Autoren und Redaktoren als Editoren
Herausgegeben von Jochen Golz Manfred Koltes
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN
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Autoren und Redaktoren als Editoren
Herausgegeben von Jochen Golz Manfred Koltes
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN
B E I H E F T E
Z U
Herausgegeben von Winfried Woesler
Band 29
Autoren und Redaktoren als Editoren Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft fr germanistische Edition und des Sonderforschungsbereichs 482 ›Ereignis Weimar – Jena: Kultur um 1800‹ der Friedrich-Schiller-Universit+t Jena, veranstaltet von der Klassik Stiftung Weimar Herausgegeben von Jochen Golz und Manfred Koltes
Max Niemeyer Verlag Tbingen 2008
n
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-29529-2
ISSN 0939-5946
( Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul<ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielf
Inhalt Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Thomas Bein Zum Verhältnis von Autor-Text und Redaktor- (bzw. Schreiber-)Text in mittelhochdeutschen Lyrikhandschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bala´sz J. Nemes „Eya herre got, wer hat dis buoch gemachet?“. Zum Umgang von Editoren und Redaktoren mit der ,Autorin‘ Mechthild von Magdeburg
. . 18
Hans-Gert Roloff Georg Wickram als Editor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Cristina Urchueguı´a Wie macht man einen best-seller? Verlagsmethoden und Revisionsstrategien bei Arcangelo Corellis Violinsonaten Op. V . . . . . . 42 Jörg Jungmayr Johann Beer als Herausgeber
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Ute Poetzsch-Seban Georg Philipp Telemann als Herausgeber eigener kirchenmusikalischer Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Andreas Keller Johann Ulrich König (1688–1744) als Nachlaßverwalter und Herausgeber Johann von Bessers. Ein Autor-Editor im Spannungsfeld des preußisch-sächsischen Kulturraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Knut Kiesant Johann Christoph Gottscheds Neukirch-Edition von 1744
. . . . . . . . . 117
Elke Bauer Der Buchdruckerjunge aber klopfte und verlangte Manuscript. Lessings Arbeitsweise und ihre mögliche Konsequenz für eine historisch-kritische Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Winfried Woesler Lessing als Herausgeber von Gleims Kriegsliedern und von Gleims Bearbeitung seines Philotas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
VI
Inhalt
Annette Oppermann Joseph Haydn als Editor und Verleger. Zur Originalausgabe des Oratoriums Die Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Rainer Falk Neuheit und Wahrheit – Friedrich Nicolai als Editor seiner Anekdoten von König Friedrich II. von Preußen . . . . . . . . . . . . . . . 170 Klaus Gerlach C. M. Wielands Sämmtliche Werke. Die erste Ausgabe von der letzten Hand als Monument und Dokument sowie in ihrer Bedeutung für den Typ der historisch-kritischen Ausgabe
180
Christine Siegert Losgelöst vom Autorwillen? Gattungstypische Distributionsphänomene der Opera buffa und Möglichkeiten ihrer Edition . . . . . . . . . . . . . . 189 Barbara Hunfeld Die Autographen sind schuld. Jean Pauls (un)absichtliche Errata . . . . . 204 Monika Meier Mit Werken, Werkchen und Gesammelten Schriften auf der „BuchhändlerBörse“. ,Freundschaft‘ und Geschäft in den Beziehungen Jean Pauls zu seinen Verlegern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Birgit Sick ,Beigeleimte‘ Vorgeburten. Über eine Publikationsstrategie Jean Pauls . . 226 Thomas Bach Avantgarde im Bereich der Naturgeschichte. Arno Schmidt und die Edition der Gesammelten Werke von Lorenz Oken . . . . . . . . . . . . . 240 Jürgen Hein Ferdinand Raimund als ,ausübender Künstler‘ und die Edition seiner Dramen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Thomas Richter „Ums Himmels willen, vergiß nicht, daß du der Pfarrer von Lützelflüh bist“. Jeremias Gotthelf als Autor und Editor des Neuen Berner-Kalenders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
VII
Inhalt
Johannes John Adalbert Stifter als Herausgeber des Sammelwerks Wien und die Wiener, in Bildern aus dem Leben (1844) . . . . . . . . . . 273 Regina Roth / Carl-Erich Vollgraf Die Herausgabe von Marx’ Kapital-Nachlaß durch Friedrich Engels – wortgetreu oder dem Geiste nach? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Jochen Strobel Von der Zettelwirtschaft zum Archivroman. Goethe ediert Briefe Jörg Schuster Der Autobiograph als Herausgeber. Harry Graf Kesslers Gesichter und Zeiten (1935) – Plädoyer für eine Neuedition Bernd Hamacher Der lange Schatten des Autors. Der Editor Thomas Mann und seine Editoren
. . . . 299
. . . . . . . 315
. . . . . . . . . . . . . . . . 325
Sikander Singh Hermann Hesse oder Portrait des Schriftstellers als Verwalter seines Nachruhmes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Walter Fanta Das Zögern vor dem letzten Schritt. Zur digitalen Edition von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften . . . 342 Walter Hettche Korrekturen, Entblößungen, Säuberungen. Leonhard Franks Arbeit an seiner Novellensammlung Der Mensch ist gut 353 Sandro Zanetti Selbstherausgaben. Autoren als Editoren ihres Lebenswerkes . . . . . . . 369 Ulrich Dittmann Oskar Maria Graf bearbeitet und gibt seine Erzählungen heraus Kerstin Reimann / Nicole Streitler Ödön von Horva´th – Wiener Ausgabe: Ein Werkstattbericht
. . . . . 377
. . . . . . . 384
Jan Gielkens / Peter Kegel „Du hast in Deinem Buch ja schrecklich gekleckert“. Die letzte Hand von Willem Frederik Hermans . . . . . . . . . . . . . . . 406
VIII
Inhalt
Michael Fisch Textkritische Überlegungen zu einer Ausgabe der Gesammelten Werke von Gerhard Rühm aus Anlaß des ersten Bandes gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Anke Bosse Die Wiener Gruppe – Publikationsmöglichkeiten der Avantgarde
. . . . 441
Vorwort
Die turnusmäßig alle zwei Jahre stattfindende internationale Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition hatte sich für 2006 das Thema „Autoren und Redaktoren als Editoren“ gewählt. Tagungsort war vom 22. bis 25. Februar Weimar, dem damit die Ehre zuteil wurde, zum zweiten Mal – nach 1994 – Gastgeber zu sein. Ziel der Tagung war es, wie in der Ausschreibung formuliert, „aus editorischer Perspektive in einem historischen Zugriff die unterschiedlichen Strategien und Praktiken bei der Veröffentlichung eigener Werke bzw. bei deren Distribution durch andere zu dokumentieren“. Dabei sollte „der Radius vom Mittelalter bis zur Gegenwart gezogen werden“. Die Zahl der angemeldeten Referate war ungewöhnlich groß, so daß sich eine thematische Gliederung in sechs Sektionen als notwendig erwies. Der hier vorgelegte Band versammelt daraus 34 Beiträge. Es lag nahe, für die Drucklegung um der Übersichtlichkeit willen nicht die Disposition der Sektionen als Ordnungsprinzip zugrundezulegen, sondern, der Ausschreibung folgend, den Weg „vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ zu wählen. Eine damit einhergehende epochenspezifische und zugleich interdisziplinäre Zuordnung, wie sie in der Absicht der Veranstalter lag, stellt sich insofern her, als Barock, Aufklärung und Klassik z.B. in etlichen Beiträgen zu literatur- und musikwissenschaftlichen Editionen präsent sind und damit einen thematischen Schwerpunkt bilden. Der aufmerksame Leser wird bemerken, daß die Grenze zwischen dem Autor/dem Redakteur als Editor und der objektiven Textgenese und ihrer Darstellung in einer Edition nicht immer leicht zu ziehen ist. Um des dokumentarischen Charakters des Bandes willen sind alle vorgetragenen Referate, sofern zur Publikation eingereicht, aufgenommen worden; bewahrt wurde deren Vortragscharakter, wenn der Autor sich für dessen Beibehaltung aussprach. Eine eigene Sektion war dem Mitveranstalter eingeräumt worden, dem Sonderforschungsbereich 482 „Ereignis Weimar-Jena: Kultur um 1800“ der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Von den dort präsentierten, aus dem Sonderforschungsbereich erwachsenen Editionsvorhaben wird hier stellvertretend das Oken-Projekt vorgestellt. Die Ausrichtung einer solchen Tagung ist ohne zählbare finanzielle Unterstützung nicht möglich. Sehr zu danken ist der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Übernahme der Reise- und Aufenthaltskosten ausländischer Wis-
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Vorwort
senschaftler. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich dem (ehemaligen) Sprecher des Sonderforschungsbereiches 482, Herrn Prof. Dr. Klaus Manger, der dafür Sorge trug, daß die Tagung den Charakter einer Gemeinschaftsveranstaltung zwischen Sonderforschungsbereich und Arbeitsgemeinschaft und damit auch einen großzügigen, vor allem für deutsche Teilnehmer bestimmten Zuschuß aus SFB-Mitteln erhielt. Dank zu sagen ist der Bauhaus-Universität Weimar, die uns kostenfrei die Tagungsräume zur Verfügung stellte. Großer Dank gebührt meinen (inzwischen ehemaligen) Mitarbeitern im Goethe- und Schiller-Archiv, die mich bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung engagiert und unermüdlich unterstützt haben, sowie der Klassik Stiftung Weimar für logistische Hilfe. Last but not least aber sei meinem Mitherausgeber Manfred Koltes gedankt. Indem er die satzfertige Vorlage auf TUSTEP-Basis einrichtete – was im einzelnen intensive Korrespondenz mit den Autoren nach sich zog –, hat er den Band in seiner Einheit von Text und Bild nicht nur sehr ansprechend gestaltet, sondern auch, was ebenso wichtig ist, das Erscheinen ohne Druckkostenzuschuß möglich gemacht. Dem Niemeyer-Verlag sei dafür gedankt, daß er sich mit diesem Weg der Drucklegung einverstanden erklärte und insgesamt auf dem langen Weg der Entstehung Geduld und Verständnis bewies. Weimar, im Mai 2008
Jochen Golz
Thomas Bein Zum Verhältnis von Autor-Text und Redaktor(bzw. Schreiber-)Text in mittelhochdeutschen Lyrikhandschriften
1. ,Autoren und Redaktoren als Editoren‘. Der Tagungstitel impliziert, daß Autoren Editoren sein können und daß Redaktoren Editoren sein können. So weit, so gut. Je länger man sich aber diese Aussage vor Augen führt, umso unschärfer werden die dort befindlichen Begriffe. Was unterscheidet den Editor vom Autor? Welche Rolle spielt ein Redaktor? Was ist ein Redaktor? Kann nicht auch ein Autor Redaktor sein? Was ist dann das Spezifische, das dem Autor-Begriff innewohnt? Solche Fragen mögen in der Neugermanistik bzw. in den neueren Philologien überhaupt leichter zu beantworten sein als in den Mittelalterphilologien. Zumindest ist die Trennschärfe zwischen einem ,Autor‘ und einem ,Editor‘ in der Neugermanistik größer. Der ,Autor‘ ist eben der primus motor des Textes, der Editor ist deutlich nachgeordnet, er stellt eine Verwaltungsinstanz dar für das, was der primus motor in die Welt entlassen hat: für einen Text. Grundsätzlich ist das für mittelalterliche Verhältnisse nicht anders. Auch hier hat es einen individuellen primus motor gegeben, von wenigen Fällen ,kollektiver Textkultur‘ (wie etwa Sagen oder Märchen) abgesehen. Aber: Der Blick auf diesen ,Urheber‘ eines Textes und auf das, was dieser Urheber einstmals in die Welt entlassen hat, ist mehr als getrübt. Um im Bild zu bleiben: Dicke Milchglasscheiben, zuweilen noch prismenartig gebrochen, stehen zwischen uns Philologen und einer primären Ebene der zu untersuchenden Texte. Wir befassen uns mit Texten, die zu einer bestimmten Zeit schriftlich fixiert worden sind. In den meisten Fällen haben diese Texte einen langen Weg hinter sich. Auf diesem Weg begegnen Instanzen, einige, die im Titel der Tagung aufscheinen, nämlich der Autor, der Redaktor und der Editor, aber auch noch andere, insbesondere ist zu nennen die des Schreibers. Einfach betrachtet sieht der Weg eines mittelalterlichen Textes von seinem Urheber bis zu uns Philologen etwa so aus:
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Thomas Bein
Ein Autor verfaßt einen Text; dieser gelangt in die Hände eines Redaktors, der mit dem Text etwas anstellt oder auch nicht und ihn einem Schreiber überantwortet, der den Text fixiert. In dieser Gestalt nimmt ihn ein Editor zur Kenntnis und überführt den Text mehr oder weniger stark verändert in eine moderne Textedition. Wie gesagt: Das ist eine sehr einfache Sicht auf die Dinge. In Wirklichkeit ist es um einiges komplexer:
Zum Verhältnis von Autor-Text und Redaktor-Text
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Gehen wir vom Text aus: Er hat einen Urheber, gemeinhin ,Autor‘ genannt; dieser aber ist nicht der alleinige Urheber: an der Textproduktion beteiligt sind auch Auftraggeber, Mäzene, Quellentexte. Der Autor konzipiert seinen Text in den meisten Fällen wohl schriftlich; er wird sich besonders bei epischen Texten schriftliche Konzepte machen, Notizen, vielleicht zunächst auf Wachstafeln, später dann auf Pergamentblättern. Der Autor präsentiert seinen Text zu irgendeinem Zeitpunkt einem Publikum zum ersten Mal – und zwar mündlich, indem er entweder aus schriftlichen Konzepten vorliest oder aber – bei lyrischen Texten gut denkbar – auswendig gelernte Texte vorträgt. Was das Publikum mit den gehörten Texten tut, wissen wir nicht. Es mag Zuhörer geben, die gut einmal Gehörtes memorieren können und es gegebenenfalls an anderem Ort weitertragen können; es mag den einen oder anderen, aber doch eher selten anzunehmenden Fall geben, daß während eines Vortrags mitgeschrieben wird.
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Thomas Bein
Den erstmals vorgetragenen Text kann der Autor weiter bearbeiten, modifizieren, ergänzen, er kann Kürzungen vornehmen oder Details mit Rücksicht auf ein anderes Publikum verändern. In den meisten Fällen dürften solche AutorModifikationen ebenfalls einen schriftlichen Niederschlag im Umfeld des Autors erfahren. Spätestens nach dem Tod des Autors befinden sich die Texte in anderer Hand: in der Hand von Vorträgern, Rhapsoden, Interpreten, Nachsängern – es finden sich viele konkurrierende Begriffe. Diese rezitieren und singen die Texte – entweder memorierend oder aus schriftlichen Vorlagen ablesend. Ihr Publikum rezipiert – in den meisten Fällen wohl eher passiv, Aufzeichnungen in dieser Gruppe sind aber nicht ausgeschlossen. Bis zu dieser Stufe der Textgenese müssen wir mit mehrfachem Wechsel des Aggregatzustandes rechnen. Die Texte wechseln ihr ,Dasein‘: einmal finden sie sich fixiert auf Wachs oder Pergament, dann wieder im ephemeren Zustand der Oralität; vom einen in den anderen Zustand kann es mehrfach wechseln. Es folgt nun aber eine Phase der Texttradition, die immer deutlicher von Schriftlichkeit geprägt ist. Erste Katalysatoren dürften Textsammler sein. Es sind dies Mitglieder eines Kulturbetriebes, die, zumeist gegen Ende des 13. Jahrhunderts, vermehrt im 14. Jahrhundert anzutreffen, ein kulturkonservatorisches Interesse entwickeln, so, als ob sie dem wechselhaften Leben der Texte mehr Stabilität und ,Sicherheit‘ verleihen wollten. Diese Sammler suchen Texte oder lassen suchen. Dabei greifen sie, zwangsläufig, auf alles zurück, was sie finden können: darunter mögen schriftliche Aufzeichnungen sein, die noch auf den Autor der Texte zurückgehen, sicher aber auch solche aus dem Umfeld von Nachsängern und Rhapsoden. Möglicherweise lassen sich die Sammler aber auch von Personen informieren, die den einen oder anderen Text nur ,im Kopf‘ haben – ähnlich wie die Grimms sich für ihre Sammlung Märchen von Erzählerinnen diktieren ließen. Das gefundene Textmaterial überantworten sie dann wohl Redaktoren, die es ordnen, die es vorab lesen, die gegebenenfalls Korrekturen vornehmen, die – in Lyrikhandschriften häufiger zu finden – Platz für mögliche Nachträge freizulassen anordnen. Die Tätigkeiten dieser Redaktoren, das ist evident, ähnelt derjenigen eines Editors modernen Zuschnitts. Die Redaktoren schließlich geben ihr Material in eine Schreibstube und lassen es dort in eine neue schriftliche Form überführen. Der Schreiber, teils ein bloßer mechanisch arbeitender Kopist, teils aber auch mitdenkend, verbessernd, zuweilen verschlimmbessernd, stellt die vorerst letzte Instanz dar, die zu dem führt, was wir heute als Basis für unsere Textausgaben heranziehen: die Handschriften. Mit den Worten ,Schreiber‘ und ,Handschrift‘ wird auch sprachlich deutlich, daß wir uns nun in einer Phase reiner Schriftlichkeit befinden. Es mag sein, daß aus den Handschriften heraus im 14., 15., 16. Jahrhundert die Texte noch einmal in einen mündlichen Zustand überführt wurden – doch er hat keine uns bekannte Wiederverschriftlichung erfahren.
Zum Verhältnis von Autor-Text und Redaktor-Text
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Ich sagte gerade, daß der Schreiber die ,vorerst letzte‘ Instanz sei. Es mag in einzelnen Fällen vorkommen, daß nach der Fixierung des Textes durch einen Schreiber der Redaktor oder gar der Sammler und Auftraggeber das fertige Produkt kritisch durchsieht und Korrekturen anmerkt – die sich meist als Marginalnotizen in den Handschriften wiederfinden. Man sieht: Alle Beteiligten sind am Codex in Form einer editorischen Teamarbeit tätig: Es wird gesucht, gesammelt, ausgewählt, abgeschrieben, zensiert, aktualisiert, entaktualisiert, radiert, korrigiert, ergänzt, getilgt: harte Arbeit am Text. Dieser so hergestellte Text ist fixiert in heute noch greifbaren Handschriften und wird zur Grundlage unserer Textausgaben: Der im Mittelalter ,edierte‘ Text wird erneut ,ediert‘ – in älterer Zeit bekanntlich mit der Maßgabe, zum Autortext zurückzufinden, in jüngerer Zeit eher mit dem bescheideneren Ziel, die positiven Textträger sinnvoll und benutzerfreundlich zu dokumentieren.
2. In den 1960er Jahren griff eine Art ,methodological turn‘ in der germanistischen Mediävistik, besonders in der Editionsphilologie. Die ,New Philology‘-Debatte tat das ihrige.1 Das Ergebnis heute ist, daß wir eine reiche und fruchtbringende Varianzforschung beobachten können, in der Lyrik2 ebenso wie in der Epik.3 Trotzdem stehen wir noch am Anfang einer philologischen Entwicklung, deren Konsequenzen auf das tägliche Geschäft der Interpretation und der Literarhistoriographie noch wenig konturiert sind.4 1
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Vgl. u.a. Rüdiger Schnell: Was ist neu an der ,New Philology‘? Zum Diskussionsstand in der germanistischen Mediävistik. In: Alte und neue Philologie. Hrsg. von Martin-Dietrich Gleßgen und Franz Lebsanft. Tübingen 1997, S. 61–95 und Ingrid Bennewitz: Alte „neue“ Philologie? Zur Tradition eines Diskurses. In: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hrsg. von Helmut Tervooren und Horst Wenzel (Zeitschrift für deutsche Philologie 116, 1997, Sonderheft), S. 46–61. Vgl. u.a. Karl Stackmann: Varianz der Worte, der Form und des Sinnes. In: Philologie als Textwissenschaft (Anm. 1), S. 131–149. – Thomas Bein: Fassungen, iudicium, editorische Praxis. In: Walther von der Vogelweide. Textkritik und Edition. Hrsg. von Thomas Bein. Berlin, New York 1999, S. 72–90. – Elmar Willemsen: Walther von der Vogelweide. Untersuchungen zur Varianz in der Liedüberlieferung. Frankfurt/Main (u.a.) 2006. Dazu grundlegend, mit ausführlichem, kritischen Forschungsüberblick: Joachim Bumke: Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin, New York 1996. – Vgl. ferner Arbeiten rund um das Basler Parzival-Projekt von Michael Stolz u.a.: Michael Stolz: Computergestütztes Kollationieren – ein Werkstattbericht aus dem Basler Parzival-Projekt. In: Edieren in der elektronischen Ära. Hrsg. von Gottfried Reeg und Martin Schubert, Berlin 2004, S. 113–126. – Ders.: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Eine elektronische Teiledition als Voraussetzung einer neuen kritischen Ausgabe [mit einer elektronischen Editionsprobe]. In: Mediävistik und Neue Medien. Hrsg. von Klaus van Eickels, Ruth Weichselbaumer und Ingrid Bennewitz. Ostfildern 2004, S. 91–103. Vgl. dazu eine Reihe von einschlägigen Beiträgen in dem von mir betreuten Rahmenthema Nr. 40
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Thomas Bein
Eines aber mag sich allmählich für mediävistische Editionen doch abzeichnen: Ein bloßes Dokumentieren von Handschriften, also ein bloßes Umsetzen mittelalterlicher Handschriften in moderne Drucktypen, gegebenenfalls ein wenig normalisiert und benutzerfreundlich gestaltet, kann nicht das Maß der Dinge sein. Der Editor muß sich nach wie vor intensiv mit den Varianten auseinandersetzen, und er muß versuchen, ein wenig Ordnung in die Varianten zu bringen, d.h. er muß versuchen, sie zu hierarchisieren, will heißen: Entstehungsräume und/oder -zeiten von Varianten auszumachen. Mit einem solchen Wissen, besser gesagt: methodisch reflektiertem Vermuten ausgestattet, kann der Literarhistoriker sinnvoller arbeiten als mit einer unkommentierten Textsynopse, die ihm das gesamte Überlieferungsmaterial scheinbar paritätisch zum beliebigen Gebrauch überantwortet. Für die Neugermanistik hat, mit Blick auf Büchner-Texte und ihre Überlieferungsvarianten, Burghard Dedner einen anschaulichen Beitrag in diese Richtung geleistet; der Titel ,Die Ordnung der Varianten‘ spricht für sich.5 Auch in der Altgermanistik gibt es vielversprechende Ansätze. Ich nenne hier – stellvertretend für noch manche andere – nur Jens Haustein, der die ordnende und synthetisierende Textarbeit eines Redaktors in der Kolmarer Meisterliederhandschrift k (auch unter der Sigle t laufend, so in der Walther-Ausgabe von Cormeau; um 1460) beschreibt6; Michael Stolz, der für die Parzival-Überlieferung die Instanzen ,Autor‘, ,Schreiber‘ und ,Editor‘ neu in den Griff zu bekommen versucht7; Christoph Fasbender, der hinter charakteristischen Begriffsvarianten in Kleinepen, die im cpg 341 überliefert sind, einen konzeptionell in Vorlagen eingreifenden Schreiber vermutet8; und Martin J. Schubert, der sich an eine Typologie von Schreibereingriffen gemacht hat.9 Die Beiträger können anschaulich zeigen, welches die Überlieferungsgeschichte erhellende Licht von einer intensiven Diskussion von Textvarianten ausgehen kann.10
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„Überlieferungsgeschichte – Textgeschichte – Literaturgeschichte“ im Jahrbuch für Internationale Germanistik (in den Jahrgängen 2003–2005). Vgl. Burghard Dedner: Die Ordnung der Varianten. Erörtert aufgrund von Büchner-Texten. In: editio 19, 2005, S. 43–66; eine schöne Grafik auf S. 48, in der unterschiedliche Typen von Textvarianten im Spannungsfeld von Diachronie und editorischer Relevanz verortet werden. Vgl. Jens Haustein: Walther in k. In: Lied im deutschen Mittelalter. Überlieferung, Typen, Gebrauch. Chiemsee-Colloquium 1991. Hrsg. von Cyril Edwards, Ernst Hellgardt und Norbert H. Ott. Tübingen 1996, S. 217–226. Vgl. Michael Stolz: Autor – Schreiber – Editor. Versuch einer Feldvermessung. In: editio 19, 2005, S. 23–42. Vgl. Christoph Fasbender: hochvart im Armen Heinrich, im Pfaffen Amis und im Reinhart Fuchs. Versuch über redaktionelle Tendenzen im Cpg 341. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 128, 1999, S. 394–408. Vgl. Martin J. Schubert: Versuch einer Typologie von Schreibereingriffen. In: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Bd. 7, 2002, H. 2: Der Schreiber im Mittelalter. Hrsg. von Martin J. Schubert, S. 125–144. In allen Beiträgen sind zahlreiche weiterführende Literaturhinweise zu finden.
Zum Verhältnis von Autor-Text und Redaktor-Text
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3. Hier möchte ich anknüpfen und einige wenige ausgewählte Varianten aus der Walther-Überlieferung diskutieren und zu zeigen versuchen, mit welcher Spannbreite zu rechnen ist: auf der einen Seite nämlich Varianten zu finden, die wohl niemals mehr einem bestimmten Raum in der anzunehmenden Textgeschichte zugeordnet werden können, auf der anderen Seite aber Varianten anzutreffen, deren Entstehung sehr wahrscheinlich einem ,medialen switch‘ oder einem anderen sekundären Ereignis zu verdanken ist. Zunächst sei aber noch auf ein begriffliches, vielleicht auch oder nur metasprachliches Problem hingewiesen: Ich spreche von ,Redaktoren‘ und ,Schreibern‘, die am Textüberlieferungsprozeß beteiligt sind. Es sind dies Bezeichnungen, denen eine definitorische Schärfe fehlt. Schubert hat darauf bereits treffend hingewiesen.11 Es wird, so mein Eindruck, nur in sehr seltenen Fällen möglich sein, zwischen einem Schreiber und einem Redaktor zu unterscheiden, wenn man denn intendierte, sinnvolle, planvolle Varianten ausmacht, die man nicht dem Autor zurechnen möchte. Am ehesten kann man wirkliche Schreibfehler dem Schreiber zuweisen, also ausgelassene Zeilen, Dittographien, Haplographien usw. Zuweilen mag es auch Fälle geben, in denen man die Genese einer durchaus verständlichen, ,sinnvollen‘ Variante einem Lesefehler zuschreiben kann, wie er häufiger dort auftaucht, wo ein Schaft-s oder f der Vorlage als f bzw. als Schaft-s verlesen wird, so daß Varianten wie ,füeze/g(s)üeze‘ das Ergebnis sind. Ähnlich steht es um mögliche Verlesungen bzw. fehlende Kennzeichnungen von Diphthongen, die zu unbeabsichtigten lexikalischen Varianten führen können. Ein schönes Beispiel findet sich in Ton 18 Walthers von der Vogelweide. Im 3. Vers einer Strophe (in B und C ist es die erste, in E die zweite12) können wir folgende Variante beobachten; der 4. Vers ist als Kontext wichtig zu beachten: B C E
v s togenliche stat min h ze ho . v togenliche stat min herze ho . – tugentliche stat min hertze fro . (Vers 3)
B C E
was tov gt ze der welte ain rve mig man . v e wc tog zer welte ein rvmic man . o waz tauc zvr werlde ein rve mic man . (Vers 4)
11 12
Vgl. Schubert (Anm. 9), S. 127ff. Im folgenden spreche ich mehrmals über eine Reihe von Lyrikhandschriften; hier die SiglenAuflösung: A: Kleine Heidelberger Liederhandschrift, um 1270; B: Weingartner Liederhandschrift, 1. Viertel 14. Jahrhundert; C: Große Heidelberger Liederhandschrift, um 1300 (Grundstock) bis um 1330/40; E: Würzburger Liederhandschrift. um 1345–1354; F: Weimarer Liederhandschrift, 3. Viertel 15. Jahrhundert; G: Fragment, Mitte 14. Jahrhundert; O: Fragment, um 1300.
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Thomas Bein
In B und C ist das Herz des sprechenden Ich ,heimlich‘ (tougenliche) hoch gestimmt, in E ist das Herz ,in tugendhafter Weise‘ (tugentlichen) froh gestimmt. Beide Lesarten sind vom Kontext her möglich, wenngleich die BC-Lesart wohl sicher die primäre ist, denn der rüemic man (ein ,Prahlhans‘) im 4. Vers stellt inhaltlich eine deutliche Opposition zu tougenlıˆche dar, deutlicher in jedem Fall als zu tugentliche. Ich stelle mir die Varianzgenese so vor, daß im Verschriftlichungsprozeß hin zur Hs. E eine Diphthongkennzeichnung entweder ausgefallen ist oder aber mißdeutet oder verlesen wurde. Noch in der Hs. B ist der über den Buchstaben o geschriebene Buchstabe v (für den Vokal u) etwas größer als das o auf der Grundlinie, so daß einem Abschreiber möglicherweise der Superskript v eher auffiel als das o. Aus der Silbe tou- oder tov- war sodann tu- geworden, und der Schreiber hat dann ,sinnvoll‘ am Ende der zweiten Silbe den Dental -t ergänzt: tov-gen-liche 〉 tu-gent-liche. Eine gewisse Verwirrung im Zusammenhang mit dem Diphthong mag auch dadurch noch verstärkt worden sein, daß im Folgevers 4 mit dem Verb tougen noch einmal Diphthongkennzeichnungen in Erscheinung traten. Wenn ich im folgenden also von ,Schreibervarianten‘ spreche, dann meine ich damit vorrangig solche, die sehr deutlich in den letzten Prozessen der Verschriftlichung zu suchen sind, und zwar bei einer Verschriftlichung, die bereits auf Schriftlichkeit aufbaut (oder per Diktat vonstatten geht). Andere Arten von wahrscheinlich nicht autorisierter Varianz möchte ich eher der Instanz des Redaktors zuweisen,13 einer Instanz, die gleichsam eine Mediatorrolle innehat: sie erhält ihr Textmaterial aus Zeiten und Räumen, die noch stark von einer Bimedialität geprägt sind, und organisiert nun die Überführung des Materials in die fixe Schriftlichkeit, aus der heraus die Texte nicht mehr entlassen werden – zumindest nicht mehr in einer für uns irgendwie erkennbaren und textkritisch relevanten Weise.14 13
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Ähnlich spricht auch Haustein (Anm. 6) stets von einem Redaktor, wenn er etwa für eine hierarchisierende Töneanordnung in der Handschrift keinen Urheber festmachen möchte oder wenn er von einem bewußten, literarisch produktiven Umgang mit Textmaterial spricht. Einige Literaturhinweise zum Schreiber/Redaktor im Mittelalter: Albrecht Classen: Spätmittelalterliche Frauen als Schreiberinnen und Sammlerinnen von volkssprachlichen Liedern. Ein Beitrag zur feministischen Mediävistik. In: Daphnis 27, 1998, S. 31–58. – Diether Haacke: Schreiberprobleme. Zugleich ein Beitrag zur Erforschung der Nürnberger deutschen Urkunden des 13. Jahrhunderts. In: Beiträge (Tübingen) 86, 1964, S. 107–141. – Freimut Löser: Meister Eckhart in Melk. Studien zum Redaktor Lienhart Peuger. Mit einer Edition des Traktats Von der sel wirdichait vnd aigenschafft. Tübingen 1999. – Ralf-Henning Steinmetz: Autoren – Redaktoren – Editoren: Über den Umgang mit Lachmanns Walther-Liedern 117,29 und 118,12 und die Konsequenzen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 116, 1997, S. 352–369. – Of the Making of Books: Medieval Manuscripts, Their Scribes and Readers. Essays Presented to M. B. Parkes. Ed. by P. R. Robinson and Rivkah Zim. Aldershot, Hants (u.a.) 1997. – Ursula Schaefer: Von Schreibern, Philologen und anderen Schurken. Bemerkungen zu New Philology und New Medievalism in den USA. In: Das Mittelalter 5, 2000, H. 1: Mediävistik als Kulturwissenschaft. Hrsg. von Wilhelm G. Busse und Hans-Werner Goetz, S. 69–82. – Le statut du scripteur au Moyen Age. Re´unis par Marie-Clotilde Hubert. Paris 2000. – Paul Gerhard Schmidt: Probleme der Schreiber – der Schreiber als Problem. (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft
Zum Verhältnis von Autor-Text und Redaktor-Text
11
4. Ich möchte im folgenden einige Beispiele varianztypologisch diskutieren: a) Sinnneutrale Varianten: möglicherweise bedingt durch memorierenden Textvortrag Es ist auffällig, daß ein Großteil der in der handschriftlichen Überlieferung anzutreffenden Varianten durchaus sinnneutral ist; semantische Differenzen sind zuweilen kaum auszumachen. Insbesondere trifft das auf Varianten im Bereich der Modalverben zu. Gerade dann aber, wenn mit einer lexikalischen Variation keine Sinnänderung bewirkt wird, muß man sich fragen, warum überhaupt eine Variante entstanden ist. Schauen wir uns zur Illustration eine Stelle in der Überlieferung des Liedes 31 Walthers von der Vogelweide an. Das Ich spricht die personifizierte Minne an und sagt, daß es ihretwegen seinen Verstand verloren habe. Dann folgt die rhetorische Frage: Hs. Hs. Hs. Hs.
A: wie kvnde ich ane gin genegin C: wie sol ich ane gin genegen E: wie mac ich ane gin genegen F: Wie mocht ich ane gin genegen
Die semantischen Differenzen halten sich in engen Grenzen; es ist nicht damit zu rechnen, daß die Verben mit Blick auf eine Sinnveränderung ausgetauscht wurden. Näher liegt daher die Annahme, daß bei einem mündlichen, memorierenden Vortrag des Textes genau diejenigen Textbausteine spontan ausgewechselt werden konnten (meist wohl unbewußt), die weitgehend sinnneutral waren. Ich würde diese Art von Varianz also am ehesten auf der Stufe der Autor- bzw. Nachsängeraufführung eines Textes festmachen. Sie einem Schreiber zuzurechnen, halte ich eher für unwahrscheinlich, besonders dann, wenn er von einer schriftlichen Vorlage abschreibt. Etwas anders mag es liegen, wenn dem Schreiber diktiert wird, er also Verseinheiten memorieren muß – hier könnten ähnliche Phänomene wie beim Textvortrag zu veranschlagen sein. b) Rhetorik-Varianten: möglicherweise bedingt durch eine Veränderung des Aggregatzustandes des Textes In Walthers Lied 31 lautet in einer, in den Handschriften unterschiedlich positionierten Strophe (Hs. A: 5; Hs. B: 1, Hss. CE: 4, F: 2) der 4. Vers folgendermaßen: an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main; 31,5) Stuttgart 1994. – Aktuell und ergiebig ist schließlich der Sammelband: Der Schreiber im Mittelalter. Hrsg. von Martin J. Schubert. Berlin 2003 mit zahlreichen einschlägigen Beiträgen.
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Thomas Bein o
A: waz welt ir dc ich des nv tv B: nv ratent frv, nt was ich es tvo C: in weis was ich dar vmbe tvo e o E: ichn weiz waz ich dor vmme tv F: ich waiß was ich dorumb thu Der Strophenkontext ist folgender: Ein sprechendes Ich beklagt sich über den Umstand, daß die Saelde (das personifizierte Glück) es nicht beachtet, ja sich geradezu von dem Ich abwendet. Die Varianten in V. 4 sind zunächst zwei Großgruppen zuzuordnen: AB steht gegen CEF; zwar gibt es zwischen A und B lexikalische Varianten (Verb; Pronomen/Nomen), aber A und B haben gegenüber CEF die Redeweise der Apostrophe an ein (konkretes oder imaginiertes) Gegenüber gemein, während in CEF das Ich gleichsam nur zu sich selbst spricht – wie in einem inneren Monolog. Ich halte es für sehr gut denkbar (zu beweisen ist es natürlich nicht), daß die Varianten AB einen primären Status des Liedes repräsentieren, der noch stark von der Pragmatik der Aufführung geprägt ist. Wenn der Dichter/Sänger auf der Bühne steht, vor einem Publikum, kann er den Klagegestus gut verstärken, indem er das sprechende Ich Kontakt mit dem Publikum aufnehmen läßt. Wenn im Laufe der Textgeschichte eine solche pragmatische Situation aber nicht mehr oder zumindest immer weniger häufig gegeben ist, mögen Textvermittler, ich nenne sie jetzt einmal Redaktoren, solche Stellen verändert haben mit der Tendenz, die Redeweise zu neutralisieren, sie also abzukoppeln von einer Aufführungssituation. c) Lexikalische und Konstruktionsvarianten: möglicherweise bedingt durch redaktionelle, die (metrische) Form nicht berücksichtigende Eingriffe Es gibt in der Lyriküberlieferung nicht wenige Varianten, die – für sich betrachtet – ,sinnvoll‘ sind, d.h., die man verstehen kann, die einen Text und seinen Kontext nicht entstellen, die aber sehr wahrscheinlich sekundären Status haben, weil die Variante ohne Rücksicht auf das erkennbare Formgerüst entstanden ist. Ein Beispiel aus Ton 18 Walthers von der Vogelweide: Die in den Handschriften C und E an dritter Stelle überlieferte Strophe hat folgenden Wortlaut: C E
Maniger truret de– doch lieb beschiht . Manigs truret dem doch wol gegchiht . (Vers 1)
B C E
––––––––– o ich han aber iemer hohen mvt . ich han aber immer hohen muo t . (Vers 2)
Zum Verhältnis von Autor-Text und Redaktor-Text
C E
– vn enhabe doch herzeliebel niht . hertqe liebes des enhan ich niht . (Vers 3)
C E
das ist mir also lihte guo t . dan ist mir als lihte guo t . (Vers 4)
C E
herzelieb gwc ich deg noch ie gelach . hertneliebes gwaz ich des noch ie gewan . (Vers 5)
C E
s da wc h zeleit mir bi . da was hertneleide bi . (Vers 6)
C E
lieggen mich gedanke fri . liennen mich gedanke fri . (Vers 7)
C E
sone wigte ich niht vmb vngemach . so weste ich niht ve m vngemach (Vers 8)
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Es gibt mehrere Varianztypen: lexikalische Varianten, Präfixvarianten, Syntaxvarianten, Negationsvarianten (jeweils fett hervorgehoben). Mich interessiert aber hier im Besonderen die Varianz in V. 5 und 6. Hs. C formuliert: ,Was immer ich von der Herzensfreude gesehen habe, so war doch immer Herzensleid für mich dabei‘. Hs. E formuliert: ,Was auch immer ich an Herzensfreude erfahren/gewonnen habe, es war immer Herzensleid dabei‘. Beide Lesarten sind sinnneutral, obwohl die Differenz zwischen den Verben sehen und gewinnen recht groß ist. Die Sinnneutralität wird dann deutlich, wenn man beide Verse in Augenschein nimmt. In V. 5 in C sieht das Ich die Herzensfreude nur – gleichsam von außen, ohne daß eine eigene Betroffenheit deutlich würde; diese aber kommt in V. 6 ins Spiel durch den Dativ des Personalpronomens mir. Die Variante in E bringt die Ich-Betroffenheit bereits im 5. Vers zum Ausdruck, denn hier hat das Ich Herzensfreude nicht nur gesehen, sondern ,gewonnen‘, also erfahren; fast folgerichtig kann nun im V. 6 das Pronomen ausgelassen werden, denn die Ich-Betroffenheit ist schon deutlich gemacht. So betrachtet kann man dem Bearbeiter von E gründliche, reflektierte Textarbeit unterstellen. Aber er hat einen wirklichen Fehler begangen, denn mit dem Austausch des Verbs (gewan für gesach) tritt eine Reimstörung auf; das entsprechende Reimwort in E lautet, wie in C, ungemach. Die Textvarianz dürfte also mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Zeitpunkt entstanden sein, als das Lied kaum oder gar nicht mehr laut vorgetragen wurde, zu einem Zeitpunkt, da die (metrisch-rhythmische) Form eines Textes kaum mehr wahrgenommen und geschätzt wurde. Das Interesse richtet sich deutlich
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Thomas Bein
stärker auf den Text und seinen Sinn, der, wie in diesem Fall, ohne Rücksicht auf die Form verändert wird – vielleicht motiviert vom Bestreben, den Textsinn deutlicher und eindeutiger zu machen.15 d) Lexikalische und Konstruktionsvarianten: möglicherweise bedingt durch fortschreitende Arbeit am Text und Modifikationen von Textideologemen Mein letztes Beispiel stellt die Überlieferungsvarianz der ersten Strophe des berühmten Minneliedes ,Herzeliebez vrowelıˆn‘ (Ton 26) in den Mittelpunkt, die sehr geeignet ist, die Grenze aufzuzeigen, jenseits der eine einigermaßen wahrscheinlich zu machende Verortung von Varianz kaum noch möglich erscheint. Zunächst der Text der ersten Strophe in den vier bzw. ab V. 5 sechs überliefernden Handschriften: A C E G O
Herze liebez vrowelin Herzeliebe frowe mir. Hertqeliebeq frauwelin Minn– echleicheq vrowelein. [fehlt] (Vers 1)
A C E G O
– s o got gebe dir hvte vn iem gvt. – got gebe dir hu´te vn iemer guo t. e – s o got der gebe dir hute vn imm gut got der geb dir hevte gvet. [fehlt] (Vers 2)
A C E G O
kvnd ich baz gedenken din kvnde ich wol gegprechen dir. koe nde ich baq gedenken din. [fehlt] [fehlt] (Vers 3)
A C E G O
des het ich willeclichen mvo t des hete ich willekliche– n mvo t. o des het ich willenclichen mut des het ich willechleichen mvet. [...] ich willichliche– mvo t (Vers 4)
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Gerade für E hat man schon früh eine „eklatante [...] Gleichgültigkeit gegenüber der Form“ festgestellt, die sich häufig bemerkbar macht in überlangen Versen (mit bis zu 3 Mehrsilben, bezogen auf das zu Grunde liegende Tonschema) und eben in Reimstörungen. Vgl. Gisela Kornrumpf: In: Die Lieder Reinmars und Walthers von der Vogelweide aus der Würzburger Handschrift 2° cod. ms. 731 der Universitätsbibliothek München. I Faksimile. Mit einer Einführung von Gisela Kornrumpf. Wiesbaden 1972, bes. S. 15–18, Zitat S. 15.
Zum Verhältnis von Autor-Text und Redaktor-Text
A C E G O
waz mach ich nv gagen me wc lol ich dir gagen me. wan lol ich dir gagen me wan mag ich dir gegagn me. waz lol ich dir gagen me (Vers 5)
A C E G O
wan dc dir niema– holds igt owe da v;-o igt mir vil we. – wan dc dir nieman holder igt danne ich da vo igt mir we. e wanne dan dir nieman holder igt dor vmme igt mir dicke we wan dan dir niem holdir igt. owe da von igt mir go we wen daz dir neyman holder igt owe da von igt mir go we (Vers 6)
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Die Strophe bietet zahlreiche Varianztypen: – leichte syntaktische Varianten in V. 2; – weitgehend sinnneutrale Varianten im adverbialen Bereich in V. 3 und 6; – sinnneutrale Varianten bei den Modalverben in V. 5. Diese Varianten dürften alle ihre Genese beim Wechsel des Aggregatzustandes des Textes erfahren haben: es sind spontane Varianten, die sich beim mündlichen Vortrag leicht ergeben und dann wieder schriftlich fixiert werden. Etwas anders aber dürfte es um die lexikalischen und semantischen Varianten im ersten Vers stehen. Die Handschriften gehen in zentralen Punkten auseinander. Literaturgeschichtlich bekannt ist das Lied in der AE-Version: Walther, so die Deutungen, verändere hier das klassische Minnekonzept Reinmarscher Prägung, modifiziere das Programm der Hohen Minne, indem er die vrowe, Zentralbegriff des Hohen Sangs, mit einem Diminutivsuffix versehe und damit gleichsam vom Podest der Hypostase stürze. Und noch weiter: Als Attribut für das vrowelin wählt Walther die Qualität der herzeliebe; damit würde Walther, so die meisten Deutungen, dem traditionellen Minnekonzept eine Absage erteilen: nicht die einseitige minne sei mehr erstrebenswert, sondern die gegenseitige herzeliebe.16 Gegen solche Deutungen ist nun auch nichts einzuwenden, denn sie können sich immerhin auf zwei Handschriften stützen, die genau diesen gedeuteten Text tradieren. Aber zwei andere Handschriften weichen charakteristisch ab: In C ist nicht vom frowelin die Rede, sondern – traditionell – von der frowe. Da nun die Reimsilbe –ıˆn fehlt und statt dessen das Pronomen mir im Reimbereich steht, muß der korrespondierende Vers 3 umgeändert werden: statt gedenken din steht 16
Die Literatur zum Lied ist jetzt gut greifbar in: Manfred Günter Scholz: Walther-Bibliographie 1968–2004. Frankfurt/Main 2005. – Vgl. auch Fritz Peter Knapp: Amor perfectus et libratus utrinque. Walthers Ideal der gegenseitigen Liebe im internationalen literarhistorischen Kontext. In: Thomas Bein, Elke Brüggen (et alii) (Hrsg.): Mit clebeworten underweben. Festschrift für Peter Kern. Frankfurt/Main (u.a.) 2007, S. 87–96.
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Thomas Bein
hier gesprechen dir. Wie ist diese Varianz zu erklären, wer hat sie verursacht? An eine spontane Variation des Wortlauts während einer Aufführung wird man nicht denken, dazu sind die zu bedenkenden Konsequenzen aufgrund der entstehenden Reimstörung zu groß. Es muß doch eher von einer planvollen Textänderung ausgegangen werden. Wenn ich von ,Änderung‘ spreche, dann setze ich freilich einen anderen Referenztext voraus und gehe nicht davon aus, daß die C-Lesart die ursprüngliche ist. Das ist keineswegs evident, ich neige aber zu dieser Ansicht auf Grund der doch sehr merkwürdigen Syntax im C-Vers 1, die man nur mit etwas Mühe verstehen kann im Sinne von ,Herzensliebe edle Dame für mich‘ (= ,Meine herzensliebe edle Dame‘). Und auch der veränderte V. 3 scheint mir – im Kontext der Strophe betrachtet – eher sekundär zu sein. Das liegt nicht am Verb, wohl aber am Adverb wol, hier im Positiv, während die anderen Handschriften den Komparativ baz überliefern, der viel besser zum Rest der Strophe paßt, denn es geht ja darum, daß das sprechende Ich auslotet, ob es sich selbst im Lobpreis der vrowe/des vrowelin noch selbst übertreffen kann. Ich glaube daher, daß ein Nachsänger, Interpret oder auch ein Redaktor die ,revolutionäre‘ Rede vom ,herzelieben frowelin‘ entschärfen und wenigstens zur traditionellen Bezeichnung frowe zurückkehren wollte. Diese Manipulationen erkaufte er mit einem syntaktischen Wagnis und hatte ferner den Impetus der Folgeverse nicht deutlich im Blick. Interessant ist nun auch die Variante in Hs. G: An der Stelle des neuen ,Programmwortes‘ herzelieb überliefert sie das traditionelle Attribut minneclich. Hier wird es sehr schwer, einen Entstehungsraum für diese Variante auszumachen, und hier sind meines Erachtens die Grenzen einer Varianzinterpretation erreicht. Es lassen sich mehrere Szenarien denken: 1. Ähnlich wie im Falle von C mag einem Interpreten oder einem Redaktor die herzeliebe zu progressiv gewesen sein, und er hat zum konservativen minneclich geändert. 2. Denkbar ist aber auch, daß sich hinter der G-Lesart eine ganz frühe Stufe der Textgenese verbirgt: Walther wagt sich an die Diminutivform frowelin, weist diesem ,jungen, adligen Mädchen‘ aber noch das herkömmliche Attribut minneclich zu. Erst in einem zweiten oder dritten Bearbeitungsdurchgang verschärft er auch noch diesen Textbereich, vielleicht, um seinem Anliegen, die Ideologie der ,Hohen Minne‘ zu verändern, mehr Nachdruck zu verleihen. Ich neige zwar zum ersten Szenario; eine Priorität läßt sich m.E. aber nicht argumentativ überzeugend dartun.
5. Ich fasse zusammen: Anhand der Beispiele sollte Folgendes deutlich geworden sein: Die Handschriften, die für uns Philologen die Basis für Texteditionen dar-
Zum Verhältnis von Autor-Text und Redaktor-Text
17
stellen, sind ihrerseits Ergebnis eines teilweise hochkomplexen Prozesses der Textkonstitution. Betrachtet man die Handschriften als mittelalterliche und teilweise frühneuzeitliche Texteditionen (und das kann man durchaus tun), so zeigt sich, daß mehrere Instanzen am Zustandekommen der Edition beteiligt sind. Diese Instanzen sind für uns in den meisten Fällen nicht mehr greifbar, aber sie haben Spuren hinterlassen. Diese Spuren zu sichten und zuzuordnen ist eine der schwierigen Aufgaben des Texthistorikers, des Textkritikers. Die Ergebnisse, so wenig sie auch in letzter Konsequenz verifizierbar oder falsifizierbar sein werden, sollten das Erscheinungsbild moderner Texteditionen mit formen. Dort, wo Hierarchisierungen von Varianten möglich erscheinen, sollte eine Textausgabe dies verdeutlichen, um den Benutzer der Edition zu orientieren, auf welcher Stufe der Textgeschichte er sich bei Verwendung einer bestimmten Textfassung mutmaßlich bewegt. Dann kann auch ganz selbstbewußt dem hin und wieder zu vernehmenden Vorwurf an moderne Editoren begegnet werden, nur Abschreiber von Abschreibern zu sein.17
17
Vgl. Stolz (Anm. 7), S. 26f., der einige Vorwürfe solcher Art referiert.
Bala´sz J. Nemes „Eya herre got, wer hat dis buoch gemachet?‘ Zum Umgang von Editoren und Redaktoren mit der ,Autorin‘ Mechthild von Magdeburg
Mechthilds von Magdeburg Fließendes Licht der Gottheit gilt in der Literaturgeschichte als der erste Offenbarungstext einer Mystikerin in deutscher Sprache. Solche Etikettierung ist bei der literarhistorischen Einordnung von Autor und Werk sicherlich richtig und wichtig, doch sie täuscht darüber hinweg, daß wir es mit einer komplizierten Textgeschichte und einer Überlieferung zu tun haben, die einen nicht gerade geringen zeitlichen und räumlichen Abstand von Ort und Zeit der Textgenese aufweist. Diese Umstände lassen Autor und Werk, die beiden Größen der klassischen Literarhistoriographie, diskutabel erscheinen. Bevor ich auf die mit textgeschichtlichen Problemen eng verbundene Diskussion der Verfasserschaft des Fließendes Lichts näher eingehe, möchte ich die Überlieferungslage kurz skizzieren. Der wohl in Magdeburg bzw. im Zisterzienserinnenkloster Helfta bei Eisleben in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandene Text ist in einer einzigen, der so genannten Einsiedler Handschrift aus dem dritten Viertel des 14. Jahrhunderts vollständig überliefert.1 Die restliche Überlieferung umfaßt Handschriften, die noch später als der Codex Einsidlensis entstanden sind und lediglich mehr oder weniger umfangreiche Auszüge des Gesamttextes bieten.2 Sie alle gehen auf die alemannische Umschrift des Fließenden Lichts zurück, die nach einer mittelniederdeutschen Vorlage in Basel zwi1
2
Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 277. Zur Datierung siehe Helen Webster: German Mysticism in Fourteenth-Century Basel: Gender and Genre in Einsiedeln Stiftsbibliothek MS 277. Diss. Oxford 2005, S. 28–110, bes. S. 37 und 109. Zur handschriftlichen Überlieferung siehe zuletzt Sara S. Poor: Mechthild of Magdeburg and Her Book. Gender and the Making of Textual Authority. Pennsylvania 2004 (The Middle Ages Series), S. 79–172 und 205–213. Die Liste der deutschsprachigen Mechthild-Handschriften ist um r drei weitere zu ergänzen: Salzburg, Stiftsbibliothek St. Peter, Cod. b III 30, 50 (Sa), Privatbesitz von Joseph Maria von Radowitz, Karlsruhe (R) und Bonn, Bibliotheca Ceylanica-Kessler, Ms. 7 (Bo). Sa enthält die in die Spruchsammlung des Pseudo-Engelhardt von Ebrach eingegangenen Exzerpte aus dem Fließenden Licht. Siehe dazu jetzt Karin Schneider: Pseudo-Engelhardt von Ebrach, Das Buch der Vollkommenheit (DTM 86). Berlin 2006, S. 17 (Nr. 32) und S. 60f. (Nr. 133). Im Falle der verschollenen Handschrift R handelt es sich um eine bislang weitgehend übersehene Exzerptüberlieferung von Kapitel III.10, abgedruckt bei Franz Joseph Mone: Schauspiele des Mittelalters. Bd. 1. Karlsruhe 1846, S. 129–131. Bo befindet sich im Privatbesitz von Oliver Kessler (Bonn). Herr Kessler hat mir über die Handschrift brieflich folgendes mitgeteilt: Es handelt sich um ein Einblattfragment, das als spärlicher Rest einer ursprünglich wohl vollständigen Handschrift des Fließenden Lichts als Hintergrund eines Bildrahmens vermakuliert war. Überliefert werden hier Kapitel aus dem ersten Buch. Von der Seitengestaltung her sieht der Neufund dem Codex Einsidlensis ähnlich. Beschreibstoff ist hier wie dort Pergament.
Zum Umgang von Editoren und Redaktoren mit der ,Autorin‘ Mechthild von Magdeburg
19
schen 1343 und 1345 verfertigt wurde. Diese Überlieferungssituation wird in der Forschung gewöhnlich wie folgt resümiert:3 Alle auf uns gekommenen Textzeugen repräsentieren die Basler Fassung des ursprünglich im elbostfälischen Dialekt geschriebenen, leider nicht mehr erhaltenen Originals der Autorin Mechthild von Magdeburg. Begriffe wie ,Autor‘, ,Original‘, ,Fassung‘, im weiteren Verlauf wird auch noch von ,Bearbeitung‘ die Rede sein, haben sich durch die Methodendiskussion der letzten Jahre und Jahrzehnte ins Zentrum des editions- und literaturwissenschaftlichen Interesses gerückt. Die Folge dieser Diskussion ist, daß selbst in der lange Zeit für theoriefern gehaltenen Altgermanistik niemand mehr von ,Autor‘ und ,Werk‘ bzw. ,Original‘ unbedacht sprechen kann, ohne sich dem Verdacht der methodischen Naivität auszusetzen.4 Dasselbe gilt auch für die Termini ,Fassung‘ und ,Bearbeitung‘: Hans-Jochen Schiewer macht darauf aufmerksam, daß sie infolge der angesprochenen Debatte ihre Unschuld endgültig verloren haben, so daß „aus ,weichen‘ ,harte‘ Begriffe geworden [sind], über deren Bedeutung und Nutzen bei Verwendung jeder Rechenschaft abzulegen hat“.5 Die Mechthild-Philologie hat sich von diesen neueren Entwicklungen innerhalb der Altgermanistik bislang nicht beeindrucken lassen. Sie scheint eine der Bastionen des produktionsästhetisch orientierten Autor- und Werkbegriffes geblieben zu sein. Das wundert insofern, als die erst vor ein paar Jahren erschienene Mechthild-Ausgabe von Gisela Vollmann-Profe den textlichen Bezugspunkt editorisch neu definiert hat:6 Die Neuedition des Fließenden Lichts distanziert sich von dem von Hans Neumann verfolgten produktionsästhetischen, dem mechthildischen Original verpflichteten Editionsprinzip7 und bietet lediglich einen bereinigten Abdruck der Einsiedler Handschrift. Was die Frage nach der Verfasserschaft und dem Status des in Einsiedeln überlieferten Textes betrifft, blieb Vollmann-Profe allerdings Neumann verpflichtet.8 3
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7
Vgl. etwa Dagmar Gottschall: Rezension zu Gisela Vollmann-Profe (Hrsg.): Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit. Frankfurt/Main 2003. In: PBB 127, 2005, S. 298–304, hier S. 300f. Siehe dazu zuletzt Freimut Löser: Postmoderne Theorie und Mittelalter-Germanistik. Autor, Autortext und edierter Text aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht. In: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 2. Hrsg. von Hans Vilmar Geppert und Hubert Zapf. Tübingen 2005, S. 277–294 und Martin Baisch: Was ist ein Werk? Mittelalterliche Perspektiven. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 34, 2002, H. 2, S. 105–125. Hans-Jochen Schiewer: Fassung, Bearbeitung, Version und Edition. In: Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.–3. April 2004. Hrsg. von Martin J. Schubert. Tübingen 2005 (Beihefte zu editio 23), S. 35–50, hier S. 38. Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit. Hrsg. von Gisela Vollmann-Profe. Frankfurt/Main 2003 (Bibliothek deutscher Klassiker 181. Bibliothek des Mittelalters 19). Meine Zitate (Buch-, Kapitel-, Seiten- und Zeilenzählung) beziehen sich auf diese Ausgabe. Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit. Nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung hrsg. von Hans Neumann. Bd. 1: Text, besorgt von Gisela Vollmann-Profe. München (usw.) 1990 (MTU 100) – Bd. 2: Untersuchungen, ergänzt und zum Druck eingerichtet von Gisela Vollmann-Profe. München (usw.) 1993 (MTU 101).
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Bala´sz J. Nemes
Die breite Akzeptanz des Neumannschen Verständnisses der Textgeschichte macht erforderlich, seine Position im Rahmen einer methodischen Grundsatzdebatte zu problematisieren. Dementsprechend soll zunächst auf die Argumentation eingegangen werden, die die bisherigen Editoren des Fließenden Lichts dazu berechtigt hat, die Autorschaft des Einsiedler Textes für Mechthild zu reklamieren, um die überlieferte Textgestalt je nach Standpunkt entweder dem postulierten Original anzunähern (Neumann) oder in ihrer rezipierten Form zu dokumentieren (Vollmann-Profe). Was in beiden Fällen nicht zur Disposition steht, ist die Überzeugung, wir hätten es mit Mechthilds eigenhändig und in eigener Regie niedergeschriebenem Werk zu tun. Eine der wichtigsten und nie hinterfragten Prämissen dieser Auffassung stellt die Marginalisierung von Schreibern, Beichtvätern und Mitschwestern aus dem Umfeld der Textgenese dar, handelt es sich doch um Instanzen, die bei der Diskussion um Autorschaft und Textstatus traditionell dem Autor nachgeordnet bleiben. Mir kommt es dagegen darauf an, den Anteil dieser, wie es im Fließenden Licht selbst heißt, „vroemden henden“ (Fließendes Licht VII.64: 662,11), zu konturieren, da sie als Redaktoren im weitesten Sinne des Wortes am Prozeß der Textkonstituierung beteiligt waren.9 Ich wende mich mit derselben Frage an den Text, mit der sich jeder neue Leser des Fließenden Lichts schon im Vorwort konfrontiert sieht: „Eya herre got, wer hat dis buoch gemachet?“ (S. 18,9) Das Original der Aufzeichnungen Mechthilds steht nicht erst seit der Wiederentdeckung des Fließenden Lichts um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Zentrum des Interesses. Der originale Wortlaut hat bereits die mittelalterlichen Rezipienten beschäftigt, wie sich anhand der Randnotizen des in der Mitte des 14. Jahrhunderts geschriebenen Basler Kodex B IX 11 (Rb) belegen läßt, einer Handschrift, die die Lux divinitatis, die Mitte der 80er, Anfang der 90er Jahre des 13. Jahrhunderts entstandene lateinische Übersetzung des Fließenden Lichts, einzig vollständig überliefert.10 Dieser Kodex ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil er eine frühere Textstufe konserviert – ich werde darauf bei der Frage nach dem postulierten ,Original‘ der Aufzeichnungen Mechthilds zurückkom8
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Vgl. Hans Neumann: Beiträge zur Textgeschichte des Fließenden Lichts der Gottheit und zur Lebensgeschichte Mechthilds von Magdeburg. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen I. Phil.-Hist. Klasse 3 (1954), S. 27–80 und leicht gekürzt in: Altdeutsche und altniederländische Mystik. Hrsg. von Kurt Ruh. Darmstadt 1964 (Wege der Forschung 23), S. 175–239. Eine so umfassende Dokumentation redaktioneller Arbeit, wie sie Hartmut Laufhütte am Beispiel Sigmunds von Birken, eines frühneuzeitlichen Redaktors, vor Augen führte (vgl. seinen Aufsatz in editio 21, S. 50–68), läßt die Mechthild-Überlieferung leider nicht zu. Revelationes Gertrudianae ac Mechthildianae. Bd. 2: Sanctae Mechtildis Virginis Ordinis Sancti Benedicti Liber specialis gratiae accedit Sororis Mechtildis Ejusdem Ordinis Lux divinitatis. Opus ad Codicum fidem nunc primum integre editum Solesmensium O.S.B. monachorum cura et opera [Louis Paquelin]. Paris 1877. Die Neuausgabe der Lux divinitatis wird im Rahmen des Projektes „Texteditionen lateinischer Mystik aus dem Kloster Helfta“ von Ernst Hellgardt, Elke Senne und Bala´sz J. Nemes vorbereitet. Ich zitiere nach dem Typoskript.
Zum Umgang von Editoren und Redaktoren mit der ,Autorin‘ Mechthild von Magdeburg
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men –, sondern auch weil er Zeugnis davon ablegt, daß der deutsche und lateinische Text in Basel, dem Zentrum und Ausgangspunkt der oberdeutschen Mechthild-Überlieferung, bekannt waren und zur gegenseitigen Korrektur bzw. Ergänzung herangezogen werden konnten.11 Aufschlußreich sind dabei manche Randbemerkungen im lateinischen Text, die nicht vom Schreiber, sondern von einem jüngeren Benutzer der Handschrift stammen.12 Diese Glossen machen vor allem auf Abweichungen in den Überschriften des lateinischen Textes aufmerksam und bringen eine genaue Übersetzung der entsprechenden deutschen Überschrift, die mit der Formel „In originali“ angekündigt wird. Der Korrektor hielt demnach den volkssprachigen Text für den ursprünglichen, für das Original.13 Der Ansicht, auf den Originaltext Mechthilds – wenn auch in einer Abschrift des 14. Jahrhunderts – gestoßen zu sein, war auch Gall Morel, Bibliothekar des Einsiedler Benediktinerstiftes: Er hat den nach wie vor einzig vollständigen Textzeugen des Fließenden Lichts nicht nur entdeckt,14 sondern auch in Form eines unkritischen Handschriftenabdrucks 1869 vorgelegt.15 Zwar konnte in der Folgezeit nachgewiesen werden, daß das Überlieferte keineswegs das Original der Aufzeichnungen, sondern nur eine hochdeutsche Übertragung des ursprünglich mittelniederdeutsch geschriebenen Textes darstellt,16 an der Einschätzung 11
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Neumann 1993 (Anm. 7), Bd. 2, S. 208. Daß man der zweisprachigen Existenz des Fließenden Lichts über Basel hinaus bewußt war und daß deutscher und lateinischer Text durchaus gemeinsam rezipiert wurden, zeigt auch eine bislang übersehene Streuüberlieferung der Lux divinitatis in einer Handschrift, die einst der Erfurter Kartause Salvatorberg gehörte: Växjö, Stadsbiblioteket, r Ms. 4° 401, 219 (olim: Stifts- och läroverksbiblioteket), siehe Paul Lehmann: Skandinavische Reisefrüchte. In: Nordisk Tidskrift för Bok- och Biblioteksväsen 22, 1935, S. 20–21 (ich danke Frau Joanna Poslednicka-Johansson von der Stadtbibliothek Växjö für die schnelle Zusendung von Digitalisaten). Zu der Handschrift siehe Bala´zs J. Nemes: Ein wieder aufgefundenes Exzerpt aus Mechthilds von Magdeburg ,Lux divinitatis‘. In: Zeitschrift für deutsches Altertum (zur Publikation angenommen). Neumann 1993 (Anm. 7), Bd. 2, S. 202. Ein gänzlich anderes Bild bietet sich dagegen im 16. Jahrhundert. Der überwiegend anonym verlaufende deutsche Überlieferungszweig scheint seine Produktivität zum Ende des 15. Jahrhunderts völlig eingebüßt und den medialen Wechsel von Handschrift zu Druck verpaßt zu haben. Rezeptionswirksam ist allein der lateinische Text geblieben, wie es der sogenannten Wolhusener Handschrift, einer Rückübersetzung der Lux divinitatis ins Alemannische, zu entnehmen ist. Es gibt gute Gründe, anzunehmen, daß der wohl in Basel arbeitende Übersetzer die Lux divinitatis für Mechthilds eigentlichen Text hielt, siehe dazu Elke Senne: Das Fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg – Die Fassung der sogenannten Wolhusener Handschrift. Text und Untersuchung. Berlin (Mikrofiche) 2002, S. 18 und 34f. Gall Morel: Die Kloster-Bibliothek in Einsiedeln in der Schweiz. In: Serapeum 1, 1840, S. 348–352 und 359–365, hier S. 360 und ders.: Handschriften der Klosterbibliothek zu Einsiedeln. In: Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 8, 1843, S. 736–752, hier S. 742. Die in der Forschung immer wieder anzutreffende Ansicht, die Entdeckung der Einsiedler Handschrift sei Karl Greith (Die deutsche Mystik im Predigerorden [von 1250–1350] nach ihren Grundlehren, Liedern und Lebensbildern aus handschriftlichen Quellen. Freiburg/Br. 1861) zu verdanken, ist ein Irrtum. Offenbarungen der Schwester Mechthild von Magdeburg oder Das fließende Licht der Gottheit. Aus der einzigen Handschrift des Stiftes Einsiedeln hrsg. von P. Gall Morel. Regensburg 1869. Wilhelm Preger: Vorarbeiten zu einer Geschichte der deutschen Mystik im 13. und 14. Jahrhundert. In: Zeitschrift für die historische Theologie 39, 1869, S. 3–145, hier S. 98–100 und ders.:
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der Einsiedler Handschrift als souveräne Textschöpfung einer einzigen Autorpersönlichkeit hat sich jedoch nichts geändert. Von daher wundert es wenig, bereits in der dritten Zeile der Prolegomena der 1990 erschienenen textkritischen Ausgabe auf das Wort ,Original‘ zu stoßen. Es offenbart das editorische Interesse des Herausgebers Hans Neumann, wenn auch nicht den originalen Wortlaut zu rekonstruieren, so doch die Überlieferung auf das postulierte Original hin transparent werden zu lassen.17 Daß die Einsiedler Handschrift genausowenig wie die mittelniederdeutsche Vorlage des Basler Übersetzerkreises das Original selbst ist, steht für Neumann fest. Denn: „Zwischen der Urschrift und der alem. Fassung stand eine Redaktion, die man nach Hinweisen der Textüberlieferung dem langjährigen Seelenführer Mechthilds, Heinrich von Halle zuzurechnen gewöhnt ist.“18 Es stellt sich die Frage, wie sich Heinrichs Redaktion in Neumanns Auffassung zum postulierten Original Mechthilds bzw. zur überlieferten oberdeutschen Fassung der Basler Übersetzer verhält. Neumann geht von der Annahme aus, daß konservativ eingestellte Schreiber und ein den Text mit „behutsamer Pietät“19 behandelnder Basler Übersetzerkreis dafür gesorgt haben, daß das ,Original‘ den Literaturtransfer vom Norden nach Süden weitgehend unversehrt überlebt hat. Seine Ansicht über den behutsamen Umgang mit Mechthilds Werk im Basler Gottesfreundekreis begründet Neumann sowohl mit textkritischen als auch mit psychologisierenden Argumenten. Er hebt einerseits die Verläßlichkeit des Einsiedler Wortlauts gegenüber einer Überlieferung hervor, die „kurze Fetzen aus Mechthilds Werk nur noch als Geröllstücke oder als ganz abgeschliffene Kiesel im Bachbett einer schreibseligen Buchmystik“ bietet.20 Andererseits spricht er sich energisch dafür aus, daß „das seelische Verhältnis des Überliefernden zum Überlieferten“, „Ehrfurcht und Treue als erhaltende Faktoren“ nicht unterschätzt werden dürfen.21 Ein solch pietätvolles Verhältnis zum Text wird auch bei dessen Entstehung postuliert. Demnach soll Mechthilds angeblicher Beichtvater und Redaktor ihrer Schriften, der Dominikaner Heinrich von Halle, bei der Erstveröffentlichung des zunächst nur die Bücher I-V umfassenden Œuvres „ehrfürchtige Treue“22 im Umgang mit den Aufzeichnungen seiner Beichttochter bewiesen haben. Hein-
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Über das unter dem Namen der Mechthild von Magdeburg jüngst herausgegebene Werk Das fließende Licht der Gottheit und dessen Verfasserin. In: Sitzungsberichte der königlichen bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München 2, 1869, S. 151–162, hier S. 153–156. Neumann 1990 (Anm. 7), Bd. 1, S. XI. Die Prolegomena gehen zwar auf Gisela Vollmann-Profe zurück, doch legen sie über die Prinzipien Rechenschaft ab, nach denen Neumann die Ausgabe erstellt hat (siehe das Vorwort von Hans Fromm ebenda, S. VIII). Neumann 1954 (Anm. 8), S. 28. Hans Neumann: Problemata Mechthildiana. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 82, 1948/1950, S. 143–172, hier S. 161. Ebenda, S. 152. Ebenda, S. 144. Neumann 1954 (Anm. 8), S. 39.
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rich wird unterstellt, seine redaktionelle Tätigkeit habe sich auf die Aufteilung des ihm vorgelegten Textkonvoluts in Bücher, die Einfügung von Kapitelüberschriften und die Erstellung einer sauberen, vielleicht kalligraphischen Abschrift, summa summarum auf „Beiläufiges“23 beschränkt.24 Heinrich soll weder in den Wortlaut noch in die auf Mechthild selbst zurückgehende Reihenfolge der Kapitel eingegriffen haben, so daß die Einsiedler Handschrift insgesamt ein zuverlässiges Bild davon liefert, wie die Aufzeichnungen „nach und nach die Pergamentlagen auf Mechthilds Tisch gefüllt haben“.25 Wie man unschwer erkennen kann, tangiert Heinrichs Redaktorenrolle die Autorschaft Mechthilds nicht im Geringsten, wird ihm doch bei der Textgenese lediglich ein „gewisse[r] Anteil“26 zugebilligt. Daher überrascht es nicht, wie selbstverständlich etwa Ernst Becker, einer der Schüler von Hans Neumann, das Original, d.i. die Urschrift Mechthilds, mit der redigierenden Bearbeitung Heinrichs gleichsetzt.27 Auch dem Begriff ,Fassung‘ ist keine terminologische Schärfe abzuverlangen: Wenn Neumann von der Einsiedler Fassung spricht, meint er eine Textgestalt, die trotz überlieferungsbedingter Verderbnisse und des fremden Sprachgewands sehr wohl in der Lage ist, den Status einer späten Abschrift des Originals für sich zu beanspruchen. Daß Fassung und Original für Neumann letztendlich deckungsgleich sind, zeigt sich vor allem an dem Umstand, daß er den Gedanken der Rückübersetzung der in der Einsiedler Handschrift überlieferten Textgestalt ins Elbostfälische, in Mechthilds angenommene Muttersprache, ernsthaft in Erwägung gezogen hat. Diese Idee wurde nur deshalb verworfen, weil die Zielsprache nicht genau bestimmbar ist.28 Offensichtlich wird davon ausgegangen, daß die Textgenese ein geradlinig ablaufender Verschriftlichungsprozeß gewesen ist, der von dem von Gott Offenbarten über dessen Niederschrift durch die Mystikerin hin zur respektvollen Überarbeitung bzw. Überlieferung des Aufgezeichneten durch Dritte führt. Dieses Postulat ist die conditio sine qua non für Neumanns editorisches Unterfangen, einen Text vorzulegen, der den Anspruch erheben kann, ans mechthildische Original so nahe heranzuführen, wie es mit den Mitteln der Textkritik nur möglich ist. Neumann bedient sich bei seiner editorischen Arbeit des Einsiedler Kodex als Leithandschrift, doch gibt er sich mit einem simplen Handschriftenabdruck nicht zufrieden, sondern emendiert und vor allem konjiziert den überlieferten Text, sofern er es für notwendig hält. Die Eingriffe werden immer dokumentiert und begründet. Eine wichtige Rolle bei textkritischen Entscheidungen spielt die Lux 23 24 25 26 27
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Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 2. München 1993, S. 249. Neumann 1954 (Anm. 8), S. 65. Ebenda, S. 61. Ebenda, S. 60. Ernst Becker: Beiträge zur lateinischen und deutschen Überlieferung des Fließenden Lichts der Gottheit. Diss. Göttingen 1951, S. 46. Neumann 1990 (Anm. 7), Bd. 1, S. XX.
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divinitatis. Da sie auf eine textgeschichtlich ältere Stufe zurückführt als die Mitte des 14. Jahrhunderts entstandene oberdeutsche Übertragung, deren Textzeugen zudem um mehrere Textstufen vom Basler Übersetzungsoriginal entfernt sind, ist die Lux divinitatis dazu berufen, Lesarten des deutschen Textes entweder zu bestätigen oder, wenn es sich um offenkundige oder mutmaßliche Korruptelen handelt, zu korrigieren. Auf diese Weise hofft Neumann dem postulierten Original ein gutes Stück näher zu kommen. Bietet die lateinische Übersetzung keine Hilfe, werden Emendationen nach der deutschen Parallelüberlieferung – soweit eine vorhanden – vorgenommen. Damit erreicht man jedoch, wenn überhaupt, nur den oberdeutschen Archetyp. Bei der Rekonstruktion des ursprünglichen, für Neumann heißt das immer, des mechthildischen Wortlauts bedient sich der Herausgeber aber nicht nur der deutschen und lateinischen Überlieferung, sondern auch der Kenntnis des Mittelniederdeutschen und seines bewundernswerten sprachhistorischen Spürsinns. Die auf diese Weise für Mechthild bzw. das Original erschlossenen Formen werden durch Parallelen im Fließenden Licht zusätzlich gestützt; Fehler in der oberdeutschen Überlieferung werden sprachhistorisch und schreiberpsychologisch erklärt. Es ist hier nicht der Ort, auf die einzelnen argumenta pro auctore einzugehen.29 Besonders problematisch scheint mir vor allem die Rückkoppelung editorischer Entscheidungen an eine Autorpersönlichkeit bzw. ihren usus scribendi, eine Bindung, die das iudicium des Herausgebers bestimmt und seine korrigierende Hand leitet. Dazu folgende Überlegungen: Daß wir den Großteil der kanonisch geltenden literarischen Texte des Mittelalters in Handschriften überliefert haben, die meist im geraumen zeitlichen Abstand zu ihrer Entstehung geschrieben sind, ist eine Tatsache, mit der man editorisch und interpretatorisch zurechtkommen muß. Zwar läßt sich unter günstigen Bedingungen etwas Licht in die jeweilige Textgeschichte bringen, doch bleiben zwischen dem vermuteten Original und einer einigermaßen greifbaren Sternchenstufe immer noch Jahrzehnte unerschließbar offen. Dennoch lesen wir die überlieferten Texte, wie es Thomas Bein in Bezug auf die MinnesangÜberlieferung festgestellt hat, meistens unter einer produktionsorientierten Perspektive.30 Auch der dem Autor und seinem Text verpflichtete Editor setzt die produktionsorientierte Brille auf, wenn es darum geht, durch recensio, durch die kritische Durchsicht der Überlieferung, eine Handschrift zu bestimmen, die den postulierten Autortext nach seinem Urteil und gemessen an der vorhandenen 29
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Siehe dazu die Rezensionen von Paul Michel in: Arbitrium 13, 1995, S. 29–33 und Werner Schröder in: Zeitschrift für deutsche Philologie 115, 1996, S. 129–134, wieder abgedruckt in: Werner Schröder: Critica Selecta. Zu neuen Ausgaben mittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher Texte. Hrsg. von Wolfgang Maaz und Fritz Wagner. Hildesheim 1999 (Spolia Berolinensia 14), S. 149–154. Thomas Bein: Einführung in das Rahmenthema ,Überlieferungsgeschichte – Textgeschichte – Literaturgeschichte‘. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 34, 2002, H. 2, S. 89–104, hier S. 99.
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Überlieferung am treuesten wiedergibt. Dadurch gerät er allerdings in einen hermeneutischen Zirkel, in eine Situation, die sich mit Heribert A. Hilgers wie folgt charakterisieren läßt: „Die Qualität der einzelnen Handschriften, ihr Authentizitätsgrad, soll festgestellt werden im Hinblick auf ein Original, das erst aus diesen Handschriften und nach dem Maßstab ihrer Originalität erschlossen werden kann.“31 Doch nicht nur bei der Auswahl der besten, der autornächsten Handschrift, sondern auch bei der Rekonstruktion des ursprünglichen, dem vermuteten usus scribendi am nächsten stehenden Wortlauts ist der Zirkelschluß vorprogrammiert, denn „wie können wir [den] ,Willen des Urhebers‘ anders feststellen als aus der Deutung jener Texte, deren Authentizität wir doch erst bestimmen wollen?“32 Wendet man diese Überlegungen auf das Fließende Licht an und konfrontiert man sie mit dem von Neumann verfolgten Editionsziel, das Ursprüngliche, d.i. das Mechthildische, hinter der Überlieferung aufscheinen zu lassen, so lautet der Befund:33 Eine mit dem intuitiven Argument des Mechthildischen operierende Rekonstruktionspraxis ist problematisch, weil die Frage, was eigentlich ,mechthildisch‘ ist, letztendlich anhand des Wortlauts und der Textgestalt einer Handschrift beantwortet werden muß, die in der vorliegenden Form keineswegs mehr auf die Autorin selbst zurückgeführt werden kann, sondern bereits als Rezeptionszeugnis aufzufassen ist, und zwar nicht nur in Bezug auf die textinterne Präsentation des Autors, sondern auch in Bezug auf die Textkonstitution. Dies muß auch in Hinblick auf die von Gisela Vollmann-Profe im Jahre 2003 vorgelegte Neuausgabe betont werden. Zwar geht es der Editorin darum, den in Einsiedeln erhaltenen späten Textzeugen des Fließenden Lichts in seiner vorliegenden Textgestalt, das heißt ohne Rücksicht auf das Ursprüngliche, zu dokumentieren,34 sie besteht aber darauf, daß wir „Mechthilds Schrift“ bzw. „Mechthilds Werk“35 mit der Einsiedler Handschrift in der Hand halten dürfen. Eine wichtige Rolle bei der Textkonstitution scheint bei Vollmann-Profe die lateinische Übersetzung gespielt zu haben. Bei Neumann war die Lux divinitatis dazu 31
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Heribert A. Hilgers: Die Überlieferung der Valerius-Maximus-Auslegung Heinrichs von Mügeln. Vorstudien zu einer kritischen Ausgabe. Köln/Wien 1973 (Kölner Germanistische Studien 8), S. 12. Gunter Martens: Autor – Autorisation – Authentizität. Terminologische Überlegungen zu drei Grundbegriffen der Editionsphilologie. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen, 20. bis 23. Februar 2002. Hrsg. von Thomas Bein (u.a.). Tübingen 2004 (Beihefte zu editio 21), S. 39–50, hier S. 48. Ich greife hier eine Formulierung von Albrecht Hausmann paraphrasierend und abwandelnd auf, mit der er das spannungsreiche Verhältnis von Autorschaft und Überlieferung zu fassen versucht, vgl. Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität. Tübingen / Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 40), S. 1. Vollmann-Profe 2003 (Anm. 6), S. 682. Kritisch dazu Werner Schröder. In: Mittellateinisches Jahrbuch 40, 2005, H. 2, S. 300–303. Vollmann-Profe 2003 (Anm. 6), S. 682.
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berufen, Lesarten des deutschen Textes entweder zu bestätigen oder, wenn es sich um offenkundige oder mutmaßliche Korruptelen handelt, zu korrigieren, liegt uns doch eine Textgestalt vor, die auf eine textgeschichtlich ältere Stufe zurückführt als die erst Mitte des 14. Jahrhunderts entstandene oberdeutsche Übertragung. Selbst wenn Vollmann-Profe ihre Ausgabe nicht auf das Original hin anlegt, verzichtet sie keineswegs darauf, die Lux divinitatis zu Rate zu ziehen, wenn es um die Erstellung eines schlüssigen Lesetextes geht.36 Damit stellt sich die Frage, wie sich deutscher und lateinischer Text zum postulierten Original der Autorin Mechthild verhalten. Wie bereits oben angedeutet, war für das Editionsziel, die Überlieferung auf das Original hin transparent werden zu lassen, unerläßlich, eine lineare Textgeschichte zu postulieren, die zwar in zwei Überlieferungszweige – einen deutschen und einen lateinischen – divergiert, ihren Konvergenzpunkt jedoch in der einen Urschrift der Autorin Mechthild findet. Man war sich allerdings bewußt, daß die Parallelüberlieferung mehr als eine vorsichtige Annäherung ans Original nicht erlaubt, denn sie ist „nach Art und Umfang“37 nicht so beschaffen, daß man dem Basler Archetypus oder gar dem Magdeburger Original nahekommt. Diese Überlieferungssituation hat Kurt Ruh zur folgenden kritischen Stellungnahme veranlaßt: „Wenn er [der Autortext] aber, was niemand bezweifelt, unerreichbar ist, warum muß dann daran festgehalten werden? Könnte man nicht auch im oberdeutschen Gebrauchstext das Editionsziel erblicken?“38 Ruh ist der Meinung, daß Neumann die Bedeutung der Lux divinitatis für die Textkonstitution überschätzt hat, muß doch der Herausgeber selbst gestehen, daß die lateinische Übersetzung „nur selten den Wortbestand des deutschen Textes sichern kann“.39 Damit sind wir beim nächsten kritischen Punkt einer Argumentation angelangt, die auf der Annahme beruht, es habe das eine Original am Anfang der Überlieferung gestanden. Der lateinischen Übersetzung kommt, wie öfters erwähnt, nach dem vorherrschenden Verständnis der Textgeschichte die Funktion zu, Lesarten des Originals zu bestätigen, da die Lux divinitatis „gewiß aus einer Vorlage“ hervorgegangen ist, „die dem Original sehr nahe stand“.40 Für mich stellt sich die Frage: Inwieweit ist es berechtigt, das eine, dem deutschen und lateinischen Überlieferungszweig gemeinsame Original zu postulieren – man beachte die suggestive Formulierung „gewiß“! –, wenn ein sinnvoller Vergleich auf der Ebene der Einzelwörter zugegebenermaßen oft nicht möglich ist? Erschwerend kommt hinzu, daß beide Traditionszweige auch im Textbestand nicht unerheblich voneinander divergieren. Der deutsche Text enthält einige Kapitel, 36 37 38
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Gottschall 2005 (Anm. 3), S. 301–304. Neumann 1990 (Anm. 7), Bd. 1, S. XXI. Kurt Ruh: Rezension zu Hans Neumann (Hrsg.): Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 124, 1995, S. 98–103, hier S. 98. Neumann 1990 (Anm. 7), Bd. 1, S. XXV. Hans Neumann: Texte und Handschriften zur älteren deutschen Frauenmystik. In: Forschungen und Fortschritte 41, 1967, S. 44–48, hier S. 44.
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ganze Textblöcke und kürzere erläuternde Einschübe, die die Lux divinitatis nicht kennt. Diese Abweichungen werden gewöhnlich damit erklärt, daß Mechthild ihrem Text eine gewisse Überarbeitung angedeihen ließ, nachdem ein Teil davon zur Übersetzung freigegeben wurde.41 Dabei wird die Authentizität dieser neu hinzugekommenen Textpassagen mit dem bekannten Argument des Mechthildischen abgesichert.42 Anders fällt das Urteil aus, wenn die Lux divinitatis Plusstellen liefert oder sonst vom deutschen Text abweicht. Ich gebe zwei Beispiele: In Lux divinitatis II.35 (= Revelationes II.17, S. 511f.) berichtet die Visionärin in der Ich-Form von der ihr zuteil gewordenen Schau eines verstorbenen Bruders namens Heinrich. Nach der himmlischen Erhöhung und Krönung desselben durch Gott und den Heiligen Dominikus fordert ihn Dominikus in Anlehnung an Mk 25.21.23 auf, in die Freude des Herrn einzugehen. Daraufhin erblickt die Visionärin die Seele des Verstorbenen in der Umarmung der Heiligen Dreifaltigkeit.43 Diese Apotheose des verstorbenen Predigerbruders fehlt in der deutschen Überlieferung (vgl. Fließendes Licht IV.22: 292,6f.), Grund genug für die Annahme seitens der Forschung, es handele sich um einen Zusatz der Lux divinitatis.44 Für mich stellt sich jedoch die Frage, ob man der Überlieferung überhaupt gerecht wird, wenn man nur das als authentisch gelten läßt, was durch den deutschen Text verifiziert werden kann. Und dies gleich aus zwei Gründen: Zum einen ist – wie ich es oben angedeutet habe – der Rückgriff auf das intuitive Argument des Mechthildischen immer problematisch, wenn es um die Absicherung textkritischer Entscheidungen geht. Zum anderen – das werden wir noch sehen – ist die durch Mechthilds Verfasserschaft verbürgte Authentizität des Fließenden Lichts selbst keineswegs so sicher, wie es allgemein angenommen wird. Von daher ist man gut beraten, wenn man darauf verzichtet, den deutschen und lateinischen Text an seiner Autornähe zu messen. Infolgedessen wird man eine Plusstelle wie die oben zitierte nicht mehr als Zusatz des Übersetzers abtun können.45 Man 41 42
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Neumann 1954 (Anm. 8), S. 60f. Vgl. Neumann 1993 (Anm. 7), Bd. 2, S. 112, Anm. zu Fließendes Licht VI.2,3–8 und S. 120, Anm. zu Fließendes Licht VI.15,1–29. „Tunc in iubilo michi influente diuinitus uidi felicem illam animam . summe trinitatis beatis amplexibus dulciter et inseparabiliter inherentem . vere non est acceptio personarum apud deum . Ecce enim mendicus cum gloria susceptus . sicut signaculum positus inter brachia [Cn 8,6] altissimi delectatur“, Lux divinitatis II.35,38–41 (= Revelationes II.17, S. 512). Revelationes lesen vb mit Rb 66 sinnloses „uilicem animam illam“ für „uidi felicem illam animam“. Die korrekte Lesart bietet Becker 1951 (Anm. 27), S. 14f. Senne (Anm. 13), S. 23. In der Tat spricht Becker 1951 (Anm. 27), S. 68, in diesem Zusammenhang von einem ,unechte[n] Zusatz‘. ,Unecht‘ ist ein Zusatz des lateinischen Überlieferungszweiges nach dem Verständnis von Becker immer dann, „wenn die entsprechende deutsche Stelle für den Text der Vorlage verständnisnotwendig ist oder der Kontext der Einsiedler Hs. anderweitig eine Auslassung erkennen läßt.“ (S. 37) Mit anderen Worten: Weil die ,unechten Zusätze‘ der Lux divinitatis „auf eine Verderbnis in der deutschen Überlieferung führen“ (S. 38), sind sie im textkritischen Sinn eigentlich als echt anzusehen. Freilich wird dabei davon ausgegangen, daß sich alle ,unechten Zusätze‘ auf e i n e Vorlage zurückführen lassen.
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kommt nicht umhin zu sagen – vor allem wenn man auch die inkommensurable Größe ,Wortlaut‘ in Betracht zieht –, daß wir es mit zwei Fassungen zu tun haben, die aller Wahrscheinlichkeit nach noch zu Mechthilds Lebzeiten entstanden sind. Ein weiteres Indiz dafür, daß deutscher und lateinischer Text unterschiedliche Fassungen präsentieren können, liefert eine andere Vision der Lux divinitatis, diesmal über das Fegefeuer (Lux divinitatis VI.7 = Revelationes VI.6, S. 624f.). Auffällig ist dabei die vom deutschen Text abweichende Präsentation der Sprecherposition: Während Fließendes Licht II.8 allgemein von einem Menschen („ein mensche“) spricht, der Fürbitte für die Seelen im Fegefeuer leistet und einige von ihren Qualen erlöst, erzählt der lateinische Text dieselbe Vision aus der Ich-Perspektive. Diese Divergenz ließe zunächst darauf schließen, als hätte Lux divinitatis die ursprüngliche Form der Aufzeichnungen bewahrt, während Fließendes Licht für jene Entpersonalisierung steht, die bei der Textgeschichte der Schwesternviten des 14. Jahrhunderts immer wieder zu beobachten ist und auf redaktionelle Bearbeitungen persönlicher Aufzeichnungen zurückgeführt wird.46 Doch ist diese Annahme keineswegs zwingend: Anhand einer Stelle aus den Offenbarungen der Elsbeth von Oye, die womöglich in autographer Überlieferung vorliegen, ließe sich zeigen, daß das distanzierende „ein mensche“ nicht unbedingt das Werk eines Redaktors (oder einer Redaktorin) sein muß, sondern bereits auf die Autorin selbst zurückgehen kann.47 In der Tat wird in der neueren Forschung Mechthild eine gewisse Inkonsequenz in der Gestaltung der Sprecherpositionen bescheinigt, eine Haltung, die nicht wie früher quasi biologistisch mit der Inkompetenz einer Frau, klare Dispositionen zu halten, erklärt wird, sondern als eine besondere Qualität des Textes wahrgenommen wird: Klaus Grubmüller zufolge zielt die Technik der Vervielfachung der Sprecherposition und Vermengung der Perspektiven auf die Darstellung eines von vielen Beteiligten getragenen Prozesses, der mystischen Unio selbst, die sich in der Verschmelzung der Personen, der Perspektiven, der Sprechweisen abbildet.48 Im Unterschied zum deutschen Text, der offenbar recht inkonsequent mit der Kenn46
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Klaus Grubmüller: Die Viten der Schwestern von Töß und Elsbeth Stagel. Überlieferung und literarische Einheit. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 98 (1969), S. 171–204, bes. S. 197f. und Siegfried Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. Quellen und Studien. Zürich 1980 (MTU 72), S. 79f. Kritisch dazu Susanne Bürkle: Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts. Tübingen/Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 38), S. 272–294. Textbeleg bei Wolfram Schneider-Lastin: Von der Begine zur Chorschwester: Die Vita der Adelheit von Freiburg aus dem Ötenbacher Schwesternbuch. Textkritische Edition mit Kommentar. In: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998. Hrsg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin. Tübingen 2000, S. 516–561, hier S. 524. Klaus Grubmüller: Sprechen und Schreiben. Das Beispiel Mechthild von Magdeburg. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Bd. 1. Hrsg. von Johannes Janota (u.a.). Tübingen 1992, S. 335–348, hier S. 345.
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zeichnung der Sprecherrollen umgeht, soll der lateinische Übersetzer, so die communis opinio, einer solch konfusen Vorgehensweise wenig Verständnis entgegengebracht haben, intendiert doch die lateinische Übersetzung die Egalisierung der Sprecherposition, um möglichen Unklarheiten vorzubeugen.49 Der Befund ist allerdings selbst in diesem Fall nicht ganz eindeutig, und zwar nicht nur wegen der grammatikalischen Struktur der lateinischen Sprache, die solche sprachlichen Inkonsequenzen nicht duldet. Vergleicht man den deutschen und den lateinischen Text auf die Gestaltung der Sprecherposition hin und beschreibt man, wie üblich, die Praxis des Übersetzers vor dem Hintergrund der deutschen Überlieferung, so hat man den Eindruck, als käme es dem lateinischen Übersetzer im Grunde darauf an, das Ich der Visionärin in visionären Textpartien herauszustellen,50 wurde sie doch im Prolog der Tradition alttestamentlicher Prophetinnen zugeordnet (Lux divinitatis Prol. 1,3–17 = Revelationes Prol., S. 435f.). Die Rede von der Egalisierung der Sprecherposition würde damit nur zum Teil das eigentliche Anliegen des Übersetzers treffen. Doch nicht nur das: Man kann nicht einmal feststellen, ob die Vorlage der Lux divinitatis zu einer Egalisierung, wie beschrieben, überhaupt Anlaß geboten hat. Denn: Ist es zwingend, anzunehmen, daß der lateinischen Übersetzung dieselbe Fassung vorgelegen hat, die auch der oberdeutschen Übertragung als Vorlage diente? Von daher scheint es mir angebracht, von zwei Fassungen zu reden, die aller Wahrscheinlichkeit nach noch zu Mechthilds Lebzeiten entstanden sind und als autornah gelten dürfen.51 Damit ist allerdings nicht gesagt, daß es sich notwendigerweise um Autorfassungen handeln muß. Denn: Wie will man die Autorfassung definieren und sie von Bearbeitung abgrenzen? Darf man im Grunde gleichberechtigt nebeneinander stehende Varianten hierarchisieren, um sie als ,echt‘ bzw. ,unecht‘ skalieren zu können? Verzichtet man darauf, Lesarten auf ihre vermeintliche Authentizität hin zu beurteilen, so stellt sich die nicht nur textkritisch sondern auch interpretatorisch wichtige Frage, was kann noch überhaupt als mechthildisch angesehen werden? Ich stelle diese Frage zunächst zu49
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Gisela Vollmann-Profe: Mechthild von Magdeburg – deutsch und lateinisch. In: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang (Anm. 47), S. 133–155, hier S. 150. Vgl. auch Lux divinitatis II.35 (= Revelationes II.17, S. 511–512) und Fließendes Licht IV.22 bzw. Lux divinitatis IV.58 (= Revelationes IV.28 [1], S. 585) und Fließendes Licht VI.33. Die Möglichkeit der Mehrfachfassungen ist schon bei Neumann 1954 (Anm. 8) impliziert, stellt er doch fest, daß es einzelne Arbeitsabschnitte gegeben haben muß, die den heutigen Buchgrenzen entsprechen (vgl. S. 34, 38f. und 60f.); zu den Teilveröffentlichungen siehe auch Gisela Vollmann-Profe: Mechthild – auch „in Werktagskleidern“. Zu berühmten und weniger berühmten Abschnitten des Fließenden Lichts der Gottheit. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113, 1994, Sonderheft, S. 144–158, bes. S. 147 Anm. 4 und Mark Emanuel Amtstätter: Die Partitur der weiblichen Sprache. Sprachästhetik aus der Differenz der Kulturen bei Mechthild von Magdeburg. Berlin 2003 (ZeitStimmen 3). Amtstätter ist der erste, der die Abgeschlossenheit einer Veröffentlichungseinheit (die des ersten Buches) auch aus inhaltlich-konzeptioneller Sicht herausgearbeitet hat, siehe dazu meine Rezension: Mechthilds von Magdeburg „Frühwerk“ Buch I des Fließenden Lichts der Gottheit. In: IASL online [30. September 2004] URL: http://iasl.unimuenchen.de/rezensio/liste/Nemes389626253X 1084.html Datum des Zugriffs: 30. April 2006.
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rück und komme auf die Voraussetzung für Fassungsgenese, eine gewisse Dynamik auf der horizontalen Ebene der Textgeschichte, zu sprechen, die beim Fließenden Licht gegeben zu sein scheint. Um diese Frage zu beantworten, wie man sich die Entstehungsgeschichte dieses Textes vorzustellen hat, muß man eher mit Indizien als mit indiskutablen Tatsachen umgehen können. Das erste und sicherste Indiz liefert die Forschung selbst: Überblickt man die 150jährige Forschungsgeschichte, so ist eine gewisse Nervosität im Umgang mit bestimmten Aussagen des deutschen und lateinischen Traditionszweiges zu registrieren, die sich in das etablierte Bild Mechthilds als Herrin ihres Textes so gar nicht fügen wollen. Ich zähle diese loci suspecti auf: (1) Im lateinisch-deutschen Vorbericht wird die schriftliche Fixierung der göttlichen Offenbarungen, die einer „begina“ bzw. einer „swester“ zuteil geworden sind, an einen Predigerbruder delegiert, wobei dessen Anteil am Zustandekommen des Buches mit „conscribere“ (S. 10,8) bzw. „samente und schreib“ (S. 12,13) charakterisiert wird. (2) Das Schlußkapitel des zweiten Buches, womit ursprünglich eine aus den ersten beiden Büchern bestehende Teilpublikation endete,52 enthält die Fürbitte des Ich-Sprechers um einen Schreiber. Gemeint ist entweder ein zukünftiger Kopist – die Lux divinitatis übersetzt die Stelle in diesem Sinne (Lux divinitatis Prol. 6,26 = Revelationes Prol., S. 444) – oder aber jemand, der am Buch nach Mechthilds Anweisung mitgearbeitet hat, wobei offen bleibt, ob dies nach schriftlichen Vorlagen oder nach mündlichem Diktat erfolgte. (3) Am Ende des sechsten Buches – es handelt sich um den Schlußstein einer weiteren Publikationsstufe – wurde ein Fremdzeugnis inseriert, das in der Art eines testimonium veritatis bekräftigt, Schwester Mechthild hätte die Aufzeichnungen, die sich in dem vorliegenden Buch finden, mit ihren eigenen Händen niedergeschrieben (Fließendes Licht VII.43). Zugleich wird vermerkt, das Buch sei „gesetzet“, ein Ausdruck, der wenn auch nicht auf redaktionelle Bearbeitung, so doch auf eine bereits in kopialer Überlieferung vorliegende Textgestalt schließen läßt, auf welche hier zurückgegriffen wird, wobei die Art der Wiedergabe „getru´welich“ gewesen sein soll. (4) Einen Hinweis darauf, daß bestimmte Teile des Fließenden Lichts auf Fremdaufzeichnungen zurückgehen, liefert das vorletzte Kapitel des siebten Buches (Fließendes Licht VII.64): Hier dankt der Ich-Sprecher für die Hilfe fremder Augen, fremder Herzen und fremder Hände. In dem unmittelbar anschließenden Bittgebet („Herre, ich bitte dich vu´r si, das du es in wellest lonen in ertrich“ etc., S. 662,14f.) wird deutlich, daß der Dank einer konkreten Personengruppe gilt, die der womöglich Erblindeten bei der Abfassung ihrer Offenbarungen zur Seite stand. Nun ist das siebte Buch in Helfta, an einem Ort gemeinschaftlicher Literaturproduktion entstanden. (5) Deutlicher als im bereits erwähnten lateinisch-deutschen Vorbericht wird der Anteil eines Dominikaners am Zustandekommen des Buches in der Lux 52
Zu der Frage der Teilpublikationen siehe Anm. 51.
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divinitatis angesprochen. Dieser Dominikaner – er wird als Heinrich von Halle vorgestellt – soll Mechthilds Sprüche („dicta“) – wohlgemerkt nicht ihre Schriften! – gesammelt („collegit“), zu einem Buch verfaßt („redegit“) und in sechs Teile geschieden haben („distinxit“). Heinrichs buchorganisatorische Tätigkeit wird in der Überschrift als Kompilation charakterisiert. Diese Berichte lassen zwar eine auf mehrere Instanzen verteilte Textgenese erahnen, doch wurden sie in der Forschung wiederholt zurecht gebogen, um das Bild Mechthilds als einer schriftstellerisch selbständig tätigen Frau nicht zu gefährden. In diesem Sinne weist bereits Morel darauf hin, daß zwischen dem deutschen Vorbericht zur Einsiedler Handschrift, der von einem Predigerbruder berichtet, der „dis buoch samente und schreib“, und Mechthilds behaupteter Autorschaft lediglich ein „scheinbarer Widerspruch“ bestehe, der „seine Lösung in dem Worte g e s a m m e l t [findet], so daß [...] anzunehmen ist, dieser Bruder habe die von Mechthild geschriebenen einzelnen Blätter gesammelt und abgeschrieben“.53 Ähnlich argumentiert Jeanne Ancelet-Hustache in ihrer 1926 erschienenen Mechthild-Monographie: Zwar werde die Tätigkeit des Bruders im genannten Vorbericht zur Einsiedler Handschrift mit den Worten „samente und schreib“ bzw. „conscribere“ charakterisiert und an einer Stelle der lateinischen Übersetzung des Fließenden Lichts vermerkt, der Bruder habe Mechthilds Worte gesammelt und zu einem Buch verfaßt, doch gäbe es – freut sich AnceletHustache – zum Glück („heureusement“) auch Textstellen, die beweisen, daß Mechthild selbst ihre Schriften verfaßt und der Redaktor auf diese von ihr geschriebenen Blätter zurückgegriffen habe.54 Man mag die Argumentation von Morel entschuldigen, indem man darauf hinweist, daß die eigentliche wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Fließenden Licht erst nach der von ihm vorgelegten Ausgabe ihren Anfang nahm, spätestens bei Ancelet-Hustache wird man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren können, daß die Beweisführung aus einer Defensivhaltung heraus formuliert wurde und nicht ganz untendenziös ist. In der Tat haben sich bis 1926 nicht wenige Forscher zu Wort gemeldet,55 die bereit waren, dem Redaktor weit53 54
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Morel 1869 (Anm. 15), S. XXII (Sperrung von Morel). Jeanne Ancelet-Hustache: Mechtilde de Magdebourg (1207–1282). E´tude de psychologie religieuse. Paris 1926, S. 34. Ich verweise hier auch noch auf den Kommentar von Heinz Tillmann zum Bericht über den „schriber“ in Fließendes Licht II.26. Tillmann identifiziert diesen Schreiber kurzerhand mit Heinrich von Halle. Wie bereits Morel den deutschen Vorbericht als einen nur „scheinbare[n] Widerspruch“ zur Autorschaft Mechthilds gedeutet hat und in dem anonymen Predigerbruder nur einen Sammler sehen wollte, ist ähnlich bei Tillmann im Zusammenhang von Fließendes Licht II.26 von „scheinbaren Widersprüchen“ gegenüber den Bekenntnissen Mechthilds, selber geschrieben zu haben, die Rede. Begründung: „H. v. Halle hat abgeschrieben, aber n i c h t g e ä n d e r t .“ Vgl. Heinz Tillmann: Studien zum Dialog bei Mechthild von Magdeburg (Diss. Marburg). Marburg 1933, S. 2, Anm. 7 (Sperrung von Tillmann). Emil Michael: Zur Chronologie Mechthilds von Brandenburg (!). In: Zeitschrift für katholische Theologie 25, 1901, S. 177–180; Hubert Stierling: Studien zu Mechthild von Magdeburg (Diss. Göttingen). Nürnberg 1907.
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aus größere Lizenzen bei der Textkonstituierung einzuräumen als diejenigen, die seine Funktion auf die chronologische Aneinanderreihung der ihm zur Verfügung gestellten Einzelblätter und auf deren Abschreiben begrenzt sehen wollten. Niemand ging allerdings so weit, die Konsequenzen, die sich aus der Aufwertung der Redaktorenrolle für die Frage der Verfasserschaft und des Textstatus der Einsiedler Handschrift hätten ergeben können, ernsthaft in seine Überlegungen mit einzubeziehen. Wie Ancelet-Hustache zieht man sich statt dessen auf das bewährte Modell von ,ein Werk – ein Autor‘ zurück. Vor diesem Hintergrund muß auch Neumanns Unterstellung gesehen werden, Heinrich von Halle, Mechthilds vermeintlicher Beichtvater, sei mit den Schriften seiner Beichttochter mit Ehrfurcht und Treue umgegangen. Doch machen gerade Neumanns Bemühungen um die Herausstellung Mechthilds als einzige textkonstitutive Instanz auf die mit den oben zitierten Stellen verbundene Problematik aufmerksam: Die Bestrebung, Heinrich – er ist in der Forschung zur Personifikation jedweder Bearbeitung geworden – aus dem Produktionsprozeß zu verdrängen, provoziert geradezu die Frage, welchen Anteil Schreiber, Beichtväter und Mitschwestern an der Entstehung des Fließenden Lichts gehabt haben und wie ihre Präsenz mit der Verfasserschaft Mechthilds vereinbart werden kann. Diese Frage muß man sich selbst dann gefallen lassen, wenn die oben vorgestellten Berichte über den Verschriftlichungsprozeß meist an besonders exponierten Stellen des deutschen und des lateinischen Textes wie z.B. in Prologen und Epilogen auftauchen und damit den Eindruck erwecken, wir hätten es mit Aussagen programmatisch-legitimatorischen Charakters, gewissermaßen mit Fiktion zu tun. Selbst wenn dies der Fall ist, darf die „(wahrheitsfähige) Faktizität des Fiktiven“56 von vornherein nicht ausgeschlossen werden.57 Da die Vorstellung, am Schreibprozeß könnten mehrere Instanzen beteiligt sein, den avisierten Rezipienten offenbar als ein glaubwürdiges Modell der Textentstehung zugemutet werden konnte, muß sie in ihrer Modellhaftigkeit ernst genommen werden.58 Einen handfesten Beweis, daß die Entstehung des Fließenden Lichts 56
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Diesen Ausdruck habe ich Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache. Tübingen 1993 (Bibliotheca Germanica 30), S. 22, entliehen. Sie führt ihn in Auseinandersetzung mit der streng gattungsanalytisch argumentierenden Verfahrensweise von Ursula Peters: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts. Tübingen 1988 (Hermaea. N.F. 56) ein. Nigel F. Palmer hat darauf aufmerksam gemacht, daß wir je nach deutschem und lateinischem Text mit zwei unterschiedlichen Offenbarungs- und Vermittlungsmodellen zu tun haben. Zwar warnt er ausdrücklich davor, die der Lux divinitatis eigene Vorstellung eines Schreibers als Amanuensis auf den deutschen Text zu übertragen, trotzdem räumt er ein, daß „man die Angaben der lateinischen Fassung zur Entstehungsgeschichte des Werks keineswegs als historisch falsch abqualifizieren [sollte]. Vieles muß offenbleiben.“ Vgl. Nigel F. Palmer: Das Buch als Bedeutungsträger bei Mechthild von Magdeburg. In: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion. Hrsg. von Wolfgang Harms (u.a.). Tübingen 1992, S. 217–235, S. 226. Auch Gerd Althoff hebt gegenüber einem allzu engen Fiktionalitätsbegriff hervor: „Der Wirklich-
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ohne die Beteiligung des Dominikanerordens wohl nicht denkbar ist, liefert die vom lateinischen Schulbetrieb her bekannte buchmäßige Aufmachung des volkssprachlichen Textes: Die Einteilung in Bücher und Kapitel, die Ausstattung mit Registern, Kapitelüberschriften, Prologen und einem multifunktionalen Glossenwerk läßt darauf schließen, daß der deutsche Text in den Sog der lateinischen Buchproduktion der Dominikaner geraten ist,59 wobei man sich gegenüber einer über die Formalien hinausgehenden Einflußnahme des Ordens auf die Textentstehung bis jetzt eher reserviert verhalten hat. Die zitierten Stellen führen uns jedoch einen komplexen Schreibprozeß vor Augen, der auf eine lebendige Textgeschichte schließen läßt: Demnach haben wir sowohl auf auktorialer (gemeint ist die Situation Mechthilds als schreibende Frau) als auch auf semiauktorialer (gemeint ist der Fall des Diktats und Abschreibens mit all ihren Implikationen für die Textgeschichte) sowie auf redaktioneller Ebene (Dominikaner, Helftaer Mitschwestern als Bearbeiter) mit einer kontinuierlichen Arbeit am Text zu rechnen, einer Arbeit, die auch nach der Veröffentlichung einzelner Werkabschnitte, beispielsweise der Bücher I-VI, fortgesetzt wurde und zur Entstehung von Fassungen beigetragen hat. Demnach scheint es das immer wieder postulierte eine Original nur im Plural gegeben zu haben. Ich komme zum Schluß: Trotz der methodischen und sachlichen Probleme, die dem bisherigen Verständnis von Verfasserschaft und Status des Fließenden Lichts anhaften, muß man den Autorbegriff nicht dispensieren, sondern man sollte ihn historisieren. Wohl ist der Autor keine Authentisierungsinstanz, er bleibt aber – wie es Hans-Jochen Schiewer in einem anderen Zusammenhang festgestellt hat – eine Autorisierungs- und Auratisierungsinstanz.60 Deshalb würde es sich empfehlen, die bisherige produktionsästhetische Sicht in eine rezeptionsorientierte Perspektive zu überführen.61 Der Frage, was eine solche Sichtweise leisten kann, werde ich in meiner Freiburger Dissertation, deren Abschluß kurz bevorsteht, nachgehen. Von daher beschränke ich mich hier auf einen kurzen Umriß: Die rezeptionsorientierte Behandlung der Autorschaft hat den Prozeß der Autorkonstituierung unter Berücksichtigung der Text- und Überlieferungsgeschichte diachron zu vertiefen und rezeptionsgeschichtlich zu perspek-
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keitsbezug einer Darstellung kann ja nicht nur daran gemessen werden, ob das Erzählte wirklich passiert ist. Er kann auch darin bestehen, daß die handelnden Personen Regeln beachten, die auch in der Wirklichkeit gelten“, siehe Fußfälle. Realität und Fiktionalität einer rituellen Kommunikationsform. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300. Cambridger Symposium 2001. Hrsg. von Christa Bertelsmeier-Kierst und Christopher Young. Tübingen 2003, S. 111–122, hier S. 112. Nigel F. Palmer: Kapitel und Buch. Zu den Gliederungsprinzipien mittelalterlicher Bücher. In: Frühmittelalterliche Studien 23, 1989, S. 43–88, hier S. 77f. Schiewer 2005 (Anm. 5), S. 49f. Einen solchen Perspektivenwechsel im Umgang mit autorschaftsbezogenen Fragen hat Elke Senne angedeutet, siehe: Probleme der Autorschaft und Authentizität in der Überlieferung des Fließenden Lichtes Mechthilds von Magdeburg. In: Autor – Autorisation – Authentizität (Anm. 32), S. 139–151, hier S. 142.
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tivieren. Autorschaft diachron zu vertiefen, bedeutet, die einzelnen Stationen und den literarsoziologischen Ort des Buchwerdungsprozesses zu eruieren, um von hier aus nach der Autorschaft und dem Status des überlieferten Textes zu fragen. Die rezeptionsgeschichtliche Perspektivierung zielt auf die Relevanz der Funktion Autor in der Überlieferung und Rezeption ab.62 Geht man dem Prozeß der Autorkonstituierung in der Rezeption des Textes nach, so scheint es angebracht, von einem erweiterten Begriff der Autorschaft auszugehen,63 der die Möglichkeit einer auf mehrere Instanzen verteilten Textproduktion zuläßt, ohne daß der im Nachhinein mit Mechthild identifizierte Ich-Sprecher bzw. IchSchreiber seiner Verantwortung dem Text gegenüber entbunden wird. In diesem Sinne kann Mechthild als Autorin des Fließenden Lichts gelten. In der Wahrnehmung der Rezipienten besteht nämlich kein Widerspruch zwischen der ihr zugeschriebenen Autorschaft und einem Schreibprozeß, der möglicherweise auf Arbeitsteilung beruht.
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Die ersten Ansätze findet man bei Poor 2004 (Anm. 2). Vgl. dazu meine Rezension: Neues zu den Fragen der Autorschaft und Kanonizität des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds von Magdeburg (abrufbar auf der Homepage http://www.meister-eckhart-gesellschaft.de). Von einem „erweiterten, nicht auf eine Person eingeengten Autorbegriff“ spricht auch Johannes Janota: Mittelalterliche Texte als Entstehungsvarianten. In: „In Spuren gehen ...“. FS für Helmut Koopmann. Hrsg. von Andrea Bartl (u.a.). Tübingen 1998, S. 65–80, S. 69 (Kursivierung von Janota) im Zusammenhang des Alsfelder Passionspiels. Auch Margarete Hubrath: The Liber specialis gratiae as a Collective Work of Several Nuns. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 11 ,1999, S. 233–244, S. 238 operiert mit einem „open concept regarding the author“ im Falle des Liber specialis gratiae Mechthilds von Hackeborn.
Hans-Gert Roloff Georg Wickram als Editor
Der elsässische Schriftsteller Georg Wickram, Anfang des 16. Jahrhunderts geboren, vor 1562 verstorben, wird in der älteren Literarhistorie meist pauschal als ,Vater des deutschen Prosaromans‘ etikettiert, obwohl seine fünf Romane, von denen vier äußerst erfolgreich waren und bis ins 17. Jahrhundert hinein ihre Leser hatten, nur einen Teil seiner literarischen Arbeiten ausmachen. Sein ebenso umfangreiches und wohl gleicherweise effizientes Dramenwerk ist schon weniger beachtet worden; dagegen erreichte die Schwanksammlung des Rollwagenbüchleins zwischen 1555 und 1617 bisher 17 nachgewiesene Auflagen. Aber seine weiteren Schriften und Tätigkeiten literarisch-kultureller Art sind in der Literarhistorie weniger oder kaum beachtet worden. Wickram war durchaus musisch begabt, aber vom Schicksal in sozialer Hinsicht schwer getroffen: Er war der uneheliche Sohn des Obristmeisters Konrad Wickram, also des Vorstands einer Handwerkerzunft, vermutlich der Schmiedezunft. Als unehelich Geborener genoß Wickram kein volles Ansehen in der Gesellschaft, obwohl die Wickrams zu den alteingesessenen Familien Colmars seit dem 14. Jahrhundert gehörten.1 Er fristete sein Dasein als Ratsweibel und durch breite literarisch-kulturelle Tätigkeit, von der uns leider nur wenige Zeugnisse überliefert sind. Aber die Aufsteiger-Thematik in seinen Romanen und seine verschiedenen kulturellen Aktivitäten lassen denn doch umrißhaft das Bild eines der ersten frühen Literaten erkennen, der neben der Textproduktion praktisch-literarisch tätig wurde, vermutlich um sich ein Avancement zu schaffen, was er dann auch 1555 mit dem Amt eines Stadtschreibers in Burkheim am Kaiserstuhl erreichte. Als diese ,Literatentätigkeit‘ zeichnen sich bei Wickram folgende Kreise ab: 1. Der Theaterkreis in Colmar, der mit Wickrams Bearbeitung von Gengenbachs X altern dieser Welt 1531 beginnt – das Stück wurde bis 1681 gedruckt und gespielt. Dem folgen mindestens ein halbes Dutzend weiterer Spiele bis etwa 1554, ein Zeitpunkt, zu dem Wickram nach Burkheim übersiedelte.2 1
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August Stöber: Jörg Wickram. 2. Aufl. Mühlhausen 1866.– Eugen Waldner: Zur Biographie Jörg Wickrams von Colmar. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF 7 (1892), S. 320–328. – Franz Hirtler, Einleitung zu Jörg Wickram: Das Rollwagenbüchlein. München 1943. Siehe Georg Wickram: Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Bd. 10: Kleine Spiele
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Es gibt noch etwa 2 Spiele aus dem Jahre 1550, die bei Wickrams Drucker Knobloch erschienen sind, aber nicht Wickrams Namen enthalten. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, die gegebenenfalls die Verfasserschaft Wickrams vorstellbar machen. Leider hat sich bisher nichts gefunden, was darauf hindeutete, daß Wickram auch der Spielleiter dieser Aufführungen war. Denkbar wäre es aus seinem kulturellen Engagement für die Stadt Colmar. 2. Kreis: Denn 1546 gründete Wickram in Colmar eine Singschule, für die er die ,Ordnung‘ und die Tabulatur schrieb, die sich als Autograph erhalten haben. Und ein großer Coup gelang ihm, als er am 21. Dezember 1546 eine Mainzer Liederhandschrift des 15. Jahrhunderts von einem Schiffer kaufte und sie „Der gemeinen Singschul zu Colmar“ übereignete. Diese berühmte Colmarer Liederhandschrift ist durch Wickram erhalten und befindet sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek München. Sie gilt als die bedeutendste Meistersinger-Handschrift, deren Erhaltung und Funktionalisierung von der einschlägigen Forschung als Leistung Wickrams angesehen wird. Da stellt sich die Frage: wie ist das editorisch zu berücksichtigen? Mindestens doch durch Abdruck der Beiträge Wickrams und der Kommentierung der Umstände. Wickrams Kulturleistung ist im Nachhinein vielleicht noch größer als ihm bewußt gewesen ist. Immerhin hatte der ,outcast‘ seiner Stadt eine Singschule geschaffen.3 3. Kreis: Kurz zuvor hatte sich Wickram in einem anderen Rahmen Verdienste erworben, und zwar in der Herausgabe der Metamorphosen Ovids nach der mitteldeutschen Übersetzung von Albrecht von Halberstadt aus dem Jahre 1210.4 Das war ein enormes Vorhaben und muß ihn einige Zeit gekostet haben. Es war sicherlich eine Auftragsarbeit des Mainzer Druckers Ivo Schöffer, der sich für derartige Übersetzungsliteratur engagierte. Im Jahre 1545 erschien bei besagtem Schöffer in Mainz das Opus: P. Ouidij Nasonis deß aller sinn= reichsten Poeten METAMORPHOSIS/ Das ist von der wunderbarlicher Verenderung der Gestalten der Menschen/ Thier/ vnd anderer Creaturen ec. Jederman lüstlich/ besonder aber allen Malern/ Bildthauwern/ vnnd dergleichen
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(Berlin 1997), Bd. 11: Der Verlorene Sohn. Tobias (Berlin 1971), Bd. 12: Apostelspiel. Knabenspiegel (Berlin 1968). Siehe dazu: B. Wachinger: Kolmarer Liederhandschrift. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage. Bd. 5. (1984), Sp. 27–39. Georg Wickram: Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Bd. 13. Erster und zweiter Teil: Ovids Metamorphosen. Berlin 1990. – Frederic Norman: Halberstadt, Albrecht von. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 2 (1936), Sp. 152–156. – Günther Heinzmann: Albrecht von Halberstadt und Jörg Wickram. Diss. München 1969. – Karl Stackmann: Albrecht von Halberstadt. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl. Bd. 1 (1977), Sp. 187–191.
Georg Wickram als Editor
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allen künstnern nützlich/ Von wegen der ertigen Inuention vnnd Tichtung. Etwan durch den Wolgelerten M. Albrechten von Halberstat inn Reime weiß verteutscht/ Jetz erstlich gebessert vnd mit Fi= guren der Fabeln gezirt/ durch Georg Wickram zu Colmar ec. Die Vorlage Wickrams, die Handschrift Albrechts von Halberstadt, ist verloren; gelegentlich sind von anderen Kopien ein paar Fragmente aufgetaucht. Wickrams redaktionelle Leistung ist im Titel kurz genannt: Jetz erstlich gebessert vnd mit Figuren [Holzschnitten] der Fabeln gezirt. In der Widmung an den Obervogt von Rufach, Wilhelm Böckle von Böcklingsau, legt er die Karten auf den Tisch. Die von ihm durchgeführte ,Besserung‘ ist eine tiefgreifende Umarbeitung des mittelhochdeutschen Textes, und zwar so tiefgreifend, daß Karl Bartschs Versuch, aus der Wickramschen Fassung die Urfassung von Albrechts von Halberstadt Text philologisch wiederzugewinnen, ein vollständiges Desaster wurde. Wickram berichtet: Es „hat mich [...] verursacht allen müglichen fleiß hierinn o anzuwenden/ vnd dise lieplichen Fablen inn meine schlechten [=schlichten!] vnd gewonlichen reimen zuo stellen/ wiewol eüwer Veste nit meynen soll/ mich so erfaren sein inn Latinischer sprach/ daß ich diß Buch. auß dem Latein transferiert hab/ dann ich deß Lateins gar unkundig binn.“ Das Mitteldeutsche – Wickram spricht von „solchem alten Teutsch“ – schien ihm als Alemannen in der Mitte des 16. Jahrhunderts von den zeitgenössischen Lesern „mit keynem verstand gelesen moe gen werden“. So sah er mit Rücksicht auf die neuen Leser sich genötigt, die Verse neu zu gestalten, und zwar „nit alleyn geendert oder corrigiert/ sunder gantz von neüwem nach meinem vermoe gen inn volgende ordnung brocht.“ Das heißt also, Wickram hat den Text sprachlich und metrisch umgearbeitet, und zwar auf ein Buch-Deutsch, das allgemein verständlich war. Dabei sind Diphthongierung und Monophthongierung konsequent durchgeführt worden. Aber – und das wirkt fast rührend – er gibt zur Kenntnis, daß er bewußt das Vorwort Albrechts von Halberstadt im originalen Wortlaut abdruckt, um einen Eindruck des Sprachstandes von Albrechts Text zu vermitteln. Aber in graphischer und lautlicher Hinsicht hat er Albrechts Prolog denn doch auf seinen Sprach-Meridian visiert. Ein zweiter Grund für die verbale Konservierung war für Wickram, zu zeigen, daß „wo dise bücher solcher gestalt getruckt weren worden/ das sie mit schwerem verstand hetten mügen gefaßt werden/ wie dann die alten reimen gemeinlich mit schwerem verstand ausgetruckt sıond“. Über seine Bearbeitungsweise läßt Wickram verlauten, er habe sich bemüht, die „Verse zum verstendlichsten“ formuliert zu haben, wo er aber in metrischer Hinsicht „zuo litzel oder vil daran gethon“ habe, d.h. wo die Verse weniger oder mehr als vier Hebungen haben, soll der Leser sie „gütlich corrigieren“. Wir wissen nicht, was Wickram eigentlich veranlaßt hat, dieses Monumentalwerk zu leisten, zumal er kein Latein konnte. Thematisch paßt die Arbeit aber
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in die Tendenzen der Zeit, die antike Literatur durch deutsche Übersetzungen für lateinunkundige Leserkreise zugänglich zu machen – Wickram hebt auf Maler, Bildhauer und lektüretreibende Frauen und „Jungfrawen“ als Benutzer und Leser ab. Als was können wir Wickram aufgrund seiner Angaben bei diesem Werk einstufen: Autor? Übersetzer? Bearbeiter? Redaktor? Ich neige dazu, bei diesem Text ihn als Bearbeiter und Redaktor zu sehen, als ersteren im Hinblick auf die Umformungen der Vorlage, als letzteren im Hinblick auf seine überlegte Redaktionstätigkeit. Sie besteht nämlich in einer moralischen Zensur des Textes, indem er „alle unzucht vermitten“ habe, d.h. in den Text bewußt eingegriffen habe, damit „diß buo ch von jungen und alten Frawen und Junckfrawen/ sunder allen anstos gelesen werden“ kann. Zu seiner Redaktor-Leistung gehört auch die Einbringung von 47 Holzschnitten, die er „als eyn selbgewachsner Moler“ entworfen, wohl aber nicht geschnitten hat. Und auch die redaktionelle Einrichtung des Textes dürfte auf ihn zurückgehen. Er formuliert eine Struktur nach Büchern, gibt den Inhalt der Figur an, setzt danach ein Bild und gliedert den nachfolgenden Text mit verbalreichen Zwischenüberschriften. Außerdem hat er den Text mit reichen Marginalien ausgestattet, die Inhaltshinweise unter Verwendung eines ,Händchens‘, aber auch moralische Anmerkungen enthalten. Der handfest katholisch orientierte Kommentar des Mainzer Augustiners Gerhardt Lorich von Hadamar ist im Auftrag von Ivo Schöffer, dem Drucker bzw. Verleger der Publikation, zustandegekommen. Lorichius beklagt sich in seiner Zuschreibung an den Mainzer Hofmeister Eberhard Rüden von Collenbergh, daß ihm der Ovid-Text erst „spat zu handen“ kam und alle Figuren schon fertig waren; andernfalls hätte er „eynen andern Proces vorgenommen“ und seine Außlegung „mit gewaltigen Autoritäten befestigt“. Überraschend ist die Rezeption von Wickrams Ovid: eine 2. Auflage brachte Schöffer 1551 heraus. Aber für weitere Ausgaben und Überarbeitungen sorgte Feyerabend (1581, 1609, 1631), der Wickrams Namen und den Kommentar des Lorichius unterdrückte. Eingearbeitet wurden Teile von Johann Sprengs Metamorphosen aus dessen Übersetzung von 1564 und 1571. Auch die Illustrationen wurden in der Ausgabe von 1581 ausgetauscht: statt Wickram erschienen nun die von Virgil Solis (nach dem Französischen von Bernard Salomon). Diese Nachgeschichte – höchst interessant als Dokument des Vulgärhumanismus – geht über unsere Fragestellungen bereits hinaus. Der 4. Kreis enthält Wickrams Edition von Thomas Murners großartiger Narrenbeschwörung,5 die in Straßburg 1512 und 1518 bei Mathias Hupfuff erschienen ist. 5
Siehe hierzu: M. Spanier: Einleitung zu: Thomas Murners Narrenbeschwörung. Halle/S. 1894 (=Neudrucke deutscher Litteraturwerke 119–124), S. XIV-XX. Spanier hat den Text zum Wickram-Bezug in die große Murner-Ausgabe wortwörtlich übernommen: Thomas Murner: Narren-
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Wickram hat im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit dem Straßburger Drukker/Verleger Johann Knobloch 1556 eine Neubearbeitung des Murnerschen Werkes herausgebracht. Der Titel unterdrückt Murners Namen und spezifiziert Wickrams editorische Tätigkeiten am Text: Die Narrennbe= schwerung. Ejn gar sehr kurtzweiligs vnd lustigs Buechlin/ inn Reimen gestellt/ inn welchem gemeldet vnd angezeigt würt/ was e jetz und der welt Lauff vnd monier sey/ mit vil scho= nen Figuren/ sampt einem newen register/ durch Georg Wickram auff ein newes überlesen/ vnd an vil orten corrigiert/ Auch die Reimen gemert vnd gebessert. Die Ausgabe hat 1558 in Straßburg und 1565 in Frankfurt bei Feyerabend Nachdrucke erfahren. Der Titel nennt Wickrams Leistungen als Editor: 1. ein neues Register erstellt 2. den Text neu – kritisch – durchgesehen 3. an vielen Stellen Korrekturen angebracht 4. Interpolationen zum Text gemacht 5. die Verse gebessert. In nuce – die Tabulatur einer nicht unkritischen Ausgabe! Wie sieht das nun im Einzelnen aus? Wickram hat die Druckfehler der Ausgabe B 1518 korrigiert; ihm lag anscheinend nur B vor; A 1512 scheint er nicht herangezogen zu haben, da Druckfehler in B, wobei A den richtigen Text hat, nicht von Wickram nach A korrigiert sind. Insgesamt scheint Wickram aufmerksam Korrektur in B, das dann die neue Satzvorlage wurde, gelesen zu haben. Eingriffe in den Versbau zeigen sich an zahlreichen Stellen. Wickram hatte anscheinend eine Vorliebe für den Vierheber, wenn auch redundante Verse nicht immer gebessert wurden. So begegnen Eingriffe in den Versbau, die den Vers um Silben bzw. Wörter kürzen bzw. längen – Wickram verfährt hier wie Bolte in der textkritischen Behandlung von Wickrams Versbau! Aufschlußreich ist Wickrams Redaktion historischer Angaben. Die geschichtlichen Veränderungen zwischen 1512 und 1556 korrigiert Wickram, um die historische Aktualität des Textes zu wahren. So macht er u.a. aus dem Vers 11,23 Was der künig zu meilandt dieg Was der Keiser vor Metz dieg
beschwörung. Hrsg. von Dr. M. Spanier. Berlin / Leipzig 1926 (= Thomas Murners Deutsche Schriften. Bd. 2). – Johannes Bolte: Georg Wickrams Werke. 4. Bd. Tübingen 1903, S. XLVI-L.
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Wo Murner auf Maximilian Bezug nahm, ändert Wickram 35,32 Als man yedtzundt in boe hem thue t e Als man yetzund an etlich orten thut. Persönliche Einflechtungen Murners sind natürlich getilgt, und an drei Stellen schwingt Wickram sich zu eigenen Textergänzungen auf, so 62 Verse, in denen er über Landsknechte und Kriegswesen klagt, 16 Verse über die Pflichten der Priester, 12 Verse über falsche Kindererziehung. An einigen Stellen hat Wickram fehlende Reime ergänzt, Verse zum besseren Verständnis hinzugefügt oder gestrichen, an anderen Stellen hat er Verse zusammengefaßt oder anzügliche Stellen gemildert. Außerdem hat er Begriffe, Wörter und Formulierungen, die Murner noch verständlich waren, durch eigene, zeitgemäße ersetzt. Die Fülle der einzelnen Belege vorzulegen, sehe ich hier ab; stattdessen summiere ich die Eingriffe Wickrams in Murners Fassung: Sprachlich zeigt sich eine gewisse Tendenz, zu einem allgemeinen BuchDeutsch zu gelangen. Eingriffe in die Metrik zeigen den Wunsch, Versbau und Reime zu modernisieren und zu reglementieren. Historische Diskrepanzen werden ausgeglichen – da zeigt sich, daß Wickram noch kein historisches Bewußtsein hatte, sondern von der nötigen unmittelbaren Aktualität des Textes ausging. Textrestitutionen und geschmackliche Modifikationen verraten einen gewissen Grad an Freiheit im Umgang mit Kollegen-Texten. Ich komme zum eigentlich editorischen Problemfeld dieser literarisch-kulturellen Tätigkeiten Wickrams und ihrer Berücksichtigung in Ausgaben: Die Neufassung des Spiels von Gengenbach und der Ovid sind in beide wissenschaftlichen Ausgaben im Sinne von Bearbeitungen aufgenommen worden, nur mit dem Unterschied, daß Bolte den Ovid-Kommentar des Lorichius und die Illustrationen Wickrams fortließ, während die neue Ausgabe beides dokumentiert. Wie aber verhält man sich nun gegenüber Wickrams Aktionen um Singschule und Colmarer Liederhandschrift, um den Murner-Text und ggf. um Wickram zuzuschreibende Spiele aus seiner Frühzeit? Die editionswissenschaftliche Grundfrage – abgesehen von Wickram – ist generell doch: Kann man derartige Tätigkeiten der Autoren übergehen, wenn sie sich textlich niedergeschlagen haben, öffentlich bekannt waren, ihr Echo hatten und eine Nachgeschichte erfahren haben? Ich meine: Nein! Sie müssen einer wissenschaftlichen Ausgabe auf irgendeine Weise inkorporiert werden. Ich bin mir bewußt, daß wir mit der editorischen Berücksichtigung dieses Materials, editionswissenschaftlich gesehen, die schon sehr weit vorangetriebe-
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ne poetische Schallmauer durchbrechen und in die Sphäre der Kulturwissenschaft vordringen, denn diese und andere derartige Autor-Arbeiten sind dort verankert. Es ist nicht einzusehen, warum die Editionswissenschaft als Grundlagenforschung vor der Dokumentation derartiger textualer Produkte zurückschrecken sollte. Kultur- und Sozialhistoriker werden dafür hoffentlich zu danken wissen. Im Falle Wickrams möchte ich praktisch dabei so verfahren: Der Realienband der Ausgabe steht zur Bearbeitung an. Hier soll eine Sparte aufgemacht werden, die literarisch-kulturelle Tätigkeiten des Autors dokumentiert. Um diese Texte, sofern sie nicht Originale sind, vom Autortext abzuheben, soll das Material petit gesetzt werden. Außerdem soll es möglich sein, in diesen Fällen auch Informationen des Herausgebers einzubeziehen. Was etwa bei Wickram im Falle des Komplexes der Singschule Colmar nötig wäre. Die Editionsarbeit Wickrams an Murners Narrenbeschwörung läßt sich so darstellen, daß im fortlaufenden Text alle Eingriffe Wickrams, von Buchstabenkorrekturen, Lautveränderungen bis zu den Textzusätzen in einem optisch gut wahrnehmbaren anderen Schriftgrad wiedergegeben werden. Besonders reizvoll stelle ich mir dabei vor, die von Wickram durchgeführte sprachliche Modernisierung im Hinblick auf ein seinerzeit modernes Buch-Deutsch im Zusammenhang eines Textes beobachten zu können. Ich würde mich freuen, wenn ich durch diese Nugae Wickramianae einen kleinen Impuls in die Diskussion der Tagung gebracht hätte, denn es geht natürlich immer um die Edierbarkeit von Materialien, die ausdrucksstark sind.
Cristina Urchueguı´a Wie macht man einen best-seller? Verlagsmethoden und Revisionsstrategien bei Arcangelo Corellis Violinsonaten Op. V
Als Arcangelo Corellis Violinsonaten Op. V 1700 in Rom das Licht der Welt erblickten, war ihr Autor durchaus kein Unbekannter. Obschon er Italien nie verlassen hat – von 1675 an war er ausschließlich in Rom tätig –, verbreitete sich sein Ruhm zu Lebzeiten über ganz Europa, von England über Holland bis Spanien. Er galt als ,der Violinvirtuose‘ schlechthin, seine besondere Begabung für die Interpretation und Improvisation zog nicht nur berühmte Rombesucher an, wie Charles Burney, Beschreibungen seines Spiels fanden in literarisch-stilisierter Form den Weg in wirkungsvolle Werke von Pionieren der Musikgeschichtsschreibung und prägen den Typus des Instrumentalvirtuosen mit, wie wir ihn aus dem 19. Jahrhundert bei Musikern wie Franz Liszt oder Niccolo Paganini kennen. Eines der hervorstechenden Merkmale dieser Spezies, die Exzentrizität, ist jedoch eine spätere Zutat.1 An Corelli schätzte man, nomen est omen, sein erzengelgleiches Gemüt. Die klassische Ausgewogenheit, die Temperanz, kennzeichnet auch den Rhythmus, in dem Corelli seine Werke veröffentlichte, wobei er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur einen Bruchteil seines künstlerischen Schaffens in den Druck beförderte, nur wenige seiner weiteren Werke haben sich handschriftlich erhalten. Corelli besticht nicht als eruptives Genie, sondern als besonnener, solider Komponist, der langsam aber beständig nur sein Ausgefeiltestes an die Öffentlichkeit heranträgt. Zwischen 1681 und 1700 erscheint durchschnittlich alle fünf Jahre eine Sammlung von Instrumentalwerken, vier Sammlungen mit Triosonaten und eine Sammlung Violinsonaten kommen heraus, postum, doch noch zu Lebzeiten des Autors vorbereitet, erscheint 1714 eine Sammlung von Concerti grossi.2 Im Alltag des Musikers Corelli spielt die Vokalmusik eine dominierende Rolle, er beteiligte sich als Solist und als organisatorisches Faktotum an der Aufführung groß- und kleinbesetzter geistlicher 1
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Z.B.: 1695 Beschreibung des Engländers James Drummond, Earl of Perth: Ottoboni habe einen Virtuosen namens „le Bolognese Archangelo [...], who waits on him as a gentleman here, the best player on the fidle that ever was, and the greatest master of composeing.“ Zitiert nach: M. Tilmouth: Music and British Travellers Abroad, 1600–1730: In: Festschrift Th. Dart. Hrsg. von I. Bent. London 1981, S. 365. Op. I: 12 Sonate a tre (Rome 1681); Op. II: 12 Sonate da camera a tre (Rome 1685); Op. III: 12 Sonate a tre (Rome 1689); Op. IV: 12 Sonate a tre (Rome 1694); Op. V: 12 Sonate a Violino e Violone o Cimbalo (Rome 1700); Op. VI: 12 Concerti grossi (Amsterdam, 1714).
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Vokalmusik und auch Instrumentalmusik an verschiedenen römischen Hof- und Kirchenkonzerten. Der Nachruhm des Komponisten Corelli gründet aber nur auf seiner Instrumentalmusik. In der musikhistorischen Gesamtschau erzielte er dank seines Œuvres mit minimalem Volumen maximale Wirkung. Man vergleiche sein output – die Gesamtausgabe umfaßt ganze sechs Bände – mit den 107 Bänden der Gesamtausgabe des ca. 30 Jahre jüngeren Johann Sebastian Bach oder mit den ca. 8 laufenden Regalmetern, die die Mozart-Gesamtausgabe beansprucht. Corellis Werke sind in den drei Gattungen, die gedruckt repräsentiert sind – Triosonate, Violinsonate und Concerto grosso –, prägend. Er konsolidierte die Form, Satztechnik und Stil dieser Instrumentalgattungen und verlieh ihnen somit ein rationales, erkennbares Profil, das anderen Komponisten als belehrendes und nachzuahmendes Modell zur Verfügung stand. Telemann expliziert sogar im Titel seiner Sonates corellisantes (Hamburg, ca. 1735) den unmittelbaren Bezug auf Corelli.3 An prominentester Stelle im Zusammenhang der Rezeption von Corelli steht sein Op. V, eine Sammlung von 12 Violinsonaten oder, genauer, sechs Sonate da chiesa, fünf Sonate da camera und ein Variationszyklus. Die Verbreitung dieser Sammlung – eigentlich kann sogar schon von einer Vermarktung die Rede sein – stellt einen präzedenzlosen Fall in der Musikgeschichte dar. Bis 1800 zählen wir 42 Auflagen in allen wichtigen Druckzentren Europas sowie unzählige gedruckte und mehr als ein Dutzend erhaltener handschriftlicher Bearbeitungen. Am erstaunlichsten ist aber die Tatsache, daß dieses aktive Interesse ohne Unterbrechung bis heute anhält: Op. V ist nicht nur der erste musikalische Kassenschlager, als erstes Werk der Musikgeschichte konnte sich Op. V ununterbrochen im Repertoire und im Musikalienhandel halten.4 Eine derart rasche, 3
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Georg Philipp Telemann: Sonates corellisantes a` 2 Violons ou Traversie`res, Violoncello e Fondamento, (Hamburg 1735), RISM: A/I: T 444. Siehe im Zusammenhang der Kanonisierung von Corellis Stil: Hans Joachim Marx: Artikel ,Arcangelo Corelli‘. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Ludwig Finscher. Personenteil, Bd. 4. Kassel (u.a.) 2000, Sp. 1573–1598; Kenneth Nott: Corelli’s op. 5, no. 8 sarabanda as a compositional model for Handel and his contemporaries. In: Göttinger Händel-Beiträge 7 (1998), S. 182–207; Dominik Sackmann: Bach und Corelli. Studien zu Bachs Rezeption von Corellis Violinsonaten op. 5 unter besonderer Berücksichtigung der „Passaggio-Orgelchoräle“ und der langsamen Konzertsätze. München und Salzburg 2000; Ders.: Bachs langsame Konzertsätze unter dem Einfluß von Arcangelo Corelli: Vom Ostinatoprinzip zum Primat der expressiven Solostimme. In: Bach und die Stile. Bericht über das 2. Dortmunder Bach-Symposion 1998. Hrsg. von Martin Geck. Dortmund 1999. (Dortmunder Bach-Forschung Bd. 2), S. 303–326; Ludwig Finscher: Corelli und die ,corellisierenden‘ Sonaten Telemanns. In: Studi Corelliani (1972), S. 75–95; Ders.: Corelli, Haydn und die klassischen Gattungen der Kammermusik. In: Gattungen der Musik und ihre Klassiker. Hrsg. von Hermann Danuser. Laaber 1988. (= Publikationen der Hochschule für Musik und Theater Hannover, hrsg. von Richard Jakoby, Bd. 1), S. 185–195. Vgl. zu den Drucken zu Lebzeiten: Arcangelo Corelli Gesamtausgabe. Begründet von Hans Oesch, fortgeführt von Hans-Joachim Hinrichsen und Laurenz Lütteken. Bd. 3. Sonate a Violino e Violone o Cimbalo, op. V. Hrsg. von Cristina Urchueguı´a unter Mitarbeit von Martin Zimmermann. Laaber 2006. Zu den Bearbeitungen und verzierten Fassungen von fremder Hand siehe Hans-Joachim Marx: Die Überlieferung der Werke Arcangelo Corellis. Catalogue raisonne´
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dichte und flächendeckende Verbreitung werden erst wieder die Werke von Joseph Haydn ein Jahrhundert später erreichen. Stellt man der Rezeption Corellis die Rezeption Johann Sebastian Bachs gegenüber, so gleicht letztere einem mäandernden, immer wieder versiegenden Gebirgsbach, der sich erst um 1800 dazu entschließen kann, zum Fluß werden, um in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts endlich im Ozean zu münden.5 Es stellt sich die Frage, ob dieser schlagartige und nachhaltige Erfolg im Zusammenhang mit bewußten Entscheidungen Arcangelo Corellis bezüglich der Art der Veröffentlichung und der Textgestaltung steht oder aber diese besondere und anhaltende Sympathie des Publikums eine willkommene doch nicht vorauszusehende ,Überraschung‘ war. Bis auf sein letztes Opus, die postume Sammlung von Concerti grossi op. VI, wurden die Erstdrucke der Werke Corellis in Rom besorgt, eine Stadt, die auf eine reiche und ehrenvolle Musikdruckgeschichte zurückblickte; um 1660 hatte die Stadt am Tiber jedoch die Vorherrschaft im weltweiten Druckgeschäft eingebüßt. London und Amsterdam konnten sich rühmen, die modernsten Techniken und die effektivsten Vertriebsmöglichkeiten anzubieten, und man riß sich in den entsprechenden Offizinen buchstäblich darum, den Markt zu dominieren: noch im selben Jahr, in dem die Werke von Corelli in Rom erschienen sind, wurden auch schon Nachdrucke in Amsterdam und London hergestellt oder vorbereitet. Die Nachdrucke aus Amsterdam und London weisen trotz ihrer nüchternen Ausstattung bis einschließlich Opus IV einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Erstdrucken auf: die römischen Drucke waren im TypensatzVerfahren hergestellt, während die Drucke aus Amsterdam im ungleich eleganteren und gelenkigeren Notenstich-Verfahren produziert wurden (Siehe Abb. 1a und 1b).6
Abb. 1a: Notenbild einer Ausgabe im Notenstich-Verfahren aus R
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(Supplementband zur historisch-kritischen Gesamtausgabe der musikalischen Werke). Köln 1980, S. 314–325; Ders.: Some unknown embellishements of Corelli’s violin sonatas. In: Musical Quarterly 61 (1975), S. 65–76; Neal Zaslaw: Ornaments for Corelli’s Violin Sonatas, op. 5. In: Early Music 24 (1996), S. 95–115; Robert E. Seletsky: 18th-century variations for Corelli’s Sonatas, op. 5. In: Early Music 24 (1996), S. 119–130. Vgl. hierzu etwa: Bach und die Nachwelt. Bd. 1–3. Hrsg. von Michael Heinemann und HansJoachim Hinrichsen. Laaber 1997, 1999, 2000; Bd. 4. Hrsg. von Michael Heinemann und Joachim Lüdtke. Laaber 2005. Bildnachweise siehe Anhang.
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Abb. 1b: Notenbild einer Ausgabe im Typendruck-Verfahren aus B2
Die Vorteile des Notenstich-Verfahrens gehen über eine Verbesserung der rein graphischen Qualität des Notenbildes hinaus, auch die Fähigkeit, musikalische Substanz adäquat zu repräsentieren, wird wesentlich erhöht. Im Typensatz des ausgehenden 17. Jahrhunderts erscheinen die Notenlinien unterbrochen, wenn nicht durchlöchert, Doppelgriffe, also akkordische Abb. 2a: Legatobogen im Setzweise auf einer einzigen Notenzeile, können nur Notenstich-Verunter großen Schwierigkeiten dargestellt werden – in fahren aus R unserem Beispiel muß der Drucker Notenstich und Typensatz mischen, das Ergebnis läßt zu wünschen übrig –, die Legatobögen sind aufgrund der begrenzten Anzahl von Typen stets ungenau, wenn nicht fehlerhaft, schließlich sind die Möglichkeiten, Achtelnoten oder kürzere Noten mittels Balken in GrupAbb. 2b: Legatobogen im pen zu gliedern, kaum vorhanden. (Siehe Abb. 2a Typendruck-Verund 2b) Noten, die metrisch eine Einheit im Takt fahren aus B2 bilden, erscheinen immer als rhythmisch undifferenzierte Einzelelemente, was die Lektüre und die Vermittlung der musikalischen Zusammenhänge erheblich erschwert. Demgegenüber bietet das Notenstich-Verfahren die Möglichkeit, die Merkmale der Handschrift nahezu identisch zu reproduzieren, es kann somit alle graphischen Einzelheiten berücksichtigen. In Rom hatte man bereits im ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhundert das Notenstichverfahren angewandt, es hatte sich aber nicht durchsetzen können, der Typensatz blieb vorherrschend. Schon 1679 zählte Corelli zu den Kammermusikern von Christina von Schweden, die ihn bis zu ihrem Tod 1689 immer wieder engagierte, auch wenn er bereits 1687 eine feste Anstellung als Musikdirektor des Kardinals Pamphilij´ fand. 1690 wurde er von Kardinal Ottoboni abgeworben, in dessen Haushalt er bis zu seinem Tod 1713 blieb. Corellis Amt brachte auch eine sozial exponierte Stellung mit sich, der er, den Rezeptionszeugnissen nach zu urteilen, charakterlich durchaus gewachsen war. Corelli war zu Lebzeiten in seiner Weise in Rom und auch über die Grenzen Italiens hinaus im wahrsten Sinne des Wortes pro-
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minent, was für einen Instrumentalisten an der Schwelle vom 17. ins 18. Jahrhundert keineswegs selbstverständlich ist. Noch bis ins ausgehende 18. Jahrhundert wurden Musiker wie besseres Hauspersonal behandelt und entlohnt. Corellis privilegierte Stellung schlug sich sowohl in einer quantifizierbaren finanziellen Sicherung als auch in einer für die Zeit einzigartigen sozialen Nobilitierung nieder. Er störte sich an den positiven Nebenerscheinungen, den finanziellen und sozialen Privilegien nicht und konnte beide auch würdevoll repräsentieren. Schon sehr früh war er als bestverdienender Musiker fest angestellt, es war ihm auch möglich, sein Lebensumfeld weit über dem Standard eines Hofmusikers zu gestalten. Starauftritte in anderen römischen Häusern mögen seine persönliche Schatulle zusätzlich gefüllt haben. Alexandra Nigito konnte nachweisen, daß Corelli bei seinen Auftritten in den Häusern Ottoboni, Pamphilij und Colonna besser bezahlt wurde und zuweilen sogar doppelt soviel Gage erhielt als jeder andere Musiker.7 In seinem Testament hinterließ er neben Instrumenten und Musikalien auch Bilder und Kunstgegenstände, die davon zeugen, daß Corelli finanziell in der Lage gewesen ist, eigene künstlerische Interessen zu pflegen und auch musikalische Ambitionen über das Maß der höfischen Verpflichtung hinaus zu verfolgen.8 Sein Nachlaß deutet zwar nicht auf einen Gelehrten, aber doch auf einen überdurchschnittlich gebildeten und kunstsinnigen Musiker hin. Aber auch in Bezug auf seine Veröffentlichungen ließ er die pekuniären Aspekte nicht aus dem Auge. Ein Musiker im ausgehenden 17. Jahrhundert hatte nur begrenzte Möglichkeiten, das wirtschaftliche Potential seines Schaffens voll auszuschöpfen. Eine Möglichkeit bestand darin, die Drucklegung in einem Land zu veranstalten, in dem man auf den Schutz durch Privilegien und Verbote zugreifen konnte. Corellis Dienstverhältnis am Haus Ottoboni brachte auch beste Verbindungen zur römischen Kurie mit sich und die Möglichkeit, hochgestellte römische Befürworter zum Schutz seiner Druckerzeugnisse zu gewinnen. Dennoch halfen Empfehlungen und Abschreckungsfloskeln nur zum Teil: denn die Jurisdiktion der Privilegien und Verbote blieb auf das jeweilige Gebiet beschränkt, gegen die ausländischen Nachdrucke boten römische Privilegien keinen Schutz. Zwei musikspezifische Aspekte müssen an dieser Stelle besonders unterstrichen werden. Zum einen erfordert Musikdruck in der Regel einen hö7
8
Alexandra Nigito: La musica a Roma nella seconda meta` del Seicento: nuove fonti d’archivio. Dissertation in Vorbereitung am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich. Ich danke Frau Nigito für die Einsicht in das Manuskript und die Erlaubnis, die Ergebnisse ihrer Quellenauswertungen benutzen zu können. Sein Testament verfügte, daß diese Platten seinem Assistenten Matteo Fornari zukommen sollten. Die Parallelauflagen R2 und R3 entstanden erst nach Corellis Tod. Das Testament ist veröffentlicht bei: Mario Rinaldi: Arcangelo Corelli. Mailand 1953, S. 449: „Al Sig-r Matteo Fornari lasio tutti li mei Violini e tutte le mie care con lasiarli ancora tutti li rami dell’Opera Quarta“. Gemeint sind dabei zweifelsfrei die Platten von Op. V, da Op. IV im Typensatzverfahren produziert wurde.
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heren technischen und finanziellen Aufwand als Textdruck, sieht man natürlich von besonderen Erzeugnissen des Textdruckes ab. Die Konsequenz davon ist, daß es weniger Drucker gab, die Musikdruck anboten. Andererseits, und dies kompensiert das höhere Risiko von Musikdruckern, ist der Musikalienmarkt von Anfang an international ausgerichtet gewesen. Die internationale Einsetzbarkeit von Musik erklärt sich gerade bei instrumentalen Gattungen von selbst, aber auch Kirchenmusik in lateinischer Sprache ließ sich europaweit und sogar weltweit vermarkten. Corellis Opera I bis IV wurden unmittelbar nach dem Erstdruck im Ausland nachgedruckt. Aber erst die Verlagsgeschichte von Opus V weist bemerkenswerte Merkmale eines regelrechten Überbietungskampfes zwischen den wichtigsten europäischen Offizinen auf.9 Das Haus des Estienne Roger in Amsterdam beteiligte sich besonders aktiv an der Verbreitung des Corellischen Œuvres, aus seiner Offizin stammen vier Auflagen von Opus V zu Lebzeiten des Autors.10 Versuchte Roger seine Stellung im Markt durch Quantität und Textqualität zu festigen, so setzte der Londoner Konkurrent John Walsh (Senior) auf Schnelligkeit. Wie Rudolf Rasch überzeugend dargestellt hat, arbeiteten Walsh und Roger in einem offenen Konkurrenzverhältnis im Hinblick auf den internationalen Markt, das sich u.a. in einer offensiven Anzeigenpolitik in Zeitungen und Zeitschriften niederschlug.11 Beide Verleger betrieben phantasievolle und aktive Verlagsstrategien zur Werbung und Abwerbung von Kunden im gesamteuropäischen Raum, die gerade im Fall von Opus V ihren Höhepunkt erreichen. Das bloße Nachdrucken reichte in diesem Fall nicht aus, Merkmale wie die Vereinheitlichung bzw. die Änderung des Buchformats von Quer- auf Hochformat, die Korrektheit des Textes, die Bearbeitung durch berühmte Musiker spielen dabei eine Rolle. Walsh und Roger sahen sich bemüßigt, dem Kunden einen Mehrwert anzubieten, um im Markt zu reüssieren. Roger hatte markttechnisch gesehen den besseren Stand, da seine Produkte in England vertrieben wurden, während der Engländer Walsh auf dem Kontinent kein Vertreternetzwerk besaß.
9 10
11
Eine summarische Liste der Drucke ist im Anhang angeführt. Vgl. Anhang und Franc¸ois Lesure: Bibliographie des e´ditions musicales publie´es par Estienne Roger et M. C. Le Ce`ne (Amsterdam 1696–1743). Paris 1969; Rudolf Rasch: Katalog der Drucke von Estienne Roger, in Vorbereitung. Ich danke Herrn Rasch für die Einsicht in das Manuskript. William Smith und Charles Humphries: A Bibliography of the Musical Works published by the Firm of John Walsh during the years 1721–1766. London 1968. British Union Catalogue of Early Music printed before the year 1801. A Record of the Holdings of over one hundred Libraries throughout the British Isles. Hrsg. von Edith B. Schnapper. 2 Bde. London 1957, Bd. 1, S. 220–222. Rudolf Rasch (Hrsg.): Music Publishing in Europe, 1600–1900: Concept and Issues, Bibliography. Berlin 2005, S. 200f. Ders.: Il cielo batavo. I compositori Italiani e le editizioni Olandesi delle loro opere strumentali nel Primo Settecento. In: Analecta Musicologica 2002, S. 237–266. Siehe auch: Francois Lesure: Estienne Roger et Pierre Mortier: un e´pisode de la guerre des contrefac¸on a` Amsterdam. In: Revue de musicologie (1956), XVIII, S. 33–48.
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Es haben sich keine Verträge zwischen Corelli und Roger für die Werke Op. I bis V erhalten, obwohl die Werke von Corelli eine zentrale Rolle im Verlagsprogramm spielen, mit Op. IV 1696, als eines der ersten Bücher des Hauses. Corelli steht an erster Stelle in der Abteilung für italienische Musik, noch vor Tomaso Albinoni und sogar vor dem notorischen Vielschreiber Antonio Vivaldi. Insgesamt druckte Roger mehr Auflagen von Werken Corellis als von irgendeinem anderen italienischen Komponisten. Aber auch der erhaltene Vertrag für Op. VI, datiert auf den 21. April 1712, kann bezüglich der wirtschaftlichen Vereinbarungen nicht als repräsentativ gelten.12 Es handelt sich bei Op. VI um eine Erstveröffentlichung, und die Anzahl an Freiexemplaren, die der Vertrag festlegt (150 Exemplare), übersteigt um das drei- bis vierfache die übliche Anzahl. Wie und ob Roger bei Nachdrucken verfuhr, ist nicht belegt. Jedenfalls ist zu vermuten, daß der Nachdruck nicht zugunsten des Autors gemacht wurde. Daher können wir nur mutmaßen, ob es überhaupt einen Verlagsvertrag zu Op. V gab, und wenn ja, wie die Vereinbarungen lauteten. Die Sachlage stellte sich vor der Veröffentlichung von Op. V folgendermaßen dar: Corelli konnte einen Erstdruck im Typensatz in Rom veranstalten und sich den römischen Markt sichern, doch sobald Roger in Amsterdam oder Walsh in London das Werk zum Verkauf anbieten würden, hätten sie ihn im wörtlichsten Sinne ,ausgestochen‘. Ob Corelli in diesen Kategorien dachte, kann man nur vermuten. Die Maßnahmen, die er für die Veröffentlichung von Op. V in die Tat umsetzte, sprechen aber dafür. Da es in Rom keinen Notenstecher, geschweige denn ein Verlagshaus gab, das Notenstich anbieten konnte, ergriff Corelli die Initiative. Er entschied sich für den Selbstverlag und suchte einen Mitarbeiter, der dafür bekannt war, jede Vorlage vom Papier in die Platte übertragen zu können. Gasparo Pietra Santa konnte als Visitenkarte seine Arbeiten für den bedeutendsten Kartenverleger der Zeit, Giovanni Giacomo de Rossi (tätig 1648–1691), sowie den Geographen des Herzogs von Modena und später der Serenissima in Venedig Giacomo Cantelli da Vignola (1643–1695) vorweisen.13 Das Stechen von Landkarten erfordert die Fähigkeit, Schrift und Graphik sinnfällig miteinander zu verbinden, eine Fähigkeit, die für das Schreiben von Noten durchaus brauchbar erscheint. Pietra Santa ist weder vor noch nach seiner Mitarbeit mit Corelli als Notenstecher hervorgetreten. Daher lohnt der Blick in dieses Notenbild besonders. Zunächst besticht die äußere Schönheit und Akkuratesse des Notenbildes, sie spricht für eine geübte Hand. Da wir nicht davon ausgehen können, daß Gasparo Pietra Santa eine individuelle bzw. trainierte Notenschreibhand besaß, können wir davon ausgehen, daß Pietra Santa die 12
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Rudolf Rasch: Corelli’s Contract: Notes on the Publication History of the Concerti Grossi ... Opera Sesta [1714]. In: Tijdschrift van de Koninklijke Vereniging voor Nederlandse Muziekgeschiedenis 46 (1996), S. 83–136. Vgl. hierzu: Giacomo Cantelli: geografo del serenissimo. Vignola Rocca Medievale 18 November 1995–31. Januar 1996. Ausstellungskatalog. Hrsg. von Alessandra Bonazzi. Bologna 1995.
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Handschrift seiner Vorlage eins zu eins reproduzierte. Er benutzte für wiederkehrende Notationselemente wie Notenschlüssel keine Stempel, wie es sonst üblich war, sondern zog sie freihändig. (Siehe Abb. 3) Corelli widmete den Erstdruck (R1) von Op. V emphatisch der Kurfürstin Sophie Charlotte von Braunschweig, der späteren preußischen Königin.14 Es bestanden keine direkten Verbindungen zwischen Corelli und der KurfürAbb. 3: Baßschlüssel aus R, Rom 1700, gestin, die Gründe für diese Widmung stochen von Gasparo Pietra Santa sind bisher unbekannt. Die Beigabe einer aufwendigen Titelradierung, in der eine weibliche Figur der auf einer Wolke schwebendenGöttin Minerva das Buch in die Knie sinkend, darbietet, stellt diesen Druck in eine Reihe mit den großartigen, repräsentativen Musikdrucken des 16. Jahrhunderts, Andrea Anticos: Liber Quindecim Missarum von 1516, Cristo´bal de Morales Messendrucke von 1544/1545, Giovanni Pierluigi da Palestrinas Messendrucke von 1565: Auch in diesen prächtigen Foliodrucken wird dem Widmungsträger, dem Papst, kniend gehuldigt und das Buch gereicht. In der Allegorie von Corellis Titelradierung wird diese Geste säkularisiert übernommen: das Bild läßt sich unschwer als mythologische Überhöhung von Sophie Charlottes ,Musenhof‘ in Lietzenhof interpretieren. Diesen Aufwand hat Corelli selber finanziert. Er scheute weder Mühen noch Kosten, um dem Druck von Op. V eine tadellose, auffallend schöne äußere Gestalt zu verleihen. Daß Corelli zeitlebens die Druckplatten von Op. V bei sich behielt und sie in seinem Testament als Teil seines Besitzes behandelt, den er zusammen mit seiner Noten- und Bildersammlung seinem langjährigen Schüler und Mitarbeiter Matteo Fornari vermachte, beweist, daß er am Produkt seiner Bemühungen persönlich hing.15 Zwar hatte Corelli damit seinen Konkurrenten die Arbeit erschwert, abschreckend wirkte der Druck jedoch keineswegs. 1700 erschienen Nachdrucke in Bologna (B1) und in London (L1), 1702 der erste Amsterdamer Nachdruck bei Estienne Roger (A1), dem 1706 (A2) und 1709 (A3) weitere folgen sollten. Bis zu Corellis Tod 1713 sind über zehn Nachdrukke dieser ersten Fassung von Op. V nachgewiesen. Bis auf den Druck aus 14
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Eine summarische Liste der Ausgaben im Anhang.Widmungstext des Erstdruckes von Corellis Op. V (R1): Parte Prima Sonate a Violino e Violone o Cimbalo Dedicate all altezza Serenissima Eletorrale di Sofia Carlotta Elettrice di Brangenbvrgo Principessa di Brunswich et Lvnebvrgo Dvchessa di Prvssia e di Magdebvrgo Cleves Givliers Berga Stettino Pomerania Cassvbia e de Vandali in Silesta Crossen Burgravia di Norimberg Principessa di Halberstatt Minden e Camin Contessa di Hohenzollern e Ravenspurg Ravenstein Lavenbvrg e Bvttav da Arcangelo Corelli da Fvsignano Opera Qvinta. Zur Ausgabe des Testaments siehe Anm. 6.
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Bologna, der mit einem sehr fehleranfälligen Typensatz hergestellt wurde, sind die Nachdrucke zu Lebzeiten sowohl drucktechnisch als auch hinsichtlich der Textqualität hervorragend. Die erste Welle der Nachdrucke übernahm den Text von Corelli nahezu unangetastet. Die Beziehung zwischen der Textgestalt der Drucke ist in Abb. 4 graphisch dargestellt.
Abb. 4: Stemma der Drucke ohne Verzierungen von A. Corellis Op. V, 1700–171216
Der zweite Bologneser Druck (B2), ein Typendruck, wimmelt von vornehmlich auf die Unzulänglichkeit des Typendruckes zurückzuführenden Verderbnissen, der Londoner Druck (L1) ist sehr akkurat, der erste Druck aus Amsterdam (A1) weist aber Veränderungen auf, die auf den Willen zur Normalisierung und Vereinheitlichung des Notenbildes hinweisen. Z.B. wurde die etwas idiosynkrati16
Legende: Part. = Partitur, Vl = Violin-Stimme, Vlo = Violone-Stimme.
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sche Taktanweisung 6/9 durch den geläufigeren 3/4 Takt ersetzt, (siehe Abb. 5) einige wenige Fehler schlichen sich ein. In der zweiten Amsterdamer Ausgabe von 1706 (A2), die wohlgemerkt mit denselben Platten hergestellt ist, wurden die meisten Veränderungen durch Plattenkorrekturen rückgängig gemacht, einige Fehler, zum Glück nicht alle, wurden nach dem Erstdruck berichtigt. Trotz der unterschiedlichen graphischen Qualität der Abbildungen wird deutlich, daß Roger seine Platten nach dem Erstdruck überprüfte. Neben der Korrektur von Kopierfehlern wurde eine Schicht von notationalen Veränderungen rückgängig gemacht, die ausschließlich auf die jeweilige NotationskonvenR A1 A2 tion gegründet ist. Die Restitution Abb. 5: Taktanweisung 1702–1706 der ursprünglichen Textgestalt wurde planmäßig im Sinne einer Verlagsrevision durchgeführt. Nicht nur die Partitur der Seconde edition wurde dabei überprüft, auch die dazugehörigen Stimmendrucke weisen Spuren von Revision auf. Roger hat mit dem Nachdruck von 1706 (A2), mit der Seconde edition, die Führung gegenüber Walsh wieder erlangt – es sind keine Auflagen von Walsh aus dieser Zeitspanne mehr bekannt –, doch die Konkurrenz beschränkte sich nicht nur auf den Engländer. Ca. 1708 tritt in Amsterdam Pierre Mortier auf dem Corelli-Schlachtfeld auf, er kündigt eine Ausgabe an (A4), die mit dem Zusatz Nouvelle Edition Mise en meilleur ordre et corrige´ de plusieurs de fautes veröffentlicht wurde.17 Seine Ausgabe von 1709 (A4) zeichnet sich durch die Änderung von Quer- auf Hochformat aus, der Text ist aber geradezu identisch mit der zweiten Auflage von Roger. Dieser reagiert noch im selben Jahr, indem er eine grundlegend überarbeitete Seconde edition (A3) herausbrachte mit dem Zusatz Corrige´e avec toute l’Exactitude possible.18 Roger bediente sich der Druckplatten von A2, feilte aber weiter an der Lesefreundlichkeit des Notenbildes. In seiner ersten Ausgabe (A1) hatte er bereits Custodes am Zeilenende angebracht, um dem Musiker beim Zeilenumbruch eine Hilfestellung zu leisten, in der Seconde edition von 1706 (A2) fügte er den Custodes noch die Angaben über die Vorzeichen der Folgenote hinzu, in seiner Seconde edition corrige´e (A3) führte er Systemklammern ein, um die zueinander gehörigen Notenzeilen graphisch zu kennzeichnen. Dies sind aber nur äußere Details der Notation, ent-
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Angabe auf dem Titelblatt. Ebenda.
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scheidend an der Seconde edition corrige´e ist, daß sie ca. 25 % zusätzliche Ziffern im Bass enthält: (siehe Abb. 6)
Abb. 6: Ziffern 1702–1709
Mit dieser von Nicola Josef Haym „Nicolini“, einem bekannten Musiker, überarbeiteten Fassung hat Roger, sieht man von ganz wenigen substantiellen Varianten ab, keineswegs in den Notentext ,eingegriffen‘, die zusätzlichen Ziffern entstehen dadurch, daß Roger den Grad an Ausdrücklichkeit seiner Bezifferung erhöht. Oder anders formuliert würde ein Cembalist die erste Fassung wie die zweite spielen, nur sind in der zweiten Fassung die Harmonien häufiger schriftlich expliziert. Dennoch hat Roger hiermit die erste Auflage auf den Markt gebracht, deren Text in einer sichtbaren und quantifizierbaren Form anders ist, auch wenn der Unterschied lediglich darin besteht, daß der Text genauer ,erklärt‘ wird. Damit bietet er gegenüber den Nachdrucken einen evidenten Vorteil. Von diesen ,Mutationen‘ seines Textes war Corelli höchstwahrscheinlich nicht informiert, und er hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weder einen Anteil daran gehabt noch die Veranlassung, seinen Text durch diese Änderungen in irgendeiner Weise als entfremdet anzusehen. 1710 gibt Estienne Roger eine weitere Ausgabe heraus, seine Troisieme Edition (VA1, siehe Abb. 7):
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Abb. 7: Titelblatt von VA1, Exemplar Forli.
Diese unterscheidet sich substantiell von allen vorherigen Ausgaben. Sie überliefert nämlich zu allen langsamen Sätzen der ersten sechs Sonaten, jeweils zwei Sätze pro Sonate, eine zusätzliche, alternativ zu spielende Violinstimme. Diese Stimme stellt eine durch melodische Ornamente und Ziernoten bereicherte Fassung der ursprünglichen Stimme dar.
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Abb. 8a: Beginn von Sonata 2 aus Corellis Op. V.
Auf dem Titelblatt der Ausgabe bezieht sich Roger ausdrücklich auf diese Verzierungen, die laut dem Titelblatt der Fassung entsprechen „comme il les joue“, also so sind, wie sie Corelli selbst spielt. In seinem Verlagskatalog von 1712 bedient sich Roger einer leicht veränderten Formulierung:
Rom 1700, R
Abb. 8b: Beginn von Sonata 2 aus Corellis Op. V. Amsterdam 1710, VA1
nouvelle e´dition [...] avec les agre´mens marquez pour les adagio, comme Mr. Corelli veut qu’on les joue, & ceux qui seront curieux de voir l’original de Mr. Corelli avec ses lettres e´crites a` ce sujet, les peuvent voir chez Estienne Roger.19
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Fettdruck C.U. Catalogue 1712, wiedergegeben in Lesure 1969 (wie Anm. 10).
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Die Troisieme Edition vermittelt also, laut Roger, nicht nur die Fassung der Verzierungen, die Corelli gespielt hat, sondern den Text, den er gespielt haben will. Der Hinweis auf Briefe von Corelli, die die Authentizität dieser Verzierungen beweisen, macht aber stutzig, hatte es doch Roger bisher niemals für nötig befunden, die Authentizität der Werke Corellis in irgendeiner Form unter Beweis zu stellen. Die Forschung hat diese Beteuerungen Rogers als disculpatio non petita gelesen. Rogers Nachdruck wurde als Indiz für die Fragwürdigkeit der Autorschaft interpretiert, konsequent sah man sich berechtigt, den Verzierungen jegliche Spielart der Skepsis entgegenzubringen. Zweifel über die Authentizität der Verzierungen ziehen sich durch das gesamte Schrifttum über Corelli wie ein roter Faden durch. Es fehlt auch nicht an kritischen Stimmen von Seiten der Zeitgenossen Corellis, um diese Haltung zusätzlichen zu nähren. Roger North, ein Bewunderer Corellis, kommentierte diese Ausgabe unverblümt kritisch. North schätzt zwar „those elegant turnes of voices and instruments which are taught by the Italian masters“ über alle Maßen, die Fassungen aus Rogers Druck werden aber von ihm aufs schärfste abgelehnt:20 Some presumer hath published a continuall course of this sort of stuff in score with Corelly’s solos, and is thereby intituled onely to a tolle for his reward. Upon the bare view of the print nay one would wonder how so much vermin could creep into the works of such a master. And nothing can resolve it but the ignorant ambition of learners, and the knavish invention of the musick sellers to profit thereby. Judicious architects abominate any thing of imbroidery upon a structure that is to appear great, and trifling about an harmonious composition is no less absurd.21
Doch weder stilistische noch qualitative Aburteilungen der Verzierungen haben den Zweiflern schlußendlich zum Sieg verholfen. Die Unentschiedenheit bei dieser Frage hat nicht zuletzt jahrzehntelang die kritische Edition von Op. V blockiert, die 20 Jahre zwischen 1986 und 2006 ihrer Publikation harrte. Das Problem war nicht, ob die Verzierungen edierenswert sind oder nicht. Die musikwissenschaftliche Forschung und Edition hat die Verzierungskunst als musikhistorisches Zeugnis eigenen Rechts immer schon ernst genommen. Gleichwohl erschien der editorische Umgang mit Verzierungen im allgemeinen und bei Corelli im besonderen stets problematisch. Das grundlegende Problem betrifft die Unvereinbarkeit von Schriftlichkeit und Verzierungspraxis: It is the hardest task that can be, to pen the manner of artificiall Gracing an upper part. It hath bin attempted, and in print, but with woefull effect. One that hears, with 20
21
Roger North: The Art of Gracing. In: On Music. Being a Selection from the Essays written during the years c. 1695–1728. Hrsg. von John Wilson. London 1959, S. 147–173, S. 160. Ebenda, S. 161.
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a direct intent to learne, may be shew’d the way by a notation, but no man ever taught himself that way. The spirit of that art is incomunicable by wrighting, therefore it is almost inexcusable to attempt it. But when it is done not for practise but speculation, and to aid a practiser, as reason is always a friend to art, it may, for the pure good will, be indulged.22
Zwar läßt North die schriftlich fixierten Verzierungen als pädagogisches Exemplum gewissermaßen gelten, er läßt aber auch keinen Zweifel daran, daß die Verzierungskunst nicht in den Bereich der Schriftlichkeit gehört: notierte Verzierungen dienen weder zum Nachspielen, noch hat jemals ein Musiker auf der Grundlage von Notation die Verzierungskunst erlernt. Notierte Verzierungen sind demzufolge ein Widerspruch in sich. North steht mit dieser Ansicht nicht allein, es fehlen aber nicht autorisierte Meinungen, die diese Ansicht relativieren. Zum einen besteht ein gewisser Konsens über den pädagogischen Nutzen, den notierte Verzierungen haben können, auch Corellis Verzierungen wurden „de ve´ritables lec¸ons de violon pour tous les Amateurs“ angesehen, was en passant den Adressatenkreis der Verzierungen um einen Typus erweitert: den lernbegierigen Dilettanten.23 Schon der erste gedruckte Traktat zur Verzierungskunst, Diego Ortiz´ Trattado de glosas (1553) empfiehlt dem Lernenden, die Grundstimme aufzuschreiben, für jede Note in seinem Traktat nach den besten VerzierungsVarianten zu suchen und „die, die am besten geeignet ist, zu nehmen und dort an Stelle der einfachen Note hinzuschreiben, und an jeder Stelle, die er verzieren will, verfahre er in der selben Weise“.24 Sein Traktat funktioniert nach dem Baukastenprinzip, der Schüler kann sich aus einem Repertoire von Beispielen, die vermeintlich sämtliche möglichen kompositorischen Situationen illustrieren, für seine Bedürfnisse die entsprechenden Elemente zusammensuchen und montieren. Die Verschriftlichung erfüllt dabei eine didaktische Funktion hinsichtlich des Endprodukts, der Schüler soll die Verzierungskunst erlernen, schreiben ist aber auch ein Korrektiv gegen den Mißbrauch. Der Schüler lernt auch die zu verzierenden Stimmen genau kennen, damit er nicht „die Komposition verlasse und nach Gehör oder ungefähr verfahre, ohne Gewißheit dessen was er tut [...] ohne Sinn und Verstand und ohne Takt“.25 Diese Gefahr sieht Ortiz gerade bei jenen Spielern, die technisch kompetent sind. Verzierungskunst soll also stets dem Werk dienen und nicht dem Selbstzweck einer sinnentleerten Instrumentalakrobatik. 22 23 24
25
Ebenda, S. 150. Lesure 1969 (Anm. 11), S. 41. Vgl. Diego Ortiz: Trattado de glosas. Viersprachige Neuausgabe der spanischen und der italienischen Originalausgabe Rom 1553. Hrsg. von Annette Otterstedt. Kassel et al. 2003, S. 42: „tome la que meior le estuviere y pongale en lugar de los puntos llanos y en todas las partes que quiesiere glosar haga desta manera“. Ebenda, S. 40: „sallir dela composition y yr a oydo o a poco mas o menos no lleuando certinidad delo que se haze y esto vian algunos que como tiene[n] vn poco de habilidad quierenla executar y sallen syn propostio y sin compas de la composition.“
Verlagsmethoden und Revisionsstrategien bei Arcangelo Corellis Violinsonaten Op. V
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Die Freude am Spielen bzw. die Bewunderung des Virtuosen steht somit mit der Werktreue, die Normativität mit der Freiheit in einem nicht aufzulösenden Spannungsverhältnis. Bündig begründet Chrysander die Schriftfeindlichkeit und das Unbehagen an den vermeintlichen Verzierungen Corellis mit der Natur der Verzierungspraxis selbst. Denn „man wollte sich in solchen Ausschmückungen nicht binden lassen, selbst vom Componisten nicht, da dem Ausführenden in diesen Dingen volle Freiheit gewährleistet war“.26 Ortiz’ Warnung vor allzu großer Freiheit relativiert aber wiederum Chrysanders Verabsolutierung derselben. Vor und nach Corelli wurde Verzierungskunst als Teil der aktiven Ausführungskunst betrachtet, die richtige Art der Verzierung wurde aber einem Regelwerk untergeordnet, das regelmäßig Gegenstand theoretischer Reflexion und Normierung war.27 Von der Antwort auf die Frage, ob die Verzierungen von Corelli stammen oder nicht – eine Frage, die man vielleicht nie gestellt hätte, hätte Roger den Hinweis auf den Briefwechsel unterlassen – hingen nicht nur zentrale editorische Entscheidungen ab. Eine Entscheidung gegen Corellis Autorschaft würde diese zu Rezeptionszeugnissen ,degradieren‘ und auf eine Stufe mit allen anderen, überaus zahlreichen Verzierungen zu Corellis Op. V stellen, die mit Sicherheit nicht von Corelli stammen. Nur die prominente Publikationsplattform wäre für die außerordentliche Rezeption verantwortlich, nicht der Autor oder die besondere Qualität. Dieses Argument würde somit als Exklusionsgrund für alle anderen Rezeptionszeugnisse fragwürdig erscheinen. Versagt der Autor als Begrenzungskriterium, so sieht man sich mit einer stetig anwachsenden Flut an autorfremden Zeugnissen konfrontiert, für die ein Band der kritischen Edition kein geeignetes Gefäß darstellt. Die Verzierungen zu ignorieren hieße andererseits das Kind mit dem Bade auszuschütten, sind doch die Verzierungen eine wesentliche Komponente im Rezeptionsprozeß und ein prominentes Beispiel der Violinkunst um 1700. Eine drucktechnische Analyse des Erstdruckes brachte in Form einer Plattenkorrektur einen winzigen, aber in seiner Aussagekraft entscheidenden Beweis für Corellis Autorschaft:
26
27
Les Œuvres de Arcangelo Corelli. London 1888–1891; Bd. 3, Opus 5. Hrsg. von Friedrich Chrysander und Joseph Joachim. London 1890. (Denkmäler der Tonkunst, Bd. 3), Vorwort. Siehe zur Renaissance: Howard Mayer Brown: Embellishments in Early Sixteenth-Century Intabulations. In: Proceedings of the Royal Musical Association 100 (1973–1974), S. 49–89. Für die Corelli-Rezeption sind zwei Traktate besonders zentral: Francesco Geminiani: A Treatise of Good Taste in The Art of Musick. London 1749. [Reprint. Hrsg. von Robert Donington. New York 1969]; Giuseppe Tartini: Traite´ des Agre´ments de la Musique. Abhandlung über die Verzierungen in der Musik. Treatise on ornaments in music. Hrsg. von Erwin R. Jacobi. Celle und New York 1961.
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Abb. 9a: Plattenkorrekturen im Erstdruck von Corellis Op. V, beides Exemplare von R
Abb. 9b: Plattenkorrekturen im Erstdruck von Corellis Op. V, im Zusammenhang
Der Vergleich zwischen den Abbildungen 9a und 9b zeigt, daß sowohl im Notentext als auch in der Bezifferung synchron eingegriffen wurde. Die Reihenfolge der Fassung wird in der Vergrößerung klar: aus einem „b“ machte der Stecher durch Hinzufügung eines Striches ein Auflösungszeichen. Ein Teilstemma der Drucke mit Verzierungen zu Lebzeiten zeigt, wie wichtig diese Korrektur für die Beurteilung der Authentizität ist.
Verlagsmethoden und Revisionsstrategien bei Arcangelo Corellis Violinsonaten Op. V
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Abb. 10: Stemma der Drucke mit Verzierungen von A. Corellis Op. V, 1710–1711
Die Korrektur wurde nach der ersten Phase der Verbreitung des Textes durchgeführt. Alle Nachdrucke der ersten, nicht verzierten Fassung weisen die frühere Variante auf. Dagegen ist die Textgestalt der verzierten Fassung VA1, VA2 und V3 im Druck aus Amsterdam von der revidierten Fassung abhängig. Die Vorlage, die Roger für die verzierten Sätze benutzte, muß daher von jemandem stammen, der sich dieser Veränderung bewußt war und Wert darauf legte.
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Wir sehen im Stemma, daß Roger mit zwei unterschiedlichen Vorlagen arbeitete. Für die Sätze, die keine Verzierung erhielten, bediente er sich der neuesten hauseigenen Fassung (A3), die, wie oben erwähnt, ca. 25 % zusätzliche Ziffern im Baß enthält. Für die verzierten Sätze hat er eine völlig andere Vorlage herangezogen, die, wie wir in Abbildung 8b erkennen, keine einzige Ziffer im Baß aufweist. Die Ziffern, die auf diesem Exemplar zu sehen sind, wurden später handschriftlich hinzugefügt. Die Musiker erachteten also die Bezifferung durchaus als notwendig, Roger verzichtete aber aus unerfindlichen Gründen auf ein Textelement, mit dem er in seiner Seconde edition corrige´e (A3) sogar geworben hatte. Und auch Pierre Mortier setzte die Ziffern seiner Ausgabe von 1709 (A4) unter die Baßstimme seiner eigenen verzierten Ausgabe und verursachte damit große Verwirrung, enthielt doch seine Notenfassung eine Revision, die mit der Bezifferung seiner Ausgabe nicht in Einklang stand. Ein schönes Beispiel für eine Kontamination zeigt die folgende Abbildung:
Abb. 11: Plattenkorrektur 3
Eine plausible Erklärung dafür, daß Roger, ein Drucker, der, wie wir sahen, auf Texttreue Wert legte, auf seine ,Verbesserungen‘ verzichtete kann nur sein, daß die neue Vorlage einen wesentlichen Vorteil gegenüber seiner hausinternen Fassung aufwies: Ich plädiere hier dafür, daß der Vorteil die Authentizität dieser Fassung darstellt.
Verlagsmethoden und Revisionsstrategien bei Arcangelo Corellis Violinsonaten Op. V
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Auf dieser Hypothese aufbauend muß man sich fragen: was Corelli mit dieser präzedenzlosen Maßnahme bezweckt hat? Und was dieser Eingriff in seinen Text bewirkt hat? Dabei sollten wir aber bedenken, daß nicht die Verzierungen an sich, bzw. die Aufforderung, Verzierungen anzubringen, zur Debatte stehen. Diese Praxis ist eine in der Gattung implizierte Selbstverständlichkeit. Der entscheidende Punkt ist: Warum hat Corelli authentische, authorisierte Verzierungen veröffentlicht, und welche Wirkung hat er damit erzielt? Ein Beweggrund kann der Versuch gewesen sein, an dem nachhaltigen finanziellen Erfolg seiner Sammlung im nachhinein noch Anteil zu haben. Kurz nach dem Erscheinen der verzierten Fassungen seiner Sonaten Op. V bei Roger wurde der Vertrag für die Publikation von Op. VI unterschrieben, dessen Konditionen für den Autor überdurchschnittlich günstig ausfielen.28 Corelli hat die Früchte dieses Vertrags selber nicht ernten können, da der Druck erst 1714, nach seinem Tod, fertiggestellt war. Aber seinem Erbe Fornari gelang es, durch hartnäckiges Nachfragen die Einhaltung des Vertrages nach dem Tod Corellis durchzusetzen. Der Vertrag beweist nicht nur, daß Corelli und Roger ein gutes Verhältnis hatten – man würde also nicht vermuten, daß Corelli mit jemandem, der ,gefälschte Verzierungen‘ als Corellische ausgegeben hatte, Geschäfte machen wollte. Das Vertrauensverhältnis zwischen Corelli und Roger kann daher indirekt auch als Argument für die Authentizität der Verzierungen ins Feld geführt werden. Wir wissen nicht, was der Briefwechsel zwischen Corelli und Roger enthielt, es ist aber wahrscheinlich, daß dem Autor des best-sellers aus der Rogerschen Offizin darin auch Honorare zugesichert wurden, da es sich bei den verzierten Fassungen wie bei Op. VI um eine Erstveröffentlichung handelte. Die Forschung geht, ganz im Sinne Diego Ortiz’, von einer regulierend-normativen Intention aus. Corelli hätte dementsprechend versucht, seine Sonaten vor dem Mißbrauch zu schützen. Der kreativen, gestaltenden Aktualisierung der Musik sollten Grenzen gesetzt, bzw. ein Vorbild vorangestellt werden. Corelli greift also in eine Rezeptionsform ein, deren Kontrolle er verloren hatte, und es gelingt ihm dadurch, daß er eine implizite Textebene, eine eingeschriebene Potentialität des Textes expliziert. Dieser Versuch Corellis muß als gescheitert angesehen werden. Corellis Verzierungen hatten bei weitem nicht den Erfolg, den seine erste Fassung erzielt hat. Sie verschwanden 1730 aus den Verlagsprogrammen und fristeten bis zu ihrer editorischen Ausgrabung durch Friedrich Chrysander und Joseph Joachim 1890 ein rein museales Dasein. Es mutet paradox an, daß Corelli ausgerechnet in dem Metier zu versagen scheint, dem er seinen Ruhm verdankt: dem virtuosen Phantasieren auf der Violine. Der Grund für diese scheinbar unerklärliche Diskrepanz zwischen dem ungebrochenen Erfolg der ersten Fassung und der kühlen Aufnahme, die man den verzierten Fassungen entgegenbrachte, liegt in der Natur der Verzierung selbst. Man verlor 28
Siehe Anm. 12.
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nicht das Interesse an der Verzierungskunst, doch betrachtete man Op. V nicht als Vorbild, sondern als Vorwurf für die Entwicklung eigener Verzierungen und ließ sich von der Suggestion vermeintlicher Normativität oder Vorrangigkeit, die dem autorisierten Text für gewöhnlich innewohnt, nicht beirren. Authentisch waren Verzierungen wohl nur dann, wenn sie der aktiven, interpretatorischen Auseinandersetzung des spielend komponierenden Rezipienten mit der Musik entsprangen. Die Verzierungen fremder Hand zeigen, daß sich das Interesse deutlich veränderte. Man favorisierte andere Sätze als Corelli, andere Sonaten, andere, modernere Kompositionsstile, Corellis Verzierungen galten als veraltet.29 Der unausgesprochene oder unterstellte Anspruch auf Normativität könnte auch der Auslöser für das allgemeine Unbehagen gewesen sein, das die notierten Verzierungen von Corelli bei der nachfolgenden Generation, aber auch bei der Forschung ausgelöst haben. Und für Musiker, die mit Recht auf Freiheit pochen, ist kein Autor, kein Text heilig, auch nicht der eines ,Erzengels‘.
Anhang: Die Drucküberlieferung von Corellis Op. V zu Lebzeiten des Autors Drucke ohne Verzierungen: Sigle
29 30
31
RISM A/I30 Druckort und -jahr
R1 R2 R3
C 3800 C 3801 C 3802
Rom 1700 Rom 1700 Rom 1700
A1
C 3806
A2
C 3807
Amsterdam (Estienne Roger) [1702] Amsterdam (Estienne Roger) [1706]
A3
C 380831
Amsterdam (Estienne Roger) [1709]
A4
C 3811
Amsterdam (Pierre Mortier) [1709]
Dreiteilige Ausgabe: Partitur und 2 Stimmhefte. Dreiteilige Ausgabe: Partitur und 2 Stimmhefte. Nur Vlo Stimme nachgewiesen Dreiteilige Ausgabe: Partitur und 2 Stimmhefte. Nur Vlo Stimme nachgewiesen Dreiteilige Ausgabe: Partitur und 2 Stimmhefte.
Siehe Zaslaw 1996 (Anm. 4), passim. Re´pertoire international des sources musicales. Serie:A/I: Einzeldrucke vor 1800. Bd. 1–9. Kassel 1971–1981. Serie: A/I: Einzeldrucke vor 1800. Bd. 11–14 Addenda et Corrigenda. Kassel 1986–1999. In RISM A/I: Addenda wurde dieser Druck fälschlicherweise in der Annahme, er sei mit A3 identisch, eliminiert.
Verlagsmethoden und Revisionsstrategien bei Arcangelo Corellis Violinsonaten Op. V
[B1] B2
[C 3803] C 3805
[Bologna 1700]32 Bologna 1711
L1
C 3804
London (John Walsh, Senior) [1700]
L2
CC 380933 Deest
L3
C 3823
P1 P2
C 3810 C 3821a
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London (Anon.) [1702] London (John Mears) [1712] Paris 1708 Paris 1708
Drucke mit Verzierungen: Sigle
RISM A/I
VA1
C 3812
VA2
C 3815
V3
C 3816
Druckort und -jahr Amsterdam (Estienne Roger) 1710 Amsterdam (Pierre Mortier) 1711 London (John Walsh & John Hare) 1711
C 381734
Abbildungsnachweise: Alle Beispiele aus R mit freundlicher Genehmigung der Zentralbibliothek Zürich. Alle Beispiele aus B2 mit freundlicher Genehmigung der Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek, Regensburg Alle Beispiele aus A1 mit freundlicher Genehmigung der Biblioteca Aurelio Saffi, Forlı´ Alle Beispiele aus A2 mit freundlicher Genehmigung von Martin Zimmermnn Alle Beispiele aus A3 mit freundlicher Genehmigung der Universitetsbiblioteket, Uppsala Alle Beispiele aus VA1 mit freundlicher Genehmigung der Biblioteca Aurelio Saffi, Forlı´ 32 33
34
Alle in RISM A/I unter B1 angeführten Exemplare sind heute verschollen. RISM Addenda führt diesen Druck auch mit der Sigle CC 3809a. Es handelt sich aber hierbei um keine eigenständige Ausgabe. Die Angabe „Sold by John Young“ in RISM A/1: C 3817 wurde auf einem geklebten Papierstreifen beigefügt. Es handelt sich daher um keine eigenständige Ausgabe.
Jörg Jungmayr Johann Beer als Herausgeber
Johann Beer (1655–1700)1 ist ein Meister der literarischen Camouflage gewesen. Sowohl unter fingiertem Autoren- als auch unter fingiertem Herausgebernamen publizierend, verwischte er die Spuren seiner schriftstellerischen Existenz so vollständig, daß es erst Richard Alewyn in seiner bahnbrechenden Habilitationsschrift von 1932 gelang,2 die verschiedenen Leben des Johann Beer zusammenzuführen und zu zeigen, daß sich hinter den Verfasser- und Herausgebernamen wie Alamodus Pickelhering, Amandus de Amanto, Antonius Caminerus, Jucundus Jucundissimus, Jan Rebhu, Franciscus Sambelle, Wolffgang von Willenhag oder Zendorius a` Zendoriis der Weißenfelser Hofmusicus, Bibliothekar und Komponist Johann Beer verbarg. Als Adolf Schmiedecke 1963 auf das Manuskript von Beers Lebensbeschreibung stieß und wenig später herausgab, konnte Richard Alewyn, der ,Entdecker‘ Beers, seine Enttäuschung im Vorwort zu dieser Ausgabe nur schlecht verbergen.3 Nirgendwo in den annalistischen Aufzeichnungen war ein Hinweis auf den Romancier Beer oder gar eine Auseinandersetzung mit dem erzählerischen Œuvre zu finden. Man konnte und kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Beer eine Doppelexistenz geführt und seine Schriftstellerei in fast schizoider Weise von seinem Broterwerb am sächsisch-weißenfelsischen Hof abgespalten hat. Diese Feststellung gilt mit einer bemerkenswerten Einschränkung. 1698 erschien bei Johann Brühls Witwe in Weißenfels ein schmales Bändchen mit dem Titel Die Geschicht und Histori von Land-Graff Ludwig dem Springer aus Thuee ringen/ [...] Erstlich beschrieben von einem Capellan in Thuringen/ und neulich 1
2
3
Es seien hier aus Platzgründen lediglich zwei Sammelwerke neueren Datums mit weiterführenden Literaturhinweisen aufgeführt: Beer. 1655–1700. Hofmusiker. Satiriker. Anonymus. Eine Karriere zwischen Bürgertum und Hof. Hrsg. von Andreas Brandtner und Wolfgang Neuber. Wien 2000. – Johann Beer. Schriftsteller, Komponist und Hofbeamter. 1655–1700. Beiträge zum Internationalen Beer-Symposion in Weißenfels Oktober 2000. Hrsg. von Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Bern (u.a.) 2003 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongreßberichte 70). Richard Alewyn: Johann Beer. Studien zum Roman des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1932 (= Palaestra 181). Vgl. Johann Beer: Sein Leben, von ihm selbst erzählt. Hrsg. von Adolf Schmiedecke. Mit einem Vorwort von Richard Alewyn. Göttingen 1965, S. 5: „Es hat keinen Zweck zu leugnen, daß der hier vorgelegte Fund hochgespannte Erwartungen nicht erfüllt.“
Johann Beer als Herausgeber
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aus einem alten Closter-Buch ausgezogen und mit Figuren gezieret an den Tag geben. Herausgeber und Autor sind nicht genannt, aber durch einen entsprechenden Eintrag in der Lebensbeschreibung läßt sich das Werklein zuordnen. Unter dem Datum des 18. Juli vermerkt Beer: „Den 18.t Julii habe die Historiam von Landgraff Ludwig dem Springer aus einem MS gezogen und mit etlich 20 hölzernen Figuren, die Ich selbst geschnitten, allhier in Weissenfelß drüken lassen.“4 Bei dem Manuskript, aus dem Beer einen Auszug erstellt hat, handelt es sich um eine Handschrift der Thüringischen Weltchronik. Ihr Autor ist Johannes Rohte, der ,Capellan‘ der Landgräfin Anna von Thüringen, in deren Auftrag Rohte das Werk verfaßt und 1421 abgeschlossen hat.5 Das Manuskript gelangte aus dem Bestand der Weißenfelser Schloßbibliothek nach Dresden, wo es sich unter der Signatur Mscr. Dresd. H1 noch heute, und zwar in der Staats- und Universitätsbibliothek (Sächsische Landesbibliothek), befindet. Nachdem Beer am 6. Dezember 1697 „die Inspection über Sr. Höchfürstl. Durchl. Bücher“6 erhalten hatte, fand er unter den Beständen „das Original“, das zwar „keinen Titul noch Signatur“ besaß, an dessen „uhralten Moe nchs=Schrifft“ er aber feststellen konnte, „daß es einer aus der Pfaffheit gewesen / der solche seine Chronik einer Fue rstin [...] ue bergeben hab“.7 Aus der Thüringischen Weltchronik des Johannes Rohte also hat Beer die Geschichte Ludwigs des Springers abgeschrieben. In dieser Geschichte, die mit zahlreichen sagenhaften Elementen durchsetzt ist, geht es darum, daß Graf Ludwig von Thüringen († 1123)8, der Erbauer der Wartburg und der Neuenburg, der beiden Grenzfestungen an der West- bzw. Ostflanke Thüringens, sich in die Pfalzgräfin Adelheid von Sachsen verliebt. Einer gemeinsamen Verbindung steht aber der Mann Adelheids, Pfalzgraf Friedrich III. von Sachsen, im Weg. Nachdem Ludwig den Konkurrenten erstochen hat, heiraten beide. Zur Strafe für seine Bluttat wird Ludwig vom Kaiser auf der Burg Giebichenstein festgesetzt. Durch einen gewaltigen Sprung in die Saale hinab kann Ludwig aus seinem Gefängnis entkommen. Um seine Tat zu sühnen, pilgert er nach Rom. Danach 4 5
6 7
8
Beer 1965 (Anm. 3), S. 69. Zu Rohte den Überblicksartikel „Rothe, Johannes“ von Volker Honemann in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Bd. 8. Berlin (u.a.) 1992, Sp. 277–285 (mit weiterführender Literatur). Siehe auch Anm. 15. Beer 1965 (Anm. 3), S. 65. Johann Beer: Die Geschicht und Histori von Land-Graff Ludwig dem Springer. Faksimile-Druck der Ausgabe Weißenfels 1698. Hrsg. von Martin Bircher. München 1967 (= Deutsche BarockLiteratur), S. 3. Zu ihm vgl. Johann C. Hendel: Chronik von Gibichenstein, Ludwig dem Springer, Halle und Umgebung nach ihren ältern und neuern Begebenheiten. Chronologisch entworfen. Halle 1818; Wilhelm Kästner: Ludwig II., der Springer, Graf von Thüringen († 1123). Borna-Leipzig 1914. Zugl. Diss. phil. Jena 1914; Martin Oschmann: Ludwig der Springer und seine Zeit (1038–1123). Von der Gründung der Wartburg, der Klöster Reinhardsbrunn und Georgenthal. 2. Aufl. Bad Langensalza 2001; siehe außerdem den Überblicksartikel „Ludwig der Springer“ von Walter Heinemeyer in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 15. Berlin 1987, S. 418f.
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Jörg Jungmayr
führen die Eheleute ein bußfertiges, weltabgekehrtes Leben. Ludwig stirbt in dem von ihm gegründeten Kloster Reinhardsbrunn, während Adelheid als Äbtissin des Klosters Scheiplitz ihren Mann nur kurze Zeit überlebt. Der Ludwig-Stoff scheint Beer ganz besonders beschäftigt zu haben, nicht nur, daß er zum Zwecke der Publikation die Ludwig betreffenden Passagen exzerpiert, er notiert unter dem Datum des 18. Juni 1698 auch den Text eines historischen Volksliedes, das den gemeinsam von Ludwig und Adelheid geplanten Mord an Friedrich zum Inhalt hat. Das vielstrophige Lied hat Beer, darauf verweist er eigens, bei dem Merseburger Chronisten Ernst Brotuff (1497–1565)9 gefunden.10 Doch zurück zu Beers ,Auszug‘ aus der Thüringischen Weltchronik. Die Frage, inwieweit er in den Text seiner Vorlage eingegriffen, inwieweit er ihn bearbeitet hat, läßt sich nur auf Umwegen beantworten, denn ein direkter Vergleich zwischen Druck und Handschrift ist nicht möglich, da sich das Dresdner Manuskript in einem Zustand befindet, der jegliche Benutzung ausschließt. 1945 wurde die Handschrift vollständig durchnäßt und wegen mangelhafter Trocknung vom Schimmel befallen. In der Folge kam es zu weitgehenden Substanzverlusten an den Blättern, von denen häufig nur noch Fragmente erhalten sind.11 9
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Zu Brotuff siehe den Artikel „Ernst Brotuff“ von Franz Xaver von Wegele in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 3. Leipzig 1876, S. 365f. Vgl. außerdem: Christian Schoettgen: Nachricht von Ernst Brotuffs Leben. Schulprogramm. Dresden 1745; Henrike Hoppe: Ernst Brotuff, Chronik über Merseburg. In: Zwischen Kathedrale und Welt. 1000 Jahre Domkapitel Merseburg. Ausstellungskatalog. Petersberg 2004, S. 293f.; Rolf Walker: Von den Merseburger Chroniken und ihren Autoren. In: Sachsen-Anhalt 14, 2004, S. 15–18. Beer 1965 (Anm. 3), S. 69–72, hier S. 69: „Ich habe seit deme in dem Historico und Chronologisten Brottuff einem Merseburgischen Bürgern ein sonderliches altes Lied geschrieben funden, welches wegen dieser Geschicht dazumahl im Lande gesungen worden, und will solches, nach seiner eigendlichen Form hier zum Gedächtnüß anbey füegen 1. Was wolln wir aber singen, Was wolln wir heben an, Ein Lied von der Frauen zu Weissenburg, Wie sie ihren Herren verrieth [es folgen 20 weitere Strophen]“. S. 72: „Dises Lied ist Anno 1556. im Amt Freyburg allenthalben in denen Schenken gesungen worden, daraus man beyläufftig abnehmen kan, was es dazumahl vor herrliche teutsche Virgilios und Ovidios in Sachsen und Thüringen abgegeben, und wie hoch seid der Zeit die Edle Poesie gestiegen, und Cultivirt worden. Dan wohl schwerlich ein Schuhknecht in diesen Landen zu finden, der nicht ein weit bessers Carmen, als dises ist, zu wegen bringen könte.“ – Des Ludwig-Stoffes hat sich auch Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau in seinen gereimten Helden=Briefen (Leipzig und Breslau 1680) angenommen: Liebe Zwischen Graf Holdenreich und Adelinden Graf Friedebalds Gemahlin. In: C. H. v. H.: Deutsche Übersetzungen und Getichte. Bd. I.2. [Faksimile-Ausgabe]. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Franz Heiduk. Hildesheim (u.a.) 1984, S. 131 (571) – 143 (583). Siehe besonders die Prosaeinleitung, S. 135 (575): „Wiewohl nun nach angestrengter Klage für den damahls regierenden Keyser der Graf im Stift Magdeburg gefangen genommen / und auf einem festen Schlosse länger als zwey Jahr in Verhafftung gehalten worden ist / so hat er doch endlich / als er ihm durch gewisse vertraute Personen etliche flüchtige Pferde an einem Ufer bestellet / durch kühnen Sprung von einem hohen Gebäude in den verüberflüssenden Strom sich des Gefängnüsses entlediget.“ Die Blätter 1–117 wurden wohl um 1960 einem Restaurierungsversuch unterzogen und liegen vereinzelt zwischen Flieskartonblättern. Das Blattmaß beträgt 415x285 mm (genommen von Blatt 23). Der verbleibende Buchblock mißt ca. 420 mm in der Höhe, ca. 300 mm in der Breite und ist ca. 350 mm stark (ursprünglich etwas stärker). Der weitgehend mittig angeordnete, langzeilige Schriftspiegel von 20 Zeilen mißt 305x185 mm. Die ersten Blätter weisen an den Zeilenanfängen
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Fotographien bzw. Mikrofilmaufnahmen vom Mscr. Dresd. H1 wurden nie hergestellt, und die beiden Beschreibungen, die von der Handschrift in ihrem Vorkriegszustand angefertigt wurden, sind so dürftig und unzulänglich, daß sie auch nicht weiterhelfen.12 Zum Glück hat aber der Leipziger Professor und Hofhistoriograph Johann Burckhard Mencke (1675–1732)13 nur drei Dezennien nach Beer den gesamten Text der Weltchronik, wie er in dem Weißenfelser Manuskript überliefert ist, veröffentlicht.14 Daß Mencke nach den Maßstäben seiner Zeit eine durchaus sorgfältige Edition vorgelegt hat, wird beim Vergleich mit Liliencrons Ausgabe der Weltchronik, die auf der Sondershausener Parallelhandschrift basiert und 1859 veröffentlicht wurde,15 deutlich. Den Lautstand und die Groß- und Kleinschreibung seiner Vorlage läßt Mencke wohl unangetastet, möglicherweise hat er aber die Großschreibung der Eigennamen, die er kursiv setzt, vereinheitlicht. Ob er eigenständig interpungiert hat oder ob er lediglich die Virgeln durch Kommata ersetzt hat, ist nicht festzustellen. Als Beer seine Abschrift aus dem Weißenfelser Manuskript für den Druck einrichtete, sah er sich zunächst vor ein grundsätzliches Problem gestellt: Er mußte den Text, den er aus dem Gefüge der annalistischen Berichterstattung gelöst hatte, so präsentieren, daß die Geschichte auch ohne den sie umgebenden
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rubrizierte (gestrichelte) Versalien sowie Satzmajuskeln in rot und blau auf. Beides ist auf späteren Blättern selten bzw. gar nicht vorhanden. Über den gesamten Text sind schlichte, vierzeilige Initialen in rot und blau gestellt. Miniaturen konnten nicht festgestellt werden. – Für diese detaillierten Angaben bin ich Herrn Perk Loesch von der Handschriftenabteilung in der Staats- und Universitätsbibliothek (Sächsischen Landesbibliothek) Dresden sehr dankbar. Vgl. R. von Liliencron 1859 (Anm. 15), S. vii-viii, und Franz Schnorr von Carolsfeld: Katalog der Handschriften der Königlichen Öffentlichen Bibliothek zu Dresden. Bd. 1. Leipzig 1882, S. 494. Zu ihm vgl.: Heinrich Theodor Flathe: Artikel „Mencke, Johann Burkhard“. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 21. Leipzig 1885, S. 310f.; Agnes-Hermine Hermes: Johann Burkhard Mencke in seiner Zeit. Diss. phil. Frankfurt/Main 1935. Siehe außerdem die über das Internet einzusehende pdf-Datei: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Akademiebibliothek. Ausgewählte Literaturnachweise aus dem Bestand der Akademiebibliothek. Johann Burchard Mencke(n), Historiker, Rechtshistoriker. Berlin 2002. Monachi Isenacensis, vulgo Ioannis Rohte Chronicon Thuringiae, vernaculum, alias Isenacense vel Erfordiense dictum, e codice bibliothecae Weissenfelsensis, omissis in initio superfluis, accurate descriptum. In: Scriptores rerum Germanicarum praecipue Saxonicarum. Vol. 2. Lipsiae 1728, Sp. 1633–1824. Düringische Chronik des Johann Rothe. Hrsg. von R. von Liliencron. Jena 1859 (= Thüringische Geschichtsquellen 3). – Zur Thüringischen Weltchronik vgl. außerdem: Volker Honemann: Johannes Rothe und seine ,Thüringische Weltchronik‘. In: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter. Hrsg. von Hans Patze. Sigmaringen 1987 (= Vorträge und Forschungen 31), S. 497–522; ders.: Artikel „Johannes Rothe“ (Anm. 5), Sp. 280f.; Peter Strohschneider: Johannes Rothes Verslegende über Elisabeth von Thüringen und seine Chroniken. Materialien zum Funktionsspektrum legendarischen und historiographischen Erzählens im späten Mittelalter. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 23, 1998, S. 1–29; Tina Bode: Deutsche Chroniken des Spätmittelalters. In: Welt-Zeit. Christliche Weltchronistik aus zwei Jahrtausenden in Beständen der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena. Hrsg. von Martin Wallraff. Berlin (u.a.) 2005, S. 90–99.
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Text eine in sich geschlossene Einheit bildete. Eine wichtige Aufgabe in diesem Verselbständigungsprozeß kommt dabei den von Beer eigenhändig angefertigten Holzschnittillustrationen zu. Wolfgang Neuber hat in einer Untersuchung16 darauf hingewiesen, daß Beer seine Holzschnitte im Stil des 16. Jahrhunderts gestaltet, und das, obwohl er in seinem zeichnerischen Können durchaus auf der Höhe seiner Zeit steht, wie die Skizzen und ,Abconterfeyungen‘ in seiner Lebensbeschreibung zeigen. Durch den gestalterischen Rückgriff auf das 16. Jahrhundert stellt Beer seine Edition ganz bewußt in den Kontext einer Gattungstradition, die das 19. Jahrhundert dem Begriff ,Volksbuch‘ subsumiert hat und die wir heute als frühneuhochdeutschen Prosaroman bzw. als frühneuhochdeutsche Prosaerzählung bezeichnen. Die Illustrationen mit der ihr eigenen Bildersprache sind allerdings nicht das einzige Mittel Beers, diese Gattungsumfunktionalisierung herzustellen. Das Titelblatt in seiner typographischen Gestaltung sowie der Titel Geschicht und Histori unterstützen die Einbettung in einen erzählerischen Kontext, der kein annalistisch-historiographischer mehr ist. Aufgabe der Geschicht und Histori, so Beer in der Vorrede unter Berufung auf Cicero, ist es,
Mit anderen Worten, es geht in Geschicht und Histori darum, ein Ereignis der Vergangenheit so zu präsentieren, daß es dem Leser als augenscheinliches Exempel dienen kann. Das exemplarische Geschichtsverständnis ist ein Strukturmerkmal aller ,Historien‘, so beispielsweise auch der Historia von D. Johann Fausten, die mit der Lebensgeschichte von Faust ein „Exempel“ statuieren will, das „jederman zur Warnung vnnd Besserung dienen mag“.18 Die Vorrede von Geschicht und Histori bietet aber nicht nur eine gattungstypologische Orientierung, sie enthält auch so etwas wie einen editorischen Bericht. Seine Aufgabe als Herausgeber sieht Beer in der sprachlichen Modernisierung der Vorlage:
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Wolfgang Neuber: Gattungstypologie und Bildprogramm. Zu Johann Beers medienhistorischer Reflexion. In: Beer. 1655–1700. Hofmusiker. Satiriker. Anonymus (Anm. 1), S. 203–227. Geschicht und Histori (Anm. 7), S. 3f. Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer. Stuttgart 1999 (= Universal-Bibliothek 1516). Die hier zitierte Passage stammt aus der Vorred an den Christlichen Leser, S. 12.
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Trotz der Modernisierung hält aber Beer an den stilistischen Eigenheiten der Weltchronik fest:
Die Auseinandersetzung mit den phonetischen und stilistischen Gegebenheiten der Vorlage und die daraus folgenden Konjekturen sind aber nur die eine Seite des editorischen Programms. Der Ludwig-Text wird im Zuge seiner gattungstypologischen Umfunktionierung formal völlig neu gestaltet. Statt mit 15 Kapiteln wie in der Vorlage21 bietet sich der Text nun mit einem Vorwort und 24 Kapiteln dar, wobei jede dieser Einheiten mit einer Illustration versehen ist. Die Weltchronik eröffnet die Ludwig-Episode mit einem Kapitel, das über den Tod von Ludwigs Vater berichtet. Beer übernimmt dieses Kapitel, greift aber zugleich in den Text der Vorlage ein. Wie er bei diesen Eingriffen vorgegangen ist, soll am Beispiel des Anfangskapitels demonstriert werden. In der Tabelle links ist der Beer-Text zu finden, rechts steht der entsprechende Text aus der Weltchronik (vgl. die folgende Seite). Die Weltchronik eröffnet die Ludwig-Episode mit einem Hauptsatz, auf den ein von der Konjunktion ,Do‘ eröffneter Nebensatz folgt. Beer verfährt umgekehrt: Er beginnt seinen Text mit der Konjunktion ,Als‘ und schließt daran den Hauptsatz „wurde – begraben“ an. Die Weltchronik fährt fort mit: „Do quam zcu der Babist Victor“, während Beer den Anschluß verdeutlicht, indem er schreibt: „Zu diesem Begräbnüs kam der Pabst“. Die Weltchronik erwähnt das Gefolge des Papstes in zwei Substantiven „mit [...] cardinalin Vnde bischofin“. Hier schiebt Beer einen ganzen Satz ein, in dem er das Gefolge des Papstes in seiner hierarchischen Gliederung aufzählt und bemerkt, daß dieses Gefolge dem Anlaß, der Beerdigung eines guten und gerechten Kaisers, angemessen war. Beer kommentiert also etwas, wofür die Vorlage lediglich zwei Substantive benötigt. Das Gleiche geschieht im folgenden: Die Weltchronik fügt den beiden Substantiven „cardinalin Vnde bischofin“ ein weiteres, dieses Mal durch ein Pronomen mit nachfolgendem Adjektiv ergänztes Substantiv „Vnde alle dutzsche forstin“ hinzu, während Beer für die Mitglieder der weltlichen Hierarchie, die dem verstorbenen Kaiser die letzte Reverenz erweisen, wiederum einen gesonderten Einschub benötigt. Den Satz „Vnde do quam ouch da zcu der selbin begraft Vn-
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Geschicht und Histori (Anm. 7), S. 3. Ebenda, S. 4. Die Ludwig betreffenden Kapitel der Weltchronik werden der Einfachheit halber von 1 bis 15 durchnumeriert.
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de herschaft Grafe Lodewig mit dem barte, von dez landis wegin zcu Doringin“ übersetzt Beer nahezu wörtlich, er läßt aber „Vnde herschaft“ weg, um dafür einen Nebensatz hinzuzufügen, in dem er fabuliert, daß sich Ludwig seinen mächtigen Bart niemals scheren ließ.
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Das letzte Drittel des Kapitels überträgt Beer wortgetreu, aber auch hier läßt sich beobachten, daß er die Vorlage interpretierend verdeutlicht, so wenn er das eingliedrige „mit grossir ynnikeyd“ zu einem zweigliedrigen „mit grosser Jnnigkeit und Andacht“ erweitert, oder wenn er aus „begrabin, mit grossin erin“ „begraben mit grossem Wehklagen“ macht. Die hier ersichtliche Strategie Beers, die Vorlage zwar wortgetreu zu übersetzen, die Übertragungen dann aber durch kommentierende oder fabulierende Einschübe zu erweitern, läßt sich auch in den übrigen Kapiteln beobachten. Aber Beer ändert nicht nur die phonetisch-syntaktische Mikrostruktur, er greift auch in die gliedernde Makrostruktur des Textes ein, wie aus der folgenden Kapitelsynopse ersichtlich ist:
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Das zweite Kapitel über den Regierungsantritt Ludwigs übernimmt Beer, wie er es in der Vorlage findet, im folgenden stellt er aber die Reihenfolge der Kapitel um, damit er auf den Herrschaftsantritt Ludwigs die Geschichte von dessen Städte- bzw. Burggründungen folgen lassen kann. Kapitel 3 entspricht Kapitel 6 der Ludwig-Episode, und in Kapitel 4 fügt Beer Kapitel 7 und 8 der Vorlage zusammen. Diese Umstellung ist der Erzähldramaturgie geschuldet: Beer kann sich jetzt auf die Liebesgeschichte zwischen Ludwig und Adelheid und die daraus erwachsende Bluttat konzentrieren. Kapitel 5 von Geschicht und Histori entspricht der 1. Hälfte von Kapitel 3 der Vorlage, während Kapitel 6 und 7, in denen es um das Kennenlernen des Paares und das Komplott zur Ermordung Friedrichs geht, keine Entsprechung in der Weltchronik haben – es handelt sich hier also um Ergänzungen Beers. Für Kapitel 7 läßt sich eine mögliche, von Beer allerdings nicht genannte Vorlage heranziehen: Die 1581 in Frankfurt am Main in der Erstauflage erschienene Düringische Chronica des Zacharias Rivander (Zacharias Bachmann d.Ä.)22 bzw. die 1589 nach der Rivanderschen Vorlage von Johannes Wellendorf niedergeschriebene Erphordische Chronica:23
Doch zurück zum Vergleich Beer – Rothe. Kapitel 8, in dem die letzten Stunden Friedrichs, seine Ermordung und die Errichtung eines Gedenksteins erzählt wer22
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Vgl. hierzu das Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts (VD 16). 1. Abt., Bd. 2. Stuttgart 1984, B 48. Der folgende Textausschnitt wird zitiert nach der bisher noch unveröffentlichten Dissertation von Friedhelm Tromm: „Mit herren ist boß kirschen essen.“ Zur bürgerlichen Geschichtsschreibung Erfurts im 16. Jahrhundert. Diss. FU Berlin 2004, Teil 1, S. 53.
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den, stellt Beer aus Kapitel 3, 2. Hälfte und Kapitel 4, 1. Hälfte der Weltchronik zusammen. Kapitel 9 beschäftigt sich mit dem schlechten Gewissen Ludwigs nach dem Mord und ist wiederum eine Hinzufügung Beers. Für Kapitel 10, das von der Hochzeit Ludwigs und Adelheids berichtet, zieht Beer nochmals Kapitel 4, dieses Mal 1. und 2. Hälfte, heran. Die 1. Hälfte von Kapitel 4 der LudwigEpisode findet also gleich zweimal Verwendung: einmal am Ende von Kapitel 8 und einmal zu Beginn von Kapitel 10. Inhaltlich handelt es sich beide Male um dieselbe Sache – die echte bzw. fingierte Trauer um den Tod Friedrichs III. und die Errichtung eines Mahnmals –, und doch präsentiert Beer jedes Mal eine andere Version des Rohte-Textes, wie aus der folgenden Tabelle ersichtlich ist:
Die zweimalige Erzählung von der Errichtung eines Mahnmals für Friedrich erfolgt aus moraldidaktischen Gründen: der Gedenkstein verweist auf die spätere Bekehrung von Ludwig und Adelheid. Die Bedeutung der Inschrift unterstreicht Beer dadurch, daß er sie das erste Mal auf Latein, das zweite Mal auf Deutsch, und zwar entsprechend der Vorlage in der Weltchronik, wiedergibt. Kapitel 11 von Geschicht und Histori ist mit dem um genealogische Details gekürzten Kapitel 5 der Ludwig-Episode identisch. Ab Kapitel 1224 greift Beer 24
In Kapitel 12 führt Beer einen in der Vorlage nicht vorkommenden Erzählgegenstand ein: einen
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nicht mehr in die Kapitelabfolge seiner Vorlage ein, aber aus den nun folgenden fünf Kapiteln in der Weltchronik werden bei ihm elf Kapitel. Das 24. und letzte Kapitel, das von dem reuevollen Abscheiden Adelheids in dem von ihr gegründeten Nonnenkloster berichtet, ist wiederum eine Hinzufügung Beers. Dieses Schlußkapitel endet mit einem kurzen, typographisch abgesetzten Epilog, einem Aufruf an den Leser, sich die Geschichte von Ludwig und Adelheid zu Herzen zu nehmen. Beer als Herausgeber ist, das machen die bisherigen Ausführungen deutlich, alles andere als ein dienender Philologie vom Schlag eines Mencke, der den Text der Thüringischen Weltchronik als historisch-antiquarisches Dokument begreift und es als solches für die Nachwelt konserviert. Beer versteht sich in erster Linie als gestaltender Autor, der seine Vorlage bearbeitet, d.h. sprachlich modernisiert und teils kommentierend, teils fabulierend erweitert. Im Interesse der Erzähldramaturgie stellt er die Kapitel seiner Vorlage um, er fügt mehrere Kapitel zu einem einzigen zusammen oder teilt umgekehrt einen Abschnitt der Weltchronik in mehrere Kapitel auf. All das tut er, um die Verpflanzung seiner Vorlage in einen neuen gattungstypologischen Kontext plausibel zu gestalten, plausibel für einen Leser, der weniger in den komplex organisierten Romanen der Zeit als in der Tradition der einschichtigen Historien zu Hause ist. Wie ist nun abschließend Beers Herausgebertätigkeit zu bewerten? Kann man noch von der Herausgabe eines fremden oder muß man bereits von der Herausgabe eines eigenen Werkes sprechen? Im Fall von Geschicht und Histori haben wir es mit einem so tiefgreifenden Aneignungs- und Umarbeitungsprozeß zu tun, daß wir ganz sicher von der Herausgabe eines eigenen Werkes sprechen müssen, eines eigenen Werkes freilich, das auf Beer-typische Weise in der Gewandung eines fremden Werkes daherkommt.
Wachsmantel, den sich Ludwig von seinem Schreiber besorgen läßt und der ihm bei der in Kapitel 14 geschilderten Flucht aus der Burg Giebichenstein gute Dienste leistet. Vgl. Geschicht und Histori (Anm. 7), Kap. 14, S. 31: „[...] warffe den Stab und die übrigen Kleider von sich / und sprang / was er mochte aus dermassen hoch in den Saal hinab / und der Wachs=Mantel den er hatte / schützte ihn / daß er in der Luft gantz sanfft auf das Wasser fiel.“ Bemerkenswert ist, daß die Aufgabe des Mantels nicht darin besteht, Ludwig vor dem kalten Wasser zu schützen, sondern die Folgen des Sprungs in die Tiefe abzumildern. Beer erweitert die materielle Bedeutungsschicht des Mantels (sensus literalis) um eine zweite, nicht-materielle Sinnebene (sensus tropologicus), wie aus dem weiteren Verlauf der Erzählung hervorgeht: „Es sagt auch eine alte Thüringische Chronick / daß er in der Lufft gerufen habe: Suscipe gervum virgo Maria. O Maria / nimm deinen Diener in Schutz und Schirm.“ Aus dem mit einer Wachsschicht überzogenen Mantel wird also der Schutzmantel Marias (und das beim Lutheraner Beer!), der den Gläubigen vor dem tiefen (moralischen) Fall bewahrt.
Ute Poetzsch-Seban Georg Philipp Telemann als Herausgeber eigener kirchenmusikalischer Werke
Georg Philipp Telemann ist bekannt dafür, daß er 1715 einen Verlag gegründet hat, den er bis 1740 betrieb. Doch soll Telemanns Tätigkeit als Verleger, die wiederholt Gegenstand von Untersuchungen etwa von Martin Ruhnke1 und von Wolf Hobohm2 war, nicht im Zentrum der Betrachtung stehen. Erst jüngst analysierte Steven Zohn in seiner Studie Telemann in the Marketplace Telemanns verlegerische Tätigkeit umfassend. Er ging Hinweisen auf Verkaufsstrategien und die Preisgestaltung nach, stellte Methoden der Herstellung der Drucke dar und verglich deren Erscheinungsbilder, woraufhin er neue Erkenntnisse zu Datierungen vorlegen konnte.3 Lediglich überblicksartig wird auf das vielseitige Repertoire, das Telemann bis 1740 im eigenen Verlag und danach anderswo publizierte, hinzuweisen sein, bevor an zwei Werken zu zeigen ist, wie planmäßig Telemann bei der Vorbereitung seiner Druckpublikationen vorging. 1715 erschien als erstes Werk des Telemannischen Verlages eine Sammlung von Violinsonaten, die Six Sonates a` violon seul, im folgenden Jahr kam die Kleine Cammer-Music heraus. Die letzte Sammlung erschien zwischen 1738 und 1740 und enthielt wieder Kammermusik.4 Bis 1765 publizierte Telemann in 1
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Martin Ruhnke: Telemann als Musikverleger. In: Musik und Verlag. Karl Vötterle zum 65. Geburtstag am 12. April 1968. Hrsg. von Richard Baum und Wolfgang Rehm. Kassel (u.a.) 1968, S. 502–517. Vgl. auch: Georg Philipp Telemann. Thematisch-Systematisches Verzeichnis seiner Werke. Telemann-Werkverzeichnis (TWV) Instrumentalwerke. Bd. 1–3. Hrsg. von Martin Ruhnke. Kassel (u.a.) 1984–1999, bes. Bd. 1 und 3. Wolf Hobohm: Neues aus dem Telemannischen Verlag. In: Telemanniana et alia Musicologica. Festschrift für Günter Fleischhauer zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dieter Gutknecht, Hartmut Krones, Frieder Zschoch. Oschersleben 1995 (= Michaelsteiner Forschungsbeiträge 17), S. 83–91, hier auch weitere Literaturhinweise. Steven Zohn: Telemann in the Marketplace: The Composer as Self-Publisher. In: Journal of the American Musicological Society 2005, Vol. 58, Number 2, pp. 275–356. Eine Übersicht über die Drucke Telemannscher Werke, S. 278f. Zur verlegerisch organisierten Verbreitung von Handschriften fehlen bislang tiefergehende Studien. Erst in Ansätzen zeigt sich, daß Telemann seine Schüler nicht nur zu Musikern, sondern auch zu ordentlichen Kopisten ausbildete. Hinweise hierzu etwa bei Jürgen Neubacher: Zur Musikgeschichte Altonas während der Zeit von Telemanns Wirken in Hamburg. In: Beiträge zur Musikgeschichte Hamburgs vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Hrsg. von Hans Joachim Marx. Frankfurt/Main (u.a.) 2001 (= Hamburger Jb. für Musikwissenschaft 18), S. 267–404. Auch: Georg Philipp Telemann: Seliges Erwägen. Passionsoratorium in neun Betrachtungen TWV 5:2. Hrsg. von Ute Poetzsch. Kassel (u.a.) 2001 (= Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke, Bd. 33), Kritischer Bericht, S. XXV. Die verschollenen 6 Simphonien, vgl. Zohn 2005 (Anm. 3), S. 279.
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anderen Verlagen weiter. Wiederholt gab es zweite Auflagen, und andere Verlage druckten – wohl mit Erlaubnis Telemanns – vorzugsweise Kammermusikwerke nach.5 Mit Kammermusik, die ein oder mehrere Soloinstrumente ohne Begleitung verlangt, bis hin zu mehrstimmigen Ouvertüren und der exemplarisch alle gebräuchlichen instrumentalen Gattungen vorstellenden Musique de Table überwiegt deutlich die Instrumentalmusik. Zu Beginn der 1730er Jahre brachte Telemann mit den drei Sammlungen von Kammerkantaten und den Liedern der Singe-, Spiel- und Generalbaß-Übungen vokale Kammermusik heraus. In dieses Umfeld gehören auch die Publikation des Intermezzos Pimpinone oder die ungleiche Heirat und die Herausgabe der Arien aus der komischen Nebenhandlung der Oper Adelheid unter dem Titel Lustige Arien. Eine bunte Sammlung und Fundgrube für das häusliche Musizieren ist die Musikalienzeitschrift Der Getreue Music-Meister, in die Telemann auch Aktuelles wie Arien aus zur Zeit des Erscheinens gespielten Opern aufnahm, die meisten davon aus Emma und Eginhard oder die last-tragende Liebe.6 Für das 18. Jahrhundert ungewöhnlich, veröffentlichte Telemann auch regelmäßig geistliche und Kirchenmusik im Druck.7 Bis zum Verkauf seines Verlages im Jahr 1740 erschienen mehrere Jahrgänge. Parallel zur Aufführung des Jahrgangs erschien 1726 der Harmonische Gottesdienst, publizistisch begleitet von Meldungen im Hollsteinischen Correspondenten über das Fortschreiten der Arbeit. Es wurde auch darauf hingewiesen, daß die Texte die Episteln auslegen. Der Jahrgang wurde in Partitur (drei Stimmen) mit Typen gedruckt.
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Hartnäckig hält sich die nur schwer zu begründende Annahme, in Paris habe es Raubdrucke einiger Telemannscher Kammermusiksammlungen gegeben, auch habe er in Frankreich keinen Buchhändler gehabt, was „auch ein Grund für die Reise nach Paris gewesen“ sein könnte. Vgl. Martin Ruhnke: Die Pariser Telemann-Drucke und die Brüder Le Clerc. In: Quellenstudien zur Musik. Wolfgang Schmieder zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Kurt Dorfmüller. Frankfurt/Main (u.a.) 1971, S. 149–160, bes. S. 149; auch: Ruhnke 1968 (Anm. 1), S. 507. Hier bezieht er sich auf eine Bemerkung Telemanns innerhalb der Aufzählung seiner Werke im Anhang zur Autobiographie von 1740: „6. Trii für 2. Traversen und GB. in Paris, nach einem ergriffenen Ms. gestochen, woselbst auch in einem Jahre, nehmlich 1730., sieben von meinen hiesigen Wercken nachgedruckt worden“, vgl. Telemanns Autobiographie 1740. In: Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen. Eine Dokumentensammlung. Leipzig 1981, S. 212. Max Schneider in seiner Einleitung zu: Georg Philipp Telemann. Der Tag des Gerichts. Ino. Leipzig 1907 (= DDT, Bd. 28), S. LI, Anm. 4, zitiert lediglich Telemann und setzt Nachdruck und Raubdruck noch nicht gleich. Georg Philipp Telemann: Emma und Eginhard oder die last-tragende Liebe. Singspiel in drei Akten nach einem Libretto von Christoph Gottlieb Wend TWV 21.25. Hrsg. von Wolfgang Hirschmann. Kassel (u.a.) 2000 (= Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke, Bd. 37), Vorwort, S. XXIII. Im Unterschied zu den Gepflogenheiten des 17. Jahrhunderts war es nicht mehr üblich, Kirchenmusik drucken zu lassen. Vgl. Friedhelm Krummacher: Die Überlieferung der Choralbearbeitungen in der frühen evangelischen Kantate. Untersuchungen zum Handschriftenrepertoire evangelischer Figuralmusik im späten 17. und beginnenden 18. Jahrhundert. Berlin 1965, S. 45–87.
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Der zweite Teil des Werkes über die Evangelien erschien unter dem Titel Fortsetzung des Harmonischen Gottesdienstes ab dem Winter 1731. Auch sein Erscheinen wurde in der Zeitung angekündigt. Diese Fortsetzung wurde gestochen und umfaßt drei Hefte. Eins enthält einen Klavierauszug mit der Vokalund der Grundbaßstimme; im Kleinstich ist die Partie des ersten obligaten Instruments eingetragen, wenn die Vokalstimme pausiert. Die beiden anderen Hefte enthalten die Stimmen für das „stromento primo“ und das „stromento secondo“. Am Ende des Jahres 1727 kam ein Jahrgang Auszug derjenigen musicalischen und auf die gewöhnlichen Evangelien gerichteten Arien im Hamburger Buchverlag Kißner heraus. Dieser Typendruck gibt eine zweistimmige Spielpartitur wieder. Die drei genannten Jahrgänge beginnen jeweils Neujahr und spiegeln in der Folge der Veröffentlichung das Kirchenjahr ihres Erscheinens; was bedeutet, daß die Stücke für Sonntage, die im Verlauf nicht vorhanden waren wie möglicherweise die letzten Sonntage nach Epiphanias oder nach Trinitatis, später komponiert und in einem Anhang wiedergegeben wurden. 1730 gab Telemann das Fast-allgemeine evangelisch-musicalische LiederBuch heraus. Im selben Jahr erschienen zwei Solokantaten, die während der Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Augsburgischen Konfession erklungen waren. Weiterhin veröffentlichte Telemann Kanons für zwei bis vier Stimmen auf Bibelsprüche und als geistliche, funktionsgebundene Instrumentalmusik die Fugirenden und veraendernden Choräle. Von 1742 bis 1744 erschien der vollständige mehrstimmige Jahrgang Musicalisches Lob Gottes in der Gemeine des Herrn mit Texten von Erdmann Neumeister in Partitur. 1747 war die Drucklegung der Johannespassion von 1745 „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“, die wie der Jahrgang im Verlag des Organisten und Kupferstechers Balthasar Schmid in Nürnberg erschien, abgeschlossen.8 Bei diesem Werk handelt es sich um die einzige vollständig gedruckte liturgische Passion des 18. Jahrhunderts. Die Passion erschien im Klavierauszug („Haupt-Inhalt“ genannt) mit Stimmen, und damit in ähnlicher Form wie die Fortsetzung des Harmonischen Gottesdienstes. 1749 stach der Organist Christoph Heinrich Lau im schlesischen Hermsdorf einen Jahrgang in Stimmen, der nach seiner Titelvignette Engel-Jahrgang genannt wurde.9
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Georg Philipp Telemann. Johannespassion 1745 „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ TWV 5:30. Hrsg. von Wolfgang Hirschmann. Kassel (u.a.) 1996 (= Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke, Bd. 29), Vorwort, S. X. Dargestellt ist allerdings ein Putto. Vgl. Andra´s Sze´kely: Literatur und Wahrheit – erste Erfahrungen mit den Kantaten des Jahrgangs 1748/49 von Telemann. In: Zwischen Musikwissenschaft und Musikleben. Festschrift für Wolf Hobohm zum 60. Geburtstag am 8. Januar 1998. Hrsg. von Brit Reipsch und Carsten Lange. Hildesheim 2001 (= Magdeburger Telemann-Studien 17), S. 89–98.
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Alle Jahrgangs-Drucke sind, manchmal in mehreren Exemplaren, erhalten geblieben. Ebenfalls erhalten sind Abschriften, die auf den Drucken basieren. Seltener sind Handschriften überliefert, die vor der Drucklegung entstanden sind oder für frühere Aufführungen angefertigt wurden. So gibt es zu einem Teil der Kantaten des Musicalischen Lobs Gottes noch Kompositionshandschriften, die aber nicht direkt als Druckvorlage dienten,10 sowie einige Hamburger Aufführungsmaterialien. Vom Engel-Jahrgang 1749 sind ebenfalls Aufführungsmaterialien überliefert, die aus der Entstehungszeit und von Aufführungen in Hamburg stammen.11 Anders ist die Sachlage bei dem Jahrgang der Arien aus dem Jahr 1727 und den Kantaten der Fortsetzung des Harmonischen Gottesdienstes.12 Hierzu gibt es Vorlagekompositionen, die durch die weit in das 18. Jahrhundert hineinreichende Frankfurter Aufführungstradition Telemannscher Kirchenmusik in großer Vollständigkeit erhalten geblieben sind. Allerdings sind keine Autographe mehr vorhanden.
Die Fortsetzung des Harmonischen Gottesdienstes13 Die Texte für die Kantaten der Fortsetzung des Harmonischen Gottesdienstes stammen von Tobias Heinrich Schubart (1699–1747), Diakon an der Großen Michaeliskirche. Selbstbewußt wirbt er im Vorwort seiner gesammelten poetischen Schriften Ruhe nach geschehener Arbeit,14 deren Erscheinen im April 10
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Georg Philipp Telemann: Biblische Sprüche. Motetten für zwei- oder dreistimmigen Chor, Streichinstrumente (ad libitum) und Orgel. Hrsg. von Klaus Hofmann. Neuhausen-Stuttgart 1993. Vorwort, S. IV. Zu diesem Jahrgang ausführlich Jürgen Neubacher: Zur Aufführung von Telemanns Engel-Jahrgang und zu Zensurbestrebungen für kirchenmusikalische Texte in Hamburg. In: Telemann und Bach. Telemann-Beiträge. Hrsg. von Brit Reipsch und Wolf Hobohm. Hildesheim (u.a.) 2005 (= Magdeburger Telemann-Studien 18), S. 144–157. Constanze Holze: Die Kantaten der Fortsetzung des Harmonischen Gottesdienstes (1731/32) und ihre Erweiterung im Frankfurter Jahrgang (1741/42). Magister-Arbeit Tübingen 1995 (unveröff.). Der Titel der Arbeit suggeriert, daß Telemann zuerst die publizierten Kantaten komponiert und diese dann später „vergrößert“ habe. Fortsetzung des Harmonischen Gottes-Dienstes; oder geistliche Cantaten über die gewöhnlichen Sonn- und Fest-täglichen Evangelien durchs ganze Jahr; bestehend aus einer SingeStimme, nebst untergelegtem General-Basse, die abgewechselt, von allen vieren gesungen werden mag, und aus zwey Instrumenten verschiedener Gattung, welche jedoch auf 2 Violinen allein zu spielen sind; Zu mehrerer Bequehmlichkeit aber auch so eingerichtet, dasz eine einzelne Person sich derselben am Claviere, ohne Hinzufügung eines andern Instruments, bedienen kann; nach der Poesie Ihro Wohl-Ehrwürden Herr Tobias Henrich Schubarts, Predigers an der hiesigen St. Michaelis-Kirche, musicalisch verfasset von Georg Philipp Telemann, Direct. Chor. Mus. Hamb. Hamburg, In Verlegung des Autoris, und bey demselben zu bekommen. T. H. Schubarts, Predigers an S. Mich. zu Hamburg, Ruhe nach geschehener Arbeit, in unterschiedlichen Gedichten und Uebersetzungen, der Ehre GOTTES und dem Dienste des Nächsten gewidmet. Hamburg, In Verlag Johann Christoph Kißners. 1733. Der Zwischentitel
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1733 im Hamburgischen Correspondenten angekündigt wird, mit dem Namen Telemann und damit, daß dieser den „musicalische[n] Jahr-Gang von Cantaten auf alle Fest-Tags-Evangelia“ im Jahr 1732 (dem Kirchenjahr 1731/32) „bey den öffentlichen Gottes-Diensten hieselbst, aufgeführet“ habe. Danach sei der Jahrgang „mit der Composition“ gedruckt worden. Für den Druck habe Telemann „von einer jeden, in der Kirche gantz aufgeführten, Cantate, nur zwo einstimmige Arien und eine Recitative [...] genommen.“15 Schubart begründet die Veröffentlichung seiner vollständigen „musicalischen Cantaten“ damit, daß er denjenigen, die das „große Werck mit den Noten, angeschaffet haben“, ermöglichen will, sich mit den Arien in kürzerer Zeit bekannt zu machen, wodurch das „Singen“ sicherlich erleichtert würde. Schubart hat also seine Texte Telemanns „gekürzter Publikation“ der gottesdienstlichen Kantaten selbstbewußt und wohl auch mit Bedacht nachgeschoben. Möglicherweise war es aber nicht nur die Eitelkeit des Poeten, was ihn dazu bewog. Vielleicht erschien dem Prediger durch den Auszug die Gedankenfolge seiner Auslegung der Perikope nicht mehr deutlich genug. Oder ihm waren die Texte in Telemanns Publikation zu unübersichtlich dargestellt, obwohl sich Telemann „der lateinischen Buchstaben bedienet hat“, um auch „Ausländer[n], so unsere Sprache nur einigermaszen inne haben“16 das Werk zugänglich zu machen. Schubarts Bemerkungen über das Verhältnis seiner Texte zu Telemanns Notendruck sind auch deshalb von Bedeutung, weil sie klar belegen, daß es sich bei den im Kirchenjahr 1741/42 in Frankfurt aufgeführten großen Kirchenmusiken um die für das Kirchenjahr 1731/32 komponierten handelt und nicht um eine erneute Komposition der Texte.17 Darauf weist auch der Titel des Frankfurter Textdrucks hin, der sich an dem von Schubarts eigener Hamburger Ausgabe Ruhe nach geschehener Arbeit orientiert.18 Der Dichter war selbstredend darüber informiert, daß Telemann dem Harmonischen Gottesdienst von 1726 einen formal entsprechend gestalteten zweiten Teil hinzuzufügen gedachte. Bei der Konzeption seiner Texte hat er offensicht-
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lautet: Musicalischer Jahr-Gang, auf alle Sonn- und Fest-Tags- Evangelia, nebst angehängten Gebeth-Versen bey den Predigten über dieselben. Schubart 1733 (Anm. 14), Vorbericht, S. 5v. Fortsetzung des Harmonischen Gottesdienstes, Vorwort. In: Singen ist das Fundament zur Musik (Anm. 5), S. 169–172. Holze 1995 (Anm. 12), S. 148. Auch Jeanne Swack möchte die Identität der Jahrgänge Hamburg 1731/32 und Frankfurt 1741/42 nicht festschreiben: Vgl. ihr Vorwort zu: Georg Philipp Telemann. Fortsetzung des Harmonischen Gottesdienstes. A Series of Sacred Cantatas for Seventytwo Sundays and Holy Days Throughout the Year for ine Voice, Two Instruments and basso continuo. Albany CA 1999ff. (= Baroque Music Series No. 3), S. X. Der Titel des nicht erhaltenen Textdrucks lautet: Herrn T. H. Schubarts, Predigers an St. Michael. in Hamburg, Ruhe nach geschehener Arbeit oder Worte zur Musik, welche bei dem Fest u. sonntägl. Gottesdienst d. Evangel. Zion in Ffm. Vom Adv. 1741 bis z. Adv. 1742 Geliebt es Gott harm. vorzutragen sind. (2 Teile), Sign. Theol. 611. (Zit. nach: Werner Menke: Katalog aller Textdrucke von Georg Philipp Telemann, Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt. Sign. HB 20 H 800; Stand von 1967).
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lich beachtet, daß Telemann, um seine eigenen formalen Vorgaben zu erfüllen, zwei Arien benötigte, um sie mit einem Rezitativ aus demselben Text verbinden zu können. Schubarts Texte sind variabel gestaltet. Obwohl er sie als „Cantaten“ bezeichnet, handelt es sich eindeutig um Oratorien im Sinne Johann Adolph Scheibes, demzufolge der Inhalt eines Oratoriums „auf eine gewisse erbauliche Begebenheit aus der heiligen Schrift, [...] oder auch auf eine heilige Ehrfurcht gegen die göttlichen Geheimnisse, und auf die Ausübung oder Ausbreitung der Religion durch eine wohl ausgesonnene und erdichtete Begebenheit [...]“ zielt.19 Schubart legt Arien, Rezitative und Dicta unterschiedlichen Personen in den Mund. Die Texte enthalten zwei Arien für je einen Solisten, darüber hinaus auch oft Duette und Terzette, mehrere Rezitative, fast immer zwei Dicta und eine oder mehrere Choralstrophen. Die Reihenfolge der Textbestandteile ist nicht festgelegt. Die Arien und das Rezitativ der Kantate zum 8. Sonntag nach Trinitatis „Vor Wölfen in der Schafe Kleidern“ sind in der Vorlage über das ganze Stück verteilt. Die Kantate entsteht aus der Arie Nr. 1, dem Rezitativ Nr. 6 und der Arie Nr. 9, die vor dem Schlußchoral erklingt. Am achten Sonntage nach Trinitatis.20 Singende: Gott. Johannes. Die Wahrheit. Chor der Wahrheitliebenden. [1.] Aria (Wahrheit) [I] VOR WÖLFEN IN DER SCHAFE KLEIDERN SEID WACHSAM, MUTIG, HÜTET EUCH. SIE SCHLEICHEN MIT GELINDEN SCHRITTEN, UND TÖTEN MIT DEN SCHWERSTEN TRITTEN, OFT TÜCKISCH SEEL’ UND LEIB ZUGLEICH. [2.] Rezitativ Es hat, ach leider! ja die alte Schlange schon lange die gottverhaßte Zucht der Heuchler ausgeheckt, so Bosheit mit dem Schein der Frömmigkeit bedeckt. Sie bringt den starken Gift der Schwärmerei, durch Tück’ und List in Lehr’ und Wandel, durch Lästern rühmen Schrift und Handel, den armen Seelen schmeichelnd bei. Der wilden Wölfe Grimm, ist nicht so schädlich, nicht so schlimm, 19 20
Johann Adolph Scheibe: Der Critische Musikus. Leipzig 1745, S. 187 und 189. Schubart 1733 (Anm. 14), S. 111–114.
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als ihr verdammlichs Führen, dadurch die Seelen gar den Himmel selbst verlieren, darum, so präge dies dem Herzen ein: Es muß ein jeder Geist erst wohl geprüfet sein. [3.] Dictum (Johannes) Ihr Lieben, glaubet nicht einem jeglichen Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie von Gott sind; denn es sind viel falsche Propheten ausgegangen in die Welt. Daran sollt ihr den Geist Gottes erkennen: ein jeglicher Geist, der da bekennt, daß Jesus Christus ist in das Fleisch gekommen, der ist von Gott. 1 Joh. 4, 1–2 [4.] Rezitativ (Wahrheit) Das Masken-Christentum führt gar zu oft ganz unverdientem Ruhm, wer weiß, wie mancher sich wohl findet, an dem ein schön gepriesnes Licht, beliebte Schimmer macht, das man vom Himmel herzustammen acht’, und doch die Hölle selbst, zum Irrlicht angezündet, was mancher scheint zu sein, das ist er leider nicht. [5.] Arie (Wahrheit) mit Tutti (Chor der Wahrheitliebenden) Viel tausend, die verloren gehen, tun heftig fromm, und schrein: Herr, Herr! Ein Schein von Heiligkeit der Engel ein Ruhm von Mangel aller Mängel, ist eine Pracht der Heuchler. Tutti Herr, behüt uns vor Verstellen, und mache diese Brut der Höllen umschränkter, kleiner, heiliger. [6.] Rezitativ (Wahrheit) [II] MAN FLIEHE DOCH DEN FALSCHEN SCHEIN, {!}21 MAN GLAUBE RECHT UND LEBE REIN, MAN LASSE WORT, GEBÄRDEN, WERKE DES HERZENS WAHRE REDE SEIN.{!} DENN WER NICHT IST, WAS ER ZU SEIN NUR SCHEINT, ACH, DER VERDIRBT DER ALLMACHT STÄRKE, DER IST DES SATANS FREUND UND GOTTES ÄRGSTER FEIND. 21
In geschweifter Klammer Lesart des im Musikdruck unterlegten Worttextes.
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[7.] Dictum (Gott) Darum, daß dies Volk zu mir nahet mit seinem Munde, und mit seinen Lippen mich ehrt, aber ihr Herz fern von mir ist, und mich fürchten, nach Menschengebot, die sie lehren, so will ich auch mit diesem Volk wunderlich umgehen, aufs wunderlichste und seltsamste, daß die Weisheit seiner Weisen untergehe, und der Verstand seiner Klugen verblendet werde. Jes. 29, 13–14. [8.] Rezitativ (Wahrheit) Verstellte Bosheit, dir mag grauen, der arge Baum wird endlich abgehauen. [9.] Arie (Wahrheit) [III] ES LIEGT DIE AXT SCHON AN DEN BÄUMEN, DIE EWIG SCHWERE HIEBE TUT. SIE SCHLÄGET AN, DER STAMM ERZITTERT, ER WANKT, ER REISST, ER KRACHT, ER SPLITTERT, ER FÄLLT, ER SINKT ZUR HÖLLENGLUT. [10.] Choral Laß mich dein sein und bleiben, du treuer Gott und Herr, von dir laß mich nicht treiben, halt mich bei deiner Lehr. Herr! laß mich nur nicht wanken, gib mir Beständigkeit; dafür will ich dir danken, in aller Ewigkeit.
Das Rezitativ wird nur vom Basso continuo begleitet, die in Frage stehenden Arien sind in der Vorlage bereits mit Violine, Viola und Basso continuo instrumentiert. Als Stimmlagen verlangt Telemann in der Vorlage Alt und Baß und damit eine mittlere Stimmlage, die im Auszug mit dem Sopranschlüssel dargestellt wird. In der Kantate zum 2. Advent Ertönet bald herrlich, ihr letzten Posaunen sind die Singenden Jesus, Der freudige Glaube und Die furchtsame Bosheit. Insgesamt hat das Stück elf Nummern: zwei Arien, vier Rezitative, zwei Dicta, zwei Choräle und ein Duett. Instrumentiert ist es mit Horn, Streichern, Basso continuo.
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Am andern Advent-Sonntage.22 [1.] Arie (Der freudige Glaube) [III] ERTÖNET BALD, HERRLICH, IHR LETZTEN POSAUNEN, LASST ERDE, LASST SELBER DEN ABGRUND ERSTAUNEN! DER GLAUBE STEHT FESTE, WENN ALLES GLEICH FÄLLT. IHR KRÄFTE DER HIMMEL, BEWEGT EUCH MIT KRACHEN, DEN BÖSEN ZUM WINSELN, DEN FROMMEN ZUM LACHEN! ERSCHEINE, DU, PRÄCHTIGER RICHTER DER WELT! [2.] Rezitativ (Der freudige Glaube, Furchtsame Bosheit) Tenor Komm, ach komm doch, güldne Zeit, der frohen Ewigkeit! So komm ich von der Welt ganz wüsten Bahn, in meines Jesu Canaan. Es hat in dieses Lebens trüber Nacht, die mehr als tausendfache Not verdunkelt, mein sehnend Auge sich recht müde schon gewacht. Darum, wie gerne führ ich fort, an den von Jesu mir beschiednen Ort, woselbst die frohe Schar, als eine helle Sonne, voll Seligkeit, voll Himmels Pracht und Wonne, mit ungezählten Strahlen blitzt und funkelt. Sopran Ach nein! Mit dieser Sehnsucht stimmt mein Wünschen gar nicht ein, denn wer erschrickt wohl nicht vor dem, was selbst der Mund der Wahrheit spricht. [3.] Dictum (Jesus) Und es werden Zeichen geschehen an der Sonnen, und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Leuten bange sein, und werden zagen. Und das Meer und die Wasserwogen werden brausen. Lk. 21, 25 [4.] Arie (Furchtsame Bosheit) [I] DES WÜTENDEN MEERES BETÄUBENDES BRAUSEN ERWECKET MIR ITZT SCHON EIN SCHÜCHTERNES GRAUSEN, WAS WIRD DOCH ALSDENN SEIN GETÖSE NICHT TUN? {WAS WIRD ES AM JÜNGSTEN GERICHTE NICHT TUN?} 22
Schubart 1733 (Anm. 14), S. 170–174.
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MEIN HERZE
WILL IMMER,
BETRACHTEN, WARTEN DER DINGE VERSCHMACHTEN, DEN WIRKLICHEN ANBLICK DENN NUN?
DURCH BLOSSES VOR
FURCHT
WER TRÄGET
UND VOR
[5.] Rezitativ (Der freudige Glaube) [II] {JEDOCH}, GOTTLOB, DASS NUR DIE NAGENDE GEWISSEN {DASS GENDE GEWISSEN} DERGLEICHEN JAMMERLIEDER SINGEN MÜSSEN. DES GLAUBENS AUGE SIEHT MIT SEHNSUCHTSVOLLEM HOFFEN DEN HIMMEL ALLZEIT OFFEN; DARIN WILL JESUS SELBST, ALS GOTT UND LEBEN, LEBENDIG GLÄUBIGEN DAS FREUDENLEBEN GEBEN.
BLOSS NUR NA-
[6.] Dictum (Jesus) Verwundert euch des nicht, denn es kömmt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden seine Stimme hören, und werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Übles getan haben, zur Auferstehung des Gerichts. Joh. 5, 28, 29 [7.] Rezitativ (Der freudige Glaube, Die furchtsame Bosheit) Tenor Ach, des seid froh, ihr glaubensvollen Herzen! Hebt euer Haupt empor! Denn die Erlösung bricht nun bald hervor. Sopran Betrübter Vorschmack bittrer Höllenschmerzen. [8.] Choral O Ewigkeit, du Donnerwort, o Schwert, das durch die Seelen bohrt! O Anfang sonder Ende! O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit! Ich weiß für großer Traurigkeit, nicht wo ich mich hinwende. Mein ganz erschrocknes Herz erbebt, daß mir die Zung am Gaumen klebt. [9.] Rezitativ (Die furchtsame Bosheit) Ach möchte doch der Erdenball ohn allen Fall nur ewig feste stehen. Doch nein! möcht ich nur mit des Himmels Höhen und mit dem Staube dieser Erden,
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wenn sie dereinst mit starkem Knallen, verbrennend ineinander fallen, verbrennen und in nichts verwandelt werden. [10.] Duett (Furchtsame Bosheit, Freudiger Glaube) Verzeuch doch noch lange, erschrecklichs Getümmel, Zerbrechet, und sinket, ihr Feste der Himmel, so bleib ich beständig ein mutiger Held. Verkehrt euch in Stunden, ihr Jahre voll Plagen, Verkehrt euch in Seculn, ihr flüchtigen Tage, Verschwinde, du nichtiger Schatten der Welt. [11.] Choral O Jesu, hilf zur selben Zeit, von wegen deiner Wunden, daß ich im Buch der Seligkeit, werd eingezeichnet funden, daran ich denn auch zweifle nicht, denn du hast ja den Feind gericht’, und meine Schuld bezahlet.
Die Arie Nr. 1 ist dem Baß zugeordnet, die Arie Nr. 5 und das Rezitativ Nr. 4 dem Alt. Telemann entnimmt der langen Kantate die Arien Nr. 4 „Des wütenden Meeres betäubendes Brausen“ und Nr. 1 „Ertönet bald herrlich, ihr letzten Posaunen“, die er mit dem Rezitativ Nr. 5 verbindet, einem der beiden Rezitative des Textes, in denen es keine Wechselrede gibt. Der „Auszug“ hat damit das Incipit „Des wütenden Meeres“. Die „Vorlage“-Arien werden jeweils vom solistischen, tonmalerischen Horn, den Streichern und Basso continuo begleitet. Die außergewöhnliche, aber für den Inhalt der Kantate unumgängliche Besetzung mit Horn behält Telemann in der Bearbeitung bei, läßt jedoch die ViolaStimme weg, die als Verstärkung des Basses konzipiert war. Das Horn wird zum stromento secondo, weil es das tiefere Instrument ist; die Violinen, in der Vorlage unisono geführt, werden zum stromento primo. Die Stimmlage ist für alle drei Sätze wieder die mittlere – entsprechend Alt und Baß der Vorlage. In der Kantate zum 21. Sonntag nach Trinitatis „Wenn langer Seuchen Heftigkeit“ singen Jesus, Salomon, Paulus, Der Lehrer, Ein fröhlicher Vater und Eine traurige Mutter. Insgesamt besteht der Text mit drei Rezitativen, wovon eines als ausdrucksstarkes Accompagnato vertont ist, drei Arien, darunter ein Terzett von Trauriger Mutter, Fröhlichem Vater und Jesus, zwei Dicta und einer beschließenden Choralstrophe aus neun Sätzen. Die gedruckte Kantate „Ach Gott, wie beugt der Eltern Herze“ ist innerhalb des langen Textes eine „Binnenkantate“, die auf das einleitende Accompagnato folgt: Arie (Nr. 2) der Betrübten Mutter (Sopran), ein Rezitativ (Nr. 3) und eine Arie (Nr. 4) des Fröhlichen
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Vaters (Tenor). Auf kleinstem Raum wird der Stimmungswechsel von der Betrübnis der Mutter (Largo) zur Fröhlichkeit des Vaters vollzogen. Die gedruckte Kantate verlangt eine hohe Stimme. Das obligate Instrument bleibt die Querflöte, die in der Vorlage in den Arien und dem Terzett als Klangfarbengeberin eingesetzt wird, während sie in der Druckfassung obligat erscheint. In der ersten Arie „Ach Gott, wie beugt der Eltern Herze“ ändert Telemann die Taktart – der 3/4-Takt der Vorlage wird zum 3/8 im Druck, aber die Ausdrucksbezeichnung bleibt „Largo“. Mit den im Druck publizierten Kantaten stellte Telemann Auszüge aus größer dimensionierten Kirchenmusiken bereit, die als eigenständiges Werk angesehen werden dürfen. Die Aufführung in einer Privatandacht ist kalkuliert und erwünscht durch die Bereitstellung eines Klavierauszugs, der „einer einzigen Person zum Nutzen gereichen“ möchte, „wann sie nemlich die kleinern Noten spielet“.23 Den Ambitus der Vokalstimme hat Telemann in Hinblick auf die Publikation bereits in der Vorlage auf einen mittleren Bereich festgelegt. Den Unterschied zwischen höherer und tieferer Lage zeigt er durch die Schlüsselung an.24 Innerhalb der gedruckten Kantaten wechseln die Stimmlagen nicht. Der Verlauf der Vokalstimme bleibt erhalten, ebenfalls die Form (Da capo-Arie), die Tonart, im allgemeinen auch die Taktart und das obligate Instrument. Die gedruckten Stimmen sind neutral mit stromento primo und secondo bezeichnet, da sie in Ermangelung der von Telemann vorgeschlagenen Instrumente von Violinen gespielt werden können. Die instrumentalen Mittelstimmen, die oft aus dem Baß gewonnen waren oder die im Unisono spielenden Violinen verstärken, läßt Telemann im Auszug weg. Um die Aufführung der Kantaten mit einem größeren Apparat aber nicht auszuschließen, sind in den Klavierauszug und die Stimmen verbale Hinweise wie Tutti oder f bzw. p. eingearbeitet, die anzeigen, wann z.B. die Viola einsetzen kann oder verstärkende Holzblasinstrumente. Der Auszug derjenigen musicalischen und auf die gewönlichen Evangelien gerichteten Arien25 Ähnliche Strategien wie bei der Fortsetzung des Harmonischen Gottesdienstes wendete Telemann bereits bei dem etwas älteren Auszug derjenigen [...] Arien 23 24
25
Fortsetzung des Harmonischen Gottesdienstes, Vorwort (Anm. 16), S. 170. Ebenda, S. 170: Beschreibung der Stimmlagen: „An die Abwechselung der Stimmen, nemlich des Discantes und Altes, oder Tenors und Basses, hat man sich so genau nicht gebunden, dasz nicht von der einen oder der andern zwo Cantaten in der Reihe folgen sollten; da aber jene, nicht höher als g“, und nicht tieffer, als d’ gehen, und diese zwischen d’ und e“ ihre Grenzen finden, so wird solcher Umfang von den mehresten Hälsen erlanget werden können.“ Auszug derjenigen musicalischen und auf die gewönlichen Evangelien gerichteten ARIEN, welche in den Hamburgischen Haupt-Kirchen, durchs 1727. Jahr, vor der Predigt aufgeführet werden, bestehend aus einer Singe-Stimme, nebst dem General-Basse, und verfertiget von G. P. Telemann. HAMBURG, zu bekommen im Kißnerischen Buchladen. Gedruckt bey Frantz Ludwig Greflinger, an der Ellern-Brücke im Nordischen Mercurio.
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an. Die Texte der Vorlagen stammen von Johann Friedrich Helbig (1680–1722), der seit 1717 als Angestellter des Eisenacher Hofes für Telemann zu dichten hatte. Aufgeführt wurde der vollständige Jahrgang im Kirchenjahr 1726/27 in Hamburg und Frankfurt,26 in Eisenach vielleicht schon früher.27 Die Texte dürften Telemann aber spätestens 1722 vorgelegen haben, dem Todesjahr Helbigs. Ihre Form ist mit der Abfolge Dictum-Choral-Rezitativ-Arie-Choral-Arie-Choral normiert, wobei die Anzahl der Choralstrophen variieren kann. Immer aber haben die Text zwei Arien. Dem als Tutti vertonten Dictum ist oft eine instrumentale Sinfonia vorangestellt, wie z.B. in der Kantate Alles Fleisch ist Heu zum 16. Sonntag nach Trinitatis. [2.] Dictum Alles Fleisch ist Heu, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Heu verdorret, und die Blume verwelket. Jes. 40, 6 [3.] Choral Alle Menschen müssen sterben, alles Fleisch vergeht wie Heu. Was da lebet, muß verderben, soll es anders werden neu. Dieser Leib, der muß verwesen, wenn er ewig soll genesen, der so großen Herrlichkeit, die den Frommen ist bereit’. [4.] Recitativo Beglückter Wechsel, da ich die bitterböse Zeit verwechsle mit der selgen Ewigkeit, da alles, was noch an mir klebet, der Seufzer Nahrung und der Tränen Quell und Guß auf einmal mit mir sterben muß, und mich der Tod erst recht belebet.
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27
Titel des nicht erhaltenen Textdrucks: Harmonisches Lob Gottes über die gewöhnlichen Sonnund Fest-Tage, welches allhier in denen beyden Haupt-Kirchen zu den Barfüsser und S. Catharinen so Gott will, aufzuführen ist. I. Theil 1726. II. Theil 1727. Sign. Theol. Ff. 624. (Zit. nach Menke, Anm. 18). Das Frankfurter Inventarienbuch (Jahrgang Nr. IV) teilt mit: „ao: 1726. wurden die Partituren Stückweiß von Eisenach auf der Post hierher geschickt“. Vgl. Roman Fischer: Frankfurter Telemann-Dokumente. Hildesheim (u.a.) 1999 (= Magdeburger Telemann-Studien 16), S. 62f.
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[5.] Aria KRACHE,
SINKE, MORSCHE
HÜTTE, GOTTES WILLEN EIN. IST SCHON EIN HAUS ERBAUET,
FALL NACH
MIR
DAS MAN NIRGENDS SCHÖNER SCHAUET
STILLE, LIEBLICHKEIT IN FÜLLE BESTÄNDGER WOHNUNG SEIN.
WO VERGNÜGEND SÜSSE
FREUD IN
UND
[6.] Choral Herzlich tut mich verlangen nach einem selgen End, weil ich hier bin umfangen mit Trübsal und Elend. Ich hab Lust abzuscheiden von dieser bösen Welt, sehn mich nach ewgen Freuden. O Jesu! komm nur bald. [7.] Aria WOLLTE DOCH
DIE
STUNDE
SCHLAGEN,
DA ICH FREUDIG KÖNNTE SAGEN: NUN, GOTTLOB, ES IST VOLLBRACHT. ACH! WIE GERNE WOLLT ICH GEBEN, GEHEND IN EIN BESSRES LEBEN, DIESEM LEBEN GUTE NACHT.
[8.] Choral Komm, o Tod, du Schlafes Bruder, komm, und führe mich nur fort. Löse meines Schiffleins Ruder, bringe mich an sichern Port. Es mag, wer da will, dich schauen, du kannst mich vielmehr erfreuen, denn durch dich kann ich hinein zu dem schönsten Jesulein.
Pünktlich zum Eintritt des Kalenderjahres 1727 lagen die Auszüge der beiden Arien aus der Kantate für den Neujahrstag vor, wie auch für die folgenden Sonntage analog verfahren werden sollte: Kurz vor dem jeweiligen Termin waren die Arien der bald in der Kirche erklingenden Kantaten erhältlich.28 28
Meldung im Hollsteinischen Correspondenten vom 7. Dezember 1726.
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Die Arien sind ausschließlich für das Musizieren am heimischen Tasteninstrument gedacht. Im Unterschied zum Harmonischen Gottesdienst, der mehr auf „den öffentlichen als Privat-Gebrauch“ gerichtet gewesen sei, wären es die Arien „ins besondere auf den leztern“.29 Telemann weist in seiner kurzen Vorrede auch darauf hin, daß „diese Arien im Original mit Instrumenten begleitet werden“, weshalb der Baß – also die Grund- oder Generalbaßstimme – so abgefaßt sei, daß „ihr Abgang verhoffentlich nicht vermisset werden wird“.30 Telemann weist mit dieser Bemerkung darauf hin, daß er nicht nur sehr bewegliche, sondern auch thematisch gebundene Baßstimmen verfaßt habe, um das Fehlen der Instrumente nicht zu sehr spürbar werden zu lassen. Mittels Schlüsseln zeigt er an, ob die jeweilige Arie für eine höhere oder tiefere Stimmlage vorgesehen ist. Für jeden Sonntag gibt es sowohl eine Arie für hohe als auch für tiefere (mittlere) Stimme. Im Vorwort fehlt der Hinweis nicht, daß auf „ausschweifende und unnatürliche Sprünge“ verzichtet wurde,31 eine besondere Qualität der Telemannschen Melodik. Die Arien der Vorlagen für die Fortsetzung des Harmonischen Gottesdienstes konnten ohne größere verändernde Eingriffe übernommen werden. Die Arien des Auszuges dagegen mußten für das zweistimmige Arrangement bearbeitet werden. Telemann bereitete dies vor, indem er oft sehr raffinierte Instrumentationsvarianten erfand, um die Stimmen der hohen Streicher auf das Tasteninstrument umlegen zu können. Eines der Mittel ist, die Violinen, von Viola und Baß begleitet, das Thema vorspielen zu lassen, das die Vokalstimme dann übernimmt. Setzt diese ein, gehen die Violinen und die Viola zur Baßstimme über, verdoppeln ihn damit also. In der zweistimmigen Arie wird das Thema gleich dem Baß zugeordnet. In anderen Fällen verstärken die Violinen die Vokalstimme und können damit bei einem Arrangement problemlos weggelassen werden. Die gedruckten Arien, Da-capo-Arien wie die Vorlagen, komprimierte Telemann außerdem dadurch, daß er Ritornelle kürzte. Manche Eingangsritornelle ließ er in der Druckfassung weg oder kürzte sie jeweils auf eine kurze Einstimmung. Zwischenritornelle, sofern sie vorhanden sind, werden wie die, die den A-Teil beschließen, gekürzt. In den B-Teilen, die keine Ritornelle haben, gibt es solche Kürzungen folgerichtig nicht. Die Veränderung der Ritornelle verlangte darüber hinaus von Fall zu Fall Veränderungen der den harmonischen Verlauf bestimmenden Baßstimme. In den Verlauf der Vokalstimme griff Telemann nicht ein. Auch die in der Vorlage festgelegte Tonart behielt er bei. Es ist festzustellen, daß Telemann bei der Abfassung der Jahrgänge für die Kirchenjahre 1726/27 und 1731/32 die Veröffentlichung von Auszügen im Druck mitgeplant hat. Demgemäß wählte er jeweils eine Anlage, die eine quan29
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Auszug derjenigen [...] Arien, Vorwort. In: Singen ist das Fundament zur Music (Anm. 5), S. 139–140, das Zitat S. 139. Ebenda, S. 139. Ebenda.
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titative Reduktion wie Verkleinerung des Aufführungsapparates oder Kürzungen erlaubte, die Komposition selbst aber nicht veränderte. In beiden Fällen war der Komponist Herausgeber und Arrangeur zugleich. Sowohl der Auszug derjenigen [...] Arien als auch die Fortsetzung des Harmonischen Gottesdienstes können deshalb auch als von der Vorlage unabhängige, eigenständige Werke betrachtet werden. Die Kenntnis von Telemanns Vorgehensweise bei der Veröffentlichung von Kirchenmusik als geistlicher Kammermusik erlaubt nun den Schluß, daß er auch bei anderen Werken in dieser Weise verfahren sein könnte: Die Kompositionen von Telemanns zweitem Druckwerk, der 1716 veröffentlichten Kleinen Cammer-Music, für ein Instrument (Oboe, Violine oder Traversflöte) und Basso continuo32 liegen auch in handschriftlicher Überlieferung für Streicherensemble vor. Unhinterfragt wird derzeit angenommen, daß diese „Fassungen“ Vergrößerungen oder Arrangements der gedruckten zweistimmigen Partiten seien,33 obwohl bereits Adolf Hoffmann in der Einleitung zu seinem Verzeichnis der Ouvertürensuiten Telemanns darauf hingewiesen hat, daß die handschriftlich überlieferten Ouverturen die Vorlagen für die Partiten der Kleinen Cammer-Music gewesen sein werden.34 Möglicherweise handelt es sich bei diesem Werk also ebenfalls um einen geringstimmigen Auszug aus mehrstimmigen Kompositionen, den Telemann bei der Konzeption der vierstimmigen Streichermusik bereits mitgedacht hat.
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Kleine Cammer-MUSIC, bestehend aus VI. Partien, Welche vor die Violine, Flfte traverse, wie auch vors Clavier, besonders aber vor die HAUTBOIS, nach einer Leichten und singenden Art, also, daß sich so wohl ein Anfänger darinnen üben, als auch ein Virtuose darmit hören lassen kan, eingerichtet und verfertiget sind Durch Georg Philipp Telemann, Capellmeistern in Franckfurt am Mayn. In der Herbst-Messe, 1716. In Verlegung des Autoris. Druckts Johann Philipp Andreä. Ausgaben: Georg Philipp Telemann: Die Kleine Kammermusik. Sechs Partiten für Violine (Querflöte/Oboe/Blockflöte) und Basso continuo. Hrsg. von Waldemar Woehl. Kassel 1961 (= Hortus Musicus 47). G. Ph. Telemann: Kleine Kammermusik. Sechs Partiten für Blockflöte (Querflöte oder Oboe oder Violine) und Basso continuo. Nach dem Erstdruck hrsg. von Klaus Burmeister. Leipzig 1981. So werden die in der Severinus Urtext Telemann Edition (Hereford) erschienenen Orchesterstükke als „Telemann’s own arrangements of the solo partitas from Die Kleine Cammer-Music (1716)“ bezeichnet. Martin Ruhnke in: Georg Philipp Telemann. Thematisch-systematisches Verzeichnis seiner Werke. Telemann-Werkverzeichnis (TWV) Instrumentalwerke. Bd. 3. Hrsg. von Martin Ruhnke. Kassel (u.a.) 1999, stellt allerdings lediglich die Übereinstimmung der jeweiligen Kompositionen fest. Adolf Hoffmann: Die Orchestersuiten Georg Philipp Telemanns TWV 55 mit thematisch-bibliographischem Werkverzeichnis. Wolfenbüttel / Zürich 1969. Einleitung, S. 15f.
Andreas Keller Johann Ulrich König (1688–1744) als Nachlaßverwalter und Herausgeber Johann von Bessers Ein Autor-Editor im Spannungsfeld des preußisch-sächsischen Kulturraums
Der Editor geht 1732 ganz offenbar mit zwiespältigen Empfindungen ans Werk: „Eu. Hoch=Reichs=Gräfl. Excellentz haben die Gnade, und belieben zu erwegen, wann ich mir so viel Mühe gebe, die Schrifften und das rühmliche Andencken eines Mannes zu verewigen, welcher doch in den letzten Tagen seines Lebens, durch sein widriges Bezeigen, mich wohl zum Gegentheil hätte bewegen können; wie ernstlich werde ich mich nicht bestreben, den Ruhm Euer Hoch=Reichs=Gräfl. Excell. auszubreiten?“ Zunächst verbirgt sich hier eine merkwürdige Gleichung von Quantitäten: um die Ergebenheit gegenüber dem Widmungsträger möglichst schwerwiegend erscheinen zu lassen, muß das Gegenstück auf der syntaktisch nachgebildeten Waage – die zu überwindende Aversion wegen zurückliegender Kränkung durch den zu edierenden Autor – notwendig eine ebenso unermeßliche Gravität aufweisen. Anlaß und Qualität der Differenzen zwischen Johann Ulrich König und seinem drei Jahre zuvor verstorbenen Amtsvorgänger Johann von Besser bleiben jedoch im Dunkeln. Der Herausgeber läßt sich davon auch in seinem Vorhaben nicht weiter beeinträchtigen, schließlich gilt es sich des Wohlwollens seitens des lebenden Fürsten zu versichern, „als ich das Glück geniesse, in Eu. Excell. einen solchen Gönner zu verehren, welcher durch seinen gnädigen Schutz und einen mir seit so vielen Jahren vergönnten freyen Zutritt, mich vorlängst verpflichtet hat, mit unverbrüchlichem Gehorsam und mit tieffster Ehrbezeugung, Zeit meines Lebens, zu verharren“.1 Bereits zu Lebzeiten des Autors waren die Schrifften des Herrn von B.[esser] 1711 und 1720 erschienen, und offenbar kam es noch zu Gesprächen wegen einer dritten, nunmehr überarbeiteten Ausgabe. Mit der Realisierung dieser Pläne setzt Johann Ulrich König seine editorische Arbeit fort, mit der er sich bereits 1727 einen Namen als Herausgeber der Schriften des Freiherren von Canitz gemacht hatte.2 Sein Amt als „Geheimer Sekretar und Hof=Poet“ am kurfürst1
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Johann Ulrich König in seiner Widmungsvorrede auf Heinrich Friederich von Friesen. In: Des Herrn von Besser Schrifften, Beydes in gebundener und ungebundener Rede; Erster Theil. Ausser des Verfassers eigener Verbesserungen, mit vielen seiner noch nie gedruckten Stücke und neuen Kupfern, Nebst dessen Leben Und einem Vorberichte ausgefertigt von Johann Ulrich König. Erster/ Zweiter Theil LEIPZIG bey Johann Friedrich Gleditschens sel. Sohn 1732, Teil 1 (o. P.). Des Freyherrn [Friedrich Rudolf Ludwig] von Caniz Gedichte, Mehrentheils aus seinen eigen-
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lich-königlichen Hof in Dresden3, das er seit 1720 innehatte und nach dem Tode Bessers 1729 durch die Kompetenzen eines Zeremonienmeisters zu erweitern wußte, scheint einer Ergänzung im publizistischen Bereich zu bedürfen.4 Die erfolgreiche Tätigkeit an der Hamburger Oper, wo er zwischen 1710 und 1716 in Zusammenarbeit mit Graun, Keiser oder Telemann meistenteils unter Verwendung eigener Libretti inszeniert hatte, lag bereits einige Zeit zurück.5 Ganz offensichtlich ergreift König die Edition als willkommenes Projekt, um seinen derzeit allzu engen Wirkungsradius zu erweitern. Um die Problematik der editorischen Unternehmung zu ermessen, gilt es zunächst den Blick auf das edierte Objekt zu richten. Daß Etikettierungen des 19. Jahrhunderts im Sinne eines „Hofdichters“, der „schweifwedelnd um den Thron streicht und in allen Tonarten zu loben weiß“,6 grobe Fehlbewertungen eines so umsichtigen Diplomaten und gelehrten Poeten sind, erscheint vor dem Hintergrund der jüngeren Frühneuzeitforschung selbstverständlich, bedarf aber auch im heutigen Diskussionsrahmen noch einer genaueren Erläuterung. Nach Studien in Königsberg und Leipzig tritt der 1654 im Kurländischen geborene Johann Besser7 1681 in den Dienst des brandenburgischen Kurfürsten. Nach einer kurzen Residententätigkeit in London und Lüttich agiert er mit umfassenden Befugnissen als Hofzeremonienmeister am Berliner Hof. Mit diplomatischen wie publizistischen Maßnahmen steuert er maßgeblich die politischen Vorgänge, die 1701 schließlich zur folgenreichen Rangerhöhung seines Dienstherren führen. Auch als Oberzeremonienmeister des ersten preußischen Königs setzt er sich mit allen nur verfügbaren Medien der panegyrischen Performanz für dessen Anerkennung auf der europäischen Bühne ein. Der nicht zuletzt dafür nobilitierte Johann von Besser erweist sich als ein virtuoser Koordinator zwischen den
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händigen Schrifften verbessert und vermehret, Mit Kupffern und Anmerckungen. Nebst dessen Leben und Einer Untersuchung Von dem guten Geschmack in der Dicht= und Rede=Kunst, ausgefertiget von Johann Ulrich König. Leipzig / Berlin 1727. So die Selbstbezeichnung auf dem Titelblatt der Ausgabe 1732 (Anm. 1). Zur Biographie Königs gibt der Artikel Peter Heßelmanns einen detaillierten Überblick, nebst einigen Angaben zur immer noch recht spärlichen Forschung (in: Literaturlexikon. Hrsg. von Walter Killy. VI. Band. München 1990, S. 429–431). Vgl. ferner: Christel Hebig: Dichter und Bibliothekar. Zum 300. Geburtstag von Johann Ulrich von König. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 102 (1988), S. 559–563. Analysen zu Königs librettistischem Werk bietet Eberhard Haufe: Die Behandlung der antiken Mythologie in den Textbüchern der Hamburger Oper 1678–1738. Frankfurt/Main (u.a.) 1994; mit der Kasualdichtung Königs beschäftigt sich W. Gordon Marigold: Zu einigen Gelegenheitsdichtungen von Johann Ulrich von König. In: WBB 8 (1981), S. 246–250. Wilhelm Haertel: Johann von Besser. Sein Leben und seine Werke. Ein Beitrag zur Geschichte der Hofdichtung. Berlin 1910. Repr. 1977, S. 82 bzw. 81. Zur Biographie und aktuellen Forschungslage: Knut Kiesant: Johann von Besser. In: Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit. Band I Berlin / Cölln 1688–1713. Hrsg. von Lothar Noack und Jürgen Splett. Berlin 2000 (=Veröffentlichungen zur Brandenburgischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit), S. 55–72, und ders.: Galante Dichtung am Berliner Hof. Zur galanten Dichtung Johann von Bessers (1654–1729). In: Der galante Diskurs. Hrsg. von Thomas Borgstedt und Walter Schmitz. Dresden 2001, S. 111–126.
Johann Ulrich König als Nachlaßverwalter und Herausgeber Johann von Bessers
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dynastischen, ständischen und territorialpolitischen Konfliktebenen, dessen facettenreiche Produktivkraft letztendlich erst auf der Basis einer modernen Edition seines Gesamtwerkes zu beurteilen sein dürfte.8 Die glücklicherweise erhaltenen Materialien seines Nachlasses weisen neben umfänglichen Korrespondenzen, Entwürfen, Exzerpten und Kollektaneen nicht zuletzt auch ein akribisch geführtes Hofjournal auf, das die Vorgänge im entscheidenden Umraum der Königskrönung, zwischen 1691 und 1716, detailliert und kommentiert verzeichnet.9 Mit dem Herrscherwechsel 1713 geht dem Hochgeachteten das einflußreiche Amt jedoch verloren, nur mühsam und unter empfindlichen Einschränkungen kann er eine vergleichbare Tätigkeit nach 1717 in Dresden wiederaufnehmen. Um das Œuvre Bessers und seine eigentümliche, bis heute noch nicht gänzlich abschätzbare Wirkung in der Kulturgeschichte um 1700 präziser zu verorten, scheint eine sachgerechte Klärung der allzu leicht in den Debatten geführten Termini ,Zeremoniell‘ und ,Poesie‘ hilfreich, vor allem hinsichtlich ihrer spezifischen Wechselwirkungen bzw. gegenseitigen Bedingtheit im späten 17. Jahrhundert. Die Zeitgenossen reflektieren hier noch einen zwingenden Zusammenhang, Johann Ulrich König selbst widmet die exordialen Ausführungen in seiner Canitz-Biographie den verdienten Männern, die eine „Geschicklichkeit in Staats=Sachen und Gesandschafften“ mit der „Schönheit“ ihrer „Gedichte“ zu vereinen wußten:10 Es ist nichts ungewöhnliches, die Staats= und Dicht=Kunst, in einem grossen Manne, glücklich vereiniget zu sehen. Die erste pfleget der andern, durch Kenntniß der Welt, durch den Gebrauch der Höfe, und den Umgang der Grossen, einen gewissen 8
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Die derzeit an der Universität Potsdam in einem interdisziplinären Projekt vorbereitete Gesamtausgabe hofft hier mit den entsprechenden Materialien den erforderlichen Beitrag zu liefern. Die moderne Edition wird die im folgenden aufgezeigten Faktoren berücksichtigen und die kulturgeschichtliche Spannweite entfalten, in der sich der Autor Johann von Besser dank des überlieferten Nachlasses verorten läßt. Ausgehend von den entstehungsgeschichtlichen Umfeldern der Texte in Politik und Ästhetik bzw. Zeremonialwesen und Poetik dokumentiert die Potsdamer Ausgabe die jeweilige Textgenese anhand von Autorentwürfen und Publikationsstufen. Darüber hinaus aber zeigt sie auch die Wirkung der Texte, deren Kommentierung durch die Zeitgenossen und schließlich sogar deren gezielte Mutation oder Transformation, an der noch der Autor selbst beteiligt war. Vor allem der Variantenapparat, der gleichermaßen Entstehungs- wie Überlieferungsvarianten verzeichnet, erhält hier besonderen Aussagewert hinsichtlich der Neufunktionalisierung einzelner Werkpartien in einem für die deutsche Literatur fundamentalen Paradigmenwechsel. Das von der DFG geförderte Projekt umfaßt zunächst fünf Bände. Vgl. Andreas Keller und Knut Kiesant: Poesie und protokollarische Ordnung: Strukturen, Probleme und Nutzen einer kulturwissenschaftlichen Ausgabe des brandenburgischen Zeremonienmeisters Johann von Besser (1654–1729). In: Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft (im Druck). Vgl. hierzu: Peter-Michael Hahn: Der Hof Friedrichs III./I. um 1700 im Spiegel der Hofjournale seines Zeremonienmeisters Johann von Besser. In: Preußen 1701. Eine europäische Geschichte. Berlin 2001, S. 57–67. So urteilt König über den französischen Kardinal Perron, den er zusammen mit Anton von Palermo, Magalotti, Addisson und schließlich Canitz in eine Traditionsreihe stellt, in: CanizGedichte (Anm. 2), S. lxxxv bis lxxxvii.
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Wohlstand und edlen Geschmack mitzutheilen, welchen man in der Schule oder in einem Bücher=Winkel vergeblich suchet. Diese aber weiß jener ein munteres Feuer zu eindringenden Vorstellungen, eine wohlklingende Ubereinstimmung, und nachdrückliche Wahl der Wörter auch in ungebundener Rede, nebst sinnreichen Einfällen in Gesellschafften, und einer zierlichen Belesenheit, zu verleihen, welche aus den Staats=Verwirrungen und Hof=Geprängen allein, schwerlich zu erlernen.
Als einen Vertreter dieser Elite stellt die Königsche Widmung 1732 auch den Grafen von Friesen vor und bekräftigt somit die Allianz zwischen Staats- und Dichtkunst. Der Graf tritt als löbliche Verkörperung des Mars-Apoll-Ideals hervor, denn „wie er schreibt, so ficht er auch, Geschickt zu Staats= und Kriegs=Geschäfften”. Als löbliche Praxis erweist sich die Koalition aus strategischer und poetischer Kunst anhand des tatkräftigen Schutzes des gelehrten Arsenals durch den Fürsten: war es doch von Friesen, der seinerzeit den Verkauf der Besserschen Bibliothek an den Polnischen König vermittelt, sich dabei aber gleichzeitig erfolgreich dafür eingesetzt hatte, daß Besser zeitlebens im Besitz der Bücher bleiben dürfe. Die staatliche Förderung von Poet und Archiv als doppelte Wohltat erhofft sich der Widmungsschreiber als Nachfolger Bessers nun wohl auch im eigenen Interesse: Der Fürst wird im Rekurs auf den Funktionsverbund von Staats- und Dichtkunst als Protektor der gelehrten Dichtkunst ohne Ansehen der einzelnen Person gemahnt. Daß die sprachgewaltige Gelehrsamkeit in Verbindung mit dem kommunikativen Gedächtnis sich als stabilisierender Faktor auch für die zukünftige Herrschaft erweisen wird, bedarf der ständigen Erinnerung, wohl auch mit dem angstvollen Blick auf den leichtfertigen Verzichtsakt in Berlin. Wie das Zeremonialwesen als Textproblem nun für die Forschung Virulenz erhält, zeigt bereits ein sporadischer Blick auf Johann von Bessers Hof-Journal:11 Dieses Dokument konfrontiert mit einem mehrteiligen, gradualen System von Beschreibvorgängen,12 das eine diachronische Veränderung im Sinne von 11
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Über Johann von Bessers Verhältnis zum Hof urteilt der anonyme Verfasser im Vorwort von 1711 (das König übernimmt), er habe als ein „Hofman; der nicht allein an einem der grössesten Höfe, sich fast von Jugend auf befunden; sondern auch in einer mit dem Hofe viel Gemeinschafft habenden CHARGE, die gantze Zeit über gestanden; ja das Glück gehabt, daß Se. Maj. sein allergnädigster König, die meiste seiner Schriften des Anschauens gewürdiget: Und also hat es nicht fehlen können, daß er, in seinen PRODUCTIONen, nohtwendig alle diejenigen unter den Deutschen hat übertreffen müssen, denen es an solchen Vorzügen, und einem so herrlichen Unterricht zum Schreiben ermangelt. Der Hof ist die eintzige und allersicherste Schule die Gemühter der Menschen recht zu POLIren und aufzuwecken, und durch welchen gantz gewiß alle diejenigen, die sich jemahls durch ihre dergleichen Schriften berühmt gemacht [...]; Ja welcher auch sonderlich unsern AUTOR, mehr als all seine STUDIEN, dahin gebracht; daß gleichwie ehmahls vom CÆSAR gesaget ward: daß Er, auf eben die Weise, wie er gefochten, so auch geschrieben habe: Also nicht minder von unserm AUTORE gesagt werden kan, daß seine POLIten und ungezwungenen Hof=Maniren, die in allem seinem Thun sich finden lassen, nicht weniger in seinen Schriften zu spühren und anzutreffen sind.“ In: Des Herrn von B. [esser] Schrifften, v r Beydes in gebundener und ungebundener Rede [...]. Leipzig 1711, Bl. *6 –7 . Dadurch birgt die materielle Beschreibvorlage verschiedene Texte, die gleichwohl vorhanden wie
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Modifikation und Varianz eines einzelnen Vorgangs suggeriert. Die via Überlieferungsträger somit fixierte Dynamik, die augenscheinliche Veränderung eines zu einem bestimmten, früheren Zeitpunkt noch gültigen Textzustands, legt generelle Überlegungen hinsichtlich einer graduellen Differenz in der Chronologie nahe. Außertextliche Umstände haben sich offenbar gewandelt und sich über das Reaktionsverhalten des Schreibers in den vorliegenden Text eingeschrieben. Die sukzessive Mutation des Ausgangstextes läßt sich als Modifikation, Negation, Addition oder auch als eine präzisierende Division eines Sachverhalts klassifizieren. Auf diese Weise repräsentieren die Hofjournale bereits in kleinem Maßstab Geschichte, sie verweisen darauf, daß das Zeremonialwesen gerade nicht als einmalige und langfristige Festschreibung von Status-Demonstrationen im Sinne des Stillstands zu bewerten ist, sondern vielmehr als ein Instrument zur Dynamisierung der höfischen Vorgänge in Richtung auf ein vom Zeremonienmeister und seinen Auftraggebern anvisiertes Ziel verstanden wurde. Das bezieht sich auch auf das protokollierte Verhalten der Teilnehmer, wie die Inhalte des Journals ausweisen. So etwa ist von geradezu spontanen, aber in ihrer Wirkung offenbar durchaus kalkulierten Rollenspielen die Rede: Personen ergreifen spontan die Initiative in protokollarisch nicht rechtseindeutig bestimmten Zwischenphasen, man äußert sich mit kurzen nonverbalen Handlungen oder geradezu theatralischen Mitteln. Gesandte spielen am gastgebenden Hof plötzlich den Diener zum Schein und weisen sich damit selbst eine fiktive, aber ästhetisch signifikante Gradualität zu, die andere wiederum zur Reaktion zwingt. Beobachter nehmen es wahr, akzeptieren die Beliebigkeit als eine nunmehr gesetzte Norm und registrieren künftig Einhaltung und Verstoß. Der Zeremonienmeister protokolliert und überliefert damit für sich, für seinen involvierten Auftraggeber und nicht zuletzt für die Forschung ein Spiel um zusätzliche Artikulationsräume und Aktionsplattformen. Der ergebnisoffene Schaukampf um Selbsteinbringung der beteiligten Akteure fordert Spontaneität und impulsives, ja offensives Handeln in einem Wettstreit um die optimale Gewichtung der eigenen Präsenz, registriert von einer regionalen oder aber auch überregional zu verortenden Öffentlichkeit. Als gespielte Szene vollziehen sich immer wieder Maßstabswechsel, indem die Teilnehmer in Form einzelner symbolischer Bilder einzelne Statusveränderungen zu Protokoll geben. Mit Inszenierung und Rollenspiel, mit Anschaulichkeit und Bildsprache sind jedoch genuin poetische Instrumentarien aufgerufen, die sich noch beliebig erweitern ließen, denkt man etwa an Metapher, Emblem, Exempel oder Allegorie. Es handelt sich um Elemente, die selbstverständlich korrespondieren mit ihrer Verwendung in den Festbeschreibungen, Kasualreden oder Bühnendialogen Jonicht vorhanden sind und nun idealiter durch die wissenschaftliche Nachbereitung zu generieren und dem Benutzer zu vermitteln sind. Die besonderen editorischen bzw. interpretatorischen Probleme erfahren in dem von Vinzenz Czech, Peter-Michael Hahn und Holger Kürbis betreuten Band 3 der Potsdamer Ausgabe eine entsprechende Berücksichtigung.
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hann von Bessers. Poesie als handwerklich gestaltende Kunst darf damit als das universale System gelten, denn auch das Protokoll wird von einem Autor gebaut wie ein Text, auch das Zeremoniell steuert Figurenhandlung auf einer öffentlichen Bühne.13 Personen, Sachen und Argumente transportieren bestimmte Detailwertigkeiten, die in den Verlauf, in eine vorgegebene oder festzulegende Handlungsordnung gebracht werden. Das Einschalten oder auch Ausschalten von einzelnen Figuren und ihrer Ansprüche funktioniert im Drama wie im Protokoll. Der Autor wie der Zeremonienmeister bestimmt über heitere oder ernste Szenen, über rationalen Informationsfluß oder emotionale Affektstimulierung, ja über den ,Character‘ einer Figur. Zeremoniell ist damit nicht allein passives Abbild des höfischen Systems und sekundär generiertes Zeichensystem, keine präskriptive Verhaltens- und Bewegungslehre, sondern ein jederzeit noch gestaltbares Kommunikationsgeschehen, das viele Autoren hat und gattungsübergreifend funktioniert durch das wirksame Einspeisen parteidienlicher Aussagen und Aktionen. Durch sprachliche Figuren und Bilder und ihre faktische Performanz bieten sich Möglichkeiten für neue und protokollfremde Aussagen, für klärende Dialoge und Statusdefinitionen, um damit qualitative Veränderungen in der Wahrnehmung zu steuern. Rangstreitigkeiten, unliebsame Entwicklungen oder politische Schwächen lassen sich durch begriffliche, metaphorische oder auch mythologische Kunstgriffe zu den eigenen Gunsten entscheiden. In diesem engen Zusammenspiel von Politik und Poesie, von Diplomatik und Theatralik, von juristischem Statusdenken und bezeugter Evidenz zeigt sich Johann von Besser als ein versierter Kommunikator mit einem breiten Arsenal sprachlicher Techniken. Alle seine Texte haben durchweg performativen Charakter und sind als Leitungsmuster für höfisches und interhöfisches Verhalten zu bewerten. Panegyrik, Kasualia und Opernlibretti, sogar Trauerdichtungen erweisen sich als intentionale Lenkungskonzepte, die eine reale Interaktion politischer Funktionsträger in erkennbaren und vor allem auch merkfähigen Bildern initiieren. Das agierende Ensemble der Opernaufführung rekrutiert sich nicht selten aus dem diplomatischen Corps, Angehörige des Hohenzollernhofes wie Gesandte anderer Höfe übernehmen entsprechende Rollen auf der theatralischen Schaubühne.14 Hier aber liegt nun die besondere Problematik des Editionsunternehmens im Jahre 1732. Zu dieser Zeit nämlich sind die angesprochenen Phänomene zumindest im preußischen Bereich bereits Vergangenheit! Wie das biographische Ereignis – die Entlassung Bessers in Berlin – deutlich zeigt, vollzieht sich dort ein fundamentaler Paradigmenwechsel des Höfischen. Der zweite preußische König 13
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Zur Festbeschreibung als poetischer Gattung im zeremonialen Rahmen hat nun Thomas Rahn einen fundierten Problemabriß vorgelegt: Festbeschreibung. Funktion und Topik einer Textsorte am Beispiel der Beschreibung höfischer Hochzeiten (1568–1794). Tübingen 2006. Die sprachliche Interaktion dient ebenso wie die administrativen, ökonomischen oder militärischen Instrumente der staatlichen Interessenpolitik und bedarf damit ganz entsprechend der verläßlichen Rekonstruktion als historisches Faktum. Dieses Desiderat einzulösen, soll die Potsdamer Ausgabe in Kürze ihren Beitrag leisten.
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konnte bereits 1713 auf Person und Amt eines Zeremonienmeisters verzichten, eine bedeutsame Entscheidung, die die „sinnreichen Einfälle“ des Poeten „in Staats=Sachen und Gesandtschafften“ kurzerhand für obsolet erklärt und den Kooperationsverbund von Poesie und höfischer Kommunikation aufkündigt. Umgekehrt artikulieren reformorientierte Literaten die Abkehr der Dichtkunst vom höfischen Raum als einer ethisch negativ bewerteten Sphäre, nicht nur des Scheins, sondern vor allem auch der Unnatur, und fordern Wahrhaftigkeit, Klarheit, Recht und Moral in einer ständeneutralen Tugenddidaxe.15 Der höfischrepräsentative Artikulationsraum verschließt sich damit zumindest in Preußen, und die funktional eingebundenen Textsorten Festbeschreibung, Kasualrede oder Opernlibretto verlieren entsprechend ihren poetischen Rang. Es könnte also für Johann Ulrich König 1732 die Gefahr bestehen, einen veralteten Protagonisten mit veralteten Produktionen einer neuen Zeit und einem neuen Publikum mit gänzlich veränderten Erwartungen anbieten zu müssen, denn sämtliche Texte Bessers scheinen präzise für den höfischen Funktionszusammenhang berechnet. Die Strategie des herausgebenden Zeremonienmeisters in Dresden muß demnach eine doppelte sein: um mögliche Interessenten an der dort wie anderswo in Europa noch geschätzten Zeremonialwissenschaft als potentielle Arbeitgeber nicht gänzlich auszuschließen, gilt es diesen Sachbereich in verhaltenem Maße zu würdigen: Der innere, das heißt erst nach einem umfänglichen Paratextvorlauf gesetzte Kupfertitel zeigt deshalb auch die weiblich personifizierte „Wissenschaft im Staats=Gepränge“, die trauernd auf einem Postament das Bildnis Bessers präsentiert, „durch dessen Tod“ sie „so viel verlohr“. In deutlicher Anspielung auf einen veränderten Poesiebegriff feiert aber das nun folgende Lobgedicht aus der Feder Königs den Verstorbenen sogleich als einen wegweisenden Erneuerer in genuin sprachlich-stilistischer Hinsicht, denn „wer noch itzt was schmackhafts macht, Den hat er auf die Spur gebracht“. Die sich hierin andeutende zweite Strategie zielt auf eine Zurückblendung des Höfischen, und entsprechend glaubhaft muß der Editor nun die Werke aus ihrem alten Kontext lösen und gleichzeitig andere, derzeit eher opportune Qualitäten ihres Autors herausstellen. Neben der Auswahl und Präsentation der Texte kommt hier zunächst den editorischen Beigaben eine herausragende Funktion zu: aus ihnen fügt der Editor das wirkungsvoll kalkulierte Postament, auf dem er dann das zu edierende Œuvre in seinem Sinne plazieren kann. In der graduellen Setzung von Titelkupfer, Titelei, Editorgedicht und Erklärung meiner Erfindung zu dem Kupffer=Titel=Blat zeigt sich eine geradezu protokollwürdige editorische Eloquenz, mit der Johann Ulrich König seinen Gegenstand zu erheben weiß. Er schaltet seiner Ausgabe ein insgesamt fünfzehnseitiges Konstrukt als effektives Steue15
Diese Haltung deutet sich etwa bereits in Canitz’ Satire über den Hof und dessen Sprachverdrehung an, d.h. die dort geübte opportunistische Umwertung semantischer Inhalte zur hemmungslosen Selbstentschuldung der Protagonisten.
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rungssystem vor, um den Rezipienten auf einem sicheren Parcour und unter den Augen des einflußreichen Widmungsträgers nun dem edierten Werk zuzuleiten. Doch damit nicht genug: das neu abgedruckte Originalvorwort zur Erstausgabe16 übertrumpft ein Vorbericht bey dieser neuen Ausgabe in fünffacher Länge, selbstredend aus der Feder Königs. Auch dann aber muß der geduldige Leser noch auf das erste Originalwort Bessers warten, denn dessen nun eingesetztes Kupferbildnis im allegorischen Präsentationsmodus17 bedarf natürlich wiederum der Kommentierung18 und vor allem auch hier wieder der lehrhaft exegierenden Erklärung meiner Erfindung durch die Autorität des Editors. Und schließlich ist es auch damit nicht getan: Es gilt noch die narrative Repräsentation der Werkbiographie als Textsorte zu nutzen, so daß sich das Leben des Herrn von Bessers beschrieben von Johann Ulrich König voluminös auf weiteren 100 Seiten ausdehnt. Somit summiert sich der umfängliche Vorlauf auf ganze 130 Seiten, die nach dem Ersten Theil nochmals in den 12 Seiten Vorlauf für den Zweiten Theil ihre Fortsetzung finden. Nach 340 bzw. 390 Seiten mit originalen Materialien setzt der Editor dann auch noch den massiven Schlußstein im eigenen Namen, mit der Untersuchung Von der Beschaffenheit Der einsylbigen Wörter in der Teutschen Dicht=Kunst, Nach den Grund=Sätzen des Poetischen Zahlmasses Und der daraus entspringenden Übereinstimmung, angefertiget von Johann Ulrich König. In der Bilanz stehen damit etwa 800 Besser-Seiten immerhin 200 König-Seiten gegenüber, so daß die vom Editor organisierten Paratexte dem edierten Œuvre als gewichtige Äußerungsform zur Seite treten. Sie ermöglichen es nicht nur, die Rezeption des edierten Werkes zu steuern, sondern bieten König vor allem die ausgiebig genutzte Gelegenheit, sich selbst als gelehrtes, geschmackvolles und kritisches Subjekt zu artikulieren. König zeigt in seiner Edition somit noch deutlich zeremonialgeprägtes Denken, nicht ohne Grund, denn der Zweck des Unternehmens liegt letztlich auch in einer strategischen Optimierung seiner eigenen Position bei Hofe. Die Widmung erfolgt an den in Dresdner Hofkreisen durchaus einflußreichen Grafen Heinrich Friedrich von Friesen (1681–1739),19 ein Mitglied des Geheimen Kabinetts und Geheimen Rats Augusts des Starken. Um sein Verhältnis mit dem Widmungsträger vorteilhaft zu klären, bietet der Editor auch hier einen modularen Verbund aus einem allegorischen Bildniskupfer, einem vorbereitenden Text Uber das Sinn=Bild und einer eindringlichen Exegese Uber meine Erfindung. Im Zusammenspiel von Bild und Text als graduellem Leitsystem, in das er in seiner selbst16 17 18
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1711 ohne Verfasserangabe als Bericht an den Leser (6 Seiten). Die Erstausgabe begnügte sich mit einem schlichten Brustbild. König, Uber das Kupfer=Bild bzw. Erklärung meiner Erfindung zu dem Kupffer=Titel=Blat, in: Besser 1732 (Anm. 1), (o.P.). Siehe hierzu den Artikel in der ADB VIII, S. 87f. mit dem irrtümlichem Sterbejahr 1719, ferner einige Hinweise bei: Kerstin Heldt: Der vollkommene Regent. Studien zur panegyrischen Casuallyrik am Beispiel des Dresdner Hofes Augusts des Starken. Tübingen 1997, S. 271, mit zusätzlichen Quellen.
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zugewiesenen Rolle als edierender Zeremonienmeister und Exeget einführt, und in der verpflichtenden Integration des fürstlichen Protektors zeigen sich deutlich die noch immer gültigen höfischen Kommunikationsformen. Auch in der Lebensbeschreibung Bessers spricht sich König noch unaufdringlich für die Vermittlung von Staatswesen und Poesie aus. Er gibt ein weit ausgreifendes Personenpanorama, das in einer umfassenden ständischen Differenzierung einen imposanten Nachhall der Besserschen Diplomatie mit allen positiven Implikationen des poetisch konzipierten Zeremoniells erklingen läßt. König beruft sich ausdrücklich auf die von ihm verwendeten und größtenteils original in seinen engmaschigen Rezeptionsbericht eingearbeiteten Materialien aus Bibliothek und Nachlaß Bessers. Schließlich betreut er als Nachfolger die beiden höchst umfänglichen Konvolute und verwaltet somit autokratisch alle maßgeblichen Quellen. Was in der Vita entsteht, ist eine minutiöse Abbildung des nunmehr vergangenen Kommunikationsgeschehens am Berliner Hof, das in Kombination aus descriptio und laudatio ein hohes Maß an authentischer Autorität erhält. Wohlweislich jedoch eine vergangene Autorität, die wohl schon zu Bessers Dresdner Zeiten einen uneinholbaren Maßstab setzte. Aber das eindrucksvolle Bild des Kommunikators Johann von Besser, der mit Poesie und Diplomatie tatsächlich im regionalen wie europäischen Rahmen zu den bedeutendsten Bewegkräften des höfischen Systems gehörte, läßt immer auch Ansatzpunkte aufscheinen, die unter aktuellen Gegebenheiten durchaus auch eine Fortsetzung finden könnten. König wählt damit nicht die konservative Option, die Bessers vergangene Leistung als Norm gegen die ablaufenden Veränderungen verteidigen oder präskriptiv präsentieren würde, sondern die progressive, indem er im Besserschen Werk sowohl genuin fortschrittliche Züge als auch variable und jederzeit neu nutzbare Qualitäten aufzeigt. Das offenkundige Bestreben Königs, seinen Amtsvorgänger nun aber auch als einen bislang nicht genügend wahrgenommenen Protagonisten der sich neu konstituierenden Dichtkunst zu erweisen, zeigt bereits das Frontispizgedicht. Dieses rückt Besser in das strahlende Licht eines Verteidigers, ja Retters einer durchaus gefährdeten deutschen Poesie und klärt den höfischen Aspekt in der Weise, daß es sich hier eben nicht um dilettantische Auswüchse einer degenerierten Schmeichelkunst handelt, sondern primär um den meisterhaften Ausweis an präziser Schärfe der begrifflichen Diktion. Solche Sprachpraxis steht als diplomatische Kunst jedoch auch unverzichtbar im Dienst der fürstlichen Interessenpolitik und sollte seitens des höfischen Auftraggebers zu dessen eigenem Vorteil weiterhin hohe Wertschätzung erfahren. Die bekannten Vorwürfe treffen nicht, sie gelten für andere: DJe teutsche Dicht=Kunst war veracht, Sie suchte sich zu bunt zu kleiden; Bey Hofe sah sie sich verlacht, Denn der kan keinen Schulschmuck leiden.
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Sie war nur auf den Schein bedacht, Und was den Opitz groß gemacht, Begunt’ ihr falscher Witz zu meiden. Doch der Geschmack nebst der Natur Fieng an, sie edler auszuzieren, Und sicher auf der Alten Spur Nach Hofe wieder hinzuführen; Wo sie, befreyt von Schminck und Tand, Durch Bessers Schreib=Art Beyfall fand.20
Die im vorangehenden Kupferstich visualisierte Situationsanalyse gilt somit auch als Angebot an den Herrscher: Wenn er mit seiner höfischen Öffentlichkeit der qualitätvollen Sprachkunst ein Forum schafft, so kann er sich als Förderer einer geschmackvollen und natürlichen deutschen Dichtkunst im nationalen Rahmen Geltung verschaffen und noch seinen politischen Nutzen daraus ziehen: Friedrich I. von Preußen adelt im Bild das von der Natur, dem Geschmack und der Poesie21 dargebrachte Besser-Werk mit dem Lorbeerkranz. Die Zeremonialfunktion bleibt zurückgeblendet, es handelt sich um ästhetische Grundqualitäten ,moderner‘ Poesie, die „sicher auf der Alten Spur“ – also den Normen eines antiken Klassizismus gemäß – eine international geachtete Verbindung aus zeitloser Natürlichkeit und gegenwärtigem Geschmacksempfinden schafft und damit neue Kommunikationsforen öffnet. Jeglicher Verdacht auf diplomatische Zweckabhängigkeit oder effektreichen Überredungsdruck wird mit dem knappen Etikett „befreyt von Schminck und Tand“ kurzerhand ausgeräumt. Neben der Vermittlung vergangener und aktueller höfischer Funktionsräume der Poesie zielt Johann Ulrich König aber vor allem auf die aktuelle PoetikDiskussion, wo er sich keineswegs als ein Gestriger abseits zu stellen gedenkt. Dies fällt bereits in den ausführlichen Paraphrasierungen der vorgefundenen Besser-Texte auf:22 In werbender, will sagen differenzierender und gar umdeutender Absicht unternimmt König hier als meisterhafter Exeget den Versuch, ein möglicherweise mit Vorurteilen beladenes oder auf den ersten Blick unzeitgemäß erscheinendes Œuvre neu auszuleuchten. Es gilt zu zeigen, daß der Autor auch den modernen Ansprüchen an Stil, Thematik und Mentalität gerecht zu werden vermag. Markant erscheint hierbei, daß König die Beziehung Bessers zu seiner Gemahlin episodisch ausschmückt und geradezu zu einem empfindsamen Ideal von bürgerlicher Liebe und Partnerschaft verklärt:
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König, Leben. In: Besser 1732 (Anm. 1), (o.P.). Im Vergleichsfall der Canitzausgabe zeigt das Titelbild dagegen die Spartenvielfalt des Autors, personifiziert sind seine verschiedenen poetischen Gattungen. Die Poesie erscheint in den drei Grazien, die Papier, Feder und Tinte reichen. Der höfische Aspekt fehlt hier vollkommen. Diese sind als sorgsam portionierter Werküberblick klug in die Vita eingewoben.
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Endlich führte er, im Mertzen des folgenden Jahres, seine nun erlangte Kühleweinin mit sich zu ihrer künfftigen Wohnstatt nach Berlin. Daselbst entstunden bey ihrer Ankunfft mancherley Regungen in den meisten Gemüthern des weiblichen Geschlechts: Dann einige bewunderten und andre beneideten diese neuangelangte Schönheit. Sie aber wuste überhaupt durch eine vernünfftige Häuslichkeit ihrer Wirthschafft wohl vorzustehen, durch eine freundliche Verträglichkeit ihres Eh=Mannes Hertz in beständiger Gegenneigung zu erhalten, wie durch ihren wohlgesitteten Umgang und ihre tugendsame Aufführung, den Beyfall der gantzen Stadt so wohl als des Hofes zu gewinnen. So sehr nun sein und seiner Kühleweinin Liebe bisher durch eine beständige Beysammenwohnung versüsset ward, so herbe kam ihnen hingegen die Trennung vor, da er noch in diesem, nemlich im tausend sechshundert und 84tzigsten Jahre von seinem Churfürsten, als Brandenburgischer Resident nach Engelland verschickt ward. Wer dergleichen niemahlen selbst empfunden, und gleichwohl von dem bekümmerten Abschiede eines zärtlich=liebenden jungen Eh=Paars bey dergleichen Fällen, sich eine Vorstellung machen wolte, muß die Besserische Beschreibung davon selber lesen, die er auf die allerbeweglichste Weise, in dem Leben seiner Kühleweinin, aufgezeichnet hat.23
Mit einer solchen textsortenvorbereitenden Einführung lenkt der Herausgeber die Aufmerksamkeit des Benutzers gekonnt weg vom höfischen Funktionstext und hin zum Zeugnis des individuellen Sensualismus mit dem Erweis einer auktoriellen Sprachkunst: Das stärker betonte subjektive movere, die innere Gemütsverfassung, dominiert somit über die repräsentative Visualisierung und Sinnesansprache. Bezeichnenderweise erscheint in der von König in zwei Teilen organisierten Präsentation der Besser-Schriften die Gattin nun als Patronin des zweiten Teils. Die „holde Besserin“- im Porträt getragen von „Red= und Dichtkunst“ – war es nun, die ihren Mann zum „Orpheus“ werden ließ, indem er „ihr Lob erhöht[e]“. Wie die Erklärung ausführt, legt die Liebe „in Gestalt eines geflügelten Knaben [...] ihren Arm dem Schwanen“, also der Dichtkunst, „vertraulich um den Hals“.24 Als Fluchtpunkt in dieser Umwertungsstrategie bleibt stets die poetologische Abhandlung Königs im Auge zu behalten. Keineswegs läßt der Autor-Editor die großartige Gelegenheit verstreichen, wiederum über die Edition eines namhaften Vorläufers seine eigene Position in den gegenwärtigen Reformbestrebungen zu etablieren. Die Besser-Ausgabe 1732 mündet deshalb konsequent in die programmatische Selbstexponierung des Herausgebers, quasi in korrespondierender Wiederaufnahme der suggestiven Einführungssequenzen. Der edierte Autortext gerät somit in eine durchaus heteronome Mittellage und bekommt unweigerlich einen dienstbaren Charakter hinsichtlich seiner dominanten Umgebung. Die Edi23 24
König, Leben. In: Besser 1732 (Anm. 1), S. lxiv. König, Leben. In: Besser 1732 (Anm. 1), Theil 2, S. iii bzw. v.
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tion erfüllt zwar die Aufgabe, ein fremdes Werk zu dokumentieren, nützt aber in nicht geringem Maße auch der Selbsteinbringung des Editors, der um die Beachtung seiner eigenen Werke erst noch werben muß. Deutlich wirkt die Autorität Bessers, die König zuerst materialreich und beredt in den Vorworten beschwört, um sie anschließend für seine eigenen Auffassungen zu instrumentalisieren. Mit dem eigens erhöhten Editionsgegenstand verschafft sich der Editor das gewünschte Fundament und darf auf größere Beachtung hoffen. Bessers Werk erhält sogar eine ganz konkrete Dienstfunktion für das siebzigseitige Theorietraktat,25 indem aus diesem Fundus treffende Beispiele zitiert werden, die Königs Theorien stützen sollen. Die Entkräftung der Opitzianischen Vorgaben, die eine Verwendung einsilbiger Worte in Reihe, vorwiegend in der Lyrik, untersagten, geschieht damit am prominenten Fallbeispiel, das zuverlässig ediert vor Augen steht und die besondere Wirkung gerade von einsilbigen Wortreihungen belegen kann: „Ertrag ich nicht mein Creutz; so schlepp ich es doch nach, Wer weiß, wie lang ichs noch in dieser Hütten mach.“26 Auch die umfängliche programmatische Untersuchung über den „Guten Geschmack“, die König in seine Canitz-Ausgabe integrierte,27 findet nun gerade in Besser ihre vorbildliche Exemplifizierung.28 1727 hatte König Maßstäbe formuliert und vehement den ,schlesischen Stil‘ attackiert, den er namentlich auf Lohenstein, tendenziell aber auf Marinismus, Ciceronianismus und Kanzleistil bezieht. Die groben Verstöße gegen den ,guten Geschmack‘ konkretisierte der kritische Opponent seinerzeit in der summierenden Beschreibung, wie „der Jtalienische Parnaß, mit schwülstigen Metaphoren, falschen Gedancken, gezwungenen Künsteleyen, lächerlichen Spitzfindigkeiten, läppischen Wort= und Buchstaben=Spielen, seltzamen Mischmasch, aufgeblasenen Vorstellungen, Hyper25
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Johann Ulrich König: Von der Beschaffenheit Der einsylbigen Wörter in der Teutschen Dicht=Kunst, Nach den Grund=Sätzen des Poetischen Zahlmasses Und der daraus entspringenden Übereinstimmung. Anhang zu: Besser, Schrifften 1732 (Anm. 1). Vgl. Besser 1732 (Anm. 1), S. 382. Königs Untersuchung ist an der Ästhetik des rational erlernbaren guten Geschmacks orientiert und beruft sich vorwiegend auf die französischen Theoretiker. Zur zeitgenössischen Diskussion vgl. Hans-Jürgen Gabler: Geschmack und Gesellschaft. Rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühaufklärerischen Geschmackskategorie. Frankfurt/Main (u.a.) 1982; Andreas Solbach: Der galante Geschmack. In: Der galante Diskurs (Anm. 7), S. 225–274 (zu König S. 251–260); Dominik Brückner: Geschmack. Untersuchung zu Wortsemantik und Begriff im 18. und 19. Jahrhundert; gleichzeitig ein Beitrag zur Lexikologie von Begriffswörtern. Berlin (u.a.) 2003. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch auch der Hinweis auf den bleibenden Wert der Erstausgabe, ermöglicht sie doch einen gewissen Lehreffekt: „Ob auch gleich, in dieser neuen Auflage, von dem Verfasser viele hundert Stellen ausgebessert worden, so bleibet dennoch den vorigen ersten Ausgaben ihr besonderer Nutzen. Denn, wenn junge Leute solche gegen die ietzige Ausfertigung der Besserischen Schrifften halten wollen, wird ihnen solches einen unglaublichen Vortheil verschaffen, weil es iederzeit leichter und sicherer ist, durch Exempel als durch Regeln auf den rechten Weg zu gerathen.“ (König in: Besser 1732 (Anm. 1), S. 17) Dennoch gibt König 1732 keine Hinweise auf Eingriffe und Varianten, einen solchen historisch-kritischen Modus realisiert erstmals die Opitz-Ausgabe Bodmers und Breitingers (1745).
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bolischen Ausdrückungen, zweydeutigen Gegensätzen, schülerhafften Beschreibungen, weithergesuchten Allegorien, schulfüchsischen Erfindungen, uneigentlichen Redens=Arten, übel angebrachter Belesenheit, Mythologischen Grillen, und hundert anderen kindischen und geschminckten Auszierungen, als mit so viel allgemeinen Land=Plagen, heimgesucht ward“.29 Als Besser-Herausgeber agiert König nun konsequent mit dem ablesbaren Bemühen, seinen namhaften Vorgänger als kompatibel mit dem neuen literarischen Normsystem auszuweisen.30 Er kann sich damit nicht nur als kompetenter Redner in dieser Sache, sondern auch als verantwortungsvoller Editor brauchbarer Materialien erweisen. Bessers Texte müssen als taugliche Vorgänger der aktuellen Normen angepriesen bzw. unmerklich angepaßt werden.31 Bereits eine Gegenüberstellung des Original-Vorwortes aus dem Jahre 1711 mit dessen Wiederaufnahme in der Ausgabe 1732 genügt, um die Strategie erkennbar werden zu lassen. Fast unmerklich sind die Eingriffe des Editors, markant faßlich aber etwa in der Ersetzung lateinischer Begriffe durch die deutschen Äquivalente: Es wechselt:32 dem PUBLICO[ BS 1732 den Kennern AUTOR[ BS 1732 Verfasser, Verfertiger PRIVILEGIUM[ BS 1732 Freyheit dem PUBLICO zum Beste[ BS 1732 dem gemeinen Besten zu Nutze PROSA[ BS 1732 ungebundener Rede zu SUBSTITUIren[ BS 1732 dafür hinzusetzen ELISIONEN[ BS 1732 Verschluckungen CONCURS der VOCALEN[ BS 1732 Zusammenstossung der Selbstlautenden von allem PEDANTIschen Wesen[ BS 1732 von allem Schulfüchsischen Wesen MODESTIE[ BS 1732 Bescheidenheit VINDICIren[ BS 1732 sich wieder zueignen PRODUCTIONen[ BS 1732 Schrifften
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Johann Ulrich König: Untersuchung Von dem Guten Geschmack Jn der Dicht= und rede=Kunst ausgefertigt. In: Canitz-Werke (Anm. 2), S. 227–322, hier S. 235. Vgl. zu diesen Debatten jetzt auch: Beate Leweling: Reichtum, Reinigkeit und Glanz. Sprachkritische Konzeptionen in der Sprachreflexion des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Sprachbewußtseinsgeschichte. Frankfurt/Main (u.a.) 2005. Zur Frage nach Bessers Mitwirkung am Modifikationsprozeß sei hier, neben der entsprechenden Formulierung in der Titulatur (des Verfassers eigene Verbesserungen), nur der Hinweis gegeben, daß die Sächsische Universitäts- und Landesbibliothek in Dresden ein Exemplar der Besserschen Ausgabe (1711) mit handschriftlichen Korrekturen aufbewahrt, die mit großer Wahrscheinlichkeit von Besser selbst stammen, allerdings aber nur teilweise in die Ausgabe 1732 eingeflossen sind. Mit Sicherheit läßt sich der verändernde Eingriff Bessers im Falle des Gedichtes auf den Tod der Gattin Canitz’ belegen. Aus dem entsprechenden Zusatztext in der Canitz-Ausgabe (Anm. 2) geht hervor, daß Besser für einige Zeilen und ganze Strophen neue Fassungen anbietet, die zusammen mit zwei Variantenvorschlägen aus Canitz’ Feder ein interessantes paradigmatisches Panorama ergeben. Es bleibt aber POESIE, EXEMPEL, VOCALEN, MATERIEn, CARACTER, ORIGINAL, POLIren, POLIten, Staats=und CEREMONIEL-MATERIen.
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Rein semantisch deutet sich damit schon eine aussagekräftige Gewichtsverschiebung von ,Autor und Publikum‘ auf ,Verfertiger und Kennerschaft‘ an:33 Agierte früher der autoritätsausgestattete Gelehrte vor einer breiten, universalen Öffentlichkeit zwischen europäischer Hofkultur und Gelehrtenwesen, so dichtet jetzt das private Individuum für eine fachlich zwar orientierte, aber nicht notwendig spezialisierte Liebhaberschaft im nationalen, wenn nicht gar regionalen Raum. Dem „gemeinen Besten zu Nutze“ stehen ästhetische und moralische Fragen im Zentrum der Produktion.34 Inhaltlich umwertende Substitutionen belegen dies, so deutet etwa der Wechsel von „das Theatrum zeiget“ zu „man siehet“ auf eine Zurücknahme der produktionsästhetischen Autorität zugunsten der rezeptiven Erfahrungssituation. Die bereits angesprochene Relation ,Sentiment statt Repräsentation‘ entspricht der von ,Privatheit statt Öffentlichkeit‘. Aber auch die Hervorhebung des ,tugendhaften Verhaltens des Einzelnen‘ gegenüber den ,Handlungszwängen der überpersönlichen Staatsräson‘ lassen deutlich eine Werteverschiebung auf subjektive Ausbildung mit individueller Ethik anstelle höfischer Funktionalität erkennen. Fachbezogen entspricht dem die behutsame Umwertung von Beredsamkeit als Kunst der höfischen Diplomatie hin zur ausdrucksvollen Nuancierung individueller Befindlichkeit. Weitere Eingriffe lassen ein behutsames ,Modernisieren‘ des Stiles erkennen: so zeigen sich begriffliche Ersetzungen wie „Succeßions=Rechte“ in „Erbfolge=Rechte“, „Spectakel“ in „Schau=Spiel“, „Architectur“ in „Bau=Art“, „Decorationen“ in „Auszierungen“. Auf syntaktischer Ebene sorgt der Editor bzw. der Autor ebenso für Klärung, macht Inversionen rückgängig, fügt Interpunktionen zur Phrasenklärung ein, verändert Flexionsendungen oder nimmt auch morphologische Wechsel vor (wie „Pfänder“ [1732] statt „Pfände“ oder „verliebt von“ in „verliebt in“). Entsprechend treten auch phonetische („Ziegeln“ wird „Zügeln“, „gelescht“ wird „gelöscht“, „schichtern“ wird „schüchtern“, „ehligen“ wird „ehlichen“) oder graphematische („fordersten“ wird „vordersten“, „forn“ wird „vorn“) Angleichungen auf. Stellenweise ersetzt man ,archaische‘ Formen durch moderne: „weilen“ durch „weil“, „umb“ durch „um“, „fürnehmlich“ durch „vornehmlich“, „komt“ wird „kommt“, „Geschir“ wird „Geschirr“; durchweg findet eine Markierung langer Vokale durch ein eingefügtes Dehnungs-h statt: „nemlich“ wird zu „nehmlich“, „Namen“ zu „Nahmen“). Bezeichnenderweise herrscht hier aber keine strikte Konsequenz. 33
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Die Potsdamer Ausgabe wird dies für die poetischen Texte in einem umfassenden Variantenapparat dokumentieren, der für den Band 1 von Andreas Keller und Knut Kiesant, unter Mitarbeit von Jenny Walter, erstellt wird. König vollzog entsprechende Ersetzungen teilweise auch bereits in der Canitz-Ausgabe: wo es 1700 noch „Publicum“ hieß, steht 1727 „das gemeine Wesen“. Vgl. zu den rezeptionsästhetischen Verschiebungen die Hinweise bei: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. Hrsg. von Ursula Goldenbaum. Teil 1. Berlin 2004 (insbes. die Einleitung der Herausgeberin und ihren Abschnitt „Das Auftauchen der Worte ,Publikum‘ und ,Öffentlichkeit‘ in den hier vorgestellten Debatten, mit Literaturhinweisen, S. 3–118).
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In die Konzeption eines Angebots an die fachlich nicht spezialisierte Öffentlichkeit fügt sich auch das Bemühen, die Texte unabhängig von der Vorbildung des Lesers goutierbar zu machen: „Manche Umstände, die an Ort und Stelle, wo solche Verse geschrieben worden, zu derselben Zeit, allen bekannt waren, und daher keine Erklärung damahls brauchten, haben derselben itzo vonnöthen, weil man sonst viele Sachen nicht recht verstehen kan, und der Leser zwar wohlbegreifft, daß sich dieses oder jenes auf etwas, aber nicht, worauf es sich beziehe.“35 Mit dem Hinweis auf die kommentierten Satiren Boileaus unterstreicht König in der Canitz-Ausgabe die Berechtigung von „Mühe, Zeit, Unkosten, Brieffwechsel und öfftere Nachfrage“, die bei der aufwendigen Informationsbeschaffung notwendig anfallen. Unüberhörbar ist der Seufzer über die Herausforderung einer historischen Dynamik – allein mit seinem kritisch klärenden Apparat kann der Editor versuchen, dem akzelerierenden zeitlichen Wandel wirkungsvoll zu begegnen: „Jn solchen Dingen ist eine kurtze Zeit vermögend, uns die Kenntniß der nöthigsten Umstände und Nachrichten zu rauben, ohne welche doch gewisse Stellen unmöglich erläutert werden können. Die wenigen Jahre, welche, seit dem Ableben des Verfassers, verstrichen, haben schon so viele Veränderungen, an dem Orte seines ehmahligen Auffenthalts selbst, nach sich gezogen, daß man von dort her nicht alles, was man gewünscht, erhalten können.“ Ohne den Beistand der Personen, die über entsprechende Kenntnisse zu den Entstehungsumständen der Texte verfügen, würde „manche schöne Stelle dieser Gedichte in ewiger Dunckelheit verblieben seyn.“ Gewisse „nicht täglich=vorkommende Wörter“, sei es aus sprachlich-dialektalen, sei es aus bildungsgeschichtlichen Gründen, müssen erklärt werden, also Lexeme, die „entweder den Gelehrten selbst, oder auch ungeübten Lesern, und sonderlich dem Frauenzimmer unbekannt seyn könnten“. In der Edition (Canitz) sei dies jedoch mit strenger Beschränkung auf ein notwendiges Maß geschehen, eben „um einige Leser des verdrießlichen Nachschlagens oder Nachfragens zu überheben“. Keinesfalls wolle man durch eine unnötige Häufung der Angaben „nach der Marktschreyerischen Weise einiger Halb=Gelehrten, durch dergleichen überflüßige und mit Haaren herbeygezogene Anmerckungen, sich breit machen, oder bey der gelehrten Welt, durch eine übelangebrachte Belesenheit, in ein Ansehen bringen [...], wodurch eben unsre meisten teutschen Bücher so abgeschmackt worden, daß man es gescheuten Leuten nicht verdencken kan, wann sie einen Eckel davor bezeigen.“ Was König hier für die Canitz-Ausgabe ausführt, achtet er unausgesprochen auch in der Besser-Ausgabe, allerdings liegen hier bereits die sachlichen Anmerkungen der Erstausgabe vor, die er größtenteils übernimmt bzw. behutsam ergänzt. Königs Äußerungen zeigen sehr schön die feinsinnig reflektierten Pro35
Dies und die folgenden Zitate in: König, Vorbericht Bey dieser neuen Auflage. In: Canitz 1727 (Anm. 2), S. xxiii-lxviii, hier S. xxxix-xli.
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bleme des Kommentierens, belegen aber auch die klar taxierten Konventionen, Gefahren und Vorbehalte bzw. die unterschiedlichen Benutzerhorizonte und Ansprüche, auf die der Editor zu reagieren sich angehalten sieht. Eine dienstfertige Vervollständigung des Leserhorizontes zugunsten eines möglichst umfassenden Lektüreertrags gilt auch für die aus Fremdsprachen übertragenen Texte Bessers: „Bey den Ubersetzungen hat man die Grund=Sprache, woraus solche verteutscht worden, hier zum ersten mahl, auf der Seite gegenüber, mit beysetzen lassen, damit der Leser das Vergnügen haben möge, von der Stärcke und Schwäche der Ubersetzung so gleich urtheilen zu können.“36 Auch hier zielt die Didaxe mit einer Paradigmenschau auf die Erziehung des Geschmacks, in der Synopse läßt sich der taktvolle Übersetzer um so leichter erkennen. Die detaillierte Auslegung der Kupferstiche schließlich erscheint unter dieser Maßgabe ebenso einsichtig, denn die dortige Bildsprache versteht sich nicht mehr von selbst. Das wiederum liegt jedoch nur zum Teil an den veränderten Bildungsvoraussetzungen – der Hilfestellung durch den Editor bedarf es vor allem deshalb, weil dieser sie ja sehr persönlich konstruiert hat, will er doch die bewußt eigentümlich gestaltete Rätselhaftigkeit wiederum nutzen, um als kenntnisreicher wie hilfsbereiter Explikator vor den verunsicherten Leser zu treten. Bild und Auslegung fügen sich somit wieder zusammen zu einem didaktisch konzipierten Steuerungssystem, das nur noch zum Schein konventionelle und auslegungsbedürftige Emblematik betreibt, tatsächlich aber mit einem doppelten Gattungszugriff den aktuellen Rezipienten visuell und verbal zu fesseln sucht. Hier bietet sich die strategische Chance für den Editor, sich in schrittweiser Enthüllung seiner arguten Präsentationstechnik selbst ein Forum zu geben. An einem weiteren neuralgischen Punkt gilt es knapp aufzuzeigen, wie der Editor in seiner Edition greifbar ist: Mit souveränem Selektionsverhalten erstellt König ein ganz spezifisches Textangebot,37 das offenbar aber mit dem Autor abgestimmt ist. Noch zu Lebzeiten nahm Besser auf den Inhalt der überarbeiteten Ausgabe Einfluß, so daß König zumindest teilweise in seinem Auftrag handelt: Von seinen vielen übrigen gedruckten und ungedruckten Schrifften, worüber er mir freye Wahl ließ, habe ich daher eine grosse Menge zurück behalten, nur das Beste gewehlt, und nichts eingerückt, was nicht zum wenigsten des Innhalts oder der Umstände halber, eines solchen Vorzugs würdig war.38
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Canitz-Ausgabe 1727, S. xlii. Für das Besser-Projekt gilt das etwa im Falle der Janus PannoniusÜbersetzung. Zum Auswahlverfahren unter dem Aspekt des Geschmackswandels vgl. auch Kiesant, Galante Dichtung (Anm. 7). König. In: Besser 1732 (Anm. 1), S. 17.
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Quantitativ steigt der Umfang der Ausgabe 1732 gegenüber 1711 von 500 auf 800 Seiten, nun in zwei Teilen geboten. Die erprobte Systematik behält man bei und stockt sie sogar noch auf um zwei Rubriken mit Verliebte[n] Gedichte[n] und Geistliche[n] Schriften. Unter den Verliebten Gedichten erscheint etwa auch die Übersetzung des Janus Pannonius Cur appetatur foemina? mit dem Titel Woher es komme, daß Mann und Weib sich zu vereinigen verlange? Einige Texte sind vom Editor 1732 umgruppiert worden, so erscheint die Ruhestatt der Liebe nun in wirkungsvollerer Frontposition auf den Blättern *2v–*7v unter den Verliebten Gedichten. Das Lobgedicht auf Friedrich Wilhelm den Grossen ist um die inzwischen noch ausgeführten Passagen ergänzt, verbunden mit dem Hinweis, daß dem Autor ein noch geplanter Abschluß des Zyklus nicht mehr vergönnt gewesen sei. Ferner bietet die Ausgabe die bislang nur als Einzeldrucke vorliegenden Texte zum Personenkreis um Eberhard von Danckelmann.39 Als Reaktion auf Bessers ,Krönungsgeschichte‘ findet ein Text des Hallenser Syndikus Christian Bieck Aufnahme in die Edition,40 auch eine Trauerrede auf eine nicht genannte Dame41 gilt dem Editor als bedeutsam. In den Staats- und Lobschriften bekommt der Leser einen zusätzlichen Zeremonialtext geboten, die Beschreibung Der Neu=Märckischen und Pommerschen Huldigung (1699),42 in den Beylagers-Gedichten hingegen eine Kurtze Beschreibung von dem zu Berlin gehaltenem Einzuge Seiner Durchlauchtigkeit Marggraf Philipp Wilhelms (Berlin 1699).43 Vor allem aber präsentiert die Edition nun eine neue Fassung der berühmten und anerkannten Preußische[n] Crönungs=Geschichte, oder Beschreibung der Ceremonien [...] aus dem Krönungsjahr 170144 dazu die Ein39
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Lob=Schrift, Auff den Chur=Brandenburgischen geheimsten Staats= Minister Herrn Eberhard von Danckelmann, seinen Lebens=Lauff, und die Geschichte seines Chur=Fürsten be= treffend, 1694 (Besser 1732 [Anm. 1], S. 60–81); Uber den Verfasser Des an die Preußischen Stände überschickten Lob=Gedichts Herrn Eberhards von Danckelmann. (Besser 1732 [Anm. 1], S. 82). Die in den Leich- und Trostschriften ergänzten Schriften komplettieren diesen personalen Bezug: Rechtfertigung der Thränen, Bey Absterben, der wohlgebohrnen Frauen Sibyllen Margarethen von Böhel. Herrn Eberhards von Dan= ckelmann, damahligen Chur=Printzlichen geheimden Raths, anderen Gemahlin, 1687 (Besser 1732 [Anm. 1], S. 318–324), und: An den Chur=Brandenburgischen geheimen Rath Herrn Eberhard von Danckelmann, Uber das Absterben eines seiner Herrn Brüder den 16. Oct. 1696, (Besser 1732 [Anm. 1], S. 325–327). Dagegen findet sich nicht der politisch möglicherweise brisante Einzeldruck zu Biographie und Schicksal Danckelmanns aus dem Jahre 1694: Sr. Churfürstlichen Durchl. zu Brandenburg Fridrich des Dritten Hernacher Königs in Preussen Geheimester Staats- sodann Erster Minister und Ober-Praesident Eberhard Freyherr von Danckelmann, In einer kurtzen Beschreibung seines Lebens/ und zugleich der glückseligen Regierung Seines gnädigsten Herrn, vorgestellet. Durch [...] von BESSER. Dero Hof- und Legations-Rath auch Ober-Ceremonien-Meister. Vormahls gedruckt Auf Ihro Befehl. Im Jahr 1694. Auf die von dem Verfasser in Druck gegebene Beschreibung der Königlich=Preußischen Crönung verfertigte fol= genden Buchstaben=Wechsel Christian Bieck, der Stadt Halle SYNDICUS, (Besser 1732 [Anm. 1], S. 108). Trauer=Rede Bey Beerdigung einer adelichen Dame, Auf Ersuchen für einen jungen Herrn von Barnewitz verfertiget 1717 (Besser 1732 [Anm. 1], S. 329–334). Besser 1732 (Anm. 1), S. 170–184. Ebenda, S. 686–690. Ebenda, S. 451–538.
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holung der Moscowitischen Groß=Gesandschafft (Zarenbesuch in Königsberg 1697).45 Der Vorbericht Zu den Statuten Des Königlichen Preußischen Ordens vom schwarzen Adler (1701) rundet die deutlich erweiterte Präsentation des Besserschen Zeremonialschrifttums ab, wieder ein Hinweis auf die Akzeptanzbemühungen in diesem Bereich.46 Die Heroischen Gedichte sind ergänzt durch einen vergleichsweise jungen panegyrischen Text: Prinz Eugenius von Savoyen, Kayserlicher und des Heil. Röm. Reichs Feld=Herr, betrachtet in seinen Helden=Thaten, sonderlich aber in seinem Ungarischen Feld=Zuge des Jahres 1716.47 Als ein Beleg aus Bessers Spätwerk erscheint, natürlich nicht ohne einen Blick auf die aktuellen Arbeitsverhältnisse des Editors, die 1728 geschriebene und übergebene Lob=Schrifft An Jhro Königliche Majestät von Pohlen, über die vielen und herrlichen Festivitäten, die bey dem Beylager Seiner Hoheit, des Königlichen Printzens, vorgegangen.48 Kurze Texte von Pufendorf, Thomasius und Neukirch versichern dagegen die Akzeptanz Johann von Bessers in diesen prominenten Kreisen.49 Dennoch fehlen auch einzelne Werke, die verfügbar und ebenso relevant für das Schaffen Bessers gewesen wären,50 ganz offenbar aber wiederum in Absprache mit dem Autor: Er würde auch nicht mit so vielem Ernste von meiner Freundschafft die öfftere Zusage verlanget haben, daß ich gewisse in der ersten Sammlung noch nicht befindliche Schrifften, dieser Neuen nimmermehr einverleiben wolle. Unter solchem ist sonderlich die Denck=Schrifft in ungebundner Rede über das Unglück seines ehmahligen Untergebenen, des Herrn von Maydel, die er, zu dessen Ehren, noch in Leipzig aufsetzte. Denn weil in derselben fast durch und durch ein übler Geschmack, und die damahlige mit so genannten Realien bis zum Eckel überhäuffte Schulfüchsische Schreib=Art herrschete, bekam er, bey reifferer Einsicht, und nachdem er nunmehr die berühmtesten Critick=Verfasser fast in allen Sprachen gelesen hatte, solch einen Abscheu und eine solche Schaam davor, daß er alle und iede davon gedruckte Stücke, so viel er derselben, in folgenden Jahren, nur immer bey öffentlichem Ausruffe oder sonsten bekommen konte, auf das theuerste bezahlte, und sie so fort verbrannte. Daher hab ich aus derselben, nach seinem Verlangen, in der folgenden Besserischen Lebens=Beschreibung nichts, als bloß dasjenige ange45 46 47 48 49
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Ebenda, S. 539–557. Ebenda, S. 558–560. Ebenda, S. 207–214. Ebenda, S. 435–450. Fremde Trostschriften auf Frau Besser, (Pufendorf u.a., S. 392–426); Erörterung der Frage: Ob wahrhaffte Liebe zwischen Eheleuten sich nothwendig in anderer Gesellschaft kund geben müsse? (von Christian Thomasius, S. 402–413); Danksagung der Venus (von Benjamin Neukirch, S. 623). Auch der wichtige Zeremonialtext zur Universitätsgründung in Halle fand wieder keine Aufnahme: Johann von Besser: Beschreibung der Ceremonien, Mit welchen die Neue Universität Halle den 1/11.ten Julii 1694 inauguriret worden. Cölln an der Spree/ Druckts Ulrich Liebpert/ Chur. Brandenb. Hof-Buchdr. 1694.
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bracht, was zu des Entleibten Ehren und zu des gewesenen Hofmeisters Vertheidigung dienet, welches beydes auch damahls des Verfassers Haupt=Absicht war, als er gedachte Schrifft zum Druck beförderte.51
Es fällt auf: Negativ besetzte Kategorien wie „schulfüchsiger Stil“52 und „schlechter Geschmack“ finden wörtliche Anwendung auch auf Johann von Bessers ältere Texte. Eine entsprechende Betrachtung des zitierten MaydelTextes zeigt jedoch, daß dieser sich stilistisch kaum gravierend von den aufgenommenen Texten unterscheidet, so daß sich die Frage erhebt, ob hier nicht auch andere Gründe für den Verzicht zu suchen sind: Ausschlaggebend könnte möglicherweise auch das Nachwirken von Schuldgefühlen sein, da Besser sich für den Tod des ihm seinerzeit anvertrauten Adeligen unausgesprochen verantwortlich machte. Dies legt gerade der betreffende Text nahe, der mit einer erstaunlich detailreichen, nahezu psychoanalytischen Kompensationsarbeit hinsichtlich des Vorfalles und seiner Hintergründe aufwartet. Solcherart Ausführungen mochten sowohl Besser als auch König als zu persönlich und dem Erfolg, weder auf dem höfischen noch auf dem kommerziellen Sektor, besonders förderlich erschienen sein. Daß zwölf Jahre nach der letzten Ausgabe seiner Schriften und fünf Jahre nach dem Tod des Autors das unternehmerische Risiko einer so umfassenden Edition kalkulierbar erscheint, belegt, daß man mit einer ausreichenden Nachfrage rechnet und daß König sein Projekt auch mit dem kühlen Blick auf Marktwert und kommerziellen Nutzen ganz bewußt in Verbindung mit seinem renommierten Amtsvorgänger angeht.53 Das Verfahren, sich durch die Kombination der eigenen Produktion mit den angesehenen Werken der soeben abgetretenen Generation eine solide Tradition und Herkunft, Respekt, aber eben auch flächendeckenden Absatz zu verschaffen, hat bekanntlich eine zeitgleiche Parallele: Der Blick fällt unweigerlich auf die Unternehmung des jungen Gottsched, der nun die Werke seines Mentors Johann Valentin Pietsch wiederum aus ganz eigenen Strategieüberlegungen publiziert.54 Auch hier nutzt der emporstrebende 51
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Der Text erschien einzig 1678 unter dem Titel: Leben und Tod des weiland Hochwohlg. Herrn, Herrn Jacob Friedrich Maydel, Jhrer Königl. Majest. in Pohlen Cammerherrn und Starosten auf Wezaiz, Herrn der Güter Birten etc. in jenem seine Fürtreflichkeit, in diesem sein blutiges Ende, und was von beyden zu halten, vorgestellt von seinem gewesenen Hofmeister Johann Besser. Leipzig 1678. Vgl. König, Besser 1732 (Anm. 1), S. xxvf. Vgl. zu diesem Topos: Gunter E. Grimm: Vom Schulfuchs zum Menschheitslehrer. Zum Wandel des Gelehrtentums zwischen Barock und Aufklärung. In: Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien. Hrsg. von Hans Erich Bödeker und Ulrich Herrmann. Göttingen 1987, S. 14–38. Gleichzeitig bestimmt König mit seiner Ausgabe, mit den explizit und implizit gegebenen Sprachund Selektionsvorgaben natürlich auch das Bild des Autors Johann von Besser für die Folgegenerationen. Die Ausgabe sollte bis 2007 die einzige Gesamtedition bleiben. Herrn D. Johann Valentin Pietschen [...] Gesamlete Poetische Schrifften Bestehend aus StaatsTrauer- und Hochzeit-Gedichten : Mit einer Vorrede, Herrn [Jean] Le Clerc übersetzten Gedancken von der Poesie [Gedancken uber die Poeten und Poesie an sich selbst] und Zugabe
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Nachfolger die gefragten, aber derzeit nicht greifbaren Texte seines Lehrers und Vorgängers als ein repräsentatives, kommerziell tragfähiges Vehikel für theoretische wie pragmatische Zielsetzungen.55 Allerdings muß Gottsched sich mit einem deutlich bescheideneren Präsentationsrahmen begnügen: Das einzige Kupfer weist eine deutlich mindere Qualität in Gravur wie Programmatik auf und erfährt auch keine eigene Auslegung. Als schlichte Darstellung Apolls, der mit einem Band „Pietsch=Gedichte“ in der Hand nun rücklings auf eine „Hom[er]“– wie „Vir[gil]“-Büste weist, während er mit den Füßen auf einen Bücherhaufen tritt, der sich erkennbar aus „Marino“-, „Tasso“- und „Chapelain“Werken zusammensetzt, bedarf die Ikonographie auch keiner gelehrten Exegese. König dagegen entwickelt derart komplexe, eigentümliche und unkonventionelle Konzeptionen, daß er förmlich gezwungen war, sie im Medium der Sprache zum Erweis der eigenen Findigkeit ausdeutend zu wiederholen. Auch Gottsched widmet seine Edition einem Angehörigen des Sächsischen Hofes, „um seine Ergebenheit offentlich darzuthun“,56 es handelt sich um den ebenso als Poet hervortretenden Rechtsgelehrten Johann Burchard Mencke auf Görnitz (1674–1732), der als Historiker in Leipzig lehrte. Gottsched gibt in aller Bescheidenheit den Vermittler zwischen einem ,noch wenig bekannten‘ „Preußischen Poeten“ (Pietsch) und dem „berühmten“ Poeten (Mencke) in Meißen. Er überreicht das Werk „um so freudiger, je weniger Antheil ich selber daran habe“. Tatsächlich besteht sein Anteil in einer Vorrede und drei eigenen Gedichten zum Schluß, quantitativ also ein recht verhaltener Beitrag, der dem raumgreifenden Eigenanteil Königs in dessen Besser-Ausgabe weit nachsteht. Die poetologische Beigabe stammt hier auch nicht vom Editor, sondern von Jean Le Clerc.57 Als Hauptgrund für seine Unternehmung gibt Gottsched in seiner Vorrede, neben der Qualität des edierten Autors, die „Liebe meines Vaterlandes“ an: die Publikation einer genuin preußischen Literatur soll diese nun als konkurrenzfähige Leistung in den offenbar zu stark von mitteldeutschen Anteilen dominierten Wettstreit der Dichtungen einbringen.58 Der Editor will die „Verdienste der Preußischen Nati-
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einiger Gedichte von Johann Christoph Gottsched [...]. Leipzig 1725. Standort: Berlin (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz): Yk 3661. Vgl. zu den entstehenden Spannungen mit Pietsch, da die Ausgabe ohne sein Einverständnis veranstaltet wurde: Johannes Hülle: Johann Valentin Pietsch. Sein Leben und seine Werke. Weimar 1915. Ndr. Hildesheim 1979, S. 28–35; Gustav Waniek: Gottsched und die deutsche Literatur seiner Zeit. Leipzig 1897, S. 47ff.; Eugen Reichel: Gottsched. Berlin 1908–1912. Bd. 1, S. 147ff. Offenbar versuchte König, hier zu vermitteln (vgl. Brief vom 22. Oktober 1728, bei Hülle, S. 30). Eine 1739 geplante Neuauflage mit einer Widmung an Friedrich II. wurde aufgrund der inzwischen vorgelegten Ausgabe von Bock nicht mehr realisiert: Des Herrn Johann Valentin Pietschen gebundne Schrifften. In einer vermehrtern Sammlung ans Licht gestellet von Johann George Bock. Königsberg 1740. Standort: Berlin (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz) Yk 3676. Johann Christoph Gottsched: [Widmung]. In: Pietsch, Schrifften (Anm. 55), (o. P.). Jean Le Clerc: Gedanken über den Poeten und Poesie an sich selbst. Das Original erschien in Le Clercs (1657–1736) Parrhasiana (Amsterdam 1699–1701). Hier liegt bereits ein Hinweis auf die deutlich räumlich konnotierte Konstellation der Literaten und ihrer Werke. Bekanntlich ist die Edition Gottscheds ja auch in dem Teutsche[n] Pavillon der
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on“ gegen die „teutsche Poesie ausführlich darzuthun bemühet seyn“. Dem entspricht ein kurzer Rekurs auf entsprechende Namen, die – von Simon Dach angeführt – auch auf dieses „trefflichen Vaters wohlgerathne Söhne“, auf Johann Erhard Ettmüller, Friedrich von Derschau und Michael Kongehl und Gertrud Möller („noch zur Zeit von keiner andern Teutschen Poetin übertroffen“) verweisen. Diese Poeten seien allesamt den Schlesiern „gleich geworden“. Das Vorbild Hofmannswaldau und die Freundschaft mit Neukirch und Besser belegen die Akzeptanz Pietschens in den aktuellen Diskursen. Eine knappe Würdigung seiner „Meister=Stücke der teutschen Poesie, die bisher nicht ausser Preussen gekommen waren“, sollen deren ohne Wissen des Urhebers getätigte Veröffentlichung rechtfertigen. Nur auf Wunsch des Verlegers (wegen eines angemessenen Umfangs) seien noch Le Clerc sowie „ein paar Gedichte von meiner Arbeit“ angefügt: „So groß meine Verwegenheit hierinn ist, da man meine Schwäche niemahls deutlicher würde wahrgenommen haben, als da ich mich gegen einen Stern der ersten Grösse gestellet: So deutlich wird man den Unterschied zwischen einem hellen und dunckeln Lichte daraus abnehmen können.“ Johann Ulrich König trumpft also ungleich stärker auf, treibt einen unvergleichlich größeren Paratext-Aufwand und hält mit der eigenen Person viel weniger zurück. Seine Ambitionen scheinen auch weiterhin, neben dem bürgerlichen Diskussionsforum und dem kommerziellen Buchmarkt, auf die höfische Interessensphäre gerichtet zu sein. Die stilistische Simplifizierung durch einsilbige Worte, die schlichte Rhythmisierung und die Glättung im syntaktischen wie semantischen Bereich (Perioden, Fremdworte, Archaismen) zeigen die zielstrebige Absicht des Editors, unter dem Patronat Bessers und Canitz’ einen deutschsprachigen Klassizismus zu konstituieren, der sich möglicherweise auch einem mittlerweile veränderten preußischen Hof als attraktives Herrschaftsinstrument erzeigen könnte. Sich mit der Besser-Ausgabe eine Bewerbungsschrift für einen möglichen Wechsel nach Berlin zu verschaffen und sich dort mit dem Ziel anzubieten, unter neuen Vorzeichen die deutsche Dichtkunst wieder in einen Rang zu erheben wie einst unter Johann von Besser, möchte der Initiator zumindest nicht ausschließen. Sein persönliches Interesse im höfischen Spannungsfeld zwischen Dresden und Berlin, auch unter Beachtung der Vorgänge in bürgerlichen Zentren wie Leipzig oder Zürich, bringt nun aber deutlich eine räumliche Komponente ins Spiel, die ja auch schon bei Gottsched in seinem expliziten Preußenbezug erkennbar war.59 Es stellt sich daher die Frage, ob nicht über die Namen König und Besser hier Ansätze einer Sprach- und Poesiereform
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Musen (IV. Sammlung, Leipzig, S. 366–376) noch entsprechend despektierlich rezensiert worden: „Die Herren Preußen, die selbst nicht wissen, ob sie sich zu den Teutschen oder Polacken rechnen sollen, [...] fangen allmählich an, in der gelehrten Welt rege zu werden.“ (Zitiert nach Hülle 1915 [Anm. 51], S. 31). Vgl. zu den entsprechenden Zusammenhängen Holger Zaunstöck: Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999 (=Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 9).
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im frühen 18. Jahrhundert zu erkennen sind, die nun auch brandenburgische Vorzeichen tragen könnte. Zu untersuchen wäre, ob sich im Umraum des emporkommenden calvinistischen Hofes in Berlin aus ganz pragmatischen, sprich territorialpolitischen Gründen, nicht schon lange vor 1720 ein absolutistischer Klassizismus zu etablieren versucht. Aus anti-habsburgischen und damit erst sekundär aus antischlesischen Bewegkräften konsolidieren sich hier entsprechende sprachliche Formen als Herrschaftsinstrument. Das Ziel könnte nicht zuletzt in einer reichsweiten Repräsentation brandenburgischer Ansprüche über das Medium Sprache und Text liegen. König stünde dann mit Besser in einer Linie mit der Akademiegründung durch Friedrich III./I. in Berlin und den damit verbundenen Bemühungen um die Pflege der deutschen Sprache (1700), mit Leibniz’ Ermahnung an die Teutschen, ihren verstand und sprache beßer zu üben (1697/1717), ja schließlich auch mit einer brandenburgischen Sprachregelund Dichtkunst, die bereits bei Johann Bödiker und seiner Grammatik (Grundsätze der Deutschen Sprachen im Reden und Schreiben, 1690) ihren Anfang nimmt. Hier deutet sich möglicherweise eine Perspektive an, das zeitliche Paradigma, sprich die Transformation vom ,Barock‘ zur ,Aufklärung‘, nun unter einem topographischen Bezugsraster neu zu klären bzw. endgültig zu entkräften. In seinem entsprechend kritisch ausgerichteten Sfumato-Aufsatz hat Dirk Niefanger die wegweisende Methode, Nuancenbestimmungen im diachronischen Differenzverlauf mit Hilfe von minimalen Texteinheiten vorzunehmen, bereits mit Blick auf die Königsche Canitz-Ausgabe fundiert.60 In Ergänzung sei nun aufgrund unserer Überlegungen bezüglich der Besser-Ausgabe angeregt, die strittigen Übergangsfragen weniger auf der Basis chronologischer als vielmehr raumkritischer Parameter zu thematisieren. Neben einem isoliert betrachteten Stil- und Normbegriff der Protagonisten und ihrer möglichen Selbstverortung auf einer teleologischen Reformskala gälte es nun auch die (durchaus veränderliche!) Selbsteinschätzung ihres lokalen Wirkungsraumes mit ins Kalkül zu ziehen, so daß auch die ,geopolitische‘ Situation ein Differenzverhalten begründen kann. Das Zeremonialwesen als aristokratisches, ja oligarches Kommunikationssystem im europäischen Rahmen spricht sich in Berlin oder Dresden jeweils durchaus verschieden aus, eben in einem brandenburgischen oder sächsischpolnischen Ideolekt, denkt man etwa an die katholische Visualkultur im Gegensatz zur calvinistischen Bildabstinenz. Darüber hinaus aber stehen beide der bürgerlichen Emanzipationsbewegung des marktbedingten Individualismus in 60
Dirk Niefanger: Sfumato. Traditionsverhalten in Paratexten zwischen ,Barock‘ und ,Aufklärung‘. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 25 (1995), S. 94–118; vgl. auch die perspektivenreiche Fortsetzung dieser Überlegungen in: Dirk Niefanger: Die Chance einer ungefestigten Nationalliteratur. Traditionsverhalten im galanten Diskurs (Anm. 7), S. 147–163; Dirk Niefanger: Konzepte, Verfahren und Medien kultureller Orientierung um 1700. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. Hrsg. von Sylvia Heudecker, Dirk Niefanger und Jörg Wesche. Tübingen 2004, S. 9–30.
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Leipzig oder Zürich entgegen. Der findungsreiche Eifer eines um seine noch schwächliche Reputation ringenden Herrscherhauses wäre darüber hinaus auch mit dem Traditionsanspruch einer untergehenden Adelsrepublik als räumliche Polarität zu kontrastieren. Schließlich aber stünde die ökonomische Labilität der Fürstenhöfe gegen eine wirtschaftliche Liberalität urbaner Zentren. Allen diesen Oppositionen aber begegnet nun die territorialpolitisch-konfessionelle Spannungslage, in der sich die schlesischen Diplomatendichter behaupten müssen. Ihre zu scharfsinnigen Höchstleistungen getriebenen Sprachkonzepte verdanken sich als selbstrettende Argutia den Sonderanforderungen, die aus dem regionalen Herrschaftskonflikt zwischen schlesischen Protestanten und Habsburger Landesherrschaft resultieren und hier kein Interesse für verfeinerte Geschmacksnuancen einer saturierten bürgerlichen ,Kennerschaft‘ aufkommen lassen. Ein adressaten- wie gegenstandsbezogenes aptum erzwingt geradezu formale Spitzfindigkeiten, wägende Offenheiten und forensische Argumentationen mit metaphorisch-allegorischen Zusatzebenen, um die so dringend notwendigen Handlungsspielräume im realpolitischen Kampf zu schaffen und zu nutzen. Deutlich zeigt sich bei Lohenstein auch die Bekräftigung der alten Reichsidee, die, getragen von einem starken Kaiser und seinem hierarchisch nachgeordneten Gefolge von Reichsfürsten, gegen Frankreich gerichtet ist. Dagegen aber steht eine autonome Ausrichtung und die kulturelle wie machtpolitische Orientierung an Frankreich, wie sie nun das nach Souveränität strebende neue preußische Königtum anstrebt. Lohenstein sieht eher die in Erneuerung konservierte Universalmonarchie als Rahmen seiner politischen Poetik, während man in Hannover oder Berlin den neuen Partikularmonarchien dient und sich an diesen publizistischen Dienstherren mit ihren emanzipatorischen Ansprüchen orientiert. Damit zeigt sich hier weniger ein chronologischer oder gar teleologischer Epochenwechsel. Vielmehr verschiebt sich aufgrund lokaler Bedingtheiten das praktische Anforderungsprofil der Literatur. Damit wäre eine vorsichtige Distanzierung zu erwägen gegenüber der Vorstellung von ,Überwindung‘, ,Reform‘, ,Verbesserung‘ der deutschen Sprache zwischen 1680 und 1740. Die immanente Wertigkeit in der geläufigen Forschungsdiktion, die einen Wechsel vom Negativen zum Positiven im Sinne eines ,Fortschritts‘ suggeriert, der weg von ,Schwulst‘ und hin zu ,Klarheit‘ führen soll, wäre regionalspezifisch zu problematisieren. Eine nuancen- und hintersinnreiche Gelehrtenforensik, eine komplexe allegorische Weltdeutung mit katholisch-habsburgischer Geschichtsteleologie und gegenreformatorisch geprägten Präsentationsformen sind ebensowenig ein freier ,Geschmacksentscheid‘ wie die sprachliche Reduktion oder die klarstellenden Belehrungskonzepte, die dem calvinistischen Pflichtstaat geschuldet sind und sich am französischen Muster orientieren. Vor diesem Hintergrund bedürfen Autoren wie Johann von Besser einer präzisen Wertung als sprachlich Handelnde in ihrem situationsbedingten Kulturraum. Die entsprechende Neuausrichtung der Fragen unter regionalgeschichtlichen Aspekten müßte den Blick
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aus der einschichtigen Dimension eines Mentalitäts- und Geschmackswechsels verschieben hin zu den Veränderungen im Herrschaftsverständnis und im Herrschaftsvollzug. Die Entlassung Bessers dürfte hier nur eines von vielen sichtbaren Anzeichen sein. Das im Zeremonialwesen deutlich erkennbare dynamische Denken, die temporäre Justierung und permanente Modifikation von Sprech- und Schreibakten steht gegen die bisher in der Forschung konstatierte ,statische Geschichtsauffassung‘ des ,barocken Welttheaters‘.61 Um 1700 erhebt sich ein neuer und selbstbewußter Herrschaftsanspruch der nördlichen Territorien Preußen und Hannover, beide setzen machtpolitische Akzente gegen die habsburgische Dominanz. Als ,souveräne‘ Reichsterritorien versuchen sie sich mit Blick auf Westeuropa gegenüber der (überlebten) Zentralmacht zu emanzipieren und scheuen auch vor den entsprechenden kulturpolitischen Konsequenzen nicht zurück. Damit erhalten die Angriffe gegen die Schlesier auch eine Stoßrichtung gegen die Habsburger Kanzleisprache und die oberdeutschen Literaturformen als Machtanspruch.62 Lohenstein rangiert hier als habsburg-schlesischer Syndikus und Vermittler, dessen Dichtkunst der historischen und damit gedächtnisgeprägten Argumentation nicht per se, sondern als habsburgisches Herrschaftsinstrument von den mittel- und nordostdeutschen Bewegungen opponiert wird. Angriffe gegen die Gelehrtenprosa, gegen den Hohen Stil und seinen inhaltlichen Aspektreichtum wie rezeptionsästhetischen Affektaufwand können sich damit auch herrschaftskritischen Beweggründen verdanken. Möglicherweise begegnen sich hier auch die protestantische Orthodoxie mit ihrem quasi-scholastischen Wort- und Sinnverständnis auf der einen Seite und die katholische Praxis einer oratorischen Beweglichkeit, Dynamik, ja mystischen Bildoffenheit auf der anderen. In diesem Sinne träte ein ,preußischer Klassizismus‘ als kulturpolitische Offensive gegen den schlesisch-habsburgischen Kanzleistil an. Über die Linie Bödiker, Leibniz, Besser, König, ja bis zu Jablonskis enzyklopädischen Unternehmungen zu Sprache und Wissenschaft,63 würden diese Tendenzen schließlich in einem autoritären Klassizismus gipfeln, den Friedrich II. dann auf den rhetorischen Prinzipien der ,claritas‘ zu errichten wünscht und der vehement bestimmt ist durch das eindeutig unterordnende Verhältnis von Poesie und Staatswesen. Das Problem ,Schlesien‘ klärte der dritte 61
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Vgl. Milos Vec: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation. Frankfurt/Main 1998. Vgl. hierzu Johannes Schwitalla: Komplexe Kanzleisyntax als sozialer Stil. Aufstieg und Fall eines sprachlichen Imponierhabitus. In: Soziale Welten und kommunikative Stile. Hrsg. von Inken Keim [u.a.]. Tübingen 2002, S. 379–398; Thomas Brooks: Vom Vorreiter zum Nachzügler. Überlegungen zum Prestigeverlust der Kanzleisprache am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. In: Textallianzen am Schnittpunkt der germanistischen Disziplinen. Hrsg. von Alexander Schwarz und Laure Aplanalb-Luscher. Bern (u.a.) 2001, S. 291–302, mit Beobachtungen zur ,Gottschedianisierung der katholischen Reichshälfte‘! Vgl. Eric A. Blackall: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700–1775. Mit einem Bericht über neue Forschungsergebnisse 1955–1964 von Dieter Kimpel (im Original Cambridge 1959). Stuttgart 1966, S. 81f.
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preußische König bekanntlich auf seine Weise. Der rationalistische Staat mit seinem starken Verwaltungs- und Militärapparat kann aber offenbar auf das höfische und interhöfische ,Spiel‘ mit den sprachlichen Finessen und verdeckten Mitteilungen in der öffentlichen Inszenierung ebenso verzichten wie auf eine defensive Legitimation in der arguten Sprachkonzeption.64 Wenn eine über das Medium Wort geführte Steuerung öffentlicher Regierungsvorgänge noch nötig sein sollte, ist allenfalls der regelfeste, erzieherische und begriffseindeutige Klassizismus gefragt, der dem Subjekt die gewünschten und staatsdienlichen hierarchischen Normprinzipien implementiert. In allen diesen, hier nur grob skizzierbaren politischen und poetischen Veränderungen des Bezugssystems von Literatur und Macht scheint sich Johann Ulrich König mehrfach absichern zu wollen: einerseits gilt es, höfische Auftraggeber sowohl in Dresden als auch Berlin gewogen zu halten und ein verfeinertes Wissen um Poetik in politischer Dienstbarkeit zu zeigen, andererseits gilt es aber auch auf dem neuen Markt in Gelehrtendebatten mitzuhalten und dort die eigene personalpolitische wie kommerzielle Nachfrage zu steigern. In einer solchen mehrspurigen Strategie, die die Poesie sowohl innerhalb der höfischen Diplomatie mit fester Besoldung wie auch als einkömmlichen Beitrag auf dem bürgerlichen Buchmarkt verortet, sieht König keinen Widerspruch. Er entkräftet damit auch klar und deutlich die ausschließende Opposition aus ,Hofsprache‘ (bzw. ,Hoftexten‘) und ,natürlicher Sprache‘ (bzw. ,Bürgertexten‘),65 womit er späterer Literaturgeschichtsschreibung die Basis entzieht, hier eine Epochenzäsur festzuschreiben.66 Johann Ulrich König bietet in seinem strategischen Handeln als Autor-Editor bereits genügend Anhaltspunkte, die auf eine lohnenswerte Vertiefung in der Erforschung seiner Person verweisen. Zwar scheint er langfristig gegen Gott64
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Friedrich II. agiert in seiner Schrift Über die deutsche Litteratur und die Mängel die man ihr vorwerfen kann (deutsch 1780) mit dem Polaritätsmodell und fordert gegen den ,Barbarismus‘ das einzig taugliche Mittel: „Deutlichkeit ist die erste Regel, welche alle, die reden und schreiben, beobachten müssen, weil ihre Absicht ist, die Gedanken und Begriffe zu mahlen, und durch Worte auszudrücken. Wozu dient es, die richtigsten, stärksten und glänzendsten Ideen zu denken, wenn man sie nicht verständlich ausdrücken kann? Vielen von unseren Schriftstellern gefällt ein verworrener Styl [...] und es würde leichter seyn, das Rätsel der Sphynx aufzulösen, als ihre Gedanken.“ Friedrich II. von Preußen: Über die deutsche Litteratur, die Mängel die man ihr vorwerfen kann, die Ursachen derselben und die Mittel sie zu verbessern. Aus dem Französischen übersetzt [von Christian Wilhelm von Dohm]. Berlin, gedruckt bey G. Jac. Decker, Königl. Hof=Buchdr. 1780. Neudruck hrsg. von Bernhard Seuffert. Heilbronn 1883. Rpr. 1968, S. 51. Vgl. mit dem differenzierten Blick der ,historischen Soziolinguistik‘ auf die Entwicklungen im 18. Jahrhundert Ludwig M. Eichinger: Von der Heldensprache zur Bürgersprache. Wandel der Sprechweisen über Sprache im 18. Jahrhundert. In: Wirkendes Wort 40 (1990), S. 74–94. Peter Heßelmann in seinem Killy-Artikel (Anm. 4) schließt noch abwertend: „[...] die Postulierung von Natürlichkeit, Klarheit und Einfachheit der Poesie weist König als frühen Vertreter der deutschen Aufklärung aus. Doch blieb sein Schaffen, das sich inhaltlich und formal nie von den barocken Vorbildern emanzipieren konnte und dem altgewohnten Publikumsgeschmack Rechnung trug, hinter den theoretischen Einsichten weitgehend zurück. So wirkte das wenig originelle Werk schon zu Lebzeiten Königs antiquiert.“
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sched die schwächere Position zu haben,67 durch sein editorisches Agieren gibt er jedoch fraglos wichtige Hinweise auf die noch bestehenden Bewegungsmöglichkeiten für einen Autor um 1730, der sich im Spannungsfeld zwischen Hamburg, Berlin und Dresden einen Namen zu machen sucht. Seine anders gelagerten Reformansätze stehen in der brandenburgisch-preußischen Perspektive durchaus in einem größeren politischen Zusammenhang. Wenn unter Berücksichtigung der zahllosen noch unbekannten Materialien aus dem Nachlaß Johann von Bessers einst auch die Streitigkeiten mit Johann Ulrich König rekonstruiert sein werden, dürfte sich hier eine ertragreiche Möglichkeit bieten, unter Berücksichtigung der räumlichen und ständischen Differenzierungsparameter ein genaueres Bild der Verhältnisse zwischen 1690 und 1730 zu erhalten. Die verengte ästhetische Wertung einer ,Wende‘ vom ,Barock‘ zur ,Aufklärung‘ wäre möglicherweise durch die polydimensionale Betrachtung von Autor, Werk und Editionsverhalten im Spannungsfeld von Sprache, Territorium und Herrschaft aus ihrer fruchtlosen Isolation zu befreien. Nicht zuletzt in diese Vorgänge hofft die Potsdamer Besser-Ausgabe nun zusätzliches Licht zu bringen.
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Zu Gottsched und König vgl. auch: Heldt (Anm. 19), S. 78–84, am Beispiel des Gottschedschen Lobgedichts auf König. Gottsched versuchte über König am Dresdener Hof Fürsprache für seine Reformpläne zu erhalten. Beide korrespondierten 1728 bis 1730.
Knut Kiesant Johann Christoph Gottscheds Neukirch-Edition von 1744
1744 erschien in Regensburg ein für die Barockrezeption in der Aufklärung bedeutungsvoller Druck: Herrn / Benjamin Neukirchs, / weiland Marggräfl. Brandenburg-Anspachischen Hofraths / auserlesene / Gedichte / aus verschiedenen / poetischen Schriften / gesammlet / und mit einer Vorrede / von / dem Leben des Dichters / begleitet / von / Joh. Christoph Gottscheden / [...] / Regenspurg, / gedruckt und verlegt von Zunkels Gebrüder, / 1744.1 Benjamin Neukirch (1665–1729) ist in der Literaturgeschichtsschreibung vor allem als der Herausgeber der sogenannten ,Neukirchschen Sammlung‘ bekannt geworden, die als wohl bekannteste Anthologie spätbarocker Lyrik zwischen 1695 und 1727 in mehrfach überarbeiten Fassungen erschien2 und sofort „andere Herausgeber und Verleger auf den Plan“ rief, „die ebenfalls mit ,verliebten Sachen‘ ein Geschäft machen wollten“.3 Dabei ist Neukirchs Lebensweg und sein poetisches Werk (inklusive der Übersetzungen und Editionen) durchaus beispielhaft und prägend für den widerspruchsvollen Epochenwandel vom Barock zur Aufklärung an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert.4 1
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Anmerkungen zu diesem Druck bei Dünnhaupt: „Kupferportr. (Neukirch), Titelbl., 26 ungez. Bl., 312 S., 2 Bl. Reg., 1 Bl. Vakat; 8°. Berlin SB(PK) u. UB [...] Mit äußerst wichtiger, ausführlicher krit. Vorrede von Gottsched über die zeitgenössische Dichtung, in der er N. als einen unserer besten Dichter bezeichnet. Der Bd. enth. jetzt erstmals alle 12 Satyren von N., während die Ausg. Satyren und poetische Briefe [...] nur 11 derselben enthielt.“ (Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Vierter Teil. Stuttgart 1991, S. 2956f.). Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesene und bißher ungedruckte Gedichte nebenst einer Vorrede von der deutschen Poesie. Leipzig Bey J. Thomas Fritsch, 1695. Vgl. dazu Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Studien zur Neukirchschen Sammlung. Bern / München 1971; und die Ausgabe von 1961: Benjamin Neukirchs Anthologie Herrn von Hofmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte. Erster theil. Nach einem Druck vom Jahre 1697 mit einer kritischen Einleitung und Lesarten. Hrsg. von Angelo George de Capua und Ernst Alfred Philippson. Tübingen 1961 (zitiert: Anthologie). Horst Albert Glaser: Galante Poesie. In: Horst Albert Glaser (Hrsg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 3. Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock. 1572–1740. Hrsg. von Harald Steinhagen. Hamburg 1985, S. 399. Zu Biographie und Bibliographie der Primär- und Sekundärtexte vgl. Knut Kiesant: Neukirch, Benjamin. In: Lothar Noack und Jürgen Splett: Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit. Berlin-Cölln 1688–1713. Berlin 2000, S. 301ff. (Veröffentlichungen zur brandenburgischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, hrsg. von Knut Kiesant).
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Der 1665 in Roniken (Schlesien) geborene Neukirch studierte nach dem Besuch des Gymnasiums in Breslau und Thorn ab 1684 in Frankfurt/Oder Rechtswissenschaften und war ab 1687 Advokat in Breslau. 1691 kehrte er an die Viadrina in Frankfurt/Oder zurück. Schon hier sind literarische Aktivitäten nachweisbar, die über das übliche pflichtgemäße Verfassen von Casualcarmina hinausgehen. Kontakte zu Berliner Hof- und Gelehrtenkreisen 1692, ein Aufenthalt in Halle ab 1693, Reisen in Europa 1694/95 und die Suche nach einer Anstellung in Berlin und schließlich die Anstellung als Professor für Beredsamkeit an der Ritterakademie in Berlin waren die wichtigsten Stationen seines Werdegangs, bevor er 1718 am markgräflichen Hof in Ansbach eine Anstellung als Hofrat und Erzieher des Erbprinzen fand. Neben der 1695 erstmals gedruckten Sammlung barocker Poesie haben zu Lebzeiten des 1729 in Ansbach verstorbenen Autors und Gelehrten vor allem seine poetischen Briefe und Satiren5 sowie sein immer wieder aufgelegtes Lehrbuch zum Verfassen von Briefen6 prägende Auswirkungen auf die literarischen Debatten und die Literaturentwicklung dieses Zeitraums gehabt. Im Grunde ist die Sammelausgabe der Texte von Hoffmannswaldau und der anderen deutschen Dichter (die eigenen Texte eingeschlossen7) eine Wortmeldung in der intensiv geführten poetologischen Debatte dieser Jahre, in der bereits kritische Stimmen zu den Texten Neukirchs zu vernehmen waren. So kann man z. B. in dem im gleichen Jahr 1695 wie die Neukirch-Sammlung erschienenen Dichterlexikon von Erdmann Neumeister (Habilitationsschrift an der Universität Leipzig, gedruckt in Latein) über den „außerordentlich berühmten Breslauer Dichter“ Neukirch lesen: Seine verstreuten poetischen Produkte schwirren da und dort herum. Doch versprach Paul Günther PFOTENHAUER, Buchhändler zu Coburg, im Herbstkatalog, von ihm nächstens Galante Briefe und Gedichte herauszubringen. Ein schönes Zeugnis seines überreichen poetischen Talents dürfte jedoch der interessierte Leser im Bd. II des Arminius von Daniel CASPER VON LOHENSTEIN als Kostprobe haben. Unserem Mann war es dank einer besonderen Fähigkeit seiner Natur gegeben, seine Lieder mit Emblemen, sozusagen wie mit hell leuchtenden Sternen, zu illustrieren. Doch fand unser erhabener Dichter allgemeinen Beifall, und soweit jedenfalls sein erhabener Stil reichen kann, soweit reichte er, auch wenn es einigen scheinen mag, er verirre sich allzu weit in Schwulst und gekünstelte Redeweise.8
Diese Sätze entstanden vor dem Hintergrund der gemeinsamen literarischen Aktivitäten von Erdmann Neumeister und Benjamin Neukirch, der in Halle lehr5 6 7 8
Benjamin Neukirchs galante Briefe und Getichte. Coburg 1695. Benjamin Neukirchs Anweisung zu Teutschen Briefen. Leipzig 1707. Vgl. die Liste der abgedruckten Neukirch-Texte bei Heiduk (Anm. 2), S. 96ff. Erdmann Neumeister: DE POETIS GERMANICIS. Hrsg. von Franz Heiduk in Zusammenarbeit mit Günter Merwald. Bern / München 1978, S. 212.
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te, aber den Wirkungsort Neumeisters, Leipzig, immer wieder aufsuchte. Neumeister wurde in die Vorbereitung der Neukirchschen Sammelausgabe mit einbezogen. „Der Anteil Neumeisters an diesen Vorbereitungen sowie an der Redaktion vieler Gedichte kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.“9 Zu den Mitstreitern Neukirchs gehörte bei diesem Projekt auch der „sowohl bedeutendste als auch begütertste“ Freund Neumeisters, Johann Burkhard Mencke, der „Sohn des Professors Otto Mencke, berühmt als Begründer und erster Herausgeber der Acta Eruditorum“.10 Zur Neukirchschen Sammlung und der Vielzahl ihr folgender „so genannter galanter Gedichtsammlungen“ stellt Horst Albert Glaser bilanzierend fest, daß deren Erfolg nicht darüber hinwegtäuschen dürfe, „daß die hohe Zeit der ,Galanten‘ bereits vorüber war, als die Verleger sie entdeckten. Der erste Band der Neukirchschen Sammlung ist bereits ein Abgesang auf die zweite schlesische Schule.“11 Neukirch selbst hat als Autor und Editor modellhaft vorweggenommen, was dann ein halbes Jahrhundert später mit seinen Texten durch Gottsched veranstaltet wird – nämlich Dokumentation, Rezeption und Literaturprogrammatik. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie der Geschichte, daß der erste Band der Barock-Anthologie Neukirchs von 1695 (in Vorrede und Textauswahl) im Grunde genau die Autoren und literarischen Techniken positiv bewertet, die Gottsched dann in seinen Neukirch-Orientierungen schon in den zwanziger Jahren kritisch-polemisch zurückweist – Hoffmannswaldau und Lohenstein und die ,Galanten‘. „Zu rühmen weiß der Editor [Neukirch – K. K.] nicht nur Lohensteins ,scharfsinnige/ spruchreiche und gelehrte‘ oder Hoffmannswaldaus ,liebliche/ galante und verliebte...schreib=art‘, sondern zudem Gryphius’ ,bewegliche und durchdringende‘ oder Opitz’ und Flemings ,heroische‘. Die poetologischen Normen Neukirchs stellen deutlich die Weichen; ,scharfsinnige bey=woerter‘ und ,kluge erfindungen‘ werden als wichtigste literarische Ingredienzien empfohlen. Die argutia hat noch einmal ihre Stunde.“12 Zugleich verteidigt Neukirch die deutsche Poesieentwicklung gegen Vorurteile und Angriffe aus dem Ausland, die den „Deutschen den bel esprit, der deutschen Sprache Zierlichkeit und Witz absprachen“.13 Neukirch bezog sich dabei auf die Kritik des französischen Jesuiten Bouhours: „Und handelt der gute Jesuit Bouhours sehr töricht / wenn er uns unter die Moscowiter und Barbarn zehlet“.14 9 10 11 12
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Ebenda, S. 509, S. 271ff. Ebenda, S. 508. Glaser (Anm. 3), S. 399. Peter-Andre` Alt: Traditionswandel des Allegoriebegriffs zwischen Christian Gryphius und Gottsched. In: Europäische Barock-Rezeption. Hrsg. von Klaus Garber in Verbindung mit Ferdinand van Ingen, Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Weiß. Wiesbaden 1991. Bd. I, S. 256. Gunter E. Grimm: Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang. Tübingen 1998, S. 245. Anthologie, S. 8.
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Gottscheds Edition der Texte Neukirchs kann durchaus in das von ihm jahrelang verfolgte Ziel gestellt werden, eine umfassende Geschichte der deutschen Literatur zu verfassen und dazu den deutschen Lesern die Dokumente der in seinen Augen vernachlässigten Perioden deutscher Literaturentwicklung in Textausgaben vor kritische Augen zu führen. So hatte Gottsched Johann Jakob Bodmer am 2. Mai 1739 in einem Brief mitgeteilt, daß er „mit einer Ausgabe von Opitz schwanger gehe“.15 1746 erschien dann die sehr erfolgreiche vierbändige Opitz-Ausgabe des Gottschedianers Daniel Wilhelm Triller. Johann Jakob Breitinger rezensierte 1747 diese in seinen Augen philologisch fragwürdige Textedition unter dem Titel Der gemißhandelte Opitz in der Trillerschen Ausfertigung seiner Gedichte. Das Schweizerische Konkurrenzprojekt blieb fragmentarisch bei einem Lyrik-Band, der 1755 in Zürich erschien. Gottsched hatte aber bei seinem umfassenden Interesse für die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts schon in den zwanziger Jahren in seiner journalistischen Tätigkeit auf Neukirchs Werk zurückgegriffen. Als er mit den Vernünftigen Tadlerinnen (1725–1726) als Zeitschriftenherausgeber debütierte, benutzte er zur Formulierung der den jeweiligen Stücken vorangestellten Motti in deutscher Sprache auch Texte der von ihm verehrten Autoren: Friedrich Rudolf Ludwig von Canitz, Benjamin Neukirch, Martin Opitz, Johann Christian Günther, Johann Valentin Pietsch und Philander von der Linde (Johann Burckhard Mencke).16 Schon im XII. Stück vom 21. März 1725 hieß es: Ohne Zweifel werden viele zu wissen verlangen, was vor Schriften man denn insonderheit zu lesen habe, wenn man sich eine angenehme, leichte und natürliche Schreibart in der Poesie angewöhnen will? So ist unseres Erachtens ratsam, erstlich Christian Weisens Poetische Sachen zu lesen, dessen fließende und reine Verse einem Anfänger zum Muster dienen können. Hernach können Opitz und Gryphius folgen, welche sich nicht wie Hofmannswaldau und Lohenstein durch die Italiener zu einem gekünstelten Wesen und einer gezwungenen Hoheit verführen lassen. Endlich kann man Canitzen und Herrn von Bessers Sachen hinzusetzen. Wir nennen aber diese berühmten Männer nicht deswegen, als wenn wir, mit denen Schweizern in ihren Discoursen der Maler, diese allein vor Poeten ausgeben und alle übrigen verwerfen wollten. Sondern wir halten einen Neukirch, Amthor, Philander, Brock [Brockes] und Richey ebenso hoch, als große Poeten gehalten zu werden verdienen.17
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Zitiert nach Felix Leibrock: Das Interesse an der Barockliteratur bei Gottsched und den Schweizern. In: Europäische Barock-Rezeption (Anm. 12), S. 332. Vgl. Gabriele Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler. Göttingen 2000, S. 64. Johann Christoph Gottsched: Die Vernünftigen Tadlerinnen: Verteidigung der Poesie. In: Johann Christoph Gottsched: Reden – Vorreden – Schriften. Hrsg. von Marianne Wehr. Leipzig 1974, S. 46.
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Wilhelm Kühlmann hat in seiner Studie über den Zusammenhang von Frühaufklärung und Barock die Position Gottscheds folgendermaßen bewertet: „Für Gottsched blieb der von Canitz und seinesgleichen vertretene Neoklassizismus die Gewähr für eine Rückkehr zur späthumanistischen Klassizität eines Martin Opitz, die als nationales Erbe der klassischen Antike und der mustergültigen französischen Literatur entsprach.“18 Das zeigt sich auch, wenn Gottsched „das moralisch-sittliche Thema Liebesbriefe mit dem literarischen der Epistolographie [verbindet], indem er einige der ,galanten Briefe‘ Benjamin Neukirchs zitiert, die ,ihrer Nation Ehre verursachen können‘.“19 Im Zusammenhang mit der Problematik der galanten Poesie20 wird die Kußthematik schon in diesen frühen Schriften Gottscheds am Beispiel von Erdmann Neumeister, Menantes (Christian Friedrich Hunold) und auch Neukirch zur Moralkritik ausgebaut. Daß die Aufklärungsorientierung auf die erzieherische Wirkung der Satire durch den Neuabdruck der Satiren Neukirchs durch Gottsched unterstützt werden sollte, ist ebenfalls nachvollziehbar. Die partielle Verdrängung des Pasquillantischen und die damit verbundene Wahrheits- und Sachorientierung bei Canitz, Besser und auch Neukirch gaben die Anstöße für die Entwicklung der Satire in der Aufklärung. Die scherzhaft-heitere Note der Satire bis hin zur Entwicklung der Satire zum moralischen Traktat bei Gottsched sind in Korrespondenz zu den Neukirch-Texten zu sehen, die Gottsched im Sinne historischer Beispiele dem Publikum erneut vor Augen führt. Und Gottsched selbst ist mit Gedichten im letzten Band der Neukirchschen Anthologie vertreten, die 1727 von Gottlob Friedrich Wilhelm Juncker (1702–1746) herausgegeben wurde. Im Kapitel Übersetzungen und Nachahmungen wurden mehrere von Gottsched nachgedichtete Satiren von Boileau und Horaz aufgenommen.21 In diesem Band markieren u. a. auch zwei Texte von Johann Christian Günther die sich verändernde literarische Situation.22 Die Sammlung widerspiegelt im Abdruck eines literaturprogrammatischen Streits die anhaltende Debatte um die Positionen Johann Jakob Bodmers und Johann Jakob Breitingers23 und die insbesondere durch Gottfried Benjamin Hancke 18
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Wilhelm Kühlmann: Frühaufklärung und Barock. Traditionsbruch – Rückgriff – Kontinuität. In: Europäische Barock-Rezeption (Anm. 12), S. 196. Ball (Anm. 16), S. 65. Vgl. Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. Hrsg. von Thomas Borgstedt und Andreas Solbach. Dresden 2001. Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte siebender theil [...], Franckfurt / Leipzig 1727, S. 51ff. Vgl. Karl Konrad Polheim: Der Dichter Johann Christian Günther. Wirken und Wirkung. In: Johann Christian Günther (1695–1723). Hrsg. von Jens Stüben. München 1997, S. 35. Vgl. die Rezension von Ulrich Seelbach: Benjamin Neukirchs Anthologie. Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte. Siebenter Theil. Nach dem Druck vom Jahre 1727 mit einer kritischen Einleitung und Lesarten sowie einem Anhang: Poetischer Staar-Stecher (1730). Hrsg. von Erika A. Metzger und Michael M. Metzger. Tübingen 1991. In: Daphnis 22 (1993), S. 192f.
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1727 verschärfte Polemik in der Auseinandersetzung um die Casualpoesie. Hancke hatte bei seiner Edition von Weltlichen Gedichten seinen Entschluß verkündet, in Zukunft auf die Anfertigung von Casualgedichten zu verzichten und diese auch nicht in Sammelausgaben von poetischen Texten aufzunehmen.24 Der Herausgeber des VII. Bandes der ,Neukirchschen Sammlung‘ stellt „ganz gegen den Brauch der vorangegangenen Teile, eigens eine ,Untersuchung Herrn Gottfried Benjamin Hanckens Weltlicher Gedichte‘ voran [...], die eine summarische Abrechnung mit diesem, Konventionen nicht fraglos fortsetzenden Autor darstellt“.25 Und in der Verteidigung der Casualpoesie wird auch ausdrücklich das poetische Werk Neukirchs (im Vergleich zu Hanckes!) von Juncker einbezogen: Wir sind auch der Meynung, daß die Toden-Flüche und Hochzeit-Seufftzer, die nichts besonderes in sich haben, eben nicht werth sind auf die Nachwelt bey behalten zu werden und verargen dahero dem Herrn Verfasser gar nicht, daß er mit den seinigen gleichfalls zurücke geblieben; [...] Allein, wer wollte, um eines oder des andern Reim-Klemperers Willen, alle Leichen- und Hochzeits-Gedichte verwerffen? Wie viele vortreffliche Stücke würden wir von dem Claudianus, Ovidius, Herrn von Canitz, Besser, ja seinen grossen Neukirch selbst entbehren müssen? Wir halten vielmehr dafür, daß was ausnehmendes auf gemeine Zufälle nicht weniger hoch zu schätzen, als dasjenige, wovon ich zu dencken das Auslesen gehabt.26
Der von Gottsched in seiner Sprachorientierung akzeptierte Neukirch wird von ihm vor allem wegen seiner frühen galanten Gedichte kritisch beurteilt. In den Critischen Beyträgen schreibt Gottsched im Jahre 1735 in der Nachricht von denen noch hinterbliebenen ungedruckten Schriften des seel. Herrn Hofraths Neukirch: „Ausser den allerersten Stücken seiner Jugend, die er noch in Breßlau, nach dem Muster der damaligen beliebtesten Dichter, mit einem schwülstigen Wesen und einem Chaos von Belesenheit füllte; sind fast alle seine Gedichte rein, wohlfließend, und voll vernünftiger und edler Gedanken.“27 Die Kritik an der ,galanten‘ Lyrik hatte ja schon die Redaktion der ,Neukirchschen Sammlung‘ ab 1695 beeinflußt, was sich an der Zuschreibung der Autorschaft bei erotischen Gedichten und der Streichung einzelner Texte bei den nach 1695 erschienenen Drucken der Sammlung zeigt.28 Und Gottscheds abwägende Parteinahme muß auch vor dem Hintergrund zunehmend verschärfter religiös orientierter Literaturkritik gesehen werden. So eifert z. B. ein evangelischer Theologe in einem 1734 in Leipzig gedruckten Pamphlet: 24
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Vgl. Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 252ff. Ebenda, S. 253. Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte siebender theil. Leipzig 1727, S. 5f. Zitiert nach: Ball (Anm. 16), S. 66 (Anm. 74). Vgl. Anselm Schubert: Auf der Suche nach der menschlichen Natur. Zur erotischen Lyrik Hoffmannswaldaus. In: Daphnis 25 (1996), Heft 2–3, S. 423ff.
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Ein jeder Christ soll an das Paradieß mit Thränen gedencken, woraus unsere ersten Eltern sind verjagt worden, und ein Verlangen tragen, in das durch Christum wiederum erworbene Paradieß mit dem bußfertigen Schächer einzugehen, unsere WeltPoeten aber stellen sich bey ihren unzüchtigen Umarmungen ein anderes Paradieß vor, und gedencken desselben mit dem größten Entzücken: Ist ihre schöne Doris erzörnt, und will sie nicht in die Kammer lassen, so heists: Ein Engel stößt mich aus dem Paradieße. Herrliche Vergleichung! Daß unser ersten Eltern nackend gegangen war eine Frucht des göttlichen Ebenbildes, sie waren ohne Sünde und folgendlich auch ohne sündliche Scham, dieses dient ihnen zu einem starcken BewegungsGrund, daß ihre Maitresse sich dörffe kein Gewissen machen, sich nackend sehen oder gar von ihnen betasten zu lassen. Alle Exempel, die in der Bibel stehen, und die Fehler grosser Heiligen in sich halten, wenden sie zu Bescheinigung ihrer Sünden an, die sie entweder begangen haben oder begehen wollen.29
Diese abwägende Argumentationsstrategie zeigt sich bei Gottsched auch im Neuen Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste (1745–1750), wenn er seine eigene Neukirch-Ausgabe in die Argumentation mit einbezieht: „Wer sich bey uns nicht auf Neukirchen besinnet, der anfangs in dem Lohensteinischen Geschmacke Beyfall erhalten hatte, bis ihm in Berlin die Augen geöffnet worden; der lese die Vorrede zu seinen Gedichten, die vor ein paar Jahren beysammen herausgekommen sind.“30 Gottsched hat deshalb die frühen Gedichte Neukirchs in diese Sammelausgabe nicht mit aufgenommen, sondern dokumentiert und zitiert Neukirchs Werk als Beleg für die Überwindung der sogenannten ,zweiten schlesischen Schule‘ und parallel zum sich vollziehenden Geschmackswandel mit der Erwähnung Berlins (bezugnehmend auf Canitz und Besser31) auf die Verschiebung der „geographischen Basis des literarischen Lebens von Schlesien nach Nord- und Mitteldeutschland [...], wobei die lutherischen Städte Leipzig und Hamburg zu neuen Zentren des kulturellen Lebens werden“.32 Dabei konnte sich Gottsched auf Neukirch selbst berufen. Denn dieser hatte sich bereits um 1700 von seinen manieristischen Anfängen distanziert. In einem Hochzeitsgedicht33 aus dieser Zeit heißt es selbstkritisch: „Ich habe jung verschwendet, ich will im Alter sparen.“ Insbesondere die Orientierung an Alle29
30 31
32 33
Gottfried Emanuel Scheibe: Die unerkannten Sünden der Poeten / Welche man sowohl an ihren Schriften / als auch in ihrem Leben wahrnimmt / Nach den regeln des Christentums / und vernünfftiger Sittenlehre geprüfet. Leipzig 1734. Nachdruck in: Quellen zur Geschichte des Buchwesens. Bd. 2. Der Schriftsteller im 18. Jahrhundert. Satiren und Pasquillen. Hrsg. von Reinhard Weinmann. München 1981, S. 81. Zitiert nach Ball (Anm. 16), S. 66 (Anm. 74). Vgl. Knut Kiesant: Johann von Besser. In: Noack (Anm. 4), S. 55ff. und Knut Kiesant: Galante Dichtung am Berliner Hof. Zur galanten Dichtung Johann von Bessers (1654–1729). In: Der galante Diskurs (Anm. 20), S. 111ff. Helmut K. Krause: Religiöse Lyrik. In: Glaser (Anm. 3), S. 427. Zitiert nach Peter-Andre` Alt: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller. Tübingen 1995, S. 315 (Anm. 25).
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Knut Kiesant
gorie und Emblematik wird kritisch distanziert beurteilt: „Auf diesem schwachen Grund, ich sag es unverholen, / Baut ich von versen offt damahls ein gantzes hauß, / Und ziert es noch dazu mit sinne=bildern aus.“ Im Gegensatz zu Gottsched hat Christoph Martin Wieland in seiner Theorie und Geschichte der Redkunst und Dichtkunst von 1757 Neukirch als den „unsinnigsten“ unter allen „Affen Lohensteins“ bezeichnet, der sich opportunistisch der jeweils neuesten literarischen Mode angepaßt habe: „Auf einmal fing er an, sich zu bekehren, und entschloß sich, die Natur nachzuahmen, weil er in französischen Büchern gelesen hatte, daß bey Poeten so der Brauch sey [...].“34 Gottsched dagegen schließt sich dem patriotisch-poetischen Optimismus Neukirchs an, der seine Bilanz der bisherigen deutschen Literaturentwicklung in der Vorrede der Anthologie von 1695 zukunftsorientiert entwarf: „Denn wir haben noch einen grossen berg vor uns / und werden noch lange klettern müssen / ehe wir auff den gipfel kommen / auff welchem von den Griechen Homerus und Sophocles, von denen Römern Horatius und Maro gesessen.“35 Aber die Entwicklung seit Opitz bezeuge eine aufsteigende Linie, Andreas Tscherning, Simon Dach, Paul Fleming stehen dafür wie natürlich auch die höchstgelobten Gryphius, Hoffmannswaldau und Lohenstein. In diesem Zusammenhang der historisch-kritischen Auseinandersetzung mit der zweiten schlesischen Schule sind auch Gottscheds Bemühungen zu sehen, die zunehmend problematisierte Casualpoesie in frühaufklärerische Dienste zu stellen. So schreibt er über die Gelegenheitsdichtung – und damit eigene Versuche einbeziehend: Es bekommen auch bey dergleichen Begebenheiten unzähliche Einwohner einer Stadt gute Gedichte einzeln zu lesen, die wohl niemals eine ganze poetische Sammlung, oder ein großes ausführliches Gedichte gekauft oder gelesen hätten. So breitet sich aber der gute Geschmack auch unter die Unstudirten, und Halbgelehrten aus, denen er sonst ewig unbekannt geblieben wäre.36
Auch hier konnte sich Gottsched durchaus auf Neukirch berufen, der schon an der Wende zum 18. Jahrhundert den Anspruch der deutschen Poesie gegen eine allgemein verbreitete Theorie und Praxis der massenhaft verbreiteten Casualpoesie verteidigte, wenn er sich vor allem gegen eine pragmatische Regelpoesie und interessengeleitete Versproduktion wendet:
34 35 36
Ebenda, S. 315. Anthologie, S. 6f. Zitiert nach Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Tübingen 1991. Bd. V, II, S. 30. Zu den Konsequenzen der Parteinahme Gottscheds für die Casualpoesie im Literaturstreit mit Georg Friedrich Meier vgl. Segebrecht (Anm. 24), S. 255ff.
Johann Christoph Gottscheds Neukirch-Edition von 1744
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Es gehöret mehr zu einem dichter; und die vers-macher / welche uns eine zeitlang her mit regeln überschüttet / mögen sich so viel einbilden / als sie wollen / so haben doch die meisten davon die Poesie mehr verstümpelt / als ausgebessert. Denn ihr gantzes absehen ist / eine leichtsinnige schreib-art einzuführen / vermöge welcher man einen gantzen bogen voll verse / ohne sonderliche bemühung / hinschmieren möge. Von scharffsinnigen bey-wörtern aber / von klugen erfindungen / und von unterscheidung der guten und falschen gedancken / sagen sie nichts; Da doch dieses die seele und die wesentliche theile eines rechtschaffenen gedichtes seyn.[...] da sich doch alle wissenschafften in einem Poeten / nicht anders als in einem centro versammlen müssen / und derjenige nichts gutes schreiben kann / welcher nicht alles / was er schreibt / mit augen gesehen / mit ohren gehöret / und an seiner eigenen person erfahren hat. Die fürnehmsten von den alten Poeten lebten bey hofe / und wurden durch öffters umgehen mit klugen leuten so ausgemustert / daß sie an die schulfüchsereyen / mit welchen wir das papier anitzt beklecken / nicht einst gedachten. Sie hatten dabey sehr wohl studiert; sie waren die lehrmeister der guten sitten / und hatten von allem / was uns nur in den verstand und in die sinnen fällt / eine gründliche känntniß und wissenschaft. Zudem lebten sie zu einer zeit / da man die galanten studia sehr wohl verstund [...].37
Hans-Georg Kemper betont deshalb diesen Zusammenhang von Einzeldruck und Anthologie, der sich auch bei Gottscheds Neukirch-Edition nachweisen läßt: „Daß die von Neukirch zuerst gewählte Publikationsform der poetischen Anthologie in der Frühaufklärung sogleich eine Blütezeit erlebte, ist bezeichnend für Bedarf und Breite dieser Bildungs-Arbeit [...].“38 Daß Neukirch auch vor dem Hintergrund der national-patriotischen Argumentationsstrategien Gottscheds in Anspruch genommen wird, belegen die vielfältigen Hinweise Gottscheds auf Neukirch im Zusammenhang mit deutschen Übersetzungen und Nachdichtungen antiker Heldenepen. Zu einer Vergil-Übersetzung von Johann Christoph Schwarz, zu der Gottsched eine Vorrede verfaßte, heißt es z.B.: So vortrefflich nun dieses Heldengedicht Virgils an sich selber ist, und so hoch es von allen geschätzet worden, die es mit einigem Verstande haben lesen können: so begierig ist es auch von allen Völkern, wo die Gelehrsamkeit einigermaßen geblühet, in ihre Sprachen übersetzet worden. Ich will mich hier nicht auf unsre Nachbarn berufen: denn was gehen uns die an, die draußen sind? Unsre deutsche Nation hat es gewiß allen heutigen Völkern, an Eifer, die Aeneis in ihrer Muttersprache zu haben, bey weitem zuvorgethan.39
Gottsched würdigt deshalb in einer ausführlichen Rezension Neukirchs Telemach-Übersetzung von 1728 und stellt eine Verbindung zu den Entwicklungen 37 38 39
Anthologie, S. 6f. Kemper (Anm. 36), S. 32. Zitiert nach Ball (Anm. 16), S. 205.
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Knut Kiesant
der nationalsprachlichen Literaturen in Italien und in Frankreich her. In der Rezension einer Tasso-Übersetzung des Dresdener Autors Johann Friedrich Kopp im August 1745 heißt es: Dieser verdeutschte Tasso ist nunmehr das dritte epische Gedicht, welches zu unsern Zeiten ans Licht tritt. Denn nachdem uns Hofrath Neukirch seinen deutschen Telemach, und Herr Schwarz noch unlängst seine verdeutschte Aeneis geliefert, so erblickt man itzo auch eine Uebersetzung des befreiten Jerusalems. Wir können uns also rühmen, die Epopeen der alten Römer, der neuen Welschen, und der Franzosen in sehr guten versen bey uns zu haben, welches Vortheils sich unsers Wissens, weder die Italiener noch die Franzosen, zu erfreuen haben. Es ist wahr, daß dieses nur noch bloße Uebersetzungen sind, die eigentlich zu reden, einem Volke noch die Ehre nicht erwerben, einen guten epischen Dichter hervorgebracht zu haben. Man kann auch nicht leugnen, daß die Versuche und Anfänge zu Originalheldengedichten, die wir seit hundert Jahren zu sehen bekommen, sehr unglücklich ausgefallen, und also billig ins vergessen gerathen: allein man kann sich die sichere Hoffnung machen, daß wir noch vor Ablauf dieses Jahrhunderts mehr als einen viel glücklichern epischen Dichter bekommen werden, als unsre Nachbarn selbst aufzuweisen haben.40
Allerdings muß man auch hinzufügen, daß der Autor und Herausgeber Gottsched mitunter vor die schwierige Aufgabe der Abwägung zwischen literaturprogrammatischen und merkantilen Strategien gestellt wurde. Friedrich Kopp hatte nämlich in der Nachfolge Neukirchs eine „neue deutsche Übersetzung des Telemachs angefangen“41 und wandte sich im Juli 1747 hilfesuchend an Gottsched, weil er für dieses Unternehmen keinen Verleger finden konnte: „Allein diese Übersetzung ist bis dato so unglücklich, daß sie [...] kein Buchhändler, als welche wegen des Neukirchischen Telemachs keinen Abgang befürchten, verlegen und drucken will.“42 Als dann der von Gottsched ins Spiel gebrachte Verleger Paul Emanuel Richter das aus über 20.000 Versen bestehende Epos ebenfalls auch aus Kostengründen ablehnte, entschloß sich Gottsched im März 1748, Auszüge aus dieser neuen Übersetzung durch Kopp im Neuen Büchersaal zu veröffentlichen. Dabei versuchte er, in der Besprechung dieses Abdrucks die „Konkurrenzsituation mit Neukirch zu Kopps Gunsten aufzulösen“43: „Der Neukirchische deutsche Telemach ist bisher zwar die beste Uebersetzung dieses trefflichen epischen Gedichtes gewesen, die man bey uns gehabt. Allein die Kenner einer reinen Poesie haben allemal eine bessere gewünschet, die alle die Schönheit, und allen Wohlklang der eigenen Gedichte dieses großen Poeten besitzen möchte.“44 40 41 42 43 44
Zitiert nach Ball (Anm. 16), Zitiert nach Ball (Anm. 16), Zitiert nach Ball (Anm. 16), Ball (Anm. 16), S. 319. Zitiert nach Ball (Anm. 16),
S. 206. S. 319. S. 319. S. 319.
Johann Christoph Gottscheds Neukirch-Edition von 1744
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In der Vorrede von 1748 verweist Gottsched auf seine Neukirch-Editionen vom Anfang der vierziger Jahre und bestimmt deren Funktion als historisch begründete Entwicklungsstufen auf dem Wege zur ,reinen‘ Idealpoesie durchaus kritisch z.B. im Zusammenhang mit Neukirchs Boileau-Übersetzungen: „Allein eine gewisse Härte und Rauhigkeit, die ihm in seinen Uebersetzungen anklebete, hatte mich bewogen mein Heil zu versuchen: ob man diesen französischen Horaz und Juvenal nicht noch etwas flüssiger und ungezwungener deutsch geben könnte.“45 Hier zeigt sich deutlich Gottscheds Versuch, Neukirchs Dichtungen auf dem Weg zu jenem poetischen Idealzustand zu verorten, der für Gottscheds ästhetische Urteile normsetzend wurde. In der Critischen Dichtkunst wird eine Entwicklungsgeschichte des ,Schwulstes‘ entworfen, dessen Wurzeln für Gottsched bis in die Antike zurückreichten (allegorische Irrwege bei Seneca u.a.). Die „neueren Franzosen“, also Boileau, Corneille und Racine, werden als stilistisch normgebend dagegengesetzt.46 Briefwechsel und Druckinitiativen führten allerdings zu keinem Erfolg und letztlich zu einem Bruch zwischen Gottsched und Kopp, wohl auch deshalb, weil dieser sich zwischenzeitlich an den Gottsched-Konkurrenten Hagedorn in Hamburg gewandt hatte. Der in diesem Kontext verfaßte Brief Kopps vom 23. April 1748 bezeugt dies sehr direkt: Denn da ich Denselben meine neue Übersetzung des Telemaches zum Beurtheilen zugeschickt, und Dero Meynung darüber erbeten habe, so habe ich in diesem Stücke weiter nichts gethan, als was das Vertrauen meiner alten Hochachtung und Freundschaft gegen E. H. M. mitgebracht hat, ohne im geringsten von Denselben zu verlangen, daß sie mir, wie es in Dero Briefe heißet, einen Verleger aus dem Schubsakke herausschütteln, und von einem Laden in den andern nach abschläglichen Antworten laufen sollten.47
Neukirchs Übersetzung „aus dem Franzoesischen des Herrn von Fenelon“, die 1727–1739 erstmals gedruckten Begebenheiten des Prinzen von Ithaca, Oder der seinen Vater Ulysses suchende Telemach, wurde immer wieder aufgelegt und erschien im Umfeld dieser Kontroverse z.B. 1751 erneut in Nürnberg. Gottscheds Rückgriff auf Neukirchs poetisches Werk steht in der Verwendung der kritischen Auseinandersetzung mit bestimmten Entwicklungstendenzen der galanten Poesie durchaus in der Tradition der kritischen Rezeption dieser Literaturströmung bereits am Beginn des 18. Jahrhunderts, wie man das ja schon in Erdmann Neumeisters Kompendium über die deutsche Literatur nachlesen konnte, mit der sich Neumeister um die venia legendi für deutsche Dichtkunst an der Universität Leipzig beworben hatte. 45 46 47
Zitiert nach Ball (Anm. 16), S. 319. Vgl. Alt (Anm. 33), S. 358. Zitiert nach Ball (Anm. 16), S. 321.
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Knut Kiesant
Gottsched bezog Neukirchs Werk bereits unmittelbar nach dem Erscheinen des Telemach in seine programmatischen poetologischen Streitschriften ein. So heißt es z.B. im Biedermann von 1728 im Zusammenhang mit der Debatte um der deutschen Sprache angemessene Reim- und Versformen: „Ich will hiermit nicht behaupten, daß es nicht möglich sey, gute Uebersetzungen in gereimten Versen zu machen. Nein, unsre Sprache ist so wortreich, daß solches gar wohl angeht, und wir haben soviel glückliche Proben in unsern Poeten davon aufzuweisen, daß man sich nur auf die Erfahrung beruffen darf.“48 Und nachdem er ein weniger gelungenes Beispiel einer Übersetzung französischer Poesie durch Canitz vorgeführt hat, führt er auch die Telemach-Übersetzung Neukirchs ins Feld: Eben dergleichen Anmerckungen würden sich über den vor einem Jahre herausgegebenen Telemach Herrn Hofrath Neukirchs machen lassen: Daher ich denn vor mein Theil gewünschet hätte, dieser große Poet hätte sowohl, als der Herr von Seckendorf ehmals, das Hertz gefasset, den gemeinen Vorurtheilen im Reimen, durch sein Ansehen zu steuren. Denn ich bin gewiß, daß er bey seiner sonst reinfließenden aufgeweckten und geistreichen Schreibart, die ungereimte Poesie weit beliebter gemacht haben würde, als wohl von jenem zu erwarten gestanden, ohngeachtet er ein Mitglied der fruchtbringenden Gesellschafft gewesen.49
Und auch 1730 hatte sich Gottsched in dem Versuch einer Critischen Dichtkunst gegen den ,Schwulst‘ gewandt und Opitz’ poetisches Werk in Anspruch genommen für eine am Scharfsinn und Witz des Dichters orientierte Dichtkunst, die durchaus regelgebunden erschien. Das wiederholte Gottsched in seiner Lob- und Gedächtnisrede auf Martin Opitz, die er am 20. August 1739 im philosophischen Hörsaal der Universität Leipzig gehalten hat, und die im gleichen Jahr als Einzelausgabe im Druck erschien. Dort verbinden sich emphatische Bewunderung für die Leistungen der insbesondere mit dem Namen von Opitz verbundenen Literaturentwicklung im 17. Jahrhundert mit scharfer Kritik an der Abwendung von den klassizistischen Grundsätzen der opitzianischen Poesie etwa in der ,zweiten schlesischen Schule‘: „Auf! Dankbares Germanien! Verwirf die ungeschickten Nachfolger dieses großen Meisters, die dir durch ihr ausschweifendes Wesen, durch ihre regellose Einbildungskraft, durch ihren geilen Witz und ungesalzenen Scherz mehr Schande gemacht, als jener dir Ehre erworben hatte.“50 Im Grunde bestätigt Gottsched mit seiner Auswahlausgabe der Werke von Benjamin Neukirch im Jahre 1744 seine Orientierung an den aufklärerischen poetologischen Grundpositionen, die er bereits in den zwanziger Jahren in seiner 48 49 50
Johann Christoph Gottsched: Der Biedermann. Leipzig 1966, S. 60. Der Biedermann, S. 61 (Graf Friedrich Heinrich von Seckendorf). Johann Christoph Gottsched: Reden. Vorreden. Schriften. Hrsg. von Marianne Wehr. Leipzig 1974, S. 231.
Johann Christoph Gottscheds Neukirch-Edition von 1744
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polemischen Auseinandersetzung mit den (von Neukirch herausgegebenen!) Schlesiern entworfen hatte, wenn er Benjamin Neukirch lobte: Du entgiengst den leeren Schranken/ Ubersteigender Gedanken,/ Suchtst und fandst die alte Spur / Der Vernunfft und der Natur.51 „Vernunfft“ und „Natur“ sind die Fahnenwörter einer poetologischen Abgrenzungsstrategie, die Gottscheds Wirken in umfassender Weise kennzeichnen. Wilhelm Kühlmann bewertet diese Strategie als Übergang zur Aufklärung: „Gottscheds Kritik höfisch-feudaler, ,pöbelhaft‘ unterhaltsamer, d. h. gesellschaftlich schädlicher bzw. folgenloser wie auch religiös-spekulativer Schreibtraditionen bediente sich abstrakter Vernunftkriterien, um Literatur als Medium der sozialen Erziehung im ,gemeinen Leben‘ zu verankern, – dies freilich, wie bekannt, mit vielfältigen Zugeständnissen an etablierte theoretische Regelbestände [...].“52 Die Neukirch-Edition Gottscheds ist durch die widerspruchsvolle Komplexität des Schaffens des Autors, des Literaturprogrammatikers, des Herausgebers und des Gelehrten Johann Christian Gottsched geprägt, das zudem (wie auch bei Neukirch und Günther) durch seine Zugehörigkeit zu dem Leipziger „schlesisch-landsmannschaftlichen [...] Literaturkreis“53 beeinflußt wurde. „Die spätere Erforschung der frühen Neuzeit ruht auf den Schultern dieser Gelehrten [der Gottschedianer – K. K.], ja in Gottscheds Beyträgen zur Critischen Historie der Deutschen Sprache und Beredsamkeit (1732–44) mit ihren zahlreichen Aufsätzen zu Autoren und Werken des 17. Jahrhunderts beginnt – bei aller Borniertheit der Urteilskategorien – auch die literaturgeschichtliche und sprachgeschichtliche ,Barockforschung‘, – noch ganz im Bewußtsein gelehrtbürgerlicher Kontinuität und eines kulturpatriotischen Legitimationsstrebens.“54
51 52 53 54
Zitiert nach Kemper (Anm. 36), S. 13. Kühlmann (Anm. 18), S. 204. Ebenda, S. 212. Ebenda.
Elke Bauer Der Buchdruckerjunge aber klopfte und verlangte Manuscript Lessings Arbeitsweise und ihre mögliche Konsequenz für eine historisch-kritische Ausgabe
„Konstitution der Texte im Rahmen der Restitution der Kontexte ist das Ziel der historisch-kritischen Ausgabe“ schreibt Ulfert Ricklefs in seinem Aufsatz Zur Systematik historisch-kritischer Ausgaben.1 Das Wissen über die Vorgehensweise eines Autors bei Herausgabe seiner Texte – als Teilbereich seiner Arbeitsweise – trägt sicherlich zur Restitution des Kontextes bei. Auch wenn man sich dabei selbstverständlich darüber bewußt sein muß, sich dem Entstehungskontext eines Textes immer nur teilweise nähern zu können. Denn, wie Jan Bürger in einem kritischen Aufsatz zur Aufnahme von Entstehungsgeschichten in historisch-kritischen Ausgaben richtig bemerkt, ist Biografiearbeit ein intertextuelles Verfahren, bei „dem das Leben ein nicht zu fassender Komplex [bleibt], der anhand des Überlieferten allenfalls umrissen, nicht aber ergründet werden kann.“2 Trotzdem ist es gerade für die Textkonstitution und die eventuelle Entscheidung für Emendationen unumgänglich, sich mit dem Thema zu beschäftigen und dies auch dem Leser oder Nutzer einer historisch-kritischen Ausgabe offenzulegen. Die Untersuchung dieses speziellen Aspektes des Entstehungskontextes sollte dabei zweigleisig vonstatten gehen: Zum einen sollten die Arbeitsmethoden des Autors ergründet werden, die er in einer bestimmten Gattung oder auch in seinem Gesamtwerk anwandte, zum anderen sollten die spezifischen, für ein bestimmtes Werk kennzeichnenden Methoden aufgezeigt werden. Oder wie Siegfried Scheibe anmerkt: Die Arbeitsweise stellt „die allgemeine und spezielle Form des schöpferischen Produktionsprozesses eines Autors an seinem Werk“ dar.3 Am Beispiel ,Lessing als Editor seiner lyrischen und dramatischen Texte‘ soll diese allgemeine und spezielle Form des Produktionsprozesses – soweit in einem kurzen Aufsatz möglich – untersucht werden. Editor wird hier im Sinne des Herausgebers und Überarbeiters bzw. des Korrektors der eigenen Schriften ver1 2
3
Ulfert Ricklefs: Zur Systematik historisch-kritischer Ausgaben. In: editio 13, 1999, S. 1. Jan Bürger: Zeit des Lebens, Zeit der Künste. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2005, S. 232f. Siegfried Scheibe: Die Arbeitsweise des Autors als Grundkategorie der editorischen Arbeit. In: editio 12, 1998, S. 18.
Lessings Arbeitsweise und ihre mögliche Konsequenz für eine historisch-kritische Ausgabe
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standen. Es soll um Fragen gehen, wie, welchen Einfluss nahm der Autor bzw. welchen Einfluß konnte er aufgrund äußerer Bedingungen auf die Drucklegung seiner Werke nehmen? Wie war die Verfahrensweise bei Neuauflagen? Zum Schluß geht es um mögliche Auswirkungen der Erkenntnisse auf eine historischkritische Ausgabe.
1. Der schöne Schein Das äußere Erscheinungsbild autorisierter Drucke spielt in historisch-kritischen Ausgaben normalerweise keine Rolle. In den allermeisten Fällen wird nicht einmal im Kapitel über die Entstehungsgeschichte eines Werkes darauf eingegangen, welche Bedeutung der Autor dem Satzbild und der Papierqualität beigemessen hat. Dabei kann dieses Thema gerade für den Autor als Editor seiner Texte von großer Relevanz sein. Dem Ästheten Lessing scheint jedenfalls die äußere Gestalt seiner Bücher alles andere als gleichgültig gewesen zu sein. Die ungewöhnlich gute Ausstattung der ersten kleinen sechsbändigen Gesamtausgabe Lessings, den zwischen 1753 und 1755 gedruckten Schrifften,4 ist Lessings Bruder Karl sogar eine Erwähnung in der Biografie seines Bruders wert: „Papier, Druck, Verzierungen, zeigten von besserem Geschmack, als bisher dabey gewöhnlich gewesen war.“5 Ein kurzer Disput, den Lessing 1768 mit dem Verleger und Freund Christoph Friedrich Nicolai führte, bestätigt die These. Lessing ließ aus ästhetischen Gründen beim Druck der Briefe antiquarischen Inhalts die Bogensignatur für den Buchbinder weg. Auf die entsetzte Reaktion Nicolais, der seinen Freund inständig darum bat, dies zukünftig zu unterlassen,6 erwiderte Lessing recht uneinsichtig: „Wozu der Bettel, der das Viereck der Columnen so schändlich verstellt?“7 Detailliert nachlesen läßt sich Lessings Akribie im Briefwechsel über die Entstehung Nathans des Weisen. Lessing hatte einen Probebogen angefordert, als anstatt der acht Oktavblätter nur zwei zur Ansicht in Wolfenbüttel eintrafen, schrieb er Karl Lessing nach Berlin: Auch erhalte ich den Probedruck, welcher mich ein wenig verlegen macht. Allerdings hätte ich gern gesehen, daß es ein ganzer Bogen gewesen wäre, um zugleich eine Probe des Papiers zu haben, das der Buchdrucker liefern kann, an den Du Dich vorläufig gewendet hast. Indeß, nur nach diesem Blättchen zu urtheilen, ist das 4 5 6
7
Gotthold Ephraim Leßing: Schrifften. 6 Teile. Berlin 1753–1755. Karl Lessing: Lessings Leben. Teil 1. Berlin 1793, S. 157. Siehe Brief Nicolais an Lessing vom 9. August 1768. In: Gotthold Ephraim Lessing. Sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. Dritte auf’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage besorgt durch Franz Muncker. 23 Bde. Stuttgart / Leipzig / Berlin 1886–1924. Bd. 19, Nr. 236, S. 264. Brief Lessings an Nicolai vom 27. August 1768. In: Lessing. Sämtliche Schriften (Anm. 6), Bd. 17, Nr. 203, S. 258.
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Elke Bauer
Papier viel zu klein, und gar nicht das nehmliche, auf welches meine Schriften bei Voß gedruckt sind, und welches ich in der Ankündigung8 versprochen habe. Wenn der Buchdrucker dergleichen nicht hat, auch nicht anschaffen kann, so möchte ich lieber von dem kleinen Formate ganz und gar abgehen, und das Stück in GroßOctav drucken lassen. Es kommt auch ohnedies sonst zu wenig auf eine Seite; und statt sechzehn Bogen, auf die ich gerechnet, würde ich kaum mit einigen zwanzig reichen, wenn das Ganze so wie die Probe abgedruckt würde. Auch ist Groß-Octav darum besser, weil die Zeilen sich darauf nicht brechen, welches bey dem kleinen Format ein mir unerträglicher Uebelstand ist.9
Lessing erhielt von seinem Bruder eine beschwichtigende Antwort. Dieser versicherte, für den Druck besseres Papier zu verwenden und daß Lessing keine Sorge wegen abbrechender Zeilen tragen müsse. Zum Beweis legte er dem Brief einen neuen Papierbogen bei, der die gewünschte Papierqualität und Größe hatte. Doch um sicher zu gehen, erwiderte Lessing: Ich wähle aber die letztere kleinere Probeschrift, um dem Brechen der Zeilen schlechterdings vorzubeugen: nur muß die Columne um eine oder zwey Zeilen länger und höher seyn; denn mit 19 Zeilen ist sie wirklich gegen die Breite zu kurz. [...] Was bey dem Abdrucke zu beobachten ist, habe ich für den Setzer auf ein einzelnes Blatt geschrieben. Besonders muß der Unterschied an Strichen – und Punkten .... ja wohl beobachtet werden. Denn dieses ist ein wesentliches Stück meiner neuen Interpunction für die Schauspieler; [...].10
Seine Vorschriften würden „pünktlich befolgt“, antwortete Karl Lessing.11 Lessings Reaktion auf den ersten Aushängebogen läßt auf anderes schließen: Der Aushängebogen gefällt mir überhaupt ganz wohl; hat aber doch verschiedenes, was ich besser und anders wünschte. Ich bin daher nicht übel geneigt, wenn wir fertig sind, das Quartblatt S. 1. 2. 15. und 16. umdrucken zu lassen: Theils wegen der garstigen gebrochenen Zeile auf der ersten Seite, Theils wegen ein Paar Unschicklichkeiten auf der 15ten, wo der Zusatz (bei Seite) ganz wegfallen, und der Zusatz (lächelnd) aus der ganz kleinen Schrift gesetzt werden muß. Wenn die weitern Zusätze oder Nachrichten für die Schauspieler, welche in den folgenden Bogen häufiger kommen, eben so groß gesetzt worden, so wird das einen schönen Uebelstand geben.12 8
9 10 11 12
Die mit der Orts- und Datumsangabe „Wolfenbüttel den 8ten August 1778“ versehene Ankündigung des Nathan wurde zunächst als Einzeldruck und anschließend in mehreren Zeitungen und Zeitschriften publiziert (siehe Siegfried Seifert: Lessing-Bibliographie. Berlin / Weimar 1973, Nr. 172). Lessing stellt darin in Aussicht, daß bei rechtzeitiger Meldung der Subskription ab Weihnachten 1778 am Nathan gedruckt werden könne und: „Das Quantum der Subscription wird kaum einen Gulden betragen: den Bogen zu Einem Groschen gerechnet, und so gedruckt, wie meine übrigen dramatischen Werke bey Voß gedruckt sind.“ (Lessing. Sämtliche Schriften [Anm. 6], Bd. 13, S. 338) Brief Lessings an Karl Lessing vom 30. Dezember 1778. Ebenda, Bd. 18, Nr. 628, S. 300f. Brief Lessings an Karl Lessing vom 15. Januar 1779. Ebenda, Bd. 18, Nr. 631, S. 305. Brief Karl Lessings an Lessing vom 24. Januar 1779. Ebenda, Bd. 21, Nr. 788, S. 246. Brief Lessings an Karl Lessing vom 19. März 1779. Ebenda, Bd. 18, Nr. 637, S. 309.
Lessings Arbeitsweise und ihre mögliche Konsequenz für eine historisch-kritische Ausgabe
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Lessing konnte aufgrund der Entfernung des Wohnortes zum Druckort häufig keinen unmittelbaren Einfluß auf die äußere Gestalt seiner Drucke nehmen. Da es aber bezeugt ist, daß ihm diese äußere Gestalt alles andere als gleichgültig war, stellt sich die Frage, ob zumindest in der Entstehungsgeschichte dem Anliegen des Autors Rechnung getragen und darauf aufmerksam gemacht werden sollte, welche Bedeutung ein Autor dem äußeren Schein eines Werkes zukommen ließ.
2. Die Arbeitsweise Lessings Geht man nach den zehn Schreibertypen, die Hermann Zwerschina in seinem Aufsatz Variantenverzeichnung, Arbeitsweise des Autors und Darstellung der Textgenese13 vorstellt, so ist Lessings Arbeitsweise der Schreibstrategie 5 zuzurechnen: Schreiben nach einem Plan oder Konzept. Lessing ist dafür bekannt, schon in jungen Jahren zahlreiche Pläne zu dramatischen Schriften entworfen zu haben. Bereits als Sechzehnjähriger (1745) skizzierte er einen ersten Entwurf des Lustspiels Der junge Gelehrte. Seine Pläne blieben dann meist über Jahre liegen, um bei Bedarf ,aus der Schublade‘ geholt und für den Druck ausgearbeitet zu werden – wie beispielsweise bei Emilia Galotti oder Nathan dem Weisen.14 Natürlich gibt es zahlreiche Entwürfe, die nie zur Ausarbeitung gelangten, andere schafften es nur beinahe bis zur Veröffentlichung: In Lessings Nachlaß fanden sich neben mehreren anderen Beispielen drei gedruckte Bogen des Lustspiels Der Schlaftrunk, obwohl das Stück nie fertiggestellt wurde.15 Wie Lessings Arbeit zwischen Entwurf und Reinschrift sich textlich darstellte, ist so gut wie nicht bezeugt. Die Entwürfe des Lustspiels Der Freigeist und Nathans des Weisen stellen eine Ausnahme dar.16 Der Handschriftenbestand bestätigt letztlich eine Aussage Christian Felix Weißes. Nach dem Leipziger Freund entwarf Lessing seine dramatischen Werke sehr genau von Akt zu Akt und von Szene zu Szene, um dann zu sagen, daß er sie fertig habe. Erst wenn die Stücke gedruckt werden sollten, holte er den entsprechenden Entwurf wieder 13
14
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Hermann Zwerschina: Variantenverzeichnung, Arbeitsweise des Autors und Darstellung der Textgenese. In: Nutt-Kofoth, Plachta (u.a.) 2000 (Anm. 2), S. 203–229. Erstmals namentlich erwähnt wird die 1772 veröffentlichte Emilia Galotti in einem Brief Lessings an Nicolai vom 21. Januar 1758 (in: Lessing. Sämtliche Schriften [Anm. 6], Bd. 17, Nr. 88, S. 132f.). Zum Nathan schrieb Lessing am 7. November 1778: „Mein Nathan, [...], ist ein Stück, welches ich schon vor drey Jahren, gleich nach meiner Zurückkunft von der Reise [nach Italien; d. Verf.], vollends aufs Reine bringen und drucken lassen wollen.“ (In: Lessing. Sämtliche Schriften [Anm. 6], Bd. 18, Nr. 617, S. 292.) Siehe: Gotthold Ephraim Lessing: Vermischte Schriften. Teil 2. Hrsg. von Karl Lessing. Berlin 1784, S. VI. Ediert in: Lessing. Sämtliche Schriften (Anm. 6), Bd. 3, S. 262–272 (Der Freigeist) und S. 473–495 sowie Bd. 22.1, S. 88–119 (Nathan der Weise).
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hervor und arbeitete ihn „langsam und mit vieler Bedachtsamkeit für die Presse“ aus.17 Diese Arbeit kostete ihn zumindest bei den späteren Werken jedes Mal viel Anstrengung, wie man unter anderem aus Lessings Briefen weiß. Die Arbeit wurde ihm nach Aussage Karl Lessings oft „sauer“, und dieses Gefühl wuchs parallel zu seinem Ruhm.18 Lessing war akribisch, wenn es um die Wortwahl ging. Sein Bruder beschreibt, daß er sich keine Nachlässigkeit erlaubte, keinen „schielenden oder unbestimmten Ausdruck“ stehen lassen wollte und daß er mit zunehmendem Alter strenger und sorgfältiger wurde, zumindest was seine Schreibart anging.19 „Entwurf und Plan“ gingen ihm leichter von der Hand, „als Ausarbeitung und letzte Feile; und zwar je größer seine Einsichten stiegen.“ Dies sei ein Grund, warum sich in Lessings Nachlaß mehr Handschriften seiner frühen Jahre gefunden hätten und das, obwohl er noch eine große Anzahl Entwürfe „vorsetzlich vernichtet“ habe.20 Lessing sei nichts weniger gewesen als ein „rüstiger Schriftsteller“, „der sich nur ans Pult setzen darf, und sicher ist, sein Tagwerk zu liefern.“21 Es kam vor, daß er zwar „mit seinem Werke ganz zufrieden war“, aber während des Abschreibens für den Setzer fielen ihm „wichtige Verbeßerungen“ ein, die er noch unbedingt in den Text integrieren mußte.22 So kam es zum Titelzitat: „der Buchdruckerjunge klopfte und verlangte Manuskript“.23 Lessing konnte aber keines bieten, da er während der Fertigstellung der Druckvorlage ,aufgehalten wurde‘: Zum Beispiel wenn er beim Nachschlagen eines bestimmten Sachverhaltes auf eine neue spannende Geschichte stieß, die ihm Anregung zum Nachdenken bot. Diese neue Idee mußte unbedingt mit einem Freund besprochen werden etc., und schon war der Tag vorbei.24 Manche seiner Stücke wurden erst fertiggestellt, als der Druck bereits angelaufen war. Bezeichnenderweise war dies bei Emilia Galotti und Nathan dem Weisen der Fall. Zwei Stücke, bei denen der Autor in Briefen fast wortgleich behauptete, zu Druckbeginn noch nie fertiger mit einem Stück gewesen zu sein.25
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K. Lessing 1793 (Anm. 5), S. 69. Karl Lessing: Lessings Leben. Teil 2, Berlin 1795, S. 13. Ebenda, S. 13. Lessing: Vermischte Schriften (Anm. 15), S. XIIf. Ebenda, S. XIII. Ebenda, S. XIIIf. Karl Lessing 1793 (Anm. 5), S. 262. Ebenda. „Ich bin wirklich so gut als fertig damit [mit Emilia Galotti; d. Verf.]; fertiger als ich noch mit keinem Stücke gewesen, wenn ich es habe anfangen laßen zu drucken.“ (Lessing am 24. Dezember 1771 an Christian Friedrich Voß. In: Lessing. Sämtliche Schriften [Anm. 6], Bd. 17, Nr. 331, S. 422). Und: „[...] mein Stück [Nathan der Weise; d. Verf.] ist so vollkommen fertig, als nur immer eins von meinen Stücken fertig gewesen, wenn ich sie drucken zu lassen anfing.“ (Lessing an Karl Lessing am 7. November 1778. In: Lessing. Sämtliche Schriften [Anm. 6], Bd. 18, Nr. 617, S. 292)
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Emilia Galotti und Nathan der Weise repräsentieren jedoch Lessings Spätwerk, wie sieht es mit seinen frühen Dramen, den Lustspielen aus. Zwei Stücke, Die alte Jungfer und Der Damon, erschienen bereits 1747 und 1749.26 Beide Werke befand Lessing einer Neuauflage nicht wert, was allerdings nicht davor schützte, daß sie zum Leidwesen des Autors unautorisiert nachgedruckt wurden. Die anderen frühen Lustspiele publizierte Lessing erstmals in den Jahren 1754 und 1755 im vierten, fünften und sechsten Teil seiner Schrifften.27 Laut Titelangaben waren sie 1747 (Der junge Gelehrte), 1748 (Der Misogyne), 1749 (Die Juden und Der Freigeist) sowie 1750 (Der Schatz) „verfertiget“ worden. Eine Bemerkung Lessings in der Vorrede zum dritten und vierten Teil der Schrifften legt jedoch nahe, daß in diesen Jahren nur jeweils ein ausgearbeiteter Entwurf entstand: Noch begieriger aber bin ich, zu erfahren, ob diese zwey Proben [Der junge Gelehrte und Die Juden] einige Begierde nach meinen übrigen dramatischen Arbeiten erwecken werden. Ich schliesse davon alle diejenigen aus, welche hier und da unglücklicher Weise schon das Licht gesehen haben [Die alte Jungfer und Der Damon]. Ein beßrer Vorrath, bey welchem ich mehr Kräfte und Einsicht habe anwenden können, erwartet nichts als die Anlegung der letzten Hand.28
Eine Ausnahme mag Der junge Gelehrte bilden, dessen Uraufführung auf der Leipziger Bühne Caroline Neubers bereits im Januar 1748 stattfand. Ob Lessing die Version der Aufführung für den Druck überarbeitete, bleibt aber im Dunkeln. Doch auch wenn in der Leipziger Zeit hauptsächlich Entwürfe entstanden und die Ausarbeitung der frühen Lustspiele in die Zeit kurz vor der Drucklegung fiel, muß die in der Vorrede erwähnte „Anlegung der letzten Hand“ zügig vonstatten gegangen sein. Ebenfalls für Lessingsche Verhältnisse flott ging die Fertigstellung der Miss Sara Sampson. Bekanntlich zog sich Lessing dafür einige Wochen nach Potsdam zurück.29 Und auch sein Philotas muß recht zügig im Laufe des Jahres 1758 den letzten Schliff erhalten haben.30 Waren in Leipzig häufig Zerstreuung, neue Ideen und Freunde der Grund, warum Lessings Arbeit sich verzögerte,31 war es in Wolfenbüttel der Mangel an 26
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Damon, oder die wahre Freundschaft erschien im 7. Stück der von Christlob Mylius herausgegebenen Zeitschrift Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüths, Bd. 1, Hamburg 1747, S. 515–551; Die alte Jungfer wurde 1749 ohne Angabe des Verlagsortes gedruckt. Der junge Gelehrte und Die Juden erschienen 1754 im 4. Teil der Schrifften (Anm. 4); Der Freigeist und Der Schatz 1755 im 5. Teil und Der Misogyne ebenfalls 1755 im 6. Teil. Lessing: Sämtliche Schriften (Anm. 6), Bd. 5, S. 271. „Den Plan zu seiner Miß Sara wollte er gern ungestört und hinter einander, in Einem Feuer ausarbeiten. Er ging daher auf einige Zeit nach Potsdam, dachte an nichts weiter, als an diese Tragödie, die er auch da vollendete und sprach keine lebendige Seele, außer einem einzigen Bekannten, den Faktor der dasigen Vossischen Buchhandlung“, Karl Lessing 1793 (Anm. 5), S. 173. Zwischen Mai 1758 (seiner Ankunft in Berlin) und Anfang März 1759, dem Erscheinungsdatum. Siehe auch: Karl Lessing 1793 (Anm. 5), S. 205. Siehe Karl Lessing 1794 (Anm. 5), S. 262.
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geistigem Austausch mit Freunden, den Lessing für das langsame Vorankommen verantwortlich machte. Bei der Arbeit an der Emilia beklagte er sich, daß man über seiner Arbeit einschliefe, wenn man niemanden habe, mit dem man darüber reden könne.32 Wie wichtig ihm die Freunde waren, zeigt ein Brief Lessings an Gleim. Gleim hatte Lessing ein Geschenk aus seinem Weinkeller zukommen lassen, Lessing bemerkte hierzu: Und wie doppelt gut würde mir das Weinchen schmecken, wenn Sie zu uns kommen, und ihn mit uns könnten austrinken helffen. Auf meiner Sommerstube sollte es Ihnen gewiß nicht mißfallen. Nur glauben Sie um Gotteswillen nicht, daß ich da arbeite. Ich bin nie fauler, als wenn ich in dieser meiner Einsiedeley bin. Wenn es hoch kömmt, mache ich Projecte; Projecte zu Tragödien und Komödien; die spiele ich mir dann selbst in Gedanken, lache und weine in Gedanken, und klatsche mir auch selbst in Gedanken, oder vielmehr laße mir meine Freunde, auf deren Beyfall ich am stolzesten bin, in Gedanken klatschen.33
Lessing war ein Mensch, der aber nicht nur großen Wert auf die Meinung seiner Freunde legte, sondern sie auch durchaus einzuspannen wußte, wenn es um die Überarbeitung oder den letzten Schliff seiner Texte ging. Bereits für die Ausarbeitung des Entwurfs für das Lustspiel Der junge Gelehrte holt sich Lessing 1748 sowohl die Meinung seines damaligen Leipziger Professors Abraham Kästner als auch die der Theaterprinzipalin Caroline Neuber ein. Letztere findet das Stück nach Einarbeitung der Anregungen Kästners so gut, daß sie es aufführen ließ.34 Immer wieder finden wir in den Zeugnissen Hinweise auf solche Gespräche, beispielsweise im Fall der Emilia Galotti. Friedrich Nicolai erinnert sich in seinem Aufsatz Ueber Ekhof daran, daß er Emilia Galotti sozusagen unter Lessings Händen entstehen sehen habe. Schon um das Jahr 1764 habe er „den ersten Plan in drei Akten vor Augen gehabt, worin noch die Rolle der Orsina fehlte, und hernach den vollständigen Plan. Ich hatte mit Lessing über manche Theile dieses Stücks vieles dafür und darwider gesprochen und gestritten, wie es unter uns, vom ersten Anfange unserer Freundschaft an, gewöhnlich war.“35 Über die Rolle Karl Wilhelm Ramlers bei der Entstehung Minna von Barnhelms berichtet Friedrich Nicolai, daß Lessing Ramler jeden Akt brachte und diesen vorlas, dann ließ er ihn so lange in Ramlers Händen, „bis er ihm den 32
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Siehe Brief Lessings an Karl Lessing vom 25. Januar 1772. In: Lessing. Sämtliche Schriften (Anm. 6), Bd. 18, Nr. 339, S. 10. Brief Lessings an Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 28. Juli 1759. Ebenda, Bd. 17, Nr. 117, S. 166. Siehe Lessings Vorrede zum 3. und 4. Teil der Schrifften. Ebenda, Bd. 5, S. 268f. Friedrich Christoph Nicolai: Ueber Ekhof. In: Almanach für Theater und Theaterfreunde auf das Jahr 1807. Hrsg. von August Wilhelm Iffland. 2. Teil. Berlin 1807, S. 33f.
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zweiten Akt vorlesen konnte. Es war dabei ausgemacht worden, daß R. in jeden Akt ein Zettelchen mit Kritik oder Vorschlägen zur Verbesserung legen sollte. L. nahm diese auch freundschaftlich an, bis auf zwei oder drei, worin er seinen Willen haben wollte.“36 Ramler selbst schrieb über seine Rolle: „Bey der Minna von Barnhelm folgte er [Lessing] meinen Zettelchen, (die ich in jeden nach und nach mir vorgelegten Akt legen musste,) nicht immer. Bey Nathan dem Weisen schrieb er: ich habe Ihr[en] meist[en] Änderungen gefolgt; worin ich nicht gefolgt bin, darüber würden wir uns leicht vergleichen wenn wir beysammen wären.“37 Ramler war für Lessing ,der Mann für das Reimschema‘. Seit Lessings Berlinaufenthalt in den Jahren 1758/59 erlaubte er Karl Wilhelm Ramler, „seiner Lieder Pflegevater zu seyn“, wie Ramler später in einem Brief an Johann Wilhelm Ludwig Gleim bemerkte.38 Für die Ausgabe der Vermischten Schriften, deren erster Band 1771 erschien und die Sinngedichte und Lieder enthält, sollte Ramler nicht nur die Überarbeitung der Gedichte übernehmen, sondern auch die Auswahl der zu druckenden Stücke treffen.39 Somit sind die Gedichte im ersten Band der Vermischten Schriften zwar autorisiert, aber gewiß nicht mehr sehr authentisch. Leider können die von Ramler vorgenommenen Varianten in den Vermischten Schriften nicht eindeutig identifiziert werden, da Lessing ebenfalls Änderungen vorgenommen hat.40 Zusätzlich enthalten die Vermischten Schriften bis dato unveröffentlichte Gedichte.41
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Gotthold Ephraim Lessing. Werke 1767–1769. Hrsg. von Klaus Bohnen (= Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Winfried Barner, Bd. 6). Frankfurt/Main 1985, S. 804. Wolfgang Albrecht: Lessing im Spiegel zeitgenössischer Briefe. Ein kommentiertes Lese- und Studienwerk. Teil 2. Kamenz 2003, Nr. 1201, S. 389. Brief Ramlers an Gleim vom 10. Oktober 1762: „Er [Lessing] hatte mir bey seinem Aufenthalt in Berlin [1759] erlaubt, seiner Lieder Pflegevater zu seyn. Als ich ihm folgendes [An die Leyer] brachte, war er so vergnügt darüber, daß er mir die übrigen alle übergeben wollte; ich habe aber nur zwölfe von seinen Kindern angenommen [Für die Lyrikanthologie Lieder der Deutschen, die 1766 erschien].“ Albrecht 2003 (Anm. 37), Teil 1, Nr. 289, S. 100. In einem Brief vom 16. Dezember 1770 begründete Lessing sein Vorgehen damit, daß Ramler noch „alle poetischen Farben auf der Palette“ habe und er, Lessing, kaum mehr wisse, „was poetische Farben sind“. Lessing erteilte Ramler schließlich die Vollmacht: „Streichen Sie aus, was gar zu mittelmäßig ist; (ich sage, gar zu mittelmäßig, denn leider müssen es nicht allein Sinngedichte, sondern Bogen voll Sinngedichte werden) und wo eins durch eine geschwinde Verbesserung sich noch ein wenig mehr aufstutzen läßt, so haben Sie doch ja die Freundschaft, ihm diese Verbesserung zu geben.“ (Lessing. Sämtliche Schriften [Anm. 6], Bd. 17, Nr. 285, S. 358) Lessing an Ramler: „Mit heutiger Post schicke ich bereits die ersten vier Bogen von diesen erneuerten und vermehrten Sinngedichten [...]“. (Ebenda) Lessing schreibt an Ramler, daß er unter seinen alten Papieren „noch eine ziemliche Anzahl“ an Sinngedichten gefunden habe, die nicht gedruckt seien, „und mit welchen ich ungefähr die ersetzen kann, die von den gedruckten nothwendig wegbleiben müssen.“ (Ebenda)
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Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Varianten, die durch Korrekturlesen entstanden sind. Einzig bei der Emilia Galotti kann man durch den Erhalt der Druckvorlage sowie einzelner Briefe zahlreiche Varianten Karl Lessing zuordnen.42 Die meisten Eingriffe Karl Lessings sind dabei orthografischer Natur, nur wenige Veränderungen betreffen den Wortlaut.43 Korrektoren dürften bei jedem Autor eine gewisse Rolle spielen, wie steht es aber mit der Autorisation der Korrekturen. Hat der Autor nochmals die Möglichkeit, die korrigierte Fassung zu sehen und die Druckfreigabe zu erteilen, ist die Frage zumindest formal geklärt. Natürlich erhalten sich in überarbeiteten Texten immer auch Varianten, die dem Autor bei der letzten Durchsicht entgangen sein mögen, und die er, wenn er sie denn entdeckt hätte, nicht gutgeheißen hätte. Trotzdem hatte er zumindest die Möglichkeit, sie zu entdecken. Im Falle Emilia Galottis und Nathan des Weisen sowie vermutlich auch im Falle Minna von Barnhelms hatte Lessing diese Möglichkeit nicht. Einsprüche zu den Varianten seiner Korrekturleser kommen für den Erstdruck zu spät. Während in Berlin gedruckt wird, weilt Lessing im Fall Minnas in Hamburg und bei Emilia und Nathan in Wolfenbüttel. Der Autor erhält zwar Aushängebogen und im Falle Nathans auch nochmals die in Berlin korrigierte Druckvorlage, aber häufig kommen seine erneuten Korrekturwünsche für den Erstdruck zu spät. Da die Druckfehlerlisten, von deren Existenz man weiß,44 verschollen sind, lassen sich die Änderungswünsche leider auch in den Folgedrucken nicht eindeutig einer Person zuordnen. Neben den textlichen Veränderungen durch die Korrektoren weiß man spätestens seit Martin Boghardts Aufsatz über die Druckgeschichte der Minna von Barnhelm, was in einem Druck des 18. Jahrhunderts alles passieren kann.45 Es ist schwer bis beinahe unmöglich, manche Satzvariante von einer Autor- oder Korrektorenvariante zu unterscheiden. Satzdifferente Bereiche innerhalb eines ansonsten satzidentischen Druckes lassen sich nur mit Hilfe der Methoden der analytischen Druckforschung erkennen. Wie aufwendig, aber auch wie wichtig es ist, die korrekten und meist komplizierten bibliogenetischen Zusammenhänge der einzelnen Textträger im Detail aufzuzeigen, zeigt Boghardts Aufsatz eindrücklich. Denn durch die genaue Kenntnis der Zusammenhänge stellen sich auch wieder neue Fragen: Wenn innerhalb einer Auflage Varianten auftreten, auf wessen Geheiß hin wurden sie vorgenommen? Wer ist für die Veränderungen 42
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Siehe z.B. den Brief Karl Lessings an Lessing vom 3. Februar 1772 und die Antwort Lessings vom 10. Februar 1772; siehe auch den Variantenapparat in: Gotthold Ephraim Lessing. Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Elke Bauer. Tübingen 2004, S. 287–338. Ebenda, S. 125–131. Vgl. Brief Lessings an Karl Lessing vom 2. Mai 1772. In: Lessing. Sämtliche Schriften (Anm. 6), Bd. 18, Nr. 362, S. 40. Martin Boghardt: Zur Textgestaltung der Minna von Barnhelm. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 2, 1975, S. 200–222.
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innerhalb eines partiellen Neusatzes verantwortlich, beispielsweise, wenn wie im Fall Minnas die ersten Druckformen des Druckes für die Sammelausgabe bereits aufgelöst waren, als man sich zu einer Einzelausgabe entschloß? Welches Exemplar mit welchen Preßkorrekturen hat der Autor für die Korrekturen einer neuen Ausgabe vor sich gehabt? Letzteres führt uns gleich zur nächsten Frage: Wie ging Lessing mit seinen Werken bei einer Neuauflage um?
3. Lessings Umgang mit Neuauflagen seiner Werke Generell läßt sich sagen, daß Lessing seine Frühwerke gründlicher überarbeitete als spätere Schriften. Zum Beispiel erweiterte Lessing seinen 1755 im sechsten Teil der Schrifften veröffentlichten Einakter Der Misogyne für den ersten Band der Lustspiele46 zu einem Dreiakter. Dies geschieht durch den Einschub ganzer Szenen sowie der Erweiterungen einzelner Passagen. Und auch in den Stücken Die Juden, Der junge Gelehrte und Der Freigeist nimmt er größere textliche Änderungen vor. Dagegen sind Miss Sara Sampson, Minna von Barnhelm, Philotas, Emilia Galotti und Nathan der Weise mit der ersten Veröffentlichung für ihn weitgehend abgeschlossen. Spätere Ausgaben bringen über die üblichen Druckfehlerkorrekturen und dem Einschleichen neuer Druckfehler kaum Veränderungen. Lessing plante zwar für Emilia Galotti im Falle einer Neuauflage eine generelle Überarbeitung,47 der dritte Einzeldruck Emilias liefert jedoch keinerlei Hinweise auf eine Beteiligung Lessings.48 Miss Sara Sampson sah Lessing für die Ausgabe der Trauerspiele zwar nochmals durch, korrigiert wurden aber lediglich Kleinigkeiten, z. B. ändert er die Namensangabe Sir Sampson in Sir William.49 Für die Neuauflage des Philotas in den Trauerspielen hatte Lessing nach eigenem Bekunden gar keine Änderungswünsche.50 Man muß also davon ausgehen, daß die Varianten, die zwischen der Einzelausgabe von 1758 und dem Druck der Trauerspiele existieren, wahrscheinlich in Berlin (Karl Lessing oder Setzerei) entstanden sind. Dabei handelt es sich vermutlich zum größten Teil um Verlagsvorgaben, die sich auch in der Neuauflage der Sara finden: Zum Beispiel Wortformen wie laßen, führet, bestellet werden zu lassen, führt und bestellt, während unsre konsequent zu unsere erweitert wird. Die Erforschung der Vorgaben für den Drucksatz seitens des Verlages und auch der 46 47
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Gotthold Ephraim Lessing: Lustspiele. 2 Teile. Berlin 1767. Vgl. den Brief Lessings an Karl Lessing vom 2. Mai 1772: „In Ansehung der Interpunction wäre vieles zu erinnern. Doch das wollen wir bis auf eine wirkliche zweyte Ausgabe sparen, da ich auch sonst noch einige Kleinigkeiten im Ausdrucke ändern will.“ (Lessing. Sämtliche Schriften [Anm. 6], Bd. 18, Nr. 362, S. 40) Lessing: Emilia Galotti (Anm. 42) Vgl. Lessings Brief an Karl Lessing vom 1. Dezember 1771. In: Lessing. Sämtliche Schriften (Anm. 6), Bd. 17, Nr. 321, S. 411. Vgl. Lessings Brief an Karl Lessing vom 24. Dezember 1771. Ebenda, Bd. 17, Nr. 331, S. 422f.
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Druckerei und die Konsequenzen für die Zuordnung von Varianten sind allerdings ein Desiderat. Und es steht zu befürchten, daß es wegen des großen Zeitaufwandes auch so bleiben wird. Eine solche Untersuchung zumindest an Einzelfällen durchzuführen, um etwas über die Tragweite dieses Phänomens für die Textgestalt sagen zu können, wäre aber trotzdem wünschenswert. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Lessing seine frühen Theaterarbeiten für spätere Ausgaben überarbeitete, dies aber für die Werke seiner mittleren und späteren Arbeitsphase nicht der Fall war. Wie sieht Lessings Herausgeberverhalten bei seiner Lyrik aus? Gibt es Parallelen zum dramatischen Werk? Lessing veröffentlichte seine ersten Gedichte 1747/48 in Zeitschriften. Zu nennen sind hier vor allem die zwei von seinem entfernten Vetter und Freund Christlob Mylius herausgegebenen Blätter Der Naturforscher. Eine physikalische Wochenschrift und die Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüths. Vereinzelt wurden immer wieder Gedichte Lessings in Zeitungen und Zeitschriften publiziert. Das Gros der Lieder und Sinngedichte findet sich aber in den Sammelbänden. Für die große Mehrzahl der Gedichte dürfte gelten, daß sie in Lessings frühen Jahren entstanden sind. Für die Sammelbände stellen sich nun hinsichtlich der Herausgabe der Lyrik zwei unterschiedliche Probleme: Zum einen die textliche Veränderung einzelner, wieder abgedruckter Gedichte, zum anderen die Anordnung der Gedichte innerhalb eines Sammelbandes. Bereits 1751 erschien die erste Liedersammlung anonym und mit der neutralen Druckortbezeichnung Frankfurt und Leipzig unter dem Namen Kleinigkeiten bei Johann Benedict Metzler in Stuttgart. Vermutlich bereits zwei Jahre zuvor war die von Lessing eigenhändig angefertigte Druckvorlage nach Stuttgart gelangt. Wie der Kontakt zu Metzler zustande kam und warum sich die Drucklegung so lange hinzog, liegt im Dunkeln.51 Sicher ist nur, daß 1749 in einer Einzelschrift die kurze Erzählung Der Eremite ebenfalls bei Metzler erschien, mit dem fingierten Druckort Kerapolis (= Stadt der Gehörnten). Um den Jahreswechsel 1749/50 publizierte der Stuttgarter Verlag auch den ersten Teil der gemeinsam mit Mylius herausgebrachten Zeitschrift Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. Die Vermutung liegt nahe, daß die Druckvorlage der Kleinigkeiten gemeinsam mit der Druckvorlage zum Eremiten und zu den Beyträgen nach Stuttgart kam. Lessings Druckvorlage der Kleinigkeiten ist ein detailliert ausgefertigtes Manuskript, das Metzler im Druck exakt wiederzugeben versuchte. Abweichungen ergeben sich manchmal im Seitenumbruch. Ein Gedicht, das bei Lessing auf einer Manuskriptseite Platz findet, verteilt sich im Druck auf zwei Seiten. Ein Gedicht fiel vermutlich dem Zensor zum Opfer.52 Wie akribisch der Verleger der 51
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Siehe Gotthold Ephraim Lessing: Kleinigkeiten. Faksimile des Marbacher Manuskripts. Hrsg. von Jochen Meyer. Tübingen 2000, S. 231. Ebenda, S. 164.
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Vorlage folgte, zeigt sich daran, daß Zuschrift und Vorrede, wie in der Handschrift, lediglich aus der Überschrift bestehen, ebenso wie das bis auf die Buchstaben des Alphabets inhaltsleere Register der wichtigsten Sachen. Ob es sich dabei um einen gezielt von Lessing geplanten Scherz handelt oder um ein Mißverständnis wegen nicht vorhandener Kommunikation zwischen Abgabe und Drucklegung des Manuskripts, bleibt Interpretationssache.53 In dieselbe Kategorie fällt auch die Tatsache, daß der Bericht für den Buchbinder auf Seite 94 in den Kleinigkeiten ebenfalls mit abgedruckt ist: „Vorrede u[nd] Zuschrift muß gleich auf das Tittelblat folgen, das Register aber kömmt an das Ende des ganzen Werks zu stehen. Die Kupfer geben sich von selbst.“54 Neben diesen Besonderheiten der Ausgabe bleibt aber die von Lessing vorgegebene Reihenfolge der anakreontischen Gedichte bewahrt. Es beginnt mit dem programmatischen Gedicht An den Anakreon und endet mit den Worten: „Dieses hätte ich vor ungefehr 50 Jahren auf das Titelblat setzen lassen u darüber geschrieben: Für den Momus.“, dann folgt das zweistrophige Gedicht. Wie sieht es mit der nächsten Sammelausgabe der Gedichte aus? Im ersten Teil der Schrifften präsentierte Lessing 1753 seine Lieder erneut: Diesmal sind sie in zwei Bücher unterteilt. Das erste Buch beginnt mit dem bis dahin noch unveröffentlichten Gedicht An die Leyer und endet mit dem Anfangsgedicht der Kleinigkeiten, An den Anakreon. Neben der Tatsache, daß einige Gedichte wegbleiben und dafür neue hinzugefügt sind, fällt auf, daß Lessing die Reihenfolge verändert hat. Dies geschieht zum einen blockweise, das heißt, einige Gedichte bleiben in gleicher Reihenfolge, werden aber an einen anderen Platz geschoben. Zum anderen werden einzelne Gedichte an anderer Stelle eingeordnet. Es geschieht auch, daß ein einzelnes Gedicht aus einem ansonsten geschlossen bleibenden Block an eine andere Stelle gesetzt wird. Drei Lieder finden sich bei den Sinngedichten wieder, vier Gedichte werden umbenannt, darunter das Abschlußgedicht der beiden Sammelbände, das in den Kleinigkeiten noch Für den Momus heißt und in den Schrifften den Titel An die Kunstrichter trägt. Während sich Lessing offensichtlich Gedanken über die Reihenfolge seiner Gedichte in den Schrifften machte und vermutlich auch in den Kleinigkeiten, fehlt dieser Schritt zwischen den Schrifften und dem 1781 erschienenen ersten Band seiner Vermischten Schriften55 vollständig. Dies verwundert in sofern nicht, als daß für die Anordnung, Ausmusterung und Hinzufügung von Gedichten, wie oben bereits erwähnt, Karl Wilhelm Ramler verantwortlich zeigte, der auch für die Einhaltung der Reimschemata zuständig war. In den Vermischten Schriften wurden lediglich Gedichte gestrichen oder hinzugefügt, die Reihenfolge blieb aber ansonsten bestehen. Es wäre also durchaus eine Untersuchung wert, ob sich 53 54 55
Ebenda, S. 165. Ebenda, S. 156 und Lessing: Sämtliche Schriften (Anm. 6), Bd. 1, S. 59. Gotthold Ephraim Lessing: Vermischte Schriften. Teil 1. Berlin 1781.
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Kriterien finden lassen, nach welchen die Lieder und Sinngedichte in den Kleinigkeiten und nach welchen sie in den Schrifften geordnet sind.
4. Gedanken zur Gestalt einer neuen historisch-kritischen Lessing-Ausgabe Welche Auswirkungen könnten die editorischen Verhaltensweisen Lessings auf eine historisch-kritische Ausgabe haben? Nun, bleibt man bei einer rezeptionsbedingten Auswahl, würde man bei den Theaterstücken auf die jeweilige Erstausgabe zurückgreifen. Diese Vorgehensweise ließe sich auch mit der Arbeitsweise Lessings als Editor seiner Schrifften in Einklang bringen. Ausnahmen sind die frühen Lustspiele, bei denen wegen der späteren Überarbeitungen seitens Lessings nur wirkungsgeschichtliche Argumente für den Erstdruck in Frage kommen. Problematisch wird es bei der Lyrik. Denn nicht in allen Fällen erzeugte der Erstdruck die meiste Wirkung. Zum Beispiel war die erste Gedichtsammlung der Kleinigkeiten wirkungsgeschichtlich relevanter als die Einzelveröffentlichungen in den Zeitschriften. Das gleiche gilt für den ersten Band der Schrifften. Auf der anderen Seite standen die zumindest im Naturforscher veröffentlichten Gedichte öfters in einem inhaltlichen Zusammenhang zu einem Artikel. Sie entstanden sozusagen als Auftragsarbeit für einen bestimmten Kontext. Ein zweites Problem ergibt sich aus der Tatsache, daß Lessing der Aufbau seiner Sammelschriften wichtig war – zum einen im Kleinen, z. B. Anordnung der Lieder und Sinngedichte innerhalb eines Sammelbandes, zum anderen im Großen, was die Gesamtkonzeption einer Ausgabe betrifft. Für seine Vermischten Schriften hatte Lessing schon früh den Plan fertig, in welchen Bänden was zu finden sein sollte.56 Die Reihenfolge der Gedichte war, wie gezeigt wurde, offensichtlich mit Bedacht gewählt. Entschließt man sich nun für den jeweiligen Erstdruck eines Gedichtes, so lösen sich die Gedichtsammlungen in der historisch-kritischen Ausgabe auf, und ein wichtiger Punkt des Autors Lessings als Editor tritt in den Hintergrund. Möchte man, daß ein Autor auch als Editor/Herausgeber seiner Werke in einer historisch-kritischen Ausgabe sichtbar bleibt, müßte man für die unterschiedlichen Textgattungen und vielleicht auch Schaffensperioden verschiedene Richtlinien für die Wahl der Textgrundlage aufstellen. Im Falle Lessings zum Beispiel bei den Dramen den Erstdruck, wobei zu überlegen wäre, ob mit dem Frühwerk anders verfahren werden müßte, zum Beispiel ein Parallelabdruck der verschiedenen Ausgaben veranstaltet werden sollte. Bei den Gedichten müßten die Gedichtsammlungen in ihrer Einheit sichtbar bleiben, vielleicht genügt hierfür eine 56
Lessing, Vermischte Schriften (Anm. 15), S. III.
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Tabelle, die die verschiedenen Reihenfolgen zeigt und zueinander in Beziehung setzt. Auf der anderen Seite sollte auch der Kontext der Gedichte im Naturforscher nicht außer acht bleiben, indem man die dazugehörigen Artikel in einer Ausgabe wiedergibt. Zu fragen bleibt, ob die starren einheitlichen Richtlinien der Gesamtausgaben noch zeitgemäß sind, oder ob man sich für flexiblere, mehr an der Arbeitsweise des Autors ausgerichteten Richtlinien entscheiden sollte.
Winfried Woesler Lessing als Herausgeber von Gleims Kriegsliedern und von Gleims Bearbeitung seines Philotas
Der Siebenjährige Krieg gilt als wesentlicher Schritt Preußens zur Vormachtstellung in Deutschland. Hier nahm das nationalpatriotische Gefühl, das in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts endete, seinen Ausgang. Unsere Dichter hatten hieran ihren Anteil, in fast unerträglichem Maße Gleim, in geringerem Lessing. Beide griffen Ende der 50er Jahre des 18. Jahrhunderts, in enger zeitlicher Verbindung mit dem Siebenjährigen Krieg, die Kriegsthematik auf. Daß der Kanonikus Gleim in der Maske eines Grenadiers zur Eröffnung des Feldzugs 1757 kriegshetzend u.a. schrieb: „Aus deinem Schädel trinken wir / Bald deinen süssen Wein, / Du Ungar! [...]“1, ist heute nicht mehr zu entschuldigen,2 und daß Lessing diese Verse zweimal zum Druck beförderte, ebenso wenig. In diesem Beitrag soll aber die Frage nach der ,political correctness‘ weniger im Mittelpunkt stehen als die wechselseitige Herausgeberschaft. Der Autor Gleim und damit auch sein späterer Herausgeber Lessing waren natürlich nur Sprachrohr und dann Verstärker einer allgemeinen Kriegshysterie.3 Gerade bei der Geistlichkeit gab es viele, die bald die preußischen Siege als Willen Gottes interpretierten, denn z.B. Gleim ging davon aus, daß der Krieg Friedrich II. aufgezwungen worden war. Gott wurde bedenkenlos für Preußen okkupiert, die Religion instrumentalisiert und die Vaterlandsliebe als „diffuse[s] religiöse[s] Gefühl“ beschrieben.4 Auf Gleim bezogen, sagt Jörg Schönert: „In 1
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Gleims Kriegslieder werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von 1759: Preussische Kriegslieder in den Feldzügen von einem Grenadier. Mit Melodien. Berlin, bey Christian Friedrich Voß; Zitat ebenda S. 30. Der Briefwechsel zwischen Gleim und Lessing wird zitiert nach der Lessing-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags (abgekürzt DKV). Hier Bd. XI,1: Briefe von und an Lessing 1743–1770. Hrsg. von Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Georg Braungart und Klaus Fischer. Frankfurt/Main 1987. – Bei der Editorentagung in Weimar lagen die Ergebnisse des Halberstädter Kolloquiums „Der Siebenjährige Krieg in den Medien“ (27. – 29. November 2003) noch nicht vor und sind nicht eingearbeitet worden. Siehe: „Krieg ist mein Lied“. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien. Hrsg. von Wolfgang Adam. Göttingen 2007. Die Herkunft dieses Motivs untersucht Gottfried Fittbogen: Gleims und Ewald von Kleists poetischer Blutdurst. Ein Beitrag zur Geschichte papierner Motive. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 10 (1922), S. 113–116. Zum weiteren geistig-politischen Hintergrund vgl. Hans Peter Herrmann, Hans-Martin Blitz und Susanna Moßmann (Hrsg.): Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 1996; zu Gleim besonders S. 66–79. Monika Fick: Lessing Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart und Weimar 2000. S. 148f.
Lessing als Herausgeber von Gleims „Kriegsliedern“
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naiver Verbindung der heidnischen Mythologie vom Donner- und Kriegsgott mit christlichen Vorstellungen von göttlicher Fügung wird das Naturereignis eines Gewitters im Kanonendonner von Lobositz auf die poetische Formel gebracht ,Gott donnerte bei Lowositz‘ (Schlachtgesang bey Eröfnung des Feldzuges. 1757); und er donnerte – so ist Gleim zu verstehen – allein für ,Preußens Gloria‘“.5 Für die Leiden der Bevölkerung und der Soldaten hat Gleim keinen Blick. Gleim hat früh und von vielen Seiten begeisterte Zustimmung zu seinen Kriegsliedern erhalten. Das hat ihn auch animiert, weitere zu dichten. Die Dichter Kleist, Klopstock, Lessing und etwas verhaltener Uz applaudierten, und selbst die Prinzessin von Braunschweig verlangte von Gleim, als dieser aufhören wollte, weitere Kriegslieder. Lessing schreibt an Gleim am 6. Februar 1758: „Unterdessen versichern Sie ihn [den preußischen Grenadier], daß ich ihn von Tag zu Tag mehr bewundere, und daß er alle meine Erwartung so zu übertreffen weiß, daß ich das Neueste, was er gemacht hat, immer für das Beste halten muß. Ein Bekenntnis, zu dem mir noch kein einziger Dichter Gelegenheit gegeben hat!“6 Abgesehen davon, daß man über Gleims Kriegslieder heute nicht mehr sprechen kann, ohne sie zu werten, lautet hier die Frage: wie kam es damals zur Kooperation der beiden Autoren, und wie funktionierte sie? Als Gleim sein erstes Kriegslied schrieb, erwog er vielleicht schon, ein ganzes Büchlein solcher Texte und Melodien zu produzieren, sicher aber wäre es ohne Lessing nicht zustande gekommen (s.u.). I. Gleims Kriegslieder Gleim besuchte Kleist und Lessing Ostern 1757 in Leipzig. Kleist bat Gleim am 13. Mai 1757, sich dafür einzusetzen, daß Lessing die – vermeintlich – freie Stelle des Berliner Schloßbibliothekars erhalte.7 Es kann durchaus sein, daß wir Lessings Lob der Gleimschen Dichtung in der Folgezeit und sein Engagement für die Drucklegung auch in diesem Zusammenhang sehen müssen. Schließlich dürfte sich der damals 26jährige einiges von der Verbindung mit dem renommierten Autor Gleim versprochen haben. Abgesehen davon könnten aber auch Lessing die Volkstümlichkeit der Lieder, „das formale Experiment, die altertümelnd-naive Sprache“,8 die „Aktualität und Wirklichkeitsnähe“9 interessiert haben. 5
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Jörg Schönert: Schlachtgesang vom Kanapee. Oder: ,Gott donnerte bei Lowositz‘. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 2. Aufklärung und Sturm und Drang. Hrsg. von Karl Richter. Stuttgart 1993, S. 126–139. Ebenda S. 135f. DKV, Bd. XI,1, S. 271. DKV, Bd. XI,1, S. 780f. Conrad Wiedemann: Ein schönes Ungeheuer: Zur Deutung von Lessings Einakter Philotas. In: Germanisch-romanische Monatsschrift. Neue Folge 17 (1967), S. 381–397. Ebenda S. 386. Vgl. Volker Riedel: Gleims Versifizierung des Lessingschen Philotas. In: Der Aufklärer Gleim heute. Hrsg. von Volker Riedel. Stendal 1987, S. 27–38. Ebenda S. 28.
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Lessing nahm sich vor, die angeblich anonymen Gesänge gesammelt zu edieren. Zunächst berichtet er Gleim am 14. Juni 1757, daß ihm der Schlachtgesang bey Eröfnung des Feldzuges 1757 „Auf Brüder, Friedrich, unser Held“ von einem einfachen unbekannten Soldaten – Lessing hatte Gleims Maskerade sofort durchschaut – aus Berlin zugeschickt worden sei und daß er von jenem Soldaten weitere Gesänge – „für jedes Regiment einen“ – erwarte.10 Nur so ist erklärlich, weshalb er – als Dichterkollege – Gleim dringend zur Korrektur einer Stelle rät. Es handelt sich nicht um einen stilistischen Änderungsvorschlag, sondern um einen inhaltlichen („Merseburger Bier“).11 Es ist hier nicht der Ort, alle Korrekturen, die im Laufe der Vorbereitung der späteren Buchedition Gleim empfohlen wurden, aufzuzählen, manches ist auch verloren: außer Lessing sind Kleist und Ramler, bei mindestens einem Lied auch Karl Christian Gärtner, als Lektoren zu nennen.12 Also lastet die Verantwortung für die Texte auf mehreren Schultern. Viel später – am 1. Februar 1758 – berichtet Gleim sogar davon, daß ihn die Reaktion eines ganz Fremden auf einen Vorabdruck13 erreicht habe, die des Domdechanten Ernst Ludwig von Spiegel zum Desenberg aus Paderborn, daß die Kölner und Münsteraner festgestellt hätten, daß sie im Siegeslied nach der Schlacht bei Roßbach nicht erwähnt seien, und Spiegel schlägt Gleim zwei entsprechende Strophen zur Ergänzung vor, die Gleim und dann auch Lessing in den Buchdruck aufnahmen. Am 21. September 1757 teilt Lessing Gleim mit, ihn hätten zwei Gesänge des „Grenadiers“ erreicht, es waren der überarbeitete Schlachtgesang zur Eröffnung des Feldzuges 1757 und das Siegeslied nach der Schlacht bey Prag, den 6ten May 1757, er habe beide in der Bibliothek der schönen Künste und freyen Wissenschaften veröffentlicht.14 Am 12. Dezember 1757 – inzwischen hat Lessing das Siegeslied nach der Schlacht von Roßbach erhalten – schlägt er im Benehmen mit Kleist dem Autor wieder kleine Änderungen vor und rät dringend dazu, eine „Zweideutigkeit“ zu beseitigen.15 Dann heißt es: „So wie er [der Grenadier/Gleim] uns melden wird, daß es gedruckt werden könne, wollen wir es auch drucken lassen. Denn gedruckt muß es werden! Wenn er auf die Schlacht vom fünften dieses, noch etwas machen wollte, so könnte er schon ein Autor von einem kleinen Bändchen werden.“ Denn umlaufende Blätter16 und die 10
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Lessing schreibt zwar, daß er das erste Lied von Berlin zugeschickt erhalten habe, in Wirklichkeit dürfte er es von Kleist erhalten haben, der ihn auch gebeten haben dürfte, die Publikation zu besorgen. Lessing muß übrigens, um Gleim gegenüber seinen Glauben an die Fiktion vom unbekannten Verfasser aufrecht zu erhalten, deshalb ihm sein ganzes Lied noch einmal abschreiben. DKV, Bd. XI,1, S. 315. Zu dem Separatdruck, der vermutlich um den Jahreswechsel 1757/58 erschien, siehe unten. 1. Bd., 2. Stück. Worum es sich im einzelnen handelt, läßt sich nicht mehr feststellen, da Manuskripte der Kriegslieder nicht erhalten sind. Ebenda schreibt Lessing anläßlich des Drucks der beiden Gesänge: „Der zweite ist ein Siegeslied
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Edition Lessings in der Bibliothek haben den Boden bereitet, so daß der Grenadier „hier unter den Generals und Prinzen ziemlich bekannt zu werden anfängt“. Als Verleger kam wohl nur der Lessing vertraute Christian Friedrich Voß in Frage. Lessing schlägt Gleim vor, zur Abrundung noch ein viertes Lied auf die Schlacht von Lissa vom 5. Dezember 1757 hinzuzufügen. Außerdem schlägt er Gleim vor, „einen kleinen Vorbericht [zu machen], um jeden Leser auf den rechten Gesichtspunkt zu stellen, aus welchem er die Lieder betrachten müsse.“ Der künftige Editor kümmert sich also um die Rezeptionssteuerung. Als Gleim über ein Jahr später noch immer keinen „Vorbericht“ im Sinne Lessings geschickt hat, schreibt dieser ihn selbst, gewährt allerdings Gleim Einsicht in die Fahnen. Lessing relativiert hierin m.E. die kriegsbegeisterten Töne des „Grenadiers“ dadurch, daß er sie gleichsam in eine Gattungsgeschichte des Kriegslieds stellt. Die beiden nächsten Briefe Gleims sind verloren, sie scheinen noch weitere Kriegslieder enthalten zu haben, denn am 1. Februar 1758 mahnt er zu einem „Dutzend Briefe“ eine Antwort und „über halb so viel Siegeslieder“ ein Urteil an. Es dürften gemeint sein die Lieder: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Bey Eröfnung des Feldzuges 1756, Siegeslied nach der Schlacht bey Lowositz, den 5ten October 1756, Schlachtgesang vor der Schlacht bey Prag, den 6ten May 1757, Herausfordrungslied vor der Schlacht bey Roßbach am 4ten November 1757, Siegeslied nach der Schlacht bey Lissa, den 5ten December 1757, Lied an die Kayserin – Königin nach Wiedereroberung der Stadt Breslau am 19ten December 1757.
Es werden also in diesen Briefen zusätzliche Lieder, u.a. Schlachtgesänge, mitgeteilt, die einzelnen Siegesliedern vorausgestellt wurden, indem schon auf den kommenden Sieg hingewiesen wird, sie sind gewissermaßen eine vorangestellte Prophezeihung ex eventu. Wohl um dem Buch größere Marktchancen zu geben, wurden noch zwei Separatdrucke mit einzelnen Liedern vorbereitet; der Verleger und der Autor (?) hatten darauf bestanden. Wahrscheinlich um den Jahreswechsel 1757/58 erschien ein Separatdruck, der folgendes enthält: 1. Kriegs-Lied bei Eröfnung des Feldzuges im April 1757, 2. Sieges-Lied der Preussen nach der Schlacht bei Roßbach den 5. Nov. 1757, 3. Lied der Preussen an die Kayserin Königin Maria Theresia nach Wiedereroberung der Stadt Breslau am 19. December 1757. nach der Schlacht bei Prag (den 6ten Mai 1757) und man hat ihn auf einen Bogen in Quart abgedruckt [...]. DKV, Bd. III, S. 768.
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Diesen Separatdruck beschlossen Lessings anpreisende Nachschrift an den Leser und ein Anhang. Hingewiesen wurde hier schon auf den zweiten, folgenden Einzeldruck, dieser umfaßte: 1. Das Sieges-Lied der Preussen nach der Schlacht bey Lowositz. Den 1. October 1756, 2. Das Sieges-Lied der Preussen, nach der Schlacht bey Lissa, den 5.ten December 1757, 3. ein Zweytes Sieges-Lied der Preussen nach der Schlacht bey Lissa und Wiedereroberung von Breslau. In der ersten Jahreshälfte 1758 beginnt der Druck der Sammlung. Am 8. Juli erwähnt Lessing, daß er nachträglich noch das Lied auf die bis dahin einzige verlorene Schlacht Preußens bei Collin am 18. Juni 1757 erhalten habe; er habe deshalb den Druck des Büchleins unterbrochen, um das Lied noch chronologisch einzuordnen. Zusammengefaßt: Es gab mehr Kriegslieder, als schließlich für das Büchlein – sei es vom Autor selbst, sei es vom Editor – ausgewählt wurden. Die Lieder wollen durch hinzugefügte Zeit- und Datumsangaben: Bey der Eröfnung [...], [...] vor der Schlacht [...], [...] nach der Schlacht [...] Aktualität, ja sogar Miterleben suggerieren, sie entstanden aber z.T. in erheblichem zeitlichen Abstand, sie entstanden auch nicht entsprechend der chronologischen Reihenfolge, in der sie im Buchdruck eingeordnet sind. Lessing berichtet in seinem Brief vom 8. Juli ferner, daß er Johann Wilhelm Meil einen Kupferstich entwerfen ließ. Der berühmte Meil arbeitete in dieser Zeit für Lessing und für den preußischen König. Es wurde auch – wahrscheinlich vermittelt von Ramler – für die Vertonungen gesorgt; acht Liedern sind solche von Christian Gottfried Krause (1729–1776) beigegeben, am 8. Juli 1758 lagen 7 davon vor, nachgeliefert wurde die Vertonung des Liedes auf die Schlacht von Collin, in dem – nach Lessing – „ein eigner Geist [...] herrscht“, der „notwendig eine eigne Melodie bekommen“17 muß, auch weicht das Versmaß ab. Ein Vorausexemplar des Büchleins – noch ohne Noten – schickte Lessing am 11. August an Gleim, die vollständigen Exemplare am 16. Das Büchlein enthält: Einen nicht namentlich gezeichneten Vorbericht von Lessing, je ein Lied „zur Eröfnung der Feldzüge“ 1756 und 1757, 4 Siegeslieder, 1 Lied auf die Schlacht von Collin, 1 Lied an Maria Theresia anläßlich der Wiedereroberung von Breslau, hinzu kommen 3 Gesänge vor einzelnen Schlachten. Ohne die Mitwirkung des Editors Lessing gäbe es das Büchlein in der vorliegenden Gestalt nicht, wahrscheinlich gar nicht. 17
DKV, Bd. XI,1, S. 292.
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Am 27. August 1758 bat Gleim darum, Voß möge an die einzelnen Regimenter der Armee die Lieder mit Vertonungen – „in dunkel blau Papier [zu] binden“18 – schicken, was mit einer kleinen Verzögerung auch geschah. Am 19. Oktober konnte Lessing melden, daß „das Hausensche Regiment bereits einen Marsch daraus hat“. Im Vorbericht hatte Lessing der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß der „Grenadier“ noch weitere Lieder dichten werde, und auch in der Korrespondenz mit Gleim hatte er diesen Wunsch geäußert. Er hatte also vorgehabt, ein weiteres Bändchen zu edieren. Nach der Drucklegung liefert Gleim aber nur noch des „Grenadiers“ Lied an die Kriegsmuse anläßlich des Sieges bei Zorndorf am 25. August 1758, das erst nach z.T. heftiger Diskussion mit Lessing und wesentlichen Änderungen 1759 einer zweiten – sonst in Bezug auf die übrigen Lieder fast unveränderten – Auflage beigebunden und Gleim am 18. März zugesandt wurde. Gleim hatte hierin die Niederlage der Russen gefeiert und dabei Verwünschungen gegenüber dem Feind formuliert. Das war selbst der preußischen Zensur zu stark, da man schon auf die Zeit des Friedens vorausblickte. Jetzt distanzierte sich auch Lessing vom „Grenadier“ – und damit von Gleim. Am 16. Dezember 1758 fallen anläßlich dieses Liedes seine berühmten Sätze: „Der Patriot überschreiet den Dichter zu sehr, und noch dazu so ein soldatischer Patriot, der sich auf Beschuldigungen stützet, die nichts weniger als erwiesen sind! Vielleicht zwar ist auch der Patriot bei mir nicht ganz erstickt, obgleich das Lob eines eifrigen Patrioten, nach meiner Denkungsart, das allerletzte ist, wonach ich geizen würde; des Patrioten nemlich, der mich vergessen lehrt, daß ich ein Weltbürger sein sollte.“ Weiter schreibt Lessing – verpackt in Schmeichelei –, ihm hätten bei verschiedenen Stellen des Liedes nach der Schlacht bei Zorndorf „vor Entsetzen die Haare zu Berge gestanden“, und er „fange wirklich an, [s]ich vor ihm [dem Grenadier] zu fürchten“.19 Gleim gibt daraufhin seinem Editor nach – wie aus einem Brief an ihn vom 14. Februar 1759 hervorgeht. Er fertigt eine neue Fassung an, und Lessing bestätigt ihm, daß er „der ganzen Sache eine andere Gestalt gegeben“.20
II. Gleims Philotas Lessing verfaßte 1758, im Jahr seiner Edition von Gleims Kriegsliedern, das Prosastück Philotas und veröffentlichte es 1759 anonym.21 Der Einakter äußert 18 19 20 21
DKV, Bd. XI,1, S. 298. DKV, Bd. XI,1, S. 305f. DKV, Bd. XI,1, S. 310. Als Textausgabe wurde benutzt: Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Philotas. Ein Trauerspiel. Von dem Verfasser der preussischen Kriegslieder versificirt. In: Gotthold Ephraim Lessing: Philotas.
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deutliche Zweifel am Sinn eines Krieges, nimmt „eine äußerst distanzierte Haltung zu Heldentum und Opfertod“22 ein. In der letzten Replik heißt es: „Umsonst haben wir Ströme Bluts vergossen; umsonst Länder erobert.“23 Am 18. März 1759, als Lessing Gleim dessen verändertes nachgeliefertes Lied auf die Schlacht bei Zorndorf gedruckt zusandte, legte er auch ein Exemplar seines Philotas bei, angeblich stamme das Stück von einem „Verfasser, der sich nicht genennt hat“.24 Gleim ist sich nicht ganz sicher, daß sich Lessing dahinter verbirgt. Schon eine Woche später übersendet er Lessing Proben seiner Versifizierung des Einakters – vermutlich auch um die Verstimmung wegen der Kriegslieder, insbesondere des letzten, zu beseitigen. Lessing äußert sich – wie es scheint – begeistert, hofft, Gleim möge dem Stück „das Muster [...] einer edeln tragischen Sprache [...] und ohne die zierlichen kleinen Redensarten, die [...] das ganze Verdienst der französischen tragischen Poesie ausmachen“,25 geben. Schon vier Wochen darauf übersendet Gleim Lessing den ganzen versifizierten Philotas;26 der Titel lautet später im Druck Von dem Verfasser der ,Preussischen Kriegslieder‘ versificiert.27 Lessing dankt am 12. Mai und kritisiert – bei aller Höflichkeit –: „Seine Sprache ist zu voll; seine Einbildungskraft zu hitzig; sein Ausdruck oft zu kühn, und oft zu neu; der Affect stehet [...] bei ihm in voller Flamme [...].“ Noch vernichtender ist ein vorangestellter Satz: „Sie haben ihn [Philotas] zu dem ihrigen gemacht, und der ungenannte prosaische Verfasser kann sich wenig oder nichts davon zueignen.“ Gleichwohl will er Gleims Versifizierung in Druck geben und mit einer Vorrede versehen, in der er sich „über verschiedne Puncte näher erklären“28 will, diese Vorrede wurde aber nicht ausgeführt. Es kommt zu Verzögerungen, Lessing verliert das Manuskript. Bewegung kommt erst in die Angelegenheit, als Gleim nach dem 12. August 1759 mit der Gemahlin des Markgrafen von Bayreuth, der Prinzessin von Braunschweig, in Blankenburg zusammentrifft,29 die Gleim, wie oben erwähnt, auffordert, seine Kriegslieder fortzusetzen. Später erhält sie durch eine Abschrift Kenntnis vom versifizierten Philotas und wünscht dessen Zueignung – (Ist sie überzeugt, daß der versifizierte Philotas
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Ein Trauerspiel. Studienausgabe [...]. Hrsg. von Wilhelm Grosse. Stuttgart 1997, ebenda S. 43–61. Siehe Riedel 1987 (Anm. 7), S. 27. DKV, Bd. IV, S. 35. DKV, Bd. XI,1, S. 315. DKV, Bd. XI,1, S. 318. Ebenso hat Gleim später Klopstocks Tod des Adam bearbeitet. Auf dem Titelblatt von 1766 heißt es: Der Tod Adams. Ein Trauerspiel. Von Herrn Klopstock. In Verse gesetzt von dem Verfasser der preußischen Kriegslieder. Auf dem Originaltitelblatt hatte sich ein Druckfehler eingeschlichen, dort steht „vercificirt“. DKV, Bd. XI,1, S. 321f. Das Zusammentreffen erfolgte auf der Rückreise des Markgrafen von Kunersdorf, wo am 12. August 1759 eine wichtige Schlacht des Siebenjährigen Krieges stattfand.
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vom Verfasser der Kriegslieder stammt?). Auch deshalb mahnt Gleim am 7. März 1760 bei Lessing den Druck an, fügt allerdings hinzu:: „[...] ich habe nicht einmal so viel Zeit, daß ich die Abschrift genau durchsehen, und die Fehler der Rechtschreibung, und Interpunction corrigieren kann; ich muß Ihnen auch diese Mühe überlassen.“30 Lessing besorgte den Druck und kann Gleim am 13. April ein Paket mit Exemplaren zuschicken. Die geplante Vorrede Lessings war nicht zustande gekommen, jedoch eine Zueignung Gleims an die Prinzessin von Braunschweig. Sie beginnt: „Ew. Königliche Hoheit thaten, vor einiger Zeit, bey gnädigster Erwähnung des Verfassers der preussischen Kriegslieder, den patriotischen Wunsch, daß er nun bald, ein Friedenslied zu singen, Gelegenheit haben möge.“31 Was Gleim wohl auch als Dank für Lessings Edition der Kriegslieder und als Beschwichtigung gedacht hatte, ist formal eine Verwandlung des Philotas in den Stil der Kriegslieder. Die beiden Stücke sind mehrfach verglichen worden, verwiesen sei auf die Arbeit von Volker Riedel.32 Aus der Prosa im Drama, der Lessing bereits in Miss Sara Sampson Bahn gebrochen hatte, und die sich sowohl gegen den Alexandriner als deutschen Tragödienvers richtete als auch gegen die französische dramatische Verskunst, macht Gleim wieder Verse, und zwar solche im Ton seiner Kriegslieder, streng alternierend und mit männlichem Ausgang. Der Fortschritt, den der Dramendichter Lessing gemacht hatte, die ersten Schritte von der heroischen zur bürgerlichen Tragödie – stärker in Miss Sara Sampson als im Philotas –, ist in der Gleimschen Transformation wieder rückgängig gemacht. Es fällt die starke Kürzung besonders zum Ende des Dramas auf, was inhaltliche Auswirkungen hatte. Lessings Stück wird vereinseitigt bzw. eindeutig gemacht. „Gleim macht aus Philotas einen eindeutig positiv zu bewertenden Helden, indem er die Schicht des Irrationalen ausblendet.“33 Das Wort „Vaterland“ kommt ursprünglich nur einmal vor, in der Gleimschen Version 18 mal.34 So lautstark wie Gleim einst für den Krieg geworben hat, wirbt er jetzt für den Frieden. Wilhelm Grosse schreibt: Gleim formt in seiner Bearbeitung die von Lessing bewußt schillernd und brüchig angelegte Figur des Philotas in eine eindeutig patriotische Figur um. Sein Philotas ist wieder ganz der ’unempfindliche‘ Held, der unempfindlich läßt. Durch Verkürzungen besonders in den Dialogen Philotas – Parmenio und Philotas – Aridäus verliert die durch diese beiden Figuren repräsentierte humane, zum Dialog aufgeschlossene Gegenwelt der Lessingschen Vorlage an Gewicht; die dramatische 30 31
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DKV, Bd. XI,1, S. 344. Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke. Hrsg. von Walter Hettche. Göttingen 2003, S. 437. Siehe Anm. 9. Fick 2000 (Anm. 4), S. 155. Vgl. Gleim 2003 (Anm. 31), S. 706.
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Handlung konzentriert sich ausschließlich auf den Bewunderung heischenden Heldentod des Philotas, der bei Gleim alle kindlich-glaubhaften Züge abgelegt hat. Es ist nur zu plausibel, daß am Ende der Gleimschen Bearbeitung des Philotas nicht mehr die rhetorische Frage von Aridäus („Glaubt ihr Menschen, daß man es nicht satt wird?“) steht, sondern konsequenterweise das Drama mit den Ausrufen von Strato und Aridäus endet: „O Held! O Patriot! O Vaterland! Er stirbt!“35
Der Patriot Gleim hat vom Weltbürger Lessing wenig gelernt, vom Dichter Lessing nichts. Gleim aber wurde klar, daß es nicht unproblematisch gewesen war, „allzu dreist mit fremder Arbeit umzugehen“. Wäre er ganz sicher gewesen, daß der Philotas ein Werk Lessings war, „so“, schreibt er an Kleist,„wäre ich ohne Zweifel etwas furchtsamer zu Werke gegangen; denn wer ist ein so großer Kenner des Theaters als er?“36 Wie groß die Kluft zwischen Gleim und Lessing geworden war, zeigt die Tatsache, daß er sich von Lessing aus diesem Anlaß auch eine endgültige Anerkennung seiner dramatischen Begabung erhoffte. Sein Briefpartner Lessing aber schweigt ab jetzt fünf Jahre. Es ist noch nicht die Zeit des „Sturm und Drang“, in der das Dichter-Genie in erster Linie sich zu verwirklichen trachtet, es ist noch die Zeit der Empfindsamkeit, in der der Freundschaftskult gepflegt wurde. Der Autor des „Sturm und Drang“ kann und will aus sich selbst zum künstlerischen Ziel kommen, der Dichter der Empfindsamkeit weiß sich im Kreis der Freunde geborgen. Erinnert sei an Gleims Freundschaftstempel. Werke entstehen im engen Kontakt mit Freunden. So fühlte sich Gleim bei seinen Kriegsliedern von breiter Zustimmung getragen. Daß Freunde in seine Texte eingriffen, erscheint Gleim nicht problematisch, ebenso ungeniert macht er sich an die Überarbeitung des Philotas. Der Kontakt mit fremden Texten löst bei Autoren auch eigene Aktivitäten aus. Als Leser rezipieren sie immer Strukturen, Motive, Einfälle etc., die bei ihnen dann den eigenen kreativen Prozeß auslösen oder in ihn einfließen können. Ist ein Autor B Bearbeiter eines anderen A, z.B. Übersetzer oder Editor, kann seine eigene Kreativität noch unmittelbar Einfluß auf den ihm vorliegenden Text nehmen. Wenn der Autor B A zu Lebzeiten ediert, dann erweist er ihm eine Ehre. Dieselbe Funktion dürften früher wie heute manche Vorworte erfüllen. Im Fall von Gleim und Lessing dürfte die angebliche Anonymität diesen Effekt etwas gemindert haben. Dort, wo B eingreift, sei es in Form, Wortlaut oder Inhalt, sind Konflikte mit A – spätestens in der Moderne – vorprogrammiert. B, der korrigiert, ist A zunächst willkommen, sei es, daß er die Arbeiten seines Lektors übernimmt, sei es, daß er wie Herder auf Goethes Bitte hin die Iphigenie metrisch verbessert. Zwar sind Autor A und B meist befreundet – daher bedeckt zunächst der Freundschaftsmantel aufkommende Divergenzen –, 35 36
Werkausgabe 1997 (Anm. 21), S. 124. Gleim an Kleist am 16. April 1759. In: Ewald Christian von Kleist’s Werke. Hrsg. und mit Anmerkungen begleitet von August Sauer. Berlin 1881–1882, ebenda Bd. 3, S. 315f.
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doch oft nur vorübergehend. Denn da A und B über eigene künstlerische Autonomie und Kreativität verfügen, sind Diskrepanzen unvermeidlich. Ein Maler wird ja auch einem befreundeten Maler kaum gestatten, in seinem Gemälde Korrekturen anzubringen. Gleim akzeptierte den erwähnten relativierenden Vorbericht Lessings zu seinen Kriegsliedern letztlich nicht, er ließ ihn bei einer Neuauflage fallen, und Lessing dachte nicht daran, Gleims Versfassung seines Philotas in eine Ausgabe seiner gesammelten Schriften aufzunehmen, obwohl er ihr Geburtshelfer war. Besonders problematisch kann es sein, wenn ein Autor Texte aus dem Nachlaß eines anderen herausgibt und eigene ästhetische Ansprüche nicht zurückstellt. Ein Glücksfall ist es, wenn sich die Autoren gewissermaßen auf gleicher Augenhöhe begegnen, d.h. die künstlerische Kooperation angestrebt wird, z.B. bei Brechts und Weills Zusammenarbeit für das Libretto vom Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny – und beide schließlich das Ergebnis gemeinsam vertreten.37
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Esbjörn Nyström: Libretto in Progress. Brechts und Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny aus textgeschichtlichter Sicht. Bern 2006 (Arbeiten zur Editionswissenschaft 6).
Annette Oppermann Joseph Haydn als Editor und Verleger Zur Originalausgabe des Oratoriums Die Schöpfung
Als Joseph Haydn im Sommer 1799 in verschiedenen deutschen Zeitungen eine Subskriptionsankündigung der gedruckten Partitur seines Oratoriums Die Schöpfung veröffentlichte,1 war dies das erste und einzige Mal, daß der Komponist ein Werk im Selbstverlag anbot. Zwar waren bereits in der ersten Hälfte der 90er Jahre zwei kleinere Vokalausgaben Haydns in London mit der Angabe „Printed for the Author“ erschienen, d. h. auf seine Kosten hergestellt und von ihm selbst vertrieben worden, aber – und das ist der bemerkenswerte Unterschied zur Publikation der Schöpfung – in beiden Fällen hatte Haydn mit einem englischen Verleger zusammengearbeitet, der das Werk später in seinen Verlag übernahm und wohl auch für die Herstellung des Druckes verantwortlich war.2 Bei der Subskriptionsausgabe der Schöpfung hingegen trug Haydn nicht nur das volle finanzielle Risiko der Veröffentlichung,3 sondern er sorgte offenbar auch ohne Hilfestellung eines Musikverlages für die Herstellung der 300 Seiten star1
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Der Subskriptionsaufruf erschien in der Wiener Zeitung vom 19. Juni 1799, im Intelligenzblatt Nr. XV zur Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung vom 26. Juni 1799 sowie im Intelligenzblatt zur Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung vom 24. Juli 1799; vgl. neben Anthony van Hoboken: Joseph Haydn. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis. Bd. II: Vokalwerke. Mainz 1971, S. 36, vor allem Georg Feder: Joseph Haydn. Die Schöpfung. Kassel (u.a.) 1999, S. 151–153. Es handelt sich dabei um Ausgaben der Solokantate Arianna a Naxos (1791, mit John Bland) und der ersten Six English Canzonettas (1794, mit Corri, Dussek & Co.). Die in englischen Drucken des 18. Jahrhunderts vielfach zu findende Angabe „Printed for the Author“ ist primär ein Hinweis darauf, daß die Publikation vom Autor initiiert und finanziert wurde; die in diesem Zusammenhang häufig auftretende Unterschrift auf der Titelseite bestätigt die Rechtmäßigkeit dieser Ausgabe; eine besondere Einflußnahme auf die Druckgestaltung durch den Autor oder der ausschließlich private Vertrieb sind damit nicht zwingend verbunden (vgl. auch den Artikel „Selbstverlag“. In: Music Printing and Publishing. Hrsg. von D. W. Krummel und Stanley Sadie. New York-London 1990, S. 535f.). Die beiden genannten Haydn-Ausgaben müssen allerdings nach außergewöhnlich guten Vorlagen gedruckt worden sein, denn sie sind auffallend fehlerfrei. Auch ist eine verlagsseitige Bearbeitung – wie sie sonst durchaus üblich war – hier auszuschließen, was den Ausgaben einen hohen Grad an Authentizität verleiht. Vgl. hierzu die Bewertung der beiden Publikationen durch Marianne Helms im Rahmen der historisch-kritischen Gesamtausgabe: Joseph Haydn Werke. Reihe XXIX. Bd. 1: Lieder für ein Singstimme mit Begleitung des Klaviers. Nachträglicher Kritischer Bericht verfaßt von Marianne Helms. München 1983, S. 22 und 59f., und Bd. 2: Verschiedene Gesänge mit Begleitung des Klaviers. Hrsg. von Marianne Helms. München 1988, Kritischer Bericht, S. 96 und 98. Auch belegen zahlreiche Briefe, wie intensiv er sich um die Anwerbung von Subskribenten in England kümmerte; vgl. Feder 1999 (Anm. 1), S. 152.
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ken Partitur. Lediglich beim Vertrieb unterstützte ihn sein Wiener Hauptverleger Artaria & Co. Für einen berühmten und nicht gerade unterbeschäftigten Komponisten wie Haydn ist dies ein ungewöhnliches Vorgehen, auch bei seinen Zeitgenossen Mozart und Beethoven gibt es keinen vergleichbaren Fall des Selbstverlags.4 Wie kam es zu diesem Entschluß? Eine erste Antwort liefert das Subskriptionsangebot selbst: Der Beyfall, den mein Oratorium: die Schöpfung allhier zu erhalten das Glück hatte, und der in dem 16. Stücke der Musikalischen Zeitung geäusserte Wunsch, daß dessen Bekanntmachung nicht, wie es bisher zu oft geschah, den Ausländern überlassen seyn möge, haben mich bewogen, diese selbst zu veranstalten.5
Ist der große Erfolg des im Jahr zuvor in Wien uraufgeführten Werkes ein unmittelbar einleuchtendes Argument, so bedarf der in der „Musikalischen Zeitung geäusserte Wunsch“ einer Erklärung: Haydn bezieht sich hier auf eine redaktionelle Notiz in der von Breitkopf & Härtel herausgegebenen Allgemeinen musikalischen Zeitung – und verschweigt zugleich diskret, daß diese einen unautorisierten Abdruck eines kleinen Ausschnitts aus der Schöpfung begleitet hatte. Der erste Teil des Allegro-Abschnitts6 „Der thauende Morgen“ aus dem Duett Nr. 32 „Holde Gattin/Theurer Gatte“7 war im Januar 1799 als zweiseitige Musikbeilage im Klavierauszug abgedruckt worden – basierend auf einer nach Gehör erfolgten Niederschrift eines an der Uraufführung beteiligten Musikers (wie der Verlag später kleinlaut eingestehen mußte).8 Und bereits wenige Wochen später, am 20. März 1799 – just einen Tag nach der gefeierten öffentlichen Uraufführung der Schöpfung im Burgtheater –, war dasselbe Duett vom Verleger Johann Traeg als Einzelausgabe in der Wiener Zeitung angekündigt worden.9 Dies war ein unmißverständliches Signal für Haydn. Wollte er nicht um die 4
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Zwar findet sich in Mozarts Brief vom 20. Februar 1784 an den Vater ein Hinweis, daß er überlege, Klavierkonzerte auf eigene Kosten stechen zu lassen (Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe. Gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch. Bd. 3: 1780–1786. Kassel (u.a.) 1963, Brief Nr. 776; hier S. 302), aber eine solche selbstverantwortete Ausgabe ist weder im Köchel-Verzeichnis noch bei Gertraud Haberkamp (Die Erstdrucke der Werke von Wolfgang Amadeus Mozart. Tutzing 1986) erwähnt. Auch die von Beethoven selbst initiierte Ausgabe seiner Klaviertrios Opus 1 (1795 mit Artaria) ist nicht als Selbstverlag zu bewerten, wie Friedrike Grigat vom Bonner Beethoven-Haus freundlicherweise bestätigte. Hier zitiert nach Feder 1999 (Anm. 1), S. 151. Es handelt es sich um die Takte 72–174 des Duetts. Die (nicht auf Haydn zurückgehende) Numerierung der einzelnen Sätze folgt derjenigen, die in den meisten modernen Ausgaben sowie von Feder 1999 (Anm. 1) gebraucht wird. Allgemeine musikalische Zeitung II (1799), Sp. 441. Vgl. Alexander Weinmann: Die Anzeigen des Kopiaturbetriebes Johann Traeg in der Wiener Zeitung zwischen 1782 und 1805. Wien 1981 (Wiener Archivstudien, VI), S. 75; dagegen erwähnt Feder nur die folgenden beiden Anzeigen vom 23. und 27. März 1799; Feder 1999 (Anm. 1), S. 150.
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Früchte seiner Arbeit gebracht werden, mußte er sein Werk schnellstens selbst verbreiten. Die in der redaktionellen Notiz formulierte Sorge des Verlags Breitkopf & Härtel wiederum, daß die Publikation „den Ausländern überlassen“ werde, war durchaus begründet: Schließlich hatte Haydn seit Anfang der 90er Jahre enge Verbindungen zu englischen und französischen Verlegern. Namentlich mit dem englischen Musikmarkt, der damals wesentlich flexibler und ökonomisch erfolgreicher als der deutsche war, verbanden ihn auch vertragliche Verpflichtungen.10 Und gerade ein englisches Interesse an der Schöpfung war durchaus zu vermuten, denn von dort kam nicht nur die Textvorlage, sondern auch der ursprüngliche Auftrag zu dem Werk.11 Die Schöpfung war von Anfang an auch zur Aufführung in England gedacht und als ein zweisprachiges deutsch-englisches Werk geplant.12 Ihre Drucklegung geschah sicherlich auch mit Blick auf den englischen Markt – wovon nicht zuletzt das zweisprachige Titelblatt der Originalausgabe Zeugnis ablegt (vgl. Abb.1).
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Vgl. beispielsweise den Exklusivvertrag mit Longman & Broderip von 1794; Jens Peter Larsen: Die Haydn-Überlieferung. Mit einem Vorwort des Verfassers zur Neuausgabe. München 1980, S. 134. Zum englischen Musikaliendruck und -verlagswesen vgl. Charles Humphries und William C. Smith: Music Publishing in the British Isles From the Earliest Times to the Middle of the Nineteenth Century. London 1954, „Introduction“. Gottfried van Swieten zufolge erhielt Haydn das Libretto in London „mit dem Wunsch, es von ihm in Musik gesetzt zu erhalten“ (Allgemeine musikalische Zeitung I [1798], Sp. 254), also als Grundlage eines Auftragswerkes. Als Übermittler des Librettos und ursprünglichen Auftraggeber nennen die frühen Biographen Griesinger und Dies übereinstimmend Haydns Londoner Konzertmanager Johann Peter Salomon; dieser versuchte später auch, entsprechende Rechte einzuklagen (vgl. Feder 1999 [Anm. 1], S. 124 und 143). Den bezahlten Kompositionsauftrag für das Oratorium erhielt Haydn 1796 in Wien durch Gottfried van Swieten für die Gesellschaft der „Assoziierten Kavaliere“, die regelmäßige Oratorienaufführungen veranstaltete. Immanenter Hinweis ist die sorgfältige Berücksichtigung des kanonisierten englischen Bibeltextes bei Einrichtung des deutschen Textes durch Gottfried van Swieten. Während der englische Text wörtlich der King James Bible entspricht, läßt die deutsche Übersetzung sich nicht eindeutig auf eine der vor 1800 verbreiteten Bibelübersetzungen zurückführen (Feder 1999 [Anm. 1], S. 132), sondern ist in Reihenfolge und Betonung der Worte offensichtlich am englischen Text entlangübersetzt. Nur so würden die von Haydn ,deutsch‘ komponierten Rezitative auch für die englische Fassung zu gebrauchen sein. Daß das Werk auch in englischer Sprache musiziert werden sollte, klingt indirekt an, wenn van Swieten schreibt, er habe seinen deutschen Text zur Schöpfung erstellt, „um den ersten [also nicht den einzigen, A.O.] Genuß davon unserm Vaterlande zu verschaffen“ (Allgemeine musikalische Zeitung I [1798], Sp. 254). Weiterer Beleg ist die intensive gemeinsame Arbeit an der zweisprachigen Fassung, die durch zahlreiche Textänderungen von Haydn und van Swieten in Haydns Dirigierpartitur dokumentiert ist. Vgl. auch Annette Oppermann: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für den Leser – Wozu braucht man eine historisch-kritische Ausgabe der Schöpfung? In: Österreichische Musikzeitschrift, 60/6–7 (2005), S. 25–33, hier S. 28–30.
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Abb. 1: Titelblatt der Originalausgabe (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, S.A.25.Aa.9)
Daß Haydn die Drucklegung weder einem ausländischen noch einem deutschen Verleger überließ, sondern diese selbst verantwortete, hat sicherlich auch und vor allem pekuniäre Gründe: Angesichts des immensen Interesses an der Schöpfung war eine großen Nachfrage zu erwarten (in der Tat registriert bereits die gedruckte Subskribentenliste über 400 Namen und mehr als 500 bestellte Exemplare). Angeblich war beim Verkauf von 1000 Exemplaren mit einem Ge-
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winn von ca. 9000 Gulden zu rechnen13 – was immerhin mehr als fünf Jahresgehältern des Esterha´zyschen Kapellmeisters entsprach.14 Die Zahl 1000 bezeichnet dabei nicht nur die durchschnittliche Abzugshöhe der in Wien verwendeten Stichplatten aus Zink,15 sondern sie liegt wohl auch relativ nah am realen Absatz der Ausgabe. Haydns Biograph Griesinger zufolge waren im März 1801 knapp 800 Exemplare hergestellt worden.16 Ein weiterer Grund war sicherlich, daß eine Publikation bei Haydns bevorzugtem Wiener Verleger Artaria nicht in Frage kam, weil der Verlag sich damals in einer schweren Krise befand und zudem ein so großes Werk nicht in sein Verlagsprogramm paßte.17 Nach Leipzig zu Breitkopf & Härtel oder gar zu Verlegern in London oder Paris waren die Wege so weit, daß die Drucklegung sich wesentlich verzögert hätte – und die Gefahr von Raubkopien und unerlaubten Vorveröffentlichungen durch andere Parteien bestand. Der in unserem Zusammenhang interessanteste Aspekt ist jedoch, daß die Kontrolle der Drucklegung über eine so weite Entfernung hinweg sehr mühsam gewesen wäre. Daß Haydn zwar ein schlechter Korrekturleser war, aber gleichwohl großen Wert auf einen fehlerfreien und gerade hinsichtlich der Vortragsangaben exakten Text in seinen Druckausgaben legte, ist hinlänglich bekannt.18 Die eigene Herstellung sollte also möglicherweise auch eine optimale Vorbereitung und Korrektur des Druckes garantieren und – last but not least: die Publikationsform als große Partitur mit zweisprachiger Textierung, denn diesen Aufwand hätte ein einheimischer Verleger womöglich gescheut. Gedruckte Partiturausgaben waren damals auf dem deutschen Markt alles andere als üblich; große Vokalwerke wurden wenn überhaupt, so im Klavierauszug veröffentlicht – was einen viel geringeren drucktechnischen Aufwand bedeutete und trotzdem eine Aufführungsgrundlage bot. Die uns heute so selbst13 14 15
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So lautet die Einschätzung von Gottfried van Swieten; vgl. Feder 1999 (Anm. 1), S. 155. Im Jahr 1797 hatte Haydns Jahresgehalt 1700 Gulden betragen; vgl. Feder 1999 (Anm. 1), S. 136. Sie waren wesentlich härter als die gemeinhin für den Musikalienstich gebräuchlichen Pewteroder Zinn-Platten; vgl. D. W. Krummel: Guide for Dating Early Published Music. A Manual of Bibliographical Practices. Kassel (u.a.) 1974, S. 35. Griesinger schreibt am 25. März 1801 an Breitkopf & Härtel: „Bis jetzt sind noch nicht 800 Exemplare gedrukt, die Platten müssen noch in bestem Zustand seyn [...].“ (Zitiert nach: „Eben komme ich von Haydn ...“. Georg August Griesingers Korrespondenz mit Joseph Haydns Verleger Breitkopf & Härtel 1799–1819. Hrsg. und kommentiert von Otto Biba. Zürich 1987, S. 60.). Vgl. Artikel „Artaria“. In: The Oxford Composer Companions: Haydn. Hrsg. von David Wyn Jones, S. 7–9, sowie zur geschäftlichen Situation des Verlags Franz Artaria u. Hugo Botstiber: Joseph Haydn und das Verlagshaus Artaria. Wien 1909, S. 71. Sein Briefwechsel mit Artaria belegt zudem, daß er über die zur Aufführung notwendigen Informationen hinaus auch kompositionsästhetischen Aspekten eine gewisse Bedeutung beimaß. So bestand er bei Drucklegung der Instrumentalfassung der Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze darauf, daß in der Ersten Violine jeweils die lateinischen Worte zu unterlegen seien (vgl. Joseph Haydn: Gesammelte Briefe und Aufzeichnungen. Unter Benützung der Quellensammlung von H. C. Robbins Landon hrsg. und erläutert von De´nes Bartha. Kassel (u.a.) 1965; Brief Nr. 78) – wodurch für den Musiker erst erfahrbar wird, daß die Eingangsmotive immer aus der Wortmelodie entwickelt sind, und zugleich der geistige Hintergrund des Satzes beschrieben ist.
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verständliche großformatige Partitur als Referenzausgabe eines Werkes kam erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts auf und ist vor allem auf drei Entwicklungen zurückzuführen: Die Aufhebung der Personalunion von Komponist und Dirigent, die eine möglichst komprimierte Vermittlung des vollständigen Werktextes erforderte; die Aufnahme der Musik in den kulturellen Bildungskanon, dessen Studium sich im Medium des Buches vollzog – das Pendant dazu war in der Musik eben die Partitur –; schließlich die mit dem Historismus aufkommende Vorstellung eines klassischen Repertoires und seiner notwendigen Bewahrung in repräsentativen „Denkmälerausgaben“. In England hatte insbesondere die letztgenannte Entwicklung schon früher eingesetzt: Bereits seit Jahrhundertmitte lagen Händels Oratorien in gedruckten Partituren vor, und mit Samuel Arnolds bahnbrechendem Projekt der Works of Handel, in Score, Correct, Uniform and Complete war hier schon in den 1780er Jahren eine erste Gesamtausgabe begonnen worden,19 auch gab es hier bereits im 18. Jahrhundert „denkmälerähnliche Veröffentlichungen“.20 Es scheint durchaus plausibel, daß Haydns Wunsch, die Schöpfung in Partitur zu publizieren, aus der Kenntnis des englischen Musikmarktes herrührte. Schließlich war die englische Händeltradition ein Auslöser für die Komposition. In Haydns Subskriptionsankündigung klingen alle drei genannten Aspekte an, wenn es heißt, das Werk erscheine „auf gutem Papiere abgedruckt [...] in vollständiger Partitur, damit eines Theils meine Arbeit in ihrem ganzen Umfange dem Publikum vorgelegt, und so der Kenner sie zu übersehen und zu beurtheilen in Stand gesetzt, anderen Theils für den Fall, da man irgendwo das Werk aufführen wollte, die Ausziehung der Stimmen erleichtert werde“.21 Er wendet sich also explizit an den „Kenner“, der das Werk (lesend) studieren will, und an den Musiker, der es „irgendwo“ (ohne Mitwirkung des Komponisten) aufführen will. Folgerichtig wählt Haydn die Erscheinungsform in Partitur: Sie allein kann durch die simultane Präsentation aller beteiligten Stimmen Studiums- und Musiziergrundlage zugleich sein. Zudem orientiert sich der gehobene repräsentative Anspruch der Partitur – auf „gutem Papier“, im großen Folioformat22 und mit einem gedruckten Subskribentenverzeichnis ausgestattet – erkennbar an der Idee des musikalischen Denkmals.
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Vgl. Jacob M. Coopersmith: The first Gesamtausgabe: Dr. Arnold’s Edition of Handel’s Works. In: Music Library Association Notes, 4 (1946/47), S. 277–292, 439–449. Vgl. Dietrich Berke: Artikel „Denkmäler und Gesamtausgaben“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neu bearbeitete Ausgabe hrsg. von Ludwig Finscher. Sachteil Bd. 2, Sp. 1109–1156; hier Sp. 1112. Zitiert nach Feder 1999 (Anm. 1), S. 151. Unbeschnittene Exemplare der Originalausgabe haben ausnahmsweise Maße von 50 x 34 cm (beispielsweise das Exemplar Wien, Österreichische Nationalbibliothek, S.A. 25.Aa.9); in der Regel sind die Bände auf ca. 35 x 27 cm beschnitten.
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Die sorgfältige Vorbereitung des Druckes ist dokumentiert durch die noch heute erhaltene Stichvorlage zur Originalausgabe,23 die in der Haydn-Überlieferung ein Unikum darstellt. Es handelt sich dabei nämlich nicht um eine schlichte Abschrift der querformatigen Dirigierpartitur aus Haydns Besitz,24 sondern um eine für jeden Satz individuell disponierte Partitur im Hochformat, nach der die Originalausgabe dann seiten- und zeilengetreu gestochen wurde (vgl. Abb. 2). Die von Haydns Diener und persönlichem Kopisten Johann Elßler geschriebene Stichvorlage dokumentiert damit den sonst verlagsseitigen Vorgang des Einrichtens für den Druck. Durch das Weglassen nicht benötigter Systeme innerhalb eines größer besetzten Satzes können auf einer Partiturseite bis zu vier Akkoladen stehen, wodurch die über 600 Seiten der durchgängig mit 16 Systemen rastrierten Dirigierpartitur in der Stichvorlage
Abb. 2: Anfang der Arie Nr. 15 „Auf starkem Fittige“ in Stichvorlage (Wien, Gesellschaft der Musikfreunde) und Originalausgabe (Wien, Österreichische Nationalbibliothek)
23 24
Wien, Gesellschaft der Musikfreunde, III 7938 (H 27405). Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Abteilung, Mus. ms. 9851. Die dreibändige Kopistenpartitur stammt aus Haydns eigener Bibliothek. Übereinstimmende aufführungspraktische Einträge in dieser Partitur und dem zeitgenössischen Wiener Aufführungsmaterial legen die Vermutung nahe, daß Haydn diese Partitur auch bei Aufführungen benutzte, weswegen sie hier als Dirigierpartitur bezeichnet wird. Vgl. zur frühen handschriftlichen Überlieferung der Schöpfung neben der knappen Darstellung in Feder 1999 (Anm. 1), S. 242–244, vor allem den Abschnitt „Sources“ im Revisionsbericht von Peter A. Browns kritischer Ausgabe der Schöpfung (Partitur, Oxford: Oxford University Press, 1995), S. 328–330, sowie Oppermann 2005 (Anm. 12), S. 28f.
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auf die Hälfte zusammenschrumpfen – eine Umfangsreduktion, die den Kaufpreis der gedruckten Partitur und damit ihren Absatz wesentlich beeinflussen würde.25 Freilich geht solche Ökonomie der Seitenausnutzung nicht ohne Einbußen in der Lesbarkeit vonstatten, wie das Beispiel der Sopranarie Nr. 15 „Auf Adlers Fittige“ zeigt (vgl. Abb. 3 und 4): Der in Haydns Dirigierpartitur auf einen Blick zu erfassende Wechsel zwischen vollem Bläsersatz und Einwürfen einzelner Bläser (Horn/Klarinette) ist in der Stichvorlage bzw. der Originalausgabe durch die wechselnde Anzahl und Nutzung der Systeme ungleich schwieriger nachzuvollziehen. Die komprimierte Notation verunklart hier die musikalische Struktur des Satzes – als deren Abbild eine Partitur fungieren sollte. Auf anderer Ebene scheint diese Funktion der Partitur allerdings berücksichtigt zu sein: Die erwähnten Systemeinsparungen finden sich nämlich überwiegend in den solistischen Sätzen, die den Schöpfungsbericht eines jeden Tages beschließenden großen Chorsätze dagegen sind meist durchgängig mit einer Akkolade (von bis zu 20 Systemen) pro Seite gesetzt, obwohl man auch hier durchaus Einsparungen hätte vornehmen können.26 Die großzügige Partitureinteilung für diese Sätze wird damit zum sinnfälligen Ausdruck für die ,tragende Rolle‘ des Chores im Oratorium – und spiegelt so auf der Ebene des Werkes durchaus die Struktur wider.
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Solche flexible Seitengestaltung von gedruckten Partituren findet sich im 18. Jahrhundert vor allem in gestochenen Partituren aus England (vgl. die in London bei John Walsh oder William Randall erschienenen Partituren der Oratorien Händels); während beispielsweise die in Deutschland später verbreiteten Typendruck-Ausgaben von Breitkopf & Härtel häufig eine gleichbleibende Akkoladenzahl aufweisen und folglich leere Systeme mitführen. Beispielsweise im Schlußchor des II. Teils (Nr. 28 „Vollendet ist das große Werk“), in der Originalausgabe S. 205–208.
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2 Corni
Clarinetto I Clarinetto II Flauto I Flauto II Fagotto I Fagotto II
Abb. 3: Notierung der Holzbläser Haydns Dirigierpartitur (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv); Arie Nr. 15 „Auf Adlers Fittige“, T. 36–49
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Clarinetti I/II Flauti I/II Fagotti I/II
Corni I/II
Clarinetti I/II Flauti I/II
Fagotti I/II
Abb. 4: Notierung der Holzbläser in der Stichvorlage (Wien, Gesellschaft der Musikfreunde); Arie Nr. 15 „Auf Adlers Fittige“, T. 28–49
Die Stichvorlage dokumentiert freilich nicht nur die äußerliche Einteilung für den Druck, sondern auch und vor allem die Revision des Werkes. Die Partitur weist zahlreiche Nachträge und Korrekturen auf, die allesamt in die Originalausgabe eingehen, aber nicht in das – auch weiterhin bei Aufführungen benutzte – Wiener Stimmenmaterial übertragen wurden. Haydn selbst musizierte sein Werk also nach der Revision nicht in der Fassung letzter Hand, die die Originalausgabe dokumentiert. Damit stellt sich diese Fassung letzter Hand als ein gezielt für den Druck und die überregionale Verbreitung der Schöpfung erstellter Werktext dar; die im Wiener Aufführungsmaterial konservierte Werkgestalt stellt daneben – zumindest zu Haydns Lebzeiten – eine durchaus gleichrangige ,lokale Aufführungsfassung‘ dar.
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Wie aber sieht diese Revision für die Drucklegung aus? Im Instrumentalsatz dienen kleinere Eingriffe der Vermeidung von Quint- oder Oktavparallelen, Dissonanzen oder übermäßigen Tonschritten. Sie können als Detailkorrekturen des musikalischen Satzes gedeutet werden, die freilich mitunter kaum hörbar, sondern nur im Lesetext zu erfassen sind.27 Hinzu kommt stellenweise eine Vervollständigung und Fortführung der im 18. Jahrhundert in der Regel nicht systematisch ausgeschriebenen Angaben zu Artikulation und Dynamik.28 Dies stellt ebenfalls keinen klanglichen Unterschied dar, sondern ist nur ein Ausnotieren der selbstverständlichen Aufführungspraxis. Es gibt aber auch größere, hörbare Veränderungen, wenn beispielsweise im Accompagnato-Abschnitt des Rezitativs Nr. 3 „Und Gott machte das Firmament“ die Variierung einer Spielfigur durch eine neue Figur ersetzt wird (vgl. Notenbeispiel 1, entsprechend auch Takt 29–30).
Notenbeispiel 1: Rezitativ Nr. 3, V.II, Takt 27–28, ursprüngliche Variante und endgültige Variante
Im Vokalsatz finden sich zahlreiche Eingriffe, die offenbar einer pointierteren Deklamation dienen. Dies geschieht einerseits durch Textänderungen wie im Schlußteil des Terzetts Nr. 18 „In holder Anmut stehn“, wo „Werke, Gott“ zu „Werk’, o Gott“ korrigiert wird. Durch diese Änderung vom abtaktigen Quartsprung in „Werke“ zum auftaktigen Sextsprung auf „o Gott“ wird das wichtige Wort „Gott“ besonders wirkungsvoll betont (vgl. Notenbeispiel 2; entsprechend in allen Singstimmen in Takt 98–104). Andererseits werden kleine rhythmische Modifikationen vorgenommen, wenn im biblischen „Und es ward so“ die Betonung von „so“ zu „ward“ verschoben wird (vgl. Notenbeispiel 3; entsprechend auch in Rezitativ Nr. 5, Takt 3, und Rezitativ Nr. 7, Takt 8)
27
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Beispielsweise im Solo mit Chor Nr. 4 „Mit Staunen sieht das Wunderwerk“ die Vermeidung einer Oktavparallele zwischen Flöte/Oboe II und Basso in Takt 7 durch Änderung der ersten Note 1 2 von Flöte/Oboe von h zu d . Beispielsweise in Arie Nr. 24 „Mit Würd’ und Hoheit angetan“ in Takt 2–5 die Übertragung der Artikulationsangaben in den Oboen auf die parallelgeführte Flöte oder im Terzett Nr. 18 „In holder Anmut stehn“ in Takt 12 die Übertragung des piano in den Bläsern auf die Streicher.
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Notenbeispiel 2: Terzett Nr. 18, Takt 98–100, Gabriel, ursprüngliche und endgültige Textierung
Notenbeispiel 3: Rezitativ Nr. 3, Takt 6, Raphael, ursprüngliche Variante und endgültige Variante
In manchen Fällen scheint auch eine gewisse Form der Vereinheitlichung angestrebt zu sein. So wird in allen drei Rezitativen des III. Teils der Singstimmeneinsatz konsequent durch Verkürzung des ersten Notenwerts zum nachschlagenden Einsatz geändert (vgl. Notenbeispiel 4; entsprechend auch Rezitativ Nr. 29, Takt 42, 51, 56; Rezitativ Nr. 31, Takt 1) – wie es an den entsprechenden Stellen im I. und II. Teil notiert ist. Durch diese Korrektur wird die erste Textsilbe jeweils von einer betonten (langen) zur unbetonten (kurzen) geändert – zugleich ist damit aber auch eine selbstverständliche Aufführungspraxis ausgeschrieben: Denn auch die ursprünglich notierte Variante wurde im Rezitativ traditionell mit nachschlagendem Einsatz der Singstimme musiziert. (Und vielleicht sollte dieses Ausschreiben einer aufführungspraktischen Selbstverständlichkeit sicherstellen, daß die Rezitative auch andernorts, von weniger kundigen Musikern, genau so ausgeführt wurden.)
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Notenbeispiel 4: Rezitativ Nr. 33, Takt 1–2, ursprüngliche Variante und endgültige Variante
Die zuletzt beschriebenen Änderungen wurden allerdings nicht in der Stichvorlage vorgenommen, sondern in die Dirigierpartitur Haydns eingetragen – also in die Vorlage der Stichvorlage. In der Stichvorlage sind sie bereits in der Grundschicht notiert. Daß auch diese Korrekturen in Haydns Dirigierpartitur zur Revision des Werkes für den Druck zu zählen sind, ist aus dem Revisionskontext zu schließen: Die rhythmischen Eingriffe sind ebenso wie eine penible Korrektur der Groß- und Kleinschreibung des Gesangstextes und eine systematische Änderung der Silbentrennung für Teil I und II der Schöpfung in der Stichvorlage, für Teil III jedoch in Haydns Dirigierpartitur eingetragen. Eine Erklärung hierfür könnte sein, daß die Revision während des Ausschreibens der Stichvorlage begonnen wurde: Während der Kopist Johann Elßler nach Band 1 und 2 der Dirigierpartitur (= Teil I und II des Oratoriums) bereits die Stichvorlage ausschrieb, wurde eine Revision der Rechtschreibung, Silbentrennung und Deklamation beschlossen und in Band 3 der Dirigierpartitur eingetragen – weswegen sie für diesen Teil in der Stichvorlage bereits von Johann Elßler in der Grundschicht notiert sind. Die Einträge gehören jedoch nicht nur sachlich zusammen, sie stammen auch vom selben Schreiber – und der heißt nicht Haydn, sondern Gottfried van Swieten. Van Swieten hatte auf Grundlage der heute verschollenen englischen Textvorlage das deutsch-englische Libretto zur Schöpfung erstellt. Als ein musikalisch und literarisch gebildeter, durch seine früheren Übersetzungen der Händelschen Oratorien außerordentlich versierter ,Textautor‘ war er in allen Fragen des Worttextes und seiner Vertonung eine dem ,Musikautor‘ Haydn gleichgestellte Instanz und maßgeblich an der Revision der Schöpfung für den Druck
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beteiligt. Griesinger berichtet von einem Gespräch, bei dem van Swieten ihm erklärte:29 Bey der Schöpfung habe er durch umgekehrte Noten die auf den Englischen Text passen in der Partitur nachgeholfen. Kenntnisse der Musik, des Sylbenmaßes, des Tonaccents der Worte sey hierbey so unentbehrlich, daß er dieses Geschäft und die glükliche Ausführung desselben keinem dritten zutraue.
Van Swietens strenge Ahndung von grammatikalischen oder metrischen Schwächen dichterischer Texte ist berüchtigt; der gerne „mit Adelung in der Hand“30 referierende Literat sprach und schrieb mehrere klassische und moderne Sprachen und war ein auch im Ausland anerkannter Poet.31 Es steht also durchaus zu vermuten, daß die Verbesserungen der Deklamation und des Worttextes von ihm nicht nur notiert, sondern auch initiiert wurden, so daß wir van Swieten nicht nur hinsichtlich der Textvorlage als Co-Autor der Schöpfung anzusehen haben, sondern auch und gerade als Co-Revisor. Auf van Swietens Konto geht auch die bereits erwähnte Revision der Silbentrennung zur phonetisch getrennten Schreibweise des Gesangstextes. Diese Schreibweise kann als gesangstechnische Lesehilfe verstanden werden, denn sie verdeutlicht die sängerische Grundregel, daß der oder die Endkonsonanten einer Silbe erst mit Beginn der neuen Silbe zu artikulieren sind (indem man statt „Ad-ler“ eben „A-dler“ spricht). Diese Notierungsweise ist im 18./19. Jahrhundert für Endsilben oder einsilbige Worte durchaus verbreitet.32 Helga Lühning zufolge wurde die Schreibweise auch von Beethoven praktiziert und findet „gelegentlich“ sogar Eingang in die Originalausgaben seiner Lieder.33 Beispiele für eine gedruckte Partitur eines groß besetzten Vokalwerks mit phonetischer Silbentrennung sind mir jedoch nicht bekannt.34 Swietens diesbezügliche Korrekturen durchziehen die gesamte Stichvorlage, sind aber trotzdem nicht vollständig (vgl. in Abb. 4 im Gesangstext die Rasuren und Korrekturen am Ende der 1. Akkolade, zu Beginn und in der Mitte der 2. Akkolade sowie zu Beginn der 3. Akkolade; bei dem in der Mitte der 3. Akkolade zweimal auftretenden Wort „Son-ne“ hingegen bleibt die orthographische Trennung unkorrigiert). Welchen 29 30
31
32 33
34
Brief vom 24. Oktober 1801 an Breitkopf & Härtel; zitiert nach Biba 1987 (Anm. 16), S. 100. Griesinger im Brief vom 25. März 1801 an Breitkopf & Härtel; zitiert nach Biba 1987 (Anm. 16), S. 59. Zu van Swietens Persönlichkeit und Bildung vgl. neben Otto Biba: Gottfried van Swieten. In: Europas Musikgeschichte. Grenzen und Öffnungen. Vorträge des Europäischen Musikfestes Stuttgart 1993. Kassel 1997, S. 120–137, auch Georg Heilingsetzer: Politik, Gesellschaft und Kultur im Jahre 1798. Die historischen Rahmenbedingungen von Haydns Schöpfung. In: Wiener Geschichtsblätter, 54 (1999), S. 101–115. Sie findet sich beispielsweise auch im Wiener Uraufführungsmaterial zu den Jahreszeiten. Vgl. Beethoven Werke. Abteilung XII. Bd. I: Lieder und Gesänge mit Klavierbegleitung. Hrsg. von Helga Lühning. München 1990, S. XVII. Auch unter den zahlreichen Beispielen in Krummel 1974 (Anm. 15), S. 133–142, findet sich keine entsprechende Ausgabe.
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Stellenwert dieser Aspekt der Revision hatte, zeigt sich daran, daß noch während der Herstellung der Originalausgabe weiterkorrigiert wurde, wie man an entsprechenden Plattenkorrekturen feststellen kann (vgl. Abb. 5, wo das am Ende der ersten Silbe herausgeschlagene „n“ in „wa-nted“ bzw. „Ga-nzen“ in einem späten Abzug von der Stichplatte wieder sichtbar wird).
Abb. 5: Plattenkorrektur in einem späten Exemplar der Originalausgabe (spätes Exemplar, Joseph Haydn-Institut, Köln)
Diese nur aus der Perspektive der Praxis zu begründende Maßnahme sollte offensichtlich bei Auszug der Vokalstimmen für eine Aufführung sogleich die sängerisch richtige Unterlegung des Textes garantieren. Sie gehört damit in den gleichen Kontext wie die Vervollständigungen im Bereich von Artikulation und Dynamik und ist ein weiterer Hinweis auf die große Bedeutung der Partitur als Lieferant des optimalen Aufführungstextes – denn aus ihr würden bei auswärtigen Aufführungen ja sämtliche Einzelstimmen abgeschrieben werden. Diese ,Präzisierung‘ des Notentextes hinsichtlich seiner Ausführung scheint eine der maßgeblichen Zielsetzungen der Revision für den Druck gewesen zu sein: Der Autor bzw. die Autoren unterziehen hier weniger das (klingende) Werk einer letzten kritischen Überprüfung, als vielmehr seine Textgestalt. Diesen Text gilt es zu optimieren, bevor das Werk in die Welt (und Nachwelt) entlassen wird – damit der Kenner bei der kritischen Lektüre nicht auf marginale Satzfehler stößt (die in Wien jedoch weiterhin musiziert wurden) und damit der Musiker das Werk möglichst so vorträgt, wie Haydn und van Swieten es sich wünschten. Daß die dafür im Selbstverlag der Originalausgabe aufgewandte Mühe sich gelohnt
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hat, ist hinlänglich bewiesen: In dieser gedruckten Partitur trat die Schöpfung ihre Reise um die Welt an, die sie im Sturm erobern sollte.35 Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurden Exemplare der Originalausgabe von den (inzwischen an Breitkopf & Härtel übergegangenen) Platten gedruckt; die Kanonisierung der Partitur als Referenztext der Schöpfung ist Haydn gelungen.
35
Vgl. die eindrucksvolle Liste der frühen „Aufführungen in aller Welt“ bei Feder 1999 (Anm. 1), S. 159.
Rainer Falk Neuheit und Wahrheit – Friedrich Nicolai als Editor seiner Anekdoten von König Friedrich II. von Preussen
Die Xenien haben Friedrich Nicolais Leumund bekanntlich nicht gutgetan. Wie nachhaltig die Invektiven aus Weimar das Bild bestimmten, das die Nachwelt sich auch vom Editor Nicolai machte, belegt der Band 159 aus der Reihe InselBücherei, der erstmals 1915 erschien. Das Büchlein verrät weder auf dem Einband noch auf dem Titelblatt den Namen eines Verfassers oder Herausgebers der Texte, die hier unter dem Titel Anekdoten von Friedrich dem Großen versammelt sind. Daß es sich bei der Sammlung um eine Auswahl aus den Anekdoten von König Friedrich II. von Preussen, und von einigen Personen, die um Ihn waren handelt,1 die Nicolai zwischen 1788 und 1792 in sechs Heften veröffentlichte, erfährt der Leser erst aus dem ,Nachwort des Herausgebers‘, das von einem Emil Schaeffer gezeichnet ist. Schaeffer skizziert darin das überkommene Bild Nicolais als des „amusischen Vernunftapostel[s]“2 und zitiert auch eine der Xenien. Es handelt sich um Xenie Nr. 143, die – und fast genauso zitiert Schaeffer sie – folgenden Wortlaut hat: Von dem unsterblichen Friedrich, dem einzigen, handelt in diesen Blättern der zehenmalzehn tausendste sterbliche Fritz.3
Schaeffer mobilisiert diese Xenie nun auf ein wenig befremdliche Weise gegen den Herausgeber Nicolai, dem er die eigene Sammlung doch vollständig verdankt. Er schreibt: Sollten [...] diese Anekdoten uns von heute wieder etwas bedeuten, so mußte, wie es hier geschah, Nicolai aus Nicolais eigenem Buche verbannt, [...] der zehnmalzehntausendste Fritz zum Schweigen gebracht werden, auf daß Friedrich der Einzige zu uns sprechen könne.4 1
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Das gilt nur für die ersten vier Auflagen des Bandes; spätere bieten eine andere Textauswahl, die von anderen Herausgebern – Arthur Schurig (5.–9. Auflage) und Reinhold Schneider (10.–15. Auflage) – besorgt worden ist. Titel und Reihennummer sind gleichwohl beibehalten. Emil Schaeffer: Nachwort des Herausgebers. In: Anekdoten von Friedrich dem Großen. Mit sechs Holzschnitten von Adolph Menzel. [Hrsg. von Emil Schaeffer.] Leipzig 1915 (= Insel-Bücherei 159), S. 76f., hier S. 76. Johann Wolfgang von Goethe: Xenien. In: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Bd. I/5.1. Weimar 1893, S. 203–265, hier S. 225. Bei Schaeffer heißt es im Zitat fälschlich „zehnmaltausendste“, im folgenden aber richtig „zehnmalzehntausendste“. (Schaeffer 1915 [Anm. 2], S. 77). Schaeffer 1915 (Anm. 2), S. 77.
Friedrich Nicolai als Editor seiner „Anekdoten von König Friedrich II. von Preussen“
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Was hier jenseits der auf die Person gehenden Despektierlichkeit programmatisch formuliert ist, könnte man als ,editorischen Exorzismus‘ bezeichnen. Leider führt Schaeffer nicht weiter aus, wie er bei seiner ,Nicolaiaustreibung‘ vorgegangen sein will; auch an der Ausgabe selbst – die freilich keine wissenschaftliche zu sein beansprucht – lassen sich Richtlinien dafür nicht ablesen. Augenscheinlich aber hat Schaeffer sich dazu imstande gesehen, zwischen etwas ,authentisch Friderizianischem‘ einerseits und von Nicolai herrührenden ,Kontaminationen‘ andererseits zu unterscheiden – eine Aufgabe, vor die sich gewissermaßen auch eine kritische Edition von Nicolais Anekdoten gestellt sieht5 und die nicht zuletzt vom prekären Status der Gattung Anekdote herrührt. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Anekdote hat vergleichsweise spät eingesetzt und ist lange Zeit auf ihre literarisch-künstlerischen Repräsentanten, vor allem die Anekdoten Kleists, beschränkt geblieben. Ein an diesen als idealtypisch betrachteten Vertretern orientierter Gattungsbegriff – die Anekdote als „kurze, schmucklose, oft in e[inem] heiteren Ausspruch gipfelnde Erzählung zur scharfen Charakterisierung e[iner] histor[ischen] Persönlichkeit“6 – wird weithin noch immer als verbindlich angesehen und bedenkenlos auch auf die im 18. Jahrhundert vor allem in Historiographie und Publizistik zahlreich erschienenen Anekdoten angewandt. Die Folge davon ist, daß selbst ein Autor, für den „die Bedeutung der Nicolai’schen Sammlung für die Geschichte der Gattung außer Frage steht“, zwar einräumt, „daß ihr [...] ein sehr weit und kaum literarisch gefaßter Anekdotenbegriff zugrundeliegt“,7 sie aber gleichwohl an solchen literarästhetischen Formprinzipien mißt und schlußendlich der „erzählerische[n] Naivität“ Nicolais die „künstlerische [...] Virtuosität“ Kleists gegenüberstellt.8 Tatsächlich sind es weniger formale als inhaltliche Gesichtspunkte gewesen, die Nicolai dazu bewogen haben, seine Erzählungen von Friedrich II. als ,Anekdoten‘ zu bezeichnen, wie seine diesbezüglichen Überlegungen erkennen lassen, die er in der ,Vorrede‘ zu den Anekdoten unter Bezugnahme auf und in Auseinandersetzung mit Johann Georg Büschs Aufsatz Ueber Anekdoten, insonderheit über die Anekdoten unserer Zeit9 entwickelt. Dabei hebt Nicolai in erster Linie auf die Kategorie der Neuheit ab, was der buchstäblichen Bedeutung des Begriffs Anekdote entspricht, wie er im 18. Jahrhundert als publikations5
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Sie ist geplant als Bd. 9 von Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Berlin u.a. 1991ff. (Die Ausgabe wird im Verlag Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt, fortgesetzt.) Gero von Wilpert: Art. „Anekdote“. In: Ders.: Sachwörterbuch der Literatur. 7. Auflage. Stuttgart 1989 (= Kröners Taschenausgabe 231), S. 31. Volker Weber: Anekdote. Die andere Geschichte. Erscheinungsformen der Anekdote in der deutschen Literatur, Geschichtsschreibung und Philosophie. Tübingen 1993 (= Stauffenburg Colloquium 26), S. 59. Weber 1993 (Anm. 7), S. 99. Johann Georg Büsch: Ueber Anekdoten, insonderheit über die Anekdoten unserer Zeit. In: Niederelbisches historisch-politisch-litterarisches Magazin 4 (1787), S. 272–286.
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technischer Ausdruck für ,nicht Herausgegebenes‘ (griech. αÆ ν-ε κδοτα) vor allem in der Historiographie geläufig war. Entsprechend erklärt Nicolai, „[w]as schon gedruckt ist, [...] wissentlich nicht nochmals erzählen“ zu wollen – ein Prinzip, das nur für den Fall eingeschränkt werden soll, „daß eine wahre Geschichte in einem Buche stände, wo man sie nicht sucht“.10 Indirekt kritisiert er damit die Herausgeber anderer Sammlungen, die keine Anekdoten im wörtlichen Sinne lieferten. Einem historiographischen Interesse ist auch der Nachdruck zuzuordnen, mit dem Nicolai betont, daß für ihn „bey Erzählung jeder Begebenheit [...] die Wa h r h e i t die Hauptsache“ sei,11 was sich ebenso in seinem Bemühen zeigt, „bereits gedruckte Anekdoten [...] der Wahrheit näher zu bringen“.12 Hierzu dient die Rubrik ,Zweifel und Berichtigungen über schon gedruckte Anekdoten von König Friedrich II.‘ am Ende eines jeden Anekdoten-Hefts. Auch seine eigenen Anekdoten möchte Nicolai kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft wissen und beteuert, daß ihm, falls er selbst „irgend worinn geirrt habe [...], Berichtigungen angenehm“ seien.13 Daß Anekdoten ,wahr‘ im Sinne von ,historisch verbürgt‘ zu sein haben, ist in der literaturwissenschaftlichen Gattungsdiskussion keineswegs unumstritten.14 Aus den formalen Konsequenzen, die Nicolai aus dieser inhaltlichen Forderung zieht, geht jedoch hervor, warum seine Sammlung dem zitierten Gattungsbegriff nicht entsprechen kann. Um nämlich dem postulierten Wahrheitsanspruch gerecht zu werden, dürfen Anekdoten Nicolai zufolge „nicht so aus dem Zusammenhange gerissen seyn [...], daß sie entweder nicht verständlich sind, oder auf Charakter und Begebenheiten ein schiefes Licht werfen“.15 Den üblichen Verzicht auf erläuternde Passagen erklärt Nicolai mit der Absicht der meisten Herausgeber, daß ihre „Anekdoten durch die Sonderbarkeit reizen sollen“;16 umgekehrt wird gegen seine Anekdoten eingewandt, sein „Wahrheitspostulat legitimier[e] die Erwähnung von Details, die die Pointe deutlich abschwächen“.17 Nicolais Überlegungen dürfen als frühe Ansätze einer methodischen Reflexion historischer Quellenkritik gelten;18 zugleich können sie als die editorischen 10
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Anekdoten von König Friedrich II. von Preussen, und von einigen Personen, die um Ihn waren. Nebst Berichtigung einiger schon gedrukten Anekdoten. Hrsg. von Friedrich Nicolai. H. 1. Berlin / Stettin 1788, S. XXV. Nicolai 1788 (Anm. 10), S. XXVII. Ebenda, S. XXVIII. Ebenda, S. 85. Vgl. die Zusammenfassung der Diskussion in: Hans Peter Neureuter: Zur Theorie der Anekdote. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1973), S. 458–480, hier S. 463–467. Nicolai 1788 (Anm. 10), S. XXVII. Ebenda, S. XXVII. Weber 1993 (Anm. 7), S. 61. Vgl. Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai. Berlin 1974 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 15), S. 331–338.
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Richtlinien für seine Anekdoten-Ausgabe verstanden werden. So zielt das Prinzip der Neuheit auf die Frage der Beschaffung des Materials: Da bereits erschienene Sammlungen als Vorlage wegfallen, ist Nicolai auf die Berichte von Augenzeugen angewiesen. Insbesondere von seinen drei in der ,Vorrede‘ namentlich angeführten Hauptgewährsmännern scheint ihm das Material im persönlichen Gespräch vermittelt worden zu sein. Im allgemeinen wird man zwischen der mündlichen Überlieferung und der Herausgabe der Anekdoten eine schriftliche Zwischenstufe in Form von Gesprächsaufzeichnungen annehmen können, wie es sich auch im Text verschiedentlich andeutet.19 Ab dem zweiten der sechs Anekdoten-Hefte wird Nicolais Material noch dadurch erweitert und ergänzt, daß ihm „glaubwürdige Personen [...] einige Beyträge mittheilen“,20 wie er es in der ,Vorrede‘ zur Voraussetzung dafür gemacht hat, die Veröffentlichung seiner eigenen Kenntnisse fortzusetzen. Die namentliche Bekanntmachung des jeweiligen Zeugen am Ende jeder mündlich oder schriftlich gelieferten Anekdote wiederum soll deren Wahrheitsgehalt verbürgen. Nur für Fälle, in denen die Quelle „aus der Erzählung selbst erhellet“ oder er einen „glaubwürdigen Zeugen nicht nennen kann“, führt Nicolai „das Zeichen – *“ ein.21 Folgerichtig steht auch Nicolais Name, anders als bei den sonst anonym erschienenen Anekdoten-Sammlungen, auf dem Titelblatt seiner Anekdoten-Hefte: Schließlich stammen die Erzählungen, wie er in der ,Vorrede‘ schreibt, „nicht nur anfänglich aus sichern Quellen“, sondern er selbst habe „verschiedene noch lebende Personen [...] über manches abermals befragt“ und „über manches in Büchern sowohl als auch in Handschriften und Akten nachgeschlagen, und auch kleine Umstände dadurch zu verificiren gesucht“.22 Was dieser kritischen Prüfung nicht standgehalten hat, scheint Nicolai verworfen zu haben. Damit stellt sich das Wahrheitspostulat als das maßgebliche Kriterium der Textauswahl dar. Seine Aufgabe sieht Nicolai ferner darin, den geforderten Zusammenhang durch die Anordnung der Texte und nötigenfalls ihre Erläuterung herzustellen, wofür anderen Herausgebern nach seiner erklärten Meinung häufig „die Gabe der Darstellung“ und „die Beurtheilungskraft, zu überlegen, mit welchen andern Begebenheiten eine erzählte Anekdote müsse zusammengehangen haben“, fehlten.23 Für die kritische Edition von Nicolais Anekdoten bieten die dargestellten Richtlinien seiner Ausgabe Hinweise darauf, wie bei der Rekonstruktion der Werkentstehung vorzugehen ist. Zu überprüfen, ob tatsächlich keine vorher bereits veröffentlichte Anekdote in Nicolais Sammlung erschienen ist, stellt freilich eine Aufgabe dar, die angesichts der ungeheuren Menge an Anekdoten19 20 21 22 23
Vgl. z.B. Nicolai 1788 (Anm. 10), S. XXII und 91. Nicolai 1788 (Anm. 10), S. XXIV. Ebenda, S. XXVIII. Ebenda, S. XXVIII. Ebenda, S. XXVII.
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Literatur, die im ausgehenden 18. Jahrhundert im Druck erschien, nicht abschließend gelöst werden dürfte. Aussichtsreicher erscheint es dagegen, sich Nicolais umfangreichem und bislang nur wenig erschlossenem Nachlaß zu widmen, der im Laufe des 19. Jahrhunderts größtenteils in den Besitz der Königlichen Bibliothek Berlin, der Vorgängerin der heutigen Staatsbibliothek, gelangt ist. Von diesem Bestand sind nach den kriegsbedingten Auslagerungen hauptsächlich 89 Bände mit knapp 20.000 Briefen noch erhalten. Dafür, daß sich unter den zerstörten oder verschollenen Teilen des Nachlasses Konzepthandschriften seiner Werke befunden hätten, gibt es keinerlei Belege. Nachweislich war aber noch im Jahr 1895 eine „Mappe mit ,Papieren zu den Anekdoten über Friedrich II.‘“ im Besitz der Nachkommen Nicolais, worin „Stoff und Vorrat [...] noch zu vielen Heften“ gewesen sein soll – zahlreiche „Briefe, die er [Nicolai] wegen seiner ,Anekdoten‘ mit den Männern wechselte, bei denen er lebendige Kenntnis der Persönlichkeit und der Thaten des Großen Königs voraussetzen durfte“.24 Der Verbleib dieser Mappe ist unbekannt; sie befindet sich nicht im Familiennachlaß Nicolai-Parthey, den das Landesarchiv Berlin nach dem Krieg angekauft hat. Nicht erst angesichts dieser Überlieferungslage wird der Briefnachlaß zur maßgeblichen Grundlage für jeden Versuch, die editorische Tätigkeit Nicolais detailliert nachzuvollziehen. Die Hoffnung, durch die namentliche Nennung seiner „glaubwürdigen Zeugen“ eine Art Findbuch für den Briefnachlaß an der Hand zu haben, erwies sich dabei jedoch schnell als trügerisch: Tatsächlich verhält es sich so, daß Nicolai bei nur 11 von 94 mit römischen Ziffern durchnumerierten Anekdoten seinen Gewährsmann überhaupt nennt oder nennen konnte. Selbst ein so privilegierter Autor wie Nicolai, dem aufgrund persönlicher Kontakte sogar das Königliche Archiv zugänglich war, mußte sich augenscheinlich „der Geheimhaltungspraxis des absoluten Staates anpassen, um dann sein Wissen möglichst so zu publizieren, daß die Quelle unbekannt bl[ie]b[...], zumindest solange der Informant noch lebt[e]“.25 Erst durch Sichtung des gesamten Nachlasses ist es schließlich gelungen, Briefe zu finden, in denen auf Anekdoten-Material zumindest hingedeutet wird – sei es, daß es in Aussicht gestellt wird, sei es, daß auf eine entsprechende Beilage zum Brief verwiesen wird; diese Beilagen sind dann allerdings in der Regel nicht erhalten. Zumindest haben es solche Funde ermöglicht, die Herkunft mancher Erzählungen zu klären. Nur einige wenige Briefe enthalten selbst Vorlagen für Anekdoten, wofür im folgenden ein Beispiel gegeben werden soll. Bei dem auf den 16. September 1789 datierten achtseitigen Brief aus dem oberschlesischen Neisse handelt es sich um ein unaufgefordert eingesandtes Schreiben. Über den Absender, der mit Sellien zeichnet, ist nichts zu ermitteln; 24
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Herman Granier: Die Kronprinzlichen Schulden Friedrichs des Großen. In: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 8 (1895), S. 220–226, hier S. 220. Möller 1974 (Anm. 18), S. 335.
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er schreibt selbst einleitend, Nicolai erhalte den ihm vorliegenden Brief26 „weder von einen, Angesehnen noch von einen, bey der Welt bekandt seyenden Manne: sondern von einem beynahe von der Wellt vergeßnen Unglücklichen RegimentsFeldscher der 24 Jahre die Stelle, beym v. Seydlitzischen, als dan v. Pannwitzischen Cur[assier] Reg[imen]t bekleidete“. Die ihm von Sellien brieflich zur Verfügung gestellten Materialien hat Nicolai nicht vollständig gebraucht. Bei einer Anekdote hat er immerhin am Rande notiert: „Dieß ist unwahrscheinlich: da der König selbst in s[einen] Werken nichts davon sagt.“ Zugleich hat er aber auch sein Vorhaben vermerkt, „dieß abzuschreiben“ und den „Hrn G[eneral] v. Möllendorf“ deswegen zu befragen. Da sich der Text nicht in den Anekdoten wiederfindet, liegt hier offenbar der Fall vor, daß eine Erzählung der Prüfung auf ihren Wahrheitsgehalt nicht standgehalten hat. Veröffentlicht hat Nicolai hingegen die folgende Anekdote, deren Drucktext (links)27 hier die entsprechende Passage aus dem Brief Selliens (rechts) zur Seite gestellt ist: Sonst hat der König nie, wenn Er mit dem Pferde stürzte, sonderlichen Schaden genommen. Ein merkwürdiger Fall, und der fast von Niemand wahrgenommen ward, war folgender: Als der König im Jahr 1769 zu Neiße einen Besuch vom Kaiser hatte, bat sich der Kaiser aus, das Regiment des Generals Seidlitz manövriren zu sehen. Es war am dritten Tage der Manöver, als der König auf einer Anhöhe hielt, und aufmerksamm durch sein Perspektiv sah, ob alles nach den gemachten Anordnungen von Statten ginge. Der Kaiser war mit dem Prinzen 〈56〉 Heinrich auf einem entfernten Platze, und in der ganzen Gegend um den König hielt niemand als etwa hundert Schritt seitwärts der General Seidlitz mit seinem Regimentschirurgus. Unvermuthet fing des Königs Pferd an sich zu schütteln, legte und wälzte sich. Vermuthlich war der König vorher stark 26
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Als der Kayser mit einigen seiner ausgesuchten Generale Anno 1769 bey der Revue zu Neiße wahr; und sich bey Sr. Höchstsel. Majestet Glorwürdigen Andenkens, ausbadt, den General v Seydlitz und deßen Regiment kennen zu lernen; so geschahe solches; und ich hatte das Glück als ein Anhänger des Regiments mit dabey zu seyn. Am 3ten Tage der Revuˆe hielten Sr: Königl. Maj: an einer Anhöhe gantz ihre Hohe Persohn alleine, und besahen durch Ihr Glaß wie die gemachte Anordnung von Statten ging; wahrend, der Kayser und Printz Heinrich sich anders wo aufhielten. Ohngefähr 160 Schritt Seitwärts, an eben der Anhöhe
Der Brief befindet sich in der Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz im Nachlaß Nicolai, Bd. 71. Der Wortlaut wird im folgenden diplomatisch nach der Handschrift wiedergegeben. Geminationsstriche sind in Doppelkonsonanten aufgelöst, Suspensionsschlingen durch einen Punkt ersetzt, Selbstkorrekturen stillschweigend übernommen. Lateinische Schrift ist durch kursive Schrift wiedergegeben. /+Anekdoten von König Friedrich II. von Preussen, und von einigen Personen, die um Ihn waren. Nebst Berichtigung einiger schon gedruckten Anekdoten. Hrsg. von Friedrich Nicolai. H. 4. Berlin/Stettin 1790, S. 55–57.
176 geritten, das Pferd war warm geworden, und da der König, welcher seine Aufmerksamkeit auf die manövrirenden Truppen gerichtet hatte, wahrscheinlich auf dasselbe nicht Acht gab, nahm es die Gelegenheit wahr, den juckenden Schweiß sich abzuwälzen. Der König fiel, aber nicht unter das Pferd, vermuthlich, weil Er einigermaßen sich noch hatte Hülfe zum Herabspringen geben können; das Pferd aber, nachdem es sich ein paar Minuten gewälzt hatte, sprang auf, und lief davon. Der Regimentschirurgus erschrak, und fragte den General, ob er zum König reiten sollte, im Fall Er etwa Schaden genommen hätte. Der General, welcher sah, daß der König schon wieder auf den Beinen war, sagte: „Bleiben Sie nur hier, der König sieht es eben nicht gern, daß jemand so etwas bemerkt, besonders, wenn es ohne Schaden abgeht“. Der Regimentschirurgus fragte, ob er nicht hinreiten sollte, um 〈57〉 für den König eines von des Generals Handpferden zu holen. Der General schüttelte den Kopf und sagte: „Nein! wofern es nicht der König ausdrücklich verlangt! Meine Pferde möchten Streiche machen. Sie sind etwas scheu um die Köpfe“ (womit er auf des Königs Art, die Pferde zu strafen zielte). So stand der König wohl beynahe eine Viertelstunde ganz allein zu Fuß, und sah mit seinem Glase unverwandt nach den Evolutionen der Truppen, und der General sah seitwärts, als ob er nicht bemerkte, was mit dem Könige vorgegangen war. Die Königl. Reitknechte bemerkten in der Ferne das herumschweifende Pferd, fingen es nach mancherley vergeblichen Bemühungen, und brachten es dem Könige wieder, welcher sich sogleich wieder darauf setzte, auch weiter mit niemand über diesen Vorfall sprach. – *
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wo der König wahr, hielte der verstorbene Herr General von Seydlitz der seine Cavallerie Trups Harzeliren sahe, und neben den General, meine Wenigkeit. Mit einmahl, da ich die Augen nach den König richte, sehe ich, daß sich deßen Pferdt schüttelt, – legt, – und den Monarchen abwirfft. (vielleicht weil der König in Betrachtungen vertiefft seyn mochte, und das Pferdt den juckenden Schweiß abwältzen wolte, wie zu vermuthen war) Ich sogleich fertig, hin zu sprengen, ob auch der König Schaden genommen hätte? – frug vorher den H. General um Ihre Meynung! Nein wahr die Antwort; bleiben Sie hier, lieber wollen wir weg reiten, weil sich der König (da sich der General nach dem König umsahe) wieder auf die Beine gemacht; und es auch der König nicht gerne sieht, daß dergleichen jemand bemärkt, zu mahl wenn es ohne Schaden abgeht. Nun denn Ew: Exc: Da aber des Königs Pferdt weg gelauffen? so erlauben Sie doch, daß ich den Reit Knecht von Ew: Exc. den Befehl bringen darf, den König ein HandPferdt von Ew: Exc. zu bringen? auch nicht! – Denn meine Pferde möchten nur Streiche machen, in dem Sie um die Köpffe etwaß scheu sind. Dieser Ausdruck konte viel leicht dahin zielen, weil Sr. K. Maj. die Arth hatten, Ihre Pferde, wenn sie ungehorsam wahren, mit dem Stock eins zwischen die Ohren zu geben. So dauerte es über 10 Minuten, daß der Große Monarch gantz alleine bestehen blieb, und nicht eher die Stelle verließ, bis sich eins von des Königs Reitknechten aus einer Entfernung herbey ritte; auch der außreißer mit Mühe wieder auf gegriffen ward. Dieser Vorfall ist gewiß keinen in der Armee bekandt, weil der König von keinen Menschen weiter umgeben wahr.
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Die Anekdote steht innerhalb einer Reihe von Erzählungen, die von Friedrichs II. Pferden, seiner Art zu reiten und dergleichen handeln. Nicolai hat sie also in einen Zusammenhang eingebunden und entsprechend einen einleitenden Satz vorangestellt (Sp. 1, Z. 1–5). Daß er den Text sprachlich grundlegend überarbeitet hat, dürfte daran gelegen haben, daß der Vorlage deutlich anzumerken ist, daß ihr Verfasser ungeübt im Schreiben und schriftlichen Formulieren war. Inhaltlich hat Nicolai nichts hinzugefügt, und doch gibt es Sätze oder Teilsätze, die in der Vorlage keine Entsprechung haben und zumeist einen Sachverhalt deutlicher ausführen (vgl. z.B. die erläuternde Passage Sp. 1, Z. 20–28 mit der Vorlage Sp. 2, Z. 25–29). Auffällig ist, daß Nicolai die Perspektive wechselt, aus der die Anekdote erzählt wird: Statt die Ich-Erzählhaltung Selliens beizubehalten, wählt er die neutralere Er-Erzählhaltung, wodurch verunklart wird, wer der Gewährsmann der Anekdote ist. Einleitend ist von einem Fall die Rede, der „fast von Niemand wahrgenommen“ worden sei (Sp. 1, Z. 3f.). Als Augenzeugen des Vorfalls werden im folgenden stets der „General Seidlitz“ und der „Regimentschirurgus“ gemeinsam genannt (Sp. 1, Z. 17f. u. Z. 34f.), so daß der Leser hinter dem Zeichen – * ebensogut den General vermuten könnte. Daß Nicolai sich bei dem General nach dem Vorfall erkundigt hat, ist ausgeschlossen, weil Seydlitz bereits 1773 gestorben war. Ebensowenig scheint Nicolai aber auch in Kontakt mit dem Gewährsmann der Anekdote getreten zu sein. Ein Vermerk auf der Rückseite, wann der Brief beantwortet worden ist, wie es Nicolais Gewohnheit entsprach, fehlt auf Selliens Brief. Um seine Erzählung gedruckt zu lesen, müßte Sellien sich das vierte Anekdoten-Heft also selbst besorgt haben. An dem gewählten Beispiel zeigt sich ein Problem der kritischen Edition der Anekdoten, nämlich das der Darstellung der herausgeberischen Eingriffe Nicolais. Es gibt Fälle, in denen Nicolai eine Vorlage fast vollständig und weitgehend wörtlich abdruckt, so daß man sich darauf wird beschränken können, die wenigen Texteingriffe Nicolais festzuhalten, womöglich in Form eines Einzelstellenapparats. In einem Falle wie dem Selliens hingegen scheint es unverzichtbar, den Wortlaut des Briefes vollständig im Kommentar wiederzugeben. Für den Nutzer der Edition ist damit allerdings noch wenig geleistet, weil Nicolais redaktionelle Arbeit auf diese Weise nicht sichtbar wird. Denkbar wäre eine synoptische Darbietungsform, in der Übereinstimmungen und Abweichungen von Vorlage und Drucktext durch typographische Auszeichnung kenntlich gemacht werden, wie sie Oliver Jahraus im Anschluß an Klaus Kanzog für Heinrich von Kleists Berliner Abendblätter vorgeschlagen hat.28 Die Arbeitsweise, wie sie am Beispiel der Anekdoten dargestellt worden ist, darf als die für Nicolai typische gelten. Viele der Werke, als deren Autor Nicolai firmiert – vom frühen Ehrengedächtniß Herrn Ewald von Kleist29 von 1760 bis 28
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Vgl. Oliver Jahraus: Intertextualität und Editionsphilologie. Der Materialwert der Vorlagen in den Beiträgen Heinrich von Kleists für die Berliner Abendblätter. In: editio 13 (1999), S. 108–130. Zur Entstehungsgeschichte vgl. Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kriti-
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zu den letzten Bänden der Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz aus den Jahren 1795 und 1796 –, sind aus Dokumenten und Zeugnissen entstanden, die ihm Zeitgenossen, meist auf Anfrage, zur Verfügung gestellt haben. Anders wären diese Werke schlechterdings nicht zu realisieren gewesen – etwa die Beschreibung einer Reise, die ja keine Reisebeschreibung im traditionellen Sinne ist, sondern eine Zusammenstellung von Realdaten, Fakten, Statistischem und Topographischem über die bereisten Gebiete: Informationen, an die Nicolai während seiner Reise vielfach gar nicht hatte gelangen können, die er sich aber nachträglich schicken lassen konnte. Karlheinz Gerlach hat dieses Verfahren am Beispiel eines der bekanntesten Werke Nicolais dargestellt, der Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam:30 In diesem Falle verhinderten es Nicolais Geschäfte, daß er selbst zu Recherchen nach Potsdam fuhr, wie er es sich vorgenommen hatte, so daß er auf Kontaktleute vor Ort angewiesen war. Da er schon mit dem Druck hatte beginnen lassen müssen, bevor das Manuskript überhaupt abgeschlossen war – schließlich sollte das Buch ja rechtzeitig zur Messe erscheinen –, erwies es sich als zweckmäßigste Lösung, daß die Verfasser bestimmter Abschnitte ihr Manuskript direkt zum Drucker schickten. Nicolai ließ diesen Verfassern, die er ja selbst ausgewählt oder die ihm Freunde empfohlen hatten, freie Hand, und umgekehrt scheinen diese das in sie gesetzte Vertrauen geschätzt und ihrerseits Nicolai freie Hand gelassen zu haben, was etwa die Redaktion ihrer Beiträge betraf. Anders ist es jedenfalls nicht zu erklären, daß keine der zahllosen Fehden und Streitigkeiten, an denen Nicolai beteiligt war und für die er bekannt ist, ein Streit um ,geistiges Eigentum‘ gewesen ist. Freilich kam die Vorstellung von ,geistigem Eigentum‘, der Urheberrechtsgedanke, im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, also zur Entstehungszeit der Anekdoten, gerade erst auf. Das Urheberrecht sei, so der Untertitel eines der Standardwerke zum Thema, aus dem „Geist der Goethezeit“ entstanden.31 Tatsächlich scheint der Urheberrechtsgedanke weniger dem Geist der Zeit als dem einzelner Zeitgenossen – eben Schriftstellern wie Goethe – geschuldet. Demgegenüber bestanden weiterhin die Gepflogenheiten des Buchhandels, die von anderen Zeitgenossen – etwa Verlegern wie Nicolai – verteidigt wurden. Nicolais Position zur Urheberrechtsfrage findet sich in seiner äußerst ausführlichen Stellungnahme zu den verlagsrechtlichen Paragraphen des Preußischen Landrechts vom 6. Dezember 1790,32 zu der Nicolai als Verleger von dessen Verfas-
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sche Ausgabe mit Kommentar. Bd. 6/II: Gedächtnisschriften und philosophische Abhandlungen (Kommentar). Bearb. von Alexander Kosˇenina. Bern u.a. 1997, S. 27f. Vgl. Karlheinz Gerlach: Nachwort. In: Friedrich Nicolai: Beschreibung der königlichen Residenzstadt Potsdam und der umliegenden Gegend. Eine Auswahl. Hrsg. von Karlheinz Gerlach. Leipzig 1993 (= Reclam-Bibliothek 1465), S. 277–295, hier S. 287–289. Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn u.a. 1981 (= Uni-Taschenbücher 1147). Vgl. Robert Voigtländer: Das Verlagsrecht im Preußischen Landrecht und der Einfluß von Fried-
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sern, Carl Gottlieb Svarez und Ernst Ferdinand Klein, aufgefordert worden war und aufgrund derer der Urheberrechtsgedanke nur sehr abgeschwächt Eingang in das Landrecht fand. Den Kernpunkt seiner Ausführungen, in deren Zusammenhang er im übrigen auch die Autorschaft für die Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam für sich reklamiert,33 gibt das folgende Zitat wieder: Es giebt sehr viele Schriften, wo der Verleger selbst eine Idee hat, und zu dieser Idee sich des Schriftstellers nur als eines Werkzeuges bedient, und wo er auch sogar auf diese Idee ein Privilegium nimmt, und wo es immer von ihm abhängt, durch wen er die Idee ausführen läßt. [...] Wollte ein Schriftsteller, nachdem ihm die Idee offenbart ist nunmehro nach eigenem Gefallen dem Verleger das Verlagsrecht nehmen, so wäre dies sehr unbillig.34
In diesem Sinne dürfte Nicolai die Gewährsleute seiner Anekdoten zu den Schriftstellern gezählt haben, derer er sich als Verleger „nur als eines Werkzeuges bedient“ und die er für das ihm zur Verfügung gestellte Material entsprechend bezahlt hat. In wenigstens zwei Fällen läßt sich eine solche Vergütung anhand von Briefen tatsächlich belegen.35 Das mag dann auch die Erklärung sein für die große Freiheit, die er sich bei der Überarbeitung dieses Materials erlaubt hat.
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rich Nicolai darauf. In: Archiv für die Geschichte des deutschen Buchhandels 20 (1898), S. 4–66, Nicolais Stellungnahme hier S. 5–37. Vgl. Voigtländer 1898 (Anm. 32), S. 8. Ebenda, S. 6f. Vgl. Nicolai / Kosˇenina 1997 (Anm. 29), S. 103f. und die Briefe des Archivars beim Geheimen Staatsarchiv zu Berlin Christian August Ludwig Klaproth vom 2. März und 19. April 1791 im Nachlaß Nicolai, Bd. 38.
Klaus Gerlach C. M. Wielands Sämmtliche Werke. Die erste Ausgabe von der letzten Hand als Monument und Dokument sowie in ihrer Bedeutung für den Typ der historisch-kritischen Ausgabe
Vereinfachend kann man die Aufgaben einer historisch-kritischen Edition wie folgt definieren: Beschreibung der Entstehungsgeschichte von Texten eines Autors, kritische Sichtung aller überlieferten Textzeugen1 sowie Konstitution eines Textes. Historisch-kritische Editionen werden, so Winfried Woesler, im „Interesse der Kulturgemeinschaft an einer umfassenden Dokumentation der von ihr kanonisierten [...] Autoren“2 veranstaltet. Sie sind demzufolge gleichzeitig Dokument und Monument: Dokument, weil sie alle überlieferten materialisierten Zeugen eines Werkes bzw. Autors verzeichnen, Monument, weil sie für die Kulturgemeinschaft an sich einen Wert darstellen, denn auf Grund ihrer Materialfülle können sie nur von langfristig zu finanzierenden Institutionen realisiert werden und entstehen als Ergebnis einer starken Selektion. Die von Göschen und Wieland veranstaltete Edition vereinigt Monumentales und Dokumentarisches in einem bis dahin in Deutschland ungekannten Maße. Das hat mit dem von Michel Foucault beschriebenen Rollenwandel des Autors zu tun, der sich seit dem 17. Jahrhundert allmählich vollzieht und dazu führt, daß der literarische Schriftsteller von der Einheit des unter seinem Namen gesetzten Textes in wachsendem Umfange Rechenschaft ablegen muß, daß er den verborgenen, seine Texte durchquerenden Sinn in immer stärkerem Maße enthüllen oder wenigstens durch sich selbst erbringen muß, daß er diese Texte entäußern muß in Abhängigkeit von seinem persönlichen Leben, von seinen gelebten Erfahrungen und von der wirklichen Geschichte, unter deren Augen diese Texte auf die Welt gekommen sind.3 Wielands Modernität besteht darin, daß er als Autor-Herausgeber seiner Texte stets präsent ist und sie nicht sich selbst überläßt. „Die Geschichte seiner an Materie und Form so mannigfaltigen 1
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Vgl. z.B. Waltraud Hagen: Von den Ausgabentypen. In: Vom Umgang mit Editionen. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Waltraud Hagen. Berlin 1988, S. 32ff. – Herbert Kraft: Editionsphilologie. Darmstadt 1990, S. 12ff. Winfried Woesler: Funktion und Planung historisch-kritischer Ausgaben. In: Edition und Wirkung. Göttingen 1975, S. 20. „Depuis le XVIIe sie`cle, [...] on demande que l’auteur rende compte de l’unite´ du texte que l’on met sous son nom ; on lui demande de re´ve´ler, ou du moins de porter par-devers lui, le sens cache´ qui le traverse ; on lui demande de les articuler, sur sa vie personnelle et sur ses expe´riences ve´cues, sur l’histoire re´elle qui les a vus naıˆtre.“ Michel Foucault: L’ordre du discours. Paris 1971, S. 29f.
C. M. Wielands Sämmtliche Werke
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Werke ist zugleich die Geschichte seines Geistes und Herzens, und, in gewissem Sinne, seines ganzen Lebenslaufs.“4 Die eigene Biographie ist gleichsam das Stützkorsett, mit dem Wieland seine Werke in die richtige Position bringt. Im folgenden soll gezeigt werden, daß Wielands „Ausgabe von der letzten Hand“ maßgeblich zur Herausbildung des Typs der historisch-kritischen Edition beigetragen hat und daß dieser Editionstyp im Zusammenhang mit einem neuen Schriftstellertypus steht, den Wieland par excellence verkörpert. Es hat nicht nur mit der veränderten Überlieferungslage zu tun, daß altphilologische Verfahren nicht ausreichen, um einen Autor der Neuzeit angemessen zu edieren,5 sondern auch mit dem veränderten Autor, dessen Biographie auf einmal ebenso wichtig geworden war wie seine Texte. Der Verleger Göschen schafft mit dieser Ausgabe ein Monument, das einem ehernen Denkmal gleichkommt. Es ist das erste wirkliche verlegerische Denkmal, das in Deutschland einem lebenden deutschen Dichter errichtet wurde: „Jeder Kaufmannsdiener, jeder unbemittelte Student, jeder Landpfarrer, jeder mäßig besoldete Offizier soll [die] Werke kauffen können. Sie sollen dann erst von ganz Deutschland gelesen werden und auf ganz Deutschland wirken.“6 Der innovative, erfolgreiche und damit auch einflußreiche Verleger Göschen ist wohl einer der ersten Deutschen, der so klar das Interesse der Kulturgemeinschaft formuliert und eine bedeutende Edition eines Dichters veranstaltet, um dessen Werke zu kanonisieren. Der bis dahin nicht gekannte, mit dieser Ausgabe erhobene Anspruch wurde sofort erahnt. Das dem ersten Band beigefügte Pränumerationsverzeichnis zeigt eindrucksvoll, welche Fürsten- und Bürgerhäuser inner- und außerhalb des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation mithelfen, dieses Monument zu errichten. Dieses Verzeichnis ist der Sockel, auf dem das Monument steht. Göschen sieht in der Verwirklichung des Unternehmens eine Aufgabe von nationaler Bedeutung.7 Diese Werk-Ausgabe wird jedoch vielfach als Anmaßung angesehen und ruft wirkungsmächtige Kritiker auf den Plan. Goethe und Schiller meinen, in den Xenien die Geduld aller Dichter besänftigen zu müssen, weil die Reihe der von Göschen noch zu betreuenden lang sei.8 Die 4
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C. M. Wielands Sämmtliche Werke, 36 Bde. und 6 Supplemente Leipzig 1794–1801, GroßoktavAusgabe, Bd. 1, S. IVf. (im folgenden zitiert als SW). Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Stuttgart 1997, S. 30. Wielands Briefwechsel. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin seit 1968, seit 1993 von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seit 1968 durch Hans Werner Seiffert, seit 1984 durch Siegfried Scheibe (im folgenden BW Wieland). – Göschen an Wieland, 12. November 1791. Bd. 11.1 (bearbeitet von Uta Motschmann), Nr. 187, S. 171, Z. 48ff. Vgl. den Brief Göschens an Bertuch vom 29. Oktober 1793, in dem Göschen von dem Unternehmen als einer „Sache der Nation“ spricht. (Stephan Füssel: Georg Joachim Göschen. Ein Verleger der Spätaufklärung und der deutschen Klassik. Bd. 1, Berlin und New York 1999, S. 96). Göschen an die deutschen Dichter. / Ist nur erst Wieland heraus, so kommt’s an euch übrigen alle, / Und nach der Lokation! Habt nur einstweilen Geduld!“ In: Goethes Werke. Hrsg. im
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Brüder Schlegel fordern im Athenäum alle diejenigen Dichter auf, sich zu melden, bei denen Wieland Anleihen gemacht habe.9 Dieser Einfall ist wenig originell, denn Wieland legt die Quellen, aus denen er seine Anregungen empfangen hat, in seinen Vorreden stets offen10 und machte nie ein Geheimnis daraus, Ideen anderer zu verarbeiten11. Zunächst schadet diese Kritik der Ausgabe nicht, die dadurch nur noch mehr Publizität erlangt und auch deshalb zu einem Denkmal werden kann. Für Wielands Sämmtliche Werke gilt Monumentalität in Hinsicht der Vollständigkeit,12 Endgültigkeit, Repräsentativität, Popularität und Nationalität. Geblendet von der Größe der Ausgabe, übersehen die schnellen Kritiker, daß die Edition nicht nur ein ehernes Denkmal, sondern auch ein wichtiges Dokument ist. Ein Dokument mit Vorbildfunktion ist die Ausgabe deshalb, weil Wieland durch die Art und Weise, wie er seine Werke präsentiert, den Beginn einer editorischen Praxis markiert, die bis in die Gegenwart reicht. Wieland druckt seine Werke vollständig ab und stellt ihnen Varianten verschiedener früherer Fassungen, umfangreiche Anmerkungen sowie historische Exkurse zur Entstehungsgeschichte an die Seite. Aus dieser Vorgehensweise wird deutlich, daß er sich und seine Werke als historisch ansieht und meint, seine Werke könnten ohne Kenntnis seiner Person nicht verstanden werden. Seine nicht mehr ausgeführte Autobiographie ist bestimmt, als Geschichte seines Geistes den Schlüssel zu seinen Werken zu liefern.13 Aus diesem Grunde ist Wieland bestrebt, seine Entwicklung wie die seiner Werke, die ja voneinander abhängen, in der Ausgabe darzustellen. Er legt nicht nur deshalb ,letzte Hand‘ an, um seine Werke in eine endgültige Form zu bringen, sondern auch, um deren Entwicklung transparent zu machen; denn er sieht die ständige Verbesserung seiner Werke als eine wesentliche Leistung seines Schaffens an.
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Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. I: Werke. 55 Bde. Weimar 1887–1916, Bd. 5.1, S. 246 (im folgenden zitiert als WA). „Nachdem über die Poesie des Hofrath und Comes Palatinus Caelareus Wieland in Weimar, auf Ansuchen der Herren Lucian, Fielding, Sterne, Bayle, Voltaire, Crebillon, Hamilton und vieler andern Autoren Concursus Creditorum eröffnet, auch in der Masse mehreres verdächtige und dem Anschein nach dem Horatius, Ariosto, Cervantes und Shak[e]speare zustehendes Eigenthum sich vorgefunden; als wird jeder, der ähnliche Ansprüche titulo legitimo machen kann, hiedurch vorgeladen, sich binnen Sächsischer Frist zu melden, hernachmals aber zu schweigen.“ In: Athenäum. Eine Zeitschrift von A. W. Schlegel und F. Schlegel. Berlin 1799, 2. Band, 2. Stück, S. 340. Vgl. z. B. die Vorrede zum Neuen Amadis (vgl. SW, Bd. 4). Vgl. Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im Klassischen Weimar. Hrsg. von Klaus Gerlach und Rene´ Sternke. Berlin 2005, S. 261. Vollständigkeit bedeutet nicht alles. Nach Wielands Definition heißt vollständig dasjenige, was er „nach einer so strengen Prüfung als er der Welt und sich selbst schuldig ist, des Aufbewahrens nicht ganz unwürdig findet“ (vgl. SW, Bd. 1, S. VI). Wieland an Göschen, 30. November 1793. Vgl. BW Wieland, Bd. 12.1 (bearbeitet von Klaus Gerlach), Nr. 92, Z. 32–38.
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Den Charakter eines Dokuments haben die Sämmtlichen Werke in Hinsicht der Modellhaftigkeit, Historizität, Kritizität, Autoreflexivität, Verbindung von Edition und Biographie. Von Wieland erscheinen bei Orell, Geßner & Comp. in Zürich und vor allem bei Weidmann in Leipzig sowohl einzelne Werke als auch Sammelausgaben. Seit 1788 bemüht sich der Autor darum, eine Gesamtausgabe seiner Werke zu veranstalten, vermag aber nicht, den Weidmannischen Verlag für seinen Plan zu gewinnen. Anfang 1792 einigt sich Wieland mit dem jungen Leipziger Verleger Göschen, der ihm eine Ausgabe verspricht, die 30 Bände umfassen und in vier verschiedenen Formaten gedruckt werden solle. Die Idee, die Ausgabe in vier verschiedenen Formaten an die Öffentlichkeit zu bringen, stammt von Göschen, der als innovativer Verleger Aufmerksamkeit erringen und den Nachdruck verhindern will. Um die Sämmtlichen Werke selbst drucken zu können, arbeitet er mit dem Schriftgießer Prillwitz zusammen, der gerade lateinische Lettern nach dem Vorbild von Didot gegossen hatte. Da Göschen keine Konzession als Drukker in Leipzig besitzt, ist ihm nur erlaubt, mit lateinischen Lettern zu drucken,14 worüber Wieland stets unzufrieden ist. Kurz vor seinem Tode freut er sich, als Göschen ihm eine Auflage mit deutschen Lettern in Aussicht stellt.15 Die Sämmtlichen Werke erscheinen parallel in Quart, in Oktav, in Großoktav und in Kleinoktav, wovon drei Formate auf kostbarem Velinpapier gedruckt werden. Im Format der Quartausgabe wird zu jedem Band ein Kupferstich geliefert, diese Galerie erwerben die Käufer der anderen Ausgaben ebenfalls. Um die inhaltliche Seite der Ausgabe kümmert sich Wieland allein. Er erstellt Schemata über die aufzunehmenden Werke und deren Verteilung auf die Bände, er revidiert jedes Werk eigenhändig und liest die Korrekturbögen, bei letzterem unterstützt ihn sein Sekretär, Johann Abraham Lütkemüller. Ohne einen schriftlichen Vertrag fixiert zu haben, beginnt Wieland im April 1792 mit der Revision des Neuen Amadis, des Verklagten Amor und des Agathon. Die ersten fünf Bände erscheinen 1794. Erst als schon 15 bzw. 20 Bände vorliegen, wird unter dem Datum vom 21. Dezember 1795 (mit einer Ergänzung vom 1. März 1796) ein schriftlicher Vertrag geschlossen, welchem zufolge Wieland 12 000 Reichstaler Honorar erhält.16 Weniger als vier Jahre nach Druckbeginn kommt der 30. Band heraus. 1798 erscheinen dann noch sechs Supplemente. (Die in den Bänden 31 bis 36 erschienenen Werke sind erst nach Abschluß der eigentlichen Ausgabe entstanden.) 14
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Die Konzession erhält er erst im März 1794. Die ersten Bände werden in Basel bei Wilhelm Haas d. Ä. gedruckt. Vgl. Bernhard Seuffert: Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe [ I bis IV]. In: Abhandlungen der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1904, I, S. 13. Wieland an Göschen, 28. Juni 1810. Vgl. BW Wieland, Bd. 18.1 (bearbeitet von Klaus Gerlach und Uta Motschmann), Nr. 137, Z. 87ff. Vertrag zwischen G. J. Göschen und Wieland über die Sämmtlichen Werke. Vgl. BW Wieland, Bd. 13.1 (bearbeitet von Klaus Gerlach), Nr. 153.
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Wieland definiert zum ersten Mal, was unter einer vollständigen „Ausgabe von der letzten Hand“ zu verstehen ist. Anders als bei Goethes Ausgabe letzter Hand, die ab 1827 bei Cotta erscheinen sollte, findet sich diese Bezeichnung bei Wielands Ausgabe nicht auf dem Titelblatt. Jedoch muß Wieland als Begründer dieses Typs in Deutschland gelten; denn in der Vorrede beschreibt er knapp, aber präzise, was er unter einer „Ausgabe von der letzten Hand“ versteht: nämlich jedem Werk „in jeder Rücksicht die grösste innere Güte, die reinste Politur, kurz die höchste Vollkommenheit zu geben“.17 Goethe bezieht sich in der Anzeige zu seiner Ausgabe, es gibt keine Vorrede, auf Wielands Ausführungen, wenn er sagt, daß er nicht sein „Letztes und Bestes“ getan habe, „weil mir das, was zuerst nicht gelang, in der Folge zum besseren niemals gelingen“ wollte.18 Hinter dieser Äußerung verbirgt sich nicht nur ein anderer Schriftstellertypus, sondern auch ein anderes Verständnis von diesem Ausgabentyp. Während Wieland schon in der Vorrede die Entwicklung und das Prozeßhafte seiner Dichtung deutlich macht, stilisiert sich Goethe zum Musensohn, dem jeder Wurf auf Anhieb gelingt. Während Wieland hervorhebt, daß diese Ausgabe eine von vielen, jedoch die letzte und beste sei, bei welcher er „mit unverdrossnem Fleiss und strenger Gewissenhaftigkeit zu Werke gegangen“19 war, betont Goethe das Monolithische seiner Werke. Schließlich kann Goethe auch gar nicht behaupten, das „Letzte und Beste“ getan zu haben, weil er die Arbeit der Herausgabe im wesentlichen dem Jenenser Philologen Karl Wilhelm Göttling übertragen hat. Aus den unterschiedlichen Definitionen der „Ausgabe von der letzten Hand“ ergeben sich auch jeweils andere Konzeptionen und Gestaltungen der Ausgaben. Während Goethe die Herausgebertätigkeit weitgehend einem anderen überläßt, macht Wieland die Arbeit weitgehend allein. Er revidiert jeden Text für die Ausgabe, viele der großen Werke, wie Agathon, Oberon und die Neuen Göttergespräche werden mehr oder weniger stark umgearbeitet oder ergänzt. Die Geschichte des Philosophen Danischmende erfährt z. B. in der Umarbeitung eine Ergänzung von 12 Bogen.20 Den Roman Der goldne Spiegel unterzieht Wieland, obwohl er nur verhältnismäßig geringfügige Änderungen vornimmt, einer dreimaligen Revision.21 Die Bearbeitungen werden in seiner Edition besonders hervorgehoben. In den neuen Vorreden, die er fast für jedes Werk schreibt, macht der Autor die Leser auf sie aufmerksam. Des weiteren geht er in den Vorreden in der Regel auf die Zeit und die Umstände der Entstehung des jeweiligen Werkes ein. 17 18
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Vgl. SW, Bd. 1, S. VII. Waltraud Hagen: Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Berlin 1982, Bd. 4, S. 361. Vgl. SW, Bd. 1, S. VIII. Göschen an Wieland, 16. Oktober 1794. Vgl. BW Wieland, Bd. 12.1 (bearbeitet von Klaus Gerlach), Nr. 325, Z. 4–6. Göschen an Wieland, 23. Mai 1794. Vgl. BW Wieland, Bd. 12.1, Nr. 227, Z. 19ff.
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Neben den Vorreden, in denen biographische Mitteilungen aus der Entstehungszeit geliefert werden, nutzt Wieland die Verzeichnung von Varianten, um seine Leser auf die Umarbeitungen aufmerksam zu machen. Mit Hilfe dieser Apparate, die Wieland z. B. zum Neuen Amadis, zum Oberon, zu Kombabus, zur Musarion an das Ende dieser Werke stellt, verdeutlicht er die Arbeit des Autors am Zustandekommen der dichterischen Werke. Zum Oberon läßt der Autor die Varianten dreier verschiedener Ausgaben, die er mit a), b) und c) bezeichnet, abdrucken. Der Umfang der Varianten zum ersten Gesang füllt immerhin fünf Druckseiten. Auf diese Weise bricht er das Monumentale der Edition auf und läßt den Leser am Prozeß seines Schaffens teilhaben. In der Vorrede zum Neuen Amadis schreibt Wieland ausdrücklich, „es werde bey einer genauern kritischen Vergleichung beider Ausgaben sich finden, dass der Neue Amadis durch diese Umarbeitung, nicht nur von einer Menge Fehler und Flekken gereinigt, sondern vielleicht auch [...] der positiven Vollkommenheit [...] näher gebracht worden sey“.22 Wieland empfiehlt den textkritischen Vergleich, weil er seine Bemühungen um Vollendung gewürdigt wissen will. Die von ihm aufgenommenen Varianten, die nicht vollständig, sondern nur beispielhaft sind, und sein expliziter Verweis auf einen kritischen Textvergleich mit einer früheren Fassung weisen darauf hin, daß für ihn ein Werk durch verschiedene Fassungen repräsentiert werden kann und daß die Darstellung dieses Werdens dazugehört. Es ist keine Wielandische Erfindung, ältere Lesarten abzudrucken, die die „Vergleichung der Stellen des Dichters untereinander“ ermöglichen und so Text- und Formveränderungen aufzeigen.23 Bereits in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts hatte Carl Friedrich Cramer in seiner Klopstockausgabe das im kleinen vorgemacht und war von Wieland dafür scharf kritisiert worden, weil Cramer zu Lebzeiten des Barden versuche, ihm ein monumentum aere perennius zu errichten.24 Neuartig ist die Konsequenz, mit der sich Wieland auch mit Hilfe dieser Varianten inszeniert; denn diese Variantenapparate machen sichtbar, wie Wieland der deutschen Sprache zu Form und Anerkennung verhalf, so daß er zu Lebzeiten als ein deutscher Klassiker ausgerufen werden konnte.25 Ein weiteres Mittel, das Monumentale der riesigen Ausgabe aufzubrechen, sind die Anmerkungen, die Wieland entweder als Fußnoten oder als Anhang hinter die Werke setzt. Innerhalb dieser Anmerkungen werden Begriffe erklärt, historische Personen und Ereignisse erläutert, Querverbindungen zu antiken und 22 23
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Vgl. SW, Bd. 4, S. XXVIf. Carl Friedrich Cramer: Er; und über ihn herausgegeben von C. F. Cramer. Dritter Theil 1751–1754. Hamburg 1780, S. 16. Diese Äußerung bezog sich nur auf das von Carl Friedrich Cramer 1777–1778 herausgegebene Werk Klopstock. In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa, das Wieland gegenüber Johann Heinrich Merck scharf tadelte. Vgl. BW Wieland, Bd. 5 (bearbeitet von Hans Werner Seiffert), Nr. 764, Z. 2–27. Vgl. den anonymen Beitrag Ueber ein verdienstliches Unternehmen, zur Ehre der deutschen Literatur. In: Neue deutsche Monatsschrift, Berlin 1795, I, S. 56–65.
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gegenwärtigen literarischen Quellen und/oder Beziehungen aufgedeckt. Bei einem Vergleich dieser Anmerkungen mit denen in früheren Ausgaben zeigt sich, daß zahlreiche Anmerkungen neu bzw. umgearbeitet sind. Der zeitliche Abstand, der zwischen der Entstehung der Werke und der Neuherausgabe liegt, läßt es für Wieland notwendig erscheinen, solche Anmerkungen anzubringen. Aus seiner Übersetzer- und Herausgebertätigkeit des Horaz, Lucian, Cicero und Aristophanes sind ihm Textkritik und Textauslegung bestens bekannt. Oft weist Wieland darauf hin, daß es sich bei diesen Arbeiten nicht nur um bloße Übersetzungen handle, sondern daß seine Kommentare, die sowohl textkritische Anmerkungen wie auch historische Exkurse beinhalten, sie zu Originalwerken aus seiner Feder machen.26 Im Neuen Amadis oder im Oberon erscheinen nach jedem Gesang zuerst die Varianten, dann die Anmerkungen. Es scheint ihm nicht selbstverständlich gewesen zu sein, Anmerkungen zu seinen eigenen Werken zu schreiben; denn am Anfang seiner Erläuterungen zum Neuen Amadis weist er darauf hin, daß er sich auf Friedrich von Hagedorn beziehe. Hagedorn hatte im Vorbericht zu den moralischen Gedichten geäußert: „Ich habe geschäfftigte Köpfe der Bemühung überheben wollen, andere, als critische Glossen über einige Stellen zu machen, und sie also selbst erkläret. [...] Meine Anmerkungen sind, wenn ich selbst sie beurtheilen darf, weder weitläuftig noch zahlreich, und, wie ich wenigstens wünsche, nach dem so unterschiedenen Verständnisse und Geschmack der Leser eingerichtet. Ihre Absicht ist, ungegründeten Deutungen möglichst zuvor zu kommen, zu beweisen, ein weiters Nachdenken zu veranlassen, und zu unterhalten.“27 Wieland übernimmt alle Aufgaben eines Herausgebers: Er versucht, dem Leser das Material so transparent wie nur möglich vorzulegen, beschreibt die Entstehungsgeschichte und ist bemüht, verschiedene Textzeugen kritisch zu sichten und nebeneinander zu stellen. Der Herausgeber Wieland stellt den als Quelle des Diskurses verstandenen Autor Wieland in das Zentrum seiner Werke.28 Er scheint der erste zu sein, der sein Leben vor den Augen seiner Leser in den Mittelpunkt seines Schaffens stellt, es sich zur Aufgabe macht, die Entwicklung des Textes darzustellen29 und Auskunft über literarische Quellen und Vorbilder seiner Werke zu erteilen. Durch diese Vorgehensweise tritt Wieland als Autor 26
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Göschen an Wieland, 1. November 1793. Vgl. BW Wieland, Bd. 12.1 (bearbeitet von Klaus Gerlach), Nr. 76, Z. 8ff. Zitiert nach: Des Herrn Friedrichs von Hagedorn Poetische Werke. Hamburg 1759, Bd. 1, S. XIf. (Dieses Exemplar befand sich in Wielands Bibliothek, WB Nr. 362). – Vgl. Friedrich Justin Bertuch und Christian August Vulpius: Verzeichniß der Bibliothek des verewigten Herrn Hofraths Wieland [...]. Weimar 1814 (bearbeitet und hrsg. von Klaus-P. Bauch und Maria-B. Schröder: Alphabetisches Verzeichnis der Wieland Bibliothek. Hannover 1993). Vgl. Anm. 3. Klopstock, von dessen Werken ebenfalls bei Göschen ab 1798 eine prächtige Ausgabe in verschiedenen Formaten erschien, folgte Wielands Beispiel nicht. In der Ausgabe wurden, obwohl Göschen das beabsichtigt hatte, keine Varianten abgedruckt. Vgl. Göschen an Böttiger, 20. August 1799: „Er hat die Varianten nicht gegeben und ich habe nicht gefragt, warum.“
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viel stärker vor bzw. neben seine Texte, als wir das von früheren deutschen Autoren kennen. Er ordnet seine Werke, indem er, wie Foucault es ausdrückt, „der verstörenden Sprache der Fiktion ihre Einheiten, ihre kohärenzstiftenden Verknotungen, ihre Verankerung in der Wirklichkeit verleiht“.30 Wie wichtig ihm dieser Zusammenhang ist, läßt der Plan seiner Autobiographie, in der er die „Geschichte seines Geistes“ und die „Geschichte seiner Werke“ darstellen will, nur erahnen. Diese Geistes- und Werkgeschichte ist ihm so bedeutend, daß er sie bereits in seiner Vorrede zu den Sämmtlichen Werken für den letzten Band ankündigt.31 Sie soll im 30. Band der Ausgabe erscheinen und gleichzeitig Schlüssel und Finale sein. Wieland plant von Anfang an eine Art großen Kommentar zu seinen Werken. Warum diese Autobiographie nie ausgeführt wird, ist nicht bekannt. In Briefen an verschiedene Zeitgenossen findet dieses Projekt bis nach 1800 noch oft Erwähnung. Bemerkenswert aber ist, daß Goethe, während er am dritten Teil seiner Autobiographie, der Italienischen Reise, arbeitet, die Essenz von Wielands Biographie schreibt. Kein anderer als Goethe, Duzfreund und Konkurrent um den Nachruhm zugleich, erfaßt das Wesen, die Modernität des Wielandischen Lebens und Werks. In seiner Rede Zu Brüderlichem Andenken Wielands32 bringt Goethe es auf den Punkt, wenn er sagt: „Mensch und Schriftsteller hatten sich in ihm ganz durchdrungen, er dichtete als ein Lebender und lebte dichtend.“33 Goethe war es nicht entgangen, daß Wieland einen neuen Schriftstellertyp verkörpert, da in ihm „der Mann und der Dichter Eine Person ausmachten“.34 Indem Goethe in seiner Rede die wechselseitige Abhängigkeit von Autor und Werk feststellt und mehrfach hervorhebt, ist ihm offenbar bewußt, daß Wieland exemplarisch dafür werden muß, wie ein Autor sein Werk ordnet, um es „dem Gemeinwesen darzubringen“.35 Es verwundert uns deshalb nicht, daß Goethe beabsichtigte, diese zu Wielands Totenfeier in der Loge Amalia gehaltene Rede im Format und auf dem gleichen Papier der Quartausgabe von Wielands Sämmtlichen Werken drucken zu lassen. Sie sollte der Ausgabe angebunden werden können.36 Es ist kein Zufall, daß der eine Generation jüngere Goethe, als er damit beschäftigt ist, seine Biographie zu schreiben, was nichts weiter heißt, als sein Werk dem „Gemeinwesen“ geordnet zu hinterlassen, sich mit Wielands Leben und Werk auseinandersetzt. 30
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„L’auteur est ce qui donne a` l’inquie´tant langage de la fiction ses unite´s, ses nœuds de cohe´rence, son insertion dans le re´el.“ Michel Foucault (Anm. 3), S. 30. Vgl. SW, Bd. 1, S. IVf. WA I, Bd. 36, S. 311–346. Ebenda, S. 318. Ebenda, S. 319. Ebenda. Am 23. August 1814 schreibt Frommann an Cotta: „Mit dem besprochenen besonderen Abdruck seiner Rede auf Wieland hatte er die Idee, daß sie mit einer anständigen einfachen Pracht in gr 4° gedruckt würde, daß sie ein schicklicher Pendant zu der großen Ausgabe von Wielands Werken würde, ja dieser allenfalls beygebunden werden könnte.“ Zitiert nach: Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Hrsg. vom Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Teil 4, bearbeitet von ´Inge Jensen. Berlin 1984, S. 204.
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Nicht Wielands, sondern Goethes Ausgabe von der letzten Hand beeinflußte vorerst die Entwicklung der Editionsphilologie maßgeblich, indem die diesem Vorbild folgende Sophien-Ausgabe, die wir zu den historisch-kritischen Ausgaben zählen, weder die Klassifikation der Varianten noch eine Beschreibung des Entstehungsprozesses im Blick hatte.37 Der Typ der historisch-kritischen Edition, wie wir ihn heute kennen, ist das vorläufige Ergebnis einer langen Entwicklung. Gewöhnlich wird Karl Lachmann als Erfinder dieses Editionstyps genannt, welchem Suphan, Goedeke u. a. gefolgt seien. Sind uns auch diese Herausgeber mit ihrem Selbstverständnis als Nachlaßverwalter und auf Grund der veränderten Editionsmodelle und Methoden fremd geworden, so markieren doch ihre Namen gewöhnlich den Anfang des historischen und kritischen Edierens. Dabei wird völlig übersehen, daß Christoph Martin Wieland diese Praxis mit seiner „Ausgabe von der letzten Hand“ vorbereitet hat. Es scheint kein Zufall zu sein, daß die erste nach wirklich wissenschaftlichen Gesichtspunkten konzeptualisierte historisch-kritische Edition die von Bernhard Seuffert begründete Wieland-Ausgabe ist; denn durch Wielands oben dargestellte Methoden, seine Werke der Nachwelt zu präsentieren, konnte, ja mußte Seuffert seine Ausgabe so und nicht anders entwerfen. Seuffert ist der erste Editionsphilologe, der in seinen Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe darauf hinweist, daß eine historisch-kritische Edition moderner Werke nur dann ihren Anforderungen gerecht wird, wenn mit „der Gewinnung des richtigen Textes eben die Darstellung der Fort- und Umbildung des Textes“38 einhergeht.
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Plachta (Anm. 5), S. 31. Zitiert nach: BW Wieland, Bd. 12.1, dort Anhang II, S. 60.
Christine Siegert Losgelöst vom Autorwillen? Gattungstypische Distributionsphänomene der Opera buffa und Möglichkeiten ihrer Edition
Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts bildete sich ein Repertoire von Opere buffe heraus, die international erfolgreich waren und zahlreiche Wiederaufführungen in ganz Europa erlebten. Grundlage für diese Wiederaufführungen waren nicht etwa autorisierte Notendrucke, sondern Kopistenabschriften, die im Zuge ihrer Verbreitung zum Teil einschneidende Änderungen erfuhren, da jede Bühne die Opern für ihre Bedingungen einrichten mußte. Auch diese bearbeiteten Fassungen konnten wiederum abgeschrieben und erneut bearbeitet werden. Auf diese Weise hatte im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von meist anonymen Bearbeitern Anteil an der Entstehung eines Korpus von Fassungen. Die Bearbeitungen konnten aus Änderungen der Besetzung und in der Singstimme, aus der Umarbeitung und Kürzung einzelner Passagen, aber auch aus der Neukomposition von Arienabschnitten oder dem Hinzufügen, Streichen und Ersetzen ganzer Nummern, ja sogar ganzer Rollen bestehen. Diese Vielgestaltigkeit der Überlieferung kommt der Sachlage nahe, mit der sich die mediävistische Edition konfrontiert sieht. Die Parallelen zwischen beiden Bereichen liegen auf der Hand: In beiden Fällen handelt es sich um eine handschriftliche Überlieferung, die nicht durch Drucke verfestigt wird, und in beiden Fällen sind die überlieferten Texte ständigen Veränderungen unterworfen. Thomas Bein hat zunächst für die Altgermanistik die „autororientierte Textkritik“ von einer „textorientierten Textkritik“ unterschieden1 und später in einem grundlegenden Aufsatz die Opposition modifiziert in „originalorientierte“ Textkritik und „überlieferungsorientierte“ Textkritik.2 Im ersten Fall versucht der 1
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Thomas Bein: Einführung. In: Altgermanistische Editionswissenschaft. Hrsg. von Thomas Bein. Frankfurt/Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1995 (Dokumentation germanistischer Forschung 1), S. 11–34, hier S. 16–22. Als Vertreter der „autororientierten Textkritik“ führt Bein (S. 16) Werner Schröder an, der die Aufgabe der Textkritik folgendermaßen umschreibt: „Dem Dichtwerk gegen Schreibfehler, -unarten, -eigenmächtigkeiten zu Hilfe zu kommen, die Leistung des Autors nach Gehalt und Form erkennbar zu machen und ihr, soweit möglich, gerecht zu werden, war und ist die Aufgabe jeder kritischen Textedition.“ (Werner Schröder: Editionsprinzipien für deutsche Texte des Früh- und Hochmittelalters. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hrsg. von Werner Besch, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger. 1. Halbband. Berlin, New York 1984 [Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1], S. 682–692, hier S. 683). Thomas Bein: Die mediävistische Edition und ihre Methoden. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 81–98, hier S. 84.
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Christine Siegert
Editor, ein verlorenes Original zu rekonstruieren. Die Vertreter einer überlieferungsorientierten Textkritik stehen diesen Versuchen skeptisch gegenüber und entscheiden sich stattdessen für die Wiedergabe einer Leithandschrift. Im Fall der italienischen Oper des 18. Jahrhunderts ist der Sachverhalt ähnlich, wenn auch nicht völlig deckungsgleich. Zunächst einmal ist der historische Abstand, der uns vom 18. Jahrhundert trennt, deutlich geringer als derjenige zum Mittelalter. Im Idealfall sind von einem Bühnenwerk sowohl der originale Notentext – autograph – überliefert als auch mehr oder weniger stark bearbeitete Abschriften,3 die allerdings, verglichen mit der Situation im Mittelalter, alle relativ zeitnah zum Original entstanden. Wenn das Autograph fehlt, ist in aller Regel eine Quellenfiliation denkbar, die letztlich auf einen Archetyp hinauslaufen würde. Eine Schwierigkeit ergibt sich, wenn man die Verbreitungssituation und die Umgangsweisen berücksichtigt, welche für die italienische Oper als Gattung typisch waren, eben die ständige Modifikation des Vorgefundenen. Wenn man diese Praxis ernst nimmt, widersetzen sich die Gattung bzw. der jeweils konkrete Einzelfall einer editorischen Reduktion auf ein tatsächliches oder vermeintliches Original. Die Komponisten bestanden nicht auf einer textgetreuen Wiedergabe ihres Werks, sondern sie wirkten selbst an den Veränderungen mit, welche die Verbreitung ihrer Werke letztlich nur unterstützte. Dies ist etwa bei Wolfgang Amadeus Mozart der Fall, der einige seiner Opern für Wiederaufführungen modifizierte. Das berühmteste Beispiel ist vielleicht der Don Giovanni, von dem eine sogenannte „Prager Fassung“ – diejenige der Uraufführung – und eine „Wiener Fassung“ existieren, die sich vor allem unter dramaturgischen Gesichtspunkten unterscheiden.4 Häufiger aber erstellte ein fremder Bearbeiter, der – zumindest in begrenzten Maßen – üblicherweise auch Komponist war, die Neufassung. Die auf diese Weise entstandenen Fassungen müssen in ihrem Aufführungskontext als die jeweils gültige Fassung angesehen werden.5 Auch Reinhard Wiesend betont die Gleichwertigkeit von Komponist und Bearbeiter: 3
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Bein 1995 (Anm. 1), S. 15, nennt zwei Ausnahmen, bei denen für die mittelalterliche Literatur die Originaltexte mit großer Wahrscheinlichkeit überliefert sind: die Wiener Handschrift V der Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg (um 800 – um 875), die vom Verfasser selbst mit Korrekturmarginalien versehen wurde, sowie die im Auftrag des Autors angefertigten Handschriften der Lieder Oswald von Wolkensteins (1376–1445). Im Extremfall integrierten die Komponisten sogar von Anfang an fremdes Material in ihre Bühnenwerke. Joseph Haydn etwa bediente sich für seine Oper La vera costanza einer Arie aus der gleichnamigen Oper seines damals sehr berühmten Kollegen Pasquale Anfossi. Vgl. Horst Walter: Vorwort. In: Joseph Haydn. La vera costanza. Hrsg. von Horst Walter. München 1976 (Joseph Haydn Werke XXV/8), S. VII-X, hier S. IX. Zur Problematik allgemein vgl. Helga Lühning: Publikationsorgan: Aufführung. Grundsatzfragen zur Edition von Opern. In: editio 13, 1999, S. 23–34; dies.: Anmerkungen zur Edition von Opern. In: Opernedition. Bericht über das Symposion zum 60. Geburtstag von Sieghart Döhring. Hrsg. von Helga Lühning und Reinhard Wiesend unter Mitarbeit von Peter Niedermüller und Katja Schmidt-Wistoff. Mainz 2005, S. 1–13.
Gattungstypische Distributionsphänomene der Opera buffa
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Neben die Funktion des Komponisten tritt gleichberechtigt die des Arrangeurs; werden beide Aufgaben in Personalunion erledigt, so mag es zu besonders befriedigenden Ergebnissen gekommen sein. Grundsätzlich besteht aber kein Gegensatz zwischen der Wiederaufnahme einer Oper mit und einer ohne Beteiligung des Komponisten. Der Figaro von 1789, bei dem Mozart [...] zwei Arien für die Ferraresi neu komponierte, ist nicht gültiger als die in derselben Spielzeit erfolgte Wiederaufnahme von Martı´n y Solers Il burbero di buon cuore, bei dem Mozart zwei Arien für Louise Villeneuve beigesteuert hat, wobei Martı´n Wien bereits verlassen hatte, die Wiederaufnahme also ohne Beteiligung des Komponisten stattgefunden hat. Ein Negativum stellt die Abwesenheit des Komponisten bei einer Aufführung nur solange dar, als die Autor-Perspektive als allein maßgebliche angesehen wird.6
So scheint es durchaus möglich, wenn nicht durch die Überlieferungssituation und die zeitgenössische Opernpraxis geboten, auch die handschriftlich überlieferten Opern als Werke zu betrachten, die sich aus der Summe der überlieferten Textzeugen konstituieren, wie Oliver Huck für die mehrfach überlieferten Kompositionen des frühen Trecento vorgeschlagen hat.7 Das Ausmaß der Abweichungen soll im folgenden anhand der Oper I viaggiatori felici von Pasquale Anfossi erläutert werden: ein sehr beliebtes Bühnenwerk, das im Herbst 1780 am Teatro di San Samuele in Venedig uraufgeführt wurde.8 Acht Aufführungen an andern Orten, die in den ersten drei Jahren nach der Uraufführung stattfanden, sind in der folgenden Übersicht zusammengefaßt. Sie beruht auf den jeweils zu den Aufführungen gedruckten Libretti; sämtliche Nummern der Oper, in denen sich für mindestens eine Aufführung Abweichungen zur Uraufführung ergeben, sind in diese Gegenüberstellung aufgenommen, d.h. die Finali sowie ein Duett und ein Terzett, die in allen diesen Libretti vorhanden sind,9 werden nicht verzeichnet. Modifikationen im Libretto bedeuten meist auch Änderungen der Musik; gelegentlich kann es sich aber auch um reine 6
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Reinhard Wiesend: Zur Edierbarkeit italienischer Opern des 18. Jahrhunderts. In: Musik als Text. Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung Freiburg im Breisgau 1993. Hrsg. von Hermann Danuser. Kassel (u.a.) 1998, S. 271–274, hier S. 273. Vgl. Oliver Huck: Der Editor als Leser und der Leser als Editor. Offene und geschlossene Texte in Editionen polyphoner Musik des Mittelalters. In: Musikedition. Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis. Hrsg. von Helga Lühning. Tübingen 2002, S. 33–47, hier S. 37. Vgl. auch Gunter Martens: Was ist – aus editorischer Sicht – ein Text? Überlegungen zur Bestimmung eines Zentralbegriffs der Editionsphilologie. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer. Berlin 1991, S. 135–156, bes. S. 136–138 und 142–144. Zur Bearbeitung von Anfossis I viaggiatori felici vgl. Daniel Brandenburg: Dramaturgie und aggiustamenti am Beispiel ausgewählter Librettodrucke zu Pasquale Anfossis Opera buffa I viaggiatori felici. In: Bearbeitungspraxis in der Oper des späten 18. Jahrhunderts. Bericht über die Internationale wissenschaftliche Tagung Würzburg, 18. bis 20. Februar 2005. Hrsg. von Ulrich Konrad in Verbindung mit Armin Raab und Christine Siegert. Tutzing 2007, S. 233–243; zur Einrichtung Haydns für Eszterha´za Christine Siegert: Die Fassungen der Arie „Dove mai s’e` ritrovata“ aus Pasquale Anfossis Oper I viaggiatori felici. In: Haydn-Studien 9, 2006, S. 107–136. I, 5: Terzetto Bettina, Giannetto, Don Gastone „Deh, Giannetto mio vezzoso“; II, 5: Duetto Bettina, Giannetto „Che bel piacer e` andar la notte in letto“.
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Textänderungen handeln. Abweichungen von der Uraufführung sind durch Fettdruck hervorgehoben; ein leeres Feld bedeutet, daß das entsprechende Libretto an dieser Stelle keine Nummer enthält. Auch Änderungen konnten wiederum in andere Aufführungen übernommen werden. Wenn dabei die Arie ihre Position im Verlauf der Handlung nicht ändert, ist die Angabe zusätzlich kursiv gedruckt, wenn auch die Position abweicht, ist sie unterstrichen. Die geringsten Abweichungen gegenüber der Uraufführung weist das Turiner Libretto vom Herbst 1781 auf. Nur die Arie des Giannetto in der 14. Szene des 1. Akts wurde ersetzt; das Duett von Pancrazio und Don Gastone in der 3. Szene des 2. Akts fiel weg. Im Dresdener Libretto wurden die beiden Arien der Donna Isabella ersetzt; hier wurde Giannettos französische Cavatina in der 6. Szene des 2. Akts ausgelassen. Die Florentiner Aufführung im Frühjahr 1781 brachte eine entscheidende Neuerung: Im 2. Akt wurde eine Arie des Don Gastone eingefügt. Sie wurde für die Aufführungen in Ferrara 1781 und Wien 1783 übernommen. Auch in Parma wurde an dieser Stelle eine – allerdings abweichende – Arie gesungen. Dies könnte über die Ferrareser Fassung vermittelt worden sein. Schließlich übernahm Parma die Arie der Donna Isabella „Ne ho veduto tanti, e tanti“ aus dem 1. Akt der Fassung Ferrara in die 2. Szene des 2. Akts. Die Wiener Fassung stimmt in der 8. Szene des 2. Akts mit Florenz und Ferrara, in der 7. Szene hingegen – mit einigen Abweichungen innerhalb des Arientextes – mit dem Mailänder Libretto überein. Ob hier Zwischenstufen in der Überlieferung angenommen werden müssen oder ob vielleicht mehrere Quellen als Grundlage für die Überarbeitung einer Oper herangezogen wurden, kann auf der Basis der vorliegenden Libretti nicht geklärt werden. Diese mannigfaltige Überlieferung stellt den Editor einer Oper vor besondere Herausforderungen, was noch vor zehn Jahren den Opernforscher Reinhard Wiesend urteilen ließ, die Quellenlage der italienischen Opern sei „einer Edierbarkeit abträglich“.10 Die traditionelle Lösung des Dilemmas besteht in der Faksimile-Edition einer einzigen Quelle. Obwohl der dokumentarische Wert einer Faksimile-Edition außer Frage steht und durch diese zahlreiche Opern überhaupt zum ersten Mal im Druck erschienen, ist das Faksimile die unbefriedigendste Lösung, zumal die edierten Quellen in den großen Faksimile-Reihen11 offenbar eher aufgrund äußerer als inhaltlicher Gründe ausgewählt wurden. Sie sind beispielsweise gut lesbar und deshalb leicht reproduzierbar, oder sie waren einfach leicht zugänglich. Nachvollziehbar wird die Auswahl der Quelle für den Leser üblicherweise nicht. So zählt etwa der Herausgeber von Tommaso Traettas Ifigenia in Tauride insgesamt elf Partiturkopien der Oper auf,12 um fortzufahren: 10 11 12
Wiesend 1998 (Anm. 6), S. 271. Vgl. die Reihen Italian Opera 1640–1770 und Drammaturgia musicale veneta. In Berlin, Bologna, Brüssel, Darmstadt, Florenz, London, Modena, Neapel, Paris, Turin und Wien.
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The present facsimile is reproduced from Florence, Biblioteca del Conservatorio di Musica Luigi Cherubini, MS Basevi 306, a copy doubtless made for archival or private use, since it contains some uncorrected note mistakes.13
Welche Stellung die Florentiner Handschrift innerhalb der Manuskripte einnimmt und wie sie deshalb quellenkritisch zu beurteilen ist, erfährt der Benutzer nicht. Diese Art der Edition führt unter Nicht-Spezialisten fast zwangsläufig zu einer falschen Vorstellung: Der dokumentierte Ausschnitt aus einer undurchsichtigen Überlieferung wird mit einer vermeintlichen Werkgestalt verwechselt. Reinhard Wiesend machte in dem zitierten Aufsatz einen äußerst interessanten Vorschlag einer anderen Editionsform, der wohl nie zu realisieren versucht wurde: [...] die adäquate Edition eines Überlieferungskomplexes – sei es für den Fall von Divergenzen innerhalb einer Fassung, sei es für den Fall divergierender Fassungen – [wäre] in Form der Herstellung einzelner Faszikel denkbar, die sich der Benutzer, also der Praktiker wie der Wissenschaftler, ad hoc und nach seinen Bedürfnissen bzw. seinem Erkenntnisinteresse zusammenstellen und mit wenigen Griffen aufeinander abstimmen könnte.14
Bedenkt man den enormen technischen Fortschritt der letzten Jahre, wäre eine elektronische Ausgabe ideal, welche die vielseitigen Erscheinungsformen der Opere buffe mit allen überlieferten Fassungen anhand ausgewählter Bühnenwerke dokumentieren könnte.15 Die einzelnen Fassungen würden so in ihrer Integrität ebenso verfügbar gemacht wie die gesamte Variantenbreite zu einer Szene bzw. die quasi-synoptische Gegenüberstellung mehrerer Fassungen und schließlich die verschiedenen Fassungen in ihrer historischen Abhängigkeit. So ginge aus der Edition die weite Verzweigung der Texte und die Vielgestaltigkeit hervor, welche die Bühnenwerke im Zuge der Rezeption annahmen.16 Insbesondere würde der prinzipiellen Gleichwertigkeit der verschiedenen Fassungen Rechnung getragen und die nur gering ausgeprägte auctoritas der Komponisten im Opernsystem des späten 18. Jahrhunderts berücksichtigt. Bei einer derartigen 13
14 15
16
Tommaso Traetta: Ifigenia in Tauride. Hrsg. von Howard Mayer Brown. New York, London 1978 (Italian Opera 1640–1770 47), Preface. Wiesend 1998 (Anm. 6), S. 274. Roland S. Kamzelak plädiert beispielsweise dafür, „vom Inhalt ausgehend, die passende Publikationsart [zu] wählen“. (Roland S. Kamzelak: Edition und EDV. Neue Editionspraxis durch Hypertext-Editionen. In: Nutt-Kofoth 2000 [Anm. 2], S. 65–80, hier S. 72). Georg Steer: Textgeschichtliche Edition. In: Bein 1995 (Anm. 1), S. 281–297, schlägt für die Rechtssumme Bruder Bertholds eine Edition von drei „Redaktionstexten“ vor, die einen Teil der Überlieferung dokumentieren. Vgl. dazu auch Christine Siegert: Rezeption durch Modifikation. Verbreitungswege italienischer Opern des späten 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. In: Oper im Aufbruch. Gattungskonzepte des deutschsprachigen Musiktheaters um 1800. Hrsg. von Marcus Chr. Lippe. Kassel 2007 (Kölner Beiträge zur Musikwissenschaft 9), S. 111–131.
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Edition mehrerer Opern könnten darüber hinaus Distributionswege aufgezeigt und lokale Bearbeitungsgepflogenheiten erkennbar werden. Bestimmte Konstanten könnten etwa Aufschluß über die Besetzungsmöglichkeiten eines Orchesters oder die Fähigkeiten bestimmter Sängerinnen und Sänger geben. Gegebenenfalls könnte der edierte Notentext sogar gleichzeitig zum Klingen gebracht werden. Doch dies alles ist Zukunftsmusik – über die nachzudenken sich dennoch lohnt. Ein Beispiel dafür, wie ein einzelnes Element eines solchen Bearbeitungskomplexes exemplarisch ediert werden kann, bieten Joseph Haydns Bearbeitungen von Arien anderer Komponisten. Als Kapellmeister des Fürsten Esterha´zy brachte Haydn von Mitte der 1770er Jahre bis 1790 zahlreiche fremde Opern zur Aufführung.17 Die Modifikationen, die Haydn im Hinblick auf diese Aufführungen vornahm, unterscheiden sich nicht grundsätzlich von denen anderer Bearbeiter. Natürlich sollen diese Bearbeitungen in die Gesamtausgabe Joseph Haydn Werke aufgenommen werden;18 ebenso selbstverständlich können die von Haydn bearbeiteten Opern in der Gesamtausgabe nicht vollständig ediert werden – so bedauerlich dies sein mag. Stattdessen beschränkt sich die Edition auf jene Nummern, in die Haydn in musikalisch relevanter Weise eingegriffen hat. Veränderungen, die damit nicht erfaßt werden, werden in einer separaten Studie unter systematischen Gesichtspunkten behandelt.19 Sowohl für die knapp umrissenen Möglichkeiten einer idealen – und vielleicht zukünftig zu realisierenden – Opernedition als auch für die Herausgabe von einzelnen Arienbearbeitungen gilt, was Georg Steer in bezug auf die Prosaforschung formuliert hat: Eine Edition, die sich die Herausgabe eines ,unfesten‘ Textes zum Ziele setzt, muß zunächst einmal die ,Unfestigkeit‘ des Textes in seine Geschichte auflösen. Im einzelnen heißt dies, daß der abschriftliche Weg der gesamten erhaltenen Textüberlieferung [...] nachgezeichnet werden und daß eruiert werden muß, an welchen Stationen des Überlieferungsweges der Text bearbeitet oder überhaupt verändert wurde.20
Anhand der Arie „Gelosia d’amore e` figlia“ (Hob. XXXIc:6) aus Antonio Salieris Oper La scuola de’ gelosi21 werden im folgenden die Prinzipien exem17
18
19
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Vgl. dazu grundlegend De´nes Bartha und La´szlo´ Somfai: Haydn als Opernkapellmeister. Die Dokumente der Esterha´zy-Opernsammlung. Budapest 1960. Haydns Bearbeitungen von Arien anderer Komponisten wurden von 2003 bis 2006 im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Forschungsprojekts an der Universität Würzburg und dem Joseph Haydn-Institut Köln untersucht. Die Editionen der Bearbeitungen sollen als Band XXVI/3 und 4 von Joseph Haydn Werke erscheinen. Vgl. Christine Siegert: Opernwerkstatt Eszterha´za. Joseph Haydns Bearbeitungen von Arien anderer Komponisten. Haydn-Studien 10. In Vorbereitung. Steer 1995 (Anm. 15), S. 282. Vgl. Rudolph Angermüller: Salieri-Opern in Eszterha´za. In: Chigiana 36, Nuova serie 16, 1979, Firenze 1984, S. 87–99.
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plifiziert, die für die Edition der Arienbearbeitungen in der Haydn-Gesamtausgabe entwickelt wurden. Vorlage und bearbeitete Fassung sollen im Partiturbild klar erkennbar und unterscheidbar sein. Dabei wird ausgehend von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der beiden Fassungen Wert darauf gelegt, auch durch das Partiturbild möglichst keine Hierarchisierung zu erzeugen. So kommt etwa Rotdruck als Markierung nicht in Frage, weil er eine ,Verbesserung‘ suggerieren würde. Darüber hinaus soll die Prozeßhaftigkeit des Bearbeitungsvorgangs betont werden. Salieris Oper wurde im Karneval 1779 am Teatro di San Moise` in Venedig uraufgeführt und im Sommer 1780 zum ersten Mal im Operntheater von Eszterha´za auf die Bühne gebracht. Außer dem Autograph22 sind mindestens zehn Partiturhandschriften des Bühnenwerks überliefert.23 Von über 40 Aufführungen sind gedruckte Textbücher erhalten.24 Die Partitur, die Haydn zur Aufführung in Eszterha´za verwendete, stammt, den beteiligten Kopisten nach zu urteilen,25 höchstwahrscheinlich aus Venedig, dem Ort der Uraufführung.26 Wenn man sie mit Salieris vielfach bearbeitetem Autograph vergleicht, erweist sich, daß sie tatsächlich eine relativ frühe Fassung der Oper repräsentiert. Haydn komponierte eine Ersatzarie,27 und er bearbeitete 22 23
24
25
26 27
Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Mus. Hs. 16615. Budapest, Orsza´gos Sze´ che´nyi Könyvta´r, Ms. Mus. OE–9; Dresden, Sächsische Universitäts- und Landesbibliothek, Mus. 3796−F−510 (venezianische Kopie) und Mus. 3796−F−6 (Dresdener Kopie); Florenz, Conservatorio di Musica „Luigi Cherubini“, FPT 447; Modena, Biblioteca Estense, F 1042; Paris, Bibliothe`que Nationale de France, D 14.547; Regensburg, Bischöfliche Zentralbibliothek, Mettenleitner 2602 und Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek und Zentralarchiv, Salieri 9; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Mus. Hs. 17845 und KT 410. Bologna 1779, Monza 1779, Padua 1779, Sinigaglia 1779, Varese 1779, Venedig 1779, Florenz 1780, Piacenza 1780, Siena 1780, Turin 1780, Verona 1780, Wien 1780 (Bustelli), Dresden 1781, Gorizia 1781, Macerata 1781, Modena 1781, Perugia 1781, Ravenna 1781, Reggio 1781, Braunschweig 1782, Ferrara 1782, Warschau 1782, Prag 1783, Venedig 1783, Wien 1783, Fermo 1784, Mestre 1785, Neapel 1785, Trient 1785, Udine 1785, Como 1786, London 1786, St. Petersburg 1786 [?], Florenz 1787, Hamburg 1787, Köln 1787, Zara 1787, Paris 1791, Mestre 1792, Lissabon 1795, Livorno 1797, Madrid [1797], [Mailand 1798], Regensburg [o.J.] (vgl. Rudolph Angermüller: Antonio Salieri. Sein Leben und seine weltlichen Werke unter besonderer Berücksichtigung seiner „großen“ Opern. Teil 1: Werk- und Quellenverzeichnis. München 1971 [Schriften zur Musik 16, Publikationen des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Salzburg 2], S. 169–173; Claudio Sartori: I libretti italiani a stampa dalle origini al 1800. Catalogo analitico con 16 indici. Bd. 5. Cuneo 1992, S. 160–164, Nr. 21349–21382). Darüber hinaus weist Angermüller (S. 173) ein deutsches Libretto (ohne Ortsangabe) von 1796 nach. Das Libretto der ´ llami Gondnoksa´ga (Staatliche Eszterha´zaer Aufführung befindet sich in Budapest, Mu˝ emle´kek A Verwaltung für Baudenkmäler). Dr. Tere´zia Bardi möchte ich für die Möglichkeit der Einsichtnahme herzlich danken. Kopisten: Anonymus 34a: 1. Akt (mit Ausnahme des Finales) und 2. Akt (mit Ausnahme der gedruckten Einlage und des Finales), Anonymus 34b: Finale 1. Akt, Anonymus 24a: Finale 2. Akt. Die Zählung der Kopisten erfolgt nach Bartha/Somfai 1960 (Anm. 17), S. 223. Eine Abbildung der Handschrift von Anonymus 24a in Siegert 2007 (Anm. 16), S. 128. Sie befindet sich heute in der Sze´che´nyi Nationalbibliothek in Budapest (Ms. Mus. OE–9). „Dice benissimo chi si marita“, Aria des Lumaca (Hob. XXIVb:5). In: Joseph Haydn: Arien und Szenen mit Orchester. 1. Folge. Hrsg. von Robert von Zahn. München 2000 (Joseph Haydn Werke XXVI/1), S. 19–23.
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„Gelosia d’amore e` figlia“. Außerdem ersetzte er vermutlich eine weitere Arie durch eine von ihm bearbeitete, nämlich die Arie Hob. XXIVb:4, deren Text anhand des wieder aufgefundenen Textbuchs der Esterha´zy-Sammlung bestimmt werden konnte.28 Er lautet „Ognun sa che molti amanti“.29
Abb. 1: Antonio Salieri: La scuola de’ gelosi. Budapest, Orsza´gos Sze´che´nyi Könyvta´r (Sze´ che´v nyi Nationalbibliothek), Ms. Mus. OE–9, „Gelosia d’amore e` figlia“, Partitur, fol. 22 .
Bei „Gelosia d’amore e` figlia“ handelt es sich um die erste Arie der Dienerin Carlotta, die in Eszterha´za von Luigia Polzelli verkörpert wurde, mit der Haydn ein langjähriges Verhältnis verband. Für sie sind die meisten Bearbeitungen Haydns bestimmt. „Gelosia d’amore e` figlia“ steht in der Partitur in A-Dur und 28
29
Bei Anthony van Hoboken: Joseph Haydn. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis. Band 2. Mainz 1971, S. 208 ist die Arie noch mit anderem Text („Il cor nel seno balzar mi sento“) und als Komposition Haydns verzeichnet. Beides wies Georg Feder: Kein Ende der Quellenforschung. Kritisches zu Haydns Einlage-Arien. In: Festschrift Wolfgang Rehm zum 60. Geburtstag am 3. September 1989. Hrsg. von Dietrich Berke und Harald Heckmann. Kassel, Basel, London, New York 1989, S. 70–80, hier S. 71f. zurück. LA SCOLA / DE’ GELOSI / DRAMMA GIOCOSO PER MUSICA. / DA RAPPRESENTARSI / NEL TEATRO D’ ESTERHAZ / NELL’ ESTATE L’ANNO 1780, (o.O., o.J.), S. 42. FaksimileAbbildungen dieser Arienbearbeitung in Bartha/Somfai 1960 (Anm. 17), Abb. 15 (erste Seite), und in Salieri sulle tracce di Mozart. Hrsg. von Herbert Lachmayer, Theresa Haigermoser und Reinhard Eisendle. Kassel 2004, S. 213 (letzte Seite).
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ist nur mit Streichern, zwei Violinen, Viola und Basso, instrumentiert. Zunächst erwog Haydn offenbar, die Arie ganz wegzulassen. Über dem Beginn (fol. 22v) notierte er mit Bleistift „kann weg bleiben“ (Abb. 1). Doch anstatt die Arie auszulassen, bearbeitete er sie in mehreren Schritten. Haydn ersetzte zum Beispiel drei Takte durch eine Koloraturpassage von zwölf Takten (Abb. 2a und b) – ein eher ungewöhnlicher Vorgang unter seinen Bearbeitungen.30 Er strich in zwei Schritten die ersten drei Takte auf fol. 23v und gab mit einem sogenannten Vide-Vermerk an, daß an dieser Stelle zum Beginn der von ihm neu ausgeschriebenen Seite (fol. 24r) zu springen ist. Der Sprung zurück vom Ende dieser Seite zum Beginn des vierten Takts in der ursprünglichen Partitur ist dort mit einem Doppelstrich angedeutet. Außerdem fügte Haydn Oboen- und Hornstimmen hinzu. Diese Instrumente trug er gar nicht mehr in die Partitur ein, sondern schrieb gleich Einlageblätter für die Orchesterstimmen (Abb. 3) aus. Schließlich transponierte Haydn die Arie in einem zweiten Bearbeitungsschritt um einen Halbton aufwärts von A-Dur nach B-Dur. In den Oboenstimmen strich Haydn seine erste Fassung wieder und schrieb die neue Fassung auf den ursprünglich frei gebliebenen Platz darunter. Er konnte diese Aufgabe keinem Kopisten übertragen, weil er im Zuge dieser Transposition weitere Modifikationen vornahm. Zum Beispiel wurden die acht Takte Pause im oberen System nach Takt 6 in der B-Dur-Fassung auf sieben Pausentakte reduziert und in Takt 14 ein zusätzliches punktiertes Motiv eingeführt. Auch bei den folgenden Takten handelt es sich nicht um eine einfache Transposition. In den meisten übrigen Stimmen nahm Haydn ebenfalls weitere Änderungen vor, so daß er auch diese Stimmen neu ausschreiben mußte.31 Wie lassen sich solche Vorgänge – eine ursprünglich nur mit Streichern begleitete Arie wird an einigen Stellen geändert und um Bläserstimmen ergänzt, schließlich transponiert und dabei weiter verändert – in einer Edition dokumentieren? Für die entsprechenden Bände der Haydn-Gesamtausgabe ist eine Mischung aus simultanen, sukzessiven und synoptischen Darstellungsformen vorgesehen.32
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32
Auch in der Arie „Siam di cuor tenero“ (Hob. deest) aus Piccinnis Gli stravaganti fügte Haydn Koloraturen hinzu. Die jeweils zweiten Exemplare der Violinstimmen schrieb ein Kopist, und auch Viola und Basso konnte Haydn seinem Kopisten übertragen: Sie weisen keine neuen Änderungen auf. Zu den Prinzipien der Edition vgl. Armin Raab: Die Edition von (Opern-)Bearbeitungen in Komponistengesamtausgaben. In: Konrad 2007 (Anm. 8), S. 305–322.
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Abb. 2a: Antonio Salieri: La scuola de’ gelosi. Budapest, Orsza´vgos Sze´che´nyi Könyvta´r, Ms. Mus. OE–9, „Gelosia d’amore e` figlia“, Partitur, fol. 23 .
Abb. 2b: Antonio Salieri: La scuola de’ gelosi. Budapest, Orsza´r gos Sze´che´nyi Könyvta´r, Ms. Mus. OE–9, „Gelosia d’amore e` figlia“, Partitur, fol. 24 (mit Haydns neuer Koloraturpassage).
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Abb. 3: Antonio Salieri: La scuola de’ gelosi. Budapest, Orsza´gos Sze´che´nyi Könyvta´r, Ms. Mus. r 33 OE–9, „Gelosia d’amore e` figlia“, Oboe II, fol. 549 .
Unten auf der Seite (Abb. 4) befindet sich die A-Dur-Fassung, wobei die in Haydns Vorlage vorhandenen Stimmen normal gedruckt sind, Haydns Zusätze und Änderungen, vor allem also die Bläserstimmen, erscheinen grau unterlegt. Oben auf der Seite steht die B-Dur-Fassung. In ihr werden nur noch die Änderungen grau markiert, die über die Transposition von Haydns A-Dur-Fassung nach B-Dur hinausgehen. Haydn ersetzte in der A-Dur-Fassung einen Takt (Takt 47a). Der ersetzte Takt ist hier durchgestrichen, die beiden Ersatztakte sind grau unterlegt – sofern sie von Takt 47a abweichen – und werden mit einer Klammer gekennzeichnet, die ihre Ersatzfunktion beschreibt. Da Haydn auch diese Änderung außer im Basso nur in den Instrumentalstimmen vornahm, ist die Singstimme dieser beiden Takte leider nicht erhalten, so daß sie rekonstruiert werden muß, was durch eckige Klammern angezeigt wird. Der Übergang an dieser Stelle scheint problematisch gewesen zu sein. Da der Sängerin der Wiedereinsatz mit dem Textbeginn „Gelosia d’amore e` figlia“ offenbar schwer fiel, modifizierte Haydn in der B-DurFassung die zweite Oboe und die Hörner. Insbesondere aber fügte er in der ersten Geige eine Überleitung ein, die den musikalischen Fluß aufrecht erhält und so den Wiedereinstieg für die Sängerin erleichtert. 33
Faksimile-Abbildung von Oboe I in Bartha/Somfai 1960 (Anm. 17), Abb. 14.
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Indem die Edition das Prozeßhafte der Arienbearbeitung sichtbar macht und so an einem kleinen Ausschnitt die Veränderungen zeigt, die an einem bestimmten Ort für eine bestimmte Aufführung vorgenommen wurden, verweist sie gleichzeitig auf die grundsätzliche Variabilität der Operngestalt und die allgemeine Praxis der Opernbearbeitung. Diesen Kontext nicht nur annäherungsweise zu beschreiben, sondern ihn editorisch aufzuarbeiten und damit konkret und im Detail nachvollziehbar zu machen, bleibt eine Aufgabe für die Zukunft.
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Abb. 4: „Gelosia d’amore e` figlia“, Takt 46–50. Edition von A-Dur-Fassung (unten) und B-DurFassung (oben).
Barbara Hunfeld Die Autographen sind schuld Jean Pauls (un)absichtliche Errata
Was die Herausgeber seiner Werke heute beschäftigt, nimmt Jean Paul literarisch vorweg. Probleme der Textdarstellung werden in Briefen, Vorstudien und im Werk selbst reflektiert. Es geht um philologische Fragen wie den Zusammenhang von Textteilen, um Fassungsvergleiche, um die Gestaltung künftiger Gesamtausgaben. Solche Überlegungen, ob in pragmatischer Absicht oder als literarische Imagination, stehen zumeist in dem größeren Zusammenhang einer Selbstthematisierung des Schreibens. Die Hypertrophie der Schrift ist ein immer wiederkehrender thematischer Faden, der das Gesamtwerk durchflicht. Doch auch die äußeren Bedingungen des Schreibens beschäftigen Jean Paul, ihre gewünschte und öfter noch unbeabsichtigte Gestaltung des Textes. Schon die Qualität der Schreibfeder beeinflußt den geschriebenen Gedanken, wie die nachgelassenen Satiren und Ironien ausmalen.1 Der bloße Zufall der Schreibumstände fordert sein Recht am Text. Eine Anmutung von Willkür begleitet daher viele von Jean Pauls Schreib-Reflexionen, als schöpferische Kraft gedeutet oder Zugeständnis einer unabwendbaren Kontingenz. Ein Beispiel solcher Ambivalenz betrifft die Gestalt der Schriftzeichen und ihre merkwürdigen Folgen für die Entzifferung. In Jean Pauls Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal verwendet der Held größte Sorgfalt auf das Zuschneiden seiner Federn. Er möchte Hexameter schreiben, die erratisch sind wie die seiner Vorbilder. Doch „da ers durch keine Bemühung zur geringsten Unverständlichkeit bringen konnte“,2 spitzt er die Federn falsch zu, um auch seine Hexameter unverständlich zu machen, unleserlich nämlich. „Durch diese poetische Freiheit bog er dem Verstehen ungezwungen vor.“3 Poe1
2
3
„Einflus der Federn. Der Rezensent der mich tadelt kan das nicht wissen daß ich gerade mit einer Feder geschrieben die schuld daran ist. Hätte ich eine bessere gehabt und hätte man mir weniger schändl. nicht hiesige Gänsekiele für Hamburger angehangen: so hätte ich nicht so schreiben könen. Denn man erwägt nicht genug, daß der Werth eines Buchs nicht blos vom Kopf sondern 〈 auch 〉 der harten oder weichen Feder abhänge. Und folglich schreibe ich blos hieher um meine neugeschnittene Feder zu probiren und iezt habe ich sie probirt.“ Jean Paul, Satiren und Ironien. Band 14 (1789), Nr. [66]/64, S. 25. Zitiert nach: Birgit Sick: Jean Pauls nachgelassene Satiren und Ironien als Werkstatt-Texte. Schreibprozeß – Werkbezug – Optionale Schreibweisen. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 41, 2006, S. 51–70, hier: S. 52. Jean Paul, Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal. Eine Art Idylle. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Norbert Miller. Abteilung I, Bd. 1. Nördlingen/Regensburg 1996 (=Lizenz-Nachdruck der Ausgabe München 1960), S. 441. Ebenda.
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tische Freiheit ist hier die absichtsvolle Korruption der Zeichen durch Manipulation des Schreibgeräts, um dem versehentlichen Textverständnis vorzubeugen. Soweit die Fiktion. Jean Paul hatte selbst eine schwer leserliche Handschrift, doch anders als dem Schulmeisterlein ging es ihm nicht darum, dem Verstehen vorzubeugen. Auf einer angehängten Errata-Liste zum Erstdruck seines Romans Hesperus beklagt er die aus Verlesungen der Handschrift hervorgegangenen Druckfehler, die seinem Text den Sinn nähmen. Das Unverständnis der Setzer bestimmte den Wortlaut, entschied über „einstmals“ oder „niemals“, „ehelos[]“ oder „ehrlos[]“, „Glücklichen“ oder „Unglücklichen“ (vgl. Abb. 1).4 Nicht nur Hesperus, sondern auch weitere Werke waren von diesem Problem betroffen.5 Während im Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal der fiktive Verfasser unleserlicher Hexameter auf das Entzifferungsproblem setzt, weil nur in der Sinnlosigkeit und Willkür der Zeichen der Text sein Ziel erreicht, bekommt es der tatsächliche Verfasser mit einer seinem Autorwillen widersprechenden Sinnkonstruktion und Bestimmung der Zeichen zu tun. In beiden Fällen, der Fiktion wie der Wirklichkeit, stellt sich die hermeneutische und zugleich editorische Frage nach dem Subjekt der Texte und nach der einen, authentischen Textgestalt. Nicht nur bei der Entstehung, sondern auch bei der Überlieferung der Texte ist nämlich, wie das Beispiel des Hesperus zeigt, Willkür im Spiel. Bei der Texttradierung aber kann sie nicht mehr als poetische Freiheit ironisiert werden, hier geht es um das Ausgeliefertsein der Literatur an außerliterarische Bedingungen, jenseits der Verfügung des Verfassers. In den drei voneinander abweichenden Druckauflagen des Hesperus (1795, 1798 und 1819) wird dieses Problem manifest. Bekanntlich dokumentieren die drei Fassungen des Romans einen zweimaligen Umarbeitungsprozeß durch seinen Autor. Nachdem der Hesperus Jean Paul 1795 so berühmt wie umstritten gemacht hatte, bedingte das Aufsehen, das das Buch erregte, eine rasche Neuauflage, die durch die gleichzeitige Kritik an der literarischen Eigenart des Romans 1798 den Charakter einer Überarbeitung erhielt. 1819 wurde der Roman ein drittes Mal aufgelegt, mit neuerlichen Änderungen, denn der alte Jean Paul hatte sich Aspekte der Sprachreformer-Bewegung zu eigen gemacht. Die Hesperus-Fassungen von 1798 und 1819 sind also vom Verfasser selbst neuauf4
5
Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Eine Biographie. Erstes Heftlein. Berlin 1795, unpaginierte Seite, an Seite 392, die letzte Textseite des Bandes, angeklebt. – Vgl. Abb. 1. „Aber Ihrem Sezer dank’ ich für nichts, am wenigsten für seine Augen, die allemal sahen, was ich nicht geschrieben – noch für sein Verlesen, etc. noch für seine Interpunkzion, die er mir in einem Tauschhandel stat der meinigen gab – noch für seine Orthographie, die weder die meinige noch die rechte ist – noch für seine Salve von Drukfehlern, die er auf iedem Bogen abfeuerte. Wenigstens hat er sich öfter verdrukt als ich mich verschrieben [...].“ (Jean Paul an Beckmann, den Verleger der Teufelspapiere, am 7. Juni 1789, zitiert nach: Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. III. Abteilung: Briefe von Jean Paul. Hrsg. von Eduard Berend. Bd. 1, Berlin 1956, S. 262, Nr. 264. Vgl. auch den Beitrag von Birgit Sick im vorliegenden Band.)
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gelegte und überarbeitete Texte. Die Geschichte wird weitergesponnen, Zusammenhänge werden ummontiert, die Sprachgestalt wird verändert. Mochte der Autor Jean Paul den Roman variieren, als Herausgeber der Druckfassungen bekam er es mit unerwünschter Überlieferungsvarianz zu tun. Es handelte sich um die sinnverändernde Fehlerhaftigkeit der Drucke. Die Setzer hatten Schwierigkeiten mit der Lesbarkeit der (heute nicht mehr erhaltenen) Druckmanuskripte oder gingen nachlässig mit den Schreibungen um, einer oft uneinheitlichen Privatorthographie des Verfassers. Jean Paul erhielt lediglich Aushängebögen und konnte nur einen Teil der Fehler in angehängten ErrataListen berichtigen, weshalb strittig ist, ob von autorisierten oder vorsichtiger von durch den Autor veranlaßten Drucken zu sprechen ist. Über das Dilemma macht Jean Paul sich lustig. Die Druckfehler-Liste zum ersten Band des Hesperus in der Erstausgabe von 1795 überschreibt er, in seiner Eigenschaft als Herausgeber des eigenen Romans, mit folgendem Text (vgl. Abb.1): Da ich selber die Unart habe, daß ich mich um das Verzeichniß fremder Errata nicht im Geringsten bekümmere: so hoff´ ich vom Leser auch nichts besseres: und dann werden folgende Druckfehler ganzen halben Seiten den Sinn nehmen.6
Tatsächlich sind die Fehler gewichtig. Wie zitiert, stand im Buch „niemals“ anstelle von „einstmals“, ebenso wurde aus „dümmer“ „dünner“, aus „konischen“ „komischen“, aus „keifen“ „reisen“, aus „Museen“ „Musen“ und so weiter.7 Den lässigen Habitus des Autors, er selber schere sich als Leser fremder Werke auch nie um Errata-Listen, straft allerdings eine Textzeile am Ende der Seite Lügen. In großer Schrifttype steht da, als Anweisung an den Leser oder vielmehr an dessen Buchbinder: Druckfehler müssen v o r n vor jeden Band kommen.8
Man soll sich durchaus um die Errata bekümmern, ihre Korrektur als Teil des Textes begreifen. Doch der Appell verhallte; die Errata wurden, unpaginiert, ganz hinten angefügt. In der zweiten, „verbesserten“ und „vermehrten“ Auflage des Hesperus von 1798 erscheint neuerlich eine Druckfehler-Liste zum ersten Band. Auch sie ist nötig, denn der aktuelle Druck ist abermals fehlerhaft, ja wiederholt sogar Fehler der Erstauflage. Doch der Herausgeber kokettiert: 6
7 8
Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Eine Biographie. Erstes Heftlein. Berlin 1795, unpaginierte Seite, an Seite 392, der letzten Textseite des Bandes, angeklebt. – Vgl. Abb. 1. Ebenda. Ebenda. (Auf der Abbildung ist der Beginn der Zeile nicht erkennbar, da das Anfangswort teilweise durch den Rand der S. 392 verdeckt ist, an die das Blatt angeklebt wurde.)
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Da mir die Druckfehler der ersten Edition zur Aufstellung des kleinen Theorems Anlaß gaben, daß ich, der Autor möge bitten wie er wolle, nie seine Druckfehler vor dem Lesen änderte, und daß ich mir daher von meinen Lesern auch nichts Bessers verspräche: so hab´ ich, damit dieses Theorem nicht umkäme, statt der vorigen Errata, einige leichte neue absichtlich setzen lassen. Man hat folgende gewählt: [...].9
Die Kontingenz der Textgestalt wird als Absicht ausgegeben. Gleichwohl setzt der Herausgeber auch jetzt ein Signal, daß auf den Ernst der Lage hindeutet. Am Ende des dritten Bandes derselben Auflage überschreibt Jean Paul die nächste Druckfehler-Liste mit dem Titel (vgl. Abb. 2): E r r a t a d e s d r i t t e n H e f t l e i n s , die ich recht ernstlich vor dem Lesen wegzunehmen bitte.10
Jean Pauls Haltung schwankt zwischen dem Wunsch nach Beachtung seiner Korrekturen und spöttischer Verachtung ihrer Ursache. Im Jahr 1819 erscheint der Roman, nachdem er bereits zwei Auflagen erlebt hat, noch ein drittes Mal, wie schon 1798 in überarbeiteter Gestalt. Doch obgleich der redigierende und edierende Autor auch diese Fassung „verbessert“ nennt, ist ihm das Druckfehler-Problem treu geblieben. Jene Ironisierung des Dilemmas, die mit der Behauptung einer Absicht des Zufälligen spielt, wird, obwohl sie zum eigentlichen Textkontinuum des Romans nicht gehört, auf einer Errata-Liste abermals tradiert und wie der literarische Text selbst für die Neuauflage überarbeitet. Da steht (vgl. Abb. 3): Druckfehler des ersten Heftleins. Da mir die Druckfehler der e r s t e n Auflage Anlaß zur Aufstellung der kleinen Thesis gaben, daß sogar ich selber, der Autor möge bitten wie er wolle, nie seine Druckfehler vor dem Lesen änderte, und daß ich mir daher von meinen Lesern gleichfalls nichts Besseres verspräche: so hab´ ich, damit die Thesis nicht umkäme, statt der vorigen Druckfehler in der ersten und in der zweiten Auflage, einige leichte neue in der dritten absichtlich setzen lassen. Man hat folgende gewählt: [...].11
Was die Hoheit des Verfassers über seinen Text durchkreuzt, wird fiktional entkräftet. Mit ihren eigenen Mitteln sucht die Literatur sich anzueignen, was sie überformt. Erschriebene Selbstermächtigung hebt die Ohnmacht gegenüber der 9
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Eine Biographie. Erstes Heftlein. Berlin 1798, unpaginierte Seite, in einen dem Romantext angehängten Bogen eingeklebt. Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Eine Biographie. Drittes Heftlein. Berlin 1798, unpaginierte Seite, an S. 352, der letzten Textseite des Bandes, angeklebt. – Vgl. Abb. 2. Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundposttage. Eine Lebensbeschreibung. Drittes Heftlein. Berlin 1819, S. 371v (unpaginierte Rückseite). – Vgl. Abb. 3.
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Kontingenz der Rahmenbedingungen auf. Indem selbst Setzerfehler Anlaß zum literarischen Spiel geben können, treibt die Kontingenz das Schreiben weiter an. Überlieferungsvarianz wird so zum Ausgangspunkt neuer Autorvarianten, wie der Vergleich der Beitexte zu den Errata-Listen der drei Hesperus-Auflagen zeigt. Auf den Fassungsvergleich jener drei Auflagen insgesamt, auf die Entstehungsvarianz des Romans selbst kommt es der heutigen, historisch-kritischen Edition des Hesperus an.12 Ihr Darstellungsmodell sucht die genetischen Umarbeitungsprozesse sichtbar zu machen. In einer Absatzsynopse gibt die Edition darum die erste und die zweite Auflage des Romans vollständig wieder. Diese Fassungen D1 und D2 werden auf zwei Buchseiten nebeneinander abgedruckt. Beiden Fassungen ist jeweils ein Variantenapparat zugeordnet. Als eine die Synopse begleitende Lesehilfe sind unter der Fassung D1 alle Abweichungen zwischen D1 und D2 in lemmatisierter Form vermerkt. Nach demselben Muster verzeichnet der Variantenapparat unter der Fassung D2 die Unterschiede zwischen D2 und D3. Da die Auflage D3 vor allem stilistische Veränderungen gegenüber D2 vornimmt, wird D3 nicht gedruckt, sondern als Varianz gegenüber D2 repräsentiert. Die beiden Varianten-Apparate unter D1 und unter D2 sind überall da in sich geteilt, wo kleinere Einzelvarianten von Passagen-Varianten zu unterscheiden sind. So wird der Leser auf die größeren genetischen Schreibprozesse wie Einfügung, Umstellung, Umarbeitung und Streichung aufmerksam; Lücken oder Verschiebungen im Fließtext werden ihm erklärt.13 Die Hesperus-Edition vermag die genetischen Umarbeitungsprozesse synoptisch und mit Hilfe lemmatisierter Variantenapparate zu dokumentieren, doch stellt sich angesichts jener vielen kleinen Abweichungen in Schreibweisen und Satzzeichen-Setzung immer wieder die Frage, ob es sich um Autorvarianten oder um schwer zu identifizierende Überlieferungsvarianten handelt. Denn auch hier ist der Zufall im Spiel. Nicht alle Setzerfehler sind in den Errata-Listen verzeichnet, aus Nachlässigkeit des Herausgebers oder vielmehr aus seiner resignativen Gleichgültigkeit. Wo die heutige Edition zwar in definierten Fällen emendieren darf, nicht aber wie frühere Herausgeber mit Vereinheitlichungen arbeiten will, werden möglicherweise Druck-Kontingenzen als Varianten mitüberliefert; große Umarbeitungen verlieren sich im Gewirr der Klein- und 12
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Zur Edition des Hesperus vgl. Barbara Hunfeld: Textwerkstatt. Eine neue Jean-Paul-Werkausgabe und ihr Modell Hesperus. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 41, 2006, S. 19–39; zum Kontext der Edition vgl. Barbara Hunfeld: Eine neue Jean-Paul-Werkausgabe. In: Geschichte der Germanistik 31/32, 2007, S. 111–116, auch in: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses. Paris 2005. Hrsg. von Jean Marie Valentin. Bd. 5. Bern 2008, S. 285–291; Helmut Pfotenhauer, Barbara Hunfeld und Birgit Sick: Die neue historisch-kritische Ausgabe von Werken Jean Pauls. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 43, 2008, S. 15–39; Barbara Hunfeld: „Jean Paul: Werke.“ Zu Geschichte und Konzeption einer neuen historisch-kritischen Ausgabe (erscheint voraussichtlich in editio 2008). Zum Satzmodell der neuen Hesperus-Edition vgl. Hunfeld: Textwerkstatt (Anm. 12), S. 29ff.
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Kleinstabweichungen, die genetische Dokumentation franst an ihren Rändern aus. Die Edition selbst unterliegt einer nie ganz zu tilgenden Kontingenz, die in ihrem Gegenstand selbst begründet ist. Wie die Edition die Texte darbietet, bestimmt jedoch den genetischen Befund des Fassungsvergleichs. Eine Lösung läge vielleicht in einer weiteren Differenzierung des Variantenapparats. Der genetische Apparat mit den großen Umarbeitungsprozeduren bliebe unverändert, der Apparat-Teil mit den kleineren Abweichungen dagegen würde noch einmal aufgeteilt. Ein Bereich verzeichnete die stilistischen Varianten, der andere gälte den Kleinstabweichungen in Orthographie und Interpunktion. Es entstünde also ein dreifach differenzierter Apparat, der die Varianten nach Kategorien unterschiede und dabei implizit eine Art hierarchische Rangfolge der Varianten erzeugte, von der Kleinstabweichung über die kleinen Stilvarianten bis hin zu den großen umgearbeiteten Passagen. Das Feld unidentifizierbarer Kontingenz im Bereich der Interpunktion und Orthographie würde gegenüber den mutmaßlich weniger kontaminierten Bereichen abgegrenzt, dem Leser das Filtern der Varianten erleichtert. Doch Textkritik würde so nur formal suggeriert. Bekanntlich gibt es in der Editionsphilologie zwei wissenschaftsgeschichtliche Extrempositionen zur Frage der Textkritik. Auf die klassische Edition als Vermittlerin des Werktextes antwortet das viel spätere Konzept editorischer Darstellung als Dokumentation. Sie verabschiedet jene Herausgeber-Instanz, die unter Aufbietung besonderer Kennerschaft des Autors den Text von überlieferungsgeschichtlicher Entstellung zu reinigen sucht. Die klassische Edition hatte auf mehr als auf den Text gezielt, nämlich auf das Kunstwerk, und das Kriterium der Textkritik war jene Idee der Autor-Absicht, die von der Vorstellung des Autors als Subjekt des Textes bestimmt war. Die Dokumentation dagegen versprach die Integrität der Quelle als historische Figuration. In der Jean-PaulPhilologie wurden die Vorurteile, die beiden editorischen Haltungen entgegengebracht wurden, an Eduard Berend auf der einen und an Klaus Pauler auf der anderen Seite festgemacht. Über Paulers Dokumentation der verschiedenen Fassungen von Unsichtbarer Loge und Siebenkäs14 wurde geschrieben, sie drucke den Text „mit der Gedankenlosigkeit eines Kopierautomaten“.15 Daß wiederum Berends große Werk-Abteilung16 zu revidieren sei, hatte, neben sachlichen Gründen, auch immer mit der Wahrnehmung zu tun, Berend stelle einen ,klassisch-vollendeten‘ Jean Paul her. 14
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Jean Paul: Die Unsichtbare Loge. Eine Biographie. Text der Erstausgabe von 1793 mit den Varianten der Ausgabe von 1826, Erläuterungen, Anmerkungen und Register. Hrsg. von Klaus Pauler. München 1981; Jean Paul: Siebenkäs. Text der Erstausgabe von 1796 mit den Varianten der Ausgabe von 1818 und den Vorarbeiten zu beiden Ausgaben aus dem Nachlaß. Hrsg. von Klaus Pauler. München 1991. Engelhard Weigl: Philologie im Rank-Xerox-Zeitalter (=Rezension zu Klaus Paulers Edition von Jean Pauls Unsichtbarer Loge). In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 17, 1982, S. 150. Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. I. Abteilung: Zu Lebzeiten des Dichters erschienene Werke. Hrsg. von Eduard Berend. Weimar 1927ff.
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Tatsächlich bedeutet Eduard Berends Verfahren aber keinesfalls eine grundsätzliche Glättung der Texte. Es ist gerade Berends Kriterium der Autorabsicht, das zu einem großen Respekt vor Jean Pauls Eigenarten führte, insbesondere auch vor der Varianz der sprachlichen Formen, weshalb jene Heterogenität der Textgestalt, die ihm grundsätzlich problematisch war, dennoch nach Berends Auffassung eine Gesamtausgabe konsequenterweise prägen müßte. Phänomene der Zufälligkeit und Willkür aber akzeptierte Berend nicht. Er suchte sie weitgehend auszuschließen, durch Analogiebildung, Vergleiche und Vereinheitlichungen, bis hin zur Konjektur.17 Angesichts jener Zufälligkeit, welche die Textgestalt durchflicht, besteht eine Tendenz des Herausgebereingriffs, sich auszuweiten. Weil alle möglichen Varianten verdächtig sind, gewinnt die Emendation an Dynamik aufgrund jener grundsätzlichen Bedenklichkeit des Befunds. Die heutige Hesperus-Edition wendet darum den Begriff der Autorabsicht anders, als Berend es getan hat. Sie plädiert dafür, mit Jean Paul selbst, der viele letzte Korrekturen aus Gleichmut unterließ, die Widrigkeiten der Druckbedingungen zu akzeptieren. Das hieße, da, wo die gesicherten Kriterien der Fehleridentifizierung nicht mehr hinreichen, die Resignation des Autors in der Edition mitabzubilden. Hat sich aber dann der Editor „als kritische Instanz zwischen Befund und Edition“ „aufgegeben“,18 um „banale[] Schreib- oder Druckfehler geschichtlich“19 zu tradieren? In den Satiren und Ironien aus dem Nachlaß schreibt Jean Paul: Drukfehler meines Buchs. Es werden in Zukunft die Ursachen der Drukfehler in meinem Buch eben so gut entdekt werden als in der Bibel 4/3 Man wird herausbringen daß die Autographa, Abbreviaturen, falsches Sehen, falsches Hören p schuld waren.20
Der Makel einer äußeren Kontingenz wird hier im Vergleich zwischen Autorschrift und Heiliger Schrift, dem zentralen Gegenstand sorgsamer Überlieferung wie auch exegetischer Bemühung, ebenso verbrämt wie ironisiert. Es ist die Bibel, der metaphysisch verbürgte Urtext selbst, der den Bedingungen einer Kontingenz unterliegt, welche die Schreibarbeit auf ihre grundlegendsten Bedingungen zurückführt. 17
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Eduard Berend: Prolegomena zur Historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken. In: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Berlin 1927, S. 3–43. Weigl (Anm. 15) , S. 151. Ebenda, S. 150. Jean Paul: Satiren und Ironien. Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Faszikel XIIb, Bd. 14 (1789), S. 45, Nr. [109]/107. (Der edierte Text wird ohne Varianten wiedergegeben. Kursivierung: Ergänzung der Abkürzungen Jean Pauls durch die Herausgeberin; Zahlenkombination: Verweis auf Jean Pauls Exzerpthefte.) – Für die Erlaubnis, diese noch unveröffentlichte Nachlaßpassage zitieren zu dürfen, danke ich der Herausgeberin der Satiren und Ironien, Birgit Sick, der ich auch den Hinweis auf diese Textstelle verdanke.
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Auch das Buch des Autors geht auf das Autograph zurück, auf jene Urschrift, die Authentizität verheißt und doch an ihrer eigenen Korruption schuld ist. Jean Paul macht sich über sein Abkürzungssystem lustig, über die Abbreviaturen, die nicht auf ein weniger, sondern auf ein mehr an Schrift abzielen, um möglichst viel auf das Papier zu bringen, um weiter und weiter schreiben zu können; Schrift, die offen ist für ihre Ergänzung, für ihre Interpretation, für ihr Mißverständnis.
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Abb. 1: Druckfehlerverzeichnis zu: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Eine Biographie. Erstes Heftlein. Berlin 1795 (unpaginierte Seite, an Seite 392, der letzten Textseite des Bandes, angeklebt).
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Abb. 2: Druckfehlerverzeichnis zu: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Eine Biographie. Drittes Heftlein. Berlin 1798 (unpaginierte Seite, an S. 352, der letzten Textseite des Bandes, angeklebt).
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Abb. 3: Druckfehlerverzeichnis zu: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundposttage. Eine Lebensbeschreibung. Drittes Heftlein. Berlin 1819 (S. 371v; unpaginierte Rückseite).
Monika Meier Mit Werken, Werkchen und Gesammelten Schriften auf der „BuchhändlerBörse“. ,Freundschaft‘ und Geschäft in den Beziehungen Jean Pauls zu seinen Verlegern
„Mit meinem besten Gruß u. großen Glückwunsch zu Ihren editis u. edendis – das heißt nicht zu dem was Sie aufgegeßen haben u. fernerhin eßen, sondern herausgegeben haben u. fernerhin herausgeben werden“,1 begleitet Johann Gottfried Herder am 4. Mai 1798 mit einem Wortspiel eine Sendung seiner Christlichen Schriften an Jean Paul, dabei möglicherweise auch auf die Herausgeberfiktionen der Jean Paulschen Werke anspielend – die im folgenden nicht im Mittelpunkt stehen sollen. Vielmehr geht es im prosaischen Sinn um Jean Paul als Herausgeber seiner eigenen Werke, um deren Weg zum Lesepublikum über die „BuchhändlerBörse“: durch die „merkantilische Hand“, die sie „aus der geschriebnen Welt in die gedrukte“ führte – so Jean Paul am 7. Juni 1792 an Karl Philipp Moritz,2 als er diesem das Manuskript der Unsichtbaren Loge, seines ersten erfolgreichen Romans, zusandte und um dessen Vermittlung an einen Verleger bat. Carl Matzdorff, der Schwager von Moritz, war es, bei dem das Werk, gegen ein gutes Honorar für den Autor,3 1793 herauskam; im Laufe des nächsten Jahrzehnts erschienen in Matzdorffs Verlag so bedeutende Werke wie Hesperus, Siebenkäs oder Titan.4 1
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Johann Gottfried Herder: Briefe. Bd. 7. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Weimar 1982, S. 389, Nr. 402, und Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Vierte Abteilung. Bd. 3.1. Berlin 2008, S. 92, Nr. 52, vgl. auch die jeweiligen Anmerkungen bzw. Erläuterungen. Werke, Briefe und Aufzeichnungen aus dem Nachlaß Jean Pauls werden in der Regel abgekürzt (SW) zitiert nach: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften begründet und herausgegeben von Eduard Berend. Erste Abteilung (1927ff.): Zu Lebzeiten des Dichters erschienene Werke. Zweite Abteilung (1928ff.): Nachlaß; ab Band 6 hrsg. von Helmut Pfotenhauer, Ulrich Ott, Götz Müller, Winfried Feifel u.a. Dritte Abteilung (1952–1964): Briefe. Hrsg. von Eduard Berend. Vierte Abteilung (2003ff.): Briefe an Jean Paul. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Norbert Miller. Bd. 1: Briefe an Jean Paul 1781–1793. Hrsg. von Monika Meier. Bd. 2: Briefe an Jean Paul 1794–1797. Hrsg. von Dorothea Böck und Jörg Paulus. Bd. 3.1: Briefe an Jean Paul 1797–1799. Hrsg. von Angela Goldack. Auf die Angabe der Abteilung in römischen Ziffern folgen Band-, Seiten- und Zeilenzahlen in arabischen. SW III 1, 354,14 und 20–22. Vgl. dessen Äußerungen Moritz und den Freundinnen und Freunden in Hof gegenüber (SW III 1, 363,12–13 und 364,27–365,2 sowie SW IV 1, 261–262, Nr. 138, und 265,3f.), außerdem den Tagebucheintrag Jean Pauls vom 30. Juli 1792 (SW II 6.1, 583,7–8). Hesperus, oder 45 Hundsposttage. 3 Bde. Berlin 1795; 2. Aufl.: 4 Bde. Berlin 1798; BlumenFrucht- und Dornenstükke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel. 3 Bde. Berlin 1796–1797; Titan. 4 Bde. Berlin
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Insbesondere soll es um die „Werkchen“ gehen, um Beiträge Jean Pauls zu Zeitschriften, Almanachen und Taschenbüchern und um die Beigaben zu bzw. Bestandteile von Werken wie D. Katzenbergers Badereise oder Herbst-Blumine, und damit auch um den Aspekt der mehrfachen Veröffentlichung eines Textes, wie er zuletzt auf die „opera omnia“ führt. In jedem der folgenden Beispiele werden freundschaftliche Beziehungen und geschäftliche Interessen eine gewisse Rolle spielen, daneben die Zeitumstände, die sich besonders in Gestalt der Zensur und des fehlenden Urheberrechts geltend machen. Und häufig geht es um wesentlich mehr Akteure, als die Konstellation Autor – Verleger – Publikum erwarten ließe.
1. Zensur und Zufall auf dem langen Weg einer nicht erfolgten Publikation – Meine Beantwortung der Berliner Preisaufgabe: „ob man den Pöbel aufklären dürfe“; als ich für die Algem. deutsche Bibliothek abgezeichnet wurde Im ersten Jahrzehnt der Jean Paulschen Schriftstellerexistenz – vor der Unsichtbaren Loge –, das der Autor selbst rückblickend etwas pauschalisierend mit dem Etikett der „satirischen Essigfabrik“ belegte,5 gab es noch kein zuverlässiges Interesse an seinen Texten, für die zweite Satirensammlung, die Scherze in Quart, 1789 als Auswahl aus des Teufels Papieren publiziert, war Jean Paul über mehrere Jahre auf der Suche nach einem Verleger.6 Einige Zeitschriftenaufsätze wurden in dieser Zeit veröffentlicht; beispielhaft für die vielseitigen Bemühungen, die dazu oft notwendig waren, sei hier der Weg der Satire Meine Beantwortung der Berliner Preisaufgabe 7 skizziert, die Jean Paul 1788 zusammen mit der kurzen Erzählung Was der Tod ist 8 mit der Bitte an Herder sandte, sie an Wieland zur Veröffentlichung im Teutschen Merkur zu empfehlen.9 Caroline Herder – ihr Mann hielt sich noch in Italien auf – schickte die beiden Aufsätze, nachdem sie sie von Wieland unpubliziert zurückerhalten hatte, an Heinrich Christian Boie, den Herausgeber des Deutschen Museums. Was der Tod ist wur-
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1800–1803; Komischer Anhang zum Titan. 2 Bde. 1800–1801; außerdem Jean Paul’s biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin. Berlin 1796. Vorrede zur zweiten Auflage der Unsichtbaren Loge (1822), datiert auf den 24. Juni 1821, vgl. SW I 2, 7,18. Mit dem wenig bekannten Geraer Buchhändler Christoph Friedrich Bekman hatte er sich im Frühjahr 1786 über die Veröffentlichung verständigt, schon Anfang 1784 in Leipzig hatte er sich um die Publikation seiner zweiten Satirensammlung bemüht, nachdem zwei Bände Grönländische Prozesse, oder Satirische Skizzen 1783 bei dem renommierten Berliner Verleger Christian Friedrich Voß erschienen waren (vgl. SW I 1, XXIV-XLI, II 2, XXVI-XXVIII und die entsprechenden Briefe von und an Jean Paul, vgl. auch SW IV 1, 431, Erläuterung zu S. 63,21–22, und IV 1, 467–469). Meine Beantwortung der Berliner Preisaufgabe: „ob man den Pöbel aufklären dürfe“; als ich für die Algem. deutsche Bibliothek abgezeichnet wurde (SW II 3, 41–50). Vgl. SW I 18, 95–97. SW III 1, 247–248, Nr. 232 vom 1. September 1788.
Beziehungen Jean Pauls zu seinen Verlegern
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de ins Dezemberheft aufgenommen, Meine Beantwortung der Berliner Preisaufgabe gelangte über Caroline Herder an Jean Paul zurück,10 der den Text umgehend für die Neue Litteratur und Völkerkunde an deren Herausgeber Johann Wilhelm von Archenholtz weiterleitete und später davon ausging, daß der Aufsatz dort veröffentlicht wurde.11 Der Text eines Briefes, den Boie etwa ein halbes Jahr später an Caroline Herder schrieb, ist ihm vermutlich nicht bekannt geworden: Als ich Ihnen, meine verehrteste Freundin, am Ende des vorigen Jahres den, sicher durch Weygands Schuld, in der Zensur stecken gebliebenen Aufsatz des angeblichen Hasus zurückschickte, dachte ich noch nicht, daß das Weygandische Museum aufhören und noch weniger, daß ein neues an deßen Stelle treten würde. Ich [...] bitte Sie, daß Sie den bewußten Aufsatz, den ich noch nicht gedruckt gesehen habe, wenn er in Ihren Händen ist, an den jetzigen Verleger, H. Göschen, zu senden die Güte haben mögen, da ich nun ihn dem Zensor annehmlicher zu machen hoffe und für das neue Institut dieses sehr guten Aufsatzes nicht gern entbehren mögte.12
Nicht weil der Herausgeber die indirekt durch Herder empfohlene Satire für seine Zeitschrift ungeeignet gefunden hatte – so läßt sich schließen –, sondern des Verlegers und der Zensur wegen war sie nicht erschienen. Interessant ist dieser Fall auch insofern, als bisher angenommen wurde, die Zensur habe die Publikationen Jean Pauls erst seit 1797 (Jubelsenior) beeinträchtigt, besonders die Aufsätze in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände.13
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Vgl. Caroline Herders Briefe an Jean Paul vom 30. Oktober 1788 und 1. Februar 1789 (SW IV 1, 128 und 149, und Johann Gottfried Herder. Briefe. Bd. 9. Bearbeitet von Günter Arnold. Weimar 1988, S. 557–558, Nr. 7, und S. 559, Nr. 12). Vgl. den Brief an Archenholtz vom 8. Februar 1789 (SW III 1, 256, Nr. 246) und den nur als Notiz Jean Pauls überlieferten an Friedrich Perthes vom 24. Juli 1810 (SW III 6, 594, Nr. 16); Jean Paul suchte die Satire bei der Zusammenstellung der Herbst-Blumine (vgl. auch SW II 3, XIII-XIV). Brief Heinrich Christian Boies an Caroline Herder vom 6. Juli 1789. In: Günter Arnold: Briefe literarhistorischen Inhalts aus Herders Nachlaß. Teil 2. In: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik. Folge 11. Hrsg. von Werner Schubert und Reiner Schlichting. Berlin und Weimar 1988, S. 255–313, hier S. 283, vgl. auch S. 309f. und SW IV 1, 547f. Vgl. Ludwig Fertig: „Krieg mit dem Zensor“ und „Druck-Diebe“. Zur Behinderung des Berufsschriftstellers Jean Paul durch Zensur und Nachdruck. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 22, 1987, S. 105–126, besonders S. 106, und Wulf Köpke: Jean Paul’s Battles with the Censors and His Freiheits-Büchlein. In: Zensur und Kultur. Zwischen Weimarer Klassik und Weimarer Republik mit einem Ausblick bis heute. Hrsg. von John A. McCarthy und Werner von der Ohe. Tübingen 1995, S. 99–110, besonders S. 99.
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2. Jean Paul in Zeitschrift, Taschenbuch, Almanach und Vermischten Schriften – Zum Beispiel D. Katzenbergers Badereise; nebst einer Auswahl verbesserter Werkchen In stärkerem Maße, als ein literaturgeschichtlicher Blick erwarten läßt, der sich auf die Buchpublikationen, die ,großen‘ Werke, konzentriert, war Jean Paul ein Autor der Zeitschriften, Almanache und Taschenbücher, besonders in den Jahren nach 1800.14 Seine Beiträge verliehen diesen seit Ende des 18. Jahrhunderts in breiten Kreisen etablierten „Leitmedien“ der literarischen Öffentlichkeit, die rasch große Leser- bzw. Leserinnenkreise erreichten,15 besondere Attraktivität. Im Durchschnitt erschienen nun jährlich zwei bis drei Zeitschriftenveröffentlichungen Jean Pauls, und seine Aufsätze schmückten oft nicht nur eines der zahlreichen Taschenbücher für das Jahr 1800 (und die folgenden);16 gelegentlich wurde seine Teilnahme auf deren Titelblättern eigens angezeigt.17 Die meisten Beiträge zu Periodika lieferte Jean Paul in den Jahren 1807 bis 1810. 1807 hatte er mit der Abschieds-Rede bey dem künftigen Schlusse des Morgenblatts das Cottasche Morgenblatt für gebildete Stände eröffnet,18 zu dem er jährlich meist mehrere Aufsätze beitrug, seit 1808 beteiligte er sich mit Rezensionen an den Heidelberger Jahrbüchern der Literatur.19 Im Jahr 1809 treten neben die Ver14
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Vgl. auch Dorothea Böck: Archäologie in der Wüste. Jean Paul und das „Biedermeier“ – Eine Provokation für das Fach (ante portas). In: Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Petra Boden und Holger Dainat. Berlin 1997, S. 241–269, besonders S. 262ff. Vgl. Almanach- und Taschenbuchkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Hrsg. von York-Gothart Mix. Wiesbaden 1996; ders.: Vom Leitmedium zum Lesefutter. Prolegomena zur Mediengeschichte des literarischen Almanachs und Taschenbuchs. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1997, S. 93–113; Literarische Leitmedien. Almanach und Taschenbuch im kulturwissenschaftlichen Kontext. Hrsg. von Paul Gerhard Klussmann und York-Gothart Mix. Wiesbaden 1998. Vgl. den Abschnitt „Verstreut gedruckte Aufsätze und Rezensionen“ in: Eduard Berend: JeanPaul-Bibliographie. Neu bearbeitet und ergänzt von Johannes Krogoll. Stuttgart 1963, S. 19–32; vgl. auch die Jahresüberblicke in: Ludwig Fertig: „Ein Kaufladen voll Manuskripte“. Jean Paul und seine Verleger. Frankfurt / Main 1989. Vgl. Friedrich Viewegs Taschenbuch für 1801. Hrsg. von Friedrich Gentz, Jean Paul und Johann Heinrich Voß (in dieser Form gegen den ausdrücklichen Wunsch Jean Pauls, vgl. den Brief an Vieweg vom 25. Juli 1800, SW III 3, 355,29–34); Johann Friedrich Cottas Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1809. Mit Beiträgen von Goethe, Lafontaine, Pfeffel, Jean Paul Richter, Schiller und andern; und auch wenn es sich dabei nicht um ein Periodikum handelt, gehört in diese Reihe ebenfalls Sinngrün, eine Folge romantischer Erzählungen, mit Theilnahme Jean Paul Friedrich Richters und einiger deutschen Frauen Unterstützung. Hrsg. von J. C. W. Uthe-Spazier geb. Mayer. Berlin 1819 (vgl. Anm. 21). Morgenblatt für gebildete Stände vom 1. Januar 1807 (1. Jg., Nr. 1), S. 1–4; der Beitrag wurde später in den zweiten Band der Herbst-Blumine (Stuttgart und Tübingen 1815) aufgenommen (vgl. SW I 17, 123–132). Seine Besprechungen galten mehreren Werken Friedrich de la Motte Fouque´s, Corinne ou l’Italie und De l’Allemagne von Mme de Stae¨l oder den Reden an die deutsche Nation von Johann Gottlieb Fichte; sie wurden wieder veröffentlicht in Jean Pauls letzter Buchpublikation: Kleine Bücherschau. Gesammelte Vorreden und Rezensionen, nebst einer kleinen Nachschule zur ästhetischen Vorschule, die 1825 in zwei Bänden bei dem Breslauer Verleger Joseph Max erschien.
Beziehungen Jean Pauls zu seinen Verlegern
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öffentlichungen in diesen beiden Zeitschriften insgesamt fünf Aufsätze für Taschenbücher und einen Kalender auf 1810: für das Cottasche Taschenbuch für Damen, das Taschenbuch [...] Der Liebe und Freundschaft des Frankfurter Buchhändlers Friedrich Wilmans, Friedrich Brockhaus’ Urania und Georg Joachim Göschens Kriegs-Kalender.20 Freunde, Herausgeber(innen)21 und Verleger warben, in vielen Fällen nicht vergeblich, um die Mitarbeit Jean Pauls.22 Ausschlaggebend für eine Zusage des Autors war offenbar eine Vielfalt von Faktoren im Spannungsfeld von Freundschaft und Geschäft, freundschaftlicher, verwandtschaftlicher oder geschäftlicher Verbundenheit, auch Sympathie für ein bestimmtes Projekt.
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Es handelt sich um die folgenden Beiträge: Poetische Kleinigkeiten und Der witzig und zornig gemachte Alltagsklub. In: Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1810, S. 183–188 und 210–228; Einige Ehespiegel-Scherben. In: Taschenbuch für das Jahr 1810. Der Liebe und Freundschaft gewidmet, S. 1–14; Erden-Kreis-Relazion. In: Urania. Taschenbuch für das Jahr 1810, S. 1–31; Mein Aufenthalt in der Nepomukskirche während der Belagerung der Reichsfestung Ziebingen. In: Kriegs-Kalender für gebildete Leser aller Stände. Zweiter Jahrgang 1810, S. 163–218. Die Aufsätze wurden im ersten und zweiten Band der Herbst-Blumine bzw. der letzte in der 1817 bei Cotta veröffentlichten Sammlung Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche wieder veröffentlicht. Zwei der genannten Almanache für das Jahr 1810 stehen mit Jean Pauls Schwägerin Johanne Caroline Wilhelmine (Minna) Uthe-Spazier in Verbindung: Nachdem die ältere Schwester Caroline Richters die Redaktionsarbeit der Zeitung für die elegante Welt von deren Beginn Ende 1800 bis zum Tod ihres Mannes Karl Spazier Anfang 1805 unterstützt hatte (in der Jean Paul damals ebenfalls gelegentlich publizierte), hatte sie bis Ende 1808 (d. h. jedenfalls bis zu dem Band auf 1809) für Friedrich Wilmans das Taschenbuch [...] Der Liebe und Freundschaft herausgegeben (Jean Paul schreibt am 23. August 1810 an Cotta, er habe seine Beiträge für „Wilmanns Taschenbuch [...] meiner Schwägerin geschenkt“, SW III 6, 132,10–12); weitere Jahrgänge eines von ihr konzipierten Almanachs erschienen als Friedrich Brockhaus’ Urania (vgl. Dorothea Böck: Im Schatten großer Namen. Über Tageblätter, Taschenbücher und Almanache oder die vergessene Karriere der Minna Sp. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 39, 2004, S. 141–164, besonders S. 158–162); Lydia Schieths Befund einer erstaunlich geringen Zahl an Herausgeberinnen von Frauentaschenbüchern lassen sich ausgehend von der Biographie Minna Uthe-Spaziers einige neue Aspekte hinzufügen (vgl. Lydia Schieth: „Huldigung der Frauen“ – Frauentaschenbücher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Literarische Leitmedien 1998 (Anm. 15), S. 83–100, hier S. 91; vgl. auch die Erwähnung Wilhelmine Spaziers bei Margarete Zuber: Die deutschen Musenalmanache und schöngeistigen Taschenbücher des Biedermeier 1815–1848. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 1, 1958, S. 398–489, hier S. 486f., und Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Aus den Quellen. Bd. 8. 2. Aufl. Dresden 1905, S. 51f. und 72). Nicht eingegangen war Jean Paul z. B. auf Angebote, im Gothaischen Hof Kalender oder als Nachfolger Lichtenbergs im Göttinger Taschen Calender zu publizieren (vgl. die Anfragen von Friedrich Schlichtegroll für Justus Perthes vom 8. Februar und 3.–4. März 1798 und von Johann Christian Dieterich vom 7. März 1799, SW IV 3.1, S. 47f., 51f. und 264f.); verzichtet hatte er ebenso auf Beiträge in der Aglaja oder in Johann Leonhard Schrags, von Friedrich Fouque´ herausgegebenem Frauentaschenbuch (vgl. die Anfragen von August Hermann vom 25. Dezember 1799 und von Friedrich Fouque´ vom 10. November 1814, H: Biblioteka Jagiellon´ska Krakau, Sammlung Autographa der Preußischen Staatsbibliothek, im folgenden: BJK, Berlin A; die Briefe werden veröffentlicht in SW IV 3.2 und IV 6; Fouque´ bittet hier bereits für den zweiten Jahrgang des Taschenbuchs, vgl. auch Ulrike Ehmann: Die Belletristikproduktion des Verlages Johann Leonhard Schrag in Nürnberg 1810–1857. Erlangen u. a. 2005, S. 179–181).
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Vor allem in späteren Jahren klagt Jean Paul dann über den „Almanachsjammer“,23 das Schreiben von „Werkchen“ mit beschränktem Umfang, die von größeren Arbeiten abhalten. Nur: manchmal bot sich auf diesem Wege auch die Gelegenheit, einen schon entworfenen oder geschriebenen Beitrag zu veröffentlichen,24 in einigen Fällen ging es darum, einen bestimmten Adressatenkreis zu erreichen.25 Und daneben ist der gute Verdienst zu bedenken, den die vielfältigen Publikationen in Zeitschriften und Taschenbüchern in der Regel eintrugen. Cotta rechnete Caroline Richter nach dem Tod Jean Pauls vor, daß dieser insgesamt 20.000 Gulden an Honoraren von ihm erhalten habe, wovon etwa ein Viertel auf die Periodika entfällt26 – bei Cotta waren in den Jahren 1804 bis 1820 u. a. die Flegeljahre, die zweiten Auflagen der Levana und der Vorschule der Aesthetik, das Museum, die Politischen Fastenpredigten und die Herbst-Blumine erschienen, um nur die mit mehr als 500 Reichstalern am besten honorierten Publikationen zu nennen. Die beträchtliche Anzahl der verstreut in periodischen Schriften publizierten „Werkchen“ Jean Pauls legte die Idee einer Sammlung nahe. Als Kleine Schriften von Jean Paul Friedrich Richter erschien 1804 erstmals und mit beträchtlichem Erfolg eine solche Publikation, nicht legitimiert „in der J. G. Voigtschen Buchhandlung“ (Johann Gottfried Voigt) in Jena – ohne daß der Autor einen Groschen oder Kreuzer daran verdient hätte.27 In der Zeitung für die elegante Welt vom 19. März 1805 ist eine Stellungnahme Jean Pauls zu lesen: daß dieser Nachdruck ihn wenig beeindrucke, da er ebenfalls eine „Sammlung – und noch dazu von verbesserten und ungedruckten“ Arbeiten vorbereite.28 Nach dem Abschluß der Levana und verschiedener neuer „Werkchen“ begann Jean Paul Anfang 1807 mit der Ausarbeitung der Vermischten Schriften, die später, die Flätzer Reise ausgenommen, als D. Katzenbergers Badereise erschienen.29 Doch die 23 24
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Billett an Christian Otto vom 25. Juni 1814, SW III 6, 387,33. So konnte D. Fenks Leichenrede auf den höchstseligen Magen des Fürsten von Scheerau, die der Berliner Zensur wegen aus dem ersten Band Komischer Anhang zum Titan herausgelöst werden mußte, in dem von Leopold von Seckendorff-Aberdar herausgegebenen Neujahrs Taschenbuch von Weimar, auf das Jahr 1801 problemlos erscheinen (ebenda, S. 1–19; dem Beitrag ist, römisch paginiert, Goethes Paläofron und Neoterpe. Ein Festspiel zur Feier des 24. Oktobers 1800, des Geburtstages der Herzoginmutter Anna Amalia, vorangestellt; vgl. auch SW I 8, XC und I 13, LXXIII-LXXV). Z. B. im Falle der Bitte für Unglückliche in der von dem Bayreuthischen Beamten Christian Sigismund Krause herausgegebenen Zeitschrift Der ansbach-baireutische Armenfreund (1804, Bd. 2, 49. St., S. 353–355, vgl. SW I 18, 105f. und XVIIIf.) oder der Frage zum Gedenken an die Leipziger Völkerschlacht in der Baireuther Zeitung vom 8. Oktober 1814 (Nr. 240, S. 1012, vgl. SW I 18, 164 und XXIII). Vgl. Fertig (Anm. 16), S. 367f. 1808 kam die um einen zweiten Band vermehrte zweite Auflage der Kleinen Schriften heraus. 1805, Nr. 34, Sp. 272; vgl. auch schon SW III 2, 353,21–23. Vgl. SW I 13, V-X, XXVIII-XXX und XXXV-XXXVIII, sowie das „Vaterblat“, SW II 6.1, 884f.; „die Flätzer Reise, die in die vermischten Schriften gehört“ und im Juli 1807 „zum besondern Druck vollendet“ wurde (ebenda, S. 885), ist Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz, die 1809 bei Cotta herauskam.
Beziehungen Jean Pauls zu seinen Verlegern
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Suche nach einem Verleger gestaltete sich jetzt, unter den für den Buchhandel schwierigen Bedingungen der Napoleonischen Ära, nicht einfach: Vergebliche Anfragen gingen nach Zürich an Heinrich Geßner, nach Göttingen an die Dieterichsche Buchhandlung sowie an Gottfried Adolph Grau in Hof, und erst die Verhandlungen mit „Mohr & Zimmer“ in Heidelberg führten, nachdem sich zwischenzeitlich auch Friedrich Vieweg in Braunschweig bereit erklärt hatte, den Verlag zu übernehmen,30 schließlich zu einer Art Paketlösung: Jean Paul wurde Mitarbeiter der bei Mohr und Zimmer verlegten Heidelberger Jahrbücher der Literatur,31 aufgrund der angespannten finanziellen Situation des Verlags wurde zunächst eine kleine Schrift von ihm verlegt: Die Friedens-Predigt an Deutschland, gegenüber Geßner und der Dieterichschen Buchhandlung auch zum Abdruck mit den Vermischten Schriften ins Spiel gebracht,32 erschien zur Ostermesse 1808 – und Jean Paul stimmte dem nicht eigens honorierten Vorabdruck eines Auszuges daraus in der von Achim von Arnim redigierten Zeitung für Einsiedler zu, einem weiteren Verlagsprodukt von Mohr und Zimmer.33 Nach einem erneuten Aufschub, um den die Verleger gebeten hatten, folgte D. Katzenbergers Badereise; nebst einer Auswahl verbesserter Werkchen in zwei Bänden zur Ostermesse 1809. Die elf Werkchen waren bis auf die Polymeter am Schluß des zweiten Bandes sämtlich bereits früher in Taschenbüchern bzw. Zeitschriften veröffentlicht gewesen.34 Bei den Vermischten Schriften, D. Katzenbergers Badereise und den verbesserten Werkchen, handelt es sich um eine Gruppe von Texten, in deren Zusammenstellung eine Reihe äußerer Umstände hineinspielte, der Jenaer Nachdruck ebenso wie die Zensur35 und die geschäftliche Situation der in Frage kommen30
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Vgl. die Briefe Jean Pauls an Vieweg vom 5. und 15. März 1808 (SW III 5, 202 und 204f.) und Viewegs Zusage vom 12. März 1808 (H: BJK, Berlin A; der Brief wird veröffentlicht in SW IV 5). Kurz bevor er sich seiner Vermischten Schriften wegen an Johann Georg Zimmer wandte, hatte Jean Paul die Anfrage Philipp Conrad Marheineckes, seine Mitarbeit an den Heidelberger Jahrbüchern betreffend, positiv beantwortet (vgl. die Briefe Marheineckes und Jean Pauls vom 6. und 15. Dezember 1807, SW III 5, 186f., Nr. 447, und S. 395, Regest Nr. 146). In denselben Wochen korrespondierte er, ebenfalls im Zusammenhang mit seiner Rezensententätigkeit für die Heidelberger Jahrbücher, auch mit Friedrich Heinrich Christian Schwarz und Joseph Görres. Die Heidelberger Briefpartner wußten wechselseitig von ihrer jeweiligen Korrespondenz mit dem Autor, teilweise wurde diese zusammen mit dem Verlegerbriefwechsel versandt. Vgl. die Briefe Jean Pauls, SW III 5, 178,34f. und 182,32–34. Vgl. die Briefe Johann Georg Zimmers und Jean Pauls vom 7., 15. und 20. März 1808 (SW III 5, 380f., fehlende Briefe Nr. 61 und 62, und S. 396, Regest Nr. 162; auch der handschriftlich überlieferte Brief Jean Pauls vom 20. März 1808 wird in SW IV 5 erstmals veröffentlicht) sowie den Brief Arnims an Jean Paul vom 12. März 1808 (SW III 5, 396f., Regest Nr. 163). Denksprüche aus einer Friedenspredigt an Deutschland von Jean Paul Fr. Richter erschienen im 3. Stück der Zeitung für Einsiedler vom 9. April 1808 (Sp. 17–21, vgl. auch SW I 15, XXXI). Neben dem erwähnten Beitrag im Neujahrs Taschenbuch von Weimar (vgl. Anm. 24) in der Zeitung für die elegante Welt, dem von Johann Georg Jacobi bei Friedrich Perthes herausgegebenen Taschenbuch, dem Viewegschen Taschenbuch, in Wilhelm Gottlieb Beckers Erholungen und im Nordischen Merkur Karl Julius Langes (vgl. auch SW I 13, LXX-LXXXVII). Durch den Berliner Zensor war der Abdruck der Leichenrede auf den höchstseligen Magen des
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den Verlagsunternehmen. Eine Variabilität in der Abfolge der einzelnen Stücke zeigt sich darüber hinaus in der zweiten Auflage (1823), die den Katzenberger in drei Bänden darbietet, jeweils einen Teil der Werkchen am Ende eines Abschnittes der Katzenberger-Erzählung, damit grundsätzlich ebenso gegliedert wie die zweiteilige erste Ausgabe, aber mit einer leicht veränderten Gruppierung von Kapiteln und Werkchen. Dennoch ist das Arrangement der Texte nicht beliebig, gibt es innere Zusammenhänge der Komposition, die in einer Werkinterpretation bzw. Werkinterpretationen zu berücksichtigen wären.36 Der digressiven Schreibweise Jean Pauls scheint das Prinzip von ,Werk und Werkchen‘, an Gattungstraditionen der Aufklärungsliteratur und seine frühen Satirensammlungen erinnernd, durchaus entgegenzukommen. So wenig die dialogische Spannung zwischen der zentralen Erzählung und den ,Beigaben‘ in der Rezeption beachtet wurde, ist eine vergleichbare Zusammenstellung bei Jean Paul doch oft und von Beginn seines Schreibens an zu finden, ob als Mustheil für Mädgen und Jus de tablette für Mannspersonen zum Quintus Fixlein (1796) oder als Komischer Anhang zum Titan. Seine verstreut publizierten Aufsätze faßte Jean Paul auch nach dem Katzenberger in Sammlungen zusammen, zu nennen wären an erster Stelle die drei Bände der Herbst-Blumine (1810, 1815 und 1820), aber auch das Museum (1814), die Politischen Fastenpredigten (1817) und die Kleine Bücherschau (1825).37
3. Johann Friedrich Cotta oder Georg Andreas Reimer? – Die „opera omnia“ Jean Paul publizierte zu gleicher Zeit in verschiedenen Verlagen, dennoch gab es für ihn jeweils einen ,Hauptverleger‘. Vom Erscheinen der Unsichtbaren Loge bis zum Titan (1793–1803) war dies Carl Matzdorff (1765–1839) in Berlin.38 Nach einem Besuch Johann Friedrich Cottas (1764–1832) in Meiningen im Juni 1802 verlagerte der Schwerpunkt sich bald nach Tübingen (bzw. später Stutt-
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Fürsten von Scheerau im Werkkontext des Titan verhindert worden (vgl. Anm. 24); während des Drucks des Katzenberger wurden in Heidelberg Streichungen in Wünsche für Luthers Denkmal gefordert (vgl. SW I 13, LXI). Vgl. auch Peter Horst Neumann: Die Werkchen als Werk: Zur Form- und Wirkungsgeschichte des Katzenberger-Korpus von Jean Paul. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 10, 1975, S. 151–186; eine andere Gewichtung ästhetischer und pragmatischer Gesichtspunkte bei Ludwig Fertig: Jean Paul und das moderne Berufsschriftstellertum. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 24, 1989, S. 93–116, besonders S. 115. Herbst-Blumine, oder gesammelte Werkchen aus Zeitschriften, Museum und Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche erschienen bei Cotta, die Kleine Bücherschau bei Joseph Max (vgl. Anm. 19). Der Brief, mit dem Jean Paul die Bindung an Matzdorff löste, ist nur durch dessen Antwort vom 25. Dezember 1802 bezeugt (H: BJK, Berlin A, vgl. SW IV 4 und SW III 4, 433, fehlender Brief Nr. 28 vom 6. Dezember 1802).
Beziehungen Jean Pauls zu seinen Verlegern
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gart).39 Auf den unmittelbar nach diesem Besuch geschriebenen Beitrag Jean Pauls zum Taschenbuch für Damen 40 folgten die Flegeljahre – mit dem besten Honorar (7 Louisd’or pro Druckbogen), das Jean Paul bis dahin erzielt hatte –, das Freiheits-Büchlein,41 Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz, weitere politische Schriften wie Dämmerungen für Deutschland (1809) und Mars und Phöbus Thronwechsel (1814), die Untersuchung Ueber die deutschen Doppelwörter (1820) sowie die erwähnten Sammlungen (Herbst-Blumine, Museum, Politische Fastenpredigten) und zweiten Auflagen der Vorschule der Aesthetik (1813) und der Levana (1814, Ergänzblatt 1817). Bei Cotta beabsichtigte Jean Paul auch seine gesammelten Schriften zu veröffentlichen.42 Eine nähere freundschaftliche Verbindung zu dem Verleger Goethes und Schillers hatte sich nicht entwickelt, die geschäftliche Verbindung hatte sich aber bewährt und als besonders stabil erwiesen.43 Der Vertrag über Jean Paul’s sämmtliche Werke wurde mit Georg Andreas Reimer (1776–1842) abgeschlossen; kurz vor dem Tod Jean Pauls fiel die Entscheidung zugunsten des jüngeren Berliner Verlegers der Romantiker, gegen den damals nur in größeren zeitlichen Abständen mit Jean Paul verhandelnden Cotta und den ebenfalls um die Gesamtausgabe werbenden Joseph Max (1787–1873).44 Reimer hatte nach und nach Titel und Verlagsrechte der Werke Jean Pauls von Carl Matzdorff übernommen, seinen Briefen an Jean Paul zufolge zunächst 1809 den Hesperus, und offenbar ließen sich die Romane seines neuen Autors so gut absetzen, daß er sich bald wegen zweiter bzw. dritter Auflagen an diesen wandte. Um die neue Ausgabe des Siebenkäs wurde hart und grundsätzlich verhandelt, von seiten Reimers auch unter Berufung auf das preußische Allgemeine Landrecht (1794).45 Jean Paul legte den entsprechenden Briefwechsel Cotta zur Begutachtung vor, verbunden mit der Frage, ob dieser den Verlag nicht übernehmen wolle. Die Antwort Cottas ist nicht überliefert, scheint aber so zurückhaltend ausgefallen zu sein, daß Jean Paul den Bedingungen Reimers zustimmte. Nach einer ersten Begegnung im Juli 1817 in Heidelberg ändert sich der Ton in 39
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Vgl. Eduard Berend: Jean Paul und Johann Friedrich Cotta. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe 15, 1959, S. 1581–1589 (Nr. 92 vom 17. November 1959), besonders S. 1582f. Ursachen, warum der Verfasser nichts für das Taschenbuch auf 1803 liefert. Ein Brief. In: Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1803. Hrsg. von Huber, Lafontaine, Pfeffel und andern. Tübingen [1802], S. 233–244; der Beitrag wurde später in den zweiten Band der Herbst-Blumine aufgenommen (vgl. SW I 17, 138–144). Flegeljahre. Eine Biographie. 4 Bde. Tübingen 1804–1805; Jean Paul’s Freiheits-Büchlein; oder dessen verbotene Zueignung an den regierenden Herzog August von Sachsen-Gotha; dessen Briefwechsel mit ihm; – und die Abhandlung über die Preßfreiheit. Tübingen 1805. Vgl. Fertig (Anm. 16), S. 352. Vgl. Berend (Anm. 39), S. 1581f. Vgl. Fertig (Anm. 16), besonders S. 352–356. Vgl. Herbert G. Göpfert: „Welcher Fürst könnte mir ... Arbeit verbieten?“ Zur Publikationsgeschichte der 2. Auflage von Jean Pauls Siebenkäs. In: Ders.: Vom Autor zum Leser. Beiträge zur Geschichte des Buchwesens. München und Wien 1977, S. 165–172.
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der Korrespondenz Reimer – Jean Paul, im Oktober 1818 besucht Reimer gemeinsam mit Friedrich Schleiermacher seinen Autor in Bayreuth. Und die weitere Zusammenarbeit – neben Neuauflagen des Hesperus und der Unsichtbaren Loge geht es um Jean Pauls letzten großen Roman Der Komet, oder Nikolaus Marggraf 46 – gestaltet sich zur beiderseitigen Zufriedenheit, für den Komet zahlt Reimer sogar einen freiwilligen Honoraraufschlag.47 Schneller als seine Mitbewerber um die Gesamtausgabe, mit denen er zeitgleich auch um die GoetheGesamtausgabe konkurriert, für die Mitte September 1825 Cotta die Zusage erhält, ist er zu großzügigen Angeboten bereit, und er besucht den geschwächten Autor nicht lange vor dessen Tod Anfang September 1825.48 Die wohl entscheidenden Weichenstellungen im Verhältnis zwischen Reimer und Jean Paul liegen damals schon einige Jahre zurück. Der persönliche Eindruck, den der Berliner Verleger bei Jean Paul hinterlassen hat, spricht für ihn. Dazu gehören auch dessen Stellungnahmen zu politischen Zeitereignissen und sein entschiedenes Eintreten gegen die Demagogenverfolgung, das ihm eine Hausdurchsuchung, Beschlagnahmungen und Vernehmungen eintrug.49 Die freundschaftliche Dimension dieser Verlegerbeziehung läßt sich u.a. Jean Pauls Randbemerkungen auf Reimers Briefen ablesen wie: Dieses zertheilte Herz- würde mich seltsam abpulsieren, wenn ich nicht in die schwarzen Augen des Mannes selber gesehen hätte, dem ich mit ungewöhnlicher, fast gewaltsamer Liebe, trotz aller Anscheinungen, vertraue;
oder: Dank sei meinem physiognomischen u. psychologischen Vertrauen auf einen Mann, gegen welchen so viele Berliner Teufels Advokaten [...] aufstanden.50
Um auf den Anfang zurückzukommen, die Frage nach dem Weg der Jean Paulschen Werke über die „BuchhändlerBörse“ zum Lesepublikum, so führen die 46
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3 Bde, 1820–1822. Über die Entscheidung Jean Pauls, diesen Roman bei Reimer zu veröffentlichen, zeigte Cotta sich enttäuscht (vgl. seinen Brief vom 6. Juni 1820, H: BJK, Berlin A, Veröffentlichung in SW IV 8; vgl. auch Fertig 1989 [Anm. 16], S. 343). Vgl. den Brief Reimers an Jean Paul vom 9. Mai 1822 (H: BJK, Berlin A, Veröffentlichung in SW IV 8; vgl. auch Fertig [Anm. 16], S. 348). „Ihre letzte Gegenwart und Ihr letzter Brief“ sind die Bezugspunkte Jean Pauls bei der Fortsetzung seiner Verhandlungen mit Reimer Anfang Oktober 1825 (SW III 8, 290,24). Vgl. Doris Fouquet-Plümacher: Jede neue Idee kann einen Weltbrand anzünden. Georg Andreas Reimer und die preußische Zensur während der Restauration. Frankfurt /Main 1987, vgl. auch den entsprechenden Abschnitt in Doris Reimer: Passion & Kalkül. Der Verleger Georg Andreas Reimer (1776–1842). Berlin und New York 1999, S. 135–144. Briefe Reimers an Jean Paul vom 22. Mai 1819 und 30. Oktober 1820 (H: BJK, Berlin A, Veröffentlichung in SW IV 7 bzw. IV 8; vgl. auch SW III 7, 475, Regest Nr. 178, und III 8, 450, Regest Nr. 72); in dem ersten der beiden Briefe kündigt ein Kustos „Herz“ den „Herzlichen Dank“ der folgenden Seite an.
Beziehungen Jean Pauls zu seinen Verlegern
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skizzierten Facetten der ,Selbst-Herausgeberschaft‘ des Autors auf differenzierte Vermittlungs- und Aushandlungsprozesse, zusätzlich unwägbar durch mangelnde rechtliche Absicherung, durch politische und wirtschaftliche Krisen ohnehin. Auch die äußeren der drei Grundpositionen Autor – Verleger – Publikum, der Buchhandel und die Leserschaft, haben ihren Anteil an dem, was uns als Werk oder Werkchen in Periodikum oder Buch überliefert ist, Leseinteressen wie die Lektüre in aufwendig gestalteten Taschenbüchern und Almanachen geben dem kommunikations- und literaturgeschichtlichen Wandel ihrerseits Impulse. In das zentrale Verhältnis zwischen Autor und Verleger spielt dabei fast immer Persönliches hinein, ob als offenbar erwiderte Affinität Jean Pauls zu seinen frühen Vermittlern Karl Philipp Moritz oder Johann Gottfried und Caroline Herder, als besondere Bindung an die Redakteurin und Herausgeberin Wilhelmine UtheSpazier, als solides geschäftliches Einvernehmen zwischen Jean Paul und Johann Friedrich Cotta oder als vertrauensvolle und freundschaftliche Beziehung, wie sie sich zwischen Georg Andreas Reimer und Jean Paul entwickelte.
Birgit Sick ,Beigeleimte‘ Vorgeburten Über eine Publikationsstrategie Jean Pauls
I. Einleitung Als Jean Paul im Sommer 1789 in seinem Freundeskreis einige Exemplare der endlich zur Ostermesse desselben Jahres erschienenen Satire-Sammlung Auswahl aus des Teufels Papieren verteilte,1 stand er – ohne es bereits zu wissen – an einem Scheideweg. Sein zweites größeres Werk – nach den bereits sechs Jahre zuvor publizierten Grönländischen Prozessen oder Satirischen Skizzen2 – entpuppte sich als alles andere als ein Erfolg. Zunächst war das Manuskript bzw. einzelne Teile davon ab März 1784 auf einer gut fünfjährigen Odyssee durch deutsche Verlagshäuser und Buchhandlungen gewandert.3 Dabei waren auch zahlreiche namhafte Fürsprecher eingeschaltet worden, von denen der junge Jean Paul sich eine Empfehlung und Weitervermittlung seiner Schriften zum Druck erhoffte. Eduard Berend hat im Vorwort zu seiner Edition der Teufelspapiere rund 13 Stationen nachgewiesen,4 darunter so klangvolle Namen wie Friedrich Nicolai, Georg Christoph Lichtenberg und Johann Gottfried Herder. Es war Jean Paul darum gegangen, einen „Adoptivvater meiner Federgeburt“ zu finden (wie er im Dezember 1789 bezüglich der Publikation eines weiteren satirischen Textes, der Baierischen Kreuzerkomödie, schrieb).5 Denn seine lange vor den Romanen entstandenen satirischen Vorgeburten konnten sich bei Mentoren, Verlegern und Publikum kaum durchsetzen. Zwar gelang es Jean Paul schließlich, den Geraer Verleger Christoph Friedrich Beckmann als Herausgeber der Teufelspapiere zu gewinnen, doch war das 1
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I. P. F. Hasus (i.e. Jean Paul): Auswahl aus des Teufels Papieren nebst einem nöthigen Aviso vom Juden Mendel. o.O. 1789. R.[ichter, B.S.] (i.e. Jean Paul): Grönländische Prozesse, oder Satirische Skizzen. 2 Bde. Berlin 1783. Für die folgenden Ausführungen grundlegend: Eduard Berend: Einleitung zum ersten Bande. In: Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. I. Abteilung: Zu Lebzeiten des Dichters erschienene Werke. Hrsg. von Eduard Berend. Bd. 1. Weimar 1927, S. XI-XLIV. Im folgenden zitiert als SW; römische Ziffern geben die Abteilung, arabische die Bandzahl an. SW I 1, S. XXIV-XXVII. Jean Paul an Johann Wilhelm von Archenholz, 22. Dezember 1789. In: Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. III. Abteilung: Briefe von Jean Paul. Hrsg. von Eduard Berend. Bd. 1. Berlin 1956, S. 280, Nr. 298.
Über eine Publikationsstrategie Jean Pauls
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Ergebnis für ihn aus verschiedenen Gründen enttäuschend. Zum einen ließ das erzielte Honorar zu wünschen übrig: Beckmann war lediglich bereit, dem Autor 2 Reichstaler 12 Groschen pro Bogen zu bezahlen.6 – Dies entspricht ungefähr einem halben Louisd’or pro Bogen. Zum anderen erwies sich die Ausgabe als liederlich und enthielt eine Vielzahl von Druckfehlern, worüber sich Jean Paul in einem Brief an seinen Verleger vom 7. Juni 1789 erbost beschwerte: Aber Ihrem Sezer dank’ ich für nichts, am wenigsten für seine Augen, die allemal sahen, was ich nicht geschrieben – noch für sein Verlesen, etc. noch für seine Interpunkzion, die er mir in einem Tauschhandel stat der meinigen gab – noch für seine Orthographie, die weder die meinige noch die rechte ist – noch für seine Salve von Drukfehlern, die er auf iedem Bogen abfeuerte. Wenigstens hat er sich öfter verdrukt als ich mich verschrieben – daß Ihre Veränderung der Bibliothek keine Aufhebung derselben werde. – Ich bitte Sie H.[errn, B.S.] M. durch keine Anweisung aus meinem Freunde in meinen Schuldner zu verwandeln.7
Unter diesem Aspekt erscheint es nur konsequent, daß Verlag und Verlagsort im Druck offensichtlich bewußt weggelassen wurden. Jean Paul seinerseits unterzeichnete die Vorrede, da er diesen Autornamen damals noch nicht verwendete, nicht mit seinem bürgerlichen Namen, Johann Paul Friedrich Richter, sondern mit dem Pseudonym I.P.F. Hasus, wie er es bereits bei der Veröffentlichung einiger anderer Satiren und Aufsätze zuvor getan hatte.8 Darüber hinaus war die Aufnahme der Teufelspapiere beim Publikum sehr dürftig. Es erschien lediglich eine „unbedeutende“ Rezension in der Gothaischen gelehrten Zeitung vom 14. Oktober 1789,9 die dem Werk „moralischsatirische Aufsätze“ attestierte, „die mit ziemlich scharfer Lauge gewürzt, aber etwas zu weitschweifig“ seien.10 Den Fall eines wirtschaftlichen Mißerfolges bereits einkalkulierend hatte der Verleger von Jean Pauls zweiter Satiren-Sammlung nur eine Auflage von 750 Exemplaren drucken lassen,11 wovon der Rest später – angesichts des geringen Absatzes – makuliert wurde.12 Wie es Jean Paul trotz dieser Negativbilanz gelang, nach einer vierjährigen ,Publikations-Auszeit‘ als nahezu ungelesener Autor mit seinem Debütroman 6
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Christoph Friedrich Beckmann an Jean Paul, vor dem 14. April 1786. In: Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. IV. Abteilung: Briefe an Jean Paul. Hrsg. von der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Norbert Miller. Bd. 1. Hrsg. von Monika Meier. Berlin 2003, S. 83, Nr. 58. Jean Paul an Beckmann, 7. Juni 1789. In: SW III 1, S. 262, Nr. 264. So zum Beispiel bei Von der Verarbeitung der menschlichen Haut. In: Litteratur- und Völkerkunde. Bd. 9, 1786, S. 97–113 und Was der Tod ist. In: Deutsches Museum. Bd. 2, 1788, S. 552–555. SW I 1, S. XLI. Ebenda. Beckmann an Jean Paul, vor dem 14. April 1786. In: SW IV 1, S. 83, Nr. 58. Eduard Berend: Jean-Paul-Bibliographie. Neu bearbeitet und ergänzt von Johannes Krogoll. Stuttgart 1963, S. 3.
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Die unsichtbare Loge 1793 zunächst einen ersten Achtungserfolg zu erringen und zwei Jahre später mit dem Hesperus sogar zum Erfolgsschriftsteller zu werden, soll im folgenden anhand der nachgelassenen Satiren und Ironien – insbesondere der für die folgenden Ausführungen entstehungsgeschichtlich relevanten Bände 14 bis 18 (1789/90) – gezeigt werden.
II. Die Satiren und Ironien Die Sammlung der insgesamt 21 nahezu unbekannten Studienhefte wird in Jean Pauls Nachlaß in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz verwahrt (Faszikel XIIa und XIIb).13 Jean Paul hat daran – beginnend um 1781/82 – bis 1803, d.h. bis zum Erscheinen des letzten Bandes des Titan, gearbeitet. Über 20 Jahre lang schrieb er an diesen, wie er selbst sagt, „vielen Bänden blos entworfner Satiren“,14 die innerhalb seines umfangreichen Nachlasses als eine eigenständige Sammlung anzusehen sind und keinem anderen werkgenetischen Kontext zugeordnet werden können – etwa als direkte Vorarbeiten zu den Grönländischen Prozessen oder den Teufelspapieren. Dies ist bereits rein formal daran erkennbar, daß die Satire-Bände eine einheitliche Titulierung aufweisen – Jean Paul bezeichnet den Inhalt auf den Titelblättern der Bände alternierend als „Ironien“ bzw. „Satiren“ – und bis auf eine Ausnahme (Band 4) fortlaufend numeriert sind. Auf insgesamt rund 2000 Manuskriptseiten sammelte der Autor hier viele Tausende mehr oder weniger lange Einträge zu unterschiedlichsten Themenbereichen.15 Daß sich die Satiren und Ironien, insbesondere die späten Bände, in ihrer Bedeutung für die Werkgenese zunehmend als mittelbare Romanvorarbeiten herauskristallisieren,16 liefert ein zentrales Argument für die in der historisch-kritischen Buchedition präsentierte Textauswahl. In Zusammenarbeit und in Absprache mit Helmut Pfotenhauer, dem für die Bände 9 und 10 der II. Abteilung der historisch-kritischen Jean-Paul-Edition verantwortlichen Hauptherausgeber, hat die Verfasserin dafür die Satire-Bände 14 bis 21 (1789 bis 1803), also alle ab dem Erscheinen der Teufelspapiere entstandenen Hefte, ausgewählt. Die Bände 13
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Vgl. dazu die Beschreibung der beiden Faszikel des handschriftlichen Nachlasses Jean Pauls in: Ralf Goebel: Der handschriftliche Nachlaß Jean Pauls und die Jean-Paul-Bestände der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Teil 1: Faszikel I bis XV. Bearbeitet unter Mitarbeit von Ralf Breslau. Wiesbaden 2002 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kataloge der Handschriftenabteilung. Hrsg. von Eef Overgaauw. Zweite Reihe: Nachlässe. Bd. 6), S. 116–127. Jean Paul an Christian Otto, 15. Juli 1790. In: SW III 1, S. 298–301, Nr. 329. Vgl. dazu Birgit Sick: Jean Pauls nachgelassene Satiren und Ironien als Werkstatt-Texte. Schreibprozeß – Werkbezug – Optionale Schreibweisen. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 41, 2006, S. 51–70, besonders S. 54ff. Ebenda, S. 57ff.
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werden in sich vollständig und mit sämtlichen Varianten ediert. Geplant sind zwei Textbände und ein Kommentarband.17 Die zwischen 1781/82 und 1788 entstandenen Satire-Bände 1 bis 13 sollen aber nicht dem Vergessen anheimfallen, sondern werden zunächst elektronisch archiviert, da sie bereits vollständig transkribiert und elektronisch erfaßt wurden. Der gesamte Materialbestand der Satiren und Ironien ist somit gesichert. Langfristig wird die elektronische Publikation dieses Textkonvolutes im Jean-PaulPortal angestrebt, das unter der Internetadresse www.jean-paul-portal.de in einer Startversion zugänglich ist.18
III. Reaktionen auf die Erfolglosigkeit Zum Zeitpunkt seiner äußeren Erfolglosigkeit im Sommer 1789 waren die Vorratskammern des 26jährigen Autors prall gefüllt: Nicht nur arbeitete er bereits an einer dritten Satire-Sammlung – Abrakadabra oder die Baierische Kreuzerkomödie betitelt – sowie an weiteren einzelnen, in sich abgeschlossenen Satiren, auch seine Material- und Studiensammlung der Satiren und Ironien zählte bereits 13 Bände, das sind drei Viertel des Gesamtbestandes, rund 1500 Manuskriptseiten. Der mit der Herausgabe der Teufelspapiere verbundene Mißerfolg ließ den jungen Autor, der fest entschlossen war, Berufsschriftsteller zu werden, unbeeindruckt. In seiner literarischen Produktion sind zumindest keine Einbrüche festzustellen. Vielmehr begann er nur wenige Monate nach dem Erscheinen der Teufelspapiere den 14. Satire-Band, der vom „1 Iun. 1789“ datiert ist. Darüber hinaus schloß er bis zum Jahresende das Manuskript der Baierischen Kreuzerkomödie vorläufig ab und schickte es am 22. Dezember nach Berlin an Johann Wilhelm von Archenholz als dem „Adoptivvater meiner Federgeburt“, in der Hoffnung, dieser werde ihm den Druck des Textes beim Verlagsbuchhändler Vieweg vermitteln können.19
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Die historisch-kritische Edition der nachgelassenen Satiren und Ironien erscheint als Band 10 der II. Abteilung der von Eduard Berend begründeten und von Ulrich Ott und Helmut Pfotenhauer weitergeführten Ausgabe der Sämtlichen Werke Jean Pauls. Das Jean-Paul-Portal ist ein Gemeinschaftsprojekt der Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition (Leitung: Helmut Pfotenhauer; Redaktion: Birgit Sick und Barbara Hunfeld) und des Kompetenzzentrums für EDV-Philologie (EDV-philologische Betreuung: Christian Naser) an der Universität Würzburg. Jean Paul an Archenholz, 22. Dezember 1789. In: SW III 1, S. 280, Nr. 298.
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IV. Das Jahr der Entscheidung: 1790 – Simultaneität der Schreibstrategien und entstehungsgeschichtliche Verdichtung Das folgende Jahr, 1790, war zweifellos das für Jean Pauls Schriftstellerkarriere entscheidende und weist aus werkgenetischer Perspektive eine Signatur der Gleichzeitigkeit zweier Schreibverfahren auf: Fügt man die in diesem Jahr entstandenen oder weiterbearbeiteten Texte und Studienhefte aus Jean Pauls Nachlaß in ihrer Chronologie zusammen, wird die Simultaneität zweier Schreibstrategien erkennbar: Einerseits versuchte der Autor weiterhin, die bisher praktizierte, relativ erfolglose Publikationsstrategie fortzusetzen, andererseits entwickelte sich aus der alten Verfahrensweise zunehmend auch etwas Neues. Anfang Februar legte Jean Paul zwei neue Satire-Bände, Nr. 15 und 16, an. Daß beide auf dem Titelblatt exakt dasselbe Datum, „Den 1 Febr. 1790“, tragen, ist innerhalb des Konvolutes der Satiren und Ironien singulär und kann als demonstrativer Akt, als bewußt gesetzte Markierung einer Veränderung gelesen werden, zumal Jean Paul beide Bände mit einer Art Doppeltitel versieht – ein ebenfalls singuläres Verfahren –, der sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft weist: Mit der im Zentrum der Titelblätter plazierten Bezeichnung „Satiren“ knüpft der Autor einerseits an die bereits seit acht Jahren kontinuierlich geführte Materialsammlung der Satiren und Ironien und damit auch an seine Zeit als satirischer Schriftsteller an. Mit den zusätzlichen Bezeichnungen „LAUNE I.“ und „IRONIE I.“, die auf den Titelblättern jeweils rechts oben notiert und durch den Wechsel in lateinische Schrift zusätzlich hervorgehoben werden, kündigt sich aber auch eine neue Funktion dieser Bände an, die, wie später noch erläutert wird, auf das veröffentlichte erzählerische Werk hinweist. Nahezu zeitgleich erhält Jean Paul außerdem im Februar 1790 das Antwortschreiben von Archenholz, das keine guten Nachrichten enthält: Die Erfahrung bei der Herausgabe der Teufelspapiere scheint sich bei der Baierischen Kreuzerkomödie zu wiederholen – abermals läßt sich kein Verleger für die SatireSammlung finden: Ich bin nie mit einem MSPT. so unglücklich gewesen als mit dem ihrigen. Buchhändler haben es gelesen, es als PRODUCT des Witzes gelobt, als Waare aber von sich gewiesen, da, wie sie sagen, uneingekleidete Satyren gantz und gar nicht verkaufbar sind. Ich habe die besten hiesigen u. auch auswärtige deßhalb angelegen, u. in dieser für mich fremden Sache 5 Briefe geschrieben, allein vergebens. Noch gestern muste SPENER deßhalb einen Sturm von mir ausstehn; allein nichts wolte gelingen, besonders da alle schon längst für die Ostermesse versehen sind. Wenn Sie einen Freund in LEIPZIG hätten, der zur Meßzeit mit vielen Buchhändlern sprechen könte, so würde sich doch wohl einer finden, u. der Werth des Buchs würde sodann nach der Erscheinung das übrige thun. [...]
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P.S. Wäre dieser Aufwand von Witz und Laune in ROMANform gebracht, so bin ich gewiß die Buchhändler würden sich danach reissen. Warum in aller Welt thun Sie das nicht mit ihren PRODUCTEN? Die Kunst Handlung zu fingiren kann doch einem Manne nicht schwer werden, der die ungleich grössere Kunst versteht, witzig u. launicht zu seyn.20
Bei allen Schwierigkeiten, die Baierische Kreuzerkomödie drucken zu lassen, hält der Autor an diesem Projekt fest und setzt seine Arbeiten daran fort.21 Als Jean Paul allerdings zu der Einsicht gelangt, daß er für die Kreuzerkomödie keinen Verleger findet, versucht er zumindest einzelne Texte daraus in Zeitschriften zu veröffentlichen. So sendet er beispielsweise eine Kopie des als „I. Ernsthafter Zwischenakt“ konzipierten Textes Des todten Shakespear’s Klage unter todten Zuhörern in der Kirche, daß kein Got sei am 24. September an Herder mit der Bitte, sich für die Drucklegung dieses Textes im Deutschen Museum einzusetzen – leider wiederum ohne Erfolg.22 Letztendlich blieb die Baierische Kreuzerkomödie als Gesamtwerk zu Jean Pauls Lebzeiten unveröffentlicht und erschien in toto erstmals posthum in dem von Ernst Förster herausgegebenen Buch Der Papierdrache. Jean Paul’s Letztes Werk (1845).23
V. Die Herausgeberfiktion Der realen Erfolglosigkeit auf dem Buchmarkt steht, was in den Texten immer wieder auffällt, eine Herausgeberfiktion in den Satiren und Ironien gegenüber, die vor dem Hintergrund der dargestellten Publikationsgeschichte gleichsam als Kompensation der wiederholten Negativerfahrungen Jean Pauls erscheint. Der Gedanke an die Herausgabe von Texten wird trotz aller Schwierigkeiten nicht aufgegeben, sondern in zahlreichen Literarisierungen aus immer neuen Perspektiven umkreist. FROH DASS ICH DIE URTHEILE ÜBer Mein BUCH NichT HÖRE. (und überh. kan ich ieden nicht genug bitten daß er mich lobe). Ich kenne mich daß ichs nicht aushielte, wenn ich die Stufenfolge von Urtheilen über mein Buch vernähme; „es wäre abscheulich, – schlecht, – nicht gut – mittelmässig“ Hierüber werde ich vor Aergernis sterben – „es wäre gut, recht gut, vortreflich“ vor Freude. So aber höre ich wenig u. blos Lob von allen Seiten. Dergl. stärkt sichtlich die lahmen Finger der Autoren und 20 21
22 23
Archenholz an Jean Paul, 13. Februar 1790. In: SW IV 1, S. 193f., Nr. 105. Zur Entstehungsgeschichte der Baierischen Kreuzerkomödie vgl. Eduard Berend: Einleitung. In: Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. II. Abteilung: Nachlaß. Hrsg. von Eduard Berend. Bd. 3. Weimar 1932, S. XX-XXV. Ebenda, S. XXIV. Der Papierdrache. Jean Paul’s Letztes Werk. Aus des Dichters Nachlaß hrsg. von Ernst Förster. 2 Bde. Frankfurt / Main 1845 (Supplement zu Jean Paul’s sämmtlichen Werken. Theil 1–2).
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macht daß man zehnmal mehr schreibt. Ich für meine Person bekenne daß ich seit diesem algemeinen Loben mir 31 Bögen Papier für neue Einfälle bereitgeleget und schon geheftet.24
Jean Paul reflektiert seine Mißerfolge im Literaturbetrieb und distanziert sich mit subtiler Ironie von ihnen. Im ersten Einfall tröstet sich das schreibende Ich damit, daß Kritik ohnehin in jedem Falle tödlich sei: Würde das imaginäre Buch gelobt, so stürbe der Autor eben vor Freude statt vor Ärger. Kritik – so die Quintessenz – kann einem Schriftsteller deshalb völlig gleichgültig sein. Der zweite Einfall wirkt zunächst wie die Fiktion erfolgreicher Autorschaft durch das schreibende Ich. Vor dem Hintergrund der realen Erfahrungen des jungen Jean Paul allerdings wird die Ironie des Gesagten evident: Die Realität des Schriftstellers, in der alle Versuche auf Drucklegung der Baierischen Kreuzerkomödie scheitern, wird durch die Behauptung des Gegenteils verstellt. Das schreibende Ich erklärt, daß seine Literatur ausnahmslos gelobt werde und es auf diese Weise gestärkt seine Produktion fortsetzen und vervielfachen könne. – Die Wirklichkeit indes sieht anders aus. Jean Pauls Lebensumstände sind schwierig, an eine Finanzierung des Lebensunterhaltes durch den Verkauf von Büchern ist nicht zu denken, der Autor ist dementsprechend niedergeschlagen und frustriert. In den Tagebucheinträgen dieser Zeit kommt seine Lebenssituation deutlich zum Ausdruck: „Ekel am verlaufenden Leben“, notiert Jean Paul am 27. Oktober 1790 und „[u]nzufrieden seit langem mit allem, mit Büchern, eign[en], Leben“ am 8. Dezember desselben Jahres.25 Um so erstaunlicher ist die Wendung, die der Text am Ende des oben zitierten Satire-Eintrages nimmt. In sachlichem Ton protokolliert das schreibende Ich, es habe sich „seit diesem algemeinen Loben [...] 31 Bögen Papier für neue Einfälle bereitgeleget und schon geheftet“. – Angesichts der um 1790 entstandenen Materialien – in diesem Jahr füllt Jean Paul allein für die Satire-Bände 15 bis 18 rund 220 Manuskriptseiten – ist dies eine durchaus ernst gemeinte Aussage des Autors, deren Wahrheitsgehalt wiederum die Ironie ironisiert. Das Weiterschreiben gegen alle Widerstände und Niederschläge hat für Jean Paul auch die Funktion der Selbstbehauptung. Die Notate in den Satiren und Ironien legen davon Zeugnis ab: Auffallend häufig behandelt der Autor in dieser Zeit das Thema der Herausgeberschaft. So lauten die Überschriften einiger weiterer Einträge: „Alles drucken lassen“, „Autoren, die ganze Autoren, ihrer we24
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Jean Paul: Satiren und Ironien. Nachlaß. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Faszikel XIIb. Bd. 15, 1790, S. 38, Nr. 60. Der edierte Text wird ohne Varianten wiedergegeben. Siglen: Kursivierung: Ergänzung der Abkürzungen Jean Pauls durch die Herausgeberin; KAPITÄLCHEN: lateinische Schrift; Text in eckigen Klammern: fehlt in H, durch die Herausgeberin ergänzt; Zählung in eckigen Klammern: fortlaufende Zählung der Edition bei Auslassungen oder Verzählungen Jean Pauls; Text in spitzen Klammern: optionale Schreibweisen über der Zeile. Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. II. Abteilung: Nachlaß. Bd. 6. Hrsg. von Götz Müller und Winfried Feifel unter Mitarbeit von Janina Knab. Teil I: Text. Weimar 1996, S. 576 und S. 578.
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nigen Noten wegen herausgeben“, „Bücher machen“, „Lasse den Büchern Wege z. Tode offen“, „Mechanische Schriftstellerei“, „Ungelesne Autoren“, „Unsterblichkeit und Repetierbücher“, „Wenn ein Autor einen Roman edieret“, um nur einige zu nennen.26 Letztendlich nimmt Jean Paul in seinen Texten die spätere Realität vorweg. Einen Spezialfall der Herausgeberfiktion stellt eine eigene Zeitung, das Höfer Vierzehntags-Blat, dar,27 die Jean Paul sich von Mai bis Juli 1789 – vielen seiner späteren Protagonisten ähnlich – selbst erschreibt. – Mit dem handschriftlichen Unikat des Höfer Vierzehntags-Blats, das wie die Briefe Jean Pauls im Freundesund Bekanntenkreis des jungen Autors zirkuliert und gelesen wird, findet er eine elegante Lösung für sein Verlagsproblem: Er wird kurzerhand sein eigener Herausgeber. Dieses Verfahren eignet der Autor auch der Figur des Schulmeisterlein Wutz zu, das solcherart zum literarischen Wiedergänger des Autographen-Herausgebers Jean Paul wird, erschreibt es sich doch eine ganze Bibliothek – wie hätte der Mann sich eine kaufen können? – [...] eigenhändig [...]. Sein Schreibzeug war seine Taschendruckerei; jedes neue Meßprodukt, dessen Titel das Meisterlein ansichtig wurde, war nun so gut als geschrieben oder gekauft: denn es setzte sich sogleich hin und machte das Produkt und schenkt’ es seiner ansehnlichen Büchersammlung, die, wie die heidnischen, aus lauter Handschriften bestand.28
Auch zeitlich liegen Jean Pauls eigene Schriftsteller-Realität, exemplarisch gespiegelt im Höfer Vierzehntags-Blat, und der Text vom ,Taschendrucker‘ Wutz eng beieinander: Die Idylle vom Auenthaler Schulmeisterlein war 1793 – mit der Handlung des Romans vom Autor nachträglich und nur äußerst lose verbunden29 – quasi als Anhang zu Jean Pauls erstem Roman, der Unsichtbaren Loge, erschienen.30 Entstanden ist der Text allerdings bereits einige Jahre früher, von Dezember 1790 oder Februar 1791 bis März 1791,31 also nur eineinhalb bis zwei Jahre nach dem Höfer Vierzehntags-Blat.
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Die genannten Beispiele stammen sämtlich aus dem Satire-Band 16 (1790). Jean Paul: Satiren und Ironien (Anm. 24), Bd. 16, 1790, S. 19, Nr. 23; S. 3, Nr. 9; S. 27, Nr. 79, S. 40f., Nr. 121; S. 15, Nr. 40; S. 31, Nr. 93; S. 52f., Nr. [149]/108; S. 44, Nr. 127. Die vier handschriftlich überlieferten, unveröffentlichten ,Stücke‘ des Vierzehntags-Blats sind ediert in SW II 3, S. 65–75. SW I 2, S. 411f. Zu den wenigen inhaltlichen Bezügen von Roman und Idylle vgl. SW I 2, S. LIIf. Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Eine Biographie. 2 Bde. Berlin 1793. Jean Paul überarbeitete den Text noch einmal im Oktober 1791. Zur Entstehungsgeschichte des Schulmeisterlein Wutz und zu Fragen der Datierung vgl. außerdem SW I 2, S. V-LV, hier: S. XLVIII-LV.
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VI. Die Satiren und Ironien als Scharnier der sich verändernden Schreibstrategien Die Bände 14 bis 18 der Satiren und Ironien liegen entstehungsgeschichtlich im Zentrum dieser Schwellenzeit um 1789/90 und haben für Jean Pauls sich wandelnde Schreibstrategien Scharnierfunktion: Wie die bisherigen Editions- und Kommentarrecherchen belegen, dienen sie als Textreservoir sowohl der ausgearbeiteten, unpublizierten Satiren als auch der später veröffentlichten Romane. In ihnen spiegelt sich die für das Jahr 1790 paradigmatische Gleichzeitigkeit. Als exemplarisch hierfür kann Band 14 aus dem Jahr 1789 gelten, von dessen insgesamt 212 Einträgen bislang folgende Verwendungsnachweise erbracht werden konnten: Acht Entwürfe gingen in die Baierische Kreuzerkomödie ein und fünf weitere in andere ausgearbeitete Einzel-Satiren, wie Meine lebendige Begrabung. Dem stehen elf Entwurfstexte gegenüber, die Jean Paul in seinen veröffentlichten Romanen, der Unsichtbaren Loge mit Schulmeisterlein Wutz, dem Hesperus, dem Siebenkäs und den Flegeljahren verwendete. Auf manche dieser Satire-Einträge griff der Autor auch doppelt zu, d.h. Jean Paul arbeitete sie sowohl in die – um mit Archenholz zu sprechen – „uneingekleidete[n] Satyren“ als auch in die Romane ein.32 Auch in der zweiten Hälfte des Jahres 1790, dieses für Jean Pauls literarische Karriere so entscheidenden Jahres, lassen sich weitere Koinzidenzen aufzeigen: Als Pendant zu den Satire-Bänden 15 und 16 entstanden im November bzw. Dezember die Satire-Bände 17 und 18, die die korrespondierenden Zusatztitel „LAUNE II.“ und „IRONIE II.“ tragen. Parallel dazu begann Jean Paul die Arbeit am Studienheft Dichtung I (im November) und am Schulmeisterlein Wutz (im Dezember). Die Arbeit am Wutz dauerte bis März 1791 und leitete – beginnend mit den ersten Entwürfen zur Unsichtbaren Loge – eine lange und erfolgreiche Romanproduktion ein, die Jean Paul gut gerüstet, mit vielen tausend Seiten satirisch-ironischer Studienhefte und ausgearbeiteter Satiren, aufnehmen konnte. Da sich der Schwerpunkt der Schreib-Arbeit allmählich verschob – der Autor hatte ab jetzt ja die ,Einkleidung‘ seiner Satiren zu verfertigen –, kommt auch das Schreiben an den Satiren und Ironien zum Erliegen und wird erst einige Jahre später mit Band 19 (1796) wieder aufgenommen. Die beiden nächsten (und letzten) Satire-Bände folgen in weiteren zeitlichen Abständen: Band 20 entsteht im Jahr 1799, Band 21 im Jahr 1803.
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Jean Paul: Satiren und Ironien (Anm. 24), Bd. 14, 1789, S. 6, Nr. 18: „Ich stand alle Morgen mit der Erwartung auf“; S. 7, Nr. 24: „Ie weniger man das Voltigirpferd berührt“; S. 19f., Nr. [55]/54: „STÄTIGES PFERD“; S. 27f., Nr. [73]/71: „PUPPEN“; S. 29f., Nr. [75]/73: „LEBENDIGE BEGRABUNG“.
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VII. Das Unpublizierte kehrt wieder, oder: Von der Technik des ,Beileimens‘ Jean Paul wäre nicht Jean Paul, wenn er sich in der Absicht, seine Texte zu publizieren, von zögerlichen Vermittlern oder von widerspenstigen Verlegern hätte dauerhaft abhalten lassen. Er gibt seine abgelehnten Texte, seine ,Federgeburten‘, wie er selbst sagt, nicht auf, sondern wartet auf eine Gelegenheit, um sie eines Tages doch noch zu veröffentlichen. – Das Satirische mit seinen Optionen auf Digression und auf Selbstthematisierung des Schreibens ist für Jean Paul poetologisch zu essentiell, als daß er es preisgeben und sich tatsächlich auf einen grundlegenden Gattungswechsel von der Satire zum Roman – und das heißt in Jean Pauls Terminologie: zur „blosse[n] Geschichte“33 – hätte einlassen wollen. Es ist deshalb gerechtfertigt, in diesem Zusammenhang statt von einem Gattungswechsel von einem Wechsel der Publikationsstrategie zu sprechen. Wie hat man sich solche publizistisch nachgetragenen Vorgeburten nun konkret vorzustellen? Die von den Verlegern abgelehnten satirischen Texte sind Jean Paul in der Tat so wichtig, daß er zahlreiche von ihnen später an seine kleineren Erzählungen anmontiert. Dabei folgt er dem ästhetischen Prinzip des ,Beileimens‘, das er bereits für seine Erzählung vom Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal in Anspruch genommen hatte. Wie bereits ausgeführt schließt diese – obwohl mit der Handlung der Unsichtbaren Loge kaum verbunden – im Erstdruck von 1793 bereits auf der nächsten Seite an das Ende des Romans an.34 Jean Paul war sich dieser losen Verknüpfung seiner Texte durchaus bewußt, wie aus einem Brief an Karl Philipp Moritz hervorgeht, dem er zuvor bereits das Druckmanuskript der Unsichtbaren Loge übersandt hatte: Ich überfalle Sie recht oft – hier bring’ ich schon wieder etwas getragen, eine exzentrische Idylle, ein DESSEIN A` LA PLUME von einem Geschöpf, dem der sinliche Freudendünger die höhere Sonne vergütet. Auf Ihr Urtheil über seinen Werth oder seine Bogenzahl kömt es an, ob es dem Buch sol beigeleimt werden.35
Als prominentestes Beispiel dieser Technik des ,Beileimens‘ kann wohl der bereits erwähnte Text Des todten Shakespear’s Klage (1789) gelten,36 der – zunächst für die Baierische Kreuzerkomödie verfaßt – viele Jahre lang unpubliziert blieb, bis er schließlich als Erstes Blumenstück im Siebenkäs (1796/97) wiederkehrt: als Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei.37
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Vgl. dazu die Ausführungen unter Punkt VIII. Vgl. Jean Paul: Die unsichtbare Loge (Anm. 30), Bd. 2. S. 368f. Jean Paul an Karl Philipp Moritz, 6. Juli 1792. In: SW III 1, S. 359, Nr. 395. Vgl. SW II 3, S. 163–166. SW I 6, S. 247–252.
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Wie sich nachweisen läßt, wurden noch zahlreiche andere Satiren und satirische Einfälle aus Jean Pauls frühen, zunächst unpublizierten Sammlungen vom Autor in später veröffentlichte Texte aufgenommen.38 So findet auch rund 15 Jahre nach ihrer Entstehung eine Episode des von Jean Paul eigenhändig geschriebenen Höfer Vierzehntag-Blats ihren Weg zum Lese-Publikum: Die Beschreibung Wie der Zeitungsschreiber nach Bayreuth rit und nachher wieder heim aus dem Dritten Stük, datiert vom „20. Iul. 1789“,39 arbeitete Jean Paul als Reiterstück in das 12. Kapitel der Flegeljahre (1804/05) ein.40 Auch in diesem Fall läßt sich die Entstehungsgeschichte dieses Textes bis in die nachgelassenen Satiren und Ironien zurückverfolgen, denn der früheste Entwurf ist in dem ab Juni 1789 entstandenen Satire-Band 14 überliefert: STÄTIGES PFERD. Er kan vor Iammer nicht daran, sein Sizen des Pferdes zu beschreiben; aber ich kan es ganz leicht. Das Pferd schlug mit seinen 4 Füssen Wurzeln in die Erde und [er] drehte sich darauf herum wie auf einem hölzernen Pferde, das doch noch auf und niederzutreiben ist. Gleich einem Drehkreuz verrükt er sich hin und wieder. Mit seinem Knie wolte er wie mit einem Queve den Sattel und das daran geschnalte Pferd fortschieben. Er behandelte es wie ein Tretrad u. voltigirte und oszillirte mit den Füssen: was war das anders als eine wahre Systole und Diastole seiner Beine? Er wirkte auf alle Theile des Pferdes und brachte auf dem Rükken den Staupenschlag an. Er sas gebogen wie ein Komma41
Ohne nun die Form seiner frühen satirischen Texte wesentlich zu verändern, indem er sie etwa in den erzählerischen Verlauf einarbeitete, hängt Jean Paul einige seiner bereits seit Jahren fertigen Satire-Texte und Aufsätze an seine Romane und Erzählungen an oder schaltet sie diesen vor. Die Geschichte vom Leben des Quintus Fixlein (1795) wird geradezu von Vor- und Nachschaltungen eingerahmt, dem Mussteil für Mädchen und den Jus de tablette für Mannspersonen.42 Hiermit bezeichnet der Autor die Sammlungen wiederum eigenständiger, mit der eigentlichen Erzählung kaum verknüpfter Texte im Umfang von zwei bzw. fünf Beiträgen. Aus dem Mussteil geht beispielsweise der erste Text mit dem Titel Tod eines Engels auf die frühe Publikation Was der Tod ist (1788) zurück, in den Jus de tablette verwendete Jean Paul als dritten Text mit dem Titel Es gibt weder eine eigennützige Liebe noch eine Selbstliebe, sondern nur eigennützige Handlungen einen frühen Aufsatz (um 1790).43
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Vgl. dazu Jean Paul: Sämtliche Werke. Abteilung II. Hrsg. von Norbert Miller und Wilhelm Schmidt-Biggemann. Bd. 4. München 1985, S. 420. SW II 3, S. 67–71, besonders S.70f. SW I 10, S. 64–72. Jean Paul: Satiren und Ironien (Anm. 24), Bd. 14, 1789, S. 19f., Nr. [55]/54. Siglen siehe Anm. 24. Vgl. SW I 5. Der Aufsatz Es giebt keine eigennüzige Liebe, sondern nur eigennüzige Handlungen ist ediert in SW II 3, S. 232–251.
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In den Biographischen Belustigungen (1796) erhebt Jean Paul das Anhängen von Texten zum Strukturprinzip:44 Den sechs Belustigungen folgt ein sogenannter Satirischer Appendix, bestehend aus einer Vorrede und einem weiteren satirischen Text, der Sallatkirchweih in Obersees, die sich auf diese Weise ihren ursprünglichen Charakter als in sich abgeschlossene Einzeltexte bewahren.45 Mit der Geschichte vom Jubelsenior (1797) schließlich entwirft Jean Paul nichts weniger als eine neue Literaturgattung,46 den „Appendix“.47 Dieser sei zwar mit dem Roman verwandt, aber doch „nur eine sehr entfernte Seitenverwandte [...], ja wenn nicht dessen feindliche Stiefmutter, doch Stiefschwester“.48 In seiner programmatischen Vorrede Prodromus galeatus definiert der Autor seine Gattung des „Appendix“ näher: [E]in guter Appendix erzählt wenig und scherzt sehr – er wendet wie Voltairens Klio den historischen Bildersaal nur als Vehikel und Narrenschiff reicher Ladungen von Einfällen und Scherzen an – der ächte Appendix verachtet die Malerei der Charaktere und das Bonnetsche Entwicklungssystem einer innern Geschichte, er spielet aber unter dem leichten Schein von beiden uns die wichtigsten Satiren in die Hand.49
Das ,Beileimen‘ behält Jean Paul bis zum Ende seiner Schriftstellertätigkeit bei. Noch 1823, in der zweiten, vermehrten Auflage des Romans D. Katzenbergers Badereise, kündigt er bereits auf dem Titelblatt mit dem Zusatz nebst einer Auswahl verbesserter Werkchen beigefügte, mit der Handlung der eigentlichen Bade-Geschichte nahzu unverbundene Texte an, die er jedem der drei Textbände des Romans nachordnete.50
VIII. Resümee Die Schwellenzeit um 1789/90 verdeutlicht das Ringen Jean Pauls um eine starke Autorposition, d.h. um eine über das Verfertigen der „blosse[n] Geschich44 45
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Vgl. SW I 5. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, daß diese Texte nicht noch einmal in ihren einzelnen Fassungen überarbeitet worden sein können. Jean Paul spricht wörtlich von einer „neuen Dichtungsart“ und von einer „ganz neuen Dichterform“. SW I 5, S. 389. So lautet dementsprechend auch der Untertitel des Jubelsenior. SW I 5, S. 389. Ebenda. Vgl. SW I 13. Insgesamt hängt der Autor an den unmittelbaren Erzähltext der Bade-Geschichte folgende zusätzliche Werkchen an: Bd. 1: I. Huldigungpredigt vor und unter dem Regierantritt der Sonne. II. Über Hebels alemannische Gedichte. III. Rat zu urdeutschen Taufnahmen. IIII. Dr. Fenks Leichenrede auf den höchstseligen Magen des Fürsten von Scheerau. V. Über den Tod nach dem Tode; oder der Geburttag. Bd. 2: I. Die Kunst einzuschlafen. II. Das Glück, auf dem linken Ohre taub zu sein. III. Die Vernichtung. Bd. 3: I. Wünsche für Luthers Denkmal von Musurus. II. Über Charlotte Corday. III. Polymeter.
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te“ hinausgehende Herrschaft des Autors über seinen Text, auch wenn der Preis dafür hoch ist. Den Konflikt mit den Anforderungen des Buchmarktes trägt er u.a. dadurch aus, daß er in seinen Studienheften der nachgelassenen Satiren und Ironien der widrigen Realität wiederholt seine Fiktionen des Schreibens und seinen Traum vom literarischen Durchbruch entgegensetzt: LAUNe FÜR ROMane. Wenn ich eine blosse Geschichte schreibe – das wäre leicht; ich würde keine Mühe haben, wolt’ ich dies. etwan noch mit Empfindung einfeuchten wie alte Wäsche – ia ich könt mich auf meine Gehirnfiebern verlassen wenn ich noch blos Wiz und Scharfsin als Weinlaub und Spaliergewächse an ienen Lehrgebäuden heraufziehen wolte u. ich habe meine gewissen Kenzeichen, daß wenn das Buch fertig wäre u. nas nach den deutschen Hauptstädten, Iena käme, es aus einer Gasse in die a. gienge; aber da (ich damit durch an) nicht daran zu denken ist, daß ich dabei bliebe, sondern da ich einen Bund theurer Federn bereit geschnitten u. mit ihnen in dies. Werk einrütt. u. stampfen wil, was in hundert taus. Köpfen zerstreuet oder in meinem vereint ist, da ich in der That es zu einem kurzen Auszug aus der Enzyklop. (die wieder ein Auszug aus dem Naturbuch ist) machen wil, da ich ein Wunder wil, nach dessen Geburt ich weiter nichts in meinem Leben mehr zu thun brauche als Stiefel anzuziehen u. in der ganzen Welt herumzureisen und bei denen 〈 die 〉 durchzuessen, die es loben u. mich erfragen: (so ist ein solcher Spas weiter kein Spas). kurz ich bin begierig auf den Ausgang; aber Anspannung 〈 von meiner Seite 〉, entsezl., höllisch, unerhört ist ganz natürlich.51
Bereits Jean Pauls frühe literarische Produktionen konturieren den zentralen Aspekt seiner Autorschaft: Ein Teil von ihm agiert stets als ,Stiefbruder‘ des Romanciers, als Verfasser von Appendices und als Satiriker. Dabei überschreitet er allerdings bald die engen Gattungsgrenzen der Aufklärungssatire. Dreh- und Angelpunkt des Satirischen bei Jean Paul ist vielmehr eine Selbstthematisierung des Schreibens in Form von Digressionen, Einschüben und Einschaltungen, bis hin zur Erhebung des Digressiven zur autonomen Kunstform: Der Jubelsenior ist – da in der „Dichtungsart“ des Appendix das Abschweifen vom Erzählen zum Selbstzweck erhoben wird – nichts anderes als eine einzige gedruckte Digression: In der That ist das im Appendix Ziel und Schmuck, was im Roman Irr- oder Ausweg und Makel ist. Die Schmetterlingsflügel bunter Einfälle, die das Insektenkabinett oder den Glaskasten des Appendix putzen und füllen, durchziehen nur als fremdes Einschiebsel den solidern deutschen Roman, so wie wahre Schmetterlingsflügel nach Büffon als unverdauliche residua aus den Exkrementen der Fledermäuse schimmern. Die Digression ist nie im Roman Hauptsache, darf hingegen nie im Appendix als Nebensache behandelt werden [...].52
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Jean Paul: Satiren und Ironien (Anm. 24), Bd. 17, 1790, S. 37f., Nr. 47. Siglen siehe Anm. 24. SW I 5, S. 389f.
Über eine Publikationsstrategie Jean Pauls
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Die Schreibtechniken des ,Beileimens‘, ,Anhängens‘, ,Einschaltens‘ und ,Zusammenschweißens‘53 zeigen in ihrer Metaphorik bereits ihre ästhetische Funktion: Als Tätigkeiten des Verbindens ermöglichen sie es dem Autor, die Notwendigkeiten des Romanschreibens mit den Bedürfnissen des Satirikers zusammenzubringen. Auf diese Weise kann Jean Paul zukünftig Geschichten erzählen und gleichzeitig seine Herrschaft über den Text, die mehr ist als das Schreiben der „blosse[n] Geschichte“ – und damit einen zentralen Aspekt seiner Autorschaft – bewahren. Diesen Befund spiegeln in genetischer Hinsicht die Entwurfshefte der nachgelassenen Satiren und Ironien, aus deren Fundus, wie an anderer Stelle gezeigt wurde,54 mittelbare Romanvorarbeiten hervorgehen. Entscheidend ist dabei, daß die Satire-Bände gerade Früh-Fassungen derjenigen Romanteile enthalten, die nicht mit der „blosse[n] Geschichte“ zusammenhängen. Die Satiren und Ironien liefern gleichsam das Material für das Andere der „blosse[n] Geschichte“, das nach Jean Pauls Kunstverständnis der ästhetische Mehrwert ist. – In der Vorrede zum Jubelsenior nimmt Jean Paul diese Haltung aus dem Satire-Eintrag „LAUNe FÜR ROMane“ wieder auf: Sich mit der Geschichte eines Romans beschäftigen zu müssen verstelle dem Autor nur die Möglichkeit, ausschließlich dem Ästhetischen nachzugehen, das ihn eigentlich interessiere: Eine Biographie oder ein Roman ist blos eine p s y c h o l o g i s c h e Geschichte, die am lackierten Blumenstab einer ä u ß e r n emporwächset. Es gibt kein ästhetisches Interesse ohne Schwierigkeiten und Verwicklungen, d.h. keine Neugierde nach Dingen, die man – weiß.55
Seinen Texten unverwechselbare Signaturen einzuschreiben, Spuren seiner selbst in seinen Texten zu hinterlassen und damit dem eigenen „Schrecken daß im 19., 30., 40. Jahrhundert nichts von mir da ist, keine Erinnerung“ die Faktizität der eigenen Existenz entgegenzusetzen,56 war letztlich ebenfalls ein entscheidendes Movens von Jean Pauls Selbstverständnis als Autor. Um 1789/90, als Johann Paul Friedrich Richter noch um sein Lebensziel, Berufsschriftsteller zu werden, ringt, notiert er am 27. Oktober 1790 fast trotzig in sein Tagebuch: „[E]inmal, spät oder früh, nach meinem Tode lieset doch jemand meine unverbranten Papiere.“57 – Heute wissen wir, wie recht er damit hatte.
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Zur Bezeichnung des ,Einschaltens‘ vgl. Jean Pauls Kapitelbezeichnung Schalttage im Hesperus, in denen er – im Gegensatz zu den Hundsposttagen – satirische, mitunter vom Romangeschehen völlig unabhängige Texte unterbringt. Zum ,Zusammenschweißen‘ vgl. SW I 3, S. 240: „Ich will Schalttag und Vorrede zusammen schweißen.“ Vgl. Sick 2006 (Anm. 15), S. 57ff. SW I 5, S. 387. SW II 6, S. 579. SW II 6, S. 576.
Thomas Bach Avantgarde im Bereich der Naturgeschichte Arno Schmidt und die Edition der Gesammelten Werke von Lorenz Oken1
Wenn man auf einer Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition über eine Ausgabe von Lorenz Oken berichten soll,2 dann muß man sich dessen bewußt sein, daß man, sieht man einmal vom Aspekt des Editorischen ab, mit seinem Thema eigentlich fehl am Platze ist: Denn Oken war kein Literat oder Dichter, und folglich hat sich die Germanistik auch noch nicht um seine Werke gekümmert. Gleichwohl ist Oken für die Germanistik möglicherweise keine ganz unbekannte Größe. Denn bereits 1961 hatte Arno Schmidt in seiner Erzählung Schwänze an prominenter Stelle auf Oken hingewiesen,3 und nur wenige Jahre später publizierte Hans Magnus Enzensberger sogar Okens kombinatorisches System der Pflanzenwelt mit einer Anleitung zum besseren Verständnis.4
1. Arno Schmidt als Leser von Lorenz Oken Was schätzen diese Autoren an Oken? Ich will die Frage an dieser Stelle nur für Arno Schmidt5 beantworten und dazu einen Blick auf die Erzählung Schwänze werfen, in deren Handlung ein in der Tradition August Stramms stehendes6 1
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Mein Dank gilt Jochen Golz für die Einladung, auf der von der Klassik Stiftung Weimar veranstalteten Tagung „Autoren und Redaktoren als Editoren“ die im Metzler Verlag erscheinende Ausgabe der Gesammelten Werke Lorenz Okens vorzustellen. Da die Tagung von der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition und dem Sonderforschungsbereich 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ ausgerichtete wurde, habe ich mir erlaubt, über Arno Schmidt die germanistischen Bezüge etwas in den Vordergrund zu rücken. Für die Textfassung wurde das Redemanuskript um die Fußnoten ergänzt, der mündliche Sprachduktus aber weitgehend beibehalten. Lorenz Oken: Gesammelte Werke. Hrsg. von Thomas Bach, Olaf Breidbach und Dietrich von Engelhardt. 4 Bde. Stuttgart 2007ff. Arno Schmidt: Schwänze. In: Ders.: Werke. Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Bd. 3. Zürich 1987, S. 313–333. Erstdruck in: Konkret 5 (1961), Nr. 17. Hans Magnus Enzensberger: Lorenz Oken: Kombinatorisches System der Pflanzenwelt. In: Kursbuch 3 (1965), S. 79–93, Enzensbergers Anleitung zum besseren Verständnis ebenda S. 79–81. Zu Enzensbergers Beziehung zur Wissenschaft vgl. Hans Magnus Enzensberger: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa. Frankfurt/Main 2002. Vgl. Kurt Möser: „Nach der strammen ,Sturm‘-Methode gedichtet“ – Parodien und andere Text-
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expressionistisches Gedichtfragment eingewoben ist. Aus der Perspektive des Ich-Erzählers J. B. Lindemann liest sich dies so: Ich meine, man ist schließlich auch kein Gimpel! Man hat auch seinerzeit an Teichen gestanden, und losgelegt: „Narfen merren / Klöder drahlen, Flappe zullen / schwiedeln klinnen gullen flangen / Zasel tufen Mocke dusen / Wäppel elsen plinten lieschen .....“ also mir soll Keiner von ,Avantgarde‘ vorprahlen, und wenn er so lange Haare dran hat.7
Wie der Leser dann spätestens aus dem im Anschluß an den Haupttext abgedruckten fingierten Plagiatvorwurf und der auf diesen erfolgenden Replik erfährt, besteht dieses Gedicht fast ausschließlich aus Worten, die Okens Allgemeiner Naturgeschichte für alle Stände 8 entnommen sind.9 Aber damit greife ich bereits dem Lauf der Dinge vor. Für die Interpretation dieses Sachverhalts ist an dieser Stelle zunächst das Wort ,Gimpel‘ aus Lindemanns einleitendem Statement aufschlußreich. Denn nur wenigen Lesern wird wohl bei der Lektüre aufgefallen sein, daß das Gedichtfragment aus Okenschen Zunftnamen für das Pflanzenreich zusammengestellt wurde. Bekannter ist da schon die umgangssprachliche Bedeutung von Gimpel als „ein einfältiger, dummer Mensch“,10 und es leuchtet von daher unmittelbar ein, daß sich der IchErzähler Lindemann selbstverständlich nicht als dumm dar- bzw. hinstellen möchte. Damit ist die Interpretation des Wortes Gimpel aber noch nicht ausge-
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verarbeitungen im Umfeld der Lyrik August Stramms. In: Der Deutschunterricht 37 (1985), H. 6, S. 58–73; hier S. 72f. und Jörg Drews: Arno Schmidt und August Stramm. Beobachtungen zu den expressionistischen Stilelementen in den frühen Romanen. In: Arno Schmidt. Hrsg. von Ludwig Arnold. Text und Kritik 20/20a. München 1977, S. 82–88; ders.: August Stramm und die frühen Romane Arno Schmidts. Eine Fußnote zur Geschichte der Stramm-Rezeption nach 1945. In: August Stramm. Kritische Essays und unveröffentlichtes Quellenmaterial aus dem Nachlaß des Dichters. Hrsg. von J. D. Adler und J. J. White. Berlin 1979, S. 181–187. Schmidt: Schwänze 1987 (Anm. 3), S. 319. Lorenz Oken: Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände. Dritten Bandes erste Abtheilung oder Botanik, zweyten Bandes erste Abtheilung. Mark- und Schaftpflanzen. Stuttgart 1841, S. VIIIf. Arno Schmidt besaß seit dem 24. Dezember 1960 eine Ausgabe von Okens Allgemeiner Naturgeschichte (vgl. Die Bibliothek Arno Schmidts. Ein kommentiertes Verzeichnis seiner Bücher von Dieter Gätjens. Zürich 1991, S. 389), die Niederschrift der Erzählung Schwänze fällt in die Zeit von April bis Juni 1961 (vgl. Schmidt: Werke I, 3 1987 [Anm. 3], S. 549). Zu der Erzählung Schwänze liegen, soweit ich sehe, zwei Interpretationen vor. Vgl. Eva Heinemeyer: „Notzustand im Künstlerreservat“. Eine Annäherung an die Erzählung Schwänze. In: Bargfelder Bote. Lfg. 99 (1985), S. 4–18, und Ernst-Dieter Steinwender: Lä/Endlicher Spaziergang. Überlegungen zur Personenkonstellation in Schmidts Erzählung Schwänze. In: Bargfelder Bote. Lfg. 138 (1989), S. 3–18. Meyers Großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. Siebenter Bd.: Franzensbad bis Glashaus. Leipzig und Wien 1905, S. 851. Vgl. Lorenz Oken: Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände. Siebenten Bandes erste Abtheilung, oder Thierreich, vierten Bandes erste Abtheilung. Vögel. Stuttgart 1837, S. 264: „Sie lassen sich sehr leicht fangen und werden daher für dumm gehalten; man pflegt sie zu essen, obschon sie bitter schmecken.“
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reizt, verweist es doch nicht nur auf jenen einfältigen, dummen Menschen, sondern auch auf den Vogel Gimpel (Pyrrhula pyrrhula), bekannt auch als Dompfaff, dessen Gesang „nicht sonderlich“ sei, der aber „gern vorgepfiffene Stückchen nach[ahme]“ und „deshalb ein beliebter Stubenvogel“11 sei. Wenn Lindemann also von sich behauptet, er sei kein Gimpel, sagt er nicht nur, er sei nicht dumm, sondern er unterstreicht damit auch den Originalitätsanspruch des Gedichts, bei dem es sich nicht um das Produkt einer bloßen Nachahmung handeln soll. Nun macht aber spätestens der Hinweis auf den Stubenvogel mißtrauisch, werden doch gerade die Gelehrten häufig als solche Stubenvögel oder Stubenhocker bezeichnet, weil sie ihre Gelehrsamkeit gerade dem Faktum verdanken, daß sie nicht durch die Welt streunen, sondern fleißig zuhause über den Büchern hocken. Die Aussage „man ist schließlich auch kein Gimpel“ ist von daher ein Signalzeichen, das nachfolgende Gedicht kritischer zu betrachten. Die Arbeit dieser kritischen Überprüfung des Gedichts wird dem Leser aber dadurch erspart, daß im Anhang zur Erzählung ein Text von „Chr. M. Stadion“ – bei dem Namen handelt es sich um ein bekanntes Anagramm Arno Schmidts – unter der Überschrift J. B. Lindemann ein Plagiator! abgedruckt erscheint.12 Der Anhang enthält dabei das vollständige, am Rand von eben jenem Chr. M. Stadion kommentierte Gedicht Ländlicher Spaziergang, in dessen erster Strophe aber erneut ein deutlicher Hinweis auf Oken versteckt wurde: i.) Klöder drahlen Flappe zullen Fäsen schleipen schlinken söllen schwiedeln klinnen gullen flangen Sieve plumpen Rölsen schwieken (Nixen mummeln?) Zasel tufen Kausche schlutten uchten flahnen Schwerdel glitzen Mocke dusen Wäppel elsen pinten lieschen Schilfe binsen Teische tageln (oken?) Narfen merren. 11
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am Teichufer
Unsinn ! Nixen gibt es nicht.
Wasser=Ober=Fläche, von Fischen gebuckelt ? also Froschgequarre13
Konversationslexikon 1905 (Anm. 10), S. 851. Vgl. Oken: Allgemeine Naturgeschichte 1837 (Anm. 10): „Sie werden außerordentlich zahm, lernen allerley Stückchen pfeifen und werden besonders in Waldgegenden von Leinwebern und Schustern unterrichtet und sehr theuer verkauft.“ Im Kommentar der Bargfelder Ausgabe wird darauf hingewiesen, daß „die Anhänge von ,Chr. M. Stadion‘ und ,J. B. Lindemann‘ [...] von Arno Schmidt auch zu separater Zeitschriften-Publikation vorgesehen“ waren, „aber so nie gedruckt wurden“. Vgl. Schmidt: Werke I, 3 1987 (Anm. 3), S. 549. Schmidt: Schwänze 1987 (Anm. 3), S. 327.
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Das insgesamt siebenstrophige Gedicht14 wird dann von Chr. M. Stadion mit den Worten kommentiert: Risum teneatis, amici! Und nicht nur dieses; sondern es sei ausgesprochen, das Ungeheure: jedes einzelne der betreffenden ‹Worte› findet sich in OKEN’s ‹Naturgeschichte›, wo es als (sinnlos verdeutschter) Gattungsname von Pflanzenoderwasweißich figurieren muß! Oken sei’s verziehen; im Donnerton aber ruft die Volksstimme: Quousque tandem, Lindemann?!15
Es würde wohl zu weit führen, wenn an dieser Stelle auch noch die nicht nur den Umgang mit Oken betreffende Frage nach dem „Wie lange noch?“ beantwortet werden sollte. Auf Oken hat Arno Schmidt in seinem weiteren Œuvre jedenfalls immer wieder hingewiesen und sich auch von Zeit zu Zeit weitere produktive Anverwandlungen der Okenschen Begrifflichkeit erlaubt.16 Was das Gedicht selbst betrifft, so wären für die Interpretation insbesondere die Randnotizen heranzuziehen. Ein Beispiel: Chr. M. Stadion, der fingierte Kommentator des Gedichts, merkt zur Zeile „(Nixen mummeln?)“ an: „Unsinn! Nixen gibt es nicht.“ Er sollte es aber, in Kenntnis der Okenschen Vorlage, besser wissen. Mag es auch Nixen, in der vom althochdeutschen nicchus, d.h. „badendes (d.h. im Wasser lebendes) Wesen“17 hergeleiteten Bedeutung, in der Wirklichkeit nicht geben – wie es in der Poesie aussieht, steht dabei aber auf einem anderen, hier nicht zu betrachtenden Blatt – , so passen doch deren naturgeschichtliche Korrelate, die Wasserhyazinthen (Pontederiaceae), sehr gut zur angenommenen Umgebung des Teiches.18 Entscheidender als diese hier nicht weiter zu verfolgende Interpretation ist im Kontext meiner Überlegungen aber Lindemanns Notwendige Erklärung, in der es unter anderem heißt:
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Ebenda, S. 327–329. Ebenda, S. 329. Eine besonders auffällige Parallele findet sich in der ,Schule der Atheisten‘: „Kurken storzen kelke Dorste“. Vgl. Arno Schmidt: Die Schule der Atheisten. Frankfurt/Main 1972, S. 203. Auch hier werden wieder die Begriffe von Oken verwendet. Siehe hierzu den Kommentar in: Leibl Rosenberg: Das Hausgespenst. Ein begleitendes Handbuch zu Arno Schmidts Die Schule der Atheisten. Ergänzungsband in Zusammenarbeit mit Klaus Jürgen und Hedwig Pauler. München 1979, S. 176f. Im Unterschied zum ersten Band (Leibl Rosenberg: Das Hausgespenst. Ein begleitendes Handbuch zu Arno Schmidts Die Schule der Atheisten. München 1977), werden in dem Ergänzungsband zahlreiche Anspielungen auf und Entlehnungen von Oken aufgeschlüsselt. Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden. Neunzehnte, völlig neu bearbeitete Auflage. Fünfzehnter Bd.: Moe-Nor. Mannheim 1991, S. 636. Oken führt die „Pontederien und Hydropeltiden“ als Beispiele für die „Beerengräser – Nixen“ an. Vgl. Oken: Allgemeine Naturgeschichte 1841 (Anm. 8), S. 450: „Pontederien und Hydropeltiden. Wasserpflanzen mit schildförmigen, schwimmenden Blättern, drey- oder sechstheilige Zwitterblüthen einzeln aus den Blattscheiden, Staubfäden unten; Capsel aus mehreren Bälgen, meist mit schildförmiger Narbe, wenige Samen an Rippscheidwänden, mit Eiweiß.“
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Was not täte, wäre eine Voll=Biegsamkeit der Sprache; die, sei es von der Orthografie, vom Fonetischen, oder auch von den Wort=Wurzeln und =kernen her, imstande wäre, z.B. in irgend einer Flüssigkeitsfläche hin= und her=schwappende Lebewesen rasch und bildhaft=überzeugend a` la Neu=Adam zu inventarisieren; ja, noch brutal=fähiger, zu ‹vereinnahmen›. Infolgedessen – und, ich hebe es noch einmal hervor: von dem Ernst der Lage vermutlich durchdrungener als die meisten meiner Zeitgenossen – habe ich mir mit dem verehrt-unwissenden Leser diesen Nicht-Spaaß erlaubt: es gab nämlich bereits einmal, in lieben Deutschlands Mitten, eine ‹Schule›, die über die notwendige Sprachgewalt verfügt hätte; ich will sie, nach dem mir geläufigsten ihrer Führer, die OKEN’sche nennen.19
Auf diese Würdigung der sprachschöpferischen Leistung Okens folgt dann im Stile der Funkessays eine zum Teil etwas verzeichnete Kurzcharakteristik der Vita Okens, in welcher insbesondere unter Hinweis auf die Allgemeine Naturgeschichte dessen sprachschöpferische Leistung gewürdigt wird: Hier nun, wie auch in früheren Veröffentlichungen schon, gab Oken eine umfangreiche neue ‹Deutsche Terminologie› der Pflanzen= und Tierwelt, die so vorzüglich war, daß sie sich schon deshalb nie bei uns eingebürgert hat; obwohl die Namen, zum weitaus größten Teil, in ihrer Bildhaftigkeit schlechthin entzückend sind!20
Der Sache nach war sich Lorenz Oken dieser Leistung bewußt, aber er wußte auch um die damit verbundenen Schwierigkeiten. So beklagt er in der Vorrede zum dritten Band seines Lehrbuchs der Naturphilosophie, in der er explizit die Sprache „als den wichtigsten und strittigsten Gegenstand“21 seiner Unternehmung thematisierte, daß es jedem gestattet sei, „aus griechischen, lateinischen und französischen Sylben Wörter zusammen zu stoppeln und sie noch mit deutschen Schweifen und Nasen zu versehen“, wohingegen man denjenigen „mit Steckbriefen wie einen Brandstifter verfolgt, der es wagt, ein deutsches Wort einzuführen, das nicht schon wenigstens in irgend einem noch vor der letzten Messe herausgekommenen Buche steht“:22 Es ist wunderlich, daß wir uns nicht freuen, wenn die Sprache aus sich selbst, oder aus noch nicht gehörig untersuchten Provinzen bereichert wird. Aengstlich suchen wir jeden Erdwinkel durch, um noch ein neues Mos herauszuklauben, und will es sich nicht finden, so macht man wohl eines. Dieses wird gelobt, und nicht das Einführen neuer, nicht das Suchen alter noch unentdeckter Wörter, da es doch diese nur sind, durch die der Reichthum der Sachen erhalten wird. Ich habe mich in meinen bisherigen Schriften, soviel als es nur immer möglich gewesen, gehütet 19 20 21
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Schmidt: Schwänze 1987 (Anm. 3), S. 330. Ebenda, S. 331. Lorenz Oken: Vorrede (1811). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2: Lehrbuch der Naturphilosophie. Stuttgart 2007, S. 245. Ebenda, S. 245f.
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neue Namen einzuführen; allein jetzt, wo ich eine große Menge neuer Thierfamilien aufstellen mußte, zu denen die Namen durchgehends fehlen, und wozu mir nur die Wahl blieb, griechisch lateinische Barbarismen zu schmieden, oder die Sachen namenlos zu lassen, und sie so dem Verkehr zu entziehen, jetzt erst, sage ich, habe ich den Muth gefaßt, und die Wand durchbrochen, und zwar so entschieden, daß ich mich durch keinen Damm weiter werde aufhalten lassen.23
Wer war nun dieser Lorenz Oken, der hier das „Einführen neuer“ und das „Suchen alter noch unentdeckter Wörter“ zu seinem Hauptanliegen machte? Es mag an dieser Stelle vielleicht nicht unangebracht sein, der Schmidtschen Kurzcharakteristik noch das eine oder andere Detail hinzuzufügen.
2. Lorenz Oken: Leben und Werk24 Lorenz Oken (eigentlich Okenfuß), geboren am 1. August 1779 in Bohlsbach bei Offenburg im Badischen, stammte aus ärmlichen bäuerlichen Verhältnissen und verlor bereits in frühen Jahren beide Eltern. Schon während seiner Schulzeit – er besuchte das Franziskaner-Gymnasium in Offenburg und sein letztes Schuljahr absolvierte er in der Stiftschule in Baden-Baden – war er auf die finanzielle Unterstützung von Verwandten und Freunden angewiesen. Ein Stipendium ermöglichte ihm ab dem Wintersemester 1800 das Medizinstudium in Freiburg, wo er im Sommersemester 1804 zum Doctor medicinae promoviert wurde. Bereits während der Freiburger Studienzeit arbeitete Oken an einem Grundriß der Naturphilosophie, zu dem er 180325 die Uebersicht des Grundrisses des Sistems der Naturfilosofie in der Absicht drucken ließ, das Publikum vor Erscheinen des Grundrisses mit diesem bekannt zu machen; der Grundriß selbst blieb zunächst unpubliziert. Zum Wintersemester 1804 wechselte Oken zur Fortsetzung seiner Studien nach Würzburg.26 Hier hörte er unentgeltlich die Vorlesungen des Physiologen Ignaz Döllinger (1770–1841) und Friedrich Wilhelm Joseph Schellings (1775–1854).27 Noch in Würzburg schloß Oken seine entwicklungsgeschichtli23 24
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Ebenda, S. 246. Die folgenden Ausführungen zur Vita Okens folgen der gemeinsam mit Olaf Breidbach und Dietrich von Engelhardt abgefaßten ,Einführung‘ zum ersten Band von Okens Gesammelten Werken, die im Hinblick auf die hier verfolgte Fragestellung überarbeitet und gekürzt wurde. Vgl. Max Pfannenstiel: Lorenz Oken und die Universität Freiburg i. Br. Erster Abschnitt einer für die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte bearbeiteten Quellensammlung: „Aus Leben und Werk von Lorenz Oken, dem Begründer der deutschen Naturforscherversammlungen.“ Mit einem Geleitwort von Ludwig Aschoff hrsg. von Rudolph Zaunick. Freiburg i. Br. 1938, S. 9. Vgl. Werner E. Gerabek: Lorenz Oken und die Medizin der Romantik. Die Würzburger Zeit des Naturforschers (1804–1805). In: Lorenz Oken (1779–1851). Ein politischer Naturphilosoph. Hrsg. von Olaf Breidbach, Hans Joachim-Fliedner und Klaus Ries. Weimar 2001, S. 52–72. Schelling berichtet Eschenmayer in einem Brief vom 22. Dezember 1804: „In der Vorlesung über Philos.[ophie] habe ich diesen Winter an die anderthalbhundert Zuhörer, worunter auch Dr. Oken ist, ein trefflicher Mensch, eine reine Seele und von durchdringendem Geiste.“ Vgl. F. W. J.
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che Schrift Die Zeugung ab. Auf Anregung Schellings, mit dem er sich in Würzburg schnell angefreundet hatte, wechselte Oken im Sommersemester 1805 nach Göttingen,28 wo er sich mit der Zeugung, die im gleichen Jahr als Buch erschien, habilitierte. Als Grundlage für seine Vorlesungen über Biologie publizierte er 1805 einen Abriß des Systems der Biologie, eine Schrift, die auch unter dem Titel Abriß der Naturphilosophie erschien und bei der es sich wohl um die ausgearbeitete Fassung des bereits während der Freiburger Zeit begonnenen Grundrisses der Naturphilosophie handelt. Im Verlauf des Jahres 1806 trug Oken eine Reihe von anatomisch-physiologischen Arbeiten bei der Königlichen Societät der Wissenschaften vor, über die auch die Göttingischen gelehrten Anzeigen berichteten. Noch 1806 wurde er Assessor und bereits 1807 Korrespondent der Königlichen Societät der Wissenschaften zu Göttingen. Die anatomisch-physiologischen Arbeiten aus dieser Zeit veröffentlichte er in seinen zusammen mit Dietrich Georg Kieser (1779–1862) in den Jahren 1806 und 1807 herausgegebenen Beiträgen zur Vergleichenden Zoologie, Anatomie und Physiologie bzw. in der von Elias von Siebold (1775–1828) herausgegebenen Zeitschrift Lucina. Von November 1806 bis April 1807 hielt sich Oken in Wangerooge zu meeresbiologischen Studien auf. Wieder zurück in Göttingen, erreichte ihn am 30. Juli ein Ruf aus Jena, wo ihm eine außerordentliche Professur für Medizin angeboten wurde. In seiner Antrittsvorlesung sprach Oken Über die Bedeutung der Schädelknochen und skizzierte dabei seine Wirbeltheorie des Schädels,29 die später zu einem Prioritätsstreit mit Goethe führte.30 In Jena las Oken mit großem Erfolg über Naturphilosophie und Naturgeschichte, vergleichende Anatomie und Physiologie. Jeweils in den Oster- und Herbstferien entwarf er mehrere kleine Universitäts-Programme zu naturphilosophischen oder naturgeschichtlichen Themen: Über das Universum als Fortsetzung des Sinnensystems (Ostern 1808), Erste Ideen zur Theorie des Lichts,
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Schelling: Briefe und Dokumente. Bd. 3: 1803–1809. Zusatzband. Hrsg. von Horst Fuhrmans. Bonn 1975, S. 157. Zum folgenden vgl. Thomas Bach: „Was ist das Thierreich anders als der anatomirte Mensch ...?“ Oken in Göttingen (1805–1807). In: Lorenz Oken 2001 (Anm. 26), S. 73–91. Siehe auch Hermann Bräuning-Oktavio: Oken und Göttingen. In: Berichte der Naturforschenden Gesellschaft zu Freiburg i. Br. 48 (1958), S. 5–64. Vgl. Heinrich Wohlbold: Die Wirbelmetamorphose des Schädels von J. W. von Goethe und Lorenz Oken mit einer Einleitung herausgegeben. München 1924; Max Pfannenstiel: Die Wirbelmetamorphose Okens an Hand neuer Dokumente. In: Berichte der Naturforschenden Gesellschaft im Breisgau 41 (1951), S. 75–100; Rudolph Zaunick: Oken, Carus, Goethe. Zur Geschichte des Gedankens der Wirbel-Metamorphose. In: Historische Studien und Skizzen zu Natur und Heilwissenschaft. Festgabe Georg Sticker zum 70. Geburtstage. Berlin 1930, S. 118–129. Vgl. Max Pfannenstiel und Rudolph Zaunstöck: Lorenz Oken und J. W. von Goethe, dargestellt auf Grund neu erschlossener Quellenzeugnisse. In: Aus Leben und Werk von Lorenz Oken, dem Begründer der deutschen Naturforscherversammlung. Eine Quellensammlung im Auftrag der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Hrsg. und eingeleitet von Rudolph Zaunick. Leipzig 1941, S. 3–63; Hermann Bräuning-Oktavio: Oken und Goethe im Lichte neuer Quellen. Weimar 1959; Helmut Müller-Sievers: Skullduggery: Goethe and Oken, Natural Philosophy and Freedom of the Press. In: Modern Language Quarterly 59 (1988), S. 231–259.
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der Finsterniß, der Farben und der Wärme (Herbst 1808), Grundzeichnung des natürlichen Systems der Erze (Ostern 1809), Über den Werth der Naturgeschichte, besonders für die Bildung der Deutschen (Herbst 1809). Auf diese Programm-Schriften folgte dann in den Jahren 1809–1811 das dreibändige Lehrbuch der Naturphilosophie. 1812 erhielt Oken eine ordentliche Honorarprofessur für Philosophie, die mit der Erlaubnis verbunden war, sich Professor der Naturgeschichte nennen zu dürfen.31 Hierzu paßt, daß er seit 1813 ein fünfbändiges Lehrbuch der Naturgeschichte publizierte, dessen letzte Bände zur Botanik allerdings erst 1826 erschienen. 1814 heiratete Oken Louise Stark (1784–1862), eine Tochter des Jenaer Mediziners Johann Christian Stark (1753–1811). Ab 1817 gab er dann die Zeitschrift Isis heraus, ein ursprünglich enzyklopädisch angelegtes, aufgrund seiner freien Berichterstattung aber auch politisches Blatt, das er als Forum für seine liberal-nationalen Anschauungen nutzte.32 Die dort eingerückte Berichterstattung über die Geschehnisse auf dem Wartburgfest 1817 führte schließlich zum Verlust seiner Professur.33 Denn vor die Wahl gestellt, sein Lehramt oder seine Herausgeberschaft der Isis niederzulegen, entschloß sich Oken für die Fortführung seiner Zeitschrift und wurde daraufhin 1819 aus dem Dienst entlassen.34 Es folgten Aufenthalte u.a. in Paris35 und Basel.36 1821 erschien dann mit der Naturgeschichte für Schulen Okens erstes vollständig ausgearbeitetes System der Naturgeschichte.37 Seit 1822 lebte Oken wieder in Jena als Privatgelehrter, und im gleichen Jahr trat auch zum ersten Mal die von ihm im Vorjahr einberufene Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zusammen, aus der später die bis heute bestehende gleichnamige Gesellschaft hervorging.38 Mit diesen Ver31
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Vgl. Thomas Bach: Dem Geist der Zeit eine neue Richtung geben. Die Naturphilosophie und die naturphilosophischen Professoren an der Universität Jena. In: Die Universität Jena. Tradition und Innovation um 1800. Hrsg. von Gerhard Müller, Klaus Ries und Paul Ziche. Stuttgart 2001, S. 155–174; hier S. 169. Vgl. Olaf Breidbach: Oken in der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts. In: Lorenz Oken 2001 (Anm. 26), S. 15–32; hier S. 20–23 und Katrin Stiefel: Zwischen Naturphilosophie und Wissenschaftspolitik: Zum Profil der Isis oder Encyclopädischen Zeitschrift von Oken als naturwissenschaftliches Publikationsorgan in den Jahren 1817–1822. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 26 (2003), S. 35–56. Vgl. Dietrich von Engelhardt: Lorenz Oken und das Wartburgfest 1817 mit einem Abdruck des konfiszierten Heftes 195 der Isis. In: NTM Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 11 (2003), S. 1–12. Vgl. Klaus Ries: Lorenz Oken als politischer Professor der Universität Jena (1807–1819). In: Lorenz Oken 2001 (Anm. 26), S. 92–109. Siehe auch Rudolph Zaunick: Über die Fortsetzung der Jenaer Vorlesungen Lorenz Okens nach seiner Dienstentlassung im Juni 1819. In: Nova acta Leopoldina. Neue Folge 29 (1964), S. 57–62, und Hermann Bräuning-Oktavio: Hat Lorenz Oken nach seiner Dienstentlassung im Juni noch bis Ende des Sommersemesters 1819 Vorlesungen gehalten? In: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 28 (1966), S. 263–269. Vgl. Kai Torsten Kanz: „... wie Hollundermark hat sie Paris angezogen.“ Lorenz Okens Parisreise 1821 und seine Beziehungen nach Frankreich. In: Lorenz Oken 2001 (Anm. 26), S. 110–126. Vgl. Peter van Hasselt: Lorenz Oken in Basel. Bern 1946. Lorenz Oken: Naturgeschichte für Schulen. Leipzig 1821. Vgl. Pieter Smit: Lorenz Oken und die Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte: Sein
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sammlungen und der Gesellschaft trug Oken maßgeblich zum Aufbau eines territorial übergreifenden Kommunikationsraums für Naturforscher und Ärzte bei, die sich auch als sozial eigenständige, die Nation vertretende Gruppe verstanden. Über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg war die Gesellschaft ein Forum für die sich neu definierenden Wissenschaften. Im Jahr 1827 wechselte Oken als Privatdozent an die Universität München39 und wurde dort im darauffolgenden Jahr zum ordentlichen Professor für Physiologie ernannt. Aber auch hier führten Streitigkeiten mit der Regierung nur wenige Jahre später zu seiner Entlassung. Schließlich wurde Oken am 5. Januar 1833 als Professor für Allgemeine Naturgeschichte, Naturphilosophie und Physiologie an die neugegründete Universität Zürich berufen und nur wenige Monate später (am 20. April) zum Rektor gewählt.40 Sein bekanntester Schüler war wohl der früh verstorbene Dichter und Naturforscher Georg Büchner (1813–1837) – ein weiterer Berührungspunkt zur Germanistik!41 Während seiner Zeit in Zürich verfaßte Oken sein letztes großes Werk, die umfangreiche Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände, die zwischen 1833 und 1845 in Stuttgart bei Carl Hoffmann gedruckt wurde. 1843 erschien in Zürich die dritte, neu bearbeitete Auflage seines Lehrbuchs der Naturphilosophie, die 1847 auch ins Englische übersetzt wurde.42 Im Jahr 1848 stellte dann die Isis ihr Erscheinen ein, und spätestens danach wurde es still um Oken. Drei Jahre später, am 11. August 1851, verstarb Oken in Zürich an einer Bauchfellentzündung.
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Einfluß auf das Programm und eine Analyse seiner auf den Versammlungen gehaltenen Beiträge. In: Wege der Naturforschung 1822–1972 im Spiegel der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte. Im Auftrage der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte anläßlich ihres 150-jährigen Bestehens hrsg. von Hans Querner und Heinrich Schipperges. Berlin, Heidelberg, New York 1972, S. 101–124. Vgl. Wolfgang Neuser: Lorenz Oken in München (1827–1832). In: Lorenz Oken 2001 (Anm. 26), S. 127–129. Vgl. Arnold Lang: Laurentius Oken, der erste Rektor der Züricher Hochschule. Rektoratsrede, gehalten in der Aula bei der 65jährigen Stiftungsfeier der Zürcher Universität den 29. April 1898. In: Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft Zürich 43 (1898), S. 109–124; Emil Kuhn-Schnyder: Lorenz Oken 1779–1851: Erster Rektor der Universität Zürich. Festvortrag zur Feier seines 200. Geburtstages. Zürich 1980; Beat Rüttimann: Lorenz Oken in Zürich. In: Von Freiheit und Verantwortung in der Forschung. Symposion zum 150. Todestag von Lorenz Oken 1779–1851. Hrsg. von Dietrich von Engelhardt und Jürgen Nolte. Stuttgart 2001, S. 51–56. Vgl. Paul Diepgen: Lorenz Oken und Georg Büchner. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift mit Beilage „Arzt und Sport“ 63 (1937), S. 279; Jean Strohl: Lorenz Oken und Georg Büchner. Zwei Gestalten aus der Übergangszeit von Naturphilosophie zu Naturwissenschaft. Mit Briefen Okens und Büchners. Zürich 1936; Udo Roth: Lorenz Oken und Georg Büchner – Hirnanatomie und Sinnenphysiologie in Divergenzen. In: Von Freiheit und Verantwortung in der Forschung (Anm. 40), S. 57–82. Lorenz Oken: Elements of Physiophilosophy. From the German by Alfred Tulk. London 1847.
Arno Schmidt und die Edition der ,Gesammelten Werke‘ von Lorenz Oken
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3. Zur Edition der Gesammelten Werke Die hier rekapitulierte, zwar nicht immer geradlinig verlaufende, aber letztlich doch unaufhaltsame Karriere dieses Bauernsohns, der es bis zum Rektor der Züricher Universität gebracht hatte, unterstreicht eindrucksvoll, daß Lorenz Oken nicht nur Naturphilosoph, Naturforscher, Zeitschriftenherausgeber, Wissenschaftspolitiker und Hochschullehrer, sondern auch eine der zentralen Gestalten der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts war. Wie die neueren Arbeiten zu Oken zeigen, ist sich die Forschung dieser Bedeutung Okens zunehmend bewußt.43 Und dennoch – unter editorischem Gesichtspunkt blieb sein Werk bis heute vernachlässigt. So ist die Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts von Julius Schuster in der Reihe Schöpferische Romantik herausgegebene einbändige Ausgabe Gesammelte Schriften. Die sieben Programme zur Naturphilosophie, Physik, Mineralogie, vergleichenden Anatomie und Physiologie (Berlin 1939) bislang die einzige Edition einiger Schriften Okens, die freilich in der Auswahl ihrer Texte nicht als repräsentativ für dessen Schaffen angesehen werden kann.44 Wer sich also mit Oken beschäftigen will, muß nach wie vor die Originalausgaben seiner Schriften einsehen, die freilich in kaum einer Bibliothek in hinreichender Vollständigkeit verfügbar sind. Die Ausgabe der Gesammelten Werke möchte hier Abhilfe schaffen und dabei zugleich die umfassende Wirkung Okens dokumentieren. Der erste Band (Frühe Schriften zur Naturphilosophie) enthält die bis einschließlich 1808 erschienenen einzelwissenschaftlichen Analysen und philosophisch-programmatischen Schriften.45 Der zweite Band (Lehrbuch der Naturphilosophie) präsentiert Okens zentrale systematische naturphilosophische Arbeit nach dem Text der Erstausgabe (Jena 1809–1811).46 Der dritte Band (Schriften zur Naturforschung und Politik) wird die noch ausstehenden Universitäts-Programme sowie in chronologischer Folge eine Auswahl politischer Arbeiten enthalten, ergänzt um einige wichtige, zeitgleich erschienene naturgeschichtliche und naturphilosophische Studien, 43
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46
Vgl. hierzu die jüngst erschienenen Sammelbände Lorenz Oken 2001 (Anm. 26) sowie Von Freiheit und Verantwortung in der Forschung 2001 (Anm. 40). Zu erwähnen sind hier noch die Nachdrucke von Okens Lehrbuch der Naturphilosophie und des ersten Bandes der Isis. Vgl. Lorenz Oken: Lehrbuch der Naturphilosophie. Nachdruck der 3., neubearbeiteten Auflage Zürich 1843. Hildesheim, Zürich, New York 1991; ISIS oder Encyclopädische Zeitschrift. Bd. I, 1817. Nachdruck + CD-Version. Hrsg. von Dietrich von Engelhardt und Jürgen Nolte. Lübeck 2001. Oken: Gesammelte Werke (Anm. 2), Bd. 1: Frühe Schriften zur Naturphilosophie. Stuttgart 2007: Uebersicht des Grundrisses des Sistems der Naturfilosofie und der damit entstehenden Theorie der Sinne; Abriß des Systems der Biologie; Die Zeugung; Der Athmungsproceß des Fötus; Idee der Pharmakologie als Wissenschaft; Beiträge zur Vergleichenden Zoologie, Anatomie und Physiologie (Heft I und Heft II); Über die Bedeutung der Schädelknochen; Über das Universum als Fortsetzung des Sinnensystems; Erste Ideen zur Theorie des Lichts der Finsterniß, der Farben und der Wärme. Oken: Gesammelte Werke (Anm. 2), Bd. 2: Lehrbuch der Naturphilosophie. Stuttgart 2007.
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Thomas Bach
nicht zuletzt auch aus der Isis.47 Der vierte Band (Naturgeschichte für Schulen) bietet schließlich das erste abgeschlossene System der Naturgeschichte, das Oken als Unterrichtswerk für das Gymnasium konzipierte, und mit dem er versuchte, seine Naturgeschichte zu popularisieren. Okens Lehrbuch der Naturgeschichte (5 Bde. Leipzig und Jena 1813–1826) sowie die Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände (14 Bde. Stuttgart 1833–45) konnten wegen ihres zu großen Umfangs keine Berücksichtigung finden. Bei der Textgestaltung wird der Erstdruck des jeweiligen Textes zugrunde gelegt. Der Leser erhält damit einen authentischen Text, bei dem Orthographie und Zeichensetzung der Erstdrucke unverändert übernommen werden. In Druckgestalt, Schriftbild und -typen (etwa bei der Wiedergabe fremdsprachiger Zitate) sowie im Seitenlayout weicht die Ausgabe allerdings vom Erstdruck ab, wobei die Seitenzahlen und -wechsel der Originalausgaben am Seitenrand bzw. im Text vermerkt werden. Die bei Oken anzutreffenden Fußnotenverweise mittels eingeklammerter Kleinbuchstaben werden im Text und in der Fußnote durch arabische Ziffern ersetzt, die im Haupttext hochgestellt erscheinen. Bei der Ausgabe handelt es sich um keine historisch-kritische Ausgabe. Textvarianten der zweiten und dritten Auflage des Lehrbuchs der Naturphilosophie wurden bei der Texterstellung nicht berücksichtigt. Die Ausgabe will aber auch keine bloße Leseausgabe sein. Sie setzt vielmehr einen mündigen Leser voraus. So wurden im ersten Band die deutsch- oder fremdsprachigen Zitate nicht korrigiert und die bibliographischen Angaben Okens so mitgeteilt, wie sie im Text erscheinen. Einen korrekten bibliographischen Nachweis enthält allerdings das Verzeichnis der von Oken zitierten Literatur im Anhang der Ausgabe.48 Grundsätzlich wird in der gesamten Ausgabe in den allermeisten Fällen von dem hermeneutischen Grundsatz Abstand genommen, den Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat. Die grammatikalische Form der Sätze wird deshalb in der Regel nicht korrigiert; die gegenüber den Erstdrucken vorgenommenen Änderungen, die in der Regel offensichtliche Druckfehler und Buchstabendreher betreffen, werden im textkritischen Apparat aufgeführt. Schriftgeschichtlich bedingte Eigentümlichkeiten der Erstdrucke werden nicht berücksichtigt, aber gesperrte und kursivierte Hervorhebungen beibehalten: Die Kom47
48
Arno Schmidt hält die Isis für Okens „absolut bedeutendste Leistung“ (Schmidt: Schwänze 1987 [Anm. 3], S. 331), und er schreibt entsprechend: „Hier wäre übrigens Stoffs genug für einige Dutzend Doktor-Dissertationen; denn das in den 30 Jahrgängen enthaltene Material ist wirklich unerschöpflich: re-printer, herhören!“ (Ebenda, S. 332). Auch wenn der Reprint der Isis noch auf sich warten läßt, inzwischen ist immerhin der erste Band wieder verfügbar (vgl. Anm. 44), und von Katrin Stiefel liegt eine Staatsexamensarbeit (Das Profil der Zeitschrift Isis herausgegeben von Lorenz Oken, Jena 2001) vor, aus der ein Aufsatz hervorging, der in den Berichten zur Wissenschaftsgeschichte publiziert wurde (vgl. Anm. 32). Derzeit läuft (bis 06/2008) ein von Olaf Breidbach und Klaus Ries geleitetes DFG-Projekt zur Isis: Das Geschäft mit dem Wissen – Lorenz Oken und die Isis. Kommerzialisierung, Politisierung und Popularisierung von Wissen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Oken: Frühe Schriften zur Naturphilosophie (Anm. 45), S. 439–449.
Arno Schmidt und die Edition der ,Gesammelten Werke‘ von Lorenz Oken
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bination von Lang- und Rund-s wird als Scharf-s (ß) aufgelöst und die Verwendung von Trenn- und Gedankenstrichen, Anführungszeichen oder Silbentrennung an heutige Gepflogenheiten angepaßt. Ansonsten werden Hinzufügungen der Herausgeber in eckige Klammer gesetzt. Die zum Teil sehr uneinheitliche Rechtschreibung Okens (etwa Koralle mit ›C‹ oder ›K‹) sowie die oft in den Fußnoten gegenüber dem Haupttext unterschiedliche Schreibweise von Eigennamen wird beibehalten, wobei die verschiedenen Namensschreibungen im Personenverzeichnis im Anhang mitgeteilt werden. Okens Sprache wird folglich in ihrem Laut- und Buchstabenbestand erhalten und damit in einer auch für die Sprachanalyse noch angemessenen Form bewahrt. Angesichts der noch immer aufgeregten Diskussionen um die Rechtschreibreform ist es sicherlich nicht unangebracht zu dokumentieren, wie uneinheitlich die Schreibweise in der von vielen als klassisch eingestuften Periode der deutschen Literatur gehandhabt wurde. Eine Vereinheitlichung und damit einhergehende Enthistorisierung von Okens Sprache verbietet sich allein schon deshalb, weil Oken eine ganze Reihe von Tier- und Pflanzennamen in die deutsche Sprache eingeführt hat und somit als eben der Sprachschöpfer tätig war, den Arno Schmidt schätzte.
4. Ausblick: Oken als Sprachschöpfer und -forscher Auf diesen auch für die Germanistik interessanten Sprachschöpfer und -forscher galt es in diesem kurzen Beitrag hinzuweisen. Über Oken als Sprachforscher ist bislang noch wenig Genaues bekannt, hier wurde bislang mehr gemunkelt als geforscht, auch wenn in fast keiner Vita Okens der Verweis auf seine sprachschöpferische Leistung fehlt und zuweilen auch eine Auswahl von Worten aufgeführt wird, die Oken in die Wissenschaftssprache eingeführt hat oder haben soll.49 Daß es sich lohnen könnte, neben dem Naturphilosophen, Naturforscher, Zeitschriftenherausgeber, Wissenschaftspolitiker und Hochschullehrer auch noch den Sprachforscher Oken in den Blick zu nehmen, sollte jedenfalls deutlich geworden sein. Abschließend sei dies noch einmal mit einem Zitat belegt, das Okens Kritik an keinem geringeren als Johann Christoph Adelung (1732–1806) zum Ausdruck bringt, dem er vorwirft, „die deutsche Sprache nur aus Büchern, also nur als ein[en] todte[n] Leichnam“ zu kennen: 49
Vgl. Alexander Ecker: Lorenz Oken. Eine biographische Skizze. Gedächtnißrede zu dessen hundertjährigen Geburtstagsfeier [...]. Stuttgart 1880, S. 41: „Nicht übergehen dürfen wir auch Okens Einfluß auf die deutsche Sprache. Stets war er bemüht, dieselbe in die Naturwissenschaft einzuführen und ihren Reichtum durch Schöpfen aus den Quellen des Altdeutschen oder der süddeutschen Idiome zu vermehren. Freilich ist es nur wenigen der neuen Bezeichnungen gelungen, sich Bürgerrecht zu erwerben, wie z.B. Kerfe, Lurche, Quallen, jedoch ist wohl nicht zu läugnen[,] daß noch manche andere Aufnahme verdienten.“
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Thomas Bach
Seine Sprachlehre und sein Wörterbuch ist nichts als ein Krieg gegen die schwäbische Sprache, und gegen welche? Gegen die, wie sie vor zwei, drei Jahrhunderten geschrieben worden, oder wie sie jetzt der Bauer in der Schenke spricht, und wie sie ein Durchreisender als ein Muster in die Brieftasche sudelt. Von der Kraft und Mannchfaltigkeit der schwäbischen Sprache, von den vielen zarten Bedeutungen mancher Endsylben und mancher Nebenwörter derselben hat Adelung keine Begriffe gehabt und dafür leider auch keinen Sinn. Daß wir ihm nachschwazen, gereicht uns nicht zur Ehre.50
50
Oken: Lehrbuch der Naturphilosophie 2007 (Anm. 46), S. 246.
Jürgen Hein Ferdinand Raimund als ,ausübender Künstler‘ und die Edition seiner Dramen
Der Schauspieler, Theaterdichter und -direktor Ferdinand Raimund hat angesichts des Umgangs mit dem Urheberrecht zu Lebzeiten keines seiner Stücke drucken lassen und seine Texte selbst vertrieben; von seinem ,Nachfolger‘ Johann Nestroy sind nur 17 Stücke (etwa ein Fünftel des Gesamtwerks) in zeitgenössischen Drucken erschienen, vielfach mit dem Hinweis „Als Manuskript gedruckt“; dazu später. Beide haben als Autoren, Schauspieler und z.T. als Regisseure (im damaligen Sinne) an der Textentstehung und der Aufführung mitgewirkt. Wie haben sie ihre Texte herausgegeben bzw. deren ,getreue‘ Darstellung im Theater kontrolliert? Für die Edition haben sich im Kontext theater- und texttheoretischer Überlegungen, die Theaterpraxis und Urheberrecht mit einbeziehen, einige Fragen ergeben, über die ich teilweise auf der Innsbrucker Tagung (2004) berichtet habe.1 Zum Teil werden Aspekte berührt, die auf früheren Tagungen erörtert wurden: Edition von Dramen, das Problem der ,Texttreue‘ von nicht für eine Buchveröffentlichung geschriebenen Texten, nicht zuletzt Fragen der Authentizität und Autorisation. Ein Topos der Raimundforschung war und ist die Entwicklung vom Schauspieler zum ,genialen Dichter‘,2 ohne dabei näher auf das Werden der Stücktexte und die Spuren des ausführenden Schauspielers zu achten. Die Folge waren am ,Werk‘-Begriff orientierte Editionen, zum Teil mit Texten, die in der wiedergegebenen Gestalt nie auf die Bühne gekommen waren.
1
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Jürgen Hein: Textkritische Probleme der Edition von Ferdinand Raimunds Zauberspielen. In: Beihefte zu editio (Vortrag auf der Innsbrucker Editorentagung 2004, Druck in Vorbereitung). Ferdinand Raimund: Sämtliche Werke. Historisch kritische Säkularausgabe. Hrsg. von Fritz Brukner und Eduard Castle. 6 Bde. Wien 1924–1934 (Nachdruck 1974), zitiert als SW; hier Bd. 3, S. V.
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Jürgen Hein
Übersicht über die Textgrundlagen:3 1837 1881 1924–1936
1971
Raimunds Gastspielmanuskripte, hrsg. von Johann Nepomuk Vogl;4 Raimunds „erste Niederschriften“ (SW: „Konzepte“ [= H]), hrsg. von Carl Glossy und August Sauer;5 Historisch kritische Säkularausgabe, hrsg. von Fritz Brukner und Eduard Castle: „die für die Öffentlichkeit bestimmte Fassung“ , die „der durchgesehenen Urabschrift entspricht“;6 Raimunds Werke, hrsg. von Franz Hadamowsky; Grundlage ist die autorisierte „erste Abschrift“, die sich für sechs von acht Stücken erhalten hat.7
Im Fall der Erstdrucke von 1837 wäre der Frage nachzugehen, wie der Dichter Vogl den Theaterdichter Raimund ediert hat. Eine andere Sicht bietet der Blick auf Raimund als Editor, wenn man die Aufführung im Medium Theater als eine – und die dem Drama genuine – Form der Herausgabe und Publikation ansieht. Als redaktionelle Tätigkeit kann man wohl auch das ,Einrichten‘ des Textes für die Theateraufführung betrachten. Der Bühnenautor gestaltet zunächst einmal sozusagen das Theater auf dem Papier und hält sich dabei an bestimmte Konventionen zur audiovisuellen Wahrnehmungslenkung. Als Redaktor nimmt er eine entsprechende ,Textauszeichnung‘ vor (z.B. Kennzeichnung der Einteilung in Akte und Szenen, Personenverzeichnung und Hervorhebung der Personen durch Lateinschrift, Unterstreichung o.ä., Kennzeichnung des nichtgesprochenen Textes, der Bühnen- und Szenenanweisungen usw.). Er überwacht in dieser Eigenschaft auch Abschriften fremder Hand für die theatrale Produktion (z.B. Zensurbuch, Rollenbücher, Souffleurbuch), den Druck oder den Vertrieb. Franz Hadamowsky führt zum Aspekt des redigierenden Schauspielers und Autors aus: 3
4
5
6
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Vgl. die tabellarische Übersicht der Textgrundlagen in SW, Bd. 1, nach S. XXIV, und die textkritischen Bemerkungen bei Eduard Castle (Hrsg.): Ferdinand Raimund. Sämtliche Werke. Leipzig 1903, S. CXXII-CXXIV und in SW, Bd. 1, S. XII-XXXV (Margarethe Castle und Eduard Castle: Zur Textgeschichte von Raimunds Dramen); zur Editionsgeschichte vgl. zusammenfassend Gerhard Renner: Ferdinand Raimund. Edition aus Bühnenmanuskripten. In: Bernhard Fetz und Klaus Kastberger (Hrsg.): Von der ersten zur letzten Hand. Theorie und Praxis der literarischen Edition. Wien/Bozen 2000, S. 16–22. Ferdinand Raimund’s sämmtliche Werke. Hrsg. von Johann Nepomuk Vogl. 9 Bändchen. Wien 1837; vgl. SW, Bd. 1, S. XIXf. Ferdinand Raimund: Sämmtliche Werke. Nach den Original- und Theatermanuscripten. Hrsg. von Carl Glossy und August Sauer. 3 Bde. Wien 1881; vgl. SW, Bd. 1, S. XXIIIf. SW, Bd. 1, S. XXXV und XVII; zum Verhältnis der „Urabschrift“ zur „ersten Abschrift“ vgl. SW, Bd. 1, S. XXI und XXVf. Raimunds Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Franz Hadamowsky. 2 Bde. Salzburg, Stuttgart, Zürich 1971.
Ferdinand Raimund als ,ausübender Künstler‘ und die Edition seiner Dramen
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Raimund hat von allen seinen Stücken eigenhändige Konzepte hinterlassen [...], doch keine einzige eigenhändige Niederschrift der letzten und endgültigen Fassung eines Dramas. Diese wurden nach seinen Anweisungen von Kopisten hergestellt. Sie dienten dann als Zensur- und Soufflierbücher bei der ersten Aufführung, von denen Kopisten weitere Abschriften für den Verkauf herstellten, den Raimund streng kontrollierte.8
In diesen Zusammenhang gehört auch der heute wohl nur noch in der musikalischen Praxis übliche Begriff des ,ausübenden Künstlers‘.9 Der szenische Text ist die ,Anweisung‘ zur Darstellung. Franz Grillparzer sah allerdings den „Haupt-Wert der Schauspielkunst“ als bloß ausführender Kunst darin, „daß sie Mittel wird, zum Genusse eines andern, selbstständigern Kunstwerkes zu gelangen“.10 Ob die szenische Darstellung eine selbständige Kunst oder gewissermaßen nur eine Reproduktion des Bühnentexts mit anderen Mitteln ist, wird bis heute text- und theatertheoretisch diskutiert. Lessing hat gemeint: Die Rechtfertigung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da und kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauscht gleich schnell vorbei.11
Im Falle Raimunds und Nestroys bietet allerdings die Einheit von Dichter und Schauspieler – zumindest in der Gestaltung der Hauptrolle – Ansätze zur Fixierung des Textes. Was bedeutet das für die Edition? Als 1837 der erste Band von Raimunds Stücken in der Ausgabe Johann Nepomuk Vogls erscheint, rühmt Grillparzer: jetzt könne, nachdem die Befangenheit des szenischen Eindrucks zu wirken aufgehört habe, auch das Urteil sein Recht ausüben: auf Grund des gedruckten Worts: Allerdings hat die vortreffliche Darstellung von Raimunds Stücken [...] zu dem glänzenden Erfolge derselben vieles beigetragen; aber die Darstellung gehört auch dem Verfasser, wie die Schlacht dem Feldherrn gehört, ohne daß deshalb das Verdienst der einzelnen Krieger das Geringste an seinem Werte verliert. Die glänzendste Tapferkeit ist wirkungslos, wenn ein leitender Geist ihr nicht die gehörige Stelle 8 9
10
11
Ebenda, Bd. 2, S. 524. Die Anregung zu diesen Überlegungen verdanke ich dem Beitrag von Urs Helmensdorfer: Was leistet der ,ausübende Künstler‘? In: UFITA (Archiv für Urheber- und Medienrecht) 2005/III, S. 811–838. Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von August Sauer, fortgeführt von Reinhold Backmann. Erste Abt. Bd. 13. Prosaschriften I, Wien 1930, S. 109. Lessings Werke. Zehnter Teil: Hamburgische Dramaturgie. Hrsg. von R. Boxberger. Berlin und Stuttgart o. J., S. 5f.
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Jürgen Hein
anweist, und der begabteste Schauspieler wird nie mehr leisten, als der wahre Dichter, nicht etwa bloß gewollt (das wäre leicht) sondern selbst in die Rolle hineingelegt hat.12
Für Grillparzer ist im Bühnen-Text auch dessen Darstellung enthalten. In den verbalen Zeichen und Anweisungen ist die mögliche Aufführung gespeichert, allerdings ist die Partitur nicht das Werk im performativen Akt. Mit Anne Ubersfeld kann man zwischen „textueller“ Praxis und Aufführungspraxis unterscheiden, wobei diese jene überlagert.13 Die Art und Weise, wie wir die Zeichen lesen, wandelt sich. Die Verbindung des in den Zeichen fixierten Texts und der variablen akustischen und optischen Realisierung führt in jeder Aufführung zu einer anderen Hervorbringung; insofern kann man auch vom „lebendigen Drama“ sprechen.14 Der Dramentext ist eine Momentaufnahme des mehr oder weniger im Fluß befindlichen Theatertextes. Die Ausübung eines zur Aufführung bestimmten Werks ist also nicht bloß Zugabe zu einem schon auf dem Papier vollendeten Drama. Als zeitverschoben wirkende Miturheber erschaffen die an der theatralen Produktion Beteiligten es immer wieder neu. Seitens der Texturheber hat es immer wieder Versuche gegeben, auch diesen Prozeß soweit wie möglich zu fixieren, etwa durch aufgezeichnete Modell-Inszenierungen, z.B. die Bemühungen Brechts mit dem Berliner Ensemble. Welche Rolle bei der Entstehung und performativen Verwirklichung des Bühnentextes spielt nun der ,ausübende Künstler‘? Und welche seiner konstituierenden Elemente sollten in den edierten Text eingehen? Der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verwendete juristische Begriff ,ausübender Künstler‘ lenkt den Blick vom Text als Werk auf seine Ausführung und Darstellung. Im Falle Nestroys wurde die Einheit von Autor und Darsteller sogar als so stark empfunden, daß man seine Possen nach seinem Tod für nicht mehr aufführbar hielt. Die Raimund-Rezeption ist – möglicherweise aufgrund des an ,Poesie‘ orientierten ästhetischen Anspruchs des Autors und Darstellers – anders verlaufen. Dieser Unterschied mag mit der ,leichteren Ware‘ des Unterhaltungstheaters zu tun haben, in dem die Figuren häufig ihren Ursprung weniger in dichterischen Entwürfen als in der Ausprägung dankbarer Rollen haben, und bei denen der Darsteller sich nicht unbedingt dem Text unterordnen muß.15 Der virtuose Darsteller liebt Rollen, die ihm große Freiheit geben. Er stellt sich selbst zur Schau, ist selber das Kunstwerk, das sich von ihm nicht ablösen läßt. Als Beispiel solcher Demonstrationen autonomer ausübender Kunst kann Alexander 12 13
14
15
Grillparzer 1930 (Anm. 10), Erste Abt. Bd. 14. Prosaschriften II, Wien 1925, S. 92. Anne Ubersfeld: Der lückenhafte Text und die imaginäre Bühne. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hrsg. von Klaus Lazarowicz und Christopher Balme. Stuttgart 1991, S. 394–400. Vgl. Martin Esslin: Was ist ein Drama? Eine Einführung. München 1978, S. 85–93; Eric Bentley: Das lebendige Drama. Eine elementare Dramaturgie. Velber b. Hannover 1967. Ich folge auch hier Gedanken von Urs Helmensdorfer (vgl. Anm. 9).
Ferdinand Raimund als ,ausübender Künstler‘ und die Edition seiner Dramen
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Girardi in Raimund- und Nestroyrollen angeführt werden, als jüngeres vielleicht Thomas Bernhards dem großen Schauspieler gleichen Namens auf den Leib geschriebenes Stück Minetti (1976). Die Frage nach der Selbständigkeit der ausführenden Kunst hat Gesetzgebung und Urheberrecht beeinflußt.16 Die größte Selbständigkeit gestehen dem Ausüber die ersten Autorrechte des Deutschen Bundes zu. Für sie ist die Aufführung eines gedruckten Bühnentextes „freie Benutzung“ einer Vorlage. Gedruckte Werke sind deshalb zur Aufführung frei. Dies hatte Raimund bewogen, wie eingangs erwähnt, keines seiner Stücke drucken zu lassen. Die Aufführung gilt als selbständiges Geisteswerk. Nur ungedruckte Manuskripte sind geschützt: während 10 Jahren nach der ersten rechtmäßigen Aufführung oder während 10 Jahren nach dem Todesjahr des Autors. Der Schutz vor Bücher-Nachdruck dauert im Bund anfangs ebenfalls 10 Jahre, beginnend mit der Publikation. Während nach dem Muster einzelner Ländergesetze der Nachdrucksschutz auf 30 Jahre nach dem Todesjahr des Autors verlängert wird, bleiben die 10 Jahre Aufführungsschutz für ungedruckte Stücke unverändert erhalten: im Deutschen Reich bis zum Inkrafttreten des Reichsgesetzes von 1870/71, in Österreich bis 1895 mit einer Verlängerung auf 12 Jahre ab 1893. Die Selbständigkeit des gespielten Werks gegenüber dem gelesenen wurde indes immer wieder bestritten. So haben über 100 Schriftsteller, Schauspiel- und Tondichter 1834 zuerst beim preußischen König, dann bei der Deutschen Bundesversammlung beantragt, die Aufführung eines gedruckten poetisch- oder musikalisch-dramatischen Werks als eine lediglich kopierende Vervielfältigung zu betrachten und daher dem Nachdrucksverbot zu unterstellen. Diese „sehr materielle Ansicht“ wurde abgewiesen, weil der Unterschied zwischen der „Vervielfältigung durch Nachdruck, und jener durch Darstellung, zwischen todtem Mechanismus und lebendiger Handlung, zwischen Lesen [...] und Anschauung“ nur bei „beschränkter Auffassung verkannt werden“ könne. Bei der dramatischen Dichtung komme „noch eine zweite – ja eine so hohe Kunst hinzu, daß gar oft der Werth des Werkes erst durch die Darstellung gehoben“ werde.17 Die Folge war, daß mit dem immer stärker wirksamen Vorbehalt „Als Manuskript gedruckt“, der sich erstmals im österreichischen Patent von 1846 findet, der Versuch unternommen wird, die Angleichung des Aufführungsrechts an den Nachdrucksschutz zu erreichen.18 16
17
18
Die folgenden Abschnitte basieren auf Helmensdorfer (vgl. Anm. 9); zu den Fundstellen vgl. Marcel Schulze (Hrsg.): Materialien zum Urheberrechtsgesetz. Texte – Begriffe – Begründungen. Bd. 1, Weinheim (u.a.) 21997; Walter Dillenz (Hrsg.): Materialien zur Geschichte des österreichischen Urheberrechts. 1895–1936. Wien 1989. Protokolle der Deutschen Bundesversammlung, Sitzung vom 30. Juli 1840, § 194, S. 341; zitiert nach Helmensdorfer 2005 (Anm. 9). 1870/71 im Deutschen Reich, 1883 in der Schweiz, 1895 in Österreich: Auch gedruckte Bühnenwerke dürfen nur mit Einwilligung des Autors gespielt werden; die strikte Trennung von Urheber und Ausüber wurde nach 1928 eingeführt; vgl. Urs Helmensdorfer: Nachdrucker Ne-
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Ich verlasse hier die Argumentation aus der Perspektive des Urheberrechts. Nur soviel: Die Diskussion darüber, ob Werkdarbietung selber ,Werk‘ sei, gilt auch heute als noch nicht abgeschlossen. Zu Raimunds Zeit gab es den beschriebenen rechtlichen Schutz noch nicht. Er hat seine Texte selbst vermarktet und sich gegen unrechtmäßige Abschriften, illegalen Handel und unerlaubte Aufführungen gewehrt.19 Nicht nur aus urheberrechtlichen, auch aus ästhetischen Gründen legte er auf eine ,textgetreue‘ Einrichtung und Wiedergabe auf anderen Bühnen Wert. Mit Anne Ubersfeld kann man konstatieren: „[...] absolute Texttreue hieße nicht nur Respekt vor dem geschriebenen Text, sondern auch vor dem Kode, der ihm die Kommunikation mit dem Zuschauer-Leser erst ermöglicht.“20 Briefe Raimunds mit Vorgaben und Hinweisen dokumentieren das Bemühen um solcherart texttreue Darstellung auf der Bühne: Doch will ich Ihnen die Skizzen der Decorationen, Costüme und das Modell der Maschinerie des ersten Actes unentgeltlich liefern [...]. [Die gefesselte Phantasie] Das Kostüm ist griechisch, und Nachtigall kleidet sich als Minstrell altenglisch. Wenn am Schluße des Stückes, Apoll mit den Sonnenrossen in das Meer sinkt, bitte ich Sie das rothe Feuer nicht wegzulassen, die Abendröthe entscheidet hier. Auch beym Schluße des ersten Actes ist es nöthig bey dem Zusammenstürzen der Hinterwand den Vordergrund ganz zu verfinstern, und die Aussicht auf die Straße mit griechischem Feuer grell zu erhellen. Bey dem Alpenkönig ist die genaue Ähnlichkeit der Person nicht unumgänglich, die Kleidung wirkt viel. Rappelkopf wird von mir nicht lokalisirt [...]. Der Doppelgänger braucht nicht die Sprache Rappelkopfs zu kopiren sondern seinen heftigen mißtrauischen Charackter, darzustellen, höchstens den Gang nachzuahmen, weil der charakterisirt. Dieß sind Bemerkungen welche der Künstler selbst macht, und ich mache sie nur im Vorübergehen.21 [...] so würde ich Ihnen für den Preis von 8 f CM die gemalten Skizzen der Decorationen[,] Costüme, das Modell der Maschinerie des ersten Actschlusses und die zwey darinn vorkommenden Zugkleider im Kleinen verfertigen lassen. Sollten Sie dieses nicht bedürfen so werde ich mir in jedem Falle die Ehre geben Ihnen einige Erläuterungen über die Art der Aufführung mitzutheilen.22
An Karl La Roche, Intendant des Großherzoglichen Hoftheaters zu Weimar, schreibt Raimund am 30. Juli 1830 auf dessen Anfrage, Alpenkönig und Men-
19 20 21 22
stroy. Das Patent vom 16. Oktober 1846. In: Nestroyana 23 (2003), S. 106–119 und Helmensdorfer 2005 (Anm. 9). Vgl. SW, Bd. 4, S. 367, 380, 392, 454, 458, 461, 463. Ubersfeld 1991 (Anm. 13), S. 400. Brief vom 26. Juni 1829, SW, Bd. 4, S. 371–373. Brief vom 8. Oktober 1829, SW, Bd. 4, S. 380.
Ferdinand Raimund als ,ausübender Künstler‘ und die Edition seiner Dramen
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schenfeind – ein Stück, zu dem Goethe meinte: „Der Gedanke ist nicht übel und verräth Theaterkenntniß“23 – spielen zu wollen: [...] denn ich kann mein Werk mit froher Zuversicht einem Künstlervereine übergeben, dessen Repräsentanten mir die herrlichste Bürgschaft für die Darstellung leisten. Buch und Partitur, nebst richtigen Abbildungen des Costüms und der Decorationen, und den Modellen der Maschinen und Reißkleider, so wie das Ganze bey uns in der Scene steht, überlasse ich der hochlöbl. Großherzoglichen HofTheater Intendanz für dasselbe Honorar, wie es die Schaubühnen, zu Berlin, Dresden, Hamburg r.r. bezahlten, um 25 Dukaten in Gold; und sollte die hochlöbliche Intendanz vielleicht hie und da, noch einige Bemerkungen zu machen geruhen, oder genauere Erörterungen über das Ganze verlangen; so werde ich dieselben sogleich einsenden.24
Aus den Überlegungen ergibt sich, den Blick stärker auf die von Raimund selbst redigierten Theatermanuskripte zu lenken. Als Beispiel nenne ich hier den eigenhändigen Vermerk Raimunds auf der letzten Seite der Abschrift zu Der Diamant des Geisterkönigs, die sowohl der Buch- wie der Theaterzensur vorgelegen hat:25
23
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Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. III. Abt. Bd. 13. Goethes Tagebücher 1831–1832. Weimar 1903, S. 144; auch zitiert in: Raimund. SW, Bd. 5, S. 480f. Brief vom 30. Juli 1830, SW, Bd. 4, S. 389. – Die Aufführung fand am 24. September 1831 in Weimar statt. Österreichische Nationalbibliothek Wien, Sign. s.n. 3373.
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Jürgen Hein
Während der editorischen Arbeit an den Originalhandschriften und den Theatermanuskripten hat sich herausgestellt, daß Raimund zwar an den für die Bühnen bestimmten Texten weitergearbeitet, dabei aber wohl die erste Niederschrift, von den Herausgebern der ersten historisch-kritischen Ausgabe irreführend als „Konzept“ bezeichnet, nicht aus den Augen verloren hat.
Abschließend einige Fragen: Welche Formen von Veröffentlichungen (z.B. Bühnenabschrift, Zensurbuch, Rollenbücher) sind vom Autor intendiert und überwacht? Welche Aspekte der Veröffentlichung und Distribution durch das Medium Theater sind dabei zu beachten (z.B. Unterschied Buchzensur – Theaterzensur)? Welche Rolle spielen Kopisten und Regisseure; welchen Einfluß haben sie auf den Theatertext?26 Geben die Theaterzettel Aufschluß über den Einfluß des Autors auf die Inszenierung als Form der Veröffentlichung? Besondere Aufmerksamkeit verdienen die erhaltenen Zensurhandschriften, zumal Raimund selbst behauptet, seine Stücke kämen „beynahe so unverändert aus den Händen der Censur, wie sie eingesendet werden“.27 Allerdings sind die dazugehörenden Zensurakten, die eine Überprüfung der möglicherweise veranlaßten Streichungen erlaubten, nicht mehr vorhanden. Und auch die Mitarbeit bei der Musik zu den Stücken – als integraler Bestandteil der Zauberspiele28 – müßte an den Manuskripten und Partituren intensiver untersucht werden, zumal Raimund in einigen Fällen zumindest als Mit-Komponist zu gelten hat.29
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Vgl. Johann Hüttner: Manuskriptwerkstatt Nestroys und seiner Schreiber. In: W. E. Yates (Hrsg.): Der unbekannte Nestroy. Editorisches, Biographisches, Interpretatorisches. Beiträge zum Nestroy-Symposium im Rahmen der Wiener Vorlesungen 16.–17. November 1994, Wien 2001, S. 35–47. Brief vom 7. Dezember 1826, SW, Bd. 4, S. 354. Vgl. Jürgen Hein und Dagmar Zumbusch-Beisteiner: Probleme der Edition „musikalischer Texte“ im Wiener Dialekt, dargestellt am Beispiel Johann Nestroys. In: Der Text im musikalischen Werk. Hrsg. von Walter Dürr, Helga Lühning, Norbert Oellers und Hartmut Steinecke. Berlin 1998, S. 212–232 (Beihefte zur ZfdtPhil 8). Vgl. Alfred Orel (Hrsg.): Die Gesänge der Märchendramen in den ursprünglichen Vertonungen, in: SW, Bd. 6, Wien 1924, besonders S. XVII-XIX; vgl. ferner Hinweise in SW, Bd. 1, S. 537 und 539, Bd. 4, S. 103 und 264, Bd. 5, S. 725, und Peter Branscombe: Reflections on Raimund’s Artistic Relationships with his Contemporaries. In: W. E.Yates und John R. P. McKenzie (Hrsg.): Viennese Popular Theatre: A Symposium. = Das Wiener Volkstheater. Ein Symposion. Exeter 1985, S. 25–40, besonders S. 38.
Thomas Richter „Ums Himmels willen, vergiß nicht, daß du der Pfarrer von Lützelflüh bist“ Jeremias Gotthelf als Autor und Editor des Neuen Berner-Kalenders
Die Aktivität Jeremias Gotthelfs (Albert Bitzius’) als Autor und Editor der eigenen Werke ist ein vielschichtiges Thema. So gibt er immer wieder seine Texte in verschiedenen Fassungen heraus, in Periodika der Zeit, als Einzelausgaben, oder in Sammlungen von Erzählungen wie den Bildern und Sagen aus der Schweiz.1 Auch an den Vorüberlegungen zu einer ersten Gesamtausgabe seiner Werke ist Gotthelf noch beteiligt, die dann von 1856 bis 1858 in 24 Bänden erscheint.2 Bis zum Tod des Autors im Jahr 1854 wächst das Werk auf eine Vielzahl von Romanen und Erzählungen an, die häufig in mehreren, jeweils neubearbeiteten Fassungen überliefert und publiziert sind. Diese Varianz hat nicht zuletzt etwas mit der Arbeitsweise Gotthelfs zu tun, der aus gegebenem Anlaß lieber einen neuen Bogen anfängt und einen neuen Text schreibt – mit zwei oder drei Blicken auf die frühere Fassung –, als in abgelegten Manuskripten penibel und möglicherweise in mehreren Arbeitsgängen herumzukorrigieren. Soweit sich am handschriftlichen Nachlaß feststellen läßt, wird nur ein einziges Mal eine ältere Passage von ihm wörtlich abgeschrieben (es handelt sich um ein mehrere Seiten langes Zitat aus Die Jesuiten und ihre Mission im Kanton Luzern aus einem früheren Jahrgang des Kalenders), dies wahrscheinlich weil der Text schon gedruckt war und Gotthelf auf den früheren Druck verweist.3 Diese verschiedenen Fassungen der Texte werden noch vermehrt durch eine „Bearbeitung für das deutsche Volk“, in der die Werke von allen dialektalen Ausdrücken „gereinigt“ – „verdeutscht“4 – erscheinen,5 um auf dem überregio1 2
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Jeremias Gotthelf: Bilder und Sagen aus der Schweiz. 6 Bde. Solothurn 1842–1846. Gesammelte Schriften. 24 Bde. Berlin 1856–1858; vgl. dazu Gotthelfs Briefwechsel mit dem Verleger: Julius Springer und Jeremias Gotthelf. Dokumente einer schwierigen Beziehung. Hrsg. von Hanns Peter Holl. Basel 1992. Die maßgebliche Ausgabe der Werke Jeremias Gotthelfs ist: Sämtliche Werke. 24 Bde. und 18 Erg.-Bde. Hrsg. von Rudolf Hunziker, Hans Bloesch (u.a.) Erlenbach-Zürich 1911–1977 (im folgenden SW abgekürzt).– Der Text ist zuerst gedruckt im Neuen Berner-Kalender 1844 (S. 44–51 [zweispaltig]); dann wieder in: SW XXIV, S. 44–61). Das wörtliche Zitat findet sich in den schon ausgearbeiteten Kuriositäten für das Jahr 1844 für den nicht mehr unter Gotthelfs Leitung erschienenen Jahrgang 1846 (zuerst gedruckt: SW Erg.-Bd. 15, S. 163–252, die entsprechende Passage hier S. 215–220; vgl. auch Anm. 16). So Rudolf Hunziker in SW IV, S. 391. Im Berliner Verlag von Julius Springer, der auch die erste Gesamtausgabe der Werke Gotthelfs herausgab (Anm. 2), erschienen diese Bearbeitungen ab 1846.
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nalen deutschen Buchmarkt Erfolg zu haben. Teilweise stammen diese Änderungen vom Autor selbst;6 in jedem Fall sind sie durch den Autorwillen autorisiert. Gotthelf war mit dieser Verlagsstrategie sehr erfolgreich und wurde mit seinen Werken in der überarbeiteten Fassung nach 1846 zu einem der populärsten Schriftsteller im deutschen Sprachraum. In den folgenden Ausführungen soll es jedoch nicht um die Eigenedition der Werke gehen, sondern um Gotthelfs Tätigkeit als Autor und Editor des Neuen Berner-Kalenders, den er sechs Jahrgänge lang, von 1840 bis 1845, herausgab.7 Gotthelf ist in seiner Kalendertätigkeit Autor und Redaktor in einer Person, wobei er sich zumindest in den ersten beiden Jahrgängen noch mit Änderungen des Verlegers in seinen Texten auseinanderzusetzen hat. Als Pilotprojekt zu einer geplanten neuen historisch-kritischen Edition der Werke Albert Bitzius’ – so der bürgerliche Name des Schriftstellers – ist an der Universität Bern im November 2004 die Arbeit an der Neuedition der Kalenderschriften, der überlieferten Predigten und der politischen und pädagogischen Publizistik aufgenommen worden. Für eine historisch-kritische Gesamtausgabe sind ca. 67 Bände veranschlagt worden, die in einem Zeitraum von drei Jahrzehnten ediert werden und die alte Werkausgabe8 ersetzen sollen.9 Die Kalenderschriften sollen dabei zwei Textbände und einen Kommentarband umfassen und voraussichtlich ab 2009 erscheinen. An Gotthelfs Kalendertätigkeit läßt sich untersuchen, wie die Medialität des einmal im Jahr erscheinenden, bis in formale Einzelheiten vorgeprägten und in hohem Maße innovationsresistenten Kalenders auf die Tätigkeit des Autors als Editor zurückschlägt. Der Neue Berner-Kalender unter Gotthelfs Leitung kann darüber hinaus als Musterfall dienen für die Konflikte, die ein Autor als Redak6
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Dies ist etwa der Fall bei der hochdeutschen Überarbeitung des Romans Uli der Knecht, die dann 1846 bei Springer in Berlin erschien (vgl. SW IV, S. 391f.). Vgl. hierzu vor allem: Rudolf Hunziker: Der ,Neue Berner-Kalender‘ vor und unter der Redaktion Jeremias Gotthelfs. In: Neues Berner Taschenbuch auf das Jahr 1934, S. 99–155; Silvia Serena Tschopp: ,Predigten, gefaßt in Lebenssprache‘: Zur narrativen Strategie von Gotthelfs ,Neuem Berner-Kalender‘. In: Erzählkunst und Volkserziehung. Das literarische Werk des Jeremias Gotthelf. Hrsg. von Walter Pape, Hellmut Thomke und Silvia Serena Tschopp. Tübingen 1999, S. 111–127; Alfred Messerli: Leser und das Lesen im Kalender. Der ,Neue Berner-Kalender‘ unter Gotthelfs Redaktion. In: Jeremias Gotthelf, der Querdenker und Zeitkritiker. Hrsg. von Barbara Mahlmann-Bauer, Christian von Zimmermann und Sara Zwahlen. Bern 2006. (Berner kulturhistorische Vorlesungen 2004/2005), S. 213–231. Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius): Sämtliche Werke 1911ff. (Anm. 3). Vgl. dazu: Barbara Mahlmann-Bauer und Christian von Zimmermann: Zu einer historisch-kritischen Edition der Werke von Jeremias Gotthelf. In: Text-Kritische Beiträge 10 (2005), S. 151–158; Christian von Zimmermann: Jeremias Gotthelf und der ,Neue Berner Kalender‘. Überlegungen zu einem Kommentar in der historisch-kritischen Edition. (Vortrag auf dem Internationalen Germanistenkongreß in Paris 2005, erscheint 2007); Thomas Richter: Jeremias Gotthelf – Wege zu einer neuen Ausgabe. Internationaler Kongreß, Universität Bern, 4.–6. November 2004. In: editio 19 (2005), S. 183–188; Jeremias Gotthelf – Wege zu einer neuen Ausgabe. Hrsg. von Barbara Mahlmann-Bauer und Christian von Zimmermann. Tübingen 2006 (Beihefte zu editio 24); vgl. dazu auch die Homepage des Projekts: http://www.gotthelf.unibe.ch.
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tor (und Editor der eigenen Texte) um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu bestehen hatte. Neben den Auseinandersetzungen mit dem Verleger sind dies vor allem politische Querelen und die Reibungen, die sich aus Albert Bitzius’ gesellschaftlicher Stellung und seinem geistlichen Amt auf der einen Seite und seiner publizistischen Tätigkeit andererseits, in der er es nie an Deutlichkeit fehlen ließ, ergaben. Mit seiner Kalenderredaktion – wie auch mit seinen Zeitungsartikeln10 – begab Bitzius sich auf ein heftig umkämpftes Feld, auf dem die Kontroversen der Zeit erbittert ausgetragen wurden. Dies war ihm auch von vornherein klar, ja es wurde von ihm gesucht: Er wollte in die Zeit hinein wirken, und die populären Massenmedien schienen ihm dazu der rechte Ort und das geeignete Instrument zu sein. Wenn man Jeremias Gotthelfs Werk in Bezug setzen möchte zu einer Geschichte der deutschen Literatur – zu der es selbst eher losen Bezug hält –, kann man gewisse Parallelen zur Nutzenästhetik der Aufklärung erkennen und einen Gegensatz (wohl eher eine Indifferenz) zur Autonomie der Kunst in Klassik und Romantik. So wie Lessing das Theater als seine Kanzel bezeichnet, von der herab er auf sein Publikum moralisch bessernd einwirken wollte, so ist auch für den Pfarrer Albert Bitzius sein literarisches Werk – und ganz explizit der Kalender – die Fortsetzung der Predigt mit anderen Mitteln.11 Es gibt wenige Schriftsteller der deutschsprachigen Literatur, die, weitgehend losgelöst von jeder Reflexion auf die Geschichte der Poetik oder Ästhetik, so dezidiert die moralische Didaxe und christliche Paränese zum Ausgangs- und Zielpunkt ihres Schreibens machen. Daß im Schreibprozeß dann doch so etwas wie ein Spiel entstehen kann, der Text sich bestenfalls von den Autorintentionen emanzipiert, braucht nicht besonders betont zu werden. An solchen Punkten werden Gotthelfs Werke überzeitlich interessant, jenseits von einem rein literaturgeschichtlichen Interesse, das sie als repräsentativ für ihre Zeit betrachtet. Der Kalender mit seiner volksaufklärerischen Tradition mußte Gotthelf als interessantes Medium für die Verbreitung seiner Texte erscheinen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte der jährlich erscheinende Kalender breite Leserschichten, die sonst neben der Bibel oft kein Buch im Haus hatten.12 Über Generationen hinweg war er dem Volk besonders nahe, fand ein breites Publi10
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Bisher SW Erg.-Bde. 13 und 14. Als eines der beiden Pilotprojekte für eine neue historischkritische Edition der Werke Jeremias Gotthelfs wird in Bern an einer Neuausgabe der Publizistik gearbeitet (vgl. dazu neben Anm. 7: Jürgen Donien: Zur Editionslage von Albert Bitzius‘ Zeitungsbeiträgen. In: Jeremias Gotthelf – Wege zu einer neuen Ausgabe 2006 (Anm. 9), S. 59–65. Im Zusammenhang mit seinen Kalenderbeiträgen verwendet Bitzius selbst den Begriff „Predigten“ (vgl. das Briefzitat von 1838, Anm. 18, und den Beitrag von Silvia Serena Tschopp, Anm. 7). Auch eine Rezeptionslinie geht in diese Richtung, vgl.: Jeremias Gotthelf: Kalenderpredigten. Hrsg. von Hans Rudolf Christen. Riehen bei Basel 1986 (enthält die „sechs Betrachtungen über den Glauben, die Hoffnung, die Liebe, die Furcht, die Demut und die Sanftmut“, ebenda, S. 5, aus dem Neuen Berner-Kalender). Vgl. dazu Alfred Messerli: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900. Untersuchung zur Durchsetzung der Literalität in der Schweiz. Tübingen 2002 (vor allem S. 284ff.).
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kum, wie sich etwa auch an den Auflagenzahlen deutlich machen läßt. Der Neue Berner-Kalender erschien unter Gotthelfs Leitung in einer Auflage von 10–12000 Exemplaren, obwohl er es an Popularität nicht mit dem etablierten Kalender in Bern, dem Hinkenden Boten, aufnehmen konnte, der bis heute jedes Jahr herauskommt. Der Kalender wurde intensiv in der ganzen Familie gelesen und vorgelesen, war mit seinen volkstümlichen Ratschlägen, Rezepten, Wetterregeln und Kalendergeschichten ein echtes Hausbuch. Seit dem 18. Jahrhundert stand der Kalender als Massenmedium im Interesse der Volksaufklärungsdebatte.13 In aufgeklärten Monarchien wurden Kommissionen eingesetzt, die den Kalender im Dienste der Verbreitung nützlicher Kenntnisse reformieren und überwachen sollten. Auch in Bern gründete die seit 1826 bestehende „Bernische gemeinnützige Gesellschaft“ einen eigenen Kalender, den Gotthelf dann übernehmen sollte, um auf die Volksbildung einzuwirken.14 Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, was Gotthelf an der Kalenderredaktion über das Verfassen von bloßen Beiträgen hinaus reizen mußte. Vor allem wird ihm der Jahresrückblick, die sogenannten Kuriositäten, der sich im Neuen Berner-Kalender seit dem zweiten von Gotthelf herausgegebenen Jahrgang (1841) findet, mit seiner kommentierenden und deutenden Perspektive auf die großen und kleinen Zeitereignisse immer bedeutender und wächst auch vom Umfang immer mehr an.15 Für den dann nicht mehr von ihm herausgegebenen Jahrgang 1846 liegen im Nachlaß mehr als 60 engbeschriebene Manuskriptseiten an Kuriositäten für das Jahr 1844 vor, die erst viel später gedruckt wurden.16 Im Kalender hätten sie nicht einmal annähernd Platz gefunden. Es macht den Eindruck, daß Produktivität und Mitteilungsbedürfnis des Schriftstellers schließlich dieses Gefäß sprengen und in ein anderes Medium, die großen Romane, hinüberfließen. 13
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Vgl. dazu z.B. Holger Böning: Vielfalt der literarischen Formen. Alltag und ,Volk‘ in Publizistik und Gebrauchsliteratur der deutschen Aufklärung. In: Weimarer Beiträge 1990, S. 1754–1767; Carl Pietzcker: ,Der Rheinländische Hausfreund spricht mit seinen Landsleuten und Lesern‘. Gesellige Vernunft – eine literarische Inszenierung. In: Johann Peter Hebel. Unvergängliches aus dem Wiesental. Hrsg. von Carl Pietzcker und Günter Schnitzler. Freiburg i. Br. 1996, S. 103–141. Der Neue Berner-Kalender erschien zuerst (im Herbst 1837) für das Jahr 1838. – Vgl. dazu: Hunziker 1934 (Anm. 7); Hans Bloesch: Heinrich Zschokke und Johann Jakob Reithard und die Bemühungen der Bernischen Regierung um einen Volkskalender 1834/35. In: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 1943, S. 66–81. „Bei der Abfassung solcher Schilderungen [der Kuriositäten] muß er sich ganz besonders in seinem Elemente gefühlt haben. Hier kam seine politische Fehdelust ganz auf ihre Rechnung. Das ihm angeborene Herrschertemperament lud jeweilen die ganze Welt vor seinen Richterstuhl, und er teilte in alle Länder und Erdteile grimmige Hiebe aus. Ja, einheimische und auswärtige Regierungen wurden hier mitunter auf eine Weise hergenommen, die in einem die Aufklärung des Volkes bezweckenden Kalender heute nicht mehr möglich wäre, und man begreift, daß öffentliche Blätter mit scharfer Kritik nicht hinter dem Berge hielten. Aber hinter aller Satire und allem Gepolter steht überall der Ethiker, der im Namen seines Gottes predigt und warnt, der sich mitverantwortlich fühlt für die Sünden seiner Mitmenschen und diesen mit nie ermüdendem Eifer den Pfad des Guten weist.“ (Rudolf Hunziker in: SW XXIV, S. 385). Der Nachlaß Gotthelfs befindet sich in der Burger-Bibliothek in Bern (hier N Gotthelf 10.6; zuerst gedruckt in SW Erg.-Bd. 15, S. 163–252).
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1838 wird Gotthelf vom Verleger des kurz zuvor gegründeten, nicht recht erfolgreichen Neuen Berner-Kalender gefragt, ob er für 1840 die Redaktion übernehmen wolle.17 Die Hintergründe, warum der Pfarrer von Lützelflüh für diese Tätigkeit ausersehen wurde, sind nicht ganz geklärt. Bitzius war Mitglied der „Berner gemeinnützigen Gesellschaft“ und im Vorjahr (1837) mit seinem Erstlingsroman Der Bauernspiegel oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf regional bereits als Schriftsteller bekannt geworden. Daß schreibende Pfarrer einen Kalender herausgaben, war in der Zeit nichts Ungewöhnliches – obwohl sich im Falle Gotthelfs dann Friktionen zwischen dem Amtsverständnis und seiner publizistischen Tätigkeit ergaben –; auch der Herausgeber des etablierten Berner Hinkenden Boten, Gottlieb Jakob Kuhn, war Pfarrer. Gotthelf sagte zu und schrieb wenig später an seinen Cousin und Vertrauten in literarischen Dingen, Carl Bitzius: Hier sende ich dir Kalenderproben, die ich in den beiden letzten Wochen, durch Unpäßlichkeit ins Zimmer gebannt, entworfen. Was sagst du dazu? Es gibt einen eigenen Kalender, keinen zusammengetragenen aus Naturgeschichten und anderen gemeinnützigen Langeweilbehältern. Aus Rezepten, wie Wanzen zu vertreiben seien, und wie viel Junge die Steinböckin habe, macht man keinen vernünftigen Kalender. Das kömmt aus der verflucht dummen, gemeinnützigen Zeit, wo man im Ernste des Lebens nicht tiefer kam als zu Rezepten und in der jetzt noch unsere Staatsmänner taumeln. Ich möchte in den Kalender Predigten bringen, d.h. hohe Wahrheiten, aber entkleidet von allem Kirchlichen, gefaßt in Lebenssprache, wie man sie auf der Kanzel nicht duldet.18
Neben der christlichen Verkündigung und moralischen Didaxe als Motiven für die eigene schriftstellerische Tätigkeit wird hier auch ein Bewußtsein für die spezifischen Gesetze des Mediums deutlich, die der Kalendermacher als Autor und Editor zu beachten habe. Wie geht nun Gotthelf als Autor und Editor seines Kalenders vor? Anders als in ähnlichen Unternehmungen der Zeit, bei denen häufig Mitarbeiter Texte kompilierten, schreibt Gotthelf alle Beiträge für den Kalender selbst, wenn auch der Verfassername in den von ihm betreuten Jahrgängen nur ein einziges Mal vorkommt. Während manche seiner Texte mehr dem traditionellen Medium verhaftet sind, wie etwa die gelegentlich vorkommenden Anekdoten oder – allerdings satirisch gebrochene – Hausmittel und Rezepte, setzt er doch deutlich eigene Akzente, die sich aus seiner Wirkungsabsicht ergeben. Zum einen sind dies Texte, die sich durchaus als Fortsetzung der Predigt mit anderen Mitteln bezeichnen lassen; sie tragen Titel wie: Glaube, Liebe, Sanftmut, Demuth oder Das Brot. Schon Carl Manuel, Gotthelfs erster Biograph, stellte 1857 in Bezug 17 18
Vgl. dazu Hunziker 1934 (Anm. 7), S. 99f. Brief an Carl Bitzius, 16. Dezember 1838 (SW Erg.-Bd. 4, S. 281f.).
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auf solche Texte eine Nähe zu Heinrich Zschokkes Stunden der Andacht fest.19 Ein weiterer wichtiger und immer wichtiger werdender eigener Bestandteil des Gotthelfschen Kalenders waren die schon erwähnten Kuriositäten, der kritische Jahresrückblick, in denen der Verfasser – nach den Worten Rudolf Hunzikers – „die ganze Welt vor seinen Richterstuhl“ lud.20 Betrachtet man den Neuen Berner-Kalender unter Gotthelfs Leitung im Kontext der Schweizer Kalender der Zeit, so wäre es eine Verkürzung, ihn einseitig als „politischen Kalender“21 oder als „religiösen Volkskalender“22 zu bezeichnen. Beide Aspekte der Texte wie die Wirkungsabsicht Gotthelfs trifft wohl eher die Bezeichnung „pastoraler Kalender“23. Auf einen weiteren spezifischen Aspekt der Kalendertätigkeit Gotthelfs soll noch näher eingegangen werden. Durch Gotthelfs unverblümte Kritik an gesellschaftlichen Mißständen und durch seine Sprache – mit derben Ausdrücken und Dialektpassagen – waren Konflikte vorprogrammiert und wirkten auf den Autor in seiner Rolle als Redaktor und als Editor der eigenen Werke zurück. Bei der Herausgabe der ersten beiden Jahrgänge, 1840 und 1841, kam es zu Kontroversen zwischen Gotthelf und dem Verleger des Kalenders, Rätzer, der wahrscheinlich aus Verkaufsrücksichten Änderungen im gedruckten Text durchsetzte.24 Im Falle der 1841 erschienenen Kuriositäten vom Jahre 1839 erlaubt die Überlieferungslage einen Vergleich von Gotthelfs handschriftlicher Fassung mit dem im Kalender edierten Text.25 19
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Carl Manuel: Albert Bitzius (Jeremias Gotthelf). Sein Leben und seine Schriften. Berlin 1857, S. 110: „In dem neuen Kalender schrieb nun Bitzius die verschiedenartigsten Dinge. Vorerst finden sich darin kurze, ernst religiöse und moralische Aufsätze, z. B. über Glaube, Liebe, Sanftmuth, Demuth u.s.w. in der Art der ,Stunden der Andacht‘, doch von mehr Schwung und Tiefe. Sodann sind Jahreschroniken in demselben, in welchen Bitzius seinem Witz und seiner Laune freien Spielraum gönnt, aber oft in der Sprache sich allzu sehr gehen läßt und gemein und geschmacklos wird. Mit den hohen Herrschaften geht er so ungenirt und familiär um, dass, wie uns berichtet worden, der Kalender in Baiern verboten wurde. Endlich enthält der Kalender eine Menge Erzählungen von Bitzius, von welchen manche später in den ,Erzählungen und Bildern‘ abgedruckt worden sind“ (Gemeint sind die Erzählungen und Bilder aus dem Volksleben der Schweiz. 5 Bde. Berlin 1850–1855, dann wieder als Bde. 7 bis 10 Teil der Gesammelten Schriften von 1856–1858 [Anm. 2]). Hunziker 1932 (Anm. 15), S. 385. Vgl. dazu: Silvia Serena Tschopp: Jeremias Gotthelfs ,Neuer Berner-Kalender‘ und seine schweizerischen Konkurrenten. In: Jeremias Gotthelf. Wege zu einer neuen Ausgabe 2006 (Anm. 9), S. 169–186. Vgl. Ursula Brunold-Bigler: Die religiösen Volkskalender der Schweiz im 19. Jahrhundert. Basel 1981 (Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, Beiträge zur Volkskunde 2), S. 55f. Christian von Zimmermann: Der Teufel der Unfreien und die der Freien. Gotthelfs paränetische Erzählung ,Die schwarze Spinne‘ (1842) im Kontext eines christlichen Republikanismus. In: Jeremias Gotthelf, der Querdenker und Zeitkritiker 2006 (Anm. 7), S. 75–104, hier 92f. Vgl. dazu den Brief an Johann Jakob Reithard vom 7. April 1840 (SW Erg.-Bd. 5, S. 58–61) und Hunziker 1934 (Anm. 7), S. 113ff. Burger-Bibliothek Bern, N Gotthelf 10.1; gedruckt im Neuen Berner-Kalender für das Jahr 1841, S. 31–38 (zweispaltig); wieder in: SW XXIII, S. 129–143. Die Handschrift bietet nicht einen Entwurf, sondern einen publikationsfähigen Text, der noch einige Streichungen und Korrekturen von der Hand des Autors enthält.
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Da das Druckmanuskript – also der Textzeuge zwischen der überlieferten Entwurfshandschrift und dem Druck – verloren ist, ist dabei nicht ganz eindeutig, ob der Verleger eigenmächtig Formulierungen geändert hat. Wahrscheinlicher ist, daß es Diskussionen über einzelne Passagen gegeben und Gotthelf dann im Druckmanuskript Abmilderungen und Änderungen, auch Ergänzungen, vorgenommen hat. Da die Druckfassung auch sonst erheblich von der überlieferten handschriftlichen Fassung abweicht – so ist z. B. eine einleitende Passage des Kalendermannes hinzugekommen26 –, kann man sich nicht vorstellen, der Verleger habe alle diese Änderungen ohne Gotthelfs Wissen durchgeführt. Gotthelfs Arbeitsweise – das wurde weiter oben schon gesagt – ist ohnehin dadurch gekennzeichnet, daß sie unablässig Varianz hervorbringt. In diesem Fall sind einige der Varianten der Druckfassung offensichtlich nicht freiwillig vorgenommen worden, stammen in Einzelfällen vielleicht auch von der Hand des Verlegers. Zwei oder drei Beispiele mögen die Art dieser Entschärfungen für die Publikation des Kalenderjahrgangs 1841 verdeutlichen. Zunächst folgt eine Passage zu einer Überschwemmung in der Schweiz, die vom Kalendermann als göttliches Strafgericht gedeutet wird; in Gotthelfs Handschrift heißt es: Zudem meinen sie habe seine [Gottes] Weisheit umsonst den Bättag dazu auslesen, und den katholischen Brüdern hinter den Bergen den Kopf selbst waschen wollen, da ihre Priester den eidgenößischen Bättag über die Achsel ansehend es gewöhnlich nur halb thun.27
Im gedruckten Kalender dagegen erscheint die Stelle dann deutlich umgearbeitet und aus den „katholischen“ sind die „eidgenössischen“ Brüder „hinter den Bergen“ geworden. Die Passage wird so aber höchstens halb verschleiert, da die Bezeichnung „Priester“ immer noch auf die gemeinte Konfession verweist.28 Auch die „Weltschen“, also die Bewohner der französischsprachigen Schweiz, kommen in Gotthelfs Neuem Berner-Kalender selten gut weg. Für den Druck der Kuriositäten vom Jahre 1839 ist eine Spitze gegen sie entschärft; während es in der handschriftlichen Fassung über die Weinernte heißt:
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„Die alten Kalendermacher schrieben das Jahr zuvor, was es Neues geben werde im folgenden Jahr, kriegten aber manche lange Nase. Ich will nun Einiges berichten vom vergangenen Jahr, und sehen, ob es so mit meiner Nase besser geht. Mir ist nämlich meine Nase eben recht, und vielen Leuten scheint sie bereits zu lang; es wäre also schade, wenn sie länger würde.“ (Neuer Berner-Kalender 1841, S. 31, Sp. 1; vgl. SW XXIII, S. 129). N Gotthelf 10.6, S. 32. Neuer Berner-Kalender 1841, S. 35, Sp. 1. (vgl. SW XXIII, S. 137). Zu Gotthelfs Stellung in den konfessionellen Auseinandersetzungen der Zeit vgl. Philipp W. Hildmann: Schreiben im zweiten konfessionellen Zeitalter. Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius) und der Schweizer Katholizismus des 19. Jahrhunderts. (Diss.) Tübingen 2005.
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Im Weltschland jauchzten sie über guten Wein und machten mehr Lärm, als es werth war, und machten Preise als ob sie lauter Hegenheimer wären. Aber man (...) schlug sich dießmal nicht um diesen Wein, wenn sie ihn so gut finden, so können sie ihn selbsten trinken.29
wird im Druck die Weinernte zwar ähnlich geschildert, die Spitze gegen die „Weltschen“ aber am Ende weggelassen: Den ganzen Monat [Oktober] über donnerte es am Himmel, und die Weltschen jauchzten, was sie in den Hals bringen mochten. Es war lieblich und warm, und einen Wein sollte es geben, dem vierunddreißiger z’Trotz, und Preise wurden für denselben gemacht, als ob die Weltschen lauter Hegenheimer wären. Wird nicht viel daran fehlen.30
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Druck im Kalender eine überarbeitete Fassung des handschriftlich überlieferten Textes darstellt. An den Überarbeitungen ist die Hand des Autors unverkennbar; einige Änderungen sind dabei aber offensichtlich auf Betreiben des Verlegers vorgenommen worden. Es ist sicher kein Zufall, daß die Textgattung der Kuriositäten, die Gotthelf erstmals im Jahrgang 1841 in seinen Kalender einführte, mit ihren dezidierten Stellungnahmen zum aktuellen politischen und gesellschaftlichen Zeitgeschehen zum Stein des Anstoßes wurde. Die Kontroverse präludierte gewissermaßen die Querelen, die von nun an Gotthelfs publizistische Tätigkeit – und nicht nur seine Kalenderherausgabe – begleiteten. Solche erzwungenen Kompromisse bei der Textredaktion und Edition des Kalenders führten zum Bruch zwischen Autor und Verleger. Gotthelf schreibt dazu in einem Brief: „Apropos, mit Rätzer habe ich mich des Kalenders wegen überworfen, das ist so ein recht schwarzes berner Rindvieh.“31 Der Verleger hätte auf Einwände mit der Bemerkung reagiert, der Kalender „sei sein“ und „Was hineingehöre, sei seine Sache, mich bezahle er und zwar gut, und habe das Recht bogenweise weg zu legen, was ihm nicht anständig sei, wenn er es nur bezahle“32. Hier zeigt sich ein typischer Konflikt, wem denn eigentlich das Periodikum „gehöre“ – zu vergleichen etwa den Auseinandersetzungen um die Jenaische Allgemeine Literaturzeitung, die von Goethe herausgegeben wurde.33 Der Streit geht in Bern ganz ähnlich wie in der Weimarer Klassik aus: Nach zwei Jahrgängen wechselt Gotthelf den Verlag und ist von nun an der unum29 30 31 32 33
N Gotthelf 10.6, S. 34. Ebenda, S. 36, Sp. 1f. (wieder: SW XXIII, S. 139). Brief an Rudolf Fetscherin, 5. Juni 1840 (SW Erg.-Bd. 5, S. 67). Brief an Johann Jakob Reithard, 7. April 1840 (Anm. 24), S. 60. Vgl. dazu Oscar Fambach: Ein Goethesches Zeitungsunternehmen als Vorbild unserer Zeit (Jenaische Allgemeine Literaturzeitung). In: Euphorion 56 (1962), S. 418–425, und Irmtraut Schmid: Die Gründung der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung. In: Impulse 10 (1987), S. 186–273.
Jeremias Gotthelf als Autor und Editor des „Neuen Berner-Kalenders“
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schränkte Herr seines Kalenders. Daß solcher Absolutismus nicht nur Vorteile mit sich bringt, zeigt sich dann für den Jahrgang 1844, der aus dem katholischen Kanton Luzern unverkauft zurückgeschickt wird, wegen eines eigentlich moderaten, abgewogenen Artikels über die Jesuitenmission im Kanton Luzern.34 In der aufgeheizten Atmosphäre des Vormärz in der Schweiz, die sich in den beiden Freischarenzügen von 1844 und 1845 und im Sonderbundskrieg (1845–1847) bis zum offenen Bürgerkrieg steigerte, konnte man es nicht allen Lesern rechtmachen – ganz abgesehen davon, daß dies nie Gotthelfs Absicht gewesen ist. Gotthelfs offene Sprache ist nicht nur mit dem Verlust von (Luzerner) Lesern erkauft. Auch wenn es seit der Verfassung von 1831 in Bern keine Vorzensur mehr gab, konnte die freie Meinungsäußerung gravierende Konsequenzen nach sich ziehen. Neben der Möglichkeit, verklagt zu werden, waren dies vor allem Reaktionen der Regierung, die Albert Bitzius’ wirtschaftliche Existenz und seine gesellschaftliche Stellung bedrohen sollten. Bitzius handelte sich mit der Redaktion seines „kampflustige[n] Kalender[s]“35 politische Reaktionen und Disziplinierungsmaßnahmen ein. Die radikale Berner Regierung, gereizt durch fortdauernde Opposition und polemische Kritik, drohte dem „politisierenden Kalenderautor“ „wegen Amtsvernachlässigung“ mit Absetzung als Pfarrer und beurlaubte ihn in seiner Funktion als kantonaler Schulkommissär.36 Nicht nur inhaltliche Aspekte mußten die Leser provozieren, sondern vor allem auch Gotthelfs Sprache, die immer wieder Konflikte mit der Zurückhaltung und dem Dekorum, das man von seinem geistlichen Amt erwartete, provozierte. Zwar läßt sich schon in den durch die Volksaufklärung geprägten Kalendern das Bemühen feststellen, einen populären Ton zu treffen, um die intendierten Leser auch zu erreichen.37 Dies geht aber bei Gotthelf sehr viel weiter. Die derben Ausdrücke – die etwa im Kalender 1841 noch durch drei Auslassungspunkte ersetzt worden waren – waren dabei wohl eher harmlos. Viel gravierender wirkten die Beschimpfungen und Diffamierungen des politischen Gegners, die von nun an Gotthelfs Werk durchziehen und mit seinem Amt als Pfarrer schwer in Einklang zu bringen waren. Kaum ein zeitgenössischer Leser wird dabei wohl die literaturwissenschaftliche Subtilität aufgebracht haben und den Autor (und Editor der eigenen Texte) Albert Bitzius von seiner „persona“, dem polternden, derben Jeremias Gotthelf unterschieden haben. Die zeitgenössischen Urteile setzen vielmehr immer den Autor und Erzähler (in der Rolle des Kalendermannes) gleich. In den Briefen seines Verwandten Carl Bitzius, aus denen auch das Zitat im Titel des vorliegenden Beitrags stammt, wird dies immer wieder deutlich: 34 35 36 37
Vgl. Anm. 3. Hunziker 1934 (Anm. 7), S. 128. Vgl. dazu ebenda, S. 136. Dieses Bemühen erreicht seinen Höhepunkt wohl in Johann Peter Hebels Rheinländischem Hausfreund (vgl. Anm. 13).
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Ich bitte dich wohl zum zwanzigstenmal: ums Himmels willen, vergiß nicht, daß du der Pfarrer von Lützelflüh bist, daß du auch als Jeremias der Pfarrer von Lützelflüh bleibst, daß du als solcher tausendmal behutsamer sein mußt, als ein anderer, daß alles Nichtpfarrerliche in deinen Schriften deinen Feinden Griff gibt, daß, wenn es gelingt, den Glauben an deine Geistlichkeit zu untergraben, der schönste Teil deiner schriftstellerischen Wirksamkeit dahin ist, daß du mehr Feinde hast, als die sich schon ausgesprochen; daß mancher Gegner noch im Verborgenen lauert! Bekämpfe namentlich die Tendenz in deinen Schriften, die Leute zu beleidigen, eine Tendenz, die so weit geht, daß du, um wieder zu versöhnen, zu dem sonderbaren Mittel greifst, nun auch die Gegner der Beleidigten anzugreifen und zu verletzen; vergilt nicht mit gleichem, selbst wo du beleidigt wirst; wenn du dich nicht über deine Gegner stellst, so arbeitest du dich in einen eigenen inneren Unfrieden hinein, der dich recht elend machen wird. Deine Aufgabe ist so hoch, so über allem Partei- und Personalgezänke erhaben; bleibe doch ihr treu und entwinde dich mit aller Kraft all diesen Erbärmlichkeiten, die ihre Arme nach dir ausstrecken!38
Auch in Gottfried Kellers kritischen Gotthelf-Rezensionen klingt dieser Aspekt an: Während der Dichter sonst im Leben unbesonnen, leidenschaftlich, ja sogar unanständig sein kann, wenn er nur hinter dem Schreibtische besonnen, klar und anständig und fest am Steuer ist: macht es Gotthelf gerade umgekehrt, ist äußerlich ein solider gesetzter geistlicher Herr, sobald er aber die Feder in die Hand nimmt, führt er sich so ungebärdig und leidenschaftlich, ja unanständig auf daß uns Hören und Sehen vergeht.39
Ob die volkstümliche Sprache zumindest ihre intendierten Leser erreichte, muß offen bleiben. So schreibt beispielsweise Carl Manuel, Gotthelfs erster Biograph: Das Landvolk sah es übrigens ungern, daß Bitzius als Geistlicher einen Kalender schrieb, da auf dem Lande bei uns ein ,Kalendermacher‘ fast wie ein ,Spaßmacher‘ gilt und den Nebenbegriff des Possenhaften für die Menge in sich schließt.40
Gotthelfs Texte, die Texte des schreibenden Pfarrers Albert Bitzius, waren vielen Zeitgenossen ein Skandalon. Es kommt hinzu, daß Geistlichen in Bern seit 1831 verboten war, ein politisches Amt zu übernehmen und ihnen damit die Beachtung einer gewissen Neutralität vorgegeben war. Von daher kann es konsequent 38 39
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Brief an Albert Bitzius, 8. Oktober 1844 (SW Erg.-Bd. 6, S. 112f.). Gottfried Keller: Jeremias Gotthelf. In: Sämtliche Werke. 7 Bde. Hrsg. von Thomas Böning, Gerhard Kaiser (u.a.); hier Bd. 7, Frankfurt/Main 1996, S. 85. Manuel 1857 (Anm. 19), S. 110f. – Gotthelfs derbe Kalendersprache erreicht ihren Höhepunkt im letzten von ihm betreuten Jahrgang, der unter der Rubrik „Medizinisches“ durch seitenlange satirische Rezepte aus der „Heilsame[n] Dreckapotheke“ eingeleitet wird. (Neuer Berner-Kalender 1845, S. 4ff.).
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erscheinen, wenn die radikale Berner Regierung, stete Zielscheibe der Gotthelfschen Polemik, Bitzius 1844 mit dem Entzug seines geistlichen Amtes drohte.41 Warum Gotthelf schließlich 1845, nach sechs Jahrgängen, seine Kalendertätigkeit aufgab, ist nicht genau bekannt.42 Am wahrscheinlichsten ist ein Zusammenspiel von verschiedenen, oben behandelten Faktoren. So spielten wohl die vielfältigen Differenzen und kritischen Beurteilungen eine Rolle, die ihm aus seiner Tätigkeit als politisierendem Kalenderautor und -editor erwuchsen, und die Vorhaltungen seiner Vertrauten, vor allem Carl Bitzius’. Am Ende war mit seinem Amt als Pfarrer seine und die Existenz seiner Familie unmittelbar bedroht worden. Mithineingespielt könnten aber auch (innere) Gründe haben, die mit Gotthelfs leichter Produktivität und Arbeitsweise zusammenhängen; das Material schwillt ihm in seiner Produktion so an, daß es endgültig das Medium des Kalenders sprengt. Sowieso erwies sich der Kalender – so scheint es –, der Gotthelf zunächst sehr gereizt hatte, als zu wenig flexibel und aufnahmefähig, als stärker in seiner Beharrungstendenz, als er es am Anfang gedacht hatte, so daß er – nicht nur vom Umfang der Texte her – ständig Kompromisse machen mußte. Der Kalender wurde von daher als Medium uninteressant. Gotthelfs Auseinandersetzung mit Zeitfragen verlagert sich immer stärker in die großen (geradezu ausufernden) Romane. Abschließend sollen noch kurz die Konsequenzen aus dem bisher Beobachteten für die historisch-kritische Edition des Neuen Berner-Kalenders dargestellt werden. Die neue Edition der Kalenderschriften Gotthelfs, die in Bern erarbeitet wird, will den Autor und Editor nicht nur als Textverfasser deutlich machen, sondern ebenso die „Strukturzwänge und Ermöglichungsbedingungen der literarischen Produktion“43, seine Reaktion auf die Gesetze des Mediums. Die Edition darf daher die Texte nicht aus ihrem medialen Zusammenhang reißen und neu gruppieren, wie dies bisher geschehen ist, sondern muß dem Kalender in seiner Integralität gerecht werden. Einen wesentlichen Bestandteil der kritischen Edition wird daher das Vollfaksimile der von Gotthelf herausgegebenen Jahrgänge 1840–1845 des Neuen Berner-Kalenders bilden. Es gibt einen unmittelbaren Eindruck von der Medialität des Kalenders, der Interaktion von fixen traditionellen Bestandteilen – wie dem Kalendarium mit seinen vielen Zeichen oder der Regententabelle – und den von Gotthelf verfaßten und bewußt angeordneten Texten. In dieser Form ist Gotthelfs Kalender rezipiert worden, nicht 41
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Vgl. Karl Fehr: Jeremias Gotthelf. Zürich 1954, S. 303. (In der reformierten Berner Staatskirche wurden die Pfarrstellen von der Regierung vergeben). Vgl. dazu auch Hunziker 1934 (Anm. 7), S. 125ff. Dazu Christian von Zimmermann: Jeremias Gotthelf und der ,Neue Berner-Kalender‘ – Überlegungen zu einem Kommentar in der historisch-kritischen Edition. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 ,Germanistik im Konflikt der Kulturen‘. Hrsg. von Jean-Marie Valentin. Bd. 5. Kulturwissenschaft vs. Philologie? – Wissenschaftskulturen: Kontraste, Konflikte, Synergien – Editionsphilologie: Projekte, Tendenzen und Konflikte. Bern (u.a) 2007 (Jahrbuch für Internationale Germanistik 81), S. 293–299.
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nur von den Zeitgenossen, sondern bis zur ersten Gesamtausgabe (1911–1977), da viele Texte aus dem Kalender zwischenzeitlich nicht neu gedruckt worden waren. Der edierte Text in der Neuedition wird – ergänzt durch das Faksimile – demgegenüber allein den Autortext enthalten. Der textgenetische Abdruck aller überlieferten Manuskripte wird in der neuen historisch-kritischen Edition von Gotthelfs Neuem Berner-Kalender zum ersten Mal den Vergleich und den direkten Nachvollzug der Änderungen ermöglichen, die sich zwischen der handschriftlichen Fassung des Autors und dem Druck im Kalender ergaben. Die Edition wird neben dem Faksimile der Kalender die Darbietung der handschriftlich überlieferten und der gedruckten Texte bieten und drittens einen Kommentar, der Gotthelfs Kalendertätigkeit vor dem Hintergrund der Schweizer Medienlandschaft der Zeit umfassend kontextualisieren soll.
Johannes John Adalbert Stifter als Herausgeber des Sammelwerks Wien und die Wiener, in Bildern aus dem Leben (1844)
Hätten die mit der Erforschung des Werkes von Adalbert Stifter beschäftigten Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler einen Wunsch frei, so sei die Prognose gewagt, daß nicht wenige – und hier zumal die Editionsphilologen unter ihnen – darum bäten, daß die von Gustav Heckenast an Stifter gerichteten Briefe sich eines – natürlich nicht allzu fernen – Tages in welchen Kellern, Speichern, Archiven oder Nachlässen auch immer doch noch auffinden lassen würden. Diese im Stifterschen Briefcorpus wohl zweifellos wichtigste Korrespondenz ist bis heute, und, wie zu befürchten steht unwiderruflich, verschollen, weshalb dieser Brief,wechsel‘ – in diesem Falle eine contradictio in adiectu – im wahrsten Sinne des Wortes einseitig ist, da uns nur die von Stifter verfaßten Briefe vorliegen, aus denen wir uns die jeweils mögliche oder wahrscheinliche Resonanz Heckenasts rekonstruieren müssen. Gerade für das hier in Frage stehende Thema wären diese Briefe des bis 1874 in (Buda)Pest, danach in Pressburg ansässigen Verlegers (1811–1878) ein Quelle von unschätzbarem Wert.1 Nicht nur, daß die seit dem 8. Dezember 1840 von Wien nach Ungarn geschickten Briefe am Beginn einer nunmehr bis zu seinem Tod 1868 von Stifter kontinuierlich geführten Korrespondenz stehen – bis 1837 sind insgesamt lediglich 27 Briefe überliefert, danach klafft cum grano salis eine Lücke von immerhin mehr als drei Jahren2 –: das Projekt Wien und die Wiener, in Bildern aus dem Leben rückt darüber hinaus vom August 1841 bis zum Juli 1844 ganz unbestreitbar ins Zentrum dieser ersten 17 von insgesamt 273 Briefen Stifters an Gustav Heckenast, weshalb es zunächst auch in aller Kürze vorgestellt sei.
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Hierzu: Karl Wagner, Max Kaiser und Werner Michler (Hrsg.): Peter Rosegger – Gustav Hekkenast. Briefwechsel 1869–1878. Unter Mitarbeit von Oliver Bruck und Christiane Zintzen. Wien, Köln, Weimar 2003 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen. Bd. 6. Hrsg. von Klaus Amann, Hubert Lengauer und Karl Wagner). Vgl. auch die Rezension von Johannes John in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft XXXVI (2005), S. 181–184. Diese Zählung abweichend von PRA 17 (siehe Anm. 4) und als Vorgriff auf die im Entstehen begriffene Edition der Briefe von und an Stifter innerhalb der historisch-kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters. Der Brief an Gustav Heckenast vom 8. Dezember 1840 erstmals unter Nr. 6 bei Josef Buchowiecki: Adalbert Stifters Briefwechsel. Eine Ergänzung zur Prag-Reichenberger Gesamtausgabe. In: VASILO 14 (1965), Folge 1/2, S. 11.
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Es handelt sich dabei um ein Sammelwerk, das in Buchform erstmals 1844 erschien, und an dem, wie auch die Titelei ausweist, neben Stifter weitere namentlich identifizierbare Autoren beteiligt waren. Die historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters stellte Wien und die Wiener als ihren genuinen Beitrag zum Stifter-Jubiläumsjahr 2005 am 13. Oktober 2005 im Rahmen einer Feierstunde in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München der Öffentlichkeit vor, wobei dieser nunmehr 26. Band innerhalb unserer Edition zugleich ein Novum bildete, ist Wien und die Wiener doch das erste Textcorpus, das wir als Reprint in seiner vollständigen Form präsentieren.3 Während nämlich sowohl die Prag-Reichenberger-Ausgabe im 1935 veröffentlichten 2. Teilband ihrer Vermischten Schriften4 wie nach ihr auch diverse Einzelausgaben5 allein die aus der Feder von Adalbert Stifter stammenden Texte abdruckten, finden sich in Band 9,1 der historisch-kritischen Ausgabe sämtliche 56 Beiträge nebst allen bei- und eingefügten Bildbeigaben, wobei wir uns hier für diejenige der drei 1844 erschienenen Buchausgaben entschieden, die die meisten Abbildungen – nämlich 30 schwarz gedruckte Illustrationen – enthielt. Von der kollektiv mit „Die Verfasser“ unterzeichneten kurzen Vorrede abgesehen, stammen von den 55 Artikeln in Wien und die Wiener 21 von dem aus Hendorf bei Salzburg gebürtigen Sylvester Wagner (1807–1865), während Stifter selbst 12 Aufsätze beisteuerte.6 Mit je zwei Beiträgen sind Franz Stelzhamer (1802–1874), Anton Ritter von Perger (1809–1876) und Ludwig Scheyrer 3
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Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Kommission für Neuere deutsche Literatur der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald. Seit 2000 hrsg. von Alfred Doppler und Hartmut Laufhütte. Stuttgart (u.a.) 1978ff. (Im Folgenden unter der Sigle HKG und der jeweiligen Bandnummer zitiert). HKG 9,1: Wien und die Wiener, in Bildern aus dem Leben. Hrsg. von Johann Lachinger. Redaktion: Johannes John. 2005. Adalbert Stifter: Sämtliche Werke. Begründet und hrsg. von August Sauer. Fortgeführt von Franz Hüller, Gustav Wilhelm (u.a.). Prag 1904ff., Reichenberg 1925ff., Graz 1958ff. 25 Bde. Reprint: Hildesheim 1972 (künftig unter der Sigle PRA). Dort PRA 15.2, S. 17–254. Vgl. Nr. 1301–1313 bei Eduard Eisenmeier: Adalbert Stifter. Bibliographie. Linz 1964 (Schriftenreihe des Adalbert Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich, Folge 21), S. 84. In den Fortsetzungsbänden Nr. 4963, 5046, 5047 (Linz 1971), 6342–6344 (Linz 1978). Besonders aufschlußreich in diesem Zusammenhang, wie sich anläßlich der Veröffentlichung einer Auswahl des Insel-Verlags im Jahr 1909 (Aus dem alten Wien. Zwölf Studien. Hrsg. von Otto Erich Deutsch und Karl Kaderschafka. Mit 20 Vollbildern. Leipzig 1909) bereits ein festes ,StifterBild‘ etabliert hatte. So spricht Günther von Freiberg anläßlich einer Besprechung in der in Breslau erscheinenden Schlesischen Zeitung (21. Juli 1909) von Stifter als dem „lieben Gemütsmenschen und begeisterten Naturschwärmer“, während Josef Luitpold Stern in seinem Beitrag Stifter und die Stadt die Frage stellte: „Wie wird es gehen? Stifter, der Dichter der Käfer und Gräser, als Schilderer städtischen Getriebes?“ (In: Der Strom. Erster Jahrgang 1911/12, S. 166). – Zuletzt Adalbert Stifter: Wien und die Wiener. Mit farbigen Originalstichen. Mit einem Nachwort von Johann Lachinger. Wien 2005. Es sind dies Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansthurmes (Als Einleitung), Ein Gang durch die Katakomben, Der Prater, Die Streichmacher, Leben und Haushalt dreier Wienerstudenten, Die Wiener Stadtpost, Der Tandelmarkt, Die Charwoche in Wien, Waarenauslagen und Ankündigungen, Wiener-Wetter, Ausflüge und Landparthien sowie Wiener Salonscenen.
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(1811–1874) vertreten, mit einem Johannes Nordmann (eigentlich Johannes Rumpelmeyer 1820–1887) und Daniel Friedrich (eigentlich Julius) Reiberstorffer (1815–1848), der – was hier nicht näher ausgeführt werden kann7 – auch für acht der neun namentlich nicht gekennzeichneten Artikel als Autor in Frage kommen dürfte. Der letzte anonyme Beitrag läßt sich Carl Edmund Langer (1819–1885) zuordnen,8 der auch für einen der anderen Texte verantwortlich zeichnete, wobei jedoch mit wiederum guten Gründen vermutet werden darf, daß er ebenso der Verfasser dreier mit „C. F. Langer“ unterzeichneter Aufsätze ist. Wenn alle neun Autoren auf dem Titel als Beiträger auch namentlich aufgeführt werden, so ist dort nicht nur der Zusatz „u. A.“ irreführend: es gab in diesem Sammelwerk keine weiteren Autoren; zugleich täuscht die alphabetische Auflistung über die wahre Aufgabenteilung während des rund dreijährigen Entstehungsprozesses hinweg.
I. ,multi-tasking‘ – Adalbert Stifter als Herausgeber, Lektor, Redakteur und Autor In der Stifter-Philologie nimmt, wie Christian Begemann zurecht feststellte, Wien und die Wiener bis heute eine Randstellung ein: „in der Forschung wenig beachtet“, sei es „meist einigermaßen abschätzig beurteilt worden“9, nämlich als ein Nebenwerk und eine Auftragsarbeit, um die es sich allerdings ja in der Tat auch handelte. Zu den Ausnahmen zählte vor Karl Riha10 hier vor allem Wilmont Haacke, der 1944 Wien und die Wiener – vielleicht etwas zu euphorisch – als „erste deutsche Feuilleton-Anthologie“ feierte.11 Ein Novum war dieses Werk in Anlage wie Sujet damit freilich keineswegs. Seit den 30er Jahren war eine Fülle von Publikationen erschienen, die sich mit dem Leben in der österreichischen Metropole während des Vormärz beschäftigten, deren Bevölkerung während Stifters Zeit in Wien, also zwischen 1826 und 1848, fast um die Hälfte auf rund 430000 Einwohner angewachsen war. Stellvertretend seien hier nur Wolfgang Menzels Reise nach Österreich im Sommer 1831 (1832), Willibald Alexis’ Wiener Bilder (1833), Adolf Glaßbrenners Bilder und Träume aus Wien 7 8
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Vgl. hierzu PRA 15.2, S. XV. Gemeint ist der Beitrag Allerseelentag (HKG 9,1, S. 105–110), der in Stifters für Heckenast angefertigter Übersicht vom 24. Januar 1842 unter der Nr. 14 ausdrücklich Langer zugeordnet wird (PRA 17, S. 107). Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart und Weimar 1995, S. 12. Karl Riha: Die Beschreibung der ,Großen Stadt‘. Zur Entstehung des Großstadtmotivs in der deutschen Literatur (ca. 1750 – ca. 1850). Bad Homburg v. d. H., Berlin und Zürich 1970, zu Wien und die Wiener dort S. 87–116. Vgl. auch Anm. 29. Wilmont Haacke: Deutschlands erste Feuilleton-Anthologie. Adalbert Stifters „Wien und die Wiener“ aus dem Jahre 1844. In: Zeitungswissenschaft. Berlin 1944, 19. Jg., Heft 9/10, S. 236–252.
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(1836), Frances Trollopes zweibändiges, im Jahr seines Erscheinens auch ins Deutsche übersetzte Vienna and the Austrians, with Some Account of a Journey through Swabia, Bavaria, the Tyrol, and the Salzbourg (1838) oder Heinrich Adamis Alt- und Neu-Wien (1841/42) genannt.12 Vergleichbare Städtebilder und Reiseeindrücke entstehen in diesen Jahren ebenso über London, New York, Paris oder Berlin: sie alle tragen dem Phänomen der im 19. Jahrhundert expandierenden, ja explodierenden Großstädte Rechnung und bilden seither ein wesentliches und wichtiges Segment jener sich im literarischen Kanon als genuine Gattung etablierenden Großstadtdichtung. Dies bedeutete zugleich, daß sich Wien und die Wiener auf dem literarischen Markt gegen starke Konkurrenz zu behaupten und zu profilieren hatte. Als Adalbert Stifter in seinem Brief vom 21. Juli 1841 gegenüber Gustav Heckenast seine Vorstellungen über dieses Projekt erstmals ausführlich entwickelt, betritt er dabei ein Terrain, auf dem zuvor schon ein anderer Kollege tätig gewesen war: Verzeihen Sie, daß ich Sie mit diesen Zeilen behellige, es betrift unser Unternehmen „Wien und die Wiener“. Stelzhammer, Langer, und ich sind zusammengetretten, und beschloßen das Werk zu liefern, und zwar zu je 14 Tagen 2 Bogen, allein da Stelzhammer nun durch Umstände veranlaßt wird, von hier fort zu reisen, und einige Monate abwesend zu sein, so übertrug er seine Verpflichtungen auf mich, und dieß ist es eigentlich, was ich Ihnen anzeige, um Sie zu fragen, ob Sie nichts dagegen haben. Ich würde also die Redaction und Ordnung der Stoffe über mich nehmen, Stelzhammer und Langer senden ihre Beiträge an mich ein, ich lese sie, und gebe sie dann an Brandel bei Gerold ab, dieser glaube ich, hat die zweite Abschrift zu bestellen, und die Censur zu besorgen. Wir haben die ersten Nummern von Reibersdorfer gelesen, und sind da auf Schwierigkeiten gestoßen, er scheint keinen Plan gehabt zu haben; denn so wie er anfängt, tödtet er das Buch und den Leser, ehe er zu dem 5ten Bogen gekommen ist. Lauter solche einzelne Figuren würden, selbst wenn sie viel besser und markiger wären, als es leider die des Herrn Reibersdorffer gar nicht sind, die Sache eintönig, und seelenlos machen. Wir entwarfen daher einen Plan, und wenn die Ordnung so möglich wäre, so würden wir sie bitten, selbst m i t U n k o s t e n , dieselbe so zu stellen, wie wir es angaben, weil dadurch das Buch gewinnen muß.13
Es handelt sich also um ein ganzes Bündel von Aufgaben und Funktionen, das sich Stifter hier gerne übertragen lassen würde – und dann auch übertragen bekommt.14 Analysiert man das Schreiben auf der Folie des Tagungsthemas 12
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Vgl. hierzu Karl Kaderschafka: Adalbert Stifters „Gang durch die Katakomben“ und Johann Nepomuk Vogl. In: Euphorion 26 (1925), 3. Heft, S. 417–427. PRA 17, S. 74f. Der Vertrag zwischen Heckenast und Stifter wurde am 15. August 1841 während eines Besuchs Heckenasts in Wien unterzeichnet: „Im Vertrage über die Redaktion des Werkes ,Wien und die Wiener‘ wurde festgesetzt, daß Heckenast bis zum 13. jedes Monates die Honorarraten einsende und Stifters Abrechnung von diesem Monatsdatum bis zum gleichen des folgenden Monates
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Autoren und Redaktoren als Editoren,15 so läßt sich dieses ,multi-tasking‘ terminologisch wie folgt differenzieren: neben der eigentlichen Redaktionstätigkeit, die Bodo Plachta als „Vorbereitung bzw. Überarbeitung eines Textes für die Drucklegung“16 definiert und Helmut Hiller als „das stilistische Überarbeiten und stoffliche Einfügen in den vorgezeichneten Rahmen“17 präzisiert, beansprucht Stifter expressis verbis auch die Richtlinienkompetenz für eben diesen ,Rahmen‘, also die Gesamtkonzeption des Werkes – eine Entscheidungsbefugnis, die im Gefüge des arbeitsteiligen Produktionsprozesses auf dem Wege von der ersten Idee zur schließlichen Publikation dem Herausgeber zukommt. Und mehr noch: wenn das Votum über die Annahme oder Ablehnung eines eingereichten Manuskripts im heutigen Verlagswesen üblicherweise einem Lektor obliegt,18 falls dieser noch nicht dem allgemeinen Sparzwang zum Opfer gefallen ist, so wünscht Stifter auch mit dieser Qualitätskontrolle betraut zu werden: Stelzhammer sagte mir, daß Sie an Herrn Reibersdorfer schon Honorare anticipando gegeben haben, was freilich die Sache etwas verschlechtert; denn sonst würden wir stimmen, daß die Aufsäze ganz weg blieben; denn sie sind sehr seicht. Fast noch schwächer ist die erste Probe von Herrn Langer ausgefallen, der Mann scheint auch viel zu jung für solchen Stoff zu sein. Da wir, d. h. Stelzhammer und ich, uns der Sache hingaben, so fordert es schon unsere Ehre, daß wir für g u t e Aufsäze sorgen, daher bitten wir uns die Befugniß aus, jedes zurük weisen zu dürfen, was schwach ist.19
Hält sich Stifter hier mit seinen Einschätzungen und Werturteilen schon keineswegs zurück, so wird er, was den damaligen Mitherausgeber anbelangt, im Brief an seine Gattin Amalia vom 20. August 1841 alle Zurückhaltung ablegen: „[...] denn ich habe außer Stelzhammer, der faul ist, wie immer, nur den Wagner engagiret, und da auch dieser wenig leistet, so fällt doch die meiste Arbeit auf mich.“20 Ungewöhnlich ist diese Diskrepanz zwischen diplomatischer Zurück-
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laufen und abgeschlossen werden solle.“ (PRA 17, S. 362; die Einleitung zu PRA 15.2 gibt auf S. XIII als Datum der Unterzeichnung den 19. August 1841 an.) Der hier vorliegende, zum Druck überarbeitete Beitrag wurde erstmals innerhalb der Sektion IV b (Autoren als Redaktoren) auf der Internationalen Fachtagung Autoren und Redaktoren als Editoren der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition und des Sonderforschungsbereiches 482 „Ereignis Weimar – Jena: Kultur um 1800“ der Friedrich-Schiller-Universität, veranstaltet von der Klassik Stiftung Weimar (22.–25. Februar 2006), am 24. Februar 2006 vorgetragen: für diese Gelegenheit sei an dieser Stelle nochmals herzlich gedankt! Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in die Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997, S. 139. Helmut Hiller: Wörterbuch des Buches. Dritte, durchgesehene und erweiterte Auflage. Frankfurt/Main 1967, S. 235. Vgl. ebenda, S. 174: „Im Verlag begutachtet der L. die eingehenden Manuskripte und prüft, ob sie sich in das Verlagsprogramm einreihen lassen. Er berät dann den Verleger über Annahme oder Ablehnung des Manuskriptes.“ PRA 17, S. 75f. Ebenda, S. 84. So auch tags darauf im Brief an Amalia vom 21. August: „[...] Stelzhammer ist
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haltung im offiziellen und unverblümter Drastik im privaten Umgang freilich keineswegs: Auch Schiller und Goethe pflegten sich während ihrer Redaktionsarbeit an den Horen im vertraulichen Briefwechsel über eingesandte Manuskripte und deren Verfasser gelegentlich in einem wesentlich derberen und schonungsloseren Ton zu verständigen als in den zumeist ungleich konzilianter verfaßten Antwortschreiben an die jeweiligen Autoren. Wie ernst Stifter jedenfalls die ihm übertragenen Aufgaben nahm, zeigen seine entschiedenen Versuche, der Sammlung – wiewohl sie als Zielgruppe ein belletristisch interessiertes Lesepublikum im Auge haben mußte und keinen wissenschaftlichen Anspruch erhob – eine Struktur zu geben, die sie über eine bloß additive Nummern- und „Typen-Revue“21 (Lachinger) herausheben sollte: Dieser Absicht sollte neben der kurzen Vorrede insbesondere der die Anthologie eröffnende Beitrag Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansthurmes dienen, der – so sein Untertitel – ausdrücklich Als Einleitung in das Unternehmen konzipiert war. Christian Begemann hat ihn in seiner 1995 erschienenen Studie Die Welt der Zeichen wiederum an die Spitze seiner Stifter-Lektüren gestellt, war ihm die dort unternommene panoramatische Rundschau doch ein herausragendes Exempel für Stifters „semiotischen Blick“,22 der das dialektische Widerspiel von Fern- und Nahsicht wenig später im Gang durch die Katakomben durch das korrespondierende Gegensatzpaar von oben und unten ergänzen wird. Zwei weitere wichtige Aufgabenbereiche Stifters dürfen nicht unerwähnt bleiben: Zum einen oblag ihm mit der Honorarabrechung wiederum ein üblicherweise im Verlag selbst angesiedeltes Ressort. Über seine Vorgehensweise sind wir auch hier aus allererster, nämlich Stifters eigener Hand, genau informiert: Bei mir ist der Gang des Geschäftes folgender: Bei Eingang des Manuscriptes berechne ich den Betrag des Honorars und zahle selbes nach einer vorläufigen Lesung; dann gehe ich den Aufsaz kritisch durch, und theile dem Verfasser meine Bemerkungen mit, ob er sie billige oder nicht, und dann übernimmt er die Ausbesserung und die Feile und wenn dieß geschehen ist, kömmt der Aufsaz zum Kopieren, und wenn er von da zurük ist, übergebe ich ihn an Herrn Brandl.“23
Für die Kommentierung bilden die an Heckenast regelmäßig überlieferten tabellarischen Aufstellungen über die aus dessen Vorschuß geleisteten Zahlungen eine unverzichtbare Quelle, da sie nicht nur Datum und Umfang der jeweils eingegangenen Beiträge auflisten,24 sondern darüber hinaus auch erklären, war21 22
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unsäglich faul.“ Woraus Stifter die Konsequenz zieht: “[...] deßhalb will ich Herrn P e r g e r engagiren, daß er von Zeit zu Zeit einen Aufsaz schreibe.” (Ebenda, S. 91). HKG 9,1, S. 11. So der Titel des 1. Kapitels von Teil I: Zeichen in Begemanns Studie (siehe Anm. 9): Die Welt der Zeichen. Stifters semiotischer Blick. Zu Wien und die Wiener dort besonders S. 9–40. So im Brief an Gustav Heckenast vom 24. Januar 1842 (PRA 17, S. 106). Vgl. hierzu etwa den Brief an Gustav Heckenast vom 28. Dezember 1841 (PRA 17, S. 102f.).
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um einige Autorinnen und Autoren im Honorarverzeichnis erscheinen,25 obwohl Stifter ihre Beiträge zuletzt nicht in den Sammelband aufgenommen hat: Neben den apostrophierten Qualitätskriterien kamen als Gründe für solche Nichtberücksichtigungen auch offensichtliche thematische Doubletten in Betracht.26 Schließlich hatte Stifter auch die Herstellung der Bildbeigaben zu überwachen, für die nach Zeichnungen von Wilhelm Böhm Carl Mahlknecht Stahlstiche zu „einzelnen Figuren und Milieuschilderungen“27 angefertigt hatte. Wenn Stifter, bekanntlich eine künstlerische Doppelbegabung, Heckenast in diesem Zusammenhang am 21. Juni 1842 mitteilte, für „die Wiener [...] selber fleißig an den Bildern“28 zu arbeiten, so führte dies in der älteren Forschung zur Vermutung, daß fünf Illustrationen zu Wien und die Wiener sogar von Stifter selbst stammten. Ein zusätzlicher Druck entstand Stifter durch den spezifischen, an (buch)marktstrategischen, d.h. ökonomischen Kriterien orientierten Publikationsturnus von Wien und die Wiener, das – bevor es 1844 in drei verschieden ausgestatteten Buchausgaben herauskam – zuvor schon zwischen 1841 und 1844 in 30 Doppellieferungen in 15 Einzelheften erschienen war – welche jeweils bedient sein wollten. Wenn Stifter also am 24. Januar 1842 nach Pest meldet, die „andern Säze sind theils in der Feile, theils im Copiren theils in der Censur“29, so geschah dies stets unter dem Diktat eines unmittelbar bevorstehenden Abgabetermins. Zwar lassen sich hier durchaus Parallelen zur Entstehung von Stifters Erzählungen ziehen, die ja ebenfalls zunächst als sogenannte ,Journalfassungen‘ in Zeitschriften und Almanachen erschienen, bevor sie in den 40er Jahren dann zu den Buchfassungen der Studien wie nachfolgend der Bunten Steine 30 zum Teil umfänglich umgearbeitet wurden; die Analogie hat freilich ihre Grenzen, war der Druck des permanenten Redaktionsschlusses im Fall von Wien und die 25
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So verzeichnet der Brief an Herkenast vom 30. November 1841 eine Honorarzahlung „An Frau Sephine für ,Wiener Salonscenen‘“ (PRA 17, S. 101); gemeint war damit ein Aufsatz von Josephine Freiin von Münk (1798–1843), den Stifter dann durch einen eigenen, gleichnamigen Beitrag ersetzte. Vgl. hierzu Gustav Wilhelm: „Auch von seinen eigenen Artikeln ließ er drei bei Seite: ,Die nächtliche Ballonfahrt über der Residenzstadt Wien‘, ,Das Frohnleichnahmfest in Wien‘ und ,Der Brigittenkirchtag‘ [...]. Vielleicht war für die Ausscheidung dieser Artikel maßgebend, daß Stifter in der ,Ballonfahrt‘ wieder das Panorama von Wien wie in seinem Einleitungsartikel hätte aufrollen müssen, und daß er bereits ein Kirchenfest, nämlich Ostern in der ,Charwoche in Wien‘, und den Marienbrunner Kirchtag in den ,Ausflügen und Landparthieen‘ geschildert hatte.“ (PRA 15.2, S. XVI). HKG 9,1, S. 12. PRA 17, S. 113; vgl. den Kommentar hierzu auf S. 371. Ebenda, S. 107 (Brief an Gustav Heckenast vom 24. Januar 1842). Zur Zensurproblematik vgl. Karl Rossbacher: Ein literarisches Bild der Wiener Gesellschaft im Vormärz. Darstellungsperspektive und Stände-Integration in Adalbert Stifters „Wien und die Wiener“. In: Dialog der Epochen. Studien zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Walter Weiss zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Eduard Beutner, Josef Donnerberg (u.a.). Wien 1987, S. 177–187, dort S. 184f. Hierzu HKG 2,3 und 2,4: Bunte Steine. Ein Festgeschenk. Apparat. Kommentar. Hrsg. von Walter Hettche. Teil I und II. Stuttgart (u.a.) 1995.
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Wiener doch zweifellos ungleich größer, da Stifter ja – wie skizziert – redaktionelle Alltagsgeschäfte wie das Korrigieren und Einrichten der Manuskripte nicht an den Verlag delegieren konnte. Daß diese Vereinigung mehrerer Tätigkeiten in einer Hand allerdings auch ihre Vorteile hatte, soll nicht verschwiegen werden: Mit den Erzählungen Der Condor, Das Haidedorf, Feldblumen, dem Hochwald sowie der zwischen Juni 1841 und März 1842 erscheinenden ersten Fassung der Mappe meines Urgroßvaters hatte sich Stifter zwar einen ersten Namen gemacht,31 seine seit den späten 30er Jahren forcierten Bemühungen um eine amtliche Anstellung und damit ein festes regelmäßiges Gehalt waren aber erfolglos geblieben. Wien und die Wiener bot ihm also die Gelegenheit, sich nicht nur weiter in der literarischen Öffentlichkeit und am Buchmarkt zu positionieren und zu profilieren, sondern davon auch ganz handfest zu profitieren. Mit anderen Worten: Stifter mußte nicht nur einspringen, wenn es galt, eine Lücke für die nächste anstehende Lieferung zu füllen, er konnte es auch nach Gutdünken, wann immer er wollte, was sich nicht zuletzt auch unter finanziellen Gesichtspunkten durchaus lohnte. Daß dieser Aspekt keineswegs nebensächlich war, verdeutlicht jene Passage aus einem Brief an Amalia, in der es am 21. August 1841 heißt: „Außer Hekenast habe ich noch ein sehr gutes Geschäft gemacht, und wenn ich hier fleißig bin, so kann jeder Tag 5 fl. C. M. tragen [...].“32
II. Der Autor als Redaktor – der Redaktor als Autor Diese Ämterhäufung und Aufgabenkonzentration sowie der dadurch bedingte Wegfall unterschiedlicher Kontrollinstanzen mit ihren ebenso sinnvollen wie produktiven Interessenkonflikten zwischen möglichst sorgfältiger Ausarbeitung der Manuskripte einerseits und möglichst rascher Publikation zum anderen, beinhaltet natürlich auch bedenkliche, wenn nicht gar gefährliche Aspekte. Wenn Stifter gegenüber Heckenast Ende des Jahres 1841 die Verzögerung einer Lieferung damit entschuldigt, daß er „manches nicht gleich zum Copiren gebe, sondern mit dem Verfasser bespreche, was allenfalls zu verbessern wäre, was dann auch meistens geschieht“,33 so entspricht dieser Revisionsvorgang von der ,Ausbesserung‘ über die ,Feile‘, um in Stifters Terminologie zu sprechen, üblichen redaktionellen Usancen. Wie aber verfuhr Stifter mit seinen eigenen Texten, bei denen er ja Herausgeber, Autor und Redaktor in Personalunion war? Die Gefahr mangelnder Distanz war ihm sehr wohl bewußt, und er suchte ihr auf eine Weise zu begegnen, wie sie auch uns aus der alltäglichen Praxis als Text31
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Vgl. hierzu HKG 1,9: Studien. Kommentar. Von Ulrich Dittmann. Redaktion: Walter Hettche. Stuttgart (u.a.) 1997. PRA 17, S. 91. Ebenda, S. 104 (Brief an Gustav Heckenast vom 28. Dezember 1841).
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produzenten geläufig sein dürfte: „Meine eigenen Sachen lasse ich auch immer einige Zeit liegen, und gehe sie dann gewissenhaft wieder durch, wie Ihnen die vielen Umänderungen im Manuscripte nachweisen werden.“34 Stifter-Editoren wird dies wohlvertraut klingen: bekanntlich zählte Stifter zum Typus derjenigen Autoren, die ihre Manuskripte immer und immer neuen Korrektur- und Revisionsvorgängen unterzogen. Die Genese der Stifterschen Texte von ihren ersten Entwürfen bis zum Druck ist in aller Regel und vor allem zunehmend eine Kette kleinerer und größerer Katastrophen, die Autor wie Verleger gelegentlich bis zum Äußersten strapazierte, wenn Abgabefristen wieder und wieder verlängert und zuletzt doch nicht eingehalten wurden. Oder, wie es Alfred Doppler prägnant formulierte: Stifters Manuskripte werden nicht abgeschlossen: sie werden – und dies nicht aus freien Stücken oder eigenem Entschluß – abgebrochen, wenn sie zuletzt doch den Setzern übergeben werden mußten. Dennoch sei an dieser Stelle gerade in Kenntnis der zunehmend problematischer werdenden Genese von Stifters Texten, genauer: den Schwierigkeiten, diese zu einem Abschluß zu bringen, vor retrospektiven ,Kurzschlüssen‘ gewarnt, darf doch Wien und die Wiener eben nicht voreilig und unbesehen in diese Reihe gestellt werden. Im Gegenteil: die oft simultane Bewältigung der skizzierten vielfältigen Aufgaben an diesem Projekt zeugen vielmehr von hoher Effektivität und beträchtlicher kreativer Energie sowie nicht zuletzt einer beachtlichen Koordinationsfähigkeit, sonst hätten weder die Buchausgabe von 1844 noch die zuvor publizierten Einzellieferungen35 innerhalb des avisierten Zeitplans erscheinen können.36 Während uns jedoch, was die Erzählungen und Romane betrifft, mit zahlreichen Handschriften und Druckvorlagen Dokumente dieses permanenten wie kräfteraubenden Kampfes um den ,fertigen Text‘37 vorliegen und historischkritisch rekonstruiert werden können, sind vergleichbare Materialien für die Entstehung von Wien und die Wiener nicht erhalten, und es muß als höchst fraglich gelten, ob sich im Zuge der Recherchen zu Apparat und Kommentar womöglich noch Funde in den Nachlässen der anderen an diesem Projekt beteiligten Autoren machen lassen, so daß sich, was bislang hier entwickelt und umrissen wurde, nolens volens auf die zwischen dem Sommer 1841 bis Mitte 1844 verfaßten Briefe Stifters stützen mußte. So wichtig diese Briefe für die Kommentierung innerhalb der 9. Abteilung unserer Edition auch sind, so geben sie jedoch 34 35
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Ebenda. Vgl. hierzu die angefügte Abbildung des Frontispizes der Einzellieferungen, „auf dem ein Daguerre-Apparat, den mehrere typisierende Gestalten umgeben, durch ein portalähnliches Fenster auf die Silhouette von Wien gerichtet ist“ (HKG 9,1, S. 13). Mein herzlicher Dank für ebenso kenntnis- wie hilfreiche Hinweise gilt an dieser Stelle Dr. Silvia Bengesser (Salzburg). Vgl. hierzu Johannes John: Die Utopie des ,fertigen‘ Textes. In: Stifter Jahrbuch. Neue Folge. Hrsg. vom Adalbert Stifter Verein München. Bd. 20 (2006), S. 99–115.
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keinen Aufschluß darüber, wie wir uns die Stiftersche Redaktion in concretu vorzustellen haben. Wenigstens in einem Falle jedoch sind wir in der glücklichen Lage, Stifters redaktionelle Tätigkeit en de´tail studieren zu können. Sein eigener Beitrag Der Tandelmarkt nämlich, vor der Buchfassung in dem die 15. und 16. Lieferung enthaltenden 8. Doppelheft 1843 veröffentlicht,38 liegt zusätzlich in zwei weiteren Drucken vor. Der Publikation in Gustav Heckenasts Pesther Tageblatt kommt dabei der Status des Erstdrucks zu, dort nämlich erschien Der Tandelmarkt in 7 Fortsetzungen zwischen dem 11. (Nr. 36) und 21. Februar 1843 (Nr. 44) – und zwar, wie einer Fußnote der 1. Fortsetzung zu entnehmen ist, als Vorabdruck: „Diesen Aufsatz des in der Gunst des Lesepublikums täglich höher steigenden geistreichen Verfassers entlehnen wir aus den Manuscripten, welche in den z u n ä c h s t erscheinenden Heften des Werkes ,Wien und die Wiener‘, auf welche wir bereits in diesen Blättern hingedeutet, abgedruckt werden.“39 Ein weiterer Separatdruck erschien in vier Fortsetzungen dann im Januar 1846 im 38. Jahrgang der Zeitschrift Der Sammler.40 In inhaltlicher Hinsicht sind Vorabdruck im Pesther Tageblatt und Doppelheftbzw. Buchfassung identisch, Varianzen – die die historisch-kritische Ausgabe selbstverständlich verzeichnen wird – bestehen lediglich hinsichtlich der Orthographie, Interpunktion, offensichtlicher Druckfehler41 sowie einiger textlicher Eingriffe.42 Auch die im Sammler abgedruckte Fassung von 1846 folgt bezüglich der Revisionen, Korrekturen, Umstellungen oder Erweiterungen im großen und ganzen dem Gang des zwei bzw. drei Jahre zuvor veröffentlichten Textes: dies unterscheidet sie prinzipiell vom Grad und der Intensität der Umarbeitung, den die in dieser Dekade entstehenden Journalfassungen der Erzählungen auf ihrem Weg in die Studien nehmen werden. Sieht man von Kürzungen in den Schlußabsätzen, den zwangsläufigen Tilgungen aller Verweise auf den ursprünglichen 38
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Diese so nicht ganz korrekte Angabe bedarf der Präzisierung: zwar enthielt die 15. und 16. Lieferung den nahezu vollständigen Text des Tandelmarkts (S. 227–240), ein Nachtrag (S. 241) folgte dann in der 17. und 18. Lieferung (vgl. hierzu auch die nachfolgende Anm.). Pesther Tageblatt, 5. Jg. Nr. 26 vom 11. Februar 1843, S. 142. Wiederabdruck bei Eduard Eisenmeier: Adalbert Stifter: ,Der Tandelmarkt‘. Ein unbekannter Vorabdruck. In: VASILO 28 (1979). Folge 1/2, S. 3–17. Eisenmeier schließt aus dieser Fußnote einleitend zu Recht, „daß die Lieferungen von ,Wien und die Wiener‘, die Stifters ,Tandelmarkt‘ enthalten (15/16–1842 und 17/18–1843), trotz der Jahresangabe 1842 auf dem Titelblatt der 15. und 16. Lieferung erst nach dem 11. Februar 1843 erschienen sind.“ (S. 3) Abgedruckt in PRA 15.2, S. 357–375. Zitate aus dieser Fassung werden – um den Fußnotenapparat nicht über Gebühr aufzublähen – im Text mit der Sigle T2 und der entsprechenden Seitenzahl belegt. Mit der Sigle T1 werden Zitate aus der Buchfassung nach HKG 9,1 bezeichnet. Etwa, wenn im Vorabdruck im Satz „Es wird eben [...] auf dem sogenannten lichten Steg ein kleines, unbequem gelegenes altes Haus abgebrochen und mit Recht“ (HKG 9,1, S. 228) das Substantiv „Haus“ fehlt (S. 142); oder statt „flucht und seufzt dazu“ (HKG, S. 233) im Vorabdruck (S. 154) „flucht und seuft dazu“ steht. Hierzu zwei Beispiele: „drei- und vierhundert Jahren“ (Vorabdruck S. 142) statt „drei- bis vierhundert Jahren“ (HKG 1,9, S. 229); „kostbarsten Perlenschmuck“ (Vorabdruck S. 146) statt „kostbarem Perlenschmuck“ (HKG 1,9, S. 231).
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Kontext, also andere Beiträge von Wien und die Wiener oder der besserer Übersichtlichkeit dienenden Segmentierung längerer Passagen durch zusätzliche Absätze einmal ab, fallen vor allem zwei Komplexe ins Auge. Zum einen die konsequente und systematische Tilgung der meisten Fremdwörter, was nun freilich wiederum mit entsprechenden Revisionen in den Buchfassungen der Studien korreliert; so wird, um nur einige Beispiele zu geben, aus dem „Referenten“ (T1, 227) der „Verfasser“ (T2, 357), aus dem „Delinquenten“ (T1, 233) der „Gerichtete“ (T2, 366), dem „Philantrop“ (T1, 238) der „Menschenfreund“ (T2, 372), der „Fronte“ (T1, 228) eines Hauses dessen „Vorderseite“ (T2, 359), den „Bücher-Spekulanten“ (T1, 239) die „Büchersucher“ (T2, 374), aus „Antiquitäten“ (T1, 227) werden „Alterthümer“ (T2, 359), aus „Documenten“ (T1, 234) die „Schriften“ (T2, 367), der „Residenz“ (T1, 227) schließlich die „Hauptstadt“ (T2, 359); Gleiches gilt für eine Fülle von Verben und Adjektiven. Parallel dazu ersetzt Stifter ihm wohl zu umgangssprachlich erscheinende Worte und Wendungen durch ein demgegenüber neutraleres, einer ,mittleren‘ Stillage zugehörendes Vokabular; so wird etwa insbesondere das in
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der 1. Fassung so beliebte „Zeugs“ (T1, 227/231) zu „Zeug“ (T2, 358), „Zeuge“ (T2, 363) oder einem „Haufen Wunderlichkeiten“ (T2, 363), die dann auch nicht mehr „herumkollern“ (T1, 228), sondern „herumfahren“ (T2, 360). Gerade dieser Motivstrang des „Plunders“, des scheinbar wertlosen „Zeugs“ und „Trödels“43 motiviert Stifter zu den signifikantesten Änderungen innerhalb der 2. Fassung, und dort in den einleitenden Absätzen, wo er nunmehr wichtige Umstellungen und Erweiterungen vornimmt. Während die 1. Fassung Absätze reflexiven Charakters zum einen durch aktuelle Momentaufnahmen aus dem sich architektonisch ständig verändernden zeitgenössischen Wien sowie eine eher humoristische Episode unterbricht und auflockert, stellt Stifter nunmehr diese Betrachtungen über die Vergänglichkeit wie den Wert aller Dinge nicht nur als in sich geschlossenen Gedankengang an den Beginn seiner einführenden Bemerkungen, sondern diesem zudem noch einen längeren autobiographischen Absatz voran, der es anhand der dort vorgenommenen topographischen Lokalisierungen erlaubt, den „Schreiber dieser Zeilen“, der sich als „ein großer Verehrer von Alterthümern“ (T2, 358) zu erkennen gibt, als Adalbert Stifter zu identifizieren. Hatte der Autor, was etwa die Tilgung der Fremdwörter oder sprachliche Glättungen betraf, dort vor allem als Redaktor fungiert, so wird er in der Revision dieser Einleitung wie natürlich auch anderer, eingehend zu interpretierender Eingriffe44 nun wiederum zum Autor sui generis, weshalb denn auch von einer 2. Fassung des Tandelmarkts, und nicht bloß von dessen Wiederabdruck gesprochen werden muß. Und mehr noch: obwohl sich die Stringenz dieser Einleitung auch ohne Kenntnis anderer Texte erschließt, so läßt sie sich in ihrer ganzen Tragweite erst dann angemessen erfassen, wenn man sie in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der zeitgleich erfolgenden Umarbeitung der Mappe meines Urgroßvaters, und hier in Sonderheit des ersten, ursprünglich mit dem Titel Antiken überschriebenen Kapitels bringt. Aus dem Erkenntniswert, der im Tandelmarkt aus dem scheinbar unnützen und wertlosen „Plunder und Trödel“ (T1, 228 / T2, 360) gezogen wird, wenn es denn gelingt, „die Sachen“ zum „reden“ zu bringen (T2, 360), wird in dem gegenüber der Journalfassung wesentlich erweiterten Einleitungskapitel Die Alterthümer in der Mappe der Studien das ebenso ausdrückliche wie eindrucksvolle Plädoyer für eine Literatur der „Bedeutungslosig43
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So HKG 9,1, S. 227. – Vgl. hierzu Johannes John: Das „Margarita“-Kapitel in den verschiedenen Fassungen der Mappe meines Urgroßvaters. In: Stifter und Böhmen. Symposion. Prag 31. 10. bis 1. 11. 2005. Hrsg. von Milan Tvrdı´k und Wolfgang Wiesmüller. Jahrbuch des Adalbert-StifterInstituts des Landes Oberösterreich (JASILO) 14/2007, S. 19–32. Ebenso Sabine Schneider: Vergessene Dinge. Plunder und Trödel in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Für Helmut Pfotenhauer. Hrsg. von Sabine Schneider und Barbara Hunfeld. Würzburg 2008, S. 157–174. Während Stifter in Wien und die Wiener die Episode vom zu Unrecht verdächtigten Kammerdiener kommentarlos mitteilt (HKG 9,1, S. 234f.), geht er in der 2. Fassung hierzu unüberhörbar auf Distanz: „Ich selber habe zu dieser Geschichte einen sehr schwachen Glauben.“ (PRA 15.2, S. 368)
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keit“45, die gegen eine monumentale Geschichtsbetrachtung großer Männer und epochaler Daten wie Taten ganz bewußt den Blick für das Kleine, Nebensächliche und Periphere setzt und schärfen will. Im Tandelmarkt ist in beiden Fassungen in eben diesem Sinne „von dem alltäglichen Alltagsleben unserer Voreltern“ (T1, 228 / T2, 360) die Rede, dem auch in allen insgesamt vier Fassungen der Mappe das Interesse des Ich-Erzählers wie des Autors Adalbert Stifter gilt: und auch hier wird es ausdrücklich von der musealen Archivierung jener „Dinge“ abgesetzt, „die uns von dem vergangenen Staatsleben erzählen“ (T2, 360). Wie legitim, ja geboten eine solche Verbindungslinie zwischen den beiden Texten – dem Tandelmarkt und der Mappe – ist, belegt der Umstand, daß auch das Antiken-Kapitel in seiner für die Studien überarbeiteten Form als Separatund Vorabdruckdruck veröffentlicht wurde, und zwar ebenfalls in der Pester Zeitung, wo es zwischen dem 30. März und 6. April 1845 – also in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zur Überarbeitung des Tandelmarkts – in 5 Fortsetzungen in deren Feuilletonteil erschien. Nicht nur der Tandelmarkt, sondern auch Wien und die Wiener in toto rückt – was detailliert belegt im Apparat- und Kommentarband 9,2 nachzulesen sein wird – damit in eine weit größere Nähe zu den Themen und Motivkreisen, die Stifter im erzählerischen Kosmos seiner Studien entfaltet, als dies bisher gewürdigt wurde. Als Redaktor setzt Stifter in diesen Jahren des Beginns seiner schriftstellerischen Laufbahn insofern Maßstäbe, als er exemplarisch vorexerziert, was er – nicht selten zum Leidwesen seines Verlegers wie von dessen Redakteuren und Setzern – von diesen künftig als Autor erwartet und einfordert: nämlich Hingabe, Leidenschaft und Geduld für den prinzipiell unabschließbaren Text.
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HKG 1,5: Studien. Buchfassungen. 2. Band. Hrsg. von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. Stuttgart (u.a.) 1982, S. 17.
Regina Roth / Carl-Erich Vollgraf Die Herausgabe von Marx’ Kapital-Nachlaß durch Friedrich Engels – wortgetreu oder dem Geiste nach?
Karl Marx hat sein Werk Das Kapital nicht vollendet. Er plante die Publikation von vier Büchern in drei Bänden1, veröffentlichte jedoch nur den ersten Band mit dem ersten Buch in zwei Auflagen und gab eine französische Ausgabe heraus. Das Kapital war, wie sein Untertitel besagt, eine Kritik der politischen Ökonomie. „Kritik“ bezog sich einerseits auf die aktuellen Verhältnisse seiner Zeit, das heißt auf wirtschaftliche und soziale Probleme, die sich aus der Entwicklung des kapitalistischen Systems ergaben, andererseits auf die wissenschaftlichen Lehrmeinungen zu diesen Fragen und Problemen. Das Kapital hatte daher seit seinem Erscheinen nicht nur eine wissenschaftliche Bedeutung, sondern auch eine nachhaltige politische Wirkung. Die Entfaltung dieser Wirkung und generell die vielfältige Rezeption des Werkes lag nicht zuletzt in der Tatsache begründet, daß Friedrich Engels sich nach dem Tod von Marx im Jahr 1883 der mühevollen Aufgabe eines „Testamentseditors“2 unterzog und zwischen 1885 und 1894 nicht nur die dritte und vierte Auflage des ersten Bandes sowie dessen englische Übersetzung publizierte, sondern auch den zweiten und dritten Band des Kapitals aus dem Nachlaß herausgab. Hätte Engels dies nicht getan, wäre – mindestens für einige Jahre oder gar Jahrzehnte – nur der erste Band über den „Produktionsprozeß des Kapitals“ bekannt gewesen, der die Entstehung von Mehrwert im kapitalistischen System allein aus unbezahlter Arbeit erklärt und die daraus folgende Ausbeutung der Arbeit thematisiert. Offen geblieben wären dagegen Fragen über die Realisierung dieses Mehrwerts, die Marx im zweiten Buch behandelt, und ebenso Fragen über die Verteilung des Mehrwerts, die er im dritten Buch 1
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Das erste Buch beinhaltete den „Produktionsprozeß des Kapitals“, das zweite Buch den „Zirkulationsprozeß des Kapitals“, das dritte Buch die „Gestaltung des Gesamtprozesses“ und das vierte Buch die „Geschichte der Politischen Ökonomie seit Mitte des 17. Jahrhunderts“. (Karl Marx an Ludwig Kugelmann, 13. Oktober 1866. In: Marx-Engels-Werke, Berlin 1965 [im folgenden: MEW], Bd. 31, S. 534; Karl Marx an Sigfrid Meyer, 30. April 1867. In: Ebenda, S. 543.) Buch 1 erschien im ersten Band. Marx beabsichtigte, danach Buch 2 und 3 im zweiten Band sowie Buch 4 im dritten Band folgen zu lassen. (Ebenda) Friedrich Engels hat mit der postumen Veröffentlichung von Buch 2 als zweitem Band 1885 und von Buch 3 als drittem Band 1894 die heute gängige Einteilung des Kapital in drei Bände geprägt. Winfried Woesler: Theorie und Praxis der Nachlaßedition. In: Die Nachlaßedition. La publication de manuscrits ine´dits. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bern (u.a.) 1979 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Kongreßberichte. Bd. 4), S. 42–53, hier: S. 44.
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über die „Gestaltungen des Gesamtprozesses“ untersucht. Hier galt es zu erläutern, wie der Mehrwert verteilt wird und als einzige Quelle die Einkommen aus Profit, Zins und Rente speist. Wenig Nahrung hätten auch die seit Erscheinen des dritten Buches 1894 intensiv geführten Debatten um die langfristigen Wirkungen einer fallenden Profitrate und wiederkehrender Krisen auf die Zukunft der kapitalistischen Produktion gehabt, die Marx ebenfalls in diesem Rahmen behandelt hatte. Dieser Teil des Werkes Das Kapital wird in der historisch-kritischen MarxEngels-Gesamtausgabe (MEGA) in der zweiten Abteilung ediert, zusammen mit allen Auflagen und Übersetzungen dieses Werkes sowie mit allen Entwürfen, Ausarbeitungen, Notizen, Plänen etc., beginnend mit den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ von 1857/58.3 Der Abschluß der Editionsarbeiten an dieser Abteilung ist in greifbare Nähe gerückt: 2006 und 2007 werden voraussichtlich die noch ausstehenden drei Bände4 erscheinen, und damit werden erstmals alle Manuskripte der Öffentlichkeit zugänglich sein. Im folgenden wollen wir uns zunächst der konkreten Arbeit von Engels als Herausgeber des dritten Bandes des Kapital von Marx zuwenden. In etwa ermessen läßt sich das Ausmaß der zu leistenden Arbeit, wenn man Marx’ Urteil über seinen letzten Gesamtentwurf der ersten drei Bücher von 1863 bis 1865 in Betracht zieht, das er in einem Brief an Engels vom 13. Februar 1866 formulierte: Obgleich fertig, ist das Manuskript, riesig in seiner jetzigen Form, nicht herausgebbar für irgend jemand außer mir, selbst nicht für Dich.5
Es ist also zu fragen, vor welchen Problemen Engels stand und welche Lösungen er erwog. Anschließend soll der Umgang der MEGA mit der Gesamtheit der Texte im Spannungsfeld von Autor und Herausgeber vorgestellt werden. Engels wurde als Nachlaßverwalter von Marx zunächst damit konfrontiert, daß die Sozialisten verschiedener Länder nun ihre Erwartungen über die Fertigstellung der versprochenen Bände 2 und 3 des Kapital, die sie bisher an Marx 3
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In der ersten Abteilung werden alle weiteren Werke, Schriften und Artikel ediert, in der dritten Abteilung der Briefwechsel von Marx und Engels mit etwa 2000 Korrespondenzpartnern, und in der vierten Abteilung Exzerpte, Notizen und Marginalien. Die vier Abteilungen werden in der Kurzform mit römischen, die Bände jeweils mit arabischen Zahlen angeführt. Im folgenden werden Texte oder Apparatteile aus den MEGA-Bänden der zweiten Abteilung zitiert als: 2 MEGA II/4.2 (Anm. 9), II/4.3 (Anm. 4), II/11 (Anm. 4 und 59), II/12 (Anm. 59), II/13 (Anm. 4), II/14 (Anm. 6) oder II/15 (Anm. 13), mit Angabe der jeweiligen Seitenzahl, wobei Text- und Apparatband durchgehend paginiert sind. Es handelt sich um die zwischen 1868 und 1881 entstandenen Manuskripte von Marx zu Buch 2 2 2 in MEGA II/11 (Anm. 59) um die Druckfassung des zweiten Bandes von 1885 in MEGA II/13 2 und um weitere Manuskripte von Marx zu Buch 2 und Buch 3, die er 1867/68 abfaßte, in MEGA II/4.3. Karl Marx an Friedrich Engels, 13. Februar 1866. In: MEW, Bd. 31, S. 178.
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gerichtet hatten, auf ihn übertrugen.6 Doch er wußte wenig darüber, wie weit Marx mit diesen Bänden tatsächlich gekommen war. Er mußte sich selbst erst einen Überblick verschaffen, welche Texte vorhanden und wie diese beschaffen waren.7 Das Ergebnis dieser Sichtung brachte das eigentliche Problem an den Tag: Marx hatte keine definitive Fassung hinterlassen, weder für Buch 2 noch für Buch 3, vielmehr gab es mehrere Manuskripte aus der Zeit zwischen 1864 und 1881, unterschiedlich in Umfang und Qualität. Für Buch 2 hatte Marx in dieser Zeit zehn Manuskripte abgefaßt,8 zu Buch 3 lagen ein Gesamtentwurf von 1864/659 sowie wenige Ausarbeitungen oder Notizen zu einzelnen Themen von 1867/6810 und aus den 1870er Jahren11 vor. Als zentral für die Herausgabe von Band 312 erwies sich in der Arbeit mit den Manuskripten der fragmentarische Zustand des gesamten Materials. Er war hauptverantwortlich dafür, daß Engels mehr als neun Jahre brauchte, um den dritten Band herauszugeben. Im einzelnen sah Engels sich bei diesem, wie er selbst nach Abschluß seiner Arbeit formulierte, „äußerst lückenhafte(r)n, erste(r)n Entwurf“13 von 1864/65 vor kleinere und größere Probleme gestellt: Rechnungen waren fehlerhaft, zahlreiche Zitate waren zu prüfen und lagen zum Teil noch im fremdsprachigen Original vor. Aufgrund der enormen Entwicklung der Wirtschaft seit Abfassung des Manuskripts erschienen illustrierende Beispiele großenteils als veraltet; eine Reihe von Argumenten, Gedanken oder Zitaten wiederholte sich einerseits, und andererseits fehlten häufig Überleitungen zwischen verschiedenen Gedankengängen. 6
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Zu den vielfältigen Anfragen nach Marx’ Tod siehe Engels’ Redaktion des dritten Buches des Kapital 1883 bis 1894. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Manuskripte und redaktionelle Texte zum dritten Buch des Kapital 1871 bis 1895. Bearbeitet von Carl-Erich Vollgraf und Regina Roth. Unter Mitwirkung von Jürgen Jungnickel. Berlin 2003 (= Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe [MEGA]. Hrsg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. II. Abteilung. Bd. 14 [im 2 folgenden: MEGA II/14]), S. 457–489, hier: S. 457ff. Carl-Erich Vollgraf: Kontroversen zum dritten Buch des Kapital. Folgen von und Herausforderungen für Edition. In: MEGA-Studien 1996/2, S. 86–108, hier: S. 100 ff.; Regina Roth: The Author Marx and His Editor Engels: Different Views on Volume 3 of Capital. In: Rethinking Marxism. Bd. 14, 2002, Nr. 4, S. 59–72, hier: S. 61 ff. Vgl. dazu auch den Beitrag von Rolf Hecker: Friedrich Engels als Redaktor und Editor von Karl Marx’ Werk Das Kapital. In: editio 20, 2006, S. 118–132. Karl Marx: Ökonomische Manuskripte 1863–1867. Teil 2. Bearbeitet von Manfred Müller, Jürgen Jungnickel, Barbara Lietz, Christel Sander und Artur Schnickmann. Berlin 1992 (= Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe [MEGA]. Hrsg. von der Internationalen Marx-Engels2 Stiftung. II. Abteilung. Bd. 4 [im folgenden: MEGA II/4.2]). Diese Texte werden voraussichtlich 2009 in MEGA2 II/4.3 erscheinen. MEGA2 II/14 (Anm. 6), S. 3–162; vgl. auch: Marx’ Arbeit am dritten Buch des Kapital. In: Ebenda, S. 438–456. Engels hatte sich bereits 1885 dafür entschieden, Buch 2 als zweiten Band und Buch 3 als dritten 2 Band des Kapital herauszugeben. (Einführung. In: MEGA II/14 [Anm. 6], S. 381–437, hier: S. 391ff.) Friedrich Engels: Vorwort. In: Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Hamburg 1894. Bearbeitet von Regina Roth, Eike Kopf und Carl-Erich Vollgraf. Unter Mitwirkung von Gerald Hubmann. Mit einer Einführung von Bertram Schefold. Berlin 2004 (= Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe [MEGA]. Hrsg. von der Internationalen Marx2 Engels-Stiftung. II. Abteilung. Bd. 15 [im folgenden: MEGA II/15]), S. 5–23, hier: S. 6.
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Wesentlich schwerer wog die Tatsache, daß erhebliche Teile des Manuskripts inhaltlich nicht ausgearbeitet waren. Es gab zahlreiche Exkurse und Gedanken, deren Verortung im Argumentationsgang noch offen war und die erst einmal da festgehalten wurden, wo sie Marx gerade eingefallen waren.14 Eine Reihe von Partien enthielt zudem eher Erörterungen zur Klärung eigener Positionen als eine Darstellung solcher Standpunkte.15 Nicht zuletzt erstreckten sich Quellenauszüge über umfangreiche Passagen, ohne klare Zuordnung zu einzelnen Themen.16 Engels sprach zwar immer wieder von Problemen und benannte die in drei Abschnitten behandelten Themenkreise – Verwandlung von Mehrwert in Profit, Geldkapital und Rente17 – als schwierig, blieb aber meist vage, was deren Umfang und Bedeutung18 betraf. Erst im Vorwort von 1894 räumte er ein, daß er die „Schwierigkeiten, die grade diese, die wichtigsten Abschnitte des Ganzen“19 ihm bereiten würden, unterschätzt habe. In engem Zusammenhang mit diesen inhaltlichen Defiziten stehen weitere Probleme: die mangelnde Strukturierung des Textes, der unterschiedliche Gebrauch einzelner Termini, oder das Phänomen, daß Marx zu Beginn einer Argumentation Prämissen formulierte oder Lösungswege entwarf, die er in den nachfolgenden Ausführungen nicht einhielt.20 Nicht zuletzt entstand erheblicher Abstimmungsbedarf im Hinblick auf Manuskripte und Druckfassungen, die 14
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Solche Exkurse kennzeichnete Marx in der Regel durch Klammern. (Beispielsweise MEGA2 II/4.2 [Anm. 9], S. 256, 268, 441 oder S. 834f.) Vgl. auch Carl-Erich Vollgraf/Jürgen Jungnickel: „Marx in Marx’ Worten“? Zu Engels’ Edition des Hauptmanuskripts zum dritten Buch des Kapital. In: MEGA-Studien 1994/2, S. 3–55, hier: S. 24ff. So schweift Marx bereits auf S. 4 seines Gesamtentwurfs von der Darstellung seines Untersuchungsgegenstandes ab, als er in einer Fußnote mit der Diskussion der verschiedenen Einflußfaktoren für die Entwicklung von Mehrwert- und Profitrate anhand von immer wieder neuen Zahlenbeispielen beginnt. Die Fußnote zieht sich bis auf S. 30 hin; ab S. 42 erstrecken sich 2 erneute Beispiele zu diesem Thema über nahezu 30 weitere Seiten. (MEGA II/4.2 [Anm. 9], S. 13ff. und 66ff.) Dies betrifft inbesondere die Darlegungen über Kredit, Zins und Unternehmergewinn im fünften Kapitel, die mit zahlreichen Exzerpten durchsetzt sind. (Ebenda, S. 476ff., 489ff., 561ff., 597ff. oder 626ff.) Friedrich Engels an Nikolaj Francevicˇ Daniel’son, 9. November 1886. In: MEW, Bd. 36, S. 566; vgl. auch Friedrich Engels an Nikolaj Francevicˇ Daniel’son, 19. Februar 1887. In: Ebenda, S. 617. Die „zwei bis drei Abschnitte aus sieben[, die] starker Nacharbeit“ bedurften (Friedrich Engels an Conrad Schmidt, 8. Oktober 1888. In: MEW, Bd. 37, S. 102f.), umfaßten immerhin gut die Hälfte des gesamten Textes. Engels 1894 (Anm. 13), S. 5 (Hervorhebung R.R./C.-E.V.). Ähnlich diffus hatte Engels bereits die Schwierigkeiten mit dem zweiten Buch umschrieben, das aus drei Abschnitten bestand: „Wirkliche, d. h. andre als bloß technische Schwierigkeiten boten dabei nur der erste und dritte Abschnitt, diese aber auch nicht geringe.“ (Friedrich Engels: Vorwort. In: Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. Zweites Buch. Hamburg 1885, S. III-XXIII, hier: S. VII.) Beispielsweise kündigte Marx an: „Die Analyse des Creditwesens ... liegt außerhalb unsres Plans“. Engels ergänzte dies zu: „Die eingehende Analyse des Kreditwesens ... liegt außerhalb unsers Planes“, weil Marx auf den nachfolgenden 75 Seiten entgegen seiner Ankündigung eben 2 doch eine Reihe von Aspekten dieses Kreditwesens diskutiert hatte. (MEGA II/4.2 [Anm. 9], S. 469 und II/15 [Anm. 13], S. 389; Hervorhebung R.R./C.-E.V.)
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nach dem Entwurf des dritten Buches entstanden waren. Da dieser von 1864/65 stammte, gehörte dazu der von Marx selbst veröffentlichte erste Band von 1867, in den er bei der Schlußbearbeitung etliche Materialien aus dem dritten Buch aufgenommen hatte, vor allem im Hinblick auf die Beschreibung der Arbeitsbedingungen in England.21 Zudem waren die Überarbeitungen zum zweiten Buch des Kapital, die Marx in den 1870er Jahren vorgenommen hatte, und die von Engels herausgegebene Druckfassung zu berücksichtigen, sowie die späteren Ausgaben des ersten Bandes. Die Ausgangsbedingungen für den Herausgeber Engels waren also alles andere als einfach. Doch Engels hatte triftige Gründe, sich dieser Aufgabe zu stellen. Es galt zum einen die wissenschaftliche Reputation von Marx zu wahren. Es hatte nicht nur Zweifel an der Absicht zur Fortsetzung des Werks von Marx gegeben, vor allem von Seiten des italienischen Ökonomen Achille Loria,22 sondern Engels hatte die Wissenschaftlichkeit der Analyse immer als einen zentralen Aspekt des Werkes herausgestellt.23 Zum anderen wollte er das politische Erbe von Marx’ Werk und dessen Wirken sicherstellen.24 Engels hat das Problem der Authentizität des Textes deutlich gesehen und reflektiert. Er betonte sowohl 1884, zu Beginn seiner Redaktionsarbeit: Ce qu’il m’importe avant tout, c’est ... que ce soit bien une œuvre de Marx que je publie25
als auch nach deren Ende, im Jahr 1895: Bei der Herausgabe kam es mir vor allem darauf an, einen möglichst authentischen Text herzustellen, die von Marx neugewonnenen Resultate möglichst in Marx’ eignen Worten vorzuführen.26 21
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Aus dem dritten Buch entnahm Marx einige Illustrationen zur Einsparung von konstantem Kapital sowie aus der Darstellung von Preisschwankungen und Depreziation, weshalb Engels sie 2 stark kürzte. (Vgl. MEGA II/4.2 [Anm. 9], S. 133ff. oder S. 151ff. und II/15 [Anm. 13], S. 90f. oder S. 103f.) Er hatte behauptet, Marx habe einen zweiten Band des Kapital nur angekündigt, aber nie wirklich beabsichtigt, ihn auch schreiben zu wollen. (Achille Loria: Karl Marx. In: Nuova Antologia di scienze, lettere ed arti. 2. Ser., Bd. 38, 1883, S. 509–542, hier: S. 520.) Engels hatte dies vehement zurückgewiesen, u. a. im Mai 1883 in seinem Nekrolog „Zum Tode von Karl Marx“. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Artikel. Entwürfe Mai 1875 bis Mai 1883. Berlin 1985 (= Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe [MEGA]. I. Abteilung. Bd. 25), S. 418–422, hier: S. 422. Engels wiederholte dies häufig in seinen Briefen, wenn er über die nachgelassenen Manuskripte von Marx berichtete, ebenso wie er in seinen Rezensionen zum ersten Band des Kapital mehrfach auf die Wissenschaftlichkeit hingewiesen hatte. Vgl. beispielsweise Friedrich Engels an Karl Kautsky, 18. September 1883. In: MEW, Bd. 36, S. 59ff., Friedrich Engels an Laura Lafargue, 8. März 1885. In: Ebenda, S. 286, oder die Rezension des ersten Bandes in der Düsseldorfer Zeitung vom 16. November 1867. In: MEW, Bd. 16, S. 217. Friedrich Engels an August Bebel, 4. April 1885. In: MEW, Bd. 36, S. 292ff. Friedrich Engels an Petr Lavrovicˇ Lavrov, 28. Januar 1884. In: MEW, Bd. 36, S. 94f. 2 Friedrich Engels: Wertgesetz und Profitrate. Erster Nachtrag zu Buch 3 des Kapitals. In: MEGA II/14 (Anm. 6), S. 323.
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Denn, so seine tiefe Überzeugung, für die Auseinandersetzung mit dem Werk von Marx „war grade die Urschrift selbst das Wichtigste“27. Welche konkreten Eingriffe waren für Engels mit dieser Absicht vereinbar? Er habe zwar – so Engels im Vorwort von 1894 – die Redaktion „auf das Nothwendigste beschränkt“. Allerdings behielt er den Charakter des Entwurfs nur dort bei, „wo es die Deutlichkeit zuließ“28. Ebenso sah er sich berechtigt und in der Lage, inhaltliche Ergänzungen vorzunehmen und „das von Marx gelieferte thatsächliche Material zu eignen, wenn auch möglichst im Marx’schen Geist gehaltnen Schlußfolgerungen [zu] verarbeiten“29. In einem Brief von 1889 hatte Engels geradezu von einer Verpflichtung zu solchen Änderungen gesprochen: But as this crowning volume is such a splendid and unanswerable work, I consider myself bound to bring it out in a shape in which the whole line of argument stands forth clearly and in bold relief.30
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß der Herausgeber Engels bestrebt war, einen Text möglichst nah an der vom Verfasser Marx hinterlassenen Form herzustellen. Da diese Form jedoch sehr fragmentarisch war, sah er Änderungen vor allem im Hinblick darauf vor, daß dieser Text lesbar und benutzbar sein sollte. Hieraus resultiert ein Spielraum, der gerade für heutige Leser und Interpreten von Interesse sein dürfte: Wie legte Engels den „Marx’schen Geist“ aus, oder, modern ausgedrückt: Aufgrund welcher Indizien schrieb er dem Autor Marx welche Intention zu?31 Leser der MEGA erhalten erstmals Gelegenheit, im einzelnen nachzuvollziehen, was Engels unter einem „authentischen Text“ verstand, und sie können dies ihrer eigenen Vorstellung vom Autorwillen gegenüberstellen.32 Wie ging Engels bei der Herausgabe von Band 3 vor, und welche konkreten Änderungen lassen sich feststellen? Zunächst hatte er das gesamte überlieferte Material in groben Zügen gesichtet und die Manuskripte, die er für Band 3 fand, herausgefiltert. Er durchforstete auf der Suche nach weiteren Darstellungen oder Teilausarbeitungen auch Exzerpte und ebenso Marxens Briefe nach Äußerungen oder Hinweisen für die Bearbeitung des Gesamtentwurfs. Die erste, wie Engels selbst es nannte, „provisorische Redaktion“33 stellte die Entzifferung des Ge27 28
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Ebenda; vgl. auch Friedrich Engels an Werner Sombart, 11. März 1895. In: MEW, Bd. 39, S. 429. Engels 1894 (Anm. 13), S. 7. Im zweiten Band hatte er bereits Stellen identifiziert, wo es seines Erachtens „absolut nöthig“ war, „erläuternde Zwischensätze und Uebergänge einzuschieben“; er begrenzte diese aber auf Fälle, in denen „der Sinn ganz unzweifelhaft“ war. (Engels 1885 [Anm. 19], S. III.) Engels 1894 (Anm. 13), S. 7. Im zweiten Band hatte er noch davon gesprochen, inhaltliche Schwierigkeiten „ausschließlich im Geist des Verfassers“ lösen zu wollen. (Engels 1885 [Anm. 19], S. VII.) Friedrich Engels an Nikolaj Francevicˇ Daniel’son, 4. Juli 1889. In: MEW, Bd. 37, S. 243f. Fotis Jannidis: Autor, Autorbild und Autorintention. In: editio 16, 2002, S. 26–35, hier: S. 29ff. Vgl. dazu unten, S. 295ff.
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samtentwurfs dar. Sie erfolgte im Frühjahr und Sommer 1885. Bereits in dieser Phase strich er Textpassagen, stellte andere um und nahm Umformulierungen vor. Im Oktober desselben Jahres begann Engels mit der vollständigen Überarbeitung, die sich hinzog bis Mitte Mai 1894, immer wieder unterbrochen, zum Teil über Jahre hinweg.34 Aus dieser Zeit sind viele redaktionelle Texte und Notizen von Engels überliefert: Gliederungen, Inhaltsverzeichnisse, Texte zur inhaltlichen Erschließung, Anordnung und Ergänzung des Gesamtentwurfs, die uns zahlreiche Einzelheiten über die Probleme und Schwierigkeiten der langjährigen Redaktionsarbeit verraten.35 Bemerkenswerte Veränderungen, die Engels vornahm, waren eine Reihe von Zusätzen, eine detaillierte Strukturierung, umfangreiche Textumstellungen und verschiedene Begriffsänderungen. Die meisten der Zusätze kennzeichnete er. Einige wenige Beispiele blieben ohne seine Initialen,36 ebenso wie seine zahlreichen Ein- und Überleitungen, beispielsweise die Kurzcharakteristik des ersten und des zweiten Buches gleich zu Beginn des Textes.37 Die meisten dieser Ergänzungen fügte er im fünften Abschnitt ein, um verschiedene Auszüge von Marx zu bestimmten Themen miteinander zu verbinden.38 Die anderen Modifikationen kennzeichnete er nicht und erwähnte sie, mit Ausnahme der Textumstellungen, auch nicht im Vorwort. Engels orientierte sich, soweit als möglich, an Marx. Für die Strukturierung suchte er nach Anhaltspunkten im Text oder Hinweisen in Briefen. Im sechsten Abschnitt benutzte er die detaillierte Gliederung, die Marx am Ende des Kapitels entworfen hatte,39 für seine Unterteilung des Abschnitts in Kapitel.40 Häufig machte er etwa einen Begriff, den Marx zu Beginn eines Gliederungspunktes hervorgehoben hatte, zu einer Überschrift über diesen Punkt,41 oder auch eine ihm griffig erscheinende Formulierung aus dem Text, z.B. bei den „entgegenwirkenden Ursachen“ im Abschnitt über das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate.42 Nur dort, wo er nichts Entsprechendes fand, ergänzte er Überschriften eigenständig. Dies gilt vor allem für die Kapitel 27 bis 34, die er zum 33
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So beim zweiten Buch. (Friedrich Engels an Karl Kautsky, 21./22. und 26. Juni 1884. In: MEW, Bd. 36, S. 164–168). Die Korrektur der Druckfahnen erfolgte von Januar/Februar bis zum November 1894. Sie sind in MEGA2 II/14 (Anm. 6) ediert. Engels wählte etwa ein moderneres Beispiel als Marx für die Verwendung von Nebenprodukten 2 in der chemischen Industrie. (MEGA II/15 [Anm. 13], S. 102.35–41, und Apparat, S. 976). Ebenda, S. 29.9–14, und Apparat, S. 975. Zum Beispiel ebenda, S. 352.10–11, 402.8–10, 519.18–19 und Apparat, S. 977, 978, 980. 2 MEGA II/4.2 (Anm. 9), S. 816f. Ebenso setzte er die Anweisung um, die Differentialrente sei vor der absoluten Rente abzuhandeln. (Ebenda, S. 690). 2 MEGA II/15 (Anm. 13), S. 627–690; vgl. auch Apparat, S. 923. Dies gilt etwa für die Überschriften, die Engels für die ersten vier Punkte in der Betrachtung der 2 „entgegenwirkenden Ursachen“ des tendenziellen Falls der Profitrate wählte. (MEGA II/15 2 [Anm. 13], S. 229, 232 und 233 sowie MEGA II/4.2 [Anm. 9], S. 302 und 305). 2 MEGA II/15 (Anm. 13), S. 229. Marx hatte bemerkt, es müßten „conteragirende Einflüsse im 2 Spiel sein“ (MEGA II/ 4.2 [Anm. 9], S. 301).
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großen Teil aus einer Sammlung von Quellenauszügen zusammenstellte.43 Hinweise aus Briefen, die auf spätere Absichten des Autors deuteten, nahm Engels zwar zur Kenntnis, setzte sie aber nicht immer um, wie das Beispiel des fünften Abschnittes zeigt. Marx hatte in einem Brief von 1868 zum Inhalt dieses Teils – bei ihm war es das fünfte Kapitel – auch das Kreditwesen gezählt.44 Engels nahm dies in einer frühen Zusammenstellung über den Inhalt der Abschnitte auf,45 berücksichtigte es aber später bei der Benennung des Abschnittes nicht, sondern hielt sich dort wieder an das Manuskript von 1864/65.46 Eine erhebliche Änderung bedeuteten die zahlreichen Textumstellungen, die Engels vor allem bei der Gestaltung des fünften Abschnitts vornahm. Dort ordnete er Auszüge bestimmten Themen zu, die Marx eher nach dem Vorkommen in den von ihm benutzten Quellen geordnet hatte. Auch eine Reihe von Fußnoten, die Engels in den Haupttext übernahm, verschob Akzente in der Darstellung.47 Auch bei den Begriffen strebte er danach, Marx’ spätere Entscheidungen zu erkunden und auf den frühen Text zu übertragen, jedoch ohne die Absicht, die Terminologie der Vorlage durchgängig zu vereinheitlichen und den schwierigen Prozeß der Begriffsfindung von Marx zu verdecken. Beispielsweise ersetzte Engels den Begriff „Arbeitsvermögen“ durch „Arbeitskraft“, den „functionirenden Kapitalisten“ durch den „fungierenden Kapitalisten“ oder „produktives Kapital“ durch „industrielles Kapital“. Betrachtet man die redaktionellen Texte von Engels und das Ergebnis in der Druckfassung des dritten Bandes von 1894 in der Zusammenschau, so ergibt sich eine bemerkenswerte Reduktion des Konzepts, das hinter seinen Änderungen an der Vorlage von Marx stand. Zu Beginn seiner Arbeit verglich Engels, wie bereits beim zweiten Band, verschiedene Fassungen, wählte einzelne Textpassagen daraus aus und fügte sie zu eigenen Kapiteln zusammen. Ebenso verdichtete er Darstellungen, z.B. wenn Marx Gedanken oder Beispiele schon an anderer Stelle benutzt hatte. Darüber hinaus erwog er, neben den verschiedenen Fassungen, auch „kritische Notizen“48, heute würde man sagen: Glossen, sowie 43
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MEGA2 II/15 (Anm. 13), S. 426–542, und II/4.2 (Anm. 9), S. 501–565. Siehe auch unten S. 294. Ähnliches gilt für den dritten Abschnitt, z.B. bei der Überschrift „Das Gesetz als solches“ 2 (MEGA II/15 [Anm. 13], S. 209). Karl Marx an Friedrich Engels, 30. April 1868. In: MEW, Bd. 32, S. 74. Friedrich Engels: Abschnitte von Buch 3 des Kapital. In: MEGA2 II/14 (Anm. 6), S. 167 und Apparat, S. 716ff. MEGA2 II/15 (Anm. 13), S. 330, und II/4.2 (Anm. 9), S. 411. 2 Vgl. Einführung. In: MEGA II/14 (Anm. 6), S. 411ff.; Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition. Überarb. und erw. Neuaufl., Münster 2001, S. 284ff. Ein Beispiel für eine solche Akzentverschiebung findet sich im dritten Abschnitt, wo Engels einer Aussage durch Umformulierung und Positionierung am Ende eines Unterpunktes stärkeres Gewicht in der Diskussion über den Zusammenbruch der kapitalistischen Produktion gab, als sie bei Marx ursprüng2 lich hatte. (Vgl. MEGA II/15 [Anm. 13], S. 243.13–15 und die zugehörige Erläuterung). Friedrich Engels an Nikolaj Francevicˇ Daniel’son, 3. Juni 1885. In: MEW, Bd. 32, S. 322.
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Fragmente aus Exzerpten einzubeziehen und wichtige Schriften, vor allem zu Fragen von Geld und Kredit, selbst durchzusehen, um eventuell Marxsche Überlegungen zu ergänzen. Dies setzte er jedoch kaum in die Tat um. Im Laufe der Arbeit, insbesondere als er sich mit dem fünften Abschnitt beschäftigte, nahm Engels das Ausmaß der vorhandenen Schwierigkeiten zunehmend wahr. Beispielsweise gelang es ihm trotz mehrerer Anläufe nicht, aus einer dort befindlichen umfangreichen Auszugssammlung zu Geld, Kredit, Banken etc. – von Marx mit „Die Confusion“ überschrieben – ein Kapitel zusammenzustellen. Die Gedankengänge und Argumentationen, die er darin identifizierte, schienen ihm nicht ausreichend zu sein, um zu konstruieren, „was der Verfasser zu geben beabsichtigt hatte“49. Ihm fehlten daher brauchbare Kriterien, um bestimmte Auszüge auszuwählen und andere auszuschließen. Dies läßt sich an einem seiner redaktionellen Texte zum fünften Abschnitt über Kredit und fiktives Kapital nachvollziehen. In einem ersten Ordnungsversuch50 hatte Engels eine Reihe von Aussagen angestrichen, aus denen er Kapitel 31 zusammenstellen wollte. Er verwarf diese Zuordnung dann jedoch, und ebenso eine zweite thematische Zusammenstellung.51 Engels entschloß sich, nunmehr möglichst alle Aussagen zu publizieren, das hieß den Text nur neu zu sortieren und einzelnen Themen zuzuordnen.52 Generell verzichtete er also auf Auswahl und Verdichtung und zielte statt dessen darauf ab, den roten Faden der Argumentation herauszustellen.53 Engels befand sich mit seiner Vorgehensweise ganz im Einklang mit den Gepflogenheiten seiner Zeit. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, daß er sich eher Vorwürfen ausgesetzt sah, viel zu wenig in den Text eingegriffen und dem Leser zu viele Wiederholungen und unbereinigte Abschnitte zugemutet zu haben.54 Dies weist auf den Unterschied des Kommunikationssystems hin, in dem Engels als „Testamentseditor“ agierte. Er verstand sich als Stellvertreter des Autors und wurde von seinen Zeitgenossen auch als solcher betrachtet. Er nahm daher eine Reihe von Änderungen vor, die der Autor – wenn auch sicherlich auf andere Weise – ebenfalls vorgenommen hätte, hätte er das Werk selbst fertiggestellt.55 Und gerade hier liegt ein zentraler Unterschied zur wissenschaftlichen Edition. 49 50
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Engels 1894 (Anm. 13), S. 8. Friedrich Engels: Kredit und fiktives Kapital (Konspekt zum Manuskript von 1864/65, S. 2 317–392, Erste Ordnung des Materials). In: MEGA II/14 (Anm. 6), S. 244–261. 2 MEGA II/14 (Anm. 6), S. 252, 257–260 und Erläuterungen sowie Apparat, S. 856f. Zum zweiten Ordnungsversuch siehe Friedrich Engels: Zweite Ordnung des Materials „Die Confusion“ nach inhaltlichen Aspekten. In: Ebenda, S. 267–273. Dies zeigte sich im genannten fünften Abschnitt dann in einer größeren Anzahl von Kapiteln: Elf 2 Kapitel (vom 25. bis zum 35.) an Stelle von zunächst geplanten sieben (MEGA II/15 [Anm. 13], S. 389–583). Die eben genannten Passagen brachte Engels im 35. Kapitel unter. 2 Vgl. auch Einführung. In: MEGA II/14, (Anm. 6), S. 400ff. Werner Sombart: Zur Kritik des ökonomischen Systems von Karl Marx. In: Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik, Bd. 7, 1894, H. 4, S. 555–594, hier: S. 557. Woesler 1977 (Anm. 2), S. 45f.
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Diese will und soll nicht einen ,idealen‘ Text herstellen, einen Text, wie ihn der Autor vielleicht im Sinn gehabt haben könnte, sondern dokumentieren, was der Autor hinterlassen hat, genau in dem Zustand, in dem es war, als er letzte Hand an den Text angelegt hatte. Daher legt eine wissenschaftliche Edition einen viel strengeren Maßstab an, der nur sehr geringe redaktionelle Eingriffe in den Text erlaubt.56 Das Gros der bisherigen Editionen folgte der Vorstellung von Engels als legitimem Stellvertreter von Marx. Als autorisiert im juristischen Sinne57 galten nicht nur von Marx herausgegebene Ausgaben des Kapital, sondern auch solche von Engels. Marx hatte keine schriftliche Verfügung oder auch nur Weisungen im Hinblick auf seinen Nachlaß hinterlassen; er hatte lediglich seiner Tochter Eleanor kurz vor seinem Tode mitgeteilt, Engels solle aus seinen Materialien „etwas machen“.58 Daher beschränken sich die bisherigen Ausgaben des dritten Bandes des Kapital auf die von Engels 1894 publizierte Druckfassung. Die Aufgabe der historisch-kritischen Edition reicht dagegen weiter. Dokumentiert werden soll nicht nur die historisch wirksam gewordene Fassung, die der Herausgeber Engels den Vorlagen des Autors Marx gegeben hat, sondern auch die Hinterlassenschaft des Autors selbst. Das bedeutet, alle Texte, die Marx und Engels in Zusammenhang mit dem dritten Band verfaßten, separat und vollständig zu edieren.59 56
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Der Entwurf von 1864/65 ist aus dieser Sicht als autorisierte Textfassung zu betrachten, in deren Textgestalt, wie bei Autographen generell, in der Regel nicht eingegriffen werden dürfe. Erlaubt sei nur die Berichtigung eindeutiger Fehler, d. h. von Störungen im intendierten Text, die keinen Sinn machten. Andere „Störungen“ sollten lediglich im Kommentar erörtert werden. (Siegfried Scheibe: Zur Abgrenzung der Begriffe Autorisation und Authentizität. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004, S. 31–38, hier: S. 34). Gunter Martens: Autor – Autorisation – Authentizität. In: Autor – Autorisation – Authentizität (Anm. 56), S. 39–50, hier: S. 46. Engels 1885, (Anm. 19), S. VII; Friedrich Engels an August Bebel, 30. August 1883. In: MEW, Bd. 36, S. 56. Dies gilt selbstverständlich auch für die wenigen überlieferten, nicht veröffentlichten Texte zum ersten Buch des Kapital und ebenso für das zweite Buch. Im letzten Fall sind insbesondere alle 2 Fassungen, Teilausarbeitungen und Fragmente von Marx zu nennen, die in MEGA II/4.1 (Karl Marx: Ökonomische Manuskripte 1863–1867. Teil 1. Berlin 1988 [= Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). II. Abteilung. Bd. 4]), II/4.3 und II/11 (Karl Marx: Manuskripte zum zweiten Buch des „Kapitals“ 1868 bis 1881. Bearbeitet von Teinosuke Otani, Ljudmila Vasina und Carl-Erich Vollgraf. Unter Mitwirkung von Kenji Mori und Regina Roth. Berlin 2008 [= Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). Hrsg. von der Internationalen Marx-EngelsStiftung. II. Abteilung. Bd. 11]) ediert werden sowie das Redaktionsmanuskript zum zweiten 2 Band, das Engels für die Druckfassung von 1885 anfertigte, das in MEGA II/12 präsentiert wird. (Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweites Buch. Redaktionsmanuskript von Friedrich Engels 1884/1885. Bearbeitet von Izumi Omura, Keizo Hayasaka, Rolf Hecker, Akira Miyakawa, Sadao Ohno, Shinya Shibata und Ryojiro Yatuyanagi. Unter Mitwirkung von Ljudmila Vasina, Kenji Itihara und Kenji Mori. Berlin 2005 [= Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). Hrsg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. II. Abteilung. Bd. 12]; vgl. auch Hecker 2006 [Anm. 8]).
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Erst auf dieser Basis ist es möglich, der Frage nach dem Einfluß von Engels auf die Rezeption der Texte nachzugehen. Denn, wie wir gesehen haben, bot ihm die Vorlage, gerade weil sie so unfertig war, einigen Spielraum bei der Gestaltung der Druckfassung. Diesen nutzte er durchaus, vielfach zum Nutzen des Lesers, durch zahlreiche stilistische wie inhaltliche Verbesserungen und insgesamt mit großer Zurückhaltung. Der immer wieder geäußerte Zweifel, ob Engels’ Druckfassung den Marxschen Gedankengang ,korrekt‘ wiedergebe, wird durch den Vergleich der Marxschen Vorlage mit der Engelsschen Druckfassung weder endgültig ausgeräumt noch bestätigt werden können. Denn das Ergebnis wird immer von der Auffassung des jeweiligen Kommentators, welche Auslegung von Marx’ Gedankengang ,korrekt‘ sei, abhängen. Doch zugleich wird durch diese Trennung ein anderer Zugang zum Autor Marx ermöglicht: Der Entwicklungsstand von Marx’ Ideen und Vorstellungen zu den Themen des dritten Bandes kann erstmals unabhängig von seinem ersten Interpreten Engels untersucht werden. Im Mittelpunkt der Edition in der MEGA steht also der separate Abdruck aller Fassungen, Entwürfe, Notizen und redaktionellen Texte von Autor und Herausgeber. Diese für Band 3 des Kapital relevanten Texte sind in vier MEGABänden zu finden: der Gesamtentwurf von Marx von 1864/65 in MEGA2 II/4.2, 2 seine 1867/68 verfaßten Ausarbeitungen in MEGA II/4.3, sodann seine in den 1870er Jahren entstandenen Manuskripte und Notizen in MEGA2 II/14, dort zusammen mit allen redaktionellen Texten und Notizen von Engels, und schließlich die von Engels herausgegebene Druckfassung in MEGA2 II/15. Die Dokumentation der vielfältigen Beziehungen zwischen diesen verschiedenen Manuskripten von Autor und Herausgeber ist zentrales Anliegen der Apparate von MEGA2 II/14 und II/15. Diese beiden Bände sind besonders eng miteinander verzahnt, weil die in Band II/14 edierten redaktionellen Texte von Engels als Zwischenglieder zwischen den Marxschen Vorlagen und der Engelsschen Druckfassung in Band II/15 interpretiert werden können. Im einzelnen finden sich folgende Informationen: Im Verzeichnis übernommener Textpassagen in MEGA2 II/15 wird werkstellenbezogen die Herkunft der einzelnen Textteile der Druckfassung aus den verschiedenen zugrundegelegten Manuskripten mitgeteilt. Unterbrechungen im Nachweis der übernommenen Textpassagen weisen zum einen auf Auslassungen zusammenhängender Texte oder Gedanken bei Marx hin, zum anderen auf die Ergänzung solcher Passagen durch Engels. Für einige Passagen aus dem ersten Abschnitt wird zudem auf eine früher von Engels zusammengestellte Fassung verwiesen.60 Das Verzeichnis inhaltlich bedeutsamer Zusätze in MEGA2 II/15 listet alle gekennzeichneten und nicht gekennzeichneten ergänzenden Gedanken und Dar60
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MEGA II/15 (Anm. 13), S. 946–974.
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legungen von Engels werkstellenbezogen auf. Gibt es Zusammenhänge mit anderen redaktionellen Texten von Engels oder mit dem Entwurf von Marx, werden die entsprechenden Werkstellen ebenfalls angeführt.61 In der Einführung von MEGA2 II/14 werden die Änderungen des Herausgebers systematisiert und mit Beispielen vorgestellt.62 In Entstehung und Überlie2 ferung von MEGA II/15 werden die Gliederungen des Gesamtentwurfs von 1864/65 und der Druckfassung einander abschnittsweise gegenübergestellt.63 In Erläuterungen zu den einzelnen Abschnitten oder Kapiteln der Druckfassung in MEGA2 II/15 werden die wichtigsten zugehörigen Vorlagen von Marx und redaktionellen Texte von Engels genannt und die wesentlichen Änderungen charakterisiert.64 Ähnliches gibt es zu den redaktionellen Texten von Engels in MEGA2 II/14, in denen auf zugehörige Werkstellen in den Vorlagen von Marx, in anderen Engelsschen Manuskripten und in der Druckfassung verwiesen wird. So stellt beispielsweise der bereits genannte Konspekt über Kredit und fiktives Kapital einen ersten Ordnungsversuch für den fünften Abschnitt dar, insbesondere für die Auszugssammlung, die Marx mit „Die Confusion“ überschrieben hatte. Überliefert sind drei weitere Manuskripte, wovon eines einen zweiten Ordnungsversuch beinhaltet und die beiden anderen einen dritten. In Einzelerläuterungen wird daher nicht nur auf die den Aussagen zugrundeliegenden Stellen im Marxschen Gesamtentwurf und auf die Formulierung in der Druckfassung von 1894 hingewiesen, sondern auch auf Parallelstellen in diesen Engelsschen Manuskripten.65 Diese Informationen erlauben es dem Leser, die Änderungen des Herausgebers Engels im Detail zu prüfen und diese den zugrundeliegenden Texten des Autors Marx gegenüberzustellen. Er kann dann selbst beurteilen, was der Herausgeber unter der „Authenticität des Textes“ verstand und was unter einer Bearbeitung des Textes „möglichst im Marx’schen Geist“. Für den dritten Band ist eine solche Prüfung für den Großteil der überlieferten Texte bereits durchführbar und wird voraussichtlich 2009 mit der Edition von MEGA2 II/4.3 vollständig möglich sein.66 61 62 63 64
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Ebenda, S. 975–986. MEGA2 II/14 (Anm. 6), S. 407–431. MEGA2 II/15 (Anm. 13), S. 917–924. Beispielsweise ebenda, Erläuterung 29.4–51.20 auf S. 1013f. zur Zusammenstellung der Kapitel 1 und 2 aus verschiedenen Manuskripten, Erläuterung 51.21–70.38 auf S. 1018f. zur Zusammenstellung und Verdichtung von Kapitel 3, Erläuterung 144.1–209.3 auf S. 1066 zu den Änderungen in der Struktur und zur Zuspitzung der Aussage zum Zusammenbruch des Systems, oder Erläuterung 389.1–583.21 auf S. 1107f. zu dem bereits mehrfach erwähnten schwierigen Teil des fünften Abschnitts. Friedrich Engels: Kredit und fiktives Kapital (Konspekt zum Manuskript von 1864/65, S. 2 317–392, Erste Ordnung des Materials). In: MEGA II/14 (Anm. 6), S. 244–261; Friedrich Engels: Zweite Ordnung des Materials „Die Confusion“ nach inhaltlichen Aspekten. In: Ebenda, S. 267–273; Friedrich Engels: Aufgliederung des Materials „Die Confusion“ nach Marx-Text und Quellen. In: Ebenda, S. 279–291; Friedrich Engels: Dritte Ordnung des Materials „Die Confusion“ nach inhaltlichen Aspekten. In: Ebenda, S. 292–304, sowie die zugehörigen Erläuterungen.
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Schwierig bleibt aus editorischer Sicht die Frage nach den Intentionen des Autors und nach den Kriterien, die einen ,authentischen Text‘ ausmachen. Denn wenn auch nicht zu bezweifeln ist, daß die Vorlagen von Marx stammen, in diesem Sinne also von ihm autorisiert sind, so fehlt doch eine letzte konkrete Willensäußerung für eine Veröffentlichung in der von ihm hinterlassenen Textgestalt, und es gibt nur wenige Anweisungen für eine Überarbeitung zur Publikation. Diese Vorbehalte sollten in jeder Diskussion darüber, ob die Änderungen von Engels im Rahmen einer sinngemäßen Wiedergabe blieben oder nicht, berücksichtigt werden, im Bewußtsein dessen, daß Intention Zuschreibung ist von etwas, „was aufgrund von Indizien konstruiert wird“, in unserem Fall Indizien aus einem hinterlassenen Text, der zahlreiche Spuren eines Werks im Werden trägt.67
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Dies gilt ebenso für den zweiten Band des Kapital, zu dem dieser MEGA-Band II/4.3 ebenfalls überlieferte Texte von Marx enthält, zusätzlich zu den bereits erschienenen Bänden II/4.1, (Anm. 59), und II/11 (Anm. 59). Hinzu treten die Bände II/12 (Anm. 59) und II/13 (voraussichtlich 2008), die den Anteil von Engels detailliert dokumentieren. Jannidis 2002 (Anm. 31), S. 29. Jannidis fährt fort, daß dies alles sehr unzuverlässig klinge und vielleicht auch sei, „aber verzichten kann man darauf nicht, denn es gibt nichts Zuverlässigeres“.
Jochen Strobel Von der Zettelwirtschaft zum Archivroman Goethe ediert Briefe
I. Briefkultur und Briefedition Im Diskurs der Empfindsamkeit in der Mitte des 18. Jahrhunderts wird der Privatbrief neu erfunden, als adäquate Ausdrucksmöglichkeit des empfindsamen Subjekts, als Medium von Freundschaft und Liebe, auch als Textsorte am Rande der Literatur.1 Zu Gleims und Gellerts Zeiten ist der Brief beinahe Avantgarde und verhandelt u. a. zwei typische Probleme der heraufziehenden Moderne, das der Verzeitlichung und das der Autorschaft.2 Zwar hatten Datum und Unterschrift des Schreibers stets die ,Signatur‘ des Briefs ausgemacht. Doch die nun wachsenden narrativen Anteile von Briefen,3 das Spiel mit erzählten Zeiten und Erzählzeiten, Regularitäten des Brieftauschs und postalisch erzeugten Zeitverzügen, das stets Vorläufige, der Aufschubcharakter jeder einzelnen brieflichen Äußerungen – dies alles sind Gelegenheiten zur Einübung in die Wahrnehmung und Erprobung von Zeitrelationen für Schreiber und Adressaten in einer durch Verzeitlichung geprägten Epoche.4 Die etwa durch Gellert vorgeschlagene Nobilitierung des Briefs als Experimentierfeld individuellen künstlerischen Ausdrucks5 rückt ihn in die Nähe des literarischen ,Werks‘, insbesondere natürlich dann, wenn es sich um Briefe von Autoren handelt. Privatbriefe sind also nicht 1
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Vgl. Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 73ff.; Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 192ff.; Robert H. Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien (u.a.) 2000. Vgl. Jochen Strobel: Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. In: Ders. (Hrsg.): Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg 2006, S. 7–32. (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; 229); zur Analogie von Brief und Literatur vgl. Jacques Derrida: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. 2 Lieferungen. Berlin 1987. Dieser Tatbestand läßt sich für das 18. Jahrhundert zumindest vermuten und wäre als Parallelfall zur Fingierung von Briefen und zur Fiktionalisierung vor allem im Briefroman zu bewerten. Vgl. dazu: Annette C. Anton: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1995; sowie: Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991, S. 103ff. (= Sammlung Metzler; 260) Dies hat längst schon Albrecht Schöne an einem frühen Goethe-Brief verdeutlichen können: Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hrsg. von Herbert Singer (u.a.) Köln (u.a.) 1967, S. 193–229. Vgl. Christian Fürchtegott Gellert: Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig 1751.
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nur idealtypische Probebühnen moderner Subjektivität, sondern sie bieten, davon nicht immer zu trennen, dem modernen Autor (und seinem jeweiligen Briefpartner) Raum für den Entwurf von Autorschaft, für Rollenbilder des Autors, die aus dem Dialog hervorgehen, und auch für die Reflexion über das ,Werk‘. Briefe lassen sich also auf das Œuvre in mindestens zweifacher Hinsicht beziehen: als dessen ästhetische Variante und als Kommentar. Beide Funktionen sind aber von den brieftypischen Spezifika der Kommunikation nicht zu trennen; es handelt sich nicht um bloß fiktive Rollenentwürfe, um Reflexionen im luftleeren Raum. Bestimmt sind sie erstens durch den Dialog mit dem Briefpartner, zweitens durch die Wandlungsfähigkeit und die vielfältige Verwendbarkeit der Textsorte Brief, drittens und vor allem durch die Erwartung künftiger Lektüre. Dies bedeutet, daß Briefe in mehrerlei Hinsicht auf die Zukunft gerichtet sind:6 auf die des Empfängers, auf eine weiter entfernt liegende der Fortsetzung der Korrespondenz, sodann aber auf die Zukunft weiterer Lektüren durch Dritte, deren Voraussetzung die Bewahrung jedes einzelnen Blattes vor der Vernichtung ist; künftige, ,sekundäre‘ Lektüren schließen die Publikation ein, die Verwertung des Briefs durch Nachlaßverwalter und Biographen. Zum Diskurs der Briefkultur gehört stets das implizite Gerichtetsein des Schreibens auf eine noch unbestimmte Zukunft, die jenseits des Adressaten und seiner in wenigen Tagen oder Wochen erfolgenden Lektüre liegt. Spätestens seit der ersten postumen LessingAusgabe findet man Briefwechsel in Werkeditionen.7 Zur Selbstrepräsentation eines Autors gehört jedenfalls längst auch eine Verpflichtung zum sprachlich gelungenen, möglichst sorgfältig ausgearbeiteten Privatbrief. Briefedition ist ein Sonderfall, zumindest im Vergleich zur Edition autorisierter Texte. Der Briefeditor kann nicht einfach „einem Leser einen authentischen Text in seiner originalen historischen Gestalt [...] präsentieren“.8 In der Regel werden Briefe zunächst nur für den Adressaten geschrieben und dann aus dem Nachlaß publiziert, Briefeditionen sind also von vorgängigen Sammlungs- und Archivierungsstrategien abhängig, sodann aber von Auswahl-, Ordnungs- und Kürzungspraktiken des Herausgebers, von seinen Datierungen und seiner Kommentierung, etwa insofern Briefe möglicherweise von vornherein nur für den ursprünglichen Adressaten verständlich waren. Natürlich sind auch Briefeditionen immer diskursiven Zwängen ihrer Entstehungszeit unterworfen,9 daneben 6
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Vgl. dazu schon: Wilhelm Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: DVjs 45 (1971), S. 80–116. Gotthold Ephraim Lessing: Sämmtliche Schriften. 31 Theile. Berlin 1794ff. Die Teile 27–30, erschienen 1794, enthalten die Korrespondenzen mit Ramler, Eschenburg, Nicolai, Karl Lessing, Gleim u.a. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997, S. 8. Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta (Hrsg.): Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Tübingen 2005 (= Bausteine zur Geschichte der Edition; 2); sowie, u.a. zu möglichen Perspektiven einer Historiographie der Edition, meine Rezension in der Online-Zeitschrift „literaturkritik.de“: Kinder ihrer Zeit. Ein Sammelband zur Editionsgeschichte
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aber auch den oft rekonstruierbaren Strategien ihrer Editoren. Wiederum sind Relationen der Zeitlichkeit und Fragen der Autorschaft brisant, indem beispielsweise Entscheidungen zu treffen sind über die Wertigkeit einer Briefedition im Vergleich zu einer Werkausgabe oder über eine Anordnung der einzelnen Briefe gemäß einer einzigen Chronologie oder etwa alphabetisch gemäß der in Frage stehenden Briefpartner. Die Briefedition, sofern sie über den Einzelbrief hinausgeht, kann sich ihrer Grenzen oder gar ihrer Vollständigkeit nie ganz sicher sein; sie konstruiert mehr als daß sie rekonstruiert, sie begründet kein Ganzes, sondern ein Ensemble. Ob ein Briefcorpus als ,Werk‘ eines Autors gilt, entscheidet sich in der Regel nicht zum Zeitpunkt des Briefeschreibens, sondern innerhalb einer oft wechselhaften Sammlungs- und Editionsgeschichte. Weniger in puncto Textkritik als in der Problematik der Konstitution, der Auswahl und der Anordnung bleiben dem Briefeditor mehr Freiheiten oder auch mehr Entscheidungszwänge als bei autorisierten Texten der Moderne üblich. Der Briefeditor Goethe nutzt seine Freiheiten anders als die Herausgeber der Briefe Gleims, Gellerts oder Klopstocks. Nicht mehr das Vorbildhafte und zugleich ästhetisch Wertvolle empfindsamer Briefkunst rechtfertigt die Publikation von autographen Originalen, sondern die Einbindung von Briefen als Quellen in einen historiographischen Zusammenhang, handle es sich um die Historiographie der Kunstgeschichtsschreibung wie in dem von Goethe herausgegebenen Sammelband Winckelmann und sein Jahrhundert oder um die eigener Lebensabschnitte und der eigenen Wechselwirkungen mit den durchlebten Epochen wie im Briefwechsel mit Schiller, der die Vorkriegsepoche vor 1806, die der Weimarer Klassik, dokumentiert, oder wie im Briefwechsel mit Karl Friedrich Zelter, der das als Beunruhigung empfundene moderne Zeitalter seit 1806 repräsentiert. Keine Frage aber, daß es sich je auch um spezifisch ästhetische Projekte handelt. Aus je kontingenten Archivalien werden ,Archivromane‘: Volker Neuhaus hatte vor fast vier Jahrzehnten auf die Archivfiktion in Goethes Spätwerk Wilhelm Meisters Wanderjahre hingewiesen und die Modernität dieses Romans mit dem Verzicht auf formale Geschlossenheit, mit der Stärkung einer Herausgeberinstanz zuungunsten eines allwissenden Erzählers begründet: Der Roman zeigt, wie kontingentes Material bedeutend gemacht und fiktionalisiert wird.10 Nicht im Wortsinn spreche ich also von Briefeditionen als Archivromanen, denn das Material, das Goethe vorfand, ist natürlich ,authentisch‘. Doch ist es sinnvoll, die genannten Editionsprojekte gerade mit den Wanderjahren kurzzuschließen, verbinden sich doch all diese Arbeiten in der Bereitschaft des späten Goethe, „Formen aufzulösen, Diskurse und Gattungen zu vermischen, [...] die Schließung offener Form den Lesern zu überlassen“.11 Es bleiben Serialität und Frag-
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deutschsprachiger Autoren. In: www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez id=9214&ausgabe=200603. Vgl. Volker Neuhaus: Die Archivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren. In: Euphorion 62 (1968), S. 13–27.
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mentarizität als Merkmale, und es könnte vielleicht aus diesem Diskussionszusammenhang heraus einleuchten, warum sich der späte Goethe immer wieder der Edition auch eigener Briefe gewidmet hat, zu einem Zeitpunkt, da die empfindsame Briefkultur und mit ihr der Briefroman längst verschollen war, da, am Ende der ,Kunstperiode‘, Universalisierungskonzepte aus der Mode zu kommen begannen.12 Der Archivbegriff gewinnt hier aber eine Konnotation des Dynamischen; er ist an die redaktionelle oder editorische Tätigkeit eines Herausgebers, an einen Arbeitsprozeß gekoppelt, der sich anscheinend nicht löschen läßt, denn er ist den kritischen Lesern etwa des Schiller-Briefwechsels, wie ich zeigen werde, noch präsent. Diese Dynamik aber und damit die Prozeßhaftigkeit von Autorschaft im sich entfaltenden Briefdialog kehrt im Gestus des Briefeditors Goethe wieder, dem es weder um bloßes Sammeln noch ausschließlich um eine Monumentalisierung geht,13 dessen Tätigkeit sich also nicht erschöpft im Bewahren der um 1805/06 oder um 1830 zu Ende gehenden Epochen – obgleich dies ja durchaus biographische und historische Zäsuren sind.14 Ich beschränke mich im folgenden auf das Winckelmann-Projekt und den Schiller-Briefwechsel, mit einem Seitenblick auf Zelter, lasse aber Texte wie die Briefe aus der Schweiz und mehr noch die Italienische Reise außen vor, obgleich Privatbriefe auch hier als Materialbasis einer allerdings komplexeren poetischen Komposition dienen.
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Bettina Hey’l: Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. Lebenskunst und literarisches Projekt. Tübingen 1996, S. 118. Zur Krise des Idealismus um 1830 vgl. Gustav Frank: Romane als Journal: System- und Umweltreferenzen als Voraussetzung der Entdifferenzierung und Ausdifferenzierung von „Literatur“ im Vormärz. In: Journalliteratur im Vormärz = Jahrbuch Forum Vormärz Forschung 1 (1995), S. 15–47; vgl. aber zur Relativierung dieser Zäsur den Band: Wolfgang Bunzel u.a. (Hrsg.): Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 2003 (= Vormärz-Studien; X), und darin: Jochen Strobel: Nach der Autonomieästhetik. Zur Reaktion romantischer Autoren auf Veränderungen des Literatursystems in der Zeit des Vormärz, S. 433–459. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Norbert Oellers: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. In: Goethe-Handbuch. Hrsg. von Bernd Witte (u.a.) Bd. 3: Prosaschriften. Stuttgart (u.a.) 1997, S. 474–484. Am 24. Dezember 1824 schrieb Goethe hierzu an Knebel: „Meine Korrespondenz mit Schiller, die nun fast beisammen ist, hat mir Unterhaltung und Belehrung gegeben; sie endigt 1805, und wenn man denkt, daß 1806 die Invasion der Franzosen eintrat, so sieht man beim ersten Anblick, daß sie eine Epoche abschließt, von der uns kaum eine Erinnerung übrig bleibt. [...] Desto reiner steht jenes Zeugnis einer Epoche da, die vorüber ist, nicht wieder kommt und dennoch bis auf den heutigen Tag fortwirkt und nicht über Deutschland allein mächtig lebendigen Einfluß offenbart.“ (Zitiert nach: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Hrsg. von Manfred Beetz, 2 Bde. = Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen. Münchner Ausgabe. Bde. 8.1 und 8.2. München (u.a.) 1990, S. 52. [Künftig zitiert als: MA 8.1 bzw. 8.2.])
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II. Goethe ediert Winckelmanns Briefe Kurz nach Schillers Tod gibt Goethe 1805 den Sammelband Winckelmann und sein Jahrhundert heraus,15 der, bei Cotta erschienen, ein vielleicht einzigartiges Ensemble unterschiedlicher Texte und Paratexte enthält; ich beschränke mich auf die drei wichtigsten Bestandteile. Da sind zunächst 27 Briefe Winckelmanns an den Jugendfreund Berendis; die Originale hatte Goethe von der Herzoginmutter Anna Amalia erhalten. Da ist zweitens, gleichsam eine nachgetragene Einführung zu diesem Quellenkonvolut, Johann Heinrich Meyers Entwurf einer Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, dann folgt drittens, ein impliziter Kommentar zu den zuerst präsentierten Briefen, ein wiederum dreifach untergliederter Abschnitt Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns, darin zunächst die bekannte, sich aber wiederum in 26 Abschnitte teilende biographische Studie Goethes, sodann ein Aufsatz Meyers über Winckelmann als Kunsthistoriker, schließlich und last but not least ein ursprünglich brieflich an Goethe eingereichter Text des Hallenser Philologen Friedrich August Wolf Winckelmann als Philologe. Diese zerklüftet wirkende, vielfach in sich gegliederte und doch an Bezügen der Einzelteile untereinander reiche Kompilation, die sich dergestalt auch als Ensemble legitimiert, wurde nach der mäßig erfolgreichen Erstausgabe nur einmal zu Goethes Lebzeiten wiederaufgelegt, nämlich in der sogenannten Wiener Ausgabe von 1811, dort allerdings in abweichender Reihenfolge, beginnend mit Meyers Kunstgeschichte.16 Von Goethes Ausgabe letzter Hand an fehlen zumindest die WinckelmannBriefe in fast sämtlichen Editionen. Adolf Michaelis stellt im Anhang der Weimarer Ausgabe die Paratexte von Goethes Winckelmann-Skizze vor, braucht aber die Weglassung der Briefe nicht zu begründen.17 Wenige Jahre später weist B. A. Müller nach, daß es sich bei dem abschließenden Verzeichnis sämtlicher Winkelmannischen Briefe in chronologischer Ordnung um einen von Goethe verantworteten Text handelt; doch druckt Müller nur die noch für gültig erachtete kurze Einführung Goethes ab, nicht jedoch sein faktisch überholtes und nur noch historisch bedeutsames Briefverzeichnis, das ja auch als „Goethetext“ zu bezeichnen wäre.18 Doch ist das entscheidende Kriterium nicht das der Urheberschaft, sondern das einer Lesbarkeit oder einer Lektüreempfehlung; die „Re15 16
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Winkelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen hrsg. von Goethe. Tübingen 1805. Goethe’s Werke. 26 Bände. Original-Ausgabe, Wien 1816–1822. [= Ausgabe Ba]. Der 1821 erschienene Bd. 22 enthält Winkelmann und sein Jahrhundert. Zur Druckgeschichte des Wiener Nachdrucks der bei Cotta 1815 bis 1819 erschienenen sogenannten Ausgabe B von Goethes Werken vgl. Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. 1. Gesamtausgaben bis 1822. Bearbeitet von Waltraud Hagen. Berlin 1960, S. 593–616. Der Winkelmann kam in der Wiener Ausgabe im Vergleich zu B neu hinzu. Goethe’s Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. I. Abtheilung. 46. Bd. Weimar 1891, S. 391–399. B. A. Müller: Ein übersehenes Stück Goethetext. In: Euphorion 21 (1914), S. 288f.
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produktion“ der Tabelle „in den Goetheausgaben ist daher völlig zwecklos“.19 Die einzige seit Goethes Tod erschienene, philologisch nicht unbedenkliche,20 aber in den Buchkomponenten vollständige und die Abfolge des Erstdrucks übernehmende Ausgabe wurde von Helmut Holtzhauer 1969 besorgt und rahmt den Text mit einer Vielzahl an Bildtafeln, stellt also Meyers Kunstgeschichte, als deren Illustration die Bildtafeln fungieren, in den Mittelpunkt.21 Als Holtzhauers Intention gibt sich die Verpflichtung Goethes auf das optimistische, ,fortschrittliche‘ und diesseitige Menschenbild der Aufklärung zu erkennen.22 Auch andere Ausgaben sehen Meyers Text als Schwerpunkt des Sammelbandes, er findet daher bis hin zur Münchner Goethe-Ausgabe vielfach Eingang in die Editionen, die Briefedition, wie gesagt, nie.23 Goethe als Briefeditor wird von Goethes Editoren also weniger ernst genommen als der Kunsthistoriker Meyer; der Ensemble-Charakter des Sammelbandes wird jedoch in allen Editionen aufgebrochen oder marginalisiert. Nach Schillers Tod hatten die „Weimarischen Kunstfreunde“ unter Leitung Goethes die im wesentlichen erfolglosen Bemühungen um eine Propagierung ihres Klassizismus unter den Malern der Gegenwart aufgegeben.24 Ehe Goethe in den folgenden zweieinhalb Jahrzehnten in seinen Schriften zur Kunst zunehmend Kunstgeschichtsschreibung betreibt, leitet er dieses Programm mit der Winckelmann-Schrift ein und also mit den Anfängen einer Historiographie der Kunstgeschichte selbst und damit einer skizzenhaften Biographie wie auch einer Briefedition des Kunsthistorikers Winckelmann. Goethes Winckelmann-Porträt (Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns) legt eindeutig Zeugnis ab von der Bedeutsamkeit von Briefen, die, ebenso wie 19 20
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Ebenda, S. 288. Der Band enthält keinerlei textkritische Hinweise, auch nicht auf die Textgrundlage; Orthographie und Interpunktion von Winckelmanns Briefen sind offenbar modernisiert, briefliche Paratexte sind normiert. Johann Wolfgang Goethe: Winckelmann und sein Jahrhundert in Briefen und Aufsätzen. Mit einer Einleitung und einem erläuternden Register von Helmut Holtzhauer. Leipzig 1969. Vgl. Helmut Holtzhauer: Einleitung. In: ebenda, S. 9–40. Die Münchner Goethe-Ausgabe druckt neben Goethes Widmung und seiner Vorrede Meyers Kunstgeschichte sowie die von Goethe, Meyer und Wolf gemeinsam bestrittenen Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns ab (Winkelmann und sein Jahrhundert. In: Johann Wolfgang Goethe: Weimarer Klassik 1798–1806 2, hrsg. von Victor Lange (u.a.) = Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 6.2. München (u.a.) 1989, S. 195–401. [Künftig zitiert als: MA 6.2.]), ebenso die Frankfurter Ausgabe (Johann Wolfgang Goethe: Ästhetische Schriften 1806–1815. Hrsg. von Friedmar Apel, Frankfurt/Main 1998, S. 10–233 [= Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung; Bd. 19.]), die Berliner Ausgabe behält den Titel Winckelmann und sein Jahrhundert bei, verzichtet aber auf die Briefe und auf Meyers Kunstgeschichte. (Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Schriften zur bildenden Kunst 1. Berlin [u.a.] 1973, S. 469–517. [= Goethe. Berliner Ausgabe. Bd. 19]). Vgl. Ernst Osterkamp: „Aus dem Gesichtspunkt reiner Menschlichkeit“. Goethes Preisaufgaben für bildende Künstler 1799–1805. In: Goethe und die Kunst. Hrsg. von Sabine Schulze. Ostfildern 1994, S. 310–322. MA 6.2, S. 370.
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Winckelmanns Werke, dem Augenblick abgerungen, ein ,work in progress‘ sind: „Und so ist alles, was er uns hinterlassen, als ein Lebendiges für die Lebendigen, nicht für die im Buchstaben Toten geschrieben. Seine Werke, verbunden mit seinen Briefen, sind eine Lebensdarstellung, sind ein Leben selbst.“25 Unter anderem aber zeichnet Goethe Winckelmanns Werkbiographie als fortgesetzten Schreibprozeß, als Prozeß der Umschriften: „Hatte er das Mskpt noch in der Hand, so ward es umgeschrieben; war es zum Druck abgesendet, so wurden Verbesserungen und Nachträge hinterdrein geschickt [...].“26 Daraus ist aber zu schließen, daß die Briefedition als der Goethes Buch einleitende Abschnitt die Prozessualität von Winckelmanns Arbeitsweise bezeugt, zudem seine Bereitschaft zum Wandel und zum Risiko, wie sie sich in dem Entschluß zur Übersiedlung nach Rom in bereits fortgerücktem Alter offenbart. Ein an Rückschlägen und Enttäuschungen reiches, keineswegs poetisches Dasein wird zur Bedingung kunstgeschichtlichen Wirkens. Dabei handelt es sich bei Winckelmanns Freundschaftsbriefen nicht um Schreiben des empfindsamen Typus; die Emanzipation des Brief-Subjekts entfaltet sich u. a. im Selbstverständnis des Gelehrten, folgt also einem viel älteren, traditionell zu nennenden Muster des Briefeschreibens.27 Derartige Briefe können nach 1800 wiederum zur Diskussion gestellt werden, wenngleich etwa parallel noch Wilhelm Körte empfindsame Briefe aus dem Nachlaß des 1803 gestorbenen Johann Wilhelm Ludwig Gleim herausgibt.28 Goethe verfährt aber ähnlich wie Winckelmann selbst: dessen geschichtliche Untersuchungen hatten auf einer philologischen Basis, also auf Quellenkritik, aufgeruht, ebenso wie ja zumindest der editorische Teil von Goethes Buch. Der offenbar sorgfältig agierende Editor Goethe29 hatte bei der Redaktion der Briefe nicht nur neue Datierungen vorzunehmen, sondern er schloß seinem Unternehmen auch ein chronologisches Repertorium sämtlicher gedruckter Briefe Winckelmanns an, die ein gleichsam philologisches Lesen in der ursprünglichen Abfolge ermöglichte. Die Briefe und die Skizze, zu der neben Goethe Meyer und Wolf beitragen, bestehen aus Tableaus,30 aus Momentaufnahmen; sie bilden kein Ganzes. Goethe formuliert im Hinblick auf Winckelmann: 25 26 27
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MA 6.2, S. 370. Ebenda, S. 373. Vgl. Martin Disselkamp: Die Stadt der Gelehrten. Studien zu Johann Joachim Winckelmanns Briefen aus Rom. Tübingen 1993. (= Studien zur deutschen Literatur; 124) Vgl. Heinrich Mohr: „Freundschaftliche Briefe“ – Literatur oder Privatsache? Der Streit um Wilhelm Gleims Nachlaß. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1973, S. 14–75. Vgl. den Kommentar der kritischen Ausgabe: Johann Joachim Winckelmann: Briefe. In Verbindung mit Hans Diepolder hrsg. von Walther Rehm. Erster Bd.: 1742–1759. Berlin 1952. Von 29 in Anna Amalias Besitz befindlichen Briefen hat Goethe allerdings zwei „aus nicht recht verständlichen Gründen“ (ebenda, S. 472) unterdrückt; sie wurden erst 1845 im Weimarischen Herder-Album abgedruckt (Jena 1845, S. 455–461). Zum Tableaubegriff vgl. auch: Klaus Manger: Fernows literarische Formen. In: Reinhard Wegner (Hrsg.): Kunst als Wissenschaft. Carl Ludwig Fernow – ein Begründer der Kunstgeschichte (= Ästhetik um 1800; 2). Göttingen 2005, S. 166–185, hier S. 179.
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„Denn genau genommen kann man sagen, es sei nur ein Augenblick, in welchem der schöne Mensch schön sei.“31 So ist auch Meyers bereits recht großangelegte Kunstgeschichte vorläufig nur „Entwurf“, wie auch Winckelmanns Bahn ihn „durch alle seine gelungenen und unvollendeten Entwürfe“ führte, wie Wolf feststellt.32 Die edierten Briefe und die Skizzen spiegeln einander; Winckelmann als Kunsthistoriker wird durch Meyer in Beziehung gesetzt zu seinen Vorgängern und natürlich implizit auch zu seinen Nachfolgern – zu Goethe und zu Meyer selbst; Winckelmann als Philologe wird durch Wolf, den Philologen der Epoche, historisch eingeordnet; er tritt in den Briefen als Philologe auf und ihm folgt wiederum der Editor Goethe nach. Allen Beteiligten aber – und dazu gehören auch Wilhelm von Humboldt und Fernow – und ihrem kollektiven Projekt ist eins gemeinsam, was Meyer auch Winckelmann bescheinigt, das „Zusammenwirken gelehrter Kenntnisse mit lauterm Kunstsinn“.33 Die Quellen sprechen inmitten einer Vielzahl von Einzeltexten in diesem Ensemble unverstellt, auch ungekürzt, zum Leser. Briefe rahmen den Band und unterstreichen ihren quellendokumentarischen Wert: Wie er mit Goethes Edition beginnt, so endet er mit einem Repertorium sämtlicher nun im Druck verfügbarer Briefe Winckelmanns. Die chronologische Übersicht ersetzt das Tableau durch das Diagramm; liest man dieses Repertorium nicht als Inhaltsweiser durch die vorhandenen Ausgaben, sondern als Versprechen einer (Brief-) Gesamtausgabe, dann zeigt sich allerdings, worauf Goethes Sammelband als Projektentwurf gerichtet ist: Fernows Winckelmann-Ausgabe, von Goethe dezidiert unterstützt, bedeutet ein Stück Realisation und Vollendung.34 Goethes editorisches wie kompilatorisches Konzept weicht damit grundlegend vom Kompositionsprinzip eines Wackenroder in den wenige Jahre zuvor erschienenen Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders ab, zweifellos ein Text, auf den Goethe sich kontrastiv bezieht. Die auf Vasari zurückgehende Künstlerbiographie war der durch Wackenroder und Tieck in die Literatur neu eingeführte kunstgeschichtliche Quellentypus gewesen;35 sie diente aber im Sinne der frühromantischen Mythisierung der Kunst als Ausgangspunkt einer Inspirationsästhetik, die vom Quellencharakter wenig übrigließ. Jene „Anekdoten“ aus den Leben der Künstler sind im romantischen Verständnis von der Chiffrensprache der Kunst nur „sprechende Zeichen“, die auf „das Allerheiligste 31 32 33 34
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MA 6.2, S. 355. Ebenda, S. 389. Ebenda, S. 388. Winckelmann’s Werke. Hrsg. von Carl Ludwig Fernow (sowie, ab Bd. 3, von Heinrich Meyer, Johann Schulze und, ab Bd. 9, Friedrich Förster). 11 Bde., Dresden (ab Bd. 9: Berlin) 1808–1825. – Vgl. dazu: Franz-Joachim Verspohl: Carl Ludwig Fernows Winckelmann. Seine Edition der Werke (= Schriften der Winckelmann-Gesellschaft; XXIII). Stendal 2004. Vgl. Wilhelm Heinrich Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I: Werke. Hrsg. von Silvio Vietta. Heidelberg 1991, S. 320f.
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der Kunst“ hindeuten und zugleich der Natur angehören, so daß hier „wie in der übrigen Natur, die Spur von dem Finger Gottes anzuerkennen“ sei.36 Doch kann es nicht verwundern, daß ein Briefwechsel zwischen Raffael und einem seiner Bewunderer, „den wir Antonio nennen wollen“,37 frei erfunden ist. Das frühromantische Universalisierungskonzept, das vor aller Theorie bereits in den Herzensergießungen praktiziert wird, schätzt die poetisierende Einschmelzung kunsthistorischer Quellen höher als deren nüchterne Darbietung. In Goethes Text kann denn auch an die Stelle einer Kunstreligion die Betonung von Winckelmanns Heidentum, seiner Weltlichkeit treten, als deren Beleg die edierten Briefe einstehen müssen: „Dieser heidnische Sinn leuchtet aus Ws Handlungen und Schriften hervor, und spricht sich besonders in seinen frühern Briefen aus, wo er sich noch im Konflikt mit neuern Religionsgesinnungen abarbeitet.“38 Goethes Sammelband mag formal unkonventionell sein, seiner mutmaßlichen Wirkungsabsicht nach steht er auf bereits verlorenem Posten, will er doch die schon u. a. bei Heinse, Mengs und dann bei Wackenroders und Tiecks Lehrer Fiorillo vollzogene Abkehr vom antiken Kunstideal Winckelmanns zugunsten der Renaissance nicht wahrhaben, denn um einen gänzlich interesselosen Rückblick auf ein durch Winckelmann wesentlich mitgeprägtes achtzehntes Jahrhundert allein kann es sich denn doch nicht handeln, da Goethe ja etwa in seiner Vorrede den Band in eine Reihe von Schriften gestellt sehen will, in der sich die Bemühungen der „Weimarischen Kunstfreunde“ von den Propyläen bis zu Goethes Cellini-Übersetzung verdichteten: „Sie haben auf das Ganze gewirkt, wie uns zwar langsam, aber doch erfreulich genug, nach und nach bekannt geworden, so daß wir eines mannichfaltig erfahrnen Undanks, eines lauten und schweigenden Gegenwirkens wohl kaum gedenken sollten. Unmittelbar schließt sich vorliegender Band an die übrigen Arbeiten an [...].“39 Es mag sich zwar um einen „Epochenschluß [...] gegen Goethes Absicht“ handeln. Doch widerspricht die Wahl der Briefsammlung als einer von mehreren Komponenten gegen ein als statisch oder museal zu verstehendes Archivierungskonzept, und es verrät ein ,Edition‘ mit ,Erstarrung‘ konnotierendes Verständnis, wenn eine These der jüngeren Goethe-Forschung lautet: „Das klassizistische Projekt einer lebendigen Kunsterneuerung aus griechischem Geiste mündete in Kunstgeschichte und Philologie.“40
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Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. In: Wackenroder 1991 (Anm. 35), S. 51–145, hier S. 56. Ebenda, S. 66. MA 6.2, S. 353 Ebenda, S. 197 [Goethes Vorrede]. Osterkamp 1994 (Anm. 24), S. 322.
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III. ,Glückliche Ereignisse‘: Goethe ediert seinen Briefwechsel mit Schiller Goethes Entscheidung für einen gleichgewichtigen Briefwechsel zweier Korrespondenten, der einer Chronologie folgt und idealiter also Brief und Gegenbrief alternieren läßt, fördert ein Buch zu Tage, das die Präsentation von stets bruchstückhaften und prozeßhaft inszenierten Archivalien mit der Kollektivität von Autorschaft verbindet. Im Briefwechsel mit Schiller ediert Goethe also sowohl fremde als auch eigene Werke – vorausgesetzt, Briefe sind ,Werke‘ – oder besser: er stellt editorisch einen Text her, dem er, wie Manfred Beetz schreibt, „Werkcharakter zuerkannt“ hat.41 Briefwechsel gleichwertiger Korrespondenten sind bis hin zum Goethe-Schiller-Briefwechsel sehr selten; so war in den Jahren zuvor die Korrespondenz zwischen Mendelssohn und Lavater erschienen.42 Nur wenige Fälle sind mir indessen bekannt, bei denen der Editor eigene Briefe herausgibt; dies tat Gleim in seiner – nur bedingt authentisch anmutenden – Korrespondenz mit Johann Georg Jacobi;43 dies tat Nicolai, der 1789 innerhalb der ersten postumen Ausgabe von Lessings Sämmtlichen Schriften u.a. seinen eigenen Briefwechsel mit Lessing, mit Anmerkungen versehen und bevorwortet, zum Druck gab.44 So konnte ein anonymer Rezensent 1830 ausrufen: „Goethe und Schiller! Selten sind in dem Gebiete der Literatur zwei gleichzeitige Namen solcher Art, noch seltener in solcher Beziehung aufeinander genannt worden.“45 Goethe verzichtet auf Beigaben, publiziert aber einen Briefwechsel von bis dato beispiellosem Umfang, von 1000 Briefen nämlich, die in sechs Bänden 1828 und 1829 erscheinen. Im Umfang und dem hohen Grad an Vollständigkeit dürfte das Originelle der Edition liegen: Sie dokumentiert einen innerhalb von elf Jahren kaum abgerissenen Dialog, kommt doch durchschnittlich auf je vier Tage ein Brief; die übliche Distanz von 21 Kilometern – nicht weiter ist Jena von Weimar entfernt – bedingt kurze Beförderungszeiten und damit eine unerhört hohe Brieffrequenz, ohne daß es zu nennenswerten Überschneidungen, d. h. ,Begegnungen‘ der Briefe unterwegs, kommen muß. Der Leser weiß sich mit einem in kürzestmöglichem Abstand geführten, stets vorangetriebenen schriftlichen Gespräch konfrontiert, das, unterstützt durch die jahrweise Einteilung des Materials, fast diaristischen Charakter annimmt. Zweimal pro Woche – das ist in dieser Zeit häufig die Erscheinungsweise von Zeitungen, das ist die Zahl der Posttage; der zeitgenössische Leser muß diesen Briefwechsel fast als Dialog in ,Echtzeit‘ empfunden haben, auch in den späteren Jahren, als die Briefumfänge 41 42
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So Manfred Beetz in seiner Einführung (MA 8.2, S. 7–34, hier S. 32). Moses Mendelssohns sämmtliche Werke. Theil 1: Briefwechsel mit Johann Caspar Lavater. Rödelheim 1828. Briefe von den Herren Gleim und Jacobi. Berlin 1768. Gotthold Ephraim Lessings Briefwechsel mit Karl Wilhelm Ramler, Johann Joachim Eschenburg und Friedrich Nicolai. Nebst einigen Anmerkungen über Lessings Briefwechsel mit Moses Mendelssohn. Berlin 1794. (= Gotthold Ephraim Lessing: Sämmtliche Schriften. Theil 27.) Zitiert nach: MA 8.2, S. 86.
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zwar abnehmen, die Frequenz aber bleibt. Originalität ist weniger ein Publikationskriterium als das Bekenntnis des Editors zu textueller Serialität; es zeugt demnach von einer anachronistischen, sprich: zu modernen, Lektürehaltung, wenn sich August Wilhelm Schlegel über die insgesamt 360 Grüße an Schillers Frau lustig macht.46 Schon 1823, gleichzeitig mit dem zu postumer Edition bestimmten, ebenfalls sehr umfangreichen Briefwechsel mit Zelter, beginnt Goethe mit der Redaktion der Briefe,47 die zunächst aus der in Quartalsheften organisierten aktenmäßigen Briefsammlung entnommen und geordnet werden müssen. Es gilt infolge dieser punktuellen Entnahme, die die sammlungsinterne Chronologie der Akten auflöst,48 Undatiertes zu datieren,49 es gilt zu kürzen und Namen zu chiffrieren vor allem dort, wo Lebende geschont werden sollen – die Brüder Schlegel sollen nicht geschont werden, womit eine publizistische Stoßrichtung der Edition bereits genannt ist.50 Die editorische Tätigkeit schließt aber auch eine Sekretierung der Originale ein; Goethe verfügt testamentarisch die bis 1850 zu erfolgende Wegschließung, dann aber den Verkauf zugunsten der Erben.51 Wir befinden uns bereits im Zeitalter des Autographensammelns, und Briefe von Zelebritäten sind längst Wertobjekte. Bis 1850 aber darf es nur Goethes eigene Ausgabe geben. Im Gegensatz zu der Winckelmann-Edition hat der Briefwechsel mit Schiller innerhalb der Geschichte der Edition beider Klassiker wie auch in der Rezeption der Autoren einiges Renommee erlangt. Er wurde geradezu zum Ausgangspunkt einer Monumentalisierung der beiden Dioskuren, ausgehend von Varnhagen und Wilhelm von Humboldt,52 dann gestützt durch Heinrich Düntzers Kommentar.53 46
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„Gar schön grüßt Goethe Schillers liebe Frau;/ Die Gute grüßt; sie grüßt, und hört nicht auf zu grüßen,/ Dreihundertsechzigmal! Ich zählt’ es ganz genau:/ Vier Bogen füllt es an, der Käufer muß es büßen.“ (August Wilhelm Schlegel: Auf Veranlassung des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe. Zitiert nach: MA 8.2, S. 79). Vgl. die Dokumentation zu beiden Briefwechseln in: Momme Mommsen: Die Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten. Bd. I, Berlin 1958, S. 444–529; vgl. den Tagebucheintrag vom 28. Mai 1823: „Beschäftigung mit älteren Briefen; von 1801 an die Zelterischen ausgezogen, die Schillerischen gezeichnet.“ (Zitiert nach: Mommsen, S. 471). Vgl. generell: Sabine Schäfer: Die Briefe von Katharina Elisabeth Goethe an ihre Familie in Weimar. Ein Beitrag zu der noch ausstehenden „Geschichte der Goetheschen Briefregistratur“. In: Jochen Golz (Hrsg.): Das Goethe- und Schiller-Archiv 1896–1996, Köln u.a. 1996, S. 195–214, hier vor allem S. 195. – Frau Sabine Schäfer, Weimar, danke ich an dieser Stelle für freundlich mitgeteilte Informationen. Goethe schreibt am 24. Juli 1824 an Meyer: „Meine Redaction der Schillerschen Briefe geht fleißig fort; die Abschrift ist bald vollendet, doch folgt nun das Schwierigste, die Einschaltung der Briefe und Billette ohne Datum; dieß macht die letzten Jahre, die ohnehin mager sind, etwas confus; indeß ist diese Sammlung, wie Sie schon selbst bemerkt haben, höchst wichtig, wegen der unmittelbaren Äußerungen über die literarischen Angelegenheiten des Augenblicks.“ (Zitiert nach: Mommsen 1958 [Anm. 47], S. 482). Vgl. Schiller an Goethe am 26. Juli 1800. In: MA 8.1, S. 802f. Vgl. Goethes Kodizill zum Testament vom 22. Januar 1831. Zitiert nach: MA 8.2, S. 61f. Vgl. Varnhagens Rezensionen in MA 8.2, S. 70–77, sowie die These von Manfred Beetz: „Dem Hang zur Monumentalisierung leisteten vielleicht Wilhelm von Humboldt und Varnhagen von Ense Vorschub, nicht aber der Herausgeber der Briefe selbst.“ (MA 8.2, S. 7).
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Der tatsächliche Leser der 1000 Briefe dürfte hingegen nicht immer Lust auf Überhöhung dieser Briefschreiber spüren; inhaltliche und stilistische Wiederholungen und erst recht die Leichtgewichtigkeit zahlreicher Billetts fielen schon frühen Kritikern der Edition auf. Und so wird in der Forschung gerne jene Äußerung Goethes zitiert, in der er für das „Lehrreichste“ der Korrespondenz hält, wie „zwei Menschen, die ihre Zwecke gleichsam par force hetzen, [...] ihre Zeit zersplittern, so daß doch im Grunde nichts der Kräfte, der Anlagen, der Absichten völlig Wertes herauskommt.“54 Wiederum evoziert die vorliegende Edition einen „Problemlösungsprozeß“55 ohne harmonischen Schluß und ohne die Dioskuren-Herrlichkeit des Weimarer Goethe-Schiller-Denkmals vorwegzunehmen. Kritik „nach einer genetischen Methode“ zu üben,56 dies nennt Schiller zu Beginn als Programm der Korrespondenz. Damit sind die Briefe eine Art textgenetischer Kommentar zu den in jenen Jahren entstehenden Werken; sie verknüpfen die Debatten um die Werkgenese mit dem Prozeßcharakter des brieflich sich entwickelnden Dialogs Goethes mit dem als gegensätzlich empfundenen Schiller, und das bedeutet immer: die Möglichkeit des Scheiterns dieses Dialoges, aber auch das Momenthafte und Unfertige des Einzelbriefs. Nicht das ästhetische Programm einer deutschen Klassik wird hier dokumentiert, sondern der „Trieb und Drang“, wie Goethe an Schultz 1829 schreibt, „den Augenblick aufs Papier zu bringen“.57 Im vierzehnten der 1015 gewechselten Briefe hatte Goethe noch halb skeptisch, halb optimistisch festgestellt: „Wir wissen nun, mein wertester, aus unsrer vierzehntägigen Konferenz: daß wir in Prinzipien einig sind und daß die Kreise unsers Empfindens, Denkens und Wirkens teils koinzidieren, teils sich berühren, daraus wird sich für beide gar mancherlei Gutes ergeben.“58 Befremdet hat die Zeitgenossen das uns heute selbstverständliche Kriterium der Vollständigkeit; daß zahlreiche Billetts die „Erbärmlichkeiten eures Privatlebens“ enthalten, erscheint kaum verzeihlich; laut Grabbe hätte Goethe Billetts „nur chronologisch anzeigen“ sollen, „einige hundert Seiten hätte er gespart“.59 Doch die zur Quellenwertigkeit erhobenen, nach Entstehungsjahren und also nach dem annalistischen Prinzip der Tag- und Jahreshefte – bei deren Entstehung Goethes Augenmerk auf die Schiller-Korrespondenz allererst gelenkt wurde – gegliederten Texte und die Gleichbehandlung beider Schreiber verbieten solche Eingriffe. Unter anderem in Grabbes Rezension kommt aber auch die zur damaligen Zeit ausgeprägte Erwartungshaltung kürzenden Eingreifens des Edi53
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Heinrich Düntzer: Schiller und Goethe. Übersichten und Erläuterungen zum Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Stuttgart 1859. Goethe an Zelter am 30. Oktober 1824. Zitiert nach: MA 8.2, S. 51. Beetz 1990 (Anm. 41), S. 10. Schiller an Goethe am 16. Oktober 1795. In: MA 8.1, S. 116f., hier S. 117. Goethe an Schultz am 10. Januar 1829. Zitiert nach: MA 8.2, S. 59. Goethe an Schiller am 1. Oktober 1794. In: MA 8.1, S. 26f., hier S. 26. Zitiert nach: MA 8.2, S. 106 und S. 107.
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tors zum Schutz lebender Personen zum Ausdruck; ,edieren‘ hieße dann ,schonen‘, hieße: sittlich angemessen handeln, wo der Briefschreiber einst ungerecht urteilte: „Daß aber Goethe auch die Gebrüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel nicht verschont hat, jetzt noch dazu der Welt zeigt, daß er es nicht getan, ist bemerkenswerter als alles Andere.“60 Ein nicht gerade ästhetisch wertvoller Text gerät aber, indem er Zeugnisse einer kritischen Übung aus einer vergangenen Epoche textkritisch korrekt darstellt, zur Apologie der Autonomieästhetik, für die der Name Schiller allemal noch einstehen kann und die sich in den späten zwanziger Jahren, am Ende der idealistischen Ära, einer allenthalben, vor allem in journalistischen Medien, sich erhebenden Zweckästhetik ausgesetzt sehen muß. Der späte Goethe hat sich bekanntlich gegen die Rekonfessionalisierung ebenso wie gegen eine Politisierung der Literatur etwa von seiten eines Börne zur Wehr zu setzen, von den inzwischen ebenfalls alt gewordenen, teils aber noch sehr wohl aktiven Romantikern einmal abgesehen.61 Briefwechsel werden um 1830 zum literaturpolitischen Instrument, erwägt doch der alte August Wilhelm Schlegel gleichsam als Antwort auf Goethes Briefedition die von Goethe und Schiller an ihn gerichteten Briefe herauszugeben.62 Goethes Widmung des sechsten Bandes der Schiller-Korrespondenz an den bayerischen König Ludwig I., den Programmatiker eines ästhetischen Staates,63 zeugt von der beabsichtigten Rettung der Autonomieästhetik (und vom Zweifel Goethes an ihrer Praktizierbarkeit durch den bayerischen König64), ebenso übrigens das zweite große Briefprojekt des späten Goethe, der Briefwechsel mit Zelter, der bis zu Goethes Tod weiterläuft, aber in den Briefen der letzten Jahre den eigenen Prozeß von der Korrespondenz zur Vorbereitung einer Briefedition mitthematisiert und reflektiert, wenngleich die Edition nicht mehr durch Goethe selbst verantwortet wird.65 Die Briefeditorik des späten Goethe dürfte im Rahmen seiner Kunstanschauung nach 1805 zu verorten sein, wie sie Friedmar Apel charakterisiert; Goethes Kritik der Neuzeit sei „mehr oder minder verdeckt immer radikaler Kritik des Allgemeinen, des falschen Ganzen der Gesellschaft, der Wissenschaft und auch 60 61
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Zitiert nach: MA 8.2, S. 111. Vgl. u.a. Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. I: 1773–1918. München 1980, S. 61–84. Vgl. August Wilhelm Schlegel an Ludwig Tieck am 15. Januar 1830: „Ich habe etwa 20 Briefe von Schiller und 30 von Goethe. Was meinst Du, soll ich diese nun bei dieser Gelegenheit drucken lassen, und eine kurze Erzählung meiner persönlichen Verhältnisse mit beiden beifügen?“ (Zitiert nach: MA 8.2, S. 117). Vgl. Walter Schmitz: Der ,ästhetische Staat‘. Die Kulturpolitik Ludwigs I. von Bayern und ihre literarischen Wirkungen in Deutschland. Habilitationsschrift. München 1987, S. 136. Vgl. Wolfgang Frühwald: Die Praxis ästhetischer Erziehung. Schiller, Goethe und Ludwig I., König von Bayern. In: Ders.: Das Talent, Deutsch zu schreiben. Goethe – Schiller – Thomas Mann. Köln 2005, S. 160–198, hier S. 188f. Vgl. Jochen Strobel: Genealogie eines Archivromans: Die Korrespondenz Goethe/Zelter – oder: Was ist ein Briefautor? In: Strobel 2006 (Anm. 2), S. 99–135, hier S. 107–112.
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der Kunst seiner Zeit [geworden], und diese Kritik verschmolz mit der an der angemaßten Allgemeingültigkeit des Christentums wie am Patriotismus.“66 Da wir über Goethes Privatarchiv, über die Bürokratisierung eines Autorennachlasses zu Lebzeiten, informiert sind, wissen wir, daß von Zettelwirtschaft keineswegs die Rede sein darf, daß Goethe eingehende Briefe wie die Konzepte ausgegangener Schreiben vielmehr ,zu den Akten nahm‘, ähnlich wie er aus naturwissenschaftlichem und aus künstlerischem Interesse zahlreiche Gegenstände sammelte, klassifizierte und archivierte.67 Die Briefedition, die sich aus Sammlungen bedient, die aber kein Ganzes bilden kann, ist nun einer der Schritte von der Foucaultschen klassischen Episteme zum Historismus des 19. Jahrhunderts, denn Sammelobjekte werden in Quellen verwandelt, die Geschichte konstituieren und Geschichten erzählen.
IV. Goethes Briefe werden ediert An Goethe als Briefeditor zu erinnern – dies scheint eine lohnende Aufgabe zu sein, bedenkt man, daß der Winckelmann-Band nur einmal, der Briefwechsel mit Zelter nach der testamentarisch vorbereiteten Erstausgabe lediglich dreimal und erst mit der Münchner Goethe-Ausgabe gültig ediert wurde. Erst ihren Herausgebern war Goethes angebliche editorische Entscheidung, den Korrespondenzen mit Schiller und Zelter wieder ,Werkcharakter‘ zuzuerkennen, Grund genug, sich mit dem Geschäft der Briefwechseledition innerhalb einer Gesamtausgabe abzugeben. Dem Briefwechsel mit Schiller erging es wesentlich besser, nicht zuletzt deswegen, da hier Briefedition und Denkmalpflege oder gar Hagiographie konvergieren dürfen, durchaus auch von Goethe gewollt, wie nach Albrecht Schönes Büchlein Schillers Schädel68 erneut zu vermuten ist. Monumente sind denn auch im Gefolge dieser Edition die Briefbücher der 1830er Jahre, die Bettine von Arnims, die Rahel Varnhagens oder Theodor Mundts Buch für Charlotte Stieglitz.69 Doch fanden, wie gesagt, erst im späten 20. Jahr66
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Friedmar Apel: Die Ästhetik des Selbstseins. Goethes Kunstanschauung 1805–1816. In: Johann Wolfgang Goethe: Ästhetische Schriften 1806–1815, hrsg. von F. A. Frankfurt/Main 1998 (= Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung: Sämtliche Werke, Bd. 19), S. 727–757, hier S. 730. Vgl. Erich Trunz: Goethe als Sammler. In: Ders.: Ein Tag aus Goethes Leben. Acht Studien zu Leben und Werk. München 1999, S. 72–100; Ernst P. Hamm: Goethes Sammlungen auspacken. Das Öffentliche und das Private im naturgeschichtlichen Sammeln. In: Anke te Heesen u.a. (Hrsg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. Göttingen 2001, S. 85–114; Bernhard J. Dotzler: Big Number Avalanche & Weltliteratur. Medienwissenschaftliche Notizen zu Goethes Aktenführung. In: Inge Münz-Koenen u.a. (Hrsg.): Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000. Berlin 2002, S. 3–14. Albrecht Schöne: Schillers Schädel. München 22002. Vgl. Dominica Volkert: „Wenn ich von meiner Freundin schriftliche Ergüsse ihrer Liebe erhalte.“ Konstruktionsmechanismen von Briefen und ihre Funktionalisierung für Brieftexte um 1830. In:
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hundert zwei der Briefeditionen Goethes (ich rechne die Zelter-Korrespondenz hinzu) den Weg in die Werkausgaben. Die einflußreiche Weimarer Ausgabe zersplittert, ihren Grundsätzen gemäß, auch die durch Goethe ausdrücklich kompilierten Briefwechsel und verzichtet zudem auf die Gegenbriefe, entstellt oder reduziert also die Entstehungskontexte. Sie zementiert damit Tendenzen der Edition von Goethes Briefen, die bereits in den 1830er Jahren einsetzten.70 Nicht für die Briefe gilt die anhand der Goethe-Editorik paradigmatisch festgestellte Kausalbeziehung zwischen editorischen Vorentscheidungen des Autors und der weiteren Editionsgeschichte seines Werkes. Hat sich Goethe für seine Ausgabe letzter Hand fehlerfreie, von den Wechselfällen der Entstehungsgeschichte gereinigte Spätfassungen ausbedungen,71 so krankte die Weimarer Ausgabe an der kritiklosen Übernahme dieses Grundsatzes. Die eigenen oder selbst vorbereiteten Briefeditionen hingegen tilgen keineswegs Entstehungsprozesse zugunsten von Resultaten; sie widersprechen allerdings einer autor- und ergebniszentrierten Editionsauffassung, wie sie Goethe zugeschrieben wurde.72 Und so haben nachfolgende Editoren offenbar die Bedeutung, die Goethe diesen Editionen tatsächlich zumaß, unterschätzt und sie aus den großen Ausgaben verbannt. Nun ist allerdings auffällig, daß Goethe selbst die Winckelmann-Briefe wie auch die beiden späten Editionen nicht in die besagte Ausgabe letzter Hand aufnahm, die unterhalb dieser Meßlatte vollzogenen editorischen Entscheidungen aber einer Nachwelt nicht ernst genug erschienen sein dürften, denn damit scheinen weder die durch Goethe besorgten Winckelmann-Briefe noch jene Korrespondenzen, an denen er selbst beteiligt war, den Status des ,Werks‘ im Sinn einer Integration in die Werkausgabe letzter Hand zuerkannt bekommen zu haben, obgleich allein die erhaltenen Dokumente zur Entstehungs- und das heißt Editionsgeschichte des Schiller- und des Zelter-Briefwechsels Goethes außerordentliches Engagement für diese beiden je mehrbändigen Projekte dokumentieren.73 Die Blindheit der Goethe-Editoren des 19. Jahrhunderts für Briefwechsel ist relativ zu nennen, erschienen doch, je isoliert freilich, zahlreiche bedeutende Goethe-Korrespondenzen, darunter die mit Knebel (1851), Sulpiz Boissere´e (1862), Carl August (1863), den Brüdern Humboldt (1876) sowie Marianne von Willemer (1877). Doch ein umfassendes Konzept für die Edition von Briefen als Briefwechsel wurde zu keinem Zeitpunkt erarbeitet. Die recht mechanische Behandlung, die Goethes Briefe in der vierten Abteilung der Weimarer Ausgabe erfuhren, war eine notwendige Konsequenz aus einer Editionspolitik, die dann, wenn es ,gro-
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Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Hrsg. von Michael Titzmann. Tübingen 2002, S. 249–268. Vgl. Strobel 2006 (Anm. 65), hier S. 127–132. Vgl. Bodo Plachta: Goethe über das „lästige“ Geschäft des Edierens. In: Thomas Bein/Rüdiger Nutt-Kofoth/Bodo Plachta (Hrsg.): Autor – Autorisation – Authentizität. Tübingen 2004, S. 229–238, hier S. 233. Vgl. Plachta 2004 (Anm. 71), S. 237. Vgl. erneut Mommsen 1958 (Anm. 47).
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ße‘ Sammlungen galt, immer die biographiebegleitende chronologische Reihe oder die alphabetische Reihe der Goethe-Adressaten verfolgte, nicht die Gegenbriefe. So erfolgte mit der erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Angriff genommenen Regestausgabe der Gegenbriefe eine sehr zögerliche Korrektur dieser Politik zum Briefwechsel hin. Zu verdenken ist das rigide Vorgehen den Herausgebern der Weimarer Ausgabe vor hundert Jahren kaum, war allein die Masse der kleinen und großen Goethe-Briefausgaben und Einzeldrukke längst ins Riesenhafte angewachsen; 1910 macht ihre Bibliographie im „Goedeke“ bereits über 200 Seiten aus.74 Und noch etwas ist über die Goethe-Editoren, die Goethes Briefeditionen vernachlässigten, zu sagen: Sie akzeptierten zwar weithin kollektive Autorschaften – man denke an die Xenien – und gar von Dritten gezeichnete Texte – erneut ist an Heinrich Meyer und etwa an die Neu-deutsche, religios-patriotische Kunst zu erinnern, doch ist ihnen die Instanz des Editors und Redaktors, den Goethe doch in den Wanderjahren hinreichend nobilitiert zu haben scheint, suspekt. Dort wo im Winckelmann-Band der Herausgeber Goethe als Autor auftritt – und wie jeder Herausgeber ist Goethe Autor seines Kommentars, seiner Einleitung und anderer Paratexte des edierten Texts –, wird er als Urheber ernst genommen, als bloßer Herausgeber fremder Texte wird er ignoriert, als bedingten sich in der Edition vom Herausgeber Ediertes und das von ihm selbst auktorial Hinzugefügte nicht gegenseitig.
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Vgl. den Abschnitt „Gespräche, Briefe und persönliche Beziehungen“ in: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Aus den Quellen von Karl Goedeke. Dritte neu bearbeitete Auflage [...] fortgeführt von Edmund Goetze. Vierter Bd., II. Abteilung. Dresden 1910, S. 460–665.
Jörg Schuster Der Autobiograph als Herausgeber Harry Graf Kesslers Gesichter und Zeiten (1935) – Plädoyer für eine Neuedition
Jedes Wesen, mit dem man in Verbindung tritt (z. B. ich mit Becher) verstrickt Einen mit in sein Schicksal. Mit den Jahren gerät man hinein in immer mehr fremde Schicksale, die Einen wie Moos überwuchern. Schliesslich kann die eigene Gestalt wie bei einem Bau unter Epheu ganz verloren gehen.1
Der Autor dieser Zeilen, Harry Graf Kessler (1868–1937), hatte ein Problem. Zeit seines Lebens galt er als virtuose Vermittlerfigur, als Mann mit „zehntausend Bekannten“,2 wie Hugo von Hofmannsthal spöttisch bemerkte; er war Freund und Förderer unzähliger bedeutender Künstler und Schriftsteller der Moderne von Max Klinger über Edvard Munch, Aristide Maillol, Auguste Rodin, Maurice Denis und Henry van de Velde bis hin zu George Grosz, von Richard Dehmel über Rudolf Alexander Schröder, Hofmannsthal, Rilke und Gerhart Hauptmann bis zu Johannes R. Becher. Neben seinen Kontakten zu wichtigen Vertretern der künstlerischen Avantgarde verfügte Kessler über eine universale Bildung, eine sichere ästhetische Urteilskraft sowie über einen enormen finanziellen Reichtum. Die Kombination dieser Eigenschaften prädestinierte ihn, eine bestimmte Rolle im literarischen Geschäft einzunehmen: die Rolle des Herausgebers, die in seinem Falle eng mit derjenigen des Mäzens verbunden war. So prägte er die ambitionierte Kunstzeitschrift PAN von 1896 bis 1900 maßgeblich als Mitglied des Aufsichtsrats und der Redaktionskommission; seit der Jahrhundertwende – seit 1913 in der eigenen Cranach-Presse in Weimar – verfolgte er, dem Leitgedanken des Gesamtkunstwerks folgend, Buchkunstprojekte, für die er selbst Schrifttypen, Buchschmuck, Illustrationen und häufig auch Übersetzungen in Auftrag gab.3 Kesslers Herausgeberexistenz hat jedoch eine Kehrseite: Das eigene große literarische Werk, das er um seiner „geistige[n] Gesundheit“ willen „unter [s]ei1
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Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880–1937. Bd. 6. 1916–1918. Hrsg. von Günter Riederer unter Mitarbeit von Christoph Hilse. Stuttgart 2006, S. 451, Eintrag vom 11. Juli 1918. Brief von Hugo von Hofmannsthal an Ottonie Gräfin Degenfeld vom 14. April 1913. In: Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit Ottonie Gräfin Degenfeld und Julie Freifrau von Wendelstadt. Hrsg. von Marie Therese Miller-Degenfeld. Frankfurt/Main 1986, S. 262. Vgl. Renate Müller-Krumbach: Harry Graf Kessler und die Cranach-Presse in Weimar. Hamburg 1969; John Dieter Brinks (Hrsg.): Das Buch als Kunstwerk. Die Cranach Presse des Grafen Harry Kessler. Laubach, Berlin 2003.
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nen Füßen“4 brauchte, wie er an Hofmannsthal schrieb, hat er nie verfaßt. Sein Œuvre blieb mit den Notizen über Mexico (1898), der Rathenau-Biographie (1928) und seiner Autobiographie Gesichter und Zeiten (1935) bemerkenswert schmal. Sein Tagebuch wiederum, das erst aus dem Nachlaß publizierte5 und dennoch weitaus wichtigste Werk, gewinnt seine Bedeutung gerade dadurch, daß die eigene Person, das eigene Subjekt völlig hinter der Beobachtung der Außenwelt, vor allem hinter den ausführlich protokollierten Begegnungen mit illustren Zeitgenossen, zurücksteht. Das eigene Ich scheint tatsächlich überwuchert vom Epheu jener „fremden Schicksale“, mit denen sich der manische Menschensammler Kessler umgab. Harry Graf Kessler ist daher eine aufschlußreiche Gestalt für den Problemzusammenhang von Autor- und Herausgeberschaft. Die Frage, inwieweit Autorund Herausgeberschaft einander hemmen oder fördern, war für ihn eine geradezu existentielle Frage. Auf ganz besondere Weise artikuliert sich dieses Problem in seinem späten autobiographischen Werk Gesichter und Zeiten,6 in dem er gewissermaßen die Rolle des Autors und des Herausgebers miteinander verbindet. Selbst in der Autobiographie, die gemeinhin als subjektive und persönliche Gattung gilt, dominieren im Falle Kesslers nämlich nicht nur andere Personen, sondern sogar die Texte anderer Personen. Geradezu collageartig sind in den eigenen Text Fremdtexte eingefügt: so etwa Briefe von Marie von Bismarck oder dem Flügeladjutanten Wilhelms I. Heinrich August Lehndorff an Kesslers Eltern, vor allem aber die fragmentarischen Lebenserinnerungen der Mutter Alice Kessler. 4
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Brief von Kessler an Hofmannsthal vom 26. September 1906. In: Hugo von Hofmannsthal, Harry Graf Kessler: Briefwechsel 1898–1929. Hrsg. von Hilde Burger. Frankfurt/Main 1968, S. 127. Mit dem von Wolfgang Pfeiffer-Belli herausgegebenen Band (Harry Graf Kessler: Tagebücher 1918–1937. Frankfurt/Main 1961) lag lange Zeit nur eine unzuverlässige Auswahlausgabe des Zeitraums nach dem Ersten Weltkrieg vor. Seit 2004 sind die ersten sechs von insgesamt neun Bänden der Gesamtausgabe der Tagebücher sowie eine CD-Rom mit einer vorläufigen Wiedergabe des gesamten transkribierten Textes erschienen: Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880–1937. Hrsg. von Roland S. Kamzelak und Ulrich Ott. Bd. 2. 1892–1897. Hrsg. von Günter Riederer und Jörg Schuster. Stuttgart 2004; Bd. 3. 1897–1905. Hrsg. von Carina Schäfer und Gabriele Biedermann. Stuttgart 2004; Bd. 4. 1906–1914. Hrsg. von Jörg Schuster unter Mitarbeit von Janna Brechmacher. Stuttgart 2005; Bd. 5. 1914–1916. Hrsg. von Günter Riedener und Ulrich Ott. Stuttgart 2008; Bd. 6. 1916–1918. Hrsg. von Günter Riederer unter Mitarbeit von Christoph Hilse. Stuttgart 2006; Bd. 7. 1919–1923. Hrsg. von Angela Reinthal unter Mitarbeit von Janna Brechmacher und Christoph Hilse. Stuttgart 2007. Der erste Band unter dem Titel Völker und Vaterländer erschien 1935 im S. Fischer Verlag; er umfaßt die Zeit der Kindheit und Jugend bis zum Jura-Studium in Bonn und Leipzig. Ein geplanter zweiter Band wurde nicht vollendet. Das Werk erschien in einer weiteren Auflage, ebenfalls im S. Fischer Verlag, 1962, sowie als erster Band der von Cornelia Blasberg und Gerhard Schuster herausgegebenen Gesammelten Schriften in drei Bänden, Frankfurt/Main 1988; zur Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte vgl. ebenda, S. 443–462; vgl. ferner Gerhard Schuster, Margot Pehle (Hrsg.): Harry Graf Kessler. Tagebuch eines Weltmannes. Marbach am Neckar 1988, S. 493–505; Peter Grupp: Harry Graf Kessler. Eine Biographie. München 1995, S. 242–249.
Der Autobiograph als Herausgeber – Harry Graf Kesslers „Gesichter und Zeiten“
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Diese Memoiren der Mutter liegen im Nachlaß der Familie Kessler im Deutschen Literaturarchiv Marbach in drei Fassungen vor: zunächst in einer handschriftlichen Fassung von Alice Kessler selbst, die 1908/09 entstand und etwa 180 Seiten umfaßt, lose Papierbögen, linierte Blätter, rückseitig beschriebene Einladungen, Werbebriefe usw.; die Niederschrift fand, wie die Verfasserin selbst mitteilt, auf Wunsch ihrer Kinder im Zustand zunehmender Erblindung statt; die Handschrift ist entsprechend ungelenk. Bei den beiden anderen Fassungen handelt es sich um Abschriften: Eine handschriftliche Fassung in einem nicht fest eingebundenen Schreibheft stammt von Kesslers Schwester Wilma; sie umfaßt mit 52 Seiten nur etwa ein Viertel des Originaltextes; bei der dritten Fassung handelt es sich um eine maschinenschriftliche Abschrift von 99 Seiten,7 die auch Passagen enthält, die sich nicht in der im Marbacher Nachlaß vorhandenen Handschrift der Mutter befinden. Zu seinem Verfahren, Teile der Memoiren der Mutter in die eigene Autobiographie zu integrieren, bemerkt Kessler einleitend: Meine Mutter hat in Erinnerungen, die leider Bruchstück geblieben sind, vieles von dem, was sie mir erzählte, schriftlich festgehalten. Ich zitiere daraus wörtlich, weil nichts unmittelbarer ihren Geist und ihr Temperament vermitteln kann und mein frühstes Innenleben von diesen bei ihr besonders stark und souverän waltenden Seelenkräften, ihrer Leidenschaftlichkeit und Romantik, entscheidend bestimmt wurde; ja, nur langsam aus deren Umstrickung zu selbständigem Fühlen und Sehen auftauchte, wie wenn das seelische Einssein das körperliche noch um Jahre überdauert hätte. Mit meiner Mutter zu der Zeit, wo ich noch nicht auf der Welt war, identifizierte ich mich vollkommen; ihre Erlebnisse damals waren meine Erlebnisse in einem Vorleben, das in mir selbst keine Erinnerungen hinterlassen hatte. Daher fesselten mich ihre Erzählungen aus ihrer Kindheit in ganz eigener Weise.8
Die Stimme der Mutter, so schreibt Kessler an anderer Stelle, „genügte [...], um mich, wenn [... sie] zu mir sprach, in einen Zauberkreis zu bannen, der die übrige Welt von uns schied“.9 Auch beim gemeinsamen Lesenlernen empfindet er „ihre Nähe wie einen Rausch“.10 Für das Verhältnis zur Mutter sind Erzählen und Lesen also von herausragender Bedeutung. Daß der autobiographische Text der Mutter in Kesslers eigenen autobiographischen Text integriert ist, bedeutet 7 8
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Nach dieser Fassung wird im folgenden zitiert. Harry Graf Kessler: Gesichter und Zeiten. Gesammelte Schriften in drei Bänden. Hrsg. von Cornelia Blasberg und Gerhard Schuster. Bd. 1. Frankfurt/Main 1988, S. 24f.; zur ebenso engen wie problematischen Beziehung Kesslers zu seiner Mutter vgl. Grupp 1995 (Anm. 6), S. 11–14, S. 42–44. Kessler 1988 (Anm. 8), S. 20. Ebenda, S. 39. Auch in den frühen Tagebüchern wird das gemeinsame Lesen als Situation der Intimität beschrieben, so etwa am 7. August 1883: „In the evening Mamma and I began our old way of reading again. Poor Mamma lying on a sofa her back to the light and I sitting rather to the back of her between the sofa and the table.“ (Tagebuch, Nachlaß Harry Graf Kessler, Deutsches Literaturarchiv Marbach.)
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somit eine letzte Evokation dieser spezifischen, im Zeichen von Sprache und Schrift stehenden Intimität mit der Mutter. Das „seelische Einssein“ mit der Mutter wird auf der Ebene des Textes noch einmal hergestellt. Die Ankündigung, aus den Erinnerungen der Mutter „zu zitieren“, ist dabei eine maßlose Untertreibung. Mehr als die Hälfte des ersten, mit „Me´me´“ überschriebenen Teils von Gesichter und Zeiten, insgesamt etwa 50 Buchseiten, ist den autobiographischen Aufzeichnungen der Mutter entnommen. Kessler vereint dadurch die Rolle des Autors der eigenen Autobiographie mit derjenigen des Editors der Autobiographie der Mutter. Fünf Aspekte sind bezüglich Kesslers editorischem Umgang mit den Aufzeichnungen der Mutter zu berücksichtigen: Die Auswahl der in Gesichter und Zeiten übernommenen Fragmente, ihre Anordnung sowie die Fragen der Texttreue, der Kommentierung und der Interpretation des Textes der Mutter. Der erste Aspekt betrifft das Problem der Auswahl. Kessler übernimmt mehr als die Hälfte der überlieferten Aufzeichnungen der Mutter. Der Schwerpunkt liegt in Erzählungen über die anglo-indische Herkunft der Mutter sowie im gesellschaftlichen und künstlerischen Bereich, also jenem Gebiet, das auch bei Kessler selbst zeit seines Lebens im Vordergrund stand. Berichtet wird über das Badeleben in Bad Ems und Gastein, über Freundschaften und Begegnungen etwa mit Wilhelm I. oder der Familie Bismarck, über den eigenen Salon und das eigene Privattheater in Paris, über Barbey d’Aurevilly, Ibsen oder Sarah Bernhardt. Nicht aufgenommen sind dagegen der Bericht über einen Amerika-Aufenthalt und die Schilderung des Todes von Harry Graf Kesslers Vater, über den bezeichnenderweise bereits sein Tagebuch kaum Auskunft gibt. Kessler wählt jedoch nicht nur einzelne Fragmente aus den Erinnerungen der Mutter aus, auch innerhalb dieser Fragmente nimmt er Auslassungen vor, ohne sie zu kennzeichnen. Eliminiert sind etwa Passagen, in denen sich Alice allzu aufdringlich als naives, unverstelltes Naturgeschöpf stilisiert, das aufgrund seiner Schönheit von seinen weltläufigen Konkurrentinnen angefeindet worden sei. Gestrichen sind, die generelle Tendenz zum Ausklammern des Persönlichen in Kesslers autobiographischen Texten fortführend, auch Passagen, in denen Alice Kessler sich an den Sohn Harry als Baby und Kleinkind erinnert. Der zweite Aspekt betrifft die Anordnung der Aufzeichnungen. Hierin sah sich Kessler relativ ungebunden, da die Autorin zwar innerhalb der einzelnen Fragmente eine Seitenzählung vornahm, eine bestimmte Anordnung der Fragmente aber nicht zwingend vorgegeben scheint. Kessler verfährt, an der maschinenschriftlichen Fassung orientiert, weitgehend chronologisch, setzt aber beispielsweise eine Erinnerung der Mutter daran, wie sie als kleines Kind zur Musik eines italienischen Leierkastenmannes getanzt habe,11 aus dramaturgischen Gründen relativ an den Schluß, um die Anlage der Mutter zum künstle11
Vgl. Kessler 1988 (Anm. 8), S. 87f.
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rischen Ausdruck und zur Rebellion gegen die gesellschaftliche Normalität hervorzuheben. Auch innerhalb der einzelnen Fragmente verschiebt Kessler wiederum mit großer Willkür einzelne Passagen – der Text der Mutter dient als Rohmaterial, über den der Autor/Herausgeber verfügt. Die größte Beachtung verdient der dritte Aspekt, die Treue gegenüber dem Wortlaut des Originals. Diese Frage wird dadurch besonders kompliziert, daß hier neben die Tätigkeit des Edierens auch die des Übersetzens tritt. Alice Kesslers Aufzeichnungen sind auf englisch verfaßt, gehen aber passagenweise ins Französische über und enthalten einzelne deutsche Einsprengsel. Diese für das Original charakteristische Mischung behält Kesslers Übersetzung ins Deutsche nicht bei, auch wenn einige Äußerungen in wörtlicher Rede auf Französisch wiedergegeben und entweder in Klammer oder in einer Fußnote übersetzt werden. Dennoch gelingt es dem selbst dreisprachig aufgewachsenen Übersetzer Kessler, Treue gegenüber dem Original mit dem Charakter einer lebendigen Übertragung zu vereinen; so etwa, wenn er die zur Charakterisierung des späteren Reichskanzlers Bernhard von Bülow verwendete Formulierung „all this fade fairiness“ mit „diese [...] Häufung fader Blondheit“12 oder „half idiocy“ mit „Niveau halber sanfter Idiotie“13 wiedergibt. Andererseits finden sich einzelne Übersetzungsfehler, so bereits in der Anfangspassage: The very first thing I remember [...] was, in the courtyard of a large low house in India, in the city of Bombay, lying next to the sea, my young and lovely mother scattering out of a large tray of grains to a mass of little chickens, chuckling chickens, and I (18 months old) tottering and stumbling behind clutching at her skirts.
Kessler übersetzt diese Passage wie folgt: Das Allererste, [...] auf das ich mich [...] besinnen kann, ist, wie ich im Vorhofe eines großen niedrigen Hauses in Indien, in der Stadt Bombay, am Strande lag, während meine anmutige junge Mutter von einem Teebrett Körner ausstreute, die eine Menge gackernder kleiner Hühner pickte; und wie ich dann hinter ihr hertrippelte und stolperte und an ihren Kleidern mich festhielt.14
Die partizipiale Ergänzung „lying next to the sea“ ist eher auf das Haus zu beziehen als, wie in Kesslers Übersetzung, auf das Subjekt „ich“. Was generell die Treue gegenüber dem Original betrifft, so fällt besonders auf, daß Kessler die deutschen Einsprengsel im Text der Mutter teilweise verändert. Aus „Wilhelm, der Siegreiche“ wird „Wilhelm I.“,15 aus der Äußerung des Kai12 13 14 15
Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,
S. S. S. S.
41. 61. 25. 70.
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sers, die Poesie sei bei ihm „versteckt im Herzen“, wird „im Herzen verborgen“,16 aus der im Original ebenfalls auf deutsch gebrauchten Wendung „Auftreten“ wird bei Kessler die „Haltung“.17 Am gravierendsten ist Kesslers Eingriff in der Wiedergabe einer Äußerung des Flügeladjutanten Wilhelms I. Heinrich August Lehndorff anläßlich des ersten Besuchs des Kaisers bei der neugeborenen Wilma Kessler, Harrys Schwester, deren Patenschaft der Kaiser übernommen hatte. In Kesslers Gesichter und Zeiten äußert Lehndorff gegenüber der Mutter Alice mit Blick auf das Neugeborene: „Na, ganz die Mutter, Sottichen“.18 In Alices Memoiren lautete die Äußerung dagegen: „Na! ganz die Kaiserin Mutter Sottichen“. Damit wird, und sei es nur als Scherz Lehndorffs oder aus Wichtigtuerei Alices, eine mögliche Vaterschaft Wilhelms I. seiner Patentochter gegenüber angedeutet. Es kann also nicht die Rede davon sein, daß Kessler aus den Memoiren der Mutter, wie er es angekündigt hatte, „wörtlich zitieren“ würde. Kesslers Manipulation dieser Textstelle geschieht aus gutem Grund, bestand doch eine Motivation für ihn, seine Autobiographie überhaupt zu verfassen, darin, die ,Legende‘ zu entkräften, er selbst sei ein unehelicher Sohn Wilhelms I. Von Heinrich Simon, dem Mitinhaber der Frankfurter Societäts-Druckerei, mit dem er den Plan seiner Autobiographie zunächst besprach, auf die entsprechenden Gerüchte angesprochen, notiert Kessler am 5. Dezember 1931 in seinem Tagebuch: Jedenfalls ist mir das eine bei meinem heutigen Gespräch mit Simon klargeworden, daß das erste Kapitel der Memoiren ,Meine Mutter‘ heissen muß und dem törichten Geschwätz über meine Abstammung ein für allemal ein Ende machen soll. Die Memoiren sind dadurch gewissermaßen eine Pflicht der Pietät geworden.19
Die beiden noch verbleibenden Aspekte von Kesslers editorischer Tätigkeit sind weniger brisant. Editorisch eher seriös erscheint, daß Kessler den Text der Mutter, wenn auch sehr sparsam, mit Anmerkungen versieht. So wird in einer Fußnote die Handschrift der Mutter datiert, indem Kessler darauf hinweist, die bissige Charakterisierung des jungen Bernhard von Bülow sei „1908 niedergeschrieben, als er Reichskanzler war und auf der Höhe seines Ansehens stand“.20 In den meisten Fällen handelt es sich aber um Übersetzungen französischer Passagen, um Personen- und Sacherläuterungen – sogar unter Hinweis auf die konsultierte Fachliteratur21 – oder um Aufführungsdaten erwähnter Theaterstükke. Gleich die erste Fußnote mit dem ausführlichen Hinweis auf Porträts von Verwandten seiner Mutter22 gilt der bildenden Kunst und deutet auf Kessler als Kunstkenner hin. 16 17 18 19 20 21 22
Ebenda, S. 54. Ebenda, S. 61. Ebenda, S. 70. Kessler 1961 (Anm. 5), S. 651. Kessler 1988 (Anm. 8), S. 42. Vgl. ebenda, S. 47. Vgl. ebenda, S. 29.
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In die gleiche Richtung weist der letzte Aspekt, die interpretierenden Passagen, mit denen Kessler immer wieder den Text der Mutter unterbricht. Der Autor/Herausgeber stellt hier die Erinnerungen der Mutter in einen größeren historischen Kontext und spart dabei als universal Gebildeter nicht mit kulturgeschichtlichen Assoziationen. So folgt auf eine Familienschilderung der Mutter der Kommentar: Diese Bilder einer frühviktorianischen Familie, die in ihrer insularen Absonderlichkeit an die „Conversation pieces“, die Gruppenbilder kinderreicher Familien, von Zoffany und Hogarth erinnerten, schenkten mir als Kind, noch bevor ich Thackeray und Dickens las, bestimmte, ziemlich grell gefärbte Vorstellungen von der geistigen Struktur der regierenden Kaste Englands in der Frühzeit der Königin Viktoria.23
Die für den ersten Teil von Kesslers Gesichter und Zeiten spezifische Integration von Fremdtexten wird im zweiten Teil, „Lehrjahre“, nicht in demselben Ausmaß fortgesetzt. Charakteristisch für den Text bleibt aber, daß Evidenz durch den Hinweis auf bereits Geschriebenes hergestellt wird. So gibt Kessler, als er die von ihm im Internat von Ascot mitgegründete Schülerzeitung St. George’s Gazette beschreibt, den Hinweis: „der Entwurf, ganz von meiner Hand, liegt vor mir.“24 Als Beweis für die Authentizität der Erinnerungen dienen aber vor allem die eigenen frühen Tagebücher, aus denen Kessler auch einzelne Passagen zitiert. Bei seiner Ankunft in Ascot, so bemerkt er etwa, habe er „noch am selben Abend einen Zettel [geschrieben], den ich vor mir habe, ich hätte mir heute unter meinen Schulkameraden ,schon viele Freunde gemacht‘.“25 Tatsächlich heißt es auf einem von mehreren losen Blättern, die Kessler auf der hinteren inneren Umschlagseite seines bereits vollgeschriebenen ersten Tagebuchheftes einklebte, unter dem 23. September 1880: „I came to school here today and I am allready friends with some boys.“26 Auch anläßlich der Pestepidemie in Hamburg im Herbst 1886, so schreibt Kessler in Gesichter und Zeiten, habe er „Beobachtungen angestellt und Notizen gemacht“.27 Diese Notizen, die zu den ersten eindringlichen Aufzeichnungen Kesslers über die soziale Situation der armen Bevölkerungsschichten gehören, finden sich im Tagebuch am 3. und 5. November 1886. Ebenso sind dort die in den Erinnerungen erwähnten „schriftlichen Aufzeichnungen“ belegt, mit denen sich der Autor über seine Zweifel gegenüber der Politik Bismarcks „in den Jahren 1886 bis 1888 [...] Rechenschaft abzulegen“28 versuchte. Wiederum erfolgt hier ein Zitat aus dem Tagebuch: „Im März 1886 notierte ich: ,Es besteht eine fair chance, daß es in kurzem zu einer 23 24 25 26 27 28
Ebenda, S. 29f. Ebenda, S. 110. Ebenda, S. 102. Tagebuch, Nachlaß Harry Graf Kessler, Deutsches Literaturarchiv Marbach. Kessler 1988 (Anm. 8), S. 143. Ebenda, S. 156.
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sozialen Revolution kommt. Wenn nicht bald etwas für den Arbeiter geschieht, werden wir eines Morgens unter den Trümmern der heutigen sozialen Ordnung aufwachen.“ Es handelt sich um eine Kompilation aus zwei Tagebuchstellen – einer vom 28. März 1886: „I believe there is a fair chance of a social revolution soon“29 und einer vom 30. März 1886: „If the better classes do not look sharp and really do something we will wake up one morning and find ourselves in the midst of the wreck of social order.“30 Auch der Bericht über eine Pilgerreise zu Bismarck schließlich, die Kessler im August 1891 mit einer Delegation der deutschen Studentenschaft anläßlich des 20jährigen Jubiläums der Reichsgründung unternahm, wird durch ein Originalzitat aus dem Tagebuch gewürzt: Bismarck habe sich beim Sprechen „von einem zum andern [bewegt]; was, wie ich schrieb, ,den Eindruck des Rhetorischen, aber auch den rhetorischen Eindruck noch mehr verminderte‘.“31 Dienen der Hinweis auf Geschriebenes im allgemeinen und die in den Text integrierten Zitate aus dem Tagebuch im besonderen bei Kessler als Beweis für die Authentizität der Erinnerungen, so besteht für eine Neuedition von Gesichter und Zeiten die Notwendigkeit und die Chance, nicht nur diese Zitate zu verifizieren oder Abweichungen zu vermerken. Das Tagebuch kann generell als eine Quelle für die Kommentierung und Verifizierung des in den Erinnerungen Geschilderten dienen; in einem zweiten Schritt sind zum Tagebuch und zu den Erinnerungen externe Quellen als Korrektiv hinzuzuziehen. Einzelne Episoden aus Gesichter und Zeiten gehen deutlich auf Schilderungen des Tagebuches zurück, so etwa der Mord des Leipziger Kommilitonen Tin Zedlitz an einer Prostituierten und sein anschließender Selbstmordversuch.32 Anderes läßt sich hingegen nicht verifizieren. Die in Gesichter und Zeiten erwähnte frühe HölderlinLektüre33 ist nicht zu belegen, und auch die in den Memoiren emphatisch zum Erweckungserlebnis stilisierte Nietzsche-Lektüre34 hat in dieser Form keine Spuren im Tagebuch hinterlassen. Schon gar nicht lassen sich die aus der Erinnerung geschilderten angeblichen Liebesepisoden nachweisen. Dies muß einerseits kein Hinweis darauf sein, daß diese Erlebnisse erfunden seien, da im Tagebuch Persönliches grundsätzlich weitgehend ausgespart wird. Andererseits erscheint etwa die Lisette-Episode, eine angebliche Liebesbeziehung zu einem jungen Pariser Mädchen aus verarmter Familie, in Gesichter und Zeiten dermaßen literarisiert, daß Zweifel an ihrer Authentizität angebracht erscheinen.35 Das Verfahren, Zi29 30 31 32 33 34 35
Tagebuch, Nachlaß Harry Graf Kessler, Deutsches Literaturarchiv Marbach. Ebenda. Kessler 1988 (Anm. 8), S. 218; vgl. den Tagebucheintrag vom 10. August 1891. Vgl. ebenda, S. 199–208. Vgl. ebenda, S. 130. Vgl. ebenda, S. 214. Vgl. Grupp 1995 (Anm. 6), S. 48. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß Kessler, wie er selbst berichtet, den Plan „einer Novelle, in deren Mittelpunkt Lisette stehen sollte“, (Kessler 1988 [Anm. 8], S. 181) verfolgte. Die Schilderung in Gesichter und Zeiten ähnelt selbst einer
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tate aus geschrieben Vorliegendem als Mittel der Authentifizierung zu verwenden, bewirkt hier beinahe das Gegenteil. Bezeichnenderweise handelt es sich um den einzigen Fall, in dem ein Zitat im Fließtext auf deutsch und in der Fußnote in der Originalsprache gegeben wird; die Funktion des den Anschein der Seriosität erweckenden Mittels ,Fußnote‘ ist hier nicht wie sonst die Übersetzung für den deutschen Leser, sondern der in seiner Plattheit schon fast verdächtig wirkende Hinweis auf die vermeintliche Echtheit einer Quelle, des angeblichen Abschiedsbriefs Lisettes: „Cher, cher, je vais mourir. J’ai connu le bonheur. Peut-eˆtre a` revoir quelquepart, Lisette.“36 Wie die Manipulation der LehndorffÄußerung aus den Memoiren der Mutter, so könnte es sich auch hier um den Versuch handeln, im Umlauf befindliche Gerüchte zu zerstreuen, in diesem Falle die eigene Homosexualität betreffend. Noch größer ist die Bedeutung des Apparates, den die hier vorgeschlagene Neuedition zu enthalten hätte, für das „Me´me´“-Kapitel, in das Kessler nicht nur einzelne Zitate, sondern, in der problematischen Rolle des Herausgebers, weite Teile der Autobiographie der Mutter integriert. Idealerweise enthielte eine Neuedition die Aufzeichnungen der Mutter in ihrer Gesamtheit im Anhang, um dem Leser selbst die Möglichkeit des Vergleichs zu geben. Zu ergänzen wären ferner Angaben zur Publikationsgeschichte, was die von Cornelia Blasberg und Gerhard Schuster 1988 herausgegebenen, sonst allerdings völlig unkommentierten Gesammelten Werke bereits ansatzweise realisieren. Kesslers eigene Aktivitäten, was diesen Aspekt, die Publikation des eigenen Werkes, betrifft, können hier nur angedeutet werden. So wählt Kessler die Illustrationen aus, die in den Band aufgenommen werden, meist Photographien aus dem Familienbesitz, und macht sich im Briefwechsel mit dem S. Fischer Verlag Sorgen um die Qualität des Registers, das in der Erstausgabe schließlich gar nicht erschien.37 In der Neuen Rundschau werden im Frühjahr 1935 drei umfangreiche Vorabdrucke publiziert;38 dagegen bittet Kessler, der selbst 1933 nach Mallorca emigriert war, den Verlag, Schritte gegen einen unautorisierten Vorabdruck in der Exilzeitung Pariser Tageblatt zu unternehmen, offensichtlich um die Veröffentlichung des Buches in Deutschland nicht zu gefährden.39 Den-
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solchen Novelle; ein Signal für den Kunst-Charakter des Geschilderten ist bereits die Tatsache, daß Lisettes Gesicht den Liebhaber bei der ersten Begegnung an die unmittelbar zuvor betrachtete Figur des Johannes am Portal von Notre-Dame erinnert (ebenda, S. 144). Ebenda, S. 150. Vgl. den Brief von Peter Suhrkamp an Kessler vom 16. April 1935, Nachlaß Harry Graf Kessler, Deutsches Literaturarchiv Marbach. Harry Graf Kessler: Völker und Schulen. In: Die Neue Rundschau Jg. 46, 1935, Heft 2, S. 185–205; Völker und Schulen II. In: Ebenda, Heft 3, S. 246–265; Erlebnis mit Nietzsche. In: Ebenda, Heft 4, S. 391–407; im gleichen Jahrgang der Neuen Rundschau erschienen vier weitere Vorabdrucke aus dem unvollendeten zweiten Band von Gesichter und Zeiten: Pilsudski. In: Ebenda, Heft 6, S. 605–612; Amerika. In: Ebenda, Heft 8, S. 160–178; Amerika II. In: Ebenda, Heft 9, S. 322–334; Amerika III. In: Ebenda, Heft 10, S. 429–443. Vgl. den Brief Kesslers an Peter Suhrkamp vom 20. Februar 1935, Nachlaß Harry Graf Kessler, Deutsches Literaturarchiv Marbach.
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noch wurde Gesichter und Zeiten bald nach seinem Erscheinen im Juni 1935 verboten, wenn auch möglicherweise nur aufgrund einer Namensverwechslung.40 Bereits bevor das deutsche Manuskript überhaupt abgeschlossen ist, führt Kessler Verhandlungen mit Plon in Paris und Faber & Faber in London sowie mit dem Chefredakteur der Times, um eine Veröffentlichung und Vorabdrucke in Frankreich und England zu erreichen. Die Übersetzungen werden für Kessler, auch finanziell im Hinblick auf seinen Verlagsvertrag mit dem S. Fischer Verlag, zur Kompensation für den geplanten, aber nicht verwirklichten zweiten Band seiner Memoiren. Die 1936 in der Librairie Plon publizierte Ausgabe Souvenirs d’un Europe´en stellt eine weitgehende Neubearbeitung dar, denn, so notiert Kessler im Tagebuch am 15. August 1935: Der Übersetzer (Blaise Briod), Beamter an der ,Coope´ ration Intellectuelle‘, hat nichts von der literarischen Form und von allem, was zwischen den Zeilen steht, begriffen. Er hat mein Buch so übersetzt als ob es eine Völkerbundnote oder eine juristische Abhandlung wäre. Seine Übersetzung verhält sich zum Original wie ein Öldruck zu einem Gemälde. Ich habe fast jeden Satz umgießen, neu formen, der französischen Sprache anpassen, zum Leben erwecken müssen, so daß die französische ,Übersetzung‘ wie ein Originalwerk neben dem deutschen steht.41
Die französische Fassung zeichnet sich durch einige Umstellungen aus und enthält ein Vorwort Kesslers, zusätzliche Fußnoten, etwa zu historischen Zusammenhängen, sowie völlig neue Passagen, etwa die Vorfahren der Mutter betreffend; auch die Fragmente aus den Memoiren der Mutter werden teilweise durch Stücke ersetzt, die in der deutschen Ausgabe nicht vorhanden waren. Kesslers auf der Grundlage der erweiterten französischen Fassung angefertigte englische Übersetzung blieb Fragment. Am 16. Juli 1937, viereinhalb Monate vor seinem Tod, schickte er die ersten 145 Seiten an Faber & Faber.42 Die Auszüge aus den Erinnerungen der Mutter gibt er in der englischen Originalfassung wieder. Die für sie charakteristische Mischung mit französischen und deutschen Passagen wird allerdings erneut nicht wiedergegeben, diese werden weitgehend ins Englische übertragen; so auch der Ausspruch Lehndorffs im Anblick von Kesslers neugeborener Schwester Wilma. Er lautet in Kesslers Übersetzung nun überraschenderweise originalgetreu: „Ah! quite the Empress Mother, Sottichen.“43
40 41 42 43
Vgl. Tagebucheintrag vom 30. März 1936 (Kessler 1961 [Anm. 5], S. 747f.). Kessler 1961 (Anm. 5), S. 744f. Vgl. Tagebuch, Nachlaß Harry Graf Kessler, Deutsches Literaturarchiv Marbach. Harry Graf Kessler: Englische Übersetzung von Gesichter und Zeiten, Nachlaß Harry Graf Kessler, Deutsches Literaturarchiv Marbach.
Bernd Hamacher Der lange Schatten des Autors Der Editor Thomas Mann und seine Editoren
Kennen Sie den ersten Editor Thomas Manns? Es ist – Hanno Buddenbrook, der sich anheischig macht, eine Art Ausgabe letzter Hand herzustellen, indem er durch einen mit der Goldfeder gezogenen „schönen, sauberen Doppelstrich quer über das ganze Blatt hinüber“1 den Buddenbrookschen Familienpapieren eine endgültige Gestalt geben möchte, jenen „Aufzeichnungen“, die „mit einer weitläufigen Genealogie [...] am Ende des 16. Jahrhunderts“2 beginnen und die er nun für beendet erklärt: „,Ich glaubte ... ich glaubte ... es käme nichts mehr ...‘.“3 Diese ein Werk abschließende Geste übernahm Thomas Mann selbst in den letzten Jahren seines Lebens, und diese Geste übernahmen auch seine Editoren, denen für lange Zeit immer noch der Autor selbst in der Gestalt des kleinen Hanno die Feder führte. „Als ich ganz jung war“, so erinnerte sich Thomas Mann 1951, „ließ ich den kleinen Hanno Buddenbrook unter die Genealogie seiner Familie einen langen Strich ziehen, und als er dafür gescholten wurde, ließ ich ihn stammeln: ,Ich dachte – ich dachte – es käme nichts mehr.‘ “ Und an diese, im Wortlaut nicht ganz präzise Reminiszenz fügte er im Präsens an: „Mir ist, als käme nichts mehr.“4 Das bezog er zunächst auf die Situation der Literatur seiner Zeit: „Oft will mir unsere Gegenwartsliteratur, das Höchste und Feinste davon, als ein Abschiednehmen, ein rasches Erinnern, Noch-einmal-Heraufrufen und Rekapitulieren des abendländischen Mythos erscheinen, – bevor die Nacht sinkt, eine lange Nacht vielleicht und ein tiefes Vergessen.“5 Diesen Befund indes variierte er im selben Jahr 1951 in Briefen an verschiedene Adressaten, und dann bezog er ihn zugleich auf sein Gesamtwerk, wie zum Beispiel am 3. November an Eberhard Hilscher:
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Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hrsg. von Heinrich Detering (u.a.) (im folgenden GKFA abgekürzt). Bd. 1.1: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman. Hrsg. und textkritisch durchgesehen von Eckhard Heftrich unter Mitarbeit von Stephan Stachorski und Herbert Lehnert. Frankfurt/Main 2002, S. 575. Ebenda, S. 61. Ebenda, S. 576. Thomas Mann: Bemerkungen zu dem Roman „Der Erwählte“. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt/Main 1974. Bd. XI, S. 687–691, hier S. 691. Ebenda.
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Nicht ungern fühle ich mich als einen Späten und Letzten, einen Abschließenden und Vollender. [...] Nach mir wird kaum noch einer die Josephsgeschichte erzählen, und auch dem Gregorius habe ich wohl die Spät- und Endform gegeben. Endbücher zu schreiben scheint seit Buddenbrooks meine Aufgabe zu sein, – ja zuweilen kommt es mir vor, als sei unsere ganze höhere Literatur nichts anderes als ein rasches Rekapitulieren des abendländischen Mythus, der abendländischen Kulturüberlieferung – vor Torschluß, vorm Fallen des Vorhangs [...].6
In diesem Kontext, in den Thomas Mann sein Zitat Hannos stellt, lassen sich die Buddenbrookschen Familienpapiere als Mise en abyme nicht nur des ersten Romans, sondern des Mannschen Gesamtwerks lesen, dem der Autor mit Hannos Federstrich die abschließende Gestalt geben möchte, nicht ohne damit gleich der gesamten abendländischen Kultur ihre „Endform“ geben zu wollen. Kein Wunder, daß seine Editoren keine Hand daran zu legen wagten, vollauf und ehrfürchtig beschäftigt, wie sie waren, „etwas vom Glanz der Meisterlichkeit, der da auf ihre Schultern fällt, an andere weiterzugeben“, wie Hans Wysling, der langjährige Leiter des Zürcher Thomas-Mann-Archivs, als Aufgabe der Thomas-MannForschung formulierte.7 Thomas Mann und seine Quellen – so lautet der bezeichnende Titel der Festschrift für Hans Wysling.8 Seine Quellen – damit war die abendländische Kulturüberlieferung gemeint, von der er in jenem Briefe sprach und die ihm seine Interpreten zueigneten, weil sie sie dergestalt sich selbst zu eigen machen konnten. In diesem Aneignungsgeschäft – der Quellenkritik – sah die Thomas-Mann-Philologie jahrelang ihre vordringliche Aufgabe, an die Textgestalt der Werke hingegen brauchte, ja durfte scheinbar nicht gerührt werden, hatten sie doch ihre vom Autor sanktionierte Endform erhalten. So bezeichnete sich Wysling, obwohl längst versierter Editor, noch 1983 auf einem internationalen Editorenkolloquium als „Randseiter“ der Zunft.9 War diese Selbstmarginalisierung einerseits durchaus glaubhafter Ausdruck der Bescheidenheit (in den ich meinerseits natürlich einstimmen möchte), so markiert sie andererseits für die Thomas-Mann-Philologie eine Hypothek, deren Ausmaß erst allmählich deutlich wird und die ich im folgenden in für Thomas Mann völlig unangemessener Weise – nämlich in gebotener Kürze – in ausgewählten Aspekten beleuchten möchte. 6 7
8
9
Eberhard Hilscher: Thomas Mann. Leben und Werk. 10. Aufl. Berlin (DDR) 1986, S. 273. Hans Wysling: Dankesworte (zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises der Hansestadt Lübeck 1993). In: Thomas Mann Jahrbuch 8, 1995, S. 289–292, hier S. 292. Thomas Mann und seine Quellen. Festschrift für Hans Wysling. Hrsg. von Eckhard Heftrich und Helmut Koopmann. Frankfurt/Main 1991. Hans Wysling: Von der Vergnüglichkeit des Edierens. Mit ein paar Bemerkungen zu einer kritischen Edition von Thomas Manns Werk. In: Editions et Manuscrits – Probleme der ProsaEdition. Akten des Franz.-Dt. Editorenkolloquiums Paris 1983. Hrsg. von Michael Werner und Winfried Woesler. Bern (u.a.) 1987 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. 19), S. 310–314, hier S. 310. Vgl. auch S. 312: „Ich halte gegenwärtig die Herausgabe von Notizkonvoluten und von Kommentaren für wichtiger als die Erstellung einer kritischen oder gar historisch-kritischen Ausgabe.“
Der Editor Thomas Mann und seine Editoren
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Ediert – und nicht einfach nur durchgesehen und nachgedruckt – wurden lange Zeit nur jene Teile des Mannschen Œuvres, die vom Autor nicht ihre vermeintlich endgültige Form erhalten hatten, also noch ungedruckt waren: Entwürfe, Materialsammlungen, Notizen, wie etwa zum geplanten Literaturessay Geist und Kunst, zur Fürstennovelle, aus der dann der Roman Königliche Hoheit wurde, zum Friedrich-Roman, zu Luthers Hochzeit, die Hefte der Notizbücher, die Tagebücher, verschiedene Briefwechsel und einiges mehr – kurzum: ediert werden durfte, was Thomas Mann selbst nicht ediert hatte. Was hingegen der Autor selbst schon einmal zum Druck befördert hatte, wurde häufig selbst dann in der letzten autorisierten Form – und nur in dieser – nachgedruckt, wenn Thomas Mann den Text im Laufe der Jahre nicht unwesentlich umgearbeitet hatte, was bei zahlreichen, auch bedeutsamen Essays der Fall war. Bekanntlich folgte nicht nur die Textgestalt, sondern auch die Anordnung der Texte in den postumen Gesamtausgaben (die keine waren) den noch vom Autor selbst getroffenen Entscheidungen, was im einzelnen Hans Wißkirchen im ThomasMann-Handbuch dargestellt hat.10 Selbst die Auswahl der Essays orientierte sich „immer an der fiktiven Wahl Thomas Manns“, wie Wißkirchen formuliert.11 Vor dem Hintergrund dessen, daß den Thomas-Mann-Editoren lange Zeit offenbar das Idealbild einer Art Ausgabe letzter Hand vorschwebte, ist gerade die Textanordnung ein besonders problematischer Punkt. Hans Bürgin schreibt im Editionsbericht der Gesammelten Werke in zwölf Bänden von 1960: „Diese ,Reden und Aufsätze‘ konnten nicht nach streng chronologischen Gesichtspunkten auf die vier Bände verteilt werden, sondern es mußten inhaltliche Überlegungen bei der Zusammenstellung mitsprechen, damit gleichzeitig jedem dieser Bände ein einheitliches Gesicht gegeben werden konnte.“12 Wißkirchen nennt diese Entscheidung „eine logische Konsequenz des Auswahlprinzips“ und meint: „Eine streng chronologische Anordnung macht nur Sinn, wenn man gleichzeitig Vollständigkeit anstrebt.“13 Demnach wäre aber die viel gelobte sechsbändige Essayausgabe von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski aus den 1990er Jahren unlogisch, denn sie ist eine streng chronologisch geordnete Auswahlausgabe, die jedoch ihrerseits nicht darauf verzichten mag, sich die Titel von Thomas Mann vorgeben zu lassen.14 Achtung, Europa! heißt etwa der vierte Band der Ausgabe und wiederholt damit den Titel eines von Thomas Mann selbst veranstalteten Sammelbandes aus dem Jahre 1938 – übrigens ohne im Nachwort darüber Auskunft zu geben –, von dem er sich selbstverständlich erheblich unterscheidet. Damit schleppen Kurzke und Stachorski, die durch das konsequente Erstdruck10
11 12 13 14
Hans Wißkirchen: Die Thomas-Mann-Gesamtausgaben. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hrsg. von Helmut Koopmann. 3., aktualisierte Aufl. Stuttgart 2001, S. 773–798. Ebenda, S. 779. Zitiert nach: Mann 1974 (Anm. 4), Bd. XIII, S. 910f. Wißkirchen 2001 (Anm. 10), S. 783. Thomas Mann: Essays. Nach den Erstdrucken, textkritisch durchgesehen, kommentiert und hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. 6 Bde. Frankfurt/Main 1993–1997.
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prinzip ihrer Essayausgabe ansonsten mit der Tradition ihrer Vorgänger brechen, deren Hypothek weiter, was dann besonders mißlich ist, wenn der Eindruck entstehen kann, als folge man den Maßgaben des Autors selbst, diese aber in Wahrheit nicht mehr erkennbar sind. In welcher Thomas-Mann-Ausgabe nämlich wäre noch nachzuvollziehen, daß Thomas Mann seine erste eigene Ausgabe der Gesammelten Werke nicht etwa mit Buddenbrooks eröffnete, wie fast alle späteren bis auf den heutigen Tag, sondern mit einem Band voller „Zufallserzeugnisse“, wie er selbst schreibt,15 Rede und Antwort. Gesammelte Abhandlungen und kleine Aufsätze, im November 1921, datiert 1922, als erster Band der Gesammelten Werke in Einzelbänden erschienen? Noch im selben Jahr 1922 erschien als zweiter Band die gekürzte Neuausgabe der Betrachtungen eines Unpolitischen, erst danach Buddenbrooks. 1925 erschien eine textidentische Ausgabe Gesammelte Werke in zehn Bänden, die die bis dahin erschienenen nicht numerierten Einzelbände der Ausgabe in neuer Anordnung versammelte, einer Anordnung, der alle späteren Ausgaben mehr oder weniger folgen: Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.
1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8: 9:
Buddenbrooks (1901), I. Band Buddenbrooks (1901), II. Band Novellen I Novellen II Königliche Hoheit (1909) Der Zauberberg (1924), I. Band Der Zauberberg (1924), II. Band Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) Rede und Antwort. Gesammelte Abhandlungen und kleine Aufsätze (1922) Bd. 10: Bemühungen. Neue Folge der Gesammelten Abhandlungen und kleinen Aufsätze (1925)16
In dieser zehnbändigen Ausgabe wurden auch die Gesamtauflagen der bis zum Herbst 1925 erschienenen Einzelausgaben genannt. Bis auf Der Zauberberg, der 1924, und Bemühungen, die 1925 erschienen, waren alle Einzelbände 1922 erstmals erschienen:
Buddenbrooks Novellen 15
16
159 Auflagen 15 Auflagen
Thomas Mann: Rede und Antwort. Gesammelte Abhandlungen und kleine Aufsätze. Berlin 1922 (Gesammelte Werke), S. XI. Nach: Thomas Mann: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Bd. 10: Bemühungen. Neue Folge der Gesammelten Abhandlungen und kleinen Aufsätze. Berlin 1925, S. 344f.
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Der Editor Thomas Mann und seine Editoren
Königliche Hoheit Der Zauberberg Betrachtungen eines Unpolitischen Rede und Antwort Bemühungen
82 50 24 16 12
Auflagen Auflagen Auflagen Auflagen Auflagen17
Am überraschendsten dürfte die selbst im Vergleich zu Rede und Antwort geringere Auflagenzahl der Novellenbände sein. Richten wir auf diese beiden Novellenbände kurz einen gesonderten Blick: Von dem Umstand abgesehen, daß Thomas Mann einige Texte ausgeschieden hat – und die im selben Jahr 1925 veröffentlichte neueste Erzählung Unordnung und frühes Leid noch fehlt –, fällt die bewußte Gruppierung auf. Die Texte sind nicht chronologisch gereiht; der erste Band wird gerahmt von Der kleine Herr Friedemann (1897) zu Anfang und Tristan (1902) am Ende.18 Tonio Kröger (1903) eröffnet den nur vier größere Texte enthaltenden zweiten Band, gefolgt vom Drama Fiorenza (1904), das hier mithin als „Novelle“ figuriert, danach Herr und Hund (1918) vor dem Tod in Venedig (1911). In beiden Bänden stehen also die nach Auffassung des Autors bedeutendsten Texte am Anfang und am Ende. Diese vom Autor selbst vorgenommene Ensemblebildung wird auch in der neuen Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns, der GKFA, nicht ersichtlich. Im Band Frühe Erzählungen aus dem Jahr 2004 findet sich nur ein Überblick zu den vier Novellensammelbänden Thomas Manns bis 1914,19 der Druckgeschichte ist lediglich zu entnehmen, welche Erzählungen Thomas Mann in die Gesammelten Werke aufnahm, nicht aber, in welcher Anordnung dies geschah.20 Auch bei den Essays ist es in allen postumen Ausgaben unmöglich, Thomas Manns eigene editorische Entscheidungen nachzuvollziehen. In den beiden bisher erschienenen Essaybänden der GKFA, die die Texte bis zum Jahr 1926 versammeln, sind keine Übersichten über die vom Autor selbst getroffenen Textzusammenstellungen enthalten. In den Vorgängereditionen ging es bunt durcheinander: In Band 10 der Gesammelten Werke in zwölf Bänden von 1960, 1974 durch einen Nachtragsband ergänzt, lautet eine Rubrik Huldigungen und Kränze, ein Titel, der wiederum von Thomas Mann übernommen ist, und zwar aus dem 1930 im Rahmen der Gesammelten Werke in Einzelbänden erschie17 18
19
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Ebenda, S. 346. Die Reihenfolge aller Erzählungen im Band Novellen I ist wie folgt: Der kleine Herr Friedemann (1897), Enttäuschung (1896), Der Bajazzo (1897), Tobias Mindernickel (1897), Luischen (1897), Der Weg zum Friedhof (1901), Die Hungernden (1902), Der Kleiderschrank (1899), Gladius Dei (1902), Ein Glück (1904), Beim Propheten (1904), Schwere Stunde (1905), Wie Jappe und Do Escobar sich prügelten (1911), Das Wunderkind (1903), Das Eisenbahnunglück (1907), Tristan (1902); vgl. Mann 1925 (Anm. 16), S. 344. Vgl. GKFA, Bd. 2.2: Frühe Erzählungen 1893–1912. Kommentar von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. Frankfurt/Main 2004, S. 532. Vgl. ebenda, S. 535.
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Bernd Hamacher
nenen Band Die Forderung des Tages. Reden und Aufsätze aus den Jahren 1925–1929. Dort finden sich unter jener Überschrift dreizehn Texte versammelt, in den Gesammelten Werken von 1960 hingegen 49, darunter jedoch nur sieben von Thomas Mann selbst so bezeichnete. Sechs vom Autor so genannte Huldigungen und Kränze werden in der späteren Ausgabe in andere Rubriken einsortiert. Noch eklatanter liegt der Fall bei den von Peter de Mendelssohn herausgegebenen Gesammelten Werken in Einzelbänden aus den 1980er Jahren. Dort findet sich die Rubrik Huldigungen und Kränze im Band Rede und Antwort.21 So hieß auch der Band von 1922, der aber noch gar keine Rubrik Huldigungen und Kränze enthielt. In Rede und Antwort von 1984 finden sich nun 86 solcher Huldigungen und Kränze, darunter acht der dreizehn von Thomas Mann selbst 1930 so genannten Texte. Paradoxerweise ist es also gerade die Orientierung am Autor, die in den postumen Gesamtausgaben dafür sorgte, daß der Editor Thomas Mann aus den Ausgaben weitgehend verschwunden ist. In der Thomas-Mann-Philologie ist erst ein Bewußtsein dafür zu schaffen, daß hier ein fruchtbares Untersuchungsfeld der Bearbeitung harrt, ein Feld, das auch die GKFA noch brach liegen läßt. Generell ist in der Literatur- und Editionswissenschaft das Bewußtsein für die Signifikanz der Ensemblebildung bei Selbstherausgaben inzwischen im Bereich der Gedichtedition am ausgeprägtesten,22 und bei kurzen Texten ist es natürlich relativ unproblematisch, in der Edition nicht nur der Chronologie der Entstehung zu folgen, sondern die jeweiligen Ensembles als ganze zu edieren, wodurch manche Texte mehrfach, zum Teil in unterschiedlichen Fassungen, präsentiert werden.23 Was indes bei Gedichten recht ist, sollte bei Erzählungen und auch bei Essays billig sein, wobei hier etwa dergestalt pragmatische Lösungen entwickelt 21
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23
Thomas Mann: Rede und Antwort. Über eigene Werke. Huldigungen und Kränze: Über Freunde, Weggefährten und Zeitgenossen. Nachwort von Helmut Koopmann. Frankfurt/Main 1984 (Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Peter de Mendelssohn). Vgl. mit Bezug auf Goethe Karl Eibl: Consensus. Eine Denkfigur des 18. Jahrhunderts als Kompositionsprinzip Goethescher Gedichtsammlungen. In: Literarhistorische Begegnungen. Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Bernhard König. Hrsg. von Andreas Kablitz und Ulrich Schulz-Buschhaus. Tübingen 1993, S. 29–41. – Ein Blick in die Geschichte zeigt, daß das entsprechende editorische Problembewußtsein bereits vor über 100 Jahren im Zusammenhang mit Überlegungen zu einer chronologischen Ausgabe der Werke Goethes entwickelt wurde. Die Vossische Zeitung berichtete am 10. November 1905 über die Sitzung der Gesellschaft für deutsche Literatur vom 25. Oktober. Über die Einführung des Vorsitzenden Erich Schmidt wird referiert: „Goethe selbst hat [...] mit allem Nachdruck sich gegen die Zumutung, seine eigenen Werke in chronologischer Reihe herauszugeben, erklärt. Auch Heine hielt den Reiz der von Goethe gewählten ästhetischen Anordnung für unentbehrlich, und Scherer hat diese Anordnung eingehend erörtert. Vielen wird es grausam erscheinen, die feinen dichterischen Zusammenhänge wieder zu lösen. [...] Aber das wissenschaftliche Bedürfnis nach einer chronologischen Ausgabe der Lyrik ist unabweisbar [...].“ (fv.: Gesellschaft für deutsche Literatur. In: Vossische Zeitung, 10. November 1905.) – Für diesen Hinweis danke ich Myriam Richter (Hamburg). Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel (u.a.). I. Abt., Bd. 1 und 2: Gedichte 1756–1799, 1800–1832. Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt/Main 1987–1988 (Bibliothek deutscher Klassiker 18 und 34).
Der Editor Thomas Mann und seine Editoren
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werden könnten, daß einer chronologisch angeordneten Ausgabe Übersichten über die Textzusammenstellungen des Autors beigegeben würden, aus denen auch ersichtlich wäre, ob die Texte bei der Neupublikation in einem Sammelband verändert wurden.24 Zur Begründung meiner These von der Signifikanz der Ensemblebildung auch bei essayistischen Texten möchte ich kurz auf das Beispiel des letzten, von Thomas Mann selbst zusammengestellten Aufsatzbandes, Altes und Neues. Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten, verweisen. Hier kann seine Verfahrensweise beispielhaft in den Blick kommen, denn auch die Programmatik des Vorworts dieses Bandes ist noch nicht hinreichend gewürdigt. Vor allem Freunde seien es gewesen, so gibt Thomas Mann vor, die ihn schriftlich und mündlich zu der Sammlung gedrängt hätten,25 der er schließlich programmatischen Charakter zuspricht: „Wenn schon gesammelt werden sollte, warum dann nicht aufs Ganze gehen und in tagebuchartiger Folge aufreihen, was, über die Jahrzehnte hin, zwischen den Werken gewachsen, guten Freunden meines Lebens beinahe als Ersatz für eine Autobiographie willkommen sein mochte?“26 Die Programmatik ist aus dem Vorwort von Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit übernommen, in der er am 23. und 24. Januar 1952 liest, während er mit der Zusammenstellung des Essaybandes beschäftigt ist.27 Auch bei Goethe werden Freunde bemüht, die in der Reihe der Gesammelten Werke den Zusammenhang vermissen und die Lücken gefüllt wissen wollen. Was Goethes Autobiographie leisten sollte, wird von Thomas Mann – ersatzweise zwar, aber immerhin – einer Essaysammlung scheinbar halb zufälligen Charakters übertragen, die Peter de Mendelssohn noch 1980 abschätzig als „Lückenbüßer“ bezeichnete.28 Es geht aber um nichts weniger als um „das Individuum [...] und sein Jahrhundert“.29 Indem Mann diese autobiographische Aufgabe einer Zusammenstellung eigener Texte überantwortet, nimmt er eine Rezeptionssteuerung vor, die zwar recht 24
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Zur strikten Trennung, aber unscharfen Unterscheidung zwischen erzählerischen und essayistischen Texten in der GKFA – z.B. wird der „Roman eines Romans“ Die Entstehung des Doktor Faustus als Essay behandelt – vgl. Bernd Hamacher: Rezension über Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Bde. 1, 5, 14, 15, 21. Frankfurt/Main 2002. In: editio 17, 2003, S. 234–240, hier S. 236. So auch in einem Brief vom 19. (nach dem Ausweis des Tagebuches recte 13.) November 1951 an seinen Verleger Gottfried Bermann Fischer; vgl. Thomas Mann: Briefwechsel mit seinem Verleger Gottfried Bermann Fischer 1932–1955. Hrsg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/Main 1973, S. 577f. Thomas Mann: Altes und Neues. Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten. Frankfurt/Main 1953 (Stockholmer Gesamtausgabe der Werke von Thomas Mann), S. 10. Vgl. Thomas Mann: Tagebücher 1951–1952. Hrsg. von Inge Jens. Frankfurt/Main 1993, S. 168f. Peter de Mendelssohn: Die Frankfurter Ausgabe der Gesammelten Werke Thomas Manns, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. Vortrag, gehalten in der Bayerischen Akademie der schönen Künste zu München am 10. November 1980. Hier zitiert nach dem Typoskript in der Hamburger Arbeitsstelle für deutsche Exilliteratur, S. 12. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe, bearbeitet von Siegfried Scheibe. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. 1: Text. Berlin 1970, S. 11.
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Bernd Hamacher
erfolgreich war – wurde doch sein Leben lange Zeit nur in seinen Texten und in seinen Texten nur sein Leben gesehen –, aber in bezug auf dieses Korpus noch nicht analysiert wurde. Die rezeptionssteuernde Intention bekennt er im letzten Abschnitt des Vorwortes ganz offen: Hätte ein Nachlaßverwalter den Band herausgegeben, seine Auswahl wäre vermutlich ungefähr die gleiche gewesen. Vielleicht hätte ich wirklich einem solchen Getreuen das Geschäft überlassen sollen, denn ich sehe wohl, daß der Sammlung etwas Postumes anhaftet, und gewiß ist manches darin, was wieder in Erinnerung zu bringen allenfalls der Pietät des „Nachher“ hätte anheimgegeben werden sollen. Aber wenn nun doch einmal die launische Natur uns gewährt, gleichsam ins Nachher hineinzudauern und „uns selber historisch zu werden“, – warum sollten wir uns da nicht der Philologie zuvorkommend erweisen?30
Das kann heißen: Der Autor ist schon da, wo die Philologie erst hin möchte, er ist früher am Ziel; das kann aber auch heißen: Er nimmt der Philologie die Mühe ab – und wer könnte da widerstehen? Bekanntlich haben die Thomas-MannPhilologen dieses Angebot aufs Ganze gesehen dankend angenommen, indem sie lange Zeit im Banne der Selbstinterpretationen ihres Autors standen. Erst in jüngster Zeit wird reflektiert, wie er in seinen persönlichen Beziehungen zu Literaturwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen die Deutung seiner Werke steuerte oder zu steuern versuchte – zuletzt haben Werner Frizen und Friedhelm Marx mit ihrer Edition des Briefwechsels von Thomas und Katia Mann mit Anna Jacobson diese Zusammenhänge an einem Beispiel nachvollziehbar gemacht.31 In einer solchen Analyse der wechselnden Auto- und Autorimagines Thomas Manns anhand der von ihm selbst veranstalteten Ausgaben sehe ich ein dringendes Desiderat – bis hin zu den zu seinem 80. Geburtstag 1955 erschienenen Gesammelten Werken in zwölf Bänden des Aufbau-Verlages, die sich in Teilen einer Art Ausgabe letzter Hand nähern (während andererseits die Betrachtungen eines Unpolitischen aus ideologischen Gründen völlig fehlen). Denn wenn etwa der Band Altes und Neues eine Autobiographie ersetzen sollte, so wäre diese Autobiographie anhand der Textzusammenstellung erst noch zu rekonstruieren und außerdem zu untersuchen, inwiefern sie sich von derjenigen unterscheidet, die der in der Zusammenstellung durch Thomas Mann selbst veränderte gleichnamige Band der Aufbau-Ausgabe bietet, der allerdings kein Vor30
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Mann 1953 (Anm. 26), S. 15f. – Dieser Vermächtnischarakter kommt in noch stärkerem Ausmaß der zu Thomas Manns 80. Geburtstag 1955 unter Federführung von Hans Mayer erschienenen DDR-Ausgabe der Gesammelten Werke in zwölf Bänden des Aufbau-Verlags zu; dort erschien Altes und Neues in veränderter Zusammenstellung als Bd. XI – allerdings ohne Manns programmatisches Vorwort. Thomas Mann, Katia Mann – Anna Jacobson. Ein Briefwechsel. Hrsg. von Werner Frizen und Friedhelm Marx. Frankfurt/Main 2005 (Thomas-Mann-Studien 34). Vgl. außerdem Thomas Mann / Käte Hamburger: Briefwechsel 1932–1955. Hrsg. von Hubert Brunträger. Frankfurt/Main 1999 (Thomas-Mann-Studien 20).
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wort enthält. Nachdem die älteren postumen Ausgaben diese Mannschen Selbstbilder in vielfacher Verzerrung und ohne analytische Reflexion tradiert haben, werden sie von der GKFA weitgehend ausgelöscht. Angesichts dieses Befundes könnte man versucht sein, in die Rolle Thomas Buddenbrooks zu schlüpfen und den verschiedenen editorischen Hannos – ohne sie gleich mit zusammengezogenen Brauen anherrschen zu wollen – die Federn aus der Hand zu nehmen und ihre Schlußstriche zu tilgen. 1980 hatte Peter de Mendelssohn mit Blick auf die von ihm veranstalteten Gesammelten Werke in Einzelbänden voreilig und, wie man inzwischen weiß, völlig zu Unrecht behauptet, „endlich [...] wie Hanno Buddenbrook den großen Schlußstrich ziehen und gleich ihm mit einiger Zuversicht erklären“ zu können, „es komme nichts mehr.“32 Neuerdings ist es Rüdiger Görner, der in seiner Thomas-Mann-Monographie Der Zauber des Letzten suggeriert, nun sei mit den Editionen wirklich ein Letztes erreicht, und das „Abenteuer“ der Gesamtausgaben werde mit der GKFA „tatsächlich ein Ende finden“, wobei er die GKFA pikanterweise als „de facto historisch-kritische Ausgabe“ bezeichnet33 – pikanterweise deswegen, weil der Hauptherausgeber der GKFA, Eckhard Heftrich, sich programmatisch und polemisch gegen historisch-kritische Ausgaben wandte.34 Da die GKFA aber auch de facto und jenseits der Polemik nicht historisch-kritisch, sondern „im unscharfen Bereich zwischen Studienausgabe und kritischer Ausgabe“ angesiedelt ist, wie Rüdiger Nutt-Kofoth in einer Rezension bemerkte,35 mag es erlaubt sein, Wünsche zu äußern, die vielleicht zur Schärfung des Profils beitragen könnten. Mein Wunsch, den ich hiermit begründen wollte, würde lauten, den langen Schatten des Autors in den Editionen nicht zu verleugnen, aber aus ihm herauszutreten, um ihn vermessen zu können.
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De Mendelssohn 1980 (Anm. 28), S. 27. Rüdiger Görner: Thomas Mann. Der Zauber des Letzten. Düsseldorf und Zürich 2005, S. 17. Vgl. Eckhard Heftrich: Die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe – das Beispiel Buddenbrooks. In: Thomas Mann Jahrbuch 15, 2002, S. 89–101, hier S. 93. In: Deutsche Bücher 33, 2003, H. 2, S. 127–133, hier S. 132.
Sikander Singh Hermann Hesse oder Portrait des Schriftstellers als Verwalter seines Nachruhmes
Gemeinsam mit 33 anderen Autoren des Berliner S. Fischer Verlages wechselt Hermann Hesse 1950 zu dem – nach dem Zerwürfnis zwischen Peter Suhrkamp und Gottfried Bermann Fischer – in Frankfurt neugegründeten Suhrkamp Verlag.1 Während das renommierte Verlagshaus Samuel Fischers in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts maßgeblich zur Etablierung des jungen Autors Hermann Hesse beigetragen hat, ist es in den 1950er Jahren der mit dem Nobelpreis für Literatur geehrte Schriftsteller, der einen wichtigen Beitrag zum Aufstieg des Suhrkamp Verlages zu einem der bedeutenden literarischen Verlage im Nachkriegsdeutschland leistet. In den letzten beiden Lebensjahrzehnten konzentriert sich Hesses schriftstellerische Arbeit auf die Edition des bereits vorhandenen literarischen und publizistischen Œuvres, denn nach dem Glasperlenspiel, das 1943 im Züricher Verlag Fretz & Wasmuth erschienen ist, hat der Schriftsteller bis zu seinem Tod im Jahr 1962 kein größeres literarisches Werk vorgelegt. Im Dialog mit Peter Suhrkamp ediert Hermann Hesse im ersten Jahrzehnt des Verlages – neben den 1952 erschienenen Gesammelten Dichtungen und den 1957 veröffentlichten Gesammelten Schriften – eine Auswahlausgabe seiner Briefe,2 Sammel- und Einzelausgaben seiner Erzählungen,3 Neuauflagen seiner Romane, Sammelbände seiner Essays4 sowie Auswahlausgaben seiner Lyrik.5 Er schafft damit nicht nur die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg des jungen Verlages, sondern leistet zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Rezeption seines Werkes in den folgenden Jahrzehnten. 1
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Vgl. hierzu Barbara Heß: Hermann Hesse und seine Verleger. Die Beziehungen des Autors zu den Verlagen E. Diederichs, S. Fischer, A. Langen und Suhrkamp. Wiesbaden 2000. (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München. Bd. 65), S. 80f. Vgl. hierzu auch Hermann Hesse: Gesammelte Briefe. Hrsg. von Ursula und Volker Michels. 4 Bde. Frankfurt/Main 1973–1986, Bd. IV, S. 58–60. Briefe. Frankfurt/Main 1951, eine zweite, um 94 Briefe erweiterte Auflage wurde 1959 veröffentlicht. Späte Prosa. Frankfurt/Main 1951; Beschwörungen. Späte Prosa, neue Folge. Frankfurt/Main 1955. Gedenkblätter. Frankfurt/Main 1962. Die Gedichte. Berlin 1947, erweiterter Neudruck: Frankfurt/Main 1953; Stufen. Alte und Neue Gedichte in Auswahl. Frankfurt/Main 1961.
Hermann Hesse als Verwalter seines Nachruhmes
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Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich mein Beitrag zum einen mit den Überlegungen, die der Autor im Briefwechsel mit Peter Suhrkamp zur Gestaltung der Neuauflagen seiner Werke formuliert. Er betrachtet exemplarisch sowohl die editorischen Vorstellungen Hesses als auch die Prinzipien, die der Zusammenstellung der Werke in den Gesammelten Dichtungen zugrunde liegen, und beleuchtet zum anderen die werk- wie rezeptionsästhetischen Folgen dieser für einen lebenden Schriftsteller ungewöhnlichen und bemerkenswert konsequent vollzogenen Akzentverschiebung vom Autor zum Editor.
I. Die Publikationsgeschichte des Glasperlenspiels, mit dem Hermann Hesse sein literarisches Werk als abgeschlossen betrachtete, dokumentiert exemplarisch die Vorstellungen des Autors in Bezug auf die Veröffentlichung seiner Dichtungen. Nachdem Hesse die Arbeit an dem Roman im April des Jahres 1942 beendet hat, schickt er das Manuskript an Peter Suhrkamp nach Berlin, der nach Gottfried Bermann Fischers Emigration – zunächst nach Wien und nach dem ,Anschluß‘ der österreichischen Republik an das Deutsche Reich im Jahr 1938 nach Stockholm – den in Deutschland verbliebenen Teil des S. Fischer Verlages leitet. In den Sommermonaten des Jahres 1942 bemüht sich Suhrkamp vergeblich um die notwendige Genehmigung zur Veröffentlichung des Romans und die Zuteilung von Papier für den Druck des Werkes. Der kriegsbedingte Papiermangel ist jedoch nur die offizielle Begründung für die Ablehnung des Manuskriptes: Hesses literarisches Werk ist im nationalsozialistischen Deutschland unerwünscht. Als es im November desselben Jahres in Baden bei Zürich zu einer Begegnung zwischen Hesse und seinem Verleger kommt, gibt Suhrkamp dem Autor das Manuskript zurück. „Ich bin froh“, schreibt Hesse, „mein Manuskript wieder zu haben, das mehr als ein halbes Jahr in Berlin lag.“6 Das Werk kann schließlich, im Einvernehmen mit Peter Suhrkamp, mit einjähriger Verzögerung im Züricher Verlag Fretz & Wasmuth in zwei Bänden veröffentlicht werden. Mit Walther Meier, der von 1933 bis 1945 literarischer Leiter von Fretz & Wasmuth war, diskutiert Hesse im Sommer 1943 nicht nur über typographische und buchgestalterische Fragen, auf die der bibliophile Autor besonderen Wert legt, sondern auch über die Anordnung der das Werk konstituierenden Textteile. (Der Roman besteht aus drei Teilen: 1. Versuch einer allgemeinverständlichen Einführung in die Geschichte des Glasperlenspiels; 2. Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht; 3. Josef Knechts hinterlassene Schriften, beinhaltend die Gedichte des Schülers und Studenten sowie die drei Lebensläufe.) In einem Brief an Walther Meier aus dem Juni 1943 äußert er sich ablehnend zu 6
Hesse: Gesammelte Briefe 1973–1986 (Anm. 1), Bd. III, S. 217.
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Sikander Singh
dem bereits von Peter Suhrkamp angeregten und von dem Züricher Lektor aufgegriffenen Vorschlag, die Hinterlassenen Schriften des Magister Ludi Josef Knecht nicht an das Ende des Werkes zu stellen, sondern als Einheit aufzulösen und sie einzeln an den jeweiligen chronologischen Ort in der Lebensbeschreibung zu rücken. Hesse notiert: „Ich habe über diese Dinge nicht, wie Suhrkamp und Sie, einige Tage oder Stunden nachgedacht, sondern etwa zehn Jahre lang, und muß mich daher wehren.“7 Man einigt sich darauf, die von Hesse ursprünglich konzipierte Anordnung zu belassen, welche die für das Werk wesentliche Herausgeberfiktion formal unterstreicht. In den Umbruchfahnen, die Hesse einige Wochen später zugehen, korrigiert er lediglich einige Satzfehler im Bereich der Rechtschreibung und Interpunktion. Nach dem Erscheinen des Romans im Dezember 1943 notiert er an Peter Weiss: „[Ich bin] froh, daß der Knecht jetzt als Buch existiert, nicht mehr durch irgendeinen Zufall vernichtet werden und mich überleben kann.“8 Diese Zusammenhänge sind wichtig, will man verstehen, warum Hesse, als der Roman ein Jahr nach dem Kriegsende in Deutschland erscheinen kann, seinem Berliner Verleger einen ,Freibrief‘ erteilt. Am 31. Januar 1946 fragt Suhrkamp bei Hesse an: „Ich halte mich im Text genau an die Schweizer Ausgabe. Damit sind Sie doch einverstanden? Leider kann ich Sie keine Korrekturen lesen lassen. Wenn Sie also Änderungswünsche haben, suchen Sie doch einen Weg, mir diese möglichst bald und zuverlässig zugehen zu lassen.“9 Hesse antwortet darauf: „Sie können also Ihre Pläne mit Glasperlenspiel, Zarathustra und Betrachtungen nach Ihrem Ermessen ausführen.“10 Hesse gehörte in den Jahren 1933 bis 1945 zwar nicht zu den Autoren, die offiziell verboten waren, jedoch verweigerte das Reichspropagandaministerium dem S. Fischer Verlag die Papierzuteilung und griff auf diese Weise limitierend in die Veröffentlichungspolitik des Verlages ein, so daß neue Werke nicht erscheinen und ältere Titel nicht nachgedruckt werden konnten und somit nur noch in Restauflagen verfügbar waren. Abgesehen von den damit verbundenen finanziellen Schwierigkeiten – Hesse war, wie zahlreiche andere Exil-Autoren, auf den Absatz seiner Werke in Deutschland angewiesen – ist es ihm 1945, nach mehrjähriger Abwesenheit vom deutschen Buchmarkt, wichtig, wie er selbst formuliert, „rasch zu einem sozusagen fortlaufenden Gespräch mit den Lesenden zu kommen“.11 Weil Hesse nicht an einer Revision seiner Werke interessiert ist, sondern an dem Dialog mit den Lesern, sind auch die Neuauflagen seiner Romane und 7 8 9
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Ebenda, S. 226. Ebenda, S. 238. Hermann Hesse – Peter Suhrkamp. Briefwechsel 1945 bis 1959. Hrsg. von Siegfried Unseld. Frankfurt/Main 1969, S. 18f. Ebenda, S. 22f. Ebenda, S. 24.
Hermann Hesse als Verwalter seines Nachruhmes
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Erzählungen, die Peter Suhrkamp von 1946 bis 1950 im Fischer Verlag und nach dem Vergleich mit Bermann Fischer in seinem eigenen Verlag ediert, textidentisch mit den Ausgaben, die der S. Fischer Verlag seit 1925 im Rahmen einer Werkausgabe in Einzelbänden veröffentlicht hat, einzig Satzfehler werden korrigiert.
II. Die Textgestalt seiner Werke im Rahmen der Gesammelten Dichtungen, die der Suhrkamp Verlag am 2. Juli 1952 anläßlich des 75. Geburtstages des Dichters herausgegeben hat, basiert ebenfalls auf den jeweils letzten Ausgaben der einzelnen Werke.12 Bereits 1946 sprechen Hermann Hesse und Peter Suhrkamp über eine Neuedition der seit den zwanziger Jahren im S. Fischer Verlag erschienenen Gesammelten Werke in Einzelbänden. Hesse äußert sich zunächst abwartend zu den Plänen Suhrkamps: „Ich rechne nicht mehr damit, die teilweise Neuausgabe meines Werkes noch zu erleben, oder aus Deutschland wieder Einkünfte beziehen zu können. [...] Mich mit dem Wiederaufbau der Gesammelten Werke zu befassen, dazu fehlt mir nicht nur Glaube und Lust, sondern auch die Arbeitsfähigkeit.“13 Daß die Werkausgabe erst zu Beginn der fünfziger Jahre erscheinen kann, ist zudem auf den Papiermangel der ersten Nachkriegszeit zurückzuführen, außerdem ist Suhrkamp in den späten vierziger Jahren nicht in der Lage, die Mittel für die Finanzierung eines solchen Projektes bereitzustellen. Als die Ausgabe schließlich 1952 realisiert werden kann, wird – um bei dem Beispiel des Glasperlenspieles zu bleiben – der Roman nach der deutschen Erstausgabe des Jahres 1946 gesetzt und ohne nochmalige Fahnenkorrektur des Autors veröffentlicht. Wie sorgsam Peter Suhrkamp hierbei vorgegangen ist, zeigt sich im direkten Vergleich der Einzelausgabe und der im sechsten Band der Gesammelten Dichtungen veröffentlichten Fassung: Beide Ausgaben sind bis in die Eigenheiten der Hesseschen Interpunktion textidentisch. Einzig die Herausgeberfiktion, die Hesse in der Schweizer Erstausgabe wie der Auflage des Jahres 1946 durch die Titelei aufrecht erhält, wird in den Gesammelten Dichtungen aufgegeben.14 Wie bei der 1919 veröffentlichten Erzählung Demian bezeugt Hesse durch die fiktive Herausgeberschaft die Realität des Erzählten und unterstreicht damit, daß er seine Romane und Erzählungen als „Seelenbiographien“ 12 13 14
Vgl. hierzu Heß 2000 (Anm. 1), S. 84. Hesse – Suhrkamp. Briefwechsel 1969 (Anm. 9), S. 22. Vgl. Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften. Hrsg. von Hermann Hesse. Berlin 1946; Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften. – In: Hermann Hesse: Gesammelte Dichtungen. 6 Bde. Frankfurt/Main 1952, Bd. VI, S. 77–685.
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Sikander Singh
betrachtet.15 Während er erst 1920, ein Jahr nach der Veröffentlichung des Demian, seine Herausgeberschaft in einem in der Monatsschrift Vivos voco veröffentlichten Artikel als Fiktion offenbart, nachdem in den deutschen Feuilletons länger als ein Jahr über die Identität „Emil Sinclairs“ diskutiert worden ist, akzeptiert er die von Suhrkamp veränderte Titelei des Glasperlenspiels kommentarlos.16 Zudem ist zu vermuten, daß der Autor die Veränderung des Titels durch seinen Verleger auch deshalb durch sein Schweigen legitimiert, weil das Glasperlenspiel ein utopischer Roman ist und die Herausgeberschaft sich damit bereits textimmanent als Illusion dekuvriert. Da Suhrkamp Bedenken in Bezug auf den Umfang des Bandes hat, macht Hesse den Vorschlag, „die Gedichte des jungen Knecht wegzulassen, d. h. statt ihrer nur einen Hinweis zu bringen etwa so: ,Die Gedichte des jungen Josef Knecht, welche einen Teil seiner hinterlassenen Schriften bilden, findet der Leser im Band Gedichte.‘“17 Da dies das Volumen des sechsten Bandes der Werkausgabe, der das Glasperlenspiel und die Morgenlandfahrt beinhaltet, nur unerheblich verringert hätte, beläßt Suhrkamp die Gedichte jedoch an ihrem ursprünglichen Ort. Zudem diskutieren der Autor und sein Verleger über Titel und Bandaufteilung der Gesammelten Dichtungen. Suhrkamp schreibt in einem Brief vom 18. Mai 1951: „Du hattest dafür ,Gesammelte Dichtungen‘ oder ,Das Dichterische Werk‘ vorgeschlagen. ,Dichtungen‘ in Verbindung mit Prosa ist bei uns ungebräuchlich. ,Man‘ erwartet dahinter in der Hauptsache Verse. Persönlich hielte ich aber trotzdem ,Gesammelte Dichtungen‘ für angängig.“18 Hesse antwortet darauf am 20. Mai 1951: „Was soll mir eine Ausgabe in einem Land und einer Zeit, die eine andere Sprache sprechen als ich, wo ,Wilhelm Meister‘ und der ,Witiko‘ nicht als ,Dichtungen‘ bezeichnet werden dürfen.“19 Als normativer Begriff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstituiert, ist das Wort ,Dichtung‘ Ausdruck einer spezifisch deutschen Tradition literarischer Wertung und indiziert die Bedeutung und den Einfluß der klassisch-romantischen Kunstauffassung bis in das 20. Jahrhundert. Im Gegensatz zu ,Werke‘ oder ,Schriften‘ konnotiert der Begriff ,Dichtung‘ traditionell Aspekte des Erhabenen und Herausgehobenen und verweist auf die schöpferische Gestaltungskraft des Individuums. Die Verwendung des Begriffs der ,Dichtung‘ steht auch in der Nachfolge des ganzheitlichen Literaturverständnisses der frühen Romantik, in deren poe15
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Hermann Hesse: Gesammelte Werke. 12 Bde. Frankfurt/Main 1970, Bd. XI, S. 81. Das Werk erschien in der Erstauflage unter dem Titel: Demian. Die Geschichte einer Jugend. Von Emil Sinclair. Berlin 1919. Vgl. hierzu auch Ralph Freedman: Hermann Hesse. Autor der Krisis. Eine Biographie. Frankfurt/Main 1999, S. 254f. Vivos Voco. Heft 1. 1920. Vgl. hierzu auch Sikander Singh: Hermann Hesse. Stuttgart 2006, S. 113f. Hesse – Suhrkamp. Briefwechsel 1969 (Anm. 9), S. 173. Ebenda, S. 171. Ebenda, S. 172.
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tologischer Tradition Hermann Hesse sein literarisches Werk sieht. Dieses Selbstverständnis deutet sich bereits bei den wechselnden Gattungsbezeichnungen erzählender Texte des Frühwerkes an, die mal mit dem Zusatz „Erzählung“, mal unter der Bezeichnung „Roman“ erschienen sind. Hesse betont bereits mit der Entscheidung für den Titel Gesammelte Dichtungen ein künstlerisches Selbstverständnis, das auch in der Anordnung der Texte zum Ausdruck kommt. Das Konzept einer sechsbändigen Ausgabe brachte zudem das Problem, unterschiedliche Texte in jeweils einem Band zusammenzustellen. Während Suhrkamp zunächst einer Anordnung nach Gattungen den Vorzug gab, präferierte Hesse den chronologischen Aufbau der Ausgabe. Wie bei der Edition der Einzelwerke setzt der Verleger seinem Autor in diesen Fragen jedoch keinen Widerstand entgegen, und gemeinsam entwickeln sie die Anordnung der Dichtungen in der Reihenfolge ihrer Entstehung und das Prinzip der Nebeneinanderstellung wesensverwandter Werke innerhalb der chronologischen Folge. Einzig die Gedichte werden zusammengefaßt, sie erscheinen im fünften Band neben Narziß und Goldmund, Stunden im Garten und Der lahme Knabe. Suhrkamp versteht dies als eine pragmatische Entscheidung, weil die Gedichte allein nur einen „ganz schwachen Band“ ergäben, wie er in einem Brief notiert.20 Hesse verfolgt damit jedoch eine programmatische Absicht: Indem er den Roman Narziß und Goldmund mit den Hexameterdichtungen Stunden im Garten und Der lahme Knabe sowie den Gedichten zusammenstellt, akzentuiert er den lyrischen Ton seines Romans, der bereits bei seinem Erscheinen im Jahr 1930 von einem Rezensenten als „unzeitgemäße Poesie“ beurteilt worden ist.21 Durch die chronologische Anordnung seiner Texte im Rahmen der Werkausgabe stehen die Romane und Erzählungen nicht mehr als Entwicklungs- und Bildungsgeschichten einzeln für sich, sondern werden in einen größeren Kontext gestellt, der über den Rahmen der Literatur hinaus auf das Leben des Autors verweist. Die Verschränkung literarischer Reflexion und lebensweltlicher Erfahrung, die schon in Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit auf eine ebenso programmatische wie einsichtige Weise vollzogen wird, spiegelt sich auch in den Analogien, die der späte Hermann Hesse zwischen seiner Biographie und seinen dichterischen Werken aufzeigt. Dichtung, erklärt er in einem Brief aus dem März 1962, sei nicht die „Herstellung möglichst schöner, auf andre wirkender Gebilde“, sondern „Einkehr und Weg zur Selbsterkenntnis“.22 Die Anordnung der Dichtungen in der chronologischen Folge ihrer Entstehung verdeutlicht, daß der Sinn der literarischen Werke in der Person des Autors selbst liegt und sich erst durch diesen erschließt. „Meine Dichtungen sind alle ohne Absichten, ohne Tendenzen entstanden“, schreibt er 1954. „Wenn ich aber 20 21 22
Ebenda, S. 174. Siegfried Unseld: Hermann Hesse. Werk- und Wirkungsgeschichte. Frankfurt/Main 1985, S. 137. Hermann Hesse: Ausgewählte Briefe. Erweiterte Ausgabe. Zusammengestellt von Hermann und Ninon Hesse. Frankfurt/Main 1974, S. 549.
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Sikander Singh
nachträglich nach einem gemeinsamen Sinn in ihnen suche, so finde ich allerdings einen solchen: vom ,Camenzind‘ bis zum ,Steppenwolf‘ und ,Josef Knecht‘ können sie alle als eine Verteidigung (zuweilen auch als Notschrei) der Persönlichkeit, des Individuums gedeutet werden.“23 Beginnend mit den frühen Prosawerken der Basler Zeit bis zu dem in den dreißiger und vierziger Jahren entstandenen Alterswerk reflektieren seine Romane und Erzählungen die Frage, wie der Mensch zu der Erkenntnis seiner selbst kommen kann und wie diese Ich-Werdung im Spannungsfeld des Individuellen und des Kollektiven vollzogen werden kann. In diesem Sinne schreibt Peter Suhrkamp über die Edition der Gesammelten Dichtungen: „In der Geschichte des Werkes setzt diese Ausgabe einen Meilenstein. Denn sie verdichtet zum ersten Male eine Gesamtheit, die als Gestalt bisher nicht repräsentiert und nur dem Bewußtsein Einzelner sichtbar war, eben die Gestalt der Werkeinheit, die aus keinem Nacheinander oder Nebeneinander der Einzelwerke sich addieren läßt, sondern ein höheres Gebilde sui generis darstellt, das schöne Ganze eines poetischen Organismus, wie er lebend sich entwickelt hat.“24
III. Wie weitreichend die editorischen Entscheidungen sind, die Hermann Hesse und Peter Suhrkamp mit den Gesammelten Dichtungen getroffen haben, zeigt sich im Vergleich dieser Ausgabe mit den 1970 veröffentlichten Gesammelten Werken in 12 Bänden. (Die Gesammelten Schriften des Jahres 1957 können in diesem Kontext ignoriert werden, da sie identisch mit der Ausgabe der Gesammelten Dichtungen sind und lediglich um einen siebten Band Betrachtungen, Briefe, Rundbriefe, Tagebuchblätter erweitert erscheinen.) Die 1970 im Suhrkamp Verlag von Siegfried Unseld vorgelegte 12-bändige Ausgabe folgt in Textanordnung und -gestalt der von Hesse und Suhrkamp verantworteten Edition des Jahres 1952. Eine Erweiterung erfährt sie lediglich in Bezug auf die publizistische Prosa, die Unseld in den Bänden elf und zwölf versammelt und deren Herausgabe der Autor in den späten vierziger Jahren als „ganz unerlaubten Luxus“, solange seine „wichtigsten Bücher“ auf dem deutschen Buchmarkt fehlten, abgelehnt hatte.25 Hesse betrachtete seine Rezensionen und Buchberichte lediglich als Gelegenheitsarbeiten. Die von Volker Michels von 2001 bis 2004 bei Suhrkamp herausgegebene Werkedition in 20 Bänden ist die erste Ausgabe, die Hesses sämtliche Werke umfaßt und sie ist die erste Ausgabe, welche die vom Autor selbst konzipierte Textanordnung aufhebt und die Werke nach Gattungen und innerhalb der Gat23 24 25
Hesse: Gesammelte Werke 1970 (Anm. 15), Bd. XI, S. 13. Unseld 1985 (Anm. 21), S. 217. Hesse – Suhrkamp. Briefwechsel 1969 (Anm. 9), S. 55.
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tungen chronologisch darbietet.26 Trotz ihrer Vollständigkeit kann sie jedoch wissenschaftlichen Ansprüchen nur bedingt genügen. Sie folgt, sofern es sich nicht um Werke handelt, die nur im Erstdruck vorliegen, in der Textgestaltung den Gesammelten Dichtungen des Jahres 1952 und tradiert auf diese Weise das Bild, das Hermann Hesse selbst in der letzten zu Lebzeiten erschienenen und autorisierten Ausgabe für die Nachwelt entworfen hat. Wie zweifelhaft dies sein kann, zeigt nicht nur Johann Wolfgang von Goethes Ausgabe letzter Hand. Damit ist zu konstatieren, daß Hermann Hesse mit den 1952 veröffentlichten Gesammelten Dichtungen die Textgestalt und damit die Wirkung seines Werkes bis in die Gegenwart geprägt hat. Die Einzelausgaben seiner Erzählungen und Romane, seiner Märchen und Gedichte, die in den fünfziger Jahren parallel erscheinen, vor allem jedoch die Edition eines Bandes mit Briefen und die Herausgabe einer Zusammenstellung seiner Späten Prosa unterstreichen den Charakter eines literarischen Vermächtnisses zu Lebzeiten. Zumal die Briefauswahl des Jahres 1951, das Schreiben an Freunde, Verleger, Schriftstellerkollegen und Leser umfaßt, aus der retrospektiven Distanz des Alters den inneren Zusammenhang des Gesamtwerkes und die formale wie thematische Relation von Frühund Spätwerk evident macht. Hesses Publikationspraxis der fünfziger Jahre verfolgt das Ziel einer Revision des Gesamtwerkes. Der Dichter beglaubigt durch die Wiederherausgabe der Werke aus der Retrospektive des Alters implizit die eigenen psychischen Entwicklungskonflikte, die sein Werk literarisch reflektiert und variiert. Er unterstreicht damit den Charakter seiner Dichtungen als Seelenbiographien und Selbstanalysen. Die erneute, von Selbstdeutungen begleitete Publikation der Texte läßt die eigene Gegenwart im Lichte der eigenen Vergangenheit erscheinen; sie verfolgt zum einen die Absicht, das Leben wie das Œuvre als literarisches Kunstwerk zu stilisieren und zum anderen dem eigenen Schaffen eine historische Dimension und Legitimation im Kontext der politischen, literaturund geistesgeschichtlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts zu geben, und prädisponiert auf diese Weise die wissenschaftliche wie die öffentliche Rezeption des Werkes bis in die Gegenwart.27
26 27
Sämtliche Werke. Hrsg. von Volker Michels. 20 Bde. Frankfurt/Main 2001–2004. Vgl. hierzu auch Singh (Anm. 16), S. 291.
Walter Fanta Das Zögern vor dem letzten Schritt Zur digitalen Edition von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften
Im Fokus steht eine Fortsetzungsvariante des Romans Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil, die 1938 beim Verlag Bermann-Fischer in Wien hätte in Druck gehen sollen. Auf den Druckfahnen, die im Nachlaß Musils erhalten sind, findet sich eine redaktionelle Bearbeitung durch den Autor. Das Studium der Autorredaktion gibt Antworten auf interpretatorische Fragen nach Gründen für die Unabgeschlossenheit des Mann ohne Eigenschaften; es hilft bei der Klärung des Status der Druckfahnenkapitel innerhalb des Romanganzen, was eine der großen editorischen Fragen rund um diesen Roman berührt; außerdem bestimmt die Autorredaktion die Konstitution des Textes der zwanzig Kapitel beim Versuch, die Romanfortsetzung aus dem Nachlaß neu herauszugeben.1 Die These im Zusammenhang mit dem Tagungsthema, die ich im folgenden exemplifizieren werde, lautet: In Musils Redaktion der Druckfahnenkapitel offenbart sich der Fall eines Autors als Redakteur, in dem der Autor angesichts des Zusammenbruchs der deutschsprachigen literarischen Öffentlichkeit auf sich selbst zurückgeworfen agiert und schließlich kapituliert. Das Erste Buch des Mann ohne Eigenschaften erschien im Herbst 1930. Die Kritik in der Weimarer Republik pries es als großen satirischen Zeitroman. Das Erscheinen des ersten Teils des Zweiten Buchs (Kapitel 1–38) mit dem Untertitel Ins Tausendjährige Reich (Die Verbrecher) ging in den Wirren des Jahreswechsels 1932/1933, die die Republik zum Kippen brachten, praktisch unter. Robert Musil kehrte 1933 von Berlin nach Wien zurück, dort quälte er sich bis 1936 mit einer Fortsetzung des Romans nach den Vorstellungen und Plänen, die er in den Zwanzigerjahren entwickelt hatte und die das erzählerische Geschehen des Zweiten Buchs in seinem Schlußteil („Eine Art Ende“) bis in den Wahnsinn des Kriegsausbruchs im Sommer 1914 führen sollte. Seit 1932 verfolgte Musil das Konzept, die Massenhysterie am Anbeginn des Ersten Weltkriegs erzählerisch mit der kollektiven Hysterie im nationalsozialistisch werdenden Deutsch1
Bisher existieren drei posthume Buchausgaben, in denen die Fragen der Ein- und Anordnung der Druckfahnenkapitel unterschiedlich gelöst sind: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Dritter Band. Aus dem Nachlaß hrsg. von Martha Musil. Lausanne 1943, S. 13ff; Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Hrsg. von Adolf Frise´. Hamburg 1952 (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 1), S. 1067ff; Robert Musil: Gesammelte Werke. Hrsg. von Adolf Frise´. Reinbek 1978. Bd. I: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, S. 1045ff.
Zur digitalen Edition von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“
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land zu synchronisieren, die Kriegstreiberei in der „Parallelaktion“ und die Geistesgestörtheit von Figuren wie Clarisse und Moosbrugger sollten vom Leser als Analogie zu den aktuellen Ereignissen verstanden werden können. Musil verlor jedoch dann sukzessive den Glauben daran, die Romanfabel als Spitze gegen den Umsturz von rechts in Deutschland einsetzen zu können – in dem Maß, in dem sich das nationalsozialistische Regime festigte. Zunehmend schien ihm die satirische Darstellung der jüdischen Figuren – Arnheim, Fischel, Feuermaul – und die Rolle, die er ihnen für das Romanfinale zugedacht hatte, problematisch.2 Zunehmend begann er an der Wirkungsmächtigkeit seines satirischen Projekts gegen die Zeitläufte zu zweifeln. In einem Essay von 1933, der unter dem Titel Bedenken eines Langsamen in der Zeitschrift Die Neue Rundschau hätte veröffentlicht werden sollen, dessen Veröffentlichung aber unterblieb, näherte sich Musil dem Umbruch in Deutschland erstmals mit den neugierigen Augen eines Beobachters, der den Ausgang plötzlich nicht mehr kennt. In der kurzen Rede, die Musil 1935 am Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur gegen den Faschismus in Paris hielt, fordert er die Verteidigung der Kultur vor ihren Verteidigern, er wendet sich dagegen, die Literatur als Instrument antifaschistischer Politik zu gebrauchen, in seinen Augen zu mißbrauchen.3 In der Arbeit am Roman schlägt sich dies nieder, indem er den von den politischen Vorgängen im Deutschen Reich ausgeborgten Begriff der „Gleichschaltung“4 der satirischen Bedeutung für den Roman entkleidete und ihm eine psychologische bzw. philosophische Bedeutung gab. Er entschloß sich dazu, gegen den gesellschaftspolitischen Totalitarismus der Zeit auf etwas Dauerhafteres als Satire zu setzen, nämlich auf Reflexion und Utopie – gipfelnd in der „Utopie der induktiven Gesinnung“5 der Hauptfigur Ulrich. Der entscheidende Schritt im Übergang zu einer neuen Romankonzeption vollzog sich im Herbst 1936, als Musil, nachdem die Aussicht auf die Veröffentlichung beim gleichgeschalteten Rowohlt-Verlag praktisch erloschen war, die Chance erhielt, eine Romanfortsetzung bei Gottfried Bermann Fischer zu publizieren, der in Wien einen Emigrationsverlag gegründet hatte.6 1937 stellte 2
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4
5 6
Vgl. Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Wien-Köln-Weimar 2000, S. 437ff. Vgl. Klaus Amann: Robert Musil und der ,Internationale Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur‘ 1935 in Paris. In: Ungefragt. Über Literatur und Politik. Hrsg. von Klaus Amann, Heinz Lunzer und Ursula Seeber. Wien 2005, S. 32–47. Der Zusammenhang wird in einer Monographie Klaus Amanns mit dem geplanten Titel „Robert Musil – Literatur und Politik“ noch genauer dargestellt, die 2007 in der Reihe Rowohlts Enzyklopädie erscheinen wird. Texte aus dem Musil-Nachlaß werden in diesem Beitrag bereits aus der geplanten neuen digitalen Ausgabe zitiert: Robert Musil. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Im Auftrag des Robert Musil-Instituts der Universität Klagenfurt hrsg. von Walter Fanta und Klaus Amann. Klagenfurt 2008 (KLAGENFURTER AUSGABE / DVDROM), hier: Nachlaß-Transkriptionen, Mappe III/5/71. Mappe III/8/255 (Anm. 4). Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek 2003, S. 1239ff.
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Musil eine Reinschriftfassung von zwanzig Fortsetzungskapiteln mit den Kapitelnummern 39–58 her. Sie enthält vier erzählerische Substanzen: (1) die neue Satire des christlich-sozialen Pedanten August Lindner, (2) die Fortsetzung der Parallelaktionssatire, vermittelt durch Berichte, welche General Stumm von Bordwehr den Geschwistern Ulrich und Agathe gibt, (3) den Beginn einer „Reihe wundersamer Erlebnisse“ der Geschwisterliebesgeschichte und schließlich (4) die Kapitel mit Ulrichs Tagebuch, in dem der „aus der Kutte gesprungene Mathematiker“7 seine Reflexion über die Liebe zu einer Theorie der Gefühle weiter treibt. Die zwanzig Kapitel bringen eine Reduktion der Handlungsstränge, eine Rücknahme der Polyphonie und mit der Gefühlstheorie ein neues, im früheren Konzept Musils nicht vorgesehenes Element. Bei Ulrichs Tagebuch, einem wissenschaftlichen Traktat, wird man als Leser den Eindruck nicht los, daß die Grenze zwischen Figur und Autor durchlässig wird und der Roman als solcher an die Grenzen seiner Möglichkeiten stößt. Kürzlich hat Sabine Döring aber die bedeutende Stellung von Musils Gefühlstheorie innerhalb des Diskurses der analytischen Philosophie im 20. Jahrhundert nachgewiesen.8 Die Druckfahnenkapitel, die diesen Diskurs enthalten und um die es in den weiteren Ausführungen geht: erweitern oder ersetzen sie die gesellschaftssatirische und mythologische (Geschwistermythos) Dimension des Romans? Musil rechnete Anfang des Jahres 1938 mit der Veröffentlichung der zwanzig Kapitel als „Zwischenfortsetzung“ (wie er es nannte) des zweiten Romanbands (auch: Band 2, Teil 2). Er wollte zu diesem Zeitpunkt einen noch etwa doppelt so langen Schlußband schreiben. Vom Bermann-Fischer-Verlag erhielt er 130 Seiten mit Druckfahnen zur Korrektur. Während er gleichzeitig auch schon an handschriftlichen Kapitelentwürfen zur Fortsetzung arbeitete, begann Musil Anfang 1938 die Fahnen zu korrigieren, zunächst so, wie er Fahnenkorrekturen üblicherweise auszuführen pflegte, nämlich mit nur wenigen Eingriffen, die er vorwiegend am rechten Rand mit Bleistift und unter Verwendung von Setzerzeichen und lateinischen Buchstaben anbrachte.9 Diese erste Phase der Redaktionstätigkeit Musils an der „Zwischenfortsetzung“ wurde am 12. März 1938 unterbrochen. Der Anschluß Österreichs an das Dritte Reich hatte die Flucht Bermann Fischers aus Wien nach Stockholm und die Liquidierung seines Wiener Verlags zur Folge. In den Monaten darauf versuchten der Verleger, sein Lektor Viktor Zuckerkandl und weitere Persönlichkeiten des literarischen Exils wie Thomas Mann, Musil zur Ausreise aus dem Dritten Reich zu bewegen und Vorsorge für seine Existenz im Exil zu treffen. Die überlieferte Korrespondenz bezeugt, daß Musil trotz der Gefährdung seiner Frau Martha als Jüdin und trotz der völligen Perspektivelosigkeit seiner schriftstellerischen Weiterexistenz im 7 8
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Mappe II/6/40 bzw. II/6/131 (Anm. 4). Vgl. Sabine Döring: Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie. Paderborn 1999. Zum Beispiel Mappe Druckfahnen/1 (Anm. 4), siehe Abb. 1.
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Dritten Reich (Musil stellte ein Gesuch um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, aber der Mann ohne Eigenschaften wurde auf die Liste der im Reich verbotenen Bücher gesetzt) taub blieb, schlicht und einfach deswegen, weil er sich ganz und gar auf die Arbeit am Roman fixierte.10 Diese Situation fällt mit der zweiten Phase der redaktionellen Bearbeitung an den Druckfahnen zusammen. Musil griff nun stärker in den Text ein, er führte an nicht weniger als sechs der zwanzig Kapitel eine umfangreiche Umarbeitung durch, konkret an den beiden Kapiteln mit Gartengesprächen der Geschwister über die Liebe und an vier der sechs Kapitel mit Ulrichs Tagebuch. Das redaktionelle Prinzip blieb in dieser zweiten Bearbeitungsphase jedoch aufrecht, das heißt, Musil nahm die Korrekturen weiterhin mit Bleistift in gut lesbarer lateinischer Schrift am Rand des gesetzten Texts der Druckfahnen vor; zusätzlich fügte er an zwei Stellen insgesamt 9 Seiten Typoskript und an einer Stelle Seiten in Handschrift ein, welche Reinschriften der an diesen Stellen sehr komplexen Korrekturen bieten.11 Als redaktionell zu bezeichnen ist der Arbeitsgang deswegen, weil er weiterhin den gesetzten Text der Fahnen zur Basis hatte und in seinem Ergebnis dem Prinzip treu blieb, den fertigen, veröffentlichbaren Text des Buchs mit der „Zwischenfortsetzung“ zu liefern. Zugleich hatte sich Musil in einem Akt der Realitätsverweigerung inzwischen jeder Veröffentlichungsmöglichkeit beraubt, indem er das Hilfsangebot seines Verlegers ausschlug. Die zweite Bearbeitungsphase der Druckfahnen ist zugleich als Versuch zu deuten, als Autor die Souveränität über den Text in einer belasteten Situation zurückzugewinnen und ihn angesichts der uneindeutigen Umstände zu sichern, indem der Autor nicht mehr auf rasche Veröffentlichung drängte, sondern eine langwierige Redaktion des Texts in Kauf nahm, die bereits die Tendenz hatte, aus dem fertigen Text wieder einen unfertigen zu machen. Aber so weit war die Entwicklung durch den zweiten Umarbeitungsschritt, der noch in Wien erfolgte, nicht gediehen. Im August 1938 reisten Musil und seine Frau über Italien in die Schweiz und nahmen vorerst für etwa zehn Monate Aufenthalt in Zürich. In die Züricher Zeit fällt die dritte Bearbeitungsphase der Druckfahnenkapitel, die ich nun nicht mehr als redaktionelle Bearbeitung bezeichne, sondern als Beginn der Preisgabe der bisherigen Anordnung. Klar unterscheidbar von der älteren Bearbeitung erfolgten die Glossierungen am Rand der Fahnenblätter mit einem anderen Schreibmaterial und in Kurrentbuchstaben, nicht mehr in lateinischer Schrift.12 Es handelt sich nicht länger um exakt ausgeführte Korrekturen, sondern um Variantenvorschläge und um Kommentare zum Text, die auf eine völlige Neugestaltung weisen. Musil legte nun parallel 10
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Vgl. Robert Musil: Briefe 1901–1941. 2 Bde. Hrsg. von Adolf Frise´. Bd. 1: Briefe. Bd. 2: Kommentar und Register. Reinbek 1981, Bd. 1, S. 821ff. bzw. Bd. 2, S. 470ff. Zum Beispiel Mappe Druckfahnen/94, 101a, 120a (Anm. 4), siehe Abb. 2 und Abb. 3. Zum Beispiel Mappe Druckfahnen/126, siehe Abb. 4.
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eine eigene Mappe mit der Aufschrift „Korrektur II“ und „Korrektur III“13 an, später erweitert zur Korrektur III-XIII,14 in denen er ausführlich Notizen zum Umbau der Druckfahnenkapitel zu Papier brachte, einen Umbau, den er allerdings nie ausführte. Seinen letzten Lebensabschnitt verbrachte Musil von Sommer 1939 bis zu seinem Tod am 15. April 1942 in Genf. Er unternahm drei Anläufe, neue Kapitelreihen mit Kapitelnummern ab 47 zu verfassen, die er an der Stelle der Gartengesprächskapitel 47 und 48 der Druckfahnen in den Romanfortgang zu integrieren gedachte. Hier spätestens beginnen die unbeantwortbaren Fragen. Wollte er die Genfer Kapitel an Stelle der Druckfahnenkapitel 47 und 48 einfügen und dann die restlichen Druckfahnenkapitel in einer überarbeiteten Form folgen lassen, oder plante er mit den Genfer Kapiteln den gesamten Text der Druckfahnen ab Kapitel 47 zu ersetzen? Manches spricht für die zweite Variante, daß Musil nämlich damit liebäugelte, den Gefühlstheorie-Traktat wieder aus dem Roman zu entfernen und ihn durch Gespräche Ulrichs, Agathes und Stumm von Bordwehrs zu ersetzen. Aus den zahlreichen Notizen, Anmerkungen, Reflexionen und Kommentaren zur Arbeit ist aber eindeutig zu belegen, daß er die Entscheidung dieser Frage bis zuletzt offen gelassen hatte. Die Mappe mit den Druckfahnen lag, wie wir aus einem Übersiedlungsinventar von April 1941 und aus den ersten posthumen Inventaren der Witwe bestimmt wissen, in Genf nicht mehr am Schreibtisch Musils. Ein konkretes Umschreiben des Traktats in Dialog hat es nicht gegeben. In Buchausgaben der Romanfortsetzung aus dem Nachlaß, sei es in der ersten Ausgabe Adolf Frise´s von 1952, sei es in den zahlreichen fremdsprachigen Ausgaben, war immer wieder versucht worden, aus dem Torso einen lesbaren Text mit einer fortschreitenden Handlung zu formen. Doch läßt sich nicht leugnen, daß das Resultat des Musilschen Schreibprozesses in einer Zerschlagung der narrativen Einheit liegt. Die editorische Lösung kann nicht in der künstlichen Wiederherstellung der Einheit bestehen. Die Klagenfurter digitale Ausgabe bietet den ersten vor der Leserschaft wie philologisch vertretbaren Ausweg. Bei der Vermittlung des Musilschen Romans wird eine Doppelstrategie eingeschlagen: Für das Studium des Materials offeriert die elektronische Ausgabe die Struktur einer Hypertext-Datenbank. Sie dokumentiert jegliches Material, das dem Autor Robert Musil zuordenbar ist, neben den autorisierten Texten auch den gesamten Nachlaß sowohl in einer – komplex gesteuert absuchbaren – Transkription als auch durch Faksimiles in Bilddateien. In diesem Dokumentteil der Edition ist Musils redaktionelle Bearbeitung der Druckfahnen von 1938 in allen Stufen erstens via Faksimile reproduziert und damit direkt einsehbar, zweitens 13 14
Mappe V/2/1–11 (Anm. 4). Mappe V/5 (Anm. 4).
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durch die Transkription dargestellt und drittens textgenetisch kommentiert. Durch diese Vorgangsweise ist die Beantwortung der offenen Fragen, was die Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften betrifft, der Spekulation entzogen. Jede/r Forscher/in mag aus der Veröffentlichung der Dokumente selbst Konsequenzen ziehen. Für die Leserschaft des Romans wartet die kommentierte digitale Gesamtedition mit einer Lesetextversion der Romanfortsetzung auf, die aus der Transkription generiert ist. Dabei ist das Problem der Anordnung neu gelöst. Die Herausgeber der bisherigen Bucheditionen nutzten drei Möglichkeiten, die Druckfahnenkapitel in eine lineare Kapitelsukzession zu bringen: (a) Druckfahnen bis Kapitel 46, dann die Kapitel 47–52 der letzten Genfer Ersetzungsreihe, dann die Druckfahnen ab Kapitel 49 mit den neu vergebenen Nummern ab 53; (b) die Druckfahnen bis Kapitel 46, dann die Kapitel 47–52 der letzten Genfer Ersetzungsreihe, welche die Druckfahnen ab Kapitel 47 ersetzen; (c) erst der gesamte Block der zwanzig Druckfahnen, dann anschließend die Genfer Kapitelvarianten – mit dem Argument, daß der Ersetzungsprozeß zwischen Druckfahnen und Genfer Kapitel vom Autor nur als Option erscheint, aber nicht ausgeführt wurde. Der Lesetext der neuen Klagenfurter digitalen Gesamtedition knüpft an die dritte Option an, die von Adolf Frise´ in seiner Ausgabe von 1978 praktiziert worden ist. Doch geht sie einen Schritt weiter. Davon ausgehend, daß das überlieferte Material zur Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften das Zerbrechen einer linearen Kapitelsukzession dokumentiert, werden drei Fortsetzungslinien präsentiert. Für die Druckfassung des Lesetexts, die wir anstreben, heißt dies: den drei Möglichkeiten, den Mann ohne Eigenschaften fortzuführen, die Musils Nachlaß offen läßt, entsprechen drei Bücher, um den Roman aus dem Nachlaß weiter zu lesen. Die erste Lesart bezieht sich auf den Stand bis 1936, bevor die vorübergehende Abwendung von der historischen und soziologischen Dimension vollzogen war, auf die Entwurfsreihen, welche Musil bis zum geplanten Finale des Romans – „Eine Art Ende“ – führte. Die zweite Lesart erstreckt sich auf das Vorhaben von 1938, die zwanzig Druckfahnen-Kapitel und fünf Kapitel zu ihrer Fortsetzung. Die dritte Lesart schließlich, sie zweigt nach Kapitel 47 der Druckfahnen ab, erfaßt die Kapitel der drei Genfer Ersetzungsreihen. Musils Unentschiedenheit, seinem Zaudern vor dem letzten Schritt, wird durch diese editorische Vorgangsweise Rechnung getragen, die nun unter anderem das als eine Einheit präsentiert, was Musil 1938 offensichtlich zur Publikation geben wollte, einschließlich der Redaktion des Autors, was aber nicht zur Veröffentlichung gelangen konnte. Die Präsentation anderer, ebenso möglicher Fortsetzungslinien des Romans erfolgt davon getrennt. Nach demselben Prinzip verfährt die Klagenfurter Ausgabe übrigens auch mit den Vorstufen des Romans aus den zwanziger Jahren: sie werden als eigenständige Romanprojekte erkannt; aus den zugehörigen Nachlaßmaterialien werden die Lesetexte des Spion, des Erlöser und der Zwillingsschwester generiert, deren Lektüre, betrach-
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tet man die sich verändernde Schreibstrategie und den veränderten historischen Kontext bei einer Produktion über ein Vierteljahrhundert – jeweils in eine andere Romanwelt führt. Eine sorgfältige textkritische Berücksichtigung der redaktionellen Bearbeitungsschichten in den Druckfahnen ist bei der Textkonstitution aller bisherigen Buchausgaben unterblieben. Frise´s Ausgabe von 1952 lag die Druckfahnenmappe gar nicht vor, er übernahm den Text von Martha Musils Lausanner Ausgabe des Mann ohne Eigenschaften Band 3 unkritisch. Die sich derzeit auf dem Markt befindlichen Buchausgaben, die auf Frise´ 1978 beruhen, begründen die editorischen Entscheidungen bei der Textkonstitution nicht und weisen sie auch nicht in jedem einzelnen Fall nach. Die kommentierte digitale Gesamtedition ist die erste textkritische Ausgabe der Druckfahnen, in der den drei Bearbeitungsschichten differenziert Rechnung getragen wird. Es gilt vor allem folgendes zu entscheiden und festzuhalten: Ist ein an den Fahnen feststellbarer Eingriff Musils als redaktioneller Eingriff zu werten oder als kommentierende Anmerkung bzw. Korrekturidee ohne Verbindlichkeit im Zuge des erwähnten dritten Bearbeitungsvorgangs, der nicht mehr die unmittelbare Publikation zum Ziel hatte, sondern als Vorbereitung für eine spätere gänzliche Neubearbeitung diente? Da die drei Bearbeitungsschritte durch Schreibmaterial und Schrift eindeutig unterscheidbar sind, sind im Lesetext alle redaktionellen Eingriffe des ersten bzw. des zweiten Bearbeitungsgangs konsequent berücksichtigt, die Spuren des dritten Bearbeitungsgangs aber unterdrückt; – sie erscheinen nur in der Transkription. Sämtliche Grenz- und Streitfälle sind im Kommentar ausgewiesen. Abschließend komme ich noch auf eine Sonderlösung zu sprechen, welche die drei besonders stark redigierten Gefühlstheorie-Kapitel (52, 54, 55) betrifft. In ihrem Fall enthält der digitale Lesetext sowohl die unredigierte Satzversion als auch die Version mit dem Endergebnis der Redaktion Musils. Satzversion und Redaktionsversion können synoptisch dargestellt werden. Was ich hier ausführen durfte, betrifft nur einen kleinen Teil der editorischen Perspektiven und der Probleme, die es bei ihrer Entfaltung im Rahmen des Unternehmens der Klagenfurter Edition zu lösen gilt. Das Prinzip ,Hypertext/Hypermedia‘ spielt bei der Darstellung komplexer Text- und Kommentarbeziehungen die beherrschende Rolle, nicht nur als Arbeitsinstrument, sondern auch als neues Vermittlungsmedium.
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Abb. 1: Musil-Nachlaß, Mappe Druckfahnen / 1: ein Beispiel für die erste Phase der redaktionellen Bearbeitung.
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Abb. 2: Musil-Nachlaß, Mappe Druckfahnen / 94: ein Beispiel für die zweite Phase der redaktionellen Bearbeitung.
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Abb. 3: Musil-Nachlaß, Mappe Druckfahnen / 120a: handschriftliche Korrekturreinschrift.
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Abb. 4: Musil-Nachlaß, Mappe Druckfahnen / 126: Beispiel für die dritte Bearbeitungsphase der Druckfahnenkapitel.
Walter Hettche Korrekturen, Entblößungen, Säuberungen Leonhard Franks Arbeit an seiner Novellensammlung Der Mensch ist gut
I Leonhard Frank (1882–1961) verdankt seinen Nachruhm vor allem seinem Frühwerk. Der Erstlingsroman Die Räuberbande (1914) wurde sogleich mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet, 1918 folgte der Kleist-Preis, vergeben von dem Preisrichter Heinrich Mann.1 Zwar werden in der Begründung nur die Romane Die Räuberbande und Die Ursache (1915) genannt, es ist jedoch wahrscheinlich, daß ein anderes Werk den Anstoß für die Zuerkennung des Preises gegeben hat, nämlich die gerade erschienene Sammlung von fünf pazifistischen Kurzgeschichten mit dem Titel Der Mensch ist gut. In vielen Publikationen zu diesem Buch und in fast allen biographischen Artikeln über Frank wird behauptet, Frank habe den Kleist-Preis im Jahre 1920 erhalten, und zwar ausdrücklich für Der Mensch ist gut.2 So steht es auch in Franks autobiographischem Roman Links wo das Herz ist,3 aber nicht umsonst hat Franks Witwe in der Neuausgabe von 1967 gewarnt, daß „dieser Roman nicht als direkte Autobiographie verstanden werden darf. So erklären sich auch einige Abweichungen zwischen Romangeschehen und historischer Wirklichkeit.“4 Der Mensch ist gut gehört zu den von Frank am häufigsten und stärksten überarbeiteten Werken. Die gravierenden Veränderungen, die der Text in den vier Jahrzehnten zwischen der Erstpublikation Ende 1917 und der Ausgabe letz1 2
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Helmut Sembdner (Hrsg.): Der Kleist-Preis 1912–1932. Eine Dokumentation. Berlin 1968, S. 66. „Für das Buch ,Der Mensch ist gut‘ erhält er 1920 den Kleistpreis“, in: Schriftsteller der Gegenwart[.] Leonhard Frank[.] Hans Fallada. Hrsg. vom Kollektiv für Literaturgeschichte im volkseigenen Verlag Volk und Wissen. Berlin 1961 (zuerst 1955), S. 10f. So auch Gerhard Hay (Hrsg.): Leonhard Frank[.] 1882–1982[.] Selbstzeugnisse und Aussagen. Würzburg 1982 (Schriftenreihe der Leonhard-Frank-Gesellschaft 1), S. 60; Peter Cersowsky: Frank, Leonhard. In: Walther Killy (Hrsg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 3. Gütersloh und München 1989, S. 476; Gerhard Hay: Leonhard Frank. In: Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max (Hrsg.): Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Bd. 7: Vom Beginn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1989, S. 221, und Walter Fähnders: „Das leidenschaftlichste Buch gegen den Krieg“. Leonhard Frank: Der Mensch ist gut (1917). In: Thomas F. Schneider und Hans Wagener (Hrsg.): Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Amsterdam und New York 2003 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 53), S. 71–84, hier S. 75. Leonhard Frank: Links wo das Herz ist. München 1952, S. 115. Leonhard Frank: Links wo das Herz ist. Berlin und Weimar 1967, S. [4].
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ter Hand von 1957 erfahren hat, sind bisher noch nie im Zusammenhang dargestellt worden. Eine kritische Edition gibt es nicht, und ein „kritischer Fassungsvergleich steht aus“, wie Walter Fähnders in einem Aufsatz aus dem Jahr 2003 feststellt.5 Leonhard Frank hat sich selbst Zeit seines Lebens als einen mühevoll produzierenden Schriftsteller charakterisiert. „[I]ch bin ein langsamer Arbeiter“, schreibt er am 21. Dezember 1917 (also kurz nach dem Erscheinen von Der Mensch ist gut) an Emil Faktor,6 und 1956 bekundet er in einem Aufsatz mit dem Titel Die Arbeit des Schriftstellers: „Ich schreibe auch heute noch jede Seite zehnmal und manchmal einen halben Tag an einem Satz.“7 Die erhaltenen Werkmanuskripte Franks bestätigen diese Selbstaussage eindrücklich. Diese skrupulöse Arbeit setzt sich nach der Publikation der Texte weiter fort, denn Frank gehört zu jenen Autoren, die mit dem Erreichten selten zufrieden sind und die Gelegenheit von Neuauflagen zur umfassenden Revision benutzen. Ein Extrembeispiel sind die Sieben Kurzgeschichten, die erst 1961 – Franks Todesjahr – in einer kleinen bibliophilen Ausgabe im Aufbau-Verlag vorgelegt wurden. Einem Leser der Gesammelten Werke Franks (1957) war aufgefallen, daß vier Geschichten aus den Jahren 1912 und 1913 dort fehlten, und er machte den Autor auf dieses Versäumnis aufmerksam. Frank konnte sich an diese Texte nach eigener Aussage zunächst gar nicht mehr erinnern; er hielt Die Räuberbande für sein Erstlingswerk. Für die späte Wiederveröffentlichung hat er die vier Texte stark verändert; im Vorwort zu den Sieben Kurzgeschichten schreibt er: „Sie waren in einer unsäglich grauenvollen Sprache geschrieben. Ich habe viele Wochen täglich zehn Stunden geschuftet, um sie sprachlich zu säubern.“8 In der Tat sind diese „Säuberungen“ so gründlich, daß man die Varianten zwischen den Erstdrucken und der Neuausgabe in Apparatform kaum mehr darstellen könnte. Franks Umarbeitung der fünf Erzählungen in Der Mensch ist gut läßt sich nur aus der gedruckten Überlieferung rekonstruieren, weil handschriftliche Textzeugen nicht mehr existieren (der Nachlaß Leonhard Franks enthält nur viel später entstandene Typoskript-Abschriften). Die Untersuchung der zwischen 1917 und 1957 veröffentlichten Ausgaben zeigt, daß es zwei Phasen besonders intensiver Beschäftigung mit dem Text gegeben hat: eine erste unmittelbar nach dem Erscheinen der Erstausgabe (1917/1919), eine zweite in der Vorbereitung der Ausgabe letzter Hand, der Gesammelten Werke von 1957. Die textkritisch relevante Überlieferung beginnt indessen noch vor der ersten selbständigen Ausgabe mit 5 6
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Fähnders 2003 (Anm. 2), S. 75. Leonhard Frank an Emil Faktor, Postkarte, Zürich, 21. Dezember 1917. Bayerische Staatsbibliothek München, Abteilung Handschriften, Seltene und Alte Drucke, Ana 339,I, Frank, Leonhard. In: Neue Bücher. III. Berlin [1957], S. 3–5, hier S. 3 (zuerst in: Deutsche Woche, München, 1. Februar 1956). Leonhard Frank: Sieben Kurzgeschichten. Berlin 1961. Vorwort, S. 6.
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Separatabdrucken einzelner Erzählungen, zum Beispiel in Rene´ Schickeles Zeitschrift Die weißen Blätter, die 1915 auch schon den Erstdruck von Franks Roman Die Ursache gebracht hatten.9 Auch diese Zeitschriftenabdrucke hat Frank für die erste selbständige Ausgabe bearbeitet. Die Erstausgabe der Sammlung erschien Ende 1917 (mit der Jahreszahl 1918) in der Reihe „Europäische Bücher“ im Max Rascher-Verlag in Zürich und Leipzig (R1). In Links wo das Herz ist berichtet Frank: „Der Mensch ist gut“ war erschienen. Das Buch erregte Aufsehen in der Schweiz, und in kurzer Zeit erschienen ein Dutzend Übersetzungen. Aber die Einfuhr nach Deutschland war sofort verboten worden. Auch einzelne Exemplare, mit der Post gesandt, gingen nicht durch. [...] Nach langem Suchen fand Michael [Franks alter ego; W. H.] in der Altstadt [von Zürich; W. H.] einen Buchbinder, der hohe Stöße übriggebliebener Einbanddecken vom Schweizer Gesetzbuch hatte und von einem Buch „Ritt durch die Wüste“, mit einem Kamel und einem Beduinen im weißen Gewande, der auf die Glut der untergehenden Wüstensonne zureitet. Michael kaufte von seinem Honorar tausend Exemplare seines Buches, ließ sie in diese harmlos aussehenden Umschläge binden und sandte die drei riesigen Kisten nach Berlin [...].10
Von diesen getarnten Ausgaben hat sich allerdings bis heute kein einziges Exemplar auffinden lassen. An der Glaubwürdigkeit der Darstellung Franks gibt es jedoch keinen Zweifel. Arnold Zweig schreibt in seinem Roman Einsetzung eines Königs (1937): In Leipzig begutachtet eine Zentrale jedes im Gebiet der Mittelmächte hergestellte Buch und läßt einen kleinen Stempel anbringen, der die Zustimmung des jeweiligen Armeekorps bedeutet. Nur die Schweiz hat sich dieser Anordnung entzogen. Sie beruft sich auf die Pflichten ihrer Neutralität und hat so einigen deutschen Schriftstellern und Übersetzern Gelegenheit gegeben, Dinge drucken zu lassen, Dinge ...! [...] Der Verkehr nach der Schweiz ist fast gedrosselt, dennoch werden Bücher eingeschleppt.11
Wie Millionen seiner Zeitgenossen war Arnold Zweig selbst zunächst ein begeisterter Kriegsteilnehmer, der sich dann aber – wie seine Romanfigur Werner Bertin – zu einem überzeugten Pazifisten wandelte, in erster Linie freilich durch das eigene Kriegserlebnis, aber auch unter dem Einfluß der Antikriegsliteratur aus dem Rascher-Verlag: In seinem Roman nennt er ausdrücklich „die Novellenbände ,Menschen im Krieg‘ [...] und ,Der Mensch ist gut‘, [...] die Hefte der ,Weißen Blätter‘“ und Henri Barbusses Roman Das Feuer.12 9 10 11 12
Leonhard Frank: Die Ursache. In: Die weißen Blätter 2 (1915), H. 4, S. 399–490. Leonhard Frank: Links wo das Herz ist. München 1952, S. 105f. Arnold Zweig: Einsetzung eines Königs. Roman. Berlin 1950, S. 339. Ebenda, S. 343.
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II Der Mensch ist gut wurde im Rascher-Verlag in drei Auflagen publiziert; das erste bis fünfte Tausend und das sechste bis 15. Tausend waren satzidentisch (in Fraktur)13 und trugen beide die Jahreszahl 1918 (R1, R2), das 16. bis 25. Tausend wurde in Antiqua neu gesetzt und auf 1919 datiert (R3). Die erste Ausgabe in Deutschland erschien in einer Erstauflage von zunächst 50000 und dann weiteren 30000 Exemplaren ohne Jahresangabe im Verlag von Gustav Kiepenheuer (K); die Bibliographien nennen durchgehend 1919 als Erscheinungsjahr.14 1936 wurde die Sammlung im Rahmen der „Werke in Einzelbänden“ im QueridoVerlag erneut aufgelegt (Q). In der Bundesrepublik gab es zu Franks Lebzeiten nur eine Taschenbuchausgabe im Fackelträger-Verlag.15 Die letzte von Leonhard Frank überarbeitete Fassung brachte 1957 der 6. Band der Gesammelten Werke im Aufbau-Verlag (GW). Das ist die textkritisch relevante Überlieferung; die Texte dieser Ausgaben wären also in einer kritischen Edition zu präsentieren, in welcher Form auch immer. In einer ersten Roh-Edition wurde der Text der Erstausgabe von 1918 ediert und alle anderen Fassungen in einem Fußnotenapparat darauf bezogen.16 Zu beachten wäre allerdings auch eine Vielzahl von Nachdrucken einzelner Erzählungen in Almanachen, Zeitschriften und Anthologien, die zwar textkritisch ohne Belang sind, weil sie ohne Mitwirkung des Autors hergestellt wurden, die aber dennoch in einer Edition darzustellen und zu beschreiben wären. Diese Wiederabdrucke erstrecken sich bis in die zwanziger Jahre; sie sind bibliographisch nicht erschlossen, weil die Frank-Bibliographie von Rost und Geist unselbständige Publikationen nur verzeichnet, wenn es sich dabei um Erstdrucke handelt.17 Ein Befund, der sich aus einer zufälligen Sichtung solcher Nachdrucke ergibt, ist die Funktionalisierung dieser Literatur zur pazifistischen Erziehung von Kindern und Jugendlichen, zum Beispiel in der von S[alomon] D[avid] Steinberg herausgegebenen Anthologie So war der Krieg! Ein pazifistisches Lesebuch, dessen Vorwort sich „An alle Buben und Mädchen!“ richtet,18 in Jungvolk. Ein Almanach für die arbeitende Jugend 192019 oder in der 1925 von 13
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Vgl. den Verlagsvertrag vom 25. August 1917: „Herr Leonhard Frank überträgt der Firma Rascher & Cie. das alleinige Vertragsrecht seiner Kriegsnovellen für die erste Auflage von 15’000 Exemplaren, die jedoch nicht gleichzeitig gedruckt werden müssen“ (zitiert nach dem Faksimile in: Leonhard Frank: Links wo das Herz ist. Berlin und Weimar 1967, S. 31 [des Bildteils]). Es gab noch zwei weitere Auflagen dieser Kiepenheuer-Ausgabe (1924 und 1929), die mir aber nicht vorlagen; vgl. Fähnders 2003 (Anm. 2), S. 75. Leonhard Frank: Der Mensch ist gut. Hannover [1953] (Faro-Bücherei 5). Textgrundlage ist K. Vgl. die Beispielseite am Schluß dieses Beitrags. Maritta Rost und Rosemarie Geist (Bearb.): Leonhard Frank. Auswahlbibliographie zum 100. Geburtstag. Leipzig 1981, S. 7. S[alomon] D[avid] Steinberg (Hrsg.): So war der Krieg! Ein pazifistisches Lesebuch. Zürich 1919 (Raschers Jugendbücher 5). Der Band enthält die Erzählung Der Vater in der Fassung der ersten Schweizer Ausgabe von Der Mensch ist gut (R1).
Leonhard Franks Arbeit an „Der Mensch ist gut“
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Richard Lohmann besorgten Sammlung Werde mit dem gedruckten Widmungsblatt „Zur Erinnerung an die Feierstunde deiner Jugendweihe“.20 Mit Ausnahme des 6.–15. Tausend der Ausgabe bei Rascher hat Leonhard Frank die fünf Erzählungen für alle selbständigen Neuveröffentlichungen von Der Mensch ist gut mehr oder minder stark bearbeitet. Er beginnt damit nicht erst bei der Vorbereitung der ersten deutschen Ausgabe bei Gustav Kiepenheuer, wie man bisher vermutet hat,21 sondern schon für die dritte Auflage des RascherVerlags. Daß die zahlreichen Varianten zwischen den beiden Drucken der Zürcher Erstausgabe und der dritten Auflage keineswegs auf den Setzer oder einen Lektor, sondern mit ziemlicher Sicherheit auf den Autor zurückgehen, läßt sich an einem besonders markanten Beispiel aus der letzten Erzählung mit dem Titel Die Kriegskrüppel zeigen. Sie gipfelt in der Vision einer friedlichen Revolution: Gewaltige Züge leiddurchtobter Mütter, Kriegswitwen, Väter, Bräute stoßen im Eiltempo durch die Menge, lösen sich auf, bilden sich neu. Die Knechte der Liebe verlassen die aufspringenden Zuchthauszellen und stoßen, geführt von dem Einen, dessen Namen die ganze Menschheit kennt und ehrt, zum Zuge.22
Seit der dritten Schweizer Auflage sind es nicht mehr die „Knechte der Liebe“, die aus dem Zuchthaus ausbrechen – Frank spricht jetzt unverschlüsselt aus, auf wen er mit dieser Formulierung anspielen wollte: „Die Bekenner der Wahrheit verlassen die aufspringenden Zuchthauszellen, finden den Zug, geführt von dem Einen, dessen Namen die ganze Menschheit kennt und ehrt: Liebknecht!“23 Die Erwähnung des wegen Hochverrats verurteilten Revolutionärs war selbst im sicheren Schweizer Exil gefährlich. Mögen die eher akzidentiellen Varianten zwischen den Ausgaben von 1917/18 und denen von 1919 auf Hausregeln der jeweiligen Verlage zurückzuführen sein, die substantiellen Veränderungen wie im zitierten Beispiel sind es gewiß nicht.
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Jungvolk. Ein Almanach für die arbeitende Jugend 1920. Herausgegeben von dem Hauptvorstand des Verbandes der Arbeiterjugend-Vereine. – Auch dieser Almanach enthält einen Nachdruck der Erzählung Der Vater, hier nach der ersten deutschen Ausgabe von 1919 (K). [Richard Lohmann (Hrsg.):] Werde. Berlin 1925. Der Vater ist hier unter dem Titel Friede abgedruckt, wiederum nach der Ausgabe des Kiepenheuer-Verlags von 1919. Weitere Nachdrukke einzelner Erzählungen: Das Liebespaar, in: Ludwig Rubiner (Hrsg.): Die Gemeinschaft. Dokumente der geistigen Weltwende. Als Jahrbuch des Verlages Gustav Kiepenheuer Potsdam [1919]; Die Kriegswitwe, in: Max Krell (Hrsg.): Die Entfaltung. Novellen an die Zeit. Berlin 1921; Der Vater, in: Kurt Offenburg (Hrsg.): Arbeiterdichtung der Gegenwart. Frankfurt/Main 1925; Zehn Millionen Leichen [kurzer Auszug aus Der Vater], in: Kurt Kläber (Hrsg.): Der Krieg. Das erste Volksbuch vom großen Krieg. Berlin, Wien und Zürich 1929. Walter Fähnders: „Der Autor hat den Text mehrfach, so bereits für die deutsche Ausgabe von 1919, bearbeitet.“ Fähnders 2003 (Anm. 2), S. 75. R1, S. 205 R3, S. 193; GW, S. 134.
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Der Text der Ausgabe im Querido-Verlag geht auf die dritte Schweizer Auflage (R3) zurück. Friedrich Pfäfflin und Franziska Sörgel nennen in ihrer Querido-Bibliographie den Rascher-Verlag als Lizenzgeber,24 ein Befund, der auch durch eine Reihe von Lesarten bestätigt wird, die nur R3 und Q gemeinsam haben.25 Insgesamt ist diese Edition offensichtlich ohne nennenswerten Einfluß des Autors zustandegekommen. Dennoch ist sie für das weitere Schicksal der Sammlung bedeutend. Fritz Landshoff, der Leiter des Querido-Verlags, war zeitlebens ein Verehrer Franks, wie er in seiner Autobiographie erzählt: „Leonhard Frank, seit meinen Schultagen von mir als wahrhaft deutscher Dichter verehrt, im Exil herausbringen zu dürfen schien mir eine schöne und dringliche Pflicht.“26 Nach dem Krieg wandte sich Landshoff an Johannes R. Becher, um ihn für eine Frank-Ausgabe zu gewinnen: „Insbesondere scheint es mir auch sehr unglücklich, daß das Werk Franks in der Ostzone völlig fehlt. [...] Im nächsten Jahr ist der 70. Geburtstag Leonhard Franks. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt sollte das deutsche Publikum – gleichgültig, ob es in der Ost- oder Westzone lebt – die Möglichkeit haben, die wesentlichen Werke von Frank zu lesen.“27 Becher hat umgehend den damaligen Leiter des Aufbau-Verlags, Erich Wendt, für Landshoffs Vorschlag zu interessieren versucht.28 Zwar dauerte es noch bis zu Franks 75. Geburtstag im Jahre 1957, bis die Ausgabe der Gesammelten Werke produziert werden konnte, aber schon 1952 wurden die Romane Die Räuberbande und Das Ochsenfurter Männerquartett im Aufbau-Verlag herausgebracht.29 Über Franks Textrevisionen für diese Ausgabe schreibt der verantwortliche Lektor, Günter Caspar, in seinen Erinnerungen: „Mir glückte nicht, Leonhard Frank davon abzuhalten, auch ,klassische‘ Texte wie ,Der Mensch ist gut‘ und ,Die Ursache‘ stilistisch zu korrigieren.“30 Auch in der Notiz „Zu dieser Ausgabe“, im 6. Band der Gesammelten Werke abgedruckt und mit „Aufbau-Verlag“ gezeichnet, war zu lesen:
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Bibliographie Querido Verlag Amsterdam 1933–1950. Bearbeitet von Friedrich Pfäfflin unter Mitarbeit von Franziska Sörgel. In: „Solange es noch einen Menschen gibt, der deutsch liest, werde ich weiterverlegen ...“ Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933–1950. Bearbeitet von Hans-Albert Walter. Marbacher Magazin 78 (1997), Sonderheft, S. 237–285, hier S. 252. Die wenigen Lesarten, die sich allein in der Querido-Ausgabe finden, lassen sich sämtlich als Setzerversehen oder redaktionelle Eingriffe erklären. Fritz H. Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333[.] Querido Verlag[.] Erinnerungen eines Verlegers[.] Mit Briefen und Dokumenten. Berlin und Weimar 1991, S. 102. Landshoff an Becher, 28. August 1951; in: Landshoff 1991 (Anm. 26), S. 429. Becher an Landshoff, 4. September 1951, in: Landshoff 1991 (Anm. 26), S. 430. Vgl. Klaus-Dieter Hoeft und Christa Streller: Aufbau-Verlag 1945–1974. Eine Bibliographie. Bd. 1: Titelverzeichnis. Berlin und Weimar 1985. Günter Caspar: Im Umgang. Zwölf Autoren-Konterfeis und eine Paraphrase. Berlin und Weimar 1984, S. 184.
Leonhard Franks Arbeit an „Der Mensch ist gut“
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Die hier vorgelegten, sorgfältig durchgesehenen Texte will der Autor als gültige und endgültige Fassungen angesehen wissen. Wie schon mehrmals bei Neuerscheinungen von Einzelausgaben [...] hat Leonhard Frank auch an verschiedenen Titeln dieser Gesamtausgabe eine Reihe von Korrekturen vorgenommen, so gut wie ausschließlich formaler Art. So hat der Autor zum Beispiel ,Die Ursache‘ und ,Der Mensch ist gut‘ von den Stilelementen entblößt, die er heute nicht mehr als ihm zugehörig betrachtet [...].31
Manche dieser „Entblößungen“ sind in der Tat Verbesserungen, etwa, wenn Frank schiefe Vergleiche oder offenkundigen Kitsch beseitigt. In der Erzählung Die Mutter schreibt Frank in der Erstausgabe: „Hemmungslos, blind für alle Hindernisse, sprang die vornüberstürzende Mutter wie eine schwarze Kegelkugel die Asphaltstraße, die vom Dome abgeschlossen war, hinauf, durch das offene Portal in die Kirche hinein.“32 Den in diesem Zusammenhang allenfalls unfreiwillig komisch wirkenden Vergleich „wie eine schwarze Kegelkugel“ hat Frank für die Edition von 1957 getilgt. In derselben Erzählung wird ein Polizist zu Pferd von der allgemeinen Friedensliebe erfaßt, was Frank in der Erstausgabe so schildert: Aus den Augen eines reitenden Schutzmannes, der den Zug begleitete, brach plötzlich das innere Licht. Er stieg ab. Und das Pferd, getrennt von seinem Herrn, ganz verbunden mit den Menschen, schritt mit und blickte tief, kindlich und gut.33
In den Gesammelten Werken schreitet es zwar auch noch mit, aber wenigstens nicht mehr tief, kindlich und gut blickend. Wenn in der Erstausgabe steht: „Von seiner klagenden Seele getragen, flog der Sohn erbebend vor die dunkle Frage hin:“,34 formuliert Frank in den Gesammelten Werken schlicht: „Der Sohn fragte:“.35 Nicht selten jedoch produziert Franks Umarbeitung eine schlechtere oder gar grammatisch falsche Formulierung. Die Mutter macht sich Sorgen um ihren Sohn im Schützengraben, der fallen wird, sobald er sich aus dem Graben erhebt: „Wenn er sich jetzt aufrichtet. Mein Gott, wenn er sich aufrichtet ... Allmächtiger Gott, lasse den Kameraden eine Geschichte erzählen, damit mein Sohn zuhört, sich nicht aufrichtet. Lasse den Kameraden eine Bitte aussprechen, die mein guter Sohn erfüllen wird, so daß er sich nicht aufrichtet.“36
31 32 33 34 35 36
Leonhard Frank: Gesammelte Werke. Berlin 1957. Bd. 6, S. 630. R1, S. 107. R1, S. 110. R1, S. 93. GW, S. 66. R1, S. 74. Auslassungspunkte ohne eckige Klammern hier wie in allen anderen Zitaten original.
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In den Gesammelten Werken endet diese Passage mit einem Anakoluth: „Lasse den Kameraden eine Bitte aussprechen, die mein guter Sohn erfüllen wird und sich nicht aufrichtet.“37 Das mag man immerhin noch als läßliches Versehen werten; ästhetisch fragwürdig wird es allerdings, wenn Frank die besonders intensive Imagination der Mutter, die im Bäckerladen beim Brotkauf den Sohn im Schützengraben vor Augen hat, vom historischen Präsens ins Imperfekt überträgt: Und in dem Moment, da sie sagte: „Frisches Brot wäre mir lieber gewesen“, streckt der Sohn den Kopf zu weit aus dem Schützengraben heraus. Entsetzt ließ sie das Brot auf den Ladentisch zurückfallen, preßte beide Fäuste an die Wangen und starrte; sieht, wie der feindliche Soldat auf den Kopf des Sohnes zielt.38
Hier – in der Erstausgabe – ist die Passage intern fokalisiert, also ganz aus der Sicht der Mutter erzählt. In den Gesammelten Werken dagegen wird das unmittelbare, präsentische Erleben der Mutter in die erzählerische Vergangenheit gerückt: „streckte der Sohn den Kopf“, „sah, wie der feindliche Soldat auf den Kopf des Sohnes zielte.“39
III Aus den bisher besprochenen Varianten könnte man schließen, Frank habe in der Tat nur formale, grammatische und stilistische Änderungen vorgenommen. Doch so ist es nicht. Mit Recht bemerkt Ralph Grobmann in seiner Dissertation über Leonhard Frank (2004), in der editorischen Notiz des Verlags würden die Gründe für die Texteingriffe „eher verschwiegen als offengelegt“.40 Von inhaltlichen Veränderungen ist jedenfalls weder dort noch in Günter Caspars Erinnerungen die Rede. Auch in dem Brief, den Franks Ehefrau am 10. Juni 1956 im Auftrag ihres Mannes an den damaligen Verlagsleiter Walter Janka geschrieben hat, heißt es nur, Frank wolle diejenigen Bücher „genauestens“ durchsehen,41 die im Aufbau-Verlag erstmals im Rahmen der Gesammelten Werke erscheinen sollten, also auch Der Mensch ist gut. Hier nun lassen sich massive Eingriffe inhaltlicher Art nachweisen. Auffällig ist, daß die religiöse Bildlichkeit der Erstfassungen hier fast durchgehend beseitigt worden ist. In den zwischen 1918 und 1936 publi37 38 39 40
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GW, S. 52. R1, S. 74. GW, S. 51. Ralph Grobmann: Gefühlssozialist im 20. Jahrhundert. Leonhard Frank 1882–1961. Bern (u.a.) 2004, S. 308. Elmar Faber und Carsten Wurm (Hrsg.): „... und leiser Jubel zöge ein.“ Autoren- und Verlegerbriefe 1950–1959. Berlin 1992, S. 103.
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zierten Ausgaben wird über den Vater (die Titelfigur der ersten Erzählung) gesagt: In wilder Spannung stand er unterm Hotelportal und fühlte, daß sein Sprung auf die vorbeimarschierenden, schlecht beratenen Jünglinge [einrückende Soldaten; W. H.] ein Sprung in die Luft sein würde. Denn hinter den Jünglingen und hinter dem Kampfliede stand etwas, das nicht zu greifen war: ein unsichtbarer, unkörperlicher Gegner. Gott hielt ihn zurück von dem Sprunge. Gott hob ihn auf für die Minute, da der Feind greifbar werden würde, fühlte Robert.42
In den Gesammelten Werken haben die letzten beiden Sätze folgenden Wortlaut: „Etwas hielt ihn zurück von dem Sprunge. Etwas hob ihn auf für die Minute, da der Feind greifbar werden würde, fühlte Robert.“43 Auch in den Erzählungen Die Mutter und Das Liebespaar werden Sätze getilgt, in denen von einem Eingreifen Gottes in die menschlichen Handlungen gesprochen wird, am Schluß der Erzählung Der Vater dürfen nicht einmal mehr „Alle Kirchenglocken“ läuten wie in der Erstausgabe,44 und die demonstrierenden Soldaten und Bauern in Die Kriegskrüppel tragen in den Gesammelten Werken nur noch „eine rote Fahne“; das „Kruzifix“, das sie seit der Erstausgabe dabeihatten, ist ihnen inzwischen offenbar abhandengekommen.45 Die Erzählung Das Liebespaar hat Frank für die Gesammelten Werke am konsequentesten verändert, so sehr, daß er ihr sogar einen anderen Titel gab; sie heißt dort Das Brautpaar. Mehr als die Hälfte des Textes, nämlich den kompletten zweiten Teil, hat Frank ersatzlos gestrichen. Dort wird in den früheren Ausgaben über die Gründe für den Krieg und über die Verführbarkeit der Massen diskutiert, wobei (wie auch schon in der Erzählung Der Vater) die Verantwortung des Einzelnen für seine eigenen, aber auch für die Handlungen des Staates und der Gesellschaft betont wird. Durch die Figur des Philosophen übt Frank deutliche Kritik an Massenorganisationen und Parteien: Daran können Sie das menschenunwürdige und überaus gefährliche System einer Organisation erkennen, die ihre Mitglieder nur für den Klassenkampf um materielle Vorteile drillt, sie in allen Städten jährlich in dreihundertfünfundsechzig Parteiversammlungen nur zum Durchbringen von Resolutionen im politischen Parteiinteresse benutzt, anstatt sie ... geistig zu befreien, sie zu denkenden Menschen eigener Entschlußfähigkeit für das Gute zu machen ... Da braucht sich im entscheidenden Moment nur der Hauptführer als Dummkopf zu erweisen, braucht nur der Hauptführer zum Verräterchen zu werden, und die ... organisierten, denkunfähigen Mas42 43
44 45
R1, S. 12. GW, S. 11. Ähnlich auch in Die Mutter, R1, S. 91 und S. 108, und Das Liebespaar, R1, S. 119. Vgl. auch Die Kriegskrüppel, R1, S. 203. R1, S. 22; GW, S. 19. Vgl. R1, S. 183; GW, S. 120.
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sen schwenken mit ab, folgen ihm in den Krieg, ebenso geschlossen, wie sie ihm in den Protest gefolgt wären ...46
Die Ablehnung einer parteipolitischen Organisation der Arbeiterklasse hat dazu geführt, daß über Der Mensch ist gut in einer Handreichung für Lehrer in der DDR – bei aller Sympathie für den Autor – auch ideologische Bedenken geäußert wurden.47 Es ist gewiß kein Zufall, daß gerade der Teil der Erzählung, in dem diese Sätze stehen, für die Gesammelten Werke gestrichen wurde. Auch eine Passage in Die Kriegskrüppel, in der die Befreiung des „Einzelnen“ aus der Gewalt des „nationalen Riesenuniversalgehirn[s]“ beschworen wird, ist für die Gesammelten Werke getilgt worden,48 und die Schlußvision des Bandes, in der das Volk triumphierend „das zukünftige Geschehen in das Zeichen der großen Liebe“ stellt, erscheint in stark verkürzter Form. Schließlich telegraphieren „die vor den Morse-Apparaten sitzenden Beamten“ nicht mehr „den Aufstieg der Freiheit und der Liebe ins Land“, sondern „den Ausbruch der Revolution“.49 Ein Grund dafür, daß Der Mensch ist gut – anders als zum Beispiel Die Räuberbande und Das Ochsenfurter Männerquartett – im Aufbau-Verlag nicht als Einzelausgabe aufgelegt wurde, liegt ohne Zweifel in der politischen Situation der frühen DDR. Seit 1952 – also gerade zu der Zeit, in der Leonhard Franks Bücher bei Aufbau zu erscheinen begannen – trieb die DDR den Aufbau einer eigenen Armee voran, eine Entwicklung, die am 1. März 1956 mit der Gründung der Nationalen Volksarmee abgeschlossen wurde. Die Einzelpublikation eines so radikal pazifistischen Buches wie Der Mensch ist gut war in diesem politischen Klima kaum denkbar, vor allem nicht in einem Verlag, der immerhin Eigentum des Kulturbunds der DDR war. Aber sogar in der unselbständigen Veröffentlichung im Rahmen der Gesammelten Werke verzichtete man auf Passagen, die mit der Parteilinie nicht vereinbar schienen. Im gestrichenen zweiten Teil der Erzählung Das Liebespaar erklärt der Philosoph seiner Frau an einigen Beispielen das Wesen des Militarismus. Eines dieser Beispiele ist das folgende: Ein deutscher Soldat, der ein Stück der Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz zu bewachen hatte, sah, wie ein Mensch über die Grenze sprang. Die Pflicht dieses Soldaten war, hörst du, seine Pflicht war, gut zu zielen und sofort auf diesen Menschen zu schießen, diesem Menschen dadurch, daß er ihn verwundete 46 47
48 49
R1, S. 131f. „Nur bleibt dieser Aktionswille, mangels tieferer theoretischer Aneignung der marxistischen Analyse von den Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft, die ihm den Blick für die Zukunftsrolle der Arbeiterklasse geschärft und geweitet hätte, in idealistischen Abstraktionen (,Menschheits‘-Pathos) und pazifistischer Gutgläubigkeit befangen.“ Schriftsteller der Gegenwart[.] Leonhard Frank[.] Hans Fallada. Hrsg. vom Kollektiv für Literaturgeschichte im volkseigenen Verlag Volk und Wissen. Berlin 1961 (zuerst 1955), S. 10. R1, S. 181. R1, S. 207; GW, S. 134.
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oder erschoß, das Passieren der Grenze unmöglich zu machen. Das war seine ... Pflicht. Aber sein Wesen, sein eigenes Ich stand dunkel auf gegen diese ... Pflicht. Er wollte nicht schießen und ... schoß. Sah, wie der Getroffene fiel, sich bäumte und verröchelte. Und wurde ... wahnsinnig. Der Widerstand gegen das Morden muß also sehr stark gewesen sein; aber die Disziplin war noch etwas stärker ... Hier hast du auf der einen Seite, repräsentiert durch diesen Soldaten, die guten Eigenschaften des Volkes, und auf der andern Seite, gleichfalls repräsentiert durch diesen Soldaten, den Militarismus.50
Am 26. Mai 1952 hatte die Regierung der DDR eine „Polizeiverordnung über die Einführung einer besonderen Ordnung an der Demarkationslinie“ erlassen, in der auch geregelt war, wie im Falle von Grenzverletzungen verfahren werden sollte: „§ 4. [...] Personen, die versuchen, den Kontrollstreifen in Richtung der Deutschen Demokratischen Republik oder Westdeutschland zu überschreiten, werden von den Grenzkontrollstreifen festgenommen. Bei Nichtbefolgung der Anordnungen der Grenzstreifen wird von der Waffe Gebrauch gemacht.“51 Unter diesen Umständen ist es sehr wahrscheinlich, daß Passagen wie die oben zitierte nicht aus „stilistischen“, sondern vielmehr aus politischen Gründen gestrichen wurden52 – möglicherweise hat es dazu nicht einmal eines Wunsches oder gar einer Forderung des Verlags bedurft; Leonhard Frank selbst hat fünf Tage vor seinem Tod am 18. August 1961 den Mauerbau als notwendige Maßnahme begrüßt. Seine Witwe schreibt in ihrem Erinnerungsbuch Sagen, was noch zu sagen ist: Am 13. August 1961 kam ich zu Frank ins Zimmer gelaufen, schwenkte die Zeitung und rief ihm zu, daß die DDR eine Mauer quer durch Berlin gebaut hätte. „Na endlich! Es war an der Zeit“, sagte er. Ich erwiderte: „Die Menschen sind jetzt Gefangene.“ Geduldig erklärte er mir, daß die Mauer für die DDR notwendig sei, um eine Ausbeutung durch den Westen zu verhindern. Er hielt es für richtig, daß beiden Teilen Deutschlands die Gelegenheit gegeben würde, sich getrennt voneinander jeder auf seine Weise zu entwickeln.53 50 51
52
53
R1, S. 137. 〈http://www.verfassungen.de/de/ddr/demarkationslinienverordnung52-v1.htm〉 [10. Februar 2006]. – In der „Anordnung über die Neuregelung der Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und Westdeutschland“ vom 18. Juni 1954 wird der Schußwaffengebrauch nicht mehr ausdrücklich angedroht, aber auch nicht explizit ausgeschlossen. Um so mutiger erscheint es, daß Reclam Leipzig Der Mensch ist gut 1967 in einer vollständigen Ausgabe (nach K) druckte, und zwar einschließlich der politisch heiklen Abschnitte. Allerdings kritisierte Ulrich Dietzel in seinem Nachwort die individualistische Haltung Franks: „[...] der Weg zum ,reinen Ich‘ [...], den der Philosoph in ,Das Liebespaar‘ wählt, war bestenfalls eine Sackgasse oder ein nutzloser Opfergang.“ Leonhard Frank: Der Mensch ist gut. Novellen. Leipzig 1967. Nachwort, S. 167. Charlott Frank: Sagen, was noch zu sagen ist. Mein Leben mit Leonhard Frank. München 1982, S. 203f.
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Die Aufbau-Ausgabe war eingesponnen in ein Geflecht von Autorinteressen, politischen Rücksichten, Verlagsstrategien und Publikationsbedingungen in der jungen DDR. Ralph Grobmann hat in seiner Dissertation die umfangreiche Korrespondenz Franks mit dem Aufbau-Verlag und auch die Kommunikation innerhalb des Verlags (vor allem die hausinternen Gutachten) ausgewertet; daraus werden die politischen Vorbehalte gegenüber Frank überdeutlich. Der Lektor Günter Caspar hat manche Werke Franks nur widerwillig und notgedrungen in der Gesamtausgabe präsentiert: „in die Sammelausgabe“ müsse einiges aufgenommen werden, „was wir nicht so ausnehmend lieben“. Zu Der Mensch ist gut notiert Caspar: „Mit der ideologischen Elle ist hier nichts zu messen. Es kann auch nicht darum gehen, dieses Konglomerat von Richtigem, Halbrichtigem, ,Falschem‘, von Illusionen, Widersprüchen usw. zu entwirren.“54 Von stilistischen Kriterien ist in diesem Gutachten keine Rede.
IV Die Texte, wie sie in den Gesammelten Werken präsentiert werden, sind zum einen das Produkt einer für Frank typischen Neigung zu kontinuierlicher Revision des eigenen Werkes, zum andern aber manifestieren sich darin die Konzessionen an ideologische oder kulturpolitische Sachzwänge. Frank bleibt in allen Phasen der Textproduktion und -distribution wie alle Autoren vor, neben und nach ihm keineswegs autonom, sondern abhängig von den politischen, sozialen, ästhetischen, ökonomischen Umständen, unter denen er arbeitet. Diese heteronomen Einflüsse auf die Produktion, Distribution und Rezeption des Textes müßten – im Sinne einer „social text theory“, wie sie von den amerikanischen Editionswissenschaftlern Jerome K. McGann und Peter L. Shillingsburg diskutiert wird – in einer Edition unbedingt reflektiert werden, damit die Werke nicht nur als Schöpfungen eines autonomen schreibenden Subjekts erscheinen, sondern auch als das Produkt von äußeren Bedingungen, die nicht allein der Autor kontrolliert. Das läßt sich nicht in einem wie auch immer gestalteten Apparat leisten, sondern nur in einem dokumentarischen Teil, in dem die Publikationszusammenhänge der Novellensammlung darzustellen wären. So müßten die Kontexte der frühen unselbständigen Nachdrucke einzelner Erzählungen erhellt werden, etwa, indem man Titelblätter, Inhaltsverzeichnisse und gegebenenfalls programmatische Vorworte abdruckt, und vor allem wäre die Position des Buches in der Produktion des Zürcher Rascher-Verlags zu zeigen. Der Mensch ist gut ist dort nämlich nicht einfach ein Buch unter vielen, sondern Teil eines sorgfältig geplanten und strukturierten Programms. Der Verlag sollte zunächst „eine Heimstätte schweizerischer Dichtkunst werden“,55 wie es in einem 54 55
Zitiert nach Grobmann 2004 (Anm. 40), S. 329. Aussaat. Ein Verlagsalmanach von Rascher Co Verlag. Zürich 1920, S. 13.
Leonhard Franks Arbeit an „Der Mensch ist gut“
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Almanach des Hauses aus dem Jahr 1920 heißt. Im Ersten Weltkrieg änderten sich aber sowohl die programmatische Ausrichtung als auch die Besitzverhältnisse des Unternehmens: 1917. Drei Bücher gegen den Krieg brachte das Frühjahr: Hans v. Kahlenbergs „Mutter“, Hans Ganz‘ „Morgen“ und Andreas Latzkos „Menschen im Krieg“. Latzkos Werk bildete dann neben dem gerade erworbenen weltberühmten Tagebuch einer Korporalschaft: „Feuer“ von Henri Barbusse den Grundstock zum „Max Rascher Verlag, A.-G.“, der im Herbst 1917 vom Verlag Rascher & Co. losgelöst wurde, mit dem besonderen Ziele, die europäische Idee zu verbreiten.56
Die Verpflichtung zu Internationalismus und Humanität äußert sich beispielsweise in Andreas Latzkos Menschen im Krieg, einem zu Unrecht vergessenen Buch, das der Autor auf dem gedruckten Widmungsblatt „Freund und Feind zu eigen“ gegeben hat, und sie prägt auch eine frühe pazifistische Broschüre der Deutsch-Französin Annette Kolb mit dem Titel Die Last, die Max Rascher 1918 publizierte. Ein weiterer Schwerpunkt einer solchen dokumentarischen Abteilung sollte – neben Franks Beziehungen zu den Verlagen Kiepenheuer und Querido – besonders seine Stellung im Aufbau-Verlag sein. Hier bietet die Dissertation von Ralph Grobmann für eine Neuedition von Der Mensch ist gut eine hilfreiche Materialbasis. Die Verlagskorrespondenz, die internen Gutachten und persönlichen Wertungen der Verlagsmitarbeiter sollten in einer Neuausgabe ausführlich zitiert werden. Selbst die Ausstattung und Typographie der einzelnen Ausgaben wäre zu beschreiben und durch Abbildungen zu illustrieren: Die ersten beiden Auflagen der Schweizer Ausgabe waren auf feinstem Papier in Fraktur gedruckt, zumindest die erste Auflage war in einer Halbleinen-Ausgabe zu haben, die zweite auch im Halbpergament. Die dritte Rascher-Ausgabe erschien schon in Antiqua auf etwas schlechterem Papier und in einem Pappband; die Kiepenheuer-Ausgabe ebenfalls in Antiqua auf billigstem Papier und in einer leichten Broschur. Die Gesammelten Werke bei Aufbau wurden in drei Einbandvarianten produziert: in Ganzleder, in Halbleder und in Leinen.57 Das rezeptionssteuernde Potential solcher äußerer Gestaltungsmerkmale sollte nicht unterschätzt werden: Ob ein Buch aussieht wie ein Massenprodukt (zum Beispiel wie die Kiepenheuer-Ausgabe von Der Mensch ist gut) oder wie ein Prestigeobjekt für den Bibliophilen (wie die Lederausgabe der Gesammelten Werke), ob es in einer edlen Type gedruckt ist wie der Querido-Band oder in eher ärmlichen Lettern wie die erste deutsche Ausgabe – all das kann die Lesererwartung nicht unerheblich beeinflussen. Peter Shillingsburg schreibt: „the physical object is a ver56 57
Ebenda, S. 24. Hoeft und Streller 1985 (Anm. 29), S. 190.
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sion of the work that itself generates meaning. [...] the linguistic text generates only a part of the meaning of a book; its production, its price, its cover, its margins, its type font, all carry meaning that can be documented.“58 Gelegentlich kann mit einer gediegenen Aufmachung auch das Gegenteil von dem intendiert sein, was einem unbedarften Leser als Grund für das exklusive äußere Gewand erscheinen mag. So sind die Sieben Kurzgeschichten Franks in seinem Todesjahr, in Halbpergament gebunden und mit Kopfgoldschnitt, in einer Auflage von nur 500 Stück als Publikation der Pirckheimer-Gesellschaft im Aufbau-Verlag vertrieben worden – in der scheinbaren Absicht, den Autor zu ehren: „Die ,Sieben Kurzgeschichten‘ [...] sollten den Autor zu seinem 79. Geburtstag erfreuen. Nun erscheint dieses Bändchen nach dem schmerzlichen Ableben Leonhard Franks.“59 Die für DDR-Verhältnisse ausgesprochen niedrige Auflage läßt darauf schließen, daß dem Verlag an einer weiteren Verbreitung dieser Texte nicht gelegen war. Ähnlich war man schon im Fall der Schauspiele verfahren, die als Nachtragsband zu den Gesammelten Werken in 2000 Exemplaren aufgelegt wurden.60 Günter Caspar schreibt in einem Gutachten: „Ein solcher Supplementband hat – in kleiner, einmaliger Auflage – seine Berechtigung von literatur-historischen und taktischen Gesichtspunkten aus. Er ist weit davon entfernt, für heute und hier lebendiges Theater zu bieten. Er zeigt Franks Schwächen oft nackter und deutlicher als seine Epik.“61 Der Mensch ist gut ist, was die Textgeschichte betrifft, in Franks Œuvre nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Selbst die späten Werke wie Die Jünger Jesu (1949) und die letzte Erzählung Michaels Rückkehr (1953/1957) hat er zwischen Erstdruck, erster selbständiger Ausgabe und Publikation in den Gesammelten Werken überarbeitet. In diesem Zusammenhang wäre ein weiterer Aspekt des kreativen Umgangs mit dem eigenen Werk zu untersuchen, nämlich das Verfahren des Gattungswechsels: Manche seiner frühen Erzählungen, zum Beispiel Die Ursache (1915) und Karl und Anna (1926), hat Frank zu Bühnenstücken umgestaltet;62 andere kurze Erzähltexte wurden später als einzelne Kapitel in größere Romane eingefügt. Ein Beispiel dafür ist die Erzählung Kindheit (1918/19),63 die 1924 als erstes Kapitel des Romans Der Bürger fungiert. 58
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61 62
63
Peter L. Shillingsburg: Resisting Texts. Authority and Submission in Constitutions of Meaning. Ann Arbor 1997, S. 134. Vgl. auch ebenda, S. 135: „One’s reaction to a work is conditioned by the knowledge of a variety of factors having little if anything to do with the linguistic text itself. Book designers know this well; cheap literature in small type and double columns is printed on newsprint or other inexpensive paper. Lurid covers indicate something about how the publisher hopes readers will react to the text and may also indicate what kind of reader is being addressed. Likewise, hard covers, ample margins, generous leading, and heavy paper often imply a high social status for the publisher and for readers of such editions. They may also imply the literary value or durability of the work of art thus produced.“ Leonhard Frank: Sieben Kurzgeschichten 1961 (Anm. 8), S. [67]. Vgl. Carsten Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag 1945–1961[.] Konzepte und Kontroversen. Wiesbaden 1996, S. 221. Zitiert nach Grobmann 2004 (Anm. 40), S. 332. Leonhard Frank: Die Ursache. Drama in vier Akten. Leipzig: Insel 1929; Leonhard Frank: Karl und Anna. Schauspiel in vier Akten. Leipzig 1929. Leonhard Frank: Kindheit. In: Insel Almanach auf das Jahr 1919, S. 45–63.
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Leonhard Franks Arbeit an „Der Mensch ist gut“
Aus all dem ergibt sich die Frage, ob man Leonhard Frank als den Editor seines eigenen Werkes bezeichnen kann, weiter noch: ob die Rede vom ,Autor als Editor‘ nicht überhaupt nur metaphorisch zu verstehen ist. Denn indem sich Frank (oder ein beliebiger anderer Autor) umarbeitend – streichend, ergänzend, umformulierend – mit dem eigenen Text beschäftigt, verhält er sich gerade nicht wie ein Editor, sondern eben wie ein Autor, ein Urheber, der das Recht zum schöpferischen Umgang mit dem Werk in Anspruch nimmt. Eine genuin editorische Arbeit, die ,objektive‘, auf kreative Eingriffe verzichtende Behandlung der vorhandenen Textzeugen, wird hier ja gerade nicht geleistet. Nicht einmal die Bandaufteilung und Reihenfolge der Texte in den Gesammelten Werken hat Frank selbst festgelegt; er übernimmt weitgehend die von Günter Caspar entworfene „Gliederung der Ausgabe“,64 die ihm Walter Janka in seinem Brief vom 28. Mai 1956 unterbreitet hat.65 Umgekehrt sind Autoren, wenn sie in die Rolle des Editors von Werken anderer Dichter schlüpfen (wie zum Beispiel Ludwig Tieck als Editor Kleists), in Bezug auf die von ihnen bearbeiteten Texte dann eben keine Autoren mehr, sondern (gute oder schlechte) Editoren – so, wie ein Nebenerwerbs-Landwirt, wenn er tagsüber als Maschinenschlosser arbeitet, den Landwirt besser zu Hause läßt, als Landwirt sich an seinen Haustieren aber wohlweislich nicht mit Schlosserwerkzeug zu schaffen macht. Leonhard Frank jedenfalls verhält sich in keiner Phase seines Schaffens zu seinen Texten wie der distanzierte Editor, sondern immer wie der revidierende, umschreibende, kreative Autor.
Editionsbeispiel 1
Der Vater
2 3 4 5 6 7
Ihr Otterngezüchte, wer hat denn euch gewiesen, daß ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet? Es ist schon die Axt an die Wurzel gelegt. Darum, welcher Baum nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Ev. Matth. Kap. III
8 9 10 11 64 65
Robert war Servierkellner in einem deutschen Hotelrestaurant. Gewöhnlich. Blond. Und wenn er, in devoter Haltung erstarrt, vor dem Gaste stand und eine Bestellung entgegennahm, kroch der
GW, S. 630. Faber und Wurm 1992 (Anm. 41), S. 101f.
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Gedanke durch sein Gehirn: jeder andere Beruf verträgt sich eher mit der Menschenwürde. Auf ihn wirkte das hingeschobene Trinkgeld wie eine Ohrfeige, für die man sich bedanken mußte. Und wenn das Trinkgeld von einem Gaste kam, der ärmer als der Empfangende war, stieg aus Roberts verletzter Menschenwürde sichtbar die Verachtung empor, steigerte sich manchmal zu Rachsucht und Frechheit. Es kam vor, daß Robert solch einem Gaste das Trinkgeld zurückschob. Vornehmen Gästen Kredit zu gewähren, war ihm eine Erlösung. ––––––––––––––––––––– WB ANJ S R1
Die weißen Blätter, Bd. 3 (1916), H. 11, S.149–159 Almanach der neuen Jugend auf das Jahr 1917, S. 68–78 Der Vater. Berlin: Alexander Schlicke & Co. [1918] Der Mensch ist gut. Zürich/Leipzig: Rascher 1918 (1.–5. Tausend), S. 7–22 (Druckvorlage) R3 Der Mensch ist gut. Zürich: Rascher 1919 (15.–25. Tausend), S. 7–21 K Der Mensch ist gut. Leipzig: Kiepenheuer [1919], S. 3–13 Q Der Mensch ist gut. Die Novellen. Amsterdam: Querido 1936, S. 11–25 GW Gesammelte Werke in sechs Bänden. Sechster Band. Erzählungen. Berlin: Aufbau 1957, S. 7–19 1 Vater] Kellner WB 4 Es] kein Absatz GW 5 Darum,] Darum WB, ANJ, S 7 Zitatnachweis fehlt WB, ANJ, S 8f. Robert bis wenn] Robert, blond und durchschnittlich, war Servierkellner in einem deutschen Hotelrestaurant. Wenn GW 9 deutschen] fehlt WB, ANJ, S 12 jeder] ,Jeder GW 13 Menschenwürde.] Menschenwürde. Er war Kellner in einem deutschen Hotelrestaurant. WB, S Menschenwürde.‘ GW 19 empor,] empor und GW zu] zur S 20f. solch einem Gaste] so einem Gast GW 22 ihm] für ihn GW
Sandro Zanetti Selbstherausgaben Autoren als Editoren ihres Lebenswerkes
Fragt man sich, wie Autoren mit ihren eigenen Werken oder auch mit künftigen Nachlaßmaterialien im Hinblick auf eine Edition – oder eine verweigerte Edition – umgehen, so wird man schnell sehen, daß das Bemühen um eine künftige Lesbarkeit – oder Verheimlichung – des Geschriebenen ganz unterschiedliche Züge annehmen kann. An der Frage, ob und – wenn ja – wie sich das Geschriebene gegebenenfalls zu einem ,Lebenswerk‘ fügen sollte, kristallisieren sich die Unterschiede besonders deutlich heraus. So gibt es Autoren, die – wie etwa Franz Kafka – das Geschaffene schließlich vernichtet sehen wollten. Oder es gibt solche, die sich (wenn sie denn so weit kamen oder es in ihrem Interesse lag) eine Ausgabe sämtlicher Werke schließlich wünschten, aber ihre künftige Herausgabe – wie etwa Paul Celan – gezielt fachkundigen Personen überließen. Es gibt aber auch solche, die – wie etwa Friedrich Dürrenmatt – ihrem Lebenswerk in Form einer Werkausgabe selbst eine bestimmte Form geben wollten und die darüber hinaus sogar dem künftigen Nachlaß in Form von Archivgründungen einen Ort zugewiesen haben. In der literaturwissenschaftlichen Forschung ist ein Interesse für die Handlungs- und Unterlassungsstrategien dieser dritten Gruppe von Autoren und Autorinnen, die ihr eigenes Lebenswerk ediert bzw. die Edition maßgeblich mitbestimmt haben, bislang weitgehend ausgeblieben.1 Für dieses Ausbleiben läßt sich gewiß eine Erklärung finden: Mit der literaturwissenschaftlichen Kritik an 1
Weitgehend ausgeblieben ist dieses Interesse letztlich – nämlich als Interesse eben für die entsprechenden Strategien – auch im Umkreis großangelegter Editionsprojekte, wie etwa die Geschichte der Goetheeditionen belegen mag. Die Fixierung auf eine vermeintliche oder gegebenenfalls auch dokumentierte ,Autorintention‘ verhindert nicht nur eine reflektierte Editionspraxis (vgl. hierzu Thomas Richter: „so schien es geboten, [...] das ganze Stück wegzulassen“. Zum Spannungsfeld der Begriffe „Text“ und „Autor“ am Beispiel der Goetheedition. In: Text und Autor. Beiträge aus dem Venedig-Symposion 1998 des Graduiertenkollegs „Textkritik“ München. Hrsg. von Christiane Henkes und Harald Saller mit Thomas Richter. Tübingen 2000, S. 153–165), sie verstellt auch den Blick auf den möglichen Eigenwert und die mögliche Funktion kommentierender, interpretierender und/oder anweisender Äußerungen von Autoren im Hinblick auf ihre eigenen Schriften und deren Druck – oder Nichtdruck. Die strenge Scheidung von literarischem (eigentlichem?) ,Text‘ und begleitenden (uneigentlichen?) ,Äußerungen‘ eines Autors gilt es allerdings – spätestens nämlich dann, wenn eben der Status dieser Äußerungen selbst im besten Sinne interpretationswürdig wird – ebenso kritisch zu befragen wie die Verabsolutierung des vermeintlichen oder tatsächlichen Autorwillens mit dem Ziel einer autorkonformen Herstellung und/oder Interpretation eines Textes.
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Sandro Zanetti
den Bezugsgrößen ,Autor‘ (inkl. ,Biographie‘) und ,Werk‘ ist gleichzeitig – und zu Recht – fragwürdig geworden, ob diese Bezugsgrößen überhaupt als triftige Kriterien oder Rahmenvoraussetzungen zur Analyse von literarischen Prozessen und Texten und ihren Kontexten gelten können und sollen. Dem allerdings bleibt entgegenzuhalten, daß die Konstitution – oder Dekonstitution – von Werkzusammenhängen, Werkinszenierungen sowie Autorbildern, -mystifikationen und -fiktionen selbst als literarische, als poetische Praxis bestimmt werden könnte: Aus einer produktionsästhetischen Perspektive jedenfalls besteht kein Zweifel darüber, daß diese Konstitutions- und Dekonstitutionsprozesse einer jeweils spezifischen ,Poetik‘ zugerechnet werden müssen. Diese impliziert jeweils das Anbringen (oder Verheimlichen) einer bestimmten Autorsignatur ebenso wie den Entwurf eines bestimmten Werktypus (bzw. dessen Infragestellung). Es stellt sich nur die Frage, wie sehr die Autoren selbst an einer solchen Poetik arbeiten – oder diese Arbeit von (anderen, meist späteren) Editoren übernommen wird. Beide Fälle sind denkbar und verdienen entsprechende Aufmerksamkeit von seiten der Literaturwissenschaft, bestimmen die entsprechenden Schreib- und Veröffentlichungs- bzw. Zurückhaltungspraktiken und -taktiken doch in jedem Fall mit, in welcher Form das Geschriebene künftig gelesen wird – und ob es überhaupt gelesen werden kann.2 Für die Werke einer ganzen Reihe von Autoren ist bereits im Moment der Niederschrift, spätestens jedoch im Moment der Veröffentlichung oder Wiederveröffentlichung von einer solchen Poetik auszugehen: einer Poetik, die – ganz im Sinne der poiesis – den Aspekt der Hervorbringung eines Werkes betont. Daß eine solche Hervorbringung auch die editorische Hervorbringung eines Werkes, also die Produktionsästhetik auch von Editionen implizieren sollte, mag zumindest bei Autoren, die ihre eigenen Werke edieren, selbstverständlich erscheinen – vor allem bei solchen, die dies nicht oder nicht allein aufgrund fehlender Publikationsalternativen tun. Doch selbst für diese Fälle ist eine dezidiert produktionsästhetische Perspektive auf Editionspraktiken als po(i)etische Praktiken bislang kaum je – und seltener noch explizit – Gegenstand der Forschung geworden.3 2
3
Damit ist auch gesagt, daß der Entwurf einer solchen Poetik und die konkrete Ausführung oder Folge eines solchen Entwurfes (Gelingen, Scheitern, Transformation) zu unterscheiden sind: Beides wiederum – also auch der Entwurf als solcher, selbst wenn er sich nicht umsetzen läßt – verdient Beachtung, und gerade die Differenz zwischen Entwurf und Ausführung kann zum Einsatzpunkt einer Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen des jeweiligen poetischen Modells genommen werden. Dies ist wohl auch darauf zurückzuführen, daß vor allem die professionelle und insbesondere die wissenschaftliche – meistens ja erst nach dem (tatsächlichen) Tod eines Autors einsetzende – Editionspraxis in der Regel (und zumindest in gewisser Hinsicht auch zu Recht) bestrebt ist, den Akt des Edierens nicht nur von demjenigen des Interpretierens und zuweilen auch von demjenigen des Kommentierens zu unterscheiden, sondern auch, ja vor allem, von demjenigen einer poetischen Einmischung ins Dichterische. Zu fragen wäre allerdings auch im Hinblick auf die professionelle Editionspraxis, wie sich die editorische poiesis zur auktorialen verhält – oder
Selbstherausgaben: Autoren als Editoren ihres Lebenswerkes
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Eine solche Poetik erschöpft sich nicht in dem, was in dem Geschriebenen gegebenenfalls verhandelt wird (und losgelöst von den medialen und materialen Voraussetzungen auch den Anforderungen einer Autonomieästhetik genügen könnte). Sie läßt vielmehr die Rahmungen des schließlich Publizierten (Buchgestaltung, Typographie, Anordnung der Schriftzeichen und Textelemente, gegebenenfalls Textveränderungen und Kommentare) oder Zurückbehaltenen (Archivierungen und, soweit sich darüber Aussagen machen lassen, Vernichtungen) als Bestandteile der poetischen Praxis erkennbar werden. Hans Arp (1886–1966) gehört zu den Autoren, die ihre Arbeiten in den Dienst einer solchen Poetik gestellt haben. Welche Perspektiven man aus deren theoretischer Evaluierung gewinnen kann, sei im folgenden an Arp skizzenhaft dargelegt. 1909, nach Studienaufenthalten an Kunstschulen in Weimar und Paris, übersiedelt Arp in die Schweiz und entwirft, bevor er 1919 nach Köln zieht, in den wenigen blühenden Jahren des Dadaismus in Zürich seine ersten ,Arpaden‘: dadaistische Gedichte, die im wesentlichen aus einer Neuzusammenstellung von Wörtern aus der Zeitung bestehen. Einige Jahrzehnte später verfaßt Arp auch einen erklärenden Kommentar zu seinen Arpaden. Dieser Kommentar ist integraler Bestandteil eines größeren Vorhabens: einer kontextualisierenden Sammlung und Strukturierung des eigenen Lebenswerkes im Hinblick auf dessen künftige Lesbarkeit. Damit rückt ein wesentlicher Aspekt der so häufig von Künstlern und Schriftstellern der mittlerweile ,klassisch‘ genannten Avantgarde gegebenen, oft spät gegebenen Kommentare zu ihren jeweiligen, meist frühen Arbeiten in den Vordergrund. Sehr viele Dadaisten – Richard Huelsenbeck, Raoul Hausmann, Hans Richter und einige mehr – haben im weiteren Verlauf ihres Lebens ihre Memoiren niedergeschrieben, Sammlungen von Dokumenten des Dadaismus vorgelegt oder ganz einfach ihre eigene Version zur Geschichte der Bewegung beigetragen. Diese Beiträge stehen allesamt vor dem Problem, eine Bewegung, die nicht einfach nur Kunst oder Literatur und auch nicht Teil bloß einer Kunst- oder Literaturgeschichte sein wollte, mit eben jenen Mitteln zu dokumentieren und nicht zuletzt auch zu institutionalisieren, gegen die sie einst gerichtet war. Die Dadaisten sind zu den ersten Editoren, Kommentatoren, Historikern und Literaturhistorikern ihrer eigenen Arbeiten geworden, zum Teil auch, weil sie ein Feld bearbeitet, ja gegebenenfalls sogar erst eröffnet haben, das außer ihnen keine oder nur wenige Kenner haben konnte. Sie reagierten damit selbst, so könnte man den Sachverhalt allerdings auch positiv formulieren, auf die Notverhalten sollte, und das gilt nicht nur für diejenigen Autoren, welche die Edition ihrer Werke in erkennbarer Weise zum integralen Bestandteil ihrer Poetik gemacht haben (Beispiel: Arno Schmidt). „Seit die Dichter es lieben, sich gelegentlich als Herausgeber zu verkleiden“, gibt Wolf Kittler in diesem Zusammenhang zu bedenken, „pflegen sich Editoren mit Autoren zu verwechseln.“ Wolf Kittler: Literatur, Edition und Reprographie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65, 1991, S. 205–235, hier S. 215.
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wendigkeit einer kommentierenden Kritik, die den Arbeiten aber auch nicht bloß äußerlich ist, sondern – nicht nur im Falle von Arp – den gestischen oder konzeptuellen Zug unterstreicht, der diesen Arbeiten ohnehin eigen ist. In vergleichbarer Weise spricht Michel Foucault für die Literatur spätestens seit Mallarme´ von einer Notwendigkeit „zweiter Sprachen“: Wenn Literatur sich nicht mehr einfach „innerhalb einer gegebenen Sprache“ artikuliert, sondern Sprache zugleich entwirft, das heißt ihr „Entschlüsselungsprinzip in sich eingeschrieben“ enthält, dann fungieren auch die kommentierenden Äußerungen, so Foucault, „nicht länger als äußerliche Hinzufügungen zur Literatur (Urteile, Vermittlungen, Schaltstellen, die man zwischen einem auf das psychologische Rätsel seiner Schöpfung verwiesenen Werk und dem konsumierenden Akt seiner Lektüre einzurichten für nützlich hielt); von nun an zählen sie zum Herzstück der Literatur, der Leere, die sie in ihrer eigenen Sprache herstellt“.4 Damit ist aber auch gesagt, daß diese „zweiten Sprachen“ selbst als poetische Artikulationsformen bestimmt werden können: als Spielraum literarischer bzw. allgemein künstlerischer Aktion, die prinzipiell einen performativ mitentworfenen, zum Beispiel musealen oder eben editorischen Rahmen, so variabel dieser auch sein mag, impliziert. Die Beschäftigung mit dem eigenen Werk wird aus einer solchen Perspektive wiederum selbst als poetischer Akt bestimmbar. Marcel Duchamp, der seine wichtigsten Arbeiten in einem kleinen portablen und hundertfach reproduzierten Koffermuseum zusammengefaßt und inszeniert hat, gehört in diesem Zusammenhang wohl zu den schillerndsten Figuren. Doch auch Hans Arp hat, indem er zum Editor und Kommentator seiner eigenen Arbeiten geworden ist, diesen Spielraum genutzt, zumindest gilt das für die literarischen Arbeiten, bei seinen Malereien und Skulpturen verhält es sich etwas anders.5 Bestimmt man diesen Spielraum, den die Selbstkommentare, aber auch die editorischen Entscheidungen eröffnen, selbst als Feld poetischer Praxis, fällt es nicht nur leichter, den methodischen Kurzschluß zu vermeiden, die (auch editorischen) Artikulationsformen dieser programmatisch mit ins Spiel gebrachten „zweiten Sprachen“ unvermittelt – als vermeintlich verläßliche und selbstevidente Erklärungen – in den Dienst einer Interpretation zu stellen. Auch die gegenteilige, autonomieästhetisch oder anders begründete denkbare Argumen4
5
Michel Foucault: Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes (1964). Aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek. In: Ders.: Schriften zur Literatur. Hrsg. von Daniel Defert und Franc¸ois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Auswahl und Nachwort von Martin Stingelin. Frankfurt/Main 2003, S. 175–185, hier S. 182f. Arps Kommentare sind freilich keine Textkommentare in einem philologischen Sinne, sondern gleichzeitig Rückblick, Erklärung der eigenen Arbeitsweise und Werkinszenierung. Diese Mischung, unterlegt zudem mit einer betont persönlichen Färbung, macht selbstverständlich einen philologischen Kommentar nicht überflüssig. Aber sie zeigt auf ihre Weise, daß Berufsphilologen nicht die einzigen sind, die auf der Ebene „zweiter Sprachen“ operieren. Die entscheidenden und nachhaltigen Vorstöße auf dieser Ebene sind vermutlich sogar eher von Schriftstellern ausgegangen.
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tationskette, es könne oder solle nicht Aufgabe des Autors sein, die „kommentierenden Äußerungen“ zu seinem Werk gleich mitzuliefern, diese „zweiten Sprachen“ seien unzuverlässig, können nicht als Fundament für die eigene Deutung dienen, man solle also lieber gleich ganz von ihnen absehen, griffe zumindest im letzten Schritt zu kurz. Dies deshalb, weil eine solche Argumentation zwar zurecht die Verläßlichkeit dieser „zweiten Sprachen“, wenn sie von den Autoren selbst entworfen werden, in Zweifel zieht, nicht aber die Möglichkeit mitbedenkt, daß diese mitentworfenen „zweiten Sprachen“ und ihre entsprechenden (eben auch editorischen) Praktiken an einer Poetik teilhaben könnten, die sich ihrerseits zwischen editorischer Rahmung, Werk und Kommentar formiert, ja performiert und gegebenenfalls, über die Jahre, transformiert. Zurück zu Arp: Im ersten, von ihm selbst noch mitverantworteten Band seiner Gesammelten Gedichte von 1963 steht als Einleitung zu den beiden Versionen des Gedichtes Weltwunder folgendes geschrieben: Wörter, Schlagworte, Sätze, die ich aus Tageszeitungen und besonders aus ihren Inseraten wählte, bildeten 1917 die Fundamente meiner Gedichte. Öfters bestimmte ich auch mit geschlossenen Augen Wörter und Sätze in den Zeitungen, indem ich sie mit Bleistift anstrich. Das Gedicht „Weltwunder“ ist so entstanden. Ich nannte diese Gedichte „Arpaden“. Es war die schöne „Dadazeit“, in der wir das Ziselieren der Arbeit, die verwirrten Blicke der geistigen Ringkämpfer, die Titanen aus tiefstem Herzensgrund haßten und belachten. [...] Ich schlang und flocht leicht und improvisierend Wörter und Sätze um die aus der Zeitung gewählten Wörter und Sätze. [...] Wir meinten durch die Dinge hindurch in das Wesen des Lebens zu sehen, und darum ergriff uns ein Satz aus der Tageszeitung wenigstens so sehr wie der eines Dichterfürsten. Viele Jahre später, im Jahre 1945, habe ich durch Interpolationen dieses Gedicht weiterentwickelt. Ohne an die ursprüngliche Wortfolge zu rühren, habe ich meine Wörter und Sätze behutsam dazwischengestellt. Ich lasse dieses Gedicht nun hier folgen, zuerst das Original aus dem Jahre 1917, darauf die Erweiterung von 1945.6
Hierauf folgt die erste Fassung des Gedichtes von 1917. Sie umfaßt insgesamt eine Druckseite und beginnt so: WELTWUNDER sendet sofort karte hier ist ein teil vom schwein alle 12 teile zusammengesetzt flach aufgeklebt sollen die deutliche seitliche form eines ausschneidebogens ergeben [...]7 6
7
Hans Arp: Weltwunder. In: Ders.: Gesammelte Gedichte. Bd. 1. Gedichte 1903–1939. Hrsg. in Zusammenarbeit mit dem Autor von Marguerite Arp-Hagenbach und Peter Schifferli. Zürich 1963, S. 46–53, hier S. 46. Vgl. hierzu wie auch insgesamt zum Phänomen zweiter Fassungen bei Arp: Karl Riha: „Zweite Fassungen“. Zu Text-Modifikationen in der Lyrik Hans Arps. In: Text + Kritik 92 (Oktober 1986: Hans / Jean Arp), S. 81–88. Ebenda, S. 47. Diese erste Version des Gedichtes erschien zuerst 1920 als Teil der Texte der Wolkenpumpe. In Band 1 der Gesammelten Gedichte ist das Gedicht wegen der Parallelisierung
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Gleich anschließend folgt die ,interpolierte‘ Version von 1945 (insgesamt sechs Druckseiten). Die aus der Fassung von 1917 übernommenen Wörter sind darin kursiv gesetzt: WELTWUNDER sendet sofort die schnellsten boten zu den traumwolken. sendet flugwelle zeugkarte drahttaube briefäther. wer kann in diesem finsteren land ohne eine morgenrote traumwolke leben. hier ist in jedem und allem ein teil undurchdringlicher finsternis. vom tageslicht bleibt nur ein dürftiger kranz übrig. die finsternis ist eine quallige spinne ein stummes schwein eine widerliche schlange ein gewaltiger blutegel. meine morgenrote traumwolke fiel mir aus der hand und zerbrach. aber alle 12 teile lagen sauber nebeneinandergereiht am boden. zitternd habe ich die morgenrote traumwolke wieder zusammengesetzt. ich erwache. die wolke ist flach wie aufgeklebt. die bruchstellen sind erschreckend. wie sollen diese todeswunden heilen. ich verzweifle. die deutliche seitliche form dieser verzweiflung will sich nicht wenden und mir ihre vorderseite oder rückseite zeigen. träume ich noch immer. ich sitze hilflos vor vielen vielen schlecht zusammengefügten teilen eines ausschneidebogens auf dem eine morgenrote traumwolke abgebildet ist. ich habe mich in mein geschick ergeben [...].8
In den Gesammelten Gedichten bilden der vorangestellte Kommentar, die Version von 1917 und jene von 1945 eine spannungsvolle Einheit, in der die zuvor erwähnte ,Poetik‘, die sich hier vor allem in der Anordnung dieser drei Texte manifestiert, ihre spezifische Kontur gewinnt. Die Spannungen zwischen diesen Texten sind, mit anderen Worten, ihrerseits sprechend, und zwar so, daß diese Spannung gleichzeitig erkennbar wird als eine, die auch Arps Lebenswerk, das mit den Gesammelten Gedichten dokumentiert, ja inszeniert werden sollte, durchzieht. Um nur für die beiden Weltwunder-Versionen das Offensichtlichste hervorzuheben: Arp macht aus dem frühen collageartigen Text einen Traumtext. Das Wort „Traum“, das in der ersten Version noch gar nicht vorkommt und das über den unmittelbaren Kontext hinaus Arps Schritt vom Dadaismus zum Surrealismus andeutet, fungiert in der zweiten als eine Art Lückenbüßer. Arp er-
8
mit der erweiterten Fassung vorweggedruckt und erscheint deshalb nicht mehr unter den Texten der Wolkenpumpe (ebenda, S. 54–77), deren Reihenfolge darin gegenüber der Erstausgabe von 1920 im übrigen auch verändert wurde. Die erweiterte Fassung von Weltwunder mit der Vorbemerkung wie in Band 1 wurde zum ersten Mal 1948 gedruckt, allerdings in einer Ausgabe, die nicht über drei bis vier Exemplare hinaus gediehen zu sein scheint. Für weitere Informationen zu den verschiedenen Fassungen vgl. Sandro Zanetti: Techniken des Einfalls und der Niederschrift. Schreibkonzepte und Schreibpraktiken im Dadaismus und im Surrealismus. In: „SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR: VON EISEN“. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. Hrsg. von Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti. München 2005, S. 205–234, besonders S. 224f. – Aus diesem Aufsatz sind für den vorliegenden Text auch einige Passagen übernommen und überarbeitet worden. Arp 1963 (Anm. 6), S. 48.
Selbstherausgaben: Autoren als Editoren ihres Lebenswerkes
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weitert den Umfang des Textes um das sechsfache, führt zusätzliche Motive ein, er polarisiert zwischen „finsternis“ und „tageslicht“, symbolisiert, psychologisiert, individualisiert, mildert die springende Syntaktik ab, nimmt dadurch dem Rest des alten Entwurfes allerdings auch einiges von seiner bestechenden Nüchternheit. Stellt man die Beschreibung der Transformation und die Wertung an dieser Stelle etwas zurück und achtet auf die Anordnung der Texte mitsamt den Jahreszahlen, dann zeigt sich jedoch auch, daß durch diese editorischen Maßnahmen die Bewegung der Transformation auf ihre historischen Prämissen hin transparent wird. Die „bruchstellen sind erschreckend. wie sollen diese todeswunden heilen“: Damit ist nicht nur ein von Arp selbst auch betonter biographischer Kontext aufgerufen – der Tod seiner Lebensgefährtin Sophie TaeuberArp –, angesprochen ist auch und vor allem die Tatsache, daß die Fortsetzung eines Werkes, das von den Nationalsozialisten als entartete Kunst bezeichnet wurde, auch nach dem Krieg nicht anders kann – als von einem Trümmerhaufen und den gebliebenen Wunden auszugehen. Die Kontextualisierung im Rahmen der Edition erweist sich dabei selbst als poetisch-programmatische Arbeit.9 Arp aktualisiert im Falle von Weltwunder die Vorlage von Grund auf, setzt sie offensichtlich in Beziehung mit dem gegenwärtigen und jüngst vergangenen Zeitgeschehen. Die Anordnung beider Texte im entsprechenden Band der Gesammelten Gedichte und die Angabe der jeweiligen Jahreszahlen sind hier mindestens so sprechend wie der von Arp tatsächlich gegebene Kommentar in der erklärenden Vorbemerkung: Schreiben, so besagt es allein schon das vor Augen gestellte Verfahren, heißt, noch unter widrigsten Umständen, Weiterschreiben. Alles, was geschrieben oder gedruckt wurde, kann auch wieder anders geschrieben oder gedruckt, angeeignet, abgelehnt, umgearbeitet, aufgefüllt werden. Das beginnt im Falle von Weltwunder schon mit der ersten Version, deren Wortbestand ein aus Zeitungen und Inseraten übernommener ist. Die zweite Version mag vielleicht verdeutlichen, daß der Wortbestand eines Individuums ebenso ein aus Zeitungen und anderen Medien entnommener, also nicht einfach ein eigener ist. Eigenartig ist allein der jeweilige Prozeß der Transformation: Geschichte im Kleinen wie im Großen besteht darin, die Spuren der jeweiligen Transformationsprozesse sichtbar zu lassen. 9
Auf die delikate Frage, wie diese programmatische Arbeit im Rahmen einer neuen – etwa einer durchaus wünschenswerten historisch-kritischen – Arp-Ausgabe dargestellt werden könnte oder sollte, sei hier nur hingewiesen. Sollten sich im Falle von Arps Nachlaß die rechtlichen Probleme je lösen, könnte man konkretere Wünsche formulieren. Vorerst mag der Hinweis genügen, daß die Art und Weise, wie Arp selbst seine Arbeiten in unterschiedlichen Kontexten publizierte und reformulierte, ihrerseits dokumentiert werden müßte. Vorrangig müßte man aber wohl zunächst eine Publikation jener Nachlaßtexte anstreben, die bislang noch gar nicht publiziert sind. Was die anderen Texte angeht, so kann man immerhin auf die ja doch vorhandenen Editionen und Publikationen zurückgreifen. Ein Interesse an Arps editorischer Praxis als poetischer Praxis setzt die Kenntnis dieser Editionen und Publikationen ohnehin voraus – und wird sich auch künftig primär an ihnen zu orientieren haben.
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Sandro Zanetti
Sind diese Transformationsprozesse selbst Teil einer Poetik, die über einzelne Werke und einzelne Werkphasen hinausgreift, dann sind auch die entsprechenden editorischen Entscheidungen, die Arp in diesem Fall selbst getroffen hat, nicht mehr als Äußerlichkeiten abzutun, sie gehören dann vielmehr, wie man mit Foucault sagen könnte, zum „Herzstück der Literatur“.
Ulrich Dittmann Oskar Maria Graf bearbeitet und gibt seine Erzählungen heraus
Daß es „relativ schwierig [sei], das Erzählwerk zu überschauen“,1 ist eine Feststellung, die ich nach jahrelangem Bemühen um einen Überblick als ein dezentes Understatement von Grafs Briefpartner und Werkherausgeber verstehen möchte. Der Überblick ist nicht nur schwierig, er erscheint so gut wie unmöglich. Trotz dieser notwendigen Ergänzung bin ich Wulf Kirsten dankbar, daß sich mein Versuch einer Darstellung nicht nur auf sein Urteil, sondern auch seine Entscheidungen berufen kann. Die Kriterien des sympathisierenden Autor-Editors können im gegebenen Fall die philologisch-editorischen ergänzen und stützen. Denn Kirsten setzte durch seine Auswahl den autoreigenen Erzähl-Editionen einen gültigen Schlußstein ein. Mit dem weltliterarisch anspruchsvollen, einer Graf-Geschichte entliehenen Haupttitel Raskolnikow auf dem Lande bildet seine Publikums- oder Leseausgabe eine Summe ohne die sonst übliche Stadt/Land-Aufgliederung, die auch Graf selbst zu nivellieren bemüht war. Eine Gesamtausgabe der Graf-Erzählungen, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und die Kirsten in seiner Nachbemerkung auf „mehrere Bände“ veranschlagte, setzt aber noch die Entwicklung weiterer, eigener Kriterien voraus. Wie der Autor als editorische Autorität bei einer Werkausgabe zu berücksichtigen sei, auf diese Frage muß erst noch eine Antwort erarbeitet werden. Im folgenden versuche ich eine Richtung dafür anzudeuten. Oskar Maria Graf hat Teile seiner vor dem werk- und lebensentscheidenden Jahr 1933 erschienenen, von ihm selbst zusammengestellten neun Sammlungen Zur freundlichen Erinnerung (1922), Bayrisches Lesebücherl (1924) Finsternis (1926), Wunderbare Menschen und Im Winkel des Lebens (beide 1927), Das bayrische Dekameron (1928) und die sicher wichtigsten Kalendergeschichten (1929) mit ihren zwei Teilen „von Land“ und „Stadt“ wiederholt neu bearbeitet, er hat sie in fremden Kontexten und auch in Auswahlen publizieren lassen, die sich aus verschiedenen seiner Sammlungen zusammensetzten. 1
Oskar Maria Graf: Raskolnikow auf dem Lande. Kalendergeschichten. Berlin und Weimar 1974. – Die Nachbemerkung „Zu dieser Ausgabe (S. 597f.) ist gezeichnet W[ulf]. K[irsten]. W.K. war damals Lektor im Aufbau-Verlag.
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Ulrich Dittmann
Für zwei Sammlungen, Dorfbanditen und Notizbuch des Provinzschriftstellers, beide 1932, verbaute die deutsche Geschichte neuere Ausgaben,2 auch noch bis in die Zeit nach 1945 hinein. Deutsche Geschichte hat die Werk- und Wirkungsgeschichte der anderen Sammelausgaben entscheidend mitgeschrieben, und das nicht nur aufgrund äußerlicher Bedingungen wie NS-Zensur, Vertreibung des Autors und Desinteresse während BRD-Restauration und Kaltem Krieg, sondern auch weil Grafs Programm, als politischer Autor aktuell wirken zu wollen, sein Werk in den schier aussichtslosen Selbstwiderspruch verwickelte, ältere Texte neuen Situationen anzupassen. Hinter der Möglichkeit einer Ausgabe letzter Hand, die einem spontan einfällt, wenn es um edierende Autoren geht, steht jedenfalls bei Graf ein großes Fragezeichen. Dennoch plante Graf etwas ähnliches wie eine solche Ausgabe letzter Hand, und Hans Dollinger, der die umfangreichste Graf-Ausgabe (Gesammelte Werke in Einzelbänden) betreute, verwendet denn auch den Begriff für die von ihm ab 1975 redigierten 18 Graf-Bände des Süddeutschen Verlags. Graf selbst schrieb am 9. April 1955 an Karl Dietz, den Gründer und Leiter des Greifen-Verlages in Rudolstadt, er wolle ein „erweitertes, bearbeitetes Manuskript (zum Teil natuerlich verbesserte gedruckte Geschichten aus der ehemaligen Ausgabe) senden, [...] sodass diese endgueltige Kalendergeschichtenausgabe ein endgueltiges Bild meiner Erzaehlart ergibt“.3 Der Greifenalmanach 1956 warb für die ,erweiterte Ausgabe von Kalendergeschichten in zwei Bänden‘ mit der Ankündigung, es werde ein „abgerundetes Bild der Erzählart des Dichters“ gegeben. Die „Neubearbeitung und Zusammenstellung meiner seinerzeit im Drei Masken Verlag in München (vor Hitler) erschienenen ,Kalendergeschichten‘“ hatte der Autor bereits im Juli 1951 „seit längerer Zeit [...] in vier Einzelbänden mit Sondertiteln herauszugeben“ (S.20) geplant. Erlebt hat er – neben diversen Dekameron-Neuausgaben und seiner Mitmenschen-Sammlung 1950 – selbst das Erscheinen von nur zwei Bänden wiederaufgelegter Erzählungen: Im Greifenverlag schrumpften die traditionell in „Geschichten vom Land/aus Stadt“ geteilten Kalendergeschichten auf nur einen Band, einem der letzten DDR-PrivatVerleger rationierte man 1957 das Papier für den seit 1953 beim Aufbau-Verlag in Mißkredit geratenen Autor.4 1962 erschien beim Desch-Verlag Der große Bauernspiegel; mit diesem und dem auch in der BRD gedruckten Dekameron blieb er, wie er selbst beklagte, auf „bayrisches Urviech“5 oder „Bauernbücher“6 festgeschrieben. 2
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Den ersten Nachdruck des in seiner Zusammenstellung aufschlußreichen Notizbuch 1932 brachte der Allitera Verlag 2002 heraus, bei dem auch das Graf-Jahrbuch erscheint. Oskar Maria Graf: Briefe aus New York an seinen Rudolstädter Verleger Karl Dietz. 1950–1962. Hrsg. von Ulrich Kaufmann und Detlef Ignasiak. München 1994, S. 35. – Bei weiteren Briefen aus dieser Ausgabe folgt die Seitenzahl im Anschluß an das Zitat. Vgl. Carsten Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag 1945–1961. Konzepte und Kontroversen. Wiesbaden 1996, S. 81.
Oskar Maria Graf als Bearbeiter und Herausgeber seiner Erzählungen
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Erst postum kam 1975 die erheblich erweiterte, noch von Graf in Einzelheiten bestimmte Ausgabe von Kalendergeschichten heraus, die vor allem die „Geschichten vom Land“ enthalten. Der Süddeutsche Verlag startete damit eine Werkausgabe in Einzelbänden und übernahm dafür 1982 seitenidentisch den Bauernspiegel vom Desch-Verlag. Die „Geschichten aus der Stadt“, z. T. dem zweiten Teil der Kalendergeschichten von 1929 entnommen und als Gegengewicht zum Etikett des ,Bauernerzählers‘ gemeint, erschienen erst 1988 unter dem Titel Jedermanns Geschichten. Den vierten, nicht mehr erschienenen Band plante Graf unter dem Titel „Sonderbare Geschichten“ oder „Sonderbare Dorfgeschichten“ (S. 45), für die er schon vier Texte reserviert hatte. Dieser mehr als siebenunddreißigjährigen Genese des Editionsprojekts – vor 1951 begonnen, 1988 abgeschlossen und auch nur zu drei Viertel realisiert – lag im September 1951 der Wunsch zugrunde, „mich bei allen Lesern in den verschiedenen Zonen Deutschlands in Erinnerung zu bringen“ (S.22). Von New York aus, seinem Exilort, den er erstmals 1958 für eine Heimreise verlassen konnte, war das Publikum in den zwei deutschen Staaten schwer einzuschätzen – es blieb aber ein wichtiger Faktor in seinen Planungen. Das auf 1964 datierte „Zweite Vorwort“ zu den Jedermanns Geschichten zielt auf „Menschen zwischen vierzig und achtzig [...]. Die heute Zwanzig- und Dreißigjährigen dürfte diese Sammlung kaum interessieren.“7 Auch auf die Gefahr hin, „darüber ins Gras beißen“8 zu müssen, hatte Graf dem Desch-Verlag freigestellt, für diesen, in seiner üblichen Selbstgeringschätzung zwischen den Erfolgsautoren Ganghofer und Karl May9 angesiedelten Band auf einen geeigneten Zeitpunkt zu warten. Er dürfte kaum erwartet haben, daß dann noch mehr als zwanzig Jahre nach seinem Tod vergehen sollten, als es schon fast keine „Zonen Deutschlands“ mehr gab. Damit ist der Horizont für die Wirkungsgeschichte von Grafs neu bearbeiteten Erzählungen abgesteckt, an denen verlegerisches Interesse trotz eines veränderten Publikums auch dann noch festhielt, als die Büchergilde Gutenberg10 ab 1986 die Erstfassungen von 1929 wiederaufgelegt, also hinter die Überarbeitungen letzter Hand zurückgegriffen hatte und erhebliche Resonanz erzielte. Als eine quasi Centenar-Edition übernahm der als Rechtsnachfolger des Süddeutschen Verlages angetretene List-Verlag 1994 die 16 Bände, obwohl es erhebliche Einwände gegen diese Ausgabe gab und gibt.11 5
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Oskar Maria Graf in seinen Briefen. Hrsg. von Gerhard Bauer und Helmut F. Pfanner. München 1984. S. 303 (an Ernst Waldinger). Ebenda, S. 324 (an Kurt Pinthus). Oskar Maria Graf: Jedermanns Geschichten. Mit einem Nachwort von Gert Heidenreich. München 1988, S. 9. Oskar Maria Graf in seinen Briefen (Anm. 5), S. 311 (an Kurt Desch). Ebenda, S. 308 (an Hans-Jochen Vogel). Oskar Maria Graf: Kalender-Geschichten I. Geschichten vom Land und Kalender-Geschichten II. Geschichten aus der Stadt. Oskar Maria Graf: Werkausgabe Bd. XI/2 und Bd. XI/3. Hrsg. von Wilfried F. Schoeller. Frankfurt/Main 1986.
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Durch Grafs Überarbeitung seiner prägnant als „vor Hitler“ bezeichneten Texte für eine ,endgültige Ausgabe‘ sind alle Aspekte von Sammelausgaben betroffen: ihre Auswahl und die je spezifischen Motti, die überlegte Abfolge, die Betitelung und vor allem die erzählerische Form der Texte. Exemplarische Belege für sprachliche und inhaltliche Elemente als die wichtigsten Ansätze von Grafs Herausgeberentscheidungen, nach denen etwa die Hälfte seiner Erzählungen neue Gestalt erhält, sollen am Anfang stehen: Durchgängig fallen Streichungen in der Erzählerrede auf. Die „massiven Anreden des Lesers“,12 resümierende Zusammenfassungen und Kommentare finden sich vergleichsweise seltener in den späten Fassungen, der Stil des mündlichen Vortrags ist zurückgedrängt. Ein nach Walter Benjamin im Vergleich zum Romanschreiben wesentliches Element des Erzählens entfällt damit. Wilfried F. Schoellers Bemerkung zum „Kunstgriff der Mündlichkeit“,13 dank derer der Erzähler in seinen frühen Fassungen gleichsam Solidarität mit seinem Personal aufbaut und diese für sein Erzählen exemplarische Geltung gewinnt, läßt sich nur eingeschränkt für viele Nachkriegserzählungen aufrechterhalten. „Und ob’s nun einer glaubt oder nicht, so war es“, streicht Graf in seinem „vor-Hitler“-Exemplar der Kalendergeschichten, das im Nachlaß der Bayerischen Staatsbibliothek einsehbar ist; der Schluß „Nimm du, lieber Leser, eine Waage. Lege auf die eine Schale das Pech und auf die andere die Schuld und sag’ mir, was nun hinzieht“, entfällt ebenfalls. In der Erzählung Ist’s nicht immer, so? streicht Graf zwei, die düstere Hauptfigur des Textes rahmende, durchaus kontroverse Kommentare, die vor allem am Schluß einen wesentlichen Akzent setzen. Die Veränderungen schaffen neue Texte und veranlassen den zitierten Wulf Kirsten in einem prägnanten Falle von seinem Prinzip, „die Texte auf der jeweils letzten autorisierten Druckfassung“ fußen zu lassen, abzuweichen. Bei der Geschichte von den „Lästigen Handwerksburschen/Tippelbrüdern“ liegt zwar keine der fragwürdigen Aktualisierungen vor, aber ein Vergleich erhellt am unmittelbarsten, warum der Herausgeber der RaskolnikowSammlung in diesem Fall auf die Fassung von 1929 zurückgriff. Zusammenfassen läßt sich der Vergleich, mit dem Begriff einer gewissen ,Befangenheit‘, der auch den im oben zitierten Vorwort den Verzicht auf junge Leser zu motivieren scheint. Inhaltlich geänderte Passagen unterstützen diesen Eindruck: Das Aderlassen, die Geschichte über einen Bauernsohn, der durch einen vom Zaun gebrochenen Streit und Mord seinem zur Hofübergabe unwilligen Vater zu Leibe rückt, aber 11
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Der Setzer hatte sichtlich große Probleme mit den ausgedehnten Dialektpassagen. Außerdem wurden Grafs Auszeichnungen bei seinem ,gestischen Sprechen‘ in Dialogpassagen rigoros vereinheitlicht: Auszeichnungen, wie doppelte Frage- und Ausrufungszeichen oder Pausenzeichen, die im Original zwischen zwei bis fünf Punkten variieren und die Schweigedauer angeben, wurden sämtlich auf drei Punkte reduziert. Vgl. Bd. XI/3 (Anm.9), S. 370. Ebenda.
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juristisch nicht dafür belangt wird, weil der Richter weder Motivation noch die geschickte Planung erkennt, schließt in der „vor-Hitler“-Fassung: „So saudumm sind die Richter.“ Die Nachkriegsfassung verändert nur einen Satz, aber weil Graf eben den Schluß-Satz zu „So saudumm war der Richter“ umformuliert, raubt er der Geschichte die Pointe. Der Mut für die Generalisierung aus den 20er Jahren hat den Erzähler verlassen, seine allgemeine Kritik an einer für bäuerliche Verhältnisse verständnislosen Justiz gerinnt zum Kommentar eines Einzelfalls, der auch noch als vergangener geschildert ist. Bei der Kurzgeschichte Es stirbt wer ... schränkt Graf den weitausholenden Anfang ein: „vor-Hitler“ begann er: „Für kranke Leute hat man bei uns nicht viel übrig [...]. Darin gleichen wir auf irgendeine Weise unseren Vorfahren, den alten Deutschen. Nämlich von denen haben wir auch in der Schule gelernt: ,Ein krankes Kind wurde gleich bei der Geburt getötet [...]‘.“ Die Nachkriegsfassung setzt ein: „Auf einem Bauernhof, wo es jahraus, jahrein haufenweis’ Arbeit gibt, hat man für kranke Leute nicht viel übrig“ – die ursprüngliche Verallgemeinerung auf nationale Mentalität schrumpft auf ein spezifisches Milieu, von dem sich der Leser – ebenso wie vom ,Bauernerzähler‘ überlegen abwenden kann. Die ,Befangenheit‘ gegenüber stofflicher Zuspitzung oder Prägnanz bestätigen viele Kürzungen. Graf läßt sich beim Erzählen auch nicht mehr die Zeit, die er in seinem Ludwig-Thoma-Essay als so wesentlich für sein Metier betonte. Außerdem äußert er Zweifel am Sammlungstitel Kalendergeschichten, der sich immerhin bei Brechts erfolgreichem Buch sehr bewährt hatte: Aber er hatte keinen passenderen (vgl. S. 38f. und S. 65). Brieflich erwägt er mal „Geschichten vom Hörensagen“ oder „Einfache Geschichten“ und für die späteren „Jedermannsgeschichten“ den Titel „Im alten Stil erzählt“:14 D.h. er bemüht sich vorauseilend, Leseerwartungen einzuschränken, herabzustimmen, und scheint sich seiner Sache nicht ganz sicher. Die von ihm dringend gewünschte Ergänzung zu Kalendergeschichten: „Zweite durchgesehene und vermehrte Auflage“ (vgl. S. 39) unterblieb sowohl beim Greifen- wie beim Süddeutschen Verlag, beide wollten wohl an den Erfolg der „vor-Hitler“-Fassung anknüpfen, vielleicht auch das Werk original und nicht nur als Neuauflage erscheinen lassen, die es auch nur bedingt war. Eine gewisse Unsicherheit spiegeln auch Aktualisierungen der Verhältnisse in der Weimarer Republik: Graf überträgt Stoffe aus der Zeit nach 1918 mehrfach auf Nachkriegsverhältnisse. Die Erzählung Dreimal ist einmal, als Höhepunkt an den Schluß der Greifen-Auswahl von 1957 gesetzt, macht aus der wegen Abtreibung verurteilten Braut eines Arbeitslosen eine Prostituierte, die sich mit „den ,Amis‘ eingelassen“ hatte. Ihr Bruder beteiligt sich an Demonstrationen von Erwerbslosen. Er protestiert auch gegen Familienangehörige, die noch vom Führer träumen, verliert aber trotz Kriegserinnerungen und Verwicklungen um 14
Oskar Maria Graf in seinen Briefen (Anm. 5), S. 300 (an Robert Warnecke).
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die Schwester nicht seine Zuversicht auf veränderte Verhältnisse im Sinne damaliger Literaturdoktrin. Denn die Erfahrung solidarischer Mitgefangener des verbotenen „Kommunistischen Erwerbslosenausschuß“, die ihm die Adresse ihres Büros verraten, geben dem Jungen in der Nachkriegsfassung ein konkretes Ziel vor, während er in der „vor-Hitler“-Version sich nur im Einklang mit einer „unsichtbaren Legion“ Gleichgesinnter fühlte. Probleme bei diesem Text bereitet auch, daß sich die Arbeitslosigkeit der Weimarer Republik nicht nach 1945 wiederholte – Demonstrationen in München, wo die Erzählung situiert ist, galten der 40-Stunden-Woche, dem Betriebsverfassungsgesetz und arbeitsrechtlichen Fragen, hatten jedoch keinen Anlaß in der Erwerbslosigkeit. Auf andere Weise beschädigt die Aktualisierung regelrecht die Geschichte Der glückliche Brauch: zunächst berichtete sie mit gewisser Genugtuung davon, wie ein Kleinhäusler bei den reichen Nachbarn für seine Goldene Hochzeit sammeln geht, die Spendenbeträge listenmäßig eintragen läßt und zum größten Teil seinen Kindern als gutes Erbe vermachen kann. Die Nachkriegsfassung stellt in einem Vorspann fest, daß man auf dem Lande „dem Hitler nichts“ nachtrage, weil der die alten Bräuche – im gegebenen Fall durch Winterhilfssammlungen, bei denen die Spenden auch listenmäßig erfaßt wurden – wieder belebte. Die Moral der ersten Fassung – „Von der ehrlichen Arbeit ist noch keiner reich geworden“, und wer als Häusler was vererben will, muß sich was einfallen lassen – geht dabei verloren und wird gestrichen: Auf die amüsierende, bauernschlaue Bereicherung fällt ein brauner Schatten der Listensammlungen fürs Winterhilfswerk und verbiegt die geradlinige Erzählung. – Der besondere Pazifismus der bäuerlichen Bevölkerung, der eine Reihe von Texten durchaus bestimmt, wird im abschließenden Text des Bauernspiegel von 1962: Bild und Geschichte eines bayrischen Dorfes, den Graf besonders schätzte, merkwürdig relativiert: „Es wird nirgends so erbittert auf Hitler geflucht und geschimpft wie in Enzhofen, weil er den Krieg nicht gewonnen hat.“ Der in den neuen DDR- und BRD-Kalendergeschichtssammlungen an erste Stelle gerückten „besten Geschichte“ (S. 95), der historischen Erzählung Triumph der Gerechten, die die Bauern als exemplarische Opfer zeigt, antwortet mit der Schlußerzählung des Großen Bauernspiegels ein gegenläufiger Ton. Wulf Kirsten hat die Erzählung Bild und Geschichte eines bayrischen Dorfes zurecht nicht in seine Sammlung aufgenommen. Meine Folgerung aus der Einsicht in die verwickelten Sammlungszusammenhänge und die jeweils überlegten, von den Zeitverhältnissen diktiert geglaubten Herausgaben Grafs läßt mich für Neudrucke der Erstausgaben plädieren, die leider auch von den Bänden der Centenar-Ausgabe nur bedingt befolgt wird. Grafs immer wieder brieflich belegte Sorge um Schriftgrad, Illustrationen und Einband lassen für entsprechende Faksimilierungen plädieren. Den Erstausgaben als Bezugstext könnten über die Inhaltsverzeichnisse in synoptisierenden Listen die diversen Journal- oder Buchdrucke zugeordnet werden.
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Die Ausgaben letzter Hand sollte man – bei allem Respekt vor dem letzten Autorwillen – als Zeugnisse einer bedrückenden Entfremdung vom Publikum verstehen, man sollte ihnen jedoch nicht bei Neuausgaben folgen. Notwendig erscheint damit auch die künftige Vermeidung pauschaler Hinweise auf Grafs Kalendergeschichten: Bei Zitaten sollte den einzelnen Texten stets ihr Erscheinungsdatum zugeordnet werden – denn wer pauschal von Grafs Kalendergeschichten spricht, unterdrückt die biographisch und historisch bedingten Differenzen zwischen den jeweiligen Fassungen.
Kerstin Reimann / Nicole Streitler Ödön von Horva´th – Wiener Ausgabe: Ein Werkstattbericht
Vorarbeit und Konzeption Für die Arbeit an der neuen kritisch-genetischen Edition sämtlicher Werke und Briefe Ödön von Horva´ths, die derzeit am Österreichischen Literaturarchiv (ÖLA) der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) unter Berücksichtigung des gesamten Nachlasses vorbereitet wird, dienen die Begriffe ,Vorarbeit‘ und ,Konzeption‘ der Benennung werkgenetischer Einheiten, die die Arbeitsweise des Autors treffend beschreiben. Die Durchsicht des Nachlasses zeigt, daß Horva´th in Manuskripten und teilweise auch Typoskripten Ideen und Motive entwickelt, die häufig nur rudimentär ausgearbeitet werden und von denen manchmal einzelne Elemente in andere Werkvorhaben übernommen werden. Die Arbeit an einem konkreten Stück läßt sich überdies fast immer in einzelne Arbeitsphasen unterteilen, die sich durch unterschiedliche makrostrukturelle Gliederung und/oder personelle Veränderungen von anderen Phasen des Entstehungsprozesses deutlich unterscheiden. In die theoretischen Vorüberlegungen der Wiener Ausgabe wurden deshalb die Begriffe ,Vorarbeit‘ und ,Konzeption‘ als zentrale Gliederungseinheiten zur Erstellung der Werkgenese aufgenommen und wie folgt definiert: Frühere Werkvorhaben, aus denen der Autor im Zuge der Entstehungsgeschichte eines Werkes einzelne Elemente entlehnt und/oder übernimmt, werden dem jeweiligen Werk als Vorarbeiten zugeordnet, sofern sie z. B. aufgrund ihres geringen Ausreifungsgrades nicht als eine eigene Konzeption bezeichnet werden können. Wenn möglich, werden die Vorarbeiten nach genetischen Gesichtspunkten gruppiert und/oder in eine Folge gebracht.1
Und weiters heißt es: Als Konzeption wird eine übergeordnete Gliederungseinheit des genetischen Materials innerhalb eines Werkes verstanden. Sie bezeichnet eine meist längere Arbeitsphase, die sich durch eine prinzipielle Annahme des Autors über die makro1
Klaus Kastberger und Erwin Gartner: Ödön von Horva´th: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke und Briefe. Handbuch für BearbeiterInnen (Stand: November 2005), S. 15.
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strukturelle Anlage eines Werkes von einer anderen Phase deutlich unterscheidet. Einzelne Konzeptionen sind durch Unterschiede in der Struktur (drei Teile/sieben Bilder) und/oder wichtige Strukturelemente (zentrale Motive und Schauplätze, Figurennamen der Hauptpersonen etc.) voneinander getrennt.2
In den folgenden Ausführungen soll gezeigt werden, wie die beiden Begriffe ,Vorarbeit‘ und ,Konzeption‘ im Fall der Stücke Don Juan kommt aus dem Krieg und Kasimir und Karoline zur Gliederung des werkgenetischen Materials fruchtbar gemacht werden können.
Don Juan kommt aus dem Krieg – vom Zeitstück zum Charakterdrama: eine Frage der Konzeption a. Das genetische Konvolut und seine Chronologie Horva´ths Arbeit am Don Juan-Projekt erstreckt sich auf den Zeitraum zwischen Juli 1934 und Juli 1936. In einem (allerdings nicht handschriftlich vorliegenden) Brief vom 2. Juli 1934 fragt Franz Theodor Csokor Horva´th: „Kommt bei Dir endlich das Don Juan-Stück an die Reihe, von dem Du mir und Ibach erzähltest, als wir ihn im Spital besuchten, wo er mit herausgeschälten Halsmandeln lag?“3, was den Terminus post quem für die Datierung der Arbeit am Stück darstellt. Csokor liefert auch den Terminus ante quem. In einem Brief an Ferdinand Bruckner vom 4. Juli 1936 schreibt er: „Horva´th, der jetzt ständig in Wien wohnt, hat 2 sehr gute neue Stücke geschrieben, ,Figaro läßt sich scheiden‘ (moderne Fortsetzung des ,Figaro‘) und ,Don Juan kommt aus dem Krieg‘ (modernes Don Juan-Drama).“4 Am 3. November 1936 erwirbt der Verlag Max Pfeffer (Wien-Berlin-London) von dem Dramaturgen, Autor und Verleger Alfred Ibach die Rechte am „Subvertrieb [der beiden Stücke] für alle Länder“5, womit ein definitiver Zeitpunkt für die Fertigstellung vorliegt.6 2 3
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Ebenda. Franz Theodor Csokor: Zeuge einer Zeit. Briefe aus dem Exil 1933–1950. München und Wien 1964, S. 74. Was den quellenkundlichen Status der in diesem Band abgedruckten Briefe betrifft, richtet sich gegen viele ein berechtigter Vorbehalt, da Csokor die meisten Originalbriefe während des Nationalsozialismus vernichtet hat und später aus dem Gedächtnis rekonstruierte. Vgl. dazu Christian Schnitzler: Der politische Horva´th. Untersuchungen zu Leben und Werk. Frankfurt/Main, Bern (u.a.) 1990 (= Marburger Germanistische Studien. Hrsg. von Dieter Bänsch), S. 149ff. Brief Franz Theodor Csokors an Ferdinand Bruckner, handschriftliches Original, Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg, Ferdinand-Bruckner-Archiv, Signatur 81. Vertrag zwischen Ibach, Horva´th und dem Verlag Max Pfeffer vom 3. November 1936. Zitiert nach der Kopie im Nachlaß Krischke, ÖLA 84/97, Schachtel 48. Ibach war Regisseur bei Max Reinhardt und Heinz Hilpert und übernahm 1936 den Verlag E. P. Thal in Wien, den er unter dem Namen Alfred Ibach-Verlag weiterführte. Ibach hatte bereits am 6. März 1936 die Rechte am Stück Figaro läßt sich scheiden erworben. Vgl. die Kopie des
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Das genetische Konvolut zum Stück Don Juan kommt aus dem Krieg umfaßt ca. 250 Blatt. Die handschriftlichen Entwürfe zum Stück befinden sich zu einem großen Teil in zwei Notizbüchern, dem Notizbuch o. Nr. (ÖLA 3/W 367, o. BS) und dem Notizbuch Nr. 4 (ÖLA 3/W 370, o. BS). Bei der Erstellung des chronologischen Verzeichnisses der Textträger konnte davon ausgegangen werden, daß Horva´th die Notizbücher nacheinander verwendet hat – und zwar das o. Nr. vor dem mit der Nr. 47 – und, mit einer einzigen Ausnahme, chronologisch von vorne nach hinten beschrieben hat.8 Neben den Notizbüchern gibt es eine relativ geringe Zahl an handschriftlichen Entwürfen auf losen Blättern, bei denen zu klären war, ob sie parallel zu den Einträgen in die Notizbücher entstanden sind oder vor- oder nachher. Die wenigen vorhandenen Typoskripte ließen sich relativ leicht einordnen, stellen sie doch großteils die elaboriertesten Textstufen dar. Auch der fragmentarische oder fragmentarisch überlieferte, handschriftliche Romanentwurf und die zwei maschinenschriftlichen Filmexpose´s, deren Stellung in der Chronologie bis dato ungeklärt war, konnten chronologisch verortet werden. Sie stehen aus strukturellen und motivischen Gründen eher den ersten beiden Konzeptionsphasen des Stücks nahe.
b. Konzeptionen und Vorarbeit Wenn man das Material zum Stück Don Juan kommt aus dem Krieg überblickt, fällt zunächst auf, daß der Arbeitsprozeß im wesentlichen in zwei Konzeptionen zerfällt. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Strukturpläne9 und einige frühe Textstufen10 tragen den Titel Ein Don Juan unserer Zeit, ein anderer Teil den späteren Titel Don Juan kommt aus dem Krieg. Ein genauerer Blick auf das Material legt jedoch nahe, innerhalb dieser Unterteilung noch stärker zu differen-
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brieflichen Vertrags zwischen Ibach und Horva´th im Nachlaß Krischke, ÖLA 84/97, Schachtel 48. Die Nummerierung der Notizbücher stammt von den Berliner Nachlaß-Bearbeitern, nicht von Horva´th. Vgl. Jürgen Hein: Die „Fronttheater“-Szene in Ödön von Horva´ths Don Juan kommt aus dem Krieg. Notizen zur Edition und Interpretation. In: Klaus Kastberger: Ödön von Horva´th. Unendliche Dummheit – dumme Unendlichkeit. Wien 2001 (= Profile. Magazin des Österreichischen Literaturarchivs, Bd. 8), S. 92–107, hier S. 101. Unter einem Strukturplan wird die „Skizzierung des Gesamtaufbaus eines Werkes bzw. einer Werkkonzeption (enthält z. B.: Gliederung in Akte oder Teile, Szenen, Kapitel; Titeleintrag und -varianten, Schauplätze, knappe Schilderung wichtiger Handlungselemente und erste Repliken einzelner Figuren)“ (Kastberger/Gartner 2005 [Anm. 1], S. 16) verstanden. „Die Textstufe bezeichnet im Produktionsprozeß eine klar abgrenzbare Arbeitseinheit, die intentional vom Anfang bis zum Ende einer isolierten Werkeinheit (Bilderfolge, Bild, Akt, Kapitel, Unterkapitel ...) reicht und (anders als der Entwurf) bereits der konkreten Ausformulierung des Textes dient. Materiell umfaßt der Begriff alle Textträger, die der Autor in dieser Arbeitseinheit durch schriftliche Bearbeitung oder reine Übernahme aus einer frühen Arbeitsphase zur Zusammenstellung eines aktuellen Textes verwendet hat.“ (Kastberger/Gartner 2005 [Anm. 1], S. 16).
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zieren, weshalb wir schließlich fünf Konzeptionen unterschieden haben. Die ersten drei stehen unter dem Titel Ein Don Juan unserer Zeit und beinhalten auch die beiden Filmexpose´s und den Romanentwurf, Konzeption 4 und 5 stehen unter dem Titel Don Juan kommt aus dem Krieg, wobei die frühere Konzeptionsphase eine 4-Akt- oder 4-Teile-Struktur vorsieht, die spätere eine 3-AktStruktur, wie sie auch die Endfassung aufweist. Hier die Konzeptionen im Überblick: Konzeption Konzeption Konzeption Konzeption Konzeption
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Ein Don Juan unserer Zeit – Zeitstück Ein Don Juan unserer Zeit – Filmexpose´s Ein Don Juan unserer Zeit – Großmutter Don Juan kommt aus dem Krieg in vier Teilen Don Juan kommt aus dem Krieg in drei Akten
In der Folge sollen einige konkrete Beispiele besprochen werden, die die Abgrenzung konzeptioneller Einheiten ermöglicht haben und als charakteristisch für die eine oder andere Konzeption angesehen werden konnten. Das Blatt IN 221.002/5 – BS 18 a [2], Bl. 9 enthält zwei Strukturpläne, von denen jedoch nur der linke, von oben bis unten reichende für unsere Argumentation relevant ist.11 Er stellt einen der elaboriertesten handschriftlichen Entwürfe zu Konzeption 1 dar. Horva´th versucht darin die Don Juan-Figur mit typischen Phänomenen seiner Zeit zu koppeln.
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Die Blätter mit IN-Signaturen befinden sich in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek.
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Abb. 1: IN 221.002/5 – BS 18 a [2], Bl. 9
Während die ersten beiden Akte politisch orientiert sind – die Bildtitel lauten hier: „Revolutionäres Weiberbüro“, „Reaktionäre Wohnung“, „[Don Juan] wird Abgeordneter“, „Attentat auf ihn“, „Zelle der Attentäterin“, „Attentäterin kommt frei durch die Revolution und beschützt Don Juan“ – und auch ein Engagement Don Juans beim Film vorsehen, zeigt der III. Akt („In der Emigration“) Don Juan gewissermaßen als Privatperson. Er findet seine „alte Liebe“ wieder, wird aber zugleich von der Attentäterin aus dem II. Akt aufgesucht, die
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ein Kind von ihm haben möchte und ein Buch „über die Pflichten der neuen Frau“ geschrieben hat. Sie sagt, sie gehöre zu Don Juan und wünscht sich und ihm: „Ein geruhsames Alter.“ Ein derselben Nachlaß-Mappe entnommenes Blatt (IN 221.002/5 – BS 18 a [2], Bl. 2) trägt den Titel „Ein Don Juan seiner Zeit. 1918–1935“, der dann gestrichen und ersetzt wird durch „Ein Don Juan unserer Zeit. Komödie in drei Akten (12 Bildern)“, wobei Horva´th den Untertitel wieder streicht und durch „Komödie in 2 Teilen [27 Bildern]“ ersetzt.
Abb. 2: IN 221.002/5 – BS 18 a [2], Bl. 2
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Dies läßt vermuten, daß Bl. 2 nach Bl. 9 entstanden ist. Bl. 2 enthält einen Dialogentwurf zum 1. Bild des I. Aktes „Fronttheater“, das zwar auf Bl. 9 nicht vorgesehen ist, aber bald zum festen Inventar des I. Aktes zählt und in die ersten ausgearbeiteten Bilder, insbesondere in die erste größere Textstufe eingeht. Bl. 9 und Bl. 2 sind aufgrund des Titels, der Akteinteilung und aufgrund inhaltlicher Elemente charakteristisch für die Zeitstück-Konzeption, deren Struktur und Motive auch in Konzeption 2, die Filmexpose´s, eingegangen ist. Bl. 63v aus dem Notizbuch o. Nr. (ÖLA 3/W 367) bringt eine entscheidende Änderung in der Konzeption, und damit den Wechsel von Konzeption 2 zu Konzeption 3, indem hier ein Teil der Handlung des I. Teils (Bild 5) nach „Neuburg an der Donau“ verlagert wird.
Abb. 3: ÖLA 3/W 367 – o. BS, Bl. 63v
Dieser Schauplatzwechsel, der sich in ähnlicher Form auch in den Geschichten aus dem Wiener Wald findet, ist zugleich verbunden mit der Einführung der
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Figur der Hausmeisterin bzw. der Figur der Großmutter, die aus jener entwickelt wird. Bereits auf Bl. 66ff. in demselben Notizbuch verquickt Horva´th nämlich den Schauplatz „Neuburg“ mit der Figur der Großmutter, die damit an die Stelle der Hausmeisterin tritt. Konzeption 3 wurde aufgrund dieses charakteristischen Schauplatzwechsels und der Einführung der Großmutter-Figur GroßmutterKonzeption genannt. Der Großmutter fällt in der Endfassung des Stücks eine entscheidende Rolle im Handlungsverlauf zu, ist sie es doch, die Don Juan über den Tod seiner Braut aufklärt und ihn damit selbst in den Tod schickt. Das auf Bl. 63v noch für das 6. Bild des I. Teils vorgesehene Bild „Friedhof“ wandert im Laufe des Entstehungsprozesses immer weiter nach hinten und stellt in der Endfassung das Schlußbild des Dramas dar. Die Großmutter-Figur, die nur in den Akten 1 und 3 der Endfassung vorkommt, sorgt für die zyklisch-analytische Struktur des Dramas, in dessen Verlauf Don Juan gewissermaßen die Lösung einer Frage seiner Vergangenheit sucht. Dieses Suchen äußert sich im Stück durch die Erinnerungsmotivik (jede Frau erinnert ihn an „die Seine“12) und durch ein beständiges Suchen Don Juans nach der „[E]ine[n]“13, die er verloren hat. Strukturell äußert es sich durch das stationendramaartige Wechseln der Schauplätze und der Figuren (in der Endfassung: Don Juan und 35 Frauen). Die Entwürfe von Konzeption 3 stellen damit bereits einen wesentlichen Schritt hin zur Endfassung dar, stehen aber noch unter dem Titel „Ein Don Juan unserer Zeit“. Das Blatt mit der Signatur IN 221.002/5 – BS 18 a [2], Bl. 15 zeigt einen neuerlichen Konzeptionswechsel an, und zwar den von Konzeption 3 zu Konzeption 4. Es ist das erste Blatt, das den definitiven Titel Don Juan kommt aus dem Krieg trägt.
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Bereits im frühesten Entwurf zum Don Juan-Drama notiert sich Horva´th: „Er sucht in Jeder die Seine, findet sie nicht“ (ÖLA 3/W 367 – o. BS, Bl. 81v) und entwickelt daraus eine reigenartige Struktur für sein Stück. In einem späten Notizbuch-Entwurf nimmt er dieses Schema wieder auf: „1.) Du erinnerst mich –“, „2.) Du erinnerst mich an eine, die nicht geantwortet hat“, „3.) Du erinnerst mich an eine, die mich verlassen hat vergessen hat“, „4.) Du erinnerst mich an eine, die ich umgebracht hab“ (ÖLA 3/W 370 – o. BS, Bl. 36v). In der Endfassung findet dieses Schema in konzentrierter Form im Bild „In der Wohnung eines Inflationsgewinnlers“ seinen Niederschlag, wo sich die vier Damen darüber beklagen, daß Don Juan sich seine Geliebte „stückerlweise“ zusammensuche, indem ihn jede Frau an etwas anderes bei seiner Geliebten erinnere. (Ödön von Horva´th: Don Juan kommt aus dem Krieg. Hrsg. von Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt/Main 1987 [= Kommentierte Werkausgabe in 14 Einzelbänden, Bd. 9], S. 43). Der letzte, fragmentarische Satz des Romanentwurfs unter dem Titel Ein Don Juan unserer Zeit lautet: „Don Juan betrat das Hotel und fragte nach einer“ (IN 221.002/4 – BS 18 a [1], Bl. 1).
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Abb. 4: IN 221.002/5 – BS 18 a [2], Bl. 15
Damit zeigt Horva´th den Wechsel vom Zeitstück zum mythologisch überhöhten Charakterdrama auch im Titel an. Zwar sind im Mittelteil wie auch in der Endfassung des Dramas (Konzeption 5) noch Bilder vorgesehen, die auf die Zeitstück-Konzeption zurückverweisen, aber die Zentrierung der Handlung erfolgt hier bereits eindeutig um die Figur des Don Juan, der nicht mehr so sehr als Zeit-Typus erscheint, sondern als schicksalhaftes Individuum. Schon der Wegfall des unbestimmten Artikels „Ein“ im Titel, der die Typenhaftigkeit Don
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Juans deutlich gemacht hatte, weist auf diese Konzeptionsänderung hin. Horva´th notiert zum Titel zunächst den Untertitel „Eine romantische Ballade [...] in fünf Teilen“, bevor er diesen durch „Schauspiel in vier Teilen“ ersetzt. Zum 3. Bild „Großmutter“ des I. Teils, das zunächst „In Neuburg“ heißen sollte, notiert er: „[Der Brief kommt an]“, was ein entscheidendes Handlungselement ist. Das Zusammentreffen Don Juans und der Großmutter im III. Akt wird nämlich im I. Akt brieflich vorbereitet, und zwar einseitig von Don Juan aus, dessen Briefe an seine Braut, die Enkelin der Großmutter, von der Großmutter zwar gelesen, aber nicht beantwortet werden. Der zweite Teil bringt mit der „Nevada“, einer ehemaligen Bordellwirtin, eine neue Figur, die jedoch auf die Zeitstück-Motivik der Konzeptionen 1 bis 3 zurückverweist. Neu sind auch die Figuren Mutter und Tochter, wobei die Mutter eine Weiterentwicklung der Hausmeisterin von Konzeption 3 darstellen könnte. Vom III. Teil ist nur das 5. Bild betitelt: „Heilsarmee-Mädchen“, ein Motiv, das später fallengelassen wird. Der IV. Teil trägt den Titel: „Der Weg nach Neuburg“ und soll vier Bilder umfassen, benannt nach den vier Jahreszeiten. Damit greift Horva´th eine Idee auf, die er bereits in einem Dramenprojekt von 1932 ansatzweise entwickelt hatte. Dort hatte er nämlich im Kontext von Entwürfen zu den Stücken Kasimir und Karoline und Glaube Liebe Hoffnung mit dem Gedanken gespielt, ein „Schauspiel in vier Teilen“ mit dem Titel Die Jahreszeiten zu schreiben.
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Abb. 5: ÖLA 3/W 362 – o. BS, Bl. 7v
Allerdings existieren zu dem geplanten Projekt gerade einmal sechs handschriftliche Entwürfe.14 Die Themen, die sich Horva´th dort notiert, haben jedoch in das Don Juan-Drama Eingang gefunden, etwa die Vor- und Nachkriegszeit, die Inflation, das Altern sowie die Idee, die Jahreszeitenabfolge als strukturbildendes Element einzusetzen. Diese Idee nimmt er in Konzeption 4 des Don JuanDramas wieder auf. Allerdings scheidet er sie bereits im Laufe dieser Konzep14
Die Entwürfe befinden sich alle im Notizbuch Nr. 7, ÖLA 3/W 362 – o. BS, Bl. 3v, 4 und 7v.
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tion wieder aus dem Stück aus – mit Ausnahme des Winters, der bis in die Endfassung erhalten bleibt und im Schneemann-Motiv seine einprägsame Umsetzung erfährt. Die Entwürfe zum Jahreszeiten-Stück konnten aus den genannten Gründen dem Don Juan-Drama als Vorarbeit zugeordnet werden.
Kasimir und Karoline – Vorarbeiten und Konzeptionen eines Werkprojekts a. Das genetische Material und seine Chronologie Horva´th dürfte Ende des Jahres 1931 mit der Arbeit an Kasimir und Karoline begonnen haben. Diese Vermutung legen vor allem seine handschriftlichen Ausführungen in den Notizbüchern aus dieser Zeit nahe. In einem Brief vom 9. Mai 1932 bescheinigt der Ullstein-Verlag, daß „wir Ihr Volksstück ,Kasimir und Karoline‘ auf Grund der im Vertrage vom 11. Januar 1929 niedergelegten Bedingungen annehmen und den Bühnenvertrieb durch die Arcadia Verlag G.m.b.H. besorgen werden“.15 Auf einem Manuskriptblatt im Nachlaß Horva´ths findet sich die Notiz „Glaube Liebe Hoffnung nebst Kasimir und Karoline. Zwei kleine Dramen aus dem Volksleben von Ödön Horva´th“ und darunter „Zwei Volksstücke 1932“ (ÖLA 3/W 14 – BS 39 b [1], Bl. 1). Möglicherweise erhofft Horva´th eine Buchausgabe der beiden Dramen im Propyläen-Verlag, die jedoch nicht zustande kommt.16 1932 erscheint Kasimir und Karoline. Volksstück von Ödön Horva´th als „unverkäufliches Manuskript“ versehen mit dem CopyrightVermerk im Arcadia-Verlag. Damit ist die Arbeit an diesem Werkprojekt für Horva´th jedoch keineswegs abgeschlossen. Vielmehr enthält der Nachlaß eine ganze Reihe Notizen, die belegen, daß der Autor sowohl noch während der Proben zur Uraufführung seines Stückes daran feilt als auch Jahre später im Zusammenhang mit Überlegungen zur Verfilmung einiger seiner Stücke auf das Material zurückkommt. Im September 1932 kündigt das Flugblatt Nr. 12 des Arcadia-Verlags die Uraufführung des Dramas als Ernst Josef Aufricht-Produktion für Oktober an. Schlußendlich findet die Uraufführung von Kasimir und Karoline in der Berliner Besetzung als „dramaturgische Probe“17 am 18. November 1932 im Leipziger Schauspielhaus statt, bevor es mit der gleichen Besetzung wenige Tage später, am 25. November 1932, zur Aufführung im Komödienhaus Berlin kommt. Herbert Ihering bemerkt hinsichtlich dieser Vorgehensweise im Berliner Börsen15
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Brief des Ullstein-Verlags an Ödön von Horva´th vom 9. Mai 1932, Original im Ullstein-Archiv, Berlin. Vgl. Traugott Krischke (Hrsg.): Materialien zu Ödön von Horva´ths Kasimir und Karoline. Frankfurt/Main 1973 (= edition suhrkamp 611), S. 82. Herbert Ihering: Kasimir und Karoline. Nach Leipzig jetzt in Berlin. In: Berliner Börsen-Courier, 26. November 1932. Zitiert nach: Krischke 1973 (Anm. 16), S. 86f., hier S. 86.
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Courier, daß sich in anderen Ländern längst ein System entwickelt hat, „nach dem die Stücke erst in der Provinz gespielt und dort dramaturgisch, regiemäßig, schauspielerisch korrigiert werden, bis sie in die Hauptstadt kommen“.18 Das Konvolut zum Werkprojekt Kasimir und Karoline bildet mit seinen mehr als 350 Blatt, bestehend aus handschriftlichen Entwürfen und Typoskripten, neben den Geschichten aus dem Wiener Wald eines der umfangreichsten Konvolute im Nachlaß Ödön von Horva´ths. Neben einer ganzen Reihe von Einzelblättern ist ein Teil der handschriftlichen Entwürfe zu Kasimir und Karoline in den Notizbüchern Nr. 4 (ÖLA 3/W 370), 5 (ÖLA 3/W 365) und 7 (ÖLA 3/W 362) überliefert, die den Entstehungsprozeß dieses Dramas zeitlich einordnen und konzeptionelle Zusammenhänge entdecken lassen. Das Notizbuch Nr. 5, das auf das Jahr 1931/32 zu datieren ist, enthält die frühesten Notizen Horva´ths zu dem Werkprojekt und läßt dadurch Aussagen zum Beginn der Arbeit an Kasimir und Karoline zu. Auf der zweiten Seite des Notizbuchs Nr. 7 (ÖLA 3/W 362 – o. BS, Bl. 1v) findet sich der Entwurf eines Briefes an Francesco von Mendelssohn, den Regisseur der Uraufführung von Kasimir und Karoline, der die Datierung dieses Notizbuches auf die 2. Jahreshälfte des Jahres 1932 erlaubt. Sowohl der Briefentwurf als auch Dialogskizzen und Besetzungslisten, die sich in diesem Notizbuch befinden, machen deutlich, daß die Arbeiten an der Inszenierung zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen haben, jedoch noch einige Zeit für textliche Veränderungen zur Verfügung stand. Anders verhält es sich mit dem Notizbuch Nr. 4. Es ist auf das Jahr 1935/36 zu datieren. Unter der Überschrift „Fünf Filme“ (ÖLA 3/W 370 – o. BS, Bl. 90v) notiert Horva´th dort auch den Titel „Kasimir und Karoline“. Möglicherweise plant er etliche Jahre nach der Fertigstellung seines Stückes die Verfilmung einiger seiner Dramen. Dafür spricht auch das im gleichen Notizbuch befindliche Expose´ mit dem Titel „Kasimir und Karoline“ (ÖLA 3/W 370 – o. BS, Bl. 92). Diese Bearbeitung alten Materials ist charakteristisch für Horva´ths Arbeitsweise, der immer wieder auf altes Textmaterial zurückgreift und es für neue Projekte förmlich recycelt.
b. Vorarbeiten und Konzeptionen Betrachtet man das überlieferte Material zu dem Werkprojekt Kasimir und Karoline, so lassen sich Bearbeitungsstufen erkennen, die aufgrund verschiedener thematischer Schwerpunkte und/oder unterschiedlicher Struktur dem eigentlichen Entstehungsprozeß des Dramas vor- bzw. nachzustellen sind. Bereits die Buchausgabe von Traugott Krischke im Band 5 der Kommentierten Werkausgabe zeigt, daß Horva´th verschiedene Fassungen seines Dramas erstellt hat, von 18
Herbert Ihering: Uraufführung auf Probe. In: Berliner Börsen-Courier, 19. November 1932. Zitiert nach: Traugott Krischke: Horva´th auf der Bühne. 1926–1938. Dokumentation. Wien 1991, S. 209–211, hier S. 209.
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denen Krischke lediglich die in sieben Bildern, einem nachgelassenen Typoskript folgend, und die 117-Szenen-Version, die sich an das Bühnenmanuskript des Arcadia-Verlags hält, druckt.19 Die vollständige Durchsicht des genetischen Konvoluts ermöglicht hingegen eine weit präzisere Unterteilung der Arbeitsphasen, die den Arbeitsprozeß des Autors transparent macht. So läßt sich das Material aufgrund seines Ausreifungsgrades sowie der Struktur des Stückes in den verschiedenen Arbeitsphasen in zwei Vorarbeiten und fünf Konzeptionen gliedern. Im Detail stellt sich der Entstehungsprozeß wie folgt dar: Vorarbeiten Vorarbeit 1: Glaube Liebe Hoffnung-Szenerie Vorarbeit 2: Karoline, die Schönheit von Haidhausen Konzeptionen Konzeption 1: Kasimir und Katharina in fünf Bildern Konzeption 2: Kasimir und Karoline in sieben Bildern – Emil Wegmann Konzeption 3: Kasimir und Karoline in sieben Bildern – Eugen Schürzinger Konzeption 4: Kasimir und Karoline in 117 Szenen Konzeption 5: Harun al Raschid Im folgenden sollen einige ausgewählte Beispiele aus einer Vorarbeit und einer Konzeption vorgestellt werden, um einerseits die werkgenetischen Begriffe und die Abgrenzung von anderen Vorarbeiten bzw. Konzeptionen im Werkprojekt Kasimir und Karoline darzulegen. Die Vorarbeit 1: Glaube-Liebe-Hoffnung-Szenerie steht – wie es der Titel bereits andeutet – im engen Entstehungszusammenhang mit dem Drama Glaube Liebe Hoffnung (1932). Da sich das überlieferte Material zu diesem Werkprojekt auf eine Handschrift und vier Seiten Typoskript beschränkt und keine ausgearbeiteten Textstufen existieren, ist nicht endgültig zu klären, ob es sich dabei nicht eher um eine Vorarbeit zu dem Stück Glaube Liebe Hoffnung handelt und die Materialien besser dort einzuordnen wären. Deutlich belegbar sind hingegen die gemeinsamen Wurzeln von Glaube Liebe Hoffnung und Kasimir und Karoline: So verortet Horva´th die Handlung des 1. Bildes laut einem überlieferten Typoskript „Vor der Anatomie“ (IN 221.001/6 – BS 45 a [6], Bl. 1), die die Protagonistin „Karoline“ aufsucht, um ihren Körper zu verkaufen. Daneben enthält diese Textfassung den Zeppelin (IN 221.001/6 – BS 45 a [6], Bl. 2) als Motiv, über dessen Auftauchen der Spitaler und Karoline ins Gespräch kommen. Sowohl der Name der Protagonistin (in Glaube Liebe Hoffnung heißt sie Elisabeth) als auch das Motiv des Zeppelins sind Elemente der Endfassung von Kasimir und Karoline. 19
Vgl. Ödön von Horva´th: Kasimir und Karoline. Hrsg. von Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt/Main 1986 (= Kommentierte Werkausgabe in 14 Einzelbänden, Bd. 5).
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Wesentlich deutlicher läßt sich der werkgenetische Begriff ,Vorarbeit‘ anhand von zwei Textzeugen der Vorarbeit 2: Karoline, die Schönheit von Haidhausen herausstellen. Bereits aufgrund des geringen Umfangs des Materials, das sich aus 14 Blättern handschriftlicher Notizen mit Strukturplänen, Konfigurationsplänen und Dialogskizzen zusammensetzt und keine maschinenschriftlichen Ausarbeitungen enthält, liegt der Begriff ,Vorarbeit‘ nahe. Bei den zwei hier zu betrachtenden Blättern handelt es sich um frühe Textzeugen zu diesem Werkprojekt, die beide dem Notizbuch Nr. 5 entstammen.
Abb. 6: ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 9v, 10
Auf dem ersten Blatt (ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 9v, 10) notiert Horva´th unter dem Titel Karoline, die Schönheit von Haidhausen einen Strukturplan samt Notizen zu seiner Dramenidee. Der Bezug zum Werkkomplex Kasimir und Karoline läßt sich in erster Linie über die titelgebende Figur Karoline herstellen. Auffallend ist die 6-Bilder-Struktur, die Horva´th mit den Bildtiteln „Schrebergärten“, „Das Fest“, „Die künstliche Panne“, „Revolutionäre Versammlung“, „Zugspitze“ und „Schrebergärten“ vorgibt. Sie ist eines der zentralen Argumente
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für die Herstellung eines textgenetischen Zusammenhangs der Manuskriptblätter in diesem Werkkomplex. Ein Beleg für die 6-Bilder-Struktur findet sich u. a. auch auf einer der folgenden Seiten des Notizbuchs, auf der Horva´th das Stück Karoline, die Schönheit von Haidhausen durch den Untertitel „Volksstück in sechs Bildern“ (ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 12) präzisiert. Der Plot dieses Werkprojekts stellt sich ausgehend von den wenigen überlieferten Blättern ungefähr so dar: Der Protagonist Ludwig wird in Folge eines Zusammenstoßes mit der Polizei während einer offenbar illegalen revolutionären Versammlung gefangengenommen. Auf dem gleichen Blatt findet sich unter dem 6. Bild die Notiz „nächste Seite“ (ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 9v, 10) und dort wiederum ein skizzierter Dialog zwischen Ludwig und Helene (vgl. ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 11), laut dem sich Ludwig nach dieser Erfahrung vom politischen Leben zurückzieht. Auf dem zweiten Beispielblatt (ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 15) zu dieser Vorarbeit sind gravierende Veränderungen gegenüber dem ersten Entwurf erkennbar: Es befindet sich in demselben Notizbuch nur wenige Seiten weiter hinten. Entstehungsgeschichtlich betrachtet, liegen innerhalb der rekonstruierten Reihe zwischen den beiden Blättern acht weitere Blätter mit Entwürfen.
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Abb. 7: ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 15
Unter dem gleichen Werktitel Karoline, die Schönheit von Haidhausen entwirft Horva´th hier einen Strukturplan in 7 Bildern mit Bildtiteln.20 Dieser Entwurf erweist sich insofern als richtungweisend, als sich an ihm der Übergang zur 7-Bilder-Struktur von Kasimir und Karoline ablesen läßt. Die neuen Bildtitel „Anlage“, „Schießbude“, „Bierbude“, „Abnormitäten“, „Hereros“, „Achter20
Hinsichtlich des Titels variiert Horva´th zwischenzeitlich „Karoline, die Schönheit aus Haidhausen“ (ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 4v, 5) und „Karoline, die Schönheit von Haidhausen“ (ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 9v, 10 sowie ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 15, Hervorhebung K. R.).
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bahn“, „Anlage“ offenbaren gegenüber dem ersten hier betrachteten Entwurf eine grundlegende Veränderung: Horva´th verlagert die Handlung seines Stückes von der Gartenanlage in eine Jahrmarktszenerie. Die auf der rechten Seite des Blattes notierte Figurenliste unterstreicht jedoch den Bezug zu dem Werkprojekt Karoline, die Schönheit von Haidhausen: Mit Karoline, Elly, Ludwig und Helene werden hier Protagonisten genannt, die bereits in früheren Entwürfen zu diesem Werkprojekt auftauchen. Im Gegensatz zu der gerade besprochenen Vorarbeit stellt das dritte Beispielblatt einen frühen Entwurf aus Konzeption 1: Kasimir und Katharina in fünf Bildern dar, die entstehungsgeschichtlich zwischen der Vorarbeit 2: Karoline, die Schönheit von Haidhausen und der Konzeption 2: Kasimir und Karoline in sieben Bildern – Emil Wegmann anzusiedeln ist. Das Material dieser Konzeption setzt sich aus 20 Blatt handschriftlicher Notizen und 18 Seiten Typoskript zusammen und ist damit weit umfangreicher als die gerade vorgestellte Vorarbeit. Im Vergleich dazu liegt hier zudem eine in Rohform ausgearbeitete Textstufe vor.
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Abb. 8: IN 221.001/1 – BS 45 a [1], Bl. 1
Das Blatt IN 221.001/1 – BS 45 a [1], Bl. 1 stellt mit großer Wahrscheinlichkeit den frühesten Entwurf zu dem Werkprojekt Kasimir und Katharina in fünf Bildern dar. Überdies ist es das einzige Blatt, auf dem Horva´th den Titel Kasimir und Katharina. Volksstück in fünf Bildern fixiert. Irritierend ist allerdings die Tatsache, daß der Titel in deutlichem Widerspruch zu den Dialogskizzen steht,
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die Horva´th hier ausführt und in denen mit Kasimir und Karoline die titelgebenden Figuren seines endgültigen Stückes agieren. Die Bildtitel des Strukturplans „Wiese“, „Bierpalast“ und „Abnormität“ deuten auf eine Verlagerung der Handlung auf das Oktoberfest hin. Den Fokus dieses Werkprojekts richtet Horva´th auf das Motiv der Verführung: Gemäß den Entwürfen und maschinenschriftlichen Ausarbeitungen stellt sich der Plot dieser Konzeption wie folgt dar: Zwischen Kasimir und Katharina bzw. Karoline kommt es in einem der ersten der fünf Bilder zu einem Streit. Im Anschluß an diese Passage lernt Karoline, „Eis essend“, den Studenten Emil kennen. Seine Kommilitonen wollen die beiden zusammenbringen, inszenieren eine Auto„Panne“ (IN 221.001/1 – BS 45 a [1], Bl. 1) und überraschen sie anschließend beim Teˆte-a`-teˆte. Obwohl der Titel Kasimir und Katharina. Volksstück in fünf Bildern lediglich an einer Stelle – nämlich einzig und allein auf IN 221.001/1 – BS 45 a [1], Bl. 1 – genannt wird, läßt sich der textgenetische Zusammenhang aller folgenden Blätter dieser Konzeption über die weibliche Protagonistin Katharina herstellen. Kasimir und Katharina in fünf Bildern stellt die erste der fünf Konzeptionen dar. Sowohl die 5-Bilder-Struktur als auch der thematische Fokus sind Indizien dafür, daß hier eine textgenetische Einheit vorliegt, die von allen weiteren Konzeptionen abzugrenzen ist. Sichtbar werden in dieser Bearbeitungsstufe jedoch auch Elemente und Motive, die in die folgenden Konzeptionen einfließen und teilweise bis in die Endfassung von Kasimir und Karoline erhalten bleiben. Erwähnt seien neben den Namen der titelgebenden Protagonisten die Figur Schürzinger, dessen Name auf dem Blatt (IN 221.001/1 – BS 45 a [1], Bl. 1) erstmals auftaucht und dessen Figur in den folgenden Konzeptionen weiterentwickelt wird. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Kommentar Rosas: „Augenblicklich kommst rüber! Oder ich schütt Dir das Bier aus.“ (IN 221.001/1 – BS 45 a [1], Bl. 1) Obgleich diese wörtliche Rede in Kasimir und Karoline von Horva´th eliminiert wird, findet die Handlung des Bierausschüttens Eingang in die Endfassung des Stückes.21 Darüber hinaus notiert Horva´th unter dem 2. Bild einen Dialog zwischen Kasimir und Karoline, den er zwar nicht in die maschinenschriftliche Ausarbeitung dieses Werkprojekts integriert, jedoch in späteren Konzeptionen immer wieder aufgreift, bevor er ihn in der Endfassung des Stückes fallen läßt. Demgegenüber läßt sich über den Bildtitel des 4. Bildes „Panne“ ein genetischer Zusammenhang mit den frühesten Entwürfen zu Karoline, die Schönheit aus Haidhausen herstellen, der dort noch unter dem 3. Bild „künstliche Panne“ (ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 9v, 10) erscheint. Abschließend sei auf die maschinenschriftlichen Ausarbeitungen der Konzeption 1: Kasimir und Katharina in fünf Bildern hingewiesen. Rein materiell betrachtet bilden sie die Grundlage für die daran anschließende Konzeption 2: 21
Vgl. Horva´th 1986 (Anm. 19), S. 45.
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Kasimir und Karoline in sieben Bildern – Emil Wegmann. Die handschriftlichen Korrekturen Horva´ths in den Typoskripten demonstrieren die Änderung des 2. und 3. Bildes in 3. und 4. Bild, was darauf schließen läßt, daß er diese Ausarbeitungen in einer späteren Bearbeitungsphase erneut aufgreift und wiederverwendet. Deutlich wird dieser Korrekturvorgang beispielsweise anhand des vorliegenden Typoskripts IN 221.001/8 – BS 45 b, Bl. 16, wenn „[d]rittes“ gestrichen und durch „[v]iertes Bild“ ersetzt wird.
Abb. 9: IN 221.001/8 – BS 45 b, Bl. 16
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Für Kasimir und Karoline in sieben Bildern – Emil Wegmann ordnet Horva´th die vorhandenen, ausgearbeiteten Bilder offensichtlich neu an und ergänzt sie um die Bilder 1, 5, 6 und 7. Auf diese Weise erstellt er eine erste – wenn auch inkonsistente – Fassung von Kasimir und Karoline in sieben Bildern. Die Modernität des Horva´thschen Schreibens, die sich vor allem im Recycling alten Textmaterials äußert, wird anhand einer solchen Vorgehensweise sehr gut nachvollziehbar.
Jan Gielkens / Peter Kegel „Du hast in Deinem Buch ja schrecklich gekleckert“ Die letzte Hand von Willem Frederik Hermans
Oft haben wir holländische Editoren, wenn wir auf ausländischen Kongressen von unserer Arbeit reden, das Problem, daß unsere Zuhörer keine Ahnung von dem Autor haben, von dem wir da reden. In letzter Zeit haben wir mit Willem Frederik Hermans etwas mehr Glück, denn in den vergangenen Jahren sind in einigen Sprachen Übersetzungen seiner Romane erschienen, so auch im deutschen Sprachraum. Willem Frederik Hermans, geboren 1921, gestorben 1995, gilt im niederländischen Sprachraum als einer der wichtigsten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Anfang November 2005 erschien der erste Band einer auf vierundzwanzig Bände geplanten Ausgabe des Gesamtwerks von Hermans.1 Diese Werkausgabe wird seit dem Jahre 2000 vom Huygens Instituut in Den Haag vorbereitet. Die Edition wird nicht nur die größte gedruckte Werkausgabe sein, die je von einem modernen niederländischen Autor erschien, sie ist außerdem und daneben ein einzigartiges digitales Projekt, das nicht nur die Genese der gedruckten Fassungen der Werke von Hermans dokumentieren wird, sondern auch viele Möglichkeiten für zukünftige Forscher bieten soll. Willem Frederik Hermans ist, wie gesagt, in den letzten Jahren auch im deutschen Sprachraum bekannt geworden: Seit 2001 erschienen beim Gustav Kiepenheuer Verlag in Berlin vier wichtige Romane, alle in der Übersetzung von Waltraud Hüsmert,2 die für diese Übersetzungen im Jahre 2004 den wichtigsten niederländischen Übersetzerpreis, den Nijhoffprijs, erhielt. Eines dieser übersetzten Bücher ist Die Tränen der Akazien, ein wichtiger früher Roman, der den Zweiten Weltkrieg thematisiert. Auch früher schon waren deutsche HermansÜbersetzungen erschienen: Erzählungen in einigen Zeitschriften und Anthologien, von den Romanen erschien 1968 beim Joseph Melzer Verlag eine erste Übersetzung (von Jürgen Hillner) der Tränen der Akazien,3 1986 in der Übersetzung von Helga van Beuningen und Barbara Heller bei Diogenes Unter Pro1
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Willem Frederik Hermans: Volledige Werken, Bd. 1. Hrsg. von Jan Gielkens, Peter Kegel und Annemarie Kets. Amsterdam 2005. Bisher erschienen: Die Dunkelkammer des Damokles (2001), mit einem Nachwort von Cees Nooteboom; Nie mehr schlafen (2002); Au pair (2003); Die Tränen der Akazien (2005); Taschenbücher der ersten drei Titel erschienen 2003, 2004 bzw. 2005 beim Aufbau Taschenbuch Verlag in Berlin. Willem Frederik Hermans: Die Tränen der Akazien. Darmstadt 1968.
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fessoren, ein Roman aus dem Jahre 1975.4 Von der Hillnerschen Übersetzung wird später noch die Rede sein. Sie wurde 1968/69 in der Presse wenig beachtet, die Bedeutung des Autors aber erkannt, der – mit einigen Reserven – mit Franz Kafka, Jean-Paul Sartre und Wolfgang Borchert verglichen wurde.5 Deutschen Ruhm hätte Hermans vielleicht schon früh erlangen können, als er als Mitglied einer kleinen niederländischen Delegation im Mai 1951 am Treffen der Gruppe 47 in Bad Dürkheim teilnahm und seine Erzählung Dokter Klondyke las. Hermans fiel aber mit seiner wohl eigenen Übersetzung durch.6 Deutsche Leser haben, wenn sie die in deutscher Sprache verfügbaren Romane gelesen haben, ein anderes Bild von Willem Frederik Hermans als die niederländischen Leser. Im niederländischen Sprachraum gilt Hermans zwar als einer der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts, aber auch – von Anfang an, seit seinen ersten Veröffentlichungen, die kurz nach dem Ende der deutschen Besatzung 1945 erschienen – als schonungsloser Kritiker und unangenehmer Polemiker. Der kontroverse Inhalt seiner frühen Romane, die sich zum Teil mit der Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs befaßten, führten zu Hermans’ Ruhm als Skandalautor. Der Titel eines Romans aus dem Jahre 1951, der sich mit der Aufarbeitung des niederländischen Kolonialkriegs in Indonesien auseinandersetzt, trägt den Titel Ik heb altijd gelijk („Ich habe immer recht“), eine Aussage des Protagonisten dieses Romans, aber auch eine Aussage, die in der Öffentlichkeit oft auf Hermans bezogen wurde und wird. Das Werk von Hermans wird auch oft mit einer anderen Aussage einer Hermans-Figur charakterisiert, und zwar aus einer Geschichte aus den 1960er Jahren: „Schöpferischer Nihilismus, agressives Mitleid, totale Misanthropie“.7 Hermans schrieb, außer Romanen, Novellen, Kritiken und Polemiken, auch Essays, Lyrik, Kolumnen und wissenschaftliche Arbeiten als Geologe, außerdem übersetzte er einige wenige Bücher, darunter den Tractatus von Ludwig Wittgenstein.8 Neben Wittgenstein zog von den Philosophen Friedrich Nietzsche sein großes Interesse auf sich.9 Und Hermans hat eine Edition ,auf dem Gewis4 5
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Willem Frederik Hermans: Unter Professoren. Roman. Zürich 1986. Vgl. die Rezensionen von Jürgen Manthey: Metaphern der Entwurzelung. In: Süddeutsche Zeitung, 18. Januar 1969, und Peter W. Jansen: Zeit zu sterben. Nach 20 Jahren auf Deutsch: Die Tränen der Akazien von Willem Frederik Hermans. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. März 1969, ferner Helmut Salzinger: Tränen der Akazien. Roman von Willem Frederik Hermans. In: Die Zeit, 28. Mai 1969. Dazu Sjaak Onderdelinden: Adriaan Morrie¨n en de Gruppe 47. In: Literatuur, 9 (1992), Heft 6, S. 354. Hermans schrieb einen journalistischen Bericht über die Tagung: Willem Frederik Hermans: De letterkunde in West-Duitsland. Jaarlijkse bijeenkomst van „Gruppe 47“. In: Het Vaderland, 19. Mai 1951. Es sind die Schlußworte der letzten Erzählung im Novellenband Een wonderkind of een total loss (Amsterdam 1967). Jürgen Hillner veröffentlichte unter dem Titel Das große Mitleid eine deutsche Übersetzung dieser Erzählung (Het grote medelijden) in der Zeitschrift Egoist 9, 1968, H. 2, S. 33–35. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Vertaald en van een nawoord en aantekeningen voorzien door W.F. Hermans. Amsterdam 1975. Mehrere Beiträge im Essayband Klaas kwam niet (Amsterdam 1983) sind Nietzsche gewidmet.
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sen‘, nämlich von Max Havelaar, dem wichtigen, auch in Deutschland bekannten Roman des wichtigsten niederländischen Autors des 19. Jahrhunderts, Multatuli, Pseudonym von Eduard Douwes Dekker.10 Im Zusammenhang mit dieser Edition gab es eine Polemik um Max Havelaar-Editionen, bei der Hermans unter anderem verkündete, daß das Phänomen der Leseedition, eines Lesetextes, unsinnig sei: wozu sei denn ein Text da, wenn nicht zum Lesen.11 Er würde uns also nicht schonen, wenn er jetzt auf das Erscheinen einer Leseedition seiner eigenen Werke reagieren könnte. Wir wollen in unserem Beitrag die Arbeitsweise dieses eigenwilligen Autors näher erläutern, und wir gehen dabei von seinem schon erwähnten Roman De tranen der acacia’s (Die Tränen der Akazien) aus, der 1949 erstveröffentlicht wurde. Bis zum Tode des Autors erschienen von diesem Buch vierundzwanzig Auflagen. Bis zur letzten Auflage hat der Autor am Text gearbeitet und verändert. Die ca. 40 Textzeugen des Romans enthalten viele Tausende von dokumentierten Autorkorrekturen. Die ständigen Überarbeitungen gehörten zu Hermans wie die ständigen Kontroversen um seine Bücher. Der Titel unseres Beitrags zitiert den schriftlichen Seufzer des langjährigen Hermans-Verlegers Geert van Oorschot an seinen Autor nach dem Empfang einer Sendung Korrekturfahnen: „Du hast in Deinem Buch ja schrecklich gekleckert.“12 In einem einführenden Text zur Bibliographie seiner verstreuten Publikationen fragte Hermans sich: „Wieso ist die Verbesserung in einer späteren Auflage mir nicht beim Korrigieren der ersten eingefallen? Wieso war die erste Auflage nicht sofort perfekt?“13 Die Antwort hatte er viele Jahre vorher schon in einem Gespräch gegeben: „Ich bin ja eigentlich ein schlampiger Mensch“,14 und an seinen Verleger Geert Lubberhuizen schrieb er 1970: „Sie wissen vielleicht nicht, wie traurig ich bei dem Gedanken werde, daß in jedem Druck immer wieder ein paar Ungereimtheiten stehen bleiben.“15 In einem Interview sagte er: „Am liebsten hätte ich, daß die ersten Auflagen meiner Bücher, eigentlich alle Auflagen bis zur vorletzten, spurlos verschwinden würden – von den Termiten 10
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Multatuli: Max Havelaar of de Koffiveilingen der Nederlandsche Handelmaatschappy. Voor het eerst, na meer dan honderd jaar, een fotografische herdruk van de laatste, door de auteur zelf herziene uitgave. Ingeleid en van verklarende noten voorzien door Willem Frederik Hermans. Amsterdam 1987. Siehe u.a. Willem Frederik Hermans: Malle Hugo. Vermaningen en beschouwingen. Amsterdam 1994, S. 278. „Wat heb je in de tekst ontzaggelijk geknoeid.“ Geert van Oorschot an Hermans, 8. April 1957. In: Geert van Oorschot: Hierbij de hele God in proef. Brieven aan Willem Frederik Hermans. Hrsg. von Nop Maas. Amsterdam 2003, S. 163. W[illem] F[rederik] H[ermans]: De hollerithkaart. In: Schrijven is verbluffen. Bibliografie van de verspreide publicaties van Willem Frederik Hermans. Hrsg. von Rob Delvigne und Frans A. Janssen. Amsterdam 1996, S. 7–13, Zitat S. 11. Hans van Straten: Teruggevonden gesprekken met Willem Frederik Hermans. Baarn 2001, S. 51. Hermans an den Verlag De Bezige Bij, 12. Januar 1970 (Durchschlag im Hermans-Nachlaß).
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zerfressen.“16 Da dies aber nicht geschehen ist, können wir in unserer Edition des Gesamtwerks von Willem Frederik Hermans die Entstehungsgeschichte und die Entwicklung der Texte von Hermans ausführlich dokumentieren, exemplarisch und kurz in der für ein großes Lesepublikum gedachten Buchedition, z.T. im Internet17 und in Datenbanken für die wissenschaftliche Benutzung. Eine Ausgabe letzter Hand liegt bei der Arbeitsweise von Willem Frederik Hermans auf der Hand, das ließ sich schon vor dem Anfang dieses Editionsprojekts anhand der im Jahre 2000 erschienenen detaillierten Bibliographie seiner Schriften feststellen,18 in der auch verzeichnet wurde, ob Neudrucke Varianten enthielten. Für die geplante Edition wurden dann die diversen Drucke der Werke von Hermans, die überlieferten Korrekturexemplare, Druckfahnen, Typoskripte und die relevante Korrespondenz durchgearbeitet,19 um einen fundierten Eindruck von der Arbeitsweise des Autors und dessen oft eigenwilligen Ansichten zur Präsentation seiner Texte zu bekommen. Diese Arbeit war, auch wegen des Umfangs des Hermanschen Werks – es paßt in 24 Bände von 800–1000 Seiten –, undenkbar ohne digitale Basis. Deshalb wurden, nach einer genauen bibliografischen Analyse, alle relevanten Drucke aller Bücher von Hermans digitalisiert. In einer zweiten Phase wurden diese digitalisierten Texte mit Hilfe des von Peter Robinson in England entwickelten Programms Collate kollationiert. Zum Schluß wurde das Ergebnis dieses Textvergleichs in VolltextXML-TEI-Bestände mit einer synoptischen Variantenwiedergabe untergebracht. Mit dem Programm XML Mind XML Editor (XXE) können diese komplexen Bestände in einer übersichtlichen Weise gezeigt werden. Wohlgemerkt: Übersichtlich für diejenigen, die damit umgehen müssen und können. Wir wollen Ihnen nur ganz kurz einen Eindruck vom technischen Hintergrund verschaffen, um Ihnen dann zu zeigen, was man mit den Ergebnissen machen kann.
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Max Pam: Ik ben een dominee met een lege kerk. In: De Volkskrant, 30. Mai 1981, nachgedruckt in: Scheppend nihilisme. Interviews met Willem Frederik Hermans. Hrsg. von Frans A. Janssen. 3. Aufl. Amsterdam 1983, S. 335–355, Zitat S. 337. www.wfhermansvolledigewerken.nl. Frans A. Janssen, Sonja van Stek: Het bibliografische universum van Willem Frederik Hermans. Den Haag 2000. Der sehr ausgedehnte Nachlaß von Hermans wurde von den Erben formell in der Koninklijke Bibliotheek in Den Haag deponiert, aufbewahrt wird das Material im Nederlands Letterkundig Museum en Documentatiecentrum, ebenfalls in Den Haag.
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Fragment von „Paranoia“ in XXE.
Sie sehen hier eine Präsentation des letzten Abschnitts der Hermans-Novelle Paranoia aus dem gleichnamigen Band mit Erzählungen aus dem Jahre 1953. Dieser Band bildet mit zwei anderen Novellensammlungen den siebten Band des Gesamtwerks, der 2006 erschienen ist. Wie schon erwähnt, enthält die XML-Dokumentation alle relevanten gedruckten Fassungen der Novelle, wiedergegeben mit einem inline-Variantensystem, wobei die erste Schicht die des Basistextes ist, d.h. der letzten autorisierten Fassung, jener Fassung, die wir als Basis für die Edition benutzen. Es gibt drei Fenster: links wird die Struktur des Dokuments übersichtlich in einem XML-tree wiedergegeben. Das rechte Fenster gibt eine Übersicht über die aufgrund der DTD (Document Type Definition) verfügbaren Attribute und Attributwerte. Das mittlere Fenster enthält den eigentlichen Text. Die unterschiedlichen Bestandteile der Textstruktur können je nach Wunsch mit der Hilfe von style sheets in verschiedenen Farben wiedergegeben werden. Der Basistext zum Beispiel wird pro Abschnitt auf einem hellgrünen Hintergrund wiedergegeben. Varianten werden in einem Apparat präsentiert, mit dem Lemma-Text in blau und die Varianten, mit ihrem Sigle, in grau. Direkte Rede wird auf einem gelben Hintergrund präsentiert, editorische Eingriffe werden in Rot angegeben. Korrekturen aus Korrekturexemplaren und Druckfahnen kann man an einem grün markierten Text erkennen, die Attributwerte im rechten Fenster verweisen mit einer Sigle auf die dazugehörige Quelle. Texte auf einem weißen Hintergrund sind Anmerkungen der Editoren, sie werden mit einer beschränkten Anzahl von Attributwerten systematisiert. Zur Beruhigung vielleicht: von all diesen technischen Sachen bekommen die Leser unserer Edition nichts direkt mit. Sie ermöglichen uns jedoch eine Analyse der Arbeitsweise von Willem Frederik Hermans, und es sind Instrumente bei der Vorbereitung der Edition. Es ist unser Material für die Textkonstitution
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und für den Kommentar, und auch die direkte Basis für den Satz der gedruckten Editon: Eine von uns vereinfachte TEI-lite-Fassung der komplexen XML-TEIQuellen wird vom Setzer, unter Benutzung des Layoutprogramms InDesign, in ein PDF-Format gebracht. Im Moment führen diese technischen Instrumente an erster Stelle zu einer Beschleunigung der Arbeit, die in den nächsten elf bis zwölf Jahren, nach einer Vorbereitungszeit von etwa fünf Jahren, zu zwei gedruckten Bänden pro Jahr führen soll. Es handelt sich dabei um nach Genren – Romane, Erzählungen, Lyrik, Essays usw. – geordnete Sammelbände, die innerhalb des Genres chronologisch erscheinen sollen. Jeder Band enthält ein Nachwort zur Entstehungsund Publikationsgeschichte der darin abgedruckten Werke, bei den essayistischen Arbeiten werden wir auch, wo dies erforderlich ist, annotieren. Ergänzt wird die Buchausgabe von einer Webseite, die nähere Informationen zu den benutzten Quellen gibt. Soweit zum technischen Hintergrund der Hermans-Edition. Wichtig ist, wie gesagt, daß man die Technik dazu benutzen kann, die Arbeitsweise von Hermans zu analysieren. Anhand des Romans De tranen der acacia’s wollen wir dazu jetzt einige Beispiele geben. De tranen der acacia’s war der zweite Roman von Hermans und der erste, der sich mit dem Thema des Zweiten Weltkriegs beschäftigte. Und es ist wahrscheinlich das am meisten revidierte Buch in der niederländischen Literaturgeschichte. „Als ich anfing, De tranen der acacia’s zu schreiben“, so Hermans 1976 in einem Interview, „waren meine Ideen über das Schreiben viel weniger gewissenhaft, unmoralischer, als später. Ich war fünfundzwanzig Jahre alt und es war mir nicht klar, daß ich einen schlampig geschriebenen oder einigermaßen unausgeglichenen Text später mal bereuen würde. [...] Man setzte sich hin und schrieb zwanzig Seiten nacheinander und machte sich weiter keine Gedanken darüber; das Leben geht weiter, das Schreiben auch [...]. Später aber habe ich rückwärts geschaut und bestimmte Abschnitte oder die Art und Weise, in der bestimmte Sachen aufgeschrieben waren, bereut. Ich bin damals zum Schluß gekommen, daß man es besser machen könnte, und habe eine meines Erachtens stark verbesserte Fassung produziert.“20 Diese Verbesserungen hatten, so Hermans im selben Gespräch, nicht viel mit der Konstruktion des Romans zu tun: „Ich habe [...] schon beim Schreiben meiner allerersten Geschichten [...] entdeckt, was zu meinem größten Erstaunen die meisten niederländischen Autoren nie entdecken, nämlich daß die Kraft einer Erzählung die Konstruktion ist, und die Konstruktion der Tranen der acacia’s ist ziemlich gut, was nicht bedeutet, daß sie immer schon so gut war: das 20
Freddy De Vree verarbeitete dieses Gespräch in seinem biografischen Buch: Willem Frederik Hermans. De aardigste man ter wereld. Amsterdam 2002, Zitat S. 131.
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Manuskript war ursprünglich etwas ausführlicher, und vor der ersten Veröffentlichung habe ich einen Teil rausgeschmissen, was ich nie bereut habe.“21 In einem Interview im Jahre 1983 betont Hermans erneut den spontanen, unkorrigierten Charakter der ursprünglichen Fassung des Romans: „Das Schreiben mußte spontan geschehen. Es war falsch, sich nichts auszudenken oder nichts zu konstruieren. Korrigieren betrachtete man als überflüssig, man mußte aufschreiben, was einem einfiel. Meine ersten Bücher, Conserve und De tranen der acacia’s, wurden deshalb nie ins Reine geschrieben. Ich habe sie mit der Maschine geschrieben, dann noch mit der Hand korrigiert, und dann sind sie zum Drucker gegangen. Das war im Nachhinein falsch, ich wußte aber damals nicht, wie ich es richtig hätte machen sollen. Von Conserve hab ich später eine neue Fassung geschrieben, De tranen der acacia’s drastisch verbessert.“22 Kompliziert wurde das Verbesserungsbedürfnis von Hermans auch durch die Tatsache, daß Hermans Streit mit seinem Verleger bekam, der sich, aus Kostengründen, weigerte, korrigierte neue Auflagen drucken zu lassen, und zum Teil auch unautorisierte Nachdrucke herausgab. „Ich kenne einen Autor“, so Hermans 1972 in einem Artikel zu Rechtschreibereformen, und mit diesem Autor meinte er sich selbst, „der zehn Jahre lang Prozesse gegen einen Verleger geführt hat, weil dieser Verleger, ein großer Schlachter von Hühnern, die goldene Eier legen, sich weigerte, nach den neuesten Vorschriften korrigieren zu lassen. Andere Autoren, die in keiner einzigen Rechtschreibung neu aufgelegt werden, schreiben natürlich in ihren Käseblättchen, daß dieser Autor ein Querulant ist. Und so dauerte es zehn Jahre, bis er vor Gericht Recht bekam und er die Neuauflagen seiner Bücher gegen eine vorzeitige Vergreisung beschützen konnte.“23 Tatsache ist, daß Hermans es im Laufe seiner schriftstellerischen Laufbahn mit einigen Rechtschreibereformen zu tun hatte, und daß er immer versucht hat, sich den neuen Vorschriften anzupassen. Die „vorzeitige Vergreisung“, von der er redet, bezog sich aber nicht nur auf die Rechtschreibung, wie wir später noch sehen werden. Die Druckgeschichte der Tranen der Acacia’s läßt sich mit einigen Zeugen aus dem Nachlaß von Willem Frederik Hermans anschaulich machen. Nachdem 1949 die erste Auflage beim Verlag van Oorschot erschienen war, wurden die zweite und die dritte Auflage noch mit der Zustimmung von Hermans dort publiziert.
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Ebenda. Pam 1981 (Anm. 16); Conserve wurde in eine Novelle umgearbeitet und erschien im Band Drie melodrama’s. Amsterdam 1957. Willem Frederik Hermans: De spelling van verspilling. In: Ders.: Houten leeuwen en leeuwen van goud. Amsterdam 1979, S. 119–147, Zitat S. 139f.
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Korrekturexemplar der 3. Auflage von De tranen der acacia’s.
Sie sehen hier ein Exemplar der dritten Auflage, das Hermans für die vierte bearbeitet hat. Ab 1960 arbeitete er intensiv an diesen Korrekturen, um diese Zeit entstand aber auch der Konflikt mit seinem Verleger, der im Offsetverfahren, also billiger, nachdrucken wollte, und dabei keine Korrekturen gebrauchen konnte. Hermans gab seine Zustimmung nicht, van Oorschot stellte aber eine vierte Auflage her und später noch weitere, wogegen Hermans dann einen Prozeß führte, den er 1970 gewann. In einem Brief vom August 1961, kurz vor dem Erscheinen der unautorisierten Neuauflage, heißt es: „Der Käufer denkt, daß er eine vierte Auflage erhält, es ist aber die alte dritte, obwohl ich eine verbesserte und korrigierte Fassung des Buches vorbereitet habe.“24 Nachdem er den Prozeß gegen seinen Verleger gewonnen hatte, konnte Hermans endlich seine korrigierte Fassung drucken lassen. Vorher hatte er Anfang 1968 seine Korrekturen schon seinem deutschen Übersetzer Jürgen Hillner zur Verfügung gestellt, der Ende 1968 seine Übersetzung Die Tränen der Akazien beim Joseph Melzer Verlag in Darmstadt publizierte. Die deutschen Leser konnten also den Roman in einer vom Autor gewünschten Fassung lesen, die die niederländischen Leser nicht kannten. 24
Hermans an einen unbekannten Adressaten, August 1961, Hermans-Nachlaß.
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Als Hermans endlich seine neue Fassung drucken lassen konnte, übernahm er die meisten Korrekturen aus dem soeben erwähnten Korrekturexemplar der dritten Auflage in ein Exemplar der unautorisierten (aber identischen) vierten Auflage.
Korrekturexemplar der 4. Auflage von De tranen der acacia’s.
Dieses Exemplar bildete die Basis für die zwölfte Auflage, die Ende 1971 erschien, ohne Angabe der Auflage übrigens, genau wie die vorhergehenden nichtautorisierten übrigen Auflagen. Die zwölfte Auflage wurde als „überarbeitete Auflage“ gekennzeichnet.
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In einem Gespräch aus dem Jahre 1976 nannte Hermans diese Auflage die „definitive Fassung“.25 Aufgrund von Interviews und von anderen Aussagen in eigenen Texten könnte man die Revision von De tranen der acacia’s bis 1971 wie folgt charakterisieren: Ursprünglich ein spontan geschriebener, aber solide konstruierter Roman, der vom Autor in erster Instanz kaum korrigiert wurde. Veränderte Auffassungen über Literatur und Rechtschreibereformen machten intensive Überarbeitungen notwendig, die er wegen eines Konflikts mit seinem Verleger erst 1971 publizieren konnte. Die Arbeit an unserer Edition hat jedoch gezeigt, daß man gegen diese Selbstdarstellung des Autors einiges einwenden kann. Die erste Nuancierung kommt aus dem Briefmaterial im Nachlaß von Hermans. Die erste Fassung des Romans wurde, nach der eigenen Angabe von Hermans in der ersten Buchausgabe, am 4. Januar 1948 abgeschlossen. Das stimmt mit den Angaben in einem Brief vom 6. Januar 1948, zwei Tage später also, an den befreundeten Schriftsteller Paul Rodenko überein: „Ich habe in den letzten Tagen sehr intensiv gearbeitet, d.h. die Tränen abgeschlossen. Jetzt erhole ich mich ein wenig.“26 Mehr als ein Jahr später jedoch, am 2. April 1949, schreibt Hermans an den ebenfalls befreundeten Schriftsteller Adriaan Morrie¨ n (mit dem er übrigens 1951 bei der Gruppe 47 in Bad Dürkheim war): „Die Akazien jetzt fertig. Jetzt so gut, daß ich heute nacht drei Stunden mit Selbstmordgedanken wach gelegen habe.“27 Wahrscheinlich hatte Hermans am Typoskript gearbeitet, das er an den Verlag schickte. Dieses Typoskript ist nicht erhalten, so wie kaum ein Manuskript von Hermans erhalten geblieben ist: sie wurden meistens vom Autor vernichtet. Erhalten geblieben sind aber andere Quellen, und die geben Auskunft über die Art und den Umfang der frühen Korrekturen. Die Druckfahnen für die erste Auflage enthalten eine große Anzahl von Veränderungen von Hermans. Es handelt sich um Korrekturen in der Orthographie, der Interpunktion, der Verteilung der Abschnitte und in französischsprachigen Passagen (denn einer der Schauplätze des Buches ist Brüssel). Es waren vor allen Dingen redaktionelle Korrekturen, denn eine anständige Redaktion gab es beim Verlag nicht. Hermans korrigierte auch, vor allem im zweiten Teil der Druckfahnen übrigens, eine große Anzahl von Satz- und Druckfehlern. Der Satz des ersten Drucks war extrem schlecht, und Hermans teilte das seinem Verleger im Klartext mit: „ Ich habe Dir gestern erklärt, daß viele der ziemlich ausführlichen Korrekturen im ersten Bogen ausschließlich der Schlampigkeit des Druckers zuzuschreiben sind. Das bedeutet nicht, daß nicht ab und zu neue, von mir jetzt erst vorgenommene 25
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Freddy de Vree: De tranen der acacia’s anno 1976. In: Muziek en Woord 2, 1976, H. 23, nachgedruckt in: Scheppend nihilisme 1983 (Anm. 16), S. 265–281, Zitat S. 278. Hermans an Paul Rodenko, 6. Januar 1948, Durchschlag im Hermans-Nachlaß. Rob Delvigne zitiert diesen nicht im Hermans-Nachlaß erhaltenen Brief an Adriaan Morrie¨n in einem Brief an Hermans vom 3. Juli 1989 (Hermans-Nachlaß).
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Korrekturen vorkommen. Ich tue dies aber nicht zu meinem Vergnügen, sondern weil es notwendig ist.“28
Korrekturfahne mit einer Typoskriptergänzung für die Erstauflage von De Tranen der acacia’s.
Hermans war bei der ersten Auflage der Tranen der acacia’s nicht nur sein eigener Redakteur, es gibt auch zahlreiche Anpassungen im Text. Oft geht es um kleine Varianten. Hermans ändert zum Beispiel den Sprachgebrauch von Andrea, einer tschechischen Dame, die eine Art Elementarniederländisch spricht, das mit deutschen Worten durchsetzt ist. Kleinere oder größere inhaltliche Änderungen gibt es dutzendweise. Im dritten Kapitel fügt Hermans eine Passage ein, die in einer Vorpublikation vorkam, im Typoskript für die erste Buchausgabe aber 28
Hermans an Geert van Oorschot, 5. Juli 1949, in: Willem Frederik Hermans: Je vriendschap is werkelijk onbetaalbaar. Brieven aan Geert van Oorschot. Hrsg. von Nop Maas. Amsterdam 2004.
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offenbar nicht mehr. Auch an anderen Stellen ergänzt er den Roman um neue Abschnitte, so wie beim hier gezeigten Beispiel aus dem vorletzten Kapitel des Romans. Und das einem Gedicht von Paul Eluard entnommene Motto des Romans ist offensichtlich spät hinzugefügt: erst in den nur teilweise erhaltenen Revisionsfahnen wird Platz für ein noch zu ergänzendes Motto reserviert. Man beachte, daß all diese Änderungen vorgenommen wurden, nachdem Hermans in dem oben zitierten Brief seine Zufriedenheit über die Fertigstellung der Tranen der acacia’s geäußert hatte. Hermans war also noch nicht fertig mit seinem Roman, als er sein Typoskript, vermutlich kurz nach dem Brief an Morrie¨n, beim Verlag eingereicht hatte. Dieses Typoskript ist leider nicht erhalten. Wir können aber mit unserer XML-Dokumentation, die auch die vielen, etwa die Hälfte des Romans ausmachenden Vorpublikationen in der Zeitschrift Criterium enthält, eine Teilrekonstruktion jener Textpartien veranstalten, die Hermans für den ersten Druck änderte. Eine einfache Suche in den XML-Daten nach varianten Textstellen aus den Vorpublikationen ergibt mehr als dreitausend Varianten, von denen nur sehr wenige, etwa 200, also sieben Prozent, aus den Druckfahnenkorrekturen erklärt werden können. Wir zeigen Ihnen ein x-beliebiges Kapitel aus den Tranen in XML Mind (S. 418) und schauen uns die Korrekturen an. Schon in den ersten Abschnitten dieses Kapitels ist von stilistischen und inhaltlichen Änderungen die Rede. An einigen Stellen wurden Sätze ergänzt oder gestrichen. Es gibt viele Änderungen in der Interpunktion und in der Wort- oder der Satzfolge. Das Muster ist repräsentativ für den Rest dieses Kapitels und für andere Kapitel dieses Romans. Wir gehen kurz auf einige Aspekte der Überarbeitung ein. Am Anfang des fünften Kapitels hat Hermans in der ersten Auflage einen Abschnitt weggelassen, in dem die zentrale Figur Arthur Muttah eine Erklärung für die Einquartierung des deutschen Soldaten Ernst bei seiner Schwester Carola sucht. Wir zitieren die Gedanken von Arthur: „Oder er wollte mir vielleicht die Wahrheit nicht sagen. Die mich übrigens nichts anging. Dieser Deutsche ist hierher gekommen, weil Carola und er annehmen, daß ich mehr damit zu tun habe. Sie denken natürlich, daß ich der Führer irgendeiner Organisation bin, und jetzt werden sie mich wohl bespitzeln.“ Diese Passage ist wichtig, weil Arthurs Versuch, die Ereignisse um ihn herum zu verstehen, direkt mit einem zentralen Thema des Romans zu tun hat, das von späteren Literaturwissenschaftlern die „Unerkennbarkeit des Menschen“29 genannt wurde. Oder, wie Hermans es selber in einem Brief aus dem Jahre 1987 formuliert: „De tranen der acacia’s handelt von der Tatsache, daß Menschen Informationen vor einander verheimlichen.“30 29
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Der Ausdruck im Zusammenhang mit Hermans wurde geprägt von J. J. Oversteegen: Chinese wijsheid. Een exegese. In: Merlyn 1 (1962), H. 3, S. 29–53. Hermans an Hans van Straten, 10. Juni 1987, Durchschlag im Hermans-Nachlaß.
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Auch der Schriftsteller verheimlicht uns also mit seiner Änderung eine bestimmte Information.
Fragment des 5. Kapitels von De tranen der acacia’s in XXE.
Vergleichbar mit dieser Änderung ist die Ergänzung einiger Sätze in den ersten Abschnitten des neunten Kapitels, die eine Beschreibung von Arthur Muttahs unmöglichem Unterfangen sind, das Tun und Lassen der Menschen um ihn herum zu verstehen, in diesem konkreten Fall das seines Freundes Oskar Ossegal. Hermans bearbeitete diesen Text bei der Vorbereitung seines ,fertigen‘ Typoskripts für die erste Auflage, während er in den Druckfahnen erneut an der präzisen Formulierung arbeitete. Wir zitieren den Text der ersten Auflage: „Hatte Oskar Andrea geglaubt? Nie, nie würde er genau wissen, was Oskar wußte, dachte und fühlte. Und wenn er das nicht wußte, wußte er auch nicht genau, was er von sich selbst zu halten hatte.“ 1971 spitzte Hermans den Text übrigens noch zu, indem er das Wort „genau“ im letzten Satz wegließ. Gerade dieser Abschnitt wird in späteren Studien zum Roman ein entscheidender Abschnitt genannt. Der Hermans-Forscher und -Bibliograph Frans Janssen sagt dazu: „Hier legt Arthur Muttah die Verbindung zu sich selbst: Die Unsicherheit über die Welt um ihn herum wird als Unsicherheit über seine eigene Identität interpretiert.“31 31
Frans A. Janssen: Bedriegers en bedrogenen. Opstellen over het werk van Willem Frederik Hermans. Amsterdam 1980, S. 19.
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Oft sind die Änderungen viel umfangreicher. Der Roman wird zum größten Teil aus der Perspektive von Arthur Muttah, zum kleineren Teil aus der von Oskar Ossegal erzählt. Das zwölfte Kapital fängt mit einer Passage von etwa zwei Seiten an, die aus der Perspektive der Figur Carola erzählt werden, genau wie das ganze siebente Kapitel. Die obengenannten Beispiele machen es plausibel, daß gerade solche Abweichungen von der Erzählperspektive für den Roman wichtig sind. Sie geben dem interpretierenden Leser, der genau wie Arthur versucht, die Geschehnisse im Roman zu rekonstruieren, ergänzende Informationen. Es gibt im Roman auch Beispiele von weniger geglückten Revisionen durch den Autor, die zum Teil merkwürdige Folgen haben. Relativ unschuldig ist die unvollständige Verdeutschung der Sprache der schon genannten tschechischen Dame Andrea im fünften Kapitel, wo Hermans dem Satz „Heeft Oskar al genoeg geholpen“ („Hat Oskar schon genug geholfen“) auf Deutsch die Wörter „mehr als genug“ hinzufügt, wodurch Andrea in einem Satz ein niederländisches Wort anscheinend richtig ausspricht, es im folgenden jedoch wieder falsch macht. Auffälliger, ein wenig später im selben Kapitel, ist die Weglassung des von Andrea gesprochenen Seufzers „Ich bin eigentlich so...“ in einer Passage von einigen Abschnitten, die Hermans intensiv revidiert hat. Die Weglassung verursacht ein Verständnisproblem, da der Seufzer gestrichen wurde, die dadurch verursachte Frage Arthur Muttahs jedoch stehenblieb: „Nun, was bist Du eigentlich so?“ Dieser Kontinuitätsfehler wurde von Hermans in späteren Auflagen nie mehr verbessert. In den Tranen der acacia’s findet man mehrere solche Merkwürdigkeiten und Fehler, die, da sie ja von Autorrevisionen verursacht wurden, in unserer Edition so stehenbleiben. Ein kurzes Zwischenresümee: Wir haben einen Autor gesehen, der aussagt, sein 1949 erschienener Roman sei einfach so in die Maschine geschrieben und sofort zum Drucker gegangen, was aber bei näherem Hinsehen nicht zutrifft: Der Autor hat an vielen Stellen nach der Niederschrift die zentralen Themen des Buches akzentuiert und auch an der Konstruktion des Romans gearbeitet. Die vielen Revisionen sind nicht immer logisch und glücklich. Nach der Veröffentlichung der ersten Auflage 1949 machte Hermans übrigens mit seinen Korrekturen fröhlich weiter. Sechs Monate nach dem ersten Druck erschien im Mai 1950 eine zweite Auflage, in der Hermans vor allem zahlreiche Satz- und Druckfehler, die in der ersten Auflage übersehen worden waren, korrigierte. Er modernisierte, zusammen mit einem Redakteur, auch die Orthographie. Der revidierten zweiten Auflage folgte 1953 eine erneut korrigierte dritte, in der Hermans an Hunderten von Stellen korrigierte. Er konzentrierte sich jetzt vor allem auf die stilistische und inhaltliche Aktualisierung des Romans. Veraltete Ausdrücke wurden regelmäßig gegen moderne Äquivalente ausgetauscht, an einigen Stellen des Romans gab Hermans nähere Informationen zu Geschehnissen während des Zweiten Weltkriegs. Auffällig ist auch, daß im vierten Ka-
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pitel des Romans eine Passage aus einer Vorpublikation, die in den ersten beiden Auflagen fehlte, erneut eingefügt wurde. Obwohl Hermans, wie wir oben gesehen haben, den Eindruck erweckte, daß die „definitive“ Fassung der Tranen der acacia’s, die 1971 nach den vielen unautorisierten Auflagen erschien, eine völlig neue Bearbeitung war, können wir feststellen, daß sie eng an die früheren Korrekturen anschließt. Wir können mindestens vier Kategorien unterscheiden. An erster Stelle revidierte Hermans erneut die Orthographie. Seit 1954, also nach der letzten autorisierten Auflage, gab es eine offizielle, in einer Woordenlijst van de Nederlandse taal („Wortverzeichnis der niederländischen Sprache“) festgelegten Rechtschreibung, das Resultat einer langen Rechtschreibereform, die nach dem Zweiten Weltkrieg angefangen hatte. Die zweite Kategorie von Revisionen ist die Modernisierung des Wortgebrauchs, eine dritte das, was er auch schon bei der dritten Auflage gemacht hatte: Er fügt Informationen zu bestimmten Aspekten des Zweiten Weltkriegs hinzu, weil er befürchtet, daß die nächste Generation seiner Leser historische Sachverhalte nicht mehr ohne weiteres verstehen würde. Ein Beispiel einer solcher Änderung ist im vierten Kapitel die Hinzufügung des Satzes: „Wie rar war Petroleum nicht während des Kriegs.“ Im achten Kapitel wird die Zigarettenmarke Ukraı¨nia mit dem Satz „eine ausgesuchte Marke, die nur an die tapferen Jungen verteilt wurde, die in deutschen Diensten an der Ostfront taktische Rückzüge ausführten“ näher erläutert. Im zehnten Kapitel wird von Toten erzählt, die in einer Amsterdamer Kirche Aufnahme fanden. Dieser Mitteilung fügt Hermans 1971 hinzu: „die bei Transportschwierigkeiten vorläufig nicht begraben wurden.“32 Auch bei dieser Bearbeitung von 1971 findet, und das ist die vierte Kategorie von Änderungen, eine Verstärkung des zentralen Themas des Romans statt, worüber wir vorher schon sprachen. Erneut wird durch Hinzufügungen die isolierte Position der Hauptpersonen betont. Eine längere neue Passage, in der Arthur Muttah gegenüber Andrea versucht, das Handeln der anderen Hauptpersonen zu rekonstruieren, eine für ihn „völlig unverständliche Sache“, gehört auch zu dieser Kategorie. Auffällig in diesem Kontext ist auch die Streichung einer ganzen Passage mit Jugenderinnerungen von Arthur Muttah, die Hermans bei der ersten Auflage schon bearbeitet hatte. Der Leser findet also ab 1971 keine Erklärung mehr für die Umstände, in denen Arthur sich als Erwachsener befindet. Seine isolierte Position ist also nicht die einer Einzelperson, sondern ein allgemeiner menschlicher Zustand. Das Bedürfnis von Hermans nach Revision, Korrektur und Änderung ist also ein ständiges, und auch nach 1971 macht er weiter, wenn auch keine größeren 32
Die erste Ergänzung kommt in der Hillnerschen Übersetzung (Die Tränen der Akazien 1968; Anm. 3) nicht vor, die beiden anderen auf S. 142 bzw. S. 182.
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inhaltlichen Bearbeitungen mehr vorkommen und wenn er auch wiederholt Fragmente aus den frühen Vorpublikationen wieder in den Text aufnimmt. In den sechs Auflagen, die von 1971 an bis zu seinem Tod erscheinen, tritt er vor allem als Redakteur auf und korrigiert sachliche Fehler, aber auch Druckfehler, dabei unterstützt von Lesern, die ihn auf Fehler hinwiesen. Die einundzwanzigste Auflage von 1986 war die erste mit einrückenden Abschnittsanfängen. In einem Interview sagte er dazu: „Ich wußte aber nicht mehr, wo das genau beabsichtigt war oder nicht. Da habe ich das Buch mal wieder richtig gut lesen müssen und auch noch mehrere Fehler korrigiert. [...] Jetzt ist es wirklich eine gute Ausgabe.“33 Das überlieferte Korrekturexemplar für diesen Nachdruck zeigt in der Tat, daß Hermans, zusammen mit seinem Verleger, akribisch alle Abschnitte und Leerzeilen verzeichnete. In den Druckfahnen zu dieser Auflage macht er aber bestimmte Veränderungen wieder rückgängig. Sieben Jahre später bearbeitete Hermans für die vierundzwanzigsten Auflage, der letzten bei Lebzeiten und also Basistext für unsere Edition, den Text erneut, wie man an dieser Abbildung aus dem Korrekturexemplar im Hermans-Archiv (S. 422) sehen kann. Was bedeutet das alles nun für unsere Edition? Kann man all diese Erkenntnisse in unserer Leseedition antreffen? Zum Teil schon. Die Texte unserer Edition respektieren die Eigenwilligkeiten in der Orthographie, der Interpunktion und der Grammatik, deren Hintergrund die spezifischen Auffassungen und die Arbeitsweise von Hermans sind. Das gilt auch für Inkonsequenzen und Ungenauigkeiten, die von Hermans selber bei seinen Überarbeitungen verursacht wurden. Wir haben davon einige Beispiele aus den Tranen der acacia’s erwähnt, sie kommen auch in vielen anderen Texten von Hermans vor. In unseren Nachworten zu den Bänden der Edition informieren wir den Benutzer ausführlich, anhand von zahlreichen Briefen aus dem Nachlaß von Hermans und von anderen überlieferten primären Quellen, über die Entstehungsund Publikationsgeschichte und die Rezeption der jeweils publizierten Texte. Wir erläutern auch interessante inhaltliche Revisionen, so wie wir das heute gemacht haben. Vollständigkeit streben wir dabei, da wir ja eine Leseedition veranstalten, nicht an, wir können nur versuchen, dem Leser ausgewogene und informative Erläuterungen zu bieten und ihn neugierig zu machen, sich weiter mit Hermans zu beschäftigen.
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Zitiert nach Wilbert Smulders: „Als een kei in je ziel“. Een vraaggesprek met Willem Frederik Hermans. In: Wilbert Smulders (Hrsg.): Verboden toegang. Essays over het werk van Willem Frederik Hermans gevolgd door een vraaggesprek met de schrijver. Amsterdam 1989, S. 229–275, Zitat S. 235.
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Jan Gielkens / Peter Kegel
Korrekturexemplar der 23. Auflage von De tranen der acacia’s.
Ein Hilfsmittel dabei dürfte die die Edition begleitende Webseite34 sein. Sie enthält außer Informationen zur digitalen Basis der Edition auch die vollständige editorische Verantwortung der Edition, die nur sehr allgemein in den Büchern zu finden ist. Ein wichtiger Bestandteil der Webseite sind auch die editorischen Bemerkungen zu den verschiedenen, in den jeweiligen Bänden erscheinenden 34
www.wfhermansvolledigewerken.nl
Die letzte Hand von Willem Frederik Hermans
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Texten: Die Webseite enthält die Stemmata zu den edierten Titeln und detaillierte Beschreibungen der Primärquellen, dazu Faksimiles der benutzten Quellen aus dem Nachlaß von Hermans. Alle sechs Monate, jeweils beim Erscheinen eines neuen Bandes, wird die Webseite um die Daten zu den neuen Titeln ergänzt werden. Die Webseite wird in Zukunft auch andere Informationen enthalten, darunter ein Gesamtregister der Personen und Titel im essayistischen und kritischen Werk von Hermans. Bibliographische und biographische Daten zu Hermans kann man schon seit längerer Zeit auf einer anderen Website finden, die vom Willem Frederik Hermans Instituut betreut wird, einer Institution, die die Erben von Hermans vertritt und als Schirmherr für die Edition auftritt.35 Mit dem digitalen Material, das wir im Laufe der Vorbereitung der Edition gesammelt und geordnet haben, kann man viel mehr machen, als wir es im Moment tun. Wir arbeiten an einer Pilotedition, die dem Benutzer eine ausführliche Variantendokumentation der wichtigen Novelle Paranoia bieten soll. Vorläufig geht es nur um eine rudimentäre full text synoptische Variantenpräsentation aufgrund der XML-TEI-Bestände, die den Lesetext mit allen vorhergehenden Fassungen vergleicht, ergänzt um eine Einführung, die inhaltlich auf die Genese der Novelle eingeht. Die großen inhaltlichen Änderungen im Laufe der Bearbeitung könnten natürlich ein wichtiges Thema zusätzlicher Untersuchungen anhand des digitalen Materials sein. Die Basis dafür bildet die systematische Kodierung und Ordnung der relevanten Varianten in den XML-TEI-Beständen. Eine genaue Klassifizierung ist eine vorrangige Bedingung für eine solche Analyse. Im Huygens Instituut wird im Augenblick an einem Software-Programm gearbeitet, das bei einer inhaltlichen Analyse von digitalen Beständen behilflich sein kann, indem es einleuchtend und flexibel die relevanten Daten visualisiert. Das SoftwareProgramm heißt Editor. Sie können sich auf der Website des Instituts bereits darüber informieren.36 Mit diesem Programm könnten Bearbeitungsmuster, wie wir sie soeben exemplarisch erwähnt haben, systematisch und vollständig gezeigt werden. Es entstehen thematische Lesehilfen zu poetologischen oder narratologischen Revisionen, und der Leser kann dabei, da diese Lesehilfen direkt mit dem digitalen Material verbunden sind, immer wieder ihre Konsistenz und Zuverlässigkeit am digitalen Material überprüfen. Wir kommen zum Schluß. Die vorläufige Analyse der Tranen der acacia’s und anderer Texte führt zum Schluß, daß Hermans sein Werk bei späteren Revisionen seinen geänderten Literaturauffassungen entsprechend modellierte, wie er sie Mitte der 1960er Jahre explizit in mehreren Essaybänden formulierte. In seinem Essayband Het sadistische universum aus dem Jahre 1964 definierte er 35 36
www.willemfrederikhermans.nl. www.huygensinstituut.knaw.nl.
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Jan Gielkens / Peter Kegel
den in seinen Augen „klassischen Roman“. Wir zitieren: „Ich verstehe darunter einen Roman, in dem das Thema vollständig in einer Geschichte verarbeitet wurde, in dem die vorkommenden Personen, wenn es sein muß, eher Personifikationen sind als psychologische Porträts. Ein Roman, in dem alles, was geschieht und was beschrieben wird, ein Ziel hat; in dem kein Spatz vom Dach fällt, ohne daß es Folgen hat und in dem dies nur keine Folgen haben darf, wenn es die Absicht des Autors war, zu erklären, daß es in seiner Welt keine Folgen hat, wenn die Spatzen vom Dach fallen. Aber nur dann.“37 Ob der Roman De tranen der acacia’s diesem strengen Gesetz von Hermans gehorcht, ist die Frage; daß das Buch aber interessant genug ist, noch lange gelesen und studiert zu werden, steht für uns fest. Es gibt mehr als fünfundzwanzig Auflagen, zwei deutsche Übersetzungen, es liegt eine Edition vor, es wird in Zukunft digitale Zusatzinformationen geben. Unser abschließender Satz stammt aus dem Roman: „Sieh die Akazien, das alte Symbol der Unsterblichkeit. Die Akazie bleibt immer grün.“38
37 38
Willem Frederik Hermans: Het sadistische universum. Amsterdam 1964, S. 107f. Die Tränen der Akazien 1968 (Anm. 3), S. 412.
Michael Fisch Textkritische Überlegungen zu einer Ausgabe der Gesammelten Werke von Gerhard Rühm aus Anlaß des ersten Bandes gedichte
1. Bedeutung des Autors Gerhard Rühm, der am 12. Februar 1930 in Wien geboren wurde, wuchs als Sohn des Philharmonikers Otto Rühm in einem überaus musikalischen Elternhaus auf. Er studierte Klavier und Komposition an der dortigen Staatsakademie für Musik und Darstellende Kunst und erhielt parallel dazu Privatunterricht bei dem Komponisten Josef Matthias Hauer. Von 1954 bis 1964 lebte Gerhard Rühm in Wien, wo er als ,radikaler Komponist‘ in den Wiener Kunst- und Musikzirkeln bald bekannt wurde. Hier lernte er die Dichter Hans Carl Artmann und Konrad Bayer, den Jazzmusiker Oswald Wiener und den Architekten Friedrich Achleitner als gleichgesinnte Befürworter des künstlerischen Aufbruchs kennen. In ihrer Zusammenarbeit grenzte sich dieser Kreis, der sich später als „Wiener Gruppe“ bezeichnete, mit interdisziplinären Text-, Bild- und DarstellungsExperimenten gegen das allseitig konservative Klima in Österreich ab. Hier erprobte Gerhard Rühm alle nur möglichen Formen einer Sprachanarchie, etwa die Dialektdichtung. Erst mit der Wahl der Wiener Gruppe für den österreichischen Auftritt bei der Biennale in Venedig 1997 (sowie der im Folgejahr in der Wiener Kunsthalle eingerichteten gleichnamigen Ausstellung) wurde das einstige Bürgerschreck-Kollektiv und seine wegweisende Arbeit endlich in den österreichischen Kanon aufgenommen. Gerhard Rühm übersiedelte nach West-Berlin, wo er von 1964 bis 1977 lebte. Hier publizierte er einerseits textuelle und bildnerische Arbeiten bei Kleinverlagen und Kunsteditionen (bis heute liegen ca. 750 Veröffentlichungen von ihm vor, davon ca. 100 selbständig1) und engagierte sich andererseits als kundiger Herausgeber der Anthologie Die Wiener Gruppe (1967). Von Berlin aus kommentierte er darüber hinaus als „kaiser für verkehr und volksbildung“ einer selbst ernannten „österreichischen exilregierung“ (1969–1973) den Alltag seines Geburtslandes. Der Autor ist sowohl in der bildenden Kunst (visuelle Poesie, gestische und konzeptionelle Zeichnung, Fotomontage, Buchobjekte) als auch in 1
Vgl. Michael Fisch: Gerhard Rühm. Ein Leben im Werk 1954–2004. Ein chronologisches Verzeichnis seiner Arbeiten. Bielefeld 2005. (= Bibliographien zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 14).
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der Musik (auditive Poesie, Chanson, dokumentarische Melodramen, Vokalensembles, konzeptionelle Klavierstücke, Text-Ton-Transformationen) zu Hause. Entsprechend breit ist sein Wirkungsradius. Nachdem er in Deutschland mit seinen Collagen, Montagen und visuellen Texten erfolgreich als bildender Künstler wahrgenommen wurde, berief ihn die Staatliche Kunsthochschule Hamburg 1972 als Professor für freie Grafik. Diese Professur hatte er bis zu seiner Emeritierung 1995 inne. Außerdem war er mehrfach Lehrender an der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst in Salzburg. Seit 1977 lebt Gerhard Rühm in Köln. Die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts erwiesen mit zahlreichen Ausstellungen dem Bildautor Gerhard Rühm Hochachtung und Respekt. Bedeutende Institutionen (u. a. Rupertinum Salzburg 1987, Kunstverein Frankfurt am Main 1989, Kunsthalle Hamburg 1995, Fridericianum Kassel 2006) zeigten Retrospektiven und groß angelegte Einzelausstellungen. Neben den bildnerischen Arbeiten entstanden zahlreiche Hörstücke. Was mit der Ursendung von Konrad Bayers und Gerhard Rühms sie werden mir zum rätsel, mein vater (WDR 1968) begann, fand mit der Zuerkennung des Karl-Szuka-Preises 1977 für das Hörstück wintermärchen sowie mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden 1983 für wald, ein deutsches requiem seine vorläufigen Höhepunkte. Als österreichische Ehrungen durfte Gerhard Rühm 1991 von der Stadt Wien die Ehrenmedaille in Gold und von der Republik Österreich den Großen Staatspreis für Literatur entgegennehmen. Er ist Träger vieler Literaturpreise.
2. Vielfalt des Werkes Gerhard Rühm ist Schriftsteller, bildender Künstler, Theater- und Hörspielautor, Lyriker, Komponist, Interpret seiner Werke und Performancekünstler. Er ist Zeichner, Maler, Collagist, kurzum: ein Alleskönner im positiven Sinn. Er ist auf allen genannten Gebieten ein Perfektionist, und es gibt keinen zeitgenössischen Schriftsteller, der es ihm auch nur annähernd gleichtut. Der Autor kommt von der (Zwölfton-)Musik her. Er hat deren Grenzen weit geöffnet, um Literatur und bildende Kunst eintreten zu lassen und um eine Verschmelzung herbeizuführen, die auf diese Weise in der modernen Kunstgeschichte bislang nicht existierte. Gerhard Rühm ist bis heute der wichtigste Schöpfer konkreter Dichtung und deren begabtester und einfallsreichster Protagonist. Zwischen Sprachbesessenheit und Verbreitungsleidenschaft liegt sein Ansatz, nämlich eine auf Bewußtseinserweiterung trainierte sprachliche Provokation. Leider bringt ihm der analytisch-konstruktivistische Umgang mit dem Material Sprache gelegentlich den Vorwurf des Purismus ein, was selbstredend so nicht stimmen kann. Für seine
Gerhard Rühms Gesammelte Werke
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Arbeit ist gerade „die hinwendung zum materialen aspekt der sprache“2 entscheidend.
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Vgl. Gerhard Rühm: lyrik heute (1968). Zitiert nach: Ders.: TEXT – BILD – MUSIK. ein schauund lesebuch. Wien 1984, S. 22.
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Zunächst werden von ihm das poetische Bild, der gängige Reim, die Handlung an sich, Syntax und Semantik, die Bedeutungsvielfalt einzelner Wörter kri-
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tisch betrachtet, anschließend isoliert und neu zusammengefügt, aus bestehenden Kontexten gerissen und nach neuen, anderen Regeln montiert. Montage stellt zuletzt etwas ganz anderes als bloße Reduktion her, nämlich Überraschung, Reiz, Irritation, Provokation, Verblüffung, Verstörung – mit einem Wort Poesie. Gerhard Rühm weiß, daß Zeichen unabhängig von ihrer Mitteilungsfunktion eine eigene Realität haben, das heißt, man sieht sie oder man hört sie. Löst man Zeichen von den Begriffsinhalten ab, dann entstehen für Gerhard Rühm „schriftbilder“ und „lautkompositionen“. Darum unterscheidet der Autor zwischen „lesetext“ und „hörtext“. Alles, was zum Sprachmaterial des Menschen gehört: Laute und Lettern, Ziffern und Zahlen, Wortbildungs- und Satzbaustrategien, Schriftzüge und Schriftbilder, sind für Gerhard Rühm Werkzeuge, um die Übergänge zwischen Musik, Sprache und bildender Kunst fließend zu machen. Der Poesie Gerhard Rühms kann man in all seinen Worten begegnen, ob sie nun gemalt, gezeichnet, geschrieben oder vertont sind, ob sie hörbar, lesbar oder gar nicht sind, sie sind dennoch immer begreifbar oder besser gesagt erfahrbar. Rühm stellt jedem Rezipienten die Aufgabe, seinen Geist und seinen Körper für Lockerungsübungen der Sinne bereitzuhalten. Es geht Gerhard Rühm immer um die akustische Konkretisierung von Lauten, Silben, Wörtern und um die akustische Umsetzung der visuellen Zeichen und Zeichenfolgen, das, was man optische Laut-Konstellation nennen könnte. Leider besteht bis heute das Vorurteil, die literarische Avantgarde lebe zwar noch, sei aber in die Jahre gekommen. Gerhard Rühm tritt bis heute den Gegenbeweis an. Vielleicht ist er gar ihr letzter Vertreter. Das eigene Werk führt der überaus produktive Autor weiter fort, so daß noch einiges zu erwarten ist. Sein Gesamtwerk verweigert sich der Vorstellung von der linearen Entwicklung eines Lebenswerks. Im Gegenteil, Gerhard Rühm arbeitet weiter an verschiedenen methodischen wie motivischen Perspektiven. 3. Bedeutung der Ausgabe Die zehnbändige Ausgabe der Gesammelten Werke, die von mir in enger Zusammenarbeit mit Gerhard Rühm erarbeitet wird, enthält einen Großteil des Gesamtwerks; unmöglich das komplette Lebenswerk. Diese Ausgabe schafft endlich dem Notstand Abhilfe, die Rühm’schen Arbeiten in ihrer Breite zugänglich machen zu können, da ja vieles vergriffen und nicht einmal in Spezialbibliotheken greifbar ist. Veröffentlicht wird der Autor in der Vielfalt seiner Schaffenskraft, darum erhält der dritte Band „auditive poesie“ (Band 3.1) als Beigabe eine CD (auf der die Poesie zu hören ist) und der fünfte Band „filme“ (Band 5.2) eine DVD (auf der die Filme zu sehen sind). Die Gesammelten Werke werden allerdings nur in dieser Druckversion und nicht in einer CD-Rom-Ausgabe erscheinen (damit ist keine Volltextsuche möglich).
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Nicht zu realisieren in dieser Ausgabe sind manuelle Zugaben, wie etwa gerissene, geschnittene oder geknüllte Seiten3, eingelegte Postkarten4, eingeklebte Spiegel, parfümiertes Papier5, der Druck der Zusatzfarbe „rot“ etc. (So mußte etwa bei der Edition des zweiten Bandes „visuelle musik“ [Band 2.2] auf die Aufnahme der Bleistiftmusik in der Fassung von 1982 verzichtet werden zugunsten der Reproduktion bislang unveröffentlichter Teile dieser Gruppe der Bleistiftmusik6.) Die Gesammelten Werke zeigen der Öffentlichkeit einen gattungsübergreifenden und gattungsschöpfenden Autor, wie bislang kein zweiter Autor wahrgenommen werden konnte. Das ist nicht zuletzt allein dadurch möglich, daß wenigstens ein Drittel der aufgenommenen Texte bislang unveröffentlicht sind. Im übrigen ist Gerhard Rühm ein Autor, der die traditionellen Gattungen ablehnt, zugleich aber ausufernd neue schafft. So lehnt er beispielsweise den Gattungsbegriff Lyrik als historisch (überholt) ab. Der Autor bevorzugt einen übergeordneten ,text‘-begriff, gleich ob es sich um Lyrik oder um Prosa handelt, und unterscheidet gesprochene Sprache (akustische Zeichen = Laute = auditiv) und geschriebene Sprache (optische Zeichen = Schrift = visuell).7 Es handelt sich bei dieser Ausgabe der Gesammelten Werke um eine kommentierte Leseausgabe, die zu Lebzeiten und (darum) auf Wunsch des Herausgebers unter Mitwirkung des Autors entsteht. Ein Rezensent des ersten Bands beschrieb die Situation damit klar erkennend: „Treibende Kraft ist [...] ein jüngerer Germanist, der sich die Edition des Rühmschen Gesamtwerkes zu einer wahrhaft ausfüllenden Lebensabschnittsaufgabe gemacht hat.“8 Gerhard Rühm wird vielleicht zum „Selbsteditor“ (wie Anke Bosse ihn bezeichnet9), doch der Herausgeber (und nicht zuletzt Gerhard Rühms Ehefrau Monika Lichtenfeld, die als Teilherausgeberin die Edition unterstützt) begleiten dessen Entscheidungen kritisch. Darum schreibt der Herausgeber in seinem editorischen Bericht zum ersten Band gedichte:
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Vgl. Gerhard Rühm: MANN und FRAU. Darmstadt und Neuwied 1972. (Luchterhand Typoskript). Vgl. Gerhard Rühm: fenster. Texte. Reinbek 1968. Vgl. Gerhard Rühm: Nachwort zur erweiterten Neuausgabe. In: Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Hrsg. von Gerhard Rühm. Reinbek 1985, S. 596. Gerhard Rühm: Bleistiftmusik. Köln 1982. (Enthält eine Tonkassette mit Bleistiftgeräuschen, zwanzig Diapositive mit jeweils einer Zeichnung und einen erläuternden Text). Gerhard Rühm: lyrik heute (1968). Zitiert nach: Ders.: TEXT – BILD – MUSIK. ein schau- und lesebuch. Wien 1984, S. 23. Klaus Kastberger: „mein hut grüßt von selbst“. Über den ersten Band der Gesamtausgabe, mit 200 unveröffentlichten Gedichten. In: Die Presse (Wien), 31. Dezember 2005. Vgl. Anke Bosses Beitrag in diesem Band, S. 443f.
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Der glückliche Umstand, dass diese Edition (von Oktober 2004 bis März 2005) in Zusammenarbeit mit dem Autor entstand, vereinfachte die Lage: Gerhard Rühm selbst bestimmte die Fassung letzter Hand. Als Editionsgrundlage für die einzelnen Texte diente daher entweder das vom Autor bestimmte Typoskript oder die vom Autor ausgewählte Druckfassung, wobei die definitiv ausgewählten Textfassungen für diese Ausgabe letzter Hand in vielen Fällen noch vom Autor überarbeitet wurden.10
Diese Ausgabe enthält zudem vom Autor eigens neu geschriebene poetologische Kommentare.
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Vgl. Gerhard Rühm: Gesammelte Werke. Band 1.2. Berlin 2005, S. 1279.
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4. Förderung der Ausgabe Die Ausgabe der Gesammelten Werke von Gerhard Rühm entsteht in keinem institutionalisierten Rahmen, weder in einem Forschungsprojekt noch an einer
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universitären Arbeitsstelle. Sie geht auf das persönliche Lese- und Editionsinteresse ihres Herausgebers zurück. Textauswahl, Texterfassung und Textedition entstehen privat, öffentlich wird die Ausgabe durch die Drucklegung und die Vermarktung durch den Parthas Verlag. Und dem Verlag ist schnell klar geworden, daß sich mit einer Edition wie dieser schwerlich ,Geld verdienen‘ läßt und es bestenfalls darum gehen kann, ein kostendeckendes Projekt zu realisieren – allerdings ein prestigeträchtiges. Diese Ausgabe kann darum nur weiter realisiert werden, wenn sich die Kosten für ihre Entstehung und Herstellung im engsten Rahmen halten. Darum verzichten Autor und Herausgeber grundsätzlich auf ein Honorar. Weil viele Einzelausgaben des Autors weiterhin lieferbar sind, läßt sich das Problem des rechte- und honorarfreien Abdrucks am elegantesten lösen mit dem Versprechen einer limitierten Edition auf 1.000 Exemplare. Bislang wird die Ausgabe von der Kunststiftung NRW mit einem Druckkostenzuschuß gefördert. Der Parthas Verlag erhält pro Doppelband (für die ersten drei Bände) ca. 8.000 bis 12.000 Euro. Das reicht bei weitem nicht. Eine Förderung durch das Land Österreich oder die Stadt Wien ist nach eingehenden Gesprächen im österreichischen Bundeskanzleramt aussichtslos, denn der Parthas Verlag hat keinen Verlagssitz in Österreich respektive in Wien. Die Edition selbst entsteht ebenfalls nicht in Österreich. Aus diesen beiden Gründen sind weder eine Verlags- noch eine Projektförderung denkbar. Sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch das Land Berlin lehnen eine Förderung ab. Der Deutsche Literaturfond unterstützt die Drucklegung von Band 5: „theaterstücke“ mit einem Zuschuß von ca. 10.000 Euro.
5. Editionsplan der Ausgabe Gerhard Rühm: Gesammelte Werke. Herausgegeben von Michael Fisch. Berlin: Parthas Verlag 2005 ff. Band Band Band Band Band Band Band Band Band Band
1.1 und 1.2 „gedichte“ 2.1 „visuelle poesie“ und Band 2.2 „visuelle musik“ 3.1 „auditive poesie“ und Band 3.2 „hörspiele“ 4.1 „prosatexte“ und Band 4.2 „bildgeschichten“ 5.1 „theaterstücke“ und Band 5.2 „filme“ 6.1 „tondichtungen“ und Band 6.2 „klavierstücke“ 7 „melodramen, lieder, chansons“ 8.1 und 8.2 „bildnerische arbeiten“ 9 „theoretische schriften“ 10 „nachträge“
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(Das sind bislang sieben Doppelbände und drei Einzelbände. Damit wächst die Ausgabe auf siebzehn Bände. Briefe sind nicht vorgesehen.)
6. Realisierung der Ausgabe Der komplette Vorlaß liegt in den drei Wohnsitzen des Autors in Köln, in Wien und auf dem Semmering. Das Österreichische Literaturarchiv ist gewillt, den Vorlaß anzukaufen, bislang sind aber noch alle Manuskripte im Besitz des Autors. Zur Zeit wird bei den Editionsüberlegungen zu jedem Band der Vorlaß peu a` peu von Gerhard Rühm und Monika Lichtenfeld zusammengetragen. In der Kölner Wohnung bestimmen Autor und Herausgeber gemeinsam, welche Blätter zum Abdruck kommen. Die Texterfassung geschieht manuell in der Wohnung des Herausgebers in Berlin. Die Vorlagen werden im Parthas Verlag in Berlin eingescannt. Anschließend erhält der Grafiker die elektronischen Daten. Grafische Probleme werden gemeinsam gelöst:
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Paginierungsprobleme
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Stürzen von Texten
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Die Kommentierung geschieht durch den jeweiligen Bandherausgeber. Beispiel: blumenstück
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Beispiel: blumenstück (Kommentar)
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Der glückliche Umstand, daß sich in des Herausgebers Privatbesitz eine große Zahl von Publikationen Rühms (Einzelveröffentlichungen und Abdrucke) befindet, erleichtert die Autopsie. Der Kommentar wird in elektronischer Form ebenfalls an den Grafiker übermittelt. Schließlich gibt es zwei Korrekturgänge, zunächst Autor und Herausgeber getrennt, schließlich gemeinsam. (Meist gibt es eine dritte Anschluß-Korrektur). Jeder Band erhält, neben dem editierten Text, einen Stellenkommentar (Sigelverzeichnis, Literaturhinweise mit Kurztitel, Anmerkungen des Herausgebers), neue poetologische Aufsätze des Autors (Erläuterungen des Autors), zwei Inhaltsverzeichnisse (Gruppenübersicht vorn und Gesamtinhalt hinten) und einen knappen Editionsbericht der jeweiligen Bandherausgeber.
7. Editorischer Bericht zum ersten Band „gedichte“ Bei der Edition der Ausgabe der Gesammelten Werke von Gerhard Rühm und somit im nun vorliegenden ersten Band „gedichte“ handelt es nicht um eine historisch-kritische Ausgabe, in der die Textgenese dokumentiert und Überarbeitungsspuren im einzelnen vermerkt sind, vielmehr um eine kommentierte Lese- und Studienausgabe. Es existieren nur wenige Handschriften fertiger Gedichttexte, hingegen unzählige handschriftliche Notizen und Entwürfe. Editionsgrundlage bilden primär die vom Autor erstellten Typoskripte, die zum Teil autographe oder auch maschinenschriftliche Streichungen, Ergänzungen und Korrekturen enthalten. In vielen Fällen sind von einem Text mehrere Typoskript-Fassungen vorhanden. Textkritische Hinweise finden sich in den Anmerkungen des Herausgebers, poetologische Kommentare enthalten die Erläuterungen des Autors. Nicht alle Gedichte lassen sich zweifelsfrei datieren, doch ist bei wenigen Texten sogar die Entstehungszeit genau verzeichnet. Die Datierungshinweise beschränken sich in der Regel auf das Jahr oder den mutmaßlichen Entstehungszeitraum. Grundsätzlich wird nur das kommentiert, was Autor und Herausgeber für sinnvoll erachten, auch um Redundanzen zu vermeiden. Beide wollen kommentieren, nicht interpretieren und neben bibliographischen Hinweisen lediglich Zusatzinformationen geben. Prinzipiell ausgespart aus dieser Ausgabe der Gesammelten Werke sind die Gemeinschaftsarbeiten etwa aus der Zeit der Wiener Gruppe oder des Berliner Kreises. Einige ursprünglich titellose Gedichte haben hier erstmals Titel erhalten, doch finden sich auch Gedichte ohne Titel oder mit halbfett gedrucktem Titel. Bei Gedichten ohne Titel gilt die erste Zeile beziehungsweise gelten die ersten beiden Zeilen als Titel, was die Handhabung für den Leser, das Auffinden einzelner Texte im Inhaltsverzeichnis wie in den Anmerkungen erleichtert.
Anke Bosse Die Wiener Gruppe – Publikationsmöglichkeiten der Avantgarde
1. Avantgarde – literarisches Feld – Publikationsmöglichkeiten Die Wiener Gruppe, die wohl bedeutendste Avantgardeformation des Nachkriegsösterreichs, begann um 1952 sich als Freundeskreis auszubilden. Im halböffentlichen, gegenkulturellen Umfeld von Lokaltreffs wie dem ,Strohkoffer‘ des Art-Clubs trafen H.C. Artmann, Dichter und poetischer Vagant, und Gerhard Rühm, Komponist experimenteller Musik, 1952 auf Konrad Bayer. In dieser Dreierkonstellation begannen die ersten, auch gemeinsamen literarischen Arbeiten, wobei Artmann anfangs als Impulsgeber für eine produktive Aneignung der vergessenen und verfemten historischen Avantgarden und als Initiator ,poetischer‘, die Öffentlichkeit skandalisierender ,Demonstrationen‘ fungierte. Beides sollte die Gruppe in der Folgezeit als Distinktionschance gegenüber anderen avantgardistischen Formationen und für ihre Positionierung im literarisch-kulturellen Feld nutzen. 1953 stieß der Jazzmusiker Oswald Wiener dazu, 1955 der Architekt Friedrich Achleitner. Es begann eine enorme Produktion experimenteller Literatur. Von den (sprach-)experimentellen Lautdichtungen, Textmontagen, Dialektdichtungen, Seh- und Hörtexten, szenischen Texten und Chansons waren viele Gemeinschaftsarbeiten, die aus einem spontan-spielerischen Schaffensprozeß heraus entstanden: „jeder brachte geeignetes material an [...], wir spielten uns aufeinander ein, warfen uns die sätze wie bälle zu.“1 Das Neue, Aufregende waren die Performance-Qualitäten des Produktionsvorganges: Man konnte unmittelbar erproben und erfahren, wie Literatur entsteht. So verschob sich die Funktion von Autorschaft von konventionell monadischer Tätigkeit zum spielerisch-kollektiven Arbeiten, und so wurde – wie bei den historischen Avantgarden – Kunstproduktion als Werkproduktion durch den performativen Akt aufgebrochen. Der nächste Schritt des Wiener Freundeskreises war die öffentliche Aktion. Im Juni 1957 trat er erstmals öffentlich als Gruppe mit der „monsterlesung“2 auf – und löste Publikumstumulte aus. 1958 adoptierte man die Bezeichnung 1
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Gerhard Rühm: vorwort. In: Ders. (Hrsg.): Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Reinbek 1967. Erweiterte Neuausgabe Reinbek 1985, S. 5–36, hier S. 22. Ebenda, S. 25.
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„Wiener Gruppe“ in Anlehnung an Dorothea Zeemanns Zeitungsartikel Die neue Wiener Dichtergruppe.3 Doch parallel dazu entfernte sich Artmann nach und nach von der Gruppe – und dürfte deshalb später immer wieder betont haben, nicht dazugehört zu haben.4 Eine neue transliterarische Phase begann. Achleitner, Bayer, Rühm und Wiener veranstalten 1958 und 1959 zwei ,literarische cabarets‘. Mit ihren Performances und Happenings avant la lettre attackierten sie den restaurativen Kulturbetrieb und skandalisierten massiv die Öffentlichkeit. Doch abgesehen von diesem kurzlebigen Wirbel war die Öffentlichkeitswirksamkeit der „genialen Firma“ (E. Gerstl) äußerst beschränkt. Im alles durchdringenden restaurativen und repressiven Klima des Nachkriegsösterreichs waren ihre Publikationsversuche von geradezu seriellem Scheitern geprägt. Denn das – mit Bourdieu gesprochen – „symbolische Kapital“ war monopolisiert von Literaten, die dank massiver Vergangenheitsverdrängung, eines dirigistischen Kulturbetriebs und eines revitalisierten konservativen Wertekanons das „literarische Feld“ okkupierten.5 Unter diesen Umständen konnten neu hinzukommende Künstler symbolisches Kapital nur erwerben, wenn sie ohne Rücksicht auf den Warenwert ihrer Kunst, ohne soziale Anerkennung, ohne offiziellen institutionellen Rückhalt6 neue autonome Wertprinzipien durchsetzten. Genau da setzte die Wiener Gruppe an. Im Kampf um symbolisches Kapital transgredierte sie wie noch jede Avantgarde die Systemgrenzen und geriet zwangsläufig in Konflikt mit der herrschenden Kultur-Orthodoxie und ihren Garantiemächten. Die Wiener Gruppe reagierte darauf, indem sie ein Elite- und Exklusivitätsbewußtsein entwickelte, das im Inneren der Gruppe kritische Aufgeschlossenheit und konspirativen Zusammenhalt bot, nach außen über Differenz und Abgrenzung Identität stiftete und Autonomie suggerierte.7 Je radikaler aber das Pro3
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Erschienen im Neuen Kurier, Wien, 23. Juni 1958. Abgebildet in: Peter Weibel (Hrsg.): die wiener gruppe. the vienna group. a moment of modernity 1954–1960. the visual works and the actions. friedrich achleitner, h. c. artmann, konrad bayer, gerhard rühm, oswald wiener. Österreichische Ausstellung im Rahmen der Biennale von Venedig 1997. Wien und New York 1997, S. 307. Vgl. Rühm 1967/1985 (Anm. 1), S. 26. „Es hat nie eine ,Wiener Gruppe‘ gegeben. Das ist eine journalistische Erfindung. Wir haben uns nie als Gruppe gefühlt. Ich glaube ja, daß die Gruppe, die sich 1949, 1950 um die Neuen Wege gebildet hat, für die österreichische Nachkriegsliteratur viel wichtiger gewesen ist.“ (H. C. Artmann: Gespräch mit Hilde Schmölzer. In: Die Pestsäule 1/1972, H. 1, S. 27) „Es hat nie eine [Wiener Gruppe] gegeben. [...] Das sind so Germanistenscherze halt [...] so überlieferte Sachen, die sie wo gelesen haben [...].“ (H. C. Artmann: Ich bin kein Berufswiener [Interview]. In: Provinz, sozusagen. Österreichische Literaturgeschichten. Hrsg. von Ernst Grohotolsky. Graz und Wien 1995, S. 38) Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes [1992]. Frankfurt/Main 2001, S. 198–205 und S. 340–353. Zur Nachkriegssituation vgl. Klaus Amann: Vorgeschichten. Kontinuitäten in der österreichischen Literatur von den dreißiger zu den fünfziger Jahren. In: Friedbert Aspetsberger, Norbert Frei und Hubert Lengauer (Hrsg.): Literatur der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre in Österreich. Wien 1984, S. 46–58. Etwa durch Akademien, Preise, Stipendien etc. Vgl. Rühm 1967/1985 (Anm. 1), S. 12f., 26, 34; vgl. Oswald Wieners Stellungnahme in: Die Wiener Gruppe. Eine Kontroverse. In: Neues Forum 15/1968, H. 171–172, S. 237–243, hier
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vokations- und Abgrenzungsverhalten der Avantgarde, desto wachsender das Ausgrenzungsverhalten der Gesellschaft – eine Situation, in der sich für die Wiener Gruppe wiederum die Möglichkeiten schwächten, die Machtstrukturen im literarischen Feld über den Gewinn eines externen Publikums aufzubrechen. Es bedeutete, bestenfalls in der subkulturellen Wiener Szene eine kleine, exklusive Ersatz- und Gegen-Öffentlichkeit anzusprechen, ansonsten isoliert zu sein. Gerhard Rühm dazu: „wir fühlten uns hier abgeschnitten, auf verlorenem posten. von einigen wenigen abdrucken in zeitschriften und deutschen anthologien abgesehen, häuften sich unsere unpublizierten manuskripte in der schublade. wir haben hier keine chance. rundfunk, fernsehen, verlagswesen beherrscht ein arroganter provinzialismus. ,avantgardisten‘ sind von vornherein suspekt, die sollen doch gleich ins ausland gehen, in österreich brauch ma des ned.“8 Rühms Konsequenz war, 1964 nach Deutschland zu emigrieren. Zuvor, 1959, hatte sich Wiener von der Gruppe getrennt und seine bisherigen Werke weitgehend vernichtet.9 Achleitner war 1961 zur Architektur zurückgekehrt. Es kommt 1964 noch zu einer letzten gemeinsamen Aktion, der kinderoper. Doch im Oktober 1964 begeht Konrad Bayer Selbstmord, was das definitive Ende der Gruppe bedeutete.
2. Gerhard Rühm als Autor, Editor, Selbsteditor, Historiograph Daß die damals als großmäulige Störenfriede und Hochstapler verunglimpften Mitglieder der Wiener Gruppe heute als Helden einer Avantgarde gelten, die unter den verschärften Bedingungen der Nachkriegsparalyse als erste angetreten ist, das ist Gerhard Rühms Verdienst. Als Autor, Editor, Selbsteditor und Historiograph der Wiener Gruppe nach deren Auflösung konnte er jenes symbolische Kapital ansammeln, das die Gruppe literaturgeschichtlich zur ersten genuinen Avantgardeformation in Österreich kanonisierte, ihren Namen zum Markenzeichen machte und ihr im literarischen Feld wie auch im kulturellen Gedächtnis einen festen Platz erwarb. Bezeichnend für die Situation der Wiener Gruppe als Avantgarde ist, daß dafür ihr definitives Ende durch Bayers Selbstmord Voraussetzung war. Denn 1963 hatte Konrad Bayer auf dem Treffen der Gruppe 47 in Saulgau von Heinrich Maria Ledig-Rowohlt das spontane Angebot erhalten, den in Ar-
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S. 242; vgl. zur Rolle Bayers und Wieners: Ulrich Janetzki: Alphabet und Welt. Über Konrad Bayer (= Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur 7). Königstein/Ts. 1982, S. 18f., 23f. Rühm 1967/1985 (Anm. 1), S. 33. Wiener begann 1962, für sich allein, mit der Arbeit an dem Roman die verbesserung von mitteleuropa. Er erschien 1969 bei Rowohlt, Reinbek.
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beit befindlichen Roman der sechste sinn bei Rowohlt zu veröffentlichen – „das eis schien gebrochen zu sein“,10 beschreibt Rühm retrospektiv den Moment. Bayer erhielt regelmäßige Monatszahlungen von Rowohlt, erreichte bis zu seinem Freitod aber nicht den vertraglich bestimmten Umfang. Ledig-Rowohlt wollte aber nun eine dem Vertrag und den Investitionen adäquate Veröffentlichung – und überzeugte Gerhard Rühm, den sechsten sinn und möglichst alle unveröffentlichten Texte Bayers herauszugeben. Rühm sagte diesen postumen Freundschaftsdienst zu11 – und so ergaben sich für die verflossene Wiener Gruppe unerwartete Möglichkeiten. Denn vor allem der Rowohlt-Lektor Jürgen Bekker setzte sich dafür ein, Rühms Bayer-Band durch weitere Publikationen von Autoren der Wiener Gruppe zu flankieren. So kam bei Rowohlt 1967 die von Rühm herausgegebene, heute berühmte Anthologie zur Wiener Gruppe zustande. Die Tabelle im Anhang läßt erkennen, in welchem Maße die Bayer-Ausgaben und die Veröffentlichungen zur Wiener Gruppe über Jahrzehnte aufwendige Parallelunternehmungen Rühms waren. Wie sein Briefwechsel mit Achleitner zeigt, hat er sich als Herausgeber der Anthologie bemüht, seine Mehrfachfunktion als Autor, Editor, Selbsteditor und Historiograph gewissenhaft auszufüllen – ob bei den Anteilen der Einzelarbeiten der Gruppenmitglieder12 oder bei der Rekonstruktion der Gruppengeschichte für sein Vorwort.13 Derselbe Briefwechsel zeigt aber auch, daß es Rühm im Bewußtsein seiner editorischen und historiographischen Macht darauf anlegte, eine kohärente Gruppengeschichte zu erzählen: „ich mach s ja für uns alle und für die so hochgeschätzte Nachwelt natürlich und so wie s jetzt erscheint, so ist es dann da!“14 Mit seiner postumen Re-Konstruktion der Wiener Gruppe avancierte Rühm zum Diskursbegründer: Sein Vorwort wurde im Laufe der Zeit für Forscher und Kritiker eine unumgängliche literarhistorische Quelle und initiierte einen Diskurs, der die Wiener Gruppe als avantgardistisches ,Wunderteam‘ fest etablierte.15 Erst mit Erscheinen von Rühms Anthologie gab es 1967 „plötzlich [...] ein Werk (wo vorher nur Vermutungen, Anekdoten und einzelne Texte kursierten) und es gab [im Vorwort] eine ausführliche Chronologie mit zeitge10 11
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Rühm 1967/1985 (Anm. 1), S. 34. So erschien bei Rowohlt: Der sechste Sinn. Texte von Konrad Bayer. Hrsg. von Gerhard Rühm. Reinbek 1966. Vgl. Rühms Darstellung in seinem Nachwort („Köln, Oktober 1976“) zu Konrad Bayer: Das Gesamtwerk. Revidierte Neuausgabe. Hrsg. von Gerhard Rühm (= Das neue Buch 76). Reinbek 1977, S. 447. Rühm an Achleitner am 24. Juli 1966, und in seinem Brief vom 2. Juli 1969 kann Rühm an Achleitner melden: „rowi möchte übrigens jetzt ossi hats raddatz angeboten einen gesammelten achi machen / so ein gescheiter rowi.“ (Friedbert Achleitner, Gerhard Rühm: super rekord 50 + 50. Linz 1980, S. 154f., 169) Rühm an Achleitner am 9. März 1967 und Achleitners Antwort vom 13. März 1967 (ebenda, S. 161–165). Rühm an Achleitner am 24. Juli 1966 (ebenda, S. 155). Vgl. Melitta Becker: Gerhard Rühm und der Mythos ,Wiener Gruppe‘. In: Kurt Bartsch, Stefan Schwarz (Hrsg.): Gerhard Rühm (= Dossier 15). Graz und Wien 1999, S. 125–153, hier S. 126.
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schichtlichem Kolorit.“16 Daß die Anthologie beträchtliche Resonanz auslöste,17 ja laut Jörg Drews zu „unserer Bibel der ,Neuen Poesie‘“18 wurde, verdankte sich sicher dem breiten Distributionsnetz des Rowohlt-Verlags, aber auch den Bedürfnissen einer Lesergeneration, die just 1967/68 antrat, die restaurativen Strukturen der Nachkriegsgesellschaft aufzubrechen. Daß Rühm den Underground-Status der aktiven Wiener Gruppe so anschaulich im Vorwort darstellte und als eigene Erfahrung verbürgte, wurde so Katalysator ihrer postumen Erfolgsstory. Diese beruht nicht allein auf der Wirkungsmächtigkeit der Anthologie. Vielmehr entwickelte Rühm Publikationsstrategien, die zu einem so dichten Netz führten, daß er sich damit lange die Deutungshoheit über die Wiener Gruppe sicherte und zeitweise zum Diskursdirigenten wurde19 – ein Netz, an dem auch die Verlage mit ihren Werbestrategien fleißig mitstrickten. Beide Strategien, meines Wissens bisher kaum berücksichtigt, bestimmten aber wesentlich mit, daß die Wiener Gruppe die entscheidende Wahrnehmungsschwelle überschreiten und sich im literarischen Feld zwar nachträglich, aber endgültig etablieren konnte. Erstens: Die Werbestrategien des Rowohlt-Verlags, später im Verein mit ÖBV und Klett-Cotta. Die grauen, klein gepunkteten Pfeile in der Tabelle im Anhang zeigen an, wie die einzelnen Publikationen per Verlagswerbung auf andere verwiesen – manchmal sogar reziprok. Dieses Verweisungsnetz ist nicht nur im Verkaufsinteresse der Verlage, es verknüpft vor allem die Anthologie, die Ausgaben von Bayers Werken und die Einzelpublikationen von Achleitner, Rühm und Wiener unter dem gemeinsamen Markenzeichen ,Wiener-Gruppe‘. Zweitens gehört es zur Publikationsstrategie Rühms, die Parallelunternehmung der Bayer-Ausgaben und der Publikationen zur Wiener Gruppe zu nutzen, um 16
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Gisela Steinlechner: Ehrenwerte Rebellen? Die Wiener Gruppe als ein Streit- und Vorzeigeobjekt in der Debatte um eine neue österreichische Literatur. In: Wendelin Schmidt-Dengler (Hrsg.): Konflikte – Skandale – Dichterfehden in der österreichischen Literatur. Berlin 1995, S. 202–214, hier S. 203. Nach dem 1.–3. Tausend im Oktober 1967 folgte das 4.–6. Tausend im August 1969. Vgl. auch Rühm an Achleitner am 18. Juni 1969 (Achleitner/Rühm 1980 [Anm. 12], S. 168). Jörg Drews: Denkmal der Wiener Gruppe. Zur erweiterten Neuausgabe eines gesuchten Sammelbandes. In: Süddeutsche Zeitung. München, Nr. 180, 7. August 1985, S. 29. Die Darstellungen anderer Gruppenmitglieder konnte Rühm so abdrängen. So würdigte Bayer ausdrücklich die Stifter- und Vorbildfunktion H. C. Artmanns (Konrad Bayer: hans carl artmann und die wiener dichtergruppe. In: Ders.: Sämtliche Werke. 2 Bde. Hrsg. von Gerhard Rühm. Wien und Stuttgart 1985, Bd. 1, S. 347–355, und in: Ders.: Sämtliche Werke. Überarbeitete Neuausgabe. Hrsg. von Gerhard Rühm. Stuttgart 1996, S. 714–723). Oswald Wiener dagegen möchte Artmann nachträglich aus dem Gruppen-Konzept herauslösen: man habe „manche züge in sein werk hineingelegt“, die dem theorieabstinenten Wortzauberer eigentlich fremd gewesen seien (Oswald Wiener: das ,literarische cabaret‘ der Wiener Gruppe. In: Rühm 1967/1985 [Anm. 1], S. 401–418, hier S. 401). Achleitner wiederum sieht zwei „grundsätzliche Auffassungen“ in der Gruppe: den surrealen Block mit Artmann und Bayer, den „positivistisch-rationalistischkonstruktivistischen Teil“ mit Achleitner und Wiener und Rühm in der Mittelstellung (Hermann Schlösser: Ein Gespräch mit Friedrich Achleitner über die Wiener Gruppe, ihre Folgen und ihre Traditionen. In: Lesezirkel 63/1993, S. 17f.).
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nach dem Muster des ceterum censeo in Vor- und Nachworten sowie in Kommentaren und Artikeln beständig auf seine Wiener Gruppe-Anthologie und vor allem sein Vorwort als Referenztext zu verweisen. Die ,Kanonisierung‘ von Anthologie und Vorwort in der Literaturgeschichtsschreibung und Forschung beginnt also schon vorher als ,interne Kanonisierung‘ durch Rühm selbst (graue, fett gepunktete Pfeile in der Tabelle im Anhang). Diese ,interne Kanonisierung‘ spiegelt sich auch in der Genese des Vorworts und in seiner weiteren Verarbeitung wider (fette schwarze Pfeile, bei stark modifizierender Verarbeitung gestrichelt). Als Rühm 1965 am Vorwort zu der Textsammlung der sechste sinn schreibt, zeichnet er in knapper Form die Geschichte der Wiener Gruppe nach – und nimmt sich Bayers Artikel hans carl artmann und die wiener dichtergruppe zur Richtschnur. Ein Textvergleich zeigt, daß dann dieses Vorwort Rühms der Nukleus seines ausführlichen Vorworts zur Wiener Gruppe-Anthologie von 1967 ist.20 Auch textgenetisch bestätigt sich, daß Rühms Freundschaftsdienst, Bayers Werke zu edieren, Voraussetzung für die dann so wirkungsmächtige Anthologie und ihr Vorwort war. 1985 erschien sie in einer erweiterten Neuausgabe,21 denn es handelt sich, so Rühm im Nachwort, „nach meinung des verlages – und ich kann mich ihr anschließen – um eine publikation mit bereits historischem stellenwert“.22 Diese Bemerkung und Rühms Entscheidung, die Anthologie gezielt um Gruppenarbeiten zu erweitern,23 sowie die breit und auch international gestreuten Rezensionen, die die Wichtigkeit der Neuausgabe betonten, sind deutliche Anhaltspunkte für die Zugkraft des Markenzeichens ,Wiener Gruppe‘ und das inzwischen gewonnene symbolische Kapital, für ihre inzwischen erfolgte ,externe‘ Kanonisierung24 und ihre Etablierung im literarischen Feld – sowie für Rühms Erfolg als Diskursbegründer. Neben seiner Arbeit als Autor edierte Rühm weiterhin neue Bayer-Werkausgaben (vgl. Tabelle im Anhang). 1977 gibt er Bayers Gesamtwerk heraus, nun 20
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Sein Vorwort zu Bayers Texten, das Rühm in „berlin, im oktober 1965“ verfaßte und seiner ersten Bayer-Ausgabe voranstellte (Bayer 1966 [Anm. 11], S. 8–18), übernimmt er textidentisch in seine Bayer-Ausgaben von 1977, 1985 und 1996 (Anm. 11, 19). Nur die Hinweise zu Bayers Nachlaß (Bayer 1966, S. 17f.) werden 1977, 1985 und 1996 zu ausführlichen Herausgeberangaben ausgegliedert. Einige Passagen dieses Bayer-Vorworts von 1965/66 verarbeitete Rühm 1967 in seinem wirkungsmächtigen Vorwort zur Anthologie Die Wiener Gruppe (Rühm 1967/1985 [Anm. 1]): Bayer 1966, S. 8, ging in Rühm 1967/1985, S. 9 und 7, ein; S. 9f. in S. 7f., 10–14; S. 10f. in S. 17, 22, 25; S. 12 in S. 26f. und 28f.; S. 13 in S. 20, 30, 33; S. 14f. in S. 33f.; S. 17 in S. 33f. und S. 36. – Rühms Vorwort zu Konrad Bayer: der sechste Sinn. Roman. Hrsg. von Gerhard Rühm. Reinbek 1969 (ebenda, S. 7–12) ist kompiliert aus seinem Bayer-Vorwort von 1965/66 und seinem Anthologie-Vorwort von 1967. Obwohl die Anthologie sich gut verkaufte (vgl. Anm. 17) und ein größeres interessiertes Publikum fand, dauerte es 18 Jahre, bis sie, über lange Zeit vergriffen, wieder aufgelegt wurde. Nachwort zu Rühm 1985 (Anm. 1), S. 595. Dies trägt aber auch der Tatsache Rechnung, daß zwischen 1967 und 1985 bereits Einzelveröffentlichungen der Gruppenmitglieder erschienen waren und Rühm sich bemühte, keine Doppelabdrucke zu bieten. Becker 1999 (Anm. 15), S. 129.
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„mit dem kernstück des ,vitus bering‘“.25 Im Nachwort erklärt Rühm die komplexe Handschriftensituation und sein editorisches Vorgehen als „gewissenhafte[r] herausgeber“.26 Tatsächlich erläutert und problematisiert er seine Gattungszuordnungen27 und Eingriffe. Fragwürdig sind seine Kriterien da, wo er sich als ,sympathetischer Editor‘ betätigt und „im sinne konrad bayers (wie ich seine argumentationen von unzähligen diskussionen und gemeinschaftsarbeiten zu kennen glaube)“ handelt, weshalb er auch bei den „lesarten“ nur die „von interesse“ angibt.28 Gewiß ist so nur, daß wir es bei dieser und allen nachfolgenden Bayer-Ausgaben, die es längst zu Referenzausgaben gebracht haben, bis zu einem uns unbekannten, nur an den Originalen zu verifizierenden Grad29 mit ,Bayer made by Rühm‘ zu tun haben.30 Die Serie der Bayer-Werkausgaben nutzte Rühm aber auch, seine Deutungshoheit über die Wiener Gruppe und sein dichtes Verweisnetz auszubauen. Im Bayer-Gesamtwerk von 1977 etwa fehlt Bayers Aufsatz hans carl artmann und die wiener dichtergruppe, weil er „ein etwas korrekturbedürftiger rückblick“ sei, „zumal inzwischen eine ausführliche darstellung des themas im rowohlt-paperback ,die wiener gruppe‘“ vorliege – also just Rühms Vorwort.31 Insgesamt viermal verweist Rühm auf seine Anthologie und stellt bereits 1976/77 deren Erscheinen „in erneuerter Form“ in Aussicht.32 Diese Verweisungsstrategie wird 25
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Rühm: nachwort zu der gesamtausgabe. In: Bayer 1977 (Anm. 11), S. 447–451, hier S. 447. Wiederabgedruckt in Bayer 1985 (Anm. 19), Bd. 2, S. 369–373, und in Bayer 1996 (Anm. 19), S. 820–824. Rühm in Bayer 1977 (Anm. 11), S. 448. Ebenda, S. 448–450. Bei Bayer habe es wie „bei den anderen exponenten der ,wiener gruppe‘ [...] natürlich auch [...] übergangs- und zwischenformen“ gegeben (ebenda, S. 448), so daß Rühm in seinen Bayer-Ausgaben von 1966 (Anm. 11) und 1977 (Anm. 19) die Rubrizierung nur als Leitlinie erläutert. In den Bayer-Ausgaben von 1985 und 1996 (Anm. 19) aber sah er sich gezwungen, „auf das bei den arbeiten bayers eher fragwürdige mittel der gliederung nach gattungen“ zurückzugreifen und als Bandstruktur durchzuführen, „um die fülle der einzeltitel überschaubar zu machen“ (Bayer 1985 [Anm. 19], S. 375; vgl. ebenda, Bd. 1, S. 359–363, und Bd. 2, S. 383f.; vgl. Bayer 1996 [Anm. 19], S. 847). Dies ist bezeichnend für den gewissenhaften Vollständigkeitswillen Rühms, der so zugleich eine zunehmende Kanonisierung der nachgelassenen Texte Bayers zum ,Werk‘ und eine Verstärkung von Rühms editorischem Zugriff bewirkt. Rühm rechtfertigt dies mit dem Hinweis, eine vollständige Wiedergabe der Lesarten „hätte das buch unverhältnismäßig belastet und sicher auch nicht den vorstellungen konrad bayers entsprochen“ (Rühm in Bayer 1977 [Anm. 11], S. 448). Da der Bayer-Nachlaß bis heute in Privatbesitz ist (entweder im Archiv Steiger/Bayer, Wien, oder bei Gerhard Rühm) – mit wenigen Ausnahmen: Einen kleinen Bestand kann man im Österreichischen Literaturarchiv Wien einsehen: Vorwort zum kopf des vitus bering (ÖLA 175/02: Sammlung Konrad Bayer 1, Zugangsdatum: 2002), der stein der weisen (ÖLA 190/02: Sammlung Konrad Bayer 2, Zugangsdatum: 2002), der die mann (ÖLA 259/05: Sammlung Konrad Bayer 3, Zugangsdatum: 2005). Vgl. Bayer 1985 (Anm. 19), Bd. 2, S. 374–377, und Bayer 1996 (Anm. 19), S. 829f. Bayer 1977 (Anm. 11), S. 450. Auch die „sehr verkürzte und modifizierte form dieses aufsatzes von konrad bayer in englischer sprache unter dem titel ,the vienna group‘ in ,the times / literary supplement‘ no. 3,262 september 3, 1964“ ist nicht abgedruckt (ebenda, S. 450f.) Ebenda, S. 449–451. Rühm schrieb das Nachwort bereits „köln, im oktober 1976“ (ebenda, S. 451).
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in den Nachworten zu den Bayer-Ausgaben von 198533 und 1996 fortgeführt. Da die „überarbeitete Neuausgabe“ von 1996 alle Nachworte Rühms abdruckt, wird hier auf 11 Seiten insgesamt 10 Mal insistent auf die Anthologie und Rühms Vorwort verwiesen.34 Inzwischen hatte die Forschung begonnen, u.a. aufgrund von Bayers anderweitig erschienenem Aufsatz hans carl artmann und die wiener dichtergruppe Rühms Deutungshoheit über die Wiener Gruppe zu unterlaufen.35 So sah sich Rühm 1985 und 1996 zwar veranlaßt, endlich diesen Aufsatz in seine Bayer-Ausgaben aufzunehmen – und zugleich mit einem ausführlichen Kommentar zu begleiten, denn Bayers Text habe „zu einigen mißverständnissen bei rezensenten und literaturhistorikern anlaß gegeben“.36 Rühms Kommentar läßt sich als Gegendarstellung und als Versuch lesen, die Deutungshoheit wiederzuerlangen37 – allerdings lassen sich einige seiner Darstellungen durch Angaben anderer Gruppenmitglieder, Artmanns und durch andere Dokumente bestätigen. Auffallend bleibt, daß Rühm in diesem Kommentar speziell Artmanns Rolle ins Visier nimmt, seine Dominanz in Bayers Text,38 seine Grup33 34 35
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Bayer 1985 (Anm. 19), Bd. 2, S. 374–377. Bayer 1996 (Anm. 19), S. 820–831. Bayers hans carl artmann und die wiener dichtergruppe war erschienen in der Zeitschrift werkstatt aspekt 1/1964 und erneut in H. C. Artmann: ein lilienweißer brief aus lincolnshire. gedichte aus 21 jahren. Hrsg. von Gerald Bisinger. Frankfurt/Main 1969, S. 7–16. Vgl. zu den Forschungen z.B. Janetzki 1982 (Anm. 7), S. 9–26, 159; Becker 1999 (Anm. 15), S. 133–135; Melitta Becker: Philander contra Laertes? Geschichten und Legenden um H. C. Artmann und die Wiener Dichtergruppe(n). In: Gerhard Fuchs und Rüdiger Wischenbart (Hrsg.): H. C. Artmann (= Dossier 3). Graz und Wien 1992, S. 47–73; Gisela Steinlechner: Starker Toback aus Wien. Zu den literarischen Experimenten und Aktionen der ,Wiener Gruppe‘. In: Der Deutschunterricht 5/1995, S. 69–83, hier S. 70. – Dabei fällt u.a. auf, daß – entgegen dem leicht polemischen Ton etwa bei Wiener – Rühms Darstellung sich neutraler ausnimmt; auch grenzt Wiener sehr viel deutlicher Artmann aus der Wiener Gruppe, so wie er sie versteht, aus. Dazu ist interessant zu bemerken, daß Bayer Artmanns Loslösung von der Wiener Gruppe auf einen tieferen Konflikt zwischen Wiener und Artmann zurückführt, auf regelrechte ,Thronstreitigkeiten‘ und auf die ,Machtübernahme‘ Wieners als Theoretiker (Bayer 1985 [Anm. 19], S. 355; Bayer 1996 [Anm. 19], S. 723). Gerade der Vorstellung, ein Gruppenmitglied habe jemals „die führung“ innegehabt, bestritt Rühm wiederum in seinem Kommentar zu Bayer (Bayer 1985 [Anm. 19], S. 347f.; Bayer 1996 [Anm. 19], S. 817). Vgl. dazu Anm. 41 und Becker 1992, S. 59f., 62. Bayer 1996 (Anm. 19), S. 814. – Für seine Gegendarstellung holt sich Rühm sogar noch postum das Einverständnis Bayers. Dieser habe „seinen aufsatz selbst durchaus als vorläufig und ergänzungsbedürftig angesehen und die berechtigung gewisser einwände, die ich machte, ohne weiteres konzediert. Er animierte mich sogar, sie zu papier zu bringen und als korrekturen aus meiner sicht [...] zu veröffentlichen. Sein plötzlicher tod schien mir ein rechten um details, um formulierungen nicht mehr zuzulassen – ich hätte es wie ein reden in den leeren raum empfunden, dessen stille alles übertönt.“ (Ebenda, S. 814f.). Ebenda, S. 815f.: „heute, zwanzig jahre später [nach Bayers Tod], da die wellen der rezeptionsgeschichte bereits die ,wiener gruppe‘ bespülen, finde ich es erlaubt und sogar angebracht, zu dem aufsatz bayers, wo sich aus meiner optik verschiebungen zeigen, im allgemeinen und im besonderen kurz stellung zu nehmen.“ Rühm moniert, zu Recht, bei Bayer ein „proportionales mißverhältnis“ zwischen „mehr als fünf seiten“ für die „zeit bis 1958“, also mit Artmann, und nur „einer knappen halben seite für die letzten sechs jahre“, obwohl sie „doch gerade [...] die am intensivsten gemeinsamen der ,wiener gruppe‘ waren.“ Rühm erwähnt z.B. die beiden literarischen cabarets, die operette der schweißfuß sowie die Aufführung der kinderoper (Ebenda, S. 816).
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penzugehörigkeit39 und seinen Einfluß auf Bayer.40 Und deutlich wird an Bemerkungen Rühms zu Bayers vorübergehendem „ausschluß“, wie genau die Gruppe auf ihren differentiellen Wert im literarischen Feld achtete und über Gruppendisziplin nach innen und Abgrenzung nach außen ihre Identität bezog.41 Ganz auf der Linie seiner ceterum-censeo-Strategie beendet Rühm seinen Kommentar mit einem Hinweis auf seine informativ überlegene Wiener GruppeAnthologie.42 Und er verdichtet sein Deutungsnetz dadurch, daß er reziprok in der Anthologie von 1985 auf die gleichzeitig erschienene Bayer-Werkausgabe, auf Bayers Aufsatz und „meine anmerkungen dazu“43 verweist. Im Laufe der 80er und 90er Jahre erscheinen mehrere Aufsätze Rühms zur Wiener Gruppe, die das berühmte Vorwort teilweise übernehmen, verkürzen oder erweitern – der von Rühm initiierte Diskurs wird prolongiert. Ich beschränke mich auf einige signifikante Akzentverschiebungen. 1980 und 1987 fokussiert Rühm in zwei Aufsätzen zu den „gemeinschaftsarbeiten“ der Wiener Gruppe44 auf die Gruppenbildung und forciert auf weit grel39 40
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Ebenda, S. 815f. Die „so anderen positionen, wie achleitner, wiener und ich sie damals vertraten,“ hätten Bayer „entscheidend“ geholfen, „den einfluß artmanns zu neutralisieren und seinen unverkennbar eigenen stil zu finden.“ (Ebenda, S. 815). Rühms Korrektur zweier „in jedem fall korrekturbedürftig[er]“ Personalia ist überaus aufschlußreich in Bezug auf die internen gruppendynamischen Abläufe: Es habe nie einen „sturz artmanns“ gegeben, da kein Gruppenmitglied je die „führung“ innegehabt habe (vgl. Anm. 35), und auch Bayers vorübergehender „ausschluß“ – er hatte sich vom phantastischen Realisten Regschek porträtieren lassen, was „mit unserer künstlerischen moral nicht vereinbar“ war – sei am nächsten Tag schon wieder vergessen gewesen. Man habe bei dieser Gelegenheit darüber diskutiert, „wie weit der einzelne in seinem verhalten die gemeinsame strategie berücksichtigen müsse beziehungsweise der gruppe förderlich sein könne“; dies „betraf“ eben „auch die beteiligung an ,gemischten‘ publikationen und veranstaltungen und die enge des kontakts zu anderen ,cliquen‘ [...].“ (Ebenda, S. 818) Ein weiterer korrigierter Punkt betrifft die Weigerung, in Artmanns publikationen zu veröffentlichen: Wieland Schmidts „aufsatz über das mythologische in der zeitgenössischen dichtung“ habe „geradezu eine gegenposition zu unserer“ entworfen. Eine Beteiligung hätte den „eindruck stillen einverständnisses erwecken können – dieser fehldeutung wollten wir uns nicht aussetzen.“ (Ebenda, S. 817). Ebenda, S. 818. Nachwort zu Rühm 1985 (Anm. 1), S. 595. Gerhard Rühm: zur „wiener gruppe“ in den fünfziger jahren – mit bemerkungen zu einigen frühen gemeinschaftsarbeiten. In: Jörg Drews (Hrsg.): Vom „Kahlschlag“ zu „movens“. Über das langsame Auftauchen experimenteller Schreibweisen in der westdeutschen Literatur der fünfziger Jahre. München 1980, S. 62–89, und Gerhard Rühm: zu gemeinschaftsarbeiten der „wiener gruppe“. In: Walter-Buchebner-Gesellschaft (Hrsg.): die wiener gruppe. Wien, Köln, Graz 1987, S. 187–208. Die Unterschiede zwischen dem Aufsatz von 1980 und dem von 1987 bestehen vor allem in a) konkreteren Datierungen in der Version von 1987, b) Kürzungen von zitierten Originaltexten in der Version von 1987 (vgl. Rühm 1980, S. 69f. vs. Rühm 1987, S. 192; Rühm 1980, S. 79f. vs. Rühm 1987, S. 202; Rühm 1980, S. 86f. und 89 vs. Rühm 1987, S. 207f.) und vor allem c) in drei Passagen, die 1987 hinzukommen und detailliert eingehen auf die „konstruktionsunterlagen zum ,fliegenden holländer‘“, Bayers Nachlaß, die Methode der Konstruktion und das erste märchen für erwachsene (Rühm 1987, S. 193f.), die Entstehungsbedingungen der mustersternwarte und den Drogenkonsum (ebenda, S. 200) sowie – wichtigste Ergänzung gegenüber 1980 – die „happenings“ oder „aktionen“ der Wiener Gruppe, die sie in die Genealogie der österreichischen Avantgardekunst einordnen (ebenda, S. 203; vgl. Anm. 47).
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lerer Folie45 die Ausgrenzung der Wiener Gruppe und ihren Zusammenschluß als wörtlich überlebensnotwendig.46 Damit verschärft er einerseits wirkungsvoll den Kontrast zwischen der aktiven Wiener Gruppe als heroischer Avantgarde und ihrer postumen Darstellung als inzwischen anerkanntem Markenzeichen. Andererseits nutzt Rühm letzteres in seinem Aufsatz von 1987, um die Wiener Gruppe nun nachträglich in die Genealogie der österreichischen Moderne einzuordnen als Antizipatorin der Happenings und des Wiener Aktionismus‘.47 Es zeugt vom Erfolg des Diskursbegründers und -dirigenten Rühm,48 daß sich diese genealogische Einordnung in den 90er Jahren in der Forschung endgültig etabliert.49 1992 nimmt er diesen Aufsatz wortwörtlich in seinen Beitrag von der ,wiener gruppe‘ zum berliner kreis auf und greift auf das inzwischen anerkannte Markenzeichen ,Wiener Gruppe‘ zurück, um das neue Markenzeichen ,Berliner Kreis‘ zu lancieren. Auch dieser Aufsatz wird in sein Verweisnetz und die ,interne‘ Kanonisierung der Wiener Gruppe-Anthologie integriert durch expliziten Hinweis „auf die noch greifbare neuausgabe der von mir im rowohlt verlag herausgegebenen dokumentation“.50 Außerdem erschien der Beitrag in einem publikumswirksamen Rahmen, nämlich dem ,steirischen Herbst. Festival der Neuen Kunst‘. Hier beginnt die für die 90er Jahre deutliche Tendenz, daß – nach der Anerkennungs- und Kanonisierungsphase in den 70er und 80er Jahren – der Diskurs über die Wiener Gruppe nun das eroberte literarische Feld überschreitet und sich in Richtung Kunst ausdehnt (graue Unterlegung in der Tabelle im Anhang).51 45 46
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Rühm 1980 (Anm. 44), S. 62–64, und Rühm 1987 (Anm. 44), S. 187f. Hieß es im Anthologie-Vorwort noch: „in einer atmosphäre von ignoranz und wütender ablehnung war man aufeinander angewiesen, um nicht ganz isoliert zu sein“ (Rühm 1967/1985 [Anm. 1], S. 7), so heißt es jetzt: „da lebten wir nun, ein häufchen solcher ,irrsinniger‘ und ,scharlatane‘, krebsgeschwür am gesunden volkskörper, gefährliche schädlinge – [...] aber wir formierten uns. In einer zeit, in der alles nur irgend neue in der kunst wüst beschimpft und verhöhnt wurde, ging es ums schlichte überleben: man mußte sich zusammenschließen.“ (Rühm 1980 [Anm. 44], S. 63; Rühm 1987 [Anm. 44], S. 188) Und da das Thema dieses Aufsatzes vor allem die ,gemeinschaftsarbeiten‘ sind, arbeitet Rühm noch stärker heraus, daß sich „nicht zuletzt aus dem unverständnis und der ablehnung ringsum ein exklusives gemeinschaftsgefühl“ entwikkelte, „das – bei allem individualismus jedes einzelnen von uns – schließlich zu einem selbstverständnis als gruppe führte.“ (Ebenda, 1980, S. 65; ebenda, 1987, S. 189) Da 1987 die ,wiener gruppe‘ ein anerkanntes ,Markenzeichen‘ ist, kann Rühm resümieren: „die in wechselnder besetzung produzierten gemeinschaftsarbeiten waren ein spezifikum der ,wiener gruppe‘ [...] und [ließen] [...] eine art gruppenprofil erkennen.“ (Ebenda, 1987, S. 190). Die beiden literarischen cabarets wären „happenings“ gewesen, und ihr „einfluß [...] auf den ,wiener aktionismus‘“ sei von dessen „exponenten mehrmals bekundet“ worden (ebenda, S. 203). Vgl. Anm. 44. Schließlich nutzt Rühm als Herausgeber eines Bandes, der die Beiträge des Konrad-BayerSymposions in Wien 1979 zusammenfaßt, die Möglichkeit, im Nachwort in einigen Details Gegendarstellungen zu den Bandbeiträgen festzuhalten: Gerhard Rühm (Hrsg.): Konrad Bayer Symposion Wien 1979. Linz 1981, S. 89–91. Vgl. Becker 1999 (Anm. 15), S. 145. Gerhard Rühm: von der ,wiener gruppe‘ zum berliner kreis. texte, aktionen, grenzüberschreitungen. In: Otto Breicha, Hubert Klocker (Hrsg.): Miteinander. Zueinander. Gegeneinander. Gemeinschaftsarbeiten österreichischer Künstler und ihrer Freunde nach 1950 bis in die achtziger Jahre. Klagenfurt 1992, S. 13–48, hier S. 35.
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Die zweite Tendenz der 90er Jahre ist der Ausgriff in internationale Kontexte, verbunden mit prominenter medialer Präsenz (graue Unterlegungen in der Tabelle). Im Kontext eines Internationalen Kolloquiums in Paris z.B. erschien 1995 eine stark gekürzte französische Version des Anthologie-Vorworts in der wichtigsten Germanistikzeitschrift Frankreichs.52 Deren Herausgeber schreiben Rühms Darstellung nun auch international den Status der Repräsentativität zu und setzen die von ihm initiierte, in der Germanistik inzwischen etablierte Verweisstrategie auf das originale Vorwort fort.53 Einen Spitzenwert internationaler medialer Präsenz und symbolischen Kapitals erreichte die Wiener Gruppe dann 1997, als eine Wiener Gruppe-Ausstellung bei der Biennale in Venedig als offizieller „österreichischer Beitrag“ präsentiert wurde – im Auftrag der Kunstsektion des Bundeskanzleramts.54 Die einstmals ausgegrenzte, erfolglose Avantgarde schießt über den Maximalwert offizieller Anerkennung im literarisch-kulturellen Feld hinaus und wird nun zur Repräsentantin österreichischen Selbst-Verständnisses nach außen nobilitiert. Sie wird „Repräsentations- und Ausstellungsobjekt einer österreichischen künstlerischen Identität, die sich aus der Tradition der Moderne begreift“.55 Mit der Biennale und dem aufwendigen Katalog auf Englisch und Deutsch erreichte die Wiener Gruppe endgültig internationales Renommee.
3. ,Transliterarische‘ Literatur und Performance – Avantgarde und Publikation Die Wiener Gruppe behandelte und kritisierte Sprache als universales Modell der Wirklichkeits-Konstruktion. Sie expandierte daher in andere Medien wie Bildkunst, Fotografie, Film, Musik, begründete neue Kunstformen wie Aktionen und Happenings („schlichte Begebenheiten“56) und transgredierte gerade darin am extremsten den damaligen ästhetischen Konsens. Ihre Öffentlichkeitswirksamkeit, ihre Wahrnehmung als Gruppe und ihr Erregungspotenzial waren essentiell mit diesen performativen, transitorischen Kunstformen verbunden, nicht mit den Printmedien Buch oder Zeitschrift.57 Daß aber gerade die druckbaren 51
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Die Wiener Gruppe ist jetzt ,staatlich anerkannt‘: Der Sammelband des ,steirischen herbstes‘ wurde laut Impressum gefördert mit Mitteln des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht und Kunst. Gerhard Rühm: Le phe´nome`ne du „Groupe de Vienne“ dans la Vienne des anne´es cinquante et soixante. In: E´tudes germaniques 50/1995. H. 2, S. 301–318. Basiert auf einem Autograph Rühms: „Traduction d’apre`s le manuscrit de Gerhard Rühm par Franc¸oise Lartillot“ (ebenda, S. 301). Das Vorwort wird ebenda empfohlen als „tableau plus exhaustif“ („ausführlichere Darstellung“). Vgl. Impressum von Weibel 1997 (Anm. 3), S. 14. Becker 1999 (Anm. 15), S. 134. So der ,Waschzettel‘ zu dem 2. literarischen cabaret. In: Rühm 1967/1985 (Anm. 1), S. 419. Nur wenige engagierte, aber kurzlebige Zeitschriften brachten vereinzelte Textproben. Vgl. ebenda, S. 23f., 29f., 32–34.
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literarischen Arbeiten der Wiener Gruppe – dank Rühm – gut dokumentiert waren, hat – so Biennale-Kurator Weibel – eine verengte Wahrnehmung bewirkt. Daher bot der Biennale-Katalog die visuellen Arbeiten und die Aktionen der Wiener Gruppe, denn gerade ihr transgressives Werk sei der „vielleicht entscheidendste moment der moderne in österreich nach 1945“.58 Hinter der Fokussierung auf das literarische Werk steht aber nicht einfach Rühm als Diskursdirigent, sondern zunächst ein ,technisches‘ Dilemma: das der Speichermedien unserer Kultur. Rühm betonte in seiner Anthologie ausdrücklich die technischen Zwänge,59 sich 1967 auf literarische Arbeiten beschränken zu müssen. Und auch 1985 konnte er zwar visuelle Gemeinschaftsarbeiten wiedergeben (fenster und kind und welt. ein bilderbuch), mußte jedoch erklären, was der Rezipient sich immer noch „hinzuzudenken“ habe, u.a. am Ende von kind und welt einen „wirklichen spiegel“, der ihm „einen vergleich der abgebildeten menschen [...] erlaubt“, sowie die Parfümierung der Einzelblätter.60 Der Biennale-Katalog bringt diese Arbeiten (ohne Spiegel oder Parfum61) und viel neues Material zu den Aktionen der Wiener Gruppe. Bleibt die Frage, warum Oswald Wieners Text über die literarischen cabarets fehlt und warum genau jene stark verkürzte, zuvor in Frankreich publizierte Version von Rühms Vorwort abgedruckt ist,62 in der just die anschaulichen Beschreibungen von immerhin sechs Aktionen63 und Artmanns acht-punkte-proklamation des poetischen akts64 fehlen sowie die Beschreibung des Produktionsprozesses bei Grup58 59
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Weibel 1997 (Anm. 3), S. 15. Nachwort in Rühm 1985 (Anm. 1), 595f.: Dem „umfang des bandes“ von 1969 waren „nicht zuletzt technische grenzen gesetzt [...] (paperback!)“ und die „wiedergabe“ von fenster und kind und welt. ein bilderbuch „wäre 1969 noch schwierig gewesen und hätte den band stark verteuert; inzwischen haben sich die reproduktionsverfahren so weit entwickelt, daß es damit keine probleme mehr gibt. allerdings verlieren die originale manches durch die verkleinerung aufs buchformat und den verzicht auf einige besonderheiten [...].“ Ebenda, S. 596. Auch auf die fehlende Farbigkeit des Papierfetzchens, das die Produktion von fenster auslöste, und auf die typographische Distribution in den Originalen ging Rühm ein. Immerhin reproduziert Weibel – anders, als dies Rühm in seiner Anthologie von 1985 konnte – die letzte Seite des Originalmanuskripts von kind und welt quasi als Platzhalter ab, denn dort steht „SPIEGEL (SPIEGELFOLIE) / ALS EINZELPUBLIKATION SOLLTEN DIE BLÄTTER GUT PARFÜMIERT SEIN“ (Weibel 1997 [Anm. 3], S. 293). Gerhard Rühm: the phenomenon of the ,wiener gruppe in the vienna of the fifties and sixties / das phänomen ,wiener gruppe‘ im wien der fünfziger und sechziger jahre. In: Weibel 1997, S. 16–29. Diese Fassung ist eben nicht nur eine gegenüber Rühm 1967/1985 (Anm. 1) „leicht überarbeitete“ Vorlage (ebenda, S. 784). Von der „ersten poetischen demonstration“, „une soire´e aux amants fune`bres“ werden die Beschreibung des Dekors, die Route der Prozession sowie deren Ablauf gekürzt, die „,macabren‘ feste“ und „,poetischen acte‘“ in memoriam to a crucified glove und soiree mit illuminierten vogelkäfigen fehlen (Rühm 1967/1985 [Anm. 1], S. 10–12, vs. Weibel 1997 [Anm. 3], S. 19), der Auszug aus dem Lokal ,exil‘, der spontan zu einer provokanten Demonstration wird – etwa dem Übertönen der Walzerseligkeit am Stephansdom durch New-Orleans-Rhythmen (Rühm 1967/1985, S. 21, vs. Weibel 1997, S. 21). Es fehlen die Beschreibungen des „,flagellomechanischen manifests‘“ und der Aktionslesungen von Wiener, Bayer und Rühm im Januar 1960 in der ,galerie junge generation‘ (Rühm 1967/1985, S. 25, 31, vs. Weibel 1997, S. 25, 29). Auch diese Version vermindert auffallend die Rolle Artmanns – u.a. schrumpft seine acht-punkte-
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penarbeiten, die doch ihre eigenen Performancequalitäten hatten und die Spezifizität der Wiener Gruppe als Avantgarde ausmachten65 (darunter ausgerechnet die Genese von fenster und kind und welt).66 Sollten hier – statt der Beschreibungen – die Arbeiten für sich selbst sprechen? Nun, Paradox und Clou des österreichischen Biennale-Beitrags: Die ,Ausstellung‘ selbst bestand in einer Anhäufung der Kataloge, mitnichten in einer Präsentation der Performances – Hinweis auf ihre prinzipielle nachträgliche Undarstellbarkeit? Speziell die Performances, da transitorisch, waren ja schon in den 50er und 60er Jahren nur im schwachen Abglanz zu dokumentieren: in den Textvorlagen der Performances, in vereinzelten Fotos und – eben – in nachträglichen Beschreibungen Rühms und Wieners. Die Identität des ,poetischen Aktes‘ a` la Artmann, a` la Wiener Gruppe bleibt, wie jede Performance, gebunden an den Moment seiner Ausfüh-
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proklamation des poetischen akts auf einen Satz, obwohl eigentliches Gründungsmanifest gerade der aktionistischen, die Werkästhetik sprengenden Arbeiten der Wiener Gruppe (Rühm 1967/1985 [Anm. 1], S. 9f., vs. Weibel 1997 [Anm. 3], S. 19). Weibel druckt zwar wenig später, isoliert, die proklamation ab (Weibel 1997, S. 55), aber der Zusammenhang mit der „ersten poetischen demonstration“, „une soire´e aux amants fune`bres“ geht so verloren (vgl. Rühm 1967/1985, S. 9–11). Es fehlen außerdem Artmann als „leiter & initiator“ eines geplanten literarischen Theaters in einem von ihm gefundenen „labyrinthischen keller“ sowie das lange Zitat seines Manifests gegen Österreichs Wiederbewaffnung (Rühm 1967/1985, S. 11f., 18–20, vs. Weibel 1997, S. 19, 21). Gestrichen sind etliche Einzelsätze oder Absätze, die auf Erfolge Artmanns hindeuten, selbst sein „bestseller“ med ana schwoazzn dintn wird in der gekürzten Fassung lediglich zum „buch“ (Rühm 1967/1985, S. 24f., vs. Weibel 1997, S. 25). Es fehlt auch die dezidierte Abgrenzung und Mini-Gruppenbildung Achleitner-Rühm-Wiener gegen Artmann anläßlich des Rückzugs aus den publikationen, die Artmann wiederzubeleben versuchte (vgl. Anm. 41), noch 1967/1985 mit der Rechtfertigung „schliesslich waren wir keine atavisten. mystifikation, symbolismus und metaphorik waren uns zuwider – wohl der punkt, an dem wir mit artmann nicht immer übereinstimmten“ (Rühm 1967/1985, S. 25, vs. Weibel 1997, S. 25). – Gestrichen ist außerdem das „ansehen“, das Artmann in „aufgeschlossenen kreisen [...] besaß“, und daß er in der österreichischen Kulturzeitschrift Neue Wege im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern der Gruppe „schon mehrmals publiziert“ hatte; sogar bei Artmanns Loslösung von der Gruppe 1958 fehlt in der gekürzten Version der Hinweis auf den Anlaß, nämlich „der überraschende erfolg der ,schwoazzn dintn‘“ (Rühm 1967/1985, S. 26; vgl. Weibel 1997, S. 27). So die spontane Entstehung von fenster auf Wieners und Rühms Bahnfahrt nach Seckau sowie ihre gemeinsame Produktion des „großformatigen bilderbuchs ,kind und welt‘“, eine Kombination aus Fotos und Texten, das mit fenster zusammen gerade den bedeutendsten Nachtrag in der Neuausgabe der Anthologie bildete (Rühm 1967/1985 [Anm. 1], S. 26f., vs. Weibel 1997 [Anm. 3], S. 27. Vgl. Rühm 1985, S. 505–526 und S. 527–584). Es fehlt Achleitners, Bayers, Wieners und Rühms gemeinsames „Kotzen“ der ,kinderoper‘ „in zwei nächten“, wobei sie „fast in eine art trance“ verfielen (Rühm 1967/1985, S. 27, vs. Weibel 1997, S. 27). Die verkürzte Version läßt außerdem die ersten Ansätze zu Publikationserfolgen weg, offenbar um den Underground-Status der Wiener Gruppe zu steigern. Es fehlt eine lange Passage über die doch sehr fruchtbare Phase gemeinsamer und individueller Dialektdichtung – wohl, weil es hier durchaus Achtungserfolge in der Presse gab und damit das Bild, die WG sei total ausgegrenzt worden, etwas relativiert worden war, so aber wird diese Ausgrenzung durch Weglassen von Teilerfolgen verschärft (Rühm 1967/1985 [Anm. 1], S. 20–22, vs. Weibel 1997 [Anm. 3], S. 21). Hierzu paßt, daß auch Passagen über immerhin 8 hoffnungsvolle Publikationsmöglichkeiten fehlen, die sich 1959–1961 gegenüber früher geradezu häufen, von denen sich 6 dann aber doch wieder zerschlagen, und daß auch Kontakte zur Sektion Kultur im Unterrichtsministerium abgeblendet bleiben (Rühm 1967/1985, S. 29, 32–35, vs. Weibel 1997, S. 27, 29).
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rung in einer singulären Situation und kann nur vom teilnehmenden Beobachter in der Erinnerung aufbewahrt werden. Angelegt auf Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit, sperren sich Performances daher prinzipiell gegen das mediale ,Speichern‘. Sie lassen sich in medialen Mortifikationen bestenfalls als ,approximativ überlieferbar‘ markieren. Wenn Avantgarde heißt, die jeweils herrschende Kultur und deren Praktiken zu sprengen, dann bedeutet dies in letzter Konsequenz, deren Speichermedien radikal zu unterlaufen, sich selbstverständlich dem Zugriff jeder Editorik und jeder Kanonisierung zu entziehen. Insofern schlössen sich Avantgarde und jede ,Publikation‘ jenseits der Performance aus ... Es wird daher spannend sein zu beobachten, wie das Gesamtwerk genau jenes – ehemaligen – Wiener Gruppe-Mitglieds ediert (und kanonisiert!) werden soll, das über die Wiener Zeit hinaus und bis heute transgressiv gearbeitet hat: Gerhard Rühms. Seit Frühjahr 2005 erscheint eine Gesamtausgabe seiner Werke – unter Beteiligung Rühms als ,Selbsteditor‘.67
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Gerhard Rühm: Gesammelte Werke. Hrsg. von Michael Fisch. Berlin 2005ff. (Bisher erschienen Bde. 1–3 in je 2 Teilbänden und 5). Siehe dazu den Beitrag von Michael Fisch im vorliegenden Band und Fischs editorischen Bericht in ebenda, Bd. I.2, S. 1279: „Der glückliche Umstand, daß diese Edition (von Oktober 2004 bis März 2005) in Zusammenarbeit mit dem Autor entstand, vereinfachte die Lage: Gerhard Rühm selbst bestimmte die Fassung letzter Hand. Als Editionsvorlage [...] diente daher entweder das vom Autor bestimmte Typoskript (TS) oder die vom Autor ausgewählte Druckfassung (Df) [...].“
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