Nr. 396
Botschafter der Zeit Begegnung im Strom der Zeiten von H. G. Ewers
Nun, da Atlantis-Pthor mittels der neuen e...
14 downloads
543 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 396
Botschafter der Zeit Begegnung im Strom der Zeiten von H. G. Ewers
Nun, da Atlantis-Pthor mittels der neuen eripäischen Erfindung aus dem Korsallo phur-Stau befreit werden konnte, kommt der »Dimensionsfahrstuhl« auf seiner vor programmierten Reise der Schwarzen Galaxis unaufhaltsam näher. Es gibt nichts, was die Pthorer und Atlan, ihr König, tun könnten, um den fliegen den Weltenbrocken abzustoppen und daran zu hindern, die Schwarze Galaxis zu er reichen – jenen Ort also, von dem alles Unheil ausging, das Pthor im Lauf der Zeit über ungezählte Sternenvölker brachte. Wohl aber existiert die Möglichkeit, noch vor Erreichen des Zieles die gegenwärti ge Situation in der Schwarzen Galaxis, die allen Pthorern unbekanntes Terrain ist, zu erkunden – und Atlan zögert nicht, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Ihm geht es darum, schwache Punkte des Gegners zu entdecken, mit dem sich die Ptho rer bald werden messen müssen. Während sich die Bewohner Pthors unter des Arkoniden Führung so gut wie mög lich für die kommende Auseinandersetzung zu wappnen versuchen, nähert sich ne ben Pthor auch das Raumschiff Algonkin-Yattas, des kosmischen Kundschafters, der Schwarzen Galaxis. Algonkin-Yatta, der Mathoner, gerät in den Sog der Schwarzen Galaxis und wird zum BOTSCHAFTER DER ZEIT …
Botschafter der Zeit
3
Die Hautpersonen des Romans:
Algonkin-Yatta - Der kosmische Kundschafter im Vorfeld der Schwarzen Galaxis.
Anlytha - Algonkin-Yattas exotische Begleiterin.
Athork-Taerant und Hulk-Breeverth - Torzaganer, die sich gegen eine Invasion auflehnen.
Duquor-Quo-Moquu - Kommandant der Kurromors.
1. DIE KRISTALLEBENE Die Arbeit der Aggregate innerhalb des Kundschafterschiffs wurde hörbar. Das war an sich schon außergewöhnlich, aber noch außergewöhnlicher war es, daß sich diese Geräusche innerhalb weniger Sekunden ver änderten. »Das sind Akkorde!« rief Algonkin-Yatta. »Was bedeutet das, Psiotronik?« »Es ist der Atem der Zeit«, antwortete die Psiotronik. »Er durchweht das Schiff und läßt es aufsteigen bis zu dem Punkt im Zeit strom, den du durch die Programmierung festgelegt hast, Kundschafter.« »Wenn ich Poesie hören will, spiele ich die Kopien altterranischer Werke ab«, er klärte Algonkin-Yatta. »Von einer Psiotro nik erwarte ich logisch fundierte Antwor ten.« »Die logisch fundierten Antworten wür dest du nicht verstehen«, erwiderte die Psio tronik, »deshalb gab ich dir eine brauchbare Antwort. Damit sie gefälliger klänge, kleide te ich sie in eine romantische Hülle.« Anlytha, die rätselhafte Begleiterin Al gonkin-Yattas, zwitscherte belustigt. »Genauso verfahren die Terraner, wenn sie Waren verkaufen wollen«, sagte sie. »Sie können einen Hauttönungsspray im Werte von fünf Soli so verpacken, daß es wie ein Luxusartikel im Wert von neunzig Solar aussieht.« Der Kundschafter blickte abwechselnd zu seiner kleinen Begleiterin mit der porzel langlatten fliederfarbenen Haut und dem weißen Federkamm auf dem haarlosen Kopf und zu der transparenten Kugel mit dem plasmaartig »fließendem« Glitzern darin, das nicht etwa ein einzelnes Lebewesen war,
sondern die Delegation einer so fremdarti gen Lebensform, daß eine Kommunikation nur durch die Psiotronik als dem vermittelnden Element möglich war. »Ich bin irritiert, Chairade«, sagte er. »Wir stehen vor der Premiere eines neuarti gen Zeitversetzers, der von dir und MYO TEX gemeinsam von den Funktionsprinzipi en der Zeitkapsel abgeleitet, konstruiert und gebaut worden ist – und mein Bordcomputer sowie Anlytha ergehen sich in witzlosen Plattheiten.« »Ich bin keineswegs ein Bordcomputer!« protestierte die Psiotronik. »Importierte Be griffe treffen auf die Technologie von MYOTEX nicht zu.« »Ich weiß, dein Kernspeicher besteht aus psionischen Kristallstrukturen«, erwiderte der Kundschafter. »Eben deshalb hielt ich dich bis vor kurzem für hochwertiger als einen Computer.« Er blickte spöttisch lä chelnd in das »Zyklopenauge« der Psiotro nik. »Aber ich habe mich wohl geirrt.« »Wahrscheinlich handelt es sich bei den Fehlreaktionen der Psiotronik um die Aus wirkung eines schwachen Modulationsfelds, das vom Zeitversetzer ausgeht, bevor er pro grammiert wird«, sagte Chairade mit der hellen Stimme, die die Psiotronik ihr gelie hen hatte. »Und bei Anlythas Fehlreaktionen?« er kundigte sich Algonkin-Yatta, während er mit der rechten Hand über die farbigen Lini en fuhr, die sich scheinbar sinnlos kreuz und quer über die Oberfläche der langsam rotie renden Programmierungskugel zogen. »Ich programmiere unsere Zeitversetzung, damit das Theater aufhört.« »Anlythas Reaktionen entsprachen ihrer Mentalität, Kundschafter«, teilte Chairade mit. »Da hat sich nichts verändert.« Die Zeitschaltlinien leuchteten auf, wenn
4
H. G. Ewers
Algonkin-Yattas Hand sie berührt hatte. Als der Kundschafter die Hand zurückzog, blitz ten überall auf der Kugeloberfläche goldfar bene Lichtpunkte auf. Statt der dumpf hal lenden Schläge, die bei Abschluß der Pro grammierung innerhalb der Zeitkapsel ertön ten, kündigte auf der RUORYC ein Pfeifsi gnal die Zeitversetzung an. In der nächsten Sekunde legte sich ein Schleier um das Kundschafterschiff. Dahin ter waren undeutliche Bewegungen zu er kennen, die immer schneller abliefen … Das Kundschafterschiff befand sich auf dem Weg in die Zukunft – in die relative Zukunft, denn, so absurd das klang, diese Zukunft lag tief in ihrer realen Vergangen heit, in die sie nach langer Irrfahrt durch das Labyrinth der Dimensionskorridore ver schlagen worden waren.
* Die goldfarbenen Lichtpunkte erloschen, die um die RUORYC kreiselnden Schleier lichteten sich, dann lösten sie sich allmäh lich auf. Das Schiff bewegte sich nicht län ger aktiv durch die Zeit, sondern ließ sich passiv von der Zeit tragen. Auf den Bildschirmen in der Zentrale des Kundschafterschiffs war der von glitzernden Punkten und hellen Nebelstreifen übersäte Weltraum zu sehen. Der Stern mit der scheinbar größten Helligkeit mußte die gel be Sonne Punark sein, dann war die düstere Halbkugel, die sich unter der RUORYC wegdrehte, der neunte Planet Punarks. Algonkin-Yatta setzte mit voll aktiviertem Ortungsschutz zur Landung an, bevor die Psiotronik ihm die Richtigkeit seiner Über legungen bestätigt hatte. Er verließ sich nicht darauf, daß die Invasoren, die zu dieser Zeit im Punark-System sein mußten, keine Möglichkeit besaßen, den Ortungsschutz des Kundschafterschiffs zu durchbrechen. Algonkin-Yatta mußte darauf verzichten, die Ortungsgeräte seines Schiffes einzuset zen, denn auftreffende Ortungsimpulse konnten auch von einem Gegner registriert
werden, der keine gleichwertigen Ortungs geräte besaß. »Der Planet ist ja riesig«, sagte Anlytha, als die Entfernungsmesser eine Distanz von 100 000 Kilometern anzeigten und der Pla net bereits alle Subbildschirme ausfüllte. »Fast so groß wie der solare Saturn, aber ohne dessen Ringsystem«, erklärte der Kundschafter. »Früher muß er eine dichte gasförmige Atmosphäre besessen haben. Heute ist er allerdings kalt. Die Atmosphäre hat sich als Eis niedergeschlagen.« Anlytha preßte ihre Nase gegen einen der Subbildschirme. »Wo ist eigentlich das Edelsteinfeld, das du mir versprochen hast, Yatta?« fragte sie ungeduldig. »Oder hast du mir etwas vorge flunkert? Ach, nein, du kannst ja gar nicht lügen. Also, wo ist es?« »Du wirst es gleich sehen, Lytha«, ant wortete Algonkin-Yatta schmunzelnd. »Aber ich sprach nicht von einem Edelstein feld, sondern von einem Eisfeld, dessen Kri stalle den Anschein erwecken, als funkelten dort Milliarden Edelsteine.« Er schaute auf die Anzeigen und sah, daß die Höhe der RUORYC nur noch zehntau send Kilometer betrug. Das elliptische Schiff sank auf eine Bergkette zu, deren eis gefüllte Täler im schwachen Schein Punarks wie gefrorene Milch aussahen. In wenigen hundert Kilometern Höhe schwebte es über die nördlichen Ausläufer und sank dann langsam auf den südlichen Rand einer scheinbar unendlich großen Ebene zu, deren Oberfläche wie ein Kristallspiegel blinkte. »Oh!« rief Anlytha, dann schaute sie wie gebannt auf die Kristallstöcke, die gleich Korallenriffen dicht unter der Oberfläche – in diesem Fall eines gefrorenen Meeres – la gen und in vielfältigem Farbenspiel glitzer ten und funkelten. »Nun, habe ich dir zuviel versprochen, Lytha?« fragte der Kundschafter. Anlytha sprang aus ihrem Sessel und tanzte jubelnd durch die Zentrale. »Ich stufe das Verhalten Anlythas als Er regung ein«, meldete sich die Kunststimme
Botschafter der Zeit Chairades. »Darf ich erfahren, welchen Grund diese Erregung hat, Kundschafter?« Anlytha brach ihr Jubilieren ab und blieb stehen. »Welchen Grund diese Erregung hat!« äffte sie die helle Kunststimme nach. »Siehst du nicht diese Herrlichkeit dort? Bei ihrem Anblick muß es einem entweder den Atem verschlagen oder das Herz öffnen und die Zunge lockern.« »Ich weise darauf hin, daß Chairade we der atmet, noch Herz oder Zunge besitzt, Anlytha«, meldete sich die Psiotronik. »Larifari!« erwiderte Anlytha. »Es spielt doch keine Rolle, auf welche Organe sich die Freude auswirkt. Wer Augen besitzt, um zu sehen …« Sie verstummte verlegen. »Eben«, sagte Algonkin-Yatta. »Chairade besitzt auch keine Augen in unserem Sinn. Immerhin kann sie wahrnehmen.« »Das ist richtig«, sagte Chairade. »Inzwischen habe ich auch begriffen, wel chen Grund Anlythas Erregung hat.« Anlytha zwitscherte erleichtert. »Na, also!« sagte sie. »Es hätte mich auch gewundert, wenn ausgerechnet du nicht fä hig sein solltest, Schönes zu erkennen.« Das Kundschafterschiff landete auf der riesigen Eisfläche. »Was ist das: ›Schönes?‹« fragte Chaira de. »Wenn etwas akustisch oder optisch oder hautsensorisch Emotionen hervorruft, die ei ne positive Stimmungslage des Individuums und eine Optimierung seiner Vitalität erzeu gen, dann nennen wir es etwas ›Schönes‹«, antwortete Algonkin-Yatta. »Beispielsweise das Anschauen und Be fühlen von Geschmeide«, warf Anlytha ein. »Das Abtasten eines abstrakten Schalt bilds?« fragte Chairade. »Das ist für dich etwas Schönes?« erkun digte sich Algonkin-Yatta. »Ja«, antwortete Chairade. »Für euch nicht, Algonkin-Yatta?« »Nein, für uns nicht«, erwiderte der Kundschafter. »Aber ich kann verstehen, daß andere Wesenheiten andere Auffassun
5 gen von Schönheit haben als wir. Für mich ist das ungeheuer interessant. Ich könnte ta gelang Informationen mit dir darüber aus tauschen, wenn wir soviel Zeit hätten.« Er lächelte. »Seltsame Worte für einen Zeitrei senden, aber auch mit einer Zeitmaschine kann man den Ablauf der Zeit nicht anhalten – und was vorbei ist, ist vorbei.« »Du kannst nicht zweimal die gleiche Zeitspanne durchleben, Kundschafter?« fragte die Psiotronik. Algonkin-Yatta schüttelte den Kopf. »MYOTEX hat mir das erklärt, bevor wir starteten«, erklärte er. »Es läßt sich schwer verstehen, aber niemand und nichts kann zweimal in einer identischen Zeitspanne exi stieren. Der Versuch, das herbeizuführen, müßte bei einem Erfolg mit einem Parado xon enden, das den Erfolg zunichte machte, bevor er in Erscheinung treten könnte. Das Optimum, das sich erreichen läßt, ist eine Parallelexistenz, also praktisch eine Doppe lexistenz auf zwei parallelen Zeitspannen, die sich so nahe kommen, daß es zu Halluzi nationskontakten zwischen den beiden Exi stenzen kommt, die sich in Ausnahmefällen so auswirken können, als hätten sie tatsäch lich stattgefunden.«
* Nachdem die passiven Ortungssysteme des Kundschafterschiffs fast zwei Stunden lang vergeblich den interplanetarischen Raum des Punark-Systems abgesucht hatten, meinte Anlytha: »Warum sind wir eigentlich in dieser Zeit aufgetaucht, wenn es hier noch gar keine In vasoren gibt?« »Begreifst du nicht, daß wir nicht in der Zeit vor der Invasion auftauchen konnten, Anlytha?« erwiderte Algonkin-Yatta. »Dort war ich bereits mit der Zeitkapsel. Deshalb kann ich nicht noch einmal in diese Zeit. Ich hatte die Zeitsteuerung meines Schiffes so eingestellt, daß wir ein paar Tage nach dem Abbruch meines letzten Besuchs materiali sierten. Die Invasion müßte also in vollem
6 Gange oder erfolgreich abgeschlossen sein.« »Aber es steht fest, daß es keine Aktivitä ten von Invasoren im Punark-System gibt«, warf die Psiotronik ein. »Welche normalen Aktivitäten gibt es denn auf dem vierten Planeten?« fragte der Kundschafter. »Die Aktivitäten einer leistungsfähigen Industrie«, antwortete die Psiotronik. »Allerdings gibt es zwischen Xuverloth und dem fünften Planeten sowie Nummer sechs und sieben so gut wie keinen Hyperfunkver kehr und überhaupt keinen Schiffsverkehr. Der Hyperfunkverkehr beschränkt sich auf die zu Piepsern zusammengepreßten und zu dem kodierten Richtfunk-Impulsgruppen.« »Also sind sich die Torzaganer der Anwe senheit eines Feindes wohl bewußt«, meinte Anlytha. »Aber wo steckt dieser Feind?« rief Al gonkin-Yatta. »Er war doch mit rund zehn tausend Großraumschiffen da.« »Warum räumt ihr nicht die Möglichkeit ein, daß die Flotte der Invasoren geschlagen und vertrieben wurde?« sagte die Stimme von Chairade. »Sie erschien mir gegenüber den Torzaga nern überlegen«, antwortete Algonkin-Yatta – und begriff im nächsten Augenblick, daß das kein Argument war, da seine Behaup tung jeder Grundlage entbehrte. »Es tut mir leid«, sagte er. »Aber ich habe etwas nach seinem Aussehen beurteilt und es danach in eine Relation zu den Machtmit teln der Torzaganer gestellt, ohne diese Machtmittel überhaupt zu kennen.« »Aber du hattest doch die Torzaganer vor her lange genug beobachtet«, wandte Anly tha ein. Der Kundschafter schüttelte den Kopf. »Die letzten fünfzig Jahre hatte ich ausge lassen«, erwiderte er. »Das heißt, eigentlich waren es nur siebenundvierzig, denn die Zeitschaltlinien der Kapsel ließen sich ein fach nicht auf eine Versetzung um fünfzig Jahre programmieren …« »Warum nicht?« fragte Chairade. »Gab es äußere Einflüsse?«
H. G. Ewers »Der Kundschafter äußerte zur Psiotronik der Kapsel die Vermutung, man wäre sich selbst im Wege gewesen«, sagte die Schiffspsiotronik. »Sich selbst im Wege gewesen?« sagte Anlytha erschrocken. »Aber das könnte er doch nur, wenn er in eine Relativzukunft kommt, in der er schon einmal war!« »Eines scheint festzustehen«, erklärte Chairade. »Wir stehen davor, ein Zeitpara doxon zu verursachen.« »Das aber noch nicht verursacht ist«, sag te der Kundschafter. »Das aber dennoch eine gewisse Zeit spanne blockiert hat, nämlich die zwischen dem Zeitpunkt, zu dem du zuletzt umkehr test und dem, zu dem wir hier eintrafen«, ließ sich Chairade vernehmen. »Ich warne davor, überhaupt etwas zu unternehmen.« Algonkin-Yatta überlegte lange, dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Ich bin Kundschafter, und ich muß her ausbekommen, mit welchen Mitteln die Herrschenden der Schwarzen Galaxis sich ihre vorgeschobenen Bastionen in den Kleingalaxien rund um das Unsichtbare schaffen. Notfalls gehe ich allein. Aber ich wäre natürlich sehr froh, wenn du mich be gleiten würdest, Chairade.« »Ich werde dich begleiten, Kundschafter«, erklärte Chairade. »Aber warum, wenn es verhängnisvolle Folgen haben kann?« wollte die Psiotronik wissen. Von den Kristallriffen unter dem Eis schossen vielfarbige helle Lichtspeere nach oben und verloren sich im hellen Raum. Die aus gefrorener Energie bestehende glasgrüne Außenhülle der RUORYC wurde zum Leuchten angeregt. Sekunden später war al les wieder wie zuvor. »Warum leuchten die Kristalle von Zeit zu Zeit?« fragte Algonkin-Yatta. »Ich weiß es nicht«, antwortete die Psio tronik. »Es liegen keine Informationen dar über vor.« Algonkin-Yatta lächelte rätselhaft. »Das ist das gleiche Motiv, das mich
Botschafter der Zeit
7
treibt, mich über die Geschehnisse dieser Zeit zu informieren.«
2. LAUTLOS WIE DER TOD Die Zeitkapsel bewegte sich mit winzigen Zeitsprüngen in Richtung Relativzukunft. Nach jeder Materialisation arbeiteten die Or tungsinstrumente auf Hochtouren – und nach dem fünften Zeitsprung wurden sie fündig. Auf der Oberfläche des dritten Planeten entfalteten sich starke energetische Aktivitä ten. Die Auswertungen der Kapsel-Psio tronik zeigten dem Kundschafter, daß es sich um Energien handelte, die charakteri stisch für die Impulsmotoren jener Delta schiffe waren, mit denen die Invasoren aus der Schwarzen Galaxis gekommen waren. »Die Invasoren müssen sich bis jetzt unter der dichten Atmosphäre des unbewohnten dritten Planeten versteckt gehalten haben«, klärte er Chairade, die in der Aufenthaltsku gel auf ihrem Versorgungssockel schwebte. »Jetzt starten sie offensichtlich. Ich schlage vor, wir landen auf dem fünften Planeten, der von Xuverloth aus besiedelt worden ist. Von dort aus können wir die Aktionen der Deltaschiffe verfolgen und können nicht von ihnen geortet werden.« »Besteht dabei nicht die Gefahr, daß die Torzaganer uns bei der Landung auf dem fünften Planeten orten?« fragte Chairade. »Nein«, antwortete der Kundschafter. »Ich weiß, daß sie nichts haben, was unseren Ortungsschutz durchdringt. Die Invasoren wahrscheinlich auch nicht, aber das weiß ich noch nicht. Bist du einverstanden, daß wir so vorgehen?« »Du benötigst meine Zustimmung nicht, denn ich bin nur Gast«, erwiderte Chairade. Algonkin-Yatta schaute auf die Plasma schleier in der Kugel, beobachtete das unter schiedlich helle Leuchten darin und lächelte. »Ich habe dich von Anfang an als mein Partner angesehen«, erklärte er. »Also wer den wir gemeinsam entscheiden, wie wir
vorgehen. Ich hoffe, du lehnst nicht ab.« »Ich nehme die Partnerschaft an und bin mit deinem Vorschlag einer Landung auf Planet fünf einverstanden«, sagte Chairade. Auch in der Zeitkapsel wurde die Kommuni kation zwischen ihr und dem Kundschafter erst durch die Psiotronik ermöglicht. Algonkin-Yatta nickte und nahm Kurs auf den fünften Planeten. »Die Torzaganer haben ihn übrigens Dra verloth genannt«, sagte er und meinte damit den fünften Planeten. »Den sechsten Plane ten nennen sie Gnoderloth.« Als die Zeitkapsel in eine Kreisbahn um Draverloth einschwenkte, erfaßten die Or tungsinstrumente die ersten Deltaschiffe der Invasoren, die die Atmosphäre des dritten Planeten verließen. Noch war nicht zu er kennen, welchen Kurs sie von dort aus ein schlagen wollten. Der Kundschafter konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die Oberfläche des fünften Planeten. Als er damals den Beginn der Invasion beobachtete, hatte er keine Zeit gehabt, sich um die Verhältnisse auf Draver loth zu kümmern. Er wußte nur, wie es hier vor rund sechzig Jahren ausgesehen hatte. Und er stellte fest, daß die Torzaganer weitere Fortschritte erzielt hatten. Die Eis brocken, die er damals teils beim Transport aus dem Ringsystem des siebten Planeten und teils kurz nach der Anlandung auf Dra verloth beobachtet hatte, waren zu zwei Dritteln geschmolzen. Das Schmelzwasser bildete große, aber flache Seen, an deren Ufern die Siedler ihre auch für Xuverloth ty pischen Lagunenstädte gebaut hatten, ein kompliziertes System von tief im Grund ver ankerten massiven Tunnels, in denen die Siedler genauso wohnten wie in den von ih nen aus über die Wasseroberfläche aufstre benden abgerundeten Kegeln. »Die Torzaganer sind ausgesprochen friedliche Wesen«, sagte Algonkin-Yatta im Selbstgespräch. »Woran erkennst du das, Algonkin-Yat ta?« fragte Chairade. »Sie besaßen vor dem Auftauchen der In
8 vasoren keine Raumabwehrforts«, antworte te der Kundschafter. »Jetzt haben sie wel che, aber das ringsum lagernde ausgeschach tete Erdreich ist noch frisch und kaum be wachsen. Die Bauten wirken improvisiert, und überall wird noch an ihrer Fertigstellung oder an neuen Abwehrforts gearbeitet. Man hat auch im freien Gelände Werftkonstruk tionen errichtet, in denen offenbar kleine wendige Raumjäger gebaut werden sollen. Aber kein Jäger ist vorerst mehr als ein Ske lett aus Verstrebungen, die erst noch zusam mengeschweißt werden müssen. Niemand arbeitet dort. Das bedeutet, daß die Siedler mit dem Bau anfingen, bevor die konstrukti onsmäßigen Bedingungen dafür vorhanden waren. Sie stecken irgendwie in einer Sack gasse.« »Deltaschiffe der Invasoren versammeln sich hoch über dem dritten Planeten«, mel dete die Psiotronik. »Bisher sind es etwas über dreitausend, aber es kommen ständig weitere Schiffe aus der Atmosphäre.« Algonkin-Yatta quittierte die Meldung nur mit einem Nicken. Seine Aufmerksam keit galt weiterhin ungeteilt der Oberfläche von Draverloth. »Dort unten hat man Alarm gegeben«, sagte er zu Chairade. »In den Raumabwehr forts rennen die Soldaten plötzlich wild durcheinander.« Er kniff die Augen zusammen und richte te einen überlichtschnellen Ortungsstrahl auf eine der riesigen, spinnwebhaften Antennen, die über stählerne Schalengerüste gespannt waren und vor einigen Sekunden angefan gen hatten, sich zu drehen. »Was könnte das sein?« fragte Chairade, die über die Psiotronik von allen Ortungser gebnissen unterrichtet wurde. »Noch emittieren die Antennen nichts«, erklärte Algonkin-Yatta. »Aber sie drehen sich so, daß sie auf die Stelle im Raum zei gen, an der sich die Invasionsflotte sammelt. Ich nehme deshalb an, daß sie der Abwehr der Invasoren dienen sollen.« »Ich schlage vor, daß wir landen, Kund schafter«, sagte die Psiotronik.
H. G. Ewers »Warum?« fragte Algonkin-Yatta. »Wenn die Antennen in Aktion treten, könnten ihre Strahlungen die Zeitkapsel tref fen«, antwortete die Psiotronik. »Und die Schutzschirme der Zeitkapsel sind erheblich schwächer als die des Kundschafterschiffs.« »Sie werden nicht viel aushalten müssen«, meinte Algonkin-Yatta. »Soeben sind die Hauptkraftwerke der Antennen angelaufen, so daß ich ihre Leistungskapazität ausloten konnte. Sie ist so gering, daß die von den Antennen abgestrahlte Energie die Zeitkap sel nicht einmal dann beschädigen könnte, wenn wir die Schutzschirme nicht aktivier ten.« »Soll ich sie nicht aktivieren?« fragte die Psiotronik. »Doch«, erwiderte der Kundschafter. »Wir werden kein unnötiges Risiko einge hen.«
* »Siebentausendvierhundertdreißig Delta schiffe«, meldete die Psiotronik. »Und der Nachschub hat aufgehört.« »Da fehlen ja fast zweieinhalbtausend Schiffe«, sagte Algonkin-Yatta verwundert. »Denkst du, sie könnten auf dem dritten Pla neten als Reserve zurückgeblieben sein?« »Das halte ich nicht für sehr wahrschein lich«, sagte die Psiotronik. »Eine Reserve muß schnell verfügbar sein; das ist sie aber nicht, wenn sie mit stillgelegten Triebwer ken auf der Oberfläche eines Planeten steht.« »Vielleicht sind die fehlenden Schiffe beim ersten Angriff der Invasoren von den Torzaganern abgeschossen worden«, meinte Chairade. »Selbst wenn sie alle explodiert wären, gäbe es Tausende Tonnen von Trümmern und außerdem die expandierende oder sich auflösende Gaswolke, die sich durch ihre höhere Teilchenzahl pro Kubikzentimeter von der Umgebung unterscheidet«, erwider te Algonkin-Yatta. »Beides hätten wir längst geortet. Im Raum des Punark-Systems ist
Botschafter der Zeit während des letzten Jahres kein Raumschiff vernichtet worden.« »Aber du mußt zugeben, daß es immerhin einige Ungereimtheiten gibt, Kundschafter«, warf die Psiotronik ein. »Möglicherweise verfügen die Torzaganer über eine Waffe, an die wir nicht denken, weil wir noch nie einer solchen begegnet sind.« »Möglich ist alles«, meinte der Kund schafter. Danach aß er eine Kleinigkeit, denn er rechnete damit, daß er dazu später, wenn die Invasion lief, nicht dazu kommen würde. Unterdessen beschleunigten die schwarzen Deltaschiffe. Dennoch blieb ihr Kurs sowohl für die Psiotronik als auch für Algonkin-Yat ta ein Rätsel. Sie zielten mit ihren halbku gelförmigen Bugspitzen weit an Xuverloth vorbei. Am ehesten hätten sie mit ihrem Kurs noch den äußersten Planeten meinen können, aber der Kundschafter vermochte sich nicht vorzustellen, was sie auf dieser luftleeren und gefrorenen Welt wollten. Ihm kam bereits eine Ahnung, als die Flotte der Invasoren nach kurzem Hyper raumflug wieder im Normalraum erschien. Da befand sie sich noch weiter von Xuver loth entfernt als direkt nach ihrem Start. Sie schwebte fast genau in der Mitte zwischen der Umlaufbahn des fünften und sechsten Planeten. »Sie wollen hierher!« rief der Kundschaf ter, nachdem ein Teil der Flotte wieder Fahrt aufgenommen hatte. »Zweitausend Schiffe haben Kurs auf Draverloth genommen«, meldete die Psio tronik wenig später. »Das Gros der Invasi onsflotte bezieht Warteposition.« »Sie wagen sich aus irgendeinem Grunde nicht an Xuverloth heran«, sagte Algonkin-Yat ta. »Und auch an Draverloth gehen sie nur zögernd heran. Mir scheint, sie haben bereits schlechte Erfahrungen gemacht und wollen verhindern, daß sie alle Schiffe verlieren, die ihnen von der gesamten Flotte geblieben sind.« »Aber du sagtest doch, im Punark-System sei während des letzten Jahres kein Raum
9 schiff vernichtet worden«, warf Chairade ein. »Das ist eine Tatsache«, erklärte Algon kin-Yatta. »Aber vielleicht wurden die feh lenden Schiffe irgendwie aus dem PunarkSystem beziehungsweise aus unserem vier dimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum hin ausbefördert und …« Er stutzte, als er sah, daß die Psiotronik einen Bildschirm auf Ausschnitt-Vergrö ßerung schaltete und eines der schwarzen Deltaschiffe »heranholte«. »Das ist ja gar keines der Schiffe, die da mals ins Punark-System einflogen!« entfuhr es ihm. »Psiotronik, können wir in eine Par allelzeit geraten sein, in der sich parallele, aber nicht absolut identische Ereignisse ab spielen?« »Dafür gibt es keine Beweise«, antwortete die Psiotronik. »Siehst du denn nicht, daß diese Schiffe von einem silbergrauen Gespinst eingehüllt sind, während die zuvor beobachteten nur eine absolut glatte schwarze Außenhaut be saßen?« rief der Kundschafter. »Wir befinden uns noch in unserer Zeit phase«, sagte Chairade. »Ich weiß das, wenn ich auch keine Möglichkeit habe, es dir zu erklären, Algonkin-Yatta.« »Ich glaube es dir«, versicherte der Kund schafter. »Aber warum haben die Invasoren ihre Schiffe mit diesem Gespinst überzo gen?« »Ich habe die Schutzschirme eingeschal tet, da die Antennen Strahlung aussenden«, erklärte die Psiotronik. »Achtung, ein Teil der Strahlung geht durch die Schirme. Aller dings ruft er keine Beschädigungen am Schiff hervor.« »Ich werde mir mal ansehen, wie die Strahlung auf die Schiffe der Invasoren wirkt«, sagte Algonkin-Yatta und streckte eine Hand nach einer Schaltkonsole aus. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Er runzelte die Stirn, schaute zuerst auf seine halb ausgestreckte Hand und danach auf die Schaltkonsole, dann schüttelte er den Kopf. »Psiotronik, aktiviere du den Bildabtaster
10 und die Teleprojektion!« sagte er. »Ich weiß plötzlich nicht mehr, welche Schaltungen ich wie vornehmen muß, um … Oh, ver dammt, daran muß diese Strahlung schuld sein!« Die unsichtbar in der Kapsel verteilten Schallfeldprojektionen gaben ein Durchein ander unzusammenhängender und sinnloser Laute von sich. Mit Schrecken erkannte Al gonkin-Yatta, daß die Psiotronik genauso unter der Strahlung litt wie er. Nur konnte er sich wenigstens sprachlich mitteilen. Das war der Psiotronik unmöglich, weil sie im Unterschied zu ihm dazu Schaltungen hätte aktivieren müssen, an die sie sich nicht mehr erinnerte. »Wir müssen landen!« sagte er und wußte doch im gleichen Augenblick, daß das un möglich war. Und ihm wurde klar, warum der erste An griff der Invasoren fehlgeschlagen war und warum sie diesmal so vorsichtig vorgingen. Nur hatten sie sich – im Gegensatz zu ihm – zu helfen gewußt, oder jedenfalls die mei sten von ihnen. Er aber konnte überhaupt nichts tun. Ihm war die Erinnerung an die primitivste Schaltung abhanden gekommen. Er hätte nicht einmal gewußt, wie man sich ausschleust. Wieso eigentlich nicht …? Algonkin-Yatta sah sich wenige Sekun den lang verständnislos um. Auf den Bild schirmen dehnte sich ein transparentes Flim mern nach allen Seiten bis in die Unendlich keit aus. Manchmal schien es dem Kund schafter, als formte sich etwas in diesem Flimmern – beziehungsweise, als wollte sich etwas Undefinierbares formen. Aber nie kam es über eine Andeutung hinaus. »Sind wir in einer Zeitnische?« fragte Al gonkin-Yatta. »Das ist richtig«, antwortete Chairade. »Wir befinden uns zwischen drei bis neun Sekunden in der Zukunft. Genau kann ich es nicht sagen, da ich nur die Anregung zur Schaffung unserer Zeitblase gab. Geschaffen hat sie das Zeitaggregat dieser Kapsel – und es hält sie auch aufrecht.«
H. G. Ewers »Weißt du jetzt, warum die Invasoren ihre Schiffe mit einem silberfarbenen Netz um sponnen haben, Kundschafter?« fragte die Psiotronik. »Sind deine Erinnerungen an technische Details auch wieder da?« »Vollkommen«, antwortete Algonkin-Yat ta. »Nur nützen sie mir hier nichts. Hier gibt es weder Deltaschiffe noch einen Planeten, auf dem wir landen könnten.« »Wozu brauchen wir reale Objekte, wenn wir Daten haben, die genauso präzise sind?« erkundigte sich die Psiotronik. »Ich habe un sere Kreisbahnwerte ebenso gespeichert wie die Daten der Atmosphäre und die Schwer kraft von Draverloth. Folglich brauche ich daraus nur die Daten für eine glatte Landung auszurechnen und das betreffende Pro gramm zu realisieren. Akzeptiert, Kund schafter?« »Nicht akzeptiert«, widersprach Algon kin-Yatta. »Für uns, das heißt innerhalb der Zeitblase, existiert die Schwerkraft Draver loths nicht. Du kannst uns folglich nicht un ter Berücksichtigung einer Schwerkraft lan den, die es nicht gibt.« »Es gibt diese Schwerkraft aber«, warf Chairade ein. »Und sie wird auf uns einwir ken, sobald wir die Zeitnische verlassen, was wir in einigen hundert Metern über der Planetenoberfläche tun müssen, um nicht mit einem hohen Bauwerk zusammenzusto ßen. Hätten wir dann vorher die Schwerkraft nicht berücksichtigt, würden wir die Auswir kungen nachträglich spüren – und zwar in Form einer ziemlich harten Landung.« »Ich wollte, ich hätte diese Zeitkapsel nie mals zu Gesicht bekommen!« rief der Kund schafter verzweifelt. »Man sollte niemals zu neugierig sein!« »Wie wolltest du dann Atlan suchen und finden?« fragte die Psiotronik. »Das stimmt auch wieder«, erklärte Al gonkin-Yatta. »Also, dann gehe so vor, wie du es für richtig hältst, Psiotronik!«
* Auf den Kontrollen sah Algonkin-Yatta,
Botschafter der Zeit daß die Psiotronik ein Landemanöver einge leitet hatte. Es wirkte irgendwie gespen stisch, daß sich die Zeitkapsel anschickte, auf einem Planeten zu landen, der in der Re lativvergangenheit hinter ihnen her hinkte. »Die Invasoren haben also beim ersten Angriff eine Niederlage erlitten, weil die Torzaganer ihre Schiffe mit einer Strahlung überschütteten, die den Besatzungen die Fä higkeit raubte, sie zu kontrollieren«, über legte der Kundschafter laut. »Mit Hilfe ihrer Automatiken, die nicht so empfindlich wa ren wie die Psiotronik, gelang es ihnen je doch, sich auf den dritten Planeten zurück zuziehen. Dennoch muß es Pannen und harte Notlandungen, vielleicht sogar Abstürze ge geben haben. Das erklärt die fehlenden Raumschiffe. Unter der dichten Atmosphäre des dritten Planeten reparierten die Invaso ren dann den größten Teil ihrer Schiffe und überzogen sie mit den silberfarbenen Net zen, um die schädliche Strahlung abzuweh ren. Sie waren sich ihrer Sache aber nicht si cher, deshalb griffen sie diesmal nicht Xu verloth an, sondern Draverloth, wo sie weni ger Gegenwehr vermuteten. Ich hoffe nur, ihre Netze haben ihnen nichts genützt.« Das Flimmern um die Zeitkapsel erlosch. Relativvergangenheit und Relativzukunft trafen sich in ein- und derselben Phase wie der. Algonkin-Yatta erschrak, als er auf den Bildschirmen sah, daß die Deltaschiffe der Invasoren bereits in die Atmosphäre einge drungen waren. Drohend und lautlos wie schwarze dreieckige Schatten schwebten sie in der Lufthülle. Ab und zu blitzte es an ih nen auf, dann flammten gleichsam als Wi derschein blaue Feuer an der Oberfläche des Planeten und fraßen die riesigen Antennen der Beeinflussungsstrahler sowie die Raum abwehrforts. Doch viele der Raumabwehrforts konnten das Feuer noch erwidern. Scharf gebündelte Energiestrahlen zuckten in den Himmel. Wo sich mehr als hundert auf ein Ziel vereinigen konnten, brachen die Schutzschirme von Deltaschiffen zusammen und wurden die
11 Schiffe selbst zu glühenden Schutthaufen. Tausende von Raketen jagten den Invasoren entgegen. Sie erreichten praktisch nichts, denn sie wurden von den überlichtschnellen Tasterstrahlen der Deltaschiffe erfaßt und von Energiestrahlen in atomare Glutbälle verwandelt, die weit vor ihren Zielen expan dierten. Während die ersten paar hundert Delta schiffe in der Nähe der Städte landeten, kämpften die oberhalb der Atmosphäre flie genden anderen Schiffe die letzten Abwehr stellungen der Torzaganer nieder. Algonkin-Yatta wartete darauf, ob die In vasoren die Zeitkapsel trotz ihres Ortungs schutzes entdeckten. Aber niemand küm merte sich um sie. Ein Deltaschiff landete sogar nur drei Kilometer von der Zeitkapsel entfernt. In zirka fünf Kilometern Entfer nung ragten die Bauten der nächsten Lagu nenstadt auf. Zunächst blieb alles ruhig, so daß der Kundschafter Muße hatte, die Deltaschiffe genauer zu mustern. Er sah, daß es zahlrei che verschiedenartige Auswüchse auf der Oberfläche gab. Einige davon waren Waf fenkuppeln; bei vielen anderen ließ sich ihr Zweck noch nicht erkennen. An den beiden Seitenflächen verrieten haarfeine Linien eine große Anzahl unterschiedlich großer Schleu senschotte. Die Torzaganer von Draverloth rührten sich ebenfalls nicht. Die Unwirksamkeit ih rer Hauptabwehrwaffe hatte ihnen vermut lich einen Schock versetzt. Algonkin-Yatta war froh darüber, denn Gegenwehr wäre wahrscheinlich einem Selbstmord gleichge kommen. Fast zwei Stunden verstrichen völlig er eignislos. Schon gab sich Algonkin-Yatta zeitweilig der Illusion hin, die Fremden in den Deltaschiffen würden sich damit begnü gen, ihre Schiffe auf Draverloth zu stationie ren und vielleicht einen entsprechenden Ver trag mit den Kolonisten von Xuverloth aus handeln, da öffneten sich plötzlich zahlrei che Schotte in den Seitenflächen des Delta schiffs.
12 Nahezu lautlos schwebten Hunderte von Gestalten in dunkelgrauen wulstförmigen Raumschutzanzügen aus den trüb beleuchte ten Öffnungen und landeten auf dem Boden. Erst ihre Lautlosigkeit ließ dem Kundschaf ter rückwirkend auffallen, daß auch die Del taschiffe geräuschlos gelandet waren. »Ausschnittvergrößerung Einzelobjekt!« befahl Algonkin-Yatta der Psiotronik. Wenig später sah er auf einem der Bild schirme einen der Invasoren. Er schätzte ihn auf etwa menschengroß, sah, daß er aufrecht auf zwei Beinen ging und auch zwei Arme besaß, die aus breiten Schultern ragten. Wenn ihre Schutzanzüge nicht ungewöhn lich dick waren, dann waren die Invasoren erheblich massiger gebaut als Menschen. Durch das transparente Material des Ku gelhelms hindurch erkannte der Kundschaf ter ein breites erdbraunes Gesicht mit zwei weit hervortretenden gelben Augen, eine platte und breite Nase und einen breiten schmallippigen Mund. »Was sagst du dazu, Chairade?« fragte Algonkin-Yatta. »Du hast übrigens die gan ze Zeit geschwiegen, warum?« »Es gab nichts zu sagen, Algonkin-Yat ta«, erwiderte Chairade. »Auch die Invaso ren schweigen. Es scheint sich um stumme Wesenheiten zu handeln.« »Zumindest um absonderliche Wesen«, meinte der Kundschafter. Auf anderen Bildschirmen sah er, daß die ausgestiegenen Fremden sich auf dem Bo den in mehreren Gruppen zusammengefun den hatten, die so etwas wie ein Muster bil deten. Die Schleusen, aus denen sie gekom men waren, hatten sich wieder geschlossen. Dafür öffneten sich andere Schleusen. Bizar re Geräte schwebten auf plump wirkenden Unterbauen heraus. Es waren Konstruktio nen aus Tausenden von dünnen silberblit zenden Verstrebungen, zirka fünfzehn Meter lang, drei Meter hoch und vier Meter breit. Sie waren auf dunkelgrauen dicken Plattfor men befestigt, in denen sich an den Seiten zahlreiche Vertiefungen und Rillen befan den.
H. G. Ewers Kaum waren die Geräte gelandet, als sich jeweils eine Gruppe um sie scharte. Die In vasoren nahmen in den Vertiefungen Platz, dann hoben die Geräte ab und schwebten auf die Stadt zu. Algonkin-Yatta knirschte mit den Zähnen. »Sie gehen vor wie Dummköpfe!« schimpfte er. »Anstatt vorher Funkverbin dung mit den Stadtbewohnern aufzunehmen und Klarheit zu schaffen, fahren sie auf die Stadt los, als wollten sie sie erobern!« »Denkst du, sie wollten sie nicht erobern, Kundschafter?« fragte die Psiotronik. »Warum sollten sie?« entgegnete Algon kin-Yatta. »Sie haben mit ihren Schiffen ih re Überlegenheit demonstriert und brauchen nur ihre Bedingungen zu stellen. Vielleicht würden so friedfertige Wesen wie die Torza ganer sie annehmen, sofern sie annehmbar sind. Aber wenn sie sich in die Enge ge drängt fühlen, werden sie kämpfen.« »Das ist logisch«, gab die Psiotronik zu. »Aber wenn die Lautlosen nur Sklaven der Herren der Schwarzen Galaxis sind, können sie wahrscheinlich nicht frei handeln und sind gezwungen, überall nach einem be stimmten Schema vorzugehen.« »Die Lautlosen?« fragte Algonkin-Yatta, dann nickte er. »Gut, nennen wir sie so, bis wir ihren wirklichen Namen kennen.« Er blickte den seltsamen Geräten nach. »Wahrscheinlich können die Lautlosen auch nicht anders, als wie Roboter vorzuge hen. Das würde auch erklären, warum sie keine Gespräche führen. Es erübrigt sich, wenn ihr Vorgehen zwingend vorgeschrie ben ist. Du kannst doch keine Gespräche ab hören, Psiotronik?« »Bisher nicht, Kundschafter«, antwortete die Psiotronik. Algonkin-Yatta schloß die Augen, als er von grellen Blitzen geblendet wurde. Seine Augen überwanden die Blendwirkung je doch schnell, und zudem schoben sich auto matisch Filter vor die Bildübermittler der optischen Sensoren. Als der Kundschafter die Augen wieder öffnete, sah er zweierlei: Von der Stadt her
Botschafter der Zeit wurde mit Energiewaffen auf die Invasoren gefeuert – und das riesige Deltaschiff erhob sich lautlos und schwebte auf die Stadt zu. Algonkin-Yatta ballte die Hände zu Fäu sten. Kein Mathoner konnte untätig zusehen, wie hilflose Lebewesen von anderen Lebe wesen gemordet wurden. Er hielt nur des halb an sich, weil er sich als Zeitreisender verpflichtet sah, nichts zu tun, was Zeitpara doxa hervorrufen würde. Und ein schwer wiegender Eingriff, so weit von seiner eige nen Zeit entfernt, würde zu schwerwiegen den Paradoxen führen. Das Deltaschiff hielt genau über der Stadt an, in etwa achthundert Metern Höhe. Al gonkin-Yatta merkte gar nicht, wie er den Fokus-Detonator, eine der nachträglich in der Zeitkapsel installierten Waffen, aktivier te und auf das Deltaschiff justierte. »Ganz davon abgesehen …«, übersetzte und übermittelte die Psiotronik die »Worte« Chairades, »… daß du nicht eingreifen darfst, wäre es für die Stadtbewohner kaum ein Unterschied, ob das Schiff der Lautlosen ihre Stadt beschießen oder als Wrack auf ih re Stadt stürzen würde.« Algonkin-Yatta schrak auf, stieß eine Verwünschung hervor und machte die Schaltungen rückgängig. Aber die in Form des riesigen Schiffes über ihrer Stadt schwebende Drohung hatte die Stadtbewohner bereits veranlaßt, ihren Widerstand einzustellen. Die schwebenden Geräte der Invasoren, die während des Beschusses angehalten hat ten und offenbar allesamt unbeschädigt ge blieben waren, schwebten weiter und bilde ten einen Kreis um die Stadt. Wenig später leuchteten sie auf. Das Leuchten wurde zu einer milchigweißen Wand, die von allen Seiten gegen die Stadt vorrückte und in ihr verschwand. Noch dreimal wiederholte sich dieser Vorgang, dann vergingen einige Minuten, bevor die Tore der Stadt sich öffneten. Eine schweigende Kolonne erwachsener Torzaga ner formierte sich draußen mit etwas Hand gepäck.
13 Plötzlich maßen die Instrumente der Zeit kapsel einen Transportstrahl an, der sich vom Deltaschiff zu den Torzaganern hinab senkte, sie ergriff und in mehreren Gruppen zum Schiff hinaufzog, wo sie so in offenen Luken verschwanden. »Sie werden deportiert«, flüsterte Algon kin-Yatta entsetzt. »Auf fremde Welten ver schleppt und zur Sklavenarbeit für die Mächtigen der Schwarzen Galaxis gezwun gen. Dürfen wir das zulassen?« »Ich schlage vor, erst einmal die weitere Entwicklung zu beobachten«, sagte Chaira de. Widerstrebend stimmte der Kundschafter zu. Er steuerte die Zeitkapsel wieder in eine Kreisbahn um Draverloth. Von dort aus be obachtete er, wie überall aus den Städten je weils Tausende von Erwachsenen herausge holt und in die Deltaschiffe verfrachtet wur den. Anschließend setzten die Schiffe sich in Bewegung. Aber sie starteten nicht in den Raum, sondern landeten auf verschiedenen Stellen des Planeten, die noch weitgehend ihren wüstenhaften Charakter besaßen. Dort wurden die Gefangenen ausgeladen und zur Errichtung primitiver Lager gezwungen. »Wahrscheinlich sollen sie hier Stütz punkte für die Invasoren errichten«, sagte die Psiotronik. »Oder für die, die nach den Lautlosen kommen«, erwiderte der Kundschafter. »Ich fürchte nämlich, diese Lautlosen sind nichts weiter als die Vorhut anderer Invasoren, die später die eroberten Planeten erst richtig un terwerfen und zu Instrumenten der Mächti gen aus der Schwarzen Galaxis machen sol len.« »Wir können nichts dagegen tun«, erklär te die Psiotronik. »Das bleibt abzuwarten«, sagte AlgonkinYatta. »Ich glaube, ich kenne einen Weg, wie wir die Torzaganer auf Xuverloth davor bewahren können, die Verschleppung ihrer Besten zu vermeiden – ohne daß die Lautlo sen etwas davon merken. Das sollte auch ei nem Zeitreisenden erlaubt sein.« »Darüber läßt sich reden«, sagte Chaira
14
H. G. Ewers
de. »Ihr seid wahnsinnig geworden!« rief die Psiotronik. »Wenn ich euch gewähren lasse, wird das alles in einem furchtbaren Chaos enden.« »Wenn du uns gewähren läßt …!« wie derholte Algonkin-Yatta. »Hast du verges sen, daß eine Psiotronik einen Kundschafter zwar beraten darf, ihm aber unbedingten Ge horsam leisten muß?« »Nein«, antwortete die Psiotronik klein laut. »Darüber bin ich sehr froh«, sagte der Kundschafter. »Auf nach Xuverloth!«
3. VERSTECKE IN DER ZEIT Xuverloth war nur wenig kleiner als die Erde, besaß einen einzigen, aber dafür riesi gen Kontinent, einen teilweise sehr tiefen Ozean mit allgemein stark gefaltetem Grund, drehte sich einmal in achtundzwan zig Stunden um sich selbst, besaß eine Schwerkraft von 0,97 Gravos und hatte ver gleichsweise subtropische bis tropische Temperaturen. Der Kontinent besaß eine reichhaltige Ve getation und wurde von zahllosen kleineren bis mittleren Seen gesprenkelt. Um diese Seen herum konzentrierten sich die äußeren Anzeichen der Zivilisation: sich beständig erneuernde und modernisierende Lagunen städte, dazwischen auf breiten Uferstreifen Kulturpflanzungen, dahinter die computer gesteuerten Fabriken und Raumwerften, au ßerdem leistungsfähige Fusionskraftwerke. Auch hier aber gab es die verschandelnden Flecken mit den schnell errichteten Raumabwehrforts – und überall die Gitter schalen für die Beeinflussungsstrahlung, so gar auf künstlichen Inseln überall auf dem Ozean. Am größten See lag auch die größte La gunenstadt, die Hälfte des Sees überdeckend mit seinen Bauten. Da sich in der Nähe die ser Stadt die meisten Raumabwehrforts kon zentrierten sowie die drei größten Raumhä-
fen von Xuverloth, nahm der Kundschafter an, daß es sich um die Hauptstadt des Plane ten handelte. »Wie glücklich könnten die Bewohner dieser Welt sein, wenn es keine Schwarze Galaxis gäbe!« stieß er hervor. Er steuerte die Zeitkapsel aus dem Orbit und programmierte eine spiralförmige Lan debahn bis zur Hauptstadt von Xuverloth. »Wir werden auf dem See landen und dann Kontakt mit der Regierung aufneh men«, erklärte er. »Man wird uns für ein Vorauskommando der Invasoren halten«, erwiderte die Psiotro nik. »Wir werden ihnen das Gegenteil bewei sen«, sagte Algonkin-Yatta. »Du hast ja al les aufgezeichnet, was wir auf Draverloth beobachteten. Dann brauchen wir es nur zu überspielen, damit sie uns glauben. Chaira de, kannst du gemeinsam mit dem Zeitag gregat Zeitblasen oder Zeitnischen schaffen, die noch längere Zeit stabil bleiben, wenn wir sie wieder verlassen haben?« »Ja, aber das dauert seine Zeit«, antworte te Chairade. »Ich kann in einer Stunde bei voller Auslastung der Kapazität der Zeitag gregate nicht mehr als eine Nische schaf fen.« »Oh!« machte der Kundschafter. »Dann werden wir uns beeilen müssen, denn ich ha be vor, die gesamte wissenschaftliche und technische Elite, die Regierung und die Streitkräfte in Zeitnischen zu evakuieren.« Als die Zeitkapsel sanft auf dem schwach bewegten Wasser des Sees landete, schickte Algonkin-Yatta eine Sonde los, über die der Funkkontakt mit den Torzaganern aufge nommen werden sollte. Er war vorsichtig genug, trotz seiner friedlichen Absichten ei ne Anpeilung der Kapsel zu vermeiden und damit einen Angriff auf die Kapsel zu ver hüten. Da die Psiotronik der Kapsel dank der Vorarbeiten in der Vergangenheit die »Sprache« der Torzaganer zufriedenstellend beherrschte, konnte Algonkin-Yatta sich so fort verständlich machen.
Botschafter der Zeit Er sendete zuerst nur folgenden knappen Text: »Algonkin-Yatta, Kosmischer Kundschaf ter von Ruoryc, sendet allen Torzaganern seine Grüße und bittet die Regierung der Hauptstadt, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Ich habe beobachtet, wie die Invasoren den Nachbarplaneten eroberten und kann euch Aufzeichnungen der Geschehnisse auf Dra verloth überspielen. Außerdem biete ich euch Hilfe gegen die Invasoren an. Bitte, meldet euch auf folgender Frequenz …« »Funksonde durch Beschuß ausgefallen«, meldete die Psiotronik. »Man glaubt dir nicht, Kundschafter«, sagte Chairade. »Ich lüge nie!« begehrte Algonkin-Yatta auf. »Woher sollen die Torzaganer das wis sen?« meinte die Psiotronik. »Sie werden auch jede weitere Sonde abschießen, die ih nen unsere Botschaft sendet. Es ist aus sichtslos.« »Nicht für einen Kundschafter«, erklärte Algonkin-Yatta. »Hast du die Funksignale verfolgt, die es innerhalb der Stadt nach meiner Botschaft gab, Psiotronik?« »Selbstverständlich«, sagte die Psiotronik. »Aber sie waren alle kodiert – und einen Kode der Torzaganer zu knacken, wo wir kaum ihre normale Sprache entschlüsseln können …!« »Darauf kommt es nicht an«, widersprach der Kundschafter. »Ich bitte um das SenderEmpfänger-Schema – dreidimensional!« Ein kleiner Bildschirm leuchtete auf. Mehrere grüne Linien bewegten sich durch den Trivideo-Scheinkubus, hinterließen hell grüne Spuren und erzeugten dort, wo sich Empfänger und Sender befanden, verschie denfarbige Markierungen. »Aha!« sagte Algonkin-Yatta und deutete auf eine Markierung. »Diese Stelle weist die meisten Rückkopplungen aus – und von hier wurde das letzte Funksignal ausgesandt, das Signal, das den Befehl zum Abschuß der Sonde enthielt. Folglich ist das die Befehls zentrale. Ich brauche ein Tridi-Tasterbild
15 des Gebäudes, in dem sich diese Zentrale befindet, die Lage der Zentrale darin und ei ne Aufzeichnung aller Absicherungen!« »Aber nur das Kundschafterschiff selbst enthält eine Transportanlage, von der aus du mit einem Transmitterstrahl zurückgeholt werden kannst, wenn es gefährlich wird!« mahnte die Psiotronik. Algonkin-Yatta schüttelte den Kopf. »Ich befinde mich nicht auf einer norma len Erkundung«, erklärte er. »Wir sind in Zeitnot, Psiotronik. Deshalb kann ich mich nicht auf zeitraubende Transmitterspielchen einlassen. Bekomme ich endlich das TridiTasterbild?« Ein neuer Bildschirm leuchtete auf und zeigte ein dreidimensionales Netz von Ra stern und Linien, die viele andere Intelligen zen verwirrt hätten. Nicht so den Kund schafter, denn darin zu lesen gehörte zu den Grundkenntnissen, die ihm während seiner Ausbildung beigebracht worden waren. Als er alles, was für ihn wichtig sein konnte, eingeprägt hatte, schnallte er sich die Kombination von Flug-Antigrav- und Antiortungsaggregat auf den Rücken, ver ließ die Zeitkapsel durch das einzige Schott und flog hinaus in das goldfarbene Leuchten eines Sonnenuntergangs, das die kurzen Kräuselwellen des Sees mit seinem Wider schein übergoß.
* Algonkin-Yatta drückte sich in eine Wandnische, als in seiner Nähe die Schritte mehrerer Torzaganer erschollen. Gleich dar auf sah er eine Kolonne von sechs bewaffne ten Torzaganern, die zwischen sich vier an dere Torzaganer führten, deren Hände auf den Rücken gefesselt waren. Die Bewaffneten trugen als Waffen kurze, stockähnliche Metallzylinder, bei denen an jeweils einem Ende eine von silberfarbenem Geflecht gefüllte schüsselförmige Antenne befestigt war. Strahler zur psychischen Beeinflussung! durchfuhr es den Kundschafter. Vorläufer
16 der riesigen Antennen, mit denen die Torza ganer die erste Invasion der Lautlosen zu rückschlugen! Als die Kolonne um die nächste Gangbie gung verschwunden war, verließ Algonkin-Yat ta seine Nische und legte die letzten Meter bis zur Befehlszentrale von Noroak zurück. Noroak hieß die Stadt, wie er mit Hilfe sei nes Translators aus Gesprächen von Torza ganern herausgehört hatte. Es war nicht so schwierig gewesen, bis hierher vorzudringen, wie er angenommen hatte. Die Torzaganer schienen überhaupt nicht mißtrauisch zu sein. Zweimal war Al gonkin-Yatta in die Überlappungsstrahlung eines unbekannten Kraftfelds geraten, zwei mal hatte die Überlappungsstrahlung sein Antiortungsaggregat unwirksam gemacht – und beide Male hatte jeweils ein Torzaga ner, der Zeuge dieses Vorgangs gewesen war, desinteressiert weggesehen. Hoffentlich verhielt man sich in der Be fehlszentrale nicht auch desinteressiert! Algonkin-Yatta trat vor das Schott und wartete, daß es sich öffnete. Es öffnete sich auch, aber damit war der Weg zur Befehls zentrale noch nicht frei. Vor dem Kund schafter lag ein kurzer Korridor mit transpa renten Seitenwänden. Nach kurzem Zögern trat der Kundschaf ter ein. Das Schott schloß sich hinter ihm. Links tauchten zwei Torzaganer auf. Ihre trichterförmigen Köpfe drehten sich auf den kurzen gelenkigen Hälsen, bis aus zwei selt samen Gesichtern je sechs stabförmige Au gen ins Innere des Korridors blickten. Da das Antiortungsaggregat auch als De flektor wirkte, so daß es eine optische Erfas sung Algonkin-Yattas verhinderte, schaltete er es aus. Die beiden Torzaganer fuhren zurück, dann tupften ihre Finger schneller als die von Klaviervirtuosen auf die Hautlappen zwischen ihren Fingern. Die dabei erzeugten Geräusche, die »Sprache« der Torzaganer, wurden offenbar von den Mikrophonen der runden Funksprechgeräte aufgenommen, die vor ihren Leibern auf den graugrünen Mon-
H. G. Ewers turen befestigt waren. Algonkin-Yatta konnte nicht verstehen, was »gesprochen« wurde. Die transparente Wand hielt den Schall von ihm fern. Aber er erkannte an den ruckartigen Bewegungen der büschelartigen Hörorgane in den Gesich tern, daß die beiden Torzaganer Antwort aus ihren Funkgeräten erhielten. Kurz darauf entfernten sie sich aus seinem Blickfeld – und wenige Sekunden später öff nete sich das innere Schott der Kontroll schleuse. Die beiden Torzaganer – der Kundschafter nahm jedenfalls an, daß es sich um die Bewohner handelte – tauchten vor der Öffnung auf und richteten Psycho strahler auf ihn. Schnell hob der Kundschafter die Hände. Er verspürte keine Lust, noch einmal unter den Einfluß dieser Strahlung zu kommen. »Nicht beeinflussen!« rief er – und da sein Translator aktiviert war, übersetzte er seine Worte in die zirpende, piepsende und raschelnde »Sprache« der Torzaganer. »Ich muß euren Verantwortlichen komplizierte Dinge erklären und könnte es nicht unter dem Einfluß der Strahlung, die aus diesen Geräten kommt.« Doch die beiden Torzaganer hatten offen bar Befehle, gegen die sie nicht verstoßen konnten. Sie schalteten die Geräte ein. Aus den Antennenschüsseln fiel matter Schein auf Algonkin-Yatta. Ein schwaches Sum men ertönte. Aber diesmal wirkte die Strahlung anders. Sie lähmte ihn, beziehungsweise sollte sie ihn anscheinend lähmen, denn der Kund schafter spürte, wie seine Kraft sich verrin gerte. Nur seine extreme Konstitution ver hinderte, daß er stocksteif umfiel. Aber si cher würde das noch kommen, wenn die Strahlung lange genug auf ihn einwirkte. Um dem vorzubeugen, versteifte sich Al gonkin-Yatta und ließ sich fallen. Von irgendwo kamen zwei andere Torza ganer. Sie schoben eine Antigravplattform vor sich her. Neben Algonkin-Yatta ließen sie sie absinken, rollten den Kundschafter mit Fußtritten darauf und aktivierten ein
Botschafter der Zeit Zugfeld, das ihren Gefangenen auf der Platt form festhalten sollte. Danach ließen sie sie wieder auf Hüfthöhe steigen und schoben sie weiter. Da Algonkin-Yatta auf dem Rücken lag, konnte er nur die Decke eines großen Raumes sehen, den er als Befehlszentrale ansah. Er war hellblau und von zahllosen grünen Zeichen übersät, die anscheinend Schriftzei chen waren. Aus verborgenen Lautsprechern rieselte ununterbrochen ein monotones Zir pen und Piepsen: entweder Gesang oder In strumentalmusik oder beides. Der Zugriff des Zugfelds verstärkte sich, dann kippte die Platte nach vorn, bis der Kundschafter in leichter Schräglage an ihr lehnte. Vor ihm saß ein Torzaganer. Er war dicker als die anderen Torzaganer, die Al gonkin-Yatta bisher gesehen hatte. Außer dem war seine dunkelgelbe Haut faltiger als die anderer Einheimischer, und sie war von hellen Flecken übersät. Er trug eine Parade uniform mit dem Grundschnitt der Einheits montur, saß hinter einer Art Befehlspult und richtete die Stabaugen auf den Gefangenen. Neben ihm standen links und rechts je zwei überdurchschnittlich große Torzaganer mit Psychostrahlern in den Händen. »Und ich hatte gedacht, die Torzaganer wären besonders friedfertige Wesen!« ent fuhr es dem Kundschafter. Der Dicke raschelte und zirpte mit den Fingerhäuten. »Was, nicht ganz gelähmt?« übersetzte Algonkin-Yattas Translator. »Sabotage!« »Sei froh, daß ich nicht ganz gelähmt bin!« erklärte der Kundschafter. »Sonst könnte ich euch nämlich nicht sagen, was ihr machen müßt, um euch vor den Invasoren zu schützen, die inzwischen Draverloth besetzt haben.« »Wir wissen, was zu tun ist, um Xuver loth vor den Invasoren zu schützen«, entgeg nete der Dicke. »Die Kolonisten von Dra verloth waren feige und wollten nicht ster ben, weil sie sich nicht nur räumlich, son dern auch geistig von den Lehren entfernt
17 haben. Xuverloth dagegen wird nicht kapitu lieren.« »Die Fremden werden eure Städte ver nichten, wenn sie von dort beschossen wer den«, warnte der Kundschafter. »Sie können nicht gegen das Bewußtsein unserer überlegenen Idee an«, entgegnete der Dicke. Algonkin-Yatta mußte vor soviel Ver bohrtheit die Augen schließen. Er ahnte, was das Gerede des Dicken bedeutete. Auf Xu verloth herrschte eine Gesellschaftsform, bei der die Masse der Torzaganer gleichgeschal tet war. Außerdem dachte sie in den Bahnen einer Ideologie, die sie veranlaßte, kollektiv zu handeln, widerspruchslos den mit Zitaten aus alten Lehren verzierten Anordnungen der führenden Schicht zu gehorchen und sich auch Zwangsmaßnahmen zu beugen. Dort, wo diese Gesellschaftsform einen ganzen Planeten beherrschte, wo niemand etwas anderes kannte, gab es sogar Glück und Zufriedenheit unter den intelligenten Bewohnern. Auf Xuverloth war diese Entwicklung of fenbar erfolgt. Die Torzaganer waren flei ßig, lebten in Wohlstand und waren fried lich, glücklich und zufrieden – bis auf dieje nigen, die an den Zuständen etwas auszuset zen hatten. Vor allem aber hatte es niemals – oder nur vor sehr langer Zeit – Kriege gege ben. Aber das, was grundsätzlich als Vorteil eingestuft werden mußte, drohte den Torza ganern nunmehr zum Verhängnis zu werden. Kriegerische Wesen aus fernen Weltraum tiefen waren aufgetaucht und griffen an. Möglicherweise hatten die Torzaganer den ersten Aufmarsch gar nicht als Invasionsdro hung eingestuft. Aber sie hatten Fremde ge sehen – und die Führung auf Xuverloth hatte die Ankunft Fremder sicher als Faktor ange sehen, der ihr ideologisches Gebäude ge fährdete. Demnach war die Beeinflussungsstrah lung nichts anderes gewesen, als was die Torzaganer in etwas anderer Form bei ihren eigenen Leuten anwandten, sofern sie geisti
18 ge Abweichungen zeigten. Man hatte die Fremden vertreiben wollen, mehr nicht. Diesmal aber waren die Invasoren zurück gekehrt – und die Beeinflussungsstrahlen wirkten nicht mehr. Soviel würde man von Draverloth noch erfahren haben und sicher auch, daß der Planet von den Fremden be setzt worden war. Aber für die Führung auf Xuverloth be deutete das anscheinend nichts anderes als die Einführung einer neuen Lehre und Ge sellschaftsordnung auf Draverloth. Sie führ te die Niederlage der Kolonisten von Dra verloth auf eine ideologische Aufweichung zurück, die ihre tieferen Ursachen in der schon lange erfolgten Entfernung des Den kens von den festgelegten Dogmen hatte. Daran, daß die Invasoren töten konnten, dachten sie anscheinend nicht im Traum. Sie konnten sich wahrscheinlich nicht vorstel len, daß irgend jemand Millionen intelligen ter Lebewesen kaltblütig im Feuer atomarer Gewalten verbrennen würde. »Freunde, die Invasoren töten jeden, der sich ihnen widersetzt!« rief Algonkin-Yatta beschwörend. »Ich biete euch meine Hilfe an. Mit meiner Unterstützung könnt ihr eure wichtigsten Leute in Sicherheit bringen. Dann braucht ihr nicht zu kämpfen und eure Städte vernichten zu lassen, sondern könnt die Invasoren landen lassen und später aus unseren Verstecken heraus Schläge gegen sie führen, die sie allmählich zermürben werden.« Nach diesen Worten herrschte einige Mi nuten lang Totenstille, dann erhob sich der Dicke mit einem Ruck, raschelte mit seinen Fingerhäuten – und der Translator übersetz te: »Das ist ein Verräter und Aufwiegler, ein Wahnsinniger und Abweichler! Die Frem den haben ihn als Provokateur geschickt. Sperrt ihn ein, damit wir ihn später psychia trisch behandeln können!« Algonkin-Yatta wollte sich losreißen, aber da schoß ein Torzaganer mit einem Sprühgerät klebrige Schnüre auf ihn ab, die ihn so schnell und fest umwickelten, daß er
H. G. Ewers sich trotz seiner großen Körperkraft nicht mehr rühren konnte. Ohne auf seine be schwörenden Worte zu achten, transportier ten ihn die beiden Torzaganer, die ihn auf die Antigravplattform gehoben hatten, ab, eskortiert von vier anderen Torzaganern.
* In einer Zelle mit dicken Stahlwänden, an denen zahllose Sprüche matt leuchteten (die der Kundschafter aber nicht lesen konnte), bekam er eine Dosis Lähmenergie, die auch für ihn ausreichte. Danach wurden seine Fesseln entfernt. Außerdem wurde er ausge zogen und so gründlich durchsucht, daß die Torzaganer fast die Hälfte seiner getarnten Expeditionsausrüstung fanden. Nachdem die Tür sich hinter den Torzaga nern wieder geschlossen hatte, lag Algon kin-Yatta verzweifelt und gelähmt auf einer harten Pritsche. Wenigstens hatte man ihm eine Decke übergeworfen, aber das tröstete ihn nicht, denn bei soviel Sturheit seitens der Torzaganer hatte er nicht die geringste Aus sicht, ihnen zu helfen. Als seine Lähmung nachließ, absolvierte er eine Gymnastik, die ihm allmählich wie der zur vollen Beweglichkeit verhalf. Da nach zog er seine Sachen an und überlegte, ob er die restliche Geheimausrüstung dazu benutzen sollte, auszubrechen. Bevor er zu einem Entschluß gekommen war, entstand in der Wand zu seiner rechten eine kleine viereckige Öffnung, die mit Git terstäben abgesichert war. Dahinter erschien das Gesicht eines Torzaganers. Darunter wa ren die vier Hände des Lebewesens zu se hen. »Ich bin Zerph-Lankert, Zweiter Ratsvor sitzender und Erster Psych von Xuverloth«, stellte er sich vor. »Der Erste Ratsvorsitzen de, Freund und Lenker der Arbeit, MaertSoonak, hat mich damit beauftragt, dir eini ge Fragen zu stellen, Fremder.« »Ich erwarte deine Fragen, Zerph-Lan kert«, erwiderte Algonkin-Yatta und ver kniff sich die Frage, ob »Erster Psych« so
Botschafter der Zeit viel bedeutete wie »Oberster Gehirnwä scher«. »Ein guter Anfang«, meinte Zerph-Lan kert. »Hast du einen Namen, fremder Bruder – und zu welchem Volk von welchem fernen Planeten gehörst du?« Froh, überhaupt angehört zu werden, ant wortete der Kundschafter: »Mein Name ist Algonkin-Yatta, ich ge höre zum Volk der Mathoner auf dem Plane ten Ruoryc, der als achter die blaue Riesen sonne Yrgarh umläuft. Mein Volk schickt ständig Kundschafter in den Kosmos, die Kontakt mit fremden Zivilisationen suchen und die Vielfalt des Lebens auf den Planeten erforschen sollen.« »Ich muß dir eine Rüge erteilen, Algon kin-Yatta«, sagte Zerph-Lankert. »Du darfst nur meine Fragen beantworten und nicht ei genmächtig reden.« »Entschuldige, bitte«, erwiderte der Kundschafter beherrscht. »Ich wollte nur das Verfahren beschleunigen und dir helfen.« »Es stimmt mich traurig, daß du die Leh ren von Rathork-Pquntert und MitellWarwack nicht beherzigst.« »Ich kenne sie nicht!« protestierte der Kundschafter. »Vielleicht nicht unter diesem Namen«, erklärte der Torzaganer. »Aber ganz sicher dem Inhalt nach, denn sie enthalten univer selle Weisheiten, die unter allen Bedingun gen zutreffen. Warum bist du nach Xuver loth gekommen, Algonkin-Yatta?« »Weil ich ein Kosmischer Kundschafter bin«, antwortete Algonkin-Yatta. »Als ich Xuverloth fand, entdeckte ich auch die Ge fahren, die allen Torzaganern durch die In vasoren drohen. Ich kam, um euch zu hel fen.« »Wie kann uns jemand helfen, der die Ge setzmäßigkeiten des kollektiven Zusammen lebens nicht kennt?« erwiderte Zerph-Lan kert. »Weil ich etwas besitze, das ihr nicht be sitzt: ein Gerät zur Manipulierung der Zeit«, antwortete der Kundschafter. »Da sieht man, was dabei herauskommt,
19 wenn jemand die Lehren nicht studiert hat«, meinte der Torzaganer. »Die Zeit ist keine unabhängige Größe, mein armer unwissen der Bruder, sondern ein Begleiteffekt der sich im Raum bewegenden Materie. Da die Bewegung im Kosmos aber in einer einzigen Richtung erfolgt, nämlich in Richtung auf den Wärmetod, gibt es auch nur diese eine objektive Mitbewegungsrichtung der Zeit.« »Interessant!« entfuhr es Algonkin-Yatta. »Alle anderen materialistischen Lehren, die ich kenne, verneinen die Entwicklung in Richtung auf einen Wärmetod mit dem Hin weis auf die Unendlichkeit des Kosmos.« »Irrlehren!« wurde er korrigiert. »Gebt zu, daß die Invasoren euch geschickt haben, um die Massen durch zersetzende Äußerun gen zu beunruhigen, Algonkin-Yatta! Wenn du es freimütig zugibst und die Schlechtig keit deiner Handlungsweise auch, dann wird dir das Wohlwollen des Rates sicher sein, und du wirst die Gelegenheit erhalten, dich zu den einzigen richtigen Lehren zu bekeh ren.« Algonkin-Yatta fluchte und schrie: »Begreifst du nicht, daß ihr dazu keine Zeit haben werdet, sobald die Fremden auf Xuverloth landen, du Esel! Sie werden euch nach ihrer Pfeife tanzen lassen oder umbrin gen – und ihr habt nicht die Macht, etwas dagegen zu tun!« »Wer von den Fremden die Richtigkeit der Lehren anzweifelt, muß in einem Besse rungslager hart arbeiten, damit sein Denk vermögen sich für das notwendige Bewußt sein öffnet«, erklärte der Torzaganer. »Es hat keinen Sinn!« klagte der Kund schafter. »Dein Gehirn ist von den Lehren so verschleimt, daß es nicht klar denken kann! Keiner der Fremden wird euren Wünschen folgen, denn sie sind Wesen, die nicht selb ständig denken. Sie denken nur das, was ihre Herzen ihnen erlauben.« »Das ist sehr vernünftig«, lobte ZerphLankert. »Das erspart ihnen innere Konflikte mit der Gesellschaft, die uns manchmal sehr stören.« »Ich pfeife auf eure blöden Lehren!«
20 brüllte der Kundschafter aufgebracht. »Sie mögen früher nützlich gewesen sein, aber jetzt treiben sie euch in den Untergang, wenn ihr euch nicht von ihnen losreißt!« »Losreißt!« sagte Zerph-Lankert. »Du bist ein Hetzer, ein Agitator, der alles zerstören will, was wir uns aufgebaut haben. Wir wer den dir die bösartigen Gedanken einzeln aus dem Gehirn holen, selbst auf die Möglich keit hin, daß dein Gehirn dann so leer ist wie ein ausgetrockneter See.« Die Öffnung schloß sich wieder. Algonkin-Yatta setzte sich resignierend. »Was tut man, wenn man vergeblich ge gen eine Mauer rennt, wieder und immer wieder?« fragte er sich. »Man schlägt sie ka putt.« Er suchte den Rest seiner Geheimausrü stung zusammen, vermaß mit dem winzigen Hohlraumresonator die Umgebung seiner Zelle, legte sich einen Fluchtweg zurecht und preßte eine briefmarkengroße Haftla dung auf die Stelle der Wand, hinter der ein Klimaschacht vorbeiführte. Höchstens zwei Sekunden vor dem Zün den der Hochenergie-Schmelzladung öffnete sich die Tür. Mehrere bewaffnete Torzaga ner drängten herein. Algonkin-Yatta rief ihnen eine Warnung zu und warf sich ihnen entgegen. Durch sei ne Masse und Geschwindigkeit wirkte er auf die Torzaganer wie eine Kugel auf einige dicht zusammenstehende Kegel. Er wirbelte sie hinaus. Hinter ihnen zündete fauchend die Schmelzladung und erfüllte die Zelle mit so gleißender Helligkeit, daß die Torzaganer sich geblendet umdrehten. Algonkin-Yatta nutzte die Gelegenheit und betäubte sie mit leichten Faustschlägen auf die Hinterköpfe. Inzwischen hatte das Zischen der Schmelzladung aufgehört. Der Kundschafter eilte in die Zelle zurück, schwang sich durch das in die Wand gebrannte Loch und arbei tete sich schnell den Klimaschacht hinab. Als er unten hinauskletterte, warteten meh rere Torzaganer auf ihn. Klebrige Fäden schnellten auf ihn zu und schnürten ihn zu
H. G. Ewers sammen. Anschließend wurde er wieder auf eine Antigravplattform gehoben und in einen großen Raum transportiert, der einem mo dernen Operationssaal ähnelte. Dort warte ten neben einigen hellblau Bekittelten der Erste und der Zweite Ratsvorsitzende auf ihn. Maert-Soonak wedelte mit seinen vier Händen und »sagte«: »Algonkin-Yatta, da du dich unseren brü derlichen Bemühungen zu entziehen ver suchtest, bist du zur gehirnchirurgischen Therapie verurteilt worden. Danach wird der Druck in deinem Gehirn, der dich unfähig zur Erkennung der Weisheit der Lehren macht, verschwunden sein, so daß du dich willig in die Große Gemeinschaft einordnen und dir durch körperliche Arbeit einen Platz darin sichern kannst.« »Du bist wahnsinnig!« fuhr der Kund schafter den Ersten Ratsvorsitzenden an. »Ihr werdet nicht nur meine Persönlichkeit zerstören, sondern, da ihr über die Anatomie meines Zentralnervensystems nichts wißt, mich außerdem töten.« »Fangt an!« befahl Maert-Soonak den be reitstehenden Medizinern. Zischend öffnete sich ein Schott. Torzaga ner in Raumkombinationen erschienen, ho ben ihre Strahlwaffen und töteten den Ersten und den Zweiten Ratsvorsitzenden. Einer der torzaganischen Raumfahrer be fahl, den Kundschafter von seinen Fesseln zu befreien, dann trat er vor ihn und sagte: »Ich bin Athork-Taerant, Ratsbeauftragter für die Erforschung des Außerplanetarischen Weltraums – und in dieser Notlage überneh me ich die Gewalt, die sonst nur einem Er sten Ratsvorsitzenden zusteht. Algonkin-Yat ta, meine Vertrauten unterrichteten mich über das, was hier geschah. Der bisherige Erste und der Zweite Ratsvorsitzende haben verbrecherisch gehandelt, indem sie ihre ei gene Unfähigkeit hinter den Großen Lehren versteckten und die Gefahren nicht sehen wollten, die für alle Torzaganer heraufgezo gen sind.
Botschafter der Zeit
21
Ich und meine Vertrauten sind bereit, dir zu glauben und bitten dich hiermit feierlich um Hilfe für unser Volk. Allerdings, du bist allein. Wie willst du uns helfen?« »Ich bin nicht allein, Athork-Taerant«, sagte Algonkin-Yatta und vermied es, zu den beiden Aschenhäufchen zu sehen, die von Maert-Soonak und Zerph-Lankert übrig geblieben waren. Er begriff, daß AthorkTaerant die beiden Torzaganer töten lassen mußte, weil sie sonst immer wieder die Un terstützung ihrer Anhänger bekommen hät ten und dann eine Organisierung von Ret tungsmaßnahmen vereitelt worden wäre. »Ganz in der Nähe wartet eine Maschine, mit der wir Zeitnischen schaffen können, in denen sich eure Truppen sowie eure wichtig sten Leute verstecken kennen, ohne von den Invasoren entdeckt zu werden.« »Was hätten wir davon?« fragte AthorkTaerant. »Ihr könntet eure Welt den Invasoren zum Schein kampflos übergeben«, antwortete Al gonkin-Yatta. »Sobald sie dann auf Xuver loth ihre Stützpunkte errichtet haben und da durch gehindert werden, vorn Raum aus schwere Waffen einzusetzen, werden die Verborgenen aus den Zeitnischen heraus einen Guerillakrieg führen, der die Invaso ren nach und nach zermürbt.« »Was ist ein Guerillakrieg?« fragte Athork-Taerant. »Das ist eine zerstreute und ausweichende Kampfführung mit plötzlichem Zuschlagen aus dem Hinterhalt, Angriffen und dem Ver schwinden kleinerer Gruppen«, erklärte er. »Am besten, ich bilde eure Leute darin aus.« »Das wäre nützlich«, meinte Athork-Tae rant. »Ich hoffe, es stimmt alles, was du ge sagt hast, Kundschafter, denn die Flotte der Invasoren hat bereits Kurs auf Xuverloth ge nommen – und wenn du uns nicht helfen kannst, liefern wir dich den Lautlosen aus.«
* Kaum hatte die Zeitkapsel die Zeitnische verlassen, flog sie zur nächsten größeren
Stadt, um direkt neben ihr die nächste Zeit nische zu installieren. Athork-Taerant, der in der Kapsel neben dem Kundschafter stand, starrte mit seinen Stabaugen auf die Stelle, an der »eben« noch rund 14 000 zu Soldaten ernannte Raumfah rer, Raumkadetten, Wissenschaftler, Techni ker, Frauen und Kinder zu sehen gewesen waren – zusammen mit leichten und schwe ren Waffen, Munition, Sprengstoff, medizi nischer Ausrüstung und Verpflegung für mehrere Wochen. Von all dem war nichts mehr zu sehen, denn es befand sich in einer »abstrakten Zukunft«, und die Kapsel war die zehn Sekunden wieder zurückgereist. »Wo sind sie alle?« fragte Athork-Tae rant. Diese Frage zeigte Algonkin-Yatta, daß der Ratsbeauftragte für die Erforschung des Außerplanetarischen Weltraums und provi sorische Erste Ratsvorsitzende von Xuver loth überhaupt keine Vorstellung von Zeit versetzungen hatte und daß seine Annahme des Hilfsangebots nur so etwas wie der sprichwörtliche Griff nach dem Strohhalm gewesen war. »Sie werden erst in zehn Sekunden dort stehen«, erklärte der Kundschafter. »Das heißt, sie würden es, wenn die Zeitnische nicht mit der gleichen Geschwindigkeit wei ter in Richtung Zukunft wanderte wie alles. Um es anschaulicher zu machen: Betrachte die Zeitblase einfach als eine Dimensions verwerfung, nur nicht als eine Verwerfung der Raumdimension, die dir sicher bekannt ist, sondern als eine Verwerfung der Dimen sion Zeit.« »Raumverwerfungen kenne ich«, erwider te der Torzaganer. »In der Nähe eines unse rer Kolonialsysteme, des Khatterlait-Sy stems, gibt es sogar eine stabile, in der unser erstes Forschungsschiff spurlos verschwun den ist. Aber wie kommen unsere Leute wie der aus dieser Zeitnische heraus?« »Das kann Chairade dir besser erklären, denn sie hat dafür gesorgt«, antwortete Al gonkin-Yatta. Der Torzaganer musterte das leuchtende
22 und wallende Plasma in der transparenten Aufenthaltskugel, die im Innern der Kapsel ziemlich enge Platzverhältnisse schuf. »Es gibt eine Art Zeitschiene innerhalb der Struktur der Zeitnische«, erklärte Chai rade über die Psiotronik, die gleichzeitig ih re Erklärung in die »Sprache« der Torzaga ner übersetzte. »Sie ist vorläufig eine Ein wegschiene, das heißt, man kann auf ihr von innen nach draußen ›gehen‹, aber noch nicht von draußen nach innen. Aber sobald sie erst einmal benutzt worden ist, wird sie zur Zweiwegschiene aufgeschaltet, so daß Parti sanentrupps nach ihren Einsätzen sofort wie der in der Zeitnische verschwinden können. Sie müssen sich dazu aber den Punkt im Ge lände merken, an dem der gegenwärtige Teil der Schiene beginnt.« »Das ist ungeheuer kompliziert, finde ich«, erwiderte Athork-Taerant. »Werden die Leute sich damit zurechtfinden?« »Erst, sobald ich sie entsprechend infor miert habe«, sagte Algonkin-Yatta. »Das kann ich aber erst, wenn wir alle Zeitnischen fertig haben und die entsprechenden Leute mit ihrer Ausrüstung darin untergetaucht sind. Vorher dürfen wir dafür keine Zeit ver schwenden, da wir sonst nicht fertig werden, bevor die Lautlosen angreifen.« Die Zeitkapsel hatte die nächste Stadt er reicht und landete auf einem kleinen freien Platz inmitten der Torzaganer, die sich dort versammelt hatten. Eines mußte der Kund schafter den Torzaganern lassen: die Organi sation klappte hervorragend. Allerdings lag das daran, daß diese Intelligenzen daran ge wöhnt waren, jede Anordnung der Regie rung und der Behörden widerspruchslos zu befolgen. Nur deshalb hatte ein einziger Aufruf genügt, um die gewünschte Reaktion hervorzurufen. Niemand murrte und nie mand fragte. Während Chairade in Zusammenarbeit mit dem Zeitaggregat der Kapsel die Zeitni sche aufbaute, musterte Athork-Taerant das leuchtende Plasma in der Kugel aufmerk sam, dann wandte er sich an den Kundschaf ter und sagte:
H. G. Ewers »Vor unserer Begegnung hätte ich es nicht für möglich gehalten, daß es intelligen te Lebewesen gibt, die so aussehen, Algon kin-Yatta.« »Ich finde es erstaunlich, daß du nicht über diesen Anblick erschrocken bist«, meinte der Kundschafter. »Viele andere In telligenzen wären zu Tode erschrocken.« »Es gab keinen Grund, zu erschrecken«, erwiderte der Torzaganer. »Sicher, ich war sehr erstaunt, aber unsere Wissenschaft sagt aus, daß die Organisation der Materie zu Le ben je nach den Umweltbedingungen andere Erscheinungsformen hervorbringt, deren Zahl gleich unendlich ist.« Eine silbrig schimmernde, auf den ersten Blick durchsichtig wirkende Blase von etwa zwei Kilometern Durchmesser wurde über dem Lager erkennbar. Je nach Einstellung des Betrachters sah sie wie ein Behälter oder wie etwas aus, das keine äußere Grenze be saß. Sekundenlang noch war die verzerrte und undeutliche Silhouette der benachbarten Stadt zu erahnen, dann hatte sich die in die Zukunft vorgestülpte Zeitnische auch gegen die zehn Sekunden zurückliegende Gegen wart geschlossen. Die Eingeschlossenen zeigten Unruhe. Sie gerieten jedoch nicht in Panik. In dem Auf ruf waren Verhaltensregeln enthalten gewe sen, nach denen sie sich blind richteten, so bald sie den ersten Schreck überwunden hat ten. Das Zeitaggregat aber brachte die Zeit kapsel, ohne daß sie sich räumlich verschob, um zehn Sekunden in Richtung Vergangen heit zurück. Sie kam dennoch nicht in der Zeit an, zu der sie mit der Schaltung der Ni sche angefangen hatte, sondern um soviel Zeit später, wie inzwischen hier und in der Nische in Richtung Zukunft verstrichen war. Das war ebenso normal wie wichtig, denn sie hätte nicht zweimal im gleichen Zeit punkt existieren können. »Es ist erstaunlich«, sagte Athork-Tae rant. »Nach den Lehren sollte es sogar unmög lich sein«, stichelte der Kundschafter.
Botschafter der Zeit »Das scheint nur bei oberflächlicher Be trachtungsweise so«, entgegnete der Torza ganer. »Die Großen Lehren haben immer recht. Sie werden nur manchmal von man chen Leuten falsch verstanden.« Beinahe hätte Algonkin-Yatta Beifall ge klatscht angesichts dieser schlitzohrig-dia lektischen Entgegnung, mit der Athork-Tae rant die Großen Lehren nach den Bedürfnis sen des Augenblicks zurechtgebogen hatte. Doch statt der Verlockung nachzugeben, sich mit Athork-Taerant in einer Diskussion zu messen, fragte er nur, welche Stadt als nächste an der Reihe sei. »Diesmal kommt etwas Besonderes dran«, antwortete der Torzaganer. »Unsere modernste Fabrik für Robot-Land maschinen. Ein Team von Technikern und Wissenschaftlern hat herausgefunden, wie die Fabrikation sich auf schnelle gepanzerte Gleiskettenfahrzeuge umstellen läßt, die mit Strahlwaffen bestückt sind. Die Fabrikation kann in wenigen Tagen anlaufen.« »Aber können wir dort genug eurer Leute unterbringen?« fragte Algonkin-Yatta. »Nur halb soviel wie sonst«, erwiderte Athork-Taerant. »Aber ich denke, daß dieser Nachteil mit dem Vorteil schneller und durchschlagender Vorstöße nicht zu teuer erkauft ist.« »Wahrscheinlich nicht«, gab der Kund schafter zu. »Es ist erstaunlich, daß ihr erst durch die Lautlosen auf den Gedanken einer Panzerwaffe gekommen seid. Andere Völ ker haben solche Fahrzeuge lange vor ihren ersten Vorstößen in den Weltraum gebaut.« »Wozu hätten wir sie früher bauen sol len?« erwiderte der Torzaganer. »Aus wel chen Gründen haben denn andere Völker diese Waffenart entwickelt? Wurden sie auch aus dem Weltraum angegriffen?« »Nein, sie haben sich damit gegenseitig dezimiert«, antwortete Algonkin-Yatta nach denklich. »So etwas gibt es?« staunte Athork-Tae rant. »Welche Verschwendung von Arbeits zeit und Produktionsausstoß! Wenn man die Bevölkerung reduzieren will, braucht man
23 doch nur die Zügel der Geburtenkontrolle straffer anzuziehen.« »Das stimmt«, sagte Algonkin-Yatta. »Aber es gibt im Universum eben nicht nur kluge, sondern auch dumme Intelligenzen. Allerdings haben viele dieser dummen Intel ligenzen im Verlauf ihrer späteren Entwick lung dazugelernt – und manche dieser Völ ker gehören heute zu den geistig gesünde sten und friedfertigsten.« In Gedanken korri gierte er sich, denn »heute« war zu früh, vor allem, wenn er an die Terraner dachte, auf die sich seine letzte Äußerung hauptsächlich bezogen hatte. Auf der Erde kannte man wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal den Gebrauch des Feuers. »Ich wollte, auch die Lautlosen wären in ihrer Entwicklung schon soweit«, sagte Athork-Taerant. »Es würde ihnen nicht viel nützen«, erwi derte Algonkin-Yatta betrübt. »Ich bin näm lich sicher, daß sie nicht aus freiem Willen so handeln, sondern die Sklaven einer finste ren Macht sind, die sie für ihre Zwecke miß braucht.« »Dann sind die Lautlosen eigentlich unse re Brüder, die es verdient haben, daß wir ih nen die Großen Lehren beibringen«, meinte der Torzaganer. Der Kundschafter seufzte. »Sie kennen nur ihre Befehle; auf allen anderen Ohren sind sie taub«, sagte er. »Sehen wir lieber zu, daß wir die Aktion ab geschlossen haben, bevor sie angreifen.«
4. ZEITPARTISANEN »Es sind fünftausend Deltaschiffe«, sagte Algonkin-Yatta zu Athork-Taerant. »Sie nä hern sich Xuverloth von drei Seiten.« Die Zeitkapsel war nach dem Abschluß der Ope ration Zeitnischen wieder gestartet und in einen Orbit um Xuverloth gegangen. Insge samt siebenundzwanzig Zeitnischen gab es auf dem Planeten. In ihnen lebten vierhun derttausend Torzaganer. Das war nicht we nig, wenn man bedachte, daß die Gesamtbe
24 völkerung von Xuverloth nur elf Millionen Torzaganer betrug. Der Torzaganer musterte die Kontrollen. »Unsere Zentrale funkt die Invasoren un unterbrochen an«, sagte er. »Sie bekommt aber keine Antwort. Das war eigentlich zu erwarten, denn wir kennen die Sprache der Lautlosen nicht. Vielleicht kommunizieren sie untereinander mit Hilfe von Telepathie.« Der Kundschafter schüttelte den Kopf und deutete auf einen anderen Kontrollschirm. »Nein, denn zwischen ihren Schiffen ge hen Funksprüche hin und her. Psiotronik, siehst du eine Möglichkeit, den Inhalt der Funksprüche zu übersetzen?« »Was soll ich mit meinem einzigen Auge noch alles sehen, Kundschafter?« fragte die Psiotronik und ließ ihr »Magisches Auge« heller aufleuchten. Der Translator vor Algonkin-Yattas Brust hatte auch das in die »Sprache« der Torza ganer übersetzt, und Athork-Taerant fragte: »Nach welcher seltsamen Pseudologik ar beitet dein Computer, Algonkin-Yatta? Ich weiß zwar inzwischen, daß dein Denken nicht völlig logisch ist, weil es nicht an den Großen Lehren orientiert wird, aber ein Computer sollte absolut nicht zu emotional begründeten Antworten fähig sein.« »Wie wahr!« erwiderte Algonkin-Yatta. »Allerdings ist die Psiotronik kein Computer im gewöhnlichen Sinn, aber sie sollte den noch nicht fähig sein, mich zu verspotten oder anderweitig zu ärgern.« »Woher willst du das wissen, Kundschaf ter?« sagte die Psiotronik. »Wo du doch gar nicht völlig logisch denken kannst.« »Ich habe dich als Denkhilfe«, erwiderte der Kundschafter. »Schon gut«, sagte die Psiotronik. »Ich habe es versucht, aber die Funksprüche sind kodiert. Wahrscheinlich sind es nur einfach vereinbarte Signale, deren Bedeutung nur die Eingeweihten kennen.« »Sobald ein Schiff irgendwie auf einen Funkspruch reagiert, müßte die Sinnerken nung der betreffenden Signale möglich sein«, warf Chairade ein.
H. G. Ewers »Das überprüfe ich gerade«, erklärte die Psiotronik. »Ich hoffe nur, daß die Lautlosen nicht einfach das Feuer eröffnen, auch wenn wir keinen Widerstand leisten«, sagte AthorkTaerant. »Das bezweifle ich«, erwiderte Algonkin-Yat ta. »Bei dem Angriff auf Draverloth haben sie nur solange geschossen, bis der Wider stand erlosch – und sie haben nur auf die Abwehrstellungen gefeuert. Da eure Ab wehrstellungen geräumt sind, würde nie mand verletzt, wenn die Lautlosen sie vor sorglich zerstören würden.« »Es würde Material zerstört, dessen Her stellung viele Millionen Arbeitsstunden ge kostet hat«, sagte der Torzaganer. »Sie durchfliegen soeben die Distanzlinie, von der aus sie den Beschuß auf Draverloth eröffneten«, meldete die Psiotronik. »Eine Übersetzung ihrer Funksprüche ist bisher auch nicht durch Bezugsrekonstruktionen der Reaktionen möglich.« »Ist es absolut sicher, daß die Invasoren die Zeitkapsel nicht orten können?« fragte Athork-Taerant. »Auf Draverloth haben sie sie jedenfalls nicht geortet«, antwortete der Kundschafter. Er beobachtete auf mehreren Bildschir men die sich bewegenden Lichtpunkte, die die georteten Deltaschiffe darstellten. Sie strebten immer mehr auseinander, je näher sie dem Planeten kamen. Es sah so aus, als wollten sie ganz Xuverloth besetzen, also auch die vorn Ozean bedeckte Oberfläche des Planeten. Doch das schien nur so. Nachdem ein Drittel der Flotte auf dem einzigen Konti nent gelandet war, näherten sich auch die restlichen Schiffe dem Kontinent. Sie lande ten bei den Lagunenstädten, bei denen vor her noch kein Deltaschiff gestanden hatte. »Sie haben tatsächlich nicht geschossen«, sagte Athork-Taerant erleichtert. Jedenfalls nahm der Kundschafter an, daß der Torzaga ner erleichtert war. Er in seiner Lage wäre es gewesen. »Wo befinden sich eigentlich eure Raum
Botschafter der Zeit schiffe?« wollte Algonkin-Yatta wissen. »Du überlegst, ob sie die gelandeten Inva soren angreifen sollten«, erwiderte AthorkTaerant. »Sie wären nicht dazu in der Lage, denn sie sind unbewaffnet. Außerdem besit zen wir nur siebzehn überlichtschnelle große Raumschiffe. Die Schiffe für den interplane tarischen Verkehr scheiden ohnehin aus. Sie sind zu langsam, um einen Überraschungs angriff zu fliegen. Sechzehn der InterstellarSchiffe befinden sich übrigens in geheimen Hangars auf dem zehnten Planeten. Das sie bzehnte Schiff, das, mit dem ich nach Xu verloth kam, lagert mit desaktivierten Ma schinen in einem relativ ortungssicheren Tiefhangar, der sich in einem Tiefseegraben befindet.« »Was heißt, relativ ortungssicher?« er kundigte sich Algonkin-Yatta. »Unter einer der größten Atommülldepo nien der atomaren Steinzeit«, antwortete Athork-Taerant. »Und warum sind die übrigen sechzehn Interstellar-Schiffe auf dem zehnten Plane ten untergebracht und nicht beispielsweise auf dem neunten?« wollte der Kundschafter wissen. Der Torzaganer zögerte so lange mit der Antwort, daß Algonkin-Yatta unruhig wurde und sich um Anlytha sorgte. »Gibt es dort Gefahren für Raumfahrer?« fragte er. »Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, Algonkin-Yatta«, gab Athork-Taerant zurück. »Offiziell gibt es dort keine Gefah ren. Dennoch steht der neunte Planet unter Quarantäne, da von den insgesamt elf Raumschiffen, die im Verlauf von fast zwei hundert Jahren dorthin geflogen sind, keines zurückgekehrt ist. Sie sind aber auch nicht auf Nummer neun verunglückt, sondern spurlos verschwunden. Vor allem nach dem Verschwinden des elften Schiffes kreisten fünf Suchschiffe dreiundvierzig Tage lang um den Planeten und tasteten mit ihren Or tungsgeräten jeden Quadratzentimeter ab. Mit negativem Ergebnis. Selbstverständlich teilen die Verantwortlichen nicht die An
25 sicht von einigen Torzaganern, die die Großen Lehren negieren und in ihrer geisti gen Blindheit behaupten, auf Nummer neun spuke es. Es gibt sicher eine reale, materielle Ursache für die Vorkommnisse, nur wurden sie bisher nicht gefunden.« »Anlytha wird sie herausfinden«, sagte der Kundschafter zu sich selbst. »Hoffentlich verbrennt sie sich nicht ihre langen Finger daran.« »Anlytha?« fragte der Torzaganer. »Eine Freundin«, antwortete Algonkin-Yat ta. »Ein tüchtiges Mädchen, aber ungeheuer neugierig. Sie wartet auf dem neunten Pla neten in meinem eigentlichen Kundschafter schiff auf mich. Die Zeitkapsel hat keinen so riesigen Aktionsradius und fliegt meist im Hangar des Mutterschiffs mit.« »Du mußt sie warnen, Algonkin-Yatta!« sagte Athork-Taerant. Der Kundschafter schüttelte betrübt den Kopf und erwiderte: »Wenn ich ihr verriete, daß es auf Num mer neun spukt, scharrte sie mit ihren eige nen Händen die obere Kruste des Planeten durch, um das vermeintliche Spukding zu finden. Nein, es ist besser, wenn sie nichts weiß. Und im Grunde genommen weiß sie sich ihrer Haut mit bemerkenswertem Ge schick zu wehren – sonst lebte sie längst nicht mehr. Ich denke, ich brauche mir ihret wegen keine Sorgen zu machen.«
* Wieder verstrichen nach der Landung der Deltaschiffe rund zwei Stunden, bevor die Landungskommandos ausgeschleust wurden und auf den bizarren Geräten, die Algonkin-Yat ta schon von Draverloth her kannte, die La gunenstädte von Xuverloth anflogen. Die Deltaschiffe blieben diesmal auf dem Bo den. »Kein Widerstand, also auch keine Dro hung«, kommentierte er. Die schwebenden Geräte kreisten die Städte ein. Algonkin-Yatta und Athork-Tae rant konzentrierten sich auf die Beobachtung
26 der Vorgänge um die Hauptstadt Noroak, um ihre Aufmerksamkeit nicht zu verzetteln. Der Kundschafter ließ eine Ausschnittver größerung heranholen, die einen der feindli chen Soldaten in Großaufnahme zeigte. »Er sieht dir ähnlich, Algonkin-Yatta«, sagte der Torzaganer. »Sind eure Völker miteinander verwandt?« »Du mußt mir vertrauen, Athork-Tae rant«, erwiderte der Kundschafter. »Außerdem gibt es nur für dich eine Ähn lichkeit mit den Lautlosen und mir, weil die äußeren Unterschiede zwischen dir und mir sowie dir und den Lautlosen größer sind als die zwischen mir und den Lautlosen. Beach te bitte, daß die Invasoren ihre Druckhelme bisher nicht geöffnet haben! Möglicherweise deutet das darauf hin, daß sie die Atmosphä re von Xuverloth nicht atmen können. Ich aber atme sie ohne Schwierigkeiten.« »Ich bitte um Entschuldigung, Algonkin-Yat ta«, sagte Athork-Taerant. »Es war nicht persönlich gemeint, aber als derzeit Verant wortlicher für die Sicherheit und Zukunft meines Volkes mußte ich eine Fangfrage stellen, um deine Lauterkeit zu testen. Wäre es nur um mich selbst gegangen, hätte ich das Risiko uneingeschränkten Vertrauens nicht gescheut.« »Aber als Risiko für dich hättest du es trotzdem angesehen, großer Torzaganer«, warf die Psiotronik ein. »Die Lehren besagen, daß Vertrauen Zucker auf dem Gebäck der Zusammenar beit aller Tüchtigen ist, aber daß nur die Kontrolle Gewißheit darüber verschafft, daß beim Abwiegen der Zutaten des Gebäcks keine Unregelmäßigkeiten vorgekommen sind«, erklärte Athork-Taerant. »Die Gewiß heit der Kontrollen ist die Basis des Vertrau ens und steht daher über ihm.« »Auf Ruoryc fragen wir jemanden, wenn wir wissen wollen, ob er etwas genauso ge macht hat, wie es gemacht werden muß«, er widerte Algonkin-Yatta. »Kein Mathoner ist nämlich fähig, zu lügen. Aber bei allen an deren Völkern, mit deren Angehörigen ich Kontakt bekam, gehört es anscheinend zum
H. G. Ewers guten Ton, sich gegenseitig zu übervorteilen und es auch durch vorsätzliches Sagen der Unwahrheit zu vertuschen.« »Kein Mathoner kann lügen!« Der Torza ganer sagte es so langsam, daß Algonkin-Yat ta trotz der Fremdartigkeit den Neid heraus hörte, den Athork-Taerant auf diese Unfä higkeit der Mathoner empfand. »Gibt es ein bestimmtes Gen, das diese geniale Verhü tung der kompliziertesten und unproduktiv sten gesellschaftlichen Konflikte bewirkt?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte der Kund schafter. »Aber jetzt ist auch nicht die Zeit dazu, über solche Probleme zu reden.« Er deutete auf den Bildschirm, der die Stadt Noroak und die sie umringenden Gerä te der Invasoren zeigte. Soeben leuchteten die Geräte auf und überfluteten Noroak mit milchigweißem Licht. »Sie töten die Bewohner!« sagte AthorkTaerant. »Es handelt sich um eine Beeinflussungs strahlung«, beruhigte der Kundschafter ihn. »Sie bewirkt, daß die für die Invasoren brauchbaren Arbeitskräfte die Stadt verlas sen.« »Aber diese Arbeitskräfte haben wir größ tenteils evakuiert und in den Zeitblasen ver steckt«, erwiderte der Torzaganer. »Wenn die Invasoren merken, daß sie auf Xuverloth nicht genug Arbeiter bekommen, werden sie den Planeten vielleicht als unproduktive Welt einstufen.« Ein dünner Strom von Torzaganern sickerte aus der Stadt. Er wurde nicht vom Deltaschiff an Bord gezogen, sondern mußte den Weg zu Fuß zurücklegen. Der Ring der bizarren Geräte aber blieb und schickte sein milchigweißes Licht wie der und wieder durch Noroak hindurch. »Wo nichts ist, könnt ihr nichts holen!« frohlockte Athork-Taerant. Algonkin-Yatta runzelte nachdenklich die Stirn. Die Wiederholung des Lichtbombar dements ließ nur den Schluß zu, daß die In vasoren es zumindest für unwahrscheinlich hielten, daß auf der Mutterwelt der Torzaga ner erheblich weniger qualifizierte Kräfte in
Botschafter der Zeit den Städten lebten als in der Kolonie auf Draverloth. Wenn sie zudem berücksichtigten, daß sie Xuverloth kampflos hatten erobern können, mußte sie das nicht mißtrauisch machen? Vielleicht argwöhnten sie, daß die qualifi zierten Arbeitskräfte aus den Städten ge flüchtet waren oder dafür gesorgt hatten, daß sie nicht auf die Beeinflussungsstrahlung reagieren konnten. »Lichtzusammensetzung aus den Geräten verändert sich«, meldete die Psiotronik. Der Kundschafter schaute genau hin, konnte aber mit bloßem Auge keine Verän derung feststellen. Nach wenigen Minuten aber quoll ein dicker Strom von Torzaganern aus den Stadttoren. Auch sie mußten zu Fuß zum Deltaschiff gehen, in dem die erste Gruppe unterdessen verschwunden war. Als sie beim Schiff ankamen, hielten sie an und traten anschließend zwischen zwei kegelförmigen Geräten hindurch, die sich vor der Schiffsschleuse aufgebaut hatten. Entsetzt schrie Algonkin-Yatta auf, als der erste Torzaganer zwischen den Geräten verglühte. Auch der zweite und der dritte verglühten, nachdem sie, willenlos wie sie gemacht worden waren, trotz des Todes ih rer Vorgänger zwischen die kegelförmigen Geräte getreten waren. »Sie morden die ganze Bevölkerung!« rief Athork-Taerant. Der vierte Torzaganer trat zwischen die Geräte, die anscheinend Hinrichtungsgeräte waren. Algonkin-Yatta sah mit offenem Mund, daß er nicht verglühte, sondern statt dessen weiterging und in der Schleuse des Deltaschiffs verschwand. »Was war der Unterschied zwischen ihm und seinen Vorgängern?« fragte Algonkin-Yat ta. »Er ist ein Kind«, antwortete der Torzaga ner. »Das heißt, daß er lernfähig genug ist, um zu einer für die Invasoren qualifizierten Kraft ausgebildet zu werden«, warf die Psio tronik ein. »Aber dann brauchten sie doch die ande
27 ren nicht zu töten«, sagte Athork-Taerant. »Erpressung«, meinte Algonkin-Yatta. »Die Invasoren vermuten ausreichend quali fizierte Kräfte auf Xuverloth, die sich ver borgen halten. Sie wollen sie unter Druck setzen und zwingen, aus ihren Verstecken zu kommen, weil sonst ein großer Teil der Be völkerung ermordet würde.« »Was sollen wir tun?« fragte der Torzaga ner. »Was werden die Torzaganer in den Zeit nischen tun?« erwiderte Chairade. »Ihr wißt ja, daß ich die Zeitschienen mit Bildinfor mationen über den Verlauf der Invasion speise – und daß diese Informationen auch bei Einbahnschaltung der Schienen durch kommen, wißt ihr auch. Die Verborgenen wissen also alles, was auch wir wissen.« »Sofort Informationsfluß unterbrechen!« schrie Algonkin-Yatta. »Sagtest du mir nicht einmal, daß die Ma nipulierung von Meinungen, und sei es nur durch das Verschweigen bestimmter Fakten, gegen sogenannte moralischen Werte ver stieße, Kundschafter?« fragte der Torzaga ner. »Ich weiß«, gab Algonkin-Yatta zu. »Aber eine Information, die jemanden ins Verderben stürzt, muß zurückgehalten wer den. Was, denkt ihr, würden die Verborge nen tun, wenn sie erführen, daß die Morde weitergehen?« Er stöhnte, als wieder ein Torzaganer ver glühte – und das alles gab es bei allen Städ ten auf Xuverloth. »Sie haben bereits genug gesehen, denke ich«, sagte die Psiotronik. »Da sie dazu er zogen worden sind, für die Gemeinschaft da zu sein, werden sie nicht lange fackeln und ihre Verstecke verlassen, um dem Morden gewaltsam ein Ende zu bereiten.« »Ausdrücke hast du!« rief der Kundschaf ter. »Aber du hast recht. Schicke den Ver borgenen die Information, daß ich etwas ge gen das Töten unternehmen werde, daß sie sich aber zurückhalten müssen. Noch ist nicht die richtige Zeit für Partisanenkrieg. Sie sollen warten, bis ich ihnen das verein
28
H. G. Ewers
barte Signal gebe.«
* Algonkin-Yatta steuerte die Zeitkapsel über das Deltaschiff, das vor den Toren von Noroak stand. »Was können wir unternehmen?« fragte Athork-Taerant. »Wir haben keine große Wahl, denn wir können nicht stundenlang mitansehen, wie die Invasoren morden«, antwortete der Kundschafter. »Normalerweise …« Er un terbrach sich, als wieder ein Torzaganer ver glühte. »Uns bleibt nur Gewalt.« Er richtete den kleinen Traktorstrahler der Zeitkapsel auf einen der beiden Todeskegel aus, dann aktivierte er ihn. Der Kegel löste sich vom Boden, stieg schwankend empor und wurde an der Kapsel verankert. Unten rückte die Schlange der Torzaganer weiter vor, aber niemand verglühte mehr. Die außerhalb des Deltaschiffs befindli chen Invasoren liefen verstört durcheinan der, aber Algonkin-Yatta hielt sich nicht da mit auf, lange zu beobachten. Er steuerte die Zeitkapsel über die Mitte des Sees und ließ den Kegel einfach fallen. Er schlug auf dem Wasser auf und versank schnell. »Ob sie ahnen, was geschehen ist?« fragte Athork-Taerant und schaute auf den Bild schirm, der das große Deltaschiff zeigte. Es lang genauso da wie zuvor. »Das kommt auf ihr Vermögen an, logi sche Schlüsse zu ziehen«, antwortete der Kundschafter. »Sie werden gesehen haben, daß der Kegel in die Luft stieg, aber sobald er in die Nähe der Zeitkapsel kam, wurde er in unseren Ortungsschutz einbezogen und verschwand dadurch für die Lautlosen. Aber da das dicht über ihrem Schiff geschah, so daß es ihren Blicken entzogen war, können sie immerhin annehmen, eine Automatik ih res Schiffes habe verrückt gespielt.« »Werden sie das auch noch annehmen, wenn wir dem nächsten Schiff einen Kegel geklaut haben?« fragte die Psiotronik. »Ich muß dich ermahnen, diese terrani-
schen Vulgärvokabeln nicht zu verwenden!« sagte Algonkin-Yatta. »Die terranischen Sprachen haben doch soviel Kostbares zu bieten, daß wir uns nicht an die negativen Auswüchse klammern müssen, zum Teu fel!« »Kostbar, kostbar!« rief die Psiotronik. Algonkin-Yatta erwiderte diesmal nichts, sondern steuerte die Zeitkapsel bereits auf das nächste Schiff bei der nächsten Stadt zu. Auch dort wurden Torzaganer mittels psy chischer Beeinflussung gezwungen, zwi schen zwei Kegeln hindurchzugehen, deren Automatik jeden tötete, der für die Pläne der Invasoren unbrauchbar war. Der Kundschafter ging genauso vor wie beim ersten Schiff. Auch diesmal wurde ei ner der Kegel im See versenkt. Und auch hier gab es bei den Lautlosen keine andere Reaktion als Verwirrung. Das änderte sich beim dritten Deltaschiff. Kaum hatte der Traktorstrahl einen der Todeskegel erfaßt, als die Energiegeschütze des Schiffes nach schräg oben feuerten. Sie richteten allerdings nur bei einigen Vögeln und Wolken Schaden an, da sich die Zeit kapsel im toten Winkel befand. Allerdings war sie gezwungen, dort zu verharren. »Wenn wir starten, werden wir getrof fen«, meinte die Psiotronik. »Und wenn wir hier bleiben, werden sich die Leute an uns stoßen, die demnächst die Oberfläche ihres Schiffes nach dem Kegel absuchen.« »Stimmt das?« fragte Athork-Taerant. »Leider stimmt es«, antwortete Algonkin-Yat ta. »Wir können nicht einen Meter höher steigen. Folglich werden sich die ersten Lautlosen, die in unsere Nähe kommen, im wahren Sinne des Wortes an uns die Köpfe anstoßen.« »Ich gehe hinaus und lenke sie ab«, sagte der Torzaganer. »Das ist sehr mutig«, erwiderte der Kund schafter. »Aber die Invasoren werden kaum annehmen, daß du allein den Kegel gestoh len hast. Folglich würden sie auch dann wei tersuchen, wenn sie dich getötet oder einge
Botschafter der Zeit fangen hätten.« »Die ersten Invasoren kommen«, meldete die Psiotronik und schaltete einen Teil ihrer Sensoren so, daß auf drei Bildschirmen Gruppen von Fremden zu sehen waren, die aus Luken an der Oberfläche des Delta schiffs stiegen. Sie hielten stabförmige Waf fen in den Händen und bildeten Suchketten. »Es hilft nichts; wir werden uns in eine Zeitnische zurückziehen müssen«, sagte Al gonkin-Yatta. »Gern tue ich es nicht in un mittelbarer Nähe des Schiffes mit seinen zahlreichen Ortungsgeräten. Zumindest eini ge Strukturverzerrungen werden anmeßbar sein, während die Nische entsteht. Wir kön nen nur hoffen, daß die Invasoren daraus nicht den richtigen Schluß ziehen.« »Was würde ihnen das helfen?« fragte Athork-Taerant. »Wir kennen ihre Möglichkeiten noch lange nicht alle«, erwiderte der Kundschaf ter. Plötzlich sahen er und der Torzaganer, daß die ausgeschwärmten Invasoren stehen blieben und dann auf die Luken zuliefen, aus denen sie gestiegen waren. Gleichzeitig er losch das Feuer der Strahlgeschütze. Algonkin-Yatta wartete nicht ab, bis der Grund dafür herausgefunden war. Er zog die Zeitkapsel steil nach oben und steuerte sie vom Deltaschiff weg über den See. »Dachte ich es mir doch!« rief er, als auf einigen Bildschirmen Ausschnitte des Ge ländes rings um die Lagunenstadt zu sehen waren, bei der sie sich gerade befanden. Ungefähr tausend torzaganische Soldaten waren – scheinbar aus dem Nichts kommend – ausgeschwärmt. Sie führten auf Antigrav plattformen schwere Strahlwaffen und Rake tenwerfer mit sich und eröffneten das Feuer auf die bizarren Geräte, von denen die leuchtende Beeinflussungsstrahlung noch immer durch die Stadt geschickt wurde. Ein Gerät nach dem anderen wurde ge troffen, verwandelte sich in einen glühenden Schutthaufen und stürzte ab. Ungefähr die Hälfte der Geräte versuchten zu entkommen, aber sie waren zu langsam. Innerhalb weni
29 ger Minuten war alles vorbei. Die Partisanen zogen sich so schnell zurück, wie sie ge kommen waren. »Sie haben genau nach deinen Instruktio nen gehandelt, Algonkin-Yatta«, sagte Athork-Taerant. »Wir können stolz auf sie sein.« »Aber sie haben zu früh losgeschlagen«, entgegnete der Kundschafter. Während eine Gruppe Partisanen Sperr feuer vor eine Kolonne von plumpen Flug panzern legte, die sich vom Deltaschiff nä herten, verschwanden die anderen hinter ei nem Hügel, wo sich unsichtbar das diesseiti ge Ende der Zeitschiene befand. Die Torzaganer, die die Rückendeckung übernommen hatten, wurden von den Flug panzern beschossen, die sich zu einem Halb kreis formierten, um den Partisanen den Rückweg zu verlegen. Erschüttert sah Al gonkin-Yatta, daß die Torzaganer sich nicht hinter den Hügel zurückzogen, sondern bis zum bitteren Ende kämpften. »Sie haben die Invasoren nicht zur Zeit schiene führen wollen«, sagte Athork-Tae rant. »Ich weiß«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Dennoch macht mich dieses Töten und Sterben krank.« »Die Verluste der Invasoren waren viel größer als unsere«, erklärte der Torzaganer. Die Flugpanzer der Invasoren bildeten einen vollen Kreis, der den Hügel und meh rere Quadratkilometer des umgebenden Ge ländes einschloß. Ihre Energiewaffen feuer ten auf jeden Baum, jeden Strauch und jeden Felsblock, hinter dem sich eventuell Partisa nen verbergen konnten. Als alle potentiellen Verstecke nur noch Asche waren, landeten die Panzer. Invasoren stiegen aus und hasteten durch das Gelände. Anscheinend gehorchten sie den Befehlen des Schiffskommandanten, der ihnen wohl nicht glaubte, daß der Gegner spurlos ver schwunden sein sollte. »Soeben ist ein Invasor in die Zeitschiene gestolpert«, meldete die Psiotronik. »Wenn er zurückkommt, werden die Invasoren sich
30
H. G. Ewers
einen Reim darauf machen können, wohin die Partisanen verschwunden sind.« »Er kommt nicht zurück«, erklärte Athork-Taerant. »So dumm sind unsere Par tisanen nicht.« Algonkin-Yatta nickte mit düsterem Ge sicht. Er sah, daß das Deltaschiff sich erhob, und steuerte die Zeitkapsel einige Kilometer weiter weg. »Das Schiff kreist über dem Gelände, in dem die Partisanen verschwunden sind«, sagte Athork-Taerant. »Könnte es bei inten siver Ortung die Zeitnische entdecken?« Der Kundschafter schüttelte den Kopf. »Da die Blase immer zehn Sekunden vor der Gegenwart herläuft, ist sie faktisch nicht vorhanden. Sie kann also auch nicht geortet werden.« Er beobachtete, wie das Deltaschiff hinter dem Hügel landete und die Flugpanzer wie der an Bord nahm. Anschließend flog es rund dreißig Kilometer weiter, landete in ei ner wilden Hügellandschaft und schleuste die gefangenen Torzaganer aus. Wenig spä ter begannen die Gefangenen mit dem Auf bau eines Lagers für sich. »Sie bauen einen Stützpunkt«, sagte Athork-Taerant. »Ich begreife das nicht. Die Invasoren tun so, als wären sie niemals von Partisanen angegriffen worden.« »Das tun sie ganz sicher nicht«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Aber ihre Instruktionen werden nicht zulassen, daß durch Zwischen fälle wie vorhin die Festigung ihrer Herr schaft über den Planeten verzögert wird.« »Und was kommt dann?« fragte der Tor zaganer. »Die Zeit wird es zeigen«, antwortete Al gonkin-Yatta.
5. GEFANGEN Besorgt hörte sich der Kundschafter die Meldungen der Psiotronik an. Danach sah es so aus, als hätten die ständigen Überfälle der Partisanen während der letzten neun Wo chen die Invasoren zermürbt, zumindest aber
verunsichert. Ein Viertel aller Stützpunkte waren aufge geben worden. Die Lautlosen hatten sie ver lassen und kümmerten sich nicht mehr um die Torzaganer, die die Stützpunkte in schwerer Sklavenarbeit aufgebaut hatten. Die Invasoren aber zogen sich in ihre Schif fe zurück. »Die Lautlosen verlassen Xuverloth, du wirst es erleben!« sagte Athork-Taerant. Der Torzaganer hatte sichtbar abgenommen. Die letzten neun Wochen waren für ihn eine starke psychische Belastung gewesen, und die Sorge um das Schicksal seines Volkes hatte ihm oftmals so zugesetzt, daß er ganze Mahlzeiten ausließ. »Ich vermag deinen Optimismus nicht zu teilen, Athork-Taerant«, erwiderte Algon kin-Yatta. »Ja, wenn es nur die Lautlosen gäbe, wenn sie auf eigene Faust handelten, dann wäre es denkbar, daß sie ihre Pläne mit Xuverloth aufgeben würden. Aber hinter ih nen steht eine Macht, die zweifellos imstan de ist, ihren Willen durchzusetzen. Sie wird nicht zulassen, daß Xuverloth aufgegeben wird, nur weil er von den Lautlosen einen ständigen Aderlaß fordert.« »Diese sagenhafte Schwarze Galaxis, Al gonkin-Yatta, ist unendlich weit von uns entfernt«, entgegnete der Torzaganer. »Sonst müßten unsere stärksten Teleskope sie längst entdeckt haben. Vielleicht gibt es sie gar nicht. Du hast ja keinen Beweis dafür, oder?« »Keinen direkten Beweis, aber einen indi rekten«, erklärte der Kundschafter. »Ich ha be dir erzählt, daß ich auf der Suche nach Atlan bin und daß Atlan sich auf Pthor, ei nem Gebilde aus der Schwarzen Galaxis, be findet. Und während der Suche nach Atlan geriet ich in den Sog, dessen Energiemuster eine Übereinstimmung mit dem Energiemu ster von Pthor aufweist – und dieser Sog deutet auf einen Raum im Mittelpunkt einer errechneten Kugelschale aus zahllosen Kleingalaxien. Eure Galaxis ist eine dieser Kleingalaxien. Das genügt mir als Indiz da für, daß die Lautlosen von den Herren der
Botschafter der Zeit Schwarzen Galaxis geschickt sind.« »Aber warum wollen sie ausgerechnet un sere Planeten beherrschen?« fragte AthorkTaerant. »Es gibt doch in dieser Galaxis so viele unbewohnte Planeten, auf denen Stütz punkte errichtet werden können.« »Man braucht Hilfsvölker«, erklärte der Kundschafter. »In den Plänen der Herren der Schwarzen Galaxis nehmt ihr Torzaganer einen bestimmten Platz ein. Wahrscheinlich sollt ihr, wenn euer ganzes Volk nach Gene rationen ein Volk von willigen Sklaven ist, eure ganze Kleingalaxis als Statthalter derje nigen kontrollieren, die heute noch im ver borgenen bleiben.« Athork-Taerant dachte darüber nach, dann meinte er: »Statthalter über eine Galaxis; das ist ei gentlich eine ehrenvolle Aufgabe für ein Volk. Würden wir dabei nicht gewinnen?« »Ihr wärt nicht mehr als organische Robo ter, ohne Ehre, ohne Glück und ohne eige nen Willen«, entgegnete Algonkin-Yatta. »Ich wünschte, ihr hättet nicht zur Unzeit mit dem Partisanenkrieg begonnen. Immer wieder habe ich dich und die Kommandeure der einzelnen Partisanenlager in den Zeitni schen gewarnt und gebeten, abzuwarten, bis die Lautlosen davon überzeugt sind, Xuver loth und eure anderen Planeten einwandfrei zu beherrschen und bis ihr mehr über ihre Pläne herausgefunden habt. Dann hätte es eine echte Chance gegeben, die Invasoren zu schlagen und sie zu zwingen, ihre Geheim kodes preiszugeben, so daß ihr ihren Auf traggebern gegenüber ihre Rolle spielen könntet. Das ist nicht mehr möglich.« »Raumschiff fliegt ins System ein«, mel dete die Psiotronik. »Nach der angemesse nen Strukturerschütterung zu urteilen, kam es von außerhalb dieser Galaxis.« »Ein Raumschiff der Lautlosen?« fragte Athork-Taerant. »Es ist ein Deltaschiff«, antwortete die Psiotronik. »Aber seine Seitenlänge beträgt nicht fünfhundert Meter, wie bei den bisher bekannten Deltaschiffen, sondern tausend fünfhundert Meter. Die Höhe der Seitenflä
31 chen beträgt hundertachtzig Meter; der halb kugelförmige Bugaufsatz hat einen Durch messer von dreihundert Metern.« »Kommen die Herren der Schwarzen Ga laxis jetzt selbst?« fragte Athork-Taerant. »Wohl kaum«, sagte Algonkin-Yatta. »Das Schiff ist nur größer, aber sonst genau so ein Deltaschiff wie das der Lautlosen, die sich bereits auf Xuverloth befinden.« »Gleichzeitiger Start von tausendzwei hundertfünfzig Deltaschiffen«, berichtete die Psiotronik. »Es handelt sich um die Schiffe, in die sich die Lautlosen wieder zurückgezo gen hatten.« »Demnach erfolgte ihr Rückzug nicht, weil sie die Angriffe der Partisanen nicht länger ertrugen«, sagte der Kundschafter. »Mir scheint, als sollten sie das große Schiff sicher nach Xuverloth geleiten.« Seine Vermutung wurde von den Ereig nissen bestätigt. Zwar flogen die tausend zweihundertfünfzig Schiffe nicht alle dem großen Schiff entgegen, sondern nur fünf undsechzig, aber alle sorgten für die Sicher heit des großen Schiffes. Das Gros des Ver bands verteilte sich nämlich auf unterschied lichen Kreisbahnen um den Planeten, zer störte durch gezielten Beschuß innerhalb weniger Minuten alle Antennenschüsseln für die Beeinflussungsstrahlung und schoß Ra ketenbomben mit nuklearer Ladung auf drei Trupps ausgeschwärmter Partisanen ab. »Die Sicherheit des großen Schiffes scheint ihnen sehr wichtig zu sein«, stellte die Psiotronik fest. Der Kundschafter nickte und sagte: »Ich fürchte, mit dem großen Schiff kommt etwas nach Xuverloth, das uns gar nicht gefallen wird.«
* Entgegen Algonkin-Yattas Erwartung lan dete das große Deltaschiff nicht auf dem Planeten, sondern ging in eine Kreisbahn. Dort stieß es Material aus, das von Raum fahrern aus dem Schiff zu rätselhaften Kon struktionen montiert wurde.
32 Insgesamt drei solcher Konstruktionen entstanden, orbitalen Sonnenenergie-Kraftwer ken gleich, wie sie vor langer Zeit von Ter ranern geplant und im Modell gebaut wor den waren. Zugstrahlen hoben sie auf Posi tionen im stationären Orbit, das heißt, auf solche Höhen, daß ihre Kreisbahngeschwin digkeit gleich der Rotationsgeschwindigkeit Xuverloths war, so daß sie ständig über einund derselben Stelle der Planetenoberfläche standen. Alle drei Konstruktionen waren außerdem gleich weit voneinander entfernt, so daß ihre Abstrahlantennen jeden Quadratzentimeter der Planetenoberfläche bestreichen konnten. Die zwölfhundertfünfzig anderen Delta schiffe setzten sich gruppenweise über, vor, hinter und neben die Konstruktionen und das große Schiff. Es war klar ersichtlich, daß sie etwas sehr Wichtiges beschützen sollten. Seltsamerweise griff keines von ihnen ein, als wieder ein Partisanenvorstoß aus einer Zeitnische erfolgte. Die Partisanen griffen einen Materialtransport der Invasoren für einen ihrer Stützpunkte an, vernichteten die Fahrzeuge, nahmen die Begleiter gefangen und verschwanden wieder. Für kurze Zeit sah es so aus, als fänden sie das diesseitige Ende der Zeitmaschine nicht wieder, aber dann tauchten sie doch wieder hinauf in die abstrakte Zukunft. »In einem der Satelliten wurde für die Dauer von zwei Sekunden ein starker Ta chyonenstrom angemessen«, meldete die Psiotronik. »Nur innerhalb des Satelliten?« fragte der Kundschafter. »Nur innerhalb des Satelliten«, antwortete die Psiotronik. »Aber auf dem Punkt der Planetenoberfläche, auf dem in zehn Sekun den die Zeitnische steht, kam es zu einer räumlichen Verzerrung, die genau sechs Se kunden lang anhielt.« »Was bedeutet das?« fragte Athork-Tae rant. »Es bedeutet, daß vom Satelliten aus ver sucht wurde, die Zeitnische zu manipulie ren«, vermutete Algonkin-Yatta. »Chairade,
H. G. Ewers kannst du uns etwas darüber sagen?« Als er keine Antwort erhielt, schaute Al gonkin-Yatta zur Aufenthaltskugel hinüber. Er erschrak, als er sah, daß das Plasma viel schwächer leuchtete als sonst und sich kaum bewegte. »Psiotronik, kannst du einen Kontakt zu Chairade herstellen?« fragte er. »Nein«, antwortete die Psiotronik. »Wir sollten in die betreffende Zeitnische gehen und nachsehen, ob dort alles in Ord nung ist«, teilte der Torzaganer ihm mit. »Ja, ich denke, das sollten wir tun«, mein te der Kundschafter. »Außerdem haben die Partisanen dieser Nische als erste einige der Invasoren gefangengenommen. Es wird nützlich sein, sie zu verhören.« Er steuerte die Zeitkapsel zu der Nische, die zufällig die war, die die Fabrikanlagen für Kampfpanzer enthielt. Es gab keine Schwierigkeiten, das diesseitige Ende der Schiene zu finden. Ohne sich räumlich zu bewegen, glitt die Zeitkapsel über die Schie ne zehn Sekunden weit in die Zukunft. Athork-Taerant verließ die Kapsel in be trächtlicher Eile und rannte dorthin, wo etwa zweihundert andere Torzaganer die achtzehn Kampfpanzer umstanden, die gemeinsam mit aufgesessenen Soldaten den letzten Vor stoß unternommen hatten. »Chairade, was ist mit dir?« fragte Algon kin-Yatta besorgt und musterte das Plasma in der Aufenthaltskugel. Doch er bekam kei ne Antwort. Schließlich folgte er dem Torzaganer. Die anderen Einheimischen, die einen breiten Ring um die Kampfpanzer bildeten, machten dem Kundschafter respektvoll Platz. Algon kin-Yatta sah, daß Athork-Taerant bei den etwa zwanzig schwerbewaffneten Soldaten stand, die ihrerseits einen Kreis um fünfzehn gefangene Invasoren bildeten. Der Kreis der Bewaffneten diente aber weniger dazu, die Gefangenen an einer Flucht zu hindern als vielmehr, sie gegen die Umstehenden zu schützen, die sich am liebsten auf sie ge stürzt hätten, um sie zu töten. Athork-Taerant befahl zwei Soldaten,
Botschafter der Zeit einen der Invasoren auszuziehen. Der Laut lose leistete keinen Widerstand. Aus dem wulstförmigen Schutzanzug schälte sich ein krötenähnlich geformtes, sehr muskulöses Lebewesen, dessen erd braune Haut rissig und von geschwürig aus sehenden Warzen bedeckt war. Ohne den Schutzanzug wirkte es irgendwie tierhaft – und doch verriet es durch sein Verhalten, daß es hochintelligent und von einer alten Kultur geprägt war. Algonkin-Yatta musterte das Gesicht, die weit hervorgewölbten gelben Augen, die platte Nase und den fast lippenlosen Mund. Dann gab er dem Invasor mit Gesten zu ver stehen, daß er mit ihm zu kommunizieren wünschte. Zu seiner Verwunderung reagierte der In vasor augenblicklich – und das sogar aku stisch. Indem er die Lippen schnell, aber nur schwach bewegte, gab er ein kaum hörbares Flüstern von sich. Es hörte sich so ähnlich an wie das Zischeln einer Schlange. Der Kundschafter bezweifelte, daß sein Translator etwas mit diesem zischelnden Flüstern anfangen konnte, doch der Gefan gene bewies, daß die Invasoren, auf die der Name »Lautlose« nicht länger paßte, ausge zeichnet auf einen Kontakt mit Fremden vorbereitet waren. Er blickte einen Mitgefangenen an und flüsterte etwas. Daraufhin holte dieser aus der Brusttasche seines Schutzanzugs einen zirka zehn mal fünf mal ein Zentimeter großen Metallkasten mit geriffelter Oberflä che und zahlreichen leuchtenden Punkten und hielt ihn hoch, so daß Algonkin-Yatta ihn genau sehen konnte. Der Kundschafter hob mahnend die Hän de, als mehrere Soldaten auf den Invasor an legten. »Es scheint ein Translator zu sein«, er klärte er. »Aber sein Aussehen paßt gar nicht zu der relativ derben sonstigen Ausrü stung. Ich denke, sie haben ihn von ihren Herren und Auftraggebern.« Mit Gesten gab er dem Invasor zu verste hen, daß er den Translator aktivieren dürfe.
33 Der Invasor berührte mehrere der leuchtenden Punkte, flüsterte – und im nächsten Au genblick ertönte aus dem Translator die klopfende, raschelnde und knisternde »Sprache« der Torzaganer. »Du bist kein Torzaganer, Fremdling«, verstand Algonkin-Yatta, als sein Translator die torzaganischen Laute übersetzte. »Warum mischst du dich in Angelegenhei ten ein, die nur die Torzaganer und uns Kur romors etwas angehen?« Das war eine ziemlich unverschämte Fra ge für einen Gefangenen – und es schien darauf hinzudeuten, daß der Kurromor, der sie gestellt hatte, sich sehr gut auf die Ein schätzung und Einstufung fremder Intelli genzen verstand. »Wie kommst du darauf, daß ich zu zivili siert bin, um dein herausforderndes Beneh men nicht zum Anlaß zu nehmen, dich zu bestrafen?« erkundigte er sich. »Weil ich annehme, daß du es fertigge bracht hast, viele Torzaganer längere Zeit vor unserem Zugriff zu bewahren, indem du sie in Dimensionsblasen verbargst«, sagte der Kurromor. »Folglich mußt du einer hochentwickelten Zivilisation entstammen, und Angehörige solcher Zivilisationen sind meist sehr beherrscht und nicht leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.« Die Kurromors wissen also schon, daß ih re Gegner sich in Dimensionsblasen verbar gen! durchfuhr es Algonkin-Yatta. Doch dann sagte er sich, daß das nach den zahlrei chen Partisanen-Überfällen kein Wunder war. Was die Kurromors nicht meßtechnisch erfahren hatten, würden sie durch logisches Denken erraten haben. »Ich versuche den Torzaganern zu helfen, ihre Selbständigkeit zu bewahren«, erklärte der Kundschafter. »Ihr Kurromors habt kein Recht, ein anderes Volk zu unterdrücken, seine Mitglieder zu versklaven oder grund los zu töten und seinen Planeten wie euren Besitz anzusehen.« »Was soll die gefühlsmäßige Aufleh nung?« fragte der Kurromor. »Wir sind ge kommen, um die Grundlage für eine zukünf
34 tige Einigung aller Zivilisationen dieser Mi krogalaxis zu schaffen. Was bedeuten die subjektiven Nachteile für Angehörige dieser Generation, wenn dafür spätere Generatio nen von einer galaktischen Kollektivzivilisa tion profitieren? Opfer müssen gebracht werden, wenn dadurch die Zukunft gesichert wird.« »Wessen Zukunft?« empörte sich Algon kin-Yatta. »Doch nicht etwa die Zukunft dieser Torzaganer, die durch euer Eingreifen blockiert wird, denn das, was ihr ihnen dafür bietet, ist eine aufgezwungene und ihnen fremde Zukunft. Wer hat euch Kurromors geschickt? Welche Macht steht hinter euch?« »Die Logik steht hinter uns«, erklärte der Kurromor geduldig. »Unsere großen Com puter haben den Plan errechnet und die Me thoden festgelegt, nach denen er seit vielen Generationen vorbereitet wurde. Wir sind die ersten, die den Sprung durch das Nichts wagen durften und das Saatbett vorberei ten.« »Ihr nehmt euch zuviel heraus!« sagte Athork-Taerant zornbebend. »Erschießt die se Kerle, denn wir wollen nicht Saatbett, sondern Sämänner sein!« »Nein!« schrie der Kundschafter. »Die Kurromors sind geistig so konditioniert, daß sie gar nicht anders handeln, denken und re den können. Begreift ihr, sie sind für ihr Tun nicht verantwortlich. Genauso kanntet ihr den Weltraum dafür bestrafen, daß er ihre Schiffe zu euch gelassen hat!« »Algonkin-Yatta hat wahr gesprochen«, erklärte Athork-Taerant nach hitziger Rede und Gegenrede mit den Soldaten und der Menge. »Behandelt die Gefangenen gut, aber bewacht sie noch besser!« Ein Flackern huschte durch das transpa rente Flimmern, das sich außerhalb der Zeit nische nach allen Seiten scheinbar bis in die Unendlichkeit dehnte. Das Flimmern schien zu rotieren, aber das berührte nicht das, was innerhalb der Nische war. Dann sah es aus, als sänke die obere Wölbung herab. Ein paar Torzaganer rannten auf die In-
H. G. Ewers nenseite der Zeitnische zu, wurden zu ver drehten spiraligen Schemen, als sie mit der Innenwand der Nische in Berührung kamen, taumelten, sich normalisierend, zurück und »redeten« mit allen Fingern auf ihre Gefähr ten ein. »Sie finden den Ausgang nicht mehr«, sagte Athork-Taerant. »Das ist die Wirkung der DimensionsDeformatoren«, erklärte der Kurromor mit dem Translator. »Wenn ihr eine Möglichkeit habt, eine Nachricht nach draußen zu schicken und darin mitteilt, daß ihr euren sinnlosen Widerstand aufgebt, dann tut es bald, denn weder kommt ihr hinaus noch kommt jemand herein. Eure Vorräte reichen nicht ewig.«
* »Wartet, bitte!« sagte Algonkin-Yatta. Mehr sagte er nicht, denn er wollte keine Hoffnung wecken, bevor er nicht sicher war, daß es eine Hoffnung gab. Dimensions-Deformatoren! überlegte er, während er auf die Zeitkapsel zuging. Er hat nichts von Zeit erwähnt. Demnach ist es möglich, daß die Kurromors nicht wissen, daß wir hier in einer Zeitnische sind. Die Dimensions-Deformatoren wirken anschei nend auf alle Dimensionen ein, und es war wohl mehr Zufall, daß sie auch die Dimensi on Zeit deformierten. Er kletterte durch die Schleuse und betrat den Innenraum der Kapsel. »Chairade!« Fassungslos starrte der Kundschafter auf die Versorgungskugel, in der sich etwas be fand, das einem großen Eiskristall glich. »Chairade hat keine Lebensfunktionen mehr«, sagte die Psiotronik. »Sie ist tot?« flüsterte Algonkin-Yatta. »Aber warum?« »Es hängt mit den Zeitschienen zusam men«, berichtete die Psiotronik. »Als Chai rade sie schuf, mußte sie bei jeder Schiene etwas von ihrer Lebensenergie installieren, sonst hätten die Schienen nicht funktioniert.
Botschafter der Zeit Dadurch wurde sie immer schwächer, und als die Zeitschienen vorhin versiegelt wur den, versuchte Chairade das zu verhindern und verbrauchte dabei den letzten Rest ihrer Lebensenergie.« »Du hast es gewußt«, flüsterte der Kund schafter. »Warum hast du mir nichts davon gesagt? Ich hätte niemals zugelassen, daß Chairade sich opfert.« »Sie bat mich darum, es dir zu verschwei gen«, erklärte die Psiotronik. »Sie teilte mir mit, daß du vielleicht nicht begreifen wür dest, daß für sie das Erlöschen der Lebens energie nichts bedeute, da sie kein Individu um sei, sondern ein Teil der Gesamtheit, die dein Volk Aurogilts nennt.« Algonkin-Yatta setzte sich vor die Kon trollen des Zeitaggregats. »Aber Chairade hat wie ein Individuum gehandelt!« Er blickte noch immer auf das erstarrte Plasma. »Was ist das jetzt, was sich in der Versorgungskugel befindet? Ein Leichnam, der in Verwesung übergehen wird?« »Es setzt sich aus Gerüstsilikaten zusam men«, erwiderte die Psiotronik. »Mit Betei ligung fremder Elemente. Sehr stabil. Ich würde sagen, es handelt sich hierbei um den Lebensträger, der von der Lebensenergie ge trennt ist.« »So etwas wie eine vollständig entladene Batterie«, überlegte der Kundschafter laut. »Der Vergleich hinkt auf beiden Beinen«, sagte die Psiotronik. Algonkin-Yatta winkte ab. »Jeder Vergleich hinkt. Chairade …« Er schüttelte den Kopf. »Ich werde unser kurzes Zusammenleben mit Chairade nie verges sen. Sie war wie ein Mensch zu uns.« »Nur ich ermöglichte das«, erklärte die Psiotronik. »In Wirklichkeit war sie unvor stellbar anders.« Algonkin-Yatta lächelte. »Manches begreifst du nie, Psiotronik. Aber wir haben ein anderes Problem. Die Zeitnische ist gefährdet. Ich will testen, ob wir die Bewohner mit der Kapsel in Sicher heit bringen können.«
35 »Wohin?« fragte die Psiotronik. »In die Gegenwart? Oder in die konkrete, ferne Zu kunft? Oder in die Vergangenheit?« Der Kundschafter zuckte hilflos mit den Schultern. »Erst einmal müssen wir versuchen, hier herauszukommen.« Er fuhr mit den Fingern über die Zeit schaltlinien und programmierte eine Zeitrei se in die zehn Sekunden zurückliegende rea le Gegenwartsebene. Gleichzeitig aktivierte er wieder den Ortungsschutz. Die Zeitschaltlinien leuchteten ganz nor mal hinter seinen Fingern auf, dann kam das Aufblitzen der goldfarbenen Lichtpunkte an den Innenwandungen, die dumpf hallenden Schläge dröhnten. Es war wie immer. Bis sich die bekannten Schleier um die Kapsel legten … Das heißt, sie fingen an, sich um die Kap sel zu legen, dann rissen sie wieder ausein ander. Es gab einen harten Ruck. Die Zeitschaltlinien wurden dunkel; die goldfarbenen Lichtpunkte erloschen. Algon kin-Yatta fiel vornüber. Als er auf dem Bo den aufschlug, waren außerhalb der Kapsel Wochen vergangen …
6. SPUK IM EIS Anlytha setzte den letzten Detektor auf die Eisfläche und kehrte dann in die Pfadfin derkapsel zurück, um die Messungen zu steuern. Als sie das Steuergerät einschaltete, glaubte sie so etwas wie leise Musik zu hö ren. Sie schüttelte den Kopf und aktivierte die Detektoren. Orgelklänge brausten über die Ebene aus Eis … Verwirrt hob Anlytha den Kopf, denn auf einer atmosphärelosen Welt konnten sich keine Töne über der Oberfläche fortpflan zen, hatte sie bisher geglaubt. Doch sie hörte die Orgelklänge ganz deutlich. Am nördlichen Horizont schillerte und
36 funkelte es. Trilliarden Eiskristalle wuchsen gespenstisch aus dem Boden, funkelten und strahlten dabei in einem Feuer, das nicht von der fernen und kalten Sonne Punark kom men konnte. Fasziniert sah Anlytha zu, wie sich auch am westlichen Horizont ein Gebirge aus Eis kristallen bildete, die gleich kostbaren Edel steinen funkelten, hinter denen der Glutball einer Kugel aus gebändigten nuklearen Re aktionen strahlte. Immer lauter wurden die Orgelklänge … Anlytha wollte den Druckhelm öffnen und dachte nicht daran, daß das ihre letzte Handlung gewesen wäre, da der Schutz schirm der Pfadfinderkapsel nicht einge schaltet war und das Vakuum des Welt raums bis auf den Boden der offenen Schale reichte. Ein Signal aus dem Steuergerät brachte ihre Sinne auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Sie beugte sich vor und musterte die Anzeigeplatte des Geräts. Die Detektoren hatten ganze Arbeit gelei stet. Auf der Bildplatte war klar und deutlich die Silhouette eines Gebildes zu sehen, das sich aus zahlreichen Kugeln zusammenfügte und ungefähr zwanzig Meter durchmaß. Und die Anzeigen verrieten außerdem, daß es in dem Gebilde hyperenergetische Aktivität gab. »Anlytha!« Das war die Stimme der Schiffspsiotronik gewesen, die aus dem Hel minnenlautsprechern der Funkanlage kam. Anlytha schrak auf. Kaum bewußt regi strierte sie die schillernden, funkelnden Ge birge aus Eiskristallen, die sich schon in ge ringer Entfernung auftürmten. »Komm bitte sofort ins Schiff zurück, Anlytha!« dröhnte die dunkle Stimme der Schiffspsiotronik. »Du bist durch Eiskristall berge gefährdet, die dich einzuschließen drohen.« Anlytha blickte noch einmal auf. Diesmal sah sie die Kristallberge bewußt – und sie begriff, daß sie gefährdet war. Die Eiskri stalle wuchsen so schnell aus der ehemals
H. G. Ewers ebenen Eisfläche, daß nicht einmal Zeit dazu war, die Detektoren zu bergen. Anlytha startete die Pfadfinderkapsel – einen Sekundenbruchteil, bevor direkt dar unter die Eisdecke barst und Eiskristall stücke rasend schnell emporwuchsen. Das Abbild des fremdartigen Gebildes tief im Eis verschwamm und erlosch schließlich, als die Detektoren von Eiskristallen zer malmt wurden. »Ich gebe nicht auf!« sagte Anlytha zu sich selbst. »Nicht, bevor ich weiß, was das dort unten ist!« Als sie die Pfadfinderkapsel eingeschleust hatte und die Zentrale der RUORYC betrat, sah sie auf den Bildschirmen und an den Kontrollen, daß das Kundschafterschiff gest artet war. »Was fällt dir ein, du dämliche Psiotro nik?« zeterte sie. »Algonkin-Yatta hat mir den Befehl über das Schiff gegeben, als er aufbrach.« »Ich weiß, schöne Vogelkönigin«, erwi derte die Psiotronik mit spöttisch gefärbter Stimme, die aber bei den nächsten Worten wieder ernsthaft klang. »Ich mußte starten, bevor die Kristalle sich weiter im Schiff aus breiteten. Sie hatten sogar schon auf die Re aktionsmaterie der Triebwerke übergegrif fen.« »Was?« fragte Anlytha erschrocken. »Aber wie konnten die Kristalle ins Schiff kommen?« »Sie sind nicht ins Schiff gekommen, son dern im Schiff gewachsen«, erklärte die Psiotronik. »Besonders unsere HeliumIII-Vorräte wurden in dieser Richtung beein flußt. Ich merkte es eigentlich nur deshalb, weil mein psionischer Sektor auch davon be troffen war.« »Kannst du dann überhaupt noch loyal ge genüber dem Kundschafter und mir han deln?« fragte Anlytha. »Andernfalls wäre ich nicht gestartet«, antwortete die Psiotronik. »Der Einfluß läßt um so mehr nach, je weiter wir uns von Si ren entfernen.« »Siren?«
Botschafter der Zeit
37
»Der Name wurde von der Psiotronik der Zeitkapsel übernommen und stammt aus dem Besuch im alten terranischen Rom. Si ren bedeutete dort sinngemäß so etwas wie eine Verlockung.« »Das ist zuviel der Ehre für diese Glitzer welt!« erwiderte Anlytha. »Sicher, sie lockt mich wegen ihrer Rätsel, aber sie kann mich nicht verlocken.« »Das bezweifle ich«, meinte die Psiotro nik. »Warum reagierst du dann nicht auf die täglichen Meldungen von mir, daß wieder keine Nachricht vom Kundschafter gekom men ist?« »Oh!« machte Anlytha verlegen. »Wie lange ist es her, daß …?« »Seit fünf Wochen haben wir keine Nach richt erhalten«, erklärte die Psiotronik. »Dabei sollte alle vier Tage eine kurze Nachricht mit einer Sonde durch die Zeit ge schickt werden.« »Das sieht Yatta ähnlich!« schimpfte An lytha. »Er geht wieder mal einem Abenteuer nach, und ich kann mir hier die Augen aus weinen …« »Davon habe ich aber nichts gemerkt«, sagte die Psiotronik. »Wir werden es bald wissen«, sagte Anly tha. »Programmiere die Zeitaggregate auf einen Sprung gleich dem, den die Zeitkapsel vollführte, plus der Normalzeit, die hier und dann verstrichen ist! Wir wollen doch mal sehen, was der liebe Yatta in der Zukunft treibt.«
* Die goldfarbenen Lichtpunkte erloschen; die Schleier um die Kapsel lichteten sich, lösten sich ganz auf – und die bisher manch mal und nur vage dahinter erkennbaren Kon turen wurden Realität. »Schutzschirme ein!« zeterte Anlytha, als die Außenmikrophone das schrille Heulen übertrugen, das durch die Reibung der At mosphäre von Xuverloth mit der Außenhülle des Schiffes erzeugt wurde. Die Psiotronik reagierte nicht darauf.
Obwohl die Andruckabsorber der RUO RYC einwandfrei arbeiteten, hatte Anlytha das Gefühl, in einer Luftschaukel zu sitzen. Das Kundschafterschiff schlingerte wild, während es tiefer in die Lufthülle des vierten Punark-Planeten eindrang. Anlytha wurde von Panik ergriffen. Wenn die Psiotronik nicht bald die Schutzschirme einschaltete, würden die In vasoren das Kundschafterschiff sicherlich abschießen, da auch das Anti-Ortungssystem nicht funktionierte. Und wenn die Invasoren das Schiff nicht abschossen, würde es auf der Oberfläche zerschellen, wenn die Psio tronik nicht bald abbremste. Anlytha breitete die Arme aus und ruder te, als die künstliche Schwerkraft plötzlich ausfiel. Dann setzten die Andruckabsorber für den Bruchteil einer Sekunde mit viel leicht einem Millionstel ihrer Leistung aus. Aber das genügte, um alle losen Gegenstän de herumfliegen zu lassen – einschließlich Anlythas. Das genügte aber auch, um Anlytha die Panik überwinden zu lassen. Sie fürchtete plötzlich nicht mehr um das eigene Leben, sondern befürchtete Schäden an den wert vollen Kunstschätzen, falls die Andruckab sorber noch öfter aussetzen sollten. Mit eleganten, eher vogelartigen als schwimmenden Bewegungen, segelte Anly tha durch die Gänge des Kundschafter schiffs, bis sie die kugelförmige Aufent haltszelle erreichte. Ihre weit auseinander stehenden schwarzen Augen musterten die Statuetten unterschiedlichster Lebewesen, die Holowürfel, Gemälde, Videoplastikpro jektoren, fremdartigen Musikinstrumente, Werkzeuge aus Stahl, Plastik, Holz und Stein, Töpfe und Pfannen aus Kupfer, Gold und Bronze, Zahnspangen, Videokassetten und Bruchbänder – und was der Kostbarkei ten mehr waren. Anlytha atmete auf, als sie sah, daß die zusätzlichen Schwerkraftfelder, die die Kunstgegenstände in ihren Wandnischen festhielten, auch die Wirkung des teilweisen A-A-Ausfalls von ihnen abgehalten hatten.
38 Aber dann fiel ihr ein, daß die Schwer kraftfelder die Kostbarkeiten nicht mehr be schützen konnten, sobald das Schiff be schossen wurde oder auf der Oberfläche von Xuverloth zerschellte. Als die künstliche Schwerkraft wieder einsetzte, sank sie zu Boden, dann rappelte sie sich auf und eilte zum Schott, das in die Innensektion der Schiffspsiotronik führte. Anlytha wußte, daß nur die Psiotronik noch helfen konnte. Sie allein war nicht in der La ge, die zahlreichen Fehlfunktionen durch an dere Schaltungen auszugleichen und das Schiff heil zu landen. Der Kernspeicher der Psiotronik war et was, das grundsätzlich von Kernspeichern einfacher Computersysteme sowie den Kernspeichern von Positroniken und Inpo troniken abwich. Er befand sich in einer achtflächigen Kapsel aus transparentem Me tallplastik und glich einer Ansammlung zahlloser farbloser Kristalle, die gleich Sandkörnern gegeneinander frei beweglich waren und sich tatsächlich in unablässiger kreisender und vermischender Bewegung befanden. Anlytha kannte diesen Anblick, deshalb sah sie diesmal sofort, daß sich etwas verän dert hatte. Zwischen den farblosen, sand korngroßen psionischen Kristallen standen im Sinn des Wortes faustgroße, bunt fun kelnde und lodernde Kristalle, die ihre strah lenähnlichen »Arme« tief in die Masse der psionischen Kristalle streckten. »Helium III!« entfuhr es Anlytha. Sie er innerte sich daran, daß der Kundschafter ihr einmal gesagt hatte, die Innenwandung des Kernspeichers sei mit druckstabilisiertem Helium III beschichtet – und sie wußte auch noch, daß die Psiotronik ihr kurz nach dem Start von Siren berichtet hatte, besonders die Helium-III-Vorräte des Kundschafters seien von Siren aus beeinflußt worden. »Das Helium III ist kristallisiert und blockiert die Funktionen der psionischen Kristalle«, überlegte Anlytha laut. »Was kann ich tun, um die Helium-Kristalle zu verflüssigen?«
H. G. Ewers Natürlich hätte sie den hohen Druck im Kernspeicher verringern können, um die He lium-Kristalle zu verflüssigen oder sogar in einen gasförmigen Aggregatzustand zu über führen, aber sie wußte nicht, ob das schäd lich für die psionischen Kristalle war. In ihrer Verzweiflung tat sie etwas, das nicht mehr als ein Strohhalm für eine Ertrin kende war. Sie setzte ihre psionischen Kräf te ein, um allem Wahrnehmenden in ihrer Umgebung vorzugaukeln, sie wäre die Ku geltraube tief im ewigen Eis von Siren. Da bei wußte sie nicht einmal, ob die HeliumKristalle ein Wahrnehmungsvermögen, wie auch immer geartet, besaßen. Aber es funktionierte! Voll freudiger Erregung sah Anlytha, wie die Helium-Kristalle sich auflösten, in gas förmigem Zustand durch die psionischen Kristalle sickerten und an der Innenwandung des Kernspeichers wieder zu einer festen Schicht kondensierten. Und die psionischen Kristalle des Kern speichers nahmen ihre Erregung in sich auf, setzten sich in Bewegung und erzeugten da durch genug psionische Energie, um die ge samte Psiotronik wieder in Gang zu setzen. Erschöpft sank Anlytha zu Boden, wäh rend die Psiotronik die Triebwerke hoch schaltete, um mit Maximalwerten abzubrem sen. Es war unvermeidlich, daß dabei zwi schenzeitlich bis zu zwanzig Gravos durch kamen. Ebenso unvermeidlich war es, daß die RUORYC sich nicht vor fremder Ortung schützen konnte, da alle Energien auf die Triebwerke und Andruckabsorber geschaltet werden mußten, um eine Katastrophe abzu wenden. Dennoch schlug die RUORYC noch mit einer Geschwindigkeit von hundert Stunden kilometern auf die Oberfläche eines Sees, sprang wieder hoch – und pflügte eine Fur che durch den Boden, die erst wenige Kilo meter vor einer Lagunenstadt der Torzaga ner endete …
*
Botschafter der Zeit Anlytha kam erst wieder zu sich, als sie sich in einer Zelle eines provisorischen Ge fängnisses der Invasoren befand. Verwundert sah sie sich in dem Raum um, der in seiner Form einem Tortenstück glich, dessen Spitze nach innen zeigte, auf einen mit brodelndem Schlamm bedeckten Innen hof, der von zahlreichen gleichartigen Zellen umringt wurde. Anlytha wußte, wie Torzaganer aussahen, deshalb brauchte sie nicht erst zu rätseln, zu welchem Volk die kleinwüchsigen und zart gliedrigen Lebewesen mit der gelben Haut farbe, den zwei Armpaaren und den trichter förmigen Köpfen gehörten, die die anderen Zellen bevölkerten. Sie brauchte auch nicht zu rätseln, in wes sen Gefangenschaft sie sich befand und wie es dazu gekommen war. Sie war beim Auf prall der RUORYC bewußtlos geworden. Dadurch hatten die Invasoren leichtes Spiel mit ihr gehabt. Aufmerksam sah sie sich in der Zelle um. Sie bestand aus einer undurchsichtigen Hart plastik-Außenwand, zwei Seitenwänden aus einer zirka vierzig Zentimeter dicken Draht gitterstruktur und einer zum Innenhof ge richteten Tür aus Stahlstäben. Der Boden bestand aus Holzplastikbrettern, die sehr glatt und nach innen zu geneigt waren. Un mittelbar an der Außenwand gab es ein mit warmem fließendem Wasser gefülltes Becken (dessen überfließendes Wasser in kurzen Abständen schwallartig die Plastik bretter überschwemmte und säuberte). Das war alles – außer, daß die Luft warm und sehr feucht war und außerdem nach Desin fektionsmitteln roch. Ein schmatzendes Geräusch ertönte. An lytha sah, daß in dem brodelnden Schlamm des Innenhofs ein Strudel entstand – und sie erkannte, daß es sich nicht um bloßen Schlamm handelte, sondern um vergorenes Abwasser. Der Strudel saugte das Abwasser nach unten weg und hinterließ ein leeres Becken von etwa dreißig Metern Durchmes ser und drei Metern Tiefe. Plötzlich wurde es Anlytha bewußt, daß
39 sie Mittelpunkt des Interesses der anderen Gefangenen war. Sechsergruppen stabförmi ger Augen hatten sich auf sie gerichtet, Bü schel mit Riech- und Hörorganen wedelten aufnahmebereit, harte Hautlappen zwischen kurzen Fingern vibrierten im Takt der Fin gerschläge. Anlytha bedauerte, daß sie ihren Transla tor, der von Algonkin-Yattas Translator mit dem Torzagan-Basic programmiert worden war, nicht einsetzen konnte. Im nächsten Moment stellte sie verblüfft fest, daß die Invasoren ihr das Gerät gelas sen hatten. Sie verstand es nicht, denn da durch wurde sie in die Lage versetzt, sich mit den gefangenen Torzaganern zu verstän digen – und ob das im Sinn der Invasoren war, bezweifelte sie. Sie schaltete den Translator ein, stellte ihn auf Torzagan-Basic und wandte sich an den Torzaganer zu ihrer Linken. »Mein Name ist Anlytha. Ich suche je manden namens Algonkin-Yatta. Kannst du mir sagen, ob ihr Torzaganer etwas von ihm gehört habt?« Der Torzaganer starrte sie an, dann zirpte, zischelte und knarrte er – und der Translator übersetzte: »Mein Name ist Hulk-Breeverth. Ich bin Offizier der sechzehnten Partisanen-Armee, die bei der Stadt Algar stationiert ist. Algon kin-Yatta ist mir gut bekannt, denn ihm ver danken wir ja unsere Stützpunkte in den Zeitnischen. Leider kamen wir nach dem letzten Unternehmen nicht wieder in die Zeitnische hinein. Die Kurromors müssen eine neue Waffe eingesetzt haben.« Anlytha stieß einen trillernden Pfiff aus. »Partisanenarmeen!« zeterte sie. »Zeitnischen! Oh, dieser Kundschafter! Hat er in seiner Gefühlsduselei versucht, den Torzaganern zu helfen und dabei ein Zeitpa radoxon heraufbeschworen! Wo steckt er, Hulk-Breeverth?« »Wahrscheinlich ist er in der Zeitnische der Stadt Dragerah eingeschlossen«, antwor tete Hulk-Breeverth. »Jedenfalls wollte er mit seiner Zeitkapsel dorthin fliegen, um ei
40 nige gefangene Kurromors zu verhören – und seitdem gilt er als verschollen.« »Die Zeitnischen sind abgeschnitten?« fragte Anlytha, um ich zu vergewissern, daß sie alles richtig verstanden hatte. »Ja«, sagte Hulk-Breeverth. »Und unsere Armeen darin sind zum Untergang verur teilt, wenn die Nischen sich nicht bald wie der öffnen. Die Vorräte reichen nur eine be grenzte Zeit – und diese Zeit dürfte über schritten sein.« »Wir müssen also etwas tun«, stellte An lytha fest. »Hulk-Breeverth, sind unsere Mitgefangenen alles deine Leute?« »Ausnahmslos«, antwortete der Torzaga ner. »Es sind alle Überlebenden eines Trupps von hundertfünfzig Partisanen, die ich zum Einsatz führte. Alle anderen wurden mit ihren Panzern vernichtet, weil sie sich nicht in die Stadt retten konnten.« Anlytha schluckte, aber sie kämpfte ihre Erschütterung nieder. »Wieviel Zeitnischen existieren auf Xu verloth – und wieviel Leute befinden sich darin?« wollte sie wissen. »Es gibt siebenundzwanzig Zeitnischen mit rund vierhunderttausend Bewohnern«, erklärte Hulk-Breeverth. »Alle sind in der Nähe von Städten stationiert.« »Und wo befindet sich unser Gefängnis?« fragte Anlytha weiter. »Auf irgendeinem Stützpunkt der Kurro mors«, antwortete der Torzaganer. »Hm!« machte Anlytha. »Hast du eine Ahnung, woraus die neue Waffe der Kurro mors besteht, Hulk-Breeverth?« »Eine Ahnung schon, aber keine Gewiß heit«, sagte der Torzaganer. »Kurz bevor das mit den Zeitnischen passierte, tauchte näm lich ein riesiges Deltaschiff auf. Es ging in eine Kreisbahn um Xuverloth und hängte drei Konstruktionen in stationäre Kreisbah nen. Diese Konstruktionen verfügen über große Antennen, mit denen sie infolge ihrer Lage die gesamte Oberfläche des Planeten bestreichen können.« »Komplizierte Geschichte, das«, meinte Anlytha. »Wir brauchten ein Raumschiff,
H. G. Ewers um die Stationen zu zerstören.« Sie überflog die anderen Zellen und zählte die darin ein gesperrten Torzaganer. »Wer von deinen Leuten kann mit den Kontrollen eines Raumschiffs umgehen?« »Meine Leute gehören wie ich zum Raumforschungskommando von Xuver loth«, erklärte Hulk-Breeverth. »Ich war ei ner der engsten Mitarbeiter von AthorkTaerant, der mit Algonkin-Yatta in einer Zeitnische eingeschlossen ist.« »Wunderbar«, sagte Anlytha. »Ich hoffe doch, daß ihr mitmacht, wenn es mir gelingt, euch zu befreien.« »Selbstverständlich«, erwiderte HulkBreeverth. »Aber wie willst du uns befreien, Anlytha?« »Das laß meine Sorge sein«, erklärte An lytha. »Wenn wir nur ein Raumschiff hätten …« »Das laß meine Sorge sein«, meinte HulkBreeverth. Anlytha blickte den Torzaganer erstaunt an, erwiderte aber nichts, denn noch wußte sie nicht, wie sie die Pläne, die erst allmäh lich in ihrem Kopf Gestalt annahmen, ver wirklichen sollte. Sie wußte nur, daß Algon kin-Yatta verloren war, wenn es ihr nicht ge lang, ihn aus seiner Zeitnische zu befreien.
7. EINE BOTSCHAFT FÜR ATLAN Anlytha hatte sich nur kurz durch die äu ßerliche Plumpheit der Kurromors über de ren Intelligenz hinwegtäuschen lassen. Sehr schnell sah sie ein, daß diese Lebewesen mit den geschwürig verunstalteten Gesichtern Produkte einer hochstehenden Zivilisation waren, auch wenn sie offenkundig nicht aus eigenem Antrieb als Invasoren gekommen waren, sondern als hörige Sklaven einer grö ßeren Macht. Vier Kurromors hatten sie aus ihrer Zelle abgeholt und einige hundert Meter weit über freies Gelände zu einem der normalen schwarzen Deltaschiffe geführt. Sie hatte da bei ihre Umgebung aufmerksam beobachtet,
Botschafter der Zeit sich alle Besonderheiten des Stützpunkts eingeprägt und auch festgestellt, daß er in den Dünen einer flachen Meeresküste lag. Das Verhör fand in der Zentrale des Del taschiffs statt. Insgesamt neun Kurromors waren anwesend und standen um Anlytha herum. Einer von ihnen schaltete einen Translator ein und sagte: »Ich bin Duquor-Quo-Moquu, Komman deur der Befreiungsflotte.« Er sprach seine eigene Sprache, die der Translator in die Sprache der Torzaganer übersetzte, die ih rerseits von Anlythas Translator ins Matho na übersetzt wurde. »Und ich bin Anlytha, die Weggefährtin Algonkin-Yattas, des kosmischen Kund schafters«, sagte Anlytha. »Wen befreit ihr und wovon befreit ihr ihn?« Sie wußte, daß derartige Fragen gegen über einem siegreichen Eroberer sinnlos ge wesen wären, wenn sie ihr nicht dazu ge dient hätten, Zeit zu schinden. Sie hatte nämlich die Impulse der Psiotronik des Kundschafterschiffs empfangen, Verbin dung mit ihr aufgenommen und sondierte mit ihrer Hilfe, in welchem Ausmaß die Kurromors beeinflußbar waren, wenn die Psiotronik ihre psionischen Impulse auf nahm und verstärkt weitergab. Diese Metho de hatten sie zum erstenmal auf dem Mond Chanetra gegenüber Maahks angewandt, um Arkoniden aus einem Gefangenenlager zu befreien. Und während Kommandeur DuquorQuo-Moquu ihr auseinandersetzte, wie strahlend die Zukunft für die Torzaganer aussehen würde, wenn sie ihren Egoismus hinter der Arbeit für ein einheitliches riesi ges Sternenreich zurückstellten, einigten sich Anlytha und die Psiotronik der RUO RYC auf ihr gemeinsames Vorgehen – und auf den Zeitpunkt des Losschlagens. Und dieser Zeitpunkt wurde mit »sofort« festgesetzt, denn es war unsicher, wie lange die Torzaganer – und mit ihnen Algonkin-Yat ta – in ihren versiegelten Zeitblasen noch überleben konnten und wie lange die Psio
41 tronik ungestört arbeiten konnte, denn das Kundschafterschiff stand leicht beschädigt in einem Depot der Invasoren und würde früher oder später untersucht und vielleicht in seine Einzelteile zerlegt werden. Anlytha gaukelte den Kurromors vor, sie sei ein Kurromor mit hohem militärischen Rang, der als Kurier aus der Schwarzen Ga laxis gekommen sei, um Kommandeur Du quor-Quo-Moquu sich zu unterstellen und mit ihm und seinen Leuten eine Spezialauf gabe durchzuführen. Zu dieser Spezialaufga be gehörte es, den Torzaganer HulkBreeverth und seine vierunddreißig Raum fahrer mit an Bord des Deltaschiffs zu neh men. Es war ein Vabanque-Spiel. Das wußte Anlytha. Deshalb ließ sie die Psiotronik die betreffenden psionischen Beeinflussungsim pulse so verstärken, daß dadurch alle Kurro mors im Umkreis von zwanzig Kilometern um das Deltaschiff erfaßt wurden. Sie trieb die Dreistigkeit noch auf die Spitze, nachdem die fünfunddreißig Torza ganer an Bord geholt worden waren und sie die Kurromors so beeinflußte, daß sie ihnen ihre Waffen übergaben – um durch sie nicht behindert zu werden. Wenig später startete das Deltaschiff. Kurz darauf gaukelte Anlytha der Besatzung vor, sie würde eine versiegelte Order-Kapsel vor Kommandeur Duquor-Quo-Moquu öff nen, und der Kommandeur würde selber den darin enthaltenen Befehl vorlesen, die »von Verrätern an der großen Sache umprogram mierten drei Raumstationen aus dem großen Schiff« zu zerstören. Die Kurromors gehorchten. Anlytha war sich klar darüber, daß der schnelle Erfolg des Bluffs vor allem darauf zurückzuführen war, daß die Kurromors so konditioniert waren, daß sie alle Befehle aus der Schwarzen Galaxis blindlings befolgten. Von geistig freien Intelligenzen hätte sie Schwierigkeiten erwarten müssen. Während das Schiff Kurs auf die erste Station nahm, kamen Funkanrufe von ande ren Deltaschiffen an, deren Kommandanten
42 sich über den Start und Kurs des Schiffes ir ritiert zeigten. Aber als ihr Kommandeur Duquor-Quo-Moquu ihnen versichert hatte, daß er auf höchsten Befehl handelte, wagte niemand mehr Einwände. Anlytha brachte es dennoch nicht fertig, die erste Station sofort zu zerstören, da sich auf ihr vielleicht Kurromors befanden. Sie fragte den Kommandeur danach, und er ant wortete ihr, alle drei Stationen seien vollro botisch und ohne Besatzungen. Danach setzte er die Waffen seines Schif fes ein, bis die Station sich in eine Wolke glühender Trümmer verwandelt hatte. Ob ihm danach Bedenken kamen, weil Anlytha mit ihrer Frage nach einer eventuel len Besatzung sein Mißtrauen erregt hatte oder weil die Psiotronik der RUORYC auf die große Entfernung die Beeinflussungsim pulse zu schwach durchbrachte, ließ sich später nicht mehr klären. Tatsache war, daß er eine Untersuchung forderte, bevor er be reit war, auch die beiden anderen Stationen zu zerstören. Anlytha verständigte sich daraufhin mit den fünfunddreißig Torzaganern, die, weil sie Unbewaffneten gegenüberstanden, rela tiv leichtes Spiel hatten. Sie paralysierten die Besatzung und übernahmen danach das Deltaschiff in ihre Steuerung. Leider stellte sich schnell heraus, daß die Kontrollen des Deltaschiffs so kompliziert waren, daß ein großer Teil von den Torzaga nern gar nicht verstanden wurde. Als Folge davon geriet das Schiff aus der Kontrolle und sank unaufhaltsam tiefer, einem ver hängnisvollen Aufprall entgegen. Praktisch in letzter Sekunde gelang es An lytha, hinter die Bedeutung der zahlreichen kleinen Membranen zu kommen, die sich zu Hunderten über den Schaltpulten befanden. Es waren Akustik-Sensoren, die von den Kurromors mit ihrer eigentümlichen Flüster sprache bedient wurden, wodurch erst eine Kontrolle über die Steuerung möglich war. Durch Ausprobieren brachte Anlytha es fertig, einen tödlichen Absturz zu vermeiden und das Deltaschiff nach den Kursangaben
H. G. Ewers Hulk-Breeverths sogar in der Nähe der La gunenstadt Dragerah zu Boden zu bringen, wenn auch so hart, daß eine Werftüberho lung erforderlich sein würde. Noch während des Landeanflugs hatte Hulk-Breeverth Funkmeldungen aufgefan gen, nach denen die versiegelten Zeitnischen sich geöffnet hatten. Aber nach der ersten Freude stellte sich Niedergeschlagenheit bei ihm ein, denn anstatt sich mit neuer Verpfle gung zu versorgen und die Partisanentätig keit wieder aufzunehmen, stürmten alle in den Zeitnischen befindlichen Torzaganer ins Freie und versuchten sich zu verstecken. Die meisten von ihnen warfen wenig später die Waffen weg und ergaben sich den Invaso ren. »Du darfst ihnen nicht böse sein, HulkBreeverth«, sagte Anlytha nach der Lan dung. »Dein Volk kann gegen die Invasoren nicht gewinnen, deshalb muß es sich beugen und versuchen, unter der Herrschaft der Kurromors soviel Eigenständigkeit wie möglich zu bewahren – und sobald Atlan kommt, geht die Herrschaft der Mächtigen aus der Schwarzen Galaxis zu Ende.« »Wer ist Atlan?« fragte der Torzaganer. »Davon später«, erwiderte Anlytha. »Zuerst frage ich dich, ob du bereit bist, zu sammen mit deinen Leuten bei der Suche nach Algonkin-Yatta zu helfen und uns dann dabei zu helfen, unser Raumschiff zurückzu holen?« »Da gibt es keine Frage«, versicherte Hulk-Breeverth. »Wir sind die Elite der tor zaganischen Raumfahrer und werden nie mals aufgeben.«
* In dem allgemeinen Durcheinander auf ganz Xuverloth, hervorgerufen durch die aus den Zeitnischen stürmenden Massen, den Schwierigkeiten für die Invasoren, rund 400 000 Gefangene von einer Stunde zur ande ren zu entwaffnen, in Lager unterzubringen, ihre verpflegungsmäßige und medizinische Versorgung zu organisieren und die für sie
Botschafter der Zeit nützlichen Hilfskräfte auszusortieren, fielen die sechsunddreißig Personen, die sich aus dem Wrack eines Deltaschiffs schlichen, überhaupt nicht auf. Es stellte sich bald heraus, daß es noch mehr Torzaganer gab, die noch nicht aufzu geben bereit waren. Die Gruppe stieß bereits nach knapp zwei Stunden auf einen Kurier von Athork-Taerant, der berichtete, er sei ei ner von rund zweihundert Kurieren, die der provisorische Vorsitzende des Rates von Xuverloth ausgeschickt hatte, um nach An lytha zu suchen. Der Kurier geleitete die Gruppe zu einem kleineren See, an dessen Ufer sich die Rui nen einer uralten, längst aufgegebenen La gunenstadt befanden. »Sie wurde in der Anfangszeit unserer Raumfahrt von den Trümmern einer außer Kontrolle geratenen Raumstation zerstört«, erklärte er. »Es ist eine Stadt, deren Name aus dem Gedächtnis aller Torzaganer ge löscht wurde, um die Schande vergessen zu machen. Deshalb hielt Athork-Taerant die Ruinen für das sicherste Versteck der Zeit kapsel.« »Die Zeitkapsel befindet sich hier?« frag te Anlytha erregt. »Aber wo ist Algonkin-Yat ta?« »Ich kann darüber keine Auskünfte ge ben«, antwortete der Kurier. »Bitte folgt mir!« In einem erst vor kurzem ausgegrabenen und abgestützten alten Gewölbe, fünfzehn Meter unter der Oberfläche, schwebte die Zeitkapsel wenige Zentimeter über dem Bo den. Ein Torzaganer kam gerade aus der Schleuse. »Athork-Taerant«, stellte er sich vor. »Ich fürchte, Anlytha, dein Gefährte befindet sich in keinem guten Zustand. Es muß sich um eine Art Zeitstarre handeln.« Anlytha wartete keine weiteren Erklärun gen ab, sondern stieß den Torzaganer zur Seite und stürmte ins Innere der Kapsel. Ent setzen breitete sich eisig in ihr aus, als sie Algonkin-Yatta reglos in seinem Sessel lie gen sah.
43 »Psiotronik, was ist mit ihm?« rief sie, während sie sich über den Gefährten beugte und Atmung, Herzschlag und Puls überprüf te. »Nach einem mißglückten Experiment verfiel der Kundschafter in diesen Zustand, der mit großer Wahrscheinlichkeit die Folge seines um ein Vielfaches verlangsamten Zeitablaufs gegenüber seiner Umwelt ist.« Anlytha holte tief Luft. »Schildere mir den genauen Hergang des Experiments, Psiotronik!« Als die Psiotronik ihren Bericht beendet hatte, sagte Anlytha: »Wenn ein Kontakt mit dem Wirkungs feld eines Dimensions-Deformators Algon kin-Yatta in diesen Zustand versetzt hat, dann kann wahrscheinlich nur ein abermali ger Kontakt ihn daraus befreien. Ich werde entsprechende Experimente anstellen. Das bedeutet aber, daß die Kurromors aufmerk sam werden und Truppen hierher schicken. Innerhalb der Zeitkapsel wären wir ziemlich sicher vor ihnen, aber nur ein geringer Teil deiner Leute paßt hinein, Hulk-Breeverth.« »Die anderen Raumfahrer werden drau ßen weiterkämpfen«, erklärte der torzagani sche Offizier. »Sie würden sich sinnlos opfern, obwohl sie nach der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung dringend dazu gebraucht wür den, in die Positionen einzusickern, die die Invasoren Bürgern von Xuverloth zugeste hen werden.« »Die Invasoren werden alle Positionen selbst übernehmen!« widersprach HulkBreeverth. »Nein!« erklärte Anlytha. »Die klassische Strategie der Festigung von Eroberungen be steht – nach der militärischen Aktion und der Kontrolle der wichtigen Funktionen – im Abbau traditioneller Widerstände, in der Umschulung mit verbindlichen politischen Leitideen, in der Heranziehung einer linien treuen Elite und der Besetzung von Schlüs selstellungen durch Einheimische …« »Woher weißt du das, Anlytha?« fragte die Psiotronik. »Woher ich …?« Anlytha wirkte ratlos.
44
H. G. Ewers
»Das weiß ich nicht, Psiotronik. Etwas aus meiner vergessenen Vergangenheit. Aber keine Zeit, das näher zu untersuchen.« »Es klingt logisch«, sagte HulkBreeverth. »Wir würden bei der Integration lokaler Abweichlergruppen so vorgegangen sein. Anlytha, ich werde deine Ratschläge befolgen.« Er verließ die Zeitkapsel und kehrte wenig später mit fünf seiner besten Raumfahrer zurück. Da stand Anlytha bereits vor der Innen wandung und fuhr mit den Fingern die Zeit schaltlinien entlang, während die Psiotronik mit leiser Stimme erklärte, was mit Chairade geschehen war.
* »Was tust du?« fragte Hulk-Breeverth nach einiger Zeit, als außerhalb der Zeitkap sel Nebelschleier wogten. »Ich fahre ununterbrochen in der Zeit vor und zurück, immer nur einige Sekunden weit und ohne anzuhalten und damit ohne aus der zeitneutralen Verschiebungsphase auszutreten, um uns in der realen Zeit keine Hindernisse in den Weg zu legen«, erläuter te Anlytha. Es krachte. Funken stoben durch die In nenzelle. Draußen zuckten Blitze durch die Nebelschwaden. Die Torzaganer warfen sich zu Boden und preßten die Gesichter dage gen. Von dort, wo Algonkin-Yatta saß, kam ein dumpfes Stöhnen. Anlytha fuhr herum, sah, daß die Augenli der des Kundschafters sich hoben, wirbelte erneut herum und programmierte die Zeit schaltung mit fliegenden Fingern neu. Der Funkenregen erlosch. Die Nebel schwaden außerhalb der Zeitkapsel wurden vollkommen undurchdringlich. »Rundfahrt innerhalb der zeitneutralen Verschiebungsphase – und hoffentlich au ßerhalb der Reichweite der DimensionsDeformatoren«, erklärte Anlytha. Sie eilte zu Algonkin-Yatta, sah, daß er sie erkannte und fragte mit bebender Stim-
me: »Bist du wieder eins mit unserem Zeita blauf, Yatta? Bitte, sprich etwas, damit ich es kontrollieren kann!« Mit dumpfer, unendlich langsam wirkender Stimme sagte der Kundschafter: »Was meinst du, Anlytha?« Gleich darauf fuhr er in normalem Tonfall fort: »Ich danke dir, Schatz. Erst jetzt habe ich begriffen, daß mein Zeitablauf bis fast auf null verlangsamt gewesen sein muß.« »Du Schuft!« zeterte Anlytha und wischte schnell die Tränen von ihren fliederfarbenen Wangen. »Du wolltest mir noch größere Angst einjagen!« »Was machen die Kristalle von Nummer neun?« fragte Algonkin-Yatta und musterte dabei die sechs Torzaganer, die sich wieder aufgerappelt hatten. »Sie wollten das Schiff verschlingen«, antwortete Anlytha, dann schlug sie sich mit der flachen Hand an die Stirn: »Das Schiff! Wir müssen dein Schiff holen, Yatta. Es be findet sich in der Gewalt der Invasoren! Lei der konnte ich nicht verhindern, daß es mit einer Bruchlandung auf Xuverloth ankam. Das Ding im Eis von Nummer neun hatte die Psiotronik gelähmt.« »Vieles, was du sagst, sind unlösbare Rät sel für mich, Lytha«, meinte der Kundschaf ter. »Zweierlei interessiert mich brennend: Was geschieht auf Xuverloth – und wie kön nen wir die RUORYC zurückholen?« Als Anlytha ihm berichtete, daß die Tor zaganer aus den Zeitnischen sich den Inva soren ergeben hätten und daß die Kurromors nach dem Zusammenbruch des Widerstands relativ human mit den Torzaganern umgin gen, atmete er auf. »Das ist gut so«, erklärte er, an HulkBreeverth gewandt. »Wenn die Kurromors die klassische Strategie der Festigung von Eroberungen anwenden …« »Die hat Anlytha uns bereits erklärt, Al gonkin-Yatta«, warf Hulk-Breeverth ein. »Aber woher kennst du sie?« »Aus meiner Mikrospulenbibliothek«, antwortete Algonkin-Yatta – und grimmig
Botschafter der Zeit setzte er hinzu: »Und dorther hat sie Anlytha offenbar auch.« »Ich wußte nicht mehr, woher mein Wis sen kam«, sagte Anlytha. »Und die RUO RYC steht in einem Depot der Invasoren. Die Psiotronik ist in Ordnung; sie hat mir entscheidend geholfen, einen der feindlichen Dimensions-Deformatoren zu zerstören.« Der Kundschafter richtete sich auf. »Dann werden wir durch die Zeit in unser Schiff gehen«, entschied er. »Du, HulkBreeverth und deine Leute, ihr verlaßt am besten gleich nach der Ankunft mein Schiff. Ihr habt uns sehr geholfen, und es tut mir leid, daß ich versagt habe. Ich hätte niemals eingreifen dürfen.« »Wir haben durch euch beide viel ge lernt«, erwiderte der Torzaganer. »Ohne euch hätten wir bis zur Vernichtung unseres Volkes gekämpft. So werden wir eine Chan ce zum Überleben unseres Volkes haben. Dafür bedanke ich mich bei euch.« Algonkin-Yatta nickte und sagte ernst: »Eure Niederlage wird sich in einen Sieg verwandeln, wenn Atlan die Mächte der Schwarzen Galaxis schlägt. Bis dahin dürft ihr die Hoffnung nicht aufgeben. Achtung, es geht los!« Ein Zeitsprung brachte die Kapsel in den realen Ablauf der Zeit auf Xuverloth zurück. Während die tapferen Torzaganer die RUO RYC verließen, sprach Algonkin-Yatta mit der Psiotronik des Kundschafterschiffs und erfuhr, daß das Zeitreiseaggregat funktions fähig sei und die Automaten an der Repara tur der anderen Aggregate arbeiteten. »Wir springen um drei Jahre in die Zu kunft!« sagte der Kundschafter. »Dann kön nen wir die Reparaturen in Ruhe beenden. Selbstverständlich bleiben wir auf einem Rundkurs innerhalb der zeitneutralen Ver schiebungsphase, denn wir wollen nicht noch mehr Unheil anrichten.« »Fremdortung!« meldete die Psiotronik. »Impulse in Stärke …« »Ruhe!« befahl Algonkin-Yatta. Seine Finger flogen über die Zeitschaltli nien der langsam rotierenden Programmie
45 rungskugel. Äußerlich war er ruhig, aber das Flackern in seinen Augen verriet etwas an deres. Er hatte zuviel erlebt mit den Schrecken der Zeit. Die RUORYC erbebte, wurde herumge rissen. »Traktorstrahl!« meldete die Psiotronik. »Uninteressant!« sagte der Kundschafter. Auf der Oberfläche der Programmie rungskugel blitzten goldfarbene Lichtpunkte auf. Ein zweiter Ruck durchfuhr das Schiff. Etwas heulte und donnerte außerhalb. Meh rere Pfeifsignale ertönten. Die RUORYC wurde durch das zersplitternde Dach des De pots gerissen. Auf den Bildschirmen erschienen milchi ge Schleier, hinter denen undeutliche Bewe gungen schneller und immer schneller ablie fen. Es gab kein Depot und keine Traktor strahlen mehr. »Geschafft!« sagte Algonkin-Yatta.
* Nach vierundsechzig Tagen harter Arbeit waren alle Schäden in der RUORYC beho ben. Algonkin-Yatta duschte heiß mit leicht ra dioaktivem Wasser, zog sich neue Unterklei dung und eine neue Bordkombination an und begab sich in den Aufenthaltsraum. Anlytha schwebte in der auf null reduzier ten Schwerkraft des kugelförmigen Raumes und war in die Betrachtung eines Tridiwür fels versunken. Der Kundschafter schwebte hinter Anly tha und schaute ihr über die Schulter. Inner halb des Tridiwürfels »schwamm« eine Landschaft aus Moortümpeln, umrahmt von braunen, gelben und rötlichen Gewächsen, übergossen von warmem roten Licht, unter einem Himmel voller violetter, dunkelblauer und lehmgelber Wolken, hinter denen sich riesig groß eine blutrote Sonne abzeichnete. Im Hintergrund hob sich die Silhouette einer fremdartigen Stadt ab: tiefschwarze Kuppel bauten aller Größen, überragt von Türmen, die gleich Pilzstengeln mit kleinen ausge
46 fransten Hüten in den Himmel ragten … »Die Welt der Kurromors«, sagte Algon kin-Yatta leise. Anlytha drehte sich mit graziösen Bewe gungen um. »Ihre Heimatwelt, Yatta«, sagte sie. »Du hast den Tridiwürfel aus dem Delta schiff, mit dem du geflogen bist«, stellte Al gonkin-Yatta fest. Er brauchte nicht zu fra gen, denn er hätte sich gewundert, wenn sei ne rätselhafte Gefährtin überhaupt nichts hätte mitgehen lassen. »Eine Welt in der Schwarzen Galaxis«, fuhr Anlytha fort. »Oder in einer der ande ren vorgelagerten Kleingalaxien. Es gibt dort keine Berge, ja, nicht einmal Hügel. Hast du das gesehen, Yatta?« Der Kundschafter nickte schweigend. Was hätte er sagen sollen. Jede Welt hatte ihre Besonderheiten. Kein Planet glich dem anderen mehr als sich Erde und Mars und Venus glichen. Und doch gab es Verwand tes, wo sich intelligentes Leben entwickelt hatte; denn alles intelligente Leben des Uni versums war miteinander verwandt durch die gemeinsame Herkunft der Ersten Mate rie, aus der sich alles entwickelt hatte. Nach einiger Zeit sagte Algonkin-Yatta: »Das Schiff ist startklar, Lytha. Die Kri stallbildungen hatten mehr Schäden hervor gerufen, als ich zuerst angenommen hatte. Ich weiß wirklich nicht, ob es ratsam ist, nach Siren zurückzukehren, nur um deine Neugier zu befriedigen.« »Es ist nicht nur Neugier, Yatta«, erwi derte Anlytha. »Ich fühle, daß wir sehr viel gewinnen, wenn wir das Rätsel des Gebildes unter dem Eis lösen.« »Es hat zahlreiche Raumschiffe der Tor zaganer verschlungen«, meinte der Kund schafter. »Nach dem, was die Kristalle in der RUORYC angerichtet hatten, kann ich mir vorstellen, was mit diesen Raumschiffen passiert ist. Es könnte auch uns passieren, Anlytha.« Anlytha sah ihn flehend an. »Ich bitte dich, Yatta, laß uns nach Siren fliegen und das Geheimnis des Gebildes im
H. G. Ewers Eis lösen! Mein Gefühl hat mich noch nie betrogen.« Der Kundschafter lächelte. »Das kannst du gar nicht wissen, Lytha«, sagte er. »Schließlich liegt die längste Zeit deines Lebens im Dunkeln.« Er seufzte. »Also, gut, wir fliegen nach Siren, aber in dieser Zeit, sonst kommen wir uns noch selbst in die Quere.« »Und sonst kannst du nicht nachsehen, wie es den Torzaganern unter der Herrschaft der Kurromors geht«, stichelte Anlytha. Algonkin-Yatta drehte sich so schnell her um, daß Anlytha seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Mit routinierten Bewe gungen »schwamm« er zum Ausgang des Aufenthaltsraums. Als die RUORYC die zeitneutrale Ver schiebungsphase mit voll aktiviertem Or tungsschutz verließ, schwebte sie hoch über dem wiederaufgebauten Depot der Kurro mors. Während der Kundschafter das Schiff all mählich steigen ließ, aktivierte er die Funkabhöranlage, um etwas Konkretes über die Situation auf Xuverloth zu erfahren. Wie er erwartet hatte, waren es sowohl im Funk als auch im Fernsehen ausschließlich Torzaganer, die auftraten beziehungsweise sprachen. Die Nachrichten bewiesen, daß Xuverloth von einer ausschließlich aus Tor zaganern bestehenden Regierung verwaltet wurde. Aber der Inhalt der Nachrichten zeigte auch, daß die Arbeit der Torzaganer überwiegend dem Ziel diente, Raumhäfen, Raumschiffe und Raumwaffen zu bauen, ih re Jugend im Sinn der Eroberung fremder Planeten unter der Führung der »mächtigen und großzügigen Freunde aus der Tiefe des Alls« zu erziehen und auszubilden. Aber die Unterhaltungssendungen brachten zahlreiche kulturelle Beiträge, die der Pflege der über lieferten Kultur und des Geschichtswissens dienten. »Torzaganer und Kurromors scheinen ein Herz und eine Seele zu sein«, stellte Anlytha verärgert fest. »Das sind sie sicher nicht«, widersprach
Botschafter der Zeit
47
Algonkin-Yatta. »Aber sie haben sich mit einander arrangiert. Die Torzaganer erken nen die Führungsrolle der Kurromors an, da für dürfen sie ihr eigenes Brauchtum, ihre eigene Sprache und ihr Geschichtswissen pflegen, was sie davor bewahrt, ihre Identi tät zu verlieren. Ich wollte, wir könnten At lan davon berichten. Es würde ihm sicher helfen, die Verhältnisse in der Schwarzen Galaxis und den sie umgebenden Kleingala xien besser zu verstehen, wenn er wüßte, wie alles angefangen hat.« »Vielleicht finden wir noch eine Möglich keit«, meinte Anlytha. Der Kundschafter beobachtete eine Lagu nenstadt, die sein Schiff in großer Höhe überflog. Er erkannte sie wieder und sah, daß sie sich in den vergangenen – über sprungenen – drei Jahren ausgebreitet hatte. Doch dann sah er, daß es sich um Fabrikhal len handelte – und er sah auch in einer Aus schnittvergrößerung die nagelneuen, zu Tau senden vor den Hallen abgestellten Flugpan zer mit ihren spiraligen Abstrahlrohren, und seine Miene verdüsterte sich wieder. »Sie werden als Volk überleben, aber ihre Seelen werden von der Vergewaltigung ihrer friedlichen Mentalität zerfressen«, sagte er bedrückt. »Ich weiß nicht, ob Atlan sie noch retten kann, wenn er ihnen in einigen zigtau send Jahren eine Freiheit bringt, die sie viel leicht gar nicht freiwillig anzunehmen bereit sind.« »Wenn Atlan mit Pthor ankommt, wird er erst andere Sorgen haben, Yatta«, erwiderte Anlytha. »Ja, das denke ich auch«, gab Algonkin-Yat ta zurück.
* Die Ebene aus Eis lag gleich poliertem Zinn unter dem langsam herabsinkenden Kundschafterschiff. Nur undeutlich zeichne ten sich unter der mattglänzenden Oberflä che die Strukturen von Kristallstöcken ab. Algonkin-Yatta und Anlytha blickten er wartungsvoll auf dieses friedliche Bild, von
dem sie wußten, daß es trog. Dafür sprach nicht nur Anlythas eigene Erfahrung; dafür sprachen auch die Funkbojen, die der Kund schafter und seine Gefährtin zehn Millionen Kilometer vor Siren gefunden hatten und die ununterbrochen in den Sprachen der Torza ganer und Kurromors darauf hinwiesen, daß der neunte Planet unter Quarantäne stehe und jede weitere Annäherung mit dem Tode bestraft würde. Demnach waren sogar die Invasoren nicht mit den Gefahren fertig geworden, die unter dem Eis von Siren lauerten. »Ich orte eine Kristallstruktur, die annä hernd die Form eines Deltaschiffs hat«, mel dete sich die Psiotronik. »Zweifellos handelt es sich um die absorbierte und umgewandel te Materie eines Raumschiffs der Kurro mors. Sollen wir das Schicksal dieses Schif fes und seiner Besatzung teilen, Kundschaf ter?« »Feigling!« zeterte Anlytha. »Eine Psiotronik kann weder feige noch mutig sein, Anlytha«, erklärte Algonkin-Yat ta. »Ich halte die Warnung der Psiotronik für berechtigt und überlege, ob ich nicht lieber durchstarten und verschwinden soll.« »Laß mich allein mit der Pfadfinderkapsel auf Siren landen, bitte!« bettelte Anlytha. »Du bist nicht ganz bei Trost!« fuhr der Kundschafter seine Gefährtin an. »Das Ding im Eis scheint versessen darauf zu sein, alles Technische in Kristallstrukturen zu verwan deln – und die Pfadfinderkapsel kann dich keineswegs davor schützen, mitverwandelt zu werden. Nein, wenn du unbedingt das Geheimnis von Siren entschleiern willst, dann gehen wir beide gemeinsam hinunter – und zwar ohne das Schiff und ohne die Pfad finderkapsel.« »Das wäre Selbstmord, Kundschafter!« warnte die Psiotronik. Algonkin-Yatta schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, Psiotronik. Meine Er fahrungen sagen mir, daß das Ding im Eis etwas Intelligentes ist – und ich wäre ein mi serabler Kundschafter, wenn ich nicht we nigstens versuchen würde, Kontakt mit ihm
48 aufzunehmen.« »Aber die vielen Raumschiffe und ihre Besatzungen, die in Kristallstrukturen ver wandelt wurden!« wandte die Psiotronik ein. »Die Besatzungen dieser Schiffe müssen etwas völlig falsch gemacht haben«, entgeg nete Algonkin-Yatta. »Sie waren allerdings auch keine Kosmischen Kundschafter. Es bleibt dabei, Anlytha und ich steigen in ein paar Minuten aus, landen mit Hilfe der Flug aggregate und arbeiten uns zu dem Ding im Eis vor.« »Aber …!« fing die Psiotronik an. »Aber ich habe nichts dagegen, wenn du das Schiff weit genug von Siren fortbringst, damit dein Gehirnwasser nicht wieder kri stallisieren kann«, schnitt der Kundschafter ihr das Wort ab. »Gehirnwasser!« empörte sich die Psio tronik. »Ich habe doch kein Gehirn!« »Eben!« meinte Algonkin-Yatta. »Denn mit so etwas Archaischem wie ei nem Gehirn könnte ich niemals meine viel fältigen und komplizierten Aufgaben erfül len«, fuhr die Psiotronik fort. »Aber du kannst keinen Kontakt mit dem Ding im Eis aufnehmen«, erwiderte der Kundschafter. »Du wirst es auch nicht schaffen«, erklär te die Psiotronik. »Wetten, daß ich doch?« sagte Algonkin-Yat ta. »Wer gewinnt, darf den anderen einen Idioten nennen.« »Einverstanden«, erwiderte die Psiotro nik. »Ich bedaure nur, daß du es dann nicht hören kannst, wenn ich dich einen Idioten nenne.« Algonkin-Yatta nickte und tippte an seine enganliegenden, handtellergroßen Ohren. »Damit höre ich sehr gut, du übergewich tiger Taschenrechner. Außerdem werde ich Anlytha und mir Signalkapseln anheften, da mit du unsere Position jederzeit genau kennst.« »Signalkapseln?« fragte Anlytha, die ge rade dabei war, ihre Bordkombination gegen ihren schweren Raumschutzanzug auszutau schen.
H. G. Ewers Algonkin-Yatta folgte ihrem Beispiel, dann stopfte er seine Taschen mit allen mög lichen Ausrüstungsgegenständen voll. »Das ist eine Signalkapsel«, erklärte er und hielt Anlytha die offene Handfläche ent gegen. Darauf lag ein daumennagelgroßer und daumennageldicker Gegenstand. Schwungvoll klatschte der Kundschafter ihn gegen den Anzugärmel Anlythas, wo er haf ten blieb. »Sie sendet ununterbrochen Signale aus, nach denen die Psiotronik unsere Po sition bestimmt. Sollten wir in Lebensgefahr geraten, sende ich einen Notruf, und die Psiotronik holt uns mit einem Transmitter strahl zurück an Bord.« »Oh!« sagte Anlytha. »Dann kann uns ja gar nichts passieren!« »Das dachten die zweiundachtzig Kosmi schen Kundschafter wahrscheinlich auch, die bisher auf ihren Fahrten umgekommen beziehungsweise verschollen sind«, bemerk te Algonkin-Yatta ernst. »So, und jetzt laß uns durch die Röhre rutschen!« Er und Anlytha schlossen ihre Druckhel me, prüften gegenseitig die Funktionen der Anzugsysteme und stiegen dann in die »Röhre« neben der Zentrale. Sie traten auf ein Polster aus halbstabilisierter Energie, die Luft in ihrer »Kammer« wurde evakuiert, dann schaltete sich das Energiepolster ab. Beschleunigungsfelder in der Röhrenwan dung verliehen dem Kundschafter und seiner Gefährtin beim Austritt aus dem Schiff eine »Mündungsgeschwindigkeit« von dreihun dert Stundenkilometern. In flachem Winkel schossen sie in die At mosphäre des Planeten Siren …
* Die Desintegratoren vergasten das Eis sehr schnell und erzeugten vor allem keine Wärme und keinen Dampf. Ihre Strahlung bewirkte die Auflösung des molekularen Zu sammenhalts des Eises. Schweigend und konzentriert arbeiteten Algonkin-Yatta und Anlytha. Sie hatten sich anfangs durch Blicke verständigt, daß sie die
Botschafter der Zeit Kristallstöcke schonen wollten. Dadurch verlief der Schacht, den die Desintegratoren gefressen hatten, nicht senkrecht, sondern in einer stark maändrierenden Schlangenlinie. Um sie herum rührte sich nichts. Nicht ein einziger Kristall hatte sich seit ihrer Ankunft gebildet, soweit sie sehen konnten. Diese Stille beruhigte jedoch nicht, sondern mach te die Umgebung nur noch unheimlicher. Als sie endlich vor der Traube aus mitein ander verkoppelten Kugelgebilden anlang ten, geschah das genau vor den haarfeinen Randlinien einer – allerdings verschlossenen – Öffnung von etwa einem Meter Höhe und einem halben Meter Breite. »Wie kommen wir hinein?« flüsterte An lytha. »Nicht durch Gewaltanwendung«, ant wortete der Kundschafter. Lautlos glitt die Tür beziehungsweise das Schott zur Seite. »Na, bitte!« sagte Algonkin-Yatta, aber seine Stimme klang belegt. Dennoch zögerten weder er noch Anlytha, die oberste Kugel zu betreten. Sie mußten allerdings beide auf den Knien rutschen, denn auch der gewundene Gang hinter dem Schott war nur einen Meter hoch. Durch die Gangwände konnten Algonkin-Yatta und Anlytha Hohlräume und verschiedene Ag gregate sehen. »Die Traube ist ein Raumschiff«, sagte der Kundschafter schon nach wenigen Me tern. Anlytha erwiderte nichts darauf. Sie kro chen weiter, gelangten durch eine kurze Röhre in die nächste Kugel – und sahen drei Raumanzüge in einem achteckigen Raum liegen. Als sie sich über sie beugten und durch die transparenten Kugelhelme schau ten, sahen sie in die Gesichter unbekannter Lebewesen, Lebewesen, die mit ihren run den Körpern, ihren vier langen Armen und vier langen Beinen irgendwie spinnenartig wirkten. Die faltigen, grüngelben Gesichter waren doggenhaft – und tot. Nach einer Weile setzten Anlytha und der Kundschafter schweigend ihren Weg fort.
49 Sie fanden in den nächsten Kugeln wieder Aggregate und tote fremde Raumfahrer, kleine Lebewesen, die hier aus unbekannten Gründen ihr Leben beendet hatten. In der übernächsten Kugel sahen sie sich plötzlich von Anlagen umgeben, die sie so fort an das – verkleinerte – Innere einer Psiotronik erinnerten. »Eine Art Computer«, flüsterte Anlytha. Die Computeraggregate hinter der dünnen transparenten Schicht blinkten. »Wir sind die letzten von Crantech«, hör ten Anlytha und Algonkin-Yatta in ihren Helmempfängern. »Als unser Schiff versag te und in den gefrierenden See stürzte, rette ten wir unsere Bewußtseine in unseren Com puter. Von hier aus lockten wir alle Raum fahrer an, die zufällig diesen Planeten be suchten. Wir versuchten, ihnen klarzuma chen, daß wir erlöst werden, daß wir abge schaltet werden wollten. Aber niemand ver stand uns, und immer weniger Raumfahrer kamen. Außer euch wird wohl niemand mehr kommen. Deshalb bitten wir euch, schaltet den Computer ab, denn das können wir nicht selbst tun!« »Ihr wollt, daß wir euch umbringen, daß wir euer Leben auslöschen?« fragte Anlytha entsetzt. »Ja, denn unser Leben hat keinen Sinn«, kam die Antwort. »Vielleicht können wir ihm einen Sinn geben«, erklärte Algonkin-Yatta. »Wenn ihr bereit seid, eine Nachricht zu speichern und auf die Impulse von Pthor hin Locksignale auszustrahlen, dann könntet ihr über die Ab gründe der Zeit hinweg unsere Botschafter für Atlan sein, dem Arkoniden, dem unsere Suche gilt.« Nachdem er alles erklärt hatte, stimmten die Bewußtseine der toten Raumfahrer freu dig erregt zu. Der Kundschafter speicherte in den Computer alle Daten über ihn, Anly tha und die bisherigen Stationen der Suche nach Atlan ein. Ferner alles, was sie über die Kurromors, die Torzaganer und über die Rolle der Schwarzen Galaxis wußten oder vermuteten.
50
H. G. Ewers
Die letzten von Crantech versprachen, alles so zu tun, wie Algonkin-Yatta es wünschte, dann schwiegen sie. Algonkin-Yatta und Anlytha aber kehrten schweigend ins Kundschafterschiff zurück und nahmen erneut Fahrt auf – durch die Zeiten und in den Sog der Schwarzen Gala xis hinein, in der sie noch vor Atlan und Pthor anzukommen hofften. »Wie lange wird es dauern, bis Atlan un sere Botschaft erhält?« überlegte Anlytha laut, während draußen die Nebel der zeit neutralen Verschiebungsphase wallten. Algonkin-Yatta lächelte. »Keine Sekunde«, antwortete er. »Denn die Botschaft wird seit Tausenden von Jah ren schon auf ihn gewartet haben, wenn er mit Pthor im Sog der Schwarzen Galaxis
diese Kleingalaxis erreicht und den Lockruf empfängt.« Er stutzte und schaute auf Anlythas Füße. »Was ist das?« Anlytha folgte seinem Blick mit den Au gen, dann stieß sie einen Laut des Ent zückens aus und beugte sich zu dem in allen Farben funkelnden faustgroßen Kristall hin ab, der vor ihren Füßen lag. Sie hob ihn auf und sagte: »Das Abschiedsgeschenk der letzten von Crantech!«
E N D E
ENDE