorischen Fortschritt" insofern, als dass dieser als unausweichlicher, so gut es nut ging, hinausgez6gert werden sollte, weil er als ,,Entb/irgerlichung" begriffen wurde (vgl. ebd., S. 137f.). ,,Wenn es dennoch zu Ber/ihrungen mit den Neonationalisten kam, denen diese Entb/irgerlichung nicht schnell genug gehen konnte, so deshalb, weil Thomas Mann sehr genau um die Problematik einer blo13 abwehrend-bewahrenden Position wusste und immer wieder Versuche untemahm, aus der Aufl6sung heraus Kriifte f/.ir die Rekonstitution einer b/irgerlichen Kultur freizumachen." (ebd., S. 138). Hugo von Hofmannsthal indes trat letztlich f/it einen ,,Kulturstaat Europa" im Kontext einer konservativen ,,6sterreichischen Idee" ein und war daher nicht nationalistisch, sondem konservativ.
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schichte gleicht. Der Anti-Amerikanismus der zeitgen6ssischen Linken ist deshalb nichts weiter als das Ressentiment des falschen Bewusstseins, dass sich sowenig vom Fetisch der europiiischen Revolution zu 16sen vermag, wie es die Literamr vom Fetisch der europiiischen Kultur vermochte. "196~ Dabei iibersieht H e n n i n g s e n natiirlich, dass die Masse der Basis der studentischen Jugend in D e u t s c h l a n d u n d E u r o p a ,,lebensweltlich" die , , v e r w e s t l i c h s t e " war. 1961 N o c h absurder in einer anderen Perspektive erscheint das ganze, w e n n bedacht wird, dass vielleicht der hingebungsvollste aller ,,Anti-Amerikanismen" in diesem K o n t e x t der ,,Anti-Amerikanismus" der jungen linken Amerikaner selbst gewesen sein k6nnte. 1962 Jedenfalls konnte es doch v o n vorneherein nicht zu einem Verstiindnis zwischen dieser extrem informellen u n d plakativ avantgardistischen, bewusst antibiirgerlichen Jeans- und Rockmusikjugend auf der einen Seite u n d Pers6nlichkeiten wie A d o r n o , H o r k h e i m e r , Jaspers, sogar Marcuse auf der anderen Seite k o m m e n : Die jugendlichen Rebellen waren w o h l - nach R a y m o n d A r o n - , , a u f der Suche nach einer Sache, der sie dienen, u n d nach einem Tyrannen, den sie bekiimpfen k6nnten. ''1963 U n d schlieBlich fanden sie ,,keinen T y r a n n e n als die Realitiit selbst, die sogenannte Konsumgesellschaft, v o n der sie leben, die sie zu d e m macht, was sie sind, und die sie ablehnen. 'q964 Sie waren zugleich ein lebensphilosophisch konfigurierte, v o m Nietzscheanismus nicht unbeeinflusster ideologischer Studentenhaufen, dessen D r u c k sich die Universitiiten nur deswegen in einem so grogen AusmaB beugen konnten, weil diese neue antibiirgerliche Masse im ,,Besitz einer moralischen W a h r h e i t " zu sein schien, welche die Universitiit nicht ,,bieten konnte". Letztlich war es jedoch die Professorenschaft, die z.T. den Fehler begang, sich mit dieser Bewegung aktiv zu solidarisieren. Offentlich bekannten die Professoren ihre Schuld u n d ,,bedauerten, die wichtigsten moralischen P r o b l e m e nicht erkannt zu haben, fiir die ihnen der M o b n u n die richtigen A n t w o r t e n nannte". 1965 Allan B l o o m hatte in seinem scharfziingigen ,,Closing of the American Mind" wahrscheinlich Recht, als er betonte, dass diese A n t w o r t e n , unabh~ingig davon, welche positiven Folgen die Kulturrevolution vielleicht hier u n d da gebracht haben m 6 g e 1966, fiir die Idee der ,,Universitiit" die ,,totale K a t a s t r o p h e " bedeutete u n d bedeutet ~967, so dass heute fiir die klassische Sichtweise kaum etwas anderes iibrigbleibt als die Nische oder die Sezession: W e r so schreibt u n d denkt, wie Allan B l o o m es getan hat, der ist nicht m e h r der typische, wehrhafte u n d kulturell ~iul3erst lebenswichtige Vertreter westlicher Akademie- u n d Universitiitswirklichkeit in sokratischer, abendliindischer Tradition, s o n d e m nur m e h r der angeblich ,,konservative Professor." A b g e s e h e n y o n der Frage der Bedingungen kulmrrevolution~irer Umgestaltungen akademischer Traditionen setzt jede M6glichkeit einer Realisierung der ,,Atlantischen Zivilisation", auf
1960Manfred Henningsen, DerFallAmetgka. ZurSo~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdra'nguneoM/inchen 1974, S. 204. 1961 Vgl. exemplarisch f/ir die deutsche Linke Bemd Ulrich, Die deutsche Linke und der Westen, in: Rainer Zitelmann / Karlheinz Weil3mann / Michael Grol3heim (Hg.), Westbindung. Chancen und Rzsiken fiir Deutschland, Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 243-258, 245f. 1962Vgl. A. N. J. den Hollander, Europ?iischesKulturbewusslsein und Anti-Amerikanismus, in: Friedrich A. Lutz (big.), Amerik a - Europa. Freund und IUvale, Z/irich / Stuttgart 1970, S. 33-52, 48. 1963Raymond Aron, Frei, freiheitlich oder anarchistisch?, in: Ders., ZMschen Ma&t und Ideologie. Politische Kr?lfte der Gegenwart, Wien 1972, S. 141-186, 176. 1964 Ebd. 196sAllan Bloom, Der Niedergang des ametikans Geistes. Ein Pla'doyerfiir die Erneuerung der westlichen Kultur, New York 1987, S. 412. 1966 Vgl. dazu die bedenkenswerten Einwiinde gegen ,,rechte" Positionen bei Peter L. Berger / Brigitte Berger / Hansfried Kellner, Das Unbehagen in derModernita't, Frankfurt a.M. / New York 1975, S. 84f. 1967Vgl Allan Bloom, Der Niedergang des amerikanischen Geistes. Ein Pl?idoyerfiir die Erneuerung der westlichen Kultur, New York 1987, S. 421.
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jeden Fall die These voraus, dass die Vereinigten Staaten eben nicht wie bei Henningsen (z.T. auch bei Charles Beard) als sozialhistorische, verfassungshistorische und politische Erscheinungsform sui generis zu verstehen sind, genauso wenig wie sie als zurfickgebliebenes Element einer rein sekund~iren und zugleich dem europiiischen Element v61lig losgel6sten Welt des konsumistischen Amerikanismus angesehen werden k6nnen. Gerade letzteres wird unter dem Banner der These v o n d e r , , A m e r i k a n i s i e r u n g " sowohl von rechts als auch von links seit geraumer Zeit spfirbar bestritten. 1968 Dazu k o m m t noch das schwewiegende Problem, dass sich die Selbstvergewisserungsprozesse in Amerika und Europa normativ synchron abspielen soilten, es aber gegenwiirtig defmitiv nicht tun. Besonders der M6glichkeit einer kulturellen Selbstvergewisserung Europas stehen also schwerwiegende Entwicklungen entgegen, die letztlich alle aus den disparaten Reaktionen auf die heute voll zur Geltung k o m m e n d e n kulturrevolutioniiren Manifestationen der sechziger Jahre resultieren. Die Disparitiit gewinnt indes dadurch noch an bewusstseinschaotisierenden Einfluss, als sie nunmehr unter den Bedingungen der ,,Globalisiemng" zur Wirkung kommt, mitten in einem Zeitalter also, in dem gerade sinnstiftende traditionale Instanzen als Gegengewicht zu radikalen und umpflfigenden sozio6komischen Umwiilzungen von ganz besonderer ordnungsstiftender und gesellschaftsstabiliserender Bedeutung sein k6nnten. 1969 Die Disparitiiten und entsprechenden Entfremdungssymptome im transatlantischen Kontext manifestieren sich in der Frage der Vergesellschaftung des Politischen (a), der Frage des Patriotismus, angefacht dutch demographische und migrationspolitische Krisenerscheinungen (b) und in der Frage des Heroismus, der Religiosit;,it und des Rechts (c, d, e). Die ganze Situation wird noch dadurch erschwert, dass es den Anschein hat, die stiirkste Gemeinsamkeit zwischen Europa und den USA sei lediglich in einer entgrenzten und gewaltbehafteten Medien- und UntergrundrealitS.t westlicher Populiirkultur zu linden (f), auch wenn die dahinter stehende Medienrealitiit mit einer engmaschigen westlichen OnlineCommunity, i.e. einer stark transatlantisch beeinflussten Netzwerkgesellschaft insbesondere der jungen Menschen, einhergeht, womit transatlantische Bindungen eher gestiirkt als geschwiicht werden.
a) Die Vergesellschaftung des Politischen Die Gefahr in den westlichen Gesellschaften aus liberaler Sichtweise besteht heute insbesondere in der grundlegenden Verletzung des Rechts auf Differenz innerhalb der Gesellschaften beiderseits des Atlantiks dutch die Durchsetzung einer absoluten Form der Drittwirkung des Gleichbehandlungsgebots, ob zwischen Individuen oder Gruppen. Das Problem besteht dabei in der Abgrenzung der politischen von der gesellschaftlichen Sphiire. Der doktriniire Charakter dieser Spielform indes 5_ul3ert sich nicht im Versuch der Abschaffung jeglicher administrativ verffigten Diskriminierungen, sondern schlicht in der fehlenden Diskussion fiber die Legitima-
1968 Vgl. Philipp Gassert, Was meint Amerikanisierung? Ober den BegriffdesJahrhunderts, in: Merkur 617/618 (9/10, 54. Jg.), S. 785-796. Vgl. ferner Ralf Dahrendorf, Die angewandteAufkla'rung. Gesellschaft und So~ologie in Amerika, Mfinchen 1963, S. 223f. Der Begriff der ,,Amerikanisiemng" geht zurCickauf William Thomas Stead, The Americanization of the World, or the Trend of the TwenlieLh Century, London / New York 1902. Der Begriff bei Stead (ira/ibrigen eines der fiber 1500 ,,Titanic"-Opfer 1912) bezog sich damals auch auf das sich durch Einwanderung ,,multinationalisierende'" Amerika selbst (vgl. zu Stead auch http://www.attackingthedevil.co.uk). Die rechte Amerikanismuskritik findet sich insbesondere bei Alain de Benoist, Sch&e vernetzte Welt. Eine Antwort aufdie Globalisierung, T/ibingen 2001, S. 104: ,,Der Atlantismus war gestem unhaltbar. Heute ist er unertriiglich." 1969Vgl. kurz und priignant auch Niall Ferguson, Sinking Globalization, in: Foreign Affairs, Bd. 84, Nr. 2, 3/4 - 2005, S. 64-77, 73.
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tion der Abschaffung b e s t i m m t e r Diskriminierungen innerhalb der Gesellschaft. So fehlt es an einer Aktualisierung der Diskriminierungsthesen v o n H a n n a h Arendt, z.B. in A n w e n d u n g auf die jiingste Antidiskriminierungsrichtlinie der EuropS.ischen U n i o n oder sonstige freiheitsgef~ihrdende Entwicklungen in der heutigen westeurop~iischen , , G e s e l l s c h a f t s w e l t . ''19v~ D a b e i besagt schon das grundlegende Recht auf freie Vereinigung, ,,dass n i e m a n d dazu gezwungen werden kann, mit M e n s c h e n freiwillig seine Zeit zu verbringen, mit denen er sie nicht verbringen m 6 c h t e ''1971 bzw. unter Achtgabe der elementaren M e n s c h e n r e c h t e des Diskriminierten auf Eigentum, G e s u n d h e i t und Leben, dass n i e m a n d gezwungen ist, M e n s c h e n sein E i g e n t u m zu ver~iul3ern, denen er, aus welchen Griinden auch immer, sein E i g e n t u m nicht veriiul3ern m6chte. Was der sozialistische Freiheitsbegriff niemals voll erfassen kann, k o m m t hier zur Geltung: Die ,,Freiheit zu u n t e r n e h m e n " ist ohne ,,Freiheit zu besitzen" nicht denkbar. 1972 N u n ist freilich diskussionswiirdig, welche D i s k r i m i n i e r u n g s t a t b e s t i i n d e - in einer Zeit der V e r m i s c h u n g v o n staatlicher und gesellschaftlicher E b e n e - gesellschaftlicher oder welche doch politischer N a t u r sind. Ein besonders brutaler Ausweis ,,struktureller Gewalt", der eine staatliche Antidiskriminierungspolitik erforderte, war z.B. der h o h e Anteil der Schwarzen an der G e s a m t z a h l der in L y n c h m o r d e n get6teten M e n s c h e n in den USA 1973 bzw. die weitverbreitete R a s s e n t r e n n u n g im Siiden der USA bis 1954 ( T r e n n u n g in Restaurants, Theater, Kinos, Parks, Badestriinde etc.). D e r staatliche Eingriff entlastete damals die Gesellschaft u n d schiitzte sie vor einer strukmrellen R a s s e n t r e n n u n g v o n unten. Allerdings hat sich im Vergleich zu den fiinfziger Jahren das P r o b l e m der , , W a h l f r e i h e i t " umgekehrt. W a r es in den fiinfziger Jahren problematisch, das Recht auf A b l e h n u n g einer mehrheitlich gewollten Diskriminierung strukturellen Ausmal3es faktisch zu realisieren, so wird dutch den staatlichen Eingriff, der vor fiinfzig J ahren n o c h sinnvoll war, heute, vor d e m H i n t e r g r u n d eines medial ,,aufgekliirten" Verhiiltnisses der Bev61kerungen z u m Begriff der ,,Rasse", eher das innergesellschaftliche u n d Staatsfreiheit artikulierende Recht auf Diskriminierung untergraben. Die Gefahrenlage hat sich also umgekehrt, so dass Arendts A r g u m e n t a t i o n heute viel aktueller ist als zu ihrer Zeit. Bei aller Antidiskriminierungsrhetorik u n d - z i e l s e t z u n g k 6 n n t e es geboten sein, den Aspekt des Rechts auf Differenz innerhalb der Gesellschaft im Lichte des Rechts auf individuelle Privatsphiire u n d des Rechts v o n G r u p p e n auf freie Vereinigung viel stiirker zu beriicksichtigen u n d politisch, nicht moralisch, zu diskutieren im Hinblick auf die politische G e f a h r e n des K o n f o r m i s m u s , die aus der Einschriinkung dieses Rechts auf Differenz resultieren. Dass eine Diskussion, bestenfalls unter H e r a n z i e h u n g der Gegenposition v o n H a b e r m a s 1974, weitgehend 1970Vgl. z.B. Lorenz Jiiger, Frankreichs Gesetz: Wer hat Angst vor Homophobie?, in: Frankfurter Allgemeine Zeimng, 4. Januar 2005. 1971 Sabine Giehle, Diskriminierung undpolitirche Gleichheit bei Hannah Arendt, in: ZPol 3/97, S. 929-948, 938, in Anlehnung an Hannah Arendt, Little Rock. ,Ketgetische Ansichten #ber die Negerfrage und equality', in: Dies., Zur Zeit, hrsg. yon Marie Luise Knott, Berlin 1986, S. 95-112, 106. 1972Vgl. Pierre Chaunu, Die Wurzeln derFreiheit, Mfinchen 1982, S. 121-128. 1973Vgl. die Zahlen bei Willi Paul Adams, Die USA vor 1900, Mfinchen 1999, S. 115. 1974Vgl. insbesondere Ernst Vollrath, Zwei Begriffe des Pohtischen?J#rgen Habermas und die stb'rdsche Fakti~t~ des Politischen, in: Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Politisches Denken. Jahrbuch 1994, Stuttgart / Weimar 1995, S. 175-192. Aus der Perspektive von Habermas muss davon ausgegangen werden, dass Hannah Arendt unbeabsichtigt den ,,6ffentlichen Raum", den Sie ja eigentlich propagiert, unm6glich macht (so z.B. Sabine Giehle, Diskriminierung undpolitische Gleichheit bei Hannah Arendt, in: ZPol 3/97, S. 929-948, 944 und 946). Allerdings mfisste man, um zu einer solchen Schlussfolgerung zu kommen, die Gesellschaftsanalyse von Habermas teilen, die letztlich von einer ganz anderen Definition des Politischen ausgeht, wohingegen einiges spricht: Nach Hannah Arendts immer noch fiberzeugendem, wenn auch aus der Mode gekommenen Politikbegriff kann es keine ,,politische Funktion von Gesellschaft" (ebd., S. 946) geben. In der Wirtschaft, Schule wie in der Familie gibt es kein Gleich zu Gleich. Die yon Sabine Giehle geforderte ,,soziale Gerechtigkeit" (ebd.) als materielle Basis f~r Arendts Begriff des Politischen, so
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tabuisiert wird, ist ein eher betriibliches Zeichen. D e r Liberalismus muss d e m n a c h auf einem bloc des iddes incontestables 1975 b e r u h e n , damit er lebensf'~ihig bleibt, also a u f einem B e s t a n d v o n v e r h a l t e n s s t e u e m d e n W e r t e n u n d Mythen, die der D i s k u s s i o n voHstiindig e n t z o g e n u n d zugleich nicht liberal motiviert sind u n d d e n e n sich die Elite dieser Liinder verpflichtet. 19v6 Die ,,korrekte" Leitlinie baut indes auf staatspolitisch sich manifestierende, ,,postmaterialisfische" o d e r hedonistische (gesellschaftspolitisch-libert;,ire) bzw. ,,liberisfische ''1977 (nicht zu v e r w e c h s e l n mit den wirtschaftspolitisch-libertiiren) L e b e n s k o n z e p t e u n d E i n s t e l l u n g e n auf, die sich, a u s g e h e n d v o n den Griinalternativen, i n s b e s o n d e r e bei sozialistischen u n d sozialdem o k r a t i s c h e n Parteien ( z u n e h m e n d zu deren Lasten) festgesetzt haben. , , O b es sich u m die Sexualitiit o d e r u m die A b t r e i b u n g handelt, ob u m Dinge, die v o r k u r z e m als n o r m a l o d e r nicht n o r m a l galten, die westliche Gesellschaft ist in einem MaBe tolerant, das geschichtlich als extrem eingestuft w e r d e n kann. ''1978 Es handelt sich u m eine F o r m der gesellschaftlichen E n t f e s selung ,,priisozialer L a s t e r " . 1979 B e s o n d e r s pr~isent ist das P h i i n o m e n des historischen Toleranziiberschusses auch in D e u t s c h l a n d - hier a u f g r u n d einer Selbstnegation im R a h m e n einer, w e n n auch nicht v61lig unverst~indlichen, so d o c h zeitweise totalisierenden V e r g a n g e n h e i t s mystifaktion zu Z w e c k e n einer Verfestigung der ,,kulturellen H e g e m o n i e " der L i n k e n in der Bundesrepublik. 198~ Die U n t e r s c h i e d e sind empirisch i n s b e s o n d e r e an den vergleichsweise groBen w e r t b e z o g e n e n G e n e r a t i o n s k o n f l i k t e n in D e u t s c h l a n d festzumachen. 1981
k6nnte man nun in Weiterfiihrung Arendts und gegen Oiehle (ebd.) argumentieren, stellt sich in der Oesellschaft yon alleine ein, da die Gesellschaffsmitglieder in einem republikanisch-ffeiheitlichen Oemeinwesen, das ihnen das Recht auf Differenz li/sst, allmiihlich selbst erkennen, dass diese ,,soziale Gerechtigkeit" normativ flberzeugend ist und auf ihr privates DisDiminierungsrecht zunehmend (wenn auch nicht vollstiindig) verzichten. Das wichtigste Gegenargument yon Giehle, dass niirnlich ,,durch gesellschaftliche DisDiminierung die politische Gleichheit ihrer materiellen Voraussetzungen beraubt wird", muss demnach ergiinzt werden (und damit das, was Giehle eigentlich behaupten m6chte, revidiert werden), dass niimlich durch die yon Hannah Arendt geforderte Freiheit zur gesellschaftlichen Diskriminierung, die nicht gleichzusetzen ist mit ihrer faktischen Anwendung, die politische Gleichheit keineswegs ihrer materiellen Voraussetzungen beraubt sein muss. Eine staatlich forcierte Durchsetzung ,,sozialer Gerechtigkeit" in diesem Kontext wiirde jedoch (und rut es faktisch auch schon) eine ,,weise" Positionierung der Gesellschaftsmitglieder gegen die Wahmehmung des angebotenen Rechts auf Differenz eher verhindem, sobald niimlich die staatliche Mal3nahme die Privatsphiire einschriinkt. Ftir die Einschri/nkung werden dann nicht mehr die anordnenden Politiker, sondem die gef6rderten Minderheiten selbst verantwortlich gemacht. Die entscheidende Frage aus dieser Sichtweise ist nunmehr, ob und ab wann in die Privatsphiire eingegriffen wird. 1975Vgl. Maurice Hauriou, Thdorie de/'institution et de la Fondation, Berlin 1965. 1976 Vgl. zugespitzt G~inter Maschke, Die Verschwh'rung der Flakhelfer, in: Hans-Joachim Amdt u.a., Infetforita't als Staatsra" son. SechsAufsa'tze wr Legitimita't der BRD, Krefeld 1985, S. 93-118, 112. 1977So die Bezeichnung bei Ernst Nolte, links und Rechts. Ober Geschichte und Aktualita't einerpolitischen Alternative, in: Heimo Schwilk / Ulrich Schacht (Fig.), Die selbstbewusste Nation. ,~zlns&wellenderBocksgesang" und weitere Beitra'ge Zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. 1994, S. 145-162, 156. 1978Vgl. Raymond Aron, Pla'doyerJ~rdas dekadente Europa, Frankfurt a.M. 1978, S. 352. 1979 Vgl. zum Begriff Vitorio H6sle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik J~r das 21. Jahrhundert, M/.inchen 1997, S. 380-389. Neben der Wollust gesellen sich noch dazu die V611erei, die Dummheit und, gepaart n-fit ,,sektorieller Intelligenz", der Mangel an Weisheit, i.e. die Unf'~ihigkeit,,,den Standpunkt des Ganzen einzunehmen.1980Vgl. sehr treffend Tilman Mayer, Die kulturelle Hegemonie in der Berliner Republik, in: Tilman Mayer / Reinhard C. Meier-Walser (Hg.), Der Kampfum diepolitische Mitte, M~inchen 2002, S. 11-29. 1981 Vgl. Thomas Petersen / Tilman Mayer, Der Wert der Freiheit. Deutschland vor einem neuen Wertewandel?, Freiburg i.Br. 2005, S. 24f. Allerdings mehren sich seit Mitte der neunziger Jahre die Anzeichen, dass es zu einer rechten ,,Tendenzwende" in den Einstellungen der deutschen Bev61kerung in gesellschaftspolitischen Fragen kommt (vgl. ebd., S. 28ff.).
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b) Die Frage des Patriotismus und die europiiische Immigrationsfrage Was die Philosophie der Einbiirgerungen in Europa betrifft, ist der von Hannah Arendt erstmals entwickelte Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Assimilierung und politischer Verfolgung bedenkenswert. 1982 Demnach verschiirft sich ein Rassenproblem durch eine von oben forcierte gesellschaftliche und wirtschaftliche Gleichstellung eher, als dass es sich entsch~irft. 1983 Daher ist die Differenzierung zwischen Integration und Assimilierung so iiberaus wichtig. In Europa bedeutet das inzwischen allerdings auch die Hinnahme von relativer kultuteller Pluralitiit, solange sie im Gegensatz zu einem unbegrenzten Multikulturalismus nicht desintegrierend wirkt, also unter Anerkennung nicht nur einer Verfassung, sondern auch einer nationalen Leitkultur in der 6ffentlichen Sphiire. 1984 Letzteres wiirde bei bestimmten zivilisationsfremden Kulturen gar die eventuelle Verweigerung von Einbiirgerungen auf der Basis der Umkehrung der Beweislast erfordern: der Emzubiirgemde miisste beweisen, dass seine kulturelle Identitiit nicht desintegrierend wirkt. In den USA gelingt die Identifikation der Einwanderergruppierungen in der Frage der Identiftkation mit dem Gemeinwesen und Wertesystem des aufnehmenden Landes besser und die Inhomogenitiit ist nicht so grog wie in Europa, weil aus der Einwanderung keine gr6geren Religionskonflikte resultieren. Doch scheint auch das amerikanische Nationalbewusstsein einen Teil zur Befriedung des innergesellschaftlichen Zustandes beizutragen: ,,Europiier beliicheln den naiven Nationalstolz ihrer transatlantischen Vettern und Basen, halten sich an ihm auf, geraten manchmal auch in Zorn. Sie sind gebrannte Kinder der Nationalismen. Nut ungem nehmen sie zur Kenntnis, dass die nie abreil3ende Einwanderung Tag ffir Tag eine Neubegrfindung und Bestiitigung der Nation geradezu erzwingt, zumal in Zeiten internationaler Konflikte und K_riege.'198s Diese Zeiten sind nun liingst angebrochen: Y-deinere Gruppen von Einwanderern gruppieren sich um terroristische Zellen und stellen sich gegen die westlichen Staaten von innen und gegen die autochthonen Bev61kerungen. Das Problem dabei besteht darin, dass sich diese Entwicklung mit einer starken Inhomogenitiit der Bev61kerungszusammensetzung in Europa verbindet. Erste greifbare L6sungsansiitze des Problems finden sich in Diinemark und den Niederlanden, wo m der Ausliinderpolitik restriktive Magnahmen ergriffen wurden: Wenn auch die Assimilierung skeptisch betrachtet wird, so ist vor diesem Hintergrund ein gewisses Mal3 an kultureller Integration in Europa unabdingbar, nicht nur dann, wenn eine der vielen iiberkommenen Staatsbiirgerschaften, die kulturell oder ethnisch gebunden sind, betroffen ist (in Mittel, Ost- und Siidosteuropa, sowie in Spanien, Italien und Portugal und in Skandinavien), sondern auch in Frankreich oder Grol3britannien. In beiden Liindern tritt mit jedem weiteren Bombenattentat und mit jeder weiteren Stral3enschlacht immer stiirker ins Bewusstsein, inwieweit die angeblich kulturneutralen Staatsbiirgerwerte der eigenen Nation aus einer letztlich kulturellen und ethnischen Abstammungsgemeinschaft heraus, die der Staatsbiirgernation noch viel deutlicher als in den USA vorausging, entstanden sind. Die Staatsbiirgemation entwickelte sich in Frankreich und GroBbritannien im Ubrigen auch nut aufgrund der entsprechenden Notwen1982Vgl Hannah Arendt,/a'tt/e Rock. ,Ketzeffsche Ansichten #ber die NegerJ?age und equality', in: Dies., Zur Zeit, hrsg. von Marie Luise Knott, Berlin 1986, S. 95-112. 1983 Vgl. ebd., S.99. i984Technisch gesprochen geh6rt dazu das kulturelle System, das in Kindergiirten, Schulen, Bildungseinrichtungenund Universitiiten staatlich gef6rdert wird und an dessen F6rderung alle Einwohner spiitestens fiber die Schulpflicht verpflichtet werden, zu partizipieren. 198sY-clausHarpprecht, Der fremde Freund. Ametika - Eine innere Geschichte, Stuttgart 1982, S. 31.
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digkeiten im Zuge des Imperialismus und der damit zusammenhiingenden Vorstellungen emer imperialen Zivilisationsmis sion. 1986 Die europiiische Linke versuchte indes fiber lange Zeit das Problem kultureller Konflikte in Europa dadurch aufzul6sen, indem sie ein postnationales Bewusstsein als politischinstimtioneH unmittelbar relevantes Wertegerfist in Europa durchzusetzen versuchte. Das st6Bt allerdings immer st~irker auf Widerstand m fast allen Nationalstaaten in Europa, und sogar in Deutschland nehmen die Widerstiinde zu: Berechtigt erscheint der zunehmende Widerstand insofern, als die von einigen notorischen Nationsgegnern und -skeptikem hervorgebrachte Verbindung zwischen Nationalstaatlichkeit und Totalitarismus historisch sehr f r a ~ r d i g ist. Freilich stellte der Nationalstaat eines der wichtigsten Instrumente jener Ideologen dar. D o c h der Nationsskeptizismus will ,,nicht erkennen, dass nicht der Nationalstaat, sondem totalitS.re Kriifte linker wie rechter Provenienz [den Zweiten Weltkrieg] ausgel6st haben". 1987 Aus neokonservativer Sichtweise, erst recht in den USA, wo w i r e s mit ,,notorischen" Patrioten zu tun haben 1988, nehmen die institutionellen Versuche, welche eine Nationalstaatsfiberwindung zum Ziel haben, einen entsprechend demokratiegef;ihrdenden und kollektivistischen Charakter an. 1989 Sie werden aus dem Blickwinkel eines m o d e m e n Zivilisationsansatzes in Anlehnung an Norbert Elias als erneute ,,antizivilisatorische Rfickentwicklung" wahrgenommen, deren informeller Charakter den angepeilten staatlich-programmatischen Doktrinarismus geschickt vertuscht. 1990 Mit den destabiliserten Nationsverstiindnissen und den sich parallel vollziehenden Integrationsdefiziten korrespondieren in Europa das Demographieproblem und eine strukturelle WirtschaftsschwS.che, was die emotionale Aufladung einer neuerdings 6fter gegen Europa positionierte nationale Identifikation in den USA noch einmaI aufheizt. Trotz forcierter Integrationsbemfihungen durch die familienpolitische Nachahmung des franz6sischen und skandinavischen Wegs in fast allen Liindern Europas (Mutterschafts- und Vaterschaftsgelder, Kinderversorgung, Kindergiirten, kinderorientierte Wohnraumversorgung, sozialpolitische Besserstellung von Familien in sozialen Sicherungssystemen) konnte das drS.ngende Demographieproblem der autochthonen Bev61kerungen noch nicht bemerkbar entschiirft werden. 1991 Zudem sind groBe Teile Westeuropas, insbesondere Frankreich und Deutschland, seit den siebziger Jahren immer immobiler, bfirokratisierter und defizit~irer geworden als die USA. In Europa kam das gef'~ihrliche und bis heute noch nicht fiberwundene Ph~inomen der , , E u r o s k l e r o s e " auf: eine Kombination aus demokratisch-wohlfahrtsstaatlicher Struktur und sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaatsideologie, vor der schon frfihzeitig Schumpeter und Hayek gewarnt 1986Vgl. die didaktisch aufgearbeitete Quellensammlung yon Peter Alter (Hg.), Der Imperialismus. Grundlagen, Probleme, Theorien, Stuttgart 1985, S. 16-28. 1987Tilman Mayer, Fragmente zur Bestimmung der deutschen Nationalstaatlichkeit, in: Rainer Zitelmann / Karlheinz Weit3mann / Michael Grol3heim (Hg.), Westbindung. Chancen und Rs Deutschland, Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 501521, 504. Mayer bezieht seine Sentenz auf beide Weltk:riege. Der Verfasser wfirde hier zwischen Ersten und Zweiten Weltkrieg differenzieren wollen, ohne daffir ein abgeschlossenes Urteil zur Verf~gung stellen zu wollen, das er in dieser Frage zur Zeit (noch) nicht haben kann. 1988Vgl. zur subtilen Strukmr des amerikanischen Nationalstolzes DetlefJunker, ,,I-Iisto~y Wars". Geschichte und nationale Identita't der USA, in: Bayerische Landeszentrale f~r Politische Bildungsarbeit (Hg.), Geschichtsdeutungen im internationalen Vergleich, Mfinchen 2003, S. 49-60, 50-54. 1989 Vgl. Michael Novak, North Atlantic Community, European Community. Part II." What is causing the recent cleavages?, in: National Review Online (http://www.nationalreview.com), 24. Ouli2003, 10:20 a.m. (auszug einer Rede vor der Hayek Foundation am 3. Juli 2003 in Prel3burg). t990 Vgl. sehr klar formuliert: Michael Wolfssohn, Nationalstaat und Multikultur. Uber den deutschen Zivilisationsbruch und seine Folgen, in: Heimo Schwilk / Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewusste Nation. ,,AnschwellenderBocksgesang" und weitere Beitra'ge Zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. 1994, S. 267-290, 274. 1991Vgl. Paul Kennedy, In Vorbereitung aufdas 21. Jahrhundert, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1993, S. 435.
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hatten 1992 u n d welche in den siebziger Jahren im gesamten W e s t e n an Schlagkraft gewann. 1993 Die emotionale A u f h e i z u n g des antieuropiiisch ausgerichteten amerikanischen Patriotismus in diesem Z u s a m m e n h a n g zeichnet ein Bild der Europiier als ,,shirkers, who do not work enough hours per day, or week, or year; take too many holidays off; and constantly want something for nothing [...] To Americans, Europeans seem risk-averse, slow to experiment with the new, usually quicker with dozens of reasons why something cannot be done than with an obvious and open willingness to give a new idea a try. Europeans seem possessed with the familiar, the comfortable, and the secure.'1994
c) Die Frage des H e r o i s m u s E n g verwandt mit der Frage des amerikanischen Patriotismus ist die Frage des Heroismus. Wiihrend E u r o p a in ein postheroisches Zeitalter eingetreten ist, verbindet sich in Amerika freiheitliche G e s i n n u n g mit einer sie notwendigerweise voraussetzenden, rationalen Opferbereitschaft1995: Das Geflecht zwischen den beiden E l e m e n t e n kann durchaus als , , B f i r g e r t u g e n d " gekennzeichnet werden. 1996 Die Garantie individueller Freiheiten wird, historisch durchaus logisch richtig, an heroische Voraussetzungen geknfipft. 1997 Also nicht das eigene L e b e n wird als die Quelle der Freiheit angesehen, sondern die Freiheit als ein naturrechtlicher u n d religifser Selbstzweck b e s t i m m t das eigene Leben. Alles andere hat nicht mit einem freiheitlichen Individualismus zu tun, sondern mit schlichter Herrschaft der Todesangst fiber einen m6glichen individuellen Willen, ob letzterer n u n nur imaginiert ist oder nicht. Das heiBt natfirlich nicht, dass die Todesangst nicht selbst das individuelle Prinzip ffir bestimmte Individuen ausmacht, z.T. sogar vielleicht gespeist aus anthropologischer oder biologischer, aber eben nicht schon deswegen objektiver Erkenntnis. D o c h es gibt keinen zwingenden G r u n d , dass das i m m e r der Fall sein muss, ganz zu schweigen v o n den vielen historisch fiberlieferten Beweisen der l J b e r w m d u n g des Selbsterhaltungsimperativs durch den M e n s c h e n z u m Zwecke einer ihn existentiell, aber nicht unmittelbar biologisch berfihrenden ,,Idee" eines Gemeinwohls. Darfiber hinaus, u n d das m a c h t am stiirksten die Rationalitiit einer im Notfall konkret aufgebrachten Todesbereitschaft innerhalb politischer G e m e i n s c h a f t e n aus, gibt es ,,keine Gesellschaft o h n e AuBenpolitik". D a r a u f hat R a y m o n d A r o n zurecht wiederholt hingewiesen: ,,Staatsbfirger" k 6 n n e n im K o n t e x t der Aul3enpolitik ,,nicht anders, als den b e s o n d e r e n G e b o t e n zu gehorchen; u n d sie verspfiren den legitimen Wunsch, zu erfahren, welchen M e n s c h e n u n d
1992Vgl. David P. Calleo, Rethinking Europe's Future, Princeton / Oxford 2001, S. 166-171 und 174f. 1993 Vgl. Michel Crozier / Samuel P. Huntington / Joji Watanuki, The Crisis of Democraf7. Report on the GovernabiZity of Democracies to the Trilateral Commission, New York 1975. 1994Michael Novak, North Atlantic Community, European Community. Divergent Paths and common values in Old Europe and the United States, in: National Review Online (http://www.nationalreview.com), 23. Juli 2003, 10:45 a.m. (Auszug einer Rede vor der Hayek Foundation am 3. Juli 2003 in Prei3burg) 1995 Vgl. zugespitzt Michael Novak, North Atlantic Community, European Community. Part II: What is caudng the recent cleavages?, in: National Review Online (http://www.nationalreview.com), 24. Juli 2003, 10:20 a.m. (Auszug einer Rede vor der Hayek Foundation am 3. Juli 2003 in Prel3burg). 1996Vgl. zum Begriff: Herfried M/inkier, Zidlgesellschaft und Biirgertugend. Bediirfen demokratisch verfasste Gemeinwesen einer so~o-moralischen Fundierung?, Berlin 1994. 1997Immer noch aktuell diesbez/iglich: Theodor Roosevelt, Gesetz der Zivilisation und des Verfalls, Vorwort in: Brooks Adams, Das Gesetz der Zivilisation und des Verfalls, Wien / Leipzig 1907, S. VII - XXIV, XIX und XXIV.
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unter w e l c h e n B e d i n g u n g e n sie gehorchen. ''1998 Die K o n s e q u e n z fiir die , , F r e i h e i t " des Einzeln e n muss d e m n a c h w o h l lauten: ,,Wenn ich f/ir die Freiheit, deren ich reich in Friedenszeiten erffeue, mit der Verpflichtung bezahlen muss, im Kriegsfall gegen Angeh6rige meiner Rasse, Sprache oder Nationalitiit zu kiimpfen, dann kann ich, bei Narem Verstande, gerne auf die pers6nliche Freiheit, die ich im Frieden geniei3e, verzichten, um unter meinen Br/idem zu sein am Tage, da jeder von uns dem Tod ins Auge sieht. '1999 Unabhiingig d a v o n steht die Realit~it eines m a n i f e s t e n H e r o i s m u s in den U S A in einem gewissen Spannungsverh~iltnis zur Tatsache, dass dort die W e h r p f l i c h t abgeschafft w u r d e 2~176176 und technisch alles getan wird, , , O p f e r u n g e n " generell zu m i n i m i e r e n (cruise missiles, E c h e l o n System). Letzteres g e w i n n t ja gerade d a d u r c h an gesellschaftspolitischer Brisanz, weil O p f e r v e r m e i d u n g s t e c h n i k e n gesellschaftliche u n d innenpolitische H i i r d e n iiberspringen helfen sollen, welche einer h e r o i s c h e n K_riegsbejahung in einem d e m o k r a t i s c h e n System entgegenstehen. A b e r die O p f e r v e r m e i d u n g s t e c h n i k e n - die allerdings im Irakkrieg i n z w i s c h e n a u f klare G r e n zen g e s t o g e n sind u n d v o r i h r e m E n d e stehen 2~176- lassen sich auch mit d e m Individualismus erkliiren, der dazu fiihrt, dass m a n zwar eine (individuell jeweils aus sich selbst einzusehende) O p f e r b e r e i t s c h a f t akzeptiert, aber a u f der a n d e r e n Seite alles dafiir rut, die physische Existenz eines jeden I n d i v i d u u m s im Ernstfall eines I
1998 Raymond Aron, Die liberak Definition der Freiheit, in: Ders., Zwischen Macht und Ideologie. Politische Kr~fte der Gegenwart, Wien 1972, S. 95-118, 109. 1999Ebd., S. 95-118, 109. 200oUnter T. Roosevelt 1907 und nach der Wiedereinf/ihrung unter Nixon. 2001Vgl. Max Boot, The Struggle to Transform the Milita{7, in: Foreign Affairs, Bd. 84, Nr. 2, 3 / 4 - 2005, S. 102-118. Max Boot fasst in seinem Aufsatz die Tatsache zusammen, dass das amerikanische Militiir in Zukunft gezwungen sein wird, wieder viel stiirker auf Infanterie und Mannstiirke, Fiihigkeiten der Truppen zu personalintensivem Nation Building und zugleich zur Durchsetzung gegen den Feind in irreguliiren Kiimpfen zu vertrauen. Er wirft Verteidigungsminister Rumsfeld vor, sich in seiner R/ismngsstrategie zu stark auf technische und technologische Momente konzentriert zu haben und erwiihnt dabei das Nationale Raketenabwehrsystem und die F-22-Jiigerflotte. Boot hingegen insistiert: ,,Washington should aim to create high-quality general purpose forces that can shoot terrorists one minute and hand out candy to children the next." (ebd., S. 108). 2002 Diese ideelle Dimension wird z.B. unterschStzt in der Amerikabetrachtung von Ernst-Otto Czempiel, Nicht yon gMch zugleich? Die USA und die Europa'ische Union, in: Merkur 617/618 (9/10, 54. Jg.), S. 901-915, 907f. 2003Theodor Roosevelt, Gesetz der Zivilisation und des Verfalls, Vorwort in: Brooks Adams, Das Gesetz der Zi~Tisation und des Verfalls, Wien / Leipzig 1907, S. XXIII. 2004Vgl. Peter W. Singer, Outsourcing War, in: Foreign Affairs, Bd. 84, Nr. 2, 3/4 - 2005, S. 119-132. 200sDas betrifft insbesondere die Abwerbung guter Soldaten durch gut zahlende private Firmen (vgl. ebd., S. 128f.). 2006Vgl. ebd., S. 127fi Private Kontrakteure waren nach den Angaben Singers z.B. zu etwa 36 Prozent an den Ubergriffen in Abu Ghraib beteiligt.
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seien, dass der K_rieg immer ein ,,rechtlicher" zu sein habe: ,,Das ist die Heuchelei der Demokratie; sie geht tiefer als die Heuchelei der Monarchien, die wohl auch, abet doch mit h6rbarem Kichem, in den Archiven nach Rechtsgrfinden kramen lieBen. ''2~176 Das Spannungsfeld zwischen Berufsheer, republikanischen Tugenden und nationaldemokratischem Heroismus ist ein Gebiet, dass Machiavelli klassisch in seinen ,,Discorsi" abgehandelt hat. 2~176 Seine Losung fiir Florenz und Italien, sich fiir die Wehrpflicht der r6mischen Republik zu entscheiden 2~176wurde in den USA bis 1907 hochgehalten. Die Situation heute deutet damit zugleich auf zwei Dinge hin: dass es erstens - neben anderen - noch einen Bereich in des USA gibt, der nicht von , , d e m o k r a t i s c h e r " Bauart bzw. ,,demokratischen Geistes" ist, das Militiir, und dass sich zweitens die heutigen USA und ihr , , W e l f i m p e r i u m " im Militiirwesen stark vom r6mischen Prototyp unterscheiden. Das Spannungsfeld wird indes durch die (im internationalen Vergleich) immer noch hohe Rekrutierungsrate in den USA entsch~irft, allerdings stellt sich die Frage, inwiefem diese R e k r u tierungsrate auf patriofische und soldatische Pflichteinstellungen und nicht auf die in Berufsheeren immer eine sehr wichfige Rolle spielende materielle Absicherung zuriickzufiihren ist. Das ist eine empirisch fiberaus wichtige Frage, um die heroischen Einstellungen in der amerikanischen Gesellschaft richfig einschiitzen zu k6nnen, denn sie k6nnten sich als Einstellungen rein rhetorischer Natur entpuppen. Diese reine Rhetorik ist immer dann als m6gliche Kaschierung eigentlich postheroischer Einstellungen durch einen pathetisch vorgetragenen Heroismus in Betracht zu ziehen, wenn sich die , , B e k e n n e n d e n " einer Pflichterfiillung insbesondere in Form einer Rekrufierung entziehen k6nnen. Da das in den Vereinigten Staaten seit den siebziger Jahren der Fall ist, muss dieser theoretische Vorbehalt hier betont werden. Es ist phiinomenologisch aufs dass der Heroismus des sogenannten amerikanischen ,,Neokonservativismus" mit Neokonservafiven einhergeht, die - im Unterschied zur republikanisch orientierten Generalitiit- in ihrer groBen Mehrzahl nie in der Armee gedient haben. Sollte sich der amerikanische Heroismus als ein im Kern , , r h e t o r i s c h e r " herausstellen, wird sich seine Bewertung daran orientieren, welche Position der Funktion und Bedeutung des Heroismus in modernen Zivilisationen beigemessen wird. Im Notfall (bei Postulierung einer zwingenden Notwendigkeit heroischer Einstellungen auch innerhalb moderner Zivilisafionen zwecks Selbsterhaltung und Verfallsimmunitiit derselben) k6nnte es sogar sein, dass die Abschaffung der Wehrpflicht in den USA als ein groBer Fehler angesehen werden k6nnte. Andererseits ist auch im Falle eines rein rhetorischen Heroismus darauf hinzuweisen, dass heroische oder postheroische Einstellungen nicht als unrevidierbare angesehen werden miissten. Insbesondere die stiirkere Konfrontation yon postheroisch eingestellten Menschen mit Leid und Terror k6nnte diese dazu bewegen, ihre Einstellungen zu iindern, was grundsiitzlich nicht als Form des Anti-Individualismus anzusehen w~ire, im Gegenteil. Die heutige nafionalheroische Betonung des ,,amerikanischen Individualismus", liisst sich schlieBlich auf einen freiheitsphilosophischen Kern zuriickffihren: Dass ohne einen gewissen Heroismus kein , , I n d i v i d u a l i s m u s denkbar ist. 2~176 Der ,,amerikanische Individualismus" ist sich dessen, vermittelt oder unvermit2007Golo Mann, Vom Geist Ametikas. Eine Einf~hrung in ametikanisches Denken und Handeln im zwan~'gsten Jahrhundert, Stuttgart 1954, S. 39. 200sVgl. Niccol6 Machiavelli,Discorsi. Staat und Politik, hg. von Horst Gfinther, Frankfurt a.M. / Leipzig 2000, 1. Buch, 5. Kapitel, S. 29-32. 2009 Vgl. ebd., 1. Buch, 6. Kapitel, S. 32-37. 2010Vgl. aus einer linkskommunitaristischenSichtweise Robert N. Bellah / Richard Mansen / WilliamM. Sullivan / Ann Swidler / StevenM. Tipton, Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschafi, K61n 1987.
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telt, in starker Weise bewusst. Dieses Bewusstsein iiul3ert sich im Empfmden, dass es aus einer individualistischen Sichtweise nicht nur gerechtfertigt, sondern logischerweise geboten ist, das eigene Leben herzugeben, wenn es um den Schutz der individuellen Freiheit als kollektives Gut geht. Der entscheidende logische Zusammenhang, der dazu berechtigt, vom ,,einzig m6glichen Individualismus" zu sprechen, besteht nun darin, dass auch noch der st{irkste Individualismus nur auf der Basis eines kollektiven (z.B. vertraglich vereinbarten) Guts wirksam Wirklichkeit werden kann. Der Individualismus liisst sich von einer kollektiven Garantiehandreichung in keiner Weise abkoppeln. Die kollektive Garantiehandreichung indes ist nichts anderes als ein Raum der Freiheit, in dem der Individualismus iiberhaupt erst m6glich ist. Gerade der Individualismus ist insofern an ein Kollektiv mehrerer ,,individueller Opferbereitschaften" gebunden. Die logische mikroskopische Entsprechung dieser Grundregel des Individualismus ist die Opferbereitschaft des Einzelnen. Individualismus und Opferbereitschaft sind somit nur scheinbar ein Widerspruch. Sie sind nur dann ein Widerspruch, wenn das Leben des Einzelnen auf der Basis eines verdrehten Individualismusbegriffs in einer Weise verabsolutiert wird, dass sich alle ,,Einzelnen" dieser Verabsolutierung uniform unterordnen. Doch wird das ,,individuelle Leben" auf diese Weise mit dem Begriff ,,Individualismus" gleichgesetzt, so ordnet sich das ,,Einzelne" einem kollektiven Uberlebensimperativ unter. Der Individualismus ist indes interpretationsoffen, impliziert also durchaus die M6glichkeit der personalistischen und transpersonalistischen, z.B. ,,biirgerlichen", ,,republikanischen" oder , , r e l i N 6 s e n " Auffiillung oder Aufladung des atomaren , , E i n z e l n e n " . 2~ Wenn der ,,Individualismus" indes fiir das Individuum nicht mehr auf diese Weise interpretationsoffen ist, dann kann er auch nicht mehr als , , I n d i v i d u a l i s m u s " , sondern muss als materialistischer Antipersonalismus defmiert werden. Das Schliisselproblem besteht darin, dass mit der Verabsolutierung des ,,eigenen k6rperlichen Lebens" des Individuums die Interpretationsoffenheit als Kemmerkmal des Individualismus mit einem Schlag ausgeschaltet wird. Das mengentheoretisch ,,gr6Bere" individuelle Prinzip auf der Basis der sinnvollerweise heranzuziehenden leiblichen Voraussetzung des Individualismus ist eindeutig das Prinzip der Selbstaufgabe. Insofern ist der konstruierte Gegensatz zwischen freiheitlich orientiertem Heroismus (Grundregel: ,,Freiheit oder Tod ''2~ und Individualismus v611ig widerspriichlich und dient absichtlich oder unabsichtlich der Verschleierung des materialistischen Antipersonalismus als ,,Individualismus". Nun kann french, so liisst sich kritisch durchaus einwenden, der heroische Individualismus manipuliert werden, Aufopferungsbereitschaft also im Namen der Freiheit dort eingefordert werden, wo es eben nicht um die ,,Freiheit" geht. Doch ist dieser Gefahr keineswegs aus der Position eines radikalen Antiheroismus beizukommen, weil das auf der Basis des Vorhererwiihnten nichts weiter bedeutet als die ultimative Selbstaufgabe des Individualismus. Der Gefahr ist stattdessen nur im Rahmen eines funktionierenden, gewaltenteiligen freiheitlichdemokratischen Regierungssystems beizukommen, so dass auch einer m6glichen Willk/,ir im Umgang mit dem Heroismus im Rahmen der vorgegebenen institutionell-technischen Selbststeuerung Entscheidendes entgegengesetzt und somit langfristig auch diese ,,geistige" Willkiir in ihre Schranken gewiesen werden kann. In diesem Rahmen des heroisch-demokratischen Credos kommt es eben nicht zu einer ,,Faschisierung" des Systems oder ~ihnlichem, sondern langfristig zu einer immer wiederkehrenden demokratischen Selbstreinigung des Systems. 2~ 2011Vgl. Robert N. Bellah / Richard Mansen / WilliamM. Sullivan / Ann Swidler / StevenM. Tipton, Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerfkanischen Gesellschaft,K61n 1987. 2012Vgl. Henry Steele Commager,Der Geist Amerfkas. Eine Deutung amerfkanirchen Denkens und Wesens von 1880 bis wr Gegenwart, ZCirich/ Wien / Konstanz 1952, S. 64. 2013Vgl. zu den achtzigerJahren z.B. Y-clausyon Beyme, VorbildAmerika? Der Einfluss der amerfkanischen Demokratie in der Welt, M/inchen 1986, S. 159.
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I n s o f e m ist heute gerade nicht in den Vereinigten Staaten die ,,Freiheit" ob des dortigen Heroismus gef'~ihrdet, der sich mit Hilfe der Verfassung und dem immer noch trotz aller Ideologisierung pragmatischen Charakter des Landes immer wieder in eben ,,freiheitliche Bahnen" lenken lassen wird, sondern gerade dort, wo es dem Heroismus in der Masse an jeglichen freiheitsphilosophischen F u n d a m e n t mangelt. Das ist heute im besonderen MaBe in weiten Teilen Westeuropas der Fall.
d) Die Frage der Religiositiit Ebenso eng vewandt mit dem amerikanischen Patriotismus ist auch die amerikanische Religiositiit. Die meisten Amerikaner sind zutiefst religi6s, zum Teil bis hin zu fragwfirdig oberfliichlichen Spiritualisierungsformen. Insgesamt kann yon einer ,,religi6sen T 6 n u n g des 6ffentlichen Lebens" und yon einer religi6sen (christlichen) - abet nicht k i r c h l i c h e n - ,,Unterbauung der Demokratie" in Amerika 2~ gesprochen werden. Die Europ~ier werden indes immer agnostischer bzw. entfremden seit den sechziger Jahren die Religion yon innen, indem sie diese immer weiter entspiritualisieren und immer stiirker sozialisieren. 2~ Dort, wo in Europa eine Anpassung der Kirchen an den Zeitgeist vollzogen wird, verliert die Kirche ihren Sinn: ,,Wozu in der Kirche suchen, was die zivile Gesellschaft im 0berfluss bietet? ''2~ Sogar namhafte europiiische Linksintellektuelle wie z.B. Habermas versuchen heute allmiihlich nachzuvollziehen, was H e r m a n n LiAbbe als Notwendigkeit des Religi6sen aufgrund der unhintergehbaren ,,absoluten Kontingenzen" eines jeden menschlichen Lebens bezeichnete. 2~ ,,Es gibt keine Emanzipation yon der Religion. Keine Richmng des Fortschritts weist in eine religionslose Zukunft. ''2~ Religion ist Kontingenzbew~iltigung. D e n n o c h wird es in groBen Teilen Europas immer noch als fataler Weg des Irrationalismus angesehen, wenn die politische Rhetorik mit Hilfe allgemeiner religi6s-moralischer Attribute und rhetorischer Figuren aufgeladen wird. Das Verst~indnis insbesonder der linken Gruppierungen innerhalb der politischen und soziokulmrellen Eliten in Europa steht in einem direkten Gegensatz zu den Befindlichkeiten in den USA 2~ wo wiederum die rhetorische Aufladung, die sowohl yon den Demokraten als auch yon den Republikanero v o r g e n o m m e n wird 2~176nie in einem verkomplizierenden Unterschied zu einem Pragmatismus im Inneren gesehen wird. 2~ Allerdings stehen die rhetorischen Usancen auch in den USA seit den sechziger Jahren in der Kritik linksliberaler Kreise, was aufgrund der heftigen Gegenreaktionen des religi6s gepr~igten und zugleich relativ ungebrochenen amerikanischen Konservativismus darauf zu einer
2014Hier immer noch aktuell Golo Mann, Vom Geist Ametikas. Eine Einfiihrung in ametikanisches Denken und Handeln im zwan~gsten Jahrhundert, Stuttgart 1954, S. 27. Vgl. auch Daniel J. Boorstin, The Genius of American Politics, Chicago / London 1953, S. 133-160. 201sVgl. sehr eindmcksvollbeschrieben: Pierre Chaunu, Die Wurzeln derFreiheit, M/inchen 1982, S. 276f. 2016Ebd., S. 278. 2017Vgl. Hennann L~bbe, Religion nach derAufkl?~'runj~ Graz/Wien/K61n 1986. 201~Hermann LCibbe,Fortschritt als Orientierungsproblem.Aufkla'rung in der Gegenwart, Freiburg 1975, S. 171. 2019Vgl. feuilletonistischDirk Maxeiner / Michael Miersch, Europas Naturreligion, in: Die Welt, 10. November 2004. 2020Vgl. Michael Novak, North Atlantic Community, European Community. Part II: What is causing the recent cleavages?, in: National Review Online (http://,aaxav.nationalreview.com),24. Juli 2003, 10:20 a.m. (kuszug einer Rede vor der Hayek Foundation am 3. Juli 2003 in Prei3burg): ,,Bill Clinton used religious language at least as often as Bush; but perhaps that didn't worry Europeans because they didn't think he meant it. Meanwhile Bush's religious language may worry Europeans preciselybecause he does believeit." 2021Vgl. ebd.
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Ideologisierung der innenpolitischen D e b a t t e gefiihrt hat. Problematisch erscheint dabei sowohl das Niveau der innenpolitischen Auseinandersetzungen in den USA als auch das in Gegenseitigkeit v o rh an d e n e , erschreckend tiefe Niveau in der Auseinandersetzung zwischen Europiiem und A m e r i k a n e r n - wobei die Ursache wohl eher auf europiiischer Seite liegt, da es hier kaum eine w a h m e h m b a r e christliche Rechte gibt und daraus eine klare Einseitigkeit in der D e b a t t e erw~ichst. 2~ N u n k o m m t als wichtiger Unterscheidungsaspekt zwischen Amerika und E u r o p a n o c h hinzu, dass in Deutschland, Grol3britannien und Skandinavien, wo die I ~ r c h e mit dem Staat v e r b u n d e n ist, aber eine Staatsreligion abgelehnt wird, die ,,Sozialisierung", insbesondere in den lutherischen Kirchen, am weitesten geht; die G e g e n b e w e g u n g e n sind bei den konservativen L u t h e r a n e r n e n t s p r e c h e n d stiirker im Vergleich zu den konservativen Katholiken. Die staatskirchlichen Modelle eines liberalen Protestantismus muss die christliche Religion wesentlich als ,,Moral" verfassen, u m so ,,den moralischen K o n s e n s und eine weit gespannte religi6se G r u n d l a g e " zu gewiihrleisten. 2~ Das hat inzwischen eindeutig zu einer A u s z e h r u n g jener , , S t a a t s l d r c h e n " gefiihrt. Papst Benedikt XVI. hatte es in seiner Kardinalszeit auf den P u n k t gebracht: ,,Von religi6sen K6rpern, die Derivate des Staates sind, geht keine moralische Kraft [mehr] aus und der Staat selbst kann moralische Kraft nicht schaffen, s o n d e m muss sie voraussetzen und auf ihr aufbauen. ''2~ In den USA wird indes die Religion v o m Staat getrennt, wie auch im katholischen Frankreich, dort allerdings mit der A u s n a h m e , dass katholische Privatschulen v o m Staate finanziell unterstiitzt werden. 2~ Im deutlichen Unterschied zu Frankreich aiil3ert sich das relig6se Mom e n t des amerikanischen Nationalbewusstseins in einer Vielzahl symbolischer, iiuBerlich fast schon , , k a t h o l i s c h e r ''2~ Formen. Dabei werden alle christlichen Konfessionen, auch die katholische, umfasst. 2~ g s handelt sich generell u m eine opulent zu Tage tretende Zivilreligion unter Einschluss des realreligi6sen M o m e n t s , was im klaren Gegensatz z u m seit 1905 geltenden Laizismus in Frankreich steht. 2~ D a ist zum einen The Pledge of Allegiance to the United States of America: ,,Ich gelobe Treue auf die F a h n e der Vereinigten Staaten von Amerika, auf die Republik, die eine N a t i o n unter Gott ist, vereinigt durch Freiheit und Gerechtigkeit fiir alle." Z u m anderen gibt es die A n r u f u n g e n
2022Eine polemische Zuspitzung findet sich bei Dirk Maxeiner / Michael Miersch, Europas Naturreligion, in: Die Welt, 10. November 2004: ,,Europa stilisiert sich derzeit zu einem Hort der weltlichen Weisheit und zu einem Gegengewicht zum finsteren amerikanischen ,Bibelgnlirtel'. Welch ein Irrtum. Die meisten europiiischen Amerikaveriichter sind bei weitem nicht so k_ritisch und aufgek_liirt,wie sie tun. Das offenbar konstante Bed/irfnis nach Seelenheil sucht sich in unseren ach so fortschrittlichen Kreisen lediglich neue Wege. Europa f/ihlt und handelt nicht im Geiste von Kant und Voltaire, sondem irrlichtert irgendwo umher zwischen dem Dalai Lama und der Waldorfschule, Greenpeace und Peta." 2o23Joseph Kardinal Ratzinger, Europas Kultur und ihre Krise. Vortrag am 28.11.2000 in der Bayetischen Vertretung in Berlin, in: Die Zeit, 7. Dezember 2000. 2024 Ebd. 202sVgl. Martin A, Schain, Politics in France, in: Gabriel A. Almond u.a. (Hg.), Comparative Politics Today. A World View, 8. Aufl., New York City u.a. 2004, S. 206-259, 217. 2026Vgl. Werner Kremp, Ist der Ametikanismus ein Katholi~smus?, in: Anton Hauler / Wemer Kremp / Susanne Popp (Hg.), Die USA als historisch-polilische und kulturelle Herausforderung. Vermittlungsversuche,Trier 2003, S. 117-141. 2027Das f/ihrt bei einigen Theologen dazu, wohl doch in einem Uberschuss an ,,Optimismus", in Amerika die M6glichkeit f/it die Zusammenf/ihrung der Christenheit zu einer einzigen Kirche und damit zur Wiederherstellung eines nunmehr ,,erneuerten", zugleich wir"ldichen Katholizismus, zu erkennen (Vgl. Sidney E. Mead, The Nation with a Soul a Church, New York 1975; Ders., Das Chdstentum in Nordamerika. Glaube und ReligionsJreiheit in vierJahrzehnten, G6ttingen 1987; Wemer Kremp, Ist derAmerikanismus ein Katholi~smus?, in: Anton Hauler / Werner Kremp / Susanne Popp (Hg.), Die USA als histotisch-politische und kulturelle Herausforderung. Vermittlungsversuche,Trier 2003, S. 117-141,135f.). 2028Vgl. Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat. Gestalt, Grundlagen, Gef?ihrdungen, T/ibingen 1995, S. 371fi . .
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Gottes in den Inauguraladressen amerikanischer Priisidenten. U n d schlieBlich sei auf Art. 16 der Virginia Bill of Rights verwiesen: ,,Religion oder die Ergebenheit, die wir unserem Sch6pfer schuldig sind, und die Art, wie wir sie erfiillen, kann lediglich durch Vernunft oder Uberzeugung bestimmt werden, nicht dutch Zwang oder Gewalt, und deshalb haben alle Menschen einen gleichen Anspruch auf freie Aus/.ibung der Religion nach den Geboten ihres Gewissens. Und alle haben die Pflicht, christliche Vergebung, Liebe oder Barrnherzigkeit untereinander zu Ciben." . .
Die rhetorische Trias v o n Versprechen (promise), D e k a d e n z (declension) u n d Erfiillungsaufruf in der politischen Sprache der USA hat Religionshistoriker Sacvan Bercovitch als Tradition der ,,amerikanischen Jeremiade" bezeichnet. 2~ Das wichtigste religi6s-politische Versprechen, die Idee der ,,city u p o n a hill", entfaltet sich entlang des Vergleichs des E x o d u s der europiiischen Puritaner nach Amerika mit d e m E x o d u s der J u d e n aus Agypten. 2~176A u c h W ashi ngt on Abschiedsrede v o m 17. September 1796 ist in dieser Hinsicht bezeichnend: ,,Religion und Moral sind unentbehrliche Stiitzen f~ir alle die Anlagen und Gewohnheiten, die politisches Wohlergehen zur Folge haben. Vergebens wird der Mann einen Anspmch auf Patriotismus erheben k6nnen, der daran arbeitet, diese groBen Siiulen menschlichen Gl{ickes, diese festesten Stiitzen der Menschen- und der BCirgerpflichten umzustiirzen. Der Nurpolitiker muss sie genauso wie der gottesfiirchtige Mann achten und hochhalten (...) Seid vorsichtig gegen die Meinung, dass Moral ohne Religion erhalten werden k6nnte (...). Sorgt also (dies ist eine Sache von allergr613terWichtigkeit!) f/ir Einrichtungen zur weitesten Verbreimng von Kenntnissen. "2~ Die amerikanischen Kirchen sind j e d o c h - im Unterschied n o c h zu den theokratischen Vorliiufern in Massachusetts, ausgehend von R h o d e Island im 17. J a h r h u n d e r t (1641) unter Roger Williams - radikal staatsfrei und der Staat kirchenfrei. 2~ Die Bandbreite der anerkannten Religionsgemeinschaften ist dabei unheimlich grog (so sind z.B. die Scientologen R o n H u b bards u n d die l e g e n d e n u m w o b e n e ,,Church of Satan" A n t o n Szandor LaVeys mit eingeschlossen). N u r ein Tatbestand wird in den USA als A u s n a h m e von der Staatsfreiheit gelegentlich diskutiert: Offiziell anerkannte Religionsgemeinschaften brauchen keine Steuern zu zahlen. D e r Laizismus in Frankreich indes, das sei wiederholt, separiert aus einer linksrepublikanischen Motivation heraus religi6se F o r m e n nicht nur v o m Staat, sondern noch eher v o n den symbolischen F o r m e n einer auch hier klar existenten Zivilreligion. Die symbolischen F o r m e n in Frankreich stud i n s o f e m nicht christlich, s o n d e m ,,zivil" und auch, was die inhaltliche Ausstrahlung betrifft, nicht ,,katholisch", s o n d e m nationalfreiheitlich bis nationalistisch gepriigt. Die Symbole Frankreichs beziehen sich indes auch auf Werte der Aufkliirung, die von einer christlich gepriigten, abendliindischen Geschichte nicht zu trennen s i n d - auch w e n n das Bewusstsein dafiir in Frankreich aufgrund des strikten Laizismus (auger bei Teilen der katholischgaullistischen und ehemals christdemokratischen Rechten) nicht existieren sollte. Fiir die Situation in den USA wiederum spielt es eine sehr erhebliche Rolle, dass es in der gesamten amerikanischen Geschichte, sowohl aufgrund der eigenen geistigen Grundlagen der amerikanischen , , V e r f a s s u n g s r e v o l u t i o n " vor d e m H i n t e r g r u n d der sich herausbildenden ,,at-
2029Vgl. Sacvan Bercovitch, The American Jeremiad, Madison (Wisc.) 1978. 2030Vgl. ebd., S. 162. 2031Zitiert nach Fritz Wagner, USA. Geburt und Aufstieg der Neuen Welt- Ges&ichte in Zeitdokumenten 1607-1865, Miinchen 1947, S. 162. 2032Die Wendung stammt von Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 30 (vgl. auch ebd., S. 33); indes ist, bezogen auf die Puritaner yon Massachusetts, die Wendung ,,theokratische Elemente" von dem Begriff einer ,,vollwertigen" Theokratie zu differenzieren (vgl. Willi Paul Adams, Die USA vor 1900, M~inchen 1999, S. 28).
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lantischen Zivilisation" als auch aufgrund der Voraussetzungen der M6glichkeit dieser ,,Verfassungsrevolution" vor d e m H i n t e r g r u n d der Raumrevolution, keine Tradition der Religionskriege und der Inquisition gegeben hat. Das fiihrte in den USA zu einem in der m o d e r n e n Geschichte einmaligen G r a d an Immunitiit der christlichen Religiositiit als auch des religi6sen Konservativismus gegeniiber den A n f e i n d u n g e n der , , g n o s t i s c h e n " oder materialistischen Seite, die bis zum heutigen Tage anhiilt. Zugleich macht dieser Befund, v o n ersatzreligi6sen, typisch protestantischen Ereiferungsbewegungen der amerikanischen Geschichte und Gegenwart mal abgesehen, die B e d e u m n g der USA, ihrer Griindung, historischen Wirksamkeit u n d ihrer gegenw~irtigen Pr~isenz fiir das katechontische Prinzip der christlichen Religion n o c h einmal deutlich. Die USA sind in einem christlich-katholischen Sinne, trotz aller n6tigen Relativierungen, die hier aus k o n f e s s i o n s b e z o g e n e n Erw{igungen heraus v o r g e n o m m e n werden miissten, letztlich zu einem n e u e n K a t e c h o n geworden, n a c h d e m das o r t h o d o x e Russland, der erzkonservative politische Volkskatholizismus Siiddeutschlands, der Volkskatholizismus Iraliens und die katholische Christdemokratie Westeuropas dazu nicht m e h r in der Lage sind. In den W o r t e n v o n Michael N o v a k fmdet dieser sich m e h r und m e h r als universalhistorisch abgesichertes Phiinomen erweisende Entwicklungsgang folgenden Ausdruck: ,,The deepest impress on America's soul is biblical realism - a sense of the glories possible to man, chastened by a sense of the pervasiveness in all circumstances of human wickedness and weakness. In our youth, we thought we learned these lessons from Europe. We think these lessons would be useful for Europe to relearn.'2~ In diesem Sinne hat Amerika in der Tat das ,,Projekt der Aufld~irung" als einzig identitiitsbestimmendes Projekt hinter sich gelassen. Die E r h 6 h u n g der Aufldiirungsprinzipien zu einzig b e s t i m m b a r e n und b e s t i m m e n d e n Identit~itsfaktoren des Westens unter Herausl6sung aus ihren eigenen Inspirationen d u t c h das christliche Evangelium wird klar und ungeschminkt in ihren katastrophalen politischen und d e m o g r a p h i schen Auswirkungen gesehen. 2~ Pierre Chaunu hat diesen Z u s a m m e n h a n g zwischen Bewusstsein v o n Sinnlosigkeit und Niedergang der G e b u r t e n z a h l e n folgendermal3en beschrieben: ,,Denn wenn alles ,ohne Ziel, ohne Plan, ohne Zweck' ist, was soll's dann noch? Wir dachten, auf der B/ihne spielt sich ein Akt eines bestimmten St-ticks ab, abet da sind wit scheint's einem Irrmm aufgesessen(...). Die Gelehrten, jedenfalls jene, die es zu wissen vorgeben, sagen uns, das stimme gar nicht, die Leute da auf der B/ihne fuchtelten nut ,ziellos, planlos, zwecklos' herum. Ja, wenn das so ist..., wenn unser Bewusstsein ohnehin nichts anderes ist als ein blol3es Versehen des Nichts..., na dann .... es pressiert ja nichts, mit dem Sterben kann man sich ja ruhig noch Zeit lassen -... sterben wit eben. Der Irrtum abet, den unsere Eltern auf unsere Kosten begingen, indem sie uns zu diesem absurden Spektakel einluden, den Irrtum jedenfalls werden Mr nicht mehr begehen.''2~ Pierre C h a u n u ist aber nicht ohne Hoffnung, nicht ohne k~impferischen Trotz. Das, was er als Notwendigkeit erkEirte, n~imlich dass ,,der Diskurs des Sinnes endlich wieder gehalten werd e n ''2~ muss, eine Sinnbotschaft endlich ,,wieder geh6rt werden muss", scheint heute fiir das 13berleben des Westens in langfristiger Perspektive dringlicher denn je zu sein. A u f seine o b e n zitierte P r o g n o s e liisst C h a u n u folgende W o r t e anschliel3en:
2033Michael Novak, North Atlantic Community, European Community. Part IL" What is causing the recent cleavages?, in: National Review Online (http://www.nationalreview.com), 24. juli 2003, 10:20 a.m. (Auszug einer Rede vor der Hayek Foundation am 3. Juli 2003 in Pret3burg). 2034Vgl. Michael Novak, Vision eines Amedkaner~. Europa und Amerika im globalen Zusammenhang, in: Die politische Meinung Nr. 422 (01/2005), S. 25-32, 25fi 203sPierre Chaunu, Die Wurzeln derFreiheit, M/inchen 1982, S. 261. 2o36Ebd., S. 262.
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,,Aber das ist alles B16dsinn. Dieser ganze Diskurs ist B16dsinn. Aus der Tiefe des Lebens, das in uns ist, wissen wit es genau, Sie wie ich, dass die da so reden, Unsinn reden. Sie glauben ihren Unsinn ja selber nicht, denn sie leben ja, sie lieben ja, sie kiimpfen ja, sie suchen ja, und all ihr Tun widerlegtihr Sagen.'2~ Diese Zeilen schrieb Pierre Chaunu kurz vor der Wahl Johannes Pauls II. zum Papst. D e r bekannte franztsische Historiker selbst merkte an, dass ihm die Wahl dieses Papstes wieder hoffen lieBe. Auch nach dem T o d Johannes Pauls II. versucht der Vatikan - im Rahmen einer sehr hoffnungsfrohen Anniiherung an alle anderen christlichen GroBkirchen, insbesondere auch der 6kumenischen O r t h o d o x i e - Mittel- und Westeuropa wieder dem Glauben niiher zu bringen, indem er die Kraft des Glaubens und der Anbetung wieder in den Vordergrund stellt. Frei nach Andr6 Malraux k6nnte sich prognostizieren lassen: ,,Das 21. Jahrhundert wird religi6s sein oder es wird nicht sein. ''2~ D o c h gerade im Westen ist es in der Tat so, dass es insbesondere die katholische Kirche ist, die einen schweren Stand in diesem K a m p f hat, weil sie sich den hedonistischen und anarchischen Erscheinungsformen unserer Zivilisation entgegenstemmt. Das ist so lange ein Problem, wie diese Erscheinungsformen selbst in verzerrender und ahistorischer Weise zum alleinigen Lebensprinzip des Westens stilisiert werden. Da diese Interpretation auch innerhalb des Westens keine Seltenheit darstellt, bliist der katholischen Kirche weiterhin - trotz aller neuen Kraft, die sie gewonnen h a t - der Wind ins Gesicht, ,,vor allem deshalb, weil sie die Instrumentalisierung der Quelle des Lebens zu v e r h i n d e m und die Disziplinierung des Lustverlangens zu bewahren" sucht. 2039 Die von Harald Bloom formulierte und sich groBer Beliebtheit erfreuende Gegenthese in Bezug auf die gegenw~irtig zunehmende und zukiinftig zu erwartende Bedeutung der Religiositilt im Westen am Beispiel A m e r i k a s lautet im Ubrigen, dass die Religiositiit Amerikas in keiner Weise in der Tradition der iiberlieferten, transzendenten Religiosit~it des augustinischen Christentums stehe. 2~176Erst diese ,,ernsthafte" Religiositiit wiirde iiberhaupt ein katechontisches Prinzip mtglich machen. Bloom ging davon aus, dass die angeblich christliche Religion in Amerika selbst bei der christlichen Rechten nichts weiter darstelle als eine immanentistische ,,amerikanische Religion", die zugleich die h6chste Auspriigung des Gnostizismus sei. Alle Religionen, wie sie nun in den USA gelebt wiirden, ob von Mormonen, Baptisten, Katholiken, Evangelikalen, Juden, Muslimen oder gar von ,,Atheisten" oder Agnostikern, werden demnach als Erscheinungen der Gnosis im Gewande einer ,,amerikanischen Religion" dargestellt. Dahinter verberge sich eine einende Spiritualitiit des Glaubens an das sich selbst liebende und von Gott geliebt setzende individuelle Selbst. Der transzendente Anspruch der religitsen Erscheinungen in den USA wird somit in seiner Ernsthaftigkeit grundsiitzlich bestritten, als rein symbolisch betrachtet und als ein letztlich antichristlicher Selbstvergottungsprozess in einem voluntaristischen Sinne angesehen: Der Amerikaner glaube demnach nur daran, dass er an sich selbst glaube, und um diesen Glauben an ,,Amerika" religits zu iiberh6hen, n i m m t er den G o t t der iiberlieferten Religionen als ,,Referenz" fiir sich in Anspruch, indem er G o t t ihn und Amerika lieben liisst. Entsprechend wird der ,,American Creed" nicht als ,,quasi-relig16ser ''2~ Funktionalismus oder als ,,Zivilreliglon ''2042, sondern ohne jegliche Relativierung als eine neue 2037Pierre Chaunu, Die Wurzeln derFreiheit, M/inchen 1982, S. 261. 2038Vgl. Andr4 Malraux,Anti-Memoiren, Hamburg 1968. 2039Ernst Nolte, Deutschland undderKalte Krieg, M/inchen 1974, S. 587. 2040Vgl. Harald Bloom, The American Religion. The Emergence of the Post-Christian Nation, New York 1992. 2041Vgl. Hans Vorliinder, ,,American Creed'; liberale Tradition undpolitische Kultur der USA, in: Franz Grel3 / Hans Vorliinder (Hg.), Iaberale Demokratie in Europa und den USA. Festschrifijgir Kurt L Shell, Frankfurt a.M. / New York 1990, S. 1133, 14. 2042 Vgl. Robert N. Bellah, Civil Religion in America, in: Daedalus 96, 1967, S. 1-21.
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fibergeordnete Religion aufgefasst. Der Verfasser mag sich dieser Interpretation jedoch nicht anschliel3en. Zwar sind in den USA in der Tat aufgrund des dort vorherrschenden Individualismus gnostische Vereinnahmungen kirchlicher Religiositiit hiiufiger vorhanden als z.B. im ansonsten eher religionsmfiden Europa, doch sollte diese Erscheinung nicht deswegen zum spekulativen Allgemeinprinzip erhoben werden.
e) Fragen des Rechts Nebst den transatlantischen Wertekonflikten in der Frage der Religion, des amerikanischen Patriotismus und Heroismus gesellt sich noch die relativ alte Frage hinzu, inwiefern die in 36 Gliedstaaten der USA geltende Todesstrafe ffir Schwerverbrecher mit den zivilisatorischen Standards des Westens vereinbar sei. Aus amerikanischer Sicht indes kann gerade bei den Befiirwortern der Todesstrafe der moralische Angriff der Europiier in seinem moralischen Kern nicht ernst genommen werden, solange wie es in Europa ,,liberale" Regelungen in Bezug auf die Abtreibungsfrage gibt. W i i h r e n d - in einem sehr ernst zu nehmenden moralphilosophischen Rahmen - das faktische oder juristische ,,Recht auf Abtreibung" in vielen Fiillen - z.T. aus ideologischen (feministisch hergeleiteten) Grfinden - keinen wirksamen gesetzlichen Willkfirschranken unterliegt, ist die Gew~ihrung des Opferrechts, sowohl des individuellen als auch des kollektiven, ,,auf Sfihne und Strafe" ganz klar an eine h6chstrichterliche Entscheidung gebunden, die sogar selbst aus Erwiigungen der Willkfirverhinderung heraus unter einem rein politischen Begnadigungsvorbehalt steht. Der Kern des berechtigten moralischen Gegenvorwurfs der Amerikaner an die Europiier ist also die rhetorische Frage, welche lebensvemichtende Mal3nahme denn institutionell und rechtlich der Willkfir entzogen ist und welche nicht, wobei das nicht bedeuten muss, dass die Willkfirschranken im Vergleich zwischen ungeborenero und geborenem Leben die gleichen sein mfissen. Der europ~iische Versuch einer Entgegensetzung auf der Basis einer fundamental andersartigen Definition des ,,Lebens" hat indes eben nicht nut mit religi6sen, sondem mit grofien philosophischen und rechtlichen Schwierigkeiten zu k~impfen, die eben aus diesem Grunde in abtreibungsoffenen Gesellschaften hiiufig aus der Diskussion ausgeklammert bleiben. In der Frage des V61kerrechts herrscht ein weiterer Disput zwischen Amerika und Europa in Bezug auf den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vor. Der IStGH stellt die individuelle Verantwortlichkeit fiber das Prinzip staatlicher Souver~init~it und basiert auf der Bejahung einer v61kerrechtlich umstrittenen Jurisdiktion. 2~ Die umstrittenen Punkte beziehen sich auf die Heranziehung des Tatort-Staates neben den T{iterstaat (neben der M6glichkeit der lJberweisung dutch den Sicherheitsrat gem. Kapitel VII UN-Charta), auf die M6glichkeit eines Ermittlungsstopps nur fiber eine 2/3-Mehrheit des Sicherheitsrates, auf die M6glichkeit eines ,,umgekehrten Vetos" (ein Veto gegen den Ermittlungsstopp liisst diesen scheitern), auf die Einbeziehung der ,,Aggression" als Straftatbestand (neben K_riegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, V61kermord) aber nicht des Terrorismus, auf die eigens6indige Entscheidungskompetenz des Gerichtshofes fiber die Frage der Komplementarit~it zu internationalen Gerichtsh6fen (statt beim Sicherheitsrat oder den Staaten) und auf die Einsetzung unabh~ingiger Ermittler (mit der damit einhergehenden Gefahr der Politisierung). 2044 Neben Israel z043Vgl. k_ritischNicole Deitelhoff, Sea Change or still ,,Dead on Arrival"? Die USA und der internationale Strafgerichtsh~nach dem 11. September, in: Werner Kremp / Jfirgen Wilzewski(Hg.), Wel/macht vor neuer Bedrohung. Die Bush-Administration und die US-AuJ~enpolitik nach dem Angriff auf Amerika, Trier 2003, S. 217-246, 235. 2044 Vgl. ebd., S. 224f. und 236f.
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(anfanglich auch GroBbritannien) sind die USA der einzige demokratische Staat, der sich gegen den IStGH stellt und die nationalstaatliche Souveriinitiit als globales Ordnungsprinzip in diesem Zusammenhang verteidigt. 2~ SchlieBlich gibt es in der Frage des Kyoto-Protokolls Meinungsverschiedenheiten insbesondere zwischen den USA und Deutschland. Der US-Senat lehnte das Protokoll mit einer iiberwiiltigenden Mehrheit ab, weil er an der Uberpriifbarkeit der Vertragsabgeltung zweifelte. 2~
f) Das Problem inszenierter Gewalt in der westlichen Medienrealitiit Ein ganzes B/indel von Gr/inden, darunter sicherlich auch das Aufkommen misanthropischer Z/ige bei ehemals kulturrevolutioniiren Intellektuellenkohorten bei gleichzeitiger Zynisierung der eigenen theoretischen Existenz aufgrund unerf/illter Erwartungen nach dem langen Marsch durch die Institutionen, hat in den vergangenen zwanzig J ahren zu einer rasanten Radikalisierung der Kapitalverwertung von Medienprodukten gef/ihrt. Die damit einhergehende Begleiterscheinung besteht darin, dass die Basis des gemeinsamen Kontraktualismus des Westens im Sinne eines personenwiirdezentrierten Sittenkodexes gleichsam von u n t e n - / i b e r den medialen ,,Zeitgeist ''2~ - aufgekiindigt wird. Die Quelle der Machthaber in vielen mediengesellschaftlichen Knotenpunkten in diesem neuartigen, telekratischen Cyborg-Empire-Netz, das mit inszenierter Violenz, brachialem Gewaltiisthetizismus und subtiler Menschenverachtung die Massengesellschaft immer stiirker im Sinne eines expressiven Selbstverwirklichungs- und Machtindividualismus beeinflusst, liegt in einer Form verschleierter, theoretisch nicht reproduzierter Kulturrevolution, die in einer assoziativen Welt die Antiquiertheit und den Selbsthass des Menschengeschlechts postuliert und radikal bejaht. 2~ Zugleich wird die Praxis der Gewalt in einem surrealistischen Kontext als ein Ausfluss der immer stiirker positionierten und propagierten , , F r e i h e i t " der menschlichen Imagination kultiviert. Die Basis f/ir dieses intellektuelle Ydima der Gewalt liefert in gewisser Weise Andr8 Bretons ,,Manifest des Surrealismus", das die Freiheit der menschlichen Imagination absolut setzte. 2~ Dazu k o m m t in den USA - trotz all der Produktivitiit und Kreativitiit, die damit verbunden i s t - ein innergesellschaftliches Gewaltproblem, das noch dutch die Verquickung von Regierungshandeln und Waffenlobbyismus verst~irkt wird. 2~176 Neben den besten Universitiiten der Welt, einer fulminanten Wirtschaftskraft, niedrigen Arbeitslosenzahlen und revitalisierten Innenstiidten gesellen sich in den USA (aber z.T. inzwischen schon liingst auch in Europa) ,,working poors", sozio6konomische Rassenunterschiede, gef/illte Gef'~ingnisse, minderjiihrige M/it-
2045Vgl. Nicole Deitelhoff, Sea Change or still ,,Dead on Arrival"? Die USA und der internationale Strafgerichtshof nach dem 11. September, in: Wemer Kremp / J(irgen Wilzewski (Hg.), Weltmacht vor neuer Bedrohung. Die Bush-Administration und die USAuJ~enpolitik nach dem AngtgffaufAmerika, Trier 2003, S. 224 und 238f. 2046Vgl. Michael Novak, North Atlantic Community, European Community. Divergent Paths and common values in Old Europe and the United States, in: National Review Online (http://www.nationalreview.com), 23. Juli 2003, 10:45 a.m. (Auszug einer Rede vor der Hayek Foundation am 3. Juli 2003 in PreBburg). 2047 Vgl. exemplarisch Hans Heinrich Muchow, Gestaltwandel der Jugend zwis&en 1900 und 1960, in: Hans Joachim Schoeps, Zeitgeist im Wandel. Band II: Zeitgeist der Weimarer Republik, Stuttgart 1968, S. 261-273. 2048Uberspitzt und radikal wird diese Kritik in einer bestechenden Sprache formuliert von Botho StrauB,Anschwellender Bocksgesane~ in: Heimo Schwilk / Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewusste Nation. ,,Anschwellender Bocksgesang" und we#ere Beitra'ge Zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. 1994, S. 19-40, 28-32. 2049 Vgl. Andr8 Breton, Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek 1977 und Tilo Schabert, Gewalt und Humanita't. Uber philosophische undpolitische Manifestationen von Modernita't, Freiburg i.Br. 1978, S. 293-305. 2050Vgl. Marcia Pally, Kreativ destruktiv, in: Berliner Zeitung, 5. April 2003, S. M01. ..
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ter, Analphabetenmm, Drogensucht, Verbreitung von Jagdgewehren und Handfeuerwaffen und Gewaltverherrlichung hinzu, wenn auch das mnergesellschaftliche Gewaltproblem m den USA in den vergangenen Jahren allmiihlich geringer zu werden scheint. Das , , E p h e m ~ r e " des ,,Westens", die ,,Gewaltt~itigkeit ist genauso ein unveriiul3erlicher Teil der US-amerikanischen Seele wie die Verfassung des Landes. ''2~ Eine phiinomenale Erscheinung des Klimas inszenierter Gewalt fmdet sich insbesondere in der Film- und Musikkultur des ,,Westens": Das Klima manifestiert sich demnach in einer ganz (neu-)bestimmten Inszenierung der Gewaltsamkeit, welche den gewaltsamen Tod mit einbezieht. 2~ Die Intention z.B. in den Filmen der ersten Hiilfte des 20. Jahrhunderts, ganz besonders der fiinfziger Jahre, die Inszenierung nur als ,,dramaturgisches Ritual", als ,,Handlungsakzent" und als zum Zwecke der Zurschaustellung und Demonstration eines tugendgebundenen Heroismus typisierend einzusetzen wird inzwischen auf iiul3erst breiter Front dutch Darstellung der Gewalt als solcher abgel6st. Gewalt wird in diesem Zusammenhang ,,ausffihrlich [..] vorgefiihrt ''2~ als ,,Ballett des Todes" iisthetisiert2~ und schliel31ich sogar vereinzelt in der Realitiit, ob nun in School Shootings ~t la Littleton oder Erfurt oder in amerikanischen Milit~irgefangnissen im Irak, effektvoll nachgeahmt. Dabei m6gen die Erstlmgswerke durchaus meisterhaft inszenierte und existentiell wertvolle Produkte sein, denkt man an die friihen Filme in diesem Zusammenhang, z.B. Stanley Kubricks ,,Clockwork Orange", Sam Peckinpahs ,,The Wild Bunch", Arthur Penns ,,Bonnie and Clyde" oder Francis Ford Coppolas ,,The Godfather". Das iindert dennoch nichts an der )knderung des Blickwinkels, die dadurch, damals noch in bewusst kritischer Haltung, eingeliiutet wurde und in den nur mehr unkritisch gefeierten Werken Quentin Tarantinos auf ganz neue Weise kulminiert. L6sten Kubrick und Peckinpah noch Diskussionen aus, so scheint Tarantino im entsprechenden Milieu aufgrund seiner groBen kfinstlerischen F~ihigkeiten heute eine kaum noch hinterfragbare Autorit~it darzustellen, obwohl er weit fiber Kubrick und Peckinpah hinausgeht, indem die Grausamkeit bei ihm zu einer hochglanzpolierten Frage des sequentiellen Stils geworden ist. Der populiire Autoritarismus hat ganz neue, sonderbare Zfige angenommen. Auf einer sehr viel tiefer angesiedelten Ebene wimmelt es im Untergrund von TrenchcoatMafias und Charles- oder Marilyn-Manson-, Hexen-, Kannibalen-, de-Sade- oder BlackIndustrial-Kulten sowie allerlei Formen schwarzer Magie und Okkultismen. Die Hippiebewegung und die New-Age-Esoterik geh6ren anscheinend Lingst der Vergangenheit an. Die hochpolitischen anarchistisch-pamphletistischen Str6mungen, wie sie von Jerry Rubin und Abbie Hoffman symbolisiert wurden 2~ linden in Michael Moore zwar eine gewisse Fortsetzung, k6nnen aber mit dem Sarkasmus des letzteren nicht in Einklang gebracht werden. Unabhiingig von Rubin, Hoffmann oder Moore hat sich seit den achtziger Jahren eine neuartige Mischung aus Hass, Gewalt, Zynismus und Egoismus zum Leitprinzip des subversiven Denkens in westlichen Gesellschaften entwickelt. Wenn es um den sozialen und gesellschaftlichen Wandel im , , W e s t e n " geht, wiirde es sich vielleicht lohnen, dass die etablierte Soziologie ihr Augenmerk
2051Vgl. MarciaPally, Kreativ destruktiv, in: BerlinerZeitung, 5. April 2003, S. M01. 2052Ein nCichtemerUberblick/iber die Forschung in diesem Zusammenhangfmdet sich bei Helmut Lukesch, Gewalt und Medien, in: WilhelmHeitmeyer / John Hagan (Hg.), InternationalesHandbuch der Gewal~orschunj~Wiesbaden 2002, S. 639-675. 2053Vgl. Tilo Schabert, Gewalt und Humanitiit. Uberphilosophischeundpolitische Manifistationen von Modernita't, Freiburgi.Br. 1978, S. 291. 2054Vgl. ebd., S. 292. 2055Vgl. ebd., S. 306-320. . .
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stiirker auf die Veriinderungen im U n t e r g r u n d (i.e. in den subversiven Milieus) richtet, statt n u t auf die Einstellungen der breiten Bev61kerung. 2~ Unabh~ingig von den einzelnen filmographischen und populiirkulmrellen, zugegebenermaBen h6chst spekulativen E x k u r s e n im V o r h e r g e h e n d e n , kann jedoch m.a.W, festgehalten werden, dass bei der ganzen Entwicklung der G e w a l t w a h m e h m u n g m d e r Populiirkultur die kritische Theorie letztlich n u t als Vehikel diente, wobei ihre Ausnutzbarkeit durch die eine verzerrende u n d manipulierende Rezeption der an sich hochkultivierten (ja kulmralistischen) u n d motivationell iiul3erst gewaltfernen Philosophie eines T h e o d o r W. A d o r n o u m einiges erweitert wurde. Praktisch angekniipft wird indes an der weitestgehenden Informalisierung, Sexualisierung 2~ u n d Entpolitisierung aller idealistischen M o m e n t e der G e n e r a t i o n der Studentenprotestbewegung, die sich freilich schon damals das Recht nahm, den Sozialvertrag plakativ aufzukiindigen. 2~ Das grunds~itzliche P r o b l e m dieser expressiven, reduktionistischen, e n t h e m m e n den F o r m e n des Individualismus der jiingeren Nachkriegsgenerationen, welche auch y o n gestandenen Linken konstatiert wird 2~ besteht darin, dass die damit geradezu zelebrierte Freiheit, ,,sich selbst aus der [grenzenlosen] Fiille der Identitiitsm6glichkeiten neu zu defmieren", die ,,kollektive Verstiindigung dari.iber abgel6st" hat, ,,worin wit den W e r t der anderen erkennen k6nnen."2060 So l~isst sich schliel31ich die Ambivalenz der Theorie eines Michel Foucault verdeutlichen: Wiihrend dieser das Wirken eines Panoptikon-Prinzips im Sinne J e r e m y B e n t h a m s in unserer heutigen Gesellschaft erkennt, bringt er dieses Uberwachungsprinzip nicht mit der ,,Befreiungs- u n d Entzivilisierungsideologie" der Kritischen Theorie in Verbindung, sondern mit einer ,,Gouvemementalitiit", deren Logik nach althergebrachten, autoritiiren Herrschafts- u n d Macht-vorstellungen funktioniere. Die Kontrollgesellschaft im strukturalistischen Sinne y o n Foucault (nach der es Institutionen der Disziplinierung bedarf wie Gef~ingnisse, Fabriken, Heime, Kliniken, Universit~iten, Schulen) hat sich auf der Basis der ,,Demokratisierung" der H e r r s c h a f t s m e c h a n i s m e n einfach n u t auf eine qualitativ neue Smfe weiter- u n d hochentwi-
20s6Wenn heutigen Lesern z.B. Ausfilihmngen der ,Satanic Bible' Anton Szandor da LaVeys eher hausbacken erscheinen m6gen, liegt das wohl an der Veriinderung der gesellschaftlichen Umstiinde, seitdem die Bibel das erste Mal gedmckt wurde. Bei da LaVey handelt es sich um den Begr/inder der amerikanischen Selbstverwirklichungssekte ,,Church of Satan", welche insbesondere im Milieu von Hollywood einige Aufmerksarnkeitserfolge erheischen konnte im Spannungsfeld zwischen prorninenter Anhiingerschaft (Sammy Davis Jr., Kenneth Anger, Keith Richards, Mick Jagger, Marilyn Manson) Scharlatanerie, Idolisiemng, Verdammung und Legendenbildung (Stichworte: Tod Sharon Tares 1969 und der Komplex Terry Melcher / ,,Bel Air" / Polanski / Manson Family, Tod Jayne Mansfields und Boyd Brices, der Film ,,Rosemarie's Baby", das Dacota Building und der Tod John Lennons ). 2057Vgl. dazu iiuBerst eindmcksvoll mit Bezug auf Deutschland Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, M/inchen 1974, S. 586ff. Nolte bringt die ,,Sexavelle" der sechziger Jahre, die bis heute anhiilt und ,,weitergeht" bzw. -treibt auf den ph{inomenologischen Punkt: Er interpretiert diese historisch sonderbare Entwicklung einer ,,Sexualisierung" im Dienste einer ,,Aufldiimng" als die ,,Ausbeutung" des letzten ,,Bollwerks" einer Welt des ,,Geheimnisvoll-Irrationalen" und ihre m6glichst banale Entschleiemng bis hinein ,,in die letzten Differenziemngen" (ebd., S. 587). Freilich k6nnte sich gerade die anhaltende Banalisiemng, ob in Bezug auf die ,,Natur", auf die ,,Gewalt" oder eben auf die ,,Liebe" und den ,,Sex", als M6glichkeit entpuppen, dass das irrationale Moment jederzeit auf/iberraschende Weise zurCickschlagen k6nnte. 20s8 So die treffende Sichtweise bei David Calleo, The Atlantic Fanta~: The U.S., N A T O and Europe, Maryland 1970, S. 112. 20s9Vgl. exemplarisch Hermann Scheer, Zu~'ck wr Politik. Die archimedische Wende gegen den Zerfall der Demokratie, MCinchen 1995, S. 37-43. 2000Robert N. Bellah / Richard Mansen / William M. Sullivan / Ann Swidler / Steven M. Tipton, Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Geselkchaft, K61n 1987, S. 73f.
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ckelt. 2~ Im Obrigen sah Foucault zwar das Panoptikon-Prinzip als wichtiges Ordnungsprinzip heutiger westlicher Gesellschaften wirken, begriindete aber seine Kritik der permanenten M6glichkeit der lJberwachung dutch das Mittel der Oberwachung eines jeden durch sich selbst (Selbstdisziplinierung der Individuen weitgehend ohne soziale Kontrolle) mit dem Disziplinierungselement als solchem, das er pauschal der Freiheit entgegenstellte, als ob Freiheit und Macht zwingend ein Gegensatz sein miissen. Die K_ritik Foucaults, dass die Menschen, indem sie dazu erzogen werden, eine Funktion in einem System wahrzunehmen, die grundlegenden Funktionsregeln so sehr internalisieren, dass ihnen die extern geleitete Regelhaltigkeit ihres Verhaltens nicht bewusst wiirde, mag zwar ein emsthaftes Freiheitsproblem darstellen, doch miissen die extemen Normen, welche die geleitete Regelhaltigkeit yon aul3en - unbemerkt sozusagen - initiieren, nicht alleine durch die Tatsache, dass es sie gibt, im Gegensatz zur Freiheit stehen: Die Frage ist, welche diese sind und ob nicht eine Informalisierung und Entzivilisierung ebenso normative Kraft entfalten und die Menschen unbewusst dazu zwingen kann, sich undiszipliniert bzw. unzivilisiert zu v e r h a l t e n - also, sich innerhalb eines Funktionsganzen in bestimmten Bereichen keineswegs selbst zu kontrollieren.
3.4 Die positive Seite der inneratlantischen Problemdimensionen
Am Ende muss angesichts der angesprochenen gesellschaftlichen Wertekonflikte festgehalten werden, dass die Tatsache, dass nun iiberhaupt ,,amerikanische Verh~iltnisse" bzw. ,,europ~iische Verhiiltnisse" m Bezug auf gesellschaftliche und innenpolitische Ph~inomene im innerzivilisatorischen Vergleich zum Zwecke der gegenseitigen Befruchtung nutzbar gemacht werden k6nnen, gerade die St~irke der Atlantischen Zivilisation ausmacht. Solange diese Unterschiede unter ein zivilisatorisches Dach fallen, bietet die Ambivalenz eine n6tige Responsivitiit fiir den Westen und eine M6glichkeit, seine M~ingel und Fehler zu beheben. Amerikanische und europ~iische Verhiiltnisse sind insofem der entscheidende Ausgangspunkt fiir die Fiihigkeit des Westens, selbstkritisch zu sein. Und genau das macht ihn nicht nur zu einer , , g e m e i n s a m e n " , sondern zu einer ganz neuen und in dieser pluriversen, dialektischen Art einmaligen Zivilisation. Anders formuliert: ,,G~ibe es Amerika nicht, w~ire es hoch an der Zeit, Amerika zu erfmden nicht nur um seiner selbst willen, sondern auch um Europas willen. ''2062 Dementsprechend k6nnen die ,,amerikanischen Verh~iltnisse" auf der Basis der europ~iischen Projektionsfliiche in den USA selbst kritisiert werden (und werden es auch) und umgekehrt k6nnen die ,,europ~iischen Verh~iltnisse" vor dem Hintergrund der amerikanischen Projektionsfl~iche in Europa selbst kritisiert werden. Die wichtigste Frage, die sich nun stellt, lautet, ob diese ,,K_ritikf~ihigkeit" allein aus der Dialektik hervorgeht, oder ob es auch noch eine zweite, willensabh~ingige Voraussetzung braucht: Die Einsichtsf~ihigkeit in die historische und philosophische Wirkungsmiichte als Voraussetzung f/,ir die Einsicht in die wirkliche Existenz des hier beschriebenen dialektischen Verh~iltnisses. Problematisch w~ire daher viel eher das Ph~inomen gegenseitiger Gleichgiiltigkeit oder gar Verachtung aufgrund fehlender kultureller Sensibilit~it. Eine negative Seite stellt in dieser Hinsicht der ,,amerikanische Amerikanismus" dar: ,,Dem europ~iischen Ressentiment korrespondiert ein amerikanischer Provinzialismus, in der Welt nichts als Amerika oder iiberall ein potentielles Amerika zu sehen pflegt. Dies Amerika des Amerikanismus -
2061Vgl. Michel Foucault, Ubenvachen und Strafen. Die Geburt des Gefdngnisses, Frankfurt a.M. 1976; Ders. Sexualitdt und Wahrheit, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1977-86; Ders., Die ,,Gouvernementalitdt", in: Ulrich Br6cklingu.a. (Hg.), Gouvernementalitat der Gegenwart. Studien z ur Okonomisierung des So~alen, S. 41-67. 2062Ludger Kfihnhardt, Der ewigeSpiegel, in: Zeitschrift~r Kulturaustausch 48. Jg., 2/1998, S. 29-31, 30.
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lastet auf den USA. ''2~ Was jedoch als entscheidende Gemeinsamkeit, trotz der inzwischen sehr groBen gesellschaftlichen Unterschiede, weiterhin mit aller Vehemenz betont werden muss: Alle soziokulturellen Systeme des Westens behaupten sich unabliissig als Gesellschaften, die sich weigern, ,,ein blindes Schicksal anzuerkennen, sich ihm zu beugen, sich in ihm verk6rpert zu sehen, ganz im Gegensatz zu den saturierten Gesellschaftssystemen am Gegenpol, den entschlossen pyramidalen, holistischen, in sich geschlossenen und abgerundeten Systemen. ''2~
4. Resiimee: Die Frage der kulturellen Substanz Amerikas und des Westens und der Hedonismus
Die USA werden in Europa immer stiirker als eine Bedrohung wahrgenommen. Dabei wird ein kultureller Gegensatz zwischen Europa und den USA konstruiert, der bis hin zur Infragestellung zivilisatorischer Grundgemeinsamkeiten beitriigt. Unter den gesiiten Verdachtsmomenten ist insbesondere die Vorstellung sehr beliebt, dass das kulturell erfahrene ,,Alte Europa" von amerikanischem Banausentum iiberrollt werden soll. Eine Zeitlang diirften die europiiischen Staaten ,,die Fiktion einer eigenstiindigen Kultur ''2~ noch hegen, doch das wiirde nicht mehr lange wiihren. Hat der Kulturstolz in den europiiischen Liindern etwa ausgesorgt, weil eine Art panamerikanische Universal- und Popkultur keinen Platz mehr hergibt fiir ,,eigenstiindige Kulturen", die den G r u n d b o d e n fiir Selbstachtung und Selbstwertgefiihl nicht nur dieser V61ker liefern? Kann es iiberhaupt Ziel und Sinn amerikanischer Macht und Weltpolitik sein, ,,eigenstiindige Kulturen" gerade in Europa zu ,,Fiktionen" herabsinken zu lassen? Grundsiitzlich liel3e sich auch fragen, ob die Trennung zwischen ,,europiiischem Kulturstolz" und amerikanischem Befmden, der sich hinter diesen Aussagen verbirgt, iiberhaupt so treffend ist. Und schlieBlich: Hat es einen Sinn, das durchaus existente Spannungsverhiiltnis zwischen bestimmten Arten des ,,american way of life" und den verschiedensten Formen europiiischen Kulturstolzes derart zu verabsolutieren, dass nut eins am Ende iibrigbleiben kann? 2~ Liisst die ,,Pax Americana" die Kulturen zur , , F i k t i o n " verkommen? Mit der Beantwortung dieser sehr zentralen Fragen soll das Kapitel im Lichte der bisherigen Er6rterungen nun abgeschlossen werden. Der Grundtenor liisst sich zuniichst einmal wie folgt zusammenfassen: Es gibt gute Griinde, den imperialen Gestus der amerikanischen Popkultur (von ,,rechts") oder die transnationalen l~berseekonzerne mit ihren Schlagw6rter wie ,,mergers" oder ,,unfriendly takeovers" (von ,,Finks") skeptisch zu betrachten. Dass aber die amerikanische Verfassung vielen in Europa kein Begriff mehr zu sein scheint, hiingt mit einer ,,Oberfliichlichkeit" zusammen, wie es einmal Altbundeskanzler Helmut Schmidt treffend formuliert hatte. 2~ Selbstverstiindlich existiert natiirlich dennoch eine solche, gemeinhin mit Amerika identifizierte weltweite Pop- und Mediengemeinde auf der einen und ein iiul3erst freiziigiger Kapitalismus auf der anderen Seite. Konkret vereinigt sich ja auch beides im stark kommerzialisierten
2063Manfred Henningsen, Der Fall Amerika. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichteeiner Verdra'ngunj~ M/inchen 1974, S. 41. 2064Pierre Chaunu, Die Wurzeln derFreiheit, M/inchen 1982, S. 99. 2065Vgl. Dirk Schemer, Die Krimkriegssituation. Getrennt abmarschieren: Europa in der Neuen Weltordnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Dezember 2001, S. 43. 2066Ein eindeutiges Gegenbeispiel unter vielen liefert Michael Novak, Vision eines Amerikaners. Europa und Amerika im globalen Zusammenhang, in: Die politische Meinung Nr. 422 (01/2005), S. 25-32, 26. 206vVgl. ,,Transatlantische Beziehungen. Traditionen und Herausforderung- Ein Gespriich rnit Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt", in: Sebastian Lorenz / Marcel Machill (Hg.), Transatlan/ik. Transfer yon Politik, Wirtschaft und Kultur, Wiesbaden 1999, S. 24-31, 26.
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Mediensystem der USA, das sich mit einem exzessiven und ,,expressiven ''2~ Individualismus verbindet; wobei das liingst kein rein amerikanisches Phiinomen m e h r ist. U n d natiirlich: Es gibt auch eine Welt voller Netzwerke, ,,denen beizutreten die M e n s c h e n allen Anlass haben. "2~ So formulierte es zum Beispiel J edediah Purdy, vielbeachteter Jungforscher an der America F o u n d a t i o n in Washington. U n d Purdy versiiumt nicht nachzutragen: ,,Diese Netzwerke sind amerikanisch". 2~176 D o c h abgesehen v o n der Frage, ob sie das n u n wirklich sind, oder ob sie nur als eine Art L o k o m o t i v e fiir die D u r c h s e t z u n g eines v611ig , , u n a m e r i k a n i s c h e n " , sich postnational versteh e n d e n E m p i r e - G e d a n k e n s (freNch unter Zuhilfenahme amerikanischer Restsouveriinitiit und amerikanischer Sprache 2~ fungieren, stellt sich die Frage ob diese Netzwerke die M e n s c h e n total erfassen oder nicht. Lassen die N e t z w e r k e also noch Platz fiir fundamentale kulturelle Reservationen und identitiitsstiftende Verweigerungshaltungen kultureller Provenienz? Bedeutet also die globale Ausbreitung solcherart ,,amerikanischer" (oder doch intemationalistischanarchistischer?) K u l t u r m u s t e r und Netzwerke ,,die v611ige U m k r e m p e l u n g anderer Kulturen und Lebensformen"2072.) Otfried H6ffe schrieb jiingst, dass eine derartige ,,Verletzung nicht nur h6chst unvemiinffig wiire, da sie eine Gewaltbereitschaft im N a m e n kultureller Selbstverteidigung f6rderte. Sie vertriige sich auch schwerlich mit d e m G r u n d g e d a n k e n der Gerechtigkeit. ''2~ U n d spiitestens hier sollte es zweifelhaft erscheinen, dass Amerikas zivilisatorische Wirkung nur als etwas dargestellt wird, das sich letztlich auf Verballhornungen anderer kultureller IdentitS.ten oder auf entgrenzte mediengesellschaftliche Realitiiten beziehungsweise auf eine entgrenzte Hieroglyp h e n s p r a c h e einer internationalen P o p g e m e i n d e reduzieren l~isst, deren Kristallisationspunkt sich letztlich in einer entsublimierten und o b s z 6 n e n Gewalt- und Gewaltgenussverherrlichung zuspitzt 2~ also in medialer Barbarei, die durchaus i m m e r stiirker v o m Virtuellen ins Faktische iiberzuspringen droht. 2~ Es ist traurig, dass diese problematischen Aspekte im passagenweise geradezu mit (allzu) revolution{item Pathos geschriebenen soziologischen ,,Standardwerk"
2068Der Begriff ist entnommen aus Robert N. Bellah / Richard Mansen / William M. Sullivan / Ann Swidler / Steven M. Tipton, Gewohnheiten des Hergens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft, K61n 1987, S. 59 und 319. 2069Jedediah Purdy, Amerika, das ratlose Imperium, in: Berliner Republik 6/2001, S. 46-52, 50. 2070Ebd. 2071Vgl. Michael Hardt / Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt / New York 2002, zu den USA insbesondere S. 172-194. Die Erkennungsmerkmale des ,,Empire" nach Negri und Hardt wiiren demnach die Austauschbarkeit der Subjekte, die Aufl6sung der Unterscheidung yon Innen und Aui3en, der Verlust der staatlichen Souveriinitilt, Dezentrierung, Deterritorialisierung und die funktionale Komplexit{it einer sich selbst genfigenden Weltwirtschaft. Das Empire ist kein ,,historisches Regime", das ,,aus Eroberungen hervorgegangen ist, sondem vielmehr eine Ordnung, die Geschichte vollstiindig suspendiert und dadurch die bestehende Lage der Dinge fiiir ewig festschreibt" (ebd., S. 13). Es ist demnach posthistorisch und postmodern, ein ,,Regime ohne zeitliche Begrenzung", das sich ,,aul3erhalb oder am Ende der Geschichte" befinde (ebd., S. 13). Es organisiere ,,nicht nut Territorium und Bev61kerung, sondem schafft genau die Welt, in der es lebt" und versucht - i m Sinne einer ,,Biomacht" - direkt ,,fiber die menschliche Namr zu herrschen" und nicht blofi menschliche Interaktionen zu lenken (vgl. ebd.). Die Biomacht wird mit einer Friedensverheil3ung im Sinne des ewigen Friedens verbfipft (vgl. ebd.). Da das Empire die Menge trage, die Menge aber das ,,Empire" nicht ausmache, ist das ebenso grenzenlose multitude zugleich die Chance zur ,,Befreiung" (vgl. ebd.). 2072Jedediah Purdy, Amerfka, das ratlose Imperfum, in: Berliner Republik 6/2001, S. 46-52, 51. 2073 Otfried H6ffe, Der Kampf der Kulturen kann ausfallen. Die moderne Zivilisation ist multireligib's vertrdglich und enthdlt einegr~e allgemeinmenschliche Kraft, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.10.2001. 2074Vgl. entsprechend zum ,,tieferen Sinn" und irrationalen Charakter der Popmusik Allan Bloom, Der Niedergang des amerikanis&en Geistes. Ein Plddoyerfi# die Erneuerung der westlichen Kultur, New York 1987, S. 89fi 2075Vgl. Slavoj Zizek, Die Amerikaner kontrollieren gar nichts! Nicht mal sich selbst! Warum Comical Ali re&t behalten hat: einige ([TberlegungeniiberAbu Ghraib und das Unbewusste in der Popkultur, Berliner Zeitung, 23. Juni 2004.
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Manuel Castells zur informationellen Weltnetzwerkgesellschaft nicht gesehen werden. 2~ Es verwundert, dass Castells Arbeit, in welcher der Autor, Dozent an der Universitiit Berkeley, m allen Fragen kollektiver und individueller Identitiit in geradezu penetranter F o r m nicht davon abliisst, unabliissig seine Niihe zu radikalemanzipatorischen und feministischen Positionen zu exprimieren und die Identitiitsfrage v611ig einseitig abhandelt, derart posit_iv von Zunft und Publizistik aufgenommen wurde. In den Stichworten zum Phiinomen der Informations- und Netzwerkgesellschaft ist das Werk ja durchaus bahnbrechend, aber in dieser terminologischen Originalitiit ersch6pft sich der Wert dieses Buches letztlich auch. Die Urspriinge der von Castells entweder verschwiegenen oder aus ideologischen Griinden nicht problematisierten Formen der Vulgaritiit in der sich abzeichnenden ,,Netzwerkgesellschaft" liegen nicht im Sinne eines , , A m e r i k a n i s m u s " in den USA selbst, sondern in den dortigen gesellschaftlichen Entwicklungen der zwanziger Jahre, auf der Basis bestimmter avantgardistischer 2~ und neuer materialistischer und psychologischer Lehren m o d e m e n europiiischen Ursprungs (gertrude Stein, James Joyce, Sigmund Freud) und der daraus resultierenden Einfliisse auf den ,,amerikanischen Geist". 2~ Insbesondere die Psychoanalyse sollte fiir die amerikanische Gesellschaft langfristige Folgewirkungen zeitigen. 2~ Das Psychologisieren der Erziehung und die piidagogische Uberrationalisierung steht z.B. im unmittelbaren Zusammenhang mit typisch massengesellschaftlichen Phiinomenen des 20. J ahrhunderts: Massenhysterien junger, brunftschreiender Miidchen in Konzertsiilen, Teenager-Liebeskodizes, die Zelebrierung und 6ffentliche Diskussion der adoleszenten Tasterotik, das , , D a t i n g " und die unverbindliche Promiskuitiit und die damit einhergehende Freigabe junger Miidchen durch die Eltern, die F6rderung von ,,Dates" der Familienkinder unter Beargw6hnung eigenwilliger und einsamkeitsbediirftiger Kinder, eine gewisse ,,Monogamie vor der Ehe" (das sogenannte ,,going steady") und das A u f k o m m e n von ,,sex manuals" ~ a t g e b e r n in zwischengeschlechtlichen Angelegenheiten), das mit einer Feminisierung der Sexualbeziehungen einherging. 2~176Natiirlich verbirgt sich hinter dieser Entwicklung auch ein ,,zwangsliiufiges" Resultat eines l~ingerfristigen siikularen Vorgangs, , , v e r b i r g t " i n dem Sinne, dass eben jene , , s S k u l a r i s i e r e n d e " Ansicht, die Natur rational beherrschen zu k6nnen in einem Zusammenhang mit der angesprochenen ,,Sexualisierung" gebracht werden kann: ,,Im Zuge der fortschreitenden Beherrschung der Welt wurde der ,Namrbereich' auch im menschlichen Dasein selbst immer kleiner, und damit rCicktedie Geschlechtlichkeit in den Bereich der Unterhalmng: Frauen waren nun nicht mehr, wie jahrtausendelang, allem anderen zuvor Gattinnen und Mfitter, sondern sie konnten als Geschlechtswesen Artefakte zum eigenen und zum ffemden Vergn/_igenwerden, und Miinner konnten in der langen Freizeit ihre Partner oder Instmmente sein."2~ Auch das sind also Realitiiten, die den ,,Westen" im Verhiiltnis zum (unverdorbenen?) NichtWesten heute unterscheidbar machen. ,,Es war und ist ein ungeheurer Prozess, der weit m die Zukunft weist. ''2~ Er ist in geistiger Hinsicht auf die materialistischen und sexistischen VariManuel Castells, Das Informationszeitalter, 3 Bde., Opladen 2001-2003. 20vvVgl. als priignanten Uberblick fiber die Gesamtheit avantgardistischer Str6mungen in Kultur, Literamr und Gesellschaft: Erich Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917, 6. Aufl., Mfinchen 1978, S. 96-105. 20v8Vgl. z.B. Henry Steele Commager, Der Geist Amerikas. Eine Deutung amerikanischen Denkens und Wesens von 1880 bis w r Gegenwart, Z/irich / Wien / Konstanz 1952, S. 530-535. 2079Vgl. zu den zerst6rerischen Auswirkungen Sigmund Freuds auf das Denken und Leben in Amerika insbesondere auch Herbert yon Botch, Amerika. Dekaden z und GrbJ~e,M/inchen / Zfirich 1981, S. 176ff. 2080Vgl. ebd., S. 177-180. 208~Ernst Nolte, Deutschland und derKalte Kt#g, Mfinchen 1974, S. 587. 2082 Ebd. 2076 Vgl.
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anten der Auf~iirung zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert und auf die surrealistischen Vorliiufer innerhalb der Lebensphilosophie sowie auf den sozialen D a r v ~ i s m u s und Biologismus zwischen dem 19. und 20. J ahrhundert zuriickzufiihren. In praktischer Hinsicht iiul3erte sich dieser Prozess als Massenph~inomen jedoch erstmals in den zwanziger Jahren in den USA. Mit dem Aufkommen der materialistischen und psychoanalytischen Lehren war das konservative Amerika eine Zeitlang stark an den Rand gedriickt und radikalisierte sich dementsprechend. 2~ So brachte es grol3e K t p f e wie Irving Babbitt, Paul Elmer More und George Santayana hervor. 2~ Die Einfl/,isse der Avantgarde haben jedoch, trotz aller spiirbaren langfristigen ,,Erfolge" im intimgesellschaftlichen Bereich, letztlich in der ganzen Breite der Populationen Amerikas und Europas der zwanziger J ahre wohl nut begrenzten Einfluss auf die soziale und politische Umwelt ausiiben k6nnen. 2~ Dennoch waren die sozialstrukturellen Umwiilzungen im demokratischen und kapitalistischen, vormals jedoch zugleich stark liindlich gepr~igten Amerika in den zwanziger Jahren ganz besondere: Auf geradezu versttrende Weise gibt die klassenkiimpferische Trilogie , , U . S . A . " von John Dos Passos, Mann der sogenannten ,,verlorenen Generation" (Hemingway, Fitzgerald, Anderson, Cummings und eben Dos Passos), einen fulminanten Einblick in diesen Ursprung eines ,,amerikanischen Siindenpfuhls", einer Welt des 20. J ahrhunderts. Die Wahmehmung Amerikas yon aul3en bezog sich daher stark auf jene UmwS_lzungen, so dass der deutsche, aber auch der europiiische I<2ulturalismus einen stark antiamerikanischen Charakter bekam. Sozialstrukturell, ob in Berlin, in Paris, in London oder gar im Ruhrgebiet, ging jener neue Variante des sehr konservativen Antiamerikanismus mit der Tatsache einher, dass ein vergleichbares Wohnungselend wie in den USA in Europa - trotz allen Avantgardismus - am Ende nicht anzutreffen war, auch weil er soziokulturell aufgefangen wurde. Die Grol3stadtslums und riesigen Mietshauskasernen (,,tenements") in den USA hingegen, vor ahem von zumeist gerade eingewanderten, also soziokulturell entwurzelten Europiiern bewohnt, wurden zum grol3en Schreckgespenst zahlreicher Europiier. 2~ Auch sozialkonservative und sozialistische Str6mungen spielten nunmehr stark in europiiische Antiamerikanismen hinein. Dass die USA die gef'~ihrliche Entwicklung seit den dreil3iger Jahren politisch w i e d e r - mit einem Pathos (,,New Deal"), das amerikanischer nicht sein k o n n t e eindiimmen konnten, wurde nicht mehr ausreichend registriert: die Front gegen das ,,Siindenpfuhl" Amerika hatte sich im konservativen Denken Europas stark verfestigt und an Eigendynamik gewonnen. Doch die absolute Gleichsetzung des auf Virtualitiit abgerichteten Konsumentismus n'fit dem , , A m e r i k a n d s c h e n " ist viel zu kurz gegriffen. 2~ Die beklagten Zustiinde sind ,,blo13 eine Station in dem kulturellen Aufltsungsprozess, der lange zuvor in Europa begonnen hatte und sich nach dem ICrieg unabdingbar generalisieren sollte. ''2~ Gerade Grundgedanken wie zum Beispiel Anstand, Fleil3, Tugend, die Achtung vor dem Talent, altmodische Htf~chkeit in Verbindung mit , , u n m a n i e r F m h e r " warmer Freundlichkeit und Grol3ziigigkeit, puritanisch anErich Angerl-nann,Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917, 6. Aufl., M/inchen 1978, S. 111-122. Russell Kirk, Lebendiges Politisches Erbe. FKeheitliches Gedankengut yon Burke bis Santayana 1790-1958, ErlenbachZ~rich / Stuttgart 1958, S. 405-441. 2085Vgl. Henry Steele Commager,Der Geist Amerikas. Eine Deutung ameKkanischen Denkens und Wesens von 1880 bis zur Gegenwart, ZClrich/ Wien / Konstanz 1952, S. 522ff. und 552-559. 2086Vgl. Alexander Schmidt, Reisen in die Moderne, Der AmeKka-Diskurs des deutschen Biirgertums vor dem ersten Weltkrieg im europ~Tschen Vergleich, Berlin 1994, S. 263f. und 296. 208vVgl. Natan Sznaider / Rainer Winter, EinMtung, in: Ulrich Beck / Natan Sznaider / Rainer Winter (Hg.), Globaks Amerika? Die kulturellen Folgen der Globalisierune$ Bielefeld 2003, S. 7-21, 8 oder Alain de Benoist, Sch&e vernetzte Welt. Eine Antwort auf die Globalisierune~ T~bingen 2001, S. 95-98. 2088Vgl. Guillaume Paoli, Amerika als Verzweiflungsmaschine, Na& Adorno (2), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. September 2003, S. 44. 2083 Vgl. 2084 Vgl.
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gehauchtes ,,fair play", Heldenverehrung, Geschichtsinteresse, ein Schuss Naivitiit, (ziemlich) viel Sentimentalitiit u n d - insbesondere bei einigen amerikanischen Verfassungsviitem - der unerschiitterliche Glaube an ,,justice", galten im amerikanischen Volk des 19. J ahrhunderts als zutiefst amerikanisch. 2~ W e n n die These von den , , u n a m e r i k a n i s c h e n " N e t z w e r k e n gar v o n e m e m konservativen Standpunkt aus f i b e r n o m m e n wfirde, dann wiire sogar die oftmals angen o m m e n e Paradoxie Amerikas auflfsbar, die z.B. darin besteht, dass amerikanische Freundlichkeit (und persfnliche Hfflichkeit) und sexuelle Zierlichkeit (bis hin zur Prfiderie) mit Gewaltverherrlichung (oder nur einem Klima der ,,Gewaltdetailtreue"2~176 offener Perversionsfreiheit 2~ und Sexbesessenheit 2~ einhergeht, genauso wie letztere Ph~inomene wiederum mit scheinbar widersprechenden E r s c h e i n u n g e n naiven ICreationismus und eifemder Leichtgliiubigkeit auf der Basis maBloser Unwissenheit 2~ einhergehen. Sowohl die Gewaltverherrlichung bzw. ,,Gewaltdetailtreue" als auch der pastorale Glaubenseifer lassen sich indes unter d e m Begriff einer spezifischen ,,amerikanischen Wildheit" u n d Unreife subsumieren. A u f l f s b a r wiiren also alle diese Phiinomene als komplexe P r o b l e m p h i i n o m e n e einer weltweit sich auswirkenden, m o d e r n e n amerikanischen Gesellschaft fiber den Rfickgriff auf das Ubergeordnete: ,,Man muss .. das Ephem~ire nicht mit dem D a u e m d e n , das Partielle nicht mit d e m G a n z e n verwechsehl. ''2094 O d e r anders formuliert: ,,[Schnulzige, gewalttiifge oder perverse] Hol l ywood-Fi l me und [schnulzige, gewalttiitige oder perverse] MTV-Clips verstellen den Blick auf das differenzierte, das wirkliche Amerika ''2~ das dann fibrigens genauso wie die Exzesse in den Hollyw o o d - F i l m e n und (immer seltener) ,,auf M T V " symbolisch inszeniert wird. 2096 Allerdings geht das ,,Wirkliche" fiber jene virtuelle Meditationsformen - trotz aller , , P o s t m o d e r n e " - hinaus. Das ,,Wirkliche" ist m e h r als eine v e r k f r p e r t e Gedankenlosigkeit. Ganz banal (und etwas oberfl{ichlich) k f n n t e m a n es auch so formulieren: , , W h a t is w r o n g with hedonism, so long as people turn up for work on time, obey traffic signals, recycle beer cans, and do not abuse the welfare and dignity of others. ''2~ F r e N c h wiire es angemessener, die Bezeichnung "so long as" durch "so long this has not the result to get r o u n d that" zu ersetzen. Ein wie eine (konsumistische) Monstranz vor sich hergetragener Radikalhedonismus erscheint m diesem K o n t e x t heraus eher abtriiglich zu sein: E r n s t N o l t e hat es in seiner etwas unterschiitzten M o n o g r a p h i e ,,Deutschland und der Kalte Henry Steele Commager, Der Geist Amerikas. Eine Deutung amerikanischen Denkens und Wesens von 1880 bis zur Gegenwart, Z/,irich / Wien / Konstanz 1952, S. 17-66. 2090Vgl. Tilo Schabert, Gewalt und Humanita't. Uberphilosophische undpolit~rche Manifistationen yon Modernita't, Freiburg i.Br. 2089 Vgl.
1978, S. 291. 2091Vgl. zu den biologischen, philosophischen und psychologischen GrCinden dieses Phiinomens in ,,postmodemen" und konsumistischen Gesellschaften: Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, Mtinchen 2002; vgl. ferner Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, Miinchen 1992, S. 133 und 137f. 2092Der symbolische Repriisentant ist insbesondere der amerikanische Hedonist Hugh Hefner, Begrfinder des 1953 ins Leben gerufenen ,,Playboy" und - ;vie die rnissionarischen Eiferer - bekennender Kulturkiimpfer gegen Ehe und Familie. Seit den siebziger Jahren bekamen es Ehe und Familie mit einem weiteren bekennenden Feind zu tun, dem Feminismus einer Betty Friedan und einer Germaine Greet. Die Zahl der Scheidungen stieg in den USA zwischen 1960 und 1975 um 154%! (vgl.Jfrg von Uthmann, Volk ohne Eigenschaften. Amerika und seine Wider~ddche, Stuttgart 1989, S. 93f.). 2093Vgl. zu diesem Thema insgesamt Edward j. Larson, Summer for the Gods: The Scopes Trial and America's Continuing Debate ozer Sdence and Religion, New York 1997. 2094 Golo Mann, Vom Geist Amerikas. Eine Einfdhrung in amerikanisches Denken und Handeln im zwan~gsten Jahrhundert, Stuttgart 1954, S. 11. 209sKarsten D. Voigt, Zivilreligion aus Macht und Idee. FWr Europ&r befremdlich,fiir Amerikaner selbstversta'ndlich: Die Berufung aufGott istMainstream, in: Siiddeutsche Zeitung, 22. Februar 2005, S. V2/13. 2o96Vgl. zu MTV und den heute permanent vorgesetzten Masturbationsphantasien: Allan Bloom, Der Niedegang des amerikanischen Geistes. Ein Pla'doyerf4r die Erneuerung der westlichen Kultur, New York 1987, S. 91f. 2097 Lionel Tiger, The Pursuit of Pleasure, New Brunswick (NJ) 2000, S. 141.
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Krieg" w u n d e r b a r umschrieben. Er stellte klar, dass wir mit Blick auf die gesellschaftlichen Veriinderungen in Bezug auf den , , W e s t e n " l~ingst nicht m e h r u n u m w u n d e n v o m ,,christlichen A b e n d l a n d " sprechen k6nnen, doch sah er in den kulmrrevolutioniiren und entchristlichenden T e n d e n z e n und E r s c h e i n u n g s f o r m e n westlicher Gesellschaften eben nicht den Angel punkt westlicher L e b e n s fo r m , sondern in der Breite andere, ,,dauemde'< Lebens- und D e n k f o r m e n , die eine Schicht defer anzusiedeln sind und sich ganz besonders in einem Sinne praktisch zeigten: Dass die hedonistischen und sexualistischen L e b e n s f o r m e n me zu einer ,,allgemeinen T e n d e n z " werden k o n n t e n in dem Sinne, dass es keine G e g e n b e w e g u n g e n oder entgegengesetzte L e b e n s f o r m e n konservativer und ,,abendliindischer" Pr~igung m e h r gab. ,,Aber mit welchem Recht konnte man eine Welt, die so viel ,heidnischer' war als die sozialistische oder die unterentwickehe Welt, noch ,christliches Abendland' nennen? FOr eins war freilich diese EntwicHung [der Kulturrevolution der sechziger Jahre] ein ganz anschaulicher Beweis, nS_mlichdafOr, dass diese Gesellschaft sich veriinderte, und zwar viel stiirker als jede andere Gesellschaft. Und doch war ihr Hauptkennzeichen gerade dies, dass sie nicht zur allgemeinen Tendenz werden konnte, sondem immer nut Enklave oder Durchgangsstadium sein durfte. Allgemein geworden, w/irde sie das Leben selbst vernichten, denn ihr Telos ist nichts anderes als eine letzte Menschengeneration langlebiger, aber notwendig aussterbender Wesen, ffir welche ihre eigene biologisch-generische Namr nur noch ein Bergwerk zur Gewinnung reiner (und vermutlich nicht sehr lustvoller) Lust wiire. Falls diese EntwicHung nut in einerGesellschaft - der westlichen - zur herrschenden werden sollte, wiihrend sie in den/ibrigen Gesellschaften gebremst und in den Dienst anderer Zwecke gestellt w/irde, so wiire der Untergang dieser Zivilisation sicher.'2~ D e m W o r t der ,,Enklave" liisst sich trotz aller hinzugetretenen u n d ernsthaften Briiche n o c h heute nicht wirldich etwas entgegensetzen, sobald die nach Noltes Arbeit (1974) neu aufgek o m m e n e Medienwelt, die etwas anderes suggeriert und repriisentiert, auger Betracht bleibt und die konkrete gesellschaftliche Lebenswelt, aber auch die Idealvorstellungen der einfachen, gesellschaftlichen Akteure seri6s herangezogen werden. D o c h sind die erwiihnten Briiche inzwischen so stark, dass es nicht m e h r alarmistisch wiire zu behaupten, dass der letzte zitierte Satz v o n Nolte heute so an Akmalitiit g e w o n n e n hat, dass n u n m e h r in einer langfristigen Hinsicht v o n d e r rein biologisch-demographischen Gef~ihrdung der westlichen Zivilisation als solcher durchaus die Rede sein kann. 2099 Eine politisch verstandene ,,Atlantische Zivilisation" wiire d e m n a c h auch als das I n s t r u m e n t und H a n d w e r k eines breit angelegten, geistigmoralischen Selbstversuches zu verstehen, diese Gefahr ohne vollstiindige Selbstentfremdung abzuschiitteln. Zweifelsohne wiire das aufgrund eines gewissen Risikos eines ,,neuen westlichen Chauvinismus" kein v611ig ungef~ihrliches, aber vielleicht heute schon v611ig u n u m g e h b a res Unterfangen zum Zwecke eines lohnenswerten, aber eben nackten zivilisatorischen Selbsterhaltes in langfristiger Hinsicht. D e r Unterschied zwischen ,,ephemiiren" und ,,dauernden" Lebens- und D e n k f o r m e n sollte nun klar gemacht haben, dass der ,,Atlantizismus" und eine b e s t i m m t e F o r m des - als ,,Amerikanismus ''21~176 eingebildeten, aber letztlich g e n e r e l l e n - sittlichen u n d geistigen Verfallskomplexes v o n e i n a n d e r zu scheiden sind. 21~ ,,Alle diese Aspekte des , M o d e m i s m u s ' sind a u t o c h t h o n in Europa, und der Einfluss der Vereinigten Staaten ist Einbildung. Sie sind ganz einfach Pro-
2098Ernst Nolte, DeutschlandundderKalle Krieg, M/inchen 1974, S. 587s 2099 Vgl. neuerdings geradezu apokalyptisch (wenn auch im nCichternen Ton des Technokraten) Meinhard Miegel, Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft?, Berlin 2005. 2100So wie er vom - damals allerdings ideologisch verblendeten - Othmar Spann - beschrieben wird: Othmar Spann, Ka'mpfende Wissenschaft. GesammelteAbhandlungen zur Volkswirtschaftlehre,Gesells&aftslehreund Philosophie,Jena 1934, S. 107. 2101Vgl. A. N. J. den Hollander, Europa'ischesKulturbewusstseinund Anti-Amerikanismus, in: Friedrich A. Lutz (Hg.), Amerik a - Europa. Freundund IO'vale, Z/irich / Stuttgart 1970, S. 33-52, 46s
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dukte der Massendemokratie u n d des Wohlfahrtstaates. ''21~ U n d das ,,6konomische, quantitative u n d auf Niitzlichkeit bezogene D e n k e n ist kein Merkmal des Amerikanismus, s o n d e m ein Merkmal unserer Zeit. ''21~ G e n a u s o wenig wie die z.T. abergl~iubische, unreifen Abarten religi6ser F o r m e n in den USA 2104 il"n Stile eines E l m e r Gantry 21~ oder eines fanatischen Verfechters einer theokratischen Republik nach Margaret A t w o o d 21~ stellt es eben auch keine menschlich fruchtbare Symbiose dar, w e n n sich oberfliichenhedonistische A b s o n d e r u n g e n amerikanischer Massenbetriebsamkeit u n d europ~iischer P o s t m o d e r n i s m u s zu einem G e m i s c h aus Postmaterialismus, Geschichtsvergessenheit u n d Selbstverwirklichungsvulgaritiit im Spannungsfeld zwischen moralistischem U b e r b a u u n d v e r e i n s a m e n d e n Individualzynismus, also zur g~ingigen medialen Zerstreuungs- u n d Bediirfnisweckungs-Unkultur vereinigen; ein subtiles ,,System der Identifizierung" auf der Basis systematischer V e r d u m m u n g der Masse, wie sie schon eingiingig in den kulturpessimistischen Passagen der ,,Dialektik der Aufld~irung" auf das Beste wiedergegeben wurden. Als eine junge, sch6ne Schauspielerin Bernard Shaw einen Heiratsantrag gem a c h t hatte u n d der Meinung war, dass aus der E h e zwischen einer bildhiibschen Frau und einem sehr geistreichen M a n n ein W u n d e r k i n d h e r v o r g e h e n miisse, soll Shaw entgegnet haben: ,,Aber wie, w e n n das K i n d n u n meine Sch6nheit u n d ihren Geist mitbekiime? ''21~ Nicht jede b e s c h w o r e n e transatlantische Symbiose muss eine gute sein. O b sich die hier angedeutete neoatlantische Tiefenverbindung als Alternative iiberhaupt als realisierbar denken liisst, wurde hiiufig bestritten, Amerika i m m e r wieder auch als das ,,Ende der Philosophie" dargestellt u n d v o m vergeblichen Warten ,,auf das K o m m e n einer amerikanischen ,Kultur'" gesprochen, die den ,,konservativen Apologeten, die mit i m m e r hilfloseren B e s c h w 6 r u n g e n der amerikanischen Tradition" aufwarteten, iiberlassen werden miisste. 21~ U n d in der Tat ist nicht zu unterschiitzen, dass der n u n hier d e n n o c h als ,,klassischer Republikanismus" (mit h o h e m Bildungshintergrund) skizzierte K e r n amerikanischer Staatlichkeit einen sehr hohen, weil politisch reifen, aber deswegen nicht , , u n a m e r i k a n i s c h e n " A n s p r u c h darstellt, im Gegenteil. 21~ U n d a n d e r s h e r u m betrachtet: Die Amerikaner miissen doch sehr ,,oft erstaunt sein, welche Ziige der amerikanischen Kultur die Europiier am meisten beeindrucken. "211~ Die Amerikaner sehen, anscheinend im Gegensatz zu den Europiiern, die amerikani-
2102A. N. J. den Hollander, Europa?;'ches Kulturbewusstsein und Anti-Amenkanismus, in: Friedrich A. Lutz (big.), Ametfka Europa. FreundundRivale, Ziirich / Stuttgart 1970, S. 33-52, 47. 2103Raymond Aron, Plddoyerfiir das dekadente Europa, Frankfurt a.M. 1978, S. 368 (Das 6bersieht z.B. Jeremy Rifldn, der die Idee ,,Amerika" mit dem ,,american dream" gleichsetzt - vgl. Jeremy Rifkin, Der Europa'ische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht, Frankfurt / New York 2004). 2104Vgl. das ironisch bis negativ zugespitzte, aber sehr eindmcksvolle Bild, dass z.B. der sehr ,,amerika~itische" J6rg yon Uthmann zeichnet: J6rg yon Uthmann, Volk ohne Eigenschqfien. Amerfka und seine Wider~Orh'che, Stuttgart 1989, S. 7390. 210sVgl. Sinclair Lewis, Elmer Gant{7, Berlin 1928. Hier f';illt einem folgendes hegelianische Apergu ein: ,,In Nordamerika herrscht die ungebiindigste Wildheit aller Einbildungen, und es fehlt jene religi6se Einheit, die sich in den europiiischen Staaten erhalten hat, wo die Abweichungen sich nur auf wenige Konfessionen beschr~inken." (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen iiber die Philosophie der Geschichte, ND Stuttgart 1961, S. 145). 2106Vgl. Margaret Atwood, DerReport derMagd, Dfisseldorf 1987. 2107Zitiert aus Pieter Jan Bouman, Verschwb'rung der Einsamen. Weltgeschichte unseresJahrhunderts, Innsbmck 1954, S. 247. 2108Vgl. Manfred Henningsen, Der FallAmerfka. Zur So~al- und Bewusstseinsgeschichte einer Verdra'ngung, Miinchen 1974, S. 229; vgl. ferner ebd. auch S. 233ff. 2109Vgl. zu {ihnlichen Verzermngen im europiiischen Bild von Amerika am Ende des 18. Jahrhunderts Henry Steele Commager, Der Geist Amerfkas. Eine Deutung ametfkanischen Denkens und Wesens yon 1880 bis zur Gegenwart, Ziirich / Wien / Konstanz 1952, S. 25f. 2110A. N. J. den Hollander, EuropaTsches Kulturbewusstsein und Anti-Amerfkanismus, in: Friedrich A. Lutz (Hg.), Amerika Europa. FreundundRivale, Ziirich/Stuttgart 1970, S. 33-52, 39.
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sche ,,Republik" oder ,,Demokratie" als einen ihrer zivilisatorischen Hauptbeitriige an. 2111 Explizit formuliert fmdet sich der h o h e idealistische oder der h o h e republikanische A n s p r u c h z.B. bei Henry A d a m s Beschreibung des ,,amerikanischen Idealismus ''2112 oder bei H a n n a h Arendts U n t e r s c h ei d u n g zwischen gesellschaftlichem ,,Sich-Verhalten" und politischem ,,Handeln" und d e m P r o b l e m des Verkaufs yon Verhaltensweisen als politische Handlungsweisen.2113 ,,Was die Verhiiltnisse in einer Massengesellschaftf/it alle Beteiligten so schwer ertr~iglichmacht, liegt nicht eigentlich, jedenfalls nicht primiir, in der Massenhaftigkeit selbst; es handelt sich vielmehr &rum, dass in ihr die Welt die Kraft verloren hat, zu versammeln, das heil3t, zu trennen und zu verbinden.'2114 Ein weiterer kritischer Punkt, seit A d a m Smith im Besonderen, sei die , , F l i i c h t i g k e i t 6ffentlichef A n e r k e n n u n g " in der Massengesellschaft, die zugleich zu einer Substantialisierung eines der ,,vergiinglichsten Dinge", niimlich des Geldes, fiihrt. 211s Diese Kritik wird aber nicht d e m Perspektivenreichtum des 6ffentlichen Raumes entgegengestellt, im Gegenteil: Eine dauerhafte 6ffentliche A n e r k e n n u n g kann nur mittels der dem 6ffentlichen R a u m inhiirenten Vielfalt der Perspektiven erm6glicht werden. Fliichtigkeit indes gebiert Massenhysterien, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie Vielfalt unm6glich machen. 2116 Dieser A n s p r u c h ist in einer m o d e m e n Welt nicht nur heute, sondern schon seit der politischen Etablierung des m o d e r n e n Individualismus im 18. J a h r h u n d e r t 211v, von der Praxis zu scheiden: So verhielt es sich schon i m m e r seit Griindung der Vereinigten Staaten so, dass eine ,,Diskrepanz zwischen d e m republikanischen A n s p r u c h der USA und einer diesem nicht e n t s p r e c h e n d e n Wirklichkeit in das Zentrum [nicht nur] der deutschen Amerikadiskurse" riickte. 2118 Eine interessante Frage ist nun, inwieweit dieses urspriingliche, republikanische Verstiindnis heute n o c h in der Selbstbetrachtung der Amerikaner eine Rolle spielt. Jedenfalls scheint die Aktualitiit dieser Fragestellung nichts Neues zu sein. Hans Vorliinder formulierte es einmal so: ,,War das Ethos yon Tugend und Gemeinsinn ffir die Entstehungs- und Konstitutionsphase der USA von politischem Gewicht, so tauchte es in der Folge in der Unterstr6mung der politischen Kultur ab, um sich in Perioden von Krisen und UmbrCichen als Rhetorik des mahnenden Gewissens, in der politischen Form von Protest- und Reformbedingungen und mit unterschiedlichen politischen progressiven und restaurativen Wirkungen, wieder zu Wort zu melden.'2119 Schon im gesamten 19. J ahrhundert bewegte diese Frage das (wertkonservative) amerikanische D e n k e n , wie das insbesondere an Henry A d a m s (bei ihm eher in einem pessimistischen, negativ abgeschlossenen Kontext) deutlich gemacht werden kann:
2111Vgl. A. N.J. den Hollander, Europa'isches Kulturbewusstsein und Anti-Amerikanismus, in: Friedrich A. Lutz (Hg.), Amedka - Europa. Freund und Rivale, Z/irich / Stuttgart 1970, S. 33-52, 39. 2112 Vgl. Henry Adams, Histo~ of the United States of America during the Administration of Thomas Jej/brson, Nachdruck New York 1986, S. 107-125. 2113 Vgl. Hannah Arendt, Vita Activa oder vom tYtigen Leben, Stuttgart 1960, S. 38-49. 2114Ebd., S. 52. 2115Ebd., S. 56 (vgl. insgesamt S. 55ff.) 2116Vgl. ebd., S. 56f. 2117Vgl. Anthony Arblaster, The Rise andDecline of Western Dberalism, Oxford u.a. 1985, S. 22f. 2118Volker Depkat, Amerikabilder in poli/ischen Diskursen. Deutsche Zeitschriften von 1789 bis 1g30, Stuttgart 1998, S. 378, mit Bezug auf die sogenannte Btilow-Kontroverse in Deutschland Ende der 1790erJahre. 2119Hans Vorliinder, ,,American Creed'; liberale Tradition undpolitische Kultur der USA, in: Franz Grel3 / Hans Vorl~inder (Hg.), Dberale Demokratie in Europa und den USA. FestschrifiJ~r Kurt L Shell, Frankfurt a.M. / New York 1990, S. 11-33, 21.
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,,Whether the illusions, so often affirmed and so often denied to the American people, took such forms [of a noble culture, of thought and art] or not, these were in effect the problems that lay before American society: Could it transmute its social power into the higher forms of thought? Could it provide for the moral and intellectual needs of mankind? Could it take permanent political shape? Could it give new life to religion and art? Could it create and maintain in the mass of mankind those habits of mind which had hitherto belonged to men of science alone? Could it physically develop the convolutions of the human brain? Could it produce, or was it compatible with, the differentiation of a higher variety of the human race? Nothing less than this was necessary for its complete success."2120 G a n z k o n k r e t formuliert: E i n A m e r i k a , dass den Utilitarismus u n d I n d i v i d u a l i s m u s bis hin z u m N a r z i s s m u s u n d H e d o n i s m u s z u m Allwert e r h e b t - eine E n t w i c k l u n g , gegen die es in A m e r i k a seit den achtziger J ahren eine z.T. verheil3ungsvolle, z.T. irrifierende G e g e n b e w e g u n g gibt 2121 -, wird d a u e r h a f t e i n h e r g e h e n mit e i n e m L a n d , dessen e r w a c h s e n e Bev61kerung zu e i n e m viel zu h o h e n Anteil aul3erstande ist, ihr eigenes L a n d , geschweige d e n n andere Liinder a u f einer Weltkarte zu b e s t i m m e n (und das sind in A m e r i k a k n a p p fiber 20 Millionen w o h l als v e r w a h r l o s t zu b e z e i c h n e n d e Menschen). V o r d i e s e m H i n t e r g r u n d ist es kein einfaches U n t e r fangen, den in der eigenen historischen E x i s t e n z z u m T r a g e n k o m m e n d e n atlantischen G r u n d p r i n z i p e n u n d - w e r t e n in A m e r i k a wieder a u s r e i c h e n d G e l t u n g zu verschaffen. A m e r i k a mfisste wieder ,,veredelt" w e r d e n u n d den eigenen I d e a l i s m u s vermittels Bildung, N e u g i e r u n d T u g e n d f e s t i g k e i t v e r f e i n e m . D a z u gibt es im heutigen A m e r i k a auch d u r c h a u s Ansiitze, a b e t das G e s a m t b i l d liisst zu w f i n s c h e n fibrig. N u n sollte, b e z o g e n a u f die heutige Situation, nicht geleugnet w e r d e n , wie dies so oft geschieht, dass sich die A m e r i k a n e r , i n s b e s o n d e r e die Bildungseliten u n t e r ihnen, ,,bei allem Stolz a u f ihre S o n d e r e n t w i c k l u n g " i m m e r n o c h einer b e s t i m m t e n H e r k u n f t b e w u s s t sind: ,,Ein spiites K i n d der abendliindischen V61kerfamilie" zu sein. D i e W o r t e des d e u t s c h e n Transatlantiku n d A m e r i k a h i s t o r i k e r s D i e t r i c h G e r h a r d bei seiner A n t r i t t s v o r l e s u n g anliisslich seiner Berufung a u f den damals neu errichteten L e h r s t u h l der A m e r i k a w i s s e n s c h a f t in K61n h a b e n bis heute k a u m etwas an Aktualitiit eingebfil3t: ,,Es bedurfte nicht erst der heutigen Weltsituation, um dem Begriff des ,Westens' in den Vereinigten Staaten Inhalt und Bedeutung zu geben. Die seit langem an allen Colleges/iblichen Einffihmngskurse/iber ,Western Civilization'- vielumstritten und oft der Gefahr ausgesetzt, zu einer dfinnen und formalistischen Angelegenheit zu werden - sind doch Zeugnis f/it ein echtes Bem/ihen, sich das Besondere der gemeinsamen westlichen Tradition
Henry Adams, Histo~ of the United States of America during the Administration of Thomas Jefferson, Nachdmck New York 1986, S. 125. 2121 Vgl. als tiefergehende, intellektuelle und kulturkritische Schl/isselquellen der ,,Gegenbewegung" u.a. Christopher Lasch, Das Zeitalter des Nar@smus, M/inchen 1982 (kulturDitisch und diagnostisch), Robert N. Bellah / Richard Mansen / William M. Sullivan / Ann Swidler / Steven M. Tipton, Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft, K61n 1987 (republikanisch, dikursiv und empirisch) und Allan Bloom, Der Niedergang des ametikanischen Geistes. Ein Pla'doyerJ~r die Erneuerung der westlichen Kultur, New York 1987 (kulturDifisch und programmatisch). Vgl. eher kritisch, nicht nur in Bezug auf Lasch und Reagan sondem auch auf die kapitalismusDitische Kulturkritik Daniel Bells: G/inter H. Lenz, The Politics of American Culture: Kulturelles Selbstversta'ndnis und 5ffentlicher Diskurs im Amerika der acht~gerJahre, Franz Orel3 / Hans Vorliinder (Hg.), Iaberale Demokratie in Europa und den USA. Festschriftfiir Kurt I_. Shell, Frankfurt a.M. / New York 1990, S. 49-70. Vgl. ferner in Bezug auf entsprechende Bewegungen in den f/infziger Jahren Raymond Cartier, Fiinf~g malAmerika, M/inchen 1951, S. 451-469. Ob es sich bei diesen Bewegungen um einen ,,Illusionismus" handelt, wie es Baudrillard (etwas halbherzig) in seinem Amerikabuch behauptete, ist noch nicht ausgemacht - in einem Buch, indem der franz6sische Intellektuelle das ,,kulturlose Amerika der Indifferenz und Oberfliiche" als postmoderne Ermngenschaft feierte (vgl. Jean Baudrillard, Amerika, M/inchen 1987, S. 153f.). Zur Zeit jedenfalls sind die USA in der Frage nach der Notwendigkeit einer konservativen Gegenbewegung stark polarisiert. 2120
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Kapitel X neu lebendig zu machen. Mit Uberzeugung und W{irmewird hier versucht, das Spezifische des antiken wie des jtidisch-christlichen Erbes herauszuarbeiten. "2122
Ideell kann ein derartig ambitioniertes Ziel und das vor diesem H i n t e r g r u n d ad~iquat verstandene Gerechtigkeits- u n d Freiheitspathos nur dann ohne jegliche Hohlheit einleuchten, w e n n die diesen G r u n d 6 b e r z e u g u n g e n i n n e w o h n e n d e geistige V e r b i n d u n g amerikanischer Zivilisation mit genuinen Kategorien europ~iischer Kulturidentit~iten gesehen wird 2123, w e n n also die symbolische Inszenierung amerikanischen Patriotismus u n d die V e r e h r u n g v o n Verfassung u n d Griindungsv~itern nicht zu einer Frage alleine des Rituals v e r k o m m t , sondern vitales philosophisches Verhalten zur Folge hat. 2124 D e n n im K e r n ist genau diese angebliche ,,Oberh6h u n g " das, was die USA eben genau z u m ,,Gegenteil einer permissiven Gesellschaft ''2125 macht. Ihre grifflgste Auspr~igung fmdet die angesprochene geistige V e r b i n d u n g in der amerikanischen Verfassung, in der institutionellen Ausgestaltung amerikanischer Staatlichkeit u n d in der Frage nach den emotional b i n d e n d e n Bedingungen dieser institutionellen Ausgestaltung, also in der Frage der normativ wertvollen Verfassungsprinzipien. 2126 Es ist, so formulierte D a n D i n e r trefflich, das ,,Eigentliche an der Zugeh6rigkeit z u m G e m e i n w e s e n der Amerikaner: das Procedere, das Verfahren u n d mithin all das, was der Verfassung nach das Amerika konstituierende Institutionengef6ge ist. ''2127 Ein Institutionengef/.ige, das heute f r e n c h einer mediengesellschaftlich bedingten Ausfaserung institutioneller Standards (die eben auch ,,uramerikanische" u n d somit aber auch zugleich europ~iisch durchtr~inkte Standards sind) ausgesetzt ist. Das heiBt jedoch nicht unweigerlich, dass diese Staatlichkeit Amerikas, die aufgrund histofischer, gesellschaftlicher u n d politischer Faktoren nicht v o n europ~iischer Kultur getrennt w e r d e n kann, sich in Z u k u n f t nicht wird behaupten k6nnen. I m Gegenteil k 6 n n t e nach d e m 11. S e p t e m b e r eine Art n a c h h o l e n d e Staatszentriertheit das iiberspitzte Hegelsche D i k t u m v o n N o r d a m e r i k a als ,,biirgerliche Gesellschaft ohne Staat" ad a b s u r d u m ffihren. 2128 D o c h bevor diese Frage iiberhaupt erst angeschnitten wird, sollte zur Kenntnis g e n o m m e n werden, dass europ~iischer Kulturstolz amerikanischem Selbstbewusstsein durchaus potentiell i n n e w o h n t , dass also auch in Amerika kulturell europaspezifische Daseinsprinzipien zu orten sind 2129 u n d dass gerade die institutionellen Auspr~igungen in Amerika vorrangig aus diesen Daseinsprinzi2122 Dietrich Gerhard, Die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft als ein Problem vergMchender Geschichtsbetrachtune$ in: Ders., Alte und Neue Welt in vergleichenderGeschichtsbetra&tung, G6ttingen 1962, S. 159-172, 160. 2123 Vgl. zu diesem Zusammenhang ,,fiberdeutlich" Henry Adams, History of the United States of America during the Administration of Thomas Je~erson, Nachdruck New York 1986, S. 125 (,,leaders like Jefferson, Gallatin, and Barlow might without extravagance count upon a coming time when diffused ease and education should bring the masses into familiar contact with higher forms of human achievement, and their vast creative power, turned toward a nobler culture, might rise to the level of that democratic genius which found expression in the Parthenon; might revel in the delights of a new Buonarotti and a richer Titian; might create for five hundred million people the America of thought and art which alone could satisfy their omnivorous ambition"). 2124 Vgl. beispielhaft Allan Bloom (Hg.), Confronting the Constitution. The Challenge to Locke, Montesquieu, Jefferson, and the Federalistsfrom Utlilitarism, Historicism, Marxism, Freudianism, Pragmatism, Existentialism..., Washington D.C. 1990. 212sMichael Rutz, Das Sagen hat Amerika. Die USA dominieren die Welt. Woher ~Jrt diese Stdrke? Warum haben Deutschland und Europa versagt, zum gewichtigen Pendant Zu werden?, in: Rheinischer Merkur, 3. April 2003. 2126Vgl. zu letztgenannter Unterscheidung die anonyme Flugschrift ,,Four Letters on Interesting Subjects" (wahrscheinlich von Benjamin Rush) aus demJahre 1776 (Ausz~igein Michael Kammen (Hg.), The Origins of the American Constitution. A Documenta{7 Histo{% New York 1986, S. 1-8) und die ebenfalls anonym unter dem Pseudonym "Sydney" verfassten Maxims for Republics (in: The United States Magazine 1779, S. 18ff., zitiert nach Angela und Willi Paul Adams, Die Entstehung der Vereinigten Staaten und ihrer Verfassung. Dokumente 1754-1791, Mtinster 1995, S. 241-244). 2127Dan Diner, Die Gesellschaft wird Staat. Amerika erlebt seine Neugrdndung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.11.2001. 212~Vgl. ebd. 2129Vgl. Vitorio, H6sle, Moral und Politik. Grundlagen einerPolitischen EthikJ~r das 21. Jahrhundert, M/~nchen 1997.
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pien heraus interpretiert w e r d e n mi.issen. 213~ Eines der wichtigsten europaspezifischen Merkmale sind in diesem R a h m e n keineswegs oder nicht unbedingt i m m e r nur die A b s t r a k t i o n e n irgendwelcher intellekmellen Eliten, s o n d e m die idyllischen G e m e i n s c h a f t s v o r s t e l l u n g e n der breiten amerikanischen Mittelklasse, aus deren Realisierung oder Befolgung sich das Gefiihl des Kulturstolzes speisen kann u n d die sich zu den neuen individualistisch-machtbezogenen Ans~itzen eines H a m i l t o n hinzugesellten u n d bis in die heutigen Tage giiltig bleiben: Die in diesem Z u s a m m e n h a n g auffindbaren Selbstentwfirfe sind in ihren Urspri.ingen, so wie sie sich im 18. auf das 19. J a h r h u n d e r t herausgebildet haben, kaum zwischen E u r o p a u n d Amerika zu unterscheiden. In den W o r t e n des kongregationalistischen Pfarrers u n d Historikers J e r e m y Belknap 1792 in Boston: ,,Wenn ich das Bild eine glficklichen Gemeinschaft entwerfen sollte, dann siihe ich sie in einer gl/icklichen Landschaft yon H/igeln, Tiilern und Flfissen; das Land gut eingeziiunt und kultiviert und die Strai3en und BrCicken im guten Zustand; ein einladendes Gasthaus zur Erholung des Reisenden und zur Unterhalmng der Allgemeinheit; die Einwohner meist Landwirte, deren Frauen und T6chter hiiusliche Manufaktur betreiben; dazu eine angemessene Zahl von Handwerkem und zwei oder drei Kaufleute, ein Arzt und ein Jurist, die zusiitzliche eine Farm f/.ir ihren Lebensunterhalt bewirtschaften m/issten; ein Geistlicher irgendeiner Konfession, den die Mehrheit zu haben w/inscht (...); ein Schulmeister, der sein Metier versteht und den SchCilern zeigt, wie man sich selbst erzieht und lenkt; eine Gemeinschaftsbibliothek, die in jedem Jahr ergiinzt wird, eine Vereinigung aufgeschlossener Miinner, die sich um geistige Weiterbildung bem/ihen; eine gute musikalische Gesellschaft; kein intrigierender Politiker, kein Pferdeh~indler, kein Tmnkenbold. "2131 N i c h t n u t die Eliten teilen also eine konstruierte G e m e i n s a m k e i t (Freiheit, Aristokratie, K o n kurrenz in einem gewaltenteiligen Sinne, W e t t b e w e r b , Stolz u n d ziviltechnisch organisierbares G e m e i n w o h l ) , sondern auch die Massen (Bild v o m , , c o m m o n m a n " , v o m ,,gesunden Menschenverstand", v o n d e r elementaren V e m u n f t u n d Moral des Einzelnen u n d seiner Selbstbestimmungsfahigkeit, y o n der natiirlichen H a r m o n i e und eines ,,natiirlichen G e m e i n w o h l s " ) . In einer Atlantischen Zivilisation g~t es, beide E l e m e n t e miteinander zu verbinden, so wie in der angloamerikanischen Zivilisation, wie es Tocqueville nannte, der Geist der Religion mit d e m Geist der Freiheit v e r b u n d e n w e r d e n konnte: Wie Belknap stellte sich Tocqueville ein friedliches und f r o m m e s Ideal vor: ,,Ich e n t w a r f im Geist das Bild einer Gesellschaft, in der alle das Gesetz, das sie als ihr W e r k ansahen, liebten u n d sich ihm o h n e weiteres unterwarfen. ''2132 N u r der Eifer der Gliiubigen und Nicht-Gl~iubigen gegeneinander stiinde diesem Ideal entgegen, ein Eifer, der in Amerika in der V e r s 6 h n u n g v o n Glaube und Freiheit, so Tocqueville, aufgel6st w e r d e n konnte: ,,Ich habe schon genug gesagt, um den wirklichen Charakter der anglo-amerikanischen Zivilisation zu beleuchten. Diese Zivilisation ist das Erzeugnis zweier Elemente - ein Ursprung, der uns stiindig vor Augen bleiben muss zweier Elemente, die sonst oft gegeneinander im Kampf stehen, die man jedoch in Amerika irgendwie gegenseitig eines dem anderen einzuverleiben wunderbar zu verbinden verstand. Die beiden Elemente, von denen ich rede, sind der Geist der Religiosn und der Geist der Freiheit. ''2133
2130 Vgl. Michael Novak, I/Mon eines AmerikanerJ. Europa und Amerika im globakn Zusammenhang, in: Die politische Mei-
nung Nr. 422 (01/2005), S. 25-32. 2131Zitiert nach Jeremy Belknap, Histo{7 of New Hampshire, Bd. 3, 2. Aufl., Boston 1813, S. 251. 2132Alexis Clerel de Tocqueville, Die Demokratie in Amerika. Eine Auswahl, hg. v. Friedrich August Frhr. vonder Hey&e, Regensburg 1955., S.63. 2133Ebd., S. 76. Vgl. fernerhin IZ-dausHarpprecht, Derfremde Freund. Ametika - Eine innere Geschichte, Stuttgart 1982, S. 469ff.
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Kapitel X
Das bis heute die Mittelklassen Westeuropas und Amerikas bestimmende Idealbild Belknaps (mit feinen, graduellen Unterschieden im romanischen Raum) zeigt gleichzeitig, dass es keinen Gegensatz zwischen dem zweifelsohne kulturen/.ibergreifenden Zivilisationscharakter amerikanischer Art und einer spezifisch eingrenzbaren amerikanischen Nationalkulmr geben muss. Diese indes geht auch in Amerika in eine offizielle Biindelung von Nationalkultur, also Nation a l s t a a t s k u l t u r , auf, auch wenn der Begriff des Staates in den USA nicht in seiner Hegelschen lJberh6hung obrigkeitsstaatlicher oder etatistischer Art zu verstehen ist, sondern unter Beriicksichtigung des funktionellen Staatsverstiindnisses in Amerika. Diese amerikanische Nationalstaatskultur, am besten symbolisiert in den Stars and Stripes 2134 und im Insignum des Grol3siegels der U S A - , , E pluribus unum" - ist im ideellen Sinne eine Kulmr, die ohne eine Grundverbundenheit mit europ~iischer Geistesgeschichte undenkbar wiire, weil sie Begriffe wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, aber auch wie Gesetz und Ordnung in einem genuin europiiischen Verst~indnis iibemommen h a t - mit dem wichtigen Unterschied french, dass die Amerikaner diese Prinzipien in Amerika auch so umsetzen konnten, wie sie es wollten und nicht durch feudale Strukmren daran gehindert wurden, gem~il3 den Worten Goethes: Amerika, du hast es besser, Als unser Kontinent, der alte, Du hast keine verfallenen S&la'sser Und keine Basalte. Dich stb'rt nicht im Innern Zu lebendiger Zeit Unniitzes Erinnern Und vergeblicherStreit. Benutzt die Gegenwart mit Gliick! Und wenn nun eure Kinder dichten, Bewahre sie ein gut' Geschick Vor Rz2ter, Ra'uber- und Ge~enstergesct.nchten.
Die Art und Weise der Obemahme universaler Menschenrechtsprinzipien, gespeist aus christlichen 2135 und namrrechtlichen Gleichheitsvorstellungen, so wie sie sich bis zum Ende des 18. J ahrhunderts in Europa entwickelt hatten, erm6glichte es wiederum, dass sich langfristig in Amerika iiberhaupt erst eine kultureniibergreifende Zivilisation entwickeln konnte. Doch macht Letzteres schon deutlich, dass diese Zivilisation kulmrelle Neutralitiit dadurch wiederum ausschlieBt. Da muss es auch kein Gegensatz sein, dass sich die USA dutch den demographischen Wandel inzwischen zu einem kulturell vielschichtigen Land entwickeln. Denn sobald zum Beispiel Schwarze, Hispanics oder Asiaten als kleine Kinder auf die amerikanische Verfassung schw6ren und, darauf aufbauend, ein Nationalbewusstsein entwickeln, unterliegen sie doch letztlich einem indirekten Akkulturationsprozess, bei dem sie de facto Werte, die aus tiefster europ~iischer Geistesgeschichte gespeist sind, aufnehmen und sich affektiv an diese binden. Dieser Akkulturationsprozess ist natiirlich nicht absolut zu verstehen, als eine Art Assimilationsprozess ,,auf Umwegen", doch nichtsdestotrotz ist er yon eminenter Bedeutung und hat eine Kernfunktion zu erfiillen. Freilich stellt sich die Frage, ob dieses sehr ideale Bild in der Realit~it roll abgedeckt wird, ob sich die entsprechenden affektiven Bindungen wirklich an ,,europiiische" lJberlieferungen orientieren. Doch eine willentliche Steuerung m diese Richtung kann den ,,europiiischen Kern" amerikanischer Staatlichkeit sicherlich bewahren helfen die sehr interessantenAusffihrungenhierzu im Streiflichtder SCiddeutschenZeimngam 25. September2001. 2135Vgl. den Briefdes Paulus an die Galater 3,28. 2134 Vgl.
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und eine ,,kulturell unbegrenzte" Multikulmralisierung, beziehungsweise, negativ ausgedriickt, eine Art ,,Libanisierung" verhindem. Das ganze ist also auch eine Frage des politischen Willens. Wird ein bewusster Akkulturationsprozess im obigen Sinne als entscheidender Bestandteil von Zivilisationsbildung verstanden, wiire Zivilisation demnach die am weitesten gefasste kulturelle Entitiit. Auf diesen Nenner brachte es Samuel P. Huntington 2136, der ja die USA, trotz des demographischen Wandels dort, immer noch klar als ,,westliche Kultur" begreift. Dass immer wieder von ,,westlicher Zivilisation" die Rede ist, beweist indes, dass zur Zeit die schon angesprochene kulmrelle Grundverbundenheit zwischen Amerika und Europa im Bewusstsein durchaus pr~isent ist, in Europa wohl eher als in Amerika. Wiirde das Gefiihl dieser Grundverbundenheit langfristig unter Riickgriff auf ihre genuinen kulturellen Wurzeln in der europiiischen Geistesgeschichte beiderseits des Atlantiks wieder mehr an Substanz gewinnen und gewisse indifferente Haltungen verdriingen k6nnen, wiire sogar eine neue zivilisatorische Stufe zwischen Amerika und Europa denkbar, im Sinne vielleicht einer ,,Atlantischen Zivilisation" (Hannah Arendt). Doch davon ist die westliche Welt noch weit entfernt. Und je mehr sich Amerika demographisch veriindert, desto schwerer k6nnte dieses Unterfangen zu bewerkstelligen sein. Abet der kulturelle Kern bleibt letztlich doch ein europiiischer, und wiirden die Amerikaner davon abriicken, wiirden sie sich letztlich doch nut von sich selbst entfremden. Wenn nun aber nach Huntington die Zivilisation als eine Form letztendlich kultureller EntitY,it verstanden, oder vielleicht einfach nur als etwas begriffen wird, was einen kulturellen Kern braucht, um iiberhaupt Zivilisation zu sein, dann kommt der Betrachter mit dem alten deutschen, ob seiner Einfachheit durchaus faszinierenden Zivilisationsvorbehalt, ankniipfend an Thomas Manns bekannte Differenzierung zwischen ,,tiefer Kultur" und ,,leidenschaftsloser Zivilisation", nicht sehr weir. Die genuine Leistung Amerikas ist eben nicht eine rein zivilisatorische, sondern der beispielhafte Beweis, dass es eine fruchtbare Verschriinkung zivilisatorischer und kultureller Parameter geben kann, wobei bestimmte kulturelle Riiume nicht neu erfunden wurden, sondem durch Entterritorialisierung einerseits dynamisiert und ge6ffnet, durch eine ,,Re-Territorialisierung" jedoch wieder eingegrenzt und damit stabilisiert und funktionstiichtig gemacht wurden. Die entscheidende Y-dammer hierfiir bildete der amerikanische Staat. Das Neue war, dass durch die Entterritorialisierung die dem Staat zugrundeliegende politische Einheit nicht ausschlie~lich auf irgendeine Religion (wenn auch der angels~ichsische Protestantismus eine wichtige Rolle spielte; man denke nur an den Leitspruch ,,city upon a hill" und die Tradition der sogenannten ,,Amerikanischen Jeremiade ''213v) oder auf eine Rasse (wenn auch die Indianer und die Schwarzen politisch isoliert waren, allerdings auf der Basis einer Unterscheidung zwischen ,,civil society" and ,,natural state"2138), sondem auf bestimmte Kulturwerte der Aufk&run& der Renaissance und der antiken und chtgstlichen Philosophie basierte, und das waren durch und durch europiiische Kulturwerte. Das ,,Neue" in Amerika basierte also auf alten kulturellen Vorbildern, wovon das Wirken der amerikanischen Verfassungsviiter ein beredtes Beispiel gibt. Gerade mit dieser kulturellen Implikation konnte innerlich eine ,,Neue Nation" iiberhaupt entstehen, eine Nation iibrigens, die sich im Laufe der Geschichte nach augen nicht mehr vom allseits bekannten europiiischen, territorialgebundenen Nationalstaat unterscheiden sollte. Der h6chste amerikanische Weft, die Chance in einer freien Gesellschaft ohne iiuBere Bedrohung dem eigenen Gliick nachzustreben, sollte indes nicht dazu verleiten zu
2136Vgl. SamuelP. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltungder Weltpolitik im 21. Jahrhundert, MCinchen2002, S. 51-54. 2137 Vgl. SacvanBercovitch, The AmericanJeremiad, Madison (Wisc.) 1978. 2138Vgl. Barbara Ameil,John Locke and America. The Defenceof English Colonialism,Oxford 1996.
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glauben, dass es hierffir keines Staates bedurfte. Es bedarf auch heute noch eines institutionalisierten Systems, welches das individuelle Streben durch Schutz gegen willkiirliche Eingriffe von augen iiberhaupt erst erm6glicht. Um das zu bewerkstelligen, miissen Staatsgesinnung und Staatsskepsis auf eigentiimliche Art und Weise zusammenfallen. Diese Verklammerung kann nur erfolgen, wenn ein bestimmtes Nationalbewusstsein entsteht, das sich nicht an Gr613e, Stiirke oder Ruhm, also an materielle Werte alleine, sondem an ganz bestimmten idealistischen Freiheitswerten orientiert, die wiederum an bestimmte Ordnungswerte und einem Mindestmal3 an kulturellen Traditionalismus gekoppelt sind. Gerade diese idealistischen Werte aber sind nicht von ihrem europ~iisch bestimmten Kulturgehalt zu trennen. Auf dieser Basis kann sogar dem Staate ein aktiver ,,Sinn" gegeben werden, ohne dass jene Sinnstiftung einen freiheitseinschriinkenden Etatismus zur Folge haben muss. Diese Schlussfolgerung hat der deutsche Konservativismus nach 1945 gezogen: Auf der Basis des elementaren Schutzpostulats des amerikanischen Staatsverstiindnisses in Verbindung mit der Vorstellung der individuellen Freiheit und personalen Menschenwiirde kommt es zu einer neuartigen Wendung einer alten konservativen Sinnstifmng, flankiert und relativiert verm6ge einer durch und durch christlich gepr~igten Staatsskepsis: ,,Der Sinn des Staates muss sein, die schaffenden Kriifte des Volkes zu wecken, zusammenzuffthren, zu pflegen und zu schiitzen. ''2139 Zugleich muss der ,,Staat" ,,eine dienende Funktion gegeniiber der Person ausiiben. "214~ Er darf sich hie fiber die Wiirde einer menschlichen Person stellen. 2141 Die entscheidende Klammer zwischen europiiisch-amerikanischer Nationalkultur einerseits, auf die sich auch die Deutschen nach 1945 besinnen, und amerikanischer Zivilisation andererseits bietet die amerikanische Verfassung. Die Gefahr, dass es zu einem Ausklinken dieser zivilisatorisch-kulturellen Verschriinkung kommt, ist indes nicht auszuschliegen, wenn niimlich die europ~iisch tradierten Freiheits- und Ordnungswerte, welche die Verfassung tragen, nicht mehr das entscheidende Riickbindungselement an die ,,amerikanische Nation" sind, sondern nur noch die milit~irische oder wirtschaftliche Stiirke oder die Vorstellung eines ,,american way of life". Ob das Riickbindungselement in dieser Form noch existiert, welchen Gefahren es ausgesetzt ist, wie es in Amerika gef6rdert werden kann - diesen Fragen insbesondere sollte sich die politische Kulturerforschung Amerikas annehmen. Ob ein idealistisches Riickbindungselement an Europa noch vorhanden ist oder nicht, hiingt wohl immer yon der Frage ab, inwieweit die Gesellschaft, ethnische Mehrheiten und Minderheiten mit eingeschlossen, den kulturellen Kern dieses Elements triigt, und es kann sein, dass bestimmte Entgrenzungsph~inomene in der Medien- und Netzwerk-Gesellschaft entsprechende Fundamente zum Erodieren bringen k6nnten. Erst dann k6nnte ,,europiiischer Kulturstolz" in Amerika als etwas v611ig Fremdes angesehen werden, was auch zur Folge h~itte, dass es nicht nur im Verst~indnis von Elitekreisen im Mittleren Westen keinen Platz mehr fiir den dort immer noch eindeutig anzutreffenden Respekt gegeniiber ,,eigenstiindigen Kulturen" in Europa giibe. Doch ein ,,Popkulturimperialismus" oder ein v6ilig entfesselter ,,Kapitalismus", der alle traditionellen Kulturen aufsprengen wiirde (auch die amerikanische) und den Kulturen, insbesondere den europiiischen, keine Exklusivitiit mehr zuerkennen wiirde, ist keine unabwendbare, mit Sicherheit eintretende Entwicklung und gerade in den Vereinigten Staaten gibt es nun schon seit l~ingerer Zeit eine spiirbare, z.T. vielleicht iiberreagierende Gegenentwicklung. 2142 Zwar gibt es einen
2139Konrad Adenauer, Erinnerungen 1955-1959 (Band III), Stuttgart 1968, S. 46. 2140 Ebd. 2141Vgl. ebd., S. 52. 214zVgl. exemplarisch Michael Novak, Vision eines Amerikaners. Europa und Ame,ika im globalen Zusammenhang~ in: Die politische Meinung Nr. 422 (01/2005), S. 25-32.
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bestimmten Druck hin zur Standardisierung der Kulturen, aber keine Entwicklung hin zu einer die Nationalkulturen v611ig aufsaugenden massenzivilisatorischen Homogenitiit. Da Freiheit also ohne ,,kulturelle Freiheit" undenkbar ist, ohne eine Freiheit auch zur individuellen und kollektiven Abgrenzung von Eigenheiten gegeniiber Fremdheiten unter selbstverstiindlicher Beachtung des fundamentalen Toleranzprinzips, wiire bei Nicht-Beachtung ,,kultureller Freiheit" (oder des ,,imaginativen Menschen" im Westen 2143) die kulturlose Alternative, die bleibt, eme Art anonyme Massenzivilisation. Diese miisste sich am Ende gegen Terroristen oder selbstemannte ,,Kulturpar6sanen", die letztlich von ihr selbst herangeziichtet wiiren und die sich im Falle einer universalen Hegemonialstrategie schneller noch in aul3erwestlichen Riiumen formieren wiirde als innerhalb der Massenzivilisation selbst, zum ,,letzten K a m p f " riisten. 2144 Nach Oswald Spengler wiire das ,,ein letzter Kampf, in welchem die Zivilisation ihre letzte Form erhiilt: der zwischen Geld und Blut". Einen ersten Einblick hierfiir gab der 11. September. N u n gilt es zu beweisen, dass es die ,,westliche Zivilisation" aus eigener Kraft zu verhindem versteht, dass dieser K a m p f in seiner Spenglerschen Alternativlosigkeit Wirklichkeit wird. Dies kann sie nur mit Hilfe der Kultur und damit der Kulturen, nicht gegen sie. Dabei sollte der klassische Liberalismus im Sinne des reinen Individualismus nicht als uniiberwindbares Hindernis angesehen werden: ,,Implicit in the values of North Atlantic peoples is a recognition of the dualptindple of individual liberty and the common good. ''214s Die USA selbst sind in der Politischen Philosophie ihrer Griindungszeit ein lebendes Beispiel dafiir, dass es m6glich ist, klassischen Republikanismus, modernen Individualismus, aber auch kulturellen Traditionalismus, so aufeinander abzustimmen, dass eine qualitative Freiheit dabei entsteht. Die gewohnten Einwiinde gegen die Verkniipfung yon liberalem Individualismus und traditionellem Konservativismus iibersieht dabei, dass menschliche Individualitiit ja letztlich ,,auf eine kulturelle Matrix traditioneller Praktiken angewiesen" ist, ,,die die moralischen und intellekmellen F{ihigkeiten des Individuums formen und durchdringen. ''2146 Menschliche Individualitiit selbst ist ,,eine Frucht der Tradition".2147
Brooks Adams, Das Gesetz der Zivilisation und des Verfalls, Wien / Leipzig 1907. Die typischen Formen des ,,imaginativen Menschen" sind der Priester, der Soldat und der K/instler. 2144 Vgl. auch J/irgen Richter, Intellektuelle und Partisanentum: KMst, Ba'rne, CF.Meyer, in: Herfried Miinkler (Hg.), Der Partisan. Theorie, Strategie, Gestalt, Opladen 1990, S. 229-246, 245f., inkl. Fn.3. 214s Robert Strausz-Hup& / James E. Dougherty / William R. Kinmer, Builchng the Atlantic World, New York / Eavanston / London 1963, S. 13. 2,46John N. Gray, Freiheit im Denken Hayeks, T/ibingen 1995, S. 129. 2147Ebd. Vgl. femer auch Michael Oakeshott, On Human Conduct (1975), Oxford 1991; in philosophischer Perspektive Thomas Buchheim / Roll Sch6nberger / Walter Schweidler (Hg.), Die Normativitdt des Wirklichen. Uber die Grenze ZMschen Sein und Sollen, Stuttgart 2002; Robert Spaemann / Reinhard L6w, Natiirliche Ziele. Geschichteund Wiederentdeckung des teleologischenDenkens, Stuttgart 2005. 2143 Vgl.
XI. Der Westen im Lichte der Theorie Internationaler Beziehungen und geopolitischer Betrachtungen
1. Internationale Regimebildung: Die aktuellen Positionierungen der Theorieschulen Wie ist eine handlungs- und aktionsf'~ihige ,,Atlantische Zivilisation" nunmehr in der Internationalen Politik einzuordnen? In der Weiterentwicklung des (Neo-)Realismus 2148 zum ,,strukturellen R e a l i s m u s ''2149 gibt es in der Theorie der Internationalen Beziehungen innerhalb der realistischen (also macht- und nicht neoliberal-funktionalanalytischen) Schule eine st;,irkere Betonung der Fragestellung, welche Rolle 6konomische und soziale K_r~ifte, kulturelle Verhaltensweisen, N o r m e n und Wertvorstellungen, ,,die einen erheblichen Einfluss auf politische Prozesse und Strukturen besitzen, aber nicht allein aus utilitaristischen Interessenkalktilen ableitbar sind", in der Intemationalen Politik spielen. 215~AuBerdem wird in Anlehnung an den Konstruktivismus Alexander Wendts 2151 der intersubjektiven W a h m e h m u n g der Systemakteure bei der Bestimmung der Machtpositionen von Staaten mehr Gewicht einger;,iumt als bei Kenneth N. Waltz. Der ,,strukturelle Realismus" der , , N e o - N e o - R e a F t s t e n " (Barry Buzan) b e t o n t - hier z.T. sogar dem klassischen Realismus ~ihnlich und im gewissen Gegensatz zum stark systemtheoretischen Neorealismus von Kenneth Waltz - die Akteurs- gegeniiber der Strukmrebene, unterstreicht aber zugleich, dass dabei, im Rahmen des weiterhin gegebenen 2152, anarchisch strukturierten Weltstaatensystems (oder gar Weltgesellschaftssystems) 2153, neue Strukturen auf einer Zwischenebene - auf der Basis genau jener Interaktion sowohl zwischen Strukmr- und Akteursebene ( , , a g e n t - s t r u c t u r e " - D e b a t t e ) als auch unter den Akteuren u n t e r e i n a n d e r - entstehen, die fiber das von Waltz betrachtete statische ,,unit level" hinausgehen. Diese neue Ebene der ,,interaction capacities" wird prim~ir von intersubjektiver W a h m e h m u n g , Kommunikationsm6glichkeiten, gemeinsamen N o r m e n (,,Identit~iten") und Organisationen, beeinflusst. 2154 Identitiiten beeinflussen also das Verhalten der Akteure internationaler Politik insofem, als die materiellen Gegebenheiten und Strukmren als Interessenbasis nie vollstiindig erfasst werden 2148Vgl. Kenneth N. Waltz, Theo{7 of International Politics, Reading 1979. 2149 V g l . Barry Buzan / Charles Johnes / Richard Little, The Logic of Anarchy. Neorealism to Structural Realism, New York 1993. Vgl. insgesamt zur Diskussion innerhalb des Realismus Benjamin Frankel (Hg.), Realism. Restatements and Renewal, London 1996 und Philipp Borinski, Zur neueren amerikanischen und europdischen Diskussion um den Strukturellen Realismus, in: Carlo Masala / Ralf Roloff (Hg.), Herausforderungen der Realpolitik. Beitrdge zur Theoriedebatte in der Internationalen Politik, K61n 1998, S. 31-59. 2150Vgl. Erhard Fomdran, Grenzen des Realismus in den intemationalen Be~ehungen. Tell I: Die neuen Elemente internationaler Be~ehungen und die Entwicklung der Theo,ie, in: ZPol 4/96, S. 997-1041, 1031; vgl. ferner im Kontext religi6ser Glaubenssysteme: Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Kriee~ Mtinchen 1974, S. 70: ,,Ein Glaube verwandelt nicht nut die .. Uberzeugungen, sondem auch die Interessen, so gewiss er ,Interessen' nicht aus dem Weg schafft." 21SlVgl. Alexander Wendt, SodalTheo{7 of International Politics, Cambridge 1999. 2152Vgl. auch Jtirgen von Alten, Die gan z normaleAnarchie. Jetzt erst beginnt die Nachkriegszeit, Berlin 1994, S. 311. 2153Vgl. Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, Southampton 1977. 2154 V g l . Erhard Fomdran, Grenzen des Realismus in den internationalen Be~ehungen. Teil I: Die neuen Elemente internationaler Be~ehungen und die Entwicklung der Theorie, in: ZPol 4/96, S. 997-1041, 1032.
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k6nnen. Strukturen, Praxis und Identitiiten stehen indes in einem Wechselverh~iltnis zueinander und k6nnen eigentlich nur theoretisch, aber nicht praktisch absolut voneinander geschieden werden, wie das z.B. bei Waltz geschieht. Barry Buzan stellte spiiter einmal die hypothetische Frage, wie der Kalte Krieg wohl verlaufen wiire, w~ire die Sowjetunion ideologisch ebenso liberal gewesen wie die USA und er kam nicht an der Erkenntnis vorbei, dass Ideologien und Identitiiten auf Machtbeziehungen einwirken und Machtbeziehungen und Drohungsperzeptionen n i c h t - wie bei einem nicht entwickelten Neorealismus - alleine auf materialistische Gesichtspunkte zuriickgeffihrt werden k6nnen. 2155 Neben der Einwirkung des Gegensatzes zwischen Liberalismus und Kommunismus auf das macht- und geopolitisch ohnehin schon antagonistische Superm~ichteverhiiltnis zwischen der Sowjetunion und den USA zwischen 1949 und 1991 fiihrt Buzan weitere Beispiele an, die auf eine Beeinflussung yon Machtrelationen zwischen geo- und machtpolitisch kompefit_iv gruppierten Nationalstaaten dutch nicht-materielle Identitiitsvorstellungen hinweisen. Die Identitiitsvorstellungen wirken auf unterschiedliche Weise. Sie k6nnen machtpolitisch veranlagte kompetitive Anordnungen in manifeste Feindbeziehungen transformieren oder Wege und Mittel freilegen, dem Wettbewerb zwischen Staaten bestimmte Spielregeln aufzuerlegen, so dass es zwar nicht zur vollendeten Harmonie zwischen den Nationalstaaten kommt, abet doch zu einem zwar kompeftiven, aber geregelten Verhiiltnis zueinander. Ein Beispiel ist die Beziehung zwischen Indien und Pakistan. Hier liegt ein manifestes Feindverhiiltnis vor: Der s~ikulare F6deralismus als Indiens Ordnungsprinzip wird in Pakistan als emsthafte Bedrohung wahrgenommen, wiihrend Pakistans Organisationsprinzip eines islamisch begriindeten Zentralismus wiederum in Indien als Bedrohung wahrgenommen wird. Diese gegenseitigen Bedrohungspotentiale kommen nun zu den macht- und geopolitischen Bipolarit~iten zwischen diesen beiden Staaten hinzu und machen das fiber das Prinzip der ,,Rivalitiit" hinausgehende, manifeste Feindverhiiltnis solange zu einer unumgiinglichen Grundbegebenheit, wie sich diese ideologischen Fremdwahrnehmungen nicht veriindern: ,,The mutual exclusivity of their principles of legitimation underpins not only the bitter territorial dispute between them in Kashmir, but also their general stance of hostility and their nuclear arms race. ''2156 Weitere Beispiele lassen sich an den Feindbeziehungen zwischen dem ehemaligen (Apartheids-)Siidafrika und seinen Nachbam, zwischen Israel und Pal~istina, zwischen Kroatien und Serbien in den neunziger Jahren bzw. zwischen Griechenland und der Tiirkei 1981 bis 1999 festmachen. Die seit den Ideologien des 19. Jahrhunderts aufgekommene neue Zwischenebene des internationalen Systems, bestehend aus Normen, Identit~iten und Ideologien, ist zustande gekommen, nachdem einer ,,Globalgesellschaft", bestehend aus Staaten, Staatengruppen, transnationalen Akteuren und weltbewegten Individuen, politisch erstmals in relevanter Weise nach 1945 zum Durchbruch verholfen wurde. Diese ,,Globalgesellschaft" steht einem im 20. Jahrhundert vollendeten, weiterhin bestehenden und wahrscheinlich auch weiterhin zukunftsstarken Nationalstaatensystem gegeniiber und bezieht es sogleich ein, ohne allerdings den machtpolitischen Prim~ircharakter der Nationalstaaten in der internationalen Politik damit (bisher) unterminieren zu k6nnen. Dieses Nationalstaatssystem bildete sich in Europa im 15. und 16. Jahrhundert, etwa zeitgleich mit der sukzessiven Entdeckung Amerikas, heraus und wurde im 18. J a h r h u n d e r t - ob 21ssVgl. Barry Buzan, The United States and the Great Powers. World Politics in the Twenty-First Centu~, Cambridge 2004, S. 20ff. 21s6 Ebd., S. 21. Vgl. zur Unterscheidung von "Rivalitiit" und "Feindverh~iltnis" Alexander Wendt, Social Theo~ of International Politics, Cambridge 1999.
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seiner politischen Leistungsf'~ihigkeit - nach Amerika exportiert und von den Amerikanern anschliel3end pathetisch und roller Inbrunst ,,neu erfunden", zugleich akzeptiert und fortgef'fihrt, bis es sich im 20. Jahrhundert im Zuge der Entkolonialisierung auf der ganzen Welt durchsetzte und die Basis fiir Staatenkriege,-konflikte, -kooperationen, zivilisations-, interessens-, ideologie- oder regionalorienferte Staatenbiindnisse, intemationale und supranationale Organisationen und auch intemationale Weltwirtschaftsorgamsafonen ~MF, WTO, Weltbank) bildete. Das Geflecht der Staatenbeziehungen auf globaler Ebene kann als Weltstaatensystem (,,global state society'S), die sich unterschiedlich zuemander verhaltenden regionalen Staatensysteme als ,,state societies" bezeichnet werden. 2157 So zeichnet sich das westliche Staatensystem (,,Western State Society '~) durch Integration, enge Zusammenarbeit, liberale und abendliindischen Werte sowie wirtschafts- und handelspolitischen Liberalismus aus und kann damit theoretisch durchaus im Gegensatz zu anderen regionalen Staatensystemen oder zur ,,global state society" stehen. Letzteres w~ire z.B. der Fall, wenn der Westen sich entschliel3en sollte - wie es Amerika unter Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz und Perle anscheinend schon getan hat - defmitiv das Interventionsverbot des V61kerrechts zum Zwecke liberaler Weltpolitik in Frage zu stellen oder sonstwie den ,,UNO-westf;ilianischen", pluralistischen Charakter des Weltstaatensystems aus liberalen oder wirtschaftsliberalen Erw~igungen heraus anzugreifen. Theoretisch kann der Westen im Falle einer liberalen Expansionsagenda aber auch mit Akteuren der ,,Globalgesellschaft", z.B. sogenannten ,,transnational societies" (z.B. islamistischen Organisationen) oder gar mit ,,interhuman societies" (z.B. Islamisten oder gar Muslimen im allgemeinen) in Konflikt geraten. Es ist es jedoch geboten darauf hinzuweisen, dass der amerikanische Neokonservativismus nicht nut eine liberale Weltagenda, sondem zugleich eine nationalistische Agenda 21sg und z.T. eine abgestufte Agenda des Weltliberalismus verfolgt. Ersteres bedeutet, dass Eingriffe nut dann geboten sind, wenn sie zugleich im uramerikanischen nationalen Interesse liegen, wobei die ,,Demokratisierung" eines Systems selbst im Einzelfall als ,,nationales Interesse" fungieren kann (Stichworte Dominopotential, Schliisselstaaten, geopolitisch gebotene Pazifierung einer Region). Letzteres bedeutet, dass zwischen ,,autoritiiren" und ,,totalitiiren" Regimes geschieden und dann die Uberlegung angestellt wird, ob ein totalit~ires System auf der Basis eines Interessenkalkiils milit~irisch angegriffen werden soil oder nicht. Der Unterschied zwischen den beiden Formen der Diktatur besteht nach dieser etwas ungew6hnlichen neokonservativen Lesung darin, dass ,,autorit~ire" Regime einen evolution~iren Wandel der Institutionen in Richtung ,,Demokratisierung" zulassen (z.B.)~gypten, die Philippinnen unter Marcos) und ,,totalitiire" nicht (z.B. der Irak unter Saddam Hussein, der Iran, Syrien, Nordkorea, China). ,,Totalitiire Regime" bediirften eines ,,revolutioniiren Wechsels". 2159 Wie ist es zu dieser neuen ,,Gesellschaftswelt" gekommen, welche die neokonservafve Agenda iiberhaupt m6glich macht? Gegeniiber dem Nationalstaatensystem als Kemprinzip des internationalen Systems entwickelte sich im Zuge welttechnologischer Revolutionen und politischer Entwicklungen, die alle yore ,,Westen" ausgingen - ideell seit dem 18. J ahrhundert, faktisch seit dem 19. Jahrhundert, 1989 kulminierend- eine ,,Transnationale Gesellschaft" zwischen Nicht-Regierungs-Organisationen und Nationalstaaten bzw. Nicht-Regierungs-OrganiBarry Buzan, From International to World Society? English S&ool Theog and the Social Structure of Globalisation, Cambridge 2004, S. 91-118, 133 und 217ff. 2158Wolfowitz spricht sogar von einem ,,demokratischen Realismus". 2159Vgl. Paul D. Wolfowitz,Asian Democrafy and American Interests, Washington 2000, S. 4 und Jeane Kirkpatrick, Dictatorships and Double Standards, in: David Carlton / Herbert M. Levine (Hg.), The Cold War Debated, New York u.a. 1988, S. 199-214. 2157 Vgl.
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sationen untereinander (,,transnational society and societies ''216~ sowie eine faktische und eine virtuelle Cyberspace-,,Weltgesellschaft" zwischen einer kleinen Zahl v o n Individuen auf der ganzen Welt, h~iufig auf der Basis einer ,,universalen Identit~it", und G e g e n g r u p p e n als Weltakteuren, die aus Individuen mit anti-universalistischen Partikularidentit~iten bestehen (,,world society and societies"2161). Das Weltstaatensystem u n d das Geflecht aus regionalen Staatensystemen kann nur vor d e m H i n t e r g r u n d eines anarchischen Gesamtsystems, m dessen R a h m e n es sich weiterhin bewegt, als eines verstanden werden, welches in Interaktion mit nicht-nationalstaatlichen Akteuren steht. Das genuin europ~iische Nationalstaatensystem wurde also durch die , , G l o b a l i s i e r u n g " als eine erst im 20. J ahrhundert reif gewordene Frucht der R a u m r e v o l u t i o n des 15. J ahrhunderts herausgefordert u n d strukturell ver~indert, was zu n e u e n Interaktionen zwischen einer veriinderten, weltpolitischen G e s a m t s t r u k t u r u n d den weiterhin materiell entscheidenden, nationalstaatlichen Akteuren fiihren musste. Dieses neue Interaktionsverh~iltnis zwischen Staaten u n d Nicht-Staaten in der Weltpolitik konnte - w i e d e r u m v o m W e s t e n ausgehend - nur iiber eine neue Qualit~it in einer Zwischenebene v o n international gemeinsam getragenen N o r m e n u n d m e h r oder weniger n o r m e n z e n t r i e r t e n Organisationen abgegolten werden, die in E u r o p a z.T. sogar einen supranationalen Charakter gewannen ( E G / E U , NATO, K S Z E / O S Z E , N A F T A , A S E A N , IWF, W T O , Weltbank, G 7 / G 8 ) . Diese Z w i s c h e n e b e n e musste n u n allmiihlich seit 1945, erkennbar sp~itestens jetzt, im Zeitalter der sogenannten ,,Globalisierung", zur festen Gr6Be eines realistischen Ansatzes werden - w e n n auch nicht zur primiiren oder gar alleinigen. Eine Vorstellung (regionaler) , , O r o B r ~ u m e " also, die den Begriff des ,,Staates" vollends ersetzen, f'uhrt zu weit. 2162 D e n n ,,zun~ichst ist n u t festzuhalten, dass es kein A r g u m e n t gegen den ,Staat' ist, dass [eine] Staatengemeinschaft [oder die d u t c h sie politisierte ,,Zivilisation '~] gr6Ber als der gr6Bte Staat ist (...) Das geh6rt zu den , R a h m e n b e d i n g u n gen'".2163 Dabei resultiert dieser neue Systemeinfluss aus der Sichtweise der kognitionstheoretischen Regimetheorie 2164, die v o n einer Theorie hegemonialer Stabilit~it (so auch K e o h a n e 2165) anstatt v o n einem interdependenzorientierten Globalismus 2164 oder gar v o n einer nationalstaatsaufl62160 Vgl. Barry Buzan, From International to World Society? English School Theory and the Sodal Structure of Globalisation, Cambridge 2004, S. 118-138. Buzan beschr~nkt die ,,transnationale Gesellschaft" idealtypisch nur auf die Beziehungen zwischen Nicht-Regierungs-Organisationen untereinander (Karl Kaiser nicht). 2161Vgl. ebd. 2,62Vgl. Carl Schmitt, Der Begri~ des Politischen. Text yon 1932 mit einem Vorwort und drei Collarien, 7. Aufl., Berlin 2002, S. 10. 2163J/~rgen yon Alten, Die gan z normale Anarchie. Jetzt erst beginnt die Nachkriegszeit, Berlin 1994, S. 72. Vgl. zur Akmalit;,it des GroBraumbegriffes Ola Tunander, Post-Cold War Europe: Synthesis of a Bipolar Friend-Foe Structure and a Hierarchic Cosmos-Chaos Structure?, in: Ola Tunander / Pavei Baev / Victoria Ingrid Einagel, Geopolitics in Post-Wall Europe (Hg.), London u.a. 1997, S. 17-44, 23f. 2164Vgl. zum Regimebegriff Stephen D. ICrasner, International Regimes, Ithaca (NY) 1983; aus st~irker idealistischer Sicht in Bezug auf Verrechtlichungsperspektiven in der Internationalen Politik: Volker Rittberger, Regime Theou and International Relations, Oxford 1995. ,,Internationale Regime" sind nach K_rasner ,,sets of implicit and explicit principles, norms, rules, and decision-making procedures" (vgl. Stephen D. K_rasner, International Regimes, Ithaca (NY) 1983, S. 186f.), w{ihrend Rittberger sich nut auf ea,pli~te Regulierungen und Normen beruft (vgl. Volker Rittberger, Regime Theo~7 and International Relations, Oxford 1995, S. 10f.); vgl. zu den einzelnen Begriffen auch Peter Barschdorff, Facilitating Transatlantic Cooperation after the Cold War. A n AcquisAtlantique, Hamburg 2001, S. 13-16. 2165Der neoliberale Institutionalismus unterscheidet sich hier nut in der Frage was passiert, wenn der Hegemon niedergeht. Nach Keohane existieren die informellen Regime weiter, weil die Staaten als egoistische Nutzenmaximierer Interesse am Fortbestand der Regime haben, w~ihrend aus realistischer Sichtweise das Ergebnis wieder often ist und im Falle eines liberalen Hegemons ein RCmkfallin radikalprotektionistische oder isolationistische Strukturen droht. 2166Vgl. z.B. David Held / Anthony McGrew / David Goldblatt / Jonathan Perraton, The Global Transformation. Politics, Economics and Culture, Stanford 1999.
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senden , , H y p e r g l o b a l i s i e r u n g ''2167 ausgeht, aus k o m p l e x e n L e m p r o z e s s e n , die v o n d e r politischen Realitiit u n d den reagierenden ,,epistemic c o m m u n i t i e s " angestol3en wiirden. A u f dieser Basis bildeten u n d r e p r o d u z i e r t e n sich (im K e r n informelle) Regime iibernationaler Pr~igung nicht m e h r n u t aus Selbstinteresse, s o n d e r n auch aus einer u m f a s s e n d e r e n n o r m a t i v e n , z.B. ,,zivilisatorischen" Struktur heraus 2168. I m , , W e s t e n " (bzw. n a c h B u z a n in der ,,Western Interstate Society") ist diese E n t w i c k l u n g auf der Basis eines sehr starken W e r t e f u n d a m e n t e s mit A b s t a n d am weitesten fortgeschritten. 2169 Hierbei handelt es sich indes im E r g e b n i s u m internationale u n d regionale Regulierungen a u f der Basis v o n Regimebildungen. Die u m f a s s e n d e r e n o r m a t i v e Struktur, a u f die dabei im M o m e n t der R e g i m e g r i i n d u n g zuriickgegriffen wird strahlt im L a u f e der Zeit a u f die nationalstaatlichen A k t e u r e als n o r m a t i v e K_raft zuriick: die N a t i o n a l s t a a t e n fiihlen sich den W e r t e n der , , I n t e m a t i o n a l e n O r g a n i s a t i o n " bzw. der organisierten Zivilisation verpflichtet u n d leiten ihr Selbstinteresse daraus ab. D a v o n zu u n t e r s c h e i d e n sind die im n u n m e h r ,,polyzentrischen ''217~ W e l t s y s t e m sich hinzugesellenden, informellen A k t e u r e ,,transnationaler Subpolitik ''2171, mit A u s n a h m e jedoch der iiul3erst m a c h t v o l l e n transnationalen K o n z e m e , die a u f jeden Fall viel m e h r M a c h t besitzen als die abstraktionsorientierten, universalmoralischen A g e n t u r e n (wie z.B. G r e e n p e a c e , A m n e s t y International) 2172 u n d aus 6 k o n o m i s t i s c h e r Perspektive in ihrer Macht-
2167Der Begriff stammt von David Held u.a., The Global Transformation. Politics, Economics and Culture, Stanford 1999, S. 10. Die Autoren entwickeln drei Hauptkategorien der Globalisierungsvorstellungen: ,,hyperglobalists", ,,sceptics" und ,,transformationalists". Bei den Skeptikem bleiben die Vorgiinge nationalstaatlich inszeniert und auch die wirtschaftliche Globalisierungsvorstellung wird unter Bezugnahme auf vergangene Transnationalisierungsprozesse in der Geschichte (insbesondere um 1900) und auf das VerhS.ltnis yon Binnen- und Aul3eninvestitionen (als Gradmesser der Verflechtung) relativiert (vgl. Kenneth N. Waltz, Globalization and American Power, in: The National Interest, spring 2000, S. 46-56). Die transformationalists, zu denen auch die Autoren geziihlt werden k6nnen, akzeptieren im Sinne der ,,Globalisierung" Veriinderungen in der sich herausgebildeten Transnationalen Gesellschaft, allerdings verstehen sie den Vorgang als einen iiul3erst konfliktreichen Prozess mit offenem Ausgang und ganz verschiedenen kultursoziologischen Ergebnissen (z.B. dem der - modemen - ,,Glokalisierung" oder aber auch der - postmodemen - ,,Hybridisierung", vgl. dazu Roland Robertson, Glocalization. Time-Space and Homogeneity- Heterogeneity, in: Mike Featherstone / Scott Lash / Roland Robertson (Hg.), GlobalModernities, 2. Aufl., London 1995, ND 1997, S. 25-44 und Jan Nederveen Pieterse, Globalization as Hybridization , in: ebd., S. 45-68). Aus hyperglobalistischer, zumeist linker bis linksliberaler Sichtweise ,,veraltet" durch ein offenes Weltwirtschaftssystem der Begriff politischer Souveriinitiit nicht nur als innenpolitisches, sondem auch als aul3enpolitisches Ordnungsprinzip und neben der ,,Glokalisierung" wird die anarchische ,,Hybridisierung" (also die Vermischung) der Kulturen und die sogenannte ,,Kreolisierung" des Westens mehr und mehr als Normalfall der Globalisierung angesehen. Der Begriff ,,Souveriinitiit" liegt wiederum der hegemonialen Machtstruktur zugrunde, die als Voraussetzung des offenen Weltwirtschaftssystems angesehen wird. Die Schlussfolgerung lautet hier, dass eine hegemoniale Machtstruktur, die ein offenes Weltwirtschaftssystem produziert und verteidigt, ihre politische Hegemonialstellung selbst aufhebt (vgl. exemplarisch Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtiimer des Globalismus -Antworten aufdie GlobalisierunA 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1998, S. 72f.). Die Form der ,,Veraltung" bleibt im Vagen: Abstrakt sei von einem unterkomplexen Begriff der klassischen Souveriinitiit auszugehen, die nunmehr als ,,gespaltene Macht" zu definieren sei (ebd., S. 73). 2168Vgl. Reinhard Meyers, Theorien internationaler Kooperation und Ve(lechtung, in: Wichard Woyke (Hg.), Handwb'rterbuch Internationale Politik, Lizenzausgabe, Bonn 2000, S. 448-489, 457. 2169Vgl. Barry Buzan, From International to World Society? English School Theory and the Social Structure of Globalisation, Cambridge 2004, S. 236f. 2170 Vgl. James Rosenau, Turbulence in World Politics, Brighton 1990; und als Sekundiirliteratur Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtiimer des Globalismus-Antworten auf die GlobalisierunA 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1998, S. 69-72. 2171Der Begriff stammt von Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtiimer des Globah'smus - Antworten auf die GlobalisierunA 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1998, S. 69. 2172Diese Unterscheidung wiederum wird bei Theoretikem wie Ulrich Beck nicht getroffen und den Akteuren in etwa eine gleiche Akteursqualitiit zugeschrieben (vgl. ebd.), was aus realistischer Sichtweise irreffihrend ist.
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fiille vereinzelt als so stark angesehen werden, dass daraus em ,,Ende des Nationalstaats" resultiere. 2173 Waltz als Neorealist betont indes aus der Sicht des ,,strukturellen Realismus" emes Barry Buzan (also aus der Sicht eines ,,Neo-Neorealismus") w i e d e r u m zu stark n u r einen Teil der Systemebene - den strukturellen - und erlaubt es nicht, trotz anderslautender theoretischer Ankfindigung im Werk, der Akteursebene einen gleichberechtigten analytischen Stellenwert zu geben. 2174 Die Zielsetzung v o n Waltz (und unter liberalen Vorzeichen auch v o n Keohane) war es, in m e t h o d i s c h bewusster Weise z u m Zwecke einer wirklichkeitsorientierten u n d zugleich effektiven Verteidigung des klassischen Realismus v o n M o r g e n t h a u 2175 u n d H e r z ' gegen funktionalistische und idealistische Irrlehren, eine Systemtheorie unter A n n a h m e der absoluten Staatendominanz auf der , , w i r l d i c h e n " Akteursebene und somit der Anarchie des Gesamtsysterns, der klaren T r e n n u n g zwischen Innen- u n d Aul3enpolitik, des N u l l s u m m e n c h a r a k t e r s der H a n d l u n g e n internationaler Akteure und des weiterhin autoritativen Charakters der Macht-, Giiter- u n d Werteverteilung mit e i n e r - trotz gegenseitiger V e r f l e c h m n g e n - weiterhin besteh e n d e n militS.rischen W e s e n s k o m p o n e n t e zu entwickeln. 2176 Was in dieser Verteidigungshaltung zu kurz kam, so indes die Neo-Neo-Realisten, war die M6glichkeit einer grundlegenden Ver{inderung des Systems, die n u n auch aus realistischer Warte gesehen w e r d e n musste, niimlich unter Berficksichtigung des realistischerweise gegebenen, auch v o n Waltz akzeptierten Grundverhiiltnisses zwischen Akteurs- uns Strukturebene. 21v7 Die in diesem Verstiindnis natiirlich i m m e r n o c h anarchisch strukturierte D y n a m i k internationaler Beziehungen ist so n u n m e h r ergebnisoffen, so dass ,,Veriinderungen bis hin zur [zwar sehr unwahrscheinlichen, aber eben keineswegs deterministisch unm6glichen] O b e r w i n d u n g des anarchischen Charakters nicht ausgeschlossen sind. ''2178 Eines bleibt freilich als realistischer Standpunkt bestehen: Eine K o operation aus d e m ,,institutionellen Nichts" entwickelt sich nur fiber den Z w a n g einer Hegem o n i a l m a c h t 2179 oder eines g e m e i n s a m e n Gegners. Eine VerS_nderung zu weitergehenden kooperativen Strukturen kann sich nur auf der Basis derart institutionalisierter g e m e i n s a m e r N o r m e n u n d derart geschaffener gemeinsamer Organisationsinstitutionen im Sinne eines , , s p i l l - o v e r " - E f f e k t e s entwickeln. Diese Sichtweise schafft V e r b i n d u n g e n zwischen d e m N e o realismus, d e m neoliberalen Institutionalismus und antifunktionalistischen Institutionalismus oder gar Konstitutionalismus, wobei der Unterschied darin besteht, dass ffir die Institutionalisten und Konstitutionalisten kein Z w a n g v o n aul3en notwenig ist, sondern reine Einsicht auf der Basis eines rationalen Interessenkalkfils ausreicht, dass letztlich pro-kooperativ ausfallen 2173Vgl. z.B. Kenichi Ohmae, Der neue Weltmarkt. Das Ende des Nationalstaates und der Aufstieg regionaler Wirtschaftszonen, Hamburg 1996; Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtiimer des Globalismus- Antworten auf die Globalisierune~ 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1998; vgl. ferner die undiskutierte negative Halmng Edgar Grandes zur ,,neoliberalen Option" (Edgar Grande, Globalisierung und die Zukunft des Nationalstaats, in: Ulrich Beck / Wolfgang Bonl3 (Hg.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a.M. 2001, S. 261-275, 274). W~ihrend nun Ohmae das ,,Ende der Politik" suggeriert, argumentieren Beck und Grande, dass diese nunmehr vor einem Neubeginn in einem nationalstaatsaufl6senden (Beck) oder nationalstaatsaufhebenden (Grande), transnationalen Kontext steht. Ftir Beck und Grande habe die ,,Politik" in diesem Kontext sogar noch mehr Chancen als je zuvor, die ,,/iberkommenen Institutionen der Industriegesellschaft aufzubrechen und zu veriindern." (vgl. Edgar Grande, Globalisierung und die Zukunft des Nationalstaats, in: Ulrich Beck / Wolfgang Bonl3 (Hg.), Die Modernisierung derModerne, Frankfurt a.M. 2001, S. 261-275, 263f.). 2174Vgl. Erhard Fomdran, Grenzen des Realismus in den internationalen Be~ehungen. Teil I: Die neuen Elemente internationaler Be~ehungen und die EntMcklung der Theorie, in: ZPol 4/96, S. 997-1041, 1032. 2175Vgl. Hans j. Morgenthau, PoliticsAmong Nations: The Strugglefor Power and Peace, 6. Aufl., New York 1985. 2176Vgl. Erhard Fomdran, Grenzen des Realismus in den internationalen Be~ehungen. Tell I: Die neuen Elemente internationaler Be~ehungen und die Entwicklung der Theorie, in: ZPol 4/96, S. 997-1041, S. 1025. 2177Vgl. ebd., S. 1032. 2178Ebd. 2179 Vgl. z.B. Robert Gilpin, The PoliticalEconomy of InternationalRelations, Princeton 1987, S. 85, 88.
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muss ~nstitutionen fiihrten niimlich zu Vorteilen fiir alle Teilnehmer). Das Ergebnis kann indes sehr iihnlich sein: Es geht um ,,Verregelung im Gehiiuse internationaler Beziehungen" ob nun zu verstehen als ,,regulierte Anarchie der Staatengesellschaft ''218~ und ,,Einhegung der nullsummenspielartigen Konkurrenz der Akteure ''2181 zum Zwecke der Erfiillung von Uberlebens- bzw. Sicherheitsmaximen oder eben doch als Ergebnis einer ,,Strategie reziproker Kooperation" rationaler Nutzenegoisten auf der Basis grundsiitzlicher Zukunftsunsicherheit, wie sie im sogenannten ,,Gefangenendilemma" zum Ausdruck kommt. 2182
2. Westliche Regimebildung und europ~iische Integration Entscheidend fiir das Thema dieser Arbeit ist jedoch nicht die grundsiitzliche Frage, wie Kooperation und Regimestrukturen in der Internationalen Politik zustande kommen, sondem warum sich gerade im atlantisch-westeurop;,iischen Raum, und zwar nur dort, intensive, integrative Gemeinschaftsbildungsstrukturen herausgebildet haben. Dafiir muss auch die geopolitische Miichteordnung im ,,anarchischen Raum" der Weltpolitik ins Blickfeld genommen wetden, die, auch in Bezug auf die transatlantischen Strukturen, auf eine ,,hegemoniale Stabilit~it" hinweist. Die geopolitische Miichteordnung, wie sie sich heute darstellt, verleitet zur Aussage, dass es insgesamt drei ernstzunehmende, groBe, auch den heutigen Verhiiltnissen standhaltende und einer Weltgeltung f'~ihige, planetarische Kulturriiume gibt: Amerika, China und Russland 2183, wobei Amerika zur Zeit mit Abstand am stiirksten ist. Europa ist eine wirtschaftliche Weltmacht, aber keine politische. Europa ist zugleich fiber ein acquis atlantique mit Amerika auf eine Art und Weise verbunden, die einen veritablen Regimecharakter aufweist, der sich, und damit sind wir beim entscheidenden Punkt, aus starken gemeinsamen Re~rneprfnzipien speist. N u r die ,,europ~iische Integration" geht noch tiefer, da sie sich ja von allen Kooperationsstrukturen dadurch unterscheidet, dass sie ein starkes supranationales Moment aufweist: Der Prozess des Zusammenschlusses als dynamische K o m p o n e n t e und die Einbeziehung von Politiken und nationalen Rechten in ein groBes Ganzes als statische K o m p o n e n t e werden in einer iibernationalen Dimension miteinander verflochten. Die Zusammenffihrung von nationalen Politikbereichen in mit supranationalen Befugnissen ausgestatteten Strukturen stellte eine bisher noch nicht gekannte und erprobte Qualit~it unter der Herrschaft des internationalen Rechts dar. Die EU ist das erste und einzige historische Beispiel fiir ein mit dem Theorem der ,,retiexiven Modemisierung ''2184 zu vereinbarendes komplexes Regieren jenseits des Nationalstaates. Freilich hat dieses Regieren kein primiir kosmopolitisches Motiv, so wie es die Theorie von
2180Reinhard Meyers, Theorien internationalerKooperation und VerJlechtune~ in: Wichard Woyke (Hg.), Handwh'rterbuch Internationale Politik, Lizenzausgabe, Bonn 2000, S. 448-489, 458. 2181Ebd., S. 457f. 2182Vgl. ebd., S. 452. ~_183Diesbez~iglich also noch heute aktuell: Kurt von Boeckmann, Vom Kultutreich des Meeres, Berlin 1924, S. 398. Vgl. iihnlich Ola Tunander, Post-Cold War Europe: Synthesis qf a Bipolar Friend-Foe Structure and a Hierarchic Cosmos-Chaos Structure?, in: Ola Tunander / Pavel Baev / Victoria Ingrid Einagel, Geopolitics in Post-WallEurope (Hg.), London u.a. 1997, S. 17-44, 23f. 2184Vgl. Edgar Grande, Globalisierung und die Zukunft des Nationalstaats, in: Ulrich Beck / Wolfgang Bonfi (Fig.), Die ModernMerung der Moderne, Frankfurt a.M. 2001, S. 261-275, 274 (der Nationalstaat verschwindet mit dem Ubergang zu transnationalen Institutionen nicht, sondern er ist darin enthalten under besitzt, Zusatz des Verfassers, unter Inkaufnahme groBer Kosten, die theoretische Mfglichkeit der Revision des Denationalisierungsprozesses).
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Ulrich Beck suggeriert, die im Ubrigen auch einen viel zu starken anti-institutionellen Z u g aufweist, u m sinnvoll mit d e m Begriff des , , R e ~ e r e n s " verklammert werden zu k6nnen. 2185 Diese ,,europ~iische Integration" fand nun historisch und politisch ihren Oft erst in einem ,,atlantischen Zeitalter ''2186 u n d unter den Bedingungen des Kalten Kxieges. 2187 Sobald das eine wie das andere in Vergessenheit geraten sollte, wird die Spaltung E uropas folgen und die Integration schneller in sich z u s a m m e n b r e c h e n , als sich das ,,gute E urop~i er" / i berhaupt vorstellen k6nnen. Karl W. D e u t s c h Arbeiten zum Aspekt der ,,Sicherheitsgemeinschaften" aus den f'tinfziger Jahren k 6 n n t e n wieder aktuell werden. D e u t s c h hatte auf der Basis einer eing~ingigen historischen U n t e r s u c h u n g zu zeigen versucht, dass die Zerfallsgefahr ab einer gewissen Inad~iquatheit des IntegrationsausmaBes im Verh~iltnis zu den gegebenen , , s o z i o l o ~ s c h e n " Voraussetzungen erheblich gr6Ber ist als bei lockeren Staatenverbindungen. 2188 Ein derartige Inad~iquatheit scheint sich im /ibrigen auch bei den neuesten, europapolitischen Ideen Ulrich Becks zu ergeben, der die Position von D e u t s c h etwas missverstiindlich als ,,kosmopolitischen Realismus" kennzeichnet. 2189 Beck hat jtingst in diesem europapolitischen K o n t e x t die hochtrabende Begriffskonstruktion des ,,posthegemonialen E m p i r e s " konzipiert. 219~ Die Ereignisse in der EU, wie sie sich seit dem Irakkrieg abgespielt haben (vom ,,Brief der A c h t " bis hin zum Scheitern des ,,Verfassungsreferendums" in Frankreich2191), geben ein erstes Bild eines solchen Szenarios des Auseinanderklaffens v o n integrationspolitischem und eben h o c h t r a b e n d - k o s m o p o l i t i s c h e m A n s p r u c h und niichterner - und gar nicht mal an sich unbedingt so negativer - Wirklichkeit. Im Zuge der Ereignisse rund u m den Irakkrieg verschwand z u d e m der Charakter der E U als Bestandteil eines ,,atlantischen E u r o p a " bei den ,,Alteurop~iern" v611ig aus d e m Blickfeld. A u f der anderen Seite leidet die Europapolitik an Positionen, welche das zweite Element, die realpolitisch-historischen Bedingungen des europiiischen Integrationsprozesses 2192 aus den A u g e n verlieren: Die historische Sichtweise sollte eigentlich klar2185Vgl. Ulrich Beck / Edgar Grande, Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt a.M. 2004. 2186Vgl. Ernst Wolf, Religionsgeschichtliche und theologische A~ekte der europa'ischen Integration, in: Karl Dietrich Bracher / Christopher Dawson / Willi Geiger / Rudolf Smend (Hg.), Die moderne Demokratie und ihr Re&t. FestschriftJ~r Gerhard Leibholz zum 65. Geburtstag - Band 1: Grundlagen, T(ibingen 1966, S. 625-647, 625f. Vgl. auch Ulrich Beck / Edgar Grande, Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt a.M. 2004, S. 46. 2187Vgl. Beate Neuss, Geburtshelfir Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europa'ischen Integration~prozess 1945-1958, Baden-Baden 2000; Marc Trachtenberg (Hg.), Between Empire and Alliance. America and Europe During the Cold War, Lanham 2003; Geir Lundestad, ,,Empire"by integration. The United States and European Integration I945 - 1997, Oxford 1998; J/~rgen Heide~ng, Die USA und Europa im 20. Jahrhundert, in: Wolfgang Reinhard / Peter Waldmann (Hg.), Nord und Siid in Amerika. Gemeinsamkeiten - Gegen,~'tze - Europa'ischer Hintergrund - Band 2, Freiburg 1992, S. 1223-1230, 1226. 2188Vgl. Karl W. Deutsch et. al., Political Community and the North Atlantic Area. International Organization in the Laght of HistoricalEa,~erience, New York 1969. 2189Vgl. Ulrich Beck / Edgar Grande, Das kosmopolitische Europa. Gesells&afi und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt a.M. 2004, S. 219f. 2190Vgl. ebd., S. 85f.: ,,Als posthegemoniales beruht dieses Europ~sche Empire nicht (wie die Imperien des 19. Jahrhunderts) auf nationaler Abgrenzung und Eroberung, sondem auf nationaler Entgrenzung, transnationalen Verflechtungen und dem daraus erwachsenden politischen Mehrwert." 2191 Der atlantische Zusammenhang besteht in diesem Punkte nicht in der ablehnenden Position des franz6sischen Volkes in der Frage des EU-Beitritts der T/irkei und des EU-B/irokratismus und auch nicht in den ablehnenden Positionen marginaler Teile des Volkes gegen die gravierenden kulturell-inhaltlichen Schw{ichen des Verfassungsvertrages (insbesondere der Verfassungspr{iambel), sondem im oftmals artil-:ulierten Ressentiment grol3er Teile der ,,Verfassungsgegner" gegen die ~iuBerstpro-atlantischen Polen, Tschechen und Ungam. 2192Der Schuman-Plan kam demnach zustande, weil die Franzosen mit dem amerikanischen Interesse an der Wiederbewaffnung Deutschlands konfrontiert waren, was wiedemm nut unter der Voraussetzung der Aufl6sung des Besatzungsregimes in Deutschland geschehen konnte. Die geschickte diplomatische Offensive Konrad Adenauers im M~z 1950 (Vorschlag einer vollst{indigen Union zwischen Deutschland und Frank:xeich) zwang Frankreich geradezu zu einer (m~s Antwort, so dass am 9. Mai 1950 das Memorandum des franz6sischen AuBenministers Robert
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stellen, dass trotz europiiischer Integration kein einziger europiiischer Nationalstaat oder gar die e n t s p r e c h e n d e n Vb'lker grundsiitzlich bereit sein k6nnten, Souveriinitiitsrechte fiber die Schwelle einer Denationalisierung der Selbstbestimmungsrechte hinaus abzugeben. Diese Souveriinitiitsrechte sind z.T. sogar verfassungsrechtlich als solche expliziert, z.B. in Frankreich (Art. 3 und 4 der Verfassung). Z u d e m ist es unrealistisch davon auszugehen, dass mittelfristig kein wirksamer Interessenausgleich eine neue fibernationale Legitimationsebene schaffen kann, welche die alte ersetzt. Sie kann n u r - allmiihlich - ergiinzend hinzutreten. Frei nach de Gaulle lassen sich diese Befunde in der )~ugerung zusammenfassen, dass aus ,,hartgekochten Eiern" n u n einmal kein O m e l e t t zu m a c h e n sei. 2193 K o n z e p t i o n e n , welche unter Auslassung der realpolitisch-historischen Analyse d e m liberalen Modell eines wirtschaftsu n d handelspolitisch ,,evolutioniiren Europas"2194 das hiiufig in rhetorischen F o r m u l i e r u n g e n v o n E u r o p a p a r l a m e n t a r i e n v o r z u f m d e n d e etatistische oder zentralistische Modell ,,Unabhiingige Europiiische F 6 d e r a t i o n " (bzw. ,,Vereinigte Staaten v o n E u r o p a " oder ,,europiiischer Wohlfahrtsstaat") entgegensetzen, tragen zur weiteren Verunsicherung u n d Destabilisierung bei. Die Funktionalisten, die eine weitest gehende flexible Integrationspolitik u n d die Schaffung sektoraler Einheitsstrukturen - bezogen auf subsididr abgesicherte Erforderlichkeiten - anstreben, k 6 n n t e n vielleicht nach d e m Scheitern des ,,Verfassungsreferendums" in Frankreich u n d den Niederlanden genauso wieder stiirker FuB fassen wie die nationalbewussten Skeptiker: Letztere verfechten, solange sie am Prinzip der ,,europiiischen Einheit" festhalten, die These, dass europiiische Institutionen nur als Ergiinzung nationalstaatlicher A u t o n o m i e existieren sollten u n d treten konsequenterweise ffir die Rfickfiihrung E u r o p a s auf eine K o n f 6 d e r a t i o n (also eine reine Staatenunion) ein, mit koordinierter Politik als R a h m e n bi- u n d multilateraler B/_indnisse. Letztere (,,europakritische '~ Kriifte sind jedoch in den nationalen Parteienwettbewerben E u r o p a s inzwischen oft n o c h schwS.cher als k o m p l e t t EU-feindliche nationalistische Gruppierungen. A b e r auch die konstitutionalistische Vorstellung, eine europiiische ,,Einheit" mit HiKe eines verfassungsgebenden oder quasi-verfassungsgebenden Aktes zu schaffen, ist vorerst an den Wiinschen der europiiischen V61ker und den daraus resultierenden Realitiiten
Schuman, gest/itzt auf ein Memorandum seines Mitarbeiters Jean Monnet, resultierte, demzufolge die Rohstoffe aus dem Rheinland und aus Westfalen als Kriegspotential Deutschlands der deutschen Verffigungsgewalt entzogen werden sollten und die franz6sische und deutsche Produktion von Kohle und Stahl unter einer gemeinsamen supranationalen Autorifiit zusammengeffihrt werden sollte. Es folgte die Beseitigung der Intemationalen Ruhrbeh6rde und der Z611e, der freie gemeinsame Markt ffir die wichtigsten Gmndstoffe, die Ausstatmng der ,,Hohen Beh6rde" mit Mehrheitsentscheidungen und die Einrichtung des ,,Besonderen Ministerrats" in Luxemburg (dazu eine ,,Gemeinsame Versammlung" auf Parlamentsebene). Ohne die realpolitischen Zusarnmenhiinge ist die Europiiische Integration nicht zu verstehen. Das heil3t nicht, dass es nicht an (auf diese Weise abrufbaren) grol3en europNschen Einigungsimpulsen aus anderen Quellen gemangelt hat: Den Impulsen also, welche nach dem Zweiten Weltkrieg der Friedenssehnsucht, dem Willen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau, dem antikommunistischen und dem christlich-abendliindischem Idealismus grol3er Westeuropiier wie Konrad Adenauer, Jean Monnet, Paul Henri Spaak, Salvadore de Madariaga, CoudenhoveKalergi oder z.T. auch Gustav Stresemann und Aristide Briand entsprangen. 2193 Zitiert nach Dirk Berg-Schlosser, Politische Kultur, in: Eckhard Jesse / Roland Sturm (Hg.), Demokratien des 21. Jahrhunderts im Vergleich. Historische Zuga'nge, Gegenwartsprobleme,Reformper~ektiven, Opladen 2003, S. 175-202, 202. 2194Dessen Minimalziele lauten: Verwirklichung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes ohne sozialpolitische Flan~erung auf europiiischer, sondem nut auf nationaler Ebene, auf der Basis der vier europiiischen Grundfreiheiten: freier Warenverkehr, freier Personenverkehr (gipfelnd in der gemeinsamen Unionsbfirgerschaft), freier Dienstleistungsverkehr, freier Kapital- und Zahlungsverkehr. Automatisch folgt die interne Wettbewerbspolitik (Rechts- und Normangleichung) und die Aul3enhandelshoheit (dazu geh6rt auch eine eventuell protektionistische Agrarpolitik oder auch Industriepolitik gegenfiber Drittstaaten, z.B. aus Afrika oder Amerika). Zu letzterem: In der GATT spricht die EU jetzt schon rnit einer Stimme.
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gescheitert. 219s U n d wie wiire es anders zu erwarten gewesen? D e r grunds~itzliche Fehler der europiiischen Konstimtionalisten besteht ja in ihrem Vergleich zwischen den ,,Vereinigten Staaten von Amerika" und den letztlich anzustrebenden ,,Vereinigten Staaten yon Europa". Hier verbirgt sich ein ganz grunds~itzlicher Denkfehler: Das Pendant zu den Vereinigten Staaten von Amerika ist nicht ein europiiischer Bundesstaat, sondern sind die europiiischen Nationalstaaten. 2196 Ein paneurop~iischer Bundesstaat miisste indes mit einem panamerikanischen Superstaat verglichen werden. Wiirden z.B. Argentinien, Brasilien und die USA ein Aufgehen in einem f6deralen Bundesstaat, der sie miteinander verschmelzen wiirde, akzeptieren? Die A n t w o r t auf diese Frage wiire auch die Antwort, die auf die Frage nach der M6glichkeit eines europiiischen Bundesstaates erfolgen miisste. 2197 Aber zuriick zum transatlantischen Regime und zur Regimetheorie: Die Regimeprinzipien sind nach Krasner, neben den gegenseitigen, kollektiven Verhaltenserwartungen (,,norms"), den gemeinsamen Spielregeln (,,rules") und den sich herausgebildeten Entscheidungsfindungsprozeduren zum Abschluss von Vertriigen innerhalb der ,,sich regulierenden" Staatengruppe (,,decision-making procedure"), die vierte, abet zugleich wichtigste Voraussetzung eines ,,internationalen Regimes".2198 D e r theoretische Angelpunkt lautet: O h n e Prinzipien (bzw. Wertegemeinsamkeiten), denen eine Staatengruppe vorbehaltlos zustimmt, kann diese G r u p p e iiberhaupt kein ,,internationales Regime" sein! Die Verbindung zwischen E u r o p a und Amerika hat insofern - unter Einschluss einer Weltmacht und auf der Basis der Stiirke der Regimeprinzipien - den ausgepriigtesten Regimecharakter in den Internationalen Beziehungen auf der ganzen Welt: Diese Prinzipien, den sich die beteiligte Weltmacht unterstellt, l a u t e n - ganz kurz n o t i e r t - Demokratie, Freiheit, Rechtstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Tradition der Aufldiirung.
3. Fazit Es wurde schon betont, dass die europiiische Integration ihren historischen und politischen Ort im ,,atlantischen Zeitalter" fmdet. 2199 Die USA hatten sich nach 1945 zu emer ,,europ~iischen Macht entwickelt ''22~176 es kam zu einer ,,atlantischen Synthese". 22~ den Zusam2195Dabei beinhaltete der in der Offentlichkeit zur ,,europiiischen Verfassung" aufgeplusterte Verfassungsvertragunabhiingig von den problematischen Bestimmungen zur AuBen- und Sicherheitspolitik- auch wichtige, einfachrechtliche Effizienzverbesserungen: Statt der gewichteten Stimmen sollte das Prinzip der ,,doppelten Mehrheit" eingefiihrt werden (also die jetzige Sperrminoritiit durch eine Regelung ,,65% Bev61kerungszahlplus 55%-Mehrheit der Staaten" abgel6st werden), ein vollamtlicher Priisident des Europiiischen Rate auf zweieinhalb Jahre dutch den Europiiischen Rat einbestellt, ein Europgischer AuBenminister und Vizepriisident der Europiiischen Kommission in Person dutch den Europgischen Rat mit qualifizierter Mehrheit gewiihlt und die Zuteilung der Kommissarposten (geplant war das ab demJahr 2014) neu geregelt werden. 2196 Vgl. auch Michael Walzer, Zivile Geselk'chaft und ametfkanische Demokratie, Frankfurt a.M. 1996, S. 239f. 2197Darauf machte schon 1946 aufmerksam Carlton J.H. Hayes, The American Frontier - Frontier of What?, in: The American Historical Review, Bd. LI (1945/46), S. 199-216, 211. Vgl. femerhin Karl Heinz Bohrer, Die europdische Di~erenz. Epitaph aufeine deutsche Otopie, in: Merkur 617/618 (9/10, 54. Jg.), S. 991-1003 und Hermann Lfibbe, Abschied vom Superstaat. Vereinigte Staaten yon Europa wird es nicht geben, Berlin 1994. 2~98Vgl. Stephen D. Krasner, InternationalRegimes, Ithaca (NY) 1983, S. 186f. 2199Vgl. Ernst Wolf, Religionsgeschichtliche und theologische A~ekte der europdischen Integration, in: Karl Dietrich Bracher / Christopher Dawson / Willi Geiger / Rudolf Smend (Hg.), Die moderne Demokratie und ihr Recht. FestschrfftJ~r Gerhard Leibholz zum 65. Geburtstag - Band 1: Grundlagen, T~ibingen 1966, S. 625-647, 625f. 2200Vgl. Richard Holbrooke, Ameffca, A European Power, in: Foreign Affairs, 74 (Miirz/April 1995), S. 38-51. 2201So die Formulierung bei Kees van der Pijl, Vordenker der Weltpolitik. EinJ~hrung in die internationale Politik aus ideengeschichtlicher Per~ektive, Opladen 1996, S. 199 und 207-221, womit im Obrigen in erster Linie eine intellektuelle Synthese als Resultat der intellektuellen Emigration in die USA gemeint ist.
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menbruch der ,,europ~iischen Weltordnung" 1917-1945 w~ire eine Integration nicht m6glich gewesen. Die europiiische Integration ist ein Resultat des Kalten Krieges, der Weltkriegserinnerung und der Riickbesinnung emes moralisch, geistig und materiell beinahe total vernichteten Europas auf eine hellenisch-abendliindisch-christliche Wertegemeinschaft. Die europiiische Integration konnte und kann desweiteren immer noch eigentlich nur unter dem militiirischen Schutz des amerikanischen Bfindnisparmers, der zugleich ein zivilisatorisches ,,alter ego" ist, stattflnden. Ein neuer transnationaler Institutionalismus zwischen Amerika und Europa ist vor diesem Hintergrund auch heute noch denkbar, allerdings (wie bei der Europiiischen Integration) nur unter der Voraussetzung spezifischer Anniiherungs- oder gar Einigungsimpulse. Da diese anscheinend (noch) nicht im sufflzienten MaBe vorhanden sind 2202, stellen nun die USA in der Frage der Wfinschbarkeit und M6glichkeit komplexen Regierens jenseits des Nationalstaates ein frappantes GegenbeispieI dar. Die USA als Nationalstaat linden sich kategorisch nicht in komplexe Regierungszusammenh~inge in diesem Sinne ein und wollen das auch gar nicht. Eine instimtionelle Verklammerung zwischen Amerika und Europa ist auf dieser Basis denn auch im supranationalen Sinne nicht m6glich. Allerdings fehlt es auch an einer ausreichenden Strukturierung einer intergouvernementalen Zusammenarbeit, die fiber die dazu noch machtasymmetrisch konflgurierte Zusammenarbeit im Milit~irischen hinausreichen wiirde. Auch das scheiterte lange Zeit eher an den USA als an Europa, weil in den USA weiterhin eine starke politische Option besteht, bei der L6sung kollektiver Probleme ausschlieBlich auf den Nationalstaat zu setzen. Diese zuniichst einmal wermeutral durchaus als ,,neonationalistische" Option zu charakterisierende Einstellung ist deswegen als ein auch in der Zukunft fiberaus relevantes Faktum anzusehen, weil es auf erhebliche Art und Weise politische Attraktivitiit aus der resul6erenden Komplexitiitsreduktion und dem Erhalt des Wettbewerbsprinzips innerhalb eines komplexen Systems erzielt. 22~ Zusammenfassend liisst sich nun zum Zwecke der politisch-institutionellen Ausformung einer westlichen Zivilisation im Sinne einer ,,Atlantischen Zivilisation" sagen, dass unter lJberwindung o.g. amerikanischer und inzwischen auf europ~iischer Seite massenhaft dazugekommener Hindernisse (vgl. folgende Ausffihrungen zur AuBenpolitik) wenigstens die Schaffung eines neuen transnationalen Minimalnetzes zwischen Europa und Amerika geboten sein sollte. Wiihrend die Frage der politikphilosophischen und kulturellen Sinnigkeit durch den ganzen historischen Teil der Arbeit hindurch demonstriert wurde, stellt sich also nun die Frage der Notwendigkeit bzw. die Frage nach der passenden Gelegenheitsstruktur ffir die politische Formierung des gegebenen Zivilisationsverbundes (,,Anniiherungs-/Einigungsimpuls"). Diese 2202 Pessimis6sch in Erwartung des defmitiven Endes des Westens ist Christopher Croker, Twilight of the the West, Boulder / Oxford 1998, S. 171-178. 2203Vgl. Edgar Grande, Globalisierung und die Zukunft des Nationalstaats, in: Ulrich Beck / Wolfgang Bonfi (Hg.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a.M. 2001, S. 261-275, 274f. Die Schlussfolgemngen m/issen aus der in dieser Arbeit vorgenommenen Perspektive indes nicht antitraditionaler oder anti-,,neoFlberaler" Natur sein, wie das bei Grande der Fall ist. Okonomisierung des Politischen ist nicht mit dem ,,Ende der Politik<' gleichzusetzen (vgl. auch Johannes Willms / Ulrich Beck, Freiheit oder Kapitalismu~: Ulrich Beck im Ge~ra'ch mit Johannes Willms, Frankfurt a.M. 2000, S. 58f.), weil das Politische fiber die fakultative Gestalmng und Regulierung des Okonomischen hinausgeht, da das Okonornische, wie auch die Form des Politischen yon anderen, wiederum politisch beeinflussbaren Faktoren abhiingig ist, wie Ideologie, Macht, Kultur und Norm. Wenn eine m6glichst unregulierte Wirtschaft materielle G/iter schaffen sollte, die einem Gemeinwesen zur Verf/igung stehen, dann stellt sich die Frage, was das Gemeinwesen mit den Giitern in welchem normativen Rahmen machen soll: Politik f'angt dan-tit erst an! Die Schlussfolgerungenm~issen auch nicht antinationaler oder antinationalstaatlicher Natur sein, wie das bei Beck (letztlich) der Fall ist, wenn auch eine zivilisationstheoretisch angebundene antinationalistische Einstellung durchaus zielfiihrend ist, was anhand der Ausf~ihrungen Nar geworden sein sollte.
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Frage kann im Kontext der Formierung und der schrittweisen Geltendmachung eines sich , , a n 6 w e s t l i c h " gerierenden (z.B. islamistischen) Gegenbundes oder Gegenakteurs schneller evoziert werden, als das jemand im Zeitalter ernsthafter transatlantischer Beziehungsspannungen vielleicht prophezeien mag. Andererseits kann eine geschickte Gegenstrategie antiatlantischer Kr~ifte (z.B. im Verbund mit dem Islamismus oder auf der Basis emer erfolgreichen Untergrabungs- und Dichotomisierungsstrategie desselben) das Zeitfenster, das mit der Gelegenheitsstruktur einhergeht und 1991 ge6ffnet wurde, endgiiltig schlieBen. Wann dieser Zeitpunkt eintritt, ist genauso wenig mit Exaktheit zu bestimmen wie die Frage zu beantworten ist, ob es fiberhaupt dazu kommen wird oder nicht. 22~
2204Vgl. insbesondere Bernhard Lewis, Der Untergang des Morgenlandes. Warum die islamische Welt ihre Vormacht verlor, Bonn 2002, S. 218-232.
XII. Perspektiven des transatlantischen Verhfiltnisses
Seit dem Irakkrieg hat sich eine tiefe Entfremdung zwischen Europ~iern und Amerikanern vollzogen, wobei Diagnostiker wie Robert Kagan zun~ichst einmal eine groBe ,,strategische Kluft" konstatieren. 22~ Europa ist im Zuge dieser Entfremdung wieder in eine Phase der Renafionalisierung der AuBenpolitik eingetreten, mit der Konsequenz des Wiederaufkommens der Machtzentren London, Berlin, Paris (wobei Moskau und Ankara noch zu erg~inzen w~iren), gar eine Wiederkehr der Achsenpolitik 22~ und die bittere Erkenntnis in vielen kleineren L~indern Europas, sich wieder st~irker den milit~irischen Mittelm~ichten innerhalb der EU zuordnen zu miissen (ohne dass in bestimmten Regionen Moskau aus den Augen verloren werden darf, k6nnte hinzugef~igt werden). Zugleich entfaltet sich zwar so allm~ihlich - unter Zuhilfenahme erfrischend , , u n e u r o p ~ i s c h " wirkender Gener~ile mit neuartiger , , e u r o m i l i t ~ r i s c h e r " Sachkenntm s - so etwas wie eine Politik, die langfristig eine neue Form europ~iischer Durchsetzungsf~ihigkeit nicht nut im Wirtschaftlichen und Zivilen, sondem (endlich) auch im Militiirischen verheiBen k6nnte, die aber auch noch viele geopolitische (Siidostflanke) und riistungstechnische (Kapazitiiten- und Kommandofragen) Hindernisse zu iibervfinden hat. Das ~indert natiirlich nichts an der trefflichst auf den Punkt gebrachten Zustandsbeschreibung europiiischer Marginalitiit in der Weltpolitik. U m mit Christian Hacke zu sprechen: ,,In dieser Welt im Umbruch demonstriert Europa rhetorischen Aktivismus, handelt aber wenig i~berzeugend. Die EU-Troika zeigt sich bisher ohne wesentlichen Einfluss und ohne krisenpolitische Autorit~it.''22~ Zu allem Ubel k o m m t aber nun seit dem jtingsten Irakkrieg die inneratlantische Entfremdung hinzu. Alle vorhergehenden Krisen der N A T O - sei es das Suezdebakel 1956, der Viemamkrieg in den sechziger J ahren, der Gaullismus und der Austritt Frankreichs aus der N A T O 1966 oder die Neutralisten- und Pazifistenbewegungen in den achtziger Jahren - reichen an die Tiefe des jiingsten Zerwiirfnisses nicht heran. 22~ Joachim Krause spricht noch deutlicher davon, dass die transatlantischen Beziehungen heute einen , , S c h e r b e n h a u f e n " darstellen. 22~ Dass die Urteile inzwischen so ,,bitter und schmerzhaft "221~ ausfallen, muss indes nicht gleich Grund zu transatlantischem Pessimismus sein, denn ,,w~iren Zuneigung und gegenseitige Abhiingigkeit geringet und wiirde man sich nicht in der Schuld des jeweils anderen f/.ihlen, dann wiirde man nicht
2205Vgl. Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Bonn 2003, S. 8. 22o6Vgl. Christian Hacke, Was bMbt yon der rot-gru'nenAuflenpolitik? Deutsche Neuorientierungen in zeithistoffs&er Perspektive, in: Neue Z/.iricher Zeitung, 15. Juni 2005. Die Entt~iuschungyon Christian Hacke wird sehr verst~indlich, wenn man seine Hoffnungen und WCmschekurz nach 1989 heranzieht: Vgl. Christian Hacke, Germany and the New Europe, in: David P. Calleo / Philip H. Gordon (Hg.), From Atlantic to the Urals. National Perspectives on the New Europe, Arlington (Virginia) 1992, S. 85-108, 103-108. 2207Christian Hacke, Die wellpolitische Rolle der USA nach dem 11. September2001, in APuZ B 51/2001, S. 16-23, 21. 2208So William Drozdiak, The North Atlantic Drift, in: Foreign Affairs, Bd. 84, Nr.1, 1/2-2005, S. 88-98, 91. 2209Vgl. Joachim Krause, Die transatlantischen Be~ehungen seit dem Ende des Kalten Krieges. Kieler Ana~sen zur Sicherheitspolitik Nr. 9, Kiel 2003, S. 3. 2210Michael Novak, Vision eines Amerikaners. Europa und Amerika im globalen Zusammenhang, in: Die politische Meinung Nr. 422 (01/2005), S. 25-32, 29.
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so leidenschaftlich streiten. ''2211 D e n n o c h ist Letzteres nicht mehr als ein kleiner Trost angesichts der grunds~itzlichen politisch-strategischen M6glichkeiten, die sich in einem gewandelten , , W e s t e n " zwischen Europa und Amerika ergeben k6nnten. Andererseits ist in Anlehnung an Reinhart Kosellecks geschichtswissenschaftliche Theorie der , , Z e i t s c h i c h t e n ''2212 zu betonen, dass der Irakkrieg ,,uns als epochales Ereignis erscheint, [sich aber] bei buchstiiblich tieferer Betrachtung als Teil einer Wiederholungssequenz oder als momentane Ver~inderung erweisen [kann], die keineswegs als Indiz fiir tektonische Verschiebungen in der historisch-politischen Welt missverstanden werden sollte. ''2213 Hierzu lassen sich jedoch plausible Gegenargumente anf'tihren. 2214 Worin aber liegen die Ursachen der angesprochenen E n t f r e m d u n g - seien sie nun epochenhistorisch maBgeblicher oder, wie vermutet werden s o l l - unmaBgeblicher Natur?
1. Zwischen Kluft und Zerwiirfnis: Das Problem der Machtasymmetrie Der Grund nach Robert Kagan liegt in der machtpolitischen Stiirke der USA (die Kagan metaphorisch als Kriegsgott Mars beschreibt) und der entsprechenden Schwiiche Europas (Europa wird mit Venus verglichen) nach dem Ende des Kalten K_rieges, als E u r o p a - nach einer schicksalhaften Phase der Lethargie und des Nichthandelns in Bezug auf neue machtpolitische Chancen, die sich auch fiir Europa 1990 schlagartig ergeben hatten 2215 - endgiiltig seine zentrale ,,strategische Position" verlor. 2216 ,,So betrachtet wirkt Europas heutige Neigung, die USA fiir ihr militaristisches D a h e r k o m m e n zu tadeln, wie der Versuch, das Beste aus seiner eigenen Schwiiche zu machen und sich selbst fiir seine Friedenspolitik zu loben, w~ihrend ihm gar keine militiirische Alternative zur Verfiigung steht. ''2217 Die Gegenposition (Joseph S. Nye, Wilfried von Bredow) geht indes von einem Mehrebenensystem der Internationalen Politik aus. Fiir eine machtvolle Politik m/.issten Initiativen auf a l l e n - insgesamt d r e i - Ebenen erfolgen: Nicht nur im Bereich der milit~irischen Macht, sond e m auch im Bereich der wirtschaftlichen Macht (zweite Ebene) und im Bereich des als relevant erachteten Machteinflusses auf die nicht-staatlichen Akteure transnationaler Politik (dritte Ebene). 2218 A u f dieser Basis kann zwar die europiiische AuBenpolitik weiterhin als ,,schwach" begriffen werden (da die erste Ebene nicht beherrscht wird), die amerikanische abet ebenso. 2219
2211Michael Novak, Vision eines Ame,ikaners. Europa und Amenka im globalen Zusammenhang, in: Die politische Meinung Nr. 422 (01/2005), S. 25-32, 29; entsprechend sinnvoll ist es, das amerikanisch-europ~iische Verhiiltnis in seiner Grundlage als exzeptionelles Spannungs- und I
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Eine K_luft besteht o h n e Zweifel insbesondere ,,im Hinblick auf Militiirtechnologie u n d die FS.higkeit zur m o d e r n e n Kriegsffihrung. ''222~ Eine amerikanische Kriegsffihrung wird darfiber hinaus durch priizise O p f e r v e r m e i d u n g s t e c h n i k e n v o n gesellschaftlichen Z u s t i m m u n g s h f i r d e n in einer Weise entkoppeh, welche auch einem demokratischen politischen System wie demjenig e n d e r USA die interessenpolitisch eventuell notwendige Rfickerlangung des ,,Primats der Aul3enpolitik" erm6glichen, auch w e n n diese Entwicklung spiitestens mit d e m Irakkrieg zuniichst einmal gestoppt wurde. 2221 D a die Regierungen der E U wie alle Regierungen handfeste Interessen verfolgen, m u s s t e n sie z.B. die A b w e h r einer amerikanischen Intervention im Irak (mit dessen Diktator m a n sich fiber die Gfiltigkeit der bestehenden Wirtschaftsvertriige trotz B o y k o t t m a B n a h m e n im Einvern e h m e n wusste) auf eine schlussendlich doppelb6dige Friedensrhetorik zurfickstutzen. D o c h ,,die A n s t r e n g u n g e n der europiiischen Regierungen, ihre 6 k o n o m i s c h e n u n d politischen Interessen auch gegen die USA zu verteidigen, k 6 n n e n nur dann glaubwfirdig sein, (...) w e n n die Nachkriegs-Rechtfertigungen ffir Europas tugendhafte N i c h t e i n m i s c h u n g in militiirischen Angelegenheiten an Kraft verlieren. ''2222 E u r o p a muss wieder - fiber den diplomatischen Einfluss hinaus - militiirisch u n d 6 k o n o m i s c h stark werden, abet nicht u m eines fibermotivierten, isolationistischen oder neoimperialistischen , , E u r o p ~ i s m u s " willen, sondern damit das K o n z e p t der ,,Atlantischen Zivilisation" nicht u n t e r h 6 h h wird. Die logische realpolitische Folge des Machtungleichgewichts wiire nS.mlich die Verfestigung eines unilateralen amerikanischen N e o imperialismus, egal ob n u n machtpolitischen, 6 k o n o m i s c h e n oder zivilisationsmissionarischen Charakters. Diese F o r m des Imperialismus, die mittelfristig zur , , U b e r d e h n u n g " der amerikanischen Macht mit allen ihren N e b e n f o l g e n 2223 ffihren wiirde, stfinde d e m m a c h t s y m m e t r i s c h e n oder machtteiligen K e r n einer Atlantischen Zivilisafon eindeutig entgegen. 2224 ,,Europa" kann im R a h m e n einer ,,Atlantischen Zivilisation" als ein m6glicher Schutz der Amerikaner vor ihrer eigenen , , U b e r d e h n u n g " verstanden werden. 2225 D o c h die Europiier mfissten endlich die alte realpolitische Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, dass der Imperialismus als eine mannigfaltige Reaktion auf eine stets gleiche, sich einfach aus der Ungleichheit v o n Macht ergebende Gelegenheit betrachten werden mfisste. 2226 Nur: Die dringenden Gegengewichte auf europ~iischer Seite k 6 n n e n keine rhetorischen oder ethischen Gegengewichte sein. 222v E u r o p a mfisste schlicht aufrfisten u n d sich auch zu einem guten 2220Robert Kagan, Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinander treibt, in: Bliitter f/it deutsche und intemationale Politik 10/2002, S. 1194-1206, S. 1197. 2221Vgl. Max Boot, The Struggle to Transform the Milita~, in: Foreign Affairs, Bd. 84, Nr. 2, 3 / 4 - 2005, S. 102-118. 2222Marcia Pally, Kreativ destruktiv, in: Berliner Zeitung, 5. April 2003, S. M01. 2223Vgl. sehr kritisch Michael Mann, Die ohnmdchtige Supermacht. Warum die USA die Welt nicht regieren k&nen, Frankfurt a.M. / New York 2003. Der Begriff der ,,0berdehnung" wurde gepriigt yon Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der groflen M?ichte. Okonomischer Wandel und milita~scher Konflikt yon 1500 b~r 2000, Frankfurt a.M. 1989, S. 759 und 794. Vgl. im Rahmen einer Hegemoniezyklentheorie auch Charles A. Kupchan, The End of the American Era. U.S. Foreign Poli~ and the Geopolitics of the Twenty-First Centu{y, New York 2002; Chalmers Johnson, Ein Imperium verJaTlt. Wann endet das amerikanische Jahrhundert?, M/inchen 2000; Emmanuel Todd, Weltmacht USA. Ein Nachruf, M/inchen 2003. Vgl. allgemein zur Hegemoniezyklentheorie auch Mancur Olson,/-O'seand Decline of Nations, Yale 1982. 2224 Vgl, David P. Calleo, Rethinking Europe's Future, Princeton / Oxford 2001, S. 384-387. 222sVgl. ebd., S. 339f. 2226Vgl. David S. Landes, Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin 1999. 2227Bsp. daf/ir bietet die europiiische Linke: Vgl. z.B. Natan Sznaider / Rainer Winter, Einleitun~ in: Ulrich Beck / Natan Sznaider / Rainer Winter (Hg.), Globales Amerika? Die kulturellen Folgen der Globalisierung, Bielefeld 2003, S. 7-21, 18: ,,Letztlich wird es auch ein Testfall f/it die Amerikanisierung der Welt sein, ob sich Amerika bereit erkliirt, sich neuen Regeln in einem geordneten Globalisierungsprozess zu unterwerfen." Als ob das die USA als nationalstaatliche Groi3macht jemals so ,,yon alleine" wirklich tun wollten, tun k6nnten. Fin weiteres sch6nes Beispiel also f/it freigiebige Realitiitsblindheit gegen/iber einer weiterhin anarchisch, nicht ,,transnational" strukturierten Intemationalen Politik.
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Teil in seinem Verteidigungsbewusstsein remilitarisieren. Alles andere ist politisch schlicht illusioniir. D o c h die Herausforderung Europas durch die nunmehr imperial agierenden Vereinigten Staaten wird in Europa notorisch unterschiitzt. 2228 Und ,,anstatt den Z u s a m m e n b r u c h der Sowjetmacht als Chance zu begreifen, weltweit die Muskeln spielen zu lassen, nutzten die Europ~ier die Gelegenheit, um eine ansehnliche Friedensdividende einzustreichen. Im Durchschnitt sanken die europiiischen Verteidigungsbudgets nach und nach auf unter 2% des BIP".2229 So droht dem Westen nun die Teilung, eigentlich ,,gerade in dem Augenblick, da seine Smnde gekommen ist. ''223~ Erst in jiingster Zeit gibt es Fortschritte in der europiiischen Riistungspolitik. Diese wurde zwar nicht durch Expansion der militiirischen Kapazitiiten auf den nationalen E b e n e n erreicht, aber dutch eine inzwischen iiul3erst enge riistungspolitische Zusammenarbeit und einer gemeinsamen Verteidigungspolitik. So erreichen die Milit~irausgaben aller EU-Mitgliedstaaten zusammengenommen zwar z.Z. nicht ann~ihernd so viel pro Jahr (175 US-S) wie in Amerika (500 Mrd. US-S), aber immerhin mehr als in China, Russland und Japan zusammen. 2231 Die Truppenst~irke der neugeschaffenen europiiischen Kontingente (,,European Task Forces") n~ihert sich sehr rasch dem in der Petersberger ErkEirung anvisierten Ziel von 60 Tausend Mann an (z.Z. 50 000) und wird in zehn J ahren wahrscheinlich bei 200 Tausend Mann liegen. 19 Tausend Europ~ier sind im Rahmen 15 nationaler Verb~inde von N A T O Mitgliedstaaten und im Rahmen der NATO-Kontingente im und um den Irak herum stationiert (nebst 137 Tausend Amerikanem und etwa 20 Tausend Mann aus privaten Sicherheitsdiensten2232), 7 Tausend in Afghanistan. Dazu k o m m e n 30 Tausend Mann im Rahmen von EU-Truppenkontingenten und 5000 Mann im Rahmen von EU-Polizeikontingenten in Albanien, Bosnien-Herzegowina, in Serbien-Montengro (Kosovo), in F Y R O M und im Kongo. Das reale militiirische Problem Europas indes, und daran hat sich seit dem Kalten Krieg nichts veriindert, ist die fehlende nukleare Kapazitiit auf europiiischer Ebene. 2233 Ohne eine gemeinsame nukleare Kapazitiit Europas wird Europa aufgrund seiner inneren Fragmentierung ein amerikanisches Protektorat bleiben. 2234 Dieses europiiische Manko f/ihrte schon 1970 zu einem metaphorischen Vergleich eines amerikanischen Politikwissenschaftlers zwischen Europa und den USA, der vage an die spiitere Mars-Venus-Dichtomie Kagans erinnert: Calleo verglich die USA mit Tarzan, Europa mit Jane. 2235 N6tig ist aber kein Protektorat, s o n d e m eine transatlantische Sicherheits- und Werte- - und, im Sinne der ,,Atlantischen Zivilisation", eine gemeinsame Politik- und Ideengemeinschaft. Die entscheidende politische Schlussfolgerung lautet also richtigerweise: ,,Die gegenwiirtigen Misshelligkeiten in den transatlantischen Beziehungen gehen, kurz gesagt, nicht auf das Konto von George Bush. Sie resultieren vielmehr aus der unterschiedlichen Machtverteilung. ''2236 2228Vgl. Herfried M~nHer, Imperien. Die Logik der Weltherrschaf4 Berlin 2005, S. 247f. 2229Robert Kagan, Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinander treibt, in: Bl{itter f~r deutsche und intemationale Politik 10/2002, S. 1194-1206, 1197. 2230Gary Geipel, Erkennt endlich: Es geht nicht um O1/ Europder und Amerikaner teilen nicht mehr die gleichen Werte, in: Frankfurter Allgemeine Zeimng, 6. Februar S. 10. 2231Vgl. (auch im folgenden) William Drozdiak, The North Atlantic Drift, in: Foreign Affairs, Bd. 84, Nr. 1, 1/2-2005, S. 88-98, 97. 2232Vgl. Peter W. Singer, Outsourdng War, in: Foreign Affairs, Bd. 84, Nr. 2, 3/4 - 2005, S. 119-132, 127. Singer ~itisiert diese Ausmage scharf. 2233So schon 1970 David Calleo, The Atlantic Fanta~: The U.S., N A T O andEurope, Maryland 1970, S. 142. 2234Vgl. ebd. 2235Vgl. ebd., S. 145. 2236Robert Kagan, Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinander treibt, in: Bliitter ffir deutsche und intemationale Politik 10/2002, S. 1194-1206, S. 1198.
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Aus der Grobheit der vorliegenden Machtasymmetrie folgt eine substantielle Interessendivergenz, welche die politische Realisierung des Konzepts ,,Atlantische Zivilisation" ernsthaft gefahrdet: Sofern niimlich das Handeln der USA ,,das Z u s t a n d e k o m m e n einer der Sicherheit der schwiicheren Staaten zutriiglicheren Weltordnung verz6gert, stellen sie objektiv eine Gefahr dar. ''2237 Diese Weltordnung hiitte v61kerrechtlichen Charakter und multilateralen Strukturcharakter unter dem Dach einer aktiven amerikanischen Garantiemacht. Daher haben die Europiier auf der Basis ihres Zivilcharakters und auf der Basis einer voranschreitenden Entmilitarisierung ein vitales Interesse an einem amerikanischen Multilateralismus, der ihnen in jener O r d n u n g Gestaltungsfreiheit lassen wiirde. Das Problem ist nur, dass ein solcher Mult~ateralismus aufgrund der militiirischen I<~uft nicht im nationalen amerikanischen Interesse liegen kann. Dieses Problem ist ,,struktureller Natur", insofern scheinbar , , u n l 6 s b a r " . 2238 Ein m6glicher, aber z.Z. h6chst unwahrscheinlicher 2239 Ausweg besteht darin, die Schere des ,,technological gap" so schnell wie m6glich wieder zusammenzufiihren. 224~Das Dilemma fiir die Zivilmachtbefiirworter freilich ist dabei, dass just in dem Moment, wo der Stiirkeunterschied aufgehoben ist, die Europiier wahrscheinlich auch das Interesse an einer primiir diplomatischen Aul3en- und Machtpolitik verlieren k6nnten. 2241 Ob - wie es sich insbesondere die Friedensforschung e r h o f f t - ,,innovative Strategien zur politischen Konfliktbearbeitung ''2242 wirklich aus diesem Dilemma helfen k6nnten, ist von einer realistischen Warte aus gesehen eher zweifelhaft. Den amerikanischen Koloss kontrollieren zu wollen, indem die sich nur auf Konfliktvorbeugung konzentrierenden Europiier ,,an sein Gewissen appellieren ''2243 - auf der Basis der Vorstellung der U b e r v ~ d u n g von elementaren Macht- und Sanktionsmechanismen in der Internationalen P o l i t i k 2244 - ist erst recht eine fahrliissige Politik. Es geht indes nicht darum, die ,,Konfliktvorbeugung" als sich entwickelndes genuines Profil einer europiiischen Sicherheitspolitik abzulehnen - egal, ob nun aul3erhalb oder unter Einschluss der transatlantischen ,,Machtfigur". Aber sich nur darauf Z u beschrdnken, vielleicht gar auBerhalb der transatlantischen ,,Machtfigur" - das wird das innerwestliche Sicherheitsdilemma nicht aufl6sen, eher im Gegenteil verschiirfen. N o c h problematischer erscheint die isolationistisch anmutende Vorstellung, sich in der Weltpolitik stark auf ,,Konflikt-vorbeugung" konzentrieren zu wollen, zugleich aber am Ausbau der Gewaltkapazit~iten festzuhalten und diesen Ausbau in der Begriindung auf die Notwendigkeit zuriickzufiihren und Zu beschrdnken, dass ,,die europiiisch-amerikanische Machtfigur lang-
2237Robert Kagan, Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinander tr~ibt, in: Bliitter f/it deutsche und internationale Politik 10/2002, S. 1194-1206, S. 1198f. 2238Ebd., S. 1204. 2239Vgl. Joachim Krause, Die transatlantischen Be@hungen seit dem Ende des Kalten Krieges. KielerAn@sen zur Sicherheit~oolitik Nr. 9, Kiel 2003, S. 5. 2240Vgl. insgesamt den guten Uberblick tiber die amerikanischen Militiir- und Strategiepotentiale:Martin Kahl, New Grand Strategy? Die Bush-Administration und die Beka'mpfung des internationalen Terrorismus, in: Wemer Kremp / J/irgen Wilzewski (Hg.), Weltmacht vor neuer Bedrohung. Die Bush-Administration und die US-Au.flenpolitik ha& dem Angriff auf Amerika, Trier 2003, S. 23-62. 2241Vgl. zum Zivilimachtskonzeptin Deutschland Henning Tewes, Germany, Civilian Power and the New Europe. Enlarging N A T O and the European Union, Basingstoke 2002. 2242 Ernst-Otto Czempiel, Nicht leongleich Zu gMch? Die USA und die Europdische Union, in: Merkur 617/ 618 (9/ 10, 54. Jg.), S. 901-915, 910. 2243Robert Kagan, Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinander treibt, in: Bliitter f/ir deutsche und intemationale Politik 10/2002, S. 1194-1206, S. 1199. 2244Ebd., S. 1201.
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sam symmetriert" werden soll. 2245 Hier wird - hiiufig wider eigenen Willen 2246 - einem ernsthaften transatlantischen Bruch das W o r t geredet. Aus realistischer Sichtweise wird gelegentlich das Modell der ,,Arbeitsteilung" zwischen Amerika u n d E u r o p a favorisiert: Eine entsprechende Position vertritt z.B. Michael R/ihle, Leiter des Referates Politische Planung u n d Reden in der Politischen Abteilung der N A T O . Riihle behauptet, dass auf der Basis der Akzeptanz der Unterschiede in den ,,strategischen Kulturen", und, b e z o g e n auf Ereignisse wie den Irakkrieg, auf der Basis der Normativitiit des Faktischen, eine ,,gemeinsame A g e n d a " m6glich sei, die sich im R a h m e n eines ,,Managements v o n A s y m m e t r i e " vollziehe. 2247 Eine ,,gemeinsame A g e n d a " also ist m6glich, auch w e n n ,,man wohl weiterhin in Z u k u n f t aneinander vorbeireden wird. ''2248 Dass E u r o p a sicherheitspolitisch ein Juniorpartner der USA bleiben wird, bedeutet aus dieser Perspektive nicht, dass E u r o p a und die USA sicherheitspolitisch inkompatibel wiirden. 2249 Das k6nnte sich aber genauso gut als Fehlkalkulation herausstellen, o b w o h l der ,,Traum v o n einer ,Juniorpartnerschaft' als realistisch propagiert w i r d . " W e r n e r Link hat insofern Recht, w e n n er die ,,Apologeten eines proamerikanischen Atlantizismus" fihr ,,semantische Zauberk/.instler" h~ilt225~ solange nicht wenigstens versucht wird, Symmetrien zu schaffen. Das heiBt indes eben nicht, dass d e m Atlantizismus als solchem abgeschworen werden muss, im Gegenteil. E r w~ire im Idealfall der ,,Atlantischen Zivilisation" kein ,,proamerikanischer" oder , , p r o e u r o p ~ i s c h e r " , sondern ein durch und durch ,,atlantischer". Natiirlich wird diese ideelle D i m e n s i o n nicht v o n niichternen M a c h t t h e o r e t i k e m wie W e r n e r Link in Betracht gezogen: Hier muss bezeichnenderweise auf die A r g u m e n t a t i o n v o n neokonservativen Stimm e n zur/.ickgegriffen werden, weil diese - trotz ihrer grunds~itzlichen Schw~ichen im universalistischen W e l t b i l d - inzwischen die einzigen zu sein scheinen, welche die Idee einer ,,europiiischen Juniorpartnerschaft" in einer F o r m kritisieren, die weit fiber die Sicherheitspolitik hinaus geht. Aus dieser Perspektive scheint eine Pl~idoyer f/.ir eine ,,europ~iische Juniorpartnerschaft" nicht beruhigend zu sein, sondern - w e n n auch wohl u n g e w o l l t - rabulistisch. Bei Robert Kagan z.B. geht es bei der A s y m m e t r i e nicht n u t u m eine Frage des Prozesses 2251, sondern der
2245So Ernst-Otto Czempiel, Nicht yon gleich Zu gleich? Die USA und die Europa'ische Union, in: Merkur 617/618 (9/10, 54. Jg.), S. 901-915, 910ff., insbd. S. 912: ,,Europas Aufrfistung finder also ihren eigentlichen Sinn im Ausgleich [sic!] der Machtkapazit{iten mit den USA. Den weltpolitischen Interessen Europas ist nut mit einer besseren Vorbeugungspolitik gedient." Vgl. auch Ernst-Otto Czempiel, Kluge Macht. AuJ~enpolitikfiir das 21. Jahrhundert, M~inchen 1999. 2246Ganz eindeutig bei Czempiel: Vgl. Ernst-Otto Czempiel, Nicht yon gMch W gleich? Die USA und die Europa'ische Union, in: Merkur 617/618 (9/10, 54. Jg.), S. 901-915, 914. 2247Michael Riihle, Amerika und Europa. Von der Notwendigkeit, einandergelegentlich Zu entta'uschen, in: Die Politische Meinung, 47. Jahrgang, Nr. 394, September 2004, S. 81-86, 85f. 2248Ebd., S. 86. 2249Vgl. ebd.; ~ihnlich argumentiert William Drozdiak, The North Atlantic Drift, in: Foreign Affairs, Bd. 84, Nr. 1, 1/22005, S. 88-98, 95ff. Vgl. ;,ihnlich Herbert K_remp, Transatlantische Tagesordnung, Die Welt, 10. November 2004 und Tilman Mayer, Leitende Ideen in der transatlantirchen Integration. Zu Fragen yon Integration, Zusammenarbeit und dem GleichgeMcht der Krdfte in Europa und innerhalb der transatlantischen Be~ehungen, in: Reinhard C. Meier-Walser / Susanne Luther (Hg.), Europa und die USA. Transatlantische Be~ehungen im Spannungsfeld yon RegionalMerung und Globalisierung, M{inchen 2002, S. 137-147, 144. 22s0 Wemer Link, Europa'ische Sicherheitapolitik. Der Ausgang Europas aus einer selbstvers&uldeten Unmiindigkeit, in: Merkur 617/618 (9/10, 54. Jg.), S. 916-928, 927. Die K_ritikLinks an die ,,aufge-ld~irtenAtlantiker" indes (ebd.) und die Favorisierung eines an die propagierte europ{iischen Verteidigungsidentit{it gekoppelten, alternativen ,,europ~iischen Gesellschaftsmodells" (diffus und unbestimmt ebd., S. 927f.) f(ihrt m.E. in eine nutzlose und fragw6rdige europS.istische Sackgasse. 22sl So Michael Riihle, Amerika und Europa. Von der Notwendigkeit, einandergelegentlich W entta'uschen, in: Die Politische Meinung, 47. Jahrgang, Nr. 394, September 2004, S. 81-86, 86.
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Substanz. Er fragt: ,,Wiirde die amerikanische Gesellschaft sich nach und nach von dem losl6sen, was wir heute den Westen nennen"? 2252 Die ,,atlantische Phantasie" oder ,,atlantische Vision" in sicherheitspolitischer Hinsicht wiire ja nach Calleo (und da ist er heute aktueller denn je) eine Reform in eine interdependenzorientierte Richtung, die eine Integrierung der amerikanischen V o r m a c h t in ein potentiell politisch-(kon)f6deratives, auf jeden Fan mit supranationalen E l e m e n t e n eines wahrhaft ,,integrierten" Generalstabes und eines im Sinne einer ,,Atlantischen A r m e e " integrierten Militiirapparates ausgestattetes Gebilde, langfristig m6glich machen k6nnte. 2253 U n d w e n n das aus realpolitischen Griinden, infolge der grogen Macht, des Vorsprungs und der Eigenwilligkeit der USA, nun nicht m6glich sein sollte, so sollte es zumindest eine voile Integration aller zugleich forcierten Mittel militiirischer F o r s c h u n g zuniichst in E u r o p a und vielleicht dann auch im transatlantischen R a h m e n geben, im Sinne eines profiUerten Zwei-Siiulen-Modells. D e n n an der Zustandsbeschreibung Calleos hat sich nichts ver~indert: , , N A T O is not so m u c h a body without a head as it is a kind of military central nervous system lacking not only a head, but a body a s w e l l . ''2254 Ein solches ,,Nervensystem" erfordert durchaus einen starken, einheitlichen europiiischen Pfeiler. Letzterer indes wird sich nicht im R a h m e n der vorgegebenen supranationalen Strukturen der E U realisieren lassen. Hier wiire eine neue, stiirker auf die europiiischen Grol3miichte zugeschnittene und intergouvemementale Kooperationsstruktur mit effizienten eigenstiindigen Mechanismen gefragt.
2. Ideologisierung der AuBenpolitik: Europ~iische und amerikanische Illusionen 2.1 EuropaTsche Tr/~ume und das Problem des Moralismus
Angesichts der skizzierten Probleme erscheint die europiiische Flucht ins Larmoyante und Moralisierende, wo sie denn geschieht, fahrliissig zu sein. Diese F o r m der Fahrliissigkeit wird von Eckard Bolsinger auf folgenden Punkt gebracht: ,,Wer den Leviathan angreift, gewinnt nicht den Frieden und die Freiheit zur/ick, die er dutch ihn scheinbar in Gefahr sah. Das k/inftige Leben wird vielmehr kriegerischer und freiheitsbedrohender sein, wenn der globalen, ordnungsstiftenden Macht die Gefolgschaft aufgek/indigt wird. Es werden weltpolitisch und weltwirtschaftlich hiirtere Zeiten kommen - und Deutschland und Europa werden allein sein."2255 Zielsetzung der europiiischen Linken (Habermas u.a. 2256) ist es, die aus historisch-strukturellen und militiirischen Griinden innereuropiiisch zum Tragen gekommene, segensreiche ,,Methode des Friedens" und des supranationalen Zusammenschlusses von Nationalstaaten 2257 in die ganze Welt zu exportieren. Wer realistisch denkt, weil3 freilich, dass die regionale Integration
2252Robert Kagan, Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinander O~ibt, in: Bliitter ffir deutsche und internationale Politik 10/2002, S. 1194-1206, 1205. 2253Vgl. David Calleo, The Atlantic Fantasy: The U.S., N A T O and Europe, Maryland 1970, S. 29. 2254Ebd., S. 29f.; vgl. femer Konrad Adenauer, Erinnerungen 1955-1959 (Band III), Stuttgart 1968, S. 155, 163, 244f., 319f., 336, 342. 2255 Eckard Bolsinger, Die drei Sa'ulen der transatlantischen Be@hungen - Etinnerung an die Welt von gestern, in: htt-p://www, hausrissen,org/forschung/saeulen.htm, 15.06.2004. 2256J/irgen Habermas, Adolf Muschg, Umberto Eco, Gianni Vattimo, Femando Salvater, Jacques Derrida, Richard Rorty. 2257Vgl. Jeremy Rifldn, Der Europa'ische Traum. Die Vision einer Msen S@ermacht, Frankfurt / New York 2004.
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Europas, die (wie schon ausgef/.ihrt) realpolitisch am besten zu erkl~iren ist, nach allen G r u n d gesetzen der Internationalen Politik wohl ein Sonderfall bleiben wird. D o c h diesen wohlbegrimdeten Einw~inden gegeniiber unbeeindruckt lautet das Credo des n e u e n ,,europiiischen Sendungsbewusstseins" nicht nur innerstaatliche, sondern auch zwischenstaatliche Beziehungen defmitiv unter die Herrschaft des Rechts zu stellen. 2258 Interessant erscheint dabei die Vorstellung, dass die D e m o k r a 6 s i e r u n g der Welt auf der Basis eines ,,egalit~iren Universalism u s " zwar als gangbar und wiinschenswert angesehen wird, doch glaubt H a b e r m a s - im Gegensatz zu den amerikanischen N e o k o n s e r v a t i v e n 2%9 - dass sich D e m o k r a t i e und Rechtsstaatlichkeit in verschiedenen n o r m a t i v e n O r d n u n g e n und Praktiken verschiedenartiger kultureller Leb e n s f o r m e n auch verschiedenartig realisieren lassen. 226~ I n s b e s o n d e r e der Ansatz v o n Habermas, der als typischer Ausfluss einer wirklich existierenden europ~iischen Befmdlichkeit w a h r g e n o m m e n w e r d e n muss, ist unrealistisch. Dass dieser Mangel an Realismus bei H a b e r m a s zustande k o m m t , muss grunds~itzlich mit seinem fehlenden Politikverst~indnis in V e r b i n d u n g gebracht werden, denn dass ,,Realit~it u n d Idealit~it nicht, und schon gar nicht im Feld des Politischen, iibereinstimmen ''2261 wird v o n H a b e r m a s in sein e m D e n k e n grundsiitzlich nicht angemessen beri.icksichtigt: Das P r o b l e m besteht darin, dass H a b e r m a s (wie Rousseau) v o n einer bei i h m typischen , , D i o c h o t o m i s i e r u n g zweier E b e n e n " a u s g e h t - jener der ,,IdealitSt" u n d jener der ,,Realit~t" (sehr sch6n konkretisierbar z.B. anhand der Begriffe ,,System" und , , L e b e n s w e l t " oder ,,FaktizitSt" u n d ,,Geltung"). Diese D i c h o t o m i sierung f'uhrt E r n s t Vollrath auf eine dichotomisierende politik-kulturelle A p p e r z e p t i o n in E u r o p a u n d speziell in D e u t s c h l a n d zuri~ck, die sich in eine ideal- u n d metapolitische u n d in eine realpolitische A p p e r z e p t i o n aufspaltet. Beide A p p e r z e p t i o n e n w i e d e r u m differenzieren sich auf einer graduellen Skala zwischen hochkultureller u n d vulgiirer Auspr~igung. Liefert H a b e r m a s selbstverst~indlich eine hochkulturelle Variante der idealit~itszentrierten Apperzeption, so sind z.B. die vulg~iren Varianten auf der Seite der ,,IdealitSt" i m banalem Kulturalismus Deutschlands zwischen 19. u n d 20. Jahrhundert, auf der Seite der ,,RealitSt" beim U r h e b e r des Begriffes ,,Realpolitik ''2262 anzusiedeln. 2263
2258Vgl. J{irgen Habermas, Was bedeutet der Denkmalsturz? Verschli~en Mr nicht die Augen vor der Revolution der Weltordnung: Die normative Autor#dtAmerfkas liegt in Trdmmern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. April 2003, S. 33. 2259Beim amerikanischen ,,Neokonservativismus" handelt es sich um eine strukturalistisch-interventionistische Schule, die sich ideologiehistorisch aus einer jCldisch-trozkistischen und zionistischen Linken l'nit New Yorker Ursprung herleitet. Die wichtigsten Stationen waren: City College, Brooklyn College, Columbia University. Vertreter: Robert Kagan, Richard Perle, Paul Wolfowitz, William Kristol vom ,,Weekly Standard" (der Sohn des Ideologiebegr6nders Irving Kristol), Richard Armitage, Norman Podhoretz (Weltpolizist USA) oder Richard Rorty (Weltpolizist UNO). Dazu sollten noch im operativen Bereich gerechnet werden: Personen wie Dick Cheney, Douglas Feith, Lewis Libby (alle Pentagon), Elliot Abrams (NSC) und John R. Bolton (State Department), einflussreiche Publizisten wie Charles Krauthammer, William Satire und George Will (mit Beitr~tgenu.a. im ,,Wall Street Journal'S), Think Tanks und Projektgruppen wie das ,,American Enterprise Institute", das ,,Center for Strategic and International Studies" und das ,,Project for the New American Century" und Publikationsorgane wie die j{idische ,,Commentary", die ,,Washington Times" und die Medien ,,National Interest", ,,Weekly Standard" und ,,Fox News" (die Inhaberschaft der letzten beiden Medien liegt bei Rupert Murdoch) (Vgl. Stefan Fr6hlich, Hegemonialer Internationalismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. April 2003, S. 8; Ulrich Menzel, Paradoxien der Neuen Weltordnung, Frankfurt a.M. 2004, S. 110-116; vgl. auch aus pal~iokonservativer Sicht Patrick j. Buchanan, Where the Right Went Wrong. How Neoconservatives subverted the Reagan Revolution and H~'acked the Bush President7, New York 2004, S. 37-59. 2260Vgl. J{irgen Habermas, Was bedeutet der Denkmalsturz? Verschli~en Mr nicht die Augen vor der Revolution der Weltordnung: Die normative AutodtdtAmerikas liegt in Trdmmern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. April 2003, S. 33. 2261Ernst Vollrath, Zwei Begrfffe des Politischen?J~'rgen Habermas und die sta'm's&e Fakti~tdt des Politischen, in: Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Politisches Denken. Jahrbu& 1994, Stuttgart / Weimar 1995, S. 175-192, 181. 2262August Ludwig von Rochau, Grundsdtze der Realpolilik, angewendet auf die staatlichen Zustdnde Deu/s&lands, Stuttgart 1859.
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In einem weiteren Sinne k6nnten die weltpolitischen Denkansiitze von Habermas in ihrem Realitiitsgehalt in etwa mit einer weiteren idealitiitsgesteuerten Aneignung weltpolitischer Entwicklungen aus dem Jahre 1800 verglichen werden: In den Anf~ingen der bewussten Nationsbildung glaubte einer der grogen deutschen Idealisten die Entwicklung des Kapitalismus zum Weltsystem (,,die gemeinsame Ausbeute der iibrigen Welt", Kolonialismus, Sklavenhandel) n u t dutch einen W e g verhindern zu k6nnen: dutch die Abschniirung langer Handelsketten vermittels einer dutch selbstbewusste ,,V61ker" und ,,Nationen" vereinbarten Weltgesellschaftsordnung ,,geschlossener Handelsstaaten". 2264 Wom6glich hiitte so etwas ,,rein logisch" tatsiichlich Kolonialismus, Sklavenhandel und Ausbeutung verhindern k6nnen2265: nur, es war von Anfang an unrealistisch. Das friihneuzeitliche E u r o p a war im iibrigen immer eine expansive K u l m r unter anderen, wie z.B. Felipe Fern~indez-Armesto in seinen langjiihrigen Studien i m m e r wieder herausgearbeitet hat. 2266 Die Folge der historischen Unm6glichkeit eines ,,geschlossenen Handelsstaates" fiihrte schlieBlich dazu, dass Fichtes K o n z e p t nicht nur von Gelehrten wie Habermas, sondern sogar von nationalstaatsbejahenden und konservativen deutschen Professoren (eine anscheinend untergehende Spezies) als etwas angesehen wird, was ,,auf dem Friedh o f der Philosophiegeschichte" ruhe. 2267 Geblieben ist freilich die (weiterhin) wichtige Idee Fichtes v o n d e r Universal- und Allgemeinbildung als Nationalerziehung, die davon abhiingig ist, dass es sich seiner Selbst bewusste ,,V61ker" und ,,Nationen" iiberhaupt gibt und dass diese wichtige Bildungs- und Kosmopolitievoraussetzung auch keinem Menschen (auch den Deutschen nicht) vorenthalten werden sollte. 2268
2.2 Ameffkanische Trdume und das Problem des Missionatismus
Erst langsam scheinen emige skeptische Meinungsfiihrer in den USA zu begreifen, dass Demokratisierung und Befreiung bzw. Demokratisierung und Liberalisierung gerade aul3erhalb des Westens zwei ganz unterschiedliche Dinge sein k 6 n n e n und dass in diesem K o n t e x t eine Demokratisierung ohne tiefgreifende und andauernde Rechtsstaats- und Infrastrukturentwicklung auf der Basis eines konsistenten 6konomischen Wachstums nicht nur nicht pazifierend,
Ernst Vollrath, Zwei Beg@ des Politischen?Jiirgen Habermas und die st6rrische Fakti~xa't des Politischen, in: Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), PolitischesDenken. Jahrbuch 1994, Stuttgart / Weimar 1995, S. 175-192, 181. 2264Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Der geschloJ~neHandelsstaat. Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer kiinftieg Zu liefernden Politik, T/ibingen 1800. 2265 Vgl. zLlr (il-n Gegensatz zu anderen Traditionen yon heutigen ,,Deutschlandskeptikern<' kaum betonten) Absenz der Sklaverei in der deutschen Nationalgeschichte, fbrigens im Unterschied wiederum zur russischen: Jfirgen Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, Mfinchen 2000, S. 7-13. Vgl. zu Russland ebd., S. 32f. 2266Vgl. insbesondere Felipe Fem(mdez-Armesto, Millennium. Die Weltgeschichte unseresJahrtausends, 5. Aufl., Mfinchen 1998; vgl. exemplarisch auch Ders., Ideas that changed the world, New York 2003, S. 182f. (zu China), 188s (zum Islam) und 194f. (zu Japan). 226vJosef Isensee, Die vielen Staaten in der einen Welt- eine Apologie, in: Zeitschrift flit Staats- und Europawissenschaften 1/2003, S. 7-31, 11. 2268,,So hat man an dem ausgebreiteten Welthandelssysteme uns die Vorteile der Bekanntschaft der Nationen untereinander dutch Reisen, und Handelschaft, und die vielseitige Bildung, die dadurch enstehe, viel angepriesen. Wohl: wenn wir nur erst V61ker und Nationen wiiren; und irgendwo eine feste Nationalbildung vorhanden wiire, die dutch den Umgang der V61ker miteinander in eine allseitige, rein menschliche fibergehen, und zusammenschmelzen k6nnte. Aber, so wie mires scheint, sind wir fiber dem Bestreben, Alles zu sein, und allenthalben zu Hause, nichts recht und ganz geworden, und befinden uns nirgends zu Hause." (Johann Gottlieb Fichte, DergeschloJ~neHandelsstaat. Einphilosophischer Enlwurf als Anhan2, wr Rechtslehre und Probe einer kiinftig Zu liefernden Politik, Tfbingen 1800, III, 512). 2263 Vgl,
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s o n d e r n im Gegenteil eine G e f a h r fiir den Frieden darstellen kann. 2209 Unabhiingig d a v o n hatte schon Daniel J. B o o r s t i n klar a u f die N o t w e n d i g k e i t einer ,,Lincolnian view" hingewiesen, dass die A m e r i k a n e r z u m Schutze ihrer Freiheit, keinen K r e u z z i i g e fiir diese fiihren diirften, weil dieses Widerspriiche evoziere: ,,Like Lincoln, these people [the Lincolnians] hate slavery anywhere, but they doubt their capacity to make a perfect world. Their main concern is to preserve and improve free institutions where they now exist. [...] If the Lincolnian view involves us in the seeming contradiction of defending our institutions without insisting on propagating them, this is nothing but the contradiction within the idea of freedom itself, which affirms a value but asserts it only to allow a competition among values. We must refuse to become crusaders for liberalism, in order to remain liberals. We must refuse to try to export our commodity. We must refuse to become crausaders for conservatism, in order to conserve the institutions and the genius which have made America great.''227~ E r s t a u f der Basis eines derartigen Verzichts ist eine ,,Atlantische Zivilisation" gangbar u n d eine planetarische I n t e r e s s e n v e r t e i d u n g s p e r s p e k t i v e (in V e r b i n d u n g mit einem kulturalistischen R e s e r v e n a u f b a u im Inneren) statt einer universalistisch-interventionistischen P e r s p e k t i v e 2271 m6glich. D e r n e o k o n s e r v a t i v e I n t e r v e n t i o n i s m u s , der eine d u r c h A m e r i k a , , w e l t p o l i z e i l i c h " flankierte, also amerikanisch flankierte, liberale ,,Weltinnenpolitik" begriinden m 6 c h t e , k 6 n n t e sich als sehr k o n t r a p r o d u k t i v erweisen. D a s P r o b l e m dabei ist k o n k r e t zu v e r a n s c h a u l i c h e n an der interventionistisch orientierten Unilateralismusstrategie der A m e r i k a n e r seit E n d e der n e u n z i g e r Jahre, also nicht der Unilateralismus als solcher ist a u f g r u n d der M a c h t a s y m m e t r i e den A m e r i k a n e r n v o r z u w e r f e n , s o n d e r n das, was sie aus ihrer M a c h t machen. Ein V e r z i c h t a u f imperiale E x p a n s i o n wiire n u n allerdings fiir die U S A in der T a t eine ,,beispiellose E n t s c h e i d u n g ''2272, also schlicht unwahrscheinlich. Die W e n d u n g v o n d e r ,,beispiellosen E n t s c h e i d u n g " des Historikers Hans-Jiirgen S c h r 6 d e r aus den Jahre 1979 verweist a u f das heute entscheidende P r o b l e m , das D a v i d P. Calleo 1970 schon f o l g e n d e r m a B e n a u f g e w o r f e n hat: Sollten die U S A hierfiir die K r a f t aufbringen, wiire es vielleicht m6glich, dass die U S A u n d E u r o p a ,,might even c o m e to believe that their greatest c o n t r i b u t i o n to the w o r l d c o m m u n i t y lay in the civilization, which they achieved at h o m e , rather than the p o w e r they exerted abroad. ''2273 In den W o r t e n Klaus v o n B e y m e s formuliert: ,,Ein P a r a d o x o n der Vorbildrolle A m e r i kas ist, dass die M o d e l l w i r k u n g u m so schwiicher wurde, je stiirker das L a n d in seiner Weltmachtrolle g e w o r d e n ist. ''2274 Diese T h e s e liisst sich durchaus auch auf die Situation D e u t s c h l a n d s nach 1945 a n w e n d e n : Hier hat eben nicht n u t die Bedingungslosigkeit einer mit allen vereinten Mittel planetarisch in
2269Vgl. Fareed Zakaria, The Future of Freedom. IlliberalDemocrag at Home andAbroad, New York 2003. 2270 Daniel J. Boorstin, The Genius of American Politics, Chicago / London 1953, S. 188f. In Amerika liisst sich dieses antijakobinische, ,,uramerikanische" Anliegen gegenwiirtig leider nur noch auf der {iuBersten und letztlich - trotz anderslautender Bekundungen - isolationistischen Rechten deutlich vemehmen: vgl. Patrick j. Buchanan, Where the tbght Went Wrong. How Neoconservatives subverted the Reagan Revolution and Hyacked the Bush Presidency, New York 2004, S. 253. Zwar bestreitet Buchanan Isolationist zu sein, abet er fordert eben nicht nut die Abkehr vom Imperialismus, sondem auch sehr pauschal, dass Amerika ,,die Truppen heimholen" und ,,alten Vertragsverpflichtungen aus der Zeit des Kalten K_rieges auslaufen zu lassen" (vgl. ebd., S. 253). Das ist nun real isolationistisch. 2271 s. die treffende Rekapitulation in Martin Kahl, New Grand Strategy? Die Bush-Administration und die Bekdmpfung des internationalen Terrorfsmus, in: Wemer Kremp / Jtirgen Wilzews~ (Hg.), Weltmacht vor neuer Bedrohung. Die BushAdministration und die US-Auflenpolitik nach dem Angtfff auf Amerfka, Trier 2003, S. 23-62, 61f. 2272Hans-Jtirgen Schr6der, Ametfka als Modell? Das Dilemma der WashingtonerAuflenpolitik gegen#ber revolutiondren Bewegungen im 20. Jahrhundert, in: Erich Angermann (Hg.), Revolution und Bewahrung. Untersuchungen zum Spannungsgefiige yon revolutiond rem Selbstverstdndnis undpolitischer Praxis in den Vereinigten Staaten yon Amerfka, Mtinchen 1979, S. 189-242, 193 (= Historische Zeitschrift, Beiheft Nr. 5). 2273David Calleo, The Atlantic Fantasy: The U.S., N A T O and Europe, Maryland 1970, S. 145. 2274Klaus yon Beyme, VorbildAmerfka? Der Einfluss der amerfkanischen Demokratie in der Welt, Mtinchen 1986,S. 157.
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Gang gesetzten , , A n t i - H i t l e r - K o a l i t i o n " , sondern auch die (z.T. durch den Kalten Kxieg bedingte) amerikanische Zuriickhaltung beim Aufbau der politischen Institutionen in Deutschland die entscheidende Ursache fiir den deutschen Demokratieerfolg nach 1949 a b g e b e b e n natiirlich neben der im Gegensatz zu 1919 nunmehr erm6glichten 22v5 positiven wirtschaftlichen Entwicklung, die mindestens genauso wichtig war. Jedenfalls fanden sowohl der Priisidentialismus als auch das ,,undeutsche" Senatsprinzip des F6deralismus in Deutschland keine Anwendung, nur die Verfassungsgerichtsbarkeit wurde, ob ihres offensichtlichen Erfolgs, von den deutschen Verfassungsviitern bereitwillig in das Grundgesetz aufgenommen. 2276 Es ist heute auch kein iiberzeugendes Gegenargument gegen das Gebot der Zuriickhaltung, dass (expansives) globales Engagement und Landesverteidigung heute aufgrund des rapiden, globalen Kommunikations- und Techniktransferfortschritts ,,unaufl6slich miteinander verbunden" sind. 2277 gs ist richtig, dass die USA und der Westen ihre Souveriinitiit und Unabhiingigkeit nur ,,durch eine Strategie globalen Engagements zu schiitzen ''2278 in der Lage sind. Doch muss dieses globale Engagement, wenn es milit~irisch ist, also mit Gewalt durchgefiihrt werden muss, an rein sicherheits- und verteidigungspolitischen, militiirisch-strategischen und zugleich defensiven Maximen orientiert sein und nicht an demokratiepolitisch-offensiven, well letztere in Bezug auf nicht-westliche Kulturkreise die Gefahr bergen, sich in ihren Zielen als unrealistisch und in ihrem Charakter als doppelmoralisch, und damit, bei entsprechender Anwendung, sowohl moralisch als auch politisch und propagandistisch, als kontraproduktiv zu erweisen. Und gerade wegen des Technologietransfers ist eine Verteidigungsperspektive geboten, da dieser Transfer schon jetzt eine ,,Diffusion der Macht" mit sich gebracht hat, noch bevor sich die aul3erwestlichen Kulturen und Staaten, welche sich der westlichen Technik militiirisch fleil3ig bedienen, iiberhaupt im Ansatz demokratisieren konnten. Die technologiebedingte ,,Diffusion der Macht" besteht darin, dass die Verbreitung von Technologie die ,,instrumentellen F~ihigkeit nicht-westlicher" und zugleich nicht-demokratischer Staaten schon liingst fiber ein priiventiv oder offensiv kontrollierbares Mal3 hinaus gestiirkt hat. 2279 Eine den weltmissionarischen Versuchungen entgegenstehende, aber durchaus (gezwungenermaBen) priiventiv agierende 228~ Weltverteidigungsperspektive des Westens kann zwar auf der Basis des amerikanischen Machtpotentials, in dem Moment, wo sie priiventiv vorgehen muss, durchaus als ,,imperial" defmiert werden, doch handelt es sich nicht mehr um einen demokratiemoralischen Imperialismus, sondern um einen traditionellen, konzentrierten, liberalpartikularistischen ,,Aufbauimperialismus" im altbritischen Sinne, der sich damit verbinden sollte: Das reicht von Nachahmungsvarianten alter britischer Indien-, Hongkong- oder Jkgyptenpolitik oder amerikanischer Deutschland- und J apanpolitik, geht idealiter vom Prinzip ,,Hilfe zu Selbsthilfe" aus und liisst selbstverstiindlich nicht-westliche Varianten von Staatsordnun-
227SVgl. Forrest Davis, The Atlantic System. The Sto{y ofAnglo-Ameffcan Control of the Seas, New York 1941, S. 338. 2276Vgl. Klaus von Beyme, VorbildAmerika? DerEinfluss deramerikanischen Demokratie in der Welt, MCinchen1986, S. 70s 108ff., 125-130. 2277Martin Kahl, New Grand Strategy? Die Bush-Administration und die Bekdmpfung des internationalen Terrorismus, in: Wemer Kremp / J/irgen Wihewski (Hg.), Weltmacht vor neuer Bedrohung. Die Bush-Administration und die US-Auflenpolitik ha& dem AngriffaufAmerika, Trier 2003, S. 23-62, 56. 2278Ebd., Fn. 130. 2279Vgl. als Basis Joseph Nye jr., Bound to Lead. The Changing Nature of Ame,ican Power, New York City 1990, S. 115ff. und 173ff. 2280Dazu geh6ren z.B. die geheimdienstliche und n~lit{irische Sicherung yon Rohstoffquellen und die zeitige und geziehe Bombardierungyon waffentechnisch umfunktioniertenAtomreaktorenproblematischerStaaten.
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gen zu, solange alles andere aufgrund der gesellschaftlichen und kulmrellen Vorausset zungen nicht realistisch ist. 2281 Fine ,,Vorbildrolle" A m e t f k a s ist ohnehin ,,am gesichertsten in solchen E p o c h e n [gewesen], (..) in denen Amerika weder zu schwach n o c h zu miichtig gewesen ist. ''2282 Die u n b e g r e n z t e n Machtpotentiale der USA, wie sie heute v o r z u f m d e n sind, bergen also eine ganz groBe G e f a h r in sich: Die Gefahr der Selbstiiberschiitzung. 2283 Die beispiellosen Erfolge des amerikanischen Interventionismus in der Geschichte fiihren in den USA teilweise zu fatalen heilsgeschichtlichen Selbstbespiegelungen und Uberheblichkeiten, die einer Erweiterung eines an sich symbolisch wichtigen, aber rein iiuBerlichen und profanen ,,amerikanischen Katholizismus" u m eine reh'gib's anmutende K o m p o n e n t e V o r s c h u b leistet, als k 6 n n t e n die USA den Vatikan ersetzen u n d der Priisident die geistigen Aufgaben des Papstes zum Zwecke eines ,,katholischen Protestantismus" i i b e m e h m e n u n d zugleich auf diesem Wege die Welt zum wahren G l a u b e n fi.ihren. 2284 Dass der amerikanische Priisident nicht nur Priisident seines Landes ist, s o n d e m auch Beschfitzer einer westlichen Zivilisation und vielleicht gar der Beschiitzer eines informellen , , R e i c h e s der Freiheit", das er zweifelsohne als Einziger zu ,,fiihren" in der Lage ist 2285, reicht eben nicht an die geistigen A uf g a b e n des religi6sen Katholizismus heran. 2286 D a m i t er iiberhaupt die westliche Zivilisation beschiitzen kann, miisste er gerade auf diese religi6se Aura verzichten. D e r ,,amerikanische Katholizismus", wie er sich durchaus m sehr produktiver und positiver Weise in der barocken iiuBerlichen Symbolik des Landes iiul3ert228v, diirfte, zum W o h l e des Westens, nicht mit der geistigen Ausstrahlung der (r6misch-)katholischen Una Sancta gleichgesetzt werden. 2288 A b g e s e h e n davon ist das Ganze ohnehin eine philosophische Unm6glichkeit. N e b e n diesen unverantwortlichen Mustern neuartigster Welthybris, die nicht m e h r v o n ein e m Missionsgedanken abgetrennt werden k6nnten, ergibt sich fiir die Vertreter eines diesem missionarischem Eifer entsprechenden, , , p r o a k t i v e n " amerikanischen Interventionismus das Problem, dass die Missionare in diesem K o n t e x t so tun miissen, als ob sie es i m m e r noch, wie 1941-1989, mit totalitiiren Grol3systemen als Feinden zu tun hiitten, welche die ,,zivilisierte Menschheit" bedrohten. D o c h gerade das fiihrt zu weiteren Fehleinschiitzungen, da es sich bei
2281Das ist die Kemthese von Niall Ferguson, Das verleugnete Imperium. Chancen und Risiken ametfkanischer Macht, Berlin 2004; vgl. zum ,,altbritischen" Verstiindnis auch die Rede Joseph Chamberlains, britischer Kolonialminister 1895-1903, vor dem Royal Colonial Institute am 31. Miirz 1897 in Charles W. Boyd (Hg.), Mr. Chamberlain's Spee&es, Band 2, London 1914, S. 2-5. 2282So die Schlussfolgerung nach liingerer Untersuchung in Klaus von Beyme, Vorbild Amerika? Der Einfluss der amerikanischen Demokratie in der Welt, M/inchen 1986, S. 172. 2283Vgl. insbesondere David P. Calleo, Rethinking Europe's Future, Princeton / Oxford 2001, S. 339f. und 384-387. 2284 VgL Wemer Kremp, Ist der Amerikanismus ein Katholi~smus?, in: Anton Hauler / Wemer Kremp / Susanne Popp (Hg.), Die USA als historisch-politischeund kulturelle Herausforderung. Vermittlungsversuche,Trier 2003, S. 117-141,122-125. 2285Vgl. Christian Hacke, Zur Weltmacht verdammt. Die ameffkanische Auflenpolitik yon J.F. Kennedy bis G.W. Bush, 2. Aufl., M/inchen 2002, S. 23. Der Begriff ,,westliche Zivilisation" taucht bei Hacke in diesem Kontext als ,,Atlantische Zivilisation" auf.. 2286Tendenziell anders Wemer Kremp, Ist der Amerikanismus ein Katholi~smus?, in: Anton Hauler / Wemer Kremp / Susanne Popp (Hg.), Die USA als historisch-politische und kulturelle Herausforderung. Vermittlungsversuche, Trier 2003, S. 117141,129. 2287Vgl. ebd., S. 119-122. 2288 Anders sieht das Werner Kremp (vgl. ebd., S. 122-125). Konsequenterweise (muss man m.E. sagen), sind Enttiiuschungen in so einem Fall vorprogrammiert, da sich der ,,Gliiubige" von Amerika Sinnstiftung erhofft und auf die Erl6sung der Welt und der Menschen dutch ,,Amerika" hoffen zu k6nnen glaubt. Amerika ist aber nun mal nicht Weltengott und wird das auch nie sein k6nnen. Und je stiirker jemand Amerika in diesen Kontext stellt, desto stiirker stellt er sich aul3erhalb der tiber Augustinus errungenen Standards seiner eigenen, westlichen Zivilisation und huldigt, ohne es zu merken, immer stiirker einer zu ,,Gott" erhobenen Staatsmasse, die mittels einer antizipierenden Hybris zwangsliiufig zur schlechtesten aller staatlichen Formen, zur reinen ,,Riiuberbande" mutieren m/.isste, die sich selbst f/it etwas besseres hiilt.
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den aktuellen Feinden des ,,Westens" nicht mehr um staatlich-institutionelle Totalitarismen, sondem um einen spirituellen Totalitarismus handelt, der auf ganz anderen Wegen kiimpft und dem nicht mit universalistisch-katholischer Energie und Gewalt, schon gar nicht mit weltlichkatholischer seiner Art, sondem nur mit sphiirischer Einteilung sowie priiventiver und aktiver Verweigerung mit allen zur Verfiigung stehenden Mitteln beizukommen ist. Die Erwartung, dass die USA die menschliche Geschichte zu einem Ende fiihren k6nnten, sollte im Ubrigen nach dem 11. September 2001 erst recht aufegegeben werden. D o c h genau jener 11. September scheint unter der ]~gide der Regierung Bush in den USA zu der Vorstellung gefiihrt zu haben, dass nicht nut eine harte und prim~ir militiirische amerikanische Unipolaritiits- und Hegemonialpolitik (im Sinne eines amerikanischen prfmus solis) i m amerikanischen Interesse liege, sondem nunmehr die ganze Welt ,,demokratisiert" werden miisse. A u f drei Gegenargumentationen soil am Ende zusammenfassend hingewiesen werden: Z u m e r s t e n w i r d ein ,,Clash of Civilizations" durch die zwangsliiufige zivilisationsmissionarische Aufladung einer amerikanischen Unilateralitiit- Kriege werden in Demokratien naturgem~il3 m o r a l i s i e r t - wahrscheinlicher gemacht, als er es jetzt schon ist. 2289 Dabei entpuppt sich die Moral des Interventionismus im AuBeren ohnehin bei niiherem Hinsehen als eine Moral eher rhetorischer Natur und wird wohl von zahlreichen Entscheidungstriigern gezielt zum Zwecke der Kaschierung militiirisch flankierter Interessenpolitik gebraucht, deren eventuelle (tragische) Notwendigkeit in einer Demokratie ohne pathetischen Moralismus nicht sehr einfach zu vermitteln ist. 229~Ein vitales Interesse der USA liegt z.B. darin, ,,eine gr613ere Kontrolle der C)Ivorr~ite in einer ungliicklicherweise instabilen und feindseligen Region ''2291 zu erlangen 2292, und zwar auch in Konkurrenz zu den sich zwar friedlich gebenden, aber 61politisch immer agilen Regierungen der EU, die notfalls mit irakischen Diktatoren (in der Zeit des Embargos auch informell) oder iranischen Mullahs eng zusammenarbeiten. 2293 Z u m zweiten ist zu bedenken, dass eine ausgepriigte Machtpolitik im )~ugeren dem freiheitlichen Republikanismus im Inneren entgegensteht, oder wie es der demokratische Priisidentschaftskandidat William Jennings Bryan 1900 formulierte: , , N o nation can long endure half republic and half empire", in offenkundiger Analogie zu Lincolns 1858 getiitigten Warnung, dass keine Nation auf Dauer ,,half slave and half free" sein konne. 2294 Es ist sicherlich wichtig zu fragen, ob jetzt, da die USA zur unipolaren Weltmacht aufgestiegen sind, dieser Satz derart virulent wird, dass eine Gef';ihrdung der freiheitlichen Merkmale des US-Systems im Falle eines imperialen Engagements fiir die Zukunft ableitbar wiire, insbesondere in einem antiterroristischen Kontext. 22% Das Problem dabei ist freilich, dass angesichts der vorfmdbaren Weltlage 2289 Vgl. Barry Buzan, From International to World Society? English School Theory and the Social Structure of Globalisation, Cambridge 2004, S. 266. 2290Amulf Baring hat es mal so formuliert: Washington m/isse, ,,urn die erforderliche innenpolitische Aufmerksamkeit" f/it wichtige aul3enpolitische Belange der USA zu gewinnen, ,,grol3eWorte gebrauchen, laut auf die Pauke hauen, von irgendeinem Reich des B6sen reden." (Amulf Baring, Unser neuer Gr4&nwahn. DeutscMand Z'Mschen Ost und West, 2. Aufl., Stuttgart 1989, S. 191). 2291Marcia Pally, Kreativ destruktiv, in: Berliner Zeitung, 5. April 2003, S. M01. 2292 Vgl. Katja R/ib / J/irgen Wilzewski, Dominan z statt Abschreckung. Amerikanische AuJYenpolitik nach dem 11. September, in: Wemer Kremp / JCirgen Wilzewski (Hg.), Weltmacht vor neuer Bedrohung. Die Bush-Administration und die US-AuJYenpolitik nach dem Ang~aufAmerfka, Trier 2003, S. 9-20, 12f. und 19. 2293Vgl. zu letzterem Aspekt auch MichaelJeismann, Die blaue Blume Amerikas. Von wegen Welthegemon: George W. Bush erkla'rt den Sied~ in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Mai 2003. 2294Vgl. Willi Paul Adams, Die USA vor 1900, M/inchen 1999, S. 128. 2295Vgl. Patrick Horst, Das amerikanische Notstandsregime nach dem 11. September 2001 - eine ,,wehrhafte Demokratie" auf Abwegen?, in: Wwe Backes / Eck:hardJesse (Hg.),Jahrbuch Extremismus und Demokratie. 16. Jahrgang 2004, Baden-Baden 2004, S. 59-82.
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die isolationistische Alternative als Hebel zur W a h r u n g amerikanischer Sicherheitsinteressen fast genauso unrealistisch ist wie ein demokratiepolitischer Weltmoralismus unter A c h t u n g aller im zivilen Bereich geltenden Rechtsstaatsstandards. 2296 ,,Die amerikanische D e m o k r a t i e ist indes selbst in Zeiten des nationalen N o t s t a n d e s " , in denen sie sich seit S e p t e m b e r 2001 weiterhin befmdet, ,,stark und lebhaft genug, u m nahezu ohne Tabus fiber die Politik der Regierung zu streiten. ''2297 U n d die amerikanischen Gerichte haben es bisher nicht nur vermei den k6nnen, ,,extralegalen M a B n a h m e n den Anstrich der VerfassungsmiiBigkeit zu geben ''2298, sie haben jiingst auch die Praxis des amerikanischen Militiirgef~ingnisses in Guantfinamo verworfen. Dass ein auBenpolitisch einzuschlagender W e g des Realismus im AuBeren emsthafte, also systemgefahrdende K o n s e q u e n z e n fiir den Stand der Biirgerrechte u n d Freiheiten in den USA haben muss, ist also eine iiuBerst probabilistische Behauptung. 2299 D o c h w~ire t rot zdem die Gefahr v o r h a n d e n , republikanische Errungenschaften mittelbar zu gefahrden, w e n n eine Miltarisierung herbeigefiihrt wiirde, wo sie nicht notwendig wiire. Eine G e f a h r d u n g der inneren Verfasstheit resultiert d e m n a c h schlicht durch U b e r d e h n u n g der eigenen M6glichkeiten. So gibt David P. Calleo zu bedenken: ,,As an American, I do not want to see my country ending up as the West's last would-be hegemon, at war with all the rising powers of Eurasia. This would seem to me a tragic and unworthy denouement for America's great experiment with continental democracy and for its half century of enlightened international leadership.''23~176 Z u m dritten spricht eine niichterne auBenpolitische Analyse gegen die weltmissionarische Variante: Die Theorie der Gegenmachtbildung. W e n n die USA (und Europa) langfristig 23~ nicht versuchen, sich in einer pluralen M a c h t o r d n u n g dutch weitestgehende A d a p t i o n einzufmden, wird es zu konfrontativ statt kompetitiv orientierten eurasischen G e g e n m a c h t b i l d u n g e n k o m men. U n d diese M6glichkeit besteht durchaus, da das heutige unipolare Miichtesystem nicht absolut ist. Das wiire es nur dann, w e n n es zwischen der unipolaren (Super-)Macht, die auch n o c h mit ihren langfristigen d e m o g r a p h i s c h e n 23~ geographischen und innenpolitischen Retardationen betrachtet werden miisste, und kleinen ,,mittleren M~ichten" keine E b e n e v o n regionalen GroBm~ichten gebe; diese sind jedoch vorhanden23~ In Eurasien Russ/and, eine potentielle Supermacht, und das leichtere Gegengewicht Ukraine, in E u r o p a das in einem 50 T ausend Mann starken E u r o k o r p s seit 1992/93 militiirisch eng z u s a m m e n a r b e i t e n d e E S V G - K e r n d u o Deutsch-
zugespitzt Alan M. Dershowitz, Why Terrorism Works. Understanding the Threat, ReJToondingto the Challenge, New Haven / London 2002, S. 105-163. 2297Vgl. Patrick Horst, Das amedkanische Notstandsregime nach dem 11. September 2001 - eine ,,wehrhafte Demokratie" auf Aawegen?, in: Uwe Backes / Eck:hardJesse (Hg.),Jahrbuch Extremismus und Demokratie. 16. Jahrgang 2004, Baden-Baden 2004, S. 59-82, 81. 2298Ebd. (vgl. insgesamt dazu ebd., S. 80f.). 2299Zur restriktiven Informationspolitik der amerikanischen Exekutive vgl. ebd., S. 64f. Zu den strittigen Notstandsmitteln geh6rt insbesondere die Militiirverordnung von Priisident Bush vom 13. November 2001 (Einrichtung von Militiirtribunalen in Bezug auf feindliche Kombattanten und die Verfahrensweisen in Bezug auf exterritorial intemierte Ausliinder in diesem Kontext. Zum zugkriiftigsten Symbol fiir die Auseinandersetzungen in der Intemierungsfrage hat sich naturgemiif~ das skandal6se Camp X-Ray im amerikanischen Marinestiitzpunkt Guantanamo Bay auf Kuba entwickelt). Weiterhin im Inneren umstritten ist die mit dem ,,USA Patriot Act" initiierte Antiterrorgesetzgebung, welche die .. Uberwachungsm6glichkeiten des Staates effektiv erweiterte. 2300David P. Calleo, Rethinking Europe's Future, Princeton / Oxford 2001, S. 384. 2301Kurz- bis mittelfristig wird es wohl bei einer Supermacht (i.e. einer unipolaren Weltordnung) bleiben (vgl. Barry Buzan, The United States and the Great PowerJ. World Politics in the Twenty-First Centu{7, Cambridge 2004, S. 90f.). 2302Schon jetzt betr{igt die Gesamtzahl der amerikanischen Bev61kerung nicht einmal ffinf Prozent der Weltbev61kerung. 2303Vgl. Samuel P. Huntington, The Lon@ Supe~ower, in: Foreign Affairs, 03/04 - 1999, Bd. 78, Nr. 2, S. 35-49, 35f. und Kenneth N. Waltz, Globalization and American Power, in: The National Interest, spring 2000, S. 46-56, 55f. 2296 V g l .
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land und Frankreich (flankiert v o n den E u r o k o r p s - M i t g l i e d e r n Belgien, L u x e m b u r g , Spanien) u n d das leichtere G e g e n g e w i c h t Groffbritannien ( z u n e h m e n d flankiert v o n Polen, Tschechien, D i i n e m a r k u n d Holland), im N a h e n und Mittleren O s t e n Iran und Irak u n d die G e g e n g e w i c h t e Tiirkei, Israel, evtl. )~gypten, Saudi-Arabien, in Ostasien China, eine potentielle Supermacht, u n d die leichteren G e g e n g e w i c h t e Japan, Su'dkorea, in Siidasien Indien und das leichtere G e g e n g e w i c h t Pakistan, in Lateinamerika Brasilien u n d das leichtere G e g e n g e w i c h t Argentinien LISW. 2304 Frankreich zeichnet sich geopolitisch (in Afrika u n d im g e s a m t e n Mittelmeerraum) - iihnlich wie (in O m n i p o t e n z ) die USA und (inzwischen in schwiicherer F o r m ) O r o B b r i t a n n i e n durch auBerregionale Einflusssph{iren aus. Frankreich wird dabei z u n e h m e n d v o n einem in strategischer Partnerschaft mit Russland befmdlichen D e u t s c h l a n d politisch u n d militiirisch flankiert. Wie die Einflusssphiiren zwischen den USA u n d Russland in Zentralasien u n d im Mittleren O s t e n (Georgien, A r m e n i e n , Aserbaidschan, Kirgisien, Kasachstan, Usbekistan, T u r k m e n i s t a n , Tadschikistan, Tiirkei, Iran, Tschetschenien), so iiberkreuzen sich auch i m m e r wieder die Einflusssph;,iren der USA u n d Frankreichs in Afrika, wie zuletzt in Liberia u n d in der Elfenbeinkiiste, abet auch in Ostafrika (Sudan, Somalia, Ruanda, Burundi, Uganda, K o n g o ) zu sehen war. D i p l o m a t i s c h e n u n d milit~irischen Einfluss w i e d e r u m fiben Briten, Franzosen, D e u t s c h e , Italiener, Russen u n d die U S A in verst~irktem Mal3e in Siidosteuropa aus ( Z y p e m , Griechenland, Tiirkei, Serbien, M o n t e n e g r o , Albanien, Bulgarien, Rumiinien, Kroatien). Aus diesem I3berblick heraus sind i n s b e s o n d e r e China, aber auch Russland klar als regionale G r o g m i i c h t e mit Aufstiegspotential zu erkennen. Zieht m a n die gesamte Literatur zur M a c h t e i n o r d n u n g heran, so k~imen evtl. n o c h das Trio D e u t s c h l a n d - F r a n k r e i c h - Grol3britannien u n d J a p a n als potentielle Aufsteiger in Frage. 23~ W e l c h e Q u i n t e s s e n z ist zu ziehen?
,,Sooner or later even the haphazard pursuit of universal hegemony will pit the United States not just against relatively helpless 'rogue states' but against rising Eurasian great powers. Here confrontations can easily involve mass armies and strategic nuclear weapons, a course that seems likely to end badly for the world in general, and for the United States itself [...]. From this perspective, the unipolar mindset that has dominated the American political imagination since the End of the Cold War is egregiously wrong-headed [...]. Americans urgently need to find a less dysfunctional vision of themselves and how they should act in the world. In doing this, they will almost certainly need the help of the Europeans. Without a strong and reasonable Europe, America will find it increasingly difficult to sustain its own inner balance. Without a strong independent ally that is also a friend, the United States may never emerge from its strategic cave.''23~ Fiir die a n g e s p r o c h e n e ,,Vision" ware die Idee der ,,Atlantischen Zivilisation" geradezu hervorragend geeignet. Calleo hat in k n a p p e n W o r t e n dargelegt, aus w e l c h e m G r u n d e die P r o p a N e 2304Vgl. Samuel P. Huntington, TDe Lonely Supe~ower, in: Foreign Affairs, 03/04 - 1999, Bd. 78, Nr. 2, S. 35-49, 36; Barry Buzan, The United Stales and the Great Powers. World PoliUcs in the Twenty-First Centu~7, Cambridge 2004, S. 65f.; Zbigniew Brzezinski, Die ein~ge Weltma&t. Ame,ikas Strategie der VorherrscDaft, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 2002. Brzezins~ z{ihlt in Europa allerdings Grol3britannien nicht zu den regionalen Grol3miichten, sondem nur Deutschland und Frank_reich. Auch Israel im Nahen und Mittleren Osten stellt bei Brzezinski keine regionale Groi3macht, sondem nur ein ,,Problem" dar (vgl. ebd., S. 79). 230sVgl. Barry R. Posen / Andrew L. Ross, Competing VMonsfor US Grand Strategy, in: International Security, 21 (3), S. 5-53, 17; David P. Calleo, The United States and the Great Powers, in: World Policy Journal, 16 (3), S. 11-19; Robert j. Guttman (Hg.), Europe in the New Centu{7: Visions of an Emerging Supepower, Boulder 2001; Charles A. Kupchan, The End of the American Era: US Foreign Pol@ and the Geopolitics of the Twenty-First Centu~, New York 2002, insbesondere S. 119159; David Wilkinson, Unipolarity Mthout Hegemony, in: International Studies Review 1 (2), S. 141-172; Kenneth N. Waltz, Structural Realism after the Cold War, in: International Security 25 (1), S. 5-41; Barry Buzan, The United States and the Great Powers. World Politics in the Twenty-First Centu{7, Cambridge 2004, S. 110-119; Weitere Literaturangaben, auch speziell zu Japan und China, finden sich bei Barry Buzan, The United States and the Great Powers. World Politics in the Twenty-First Centu~, Cambridge 2004, S. 70f. 2306David P. Calleo, Rethinking Europe's Future, Princeton / Oxford 2001, S. 385f. Vgl. femer ebd., S. 339f.
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rung u n d politische U m s e t z u n g der Idee einer ,,Atlantischen Zivilisation" sogar im langfristigen geo- u n d aul3enpolitischen Interesse der USA liegen muss: ,,In the great Eurasian drama that is to come, we can pray that both Europe and America play their parts well, that each exercises its own best form of leadership. For the United States, this means exorcising the demon of unipolarity. For Europe, it means consolidating its Union and accepting once more the responsibilities of great power. For both, it means finding together the political and institutional imagination needed to embrace the rising power of China and Russia.''23~ D a b e i ist auch E u r o p a gefordert, das sich - iihnlich wie die Vereinigten Staaten - ideologisch zu fiberschiitzen d r o h t 23~ i n d e m es einem fiberambitionierten Generalintegrationismus anhiingt ( , , V e r f a s s u n g s r h e t o r i k " u.ii.), statt sich stiirker auf n u t ganz b e s t i m m t e Politikfelder, i n s b e s o n d e r e die Europiiische Verteidigung, zu k o n z e n t r i e r e n u n d sich a n s o n s t e n fiber den Freihandel im K o n t e x t einer starken Konfdderation zu defmieren. Aus der Position ,,Atlantischer Zivilisation" heraus, die nicht ,,europS.istisch ''23~ u n d auch nicht , , a m e r i k a n i s t i s c h " , s o n d e r n , , a t l a n t i s c h " sein m 6 c h t e , ist dabei der Realismus in der Au13enpolitik die einzig vernfinftige K l a m m e r zwischen verfehltem missionarischem Eifer auf der einen (militiirisch-unilateralistischen) u n d der anderen (moralistisch-multilateralistischen) Seite. N i c h t nur H a n n a h A r e n d t u n d R a y m o n d A r o n , s o n d e r n auch H a n s j. M o r g e n t h a u , bilden die G r u n d p f e i l e r einer ,,Atlantischen Zivilisation". Alle drei z u s a m m e n ,,schlugen sich w e d e r auf Amerikas n o c h auf E u r o p a s Seite ''231~ wie es z.B. die Isolationisten u n d Jacksonianer 2311 auf der einen u n d die Europiiisten auf der anderen Seite i m m e r wieder tun. Als Vertreter dieser Atlantischen Zivilisation u n d damit auch als Realist, hiitte M o r g e n t h a u heute ,,sowohl die ,Arroganz der Macht' der A m e r i k a n e r als auch die ,Arroganz der O h n m a c h t ' der Europ~ier kritisiert. ''2312 Die Frage lautet ,,wie lange A m e r i k a n e r u n d Europ~ier n o c h nass w e r d e n wollen, b e v o r sie g e m e i n s a m die Energie aufbringen, ein transatlantisches Haus zu z i m m e m , das den n e u e n Realitiiten der Welt nach jenen Ereignissen v o n t e k t o n i s c h e m Ausmal3 - 9 / 1 1 / 8 9 ffir die Europiier u n d 1 1 / 9 / 0 1 ffir die A m e r i k a n e r - auch institutionell gerecht wird. Erst d a n n wiire das historische Kapitel des Kalten I
3. Die Gefahren eines europ~iisch-amerikanischen Auseinanderdriftens W e n n b e d a c h t wird, dass trotz aller I n t e r e s s e n d i v e r g e n z e n (Irak, Iran- u n d Kubapolitik, z.T. China- u n d Tfirkeipolitik), die Z u s a m m e n a r b e i t zwischen den U S A u n d E u r o p a ,,ohne Alter-
2307David P. Calleo, Rethinking Europe's Future, Princeton / Oxford 2001, S. 387. 2308Vgl. ebd., S. 340. 2309Vgl. historisch Edward W. Chester, Europe Views America. A Critical Evaluation, Washington D.C. 1962, S. 137-149. 2310Tim B. Mfiller, AuJ~enpolitik als missionarischer Trip. Pla'd~erfiir einen neuen Realismus: Eine Tagung in Miinchen untersucht, was der Pra'sident der Vereinigten Staaten yon Hans J. Morgenthau lernen k&nte, in: S/iddeutsche Zeitung, 3. November 2004, S.15. 2311Heute sind es neben den idealistischen Traditionen eher die scharfen jacksonianischen Traditionen in der amerikanischen Aul3enpolitik, welche die hervorragenden hamiltonianischen Traditionen mehr und mehr zur/ickdriingen. Besonders in der Kampf- und Militiirfilihrung ist das zu einem grogen Problem geworden, das zur Sorge Anlass gibt. (vgl. Walter Russel Mead, The Jacksonian Tradition and American Foreign Polif7, in: The National Interest, winter 1999/2000, S. 1-25.). 2312Christian Hacke, zitiert nach Matthias Oppermann, Die Kunst des Wirklichen. Was ist in der Politik schon realistisch?Eine Miinchener Tagung iiber HansJ. Morgenthau, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.11.2004, S. 37. 2313Ulrike Guerot, Europa und Amerika: business as usual? Die Zeit ist reiffiir einen US-EU-Vertrae~ in: Intemationale Politik, Januar 2005, S. 54-60, 55.
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native" bleiben wird 2314, dann wiirde die Gefahr beim weiteren transatlantischen Auseinanderdriften darin bestehen, dass die durch den militiirischen Stiirkeunterschied kurzfristigen Interessendivergenzen in der W a h r n e h m u n g - vermittels asymmetrischer I n t e r e s s e n d u r c h s e t z u n g - in u n a n g e m e s s e n e r Weise iiberbewertet wiirden. 2315 D e r Blick auf die g e m e i n s a m e n Herausforderungen wiirde vernachl~issigt werden. Die wichtigste Interessengemeinsamkeit ist gegenwiirtig die islamistische Herausforderung. Z u m U m g a n g mit ihr geh6rt zuv6rderst die aktive u n d priiventive A b w e h r islamistischer Terrorangriffe, so weit wie m6glich die Zuriickdriingung des radikalen Islamismus auf globaler Ebene, auf jeden Fall die Unterstiitzung gemiiBigter F o r m e n des Islams in allen Erdteilen und, w e n n m6glich, auch die Unterstiitzung demokratischer Strukturen in islamischen oder islamisch beeinflussten Riiumen, ,,wie schnell oder langsam diese Entwicklung auch i m m e r stattfmden mag. ''2316 Als weitere atlantische Interessengemeinsamkeiten lassen sich aufziihlen: -
Freiheitliche politische und Freihandelssysteme im Westen erhalten und Konkurrenz mit China und Indien vorteilhaft gestalten Freie Ordnungen im Westen sichem, erhalten und verteidigen und - so gut es geht - freiheitliche Ordnungen aul3erhalb des Westens, dort wo sie durch emstzunehende Kriifte angestrebt wird - bef6rdem Zugang des Westens zu allen Energievorriiten in der Welt sichem, den ,,freien Zugang" erhalten und erweitern und zugleich die Abhiingigkeit yon fossilen Energietriigen sukzessive minimieren. Finanzpolitische Mai3nahmen gegen die Gefahr der Dollarkrise ergreifen. Proliferation von Massenvernichmngswaffen stoppen.
I m Zeitalter des m t e m a t i o n a l e n Terrorismus diirfen die Europiier sich ihre Schw~iche langfrisfig nicht m e h r leisten. W e n n die transatlantische Krise fiir Amerika keine G e f a h r ist, so ist sie es fiir E u r o p a allemal, wie sogar die Realisten unter den Linken gliicklicherweise betonen: Die ,,exteme Spaltung des atlantischen Biindnisses" liiuft auf eine ,,Selbstgef~ihrdung E u r o p a s hinaus. ''2317 A u f die Sowjetunion konnte n o c h diplomatisch u n d wirtschaftspolitisch D r u c k ausgeiibt werden u n d die Amerikaner hatten ein vitales Selbstinteresse an der Aufrechterhalrang der konventionellen u n d nuklearmilitiirischen Pr~isenz in E u r o p a , da es sich im Gegensatz z u m r a u m u n g e b u n d e n e n Operieren des internationalen Terrorismus bei der R o t e n A r m e e u m eine reguliire Festlandsarmee mit potentieller Territorialexpansionsausrichmng nach W e s t e n auf der Basis eines territorial geschlossenen Betiitigungsfeldes zwischen West- u n d Mitteleuropa handelte. W e n n die Europiier heute terroristisch angegriffen werden, werden sie nicht territorial erobert. Die A b w e n d u n g terroristischer Anschl~ige auf E u r o p a stellt insofern eme Interessenposterioritiit fiir die Amerikaner d a r - und zwar im viel st~irkeren Mal3e als die territoriale E r o b e r u n g E u r o p a s durch den sowjetischen Gegenspieler, so wie sie bis 1989 milit~irisch u n d politisch in Erwiigung gezogen werden musste. Unabh~ingig davon betont sogar Kagan, dass die Vorstellung v o m ,,gemeinsamen, westlichen W e r t e b e s t a n d " m e h r als ein Klischee 2318 ist. Hier geht er mittelbar k o n f o r m mit Calleos 2314Michael RCihle,Amerika und Europa. Von der Notwendigkeit, einandergelegentlich Zu entt?iuschen, in: Die Politische Meinung, 47. Jahrgang, Nr. 394, September 2004, S. 81-86, 82. 2315 Ansatzweise bei Ernst-Otto Czempiel, Nicht yon gMch Zu gleich? Die USA und die Europa'ische Union, in: Merkur 617/618 (9/10, 54. Jg.), S. 901-915. 2316Michael Novak, P~sion eines Amerikaners. Europa und Amerika im globalen Zusammenhang, in: Die politische Meinung Nr. 422 (01/2005), S. 25-32, 30. 231vVgl. zur BegrCindung Ulrich Beck / Edgar Grande, Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Pol#ik in der Zweiten Moderne, Frankfurt a.M. 2004, S. 326f. 2318So z.B. wiihrend des Irak-Krieges in einem, was die Kriegsmotivbegrfindung- erst recht im Nachhinein betrachtet - v61lig indiskutablen, ansonsten aber recht aufschlussreichen Artikel: Gary Geipel, Erkennt endlich: Esgeht nicht um Ol!
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Ansicht, dass der Begriff des Atlantizismus, trotz seines auch machtpolitischen Charakters, sich nie alleine in Zynismus und radikalem Selbstinteresse ersch6pfen kann. 2319 Kagan bezieht letzteres abet interessanterweise - in typischer Manier eines Neokonservativen - auf einen universalistischen, nicht partikularistischen Ansatz, den die politischen GroBeinheiten beiderseits des Atlantiks verfolgen (beide erstreben also das G u t e fiir die , , M e n s c h h e i t " schlechthin, nicht das G u t e zuv6rderst fiir die eigene ,,zivilisierte Welt"). 232~Da n i m m t es nicht Wunder, dass ein im Verlaufe der negativen Irak-Erfahrungen , , z a h m " gewordener Kagan, solange er an seiner Kritik am Universal- und Moralskeptizismus des klassischen Realismus festhiilt, von Ulrich Beck gerade deswegen pl6tzlich gelobt wird. 2321 Ahnlich wie Kagan argumentiert Philip H. G o r d o n : ,,Obwohl Amerikaner und Europ~ier sich in taktischen Fragen nicht i m m e r einig sind, teilen sie doch dieselben Vorstellungen von Freiheit und Demokratie nicht nur, was die eigene Gesellschaft be#ffft. ''2322 Letzteres genau ist aber das Problem: Weltpolitischer Universalismus gebiert automatisch einen unrealistischen Imperialismus. U n d dem hielt David P. Calleo in aller Klarheit schon zu Zeiten des Kalten Krieges entgegen: ,,Isolationism and a kind o f overbearing imperialism are thus reverse sides o f the same utopian coinage. ''2323
4. Die Position des skeptischen Realismus Da es sich bei einer unrealistischen Position immer u m eine F o r m des Isolationismus handelt, muss die introspektive Politik heute demnach auch als ein europ~iisches, kein amerikanisches Phiinomen m e h r angesehen werden. 2324 Adenauers Worte, dass die Europ~ier ,,aus der E n g e und Kleinheit Europas herausdenken ''2325 m/.issten, aktueller denn je. Einen Ausweg aus dem moralischen Dilemma der Europ~ier indes kann nut eine partikularistische Moraltheorie garantieren, negativ konnotiert eine , , D o p p e l m o r a l " : Die H e r a u s f o r d e r u n g nach Robert C o o p e r bestehe darin, ,,sich an den G e d a n k e n der D o p p e l m o r a l zu gew6hnen." Michael Walzer argumentiert sanfter und differenziert zwischen einem covering-law-Universalismus, der abzulehnen sei, und einem (m6glichst einzul6senden) ,,reiterativen Universalismus". 2326 Letzteres bedeutet, dass jede , , B e f r e i u n g " von Menschen im Sinne des covering l a w - sowohl auf einer Zeit- als auch auf einer r~iumlichen Achse - immer nur partikular realisiert werden kann. 2327 Die Verschiedenheiten des individuellen, sozialen und kollektiven Selbstseins, auch und gerade der , , P a t r i o t i s m u s " , werden durch den Universalismus so nicht aufgel6st, was nichts anderes als ,,Autonomie" und Freiheit bedeutet. 2328 ,,Die Gerechtigkeit scheint ihrem Charakter nach
Europa'er undAmeffkaner teilen nicht mehr die gleichen Werte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 10; wobei sogar Geipel,
sich selbst wiedersprechend, zwischen dem Besitz von Werten und den daraus resultierenden Handlungen unterscheidet und die scheinbar un~iberbrfckbaren Differenzen bei Letzterem ansiedelt. 2319Vgl. David Calleo, The AtlanticFantasy: The U.S., N A T O and Europe, Maryland 1970, S. 100s 2320Vgl. Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerfka und Europa in der neuen Weltordnung, Bonn 2003, S. 121. 2321Vgl. Ulrich Beck / Edgar Grande, Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt a.M. 2004, S. 325. Vgl. zur Realismuskritik yon Beck ebd., S. 376-380. 2322Philip H. Gordon, Bridcken iiber den Atlantik, in: Rheinischer Merkur, 06.02.2003, S. 6.. 2323David Calleo, The Atlantic Fantasy." The U.S., N A T O and Europe, Maryland 1970, S. 107. 2324Vgl. Robert Kagan, Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinander treibt, in: Bl~itterf/.ir deutsche und intemationale Politik 10/2002, S. 1194-1206, S. 1203. 232sKonrad Adenauer, Effnnerungen 1959-1963 (Band IV), Stuttgart 1968, S. 31. 2326Vgl. Michael Walzer, ZweiArten des Universalismus, in: Babylon, Beitr~igezur j~idischen Gegenwart, Heft 7/1990, S. 7-25. 2327Vgl. ebd., S. 11. 2328Vgl. ebd., S. 14f.
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aus demselben G r u n d universal zu sein, aus dem A u t o n o m i e und Z unei gung reiterativ sind". 2329 U n d der reiterative Universalismus ist eben auch eine F o r m des Universalismus. 233~ Etwas klarer argumentiert der Realismus, der nichts weiter besagt, als dass auBenpolitische Wertepriiferenzen nur dann eine Chance haben, sich ansatzweise durchzusetzen, w e n n die diesbez/,iglichen ,,Beschr~inkungen" und die Eigenlogik des internationalen Systems v o n Anfang an ber/,icksichtigt werden. 2331 D e m n a c h ist davon auszugehen, dass Europiier, Amerikaner und die verbiindeten Staaten n u t unter sich ,,auf der Basis von Geset zen und offener kooperafiver Sicherheit" agieren, nach auBen nicht. , , I m U m g a n g miteinander beachten wir das Gesetz, doch w e n n wit im D s c h u n g e l operieren, m/,issen wir uns nach den Gesetzen des Dschungels richten. ''2332 O d e r anders formuliert: Eine so agierende ,,Atlantische Zivilisation" w~ire transnational und im zeit- u n d raumlosen A n s p r u c h kosmopolitisch, aber im H a n d e l n unter Anerkennung emer zeitlich u n d r~iumlichen Beschr~inkung, eben nicht kosmopolitisch, sondern partikular; nicht nur transnational, s o n d e m auch international, wobei die internationalen Beziehungen auf zwei E b e n e n ablaufen wfirden: Zwischen den N a t i o n e n des Westens und den anderen N a t i o n e n oder zwischen den transnationalen V e r b / m d e n des Westens (am besten unter Einschluss eines einheitlichen V e r b u n d s einer ,,Atlantischen Zivilisation") und den Nationen, sowohl des Westens (als Teile der ,,Atlantischen Zivilisation") als auch des Restes. 2333 Dass zum Beispiel der Prozess einer Denationalisierung der W a f f e n p r o d u k t i o n im R a h m e n der N A T O nicht, wie Ulrich Beck in einem seiner zahlreichen Aufs~itze behauptet hat, ein Zeichen einer ,,kosmopolitischen E r n e u e r u n g " ist, zeigt sich deutlich daran, dass sich ja die dahinterstehende Transnationalisierung, die auch noch u m ein geh6riges MaB schw~icher ausf'~illt, als es Beck suggeriert, auf die N A T O - L i i n d e r beschriinkt, und dass das genauso banal wie selbstversfiindlich ist. Es gibt natiirlich keine weltweite Denationalisierung der Waffenproduktion. Im Gegensatz sowohl zu den N e o k o n s e r v a t i v en als auch zu H a b e r m a s gehen also Vertreter einer partikularistischen Sichtweise von einem Skeptizismus aus, d e r - schon aus methodischen Vorbehaltsgriinden einer realisfischen Klugheitslehre heraus - eine Demokratisierung in anderen kulturellen L e b e n s f o r m e n f/~r sehr unwahrscheinlich h~ilt, so dass auf ein , , p r o a k t i v e s "
2329Michael Walzer, ZweiArten des Universalismus, in: Babylon, Beitr~ige zur jfidischen Gegenwart, Heft 7/1990, S. 7-25, 17. 2330Vgl. ebd., S. 20. 2331 Vgl. musterhaft z.B. Wemer Link, Demokratischer Verfassungsstaat und Internationales System. Kosmopolitische Utopien entbinden nicht yon den auJ3enpolitischenRealita'ten und Inter~ssen, in: Die Politische Meinung 45. Jg., Nr. 364 (M~irz 2000), S. 63-70. 2332 Zitiert nach Robert Kagan, Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinander treibt, in: Blitter ffir deutsche und intemationale Politik 10/2002, S. 1203f.; Ders., Macht und Ohnma&t. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung~ Bonn 2003, S. 117. 2333Die Begriffsbedeumngen zu ,,transnational", ,,kosmopolitisch", ,,international" und ,,national" fui3en hierbei auf Ulrich Beck, Verwurzelter Kosmopolitismus: EntMcklung eines Konzepts aus Kvalisierenden BegKffsoppositionen,in: Natan Sznaider / Rainer Winter, Einleitune~ in: Ulrich Beck / Natan Sznaider / Rainer Winter (Hg.), Globales AmeKka? Die kulturellen Folgen der Globalisierung, Bielefeld 2003, S. 25-43, 28-32. Allerdings ist das normativ-politische Konzept von Ulrich Beck, das sich mit diesen Begriffen verbindet, ein ganz anderes als das in dieser Arbeit vertretene. Das liegt im Kern daran, dass der Verfasser dieser Arbeit die These yon Ulrich Beck, dass ,,Transnationalifiit die Na~rlichkeit der ethnischen [und zivilisationspartikularen] Zugeh6rigkeit unterminiert" (vgl. ebd., S. 32) als zu weitgehend, da in diesem Sinne unbeweisbar, abet auch unplausibel, erachtet. Start ,,unterminieren" mfisste demnach das Wort ,,relafivieren" und/oder ,,anreichem" gesetzt werden. Die daraus abgeleitete Schlussfolgemng von ,,kosmopoftischen" Theoretikern wie Beck k6nnten indes berechtigterweise als ,,gefahrfch" definiert werden, da sie sich wortw6rtlich die Denamriemng und kulmrelle Desintegration im Rahmen einer Ethnos- und Heimatvernichtung zum Ziel setzt (vgl. ebd.: Einwanderungspolitik als ,,Integrationspolitik" wird yon Beck abgelehnt). Das h~itte, plausibel betrachtet, entweder eine Sprachenvernichmng oder eine Ordnungsvernichtung zur Folge. Die Beweislast, dass das so nicht ist, liegt bei Beck, nicht bei den ,,Nationafsten".
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Kapitel XII
D e m o k r a t i s i e r u n g s z i e l nach A @ n , mas), b e w u s s t verzichtet wird2334:
sei es n u n militiirisch ( N e o c o n s ) o d e r d i p l o m a t i s c h (Haber-
,,Von den USA oder von Europa her m6gen die Grunds~itze der DemoDatie in diese Liinder [der ,,backward races'~] gebracht und wie Samenk6rner ausgestreut werden. Wurzeln schlagen k6nnen sie aber nut in einem Boden, den europ~iischer Einfluss bereits daf/.ir vorbereitet hat. Denn selbst die wenigen, die dort die Prinzipien der Demok_ratie wirklich begreifen, haben es nicht gelemt, dan-fitpraktisch umzugehen. ''233s D a b e i rekurrieren die B e g r i i n d u n g e n der Skeptiker nicht i m m e r n u r a u f kulturelle F a k t o r e n , s o n d e r n vollziehen sich in e i n e m soziologischen R a h m e n , in d e m o h n e jede kulturelle Begriind u n g n u t m e h r k o n s t a t i e r t u n d b e t o n t wird, dass es in b e s t i m m t e n S y s t e m e n schlicht an sogen a n n t e n ,,evolutioniiren U n i v e r s a l i e n " mangelt, die w i e d e r u m - wissenschaftlich nachvollziehb a r - als historische V o r a u s s e t z u n g fiir die H e r a u s b i l d u n g v o n , , D e m o k r a t i e " i m m o d e r n e n Sinne a n g e s e h e n werden. D i e s e ,,evolutioniiren Universalien", die T a l c o t t P a r s o n s einmal m i t B e z u g a u f den W e s t e n herausgearbeitet hat 2336, u n d a u f welche sich die Skeptiker beziehen, sind d e m n a c h folgende: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Die Herausbildung (oder Die Herausbildung (oder Die Herausbildung (oder Die Herausbildung (oder Die Herausbildung (oder Die Herausbildung (oder
eben eben eben eben eben eben
der Import) der Import) der Import) der Import) der Import) der Import)
einer rationalen Wissenschaft eines rationalen Rechts und einer rationalen Verwaltung einer methodischen Lebensf/ihmng eines abstrakten Wertesystems eines rationalen und marktgesteuerten Wirtschaftens einer b/irgerlichen Kemfamilie
E n t s c h e i d e n d ist nun, dass erst n a c h E r r e i c h u n g aller dieser V o r a u s s e t z u n g eine vollgiiltige ,,politische D e m o k r a t i e " mit legitimer O p p o s i t i o n u n d a n e r k a n n t e n R e g e l s y s t e m e n der M a c h t soziologisch i i b e r h a u p t m 6 g l i c h ist. 2337 Die daraus resultierende Skepsis gegeniiber den M 6 g lichkeiten aul3erwestlicher G e s e l l s c h a f t s s y s t e m e fiihrt schliel31ich nicht n u t z u m klugheitsgeleiteten V e r z i c h t a u f zu h e h r e D e m o k r a t i s i e r u n g s z i e l e in der AuBenpolitik, s o n d e m sieht diese selbst als ein politisches K_risensymptom an: ,,Die AuBenpolitik der westlichen Demokratien ist an den internationalen Wirren mitschuldig dutch ihr aufrichtiges, aber naives BemCihen, die Ubel der Welt zu heilen dutch die Ausdehnung repriisentativer Instimtionen im deskriptiven Sinn auf L{inder, denen die existentiellen Voraussetzungen f/it sein Funktionieren noch fehlen. Diese Politik l{isst sich nicht aus den Schw{ichen einzelner Staatsm{inner erkl{iren - obwohl auch solche Schw{ichen deutlich erkennbar sind. Sie ist vielmehr symptomatisch f/it einen Widerstand, der Realitiit ins Gesicht zu sehen, der in den Gef/ihlen und Meinungen unserer zeitgen6ssischen westlichen Gesellschaften fief verwurzelt ist. Nut weil diese Schwiichen Symptome eines Massenphiinomens sind, kann man mit Recht von einer Krise der westlichen Zivilisation sprechen. "2338
2334 Vgl. z.B. sehr sch6n Hans-Peter Schwarz, Die Zukunfi der Demokratie im 20. Jahrhundert, in: Manfred Funke u.a.
(Hg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestaltpolitischer Herrschaft in Deutschland und Europa, Bonn 1987, S. 598-613, 607 in Anlehnung an James Bryce, Modern Democracies, London 1921, S. 652. 2335James Bryce, Modern Democracies, London 1921, S. 562. 2336Vgl. Talcott Parsons / Gerold M. Platt, Die amerikanische Univerdtdt. Ein Beitrag zur So~ologie der Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1990 und Talcott Parsons, Evolution?ire Universalien der Gesellschaft, in: Wolfgang Zapf, Theorien des so~alen Wandek, K61n/Berlin 1969, S. 55-74. Vgl. zur daraus resultierenden Kritik an Habermas' Demokratiekonzept Jakob Schissler, Die These vom ,,Ende der geschic/,te" und die Zukunft liberaler Systeme, in: Franz Grel3 / Hans Vorl{inder (big.), Laberale Demokratie in Europa und den USA. Festschriftj~r Kurt L Shell, Frankfurt a.M. / New York 1990, S. 247-260, 255ff. 2337Vgl. auch James Bryce, Modern Demo~rades, London 1921, S. 567. 2338Eric Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik. Eine EinJ~hrunj~ ND M/inchen 2004, S. 65.
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Aus dieser Perspektive muss die Verteidigung, auch die globale Verteidigung der eigenen Werte ins Blickfeld genommen werden. Alles, was dariiber hinaus geht, wird auch aus methodischrealistischen Erwiigungen heraus als nicht weiterfiihrend betrachtet. Die moralische Uberhthung des Missionarischen aus innenpolitischer Motivation wird als das wahrgenommen, was es in der Tat ist: ,,ein Fratzenschneiden im Spiegel der 6ffentlichen Meinung. ''2339 Was letzteres betrifft, gilt dann der realistische Grundsatz, dass ,,Fratzenschneiden" in der AuBenpolitik ganz besonders eine Folge hat, die unangenehm ist: ,,Es verffihrt dazu, Positionen aufzubauen, die sich nicht halten lassen ''234~ wie es einst Jiirgen yon Alten, einer der wenigen brillanten, streitbaren Realisten Deutschlands, formuliert hat.
5. Praktische Folgerungen 5.1 Nachbarschaftspolitik: ,,Atlantische Zivilisation "und Russland
,,Die Geographie iindert sich kaum, die Zivilisation ist dagegen wandelbar, sie entwickelt sich nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum, weicht hier zuriick, dringt andernorts v o r . ''2341 Das ist die Hoffnung, die man in Bezug auf ein symbiotisches Verhiiltnis zwischen ,,Atlantischer Zivilisation" und Russland hegen muss. Das Argument ,,Keine Aufldiirung, keine Renaissance, kein atlantisches Freiheitsideal" wurde auf der Basis der christlich-sittlichen Gemeinsamkeiten zwischen den Freiheitskiimpfen christlich-orthodoxer Vflker 1821 und den jiingsten Demokratisierungen Serbiens und der Ukraine revidiert. Es bleibt abzuwarten, als wie stabil sich das demokratisierte Serbien und die demokratisierte Ukraine, beide noch in einer iiuBerst labilen Situation, werden etablieren kfnnen. Die imperiale Vergangenheit Russlands und seine GrfBe french bleiben die gewichtigsten Gegenargumente der Mfglichkeit einer Atlantisierung auch Russlands. Zur Atlantischen Zivilisation gehfrt Russland demnach nur inn Modus der partnerschaftlichen Anbindung, genauso wie der christlich-jiidisch-arabische Raum (Israel, Agypten, Libanon) und auch der kleinasiatische (die Tiirkei): Daher muss es darum gehen, ,,diesen faszinierenden und komplizierten Vielvflkerstaat so zu unterstiitzen, dass seine Anniiherung an die euro-atlantischen Strukturen weitgehend unumkehrbar wird. Zweifellos miissen wir Russland als Partner ernst nehmen"2342} u m weltpolitische Gefahren wirklich auflfsen zu kfnnen, z.B. die ,,Konflikte im Nahen und Mittleren Osten oder [den] Streit fiber das Atomprogramm Irans. "2343 Eine sinorussische Anniiherung 2344liegt nicht im Interesse der USA wie Europas. Die Partnerschaftsstrategie zwischen dem Westen und Russland ist die beste aller
2339George Frost Kennan, zitiert nach, J/irgen yon Alten, Die ganz normale Anarchie. Jetzt erst beginnt die Nachktiegszeit, Berlin 1994, S. 341. 2340Ebd., S. 342. 2341Hagen Schulze, Die WiederkehrEuropas,Berlin 1990, S. 57. 2342WolfgangSchiiuble, Die europ?iischeIntegration voranbringen,in: Frankfurter AllgemeineZeitung, 28. Januar 2005, S. 9. 2343 Ebd. 2344Vgl. AssociatedPress, Russland und China mitgemeinsamenManb'vern, in: Frankfurter AllgemeineZeitung, 28. Dezember 2004, S. 4.
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O p t i o n e n . 2345 In diesem Sinne hatte es eine starke V e r b e s s e r u n g der amerikanisch-russischen B e z i e h u n g e n kurz nach d e m 11.9.2001 gegeben, die sich in f o l g e n d e n P u n k t e n ~iu13erte2346: -
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Zur6ckfahren der antiamerikanisch ausgerichteten Militiirman6ver in Russland 0berflugrechte nach Afghanistan Enge Kooperation mit den russischen Geheimdiensten in der Terrorbek~impfung Bzgl. der Uberflugs- und Stationiemngsrechte: Einfluss auf zentralasiatische Staaten in einem proamerikanischen Sinne Enge milit{irische Kooperation im Afghanistankrieg und massive milit{irische UntersRitzung der afghanischen Nordallianz gegen das Taliban-Regime. umfassender Schuldenerlass der USA gegen/iber Rul31and vorsichtiges Agieren der USA in Bezug auf eine weitere NATO-Osterweitemng Aufnahme Russlands in die WTO und die G7-Gmppe 2002 Unterzeichnung des NATO-RuBland-Rat-Vertrages im Mai 2002 Kleine, aber eher symbolische Zugestiindnisse der USA in der Frage der US-Raketenabwehr (NMD) und des am 13. Dezember 2001 durch die USA aufgekfindigten ABM-Vertrages in Form von Sicherheitsgarantien und der Einlagemng yon nuklearen Gefechtsk6pfen
Seit d e m Irakkrieg hat sich die Situation jedoch wieder verschlechtert: -
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russisch-chinesische Anniihemngen, erste Militiirman6ver russisch-iranische Ann~ihemng inkl. Technologietransfer russisch-deutsch-franz6sische Anniiherung vorsichtige russische Ann{ihemng an eine amerikak_ritische t/ir~sche Regiemng Ereignisse in der Ukraine / Transnistrien, Tschetschenien, Georgien, Kirgistan und Usbekistan Vorgehen gegen ,,amerikanisch sekundierte" Finanzmagnaten in Russland und amerikanische Einmischungen (Fall Chordokowkij) Festhalten an der amerikanischen Milit~irpr{isenz (,,An6terror-Spezialeinheit '~) in Georgien Repressive Restauration in der russischen Innenpolitik, Restalinisiemngtendenzen
Allerdings b e s t e h e n weiterhin starke I n t e r e s s e n g e m e i n s a m k e i t e n , so i n s b e s o n d e r e die Bek~impfung des m t e m a t i o n a l e n T e r r o r s sowie Wirtschafts- u n d F i n a n z k o n t a k t e gegen die G e w i i h r u n g amerikanischer I n v e s t i t i o n e n in die russische E r d g a s - u n d Erd61industrie. E i n e ,,Atlantische Zivilisation" in P a r t n e r s c h a f t mit Russland u n t e r E i n b e z i e h u n g eines engen amerikanischrussischen Kooperationsverhiiltnisses ist weiterhin eine verniinftige O p t i o n fiir die Stabilit~it u n d Sicherheit des Westens.
5.2 Islampolitik und Terroffsmusbekdmpfung D a s grundsiitzliche P r o b l e m einer ,,islamisch-westlichen Synthese ''2347, also der Verweltlic h u n g s m 6 g l i c h k e i t e n innerhalb emer ,,islamischen Zivilisation" ist der radikal m o n o t h e i s t i s c h e C h a r a k t e r des Islams a u f der einen Seite in V e r b i n d u n g mit d e m rein innerweltlichen C h a r a k t e r 2345 Vgl. insbesondere zum Szenario ,,Kalter Friede" Yuriy Borko, Possible Scenariosfor Geopolitical Shifts in RussianEuropean Relations, in: Ola Tunander / Pavel Baev / Victoria Ingrid Einagel, Geopolitics in Post-Wall Europe (Hg.), London u.a. 1997, S. 196-216. 2346Vgl. Hans Wassmund, Strategic Partnership? Die amerikanisch-russischen Be@hungen und der Kampf gegen den Terrorismus, in: Wemer Kremp / J/irgen WilzewsN (Hg.), Weltmacht vor neuer Bedrohung. Die Bush-Administration und die US-AuoFenpolitik nach dem AngriffaufAmerika, Trier 2003, S. 304-325, 314f. 2347 Udo Steinbach, Interessen und Handlungsmh'glichkeiten Deutschlands im Nahen und Mittleren Osten, in: Joachim Krause, Kooperative Sicherhei@olitik. Strategische Ziele und Interessen, in: Karl Kaiser / Joachim K_rause (Hg.), Deutschlands neue AuJ~enpolitik. Band 3: Interessen und Strategien, Mtinchen 1996, S. 189-194, 192.
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der Natur des einen, wichtigsten Propheten des Islam, der zugleich Politiker und Krieger war, auf der anderen Seite. Beides zusammen ergibt auf sehr direktem Wege die M6glichkeit (nicht die Notwendigkeit) den Islam als einen ,,als Staat konstituierte[n] Glauben" zu verstehen. A m stiirksten symbolisiert das die strafrechtliche Verfolgung von ,,religi6sen Delikten" in islamistischen Staaten wie z.B. in Mauretanien, im Iran, im Sudan, aber auch in Saudi-Arabien und in Pakistan; wobei die Delikte maximal mit der Todesstrafe belegt werden. Zu diesen Delikten geh6ren Tatbestiinde wie z.B. Konversionen, wiederholte Nicht-Verfolgung religi6ser Pflichten und Gebote (z.B. das Beten), Ehebriiche, ,,Gottesliisterungen", ,,Mischehen" (muslimischer Frauen), homosexuelle Handlungen oder das Abhalten nicht-muslimischer Gottesdienste. Die Fatwa Khomeinis gegen Rushdie wird v o n d e r Scharia dementsprechend vollends gedeckt. Ein als Staat konstituierter Glaube, der mit dem kriegerischen Handeln eines soldatischen Glaubenspropheten gewachsen ist, bedeutet immer zugleich naturgemiil3 einen ,,Staat von ganz besonderer Art: als missionarisch-militiirische Verkiindigung des einen Gottes kriegerischer als jeder andere Staat und trotz einer begrenzten Toleranz gegeniiber Andersgliiubigen von uniibertrefflicher Geschlossenheit im Innern". 2348 Die Sakralisierung (nicht zu verwechseln mit der Rechtfertigung) des Krieges, also die I dee des ,,Heiligen I
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nunft basiert. In dieser Tradition fordert auch Giilen, der 1938 geboren wurde, einen wertkonservativen und toleranten Islam, der die Gl~iubigen fiihrt, nicht aber die Politik. ''2356 AuBerdem propagiert der Prediger die ,,modeme Wissenschaft als Mittel, um die Sch6pfung zu verstehen und um zu Wohlstand zu gelangen. ''23s7 Das Netzwerk um Giilen reicht bis nach Deutschland, wo es in akademischer Hinsicht von Bekim Agai unter die Lupe genommen wurde. Im Sinne Giilens positionierte sich Erdogan mit der Griindung der AK_P 2001 postislamistisch, allerdings im Rahmen eines Richtungswechsels nach einem Gef~ingnisaufenthalt. Die optimistische Schlussfolgerung, die z.B. der Tiirkeikorrespondent der FAZ Ende 2004 - im Rahmen der Diskussion um die Aufnahme yon Beitrittsverhandlungen der EU mit der T i i r k e i - zog, lautete: ,,Der ti,irkische Islam hat ein neues Gesicht bekommen und ein anderes, als es die alte kemalistisch-republikanische Elite weiter zeichnet. ''235g Dazu gesellen sich ,,progressive" muslimische Intellektuelle in der arabischen Welt wie M o h a m m e d Arkoun und Hassan Hanafi. 2359 Die Frage ist, ob sich der diesen Bestrebungen entgegenstellende I s l a m i s m u s - trotz seiner gegenwiirtigen politischen Priisenz - letztlich in einem Riickzugsgefecht befmdet oder nicht. Auch wenn er es tun sollte, ist jedoch kurz- bis mittelfristig nicht mit einer Entspannung der politischen Situation zwischen dem , , W e s t e n " und dem Islamismus zu rechnen. Sollte es einen Weg oder einen Trend zur Internalisierung, Privatisierung, Modernisierung und S~ikularisierung des Islam geben, der aufgrund der politischen Terrortaten nicht sehr stark wahrgenommen wird, dann muss leider trotzdem damit gerechnet werden, dass auf diesem Weg der Modernisierung ,,noch viel Blut fliel3en wird. ''2360 Anderseits ist es immer noch nicht unumstritten, inwieweit die Partei des gegenw~irtigen tiirkischen Ministerpriisidenten Erdogans (AK2), die den Ansatz von Giilen und dessen Mitstreitem z.Z. politisch ummiinzt, nur , , t a k t i s c h " vorgeht, also weiterhin eine antidemokratische, gottesstaatliche Zielperspektive im Auge hat. Der endgiiltige Ubergang Erdogans zum ,,Postislamismus" wird z.T. als unglaubwiirdig wahrgenommen. Eine weitere skeptische These besagt, dass die Modernisierer in der Tiirkei im Kern und grundsiitzlich auch in langfristiger Perspektive geistig einfach zu schwach sind, um sich gegen die Einfliisse der iigyptischen Muslimbriiderschaft und den k~impferischen Islamismus grol3er Teile von ,,Milli G6riis" im Stile Erbakans durchzusetzen. Der Islam ist m6glicherweise grunds~,itzlich nicht demokratief~ihig, so die These. 2361 Und schliel31ich wird skeptisch betrachtet, dass zahlreiche Muslime nicht nut in der Tiirkei, aber auch innerhalb Westeuropas in Sitten und Gebr~iuchen demonstrativ am antis~ikularen ,,Ein-Weltprinzip" festhalten. Zu diesen Sitten und Gebriiuchen geh6rt z.B. das demonstrafve Tragen yon Kopftiichern in (z.T. christlich beeinflussten) staatlichen Riiumen und der Wunsch dieses auch in verbeamteter P o s i f o n tun zu diirfen; das 6ffentliche Gebet auf oftener StraBe oder innerhalb 6ffentlicher, staatlicher Geb~iude inmitten einer m o d e m e n und christlichen Umgebung, in der das 6ffentliche Gebet entweder einen generellen Fremdk6rper darstellt oder in der eben bestimmte Orte (Kirchen, Tempel) fiir das 6ffentliche Beten vorgesehen sind; schlieBlich das strikte Festhalten an Fastengeboten und Em~ihrungsverboten in einer modernen und christlichen Umgebung, in der das Fasten und das nicht physiologisch motivierte 23s6Rainer Hermann, Pacaci- Giilen - Erdogan, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Dezember 2004, S. 12. 2357Ebd. 23s8Ebd. 23s9Vgl. Malise Ruthven, Der Islam. Eine kurze Einfiihrung, Stuttgart 2000, S. 192. 2360Ebd. 2361So z.B. neben vielen anderen der Schriftsteller G/inter Kunert (vgl. Interview in der ,,Politischen Meinung" Nr. 403, Juni 2003, S. 68-72, 68f.). Zur empirisch orientierten Annahme des Zusammenhangs kultureller Faktoren und Demokratie vgl. Ronald Inglehart, ModernMerung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politis&er Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1998, S. 242ff. und 301.
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Emiihrungsverbot in der muslimischen Striktheit einen Fremdk6rper darstellt (vgl. Matth. 15, 112362 und 15,17-192363). Und biblisch betrachtet erfreut guter Wein, den sich die strengen Muslime verbieten, bekanntlich die Herzen nicht nur des westlichen Menschen. Segregationsphiinomene auf dieser Basis verstiirken den Befremdungseindruck. Und dass Segregationsphiinomene vorliegen, wird inzwischen nicht mehr wirklich bestritten: ,,Etlichen Berichten zufolge betriigt der muslimische Kontingent unter jugendlichen Straftiitem in bestimmten Gegenden Frankreichs und Grol3britanniens [..] bis zu 80 Prozent. ''2364 Insofern kann von einer islamischen Eigenheit in der Zuwanderung nach Europa gesprochen werden, die sehr beunruhigende Formen angenommen hat. 2365 Diese Eigenheit wird v o m arabischen Islamismus - in Konkurrenz zur tiirkischen A K 2 - seit den achtziger Jahren mit Hilfe der Gewmnung islamistischer Asylanten in ganz Europa, der Einschleusung junger, radikaler und hauptsiichlich mit saudischem Geld bezahlter Prediger (die sogenannten ,,Outsiders") und unter Ausnutzung der in den westeuropiiischen Rechtssystemen verbrieften Religionsfreiheit 2366 geschickt genutzt. Aus solchen ,,Outsiders" bestand z.B. primiir die Terrorzelle in Hamburg und der Kreis der marokkanischen Terroristen, die in Madrid 2004 die TerroranschEige veriibten. Inzwischen aber sind auch sogenannte ,,Insider" vom Djihadismus gefangen: junge muslimische Immigranten der zweiten Generation, die in den Aufnahmeliindern aufgewachsen oder gar dort geboten sind. Die ,,unkomfortable Wahrheit" lautet, dass es in Bezug auf die Aktivierung von ,,Insider" insbesondere die immigrantenfreundlichen, toleranten Niederlande und Grol3britannien getroffen hat (die freilich beide am Irakkrieg beteiligt waren/sind). Der M6rder van Goghs in den Niederlanden, M o h a m m e d Bouyeri, lebte z.B. in zweiter Generation in Holland, war sehr intelligent, stieg aber friihzeitig unter Einfluss von Islamisten aus der holliindischen Gesellschaft aus und wurde zum islamistischen Sozialhilfeempf~inger par excellence. 2367 Dabei zeichneten sich die Niederlande lange Zeit dutch spezielle Wohlfahrts- und Versorgungsprogramme fiir Immigranten, kostenlose Sprachkurse, steuerfmanzierte Religionsschulen, Moscheen und staatliche TV-Programme auf Marokkanisch aus. 2368 D o c h die multikulturelle Gesellschaft ist nicht nut dort, wo sie ausgereizt wurde, an ihr Ende gelangt. Der arabische Islamismus hat inzwischen groBen politischen Einfluss mitten in westeuropiiischen Gesellschaften erlangt und generiert auf ungeahnte Weise einen Gegensatz zwischen Multikulturalismus und Liberalismus. Der Multikulturalismus ist z.Z. die gr613te Gef~ihrdung des Liberalismus in Europa. 2369 Alleine die muslimischen Populationen in Europa machen auf die europiiische Spezifitiit aufmerksam: Nicht nur, dass die gerade einmal drei Millionen Muslime in den USA erfolgreich integriert werden konnten - dabei handelt es sich um eine historische Zwangsl~iufigkeit- sie sind in den USA als religi6se Gruppe auch iiuBerst fragmentiert. Das Bild in Europa ist ein anderes. Es kann mit einigem Recht behauptet werden, dass auch die amerikanischen Integrationsprobleme
,,Was zum Mund hineingeht, das macht den Menschen nicht unrein, sondem was aus dem Mund herauskommt, das macht den Menschen unrein." (Jesus yon Nazareth). 2363,,Merkt ihr nicht, dass allein, was zum Mund hineingeht, das geht in den Bauch und wird danach in die Grube ausgeleert? Was aber aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen, und das rnacht den Menschen unrein. Denn aus dem Herzen kommen b6se Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Liisterung." (Jesus yon Nazareth). 2364Walter Laqueur, Krieg dem Westen. Terrot#mus im 21. Jahrhundert, Berlin 2004, S. 92. 236sVgl. ebd., S. 88-105. 2366Vgl. ebd., S. 91f. 2367Vgl. Robert S. Leiken, Europe,sAng.ryMuslims, in: Foreign Affairs, Bd. 84, Nr. 4, 07/08-2005, S. 120-135, 124. 2368Vgl. ebd. 2369Vgl. ebd., 133f. 2362
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m i t den L a t i n o s nicht an die P r o b l e m e in E u r o p a heranreichen. 237~ In E u r o p a h a b e n wit es mit relativ h o m o g e n e n , k u l t u r s t o l z e n u n d v o l k s g e b u n d e n e n A u f n a h m e l i i n d e r n zu tun, welche i n z w i s c h e n m i t nationalitiitenkonzentrierten m u s l i m i s c h e n L e b e n s w e l t k o l o n i e n k o n f r o n t i e r t sind. D i e G e s a m t z a h l v o n etwa 20 Millionen M u s l i m e n in E u r o p a f~ichert sich d e m n a c h blockartig in franz6sische Algerier, m a r o k k a n i s c h e Spanier, tiirkische D e u t s c h e u n d pakistanische Briten auf. 2371 Die stiirksten m u s l i m i s c h e n Anteile weisen F r a n k r e i c h (etwa 7 P r o z e n t der Bev61kerung), die N i e d e r l a n d e u n d D e u t s c h l a n d a u f - gefolgt v o n D i i n e m a r k , S c h w e d e n , Grol3britannien u n d Italien. D i e G e f a h r d u n g e n des L i b e r a l i s m u s in E u r o p a lassen sich indes an f o l g e n d e n Beispielen verdeutlichen: -
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So kam es erstmals zu heftigen StraBenunruhen in Serie zwischen muslirnischen Jugendlichen und franz6sischen Polizisten in mehreren franz6sischen Stiidten 1994/1995. So wagte es kein muslimischer Prediger in Europa Einspruch gegen die Fatwah des Ayatollah Khomeini gegen Salman Rushdie zu erheben. In Groi3britannien bekennen sich Muslime 6ffentlich zum Separatismus. Erste StraBenunruhen zwischen Muslimen und Briten, Indern und Sikhs wurden im September 2001 in Grol3britannien verzeichnet. In Frankreich gibt es nachweislich Verbindungen zwischen gewaltkriminellen Muslimgruppen in den Banlieus und der algerischen GIA. Der politische Mord an van Gogh in den Niederlanden ffihrte kurzzeitig zu bfirgerkriegsiihnlichen Zustiinden in den Niederlanden. Ffihrende Politiker und Abgeordnete des Landes (insbesondere Hirsi All, aber auch Wilders) m~ssen kurz- oder langfristig untertauchen. Die jfingsten wochenlangen Stragenunmhen in ganz Frankreich verbanden sich mit islarnistisch legitimierten Aktionen (insbesondere im Falle yon Kirchenbriinden).
Schliel31ich sind folgende Anschl~ige in E u r o p a zu erwiihnen: -
Anschliigeauf die Pariser Metro zwischen 1993 und 1995 Anschlag auf die US-Botschaft in Paris Geplanter Anschlag auf den Weihnachtmarkt in Stral3burg Die Anschliige in Madrid und London 2004 und 2005 Geplante Anschliige auf deutsche Regionalbahnen 2006
E i n e n t s c h e i d e n d e s grundsiitzliches P r o b l e m ist indes, dass alle A r g u m e n t e , die d a r a u f hinauslaufen, dass die , , m o d e m e n L e b e n s u m s t i i n d e " es erforderlich m a c h t e n , den radikal v o r m o d e r n e n o d e r radikal ,,diskriminierenden B e s t i m m u n g e n des K o r a n ein E n d e zu setzen ''2372 im G e g e n s a t z z u m C h r i s t e n t u m ein iiberaus wichtiges islamisches D o g m a zu i i b e r w i n d e n haben: D e n k o r a n i s c h e n T e x t ,,von seinem Geist a b z u k o p p e l n ''2373, ihn in e i n e m t h e o l o g i s c h e n Rahm e n sozialhistorisch zu kontextualiseren. D a der Geist in einer religi6sen P e r s p e k t i v e als ,,fest in den B u c h s t a b e n des K o r a n s ''2374 v e r a n k e r t g e s e h e n wird u n d zugleich aus d e m Prinzip der in den B u c h s t a b e n sich m a n i f e s t i e r e n d e n A l l m a c h t u n d U n e r s c h 6 p f l i c h k e i t G o t t e s zwangsliiufig eine uneingeschriinkte Allgegenwiirtigkeit G o t t e s resultieren m u s s , ist der K o r a n b i s h e r trotz aller V e r s u c h e - nicht wirklich historisierungsf'~ihig gewesen. 2375 D e r islamische G o t t 2370 Vgl. Robert S. Leiken, Europe's Ang~ Muslims, in: Foreign Affairs, Bd. 84, Nr. 4, 07/08-2005, S. 120-135, 122.
2371Vgl. ebd. 2372Malise Ruthven, Der Islam. Eine kurze Einf#hrung, Stuttgart 2000, S. 130. 2373Ebd. 2374Ebd. 2375 Vgl. generell als Einf/ihrung mit weiterf/ihrenden Literaturangaben Ludger K/ihnhardt, Die UniversaliMt der Menschenrechte, Bonn 1997, S. 139-154; Versuche in einem feministischen Kontext finden sich z.B. bei Fatima Mernissi und Leila Achmed (vgl. ebd., S. 154f. und Leila Ahmed, Women and Gender in L'lam. Historical Roots of a Modern Debate, New Heaven (Conn.) 1992). Mohammed wird in seiner Beziehung zu Frauen hiiufig falsch eingeschiitzt, well die Bewertung der koranischen Lehre zumeist ahistorisch erfolgt. Hier muss bedacht werden, dass ja gerade Mohammed mit der
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indes ist s o w o h l t r a n s z e n d e n t wie i m m a n e n t . Die uniibersteigbare ,,diesseitige T r a n s z e n d e n z " v e r u n m 6 g l i c h t z u s a m m e n mit der absoluten U n a n t a s t b a r k e i t der heiligen Schrift des Islam einen hierarchischen T h e o l o g e n s t a n d o d e r - n o c h b e s s e r - ein ,,Bewusstsein", das interpretativ zwischen G o t t u n d Welt vermitteln k 6 n n t e in einem Sinne, der den Islam mit der M o d e r n e - so gut es g e h t - v e r s 6 h n e n wiirde. Ein damit e i n h e r g e h e n d e r U n t e r s c h i e d z u m C h r i s t e n t u m grundsS_tzlicher A r t scheint das F e h l e n einer ,,Religion des Bewusstseins" zu sein. 2376 D a s wird n o c h verstiirkt d u r c h die Tatsache, dass die islamische Scharia u n d auch der K o r a n (wie auch das Alte T e s t a m e n t ) n u r o d e r z u v 6 r d e r s t ein D e n k e n entwickelt, welches ,,passiv das Falsche unterliisst", wiihrend das geistesgeschichtlich in der m o r a l p h i l o s o p h i s c h u n d n e u t e s t a m e n t a risch p r o p a g i e r t e n Gewissenseinsicht w u r z e l n d e Sittengesetz ,,aktiv das Richtige" v o m M e n schen fordert. 23v7 N a c h H a n s - P e t e r Raddatz ist das ein e n t s c h e i d e n d e r ,,Plus-Impuls" im m e n s c h l i c h e n D e n k e n , der i i b e r h a u p t die G r u n d l a g e n dafiir schafft, den M e n s c h e n als ,,Indiv i d u u m " d e n k e n zu k 6 n n e n . D a z u g e h 6 r t auch die christliche T r a d i t i o n des ,,schlechten Gewissens", die heute ja so oft kritisiert wird: D o c h die Idee des ,,schlechten G e w i s s e n s " ist gerade die ,,Kraft, die die G r e n z e n des moralisch M6glichen i m m e r weiter hinausschob. Sie stattete die christliche L e h r e v o n A n f a n g an mit einem Ibis ins k o n s t r u k t i v Subversive] r e i c h e n d e n K o r r e k t i v aus, das helfen k o n n t e , F e h l h a l t u n g e n selbst auszugleichen, u n d m a c h t e es so m 6 g lich, h 6 h e r e Ziele zu erreichen. ''2378 Sogar das historisch gesehen sich a u f tragische Weise schismatisch a u s w i r k e n d e E i n k l a g e n der individuellen Religionsfreiheit d u r c h die P r o t e s t a n t e n w u r d e d u t c h die Idee des ,,schlechten G e w i s s e n s " angeregt. 2379 Es g e h 6 r t zu jener so k o m p l e xen A m b i v a l e n z des C h r i s t e n t u m s dazu. 238~ Eine fatalistische Religion ist das C h r i s t e n t u m d a h e r - auch in seiner augustinischen F o r m - nie gewesen. Diese A r g u m e n t e sind nicht einfach v o n der H a n d zu weisen: ,,Whereas Christ invited individuals to r e s p o n d to grace, M u h a m m a d , m o r e straightforwardly, called t h e m to obey G o d ' s
vorkoranischen, arabischen Angewohnheit gebrochen hatte, dass Frauen als seelenlose Besitzgegenstiinde angesehen werden k6nnten. Die koranische Lehre sprach den Frauen eine Seele und ein Anrecht auf Tugendgratifikation im nachirdischen Leben zu und machte sie somit im arabischen Kulturverstiindnis der damaligen Zeit/iberhaupt erst zu menschlichen Wesen, die sich zwar in ihrer Namr und Biologie, abet nicht in ihrer Wertigkeit und ihrer Spezies von den Miinnern unterschieden (vgl. insbesondere die zugespitzten Ausf/ihrungen zu Mohammed von Clarence Kirshman Streit, Union Now!A Proposalfor a Federal Union of the Democracies of the North Atlantic, London 1939, S. 304f.). Streit, auch in anderen Bez/igen naiv islamfreundlich, bezeichnet Mohammed gar als ,,Feministen" seiner Zeit. Das verzerrte Islambild Streits resultiert aus einer Vermischung der Errungenschaften des t-/irkischen Laizismus mit der islamischen Lehre. Dieser Verrnischung sag Streit nach einem liingeren Aufenthalt in Ankara 1921 auf. Die grundsiitzliche Richtigkeit indes der Argumentation Streits in Bezug auf das mohammedanische Frauenbild sollte aber nat/.irlich nicht dazu f/ihren, heute die Augen zu verschliel3en vor einem - aus westlicher Sicht - minderwertigen und unzivilisierten Frauenverstiindnis des Islam im Falle einer islamistischen Auslegung; ein Verstiindnis, welches bei Islamisten auch noch zu einem staatlichen Dogma erhoben wird. Letzteres macht die frauenpolitische Position des gegenwiirtigen Islamismus aus westlicher Sicht v61lig untragbar: Diese Position muss aus einer zivilisationsbewussten Perspektive heraus immer wieder Har und deutlich als eine minderwertige Position benannt werden, die weit aul3erhalb unserer zivilisatorischen Standards liegt. 2376Nur dilettierende Schriften von islamunkundigen Autoren, die einer bestimmten Ideologie anhiingen (z.B. derjenigen der ,,Globalitiit'~ stellen das ernsthaft in Abrede (vgl. z.B. Martin Albrow, Abschied vom Nationalstaat, Frankfurt a.M. 1998, S. 311: Der Satz ,,Gewalt wird vom Koran genauso wenig sanktioniert wie vonder Bibel", ist auf das Neue Testament bezogen, ein grober Unsinn). 2377Vgl. Hans-Peter Raddatz, Vom Allah zum Terror? Der Djihad und die Deformierung des Westens, M/inchen 2002, S. 316. 2378J.M. Roberts, Der Triumph desAbendlandes, D/isseldorf/Wien 1986, S. 55. 2379 Vgl. ebd. (Vgl. zum Zusammenhang von Liberalismus und Protestantismus auch Johann Baptist MCiller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, Berlin 1992, S. 17-20. 2380Vgl. auch Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat: Gestalt, Grundlagen, GeJa'hrdungen, T/ibingen 1995, S. 376f.
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law. ''2381 Der Islam ist wie das Judentum eine Religion als Gesetz, wobei das Gesetz nun - im Gegensatz zum Judentum - einen globalen Charakter gewinnt. Aus christlicher Sichtweise, weist der globale Charakter des islamischen Hyperlegalismus noch viel deutlicher auf eine ideelle Konkurrenzsituation hin als der partikulare Hyperlegalismus des Judenmms. Um es anschaulich und plastisch zu machen: Eine Ehebrecherin muss nach ,,muslimischen Recht" bis heute in bestimmten islamischen Liindern nicht uniiblich 2382- gesteinigt werden. A u f dieses mosaische Gebot antwortete Jesus gegeniiber den Schriftgelehrten, welche eine Ehebrecherin zu ihm brachten, bekanntlich: ,,Wer unter euch ohne Siinde sei, der werfe den ersten Stein auf sie" (J oh. 8, 7). ,,Hat dich niemand verdammt?" fragte Jesus, nachdem alle Schriftgelehrten nach und nach weggegangen waren. ,,Sie antworteten: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und siindige hinfort nicht mehr." (Joh. 8, 10f.) Dieser antimosaische ,,Plus-Impuls", der sich hier ganz konkret mit den Grundsiitzen eines liberalen Rechtsstaates gegeniiber Ehebrecher(inne)n trifft, ist iiul3erst beeindruckend, verweigert er doch etwas, was eine Selbstverstiindlichkeit der mosaischen Zeit war und was in der islamischen Scharia bis heute fortwirkt: Dass also Ehebrecherinnen nichts anderes verdienten als den offlziellen und 6ffentlichen Tod dutch die Hiinde richtender M~inner, die in der Sache ,,objektiv" entscheiden diirften. Nicht nur die Religionen unterscheiden sich hier eindeutig in ihren inhaltlichen Aussagen, sondern auch die Person des Propheten: Wiihrend Jesus die Einhaltung des mosaischen Gesetzes radikal in Frage stellte, predigte M o h a m m e d dessen genaue Einhaltung. 2383 Entscheidend ist jedoch immer noch, dass die soziologische Basis trotz aller (z.T. sehr ernsten) Integrationsprobleme keineswegs auf eine islamistische Massenbewegung im Sinne einer Tatbewegung in Europa hindeutet. Die Anziehungskraft des westlichen Lebensstils auf muslimische Zuwanderer ist bei einem vorurteilsfreien Blick nicht zu iibersehen, steht allerdings in einer geistigen Konkurrenz zu nicht-westlichen IZulturvorstellungen, die nicht mit den Grundwerten des Westens kompatibel sind. Eine Vielzahl junger Muslime in Europa (insbesondere der M~inner unter ihnen) stehen diesbeziiglich in einem permanenten Spannungsfeld. Hier gilt es, symbolische Angebote zu machen und die (kontextualisierte) Unwertigkeit der nicht-westlichen Ansichten fanatischer Prediger im Kontext eines wir-ftxierten westlichen Wahrheitskonzepts aggressiv und selbstbewusst nach v o m e zu tragen. Aus antiterroristischer Sichtweise indes gilt es, die wenigen Aktivisten des Islamismus in Europa zum Schutze der eigenen Sicherheit konsequent mit allen zu Gebote stehenden Mitteln der Repression zu bekiimpfen und sich dabei insbesondere auf die Koordinatoren und Organisatoren zu konzentrieren. Endg'ultig besiegbar ist der islamistische Terrorismus indes auf lange Sicht nicht mehr, da es sich um einen Suizidalterrorismus handelt, der nicht aus Verzweiflung, sondern aus einer suizidal motivierten Hoffnung geboren wird. 2384 Aus einer westlichen Perspektive ist dieser Terrorismus nicht mehr nachvollziehbar. Daher ist es in einem geistigen Kontext umso wichtiger, dem suizidalen Moment des islamistischen Terrorismus den Vitalismus und auch die (idealiter gemiil3igte) Genussfreude des Westens offensiv entgegenzusetzen und diese Positionierung mit einer kiimpferischen Einstellung zu verkniipfen. So w~ire niimlich auch der Westen unbesiegbar, weil er aus einem geistig viel zu starken Reservoir sch6pfen wiirde. Erst die Lust auf den Mythos der eigenen Freiheit k6nnte in einem innerwestlichen Kontext die Unwertig2381Felipe Fem~mdez-Armesto,Ideas that changedthe world, New York 2003, S. 188. 2382Vgl. exemplarisch Freidoune Sahebjam, Die gesteinigte Frau. Die Geschichte der Soraya Manoutchehri, Reinbek 1992. 2383Auf diesen Unterschied macht in seiner Polemik besonders aufmerksam: Jean-Claude Barreau, Die unerbittlichen Erl&er. Vom Kampfdes Islamgegen die moderne Welt, Reinbek 1992, S. 36 und 39. Vgl. zum islamischen Recht insgesamt James Norman Dalrymple Anderson, Islamic Law in the Modern World, New York 1959. 2384Vgl. Walter Laqueur, Krieg dem Westen. Terrodsmus im 21. Jahrhundert, Berlin 2004, S. 144f.
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keit eines suizidalen Terrorismus so stark auf die Spitze treiben, dass am Ende vielleicht doch eine Hoffnung auf eine endgiiltige Erledigung des islamistischen Furors - zumindest innerhalb des W e s t e n s - aufschimmem k6nnte.
5.3 Die Ausgestaltung der Europa'ischen Verteidigung
a) Kritische Bestandsaufnahme Die ,,Europiiische Sicherheitspolitik" im Sinne einer Europiiischen Sicherheits- und Verteidigungsidentitiit gliedert sich in eine Gemeinsame Europiiische AuBenpolitik (GASP) und deren Festsetzung der sogennanten Petersberg-Aufgaben, eine Gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik (ESVP), bi- und multilateralen militiirischen, riismngstechnischen und riistungswirtschaftlichen Kooperationen zwischen europiiischen Nationalstaaten und den europiiischen Einsatzkriiften als militiirischer Arm der ESVP. Dieser konnte nach )~nderung der britischen Position wegen des Jugoslawienkrieges mit Abschluss des Amsterdamer Vertrages 1997 begriindet werden. In der Frage des Riickgriffs auf NATO-Kapazitiiten einigte man sich auf das Prinzip der Combined Join Task Forces, wobei im Falle der Heranziehung von N A T O Streitkriiften und NATO-Logistik ohne Beteiligung der USA ein Beschluss- und ,,Monitoring"Vorbehalt des einstimmig beschlussfahigen Nato-Rates vorgesehen ist, was de facto auf eine Vetoposition der USA hinausliiuft. 238s In der Entwicklung der ,,Europiiischen Einsatzkr~ifte" kam es zu folgenden Schritten: -
Integriemngder WEU in die EU und Einf/ihrung einer ,,operativen Kapazitiit" (Art. 19 EUV) Konstruktivebritische Position in der Frage der Implementiemng seit dem franz6sisch-britischen Gipfel auf Saint Malo im Dezember 1998 EuropiiischeStreitkriifte in Korpsstiirke auf der Basis yon kooperativer Zur-Verf/igung-Stellungvon nationalen Truppen (Mannstiirke 60 Tausend) und Polizisten (5000), Regel der 60-Tage-Einsatzverlegbarkeit ErsterEurokorps-Einsatz im Kosovo (0bernahme des SFOR-Einsatzes) Ausbauzum Europiiischen Krisenreaktionskorps (Einsiitze in FYROM und Afrika) DeutlicheFortschritte in der R/ismngskooperation (Fusion der Europ~iischen Luft- und Raumfahrtindusttie, EADS-Auftriige unter Einschluss Grol3britanniens, Produktionsentscheidung fiir ein europ~iisches Transportflugzeug, Entwicklung einer europiiischen Luft-Luft-Rakete, deutsch-franz6sische Vereinbamng zur Beschaffung eines AufMiimngsflugzeuges)
Gemiil~ Art. 40 II des vorerst gescheiterten europiiischen Verfassungsvertragsentwurfes hiitte es nun auf der Basis einer einmaligen einstimmigen Entscheidung des Europiiischen Rates zur Implementierung einer ,,gemeinsamen Verteidigung" der EU kommen k6nnen. Die in Art. 15 I und 40 II des vorerst gescheiterten Entvmrfs eines EU-Verfassungsvertrages festgeschriebene ,,gemeinsame Verteidigung" darf nun, sollte sie denn jemals verwirklicht werden, auf der Basis des Vorhererwiihnten, nicht im Gegensatz zur N A T O stehen. Allerdings hat der immer noch nicht aus der Diskussion gezogene Verfassungsvertrag nicht nur einige verwirrende und kontraproduktive, sondern fiir die N A T O durchaus gef~ihrliche Passagen, die eher einen atlanto- und amerikanophoben Europiiismus start einen europiiischen Beitrag zu emem starken und sinnvollen Atlantizismus in der Sicherheitspolitik verheil3en. Darauf hat jiingst auf iiberdeutliche und iiberspitzte, aber z.T. auch verf~ilschende Weise, der 2385In Anlehnung an Charles Barry, ESDI." Toward a Bi-Polar Alliance?, in: Charles S. Barry (Hg.), Reforging the TransAtlantic Relationship, Washington D.C. 1996, S. 63-84, 67ff.
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Kapitel XII
amerikanische Militiiranalyst Jeffrey L. Cimbalo in ,,Foreign Affairs" hingewiesen. Die von ihm aufgez~ihlten Gefahrenpotentiale fiir die NATO sind z.T. jedoch in der Tat vorhanden, solange der EU-Verfassungsvertrag nicht neu ausgehandelt wird. Das vorliiufige Scheitern des Verfassungsvertrages im Ratifikationsprozess dutch die franz6sischen und niederliindischen Voten k6nnte sich noch als ein Segen fiir den sicherheitspolitischen Zusammenhalt der NATO erweisen. Zwei Probleme hat Cimbalo in seinem Aufsatz aufgeworfen. Zum einen ist Cimbalos Behauptung, dass eine ,,gemeinsame Verteidigung", so sie denn verwirklicht wiirde, nach den Bestimmungen des EU-Vertrages von den NATOVerpflichtungen der NATO-EU-Mitgliedstaaten v611ig entkoppelt werden k6nnte, zwar arg zugespitzt und sehr unwahrscheinlich, aber rechtlich eben nicht mehr vonder Hand zu weisen. ,,NATO-EU-MitgHedstaaten" sind alle EU-Staaten mit Ausnahme Osterreichs, Finnlands, Irlands, Schwedens sowie Malta, Zypems u n d - in Bezug auf die milit~irische NATOOrganisation- Frankreichs. Das Versprechen Chiracs Mitre der neunziger J ahre im Falle der Etablierung eines eigenstiindigen europiiischen Militiirkommandos in die militiirischen Struktuten der NATO zuriickzukehren 2386, erscheint heute fast schon als ein Lippenbekenntnis. Die enge Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsstaaten mit der NATO wird nun zwar in der Tat in Art. 40 VII des Entvmrfs nut in Beschr~inkung auf die Umsetzung der sogenannten ,,engeren Zusammenarbeit im Bereich der gegenseitigen Verteidigung" festgeschrieben. Das wiire insofern problematisch, so die Kritik Cimbalos, als diese ,,engere Zusammenarbeit" ja in dem Moment erl6sche, in dem sie von einer ,,gemeinsamen Verteidigung" auf der Basis eines einstimmigen Beschlusses des Europiiischen Rates gemiil3 Art. 40 II abgel6st wiirde. Doch verschweigt Cimbalo, dass es auch in Art. 40 II, der sich auf die ,,gemeinsame Verteidigung" bezieht, die Bestimmung gibt, dass die ,,gemeinsame Verteidigung" die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, ,,die ihre gemeinsame Verteidigung in der Nordatlantikvertrags-Organisation verwirldicht sehen", geachtet werden und kompatibel mit der ,,gemeinsamen Verteidigung" der EU zu sein hat. Trotzdem ist die Vdausel in Art. 40 II (,,Achtung" vor denVerpflichtungen von NATO-Mitgliedem) um einiges schwiicher als in Art. 40 VII (,,Zusammenarbeit" mit der NATO). Hier stellt sich in der Tat die Frage, ob es richtig ist, diese doch sehr weitgehende ,,Offenheit" gegeniiber der NATO in den Verfassungsvertrag auf diese Weise zu verankem. Zum zweiten macht Cimbalo auf das Problem aufmerksam, dass der Vertragsentwurf ,,Mini-Allianzen" innerhalb der EU erm6glicht. Dass ist gerade in Verbindung mit der erwiihnten Problematik der Art. 40 II und VII eine Bestimmung mit erh6htem Desintegrationspotential in Bezug auf die NATO. Nach Art. 40 VI des Vertragsentwurfs k6nnen Mitgliedstaaten der EU, ,,die anspruchsvolle Kxiterien in Bezug auf die milit~irischen Fiihigkeiten erfiillen und die im Hinblick auf Missionen mit h6chsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind" eine ,,strukturierte Zusammenarbeit" gemiiB Art. III-213 begriinden. Ohne klare NATO-Verpflichmngsklauseln an dieser oder an anderer Stelle k6nnten sich diese Bestimmungen im Falle yon NATO-Austritten bestimmter EU-Mitgliedstaaten in der Tat als sehr problematisch erweisen- erst recht, wenn es sich dabei um gr613ere Staaten handeln sollte, welche auf andere Mitgliedstaaten (sozusagen die ,,Outs") gar Druck ausiiben k6nnten zum Zwecke einer anti-atlantisch ausgerichteten Aul3en- und Sicherheitspolitik. Welche Folgen diese Vagheiten jetzt schon haben, zeigen die 17berlegungen Cimbalos, wie denn die Amerikaner auf diese europiiistischen Tendenzen reagieren sollten, sehr deutlich:
Vgl. Joachim Krause, Kooperative Sicherheit~oolitik. Strategische Ziele und Interessen, in: Karl Kaiser / Joachim K_rause (Hg.), Deutschlands neue AuJ~enpolitik. Band 3: Interessen und Strategien, Mfinchen 1996, S. 77-96, 90.
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,,A constitutionallyguaranteed ability to opt out from common national security provisions would give force t o the now rather empty claims of NATO compatibility. If the opt-out is allowed, NATO could reformulate its membership conditions to exclude EU 'mini alliances'members. This would reflect the practical truth that nations cannot serve two exclusivepolitico-militaryalliances at once. The result would be a smaller NATO, but one with much more cohesive security goals.'238v Das wiire ein ~iuBerst negatives Ergebnis: die atlantische Einheit wiire zerbrochen. U m das zu verhindern, regt Cimbalo an, dass die engen Verbiindeten der USA (GroBbritannien, Diinemark, Polen, mit Abstichen Italien, die Konservativen in Spanien) den Verfassungsentwurf wieder zur Diskussion stellen sollten. Ansonsten sieht er aber in einer kleineren, angelsiichsisch gepriigten N A T O eine ernsthafte, realistische Option. Der Atlantizismus wiirde der Vergangenheit angeh6ren und von einer neuen Union abgel6st werden, welche aus einem angelsiichsischen Zentrum (USA, GroBbritannien), skandinavischen und ostmitteleuropiiischen Flanken (Island, Norwegen, D~inemark, Polen, Tschechien, Ungam, Bulgarien, evtl. Rumiinien und Ukraine) und siideurop~iischen Absicherungen (Tiirkei, Albanien, evtl. Spanien, Portugal, Italien, Griechenland) sowie den Niederlanden bestehen wiirde. Dieser neuen N A T O wiirde dann wohl eine Achse aus Frankreich, Deutschland, Russland 2388, evtl. Serbien, Spanien, Griechenland, Schweden und der Ukraine entgegenstehen. In einer iiuBerst vakanten und gef'~ihrlichen Position wiirden sich dann kleinere Mitgliedsstaaten wie C)sterreich, Kroatien, Griechenland und Finnland ,,zwischen den Fronten" befmden. Trotz der berechtigten Kritik an den Bestimmungen des vorerst ohnehin gescheiterten Verfassungsvertrages und den damit einhergehenden Negativszenarien bei Cimbalo, sollte nicht der Fehler begangen werden, zu leugnen, dass die europiiische Einheit weiterhin ,,eine Vorbedingung fiir das Entstehen starker atlantischer Bindungen ist ''2389 - so hatte es George W. Ball schon 1968 formuliert. Dessen Uberzeugung, ,,dass es keine wahrhaft unproblematische und wirksame Partnerschaft zwischen Amerika und Europa geben kann, solange es kein Europa im politischen Sinne glbt ''239~ hat nichts von ihrer Aktualitiit eingebiisst. George W. Ball orientierte sich in seinen Ausfiihrungen an Kennedys Vorstellungen einer ,,atlantischen Partnerschaft", wie er sie mustergiiltig am 4. Juli 1962 in Philadelphia anl;,isslich der Feierlichkeiten zum amerikanischen Unabhiingigkeitstag skizzierte: ,,Acting on our selves we cannot (...) secure the blessings of liberty to ourselves and our prosperity. But joined with other free nations, we can do all this and more. ''2391 Auch heute wird - trotz aller Schwierigkeiten - diese Position nicht nur von klugen Beobachtem in Amerika geteilt, sondern auch vom Gros der amerikanischen Bev61kerung. Da die Wiihler also ohnehin fiir eine stiirkere Aufgabenverteilung zwischen Amerika und Europa in der Weltpolitik pliidieren, miisste es eigentlich nur ein Umschwenken der Einstellungen bei den amerikanischen und europiiischen Eliten geben. Fiir die amerikanischen Eliten hat es William Drozdiak auf folgenden Punkt gebracht: ,,The US needs to recognize that in present and future security interests will be best served by making Europe a full-fledged partner in managing global affairs. ''2392
2387Jeffrey L. Cimbalo, Saving NATOfrom Europe, in: Foreign Affairs, Bd. 83, Nr. 6, 1/2-2005, S. 111-120, 119. 2388Vgl. Henri de Grossouvre, Paris- Berlin- Moscou. La voie de l'indgpendance et la pai~,: L'Age d'Homme. Collection Mobiles ggopolitiques, Lausanne 2002. 2389George W. Ball, Dis~plin der Macht. Voraussetzungfi~'r eine neue Weltordnune$ Frankfurt a.M. 1968, S. 69. 2390Ebd., S. 71. 2391Zitiert nach Martin Gilbert, Challenge to Civilization. A Histo~ of the Twentieth Centu~ 1952-1999, London 1999, S. 279. 2392WilliamDrozdiak, The North Atlantic Drift, in: ForeignAffairs, Bd. 84, Nr. 1, 1/2-2005, S. 88-98, 93.
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Kapitel XII
b) Anti-atlantische O p t i o n e n Folgende O p t i o n e n miissen aus einer atlantischen Sichtweise verhindert werden: -
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,,KarolingischeVersion"2393:Deutsch-Franz6sische-(Russische)Achsenbildung ,,Anglosphere'2394 - Institutionalisierung einer angloamerikanischen wirtschaftlichen und politischen Union (AAU) und institutionelle Ausgestaltung eines festl~indischenEuropas 2395 Beibehaltungder institutionellen Ausgestaltung der EU unabh{ingigvon den USA in allen Bereichen Risikobehaftete2396Entkopplung amerikanischer und europ{iischer Verteidigung mit dem Ziel einer ,,Gegenmachtbildung" Einforderung einer europ~_ischenAtommacht zum Zwecke der ,,Gegenmachtbildung'2397
D e r Vorschlag einer Angloamerikanischen U n i o n (AAU) zwischen den USA, GroBbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland, zentriert u m die ,,special relationship" GroBbritannien und USA, die C o m m o n w e a l t h - T r a d i t i o n GroBbritanniens, die atomwaffenpolitische Zusammenarbeit zwischen GroBbritannien und den USA, die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Institutionen, g e m e i n s a m e Kolonialerfahrungen und die gemeinsame Geschichte 2398, stellt, unter Einschluss der historisch tiberlieferten K o n z e p t e politischer G e m e i n s c h a f t s o r d n u n gen 2399, nicht nur eine sicherheitspolitische, sondern auch eine e m s t z u n e h m e n d e zivilisationspolitische H e r a u s f o r d e r u n g des Atlantizismus dar. Als , , A n g l o s p h ~ r e " steht in modernisierten u n d heute in der konservativen britischen Wissenschaft h6chst aktuellen K o n z e p t i o n e n eine solche Einheit allen offen, die angels~ichsische Werte teilen. ,,Indien und Irland, Singapur u n d Siidafrika sind potentielle Mitglieder, weitere Liinder der Karibik, Afrikas u n d Asiens k 6 n n t e n hinzustof}en. ''24~176 Die Schule des neugegriindeten , , A n g l o s p h e r e - I n s t i t u t s " u m den amerikanischen Industriellen James C. Bennett, Henry Kissinger und Margaret Thatcher sowie der konservafiven amerikanischen Historikerin G e r t r u d e Himmelfarb 24~ stellt sich gegen den ebenso konservativen britischen Wissenschaftler Stephen Haseler, der aus gleichgewichtstheoretischen Erw~igungen heraus fiir die atomare Bewaffnung Europas pliidiert und demzufolge Frankreich
2393 Vgl. Christian Hacke, Diaputing a New World Order. The Position of Europe in the Transatlantic Context, in: http://www.bpb.de/veranstaltungen/ORUET5,0,O,Dispufing a New_World_Order.html, 2.8.2004, 19:54 Uhr. 2394 Vgl. James C. Bennett, The Anglo, here Challenge. Wty the English-Speaking Nations Will Lead the Way in the Twenty-First Centu[y, Lanham u.a. 2004. Der Begriff orientiert sich am Science-Fiction Autor Neal Stephenson (vgl. Wolf Lepenies, Die Anglospha're kommt, in: Welt am Sonntag, 13. Februar 2005). Vgl. femerhin als historischen Vorliiufer Winston S. Churchill, Histo[y of the English-Speaking Peoples, London 1956-1958. 2395Vgl. George W. Ball, Dis~j)lin der Macht. Voraussetzungfiir eine neue Weltordnung, Frankfurt a.M. 1968, S. 119ff. (Ball lehnt eine AAU am Ende ab). 2396Vgl. Helga Haftendom, A Poisoned Relationship? Die transatlantischen Be~ehungen ha& den Terrorangriffen des 11. September 2001, in: Wemer Kremp / Jiirgen Wilzewski (Hg.), Weltmacht vor neuer Bedrohung. Die Bush-Administration und die USAuf~enpolitik nach dem AngriffaufAmerika, Trier 2003, S. 249-275, 272. 2397Vgl. Stephen Haseler, Europa, nukleare Supermacht. Unter deutsch-franzb'sischerFiihrung entwickelt sich ein GegengewichtZu den Vereinigten Staaten, in: Die Zeit, 28. Oktober 2004, S. 13. 2398 Vgl. zum historischen, propagandistisch ehemals antideutsch gepriigten, angloamerikanischen Kern eines intemationalen ,,atlantischen Systems" Forrest Davis, The AtlanLic System. The Sto[y of Anglo-American Control of the Seas, New York 1941. 2399Vgl. zum Revolutionszeitalter Randolph G. Adams, Polilical Ideas of the American Revolution. Britannic-American Contributions to the Problem of Imperial Organization 1765 to 1775, 3. Aufl., Durham 1958. 2400Wolf Lepenies, Die AngloJpha're kommt, in: Welt am Sonntag, 13. Februar 2005. 2401Vgl. insbesondere James C. Bennett, The Anglo, here Challenge. Why the English-Speaking Nations Will Lead the Way in the Twenty-First Centu[y, Lanham u.a. 2004.
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und Deutschland ,,eine Art Union innerhalb der Europiiischen Union ''24~ bilden sollten, zu der GroBbritannien nach M6glichkeit hinzustoBen k6nnte. 24~ Eine Ausgestaltungsm6glichkeit 24~ wiirde in der begrenzten l~)bertragung von Souveriinit;,it auf zentrale Institutionen (Ministerratsitzungen mit stiindigen Untergruppen) bestehen, der Verschmelzung des Dollar- mit dem Sterlingblock, dem Aufbau gemeinsamer Geldreserven, eines freien Giiter-, Waren- und Menschenverkehrs, vielleicht gar der Einrichtung einer gesetzgebenden K6rperschaft, zuniichst auf der Basis des Entsendeprinzips. Die Nachteile der ohnehin augrund des starken und historisch durchaus auf s u b t l e Weise gegeneinandergerichteten Selbststolzes der beiden Kernv61ker in GroBbritannien und den USA 2405 (Thomas Paine: ,,Europe, and not England is the parent country of America"24~ wiire freilich der eklatante Juniorstatus GroBbritanniens (ira Vergleich zu den potentiellen Fiihrungsm6glichkeiten im R a h m e n eines E u r o p a ' E n g a g e m e n t s ) und europapolitisch h~itte eine AAU die hauptsiichliche Folge einer deutsch-franz6sisch(-russischen) Achsenbildung. 24~ Es gibt auch heute ,,keine L6sung fiir P r o b l e m e Europas ohne GroBbritannien (...). D e r kliigste Kurs - fiir beide Liinder und fiir die westliche Z i v i l i s a t i o n - ist nicht der, GroBbritanniens Abhiingigkeit von den Vereinigten Staaten zu vergr6Bern, s o n d e m sie zu beschriinken.'~24~
c) Atlantische O p t i o n e n 24~ Zu den atlantischen O p t i o n e n geh6rten demgegeniiber eine vorsichtige E n t k o p p l u n g bestimmter Bereiche amerikanischer und europiiischer Verteidigung mit dem Ziel einer ,,pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft ''241~ oder die Konservierung der N A T O und Integration der W E U (doppelter Standard) 2411, jedenfalls eine stiirkere institutionelle V e r k l a m m e r u n g der Verteidigungspolitik zwischen N A T O und w g w 2412, und schlieBlich die Schaffung verbesserter Responsivitiit dutch verbesserte Konsultationsmechanismen. 2413
2402Stephen Haseler, Europa, nukleare Supermacht. Unter deutsch-franzb'sischer Fiihrung entwickelt sich ein Gegengewicht Zu den Vereinigten Staaten, in: Die Zeit, 28. Oktober 2004, S. 13. 2403Vgl. ebd. 2404nach einem ausgearbeiteten Vorschlag zu Studienzwecken von George W. Ball vom State Department, der dern Priisidenten allerdings nie vorgelegt wurde; vgl. George W. Ball, Dis~plin der Ma&t. Voraussetzungfiir eine neue Weltordhung, Frankfurt a.M. 1968, S. 122ff. 2405Vgl. zur angels~ichsischenSkepsis gegen(iber jeglicher ,,organischen Union" zwischen zwei, auch noch angelsiichsischen Nationalstaaten Forrest Davis, The Atlantic System. The Sto~y of Anglo-American Control of the Seas, New York 1941, S. 338. 2406zitiert nach Alfred Owen Aldridge, Thomas Paine's American Ideology, Newark~London~Toronto 1984, S. 64. 2407Vgl. George W. Ball, Dis~plin der Ma&t. Voraussetzungfiir eine neue Weltordnune~ Frankfurt a.M. 1968, S. 123. 2408George W. Ball, Dis~plin derMacht. Voraussetzungfiir eine neue Weltordnune~ Frankfurt a.M. 1968, S. 124. 2409 Vgl. insgesamt Wolfgang-Uwe Friedrich, New Atlanticsm. Transatlantic Relations in Perspective, Oxford 2001. 2410Vgl. Oebhard Schweigler,American Engagement in Europe: The Go-go Scenario, in: Charles S. Barry (Hg.), Reforging the Trans-Atlantic Relationship, Washington D.C. 1996, S. 87-105, 102. 2411Vgl. John j. Mearsheimer, The Tragedy of Great Power Politics, New York 2001; rnit stitrkerer Betonung der NATO: Robert E. Hunter, The European Security and Defense Poli~y. NATO's companion - or Competitor?, Santa Monica 2002. 24,2 Vgl. Alexander Moens, Developing a N A T O - E U Security Regime, in: Carl C. Hodge (Fig.), NAWO for a New Century. Atlanticism and European Security, Westport 2002, S. 69-84. 2413Vgl. Felix Arteaga Martin, Perspectives in Transatlantic Relations." Security Aspects, in: Christoph Bail / Wolfgang H. Reinicke / Reinhardt Rummel (Hg.), EU-US Relations." Balancing the Partnership. Taking a Medium-Term Perspective, BadenBaden 1997, S. 41-45, 43ff.
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Schon die ,,Atlantik-Charta" war nicht das Ergebnis von Handlungen zweier transatlantisch, sondern im Vergleich dazu viel partikularer, ja nationalistisch ausgerichteter Akteure: Churchill und Roosevelt waren keine , , A t l a n t i z i s t e n " i m engen politischen Sinne des Wortes 2414. A u f der Basis des moralischen Uberbaus jenes I
Die Initiierung einer integrativen Vertiefung der NATO durch die Integration der militiirischen Forschung der EU-Staaten bei gleichzeitigerIntegration der WEU/ESVP in die NATO Initiierung integrativer Vertiefung der NATO durch europiiische AufrCistungbei gleichzeitigerIntegration der WEU/ESVP in die NATO 2421
2414Vgl. Forrest Davis, The Atlantic System. The Sto~ of Anglo-Ameffcan Control of the Seas, New York 1941, S. 316t=.Vgl. zur prim~ir -lcriegspropagandistischenFunktion der ,,Atlantik-Charta" im Sinne eines Tiiuschungsman6vers (in/iberspitzter Form) Benjamin Colby, Roosevelts scheinheiligerKrieg. Amerika,r Betrug und Propaganda im Kampf gegen Deutschland, 2. Aufl., M/inchen 1978, S. 30-45. 2415Vgl. Jacques Freymond, Die Atlantische Welt, in: Golo Mann / Alfred Heug / August Nitschke (Hg.), Propyla'en Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte,Band X, Berlin / Frankfurt a.M. 1986, S. 223-299, 226-247. 2416 Vgl. zu entsprechenden Tendenzen Peter Schmidt, ESDI: A Geman Anlaysis, in: Charles S. Barry (Hg.), Reforging the Trans-Atlantic Relationship, Washington D.C. 1996, S. 37-61. 2417Wolfgang Schiiuble, Die europa'ischeIntegration voranbringen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Januar 2005, S. 9. 2418Vgl. ebd. 2419 Vgl. Hans-Ulrich Klose, Die wichtigste Klammer ist die Nato. Die Biindnis-Mitglieder sollten sichj~r den Fall milita~scher Herausforderungen aufeine Entscheidungshierarchie einigen, in: S/iddeutsche Zeitung, 22. Februar 2005, S. V1. 2420Ebd.
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Die Abkopplung von sicherheitspolitischen, politischen und wirtschaftlichen Integrationsstrukturen im transatlantischen Kontext unter Schaffung einer neuen sicherheitspolitischen und sicherheitsstrategischen Kooperationsstruktur und in Verbindung mit neuen transatlantischen Integrationsstrukturen im wirtschaftlichen und politischen Bereich (Ausbau des vorhandenen ,,acquis atlantique"2422): Die Institutionalisierung einer sicherheitspolitischen Grofimiichtekonstellation im Rahmen einer renationalisierten strategischen Kooperationsstruktur und die Schaffung eines ,,Atlantischen Rates" der vier bis sieben GroBmiichte (auch als Initialz/indung politischer und wirtschaftlicher Integration im transatlantischen Verhiiltnis oder zur Schaffung neuer atlantischer Institutionen oder Instiutionennetze aufierhalb oder unter Einschluss der NATO2423). Was den ,,Adantischen Rat" betrifft, geht die Idee auf eine ehemals gaullistische Vorstellung zuriick: Vier (bis fiinf oder sieben) groBe Nationalstaaten der westlichen Zivilisation, die alle eine ,,ausgepriigte ,nationale P e r s 6 n l i c h k e i t ' " und eine besondere ,,geographische, politische und milit~irische" Eignung h~itten 2424, k6nnten sich in einer neuen sicherheitspolitisch-strategischen Allianz wiederfmden und eine Art ,,weltpolitisches Direktorium" abgeben, unter der Voraussetzung, dass alle diese Nationalstaaten mit A u s n a h m e der USA ihre Nationalarmeen riismngsund kampftechnisch im R a h m e n von auBergew6hnlichen nationalen finanziellen Kr~ifteanstrengungen (also durch gegenseitig abgestimmte Aufriistungen) modernisieren. Dabei k6nnte man weiter denken als de Gaulle: W a r u m sollte der ,,Atlantische Rat" nicht als sicherheitspolitisch fest integriertes Organ start nur als bloBes Abstimmungs- und Beratungsorgan gedacht und konzipiert sein? D e r ,,Atlantische Rat ''2425 oder Atlantische Sicherheitsrat auf der Basis eines transatlantischen Vertragsverhiiltnisses 2426 wiire jedenfalls auch als sicherheitsstrategische Kooperationsstruktur zwischen einem europiiischen Direktorium und den USA denkbar: und wiirde aus den USA, GroBbritannien, Deutschland, Frankreich, evtl. noch Italien, Spanien und Polen bestehen. Eine sicherheitsstrategische Kooperationsstruktur zwischen einer W E U und den USA k6nnte also ein neues Vertragsverh~iltnis und einen ,,Atlantischen Rat" implizieren (bestehend aus den USA und der EU) und als Initialziindung politischer und wirtschaftlicher Integration im transatlantischen Verh~iltnis dienen: Langfristig k6nnte die Schaffung neuer Institutionen (bzw. eines Instimtionennetzes) auBerhalb (bzw. unter Einschluss) der N A T O 2427 oder einer Transatlantischen Freihandelszone (TAFTA) ins Blickfeld g e n o m m e n werden. Jedenfalls wiire es ein groBer Schritt nach vorne, wenn eine ,,europiiische" und eine amerikanische Sicherheitsstrategie ,,miteinander v e r b u n d e n werden ''2428 k6nnten, wobei Deutschland in E u r o p a die treibende Kraft sein wiirde. 2429 ,,Dabei darf es kein T a b u sein, fiir m6gliche Einsiitze europiiischer Streitkriifte einen strategischen R a h m e n zu entwerfen, der mit unseren
2421Vgl. Richard G. Lugar, Redefining N A T O ' s Mission. Preventing WMD Terrorism, in: The Washington Quarterly, 25 (Sommer 2002) 3, S. 7-13; Klaus Naumann, Das B~ndnis vor dem Aus? Gedanken iiber die Zukunft der N A T O , in: Intemationale Politik,57 (Juli 2002) 7, s. 7-14; Helga Haftendom, A Poisoned Relationship? Die transatlantischen Be~ehungen nach den Terrorangtiffen des 11. September 2001, in: Werner K_remp / Jiirgen Wilzewski (Hg.), Weltmacht vor neuer Bedrohung. Die BushAdministration und die US-Auflenpolitik nach dem Angffff auf Ametika, Trier 2003, S. 249-275, 267f. 2422 Vgl. Peter Barschdorff, Facilitating Transatlantic Cooperation after the Cold War. A n Acquis Atlantique, Hamburg 2001. 2423Vgl. ebd., S. 140-146. 2424Vgl. Konrad Adenauer, Adenauer, Erinnerungen 1959-1963 (Band IV), Stuttgart 1968, S. 63. Vgl. femerhin Raymond Cartier, Manner undMdchte unserer Zeit, M~inchen 1971, S. 858. 2425Vgl. Christoph Bertram, Europa in der Schwebe. Der Fffeden muss nochgewonnen werden, Bonn 1997, S. 148. 2426Vgl. Ulrike Guerot, Europa und Ametika: business as usual? Die Zeit ist rei~./~r einen US-EU-Vertrag, in: Intemationale Politik, Januar 2005, S. 54-60, 59f. 2427Vgl. ebd., S. 140-146. 2428Wolfgang Schiiuble, Die europdische Integration voranbtingen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Januar 2005, S. 9. 2429Vgl. ebd.
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atlantischen Partnern abgestimmt ist und die jeweiligen Interessen u n d Priorit~iten erkennen l~isst. ''2430 Das setzt eine u n v o r e i n g e n o m m e n e Interessendefmition auch g u r o p a s voraus. D e r bisherige rhetorische Altruismus, welcher sich ,,Europa" als zivilisatorisches Projekt ertrS.umt, geh6rte d e m n a c h so rasch wie m6glich aus der Welt geschafft. 2431 Z u m A u f b a u des ,,gemeinschaftlichen Kapitals ''2432 innerhalb der N A T O wiirde es zuniichst schon ausreichen, m e h r Responsivitiit durch ein verbessertes E i n g e h e n auf die Vorstellung der P a r m e r durch das I n s t r u m e n t der K o n s u l t a t i o n s m e c h a n i s m e n zu schaffen. Die bisherigen K o n s u l t a t i o n s m e c h a n i s m e n sind2433: Treffen zwischen US-Priisidenten,EU-Ratspriisidentenund-Kommissionspriisidenten(zweimalim Jahr), Treffen zwischenUSAul3enminister,EU-Kommissionund EU-Rat der Aul3enminister(zweimalim Jahr), Treffen zwischen US-Regierungund EUKommission (zweimalim Jahr), Ad-Hoc-TreffenzwischenUS-AuBenministerund Augenministerdes priisidierendenEU-Staates oder der EU-Troika,Briefingsder EU-Priisidentschaftfiber Ministerratstreffenan die USA M6gliche Verbesserungen bestiinden m d e r Einrichtung eines stS.ndigen Atlantischen Sicherheitsrates, in der privilegierten Stellung der EU-GroBm~ichte unter H e r a n z i e h u n g eines Repriisentanten der kleinen u n d mittleren MS_chte, in der Begrfindung eines permanenten Rates v o n Vertretern der E U u n d der USA 2434, in jiihrlichen EU-USA-Gipfeltreffen, der Verbesserung politischer u n d wirtschaftlicher Fiihigkeiten auf allen Seiten durch integrierte Wirtschaftsr~ite oder entsprechender K o n s u l t a t i o n s m e c h a n i s m e n oder im A u s b a u der gegenseitigen Transaktio n e n in allen politischen u n d wirtschaftlichen Bereichen sowie im gezielten A u s b a u gesellschaftlicher K o m m u n i k a t i o n u n d pers6nlicher Mobilit~it.
5.4 Politisierungsperspektiven der atlantischen Sicherheitsallian z (Karl W. Deutsch, Hans J. Morgenthau) Karl W. D e u t s c h unterschied n u n zwischen einer ,,pluralistischen" u n d einer ,,amalgamierten Sicherheitsgemeinschaft" u n d entwickelte einen ,,transaktionalistischen" Integrationsbegriff, i.e. ,,Integration" bestimmte sich nicht nach d e m A u s m a g effektiven Souver{initiitstransfers, sondern nach der Dichte der Transaktionen zwischen den Gemeinschaftsmitgliedem. ,,Die gemeinsame politische E n t s c h e i d u n g s f m d u n g ist fiir den transaktionalen Ansatz der Integrationstheorie insofern eher Ausdruck einer integrierten G e m e i n s c h a f t als dessen Grundlage oder gar qualifizierendes Merkmal. ''2435 ,,Wenngleich sich die quantitative Messung yon Transaktionsraten als (ausschlaggebende) Methode zur Erhebung der Qualit{it der Integration nicht bewS~hrthat, so hat die Forschergruppe um Deutsch einen wichtigen Punkt fCir die sich seinerzeit erst langsam entfaltende integrationstheoretische Diskussion markiert, indem sie darauf hinwies, dass die Analyse von Integrationsprozessen unvollstiindig ist, wenn sie die soziologische bzw. sozialpsychologi-
2430Wolfgang Sch~iuble,Die europd'ischeIntegration voranbringen,in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Januar 2005, S. 9. 2431Vgl. Ulrike Guerot, Europa und Amerika: businessas usual? Die Zeit ist reiffiir einen US-EU-Vertrag, in: Intemationale Politik, Januar 2005, S. 54-60, 56. 2432Nach Wolfgang Sch~iuble,Die europd'is&eIntegration voranbringen,in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Januar 2005, S. 43, in Anlehnung an Karl W. Deutsch et. al., PoliticalCommunity and the North Atlantic Area. InternationalOrganization in the Iaght of HistoricalE~,~erience, New York 1969, S. 164-171. 2433Vgl. im folgenden Peter Barschdorff, Facilitating Transatlantic Cooperation after the Cold War. An Acquis Atlantique, Hamburg 2001; S. 29f. 2434Vgl. z.B. Dieter Roser, Europa'ischeEinigung und atlantische Gemeinschaft,Bonn o.J. (1961), s. 14. 2435Wilhelm Knelangen, So~ologis&eund kulturMssenschaftlicheBeitra'gewr Integrationstheorie(unver6ffentlichtes Manuskript aus dem Internet).
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sche Dimension, insbesondere die grenz/iberschreitende Verflechmng und das Ausmal3 des Zusammengeh6rigkeitsgef/ihls, aul3erAcht la_sst. ''2436 Zur pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft (welche Deutsch 1957 fiir den atlantischen Raum favorisierte) geh6rt demnach die von Eliten getragene und kaskadisch an die Bev61kerungen weitervermittelte Vereinbarkeit der wesentlichen Werte, verbunden mit einem damit gegebenen Mindestmal3 an Interessenkompatibilitiit, beides artikuliert im Gemeinschaftssinn (we-hess); ,,responsiveness" als Ausdruck der Sensibilitiit fiir die Belange anderer, insbesondere der schwiicheren Mitglieder; und Voraussagbarkeit des Verhaltens der Akteure m dem iibergeordneten integrativen Verbund. Diese pluralistische Sicherheitsgemeinschaft kann durchaus mit dem Allianzbegriff Hans j. Morgenthaus in Einklang gebracht werden, allerdings macht Morgenthau auf zwei Voraussetzungen aufmerksam, die nach Deutsch integrativ iiberwunden werden k6nnten, nach Morgenthau aber nicht: Die Frage der Zweckmiil3igkeit der Allianz fiir einen Nationalstaat vor dem Hintergrund seiner machtpolitischen Stiirke (die Allianz ist ab einer bestimmten Machtstiirke evtl. nicht mehr , , n o t w e n d i g " ) und vor dem Hintergrund einer Kosten-Nutzen-Analyse (iibersteigen die Kosten und Verpflichtungen den gemeinen Nutzen?). 2437 Der , , N u t z e n " als auch die ,,Macht" indes k6nnen nicht vollends von den Werten getrennt werden. Das k o m m t bei Morgenthau selbst indirekt im Begriff der ,,ideologischen Interessen" zum Ausdruck. 2438 Bei Max Weber fmdet sich das Begriffspendant m der Bezeichnung ,,ideelles Interesse", das nicht mit der ,,Idee" selbst verwechselt werden sollte: der Unterschied besteht darin, dass ideelle Interessen aus Ideen abgeleitet werden, aber das Handeln nicht durch die Ideen selbst, sondern nur durch die ,,ideellen Interessen", die neben und zusammen mit den ,,materiellen Interessen" existieren, unmittelbar beeinflusst w i r d . 2439 Jedenfalls bleibt festzuhalten, dass Ideen auf Interessen wirken. Grunds~itzlich ist festzuhalten, dass Interessen durch Glaubens- und Normensysteme beeinflusst werden k6nnen und nicht vollstiindig von ihnen abgekapselt werden k6nnen: ,,Ein Glaube verwandelt nicht nut die IJberzeugungen, sondern auch die Interessen, so gewiss er ,Interessen' nicht aus dem Weg schafft. ''2440 Dass formale Institutionalisierungen aus einer bestimmten Wertestrukmr erfolgen k6nnten, erscheint daher nicht abwegig, doch miisste zuniichst einmal ein ernstzunehmendes Bewusstsein von einer gemeinsamen und tragenden Wertestruktur gegeben sein. Trotz der groBen Machtdivergenz zwischen den USA und Europa kann vor diesem Hint e r g r u n d - neben einer Ursache, die in manifesten machtpolitischen Begebenheiten mit geopolitischem Bezug auf Zentralasien liegt 2441 - heute immer noch davon ausgegangen werden, dass die USA die Frage der Zweckmiil3igkeit der nordatlantischen Allianz auf lange Sicht positiv Wilhelm Knelangen, So~ologische und kulturwissenschaftliche Beitra'ge zur Integrationstheode (unver6ffentlichtes Manus~ipt aus dem Internet). 2437Vgl. Hans J. Morgenthau, Politics among Nations. The Strugglefor Power and Peace, 6. Aufl., New York 1985, S. 181. 2438Vgl. ebd., S. 182f. und 507. Hierin unterscheidet sich der Realismus Morgenthaus von demjenigenvon Waltz und Mearsheimer, die beide nach dem Wegfall des Bedrohungspotentials der Sowjetunion die NATO erodieren sehen, ihr also keine 6konomischen und politischen Stabilisierungsfunktionen, die als Interessenprioritiiten aller ,,westgmher" Nationalstaaten fungieren, zuweisen wollen (vgl. z.B. John j. Mearsheimer, Back to the Future. Instability in Europe after the Cold War, in: International Security 15 (1) 1990, S. 5-56). 2439 Vgl. Artur Bogner, Zivilisation und RationalMerung. Die Zivilisationstheorie Mac Webers, Norbert Elias' und der Frankfurter Schule im Vergleich, Opladen 1989, S. 178. 2440Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, MCinchen1974, S. 70. 2441 Vgl. insbesondere die AusfCihrungenzur NATO in Zbigniew Brzezinski, Die ein~ge Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 2002. 2436
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Kapitel XII
b e a n t w o r t e n werden. Desweiteren stellt sich die Frage, ob nicht eine dauerhafte K o o p e r a t i o n zwischen Nationalstaaten erst recht im nordatlantischen R a u m konstitutiv ist, w e n n bedacht wird, dass - n e b e n den gegebenen langfristigen Beziehung der Eliten zueinander u n d den weiterhin b e s t e h e n d e n I n t e r e s s e n g e m e i n s a m k e i t e n - n o c h eine Sache h i n z u k o m m t , welche v o m liberalen Instimtionalismus in die Debatte gebracht wird: D e m n a c h reicht es in einer inzwischen iiuBerst i n t e r d e p e n d e n t strukturierten Welt schon aus, dass vielversprechende absolute Vorteile durch K o o p e r a t i o n e n ansatzweise mo'glich erscheinen, damit es zu einer dauerhaften K o o p e r a t i o n k o m m e n kann. 2442 In einer ,,amalgamierten Sicherheitsgemeinschaft" n u n k o m m e n als G e m e i n s c h a f t s e l e m e n te hinzu2443: sich intensivierende Transaktionen im Bereich v o n K o m m u n i k a t i o n u n d 6konomischen Austauschprozessen, die E r w a r t u n g eines 6 k o n o m i s c h e n Gewinns aus d e m n e u e n integrativen Verbund, die Z u n a h m e politischer und administrativer Kapazitiiten als Grundlage verbesserter Probleml6sungsfahigkeiten, die Mobilitiit v o n P e r s o n e n fiber die G r e n z e n hinweg, die Fiihigkeit zu einer u m f a s s e n d e n u n d breiten K o m m u n i k a t i o n (also die K o n s t i t u t i o n neuer Offentlichkeiten) u n d ein attraktiver gemeinsamer Lebensstil. An letzterem schlieBen n u n weitergehende Schritte der Gemeinschaftsbildung an. Hiermit ist eine Gemeinschaftsbildung angesprochen, die fiber die Sicherheitsarchitektur hinausgeht. Schon T h o m a s M a n n trat fiir eine ,,F6deration freier Staaten im weiteren R a h m e n der wirtschaftlichen Z u s a m m e n a r b e i t der zivilisierten N a t i o n e n der ganzen E r d e " (Radioansprache in N e w York 1943) ein. Ein hieran ankniipfender ,,atlantischer Regionalismus ''2444 k6nnte v o n einer Transatlantischen Freihandelszone (TAFTA) tiber einen Transatlantischen Binnenmarkt 244s bis zu einer ,,Europiiisch-Amerikanischen Politischen Z u s a m m e n a r b e i t ''2446 u n d vielleicht gar am E n d e politischen Transatlantischen U n i o n reichen. 2447 I m politischen Bereich k 6 n n t e n n e b e n einem Atlantischen Vertrag und einem ausgebautem Atlantischen Sekretariat in Brfissel u n d in Washington, politische, 6 k o n o m i s c h e u n d kulturelle Institutionen, G e m e i n s a m e Parlamentarische V e r s a m m l u n g e n , ein p e r m a n e n t e r Rat v o n Vertretern der E U u n d der USA, u n d jiihrliche E U - U S A - G i p f e l t r e f f e n hinzutreten. 2448 Eine ,,transatlantische V e r s a m m l u n g " schlug auch schon der ehemalige britische Verteidigungsminister Malcolm Rifldnd vor. 2449
2442Vgl. Robert O. Keohane, After Hegemony. Cooperation and Discord in the World Political Economy, Princeton / New Jersey 1984. 2443Vgl. Karl W. Deutsch et. al., Political Community and the North Atlantic Area. International Organization in the Laght of HistotgcalEa,~etience, New York 1969, S. 46-59. 2444 Vgl. Michael Kriele, Deutschland und die Europ/iische Union als Teih der tdlaleralen Welt, in: Karl Kaiser / Joachim Krause (Hg.), Deutschlands neue AuJ~enpolitik. Band 3: Interessen und Strategien, Mtinchen 1996, S. 55-61, 58f. 2445Vgl. Wemer Weidenfeld, Wir brau&en die Transatlantische Gemeinschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Mai 1995; Michael Smith / Stephen Woolcock, The United States and the European Community in a Tranformed World, London 1993. 2446 Wemer Weidenfeld, Wege zur Erneuerung der Transatlanlischen Gemeinschaft, in: Sebastian Lorenz / Marcel Machill (Hg.), Transatlantik. Transfer yon Politik, Wirtschaft und Kultur, Wiesbaden 1999, S. 46-51, 48f.; vgl. auch Christoph Bail / Wolfgang H. Reinicke / Reinhardt Rummel, Medium-Term Pers~ectives on Transatlantic Relations." A Report, in: Christoph Bail / Wolfgang H. Reinicke / Reinhardt Rummel (Hg.), EU-US Relations: Balancing the Partnership. Taking a MediumTerm Per~Oective, Baden-Baden 1997, S. 149-188; Timothy Garton Ash, Freie Welt. Europa, Amerika und die Chance der K, ise, Bonn 2004, S. 266. 2447Vgl. Peter H. Mettler / Wemer Kremp (Hg.), Chancen einer Transatlantis&en Union?, Trier 2002; Charles A. Kupchan, Forging a New Transatlantic Relationship : Atlantic Union?, in: Christoph Bail / Wolfgang H. Reinicke / Reinhardt Rummel (Hg.), EU-US Relations: Balancing the Partnership. Taking a Medium-Term Pers?ective, Baden-Baden 1997, S. 98-101. 2448 Vgl. Ludger Ktihnhardt, Editotiah Atlantische Gemeinschaft braucht grundlegende Erneuerung, in: ZEIreport Nr. 11, Juli 2002, S. 1. 2449Vgl. Zusammenstellung von Gebhard Schweigler, Die Atlantische Gemeinschaft. Schicksal, Sicherheit und Werte, Ebenhausen 1997, S. 9fi
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,,Dies k6nnte die erste wahrhaft transkontinentale Struktur der Zusammenarbeit werden ... Die Zeit ist gekommen, um yon scheibchenweisen Verbesserungsversuchender Atlantischen Beziehungen zu einem grol3en Sprung nach yore anzusetzen mit dem Ziel einer neuen grol3en atlantischen Strategie, einer gemeinsamen globalen Rolle f~r die EU und die USA."2450 Langfristig ein transatlantisches Institutionennetz in verschiedenen Politikbereichen zu konzipieren, k6nnte auch ganz neue Ideen des Zusammenhalts und der transatlantischen Kultur hervorbringen, z.B. die Schaffung eines freiwilligen oder verpflichtenden transatlantischen Sozialdienstes fiir junge Menschen beiderseits des Atlantiks als Alternative ihrer heutigen Dienst-verpflichtungen oder Gemeinschaftsdienstm6glichkeiten. In Bezug auf das m6gliche Gegenargument, durch eine solcherart politisch integrierte NAT O wiirde die U N O geschwiicht werden, gerade auch im Falle der Installierung eines ,,Atlantischen S i c h e r h e i t s r a t e s " , ist doch gerade festzuhalten, dass eine Abspaltung der ,,freien V61ker" aus der U N O und der Zusammenschluss zu einer ,,Gemeinschaft freier V61ker", die mit einer derartigen Atlantisierungsstrategie einhergehen k6nnte, ja geradezu eine groBe weltpolitische Chance darstellen wiirde. 2451 Die U N O ist eine Veranstaltung der ,,Exekutiven" und hat mit ,,internationaler Demokratie" herzlich wenig zu tun. Die auf sie projizierte Idealisiemng in einem antiamerikanischen Sinne erscheint daher iiul3erst obskur. Eher ist die U N O eine internationale ,,kommissarische Diktatur" im Sinne von Carl Schtnitt 2452 als eine ,,internationale Demokratie", allerdings eine ,,kommissarische Diktatur" ohne wirklich bedeutende Machtmittel. Auch die Alternative des gegen Amerika gerichteten ,,Strategischen E u r o p a " k r a n k t - wie schon oft a n g e d e u t e t - an vielen Enden. Das G r u n d p r o b l e m besteht darin, dass Grenzenlosigkeit im Falle Europas zur Schwiiche fiihrt. ,,Die Europiiische Union muss daher ihre Grenzen kennen und zu neuen F o r m e n der Zusammenarbeit mit Liindern linden, die teilweise oder gar nicht zu Europa geh6ren. ''2453 Statt alle Kraft auf ein strategisches Weltmacht-Europa unter Einbeziehung der Tiirkei zu verwenden, sollte zuniichst einmal viel stiirker in Richtung einer abgestuften Integration gearbeitet werden. 2454 Eine Reform der N A T O in eine interdependenzorientierte Richtung ist jedenfalls, unabhiingig von der Frage EU oder U N O , im Z u s a m m e n h a n g einer ,,Atlantischen Zivilisation" als politische Idee vonn6ten. Gefragt ist eine schrittweise Integrierung der amerikanischen Vormacht in ein potentiell politisch-(kon)f6deratives Gebilde 2455 auf der Basis freilich einer massiven Verbesserung der Kapazitiiten der europiiischen Nationalarmeen und der Effizienzsteigerung der gesamteuropiiischen Verteidigungs- und Sicherheitskapazitiiten im Sinne einer qualitariven Tendenzwende. Letzteres ist notwendig. Schon Aul3enminister Dulles machte in einer Unterredung mit K o n r a d Adenauer im Jahr 1953 auf folgendes grundlegendes Problem aufmerksam: ,,Man habe sich in den Vereinigten Staaten sehr viele Gedanken darCiber gemacht, wie sich Wege finden liegen, um die Aul3enpolitikder NATO-Liinder zu harmonisieren. Das Problem sei vom amerikanischen Standpunkt aus 2450Gebhard Schweigler,Die Atlantische Gemeinschaft. Schicksal, Sicherheit und Werte, Ebenhausen 1997, S. 9f. 2451Vgl. Michael Novak, Vision eines Amenkaners. Europa undAmerika imglobalen Zusammenhang, in: Die politische Meinung Nr. 422 (01/2005), S. 25-32, 31f. 2452Wolfgang Leidhold, Tendenzen und Konzepte einer neuen Weltordnung, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Politisches Denken. Jahrbuch 1997, Stuttgart / Weimar 1997, S. 75-100, 96. Was/ibrigens nicht bedeutet, dass die UNO nach den Prinzipien des V61kerrechts nicht absolut legitimiertist. 2453Wolfgang Schiiuble, Die europ?iischeIntegration voranbringen, in: Frankfurter AllgemeineZeitung, 28. Januar 2005, S. 9. 2454Vgl. ebd. 2455Vgl. David Calleo, The Atlantic Fantasy: The U.S., N A T O and Europe, Maryland 1970, S. 29.
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Kapitel XII etwas schwierig, weil die Vereinigten Staaten in gr6i3erem Umfang als irgendeine andere Nation weltweite Interessen hiitten. Wenn auch der Wunsch vorhanden sei, eine solche Harmonisiemng herbeizuf/ihren, so k6nnten doch andererseits die Vereinigten Staaten ihre weltweite Politik nicht der Oberpr/ifung durch andere Liinder unterwerfen. ~r
In de Gaulles W o r t e n , so wie sie im R a h m e n einer U n t e r r e d u n g zwischen A d e n a u e r u n d d e m franz6sischen P r e m i e r m i n i s t e r Michel D e b r 6 1960 zur Sprache k a m e n u n d y o n A d e n a u e r in folgender Weise iiberliefert sind: ,,Wenn der Westen eine solidarische Politik verfolgen oder wenigstens eine Anstrengung zu einer solchen Politik in allen grol3en Fragen machen wolle und wenn es kein strategisches und atomares Monopol der amerikanischen Regierung gebe, stelle sich die Frage der Organisation der Streitkriifte v611iganders [als heute im Rahmen der faktisch rein ,,miglt'itrischen" NATO]. Wenn es aber nicht m6glich sei, eine atlantische politische Organisation herzustellen, die eine bessere Gleichheit zwischen den Nationen schaffe, filirchte[te] de Gaulle, dass die rnilitiirische Integration schliel31ich dazu f/ihre, dass die einzelnen Regiemngen der M6glichkeit beraubt w/irden, ihre Meinungen zum Ausdmck zu bringen und ihre Interessen durchzusetzen. Der General f/irchte[te], die Integration f/ihre dazu, dass die Nationen nicht mehr das Gefiihl hiitten, f/ir Ihre Verteidigung selbst sorgen zu m/issen, und dies wiirde auf die Dauer eine Schwiichung des B/indnisses mit sich bringen. "2457 Die Aktualit~it dieser Positionen, ob n u n v o n de Gaulle o d e r v o n Dulles, ist heute nicht m e h r zu unterschiitzen. G e n a u s o akmell u n d keineswegs anti-atlantisch ist die gaullistische F o r d e rung jener J ahre: ,,Die G r u n d l a g e der heutigen N A T O sei die y o n A m e r i k a gefiihrte Integration, bei der E u r o p a nicht selbst verantwortlich sei. Dies miisse [mit g r o g e r Vorsicht] geiindert w e r d e n " , u n d zwar gerade u m ,,an der V e r b i n d u n g mit den V e r e m i g t e n Staaten absolut festhalten" zu k 6 n n e n . 245g V o r d e m H i n t e r g r u n d der aktuellen M a c h t a s y m m e t r i e ist es bedauerlicherweise eine unrealisfsche, g e r a d e z u hanebiichen-naive Vorstellung g e w o r d e n , sich einer b e s t i m m t e n R i c h t u n g des Atlantizismus zu w i d m e n , die fiber politische ,,atlantische S t r u k m r e n " , wie Ausschiisse oder parlamentarische K 6 r p e r s c h a f t e n , die V o r a u s s e t z u n g fiir den A u f b a u einer wirklichen T r a n s a t l a n t i s c h e n U n i o n propagiert, o h n e die machtpolitischen G r u n d l a g e n dafiir zu schaffen. 2459 In D e u t s c h l a n d k o m m t em solcher ,,blinder Atlantismus ''246~ aus historischen G r i i n d e n hiiufiger v o r u n d wird mit einer F o r m gelebter , , D a n k e s s c h u l d " gegeniiber den U S A v e r b u n den.2461 A n d e r e r s e i t s ist die Transatlantische U n i o n repriisentativer D e m o k r a t i e n ein g e r a d e z u gewaltiger T r a u m , den schon Clarence K. Streit 1939 in Reaktion a u f das M i i n c h e n e r A b k o m men, die A p p e a s e m e n t - P o l i t i k des W e s t e n s u n d den Stahlpakt zwischen D e u t s c h l a n d , Italien u n d J a p a n getriiumt hatte. 2462 Die U n i o n sollte dabei auch einem freien D e u t s c h l a n d , e i n e m 2456 Zitiert nach Konrad Adenauer, Erinnerungen 1955-1959 (Band III), Stuttgart 1968, S. 166; vgl. insbesondere auch das (heute noch in diesem Zusammenhang h6chst aufschlussreiche) Gespriich zwischen Adenauer und Kennedy in den USA im April 1961 (vgl. ebd., Band IV, S. 91-99, insbesondere S. 95-98). 2457Zitiert nach Konrad Adenauer, Erinnerungen 1959-1963 (Band IV), Stuttgart 1968, S.74 (vgl. auch Band III, S. 430f. und zu Adenauers iihnliche Position ebd., Band III, S. 155; zu den Unterschieden schliel3lich Band IV, S. 228ff.). 2458Charles de Gaulle zitiert nach ebd., S. 62f. 2459So v611igrichtig z.B. George W. Ball, Dis@lin derMa&t. Voraussetzungfiir eine neue Weltordnung, Frankfurt a.M. 1968, S. 72. 2460 Carl Gustaf Str6hm, Respektierung gegenseitiger Interessen. Verhdltnis Deutsch/and - USA: Politische Dankbarkeit fiihrt letztendlich zur Unterordnung unter den Wilkn anderer, in: Junge Freiheit, 21. Miirz 2003, S. 8. 2461Vgl. pointiert ebd. 2462Vgl. zur Idee einer ,,Transatlantischen F6deration" oder ,,Union" Clarence Kirshman Streit, Union N o M A Proposal for a Federal Union of the Democracies of the North Atlantic, London 1939; Jacques Freymond, Die At/antische Welt, in: Golo Mann / Alfred Heul3 / August Nitschke (Hg.), Propylden Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, Band X, Berlin / Frankfurt a.M. 1986, S. 223-299, 2256
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freien Italien, einem freien Japan offen stehen. 2463 U n d diese U n i o n sollte endlich den Irrweg des V61kerbundes beenden, so Streit damals. 2464 Die Realisierung dieses T r a u m e s unter aktiver Miteinbeziehung der Vereinigten Staaten ,,von Anfang an" hiitte vielleicht den A u s b r u c h oder den Fortgang des Zweiten Weltkrieges an entscheidender Stelle friiher u n d effektiver in einem antitotalitiiren Sinne beeinflussen k t n n e n . 2465 Vielleicht sah es Clarence Streit zu optimistisch, abet fiir 1939 war das eine beeindruckende Sichtweise, die hier z u m Tragen kam: ,,Had a strong g o v e r n m e n t of the democracies been created in 1919 instead o f the League of Nations there would never have been a Fascist or Nazi state".2466 D e r Verweis auf Clarence K. Streit zeigt, dass die Idee einer ,,Transatlantischen F6deration" oder , , U n i o n " eine lange, w e n n auch ziemlich u n b e k a n n t e Vorgeschichte, hat. Streit triiumte den T r a u m im K o n t e x t einer , , O n e - W o r l d " - V i s i o n : Die transatlantische U n i o n sollte als Nukleus u n d M o t o r einer entstehenden , , W e l t r e ~ e r u n g " dienen. 2467 Man kann den T r a u m abet auch unabhiingig davon triiumen: Es ist der T r a u m einer transatlantischen Unionsbiirgerschaft, einer transatlantischen Armee, einer transatlantischen Freihandelszone, einer transatlantischen Wiihrungseinheit und eines einheitlichen transatlantischen Post- u n d K o m m u n i k a t i o n s systems. 2468 Wie erwiihnt: Diesen geradezu bombastischen T r a u m triiumte Clarence K. Streit anno 1939. Bei ihm n a h m die , , U n i o n " gar Ziige eines Gebildes ~t la ,,Vereinigte Atlantische Staaten" an. 2469 g u n derartigen Visionen ist heute nicht m e h r sehr viel iibrig geblieben. Ein m6glicher Hebel, u m aus der ganzen Passivitiit h e r a u s z u k o m m e n , k 6 n n t e indes die Wirtschaft bieten: So wurde eine T A F T A schon einmal v o n so n a m h a f t e n Politikem wie Volker Riihe, Malcolm Rifldnd, N e w t Gingrich, I<2laus Kinkel, Margaret T h a t c h e r u n d H e n r y Kissinger, zuletzt v o n Matthias W i s s m a n n u n d Chuck Hagel vorgeschlagen. 247~ Wolfgang H. Reinicke hat indes auf emsthafte Realisierungsprobleme hingewiesen, pl;,idiert allerdings fiir die begrenzte Beseitigung nichttarif~irer H a n d e l s h e m m n i s s e und die Schaffung eines starker politisch integrierten transatlantischen Marktes. 2471 Margaret T h a t c h e r brachte die Vision gar mit d e m Begriff der ,,Atlantischen Zivilisation" in Verbindung: ,,It [TAFTA] would bring our
2463 Vgl. Clarence Kirshman
Streit, Union Now/A ProposalJor a Federal Union of the Democracies of the North Atlantic, London 1939, S. 161. 2464 Vgl. ebd., S. 178-217. Die hier vorzufindende Kritik am V61kerbund kann heute im Grol3en und Ganzen auf die UNO/ibertragen werden. 2465Vgl. insbesondere ebd., S. 135-147. 2466Ebd., S. 161. 2467 Vgl. ebd., S. 125-130. Streit hatte 1939 als Mitglieder folgende 15 Nationalstaaten im Auge: USA, Grol3britannien, Frankreich, Australien, Belgien, Kanada, Diinemark, Finnland, Niederlande, Irland, Neuseeland, Nor,vegen, Schweden, Schweiz, S/idafrika. Vgl. zum Begriff der ,,Weltre~erung" und ,,Weltf6deration<< Maja Brauer, Welfdderation. Modell globaler Gesellschaftsordnung, Frankfurt a.M. 1995. 2468Vgl. Clarence Kirshman Streit, Union Now/A Proposalfor a Federal Union of the Democracies of the North Atlantic; London 1939, S. 19. 2469Vgl. insbesondere ebd., S. 238-243, 247ff., 251-262. 2470Mit der Intention, weitere europiiische Integrationsbestrebungen zu verhindem, vgl. Henry Kissinger, Die Herausforderung Amerikas. Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Berlin 2002; vgI. femerhin Stefan Fr6hlich / Amy Houpt, Mb'glichkeiten europaTsch-amerikanischer Kooperation. Der Aktion~plan zur ,,Transatlantischen Agenda", Sankt Augustin 1997, S.11; vgl. das Interview mit Matthias Wissmann im Rheinischen Merkur vom 27. Januar 2005. Vgl. femerhin den Vorschlag einen ,,Atlantischen Wirtschaftsrat<' einzusetzen, bei Christoph Bertram, Europa in der Schwebe. Der Frieden muss noch gewonnen werden, Bonn 1997, S. 137; Chuck Hagel, Die Welt, vom Blitz erhellt. Sieben Priorita'tenfiir den nD'chstenPrD'sidenten- aus der Sicht eines republikanischen Transatlantikers, in: Rheinischer Merkur, 26. August 2004, S. 6. 2471Vgl. Wolfgang H. Reinicke, Die Transatlantische Wirtschaftsgemeinschaft. Motor/~r eine neue Partnerschaft?, G/itersloh 1997; vgl. aber auch die Oegenargumente bei Bruce Stokes (Hg.), OpenJ or Business. Creating a Transatlantic Marketplace, New York 1996. Vgl. fernerhin Gregory Treverton, An EconomicAgenda for the New Era, in: David C. Gompert / F. Stephen Larrabee (Hg.), America and Europe. A Partnershipfor a New Era, Cambridge 1997, S. 51-78.
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Atlantic Civilization closer together. ''2472 Die negative Alternative wS_re m6glicherweise ein gnadenloses 6konomischer Konkurrenzkampf zwischen Amerika, Japan und Europa. 2473Auch der damalige US-Aul3enminister Warren Christopher sowie Newt Gingrich v o m konservativen Flfigel der ,,Republikaner" pflichteten 1995 dem Ziel in langfristiger Hinsicht - auf der Basis der Osterweiterung der EU und der N A T O , der Konsolidierung Russlands und der weiteren Vertiefung der EU - bei. Bei Gingrich wurde die Idee sogar um die Idee einer pazifischen Freihandelszone erweitert. 2474 Der Weg zur TAFTA h~itte demnach die Harmonisierung von unterschiedlichen nationalen Regulierungsvorschriften, die wechselseitige Anerkennung nationaler Standards und Zertifizierungen, die Harmonisierung der Kartell- und Wettbewerbspolitik und der entsprechenden Rechtssetzung und die Beseitigung aller noch bestehenden nichttarif~iren Handelshemmnisse, z.B. in der Luftfahrtindustrie, zu beschreiten. Als kurzfristige Mal3nahmen schlug Christopher den pragmatischen Aufbau neuer, lockerer Kooperationsstrukturen vor, als da w~iren: Abk o m m e n fiber Direktinvestitionen, Offnung der M~irkte im Bereich der Informationstechnologlen, VerstS.ndigung fiber gemeinsame Standards beim Testen neuer Produkte, die Offnung der Luftverkehrsmiirkte und die Liberalisierung der Miirkte ffir Dienstleistungen im Finanzbereich. 2475 Von der lebhaften Diskussion von 1995, an der sich damals auch die amerikanischen Politiker noch auff'~illig beteiligten, ist heute kaum mehr etwas fibriggeblieben, aul3er die ,,Transatlantische Agenda" 1995/96, immerhin ein gemeinsamer Aktionsplan mit 150 angestrebten Einzelmal3nahmen, wobei der eingeffihrte Transatlantic Business Dialogue (TABU oder TBD) dabei am meisten hervorsticht. 2476 Es k6nnte sich als groBer Fehler herausstellen, dass auf solche politischen Elemente zwischen 1990 und 1995 nicht st~irker eingegangen wurde. Sie hiitten langfristig im Sinne eines , , s p i l l - o v e r - E f f e k t e s " zu Interessengemeinsamkeiten zwischen Europa und Amerika ffihren und Divergenzen, wie wit sie heute vorfmden, antizipativ m i n d e m kfnnen. D o c h man hat die Chancen, die sich nach 1990 boten, verstreichen lassen und genau das getan, was sich der Westen nicht leisten durfte: ,,die Dinge treiben [..] lassen. ''2477 Bis sich schliel31ich 2002 eine Krise anbahnen sollte.
5.5 Riickschau zum Abschluss: Die europdischen Fehler
Langfristig mangelt es nun schon seit l~ingerem an einer milit~irischen und bildungspolitischen Stiirkung einer politischen Einheit namens ,,Europa" unter beherzter Verlagerung der Budgetmittel (weg von den Sozialkassen) in die Bereiche Bildung, Forschung, Verteidigung; in 2472Margaret Thatcher, Europe NeedsAmetfcan Leadership, in: Wall StreetJournal Europe, 13. Mai 1996, S. 10. 2473Vgl. Lester Thurow, Head to Head. The Coming Economic Battle Among Japan, Europe, andAmerica, New York 1992. 2474 Vgl, Gebhard Schweigler, Die Atlantische Gemeinschaft. S&icksal, Sicherheit und Werte, Ebenhausen 1997, S. 12f. und Stefan Frfhlich / Amy Houpt, Mb'glichkeiten europDTsch-amerikanischerKooperation. Der Aktion~olan zur ,,Transatlantischen Agenda" Sankt August_in 1997, S. 11 mit jeweils weiteren Verweisen. 2475Vgl. Gebhard Schweigler,Die Atlantische Gemeinschaft. Schicksal, Sicherheit und Werte, Ebenhausen 1997, S. 13 Fn. 18. 2476Vgl. Christoph Bail / Wolfgang H. Reinicke / Reinhardt Rummel, The New Transatlantic Agenda and the Joint EU-US Action Plan, in: Christoph Bail / Wolfgang H. Reinicke / Reinhardt Rummel (Hg.), EU-US Relations: Balancing the Partnership. Taking a Medium-Term Per~ective, Baden-Baden 1997, S. 3-38; Stefan Frfhlich / Amy Houpt, Mb'glichkeiten europdisch-amerikanischerKooperation. Der Aktion~lan zur ,,Transatlantischen Agenda ", Sankt Augustin 1997. Zum TBD ebd., S. 33-37; vgl. femerhin G~nther Hellmann, Die Europdische Union und Nordamerfka nach MaasMcht und GATT: Braucht die Atlantische Gemeinschafi einen neuen Transatlantischen Vertrag?, Sankt August_in1994. 2477Christoph Bertram, Europa in der S&webe. Der F~eden muss nochgewonnen werden, Bonn 1997, S. 151.
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D e u t s c h l a n d w o h l eher n o c h aus A n g s t v o r der eigenen Courage als aus pazifistischen Griinden. 2478 In F r a n k r e i c h hingegen giibe es im Falle einer d e u t s c h e n Politikwende i m m e r n o c h ernsthafte national bis nationalistisch gespeiste V o r b e h a l t e gegen eine I n t e g r i e r u n g militiirischer Kapazit~iten zu iiberwinden. U n d genau diese beiden Staaren h a b e n z u s a m m e n mit d e m kleinen Belgien in iiberaus klarer, z u m Teil stark p r o v o k a t i v e r F o r m gegen die amerikanische Irak-Strategie u n d die engen V e r b i i n d e t e n A m e r i k a s (GroBbritannien, Diinemark, Polen, mit A b s t r i c h e n Italien u n d - bis z u m 1 1 . 3 . 2 0 0 4 - Spanien) heftig u n d lautstark opponiert; n u r L u x e m b u r g , das verhalten mit a u f d e m Z u g der ,,Pralinenallianz" zu springen wagte, verhielt sich gem~il3 diplomatischer G e p f l o g e n h e i t e n 6ffentlich zuriickhaltend. 2479 D e n H 6 h e p u n k t der r h e t o r i s c h e n P r o v o k a t i o n stellten die b a r s c h e n V e r h a l t e n s w e i s e n u n d )~ul3erungen des franz6sischen Priisidenten Jacques Chirac u n d der franz6sischen Verteidigungsministerin Mich&lle Alliot-Marie gegen P o l e n dar. 248~ Andererseits stellt der Irakkrieg auch eine Chance dar, i n d e m er sich im N a c h h i n e m vielleicht d o c h ,,zum A u f b r u c h s s i g n a l einer europiiischen Verteidigungs- u n d Aul3enpolitik ''2481 entwickeln k6nnte. D e r ,,Arger der Europ~ier fiber ihre B e z i e h u n g e n zu A m e r i k a " wird weiterhin ,,so lange w a c h s e n [..], wie E u r o p a w e g e n seiner anachronistischen Struktur unf~.hig ist, seine wirtschaftliche Sfiirke u n d seinen W o h l s t a n d m politische Verhiiltnisse u m z u s e t z e n " . 2482 D e n n o c h : E i n einheitliches u n d starkes E u r o p a a u f der Basis einer atlantischen Idee ist nicht das Gegenteil einer Atlantischen Union, s o n d e m u n a b d i n g b a r e Voraussetzung. 2483 Allerdings ist die A n n a h m e einer ,,atlantischen I d e e " in diesem Z u s a m m e n h a n g unverzichtbar. V o n beiden Zielvorstellungen sind die Europ~ier heute sehr weit entfernt: D i e in der amerikanischen D i s k u s s i o n stiirker pr~isente ,,atlantische I d e e " wird nicht n u r nicht m e h r wahr- bzw. a u f g e n o m m e n 2484, sie wird a u f breiter Basis offensiv abgelehnt u n d y o n einer k o n k u r r i e r e n d e n
2478 Vgl. Wemer Link, Mars und Venus. Wie Robert Kagan den Vereinigten Staaten die Macht und Europa die Ohnmacht zuweist,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. M~irz 2003, S. 11. Zum Grundproblem des Pazifismus F:illt einem eine sch6ne Sentenz von Botho Straul3 ein: ,,Da die Geschichte nicht aufgeh6rt hat, ihre tragischen Dispositionen zu treffen, kann niemand voraussehen, ob unsere Gewaltlosigkeit den Krieg nicht blo13 auf unsere Kinder verschleppt." (Botho Straul3, Anschwellender Bocksgesang, in: Heimo Schwilk / Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewussteNation. ,,AnschwellenderBocksgesang" und we#ere Beitra'ge W einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. 1994, S. 19-40, 22). Oswald Spengler hat es ,,~ld~rrender", ,,martialischer", kon~eter ausgedrfickt: Der ,,Weltfriede" enthalte demnach ,,den privaten Verzicht der ungeheuren Mehrzahl auf Krieg, damit abet auch die uneingeschriinkte Bereitschaft, die Beute der anderen zu werden, die nicht verzichten. Es beginnt mit dem staatenzerst6renden Wunsch einer allgemeinen Vers6hnung und endet damit, dass niemand die Hand rfihrt, sobald das Unglfick nur den Nachbam trifft." (Oswald Spengler, Der Untergang des AbendlandeJ: UmKsse einerMophologie der Weltgeschichte, 15. Aufl., Mfinchen 2000, S. 1106). 2479 Die aggressive Stimmung fiel bei ernsthaft motivierten Beobachtem leider auf fmchtbaren Boden, so dass diese (nunmehr auf ,,alteurop~iischer Seite") ausf'~illigund beleidigend zu argumentieren begannen. Typisch ffir diese Haltung: Dirk Schfimer, Neu-Europa. Sieger des Irak-Krieges wird die Weltmacht der Zukunft sein, in: Frankfurter Allgemeine Zeimng, 8. April 2003, S. 41. 2480Vgl. Jeffrey L. Cimbalo, Saving NATOfrom Europe, in: Foreign Affairs, Bd. 83, Nr. 6, 1/2-2005, S. 111-120, 115ff. 2481Vgl. Dirk Schfimer, Neu-Europa. Sieger des Irak-Krieges Mrd die Weltmacht der Zukunft sein, in: Frankfurter Allgemeine Zeimng, 8. April 2003, S. 41. 2482Vgl. George W. Ball, Dis~plin der Macht. Voraussetzungfiir eine neue Weltordnune~ Frankfurt a.M. 1968, S. 74. 2483Vgl. sehr sch6n ebd., S. 75f. 2484So noch wS.hrend des Kalten Krieges (vgl. ebd., S. 74: ,,so unangenehm der Gedanke auch ffir etliche Amerikaner sein mag, in Europa findet die Idee engerer atlantischer Bindungen wenig Resonanz. Die Europ~ier sind naaiirlich bedacht, dass wir auch weiterhin ffir eine wirksame atomare Verteidigung des Westens sorgen, und im grol3en und ganzen sind sie uns gewogen. Sie sind bereit, mit uns in der Finanz- und Handelspolitik und in anderen besonderen Fragen innerhalb des atlantischen Raumes zusammenzuarbeiten, doch aul3erhalb eines *ldeinenK_reises liisst die atlantische Idee kaum ein Herz h6her schlagen. Politiker zu beiden Seiten des Atlantiks sprechen von einer atlantischen Gemeinschaft, doch der Begriff ist abstrakt und einer Alltagserfahmng entrfickt, obwohl er sicherlich realer ist als die
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Idee (der des ,,anderen", des ,,besseren Westens '~) zuriickgedr~ingt, die ,,machtpolitisch" teilweise mit einer deutsch-franz6sisch-russischen Achsenvision korrespondiert, die wiederum in V e r b i n d u n g mit Ankara zu einer europiiischen Weltmachtvision transformiert wird. 2485Je nach Standpunkt wird dabei eine f r a n z 6 s i s c h - , , k a r o l m ~ s c h e ''2486 oder russische oder eine halbwegs symmetrische franz6sisch-deutsche oder gar eine , , e u r o p ~ d s c h e " D o m i n a n z 2487 in dieser K o n s tellation erblickt. I n s b e s o n d e r e deutsche Befiirworter dieses Modells v e r w u n d e r n dabei am meisten, da nach niichtemer Analyse eigentlich klar sein miisste, dass eine angemessene europiiische Integration ,,als rationale Reaktion auf die Mittellage ''2488 genauso stark im deutschen Interesse liegen miisste wie die A b k e h r v o n jeglichen Vorstellungen, dass ,,ein letztlich franz6sisch [oder russisch] geleiteter Kontinentalblock mit antiamerikanischem A k z e n t " ernsthaft im deutschen Interesse liegen k6nnte. Amerika ist und bleibt fiir G e s a m t e u r o p a der ,,balancer from b e y o n d the sea". 2489 Eigentlich liegt es auf der Hand, dass D e u t s c h l a n d ein vitales Interesse daran haben miisste als ,,outstanding p r o m o t e r o f a stable and functioning Atlantic link "2490 bzw. ,,cooperation between Western E u r o p e and the USA ''2491 zu fungieren, was es unter der Kanzlerschaft Schr6ders seit 2003 defmitiv nicht m e h r tat, wobei n u n m e h r abgewartet werden miisste, wie sich die Regierung Merkel in der Aul3enpolitik positionieren wird. Die kurzfristige Zielsetzung der Bundeskanzlerin besteht zuniichst einmal in der Klimaverbesserung des deutsch-amerikanischen Verhiiltnisses. Das P r o b l e m zwischen D e u t s c h l a n d und Frankreich liegt indes darin, dass beide Partner i m m e r n o c h entgegengesetzte Motive verfolgen, was anhand der Verteidigungsausgaben u n d der Atomwaffenpolitik zu erkennen ist: , , F r a n k r e i c h strebt nach eigener Macht, D e u t s c h l a n d flieht sie und hat Beriihrungsiingste mit ihr. ''2492 D e u t s c h l a n d wird ohne atlantische Ausrichtung u n d o h n e Machtbewusstsein (das trotz aller neuartigen deutschen Machtrhetorik nicht existiert) m e h r und m e h r zu einer europiiischen Maschine, die y o n Frankreich gelenkt wird. 2493 offenbare rhetorische Kunstfigur der ,Pazifischen Gemeinschaft', die einige k/irzlich aus der Versenkung haben hervorholen wollen."). 2485Bezeichnend G/inter Verheugens Ausf/ihrungen im Interview mit der "Intemationalen Politik" im Januar 2005 (S. 34-43, 36f.). 2486 Vgl. Christian Hacke, Disputing a New World Order. The Position of Europe in the Transatlantic Context, in: http://www.bpb.de/veranstaltungen/ORUET5,0,O,Disputing a New_World_Order.html, 2.8.2004, 19:54 Uhr. 2487 Vgl. Dirk Sch/imer, Neu-Europa. Sieger des Irak-Krieges wird die Weltmacht der Zukunft sein, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. April 2003, S. 41. 2488Vgl. Karl-Eckhard Hahn, Westbindung und Interessenlage. Uber die Renairsance der Geopolitik, in: Heimo Schwilk / Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewusste Nation. ,,Amchwellender Bocksgesang" und we#ere Beitrdge Zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. 1994, S. 327-344, 339. 2489 Vgl. Michael Stfirmer, Die Kunst des GleichgeMchts. Europa in einer Welt ohne Mitre, Frankfurt a.M. / Berlin 2001, S. 8 und Tilman Mayer, Leitende Ideen in der transatlantischen Integration. Zu Fragen yon Integration, Zusammenarbeit und dem Gleichgewicht der Kr~fie in Europa und innerhalb der transatlantischen Be~ehungen, in: Reinhard C. Meier-Walser / Susanne Luther (Hg.): Europa und die USA. Transatlantische Be~'ehungen im Spannungsfeld yon Regionalisierung und Globalirierunj~ M/inchen 2002, S. 137-147, 145. 2490 Peter Schmidt, ESDL" A Geman Analysis, in: Charles S. Barry (Hg.), Reforging the Trans-Atlantic Relationship, Washington D.C. 1996, S. 37-61, 55. 2491 Ebd. 2492Karl Feldmayer, Die N A T O und Deutschland nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes, in: Rainer Zitelmann / Karlheinz Weil3mann / Michael Grol3heim (Hg.), Westbindung. Chancen und RisikenJ~r Deutschland, Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 459-476, 475; Vgl. in diesem Kontext zum Irakkr-ieg 2003 die vorz/igliche Rekapitulation der deutsch-franz6sischrussischen ,,Achsenbildung" 2002/2003, die von Deutschland 2002 ausging: Christian Mtiller, Scheinheilige Allian z. Chiracs Dreibund mit Schrb'derund Putin, in: Die politische Meinung Nr. 403 / Juni 2003, S. 73-80. Vgl. femerhin Christian Hacke, Was bleibt yon der rot-grWnenAuflenpolitik? Deutsche Neuorientierungen in zeithistorischer Per~ektive, in: Neue Z/iricher Zeimng, 15. Juni 2005. 2493 Vgl. Christian Hacke, Was bMbt yon der rot-griinenAuflenpolitik? Deutsche Neuoffentierungen in zeithistorischerPer~ektive, in: Neue Z/iricher Zeitung, 15. Juni 2005.
Perspektiven des transatlantischenVerhiiltnisses
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Der Kitt der Europiiischen Union bleibt auch wegen Deutschlands Position der amerikanische Sicherheitsschirm. Zugleich kann im lJbrigen nur der amerikanische Sicherheitsschirm Europa davor bewahren, zu einer marginalen Randmacht abzufallen. 2494 Wenn Deutschland redes eines Tages mit Russland zusammen eine sehr machtbewusste, hegemonialpolitisch motivierte geopolitische Karte spielen sollte (was Deutschland aus guten interessenpolitischen Griinden nicht tun sollte), wiirde sich Frankreich schon iiberlegen, ob es sinnvoll ist, sich weiterhin gegen die USA zu positionieren, denn der ,,natiirliche Partner" Deutschlands in geopolitischer Hinsicht ist nicht Frankreich, sondern Russland, wiihrend gerade deswegen der ,,natiirliche Partner" Frankreichs nicht Deutschland, sondern Grol3britannien und die USA sind. Diese ,,natiirlichen" Konstellationen, die fiir Deutschland zugleich eine Biirde sind, k6nnen nur zu einem verniinftigen Ausgleich gebracht werden, solange Deutschland eine enge deutsch-franz6sische Zusammenarbeit langfristig und dauerhaft dutch eine eigene atlantische Ausrichtung, also durch eine enge Zusammenarbeit mit den USA, fiberhaupt m6glich macht. Wird dieses geopolitische Namrgesetz auf Dauer missachtet, wird Russland in das machtpolitische Vakuum Europas hmeinstogen und iiber kurz oder lang die unnatiirliche deutsch-franz6sisch-russische , , A c h s e " zugunsten einer verstiirkten deutsch-russischen Machtbildung veriindern, sobald Deutschland die zunehmende Dominanz Frankreichs in der neugeborenen Zweierbeziehung auffallen sollte. Diese Entwicklung hiitte fiir Deutschland langfristig den Nachteil, sowohl eine Absenkung zu einem russischen Juniorpartner als auch die Gef'fihrdung der deutsch-franz6sischen Zusammenarbeit zu riskieren. Die U S A - sowohl als Balancer als auch als militiirischer Abwehrschirm Deutschlands - wiirde keine Rolle mehr fiir die deutsche Politik spielen, was wiederum das Begehren wecken miisste, zum wiederholten Male durch einen nationalen Eigenweg aus dem Juniorstatus und der mitteleurop~iischen Zwicksimation machtpolitisch ausbrechen zu wollen. Die alte ,,deutsche Frage" wiire wieder auf der Tagesordnung. Fiir jeden einigermal3en klaren Kopf ist es nut zu ersichtlich, dass die Tatsache, dass ,,Deutschland Olied der Atlantischen Gemeinschaft sein kann, [..] das Beste [ist], was es aus dem Kalten K_riege zu bewahren ~ l t , mag das Beste sein, was Deutschland je passiert ist. ''2495 Und ein ,,Atlantizismus", der nur in Sonntagsreden gehalten wird, wie das in Deutschland zunehmend der Fall ist, ist keiner. Zugleich hat das Weitertreiben einer derartigen symbolischen Politik den wiederholten Verrat an der eigenen zivilisatorischen Bestimmung des deutschen Volkes mit im Oep~ick. 2496 Symptomatisch fiir diese Art des Verrats ist die permanente Verweigerung der ,,M6chtegemgroBmacht ''2497 Deutschland, die Staatenwelt endlich einmal als solche zu ,,akzeptieren, weil es keine andere gibt. ''2498 Und was heute anscheinend nicht einmal im Quai d'Orsay mehr bedacht wird: Sobald Amerika und Grol3britannien in Europa nicht mehr priisent sein sollten, wird nicht Frankreich, sondem Russland naturgem~il3 zum bevorzugten Partner Deutschlands aufsteigen, es sei denn Frankreich wiirde seine Nuklearmachtposition mit Deutschland unter Inkaufnahme eines deutschen Machtvorteils in Europa in Kauf nehmen, was sehr unwahrscheinlich ist. Es gab nut einen einzigen franz6sischen Regierungschef in der Geschichte, der einen deutschen Machtvorteil often unterstiitzte: Marschall Petam. Die deutsche Politik hat auch aus diesen szenarischen Erwiigungen heraus in den letzten drei Jahren trotz militiirischer Schwiiche und eingepflanztem Anfimilitarismus (was HarmlosigGebhard Schweigler,Die Atlantische Gemeinschaft. Schicksal, Sicherheit und Werte, Ebenhausen 1997, S. 23f. normale Anarchie. Jetzt erst beginnt die Na&kriegszeit, Berlin 1994, S. 344. 2496Vgl. ebd. 2497So z.B.Jfirgen Osterhammel,Europa in der atlantischen Welt - Zeitschichten einer Krise, Wien 2004, S. 24. 2498 Jfirgen von Alten, Die gan z normale Anarchie. Jetzt erst beginnt die Nachkriegszeit, Berlin 1994, S. 345. 2494 V g l .
2495 Jfirgen yon Alten, Die gan z
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keit nur suggeriert) die gr613te Herausforderung fiir die amerikanische Politik in Europa dargestellt. Der provozierte Gegensatz, resultierend aus einem Fratzenschneiden des damaligen Bundeskanzlers im Spiegel der 6ffentlichen Meinung, erreichte dann 2004/2005 einen neuen H6hepunkt dutch neue aul3enpolitische Festlegungen Deutschlands, u.a. der kategorischen Weigerung, deutsche NATO-Soldaten in den integrierten Kommandostiiben der Allianz zu belassen, die in den Irak verlegt wurden. Dazu kam die treibende Rolle Deutschlands zugunsten der Aufhebung des Waffenembargos gegeniiber China und klar gegen die USA gerichtete 6ffentliche Positionierungen in der Iranfrage trotz erfolgloser Diplomatiepolitik in dieser Angelegenheit. Ein , , K o m m u n i k a t i o n s d e s a s t e r " in der Miinchener Sicherheitskonferenz 2005 gab schliel31ich den Tiefpunkt in den deutsch-amerikanischen Beziehungen ab. Die moralische Aufplusterung der rot-griinen Bundesegierung fiber den im Vergleich zu den russischen Entwicklungen der vergangenen Jahre ,,harmlosen rechtslastigen Selbstbehauptungsakt'< Osterreichs 1999, erscheint vor dem Hintergrund des peking- und moskauzentrierten ,,neuen Deutschen Weges<' noch unsensibler und fahrliissiger als er es damals wirklich w a r . 2499 ,,Die Zerriittung des deutsch-amerikanischen Verhiiltnisses durch die rot-griine Regierung [war] beispiellos. ''%~176 FreNch ist diese deutsche Position fiir die amerikanische Politik solange kein ernsthaftes Problem, wie ,,Europa" geopolitisch neutralisiert bleibt. Rein geopolitisch betrachtet ist Europa z.Z. nichts weiter als ein amerikanisches Glacis, das bis an die Grenzen Russlands heranreicht und von den Amerikanern mittels der geographisch erweiterten NATO-Strukturen als Briickenkopfes~ fiir den eigentlich Machtschauplatz auf dieser Welt genutzt wird: fiir Zentralasien und den ,,eurasischen Balkan". Damit ist der Raum zwischen Europa und dem Persischen Golf, zusammen mit dem Kaukasus, Zentralasien, Afghanistan, Irak, Iran und Syrien gemeint2S~ Hier befmden sich weit fiber 60 Prozent des weltweiten Erdflvorkommens und knapp fiber 40 Prozent des weltweiten Erdgasvorkommens. Vorkommen, um die sich sowohl die USA, Russland, China, und, auf machtpolitisch niedrigerem Niveau, Frankreich, Deutschland und Grol3britannien bemiihen. Aber zuriick zum transatlantischen Raum: Der ,,Neue Deutsche Weg" mag zwar z.Z. im globalen MaBstab eher bedeutungslos sein, aber das muss aufgrund der Rolle Russlands dabei nicht so bleiben. Daher ist noch einmal n~iher nachzufragen, ob es genuine anti-atlantische Sicherheitskonzeptionen gibt. Zuniichst einmal ist festzuhalten, dass solche Konzeptionen ausgearbeitet werden, sie aber in Deutschland z.Z. keine wirklich wichtige Rolle spielen: Die in Deutschland in diesem Sinne entstandenen sicherheitspolitischen Visionen mit antiamerikanischer Ausrichtung verdichten sich hiiufig zu einem scharfen Konglomerat politischer Schwachsinnigkeiten. Zielperspektiven wie die Auflfsung der NATO oder die Isolation und Herausdr~ingung GroBbritanniens aus der EU werden in der deutschen, aber auch amerikanischen Qualitiitspresse vereinzelt emsthaft erwogen, allerdings zur Zeit lediglich im Bereich des Fete-
2499Auf dieses sch6ne Vergleichsbeispielmacht aufmerksam:Christian Hacke, Was bMbt yon der rot-griinenA@npolitik? Deutsche Neuorientierungen in zeithistorischerPer~ektive, in: Neue Z/iricher Zeimng, 15. Juni 2005. as00Nikolaus Busse, Die En~/remdung vom Mchtigsten Verbit'ndeten. Rot-Griin und Amerfka, in: Hanns W. Maull / Sebastian Harnisch / Constantin Grund (Hg.), Deutschland im Abseits? Rot-Griine AujYenpolitik 1998-2003, Baden-Baden 2003, S. 19-32, 31. Vgl. fernerhin Hans-Peter Schwarz, Republik ohne Kompafd. Anmerkungen wr deuts&enAuJYenpolitik, Berlin 2005. 2s01Vgl. ZbigniewBrzezinski, Die ein~ge Weltmacht. Amerikas SIrategie der Vorherrschaft, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 2002, S. 89-129. 2s02Vgl. ebd., S. 53-88 und 181-218.
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letons. 25~ Was sich ver~indert hat, ist die Tatsache, dass es anscheinend nicht m e h r n u t das linke Feuilleton erfasst. Die Kurzsichtigkeit k e n n t - v e r e i n z e l t - anscheinend keme Rechts-Links-Grenzen mehr. Auch im ,,biirgerlichen" Bereich machen sich inzwischen auf beiden Seiten des Atlantiks atmosphiirisch negativ wirkende kulmrhistorische Einseitigkeiten breit, die sich mit o.g. K o n z e p f o hen osmotisch verbinden. Diese polemischen Visionen der Vernichtung des Atlantizismus wurden insbesondere w~ihrend des Irakkrieges immer wieder als polemische Zuspitzungen in die Debatte gebracht, und hielten jeweils einen neuen ,,Femd" - n u n m e h r also jeweils die USA oder E u r o p a - unter heftigsten Beschuss, wie z.B. in E u r o p a in einem aggressiven Prestissimo y o n F A Z - R e d a k t e u r Dirk Schiimer: ,,Und fiber den zivilisatorischen Abgrund, der Europa von einem Land trennt, das - bei manchen Meriten hemmungslos die Todesstrafe ausfibt, ganze Minderheiten verslumt, Sozialpolitik mit Gef'~ingnissenbetreibt und mit industrieller Massenkultur wie -kulinarik Hirne und Miigen verstopft, braucht man sowieso nicht zu diskutieten." [sic!] 2504 Die wichtigste Reaktion der amerikanischen Regierung auf die deutschen Positionierungen war die Verlegung yon in Deutschland stationierten amerikanischen T r u p p e n nach Ostmitteleuropa. 25~ Erst die Abl6sung der P r o d i - K o m m i s s i o n dutch e i n e - fiir europiiische Verhiiltnisse iiul3erst pro-atlantische B a r r o s o - K o m m i s s i o n 25~ sowie die transatlantische A b s t i m m u n g in der Ukrainekrise 2004/2005 hat eine erste Verbesserung in den transatlantischen Beziehungen herbeigefiihrt. %~ Die Ziele der deutschen und franz6sischen Aul3enpolitik scheinen aber imm e t noch an den Realitiiten vorbeigedacht zu sein: Die wiinschenswerte Unterstiitzung der EU3-Initiative im Dan dutch Washington ist eingetreten (bisher ohne jeglichen Erfolg, im Gegenteil) und die eminent wichtige A b s t i m m u n g unter hoffentlich tatkriiftigerer Fiihrungsinitiafve der USA in der seit Jahrzehnten unertriiglich schwelenden Paliistinafrage, neuerdings erweitert um die gef'~ihrliche Libanonfrage, scheinen vielleicht gerade noch r e a l i s i e r b a r - eine Unterstiitzung in der Frage des Internationalen Strafgerichtshofes oder gar in der Frage der R e f o r m des UNO-Sicherheitsrates indes ist immer noch sehr fern. 25~ Die y o n der Regierung Schr6der angestrebte Reform des UNO-Sicherheitsrates - ein zur Prioritiit aufgeblasene Interessenposterioritiit- ist denn auch aus diesem G r u n d vorerst gescheitert. E m e langfristige Zielsetzung oder Vision einer so in iiberaus weite Ferne geriickten Transatlantischen Union wiire nun, dass es fiber den W e g einer K o o r d i n i e r u n g der Innenbeziehungen auf allen erdenklichen F e l d e m (Wirtschaft, Kulmr, Medien) und einer koordinierten strategischen, auch und gerade militiirstrategischen Z u s a m m e n a r b e i t im R a h m e n eines integrierten Strategiestabes zwischen E u r o p a und den USA, ,,zwischen den westlichen N a t i o n e n in allen Teilen der Welt die gleiche Politik" geben muss. 25~ Das erfordert insbesondere von den Euro2503Vgl. Dirk Schfimer, Neu-Europa. Sieger des Irak-K, ieges wird die Weltmacht der Zukunft sein, in: Frankfurter Allgemeine Zeimng, 8. April 2003, S. 41. 2504Ebd. 2505Vgl. Jeffrey L. Cimbalo, Saving NATOfrom Europe, in: Foreign Affairs, Bd. 83, Nr. 6, 1/2-2005, S. 111-120, 120. 2506Vgl. William Drozdiak, The North Atlantic Dr~ft, in: Foreign Affairs, Bd. 84, Nr. 1, 1/2-2005, S. 88-98, 98. 250vVgl. Wolfgang Ischinger, Verkehrsregelngesucht. Vor dem Besuch des US-Pra'sidenten in Deutschland: Bessere Be@hungen sind nb'tig und mh'glich, in: Die Zeit, 30. Dezember 2004. 2508Die Einzelpunkte entstammen der Agenda, wie sie ebd. aufgestellt wird; Vgl. zur weir verbreiteten, nicht v611ig unbegrfindet sehr negativen Ansicht vieler Amerikaner fiber die UNO: Michael Novak, Vision einesAmerikaners. Europa undAmerika im globalen Zusammenhang, in: Die politische Meinung Nr. 422 (01/2005), S. 25-32, 31. 2509So die Zielvorstellung bei Michel Debr~ 1960: vgl. Konrad Adenauer, Erinnerungen 1959-1963 (Band IV), Stuttgart 1968, S. 73.
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piiern mehr militirstrategisches und militiirisches Potential und von den Amerikanern weniger menschenrechtsuniversalistische Rhetorik oder gar humanitirideologische Universalorthodoxie. Doch sine America nulla salus.
XlII. Schlussbetrachtung
1.
Befunde
Nach Jiirgen Habermas und Jeremy Rifkin 2510 besteht Europas Aufgabe nach dem Kalten K_rieg in der zivilisatorische Emanzipation yon den angeblich zuriickgebliebenen und ihren eigenen Ursprung verratenden USA. ,,Europa" wird demnach nicht mehr als politisches Projekt, s o n d e m als politisches und zivilisatorisches Projekt 2511 im Sinne eines ganz eigenstiindigen kulturellen Ensembles verstanden. 2512 Damit steht Europa einem zivilisatorischen Projekt , , A m e f i k a " nach folgendem Schema entgegen: Zivilisation~rojekt ,,Europa "
Zivilisation~rojekt ,,Amerika "
Zwischenstaatliche Integration Zivilmacht Nachhaltige Entwic~ung Orthodoxer Menschenrechtsuniversalismus Kollektive Weltverantwortung Soziale Weltgleichheit
Ungeteilte Souveriinitiitdes Nationalstaates Militiir- und Zivilmacht Wirtschaftliches Wachstum ,,Doppelmoral" und Realismus Unilaterale Machtaus(ibung Individuelle und geopolitische Eigentumsrechte
Unabh~ingig v o n d e r normativen Beurteilung, st6Bt das ,,Europamodell" unweigerlich an seine Grenzen, sobald es sich international positionieren muss, und das muss jedes ,,westliche" Modell einer vom , , W e s t e n " globalisierten Welt. Europa k6nnte sich zwar fiir sich v o m ,,schlechten Teil des Westens" ausklmken, wenn es wollte, (so die ,,progressive" Variante bei Habermas) oder gar sich generell vom , , W e s t e n " ausklinken (kulturalistisch wie bei Straub), nur: An der Apperzeption Europas als Teil des ,,Westens" wiirde dies im restlichen Teil der Welt nur langfristig etwas iindern, womit sich Europa in einer Ungleichzeitigkeit zwischen Selbstanspruch und Fremdverstiindnis bewegen miisste, da es ein manifestes IVremdbild des ,,Westens" gibt. 2513 Europa wiire in der Phase der Ungleichzeitigkeit zu einer werteverteidigenden Positionierung von auBen gezwungen , doch wiire die Positionierung auf der Basis des , , p r o g r e s s i v e n " Modells nicht haltbar. Bei der kulturalistischen Variante stellt sich indes erst recht die Frage der normativen Begriindbarkeit. Auch wenn der Kulturalismus und sogar ein damit einhergehender Konservativismus positiv gesehen wiirden, miisste auf der Basis eines ,,konservativen Amerika" die normative Begriindung des kulturalistischen und russophilen ,,Anti-AmerikaEuropas" doch eigentlich an Stringenz und Gewicht verlieren: Amerika ist sozusagen inzwischen (gesellschaftspolitisch) , , k o n s e r v a t i v e r " als Russland. Es sei denn Russophilie oder Amerikaskeptizismus bewegen sich beide in einem rein nationalistischen oder , , e u r o p S i s t i s c h e n " Rahmen. Mal abgesehen von der Frage der Realisierbarkeit solcher Modelle auf der Basis einer 2510Jeremy Rifldn, Der europdische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht, Frankfurt a.M. 2004 (Vgl. auch dazu die spritzige und kritische Rezension von Alan Wolfe, Der Traum von einerfreien Welt." Zwei Denker, z'wei Per~ektiven: Haben Europa und Amerika einegemeinsame Zukunft?, in: Intemationale Politik,Januar 2005, S. 70-74, 70ff.). 2511Vgl. Ulrike Guerot, Europa und Ametfka: business as usual? Die Zeit ist reiffiir einen US-EU-Vertrag, in: Intemationale Politik, Januar 2005, S. 54-60, 56. 2512Vgl. schon 1963: Femand Braudel, Grammaire des civilisations, Paris 1993, S. 467. 2513Vgl.J~irgen Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, M/inchen 2000, S. 22f.
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Kapitel XIII
in diesem Falle iiulBerst geschwiichten Zentralmacht in Europa, stellt sich auch hier die Frage der normativen Begriindbarkeit. Aus der Problematik der grundsiitzlichen Handlungsunfahigkeit (Degeneration) oder teilweisen bzw. vollstiindigen Handlungsverfehltheit (doxische Unmoral) und auf der Basis fehlender Einsichtsf'~ihigkeit ins Substantielle, lassen sich nun heute, konkret bezogen auf die westliche ,,Sinn- und Handlungseinheit", auf der Basis aller Ausfiihrungen im Hauptteil folgende Befunde abstrahieren: Befund I: ,,Der Ursprung und die historische Struktur der westlichen Ordnung wurden von denen, die diese Form einst schufen, besser verstanden, als yon ihren spiiten Nachfolgern, die in ihr leben, ohne sich der Bedingungen des Erbes zu erinnern. ''2514 Das antike Erbe eint den Westen ideell: ,,Wenn sich heute so vieles ins Chaotische entwickelt und der Sinn fiir das Harmonische schwindet, so diirfte eine Ursache unter anderem darin liegen, dass jene in den Geburtszeiten des Abendlandes konzipierten Gedanken im Bewusstsein der Menschen im Vergehen zu sein scheinen. ''2sis Adenauers Worte von 1964 sind heute akmeller denn je. Befund II: ,,Die letzte Grundlage unserer Kultur ist nicht das einzelne Volk, sondern die Einheit des Abendlandes. Allerdings hat diese Einheit bis heute ihre politische Form noch nicht gefunden, und vielleicht wird sie sie nie finden. ''2516 Die Atlantische Zivilisation stellt sich jedoch nicht gegen die einzelnen V61ker und Nationen, sondem baut auf deren Reichtum auf. Befund III: ,,Eine Zivilisation, die nicht mehr bereit ist, fiir ihre Weltanschauung einzustehen, ist zum Untergang verdammt. Warum sollte die westliche, potentiell atlantische Zivilisation eine Ausnahme von diesem geschichtlichen Gesetz sein? "2517 ,,Nur solange Europa und die USA gemeinsam an der Verteidigung liberaler Prinzipien in der Weltpolitik und Weltwirtschaft interessiert sind, wird sich das Sicherheits- und Wohlstandsniveau der letzten dreil3ig J ahre halten lassen. ''2518 Befund IV: Westliche Religionsfreiheit ,,hat nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betiitigung des Glaubens schiitzen [zu] wollen, sondem nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturv61kem auf dem Boden gewisser iibereinstimmender, sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat." (BVerfG 12,1 (4) mit Bezug auf das Grundgesetz). Befund V: Die menschliche Person muss als gottesebenbildliche gem. Gen. 1,27 und Eph. 4,24 zur Geltung kommen und darf nicht als Mittel genutzt werden, sonst ist Freiheit nicht m6glich. Die menschliche Person wird auch nur als Mittel benutzt, wenn ihre Freiheit mit Schrankenlosigkeit und Willkiir gleichgesetzt wird. Nur der Personalismus unterscheidet letztlich eine Kulturzivilisation von einer rein technischen. Die Personalitiit ist indes von moralischen und eben auch politischen Pflichten des Individuums abhiingig. Die politischen Pflichten sind gesinnungsethisch nicht von den Maximen praktischer Klugheit zu trennen. Technik, Staat, Freiheit und Eigentum miissen den Maximen der Personalitiitstheorie entsprechen. Alles andere ist zwar nichts weiter als Ausdruck einer auf Erden immerwiihrenden, letztlich unausweichlichen menschlichen Erbiirmlichkeit, aber i m m e r wieder durch Gottes Gnade (oder durch irgendeine andere Gnade der Zeit) aufhaltbar. Eine ,,Atlantische Zivilisation" als Grundgeriist 2s14Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band IV." Die Welt der Polis - Gesellschaft, Mythos und Geschichte, hg. yon J/irgen Gebhardt, M/inchen 2002, S. 42f. isis Konrad Adenauer, Enqu&ebeitrag,in: Wort und Wahrheit 19.jg. 1964, Halbband 1, S. 11. 2516Christopher Dawson, Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einfiihrung in die Geschichte der abendla'ndischen Einheit, 2. Aufl., K61n 1950, S. 14. 2s17 Eckard Bolsinger, Die drei S?iulen der transatlantischen Be~ehungen - Erinnerung an die Welt yon gestem, in: http://www.hausrissen.org/forschung/saeulen.htm, 15.06.2004. 2si8Ebd.
Schlussbetrachtung
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eines freiheitlichen Zusammenlebens ist auf Personalitiit angewiesen und hat daher immer einen katechontischen Charakter. Befund VI: Im Umgang untereinander zivilisiert zu bleiben, ist trotz der terroristischen Gefahr weiterhin m6glich. Alles andere wiire Selbstaufgabe. D o c h jede sicherheitspolitische MaBnahme, die zur Terrorismusabwehr ergriffen wird, muss nicht immer gleich mit dieser Selbstaufgabe identifiziert werden. Das schwiicht die Verteidigungsf'ahigkeit einer verteidigungswerten zivilisatorischen Einheit. Nicht der Terrorismus, sondern der Relativismus ist die Hauptgefahr, besonders, wenn er auf einer Argumentation auf der Grundlage der Terrorismusabwehr beruht. L,iberaler H e g e m o n und offene Weltwirtschaft geh6ren ohnehin zusammen. Der Hegemon wiirde seine eigene Machtstellung untergraben, niihme er das nicht zur Kenntnis. 2519 Befund VII: Art. 2 Nordatlantikvertrag besagt: ,,Die Parteien werden zur weiteren Entwicklung friedlicher und freundschaftlicher internationaler Beziehungen beitragen, indem sie ihre freien Eimgchtungen festigen, ein besseres Verstdndnis fiir die Grundsdtze herbeifiihren, auf denen diese Eintgchtungen beruhen, und indem sie die Voraussetzungen fiir die innere Festigkeit und das Wohlergehen fdrdern." In diesem Sinne gilt es, den amerikanischen Institutionalismus 252~nicht nut nach Europa zu tragen - das ist soweit ,,abgeschlossen" - sondem ihn auch zu atlantisieren. Die Basis ist liingst geliefert: Der wichtigste physisch erfahrbare Ausfluss der euroamerikanischen Wertegemeinsamkeit, das, was den ,,organische Kern der Atlantischen Gemeinschaft" auf physisch erfahrbare Art und Weise ausmacht ist die Tatsache, dass, trotz aller Differenzen, beim Urngang der Liinder Westeuropas und Nordamerikas miteinander ,,der Einsatz kriegerischer Mittel undenkbar geworden ist. ''2521 Die Transatlantische Agenda ist weiterhin im Sinne der proatlantischen Optionen, wie sie im Hauptteil vorgestellt wurden, auszubauen, bis hin zur Schaffung eines Atlantikrats und einer ,,Gemeinschaft freier V61ker", die der viel zu idealisierten U N O endlich jene fruchtbare Konkurrenz machen k6nnten, die der allzu abstrakten ,,Weltgemeinschaft" gut tun w/_irde.
2. Schlussfolgerungen Als Francis Fukuyama 1989 nach Hegel, Nietzsche, Koj&ve und Gehlen 2522 zum wiederholten Male die These vom ,,Ende der Geschichte" ins Spiel brachte, g i n g e r davon aus, dass der Weltherrschaft des Liberalismus nun nichts mehr im Wege stehe. Dabei wurde die angebliche ,,Inhaltslosigkeit" des Liberalismus durchaus als ,,ideologische Schwiiche" gesehen, dennoch fiir unabwendbar gehalten. Der Liberalismus ist demnach ,,inhaltslos" und letztlich dennoch die beste aller unvermeidbaren Ideologien: ,,Der in den letzten Jahren erfolgte Aufstieg des religi6sen Fundamentalismus im Christentum, Judentum und im Islam ist allgemein bekannt. Man k6nnte meinen, dass die Wiederbelebung des Religi6sen irgendwie eine breite Unzufriedenheit mit der Unpers6nlichkeit und der geistigen Leere der liberalen Konsumgesellschaftverriit. Abet wiihrend die Leere im Kern des Liberalismus sicherlich einen ideologischen Defekt darstellt - in der Tat einen Robert Gilpin, The PoliticalEconomy of InternationalRelations, Princeton 1987, S. 85, 88. 2520Vgl. Klaus von Beyme, VorbildAmerika? Der Einfluss der amerikanis&enDemokratie in der Welt, Miinchen 1986, S. 12f. 2s21Vgl. Gebhard Schweigler,Die Atlantis&e Gemeinschaft.S&icksal, Sicherheitund Werte, Ebenhausen 1997, S. 31. 2s22Vgl. Arnold Gehlen, Ende der Geschichte?(1975), in: Ders., Die Seele im technischenZeitalter und andere so~alpffchologische und kulturanalytischeSchtgften, hg. v. Karl-SiegbertRehberg, Frankfurt a.M. 2004, S. 336-351 und Ders., Post-Histoire, in: ebd., S. 352-361; vgl. femerhin Hendrik de Man, Vermassung und Kulturverfall, M(inchen 1951; Reinhart Maurer, Nietzsche und das Ende der Geschichte,in: Thomas Nipperdey / Anselm Doering-Manteuffel / Hans-Ulrich Thamer (Fig.), Weltbiirgerktgegder Ideologien.Antworten an Ernst Nolte - Festscht~ftzum 70. Geburtstag,Berlin 1993, S. 421-439. 2519 Vgl.
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Kapitel XIII Mangel, den man auch ohne den religi6sen Blickavinkel erkennen kann -, so ist doch keineswegs erkennbar, dass dem auf dem Weg der Politik abgeholfen werden k6nnte."2523
D e n n o c h bewertete Fukuyama jene ,,geistige Leere" nicht positiv. Es wird oft iibersehen, dass er diesbeziiglich kein wirklicher , , O p f m i s t " war: ,,Das Ende der Geschichte wird eine sehr traurige Zeit sein. Der Kampf um Anerkennung, die Bereitschaft, sein Leben fiiir ein v611igabstraktes Ziel einzusetzen, der weltweite ideologische Kampf, der Wagemut, Tapferkeit und Phantasie hervorbrachte, und der Idealismus werden ersetzt durch wirtschaftliche Kalkulationen, endloses L6sen technischer und Umweltprobleme, und die Befriedigung ausgefallener Konsumentenw/insche. In der posthistorischen Periode wird es weder Kunst noch Philosophie geben, sondem nut mehr NoB die stiindige Pflege des Museums der Menschheitsgeschichte (...). Vielleicht ist es gerade die Aussicht auf kommende Jahrhunderte der Langeweile am Ende der Geschichte, die die Geschichte wieder in Gang setzen wird.'2524 D a m i t ist ein eventuelles D i l e m m a des Liberalismus angedeutet: Das D i l e m m a bestiinde darin, dass unter der A n n a h m e , wie sie sich seit J o h n Rawls durchgesetzt hat, dass der Liberalismus ,,defmitionsgem~iB auf Wertneutralitiit verpflichtet" ist, diese zugleich ,,als b i n d e n d e n politischen W e r t verteidigen" muss. 2525 ,,In diesem Z u s a m m e n h a n g wirkt (...) das Fallenlassen jedes Wahrheitsanspruches fatal. Eine moralische K o n z e p t i o n , die emr~iumen muss, m6glicherweise auf einem gravierenden Irrtum zu beruhen, hat wenig Uberzeugungskraft. ''2526 Aus diesen D i l e m m a hilft nur die ,,politische 1dee" einer partikular zu verstehenden Atlantischen Zivilisation heraus, die mit einer sich entwickelnden ,,politischen O r d n u n g " und der Symbolisierung von Sinnelementen sowie der Feststellung yon Tugendgemeinsamkeiten, einer Art ,,minimalen K e r n m o r a l " des Liberalismus (nach Larmore) 2527 einhergehen sollte. Die liberalen Tugendgemeinsamkeiten umfassen folgende formale Prfnzipien: -
-
-
Toleranz Kompromissbereitschaft Vern/inftigkeit Zivilitiit Sinnffir Fairness Gerechtigkeit Selbstkrifk RationalerDialog GegenseitigerRespekt
Die Symbolisierung von Sinnelementen bezieht sich indes auf religi6se und philosophische Traditionen, welche die histo,fsche Voraussetzung liefern fiir die M6glichkeit der Aufstellung der Tugendgemeinsamkeiten, ohne dass diese Sinnelemente als bi ndend ffir das Gl aubenssyst em eines jeden Einzelnen aufoktroyiert werden diirfen, da dieses gegen die gemeinsam geteilten T u g e n d e n v e r s t o g e n wiirde. A u f die Symbolisierung der Traditionsstriinge indes zu verzichten 2528 f i i h r t - trotz der erarbeiteten T u g e n d g e m e i n s a m k e i t e n - zu keiner u m f a s s e n d e n emoti2523Vgl. Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte?, in: Europiiische Rundschau, Bd. 17, 4/1989, S. 3-25, 24f. 2524Ebd., S. 25. 2525Clemens Kauffmann, ,,Clash of Views"." Was fehlt dem politischen Liberalismus zur Moral des 21. Jahrhunderts?, in: Walter Schweidler (Hg.), Werte im 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2001, S. 195-215, 202. 2526Ebd., S. 214. 2527Vgl. Charles Larmore, Politischer lJberalismus, in: Axel Honneth (Hg.), Kommunitarismus: EineDebatte iiber die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, 2. Aufl., Frankfurt a.M. / New York 1994, S. 131-156, 133. Vgl. insgesamt auch Charles Larmore, Patterns of Moral Complexity, Cambridge (Mass.) 1987. 2528So leider Clemens Kauffmann, ,,Clash of Views"." Was fehlt dem politischen Ia'beralismus zur Moral des 21. Jahrhunderts?, in: Walter Schweidler (Hg.), Werte im 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2001, S. 195-215, 202.
Schlussbetrachtung
473
onalen Bindung, die allerdings n o t w e n d i g ist, u m den Liberalismus verteidigen zu k 6 n n e n u n d ihn auch in einem qualitativen Sinne l e b e n s w e r t fiir alle zu machen: ,,Die Argumentation ffir das liberale Modell muss deshalb die Grenzen einer nur politischen [sic!] Rechtfertigung in Richtung auf eine rationale Begrfindung fiberschreiten. Das erscheint nicht nur f/_irdie Verteidigung nach aufien unverzichtbar, es wiire auch ffir die qualitative Fortentwic~ung der Demokratie im Inneren notwendig. Das hierfiir geeignete Medium ist die politische Philosophie, deren Marginalisiemng in einem vermeintlichen demo~atischen Interesse der liberalen Intention zuwider steht. '2529 Z u den zu symbolisierenden S i n n e l e m e n t e n geh6ren: -
Wahrheitsliebe, Freiheitsliebe, personale Liebe Liebe und Zivilisationsbewusstsein: Zivilisationsliebe (bzgl. Geschichte, Tradition, Ermngenschaften), Zivilisationspathos, Zivilisationsehre Europiiischer Kulturstolz und amerikanischer Zivilisationsstolz Kulturchristlichkeit oder christlicher Glaube Lust und Freude am Leben Kampfbereitschaft gegen Freiheitsfeinde
Fiir eine adiiquate Symbolik der einzelnen S i n n e l e m e n t e kann in der G e s c h i c h t e der ,,Atlantischen Zivilisation" aus d e m Vollen g e s c h 6 p f t werden. Die Alternative wiire, u m ein W o r t v o n N i e t z s c h e aufzugreifen, jener ,,letzte M e n s c h " , v o r d e m sich sogar F u k u y a m a fiirchtet. A b e t der ,,letzte M e n s c h " hat eigentlich ein anderes P r o b lem, als n u r das, langweilig zu sein. In u n s e r e m K o n t e x t handelt es sich dabei u m M e n s c h e n , ,,denen eigentlich alles, i n s b e s o n d e r e das Befehlen u n d G e h o r c h e n , Zu beschwerlich ist, die an nichts glauben, aber iiberzeugt sind: Fr#her war alle Welt irre". 253~ D e r A n g r i f f gegen den ,,unpolitischen" Charakter der Massengesellschaft seit A n b r u c h der N e u z e i t ist aber i m m e r n o c h geboten: D a s gesellschaftliche, n u n m e h r u n i f o r m i e r t e ,,SichV e r h a l t e n " verdriingt niimlich weiterhin, sogar im Zeitalter eines evtl. wirklich o b s i e g e n d e n Liberalismus, das H a n d e l n u n t e r G l e i c h e n als K e r n des Politischen. 2531 Die H e r r s c h a f t v o n P e r s o n e n wird im Z u g e der Vergesellschaftung, also V e r n i c h t u n g des Politischen durch eine H e r r s c h a f t der Biirokratie ersetzt, die letztlich nichts weiter sein kann als ,,die H e r r s c h a f t des N i e m a n d " . 2532 Die Individualitiit der Selbstverwirklichung ist hierbei h e u t z u t a g e h~iufig auch nicht m e h r als ein u n i f o r m e s , , S i c h - V e r h a l t e n " angeblicher N o n k o n f o r m i s t e n , d e n n die ,,Marotte", das aufgetragene , , B e s o n d e r e " w u r d e z u n e h m e n d ,,normal", i n d e m es sich d e m ,,Typus des N o r m a l v e r h a l t e n s " (Hans Freyer) u n t e r o r d n e t e . 2533 N u r die Schaffung einer vitalen politi2529 Vgl, dann wiedemm Clemens Kauffmann, ,,Clash oJ Views 2" Was fehlt dem politischen Laberalismus zur Moral des 21. Jahrhunderts?, in: Walter Schweidler (Hg.), Werte im 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2001, S. 214f.; vgl. die iihnliche Argumentation bei Kai Haucke, Zukunft durch VerSa'tung. Helmuth Plessners Vision eines deutschen Beitrages zum politischen Humanismus Westeuropas, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn T. Thompson (Hg.), Politisches Denken. Jahrbu& 2004, Berlin 2004, S. 147-166, 165. 2530Jfirgen von Alten, Die gan z normale Anarchie. Jetzt erst beginnt die Na&kriegszeit, Berlin 1994, S. 288. 2531Vgl. Hannah Arendt, Vita Activa oder vom ta'tigen Leben, Stuttgart 1960, S. 38-49.
2532Ebd., S. 45. 2533Vgl. Peter L. Berger / Brigitte Berger / Hansfried Kellner, Das Unbehagen in der Modernitd't, Frankfurt a.M. / New York 1975, S. 67f. Enzensberger beschreibt das Phiinomen in gewohnt {iberspitzter Form folgendermaBen: ,,Was dabei zum Vorschein kommt, k6nnte man als durchschnittliche Exotik des Alltags bezeichnen. Sie iiul3ert sich am deutlichsten in der Provinz ... [Jene bev61kerq sich ,nit Figuren, yon denen noch vor dreiBigJahren niemand sich etwas triiumen liel~. Also golfspielende Metzger, aus Thailand importierte Ehefrauen, V-Miinner mit Schrebergiirten, tiirkische Mullahs, Apothekerinnen in Nicaragua-Komit&s, mercedesfahrende Landstreicher, Autonome mit Bio-Giirten, waffensammelnde Finanzbeamte, pfauenzfichtende Kleinbauem, militante Lesbierinnen, tamilische Eisverkiiufer,
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Kapitel XIII
s c h e n O f f e n t l i c h k e i t u n t e r G l e i c h e n wiirde die U n i f o r m i t i i t der M a s s e a u f i n s t r u k t i v e W e i s e p e r f o r m i e r e n u n d qualititative Freiheit m 6 g l i c h m a c h e n . I m w e s t l i c h e n G e s a m t k o n t e x t w i r d diese (3ffentlichkeit d u t c h die politische I d e e der , , A t l a n t i s c h e n Z i v i l i s a t i o n " a u f das B e s t e priipariert. G r u n d s i i t z l i c h e P r o b l e m e in der V o r a u s s e t z u n g s d i m e n s i o n fiihren zu einer g r u n d s i i t z l i c h e n Skepsis g e g e n i i b e r R e a l i s i e r u n g s m 6 g l i c h k e i t e n einer ,,atlantischen O p t i o n " . B e z e i c h n e n d fiir diese Sichtweise ist f o l g e n d e r A u s s c h n i t t aus e i n e m I n t e m a t a r t i k e l einer s t u d e n t i s c h e n ,,Vollblutatlantizistin": ,,While it is said that ,NATO and the West won the Cold War,' in truth these have suffered wound that may never be mended right. The Cold War and its after effects have -killed off the hopes of the Atlantic Community, the non-military place NATO in that Community, and diluted the culture and humanities of North Atlantic peoples. These important things remain locked up in old books and papers in the libraries of the universities and those of us who attempt to discuss the above are labelled as 'crackpots' and accused of 'smo~ng something funny. '''2534 D i e P r o b l e m e i m E i n z e l n e n , die eine ,,atlantische O p t i o n " unrealistisch e r s c h e i n e n lassen, sind folgende: -
-
Abkehr der USA von Ihrer Tradition der ,,imperialen Expansion" und Ihres universalistischinterventionistischen (start -partikularistischen oder, bisher immer pejorativ gebraucht, st{irker isolationstisches) Ansatzes Verschliel3ung der Amerikaner gegen/iber einer letztlich transnationalen Vision des Atlantizismus auf der Basis eines machtpolitischen Kosten-Nutzen-Kalk/ils 2535 Europiiistische Modelle und europ~iische Lethargie (europ~iischer Isolationismus auf allen Feldem: Sicherheit, Wirtschaft, Kultur und Politik) Soziologisches, kulturelles, politisches und demographisches Auseinanderklaffen Zunehmende Interessendivergenzen zwischen Amerika und Europa sowie zwischen den Europ{iern selbst, letztendlich aufgrund vertaner Chancen einer politisch-strategischen Zusammenarbeit 1995 Divergenzen in der Irakpolitik Divergenzen in der Frage der Sanktionspolitiken gegen Iran und Kuba Divergenzen in der Frage des Beitritts der T/irkei in die EU Teilweise Divergenzen in der Frage des Waffenembargos gegen China Handelspoltische Divergenzen in der Agrar-, Stahl- und R/istungsbranche Geistige Entk-ulturalisierungs- und Barbarisierungsprozesse durch eine auf intemationalistischkulturrevolutioniirem Wege geschaffenen ,,sekund~iren Welt" (mediabentpolitisiertes und entm/indigtes ,,Multitude-System")
Ist die , , A t l a n t i s c h e Z i v i l i s a t i o n " also eine U t o p i e ? N e i n , d e n n das N o r m a t i v e d a b e i ,,ist n i c h t e i n f a c h das W i i n s c h e n s w e r t e , s o n d e r n das ,regulative P r i n z i p ' , u n t e r das u n s e r H a n d e l n in der p o l i t i s c h e n Realitiit v e r b i n d l i c h gestellt wird. D o c h das n o r m a t i v B e s t e ist in der Regel weit e n t f e m t v o n d e m u n t e r g e g e b e n e n U m s t i i n d e n e r r e i c h b a r e n . ''2536
Altphilologen im Warentermingesch~ift, S61dner auf Heimamrlaub, extremistische Tierschfitzer (...). An die Stelle der Eigenbr6tler und der Dorfidioten, der K{iuze und der Sonderlinge ist der durchschnittliche Abweichler getreten, der unter Millionen seinesgleichen gar nicht mehr auff'~illt." (Hans-Magnus Enzensberger, MittelmaJ~ und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, Frankfurt/M. 1988, S. 264f.). 2534Erin S. LaPorte, Removing North Atlantic humanities, the Atlantic Community- and N A T O -from the Cold War/NATO and the Atlantic Commun@ as causalities of the ColdWar, in: http://vaxare.pronato.com/commentary/arc20030928.htm, 17.8.2004, 17:15 Uhr. Erin S. LaPorte is Betreiberin der Website "The Nato Citizen" (htt-p://www.pronato.com/). 2535Vgl. John j. Mearsheimer, Back to the Future. Instabi@ in Europe after the Cold War, in: International Security 15 (1) 1990, S. 5-56; Kenneth N. Waltz, The Emerging Structure of International Politics, in: International Security, 18 (2) 1993, S. 44-79. 2536Christoph Horn, Einfiihrung in die Politische Philosophie, Darmstadt 2003, S. 9.
Schlussbetrachmng
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D o c h kann das ,,regulative Prinzip" auch zum Ausgangspunkt einer ,,politischen Idee" gen o m m e n werden. Eine , , U t o p i e " hingegen ist eine reine Phantasie oder eine bewusst nur in imaginierter Form normative Absolutheitsvorstellung, die beide zu gesellschaftskritischen oder satirischen Zwecken gebraucht werden. 2537 Zu Utopien gibt es keine Altemativen, ,,regulative Prinzipien" hingegen stellen die Normativitiit in einen konkreten Handlungszusammenhang und miissten daher auch dutch Altemativen herausgefordert werden k6nnen, obwohl sie sich selbst als ,,Idee" einer Wahrheit o b j e k t i v i e r e n - und damit auch fiir deren Verfechter eine kategorische Geltung erlangen. D e m n a c h ist die ,,Atlantische Zivilisation" auch keine Utopie. Auch der Mythos des Atlantischen nicht, welcher die Idee zum Ausdruck bringt. Der Mythos ist demnach die Triigererziihlung genetisch-fixierter Bilder, die Utopie hingegen ,,Darstellung eines zeitlich in die Zukunft verlagerten Gesellschaftskonstrukts,(...) die nicht zwingend genetisch-fixierte Bilder rekrutieren muss. ''2538 Die historische Basis ist hier durch und dutch gegeben, wie die Arbeit auch im Einzelnen zeigen konnte. D o c h ist die ,,Atlantische Zivilisation" vielleicht nicht vielmehr eine Dystopie, also eine negative Utopie? Dass die ,,Atlantische Zivilisation" fiir nichts anderes stehen kann als fiir ein amerikanisches Imperium in einem barbarisierten Raum, fiir eine Forcierung des ,,Clash of Civilzations" mitten in Europa, fiir einen amerikanischen Ciisaropapismus in Verbindung mit dem endg/~tigen Niedergang zivilisatorischer Standards des ,,Westens" oder gar der ,,Menschheit", sollte dutch diese Arbeit widerlegt sein. Aber es gibt noch einen Aspekt, der zu denken gibt: Ein essentialistisches Denken kann zur Folge haben zu ,,glauben, dass es eine Schuld ist, unrecht zu haben, dass es unmoralisch ist, unrecht zu haben ''2539, wie bei Curzio Malapartes ,,Die Haut" (1946) in pauschalem Bezug auf die Amerikaner beschrieben wurde. Sicherlich birgt dieses Denken die Gefahr in sich, jegliche Selbstkritik zu annullieren und damit ins Dogmatische abzugleiten. D o c h geht die Gefahr, und das wird insbesondere in Europa unterschiitzt, heutzutage vielleicht viel eher von einem puristischen Werteneutralismus aus. Dieser kann durchaus als eine politische Irrlehre verstanden werden, weil er die politische Welt von jeglichen Wertegrundlagen zu trennen versucht, um nicht m den Geruch des Illiberalen zu kommen. Diese Variante erinnert an Voegelins Nachdenklichkeit in Bezug auf die Frage, was es denn bringe, die Werthaltigkeit eines jeden politischen Raumes (auch desjenigen, der die Wertneutralitiit zu einem Wert erhebt) zu leugnen und die Liige auch noch zu lehren: ,,Die doxische Geistesverfassung einzelner Individuen ist nicht von entscheidender Bedeutung. Erst wenn die breite Masse der Gesellschaft korrupt ist, wird die Lage wirklich kritisch, weil sich dann dutch den sozialen Druck, der auf die j~ngere Generation und insbesondere auf die begabtesten Miinner [und Frauen] ausgeCibtwird, der doxische Zustand selbst perpetuiert."254~ Der Verzicht auf partikulare Tugenden und Sinnsymbolisierung im 6ffentlichen Raum ist immer auch ein repressiver Akt, solange der Verzichtende den Verzicht nicht auf der Basis eines wahrheitsiiberzeugenden Argumentes freiwillig eingeht. Der Widerspruch zwischen eigener Wahrheitsorientierung und 6ffentlicher Wahrheitsabweisung ist hier der Kern der Repression. Der Zwang wird gar ein Zwang nicht nut des Staates tiber den Einzelnen, sondern auch eines Christoph Horn, Einfdhrung in die Politische Philosophie, Darmstadt 2003, S. 68ff. 2538Franz Wegener, Das atlantidische Weltbild. Nationalso~alismus und Neue Rechte auf der Suche nach der versunkenenAtlant~r, Gladbeck 2001, S. 144. 2539Curzio Malaparte, Die Haut, Karlsruhe 1950, S. 9, zitiert nach: Manfred Henningsen, Der FallAmerika. Zur So~alund Bewusstseinsgeschichteeiner Verdrdngun2~ MCinchen 1974, S. 42. 2540Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VI: Platon, hg. yon Dietmar Herz, M/inchen 2002, S. 107. 2537 Vgl.
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Kapitel XIII
Teils der Gesellschaft iiber den anderen, sobald fiir einen Teil der Gesellschaft die Wahrheitsabweisung selbst substantialisiert wird, d.h. zu einem Glaubensprinzip e r h o b e n wird (,,Es gibt keine Wahrheit'~ ,,Der Mensch ist essentiell sozial; in der Wahrheit, gegen den Schein zu leben, wiihrend die Macht der Gesellschaft auf Seiten des Scheins steht, ist eine BCirde fiir die Seele, die yon den Vielen gar nicht und von den Wenigen nur mit M(ihen ertragen werden kann. Der Zwang, sich iiuBerlich anzupassen, dringt in die Seele ein und zwingt sie, das doxa dutch Erfahrung mit aldtheia auszustatten. Der letzte Schritt wire die vollstiindige Blendung der Seele, die eintritt, wenn einem der Weg der wiederbelebenden Zuflucht in die Transzendenzerfahrung - durch gezielte psychologische Fiihrung - abgeschnitten wird, ;vie dies bei modemen politischen Massenbewegungen der Fall ist.'2541 Die G e f a h r des praktischen Umschlags v o n der staatlichen Neutralit~it im Privaten iiber die H e r a n z i e h u n g eines wahrheitsabweisenden Prinzips fiir die Legitimation der Neutralitiit hin eben doch zur staatlichen Regulierung privater Wahrheitsorientierungen im Sinne der Hypostasierung des gut gemeinten Wahrheitsabweisungsmoduls zu einer Wahrheitsabweisungsphilosophie wird vielleicht unterschiitzt. Sollte in so einem Fall der ,,wahrheitsfeindliche" Teil der Gesellschaft die Mehrheit sein, wiire die Gefahr der Tocquevillschen ,,Allmacht der Mehrheit" genauso gegeben, wie w e n n u m g e k e h r t eine ,,absolute W a h r h e i t " aufgrund v o n e n t s p r e c h e n d e n Mehrheiten z u m demokratischen Staatsdogma e r h o b e n werden k6nnte. 2542 ,,Die Frage lautet: Was soil ein junger Mensch glauben und tun, wenn sich alle Autoritiiten der Gesellschaft, in der er lebt, gegen ihn verschworen haben, um ihn zu verwirren, und ihm das wahre Wissen von der Gerechtigkeit dutch tiigliche Einfl/isterung des doxa vorenthalten?2543 Die ,,Atlantische Zivilisation" kann heute also keine Dystopie m e h r sein. I m Gegenteil befreit sie den Begriff des ,,Atlantischen" geradezu von jenem schwerbliitigen, todessehnsiichtigen Mutterimago, als dessen G e n o t y p sich der Begriff ,,Atlantis" in F o r m der Idealisierung des Untergangs v o n Atlantis i m m e r wieder festgebissen hat: D e r Mythos der Magna Mater, die Sehnsucht nach der Riickkehr z u m MutterschoB. Dabei kann die Erziihlung ,,lediglich als phiinotypischer Tr~iger einer der eigentlichen Erziihlung nicht ohne weiteres zu e n t n e h m e n d e n mythischen Bedeutung, ihres Genotyps, dienen. ''2544 Fiir den Mythos entscheidend ist der Genotyp. U n d der Genotyp, der hier vorgestellt und entfaltet wurde, straft doch letztlich die (berechtigten) Sorge Liigen, d e m Atlantismythos aufgrund dessen ,,suizidalen Charakter" lieber aus d e m Wege zu gehen. Ein ,,Warner" diesbeziiglich, Franz Wegener, hat einmal diese dunkle u n d zugleich faszinierende Seite des Atlantismythos mit d e m Film ,,Im Rausch der Tiefe" v o n Luc Besson verglichen, der die ,,beste filmische D e m o n s t r a t i o n der psychologischen Attraktivit~it des Untergangs bietet": ,,Ein junger Taucher liisst sich niichtens mit Hilfe v o n Bleigewichten in eine me zuvor erreichte Tiefe des Ozeans ziehen. A m E n d e der Laufleine a n g e k o m m e n , erscheint i h m ein Delphin; der Taucher 16st seine rettenden Sauerstoffpolster u n d folgt d e m D e l p h i n in die Tiefe des Ozeans. ''2545 Die W a m u n g vor der Mythisierung dieser sch6nen Apokalyptik richtet sich bei W e g e n e r zun~ichst gegen die politische Rechte, doch sind ,,Autoren u n d Rezipienten innerhalb der griin-alternativen Bewegung" v o n der V e r s u c h u n g genauso
2541Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VI." Platon, hg. von Dietmar Herz, Miinchen 2002, S. 105. 2542Vgl. auch Clemens Kauffmann, ,,Clash of Views"." Was fehlt dem politischen Ia'beralismus zur Moral des 21. Jahrhunderts?, in: Walter Schweidler (Hg.), Werte im 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2001, S. 195-215, 205f. und 214. 2543Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. Band VI: Platon, hg. von Dietmar Herz, M~inchen 2002, S. 98f. 2544Franz Wegener, Das atlantidische Weltbild. Nationalso~alismus und Neue Rechte auf der Suche nach der versunkenenAtlantis, Gladbeck 2001, S. 94. 2545Ebd., S. 148, Fn. 364.
Schlussbetrachtung
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stark betroffen. 2546 D o c h das ist nut die eine Seite des Atlantismythos. Die andere, die positive, die fiir das Zusammenspiel von Erfmdungskraft, theoretischer Wahrheit, freiheitlicher Imaginationskraft und Wertgebundenheit steht und die Wegener nicht beriicksichtigt, fmdet sich in dieser Arbeit. Die mit der ,,Atlantischen Zivilisation" einhergehende Berufung auf essentielle AutoritS_ten (i.e. die ,,Wertgebundenheit") linden dabei ihre weichste Spielart im Begriff des Namrrechts. Aber auch das Namrrecht ist inzwischen positivistisch durchl6chert: D o c h die Berufung auf die Natur ist nach Leo Strauss ,,erst m6glich, wenn der Zweifel [am positiven Recht] und mit ihm die Suche nach einer besseren Wahrheit einsetzt. ''2547 Insofem unterscheidet sich der Namrbegriff der modernen Naturrechtslehre von einer naturwissenschaftlichen Naturvorstellung, wie sie z.B. von Hans Kelsen vertreten wurde, die in der T a t - und gerechtfertigt- das Naturrechtsdenken als wissenschaftlich m sich unschliissig deklarieren muss. 2548 D o c h , , N a mr", abgesehen von der Unm6glichkeit sie als ganze wissenschaftlich zu fassen 2549, ist nicht ,,als solche", sondern als ,,Begriff des ersten Zweifelns ''255~ die eigentliche Grundlage des Naturrechtsdenkens. Damit gewinnt die ,,Natur der Sache" einen wissenschaftlichen und zugleich nicht-theologischen Bezug, den sie durch das Christentum als ,,natura naturata" noch innehatre. 2551 Die spirituelle Dimension freilich, die das Christentum der iiberlieferten Naturrechtsvorstellung bereitete, bot die Bedingung fiir die Entwicklung des m o d e m e n Naturrechtsdenken, die z.B. Leo Strauss herausgearbeitet hatte. ,,Natur ist fiir Strauss der Begriff, in dem die Bedingung der M6glichkeit des Infragestellens entdeckt wurde. ''2552 Aus dieser Perspektive ist der moderne Rechtspositivismus philosophisch und wissenschaftlich angreifbar. Die Entdeckung der ,,Natur" in diesem Kontext besteht ja gerade darin, natiirliche Erscheinungen von unnatiirlichen zu scheiden, um unnatiirliche iiberhaupt einordnen zu k6nnen. Die N a m r a l s Unterscheidungsbegriff, der zugleich eben nicht der Kultur entgegensteht (wie bei Rousseau) ist eben keine , , T o t a l i t S t " , w i e das im Rechtspositivismus der Fall ist. 2553 Und schliel31ich kann die physische Erfahrung des Auseinanderklaffens ,,zwischen der Anwendung positiv geltenden Rechts und erfahrenem Unrecht ''2554 nicht wissenschaftlich irrelevant sein. Dies wiire geradezu unwissenschaftlich, weil es ein in der Konsequenz dogmatisch eingefiihrtes Erkliirungsverbot implizieren wiirde. Der Begriff des Zweifels hat die Differenzierung des Erfahrungsbereichs in Erscheinung und eben ,,wahrer Natur" einer Sache zur Folge. 2555
2546Vgl. Franz Wegener, Das atlantidische Weltbild. Nationalso~'alismus und Neue Rechte auf der Suche nach der versunkenen Atlantis, Gladbeck 200, S. 111. 2547Martin Sattler, Naturrecht und Geschichte - Hans Kelsen, Leo Strauss und Eric Voegelin, in: Wolfgang Leidhold (big.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnun2~ W/irzburg 2000, S. 563-589, 580. Vgl. Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, Frankfurt a.M. 1977. 2548Vgl. Hans Kelsen, Staat undNaturrechl. Aufsa'tze zurIdeologiekritik, Frankfurt a.M. 1964. 2549g8 sei an Moby-Dick erinnert. Insbesondere die Cetologie-Kapitel, in dem die Kunstfigur Ismael versucht, den Wal zu erkl;,iren, zeigen die R~itselhaftigkeit, Gewaltt{itigkeit, Unfassbarkeit und Vielschichtigkeit der ,,Namr" auf wunderbare, teils humorvolle Weise auf (vgl. Herman Melville,Moby-Dick, Hamburg 1955, S. 125-136). 2550Martin Sattler, Naturre&t und Geschichte - Hans Kelsen, Leo Strauss und Eric Voegelin, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnung, W/irzburg 2000, S. 563-589, 580. 2551Vgl. zu letzterem Pierre Chaunu, Die Wurzeln derFreiheit, Mfinchen 1982, S. 100. 2552Martin Sattler, Naturrecht und Geschichte - Hans Kelsen, Leo Strauss und Eric l/oegelin, in: Wolfgang Leidhold (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Problemepolitischer Ordnung, WCirzburg2000, S. 563-589, 580. 2553Vgl. ebd., S. 580f. 2554Ebd., S. 581. 2555Vgl. ebd.
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Was bleibt am Ende in Bezug auf ,,Amerika und Europa"? Die anniihemde Gewissheit: Amerika hat uns historfsch nicht nur die ,,Demokratie" gebracht, so wie den Mais 2ss6, die Tomaten, die Kartoffeln, die Paprika, den Kakao, die Vanille, den Tabak 25s7 oder die Ananas. Das ganz besondere an Amerika, ,,einzigartig als Produkt der europ~iischen Imagination ''2ssa, war: Der Geist der Freiheit der Antike wurde 1776 erstmals praktisch umgesetzt. Und die Freiheitsliebenden verhalten sich dazu wie jeder in Anbetracht des Sch6nen: ,,Das Bild eines attraktiven Menschen weckt in seinem Gegentiber ein bestimmtes Verlangen, sich ihm zu niihern. ''2559 Und es bleibt die ann~ihernde Gewissheit tiber die Bedeutung dieses Vorganges: Die Gr6Be des antiken Freiheitsverst~indnis war im WeltmaBstab, tiber das Hellenen - oder sp~iter R6mertum hinaus, immer eine Abstraktum. Erst das Christentum und die ,,Atlantische Zivilisation" bieten die Chance der Zusammenfassung in einem konkreten poli6schen K6rper, der sich nicht mehr die Unterwerfung der Ausgeschlossenen zum Ziel setzt, genauso wenig aber die illusion~ire Vereinnahmung derselben, s o n d e m den richtigen, zivilisierten Umgang unter ihnen auf der Basis einer zivilisa6onspatrio6schen Identit~it, welche die nationspatriotische und kulturpatriotische mit einschlieBt, ohne sie aufzuheben. Zugleich steht die Zivilisation jeder Kultur often, die die Kxaft und den Willen aufbringen m6ge mit allen pflichtigen Konsequenzen in die Zivilisationsgemeinschaft einzutreten. N u r geht die Zivilisationsgemeinschaft davon aus, dass die materielle Basis ftir diese M6glichkeit noch lange nicht geschaffen ist. Stattdessen nimmt die ,,Atlantische Zivilisation" angesichts neuer totalit~irer und ideologischer Herausforderungen eine priiventive Verteidigungsperspektive ein. Diese wendet sich an antiwestliche Fanatiker und Idioten wie auch an innerwestliche Gnostiker und Relativisten. Wenn dies erreicht ist, und zwar in der Grundgemeinsamkeit zwischen Amerikanern und Europiiern - dann ist das Ziel erreicht und das Symptom dieser historischen Dynamik wiire die ,,Atlantische Zivilisation": kein Paradies auf Erden, das wird es nie geben, dennoch eine wichtige politische Errungenschaft, ftir die es sich einzusetzen lohnt. Der ,,Westen" als ,,Atlan6sche Zivilisation" sollte sich in einem politisch imperialen Kontext als ,,F6deration des Republikanismus" verstehen, die sich nicht so sehr an ein dynamisches expansionistisches und imperialistisches r6misches, sondem an ein venezianisches oder spartanisches Republikvorbild, so wie es in Machiavellis Discord beschrieben wird, orien6eren: Es gelte, die ,,Republik" an ,,einem festen Oft anzulegen und sie so stark zu machen, dass es keinem einf;illt, sie auf einen Schlag zu erobem. Andererseits darf man sie abet auch nicht zu grol3 machen, dass sie ihren Nachbam bedrohlich wird (...). Denn aus zwei Griinden bekriegt man einen Staat, einmal um sein Herr zu werden, und zweitens aus Furcht, von ihm unterjocht zu werden. Diese zwei Griinde werden dutch die obigen MaBregeln fast g~inzlichbeseitigt."2s6~
zss6Vgl. Fernand Braudel, Die Geschichte der Zivilisation. 15.-18. Jahrhundert, Miinchen 1979, S. 167-174. 2ss7Vgl. ebd., S. 278. 2ss8Tilo Schabert, Die Atlantische Zivilisation. Uber die Entstehung der einen Welt des Westens, in: Peter Haungs (Hg.), Europa~sierung Europas?, Baden-Baden 1989, S. 41-54, 49. 2ss9Aristoteles, MetaphysikXII, 7, 1072a; Physik I, 9, 192a. 2s60Niccol6 Machiavelli, Discord. Staat und Politik, hg. von Horst G~inther, Frankfurt a.M. / Leipzig 2000, 1. Buch, 6. Kapitel, S. 36.
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