Vera Volkmann Biographisches Wissen von Lehrerinnen und Lehrern
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Vera Volkmann
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Vera Volkmann Biographisches Wissen von Lehrerinnen und Lehrern
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Vera Volkmann
Biographisches Wissen von Lehrerinnen und Lehrern Der Einfluss lebensgeschichtlicher Erfahrungen auf berufliches Handeln und Deuten im Fach Sport
VS RESEARCH
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Universität Oldenburg, 2007
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © Deutscher Universitäts-Verlag und VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Christina M. Brian / Ingrid Walther Der Deutsche Universitäts-Verlag und der VS Verlag für Sozialwissenschaften sind Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.duv.de www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz und Layout: D.A.S.-Büro Schulz, Zülpich Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8350-7031-8
“The end-point of your journey emerges from where you start, where you go, and with whom you interact, what you see and hear, and how you learn and think. In short, the finished work is a construction-yours.” (Charmaz, 2006)
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis........................................................................... 7 1
Einleitung ............................................................................ 11
1.1 1.2 1.3
Problemaufriss......................................................................................... 11 Warum eine biographische Forschungsperspektive anlegen? ................. 13 Zentrale Fragestellungen und Anlage der Studie..................................... 17
2
Biographische Perspektiven auf (Sport)Lehrer/innen: Zum Stand der Forschung ................................................. 21
2.1
Pädagogische Professionalität als berufsbiographisches Entwicklungsproblem – Genese, Bedeutung und Kritik des Konzepts ... 22 Berufsbiographische Forschung .............................................................. 27 Fachspezifische Perspektiven .................................................................. 31 Fachspezifische Anschlüsse der Sportpädagogik .................................... 34 Forschung mit sozialisationstheoretischem Interesse .............................. 34 Forschung mit belastungstheoretischem Interesse................................... 37 Forschung zum beruflichen Selbstkonzept.............................................. 38 Forschung mit Vermittlungsinteresse ...................................................... 40 Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang von Lehrer/innen als konzeptioneller Anschluss für die eigene Untersuchung......................... 42 Bildungsgangforschung........................................................................... 43 Konzeptionelle Anschlüsse und Perspektivierung der eigenen Untersuchung........................................................................................... 46
2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.3.1 2.3.2
3
Theoretische und method(olog)ische Klärungen ............. 51
3.1 Zur forschungsparadigmatischen Einordnung ......................................... 52 3.1.1 Lebenslauf und Biographie – Reflexionen zur Systematik...................... 54 3.1.1.1 Entwicklung einer Forschungslandschaft ............................... 55 3.1.1.2 Zum Verhältnis von Lebenslauf und Biographie.................... 61 3.1.2 Einordnung der Arbeit............................................................................. 65 3.2 ‚Biographisches Wissen’ – Ein konzeptioneller Begriff ......................... 68
8
Inhaltsverzeichnis
3.2.1 Lebensgeschichtliche Erfahrungen und biographisches Wissen – Überlegungen zu Konstruktionsprinzipien .............................................. 70 3.2.2 Funktion für die empirische Analyse und Einordnung in die Arbeit....... 73 3.3 Grounded Theory als methodologischer Rahmen ................................... 76 3.3.1 Erhebung der ersten Daten: theoretical sensitivity als Schlüssel zum Feld .................................................................................. 78 3.3.2 Zirkularität im Forschungsprozess und permanenter Vergleich .............. 84 3.3.3 Wege zur theoretischen Sättigung: Kernkategorie und Bildung von Prototypen ............................................................................................... 89 3.4 Das biographisch-narrative Interview...................................................... 93 3.4.1 Ablauf und erzähltheoretische Implikationen.......................................... 94 3.4.2 Erzählung, Text und Leben – Ein Zusammenhang?................................ 99 3.5 Reflexionen zum eigenen Forschungsprozess ....................................... 104 3.5.1 Interviewsituationen und Sample .......................................................... 105 3.5.2 Auswertung ........................................................................................... 107 3.5.3 Forschungslogik versus Darstellungslogik – eine kurze Anmerkung.... 110
4
Empirischer Teil: Biographische Fallstudien ................ 113
4.1
Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung mit Fremdheitsgefühlen und Differenzerfahrungen (Rudolf Hinze) ................................................... 115 Kindheit und Jugend als ‚Die enge Welt’: „Damals war es irgendwie klein“ ..................................................................................................... 116 Wehrdienst und Berufswahl: Fremdbestimmte Entscheidungen ........... 129 Studium als Ausgang aus der Fremdbestimmtheit: ‚Die andere Welt’.. 134 Referendariat: Politisierung und Distanzierung..................................... 142 ‚Freie’ Berufsausübung und beruflicher Alltag als Kollision biographischer Wissensbestände mit schulischer ‚Realität’ .................. 145 Analytische Abstraktion ........................................................................ 154 Biographisches Wissen um gelungenen Sport als ‚Sozialisationsagent’ (Marlene Auerbach) ............................................ 157 Kindheit: Bewegungsfreude und Sportverein als sportliche Heimat ..... 158 Berufswahl: Vereinserfahrungen als Ressource für die Lösung des aktuellen biographischen Problems ....................................................... 160 Studium: Konfrontation mit dem Leistungsmotiv und ungelebtes Leben als Absicherung der ursprünglichen Orientierung ...................... 163 Referendariat: Lernen am biographisch anschlussfähigen Vorbild und Transformation biographischer Wissensbestände........................... 167 Ausgestaltung des Profils als Sportlehrerin und ‚freie’ Berufsausübung als Rückkehr zu den eigenen Wurzeln........................ 171
4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5
Inhaltsverzeichnis
9
4.2.6 Analytische Abstraktion ........................................................................ 175 4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung im Kontext eines lebensgeschichtlichen Phasenmodells (Corinna Landwehr)......... 178 4.3.1 Kindheit und Jugend als Findungsphase für die adäquate Rahmung von Sport – „Ich war schon gewöhnt, dass man etwas beigebracht kriegt“ ................................................................................ 179 4.3.2 Berufswahl und Studium: Einmündung in das Sportstudium als Folge ‚signifikanter Zufälle’.................................................................. 192 4.3.3 Referendariat als Phase des Transfers von Qualitätsmaßstäben für sportpädagogische Anleitungspraxis ..................................................... 197 4.3.4 Den eigenen Standpunkt entfalten: Ausgestaltung sportpädagogischer Konzepte und Reflexion beruflichen Alltags zur Sicherung von Qualität .................................................................... 202 4.3.5 Analytische Abstraktion ........................................................................ 211
5
Biographisches Wissen und Professionalisierung im Bildungsgang von Sportlehrerinnen und Sportlehrern ...................................................................... 215
5.1
Biographisches Wissen und die Typisierung seiner Anschlussverhältnisse............................................................................ 216 Der integrative Typus ............................................................................ 220 5.1.1.1 Berufsrolle und Einstellung zum Beruf ................................ 221 5.1.1.2 Lehrer/in-Schüler/innen-Verhältnis ...................................... 222 5.1.1.3 Sach- und Fachverständnis ................................................... 223 Der kontrastive Typus ........................................................................... 224 5.1.2.1 Berufsrolle und Einstellung zum Beruf ................................ 225 5.1.2.2 Lehrer/in-Schüler/innen-Verhältnis ...................................... 226 5.1.2.3 Sach- und Fachverständnis ................................................... 227 Der komplementäre Typus .................................................................... 228 5.1.3.1 Berufsrolle und Einstellung zum Beruf ................................ 229 5.1.3.2 Lehrer/in-Schüler/innen-Verhältnis ...................................... 230 5.1.3.3 Sach- und Fachverständnis ................................................... 230 Konsequenzen für die Sportlehrer/innen(aus)bildung? ......................... 232 Leitbild: Der „reflective practitioner“ ................................................... 233 Erste Phase: Perspektivenwechsel und biographische Arbeit zur Irritation sportlicher Habitnjs ................................................................. 238 Konzeptionelle Überlegungen für eine begleitete Berufseingangsphase ............................................................................. 243 Etablierung eines berufsbegleitenden Stützsystems .............................. 245
5.1.1
5.1.2
5.1.3
5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4
10
Inhaltsverzeichnis
Nachwort..................................................................................... 247 Literaturverzeichnis................................................................... 251 Anhang: Transkriptionsnotation.............................................. 269
1 Einleitung
„14. Dezember 2004. Und ganz plötzlich wird der Schulsport zu einem öffentlichen Thema. Die Landesvertretung von Rheinland-Pfalz in Berlin platzte aus allen Nähten, als die ersten Ergebnisse der sogenannten Sprint-Studie präsentiert wurden. Kamerateams gaben sich die Klinke in die Hand. Politiker waren da, darunter die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz – ausgerechnet jenes Bildungsolymps, der eine breit angelegte Schulsportstudie bislang verhindert hat. Und wer immer noch Zweifel daran hatte, daß ein jahrelang ignoriertes Thema nun doch den Weg auf die öffentliche Bühne fand, mußte am Abend nur seinen Fernseher einschalten. Selbst in den "Tagesthemen" wurde über die Mißstände im Sportunterricht an deutschen Schulen berichtet. (FAZ, 15.12.2004)“
Im Sog der PISA-Nachwirkungen rückt auch der Schulsport in den Fokus der Debatte um die Qualität von Schule und Unterricht in Deutschland und weckt öffentliches Interesse. In der Sportpädagogik hat eine entsprechende Auseinandersetzung jedoch bereits vor dieser Verschiebung des öffentlichen Interesses stattgefunden. Materielle und personelle Bedingungen für das Ge- und Misslingen von Sportunterricht, die adäquate pädagogisch/didaktische Grundlegung von Sport in der Schule sowie die Gestaltung einer angemessenen Ausbildung und Professionalisierung von Sportlehrkräften sind bereits seit Jahren Reflexionsinhalte sportpädagogisch/didaktischer Konzepte und Forschung. Die Bedeutung der lebensgeschichtlichen Vorerfahrungen für den Professionalisierungsprozess von Sportlehrer/innen bildet jedoch einen bisher eher vernachlässigten Forschungsbereich, obwohl das biographische Wissen der Sportlehrer/innen maßgeblichen Einfluss auf die grundsätzliche Perspektivierung ihres Professionalisierungsprozesses ausübt.
1.1 Problemaufriss In einschlägigen Veröffentlichungen zur Qualität des Schulsports (vgl. z. B. Landesinstitut für Schule NRW, 2002; Gogoll & Menze-Sonneck, 2005) setzt sich die Sportpädagogik im Hinblick auf die adäquate Gestaltung von Sportunterricht sowie von universitärer Sportlehrer/innenausbildung auf verschiedene Weise auseinander. So gibt es anspruchsvolle didaktische Konzepte, wie z. B.
12
1 Einleitung
das Konzept der Mehrperspektivität,1 aber auch Forschungsarbeiten, die sich mit der Qualität des Sportunterrichts befassen (vgl. zum Überblick Hummel & Schierz, 2006). Dabei gilt zu berücksichtigen, dass Sport als Schulfach innerhalb der institutionellen Logik von Schule und Unterricht sowie dem Fächerkanon einen prekären Status innehat. Diskussionen um die Abschaffung des Sportunterrichts oder aber seine ‚Herabsetzung’ als sogenanntes ‚weiches’ Fach im Vergleich zu anderen2, sind nur einige Bespiele für diese Situation, zu der auch der massive Stundenausfall im Fach Sport zu zählen ist, den die bereits eingangs angeführte SPRINT-Studie konstatiert hat. Die Qualität von Schule und (Sport)Unterricht hängt dabei, neben den Rahmenbedingungen, auch maßgeblich von den Handlungen und diese wiederum von den Kompetenzen der in der Schule agierenden Personen – nämlich den Sportlehrerinnen und Sportlehrern – ab (vgl. Terhart, 1999). Diese Qualitätsproblematik ist in der Sportpädagogik ein brisantes Thema. Denn es genügt nicht, nur über anspruchsvolle didaktische Konzepte zu verfügen. Gemeint sind insbesondere die schon in den 1970er Jahren entwickelten Konzepte von Kurz (1977) und Ehni (1977), deren Fokus der Mehrperspektivität auch in anderen Fächern Aktualität gewinnt.3 Vielmehr gilt es auch, Sportlehrer/innen so auszubilden, dass sie diese Konzepte für die Gestaltung ihres Sportunterrichts zu nutzen vermögen. Die Diskrepanz zwischen den Anforderungen der Konzepte und den Kompetenzen der Lehrer/innen ist in der Sportpädagogik bereits aufgegriffen worden. So ist 1981 in einer umfassenden Studie „(z)ur beruflichen Sozialisation von Sportlehrern“ (Baur, 1981) empirisch belegt worden, dass Sport auf besondere Weise biographisch eingebettet ist: „Die überwiegende Mehrzahl derjenigen, die das Studienfach Sport/Sportwissenschaft wählen, engagierte sich schon vorher im Sport. Der schulische Sportunterricht galt ihnen (wie vielen anderen Schülern allerdings auch) als Lieblingsfach. Sie machten die Erfahrung, daß sie im Schulsport gut mithalten oder sich durch überdurchschnittliche Leistungen hervortun konnten. Was ihnen nicht zuletzt durch gute Schulnoten in diesem Fach bestätigt wurde. Schon während ihrer Schulzeit waren die meisten von ihnen Mitglieder in Sportvereinen. Nicht wenige gehörten einer Wettkampfmannschaft an und betrieben (wahrscheinlich nicht ohne Erfolg) Leistungssport“ (Baur, 1995, S. 26f.).
1 2 3
Vgl. grundlegend dazu Ehni (1977) und Kurz (1977). Vgl hierzu auch die Bewertung des Sportunterrichts im Rahmen der aktuellen Entwicklung zu ‚Lehrerarbeitszeitkonten’ (Hamburg und aktuell NRW). Vgl. exemplarisch für den Chemieunterricht Born (1999) und für den Geschichtsunterricht Bergmann (1996).
1.2 Warum eine biographische Forschungsperspektive anlegen?
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Dass dieser Sachverhalt reflexionsbedürftig ist, um das Gelingen des Professionalisierungsprozesses zu befördern, ist in der Sportpädagogik ein ausführlich behandeltes Thema. So formulieren Balz & Kurz (1995) „Elf Regeln für das Studium der Sportwissenschaft“ (S. 7ff.), in denen sie unter anderem folgendes raten: „1. Reflektieren Sie Ihre bisherigen Erfahrungen im Sport mit Blick auf das gewählte Studienfach! (…) Denn ‚Sport studieren’ ist etwas anderes als ‚Sport treiben’ (…) Die Nützlichkeit sportlicher Erfahrungen hat dort ihre Grenzen, wo Sie nun im Rahmen Ihres Studienfachs umdenken müssen“ (Balz & Kurz, 1995).
Balz & Kurz verweisen damit auf einen wesentlichen Aspekt, der die Besonderheit der biographischen Einbettung sportlicher (Vor)Erfahrungen aufgreift: nämlich die Ambivalenz dieser (Vor)Erfahrungen hinsichtlich des Professionalisierungsprozesses durch ihre vermeintliche Anschlussfähigkeit an den sportpraktischen Anteil der universitären Sportlehrer/innenausbildung (vgl. hierzu auch Klinge, 2002). Es stellen sich die Fragen, wie unterschiedlich Professionalisierungsprozesse verlaufen können und ob und wie sie im Bildungsgang der Sportlehrer/innen gefördert werden. Welche Chancen eine biographische Perspektive für die Erhellung solcher Themenkomplexe bieten kann und warum eine solche Perspektive in dieser Arbeit als besonders relevant im Kontext der Professionalisierungsdebatte angesehen wird, soll nun erläutert werden.
1.2 Warum eine biographische Forschungsperspektive anlegen? „Teachers teach as they were taught, not as they were taught to teach.“
So lautet die provokante These Howard Altmanns (1983), mit der er auf die große Bedeutung verweist, die dem Zusammenhang von lebensgeschichtlichen Erfahrungen und dem beruflichen Handeln von Lehrer/innen zukommt. Durch die Erkenntnisse verschiedener Lehrer/innenforschungsprojekte ließ sich diese These dahingehend erhärten, dass der Beginn der Lehrerbildung spätestens in der eigenen Schulzeit gesehen werden kann (vgl. Dick, 1994; Dirks, 2000; Hansmann, 2001). Denn mit dem Eintritt in das Berufsleben als Sportlehrer/in wird zwar ein neues Kapitel in der eigenen Biographie aufgeschlagen; dieses geschieht jedoch – und im Wesentlichen ja auch gewollt – vor dem Hintergrund der bereits gesammelten Erfahrungen, sprich der eigenen Lebensgeschichte: Studium und zweite Ausbildungsphase sollen auf das neue Tätigkeitsfeld vorbereiten und
14
1 Einleitung
entsprechende Kenntnisse sowie Kompetenzen vermitteln, um die berufliche Praxis dann entsprechend gestalten zu können. Aber auch zu Beginn der Ausbildung ist die Person schon alles andere als ein ‚unbeschriebenes Blatt’. Vielmehr bilden die eigenen Kindheits- und Jugenderfahrungen bereits eine Art Hintergrundfolie für die (sport)pädagogischen Reflexionen. Gerade den lebensgeschichtlichen Erfahrungen mit und im Sport kommen daher im vorliegenden Kontext ein besonderer Stellenwert zu, denn bereits Sportstudierende verfügen schon zu Beginn ihres Studiums über ein „biographisch akkumuliertes Wissen“ (Alheit & Hoerning, 1989, S. 9) darüber, was den Gegenstand Sport und möglicherweise auch seine Vermittlung ausmacht. „Für viele Sportstudierende entwickelte sich der Sport (bereits vor Aufnahme des Studiums Anm. der Verf.) zu einem Lebensbereich, in dem sich die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen ausgesprochen positiv bilanzieren lassen: Dort kennen sie sich aus, haben Kompetenzen erworben und können Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen. Sie nehmen sich selbst als (meist gute) Sportler wahr und werden von anderen so gesehen. … Im Sport also können sie ihre Rolle als Sportler souverän spielen, in ihn bringen sie ein hohes Engagement ein, auf ihn konzentrieren sich ihre Interessen, ihm fühlen sie sich verbunden. Zugleich ist der Sport ein Lebensbereich, der auch insofern ‚positiv besetzt’ ist, als er mit Freizeit, Ausgleich und Abwechslung, mit Erlebnis, Spannung und Spaß assoziiert werden kann“ (Baur, 1995, S. 27).
Dieser subjektive Erfahrungshorizont wird nun bereits in das Studium ‚mitgebracht’ und dient als Interpretationsfolie für das Studium. Bedeutsam sind aber solche lebensgeschichtlichen Erfahrungen nicht nur im Sport, sondern auch generell als Erfahrungen mit Schule und Unterricht. Im Kontext der lebensgeschichtlichen Erfahrungen finden Habitualisierungsprozesse statt, die gleich einer Voreinstellung des Fokus’ den Blick auf das Studium, sowie auch später die eigene berufliche Praxis im Sinne einer Grundhaltung, beeinflussen. Für den Professionalisierungsprozess ist dieser ein wesentlicher Gesichtspunkt, da die Entwicklung einer professionellen Haltung durch diese Voreinstellungen behindert werden kann (vgl. auch Hericks, 2006, S. 415ff.). Anhand eines Ausschnittes aus Peter Bichsels Essay „Die Erinnerung an sich selbst“ soll illustriert werden, wie vielschichtig die Verknüpfung zwischen den sportlichen Vorerfahrungen und dem Professionalisierungsprozess ist. Bichsel schildert seine traumatischen Erlebnisse im Sportunterricht, insbesondere beim Weitsprung und Turnen. Schiere Verzweiflung treibt ihn schließlich dazu, sogar einen Tauschhandel mit Gott anzustreben: eine Note schlechter im Aufsatz und dafür zehn Zentimeter mehr im Weitsprung… Später selbst Primarstufenlehrer geworden, sieht er sich in der Situation, selbst Sport zu unterrichten und
1.2 Warum eine biographische Forschungsperspektive anlegen?
15
meint, auf Grund seiner eigenen Erfahrungen, mehr Verständnis für die nicht so Versierten zu haben. Aber irgendwann beschleichen ihn Zweifel: „Stimmt das? Haben Leidende Verständnis für Leidende? Ich hoffe, dass ich das hatte, aber ich erinnere mich, dass ich meine ganze Vernunft dafür einsetzen musste und dass meine Gefühle und meine Erfahrungen dafür nicht ausreichten. Im Gegenteil: Ich erinnere mich, wie langsam eine große Wut in mir aufkam, wenn ich einen so plump am Reck hängen sah, wenn es einer im Weitsprung überhaupt nicht schaffte. Ich habe ihn zwar nicht angebrüllt, aber vielleicht den nächsten oder übernächsten aus irgendeinem zufälligen Grund. Ich wollte nicht an mein eigenes Elend erinnert werden. Denn ich hatte es ja inzwischen geschafft, das Schülerelend hinter mich zu bringen. Ich hätte ja nun doch auch ein Recht darauf gehabt, es vergessen zu dürfen – nun wurde ich wöchentlich daran erinnert“ (Bichsel, 1981).
Auf eindrucksvolle Weise zeigt sich hier, wie lebensgeschichtliche Erfahrungen mit und im Sport Eingang in das berufliche Handeln und Deuten von Sportlehrer/innen finden. Obwohl dieser Zusammenhang dem Sportlehrer in dieser Situation bewusst ist und ihm auch die Auswirkungen durchaus reflexiv zugänglich sind, ist er nicht in der Lage, in eine emotionale Distanz zu seiner Vergangenheit zu gehen und eine professionelle Umgangsweise zu entwickeln, was jedoch im Sinne gelingender Professionalisierung wünschenswert wäre. Was dieses, der schulischen Alltagswirklichkeit entliehene Beispiel illustriert, ist der Zusammenhang zwischen Lebensgeschichte und Beruf bei Sportlehrer/innen, oder genauer gesagt, zwischen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und ihrem Eingang in die berufliche Praxis. Die Biographie einer Sportlehrkraft scheint mithin nicht ‚spurlos’ neben dem Berufsleben herzulaufen. Es entfaltet sich hier vielmehr das Bild einer Verwobenheit zwischen den verschiedenen Erfahrungsbereichen. Diesem Zusammenhang nun wissenschaftlich nachzugehen, ist das Interesse dieser Arbeit. Darüber hinaus ist es längst kein Geheimnis mehr, dass universitäre Ausbildung und in ihrem Rahmen vermitteltes zumeist theoretisches Wissen weder systematisch in die Praxis transferiert noch ohne weiteres in praktisches Wissen oder gar Können transformiert werden kann (vgl. Bommes et al. 1996, S.213ff.; Radtke, 1996). Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass Lehramtstudierende, aber auch aktive Lehrer/innen, diese Synthese zwischen den Wissensformen und Anforderungen zweier autonomer Systeme selbst herstellen müssen. Im Rahmen des Professionalisierungsprozesses muss zusätzlich ein permanenter Abgleich zwischen biographischen Wissensbeständen und situationsspezifischen Anforderungen des Lehrberufs geleistet werden, um eine „berufsbiographische Passung“ (Dirks, 2002, S. 67) herzustellen.
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1 Einleitung
Für diesen Aspekt hat Terhart (2001) im Rahmen der Professionalisierungsdebatte um den Lehrberuf das Konzept „Pädagogische(r) Professionalität als berufsbiographisches Entwicklungsproblem“ geprägt. Damit ist eine ‚biographische Wende’ in der Professionalisierungsdebatte ausgelöst worden, die erstmals deutlich die Bedingungen für das Gelingen bzw. Misslingen von Professionalisierung auf der Ebene der aktiven Auseinandersetzung der Lehrer/innen mit ihrem Beruf ansiedelt. Vielmehr gilt es, den Professionalisierungsprozess als prinzipiell unabschließbar zu betrachten und ihn angemessen und über die Ausbildungsphasen hinaus adäquat institutionell zu rahmen, um auf diese Weise Bedingungen zu schaffen, die den Lehrerinnen und Lehrern die professionelle Auseinandersetzung mit den Anforderungen ihres Berufes überhaupt erst ermöglichen. Der Frage nachzugehen, wie Sportlehrer/innen ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen an das berufliche Feld anschließen, scheint eine Frage zu sein, der in der sportpädagogischen Lehrer/innenforschung bisher keine Beachtung geschenkt worden ist. Auch in der erziehungswissenschaftlichen Lehrer/innenforschung mit biographischem Fokus ist die Perspektive, Lehrer/innen als Fachlehrer/innen mit einer spezifischen fachkulturellen Einbindung zu begreifen und im Spannungsfeld zwischen ‚Privatem’ und ‚Beruflichem’ zu betrachten, eine vernachlässigte. Interessant ist aus der hier gewählten Perspektive auch der Sachverhalt, dass sich eine Unterscheidung zwischen ‚Biographie’ und ‚Berufsbiographie’ ausgeprägt hat. Häufig werden in den Untersuchungen (z. B. auch bei Terhart) daher ‚lediglich’ Daten zur Phase der Berufsausübung bzw. zur Phase des Berufseinstiegs erhoben. Nimmt man jedoch die unter anderem von Dirks formulierte These ernst, dass die Lehrerbildung spätestens mit der eigenen Schulzeit beginne (vgl. Dick, 1994; Dirks, 2000; Hansmann, 2001)4, so scheint es erstaunlich, dass eine gesamtbiographische Perspektive bisher vernachlässigt worden ist. Es entsteht der Eindruck, dass es tatsächlich so etwas wie eine ‚private’ und eine ‚berufliche Biographie’ gäbe. Die Verwobenheit des Privaten mit dem Beruflichen und eine uneindeutige Zuordnung bestimmter Erfahrungs(re)-konstruktionen zu einem dieser beiden Konstrukte, wie sie besonders im Lehrberuf zu finden sind, verweisen auf eine gewisse Widersprüchlichkeit im Terminus Berufsbiographie und machen eine biographische Perspektive geradezu erforderlich. Speziell für die vorliegende Fragestellung ist diese Perspektive notwendig, geht es doch darum, die Anschlussfähigkeit lebensgeschichtlicher Erfahrungen oder besser gesagt, die Art(en) und Weise(n) zu betrachten, auf die Sportlehrer/innen ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen an das berufliche Feld auf der Ebene ihrer 4
Bereits Lortie (1975) betont die große Bedeutung und Nachhaltigkeit schulischer Erfahrungen aus der eigenen Schülerzeit der Lehrkräfte.
1.3 Zentrale Fragestellungen und Anlage der Studie
17
biographischen Selbstpräsentationen anschlussfähig machen. Genau hier lassen sich Bezüge zur Bildungsgangforschung herstellen, denn auch hier steht mittlerweile die Bedeutung des ‚subjektiven Bildungsgangs’ im Vordergrund der Forschungsarbeiten. Biographieforschung mit ihrem method(olog)ischen ‚Knowhow’ kann einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung solcher subjektiver Bildungsgänge von Sportlehrerinnen und Sportlehrern leisten. Dieser würde unter einer biographischen Perspektive und in Kenntnis der Ergebnisse der oben angeführten Forschungsarbeiten von Dirks u. a. dann die ‚gesamte’ Lebensgeschichte der Sportlehrer/innen im Sinne ihres Bildungsganges fokussieren. Pädagogische Professionalität als Entwicklungsproblem wird so zur Entwicklungsaufgabe der Sportlehrer/innen im Professionalisierungsprozess, denn Professionalisierung kann nur als aktive und reflexive Auseinandersetzung mit Schule, Unterricht und den dazu gehörenden Wissensbeständen, also sowohl theoretischer und durch Forschung generierter aber auch erfahrungsbasierter Art, gelingen.
1.3 Zentrale Fragestellungen und Anlage der Studie Was mit den voran gegangenen Ausführungen zur biographischen Eingebundenheit sportlicher aber auch pädagogischer (Vor)Erfahrungen und ihrer Bedeutung für berufliches Handeln und Deuten als Sportlehrer/in hervorgehoben werden sollte, ist, dass sich für das Interesse der vorliegenden Arbeit eine gesamtbiographische Perspektive anbietet, die sich also neben der Zeit im Beruf auch mit dem ‚Davor’ und dem ‚Währenddessen’ befasst. Diese gesamtbiographische Perspektive einzunehmen bedeutet, dass nicht wie in anderen Untersuchungen (vgl. Kap. 2.1.1) zwischen einer ‚Biographie’ und einer ‚Berufsbiographie’ unterschieden wird und so der Eindruck entsteht, dass es so etwas wie eine ‚private’ und eine ‚berufliche Biographie’ gäbe, die quasi-autonom nebeneinander existieren. Mit der Programmatik der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung bieten sich interessante (methodische und theoretische) Ansatzpunkte, um eine weitere Perspektive auf ‚(sport)pädagogische Professionalität5’ anzulegen. Denn folgt man dieser Perspektive, so wird die Lebensgeschichte mit ihren individuellen Erfahrungen zu einer Art Hintergrundfolie, vor der auch das berufliche Handeln ausgerichtet, eingeordnet und gedeutet wird. Einzelne Aspekte des 5
So gibt es bereits umfangreiche Forschungen hinsichtlich der Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern mit anderen Unterrichtsfächern (vgl. z. B. Dirks, 2000; Hansmann, 2001). Diese Ergebnisse machen bereits deutlich, dass in professionelles Lehrerhandeln immer die ‚ganze’ Person einbezogen und somit eine gesamtbiographische Perspektive auf den jeweiligen Professionalisierungsprozess angeraten ist.
18
1 Einleitung
Professionalisierungsprozesses, wie z. B. das oft thematisierte Referendariat, werden so nicht isoliert, sondern immer in ihrer Einbettung in die gesamte Lebensgeschichte der jeweiligen Person betrachtet. Für die hier angestrebte Untersuchung ist gerade die Verwobenheit des ‚Privaten’ mit dem ‚Beruflichen’ von Interesse. Die Schwierigkeit einer eindeutigen Zuordnung bestimmter Erfahrungs-(re)konstruktionen zu einem Lebensbereich gerade im Lehrberuf verweist z. B. auf diese Problematik. Denn auch in dezidierte berufsbiographische Studien fließen biographische Appendices ein, „die, systematisch ausgebaut und berücksichtigt, den Differenzierungsgrad der Ergebnisse steigern können“ (Kunze & Stelmaszyk, 2004, S. 807). Die Bedeutung lebensgeschichtlicher Erfahrungen für den Erwerb einer (sport)pädagogischen Grundhaltung ist besonders auch für hochschuldidaktische Überlegungen zur Sportlehrer/innenausbildung von Interesse. Einblicke in diesen Zusammenhang zu gewinnen, um auf dieser Basis entsprechende Konsequenzen für die Gestaltung von Lehr-/Lernarrangements zu ziehen, ist eine Forderung, die immer wieder Aktualität besitzt, die jedoch in der Sportpädagogik bisher nicht auf ‚empirische Füße’ gestellt worden ist. „Biographische Arbeit“, „Biographische Selbstreflexion“ oder „Reflexive Lehrerbildung“ (vgl. exemplarisch Dirks & Hansmann, 1999) sind dabei nur einige Schlagwörter, die diese Diskussion auf theoretischer Ebene bereits seit Jahren prägen. Unklar bleibt auch hier häufig, in welchem Verhältnis lebensgeschichtliche Erfahrungen und berufliches Handeln bzw. Deuten zueinander stehen und in welcher Weise in der Lehrer/innenausbildung damit umgegangen werden kann und/oder sollte6. Das dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis von ‚pädagogischer Professionalität’ orientiert sich einerseits an Terharts Konzept des berufsbiographischen Entwicklungsproblems und andererseits an der aktuellen Bildungsgangforschung und –didaktik, die die Professionalisierung von Lehrer/innen als Bewältigung von Entwicklungsaufgaben auffasst. Vor diesem Hintergrund sind folgende Fragestellungen leitend für die Arbeit:
6
Wie machen Sportlehrerinnen und Sportlehrer ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen anschlussfähig an das berufliche Feld? Wie bearbeiten Sportlehrerinnen und Sportlehrer berufliche Entwicklungsaufgaben und welche Bedeutung haben biographische Wissensbestände für diese Bearbeitung? Wie und wo im Professionalisierungsprozess entwickeln Sportlehrerinnen und Sportlehrer ihre Einstellung zum Fach und zu seinen Inhalten, zur Institution Schule und zu den Schülerinnen und Schülern? Hier wären dann weitere Überlegungen zur Normativitätsproblematik erforderlich.
1.3 Zentrale Fragestellungen und Anlage der Studie
19
Gibt es förderliche und/oder hinderliche biographische Bedingungen für den Professionalisierungsprozess?
Und schließlich:
Welche Konsequenzen und Perspektiven lassen sich aus den Ergebnissen für die Professionalisierung von Sportlehrerinnen und Sportlehrern ableiten?
Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil, dem Kapitel 2, geht es darum, das Forschungsinteresse der Arbeit zu entfalten und theoretische Klärungen und Einordnungen vorzunehmen. Dieses geschieht vor dem Hintergrund der Forschungslage zu Lehrer/innenbiographien und insbesondere von Sportlehrer/innenbiographien, die Anschlussmöglichkeiten für die eigene Arbeit, aber auch Forschungsdesiderate und method(olog)ische ‚Leerstellen’ der bisherigen Forschung aufzeigt. Eingebettet bzw. ausgelöst ist die berufsbiographische Forschung zu Lehrerinnen und Lehrern in eine umfassende Professionalisierungsdebatte zu diesem Berufsfeld, die beispielsweise die Definition von pädagogischer Professionalität als „berufsbiographisches Entwicklungsproblem“ (Terhart, 2001, S. 56) hervorgebracht hat. Hier bieten sich wiederum Anschlüsse an die Bildungsgangforschung, die sich aktuell verstärkt mit Fragen des „subjektiven Bildungsgangs“ (vgl. Hahn, 2004, S. 168f.) befasst. Biographie als wissenschaftliches Konzept und method(olog)ische Forschungsrichtung wird daher theoretisch erläutert und für die Fragestellung dieser Arbeit fruchtbar gemacht. Diese Überlegungen münden in eine umfassende methodologische Auseinandersetzung mit den forschungstheoretischen und –praktischen Implikationen, die sich aus den theoretischen Bezügen sowie dem Forschungsinteresse ergeben (Kapitel 3). Hier gilt es einerseits zu dokumentieren, wie der Forschungsprozess, der diese Arbeit zum Ergebnis hat, verlaufen ist; andererseits werden methodologische Rahmungen durch die Grounded Theory und methodische Umsetzungen mit Hilfe des biographisch-narrativen Interviews (Schütze) kritisch diskutiert. Dabei wird immer wieder ein Bezug zur forschungsparadigmatischen Einbettung in die Vorgehensweisen und Geltungsansprüche qualitativer Sozialforschung in Abgrenzung zu quantitativen Forschungsstrategien hergestellt. Diese Auseinandersetzung resultiert zum einen aus der Auswertung der Forschungslage, die eine teilweise Diskrepanz zwischen theoretischen (Vor)Überlegungen und der anschließenden forschungspraktischen Umsetzung offenbart. Zum anderen geht es auch darum, die Art und Weise qualitativer Forschung (erneut) hervorzuheben, da in der sportpädagogischen ‚Szene’ zwar vermehrt
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1 Einleitung
qualitative Forschungsarbeiten vorgelegt, diese jedoch zum Teil nicht als empirische Arbeiten ‚erkannt’ und entsprechend eingeordnet werden. Der dritte Teil der Arbeit besteht aus drei biographischen Fallstudien, die aus einem Sample von insgesamt sechs biographisch-narrativen Interviews ausgewählt worden sind. Diese Fallstudien sind für die Thematik der Arbeit in besonderer Weise relevant, da sie über Kontrastierungen ein weites Spektrum an Informationen zum Thema bieten. Sie werden dem ‚objektiven Bildungsgang’ oder auch dem Lebenslauf folgend präsentiert und schließen mit einer analytischen Abstraktion. Im Schlusskapitel dieser Arbeit geht es dann um eine theoretisierende Auswertung der Fallstudien. Das biographische Wissen der interviewten Sportlehrer/innen wird hinsichtlich seiner Beschaffenheit, seines Erwerbs sowie seiner Funktion im Kontext der lebensgeschichtlichen Selbstpräsentation konturiert. Die Beschreibung der Art und Weise, wie Sportlehrer/innen ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen an das berufliche Feld anschließen, mündet in eine prototypische Charakterisierung der Anschlussverhältnisse zwischen den biographischen Wissensbeständen und dem beruflichen Feld. Schließlich ist es das Ziel dieser Arbeit, Bezüge zwischen den Ergebnissen der empirischen Analysen und der Professionalisierungsdebatte zum Lehrberuf herzustellen. Diese werden über die Einbettung der empirischen Ergebnisse in professionalisierungsrelevante Themen, wie z. B. Lehrerleitbild, Fallarbeit und kollegiale Beratung hergestellt und sind als Plädoyer zur Weiterentwicklung der Sportlehrer/innen(aus)bildung unter der Berücksichtigung der biographischen Bedingtheit des beruflichen Handelns und Deutens zu verstehen.
2 Biographische Perspektiven auf (Sport)Lehrer/innen: Zum Stand der Forschung
Für die vorliegende Arbeit ist der Fokus leitend, Professionalisierung im Kontext der Biographien der zu professionalisierenden Sportlehrer/innen zu verstehen. Daher wird es an dieser Stelle nicht um die grundsätzliche Aufarbeitung der Professionalisierungsdebatte um den Lehrberuf gehen, sondern um die fokussierte Darstellung der Bedeutungsentwicklung einer biographischen Perspektive auf den Bereich der Professionalisierung von Lehrer/innen7. 7
Zur Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Pädagogik und Biographieforschung nutzt Schulze die der Biographie entliehene Metapher „Frühe Liebe – späte Hochzeit“ (2002, S. 22). Er spielt damit auf den Sachverhalt an, dass beide Bereiche auf ähnlichen Ausgangsannahmen und geisteswissenschaftlichen Entwicklungen gründen. Der maßgebliche Ausgangspunkt ist in dem „gemeinsamen Interesse an Aufklärung und Bildung der Menschen zu Humanität und Menschenwürde“ (ebd.) im 18. Jahrhundert zu sehen. In der neuzeitlichen Pädagogik steht daher die Auseinandersetzung mit Lebensgeschichten im Mittelpunkt, geht es doch darum, Erziehungs- und Bildungsprozesse als Selbst- und Weltverhältnisse zu konzeptualisieren. Nicht zu vernachlässigen sind aus historischer Sicht daher Rousseaus „Émile“ als Pionierarbeit einer pädagogisch-biographischen Perspektive sowie später die Forschungsarbeiten Bernfelds. Insbesondere im „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ (1933/1990) beschreibt er die Notwendigkeit zur Reflexion der eigenen Lern- und Lebensgeschichte für zukünftige Erzieher/innen, um nicht ungewollt Opfer des eigenen Erzogenseins zu werden und gleichsam selbstverständlich das zu wiederholen, was man selbst an Erziehung ‚ertragen’ musste. Schulze resümiert zum Zusammenhang zwischen einer biographischen Perspektive und der Pädagogik: „Ein biographischer Bezug ist der Pädagogik in ihrem Gegenstand vorgegeben. Erziehung ist ihrem Wesen nach Einwirkung, Anleitung, Führung, Unterstützung, Hilfe, Anregung oder auch Gegenhaltung und Hemmung in Verbindung mit der Gestaltung eines individuellen menschlichen Lebens“ (1993, S. 13). Es steht also vorrangig die Lebensgeschichte der zu Erziehenden in einem weiteren Sinne im Mittelpunkt des pädagogischen Interesses. Ergänzend bleibt m. E. jedoch hinzuzufügen, dass hiermit nicht nur Kinder und Jugendliche oder zu Erziehende gemeint sein sollten; denn auch für eine professionelle pädagogische Haltung der Initiator/innen pädagogischen Handelns ist die Bedeutung des eigenen Geworden- und Erzogenseins eine relevante Bezugsgröße. Die erste systematische Auseinandersetzung findet sich in dem Sammelband „Aus Geschichten lernen“ von Baacke & Schulze (1979/1993). Aus der Rückschau lässt sich feststellen, dass die Formel „Aus Geschichten lernen“ sich zum Programm entwickelt hat: „zum Programm einer hermeneutisch und biographisch orientierten, narrativen Pädagogik“ (Baacke & Schulze, 1993, S. 6).
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2 Biographische Perspektiven
Dieses Kapitel dient der Explikation des Konzepts der pädagogischen Professionalität als berufsbiographisches Entwicklungsproblem sowie seiner kritisch-konstruktiven Würdigung. Dies geschieht anhand der Aufarbeitung der theoretischen Ausarbeitungen zum Thema, aber vor allem auch durch die Aufarbeitung des Forschungsstandes der biographischen Lehrer/innenforschung, da das Konzept der pädagogischen Professionalität als berufsbiographisches Entwicklungsproblem auch im Rahmen von Forschungsarbeiten bereits aufgegriffen worden ist. Dies ist durch Terhart et al. (1994) selbst geschehen (vgl. Kap. 2.1.1), aber auch Forscher/innen mit einem fachspezifischen Forschungsinteresse, das dem der vorliegenden Arbeit also perspektivisch nahe ist, haben sich mit diesem Gedanken befasst (vgl. Kap. 2.1.2). Auf welche Weise die sportpädagogische Forschung bereits Anschlüsse an eine biographische Forschungsperspektive auf Sportlehrer/innen hergestellt hat und welche Ergebnisse zu dieser Thematik generiert worden sind, wird anschließend dargestellt und diskutiert. Dabei werden vier verschiedene Forschungsschwerpunkte ausgemacht: Sozialisation, Belastung, berufliches Selbstkonzept und Vermittlung. In einem weiteren Schritt wird das Konzept der pädagogischen Professionalität als berufsbiographisches Entwicklungsproblem mit Ergebnissen und Überlegungen der Bildungsgangforschung und –didaktik konfrontiert. Die gedankliche Parallelität zwischen Bildungsgangforschung und –didaktik einerseits und erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung andererseits bildet die Grundlage, um theoretische aber auch forschungsmethodische Anschlüsse für die vorliegende Studie zu skizzieren, die dann im nächsten Kapitel der Arbeit ausführlich ausgearbeitet werden.
2.1 Pädagogische Professionalität als berufsbiographisches Entwicklungsproblem – Genese, Bedeutung und Kritik des Konzepts Fragen der Professionalisierung des Handelns von Lehrern/innen haben seit den 1960er Jahren einen sozialwissenschaftlichen Ideenschub erhalten, der die Themen der Bildung und Ausbildung von Lehrern/innen mit anderen theoretischen und begrifflichen Mitteln aufgegriffen hat, als sie in der traditionsreichen, vornehmlich geisteswissenschaftlich geprägten pädagogischen Diskussion bis dahin üblich gewesen sind. Die seitdem in der Pädagogik äußerst intensiv geführte Debatte um pädagogische Professionalität setzt, so das Fazit von Terhart, „mit modernen begrifflichen Mitteln die (dreifache) Frage nach dem eigentlichen Auftrag des Lehrers, nach seinem spezifischen Können zur Erfüllung dieses
2.1 Pädagogische Professionalität
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Auftrags, sowie schließlich nach den Möglichkeiten der Ausbildung zur Vermittlung dieses Könnens fort.“ (Terhart, 2001, S. 56). Diese Fragen sind für eine sportpädagogische Diskussion zum beruflichen Handeln und der Professionalisierung von Sportlehrer/innen gleichermaßen relevant (vgl. dazu Schierz, 2003). Die biographische Wendung, die die Professionalisierungsdiskussion durch die Position Terharts erfahren hat, eröffnet bereits den auch in dieser Arbeit eingenommenen Blick für die Bedeutung von ‚Vor-Erfahrungen’ und wirft, wie bereits erwähnt, hochschuldidaktische Fragen zur Gestaltung der Lehrer/innenausbildung auf. Terhart sieht in seinem Literaturbericht zur Professionalisierungsdiskussion die künftige Herausforderung der Arbeit an einer Theorie professionellen Handelns von Lehrerinnen und Lehrern im Gelingen des Ineinandergreifens von Konzeptentwicklung und Empirie: erstere habe die strukturellen Besonderheiten des Berufs unter Einschluss normativer Bestimmungen auf den Begriff zu bringen; letztere solle die in Konzepten hinterlegte theoretische Konstruktion an der Wirklichkeit abgleichen.8 Versuche, die strukturellen Besonderheiten des beruflichen Handelns von Lehrern/innen im Kontext sozialwissenschaftlicher Theoriebildung zu beschreiben, lagen zum Zeitpunkt, an dem Terhart seine Forderungen erhoben hat, unter zwei Perspektiven vor. Während in der einen, in Anlehnung an Parsons (1937; 1951), die Auseinandersetzungen über Probleme der Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern in einem berufssoziologischen Rahmen geführt worden sind, der Kriterien der Selbstbeschreibung von Professionen (z. B. Autonomie, Akademisierung, Berufsethos, Berufswissenschaft) umgrenzt hat, konnte in der Folgezeit eine andere Perspektive an Gewicht gewinnen. Diese konzentrierte sich darauf, die Logik professionalisierten Handelns zu analysieren (vgl. Oevermann, 1996; 2000). Im Zentrum solcher Analysen haben Kompetenzen der Arbeit an und mit Fällen gestanden, deren Aneignung als Voraussetzung für den gelingenden Vollzug professionellen Handelns als „stellvertretendes Deuten“ gegolten hat. In Folge der Diskussion um die Logik professionellen Handelns haben sich neue Fragen an die curricularen und methodischen Grundlagen der Ausbildungsgänge von Lehrerinnen und Lehrern ergeben.9
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Terhart zieht auch die Umkehrung einer solchen Abgleichung in Betracht (Terhart, 2001, S. 58). Dies könnte so interpretiert werden: Die empirische Konstruktion der ‚Wirklichkeit’ ist auch an den theoretischen Implikationen von (normativen) Konzepten abzugleichen. Was dies jedoch genau für die Professionalisierungsforschung im Spannungsfeld von Theorie und Empirie bedeutet, bleibt unbestimmt. Aufgabenbezogene Ansätze zeichnen sich in ihren aktuellen schulbezogenen Varianten auffällig durch eine Sichtweise aus, in der widersprüchliche und belastende institutionelle und situative Anforderungen an berufliches Handeln thematisiert werden (vgl. Helsper, 2002). Deren Bewältigung verweist in jüngeren Publikationen zur Lehrerbildung auf den Erwerb eines spezi-
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2 Biographische Perspektiven
Es ist hier nicht angezeigt, die Details dieser beiden in den vergangenen Jahren dominierenden Perspektiven der Debatte zur Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern näher nachzuzeichnen.10 Beide werden seit längerem von dritter Seite als unzureichend eingeschätzt, um die Frage nach dem lebensgeschichtlichen Weg zu mehr Professionalität hinreichend zu klären. Vielmehr wird hier nun die Hinwendung zu einer berufsbiographischen Perspektive dieses Diskurses nachgezeichnet, der sowohl auf konzeptioneller Ebene aber auch auf der Ebene der Forschung vollzogen worden ist, um die vorliegende Arbeit im Kontext der Professionalisierungsdebatte zum Lehrerberuf zu verorten. Leitender Bezugspunkt ist dabei das Konzept pädagogischer Professionalität als berufsbiographisches Entwicklungsproblem. Darüber hinaus werden Reflexionen zu Begrifflichkeiten wie ‚Biographie’ und ‚Berufsbiographie’, aber auch eine method(olog)ische Positionierung durch diese Rückschau vorbereitet. Statt sich unter strukturtheoretischen Vorgaben darauf zu beschränken, bekannte „pädagogische Topoi und Anforderungen an den Lehrerberuf in gewandelter Semantik (zu) präsentieren“ (Terhart, 2001, S. 56), fordert Terhart Mitte der 1990er Jahre die Bearbeitung einer prozessorientierten Perspektive: „Professionalität ist als berufsbiographisches Entwicklungsproblem zu sehen, d. h., sie entwickelt sich im Prozess des Lehrerwerdens, wobei für die professionsbezogene Lehrerforschung das zentrale Problem darin liegt, die empirische Analyse je individueller und/oder gruppen- bzw. kohortenspezifischer Entwicklungsverläufe mit einem Modell der Logik des Aufbaus von beruflicher Kompetenz in Verbindung zu bringen …“ (Terhart, 2001, S. 56).
Der Gewinn der Abgleichung von empirischer Analyse und modellierter Logik läge darin, „eine Art berufsbegleitendes Stützsystem zu schaffen, das auf die berufsphasenspezifischen Problemlagen zu reagieren imstande ist.“ (Terhart, 2001, S. 61) Terhart profitierte Mitte der 1990er Jahre mit seiner Forderung von einem erziehungswissenschaftlichen Klima, das sich längst für Themen der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung erwärmt hatte.11 Ein schulpädagogisch relevanter und als systematisch zu bezeichnender Ansatz hat zu diesem Zeitpunkt jedoch gefehlt – und fehlt trotz der Begründung eines Arbeitsgebiets „Biographische Erziehungswissenschaft“ (Garz, 2000) bis heute. Zwar ist die Zahl der Arbeiten gestiegen, die schulpädagogischer Biographieforschung zuzurechnen sind. Dennoch bleiben etliche Forschungsdesiderate bestehen.
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fischen beruflichen Habitus, dessen Aneignung Ausbildungsformen begünstigt, die die Arbeit mit und an Fällen in ihr methodisches Zentrum rücken (vgl. Combe & Kolbe, 2004). Einen vertiefenden Überblick geben Combe & Kolbe (2004). Dies dokumentiert sich in der Gründung einer entsprechenden Arbeitsgruppe der DGfE (1978).
2.1 Pädagogische Professionalität
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Im Folgenden wird nun das Konzept der berufsbiographischen Entwicklungsaufgabe in den Kontext des Forschungsstandes der biographischen Lehrer/innenforschung eingeordnet. Auch die Perspektive, Lehrer/innen als Fachlehrer/innen zu begreifen – wie es in der vorliegenden Arbeit ja für das Fach Sport der Fall ist – soll hinsichtlich bereits erfolgter Forschungen reflektiert werden, da davon auszugehen ist, dass es nicht nur allgemeine, sondern auch fachspezifische berufsbiographische Entwicklungsprobleme gibt. Zunächst wird jedoch ein grundsätzlicher Einblick in die Perspektive erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung vorgestellt, der dann als Bezugspunkt für die weiteren Ausführungen dienen kann. Einer Definition Marotzkis folgend, kann die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung als qualitative Bildungsforschung bezeichnet werden, die dem interpretativen Paradigma (vgl. hierzu auch Kap. 3.1) folgt und ihren Fokus auf individuelle Lebens-, Bildungs- und Lernprozesse richtet (1995, S. 55-59). Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich die schulpädagogische Forschung auch mit diesem Zugang befasst. Denn „(d)ie Erforschung von Schüler- und Lehrerbiographien kann Aufschlüsse geben über Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von Leben, Lernen und Arbeiten in der Institution Schule, mithin für schultheoretische, sozialisationstheoretische und didaktische Fragestellungen Bedeutung gewinnen“ (Reh & Schelle, 1999, S. 374). Insbesondere die biographische Lehrer/innenforschung hat in den letzten 15 Jahren einen enormen Zuwachs erfahren (vgl. zusammenfassend ebd.). Die grundsätzliche Voraussetzung einer systematischen erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Lehrer/innenbiographien sehen Reh & Schelle (1999, S. 376) in der Abkehr von der normativ-idealistischen Ausrichtung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik in den 1940er Jahren einerseits sowie der Hinwendung zu modernen soziologischen Theorien in den 1960er Jahren andererseits. Neben Bezügen zu Dilthey oder Herbart rekurriert diese Forschungsrichtung mittlerweile vorwiegend auf sozialwissenschaftliche aber auch psychologische Ansätze (vgl. im Überblick Baacke & Schulze, 1993). Erste Ansätze zur pädagogischen Auseinandersetzung mit Lehrer/innenbiographien sind allerdings bereits in Salzmanns „Ameisenbüchlein“ zu finden (vgl. auch Diesterweg, 1835/1999). Hier geht es jedoch um die rückblickende Selbstthematisierung der Lehrer unter dem Hinweis, dass „die Hinwendung des Erziehers auf sich selbst eine Grundvoraussetzung dafür ist, die Wechselseitigkeit des erzieherischen Geschehens in den Blick zu bekommen“ (Schulz, 1996, S. 58). Der Anfangspunkt empirisch ausgerichteter, (berufs)biographischer Lehrer/innenforschung lässt sich in der Phase der Fundierung der allgemeinen Lehrer/innenforschung in den 1970er bis 1980er Jahren ausmachen, wobei, entsprechend dem damaligen Zeitgeist, die Sozialisation in den Beruf und die damit
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2 Biographische Perspektiven
verbundenen Statuspassagen fokussiert worden sind (vgl. stellvertretend Liebhart, 1970). Was folgt ist eine heterogene Hinwendung zur Thematik mit einer großen methodischen Vielfalt, divergierenden Verständnissen von ‚Biographie’ und der Herausbildung verschiedener Traditionslinien im Forschungsfeld. So zeigen Kunze und Stelmaszyk (2004) in ihrem Überblicksartikel die folgenden auf: Historische Längsschnittperspektiven, Fokussierung makrohistorischer Phasen und Ereignisse, Strukturen der Berufslaufbahn (Phasen- und Stufenmodelle), geschlechtsspezifische Foki, fachbezogene Foki und einen institutionellen Fokus12. Diese m. E. aktuellste und differenzierteste Aufarbeitung des Forschungsstandes ist als idealtypische Einteilung des vielschichtigen Forschungsfeldes anzusehen (vgl. darüber hinaus auch Reh & Schelle, 1999, S. 373-390; Gehrmann, 2003, S. 153 ff. sowie zum anglophonen Bereich Terhart, 1991). Für das vorliegende Forschungsinteresse sind aus diesem Konglomerat besonders die fachbezogenen und die Untersuchungen zur ‚Berufsbiographie’13 von Lehrer/innen relevant. Dennoch verhält sich m. E. die Forschungslage mit heterogenen Schwerpunkten und methodischen Zugängen (noch) nicht proportional zu den auf theoretischer Ebene formulierten Forderungen Terharts nach einer differenzierten biographischen Lehrer/innenforschung und dem damit verbundenen Potential der Erkenntnisgewinnung. Im Fokus steht bei der Sondierung der Forschungslage die grundsätzliche Forschungsperspektive und ihre method(olog)ische Umsetzung. Einzelne Ergebnisse werden auch aufgegriffen, aber nur dann, wenn sie für die hier zugrunde gelegte Fragestellung fruchtbar sind. Auf eine Darstellung der anderen oben erwähnten Traditionslinien wird an dieser Stelle verzichtet (nachzulesen z. B. bei Kunze & Stelmaszyk, 2004, S. 795-812). Einen Schwerpunkt hingegen bildet die empirische Untersuchung der Berufsbiographien von Lehrer/innen Terharts et al. (1994), da sich die Fragestellung der vorliegenden Arbeit an seiner Definition von Professionalisierung als berufsbiographisches Entwicklungsproblem entfaltet.
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Die Zuordnung einzelner Forschungsarbeiten zu nur einer dieser Kategorien ist jedoch häufig nicht eindeutig möglich, da verschiedene Schwerpunkte bearbeitet werden, so dass manche Studien mehrmals aufgegriffen werden mussten. Diese Untersuchungen haben zumeist Phasen- und Stufenmodelle der Berufslaufbahn hervorgebracht. Die bereits angesprochene Problematik der Begrifflichkeiten Biographie, Berufsbiographie und Lebenslauf und hier besonders Berufslaufbahn wird erneut augenfällig.
2.1 Pädagogische Professionalität
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2.1.1 Berufsbiographische Forschung Die berufsbiographische Forschung zum Lehrberuf mündet häufig in sogenannte Phasen- und Stufenmodelle der Berufslaufbahn (vgl. z. B. Liebhart, 1970; Hirsch, 1990; Huberman, 1991). Diese Untersuchungen orientieren sich in ihrem Forschungsdesign zumeist an quantitativen Forschungsparadigmen und vernachlässigen die gesellschaftspolitische Rahmung zugunsten der Etablierung solcher Phasen- und Stufenmodelle. Kunze & Stelmaszyk unterscheiden dabei wie folgt: „Einerseits werden Phasierungen und Stufungen innerhalb der Berufsbiographie im Sinne von qualitativen Entfaltungsstufen der professionellen Persönlichkeit vorgenommen (vgl. Hirsch 1990; Hirsch u. a. 1990; Huberman 1991). Andererseits erfolgt die Phasierung über eine Fokussierung auf institutionell-biographisch ‚vorgegebene’ Abschnitte, wie Referendariat, Junglehrer usw. (vgl. Heinen-Ludzuweit 2001; Kübler 2000)“ (Kunze & Stelmaszyk, 2004, S. 801).
Diese verschiedenen Herangehensweisen sollen im Folgenden jedoch nicht (erneut) detailliert werden. Vielmehr wird anhand einer zentralen Studie die Debatte nachgezeichnet, an die die Forderung Terharts nach einer berufsbiographischen Lehrer/innenforschung anknüpft. Das wohl prominenteste Forschungsprojekt aus den 1970er Jahren, da in seiner zentralen Aussage besonders rezipiert, zitiert und in seiner Wirkmächtigkeit bisher unerreicht, findet seinen Kristallisationspunkt im sogenannten Modell der „Konstanzer Wanne“ (vgl. hierzu z. B. Liebhart, 1970; Koch, 1972; MüllerFohrbrodt, 1973)14. Das Motiv der Wanne steht dabei für den U-förmigen Verlauf der pädagogisch konservativen Orientierung der Befragten, die sich von der Oberprima zum Studienbeginn abfallend und dann vom Studienende zum Referendariat wieder ansteigend entwickelt (vgl. Dann et al., 1981, S. 252). Diese (vermeintliche) Entwicklung wird wie folgt präzisiert: „Überwiegen im ersten Teil der Ausbildung Theorien und abstrakte Darlegungen, so wird der junge Lehrer nach Abschluß desselben unvermittelt mit der sogenannten ‚Schulwirklichkeit’ konfrontiert, auf die er von seiner bisherigen Ausbildung her nur unzureichend (…) bzw. überhaupt nicht (…) vorbereitet ist. Unter diesen Bedingungen, zu denen noch Isolierung, Prüfungsangst und Anpassungsdruck von Seiten der neuen sozialen Umgebung hinzutreten, ist der Berufsneuling rasch bereit, von der Hochschule her mitgebrachte Einstellungen und Verhaltensorientierungen als unan-
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Die Daten sind im Rahmen des Konstanzer Sonderforschungsbereiches 23 zum Thema „Lehrereinstellungen“ ab 1969 über mehrere Jahre erhoben und in zahlreichen Veröffentlichungen publiziert worden.
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2 Biographische Perspektiven gemessen und ‚irreal’ zu beurteilen und zugunsten vermeintlich ‚realistischerer’ Haltungen aufzugeben“ (Koch, 1972, S. 165).
Die hier dargestellte Tendenz muss jedoch beim Blick in die Daten deutlich relativiert werden. So sind beispielsweise die Grundlage für das U-förmige Wannenmodell nicht nur Ergebnisse aus der Befragung von Lehramtsstudierenden, sondern auch von anderen Studierenden gewesen (vgl. hierzu MüllerFohrbrodt, 1973, S. 122). Außerdem hat die Hinwendung zu „konservativeren“ Orientierungen bei den Junglehrer/innen, die von vornherein eine eher progressive Haltung hatten, nicht festgestellt werden können.15 Diese kritische Rückschau erklärt auch die heute scheinbar in Vergessenheit geratene Debatte auf den vermeintlichen „konservativen Wandel“ der Junglehrerschaft Mitte der 1980er Jahre, die in der Zeitschrift für Pädagogik von Hänsel (1985) ausgelöst worden ist (vgl. detailliert Gehrmann, 2003, S. 156ff.). Die zentrale und wenig differenzierte Aussage des Konstanzer WannenModells um die vermeintliche Konservativität der Junglehrer/innenschaft scheint dennoch auch heute noch für etliche Forscher/innen aktuell zu sein. Im Anschluss an diese Debatte fordert Terhart die Hinwendung zu einer berufsbiographischen Konturierung der Lehrer/innenforschung. Dabei postuliert er erstmals die Prozesshaftigkeit der biographischen Dimension ‚Lehrberuf’: „Lehrerwerden ist ein Entwicklungsprozeß, der nicht als glatter, problemloser Positions- und Rollenwechsel stattfindet, und der ebenfalls nicht allein bestimmt wird durch den externen Sozialisationsdruck der verschiedenen Institutionen, die der angehende Lehrer durchläuft. Vielmehr ist ein persönlichkeits- und damit auch identitätsbezogener Entwicklungsverlauf anzunehmen, der sich als Resultat aus situationsund personenspezifischen Faktoren ergibt“ (Terhart, 1987, S. 795).
Mit einem Überblickswerk zur amerikanischen und englischen Forschungslage zu Berufskultur und Berufsbiographie (Terhart, 1991) unterstreicht er die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels (vgl. hierzu besonders Terhart, 1990, S. 245). Ein biographischer Zugang im Sinne offener Verfahren der Datenerhebung und rekonstruktiver Auswertungsstrategien scheint daher eine adäquate Annäherung an dieses Phänomen zu bieten. Denn in Abgrenzung von einem klassischen Sozialisationsverständnis formuliert Terhart folgende Prämisse für die Erforschung von Lehrer/innenbiographien. Es sei angeraten, sich von einem Sozialisationsverständnis abzugrenzen, das
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Eine ausführlichere Kritik am Modell der „Konstanzer Wanne“ legt Gehrmann (2003, S. 153ff.) dar.
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„infolge eines ‚übersozialisierten Menschenbildes’ Sozialisation primär als Interiorisation von externen Normen und Standards konzipiert, und stattdessen von einem Prozeß der Auseinandersetzung zwischen Außen- und Innenvariablen entlang dem biographischen Leitmotiv der Erarbeitung (beruflicher) Identität auszugehen. Zentraler Terminus für das Verständnis von Sozialisation generell wie von beruflicher Sozialisation speziell ist dabei ‚Entwicklung’“ (Terhart, 1987, S. 795).
Diesem Motiv folgt er auch in seiner weiteren Arbeit, die schließlich in die empirische Untersuchung „Berufsbiographien von Lehrerinnen und Lehrern“ (vgl. Terhart et al., 1994) mündet. Entgegen einer Orientierung an rekonstruktiven, deskriptiven Verfahren, die sich für Fragen nach dem ‚Wie?’ eines bestimmten Prozesses16 besonders eigenen (vgl. Marotzki, 1999a), greifen Terhart et al. mit dem Verweis auf die Unangemessenheit der üblichen Frontenbildung zwischen quantitativer und qualitativer Forschung auf standardisierende quantifizierende Verfahren der Datenerhebung zurück. Dies ist umso erstaunlicher, betrachtet man neben den oben beschriebenen theoretischen Prämissen die eindeutige Rekurrierung auf Ansätze der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung, wie z. B. die von Alheit & Dausien (1985). Ausgehend von der Hypothese, dass bestimmte Faktoren Differenzerfahrungen produzieren, legen Terhart et al. ihrer Empirie folgendes Faktorenmodell zugrunde: „(Es ist) wichtig, den Differenzen17 der berufsbiographischen Entwicklung nachzugehen, um auf dieser Grundlage dann bestimmte Grundprobleme in der Entwicklung (Alter) der Berufsbiographie von Lehrern/Lehrerinnen (Geschlecht) in verschiedenen Arbeitskontexten (Schulformen) identifizieren zu können“ (Terhart et al., 1994, S. 34).
514 niedersächsische Lehrerinnen und Lehrer in den Altergruppen 30-35 Jahre, 40-45 Jahre und 55-60 Jahre werden dann mit Hilfe standardisierter Fragebogen befragt, ohne dass Terhart et al. explizit auf seine theoretischen Erörterungen Bezug nehmen. Der oben skizzierte Entwicklungsprozess als Konstruktionsleistung eines Individuums in einem spezifischen sozialen Raum mit entsprechenden sozialen Bedingungen findet keinen Eingang in diese Arbeit. Es entsteht der Eindruck eines widersprüchlichen Verhältnisses zwischen theoretischen Erörterungen und der Art und Weise ihrer forschungsmethod(olog)ischen Evaluation. 16
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Ausgehend vom „biographischen Leitmotiv der Erarbeitung von (beruflicher) Identität“ (s.o.) im Sinne eines Entwicklungsprozesses könnte die entsprechende Forschungsfrage lauten „Wie erarbeiten sich Lehrer/innen ihre berufliche Identität?“. Alle Hervorhebungen i. O.
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2 Biographische Perspektiven
In seiner Begründung für die Beschäftigung mit den Berufsbiographien von Lehrer/innen bezieht sich Terhart immer wieder auf die Arbeiten von Sikes et al. (1991) und besonders von Huberman (1991), die verschiedene Phasen der berufsbiographischen Entwicklung bei Lehrer/innen hervorgebracht haben. Diese Phasen werden dann auch als Bezugsgrößen für die eigene Untersuchung angelegt. Verkürzt dargestellt lassen sich die Ergebnisse der Untersuchung Terharts et al. (1994) wie folgt charakterisieren: „Bei einer Simultanbetrachtung von Geschlechts-, Schulform- und Alterseffekten hat sich gezeigt, daß hinsichtlich der meisten Vergleichspunkte die Differenz zwischen den Altersgruppen deutlicher ausfielen als diejenigen, die durch Geschlechtsbzw. Schulformunterschiede zustande kamen (…). Auf der Altersdimension ist sowohl eine objektiv wie auch subjektiv wahrgenommene zunehmende Verfestigung erfahrungsbasierter Handlungsmuster und Selbstdeutungen festzustellen. Die Belastbarkeit sinkt, die inhaltliche Bindung an den Beruf geht bei einem Großteil zurück, die Unzufriedenheit wächst, die eigene berufliche Zukunft wird zunehmend düsterer, von einer kleinen Gruppe älterer Lehrkräfte z.T. sogar verzweifelter gesehen. Darüber hinaus scheint – ähnlich wie die Anfangssozialisation – auch die Vorbereitung auf die nachberufliche Lebensphase, m. a. W. das Sich-hinaus-Entwickeln aus dem Beruf, eine kritische Lebensphase zu sein – hier unterscheiden sich Lehrer nicht von anderen, ähnlichen Berufen“ (Terhart, 1995, S. 241).
Diese Interpretationen sind in zweierlei Hinsicht kritisch zu hinterfragen: 1. Unter methodischen Gesichtspunkten: Bestimmte Zusammenhänge werden als Kausalitäten konstruiert, ohne dass jedoch eine statistische Korrelation zwischen diesen Items geprüft wird. Dies ist z.B. der Fall bei den Vorstellungen zum Berufsabschluss: „Es wird deutlich, daß gerade in der mittleren Altergruppe 67,2 Prozent sich vorstellen können, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen. Hieran kann man erkennen, wie hoch die Belastung, ja eventuell sogar der Widerwille in dieser Altersgruppe der Lehrkräfte sein muß. Dabei handelt es sich hierbei um eine Altersgruppe, die ja doch noch bis zu zwei Jahrzehnten ihren Beruf auszuüben hat!“ (Terhart, 1997, S. 9).
Eine Prüfung korrelativer Zusammenhänge zwischen dem Item „Vorstellungen zum Berufsabschluss“18 und der beruflichen Belastung oder „ja eventuell sogar (…) Widerwille“ bleibt aus, so dass diese Interpretation nur eine mögliche sein kann. 18
Die genaue Fragestellung lautet: „Wenn Sie an das Ende Ihres Berufslebens denken: Welche Möglichkeiten können Sie sich – aus heutiger Sicht – am ehesten vorstellen?“ (vgl. Terhart, 1997, S. 9).
2.1 Pädagogische Professionalität
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Darüber hinaus werden die altersbezogenen Stichproben gleich gewichtet, obwohl die Verteilung in der Realität so nicht vorliegt und somit im statistischen Sinne keine repräsentativen Aussagen gemacht werden können. Darauf verweist auch Terhart selbst: „Und wenn man jetzt noch berücksichtigt, daß gerade diese Altersgruppe in der Alterspyramide der Lehrerschaft sehr stark besetzt ist, so müsste der Anteil derjenigen in der Gesamtlehrerschaft, die sich einen vorzeitigen Ruhestand vorstellen können, bei einer statistisch repräsentativen Befragung, die ja eben einen sehr viel höheren Anteil an 40-45 jährigen in der Stichprobe hätten als dies in unserer Untersuchung der Fall ist noch höher sein als 67,2 Prozent“ (ebd.).
Dennoch werden die gewonnenen Ergebnisse z. T. linear gedeutet, wie z. B. die Konstatierung eines „altersspezifischen Auswaschungsprozesses“, was aus obigem Grund aber auch dadurch, dass die Altergruppen zwischen den Stichproben fehlen, problematisch ist. 2. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten: Eine Auslegung bestimmter Ergebnisse erscheint z. T. etwas überbewertet. So ist eine Abnahme der Belastbarkeit im Laufe des Alterungsprozesses vielleicht nicht vielmehr als biographische Normalität, die nicht zwingend dazu führen muss, dass die betroffene Altergruppe auch Verzweiflung über diese Entwicklung empfindet. Eine eingeschränkte Belastbarkeit kann auch für Lehrkräfte wohl zu den antizipierbaren Entwicklungen gerechnet werden (vgl. zu dieser Kritik auch ausführlicher Gehrmann, 2003, S. 161). Von diesen kritischen Anmerkungen einmal abgesehen, ist die Untersuchung von Terhart et al. sicher als ein wesentlicher Meilenstein der berufsbiographischen Lehrer/innenforschung anzusehen, der in verschiedenen Richtungen Anschlüsse ermöglicht.
2.1.2 Fachspezifische Perspektiven Die bisher eher vernachlässigte Perspektive auf Lehrer/innenbiographien - sie nämlich als Fachlehrer/innen mit spezifischen Vorerfahrungen und Berufskulturen zu betrachten - ist erst in den 1990er Jahren aufgegriffen worden. Eine Betrachtung entsprechender Forschungsarbeiten kann Anregungen für die theoretische Fundierung und method(olog)ische Gestaltung des vorliegenden Projektes geben. Die spezifische Ausrichtung auf Sport ist unter diesem Blickwinkel zunächst nachrangig und kann zu diesem Zeitpunkt durch andere biographische Verknüpfungen von lebensgeschichtlichen Erfahrungen und pädagogischem
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2 Biographische Perspektiven
Handeln bzw. der Integration dieser Erfahrungen in das berufliche Feld im Sinne eines ‚Platzhalters’ ersetzt werden. Interessant ist dann in einem weiteren Schritt der Zusammenhang zwischen der spezifischen Fachkultur und der biographischen ‚Re-Konstruktion’.19 Es liegen Arbeiten zu den Fächern Englisch, Religion und Musik vor, wobei insbesondere die Untersuchungen von Dirks (2000) zu Professionalisierungsprozessen ostdeutscher Englischlehrer/innen und Hansmann (2001) mit dem Titel „Musikalische Sinnwelten und professionelles LehrerInnenhandeln“ hinsichtlich ihrer Forschungsfragen und der entsprechenden Bearbeitung interessant sind.20 Dirks befragt in ihrer Untersuchung mit Hilfe des biographisch-narrativen Interviews (Schütze, vgl. auch Kap. 3.4) 22 Englischlehrer/innen aus den neuen Bundesländern, die bereits zu DDR-Zeiten im Berufsleben gestanden haben. Ihr Anliegen ist es, Professionalität im Lehrberuf als Fähigkeit zur Wahrnehmung und Bearbeitung der Kernprobleme des Berufsalltages zu begreifen, was ihres Erachtens im biographischen Kontext geschieht (vgl. grundlegend Dirks, 1997, und speziell 1999, S. 25ff.). Sie folgt damit dem strukturtheoretischen Ansatz zu pädagogischer Professionalität, wie ihn Dewe et al. (1992) und Combe & Buchen (1996) vorgelegt haben. Es geht dabei vorwiegend um „die Handlungsabläufe, die innerhalb der jeweiligen Institution und ihrer Strukturen eine eigene Logik entfalten und großenteils mit spezifischen, weitgehend dilemmatischen Problemen verbunden sind“ (Dirks, 1999, S. 25).21 Neben einem fachspezifischen Fokus auf die Ausbildung von Englischlehrer/innen, erarbeitet sie auch einen allgemeinen Überblick zur Lehrerarbeit in der DDR (vgl. Dirks, 2000, S. 33ff.). Für die Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit ist diese Untersuchung von besonderer Relevanz, weil die gesamte Lebensgeschichte der Englischlehrer/innen einbezogen werden soll, da „erfahrungsgemäß enge Wechselbeziehungen zwischen dem Privatleben und dem Beruf bestünden“ (ebd., S. 80). So konstatiert Dirks später auch: „Aus verschiedenen Lehrerforschungsprojekten wissen wir inzwischen, dass die Lehrerbildung spätestens in der eigenen Schulzeit beginnt“ (Dirks, 2002, S. 69). Anhand zweier kontrastiver Eckfälle präsentiert Dirks in ihrer Studie ihr Kategoriensystem, das sie dann durch Ausschnitte aus den anderen Interviews belegt. Eine weitere Ausdifferenzierung nimmt sie in 19 20
21
Vgl. zu diesem Begriff Kap. 3.1 und 3.4.2. Einige Arbeiten zu Religionslehrer/innen (z. B. Geschwentner-Blachnik, 1996; Lehmann, 1999) sind hinsichtlich der Datenbasis und auch der daraus gezogenen Schlussfolgerungen eher problematisch. Kunze und Stelmaszyk (2004, S. 804) sprechen diesen Arbeiten sogar „impressionistische Züge“ zu. Die Arbeit von Fehlhaber und Garz (1999), die sich allerdings auf die Darstellung eines einzigen Falles stützt, ist wohl die differenzierteste zur fachbezogenen Biographieforschung von Religionslehrer/innen. Zur antinomischen Struktur pädagogischer Handlungssituationen vgl. auch Schierz & Thiele (2002).
2.1 Pädagogische Professionalität
33
diesem Zuge nicht vor.22 Des Weiteren werden die intendierten Bezüge zwischen Biographie und Berufsbiographie nur an wenigen Stellen aufgegriffen, was möglicherweise auch den biographischen Selbstpräsentationen geschuldet sein könnte. Der formulierte Anspruch einer gesamtbiographischen Perspektive wird somit nicht eingelöst. Dennoch sind die Ergebnisse sowie der Bezug zur Professionalisierungsdebatte für die vorliegende Arbeit anregend, da sie in ihrem Grundverständnis der Thematik einander ähneln. Auch die Untersuchung Hansmanns (2001) zu Musiklehrer/innen ist ähnlich angelegt, wie Dirks’ Studie. Hier ist besonders die Fachwahl Musik interessant, handelt es sich doch auch bei Sport um eines der sogenannten ‚weichen’ Fächer, bei denen angenommen werden kann, dass lebensgeschichtliche Vorerfahrungen und Verwobenheiten möglicherweise eine besondere Rolle spielen. Hansmann legt auf der Basis seiner Daten differenziert dar, dass zwei kontrastive, musikalische Sinnwelten auszumachen seien. Musik als offene, kreative Welt, die jedoch auch krisenauslösend sein kann, steht Musik als geschlossene, kanonisierte Welt gegenüber. Im schulischen Spannungsfeld scheint erstere durch wilde Wandlungsprozesse Anschlussmöglichkeiten zu bieten, während die zweite Variante musikalischer Sinnwelt oftmals an den widersprüchlichen Anforderungen scheitert (vgl. ebd.). Diese hier differenziert ausgeführten Ergebnisse zur Verwobenheit von privatem und beruflichem Musikverständnis und den daraus resultierenden Konsequenzen für berufliche Praxen bezieht Hansmann dann jedoch ganz allgemein auf die Kernprobleme schulischen Musikunterrichts (vgl. ebd., S. 127ff.). Die Subsummierung aller Interviews unter diese Thematik als Beleg für Strukturelemente schulischen Handelns lässt die empirisch gehaltvollen Ergebnisse verblassen. Für die hier vorliegende Untersuchung stellen Hansmanns Ergebnisse eine interessante Reflexionsfolie zum spezifischen, biographisch geprägten Fachverständnis dar. Auch für den Sport ist eine solche Ergebnislage verschiedener sportlicher Sinnwelten sowie die Kontrastierung von „offen, kreativ“ und „geschlossen, kanonisiert“ denkbar und inhaltlich zu füllen. Abgesehen von diesen wenigen Untersuchungen kann im Überblick zu den fachspezifischen Perspektiven festgehalten werden, dass „(e)ine methodische Kontrolliertheit der Datenauswertung … in vielen Fällen nicht gegeben (scheint). Das weitere Verfolgen dieser Perspektive erschiene … lohnenswert“ (Kunze & Stelmaszyk, 2004, S. 803). Sich diesem Resümee anschließend bleibt also, ein entsprechendes Forschungsdesign für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit zu entwickeln, das sich hinsichtlich des Zuganges, aber auch oder gerade im
22
vgl. zu dieser Kritik auch Kunze & Stelmaszyk, 2004, S. 804.
34
2 Biographische Perspektiven
Bereich der Datenauswertung an Standards und Gütekriterien erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung orientiert. Zunächst soll nun jedoch der Blick auf die sportpädagogische Lehrer/innenforschung mit biographischer Perspektive gerichtet werden.
2.2 Fachspezifische Anschlüsse der Sportpädagogik Auch in der Sportpädagogik und –didaktik hat die kritische Auseinandersetzung mit einer adäquaten Professionalisierung von Sportlehrer/innen sowohl auf konzeptioneller als auch auf der Ebene konkreter Forschungsprojekte bereits eine langjährige Tradition. Für die vorliegende Arbeit sind aus diesem Feld insbesondere die Forschungen mit einem biographischen Zugang von Interesse. Diese werden im Folgenden daher kritisch gewürdigt und auf die eigenen Forschungsfragen reflektiert. Die sportpädagogische Forschung mit biographischem Fokus auf den Sportlehrberuf23 lässt sich in vier Interessensbereiche gliedern: Sozialisation, Belastung, Selbstkonzept und Vermittlung. Die Zugänge zu biographischen Daten gestalten sich dabei verschiedenartig, sind jedoch in jüngerer Vergangenheit ebenfalls stärker dem Bereich qualitativer Forschungsmethodik zuzuordnen.
2.2.1 Forschung mit sozialisationstheoretischem Interesse Als Reaktion auf die Reform der Sportlehrer/innenausbildung, die bis in die 1970er Jahre im Wesentlichen auf programmatischer Ebene verlaufen ist, rückt Baur (1981) erstmals die (berufliche) Sozialisation von Sportlehrern in den Mittelpunkt. Er entwickelt einen theoretischen Bezugsrahmen, der berufliche Sozialisation als „Sozialisationskarriere“ begreift und integriert in dieses Konzept in einem zweiten Schritt empirische Befunde zur (beruflichen) Sozialisation von Sportlehrerinnen und Sportlehrern. Entscheidender Richtungswechsel in der Perspektive dieser Arbeit ist die Betrachtung der beruflichen Sozialisation als einen Prozess, der bereits vor der eigentlichen beruflichen Ausbildung beginnt und sich auch nach Einstieg in die Berufstätigkeit nach der zweiten Ausbildungsphase fortsetzt. Berufliche Sozialisation wird also nicht mehr - wie bis dahin üblich - mit der Berufsausbildung gleichgesetzt, sondern als fortwährender Entwicklungsprozess betrachtet.
23
An dieser Stelle soll kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden; vielmehr geht es darum, exemplarisch verschiedene Themengebiete dieses Forschungsfeldes darzustellen.
2.2 Fachspezifische Anschlüsse der Sportpädagogik
35
Baurs Konzept fußt auf der beruflichen Perspektivierung des Lebenslaufes wie z. B. der familialen Sozialisation, der Sozialisation in Sportvereinen etc. (vgl. ebd., S. 105ff.). Er stellt empirische Befunde zum Sportstudium als berufsvorbereitende Sozialisation in den sozialisationstheoretischen Zusammenhang und formuliert auf dieser Grundlage Folgerungen für die hochschuldidaktische Ausrichtung der Lehrer/innenausbildung.24 In Anlehnung an das damals angestrebte Leitbild einer kritisch-funktionalen Berufsvorbereitung müsse im Studium beispielsweise nicht nur eine berufliche Orientierung im Sinne eines „konsistenten, begründeten und begründbaren Orientierungsrahmens“ (vgl. ebd., S. 247) vermittelt werden, der jedoch nicht als „endgültig“ definierte Auslegung der späteren Berufsrolle zu verstehen sei. Vielmehr gehe es darum, diese vermittelten eher liberalen, reformaufgeschlossenen und schülerzentrierten Orientierungen zu stabilisieren, um ihren Eingang in die berufliche Praxis zu befördern und eine „konservative“ Revision25 der lebens- und weltanschaulichen Positionen bei Eintritt in die Berufspraxis zu vermeiden (vgl. ebd., S. 245ff.). Obgleich in Baurs Untersuchung Biographie nicht im Sinne eines sozialwissenschaftlichen Konzepts angelegt ist, kann man diesen Perspektivenwechsel von einer reinen Betrachtung der Ausbildung mit dem Ziel, programmatische Leitbilder zu formulieren, hin zu einer sozialisationstheoretisch fundierten Ausweitung als erste Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen lebensgeschichtlichen Erfahrungen (hier: Primärsozialisation, institutionelle Sozialisationsinstanzen, wie Schule, Sportverein etc.) und beruflichem Handeln von Sportlehrerinnen und Sportlehrern begreifen. Denn es „wird von der Annahme ausgegangen, daß sich berufliche Sozialisation nicht nur im Rahmen von Berufsausbildung (…) vollzieht. Schon vorher findet berufliche Sozialisation statt, indem auf verschiedenen Handlungsfeldern sozial vermittelte Erfahrungen erworben und aufgrund dieser Erfahrungen berufsbezogene Entscheidungen getroffen werden, die überhaupt erst zum Eintritt in einen beruflichen Ausbildungsgang führen. Andererseits ist die berufliche Sozialisation mit Beendigung der Berufsausbildung nicht abgeschlossen, da davon auszugehen ist, daß berufliche Erfahrungen auch noch im „Berufsleben“ gewonnen werden…“ (Baur, 1981, S. 19).
24
25
Diese Folgerungen werden hier nur exemplarisch an einem für das Interesse des vorliegenden Beitrags orientierten Beispiel erläutert. Zur deutlich differenzierteren Ausarbeitung Baurs vgl. ders. S. 238-250. Die Tendenz des Zurückfallens in konservative Einstellungen zu Schule und Unterricht bei Eintritt in die Berufstätigkeit hat insbesondere durch das empirisch belegte Modell der „Konstanzer Wanne“ Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs gefunden (vgl. Kap. 2.1.1). Eine Relativierung dieser stark polarisierenden Dateninterpretation sowie eine differenzierte Darstellung der damals entfachten Debatte zu diesem Modell findet sich bei Gehrmann (2003, S. 153-157).
36
2 Biographische Perspektiven
Eine ausführliche Gegenüberstellung sowie die Diskussion einer potentiellen Entwicklung vom Sozialisationsparadigma hin zu einem „Biographieparadigma“ (wenn von einem solchen überhaupt gesprochen werden kann) gibt Dausien (2002a). Eine thematische Zuspitzung innerhalb dieses Forschungsfeldes nimmt Klinge (2002)26 vor. Sie fokussiert die Bedeutung der sportlichen Vorerfahrungen von Sportstudierenden und ihre Verflechtung mit den sportpraktischen Anteilen der Hochschulausbildung. Sie stellt die Frage „Was bildet eigentlich aus in der Sportlehrer(aus-)bildung?“. Deutlich wird anhand ihrer Ergebnisse, dass der Übergang vom Sportler/in zum/r Sportstudierenden scheinbar mühelos zu bewältigen ist, da die Akteur/innen diesen Wechsel meist als „Fortsetzung und Intensivierung bisheriger Interessen“ konstruieren (ebd., S. 156f.). Der Stellenwert der sportpraktischen Ausbildung für die Studierenden ist demnach besonders hoch. Klinge führt dieses Ergebnis auf den Umstand zurück, dass der Einfluss des bereits erworbenen Habitus als Sportler/in eine Anschlussfähigkeit an die sportpraktische Ausbildung mit ähnlichen Bewegungsnormen und sportmotorischen Anforderungen erleichtert. Die Bedeutung der sport- und bewegungspraktischen Ausbildung komme darüber hinaus in ihrer (vermeintlichen) ‚Eindeutigkeit’ der Suche nach Orientierung seitens der Studierenden stärker entgegen als die fachwissenschaftlichen Inhalte. Klinge stellt fest: „Diese Macht der Praxis, die sozusagen als ‚hidden curriculum’ wirksam wird, scheint die Ansprüche der universitären Lehrerbildung und des Faches zu unterlaufen, nämlich einen Habitus zu entwickeln, der Selbstplanung, Eigenverantwortlichkeit und v. a. die Entwicklung eigener Maßstäbe ermöglicht“ (ebd., S. 157)27.
Diese Ergebnisse verweisen auf die Bedeutung der lebensgeschichtlichen Erfahrungen in Form eines biographisch akkumulierten Wissens, auf dessen Grundlage (auch berufliche) Entscheidungen getroffen werden. Die Lebensgeschichte wird so zum „’Sozialisationsagenten’ für die biographische Zukunft“ (Alheit & Hoerning, 1989, S. 18). Den hier bereits angelegten Gedanken der berufsbiographischen Entwicklung greift Miethling mit einem lebensgeschichtlich weiter gefassten Blickwin26
27
Klinge führte qualitative, leitfadenorientierte Interviews mit insgesamt 12 Studierenden. In die hier vorgestellten Ergebnisse sind die Analysen von sieben dieser Interviews eingeflossen. Es handelt sich also um einen Werkstattbericht. Ihr Interesse hat sich auf die Entwicklung des „fachspezifischen Habitus“ (Huber, Liebau, Portele & Schütte, 1983) bei Sportstudierenden gerichtet. Klinge benennt an dieser Stelle ein Curriculum, das sich vornehmlich Schule in ihren Erziehungsanliegen auf die Fahnen schreibt. Universitäre Ausbildung zielt auf den Erwerb eines wissenschaftlichen Habitus und erwartet daher mehr und anderes.
2.2 Fachspezifische Anschlüsse der Sportpädagogik
37
kel auf und konzentriert sich thematisch auf das spezifische Belastungspotential des Berufsfeldes.
2.2.2 Forschung mit belastungstheoretischem Interesse Durch den massiven Wandel, dem das Berufsfeld von Sportlehrerinnen und Sportlehrern unterliegt und den daraus resultierenden Ansprüchen an ihr berufliches Handeln, ist auch das spezifische Belastungspotential des Sportlehrberufs gestiegen. In der einzigen echten Längsschnittstudie zur berufsbiographischen Entwicklung von Sportlehrerinnen und Sportlehrern untersucht Miethling dieses Belastungspotential. Den Ausgangspunkt bildet dabei die bereits 1986 vorgelegten Studie „Belastungssituationen im Selbstverständnis junger Sportlehrer“, in der anhand von 12 Fallstudien die Entwicklung junger Sportlehrer/innen in den ersten Berufsjahren unter den Perspektiven Berufs(un)zufriedenheit, Berufsbelastungen und Ängste der Junglehrer/innen analysiert wird. Von den bereits 1986 interviewten Sportlehrer/innen nahmen 11 von 12 an einer neuen Interviewstudie teil, so dass es gelungen ist, ihre berufliche Entwicklung nach 20 Jahren Berufstätigkeit erneut zu erfassen. Darüber hinaus sind 1999/2000 12 weitere Sportlehrer/innen (Berufsanfänger/innen) befragt worden. Auch diese Gruppe soll in einigen Jahren erneut interviewt und das Gesamtsample um eine weitere Berufsanfängergruppe ergänzt werden. Dieses Vorgehen ermöglicht, Unterschiede zwischen verschiedenen Altersgruppen, Schulformen sowie zwischen Sportlehrern und Sportlehrerinnen zu fokussieren. Denn im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen hier die Differenzen zwischen diesen Gruppen hinsichtlich ihrer berufsbiographischen Entwicklung, um so sportlehrerspezifische Belastungspotentiale und fachimmanente Grundprobleme zu rekonstruieren (vgl. Krieger & Miethling, 2000, S. 21f.). Besonders bedeutsam sind in diesem Zusammenhang die verschiedenen Bewältigungsmuster der Sportlehrer/innen, die Miethling in Anlehnung an Schaarschmidt et al. (2001)28 rekonstruiert. Zum aktuellen Zeitpunkt liegen aus dem laufenden Projekt erste Ergebnisse in Form eines Werkstattberichts vor. Hier wird die berufsbiographische Entwicklung der Sportlehrer/innen, die bereits zum ersten Untersuchungszeitpunkt befragt worden sind, über eine Zeitspanne von 30 Jahren verfolgt. Ihre Einstellung zum Beruf unterliegt demnach, ebenso wie die Bedingungen für ihre Arbeit, einem Wandel, den Miethling wie folgt charakterisiert:
28
Vgl. hierzu Miethling (2002, S. 52)
38
2 Biographische Perspektiven „Die(se) veränderten Einstellungen werden häufig mit dem offensichtlich nach einiger Berufserfahrung einsetzenden Aufkommen eines ‚Schutzmechanismus’ in Verbindung gebracht, der spezifische – und in den einzelnen Fällen zum Teil höchst unterschiedliche – (Über)lebens-Strategien zur erfolgreichen (Schul)Alltagsbewältigung bedingt; es scheint dabei auch insbesondere um den Schutz der Privatperson Lehrer und der ‚Ressource des Selbst’ eines jeden Menschen zu gehen“ (Miethling, 2002, S. 68).
Miethlings Verweis auf die „Ressource des Selbst“ bietet direkte Anschlussmöglichkeiten an den professionstheoretischen Diskurs. Denn mit dem Begriff des „professionellen Selbst“ führen Bauer, Kopka und Brindt (1996) eine neue Bezugsgröße in die Lehrer/innenforschung ein und definieren pädagogische Professionalität in diesem Zusammenhang wie folgt: „Pädagogisch professionell handelt eine Person, die gezielt ein berufliches Selbst aufbaut, das sich an berufstypischen Werten orientiert, sich eines umfassenden pädagogischen Handlungsrepertoires zur Bewältigung von Arbeitsaufgaben sicher ist, sich mit sich und anderen Angehörigen der Berufsgruppe Pädagogen in einer nichtalltäglichen Berufssprache verständigt, ihre Handlungen unter Bezug auf eine Berufswissenschaft begründen kann und persönlich die Verantwortung für Handlungserfolge in ihrem Einflussbereich übernimmt“ (Bauer, Kopka & Brindt, 1996, S. 15).
Pädagogische Professionalität gliedert sich nach Bauer et al. demnach in verschiedene Komponenten, wobei sie zwischen internen und externen Dimensionen unterscheiden. Das professionelle Selbst steht in ihrem Konzept über den anderen Komponenten der Professionalität und kann als eine höhere professionelle Bewusstseinsstufe, die Reflexionsmechanismen zugänglich ist, bezeichnet werden (vgl. ebd., S. 14). Bezogen auf Miethlings Forschungsergebnisse könnte es durchaus fruchtbar sein, die Einstellungsänderungen der Sportlehrer/innen mit diesem Konzept zu konfrontieren, scheint es sich hier doch um ein biographisch erworbenes „Gut“ zu handeln, das zu einer größeren Gelassenheit in der Berufsausübung führt (vgl. Miethling, 2002, S. 70).
2.2.3 Forschung zum beruflichen Selbstkonzept Die Forschungsarbeit von Zoglowek (1995) zum beruflichen Selbstkonzept des Sportlehrers nähert sich, ebenso wie Miethling und die anschließend dargestellten Forschungsarbeiten, auf qualitativ-empirische Weise ihrem Forschungsgegenstand. Im Mittelpunkt steht die Rekonstruktion der subjektiven Theorien der Sportlehrer/innen im Sinne einer „subjektiven Selbsttheorie“ (ebd., S. 54ff.).
2.2 Fachspezifische Anschlüsse der Sportpädagogik
39
„Es wird davon ausgegangen, dass Lehrer im Laufe ihrer professionellen Biographie, d. h. ihrer subjektiv erlebten beruflichen Laufbahn, und mit Hilfe ihrer subjektiven Selbsttheorie ein berufliches Identitätsgefühl entwickeln, eine Antwort finden auf die Frage, wer sie als Lehrer sind“ (ebd., S. 18).
Mit der Akzentuierung des Entwicklungsaspekts knüpft Zoglowek explizit an die eingangs skizzierte Professionalisierungsdebatte um den Lehrberuf an. Seine Argumentation mündet in einem Plädoyer für einen qualitativ biographischen Forschungszugang als adäquate Methode zur Rekonstruktion eines Entwicklungsprozesses, der innerhalb der Gesamtbiographie gesehen werden muss. Die Ergebnispräsentation orientiert Zoglowek gemäß seiner biographischen Perspektive eines lebenslangen Prozesses des Lehrer-Werdens, Lehrer-Seins und Lehrer-Bleibens an folgenden berufsbiographischen Phasen: Wege in den Beruf, Berufsaneignung und Initiation sowie berufliche Entwicklung und Zufriedenheit mit dem Beruf. Drei verschiedene Begründungszusammenhänge rekonstruiert Zoglowek hinsichtlich der Berufswahl. Dass Sportlehrer/innen Sport als einen wichtigen Bestandteil ihres Lebens ansehen, ist dabei als übergeordnete Kategorie zu sehen. Diese gliedert sich sodann jedoch in jene, die beruflich „auf jeden Fall etwas mit Sport“ machen wollten, während bei einer zweiten Gruppe in erster Linie das Lehrerwerden im Vordergrund gestanden hat. In der dritten Gruppe, die vornehmlich aus Lehrerinnen gebildet wird, hat die Vereinbarkeit von Familie und Beruf Priorität bei der Berufswahl (vgl. ebd., S. 263ff.). Die Ausbildungszeit als Zeit der Berufsaneignung und Initiation wird von den Sportlehrer/innen eher negativ bewertet, wobei besonders das Studium als wenig praxisnah und theorielastig beschrieben wird. Zwar gebe es im Praxisbereich erworbene fachmethodische Kenntnisse, die als deutlich gewinnbringender eingeschätzt werden als die theoretischen Anteile. „Wenig bis gar keine Bedeutung wird der Ausbildungszeit jedoch zugesprochen im Hinblick auf die Ausbildung von pädagogischen Qualifikationen oder Verhaltensweisen, die zur Bewältigung des normalen, alltäglichen Unterrrichtsgeschehens befähigen“ (ebd., S. 268). Als tatsächlichen Einstieg in den Beruf „beschreiben fast alle ihre ersten ‚echten’ Berufsjahre als den Beginn für die eigentlichen An- und Einpassungsprozesse in den Alltag von Schule und Unterricht – und somit als wirklich bedeutsam für die Entwicklung einer individuellen beruflichen Identität“ (ebd., S. 269). Dennoch scheint dieser Prozess aus Sicht der befragten Sportlehrer/innen recht erfolgreich verlaufen zu sein, denn alle geben eine Zufriedenheit mit ihrer Lehrerrolle an. Zoglowek ordnet diese Tendenz in die Selbstkonzepttheorie ein und kommt zu dem Schluss, dass seine Interviewpartner/innen eine hohe Übereinstimmung zwischen ihrer Berufsrollenvorstellung (Idealbild) und ihrer Ausformung und Wahrnehmung dieser Rolle erzielen (ebd., S. 271). Wie sich das
40
2 Biographische Perspektiven
Berufsrollenverständnis ausdifferenziert, skizziert Zoglowek anschließend (ausführlich ebd., S. 271ff.). Der entscheidende Beitrag dieser Arbeit liegt neben den vorgestellten Ergebnissen in der dezidierten Darstellung und Reflexion des forschungsmethodischen Vorgehens. Chancen und Grenzen qualitativer Sozialforschung mit Schwerpunkt auf dem Prinzip der Kommunikativen Validierung29 (vgl. ebd., S. 145ff.) werden ausführlich diskutiert und mit Bezug auf die Fragestellung entwickelt. Die Arbeit Zogloweks kann als Beitrag zu einer bisher wenig elaborierten Methodendiskussion innerhalb des Forschungsfeldes durchaus als interessanter Impuls betrachtet werden.
2.2.4 Forschung mit Vermittlungsinteresse Das konkrete Interesse, ihre Forschungsergebnisse nicht nur zu kommunizieren, sondern sie direkt in Bereiche der Sportlehrerausbildung und/oder Berufsorientierung einfließen zu lassen, verfolgen andere Forscher/innen mit ihren biographisch orientierten Untersuchungen von Sportlehrerinnen und Sportlehrern bzw. Sportstudierenden. So stellen Baillod & Moor (1997) beispielsweise das Anliegen ihres Buches „In Bewegung: Sportlehrerinnen und Sportlehrer sprechen über ihren Beruf“ wie folgt vor: „Das vorliegende Buch beabsichtigt, (die) Hintergründe30 des Sportlehrerberufes auszuleuchten. Es soll all jenen, die sich mit diesem Beruf auseinandersetzen wollen (oder müssen) als Informations- und Entscheidungsgrundlage dienen. Insbesondere richtet es sich an Studien- und Berufswähler/innen, Studierende, Sportlehrer/innen, die im Beruf oder vor Laufbahnentscheidungen stehen, Ausbildungsverantwortliche sowie Berufs- und Laufbahnberater/innen“ (ebd., S. 5).
Auf der Datenbasis des Forschungsprojekts „Berufliche Entwicklung und Arbeitssituation von Turn- und Bewegungslehrer/innen“ (BEATUS), das 1994 und 1995 am Institut für Psychologie der Universität Bern durchgeführt worden ist, stellen die Autoren unterschiedliche Berufsphasen gegenüber. Die berufliche Zukunftssicht von Studierenden (vgl. ebd., S. 44ff.) wird beispielsweise mit den 29 30
Zum unterschiedlichen Verständnis des Begriffs ‚Kommunikative Validierung’ vgl. auch Kapitel 3.5.2. Gemeint ist hier die Arbeit im Spannungsfeld zwischen sportlichem Engagement und pädagogischen Ansprüchen, zwischen körperlichen Voraussetzungen und ihrer Veränderung sowie der geistigen Auseinandersetzung und nicht zu letzt den strukturellen und institutionellen Bedingungen des Berufsfeldes (Anm. der Verf.).
2.2 Fachspezifische Anschlüsse der Sportpädagogik
41
Erfahrungen und Überlegungen zur beruflichen Vergangenheit und Gegenwart von ‚praktizierenden’ Sportlehrerinnen und Sportlehrern (vgl. ebd., S. 104ff.) kontrastiert und schließlich in Anregungen für die Berufswahl, die Laufbahngestaltung und die Ausbildung von Sportlehrerinnen und Sportlehrern überführt. Besonders die Diskrepanz zwischen den Berufswahlmotiven der Studierenden (im Wesentlichen die Freude an der Bewegung, sowie das Hobby zum Beruf machen zu können) und der Perspektive erfahrener Sportlehrer/innen, die deutlich aufzeigen, dass das eigene Sporttreiben im Berufsalltag eine deutlich nachrangige Position einnimmt, wird hervorgehoben: „Die (erfolgreiche) Entwicklung vom Sportler zum Pädagogen“ (ebd., S. 129) wird als wesentlicher Garant für eine langfristige Berufszufriedenheit bei Sportlehrerinnen und Sportlehrern beschrieben. Wie bereits im Studium eine reflexive Grundhaltung zum eigenen (beruflichen) Handeln gefördert werden kann, untersuchen Bräutigam et al. (2005) im Rahmen des Forschungsprojekts „Kompetenzerwerb im Sportstudium – Vermittlung von Sach- und Selbstkompetenz“. Sie verstehen Selbstkompetenz zunächst als „Fähigkeit, mittels ausgewiesenen Wissens die eigene Realität zum Gegenstand kognitiver Aktivitäten zu machen“ (Bräutigam et al. 2005, S. 2). Anknüpfungspunkte findet diese Forschergruppe bei der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung sowie bei den professionstheoretischen Konzepten zum Lehrberuf. Durch gezielte Methoden (berufsbiographische Erzählung, evaluative Selbstdokumentation, Lern- und Studienreport) werden Studierende im Rahmen eines Seminars dazu angehalten, in Einzelarbeit ihre Arbeitsergebnisse zu verschriften, zu „re-analysieren“ und zu reflektieren (vgl. ebd., S. 3f.). Insbesondere der Entwicklung biographischer Kompetenz dient ein narratives Interview, das mit den Studierenden durchgeführt und ihnen anschließend zu einer angeleiteten Selbstauswertung zur Verfügung gestellt wird. Biographische Kompetenz verstehen Bräutigam et al. in diesem Zusammenhang wie folgt: „Wenn der Lehrer lernt, sein biographisches Wissen als eine Ressource zu verstehen, erschließt sich für ihn ein erhebliches Potential für die Bewältigung seiner beruflichen Aufgaben. Professionell gelingt das, wenn er dazu in der Lage ist, diese Ressource nicht unkritisch, sondern reflektiert in sein berufliches Handeln einzubringen, außerdem erkennt, dass diese Ressource entwickelbar und modifizierbar ist, und schließlich imstande ist, diese Entwicklungsmöglichkeiten aktiv zu nutzen“ (ebd., S. 3).
Erste Ergebnisse der Untersuchung von Bräutigam et al. verweisen erneut auf die große Bedeutung biographischer Vorerfahrungen, die „als ein zentraler Filter für die Rezeption und Verarbeitung von Lehrangeboten“ (vgl. Bräutigam et al. 2005,
42
2 Biographische Perspektiven
S. 4) fungieren. Darüber hinaus hat sich bei den Studierenden eine Tendenz zur additiven Zusammenstellung verfügbarer Wissensbestände, ohne das Herstellen von sinnvollen Bezügen zwischen den einzelnen Wissensbereichen, abgezeichnet. Der Ressourcencharakter solcher biographischen Wissensbestände, wie Bräutigam et al. ihn diagnostizieren, ist jedoch aus einer Professionalisierungsperspektive als ambivalent zu betrachten, denn als nachhaltiges und in gewisser Weise ‚dominantes’ Wissen im Vergleich zu anderen, insbesondere expliziten wissenschaftlichen Wissensformen, ist biographisches Wissen in positiver Konnotation nur als Ressource für die Lösung aktueller (biographischer) Problemlagen aus Sicht der jeweiligen Sportlehrkraft vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen zu verstehen. Als Ressource für die berufliche Entwicklung und Professionalisierung von (Sport-)Lehrerinnen und Lehrern ist die Bedeutung biographischen Wissens als Erfahrungswissen jedoch kritisch zu hinterfragen, denn es kann aus der Perspektive der Wissensverwendungsforschung ebenso notwendige Lern- und Bildungsprozesse von Lehrern/innen beim Erwerb eines wissenschaftlichen Habitus behindern. Für die vorliegende Untersuchung steht daher das berufsbiographische Entwicklungsproblem, lebensgeschichtliche Erfahrungen an die Anforderungen des Berufsfeldes Schule anschlussfähig zu machen, im Analysefokus. Es geht also nicht darum, dass Lehrer/innen lernen, ihr biographisches Wissen als sinnvolle Quelle zur Lösung beruflicher Problemlagen zu verstehen, sondern mit analytischem Interesse empirisch fundiert Aussagen darüber zu formulieren, auf welche Art und Weise Sportlehrer/innen ihr biographisches Wissen erwerben, verwenden und an das berufliche Feld anschließen. Darüber hinaus wird deutlich, dass der biographische Fokus auf Sportlehrer/innen in der sportpädagogischen Forschung durch eine Methodenvielfalt im Zugang sowie in der thematischen Zuspitzung gekennzeichnet ist. Ein dezidiert dargelegtes Verständnis von ‚Biographie’ konnte in den meisten Arbeiten31 nicht gefunden werden.
2.3 Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang von Lehrer/innen als konzeptioneller Anschluss für die eigene Untersuchung Bereits der Formulierung der Fragestellung „Wie schließen Sportlehrer/innen ihr biographisches Wissen an die Anforderungen des beruflichen Feldes an?“ ist die Perspektive auf Sportlehrer/innen als aktive Mitgestalter/innen des Professionali31
Möglicherweise ist dies auch dem Umstand geschuldet, dass es sich z. T. um Werkstattberichte aus noch nicht abgeschlossenen Forschungsprojekten handelt.
2.3 Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang von Lehrer/innen
43
sierungsprozesses immanent. Die Definition pädagogischer Professionalität als berufsbiographisches Entwicklungsproblem verbleibt hingegen auf der Ebene des analytischen Außenblicks von Erziehungswissenschaftler/innen, was sich m. E. auch in der Anlage der Untersuchungen von Terhart et al. (1994) widerspiegelt, die wenig Raum für die nicht vorstrukturierten Eigenperspektiven der Lehrer/innen bereitstellt. Dies ist wiederum eng verbunden mit dem Desiderat einer differenzierten theoretisch und method(olog)isch reflektierten Konzeptualisierung des Biographie-Begriffs. An dieser Stelle bietet die aktuelle Bildungsgangforschung und –didaktik konstruktive Anschlussmöglichkeiten für die Perspektivierung der vorliegenden Arbeit.
2.3.1 Bildungsgangforschung Insbesondere in den letzten Jahren hat sich eine vermehrte Diskussion zum Thema Bildungsgangforschung, Bildungsgangdidaktik und Bildungsgangtheorie (vgl. Meyer & Reinartz, 1998; Hericks & Spörlein, 2001; Trautmann, 2004; Schenk, 2005; Hericks, 2006) etabliert, die ihren Ausgangspunkt allerdings bereits in der wissenschaftlichen Begleitung der nordrhein-westfälischen Kollegschulen findet (vgl. exemplarisch Blankertz, 1986). Es ist also zunächst um Unterrichtsforschung in der Institution Schule und damit einhergehend um LehrLern-Forschung gegangen. Bildungsgangforschung ist „research on learner development and educational experience. Bildungsgangforschung betont mit der Konzentration auf den ‚Gang’ der Bildung die Perspektive der Lernenden…“ (Meyer, 2005, S. 18), d. h., dass es die subjektiven Bildungsgänge der Lernenden zu rekonstruieren gilt. Es wird davon ausgegangen, dass ein Bildungsgeschehen sich in selbsttätiger Auseinandersetzung sich bildender Subjekte entfaltet, wobei Bildung im Sinne einer Arbeitsdefinition wie folgt gefasst wird: „Bildung ist ein sozialisatorischer Prozess, in dem sich das Selbst entwickelt, mit Krisen, Regressionen, Brüchen, Entwicklungsschüben und Aufbrüchen. Die Förderung von Bildung bedarf daher einer Kultur, die sich nicht nur die Reproduktion der Gesellschaft sichert, sondern zugleich gesellschaftliche Transformation ermöglicht“ (Meyer, 2005, S. 18).
Bildungsgangforschung befasst sich also neben unterrichtlicher Lehr-LernForschung auch mit der Erforschung von Bildungsprozessen. Vorwiegend stehen dabei bisher Schüler/innen als Lernende im Fokus. Bildungsgangtheorie erhebt im Anschluss an Überlegungen zur Bildungsgangdidaktik den Anspruch, einen sinnvollen Rahmen für die Erforschung solcher Lehr-Lernprozesse zu bieten, der eine Vermittlungsfunktion zwischen all-
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2 Biographische Perspektiven
gemeiner Didaktik und Fachdidaktiken sowie der Fachdidaktiken untereinander ermöglicht (vgl. Schenk, 2005, S. 13). Bildungsgangtheorie beinhaltet in diesem Verständnis notwendigerweise auch normative Aspekte, derer es sich jedoch ideologiekritisch zu vergewissern gelte (vgl. ebd.). „Welche Normen verbindlich sein können, ist strittig. Dass Didaktik Aussagen darüber gewinnen muss, was sein soll, hingegen scheint konsensfähig“ (ebd.). Unter der Perspektive der Professionalisierung von Lehrer/innen können diese Überlegungen auch auf Lehrer/innen als Lernende übertragen und ins Interesse der Bildungsgangforschung gerückt werden. So wie in Terharts Ausführungen zu pädagogischer Professionalität im Lehrberuf Professionalisierung als berufsbiographisches Entwicklungsproblem verstanden wird, fußt die Bildungsgangforschung auf dem zentralen Konzept der Entwicklungsaufgaben im Bildungsprozess, die es zu bewältigen gilt. Grundlegend hierfür ist in der historischen Rückschau zur Bildungsgangdidaktik und -forschung die Konzeptualisierung des Begriffs ‚Entwicklungsaufgabe’ nach Havighurst32 (1948/1972), die in der ursprünglichen Fassung heute zwar nicht mehr aktuell ist, aber dennoch über ein noch nicht ausgeschöpftes Potential für Forschung und Lehrer/innenbildung verfüge (vgl. Trautmann, 2004, S. 19ff.). Dieses Konzept ist mittlerweile in verschiedenen Varianten weiterentwickelt worden. Gemeinsam bleiben ihnen zwei zentrale Annahmen: 1.
2.
Entwicklungsaufgaben werden durch objektive gesellschaftliche Anforderungen definiert, die jedoch individuell wahrgenommen, gedeutet und bearbeitet werden müssen, um schließlich biographische Wirksamkeit erlangen zu können (vgl. Koller, 2005, S. 49). Solche Entwicklungsaufgaben sind „unhintergehbar“ (Hericks & Spörlein, 2001, S. 34), da sie die Grundlage für jegliche Form von Identitätsbildung und Kompetenzgewinn seien.
Ganz konkret auf Lehrer/innen als zu Erforschende bezogen, macht Hericks (2004; 2006) folgende vier Entwicklungsaufgaben im Professionalisierungsprozess aus:
32
„Für Havighurst sind Entwicklungsaufgaben Aufgaben, die sich aus der Tatsache biologischer Entwicklung innerhalb einer sozialen Umwelt und aus eigenen Zielen ergeben und die zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben der Individuen auftreten und bearbeitet werden müssen“ (Trautmann, 2004, S. 11)
2.3 Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang von Lehrer/innen 1.
45
Entwicklungsaufgabe Kompetenz „Die Kompetenzen zur Bewältigung beruflicher Anforderungen einsetzen und ausweiten. Mit den eigenen Ressourcen haushalten, mit Schwächen und Grenzen umgehen können. Zwischen den eigenen Handlungskompetenzen und erfahrenen Handlungsnotwendigkeiten vermitteln können. Einen persönlichen Unterrichtsstil und Stil im Umgang mit den Schülern kultivieren“ (Hericks, 2004, S. 120).
2.
Entwicklungsaufgabe Vermittlung „Ein Konzept der eigenen Rolle als Vermittler von kulturellen Sachverhalten und Fachinhalten entwickeln“ (ebd., S. 121).
3.
Entwicklungsaufgabe Anerkennung „Ein Konzept der pädagogischen (Fremd-)Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler als der entwicklungsbedürftigen Anderen entwickeln“ (ebd.).
4.
Entwicklungsaufgabe Institution „Möglichkeiten und Grenzen der institutionellen Rahmenbedingungen erkennen und mitgestalten; ein Konzept der Kooperation mit Kollegen entwickeln (vgl. HERICKS/KUNZE 2002, S. 405)“ (ebd.).
Dabei bezieht sich Hericks auf die Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern in der Berufseingangsphase (vgl. Hericks, 2006), da er diese in Anlehnung an Terhart (2000) als entscheidende Phase der beruflichen Sozialisation begreift. „Hier bilden sich personenspezifische Routinen, Wahrnehmungsmuster und Beurteilungstendenzen sowie insgesamt die Grundzüge einer beruflichen Identität. Die in dieser Phase gemachten und verarbeiteten Erfahrungen sind für die weitere Entwicklung (im Blick auf Stabilität wie Wandel) der Person in ihrer Berufsbiografie und Kompetenzentwicklung von großer Bedeutung. Umso fataler ist es, dass genau in dieser Phase die jungen Lehrer weitgehend allein gelassen werden“ (Terhart, 2000, S. 128 zit. nach Hericks, 2006, S. 16, Herv. i. O.).
Hericks legt im Anschluss an seine empirische Untersuchung daher konzeptionelle Überlegungen für die Gestaltung einer begleiteten Berufseingangsphase vor (ebd., S. 453ff.). Für das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit ist diese Perspektive prinzipiell bedeutsam, stellt Hericks doch die Frage „Habitus oder Entwick-
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2 Biographische Perspektiven
lungsaufgaben: Wie lernen Lehrer?“ und betont damit die Bedeutung biographischer Vorerfahrungen und damit verbundener Habitualisierungsprozesse für die Professionalisierung von Lehrer/innen. Hericks geht u. a. der Frage nach, „welche Form der Auseinandersetzung mit Wirklichkeit den angehenden Lehrkräften von ihren anfänglichen Habitnjs her jeweils nahe gelegt ist“ (Hericks, 2006, S. 415). In der hier vorliegenden Arbeit wird ebenfalls davon ausgegangen, dass in der Berufseinstiegsphase bereits wesentliche Voreinstellungen des Blicks auf den Beruf sowie den Inhaltsbereich Sport entwickelt und habitualisiert worden sind. Ziel ist es, diese Voreinstellungen gleichermaßen in den Analysefokus zu nehmen, um anschließend Ableitungen für eine entsprechende Konzeption zur Professionalisierung formulieren zu können, in die auch eine begleiteten Berufseingangsphase integriert ist (vgl. Kap. 5.2). Grundsätzlich ist das Konzept der Entwicklung und Entwicklungsaufgabe bereits aus verschiedenen Perspektiven kritisch hinterfragt worden (vgl. z. B. bereits Strauss, 1974; Marotzki, 1999b). Diese kritische Bezugnahme und ein darauf aufbauendes Verständnis von Bildung als Wandel wird in Kapitel 3.1.2 ausführlich diskutiert und auf die vorliegende Arbeit bezogen. Darüber hinaus identifiziert Koller (2005, S. 53) für die bisherige Erforschung subjektiver Bildungsgänge mit Bezug auf das Konzept der Entwicklungsaufgabe drei Problemfelder: „die Bestimmung der objektiven gesellschaftlichen Herausforderungen angesichts radikaler Pluralisierung, die methodische Vorgehensweise bei der Erforschung von Entwicklungsaufgaben bzw. ihrer Bearbeitung und die Diskussion normativer Implikationen“. Er skizziert sinnvolle Lösungsmöglichkeiten dieser Probleme durch eine Orientierung am Programm der bildungstheoretisch fundierten Biographieforschung, das mit dem Konzept biographischer Bildungsprozesse verknüpft ist (ebd., S. 53ff.).
Diese Anregungen werden für das Forschungsinteresse dieser Arbeit besonders relevant, stellen sie doch die Möglichkeit der sinnvollen Verknüpfung der gedanklichen Parallelität zwischen Erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung und Bildungsgangforschung dar.
2.3.2 Konzeptionelle Anschlüsse und Perspektivierung der eigenen Untersuchung Von besonderem Interesse für die vorliegende Arbeit ist der qualitativ-empirische Zugang zur Interpretation von Bildungsprozessen in Anlehnung an Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung. Umfassende
2.3 Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang von Lehrer/innen
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Einblicke in die subjektiven Bildungsgänge von Sportlehrerinnen und Sportlehrer lassen sich auf diese Weise gewinnen und Bildungsprozesse als Wege in den und mit dem Beruf rekonstruieren. Individuelle Entwicklungsprobleme und auch angetroffene Entwicklungsaufgaben sowie ihre ‚Bearbeitung’ lassen sich aufzeigen. Solche Bildungsprozesse ereignen sich nicht ad hoc und sind nicht durch objektivierbare Verfahren messbar. „Bildungsprozesse können deshalb in erster Linie mit Mitteln qualitativer (bzw. rekonstruktiver) Forschung untersucht werden (vgl. Bohnsack 2000, S. 12ff.). Zum anderen stellen Bildungsprozesse von seltenen Ausnahmen abgesehen wohl kaum ein einmaliges, sich plötzlich ereignendes Geschehen dar, sondern sind als langfristige Vorgänge aufzufassen, die sich in lebensgeschichtlichen Dimensionen vollziehen“ (Koller, 2005, S. 61).
Insbesondere biographische Verfahren qualitativer (Sozial)Forschung eignen sich demnach zur empirischen Erfassung von Bildungsprozessen. Das Sportlehrerwerden und Sportlehrersein kann hier also als Bildungsprozess im Sinne einer permanenten (Weiter)Entwicklung im Professionalisierungsprozess verstanden werden. Auch hier ist jedoch eine genauere Betrachtung des zugrunde liegenden Biographieverständnisses angeraten, denn sowohl methodologisch als auch theoretisch müsste es hier ja Anschlussmöglichkeiten geben. Wie dies z. B. denkbar ist, wird in Kapitel 3.1 im Zuge der Einordnung der vorliegenden Arbeit in den Diskurs um Lebenslauf, Biographie und Bildung vorgestellt. Perspektivisch gewendet können Professionalisierungsprozesse und die damit verbundene Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in Anlehnung an aktuelle Tendenzen der Bildungsgangforschung als Rekonstruktion subjektiver Bildungsgänge verstanden werden. Diese subjektiven Bildungsgänge sind ein Teil der Biographie und lassen sich im Kontext der individuellen Auseinandersetzung mit dem objektiven Bildungsgang sowie der Aneignung des objektiven Bildungsgangs im Sinne institutioneller Ablaufmuster interpretieren. Ähnlich wie die Gegenüberstellung von subjektivem und objektivem Bildungsgang kann die Systematik Lebenslauf und Biographie verstanden werden. Je nach dem, welche Art von Einblicken von Interesse sind, muss sich auch der Forschungsfokus eher auf das eine oder das andere richten. In welchem Verhältnis Lebenslauf und Biographie zu einander stehen, soll daher nun reflektiert werden. Die Notwendigkeit einer Definition von ‚Biographie’ wird bei der Sondierung der vorgestellten Forschungsarbeiten erneut augenfällig. ‚Lebenslauf’, ‚Biographie’, ‚Berufsbiographie’ sind einige der Termini, die z. T. äquivalent, z. T. deutlich von einander abgegrenzt verwendet werden und entsprechende erkenntnistheoretische Vorstellungen der Forscher/innen transportieren. Die Unterscheidung zwischen Lebenslauf und Biographie hat sich im deutschsprachigen Raum
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2 Biographische Perspektiven
derart ausdifferenziert, dass Lebenslauf eher institutionelle Ablaufmuster bezeichnet, während Biographie stärker auf die individuelle Gestaltung einer Lebenskonstruktion und damit einhergehenden Sinngebungen fokussiert. „Als idealtypische Unterscheidung des Forschungszugangs kann von qualitativer Biographieforschung und quantitativer Lebenslaufforschung gesprochen werden“ (Kunze & Stelmaszyk, 2004, S. 798). Problematisch wird diese Unterscheidung jedoch bereits beim Blick auf die Untersuchung Terharts et al. (1994), die sich mit quantifizierenden Methoden den „Berufsbiographien von Lehrern und Lehrerinnen“ nähern. Die vorliegenden Studien mit biographischen Bezügen reichen wie beschrieben von einfachen Nacherzählungen von Lehrerlebensgeschichten über Phasenmodelle von beruflichen Verläufen und Fokussierungen auf die Berufsbiographie bis hin zu methodisch anspruchsvollen Rekonstruktionen von Lehrerbiographien, die Einzelfälle zunächst in ihrer Eigenlogik und Sinnstrukturiertheit nach explizierten qualitativen Methoden rekonstruieren und einen Zusammenhang von Lehrerhandeln, Lern- und Bildungsgeschichten sowie biographischer Entwicklung herzustellen versuchen. Die hier vorliegende Untersuchung knüpft methodisch an letztere an. Wichtig erscheint jedoch darüber hinaus und dennoch häufig vernachlässigt, das grundlegende Verständnis dessen, was als ‚Biographie’ bezeichnet wird, zu präzisieren und theoretisch zu verorten. Denn gerade die Nähe zu alltagstheoretischen Konzepten verlangt es m. E. in besonderem Maße, sich im wissenschaftlichen Kontext davon abzugrenzen, um jenen allzu häufig formulierten Vorwürfen der ‚Unwissenschaftlichkeit’ biographischer Forschung zu begegnen. So behauptet beispielsweise Bourdieu (1990, S. 75), dass „die ‚Lebensgeschichte’ (…) eine jener vertrauten Alltagsvorstellungen (sei), die sich in das wissenschaftliche Universum hineingeschmuggelt haben“. Ein Vorwurf, der wohl in Unkenntnis entsprechender Forschung und ihrer theoretischen Bezüge formuliert worden und einer Gleichsetzung mit dem naturalistischen Begriffsverständnis des Alltages geschuldet ist (vgl. hierzu auch Kapitel 3.1.1.2). Gerade wegen dieses doppelten Verwendungskontextes bedarf der Begriff ‚Biographie’ einer genaueren Definition, die im folgenden Kapitel in Abgrenzung vom Konzept des ‚Lebens(ver)laufes’ entwickelt wird. Darüber hinaus führt die Aufarbeitung der Forschungslage zu folgender Einschätzung. Im Anschluss an die zahlreichen Veröffentlichungen Terharts, die auf die Forschungsdefizite berufsbiographischer Lehrer/innenforschung verweisen und eine entsprechende Konturierung zukünftiger Forschung postulieren, weisen auch Kunze & Stelmaszyk (2004, S. 797) zu Recht darauf hin, dass diese Forderung, „Professionalität als berufsbiographisches Entwicklungsproblem zu sehen“ (Terhart, 1995, S. 238) weiterhin von großer Aktualität ist. Die erneute
2.3 Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang von Lehrer/innen
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Sondierung der Forschungslage, sowohl der sportpädagogischen als auch der erziehungswissenschaftlichen Lehrer/innenforschung mit biographischem Fokus, bestätigen diesen Eindruck. Im Folgenden wird nun zur begrifflichen Klärung zunächst eine Eingrenzung dessen, was im Rahmen dieser Arbeit unter ‚Biographie’ verstanden werden soll, skizziert. Dieses Verständnis impliziert ebenso wie die Fragestellung ein bestimmtes Forschungsverständnis, welches wiederum den Implikationszusammenhang zwischen Fragestellung, theoretischen Anleihen und dem forschungsmethodischen Vorgehen schließt.
3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
Das folgende Kapitel bildet gewissermaßen das Scharnier zwischen den theoretischen Vorüberlegungen und dem anschließenden empirischen Teil der Arbeit. Es geht darum, plausibel zu machen, warum das gewählte Vorgehen einen sinnvollen Implikationszusammenhang zwischen Fragestellung, theoretischen Bezügen und der angewandten Methode konstituiert. Dies wird in vier Schritten geschehen: 1.
2.
3.
4.
Zunächst werden die Konsequenzen der vorangegangenen Überlegungen zum Stand der Diskussion und der ‚Definition’ von Biographie für die Gestaltung eines Forschungsprozesses dargelegt. Dazu wird eine forschungsparadigmatische Einordnung der Biographieforschung als eine Form qualitativer Sozialforschung vorgenommen. Qualitative Sozialforschung wird dabei mit Bezug zu ihren erkenntnistheoretischen Grundlagen skizziert (Kap. 3.1). Neben der Definition von ‚Biographie’, wird auch die begriffliche Klärung des Konzepts des ‚Biographischen Wissens’ angestrebt (Kap. 3.2). Dieser Begriff, der sich im Rahmen der empirischen Analyse als zentrale Kategorie herauskristallisiert hat, wird in Anlehnung an Lipps (1976/1938) als konzeptioneller Begriff interpretiert und hinsichtlich seiner Konstruktionsprinzipien sowie seiner Funktion für die empirische Analyse reflektiert. Es folgt eine auf das eigene Vorgehen bezogene Reflexion der gewählten Methodologie der Grounded Theory als Rahmen für den Forschungsprozess (Kap. 3.3). Die zentralen Prinzipien wie die theoretische Sensibilität, die Zirkularität im Forschungsprozess zwischen Datenerhebung und Dateninterpretation sowie das Erreichen einer theoretischen Sättigung werden in diesem Zusammenhang an Beispielen aus der hier vorliegenden Studie erläutert. Die beiden Ergebnisebenen – die der Kernkategorie ‚biographisches Wissen’ und die der Prototypisierung seiner Anschlussverhältnisse – werden ebenfalls eingeführt. Als Erhebungsmethode dient das biographisch-narrative Interview nach Schütze (1983). Diese Methode wird sowohl hinsichtlich ihrer ‚Reichweite’ reflektiert (Kap. 3.4.2) als auch an Beispielen aus der vorliegenden Untersuchung illustriert (Kap. 3.4.1).
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
Abschließend werden dann unter Bezug auf die vorangegangenen Ausführungen Reflexionen zum eigenen Forschungsprozess angestellt und an ‚neuralgischen Punkten’ aus der eigenen Forschung diskutiert (Kap. 3.5).
3.1 Zur forschungsparadigmatischen Einordnung Sich auf wissenschaftlicher Ebene mit Biographien zu beschäftigen erfordert neben der erkenntnistheoretischen Einordnung dessen, was ‚Biographie’ eigentlich meint, auch eine adäquate Methode für die gezielte Erhebung forschungsrelevanter Daten sowie eine Gesamtkonzeption für den Forschungsprozess. Die im letzten Kapitel beschriebene erkenntnistheoretische Position impliziert eine Orientierung am sogenannten qualitativen Forschungsparadigma. Ohne hier die Unterschiede zwischen dem quantitativen und qualitativen Forschungsparadigma, die letztlich auf verschiedene erkenntnistheoretische Positionen zurückgehen, erneut aufrollen zu wollen (vgl. ausführlich z. B. Flick, 2002), soll der jeweilige Forschungsfokus dieser beiden Paradigmen kurz skizziert werden. Biographieforschung, wie sie in dieser Arbeit verstanden wird, kann auf diese Weise in den Kontext qualitativer Forschung eingeordnet werden. Quantitativ ausgerichtete Sozialforschung richtet ihren Fokus mit Hilfe standardisierter Methoden und numerischer Darstellung auf die Überprüfung vorab formulierter Hypothesen. Das Vorgehen resultiert aus den bereits weit zurückreichenden Bemühungen, Sozialforschung in ihrer Exaktheit am Vorbild der Naturwissenschaften zu orientieren und auf diese Weise Forschung planen, Ursachen und Wirkungen isolieren und theoretische Zusammenhänge operationalisieren zu können. Hierdurch sollen verallgemeinerbare Ergebnisse ermittelt und allgemeingültige Gesetze formuliert werden (vgl. Flick, 1995, S. 10ff.). Wichtige Prämissen sind dabei die klassischen Gütekriterien der Reliabilität, Validität und besonders der Objektivität, die mit Hilfe immer weiter verfeinerter Standardisierungsverfahren und Fragebogenkonstruktionen erreicht werden sollen. Die Subjektivität des Forschenden durch die Formulierung von Fragestellungen, Hypothesenbildung und auch Auswahl und Interpretation der Ergebnisse sind jedoch Eingriffe, die das Ideal der Objektivität fragwürdig erscheinen lassen: „Unter den Bedingungen der Entzauberung der objektivistischen Ideale kann nicht mehr umstandslos von objektiv wahren Sätzen ausgegangen werden. Was bleibt, ist die Möglichkeit subjekt- und situationsbezogener Aussagen, die zu begründen Aufgabe einer soziologisch akzentuierten Konzeption von Erkenntnis wäre“ (Bonß & Hartmann, 1986, S. 21 zit. nach Flick, 1995, S. 12).
3.1 Zur forschungsparadigmatischen Einordnung
53
Im Gegensatz zu quantifizierenden Verfahren wird im Rahmen qualitativer Forschung zumeist an einzelnen Fällen über soziale Phänomene und ihre ‚Erscheinung’ auf eine deskriptiv-theoretisierende Weise nachgedacht, die am Ende Hypothesen über Zusammenhänge formuliert. Ein bedeutender Unterschied ist, dass es in weiten Bereichen qualitativer Forschungsarbeiten also eben nicht um die Überprüfung vorab formulierter Hypothesen geht, sondern es wird sozialen Phänomenen in ihrer fallspezifischen Besonderheit auf den Grund gegangen, die dann in die Formulierung empirisch fundierter Hypothesen mündet. Dieses gewinnt besondere Aktualität, trägt man der gesellschaftlichen Entwicklungen mit fortschreitender „Individualisierung von Lebenslagen und Biographiemustern“ (Beck, 1986) und der damit verbundenen Pluralisierung der Lebenswelten Rechnung, die mit Habermas (1985) gesprochen zu einer „neuen Unübersichtlichkeit“ geführt hat. „Nachdem Vertreter der Postmoderne erklärt haben, daß die Zeit der großen Erzählungen und Theorien zu Ende sei (Lyotard, 1986), sind (daher) eher lokal, zeitlich und situativ begrenzte Erzählungen zeitgemäß“ (Flick, 1995, S. 9f.). Biographieforschung, wie sie in dieser Arbeit verstanden wird, schließt bereits in ihrer Entstehung an diese Perspektive an. Denn schon 1958 haben sich Thomas & Znaniecki zur Problematik des Verhältnisses vom Einzelfall zum Allgemeinen positioniert: „Indem wir die Erfahrungen und Einstellungen eines einzelnen Menschen analysieren, erhalten wir immer Daten und elementare Fakten, die nicht ausschließlich auf dieses Individuum begrenzt sind, sondern die als mehr oder weniger allgemeine Klassen von Daten und Fakten behandelt werden und so für die Bestimmung von Gesetzmäßigkeiten des sozialen Prozesses genutzt werden können“ (Thomas & Znanecki, 1958, S. 183f.).
Wie Rosenthal (2005, S. 46ff.) zu dieser Position richtig anmerkt, handelt es sich dem Zeitgeist entsprechend noch um ein positivistisch angehauchtes dualistisches Verständnis, über das heutige Konzeptionen und die entsprechende Methodologie der Biographieforschung weit hinausgehen (s.o.). Diese Konzeptionen sehen in Biographien sowohl soziale Wirklichkeit(en) als auch die Erfahrungs- und Erlebniswelten der Subjekte konstituiert; oder noch einmal mit Alheit gesprochen, enthalten sie immer Emergenz und Struktur. Darüber hinaus fließt in eine angemessene Biographieanalyse immer auch die Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen individuell lebensgeschichtlichen und kollektivgeschichtlichen Prozessen ein, d. h. die gesellschaftsgeschichtliche Einbettung der Lebensgeschichte sollte nicht vernachlässigt werden. Der einzelne Fall – hier die lebensgeschichtliche Erzählung – dient zur Beantwortung von Fragestellungen, die sich auf soziale Phänomene beziehen, die an Erfahrungen von Menschen gebunden sind und für diese eine biographische Bedeutung haben. In der
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
Betrachtung seiner Einbettung in soziale Kontexte wird es so möglich, die Verwobenheit zwischen Individuellem und Allgemeinem und somit zwischen Individuum und Gesellschaft zu betrachten. Biographieforschung, wie sie hier verstanden wird, strebt demnach keine numerische Verallgemeinerbarkeit an. Vielmehr geht es, getreu der Orientierung am sogenannten Interpretativen Paradigma (vgl. Kap. 3.1.1.1), um theoretische Verallgemeinerungen, die auf einzelnen Fallrekonstruktionen beruhen und durch kontrastive Fallvergleiche ausdifferenziert werden (vgl. hierzu z. B. Rosenthal, 1995, S. 208ff.). Auch in der Schlussfolgerung wird nicht auf eine bestimmte Grundgesamtheit geschlossen, sondern auf gleichartige Fälle, die es dann ermöglichen, Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. „’Das Gesetz ist eine Aussage über einen Typus, der durch sein Sosein charakterisiert ist’ (Lewin, 1927/1967, S. 18), und der Typus umfasst die gleichartigen Fälle. Für die Bestimmung des Typischen eines Falles – im hier gemeinten Sinne – ist die Häufigkeit seines Auftretens in keiner Weise von Bedeutung. Bestimmend für die Typik eines Falles sind hingegen die Regeln, die ihn erzeugen und die die Mannigfaltigkeit seiner Teile organisieren.“ (Rosenthal, 2005, S. 50).
Diese Perspektive kann in der qualitativen Forschung als allgemeiner Konsens angesehen werden und rekurriert auf ihre erkenntnistheoretischen Wurzeln.
3.1.1 Lebenslauf und Biographie – Reflexionen zur Systematik Biographien zum Gegenstand pädagogischer Forschung zu machen, ist eine neuzeitliche Entwicklung. Interessant ist die Entstehungsgeschichte dieser Forschungsrichtung, da sie helfen kann, die in Kapitel 2 dargestellten Leerstellen hinsichtlich der Definition von ‚Biographie’ zu reflektieren und einzuordnen. Über die Differenz zwischen Lebenslauf und Biographie, die sich im Laufe der Entwicklung im Sinne zweier unterschiedlicher Forschungsprogramme etabliert hat, lassen sich Begründungen für verschiedene method(olog)ische Zugänge ausmachen und begreifen. Diese sind eng verbunden mit der erkenntnistheoretischen Fundierung qualitativer Forschung, die daher im Folgenden skizziert und am Beispiel der Biographieforschung als eine Form qualitativen Forschens illustriert wird. Die Verortung der Biographieforschung unter dem qualitativen Paradigma wird dann hinsichtlich ihrer Konsequenzen für das empirische Projekt dieser Arbeit diskutiert. Diese Konsequenzen liegen zum einen im Bereich der Datenerhebung. Darüber hinaus müssen auch ein adäquater Rahmen für die Gestaltung des Forschungsprozesses sowie entsprechende Auswertungsstrategien gefunden werden, die sich im methodologischen Rahmenkonzept der
3.1 Zur forschungsparadigmatischen Einordnung
55
Grounded Theory vereinen. Wie Biographieforschung und Grounded Theory zu einander in Beziehung zu setzen sind, wird auch unter dem Aspekt der Verallgemeinerung bzw. des Verhältnisses zwischen Einzelfall und Gesellschaft reflektiert. Es wird sich zeigen, dass Definitionsbemühungen zum Begriff der ‚Biographie’ eng mit erkenntnistheoretischen Grundfragen verbunden sind, diese dann method(olog)ische Konsequenzen haben und auf diese Weise für die Einordnung der eigenen Arbeit (Kap. 3.1.2) nützlich sind.
3.1.1.1 Entwicklung einer Forschungslandschaft Die Entwicklung der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung lässt sich unter dem Blickwinkel der Erkenntnistheorie durch die Verbindung zweier Theorietraditionen erklären. „Zum einen handelt es sich um eine Reaktualisierung geisteswissenschaftlichhermeneutischer und phänomenologischer Tradition, vor allem der Philosophie Wilhelm DILTHEYs und Edmund HUSSERLs, zum anderen handelt es sich um die sozialwissenschaftliche Entwicklungslinie des Interpretativen Paradigmas, die im weitesten Sinne als Verstehende Soziologie oder Wissenssoziologie angesprochen werden kann“ (Marotzki, 1999b, S. 325).
Einordnen lässt sich die Entwicklung dieser Forschungsrichtung in den Zusammenhang weitreichender Industrialisierungs- und Migrationsprozesse insbesondere in Nordamerika. In diesem Zuge wendet sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die sogenannte Chicago School33 in ihren empirischen Forschungsarbeiten diesem Bereich zu. Im Fokus stehen die individuellen biographischen Bewältigungsmuster, die die erzwungene Individualisierung und den Verlust von etablierten Orientierungsmustern kompensieren (sollen). Als prominentes Beispiel und immer wieder als Ausgangspunkt für die Entwicklung der mittlerweile selbst auf eine Forschungstradition zurückblickende Biographieforschung ist die Forschungsarbeit von Thomas & Znaniecki (1918) „The Polish Peasant in Europe and America“ zu nennen. Schon damals formulierten sie – wenn auch mit einem etwas naiven Verständnis der Relation von Erfahrungen, Daten und Fakten – den Anspruch, mit Hilfe biographischer Dokumente sowohl Aussagen über das einzelne Individuum als Träger der Biographie, als auch über Gesetzmäßigkeiten sozialer Prozesse treffen zu können. Die heutige Biographieforschung begegnet 33
Die biographische Forschungsperspektive gibt der Entwicklung der Chicago School einen wichtigen Impuls. Später bringt dieser Forschungszusammenhang unter anderem den Symbolischen Interaktionismus hervor.
56
3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
diesen Annahmen zum Verhältnis von „Erfahrungen“ und „Fakten“ mit ausgefeilten biographietheoretischen Konzeptionen und methodologischen Reflexionstraditionen (vgl. zusammenfassend Rosenthal, 2005, 46ff.). Dennoch ist die grundlegende Idee der Biographie als Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft nach wie vor eine relevante Bezugsgröße für die Interpretation biographischer ‚Daten’ (siehe hierzu auch Kap. 3.4.2). Darüber hinaus und anschließend an die offenen Fragen aus Kapitel 2 bleibt zu erwähnen, dass zu diesem Zeitpunkt noch nicht systematisch zwischen Lebenslauf und Biographie unterschieden worden ist. In Deutschland lassen sich aus der heutigen Rückschau zwei verschiedene Forschungsrichtungen ausmachen, die in den Arbeiten Kohlis (insbes. 1978) ihren Ursprung haben: die Biographieforschung und die Lebens(ver)lauf(s)forschung. Im Anschluss an Kohlis „Soziologie des Lebenslaufs“ (1978), die er mit Bezug zur US-amerikanischen Forschung entwickelt, hat die deutsche Forschungslandschaft deutliche Impulse erfahren. Die beiden Forschungsrichtungen weisen in ihren Forschungspraktiken eine konträre Orientierung – nämlich an quantitativen bzw. qualitativen Methoden und den damit verbundenen erkenntnistheoretischen Prämissen – auf und unterscheiden sich trotz ‚gemeinsamer Wurzel’ in fundamentaler Weise.34 Schulze ordnet diesen beiden Forschungsfeldern, vereinfachend und erkenntnistheoretisch nicht unbedenklich, wie der Autor selbst betont, zwei unterschiedliche Aufmerksamkeitsrichtungen zu. So sei die Beschäftigung mit dem Lebenslauf stärker „den Bedingungen der Gesellschaft zugewandt“, während man sich bei der Lebensgeschichte „mehr auf die Erlebnisse und Erfahrungen des Subjekts bezieht“ (Schulze, 1999, S. 39). In Deutschland steht die mittlerweile etablierte Forschungsrichtung der ‚Qualitativen Sozialforschung’ in einer Forschungstradition, die ihren Ursprung in der Veröffentlichung „Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit“ (1973) der „Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen“ nimmt. Diese Publikation, unter anderem auch von Fritz Schütze mit verfasst, führt in die verschiedenen Bereiche der interpretativen Sozialforschung der USA ein: in den Symbolischen Interaktionismus, die phänomenologische Sozialphilosophie nach Alfred Schütz sowie die Ethnomethodologie und die Ethnographie. Der Bezugsrahmen der vorliegenden Untersuchung schließt an diese Theorietraditionen an und bewegt sich damit im bereits erwähnten Programm des Interpretativen Paradigmas (Wilson, 1973). Im Interpretativen Paradigma werden die Interpretationen der handelnden Subjekte zum Ausgangspunkt der Analyse sozialen Handelns. Wilson bezieht sich in seinen Ausführungen auf den 34
Dausien bemerkt hierzu, dass auch die ungleiche Akzeptanz dieser methodischen Zugänge seitens institutioneller Forschungsförderung ein Grund für die Etablierung dieser beiden Forschungsfelder sei (vgl. Dausien, 2002b, S. 129).
3.1 Zur forschungsparadigmatischen Einordnung
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Symbolischen Interaktionismus, der in Abgrenzung zu behavioristischen Modellen ein subjektorientiertes Handlungsmodell entwirft. Hiermit sind bestimmte Voreinstellungen hinsichtlich der empirischen Annäherung an ‚Wirklichkeit’ angedeutet, die Blumer in den folgenden drei Prämissen präzisiert: „Die erste Prämisse besagt, daß Menschen ‚Dingen’ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutung handeln, die diese Dinge für sie besitzen. Unter ‚Dingen’ wird hier alles gefasst, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag – physische Gegenstände, wie Bäume oder Stühle; andere Menschen, wie eine Mutter oder ein Verkäufer; Kategorien von Menschen, wie Freunde oder Feinde; Institutionen, wie eine Schule oder eine Regierung; Leitideale wie individuelle Unabhängigkeit oder Ehrlichkeit; Handlungen anderer Personen, wie ihre Befehle oder Wünsche; und solche Situationen wie sie dem Individuum in seinem täglichen Leben begegnen. Die zweite Prämisse besagt, daß die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht. Die dritte Prämisse besagt, daß diese Bedeutung in einem interpretativen Prozeß , den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden“ (Blumer, 1973, S. 81).
Mit diesen Prämissen verbindet sich eine bestimmte Auffassung von sozialer Wirklichkeit, die wiederum maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung des Forschungsprozesses hat. Denn wenn soziale Wirklichkeit sich erst in der Interaktion der Subjekte und den damit verbundenen Deutungsprozessen konstituiert, dann muss ein Forschungsprogramm dieser Konstruiertheit von sozialen Wirklichkeiten Rechnung tragen. Interpretation wird dann zur „Grundannahme über menschliches Verhalten und wissenschaftliche Methode zugleich“ (Treibel, 2000, S. 112). Diesen Grundannahmen verpflichtet ist auch das methodologische Konzept der Grounded Theory (vgl. Glaser & Strauss, 1998/1967), an dem sich die Gestaltung des Forschungsprozesses der vorliegenden Arbeit maßgeblich orientiert. Mittels Biographieforschung werden aber „nicht Handlungs- und Interaktionsprozesse untersucht werden, sondern biographische Binnensichten, in denen Handlungen und ‚Interaktionsgeschichten’ immer schon retrospektiv verarbeitet und (re-)konstruiert sind“ (Dausien, 1996, S. 105). Im Wesentlichen gründen Biographiekonzept und Grounded Theory jedoch auf denselben beiden entscheidenden Annahmen bezüglich der Beschaffenheit sozialen Handelns. Es handelt sich dabei um das Prinzip der Intentionalität, „d. h. es wird unterstellt, dass Handeln von Subjekten ausgeht, die in bestimmte Interpretations-, Motivationsund Sinnzusammenhänge eingebunden sind“ (Dausien, 1996, S. 103) und das Prinzip der Prozessualität, das die Betrachtung von Handlungen als Sequenzen von Handlungs- und Interaktionsketten, in die wiederum bereits vollzogene
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
Handlungen und deren Konsequenzen (intendierte und nichtintendierte) einfließen und sie zur Basis weiterer Handlungen machen, zugrunde legt.35 Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch in der Beschaffenheit der zugrundeliegenden Daten. Denn während die Begründer der Grounded Theory sich mit der Analyse von Handlungsstrategien in einem spezifischen Interaktionsfeld befassen, fokussiert ein biographisch orientierter Ansatz auf „die Aufschichtung und erfahrungsmäßige Verarbeitung von Handlungen und Ereignissen in autobiographischer Retrospektive“ (Dausien, 1996, S. 106). Der Zugang wird über autobiographische Stegreiferzählungen, d. h. über narrative Interviews gewählt, so dass die Analysebasis autobiographische Rekonstruktionsleistungen der jeweils interviewten Person in Textform bilden und nicht Beobachtungen des Forschenden sind. „Statt eines Handlungsmodells ist (daher) ein (handlungstheoretisch fundiertes) Biographiemodell als ‚Kodierparadigma’ anzusetzen“ (ebd., S. 111), das Schütze mit seinem Konzept der „Kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens“ (1984) vorgelegt hat. Betrachtet man die historische Entwicklung der deutschen Biographieforschung, so wird die Verwobenheit dieser vermeintlich getrennten Forschungsrichtungen nicht nur auf erkenntnistheoretischer Ebene augenfällig. Denn die zunächst soziologische Biographieforschung entwickelt sich seit den 1970er Jahren in einem internationalen Kontext, in dem insbesondere der Einfluss der Arbeiten Anselm Strauss’ als einer der Begründer der Grounded Theory auf die deutsche Forschungslandschaft nicht zu unterschätzen ist. Während seines ersten Forschungsaufenthaltes in Konstanz 1975 haben sich Kontakte zwischen verschiedenen deutschen Forscher/innen und Anselm Strauss ergeben, die dann bei anschließenden Besuchen der Deutschen in San Fransisco, dem späteren Wirkungskreis Anselm Strauss’ vertieft worden sind. Die sich entwickelnde deutsche Biographieforschung erhielt also maßgebliche Anregungen durch die Arbeitsweise Anselm Strauss’. Zu der Forscher/innengruppe zählten neben HansGeorg Soeffner auch etliche Biographieforscher/innen wie z. B. Bruno Hildenbrand, Gerhard Riemann, Wolfram Fischer-Rosenthal und auch Fritz Schütze (vgl. hierzu ausführlich Apitzsch, 2003, S. 96). Die Verknüpfung dieser beiden ‚Forschungsrichtungen’ zu einem bestimmten Stil von Biographieforschung mit verschiedenen ‚Schulbildungen’ hat hier ihren Anfang genommen. „Von diesen ForscherInnen und von ihnen beeinflussten jüngeren WissenschaftlerInnen wurden in den 80er und 90er Jahren empirische Studien vorgelegt, in denen die Verbindung von Fallbezogenheit und Exploration eines spezifischen sozialen Feldes jeweils auf exemplarische Weise verwirklicht ist“ (Apitzsch, 2003, S. 96).
35
Eine ausführliche Diskussion des Verhältnisses von Handlungstheorie und Biographiekonzept findet sich bei Matthes et al. (1981).
3.1 Zur forschungsparadigmatischen Einordnung
59
Für die Biographieforschung lässt sich diese Entwicklung wie folgt rekonstruieren. Maßgebliche Einflussfaktoren sind dabei die Arbeiten Kohlis (vgl. z.B. 1985). Die Erwartungshaltung an die in den 1980er Jahren als „biographische Methode“ bezeichnete Forschungspraxis präzisiert Kohli (1981) wie folgt: „Sie soll einen methodischen Zugang zum sozialen Leben ermöglichen, der 1. möglichst umfassend ist, 2. auch die Eigenperspektive der handelnden Subjekte thematisiert und 3. die historische Dimension berücksichtigt. Es handelt sich also um eine Frontstellung gegen die reduktionistischen, objektivistischen und statistischen Tendenzen gängiger Traditionen“ (Kohli, 1981, S. 273).
1985 formuliert Kohli die einflussreiche These, dass gesellschaftliche Transformationsprozesse zu einer „Institutionalisierung des Lebenslaufes“ geführt haben. Gemeint ist hiermit, dass der Lebenslauf selbst zur sozialen Institution wird, der die zeitliche Dimension des individuellen Lebens im Sinne eines eigenständigen „Vergesellschaftungsprogramms“ (Kohli, 1986, S. 183) ordnet. Es umfasst fünf zentrale Aspekte: Verzeitlichung, Chronologisierung, Individualisierung, Dreiteilung um das Erwerbssystem, Lebenslauf als Strukturvorgabe und biographisches Orientierungsschema (vgl. Kohli, 1986, S. 18436). Auf Grundlage dieser Annahmen entsteht das Konzept der Normalbiographie, die in drei Phasen unterteilt, wobei die mittlere Phase durch Beginn und Ende der Erwerbstätigkeit definiert wird. Diese Orientierung am Erwerbssystem verdeutlicht, dass Kohli sich fast ausschließlich auf die ‚männliche Normalbiographie’ bezieht, was ihm selbst durchaus bewusst ist. Frauen werden, wenn sie nicht voll erwerbstätig sind, als über ihre Männer vergesellschaftet betrachtet (vgl. Kohli, 1985, S. 24, Anm. 2) oder ihre zunehmende Erwerbstätigkeit als Annäherung an die ‚männliche Normalbiographie’ interpretiert (1986, S. 184, Anm. 1; 1988, S. 42f.; 1991, S. 311, Anm. 4). Die berechtigte Kritik, dass eine solche Einteilung einen gender-bias beinhalte, da diese – wenn überhaupt – nur für die männlichen Gesellschaftsmitglieder plausibilisierbar sei (vgl. z. B. Dausien, 1996, S. 25) veranschaulicht die Problematik dieses Konzepts exemplarisch am Thema Geschlecht, lässt sich aber ebenso auf weitere Themenfelder übertragen. So ist mit einem dem Interpretativen Paradigma verpflichteten Wirklichkeitsverständnis, die Orientierung an dem Konzept der Normalbiographie nicht tragbar bzw. eine ungünstige Einschränkung des Forscher/innenblicks, da bestimmte biographische Abläufe als vorab gesetzt gelten, die jedoch nicht notwendigerweise in der einzelnen Biographie in dieser Form und Ausprägung wiederzufinden sein müssen. Diese grundsätzliche Kritik am Konzept der Normalbiographie äußert sich in der Hinwendung zu qualitativen, an Einzelfällen 36
Eine zusammenfassende Darstellung findet sich auch bei Siebers, 1996, S. 28f.
60
3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
ausgerichteten Forschungsarbeiten, die auf diese Weise stärker die individuelle Perspektive der Akteure in den Blick nehmen und die Akteure selbst ‚zu Wort’ kommen lassen. Biographieforschung in diesem Verständnis blickt mittlerweile in verschiedenen Bereichen der erziehungswissenschaftlichen Forschung (Schulpädagogik, Erwachsenenbildung, Frauenforschung etc.) sowie der sozial-wissenschaftlichen Forschung auf eine langjährige Forschungstradition zurück und verfügt über ausgearbeitete metho(dolog)ische Konzepte. Das zugrundeliegende Wirklichkeitsverständnis wird aus der Perspektive des Interpretativen Paradigmas, wie bereits oben beschrieben, als eine von der Interpretationsleistung der Subjekte abhängige verstanden. Entsprechende Forschungsarbeiten setzen daher an der Alltagswelt der Subjekte an und versuchen deren Konstruktion ‚der Wirklichkeit’ zu re-konstruieren37. „Systematisch in Rechnung gestellt wird die im Prozess der Sozialisation gebildete Fähigkeit der Subjekte, soziale und natürliche Zusammenhänge zu deuten. Die prinzipielle Gegebenheit dieser Fähigkeit zur Deutung, die ja in Abhängigkeit von sozialstrukturellen, institutionellen wie auch lebensgeschichtlichen Zusammenhängen aufgebaut wird, kann als Deutungs- oder Interpretationsapriori bezeichnet werden. Damit ist eine bestimmte Realitäts- und Wirklichkeitsauffassung bezeichnet: Wirklichkeit wird als eine zu interpretierende verstanden, und zwar nicht nur in der Weise, dass sie im hohen Maße interpretationsbedürftig ist, sondern sie konstituiert sich erst in den Interpretationen der Akteure“ (Marotzki, 1999a, S. 110).
Der Mensch verleiht seinen Wahrnehmungen Bedeutung im Prozess der immer schon ablaufenden Interpretation. Wahrnehmung ist also immer schon Interpretation und Selektion. Es liegt also nahe, sich mit den Eigensichten der Akteure zu befassen, diese mit Hilfe möglichst offener Fragestellungen zu erfassen und zu re-konstruieren. Anders als bei der Lebens(ver)lauf(s)forschung, die weiterhin dem Konzept der Normalbiographie verpflichtet ist, werden hier Hypothesen erst im Forschungsprozess generiert und ‚das Leben’ der Akteure aus einer Prozessperspektive erforscht. In der erziehungswissenschaftlichen Lehrer/innenforschung lassen sich beide Varianten finden, wobei bei längerer Rückschau doch eine Nähe zu quantifizierenden Verfahren überwogen hat. Die Hinwendung zu qualitativen Verfahren lässt sich erst für die letzten Jahrzehnte ausmachen, was dem allgemeinen Trend entspricht. Bemerkenswert und für die Perspektivierung des eigenen empirischen Projekts höchst relevant ist jedoch die festgestellte Diskrepanz zwischen theoretischen Ausführungen zur pädagogischen Professionalisierung als berufsbiographisches Entwicklungsproblem und der forschungs37
Die so angestrebten sozialwissenschaftlichen Konstruktionen sozialer Wirklichkeit sind im Sinne Schütz’ (1971, S. 68) als „Konstruktionen zweiten Grades, das heißt Konstruktionen von Konstruktionen jener Handelnden im Sozialfeld“, also als Re-Konstruktionen zu begreifen.
3.1 Zur forschungsparadigmatischen Einordnung
61
methodischen Umsetzung und Evaluation durch quantifizierende oder zumindest standardisierte Verfahren (vgl. z. B. Terhart, 1990 und Terhart et al., 1994), die qua Beschaffenheit wenig Raum für die Eigenperspektive der Forschungsteilnehmer/innen bereit halten. In der Orientierung an Phasenmodellen der beruflichen Entwicklung erinnert diese Forschung an das Konzept der Normalbiographie und könnte vielleicht als ‚Normalberufsbiographie von Lehrer/innen’ ausgelegt werden. Die Unterscheidung zwischen Lebenslauf und Biographie hat wie beschrieben – stringent gedacht – unterschiedliche forschungsmethod(olog)ische Konsequenzen und es scheint notwendig, ihre Relation zueinander nochmals explizit zu betrachten.
3.1.1.2 Zum Verhältnis von Lebenslauf und Biographie Anschließend an das Konzept der Normalbiographie von Kohli lassen sich Diskussionen ausmachen, die eine weitere Ausdifferenzierung der Begriffe ‚Lebenslauf’ und ‚Biographie’ sowie der Zuordnung der Biographieforschung zum Bereich der qualitativen (Sozial)Forschung und der Lebenslaufforschung zu quantitativen Forschungsmethoden zur Folge haben. Es könnte also der Eindruck entstehen, dass es sich um gegensätzliche Konzepte bzw. um ein systematisierendes Begriffspaar handelt. Die Beziehung zwischen Lebenslauf und Biographie ist jedoch auf konzeptioneller Ebene eine komplexer zu denkende. Denn „(d)er Lebenslauf ergibt sich aus Entscheidungen im Laufe des Lebens, die Biographie aus der Reflexion über getroffene Entscheidungen. Aber Entscheidungen des Lebenslaufs sind dadurch definiert, daß sie sich auf eine institutionell definierte Folge von Entscheidungen beziehen, während sich Reflexionen der Biographie nicht aus Reflexionen überhaupt ausschließen lassen. Lebenslauf und Biographie sind also kein systematisches Begriffspaar; vielmehr wird im Lebenslauf der Gegenstand der Biographie hervorgebracht“ (Meulemann, 1999, S. 305).
Anders herum gedacht, kommt der Lebenslauf in der Biographie in interpretierter Form zur Sprache. Diesen Zusammenhang diskutiert auch Alois Hahn (1988) ausführlich. Anhand der Metapher des Spiegels verdeutlicht er das Verhältnis von Biographie und Lebenslauf: „Der Lebenslauf ist ein Insgesamt von Ereignissen, Erfahrungen, Empfindungen usw. mit unendlicher Zahl von Elementen. Er kann überdies (und ist dies in stärkerem oder geringerem Maße in jeder Gesellschaft) sozial institutionalisiert sein, z. B. indem bestimmte Karrieremuster oder Positionssequenzen normiert werden (man
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen muß erst Ehefrau werden, bevor man Mutter werden darf, erst Student der Medizin, dann Arzt; erst alt, dann Weiser usw.). Aber die Biographie macht für ein Individuum den Lebenslauf zum Thema. Diese Thematisierung darf nicht als Spiegelung missverstanden werden. Die Spiegelmetapher suggeriert ja, daß die Gesamtheit des Gegebenen wiedergegeben würde. Davon kann natürlich keine Rede sein (…). Biographien stellen folglich stets selektive Vergegenwärtigungen dar. Die Auswahl beschränkt sich dabei nicht notwendig auf die objektiv durch den empirischen Lebenslauf gegebenen Daten. Sie kann einen weitaus größeren Zeitraum umfassen, die Zukunft und die Vergangenheit weit über die eigene Lebenszeit hinaus einschließen“ (Hahn, 1988, S. 93f.).
Verdeutlichen lässt sich die Differenz zwischen Lebenslauf und Biographie ebenfalls recht gut am Beispiel eines prominenten Kritikers des Biographiekonzepts, Pierre Bourdieu, das zwar für die erziehungswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Biographieforschung eher historische Bedeutung besitzt, jedoch damals die Präzisierung bzw. Explizierung forschungsleitender Annahmen der Biographieforscher/innen zur Folge hatte. Bourdieus Kritik wird im Kontext dieses Kapitels also zum Zwecke der Verdeutlichung der eigenen Position aufgegriffen. Der zentrale und immer wieder vorgebrachte Kritikpunkt, Biographieforscher/innen säßen in ihrer Komplizenschaft mit den Erzählenden einem narrativen Artefakt auf, hat wohl am meisten Aufmerksamkeit durch den Aufsatz Bourdieus „Die biographische Illusion“ (1990) erlangt. Im Kern kritisiert Bourdieu, dass ‚die Biographieforschung’ voraussetzt, dass das Leben eine Geschichte im traditionellen Sinne sei. Ein Leben sei folglich und „unauflöslich das Gesamt der Ereignisse einer individuellen Existenz (…), aufgefasst als eine Geschichte und als die Erzählung dieser Geschichte“ (ebd., S. 75). Diese Annahme sei jedoch völlig wissenschaftsuntauglich, denn sie repräsentiere die gängige Alltagsvorstellung vom Leben und der Geschichte eines jeden Lebens als ein kohärenter Zusammenhang, bestehend aus einem Anfang, verschiedenen Abschnitten (oder auch Lebensphasen) und einem Ende in zweierlei Hinsicht, nämlich der des Ziels und der des Endes der Geschichte. Dabei stellt Bourdieu den Zusammenhang zur literarischen Tradition der Romanschreibung her und formuliert – wie Dausien (2002b) bemerkt, wohl in Unkenntnis des tatsächlichen Diskussionsstandes der Biographieforschung – die Aussage, dass die „’Lebensgeschichte’ (…) eine jener vertrauten Alltagsvorstellungen, die sich in das wissenschaftliche Universum geschmuggelt haben“ sei (Bourdieu, 1990, S. 75). Er untermauert seine Argumentation mit Bezügen zur Eigenheit des Nouveau Roman38 und der zugrunde liegenden Erkenntnis, die Robbe-Grillet wie 38
„Courant littéraire né au lendemain de la Seconde Guerre mondiale, en réaction au roman réaliste et psychologique en vogue depuis le XIXe siècle. Les auteurs (Nathalie Saurraute, Mi-
3.1 Zur forschungsparadigmatischen Einordnung
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folgt präzisiert: „Die Wirklichkeit ist diskontinuierlich, geformt aus nebeneinander gesetzten Elementen ohne Grund, deren jedes einzigartig ist, umso schwieriger zu fassen, als sie immer unerwartet auftauchen, unpassend, zufallsbedingt“ (Robbe-Grillet, 1984, S. 208 zit. nach ebd., S. 77). Die Bedeutung dieses Bezuges zu der neuen literarischen Ausdrucksform des Nouveau Roman ist nach Bourdieu darin zu sehen, dass sie die Willkürlichkeit der traditionellen Ausdrucksform des romanhaften Diskurses hervorhebe. All jene Vorannahmen spielen nun für die Befragungssituation eine fundamentale Rolle und führen zu einem wechselseitig manipulativen Verhältnis zwischen den Interviewpartner/innen, das „schließlich, die mehr oder weniger bewusste Vorstellung, die der Untersuchte sich von der Untersuchungssituation machen wird, auf dem Hintergrund seiner direkten oder vermittelten Erfahrung von entsprechenden Situationen (Interview mit einem bedeutenden Schriftsteller, oder einem Politiker, Examenssituation etc.) und die (dementsprechend) seine gesamte Anstrengung der Selbstdarstellung oder, besser, der Produktion seines Selbst orientieren wird“ (ebd., S. 80).
Vereinfacht gesprochen meint Bourdieu, dass die Interviewsituation für das entstehende biographische Format nahezu ausschließlich verantwortlich ist und dieses nur marginal mit der eigentlichen Lebensgeschichte zu tun hat. Diese rein ‚situationsverschuldete’ Konstruktion werde seitens der Biographieforschung nun jedoch nicht als solche erkannt, sondern sogar mit dem ‚tatsächlichen Leben’ gleichgesetzt. Besonders prominent ist in der Rezeption des Bourdieuschen Aufsatzes die sogenannte Metro-Metapher, die der Autor als Konsequenz seiner Überlegungen präsentiert: „Den Versuch zu unternehmen, ein Leben als eine einzigartige und für sich selbst ausreichende Abfolge aufeinander folgender Ereignisse zu begreifen (…) ist beinahe so absurd, wie zu versuchen, eine Metro-Strecke zu erklären, ohne das Streckennetz in Rechnung zu stellen“ (Bourdieu, 1990, S. 80).
Diese polemische Kritik hat eine Explizierung und Präzisierung von Konzepten und Forschungspraktiken innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung zur Folge gehabt und ist wohl ausschließlich aus diesem Grunde nach wie vor interessant. Neben etlichen anderen Biographieforscher/innen39 nimmt z. B. Dausien wie folgt Stellung:
39
chel Butor, Alain Robbe-Grillet, Claude, Simon...) abitionnent de faire disparaître le personnage et la notion même de fiction’’ (Gouiffès, 2002, p. 164). Eine ausführliche Stellungnahme zu Bourdieus Aufsatz findet sich bereits in der unmittelbaren Reaktion Lutz Niethammers (1990) im gleichen Band der Zeitschrift.
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen „Mag Bourdieus Kritik auch in Einzelfällen zutreffend (gewesen) sein, so besteht in der Biographieforschung doch Konsens darüber, dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Biographie gerade den eigentümlichen Doppelcharakter dieses Begriffs zum Thema macht: ‚Biographie’ ist einerseits Alltagskonzept und orientiert als solches das Handeln und die Selbst- und Fremddeutung der Individuen, andererseits aber macht die wissenschaftliche Biographieforschung eben jene alltagsweltlichen Deutungs- und Ordnungsleistungen unter bestimmten theoretischen und disziplinären Hinsichten zum Gegenstand. ‚Biographie’ als wissenschaftliches Konzept ist eine theoretische Konstruktion über Konstruktionen oder – mit Alfred Schütz’ Worten – eine ‚Konstruktion zweiten Grades’“ (Dausien, 2002b, S. 121).
Dausien verweist hier nochmals explizit auf die erkenntnistheoretischen und methodologischen Voraussetzungen für das von ihr und anderen Biographieforscher/innen vertretene Verständnis von Biographie als Konstruktion. Auch Alheit nimmt zu Bourdieus Kritik Stellung. Er bezieht sich dabei direkt auf die Metapher des Metro-Streckennetzes und widerspricht Bourdieus These der „trajectoire“, denn die Abfolge der einzelnen ‚Lebensstationen’ ist für das Individuum nicht zusammenhangslos, da man „sein biographisches Wissen in jeweils neuen ‚Zuständen’ der Biographie eben nicht nach Belieben suspendieren kann, sondern bis zu einem gewissen Grad reaktivieren muß“ (Alheit, 1993, S. 383). Die Fähigkeit, neue Wissensbestände im Zuge des Modernisierungsprozesses und der damit verbundenen Fragmentierung in die eigene Biographie integrieren und anschlussfähig machen zu können, bezeichnet Alheit als „Biographizität“40 (ebd., S. 387), die in einer zunehmend ausdifferenzierten Gesellschaft mehr und mehr erforderlich zu werden scheint. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Bourdieu selbst seine Kritik später eingeschränkt hat. Denn in seinem Werk „La Misère du Monde“ (1993) bilden vorwiegend biographische Materialien die Analysebasis. Mit Bezug auf diesen Umdenkungsprozess reformuliert Apitzsch auf besonders pointierte Weise ihre Entgegnung aus biographietheoretischer Perspektive: „Man könnte Bourdieus Wende – in Anknüpfung an die Metro-Metapher – in ironischer Replik so umschreiben, dass der Versuch, subjektive Bewältigungsstrategien prekärer Lebenslagen ohne die Rekonstruktion biographischer Verstrickungen in soziale Problemfelder begreifen zu wollen, etwa so absurd ist wie der Versuch, aus dem Streckenplan der U-Bahn allein erklären zu wollen, dass eine Person oder eine Gruppe an einer bestimmten Haltestelle den Zug verlässt (Apitzsch, 2003, S. 98). 40
Neben diesem biographischen Aktualisierungsprozess, der für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit von besonderem Interesse ist, kann Biographizität auch „als Bezeichnung des allgemeinen generativen Prinzips verstanden werden, dass gesellschaftliche Wirklichkeit durch biographische Leistung der Individuen und im Modus biographischer Konstruktionen hervorgebracht wird“ (Dausien, 2002b, S. 135).
3.1 Zur forschungsparadigmatischen Einordnung
65
Resümierend kann man auf die prominente Metro-Metapher auch die Unterscheidung zwischen Lebenslauf und Biographie anwenden. Denn die Bourdieusche Perspektive zum Zeitpunkt seiner Kritik weist eine große Nähe zum Konzept des Lebenslaufes41 auf. Wie Biographie als wissenschaftliches Konzept in Deutschland verhandelt wird und sich so von diesem alltagstheoretischen Verständnis ablöst, scheint Bourdieu zum Zeitpunkt seiner harschen Kritik wohl nicht berücksichtigt zu haben. Doch auch wenn die Kritik Bourdieus bereits vor geraumer Zeit mit Bezug auf Erläuterungen zur Konstruktion biographischer Modelle (vgl. hierzu auch Dausien, 2002b, S. 120) zurückgewiesen worden ist, bleibt das Verhältnis von Erzählung, Text und ‚Leben’ ein reflexionswürdiges, dem in Kapitel 3.4.2 nachgegangen wird. Zunächst sollen nun aber die vorangegangenen Überlegungen in Beziehung zur vorliegenden Arbeit besetzt werden. Dabei werden auch die Konsequenzen für die Verbindung von Bildungsgang und Biographie für das empirische Projekt erneut verhandelt. Bildung, im Kontext der Bildungsgangforschung zumeist unter dem Motiv der Entwicklung verortet, wird im Anschluss an die dargestellten erkenntnistheoretischen und methodologischen Bezüge im Kontext dieser Arbeit dem Konzept des Wandels zugeordnet.
3.1.2 Einordnung der Arbeit Bourdieus Metapher soll an dieser Stelle ein letztes Mal bemüht werden, um das Anliegen der eigenen Arbeit im Spannungsfeld zwischen Lebenslauf und Biographie sowie einer entsprechenden Forschungsperspektive zu verorten. Jene „trajectoire“ als Laufbahn im sozialen Raum würde bei der vorliegenden Arbeit den objektiven Bildungsgang der Sportlehrer/innen in ihren Beruf und in der weiteren Berufsausübung bezeichnen, den zu erforschen hier jedoch nicht angestrebt wird. Vielmehr geht es darum, die Sportlehrer/innen selbst ‚zu Wort’ kommen zu lassen und aus ihrer Perspektive den subjektiven Bildungsgang als aktive Auseinandersetzung mit der Verberuflichung und Professionalisierung im Sinne der Bearbeitung beruflicher Entwicklungsaufgaben zu re-konstruieren. Dabei stehen die alltagsweltlich gebundenen Deutungs- und Orientierungsleistungen der Individuen im Mittelpunkt des Interesses. Wie stellen sie eine (berufs)biographische Passung zwischen ihrem biographischen Wissen und den 41
Im Französischen gibt es keine dem Deutschen äquivalente Unterscheidung zwischen Lebenslauf und Biographie. Für den Begriff des Lebenslaufs gibt es einmal die Übersetzung „la vie“ (das Leben) und für Bewerbungskontexte „le curriculum vitae“. „La Biographie“ hat unweigerlich die Nähe zu romanhaften Schriften. Darüber hinaus gibt es auch noch „les mémoires“ (zu Dt. Memoiren aber auch Erinnerungen).
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
Anforderungen und Bedingungen des beruflichen Feldes Schule her? Wie erreichen sie einen gewissen Grad an Kohärenz, der notwendig ist, um aus der Lebensgeschichte keine reine Leidensgeschichte werden zu lassen? Wie setzen sich Sportlehrerinnen und Sportlehrer mit den Anforderungen des objektiven Bildungsganges auseinander und wie bearbeiten sie sich stellende Entwicklungsaufgaben im Sinne einer fortschreitenden Professionalisierung? Mit diesen thematischen Fokussierungen zählt diese Arbeit „zum Programm einer hermeneutisch und biographisch orientierten, narrativen Pädagogik“ (Baacke & Schulze, 1993, S. 6). Es geht also darum, die Bewältigungsstrategien und Bearbeitungsweisen der Akteure zu re-konstruieren, um so die subjektive Perspektive auf Ausbildung und Beruf aus einem biographischen Blickwinkel, d. h. unter Berücksichtigung der Bedeutung biographischer Vor-Erfahrungen und des daraus gewonnenen biographischen Wissens, zu beleuchten. Wie können nun aber Biographie und Bildung neben der bereits aufgezeigten Nähe von Biographieforschung und Bildungsgangforschung (vgl. Kap. 2.3) auf einander bezogen werden? Wie Marotzki bereits 1999 festgestellt hat, „arbeitet (erziehungswissenschaftliche Biographieforschung) zunehmend in einem bildungstheoretischen Bezugsrahmen, d. h. sie interessiert sich für den Aufbau, die Aufrechterhaltung und die Veränderung der Welt- und Selbstreferenzen von Menschen“ (Marotzki, 1999b, S. 335). Es geht also nicht darum, die lange Tradition des Bildungsbegriffs mit ihren vielschichtigen Diskussionssträngen erneut zu thematisieren; vielmehr geht es darum, den ‚gemeinsamen Nenner’ in diesem Begriff aufzuzeigen und fruchtbar zu machen. Der Bildungsbegriff fokussiert die Sicht der Menschen auf ihre sozial-kulturelle Umwelt, indem er stets die Bedeutung bestimmter gesellschaftlicher Bedingungen für Entwicklung hinterfragt. Dabei nimmt Biographie als wissenschaftliches Konzept eine besondere Position ein: „Die Kategorie der Biographie bildet die Schnittstelle zwischen der philosophischen Tradition, die der Bildungsbegriff in der Erziehungswissenschaft aufweist (vgl. MENZE 1970, BALLAUFF 1989) und der sozialwissenschaftlich orientierten empirischen Erforschung konkreter Bildungsverläufe (…). Entscheidend ist dabei eigentlich, ob bei der Analyse des Verhältnisses von institutionalisierter Bildung und Lebenslauf die Selbst- und Weltreferenzen der Akteure im Zentrum stehen“ (Marotzki, 1999b, S. 336).
Bildungstheoretisch fundierte Biographieforschung zielt darauf ab, der „Gefahr eines doppelten Reduktionismus“ (ebd., S. 335), der dem Bildungsbegriff inne wohnt, zu begegnen. Gemeint ist damit, dass auf diese Weise sowohl der Rahmung durch gesellschaftliche Bedingungen und Entwicklungen als auch dem Prozess der Persönlichkeitsentwicklung für eine bildungstheoretische Perspektive Rechnung getragen werden kann. Der Verkürzung auf objektivistische oder
3.1 Zur forschungsparadigmatischen Einordnung
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aber auch subjektivistische Fragestellungen wird damit konstruktiv begegnet. Der Begriff der Entwicklungsaufgabe (vgl. z. B. Trautmann, 2004) und des Entwicklungsproblems (z. B. Terhart, 2001) greift diese bildungstheoretische Orientierung einmal aus der Perspektive der Bildungsgangdidaktik und –forschung und einmal aus der Perspektive der Professionalisierungsforschung auf und bietet entsprechende Anschlüsse. Dabei entstehen jedoch Unklarheiten bzw. Fokussierungen, die an dieser Stelle konstruktiv aufgelöst werden sollen, um einen adäquaten Implikationszusammenhang zwischen Fragestellung, theoretischen Bezügen und method(olog)ischer Gestaltung herzustellen. Methodologisch schließt das hier zugrundegelegte Bildungsverständnis an die Arbeiten von Fritz Schütze (vgl. Kap. 3.4) an, der sich in seinen Arbeiten wiederum auf die Arbeiten von Anselm Strauss resp. auf das dort entwickelte Konzept des „Wandels“ (Strauss, 1974) in Bezug auf den Bildungsbegriff bezieht. Dieses Konzept wird dem Entwicklungsbegriff gegenüber gestellt. „Keine der beiden Metaphern erfasst den unabgeschlossenen, tentativen, explorativen, hypothetischen, problematischen, abschweifenden, wandelbaren und nur teilweise einheitlichen Charakter menschlicher Handlungsverläufe“ (Strauss, 1974, S. 97). Dabei ist der Wandlungsbegriff theoretisch wesentlich weniger ‚vorbelastet’ und impliziert einen Gestaltwandel ohne Ziel und Abschluss. Entwicklung hingegen lasse sich eher als Variation eines dennoch feststehenden Grundthemas oder aber einer zielorientierten Abfolge auf einander bezogener Transformationen denken (ebd.). Der Wandlungsbegriff sei daher für die Analyse von Prozessen besser geeignet (ebd.). Es stellt sich nun abschließend die Frage, wie das Wandlungskonzept und das Biographiekonzept im Sinne einer Erforschung von ‚subjektiven Bildungsgängen’ auf einander zu beziehen ist? Winfried Marotzki gibt darauf eine überzeugende Antwort: „Zwei strukturelle Eigenschaften schließen das Bildungs- und das Wandlungskonzept zusammen: zum einen die Erzeugung von Sinn und Bedeutung und zum zweiten die Herstellung, Aufrechterhaltung und Veränderung von Selbst- und Weltkonzepten. Indem bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung diese beiden Aspekte empirisch exploriert, leistet sie einen Beitrag zur Analyse von pluralen Bildungsgestalten in der (Post)Moderne“ (Marotzki, 1999b, S. 337).
Die vorliegende Arbeit ist in dieser Einordnung zu verstehen, denn es geht darum, diesen Prozessen und der Bedeutung biographischer Wissensbestände für das berufliche Handeln und Deuten von Sportlehrer/innen im Bildungsgang auf die Spur zu kommen, weil „Professionalisierung des einzelnen Lehrers oder der einzelnen Lehrerin … immer auch an sprachliche Prozesse der Konstruktion und Figuration einer eigenen beruflichen Geschichte und des eigenen beruflichen Handelns gebunden“ ist (Reh & Schelle, 2000, S. 108).
68
3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
3.2 ‚Biographisches Wissen’ – Ein konzeptioneller Begriff In den folgenden Ausführungen soll es nun um eine theoretische Annäherung an den Begriff des ‚biographischen Wissens’ gehen. Dieser hat sich bei der Analyse der Daten als zentrale Kategorie herauskristallisiert. Im Wechselspiel von Datenanalyse und Literaturarbeit konnte dann eine definitorische Umschreibung vorgenommen werden42. Die hier nun aufgegriffene theoretische Verortung rekurriert auf wissenssoziologische Theorien und versteht ‚biographisches Wissen’ als einen konzeptionellen Begriff. Es wird hier also nicht darum gehen, eine ‚trennscharfe’ Definition des Begriffs zu geben, sondern der Eigenart pädagogischer Begriffe zu folgen, nämlich Begriffe mit „verschwommenen Rändern“ (Wittgenstein) zu sein. Sie lassen sich mit Rekurs auf Lipps (1976/1938) als „konzeptionelle Begriffe“ beschreiben, deren Qualität gerade darin liegt, dass sie mehrdeutig sind und sich somit von klassischen Definitionen, wie sie z. B. in den Naturwissenschaften vorherrschen, in fundamentaler Weise unterscheiden: „Diese Konzeptionen gibt es nur im Vollzug als Griff. Deshalb können sie allenfalls wohl veranschaulicht, aber nicht wie die vorstellungsmäßigen Begriffe, unter die subsumiert wird, bestandhaft vorgeführt werden. Nur Beispiele können in die Aufnahme solcher Konzeptionen versetzen: dadurch, daß sie – durch die eigensinnige Ausrichtung ihrer Konkretion – unter der Hand die Hinsicht aufnehmen lassen, die hier leitend wird für das Zusammensehen“ (Lipps, 1976/1938, S. 56f.).
Für die biographieanalytische Fragestellung dieser Arbeit gilt also, was im Allgemeinen für erziehungswissenschaftliche Theoriebildung und Begriffs’definition’ gültig ist: Es geht eben darum, aus einer Prozessperspektive die Dynamik sich wandelnder Bedeutungszuschreibungen und –ausprägungen solcher Konzeptionen in ihrer Vielfalt und situativer Dimensionierung zu erfassen. Schierz präzisiert diesen Gedanken wie folgt: „Das Allgemeine einer Konzeption bestimmt sich nicht durch definitorische Schärfe, sondern durch die Vielgestaltigkeit der Umgangserfahrung. (…) Erst der Umgang mit der Vielgestaltigkeit und Gestreutheit des Konzipierens in einer Sammlung von Einzelbeispielen legt den Bedeutungshorizont der Begriffe aus. Konzeptionen sind dynamische Begriffe. Ihre Bedeutung ist nicht ein für alle Mal festgelegt. In der Auslegungsbedürftigkeit von Konzeptionen durch Beispiele liegt ihre Brückenfunktion…“ (Schierz, 1997, S. 39f.).
Das biographische Wissen von Sportlehrerinnen und Sportlehrern wird demnach im Kontext der jeweiligen lebensgeschichtlichen Erzählung re-konstruiert und 42
Zum Verhältnis von Forschungslogik und Darstellungslogik vgl. Kapitel 3.5.3.
3.2 ‚Biographisches Wissen’ – Ein konzeptioneller Begriff
69
im Sinne von fallgeschichtlichen Beispielen ausgedeutet. An drei Fallbeispielen aus einem Sample von insgesamt sechs lebensgeschichtlichen Interviews43 mit Sportlehrerinnen und Sportlehrern werden die hier angestellten theoretischen Ausführungen zum biographischen Wissen von Sportlehrer/innen im empirischen Teil der Arbeit illustriert und die Genese von lebensgeschichtlichen Erfahrungen zum biographischen Wissen bis zu seinem Eingang in die berufliche Praxis sowie ihre Dimensionierung nachgezeichnet. Trotz des Nutzens der ‚relativen Offenheit’, biographisches Wissen im Sinne eines konzeptionellen Begriffs zu verstehen, ist es dennoch notwendig, diesen empirisch, aber zunächst auch theoretisch einzugrenzen. Im Folgenden werden daher Überlegungen zum Wissensbegriff allgemein und anschließend zur Besonderheit biographischer Wissensbestände angestellt. Diese münden in die Einordnung der Überlegungen in den Kontext dieser Arbeit. Der Begriff des ‚biographischen Wissens’ wird recht häufig verwandt. Dennoch wird bei genauerer Betrachtung der Literaturlage augenfällig, dass der Begriff bisher weder theoretisch noch empirisch tiefer gehend ausgearbeitet ist. Zwar wird häufig von biographischem Wissen und seiner Bedeutung für bestimmte Handlungszusammenhänge, insbesondere der pädagogischen Praxis, geschrieben, dies bleibt jedoch zumeist auf einem eher allgemeinen Niveau, das quasi ein geteiltes Wissen darüber suggeriert, was denn nun der Begriff des biographischen Wissens bezeichnet. Die einzige systematische Auseinandersetzung mit diesem Begriff ist m. E. in dem Sammelband „Biographisches Wissen“ von Peter Alheit und Erika M. Hoerning (1989) zu finden. Im Folgenden wird daher auf zwei maßgebliche Argumentationsstränge dieses Werkes Bezug genommen. Hierbei wird insbesondere die Nähe zu wissenssoziologischen ‚Theoriegebäuden’ in sozialphänomenologisch-hermeneutischer Tradition offenbar, die ähnlich wie die hier vorliegende Fragestellung und das Verständnis von Biographie, das hier entwickelt wird, das „Wissen in der Alltagswelt“ (Berger & Luckmann, 1969/2004, S. 21ff.) und hier der Sportlehrer/innen in den Analysefokus stellen. Auf der Basis der Schützschen sozialphänomenologischen Überlegungen zur Entwicklung und Tradierung des Wissens in der Lebenswelt entwickeln Berger und Luckmann einen erweiterten wissenssoziologischen Bezugsrahmen. „Alles, was in einem gegebenen Sozialverband als Wissen gilt, ist (sein) Gegenstand, und dieser Gegenstand wird unter der Prämisse untersucht, daß alles Wissen sozial konstruiert ist“ (Maasen, 1999, S. 26).
43
Zur Fallauswahl und dem damit verbundenen Prozess des theoretical Sampling vgl. ausführlich Kap. 3.3 sowie zur Struktur des Sample 3.5.1.
70
3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
3.2.1 Lebensgeschichtliche Erfahrungen und biographisches Wissen – Überlegungen zu Konstruktionsprinzipien „Es ist eine soziale Tatsache, daß Lebenserfahrungen eine Biographie prägen. Erfahrungen, die für die Biographie bedeutend sind und zu biographischen Wissensbeständen werden, strukturieren den (weiteren) Verlauf der Lebensgeschichte“ (Hoerning, 1989, S. 148 Herv. i. O.). Was Hoerning hier bereits zu Beginn ihres Aufsatzes einführt, ist ein hierarchisches Verhältnis zwischen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und biographischem Wissen. So scheint nicht jede lebensgeschichtliche Erfahrung die ‚Qualität’ zu besitzen, zum biographischen Wissensbestand zu werden. Diese Annahme gilt es nun genauer nachzuvollziehen. Erfahrungen können in zwei verschiedenen ‚Stadien’ vorliegen: Man kann Erfahrungen sammeln und man kann Erfahrungen besitzen. Bei letzterem handelt es sich in der hier vorliegenden Perspektive um erfahrungsbezogene Wissensbestände, während bei ersterem der Prozess des Erwerbs im Vordergrund steht. Diese biographischen Wissensbestände können als Ressource für die Konstruktion des zukünftigen biographischen Projekts herangezogen werden. Das Sammeln von Erfahrungen verweist hingegen darauf, „sich die für die Entwicklung der Lebensgeschichte relevanten ‚Realitäten’ anzueignen, sie zu verarbeiten und daraus Konsequenzen für den biographischen Entwurf abzuleiten“ (ebd., S. 154). Nun ist das biographische Wissen nicht als fixer Wissensbestand vorzustellen; vielmehr scheint es sich um ein dynamisches prozesshaftes Wissen zu handeln, das nicht einfach erworben und abgelagert, sondern durch neue Erfahrungen ständig überarbeitet und modifiziert wird. „Die gängige Auffassung, daß die Vergangenheit im Unterschied zum ewig strömenden Fluß der Gegenwart fest stehe, starr und unveränderlich sei, ist also falsch. Ganz im Gegenteil, sie ist geschmeidig, biegsam und dauernd im Fluß für unser Bewusstsein, je nachdem wie die Erinnerung sie umdeutet und neu auslegt, was sich ereignet hat“ (Berger, 1969, zit. nach Fuchs, 1984, S. 64).
Dies gilt folglich ebenso für biographische Erfahrungen und die daraus gewonnenen Wissensbestände. Wendet man sich nun dem Erfahrungsbegriff noch einmal genauer zu, ohne jedoch die ausgesprochen umfassende Thematisierung dieses Begriffs in der Philosophie und Wissenschaftstheorie nachzeichnen zu wollen, so werden hier in Anlehnung an Hoerning einige Überlegungen zum Besonderen der lebensgeschichtlichen Erfahrung angestellt.44
44
Für den sportpädagogischen Diskurs vgl. Thiele (1996).
3.2 ‚Biographisches Wissen’ – Ein konzeptioneller Begriff
71
„In seiner umgangssprachlichen Verwendung bedeutet Erfahrung die erworbene Fähigkeit sicherer Orientierung, das Vertrautsein mit bestimmten Handlungs- und Sachzusammenhängen ohne Rekurs auf davon unabhängiges theoretisches Wissen (Aristoteles)“ (Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 1980, S. 569, zit. nach Hoerning, 1989, S. 152).
Anhand dieser Definition wird bereits deutlich, dass Erfahrungen nicht nur für die Vergangenheit Relevanz besitzen. Um biographisches Wissen als eine Form lebensgeschichtlicher Erfahrungen zu beschreiben, ist jene doppelte ‚Wirksamkeit’ – nämlich vergangenheits- und zukunftsweisend – ein wesentliches Merkmal. Damit ist gemeint, dass sich der/die Biographieträger/in in ihrer Rekonstruktionsarbeit beim Erinnern nicht nur an quasi objektiven Milieuschemata, sondern auch am jeweiligen biographischen Gesamtkonzept orientiert und dieses mit Erinnerungen auslegt. „Im Durchlaufen von modifizierenden Vergangenheiten entsteht der valide ‚Erfahrungstyp’, der künftige Orientierung möglich erscheinen lässt (…) orientierungswirksame Erfahrungstypen bilden sich in aktuellen Situationen, die einen doppelten Zeithorizont tragen, nämlich den der Vergangenheit und den der Zukunft“ (Fischer, 1987, S. 466f.).
Dieser Erfahrungstypus wird hier in Anlehnung an Hoerning (1989, S. 152) als biographisches Wissen bezeichnet. Das biographische Wissen hinterlässt also nicht nur Spuren im Sinne von Mustern, die strukturierende Funktion für die weitere Gestaltung des biographischen Projekts einnehmen. Es kann darüber hinaus auch als Ressource für biographische Entscheidungs- und Handlungssituationen und konkret für die Konstruktion des zukünftigen biographischen Projekts dienen. Hier muss jedoch im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Arbeit unterschieden werden zwischen der Lösung einer biographischen Problemlage einerseits und z. B. pädagogisch ‚wünschenswertem’ Verhalten andererseits. Denn der Ressourcenbegriff soll als ein neutraler verstanden werden. Allzu oft ist in pädagogischen Kontexten der Rückgriff auf lebensgeschichtliche Erfahrungen m. E. zu unreflektiert als Ressourcennutzung mit positiver Konnotation verwendet worden (vgl. z. B. für die Sportpädagogik Kap. 2.2.4). Gerade eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen im Gegensatz zu einer unreflektierten Nutzung des biographischen Wissens sollte im Professionalisierungsprozess von Sportlehrer/innen thematisiert werden. Schließlich geht es darum, im pädagogischen Handeln nicht unbewusst ‚Knecht der eigenen Erfahrungen’ zu werden und eine durchaus ambivalente Ressource als adäquate Grundlage zur Gestaltung pädagogischer Praxis heranzuziehen. Eine reflektierte Distanz zum eigenen Handeln und Denken einnehmen
72
3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
zu können, wäre unter dieser Perspektive eine fundamentale pädagogische Kompetenz, die auch die eigene Lerngeschichte in den Blick nimmt. Dies ist jedoch ein anspruchsvoller Prozess, da es sich bei biographischen Wissensbeständen um ein zumeist implizites Wissen handelt, d. h., es ist ein unbewusstes Wissen, das nur begrenzt willentlich aktiviert und ebenso wenig willentlich deaktiviert werden kann. Es handelt sich dabei nicht um eine fixe Größe, sondern um ein immer wieder durch neue Erfahrungen überformtes, umgedeutetes und transformiertes Wissen. Biographisches Wissen wird exemplarisch gewonnen, d. h., dass auf der Grundlage einer Vielzahl von Beispielsituationen ein intersubjektiv überprüfbares Wissen erzeugt wird (vgl. Hoerning, 1989, S. 153). Dieses ist wiederum nicht nur als individuelles Wissen zu verstehen, sondern an gesellschaftliche Rahmungen gebunden. Negt & Kluge (1972) unterscheiden daher drei verschiedene Vergangenheitsausprägungen:
Die individuelle lebensgeschichtliche Vergangenheit Die intergenerationale Vergangenheit Die historisch-kollektive Vergangenheit
Sie verweisen auf die Bedeutung der Konstitutionsbedingungen biographischen Wissens. Strukturelle Gegebenheiten stehen in enger Wechselwirkung mit der Gestaltung des biographischen Projekts. Die Umdeutung und Auslegung der Vergangenheit ist an die Möglichkeiten der Zukunftsgestaltung gebunden. Mit erneutem Bezug zu obigem Zitat von Berger (1969) soll darauf verwiesen werden, dass in dieser Arbeit jene Umdeutungs- und Auslegungsvielfalt ebenso für die Gestaltung des zukünftigen biographischen Projektes angenommen wird. Es geht also nicht um eine eher deterministische Vorstellung von Sozialisation. Dennoch hat prinzipiell nicht jedes Individuum alle Möglichkeiten der Entfaltung. Oder wie Alheit und Dausien es formulieren: „Wir verfügen über ein biographisches a trego-Wissen, das uns prinzipiell in die Lage versetzt, den sozialen Raum, in dem wir uns bewegen, auszufüllen und auszuschöpfen. Dabei hat niemand von uns alle denkbaren Möglichkeiten. Aber im Rahmen eines begrenzten Veränderungspotentials haben wir mehr Chancen, als wir jemals realisieren werden“ (Alheit & Dausien, 2000, S. 277).
3.2 ‚Biographisches Wissen’ – Ein konzeptioneller Begriff
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3.2.2 Funktion für die empirische Analyse und Einordnung in die Arbeit Die vorgestellten Überlegungen dazu, wie biographisches Wissen aus einer theoretischen Perspektive beschrieben werden kann, sind im Wesentlichen durch Beobachtungen am empirischen Material ausgelöst worden. Die theoretischen Bezüge sind also nicht als ein vorangestelltes Hypothesenkonstrukt zu verstehen. Vielmehr haben sich im Zuge der Forschung eine Präzisierung der Fragestellung und damit verbunden eine Vertiefung in erkenntnistheoretische Bedingungen für das Forschungsinteresse ergeben, die im Sinne einer theoretischen Sensibilität45 für die empirische Analyse relevant sind. ‚Biographisches Wissen’ bekam zunächst den Status eines Konzeptes, das sich jedoch im weiteren Verlauf der Datenerhebung und –auswertung immer stärker zur zentralen Kategorie entwickelt und verdichtet hat. Die gesamtbiographische Perspektive ermöglicht dabei, den Prozess des Werdens, der Aufrechterhaltung und der Transformation eines bestimmten Phänomens zu betrachten. Für die vorliegende Untersuchung bedeutet dies, dass sowohl das Lehrer/inwerden46 wie auch das Ausbalancieren zwischen verschiedenen Anforderungsebenen des Berufes, aber auch des Privatlebens (fortschreitende ‚Gestaltung’ des biographischen Projekts) in den Blick genommen werden. Besonders interessant ist dabei die Transformation biographischer Wissensbestände im Laufe der lebensgeschichtlichen Entwicklung. Anhand der verschiedenen Interviews werden diese Bereiche im kontrastiven Fallvergleich ausdifferenziert und dimensioniert. Es geht also um die Verberuflichung und ihre Verwobenheit mit dem Privaten, das im Lehrberuf besonders präsent ist, wie schon Adorno bemerkt hat: „Es ist darum so verzweifelt schwer für die Lehrer, es recht zu machen, weil ihr Beruf ihnen die in den meisten anderen Berufen mögliche Trennung ihrer objektiven Arbeit – und ihre Arbeit an lebendigen Menschen ist genauso objektive Arbeit wie die darin analoge des Arztes – vom persönlichen Affekt verwehrt. Denn ihre Arbeit vollzieht sich in der Form einer unmittelbaren Beziehung, eines Gib und Nimm, der sie doch unterm Bann ihrer höchst unmittelbaren Zwecke nie gerecht werden kann“ (Adorno, 1977, S. 668f.). 45 46
Vgl. hierzu auch Kap. 3.3.1. Dieser Bereich lässt sich noch weiter aufschlüsseln in Themen wie Berufsentscheidung, sportliche Vorerfahrungen, Vorerfahrungen im Anleiten von Gruppen, sportunterrichtliche Erfahrungen usf. einerseits. Dann schließen ausbildungsspezifische Erfahrungen an, die z. B. im Studium und der zweiten Ausbildungsphase gemacht worden sind, aber auch Ausbildungen im Bereich von Übungsleiter/innentätigkeiten oder der Erwerb von Trainerscheinen können hierzu gezählt werden. Auch die Zeit nach dem Referendariat ist sicher noch dem Lehrer/inwerden zuzuordnen, da es hier nun gilt, ein eigenständiges (professionelles) Profil zu entwickeln bzw. mit Bauer et al. (1996) gesprochen ein professionelles Selbst zu etablieren.
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
Die Bedeutung der Biographie für professionelles Handeln im Beruf ist also eine höchst pädagogische. Eine berufsbiographische Passung herzustellen bleibt dabei (bisher und zumeist) dem/der einzelnen Lehrer/in überlassen. Dieser Prozess erfordert es, die eigenen biographischen Wissensbestände an das berufliche Feld anschlussfähig ‚zu machen’, um so Kohärenz herstellen zu können. Wie bereits beschrieben, handelt es sich dabei zumeist um ein Wissen, das nur begrenzt zugänglich ist und daher eher dem Bereich des impliziten Wissens zugeordnet werden muss. „Einfach formuliert, ist implizites Wissen nicht-symbolisch, nonverbal, prozedural und unbewusst in dem Sinne, dass es nicht bewusst reflektiert wird.“ (Stern, 2005, S. 123). Es stellt sich also die berechtigte Frage, wie ein solcher Wissensbestand dann überhaupt seitens der Forscherin erfasst werden kann. Betrachtet man die Arbeiten Polanyis (1985) zum tacit knowing, so wird einerseits die große Bedeutung dieses Wissens für das Handeln deutlich; andererseits untermauern sie die Problematik des Zugriffes auf diesen Wissensbestand durch ‚externe Instanzen’. Hier schließen die Ausführungen in Kapitel 3.4.2 zum Zusammenhang zwischen ‚Text’ und ‚Leben’ an. Als Forscherin gibt es nur eine (ethisch akzeptable) Möglichkeit des Zugriffes, nämlich über das Medium ‚Text’ und hier die autobiographische Narration. Darüber hinaus gibt es interessante Ansätze aus der Entwicklungspsychologie und Psychotherapie, die die Möglichkeit des Zugriffs auf implizite Wissensbestände durch das Medium der Narration thematisieren. Ein zentraler Gedanke aus langjährigen Forschungsarbeiten Sterns soll hier aufgegriffen werden: „Das implizite Wissen beschränkt sich nicht auf die reiche Welt der nonverbalen Kommunikation oder der Körperbewegungen und – sensationen, sondern umfasst auch Affekte und Wörter – jene Wörter zumindest, die zwischen den Zeilen stehen. Wenn Ihr Gesprächspartner zum Beispiel immer wieder mit: »Ja, aber…« reagiert, werden Sie schnell begreifen, dass das »Ja« ein trojanisches Pferd ist – ein Trick, um in Ihre Mauern einzudringen. Mit dem »aber« werden dann die Soldaten losgelassen“ (Stern, 2005, S. 124).
Was an diesem Beispiel verdeutlicht werden soll, ist, dass der implizite Charakter biographischen Wissens keinen Widerspruch zum Zugriff über autobiographisches Erzählen darstellt. Denn geht man, wie es hier der Fall ist, davon aus, dass biographische Wissensbestände lebensgeschichtliche Erfahrungen sind, die eine besondere Qualität haben, sie sozusagen übergeordnete Funktion einnehmen und – wie Alheit es formuliert – einen anderen „Aggregatzustand“ (1989, S. 128) erreicht haben, dann ist es durchaus möglich, diese in lebensgeschichtlichen Erzählungen zu re-konstruieren. Auf welche Art und Weise entwickeln sich aber nun solche „Hintergrundkonstruktionen“ (ebd., S. 127); oder anders formuliert: Wie entstehen strukturelle Wissensbestände im Sinne von ‚höheren Wahrheiten’,
3.2 ‚Biographisches Wissen’ – Ein konzeptioneller Begriff
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die dann in Form biographischen Wissens zu einer Art Lehre aus den eigenen Lebenserfahrungen, einer Art Quintessenz der Erfahrungen werden? Alheit sieht diesen Prozess eng verbunden mit Prozessen der Traditionsbildung im Sinne der Etablierung eines ‚sozialen Gedächtnisses’. Hier schließt sich auch der Bogen hin zu den oben angesprochenen Vergangenheitsausprägungen. Hierbei unterscheidet Alheit zwei verschiedene Rekapitulationsformen: einerseits gibt es jene Rekapitulationsform, die eine große Ereignisnähe und einen Ereignis- und Handlungsbezug aufweist; andererseits gibt es jedoch auch „relativ ‚universalistische’ normative Orientierungen, die den ideologischen Überbau einer konkreten historischen Gesellschaftsformation bestimmen“ (Alheit, 1989, S. 140). Neben der idealtypischen Vorstellung der Stegreiferzählung als spontanste und unkontrollierteste Form der Erzählung, wie Schütze (vgl. Kap. 3.4) sie postuliert, gewinnen bei der Re-Konstruktion biographischer Wissensbestände andere Textsorten an Bedeutung. Trotz des enormen Stellenwertes der Schützeschen Arbeiten sollte daher nicht aus dem Blick geraten, „daß narrative Rekapitulationen auch dann eine soziologische Aussagekraft besitzen, wenn sie das zugrunde liegende biographische Ereignis nurmehr zum Anlaß nehmen, um gleichsam in einen anderen »Aggregatzustand« sozialen Wissens überzugehen“ (ebd., S. 127f.). Denn „Erzählungen, die sich auf dem Wege zur »Traditionsbildung« befinden, unterliegen gleichsam anderen Gesetzen als spontane narrative Rekapitulationen. Bei ihnen ist weniger das Ereignis interessant, dem sie sich verdanken. Vielmehr interessiert die Art und Weise, wie sie sich von diesem Ereignis »abgelöst« haben: die »höheren Wahrheiten«, das »strukturelle Wissen«, die »kollektiven Erfahrungen«, die sie zu bilden beginnen (ebd.)“.
In der Analyse gilt es, den biographischen Konstruktionsprozess zum Anlass zu nehmen und ihn mit jenen höheren Wahrheiten des biographisch akkumulierten Wissens in Abgleich zu bringen. Im Folgenden wird nun die Bedeutung der Grounded Theory als methodologischer Rahmen expliziert und in Form einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den verschiedenen ‚Varianten’ sowie der Bezug zur eigenen Forschung dargestellt. Hierbei geht es auch darum, aufzuzeigen, wie dieser Forschungsstil im Kontext einer Beschränkungen unterworfenen Qualifikationsarbeit handhabbar gemacht werden kann.
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
3.3 Grounded Theory als methodologischer Rahmen Nach der Methodologie der Grounded Theory (GTM)47 zu forschen, scheint in den letzten Jahrzehnten besonders populär geworden zu sein. Auch in der sportpädagogischen Forschung wird auf dieses Konzept immer häufiger verwiesen (vgl. exemplarisch Frei et al., 2000; Krieger & Miethling, 2001; 2004). Diese Tendenz hat m. E. mehrere Gründe. Zum einen steht mit diesem Konzept ein methodologischer Rahmen zur Verfügung, der verstanden werden kann als „eine konzeptuell verdichtete, methodologisch begründete und in sich konsistente Sammlung von Vorschlägen, die sich für die Erzeugung gehaltvoller Theorien über sozialwissenschaftliche Gegenstandsbereiche als nützlich erwiesen haben“ (Strübing, 2004, S. 7). Es handelt sich also nicht um ein hermetisches Verfahren, sondern um ein Set an Verfahrensweisen, das an verschiedene Forschungsbereiche und –fragestellungen angepasst und in ihnen angewandt werden kann. Zum anderen liegen zur GTM Veröffentlichungen in Form von Lehrbüchern vor, die auf den ersten Blick den Eindruck vermitteln können, man brauche sich die vorgestellten Verfahrensweisen ‚nur’ durch die Lektüre zu erarbeiten und gelange so zum (vermeintlich) sicheren Ziel. Dass dieser Eindruck jedoch trügerisch ist und dies meist erst im Alltag des fortgeschrittenen Forschungsprozesses ans Tageslicht kommt, birgt gerade für Qualifikationsarbeiten eine große Gefahr. Für die Umsetzung der GTM bedarf es also einer Anpassung der Methode an die forschungspraktischen Gegebenheiten, bei der aber gleichzeitig den Grundprinzipien der GTM Rechnung getragen werden muss. In der weiteren Auseinandersetzung mit der GTM zeigt sich, dass die entwickelten unterschiedlichen Positionen Glasers und Strauss’ zu einzelnen Arbeitsschritten die Problemlage noch verschärfen und aufgeworfene Fragen ‚verkomplizieren’. Im Folgenden sollen daher die Antworten vorgestellt werden, die im Verlauf der vorliegenden Forschungsarbeit, aber auch im intensiven Austausch mit anderen Kolleg/innen gefunden worden sind.48 Dabei wird auch eine konstrukti-
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Im deutschen Diskurs zum methodologischen Rahmenkonzept von Glaser und Strauss hat sich die Verwendung des Begriffs Grounded Theory sowohl für das Verfahren als auch für das Produkt, nämlich eine gegenstandsbezogene Theorie durchgesetzt. Dies führt zu Verwechslungen hinsichtlich des Bezuges (Methodologie oder Produkt). Darüber hinaus ist dieser Sprachgebrauch spätestens seit Beginn der Kontroverse zwischen Glaser und Strauss, die zeitlich ungefähr im Erscheinen von Glasers Theoretical Sensitivity (1978) zu verorten ist, unangemessen (vgl. Strübing, 2004, S. 63ff.). Im Folgenden wird daher zwischen Grounded Theory als Produkt der Forschung (GT) und dem methodologischen Vorgehen mit dem Ziel eine Grounded Theory zu entwickeln (GTM) unterschieden. Eine ausführliche Diskussion zu dieser Problematik auf einer allgemeinen Ebene mit forschungspraktischen Beispielen findet sich bei Truschkat, Kaiser & Reinartz (2005).
3.3 Grounded Theory als methodologischer Rahmen
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ve Auseinandersetzung mit den mittlerweile differenten Verfahrensweisen der Begründer der GTM geführt und auf den eigenen Forschungsprozess bezogen. Da der Prozess der Datenerhebung und die Datenauswertung bei der GTM in besonderer Weise miteinander verwoben sind, kommt dem Sampling im Rahmen dieses ‚Forschungsprogramms’ eine zentrale Bedeutung zu. Mittels des Sampling wird über Daten für die Analyse entschieden und es ist deshalb Grundlage für die entstehende Theorie. Umgekehrt wird das Sampling durch die sich entwickelnde Theorie angeleitet, weshalb Glaser und Strauss von theoretischem Sampling sprechen: „Theoretisches Sampling meint den auf die Generierung von Theorie zielenden Prozeß der Datenerhebung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel erhebt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächste erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind. Dieser Prozeß der Datenerhebung wird durch die im Entstehen begriffene – materiale oder formale – Theorie kontrolliert“ (Glaser & Strauss, 1967/1998, S. 53).
Diese Samplingstrategie stellt sich spätestens im konkreten Forschungsprozess als ‚neuralgischer Punkt’ heraus, nachdem man zumeist auf Grund des ‚Kochrezeptcharakters’ von Anleitungen zur GTM zunächst den Eindruck hat, systematisch die einzelnen Arbeitsschritte abarbeiten zu können. Eine Anpassung an die Gegebenheiten des eigenen Forschungsvorhabens wird dann allerdings notwendig. Gleichzeitig wird aber immer wieder zu Recht darauf hingewiesen, dass durch Abwandlungen der Methode und den zunehmend inflationären Gebrauch des Labels ‚Grounded Theory’ die grundlegenden Prinzipien verwässert werden. „Hinter dem lapidaren Hinweis, `nach Glaser und Strauss zu arbeiten´, stehen häufig qualitativ und konzeptionell unterschiedliche Vorgehensweisen (…)“ (Dausien, 1996, S. 94). Auf diese Entwicklung und die daraus resultierende „Erosion“ des Konzepts weist auch Glaser erneut hin: „The mixing of QDA (Qualitative Data Analysis) and GT (Grounded Theory) methodologies has the effect of downgrading and eroding the GT goal of conceptual theory. The result is a default remodeling of classic GT into just another QDA method” (Glaser, 2004, p. 2).
Wie sich die systematische Umsetzung in der vorliegenden Arbeit gestaltet, soll nun anhand der verschiedenen Prinzipien der GTM vorgestellt und in die grundsätzliche Auseinandersetzung mit diesem Forschungsstil eingeordnet werden.
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
3.3.1 Erhebung der ersten Daten: theoretical sensitivity als Schlüssel zum Feld Die Auswahl der ersten zu untersuchenden Fälle (Personen, Situationen, Dokumente usw.) zu Beginn eines Forschungsprozesses nach der GTM hat eine Art ‚Pioniercharakter’. Die aus der Analyse dieser Daten entstandenen relevanten Kategorien für eine Theoriebildung geben erste Hinweise über das weitere Sampling im Forschungsprozess. Die erste Auswahl von Untersuchungseinheiten besitzt demnach eine besondere Rolle. Eine wichtige Frage bei diesem Forschungsschritt ist: Wie kann man ein Forschungsinteresse soweit konkretisieren, dass man daraus eine Begründung für die erste Untersuchungseinheit ziehen kann? Oder anders gesagt: Wie kommt man eigentlich zu den ersten Daten? Leitend für die (erste) Datenerhebung ist, wie bei allen empirischen Arbeiten auch in Forschungsprozessen nach der GTM, die Fragestellung der Untersuchung. Anders als bei anderen methodologischen Rahmenkonzepten wird die Fragestellung zu Beginn eines Forschungsprojektes nach der GTM jedoch recht offen formuliert und sie erfährt erst im Verlauf der Forschung eine Präzisierung und Konkretisierung (Strauss & Corbin 1996, S. 23ff.). Dies liegt zum einen daran, dass es sich bei Arbeiten nach dem Konzept der GTM oftmals um explorative Studien handelt und die Kenntnisse zum Forschungsgegenstand zu gering sind, um konkretere Zusammenhänge zu erfragen. Zum anderen ist die anfängliche Offenheit der Fragestellung mit der abduktiven Forschungslogik49 der GTM zu erklären: Die Forschungsfrage soll zu Beginn des Forschungsprozesses offen sein, damit Zusammenhänge aus der Empirie heraus auftauchen und befragt werden können. Die Fragestellung erfährt dann erst über eine sukzessive Erforschung des Gegenstands mittels der Methode des permanenten Vergleichs (siehe auch 3.3.2) eine Zuspitzung.50 Aus der anfänglichen Offenheit der Forschungsfrage heraus resultiert für die Forscher/innen bei der Erhebung der ersten Daten oftmals die Schwierigkeit, welche und wie viele Daten erhoben werden sollen. Am Beispiel der hier vorliegenden Arbeit zum Zusammenhang zwischen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und beruflichem Handeln und Deuten von Sportlehrer/innen haben sich daher Fragen ergeben wie: Welche Faktoren beeinflussen generell das berufliche Handeln von Sportlehrer/innen? Welche Schulformen sollen einbezogen werden? Wer muss also zur Beantwortung der Frage-
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Abduktion meint, von einem neuen überraschenden (empirischen) Phänomen auf eine erklärende Regel zu schließen und unterscheidet sich damit fundamental vom deduktiven und induktiven Schließen (vgl. Peirce, 1991 zit. nach Kelle & Kluge, 1999, S. 22f.). Dieses Vorgehen unterscheidet sich deutlich von (zumeist deduktiven) Arbeiten, die in ihrer anfänglichen (und den Forschungsprozess überdauernden) Fragestellung bereits implizit Zusammenhänge empirischer Phänomene enthalten. GTM bedeutet, neues theoretisches Wissen durch eine intensive Auseinandersetzung mit der Empirie zu „entdecken“ (Alheit, 1999, S. 2).
3.3 Grounded Theory als methodologischer Rahmen
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stellung untersucht werden? Und auf einer anderen Ebene: Welche Art von Daten können am meisten Aufschluss über die Fragestellung geben? Hier haben ganz zu Beginn auch teilnehmende Beobachtungen, Leitfadeninterviews und andere Methoden der Datengewinnung auf dem Prüfstand gestanden. Denn anders als im fortgeschrittenen Stadium eines Forschungsprozesses, in dem die Auswahl der (weiteren) Fälle (Personen, Situationen, Gegenstände, Dokumente) zur Entwicklung der Theorie über den Gegenstand auf der Basis der bereits geleisteten Analyse geschieht,51 hat der/die Forscher/in zu Beginn der Untersuchung noch keine Anhaltspunkte, welche Untersuchungseinheiten sich zur Analyse eignen. Einen Ansatzpunkt dafür, wie man dennoch einen empirischen Forschungsprozess sinnvoll in Gang bringen könnte, liefert das Konzept der theoretischen Sensibilität über den zu untersuchenden Gegenstand. So heißt es bei Strauss und Corbin: „Theoretische Sensibilität bezieht sich auf die Fähigkeit, Einsichten zu haben, den Daten Bedeutung zu verleihen, die Fähigkeit zu verstehen und das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. All dies wird eher durch konzeptuelle als durch konkrete Begriffe erreicht. Erst die theoretische Sensibilität erlaubt es, eine gegenstandsverankerte, konzeptuell dichte und gut integrierte Theorie zu entwickeln“ (Strauss & Corbin, 1996, S. 25).
In Glasers Publikation „Basics of Grounded Theory Analysis“ findet sich die folgende Definition: „Theoretical sensivity is an ability to generate concepts from data and to relate them according to the normal models of theory in general, and theory development in sociology, in particular. A researcher may be very sensitive to his personal experience, his area in general and his data specifically, but if he does not have theoretical sensitivity, he will not end up with grounded theory“ (Glaser, 1992, p. 27).
Die Grundauffassung, dass die theoretische Sensibilität die Fähigkeit des Forschers/ der Forscherin meint, aus den empirischen Daten heraus eine gegenstandsbezogene Theorie zu entwickeln, vertreten Glaser und Strauss in gleicher Weise. Zu der Frage, was theoretische Sensibilität aber letztlich ausmacht und zu welchem Zeitpunkt des Forschungsprozesses sie wichtig wird, haben Glaser und Strauss in ihren späteren Arbeiten jedoch unterschiedliche Auffassungen entwickelt. Theoretische Sensibilität setzt sich nach Strauss und Corbin aus Literaturkenntnissen, beruflichen und persönlichen Erfahrungen und aus den Erkenntnis51
Diese aus Theorieentwicklung resultierende Fallauswahl ist der Grund für die Bezeichnung „Theoretisches Sampling“.
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
sen zusammen, die im Rahmen des laufenden Forschungsprojektes gewonnen werden (vgl. Strauss & Corbin, 1996, S. 25ff.).52 Literaturkenntnisse können sich sowohl aus dem Wissen über abstrakte Theorien als auch aus der Literatur über den konkreten Forschungsgegenstand zusammensetzen. Dies ist laut Strauss und Corbin deshalb von Bedeutung, weil die soziale Realität hinsichtlich ihrer beschreib- und vergleichbaren Phänomene schier unerschöpflich ist und sich der Forscher/die Forscherin deshalb auf eine Aufmerksamkeitsrichtung festlegen sollte (vgl. Kelle, 1994, S. 326). Nach Glaser würde der erste Zugang zum Untersuchungsfeld auf diese Weise allzu sehr durch die Vorannahmen bestimmt sein. Obgleich sich Glaser explizit für eine anfängliche Offenheit stark macht, wird ihm aber zu schnell nachgesagt, er negiere jegliche Form des theoretischen Vorwissens zu Beginn der Erhebung. So unterstellt ihm Kelle: „Jedes Hintergrundwissen ist, so Glaser, schädlich für die Anwendung der Methodologie der grounded theory, weil der Forscher damit gehindert würde die Akteursperspektive einzunehmen und die in dem Forschungsfeld tatsächlich vorhandenen Probleme zu erkennen: ‚Indeed the analyst should just not know as he approaches the data, so he does not even have to waste time correcting his preconception’“ (Glaser, 1992, p. 50 zit. nach Kelle, 1994, S. 335).
Sieht man in das Original von Glaser, so stellt man fest, dass die Aussage wie folgt fortgesetzt wird: “These backgrounds of assumptions, experiences and knowledge can at best only imbue our open coding; they do not dictate it” (Glaser, 1992, S. 50). Von einer absoluten Verneinung der Vorannahmen zu Beginn der Erhebung kann also nicht die Rede sein. Der entscheidende Unterschied, der sich zwischen den Autor/innen herauskristallisiert liegt m. E. in der Frage, welche Literatur wann eingesetzt wird. Glaser plädiert dafür, sich wenn überhaupt zunächst auf die theoretisch-abstrakte Literatur zu beschränken und erst später, wenn eigene Kategorien aus dem Material heraus entwickelt worden sind, auf fachspezifische, sprich das direkte Forschungsfeld betreffende, Literatur zurückzugreifen (vgl. Glaser, 1992, S. 31ff.). „But reading and use of the literature is not forsaken in the beginning of a grounded theory project, just because related literature is reserved until the later stages of a project. It is vital to be reading and studying from the outset of the research, but in unrelated fields” (ebd., p. 35).
52
Hinsichtlich der ersten Forschungsphase spielt letzteres eher eine untergeordnete Rolle.
3.3 Grounded Theory als methodologischer Rahmen
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Er nimmt damit eine gegensätzliche Position zu Strauss und Corbin ein, die ausdrücklich der Auffassung sind, dass jegliche Art von Literatur von Beginn an verwendet werden kann (vgl. ebd., S. 31ff.) und begründet seine Sichtweise damit, dass das Verfahren der GTM explizit vorsieht, Konzepte und Hypothesen zu generieren. In der frühzeitigen Verwendung der fachbezogenen Literatur hingegen sieht er die Gefahr, dass Forscher/innen doch wieder hypothetikodeduktiv verfahren. Insgesamt würde das theoretische Vorwissen bei Glaser also eher als Hintergrundwissen fungieren und den ersten Zugang zum Feld weitaus weniger steuern als dies bei dem Vorgehen nach Strauss und Corbin der Fall sein kann. Meines Erachtens ist es im Vorfeld einer Erhebung kaum zu entscheiden, welche Vorgehensweise der beiden dargestellten die ‚richtigere’ ist, da beide Standpunkte durchaus plausibel sind. Die Frage der theoretischen Sensibilität kann daher nur angepasst an das eigene Forschungsvorhaben und die individuellen Bedingungen für die Umsetzung flexibel – aber begründet – beantwortet werden. Darüber hinaus lässt sich nicht leugnen, dass bestimmte pragmatische Entscheidungen für das Gelingen einer Forschungsarbeit unerlässlich sind. Wichtig erscheint es dabei jedoch, zwei Dinge zu beachten. Erstens ist es durchaus legitim, alles Vorwissen und alle Literatur bereits zu Beginn des Forschungsprozesses zu nutzen. Dabei ist es aber dringend erforderlich, Glasers Umgehensweise mit der Literatur zu berücksichtigen. Der Hinweis darauf, dass es sich vielmehr um ein Hintergrundwissen handelt, bewahrt davor, doch deduktiv zu arbeiten. Die Verwendung des Vorwissens darf sich nicht darin äußern, dass konkrete Probleme des Untersuchungsfeldes bestimmt oder sogar Hypothesen über empirische Zusammenhänge formuliert werden. Diesen Charakter der theoretischen Sensibilität betont auch Charmaz zur Abgrenzung der GTM von deduktiven Forschungsverfahren: „In short, sensitizing concepts and disciplinary perspectives provide a place to start, not to end. Grounded theorists use sensitizing concepts as tentative tools for developing their ideas about processes that they define in their data. If particular sensitizing concepts prove to be irrelevant, then we dispense with them. In contrast, the logico-deductive model of traditional quantitative research necessitates operationalizing established concepts in a theory as accurately as possible and deducing testable hypotheses about the relationships between these concepts. In this model, the research is locked into the original concepts” (Charmaz, 2006, p. 17).
Das Vorwissen ist und bleibt eine Sensibilität für das Feld; es zeichnet sich durch heuristische Konzepte, nicht durch fest gefügte Erklärungsmodelle aus. Zweitens ist es für die Nachvollziehbarkeit der Forschung bedeutend, sich das eigene Vorwissen zu vergegenwärtigen.
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen „Die bewusste Explikation des eigenen Vorwissens erlaubt auch eine selbstkritische Korrektur dieser Vorannahmen. Und genau darum geht es: Der Forschungsprozess wird als systematische Modifikation der heuristischen Vorannahmen, somit als Lernprozess verstanden. Der wünschenswerten Klarheit der gewählten Forschungsfrage(n) steht ein methodisches „Misstrauen“ in Bezug auf die Eingangserwägungen gegenüber. Freilich, nur wenn ich weiß, was ich erforschen will, kann ich mich von dem überraschen lassen, woran ich nicht im Traum gedacht hatte. Deshalb steht ein „sensibilisierendes Konzept (Blumer) am Anfang des Forschungsprozesses“ (Alheit, 1999, S. 10).
Konnte auf Grund der Fragestellung und des heuristischen Konzepts ein bestimmter Gegenstand oder eine bestimmte Personengruppe eingegrenzt werden, so stellt sich im Anschluss die Frage, wie der Feldzugang hergestellt werden kann. Dieser Schritt ist zu Beginn des Forschungsprozesses nicht zu unterschätzen. Je näher der persönliche Kontakt zum Feld ist, desto einfacher ist es, an Interviewpartner/innen zu kommen. Je ferner man dem Feld ist, desto schwieriger wird es und desto mehr Aufwand muss betrieben werden, um etwaige Interviewpartner/innen davon zu überzeugen, den/die Forscher/in in ihrem Vorhaben zu unterstützen. In einem solchen Fall gewinnt die Ausformulierung von Vorannahmen einen sehr konkreten forschungspraktischen Nutzen. Natürlich möchten die Interviewpartner/innen wissen, wozu die Erhebung durchgeführt wird, warum gerade sie angesprochen werden und was mit den Ergebnissen geschieht. Um diese legitimen Fragen beantworten zu können, ist es wichtig, ein plausibles heuristisches Konzept parat zu haben. Völlig ohne Vorannahmen lassen sich eigentlich nur natürliche Daten erheben, Daten also, die vorhanden sind (Dokumente, authentische Situationen etc) und für die man keine Einwilligung braucht. Für die vorliegende Untersuchung lassen sich die Voraussetzungen für den Beginn des Forschungsprozesses folgendermaßen charakterisieren: Als Forscherin, die selbst Sport als Unterrichtsfach studiert und den Lehrberuf an(ge)strebt (hat), verfüge ich über eine große Nähe zum Untersuchungsfeld und über vielfältiges Wissen theoretischer und biographischer Art. Bestimmte ‚Problemlagen’ des Berufes, wie z. B. das hohe Belastungspotential, die geschlechtsspezifischen Problematiken sowie pädagogische Ansprüche und die zugehörigen kontroversen Diskussionen sind bekannt. Das Forschungsinteresse richtet sich zu Beginn darauf, Sportlehrer/innen als Personen zu betrachten und eine Verwobenheit zwischen einer häufig künstlich getrennten ‚Berufsperson’ und ‚Privatperson’ anzunehmen. Als Zielgruppe der Untersuchung gelten in der ersten Erhebungsphase also alle Sportlehrerinnen und Sportlehrer, so dass der Zugang zum Feld problemlos möglich, eine begründete Auswahl jedoch zu diesem Zeitpunkt des Forschungsprozesses anspruchsvoll gewesen ist. Besonders günstig für die Datenerhebung ist darüber hinaus gewesen, dass eine zweimonatige Hospitationsphase
3.3 Grounded Theory als methodologischer Rahmen
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an verschiedenen Schulen zur Auswahl einer ersten Interviewpartnerin hat genutzt werden können. Ausgehend von diesem gezielten ersten Interview hat ebenso gezielt weiter erhoben und sich dabei an den ersten Erkenntnissen orientiert werden können. Stellt sich beispielsweise heraus, dass die Dimension der breitensportlichen Ausrichtung relevant ist für den professionellen Habitualisierungsprozess, so wird als nächstes ein Sportlehrer oder eine Sportlehrerin befragt, die eine leistungssportliche Vergangenheit hat. Andererseits können sich auch Kategorien wie ‚Geschlecht’ oder ‚generationale Zugehörigkeit’ als relevante Vergleichsdimensionen herausstellen. Die weitere Fallauswahl würde sich dann an diesen Kategorien und ihren Dimensionen orientieren. Insgesamt bleibt also festzuhalten, dass die Ausformulierung der Fragestellung und des heuristischen Konzepts für die Erhebung der ersten Daten eine wichtige Rolle spielen. Dabei ist aber zu beachten, dass es sich nicht um vorgefertigte Hypothesen handeln darf, sondern um Aufmerksamkeitsrichtungen, um eine Sensibilität für den Forschungsgegenstand, die ein bestimmtes Maß an Offenheit bewahren. Welche konkrete Rolle das heuristische Konzept für die erste Datenerhebung spielt, hängt stark von dem Forschungsinteresse und den Zugangsmöglichkeiten zum Feld ab. Der Verweis auf die jeweilige forschungspragmatische Umsetzbarkeit, erleichtert nicht unbedingt die Umsetzung des Sampling, bietet auf der anderen Seite aber auch Möglichkeiten, das Verfahren dem eigenen Forschungsprozess anzupassen. Wichtig erscheint hierbei, dass man bereits zu einem solch frühen Zeitpunkt des Forschungsprozesses den Austausch mit anderen sucht und sich dadurch eine Sicherheit in der Vorgehensweise verschafft. Für die vorliegende Arbeit hat es sich als besonders fruchtbar erwiesen, sich mit Forscher/innen auszutauschen, die eine große Distanz zum Forschungsfeld haben, aber mit den gleichen methodologischen Konzepten forschen53. Dies führt dazu, dass die eigenen Vorannahmen und fraglos ‚geteiltes Wissen’ permanent kritisch hinterfragt werden. Der Austausch hat die Explikation des eigenen Vorwissens gefördert und unmittelbar die kritische Revision eigener biographischer Wissensbestände ermöglicht. Der Kontakt zu anderen Forscher/innen ist auch zu späteren Zeitpunkten der Untersuchung, bei der das Sampling weiter vorangetrieben wird, immer wieder entscheidend. Auf Grund der Nähe zum Feld, wie in der vorliegenden Untersuchung, ist es möglich und empfiehlt sich,
53
Den Rahmen, der dies ermöglicht, bildet das DoktorantInnenNetzwerkQualitative Sozialforschung (DINQS), dem ich als Gründungsmitglied angehöre. Dieses Netzwerk ist ein selbst gegründeter Diskussionszusammenhang mit dem Ziel, die eigene Arbeit, aber auch alle weiteren Themen rund um Qualifikation und Hochschule gemeinsam zu bearbeiten. Das Netzwerk besteht bereits seit 2001 und zeichnet sich durch die Interdisziplinarität und Themenvielfalt mit dem Bindeglied des Interesses an Qualitativer Sozialforschung aus (vgl. http://www.dinqs.de).
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
ein gezieltes Sampling54 durchzuführen. Im folgenden Abschnitt soll nun auf diese weiteren Samplingschritte eingegangen werden.
3.3.2 Zirkularität im Forschungsprozess und permanenter Vergleich Glaser und Strauss betonen, dass es bei der weiteren Datenerhebung insbesondere darum gehe, sich bei der Suche nach Vergleichsfällen von den Ergebnissen der Auswertung der ersten Daten leiten zu lassen. „Das Basiskriterium, welches die Auswahl von Vergleichsgruppen zur Entdeckung von Theorie bestimmt, ist deren theoretische Relevanz für die Ausarbeitung emergenter Kategorien. Der Forscher wählt so viele Gruppen, wie ihr Vergleich ihm dabei hilft, möglichst viele Eigenschaften von Kategorien zu generieren und diese aufeinander zu beziehen“ (Glaser & Strauss, 1998, S. 57).
Daran wird deutlich, dass das Ziel des weiteren Sampling sein muss, die aus den ersten Daten gewonnenen Erkenntnisse zu differenzieren, zu festigen und zu verifizieren.55 Dies geschieht mittels einer Maximierung oder Minimierung der Differenzen zwischen den Vergleichsfällen. Während die Erhebung von Kontrastfällen dazu dient, etwaige neue relevante Kategorien zu entdecken und ihre Ausprägungen auszudifferenzieren, führt die Erhebung von Minimalvergleichen zu einer Konsolidierung des Kategoriensystems (vgl. ebd., S. 63). Welche Fälle Maximal- und welche Minimalvergleiche darstellen, sprich welche theoretische Relevanz sie haben, hängt nach diesem Verfahren eng mit dem jeweiligen For54
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Obgleich also vielleicht das heuristische Konzept sinnvoll ausgearbeitet ist, ist es auf Grund der Verschlossenheit des Feldes nicht immer möglich, die Daten zu erheben, die gebraucht würden. Strauss und Corbin (1996) raten dem/der Forscher/in in einem solchen Fall, eine Kombination aus einem „gezielten“, einem „systematischen“ und einem „zufälligen“ Sampling durchzuführen (vgl. ebd., S. 155ff.). Gezielt samplen meint, sich eben genau die Interviewpartner/innen auszuwählen, von denen man weiß, dass sie über wichtige Informationen für die Beantwortung der Forschungsfrage verfügen. Dahingegen bedeutet systematisch zu samplen, dass der/die Forscher/in sich eine bestimmte Strategie überlegt, nach der er/sie vorgeht, wie beispielsweise alle diejenigen zu befragen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort aufzufinden sind oder alle diejenigen, die zu einem Interview bereit sind. Beim zufälligen Sampling fällt dann eine solche Strategie weg. Wann sich welche Strategie anbietet, hängt in hohem Maße von dem interessierenden Forschungsfeld ab. Das Verhältnis von Thesengenerierung und -verifikation im Rahmen der GT stellt in späteren Veröffentlichungen einen Gegenstand der Kontroverse zwischen Glaser und Strauss dar. Während Glaser die GTM ausschließlich als theoriegenerierende Methode versteht, sieht Strauss gerade die wechselseitige Generierung und Verifikation von theoretischen Erkenntnissen als zentrale Aufgabe der GTM. Zur übersichtlichen Darstellung der unterschiedlichen Positionen vgl. Kelle, 1994.
3.3 Grounded Theory als methodologischer Rahmen
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schungsinteresse zusammen. Für die vorliegende Untersuchung hat sich beispielsweise gezeigt, dass ein sportbegeistertes Elternhaus einen großen Einfluss auf die ‚sportpädagogische Grundhaltung’ haben kann. Es ist also einerseits eine weitere Ausdifferenzierung dieses Einflusses im Sinne eines minimalen Vergleichs von Interesse gewesen, aber auch ein möglichst großer Kontrast, was in diesem Falle bedeutet, eine Person aus einem sportfernen Herkunftsmilieu zu interviewen. Darüber hinaus ist eine breitensportliche Orientierung mit einer leistungssportlichen Ausrichtung kontrastiert worden. Grundlegend für das Vorgehen beim theoretischen Sampling ist die Methode des permanenten Vergleichs. Der Begriff wurde bereits 1965 von Barney G. Glaser in einem Artikel in der Zeitschrift „Social Problems“ eingeführt56 und beschreibt quasi „eine spiralförmige Hin- und Herbewegung zwischen theoretisch angeleiteter Empirie und empirisch gewonnener Theorie“ (Dausien, 1996, S. 93). Die Wechselseitigkeit im Verhältnis zwischen Theorie und Empirie bezieht sich also sowohl auf die Auswertung des erhobenen Datenmaterials (Kodierung) als auch auf die sukzessive Erhebung der Daten, die in einem engen Wechselverhältnis zueinander stehen. Ausgehend von der unterschiedlichen Auffassung von Glaser und Strauss, was die Verwendung der Literatur in einem solchen Forschungsprozess betrifft, entwickeln die beiden Autoren auch eine differenzierte Haltung zu den Kodierverfahren und in diesem Zusammenhang auch zu dem weiteren Vorgehen des theoretischen Sampling. Im Folgenden soll deshalb knapp auf die jeweiligen Kodierverfahren eingegangen und das entsprechende Samplingvorgehen dargestellt werden. Glaser (1978) vertritt die Auffassung, dass bereits im Zuge des offenen Kodierens, also im Rahmen der ersten analytischen Zuwendung zum Datenmaterial, die gegenstandsbezogenen Kodes57 zu Kategorien und einem theoretisch konsistenten Netzwerk zu verdichten sind. Dies geschieht dadurch, dass die einzelnen Interpretationen, die aus dem Material gewonnen, direkt miteinander verglichen und in Beziehung gesetzt werden. In einem zweiten Schritt, dem selektiven Kodieren, geht es nach Glaser dann um die Ausarbeitung der Kernkategorie und der theoretischen Beziehungen der anderen Kategorien zu dieser Kernkategorie (vgl. Glaser, 1978). Die Entwicklung der Kategorien bei Glaser basiert also von Anfang an auf dem permanenten Vergleich des Datenmaterials. Infolgedessen muss das theoretische Sampling zum einen solche Vergleiche ermöglichen und zum anderen die Offenheit besitzen, sich von den entstehenden Kategorien leiten zu lassen. Der Forscher – so Glaser – „starts with open coding which leads him to 56 57
Dieser Artikel ist in dem 1968 erschienen Buch „Discovery of Grounded Theory“ von Glaser und Strauss als fünftes Kapitel unverändert abgedruckt. Unter Kodes versteht Glaser die Zuordnung von Bezeichnungen zu bestimmten Ereignissen im Datenmaterial (vgl. Glaser, 1978).
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
sample in all directions which seem relevant and work. Later on when the researcher discovers his core variables – the basic social problem and process – his sampling becomes selective along the lines of his focus on the central issues of his emerging theory” (Glaser, 1978, S. 46). Glaser betont hier also explizit, dass sich das weitere Sampling an die sich aus den Daten entwickelnden Erkenntnisse anlehnt. Im Gegensatz zu Glaser entwickeln Strauss und Corbin in ihrer viel zitierten Veröffentlichung „Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung“ von 1996 einen dreistufigen Kodierprozess, der aus dem offenen, dem axialen und dem selektiven Kodieren besteht, wobei sie mit den jeweiligen Kodierschritten eine jeweils spezielle Samplingstrategie verbinden. Im Rahmen des offenen Kodierens geht es zunächst um das ‚Aufbrechen’ des Datenmaterials. Charmaz beschreibt diesen Prozess wie folgt: “Coding means categorizing segments of data with a short name that simultaneously summarize and accounts for each piece of data. Your codes show how you select, separate, and sort data to begin an analytic accounting of them” (Charmaz, 2006, p. 43).
Das Sampling, das im Rahmen des offenen Kodierens stattfindet, entspricht im Grunde den oben beschriebenen ersten Feldzugängen. Zielsetzung ist hierbei, theoretisch relevante Kategorien und ihre Eigenschaften und Dimensionen aufzudecken und das sensibilisierende theoretische Konzept hinsichtlich seiner empirischen Relevanz zu überprüfen. Das Sampling sollte deshalb gegenüber den Personen, Plätzen, Situationen etc. offen sein, die die größte Wahrscheinlichkeit bieten, die relevantesten Daten über das Phänomen zu gewinnen. In einem zweiten Analyseschritt, dem axialen Kodieren, geht es dann darum, die empirischen Beziehungen der Kategorien, die im Rahmen des offenen Kodierens entwickelt worden sind, aufeinander zu beziehen. Gemäß der Zielsetzung, der diesem Kodierschritt eigen ist, geht es bei dem Sampling in diesem Untersuchungsstadium auch um das Sampling von Beziehungen und Variationen. Wichtig ist dabei, so viele Unterschiede wie möglich zu entdecken (vgl. Strauss & Corbin, 1996). “Wenn Sie die Gelegenheit zu wählen haben, wen, was und wann sie sampeln, dann sollten sie deduktiv vorgehen, indem Sie Hypothesen über die Beziehungen und die Unterschiede aufstellen, die auftreten können, wenn sie die Dimensionen der Eigenschaften eines Phänomens variieren“ (Strauss & Corbin, 1996, S. 157).
Diese Aussage von Strauss und Corbin deutet explizit auf die Möglichkeit hin, auf ein deduktives Vorgehen zurückzugreifen. Das bedeutet, dass ein Sample
3.3 Grounded Theory als methodologischer Rahmen
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sowohl auf den aus dem empirischen Material gewonnenen Erkenntnissen als auch auf theoretisch ‚vorgedachten’ Hypothesen aufbauen kann. Im Gegensatz zu Glaser lassen Strauss und Corbin dem/der Forscher/in demnach die Möglichkeit, auch hinsichtlich seiner/ihrer theoretischen Vorannahmen zu samplen. Glaser kritisiert dieses Vorgehen zutiefst. Angelehnt an die sich stets wiederholenden Einwände gegen das Konzept von Strauss und Corbin kommt er zu dem Schluss, dass „Strauss looks for his paradigm in the data, and data collection in his method is not guided by the emergent, but by testing his logically deduced hypotheses in service of his paradigm. This is just conventional verificational methodology: logically deduced hypotheses and test them. This method is far cry from grounded theory which goes on what is emerging in the data as the theory is generated, and that is all” (Glaser, 1992, p. 103).
Weiter heißt es: “The only focus that allows sampling somewhat similar to grounded theory is open coding when the analyst is looking for relevant categories” (ebd., S. 103). Dieser Einwand ist sicherlich überzogen. Dennoch regt er dazu an, sich erneut bewusst zu machen, dass die Daten in der GTM und somit auch beim theoretischen Sampling eine zentrale Rolle spielen. Der deutliche Hinweis von Strauss und Corbin, deduktiv vorzugehen, verleitet vielleicht dazu, allzu voreilig Konzepte zu übernehmen, die dann auch das Sample in eine zu spezifische Richtung treiben. Ähnlich verhält es sich mit der Ausdifferenzierung der einzelnen Samplingschritte. Die konkrete Zuordnung der Herangehensweisen zu den Kodierabschnitten suggeriert zunächst eine Hilfestellung, aber auch dieses birgt die Gefahr eines zu schematischen Vorgehens. Obgleich Strauss und Corbin ihr Verfahren durch die Form der anschaulichen Darstellung sicher keineswegs haben schematisieren wollen, hat der positive Effekt der Nachvollziehbarkeit den Nachteil, dass die einzelnen Schritte zu hermetisch abgearbeitet werden könnten. Glaser geht sogar so weit, dass er unterstellt, dass sich diese Samplingschritte ganz von selbst im Prozess ergeben und somit keine methodologische Hilfe bieten würden (vgl. ebd., S. 102). Aus eigener Erfahrung hat sich gezeigt, dass die Orientierung an Strauss und Corbin sehr hilfreich ist. Dennoch soll darauf hinwiesen werden, dass für das Gelingen eines Sampling und damit verbunden der gesamten Forschung nach der GTM die nötige Offenheit nicht abhanden kommen darf. Im Hinblick auf die konkrete Forschungspraxis stellen sich dem Forscher/der Forscherin aber auch an diesem Punkt Fragen, die durch die Literatur nur bedingt beantwortet werden können. Auch bezüglich des weiteren Samplingvorgehens stehen Entscheidungen an, die jeweils von dem spezifischen Forschungsprojekt abhängen und fallspezifisch getroffen werden müssen.
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
Eine der wichtigsten Fragen an diesem Punkt der Forschung ist oftmals, wie die Zirkularität von Datenerhebung und Datenauswertung gewährleistet und organisiert werden kann. In der Forschungspraxis hängt dieses Problem oftmals mit zwei Faktoren zusammen. Zum einen ist es entscheidend, wie die Kontakte zum Untersuchungsfeld aussehen, zum anderen muss man die zur Verfügung stehende Zeit im Auge behalten. So werden für das vorliegende Promotionsprojekt Sportlehrer/innen interviewt, um aus den biographischen Erzählungen Erkenntnisse über die ihr biographisches Wissen sowie die Art und Weise des Anschließens an das berufliche Handeln und Deuten zu gewinnen. Wie bereits gezeigt worden ist, gab es einen sehr guten Zugang zum Feld. Es konnte zunächst ein Interview und nach der ersten Auswertung wieder ins Feld zurückgekehrt und gezielt ein zweites geführt werden. Die Zirkularität kann also durchaus umgesetzt werden. Dennoch handelt es sich nicht um einen unbegrenzten Feldzugang. Die Datenerhebung ist davon abhängig, ob die Bereitschaft zu einem Interview besteht und Termine mit potentiellen Interviewpartner/innen vereinbart werden können. Vorab müssen die anhand der entwickelten Kategorien potentiell relevanten Fälle definiert und diese dann auch im Forschungsfeld ausfindig gemacht werden. Diese sind Faktoren, die in der konkreten Forschungspraxis sehr viel Zeit kosten und deshalb unbedingt bei der zeitlichen Planung mit bedacht werden müssen. Sinnvoll ist dann die Beschränkung auf eine überschaubare Anzahl von Fällen, die aber mit Bedacht auf Grundlage der Datenanalysen sukzessive ausgewählt werden sollten. Deutlich wird auch, dass in bestimmten Fällen ein begründetes Abweichen vom ‚Idealfall’ durchaus möglich sein sollte. Dabei sind jedoch zwei Dinge dringend zu beachten. Zum einen ist es äußerst wichtig, sich über die divergente Vorgehensweise während des Forschungsprozesses im Klaren zu sein. Nur wenn man das Samplingverfahren reflektiert, kann man es sachlich begründen und auf seinen möglichen Einfluss auf das Gesamtergebnis der eigenen Forschung beziehen. Zum anderen ist es erforderlich, sich trotz aller Schwierigkeiten beim Feldzugang klarzumachen, dass auch in einem solchen Fall „die Datenerhebung kein abgeschlossener Vorgang zu Beginn des Forschungsprozesses sein kann, sondern ein sukzessives Prozedere mit deutlichem Schwerpunkt im ersten Stadium der Forschungen, jedoch mit möglichen Ergänzungen und Datennacherhebungen selbst während des Auswertungsprozesses“ (Alheit, 1999, S. 14) ist. Schließlich stellt sich die Frage, wann die Datenerhebung nach der GTM abgeschlossen werden und man sicher sein kann, dass eben keine weitere Datennacherhebung durchgeführt werden muss. Das Erreichen einer theoretischen Sättigung wird im Rahmen der GTM als Zielvorstellung formuliert. Wie sich diese im konkreten Forschungsprozess ‚definieren’ und herstellen lässt, soll daher nun reflektiert werden.
3.3 Grounded Theory als methodologischer Rahmen
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3.3.3 Wege zur theoretischen Sättigung: Kernkategorie und Bildung von Prototypen Die zirkuläre Abfolge von Datenerhebung und Datenauswertung verleiht dem Forschungsprozess die Offenheit, die nötig ist, um eine gegenstandbezogene Theorie aus der Empirie heraus zu entwickeln. Eine solche Theorie ist dann erreicht, wenn alle Kategorien und alle Beziehungen zwischen den Kategorien gut ausgearbeitet und validiert sind. Glaser und Strauss – und hier sind sie sich überwiegend einig – sprechen in einem solchen Fall von der theoretischen Sättigung. „Sättigung heißt, daß keine zusätzlichen Daten mehr gefunden werden können, mit deren Hilfe der Soziologe weitere Eigenschaften der Kategorie entwickeln kann. Sobald er sieht, dass die Beispiele sich wiederholen, wird er davon ausgehen können, daß eine Kategorie gesättigt ist“ (Glaser & Strauss 1998, S. 69).
Somit ist die theoretische Sättigung auch das bedeutsamste Kriterium dafür, wie lange die Datenerhebung fortgesetzt werden muss. Beim theoretischen Sampling ist es wichtig zu bedenken, dass es im Gegensatz zum statistischen Sampling flexibel zu handhaben ist. Die Frage, wann das Sample abgeschlossen, d. h. wann die theoretische Sättigung erreicht ist, liegt im Ermessen der Forscherin und verlangt von ihr theoretische Sensibilität und Erfahrung (vgl. ebd., S. 72). Oftmals werden daher zu viele Daten erhoben. Um unnötige Datenmassen zu vermeiden, ist es wichtig, Vertrauen in die Daten zu haben. Denn soziale Phänomene wiederholen sich oftmals viel eher als man im Vorfeld annimmt. Um dieses zu erkennen, ist es allerdings von Bedeutung, die Daten wirklich ‚aufzubrechen’ und die dahinter stehende Logik zu begreifen. Dadurch werden vordergründig unterschiedliche Ausprägungen minimiert und auf ein gemeinsames Prinzip hin durchleuchtet. Bei der vorliegenden Untersuchung zeigt sich bei fortschreitender Analyse tatsächlich, dass die soziale Herkunft eine entscheidende Schlüsselkategorie für die Einstellung zum Sport und oftmals transformiert auch zum Sportunterricht ist und so im Laufe des Forschungsprozesses hinter Alter und Geschlecht als Kategorien zurücktritt. Biographische Wissensbestände – und insbesondere jene zum Sport sowie Schule und Erziehung – werden in den vorliegenden Interviews eigentlich immer über die Primärsozialisation eingeführt und retrospektiv verortet. Hierauf weisen auch Glaser und Strauss hin: „Offenkundig sind nicht alle Kategorien gleich relevant, und deshalb braucht die Tiefe des Sampling nicht für alle dieselbe zu sein. Theoretische Schlüsselkategorien, die erklärungskräftigsten also, sollten natürlich so vollständig wie möglich gesättigt
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen werden. Umgekehrt sollte die Untersuchung weniger relevanter Kategorien nicht auf Kosten der Sättigung der Schlüsselkategorien durchgeführt werden“ (ebd., S. 77).
Hat man solche Schlüsselkategorien in den Daten gefunden und plausibel aufzeigen können, wiederholt sich das Phänomen recht schnell. Bei der GTM hängt die Qualität der Untersuchung dann eben davon ab, diese Kategorien zu entdecken und nicht davon, das theoretische Sampling immer weiter zu treiben und sie wieder und wieder durch neue Fälle zu belegen. „Da exakte Belege für die Generierung von Theorie nicht so entscheidend sind, kommt es auch nicht unbedingt auf die Art der Belege oder die Anzahl der Fälle an. Ein einziger Fall kann eine allgemeine konzeptuelle Kategorie oder eine allgemeine konzeptuelle Eigenschaft anzeigen; ein paar Beispiele mehr mögen die Indizien bestätigen“ (Glaser & Strauss, 1998, S. 39).
Das Auffinden von Schüsselkategorien ist also auch für das Sampling ein entscheidender Schritt und ist sicher eine der anspruchvollsten Aufgaben der Theoriegenerierung. „Wenn allerdings der Forschungsprozess sorgfältig vorbereitet wird, wenn ein ‚kontextaufklärendes’ sensibilisierendes Konzept den Umgang mit den Daten anleitet, dann kann die Theoriegenerierung auch als aufmerksamer ‚Dialog’ jenes Anfangskonzepts mit den Daten beschrieben werden, in dessen Verlauf sich das Konzept mit neuen Informationen anreichert, in der Regel auch deutlich verändert, aber doch sukzessive zu einer gegenstandsbezogenen Theorie ‚reift’. Es geht also nicht um einen „genialen Geistesblitz“ sozusagen ad hoc, sondern um [einen] ‚spiralförmigen’ Lern- und Prüfungsprozess“ (Alheit, 1999, S. 17).
Es ist daher wichtig zu beachten, dass es sich bei der Entdeckung der Schlüsselkategorien um einen Prozess handelt, der von dem sensibilisierenden Konzept geleitet wird. Die oben dargestellte Schlüsselkategorie ‚Soziale Herkunft’, die wiederum eng mit der Kernkategorie des ‚biographischen Wissens’ verbunden ist,58 ergibt sich also nicht per se aus dem Datenmaterial, sondern resultiert aus einer spezifischen Aufmerksamkeitsrichtung. Soziale Realität ist äußerst vielschichtig. So kann in einem anderen Fall genauso die Kategorie ‚Geschlecht’ den Hauptfokus darstellen und somit das Sampling in eine andere Richtung leiten. Dennoch bleibt die Frage offen, wann eine Schlüsselkategorie gesättigt ist und das Sampling legitim abgeschlossen werden kann. Dies hat etwas mit der 58
Im Gegensatz zu diesen entwickelten Kodes und Kategorien gibt es auch sogenannte InvivoKodes. Invivo-Kodes sind Kodes, die direkt in den Daten gefunden werden, d. h. sie werden von dem/der Interviewpartner/in selbst genannt.
3.3 Grounded Theory als methodologischer Rahmen
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Reichweite der Ergebnisse zu tun. Glaser und Strauss weisen explizit auf den Unterschied zwischen materialer und formaler Theorie hin. Beide Theorietypen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Generalität. Während die materiale Theorie Aussagen über ein spezifisches empirisches Feld zulassen, werden in formalen Theorien übergeordnete und konzeptionelle Zusammenhänge entwickelt. Formale Theorien benötigen auf Grund ihrer Feldunabhängigkeit Daten aus verschiedenen empirischen Feldern (vgl. Glaser & Strauss, 1998, S. 42ff.). Hinsichtlich der zeitlichen Rahmung der Forschungsarbeit und der Tatsache, dass man in der Regel allein forscht, liegt es nahe, materiale Theorien über einen spezifischen Feldausschnitt anzustellen. Durch diesen Anspruch lässt sich das Sample oftmals bereits erheblich eingrenzen. Wichtig ist es überdies, die Fragestellung, die der Untersuchung zugrunde liegt, nach und nach stärker einzuschränken. Während es zu Beginn der Untersuchung um Lebensgeschichten von Sportlehrer/innen bzw. die lebensgeschichtliche Einbettung dieser Berufstätigkeit gegangen ist, das Interesse also ganz allgemein darauf gerichtet gewesen ist, etwas über die Bildungsverläufe erfahren zu wollen, so hat sich im Laufe der Datenerhebung und Datenauswertung eine konkretere Fragestellung entwickelt, nämlich wie sich lebensgeschichtliche Erfahrungen auf berufliches Handeln und Deuten von Sportlehrer/innen auswirken. Man kann diese Frage auch noch weiter eingrenzen. Erkennt man beispielsweise, dass es biographische Wissensbestände zu geben scheint, die das biographische Projekt beeinflussen, so wird es interessant, etwas über die Art und Weise zu erfahren, wie diese biographischen Wissensbestände an das berufliche Feld anschlussfähig gemacht werden und welche Dimensionen sie aufweisen. Es empfiehlt sich also unbedingt, die Fragestellung so weiterzuentwickeln, dass mit einer handhabbaren Anzahl von Fällen fundierte Aussagen zu dieser Fragestellung formuliert werden können. Dafür ist es nicht immer nötig, zusätzlich neue Daten zu erheben. Theoretisches Sampling, das Entdecken von Kontrastdimensionen und Minimalvergleichen, das Verfahren des permanenten Vergleichens bezieht sich ebenso wie auf die Erhebung neuer Daten auch auf die Rückbeziehung auf bereits erhobene Daten. Ein Interview, das zu Beginn der Forschung ausgewertet worden ist, kann hinsichtlich der sich entwickelnden spezifischeren Forschungsfrage Erkenntnisse beinhalten, die so zuvor nicht wahrgenommen worden sind. Es geht also beim theoretischen Sampling nicht unbedingt darum, die Datenbasis zu erhöhen, sondern auch aus der bestehenden Datenbasis heraus Vergleiche abzuleiten. „Wir entdecken systematisch auch am Material Kontraste und Ähnlichkeiten. D. h. wir fahren fort, theoretisch zu „samplen“. Nur sind es jetzt nicht mehr Fälle oder Situationen, die wir aufeinander beziehen, sondern das erhobene Datenmaterial selbst“ (Alheit, 1999, S. 16). Es kann sich also herausstellen, dass bei der Datenerhebung als maximale Kon-
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
traste aufgesuchte Fälle in der Auswertung hinsichtlich der zentralen Kategorien eine viel größere Nähe aufweisen, während vermeintlich ‚ähnliche’ Fälle sich dann doch diametral unterscheiden. Darüber hinaus muss nicht notwendigerweise oder ausschließlich eine Kernkategorie als Ergebnis des Forschungsprozesses generiert werden. Anschließend an das Kodierverfahren der Grounded Theory gewinnen in qualitativen Forschungsarbeiten auch Typisierungsverfahren einen immer größeren Stellenwert. „Grundsätzlich ist …jede Typologie das Ergebnis eines Gruppierungsprozesses, bei dem ein Objektbereich anhand eines oder mehrerer Merkmale in Gruppen bzw. Typen eingeteilt wird (siehe u. a ZEIGLER 1973, S. 20; SODEUR 1974, S. 24; FRIEDRICHS 1983, S. 90; HAUPERT 1991, S. 240; LAMNEK 1993, S. 403; BAILEY 1994, S. 1f.), so daß sich die Elemente innerhalb eines Typus möglichst ähnlich sind (interne Homogenität auf der ‚Ebene des Typus’) und sich die Typen voneinander möglichst stark unterscheiden (externe Heterogenität auf der ‚Ebene der Typologie’ siehe auch KLUGE 1999, S. 26ff.). Mit dem Begriff Typus werden die gebildeten Teil- und Untergruppen bezeichnet, die gemeinsame Eigenschaften aufweisen und anhand der spezifischen Konstellation dieser Eigenschaften beschrieben und charakterisiert werden können (vgl. SODEUR 1974, S. 9)“ (Kelle & Kluge, 1999, S. 77f.).
In der qualitativen Sozialforschung geht es zumeist um eine empirisch begründete Typenbildung (vgl. Kluge, 2000, [7ff.]). Auch die im Rahmen der vorliegenden Arbeit entwickelte Typologie basiert auf der Auswertung der empirischen Daten. Da der Forschungsfokus jedoch stärker auf einer fundierten Interpretationstiefe anstatt einer breiten Fallauswahl liegt, wurde keine empirisch begründete Typenbildung im oben beschriebenen Sinne angestrebt. Im Auswertungsprozess wurden zwei miteinander in Beziehung stehende Ergebnisstränge generiert: Neben der zentralen kategorialen Bedeutung des ‚biographischen Wissens’ ist eine ‚Prototypologie’ der Anschlussverhältnisse erarbeitet worden. Unter dem Begriff ‚Prototypus’ wird hier ein durch analytische Abstraktion und Verdichtung generiertes Muster, das im Sinne einer übergeordneten Orientierung die Art und Weise der ‚Nutzung’ des biographischen Wissens charakterisiert, verstanden. Inhaltlich bietet diese Form der vom Einzelfall abstrahierenden Prototypenbildung Antwortmöglichkeiten auf die Forschungsfrage, wie Sportlehrerinnen und Sportlehrer ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen an das berufliche Feld anschließen. Und zwar schaffen sie dies inhaltlich über ihr biographisches Wissen (hier die Kernkategorie der Untersuchung). Die entwickelte Prototypologie hingegen charakterisiert die Art und Weise dieses Anschlussverhältnisses. So haben sich im Rahmen der intensiven Analysearbeit drei prototypische An-
3.4 Das biographisch-narrative Interview
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schlussverhältnisse herausgebildet: der integrative Typus59, der kontrastive Typus und der komplementäre Typus. In der Falldarstellung werden daher die Fälle mit der deutlichsten Ausprägung dieser Anschlussverhältnisse präsentiert. Der Prozess der Typenbildung basiert auf der Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen. Diese sind sukzessive im Prozess des theoretischen Sampling entwickelt worden und somit gleichermaßen für die Auswahl der Fälle leitend. Die Kodierung und Dimensionalisierung der Kategorien dienen als Ausgangspunkt für die Vergleichsdimensionen. Die Analyse mündet in eine Charakterisierung der gebildeten Typen. Diese sind im Rahmen der vorliegenden Arbeit einmal in den analytischen Abstraktionen der biographischen Fallstudien zu finden und werden darüber hinaus in kondensierter Form und an professionalisierungstheoretisch relevante Kernbereiche (Berufsrolle und Einstellung zum Beruf, Lehrer/inSchüler/innen-Verhältnis und Sach- und Fachverständnis) gebunden im Rahmen des Schlusskapitels präsentiert. Die biographischen Fallstudien, die die Basis für die Theoretisierung der Ergebnisse bilden, sind mit Hilfe des biographisch-narrativen Interviews nach Schütze (1977; 1983) erhoben worden. Im Folgenden wird diese Interviewmethode dargestellt, kritisch reflektiert und anhand von Beispielen aus der eigenen Studie illustriert. 3.4 Das biographisch-narrative Interview Bei Interviewmethode des biographisch-narrativen Interviews nach Schütze (1977; 1983) handelt es sich um ein offenes sozialwissenschaftliches Erhebungsverfahren, das im Bereich der qualitativen Sozialforschung angesiedelt ist. Im Gegensatz zu halbstrukturierten leitfadenorientierten Interviews wird der Interviewpartner gebeten, „die Geschichte eines Gegenstandbereichs, an dem der Interviewte teilgehabt hat, in einer Stegreiferzählung darzustellen“ (Hermanns, 1995, S. 183). Ein solch offener Erzählimpuls, der sich auf eine lebensgeschichtliche Fragestellung bezieht, ermöglicht den Interviewpartner/innen die individuelle Thematisierung der für sie persönlich relevanten Themen ohne eine ersichtliche theorie- oder themengeleitete Vorstrukturierung seitens der Forscherin. Stattdessen wird der Erzählimpuls so gewählt, dass er zunächst zum Erzählen der gesamten Lebensgeschichte anregen soll60. Die so gewonnen Daten eröffnen 59 60
Im Folgenden wird zu Gunsten der Leserfreundlichkeit allgemein von Typen gesprochen, die jedoch im oben entfalteten Sinne eines Prototypuses zu verstehen sind. An diese sog. „Haupterzählung“ schließen zwei Nachfrageteile an, die in einem ersten Schritt ausgelassene oder nicht ausführlich dargestellte Lebensphasen mit erzählgenerierenden Nachfragen ansteuern. Im zweiten Nachfrageteil können dann auch theoretisierende Nachfragen gestellt werden (vgl. ebd.).
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
Raum für die Relevanzstrukturen der Interviewpartner/innen und gewähren einen umfassenden Einblick in die Verwobenheit der verschiedenen biographischen Ebenen. Subjektive Sichtweisen und Darstellungsmuster der Akteure können so erfasst bzw. rekonstruiert werden. Es geht, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, nicht darum, herauszufinden, ‚was damals wirklich passiert ist’ – also das konkrete Ereignis zu evaluieren, sondern um autobiographische Darstellungen.61 „Das Material (solcher) empirischen Analyse(n) sind subjektive Konstruktionen, ‚Binnensichten’, in denen ‚objektive’ Bedingungen in verschiedener Hinsicht gebrochen sind“ (Dausien, 1996, S. 105).
3.4.1 Ablauf und erzähltheoretische Implikationen Der Ablauf eines biographisch-narratives Interviews bricht mit der klassischen Interviewtechnik, wie sie z. B. aus der Marktforschung bekannt ist, in mehrerlei Hinsicht. Der Hauptredeanteil liegt bei den Interviewpartner/innen, die mittels eines offenen Erzählimpulses zum Erzählen aufgefordert werden und besteht nicht aus einem ständigen Frage-Antwort-Wechsel. Die Interviewpartner/innen werden in einem ausführlichen Vorgespräch über diese Besonderheiten umfassend informiert. Insgesamt gliedert sich ein biographisch-narratives Interview in drei Phasen: Die Aushandlungsphase, in die die Interviewerin mittels eines offen formulierten Erzählimpulses einleitet. Anschließend handeln Interviewer/in und Interviewte/r die Erzählthematik aus. Mit der Bitte um die Erzählung der Lebensgeschichte ist nämlich keineswegs eine eindeutige Klarheit anzunehmen. Vielmehr deuten die Interviewpartner/innen die Informationen aus dem Vorgespräch und die in der aktuellen Situation erhaltenen Informationen (z. B. auch über das Forschungsinteresse) und gleichen ihre Vorstellungen über die ‚gewünschte’ Erzählung mit der Interviewerin ab. Hier kann es durchaus dazu kommen, dass eine andere Art von Geschichte erzählt wird, als vielleicht von dem/der Interviewer/in ‚erwartet’. Dies wiederum ist jedoch das Interessante an dieser Interviewmethode: Die letztendliche ‚Themenwahl’ bleibt bei den Interviewpartner/innen. Und endet mit der Ratifizierung des Erzählauftrags. Beispiel aus dem Interview mit Marlene Auerbach: I: E: 61
- - JA - -wenn Sie soweit SIND dann würde ich Sie einfach mal bitten ja
Zum Unterschied zwischen erlebter und erzählter Lebensgeschichte vgl. Rosenthal, 1995.
3.4 Das biographisch-narrative Interview I:
E: I: E: I: E:
I:
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ich hatte wir hatten ja schon - im Vorgespräch hatte ich Ihnen das ja schon mal erzählt dass ich mich im Prinzip - ja für die Lebensgeschichte von Sportlehrerinnen und Sportlehrer interessiere - und ähm ja ich würd Sie vielleicht dann einfach mal bitten - mir IHRE Lebensgeschichte zu erzählen die ganze Lebensgeschichte - von Anfang an. ja immer mit dem Blickpunkt auf Sport ja - einfach wie Sie das äh - - ja - wie bin ich zum Sport gekommen? ((lacht)) eigentlich eben halt was ich - durch das das Aufwachsen=e in der Kindheit ähm - - hier in der Umgebung ich bin also ganz in der Nähe hier - quasi am Stadtrand groß geworden mit viel Bewegungs - RAUM hmhm
Marlene Auerbach interpretiert die Erzählaufforderung also als eine Aufforderung zu erzählen, wie sie zum Sport gekommen ist. Dies ist eine mögliche Fokussierung auf den Einstieg in eine lebensgeschichtliche Erzählung. Rudolf Hinze hingegen wählte einen ganz anderen Einstieg: E: I: E:
Äh, ja ich bin also (P/2) da müsst ich jetzt auch mein Geburtsjahr nennen, sonst macht das keinen Sinn, ne? Ja. Also ich bin 1948 geboren. Meine Eltern sind Flüchtlinge aus Schlesien gewesen. Die sind 1946 aus Schlesien zwangsausgewiesen worden. Sind mit ihrer Verwandtschaft irgendwo im südoldenburgischen ausgeladen worden, sag ich mal so war’s - aus Viehwaggons.
Rudolf Hinze beginnt seine lebensgeschichtliche Erzählung mit der Nennung seines Geburtsdatums, um dann aber mit Erläuterungen zum Leben seiner Eltern vor seiner Geburt fortzufahren. Er ordnet sich damit in eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, jene der „Flüchtlinge“ bzw. Vertriebenen der Nachkriegsgeneration, ein und legt bereits hier eine gewisse Perspektivität auf seine Kindheit und die Umstände seiner Geburt an. Im Anschluss an diese Ratifizierung beginnt dann die Haupterzählung. Während der Haupterzählung kommt dem/der Interviewer/in die Rolle eines aufmerksamen und interessierten Zuhörers zu, der den Erzählstrom nicht unterbricht. Die Haupterzählung endet, wenn die interviewte Person selbst das Ende mit einer sogenannten „Koda“ (Riemann, 1987, S. 47) markiert. Dies geschah in den vorliegenden Interviews z. B. wie folgt:
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
Beispiel aus dem Interview mit Corinna Landwehr: E:
I: E:
I:
E: I:
- - ich hab nen Freitagnachmittagskurs - das betracht ich dann immer schon so als meinen privaten / Wochenendseinklangskurs ((lachend))/ da mach ich dann immer so ganz gerne viel mit hmm - - ja ja Punkt ((lacht)) Punkt? Gut - o.k. ähm - -
Beispiel aus dem Interview mit Marlene Auerbach: E: I: E: I: E: I:
wenn Eltern dann mit starken Erwartungen kommen dass ich dann doch eher bremsend wirke als äh – hm als /fördernd (lachend)/ (P. 4sec) tja das wars eigentlich jetzt erst mal so was ich so SPONTAN so hm was mir jetzt selber so in der Nachschau - - oder Rückblick im Rückblick begegnet. hmh
Der Nachfrageteil gliedert sich dann in zwei verschiedene Phasen (vgl. auch z. B. Glinka, 1998, S. 141ff.). Zunächst werden im sogenannten immanenten Nachfrageteil die lebensgeschichtlichen Bereiche, die in der Erzählung ausgespart oder für die Interviewerin nicht ausführlich genug bearbeitet worden sind mit Hilfe erzählgenerierender Nachfragen angesteuert: Beispiel aus dem Interview mit Marlene Auerbach I:
Sie hatten ja erzählt ähm – von Ihrem Studium - wo Sie studiert haben. Können Sie sich da also vielleicht können wir da noch mal anknüpfen dass wir so bisschen den Faden noch mal aufnehmen vom Studium wie’s dann so weiter ging?
Es folgt die Bilanzierungsphase, in der theoretisierende Fragen gestellt werden, die es erlauben, dem Interviewpartner bzw. der Interviewpartnerin die Rolle „als Experte und Theoretiker seiner selbst“ (Schütze, 1983, S. 285) einzunehmen.
3.4 Das biographisch-narrative Interview
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Beispiel aus dem Interview mit Helga Brinkmann: I:
E:
I:
E:
Und wenn du jetzt so ähm – ja vielleicht auch so nach dem Interview und woran man sich vielleicht dadurch noch zusätzlich auf einmal wieder erinnert, sagen würdest, warum du Sportlehrerin geworden bist? Was da so der Ja, weil das eigentlich, damals schon so unsere Neigung unser Hobby war, wir haben praktisch unser Hobby zum Beruf gemacht. - Und so das Wichtigste für dich so am Sportunterricht? Wo du sagst, das ähm – was ich unbedingt da rüber bringen will oder warum ich Sportunterricht ganz wichtig finde? Ja. Einmal so den erzieherisch oder – die Schüler zu motivieren überhaupt Sport zu treiben, was für ihre Gesundheit zu tun. Dann finde ich auch wichtig, dass wir unsere drei Stunden behalten und ich habe auch lieber drei Einzelstunden als ne Doppel– und ne Einzelstunde, weil ich dann dreimal in der Woche was mit den Schülern auch was bewirken kannst. Dass sie sich bewegen, dass sie Ausdauer schulen – (...)
Beispiel aus dem Interview mit Rudolf Hinze: I: E: I: E:
I: E:
I: E:
I:
und wenn ich Sie jetzt so - fragen würde ähm haben Sie eine Idee davon warum Sie Sportlehrer geworden sind? ja noch mal so insgesamt so ja so - - genau ja Sport und Lehrer müsste man vielleicht dann doch trennen – äh - Lehrer habe ich schon so gedacht dass ich es auch mal besser machen will als meine Lehrer zu einem großen Teil mhm und Sport - lehrer weil ich eben ja auch selber daran Spaß hab und hatte an Bewegungen aller Art auch an – an neuen Dingen und äh - weil ich auch glaube dass so Bewegung Körper und Geist zusammengehört auch für Schüler zusammengehört mhm für mich auch Körper und Geist zusammengehört und weder das eine noch das andere vernachlässigt werden soll es gehört beides zum Menschen dazu und insofern finde ich das eigentlich - nach wie vor ne optimale Sache mit den ganzen Einschränkungen die ich auch genannt habe mhm
Die Grundgedanken dieser Interviewmethode und des Schützeschen Konzepts gehen zurück auf Arbeiten der amerikanischen Linguisten Labov und Waletzky
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
(1967), die sich als erste mit der wissenschaftlichen Analyse mündlicher Alltagserzählungen befasst haben. Zwei zentrale Annahmen liegen dem narrativen Interview zugrunde: zum einen die Kognitiven Figuren des Stegreiferzählens und zum anderen die Zugzwänge der Sachverhaltsdarstellung, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen. Schütze und andere gehen davon aus, dass Erzählende, wenn sie sich einmal auf die Situation des Erzählens eingelassen haben, bestimmten Zugzwängen der Sachverhaltsdarstellung unterliegen. Dabei unterscheiden sie den Zwang zur Gestaltschließung, der dazu führt, dass eine einmal begonnene Erzählung auch zu Ende gebracht wird. Der Kondensierungszwang „bewirkt, dass nur das für das Verständnis des Ablaufs Notwendige in der Darstellung enthalten ist und schon aus Gründen der begrenzten Zeit so verdichtet wird, dass der Zuhörer sie verstehen und nachvollziehen kann“ (Flick, 2002, S. 150). Der Detaillierungszwang bedingt die Darstellung wichtiger Hintergrundinformationen, ohne die die Erzählung unverständlich bliebe. Mit den Kognitiven Figuren des Stegreiferzählens haben Schütze und andere versucht, Rahmungen kognitiver Strukturierungen in Stegreiferzählungen zu identifiziert und zu beschreiben, mit deren Hilfe die Erzählenden die Abfolge von Zustandsveränderungen im Prozess des lebensgeschichtlichen Erzählens herstellen können. Es werden folgende kognitive Figuren unterschieden:
Selbsteinführung des Erzählers als Biographieträger (auch in Beziehung zu anderen Ereignisträgern) Prozessstrukturen (Erfahrungs- und Ereignisketten, die als „Abfolge von Zustandsänderungen des Biographieträgers“ zu verstehen sind) Sozialer Rahmen (Lebensmilieus, kulturelle Settings, Situationen, Institutionen) Gesamtgestalt der Lebensgeschichte (wird immer aus der aktuellen Gegenwartsperspektive vom Biographieträger konstruiert) (vgl. Schütze, 1984, S. 217ff.; Glinka, 1998, S. 51ff.)
Über diese kognitiven Figuren beschreibt Schütze den Zusammenhang zwischen Ereignis, Erfahrung und Erzählung. Dabei ist die sogenannte Homologiethese formuliert worden, die zu einer umfassenden methodischen Debatte geführt hat. Diese soll im Folgenden kritisch reflektiert und diskutiert werden.
3.4 Das biographisch-narrative Interview
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3.4.2 Erzählung, Text und Leben – Ein Zusammenhang? Geht man einmal vom griechischen Ursprung des Begriffs Biographie aus – bios „das Leben“ und graphein (be)schreiben – so wird bereits hier eine gewisse Perspektivität angelegt, denn eine Beschreibung erfordert eine/n Beschreibende/n und somit eine bestimmte Perspektive auf den Gegenstand der Beschreibung. Es ist dabei wissenschaftlich problematisch, den Text mit dem Leben gleichzusetzen, was im Alltag sicher als gängige Praxis bezeichnet werden kann. Anschließend an dieses ‚naive’ Verständnis formuliert Nassehi62 (1994) die Kritik, dass in der biographischen Forschung „nicht oder nicht ausreichend genug zwischen biographischen Texten bzw. biographischen Daten auf der einen Seite und den biographischen Verläufen, also dem Lebensverlauf selbst unterschieden wird“ (S. 48). Nassehi rekurriert damit auf die sogenannte Homologiethese nach Schütze, auf deren Grundlage Biographieforscher/innen gemeint haben, anhand biographisch-narrativer Interviews die vergangenen Ereignisse des biographischen Verlaufs konsistent rekonstruieren zu können. Vereinfacht gesagt, es würde behauptet, auf diese Weise herausfinden zu können, ‚was damals wirklich passiert’ sei. Obgleich jene Kritik dem Schützeschen Konzept nicht gerecht wird, was im Folgenden aufzuzeigen ist, bietet sich hier erneut die Gelegenheit, sich des speziellen Zugriffs auf ‚Wirklichkeit(en)’ und ‚Realität(en)’ zu vergewissern, der hier und ebenso in einem maßgeblichen Teil der Biographieforschung gewählt wird. Erst bei einer genauen Rezeption der Schützeschen Ausführungen wird deutlich, was mit jener hergeleiteten Homologie gemeint ist. Daher soll an dieser Stelle der Blick auf die ursprünglichen Quellen gerichtet werden. Zunächst einmal ist das Primat der Narration als grundlegend für die biographieanalytischen Überlegungen und die erzähltheoretische Basis des biographisch-narrativen Interviews nach Schütze. Er präzisiert: „Das Gelingen eines autobiographisch-narrativen Interviews setzt voraus, daß der Informant akzeptiert, sich dem narrativen Strom des Nacherlebens seiner Erfahrung zu überlassen, und daß er keine kalkulierte, vorbereitete bzw. zu Legitimationszwecken bereits oftmals präsentierte Geschichte zur Erzählfolie nimmt. Das Ergebnis eines gelingenden autobiographisch-narrativen Interviews ist also eine Stegreiferzählung des selbsterfahrenen Lebensablaufs“ (Schütze, 1984, S. 78).
Mit Stegreiferzählungen sind also spontan produzierte Erzählungen gemeint, die Schütze von anderen Textsorten unterscheidet und eine Hierarchisierung der Textsorten vornimmt. Es werden narrative Passagen von evaluierenden und 62
Diese Kritik wird unter anderem und in geringfügigen Variationen auch von anderen Forscher/innen vorgebracht, wie z. B. Koller (1999). Zum Überblick vgl. Bohnsack (1991, S. 105).
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
argumentativen Textpassagen unterschieden, die unterschiedliche Bedeutung im Auswertungsprozess zugesprochen bekommen. Die Kritiker/innen beziehen sich im Wesentlichen auf die sogenannten „kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens“ und ihre (vermeintliche) Bedeutung für die Beziehung zwischen Ereignis, Erfahrung und Erzählung. Denn in diesem Zusammenhang spricht Schütze von „Homologien des aktuellen Erzählstroms mit dem Strom der ehemaligen Erfahrungen im Lebenslauf“ (1984, S. 78). Dabei hebt er darauf ab, dass die Erzählstrukturen mit den Strukturen des Erlebens und der damit verbundenen Erfahrungsaufschichtung korrespondieren. In Form von „Zugzwängen des Erzählens“ entfalten sich die Prozessstrukturen des Lebenslaufs. Diese Zugzwänge bewirken, dass eine Erzählung – ist der Auftrag, eine solche zu erzählen erst einmal angenommen – auch seitens der erzählenden Person geschichtsförmig gestaltet werden muss. Es entsteht dabei ein „Sinnschließungsdruck“ (Schütze, 1984, S. 81), d. h. die Ereigniszusammenhänge müssen detailliert, kondensierend und gestaltschließend dargestellt werden. Sie dienen als Ordnungsprinzipien der Erzählung im Sinne der Strukturierung eines kommunikativen Sachverhaltsschemas. In der Erzählung macht Schütze die sog. „kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens“ aus, die für die Gestaltung der Erzählung genutzt werden. Er unterscheidet „Ereignisträger“, „Ereignisketten bzw. Erfahrungsketten“ sowie „Situationen, Milieus und soziale Welten“ als soziale Rahmungen. Bereits die biographische Erzählung ist also als Konstruktionsleistung des Biographieträgers bzw. der Biographieträgerin zu verstehen, die bestimmten (kulturell verfassten) ‚Produktionsbedingungen’ unterliegt. Für biographische Forschung haben diese Annahmen Konsequenzen. Denn „(i)m Rahmen des rekonstruktiven Verfahrens zur Analyse der Erfahrungsaufschichtung steht die Untersuchung der Erfahrungskonstitution im Vordergrund des Interesses und nicht die Ebene der (gelebten/erlebten) Tatsachen und Fakten“ (Griese, 2000, S. 29). Schütze postuliert also eine übereinstimmende Ordnung und analoge Ordnungsprinzipien bei der Erzählung und der Erfahrungsaufschichtung. Der Homologiebegriff ist demnach nicht im Sinne einer abbildgetreuen sprachlichen Wiedergabe des Erlebten oder sogar vergangener Handlungen zu verstehen; vielmehr geht es um jene Korrespondenz zwischen Erzählstruktur und Erfahrungsstruktur. Bei genauer Betrachtung wird also deutlich, dass die Vermutung, Schütze unterstelle eine 1:1 Relation zwischen Sprache und Wirklichkeit, ihrer Grundlage entbehrt. Dennoch wird mit der angenommenen strukturellen Homologie zwischen Erfahrung und Erzählung ein Problemfeld tangiert, das Schütze in seinen Ausführungen unbearbeitet lässt: „Wie ist die Relation Sprache/Wirklichkeit zu fassen? Was ist Erfahrung, wie konstituiert sich dieselbe und wie ist sie sprachlich vermittelbar? Der Aspekt der Erfah-
3.4 Das biographisch-narrative Interview
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rungsaufschichtung (Hervorh. im Orig.) rekurriert zudem auf die Dimensionen Zeit / Historizität – ein methodologischer Entwurf muß sich hier zwangsläufig mit den Bezugsgrößen Erinnerung und Gedächtnis beschäftigen. Wie funktioniert die menschliche Erinnerung, das menschliche Gedächtnis? Welche Erfahrungen, Erlebnisse oder Ergebnisse werden gespeichert, und auf welche Weise? Wie kommt es dazu, daß gewisse Erlebnisse/Ereignisse erinnert bzw. erzählt werden, andere hingegen nicht? Wie ist der Zusammenhang von Sprache/Erzählung/Erinnerung/Gedächtnis/ Wirklichkeit und Vergangenheit zu begreifen?“ (Griese, 2000, S. 31).
Es wird deutlich, dass es sich hier um grundsätzliche Fragestellungen der allgemeinen Erkenntnistheorie und der (Sprach)Philosophie handelt. Diese Fragen werden, je nach Denkrichtung und Wissenschaftsdisziplin, unterschiedlich und keinesfalls ‚endgültig’ beantwortet. Dass ein Text (hier z. B. die autobiographische Erzählung) nicht mit dem Leben identisch ist, ist bereits hinreichend diskutiert worden. Dennoch kann man auch argumentieren, dass eine solche Unterscheidung gerade nicht zwingend zu treffen ist, da das Leben für sozialwissenschaftliche Forschung nicht anders als in Form eines Textes zugänglich ist. „Wenn ‚Text’ eine kommunikable und in der Regel auch kommunizierte Transformation von Ereignissen oder Erleben bezeichnet, dann ist das Leben eines anderen Menschen in dem Moment, wenn Sozialwissenschaftler/innen mit ihm in Berührung kommen, immer schon durch Text vermittelt. Die Frage, ob und wie weit dies auch für die Begegnung mit dem eigenen Leben, für die ‚innere’ Wirklichkeit gilt, ist eine philosophische Streitfrage, die empirisch nicht entschieden werden kann, weil jede Mitteilung über innere Prozesse schon wieder Text ist bzw. im Akt des Rezipierens wird. Entscheidend für die hier vertretene Auffassung ist jedenfalls, dass das ‚Leben’ eines anderen kommunikativ nur als ‚Text’ zugänglich wird, aber auch die umgekehrte Formulierung gilt: Der Text als Medium zwischen Menschen (Kommunikation) ‚ist’ Leben – ein Modus, in dem wir Leben (mit)teilen“ (Dausien, 2002b, S. 124).
An diese Fragen zum Verhältnis von Erfahrung und Erzählung schließen sich die Fragen nach dem Verhältnis und der (Re)Präsentationsformen von inneren und äußeren Strukturen und ihrer Bedeutung für eine „biographische Konstruktion der Wirklichkeit“ (Alheit & Dausien, 2000) an. Angeregt durch den neurobiologischen Konstruktivismus und den Autopoiesis-Gedanken Luhmanns in der Auslegung Schimanks formulieren Alheit und Dausien hierzu einige interessante Anschlussüberlegungen. Ausgangspunkt für diese Überlegungen bildet ein Artikel Schimanks (1988), in dem er sein konstruktivistisches Verständnis zu einer biographischen Modellbildung darlegt:
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen „Die Konstruktion der je eigenen Biographie durch eine Person vollzieht sich im radikalen Sinne des Wortes autonom. Alle Einflüsse aus der gesellschaftlichen Umwelt, ob gezielt oder absichtslos, werden gemäß der internen Strukturen des personalen Systems verarbeitet, gleichsam von withinputs abgefangen und eskortiert und können allein so überhaupt biographische Bedeutung erlangen“ (Schimank, 1988, S. 58).
Gemeint ist hiermit, dass insbesondere das Verhältnis zwischen der gesellschaftlichen Kommunikation, an der eine Person teilhat und ihrem biographischen Bewusstsein konstruktivistisch ist (vgl. ebd.). So seien ‚gesellschaftliche Kommunikationen’ als selbstreferentielle intakes zu verstehen und nicht als inputs, die einen prognostizierbaren biographischen output produzieren. In dieser systemtheoretischen Tradition beschreibt Schimank Biographie als „selbstreferentielle Selbstbeschreibung eines psychischen Systems“ (ebd.). Ein systematischer Zusammenhang mit ‚dem sozialen System’ wird dabei nicht gesehen. Genau an dieser Stelle setzen Alheit und Dausien nun weiterentwickelnd an und stellen folgende Leerstelle der Schimankschen Ausführungen fest: „Wie nun freilich der einzigartige ‚Code’ der biographischen Erfahrungsverarbeitung seinerseits zustande kommt, wie er in temporaler Perspektive durchaus als durch soziale Interaktionen ‚konstituiert’ gedacht werden muß, wie also Struktur und Emergenz, soziale Konstitution und soziale Konstruktion in einem gelebten Leben einen spezifischen Melange ausbilden, darüber lässt uns Schimanks (Herv. i. O.) intelligente Abhandlung noch im unklaren“ (Alheit & Dausien, 2000, S. 258).
Alheit und Dausien stellen ihr eigenes Konzept unter das Label „Biographizität des Sozialen“ und verdeutlichen damit, dass sie „Biographie als einzigartige Temporalisierung sozialer Strukturen“ verstehen (Alheit & Dausien, 2000, S. 274ff.). Dabei sind die Bedingungen, unter denen sich ein Leben vollzieht bedeutsam und bilden die Rahmung für Entwicklung und Veränderung63. Diese ‚objektiven’ Bedingungen sind durchaus relevant, jedoch ist die Logik ihres Wirkens eben nicht als eine lineare zu interpretieren. D. h., dass soziale Strukturen auch als biographisch konstruiert verstanden werden können. Den Kernpunkt ihrer Ausführungen bildet dabei (erneut) das Konzept der Biographizität, das die Fähigkeit bezeichnet, sich als aktiv Gestaltende/r und sogar Planende/r in Bezug auf die eigene Biographie zu verstehen (vgl. ausführlich Alheit, 1993, S. 390ff.). Oder mit Fischer-Rosenthal gesprochen: „Man ist kein ‚So-jemand’ ein für allemal, sondern man präsentiert sich als jemand, der sich ‚entwickelt hat’ oder ‚ver63
Gemeint sind hier Kategorien, die die Lebensbedingungen prägen, wie z. B. soziale Milieus, Geschlecht, Generation (z. B. Zugehörigkeit zur Nachkriegsgeneration) usw., die bestimmte Erfahrungen ermöglichen und andere wiederum ausschließen.
3.4 Das biographisch-narrative Interview
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ändert hat’“ (Fischer-Rosenthal, 1995, S. 51 zit. nach ebd., S. 274). Alheit und Dausien vertreten die These, dass „jenes ‚Grundgefühl’ tatsächlich kein intentionales Handlungsschema, kein bewußter und gewollter biographischer Plan ist, sondern eine Art versteckter ‚Sinn’ hinter den abwechselnden Prozeßstrukturen unseres Lebenslaufes (vgl. Schütze 1981, 1984), die zweifellos virulente, aber strategisch nicht unbedingt verfügbare Intuition, daß es sich bei aller Widersprüchlichkeit doch um ‚unser’ Leben handelt (vgl. Bude 1984: 7ff.)“ (Alheit & Dausien, 2000, S. 275).
Wieder einmal steht, ebenso wie bei der Fragestellung der vorliegenden Arbeit, das Phänomen im Mittelpunkt, biographische Problemlagen an die bereits akkumulierten biographischen Wissensbestände anschließen zu können. Auch Bourdieu, der in seinem Habituskonzept den traditionellen erkenntnistheoretischen Dualismus zu überwinden sucht, kann in seinen Untersuchungen zum französischen Bürgertum und seinen kulturellen Praxen (1979) die enorme Relevanz struktureller Rahmungen aufzeigen. Dennoch verbleiben biographische Konstruktionen nicht auf diesem deterministisch angehauchten Niveau, denn „Biographische Konstruktionen haben … noch einen anderen Aspekt: Wir erzeugen im Laufe unseres Lebens in bezug auf uns selbst und unsere sozialen Rahmen ‚mehr’ Sinn, als wir ‚aus der Perspektive unserer biographischen Selbstthematisierung überschauen’ (Bude 1985: 85). Wir verfügen über ein biographisches a tergoWissen, das uns prinzipiell in die Lage versetzt, den sozialen Raum, in dem wir uns bewegen, auszufüllen und auszuschöpfen. Dabei hat niemand von uns alle denkbaren Möglichkeiten. Aber im Rahmen eines begrenzten Veränderungspotentials haben wir mehr Chancen, als wir jemals realisieren werden. Wir können – um die anregende Metapher aus der Neurobiologie noch einmal aufzunehmen (siehe oben) – ‚immer wieder von vorn’ anfangen. Lebensgeschichten verfügen über ein Potential, das wir an anderer Stelle ‚Biographizität’ genannt haben (Alheit 1990b; Dausien 1996a): die prinzipielle Fähigkeit, Anstöße von außen auf eigensinnige Weise zur Selbstentfaltung zu nutzen, also (in einem ganz und gar ‚unpädagogischen’ Sinn) zu lernen (Alheit & Dausien, 2000, S. 276f., alle Herv. i. O.).
Biographie lässt sich demnach durch nach außen geöffnete Selbstreferenzialität charakterisieren, die es ermöglicht, biographische Konstruktionen zwischen ‚Innen’ und ‚Außen’ entstehen zu lassen.
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
3.5 Reflexionen zum eigenen Forschungsprozess An dieser Stelle soll noch einmal Raum für die konkrete Reflexion des eigenen Forschungsprozesses im Sinne eines Lern- und Arbeitsprozesses gegeben werden. Denn „(a)nders als bei quantitativer Forschung wird bei qualitativen Methoden die Kommunikation des Forschers mit dem jeweiligen Feld und den Beteiligten zum expliziten Bestandteil der Erkenntnis, statt sie als Störvariable so weit als möglich ausschließen zu wollen. Die Subjektivität von Untersuchten und Untersuchern wird zum Bestandteil des Forschungsprozesses. Die Reflexionen des Forschers über seine Handlungen und Beobachtungen im Feld, seine Eindrücke, Irritationen, Einflüsse, Gefühle etc. werden zu Daten, die in die Interpretation einfließen…“ (Flick, 2002, S. 19).
Nachdem sich zu Beginn der Promotionsphase auf der Suche nach einem geeigneten Thema das Interesse an biographischen Fragestellungen herauskristallisiert hat, ist es notwendig gewesen, entsprechende Kenntnisse mit der ‚biographischen Methode’ zu erwerben. Dabei geht es im Wesentlichen um das Einüben in (eine bestimmte) Forschungspraxis. Mir hat sich hierfür die Gelegenheit geboten, über zwei Semester an einer Studiengruppe „Biographieforschung und narratives Interview“ bei PD Dr. Bettina Dausien an der Universität Bielefeld teilzunehmen und im Rahmen eines angegliederten Studienprojekts („Lehrforschungsprojekt Studienbiographien zum Thema Langzeitstudierende“) erste praktische Erfahrungen mit dieser Forschungsweise zu gewinnen.64 Dies ist an dieser Stelle der Arbeit erwähnenswert, da durch eine solche Teilnahme auch eine bestimmte Perspektive auf Biographieforschung sowohl hinsichtlich der method(olog)ischen Vorgehensweise als auch in Bezug auf theoretische Prämissen und Voreinstellungen verbunden sind. Biographieforschung ist ein breites Forschungsfeld, in dem sich über die Jahre durchaus verschiedene Herangehensweisen ausgebildet haben. Subjektivität gewinnt daher auch unter dieser Perspektive Relevanz für den Forschungsprozess. Im Folgenden wird nun auf einige ‚neuralgische Punkte’ im Forschungsprozess eingegangen. Wie bereits in den Ausführungen zur GTM als methodologischem Rahmen angeführt worden ist, ist der Unterschied zwischen der Erarbeitung eines ‚Forschungs-Knowhows’ anhand von Literatur und Workshops hilfreich und unerlässlich, kann jedoch die praktischen Erfahrungen, die ein 64
Darüber hinaus konnte ich durch die Teilnahme an verschiedenen Workshops und Werkstattgesprächen (z. B. mit Fritz Schütze) weitere Einblicke in die praktische Arbeitsweise der Biographieforschung gewinnen, um so auf die Gestaltung des eigenen Forschungsprozesses vorbereitet zu sein.
3.5 Reflexionen zum eigenen Forschungsprozess
105
selbständig durchgeführtes Forschungsvorhaben mit sich bringt, nicht ersetzen, so dass sich bestimmte Kompetenzen auf Seiten der Forschenden eben nur durch das Lernen im Prozess und seine Reflexion erwerben lassen. Zunächst geht es darum, die Struktur des Sample offen zu legen und die Fallauswahl zu begründen. Anschließend wird die Diskrepanz zwischen theoretischer Anleitung für den Erzählimpuls eines biographisch-narrativen Interviews und der Umsetzung in den geführten Interviews reflektiert. Auch die Vorgehensweise bei der Auswertung des Datenmaterials soll hier einmal exemplarisch dargestellt werden. Den Abschluss bilden einige Anmerkungen zum Verhältnis von Forschungslogik und Darstellungslogik.
3.5.1 Interviewsituationen und Sample Ausschlaggebend für die Suche nach Interviewpartner/innen für die vorliegende Untersuchung sind zunächst eigene Beobachtungen zum Zusammenhang zwischen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und dem beruflichen Handeln und Deuten von Sportlehrer/innen gewesen, die im Rahmen von Schulpraktika und Gesprächen mit Kommilitonen/innen haben angestellt werden können. Diese haben das grundsätzliche Interesse an biographischen Fragestellungen entstehen lassen. Dabei ist sicher auch ein selbstreflexiver Anteil zur Berufswahl und der Bedeutung eigener Vorerfahrungen zu berücksichtigen. Darüber hinaus gibt es gerade zum Belastungspotential des Lehrberufs eine breite Diskussion mit entsprechenden Studien z. B. zum Burn-out von Lehrer/innen. Für Sportlehrer/innen wird insbesondere die hohe Lärmbelastung in Sporthallen im Zusammenhang mit dem Alterungsprozess immer wieder thematisiert. Dabei wird die Rolle des eigenen Mitmachens im Kontext des altersbedingten Leistungsabfalls als Belastungspotential hervorgehoben. Auch die Situation von Sportlehrerinnen wird in etlichen Untersuchungen häufig als problematisch und dem Sport als ‚männliche’ Domäne eigen beschrieben. Diskriminierungen und disziplinarische Probleme scheinen an der Tagesordnung zu sein. Viele Sportlehrer/innen erreichen das offizielle Pensionsalter nicht, sondern scheiden bereits vorzeitig aus dem Dienst aus oder unterrichten ‚nur noch’ ihr zweites Fach – ein Phänomen, das bei Frauen deutlich öfter festgestellt worden ist als bei ihren männlichen Kollegen. All diese Beobachtungen und Kenntnisse haben zur Auswahl der ersten Interviewpartnerin ‚Marlene Auerbach’ geführt. Die Fragestellung ist zu diesem Zeitpunkt der Untersuchung noch sehr offen gewesen und ist eher als Interessenrichtung zu bezeichnen. So ist noch unklar gewesen, ob es eine Untersuchung ausschließlich an Sportlehrerinnen, ob es tatsächlich in Richtung der Belastungsthematik gehen sollte usf. In einer intensi-
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
ven Hospitationsphase an verschiedenen Schulen ist die Sportlehrerin Marlene Auerbach durch ihre starke Eigenbeteiligung trotz ‚fortgeschrittenem’ Alter, der offensichtlichen Freude am unterrichtlichen Geschehen und ihrer außerordentlichen Präsenz im Unterricht aufgefallen. Hier hat eine Sportlehrerin scheinbar genau jene Aussagen aus der Literatur widerlegt, was sie zunächst besonders interessant hat werden lassen. Die Entscheidung ist in dieser Folge gegen eine Ausrichtung am Belastungsmotiv gefallen; vielmehr ist eine möglichst offene Herangehensweise als Untersuchungsfokus gewählt worden, die es ermöglicht, den Relevanzstrukturen und Sinnkonstruktionen der Akteure im Kontext ihrer eigenen Lebensgeschichte auf die Spur zu kommen. Dieses erste Interview hat zu einer Vielzahl an Kategorien und Konzepten65 geführt, die dann für die weitere Datenerhebung leitend geworden sind. Die insgesamt sechs geführten biographisch-narrativen Interviews sind über einen Zeitraum von anderthalb Jahren sukzessive erhoben worden. Hierbei sind, wie bereits erwähnt, die Auswertung des ersten Interviews und die dabei entwickelten Kategorien und Konzepte, die jedoch mit jedem weiteren Interview erweitert bzw. verfeinert worden sind, leitend für die Suche nach weiteren Interviewpartner/innen gewesen. Hierbei haben sich auch Kriterien wie Geschlecht, Schichtzugehörigkeit, Ausrichtung des eigenen sportlichen Engagements als relevant herausgestellt. Der Aufmerksamkeitsfokus der Auswertung hat sich auf eine möglichst tief gehende Interpretation gerichtet, die es ermöglicht, die Kategorien und Konzepte dimensional aufzufächern. Es ist also eine eher geringe Anzahl von Fällen sukzessive und sehr intensiv ausgewertet worden. „Viele Forschungspersonen glauben zwar, sie sind auf der sicheren Seite, wenn sie eher mehr als weniger Daten erheben, aber dieser Schluss führt im Falle theoriegenerierender Forschung eher in eine erhebliche Arbeitsbelastung statt zu besseren Ergebnissen“ (Krotz, 2005, S. 194). Die Kontaktaufnahme ist immer über ein intensives telefonisches Vorgespräch erfolgt, außer im Falle von Marlene Auerbach, die das Angebot eines persönlichen Treffens für das Vorgespräch bevorzugt hat. Alle Interviews sind bei den Interviewpartner/innen zu Hause durchgeführt worden, so dass auch das häusliche Umfeld zumindest in Ausschnitten beobachtet werden konnte. Die Gesprächssituationen sind sehr unterschiedlich verlaufen. So hat es von einer durch eine geteilte ‚Ballsportlerinnen-Gesprächskultur’ geprägte Atmosphäre (Corinna Landwehr) über eine vielleicht mit dem Attribut ‚kollegial-mütterlich’ zu charakterisierende Konstellation (Marlene Auerbach) bis hin zu einem nahezu 65
So ist z. B. die hohe Bedeutung des vereinssportlichen Engagements auf breitensportlicher Ebene hier erstes Indiz für die Suche nach Kontrasten gewesen. Auch der Begriff des ‚biographischen Wissens’ konnte erstmals im Sinne einer Kategorie entwickelt werden.
3.5 Reflexionen zum eigenen Forschungsprozess
107
laborhaft datenorientiert anmutenden Setting (Rudolf Hinze) gegeben. Diese Dimensionen haben wiederum in die Kontrastierung der Fälle einfließen können. Die im Rahmen der Arbeit nicht dargestellten Fälle (Franz Peters, Ina Prange und Helga Brinkmann) sind im Rahmen der kontrastiven Fallvergleiche ebenfalls ausgewertet und intensiv interpretiert worden. Für die Präsentation im Rahmen der Arbeit sind dann jene biographischen Fallstudien ausgewählt worden, die für die vorliegende Thematik und die Bearbeitung der Fragestellungen besonders prägnant sind. Im Vordergrund steht also die Zeigefunktion dieser Fallstudien.
3.5.2 Auswertung Nach der Durchführung sind alle Interviews anhand der erstellten Tonbandaufnahmen vollständig transkribiert worden. Diese sehr zeitaufwendige Variante ist einer Teiltranskription mit Verlaufsprotokoll vorgezogen worden, da die Arbeit an einem vollständigen Transkript die Aufmerksamkeit von der ursprünglichen Interviewsituation ablenkt und eine Fokussierung auf den Umgang mit dieser Art von Datenmaterial ermöglicht. Darüber hinaus bietet dieses Vorgehen aus der subjektiven Rückschau eine Möglichkeit, um bestimmte Besonderheiten nicht zu ‚übersehen’ bzw. zu ‚überhören’. Dabei muss berücksichtigt werden, dass bereits die Verschriftung eine erste Interpretation darstellt. Zur Interviewsituation selbst sind im Anschluss ausführliche Erinnerungsprotokolle und erste Memos verfasst worden. Diese sind jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt wieder an das Datenmaterial heran getragen worden. Zunächst ist es um eine Fokussierung auf den ‚reinen’ Interviewtext gegangen. Dies dient u. a. der Entlastung von Eindrücken, die während des Gesprächs entstanden und möglicherweise verfestigt worden sind. Bereits während dieser Tätigkeit sind dann Verlaufsprotokolle (vgl. Alheit & Dausien, 1985) erstellt worden, die die Segmentierung des Interviews darstellen, sowie die lebensgeschichtlichen Eckdaten in einem tabellarischen Lebenslauf dokumentiert worden. Als Transkriptionsnotation (siehe Anhang) ist eine halbinterpretative Arbeitstranskription (vgl. Dausien, 1996, im Anhang) zugrunde gelegt worden. Auf diese Weise haben wichtige Sprecheigenschaften wie Betonung, Tempo, lachendes Sprechen, Ironie u. ä. dokumentiert und in die Interpretation einbezogen werden können. Darüber hinaus sind alle Namen und Ortsangaben durch Pseudonyme ersetzt worden, um die Anonymität der Interviewpartner/innen zu gewährleisten. Dies hat sich in einem Fall jedoch als deutlich schwieriger dargestellt als zuvor antizipiert. Bei diesem besonderen Interview (Helga Brinkmann) ist es nicht möglich gewesen, eine adäquate Anonymisierung vorzunehmen. Entweder wäre die Interviewpartnerin sehr einfach zu erkennen gewesen oder
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
aber die besonderen lebensgeschichtlichen Umstände wären zu stark verfälscht worden. Die besondere Sportart, in der Helga Brinkmann stark und in exponierter Position engagiert ist, hätte sofort eindeutige Rückschlüsse ermöglicht. Die Sportart selbst durch eine ähnliche Strukturen aufweisende zu ersetzen, ist in diesem besonderen Fall ebenfalls nicht möglich gewesen, da es sich um eine besondere und in Deutschland noch recht junge Sportart handelt. Diese Umstände haben schließlich zur Folge gehabt, dass das Interview mit Helga Brinkmann zwar in den Interpretationen bedeutsam gewesen ist, für eine ausführliche Präsentation im Rahmen des Empirieteils dieser Arbeit jedoch hat ausgeschlossen werden müssen. Über die Wahrung der Privatsphäre der Interviewpartner/innen hinaus dient die Anonymisierung auch der Ablösung von der dahinter stehenden Person. Hier wird das Verständnis verdeutlicht, das mit der Analyse biographisch-narrativer Texte verbunden ist: nämlich sich mit (textuellen) Konstruktionen zu befassen und nicht mit dem ‚wirklichen Leben’. In der Interviewsituation entsteht zwischen Forscher/in und Interviewpartner/in sozusagen eine Beziehung auf Zeit. Das Interesse beim Zuhören ist ein Interesse an der erzählenden Person, in die auch der/die Interviewer/in als Person involviert ist. Die Interviewsituation ist eine unmittelbare Kommunikationssituation zwischen den beteiligten Personen, die maßgeblich durch die Interaktion der Interviewpartner/innen beeinflusst wird. Dies zeigt sich exemplarisch bereits an der Ratifizierung des Erzählimpulses zu Beginn, der zwar von der Interviewerin vorgegeben, jedoch dann in der Ausgestaltung von der Interviewpartnerin gedeutet wird. Die Transkription des Interviews wiederum ermöglicht die Verschiebung des Interesses des/r Forscher/in auf den produzierten Text und lässt die eigentliche Gesprächssituation in den Hintergrund treten. Der/die Forscher/in tritt in Distanz zur erlebten Interviewsituation und geht nun Fragestellungen der Untersuchung nach. Es geht also nicht darum, die Sicht der Erzähler/in auf sich selbst zu reproduzieren, sondern die Konstruktionslogik des Textes zu rekonstruieren.66 Dies 66
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass in früheren qualitativen Forschungsarbeiten die sogenannte ‚Kommunikative Validierung’ als Gütekriterium herangezogen wird. Kommunikative Validierung meint in diesen Arbeiten, die ‚Absegnung’ der Interpretationstexte durch die Interviewpartner/innen. Das hier zugrunde gelegte und auch praktizierte Verständnis von Kommunikativer Validierung bezieht sich hingegen auf die ‚Prüfung’ der Interpretationstexte in Forschungsgruppen und –werkstätten. Es bezieht sich also darauf, die eigenen Interpretationen anderen Forscher/innen darzulegen und Interviewmaterial gemeinsam zu interpretieren. Dabei ist die argumentative Schlüssigkeit als Qualitätskriterium leitend und maßgeblich. Für die vorliegende Arbeit wurde insbesondere das DoktorandInnenNetzwerk Qualitiative Sozialforschung (DINQS) für die Kommunikative Validierung genutzt.
3.5 Reflexionen zum eigenen Forschungsprozess
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geschieht mittels einer stringenten Sequenzanalyse, die es ermöglicht, der Strukturierung des Textes zu folgen und sich so von bereits vorhandenen Vorannahmen zu distanzieren. Reichertz sieht in diesem Verfahren eine adäquate Strategie zur Einnahme einer abduktiven Forschungshaltung (vgl. Kap. 3.3.1). Das sequenzanalytische Vorgehen zielt darauf ab, die Strukturiertheit des Textes durch die Relevanzsetzungen der Interviewpartner/innen zu rekonstruieren, ebenso wie das biographisch-narrative Interview diese überhaupt erst ermöglichen soll. Es geht also zunächst darum, die formale Struktur des Interviews zu erschließen (vgl. hierzu z. B. Schütze, 1983; Fischer-Rosenthal & Rosenthal, 1997). Die formale Struktur wird mit Hilfe von „Kategorien für die Sequenzierung“ (vgl. Rosenthal, 1995, S. 220f.67) in einem Verlaufsprotokoll festgehalten. Matrix für Verlaufsprotokolle68 Seite/Zeile Form/Textsorte
Inhalt
Kodes und Ideen
Dieses dient der inhaltlichen und formal-strukturellen Erschließung des Interviews. Es werden Sprecherwechsel, Wechsel der Textsorte (Beschreibung, Erzählung, Argumentation) sowie Themenwechsel erfasst und bereits mit ersten Ideen und Kodes versehen. Auf dieser Grundlage sind dann Kernstellen identifiziert und analysiert worden. Zu Beginn hat jeweils eine intensive Analyse des Interviewanfangs gestanden, die es erlaubt hat erste Perspektiven und Fragestellungen für das Interview zu entwickeln. Nach den Prinzipien des minimalen und maximalen Vergleichs sind dann weitere Kernstellen identifiziert und interpretiert worden. Die Interpretation der Kernstellen ist ebenfalls sequenziell erfolgt, was in diesem Falle ein ‚line by line’ Vorgehen bedeutet hat. Die Interpretationsarbeit besteht zu einem großen Teil aus der plausiblen Rückbindung von interpretativen Argumentationsketten an das Datenmaterial. Ziel ist also, „die (häufig impliziten) Konstruktionen eines Textes zu explizieren und – im Hinblick auf ein bestimmtes Interes67 68
Rosenthal entwickelt hier die Ausführungen von Kallmeyer & Schütze (1977) weiter. Vgl. hierzu ausführlich Alheit & Dausien (1985).
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3 Theoretische und method(olog)ische Klärungen
se und eine Fragestellung – die ‚Regeln’ zu re-konstruieren, die den Konstruktionen des Textes zugrunde liegen, sowie schließlich einen eigenen Text über den empirischen Text zu erzeugen, der nach den Regeln der Wissenschaft plausibel ist und Zusammenhänge in den empirischen Daten ‚neu ordnet’ bzw. ‚neue’ Gesichtspunkte hervorhebt“ (Dausien, 2002b, S. 174). Hier wird erneut das Prinzip der Kommunikativen Validierung in dem bereits erwähnten Verständnis relevant, d. h. es geht darum, jene Kernstellen nicht nur für sich selbst plausibel zu ergründen, sondern in Forschungszusammenhängen sowohl reine Dateninterpretation gemeinsam durchzuführen, als auch die Interpretationstexte immer wieder zur Diskussion zu stellen, um auf diese Weise eine tragfähige und schlüssige Interpretation herstellen zu können.
3.5.3 Forschungslogik versus Darstellungslogik – eine kurze Anmerkung
Der Forschungsprozess nach der GTM ist kein linearer Prozess und unterscheidet sich damit von vielen anderen, vor allem hypothesenüberprüfenden, Verfahren. Die Fragestellung ist zu Beginn sehr offen, um dem zumeist explorativen Charakter des Vorhabens Raum zu geben. Erst im Laufe des Forschungsprozesses entwickeln sich Hypothesen bzw. Konzept- und Kategorienstrukturen, die den weiteren Forschungsverlauf maßgeblich beeinflussen. Gleichzeitig findet ein Lernprozess bzgl. der Gestaltung und Durchführung eigenständiger Forschung statt, so dass bestimmte ‚Umwege’ zwangsläufig zu gehen und sogar wünschenswert im Sinne der Professionalisierung als Forscherin sind. Für die Textsorte ‚Dissertation’ hingegen können Stringenz und fortschreitende Systematik wohl als allgemein gewünschte ‚Gütekriterien’ angenommen werden. Es gilt also, einen verschlungenen und vielschichtigen Prozess, der sich über mehrere Jahre hinweg erstreckt, zu entwirren und in die gewünschte Systematik zu bringen. Dabei entspricht die Darstellungslogik nicht der Forschungslogik bzw. –dynamik. Kategorien, die erst im Verlauf der Forschung und Datenauswertung relevant geworden sind, müssen nun bereits recht früh eingeführt und beschrieben werden, was wiederum zur Folge hat, dass bestimmte Aspekte, die eigentlich der Ergebnisdarstellung zuzuschreiben wären, schon im ‚theoretischen Teil’ der Arbeit aufgegriffen werden. Anders herum fallen Gedanken und theoretische Bezüge, die für eine Zeit lang wichtig gewesen sind, nun der Darstellungslogik zum Opfer, obwohl sie die Ergebnisgewinnung doch eigentlich mit beeinflusst haben.
3.5 Reflexionen zum eigenen Forschungsprozess
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Darüber hinaus lassen sich Arbeitsschritte weniger leicht vorab festlegen. Sie ergeben sich erst und immer wieder in neuer Form im Prozess des Handelns und Forschens. Dieses alles braucht Zeit und lässt sich weder schrittweise abarbeiten noch beschleunigen, was den Forschenden neben der üblichen Selbstdisziplin eine gehörige Portion Überzeugung abverlangt, den ‚roten Faden’ schließlich adäquat spinnen zu können. Denn schließlich ist das Ziel, am Ende ein Werk vorzulegen, das auch für Leser/innen lesbar und nachvollziehbar ist, die den Forschungsprozess nicht aus nächster Nähe begleitet haben.
4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Zu Beginn dieses Kapitels wird der Ankerfall des Sample ausführlich vorgestellt. Diese Fallstudie nimmt in der Typisierung69 der Anschlussverhältnisse biographischen Wissens eine Art ‚Zwischenposition’ zwischen den beiden anderen Fallstudien ein, was im Rahmen der ausführlichen Darstellung dieser Typisierung in Kapitel 5.1 aufgezeigt wird. Es handelt sich um die Fallstudie ‚Rudolf Hinze’,70 die in der Reihenfolge der Interviewerhebung an zweiter Stelle steht. Die Analyseergebnisse des ersten Interviews (Fallstudie ‚Marlene Auerbach’, hier als zweiter Fall präsentiert) haben Anlass zur weiteren Ausdifferenzierung des sensibilisierenden Konzeptes gegeben und schließlich zur Auswahl dieses nächsten Interviewpartners geführt. In der Analyse hat sich gezeigt, dass lebensgeschichtliche Erfahrungen verschiedene Bedeutungen einnehmen und dass es bestimmte Erfahrungen zu geben scheint, die besonders bedeutsam für die weitere Gestaltung des biographischen Projektes sind. Sie haben die Qualität eines Wissens um bestimmte Gegebenheiten und bedingen Einstellungen zu bestimmten Themen, da sie zumeist im Rahmen von Habitualisierungsprozessen erworben werden. Dieses Wissen ist dann zunächst auf den Begriff des biographischen Wissens gebracht und mit weiterer Theoriearbeit aber auch Datenanalyse ausdifferenziert worden. Im weiteren Verlauf hat sich das biographische Wissen als Dreh- und Angelpunkt des Datenmaterials herausgestellt, so dass dieser Begriff nun in der Datenpräsentation die Funktion einer Kernkategorie einnimmt. Ausgangspunkt ist zunächst das Konzept des „Biographischen Wissens“ von Hoerning (1989) gewesen. Beim Herantragen an die Daten hat sich gezeigt, dass die biographische Selbstpräsentation Marlene Auerbachs bestimmte habitualisierte Konstruktionslogiken aufweist. Diese werden als eng verbunden mit Erfahrungen aus ihrer Primärsozialisation präsentiert. Der habituelle Charakter dieser Logiken sowie die Verbindung zur Primärsozialisation hat zu einer Ausweitung der theoretischen Sensibilität im Sinne der Grounded Theory für die Analyse weiterer Interviews geführt (vgl. ausführlich Kap. 3.3). Weitere relevan69 70
Der hier verwandte Begriff der Typisierung bezieht sich auf die unter 3.3.3 dargestellten analytischen Verdichtungsprozesse zu Prototypen. Bei allen verwandten Namen, Ortsbezeichnungen usw. handelt es sich um Pseudonyme.
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
te Kategorien und Konzepte haben durch die fortschreitende Analyse des Datenmaterials entwickelt und ergänzt werden können. Die Datenpräsentation orientiert sich in der Darstellung am Ablauf des objektiven Bildungsganges oder anders gesprochen, folgt dem Lebensverlauf. Es werden die biographischen Bereiche Kindheit und Jugend, Berufswahl, Studium, Referendariat sowie die Berufsausübung nach der Ausbildung aufgegriffen. Dabei kommt es in den einzelnen Fallstudien durchaus zu fallspezifischen Modifikationen, wie z. B. bei Rudolf Hinze, in der die biographischen Themenfelder Berufswahl und Wehrdienst zusammengefasst dargestellt werden. Ein weiteres Beispiel findet sich bei Corinna Landwehr. Dort werden die Themenfelder Berufswahl und Studium gemeinsam präsentiert. Diese Modifikationen begründen sich durch die Art und Weise der Thematisierung in den Interviews und sind eine Konsequenz des Ziels, der jeweiligen biographischen Fallstudie in ihrer fallspezifischen Besonderheit gerecht zu werden. Alle Kategorien und Konzepte werden innerhalb dieses Rahmens fallspezifisch und kontrastiv entwickelt. Grundsätzlich ist eine integrierte Darstellungsform gewählt worden, die bewusst nicht zwischen reiner Wiedergabe der biographischen Selbstpräsentation und einer anschließenden Analyse trennt. Vielmehr werden die Kategorien und Konzepte bereits in der Präsentation der lebensgeschichtlichen Erzählung integriert entwickelt. Dieses ist m. E. in der Weise leserfreundlich, als nicht erst eine quasi uninterpretierte Lebensgeschichte zu lesen ist, um dann im Anschluss erst – bildlich gesprochen – die ‚Katze aus dem Sack’ zu lassen. Die beiden ersten Fallstudien, Rudolf Hinze und Marlene Auerbach, werden in Form von reinen Einzelfallstudien präsentiert, während in der Darstellung des letzten Falles (Corinna Landwehr) bereits fallvergleichende Bezüge und Kontrastierungen integriert sind. Diese dienen der Vorbereitung der letzten Kapitel (vgl. Kap. 5.1 und Kap. 5.2). In den analytischen Abstraktionen, mit denen die Fallstudien jeweils enden, werden die Kategorien und Konzepte noch einmal auf biographieanalytischer Ebene verdichtet, um so das theoretisch-generative Potential des jeweiligen Falles noch einmal pointiert herauszustellen. Im letzten Kapitel dieser Arbeit werden die Kategorien und Konzepte dann zugespitzt und zur Konstruktion einer gegenstandsbezogenen Theorie verdichtet. Leitend ist dafür der explizite Bezug zu den Fragestellungen der Arbeit sowie den daraus ableitbaren Konsequenzen für die Professionalisierung von Sportlehrerinnen und Sportlehrern.
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 115 4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung mit Fremdheitsgefühlen und Differenzerfahrungen (Rudolf Hinze) Das Interview mit dem Sport- und Sozialwissenschaftslehrer Rudolf Hinze ist im Januar 2003 geführt worden. Ausgangspunkt für die Auswahl dieses Lehrers sind kontrastive Aspekte der Lebensgeschichte im Vergleich zum ersten Interview gewesen, das hier als zweite Fallstudie (‚Marlene Auerbach’) präsentiert wird. Auf der Suche nach einem möglichst großen Kontrast sind zunächst sozialstrukturelle Faktoren (im weiteren Sinne) zugrunde gelegt worden. Es handelt sich also um einen Mann, dessen Herkunftsmilieu sozial niedriger angesiedelt ist als bei der ersten Interviewpartnerin. Darüber hinaus habe ich nach einer eher leistungssportlichen Karriere im individualsportlichen Bereich (hier: Leichtathletik) gesucht. Rudolf Hinze unterrichtet als zweites Fach Sozialwissenschaft und hat dementsprechend Kenntnis von sozialwissenschaftlichen Theorien; er benutzt z. B. den Begriff der Lebenswelt direkt zu Beginn des Interviews. Dieses Konzept verwendet der Erzähler (alltagstheoretisch gewendet) auch im weiteren Verlauf des Interviews wieder („eine andere Welt“ bzgl. des Studiums usf.). Rudolf Hinze verfügt vor Beginn seines Studiums nicht über Vorerfahrungen im Anleiten von sportlichen Aktivitäten. Er hat kein biographisches Wissen über das Anleiten von Sport, er hat jedoch selbst intensiv Leistungssport getrieben. Seine Eltern haben für (privilegierte) Interessen wie z. B. Sport keine Zeit (Vater arbeitet unter Tage, Mutter hat vier Kinder zu versorgen), so dass sich sein erster Kontakt mit dem organisierten Sport im Rahmen der weiterführenden Schule ereignet. Der Erstkontakt ist über ein ausführliches Telefongespräch erfolgt, in dem sowohl das Forschungsinteresse aber besonders auch die Interviewmethode erläutert worden sind. Rudolf Hinze hat sich bereits in diesem Vorgespräch als wissenschaftlich interessiert präsentiert und hat sein Wissen über Forschungsmethoden aufscheinen lassen. Das Gespräch ist in einem fast geschäftsmäßigen Umgangston geführt worden, der sich auch in der Interviewsituation manifestiert hat. Das Wissen um die ‚Künstlichkeit’ der Situation ist bei Rudolf Hinze deutlich zu erkennen. Er nimmt diese Situation an und will die gestellte Aufgabe möglichst präzise und umfassend erfüllen: E:
Ja. - - Also meine ersten Erinnerungen sind –- vermutlich so im Alter von vier Jahren – äh - -. Das kriegt man natürlich nich immer ganz so hin, weil man doch ein bisschen rekonstruiert auch nachher durch viele Geschichten hin und her, dann weiß man nicht mehr, ob das die Erinnerungen anderer
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien waren auch. Aber (P/2). Äh, ja ich bin also (P/2) da müsst ich jetzt auch mein Geburtsjahr nennen, sonst macht das keinen Sinn, ne?
Rudolf Hinze bleibt auch nach dem Erzählimpuls zunächst auf der Metaebene. Er zeigt, dass ihm seine Position als ‚Untersuchungsobjekt’ bewusst ist. Insgesamt handelt es sich um eine eher nüchterne, aber dennoch interessierte Gesprächsatmosphäre: Es geht hier um Datengewinnung und der Erfolg ist vom angemessenen Handeln beider Interviewpartner abhängig. Bereits zu Beginn des Interviews nimmt der Erzähler eine distanziert laborhafte Position zu sich selbst bzw. seiner Lebensgeschichte ein, die auch im weiteren Interviewverlauf immer wieder aufscheint.
4.1.1 Kindheit und Jugend als ‚Die enge Welt’: „Damals war es irgendwie klein“ Rudolf Hinze wächst als ältestes von vier Kindern schlesischer Flüchtlinge in ärmlichen und räumlich beengten Verhältnissen auf. Interessant ist, dass Hinze zwar mit dem Benennen seines Geburtsjahres in die Erzählung einsteigt, dann jedoch nicht seine Geschichte entfaltet, sondern mit der Geschichte seiner Familie resp. seiner Eltern fort fährt: E:
Also ich bin 1948 geboren. Meine Eltern sind Flüchtlinge aus Schlesien gewesen. Die sind 1946 aus Schlesien zwangsausgewiesen worden. Sind mit Ihrer Verwandtschaft irgendwo im Südoldenburgischen ausgeladen worden, sag ich mal so war’s, -- aus Viehwagons. Und äh ja deren Lebenswelt war dann auf irgendwelchen Bauerhöfen verstreut oder manchmal auch noch schlechter zu leben.
Die reflexiv distanzierte Grundhaltung, die Rudolf Hinze zu seinem Leben einnimmt, wird hier bereits erstmals deutlich. Im Begriff der Lebenswelt scheint neben dieser distanzierten, geradezu analytischen Perspektive auf die eigene Lebensgeschichte, sein sozialwissenschaftliches Theoriewissen und Interesse auf. In einer alltagstheoretischen Form wird dieses Konzept auch später wieder aufgegriffen und zur Konstruktion verwandt. Darüber hinaus manifestiert sich hier bereits die Konstruktionslogik über Kontraste, die der Erzähler im gesamten Interviewverlauf beibehält. Die Lebenssituation wird weiter ausgeführt und mit Hilfe einer Kontrastierung (hier: schlecht – noch schlechter) detailliert.
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 117 E:
I: E:
I: E:
I: E:
Noch schlechter hieß (P/3) eine einen Bruder meines Vaters --hat in --- einer ehemaligen in einer ehemaligen Munitionsgelände gelebt und in einem ehemaligen Unterstand der deutschen -- äh Wachsoldaten Hmhm Wo also --- die ham da sogar bis 1956 gewohnt. Ich erinnere mich noch schwach, dass ich die manchmal besucht habe. Also wir selber wohnten auf einem Bauernhof in anderthalb Zimmern so meine schwache Erinnerung. Hmhm Nachher auch mit drei Kindern. --- Und äh bis 1953 wohnten wir dort. –- Da war ich dann also fünf Jahre. Und wenn ich da manchmal zu den anderen hingefahren bin, da hab ich gedacht, Mensch die wohnen hier aber schlecht. Selbst unter den Bedingungen. Gut. Auf =em Bauerhof oder so fand ich das als Junge wahrscheinlich ganz gut. Was ich da erlebt hab war für mich eigentlich ganz positiv, würde ich sagen, nich. Hm Vielleicht sehr schöne Lebensjahre einfach. Aber äh --- DIE wohnten wirklich in so nem Kellerloch.
Rudolf Hinze positioniert sich bzw. seine Familie damit zwar eindeutig im unteren Bereich der gesellschaftlichen Schichten, mindert die ‚Misere’ aber gleichzeitig dadurch ab, dass er verdeutlicht, dass es noch schlechtere Bedingungen und Lebensumstände gegeben hat. Es handelt sich um eine distanzierte Betrachtungsweise, die Rudolf Hinze scheinbar schon damals eingenommen hat. Sein eigenes Umfeld wertet er zusätzlich auf, da ein Bauernhof ja ein anregendes Terrain für Kinder bzw. für Jungen71 sei. Deutlich bringt er sein Befremden in Bezug auf die Lebenssituation seiner Verwandten zum Ausdruck und führt bereits zu Beginn der lebensgeschichtlichen Erzählung ein erstes Differenzerleben – hier zwischen dem „wir“ und den „anderen“ – ein. Unterstützt wird diese Wahrnehmung durch die Partikel „wahrscheinlich“, „eigentlich“ und „vielleicht“. Diese makrosyntaktischen Gliederungssignale (vgl. Gülich, 1970) oder sogenannten Modalglieder „sind Satzglieder, die die subjektive Stellung des Sprechers zum Inhalt seiner Äußerung signalisieren. Sie können in Mitteilungen, Fragen, Aufforderungen oder Ausrufen stehen und geben dem Sprecher die Möglichkeit, seine Aussage zu differenzieren“ (Schulz & Griesbach, 1992, S. 349). Hier könnten sie einerseits auf die bereits zu Beginn des Interviewausschnitts benannte ‚schwache Erinnerung’ verweisen. Darüber hinaus bringen sie die distanzierte Betrachtungsweise des Erzählers zum Ausdruck und könnten 71
Auch hier deutet sich eine Kontrastierung – in diesem Falle zwischen Mädchen und Jungen bzw. ‚weiblich’ und ‚männlich’ – an.
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
einen Hinweis auf eine retrospektivische Aufwertung der nicht ganz so ungebrochen positiven Kinderjahre darstellen. Der Erzähler führt u. a. aus, dass er einen „Knecht“ des Bauernhofes zum Schweinefüttern begleitet habe und dass es viel Gelegenheit gegeben hat, um sich zu bewegen: E:
I:
Und äh (P/5) ja das also heute Kinder nur noch aus vom Märchen erzählen her können, äh kennen. So Schnitzeljagd machen oder Fußball spielen oder so was, das gehörte eben zu unseren täglichen Übungen, ne. Hm.
Er nennt diese Zeit „eine Zeit des ähm ja relativ unbeschwerten sich Bewegens“.72 Sport ist zunächst kein Thema; vielmehr geht es um Bewegung. Diese Bewegung findet üblicherweise im Freien statt. Neben diesen positiven Schilderungen zeichnet der Erzähler jedoch auch andere Facetten dieser Zeit nach: E:
I: E:
Meine Eltern ham=s da sicherlich sehr schwer gehabt. Mein Vater hat dann --- erst auf =em Bahnhof in O-Stadt gearbeitet und dann auf einer Schachtanlage in der Nähe –- äh mit dreimal Schichtdienst, also immer wechselnd jede Woche und. Ja meine Mutter hat sich dann, ich sag mal als Ihr möglich war um die Kinder gekümmert und hat keine Arbeit gehabt –- und musste so -- sich mit der Situation abfinden, dass sie Tags, den ganzen Tag im Grunde gesagt na ja, was wollt Ihr denn eigentlich hier ne. Äh wollt Ihr nicht doch bald woanders hin oder so. Hm. Mit allen möglichen diskriminierenden Vorwürfen (P/3)
Zunächst wird deutlich, dass das Gefühl von Fremdheit als Motiv hier quasi von außen an Rudolf Hinze bzw. seine ganze Familie herangetragen wird. Sie sind die anderen, unerwünscht und gehören nicht dazu. Das Fremdheitserleben wird im Sinne einer anderen Dimension von Differenzerfahrung erneut aufgegriffen. Darüber hinaus bleibt auch nach dem Umzug in eine Bergarbeitersiedlung und dem Erwerb eines eigenen Hauses, das „dann wohl auch nicht besonders leicht abzubezahlen war73“ die räumliche Enge bestehen. Besonders im Winter 72 73
An dieser Stelle wird erneut eine Relativierung der positiven Bewertung vorgenommen. Doppelte Anführungsstriche kennzeichnen im Rahmen der biographischen Fallstudien direkte Zitate aus den Interviews.
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 119 mit nur einem geheizten Aufenthaltsraum für alle Bewohner hat sich diese bemerkbar gemacht. In diesem Umfeld kann Bewegung also nur im Freien stattfinden. Denn die elterliche Wohnung bietet dafür keinen Raum und institutionelle Sportangebote sind entweder gar nicht vorhanden oder aber die Teilhabe nur durch Bezahlung zu erreichen, was wiederum nicht möglich ist. Bewegung kommt in dieser Konstellation also eine spezifische Bedeutung zu. So wird Bewegungsfreude als Begriff zwar genannt, aber nicht im Sinne eines Konzeptes weiter verfolgt und ausdifferenziert. Der Begriff Bewegungsfreiheit scheint hier angemessener, denn das häusliche Umfeld des Erzählers in den frühen Kinderjahren wird durch die ersten Schilderungen romantisiert. So erscheint im Folgenden der Aufenthalt außerhalb der elterlichen Wohnung vielmehr als eine Flucht vor der räumlichen Enge und der damit verbundenen Kontrolle seitens der Mutter, was in der Retrospektive zu einem idyllischen Freiheitserleben gedeutet wird. Bewegung hat in der Konstruktion Rudolf Hinzes eine besondere Bedeutung. Tatsächlich scheint hier der Funktionsbegriff sogar passender, denn Bewegung und später Sport erfüllen in dieser Lebensgeschichte eine solche bzw. mehrere. An dieser Stelle dient sie der Flucht. Damit deutet sich eine Kontrastierung an, die sich durch die gesamte Erzählung zieht: Es ist die Gegenüberstellung der Kategorien Selbst- und Fremdbestimmtheit, die später die Dimensionen Selbstund Fremddisziplin(ierung) erhalten. Diese wiederum sind mit dem Motiv der Enge verbunden, das eine räumliche, aber wie sich später zeigt auch eine gedankliche sowie eine Enge hinsichtlich der Entfaltungsmöglichkeiten beinhaltet. Zunächst wird jedoch die bereits begonnene Beschreibung von Kindheit heute (siehe Interviewausschnitt oben) beschrieben. Die stark überzeichneten Behauptungen darüber, wie Kindheit heute sei, führt der Erzähler weiter aus, indem er die oben eingeführte (vermeintliche) Bewegungsarmut mit sinnlicher Verarmung in Zusammenhang bringt: E:
I: E:
Aber das äh das ist ja heute alles bei den meisten heute nicht mehr da. Selbst wer in ländlicher Umgebung wohnt kommt nich auf die Idee nachmittags mal in den Bäumen zu klettern, ne. Hm. Oder mal im Herbst das Laub rascheln zu hören oder sich im Laub zu verstecken oder irgendwie so was.
Mit diesen Gegenüberstellungen rekurriert der Erzähler auf seine eigenen biographischen Erfahrungen aus der Kindheit. Sie scheinen zu einem biographischen Wissen, um ‚richtige Kindheit’ geworden zu sein, die er nun in Abgrenzung zu der heute vermeintlich vorzufindenden darstellt. Auch hier wird augenfällig, dass Rudolf Hinze diese Verhältnisse als befremdlich empfindet und
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sie mit seinem Verständnis von ‚normal’, ‚schön’ und damit anstrebenswert nicht zu vereinbaren sind. Es entsteht der Eindruck, dass der Erzähler in einem fast dialektisch anmutenden Verfahren seinen Standpunkt entwickelt. Zum zentralen Thema Kindheit und Erziehung wird zunächst eine auf biographischem Wissen basierende These aufgestellt. Diese wird mit der Wahrnehmung von Kindheit heute – die zu einem großen Teil aus extrem klischeehaften Darstellungen besteht – im Sinne einer Antithese abgeglichen, um so zu einem Standpunkt zu gelangen. Der überzeichnete Blick auf heutige Kindheit dient jedoch in diesem Verfahren als Absicherung der ursprünglichen Position, so dass zwar gelegentlich kleine Einschränkungen bzgl. des eigenen Standpunktes formuliert werden, diese sind jedoch für einen Umdenkungsprozess unwirksam. Der Erzähler nutzt das Kindheitsbild strategisch, um seine eigene Position zu begründen. Gebrochen wird der idealisierende Blick auf die eigene Kindheit jedoch durch die Ausführungen zur Beengtheit und disziplinarischen Härte im Umgang mit Kindern usw. Das Thema Erziehung ist für das ganze Interview ein bedeutsames, welches immer wieder sowohl narrativ als auch theoretisierend bearbeitet wird. Diese wird unterschieden in elterliche und schulische Erziehung. Die elterliche Erziehung wird dabei weniger ausführlich beschrieben. Die Mutter kontrolliert das häusliche Umfeld und erteilt den Kindern Arbeitsaufträge im Haushalt. Der Vater wird als Haushaltsvorstand beschrieben, dem es obliegt, die Kinder zu maßregeln und zu züchtigen. Innerhalb der lebensgeschichtlichen Konstruktion kommt der elterlichen Erziehung jedoch besonders für den beruflichen Werdegang des Erzählers eine entscheidende Rolle zu. Sozialer Aufstieg als Schlüsselmotiv dieser Lebensgeschichte hat hier seinen Ausgangspunkt und bildet die Basis für viele weitere Positionierungen bzw. die Notwendigkeit, sich immer wieder neu zu positionieren und somit ein Stück weiter sich auch immer neu ‚erfinden’ zu müssen. Denn als Sohn von schlesischen Flüchtlingen, aufgewachsen in einer Bergarbeitersiedlung mit vielen Geschwistern und wenig ökonomischem aber auch wenig kulturellem Kapital (vgl. Bourdieu, 1992) wird Rudolf Hinze schließlich studierter Lehrer. Er hat scheinbar keine Ressourcen außer sich selbst, um diesen Aufstieg erfolgreich ausgestalten zu können. Die Rückbesinnung auf sich selbst und die eigene Fähigkeit, sich etwas durch Disziplin erarbeiten zu können, wird zum Programm. Ausgehend von der väterlichen Initiative besucht Rudolf Hinze zunächst die Realschule und später ein Gymnasium, das ca. 50 km vom Heimatort entfernt liegt und als Teilinternat organisiert ist. So bedeutet der Bildungsaufstieg hier zum ersten Mal eine zunächst räumliche Entfernung vom Elternhaus und Herkunftsmilieu, die vom Erzähler jedoch stetig weiterentwickelt und mit weiteren räumlichen, aber auch gedanklichen Entfernungen bestückt wird. Nur wenigen
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 121 war dieser Weg überhaupt möglich bzw. von den Eltern erwünscht und gefördert. E:
I: E:
I: E:
Ja. (p/5) zu der Zeit gab es nur eine –- Volksschule –- am Ort. - Auch noch konfessionell getrennt zunächst. --- Und ich habe (P/2) anders als so andere, die das vielleicht auch hätten schaffen können unter den Bedingungen irgendwie, hab das so einfach so weiter gemacht so, weil es -- äh, also schulisch weiter gemacht in - es gab dann eine Realschule an dem Ort aber irgendwie hatte ich, weiß ich nicht, keine Lust aber irgendwo hat mich mein Vater, so nach dem Motto du sollst es mal besser haben als ich also Hm. Sie wissen ja was das bedeutet. Das ist ja schon eine --- eine gewisse Minderwertigkeit von dem Lebensgefühl die sich darin auch ausdrückt nicht. Hmhm. Besser haben heißt ja, mir geht’s ja eigentlich nicht so gut, nich. Aber immerhin dann hat er’s dann irgendwann doch geschafft äh, anders als andere, die gesagt haben na Schuster bleib bei deinen Leisten, du gehst dann auch -- unter Tage arbeiten.
Mit dem Wechsel auf die Realschule geht Rudolf Hinze einen Schritt, der ihn wiederum Fremdheit erfahren lässt. Der vermeintlich ‚normale’ Weg wäre für ihn eben nicht in Richtung eines höheren Bildungsabschlusses gegangen. Das mit dieser Entscheidung verbundene Wagnis, sich erneut mit Fremdheit oder dem ‚Anders sein’ auseinandersetzen zu müssen, geht er hier ein. Der Vater nimmt für diesen Prozess auslösende Funktion ein, obgleich er dann im weiteren Verlauf nicht unbedingt als uneingeschränkter Unterstützer auftritt. Auf die Bedeutung der elterlichen Erziehung und Primärsozialisation kommt Rudolf Hinze im Laufe des Interviews an verschiedenen Stellen zurück, zumeist um damit bestimmte Entscheidungen zu erklären. Ein Beispiel hierfür ist der Studienabschluss für die Sekundarstufe I. Mit relativ geringem und für den Erzähler auf jeden Fall zu bewältigendem Aufwand hätte er den höheren Abschluss für das gymnasiale Lehramt erreichen können. E:
I:
Dann hätte ich den hätte ich an Gymnasien unterrichten können, aber vielleicht war da innerlich auch noch so ein so ein bisschen da -- na Schuster bleib bei deinen Leisten, jetzt bist=e schon sehr weit gekommen jetzt reichts aber auch, ne. Hm Hm.
122
4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien E:
Also dass man im Denken sich auch selber so ein bisschen beschränkt hat, sage so sag ich das mal.
Rudolf Hinze schränkt hier seine Entfernung von seinem Herkunftsmilieu ein. Wie durch eine ‚inkorporierte Schranke’ zurückgehalten, bleibt er auf einem bestimmten Level im Aufstiegsprozess stehen, die das Differenzerleben auf einem subjektiv als passend empfundenen Niveau begrenzen. Inkorporierte soziale Erfahrung drückt sich hier in Rudolf Hinzes Habitus (vgl. exemplarisch Bourdieu, 1989) aus. Der Habitus als theoretischer Begriff dient in Anlehnung an die Bourdieuschen Arbeiten der Erklärung von Regelhaftigkeit in Alltagspraxen. Er ist inkorporierte soziale Erfahrung. Die Erziehung nutzt den Körper als ‚Speicher’, Kultur wird so gewissermaßen inkorporiert und bezieht daraus ihre unmittelbare Selbstverständlichkeit. Der Habitus im Bourdieuschen Verständnis ist ein System von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern, das die Ausführung und Gestaltung von weiteren Handlungen und weiterem Verhalten reguliert. Es ist in Abhängigkeit von der sozialen Lage, dem kulturellen Milieu aber auch der Biographie des Individuums zu verstehen. Für wissenschaftliche Untersuchungen kann es der Benennung von wiederkehrenden und charakteristischen Verhaltensweisen dienen, die mit Bezug auf die zugrunde liegenden theoretischen Überlegungen leiblich gebunden und weitestgehend unbewusst vollzogen werden. Bourdieu stellt dies selbst wie folgt dar: „Mein Versuch geht dahin, zu zeigen, dass zwischen der Position, die der einzelne innerhalb eines gesellschaftlichen Raums einnimmt, und seinem Lebensstil ein Zusammenhang besteht. Aber dieser Zusammenhang ist kein mechanischer, diese Beziehung ist nicht direkt in dem Sinne, dass jemand weiß, wo ein anderer steht, auch bereits dessen Geschmack kennt. Als Vermittlungsglied zwischen der Position oder der Stellung innerhalb des sozialen Raumes und den spezifischen Praktiken, Vorlieben usw. fungiert das, was ich Habitus nenne, d. h. eine allgemeine Grundlage, eine Disposition gegenüber der Welt, die zu systematischen Stellungnahmen führt – die dabei aber, weil sie ein Niederschlag des bisherigen Lebenslaufs ist, relativ unabhängig von der im fraglichen Zeitpunkt eingenommenen Position sein kann. Es ist mit anderen Worten tatsächlich, und das ist meiner Meinung nach überraschend genug, ein Zusammenhang zwischen höchst disparaten Dingen: wie einer spricht, tanzt, lacht, was er liest, was er mag, welche Bekannten und Freunde er hat usw. All das ist eng miteinander verknüpft“ (Bourdieu, 1989, S. 25).
Wenn die Internalisierung der sozialen Welt im Bourdieuschen Sinne nun maßgeblich durch den und mit dem Körper stattfindet, so scheint es nahe liegend, dass eine körperliche Auseinandersetzung im Rahmen von Bewegung, Spiel und Sport Einfluss auf diese Entwicklung hat. Es ist zu vermuten, dass diese im Ha-
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 123 bitus einer Person repräsentiert ist. Ebenso ist der große Einfluss der Primärsozialisation auf den Habitus eine interessante Perspektive für die Deutung des vorliegenden aber auch der anderen Fälle der Untersuchung. Insgesamt bleibt die Familie als Heim und Umgebung der Kindheit in der lebensgeschichtlichen Erzählung Rudolf Hinzes eher blass und unscharf. Die schulische Erziehung nimmt hingegen in seinen Ausführungen viel Raum ein und wird anhand kleiner sarkastisch-ironisch vorgetragener Anekdoten aus dem damaligen Schulalltag charakterisiert. Das zentrale Konzept, das der Erzähler selbst einführt und somit als Invivo-Kode zu bezeichnen ist, fokussiert sich für diesen lebensgeschichtlichen Bereich in der Formulierung „Zucht und Ordnung“. Es ist der Kategorie ‚Fremdbestimmung’ und der Dimension ‚Fremddisziplinierung’ beigeordnet. E:
I: E:
I: E:
I: E:
I: E:
Wo dann immer erzählt wurde, mein Vater der hat doch immer schon äh --- den --- Gürtel rausgeholt so auf Verdacht oder so oder meine Lehrer ham jedem einen über die Finger gezogen wenn er in den Klassenraum kam, so zu Beginn der Hm Stunde, dass man gleich wusste wo’s lang geht. So das ham Sie ja nicht mehr erlebt aber so Prügel, Gewalt und so von Lehrern und so, --- das war an der Tagesordnung. Hmhm. Und Sprüche --- wo ich auch sagen würde so nachträglich, damals hab ich nur gedacht, da stimmt doch was nicht, das waren, nannte sich so katholisch alles so aber sehr christlich hörte sich das nicht an so von Sprüchen. Waren sicher keine aktiven Nazis aber denke ich, aber im Kopf waren ses. Hm. Die deutschen. Wie soll der deutsche Junge sein? Schnell wie Leder, zäh wie ein Windhund, hart wie Kruppstahl. Das ham die noch fufzehn Jahre nach=em Krieg selbstverständlich so rausgehauen. Hmhm. Und keiner hat gesagt auch von den Eltern --- aber das ist aber das letzte. Hätte man ja aus guten Gründen sagen können, ne?
Es wird deutlich, dass weder die Eltern noch die Kinder den schulischen Alltag mitgestalten konnten. Vielmehr ist es nach Ausführung des Erzählers um ein gewaltsames Durchsetzen bestimmter Erziehungsziele (z. B. wie ein ‚richtiger’ Junge zu sein hat) und um die Einübung und Wiedergabe von unhinterfragbaren Inhalten gegangen. Auch diese Erfahrungen lösen bei Rudolf Hinze befremdliche Gefühle aus, hier beschrieben durch den Eindruck, dass etwas nicht stimme.
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Dieser Gedanke stößt scheinbar eine weitere Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen an. Dieser Prozess lässt Rudolf Hinze in eine (gedankliche) Distanz zu dem Erlebten treten, die wiederum biographische Reflexivität ermöglicht. Diese (Selbst)Reflexivität zieht sich durch das gesamte Interview. Eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte und eine Auslegung der Erfahrungen werden immer wieder deutlich. Als ‚Beleg’ für den schulischen Erziehungsstil seiner Kindheit führt Rudolf Hinze ein plastisches Bild eines Mathematiklehrers und seiner didaktischen Praktiken an: E:
I: E:
I: E: I: E: I: E:
I: E:
Also der Lehrer der, war auch so en kleiner, der es irgendwie wahrscheinlich nötig hatte, weiß noch heute wie wie der reinkam man selber kriegte also die Neuen, die dann in der neunten Klasse dazukamen natürlich auch die blödsten Plätze, die anderen wussten sofort (wut wut wut ?) wo sie sich hinsetzten und dann saß man eh man sich’s versah in der ersten Reihe ne HA HA ((lautes lachen)) ah ja. Wie der Mathepauker da reinkam, so ein kleiner Giftzwerg --- damals mussten sie die Geodreiecke und äh Zirkel und so noch selber mal mitbringen, war nicht Ausstattung der Klasse. Hatte er unter die Arme GEKLEMMT, die Arme an Körper gepresst und sagte so wo er rein kam, was ich jetzt erklären werde he, das werden nicht alle verstehen und gab so ein sarkastisches Lächeln von sich oder Lachen lautes Lachen, ne. Hm Hm Und er erklärte dann den Satz des Pythagoras und -- aber so schnell und so un äh unpraktisch, dass man also auch nicht verstehen sollte, nech. Hm. Und der hatte so ne Methode, (...) mal so. Mit der rechten Hand schrieb er endlose Formelreihen an die Tafel und Hm. mit der Linken wischte er gleichzeitig diese Formelreihen wieder aus. Aha. Das heißt wir sollten die Klappe halten, Mund halten, abschreiben und sonst gar nix. Und wer sich ablenkte, der konnte das nicht mehr mitschreiben, weil er das schon Hm wieder ausgelöscht hatte.
In dieser Lebensphase ist das Maß der Fremdbestimmtheit für Rudolf Hinze am größten. Diese geht einher mit einer z. T. sogar willkürlichen Fremddisziplinie-
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 125 rung. Als einzige Möglichkeit, in diesem ‚System’ zurecht zu kommen, sieht der Erzähler die gestellten Erwartungen möglichst präzise zu erfüllen. Er umschreibt dies mit dem Entstehen seiner „Arbeitsmentalität“, die sich wie eine Grundhaltung durch das gesamte Interview zieht. Man muss also nur genug üben und keinen Müßiggang zulassen, dann erreicht man das gesteckte Ziel. Dies stellt er im Übrigen wieder der (vermeintlichen) Arbeitshaltung der heutigen Jugend gegenüber, die ‚vollgesogen’ durch kommerzielle Überversorgung nichts mehr auf sich nehmen wolle und könne, um sich etwas zu erarbeiten. Ein weiterer auslösender Faktor für die Arbeitsmoral Rudolf Hinzes ist die Drohung des Vaters, ihn vom Gymnasium herunterzunehmen, sollte er den dortigen Anforderungen nicht gerecht werden. Im gymnasialen Umfeld der eher besser Situierten sind diese Arbeitshaltung und die daraus gelegentlich resultierenden überdurchschnittlichen Ergebnisse eine Möglichkeit des „Sich-hervorTuns“, die das Gefühl der Minderwertigkeit reduziert. Mit der Einführung des Themas Sport ändert sich die Art und Weise der Ausführungen des Erzählers. Zum ersten Mal ist von positiven Gefühlen die Rede, vom Dazugehören, von Akzeptanz in der Gruppe und Anerkennung. Der Sport eröffnet Rudolf Hinze scheinbar eine andere Erfahrungswelt. Das sportliche Engagement ist überhaupt in der Form erst möglich durch die schulische Einbindung. Schule ist demnach ein durchaus ambivalenter Lebensbereich, denn neben der Erfahrung von schulischer Erziehung als Zumutung und Gewalt birgt sie auch die Verheißung von Bildung als Chance zum sozialen und intellektuellen Aufstieg und des Sporttreibens als integratives und emotional positives Moment. Diese beiden Perspektiven auf Schule nehmen im Weiteren die Qualität biographischen Wissens an. Es ist einerseits ein biographisches Wissen um gewaltsame, willkürliche Erziehung, das in eine Ablehnung derselben und die Postulierung einer humanen Schule und kindgerechten Unterrichts mündet. Auf der anderen Seite entsteht hier bereits ein biographisches Wissen um die Machbarkeit und Gestaltbarkeit von Zukunft auch gegen (biographische) ‚Lasten’ (Hindernisse, Erschwernisse) sowie um die emotionale Bereicherung durch Sport. Die Möglichkeit, sich selbst zu verändern und das eigene Denken ‚von gestern’ als ein überholtes und in diesem Sinne ‚falsches’ betrachten zu können, scheint hier auf und wird durch selbstreflexive Einschübe im Laufe des Interviews immer wieder neu thematisiert. Auf der Ebene des Unterrichts soll hier insbesondere der Sportunterricht aufgegriffen werden. Um Sportunterricht geht es nur an einigen wenigen Stellen – hier zunächst während der Volksschulzeit:
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien E:
Ich äh zum Sportunterricht fiel mir noch ein, so auch in den ersten Schuljahren -- hatten wir eigentlich keins. - - - Gab Hatten wir da ne Turnhalle, die wurde 1959 gebaut da war ich ja schon -- im fünften Schuljahr und da waren froh, wenn wir da überhaupt noch rein kamen, aber wir hatten eigentlich keinen Sportlehrer der das konnte. Die Noten wurden dann trotzdem irgendwie gegeben ((lacht)) ich weiß noch wie.
Es klingt an, dass Rudolf Hinze konkrete Vorstellungen darüber hat, über welche Kompetenzen ein Sportlehrer verfügen sollte, um adäquaten Sportunterricht erteilen und diesen auch beurteilen zu können. Diese Qualifikation spricht er seinen Sportlehrern sowie an anderer Stelle auch dem Großteil seiner anderen Lehrer ab. Anhand einer Episode zur Notengebung im Sportunterricht wird dieses illustriert: E:
I: E:
I:
Im dritten Schuljahr hatten wir einen Sportlehrer, der hatte, also der war auch so ein bisschen schusselig und komisch damals schon ham wir Witze drüber gemacht. Der ließ einen dann antreten, kann man so sagen, in Zweierreihen, zufalls -weise wie das kam, da mussten die fünfzig Meter gegeneinander Laufen, der letzte kriegte dann, der Gewinner kriegte ne zwei und der Verlierer kriegte ne vier ((lacht)). Ja. Und dann fragte er noch in die Runde, kann der auch noch gut Fußballspielen ((lacht herzhaft))und wenn die sagten ja kann=er wohl dann wurde die zwei noch bestätigt ob se dann mal in drei abgeändert wurden? Das waren also die beiden Vieren in Sport die ich äh in Sport in meinem Leben bekommen hab. Sonst war’s immer besser als drei. Aber da kriegte ich immer zweimal ausreichend, weil ich immer gegen den einzigen in der Klasse laufen musste der noch schneller war als ich. ((lacht)) Ja. Auch ne Möglichkeit. ((lacht))
Deutlich wird auch an dieser Stelle wieder, dass der Erzähler die Erlebnisrekapitulation als Medium zur Entfaltung seines heutigen Standpunktes nutzt. Eine gewisse Distanz wird jedoch durch das Witzeln über diese Vorgehensweise auch schon für damals konstruiert. Die Entfaltung des heutigen Standpunktes ist in diesem Zusammenhang zunächst nicht ungewöhnlich, die Art und Weise, wie der Erzähler dies bewerkstelligt, jedoch interessant. Denn die beiden Perspektiven ‚Gestern’ und ‚Heute’ werden quasi gleichzeitig bearbeitet, womit der Erzähler demonstrieren kann, wie sehr sich aus seiner Sicht etwas verändert hat. Die Art von Sportunterricht,
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 127 die er im Kontext seiner Kindheit und Jugend entfaltet, gibt es so nicht mehr. Es scheint also notwendig, sie derart aufwändig zu rekonstruieren, da sie sonst für die Interviewerin nicht zugänglich werden würden. Indem Rudolf Hinze dies jedoch ausführt, markiert er gleichzeitig den großen Abstand, den er selbst zu dieser Zeit hat und stellt seine heutige Perspektive in den Vordergrund. Verstärkt wird diese Distanznahme noch dadurch, dass er sich nicht ernsthaft kritisch über seine Schulerfahrungen äußert, sondern vielmehr eine leicht ironische Position ‚über den Dingen’ einnimmt. Seinem Befremden gegenüber diesen Unterrichtspraktiken spiegelt sich auch in dem herzhaften Lachen wider. Wie Rudolf Hinze dieses Erlebnis jedoch damals empfunden hat, bleibt durch die abgeklärte professionelle Distanz zu den eigenen Erlebnissen unerwähnt. Man bekommt keinen Eindruck davon, wie Rudolf Hinze als Schüler mit der Tatsache umgegangen ist, völlig ungerechtfertigt eine unterdurchschnittliche Note zu bekommen. Schließlich formuliert er doch explizit Kritik, gibt sich dabei aber deutlich – wenn auch distanziert – als ‚Kollege’ des kritisierten Sportlehrers zu erkennen und geht mit dem Zitat des Klischees sogar auf eine berufspolitische Ebene. Es geht also bereits bei der Rekonstruktion seiner Kindheit und Schulzeit sehr deutlich um seine Position als Lehrer heute, wobei die damaligen Erlebnisse in Form biographischer Wissensbestände als Mittel einfließen, um diese Position entfalten zu können. Willkürliche Fremdbestimmtheit manifestiert sich erneut in diesem Akt, der mit einer adäquaten Leistungsbeurteilung nicht viel gemein hat. Neben dem Sportunterricht, geht Rudolf Hinze auch auf sein weiteres sportliches Engagement ein. Eingeführt – lebensgeschichtlich eingeführt – wird dieses Thema während der Realschulzeit: E:
I:
JA --- sportlich ging’s dann natürlich auch so ein bisschen besser voran, dass dann auch Sportlehrer an der Schule waren, die auch so ein bisschen was konnten. – Und dann gab’s dann immer die Schulfußballturniere und dann wurde ich schnell auserkoren in der Klasse dann die Mannschaft zusammenzustellen, und so was hatte denn auch so nen hervorragenden Rang. Hm.
Neben der Flucht aus dem Alltag kommt dem Sport in besonderer Weise auch die Funktion der Selbstbestätigung oder, wie der Erzähler es selbst ausdrückt, „des Sich-hervor-Tuns“ zu. Sich als besonders zu erleben, etwas aus eigener Kraft geleistet zu haben, das mit Anerkennung belohnt wird, ist dabei zentrales Motiv. Das Gefühl, sich selbst als fremd in der Umgebung zu erleben, nimmt ab, denn der Sport bietet Rudolf Hinze ein Identifikationsangebot. Darüber hinaus
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klingt in diesem Zitat erneut die oben erwähnte Arbeitsmentalität an. Auch sportlich ist es nun besser vorangegangen! Die Perspektive ist eben, dass es immer vorangehen muss. Immer weiter vorwärts, immer in dem Bestreben, sich in einem umfassenden Sinne zu verbessern. Inhaltlich geht es hier um Fußball, der jedoch nicht als Sportart weitergeführt wird. Später im Internat engagiert sich Rudolf Hinze in der Handballmannschaft der Schule und behält diese Sportart in seiner Heimatmannschaft auch noch während des Studiums eine gewisse Zeit lang bei. Seine Hauptsportart ist jedoch das Laufen, das er wie folgt einführt: E:
I: E:
JA vielleicht äh dieses Rumrennen vielleicht ist das auch so ein roter roter Faden, so dass das für mich immer mich spannend war. Ich mein zur Schule mussten wir natürlich zu Fuß gehen zwei drei Kilometer. Hm. Da wurde auch nicht, das wurde nicht diskutiert, dass man das anders machen würde
Zunächst wird das „Rumrennen“, wie es der Erzähler selbst nennt, als eine attraktive, eben spannende Tätigkeit dargestellt. Man assoziiert eine Freiwilligkeit mit diesem Tun. Dieser Eindruck wird jedoch sofort eingeschränkt durch die anschließenden Erläuterungen, die verdeutlichen, dass es zu bestimmten Gegebenheiten – hier dem Bewältigen des Schulweges zu Fuß – keine Alternativen gab. Darüber hinaus spielt der Erzähler auf die damalige Umgangsweise mit Kindern im Vergleich zu heute an: Es ist nicht diskutiert, sondern angeordnet, bestimmt und verfügt worden. Ähnlich wie bereits oben beschrieben, wird hier eine idealisierende Umdeutung bestimmter Ereignisse vorgenommen. Denn es ist sicher etwas anderes, freiwillig und selbstgewählt durch die Natur zu streifen als der räumlichen Enge der elterlichen Wohnung zu entfliehen oder den Schulweg selbstverständlich zu Fuß zurücklegen zu müssen. Den ersten Kontakt mit dem Laufen als leichtathletische Disziplin und zum Handball hat Rudolf Hinze dann im Internat bekommen. Beide Sportarten führt er weiter, wobei seine Spezialisierung schließlich zu einem leistungssportlichen Engagement auf der Mittelstrecke geführt hat. Handball spielt er zunächst auch während des Studiums noch weiter in seiner Heimmannschaft. Dies sind dann die letzten regelmäßigen Kontakte zu seinem Heimatort. Die Möglichkeit, sich auf Sportfesten hervorzutun und gleichzeitig andere Orte und Menschen kennen lernen zu können, bildet für Rudolf Hinze ebenso den Reiz des Sports, wie auch die Möglichkeit, sich ohne Zwang ausleben zu können:
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 129 E:
Aber das war von daher schon so ein bisschen anders. (P/3) Ja die (P/5) Ja, auf dem Internat gab’s natürlich auch sehr strenge Heim- und Ordnungsregeln – und insofern war da der Sport auch wieder so ein roter Faden, der auch ne gewisse, gewisse Ausflucht einem brachte oder ne Abwechslung, nich?
Der Sport erfüllt für Rudolf Hinze einerseits die Möglichkeit, sich Selbstbestätigung und Respekt in der Gruppe der Gleichaltrigen zu verschaffen; er dient darüber hinaus aber andererseits auch immer wieder dem Entkommen aus zu ‚engen’ Lebensbedingungen, dem Entfliehen aus der Fremdbestimmung, die seine Ausführungen zur Kindheit und Jugend dominieren. Dennoch wird deutlich, dass der Erzähler in Bezug auf seine Kindheitserfahrungen ganz allgemein nicht die Position des Anklägers einnimmt; vielmehr steht er diesen Erfahrungen sehr distanziert gegenüber und nimmt allenfalls die Position eines Richters ein. Denn er urteilt letztendlich doch, zumindest implizit, über die Erziehung, die er im Sinne „schwarzer Pädagogik“ (Rutschky, 1997) erduldet hat. Über den Dingen und aus einer reflexiven Distanz heraus wird die Kindheit rekapituliert und vermeintlich objektiv bewertet. Diese Haltung einnehmen zu können, kann als Hinweis auf eine Umdeutung bestimmter Erfahrungen im Laufe des Lebens verstanden werden. Die Position, die Hinze zu seiner eigenen Kindheit und Herkunft vertritt, verweist auf zeitliche aber auch emotionale Distanz zum Erlebten. So kann vermutlich Schmerzhaftes in der Retrospektive durchaus als sinnhaft und nützlich bzw. ‚gut’ umgedeutet werden. Aus der Last wird eine Ressource für die weitere Gestaltung des biographischen Projekts, weil Fremdheitsgefühle Distanzierung ermöglichen, die neue Positionierungen durch Reflexionen erlauben. Das Verhältnis zwischen diesem biographischen Wissen und der beruflichen Praxis als Sportlehrer kann als dialektisches charakterisiert werden. Ausführungen über heutige Kindheit usf. dienen der Absicherung und argumentativen Stützung der eigenen Haltung.
4.1.2 Wehrdienst und Berufswahl: Fremdbestimmte Entscheidungen Den nächsten biographischen Abschnitt markiert Rudolf Hinze thematisch durch die Teilnahme am Wehrdienst, den er Anfang der 1969/70 vor Aufnahme des Lehramtstudiums in M-Stadt absolviert: E:
--- Bundeswehrzeit --- auch aus heutiger Sicht ein bisschen --seltsam kommt mir das vor, dass ich die Bundeswehr gemacht hab.
130
4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien I: E:
I: E I: E:
I:
Hmhm. Ich hab dann in den achtziger Jahren nachträglich verweigert. Äh ja üblich war es nich den Wehrdienst aus Gewissensgründen zu verweigern, sondern man hat sich eben die anderen sich Cola vorher reingezogen, so dass es Herzrasen brachte, dass das die untersuchenden Ärzte nicht wussten, kommt mir heute noch komisch vor. Hm Und die wurden dann untauglich geschrieben und kamen freudestrahlend zurück, nich. Hm. Und ich dachte irgendwie –- so ist es ja auch nicht richtig und so bin dann so da reingeschlittert aber –- also das ist so auch noch (...) gut man hat auch gelernt wie wie machthungrig und wie hierarchisch geordnet so manche Menschen sind aber ansonsten aber diese Zeit hätte ich –- also noch besser als auf die Internatszeit verzichten können, würde ich sagen, ne. Hm.
Die Tatsache, den Wehrdienst abgeleistet zu haben, verursacht bei Rudolf Hinze in der Retrospektive ein Fremdheitsgefühl sich selbst gegenüber. Es handelt sich um eine Zeit bzw. eine Entscheidung, die zu ihm aus seiner heutigen Perspektive nicht passt. Die negativen Gefühle, die er mit dieser Zeit verbindet, führen zu Konsequenzen im Handeln – nämlich zur nachträglichen Verweigerung des Kriegsdienstes. Mit dieser nachträglichen Verweigerung positioniert der Erzähler sich und grenzt sich von der Teilnahme am Wehrdienst ab. Er manifestiert damit seine Wertvorstellungen und moralischen Positionen und legt quasi Rechenschaft ab. Zum damaligen Zeitpunkt konnte Rudolf Hinze keine akzeptable und mit seinen Moralvorstellungen zu vereinbarende Lösung für die biographische Problemlage der Teilnahme am Wehrdienst ausmachen. Er distanziert sich damit auch von jenen, die die Teilnahme am Wehrdienst mit unlauteren Mitteln umgangen haben. Eine kreative Lösung für das Problem findet er zu diesem Zeitpunkt nicht und muss daher seiner Ansicht nach den Anforderungen Folge leisten. Diese lebensgeschichtliche Erfahrung des Wehrdienstes lässt sich zwar nicht rückgängig machen, es lässt sich jedoch nachträglich ein ablehnender und selbst bestimmter Standpunkt zu der fremdbestimmten Teilhabe einnehmen. Dies wird nicht im ‚stillen Kämmerlein’ vollzogen, sondern bewusst in der Öffentlichkeit. Die Lebensgeschichte lässt sich für Rudolf Hinze also nicht umschreiben, aber es lassen sich nachträglich andere Perspektiven auf bestimmte Erfahrungen entwickeln, die Handlungen nach sich ziehen: Neue Möglichkeiten haben sich ergeben, die ihm zumindest nachträglich eine integere Möglichkeit der Ableh-
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 131 nung bieten. Im biographischen Prozess ist dies ein Ort, an dem Rudolf Hinze wieder einmal seinen Standpunkt deutlich formuliert und sich, wie es oben bereits genannt worden ist, ‚neu erfinden’ kann: Rudolf Hinze ist zum Zeitpunkt der nachträglichen Verweigerung ein anderer geworden als jener, der den Wehdienst absolviert hat und der Erzähler von heute ist wiederum ein anderer. Hiermit ist natürlich nicht gemeint, dass es sich um drei unabhängige Individuen handelt. Vielmehr geht es darum, zu veranschaulichen, wie im biographischen Werden Erfahrungen und biographische Wissensbestände verhandelt werden (können) und wie durch derartige Reflexionsprozesse gelernt werden kann. Die Aussage, dass Rudolf Hinze auf diese Zeit noch besser hätte verzichten können als auf die Zeit im Internat, hebt sie in den Rang der biographisch schlimmsten Zeitspanne, im Sinne von größt möglichem Fremdheitserleben. Eine inhaltliche Entfaltung findet dennoch nicht statt. Die einzige Ergänzung ist, dass die Bundeswehr auch nach der Wehrpflichtzeit immer wieder auf Rudolf Hinze als Ausbilder zurückgekommen ist. Dies stellt somit den Gipfel der Absurdität da: Als Ausbilder in und für ein System tätig sein zu müssen, das man aus voller Überzeugung ablehnt! Das Maß an Fremdbestimmtheit und Fremdheitsgefühlen ist hier maximal. Es gibt keine Alternativen zur Unterwerfung unter die ‚machthungrige Hierarchie’ (siehe Zitat oben). Fremdbestimmtheit bedeutet in diesem Fall, sich sehenden Auges unterwerfen zu müssen. Wobei der retrospektivischen Verzerrung dabei Rechnung getragen werden sollte. Heute ist der analytische Blick des Erzählers auf Grundlage der weiteren Lebenserfahrungen sicher ein anderer als jener des damals 20jährigen Rudolf Hinze. Im Gegensatz zu dieser Dimension von Fremdbestimmtheit gibt es auch jene, die erst nachträglich vom Erzähler als solche identifiziert wird. Sie trifft z. B. bei der Berufswahl zu: E:
I: E:
I: E: I:
Und –- habe –- dann angefangen ja und äh so –- Anfang 1970 bin ich dann hierhin nach M-Stadt --- Lehrerstudium, ich würde auch sagen so richtig drüber nachgedacht was man werden wollte, hat man nicht. Die meisten wurden Lehrer, weil’s eben so war. Hmhm. Und die aus ---so in so_ aus sogenannten besseren Häusern kamen, die wurden dann (vielleicht?) Ärzte oder Rechtsanwalte oder Rechtsanwälte. Hm. So nachträglich seh ich das so. Hm.
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Die Entscheidung zum Lehramtsstudium wird an dieser Stelle der biographischen Erzählung nicht als eine solche konstruiert. Vielmehr stellt der Erzähler diese ‚Wahl’ als einen Weg ohne Alternativen dar. Der Lehrberuf wird quasi unreflektiert und ohne Entscheidungsprozess angestrebt. Die kategoriale Vergleichsebene ‚früher – heute’ wird hier auf der Reflexionsebene thematisiert, wobei die heutige Sicht auf das Damalige hervorgehoben wird. Hier decken sich Rudolf Hinzes Beschreibungen mit den Ausführungen Hermanns in einer historischen Rückschau zur Professionalisierungsdebatte im Lehrberuf: „Interessent/inn/en für diesen Beruf rekrutieren sich nur selten durch elternhäusliches nachahmenswertes Vorbild (anders als z. B. Mediziner und Juristen), so daß der Berufsstand, der sich als Aufsteigerberuf im Wesentlichen aus der unteren Mittelschicht bzw. dem mittleren Bildungsbürgertum rekrutiert, eine wenig ausgeprägte Berufskultur entwickeln konnte; Aspirant/inn/en werden nicht konsequent mit einer Berufswahlentscheidungsüberprüfung konfrontiert…“ (2000, S. 18f., Hervor. i.O.).
Von Interesse für die vorliegende Arbeit ist m. E. insbesondere die Erwähnung einer wenig elaborierten Berufskultur. Denn es stellt sich die Frage, wie sich ein Bild dieses Berufes bei den Erzähler/innen entwickelt hat. Die Grundlage können bis zu diesem biographischen Moment nur die eigenen Schulerfahrungen – also als Schüler/in – sein, da andere Zugänge nicht existierten. Wissenswert ist dabei, dass sich in dem vorliegenden Sample keine Sportlehrer/in befindet, der/ die aus einem Lehrerelternhaus stammt. Dies wäre für weitergehende Untersuchungen im Anschluss an diese Arbeit eine weitere interessante Forschungs– und Vergleichsperspektive. Auf Rudolf Hinze bezogen verdeutlicht sich erneut die biographisch ‚dringliche’ Perspektive, immer wieder einen neuen Standpunkt zu definieren. Er selbst ‚sorgt’ durch die Konstruktionslogik seiner Erzählung für die sehr explizite Form, in der er diese Notwendigkeit offen legt. Der permanente Vergleich zwischen früher und heute verweist auf das Bild von Schule, Unterricht und Lehrer/innen, das Rudolf Hinze als biographisches Wissen aus seiner eigenen Schulzeit mitbringt. Seine eigenen Vorstellungen zu diesen Bereichen werden offenkundig in den Beschreibungen. Ein humaner Unterricht mit Achtung vor den eigenen Schüler/innen usf. wird erläutert. Dennoch sieht Rudolf Hinze seine eigenen Überzeugungen in Kollision mit der heutigen Jugend und ihrem „Mangel an Wertvorstellungen“ (vgl. hierzu bereits oben, aber auch im folgenden Kapitel). Dieser ist ihm völlig fremd und bleibt für ihn auch unverständlich. Wenn nun davon auszugehen ist, dass Rudolf Hinzes Bild des Lehrberufes auf biographischem Wissen aus seiner eigenen Schulzeit basiert, dann ist es wenig erstaunlich, dass er im theoretisierenden Nachfrageteil des Interviews wie folgt antwortet:
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 133 I: E: I: E:
I: E:
I: E:
I:
und wenn ich Sie jetzt so - fragen würde ähm haben Sie eine Idee davon warum Sie Sportlehrer geworden sind? ja noch mal so insgesamt so ja so - - genau ja Sport und Lehrer müsste man vielleicht dann doch trennen – äh - Lehrer habe ich schon so gedacht dass ich es auch mal besser machen will als meine Lehrer zu einem großen Teil mhm und Sport - lehrer weil ich eben ja auch selber daran Spaß hab und hatte an Bewegungen aller Art auch an – an neuen Dingen und äh - weil ich auch glaube dass so Bewegung Körper und Geist zusammengehört auch für Schüler zusammengehört mhm für mich auch Körper und Geist zusammengehört und weder das eine noch das andere vernachlässigt werden soll es gehört beides zum Menschen dazu und insofern finde ich das eigentlich - nach wie vor ne optimale Sache mit den ganzen Einschränkungen die ich auch genannt habe mhm
Zwei Komponenten enthält dieser Ausschnitt. Zunächst wird augenfällig, was bereits im Vorfeld angedeutet werden sollte: Wenn das biographische Wissen über Schule und Unterricht bei Rudolf Hinze ein vorwiegend negativ behaftetes ist, so ist die Motivation, es einmal besser machen zu wollen als jene Lehrer/innen, die der Erzähler selbst in seiner Kindheit hat ertragen müssen, wohl die nahe liegende und allgemein einer der häufig genannten Gründe für die Berufswahl. Aus professionalisierungstheoretischer Perspektive ist dies ein durchaus reflexionsbedürftiges Motiv, da der Ausgang von sich selbst und den eigenen Bedürfnissen als Schüler/in handlungsleitend werden und so möglicherweise den Blick auf andere Deutungen von Situationen und Kontexten verstellen kann. Die zweite Komponente zielt auf die Fächerwahl ab, wobei für die vorliegende Arbeit insbesondere die Entscheidung für das Fach Sport von Interesse ist. Die allgemein gängigste Begründung, das Hobby zum Beruf gemacht zu haben (vgl. Baillod & Moor, 1997), führt Rudolf Hinze hier zunächst nicht an. Vielmehr bezieht er sich hier auch wieder auf eigene biographische Wissensbestände und auf sein darauf fußendes Menschenbild.74 Darüber hinaus beginnt Rudolf Hinze in dieser Lebensphase mit seinem leistungssportlichen Engagement im Bereich der Mittelstrecke. Erstmals absolviert er während des Wehrdienstes und, wie er betont, trotz des körperlich harten 74
Auf die angesprochene Einschränkung wird im Unterkapitel zur ‚freien’ Berufstätigkeit eingegangen.
134
4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Alltags dieser Zeit, ein geplantes Wintertraining, das sofort den Effekt einer deutlichen Leistungssteigerung zur Folge hat. Die Faszination des erarbeiteten Erfolges wird auch im sportlichen Bereich wirksam. Aus der Fremdbestimmtheit und Fremddisziplinierung seitens der Schule und seitens des Elternhauses entwickelt sich, wie oben aufgezeigt, eine bestimmte Arbeitsmoral, die sich eben durch strenge Disziplin und Askese auszeichnet und keinen Platz für die üblichen Zerstreuungen und Amüsements der Jugend bereit hält. Das Aufstiegsmotiv wird hier nicht als ‚Kampf’ oder ‚Leidensweg’ konstruiert, um nur einige gängige Varianten zu nennen. Hier besteht es in einem permanenten Arbeitsprozess, der sich durch hohes persönliches Engagement, Verzicht und Disziplin auszeichnet. Aus der Fremddisziplinierung wird eine Selbstdisziplinierung im Sinne einer Verinnerlichung des gerade beschriebenen Prinzips. Aus dem Befremdlichen wird nun ein Identifikationsangebot. Auf diese Weise wird biographisches Wissen in eine Handlungslogik (hier: Konstruktionslogik) überführt. Rudolf Hinze hat also aus diesen Erfahrungen biographisch gelernt. Die mit dem Aufstiegsmotiv verbundene Distanzierung zum Herkunftsmilieu beginnt zwar bereits mit dem Besuch des gymnasialen Internats, wird aber durch die Berufswahl und das damit verbundene Studium in einer weiter entfernten Stadt sowohl räumlich als auch gedanklich forciert.
4.1.3 Studium als Ausgang aus der Fremdbestimmtheit: ‚Die andere Welt’ Rudolf Hinze nimmt Anfang der 1970er Jahre in M-Stadt das Lehramtsstudium für die Fächer Sport und Sozialwissenschaft für die Sekundarstufe I auf. In diese Lebensphase wird jedoch nicht durch die Beschreibung des Studiums als solches eingeleitet. Der Erzähler führt vielmehr die im Zusammenhang mit dem Wehrdienst aufgegriffene Thematik des ersten systematischen Wintertrainings und den damit verbundenen Erfolgen weiter: E:
I: E:
(P/4) JA. Und dann so sportlich ging’s dann sehr bergauf gleich. Das hat mich auch dann auch weiterhin gereizt. So im Mittelstreckenbereich. Also alle ich, sagte ja schon im Vorgespräch alle diejenigen die mich kennen und die jemals dieses Interview lesen oder so oder irgendwie, die wüssten dann natürlich sofort äh wer ich bin. Das ist aber auch nicht so schlimm. Hm. Weil, es gibt ja nicht so viele davon die dann so sagen wir mal so bis zur Niedersachsenmeisterschaft oder Norddeutschenvi-
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 135
I: E:
zemeisterschaft gekommen sind. -- Deutsche Meisterschaft auch mal teilgenommen. Hmhm. -- Ja das hab ich dann auch relativ intensiv auch während der Studienzeit betrieben und das war immer ne sehr gute Sache. -- Ein ganz netter Ausgleich --- zum Alltag. Da (P/7)
In diesem Interviewausschnitt wird erneut von Zugehörigkeit (hier: erkannt zu werden) gesprochen. Sportlicher Erfolg führt zu Wohlgefühl, das ansonsten nur selten in der lebensgeschichtlichen Erzählung Rudolf Hinzes zu finden ist. Insgesamt ist das sportliche Engagement Rudolf Hinzes während des Studiums ein eindeutig erfolgsorientiertes und leistungssportliches, mit dem Ziel, im Wettkampf auf relativ hohem Niveau, Siege zu erringen. Die Arbeitsmentalität, die er sich während der Schulzeit hat zulegen müssen, kann er nun ebenso in den sportlichen Bereich einbringen. Ähnlich wie in der Schulzeit, gelingt es ihm auch hier, durch diszipliniertes Arbeiten, seine Ziele zu erreichen. Diszipliniertes Üben, Lernen bzw. Trainieren bringen also den gewünschten Erfolg. Erfolg ist etwas Machbares, das selbst herbeigeführt werden kann! Die Funktion des Sports „sich hervor tun“ zu können, mit anderen Worten Selbstbestätigung und ein daraus resultierendes gehobenes Selbstwertgefühl zu erlangen, wird hier erneut betont. Es gibt in Rudolf Hinzes lebensgeschichtlicher Erzählung sozusagen ein Erfolgsprinzip, das die harte Arbeit vor das Ernten der Lorbeeren stellt, diese aber durch persönliches Engagement in greifbare Nähe rückt – man muss sich nur genug bemühen! Aus der vormaligen Fremdbestimmtheit und Fremddisziplinierung wird in dieser Lebensphase Selbstbestimmtheit, Identifikation und Integration, die sich mit der freien Lernweise des Studiums nahezu grenzenlos ausleben lassen. Aus der Fremddisziplinierung während der Kindheit wird Selbstdisziplinierung, um möglichst effizient und erfolgreich die Früchte dieser neuen Freiheit und Weite zu ernten. Auch hier nimmt Rudolf Hinze seine Darstellungsform über Kontrastierungen (insbesondere früher – heute bzw. die Kindheit früher – die Kindheit heute) wieder auf. Seine Arbeitsmentalität sei eben eine ganz andere als jene, die er in der Schule heute manchmal vorfinde: E: I: E:
Komm ich heut nicht komm ich morgen, warum soll ich mich anstrengen, ne. Hm. Krieg ich ja auch so. Is ja auch so zum Teil heute. – JA
Seine eigenen biographischen Erfahrungen sind in diesem Sinne nicht kompatibel mit dem, was er in der Schule heute wahrzunehmen meint. Die Haltung ‚der
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
heutigen Jugend’ bleibt ihm fremd und unverständlich, was sich auch in weiteren Ausführungen zum Berufsalltag widerspiegelt, die im entsprechenden Kapitel intensiver diskutiert werden. Dabei reflektiert Rudolf Hinze nicht, dass sich hier der gleiche Generationenkonflikt zeigt, wie er ihn selbst in Beziehung zur älteren Generation erlebt hat. Mit der Aufnahme des Studiums schreitet, wie bereits beschrieben, die Distanzierung zum Herkunftsmilieu fort. Der Sport bildet jedoch noch eine konstante Verbindung zu dieser ‚engen Welt’: E:
I: E:
I: E:
I:
Ja und dann so nebenbei hab ich auch noch um den Kontakt auch nach Hause auch noch zu halten so Handball gespielt in (...) am Wochenende. Hmhm. Hab ich noch so -- (halt) nebenbei gemacht, -- weil mit der Kondition war ich immer auch gut äh gefragt zu schnellen Gegenstößen und sechzig Minuten durchspielen. ((lacht)) Das konnt ich dann natürlich. --- Ja (P/6) Ich hatte also im Grunde dann noch vor allem durch den Sport auch relativ Kontakt zur Heimat so gehalten, weil das ja auch dann nicht so weit weg war, so am Wochenende war ich relativ oft auch zu Hause. Aber war auch ganz froh, dass ich nicht mehr zu Hause wohnen musste oder auch wenn ich hätte weg wollen dann auch meine Bude gehabt hätte. Es war ja auch nicht mehr diese Enge wie vorher also --- Das war dann eher mal so ne Abwechslung dann noch. Hm.
Der mehrperspektivische Freiheitsgewinn des Erzählers durch das Studium wird hier sowohl räumlich als auch gedanklich aufgegriffen. Die Enge herrschte vermutlich nicht mehr, weil seine Geschwister vielleicht ebenfalls das elterliche Haus verlassen haben. Möglicherweise herrschte diese Enge aber auch deshalb nicht mehr, weil der Erzähler selbst in eine Distanz dazu getreten ist. Allein die Sicherheit, eine andere Bleibe in der ‚Freiheit’ zu haben und sich jeder Zeit dahin zurückziehen zu können, gibt ein Gefühl von weniger Enge. Auch hier stellt Rudolf Hinze sein Bild der heutigen Jugend als Kontrast zu seinen eigenen Erfahrungen dar. Er reflektiert zu dieser Thematik explizit im Rahmen lebensgeschichtlicher Erfahrungsräume und ihrer Bedeutung unter einer Generationsperspektive:
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 137 E:
I: E:
I:
--- Aber (P/3) Ja heutzutage -- wollen die jungen Leute ja oftmals zu Hause bleiben und sagen ach warum soll ich von zu Hause weg habe ich doch ne gute billige Wohnung, ne ((lacht)) Hmhm ja. Wird mir noch manches andere geboten. Also das ist auch von der Lebensgeschichte her –- was sehr äh Differentes zur zur damaligen Zeit. Also denke ich das ging doch eher sehr vielen so wie mir, dass die sich freuten auch äh von zu Hause weg zu sein, weil so diese Art von Offenheit da ja doch nicht da war. Hm.
Bereits hier wird deutlich, dass sich Rudolf Hinze im historischen Kontext seiner Zeit versteht. Früher ist nicht heute, Lebensbedingungen haben sich gewandelt. Damit einhergehen bestimmte generational geteilte Erfahrungshintergründe.75 Die heutigen Einstellungen und Sichtweisen bleiben ihm fremd, was sich erneut im ironischen Lachen als Kommentierung seiner Ausführungen zeigt. Der damalige Zeitgeist im Zuge des Aufbegehrens um 1968 ist auch an der Uni in M-Stadt zu spüren. Rudolf Hinzes Freiheitsgewinn ist in der räumlichen Metapher symbolisiert, deutlicher wird jedoch, was darunter zu verstehen ist, betrachtet man die weiteren Schilderungen aus Rudolf Hinzes ‚Studentenleben’. Das studentische Leben ist z. B. geprägt von Streiks und dem Ziel, eine paritätische Beteiligung der Studierenden an allen Hochschulgremien zu erwirken. E: I: E:
I: E: I: E:
75
Und -- ich hab dann natürlich mir auch, weil das alles frei war und das war je alles repressiv damals ((lacht)) was Hmhm. mit den Studenten geschah. Es wurde natürlich sämtliche Testate abgeschafft und=e – Lehrende trauten sich in den Jahren so was auch gar nicht mehr so was zu fordern. Hmhm. Also die waren auch -- also so ein bisschen in der Abwarte - haltung. Hm. Viele jedenfalls. Viel ham aber auch mit uns sympathisiert natürlich und auch als Lehrende da mitgemacht. Das war also
Dieser Begriff geht auf Rosenthal (1997, S. 58) zurück, die eine „interaktionelle Konstitution von Generationen“ in ihrem Generationenkonzept vertritt. Dabei definiert sie Tradierungsprozesse zwischen den Generationen weniger auf der Ebene konkreter Inhalte, sondern auf der Ebene kommunizierbarer Erfahrungen. Eine Gruppe von Personen kann als Generation „aufgrund ihres geteilten Erfahrungshintergrunds bestimm(t)“ werden (ebd). Eine ausführliche Diskussion des Generationskonzepts und der Rekonstruktion von Generationen im Kontext biographischer Forschung findet sich bei Thon (2006, S. 63ff.).
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I: E:
eine sehr schöne Atmosphäre. Und für mich war es gut, für viele andere gar nicht. Hm. Die ham nix gemacht.
Die damit verbundene „Freiheit des Lernens“ ist für Rudolf Hinze ein starker Impuls, der ihn unter anderem dazu bringt, sein bisheriges Leben zu reflektieren und – wie er selbst es ausdrückt – aufzuarbeiten. Darüber hinaus führt der Erzähler hier eine weitere Kontrastierung ein, indem er sich und „viele andere“ gegenüberstellt. Endlich selbstbestimmt über seine Lerninhalte entscheiden zu können, motiviert Rudolf Hinze und lässt ein großes Aktionspotential bei ihm entstehen. Er bezeichnet sich selbst als „lernbegierig“, was sich in einer geradezu überschwänglichen Lernweise äußert. Sogar am Wochenende habe er sich etwas zum Lernen mitgenommen und frei nach seinen Interessen Bücher aus Versandbibliotheken bestellt. Im Kontrast dazu führt Rudolf Hinze eine Vielzahl von Studierenden an, die er – wenn er denn mal dort ist, was äußerst selten ist – in einer bestimmten Kneipe antrifft. Er selbst jedoch geht völlig im Studieren und Trainieren auf. Seine Lernbegierde geht soweit, dass er sich selbständig mit verschieden Reformpädagogen der 1920er Jahre befasst und sie zur Grundlage für die Aufarbeitung seiner eigenen Kindheits- und Schulerfahrungen macht. Rudolf Hinze versucht, sein Fremdheitserleben zu begreifen und nimmt das Identifikationsangebot, das sich im Studium bietet, an. Er fühlt sich in dieser Umgebung erstmals – wenn auch nicht im Mainstream – integriert und kann aktiv handeln. Die aktive Aneignung von differenten Perspektiven nutzt er zur ‚Horizonterweiterung’, die zu reflexiver Distanz führt. Es eröffnet sich eine völlig neue, andere Welt für Rudolf Hinze, der sich selbst zunächst als „aus diesem Provinzmief, sehr konservativ herkömmlich denkend“ beschreibt. Die Pädagogik, die ihm dort begegnet, charakterisiert er wie folgt und setzt sie mit seinen eigenen Erfahrungen in Beziehung: E: I: E:
I: E:
Also mit viel mehr Offenheit, –viel mehr Menschenfreundlichkeit und Menschenliebe und Hm. JA auch mit viel mehr Produktivität dadurch und DAS hat mir sehr gefallen. Ich habe - dadurch auch ein bisschen -- mehr über mich selber erfahren und wies vielleicht auch anders geht, ha – ja oder wie ich’s vielleicht auch meinte oder so. Und=e das hat mich hab ich begierig aufgesogen. Hm. Das war eine ganz neue Welt und ich hab mich damit auch distanziert von meiner - anderen Welt also häuslich und häus-
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I: E: I: E:
I:
lich auch. Natürlich war es v_ schon von den Kinderzahlen und das es gar nicht groß um Erziehung ging oder –- was man so macht sondern es ging schlicht ums Überleben. Ja. -- Nich. Das war ein großer Garten da musste gearbeitet werden, Tiere, das ging alles darum das musste (wohl?) sein, ne. Hm. Und äh (P/4) das äh – ja das war dadurch auch eben alles sehr viel strenger au_ auch elterlicherseits sicherlich. – Und JA damit hab ich mich auch von all dieser Welt so ein bisschen verabschiedet innerlich. Hm.
Der Umbruch in Rudolf Hinzes lebensgeschichtlicher Konstruktion wird also hier auf den Punkt gebracht. Die innerliche Abkehr vom eigenen Herkunftsmilieu und den eigenen Schul- und Erziehungserfahrungen wird besonders deutlich in den Ausführungen zu seinem humanistischen Menschenbild und den damit verbundenen Bildungsidealen. Diese stehen in direktem Zusammenhang mit Rudolf Hinzes Arbeitsmoral und den oben beschriebenen Prinzipien. Auf diese Weise wird ihm erstmals eine richtige Positionierung im Sinne eines eigenen grundsätzlichen Standpunktes möglich. Das Studium ermöglicht Rudolf Hinze eine tiefgreifende Einsicht: E:
I: E:
Also a_ und dann merkte ich eben, dass es da aber auch noch an_ eine andere Welt immer schon gegeben hatte, außerhalb von uns, die anders dachte und anders auch groß geworden Hmhm. war und anders handeln konnte.
Die ‚enge Welt der Kindheit’ ist mit der ‚anderen, weiten Welt des Studiums’ und dem daraus resultierenden Reflexionspotential nicht vereinbar. Der Ausbruch aus der ersten Welt, der ja im Aufstiegsmotiv bereits angelegt ist, führt zu der Notwendigkeit oder aber auch zur Möglichkeit, ‚sich neu zu erfinden’, wie es bereits oben ausgeführt worden ist. Denn wenn alte Werte ihre Gültigkeit verlieren, müssen neue Gültigkeiten geschaffen werden, um eine Orientierung im sozialen Raum sicherzustellen. Rudolf Hinze erzählt, dass ihn diese Erfahrungen und Erkenntnisse politisiert haben, was sich später auch in seinem lokalpolitischen Engagement ausdrückt. Die nachträgliche Verweigerung sei hier noch einmal als Symbol für diesen Umbruchsprozesses angeführt. Die Fremdbestimmtheit und Enge der Kindheit lässt er hinter sich, aber dennoch fließt das biographische Wissen aus dieser Lebensphase in die Konstruktion der heutigen Sichtweisen ein und führt
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zu einer teilweisen Annäherung, wenn man bestimmte Ausführungen zur Disziplinlosigkeit der heutigen Jugend näher betrachtet (vgl. oben). Eine weitere Einschränkung dieser Distanzierung zum Herkunftsmilieu bzw. die tiefe Verwurzeltheit bestimmter biographischer Wissensbestände lässt sich in den Beschreibungen zur Studiendauer und zur Art des Studienabschlusses erkennen. E:
I: E:
I: E:
I: E: I: E: I: E: I: E: I:
Ich hab also mein, muss ich noch vorausschicken --- mein Examen ganz gut gemacht auch hab ja auch gut gelernt und hab auch gutes Examen gemacht. ((räuspert sich)) Und hab dann 1973 nach dem Regelstudien nach der Regelstudienzeit die selbstverständlich auch von mir nicht überschritten wurde Hmhm. nich . Das steckte ja doch tief in mir drin ordentlich, fleißig, beharrlich und es BRINGEN ne – müssen. Also vielleicht auch Hmhm dieser eine Spruch als dann -- meine LEHRER sagten ich sollte zum Gymnasium, so weit wollte mein Vater ja nun doch nich gehen. Da hieß es dann –- aber von meinem Vater, dass war ja auch wieder das Gefühl der Minderwertigkeit also wenn du’s nicht schaffst, kommst du runter. Das hatte er irgendwo: Hmhm. so gehört. Und (...) von nem Arzt oder Rechtsanwalt als Väter wäre so was nie gekommen in seinem Leben. Ja. Die schickten die bis zu irgendeinem Internat privater Art und die –- sah man dann im Studium auch wieder. Die alle lange Ja. vorher sitzen geblieben waren, ne. Hm. Aber – das war natürlich auch ne innere Spannung die dann auf einem lastete es dann auch schaffen zu müssen ne. Ja.
Die Äußerung zum selbstverständlichen Einhalten der Regelstudienzeit wird von Rudolf Hinze mit deutlich ironischem Unterton hervorgebracht und leitet direkt über in selbstreflexive Überlegungen zum Zusammenhang zwischen eigenen Verhaltensweisen und dem ‚Erzogen sein’. Die Ausgangsbedingungen für das Studium und insgesamt den Bildungsweg werden noch einmal kritisch und erneut in Abgrenzung von ‚den anderen’ dargestellt. Es deutet sich an, dass die Distanzierung vom Herkunftsmilieu bzw. der Familie eine eingeschränkte ist. Denn viele Prinzipien sowie biographische Wis-
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 141 sensbestände, auf die Rudolf Hinze bei der Skizzierung seiner ‚Sicht der Welt’ bezieht, sind in diesem Bereich angesiedelt und erworben. Exemplarisch sei hier auf die Arbeitsmoral verwiesen. Ein weiteres Beispiel, das der Erzähler selbstreflexiv anführt, ist die Tatsache, dass er den höheren Studienabschluss für das Gymnasium nicht ablegt, obwohl dies nach seiner eigenen Einschätzung sehr leicht gewesen wäre: E:
I: E: I: E:
I: E:
(P/4) Ja es waren nur – ähm ich war ja also, ich hatte den Abschluss für die Realschule gemacht. Vielleicht auch was Typisches ich hätte nun damals nach den damaligen Bestimmungen ein Semester länger studieren müssen, dasselbe Examen gemacht und dann irgendwie so en nachweislich und vielleicht typisch für den Hochschulbetrieb Uni, so ein lächerliches Philosophikum machen müssen Hm also eine nachweislich sehr einfache Prüfung über irgendein pädagogisches Thema oder was. Ja. Dann hätte ich den hätte ich an Gymnasien unterrichten können, aber vielleicht war da innerlich auch noch so ein so ein bisschen da -- na Schuster bleib bei deinen Leisten, jetzt bist=e schon sehr weit gekommen jetzt reicht’s aber auch, ne. Hm Hm. Also dass man im Denken sich auch selber so ein bisschen beschränkt hat, sage so sag ich das mal.
Bisher spricht Rudolf Hinze nur in Bezug auf seinen Vater von einer eingeschränkten Perspektive, was den Bildungsgang des Sohnes angeht. Der Vater steht dem Besuch des Gymnasiums ablehnend gegenüber, obwohl er ja derjenige ist, der dafür sorgt, dass sein Sohn einen höheren Bildungsabschluss anstreben kann als den Volksschulabschluss. Es ist schließlich dem Engagement eines Lehrers zu verdanken, dass Rudolf Hinze dennoch auf das Gymnasium geht und so den Zugang zum Studium bekommt. Die Denkweise des Vaters spiegelt sich in der Aussage Rudolf Hinzes wider und wirkt wie eine Übertragung dieser Vorstellung, nämlich sich nicht zu weit vor zu wagen, was auch immer genau darunter zu verstehen ist. Die Distanzierung vom Herkunftsmilieu, die der Erzähler selbst immer wieder thematisiert, erfährt hier eine deutliche Einschränkung. Inkorporierte soziale Erfahrung manifestiert sich hier erneut exemplarisch als Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsmuster im Sinne eines Habitus, erzeugt durch gruppenspezifische Bedingungen von Praxisformen, die geregelt und regelmäßig sein können, ohne dass dies auf der gehorsamen Erfüllung von Regeln beruht.
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
4.1.4 Referendariat: Politisierung und Distanzierung Anfang der 1970er Jahre absolviert Rudolf Hinze das Referendariat in einer mittleren Großstadt in Nordrhein-Westfalen an einer innerstädtischen Realschule. Das Referendariat als Lebensphase wird von Rudolf Hinze in der lebensgeschichtlichen Haupterzählung quasi ausgespart. Direkt anschließend an das vorhergehende Zitat wird dieser Bereich folgendermaßen abgehandelt: E: I: E: I: E:
I: E:
Na ja gut dann war’s Hm also (P/4) die Zeit als Lehramtsanwärter im Lehramtsseminar. Waren zwei große Gruppen also sechzig Leute glaub ich. Hmhm. (P/5) Ja und hatte dann eben die Fächer Sport und Sozialwissenschaften als Schulfächer. Die hab ich auch -- von 77 bei der Einstellung bis 1990 unterrichtet an verschiedenen an zwei verschiedenen Realschulen. Hmhm. Bevor ich dann zur GESAMTSCHULE gekommen bin (P/7)
Weitere Ausführungen werden erst später im immanenten Nachfrageteil formuliert. An dieser Stelle der biographischen Haupterzählung leitet Rudolf Hinze hingegen über zu seiner späteren Berufsausübung. Er zeichnet ein detailliertes Bild des Schulalltags aus seiner Perspektive und stellt dabei Kriterien und Inhalte für eine – seiner Ansicht nach – adäquate Lehramtsausbildung zusammen. Dieser Bereich wird im Folgekapitel näher ausgeführt werden. Die Ortswahl für das Referendariat wird wie folgt begründet: I: E: I: E: I: E: I: E:
mhm - - ich würde noch mal einhaken ich habe so ein paar Sachen aufgeschrieben mhm und zwar hatten Sie ja erzählt ähm - dass Sie dann zum Referendariat nach A-Stadt gekommen sind mhm vielleicht können Sie da noch mal den so den Erinnerungsfaden aufnehmen wie das so genau vonstatten gegangen ist wie ich hier hergekommen bin oder was hier lief? mh – beides ruhig wenn es ja – war auch – so ein Wunsch sicherlich sich jetzt äh - so GANZ räumlich äh von dem alten Wirkungskreis - entfernt äh weiterzumachen nicht
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 143 Man kann also sagen, dass die Distanzierung vom Elternhaus bzw. der Kindheitsumgebung Rudolf Hinzes eine angestrebte gewesen ist, die sich in der räumlichen Entfernung widerspiegelt. Hier wird auch erneut die Notwendigkeit und gleichzeitige Chance, ‚sich neu zu erfinden’ bzw. ‚sich neu zu definieren’ deutlich. Rudolf Hinze hat neue Identifikationsmöglichkeiten gefunden und angenommen. In dem neuen Kontext fällt es Rudolf Hinze leicht, bisher Ungelebtes auszuleben und Vergangenes zumindest partiell hinter sich zu lassen. Im Sinne eines Neuanfangs nimmt Rudolf Hinze diese Möglichkeit wahr und gestaltet nun den Kontext aktiv mit. Insbesondere im Studienseminar findet er dazu Gelegenheit, sich zu engagieren: E:
I: E:
- das war so das - - und wie es dann so war – ja in dem Seminar - mhm habe ich eigentlich ganz viel Aktives so gemacht – ich hab auch – ja so gelernt gehabt so etwas selbstbewusster aufzutreten auch ne Art von positiver Abarbeitung so so mhm früher immer nur alles gesagt bekommen und jetzt mal selber so - ein paar Pfähle einpflocken das ist ja auch nicht schlecht
Hinze beschreibt in diesem Lebensabschnitt vorwiegend politische Auseinandersetzungen im Studienseminar. Recht detailliert gibt er Auskunft darüber, wie sich Seminargruppen selbst organisiert treffen und ohne den jeweiligen Fachleiter ihre Seminarsitzungen abhalten wollen. Die Konfrontation mit der Seminarleitung wird dabei als politisch motiviert beschrieben, denn es gehe ja um eine konstruktive Arbeit im Seminar, die in der üblichen Frontalform – ein Fachleiter doziert und 30 Lehramtsanwärter/innen hören zu – nicht möglich sei. Die Notwendigkeit sich in diesem neuen Umfeld zu positionieren wird deutlich. Thematisch ist daher Schule nicht so wichtig; vielmehr geht es um politische Grundhaltungen und Standpunkte zum damaligen Zeitgeist. Als Beispiel für sein politisches Engagement und die Tatsche, dass er sich vom Erdulder zum Anfechter politischer Missstände entwickelt hat, führt Rudolf Hinze seinen Umgang mit dem sogenannten „Radikalenerlass“76 an. Mit diesem Erlass konfrontiert, habe er diesen im Studienseminar auf den Tisch gelegt und gleich dazu ein ausführliches Schreiben mit seinem Standpunkt geliefert. Anschließend habe er zu einer öffentlichen Diskussion im Rahmen des Seminars aufgefordert.
76
Vgl. hierzu Braunthal (1992), der sich unter dem Titel „Politische Loyalität und öffentlicher Dienst: der ‚Radikalenerlass’ von 1972 und die Folgen“ ausführlich mit diesem Erlass und vor allem auch seinen Konsequenzen auseinandersetzt.
144
4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Der ‚neue Rudolf Hinze’ ist ein politisch interessierter und engagierter Mensch, der nun erstmals seine Rechte und Meinungen öffentlich und kompromisslos vertritt. Er hat eine Gruppe Gleichgesinnter gefunden, mit der er sich identifizieren kann und in die er sich integriert. Auch hier wird wieder eine Kontrastierung vorgenommen, die an die grundsätzliche Konstruktionsebene des ‚früher – heute’ anknüpft, obgleich an dieser Stelle der Erzählung das ‚damalige heute’ – eben zur Zeit des Referendariats – gemeint ist und nicht der Erzählzeitpunkt. Auf die Ausbildungsschule und überhaupt die Tätigkeit als Lehrer geht Rudolf Hinze, wie bereits erwähnt, auch in diesem Erzählteil nicht ein. Er schließt die Erzählpassage mit der Rückfrage „ – ja ich weiß nicht ob das die Frage beantwortet, was Sie eben sagten mit dem Seminar“. Die Ausgangsfrage bezieht sich jedoch auf das Referendariat (vgl. oben), so dass die große Bedeutungsbeimessung in Bezug auf das Seminar besonders deutlich wird. Erst eine konkrete Ansteuerung der Ausbildungsschule führt dann zu Konkretisierungen: I: E:
was war denn mit der Schule? /Gab es die auch zu der Zeit? ((lachend))/ ((lachend) ja Entschuldigung ja klar - ich war - an einer Schule da war für mich auch was Besonderes weil sonst immer die Fachseminare über Kreuz - gestaltet waren
Auf die enger fokussierte Nachfrage wird zunächst wieder mit Erzählungen zum Studienseminar entgegnet, bevor dann in eine Beschreibung der Ausbildungssituation der damaligen Zeit eingestiegen wird. Diese wird, wie es sich schon an vielen Punkten gezeigt hat, auch wieder kontrastiv dargestellt, indem die damalige Ausbildungssituation der heutigen gegenüber gestellt wird. Die Behandlung als ‚Lehrling’ durch die älteren Lehrer wird dabei als negativ im Sinne von befremdlich geschildert. Heute sei der bedarfsdeckende Unterricht eine Möglichkeit, dass Referendar/innen mit solchen Schieflagen gar nicht erst in der Weise konfrontiert werden. Darüber hinaus sei damals der Stellenwert von Formalia (z. B. für die korrekte Gestaltung eines Unterrichtsentwurfes) sehr hoch gewesen. Insgesamt erfährt man wenig über die Schule und das Leben an dieser Schule. Es fällt Rudolf Hinze schwer, bei diesem Thema zu bleiben, so dass keine richtige Erzählung folgt, sondern eher in Berichtsform einige wenige Details dargestellt werden, die jedoch immer wieder zu anderen Themen und vor allem theoretisierenden Stellungnahmen führen. Insgesamt erhält diese Zeit eine positive Beurteilung, bleibt jedoch unspezifisch. Einzig der Fachleiter für Sport wird etwas genauer beschrieben:
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 145 E:
I: E:
I: E: I: E:
ja jetzt habe ich sauber wieder abgeschweift also die Schule an der Schule habe ich damals mich eigentlich ganz wohl gefühlt. Es kommt darauf an ob man einen machen lässt mhm und da - durfte ich auch ziemlich viel machen und auch im positiven Sinne über die Schultern geschaut und gesagt so kann man es machen oder so aber der eine Fachleiter in Sport war sehr fähig - hat mich schon ganz schön rangenommen so hat mir was zugemutet mhm aber hat auch - - ja hat mich auch machen lassen mhm so – so auf anderer Ebene wie man es mit Schülern auch versuchen sollte
Rudolf Hinze bemüht sich, die gestellte Frage adäquat zu beantworten und diszipliniert sich mehrfach selbst, zum Thema Ausbildungsschule zurückzukehren. Trotz dieses Ansinnens scheint das Thema aus seiner lebensgeschichtlichen Perspektive einfach nicht gehaltvoll zu sein. Zum gewählten Erzählmodus entlang an dem leitenden Motiv der Differenzerfahrungen scheint diese Lebensphase nicht zu passen. Vielmehr wird die bis dahin recht chronologische Darstellungsform verlassen und auf spätere Zeiten der Berufstätigkeit sowie theoretische Überlegungen zu Schule und Unterricht Bezug genommen. Schule wird so zur Nebensächlichkeit in der Re-Konstruktion des Lebensabschnittes Referendariat. Entgegen der in Kapitel 2.3.1 mit Bezug auf Hericks (2006) und Terhart (2000) formulierten These, das Referendariat sei für die Ausbildung der professionellen Grundhaltung die entscheidende Phase der beruflichen Sozialisation, muss im vorliegenden Fall davon ausgegangen werden, dass die lebensgeschichtlichen Erfahrungen, die bereits vor dem Eintritt in das Referendariat gesammelt worden sind, ganz maßgeblichen Einfluss auf die Perspektive und Ausgestaltung dieser beruflichen Phase ausüben. Lebensgeschichtlich bedeutsam ist das Referendariat in diesem Fall nicht für die berufliche Ausbildung, sondern für die eigene politische Positionierung.
4.1.5 ‚Freie’ Berufsausübung und beruflicher Alltag als Kollision biographischer Wissensbestände mit schulischer ‚Realität’ Wie bereits beschrieben, steigt Rudolf Hinze recht unvermittelt in die Ausführungen zu seiner Berufsausübung nach der Ausbildung ein und bezieht sich auf
146
4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
seine aktuelle Schule, eine Gesamtschule in einem eher ländlichen Umfeld, die dennoch mit den üblichen Problemlagen städtischer Gesamtschulen zu kämpfen hat. Sein erstes Anstellungsverhältnis nach dem Referendariat hat Rudolf Hinze 1977 jedoch an einer innerstädtischen Realschule, die vormals eine reine Jungenschule gewesen ist, bekommen. Rudolf Hinze charakterisiert die Atmosphäre an der Schule folgendermaßen: „Da ging es zum Teil – schon ganz kräftig zur Sache“. Besonders hebt er die Stimmung im Kollegium hervor, die er in negativer Weise als befremdlich erlebt hat. Die Diskrepanz zwischen den alten Lehrern, die z. T. noch am zweiten Weltkrieg teilgenommen haben und den jungen Lehrern mit dem ideologischen Gedankengut der 1968er Zeit, provoziert zwangsläufig Konflikte. Rudolf Hinze konstruiert diese ebenfalls auf der Ebene generationaler Unterschiede in den Erfahrungen. E: I: E: I: E:
I: E:
I: E: I: E:
ein zwei Jahre vor uns waren da noch so 70jährige freiwillig gewesen ne ach so ja - die hatte die Schule glaube ich nicht so angestrengt mhm - muss wohl ja ((lachend)) und da auch nach sehr viel (...) wogegen ich ja so leicht innerliche Aversionen hatte - aus schlechter eigener Erfahrungen so so Kloppereien noch üblich so und das gab dann auch so ganz schöne Risse und Brüche im Kollegium ne mhm wo die sich so langsam so überrollt fühlten kann ich auch irgendwie verstehen so ihr wollt alles anders machen aber es dauerte einige Jahre bis die auch akzeptierten dass wir dafür auch bereit waren was zu geben mhm was einzusetzen - - DAS dauerte einige Jahre mhm erst fühlten die sich nur in ihrer - Position geschwächt WAREN sie sicherlich auch - und das war dann natürlich auch ne Generationenfrage ne?
Vorgänge, wie z. B. das Horchen an der Klassentür der neuen Lehrer sind an der Tagesordnung. Ein Miteinander ist zu Beginn nur in seltenen Fällen möglich. Wie schlecht man als Berufsanfänger auf Anforderungen des beruflichen Alltages vorbereitet ist, illustriert Rudolf Hinze am Beispiel seines ersten Elternabends. Dieses sei eine Situation, der man unvermittelt gegenüberstehe:
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 147 E:
I: E: I: E:
- - - ja - - und das sagt einem keiner und das – das muss man auch gesagt bekommen die - was für was für äh – in was für äh Varianten habe ich mich da zu geben – wo muss ich auch mich selber ein bisschen öffnen und - - wie mache ich so einen Elternabend – wie mache ich auch mich selber so ein bisschen sicherer mhm das würde ich bis zum Erbrechen durchspielen wenn ich da Seminarleiter wäre mhm das ist doch die halbe Miete - wenn man das hinkriegt
Hier wird wieder die Notwendigkeit, sich Dinge durch Übung anzueignen, hervorgehoben, die auch später im Bezug auf den Sportunterricht aufgegriffen wird. Über die eigentliche Tätigkeit des Unterrichtens engagiert sich Rudolf Hinze während seiner gesamten Berufstätigkeit auch in anderen Bereichen des Schullebens und scheut sich nicht, seine Ideen auch gegen Widerstände durchzusetzen. So führt er beispielsweise als erster in A-Stadt das Betriebspraktikum an seiner Schule ein – eine Idee, die zunächst auf massiven Widerstand stößt. Kurz vor dem Interviewzeitpunkt nimmt Rudolf Hinze dann sogar selbst an einem Betriebspraktikum für Lehrer/innen teil. Hier sucht er sich eine Bäckerei aus und steht jeden morgen um fünf Uhr auf, um sich den beruflichen Alltag anzuschauen. Bewusst wählt Rudolf Hinze nicht den bequemen Weg, sondern geht in einen Bereich, der ihm völlig fremd ist und in dem er Einblicke in eine andere Lebenswelt gewinnen kann. Die Wissbegierde und das Interesse an Neuem werden von ihm durchgängig als Motivation zur Auseinandersetzung beschrieben, die ihren Ursprung in der Studienzeit haben. Rudolf Hinze stellt heraus, dass „ja eigentlich mein Leben nicht ausreichen wird, um nun die vielen Interessen zu befriedigen“. Er hat also quasi eines seiner grundsätzlichen Prinzipien zur Strategie entwickelt. Direkt an die kurzen Ausführungen zum Referendariat schließen, wie bereits erwähnt, Erzählungen zum schulischen Alltag und insbesondere zum Schulsport an. Hier wechseln sich theoretische Erörterungen und kurze Episoden ab. Auch die Kontrastierung von früher und heute wird hier wieder aufgenommen: E:
Und da ham sich auch schon Ende der siebziger Jahre würde ich sagen die Generationen schon gekreuzt. --- Wir ((räuspert sich)) WIR SPORTLEHRER würde ich sagen –- und ich auch, ham natürlich auch schnell gemerkt, dass es erstens natürlich auch en Unterschied ist, ob ich etwas freiwillig von mir mache und dann sage, da investiere ich mehr. Na gut ich hab ja auch an der Schule früher -- sicherlich da viel in Sport
148
4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
I: E:
I: E:
I: E:
I:
investiert oder viele damals auch. Das war ein ganz anderer Ausgleich als das heute ist. Heute gibt’s es viele andere Dinge. Hm. Damals war es irgendwie klein. In der Schule macht(e) man im Winter Turnen, im Sommer Leichtathletik und vielleicht noch ein bisschen Fußballspielen und das war’s. Hm. Wenn man Glück hatte, ging man noch mal ab und zu ins Schwimmbad, bei gutem Wetter. --- ne. Das hat sich ja heute alles sehr viel stä_ stärker ausdifferenziert, ne. Hmhm. Aber das das eben auch so war, dass ich eben merkte so wie WIR damals zur Schule gegangen sind, war’s schon zehn Jahre später also - überhaupt nicht mehr. Hm.
Dass Generationen verschiedene Vorstellungen haben, die sich „kreuzen“, ist in Rudolf Hinzes Ausführungen eine konstante Vorstellung. Dieses „Kreuzen“ kann als Invivo-Kode für Rudolf Hinzes Kontrastierungen angesehen werden. Brüche und Konflikte führt er häufig auf dieses ‚Phänomen’ zurück, als könne es gar nicht anders sein. Rudolf Hinze stellt sich als klassischen Vertreter seiner Generation bzw. einer bestimmten Gruppe seiner Generation dar. Dass es jedoch auch innerhalb von Generationen eine große Variation an Erfahrungen, Vor- und Einstellungen gibt, wird im Kleinen bereits im Fallvergleich zwischen Rudolf Hinze und Marlene Auerbach (vgl. Kap. 4.2) deutlich. Das Thema Sportunterricht greift der Erzähler insbesondere in Bezug auf seine aktuelle Schule, eine Gesamtschule, die vormals eine Realschule gewesen ist, auf. Er entfaltet ein detailliertes Bild des Sportunterrichts und geht dabei zunächst auf das Verhalten der Schülerinnen und Schüler im Sportunterricht ein: E:
I: E:
I:
Also so dieses –- nach fünf Minuten üben, könn=we jetzt nich mal SPIELEN, äh des ham se vielleicht auch schon mal gehört oder selber erlebt. Das is so das Typische was ja eigentlich Ja ja. immer stärker zunimmt also wenig, viel weniger Bereitschaft, was heißt wenig, aber viel weniger Bereitschaft als des bei uns selbstverständlich gewesen wär oder für mich als besonders sportlich interessierten natürlich auch –- zu sagen jetzt klotz ich mal auch ran und jetzt üb ich das mal ne ganze Stunde. Hmhm.
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 149 E:
I: E:
I: E:
I: E: I: E:
Ich üb beim Handball jetzt mal ne Viertelstunde nur mit links von dem Punkt immer absch(l)ießen oder nur diese eine Technik oder –- das is äh –- kaum denkbar, dass das so heute noch jemand macht oder auch in meiner ersten Zeit jemand machte. Also man musste sehr deutlich doch seine Ansprüche reduzieren also – bei Spielen nach fünf Minuten, zehn Hm Minuten, Viertelstunde die Forderung können wir jetzt nich mal spielen, sage ich heute oftmals ne könnt=er wirklich nicht. Hm. Obwohl ich sicherlich von der Methodik her is=es ja nun auch so, dass man heut zu Tage schon viele Spieleinheiten schnell übernimmt, da äh bin ich auch gar nicht gegen zu sagen ich kann doch heu_ heute jeder Zeit ne Runde schon das Spiel oder in der zweiten Stunde das Spiel spielen in irgendeiner Hm simplen Form. Aber nicht mit dem Anspruch es komplett in einem Variantenspiel zu können. Hm. Man muss Kleine Spiele eben schon in die Übung mit rein nehmen, aber das ist eben dann auch noch zu viel üben und dann werde ich selbstkritisch und man könnte ja auch sehen das klappt noch nicht so richtig.
Das aus seiner Sicht frühzeitige Einfordern von Spielphasen findet Rudolf Hinze (erneut) befremdlich. Darüber hinaus scheinen die Schüler/innen ihn hier mit seinem (Sport)Unterrichtsverständnis nur bedingt ernst zu nehmen. Es wird deutlich, dass Rudolf Hinze ein traditionelles Verständnis von adäquatem Sportunterricht und adäquater Ausführung bestimmter Sportarten hat. Dieses wird von ihm selbst in Bezug zu seinen eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen gesetzt. Einerseits nimmt er durchaus die gesellschaftlichen Veränderungen wahr, die zu anderen Erziehungs- und Bildungsverständnissen auch für den Sportunterricht geführt haben; andererseits geht er dennoch von sich selbst und seiner ‚Sportbiographie’ aus, in der er durch Üben und Selbstdisziplin nennenswerte sportliche Erfolge erreicht hat. Von seinem biographischen Wissen kann er trotz Kenntnis und partieller Integration moderner Vermittlungskonzepte nicht abrücken. Rudolf Hinze reflektiert in diesem Zusammenhang auch über eine Einsicht, die er zu Beginn seiner Berufstätigkeit gewonnen hat, nämlich dass im Sportunterricht eben nicht nur Sportbegeisterte vertreten sind und dass die Teilnahme der allgemeinen Schulpflicht unterliegt, was ihm wohl erst in der Berufsausübung richtig bewusst geworden ist.
150
4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Trotzdem und in Kenntnis der aktuellen Methodik skizziert er ein Bild, das früheren Vorstellungen entspricht. Das indirekt formulierte Ziel, am Ende einer Unterrichtseinheit zum Thema Handball, dieses als großes Sportspiel in allen Varianten spielen zu können, muss ohnehin – und dieses auch in früheren Zeiten – als überhöht angesehen werden. Methodische Übungsreihen und isoliertes Üben werden einer spielorientierten Vermittlung77 deutlich vorgezogen. Das Motiv des Übens wird hier wieder fokussiert. Der Bezug zur eigenen „Arbeitsethik“ im Sinne eines biographischen Wissens um ‚richtiges Bemühen’ oder eine angemessene Art und Weise, sich etwas zu erarbeiten wird deutlich. Sein biographisches Wissen dient Rudolf Hinze als Interpretationsfolie für seinen beruflichen Alltag. Seine Grundhaltung, die durchaus als eine pädagogischdidaktische angesehen werden kann, rekurriert auf seine eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und wird orientierungswirksam für sein berufliches Handeln und Deuten. Das Bild, das er anschließend von den motorischen Fähigkeiten seiner Schülerinnen und Schüler vermittelt, deckt sich in seiner Klischeehaftigkeit mit den Ausführungen zum bereits oben beschriebenen Bild von Kindheit heute (z. B. sinnliche Verarmung usw.). Folgende Interviewpassage illustriert dies exemplarisch für etliche Äußerungen, die in ähnlicher Weise formuliert werden: E:
I:
I: E: I: E:
I:
77
Auch von den Motorik her, nech. Sie wissen das ja heute wahrscheinlich auch, dass -- der GUV der GemeindeVersicherungs-Unfallverband in die Schulen kommt und uns berät wie wir in den normalen Stunden Bewegungspausen Ja. machen. Wenn ich das so irgendwelchen Erwachsenen erzähl, die denken ich war, ich spinn denen was vor ich bin angetrunken, ne so ungefähr. Aber das ist ja wirklich so Hm. Hm. Die fallen vom Stuhl erst und brechen sich den Arm, ne. Und Tja. können, wissen nicht mehr, dann sagen ich immer, die lachen schon meine Schüler, weil se akzeptieren das auch, ich sag ich gehör zum Beispiel heute noch der Generation an, die, wenn se mal gekippelt hat, dann rechtzeitig wusste welche Ausgleichsbewegung man mit Armen und Füssen machen musste, damit man den Sturz verhinderte, ne. Hmhm.
Vgl. exemplarisch Kröger & Roth (1999) oder Loibl, (2001).
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 151 E:
I:
Und heute fallen die halt wirklich auf die Nase, ne. Die wissen nicht mehr, dass man sich mit den Händen abfangen kann, nech. Hmhm.
Rudolf Hinzes Bild von Schülerinnen und Schülern heute kann als defizitär bezeichnet werden. Aus seiner Sicht fehlen ihnen wichtige Voraussetzungen und dies nicht nur im sportlichen Bereich. Vielmehr haben Schülerinnen und Schüler heute, im Gegensatz zu früher, eine geringere Konzentrationsfähigkeit, „mangelnde Übung“ und die Neigung zur Selbstüberschätzung. Der Sportunterricht gebe ihnen die Möglichkeit, sich auszuleben und sei nach wie vor noch meist das Lieblingsfach vieler Schüler/innen, was das Unterrichten u. a. auch reizvoll mache. Das Fach Sport biete durch seine Vielseitigkeit jedem die Gelegenheit, sich immer einmal darin wieder zu finden. Auch auf das Belastungspotential des Sportunterrichtens für die Sportlehrer/innen geht Rudolf Hinze ein. Neben dem hohen Lärmpegel in der schuleigenen Dreifachhalle, in der zumeist 90 Schüler/innen parallel Sportunterricht haben, beschreibt er auch die organisatorischen Probleme, mit denen Sportlehrer/innen konfrontiert sind: E: I: E:
I: E:
I: E:
I: E: I: E: I: E:
I:
Das gehört zum Alltag dazu. Und das ist Hm manchmal auch ein hartes Brot und das alles Schlüssel auf Schlüssel zu, abschließen zuschließen, letzter (...) der Halle, erster in der Halle möglichst und das rechnen Sie sich mal Hm. durch manchmal ne Stund, vierzig Minuten also wenn se da fünfundzwanzig übrig haben, haben se gut organisiert. Hm. Manchmal ne von einer Stunde. (P/4). Und dann ist dann meistens die Turnhalle auch noch ein Stück weg, bei uns sind also hundertfünfzig Meter bestimmt der Eingang Ja Hmhm. hintenrum (...) zurück, Schulhof, hoch, Tasche holen, huch, ach schon drei Minuten angefangen. Hm. Dann hat einer noch das liegen lassen, musst du noch hinterher (…). Ja das ist so der Alltag, ne. Ja Hmhm. Und das muss man --- nich nur wissen, sondern dass sollte man sich gründlich überlegen und vor allem gründlich so oft es geht üben. Hm.
152
4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Rudolf Hinze schließt seine Beschreibung mit einer Empfehlung ab – nämlich auch hier den Ablauf möglichst häufig zu üben. Er weist sich als Experte für diesen Themenbereich aus, indem er seine beruflichen Erfahrungen reflexiv zugänglich macht und kommentiert. Es stellt sich die Frage, an wen sich diese Empfehlung richtet. Betrachtet man sie im Kontext weiterer solcher Empfehlungen im Interviewverlauf, so entsteht der Eindruck, dass der Erzähler sich an zukünftige Sportlehrer/innen bzw. heutige Sportstudierende richtet. Er bemüht sich, ein möglichst umfassendes Bild seines Berufes und den damit verbundenen Tätigkeiten zu schildern. Auf dieser Grundlage und seinen Erfahrungen formuliert er eine Art ‚Anforderungsprofil’ für diesen Beruf. Dabei geht er selbstbezüglich u. a. auch auf die Diskrepanz zwischen dem Berufswahlmotiv, das eigene Hobby zum Beruf machen zu wollen, und dem beruflichen Alltag als Lehrer/in ein. E:
I: E:
I: E:
I: E:
I: E:
Ja also ich erinnere mich irgendwo mussten wir mal doch in der dreizehnten Klasse schreiben was wir so werden wollten oder so, dass wollte ich auch mal irgendwo so be_ habe ich noch irgendwo, vor Jahren mal gefunden. Und äh kann man natürlich wirklich nur lächeln drüber, nech, wie man die Welt damals gesehen hat. Hm. Die Berufsfelder völlig von außen und ohne irgendeinen praktischen Bezug ja eigentlich. Aber (P/3) aber aus ner falschen Perspektive. Hmhm. --- Und wenn man ich glaub ich hab damals, weil ich selber gerne Sport mache und Bewegung mache, -- will ich auch Sportlehrer werden. Das ist sicherlich eine Vorsaussetzung, also wenn da einer steht der selber nich Sport gemacht hat und schiebt da äh so (P/5) seinen Bierbauch nur vor sich her dann wird er wahrscheinlich äh auch bei den Schülern nich so besonders ankommen oder man braucht auch irgendwo selber so ne Erfahrung denke ich mal. Hmhm. Aber --- das is ja nur eine eine Voraussetzung nech. So wie=s für jemanden der Englisch unterrichtet ne Voraussetzung is selber gut Englisch zu können. Hmhm. Aber das reicht ja auch noch nicht. Ne (P/4) Ja das --- das man damit klar kommen muss, --- dass viele Schüler und Schülerinnen da ganz anders drauf sind und was (die nicht drauf sind) auch gar keine Lust haben manchmal oder –zum Üben
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 153 so nicht genug bereit sind oder nicht diszipliniert genug oder so etwas.
Die Einschätzung, dass der Sportlehrberuf in seiner Praxis anders ist, als man vielleicht aus der Außensicht vermutet und dass das eigene Sporttreiben dabei einen geringen Stellenwert einnimmt im Vergleich zum pädagogisch/didaktischen Handeln, deckt sich mit den Ergebnissen der Studie von Baillod & Moor (1997) (vgl. Kap. 2.2.4). Diese stellen einen Wandel vom Sportler zum Pädagogen im Laufe der Berufstätigkeit von Sportlehrer/innen fest und markieren in dem Gelingen dieses Wandlungsprozesses eine Komponente für Berufszufriedenheit. Rudolf Hinze grenzt das eigene Sporttreiben vom beruflichen Handeln des Sportlehrers systematisch ab und betont immer wieder, dass das eine nicht viel mit dem anderen zu tun habe. In diesem Zusammenhang greift er auch sein eigenes leistungssportliches Engagement erneut auf. Interessant ist jedoch, dass Rudolf Hinze dennoch implizit Bezüge zwischen seiner eigenen leistungssportlichen Erfahrung und dem sportunterrichtlichen Alltag herstellt. Die Vorstellung, wie Sport ‚richtig’ auszuüben sei und auch die Art und Weise der Aneignung, spiegelt seine eigene „Arbeitsethik“ wider, die er als fundamentale Grundhaltung an jeden Gegenstandsbereich und somit eben auch an den Sport anlegt. Hier kollidieren seine biographischen Wissensbestände um ‚adäquate Sportausübung’ mit den schulischen Gegebenheiten. Auch wenn dies von Rudolf Hinze auf einer theoretisierenden Ebene durchaus erkannt wird, ist der defizitäre Blick auf das sportunterrichtliche Geschehen überdeutlich und entwickelt sich möglicherweise sogar zum Belastungspotential: E: I: E:
Aber damit muss man Leben Hm. und auch mit dem Unfertigen was im Sportunterricht gleich noch also am ehesten manchmal so durchkommt
Das anzustrebende Ideal Rudolf Hinzes ist ein anderes, das sich scheinbar in der beruflichen Praxis nicht realisieren lässt. Damit muss man sich abfinden, auch wenn es anders besser wäre. Anspruch und ‚Wirklichkeit’ lassen sich hier nicht vereinbaren. Es lässt sich insgesamt feststellen, dass Rudolf Hinzes moralische Positionen und Wertvorstellungen, die auch im Bereich biographisch erworbenen Wissens anzusiedeln sind, im Kontrast zum schulischen Alltag stehen. Auch dies ist dem Erzähler durchaus bewusst:
154
4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien E:
I: E:
I: E:
Also wenn ich das78 heute meinen Schülern erzähle, dann komme ich mir – zu recht wie ein Dinosaurier vor. Nicht vom Lebensalter unbedingt aber von den verschiedenen -- ja Entwicklungsstufen der Mentalität, wie Erziehung damals war und wie sie heute ist oder auch heute gar nicht mehr ist, sage ich mal. Hm. Und -- ja das, so vorgreifend würde ich sagen, das macht einen oder macht mir sicherlich nicht alleine hier aber mir auch so manchmal Probleme, dass ich auch nicht so die Erziehung von früher gerade wieder wollte, aber dass das heute doch manchmal so umgekippt ist, das gar nichts mehr gilt und alles angezweifelt wird und im Zweifelsfall dann gesagt wird, hab ich nicht hingeschmissen, räum ich nicht weg, ne? Hm Äh, also da hat sich in in diesen vierzig Jahren soviel geändert an Wirklichkeit, hm äh wo wo unsere Generation wahrscheinlich die einzige Generation ist, die diesen Wandel auch erlebt hat
Sich selbst als Dinosaurier – also einer bereits ausgestorbenen Art – zuzuordnen, spiegelt dieses Bewusstsein in Form einer erneuten Differenzerfahrung besonders eindrücklich. Obwohl Rudolf Hinze die Distanzierung von seiner Herkunft und den Erfahrungen seiner Kindheit anstrebt und als sehr starkes Motiv in seiner lebensgeschichtlichen Erzählung hervorhebt, sind es dennoch jene Werte und Moralvorstellungen, an denen er sich orientiert. Dieses biographische Wissen hat sich aus seiner subjektiven lebensgeschichtlichen Perspektive als erfolgreich erwiesen und behält seine Orientierungswirksamkeit.
4.1.6 Analytische Abstraktion Die biographische Erzählung des Sozialwissenschaften und Sport unterrichtenden Rudolf Hinze ist in ihrer Gesamtheit durch eine Konstruktionslogik über Gegensatzpaare und Kontrastierungen gekennzeichnet. Die ganz grundsätzliche Gegenüberstellung ist in den Begriffspaaren ‚früher – heute’ und ‚ich – die anderen’ zu finden. Es werden jedoch, wie oben ausführlich beschrieben, verschiedene Konzepte und Kategorien eingeführt, manche weiterentwickelt, dimensioniert und sogar umgedeutet. Als zentrales Konzeptgeflecht ist dabei das Gegensatz78
Rudolf Hinze bezieht sich hier auf einen Streich aus seiner Schülerzeit, den er gerade erzählt hat. Der recht harmlose Streich hat eine harte Bestrafung seitens des Lehrers provoziert.
4.1 Biographisches Wissen als Produkt selbstreflexiver Auseinandersetzung 155 paar ‚Fremdbestimmung – Selbstbestimmung’ sowie die zugehörigen Dimensionen ‚Fremddisziplinierung – Selbstdisziplinierung’. Ausgangspunkt hierfür ist die zentrale Kategorie der vielfältigen Fremdheitsgefühle, die Rudolf Hinze im Verlauf der Erzählung darstellt, wie z. B. der Besuch des Internats bis hin zum befremdlichen Verhalten ‚heutiger Jugendlicher’. Hier schließt auch eine weitere grundlegende Kategorie, nämlich die der Differenzerfahrung, an. Diese ist verbunden mit den Konzepten ‚Distanzierung’ bzw. ‚Distanz’, die sich wiederum in verschiedene Dimensionen auffächert. Konzeptpaare wie z. B. ‚Enge – Weite’ oder ‚Gefangenschaft – Freiheit’ sind hierunter anzusiedeln. Eine weitere übergeordnete Kategorie ist im Motiv des sozialen Aufstiegs angeordnet, das quasi wie ein Motor für die Entwicklung der lebensgeschichtlichen Erzählung zu verstehen ist. Eine ‚Heimat’ im Sinne von Identifikationsangeboten findet Rudolf Hinze zunächst im (Leistungs)Sport und dann im studentischen Milieu. Im Zusammenhang mit Sport redet er erstmals von positiven Erlebnissen (physische Erlebnisse gepaart mit persönlichem Erfolg) und Personen, die er respektiert und die auch ihn anerkennen und respektieren. Beim Sport bleiben die befremdlichen Regeln und Verhaltenskodizes ein Stück weit außen vor. Der Sport erfüllt so die Funktion eines Identifikationsangebots, das Rudolf Hinze selbst als „Möglichkeit, sich hervor zu tun“ und als „Flucht aus dem Alltag“ mit seinen strengen Reglementierungen beschreibt. Ein weiteres Identifikationsangebot bietet sich Rudolf Hinze während des Studiums zur Zeit der ‚Studentenrevolten’, in der die ‚repressive’ Pädagogik, mit der er schon früh negative Erfahrungen gemacht hat, öffentlich attackiert wird. Hier erfahren seine eigenen Erlebnisse quasi eine Politisierung und es eröffnet sich die Möglichkeit, auf einer politischen Ebene Position zu beziehen und sich gegen diese Zustände zu engagieren. Ab diesem Zeitpunkt findet sich Rudolf Hinze in Bedingungen wieder, unter denen er mit Freude und Eifer Pläne entwickeln und umsetzen kann. Die Verhaltensweisen anderer Studierender (z. B. sich hauptsächlich in Kneipen aufzuhalten) wirken zwar erneut befremdlich auf ihn, aber diese Befremdung ist kein Hemmnis, sondern wird von ihm aktiv genutzt, um in Abgrenzung davon seinen eigenen Weg zu gestalten. Rudolf Hinze hat nun eine gedankliche ‚Heimat’ gefunden und kann sich begründet von seinem Elternhaus abwenden. Seine ‚neue weite Welt’ lässt sich mit der ‚engen Welt’ seiner Kindheit scheinbar nicht mehr vereinbaren. Sie stellen sich ausschließende „Gegenwelten“ (vgl. Schierz, 1997, S. 68ff.) dar. Interessant ist hierbei, dass das verfolgte Aufstiegsmotiv und die damit verbundene Distanzierung vom Herkunftsmilieu jedoch bereits in der Phase der Berufsausbildung eine deutliche Selbstbeschränkung erfährt. Mit dem Sprichwort „Schuster, bleib bei deinem Leisten“ kommentiert Rudolf Hinze seine Ent-
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
scheidung gegen einen noch höheren Qualifikationsgrad. Aus der analytischen Distanz und mit Rekurs auf Bourdieus Habitus-Konzept lässt sich diese „Beschränkung im Denken“, wie Rudolf Hinze selbst es beschreibt, wiederum auf die inkorporierte soziale Erfahrung des Herkunftsmilieus und den daraus resultierenden Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmustern, sprich den ausgeprägten Habitus, zurück beziehen. Grundsätzlich kann die lebensgeschichtliche Erzählung von Rudolf Hinze als Beispiel gelesen werden, wie man über Differenzerfahrungen und Fremdheitsgefühle (biographisch) lernt, sich selbst zu verstehen und zu positionieren. Denn die schon früh gesammelten Differenz- und Fremdheitserfahrungen lassen Rudolf Hinze ein hohes Maß an Reflexivität entwickeln. Ständig kontextualisiert er daher seine Erlebnisse und setzt sie zu anderen Phänomenen in Beziehung, um auf dieser Grundlage jeweils seinen eigenen Standpunkt zu entfalten. Er schließt sein biographisches Wissen also kontrastiv und quasi in einem dialektischen Verfahren an seine Lebensgeschichte und – für die vorliegende Fragestellung besonders interessant – auch an die Anforderungen des beruflichen Feldes Schule an. Rudolf Hinzes biographisches Wissen steht im Kontrast zu seinem beruflichen Alltag. Es ist nicht problemlos anschlussfähig, sondern führt zu einem Reibungsprozess, der dem Erzähler selbst bewusst und reflexiv zugänglich ist. Im Motiv des Dinosauriers steckt die Tatsache, dass diese Lebensform keine Überlebenschance hat(te). Es ist eine historische Gewissheit, dass sie überholt ist und sich nicht erhalten lassen wird. Rudolf Hinze versteht sich und andere somit als historische Wesen, denen bestimmte generationale Erfahrungshorizonte zugänglich bzw. verschlossen sind. Verschiedene Erfahrungshorizonte sind nur bedingt kompatibel, was in seiner Selbstbeschreibung als Dinosaurier besonders hervorgehoben wird. Deutlich wird bei der kontrastiven Präsentation lebensgeschichtlicher Erfahrungen und dem hohen Maß an Selbstreflexivität, dass Rudolf Hinze sogar die verschiedenen Erfahrungshorizonte der Interviewbeteiligten bewusst sind und erklärungsbedürftig erscheinen. Denn das biographische Wissen von mir als Interviewerin und meine lebensgeschichtlichen Erfahrungen korrespondieren offensichtlich nicht mit denen Rudolf Hinzes’. Formulierungen wie „das können Sie sich sicher nicht mehr vorstellen“ oder „das kennen Sie ja so gar nicht mehr“ unterstreichen diesen Eindruck. Generationale Erfahrungshorizonte werden also seitens des Erzählers vorausgesetzt. Es wird stärker das fokussiert, was nicht geteilt ist. Interessant ist, dass Rudolf Hinze Differenzerfahrungen förmlich aufsucht und sie als Lernanlässe konstruiert. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist die freiwillige Teilnahme am Lehrerbetriebspraktikum mit der Stellenwahl Bäckerei. Andererseits lässt er Differenzerfahrungen nur in einem gewissen, biographisch
4.2 Biographisches Wissen um gelungenen Sport
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noch anschlussfähigen Maße, zu, wie z. B. bei der Berufsausbildung. Die Ablehnung von subjektiv ‚zu großen’ Differenzerfahrungen im Bezug auf Vorheriges kann als biographische Absicherungsstrategie verstanden werden, sich selbst erklärbar und verständlich zu bleiben. Diese grundsätzliche Fähigkeit, sich im Verlauf der Lebensgeschichte immer wieder ‚neu zu erfinden’ bzw. biographische Wissensbestände an die neuen biographischen Begebenheiten anschließen zu können, bezeichnet Alheit (1992) als Biographizität: „Biographizität bedeutet, daß wir unser Leben in den Kontexten, in denen wir es verbringen (müssen), immer wieder neu auslegen können, und daß wir diese Kontexte ihrerseits als ‚bildbar‘ und gestaltbar erfahren. Wir haben in unserer Biographie nicht alle denkbaren Chancen, aber im Rahmen der uns strukturell gesetzten Grenzen stehen uns beträchtliche Möglichkeitsräume offen. Es kommt darauf an, die ‚Sinnüberschüsse‘ unseres Lebens zu entziffern” (Alheit, 1992, S. 77).
Es geht also darum, mit biographischer Diskontinuität in (post)modernen Gesellschaften selbstreflexiv und aktiv umzugehen und somit die eigene Biographie in Auseinandersetzung mit dem Gestern, Heute und Morgen zu gestalten. Biographizität ist demnach eine Schlüsselqualifikation, die es ermöglicht, (post)moderne gesellschaftliche Bedingungen aktiv bewältigen zu können, was am Beispiel Rudolf Hinzes eindrücklich und fallspezifisch aufgezeigt werden kann.
4.2 Biographisches Wissen um gelungenen Sport als ‚Sozialisationsagent’ (Marlene Auerbach) Das Interview mit der Sport- und Chemielehrerin Marlene Auerbach hat im Frühsommer 2001 stattgefunden.79 Nach einer durch zeitliche Engpässe ihrerseits recht schwierigen Kontaktaufnahme und mehreren Telefonaten sowie einem ausführlichen persönlichen Vorgespräch, hat Frau Auerbach ihr eigenes Haus als Interviewort gewählt. Am Interviewtag hat sie den Kaffeetisch gedeckt, sowie Kaffee und Kuchen bereitgestellt. Sie ist von Beginn an bemüht gewesen, alles für mich passend zu arrangieren (wo sitzt man am besten, damit das Gerät auch eine gute Aufnahmequalität liefert usw.). Die Gesprächsatmosphäre ist offen gewesen und hat sich im Laufe des Interviews weiter positiv entwickelt. Marlene Auerbach hat während und nach dem Interview ihr Erstaunen über den Umfang dessen, was sie erzählt habe, geäußert und hat immer wieder betont, dass sie nicht wisse, ob sie überhaupt die Richtige für mein Anliegen sei. Einer79
Vgl. zu dieser Fallstudie auch Reinartz (2004).
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
seits bezieht sie sich mit dieser Äußerung auf ihre ‚Selbstdefinition’ als Naturwissenschaftlerin und andererseits klingt darin bereits ihre Grundhaltung an, eher im Hintergrund zu wirken, anstatt sich selbst in den Vordergrund zu stellen. So schließt sie auch mit folgendem Satz: „ob das nun für Sie eben halt überhaupt irgendeine Relevanz haben kann, das müssen Sie ja selber sortieren (…) geplappert habe ich genug ((lacht))“. Die eigentliche Haupterzählung im Interview ist relativ kurz (11 Seiten Transkriptionstext im Verhältnis zu einem Gesamtumfang von 125 Seiten)80 und zeichnet sich ebenfalls durch einen großen Anteil an reflexiven und theoretisierenden Darstellungen aus.81 Die erzählgenerierenden immanenten Nachfragen haben dazu geführt, dass weiteres insgesamt umfang- und aufschlussreiches Datenmaterial erhoben werden konnte, das die eher theoretisierenden Ausführungen weitgehend durch narrative Passagen stützt, aber auch in Diskrepanz zu einigen ‚Eigentheorien’ steht und so eine breite Analysebasis bietet. Wie in Kapitel 3.2.2 erläutert, sind für die Analyse biographischer Wissensbestände nicht nur ‚reine’ Narrationen im Sinne der idealtypischen Stegreiferzählung von Interesse, sondern auch jene Textsorten, die sich auf dem Wege der Traditionsbildung bereits z. T. von dem ursprünglichen Ereignis abgelöst haben (vgl. Alheit, 1989). Hier geht es dann darum, die Art und Weise der Präsentation und die darin enthaltenen ‚höheren Wahrheiten’ zu rekonstruieren.
4.2.1 Kindheit: Bewegungsfreude und Sportverein als sportliche Heimat Marlene Auerbach wird 1949 in einem dörflichen Vorort einer Großstadt geboren. Sie ist das zweite von insgesamt drei Kindern. Ihr Kontakt zum Sport hat keinen Anfangspunkt im eigentlichen Sinne, denn sie wächst in einem „sportbegeisterten Elternhaus“82 auf. Die Eltern treiben bereits seit ihrer eigenen Jugend Sport in dem ortsansässigen Sportverein und Marlene Auerbach wächst so ganz „natürlich“ in eben diesen Verein hinein. Die Eltern engagieren sich zusätzlich als Übungsleiter und auf vereinsorganisatorischer Ebene. Die Sonntage verbringt die ganze Familie auf dem Sportplatz, wo der Vater Fußball spielt und die Kinder „immer Gleichgesinnte trafen, denen Sport eben auch etwas bedeutet“.
80 81 82
Dies entspricht einer Aufnahmedauer von ca. 150 Minuten. Dies ist auch bei Rudolf Hinze schon festgestellt worden und trifft auch für die letzte biographische Fallstudie des empirischen Teils (Corinna Landwehr) zu. Anführungsstriche bei der Ergebnisdarstellung kennzeichnen Originalzitate aus der Interviewtranskription.
4.2 Biographisches Wissen um gelungenen Sport
159
Im Alter von fünf Jahren nimmt Marlene Auerbachs Mutter ihre Tochter erstmals mit zum Turnen, das sie selbst im bereits erwähnten Sportverein anleitet. Das überwiegende sportliche Interesse Marlenes Auerbachs ist und bleibt seit dieser Zeit der künstlerisch gestalterische Bereich, wobei sie jedoch betont: E:
I: E:
und eigentlich testete man auch alles aus was uns damals geboten wurde genauso wie heute denke ich auch jede Trendsportart erst einmal auch wieder einen neuen REIZ bietet ne? hmh und das waren damals eben halt wirklich so die traditionelleren Dinge
Mit ca. 18 Jahren bekommt das Engagement der Erzählerin im heimatlichen Sportverein eine andere Qualität: Durch die Anregung einer Sportlehrerin erwirbt sie zunächst einen Übungsleiterhelferschein und beginnt selbst mit Übungsleitungstätigkeiten. Etwas später absolviert sie auch den F-Trainerschein für das Turnen. Marlene Auerbach beschreibt das Leben mit dem Sport eher als ein Leben im und mit dem Verein, bei dem nicht leistungsorientierter Wettkampfsport im Mittelpunkt steht, sondern die Gemeinschaft und „Bewegungsfreude“. Die Umgebung ihrer Kindheit bietet viel „Bewegungsraum“. Marlene beschreibt ihre Umwelt insgesamt mit sehr emotiven Begriffen: die Eltern sind „sportbegeistert“, der Vater ist „Fußballer aus Leidenschaft“, ihre eigene turnerische Aktivität ist unter der Perspektive der „Bewegungsfreude nachzukommen“ arrangiert. Der Sportverein bietet nicht nur einen organisatorischen Rahmen für die sportliche Betätigung. Er wird von Marlene Auerbach vielmehr als sportliche Heimat ihrer Kindheit konstruiert,83 wobei die sportliche Betätigung zwar eine große Rolle spielt, es aber gleichzeitig um viele andere Aspekte des Vereinslebens wie das gemeinschaftliche Gestalten von Ausflügen, kleinen Feiern usw. geht. Auch ihre Familienmitglieder präsentiert die Erzählerin über den Verein und die jeweiligen Aktivitäten oder Funktionen der Angehörigen in diesem Verein. Sport ist also in der lebensgeschichtlichen Konstruktion Marlene Auerbachs in zweierlei Hinsicht institutionell verankert: einmal durch die konstitutive Einbettung in die Familienstruktur und darüber hinaus durch die strukturelle Rahmung des Sportvereins. Hieraus resultiert ein quasi ‚doppelter Habitualisierungsprozess’, der von zweifacher Seite zur Entwicklung eines Habitus’ führt, der sich durch Aspekte, wie ehrenamtliches und allgemein soziales Engagement auszeichnet und an einer breitensportlichen Ausrichtung orientiert ist.
83
Ihren Sportunterricht erwähnt sie im Kontext ihrer Kindheit gar nicht. Erst viel später als sie über ihre berufliche Praxis als Sportlehrerin spricht, geht sie kurz darauf ein.
160
4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Insgesamt entwirft Marlene Auerbach ein idyllisch-klischeehaft anmutendes Bild ihrer Kindheit im und mit dem Sport. Dieses ‚Kindheitsbiotop’ mit viel Bewegungsraum und vielen Bewegungsangeboten lässt sich unter der zentralen Kategorie der Bewegungsfreude84 fassen. Auf den zweiten Blick enthält diese geradezu idyllische Konstruktion der Kindheit, die zunächst mit Attributen wie z. B. Bewegungsfreiheit assoziiert werden kann, jedoch auch eine eindeutige Begrenztheit im Sinne einer starken habitualisierten Rahmung. Bestimmte (Entwicklungs)Optionen werden in dieser Rahmung nicht geboten. Dieses äußert sich beispielsweise in Marlenes Auerbachs Ausführungen zu ihrem nicht ausgelebten leistungssportlichen Potential, das ihr erst im Kontext des Sportstudiums bewusst wird, sowie bei der Berufswahl, bei der sie sich trotz entsprechendem Talent gegen ihren eigentlichen Berufswunsch (Chemikerin) entscheidet. Dieser Beruf erscheint Marlene Auerbach auf Grund ihres weiblichen Geschlechts nicht realisierbar und hebt hervor, dass die soziale Rahmung und die damit verbundenen Habitualisierungsprozesse geschlechtsspezifische Komponenten enthalten, die eine Begrenzung des Entwicklungsspektrums der Biographieträgerin definieren. Eine Überschreitung dieses sozial gerahmten Entwicklungsspektrums wird auch im weiteren Verlauf des Interviews nicht beschrieben. Vielmehr wird Marlene Auerbachs biographisches Projekt konsequent über biographisch reibungslose Anschlussmöglichkeiten konstruiert.
4.2.2 Berufswahl: Vereinserfahrungen als Ressource für die Lösung des aktuellen biographischen Problems Der eigentliche Berufswunsch Marlene Auerbachs ist Diplomchemikerin gewesen, da sie während der Schulzeit durch einen innovativ unterrichtenden Chemielehrer eine große Begeisterung für dieses Fach entwickelt und sich schulisch bereits in eine entsprechende Richtung orientiert hat. Im Rahmen eines Berufspraktikums in der Chemischen Industrie, das sie im Alter von 17 Jahren (ein Jahr vor dem Abitur) absolviert, kann sie Informationen über dieses von ihr angestrebte Berufsfeld sammeln. Da sie ihr weibliches Geschlecht als Problem eingeschätzt, entscheidet sie sich anschließend gegen die Diplomchemie: E:
84
da wurd mir dann eigentlich doch sehr schnell klar dass äh weibliches äh Geschlecht und äh – ja CHEMIE - STUDIUM mit der daran anschließenden Berufs äh tätigkeit doch eben halt schon noch ein PROBLEM darstellte also
Der Begriff „Bewegungsfreude“ ist ein von der Erzählerin selbst häufig verwandter Begriff und somit als Invivo-Kode zu verstehen.
4.2 Biographisches Wissen um gelungenen Sport I: E:
I:
161
hmh was die die Chancen da musste man schon entsprechend – Ellenbogen offensichtlich haben um da eben halt auch wirklich an die Stelle zu kommen die man dann vielleicht mal erreichen wollte hmh
Die Attribuierung der Zugehörigkeit zum ‚weiblichen Geschlecht’ bedeutet hier für die Erzählerin, in bestimmten gesellschaftlichen Settings nicht bestehen zu können. ‚Ellenbogen zu haben’ und sich durchsetzen zu können, sind aus Marlene Auerbachs Perspektive Eigenschaften, die sie selbst – qua Geschlecht – nicht besitzt. Die Machbarkeit dessen, was sie eigentlich als Beruf anvisiert hat, scheint ihr trotz eindeutiger fachlicher Eignung (naturwissenschaftliches Abitur, praktische Erfahrung durch Berufspraktikum) nicht gegeben. In der habitualisierten Rahmung der lebensgeschichtlichen Erzählung Marlene Auerbachs ist es, wie bereits erwähnt, nicht ‚vorgesehen’, diese Rahmung zu verlassen bzw. zu überschreiten. Es entsteht also eine biographische Problemlage durch die Notwendigkeit, eine Berufswahl treffen zu müssen und die eigentliche Wunschoption als nicht als biographisch anschlussfähig beurteilt zu haben. Die Erzählerin muss daher nach einem Kompromiss suchen, um ihr ursprüngliches Interesse für die Chemie dennoch beruflich verwirklichen zu können. Ihre Wahl fällt trotz folgender Selbstbeschreibung auf den Lehrberuf: E:
I: E: I: E:
I: E:
I: E:
der andere Aspekt war der dass ich es mir wo ich mich immer schwer getan habe und was für mich immer irgendwo noch ein bisschen ein Hindernis ist – ähm ich war also eine ausgesprochen stille Schülerin. hmh ruhige Schülerin so in der – in der Schulzeit hmh und ähm – ja wirklich jetzt so dieses ähm Öffnen hat eigentlich erst angefangen – ja während des Studiums und insbesondere aber durch die Lehrtätigkeiten. hmh da steht man dann in einer Situation wo man muss da kann man ja nicht dann sozusagen sich zurückziehen oder wieder rausklinken Hmh aber äh - ich hab immer ein bisschen Schwierigkeiten gehabt jetzt in einem entsprechenden – GREMIUM oder in einer entsprechenden VERSAMMLUNG oder eben halt jetzt zum Beispiel so – so in die äh tja vorderste Rolle zu treten.
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Marlene Auerbach konstruiert sich als schüchterne Person, die nicht gern im Vordergrund steht. Im Lehrberuf ist das Stehen in „vorderster Rolle“ und das Sprechen vor einer Versammlung als elementare Tätigkeit angelegt. Dennoch scheint ihr der geschlechtlich eher ‚weiblich’ belegte Beruf der Lehrerin anschlussfähiger als der der Diplomchemikerin zu sein, deren Tätigkeit diesem Persönlichkeitsprofil sicher näher käme. Das ‚Hindernis’ der eigenen Persönlichkeitsmerkmale wird von der Kategorie des weiblichen Geschlechts dominiert. Darüber hinaus wird deutlich, dass Marlene Auerbach, wenn es durch ‚äußere Umstände’ erforderlich wird, durchaus in dieser Rolle verhalten kann. Die angesprochene Lehrtätigkeit während des Studiums aber auch bereits das Anleiten von Sportgruppen in ihrer Jugend sind ja auch Tätigkeiten, die sich nicht hätte ausüben müssen, wenn diese Situationen als zu ‚bedrohlich’ eingeschätzt worden wären. Einem gewissen äußeren Druck ausgesetzt zu sein bekommt hier erstmals auch eine gewisse positive Konnotation, die auch später in der impliziten Kritik an ihrem sozialen Umfeld aufgegriffen wird. Der Sport, der für die Erzählerin bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Bedeutung für eine berufliche Orientierung85 gehabt hat, wird aus seiner ursprünglichen Position, nämlich dem Freizeitbereich, als notwendige Ergänzung zum eigentlichen beruflichen Interesse – der Chemie – herangezogen, da sie ja ein zweites Fach für den Lehrberuf braucht. Zumindest ‚beschränkt’ kann sie auf diese Weise die Chemie in ihre Berufswahl integrieren. Marlene Auerbach hat die Entwicklung vom eigenen sportlichen Engagement hin zur Übungsleitungstätigkeit als etwas, das ihr „sehr viel gibt“, erlebt.86 Die „Freude an der Sache“, von der sie an etlichen Stellen im Hinblick auf Sport spricht, wird für sie dadurch nicht gemindert. Sie antizipiert strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Anleiten im Verein und dem Anleiten im schulischen Kontext und nutzt ihre Erfahrungen als Übungsleiterin so als Handlungsressource für die Lösung der aktuellen biographischen Problemlage der Berufswahl. Aus dieser positiv erlebten Entwicklung von der sportlich Aktiven zur Übungsleiterin entsteht ein biographisches Wissen über das Anleiten von Sportarrangements, das für Marlene Auerbach zum Handlungspotential für die Lösung des aktuellen Problems wird – nämlich einen Beruf zu wählen, der ihren Neigungen entspricht und sich gleichzeitig mit ihrer subjektiven Einschätzung hinsichtlich 85
86
In einem weiteren mir vorliegenden Interview (‚Ina Prange’) ist hingegen das sportliche Interesse die absolute Bezugsgröße für die Berufswahl: „Es sollte unbedingt etwas mit SPORT zu tun haben – das war mir klar“. An dieser Stelle sei nur kurz darauf verwiesen, dass Marlene Auerbach und ihr Ehemann später ein nahe zu identisches Vereinsengagement aufbringen, wie ihre Eltern – und das sogar in demselben Sportverein.
4.2 Biographisches Wissen um gelungenen Sport
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der biographischen Anschlussfähigkeit deckt. Dieses biographische Wissen bekommt an dieser Stelle orientierungswirksame Bedeutung für die weitere Gestaltung ihres biographischen Projekts. Mit Bourdieu gesprochen nutzt Marlene Auerbach ihr über Habitualisierungsprozesse im familialen Kontext weitergegebenes kulturelles Kapital (vgl. Bourdieu, 1992) für die Gestaltung ihres biographischen Projekts.
4.2.3 Studium: Konfrontation mit dem Leistungsmotiv und ungelebtes Leben als Absicherung der ursprünglichen Orientierung Marlene Auerbach wird erst durch das Studium und die dortigen Sportkurse bewusst, dass sie mit einer gezielten leistungsorientierten Förderung sportlich wahrscheinlich erfolgreich hätte sein können. Sie spricht ausführlich über dieses „ungelebte Leben“ (Dausien, 1996, 60ff.) und die im Studium entstandenen Gedanken, evtl. eine Chance vertan, es in keiner Sportart „richtig auf den Punkt gebracht“ zu haben. E: I: E:
I: E:
und DA hab ich dann irgendwie gespürt dass ich offensichtlich doch etwas VERPASST hatte. hmh nämlich wirklich vielleicht mal mich kontinuierlicher einer Sache so wirklich im Sinne der eigenen - Entwicklung mehr Leistung zu bringen in einer Disziplin hmh gar nicht äh ausgerichtet hatte. das war aber auch nie irgendwo entstanden so als Gedanke von KEINEM an mich herangetragen worden
Sie übt hier erstmals implizit Kritik an ihrem sozialen Rahmen, der hinsichtlich einer leistungssportlichen Karriere eher als Verhinderungsstruktur interpretiert werden kann. Darüber hinaus stellt die Erzählerin eine Verbindung zwischen dem eigenen sportlichen Werdegang und ihrer sportpädagogischen Grundhaltung her. Das Leistungsmotiv sieht sie aus der Perspektive der Sportlehrerin kritisch. Sie beschreibt ihre heutige Einstellung zu einer leistungssportlichen Orientierung als verhalten und wirft gleichzeitig die Frage auf, ob diese Position womöglich daraus resultiere, dass sie selbst diesen Punkt – wie sie es nennt – nie erreicht habe. Es lässt sich also eine Ambivalenz in Bezug auf das sportliche Leistungsmotiv rekonstruieren. Einerseits scheint das nicht ausgelebte, an Leistung orientierte
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
sportliche Potential87 für Marlene Auerbach als Sportlerin etwas Anstrebenswertes zu sein, eine verpasste Möglichkeit in ihrem Leben. Auf der anderen Seite stehen für sie bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen auch z. B. in AGs, also aus der Perspektive der Anleitenden und Sportlehrerin Marlene Auerbach, trotzdem eher die negativen Aspekte einer leistungssportlichen Karriere (z. B. großer zeitlicher Aufwand, Druck) im Vordergrund, über die sie allerdings nur auf einer theoretischen Ebene und eben nicht auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen reflektieren kann. Das „ungelebte Leben“ ist für die biographische Konstruktion bedeutsam, denn „(d)ie konkrete Gestalt einer Lebensgeschichte ergibt sich nicht nur aus der Abfolge realisierter Handlungen und Entscheidungen, tatsächlich stattgefundener Ereignisse und Erlebnisse (die nicht selten kausal oder final interpretiert wird). Sie konstituiert sich vielmehr vor dem – sich selbst im Laufe der Biographie ändernden – Hintergrund der nicht verwirklichten Möglichkeiten, der Verhinderungen und Versagungen, der Verzichte und verpassten Chancen“ (Dausien, 1996, S. 62).
Die Erfahrung der „verpassten Chance“ reflektiert die Erzählerin zwar, sie führt jedoch nicht dazu, eine fördernde oder zumindest offene Haltung gegenüber einer leistungssportlichen ‚Karriere’ von Kindern und Jugendlichen einzunehmen. Dabei wäre es durchaus denkbar, dass sie als Sportlehrerin ihren Schüler/innen jene Chancen eröffnen möchte, die sie selbst verpasst hat. Dies ist jedoch nicht der Fall. Wie schon bei der Berufswahl bleibt Marlene Auerbach mit ihren Einstellungen und ihrer Grundhaltung in der habitualisierten Rahmung ihrer Primärsozialisation. Die Reflexion jener verpassten Chance wird abschließend nicht als so gravierend interpretiert, dass sie zu einer Umorientierung der eigenen Grundhaltung führen könnte. Vielmehr überwiegt die positive Bewertung der eigenen biographischen Erfahrungen im Breitensport und die Bedeutung des daraus generierten biographischen Wissens über ‚gelungenen Sport’. Dieses biographische Wissen wird zur Ressource für Marlene Auerbachs sportpädagogisches Handeln im Sinne einer übergeordneten (sport)pädagogischen Haltung und Überzeugung, die sie auch auf den Umgang mit ihren Schülerinnen und Schülern überträgt. Die Art und Weise der sportlichen Förderung, die Marlene Auerbach zu ihrer Kinderund Jugendzeit selbst im Sportverein erfahren hat, scheint hier weitere Erfahrun87
An dieser Stelle sei erwähnt, dass die Thematisierung des eigenen sportlichen Vermögens bzw. der ‚eingefahrenen Erfolge’ im Sportlerdiskurs kaum auszusparen ist und vielleicht sogar zum ‚Sportler-Habitus’ gezählt werden kann. Nichtsdestotrotz sind die Eindringlichkeit der Darstellung und die Verknüpfung mit anderen biographischen Bereichen, wie z. B. der Ausrichtung des eigenen Sportunterrichts hier hervorzuheben.
4.2 Biographisches Wissen um gelungenen Sport
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gen und sogar schmerzlich Vermisstes zu dominieren. Es handelt sich um eine in der Primärsozialisation angebahnte, habituell verankerte Grundhaltung, die einen Umdenkungsprozess zu verhindern scheint. Während des Studiums bekommt Marlene Auerbach außerdem Gelegenheit, zunächst als studentische Hilfskraft und später als Mitarbeiterin, Erfahrungen in der Lehrtätigkeit an der Universität in der sportpraktischen Ausbildung Gymnastik / Tanz sowie im Turnen zu sammeln. In diesem Zusammenhang benutzt sie erneut den Begriff des „Tätigkeitsfeldes“ wie auch schon beim Sportverein. Marlene Auerbach erhält das Angebot, an der Universität zu bleiben. Voraussetzung ist allerdings der Abschluss des Referendariats, das die Erzählerin dann auch absolviert. Im Anschluss an das Referendariat wird ihr die Rückkehr an die Universität erneut angeboten. Diese lehnt sie jedoch ab mit der Begründung: E: I: E: I: E: I: E:
I: E:
I: E: I: E:
da war ja nun äh - - ja ein – jetzt sehr viel war dann so Vormachen Nachmachen im Gymnastik=Tanz=Bereich hmh oder auch selbst im Turnen ja eigentlich auch noch nich? hmh dass man st_ ja relativ stark mit seiner eigenen Person und der in Bewegung der eigenen Person ja im Vordergrund stand hmh und dann hab ich mir irgendwann mal plötzlich klar gemacht wie sieht das denn aus wenn du dann mal vierzig und fünfundvierzig und fünfzig bist. hmh äh und da war mir klar dass sich dann automatisch natürlich sich der gesamte Schwerpunkt immer mehr in die Theoriearbeit ähm hmh Seminartätigkeiten und da hinein verlagern wird. – und=äh - dem konnte ich mich so nicht zuwenden. hmh das war eigentlich äh so dann das äh zu zu dem Zeitpunkt jedenfalls noch nicht zuwenden – und von daher ähm – war dann eigentlich doch der Entschluss sehr schnell so – eigentlich ist angenehmer ist die Schule mit dem Unterrichten in beiden Fächern - -und insbesondere auch diese äh - doch starke Bindung äh ja die dieses Fach Chemie äh zu behalten
Die Erzählerin rekurriert hier erneut auf die mit ihrer Persönlichkeitsstruktur nicht in Einklang zu bringende Lehrtätigkeit. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Auswahl Marlene Auerbachs als Interviewpartnerin unter
166
4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
anderem davon beeinflusst worden ist, dass sie im Vergleich zu den anderen Sportlehrer/innen, die in der vorangegangenen Hospitationsphase beobachtet worden sind, einen sehr großen Anteil an persönlicher sportlicher Beteiligung am Sportunterricht gezeigt hat. Dies steht im Widerspruch zu der Sorge, dies mit fünfzig nicht mehr tun zu können bzw. zu wollen, denn genau das praktiziert sie aktuell in ihrem Sportunterricht. Hierbei bleibt nicht zu vergessen, dass es sich um eine retrospektive Schilderung der damaligen Überlegungen handelt, die wie bereits in den Ausführungen zum biographischen Wissen (Kap. 3.2), aber auch in den Reflexionen zum narrativen Interview (Kap. 3.4) erläutert, von späteren Erfahrungen überformt und sogar umgedeutet werden können. An anderer Stelle im Interview finden sich Passagen, die in Zusammenhang mit der damaligen Entscheidung gegen eine Universitätskarriere in Verbindung gebracht werden können und diese in ein anderes Licht rücken als das hier zunächst konstruierte: E:
I: E:
I: E: I: E:
äh also wirklich jetzt so wie gesagt ne? Mich vor zweihundert Leute hinstellen und ne Vorlesung halten da hätte ich mir wahrscheinlich die ZUNGE abgebissen. ((lacht)) ((lacht)) Obwohl äh ja man wird dann wenn man dann wenn es dann so nen Wurf ins kalte Wasser ist ne? So nen Schupser ins kalte Wasser ist dann macht man’s wahrscheinlich irgendwie hmh und reflektiert dann ja auch im Nachhinein nicht drüber hmh äh wenn wenn man sich das VORNEHMEN müsste und das vorhätte das wäre für mich also ein ein äh ein Tätigkeitsfeld was ich mir überhaupt nicht vorstellen könnte.
Sie entscheidet sich also dafür, die vom sozialen Prestige her niedrigere Stellung als Lehrerin anzustreben. Darüber hinaus klingt auch an, dass das Problem vielmehr darin liegt, aus eigener Entscheidung einen solchen Schritt zu gehen. Hätte es den „Schupser“ ins kalte Wasser gegeben, sprich: hätte es eine entsprechende Initiierung von außen gegeben, so wäre die Situation durchaus zu bewältigen gewesen. Hier lässt sich eine Parallele zur ungelebten Leistungssportkarriere rekonstruieren. Auch in dem Fall gab es in ihrem sozialen Rahmen niemanden, der sie sozusagen dazu animiert hätte. Wenn Marlene Auerbach quasi ‚von außen’ zu etwas motiviert wird, dann traut sie sich zu, diese Herausforderung zu bewältigen. Muss sie sich jedoch eigenständig dafür entscheiden und damit auch die Verantwortung für diesen Schritt tragen, dann lehnt sie derartige Herausforderungen ab und formuliert Versagensängste.
4.2 Biographisches Wissen um gelungenen Sport
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Eine gewisse Kohärenz zwischen diesen Überlegungen und ihrer Berufstätigkeit als Lehrerin stellt sie über die Konstruktion einer Umwelt her, die diese Auftritte von ihr quasi verlangt. Diese Darstellung und Interpretation ist für Marlene Auerbach anscheinend weniger problematisch und daher entlastend, als wenn sie diese Rolle aktiv anstreben und verfolgen würde. Was sich damit andeutet, ist die Kultivierung geschlechtstypischer Habitualisierungen, die sich bereits in der beinahe naturalistischen Selbstkonstruktion als schüchterne und zurückhaltende Person anbahnt. Insgesamt dient das Studium der Erzählerin in der Retrospektive vorwiegend als Reflexionsfolie für ihre eigene sportliche Entwicklung. Es wird nicht maßgeblich als Qualifikation für die angestrebte Berufstätigkeit als Sportlehrerin präsentiert. Bedeutsam hierfür wird vielmehr das Referendariat konstruiert, bei dem ein direkter Bezug zu jenem biographischen Wissen um gelungenen Sport hergestellt wird, das die Erzählerin im Rahmen ihrer Kindheit erworben hat. Einmal mehr zeigt der Fall Marlene Auerbach, dass das Studium hinsichtlich seines Wertes für den Professionalisierungsprozess als „low-impact-enterprise“ (Lortie, 1975) bewertet werden kann.
4.2.4 Referendariat: Lernen am biographisch anschlussfähigen Vorbild und Transformation biographischer Wissensbestände Die Ausgangssituation, mit der die Erzählerin in dieses Subsegment einführt, beschreibt die erste Kontaktaufnahme mit dem Sportkollegium und ihrer zukünftigen Mentorin im Lehrerzimmer. Diese gestaltet sich insbesondere zu der Gymnastiklehrerin, die später ihre Mentorin wird, als schwierig, denn im Kollegium ist bekannt, dass Marlene bereits Erfahrung im Bereich der Hochschullehre hat. Bei ihrem ersten Kontakt liegt außerdem ein Heft der Zeitschrift ‚Sportunterricht’ auf dem Tisch im Lehrerzimmer, in dem Marlene in einem Artikel bei der Ausführung von bestimmten Bewegungselementen abgebildet ist: E:
I: E:
äh ja das hatten die jetzt diese äh Lehrerinnen /an der Schule eben halt offensichtlich in Händen gehabt und haben gedacht da kommt jetzt also jemand die kann alles nech? ((lachend))/ hmh /so ((lachend))/ und und waren dann also äh zunächst äh ja sehr sehr vorsichtig ((lacht)) äh in dem was sie mir also da nun nun nun mitgeben oder sagen sollten.
Marlene Auerbach hingegen nimmt, damals an, dass man ihr gar nichts sagen wolle. Dieses anfängliche Missverständnis lässt sich jedoch nach einigen Hospi-
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
tationsstunden im Gespräch ausräumen, indem sie der Gymnastiklehrerin ihre Anerkennung für die imponierende Art und Weise ihres Unterrichtens zum Ausdruck bringt. In diesem Zusammenhang relativiert Marlene Auerbach auch ihre eigene Kompetenz, was im Kontext der Kultivierung geschlechtstypischer Habitualisierungen interpretiert werden kann. Sie trennt ihre verschiedenen sportlichen Tätigkeitsfelder zunächst von einander ab in das Tätigkeitsfeld Hochschullehre/Sportpraxis, das Tätigkeitsfeld Vereinsarbeit und das Tätigkeitsfeld Schule/ Sportunterricht, um dann jedoch zu überprüfen, wo sich eventuelle Anschlussmöglichkeiten und Verknüpfungen bieten: E:
I: E: I: E:
dass ich natürlich jetzt mit den Fähigkeiten die ich in dem Bereich hatte da – sicherlich eben halt nen Gymnastik=Tanz=Kurs in der Oberstufe äh – ja Anklang finden könnte mit vielen Dingen hmh das war mir klar. Aber eben halt wie gesagt das andere Tätigkeitsfeld kannte ich ja nun überhaupt nicht hmh außer aus der Vereinsarbeit. Und das war ja aber auch immer nur sehr einseitig.
Ihre beiden bisherigen sportlichen Tätigkeitsfelder – der Sportverein einerseits und die sportpraktische Ausbildung an der Universität andererseits – greift Marlene Auerbach bei der Erschließung ihres neuen Tätigkeitsfeldes – nämlich des Sportunterrichtens an der Schule – auf und setzt sie in Beziehung: Die Verbindung scheint darin zu bestehen, dass mit Kindern und jüngeren Jugendlichen gearbeitet wird, im Gegensatz zu jungen Erwachsenen an der Hochschule und älteren Jugendlichen in der Oberstufe und daraus resultierenden methodisch/didaktischen Implikationen (z. B. Bewegungseinführung in den verschiedensten technischen Bereichen). Auch hier ‚sondiert’ Marlene Auerbach wieder ihre bisherigen Erfahrungen auf Anschlussfähigkeit für die neue biographische Situation und sucht nach biographischen Wissensbeständen, die sie in die neue Tätigkeit integrieren kann. Wie bereits erwähnt, orientiert sich die Erzählerin während des Referendariats insbesondere an einer Gymnastiklehrerin,88 die sie sich nach einigen Hospi88
Interessant scheint mir hier auch, dass die Erzählerin ihre Mentorin über die Art ihrer Ausbildung, nämlich „Gymnastiklehrerin“ einführt. Die Ausgangsbasis für die Zusammenarbeit von Marlene und ihrer Mentorin sind von mehrdimensionalen hierarchischen Aspekten begleitet. So steht die junge, schulisch unerfahrene Referendarin der älteren berufserfahrenen Sportlehrerin gegenüber. Diese Konstellation entspricht auch der institutionellen Rahmung „Auszubil-
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tationsstunden als Mentorin auswählt. Sie beschreibt die Art des Unterrichtens dieser Gymnastiklehrerin auf detaillierte Weise, die auf eine reflektierte Position zu dieser Phase bzw. dem Lernen von dieser Person schließen lässt. Ein weiteres Indiz hierfür ist die anschließende Konstruktion ihres eigenen Verständnisses von ‚gelungenem Sportunterricht’, bei der sich Marlene Auerbach direkt in Beziehung zu dem beschriebenen Profil der Gymnastiklehrerin setzt: E:
I: E:
I: E:
und man sieht das dann und denkt naja so äh - möchtest du es eigentlich auch machen ne? Und bei den ersten Versuchen /scheitert man dann immer noch ganz kläglich ((lachend))/ hmh ((Auflachen)) weil man ähm - ja es ist einfach noch nichts natürlich gewachsen wie man das bei bei der jetzt schon so war ne? hmh - und aber für mich war das immer ein Ziel so so zu werden.
Auffällig ist die Parallelität zwischen der Art und Weise, wie die Erzählerin den Unterrichtsstil der Gymnastiklehrerin und im weiteren Verlauf des Interviews dann ihren eigenen beschreibt. Würde nicht anders eingeführt, so könnte man meinen, es handle sich um ein und dieselbe Person. Die Mentorin motiviere ihre Schüler/innen durch differenzierte Aufgabenstellungen und werde so in der Wahl der Übungen der Heterogenität der Schulklassen gerecht. Mit ihrem „natürlichen Gespür, jeden zu bestärken“ gelinge es ihr, die Stunden so zu gestalten, dass alle mit „einem Gewinn“ aus der Stunde hinausgegangen seien. Die Art der Mentorin ihre Schüler/innen zu korrigieren sei in „einem Ton, der bestärkend wirkt“ gewesen. Und schließlich stellt Marlene Auerbach fest: „Sie hatte wirklich so viele kleine Tricks“. Die Charakteristika der Art des Unterrichtens ihrer Mentorin hebt sie auch bei der Darstellung ihres eigenen Unterrichtens z. T. sogar mit identischen Formulierungen hervor. Es gehe ihr darum, Sportunterricht so anzulegen, dass man alle auf ihrem individuellen Level daran beteiligen kann. Die Schüler/innen möchte sie dazu anhalten, dass sie sich auf die Aufgaben und die Bewegung dende vs. Mentorin“. Allerdings wird diese Hierarchie durch zwei biographische Aspekte der beiden Personen in gewisser Weise umgekehrt oder zumindest angetastet: Zum einen ist die Mentorin ausgebildete Gymnastiklehrerin. Sie hat also eine zweijährige Schulausbildung durchlaufen an Stelle des wissenschaftlich ausgerichteten Hochschulstudiums mit Zweitfach, das Marlene Auerbach erfolgreich absolviert hat. Darüber hinaus verfügt Marlene Auerbach über Lehrerfahrungen an der Universität in den sportpraktischen Bereichen „Gymnastik/Tanz“ und „Turnen“, was ja zu den bereits geschilderten Annäherungsproblemen geführt hat. Dennoch – trotz dieser Hürden – entschließt sich Marlene nach einigen Hospitationsstunden für diese Mentorin.
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überhaupt erst einmal einlassen, um dann ein Gefühl zu schaffen, dass sich für jeden individuell die Stunde gelohnt hat. Ausreden von vorn herein würde sie nicht akzeptieren, sondern zum Ausprobieren motivieren und erwarten, dass die Schüler/innen „doch auch sich konfrontieren lassen“. Positive Erfahrungen gelte es zu verstärken, aber man müsse auch akzeptieren, wenn das positive Erleben ausbleibe (z. B. wenn jemand zu viel Angst hat). Dann sollte man aber deutlich machen und auch so planen, dass bei der nächsten Einheit für diese Person(en) evtl. wieder mehr Spaß entstehen könne. Die Erzählerin formuliert bei diesen Schilderungen den Leitspruch „Kritik kann man erst dann üben, wenn man es auch wirklich kennen gelernt hat … und nicht eine Kritik von vorn herein“. Im Sinne einer übergeordneten Prämisse äußert Marlene Auerbach, dass sie auch nach 28 Jahren Berufstätigkeit versuche, in jede Stunde so hineinzugehen, dass man nicht das Gefühl hat, das sei nur noch Routine, ein „abgespultes Programm“. Das eigene Beteiligtsein ist ihr dabei sehr wichtig. Betrachtet man im Vergleich die Beschreibung, die sie von ihrer Mentorin gibt, so werden auch hier wieder Parallelen deutlich, da sich die Mentorin in der Re-trospektive der Erzählerin durch einen gleich bleibenden Elan und unveränderte Begeisterungsfähigkeit für die Sache auszeichnet und jede Stunde so hält als ob es die erste sei. An dieser Stelle lässt sich der eingangs formulierte Kode der Bewegungsfreude als leitendes Motiv in vielen Details der Beschreibung des Unterrichtsstils der Gymnastiklehrerin wieder finden. Die Erzählerin benutzt z. T. sogar dieselben emotiven Begriffe wie bei der Beschreibung der ‚sportlichen Heimat’ ihrer Kindheit. Marlene Auerbachs biographisches Wissen um ‚gelungenen Sport’, das sie in ihrer sportlichen Heimat ‚Verein’ erworben hat, scheint durch einen Umdeutungsprozess in Wissen um gelungenen Sportunterricht anschlussfähig geworden zu sein und hat so Eingang in das berufliche Tätigkeitsfeld gefunden. Die Komponente des Wissens um gelungenen Sport hat auf diese Weise quasi ein Wissen um gelungenen Sportunterricht erzeugt und bildet die Grundlage für die Mentorinnenwahl der Erzählerin. Sie sucht sich eine zu ihr passende, an ihr biographisches Wissen anschlussfähige, Mentorin aus und strebt an, ihr sogar gleich zu werden. Das einmal erworbene biographische Wissen über ‚gelungenen Sport’ sowie die ‚angemessene’ Anleitung und Ausrichtung sportlicher Angebote wird hier erneut im Sinne eines kulturellen Kapitals bedeutsam für das biographische Projekt der Erzählerin. Der damit verbundene Habitus bietet eine Orientierungssicherheit in Bezug auf das Auffinden von biographisch reibungslosen Anschlussmöglichkeiten in neuen Situationen und Settings.
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4.2.5 Ausgestaltung des Profils als Sportlehrerin und ‚freie’ Berufsausübung als Rückkehr zu den eigenen Wurzeln Nach dem Referendariat kehrt Marlene Auerbach mit ihrem Mann, den sie im Chemiestudium kennen gelernt und vor Beginn des Referendariats geheiratet hat, in ihre Geburtsstadt zurück. Diese Rückkehr ergibt sich ihrer Schilderung nach eher zufällig: E:
I: E: I: E:
I: E:
und dann haben wir uns hier – in M-Stadt (Referendariatsort, V.R.) beworben - - und eben halt einfach nachgefragt wo denn Bedarf ist. Und dann waren wir einen Tag hier in A-Stadt – ich kam ja nun gebürtig aus A-Stadt - - und da ergab sich ganz zufällig nen Kontakt zu meiner ehemaligen ähm – Schulleiterin – hmh und äh die dann gleichzeitig ähm Vorsitzende der Bezirksdirektorenkonferenz zu der Zeit war hmh das gibt’s ja jetzt so nicht mehr – ja und dann hat die so spontan gesagt also äh äh sie hätte hier also so viele Anfragen – also sie würd in A-Stadt dafür sorgen dass wir dann da – hmh unterkommen würden. Ja und dann ergab sich so’n Kontakt und innerhalb eines Tages hatten wir eigentlich dann beide in A-Stadt eine Stelle.
An dieser Schule, an der sie ihre erste Stelle bekommt, unterrichtet Marlene Auerbach seit diesem Zeitpunkt, unterbrochen nur durch zwei Babypausen nach den Geburten ihrer beiden Söhne. Seit der Geburt ihrer Kinder arbeitet Marlene Auerbach in Teilzeit. Ihr Stundendeputat im Sport hat schon seit längerem nur noch einen geringen Stundenumfang. Zum Zeitpunkt des Interviews unterrichtet sie lediglich in einer neunten Klasse zwei Stunden Sport. Zusätzlich engagiert sie sich in einer Turn-AG, die sie als ausgesprochen positiven Rahmen für die sportliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen empfindet: E:
I: E:
(P./4 sec.) aber das ist immer wirklich so – ja diese ja dass sie Freude am Bewegen haben. Dass sie also an diesen kleinen Erfolgen die sie haben auch sich selber immer sehr freuen können hmh und dann weiter machen und - - also ich glaube es ist mir ist es schon wichtig dass äh – dass äh sie von - - diese Freiwillig-
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien keit die darin veranlagt ist also ich glaube so einen großen Druck ausüben könnte ich nicht
Eine strukturelle Gemeinsamkeit mit dem Ort des ursprünglichen Sportengagements der Erzählerin wird hier deutlich. Genauso wie im Sportverein ist die Freiwilligkeit der Teilhabe strukturelles Prinzip der AG-Arbeit. Darüber hinaus scheint das Wirken im Kleinen und vielleicht sogar eher Verborgenen für sie anstrebenswert. Sie kultiviert damit erneut geschlechtstypische Habitualisierungen, wie z. B. Bescheidenheit und innere Freude. Auch die Freiwilligkeit und das Ablehnen von Druck lässt sich dem geschlechtstypisch weiblich konnotierten Motiv der Fürsorge zuordnen. Diese Kriterien für die ‚ideale’ Form der sportlichen Arbeit erfüllt die Institution Schule hingegen nicht. Sie stellt fest: E:
also äh da f_ hab ich fühl ich mich dann auch plötzlich wirklich so wieder wie wie ganz früh als ich anfing quasi mit Übungsleiterschein dann im Verein zu arb_ äh ja ne kleine Leistungsgruppe Turnen aufzubauen.
Die biographische Verknüpfung der verschiedenen Tätigkeitsfelder und die Bedeutung der ‚sportlichen Primärerfahrungen’ in dem Sportverein werden immer wieder aufgegriffen, was sich in der Kategorie der Bewegungsfreude besonders deutlich rekonstruieren lässt. Im privaten Bereich erzählt Marlene Auerbach von einer ähnlichen Rückwendung, die mit der Geburt ihrer Kinder in Zusammenhang steht. Den durch ihre Teilzeitarbeit und die Einbindung ihrer eigenen Mutter in die Kinderbetreuung „gewonnenen Freiraum“ füllt sie, indem sie die Leitung einer Mutter-undKind-Gruppe in ihrem Ursprungssportverein übernimmt und somit nicht nur zum Ort des Aufwachsens, sondern auch zum Ausgangspunkt ihrer eigenen ‚Sportbiographie’ zurückkehrt. Genau wie ihre eigene Mutter nimmt sie dann ihre Kinder mit zu diesen Übungsstunden. Sie kultiviert und reproduziert hier jene Habitualisierungen, die ihr vorgelebt worden sind. Diesen kultivierenden Charakter bekommt die Habitualisierung gerade durch diese ganz bewusste Pflege der verinnerlichten Sozialisationsmuster, die an die Bourdieuschen Ausführungen zur Somatisierung der Geschlechterverhältnisse denken lassen (vgl. 1997, S. 166ff.). In ihrer Rolle als Lehrerin definiert sich Marlene Auerbach deutlich stärker als Naturwissenschaftlerin denn als Sportlehrerin: E:
äh da wirklich eben halt äh - - ja noch jüngere Kinder mit Naturwissenschaften zu konfrontieren da Konzeptionen zu über-
4.2 Biographisches Wissen um gelungenen Sport
I: E: I: E:
I: E:
I: E:
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legen also die sind mir einfach in den Naturwissenschaft - liegen mir mehr am Herzen als im Sport. hmh hmh deswegen weiß ich gar nich ob ich so geeignet bin hier als /Sportlehrerin hier (...?) darzustellen ((lachend))/ ((lacht laut )) /dass Sie Sportlehrerin sind das reicht schon ((lächelnd))/ /das reicht schon ((lachend))/ ja also das ist äh - - ja - ich das ist also wirklich so von von der eigenen - Nähe dazu aber in der Schule SELBER - - muss ich sage äh – bin ich äh im im Sport – ja sobald irgendwas ist – bin ich auch dabei ne? hmh weil ich ähm der diese Anbindung werd ich nich los also auch jetzt äh so was auf den Weg zu bringen eine Konzeption wie jetzt zum Beispiel so etwas Neues – dieses Sportklassenkonzept oder eben halt auch ähm die neuen Richtlinien umsetzen sei es für die Oberstufe – oder jetzt für die Sekundarstufe eins hmh also wirklich jetzt die neuen Dinge die da äh Ideen die angelegt sind die Pädagogischen Perspektiven umzusetzen – die Kreativität wie kann man jetzt die Unterrichtsbausteine zusammenbringen – äh das reizt mich immer unheimlich wieder so dass ich dann letztlich auch wieder in so ner Fachschaft dann so’n bisschen so (munter?) werde
Dennoch wird deutlich, dass sie über ihre Unterrichtstätigkeit hinaus auch auf schulorganisatorischer Ebene ein hohes Engagement mit Interesse an der Entwicklung neuer Konzeptionen und der Umsetzung kreativer Ideen zeigt. Sie kennt sich mit den aktuellen fachspezifischen theoretischen Konzepten im Sport aus und arbeitet aktiv an ihrer schulischen Verankerung mit. Auch in der Chemie zeigt sie eine große Fachkompetenz und ist über ihre Schultätigkeit hinaus in einem Hochschulprojekt in Form eines Experimentierlabors für jüngere Kinder involviert. Ihr hohes Engagement wird sicher nicht nur auf schulinterner Ebene anerkannt; dennoch bleibt eine ‚messbare’ Anerkennung z. B. in Form eines beruflichen Aufstiegs89 aus. Die Erzählerin beschreibt, häufig Gelegenheiten gehabt zu haben, einen beruflichen Aufstieg zu initiieren:
89
Die stundenweise Abordnung an die Universität ist nicht mit einer Höherbezahlung o. ä. verbunden. Es ist lediglich eine symbolische Anerkennung der Kompetenz, dafür ausgewählt zu werden. Die Arbeit auf zwei Teilzeitstellen gleichzeitig ist normalerweise mit Mehrarbeit verbunden, die jedoch nicht finanziell abgegolten wird. Denn an beiden Arbeitsplätzen kommen zusätzlich zur eigentlichen Tätigkeit, organisatorische Aufgaben, Konferenzen etc. hinzu.
174
4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien E:
oder - ähm – dann ja halt auch diese ganze Diskussion um um Frauenförderung da de_ ich weiß nicht wie oft ich angesprochen worden bin ob ich da nicht irgendwo mich als stellvertretende Schulleiterin mal bewerben wollte und so weiter
Als Grund für die Ablehnung dieser Angebote nennt Marlene Auerbach die große Bedeutung des Unterrichtens als ihren „eigentlichen Beruf“, den sie auch weiterhin ausüben möchte. Im Gegensatz dazu stehen für sie die schulorganisatorischen Aufgaben, die zwar auch erledigt werden müssen, aber nicht dieselbe Zufriedenheit bei ihr auslösen: E:
es ist einfach so dass ich auch heute noch äh – ja am zufriedensten bin wenn ich also aus ner Stunde heraus komme und das Gefühl hab die ist gut gelaufen.
Wenn man jedoch ihr hohes Engagement im schulorganisatorischen und konzeptionellen Bereich berücksichtigt, liegt die Vermutung nahe, dass es möglicherweise auch noch andere Gründe für die Ablehnung gibt, wie z. B. ein (auch geschlechtsspezifisch geprägter) Habitus, der ein Streben nach ‚Höherem’ nicht vorsieht (vgl. auch das Leistungsmotiv im Sport, die Berufswahl, die Ablehnung der Universitätsstelle etc.). Die Kultivierung von an ihrer sozialen Herkunft ausgerichteten und geschlechtstypisch markierten Habitualisierungen kommen hier erneut zum Tragen. Das Prinzip der Ehrenamtlichkeit lässt sich hier zumindest in der Einstellung zum eigenen (überdurchschnittlichen) Engagement wieder finden. Eine weitere Entscheidung gegen den beruflichen Aufstieg trifft Marlene Auerbach als ihr bereits zu einem recht frühen Zeitpunkt ihrer Berufstätigkeit die Bewerbung zur Fachleiterin an das ortsansässige Studienseminar für die zweite Phase der Lehramtsausbildung nahe gelegt worden ist. Sie lehnt die Bewerbung damals ab, weil sie sich der Sache nicht gewachsen fühlt und diese Tätigkeit als mit der zu diesem Zeitpunkt zu ihren Aufgaben zählenden Betreuung der eigenen Kleinkinder schwer zu vereinbaren einschätzt. Eine Aufteilung der Familienarbeit durch z. B. Teilzeitarbeit ihres Mannes, der ebenfalls Lehrer ist, wird hier nicht als Option in Erwägung gezogen. Durch die deutliche Verlagerung des Unterrichts in die Chemie und die Rückwendung zur Vereinsarbeit bzw. AG-Arbeit als freiwillige Teilhabe am Sport ohne Zwang und mit dem Ziel der Vermittlung von Bewegungsfreude, gelingt es Marlene Auerbach, den durch Habitualisierungen definierten Rahmen so auszugestalten, dass im Beruf tatsächlich die Chemie zum Haupttätigkeitsfeld wird, während sie den Sport mehr und mehr in seine ursprüngliche Form der sinnvollen und erfüllenden Freizeittätigkeit zurückverlagert.
4.2 Biographisches Wissen um gelungenen Sport
175
4.2.6 Analytische Abstraktion Die biographische Selbstpräsentation Marlene Auerbachs ist von durchgängiger Kontinuität geprägt. Gleich einer „trajectoire“, um mit Bourdieu zu sprechen, geht die Erzählerin ihren Weg, der von seinem Ausgangspunkt im sozialen Raum geprägt ist und wählt in biographisch ‚heiklen’ Situationen den zu ihrem biographischen Wissen passenden unproblematischen Anschluss, der in der Konsequenz seiner Logik habituellen Charakter entwickelt. Die gleiche Art und Weise zu entscheiden, findet sich an verschiedenen biographischen Eckpunkten wieder und lässt sich anhand dieser Konstruktionsschemata aufzeigen. Als bestimmender Faktor ist dabei die soziale Herkunft der Erzählerin zu benennen. Marlene Auerbach konstruiert das Bild ihrer Familie über den Sportverein, in dem alle Familienmitglieder auf verschiedene Weise engagiert sind. Sie stellt damit ihre sportliche und familiäre Herkunft in enger Verknüpfung vor. Diese exponierte Position des Sportvereins bleibt im Verlaufe der Erzählung bestehen, indem die Erzählerin immer wieder explizit aber auch implizit (vgl. z. B. die Transformation von ‚gelungenem Sport’ in ‚gelungenen Sportunterricht’) auf das dort Angeeignete Bezug nimmt. Diese Identifikation gipfelt in der Rückkehr zum Geburtsort und in den Ursprungssportverein, in den sie sich dann mit einem identischen Engagement wie damals ihre eigene Mutter, einbringt. Die Berufswahl stellt Marlene Auerbach als einen durch ihr Geschlecht ‚notwendigen’ Kompromiss dar. Weder die Lehrtätigkeit noch eine berufliche Verortung im Sport waren angestrebt. Vielmehr hat der Sport sich in dieser biographischen Entscheidungsphase aus Sicht der Erzählerin als Ergänzung zum eigentlichen Interesse deshalb angeboten, weil es sich um ein bereits teilweise erschlossenes Tätigkeitsfeld gehandelt hat und sie so auf ihre eigenen biographischen Erfahrungen im Sinne einer Ressource hat zurückgreifen können. In beruflicher Hinsicht nimmt für sie die geschlechtstypische Frage nach Vereinbarkeit von Familie, d. h. insbesondere Kindererziehung, und Beruf eine zentrale Position ein. Zwar stellt sie dies als gemeinsame Aufgabe von sich und ihrem Partner dar, dennoch ist sie diejenige, die die berufliche Einschränkung (z. B. Teilzeitarbeit, Ablehnung der Fachleitung) mit einer Selbstverständlichkeit umsetzt. Ihre eigene Mutter hat bis zur Geburt des ersten Kindes als Näherin gearbeitet und sich dann – „wie es damals so üblich war“ – ausschließlich der Familienarbeit gewidmet. Auch für Marlene Auerbachs Biographie bestimmt ihre Geschlechtszugehörigkeit die soziale Rahmung dessen, was möglich ist, mit. Sie wählt ihren Beruf entsprechend aus und stellt auch in der folgenden Zeit ihrer Berufstätigkeit die Familienarbeit und Kindererziehung als ihre Aufgabe in den Vordergrund.
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Ein wesentlicher Aspekt ist in diesem Zusammenhang auch die Ablehnung aller sozialen Aufstiegsmöglichkeiten. So beginnt diese ‚Vermeidung’ mit der Berufswahl, die nicht entsprechend ihres ursprünglichen Interesses getroffen wird. Darüber hinaus nimmt sie die Möglichkeit, an der Universität zu arbeiten nicht wahr,90 sondern bleibt bei ihrer Entscheidung, in die Schule zu gehen. Auch dieses Tätigkeitsfeld eröffnet ihr im Laufe der Zeit vielfältige Möglichkeiten des Aufstiegs (Fachleitungstätigkeiten, Frauenförderungsmaßnahmen, Aufstieg in Schulleitungsfunktionen), die sie nicht annimmt. Die einmal getroffene Entscheidung bleibt richtungweisend und wird auch nicht mehr verlassen. Ein weiteres Konstruktionsschema lässt sich in der sportlichen Orientierung rekonstruieren. Die breitensportliche Ausrichtung ohne gezielte Leistungsförderung bleibt beständig und wird sogar in eine Grundhaltung gegenüber Sport und auch Sportunterricht transformiert. Die hohe Bedeutung, die Marlene Auerbach dem eigenen (auch körperlichen) Erfahren von sportlicher Bewegung beimisst, um diese vermitteln zu können, kann als Verbindung zur Entwicklung dieser Grundhaltung interpretiert werden. Auch aus einer übergreifenden von der einzelnen Bewegung abstrahierenden Perspektive vermittelt Marlene Auerbach genau das, was sie selbst im Sport erfahren hat. Diese Habitualisierungsmuster finden sich auch in ihrem Sprachduktus wieder, der viele passive Verbkonstruktionen enthält wie z. B. „geprägt worden“, „etwas hat sich ergeben“, „etwas wurde herangetragen“, die sie dann im Zusammenhang mit ihrer Arbeit als Sportlehrerin in der aktivischen Form benutzt. Sie spricht bei ihren Schüler/innen davon, dass sie es schön findet, sie mit zu prägen und zu formen, etwas an sie heranzutragen usw. Die Nutzung der kognitiven Figur des sogenannten Ereignisträgers (Schütze, 1984, 84ff.) als Quasi-Auslöser für Weiterentwicklung zieht sich durch die gesamte Darstellung. So ist es die Mutter, die sie mitnimmt zum Turnen, die Sportlehrerin, die sie zur Übungsleitung bringt, der innovativ unterrichtende Chemielehrer, der sie nachhaltig für dieses Fach einnimmt und die Gymnastiklehrerin im Referendariat, die es der Erzählerin ermöglicht, einen eigenen Stil, der jedoch der Darstellung nach nahezu identisch mit dem Vorbild ist, zu entwickeln. Impulse werden also von außen an die Biographieträgerin herangetragen – es sind diese „signifikanten anderen“ (ebd.), die die Richtung des biographischen Weges maßgeblich lenken, im Gegensatz zu aktiven Eigenentscheidungen. Das Originäre ‚gelungenen sportlichen Engagements’ scheint sich für diesen Fall in der Kategorie der Bewegungsfreude zu kristallisieren. Es ist sozusagen die intrinsische Freude in der Bewegung, die gleichzeitig eine entlastende 90
Die Rückkehr an die Schule wäre für Marlene Auerbach sehr wahrscheinlich jederzeit problemlos möglich gewesen, wenn sich die Tätigkeit an der Hochschule als nicht adäquat erwiesen hätte, da sie über beide Staatsexamina verfügte.
4.2 Biographisches Wissen um gelungenen Sport
177
Funktion für ihr Handeln als Sportlehrerin hat, da es ja um eine individuelle Freude am Tun geht, die das Ausüben von Druck nicht erforderlich macht. Das Sporttreiben wird darüber hinaus im Motiv der Bewegungsfreude im Sinne einer gesteigerten Lebensqualität im und durch Bewegung aufgewertet. Dieser einmal in der Familie und dem damit verbundenen Sportverein verinnerlichte Habitus bleibt beständig durch alle Ausbildungsphasen bestehen. Es werden dazu passende anschlussfähige ‚Sozialisatoren’ (z. B. die Mentorin im Referendariat) ausgewählt. Die habituelle Logik dessen, was ‚gelungenen Sport’ und ‚gelungenes sportliches Engagement’ ausmacht, bleibt selbst gegenüber der eigenen Erfahrung der verpassten Chance konsistent. Es wird das weitergegeben, was in der Primärsozialisation erfahren worden ist. Diese normative Vorstellung ist präzise und fest verankert. Sie findet sich im biographischen Fortschreiten Marlene Auerbachs immer wieder. Marlene Auerbach verlässt mit ihren Entscheidungen an neuralgischen Punkten ihrer Biographie die durch ihre (familiäre und sportliche) Herkunft gesteckte soziale Rahmung nicht. Sie bewegt sich stattdessen auf ‚bekanntem’, d. h. biographisch problemlos anschlussfähigem und somit ‚sicherem’ Terrain. Dieser soziale Rahmen in Marlene Auerbachs Biographie lässt sich als Reproduktion des Vorgelebten charakterisieren. E:
denn es hat sich so ergeben und äh ich hab auch keine - in dem Sinne jetzt keine Anstrengungen unternommen es irgendwo da - gravierend zu verändern sondern - tja so wie ich da aufgewachsen bin geprägt worden bin hab ich das einfach angenommen und letztlich eben halt dann - darauf aufbauend - das gemacht.
Dennoch gibt es vielfältige Möglichkeiten auf dem eigenen Aufwachsen aufzubauen, was sich in den potentiellen Alternativen zu den im Folgenden dargestellten Handlungsschemata rekonstruieren lässt und in der ausführlichen Fallanalyse an verschiedenen Stellen bereits angedeutet worden ist. Das aus der Außenperspektive Machbare wird von der Erzählerin scheinbar nicht als solches gesehen. Es gibt diesen einen Weg, dem sie entsprechend auch folgt. Dieser bewusste Versuch zur Tradierung von Habitualisierungsmustern ist in der Fallanalyse bereits mit dem Begriff der Kultivierung benannt worden. Wie bereits in Kapitel 3.2 erwähnt, sind es jene traditionsbildenden Mechanismen, die in relativ ‚universalistische’ normative Orientierungen münden und auf diese Weise biographisches Wissen im Sinne eines ideologischen Überbaus entstehen lassen (vgl. Alheit, 1989). Die Art und Weise, in der Marlene Auerbach ihr biographisches Wissen an das berufliche Feld anschlussfähig macht, beginnt mit der Sondierung relevanter
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
biographischer Wissensbestände. Hier ist es jenes Wissen um gelungenen Sport, das zum ersten Mal in einer biographischen Entscheidungssituation im Sinne einer Ressource aktiviert wird. Dann wird dieser Wissensbestand im Laufe der Ausbildung umgedeutet und transformiert, so dass das biographische Wissen schließlich in das berufliche Handeln und Deuten integriert wird. Es kann als Produkt der Habitualisierungsprozesse verstanden werden. Marlene Auerbach verfügt über eine herkunftsbedingte Sportkultur, die sie im Sinne kulturellen Kapitals als Ressource für ihr berufliches Handeln und Deuten aktiviert und integriert. Die Anschlüsse der lebensgeschichtlichen Erfahrungen werden also in dieser biographischen Erzählung im Kontrast zur ersten Fallstudie integrativ hergestellt. Das biographische Wissen fungiert sozusagen als ‚Sozialisationsagent’ in den biographisch heiklen Situationen und führt zu einer über Habitualisierungen hergestellte Kohärenz zwischen der Herkunft und dem eigenem Lebensweg.
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung im Kontext eines lebensgeschichtlichen Phasenmodells (Corinna Landwehr) Das Interview mit Corinna Landwehr hat am 28.05.2003 bei der Interviewpartnerin zu Hause im Garten stattgefunden. Der Kontakt ist mir über einen befreundeten Lehrer vermittelt worden. Auswahlkriterien sind in diesem Fall ein gehobenes Herkunftsmilieu im Vergleich zu den bisherigen Fällen, weibliches Geschlecht, Zugehörigkeit zu jüngeren Alterssegment, die Schulform Gesamtschule und eine ballsportliche Ausrichtung gewesen. Damit ist eine Kontrastierung mit dem Ziel, weitere Dimensionen zur Art und Weise des Anschließens lebensgeschichtlicher Erfahrungen an das berufliche Feld zu eruieren, angestrebt worden. Vor dem eigentlichen Interviewtermin hat ein ausführliches telefonisches Vorgespräch stattgefunden. Corinna Landwehr ist sehr offen für mein Interesse gewesen und es hat sich sofort eine relativ vertraute Gesprächsatmosphäre ergeben, die dann auch in der Interviewsituation durch das Rekurrieren auf ‚geteiltes Wissen’ zwischen Interviewter und Interviewerin recht schnell wieder hergestellt worden ist. Corinna Landwehr unterrichtet zum Zeitpunkt des Interviews die Fächer Sport, Englisch und Französisch an einer ländlich gelegenen Gesamtschule. Sie ist 1965 in A-Stadt geboren worden und hat einen vier Jahre jüngeren Bruder. Dieser ist promoviert und arbeitet als Manager bei einem großen Automobilhersteller. Sport treibt er seit dem Studium nicht mehr. Er „hat andere Dinge im
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung
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Kopf“. Der Vater ist in leitender Position der Einkaufsabteilung einer Möbelfabrik tätig gewesen, die Mutter Buchhalterin bei einem großen Getränkekonzern. Beide Eltern sind sportlich interessiert (Tennis, Kegeln, Schwimmen und „Hausfrauenturnen“), haben jedoch aus Altersgründen mit dem Sport aufgehört. Über die aktuelle private Lebenssituation Corinna Landwehrs erfährt man im Interview fast nichts. Die gegebenen Informationen beziehen sich lediglich auf ihr aktuelles sportliches und berufliches Engagement. Dies könnte mit ihrer Theorie über die Gesprächssituation zusammenhängen, da sie sich inhaltlich stark auf Sport konzentriert. Der Aufforderung, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, kommt sie daher zu Beginn nicht nach. Zwar wählt sie einen der klassischen Einstiege, indem sie ihr Geburtsdatum und den Geburtsort nennt, geht dann jedoch recht schnell über in eine theoretisch reflektierende Darstellungsweise der Bewegungsräume ihrer Kindheit. Auch dieser Fall wird in chronologischer Abfolge in Orientierung am objektiven Bildungsgang und anders als bei den beiden vorherigen Fallstudien in Beziehung zu den anderen Fällen dargestellt.
4.3.1 Kindheit und Jugend als Findungsphase für die adäquate Rahmung von Sport – „Ich war schon gewöhnt, dass man etwas beigebracht kriegt“ Nach der Ratifizierung des Erzählimpulses beginnt Corinna Landwehr ihre Ausführungen wie folgt: E:
I: E: I: E:
I:
gut - also Lebensgeschichte - geboren bin ich - - ist vielleicht ganz spannend - 1965 - erster erster fünfundsechzig in AStadt mhm äh - und hab dann EIN Jahr lang mitten in der Stadt gelebt daran kann ich mich logischerweise nicht mehr erinnern ja äh danach sind wir in Richtung Uni gezogen - also waren schon auch noch in A-Stadt bis / ich sechs Jahre alt war ((leise werdend))/ mhm
Sie deutet insbesondere mit dem „ist vielleicht ganz spannend“ an, dass es in Bezug auf ihr Leben eine erzählenswerte, da nämlich spannende, Geschichte zu erzählen gibt. Darüber hinaus wird auch auf eine Entwicklung angespielt, die sich hier zunächst in Ortsveränderungen durch Umzüge andeutet.
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Der erste Umzug wird direkt benannt, während der zweite sich nur durch die zeitliche Markierung des Verbleibs in A-Stadt bis zum sechsten Lebensjahrs erschließen lässt. Corinna Landwehr baut auf diese Weise einen für die Erzählung notwendigen Spannungsbogen auf. Auch wird deutlich, dass sie Ortskenntnis bei der Interviewerin voraussetzt, da sie die Universität als markanten Orientierungspunkt benennt, der die Bedeutung des Umzuges hinsichtlich der Veränderung der räumlichen Umgebung präzisiert. Bemerkenswert ist, dass die Erzählerin nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, in ihre lebensgeschichtliche Erzählung einsteigt, sondern direkt mit theoretisch reflektierenden Beschreibungen zu den Bewegungsräumen und möglichkeiten ihrer Kindheit beginnt. Sie entwirft ein Umfeld, das ähnlich wie bei den beiden anderen Fällen viel Raum für Bewegung bietet. Hier handelt es sich allerdings um ein innerstädtisch gelegenes Wohngebiet mit Verkehrsberuhigung. Dabei konzentriert sich die Erzählerin darauf, die vorteilhaften Bedingungen für kindliches Bewegen hervorzuheben. Obwohl sie städtisch wohnt, bietet sich hier viel Gelegenheit zum freien Spiel in der verkehrsberuhigten Anliegerstraße, in der die Familie vom zweiten bis zum sechsten Lebensjahr der Erzählerin wohnt: E:
I: E: I:
an die Phase kann ich mich eigentlich noch ganz gut so erinnern - - das war - heute würde man das wahrscheinlich mit verkehrsberuhigte Straße nennen - aber ne Straße mit halt fast keinen Autos drauf auf den wir dann auch immer ja alles ausprobiert was Kinder so probieren können mhm da hab ich halt Fahrradfahren gelernt und Rollschuhlaufen und alles was man ja was das Kinderherz so begehrt mhm
Ähnlich wie Marlene Auerbach skizziert Corinna Landwehr eine kindliche Bewegungsidylle, die jedoch hier stärker durch die innerstädtische Lage geprägt ist. Darüber hinaus bezeichnet sie diesen Abschnitt ihrer Lebensgeschichte mit dem Begriff der Phase und führt damit einen In-vivo-Kode ein, der sich im weiteren Verlauf der Analyse zur zentralen Kategorie der ‚Lebensphase’ ausdifferenziert. Hier markiert die Formulierung jedoch zunächst einmal nur die zeitliche Begrenztheit des dargestellten Settings. Dieses zeichnet sich inhaltlich durch folgende Charakteristika aus: Corinna Landwehr verfügt wie selbstverständlich über eine materielle Ausstattung (Fahrrad, Rollschuhe), die das Sammeln von Bewegungserfahrungen fördern. Nicht nur die Umgebung an sich bietet Anreize, sondern es wird gezielt Spielmaterial
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung
181
zur Verfügung gestellt, dessen Nutzung dann – auch gemeinsam mit Erwachsenen – geübt wird: E:
I: E: I: E:
war ganz toll - die hatte auch n leichtes Gefälle die Straße und dann so klassisch mit nem Fahrrad werd ich nie vergessen - äh - - so nach dem Motto es hält hinten einer fest und man strampelt und strampelt ah ja ja ((lachend)) und man sagt hey ich kanns - dreht sich um - oh da is ja gar keiner mehr ja weil das Gefälle dann doch so war das man als Erwachsener da nicht hinterher kommt
Diese Charakteristika bilden in verschiedener Hinsicht Kontraste zu den beiden anderen Fällen. Weder Marlene Auerbach, noch Rudolf Hinze verfügen mit einer solchen Selbstverständlichkeit über eine entsprechende Sportausstattung, was die Bedeutung des Herkunftsmilieus als materielle Gelegenheitsstruktur exemplarisch verdeutlicht. In der Bourdieuschen Terminologie der Kapitale gesprochen, zeigt sich hier neben dem ökonomischen Kapital in Form von Sportgeräten jedoch auch die Weitergabe bzw. Anbahnung von kulturellem Kapital durch die aktive Förderung des Erwerbs von Kulturtechniken in einem weiteren Sinne, wie z. B. dem Radfahren. Auch Marlene Auerbach kann in diesem Bereich auf eine familial weitergegebene Ressource zurückgreifen. Diese ist jedoch stark reproduktiv, was bei Corinna Landwehr hingegen nicht der Fall ist. Rudolf Hinze verfügt über kein entsprechendes ‚Kapital’. Er entwickelt dies erst in der selbständigen Auseinandersetzung mit Bewegung und Sport. Auch in der Art und Weise der Ausführungen zur Kindheit lassen sich Kontrastierungen feststellen. In allen drei Fällen sind die reflexiv-theoretisierenden Anteile in den Ausführungen recht hoch. Bei Corinna Landwehr ist dies jedoch insbesondere zu Beginn massiv. Bei den Ausführungen zu ihrer Kindheit bleibt sie fast ausschließlich auf einem theoretisch reflektierenden Niveau. Corinna Landwehr spricht eher über Kindheit allgemein und skizziert ihr Verständnis davon, als in narrativer Form Erlebtes zu rekapitulieren. Theoretisches Wissen wird quasi biographisch untermauert; es ist jedoch nicht biographisch erworben. Bei Rudolf Hinze wechseln sich Erzähl- und Bilanzierungsphasen ab, während bei Marlene Auerbach der (selbst)reflexive und theoretisierende Anteil zum Ende des Interviews deutlich zunimmt. Diese Darstellungsmodi sind ein Indiz für die rekonstruierbaren Hintergrundkonstruktionen des jeweiligen lebensgeschichtlichen Modells der Interviewpartner/innen.
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Auffällig ist darüber hinaus auch, dass Corinna Landwehr andere Personen nicht narrativ zu Charakteren ausformt, sondern sie im Status reiner Figuren verbleiben lässt. Beim Fahrradfahren hält hinten „einer“ fest und als „Erwachsener“ kommt „man“ nicht hinter her. Corinna Landwehr stellt auf diese Weise nicht ihr eigenes Erlebnis ‚Fahrradfahren lernen’ als individuelle Erfahrung dar; vielmehr rekurriert sie auf eine Art ‚geteiltes Wissen’ darüber, wie Kinder Fahrradfahren lernen. Dieses präsentiert sie auf eine verallgemeinernde Art und Weise, die sich auch in der naturalisierenden Beschreibung des Bewegungsdrangs von Kindern äußert. Mit sechs Jahren beginnt Corinna Landwehr auf Initiative ihrer Eltern mit dem Turnen bei einem alteingesessenen Turnverein der Stadt. „JA und in dieser PHASE bin ich auch von meinen Eltern zum Turnen angemeldet worden“. Die Einteilung ihrer lebensgeschichtlichen Konstruktion in Lebensphasen wird hier erneut aufgegriffen. Schnell rückt sie in „so eine Art Leistungsgruppe“ auf und übt diese Tätigkeit „mit Leidenschaft“ aus. Hier wird erstmals und mit einem starken Begriff auf die emotionale Komponente von Bewegung und Sport hingewiesen. Der Begriff der Leidenschaft, verstanden als ein von der Vernunft nicht gezügelter Gefühlsdrang, verweist auf eine elementare, quasi natürliche, Beziehung zu dieser Tätigkeit und stimmt mit Corinna Landwehrs bereits beschriebenem Verständnis des naturalisierten Bewegungsdrangs bei Kindern überein. Ähnliche Darstellungen finden sich auch bei Marlene Auerbach. Sie wählt für sich den emotional etwas schwächeren Begriff der Bewegungsfreude, während ihr Vater jedoch „Fußballer mit Leidenschaft“ gewesen ist. Rudolf Hinze konstruiert hingegen eine eher funktionale Beziehung zu Bewegung und Sport. Durch einen bereits zu Beginn des Interviews implizit angedeuteten Umzug in der zweiten Klasse erfährt der kindliche Erfahrungshorizont Corinna Landwehrs einen Bruch. Die Eltern erwerben ein Haus in einem kleinen Ort einige Kilometer vor der Stadt, in der die Familie bisher gelebt hat. E: I: E:
I:
so Zack - und da sind wir nach W-Heim gezogen in ein Haus direkt am Wald hm und äh ja da änderte sich alles SCHLAGARTIG - also es gab zwar auch äh ruhige Straßen aber auf denen spielte man nicht mehr - jetzt waren wirklich Räuber und Gendarmspiele im Wald Budenbauen - - weiß ich nicht Indianer mit Pfeil und Bogen auf Bäume klettern irgendwie - ja immer völlig verdreckt /versandet ((lachend))/ so das war also traumschön als Kind hmm
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung E:
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irgendwie - haben wir alle sehr genossen - da waren sehr viele Kinder in unserem Alter - - ja wurde eben immer wild im Wald gespielt
Es wird deutlich, dass sich die Lebensbedingungen durch den Umzug erheblich verändern. Dennoch wird diese „schlagartige“, d. h. als unvermittelt und nicht antizipierbare Veränderung nur positiv – da erweiternd – interpretiert, was die Bewegungs- und Spielmöglichkeiten angeht. Themen, wie z. B. das Zurücklassen von Vertrautem im Sinne von Gewohnheiten und Menschen scheinen für die Beschreibung Corinna Landwehrs keine Bedeutung zu haben. Zumindest bleiben diese Aspekte unberührt, was möglicherweise auch auf die Interpretation der gesamten Gesprächssituation zurückgeführt werden kann. Für das Thema Sport haben sie keine Bedeutung. Dies deutet darauf hin, dass Sport demnach zu diesem Zeitpunkt biographisch nicht auf der Beziehungsebene, sondern auf der Ebene räumlicher Gelegenheitsstrukturen verortet ist. Diese Konstruktion steht damit in massivem Kontrast zu jener Marlene Auerbachs, die Sport quasi ausschließlich im Geflecht sozialer Beziehungen (Elternhaus, Sportverein usw.) und somit dem Miteinander konstruiert. Eine graduelle Ähnlichkeit lässt sich hingegen zur Konstruktion Rudolf Hinzes feststellen. Dieser stellt sein sportliches Engagement ausschließlich in der Bedeutung für und mit Wirkung auf sich selbst dar. Bei Corinna Landwehr ist, unter anderem auch durch die Kategorie der Lebensphase ein Veränderungspotential enthalten, das sich an diesem Beispiel nun weiter ausdifferenzieren lässt. Die oben bereits beschriebene Phase in A-Stadt endet, so dass folglich eine neue (Lebens)Phase beginnt. Phasen sind zunächst einmal allgemein gesprochen aufeinander folgende Abschnitte, die nicht unbedingt aufeinander aufbauen müssen. Phasen können relativ unverbunden hintereinander stehen bzw. aufeinander folgen. Die eine Phase wird abgeschlossen; dann beginnt eine neue. Auf die vorangegangene Interviewpassage bezogen bedeutet dies, dass Corinna Landwehr mit dem Abschluss der Phase in A-Stadt alle damit verbundenen Gewohnheiten etc. hinter sich lässt. Corinna Landwehr setzt die Phasen ihrer lebensgeschichtlichen Konstruktion – auch im weiteren Verlauf des Interviews – in Bezug zu (Wohn)Orten und Räumen. Die beschriebene Unverbundenheit zeigt sich in dieser Interviewpassage z. B. dadurch, dass Corinna Landwehr eine nur sehr oberflächliche und an den Bewegungsmöglichkeiten aufgezeigte Beziehung zwischen den beiden Phasen herstellt. Eine Bewältigungsarbeit oder intensive Neuorientierung wird nicht beschrieben. Es drängt sich das Bild des umgelegten Schalters auf: Neue Rahmenbedingungen erfordern eine Anpassungsleistung, die jedoch wie selbstverständlich und ohne offensichtliche Reibungspunkte vonstat-
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
ten geht. Es wird lediglich eine anfängliche Verunsicherungen angedeutet, die aber schnell durch einen erweiterten Aktionsradius,91 der darüber hinaus auch vielfältigere Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten bietet, ‚überschrieben’ wird. Es gibt zwar in gewisser Weise ‚Verluste’, aber die neue Phase bietet auch neue Gelegenheitsstrukturen und Möglichkeiten, sich neu zu positionieren und zu definieren. Inhaltlich wird hier bereits die Kategorie der Qualität von Bewegungsangeboten angebahnt, die sich in die Dimensionen ‚qualifiziert’ und ‚unqualifiziert’ auffächert. Denn in der Lebensphase in A-Stadt werden Bewegungsangebote als gut angeleitet, organisiert und strukturiert dargestellt. Die Straße als Erfahrungsraum ist zwar beschränkt, dieses wird aber nicht als negativ bewertet, sondern könnte als richtunggebend interpretiert werden. In W-Heim hingegen ist jene Strukturiertheit erst einmal hinfällig. Bewegung ist ‚wildwüchsig’ und ungezügelt, der Erfahrungsraum ist ein Wald mit all seinem Dickicht. Auch dies wird zunächst positiv bewertet, handelt es sich ja hier auch nicht um ein organisiertes Sportangebot. Corinna Landwehrs Ausgangspunkt für organisiertes Sporttreiben ist das Kinderturnen, für das sie ihre Eltern in A-Stadt angemeldet haben. Nach dem Umzug möchte sie dies fortsetzen, da sie vormals großen Spaß daran hatte. Im Turnverein von W-Heim wird das Kinderturnen jedoch völlig anders gestaltet als Corinna Landwehr es gewohnt ist. Hier werden Spiel- und Bewegungslandschaften zur freien Ausprobieren in den Vordergrund gestellt. E: I: E:
I: E:
I: 91
man turnte so willkürlich irgendwo rum hmm und das war ich nicht gewöhnt - sondern ich war schon gewöhnt das man etwas beigebracht kriegt und sich dann irgendwie artig in einer Riege aufstellte und hinterher n tolle Übung turnen konnte hmm das war da gar nicht angesagt - das war schon gut wenn irgendwie über den Kasten rüber kam - das machte mir auch dann keinen Spaß hmm
Im freien Umherstreifen ähnelt das Bild den Beschreibungen Rudolf Hinzes’, wobei jedoch sowohl die Bewegungsfreiheit als auch die materielle Situation der Familien als maximaler Kontrast zu bezeichnen sind. Neben Rollschuhen und Fahrrad sowie dem eigenen Haus, ist es für Corinna Landwehr selbstverständlich, dass sie die freie Zeit im Spiel mit anderen Kindern verbringt, während Rudolf Hinze in Gemüsegartenarbeit u.ä. eingebunden ist. In der Formulierung der vielen Kinder in „unserem Alter“ klingt an, dass Corinna Landwehr einen Bruder hat. Dieser ist vier Jahre jünger und wird in der lebensgeschichtlichen Haupterzählung nicht zum Thema gemacht, sondern erst auf Nachfrage.
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung
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„Spaß“ ist zwar der Begriff, den Corinna Landwehr in Bezug auf Sport immer wieder benutzt, betrachtet man ihre Ausführungen jedoch genauer, so wird deutlich, dass sich hinter dem vermeintlich oberflächlichen und häufig mit einer antileistungsorientierten Konsumentenhaltung in Verbindung gebrachten Spaßbegriff ein differenziertes Konzept zur Qualität von sportlichen Angeboten verbirgt. Denn entgegen dem klassischen Klischee des ‚Sich nicht quälen Wollens’, fordert Corinna Landwehr eine nach ihren Maßstäben qualifizierte Anleitung und Organisation im Sinne einer adäquaten Rahmung des Bewegungsangebots. Kriterien sind für sie dabei das Trainieren von Techniken und Fertigkeiten, statt einer ‚nur’ spielerischen Beschäftigung mit Geräten, sowie ein objektiv feststellbarer Leistungszuwachs – hier die Kompetenz, eine turnerische Übung ausführen zu können. Das Wissen um ‚adäquate’ Gestaltung von Sportangeboten ist hier ein biographisch erworbenes. Entspricht ein Sportangebot diesen Kriterien nicht, so hat sie keinen ‚Spaß’ mehr daran. Sie sieht subjektiv in der Teilnahme keinen Sinn mehr und es scheint für sie daher selbstverständlich, dass sie nicht mehr zum Turnen geht. Ihre Eltern akzeptieren diese Entscheidung ihrer Tochter offensichtlich, was für Corinna Landwehr jedoch nicht erwähnenswert zu sein scheint. Dies könnte der Fall sein, weil es für sie völlig selbstverständlich ist, Entscheidungsfreiheit zu besitzen und dass mangelnder Spaß ein angemessener Grund für das Ausscheiden aus diesem Sport ist. Sie kann wählen und wird als nächstes von ihren Eltern zum Tennis mitgenommen: E:
I: E:
I: E:
I:
und dann haben sie mich mit zum Tennis genommen - - und ähm das war aber auch nicht so wirklich klasse - weil der Tennislehrer hatte keine Lust auf Kindertraining und hat die Kinder dann immer an diese - ja an diese Tennisverschlagswände gestellt - diese Drahtwände ja und man hat als Kind / eben immer Vorhandschläge ((lachend))/ gegen diese Drahtwände gemacht - das hat auch keinen Spaß gemacht und äh in sofern äh hab ich das nen Jahr mit mir machen lassen und dann hab ich gesagt - ich für meinen Teil hab keine Lust mehr hm auf Tennis - das war’s dann zum Tennis - dann wollte ne Freundin zum Schwimmen - und ist dann in einen Schwimmverein eingetreten - - äh das ist auch immer war alles in WHeim mit Fahrerei verbunden - aber kein Problem das Kind musste schwimmen. Inzwischen war ich zwölf und bin in den SCHWIMMVEREIN eingetreten hm
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Corinna Landwehr verfügt über sportlich interessierte Eltern, wie auch schon Marlene Auerbach. Allerdings ist das sportliche Engagement nicht so stark ausgeprägt und profiliert wie bei Marlene Auerbach. Es bleibt also Raum für eigene Ideen vom ‚gelungenen’ oder ‚richtigen’ Sport(treiben). Im Gegensatz zu Marlene Auerbach stellt sich Corinna Landwehr so dar, dass sie auf ihre Bewegungsangebote Einfluss hat und hebt diesen auch hervor. Ihre Eltern haben sie zwar zu bestimmten Sportangeboten mitgenommen oder dazu angeregt, sie selbst ist aber die Instanz, die über eine weitere und/oder vertiefende Teilnahme entscheidet. Räumliche Distanzen sind dabei nur begrenzt als Hindernisse anzusehen. Die Eltern fahren sie auch zum Sport, wenn dies nötig ist. Insgesamt gibt es zwei Facetten von Sport und Bewegung: einmal Bewegung als Erkundung und Exploration der Umgebung und dann die Teilnahme an institutionalisierten Sportangeboten in Sportvereinen. Corinna Landwehr konstruiert ihr sportliches Engagement wie eine Suchbewegung. Sie scheint auf der Suche nach dem zu ihr passenden Sport zu sein. Passend bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es nicht um eine inhaltliche Passung (welche Sportart passt zu mir?) geht, sondern um eine angemessene Rahmung. Hier lassen sich hinsichtlich des Grundprinzips Ähnlichkeiten zu Rudolf Hinze ausmachen, dessen Suche sich jedoch nicht im sportlichen Bereich bewegt, sondern vielmehr eine umfassendere Suche nach Identifikationsangeboten darstellt. Im Gegensatz zu Corinna Landwehr ist er dabei jedoch sehr stark durch den Möglichkeitshorizont seiner Herkunft beschränkt. Für Corinna Landwehr scheint theoretisch zunächst einmal jeder Sport möglich. Jedes Angebot wird dann auf Stimmigkeit in Bezug auf die eigenen Vorstellungen überprüft. Dabei ist das entscheidende Kriterium, ob Corinna Landwehr Spaß daran hat. Hierbei muss jedoch die besondere Bedeutung ihres Spaß-Konzepts berücksichtigt werden. Spaß meint hier keineswegs oberflächliche Zerstreuung oder ähnliches. Vielmehr geht es darum, dass ein Sportangebot eine qualifizierte Rahmung braucht. Für eine solche Rahmung lassen sich folgende Kriterien ausmachen: intensives Training von Fertigkeiten anstatt einer rein spielerischen Beschäftigung, abwechslungsreiche Gestaltung und interessierte, engagierte und fachlich kompetente Anleitung, Leistungszuwachs im Sinne sportlicher Erfolge. Es geht also um eine nach ihren Maßstäben angemessene Rahmung sportlicher Angebote, die ansatzweise als restriktiv bezeichnet werden kann. Eine starke Strukturierung und vorgegebene Orientierung scheinen für Corinna Landwehr maßgeblich zu sein. Nach dem Ausschlussprinzip findet sie schließlich im Alter von ca. 16 Jahren ‚ihre’ Sportart: Basketball. Zu Beginn ihrer Schulzeit lebt Corinna Landwehr noch in A-Stadt. Die dort verlebte Grundschulzeit charakterisiert sie dadurch, dass sie eine Integrationsklasse gemeinsam mit zwei körperbehinderten Kindern besucht hat. Besonders
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung
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erwähnenswert erscheint ihr dabei, dass diese Kinder tatsächlich immer integriert worden seien und dies sogar im Sportunterricht: E: I: E: I: E:
es gab ein Mädchen die saß im Rollstuhl - die konnte also gar keinen Sport machen und wurde trotzdem immer integriert ah ja also äh es wurden häufig so Sachen im Kreis dann gemacht und die wie auch immer sie hieß die war dann mit im Kreis hmm saß dann halt mit im Kreis
Sie bezieht diese Integrationsfähigkeit auch ganz konkret auf sich selbst E: I: E:
I: E:
ja – ach ja und dann gabs noch n Jungen - richtig - der saß sogar neben mir - der hatte sein Bein in so nem Gestell hmm der war aber auch immer mitten mang überall dazwischen also das spielte irgendwie damals keine Rolle wurde auch nicht großartig thematisiert - die waren da_ gehörten dazu die waren dabei hmm für uns ganz normal –
Diese Beschreibungen sind die einzigen zur Grundschulzeit in A-Stadt. Was Corinna Landwehr hier fokussiert, ist die integrative Funktion des Sports. Im weiteren Verlauf konstruiert sie auch noch weitere soziale Funktionen von Sport als Konzept. Sie bleibt in diesen ersten Sequenzen auf einer theoretisierenden und reflektierenden Ebene, die es ihr erlaubt, solche eigentheoretischen Perspektiven anhand von Beispielen zu präsentieren. Diese scheinen den Anspruch einer Verallgemeinerbarkeit im Gegensatz zur Betonung individueller Erfahrungen zu besitzen. Wie bereits oben beschrieben, entsteht auch hier der Eindruck, dass eher theoretische Standpunkte – hier zu den Funktionen, die Sport haben kann – biographisch untermauert werden sollen. Auffällig ist auch, dass Personen nicht als solche, d. h. mit Charaktereigenschaften etc. konstruiert werden. Selbst die Namen der Protagonisten scheinen nicht bedeutsam. Vielmehr werden sie als profillose Figuren eingeführt, deren Thematisierung sich durch die Bedeutung für die theoretischen Erläuterungen bzw. ein wesentliches Merkmal (hier: Behinderung) begründet. Auf ihre Schulzeit geht Corinna Landwehr fast ausschließlich in Bezug auf Sport und Sportunterricht ein. Sie hebt besonders ihre negativen Erfahrungen im
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Sportunterricht hervor, weil dieser in geschlechtshomogenen Gruppen mit entsprechend zugeordneten Inhalten stattgefunden hat. E:
I: E:
ähm - wobei jetzt muss noch mal n Stück zurück ((lacht)) vorher war irgendwie auch schon klar in der Schule - - äh bin in der Schule relativ negativ sozialisiert worden mit Sport also dann am Gymnasium weil wir hatten MÄDCHENSPORT hm und ich habe Mädchensport /gehasst ((leise))/ -
Sehr drastisch und emotional aufgeladen stellt Corinna Landwehr ihr Verhältnis zum damaligen Sportunterricht dar. Die symbolische Abwertung von ‚Mädchensport’ im Vergleich zu ‚Jungensport’ wird von ihr hier übernommen; die gängige Hierarchie zwischen geschlechtlich attribuierten Phänomenen wird etabliert. Sie schließt direkt mit einer detaillierten Beschreibung der sportunterrichtlichen Realität ihrer Erinnerungen an und kommentiert ihre Beobachtungen aus ihrer heutigen Expertinnenperspektive der Sportlehrerin: E:
I: E:
I: E: I: E: I: E: I:
also wir hatten bei ner Gymnastiklehrerin - aus heutiger Sicht kann man das dann alles etwas anders sehen als DAMALS aber ähm entsprechend WENIG qualifiziert war auch der Sportunterricht und der lief immer nach dem gleichen Muster ab hm es war also so dass äh zu jeder Stunde gefragt wurde - was wollt ihr heute gern machen - - und die Antworten waren immer gleich - Volleyball - Handball und Fußball - Fußball wollte Anke - ich kann den Namen noch /sagen ((lachend))/ ja klar Handball wollten Kerstin Gela und ich und der Rest wollte Volleyball und das war dann wirklich immer so - wie man sich’s nicht vorstellt - irgendwie Angabe Netz ja ohhh - Angabe rüber Plopp - och war das meiner? Und das über JAHRE. hm und es ist bis heute noch wenn einer das Wort Volleyball nur AUSSPRICHT dann krieg ich ne Horrorvorstellung mh
Für Corinna Landwehr wird der Mädchensportunterricht zur massiven Differenzerfahrung. Diese Art von Sport löst bei ihr ähnlich wie bei Rudolf Hinze Fremdheitsgefühle aus. Ihr Verständnis von Sport ist ein anderes. Der in der Schule
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung
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angebotene Sport widerspricht in hohem Maße ihren Vorstellungen von einer angemessenen Rahmung sportlicher Angebote, wie bereits oben ausgeführt worden ist. ‚Mädchensport’ bedeutet als Kategorie kein Ehrgeiz, kein Kampfgeist und mangelnde Ambitioniertheit, sowohl auf Seiten der Mitschülerinnen als auch seitens der Lehrerin. Hier wird erneut die Dimension der Qualifiziertheit angeführt, die sie an dieser Stelle selbst so benennt. Die Sportlehrerin verfügt nicht über das entsprechende Know-how, um einen anspruchsvollen und abwechslungsreichen Sportunterricht zu gestalten. Der Kommentar, dass man heute manches ja anders sehen könne, hebt Corinna Landwehrs Expertinnenposition gegenüber einer „wenig qualifizierten“ Gymnastiklehrerin hervor. Interessant ist, dass weibliches Geschlecht hier zweifach als defizitär und unqualifiziert attribuiert wird: einmal als Sportanleitende und einmal als Sporttreibende. Von dieser ‚Regel’ gibt es jedoch auch Ausnahmen, wie Corinna Landwehr über die Konstruktion eines ‚Wir’ im Sinne von sportlichen und engagierten Mädchen im Kontrast zu ‚den anderen’ darstellt. Eine weitere Aufwertung erfahren die Mädchen, die zu diesem ‚Wir’ zählen, dadurch, dass sie konkret mit ihren Vornamen benannt werden. Der bisherige Status von Personen definierte sich durch ihre Funktion für die Erzählung; sie wurden weder benannt, noch wurden ihre Charaktereigenschaften beschrieben. Diese Beliebigkeit bei der Darstellung von Personen wird hier aufgehoben. Auffällig ist an dieser Stelle die Ähnlichkeit zur Konstruktionsweise Rudolf Hinzes. Auch er konstruiert einen Kontrast zwischen sich und ‚den anderen’. Bei ihm verhält es sich jedoch so, dass er sich meist allein einer Gruppe gegenüberstehend konstruiert. Der Status eines Einzelkämpfers, der sich nur auf sich selbst verlassen kann, wird auf diese Weise markiert. Corinna Landwehr hingegen zeigt deutlich, dass es in jeder Phase auch Gleichgesinnte gibt, mit denen sie Gemeinsamkeiten hat. Soziale Eingebundenheit und ein entsprechenden Kontext scheinen für sie durchaus relevante Bezugsgrößen zu sein. Dennoch verbleiben diese auf der Ebene von Gelegenheitsstrukturen. Die damit verbundenen Personen werden nur selten namentlich markiert. Charaktereigenschaften und Charakterisierungen der Beziehung zwischen ihnen und der Erzählerin werden, wenn überhaupt, dann nur rudimentär beschrieben. Die Bedeutung dieser massiven Negativerfahrung mit Schulsport wird von Corinna Landwehr direkt in Zusammenhang mit ihrer heutigen Perspektive gebracht. Es war nicht nur damals ein Erleiden, sondern diese leidvolle Erfahrung hat sich nachhaltig im Bewusstsein der Erzählerin niedergeschlagen. Nicht nur „Mädchensport“ verursacht ihr massives Unbehangen; dieses ist auch auf die eigentlich neutrale Sportart Volleyball übertragen worden, da die extrem negativen Erfahrungen in diesem Bereich gesammelt worden sind. „Mädchensport“ wird als defizitärer bzw. ‚nicht richtiger’ Sport empfunden, zu dem sich die
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Erzählerin nicht zugehörig fühlt und den sie dennoch hat erdulden müssen, da sie ein Mädchen ist. Sie sucht nach einer anderen – ihren Interessen und Neigungen entsprechenden – Möglichkeit des Sporttreibens: E:
I: E:
und dann wollten wir schon immer um diesen VolleyballGymnastik-Unterricht zu entfliehen Handball spielen - und Handball gab es zur damaligen Zeit man mags nicht glauben aber nur für Jungs hmm es gab eine Handball-AG für Jungs - da haben wir dann auch angefragt ob wir nicht wir waren zu zweit ob wir nicht kommen dürfen - - und wir durften aber nicht - das war für Jungs ((lacht)) ja das waren Zeiten - und äh - ja also tat sich nichts auf –
Sie versucht also aktiv, dem Mädchensport zu entfliehen und sucht Anschluss im anerkannten ‚Jungensport’, der ihren Vorstellungen von attraktivem Sport näher kommt. Dazu bildet sie eine Koalition mit einer Gleichgesinnten. Dieses andere Mädchen bleibt ebenfalls unspezifisch und erfüllt auch hier die Funktion einer Gelegenheitsstruktur, nämlich die einer ‚Koalitionspartnerin’. Als Freundin wird sie nicht beschrieben, die Koalition scheint an das gemeinsame Ziel gebunden und somit nicht unbedingt überdauernd zu sein. Die Teilnahme an der Handball-AG wird Corinna Landwehr und ihrer ‚Koalitionspartnerin’ jedoch mit dem Verweis auf ihr (biologisches) Geschlecht verwehrt. Schulsport wird in diesem Falle zur Verhinderungsstruktur, die verdeutlicht, welchen Einfluss kontextuelle Bedingungen auf Chancen und Grenzen individueller Förderung und Selbstverwirklichung haben. Dennoch adressiert Corinna Landwehr keine konkreten Vorwürfe an die ‚Vertreter’ dieser Verhinderungsstrukturen, wie z. B. den Leiter der Handball-AG oder aber das ganze Schul- bzw. Schulsportsystem, sondern akzeptiert – wenn auch widerwillig – die ihr gesetzten Grenzen, die später dann durch organisatorische Veränderungen seitens der Institution aufgelöst werden. Das Erreichen der Oberstufe stellt Corinna Landwehr hinsichtlich des Sportunterrichts dann wie eine Erlösung dar: E:
I: E:
- - - ja - dann also jetzt waren wir so bei sechzehn dann fing endlich die Oberstufe und es gab kein Mädchensport mehr das war wunderbar mhm also wir hatten wir kriegten nen halbes Jahr lang erst mal nen Mann als Sportlehrer und eben gemischten Sport und wir ha-
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung
I: E: I: E:
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ben geturnt und wir haben – ja alle möglichen Ballsportarten gemacht - und es war alles SUPER mhm weil die Jungs waren dabei - /endlich bewegte sich mal jemand im Sportunterricht ((lachend))/ hmm und das hat echt Spaß gemacht
In der Koedukation bietet sich Corinna Landwehr nun eine Möglichkeit, sich im Sportunterricht wohl zu fühlen. Die Qualität – verstanden aus ihrer Perspektive – steigt enorm. Sie findet eine Zugehörigkeit, die sich scheinbar über sportliche Neigungen, nicht über das bloße biologische Geschlecht, definiert. Verbunden ist die Qualitätssteigerung jedoch mit dem Wechsel der Leitung – diese übernimmt nun ein Mann – und der Teilhabe der Jungen am Sportunterricht. Qualität wird also weiterhin dem ‚männlichen’ Geschlecht zugeordnet. Auch auf Seiten der Schüler/innen sind es „die Jungs“, die sich bewegen und somit eine entscheidende Qualitätssteigerung im Vergleich zum Mädchensportunterricht bedingen. Corinna Landwehr muss nun mit dem Widerspruch zu recht kommen, einerseits klar der Gruppe der Mädchen zugeordnet zu werden bzw. sich zugehörig zu fühlen und sich aber in bestimmten Kontexten und bezüglich bestimmter Verhaltensweisen stärker mit den Jungen identifizieren zu können. Dieses Dilemma stellt sich Frauen im Sport immer wieder (vgl. Pfister, 1999). Insbesondere Kleindienst-Cachay & Kunzendorf (2003) verdeutlichen die Problematik der Diskrepanz zwischen ‚männlichem’ Sport und ‚weiblicher’ Identität am Beispiel von leistungssportlich engagierten Frauen, die ganz bewusst über ihre Identität als ‚Sportler’ im Sinne eines asexuellen Wesens reflektieren. Bei Corinna Landwehr ist dies nicht explizit der Fall. Trotzdem zieht sich durch das gesamte Interview die Unterscheidung zwischen ‚qualifiziert’ und ‚unqualifiziert’, die sie anhand von Beispielen häufig, wie oben dargestellt, geschlechtlich zuschreibt. Corinna Landwehr findet schließlich in der von einem kanadischen Lehrer an ihrer Schule neu eingerichteten Basketball-AG den Ort, mit dem sie sich sportlich identifizieren kann. Die Suchbewegungen werden eingestellt, ein Identifikationsangebot ist gefunden: Sie ist Ballsportlerin! Um die ‚Phase des Suchens’ zu verdeutlichen, sollen hier alle sportlichen Aktivitäten, an denen Corinna im organisierten Sport teilgenommen hat, nochmals aufgezählt werden: Turnen, Schwimmen, Reiten, Tanzen, Leichtathletik. Insgesamt ist im Vergleich zu den anderen Interviews sehr auffällig, welchen geringen Anteil die Ausführungen zum eigenen Elternhaus einnehmen. Mutter, Vater und Bruder werden fast nicht thematisiert und auch auf Nachfrage nicht wesentlich in Beziehung zu Corinna Landwehr beschrieben. Die Eltern bieten einen für sportliche Aktivitäten förderlichen Rahmen, der sich sowohl in
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
finanziellem aber auch zeitlichem Engagement widerspiegelt. Sie unterstützen die Interessen ihrer Tochter und lassen sie frei Angebote ausprobieren und wieder verwerfen. Es entsteht das Bild von Autonomie und großer Entscheidungsfreiheit, die es auf den ersten Blick erstaunlich erscheinen lassen, dass Corinna Landwehr gerade im Sport stark strukturierte und orientierende Angebote favorisiert. Auf einen zweiten Blick könnte jedoch auch vermutet werden, dass sie gerade deshalb im Sport nach ‚Eingrenzung’ und struktureller Klarheit sucht.
4.3.2 Berufswahl und Studium: Einmündung in das Sportstudium als Folge ‚signifikanter Zufälle’ Der eigentliche Berufswunsch von Corinna Landwehr liegt im Bereich der Fremdsprachenkorrespondenz und Übersetzung. Genau wie Marlene Auerbach nimmt sie jedoch auf Grund ihres Geschlechts von der Umsetzung dieses Plans Abstand: E: I: E:
I: E:
ich hab mich vorher erkundigt und was studierste und wollte eigentlich so was wie Dolmetscherin werden hmm und dann hätt ich aber von hier wegziehen müssen und ich lernte eine Dolmetscherin kennen die erzählte da wird man nur was wenn man - wenn man richtig berühmt und richtig viel Geld kann man nur verdienen wenn männlich ist hmm auch das zur damaligen Zeit fand ich schon furchtbar/ dass das so war ((lachend))/ egal ich dachte o.k. dann brauch ich nicht wegziehen
Welche Bedeutung nun diese mangelnde Berufsperspektive im Verhältnis zu der ‚drohenden Gefahr’ des Wegziehens zuzuordnen ist, bleibt offen. Es spricht jedoch einiges dafür, dass dieser Aspekt ebenfalls einen höheren Stellenwert hat. Denn betrachtet man die in dieser Phase relevanten Themen, wie z. B der Freund, der ebenfalls im Basketball engagiert ist und das sich steigernde Trainingspensum im eigenen Sportverein, so kann man vermuten, dass Corinna Landwehr schon einiges hätte hinter sich lassen müssen, wenn sie studiumsbedingt den Wohnort gewechselt hätte. Ihre Ausführungen sprechen für eine starke Eingebundenheit in verschiedene Kontexte, die für sie mehr Gewicht im Entscheidungsprozess haben, als ihre berufliche Ambitioniertheit. Vertrautes wird geschätzt und bewahrt und ‚biographisch riskante’ Situationen bzw. Differenzerfahrungen nicht zwingend aufgesucht. Die Bindung an ihr Herkunftsmilieu in
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einem weiteren Sinne ist durchaus erhaltenswert, wie bei Marlene Auerbach. Die Möglichkeit der Distanzierung, wie sie Rudolf Hinze als Chance für seinen Werdegang konstruiert, scheint für Corinna Landwehr nicht attraktiv zu sein. Dennoch wird Sport auch hier nicht maßgeblich auf der Beziehungsebene verortet. Der Freund wird zwar erwähnt, er bleibt jedoch darüber hinaus völlig unspezifisch. Es erfolgt keine weitere Erläuterung zur Qualität der sozialen Beziehungen im Sportverein o. ä., so dass auch hier sowohl der Sportverein als auch die zugehörigen Personen in diesem sozialen Gefüge als Gelegenheitsstruktur interpretiert werden können. Dennoch muss sie A-Stadt später ungewollt verlassen, da sie im Referendariat einen anderen Ort als Seminarort zugewiesen bekommt. Sie bezeichnet diesen Ortswechsel als jähes Stoppen ihrer Basketballkarriere, was in Kapitel 4.3.3 im Kontext des Referendariats ausführlich thematisiert wird. Für die Wahl des Studienfaches werden einerseits wieder einmal räumliche Umstände, im Sinne von Gelegenheitsstrukturen, genannt. Andererseits wird hier eine Verbindung zwischen dem kanadischen Basketballtrainer und ihrem Interesse für die englische Sprache hergestellt: E:
I: E:
I: E:
und äh ja - - ich hab vielleicht - muss ich gleich noch mal erzählen - / SportSTUDIUM fing ja dann auch irgendwann an ((lachend))/ - ähm ich fing an zu studieren in A-Stadt weil ich unbedingt Englisch studieren wollte hmm ich fand Englisch schon immer großartig - ich bin in W-Heim da neben so ner Engländersiedlung aufgewachsen - hab das von klein auf eigentlich immer gehört hmm konnte es aber nicht verstehen und ähm dieser strenge äh Sport - Trainer - Basketballtrainer war kam ja nun aus Kanada und hat dann auch entsprechend Lust darauf gemacht Englisch zu studieren - das wollt ich also tun –
Die Anregung zur Wahl des Studienfachs stammt also direkt von einem Vorbild aus ihrem unmittelbaren Sportumfeld. Dieser Trainer ist es ebenfalls gewesen, der durch die Einrichtung einer Basketball-AG eine sportliche Identifikationsmöglichkeit für Corinna Landwehr geschaffen hat. Die starke Identifizierung mit dem Basketball und auch mit dem Vorbild des qualifizierten Trainers führt für sie zum Interesse an der englischen Sprache. Auf diese Weise beeinflusst ihr sportliches Engagement ihre inhaltliche Berufswahlentscheidung quasi indirekt mit.
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
An dieser Stelle hebt die Erzählerin eine Besonderheit ihrer Lebensgeschichte im Bezug auf ihre Berufswahl hervor: E: I: E:
I: E:
ich wollte aber eins auf keinen Fall werden - nämlich Lehrerin aha /das ist jetzt nämlich die Überraschung der ganzen Geschichte ((lachend))/ und was ich schon mal überhaupt nicht werden wollte - war Sportlehrerin ja hmm das hat ja gut geklappt ((lacht)) das kehrte sich ja dann auch noch mal um aber –
Man könnte nun erwarten, dass die Erzählerin begründet bzw. erzählerisch herleitet, warum sie diesen Beruf auf keinen Fall ergreifen wollte. Dies bleibt jedoch zu diesem Zeitpunkt und auch im weiteren Verlauf des Interviews ungeklärt. E:
I: E:
I: E: I: E:
ich studierte also ein Semester lang Englisch und Französisch und habe mich TÖDLICH gelangweilt - es gab wieder so n Situation wie ich sie eigentlich in der Sek eins so erlebt hatte im Sportunterricht - es waren alles Frauen hmm ja - - und die waren auch alle SEHR fleißig und SEHR / unsportlich ((lachend))/ und ähm und die Fächer haben sich waren alle so gedoppelt in diesem Studium. Also man machte - Französisch Phonetique hmm und man machte in Englisch Phonetics ja und das hat ich irgendwie noch so doof parallel alles gewählt im ersten Semester und hab das also immer alles so gleich als drehte man n Knopf und man hat halt n andere Sprache gesprochen - nun saß ich in einem Französischseminar und dachte das halt ich nicht mehr lange aus so –
Hier gibt es offensichtlich ein biographisch generiertes Wissen über bestimmte Settings (reine Mädchen- bzw. Frauengruppen), die für Corinna Landwehr stark negativ besetzt sind. Ihre bereits gewonnenen Einsichten bestätigen sich hier. Darüber hinaus konstruiert sich Corinna Landwehr hier erneut in Opposition zu ‚den anderen’. Ihre Selbstkonstruktion bleibt jedoch implizit und erfolgt in Abgrenzung von ‚den anderen’, die sie als „langweilig“ und „unsportlich“ charakterisiert. Es gibt die sportlichen, interessanten und möglicherweise eher nicht dem klassischen Rollenklischee entsprechenden Frauen und eben jene anderen. Auf diese Weise versucht Corinna Landwehr, sich von den aus ihrer Sicht nega-
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tiven Attributen von ‚Mädchen/Frauen’ zu distanzieren. Ihre eigene Position bleibt jedoch eher unklar, da sie sich aus den Kategorien herauszieht. So profiliert sie ihre eigene Position ‚auf Kosten’ der anderen Frauen und stärkt damit indirekt die klassischen ‚Mann/Frau-Hierarchie’. Es könnte angenommen werden, dass sie ein asexuelles Identitätskonzept der ‚Wir Sportlichen92’ konstruiert, indem andere Kategorien als ‚Geschlecht’ in den Vordergrund gerückt werden. Dies lässt sich jedoch nicht anhand weiterer Interviewpassagen belegen. Vielmehr entsteht später der Eindruck, dass es grundsätzlich eher um eine singuläre Position als ‚Ich’ denn um ein ‚Wir’ im Sinne einer Solidar- und Interessengemeinschaft geht. Sport als Studienfach gerät erst durch die Anregung einer Freundin in Corinna Landwehrs Blickfeld. Bemerkenswert ist, dass ihre Eltern an keiner Stelle des Interviews als Orientierungsgrößen auftauchen. Sie bilden zwar eine weitläufige Gelegenheitsstruktur, diese verbleibt jedoch auf oberflächlichem Niveau, da auf sie in keiner Form Bezug genommen wird – weder in Form von Anregungen, noch in Form von Abgrenzungen zu ihnen. Corinna Landwehr erschließt sich ihren Weg vielmehr über Anregungen von ‚signifikanten Dritten’. Im Vergleich zu den beiden anderen Fällen lässt sich hier eine maximale Kontrastierung ausmachen. Während Marlene Auerbach den durch ihre Herkunftsfamilie vorgezeichneten Weg beschreitet und diese Rahmung nicht verlässt, nutzt Rudolf Hinze sein Herkunftsmilieu, um sich davon weitestgehend zu distanzieren und sich von ihm abzugrenzen. Für die Entscheidung, Sport zu studieren führt Corinna Landwehr zunächst den Spaßfaktor als ausschlaggebendes Argument an. „Den Kopf auch mal frei zu bekommen“, ist ihr Ziel. Auf eine Frage im theoretisierenden Nachfrageteil entwickelt Corinna Landwehr dann eine Zufallstheorie der Berufswahl: I:
E: I: E: I: E:
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ja genau – wenn du jetzt so im Rückblick sagen solltest – deine eigene Theorie darüber warum du Sportlehrerin geworden bist uahhh kannst du das so ja – / das ist jawohl n Zufallstheorie ((lachend))/ also absolut hmm das ist wirklich ein Produkt des Zufalls – naja als ichs anfing zu studieren – hab ichs eigentlich anfangen zu studieren um den Kopf frei zu kriegen für die äh Fremdsprachen
Dieses Konzept erinnert an die Identitätskonstruktion als quasi geschlechtsloser ‚Ich Sportler’ von Hochleistungssportlerinnen in männerdominierten Sportarten (vgl. Kleindienst-Cachay & Kunzendorf, 2003).
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hmm und um da einfach ja wirklich entspannter ähm diese diesen Seminare zu überleben hmm Sportlehrerin – das wollt ich nicht werden – das ist wirklich ein Zufall gewesen
Corinna Landwehr spricht vom „Tag X“, an dem ihre Studienfreundin sie dazu animiert hat, ebenfalls Sport zu studieren. Diese Studienfreundin ist also im Sinne einer Ereignisträgerin zu verstehen, die den weiteren Verlauf des Lebens von Corinna Landwehr maßgeblich beeinflusst. Die Bedeutung des Zufalls für ihr biographisches Projekt lässt sich kategorial als ‚Theorie des signifikanten Zufalls’ beschreiben. Es handelt sich also nicht um eine zufällige Theorie, sondern um eine Theorie, die den Zufall als Begründung für maßgebliche biographische Entscheidungen plausibilisiert. Diese ‚Theorie des signifikanten Zufalls’ schließt an ihr lebensgeschichtliches Phasenmodell an, denn längerfristige Pläne werden nicht entworfen, sondern Entscheidungen recht nah an konkrete Gegenwartssituationen gebunden, getroffen. Darüber hinaus schützt diese ‚Theorie des signifikanten Zufalls’ auch vor einer Kategorisierung und Fixierung des Berufswahlmotivs und davor, dass dies im Widerspruch zur ursprünglichen Ablehnung des Berufs ‚Sportlehrerin’ steht. Gerät man zufällig in etwas hinein, so ist es auch leichter möglich, diesen Rahmen wieder zu verlassen bzw. diese Option zu verwerfen. Die Ansprüche an die ‚Zukunft’ in diesem Beruf sind dadurch offen und möglicherweise nicht so hoch gesteckt, wie bei einer ‚pädagogischen’ Motivation. Hier steht dieser Fall in besonderem Kontrast zu Marlene Auerbach und in gewisser Weise auch zu Rudolf Hinze, da Corinna Landwehr das Lehrerinnendasein und die Schüler/in-Lehrerin-Beziehung weder idealisiert noch ideologisiert. Dass Corinna Landwehr nun schließlich doch den Lehrberuf ergreift, setzt sie in Beziehung mit den Erfahrungen, die sie in den studienbegleitenden Praktika sammelt. Hier lernt sie die Tätigkeit der (Sport)Lehrerin erstmals von ‚der anderen Seite’ kennen und gewinnt Abstand zu ihrer Schülerinnenperspektive, die sie zuvor als Ausschlussgrund des Berufes ‚Lehrerin’ angegeben hat. Dieser Perspektivenwechsel wird im Allgemeinen als maßgeblicher Schritt für die Professionalisierung im Lehrberuf beurteilt (vgl. Hericks, 2006, S. 463f. und für die Sportpädagogik dazu z. B. Baur, 1995, S. 32). Das Studium bietet Corinna neben der beruflichen Qualifizierung auch einen geeigneten Rahmen, um ihr sportliches Engagement auszuweiten: E:
ja also in dieser Phase muss ich mal erzählen steigerte sich das auch total - irgendwie dreimal in der Woche trainiert und
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I: E:
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am Wochenende gespielt - gleichzeitig auch noch Badminton im Verein gespielt - und ich hab eigentlich jeden Tag Sport gemacht hmm wie so n Weltmeister - - ja –
In der Formulierung „in dieser Phase“ klingt erneut die zeitliche Begrenztheit des Beschriebenen an. Auch diese Phase wird irgendwann beendet sein und von einer neuen abgelöst werden. Hier bildet der Leistungssport einen wesentlichen Lebensinhalt; in der nächsten Lebensphase ist dies jedoch sehr wahrscheinlich wieder überholt und wird von anderen Inhalten ersetzt. Das Sportstudium bietet aber nicht nur Raum für eine Intensivierung der eigenen Sportkarriere. Corinna Landwehr stellt darüber hinaus die Orientierung an der zukünftigen Tätigkeit des Sportunterrichtens heraus. Im Gegensatz zu den anderen Studienfächern findet sie hier explizite Bezüge zur Qualifizierung für Schule und Sportunterricht, die sie dann auch tatsächlich in ihre berufliche Praxis einbringen kann. So nutzt sie z. B. Materialen aus Seminaren und Bücher, die sie im Rahmen des Studiums hat anschaffen müssen, auch heute noch für die Gestaltung des Unterrichts. In ihren anderen Fächern ist dies nicht möglich, da die Studieninhalte sich jenseits schulischer Orientierung bewegt haben. Corinna Landwehr hebt damit die Qualität ihrer sportspezifischen Lehramtsausbildung besonders hervor, was sie auch in dieser Hinsicht maßgeblich von den beiden anderen Interviews unterscheidet.
4.3.3 Referendariat als Phase des Transfers von Qualitätsmaßstäben für sportpädagogische Anleitungspraxis In die Ausführungen zur Referendarszeit führt Corinna Landwehr über die Beschreibung ihrer Ausbildungsschule und der Einbettung dieser in den Stadtteil ein. Wiederum nutzt sie also Räume und Orte für die Konstruktion: E:
- das war so ne wie man hier vielleicht eher sagen würde eine Ghettoschule - also rundherum Hochhäuser und mittendrin diese kleine Realschule - - nen eher schwierigeres Schülerklientel - aber ne sehr, sehr nette Kollegin die für mich da eingeteilt worden war - - und äh mit der hab ich irgendwie zusammengeklebt wie Pech und Schwefel – die war hat das ganz toll geschafft - einen SEHR selbstbewusst zu machen für das was man da tat - also - sie hat viel Zeit investiert einem zu helfen - war es ganz toll - sie unterrichtete halt Englisch und Sport
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hmm wir hatten beide Fächer gleich –
Die kleine Realschule wirkt in ihrer Beschreibung wie eine Insel inmitten der bedrohlich wirkenden Hochhäuser, in denen das schwierige Schülerklientel wahrscheinlich wohnt. Dies scheint jedoch weniger bedeutsam als die räumlichen Gegebenheiten, da Corinna Landwehr es eher en passant mit erwähnt. Ihre Mentorin wird hier gleichzeitig auf einer persönlichen Ebene im Sinne von Gleichrangigkeit und einer freundschaftlichen Beziehung („wie Pech und Schwefel“) auf der anderen Seite aber auch als kompetente Ausbilderin eingeführt. Corinna Landwehr kontextualisiert hier ihre eigenen Lernerfahrungen und Kompetenzen, indem sie sie an diesen Erfahrungsbereich bindet. Das Adjektiv „selbstbewusst“ gewinnt in diesem Kontext eine doppelte Bedeutung: Einmal im Sinne von Zutrauen zu den eigenen Fähigkeiten entwickeln; andererseits könnte es aber auch wortwörtlich gemeint sein, in der Hinsicht, sich seiner selbst bewusst(er) zu werden, d. h. eine (selbst)reflexive Haltung zu entwickeln. Es beinhaltet damit eine Entwicklung im Sinne von ‚handlungsfähig werden’ bzw. gemacht werden darin. Aus Sicht der Anleitenden würde dies bedeuten, dass das Ziel pädagogischen Anleitens sein sollte, sich überflüssig zu machen. Diese Perspektive auf pädagogische Arrangements deutet sich auch schon zu Beginn des Interviews bei der Beschreibung des Fahrradfahrenlernens an. Auch hier ist der Erwachsene plötzlich überflüssig, ohne dass das fahrende Kind dies überhaupt bemerkt. Es fährt allein weiter. Das Konzept der Handlungsfähigkeit (im und durch Sport) ist in der Sportpädagogik ein prominentes, das auch zu Studienzeiten Corinna Landwehrs durchaus bereits maßgeblicher Inhalt gewesen ist. In diesem Teil der Erzählung bekommen erneut bestimmte Personen zentrale Rollen in negativer und positiver Funktion. Die Mentorin hat, wie bereits beschrieben, eine positive und den Professionalisierungsprozess fördernde Bedeutung. Erstmals wird eine weibliche Person als qualifiziert und kompetent dargestellt. Die persönliche Ebene einer Beziehung wird hier ebenfalls erstmals markiert, so dass die Mentorin über den Status einer reinen ‚Gelegenheitsstruktur’ gehoben wird. Als ‚negatives Gegenbeispiel’ führt Corinna Landwehr jedoch direkt im Anschluss ihre Fachleiterin für Sport an. Diese Erzählung bekommt wesentlich mehr Raum und wird detailliert ausgestaltet. Dabei wird die Fachleiterin in zweifacher Hinsicht negativ beschrieben. Zunächst ist ihr Inhaltsspek-trum in der Seminargestaltung sehr eingeschränkt und an ihren persönlichen Neigungen orientiert, was sich sogar in der Bewertung von Unterrichtsstunden der Referendar/innen niederschlägt.
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Interessant ist, dass hier auch wieder die einmal als traumatisch ‚abgespeicherte’ Beziehung zum Volleyball im Sinne einer Kategorie für negative Erfahrungen angeführt wird. Mit der ganz zu Beginn dieser Sequenz stehenden Beschreibung „/und ähm die liebte Volleyball sehr ((lachend))/“ ist die Kategorisierung als ‚negativ’ bereits vollzogen und es wird bei der Zuhörerin eine entsprechende Erwartungshaltung hervorgerufen. Die zweite Ebene, auf der die Sportfachleiterin als negativ – hier im Sinne von fachlich inkompetent - charakterisiert wird, wird anhand einer Geschichte über die gemeinsame Surfexkursion des Sportseminars eingeführt. E:
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I:
ähm ja das war auch so ne ganz komische Ge_ Geschichte so da - wir sind mit dieser Dame in einem Auto gefahren und sie sagte halt oahr sie könnte so SUPERTOLL Surfen und könnte n Wasserstart und alles ganz klar und so und mein damaliger Freund surfte und ich - ich konnte wie ich fand ein bisschen surfen hmm und meine Freundin mit der ich da noch unterwegs war in demselben Auto - die segelte und surfte - - ja und da kamen wir halt dann da an und haben diesen ähm - - Surfkurs gemacht und es konnten eigentlich nur zwei surfen - das war die Dorle und das war das war ich hmm wir stellten uns halt auf Brett und wir surften und die Fachleiterin die vorher so groß mäcknänä hmm und ich kann nen Wasserstart lag eigentlich nur im Wasser rum und oh /konnte gar nichts ((lachend))/ - ja das war irgendwie alles so nen bisschen problematisch mit der guten Dame - - ja vielleicht mag sie ganz nett gewesen sein - aber auf jeden Fall habe ich dann äh MEINE Arbeit - Examensarbeit bewusst in Sport geschrieben - weil ich die nicht in der praktischen Prüfung haben wollte das war damals noch so dass man das – ähm irgendwie so machen konnte hmm dass man die Person dann nicht wieder sieht - - und äh da hatte ich dann auch ne Frau aber ne sehr nette Frau und das war irgendwie ne gute Entscheidung dass so zu machen hmm
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Hier wird erneut deutlich, dass Frauen eine eher negative Bewertung erfahren. Die andere Prüferin war zwar auch eine Frau, aber eine ‚positive Ausnahme’. Weibliches Geschlecht scheint per se zum Prädikat ‚unqualifiziert’ zu führen. Dies ist umso interessanter, als sie selbst sich ja auch in irgendeiner Weise als Frau und als kompetente Sportlehrerin definiert. An dieser Stelle zeigt die Erzählerin nämlich erstmals auf, dass sie aktiv planend Anteil an ihren beruflichen Erfolgen hat und bewusst Entscheidungen trifft, die die Willkürlichkeit und Zufälligkeit von Erfolg und Misserfolg einschränken. Corinna Landwehr führt ihren beruflichen Erfolg zwar an weiteren Stellen des Interviews eher auf zufällige Konstellationen und Glück anstatt auf ihre eigene Leistung bzw. adäquate Planung zurück. Dieses Phänomen beobachtet bereits Wetterer (1989) bei Frauen, die eine wissenschaftliche Karriere eingeschlagen haben: „Gut zwei Drittel der von uns befragten Wissenschaftlerinnen nehmen an entscheidenden Stellen der Rekonstruktion ihres Berufsweges Bezug auf Kategorien wie Glück oder Zufall; sie erklären ihren Berufsweg als Ergebnis einer Serie von Glücksfällen, als Produkt puren Zufallsgeschehens…“ (Wetterer, 1989, S. 145).
Interessant ist diese Parallele hier, weil Corinna Landwehr ja ihren eigentlichen Berufswunsch (Dolmetscherin) nicht umsetzt. Dennoch bedient sie die gleichen Muster wie die Wissenschaftlerinnen, die sich in Positionen wieder finden, die sie eigentlich als unrealistisch hinsichtlich der Erreichbarkeit definiert haben (vgl. ebd.). Im Gesamtkontext ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung entsteht der Eindruck, dass es sich bei diesem Konzept eher um eine Art ‚Pseudo-Begründungsmuster’ handelt, da Corinna Landwehr sich ihrer beruflichen Kompetenz durchaus bewusst ist und sie recht differenzierte Qualitätsstandards definiert, indem sie sich und ihre berufliche Praxis von der anderer Kolleg/innen abgrenzt. E: I: E:
I: E: I: E: I:
- ja gleichzeitig war ich dann noch mit ner Referendarin die hatte an der Sporthochschule in Köln Sport studiert hmm äh - - und da gabs noch so nen einschneidendes Erlebnis - wir mussten in den ersten vier Wochen Vertretungsstunde zusammen machen und die Bärbel - so hieß sie - schüttelte das aus m Ärmel und machte mal gerade genialste fünfundvierzig Minuten mit Seilchen hmm und dreißig Fünftklässlern oh genau oh großer Sport
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung E:
I: E:
I: E:
I: E: I: E:
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ich dachte auch oh und ohne das wir was vorbereitet hätten also es wurde morgens gesagt äh / sie beide sie gehen gleich in der dritten Stunde ((lachend))/ und Bärbel zauberte das mal so kurz hin - - und ich dachte WOW was haben die denn da gelernt? hmm das hätt ich jetzt nicht gekonnt ohne was vorzubereiten - - ja und das werd ich jetzt sehr schwer haben irgendwie neben Bärbel hier an also an derselben Schule mit so ner äh versierten Mitreferendarin hmm ja - sie hats leider nicht geschafft - das verstehe ich heute noch nicht aber das hatte auch dann was - sie war dann an ner zweiten Schule bei ner Frau mit der sie sich dann überhaupt nicht verstand - das war ihre Mentorin hmm (??) also aus meiner Sicht immer noch ich kann das nicht verstehen hmm für mich war es halt genau anders herum - also ich - - ich hatte auch an der zweiten Schule wieder sehr viel Glück
Man kann also in dem durch Willkür gekennzeichneten Erfahrungsraum des Referendariats eben Glück oder Pech, d. h. Erfolg oder Misserfolg haben, der nicht unbedingt mit dem eignen Können übereinstimmen muss. Zwischen Corinna Landwehr und ihrer Mitreferendarin entsteht kein ‚Wir’ im Sinne einer Solidargemeinschaft. Vielmehr sieht sich Corinna Landwehr sofort in einer Konkurrenzsituation, in der es möglicherweise nicht leicht sein wird, zu bestehen. Sie grenzt sich von ihrer Mitreferendarin ab und markiert auf diese Weise eine singuläre Position. Neben dem Konkurrenzmotiv kann an dieser Interviewpassage insbesondere das Zufallsprinzip für Erfolg und Misserfolg verdeutlicht werden. Weder eine gute Ausbildung, noch das eigene Können überwiegen den ‚Faktor Mentor/in’. Auch hier mag es erstaunlich anmuten, dass Corinna Landwehr recht distanziert von dieser ‚Ungerechtigkeit’ erzählen kann. Dies lässt sich einerseits auf ihren eigenen – wenn auch „zufälligen“ – Erfolg zurückführen. Andererseits schützt die entwickelte ‚Theorie des signifikanten Zufalls’ auch bei potentiellen Misserfolgen, die dann der Willkürlichkeit zugeschrieben werden können. Corinna Landwehr nimmt strukturelle Ungerechtigkeiten wahr und kritisiert sie; dieses jedoch in moderater Art und Weise und ohne ein (politisches) Aufbegehren, wie es bei Rudolf Hinze der Fall ist, initiieren zu wollen. Ähnlich wie bei der Situation, in der ihr die Teilhabe an der Handball-AG auf Grund ihres weib-
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
lichen Geschlechts verwehrt worden ist, solidarisiert sie sich zwar mit Gleichgesinnten, passt sich den Umständen aber dennoch an, anstatt aufzubegehren.
4.3.4 Den eigenen Standpunkt entfalten: Ausgestaltung sportpädagogischer Konzepte und Reflexion beruflichen Alltags zur Sicherung von Qualität Ihre erste Anstellung nach dem Referendariat hat Corinna Landwehr an einer Freien Waldorfschule erhalten. Durch diese Stelle kommt sie in die Umgebung ihre Heimatstadt zurück. Sie berichtet von dieser Zeit in der Haupterzählung, geht aber auch im Nachfrageteil auf diese Zeit ein, als sie nach der schrecklichsten Situation, die sie je in der Schule erlebt hat, gefragt wird: E: I: E:
I: E:
I: E:
I: E:
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das gibt es natürlich - - / das geht leichter93 ((lachend))/ - das war diese allererste Stunde an dieser Waldorfschule hmm / das erzähl ich auch immer wieder gern ((lachend))/ und zwar war das so - ähm - wie man sonst eigentlich nur im Fernsehen sieht - man macht die Tür auf hmm in diesem Raum waren sechsundvierzig damals Achtklässler es flogen Stühle durch die Luft - es lagen Schüler als geschlagenes Knäul auf der Erde - es war laut - man tobte - keiner nahm Notiz davon das die neue Französischlehrerin zur Tür herein gekommen war - die erste Reihe stellte sich brav auf aber das waren vielleicht mal grad fünf von den sechsundvierzig - / und der Rest TAT als wär nichts hmm oder äh ja ((lachend))/ im Gegenteil machte so richtig Randale - - und ja - dachte ich - TOLL - soweit zu meinem Einstieg weil man hätte mich nicht gehört - - und dann stand in der Ecke dieses Raumes ein Besen - und dann habe ich diesen Besen genommen und den Besenstiel dreimal auf das Pult gezimmert - / volle Möhre ((lachend))/ was ging - und danach stellte man sich auf und es war - RUHE hmm / das war das schlimmste Erlebnis was ich jemals ((lachend))/ in meiner Schulzeit hatte
Corinna Landwehr bezieht sich hier auf die vorherige Nachfrage nach dem schönsten Erlebnis in der Schule.
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung
203
Hier zeigt sich, dass Corinna Landwehr in Krisensituationen durchaus in der Lage ist, sich, wenn nötig auch mit unkonventionellen Mitteln, durchzusetzen. Sie ist solchen Situationen nicht ohnmächtig ausgeliefert, sondern folgt ihrer Intui-tion und handelt. Mag man über die Angemessenheit ihres Vorgehens auch verschiedener Meinung sein, so ist das Ergebnis dennoch das gewünschte. Es zeigt sich erneut, dass Corinna Landwehr Konzepte wie Respekt einzufordern, Strenge durchzuhalten und Restriktionen entsprechend anzusetzen mit der Qualifizierung der anleitenden Person verbindet und als Kriterien für die Qualität von Schulunterricht ebenso anlegt, wie für die adäquate Gestaltung von außerschulischen Sportangeboten. Besonders erstaunlich ist jedoch, dass auf die Frage nach dem schrecklichsten Erlebnis mit einer Erzählung geantwortet wird, die keine ‚Geschichte des Scheiterns’ oder des ‚Selbstverschuldens’ ist. Vielmehr gerät sie in eine Situation, für die sie nicht verantwortlich ist und die sie äußerst wirksam löst. Insgesamt ist die Zeit an der Waldorfschule die am negativsten beschriebene Phase in Corinna Landwehrs Erzählung. Sie beschreibt sektenähnliche Zustände und empfindet die an sie gestellten Ansprüche, wie z. B. das Vermeiden schwarzer Kleidung, da diese den Satan herbei rufen würde, als Zumutung und Eingriff in ihren Persönlichkeitsbereich. Auch das Ausscheiden wird ihr nicht leicht gemacht, was sie jedoch nur andeutet. E: I: E:
I:
E:
/ ich bin froh dass ich wieder da raus bin ((leise))/ hmm wobei ja die Schüler hab ich schon geliebt aber diese - - ja diese Sektenanteile die man wirklich hat - das war echt unten durch hmm - es gibt so relativ strenge Regeln auch ne? Auch für das Privatleben was für’n Inhalt mit dem Programm im Fernseher und so ähnlich man darf kein Schwarz tragen zum Beispiel - also in dem Winter hatte ich gerade so ne Schwarzphase - fand ich Schwarz ganz toll - / hab ich immer schwarze Hosen schwarze Pullis dazu ((lachend))/ (Kette aus?) Holz dazu damit es wenigstens so halbwegs passt und da wurd ich auch zur Seite genommen - und da wurde mir eben gesagt / ähm ich wüsste ja dass ich irgendwie satanische Kräfte hervorrufe ((leise))/ also in den Schülern und ich soll mich bitte anders kleiden und natürlich eigentlich hätte ich mich dem Sternzeichen entsprechend äh wie auch immer kleiden müssen (..)
Die „Schwarzphase“ verweist darauf, dass in Corinna Landwehrs lebensgeschichtlichem Phasenmodell nicht nur zeitliche und inhaltliche Dimensionen
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
wandelbar sind. Vielmehr wird deutlich, dass sich der Wechsel dieser Phasen auch als äußerlicher Wandel vollziehen kann. Kategorisierungen über äußerliche Merkmale bzw. Kleidungsneigungen haben nur eine geringe Halbwertzeit. Sich neu zu erfinden und zu gestalten, ist jederzeit möglich. Die ‚Theorie des signifikanten Zufalls’ stützt das Phasenmodell. Zufall bedeutet in diesem Kontext auch die Unterbrechung von Kohärenz, die es ermöglicht, dass Corinna Landwehr sich nicht festlegen lassen und vorherigen Konzepten verpflichtet fühlen muss. Dennoch sind die bereits beschriebenen Kriterien für Qualität von unterrichtlicher Gestaltung im weitesten Sinne, ebenso wie die negative Attribuierung des weiblichen Geschlechts, Konstanten, die sich mit dem Wechsel der Lebensphasen nicht verändern. Nach nur einem Jahr wechselt Corinna Landwehr an die ländlich gelegene Gesamtschule, an der sie auch zum Zeitpunkt des Interviews noch unterrichtet. Sie führt auch hier über die räumlich/örtlichen Bedingungen in das Thema ein und stellt die neue Schule als extremen Kontrast zu ihrer bisherigen Erfahrung an der Waldorfschule dar: E:
I: E:
I: E
I: E: I: E:
in A-Stadt habe ich mich vorgestellt am Tag - - die Waldorfschule ist so ich sag mal in einem schlossartigen alten Gebäude und ist alles sehr (..) hmm und eben so zusammenzustecken auch der Kult und so weiter - und dann stellte ich mich in A-Stadt vor - und äh fand das sieht aus wie im Krankenhaus und / habs auch gesagt ((lachend))/ is ja klar - ich war morgens noch in D-Stadt in diesem ja - weiß ich auch nicht - ganz anderem Ambiente und das hatt ich halt n Jahr nicht anders erlebt und ähm fand ähm diese sterilen Regale mit nem Sofa in der Ecke - nicht so sehr spannend - nahezu steril fand ich diese Schule - - (…) die guckte mich ganz entsetzt an - weil A-Stadt war zu diesem damaligen Zeitpunkt ne absolut besondere Gesamtschule hmm die eigentlich eher schön ausgestattet war - / das hab ich auch dann später erst verstanden ((lachend))/ als ich wieder in die Normalität zurück kehrte ja aber für mich war das auch ganz komisch - dass die Schüler die sahen ja jetzt auch alle wieder so normal aus ja das war ein ganz anderes Bild für mich - das kannte ich ja nicht so (P/ 18 sec.)
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung
205
‚Normalität’ wird demnach als wandelbar begriffen. Dies schließt an die bisherigen Ausführungen zum lebensgeschichtlichen Phasenmodell an und illustriert seine Bedeutung. In der einen Lebensphase kann etwas als ‚normal’ definiert und teilweise akzeptiert werden, welches in der darauf folgenden Phase als ‚unnormal’ bzw. ‚absonderlich’ beschrieben wird. In der Phase an der Waldorfschule gelingt es Corinna Landwehr, sich trotz der Schwierigkeiten zu integrieren. Sie nimmt die Bedingungen als gegebene Rahmung an, obwohl sie diese dennoch kritisch reflektiert. In der Rückschau bekommt sie dann erst die massiv negative Zuschreibung. Das lebensgeschichtliche Phasenmodell ermöglicht Corinna Landwehr eine gewisse Flexibilität und Offenheit, die sich hier unter Extrembedingungen zeigen. Deutlich wird jedoch darüber hinaus, dass Corinna Landwehr den Phasen in gewisser Weise auch ausgeliefert ist. Der Wechsel der Phasen wird häufig an die ‚Theorie des signifikanten Zufalls’ gebunden, so dass die Erzählerin den Wechsel nicht unbedingt aktiv herbei führt oder aber Konsequenzen, wie z. B. bei der Bewerbung an der Waldorfschule, nicht absieht. Dennoch fügt sich immer alles ‚zum Guten’, selbst wenn die strukturelle Rahmung nicht günstig ist. Eine Anpassung muss scheinbar gelingen; der Ausbruch bzw. Abbruch wird als Alternative nicht gewählt. Hier lässt sich eine Parallele zum Umzug in ihrer Kindheit rekonstruieren: Auch dort ist ein Wechsel vollzogen worden, der der ca. siebenjährigen Corinna Landwehr eine große Anpassungsleistung abverlangt hat. Aus dem übersichtlichen und strukturierten Bewegungsraum der Straße ist ein wilder und unüberschaubarer Wald geworden, und auch sonst haben sich die Rahmenbedingungen plötzlich und massiv geändert. Wie selbstverständlich und emotionslos berichtet Corinna Landwehr von diesem Umbruch, den sie nicht als krisenhafte Situation markiert. Insgesamt gibt es in der lebensgeschichtlichen Erzählung Corinna Landwehrs keine Krisen und keine Situationen des Scheiterns. Dies lässt sich möglicherweise über ihr Modell der Lebensphasen erklären. Die beiden anderen Fälle stehen dazu im Kontrast, da es hier ein Modell des Lebensweges gibt, das stark mit dem Motiv der persönlichen Entwicklung verbunden ist. Differenzerfahrungen oder aber die Suche nach biographischer Passung im Sinne von Kohärenz bilden die Grundlage. Bei Corinna Landwehr sind diese Motive, wenn, dann nur rudimentär zu finden. Sie bleibt damit insgesamt in ihrer biographischen Position unspezifisch und scheint von Verallgemeinerungskategorien jeglicher Art abgetrennt. Corinna Landwehr präsentiert sich insgesamt als fachlich gut informierte und über den eigentlichen Sportunterricht hinaus engagierte Sportlehrerin. So erläutert sie z. B. das Konzept der Initiativstunde als Element der Gesamtschulpädagogik und kritisiert die unangemessene Umsetzung dieses Konzepts bei
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
vielen Kolleg/innen, die ihre Klassen in dieser Zeit einfach sich selbst überlassen. E: I: E: I: E:
I: (…) I:
I: E:
I: E: I: E: I: E:
I: E:
I:
bei uns gibt es ja diese Initiativstunde ja im Sport - wo die Schüler halt im Jahrgang fünf Ende des Jahrganges fünf so lernen sich selbst zu organisieren hmm ähm - - und das hatte damals auch noch als ich anfing - ja AUCH sehr strenge Regeln wie so eine Initiativstunde zu laufen hat hmm ich hab schon lange keinen Jahrgang fünf mehr gehabt - aber damals ähm als ich das noch vermittelt hab und so wie das Konzept eben auch eigentlich ist ähm ist es halt wirklich völlig anders halt - da einigen die sich dann am Anfang der Stunde was wollen wir genau machen - welche Geräte brauchen wir dazu und so weiter - es gibt also erstmal eine etwas längere Gesprächsphase hmm dann - ich hatte meistens so n Gruppe - die baute Bänke auf und spielte dann Hockey in einer Ecke - dann gabs Turner und so weiter - also es war immer - es sah immer filmreif immer aus ne? hmm ich hab immer dagestanden und dachte so - wenn jetzt irgendwie einer käme - läuft das kaum ne? hmm also das ist wirklich n sehr schöne Sache wenn man eben entsprechendes - ja - Dinger auch vermittelt wie das zu gehen hat ja ich habe gerade diese Woche eine vertreten - im Jahrgang sechs wo der Lehrer versprochen hatte - ihr dürft n Initiativstunde machen - da wars wirklich so - keine Absprachen - / ich will so n Ball - ich will so n Ball ((verstellt))/ hmm und ja nach fünf Minuten musste es wieder ein anderes Gerät irgendwie - und das ist eigentlich nicht was da konzeptionell dahinter steckt hmm
Es geht also in diesem Bereich um soziales Lernen, das Corinna Landwehr sowohl theoretisch konzeptionell als auch in der unterrichtspraktischen Umsetzung
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung
207
als sehr sinnvoll erachtet. Sie legt Wert darauf, entsprechende Konzepte zu kennen und reflektiert sie auch auf den beiden Ebenen. Erneut zeigt sich Corinna Landwehrs Unmut über unstrukturierten und undisziplinierten Sportunterricht, den sie schon am Beispiel des zweiten Turnvereins (nach dem Umzug nach WHeim) zum Ausdruck bringt. Damit zeigt sich die enge Verknüpfung dieser Qualitätsstandards mit eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen, die hier in kondensierter Form als biographisches Wissen handlungsleitend werden. Dass die Initiativstunde keine Ausnahme ist, sondern Corinna Landwehr grundsätzlich gut informiert zu sein scheint, lässt sich an ihren Ausführungen zu den neuen Richtlinien und Lehrplänen94 verdeutlichen. E:
I: E: I: E:
I: E: I: E: I: E:
I: E: I: E: I: E: I: E:
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da mit den Richtlinien ist es einfach auch so - du wählst ja nicht nur drei Sportarten - sondern du kannst viele Sachen machen - was früher gar nicht möglich - also das genieße ich auch und die Schüler auch hmm das ist eben so irgendwie - das ist nicht so dogmatisch wie früher hmm – findst du die gut die neuen Richtlinien? / puh ((stark ausatmend))/ - sie sie ermöglichen viele Dinge die früher so nicht denkbar waren und ich denke so die älteren Kollegen - ohne vielleicht zu nahen treten zu wollen hmm es hat bei vielen im Kopf zumindest angeregt - es gibt noch was außer Fußball Volleyball ja und Basketball sag ich jetzt mal hmm und das find ich schon gut - also diese ganzen Sachen was wir in der Uni schon vermittelt gekriegt haben - mit Rollen Zahlen Gleiten und so weiter - das das äh kannten andere nicht hmm und das steht da jetzt mal drin hmm und insofern - ja hmm / ich hab versucht ihnen ein Verhältnis zu den Richtlinien die Richtlinien sind irgendwie da ((lachend))/ ja ja - aber ich find schon nicht schlecht dass die das die anders sind als die alten
Es handelt sich um die in Nordrhein-Westfalen 1999 neu eingeführten Richtlinien und Lehrpläne für das Fach Sport.
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Die neuen Richtlinien und Lehrpläne werden von Corinna Landwehr eindeutig als Verbesserung wahrgenommen. Sie brechen ein tradiertes Sportverständnis auf und eröffnen auf diese Weise vielfältige Erfahrungsräume. Corinna Landwehr nimmt sie zum Anlass, um erneut über den Sportunterricht an ihrer Schule, d. h. auch über jenen anderer Kolleg/innen zu reflektieren. Sie hat ebenso wie bereits beim Thema Initiativstunde eine kritische Sicht auf die Unterrichtspraxis. Darüber hinaus scheint in diesem Kollegium eine fachliche Auseinandersetzung über Inhalte und Gestaltung von Sportunterricht stattzufinden. Wie erfolgreich diese jedoch im Sinne der Implementierung innovativer Konzepte ist, lässt Corinna Landwehr offen bzw. schränkt mit den Formulierungen „zumindest angeregt“ oder „ich hab versucht“ den Wirkungsgrad ein. Sie stellt dabei einen Zusammenhang zur generationalen Zugehörigkeit ihrer Kolleg/innen her. Ein weiterer Aspekt ihres Engagements ist das Verfassen eines Konzepts für die Erteilung von Sport als Leistungskurs, das Corinna Landwehr übernommen und vor dem Dezernentenausschuss vorgestellt hat. Sie betont dabei, dass sie diese Tätigkeit übernommen hat, da sie von Schüler/innen intensiv darum gebeten worden ist. Überhaupt stellt die Orientierung an den Interessen der Schüler/innen für Corinna Landwehr den wesentlichen Bezugspunkt für die Auswahl und Gestaltung von Unterrichtsinhalten dar. Dies betont und illustriert sie mehrfach anhand von Beispielen aus ihrem Unterrichtsalltag: E:
I: E:
I: E:
I: E: I: E:
ja - aber - und eben diese diese zehnte Klasse dann - also die hatt ich von der Achten bis zur Zehn - und in der Zehn hab ich dann gesagt am Schluss - wir machen noch mal n Initiativphase - wo jeder seine Sportart vermittelt hmm und das haben die auch ganz toll gemacht - meistens haben die nach einer Stunde gesagt - ähm - ich möchte mindestens noch eine Doppelstunde oder noch eine - und die Mitschüler auch hmm so das ich am Ende dieser Zehn wirklich n lange Phase hatte wo die Schüler den Unterricht selbstständig - ganz toll geplant und ganz toll durchgeführt haben wie das manchmal in Oberstufen so ist so geht hmm so das werd ich auch nicht vergessen - dass ein Kollege um die Ecke guckte und sagte - - / Was ist das denn? ((kindisch))/ hmm ((lachend))/ ich sag ja - ähm - da machten gerade zwei Schülerinnen - Aerobic mit der ganzen Gruppe - und da waren Punker drin - und also wirklich n wilde Klientel - war ne wil-
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung
I:
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de Klasse - aber die haben echt wie gesagt Spaß am Sport gehabt - haben alles ausprobiert hmm
Die kritische Auseinandersetzung mit Kolleg/innen und ihren Unterrichtsweisen und –inhalten und ihre eigene möglicherweise unkonventionelle Vorgehensweise werden hier erneut betont. Scheinbar stößt ihr Engagement z. T. auf Unverständnis oder wird zumindest belächelt. Sie verfügt über ein innovatives Verständnis von Sportunterricht, das sie auch gegenüber anderen (älteren) Kolleg/innen vertritt. Dies zeigt sich auch daran, dass sie angibt, häufig das Internet für die Unterrichtsvorbereitung einzusetzen und so z. B. eine Unterrichtseinheit zum Thema Baseball entwickelt und durchgeführt habe. Dies sei auch wieder eine Orientierung an den Wünschen der Schülerinnen und Schüler gewesen. Auch die Bedeutung des Studiums hinsichtlich brauchbarer Materialien (Bücher und Planungsvorschläge) wird hervorgehoben und in Kontrast zu ihren anderen Studienfächern gesehen, die ihres Erachtens keinerlei Übertragung auf die Schule ermöglichen. In diesem Zusammenhang wird erneut Bezug auf die soziale und hier auch in einem positiven Sinne restriktive Funktion des Sports genommen, wie bereits zu Beginn des Interviews. Dort hebt sie die integrative Funktion des Sports im Zusammenhang mit behinderten Mitschüler/innen hervor. Hier ist Sport nun auch dazu geeignet, „wilde Banden“ in den Griff zu bekommen. Er stellt – adäquat d. h. professionell ausgestaltet – einen strukturellen Rahmen für die ‚Zähmung’ sozial Auffälliger dar. Sport bietet Orientierungsmöglichkeiten und kann, angemessen initiiert, sogar zu einer Selbstdisziplinierung95 führen. Ihre ausgesprochene Schülerorientierung verdeutlicht Corinna Landwehr an weiteren Beispielen aus ihrem schulischen Alltag. Sie betont, dass sie insbesondere die „wilden Feger“ mag; möglicherweise, weil sie selbst einer gewesen sei. Ihr Geschick im Umgang auch mit schwierigen Gruppen führt sie oberflächlich erneut auf Glück zurück: E:
I: E: I: 95
wobei im Moment muss ich auch sagen – dass es dass ich in so vielen Oberstufenkursen die ich hab oder hatte – denn die Dreizehner sind ja jetzt bald weg – vielleicht liegts auch daran – aber ich hab zum Beispiel n wilden Zehnerkurs in Englisch getriezt - - sehr verschrien – n Haufen Schüler drin – sind überall in der ganzen Schule auch verschien – handzahm hmm sind wirklich total nett hmm - -
Vgl. hierzu auch die Fallstudie Rudolf Hinze.
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien E: I: E: I: E: I: E: I: E: I: E:
keine Ahnung woran das liegt / ich weiß es nicht ((lachend))/ hmm aber Gott sei dank kein Problem hmm kann ja noch kommen /ich weiß es nicht ((lachend))/ ja muss ja nicht – is ja schön und gut wenns läuft ja – wie bei Kollege B. zum Beispiel auch – der hat das ja (…) hmm – keine Ahnung – ich weiß es nicht – vielleicht hab ich am Anfang keine Problem gehabt (…) hmm immer Glück – also ich interpretier das eher – als immer Glück gehabt
Ebenso wie das Spaß-Motiv, ist auch das Glück-Konzept nur vordergründig. Bei der Analyse Corinna Landwehrs lebensgeschichtlicher Ausführungen zu ihrer Beruflichkeit wird immer wieder der Professionalisierungs- und Qualitätsgedanke aufgegriffen. Diese konstituieren sich durch eine adäquate Ausbildung (nicht wie bei der Gymnastiklehrerin aus ihrer eigenen Schulzeit), gute Vorbereitung, strukturierte und disziplinierende Anleitung sowie ein angemessenes pädagogisches Konzept. Das Glücks-Motiv wird immer dann angeführt, wenn Corinna Landwehr über ihre eigene berufliche Kompetenz und Professionalität spricht. Es erfüllt also eher die Funktion einer rhetorischen Relativierung, als dass anzunehmen wäre, dass sie ihre Leistungen tatsächlich so interpretiert. Dass die Schule auch als Gelegenheitsstruktur interpretiert werden kann, zeigt sich daran, dass Corinna Landwehr bestimmte Komponenten des Arbeitens in der Schule als für sie maßgeblich hervorhebt, diese jedoch durchaus auch in anderen Kontexten auffindbar sind: E: I: E:
I: E: I: E:
- was ich aber an Schule super finde ist erstens - es kommen sehr viele Menschen zusammen hmm es ist zu neunundneunzig Prozent wirklich lustig - es macht SPASS ja ähm - - - ja es ist einfach ne nette Arbeit - also ich wüsste immer noch heute ich wüßte immer noch nicht was ich lieber täte als das hmm das ist so - also mit Schülern mit Jugendlichen zu arbeiten ist einfach KLASSE hmm wenn ich mich vielleicht entscheiden würde - werd ich noch mal Beratungslehrer ausüben – würd ich vielleicht - wär ich
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung
I: E:
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vielleicht Sozialarbeiterin geworden - ja keine Ahnung - aber irgendwas mit Jugendlichen hmm würd ich auch auf jeden Fall machen wollen - ihnen irgendwas vermitteln - was man selber gerne macht - macht ja auch Spaß
Auch hier ist also ihr beruflicher Weg immer mit einer ‚theoretischen ExitOption’ ausgestattet, die eine endgültige Kategorisierung und Einordnung nicht ermöglicht.
4.3.5 Analytische Abstraktion Corinna Landwehr präsentiert ihre lebensgeschichtliche Konstruktion mit vielen reflexiven Anteilen, wie sie auch in den beiden anderen Fallstudien bereits zu finden sind. Im Gegensatz zu den beiden anderen Fällen wählt sie eine Konstruktionslogik über (Lebens)Phasen, die stark mit Orten und Räumen verbunden sind. Darin entwirft sie keine längerfristigen Zukunftspläne, sondern trifft Entscheidungen immer in der kontextuellen Gegebenheit der aktuellen Situation. Für Corinna Landwehr knüpft die Ausübung ihres Berufs an eigene Interessen an, es entspricht aber nicht einem biographisch entwickelten Plan oder einer höheren Idee, was mit dem Leben anzufangen sei. Das Lehrer/innendasein und die Schüler/in-Lehrerin-Beziehungen werden weder idealisiert noch ideologisiert. An Stelle von abstrakten Maximen oder einer fundamentalen Weltanschauung bezieht sich Corinna Landwehr eher auf gefestigte Erfahrungswerte im Sinne verobjektivierten Wissens, das sie im ermöglichten Rahmen96 als Orientierungshilfen heranzieht. Die Theorie über ihren beruflichen Werdegang beschreibt sie mit dem Invivo-Kode „Zufallstheorie“. Diese als Kategorie ‚Theorie des signifikanten Zufalls’ benannte Überlegung harmoniert mit dem lebensgeschichtlichen Phasenmodell, da es eben keinen manifesten roten Faden o. ä. zu geben scheint. Lediglich der Sport als Identifikationsgegenstand bildet eine Konstante, die wiederum großen Einfluss auf ihr berufliches Handeln und Deuten nimmt. Darüber hinaus schützt die ‚Theorie des signifikanten Zufalls’ auch vor einer zu festen Kategorisierung z. B. als ‚geborene Sportlehrerin’. Durch Zufall ist sie in diesen Beruf hinein geraten und könnte ihn theoretisch ebenso wieder verlassen.
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Siehe hier auch wieder die neuen Richtlinien und Lehrpläne, die ihre Vorstelllungen von adäquatem Sportunterricht stützen.
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Es geht Corinna Landwehr weder bei ihrem eigenen Sporttreiben noch bei ihrer beruflichen Tätigkeit in besonderem Maße um den konkreten Inhalt97 oder den Ort, an dem es stattfindet; vielmehr scheinen das Anleitungerfahren bzw. Anleiten, das Orientierungerfahren bzw. Orientierunggeben, das Regelneinhalten und Grenzenakzeptieren bzw. das Regelnaufstellen und Grenzensetzen entscheidend. Phasen sind dann u. a. deshalb Phasen, weil die Rahmungen wechseln. Qualität zeichnet sich dann zwar durchaus auch dadurch aus, dass Spaß ein wichtiger Faktor ist, dieser Spaß kann jedoch nur dann entstehen, wenn er professionell gerahmt wird (vgl. z. B. die Initiativstunde). Biographisch gebunden ist Qualität zunächst an das Geschlecht. Weiblich bzw. Mädchensport ist schlecht, reine ‚Frauenräume’ sind negativ besetzt. Dieses biographische Wissen nimmt sie mit in ihre berufliche Praxis. Es ist entstanden aus einer leidvollen Erfahrung, die eine sehr nachhaltige Wirkung hat. Auch die sozialen Funktionen des Sports kann dieser nur in einem qualifiziert angeleiteten Setting entwickeln. Dabei sind jene Rahmen nicht so starr und einmalig festgelegt, wie es sich möglicherweise bei Marlene Auerbach darstellt. Sie sind nichts einmal Vorgezeichnetes, sondern etwas, das man auffinden und dann auch mitgestalten kann oder eben auch nicht; etwas, das man herstellen kann oder eben auch nicht. Lernarrangements müssen also von qualifizierten Personen initiiert, nach konzeptionell sinnvollen Vorgaben gestaltet und an den Interessen der Kinder/Jugendlichen angesetzt werden. Sie sollen ruhig ‚streng’ organisiert werden und haben die Entwicklung von Handlungsfähigkeit (z. B. Selbstdisziplinierung) zum Ziel. Damit geht es darum, sich in letzter Konsequenz als Anleitende überflüssig zu machen. Sie leitet diese Prinzipien einerseits über biographisches Wissen her: ihre Negativerlebnisse mit „Mädchensportunterricht“. Andererseits hat diese Erfahrung dazu geführt, dass Corinna Landwehr sich stark an ihren Schüler/innen und deren Interessen orientiert. Ergänzt wird diese biographische Grundhaltung jedoch durch fachspezifisches Konzeptwissen, das z. T. im Studium z. T. in der beruflichen Praxis (z. B. Fortbildungen) erworben worden ist. Biographisches Wissen spielt in der lebensgeschichtlichen Erzählung von Corinna Landwehr eine besondere Rolle. Es handelt sich weniger um ein biographisches Wissen aus theoretischen Reflexionen heraus. Vielmehr bezieht sie ihr biographisches Wissen aus sehr konkreten und selbst gesammelten Erfahrungen (z. B. dem Mädchensportunterricht), die sie dann jedoch nicht in eine reflexive Theorie über ihr Leben bzw. das Leben im Allgemeinen überführt. Ihr biographisches Wissen befindet sich scheinbar in einem anderen „Aggregatzustand“ (vgl. 97
Die einzige Ausnahme ist in der kategorischen Ablehnung der Sportart Volleyball zu sehen.
4.3 Biographisches Wissen als Kontinuitätsmarkierung
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Alheit, 1989, S. 128 und Kap. 3.2.2) als es bei den beiden anderen Fallstudien rekonstruiert worden ist. Sowohl Marlene Auerbach als auch Rudolf Hinze verfügen über biographisches Wissen in Form ‚höherer Wahrheiten’ und ‚kollektiver Erfahrungen’, das sich scheinbar schon im Prozess der Traditionsbildung befindet und häufig eine gewissen Distanz zum ursprünglichen biographischen Ereignis aufweist (vgl. Kap. 3.2.2). Corinna Landwehr hingegen bindet ihr biographisches Wissen an exemplarische Situationen. Dabei zeigen ihre biographischen Suchbewegungen auch, dass sie keinem eindeutigen Vorbild bzw. Ideal nacheifert. Für sie gibt es nicht den einen ‚klaren Weg’, eine eindeutige Perspektive. Das Leben ist eher ein Ausprobieren, das jedoch nach bestimmten Kriterien zum Ausschluss von Tätigkeiten bzw. sozialen Kontexten führt. So greift sie einerseits situativ auf konkrete Erfahrungen zurück und nutzt diese als Orientierungsgrößen und Bewertungsraster. Andererseits untermauert sie eher theoretische Wissensbestände mit exemplarischen Situationen aus ihrer Lebensgeschichte, die jedoch durch den Darstellungsmodus nicht als Stegreiferzählung charakterisiert werden können (z. B. Fahrradfahren lernen oder die integrative Funktion des Sports für Behinderte). Auch Corinna Landwehr lässt sich von mehr oder weniger nahen Personen ihres Umfeldes hinsichtlich biographisch bedeutsamer Entscheidungen anregen, ihre biographische Konstruktion ist jedoch nicht in der Form eine „Ich-inBeziehung“-Konstruktion98 (Dausien, 1996, S. 546ff.) wie im Falle von Marlene Auerbach. Durch die ‚Theorie des signifikanten Zufalls’ verhält sie sich auch kontrastiv zu der Konstruktion des ‚ganz eigenen Weges’ von Rudolf Hinze. Auch hinsichtlich der Art und Weise des Anschließens lebensgeschichtlicher Erfahrungen an das berufliche Feld können Kontrastierungen zu den beiden anderen Fällen rekonstruiert werden. Während Marlene Auerbach ihr biographisches Wissen integrativ an ihren Berufsalltag anschließt, ist das Anschlussverhältnis im Falle von Rudolf Hinze als kontrastiv charakterisiert worden. Corinna Landwehr konstruiert dieses Anschlussverhältnis nun noch auf eine völlig andere Art und Weise, denn das Anschlussverhältnis ihres biographischen Wissens zum beruflichen Feld lässt sich als komplementär charakterisieren: Das biographische Wissen und die Strukturen des Berufsfeldes ‚Lehrer/in’ ergänzen sich im Kontext von Corinna Landwehrs lebensgeschichtlicher Konstruktion in der Form wechselseitig, als einerseits ihre Prinzipien und Anforderungen an adäquate Gestaltung von Lernarrangements im institutionellen Rahmen ‚Schule’ durchführbar sind und andererseits profitiert Corinna Landwehr von ihrer Arbeit, da sie sie als erfüllend empfindet. Die Tätigkeit als Lehrerin macht ihr in ihrem ganz eigenen Sinne ‚Spaß’ und ist somit an ihren Bedürfnissen orientiert. 98
Dausien beschreibt mit der Formel „Ich-in-Beziehung“ eine der typischen Formen der Selbstdarstellung von Frauen, die sie in ihren empirischen Analysen rekonstruiert hat.
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4 Empirischer Teil: Biographische Fallstudien
Darin zeigt sich ein eher pragmatischer als ein ideologisierender Umgang mit dem Lehrberuf, was keinesfalls als negativ im Bezug auf den Professionalisierungsprozess bewertet werden sollte. Diese Pragmatik zeigt sich auch bereits im Ausprobieren verschiedener Sportarten nach dem Ausschlussprinzip. Stimmt eine Tätigkeit mit ihren Bedürfnissen überein, so entsteht ein kohärenter Zusammenhang, der erhaltenswert ist. Wie dies jedoch in ein ‚großes Ganzes’ passt oder was damit ‚Höheres’ bewirkt werden könnte, ist dabei keine relevante Bezugsgröße. Insgesamt lässt sich diese Komplementarität auch auf andere biographische Bereiche ausweiten und als maßgebliches Prinzip ihrer biographischen Konstruktionslogik benennen, welches sich im Konzept der Gelegenheitsstrukturen verdichtet. Die Gelegenheitsstrukturen (z. B. Elternhaus, Sportverein, verschiedene Beziehungen wie beispielsweise der Freund, die sportlichen Mädchen/Frauen als Koalitionspartnerinnen usw.) bauen grundsätzlich auf dem Prinzip der Komplementarität auf. Sie ergänzen sich wechselseitig derart, dass Corinna Landwehr ihre aktuelle Bedürfnislage befriedigt sieht und sich daher wiederum intensiv einbringt und engagiert. Eine dauerhafte Zugehörigkeit oder ‚Absorbierung’ der Erzählerin kommt jedoch nicht zustande. Auf einer abstrahierenden Ebene trifft das Prinzip der Komplementarität auch auf das Modell der Lebensphasen zu. Diese können weder räumlich noch zeitlich zusammentreffen, beziehen sich jedoch auf dasselbe ‚Referenzobjekt’ – hier die Protagonistin der lebensgeschichtlichen Konstruktion. Es handelt sich um einander ergänzende Merkmale bzw. Lebensphasen, die je spezielle Charakteristika aufweisen. Auch beziehen sich die Lebensphasen nicht notwendig durch Kausalität (vgl. ‚Theorie des signifikanten Zufalls’) aufeinander. Dennoch geben sie nur in ihrer Gesamtheit einen Sinn: den Eigensinn der biographischen Konstruktion Corinna Landwehrs mit seinen ganz speziellen Rahmungen und Orientierungen.
5 Biographisches Wissen und Professionalisierung im Bildungsgang von Sportlehrerinnen und Sportlehrern
„Habitus oder Entwicklungsaufgaben?“ Diese Frage, die Uwe Hericks (2006) in Bezug auf das Lernen von Lehrer/innen stellt, scheint auch für die hier vorliegenden Ergebnisse der biographischen Fallstudien zentral zu sein. Es konnte aufgezeigt werden, dass biographische Wissensbestände einen großen Einfluss auf den Verlauf des Professionalisierungsprozesses ausüben. Bereits in der Primärsozialisation werden Habitualisierungsprozesse angebahnt, die in Bezug auf die Einstellung zum Sport aber auch zu Schule und Unterricht maßgeblich sind. Wie schwer es ist, habituelle Muster zu irritieren bzw. wie überdauernd diese funktionieren, konnte insbesondere am Fall ‚Marlene Auerbach’ aufgezeigt werden. Irritationen werden größtenteils vermieden, so dass die ursprüngliche Habitualisierung das weitere biographische Projekt strukturiert. Eine einmal entwickelte Grundhaltung zum Sport und seiner ‚adäquaten’ Ausübung wird beibehalten und auf das berufliche Feld des Schulsports übertragen. Ohne dabei die Wertvorstellungen der Interviewten kritisieren oder pädagogisch bewerten zu wollen, lässt sich trotzdem festhalten, dass das Herstellen einer berufsbiographischen Passung auf diese Weise nicht im Sinne einer wissenschaftsorientierten Ausbildung von Sportlehrer/innen sein kann. Denkt man diesen Aspekt weiter, so kann durchaus die Frage nach Konsequenzen für eine Umgestaltung der Lehrerausbildung gestellt werden. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten hierfür etliche Ansatzpunkte, die im Rahmen dieses Schlusskapitels nun entwickelt werden. In der empirischen Analyse sind einerseits differenzierte Ergebnisse zum Erwerb, zur Beschaffenheit und Funktion biographischen Wissens im Bildungsgang von Sportlehrer/innen generiert worden. Diese werden im Folgenden ausgeführt und anschließend mit professionalisierungstheoretischen Überlegungen verbunden. Andererseits hat sich herausgestellt, dass auch die Art und Weise, wie Sportlehrer/innen dieses biographische Wissen an das berufliche Feld an-
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5 Biographisches Wissen und Professionalisierung
schließen, maßgeblichen Einfluss auf die Bedeutung des biographischen Wissens für den Professionalisierungsprozess besitzen. Dabei sind drei unterschiedliche Prototypen von Anschlussverhältnissen rekonstruiert worden: der integrative Typus, der kontrastive Typus und der komplementäre Typus. Nach der Präsentation der Ergebnisse zum biographischen Wissen auf allgemeiner Ebene, werden diese drei Typen differenziert dargestellt. Sie werden dabei für drei Kernentwicklungsbereiche der Professionalisierung von Sportlehrer/innen – Berufsrolle und Einstellung zum Beruf, Lehrer/in-Schüler/inVerhältnis sowie das Sach- und Fachverständnis – reflektiert. Für diese analytischen Ergebnisse sind folgende Fragen leitend:
Wie wird das biographische Wissen der Sportlehrer/innen relevant für ihr berufliches Handeln und Deuten? Welche Rolle spielen die verschiedenen Typen von Anschlussverhältnissen? Und: Welche Bedeutung haben sie für die Bewältigung von berufsbiographischen Entwicklungsaufgaben im Professionalisierungsprozess? Gibt es bestimmte biographische Komponenten, die den Professionalisierungsprozess befördern bzw. behindern können?
Diese letzte Frage dient bereits der Überleitung zum abschließenden Teil dieses Kapitels, der sich mit Konsequenzen für die Sportlehrer/innen(aus)bildung befasst. In dieser Konzeption manifestieren sich die gegenstandsbezogenen theoretisierenden Ableitungen der empirischen Analyse, die mit professionalisierungstheoretischen Erkenntnissen und Perspektiven verbunden werden.
5.1 Biographisches Wissen und die Typisierung seiner Anschlussverhältnisse Wie anhand der biographischen Fallstudien dieser Arbeit deutlich wird, stehen im Mittelpunkt des Erwerbs biographischer Wissensbestände vielschichtige Habitualisierungsprozesse, die zumeist ihren Ursprung im Elternhaus nehmen – und sei es ‚nur’ im Sinne einer Gelegenheits- oder Verhinderungsstruktur, die entweder als Anregung zur Ausgestaltung, als Anregung zur Reproduktion oder aber als Anregung zur Abgrenzung genutzt werden. Diese Habitualisierungsprozesse bilden die Grundlage für das Generieren biographischer Wissensbestände. In der Bourdieuschen Terminologie beschrieben, wird neben dem Einfluss ökonomischen Kapitals auch kulturelles Kapital weitergegeben. In Bezug auf die
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Thematik dieser Arbeit stellt insbesondere der Fall ‚Marlene Auerbach’ ein ‚Paradebeispiel’ für die Weitergabe kulturellen Kapitals zum Feld des Sports dar, das für das berufliche Handeln und Deuten der Biographieträgerin höchst relevant bleibt. Aber auch Rudolf Hinzes biographisches Wissen zu Schule, Erziehung und Unterricht aus seiner Kindheit und Jugendzeit spiegelt sich in seinen Ausführungen zu seinem beruflichen Alltag wider und beeinflusst seine Grundhaltung maßgeblich. Wie bereits mehrfach erwähnt, zeichnen sich alle Fallstudien durch ein hohes Maß an reflexiven Anteilen aus. Dieses ist interessant, da man grundsätzlich davon ausgehen kann, dass es sich bei biographischem Wissen um eine Form impliziten Wissens handelt, das den Personen nur bedingt zugänglich ist. Die Ergebnisse der Analyse sind also nicht als Wiedergabe der eigentheoretischen Reflexionen der Interviewpartner/innen zu verstehen, sondern diese sind zu den Erzählsegmenten in Beziehung gesetzt worden. Auf diese Weise haben sich Eigenperspektiven z. T. relativiert, z. T. aber auch ausdifferenziert. Leitend ist bei diesem Vorgehen u. a. die Frage gewesen, wie sich biographisches Wissen von lebensgeschichtlichen Erfahrungen im Allgemeinen abgrenzen lassen. Es sei hier nochmals an die Ausführungen aus Kapitel 3.2 erinnert, denen zur Folge biographisches Wissen sich häufig bereits im Prozess der Traditionsbildung befindet und somit Textsorten interessant werden, die nicht zwangsläufig dem Ideal der Stegreiferzählung nach Schütze entsprechen müssen. Biographisches Wissen ist folglich eine besondere Form lebensgeschichtlicher Erfahrungen, die häufig nicht mehr so stark an das ursprüngliche Erlebnis gebunden sind. Sie haben quasi einen anderen „Aggregatzustand“ (Alheit, 1989, S. 128) erreicht. Wann werden nun aber lebensgeschichtliche Erfahrungen zu biographischem Wissen und welche Dimensionen können ausgemacht werden? In Bezug auf die vorliegenden Fallstudien lassen sich neben der großen Bedeutung von Habitualisierungsprozessen für den Erwerb biographischen Wissens im Wesentlichen zwei verschiedene Konstellationen rekonstruieren, die zur Transformation lebensgeschichtlicher Erfahrungen in biographische Wissensbestände führen: 1. Bestimmte Erfahrungen scheinen besonders nachhaltig in ihrer Bedeutung für die Person zu sein. Diese sind zumeist stark emotional besetzt, was sich auch in der lebensgeschichtlichen Selbstpräsentation im Interview durch besonders aufgebrachtes Erzählen oder das Benutzen von entsprechenden eingeschobenen Kommentaren niederschlägt. Hierbei ist es durchaus auch möglich, dass die Emotionalität z. B. durch Ironisierung ausgedrückt wird, um auf diese Weise eine gewisse Distanz aufrecht zu erhalten.
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5 Biographisches Wissen und Professionalisierung
Diese besonders einschneidenden Erlebnisse werden immer wieder erinnert und so zu biographischen Gewissheiten in Bezug auf das ‚So sein’ eines bestimmten Settings, einer bestimmten Personengruppe oder eines bestimmten Themas. Als Beispiel sei hier noch einmal auf Rudolf Hinze und sein Wissen um schmerzhafte Erziehung in Schule und Unterricht verwiesen, die in ihrer Art und Weise an „Schwarze Pädagogik“ (Rutschky, 1997) erinnert. Für Rudolf Hinze hat das mit diesen Erfahrungen verbundene Leid dazu geführt, dass er sich bereits im Studium intensiv mit reformpädagogischen Konzepten befasst und eine humane Erziehungshaltung zur eigenen Maxime hat werden lassen. Gebrochen wird diese positive Konnotation durch das, was Rudolf Hinze in seiner beruflichen Praxis erlebt. Die generationale Konfrontation in der Schule führt zu einem extrem negativen Bild von Kindheit und Jugend heute, was wiederum Einfluss auf sein berufliches Handeln und in jedem Falle auf sein berufliches Deuten hat. Ein weiteres Beispiel ist Corinna Landwehrs Negativerfahrung mit „Mädchensport“. Diese hat sogar eine starke Verallgemeinerung zur Folge, denn Corinna Landwehr überträgt die schlechten Erfahrungen mit diesem „Mädchensport“ einmal auf die ganze Sportart Volleyball, dann wird Unsportlichkeit fast als negative ‚Charaktereigenschaft’ kultiviert und reine Frauensettings sehr kritisch betrachtet und meist von vorn herein abgelehnt. Auch diese Konsequenzen dürften für den Professionalisierungsprozess relevant sein. Die emotionale Besetztheit von Erfahrungen muss sich jedoch nicht unbedingt in der Negativausprägung zeigen. Bei Marlene Auerbach wird die positive Breitensporterfahrung zum handlungsleitenden Motiv des biographischen Wissens um ‚gelungenen Sport’. 2. Bestimmte Anforderungen ‚von außen’ machen es erforderlich, biographische Entscheidungen zu treffen, die zunächst als problematisch im Sinne von uneindeutig dargestellt werden (z. B. Berufswahl). Es wird daraufhin ‚sondiert’, in welcher Weise bisherige Lebenserfahrungen geeignet sind, um diesen Entscheidungsprozess zu befördern. Bestimmte Erfahrungsbereiche werden dann zur Lösung des aktuellen biographischen Problems herangezogen. Auf diese Weise werden diese lebensgeschichtlichen Erfahrungen in ein biographisches Wissen transformiert, das sich auch in der weiteren Präsentation der Lebensgeschichte immer wieder manifestiert. Ein Beispiel hierfür ist Marlene Auerbachs biographisches Wissen um ‚gelungenen Sport’. Dies wird erst in der biographischen Problemlage der Berufsentscheidung für eine berufliche Perspektive relevant und vom rein privaten und freizeitlichen Erfahrungsbereich auf den Beruf übertragen. Später wird dieses biographische Wissen um ‚gelungenen Sport’ in ein Wissen um ‚gelungenen Sportunterricht’ bzw. ‚gelungenen Schulsport’ transformiert.
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Marlene Auerbach nutzt ihr sehr gut an das berufliche Feld anschlussfähiges biographisches Wissen nach dem Prinzip ‚Verwendung durch Verwandlung’. Generell lässt sich hinsichtlich der Funktion biographischer Wissensbestände festhalten, dass es zur grundsätzlichen Orientierung des biographischen Projekts herangezogen wird und auf diese Weise auch das berufliche Handeln und Deuten beeinflusst. Eine habitualisierte Grundhaltung zum ‚Gegenstand Sport’ und auch zu Schule und Unterricht wird auf der Grundlage des biographischen Wissens entwickelt. Diese Dimensionen biographischen Wissens von Sportlehrer/innen lassen sich noch weiter ausdifferenzieren. So sind neben den sport- und schulbezogenen Dimensionen auch ‚Normativitäten’ rekonstruierbar, die einen großen Zusammenhang mit der sozialen Herkunft und dem Geschlecht der Biographieträger/innen aufweisen. Diese Normativitäten werden also auch in Bezug auf andere Lebensbereiche entwickelt, wie bei Rudolf Hinze z. B. in Form von moralischen Werten und Perspektiven auf ‚richtige Kindheit’ bzw. ‚richtige Erziehung’ im Allgemeinen formuliert. Die beiden hier beschriebenen Erwerbsformen sind auf der Grundlage des empirischen Materials der hier vorliegenden Untersuchung rekonstruiert worden. Sie schließen an die Ausführungen Alheits (1989, S. 123ff.) an und differenzieren diese in der Weise weiter aus, dass neben der Aussage, dass es sich bei biographischem Wissen um lebensgeschichtliche Erfahrungen handelt, die sich im Prozess der Traditionsbildung befinden (vgl. ebd., S. 126ff.), dezidierte Einblicke in biographische ‚Orte’ dieser Traditionsbildung auf der Ebene konkreter Einzelfälle haben gewonnen werden können. Diese sind über kontrastive Fallvergleiche und das theoretical sampling in theoretisierende Aussagen über Erwerbsformen biographischen Wissens und ihre Bedeutung im Kontext der ‚Gesamtbiographie’ überführt worden. Die biographischen Wissensbestände stehen dabei in enger Beziehung zu den verschiedenen Arten des Anschließens an das berufliche Feld, die wiederum im Kontext der lebensgeschichtlichen Modelle der Erzähler/innen zu betrachten sind. Diese wechselseitige Beziehungsstruktur soll nun anhand der Typisierung der Anschlussverhältnisse illustriert werden. In der empirischen Analyse sind drei verschiedene Typen von Anschlussverhältnissen rekonstruiert worden: der integrative, der kontrastive und der komplementäre Typus. Diese Typen sind für den Professionalisierungsprozess in mehrerlei Hinsicht relevant. Zum einen beschreiben sie die Art und Weise, wie biographisches Wissen Eingang in das berufliche Handeln und Deuten findet; zum anderen ist das Anschlussverhältnis eng mit der grundsätzlichen Perspektive des biographischen Projekts verwoben. Diese Perspektive ist im Sinne einer Hintergrundkonstruktion der Erzählung zu verstehen und ist maßgebend für die Konstruktions-
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logik der Gesamterzählung. Sie wird im Folgenden als ‚lebensgeschichtliches Modell’ bezeichnet. Diese Modelle haben ihrerseits Einfluss auf Handlungs- und Deutungsprozesse sowie die Erwerbsform biographischer Wissensbestände. Neben einer grundsätzlichen Präsentation der Typen, wird auch ihre Bedeutung für Kernbereiche der Professionalisierung von Sportlehrer/innen thematisiert. In diesem Zusammenhang werden die Kernbereiche Berufsrolle und Einstellung zum Beruf, Lehrer/in-Schüler/innen-Verhältnis und Sach- und Fachkompetenz aufgegriffen. In der Darstellung der Typen werden zusätzlich zur spezifischen Typenbeschreibung einige allgemeine Ergebnisse für die Typologie der Anschlussverhältnisse eingeführt.
5.1.1 Der integrative Typus Im integrativen Typus werden biographische Wissensbestände durch Transformation quasi ‚eins zu eins’ in das berufliche Feld eingebracht und auf diese Weise zu einem beruflich hoch relevanten Orientierungsrahmen. Sie haben ihren Ursprung in Habitualisierungsprozessen, die zumeist im Elternhaus angebahnt werden. Das auf diese Weise erworbene biographische Wissen ist ein inkorporiertes kulturelles Kapital (vgl. Bourdieu, 1992), das durch Bildungsprozesse, in einem allgemeinen und nicht schulisch-akademischen Sinne verstanden, erworben worden ist. „Das Kriterium der Körpergebundenheit verweist darauf, dass die als kulturelles Kapital verinnerlichten Kompetenzen einen Bestandteil der Dispositionen des Habitus darstellen. ‚Inkorporiertes Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen Bestandteil der >Person<, zum Habitus geworden ist; aus >Haben< ist >Sein< geworden’“ (Schwingel, 2000, S. 87).
Gerade die körperlichen Praktiken des Sports können den habitualisierten Erwerb kultureller Kapitale befördern. Für den integrativen Typus ist das Vorhandensein solchen Kapitals konstitutiv, da es den Inhalt der in die berufliche Praxis integrierten biographischen Wissensbestände definiert. Eng verbunden sind der Erwerb und die Nutzung des biographischen Wissens mit dem zugehörigen lebensgeschichtlichen Modell, das als Hintergrundkonstruktion der lebensgeschichtlichen Erzählung die Perspektivierung der Gesamtgeschichte beschreibt. Der integrative Typus ist dem Modell des Lebensweges zuzuordnen. In diesem Modell wird die Lebensgeschichte in Form einer kontinuierlichen Entwicklung dargestellt, die von einer Art ‚rotem Faden’ durchzogen ist. Es lassen sich
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habituelle Darstellungslogiken rekonstruieren, die in biographischen Entscheidungssituationen immer wieder zu Entscheidungen nach demselben Muster führen. Diese habitualisierte Konstruktionslogik hat den Effekt, dass die Gesamterzählung ein hohes Maß an Konsistenz aufweist. Ohne den Interviewpartner/innen die grundsätzliche Möglichkeit zur Umentscheidung absprechen zu wollen, entsteht der Eindruck, dass auf der Grundlage der lebensgeschichtlichen Selbstpräsentationen eine Fortschreibung der Geschichte für das Entscheidungsverhalten dieser Personen in neuen Situationen möglich ist – immer vorausgesetzt, dass diese auf der Ebene von Erzählung und Re-Konstruktion zu verorten sind (vgl. Kap. 3.1 und 3.4.2). Es können zwei Varianten dieses Modells unterschieden werden: das Modell des vorgezeichneten Weges und das Modell des Lebensweges als ständige Suche nach Selbstvergewisserung. Für den integrativen Typus ist die erstgenannte Variante relevant, während sich die zweite Variante dem kontrastiven Typus zuordnen lässt. Der vorgezeichnete Weg als Variante des Modells des Lebensweges zeichnet sich durch seine auf Reproduktion des Vorgelebten ausgerichtete Logik aus. Die in der Primärsozialisation erfahrenen Werte und Normen werden übernommen und orientieren auf grundsätzliche Art und Weise das biographische Projekt. Irritationen werden vermieden und nur biographisch ‚reibungslos’ anschlussfähige Entscheidungsoptionen gewählt. Der einmal entwickelte Habitus wird konsequent in allen Lebensbereichen beibehalten und ist schwer zu irritieren. Er bildet das Fundament für die auf Kontinuität ausgerichtete Konstruktionslogik.
5.1.1.1 Berufsrolle und Einstellung zum Beruf Die Entwicklung der Berufsrolle sowie der Einstellung zum Beruf sind eingebettet in die Biographie der (zukünftigen) Sportlehrer/innen. Aus diesem Grund ist die Perspektive dieser Arbeit auch gesamtbiographisch angelegt und vermeidet die Unterscheidung zwischen ‚Biographie’ und ‚Berufsbiographie’. Die lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Personen sind, wie sich anhand der biographischen Fallstudien detailliert aufzeigen lässt, höchst relevant für ihr berufliches Handeln und Deuten. Dabei haben die verschiedenen Typen von Anschlussverhältnissen wesentlichen Einfluss auf die Art und Weise der Verknüpfung zwischen biographischem Wissen als besonderer Form lebensgeschichtlicher Erfahrung. Das biographische Wissen, das häufig seinen Ursprung in Habitualisierungsprozessen nimmt, die bereits in der Primärsozialisation angelegt werden, ist daher auch für die Entwicklung der Berufsrolle sowie der Einstellung zum Beruf orientierungswirksam.
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Beim integrativen Typus wird die Einstellung zum Sport bereits in der Kindheit ausgebildet. Das Elternhaus stellt die Basis für die Weitergabe von Einstellungen zum Sport und seiner Ausübung dar. Die einmal entwickelte Grundhaltung zum Sport und seiner ‚adäquaten’ Ausübung wird über alle Phasen des Bildungsgangs beibehalten. Mögliche Irritationen werden vermieden. Dabei ist nicht die inhaltliche Beschaffenheit dieser Grundhaltung bedeutsam, sondern die Art und Weise ihrer Anlage. Hiermit ist gemeint, dass im integrativen Typus nicht notwendiger Weise eine breitensportliche Ausrichtung mit Fokussierung auf Sport als Gemeinschaft stiftendem Bezugspunkt wie im Fall von Marlene Auerbach vorliegen muss. Vielmehr kann diese z. B. auch durch eine leistungssportliche Orientierung o. ä. ausgetauscht werden. Leitend ist dabei das Motiv, es ‚genauso’ machen zu wollen, wie man es selbst erlebt hat. Damit können allgemeine Erfahrungen mit Sport gemeint sein, aber auch Erfahrungen mit Sportunterricht oder Schule und Unterricht im Allgemeinen. Im integrativen Typus werden Habitualisierungsprozesse schon frühzeitig angebahnt. Sie erreichen eine hohe Stabilität und sind auf Reproduktion angelegt. Mit Bourdieu gesprochen, sind es nicht nur strukturierte Strukturen, sondern eben auch strukturierende, d. h. das weitere Handeln, Denken und Deuten leitende Strukturen. Dieses führt dazu, dass biographische Wissensbestände zum Sport in das berufliche Handeln und Deuten integriert werden, wodurch es zur Ablehnung bestimmter Teile der Berufsrolle kommen kann. Im vorliegenden Fall ist dies im Ideal der freiwilligen Teilhabe am Sport zu sehen. Ein Rückzug aus dem institutionell eingebetteten Sportunterricht hin zur Betreuung von Sport-AGs ist eine berufliche Konsequenz, die zeigt, in welcher Weise biographisches Wissen berufliches Handeln beeinflussen kann. Irritationen der einmal entwickelten Grundhaltung zum Sport werden über alle Ausbildungsphasen im Wesentlichen vermieden oder aber an die eigenen biographischen Wissensbestände rückgebunden. Dies hat eine weitere Ablehnung bestimmter Positionen zum Sport und Schulsport zur Folge, wie z. B. die Ablehnung eines intensiven leistungssportlichen Engagements der Schüler/innen. Diese Grundhaltung wird dadurch auch zum konstitutiven Bestandteil des Verhältnisses zwischen Sportlehrkraft und Schüler/innen
5.1.1.2 Lehrer/in-Schüler/innen-Verhältnis Einleitend zu dieser Thematik soll darauf verwiesen werden, dass die Sportlichkeit als bedeutender Aspekt in allen Interviews in mehrerlei Hinsicht idealisiert wird. So wird die eigene Sportlichkeit immer wieder betont, eigene sportliche Erfolge und Kompetenzen werden in die Erzählung eingeflochten und auch in
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Bezug auf andere Personen thematisiert. Deutlich wird bei diesem Themenbereich auch, dass die eigene Sportorientierung eine große Bedeutung für die Perspektive auf das Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern einnimmt. Im integrativen Typus mit breitensportlicher Ausrichtung ist dieses Verhältnis ein wohlwollend ‚mütterliches’, das Schülerinnen und Schüler zwar zum Ausprobieren und Engagieren anspornen will, dabei jedoch ohne Druck auskommen möchte. Im Prinzip der freiwilligen Teilhabe wird diese Grundeinstellung zu den Schülerinnen und Schülern besonders deutlich. Es handelt sich nämlich um dieselbe Einstellung, die im breitensportlichen Sportverein vorherrschend ist. Darüber hinaus wird deutlich, dass das Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern stark generational geprägt ist, was in dem Motiv der Mütterlichkeit bereits angedeutet worden ist. Die Lehrerin/ der Lehrer wird unter dieser Perspektive dafür zuständig, die Schüler/innen auch vor (vermeintlich) zu großem Druck (z. B. seitens der Eltern) zu schützen. Zu viel Sport oder zu intensives Betreiben wird abgelehnt, die eigenen Wünsche der Schüler/innen werden der biographisch geprägten Perspektive der Lehrkraft untergeordnet. Im integrativen Typus mit leistungssportlicher Ausrichtung würde dann äquivalent die Beförderung eines leistungssportlichen Engagements im Vordergrund stehen. Alle anderen Aspekte sind in gleicher Weise zu denken, wie beim integrativen Typus mit breitensportlicher Ausrichtung. Was sich also ändert, ist der Inhalt, nicht jedoch die Art und Weise des Verhältnisses.
5.1.1.3 Sach- und Fachverständnis Das Sachverständnis als Verständnis von der Sache Sport basiert grundlegend auf dem biographischen Wissen aus der Primärsozialisation. Es gibt ein differenziertes Bild davon vor, wie Sport ‚angemessen’ und ‚richtig’ zu betreiben ist. Bei einer breitensportlichen Ausrichtung wie in der Fallstudie ‚Marlene Auerbach’ äußert sich dieses Verständnis im Motiv der ‚Bewegungsfreude’ und einer breit angelegten Sportauswahl, die nicht auf Spezialisierungen ausgerichtet ist. Im Vordergrund steht das Sporttreiben mit anderen in einer Gemeinschaft, das über das reine Sporttreiben hinausgeht. Das einmal erworbene kulturelle Kapital bleibt also als Sachverständnis biographisch konstant. Es wird vom Wissen um ‚gelungenen Sport’ in ein Wissen um ‚gelungenen Sportunterricht’ bzw. ‚Schulsport’ transformiert. Das Vorhandensein solcher biographischen Kapitale bietet den Vorteil der reibungslosen Anschlussfähigkeit an das berufliche Feld. Diese ist förderlich für die Gestaltung des biographischen Projekts, kann aber auch hinderlich für Professionalisierung sein, wenn keine entsprechende Reflexion erfolgt.
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Neben dem Typus des Anschlussverhältnisses hat demnach auch die ursprüngliche sportliche Orientierung einen hohen Stellenwert. Sie scheint in Teilbereichen sogar maßgeblicher als der Typus des Anschlussverhältnisses zu sein und ist ebenfalls als eine Art Habitualisierung zu verstehen. Das Sachverständnis basiert in vielen Bereichen auf dem biographisch erworbenen Wissen um die Beschaffenheit von Sport. Eigene Ziele und Sinngebungen des Sporttreibens werden auf den Sportunterricht übertragen. Das Verständnis vom Fach Sport ist geprägt von der Grundhaltung, dass Sport eigentlich dem Freizeitbereich zugeordnet ist. Es wird als wichtiger Bestandteil des schulischen Angebots angesehen, seine Ausübung im schulischen Kontext jedoch in Form von freiwilligen Arbeitsgemeinschaften bevorzugt.
5.1.2 Der kontrastive Typus Auch der kontrastive Typus erwirbt sein biographisches Wissen in Habitualisierungsprozessen. Diese haben ihren Ursprung zwar auch in der Primärsozialisation, aber diese führen bei dem /der Biographieträger/in zu einem permanenten Abgrenzungsverhalten in Bezug auf seine Herkunft. Dennoch werden auf diese Weise grundsätzliche Haltungen und Positionen entwickelt. Der kontrastive Typus grenzt sein biographisches Wissen von den Erfahrungen im beruflichen Feld konsequent ab. Zwar ist dieser Abgrenzungsprozess auch eine Art der wechselseitigen Bezugnahme. Diese lassen sich jedoch nicht in das bestehende Konzept (hier: zu Schule und Unterricht) integrieren. Es muss ein neues, biographisch anschlussfähiges Konzept entwickelt werden, wenn die eigene Perspektive beibehalten werden soll. Im kontrastiven Typus wird die eigenen Perspektive nicht modifiziert, sondern verbleibt auf einem (selbst)reflexiv theoretischen Niveau. Ebenso wie im integrativen Typus bieten auch im kontrastiven Typus Habitualisierungsprozesse und die daraus gewonnenen biographischen Wissensbestände einen kontinuierlichen Orientierungsrahmen. Unterschiedlich ist hingegen die Art des ‚Erfahrungenmachens’ und ‚Erfahrungenaufbereitens’, da sie quasi auf ‚negative’ Weise an das berufliche Feld angeschlossen werden. Verbunden ist der kontrastive Typus ebenfalls mit einer Variante des lebensgeschichtlichen Modells des Lebensweges. Auch im Modell des Lebensweges als ständige Suche nach Selbstvergewisserung ist ein starker Bezug zur Primärsozialisation zu erkennen. Dieser führt aber nicht wie im Modell des vorgezeichneten Weges zur Reproduktion, sondern zu einer massiven Abgrenzung, die die Entwicklung eigener Überzeugungen, Werte und Normativitäten zur Folge hat. Irritationen werden aufgesucht, um in einem quasi-dialektischen
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Verfahren immer wieder neue Erkenntnisse über sich selbst aber auch über das Leben in all seinen Facetten zu gewinnen. Der einmal erworbene Habitus99 wird auf alle Lebensbereiche, wie z. B. auch den Sport oder die berufliche Weiterentwicklung, übertragen. Dennoch ist auch dieses Modell von großer Kontinuität geprägt. Diese beruht jedoch auf selbst entwickelten Moralvorstellungen, die zwar reflexiv zugänglich sind, aber in ihren Grundsätzen nicht in Frage gestellt werden. Das Suchen des eigenen Weges und das Finden von grundsätzlichen Orientierungen aus eigener Kraft und eigenem Antrieb sind im biographischen Wissen verankert. Das Wissen um das ‚Anders sein’ anderer (z. B. der Schüler/innen) wird mit den eigenen Wertvorstellungen und dem eigenen ‚Gewordensein’ in Beziehung gesetzt und führt in letzter Konsequenz zu Befremden anstatt zu konstruktivem Fremdverstehen.
5.1.2.1 Berufsrolle und Einstellung zum Beruf Der kontrastive Typus erarbeitet sich seine (auch pädagogische) Grundhaltung im Kontrast zum integrativen Typus selbständig und in Abgrenzung zur sozialen Umgebung und Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend. Der Beruf ist Ort für die Umsetzung höherer Ziele und Maximen, wie z. B. einer humanen Schule, die den Kindern und Jugendlichen Entwicklungschancen eröffnet. Leitend ist dabei das Motiv, es besser machen zu wollen als man selbst Schule und Unterricht erdulden musste. Dabei ist der kontrastive Typus bereits auf kritische Reflexion des eigenen Gewordenseins ausgerichtet, das dennoch nicht zu einer Flexibilisierung des biographischen Wissens führt, sondern als ‚Bewertungsgrundlage’ sehr stabil und normativ bleibt. Zwar ist die Suche nach Differenzerfahrungen im Sinne einer kontinuierlichen Weiterentwicklung angelegt, diese verbleibt jedoch auf einem gewissen biographisch gerahmten Niveau. Dieses kann sich auf beruflicher Ebene z. B. in der Kenntnis um innovative sportspieldidaktische Konzepte zeigen, die jedoch nicht konsequent umgesetzt werden, da sie mit dem eigenen, biographisch verwurzelten, traditionellen Verständnis vom Sinn des Sportunterrichts nicht korrespondieren. Ein Fremdverstehen im Bezug auf die Schülerinnen und Schüler wird angestrebt und ist in der biographischen Selbstpräsentation durchaus zu rekonstruieren. Dieses findet jedoch auf einer theoretisch reflexiven Ebene statt und führt eben nicht zu einer Perspektivenübernahme, die pädagogische Parteilichkeit zur Folge hat. 99
Hier auf der konkreten Fallebene der Habitus des disziplinierten Lerners und Asketen.
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Der Ausgang von sich selbst hat bei diesem Typus eine besondere Bedeutung, da heutige Sport-, Schul-, Unterrichts- und allgemein Erziehungserfahrungen immer kontrastiv zum eigenen Gewordensein verhandelt werden und in letzter Konsequenz die Perspektive auf den Beruf fokussieren. Die Vorstellungen und Einstellungen der heutigen Jugend kollidieren mit der eigenen Einstellung zum Beruf, den Kindern und Jugendlichen Angebote zu machen, die sie eigentlich als große Chance erkennen und verfolgen müssten. Hier wird auch die Bedeutung der generationalen Zugehörigkeit deutlich hervorgehoben. Der Lehrer als Beförderer und gebildeter Anleiter scheint hier als Leitlinie nicht zu funktionieren. Vielmehr sind Disziplinierungsmaßnahmen notwendig, die aber auf Grund des eigenen biographischen Wissens um die negativen Auswüchse einer solchen Haltung als problematisch erlebt werden bzw. in Diskrepanz zur eigenen Einstellung zum Beruf stehen. Dieses lässt sich auch an Beispielen aus dem Sportunterricht verdeutlichen, denn die dargestellte, immer wieder notwendige Motivierung der Schülerinnen und Schüler stößt auf Unverständnis bei der Lehrkraft und löst bei ihr Unwillen und Unverständnis aus. Die Gestaltung von sportlichen Lernangeboten wird als Kernaufgabe des Sportunterrichtens ausgemacht und nicht die beschriebene ständige Motivierung und Disziplinierung. Hier lassen sich auch Bezüge zum Sach- und Fachverständnis herstellen, die unter dem entsprechenden Gliederungspunkt präsentiert werden.
5.1.2.2 Lehrer/in-Schüler/innen-Verhältnis Im kontrastiven Typus, der im Sample der Arbeit mit leistungssportlicher Orientierung rekonstruiert worden ist100, kann wie beim integrativen Typus eine starke generationale Bedingtheit des Verhältnisses zu den Schüler/innen festgestellt werden. Die eigenen biographischen Wissensbestände um Kindheit und Jugend sowie Schule und Unterricht führen zu einem defizitären Bild der Kinder und Jugendlichen ‚von heute’. Neben ihren sportmotorischen Unzulänglichkeiten, werden insbesondere ihr Mangel an Wertvorstellungen und die Unfähigkeit bzw. das Desinteresse an Selbstdisziplinierung beklagt. Grundsätzlich werden die Schüler/innen als nicht leistungsfähig und sinnlich verarmt dargestellt, was an 100 Theoretisch ist auch hier eine breitensportliche Ausrichtung denkbar. Sie ist allerdings im Sample dieser Arbeit nicht gefunden worden und birgt in der analytisch abstrahierenden Weiterführung einige Konstruktionsprobleme. Eine breitensportliche Orientierung ist schwerlich im permanenten Kontrast zum schulsportlichen Feld denkbar, da der Sportunterricht tendenziell eher einer solchen Ausrichtung entspricht und somit die Anschlussmöglichkeiten der eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen eher integrativ erfolgen (können).
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etlichen Stellen auf die Situationen in den Elternhäusern und das Desinteresse der Eltern zurückgeführt wird. Zwar werden hier Ursachen und Bedingungen für das Verhalten der Kinder und Jugendlichen ‚von heute’ sachlich erörtert, durch die kritisch abwertende Position erscheint eine pädagogische Parteinahme oder ein ‚Abholen’ der Schüler/innen von ihrem aktuellen Stand jedoch nur schwer möglich. Das Verhältnis zwischen der Lehrkraft und den Schüler/innen ist daher von Unverständnis, Befremden und z. T. auch Missmut durchzogen.
5.1.2.3 Sach- und Fachverständnis Im kontrastiven Typus mit leistungssportlicher Ausrichtung wird das biographische Wissen über die Sache Sport vom Grundgedanken des traditionellen Sports getragen. Die Perfektionierung von technischem Können als Ideal wird primär durch isoliertes Üben einzelner Elemente angestrebt. Ziel ist es, den traditionellen Sportartenkanon zu erarbeiten und abzudecken. Der Leistungsgedanke aus der eigenen sportlichen Karriere wird auch an das berufliche Feld herangetragen. Wo dieses biographische Wissen um ‚richtigen’ Sport mit den Gegebenheiten, den Vorstellungen und Voraussetzungen der anderen Protagonist/innen kollidiert, gibt es negative Reibungspunkte, die zur Frustration der Lehrkraft und ihrer Ablehnung der Schüler/innen führen kann. Im kontrastiven Typus sind, wie bereits erwähnt, neuere didaktische Konzepte zur Sport(spiel)vermittlung durchaus bekannt und werden teilweise eingebracht. Die Bedeutung solcher Ansätze, die zum Beispiel eine spielorientierte Ausrichtung von Beginn an propagieren, wird jedoch dem Ideal des traditionellen Sports untergeordnet und ihre Relevanz somit marginalisiert. Der Sportunterricht wird als sinnvoller Ausgleich zu geistiger Tätigkeit und als Mittel zur Perfektion des Menschen angesehen. Die körperliche Ertüchtigung steht der geistigen sozusagen zur Seite im Sinne des Mottos ‚mens sana in corpore sano’.101
101 Dieses auf den römischen Dichter Juvenal (ca. 60 bis 127 n. Ch.) zurück gehende Zitat wird hier bewusst in seiner verkürzten Version und alltagstheoretischen Interpretation verwandt. Das Originalzitat „Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano“ (Dt.: „Bitten sollte man darum, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist sei”) hebt vielmehr darauf ab, dass Juvenal als Satiriker jene Zeitgenossen kritisiert, die sich mit s. E. unsinnigen Fürbitten an die Götter wandten. Um geistige und körperliche Gesundheit zu beten, seien hingegen angemessene Inhalte eines Gebets. So ist das Ursprungszitat also nur im Kontext von Fürbitten zu verstehen und eben nicht als Zusammenhang zwischen körperlicher und geistiger Fitness.
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5.1.3 Der komplementäre Typus Eine völlig andere Beziehung zwischen biographischem Wissen und dem beruflichen Feld lässt sich im komplementären Typus rekonstruieren. Hier treffen die persönliche Bedürfnislage der Biographieträgerin/des Biographieträgers und die strukturellen Gegebenheiten und Anforderungen des beruflichen Feldes in einer sich wechselseitig ergänzenden Konstellation aufeinander. Die strukturellen Bedingungen der Institution Schule werden als adäquate Gelegenheitsstruktur interpretiert. Es entsteht eine berufsbiographische Passung zwischen biographischem Wissen und den Anforderungen des Berufs, die weniger an Habitualisierungsprozesse der Primärsozialisation gebunden sind. Zwar ist auch biographisches Wissen über Sport und sportliche Arrangements im Sinne kulturellen Kapitals erworben worden, dieses wird jedoch explizit mit konzeptionellem Wissen aus der Aus- und Fortbildung verbunden und erhält hier eher den Status eines fallbezogenen Erfahrungswissens. Das lebensgeschichtliche Modell, das mit diesem Typus verbunden ist, unterscheidet sich vom Modell des Lebensweges und seinen beiden Varianten in der Weise, dass die Konstruktionslogik der Erzählung über Lebensphasen hergestellt wird. Im Modell der Lebensphasen findet sich zunächst kein augenfälliger ‚roter Faden’. Vielmehr sind die einzelnen Lebensphasen an örtliche und räumliche Rahmungen und die damit verbundenen Gelegenheitsstrukturen gebunden. Es wird kein grundsätzlicher Lebensplan entworfen, sondern Entscheidungen werden eher in ihrer kontextuellen Gegebenheit getroffen. Auch werden keine grundsätzlichen Weltanschauungen oder ideologischen Gedanken formuliert. Vielmehr folgen die verschiedenen Phasen eher durch zufällige Konstellationen aufeinander. Dabei sind die Lebensphasen jedoch nicht beliebig, denn auch hier gibt es Kontinuität markierende Elemente, wie z. B. das Verständnis von Qualität oder der Sport als Identifikationsgegenstand. Diese Elemente sind z. T. dem biographischen Wissen zuzurechnen, das jedoch durch theoretisch-konzeptionelles Wissen ergänzt und mit ihm in Beziehung gesetzt wird. Die berufsbiographische Passung entsteht also auf eine andere Art und Weise, denn es wird eine Verknüpfung von Theorie- und Erfahrungswissen hergestellt und immer wieder aktualisiert. Auch hier nimmt das biographische Wissen orientierende Funktion ein. Es hat jedoch eher die Form von gefestigten Erfahrungswerten, die zu einem verobjektivierten Wissen geworden sind. Anders als bei dem Modell des Lebensweges ist das biographische Wissen hier noch deutlich an das Referenzerlebnis gebunden und wird nicht als ‚kollektive Erfahrung’ gedeutet. Prinzipiell gibt es in diesem lebensgeschichtlichen Modell eine größere Offenheit und Flexibilität in der Konstruktionslogik, die durch die
5.1 Biographisches Wissen und die Typisierung
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‚Abwesenheit’ eines klaren Weges bzw. einer eindeutigen Perspektive bedingt zu sein scheint.
5.1.3.1 Berufsrolle und Einstellung zum Beruf Handelt es sich um ein komplementäres Anschlussverhältnis, so ist eine gewisse emotionale Distanz zum eigenen Gewordensein im Bezug auf den Beruf und zum Beruf selbst feststellbar. Bezugspunkte für das berufliche Handeln bilden zwar auch hier lebensgeschichtliche Erfahrungen, sie sind jedoch wesentlich weniger abstrahierend als an konkrete Situationen und Erfahrungsräume gebunden. Strukturelle Ähnlichkeiten von Situationen und Settings werden wahrgenommen und auf weitere Situationen übertragen. Sofern dies in lebensgeschichtlichen Erzählungen möglich ist, könnten diese Wissensbestände auch als biographisch gebundenes Fallwissen rekonstruiert werden. Die Schule und auch der Sportunterricht werden als Gelegenheitsstruktur interpretiert. Es handelt sich um eine wechselseitige Gelegenheitsstruktur, da die Institution Schule aus Sicht der Biographieträger einerseits eine adäquate Rahmung für die Ausübung einer ansprechenden und ausfüllenden Tätigkeit bietet. Andererseits werden auch der Unterricht und seine Gestaltung als Gelegenheitsstruktur für die Schüler/innen angesehen. Pädagogische Intentionen werden verfolgt, aber auch sie sind wesentlich stärker an konkrete Kontexte gebunden. Die Rolle der/des Sportlehrer/in wird als Anleitende/r konstruiert, der/die zur Aufgabe hat, den Sportunterricht mit Hilfe von Konzeptwissen und Erfahrungswissen als anspruchsvolles, aber auch an den Bedürfnissen und Interessen der Schüler/innen orientiertem Setting zu gestalten. Dabei geht es darum, sich als Anleitenden in letzter Konsequenz überflüssig zu machen, d. h., es wird viel Wert darauf gelegt, dass die Schülerinnen und Schüler befähigt werden, eine kritisch konstruktive Umgangsweise mit dem Sport zu entwickeln. Der Beruf als solcher wird als ideales Arbeitsfeld konstruiert, das in seiner Vielfältigkeit interessant und abwechslungsreich erlebt wird. Fortbildungen sind ein wichtiger Bestandteil des beruflichen Alltags. Auch diese werden jedoch kritisch konstruktiv hinsichtlich ihrer inhaltlichen und didaktischen Aufbereitung reflektiert.
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5 Biographisches Wissen und Professionalisierung
5.1.3.2 Lehrer/in-Schüler/innen-Verhältnis Im komplementären Typus ist eine tendenziell distanziert102 parteiliche Haltung zu erkennen, die den Schülerinnen und Schülern im Sportunterricht Dinge abverlangt. Eine disziplinierte Organisation mit pädagogischem Anspruch ist ebenso selbstverständlich, wie die Orientierung an den Interessen der Schüler/innen. Dieser Aspekt ist besonders zentral, weil er nur in diesem Typus so explizit als wichtiges Kriterium für die Gestaltung von Sportunterricht präsentiert wird. Die generationale Zugehörigkeit der Biographieträgerin sowie ihre relativ zeitnahe Ausbildung scheinen damit in Zusammenhang zu stehen. Ein weiteres wesentliches Motiv, das für das Verhältnis bzw. die Einstellung zu den Schüler/innen charakteristisch ist, ist das bereits erwähnte Ziel, sich als Anleitende überflüssig zu machen, d. h. die Schüler/innen zu befähigen, ihre Bildungsprozesse selbständig voranzutreiben und gestalten zu können. Schüler/innen und Lehrer/in werden damit in einem wechselseitigen Interaktionsverhältnis gesehen, das sich durch Rückmeldungen und Perspektivenaustausch auszeichnet. Dabei wird jedoch auch in diesem Typus der Sportlichkeit eine große Bedeutung beigemessen. Betrachtet man dieses Phänomen nochmals auf der konkreten Fallebene, so wird Unsportlichkeit an einigen Stellen beinahe im Sinne einer negativen Charaktereigenschaft verhandelt. Unsportlichkeit wird dann auf die ganze Person (und auch ganze Sportarten) übertragen, die zu ihrer Ablehnung führen. Für eine professionelle Haltung im Sportunterricht muss eine solche Perspektive als bedenklich eingeschätzt werden.
5.1.3.3 Sach- und Fachverständnis Einzig im komplementären Typus werden explizite Bezüge zwischen den Inhalten des Studiums und der beruflichen Praxis hergestellt, die darüber hinaus auch noch als Besonderheit des Sportstudiums mit außergewöhnlichem Praxisbezug charakterisiert werden. Das Studium wird in den anderen Anschlusstypen hauptsächlich als Möglichkeit zur Intensivierung oder Ausdifferenzierung des eigenen sportlichen Könnens präsentiert. Die eigene Grundeinstellung zur ‚Sache Sport’ wird daher nicht wesentlich aufgearbeitet, eine Erweiterung des Verständnisses 102 Geht man noch einmal auf die Ebene des konkreten Falls ‚Corinna Landwehr’ zurück, so fällt bei den Schilderungen zur Referendarzeit auf, dass sich möglicherweise eine gewisse Tendenz zum Distanzverlust rekonstruieren lässt. Corinna Landwehr beschreibt in diesem Erzählsegment, dass sie mit ihren Oberstufenschüler/innen des Öfteren Partys gefeiert habe. Es wird deutlich, dass sie sich dabei mit den Schüler/innen auf eine recht private Ebene begeben hat, die möglicherweise mit einem professionellen Verhältnis nicht gut zu vereinbaren ist.
5.1 Biographisches Wissen und die Typisierung
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und eine Verschiebung des Fokus’ auf die Besonderheiten des Sports in der Schule bleibt aus. Im komplementären Typus hingegen findet bereits im Studium – befördert durch Schulpraktika – der wesentliche Perspektivenwechsel vom Sporttreibenden zum Sportunterrichtenden statt. Damit einher geht eine Modifikation des Sachverständnisses, das nun einen konkreten Schulbezug bekommt. Das Fach als solches wird in allen drei Fällen eher als Zusatz neben dem bzw. den anderen Fächern verstanden, wobei beim komplementären Typus die Entwicklung der Bedeutung des Faches im Professionalisierungsprozess thematisiert wird. Die Bedeutung kann sich also mit fortschreitender Berufstätigkeit verschieben, was zu bemerken und zu reflektieren wichtig ist, damit etwaige Gründe nicht im Verborgenen bleiben und professionell bearbeitbar werden. Im komplementären Typus ist dies gut möglich, da das lebensgeschichtliche Modell der Lebensphasen einen solchen Prozess und die Verschiebung von Aufmerksamkeits- und Interessensfoki erleichtert. Das Bild vom Fach ist darüber hinaus auch hier als Generationsverhältnis zu verstehen. Ist der Sportunterricht früher am Sportartenkanon und traditionellen Sport ausgerichtet gewesen, so herrscht nicht zuletzt durch die Reform der Richtlinien und Lehrpläne in jüngeren Generationen ein weiter gefasstes und an individuellen Sinngebungen orientiertes Sportverständnis vor. Dieser Aspekt lässt sich auf der konkreten Fallebene an den Konflikten Corinna Landwehrs mit ihren älteren Kollegen und Kolleginnen hinsichtlich einer inhaltlichen Gestaltung des Sportunterrichts verdeutlichen. Abschließend soll nun die anfangs aufgeworfene Frage nach der Bedeutung von Habitus versus Entwicklungsaufgaben wieder aufgegriffen werden. Wie sich gezeigt hat, spielen Habitualisierungsprozesse eine ganz wesentliche Rolle für den Professionalisierungsprozess von Sportlehrerinnen und Sportlehrern. Anhand der vorgestellten Ergebnisse ließe sich diesen Habitualisierungen sogar eine übergeordnete Wirksamkeit für das berufliche Handeln und Deuten attestieren. Dennoch werden im Kontext der Verberuflichung die berufsspezifischen Entwicklungsaufgaben bearbeitet und zumeist auch gelöst. Fraglich bleibt jedoch, ob sie unter professionalisierungstheoretischer Perspektive ‚angemessen’ gelöst werden, da eine biographisch reibungslose Anschlussfähigkeit des biographischen Wissens an das berufliche Feld, die im Sport durch seine besondere biographische Einbettung in besonderem Maße gegeben ist, für einen am forschenden und reflektierenden Habitus orientierten Professionalitätsideal sehr hinderlich sein kann. Für eine/n Biographieträger/in würde dies bedeuten, Eindeutiges ohne Anlass in Frage zu stellen, was wohl in den seltensten Fällen geschieht.
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5 Biographisches Wissen und Professionalisierung
Für die Lehrer/innen(aus)bildung lassen sich aus den hier vorgelegten Ergebnissen einige Konsequenzen formulieren. Es gilt also, einmal erworbene Habitualisierungen zu irritieren und strukturelle Bedingungen für die Bearbeitung der berufsspezifischen Entwicklungsaufgaben zu implementieren.
5.2 Konsequenzen für die Sportlehrer/innen(aus)bildung? „Bildung ist kein Arsenal, sondern ein Horizont“ (Blumenberg, 1998)
Wie dieses Zitat aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit auszulegen ist, lässt sich im Kontext lebensgeschichtlicher Erzählungen und den darin rekonstruierbaren Erfahrungshorizonten illustrieren. Die vorgestellten Fallstudien bieten empirisch analytisch ermittelte Exempel für solche Erfahrungshorizonte im biographischen Kontext. Sportlehrer/in werden und sein hat als individueller Entwicklungsprozess nachgezeichnet werden können, der aber dennoch an gesellschaftliche Bedingungen sowie den mit diesem Berufsbild verbundenen institutionalisierten Bildungsgang gebunden ist. Der grundsätzliche ‚Ablaufplan’ für den Berufsweg ist bei allen drei Fällen gleich; dennoch entfalten sich differenzierte und sehr unterschiedliche Erfahrungshorizonte, die die Verwobenheit von ‚Privatem’ und Beruflichem eindrucksvoll belegen und dimensionieren. Das biographische Wissen sowie die Art und Weise seines Anschlusses an das berufliche Feld haben dabei einen großen Einfluss auf den Professionalisierungsprozess. Eine berufsbiographische Passung wird über diesen Wissensbestand hergestellt und unterliegt damit zumeist wilden Wandlungsprozessen (vgl. Hansmann, 2001). Das Anliegen dieses letzten Kapitels ist es, auf der Grundlage der vorliegenden Untersuchung mögliche Konsequenzen für die Gestaltung der Sportlehrer/innen(aus)bildung zu formulieren, die die institutionelle Verankerung von professionell ausgerichteten Reflexionsangeboten als integrativen Bestandteil aller Berufsphasen anstrebt. Ich orientiere mich dabei einerseits an den empirischen Ergebnissen dieser Untersuchung und andererseits am bereits zu Beginn explizierten Diskurs zur Professionalisierung von Lehrer/innen. Neben der Skizzierung eines Leitbildes für die Sportlehrer/innenbildung, werden zu jeder Ausbildungsphase103 einige zentrale Kriterien dargestellt, die in wechselseitiger Beziehung zueinander zu verstehen sind. 103 Gemeint sind die drei Phasen Studium, Referendariat sowie die berufsbegleitende Aus- und Fortbildung.
5.2 Konsequenzen für die Sportlehrer/innen(aus)bildung?
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Die folgenden Überlegungen sind abgelöst von den einzelnen Fällen entwickelt. Wo es sich jedoch aus argumentativen oder illustrativen Gründen anbietet, werden nochmals einzelne Beispiele aus den biographischen Fallstudien der Arbeit aufgegriffen.
5.2.1 Leitbild: Der „reflective practitioner“ Erhebt man den Anspruch, ein Leitbild für die Professionalisierung von Lehrer/innen zu formulieren, so stellt sich die Frage, wie dies, trotz Pluralisierung der Lebenswelten möglich ist, so dass es dem heterogenen und permanentem Wandel unterworfenen Feld von Schule und Unterricht angemessen erscheint? Eindeutig ist – und dies entspricht auch dem Anspruch des Konzepts der Mehrperspektivität – dass sich ein solches Leitbild nicht auf inhaltliche Gesinnungen und Ideologien beziehen darf, sondern einer professionellen Grundhaltung verpflichtet sein muss, die es immer auch beinhaltet, in Distanz104 (z. B. zum eigenen Handeln, zum Deuten von Situationen, zur eigenen Berufsrolle oder aber zur Institution Schule) gehen zu können. Eine forschend reflexive Grundhaltung oder ein professioneller, weil forschend reflexiver, Habitus bildet für ein solches Professionalisierungsverständnis den Kernaspekt. „Kurz gesagt, das hervorstechende Merkmal des Professionellen ist die Kapazität für autonome berufliche Weiterbildung durch systematisches Studium der eigenen Arbeit, durch das Studium der Arbeit anderer Lehrer und durch die Überprüfung pädagogischer Ideen durch Forschung im Klassenzimmer“ (Stenhouse, 1975, S. 144 zit. nach Altrichter & Posch, 1998, S. 319).
In die Begrifflichkeiten der vorliegenden Arbeit übertragen, würde dies bedeuten, die Professionalisierung als fortwährenden Prozess zu interpretieren und aus Sicht der Sportlehrer/innen sich an durch einen forschenden und reflektierenden Blick zu bearbeitenden Entwicklungsaufgaben zu orientieren. Diese Vorstellungen von professionellem Lehrer/innenhandeln sind durch die Forschungsarbeiten von Donald Schön (z. B. 1983) fundiert worden. Mit seinem Werk „the reflective practitioner“ hat Donald Schön (1983) ein Konzept vorgelegt, dass sich m. E. als Grundidee eines Leitbildes des/der ‚professionalisierten Sportlehrer/in(s)’ in besonderer Weise eignet. Anders als in der bis in die 1950er Jahre vorherrschenden Vorstellung, professionelle Praxis ent-
104 Vgl. Kap. 5.2.2 zum Stichwort „engagierte Rollendistanz“ (Nagel, 2000).
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5 Biographisches Wissen und Professionalisierung
spräche dem Modell ‚Technischer Rationalität’105, betont Schön auf der Grundlage seiner Forschung, die prinzipielle Unsicherheit von Praxissituationen. „Wissensanwendung und instrumentelles Problemlösen setzen nämlich ein Bild von Praxis voraus, das durch unzweifelhafte Ziele und stabile institutionelle Kontexte charakterisiert ist. Gerade diese Voraussetzungen sind vielleicht bei einfachen und repetitiven Arbeiten gegeben; für die meisten, professionelle Expertise herausfordernden Praxissituationen sind sie jedoch nicht erfüllt. Diese sind vielmehr komplex, unsicher, einzigartig und durch Wert- und Interessenkonflikte gekennzeichnet“ (Altrichter & Posch, 1998, S. 321).
Drei verschiedene Ebenen professionellen Praxishandelns von Lehrer/innen unterscheiden Altrichter & Posch (ebd.) in Anlehnung an Schöns Arbeiten: 1. Handlung auf der Basis unausgesprochenen Wissens-in-der-Handlung („Knowing-in-action“) Diese Wissensform bildet die Grundlage beruflichen Handelns, wenn die Situationen unproblematisch, d. h. einfach und klar strukturiert sind. Dieses Wissen ist „normalerweise unausgesprochen, implizit in den Mustern unseres Handelns und in unseren Gefühlen für das Material, mit dem wir umgehen“ (Schön, 1983, S. 49). Den Handelnden ist oft nicht bewusst, wo und auf welche Weise sie dieses Wissen erworben haben. Sie trennen in diesem Handlungstyp meist nicht zwischen Denken und Handeln und sind häufig nicht in der Lage, dieses Wissen zu verbalisieren. Das zentrale Bespiel für diesen Handlungstyp sind Routinen, die „(a) durch häufige Wiederholungen entstanden sind, (b) eine relativ hohe Geschwindigkeit des Vollzugs haben und (c) wenig bewusste Steuerungsprozeduren vom Handelnden erfordern“ (Altrichter & Posch, 1998, S. 322). Solche Routinen sind notwendig, um in der pädagogischen Praxis von Schule und Unterricht überhaupt bestehen zu können, da sie es ermöglichen, mehrere zeitlich parallel angesiedelte Ziele zu verfolgen. Sie dienen also der Handlungsentlastung und Stabilisierung des Unterrichtsgeschehens. Leider werden Routinen fälschlicherweise häufig nur negativ konnotiert und als Gegenpol zu kreativer Unterrichtsgestaltung gesehen (vgl. zur großen Bedeutung von Routinen für die schulische Praxis auch Bromme, 1985).
105 Hiermit ist das Verständnis gemeint, dass sich professionelle Praktiker in ihren Handlungen auf ein mit wissenschaftlichen Methoden generiertes Wissen beziehen, dass also ein linearer Transfer von Theoriewissen in Praxiskönnen möglich sei. Dass dies nicht der Fall ist, ist bereits zu Beginn der Arbeit mit besonderem Bezug auf die Spezifika pädagogischer Settings betont worden.
5.2 Konsequenzen für die Sportlehrer/innen(aus)bildung?
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2. Reflexion-in-der-Handlung („reflection-in-action“) Wenn jedoch Handlungsprobleme auftreten, reicht das unausgesprochene Wissen-in-der-Handlung nicht mehr aus. Es wird nötig, in der Handlung zu reflektieren. Wird also eine Diskrepanz zwischen der eigenen Erwartungshaltung und dem Verlauf einer Situation wahrgenommen, so ist diese nicht mehr unhinterfragt auf Grundlage der Routinen lösbar. „Erst aufgrund einer Überraschung, einer Unzufriedenheit oder eines Scheiterns wird eine Situation überhaupt als definitionswürdig (…) angesehen“ (Altrichter & Posch, 1998, S. 325). Donald Schön beschreibt diesen Prozess des Reflektierens in der Handlung wie folgt: „Wenn jemand in der Handlung reflektiert, wird er zu einem Forscher im Kontext der Praxis. Er ist nicht von den Kategorien etablierter Theorien und Techniken abhängig, sondern konstruiert eine neue Theorie des spezifischen Falls. Sein Forschen beschränkt sich nicht darauf, Mittel zu überlegen, die von einer vorhergehenden Übereinkunft über Ziele abhängen. Er trennt Mittel und Ziele nicht, sondern bestimmt sie interaktiv, wenn er problematische Situationen definiert. Er trennt Denken nicht von Tun, bahnt schlussfolgernd seinen Weg zu einer Entscheidung, die er dann in eine Handlung umformen muss. Da sein Experimentieren eine Form praktischer Handlung ist, ist die Verwirklichung seiner Reflexionsergebnisse in seine Forschung eingebaut“ (Schön, 1983, S. 68f.).
Welchen Einfluss dabei biographische Wissensbestände auf die Reflexionsperspektive der Sportlehrer/innen haben kann, soll an einem Beispiel aus dem Interview mit Rudolf Hinze verdeutlicht werden: E:
I: E:
I: E:
Also so dieses –- nach fünf Minuten üben, könn=we jetzt nich mal SPIELEN, äh des ham se vielleicht auch schon mal gehört oder selber erlebt. Das is so das Typische was ja eigentlich Ja ja. immer stärker zunimmt also wenig, viel weniger Bereitschaft, was heißt wenig, aber viel weniger Bereitschaft als des bei uns selbstverständlich gewesen wär oder für mich als besonders sportlich interessierten natürlich auch –- zu sagen jetzt klotz ich mal auch ran und jetzt üb ich das mal ne ganze Stunde. Hmhm. Ich üb beim Handball jetzt mal ne Viertelstunde nur mit links von dem Punkt immer absch(l)ießen oder nur diese eine Technik oder –- das is äh –- kaum denkbar, dass das so heute noch jemand macht oder auch in meiner ersten Zeit jemand
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5 Biographisches Wissen und Professionalisierung
I: E:
I:
machte. Also man musste sehr deutlich doch seine Ansprüche reduzieren also – bei Spielen nach fünf Minuten, zehn Hm Minuten, Viertelstunde die Forderung können wir jetzt nich mal spielen, sage ich heute oftmals nee könnt=er wirklich nicht. Hm.
Der systematische Ausgang von sich selbst wird hier zum Hindernis für den Reflexionsprozess. Die Diskrepanz wird zwar sehr deutlich wahrgenommen und löst bei dem Lehrer Unzufriedenheit aus. Der Reflexionsprozess bleibt jedoch den Kategorien etablierter Theorien und Techniken verhaftet, so dass in letzter Konsequenz keine wirkliche Lösung des ‚Problems’ erfolgt. Vielmehr verleihen sowohl der Lehrer als auch die Schüler/innen ihrer Unzufriedenheit Ausdruck ohne dass dies jedoch zu einer konsensorientierten Modifikation des unterrichtlichen Settings führt. Der Lehrer kann sich von seinem biographischen Wissen um die Angemessenheit sportlicher Praxis nicht lösen. Er schließt die Situation mit der verbalen Herabsetzung des Könnens bzw. Nichtkönnens seiner Schüler/ -innen. Eine einmal gewonnene Problemdefinition wird nicht mehr in Frage gestellt, sondern unterrichtliche Situationen unter das Label der ‚Unmotivierten und defizitären Schüler/innen’ subsummiert. Es gelingt nicht, in eine professionelle Distanz zum Geschehen und zu den eigenen, biographisch angelegten Wissensbeständen zu treten. „Stehe zu Deiner Definition und stelle sie kritisch in Frage“ empfiehlt Argyris (1985, S. 258 zit. nach Altrichter & Posch, 1998, S. 326) für diesen Prozess. Für das vorgestellte Beispiel kann festgehalten werden, dass die Definition der Situation nicht mehr einer kritischen Prüfung unterzogen wird. Sie deckt sich mit dem grundsätzlichen Bild von ‚Schüler/innen heute’ und ist scheinbar nicht zu irritieren. Denn in den Äußerungen der Schüler/innen könnte durchaus auch ein Interesse für die unterrichtlichen Inhalte gesehen werden. 3. Reflexion-über-die-Handlung („reflection on reflection-in-action“) Was am obigen Bespiel verdeutlicht werden sollte, ist die große Bedeutung der Fähigkeit, durch Reflexion in Distanz zum eigenen Handeln und Deuten treten zu können. Dabei sind folgende Aspekte grundlegend:
Wissen wird durch seine Reflexion zugänglich, d. h. es wird analysierbar und reorganisierbar. Wissen wird kommunizierbar, d. h. es kann für andere Personen transparent gemacht und mit ihnen diskutiert werden.
5.2 Konsequenzen für die Sportlehrer/innen(aus)bildung?
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Dafür sind Handlungen notwendig, bei denen die Reflexion aus dem Handlungsfluss heraustritt. Auf diese Weise wird eine Distanz zwischen der Situation und ihrer Reflexion hergestellt. Die Situation wird in dieser Form als ‚Datengrundlage’ für weitergehende Reflexionen verstanden und quasi verdinglicht. Entscheidend sei die Kompetenz der Reflexion-über-die-Handlung im Sinne einer professionellen Kernkompetenz, so Altrichter & Posch, da sie konstitutiv für die Erfüllung dreier Basisaufgaben sei, die sich dem Mitglied einer Profession stellen:
„Das Zurücktreten aus dem Handlungsfluß bietet (…) ganz neue Möglichkeiten, sich mit Problemen, in die man sich verrannt hat, auseinanderzusetzen und die eigenen Handlungsgrundlagen zu reorganisieren. Beispielsweise kann das Erleben einer Diskrepanz Anlaß dazu sein, sich das bis dahin ‚unausgesprochene Wissen’, das in routinierten Handlungen steckt, bewusst zu machen, um es explizit auf Fehlannahmen überprüfen und weiterentwickeln zu können“ (Altrichter & Posch, 1998, S. 328). Durch die Verbalisierung des Wissens im Prozess der Reflexion-über-dieHandlung wird überhaupt erst ermöglicht, Novizen in ihre Tätigkeit und die damit verbundenen Besonderheiten einzuführen. Eine Weitergabe professioneller Erfahrungen an die nachfolgenden Generationen wird gewährleistet. Professionelle müssen darüber hinaus in der Lage sein, sowohl ihre Handlungen als auch ihr Wissen zu kommunizieren und zur Diskussion zu stellen. Es sollte dabei begründet werden können und der kritischen Prüfung durch andere Professionelle standhalten.
Dieses zunächst einmal auf unterrichtliche Fälle bezogene Konzept, soll im Kontext der vorliegenden Arbeit um den Aspekt der biographischen Reflexion oder auch der Entwicklung einer Selbstkompetenz ergänzt werden. All jene Deutungen – so die These – sind im biographischen Zusammenhang zu interpretieren. Das Verständnis von einer bestimmten schulischen Situation kann durch die Grundhaltung zu Schule und Unterricht oder aber zu Sport und Schulsport in die eine oder andere Richtung ausfallen. Das biographische Wissen wird hier häufig zur Hintergrundfolie der Interpretation, ohne dass die handelnde und deutende Person dies wahrnimmt bzw. in kritisch reflektierende Distanz dazu tritt. Ein reflective practitioner müsste m. E. einen grundsätzlich reflexiven Zugang zu seinen biographischen Wissensbeständen ausbilden, um bestimmte Perspektiven seiner Reflexion-über-die-Handlung (reflection on reflection-in-action) angemessen deuten zu können. Was hier zum Dreh- und Angelpunkt gelingender
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5 Biographisches Wissen und Professionalisierung
Professionalisierung avanciert, ist Reflexionsfähigkeit als Kernkompetenz des/der professionellen (Sport)Lehrers/ (Sport)Lehrerin. Wie eine solche im Rahmen der Aus- und Fortbildung befördert werden könnte, soll im Folgenden dargestellt werden. Dabei finden alle drei Phasen der Lehrer/innen(aus)bildung – Studium, Referendariat und berufsbegleitende Maßnahmen – Berücksichtigung.
5.2.2 Erste Phase: Perspektivenwechsel und biographische Arbeit zur Irritation sportlicher Habitnjs „Vom Akteur zum Arrangeur“ lautet der Titel eines Aufsatzes von Jürgen Baur (1995). Damit ist gemeint, dass das Studium den Rahmen für den im Professionalisierungsprozess höchst bedeutsamen Perspektivenwechsel vom ‚Sportler’ zum ‚Anleitenden’ darstellt. Das Studium bietet jedoch einen (erfreulich) offenen Rahmen,106 den es auszugestalten gilt: „In der Spannung zwischen institutionellen Vorgaben, formalen und informellen Regelungen, sozialen Erwartungen und Anregungen auf der einen Seite und persönlichen Auslegungen und Entscheidungen auf der anderen Seite wird das Studium entwickelt. Dieser Lebensabschnitt erhält seine soziale Form als studentische ‚Normalkarriere’ durch jene Vorgaben, Regelungen und Erwartungen, die in unterschiedlichen Verbindlichkeitsgraden an die Studierenden herangetragen werden. Aber dieses Grundmuster der Normalkarriere wird durch individuelle Ausgestaltungen vielfältig variiert: Jeder einzelne entwirft in Auseinandersetzung mit der sozialen Korsettierung des Studiums seine eigene, persönlich profilierte studentische Biographie“ (Baur, 1995, S. 26).
Da die Studienwahlmotive von Sportstudierenden zumeist der eigenen Begeisterung am Sporttreiben geschuldet sind (vgl. exemplarisch Baillod & Moor, 1997) und die sportpraktischen Anteile der Ausbildung direkt am eigenen Sporttreiben anknüpfen und ähnlichen Logiken folgen, ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Sportstudierende an diesem Bereich der Ausbildung orientieren. Der bereits vor dem Studium erworbene ‚Sportlerhabitus’ dient als Orientierung im sonst recht unübersichtlichen Feld der Hochschule – er transportiert Vertrautes (vgl. auch Klinge, 2002). Die Bedeutung des eigenen Sporttreibens für die Berufswahl, ist auch in den drei biographischen Fallstudien dieser Arbeit zu rekonstruieren. Die sehr persönlichen Assoziationen fallen recht unterschiedlich, aber dabei durchweg positiv, 106 In dieser Aussage beziehe ich mich ausdrücklich auf das Studium vor der Einführung der Bachelor- und Master-Studiengänge.
5.2 Konsequenzen für die Sportlehrer/innen(aus)bildung?
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aus. Der eingangs angeführte Perspektivenwechsel wird ebenfalls (explizit aber auch implizit) zum Thema gemacht. So beschreibt Corinna Landwehr recht deutlich, wie es ihr während der Schulpraktika im Studium gelungen ist, diesen Perspektivenwechsel zu vollziehen. Dabei hat insbesondere der Austausch mit den Lehrerinnen und Lehrern an den jeweiligen Schulen einen wesentlichen Einfluss auf diesen Prozess ausgeübt. Corinna Landwehr entscheidet sich erst nach diesem Perspektivenwechsel für das Ergreifen des Berufes ‚Sportlehrerin’. Ein reflexiver Prozess scheint hier im Rahmen des Studiums bzw. seiner schulpraktischen Anteile geglückt – Ein Zufall? Wie sich in der empirischen Analyse gezeigt hat, ist vielmehr auch der Typus des Anschlussverhältnisses im Bezug auf das biographische Wissen für diesen Prozess relevant. So wird auf der Ebene des konkreten Falls deutlich, dass Corinna Landwehr während des Studiums eine weitere Entscheidung für den Beruf ‚Sportlehrerin’ getroffen hat. Sie ist nicht ohne Hinterfragen dem ‚institutionellen Ablaufmuster’ gefolgt. Derartige Reflexionsprozesse anzubahnen, wäre ein sinnvolles Ziel universitärer Sportlehrer/innenausbildung. Darüber hinaus ist die Irritation des wohl zumeist unhinterfragten und praktischerweise so gut anschlussfähigen ‚Sportlerhabitus’ anzustreben. Marlene Auerbach wird im Rahmen ihres Studiums durchaus mit ihrem ‚Vorverständnis’ von Sport konfrontiert; jedoch geschieht auch dies eher zufällig, da sie entdeckt, dass sie wohl eine leistungssportliche Karriere hätte ausfüllen können, was sie zwar zu bereuen angibt, aber was sie dennoch dazu bewegt, in ihrer Praxis als Sportlehrerin leistungssportliche Ambitionen – mit dem durchweg positiv zu bewertenden Motiv des Schutzes – eher argwöhnisch beurteilt und Eltern ‚bremsen’ möchte. An dieser Stelle lassen sich Verknüpfungen mit der Professionalisierungsdebatte herstellen. Es gibt eine Vielzahl an Veröffentlichungen unter dem Schlagwort ‚Biographiearbeit’ oder ‚Biographische Selbstreflexion’, die (zumeist) im Bereich der Erwachsenenbildung angesiedelt sind und auch die Diskussion zur Professionalisierung von Lehrer/innen erreicht haben (vgl. z. B. Gudjons et al., 1999; Schulz, 1996; Stiller, 1999; Bauer, 2005). Professionalität wird dabei im Sinne von hoher Kompetenz und großem Können verstanden, das sich je individuell als berufsbiographischer Entwicklungs- und Lernprozess vollzieht bzw. vollziehen sollte (vgl. z. B. Terhart, 1992; Terhart et al., 1994; Bauer, Kopka & Brindt, 1996). Die Bedeutung, einen (selbst)reflexiven Zugang zur eigenen Lebensgeschichte und den eigenen Praxen zu bekommen, wird dabei von Reh & Schelle fundiert in die aktuelle Diskussion eingebettet: „Die Bedeutung von Reflexionsfähigkeit, auch von biographischer Reflexionsfähigkeit, von ‚Biographizität’ (vgl. Alheit 1995, auch Dirks 1999a, S. 38), betont schon
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5 Biographisches Wissen und Professionalisierung seit geraumer Zeit die amerikanische Lehrerforschung. Berufliche Reflexion der Lehrer und Lehrerinnen wird verstanden als Rekonstruktion ihrer persönlichen Erfahrungen in der und mit der Institution Schule, die das Selbstverständnis der eigenen Berufsrolle und des schulischen und unterrichtlichen Handlungsraumes verändern kann (vgl. Dick 1995)“ (Reh & Schelle, 2000, S. 108).
Was damit angestrebt wird, ist häufig unter dem Label ‚Biographische Kompetenz’ oder ‚Selbstkompetenz’ gefasst und wird unter einer solchen Perspektive als pädagogisches Können interpretiert, geht es doch darum, zu sich selbst und dem eigenen Tun in eine kritisch-reflexive Distanz treten zu können. Die Selbstbezüglichkeit bei der alltäglichen Interpretation und Deutung schulischen Geschehens kann unreflektiert eine Deutungsvielfalt verhindern. Der Ausgang von sich selbst und den eigenen Erfahrungen ist sicher eine Notwendigkeit, um sich überhaupt in ‚der Welt’ orientieren zu können. Im pädagogischen Handeln kann dies jedoch auch zum Stolperstein werden und die Entwicklung einer „engagierten Rollendistanz“ (Nagel, 2000, S. 364) be- oder gar verhindern. Das Lernen durch Erinnerung und schließlich des Sicherinnerns als pädagogisches Können zu verstehen, propagiert auch Schulz (1996) als sinnvolle Möglichkeit zur Entwicklung biographischer Kompetenz im Professionalisierungsprozess. Das Spektrum der Erwartungen an die Gewinne der Einübung in ‚biographische Arbeit’ ist ebenso weit gestreut, wie der Formenreichtum, in dem ‚biographisches Arbeiten’ (hochschul-)didaktisch thematisiert wird. Auffällig ist, wie unterschiedlich die Vermittlung von Bildungspraxis und Biographieforschung konzipiert wird, wenn es darum geht, die lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Lernenden zum Gegenstand von berufsbezogenen Reflexions- und Bildungsprozessen zu machen. Während beispielsweise Bauer (2005) angehenden Lehrern/innen quasi-therapeutische Übungen zur pfadgerechten Selbstformung durch Umschrift des eigenen Lebenslaufs empfiehlt, leitet Dirks (1999) ihre Studierenden in Tandems zur Auseinandersetzung mit Ergebnissen und Materialien der Biographieforschung an, um sie in der Kontrastierung fremder Sichten auf schulischen Unterricht mit eigenen Schulerfahrungen auf den Weg zu einem „Selbstforschungsprofil“ zu führen. Dirks schließt damit explizit an den Diskussionsstand der aufgabenbezogenen Professionalisierungsdebatte an. Sie stellt ein Verfahren „forschenden Lernens“ vor, das die Bearbeitung der Frage, was gute Lehrer/innen kennzeichne, um Sichtweisen und Materialien der Biographieforschung erweitert (vgl. Dirks, 1999, S. 85ff.). Bauer setzt hingegen zum Erwerb und zur Erweiterung pädagogischer Kompetenzen auf steuerbare Trainingseffekte und bietet in jüngster Zeit eine nach Basiskompetenzen geordnete Sammlung von Trainingsmaterialien an (vgl. Bauer, 2005). Anders als Dirks berücksichtigt Bauer vorliegende expertentheore-
5.2 Konsequenzen für die Sportlehrer/innen(aus)bildung?
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tische Erkenntnisse zur Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern107 kaum und führt die Professionalisierungsdebatte in technisch-therapeutische Vorstellungen108 der Aneignung beruflicher Kompetenzen. Ein solches Verständnis erscheint in dem Kontext befremdlich, kann es in einem öffentlichen Rahmen doch nicht um eine therapeutische Selbstbezüglichkeit gehen, sondern um die institutionelle Etablierung von biographischen aber explizit berufsrelevanten Reflexionsangeboten. Für die Umsetzung eines solchen Vorhabens sollen hier zwei Eckpfeiler für das Sportstudium vorgeschlagen werden: einmal Fallarbeit an unterrichtlichen Fällen und darüber hinaus Fallarbeit an biographischen Fällen. Mit den Arbeiten von Karlheinz Scherler und Matthias Schierz (vgl. exemplarisch 1993) und im Anschluss von Petra Wolters (1999; 2006), Roland Messmer (2002) und Ilka Lüsebrink (2005) liegen bereits umfangreiche Darstellungen zur unterrichtlichen Fallarbeit mit sportpädagogischem Fokus vor. Gerade die sogenannten ‚Unglücksfälle’ des Sportunterrichts werden hier aufgegriffen und kasuistisch ausgewertet. Dies ist unter anderem auch im Hinblick auf das Konzept des „reflective practitioner“ sinnvoll. Denn, wie bereits oben beschrieben, werden Situationen erst dann definitionsbedürftig, wenn eine Diskrepanz zwischen der Erwartung und dem tatsächlichen Verlauf einer unterrichtlichen Situation wahrgenommen werden kann. Dies muss in der Fallarbeit nicht notwendigerweise von der handelnden Lehrkraft selbst bemerkt werden, sondern kann durch Beobachtung von Dritten (z. B. hospitierenden Studierenden) aufgegriffen werden. Neben konzeptionellen Überlegungen zur Implementierung der Fallarbeit in die Ausbildung von Sportlehrer/innen, bieten die genannten Autor/innen auch durch Forschung generierte Ergebnisse zum Deuten unterrichtlicher Situationen.
107 In solchen Ansätzen werden nicht Trainingstechniken zum Kompetenzerwerb, sondern Bildungsprozesse der Urteils- und Einbildungskraft bei der Bewältigung pädagogischer Problemsituationen für relevant erachtet. Sie werden als ein Können begriffen, Erfahrungswissen und wissenschaftliches Wissen von Fall zu Fall angemessen zu relationieren (vgl. Combe, 2001; Schierz & Thiele, 2002). Die pädagogische Urteils- und Einbildungskraft von Experten/innen bildet sich vorrangig in Konstellationen des Ernstfalls als Routine im Umgang mit Neuem aus. Ihr Erwerb kann durch reflexive Fallarbeit unterstützt werden (vgl. schon Bromme, 1992; siehe auch Koch-Priewe, Kolbe & Wildt, 2004). 108 So empfiehlt Bauer (2005, 129 ff.) angehenden Lehrer/innen anschaulich ein einfaches Verfahren zur therapieförmigen Arbeit an der eigenen Biographie. Das als Beispiel vorgestellte ausführliche Dokument über „Meilensteine einer Pädagogenbiographie“ liest sich aber nur schwerlich als Glücksfall eines gelungenen reflexiven Wegs zum „professionellen Selbst“. Geeignet ist es vielmehr als Material zur Rekonstruktion karrieretypischer Deformationspotentiale von Wissenschaft als Beruf. .
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5 Biographisches Wissen und Professionalisierung
Auch biographische Selbstpräsentationen können für eine besondere Art der Fallarbeit nutzbar gemacht werden109. So kann eine Annäherung an die lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Studierenden z. B. über die Bearbeitung von Ausschnitten aus biographisch-narrativen Interviews mit Sportlehrer/innen erfolgen. Dies lässt sich recht einfach am Beispiel des Berufswahlmotivs illustrieren. Hier können Inputs aus biographischen Fallstudien oder Interviewsequenzen eine Basis für die Thematisierung der eigenen Motive bieten. Darüber hinaus ist es möglich, den ‚biographischen Verlauf’ der Berufswahlmotive in den biographischen Fallstudien zu verfolgen. Studierende hätten auf diese Weise die Möglichkeit, sich mit Erfahrungen ‚aus zweiter Hand’ der beruflichen Praxis anzunähern und ihre eigenen Ideen und Vorstellungen zu reflektieren. Auch hier können, ebenso wie bei der unterrichtlichbezogenen Fallarbeit, unterschiedliche Perspektiven dazu führen, dass Handlungsalternativen gefunden werden und das bisherige Handeln kritisch hinterfragt wird. Eine Sensibilisierung für die Verwobenheit zwischen der eigenen Lebensgeschichte und dem beruflichen Handeln und Deuten sowie für berufliche Problemlagen kann entwickelt werden. Es entsteht idealisiert gedacht eine Art antizipatorische Kompetenz in Bezug auf die Anforderungen und Problembereiche des beruflichen Feldes. Das Einnehmen einer reflexiven Grundhaltung gegenüber dem beruflichen Feld und seinen Spezifika aber auch gegenüber der eigenen Biographie können im Rahmen des Studiums durch diese Art der fallorientierten Ausbildung befördert werden. Hier sei erneut darauf verwiesen, dass die aktivische Wendung, dass es sich bei der Entwicklung ‚biographischer Kompetenz’ oder ‚Selbstkompetenz’ um eine Entwicklungsaufgabe für Studierende, Referendar/innen oder Lehrer/innen handele (vgl. z. B. Meyer, 2001), nicht auf der Ebene einer solchen Schlussfolgerung stehen bleiben darf. Der Wendung an sich ist durchaus zuzustimmen, nur darf in dieser Wendung die Problematik eben nicht nur wieder an die betroffenen Personen delegiert werden. Unter einer (hochschul)didaktischen Perspektive kann es sicher nicht genügen, mit dem Verweis auf biographische Kompetenz Sportlehrer/innen als ‚Ich-AG’ für diesen berufsbegleitenden Prozess allein zuständig zu machen. Besondere Brisanz erhält sie jedoch, wenn sie in Ableitungen mündet, die (Sport)Lehrer/innen zur rezeptartigen, selbsttherapeutischen Arbeit an der eigenen Biographie motivieren. Wenn (Sport)Lehrer/innenausbildung die Urteilsfähigkeit bei der Bewältigung pädagogischer Problemsituationen fördern soll, dann würde eine biographietheoretische Perspektive die Sensibilisierung für den Zusammenhang zwischen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und pädagogischer Interpretation von 109 Im Rahmen meiner Lehrveranstaltungen im Bereich der Sportlehrer/innenausbildung hatte ich Gelegenheit dieses Vorgehen bereits zu erproben und konzeptionell auszuarbeiten.
5.2 Konsequenzen für die Sportlehrer/innen(aus)bildung?
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Situationen fokussieren. Grundsätzlich würde es dann um die „Entwicklung der Fähigkeit zu reflektiertem Handeln, um die von Lehrerstudierenden unausweichlich zu treffenden Entscheidungen auf möglichst rationaler Basis erfolgen zu lassen“ (Dick, 1994, S. 5), gehen. Biographietheoretisch gewendet geht es darum, die Fähigkeit zu entwickeln, gegenwärtige Praxis als ein Teil vergangener Praxis sehen zu können und anders herum vergangene Praxis aus der heutigen Perspektive immer wieder neu auslegen und sie so in neue Sinnzusammenhänge stellen zu können.110
5.2.3 Konzeptionelle Überlegungen für eine begleitete Berufseingangsphase Gerade in der Berufseingangsphase werden die Verknüpfung von universitärer Ausbildung und schulischer Praxis sowie ein institutionell verankerter Austausch zwischen erfahrenen Lehrer/innen und Referendar/innen häufig vernachlässigt. Gerade hier bieten sich aber große Potentiale für den Professionalisierungsprozess. In seiner Arbeit „Professionalisierung als Entwicklungsaufgabe – Rekonstruktionen zur Berufseingangsphase von Lehrerinnen und Lehrern“ entwickelt Hericks (2006) Überlegungen für eine begleitete Berufseingangsphase, die auch für die Perspektive der hier vorliegenden Arbeit anschlussfähig sind. Ein zentraler Eckpfeiler dieses Konzepts bildet die kollegiale Fallberatung, die als Element von Schulentwicklung und Professionalisierung interpretiert wird. „Sie erfordert die Bereitschaft auch berufserfahrener Kollegen zu Veränderungsprozessen, die darauf abzielen, Professionalität zu einem Teil des institutionskonformen Habitus werden zu lassen. Erst in einem solchen Umfeld ergibt sich die Möglichkeit, dass junge Lehrerinnen und Lehrer dauerhaft zu professionellen Lösungen ihrer beruflichen Entwicklungsaufgaben angeregt und befähigt werden“ (Hericks, 2006, S. 454).
Die kollegiale Fallberatung nimmt dabei die Funktion der Etablierung einer sachbezogenen Kooperations- und Austauschkultur unter den Lehrkräften ein. Im Fokus stehen unterrichtliche Fälle, die von den Beteiligten mitgebracht und idealerweise in schriftlicher Form vorgelegt werden. Dieser Text wird dann in der Gruppe auf seine „möglichen Bedeutungsschichten und Zusammenhänge hin ausgelotet“ (ebd.). Dies geschieht in Ablösung von der Person, die den Text eingebracht hat. Ziel ist es, in Form von Gedankenexperimenten Handlungsalternativen zu entwickeln und ihre potentiellen Folgen zu antizipieren. Es geht also 110 Vgl. hierzu auch den Ansatz von Schulz (1996).
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5 Biographisches Wissen und Professionalisierung
darum, die Strukturlogik von Handlungsproblemen zu beleuchten und weiteres Fallwissen zu generieren. Dabei ist der Austausch von berufserfahrenen und berufsneuen Lehrkräften als fruchtbare Basis mit verschiedenen Perspektiven und Deutungsfolien zu verstehen, die einen wechselseitigen Wissensaustausch ermöglicht. Die Einbindung neuer Lehrer/innen in bestehende kollegiale Strukturen wird auf diese Weise befördert und stellt eine Unterstützungsleistung für den Berufseinstieg dar. Darüber hinaus können die Berufseinsteiger/innen neue Impulse aus der ersten Ausbildungsphase in den schulischen Alltag einbringen. In den biographischen Fallstudien der vorliegenden Untersuchung können drei verschiedene Verhältnisse zwischen ‚Altlehrer/innen’ und Noviz/innen rekonstruiert werden: Bei Rudolf Hinze wird das Verhältnis zwischen den Lehrergenerationen als höchst problematisch beschrieben. An Stelle von Unterstützungsleistungen werden die neuen Lehrkräfte mit Bespitzelungen und Schmähungen bedacht. Es herrscht ein Konkurrenzverhältnis vor, das in Verachtung der jungen Lehrkräfte seitens der alteingesessenen gipfelt. Im Fall von Marlene Auerbach entsteht eine produktive Mentorin/Referendarin-Konstellation, die jedoch auf eine Einzelperson als zentrale Orientierungsgröße ausgerichtet ist. Diese wird von der Biographieträgerin auf Grund der an ihr biographisches Wissen ‚problemlos’ anschlussfähigen Haltung der Mentorin ausgewählt. Auf diese Weise werden Irritationen vermieden und einmal erworbene Einstellungen bestätigt. Nur in den Schilderungen Corinna Landwehrs lassen sich Ansätze einer ‚Win-Win-Situation’ zwischen Mentorin und Referendarin rekonstruieren, da die Mentorin Corinna Landwehr die Freiheit einräumt, ‚anderen Sport’ (hier: Fußball) in ihrer Mädchengruppe zu unterrichten, Corinna Landwehr aber auch ‚gezwungen’ ist, ihren Horizont zu erweitern, indem sie ‚Mädchensport’ anleitet (hier: Bandkür). Systematische kollegiale Fallberatung könnte m. E. dazu führen, dass ein größeres Spektrum an Handlungs- und Deutungsalternativen für alle Lehrkräfte entwickelt und den Berufsneulingen der Einstieg in die berufliche Praxis erleichtert wird. Das Bild von Referendar/innen als kompetente Kolleg/innen ist dafür eine maßgebliche Voraussetzung. Kollegiale Fallberatung würde so zum institutionell gerahmten Austausch zwischen den verschiedenen Sportlehrer/innengenerationen führen und könnte einen reflexiven Zugang zum eigenen biographischen Wissen und seiner Bedeutung für die (sport)pädagogische Praxis begünstigen. „Das selbstbezügliche biographische Wissen ist für eine pädagogische Professionalität erforderlich, um die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem eigenen Han-
5.2 Konsequenzen für die Sportlehrer/innen(aus)bildung?
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deln, den eignen Handlungs- und Deutungsmustern, der eigenen Person in den pädagogischen Interaktionen und Prozessen mit den Schülerinnen und Schülern reflektieren zu können. Dadurch wäre es zunächst möglich, auch zum eigenen Erfahrungswissen in ein reflektiertes Verhältnis zu treten und die berufliche Einsozialisation nicht als unbegriffenen, sich hinter dem eigenen Rücken vollziehenden Prozess zu erleben, sondern als beruflichen ‚Selbstbildungsprozess’ zu rekonstruieren“ (Bastian & Helsper, 2000, S. 182).
Im Austausch mit anderen kann so auch ‚über sich selbst’ gelernt und generationale Verfasstheiten von Perspektiven erweitert werden. Ein solches Vorgehen ist jedoch nur dann möglich, wenn im Rahmen der Institution Schule auch entsprechende Zeiten und Räume sowie eine adäquate Moderation durch qualifizierte Lehrer/innen gewährleistet werden, die über die Berufseingangsphase hinaus etabliert werden.
5.2.4 Etablierung eines berufsbegleitenden Stützsystems Bedeutsam für die hier vorgestellten Perspektiven auf den Professionalisierungsprozess von Sportlehrerinnen und Sportlehrern ist, diesen Prozess als fortdauernd und konsequenterweise als unabschließbar zu begreifen. Ein durch Forschung abgesichertes berufsbegleitendes Stützsystem, das nicht nur in kritischen Phasen der berufsbiographischen Entwicklung von Sportehrerinnen und Sportlehren systematisch zum Einsatz kommt, sondern berufsbegleitend bei der Bewältigung von typischen Belastungen wirksam wird, ist bislang weder als Ergebnis empirischer Studien noch als Folge der Rekonstruktion einer Logik des Aufbaus beruflicher Kompetenz in das Aus- und Fortbildungswesen implementiert. Hier ergeben sich in besonderer Weise Anschlüsse an die Thematik und die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit. Denn Sportlehrer/innen mit berufsbezogenen Reflexionsprozessen im Berufsalltag quasi für das ‚stille Kämmerlein’ allein zu lassen, erscheint im Lichte der professionstheoretischen Erkenntnisse geradezu fahrlässig. Die Problematik, biographische Wissensbestände per se als Ressource sportpädagogischen Handelns zu begreifen (vgl. dazu Kap. 2.2.4), ist ebenfalls kritisch zu hinterfragen, was in der Sportpädagogik ja bereits teilweise geschehen ist.111 In der vorliegenden Studie hat differenziert aufgezeigt werden können, dass biographische Wissensbestände aus professionalisierungstheoretischer Perspektive durchaus ambivalenten Charakter haben und sogar hinderlich für den Pro111 Vgl. hierzu insbesondere die Einleitung dieser Arbeit.
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fessionalisierungsprozess sein können, wenn sie nicht entsprechend aufgearbeitet und bearbeitet werden. Der reflexive Zugang zu biographischem Wissen, den zu erlangen ja schon ein problematisches Unterfangen darstellt, ist darüber hinaus nicht mit einer ‚erwünschten’ Verhaltensänderung zu verwechseln. Vielmehr gilt es, einmal angebahnte Irritationen auch über die Berufseinstiegsphase hinaus zu ‚retten’. In der Realisierung eines solchen berufsbegleitenden Stützsystems könnte gleichzeitig ein zentrales Element der Professionalisierung des Lehrberufes verankert werden: die Etablierung bzw. Beförderung einer Kultur der professionellen Kooperation (vgl. Terhart, 1996, S. 463). Denn wie sich unlängst herausgestellt hat, ist die Qualität von Schule und Unterricht grundsätzlich von der Qualität der Arbeit des jeweiligen Kollegiums abhängig. Diese Arbeit wird wiederum maßgeblich von den Kooperationsbeziehungen der Lehrer/innen unter einander beeinflusst (vgl. Little, 1991 zit. nach Terhart, 1999). Neben Möglichkeiten der Supervision und der kollegialen Fallberatung könnte ein auf Beförderung der Kooperationsbeziehungen ausgerichtetes Stützsystem Raum für pädagogische und berufsbezogene Biographiearbeit bieten. Eine solche würde dann in Anlehnung an Dausien et al. (2002) verstanden als eine methodisch-reflektierte Unterschützung jener beschriebenen biographischen Alltagsarbeit, die „die widersprüchlichen und ‚riskanten’ Lebensbedingungen moderner Gesellschaften“ (vgl. ebd.) den Individuen fortwährend „abverlangt“. Neben der Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie würden auch fremde Biographien als Einübung von Fremdverstehen im Sinne eines Konstruktions- und Rekonstruktionsprozesses sowie die Grenzen eines solchen Fremdverstehens zum Thema gemacht. Derartige Kompetenzen sind m. E. unabdingbar, um solch anspruchsvolle Konzepte wie das des ‚Mehrperspektivischen Sportunterrichts’ adäquat umsetzen zu können, da eine angemessene Distanzierung zum beruflichen Handeln sowie die Fähigkeit zu Selbst- und Fremdverstehen eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewordensein resp. der eigenen Sozialisation erfordern. Ein neues, weiter gefasstes Verständnis von Lern- und Bildungsprozessen, das sich der Verschränkung von Formalisiertem und Informellem innerhalb eines solchen Prozesses bewusst ist und auf dieser Grundlage pädagogische Professionalität im Sportlehrberuf als ein (berufs)biographisches Entwicklungsproblem und aus Sicht der Sportlehrer/innen als institutionell gestützte Bearbeitung (berufs)biographischer Entwicklungsaufgaben zu begreifen, scheint angeraten. Dabei geht es nicht nur darum, ein reflektiertes Selbstverständnis zu befördern, sondern ein reflektiertes Sach- und Berufsverständnis gleichermaßen.
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“The end-point of your journey emerges from where you start, where you go, and with whom you interact, what you see and hear, and how you learn and think. In short, the finished work is a construction-yours” (Charmaz, 2006)
Das Bild der Reise erscheint mir für den Prozess der Erstellung einer Dissertation und insbesondere einer qualitativen Forschungsarbeit treffend, entwickeln sich die Gedanken und Perspektiven doch fortlaufend von ‚Station’ zu ‚Station’ weiter und führen – so denn alles gut verläuft – zu einem von Beginn an festgelegten Ziel. Dieses ist, ähnlich einem bisher noch nicht aufgesuchten Reiseziel, zwar nicht gänzlich unbekannt, verliert jedoch erst durch das Bereisen seine Fremdheit. Sicher, ich kannte den ‚technischen’ Namen des Reiseziels, aber meine persönliche Auslegung und die Bedeutung, die sowohl der Prozess des ‚Reisens’ mit seinen verschiedenen Etappen als auch der des ‚Ankommens’ für mich haben würden, waren mir unmöglich vorstellbar… Die ‚gedanklichen Reisen’, die mit der Erstellung dieser Arbeit verbunden waren, sind in ihrem Rahmen in vielerlei Hinsicht aufzufinden. Örtlich begannen diese an der Universität Bielefeld und führten über die Station der FriedrichSchiller-Universität zu Jena zur Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, an der die Arbeit nun auch beendet worden ist. Dabei ist die Bedeutung dieser örtlichen Wechsel und der Personen, die mich auf dieser ‚Reise’ begleitet haben, in der Rückschau ungleich höher einzuschätzen als ich es je vorher hätte antizipieren können. So sind Matthias Schierz und Dietrich Kurz – jeder auf seine individuelle Weise – verlässliche Begleiter meiner Arbeit gewesen. Ich möchte insbesondere Matthias Schierz für die Freiheiten zum Nachdenken und Orientieren sowie das damit verbundene Vertrauen in mich und meine Arbeitsweise danken. Ohne diese Freiräume und die kontinuierlichen, wohlwollend interessierten und zum Teil aber auch harten Auseinandersetzungen hätte die Realisierung dieses Projekts nicht wie hier vorliegend abgeschlossen werden können!
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Dietrich Kurz danke ich neben seinem ursprünglichen Impuls, eine solche Arbeit überhaupt in Angriff zu nehmen, für seinen relativierenden Außenblick, für seine immer ‚offene Tür’ sowie für manche kritisch konstruktive Nachfrage, die zur Perspektivierung der Arbeit wesentlich beigetragen haben. Ein weiterer kontinuierlicher Zusammenhang der Auseinandersetzung und Entwicklung bot mir das ‚DoktorandInnen Netzwerk Qualitative Sozialforschung’ (DINQS), das sich virtuell aber auch ‚real’ zwischen den Orten Hamburg, Göttingen, Berlin, Bielefeld und Oldenburg (vormals Jena) auf(ge)spannt (hat). Die Eingebundenheit in diesen selbst organisierten Zusammenschluss von Promovierenden hat mir eine kontinuierliche und interdisziplinäre Auseinandersetzung mit meinen eigenen Forschungsperspektiven und –ergebnissen, aber auch jenen der anderen Netzwerkerinnen ermöglicht. Sämtliche Themen rund um die Professionalisierung als Forscherin, aber auch um das Leben ‚im Allgemeinen und Speziellen’ wurden hier zur Sprache gebracht, beraten und (meistens auch) gelöst. Der große Gewinn dieser Zusammenarbeit geht weit über meine hier vorliegende Arbeit hinaus. Ich danke Sandra Glammeier, Manuela KaiserBelz, Margarete Menz, Anja Nordmann, Daniela Rothe, Ruth Slomski, Christine Thon und Inga Truschkat ganz herzlich für ihre vielfältigen Unterstützungen in den letzten fünf Jahren und freue mich auf weitere gemeinsame Projekte. Noch vor dem eigentlichen Startpunkt des Projekts ‚Dissertation’ hat Prof. Dr. Ulrich Dausendschön-Gay begonnen, mit mir über meine Ideen und Gedankengänge zu diskutieren. Diese Begleitung über Ortswechsel und viele Jahre hinaus hatte und hat für mich in der Präzisierung meiner Gedanken und dem Glauben an das Gelingen sowie an die Richtigkeit des eigenen Arbeitens einen unschätzbaren Wert. Herzlichen Dank für diese große Aufmerksamkeit! Auch PD Dr. Bettina Dausien und der ‚Bielefelder Forschungswerkstatt’ möchte ich an dieser Stelle danken. Sie haben insbesondere meinen Einstieg in die Biographieforschung begleitet. Mit dem Beginn meines wissenschaftlichen Arbeitens in Jena verbinden mich durch etliche gemeinsame Erlebnisse und Gedanken seit dieser Zeit Dr. Peter Frei und Martin Schunk, denen ich an dieser Stelle ebenso danken möchte, wie den ‚Oldenburgerinnen’ Tina Wenholt, Helgard Lange und Hilke Pallesen. Auch sie haben mich jeweils auf ihre Weise bei der Erstellung meiner Dissertation unterstützt. Schließlich erfordert die Arbeit mit den Lebensgeschichten anderer Menschen, über wissenschaftliche Kenntnisse und entsprechende Bedingungen hinaus, in erster Linie die Bereitschaft dieser Menschen, sich für mein Anliegen zu öffnen. Dies ist nun alles andere als selbstverständlich und so gilt mein ganz besonderer Dank den Sportlehrerinnen und Sportlehrern, die sich bereitwillig
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und vorbehaltlos auf meine Fragen eingelassen haben. Ich empfinde ihre Offenheit und das Interesse, das sie mir entgegen gebracht haben, als großes Privileg. Wenn es um die Reflexion von Lebensgeschichten geht, dann bleibt auch die eigene Lebensgeschichte davon nicht unberührt. Für die umfassende Unterstützung, die mir durch meine Familie, Ursula und Siegfried Reinartz sowie Annelies und Kurt Volkmann zu Teil geworden ist, die passenden Worte zu finden, kann hier nicht gelingen. In jedem Falle hätte ich diese Arbeit nicht vollbringen können, wenn sie mir nicht den Rücken frei gehalten und mich so häufig durch ihr Engagement entlastet hätten. Mein besonderer Dank gilt aber an letzter und damit bewusst exponierter Stelle zwei Personen, die in meinem Leben die zentralsten Rollen spielen: Thomas Volkmann, der fern des wissenschaftlichen Lebens immer wieder für gesunde Erdungen und Relativierungen gesorgt, mich darüber hinaus in jeder erdenklichen Hinsicht unterstützt und zum ‚Durchhalten’ motiviert hat. Und meinem Sohn Joris, der mich manches Mal wohl bedauert hat, wenn ich eben trotz Sonnenscheins nicht mit auf den ‚Alten Markt’ gehen konnte und den bei der ganzen Sache immer wieder am meisten interessiert hat, für wen ich denn nun eigentlich dieses ‚dicke Buch’ schreibe… Bielefeld, im Dezember 2006 Vera Reinartz
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Anhang: Transkriptionsnotation (weitgehend übernommen von Dausien, 1996, S. 613f.)
– (P/sec)
prosodische Zäsur kurze Pause längere Pause mit Angabe der Dauer in Sekunden
. ?
fallende Intonation Frageintonation
Unterstreichung
emphatische Betonung eines Wortes oder Syntagmas Betonung eines Wortes oder Syntagmas durch besonders deutliches Artikulieren
HERVORHEBUN
(einfache Klammern?) Textteil, der semantisch noch dekodierbar, aber phonologisch nicht mehr transkribierbar ist (…) Auslassung Wortabbru_ =e
Abbruch innerhalb einer Wortgrenze nicht-phonemische Dehnung am Wortende
/das war vielleicht ((lachend))/
Notierung einer kommentierten Passage