Burt Hirschfeld
Cindy unterwegs Erotischer Thriller
Ins Deutsche übertragen von Rolf Kalenberg
BASTEI-LÜBBE
BASTEI...
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Burt Hirschfeld
Cindy unterwegs Erotischer Thriller
Ins Deutsche übertragen von Rolf Kalenberg
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 13 546 Erste Auflage: Mai 1994 © Copyright 1971 by Burt Hirschfeld All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1994 by Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Originaltitel: Cindy on Fire Titelfoto: Zefa Bildagentur Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Flèche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-13546-6
Willkommen in Cindys Welt – dekadenter Spielplatz der Kunstund Politik-Schickeria. Cindys Welt ist voller ausgeflippter Hippies, bis sie Karriere im internationalen Film ihn macht, eine Karriere, die sie teuer bezahlen muß. Cindys Welt – ein mitreißender Roman, in dessen Mittelpunkt eine leidenschaftliche Besessenheit steht – ein Roman, wie ihn nur Burt Hirschfeld schreiben konnte!
ERSTES BUCH Als ich geboren war, sog ich die normale Luft ein und fiel auf die Erde nieder, die von ähnlicher Natur ist, und mein erster Laut war ein Schrei, denn alle schreien. Die Apokryphen
Und hilf uns, während wir die Nacht erforschen… Norman Mailer
1
Ein wunderschönes Paar. Er war groß, hatte ein längliches, sonnengebräuntes Gesicht und einen lässigen Schlendergang. Seine blauen Augen blickten verhangen, zurückhaltend. Das schwarze Haar kräuselte sich bis in den Nacken. Ein Hauch von Spott hob einen Mundwinkel. Er war fast neunzehn Jahre alt, und die Leute nannten ihn BB. Sie war ein Jahr jünger, hatte diesen offenen Blick unverblümter Unschuld, der Fröhlichkeit ausstrahlte. Ihr weiches braunes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug ein knallgelbes Minikleid und keine Schuhe und leckte an einem tropfenden Eis, während sie ziellos schlenderten. Ihre Augen blickten erwartungsvoll in die Ferne, als ob bald etwas Lustiges und Aufregendes passieren würde. Ihr Name war Cindy. Das Dorf hieß Ocean Beach, und die Insel war Fire Island, eine ausgedehnte Sandbank im Atlantischen Ozean, mit unterschiedlichen Gemeinden. Seaview wurde von Familien bevorzugt, Kismet war eher für die ausgelassenen Partygänger der richtige Ort, Cherry Grove und The Pines wurden gern von Homosexuellen besucht, und Ocean Beach hatte für jeden etwas. Jede einzelne der mehr als dreißig Meilen, die Fire Island lang ist, hat sich im Laufe der Jahre zu einem Refugium für New Yorks Schickeria entwickelt, für die Leute vom Fernsehen, für die Werbe-, Zeitungs- und Theatercliquen. Zu einem Ort, an dem wichtige Leute sein wollen, um wichtige Leute zu treffen. Fire Island – wo ein Badeanzug die bevorzugte Kleidung ist, möglichst knapp. Gleichmäßig braun zu werden wird für eine Kunst gehalten, und Gin und Tonic ist der Drink überhaupt. Ehemänner sind eine Wochenendbürde, die von den Ehefrauen erduldet wird, weil sie die restlichen Tage der Woche ungestört ihrer Abenteuerlust frönen können. Nirgendwo werden Sex und
Liebe so oft verwechselt wie auf Fire Island, nirgendwo ist man so oft auf der Suche nach beiden wie in diesen heißen Tagen und hitzigen Nächten. Für BB und Cindy war Fire Island ein zweites Zuhause. Ihre Familien hatten viele Sommer in Ocean Beach verbracht, und so waren ihnen die schmalen Spazierpfade so vertraut wie die winzigen Läden, sie kannten die Geschäftsinhaber und die Dauerbewohner. Es wurden immer mehr, aber sonst hatte sich auf Fire Island wenig verändert. An diesem Abend gingen BB und Cindy ins Kino; es wurde ein Film über den Zweiten Weltkrieg gezeigt, aufgebläht und laut und mit viel Blut und noch mehr Toten. Sie mochten beide den Film nicht, aber sie blieben bis zum Schluß sitzen. Jetzt, da sie ihr Eis genossen, verwarfen sie den Film als völlig bedeutungslos, nichts im Vergleich zu dem, was Kubrick, Bergman oder Godard geschaffen hatten. »Trotzdem«, sagte BB, »du mußt zugeben, daß Jimmy Brown was Elektrisierendes hat.« Er sah Cindy von der Seite an. »Er war einer der besten Quarterbacks aller Zeiten.« »Ich weiß. Deshalb wirkt er ja so glaubwürdig.« »Was ist ein Quarterback?« neckte BB. »Also, wirklich! Ein Footballspieler. Du bist wie die anderen Jungen auch. Du glaubst, Mädchen könnten keine Ahnung vom Sport haben, nur weil sie Mädchen sind.« Er lachte und schaute auf seine Uhr. »Es ist Zeit«, sagte er. »Das Haus liegt an den Dünen.« Sie leckte am Eis. »Okay.« Dann blickten ihre haselnußbraunen Augen nach vorn. »Ist das nicht Mike Birns?« »Wo? Oh, da! Hallo, Mike!« Ein Mann im mittleren Alter reagierte auf den Ruf und hob die Hand. In seiner Begleitung eine Frau, die einige Jahre jünger war als er. »Wie geht’s, Mike?« fragte BB, streckte seine Hand aus. Mike Birns schüttelte BBs Hand. »BB, Cindy, das ist Elizabeth Jordan, eine gute Freundin.«
»Hi«, sagte Cindy. »Hi, Cindy«, erwiderte Elizabeth Jordan. »Hast du den Film gesehen, Mike?« fragte BB. »Ein entsetzliches Schlachten.« »Stimmt«, sagte Elizabeth. »Du schreibst viel bessere Sachen, Mike«, stellte BB fest. »Sie sollten eines deiner Bücher verfilmen.« Mike Birns lachte leise. »Das ist es, was ich meinem Agenten erzähle.« Er nahm Elizabeths Arm. »Grüße deine Mutter von mir, BB. Und Maggie auch, Cindy.« Cindy nickte und leckte das hinuntertropfende Eis von der Waffel ab, während sie zum Strand gingen. »Wie gut sind seine Bücher?« fragte sie nach einer Weile. »Mikes Bücher? Er schreibt Kriminalromane. Ich halte nicht viel von Krimis, aber sie müssen gut sein, denn sie werden veröffentlicht.« »Ich werde mal eins lesen. Er ist nämlich sehr attraktiv.« »Man kann sich nur schwer vorstellen, daß er so alt ist wie mein Vater.« Sie nickte. »Elizabeth ist viel jünger als er. Und sehr hübsch.« »Er hat immer eine heiße Puppe bei sich, jedenfalls habe ich schon viele bei ihm gesehen. So ein Typ ist auf dich nicht angewiesen.« »Vielleicht irrst du dich.« Er knurrte etwas und sagte dann: »Beeil dich. Ich habe gesagt, wir würden um Mitternacht bei ihm sein.« Sie verzog das Gesicht, während sie den schmalen Pfad entlang gingen, der zwischen den Strandhäusern hindurchführte. Grillen zirpten, und aus einem Haus drang ihnen die Geräuschkulisse des Fernsehens entgegen. »Du hast mir gesagt, daß du für eine Weile genug von dem Zeug hast.« »Vergiß es. Ich brauche Moos.« Sie atmete tief durch. »BB, ich hasse es wirklich. Ich habe das Gefühl, daß mich solche Dinge langsam abtöten, verstehst du?
Ich meine, warum kann es nicht immer so schön und herrlich zwischen uns sein wie…« »Hör schon auf. Du benimmst dich wie eine alberne Jungfrau, Cindy.« »Das meine ich nicht. Ich…« »Wenn du mir nicht helfen willst…« »Das ist es doch nicht. Du wißt, daß ich dich liebe, BB.« »Und ich liebe dich.« »Warum muß das dann sein? Warum geht es nicht nur um uns beide? Dann ist es immer schön, und ich bin glücklich.« Er schnaufte. »Klar, für dich ist immer alles rosigrot, was? Aber so ist die Welt nun einmal nicht. Das weißt du genau.« »Sie könnte aber so sein. Warum gehen wir nicht irgendwohin, BB? Jetzt sofort. Nur wir beide. Hinaus an den Strand. Ich mache es gern im Sand, BB, es kitzelt so schön. Bitte, BB, komm.« Er beugte sich über sie und küßte sie auf den Mund. Ihre Lippen waren klebrig und schmeckten nach gebrannten Mandeln. Er legte einen Arm um ihre Schulter. »Wir können nicht zu spät kommen.« Sie seufzte und warf ihr Eis in die Büsche. Sie gingen schneller, erreichten die Surf Road und blieben schließlich vor einem rechtwinkligen Haus stehen. Ein gemaltes Schild forderte auf: Komm einfach rein. »Das ist es«, sagte BB. Er klopfte energisch. Sie warteten. »Vielleicht ist niemand zu Hause«, sagte Cindy. BB hob die Hand, sie sollte still sein. »Ich höre Schritte«, sagte er leise. Die Tür öffnete sich, und ein kleiner, rundlicher Mann in Bermudashorts und einem gelben Golfhemd stand vor ihnen. Seine Augen huschten von BB zu Cindy und wieder zurück zu BB. »Ihr seid spät dran«, murmelte er und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Er trottete vor ihnen her, und bei jedem Schritt schwappten seine Fettringe um die Hüften. Im Wohnzimmer drehte er sich um und starrte Cindy aus glänzenden Augen an. »Du kannst mich Harry nennen«, sagte er.
»Hallo, Harry.« Die kleinen Augen musterten sie. »Am letzten Wochenende habe ich dich am Strand gesehen. Du warst das schönste Mädchen im Sand, sage ich dir.« »Harry hat ein Auge für Schönheit«, sagte BB. Harry bewegte seine weichen runden Schultern zustimmend. »Das ist schließlich mein Geschäft. Kleider. Qualitätsware. Da sehe ich natürlich viele schöne Mädchen. Überall sehe ich Mädchen in ihrer Unterwäsche. Aber das ist nicht dasselbe. Sie sind alle dürr, die Models. Was du mit einem Bikini anstellst, wie du ihn ausfüllst, das bringen sechs von ihnen nicht fertig.« Er spreizte die Lippen, um anzudeuten, daß er einen Witz gemacht hatte. Cindy lächelte pflichtschuldig. »Harry sagt, du hättest ihm sofort gefallen«, warf BB ein. »Ich habe mich nach dir erkundigt«, fuhr Harry fort. »Einer der Jungs hat’s mir gesagt. Aber wie konnte ich wissen, daß du im Gewerbe bist?« »Ein Glück für uns alle«, sagte BB. »Und so habe ich Harry kennengelernt.« Cindy schwieg. BB lächelte dem älteren Mann zu. »Ich schätze, daß ich mal die Fliege mache, Harry. Mich brauchst du ja nicht.« »Da hast du verdammt recht, Junge.« Er griff in seine Tasche und zog ein paar gefaltete Scheine heraus. »Einhundert Bucks. Eine Menge Geld. Ich hoffe, daß sie es wert ist.« BB nahm die Scheine. »Du wirst nicht enttäuscht sein, Harry, das verspreche ich.« Er ging zur Tür. »Cindy, ich bin bei MacCurdy’s. Komm später dahin.« »Sie wird ziemlich erschöpft sein«, sagte Harry fröhlich. BB nickte und ging. Harry wandte sich an Cindy. »Ein hübsches Kleidchen. Ich mag Gelb. Wo hast du es gekauft?« »Eine Boutique an der Dritten Avenue.«
»Früher hat man Kleidergeschäft gesagt, heute heißt es Boutique und ist zwanzig Prozent teurer.« Er deutete auf die tiefe Couch gegenüber dem offenen Kamin. »Setz dich.« Sie setzte sich. »Wie wär’s mit einem Drink?« »Nein, danke.« Harry starrte sie an. Jetzt kam sie ihm noch schöner, noch begehrenswerter vor. Ein Hauch von mädchenhafter Rundlichkeit lag noch um ihre Wangen, um ihre Arme, um die kräftigen bloßen Schenkel, die unter dem kurzen gelben Kleid zu sehen waren. Harry stieß einen kehligen Laut aus. Harry war ein Mann, der für seine Frauen bezahlte. Er zahlte immer. Das ersparte ihm Komplikationen. Wenn man bezahlte, schuldete man niemandem etwas, hatte keine Verantwortung, brauchte danach nicht mit ihnen zu reden, man konnte sie auf Kommando los werden. Aber mit Geld hatte er so eine noch nie bekommen. Meistens waren es harte Frauen gewesen, Frauen, die schon zu viele Jahre gesehen hatten, und die Erfahrungen hatten sich in ihre Gesichter eingegraben. Die hier aber war jung und frisch. »Trinkst du nie?« fragte er und ließ sich auch auf die Couch nieder, aber nicht zu nahe. »Nicht viel. Außerdem habe ich gerade ein Eis gegessen.« War das nicht herrlich? So ein Mädchen hatte er sich immer gewünscht. BB hatte geschworen, daß sie erst sechzehn war und ganz neu im Gewerbe. »Wie alt bist du?« »Ich hatte gerade Geburtstag«, sagte sie. »Sechzehn.« Sie brachte ein versonnenes Lächeln zustande. »Bin ich zu jung für dich?« »Verkaufst du es schon lange?« Sie schaute scheu auf den Boden. »Ich… ich habe gerade damit angefangen. Erst vor ein paar Wochen.« Er rückte näher, und ihr frischer Duft stieg in seine Nüstern. »Wann?« fragte er. »Ich meine, wann hast du es das erste Mal getan? Ich meine, nicht für Geld, sondern überhaupt?« »Als ich dreizehn war.«
»Himmel!« Er mußte sich räuspern. »Und was ist besser für dich, es für Geld zu tun oder so zum Spaß?« »Das kommt darauf an. Auf den Mann.« Sie blickte ihm in die Augen. »Ich glaube, mit dir wird es mir Spaß machen.« Er ließ eine feiste Hand auf ihrem Oberschenkel liegen. Er spürte die warme, glatte Haut und als Antwort darauf das Zucken in seinen Lenden. Aber er war noch nicht bereit, noch nicht. »Hundert Bucks«, sagte er. »Glaubst du, daß du hundert Bucks wert bist?« »Das mußt du entscheiden.« »Ja, richtig. Ich habe es ja schon entschieden.« Er befeuchtete seine Lippen. »Was trägst du unter dem Kleid?« »Mein Höschen.« »Sonst nichts?« Sie schüttelte den Kopf. »Zeig mal.« Sie stand auf, in einer flüssigen Bewegung hob sie das Kleid über den Kopf und warf es zur Seite. Harry sog hörbar die Luft ein. »Himmel! Was für Titten! Die besten, die ich je gesehen habe! Und jetzt das Höschen. Zieh’s aus.« Sie gehorchte. Es war Routine, dachte sie, als ob es einstudiert worden wäre. Es war immer dasselbe. Sie fragte sich, ob die Männer alle Mädchen so behandelten. Bei ihr war es jedenfalls immer so. Lag es an ihr? »Hör zu«, sagte er. »Hör zu.« Er griff nach ihr, spreizte die Finger auf ihrer Haut, zog sie näher an sich heran. »Ich habe es noch nie getan«, murmelte er heiser, »nie im Leben. Aber bei dir muß ich es tun, du bist so schön, so jung, das macht mich verrückt. Wild. Ich muß es einfach tun…« Die Finger drückten sich in das feste Fleisch ihres Hinterns, sein Gesicht preßte sich gegen sie, und dann spürte sie seinen Mund, die Lippen, die Zunge. Sie spreizte die Beine, um seine Bemühungen zu erleichtern, und lauschte seinen Geräuschen, dem Stöhnen und Seufzen und Zischen, wenn er Luft holte, und
dann wartete sie auf den richtigen Augenblick, bis einige Zeit vergangen war, damit er nicht auf den Gedanken käme, daß sie alles nur vortäuschte…
2
Ein Dutzend von ihnen, alle jung, alle sonnengebräunt. Sie lagen auf ausgebreiteten Decken, berührten sich, einige Köpfe ruhten auf Bäuchen, sie redeten miteinander, dösten vor sich hin, lasen, lachten. Ein bärtiger Junge hob seine Gitarre auf und sang mit sanfter Bitterkeit über eine korrupte Welt, in der die Liebe nicht existieren konnte. BB lag schläfrig auf dem Bauch. Seine Gedanken wanderten ziellos durch eine vernebelte Welt aus Rausch und Vergnügen, und so hörte er nicht, wie Cindy ihn rief. Sie kniete neben ihm, rief seinen Namen, berührte ihn an der Schulter. Endlich bewegten sich seine Lider, ganz allmählich öffnete er die Augen, sah ihre jungen Brüste dicht vor seinem Mund. »Sehr schön«, murmelte er. »An einem solchen Wochenende könnte ich ein Vermögen mit dir machen.« »Du hast deinen Nachschub bekommen…« »Er wird nicht lange vorhalten. Das Zeug ist teuer, wie du weißt. Baby, eines Tages bringe ich dich auch noch drauf, damit du einen Geschmack für das wahre Leben erhältst.« Nein, das würde ihm nie gelingen. Hasch gab ihr nichts, sie wurde nur schläfrig davon. Ihre beiden Acid-Trips waren voll daneben gegangen. Und Heroin oder horse, wie BB es nannte, brachte ihr nur Schrecken, sonst nichts. Außerdem gab es doch so viele herrliche Dinge, die man körperlich erleben konnte, Dinge, für die man keine Drogen brauchte. Es gab sie an jeder Ecke, diese herrlichen Dinge, man mußte sie nur sehen. BBs Augen waren wieder geschlossen. Er atmete regelmäßig. Traurig dachte sie, daß er nur dann nett zu ihr war, wenn er einen Schuß brauchte. Temperament entwickelte er nur, wenn es darum ging, an Stoff zu kommen. Wenn er sich den Schuß gesetzt
hatte, existierte er in einem toten Raum, in einer Euphorie, die mit ihr nichts zu tun hatte. Für sie war er dann nutzlos geworden. Sie mußte zu einer Entscheidung gelangen, was BB anbetraf. Vielleicht mußte sie sich von ihm abwenden. Auch das machte sie traurig; es erinnerte sie daran, wie sehr sie ihn liebte. Aber in letzter Zeit war diese Liebe eine Einbahnstraße geworden. Er gab ihr nichts mehr. Zu Beginn war es wild und verrückt und leidenschaftlich gewesen. Er traf eine Verabredung für sie, und nachher kehrte sie zu ihm zurück, und dann liebten sie sich innig und lange. Sie erzählte ihm alles, was geschehen war, was sie mit dem Mann angestellt hatte und der mit ihr, und das hatte sie beide wieder erregt, und sie taten es noch einmal, und es war fast noch besser als beim erstenmal. Aber das war nun vorbei, jetzt liebten sie sich nur noch selten. Für Geld mit Männern zu schlafen war eine miese Sache. Sie wollte sich ihre Partner selbst aussuchen. BB führte ihr meist dicke Männer zu, sonnengebräunte Buddhas mit abartigen und manchmal schmerzhaften Vorlieben. Sie sehnte sich nach etwas anderem, und BB hinderte sie daran, es zu erhalten. Da gab es einen Mann… Wenn sie an ihn dachte, wenn sie sich vorstellte, wie es mit ihm wäre, wenn sie sich ihm hingab, dann wurde sie erregt, dann entstand ein Kribbeln in ihrem Bauch. Aber es würde nicht einfach sein. Sie mußte sich einen Plan zurechtlegen… Sie verspürte ein vages Unbehagen, als ob irgend jemand sie aus der Ferne beobachtete. Sie richtete sich auf, und ihr Blick fiel auf einen Jungen mit einer weißen Nase. Er wurde rot und drehte sich schnell weg. Er hatte auf ihre Brüste gestarrt, und Cindy überlegte sich gerade eine schnoddrige Bemerkung, um ihn wissen zu lassen, was sie von Spannern hielt. Aber sie sagte nichts. Der Junge schien sich noch unbehaglicher zu fühlen als sie; daß er entdeckt worden war, reichte als Strafe schon.
Eigentlich machte es ihr auch nichts aus. Es gehörte einfach mit zum Spaß, ein Mädchen zu sein, gute Brüste zu haben; und dazu gehörte auch, daß man sie zeigte und daß jemand hinschaute und sie zur Kenntnis nahm. Cindy gestattete sich ein leichtes Lächeln und versuchte, sich an den Namen des Jungen zu erinnern. Jemand hatte sie am vergangenen Wochenende bekannt gemacht; er gehörte nicht zur Clique, die den ganzen Sommer auf der Insel verbrachte. Jetzt fiel ihr der Name wieder ein. David. »Hallo, David«, sagte sie. Er wandte sich ihr wieder zu. Seine weiße Nase leuchtete wie eine Zielscheibe in einem ansonsten unauffälligen Gesicht. Er nickte ein paarmal und sagte ernst: »Hallo, Cindy. Ted Lewinson hat uns vorige Woche vorgestellt.« »Ich weiß«, sagte Cindy. Der Junge tat ihr ein bißchen leid. Alle anderen schienen unter der Sonne aufzuleben und zu gedeihen, aber nicht David. Zinksalbe beschützte seine zu lange Nase vor den brennenden Sonnenstrahlen, und seine Schultern wiesen seltsam gefärbte Flecken auf. Er war ein schlaksiger Kerl mit stumpfen braunen Haaren, und weil er fast ständig blinzelte, hatte sich auf seiner Stirn eine dicke Längsfalte gebildet. »Bist du ein Wochenender?« fragte Cindy. Er nickte, dankbar dafür, in ein Gespräch gezogen zu werden. »Meine Eltern haben ein Haus gemietet. Dies ist mein erster Sommer auf Fire Island.« »Warum bleibst du nicht den ganzen Sommer? Die Woche über ist hier mächtig was los, dann ist der Strand nicht so überlaufen, und man hat eine Menge mehr Spaß.« »David arbeitet«, sagte BB plötzlich, ohne sich zu bewegen. »David ist Mitglied des Establishments.« Davids Mund hob sich im Versuch eines Lächelns. »So würde ich das nicht sagen.«
»David ist Anwalt«, fuhr BB fort. Er hob den Kopf und sah den Jungen an. »Wenn ich mal hopsgehen werde, David, kannst du mich rauspauken.« »In Gerichtsprozessen habe ich keine Erfahrung«, antwortete David. »Ich…« »Weißt du was, David?« unterbrach BB ihn. »Ich glaube dir. Du hast nicht viel Erfahrung.« Dann ließ er den Kopf wieder sinken. Cindy wollte das verlegene Schweigen überbrücken, das danach folgte. Aber ihr fiel nichts ein. Sie wandte sich von David ab und schaute hinaus auf den Ozean, über den Strand hinweg. »Oh, verdammt!« rief sie plötzlich. »Was ist?« murmelte BB. »Schau mal, wer da kommt.« »Wer?« »Mein Vater.« BB stützte sich auf die Ellbogen. Er entdeckte Roy Ashe, der sich ihnen gemächlich näherte. Er war in seiner karierten Badehose und an seinem gockelhaften Gang leicht zu erkennen. Der Kopf bewegte sich ein wenig auf und ab, und um den Mund spielte ein flüchtiges Grinsen. Ein drahtiger Körper, das wettergegerbte Gesicht ein bißchen aufgedunsen. Sein Bürstenhaarschnitt sollte ihn jünger machen, aber die grauen Stellen waren nicht zu übersehen. Man sah ihm seine fünfundvierzig Jahre an. Die kleinen braunen Augen standen niemals still, und wenn er lachte – er lachte oft –, dann war es meistens zu laut. Er sprach zu hektisch, die Worte explodierten aus seinem Mund, als hätte er Angst, den Atem zu verlieren, bevor er das gesagt hatte, was er sagen wollte. »Ich will ihn nicht sehen«, sagte Cindy. Sie hatte sich flach hingelegt, die Hände vors Gesicht geschlagen. »Er ist dein Vater.« BB grinste dünn. »Ich will ihn nicht sehen.« BB winkte Roy Ashe zu und rief seinen Namen. »Nicht!« zischte Cindy. Roy Ashe winkte zurück und kam auf sie zu.
»Er kommt«, sagte BB und fiel wieder in den Sand zurück. Er schloß die Augen. »Sei eine gute Tochter.« »Du bist ein Bastard, BB.« »Cindy! Cindy, bist du das?« Sie rollte sich auf den Rücken und stand auf. »Hallo…« Sie konnte es nicht über die Lippen bringen, ihn Vater zu nennen. »Hallo, Roy.« »He«, sagte Roy Ashe, »du siehst fantastisch aus. Fantastisch! Ich meine, großartig. Wenn du nicht meine eigene Tochter wärst…« Er lachte laut, derb. Sie starrte ihn an. »Und neben dir, das ist wohl der gute alte BB. Sieht aus wie ein griechischer Gott. Wie steht’s, BB?« BB hob einen Arm zum Gruß, sagte nichts und hielt die Augen geschlossen. »He, BB, du bist ja ein richtiger Riese geworden. Bestimmt zwei Meter, was? Ich bin einsachtzig, und du bist bestimmt einen Kopf größer als ich.« Cindy wurde plötzlich verlegen. Sie wollte die Gefühle ihres Vaters nicht verletzen und rang sich zu einem Lächeln durch. Sie schaute hinüber zu David, der Roy mit konzentriertem Interesse betrachtete. »Das ist mein Vater, David«, sagte Cindy. »Das ist David Altman, Vater.« David stand auf und streckte seine Hand aus. »Sehr nett, Sie kennenzulernen, Mr. Ashe.« Roy schüttelte kurz die Hand. »David ist Anwalt«, erklärte BB, eine Menge Spott in der Stimme. »Wenn Sie jemals einen erstklassigen Rechtsbeistand brauchen…« »Gut zu wissen«, sagte Roy. Er grinste Cindy an. »Wie wäre es mit einem Spaziergang, Tochter? Wir könnten uns ein wenig unterhalten.« »Nun…«
»Das ist eine hervorragende Idee«, warf BB ein. »Geh mit deinem Vater, Lucinda, und zeig ihm, was für ein braves Mädchen du bist.« Cindy trat aus dem Kreis der herumliegenden Körper heraus, und Roy ging hinter ihr her. Sie sieht herausragend aus, dachte er. Dann war er neben ihr und betrachtete sie von der Seite. Klassisches Profil, die Nase klein und leicht nach oben gereckt, gerade Brauen, der Mund herrlich gewölbt, einladend. Ein Mund, wie ihn Männer sich wünschen. Und sie füllte ihren Bikini herrlich aus. Er zwang seine Blicke weg von ihrem Busen. Ein saftiges Stück, dachte Roy Ashe, und er schätzte, daß jeder Hengst am Strand davon träumte, es ihr zu besorgen. Er konnte es ihnen nicht verübeln. »Wie geht es dir in diesem Sommer, Mädchen?« Sie blieben am Wasser stehen. Cindy schaute zu, wie die winzigen Wellen um ihre Füße spielten. »Ganz gut, nehme ich an.« »Ich habe dich lange nicht gesehen.« »Du bist beschäftigt«, sagte sie. Sie versuchte, sich ihrer Gefühle bewußt zu werden. Es fiel ihr immer schwer, bei ihrem Vater zu sein. Ihr waren ihre eigenen Reaktionen unklar. Sie wünschte, er wäre ein anderer Mann gewesen, weniger aufdringlich, weniger schreiend, weniger so wie die Männer, die BB ihr zuführte. Sie überlegte, ob auch Roy dafür bezahlte, ob er die Dienste eines jungen Mädchens kaufte. Sie hoffte, daß es nicht so war, sie wollte, daß er mit diesen Typen, die sie befriedigte, nichts gemeinsam hatte. Sie wollte, daß er ein richtiger Vater war, ein richtiger Mann. Daß er eher Mike Birns ähnlich war, dem Schriftsteller. »Beschäftigt zu sein ist keine Entschuldigung«, sagte Roy gerade. »Als Vater tauge ich wohl nicht viel.« Sie schaute zu ihm hoch. Seine braunen Augen waren weich, feucht, fast bittend. Sie wollte ihn umarmen, ihn küssen, sie wollte seine Arme um sich spüren, wollte sich sicher und beschützt und getröstet fühlen. Halt mich ganz fest, mein Vater. Cindy
hob ihre Mundwinkel zu einem schwachen Lächeln und sagte: »Du gibst dein Bestes.« »Ja, so bin ich nun mal eben.« »Ich verstehe dich«, sagte sie. Sie wünschte, er würde still sein. Roy machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge. »Vielleicht habe ich es verpaßt, dir ein guter Vater zu sein. Es ist schon zehn Jahre her, daß deine Mutter wieder geheiratet hat und…« »Ich weiß.« Sie schlenderte weiter am Wasser vorbei, er an ihrer Seite. Die klare Luft, der frische Wind, die Schreie der Kinder, die in der Brandung herumsprangen, das Lärmen der Volleyballspieler am Strand… »Ein herrlicher Tag«, sagte Roy. »Ja.« »Cindy, ich möchte dir was kaufen. Etwas, das du dir immer schon gewünscht hast. Was Maggie und ihr neuer Mann dir nicht kaufen können.« »Es gibt nichts, was ich brauche.« »Gut. Wie wär’s mit Knete? Ein Mädchen wie du kann doch immer was Flüssiges brauchen.« Sie wünschte, er würde sich nicht so anbiedern. Sie wollte einen Vater, nicht einen Kumpel. »Ich kann dein Geld nicht nehmen, Roy.« Sie spazierten schweigend weiter, und das Schweigen lastete schwer auf ihm. »Was willst du eigentlich mal machen, Mädchen? Ich meine, bald gehst du zum College und dann…« »Ich bin schon seit einem Jahr im College.« Er lachte verlegen. »Oh, ja, richtig. Und was kommt danach?« »Ich habe keine Pläne.« »Ach so.« »Was würdest du sagen, wenn ich mich beim Friedenskorps anmelde?«
»Friedenskorps? Großartig! Ich meine, das würde mir sehr gut gefallen. Ich meine, wenn du sicher bist, daß es das Richtige für dich ist.« »Ich bin mir über nichts sicher.« »Ich verstehe das. Wer kann sich in dieser beschissenen Welt schon irgendeiner Sache sicher sein?« »BB wollte vergangenes Jahr zum Militär.« »Ja, wäre doch großartig.« »Aber sein Vater war dagegen. Er sagte, es brächte doch nichts, daß BB dort seine Zeit vergeudete.« »Neil ist immer schon ein gerissener Kerl gewesen.« »Er hat BB einen Austin-Healey gekauft und gesagt, er soll sich das Land anschauen. BB landete in Haight-Ashbury, und da hat er…« Sie brach ab. In Hashbury hatte er mit Drogen begonnen und war nicht mehr von dem Zeug losgekommen, erinnerte sie sich schmerzlich. »Ich glaube, ich tauge nicht für das Friedenskorps.« »Wie du meinst. Roy Ashes Tochter hat ihren freien Willen. Du wirst ihn einsetzen, wenn dir das Richtige einfällt.« Sie schaute ihm in die Augen, und er wich dem Blick aus. »Vielleicht ist es gar nicht so gut, wenn Kinder allzu früh ihren eigenen Willen durchsetzen können.« »Kann schon sein«, sagte er. Wieder folgte dieses Schweigen, bis er einen blechernen Laut von sich gab und den Kopf schüttelte. »Ich bin dein Vater, aber ich weiß nicht, worüber ich mit dir reden soll.« »Du brauchst nichts zu sagen.« Sie blickte hinaus aufs Meer. Eine Reihe Fischerboote markierte den Horizont. »Richtig, ja, du hast recht. Ich wollte dich nur wissen lassen, daß ich noch lebe. Damit du deinen Alten noch einmal ansehen kannst. Wir können doch nicht zulassen, daß du mich ganz aus den Augen verlierst, was? Ich werde dich von Zeit zu Zeit mal besuchen.« »Ja.«
»Oder du rufst mich an, wenn du irgendwas brauchst oder was auf dem Herzen hast. Weißt du, auf mich kannst du immer zählen.« »Ja.« »Paß auf dich auf und grüß Maggie von mir.« »Werde ich.« Er hob seine rechte Hand, als wollte er sie anfassen, aber dann ließ er sie fallen. Er grinste sie verlegen an, drehte sich ruckartig herum und marschierte in die andere Richtung am. Strand hinunter. Sie sah ihm nach, und dabei fiel ihr ein, daß er nur selten ihren Namen nannte. Sie wünschte, er würde ihn häufiger sagen.
3
Susan Morgan war über vierzig und sah zehn Jahre jünger aus. Schlank, knochenbetontes Gesicht, über das sich die gebräunte Haut spannte. Dünnes schwarzes Haar, das ihr bis zur Taille fiel. Wo immer sie sich sehen ließ, erregte sie Aufsehen, einfach nur durch ihre Anwesenheit, besonders, wenn sie, wie jetzt, weiße Shorts und eine weiße ärmellose Bluse trug. Cindys Mutter Maggie mochte zwar nicht ganz so spektakulär wirken wie Susan, war aber nicht weniger attraktiv. Ihr Körper war gerundeter, die Linien weicher, und um die Augen gab es ein Netzwerk kleiner Fältchen. Ihre Haare waren bleich von der Sonne. Susan und Maggie waren seit siebzehn Jahren befreundet und verbrachten auf Fire Island fast die ganze Zeit zusammen. Auch wenn sie in New York waren, besuchten sie sich oft. Sie teilten sich ihre intimsten Dinge mit, tauschten Informationen und Erfahrungen aus, sie waren umeinander besorgt und vertrauten sich gegenseitig. In all der Zeit hatten sie nicht einmal ernsthaft Streit gehabt. Nichts würde ihre Freundschaft beeinträchtigen können. Sie brauchten einander. An diesem Abend dinierten sie noch spät bei Leo’s in Ocean Beach, Schwertfisch und Butterbohnen, Salate, Kaffee und einige von Leos köstlichen Desserts. Und eine Flasche Chablis. Danach setzten sie sich an Leos Bar und suchten sich zwei Männer aus, keiner von ihnen aus den Zwanzigern heraus, beide groß und breitschultrig, gut aussehend und offenbar ohne Vorurteile, sich mit älteren Frauen sehen zu lassen. Sie tranken zusammen und lachten viel und tanzten zwischendurch, und immer wieder gab es jenes testende Berühren, das so vielsagend und so vielversprechend sein kann.
Es war schon spät, als sie Leo’s verließen und zu Susans Haus zurückkehrten. Im großen alten Haus war es dunkel und still. Susan schaltete eine Tiffany-Lampe ein, deren milder Schein sich über das Wohnzimmer legte, das Susan mit so viel Bedacht zusammengestellt hatte. Alte Couches hatte sie neu überziehen lassen und einen alten Eichentisch selbst so verkleinert, daß er jetzt als Kaffeetisch diente. Susan erklärte, BB sei für ein paar Tage zum Einkaufen der Herbstgarderobe nach New York gegangen, und ihr Mann Neil halte sich ebenfalls in der großen Stadt auf – beschäftigt mit dem, womit er immer beschäftigt war, wenn Susan nicht bei ihm war. Darüber mußten sie alle lachen. Susan mixte ihnen Drinks und legte Musik auf, und sie begannen zu tanzen, langsam und aneinander reibend. Susan protestierte nicht, als ihr Freund seine Hand auf ihren immer noch straffen Hintern legte. Der Mann, mit dem Maggie zusammen war, preßte sich eng an sie, und sie spürte seine Beule, die gegen ihren Bauch drückte. Sie lächelte ihn an, und er beugte sich über sie und küßte sie auf den Mund. Seine Hände fuhren kosend und forschend über ihren Körper, und sie labte sich an diesen Berührungen. Niemand von ihnen hörte, wie die Terrassentür geöffnet wurde. Erst als sie mit einem Knall wieder ins Schloß fiel, fuhren die beiden Paare auseinander, schuldbewußt und verunsichert vom Eindringen eines Unbekannten. Susan, die sich von ihrem Partner gelöst hatte, erkannte die Besucherin zuerst. »Cindy! Wie nett, dich zu sehen, Darling. BB ist nicht hier.« Cindy blinzelte und trat ins Zimmer hinein. »Mutter«, sagte sie mit belegter Stimme. Maggie fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar. »Wir sehen uns zu Hause, Cindy. Oder, wenn du schon schläfst, morgen beim Frühstück. Dann können wir miteinander reden.« »Es ist wichtig.« »Cindy, du bist Susans Freunden gegenüber sehr unhöflich.«
Cindy schüttelte wild den Kopf. »Das gibt es doch nicht! Ist dir denn alles egal? Was ist nur los mit dir?« Sie wirbelte herum und sprang auf die Terrassentür zu. »Cindy!« rief Maggie schroff. »Du bist ungezogen! Wo bleibt deine Entschuldigung?« Cindy blieb stehen, aber sie drehte sich nicht um. »Sie haben ihn umgebracht. Sie haben auch Bobby Kennedy umgebracht!« Sie rannte blindlings hinaus. Am Strand wanderte sie von Ocean Beach weg. Die Nachtluft war kühl und feucht. Sie begann zu laufen, so schnell sie konnte. Ihr Puls raste; und sie hatte Schwierigkeiten, richtig durchzuatmen. Erschöpft fiel sie mit dem Gesicht in den Sand, die feuchten Körner rieben seltsam angenehm gegen ihre Haut. Als ihre Kraft zurückkehrte, zog sie sich aus und stelzte ins Meer hinein, über die ersten Brecher hinweg, hinein in die Nacht. Als sie das Ufer nicht mehr sehen konnte, legte sie sich auf den Rücken und ließ sich mit geschlossenen Augen treiben. Sie versuchte, an nichts zu denken. Wie, dachte sie, schaffen es eigentlich die indischen Mystiker? Vielleicht lag das Geheimnis in der Meditation. Sie würde sie eines Tages lernen müssen. Von der Strömung ließ Cindy sich wieder ans Ufer treiben. Plötzlich hatte sie Angst, und die hielt an, bis sie die Orientierung zurückgewonnen hatte. Sie ging zu der Stelle, an der sie ihre Kleider abgelegt hatte. Zitternd zog sie sich an, dann setzte sie sich in den Sand, zog die Knie an, schlang die Arme um sich und hoffte, daß die Wärme in ihren Körper zurückkam. Wenn doch nur BB hier wäre. Jemand, mit dem sie reden könnte. Vielleicht Mike Birns. Schriftsteller waren empfindsamer als andere Menschen. Er würde gerade jetzt ihre Gefühle verstehen, würde wissen, wie einsam und verängstigt sie sich fühlte. Das Leben, sagte sie sich, war ein einziges Elend, durch und durch korrupt, eine Lüge bis in die letzte Kleinigkeit. Es gab nichts, woran man glauben konnte. Nichts. Das wollte sie nicht akzeptieren. Irgendwo mußte es eine menschlichere Form der Existenz geben, wo das Leben schön
und wunderbar war, wo sie glücklich sein konnte. Wild und glücklich. Sie sehnte sich nach einer Aussicht auf bessere Zeiten. Sie sah Maggie und Susan vor sich. Mit ihren abgeschleppten Freunden. Sie war davon überzeugt, daß ihre Mutter es mit dem jungen Mann trieb. Sie und Susan umgaben sich immer mit Männern dieser Art. Ein kalter Schauer durchlief Cindys Körper. Wenn sie an Maggie dachte, sah sie ihr eigenes Schicksal vor sich. Sie schüttelte sich. Sie wollte nicht so sein wie Maggie, aber wie anders war sie denn? Gab es überhaupt einen Unterschied? Mit wie vielen Männern hatte sie es schon gemacht? Zwanzig? Dreißig? Fünfzig. Vielleicht mehr. Sie hatte aufgehört zu zählen. Aber das war BBs Schuld. Das machte sie nur, damit er sich Stoff kaufen konnte. Damit er nicht stehlen mußte. Sie stieß einen wehmütigen Seufzer aus. Nein, es war unmöglich, BB dafür allein verantwortlich zu machen. Er hatte ihr nicht den Revolver an die Schläfe gehalten, er hatte sie nicht gezwungen. Sie hatte es tun wollen. Sie wehrte sich mit aller Kraft gegen diesen Gedanken, dann gegen BB. Er hatte kein Recht, ihr diese Scheußlichkeiten zuzumuten. Nein, er hatte kein Recht dazu. Bobby Kennedy. Jack Kennedy. Martin Luther King. Das dreckige Vietnam. Alles lief schief in dieser Welt. Eine schlechte Welt. Vielleicht hatte BB doch recht, allem den Rücken zu kehren und einfach auszusteigen. Sie schüttelte sich wieder und stand auf, ging zurück zum Haus. Sie wollte sich nicht auch noch eine Erkältung einfangen. Am nächsten Morgen stand Cindy früh auf und ging zum Strand, döste in der Sonne und ließ ihre Gedanken treiben. Sie hatte die Einladung der Freunde ihrer Mutter abgelehnt, sich zu ihnen zu setzen, und danach hatte sie die Versuche zweier Männer abgewehrt, mit ihr anzubandeln. Sie wollte allein sein. Allein mit ihren Problemen, ihren Gedanken. Erst die brennende Mittagssonne trieb sie ins Wasser. Die Wellen schlugen hoch, und sie war froh, daß sie ihre ganze Konzen-
tration aufs Schwimmen richten mußte. Sie stemmte sich gegen die Strömung und fand mächtigen Spaß daran, gegen sie zu bestehen. Erschöpft kam sie aus dem Meer, zupfte an ihrem Bikini. Ein kleines Mädchen stand am Wasser, ein hübsches Ding mit schwarzen Haaren. Sie schaute Cindy zu und sah sie dann mit ihren großen dunklen Augen an. »Hallo«, sagte Cindy lächelnd. Das kleine Mädchen lächelte nicht zurück. »Gehst du mit mir ins Wasser?« Cindy kniete sich vor das Mädchen hin. »Das würde ich gern tun, aber vielleicht will deine Mutter das nicht haben.« »Sie wird es nie erfahren.« Cindy schaute zum Strand. Sie sah eine ganze Reihe von Frauen, und jede einzelne von ihnen konnte die Mutter dieses Mädchens sein. Sie nahm das Kind bei der Hand. »Warum fragst du deine Mutter nicht. Wenn sie einverstanden ist, nehme ich dich gern mit.« »Meine Mutter ist tot.« Sie sagte das ohne jede Betonung, aber Cindy fühlte sich wie vom Schlag getroffen. Ihre Lider zuckten. »Es tut mir leid«, sagte sie, dann wußte sie nicht weiter. »Es war ein Unfall«, sagte das Mädchen. »Ein Autounfall. Ich habe noch nie einen Autounfall gesehen. Du? Ich meine, daß zwei Autos so richtig ineinanderkrachen…« Cindy wollte das Thema wechseln. »Ich heiße Cindy«, sagte sie. »Ich bin Laura. Nimmst du mich mit ins Wasser?« »Nun«, sagte sie zögernd, aber dann überwog das Bedürfnis, diesem Mädchen einen Gefallen zu erweisen. »Aber nicht zu weit. Halt dich an meiner Hand fest.« Sie gingen ins Wasser, bis es Laura an die Hüften reichte. Sie sprang und hüpfte gegen die ankommenden Wellen, quietschte vor Vergnügen, schrie auf, wenn die Wellen kamen, und ließ Cindys Hand nicht los. Impulsiv nahm Cindy das Kind auf den Arm und wirbelte herum, tauchte es unter, achtete aber darauf, daß der Kopf des Mädchens über Wasser blieb. Laura bettelte
um eine Wiederholung nach der anderen, und Cindy tat ihr den Gefallen. »He, Laura, wo bist du denn?« Die männliche Stimme drang durch ihr vergnügliches Lärmen. Am Strand stand ein Mann mit dichtem schwarzen Haar und einem freundlichen Gesicht. »Oh, Papa!« rief Laura. »Ich schwimme!« Der Mann kam näher und lächelte seiner Tochter zu. Cindy stand plötzlich unter dem Schuldgefühl, etwas Verbotenes getan zu haben. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen. Laura wollte unbedingt…« »Nein, überhaupt nicht.« Er nahm Laura aus Cindys Armen und setzte sie ab. »Lauf zurück zur Decke, Liebling, und trockne dich ab.« »Ich möchte aber…« »Tu, was ich dir sage. Später gehe ich mit dir noch einmal ins Wasser.« Ohne einen Blick zurück, rannte Laura zum Strand. »Sie ist ein feines Mädchen«, sagte Cindy. »Sie sucht sich immer die richtigen Frauen aus«, sagte er. »Seit meine Frau bei diesem Unfall starb, sucht sie nach einem Ersatz.« »Es tut mir leid.« »Es war nett von Ihnen, sich um sie zu bemühen.« »Sie ist ein freundliches kleines Mädchen.« »Ich bin sicher, daß Sie eines Tages eigene Kinder haben werden.« Sie versuchte, sich vorzustellen, wie das sein würde, eines Tages schwanger zu sein, das Kind auszutragen, es zu gebären und dann das Kind zu haben. Sie dachte an das Unwohlsein, an die unförmige Gestalt schwangerer Frauen, an den Schmerz * der Geburt. Nichts davon war sehr ermutigend. Aber sie hatte immer gern mit kleinen Kindern gespielt. Der Mann hatte etwas gesagt, und sie wandte ihm wieder ihre Aufmerksamkeit zu. »… zu uns setzen?«
»Oh, nein, danke«, sagte sie rasch. »Ich muß lernen.« Die Lüge ging ihr leicht von den Lippen. »Ich habe einiges für die Schule nachzuholen.« Sie wandte sich ab. »Nett, Sie kennenzulernen«, rief er ihr hinterher. »Vielleicht sehen wir uns ja noch mal.« Sie lag wieder auf der Decke und wandte ihr Gesicht der Sonne zu. Immer dasselbe, dachte sie. Alle Männer wollten nur das eine, wollten ihre Befriedigung. Sie aufs Kreuz legen. Ihre Lust. Und das auf meine Kosten, sagte sie sich. Und dieser Kerl schickt sogar seine Tochter vor, als Köder für junge Frauen! Was für ein mieser Trick! Sie verdrängte den Gedanken, dachte lieber an Laura. Sie war ein süßes Kind. Es hatte Spaß gemacht mit ihr. Warum mußten Kinder erwachsen werden? Die Sonne hatte sich schon tief im Westen gesenkt, als Maggie auftauchte. Sie trug einen schwarzen Wollbikini, eine übergroße Sonnenbrille und einen gelben Hut mit breiter, weicher Krempe. Auf den ersten Blick sah sie nicht älter als Cindy aus. »Morgen, Baby«, sagte sie und ließ sich auf Cindys Decke nieder. »Oh, ich habe einen schrecklichen Kopf. Zweimal so dick wie normal. Ich muß endlich den Alkohol aus dem Leib lassen.« Sie blinzelte Cindy an. »Stimmt es, daß man von Pot keinen Kater kriegt?« »Ich nehme kein Pot, Mom.« »Ich dachte, alle jungen Leute stehen darauf.« »Ich habe es mal genommen«, sagte Cindy abwehrend, »aber es gibt mir nichts.« »Ich glaube dir, meine Liebe. Ich weiß, daß du die Wahrheit sagst.« Cindy legte sich auf den Bauch, das Gesicht in ihren überkreuzten Armen verborgen. Sie wollte ihrer Mutter weh tun. »Am letzten Wochenende war Roy am Strand«, sagte sie. Ihre Worte klangen gedämpft. »Wir haben uns kurz gesehen.« »Du magst Roy nicht.« »Ich habe mich von ihm scheiden lassen.«
»Ich habe schon schlimmere Männer getroffen.« »Du bist ein Kind, du verstehst das nicht.« Cindy hob den Kopf und starrte geradeaus. Eine Frau ging vorbei, ein kleines Mädchen watschelte hinter ihr. Das Kind hatte Schwierigkeiten, sein Gleichgewicht zu halten. Es schwankte und wäre beinahe gefallen. Die Mutter drehte sich um, sprach beruhigend, ermutigend auf das Kind ein. Mit ausgestreckten Armen lief das Kind auf die Mutter zu. Hand in Hand wanderten Mutter und Kind weiter. Das gefiel Cindy. Vielleicht würde sie eines Tages ein Kind adoptieren. Und wenn sie es tat, würde sie das Kind nie allein lassen. Oder zu irgendwas benutzen. Niemals. »Warum hast du dich von Roy scheiden lassen, Mutter?« »Warum bringst du etwas zur Sprache, das schon vor so vielen Jahren geschehen ist? Es hat heute keine Bedeutung mehr.« Cindy setzte sich auf und begann, eine Sandpyramide zu bauen. »Roy tut mir leid. Ich würde ihn gern liebhaben.« »Er ist dein Vater«, sagte Maggie leise. »Wenn er nur ein Vater wäre, wie man ihn sich vorstellt. Er übertreibt, er lügt, er versucht stets, dir zu imponieren. Der große Mann, der alles kann und alles hat. Warum kommt er den Leuten nicht ehrlich? Warum muß er ihnen ständig imponieren? Und warum versucht er immer, besonders komisch zu sein? Er ist nicht komisch, Mutter.« Maggies Gedanken rasten zurück in die Zeit, als sie Roy kennengelernt hatte. Er war stets der Antreiber gewesen, er hatte sie tief beeindruckt, flink mit den Gedanken, flink mit der Zunge. Sie erinnerte sich daran, daß sie in dieser Zeit viel gelacht hatte. »Roy war ein lustiger Kerl, als er im College war«, sagte sie. »Er war intelligent, charmant und lustig. Bei ihm war das Leben eine einzige Party.« Sie lächelte. Das war ein ganz anderer Roy als der, den Cindy in Erinnerung hatte. Sie sah in ihm eine pathetische, einsame Gestalt, die sie eher peinlich berührte. Und sie haßte es, so über ihren Vater zu denken. »Erzähl mir mehr von Roy, Mutter.«
»Baby, sei doch nicht so langweilig. Roy ist Roy. Wenn du ihn einmal getroffen hast, weißt du alles über ihn.« Sie hörte sich barsch an, hartherzig, und Cindy lief ein Schauer über den Rükken. »Ich war noch ein Baby, als ihr euch getrennt habt«, sagte Cindy und überlegte sich ihre Worte gut. »Ich kenne ihn nicht wirklich. Wann immer er sich mal sehen läßt, reden wir nicht richtig miteinander.« »Das ist Roy.« »Da muß mehr sein.« Maggie stieß hörbar die Luft aus. »Roy war immer sehr smart, weißt du. Im College hat er die besten Zensuren erhalten, ohne je ein Buch aufgeschlagen zu haben. Und er war immer für einen Spaß gut. Für ihn war die ganze Schulzeit ein einziger Spaß. Und ich habe Spaß mit ihm gehabt.« Sie lächelte versonnen. »Im ersten Jahr auf Fire Island wohnten wir bei Susan und Neil Morgan. Ich erinnere mich noch an BB. Was war er doch für ein wunderschöner Junge. Neil war verrückt auf ihn, absolut verrückt. Er redete mit ihm, als wären sie gleichaltrig.« Sie runzelte die Stirn. »Ich glaube gar nicht, daß das so gut ist. Aber du kennst ja Neil, er läßt sich von keinem etwas sagen.« »Und was war mit Roy?« »Ach so ja. Das war der Sommer, in dem Mike Birns bei uns wohnte. Und ein Bursche namens Eddie Stander.« Sie zögerte. »Es war ein herrlicher Sommer. Parties und überall neue Leute. Es war aufregend.« Sie lachte leise. »Hat sich Roy überhaupt mit mir abgegeben, als ich noch klein war?« »Was für eine Frage! Natürlich hat er das getan. Was auch immer zwischen mir und ihm war, dir ist er immer ein guter Vater gewesen. Das muß ich ihm lassen.« »Mutter«, sagte Cindy nach einer längeren Pause. »Was ist zwischen dir und Roy schiefgelaufen?« Maggie fuhr sich mit den Fingern durch die kurzen strohfarbenen Haare. »Also wirklich, Baby!« Sie rollte sich zur Seite und
setzte sich dann auf, betrachtete Cindys Pyramide. »Vor vielen Jahre haben wir solche Sandburgen für dich gebaut. Roy und ich und Eddie Stander und BB.« Sie blickte hinaus aufs Meer. Die Flut rückte näher. »Ich nehme an«, sagte sie nachdenklich, »daß Roy und ich einfach nicht füreinander bestimmt waren. Vielleicht waren wir nicht erwachsen genug. Vielleicht glaubten wir an die falschen Dinge, wollten die falschen Dinge. Ich weiß es nicht. Die ersten Sommer hier waren großartig. Alles war so neu für uns, hatte einen unwiderstehlichen Glanz. Die Leute waren so ganz anders als die, die wir bisher gekannt hatten, sie gingen viel mehr aus sich heraus. Es waren erregende Tage, und es hat ein paar faszinierende Parties gegeben.« Cindy zerstörte ihre Pyramide. »Warum hast du das gemacht? Sie war doch so schön!« »Für dich hat sich nichts verändert, nicht wahr, Mutter?« Maggie spürte, wie sie sich versteifte. »Was soll das denn heißen? Natürlich haben sich die Dinge verändert. Nichts bleibt so, wie es ist.« »Du und Susan, ihr seid noch so wie damals. Ihr feiert eure Parties, als ob ihr immer noch junge Mädchen wärt. Und ihr erlebt auch jetzt noch faszinierende Sommer«, fügte sie spöttisch hinzu. »Cindy! Vergiß nicht, wer ich bin!« »Ich weiß, wer du bist. Du bist meine Mutter, von meinem Vater geschieden und verheiratet mit einem Mann, der mir ein Fremder geblieben ist. Und Susan ist eine Frau, die jedem Mann am Strand zur Verfügung steht. Oder liegt, wäre wohl zutreffender.« »Cindy!« »Nun, jeder spricht darüber. Alle jungen Leute. Glaubst du, daß BB nicht über seine Mutter Bescheid weiß? Über sie und die Rettungsschwimmer, über all die jungen Kerle, die sie sich aussucht?« »Das ist unfair, und ich will nichts mehr davon hören!« »Du weißt genau, daß es stimmt.«
»Als nächstes wirst du mich genau derselben Dinge beschuldigen.« Cindy gab keine Antwort darauf. Sie saßen nebeneinander und sagten nichts und schauten zu, wie sich die Flut näherte. Schließlich raffte sich Maggie auf. »Was gestern abend angeht, Baby. Diese Männer sind Susans Bekannte, und wir haben nur…« »Bitte, spar dir deine Erklärungen.« »Ich will nicht, daß du etwas mißverstehst. Schließlich bin ich eine verheiratete Frau und eine anständige Ehefrau.« Sie umarmte Cindy und tätschelte sie beruhigend. »Und du sollst wissen, daß ich über Bobby Kennedy genauso entsetzt bin wie du. Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Ich fürchte, solche Dinge geschehen, und das Leben geht trotzdem weiter. Das ist etwas, was man lernt, wenn man älter wird. Ich möchte, daß du dich mehr mit den angenehmen Dingen beschäftigst, daß du glücklich bist. Konzentriere dich auf die schönen Dinge im Leben.« Sie stand auf, lächelte auf Cindy hinab. »Susan und noch einige andere warten auf mich. Wir nehmen an einem Scrabble-Wettbewerb teil. Aber man darf nur schmutzige Wörter ablegen. Der Gewinner erhält eine Magnumflasche Champagner. Laß dir den Spaß nicht verderben, Baby.« Cindy begann mit dem Bau einer neuen Pyramide und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Cindy ging den Strand entlang, an Robbin’s Rest vorbei, auf Lonelyville zu. Bald wurde der Strand leerer, nur hier und da ein paar Menschen. Die heiße Sonne brannte auf Cindys Haut, während sie nach besonders schönen Muscheln Ausschau hielt, um ihre Sammlung zu ergänzen. Sie fand nicht viel. Sie hörte ihren Namen rufen, schaute hoch und sah, wie David Altman ihr von einem Haus vor den Dünen zuwinkte. Sie zögerte kurz, dann ging sie die sanfte Böschung hoch, ihm entgegen. Ein unsicheres Lächeln lag auf seinem roten Gesicht. Er trug
einen weißen Tennishut tief in die Augen gezogen, und weiße Zinksalbe prangte auf seiner Nase und der Unterlippe. »Warum versteckst du dich denn hier?« fragte Cindy. Er deutete auf eine Lose-Blatt-Sammlung und einen gelben Notizblock. »Ich muß arbeiten…« »Bist du wirklich Anwalt?« Er nickte. »Ich habe einen Sommerjob in Washington. Deshalb kann ich auch nur an den Wochenenden nach Fire Island kommen. Hast du Lust, dich eine Weile zu mir zu setzen?« Sie setzte sich, die Füße übereinandergeschlagen, ihm gegenüber. Er versuchte, ihr nicht zwischen die gespreizten Beine zu schauen. »Du arbeitest für die Regierung, David?« »Eigentlich nicht.« Sie spürte, wie Ungeduld in ihr aufkam. BB hatte recht, David war ein Langweiler, er hatte etwas Ernstes, fast Finsteres an sich, als existierte er nur auf der Seite der Trauer und des Jammers. Sie füllte ihre Lungen mit Luft und sah, wie seine Blicke sich an ihren Brüsten festsaugten. Laß ihn nur schauen. Sie beugte sich vor. »Was genau machst du denn?« Ein blinzelte ein paarmal. »Ich arbeite für Leo Pinsano.« Als sie nicht zu erkennen gab, daß ihr der Name was sagte, fuhr er fort: »Pinsanos Posse. Mr. Pinsano ist der Mann, der die veralteten Designs in der Automobilindustrie angeprangert hat und den niedrigen Sicherheitsstandard in den neuen Jet-Konstruktionen. Seine Arbeit hat dafür gesorgt, daß die Flugzeuge dieses Typs eine Zeitlang auf dem Boden blieben, bis die Mängel beseitigt waren. Die Fluggesellschaften haben ihn beschuldigt…« »Und du bist der Rechtsanwalt für diesen Mann?« »Oh, so kann man das nicht sagen. Eine Gruppe von uns hat sich freiwillig gemeldet, diesen Sommer für ihn zu arbeiten. Wir untersuchen Regierungsgeschäfte, Neueinstellungen und…« »Warum?« »Wie meinst du das?«
»Wo liegt der Sinn? Warum machst du das?« »Ah, nun, um Dinge zu verändern. Um die Bedingungen zu verbessern. Um Reformen zu manifestieren, die auf Dauer für ein neues…« »Ach, hör doch auf! Du glaubst doch nicht, daß wirklich etwas Gescheites dabei herausspringt?« Sie wollte ihn attackieren, er war so unsäglich langweilig. »Weißt du, David, mit all diesem Geschmier in deinem Gesicht siehst du aus wie eine Maske. Du wirst nie bei einem Mädchen landen können. Wer will schon diese Schmiere auf dem Mund haben?« Er wurde rot. »Du siehst ja, wie schnell ich meine Haut verbrenne. Ich muß sie schützen…« Sie unterbrach ihn. »Ich verstehe nicht, daß das eine Arbeit für einen Anwalt ist. Warum wirbelst du nicht in der Wall Street herum oder suchst dir Klienten, die genug Geld haben?« »Das ist nicht meine Szene. Klienten, meine ich. Zu viele Anwälte jagen nach Klienten.« »Und was willst du?« »Ich will auf der Seite der Leute stehen. Die Allgemeinheit muß gute Repräsentanten haben, verstehst du. Sie hat nämlich niemanden. Die Regierung hat ihre Anwälte, die großen Konzerne haben ihre eigenen und die Gewerkschaften auch. Aber nicht die Allgemeinheit. Um die kümmert sich niemand. Niemand außer Pinsanos Posse.« Er lachte unsicher. »Wir glauben, daß die Regierung dem Volk gehört, und wir wollen…« »Ich glaube dir nicht, David.« »Was meinst du?« »Glaubst du wirklich, wenn du jetzt in Washington rumläufst, würde das irgend etwas verändern? Himmel, du machst Scherze.« Er befeuchtete sich die Lippen. Seine Zungenspitze wurde weiß. Er verzog das Gesicht. »Nun, irgendeiner muß es versuchen. Ich meine, es gibt so vieles, was im argen liegt. Die Umweltverschmutzung, die Korruption, der Mangel an ethischen Werten. Mr. Pinsano ist entsetzt, und er findet, wir müßten alle entsetzt sein.«
»Also gut. Du findest Dinge heraus, die nicht so sind, wie sie sein müßten. Was geschieht dann?« »Nun, das, was wir herausgefunden haben, wird veröffentlicht, und dann…« »Und dann nichts. Nichts wird geschehen.« »O nein. Das will ich nicht glauben. Pinsanos Posse wird die Dinge verfolgen. Viele von uns werden den Rechtsschutz der Bevölkerung verstärken, im ganzen Land verstreut. Es wird Veränderungen geben, und du wirst sie erleben.« Sie lachte dünn. »Sag mal, David, trägt eure Posse auch Abzeichen?« »Ich schätze, ich höre mich altmodisch an, was? Ich bin nämlich so ernst.« Er hob die Schultern. »Wenn andere Kinder Football spielten, las ich in Biographien oder studierte. Ich wollte wie die anderen sein, aber ich habe es nie geschafft. Mein heimlicher Traum war, der Star des Baseballteams zu sein. Aber ich war der schlechteste Fänger, den sie je gehabt haben.« Sie lachte mit offener Fröhlichkeit. »O David, du hast es wirklich schwer.« Er nickte, auch fröhlich. »Ich fürchte, daß ich ein typischer Spießbürger bin.« Sie stand auf. »Nun«, sagte sie, nicht unfreundlich, »niemand wird dich für einen Swinger halten.« Er erhob sich ebenfalls. »Gehst du?« »Ja.« »Soll ich dich begleiten?« »Setz dich an deine Arbeit, David. Das nächste Mal werde ich mich viel sicherer fühlen, wenn ich weiß, daß du das Flugzeug überprüft hast, in dem ich sitze.« »Oh, ich arbeite nicht an Flug…« Aber sie war schon auf dem Weg an den Strand. Er sah ihr nach, sah den betonten Schwung ihrer Backen, das Aneinandereiben der Innenschenkel. Seine Badehose beulte sich aus, und er setzte sich rasch hin. Beschämt konzentrierte er sich wieder auf seine Notizen.
4
BB kehrte am nächsten Abend mit der letzten Fähre von Bayshore auf die Insel zurück. Cindy ging mit ihm nach Ocean Beach. Sie setzten sich auf eine Bank am Hafen und aßen Eiscreme mit Schokosplittern und beobachteten die Lichter der Flugzeuge, die über dem Kennedy Airport kreisten. Cindy wünschte, sie säße in einem Flugzeug und wäre irgendwohin unterwegs. Sie wollte weg. »Wie war’s in der Stadt?« fragte sie nach einer Weile. »Wie immer.« Pause. Dann: »Neil hat für ein paar neue Zwirns gelöhnt. Der Alte – o Gott. So bürgerlich, weißt du. Immer noch im Dschungel auf der Jagd nach den grünen Scheinen. Er ändert sich nie. Es widert mich an.« »Ich will was anderes, BB.« »Er wollte, daß ich in seinem Laden einkaufe. Brooks Brothers. Grauer Flanell und so. Himmel! Die Vorträge, die er mir hält, all das Labern, ich kann’s nicht wegstecken, diese Mittelklassescheiße. Väter ändern sich nie. Niemand ändert sich.« »Doch. Ich habe mich verändert.« BB war mit seinem Eis fertig. »Ich hab’ ihm gesagt, daß ich vom College runter will. Du hättest ihn mal sehen sollen! Panik! Er hielt mir eine Rede über ethische Werte und so. Und dann hat er gesagt, solange ich die Schule besuche, kann ich machen, was ich will, er wird mich unterstützen. Sobald ich aussteige, ist es damit vorbei. Und ich durfte mir den Laden aussuchen, in dem ich die Klamotten kaufte. Er würde Scheiße schreien, wenn er sehen würde, was ich da in der Tasche habe – von ihm bezahlt. Ich hab’ mir nämlich Stoff besorgt.« »Das heißt, du hast jetzt eine Weile genug.« »Ich habe nie genug, das weißt du. Ich habe ein paar geile Bökke in der Stadt getroffen, die heiß auf Pussy sind. Sie kommen
am Freitag mit der Fähre. Ich habe ihnen von dir erzählt, da ging ihnen das Messer in der Hose auf. Die löhnen bestimmt einen Hunderter pro Mann.« Sie mied es, ihn anzuschauen. »Nein, BB.« »Was?« »Ich mach’ für dich nicht mehr die Hure.« »Ach, hör doch auf damit!« »Es ist mein Ernst. Eine Hure zu sein, das ist wie der Tod. Und ich will leben. Ich habe mich verändert.« »Nichts verändert sich.« »Doch.« Er legte seinen Arm um sie und küßte sie. Seine geübte Zunge wirbelte in ihrem Mund, und sie reagierte sofort, drückte sich enger an ihn. Er löste sich von ihr und sah sie grinsend an. »Nichts hat sich verändert.« »Du kannst mich immer noch scharf machen, BB, das ist geblieben. Aber das ist längst nicht genug. Ich werde für dich nicht mehr huren gehen.« »Komm schon, Cindy. Bleib an Bord, dann gehen wir auf einen tollen Trip. Ich liebe dich.« »Vielleicht liebst du mich, BB, meine Mutter liebt mich auch, glaube ich. Aber das ist nicht genug. Und vielleicht liebt mich mein Vater auch. Jeder redet von Liebe, als wäre es die Antwort für die ganze verkorkste Welt. Aber ich glaube das nicht. Das ist keine echte Liebe, von der die Leute reden.« »Was ist mit mir? Was soll ich denn machen ohne dich?« »Ich schätze, du wirst eine andere Puppe finden. Du schlägst dich schon durch, BB.« Sie stand auf. »Ich werde dich aus meinen Gedanken drängen. Ich will was Neues in meinem Kopf haben.« »Was?« »Woher soll ich das wissen? Aber ich habe das Gefühl, daß ich noch viel erleben werde. Sehr bald schon.«
5
Am folgenden Nachmittag fuhr Cindy nach Manhattan. Das Neun-Zimmer-Apartment in den Ost-Achtziger Straßen war zwar verlassen, aber sauber und aufgeräumt, denn zweimal pro Woche kam Hester Maloney, eine langjährige Haushaltshilfe. Cindy duschte. Danach streckte sie sich auf ihrem Bett aus und griff zum Telefon. Sie rief das Büro ihres Stiefvaters an. Es wäre besser, wenn er Bescheid wußte, daß sie sich in der Wohnung aufhielt. Er war zu beschäftigt und konnte nicht mit ihr sprechen, deshalb richtete Cindy es seiner Sekretärin aus, dazu noch Maggies Anweisung, daß er am Wochenende ein halbes Dutzend Flaschen Gin mit auf die Insel bringen sollte. Sie lag da, das Telefon auf dem Bauch, und überlegte ihre nächsten Schritte. Es schien ratsam, ihre Strategie zu überdenken. Konnte ein Mädchen überhaupt sicher sein? Sie stand auf, zog sich an, einen engen Rock mit ausladendem Schoß und eine weite Kosakenbluse. Dann ging sie aus. In der Stadt war es heiß, die Luft stand dick und schal, und das Leben schien sich in Zeitlupe zu bewegen. Sie spazierte über die Dritte Avenue, sah sich die Boutiquen an, kaufte aber nichts. Bei Bloomingdale’s probierte sie ein paar Kleider an, aber sie gefielen ihr alle nicht. Wieder draußen, sah sie sich die Aushänge der Theater an The Graduate wurde immer noch gespielt. Sie hatte den Film siebenmal gesehen, und gemeinsam mit anderen, die ihn gesehen hatten, hielt sie ihn für den besten Film, der je gedreht worden war. Der arme Dustin… Bei Bookmaster’s stöberte sie in der Taschenbuchabteilung herum. Sie fand Mike Birns’ Bücher und kaufte von jedem ein Exemplar. Ein junger Mann mit einem Pancho-Villa-Schnäuzer bekannte sich als großer Krimifan und fragte, ob er sie bei Daly
Dandelion zu einem Burger und einem Bier einladen dürfte. Das schien eine gute Idee zu sein. Später, als er sie einlud, mit ihm in seine Wohnung zu gehen, sagte sie, sie hätte keine Lust, und ging. Zum achtenmal sah sie sich The Graduate an. Und an diesem Abend las sie drei von Mike Birns Romanen. Am Morgen lag sie im Bett und plante jeden einzelnen Schritt. Sie war sich jetzt sicher. Beinahe. Sie badete und benutzte danach ihr dezentestes Parfüm. Sie zitterte ein wenig, als sie sich anzog. Das teuerste schwarze Spitzenhöschen, keinen BH. Ein blaßblaues ärmelloses Kleid, das bis zur Mitte ihrer Schenkel reichte. Sie betrachtete ihr Spiegelbild und wünschte, sie wäre ein paar Jahre älter und würde erfahrener aussehen. Sie telefonierte. Es läutete sechsmal, und bei jedem Läuten erhöhte sich ihre Spannung, bis er schließlich abhob. »Ja?« Ihre Hände waren feucht, und ihre Knie wurden schwach. »Hallo«, sagte sie mit erzwungener Leichtigkeit. »Wer ist da?« Verärgerung in der Stimme. Die Stimme eines Mannes, der keine Zeit am Telefon vergeuden wollte. »Ist da Mike Birns, der berühmte und gut aussehende Schriftsteller?« »Wer ist da?« wiederholte er. »Rate mal.« Es war ein Fehler, das erkannte sie gleich, als sie es gesagt hatte. Das Telefon verstummte, die Leitung war tot. Entsetzt starrte Cindy auf das Instrument. Er hatte einfach aufgelegt. Sie wollte lachen, und gleichzeitig war ihr nach Weinen zumute. Sie legte den Hörer auf die Gabel. Vielleicht hat es so sein sollen. Eine Idee, die man besser nicht verfolgte. Nein! Nein! Sie wählte wieder. »Leg nicht wieder auf, Mike! Bitte!« »Ich treibe keine Spielchen am Telefon.« »O Mike, ich bin Cindy. Cindy Ashe.« Ein längeres Schweigen, das ihr Angst bereitete, er würde sich nicht einmal mehr an sie erinnern. »Maggies Ashes Tochter«, fügte sie deshalb hinzu.
»Natürlich«, sagte er. »Hallo, Cindy Ashe.« Sie atmete tief durch. »Bist du immer so unhöflich zu den Frauen, die dich anrufen?« »Frauen«, sagte er, »nennen gewöhnlich ihren Namen. Kleine Mädchen treiben solche Spielchen.« Sie lachte. »Jetzt, da ich mit dir rede, werde ich rasch erwachsen.« »Was ist der Anlaß?« Sie überflog ihre zurechtgelegten Gedanken, wollte unbedingt das Richtige sagen. »Wie ich schon sagte, du bist ein berühmter, gut aussehender Schriftsteller.« »Komm, hör auf damit, Mädchen«, sagte er, und es hörte sich so an wie Humphrey Bogart in Casablanca. Oder war es in Der Malteserfalke? Sie lachte wieder, jetzt schon entspannter. »Du bist Schriftsteller, und ich dachte, du könntest mir helfen.« »Ich muß nach den Sommerferien eine schriftliche Arbeit abliefern. Es geht um die Analyse eines zeitgenössischen Romans. Ich habe eine Menge Schwierigkeiten damit, Mike. Ich habe ausgiebiges Quellenstudium betrieben, aber meine Schreibe ist einfach entsetzlich.« »Also, ich weiß nicht…« Sie fuhr hastig fort: »Ich weiß, daß ich dir damit zur Last falle. Aber mir würde es schon genügen, wenn du liest, was ich geschrieben habe, und ein bißchen Kritik übst. Ich will nicht, daß du was für mich schreibst. Wenn du gerade nichts zu tun hast, würde ich gleich mal vorbeikommen und…« »Oh«, sagte er, und dann, nach einem Augenblick: »Nun gut, komm vorbei. Aber ich habe nicht viel Zeit.« »Ich weiß, und ich bin wirklich dankbar…« Sie unterbrach sich; Mike Birns hatte schon aufgelegt. »Ich hatte vergessen, wie schön du bist«, sagte er, nachdem er sie hereingelassen hatte. Sie machte einen Knicks und senkte den Kopf dabei. »Vielen Dank, Sir.«
Ihr Anblick erinnerte ihn an ihre Mutter, wie Maggie gewesen war, als er sie kennengelernt hatte, damals, in diesem Sommer vor siebzehn Jahren. Aber Cindys Gesichtszüge waren weicher, und um ihren Mund spielte ein sinnliches Lächeln. Ihr Haar war dunkler, als er es in Erinnerung hatte, sie hatte es streng zurückgebürstet und im Nacken zusammengefaßt. Die Haselnußaugen waren groß und blickten klar, und im Gegensatz zur Mutter hatte Cindy ausgeprägte Brüste und Hüften. Sie stand aufrecht da, selbstbewußt, kraftvoll und energiegeladen. Er führte sie ins Wohnzimmer, einen großen Raum mit einem offenen Kamin und einer hohen Decke. Ein abgewetzter schwarzer Ledersessel stand auf der einen Seite des Kamins, eine niedrige Couch auf der anderen. Ein Druck von Miro und ein Psychedelic-Poster hingen an einer Wand, ein mexikanisches Motiv schmückte eine andere Wand. Er deutete auf den Ledersessel und fragte, ob sie Kaffee oder eine Cola wollte. »Danke, nichts.« »Gut, dann zeig mir mal deine Arbeit. Ich weiß nicht, ob ich dir helfen kann, aber ich will es versuchen.« Sie reichte ihm ihre Arbeit, fünf maschinengeschriebene Seiten, auf denen sie die verschiedenen Romane eines Autors miteinander verglich. Die Analyse war klar und verständlich, gut konstruiert. Sie brauchte keine Hilfe von Mike, und Mike hob den Kopf und sagte ihr das. Sie rutschte tiefer im Ledersessel, und er bewunderte ihre langen Beine bis hinauf zum Dreieck, wo sie sich begegneten. Schließlich hob er den Blick und sah ihr ins Gesicht. »Das ist gut«, sagte er. »Ich hoffte, daß das deine Meinung sein würde.« »Du brauchst keine Hilfe von mir.« Sie nickte kaum merklich, und ihre sinnlichen Lippen bewegten sich zu einem angedeuteten Lächeln. Es sah fast spöttisch aus, dachte Mike. Sie hatte etwas Herausforderndes an sich, besonders im Blick. Das flog einem von selbst zu, dachte er, wenn man so schön ist, so jung und begehrenswert. Er war ganz sicher, daß
sie von Männern verwöhnt würde. Aber sie war ihrer zu sicher, und das gefiel ihm nicht. Er kam von der Couch hoch. »Ich mache mir einen Kaffee. Möchtest du auch einen?« »Ich möchte einen Drink.« »Du bist zu jung«, sagte er und ging in die Küche. Ihr glucksendes Lachen folgte ihm. »Hast du Angst, eine Minderjährige zu verderben?« rief sie. Als sie keine Antwort hörte, ging sie ihm nach. Sie hatte wacklige Knie. »Hast du gehört, was ich gesagt habe, Mike?« Er stand vor dem Herd und wartete darauf, daß das Wasser kochte. Er sprach, ohne sich umzudrehen. »Warte im Wohnzimmer. Ich bin in ein paar Minuten da.« Sie antwortete mit einem kräftigen Lachen, aus dem er Spott heraushörte. Es erinnerte ihn ein wenig an die Tauben, die so oft auf seiner Fensterbank saßen. »Ich hatte Angst, dich anzurufen«, sagte sie. »Ich hatte auch Angst, zu dir zu kommen. Aber jetzt habe ich keine Angst mehr. Du bist es, der Angst hat, Mike.« Er fuhr herum, sie stand nur eine Armlänge von ihm entfernt, und er konnte schwach den Duft ihres Parfüms aufnehmen. Er sah, wie die haselnußbraunen Augen ihn beobachteten, wie Cindy darauf wartete, daß er etwas unternahm. Eine verschwommene Erinnerung kam in ihm hoch. Die Erinnerung an eine Nacht auf Fire Island vor siebzehn Jahren. Er hatte geschlafen und war nicht an ein schreiendes Kind gewöhnt; ihr Wimmern hatte ihn geweckt, und er war zu ihr gegangen. Aber er konnte sie nicht beruhigen, und so war er die Treppe hinaufgegangen zu Maggies Zimmer und hatte die Tür aufgedrückt. Sie hatte auch geschlafen, Arme und Beine ausgestreckt, sie lag auf dem Rücken und war nackt. In dieser Nacht hätte er sie gern geliebt. Aber er war aus dem Zimmer gegangen und hatte die Tür geschlossen, hatte dann laut geklopft und ihren Namen gerufen, bis sie heraustrat, in einen keuschen Bademantel gewickelt. »Warte auf mich im Wohnzimmer«, sagte er schroff zu Cindy.
»Die Arbeit war nur ein Vorwand«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wovon du redest.« »Du weißt es, aber du hast Angst.« Sie warf den Kopf in den Nacken. Ihre Brüste drückten sich gegen den dünnen Stoff des Sommerkleidchens, deutlich zeichneten sich die Warzen ab. »Du brauchst keine Angst zu haben, Mike. Ich meine, es ist nicht so, daß ich Jungfrau wäre.« Ihr Lachen endete abrupt in einem unsicheren Kichern. »Du würdest nicht der erste sein; das geschah, als ich dreizehn war. Auf der Insel. Glaub’s mir, Mike. Du kennst doch Tim Craig. Seine Frau Lila ist mit Maggie befreundet. Er hat es mir eines Abends besorgt. Wir haben uns unterwegs getroffen, als ich vom Babysitten nach Hause wollte. Er hatte einiges getrunken und wollte mich küssen, und ich hatte nichts dagegen, und als er mich überall berührte, tat mir das gut. Es hat mir gefallen. Klar, ich hatte Angst, aber jetzt erinnere ich mich nur noch daran, daß es schön war. Wir haben es in den Büschen gemacht.« »Ich kenne Tim Craig. Du lügst.« Sie lachte. »Der einzige Nachteil war, daß wir auf einem Bett aus giftigem Efeu lagen. Himmel, hat mein Hintern ein paar Wochen lang gejuckt!« Sie zwang sich, näher auf Mike zuzugehen. »Soll ich dir ein paar Einzelheiten über andere Männer erzählen? Wie sie es mit mir gemacht haben, oder wie ich sie fertiggemacht habe? Stehst du darauf? Wirklich, Mike, mit mir hast du keine Probleme. Ich mache alles mit.« Er atmete tief durch und bekämpfte sein steigendes Verlangen. »Ich möchte, daß du gehst. Nimm deine Arbeit und verschwinde.« Zunächst spürte sie Erleichterung, dann Entsetzen. »Nein, nein! Ich habe mir einige deiner Bücher gekauft, und beim Lesen habe ich mich richtig angetörnt. Ich meine, du hast mir schon vorher gefallen, aber als ich die Bücher gelesen habe, beschloß ich, dich anzurufen. Judy Brookman hat es mal mit einem Schriftsteller getrieben, und sie sagt, sie seien die besten Liebhaber, weil sie intellektuell und emotional sind. Ich habe das Gefühl, sie hat
brecht. Warum ziehe ich mich nicht aus, damit wir einen Anfang haben?« Sie begann, ihr Kleid in die Höhe zu ziehen. Es lag eine Art Loslösung über allem, als ob er irgendwo anders stünde und die Szene beobachtete, as ob er selbst gar nichts mit dem Geschehen zu tun hätte. Ein fremder Betrachter. Er sah ihre Oberschenkel, sanft und gleichzeitig kräftig, ebenmäßig braun. Dann das schwarze Spitzenhöschen, den sanften Bauchhügel, den im Schatten liegenden Nabel, ihre vollen, runden Brüste. »Nein!« Das Wort entfuhr ihm mit explosiver Kraft. »Zieh dein Kleid runter!« »O Mike!« protestierte sie, einerseits froh, andererseits verängstigt. »Ich will, daß du gehst. Sofort.« Das war kein Geplänkel, er wollte es, er wies sie zurück, schickte sie weg. Sie ließ das Kleid fallen. Langsam, ohne jede Hast, sammelte sie ihre Sachen ein, ging zur Tür. »Zu schade«, sagte sie. »Du weißt ja nicht, was du verpaßt.« Sie schaffte es, sich zu beherrschen, bis sie das Erdgeschoß erreicht hatte. Dort fand sie einen ungestörten Platz unter der Treppe, hockte sich hin und schluchzte vor Scham und Frustration. Zorn und Verwirrung stiegen in ihr auf. Mike Birns, ihre Mutter, Roy Ashe, sie alle waren gleich, und am liebsten hätte sie zugeschlagen, irgend etwas getan, womit sie sie verletzen konnte. Später in dieser Woche wurde Roy Ashe verhaftet und wegen Mordes angeklagt.
6
Der Detektiv sah gut aus, sperrig und muskulös. Er lächelte ihr aufmunternd zu. Er war bestimmt mal ein Footballstar, dachte sie. Oder ein Model. »Ich habe dies als Privatbesuch durchsetzen können«, sagte er. »Der normale Besucherraum ist nämlich keine großartige Sache. Ich bin sicher, daß Sie Ihren Vater allein sprechen möchten.« »Das ist sehr lieb von Ihnen, Officer.« »Es muß ein Schock für Sie sein, daß Ihr Vater des Mordes beschuldigt wird.« »Hat er es getan?« Sie schritten einen aseptischen Korridor entlang, dessen Gräue nur von schmalen grünen Türen durchbrochen wurde. Vor einer Tür blieb der Detektiv stehen, die Hand auf dem Knopf. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er, seine Stimme voll von berufsmäßigem Mitgefühl. »Burschen wie Ihr Vater kennen sich aus. Er wird einen gewieften Anwalt finden, dann kann ihm nichts passieren.« »Hat er es getan?« Der Detektiv hob die breiten Schultern. »Das kann ich nicht sagen. Die Arbeit der Polizei ist es, Beweise zu sammeln. Der Bezirksstaatsanwalt muß die Anklage erheben, und eine Jury trifft die Entscheidung. So funktioniert das System nun einmal.« Er lächelte. »Wenn Sie fertig sind, bin ich in der Nähe. Bis dann.« Er öffnete die Tür, und sie betrat das Zimmer. Es war ein kleiner Raum ohne Fenster, an der Decke nur eine Glühbirne. Das einzige Mobiliar bestand aus einem kleinen grauen Metalltisch und vier Stühlen. Eine Tür auf der anderen Seite öffnete sich, und Roy Ashe trat herein, gefolgt von einem uniformierten Wächter. Der Wächter
stellte sich, die Arme über der Brust verschränkt, an die Wand und guckte in die Luft. Roy grinste Cindy an, formte seine Hand zu einer Pistole und feuerte einen Willkommensschuß auf sie ab. »Wie geht’s dir, Mädchen?« »Wie geht es dir, Roy?« Er deutete auf einen Stuhl, setzte sich dann ihr gegenüber. »Es könnte nicht besser gehen. Ich werde fett werden, denn der Chefkoch ist ein Spezialist in Stärke.« Er lachte laut. »Roy, wie ist das geschehen? Du hast doch diesen Mann nicht getötet. Das hättest du nie tun können.« »Nimm’s leicht, Baby. Irrtümer gibt es immer wieder. Bald werde ich die ganze Sache aufgeklärt haben.« »Aber warum? Warum haben sie dich verhaftet?« »Bullen!« schnaufte er verächtlich. »Wenn ein Mann ein Hirn hätte, würde er dann zur Polizei gehen?« Sie warf einen Blick auf den Wächter, der sich nicht anmerken ließ, daß er etwas gehört hatte. »Warum sollte ich einen Buchmacher töten? Sicher, ich habe den Kerl ein paarmal getroffen. Im Vorübergehen, sozusagen. Aber ich habe ihn kaum gekannt.« Cindy wollte ihm glauben. Sie wollte mehr sehen als die ledrige Haut von Roys Gesicht, mehr hören als das zu laute Lachen und die heraussprudelnden Sätze. Aber sie sah nichts, und sie hörte nichts. Er drückte ihre Hand und küßte sie. »Du bist eine Schönheit, mein Mädchen, eine wahre Schönheit. Und ich weiß es zu schätzen, daß du gekommen bist. Aber ich will nicht, daß du zu lange in diesem Knast bist. Das ist nichts für dich.« »Du bist mein Vater.« Sein Gesicht begann zu schmelzen, die Falten und Furchen wurden tiefer, hingen herab, die Augen wurden wäßrig. Dann lachte er laut, und der Moment war vorbei; Cindy hatte das Gefühl, daß ihr etwas Wertvolles genommen wurde.
»Der Clou bei der Sache war, daß sie zu gar keiner schlechteren Zeit hätte kommen können. Ich meine, ich hatte gerade eine Frau bei mir.« Er blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Großartig gebaut, sage ich dir. Und plötzlich klopfen die Bullen an die Tür. Ich hab’ noch Glück gehabt, daß die Kleine alt genug war. Darauf muß ein Mann immer achten. Sonst konnte er in die Falle gehen, verstehst du.« Hatte Mike Birns sie deshalb zurückgewiesen? Wegen ihres Alters? Sie schüttelte sich und drängte die Erinnerung daran zurück. »Hast du einen Anwalt?« »Mach dir darüber keine Gedanken. Das ist alles ein Mißverständnis, und in Kürze wird das aufgeklärt sein.« Cindy starrte ihn an. So unmöglich es auch schien, Roy sah so aus, als genösse er die Situation, als fände er Vergnügen an dieser beängstigenden Lage. Sie hätte ihm gern den Ernst der Beschuldigung klargemacht. »Du wirst unter Mordanklage gestellt«, sagte sie leise. Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das werden sie nie beweisen können, niemals. Außerdem ist es nicht deine Sache, dich darüber zu sorgen. Vor ein paar Tagen war deine Mutter hier. Sie sieht gut aus. Sie ist mir immer unter die Haut gegangen, deine Mutter. Schon im College. War nett von ihr, herzukommen. Wäre gar nicht nötig gewesen. Ich meine, sie ist mir nichts schuldig oder so, und das hier ist kein Ort für eine Frau. Also, Mädchen, geh jetzt. Mach dir um mich keine Sorgen, es bringt nichts. Das hier ist alles zu düster für dich. Genieße das Leben, das wünsche ich mir für meine Tochter. Ich glaube, es war Ben Hecht, der drei Regeln für ein gutes Leben aufgestellt hat: Iß nie in einem Restaurant, das ›Mom’s‹ heißt, setz dich nie an einen Kartentisch mit einem Kerl, der ›Doc‹ Heißt, und schlafe nie mit jemandem, der größere Probleme hat als deine eigenen.« Er stand auf, lachte laut. »Wenn ich hier wieder raus bin, schaue ich mal bei dir vorbei. Dann feiern wir bei einem erstklas-
sigen Essen, trinken einen köstlichen Wein, alles, was dazu gehört. Also, paß gut auf dich auf und danke, daß du hier warst…« Später konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, wie sie das kleine Zimmer verlassen hatte und wie sie den langen Korridor hinunter gegangen war. Der gut aussehende Detektiv hatte auf sie gewartet. »Kommen Sie«, sagte er und berührte sie am Arm. »Das muß eine harte Erfahrung für so ein junges Mädchen wie Sie sein. Was Sie jetzt brauchen, ist eine starke Tasse Kaffee. Also, keine Einwände…« Sie hatte auch keine. Sein Name war James Nolan, und er war schon seit acht Jahren bei der Polizei, seit drei Jahren als Detektiv. Im Laufe des Abends erfuhr Cindy, daß er das jüngste von sieben Kindern war, alles Söhne, und sechs von ihnen arbeiteten im Öffentlichen Dienst. Er enthüllte auch, daß er an die heilige Institution der Familie glaubte, an die Wahrheit von Mutter Kirche und daran, daß allen Engländern das Böse innewohnte. »Mein Vater war Mitglied der IRA«, sagte er. »Die IrischeRepublikanische Armee. Er hat in Irland gegen die Briten gekämpft, bevor er ausgewandert ist.« Sie tranken den Kaffee im ›Limelight‹, und anschließend bestand Detective Nolan darauf, daß Cindy seine Einladung zum Essen annahm. Danach begleitete sie ihn zu einer irischen Bar im West Village, wo sie Bier vom Faß tranken. »Mein Vater hat uns beigebracht, alles Englische zu hassen«, erklärte Nolan. »Ich kann die Einstellung deines Vaters verstehen«, meinte Cindy nachdenklich. »Aber du bist hier geboren.« »Natürlich. Im östlichen Harlem. Jetzt lebe ich auf Staten Island.« »Du bist Amerikaner.« »Ja, sicher.« »Dann solltest du die Engländer nicht hassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Haß erzeugt nichts Gutes.«
»Oh, da irrst du dich. Drei meiner Brüder haben mit den Juden in Palästina gekämpft, als die Briten das Land besetzt hatten. Sie waren Angehörige der Irgun. Kennst du die Irgun?« »Irgendwelche Terroristen…« »Patrioten, die für ihr Land kämpften.« Er grinste. »Du siehst also, es hat was Gutes gebracht, daß wir die Engländer hassen.« »Was ist mit deinen Brüdern passiert?« »Richard, er war der drittälteste, ist bei den Kämpfen getötet worden. Als die beiden anderen zurückkehrten, hat meine Mutter sie geküßt, und mein Vater hat ihnen einen zünftigen irischen Whiskey eingeschenkt. ›Wie ist Richard gestorben?‹ hat meine Mutter gefragt. ›Er ist gut gestorben‹, sagte Frank, ihr Ältester. Das bedeutete, er starb, während er Engländer tötete. Dann tranken sie alle auf Richard, und niemand hat je wieder seinen Namen erwähnt.« »Ich könnte um Richard weinen«, sagte Cindy. Nolan lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarre an. »Warum? Er hat getan^ was er hatte tun wollen. Er kannte die Risiken.« Cindy schaute den Detektiv an, sah in das gut geschnittene, unschuldige Gesicht, und eine Welle der Unsicherheit erfaßte sie. Sie konnte ihn nicht verstehen. Er war ein Hüter des Gesetzes, er hatte geschworen, das Recht zu verteidigen, und doch redete er von Zerstörung und Tod, als ob das eine ganz normale Sache wäre. Irgendwo gab es eine Verbindung zwischen seiner Haltung und der ihres Vaters. Das erschreckte sie. Sie sollte weg. Weg von dieser inneren Härte, weg von diesem Haß, weg von dieser Waffe, die sie in seinem Halfter wußte. Sie stand auf. »Wohin gehst du?« fragte er, und man sah ihm an, daß er sie am liebsten festgehalten hätte. »Zur Toilette, wenn du es wissen mußt.« Er nahm die Zigarre aus dem Mund und grinste. »Oh, okay.« Hinter den Toiletten, am Ende eines düsteren Flurs, lag eine kleine Küche, in der es nach verbranntem Fett und nach
Pommes frites roch, mit einem hinteren Ausgang. Cindy fand sich in einer engen Gasse wieder, in der sie über eine Anzahl Mülltonnen stolperte. Sie hastete zurück auf die Straße. Rund um die irische Bar standen Männer und Frauen, lachten, erzählten, diskutierten. Ein Taxi fuhr vor, und zwei Paare stiegen ein. Zwei Männer und eine Frau blieben zurück, und die Männer bemühten sich um das nächste Taxi. Dann entdeckte einer der Männer Cindy und ging auf sie zu. »Junge Frau«, begann er. Sie blickte ihn an, abweisend. »Bitte, entschuldigen Sie«, sagte er. »Sie waren eben noch in McCarty’s, nichts wahr? Natürlich waren Sie das. Das bestaussehende Mädchen im ganzen Lokal. In jedem Lokal, würde ich sagen.« Er lachte gewinnend. Er war grauhaarig, und seinen Bauchansatz konnte auch der maßgeschneiderte Blazer nicht verdecken. »Ich bin Edgar Davis, Immobilienmakler. Hier in Manhattan. Ziemlich profitabel, aber auch ungeheuer langweilig. Nun ja… Hatten Sie Streit mit Ihrem Verlobten?« Ihr Blick huschte zum Eingang der Bar. Sie hatte Angst, daß Nolan ihr folgen könnte. »Er ist nicht mein Verlobter.« »Ah, das trifft sich gut. Ich meine, das ist gut für mich. Aber Sie wollen ohne den jungen Mann gehen?« »Ja, mir reicht’s.« »Wir – meine Freunde und ich – sind auf dem Weg zu einer Party. Sehr chic. Gute Leute. Viel Spaß. Es würde noch mehr Spaß bringen, wenn Sie mit uns kommen.« Sie zögerte. »Ich muß nach Hause…« Er schaute in ihre Augen. »Warum müssen Sie?« Sie wußte nicht, was sie antworten sollte, und er faßte sie am Ellbogen an und führte sie zurück zu seinen Freunden. Sutton Place, ein kurzer Streifen direkt am East River, erstklassige Wohngegend. Das Taxi hielt vor einem weiß angestrichenen Stadthaus mit einem schwarzen Kunstschmiedezaun und dazu passenden Fensterläden. Ein Portier im weißen Jackett ließ sie
ein. Es ging über eine breite polierte Treppe in die erste Etage. Dort brach eine Lärmwelle über Cindy herein, unter der sie sich beinahe hätte krümmen müssen. Edgar Davis nahm ihren Arm und schritt mit ihr voran. »Sie werden der Star des Abends sein!« Sie betraten einen saalähnlichen Raum und wurden sofort vom Lärm, von Stimmen und Musik, dem Klirren von Eisstückchen in den Gläsern, dem knarrenden Parkettboden unter den Füßen der Tanzenden eingehüllt. »Einen zum Aufwärmen?« fragte Edgar Davis. Cindy ließ sich von ihm durch die wogende Masse führen, an Männern in Dinnerjacketts vorbei und anderen in Arbeitskleidung, aufgedonnerten Frauen in Abendroben und anderen in farbverschmierten Jeans und Sweatshirts. Der Alkohol half. Aber nicht so sehr, daß sie sich an die Namen der Leute erinnern konnte, die Edgar Davis ihr vorstellte. Und auch die Unterhaltungen ergaben keinen Sinn für sie. Nicht, daß es ihr etwas ausgemacht hätte. Alles um sie herum war neu, so schrecklich en vogue, so ganz anders als alles, was sie bisher kannte. Sie wurde an die Parties erinnert, die ihre Mutter gab. Die Gesichter waren anders. Der gezwungene Plausch, der als Konversation galt, die verkrampften Lacher, die man für einen Ausdruck des Wohlbehagens hielt. Der Ausdruck roher Sexualität, der als Flirten durchging. Ihr Glas war leer. Cindy holte sich Nachschub an der Bar. Sie wollte wieder an ihren Platz zurück, aber dann zögerte sie. Sie hatte genug von Edgar Davis und seinen Freunden. Du solltest jetzt gehen, sagte sie sich. Geh nach Hause und schlafe dich aus. Nichts hielt sie hier, sie hatte keine Verpflichtung. Sie nippte am Scotch. »Sie haben ein bemerkenswertes Gesicht.« Sie wandte sich zur Seite. Ein großer Mann studierte sie mit unverhohlener Intensität. Er war schlank und hatte einen dunklen Teint, ein ernstes Gesicht. Die schwarzen Augen lagen weit auseinander, die Nase war zu lang für das schmale Gesicht, und
die vollen Lippen waren zu breit. Das dichte Haar fiel wellig über die Ohren, es war unglaublich schwarz. Er trug ein schwarzes Hemd, am Hals offen, und eine schwarze Hose, beides sehr eng. »Ich nehme an, Sie wissen das«, sagte er düster. »Was?« fragte sie. Sie hatte Schwierigkeiten, ihre Blicke auf einen festen Punkt zu richten. »Daß Sie ein bemerkenswertes Gesicht haben. Es mangelt ihm noch an Charakter, aber das wird mit der Zeit kommen. Alle Widersprüche spiegeln sich darin, und das ist entscheidend. Die meisten hübschen Mädchen sind das eben nur an der Oberfläche, darunter ist alles hohl.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« »Von Ihrem Gesicht. Es wird noch besser werden, wenn das Leben Sie zeichnet.« »Vielen Dank.« »Ein Mensch ist für sein Gesicht selbst verantwortlich, haben Sie das gewußt?« »Unsinn«, sagte sie zu schnell. Sie wünschte, sie hätte nichts gesagt. Sie widmete sich wieder ihrem Glas. »Ich denke über solche Dinge nach. Ich bin Maler, es gehört zu meinem Beruf. Es gibt Gesichter, die sind voller Herausforderung.« »Aha. Und fordere ich Sie heraus?« Er lächelte kurz. »Das tun Sie ja schon.« »Nein.« »Vielleicht ist ›testen‹ das bessere Wort.« »Sie irren sich.« »Nein.« »Sie sind arrogant. Diese Technik zieht bei mir nicht.« Er hielt eine Hand unter ihr Kinn und beugte sich nahe an sie heran. »Sie müssen lernen, zwischen Wahrheit und Technik zu unterscheiden.« Sie trat zurück, befreite sich von seiner Hand. »Sie sind auch nicht anders als andere Männer.«
Er hob die Brauen und schürzte die Lippen. »Doch. Ich bin nämlich schwul.« Sie betrachtete ihn ausgiebig. Er strahlte eine mächtige Sinnlichkeit aus, und zusammen mit seinem Sinn für dramatische Auftritte verlieh ihm das etwas Provozierendes. Sie glaubte, daß er log. »Hören Sie auf, mit mir zu spielen«, sagte sie. »Sie wollen mich necken.« »Sind Sie sicher?« »Eine Frau spürt sowas.« Sein Lachen kam plötzlich und ungezwungen. »Sie sind ein junges Mädchen, ein Kind, ein Baby ohne jede Intuition, was ist und was nicht ist. Trotzdem, Sie könnten recht haben, was mich anbetrifft. Oder auch nicht.« »Sie spielen mit mir«, sagte sie mit mehr Entschiedenheit, als sie spürte. »Aber damit erreichen Sie bei mir nichts.« »Gut.« Er streckte seine Hand aus. »Ich bin Rafe Giacomin. Wer bist du?« »Cindy Ashe.« »Cindy Ashe!« Er verzog das Gesicht. »Wirklich?« Sie lachte verlegen. »Eigentlich heiße ich Lucinda. Aber das ist noch schrecklicher.« »Schrecklich, ja. Sag mal, Cindy, was suchst du unter all diesen degenerierten Leuten, mich eingeschlossen?« »Ein Mann hat mich im Village angesprochen. Edgar Soundso.« »Edgar Davis. Einer der größten Wüstlinge der Stadt. Er ist reich und ölig, glaube ich. Er geilt sich an jungen Mädchen auf.« Er legte den Kopf schief und musterte sie. »Ist er bei dir schon zum Schuß gekommen?« »Das geht dich nichts an.« »Aha.« »Außerdem habe ich ihn eben erst kennengelernt.« »Nun gut, dann entscheide dich.« »Zu was?«
»Edgar Davis oder ich. Ich will zu einer anderen Party. Downtown. Eine Atelierparty. Ich wette, da haben wir mehr Spaß.« Sie zögerte. »Ist das eine Einladung?« »Ich dachte, die hätte ich schon ausgesprochen. Kommst du mit oder nicht?« »Oh«, sagte sie. »Ja.« Lachend gingen sie. Broome Street, flankiert von uralten Fabriken mit getönten Fensterscheiben, die wie aus verletzten Augen auf eine harsche Welt blickten. Dort hatten sich Maler und Bildhauer niedergelassen und fühlten sich wohl in den ehemaligen Produktionsstätten von Handtaschen, elektrischem Zubehör und Holznägeln. Rafe Giacomin führte Cindy vier quietschende, enge Eisentreppen hoch, durch eine schwere Eisentür in eine Explosion aus Lärm und Bewegung. Eine Rockband hämmerte und trommelte, stampfte ihren heavy beat, einer sang, aber die Worte verloren sich im Lärm. Überall war action, die Leute drehten sich einzeln oder in Gruppen, hüpften, sprangen, verrenkten sich. Sie lehnten sich an, schoben und drückten und schlurften. Aufblitzende Lichter sorgten für eine Steigerung des Bewegungsgefühls, für ein weiteres unreales Element. Jemand drückte eine Papiertasse in Cindys Hand, und sie trank, ohne zu wissen, was sie trank. Es schmeckte nach flüssigem Holz. Sie verzog das Gesicht, trank noch einmal und hatte sich dann an den Geschmack von Bourbon gewöhnt. Ihre Augen hatten zunächst Mühe, sich an die aufblitzenden Lichter zu gewöhnen, an die wechselnden Farben. Dann sah sie Gesichter, vom Lachen verzerrt oder angespannt vor Konzentration, schweißdurchtränkte Gesichter, von verklebten Haaren verdeckte Gesichter. Ein fetter schwarzer Mann lachte laut über etwas, was eine weiße Frau mit einem gewaltigen Busen gesagt hatte, und massierte liebevoll ihr Gesäß. Ein Mann mit gebleichten Haaren und engen Jeans, die sich im Schritt auffällig wölbten, tanzte eng mit einem anderen Mann mit gebleichten Haaren und engen Jeans, die sich im Schritt ebenso auffällig wölbten. Eine Frau Mitte Vierzig
unterhielt sich angeregt mit einem einundzwanzigjährigen Mann und zupfte an den feinen Härchen seines Handgelenks, während ihr Ehemann danebenstand und beifällig nickte. Ein hageres Mädchen mit langen, zitronenfarbenen Haaren bewegte sich in einem zuckenden, fieberhaften Tanz ganz für sich allein, bis sie auf dem Boden lag und die Beine ruckartig nach allen Seiten stieß. Eine Clique lederbekleideter Männer stand beisammen in einer Ecke, sie rauchten Pot und warteten darauf, daß ihnen jemand ein Angebot machte. Ein Bierglas zerbrach im Gesicht eines Mannes, er fluchte und probierte einen Boxhieb, aber dabei landete er auf dem Boden, und niemand kümmerte sich um ihn. Ein Mädchen kreischte, es sei ausgeraubt worden. Cindy suchte Rafe, und als sie ihn nicht fand, holte sie sich noch einen Bourbon. Ein untersetzter Mann mit einem roten Bart füllte ihre Tasse und fragte, zu wem sie gehörte. Sie hob die Schultern. Er nickte wissend. »Die Bude hier gehört mir«, sagte er. »Bleib bis zum Schluß, dann ziehen wir uns zurück.« Sie wandte sich ab. Ein junger Mann in einer Jacke aus dem Anfang des Jahrhunderts sprach sie an und schlug vor, die Party gemeinsam zu verlassen. Er war dabei, einen Untergrundfilm zu drehen, sagte er ihr, und würde es ihr nicht Spaß machen, darin mitzuspielen und ein Star zu werden? »Wenn du mit zu mir kommst, mache ich Aufnahmen von dir«, sagte er. Sie ließ ihn stehen und schob sich tiefer in die Menge hinein. Jetzt war sie von Tanzenden umgeben. Der Beat peitschte sie auf, sie bewegte sich im Rhythmus der Musik. »O Baby!« rief jemand. Sie schluckte die Hälfte des Bourbon in einem Zug, schwenkte die Hüften und gab sich dem Sound hin. »Komm schon, laß dich gehen!« rief jemand. Sie stolperte, fiel beinahe, verschüttete den Rest des Bourbon über ihr Kleid. Hände berührten sie, grabschten ihre Hüften, und
sie spürte, wie sich jemand von hinten an sie drückte. Sie befreite sich aus dem Knäuel und schaute in die Tasse. Leer. »Hier«, sagte eine Stimme. »Das ist erstklassiges Zeug.« Eine Hand tauchte in ihrem Blickfeld auf, sie hielt eine schmale silberne Flasche, aus der goldbraune Flüssigkeit in ihre Tasse lief. »Was ist das?« »Scotch. Trinkt du Scotch?« Sie nickte und trank. »Ich habe dich die ganze Zeit schon beobachtet«, sagte die Stimme. Den Kopf zu drehen und den Blick auf das Gesicht einzustellen fiel ihr schwer. »Du erinnerst mich an jemanden«, murmelte sie. »Hoffentlich ist er nett.« »Er ist überhaupt nicht nett. Roy. Du erinnerst mich an Roy.« »Dein Freund?« »Mein Vater. Heute abend erinnert mich jeder Mann an meinen Vater.« »Ich habe nichts gegen Inzest.« Sie runzelte dir Stirn und mischte sich wieder unter die Tänzer. Der Beat war noch durchdringender, noch eindringlicher. Sie bewegte sich abgehackter, ruckartiger, und sie spürte, wie sich ihre Haut bei jedem Schritt streckte, wie sich die Muskeln spannten und lösten, sie spürte die Feuchtigkeit an ihren Schenkeln, zwischen den Schultern, in der Kerbe ihres Gesäßes. Eine Verrücktheit nahm von ihr Besitz, das Verlangen, alle Hemmungen wegzuwerfen, alle Bindungen zu lösen, sich selbst zu befreien. Sich zur Schau zu stellen. Sie sah das Bild von Roy Ashe vor sich, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann war es wieder verschwunden, aber es hatte einen bitteren Beigeschmack hinterlassen. Ihre Tanzbewegungen wurden intensiver, ausgelassener. Später, viel später, sollte sie erfahren, daß alles mit einem Zufall begann. Sie verlor einen Schuh. Was soll ich mit einem Schuh? Also streifte sie sich den anderen auch noch ab. O Mutter Maggie… Sie hob das kurze Kleid, das sie trug. Es war eine
rasche, verzweifelte Bewegung. Im nächsten Moment hatte sie das Kleid ausgezogen. Sieh nur her, Mike Birns. Schau dir an, was du verschmäht hast. Beifallklatschen und Hoho-Rufe. Im Rhythmus ihrer Tanzschritte hüpften ihre vollen Brüste. Ein Mann sprang in den Kreis, der sich um Cindy geformt hatte, und begann, seine Kleider auszuziehen. Ein weiterer Mann kam hinzu. Hände griffen nach Cindys Höschen, zerrten es nach unten. Es war schwierig, den Tanzrhythmus beizubehalten. Sie bückte sich, hob ein Bein leicht an, trat aus dem Spitzending heraus. Frenetisches Klatschen. Jemand umarmte sie, Hände packten ihre Brüste, schoben sich zwischen ihre Beine, streichelten grob, drängten, drangen ein. Ein nasser Mund senkte sich auf ihren, aber sie ruckte den Kopf zur Seite. Ein bärtiges Gesicht schmiegte sich an ihren Hintern. Sie nahm nicht wahr, daß sie ins Wanken geriet, es war, als würde dichter, dicker Nebel sie umwallen. Um sie herum schien alles schwarz zu sein. Abrupt wurde sie aus der schützenden Umarmung der Dunkelheit gerissen und auf ihre Füße gestellt. Sie wurde geschoben, gelenkt, getrieben. Sie konnte nicht so schnell gehen und protestierte leise. Dann schrie sie plötzlich auf, als wäre sie aus einem Alptraum erwacht. Eine Hand klatschte in ihr Gesicht. Sie fiel auf die Knie. »Steh auf!« befahl eine nicht unfreundliche Stimme. Sie gehorchte. Sie hob den Kopf, aber sie hatte Schwierigkeiten, etwas zu erkennen. Eine Frau hob sich aus dem Nebel heraus. Eine Hand streckte sich aus, hielt Cindy fest. »Wir ziehen dich jetzt an.« Cindy brachte ein Nicken fertig, stand stumm und schwankend da, ließ alles mit sich geschehen. »Wir gehen jetzt«, sagte die Frau. »Ja«, sagte Cindy. »Ja.«
7
Cindy wurde wach, allein und verängstigt in einem fremden Bett, unfähig, sich zu erinnern, wo sie war oder wie sie dort hingeraten war. Sie schämte sich. Ihr Kopf fühlte sich geschwollen an und wie Brei, und hinter dem rechten Auge klopfte es scheußlich. Sie stöhnte und preßte die Augen zu. »Möchtest du etwas Kaffee?« Ihre Augen öffneten sich wieder, und sie sah eine Frau am Fußende des Bettes stehen. Sie trug Jeans und einen Kittel, sie war lang und dürr. »Ich bin Hettie Johns«, sagte sie. »Wo bin ich?« »In meinem Studio. Ich habe dich von der Party hergebracht. Jetzt ist es Nachmittag«, fügte sie lächelnd hinzu. »Ich habe das Gefühl, einen schrecklichen Narren aus mir gemacht zu haben.« »Das stimmt. Aber das ist nun vergessen. Ich hole Kaffee und eine Aspirin. Dann wirst du dich gleich besser fühlen.« Aber bis dahin verging noch einige Zeit. Eingehüllt in einen Frotteebademantel, kauerte sie in einer Ecke von Hettie Johns’ Couch und hörte der anderen Frau zu, trank Kaffee, rauchte und versuchte, sich nicht zu unbedacht zu bewegen und nicht zu denken. Hettie Johns war siebenundzwanzig Jahre alt, geschieden, Gelegenheitsschauspielerin, aber hauptsächlich, so erklärte sie, was sie Bildhauerin. Ihr Erfolg war bescheiden, obwohl sie einige Ausstellungen hatte, und dort auch die meisten Werke verkaufen konnte. »Nicht genug, um mich reich oder berühmt zu machen«, sagte sie ohne Bitterkeit. »Aber genug, um unabhängig zu bleiben. Und genug zu essen habe ich auch. Das reicht.«
»Ich beneide dich«, sagte Cindy. Hettie zündete sich eine Zigarette an. Ihre Bewegungen waren auf ein Mindestmaß beschränkt, nie eine Geste zuviel. »Es geht im Leben nur um Freiheit, um die persönliche Freiheit. Das habe ich in den drei Jahren Ehe gelernt. Auf Kommando die Beine spreizen, Ehefrau, Hure und Haushälterin sein – nein, danke.« »Willst du nicht wieder heiraten?« »Das ist nichts für mich. Wenn ich wieder mit jemandem zusammenleben möchte – gut. Wenn ich dann genug habe, trennen wir uns. Das war’s dann, Baby.« »Hört sich gut an. Man behält seine Freiheit.« Hettie sog an der Zigarette und blies den Rauch gegen die Zimmerdecke. »Ich war Gebrauchsgrafikerin. Madison Avenue. Ich habe Anzeigen entworfen und gestaltet, Poster und Buchumschläge. Man brauchte nur auf den Knopf Hettie Johns zu drükken, und schon kam ein Entwurf heraus. Das hat mir gereicht. Wir leben nur einmal, und ich will dieses Leben zu meinen Bedingungen leben.« »Ja, ja, das finde ich auch.« Hettie lächelte. »Diese Bude zum Beispiel…« »Sie ist wunderschön.« »Sie war ein Nichts, als ich sie fand. Dreckig, Risse in den Mauern, die Böden eine Katastrophe. Ich habe alles selbst gemacht. Den Putz von den Wänden gehauen, den Boden mit Sand geschrubbt, später alles gestrichen. Neues Glas in die Fenster eingesetzt. Jetzt ist es hell und heiter, ein großartiger Ort zum Arbeiten. Ich habe die Trennwand zum Schlafzimmer eingezogen und die Küche eingerichtet. Es ist mein Zuhause. Es bedeutet mir mehr, als mir irgend etwas je im Leben bedeutet hat.« Sie rollte die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger. »Wenn du willst, kannst du bleiben, solange du möchtest.« »Ich verstehe nicht…« Hettie hob ihre dürren Schultern und ließ sie langsam wieder sinken. »Ich habe das Gefühl, daß du da, wo du jetzt lebst, nicht sehr glücklich bist.«
»Ich wohne bei meiner Mutter.« »Du kannst hier einziehen. Es liegt an dir.« »Aber… du kennst mich nicht. Warum?« »Du mußt den Grund finden, warum du hier wohnen willst. Oder dafür, daß du nicht hier wohnen willst.« »Meine Mutter«, murmelte Cindy. »Ruf sie an, sag ihr, daß du okay bist. Daß du für eine Weile weg bist.« Es war ein erregender Gedanke, verführerisch, aber auch ein wenig beängstigend. Sehr beängstigend, stellte sie richtig. »Vielleicht werde ich sie später anrufen.« »Wie immer du willst.« »Ich halte dich von der Arbeit ab.« »Das macht nichts. Ich arbeite nicht mehr nach Plan. Manchmal drehe ich durch und arbeite tagelang ohne Pause, Tag und Nacht. Pillen halten mich wach, literweise Kaffee und manchmal auch Hasch. Rauchst du?« »Ich habe mal geraucht, aber in letzter Zeit nicht mehr.« »War nur eine Frage.« Hettie stand auf. »Willst du ein paar meiner Arbeiten sehen?« »Ja, gern.« Am hinteren Ende des Studios standen zahlreiche Objekte, zwei aus Ton, die anderen aus Bronze. Cindy huschte mit den Blicken über die einzelnen Stücke, dann noch einmal, als glaubte sie, nicht richtig gesehen zu haben. Hettie, die sie beobachtet hatte, mußte lachen. »Sie sind genau das, was du denkst.« »Alle?« »Ja, alle. Seit einiger Zeit habe ich mich darauf gestürzt. Schwänze. In verschiedenen Größen und Phasen. Ich weiß natürlich nicht, wie weit du schon herumgekommen bist, aber es gibt deutliche Unterschiede zwischen einem Männerschwanz vor der Erektion und nachdem er abgefeuert hat. Schau dir diesen zum Beispiel an. Das ist nachher. Hier siehst du noch die Saft-
spur, das Postulat seiner Befriedigung. Und dieser hier, der so schwächlich ausschaut und nur verängstigt und verunsichert ist.« »Und dieser?« fragte Cindy und zeigte mit dem Finger. »Den mag ich besonders. Meine letzte Arbeit. Man sieht ihn förmlich beben vor Eifer und Kraft und Verlangen. Bereit für die action. Siehst du, wie die Testikel angezogen sind, als ob sie sich für den ersten Stoß wappneten?« Cindy kicherte. »Das ist ein Hammer, Penisse zu formen.« »Es ist nichts Abartiges«, sagte Hettie. »Sexuelle Bildhauerei ist so alt wie die Zivilisation. Die Griechen und die Römer haben sich schon damit beschäftigt. In Pompeji haben sie nach den Ausgrabungen alle möglichen sexuellen Darstellungen freigelegt, Wandgemälde, Skulpturen von Männern, die es mit Hunden treiben, alles. Heute sind die Menschen so verdammt verkrampft, obwohl es doch schön und natürlich ist.« Cindy nickte. »Ich wollte dich nicht kritisieren«, sagte sie leise. »Ich weiß«, antwortete Hettie nach einem Augenblick des Schweigens. »Hör mal, wenn du hierbleiben möchtest, ich würde das sehr gern haben. Ich bin nicht immer einfach, und wenn ich arbeite, kann ich auch mal grob werden, weil ich mich total auf die Arbeit konzentriere.« »Ich würde dir keinen Ärger bereiten.« »Du hast deine Mutter erwähnt…« Cindy mied Hetties Blick. »Kann sein, daß sie ganz froh ist, mich los zu sein.« »Nun ja. Es ist dein Leben, also entscheide, was du tun willst. Ich glaube, wir könnten Freunde sein.« »Ja, es wäre schön, eine Freundin zu haben.« »Das sagen wir alle, wir verängstigten Kinder.« Cindy verbrachte die Nacht in Hetties Studio, aber am anderen Morgen bestand die Bildhauerin darauf, daß Cindy sich entschied, ob sie bleiben wollte oder nicht. Cindy sagte: »Ich möchte hier bei dir wohnen.«
»Dann mußt du nach Hause und deiner Mutter Bescheid sagen. Du mußt Klarheit schaffen.« »Könnte ich ihr nicht einen Brief schreiben?« »Für jeden ist es ein schwieriger Schritt, sein Zuhause zu verlassen. Man muß ihn mit Bedacht gehen. Und offen.« Cindy seufzte: »Nun gut. Ich muß mir sowieso ein paar Kleider holen.« An diesem Nachmittag kehrte Cindy zum Apartment in den östlichen Achtzigern zurück. Sie hatte vor, eine Tasche zu packen und dann ihre Mutter in Ocean Beach anzurufen und ihr zu erklären, welche Pläne sie hätte. Zu ihrer Überraschung fand sie Maggie im Apartment. »Ich habe nicht damit gerechnet, dich hier anzutreffen«, sagte sie. Maggie saß nackt vor dem Frisiertisch. Cindy fand, daß der Bauch ihrer Mutter ein wenig schlaffer geworden war, als sie ihn in Erinnerung hatte. Die Haut über den Rippen sammelte sich in vielen kleinen Falten. Maggie konzentrierte sich darauf, sich falsche Wimpern anzukleben. »Kommst du heute zurück auf die Insel?« fragte Maggie. »Die letzten beiden Nächte habe ich bei einer Freundin verbracht.« Cindy wartete auf eine Reaktion. »Hast du gehört, Mutter?« »Du warst bei einer Freundin. Schön, mein Kind.« »Mutter, ich muß mit dir reden. Ernsthaft.« »Nicht jetzt, meine Liebe. Ich bin mit ein paar Leuten zu Drinks verabredet, und ich bin schon spät dran.« Maggie hatte die Wimpern angeklebt und lehnte sich zurück, um sich im Spiegel besser betrachten zu können. Zufrieden stand sie auf und ging zur Garderobe. Ihre Rückenpartie sah straff und fest aus, sie war so gebaut, wie Männer es mögen. Cindy wünschte, sie hätte mehr von der Figur ihrer Mutter mitbekommen, die Hüften betonter, die Brüste kleiner. Maggie zog sich ein blaues Spitzenhöschen an, dann schlüpfte sie in ein ärmelloses Cocktailkleid.
»Zieh mal den Reißverschluß hoch, Liebes.« Eine Einzelkette aus Perlen um den Hals, und Maggie war bereit. Der tiefe Ausschnitt ließ ahnen, daß ihre Brüste nackt waren. Cindy atmete tief durch, füllte ihre Lungen mit Luft. Sie wollte stark und resolut sein, ihre Absichten sachlich vortragen und Maggie wissen lassen, daß sie sich davon nicht abbringen lassen würde. Aber sie fand die richtigen Worte nicht. »Du kannst mit mir zurück zur Insel«, hörte sie Maggie sagen. »Oder willst du allein fahren? Du kommst doch auch einen Tag ohne mich aus, nicht wahr? Ich kann dir etwas Geld geben.« »Mutter«, sagte Cindy, und das Wort kam ihr nur zögernd über die Zunge. »Ich muß mit dir reden.« »Das hast du schon gesagt, Liebes. Ich habe nicht viel Zeit, also fang an und rede.« Maggie seufzte. »Ich bin wirklich sehr genervt wegen deines Vaters. Ich nehme an, das ist eigentlich töricht. Schließlich sind wir geschieden, und ich bin mit Bob verheiratet. Trotzdem, Roy war ein Teil meines Lebens, und man kann nicht erwarten, daß eine Frau alle ihre Erinnerungen aus dem Gedächtnis streicht.« »Mutter, ich bin vergangene Woche achtzehn Jahre alt geworden.« Maggie fuhr herum, einen Ausdruck des Entsetzens im Gesicht. Sie trat auf Cindy zu, drückte ihre Wange an Cindys, achtete aber darauf, daß ihr Make-up nicht verschmierte. »Vergib mir, Baby. Ich habe es vergessen. Wie schrecklich von mir! Aber ich werde es wiedergutmachen. Mit etwas sehr Schönem! Wie wäre es mit einem Ledermantel für den Herbst? Mit einem Fuchskragen! Ja, das wird dir gefallen. Ich werde gleich morgen Sam Geller anrufen. Er fertigt dir…« »Mutter, ich will keinen Ledermantel.« »Nein? Nun gut, denk darüber nach. Was du auch willst, sage es mir, und es gehört schon dir. Ich kann doch nicht zulassen, daß meine Tochter glaubt, mir läge nichts an ihrem Geburtstag.« Sie lachte freudlos und betrachtete wieder ihr Spiegelbild.
Ein Gefühl der Unterlegenheit durchflutete Cindy, und es fiel ihr zunehmend schwerer, etwas zu sagen. Sie kämpfte gegen die Schwäche, die sie in ihren Gliedern spürte. »Mutter, ich habe nachgedacht. Ich möchte von hier weg.« »Ja, natürlich«, sagte Maggie. »Warum fährst du nicht gleich zur Insel. Weiter kann man gar nicht weg sein.« »Das meine ich nicht.« Maggie drehte sich nach ihr um. »Kann ich mich so sehen lassen?« »Du bist wunderschön, Mutter.« »Wie lieb von dir, das zu sagen.« Sie ging aus dem Schlafzimmer. »Wir sehen uns morgen irgendwann am Strand«, sagte sie über die Schulter. Cindy ging ihr nach. »Mutter, ich gehe. Ich werde bei einer Freundin wohnen. In ihrem Studio.« Maggie drehte sich nach ihr um, musterte ihre Tochter. »Du meinst, du willst unser Zuhause verlassen?« Cindy nickte unsicher. »Ich bin nicht sicher, ob ich das gutheißen kann.« »Ich möchte es tun…« Cindy hätte gern weiter gesprochen, aber sie traute sich nicht. »Nun, ich nehme an, das geht schon in Ordnung.« Sie fand ihre Handtasche auf der Couch im Wohnzimmer. »In sechs Wochen fängt die Schule wieder an und…« »Ich bin nicht sicher, ob ich zurück zur Schule gehen möchte.« Maggie schaute auf, den Mund dünn, die Augen groß. »Da gibt es keinen Raum für Diskussionen, meine Liebe. Du bist ein Kind, und du wirst eine gute Ausbildung erhalten. Das ist der eine Punkt, in dem dein Vater und ich übereinstimmen.« »Die Schule gibt mir nichts mehr.« »Sie bereitet dich aufs Leben vor.« Auf so ein Leben, wie du es führst? schrie es in Cindy. Das ist nicht das, was ich will. Nein! Nein! Aber sie brachte die Worte nicht über die Lippen.
»Wenn ich nicht zur Schule gehen will, sehe ich nicht ein, warum ich gehen muß«, sagte sie statt dessen. »Das diskutieren wie ein andermal.« »Es gibt nichts zu diskutieren«, brachte sie schließlich heraus. »Ich habe mich entschieden«, fügte sie hinzu. Maggies Ausdruck verfinsterte sich. »Vergiß nicht, mit wem du sprichst, meine junge Dame. Ich bin deine Mutter.« Wie könnte ich das vergessen… Maggies Mundwinkel hoben sich leicht in einem gezielten Lächeln. Als sie sprach, klang ihr Stimme sanft. »Dies ist für uns alle eine unruhige Zeit, Cindy. Die schlechte Nachricht von deinem Vater. Wir werden uns morgen auf der Insel in aller Ruhe darüber unterhalten.« »Das können wir vergessen«, sprudelte es aus Cindy heraus. »Weil ich an der Unterhaltung kein Interesse habe.« »Werde nicht frech, meine Liebe. Das steht dir nicht zu.« »Ich ziehe aus«, sagte sie mit leiser Stimme, als hätte sie Angst, sie könnte ihren Entschluß rückgängig machen wollen, wenn Maggie sie zu überreden versuchte. Maggie schaute auf ihre Uhr. »Ich habe jetzt keine Zeit, darüber zu diskutieren. Hinterlaß mir eine Telefonnummer, wo du zu erreichen bist. Wir reden darüber. Bei einem Mittagessen. La Grenouille, wenn du möchtest.« »Das ist mir egal.« Maggie hob ihr Kinn. »Nein, ich vermute, auf solche Dinge legst du keinen Wert.« Als ihre Mutter gegangen war, suchte Cindy einige ihrer Sachen zusammen, verstaute sie in einer Tasche und wollte gerade gehen, als das Telefon klingelte. Sie entschied sich, abzunehmen. Es war David Altman. »Ich hoffe, ich störe nicht«, begann er. Sie verzog ihr Gesicht. Sie mochte solche entschuldigenden Anfänge nicht. Sie stellte ihn sich vor, aber die Vorstellung wurde dominiert von einer langen weißen Nase. Sie unterdrückte ein Lachen.
»Ich wollte gerade gehen«, sagte sie. »Oh. Ich bin in der Stadt und dachte, ich könnte dich mal anrufen. Weißt du, Mr. Pinsano hat mich nach New York geschickt. Es geht um die Aufzeichnungen des Treibstoff Verbrauchs pro Meile im Luftverkehr, weil es dort zu unterschiedlichen…« O verdammt! Komm schon zur Sache! »Ein andermal, David«, sagte sie und versuchte, ihre Stimme ruhig und freundlich zu halten. »Ich muß jetzt wirklich gehen.« »Ja, ja. Ich habe das mit deinem Vater gehört, Cindy, es tut mir schrecklich leid. Ich meine, ich bin sicher, daß er es nicht getan hat.« Abwehr baute sich in ihr auf. Sie wollte sein Mitgefühl nicht, auch seine Hilfe nicht. Sie wollte nicht daran erinnert werden, was Roy Ashe getan oder nicht getan hatte, ob er ein Verbrecher war, ein Mörder. Das sagte sie David Altman, und sie sagte ihm auch, er hätte kein Recht, sich in diese privaten Dinge einzumischen. Sie sagte das alles, und während sie es sagte, haßte sie sich dafür, sie war voller Reue und Scham. Und als ihr Ausbruch beendet war, atmete sie schwer im Bemühen, David Altman nicht merken zu lassen, daß sie weinte. »Es tut mir leid«, sagte er leise. »Ich wollte nur helfen. Ich weiß, wie du dich fühlen mußt, Cindy. Ich wollte dich nicht kränken.« Sie wollte etwas sagen, aber es kam nur ein frustriertes Krächzen heraus und dann, hörbar: »Du Narr! Du verdammter Narr…« Sie legte den Hörer behutsam auf die Gabel, saß da und starrte auf den Apparat, als erwartete sie, daß David Altman wieder anrufen würde. Sie war irgendwie enttäuscht, daß er es nicht tat. In den nächsten Tagen ordnete sich Cindy rasch in das Muster von Hettie Johns’ Leben ein und begann bald, es auch als das ihre anzusehen. Der Morgen gehörte der Arbeit. Das heißt, Hettie arbeitete, und Cindy schaute zu. Oder sie kuschelte sich irgendwo hin und las in einem Buch. Oder sie ging spazieren.
Die Nachmittage verliefen anders. Sie besuchten Museen. Galerien, Ausstellungen, schlenderten durch East Village, kauften in den Boutiquen ein, fuhren mit dem Rad durch den Central Park oder sonnten sich im Sheep Meadow. Und sie redeten miteinander. Meistens redete Hettie, und Cindy hörte zu. Und lernte. Sie sprachen über Kunst. Über die Natur der Gesellschaft. Was falsch an ihr war und was man an ihr reparieren könnte. Hettie interessierte sich für Politik und Religion. Sie wurde als Methodistin geboren und war mit neunzehn Jahren zum Katholizismus konvertiert, aber drei Jahre später verließ sie die Kirche wieder. Seitdem hatte sie sich der Christian Science angeschlossen, hatte sich heftig für Universalismus und Humanismus interessiert und der Ethical Culture angehört, einem Kult, der Hypnose anwendete, um die Kluft zwischen Leben und Tod zu überwinden. In letzter Zeit hatte sie sich den Scientologen angeschlossen, aber nun suchte sie gerade etwas Neues, etwas Bedeutungsvolles. Politisch ordnete Hettie sich bei den Sozialisten ein, aber sie mußte zugeben, daß ihr Standort in diesen Tagen des beständigen Wechsels rasch und radikal schwankte. Sie war mit dem Status quo unzufrieden, ihr paßte die ganze politische Richtung der Vereinigten Staaten nicht. Die radikalen Ansichten der Studenten, machten sie genauso besorgt wie die militanten Schwarzen, ganz zu schweigen von den faschistischen Tendenzen in der amerikanischen politischen Rechten. »In meinen Augen sind sie alle machtgeil«, sagte sie, »sie mißachten die Nöte der Menschen, ihre Verletzlichkeit, ihre Sehnsucht nach Frieden.« Cindy genoß es am meisten, wenn Hettie mit ihr Museen und Galerien besuchte. Hettie ließ sie die Gemälde und Skulpturen in ganz neuem Licht erleben. Sie konnte jetzt sehen, wie verschiedene Künstler versucht hatten, dem Betrachter das zu vermitteln, was sie hatten ausdrücken wollen. Oder wo sie versagt hatten. Hettie lieferte eine kurze Kunstgeschichte mit, sie wies auf den Einfluß der primitiven Kunst auf die zeitgenössische hin. Sie
machte Cindy den Unterschied zwischen den ernsthaften Künstlern, den innerlich motivierten, und den Dilettanten deutlich, die oberflächlich arbeiteten und auf den schnellen Dollar aus waren. Gelegentlich ließ sie Cindy selbst mit Ton arbeiten, sie versuchte ihr beizubringen, wie man gestaltete, wie man das schuf, was man sah, wie man seine Vorstellung in Form brachte und ausdrückte. An manchen Tagen gingen sie mit einem Skizzenblock durch die Stadt und brachten ihre Eindrücke von Gebäuden oder Menschen zu Papier, Szenen einer sich ständig verändernden Stadt. »Ich werde nie eine Künstlerin sein«, klagte Cindy. »Wir können alle Künstler sein«, beharrte Hettie. »Mit unseren individuellen Möglichkeiten und Ausdrucksweisen. Es ist schon kreativ, wenn man in der Lage ist, ein gutes Leben zu führen.« Das war ein neuer Gedanke für Cindy. Dienstag. Eröffnung einer Galerie unweit der Madison Avenue. Die Szene erinnerte Cindy an die Parties ihrer Mutter, eine unablässig in Bewegung scheinende Menge, die wohl fürchtete, sie könnte irgendwas verpassen. Darüber ein Lärmpegel, der die Kommunikation erschwerte. Hettie und Cindy schoben sich an den Menschentrauben vorbei, fanden eine stille Ecke und tranken Weißwein. »Niemand«, flüsterte Cindy, »wirft auch nur einen Blick auf die Bilder.« Hettie lachte und berührte Cindys Hand. »Seltsam, daß dir das auffällt. Sie kommen her, um gesehen zu werden, um Kontakte zu knüpfen, um kostenlos essen und trinken zu können. Die Bilder sind nur der Vorwand. Das ist bei den meisten Eröffnungen so.« Cindy betrachtete ein Bild, eine große Leinwand mit einem ekkigen Stier-Matador-Motiv. »Harte Kanten verkaufen sich in dieser Saison am besten«, erklärte Hettie. »Deshalb malt Wilton so. Er ist ein erstklassiger
Techniker, aber er ist auch eine Hure. Wenn es sich verkauft, dann malt Wilton es. Ich habe gehört, daß er jetzt in die Posterproduktion gegangen ist. Er sagt gern, daß er alle Entwicklungen durchlaufen will, wie Picasso auch, aber er ist kein…« »Hettie!« Ein großer, dunkler Mann in einem schwarzen Kordanzug kam ihnen entgegen. Ein vorsichtiges Lächeln breitete sich auf dem knochigen Gesicht aus, und die schwarzen Augen funkelten. »Hettie! Ich habe dich seit Monaten nicht mehr gesehen! Toby hat mir gesagt, daß du besser bist denn je. Das muß Liebe sein.« Er warf einen raschen Blick auf Cindy. »Du hast eine neue Freundin…« Die vollen Lippen bewegten sich leicht. »He, warte mal! Ich kenne dich! Ja, natürlich, diese schreckliche Party am Sutton Place. Danach sind wir zu Chuck Marinakis Atelier gegangen.« Er hob einen Zeigefinger und wedelte damit hin und her. »Du bist mir weggelaufen. Schade, denn da ist ‘ne Menge action abgelaufen. May Krich tobte sich in einem Weinkrampf aus und gestand ihre Jugendsünden. Sie hat mit ihren Brüdern geschlafen. Mit beiden. Und Teddy Parker legte sich mit Homer an; fast ein Wunder, daß sie sich nicht verprügelt haben. Ich habe gehört, daß ein Mädchen einen Strip hingelegt hat, aber das habe ich nicht gesehen. Also, wie war doch nur dein Name?« murmelte er. »Ah!« In seinen Augen leuchtete es. »Ich weiß! Das FeuerMädchen.« »Was soll das denn heißen?« fragte Hettie düster. Cindy mußte lachen. »Kompliment!« »Cindy Ashe«, sagte er. »Ashe wie Asche. Und sie wohnt auf Fire Island. Deshalb habe ich’s behalten.« »Rafe Giacomin«, sagte Cindy, froh darüber, daß ihr der Name nicht entfallen war. »Ein Künstler.« »Er soll sogar ein guter Künstler sein, habe ich gehört«, warf Hettie ein. »Aber nur wenigen ist es vergönnt, seine Arbeiten zu sehen.« »Du wirst sie sehen, Hettie, wenn ich soweit bin.« Er bedachte Cindy wieder mit diesem strahlenden Lächeln. »Du bist noch
hübscher, als ich in Erinnerung hatte. Ein phantastisches Gesicht. Du mußt mir mal Modell sitzen. Ich kann natürlich nicht viel zahlen.« »Cindy steht mir Modell«, sagte Hettie rasch. Rafe verbeugte sich spöttisch. »Du hast einen untadeligen Geschmack, Hettie. Man muß dir gratulieren.« »Goodbye, Rafe«, sagte Hettie. Er sah Hettie an, dann Cindy. »Ich wollte nichts Unrechtes tun oder sagen. Aber ich möchte Cindy tatsächlich gern malen – und ihr Freund sein – wie ich auch dein Freund sein möchte, Hettie.« Hettie zog skeptisch die Augenbrauen hoch, sagte aber kein Wort. Rafe lächelte leicht, berührte Cindys Wange und ging davon. »Ich mag ihn«, gestand Cindy. »Er hat ein unglaubliches Gesicht, fast skelettartig und doch schrecklich attraktiv. Man kann es nicht gutaussehend nennen, aber es hat was.« »Kann schon sein.« »Magst du Rafe nicht?« Hettie spazierte zum nächsten Bild weiter, einen leicht vergnüglichen Ausdruck im Gesicht. »Ich habe gelernt, daß Männer nicht sehr vertrauenswürdig sind und daß es ihnen nur selten um das Wohl einer Frau geht.« »Ich hoffe, daß nicht alle so sind.« »Du bist noch jung, du wirst es noch selbst herausfinden.« Cindy wollte nicht allen Männern mißtrauen, sie wollte keine Schranken gegen sie errichten. Sicher, BB hatte sie mißbraucht, aber sie hatte es zugelassen, sie hatte sich von ihm und all den Freiern mißbrauchen lassen, die er ihr zugeführt hatte. Diese Phase in ihrem Leben war vorbei. Wenn sie wieder eine Beziehung zu BB aufnahm, würde sie nicht nur geben, sondern auch nehmen. Ein Mann wie Rafe Giacomin könnte jemand sein, um eine Beziehung dieser Art aufzunehmen. Ein vager Gedanke bildete sich in ihrem Hinterkopf, drängte ans Licht. »Rafe hat mir gesagt, daß er schwul sei«, sagte sie. »Ich glaube, er wollte mich auf den Arm nehmen.«
Hettie verzog das Gesicht. »Ich hasse dieses Wort«, sagte sie. »Rafe ist homosexuell, wenn du das meinst. Komm jetzt, wir sollten was essen.« »O ja, ich habe schrecklichen Hunger. Kann ich einen Hamburger essen?« »Was du willst.« Nach diesem Abend wählte Hettie die Galerieeröffnungen, die sie mit Cindy besuchte, sorgfältiger aus. Meistens waren es die kleinen Galerien, bei denen die Anzahl der Gäste überschaubar blieb. Cindy stellte auch fest, daß es sich meist um ältere Besucher handelte, vielleicht auch um wohlhabendere. Immer aber ging es in den Gesprächen um Kunst und die Künstler, und Cindy konnte kaum etwas anderes tun als zuhören. Sie versuchte, soviel wie möglich von dem aufzunehmen, was sie an Argumenten und Informationen aufschnappte, aber stets verwirrte sie die Fülle der widersprüchlichen Gedanken und Meinungen. Nach einem dieser Abende in der Park Avenue zogen sich Gindy und Hettie rasch in die Downtown zurück, weg von dem Verstaubten Plüsch und dem aufgesetzten Reichtum des Apartments, in das eine Kunsthändlerin sie eingeladen hatte. Sie saßen in einer überfüllten Bar im Village. Als Hettie zur Toilette ging, spürte Cindy, wie Angst in ihr hochkroch, ein Gefühl des Alleinseins beschlich sie. Sie durchdrang die verräucherte Bar mit ihren Blicken und konnte es nicht erwarten, bis Hettie zurückkam. Sie hörte, wie eine männliche Stimme ihren Namen sagte, und vor Furcht und Erleichterung fuhr ihr Kopf herum. Sie sah Rafe Giacomin, der sich ihrem Tisch näherte, die schwarzen Augen glühten vor freudiger Überraschung. Er berührte ihre Schultern und küßte sie auf die Stirn. »Warum haben wir uns so lange nicht gesehen?« fragte er. »Schließt Hettie dich ein?« »O Rafe! Ich bin so froh, dich wiederzusehen! Wir sind viel unterwegs, quer durch die ganze Stadt.« »Die Kunstszene«, sagte er spöttisch.
»O ja, alles, was auch nur entfernt mit ihr zu tun hat. Ich will alles darüber wissen. Noch weiß ich so wenig über Kunst.« »Oder über alles andere. Zum Beispiel über Künstler.« »Oh, ich kenne doch Hettie. Ich mag sie sehr«, sagte sie leise. »Sie hat mich bei sich aufgenommen, als ich sonst niemanden hatte. Sie hat mich quasi adoptiert. Ich werde nie vergessen, wie nett sie zu mir gewesen ist. Ich denke darüber nach, wie ich ihr das zurückzahlen kann. Ich müßte einen Job finden.« »Mein Angebot gilt noch. Sei mein Modell. Ich kann ein paar Dollar die Stunde zahlen. Dazu das Essen. Ich bin ein guter Koch. Also, abgemacht?« »Wirklich?« »Ja.« Es war ihr nicht ganz wohl bei dem Gedanken. »Ich weiß doch nichts von – « »Ich bringe dir alles bei, was du wissen mußt. Sage nur ja, dann fangen wir an.« Sie zögerte, aber es wurde ihr bewußt, daß sie ihm gefallen wollte. »Ist das denn so einfach?« »Abgemacht oder nicht?« Er hielt ihr seine Hand hin. Sie schlug ein. »Abgemacht.« Er kritzelte seine Adresse auf ein Stück Papier und gab es ihr. »Morgen um zwei. Sei pünktlich.« »Was ist mit Kleidern? Was soll ich anziehen?« Er sah sie verblüfft an. »Darling, Cindy«, sagte er, »ich rede von Akt. Zieh was an, um heil über die Straße und wieder zurückzukommen, aber du wirst mir nackt Modell stehen. Also, bis morgen.« Hettie wurde still und zog sich immer mehr zurück, nachdem Cindy ihr von der Begegnung mit Rafe Giacomin erzählt hatte. »Wenn es dich stört«, fügte Cindy hinzu, »gehe ich nicht hin. Ich meine, wenn du es für falsch hältst.«
»Nein, nicht falsch. O Himmel, es stört mich nicht, oder vielleicht doch.« Sie hob den Blick, schaute Cindy in die Augen. »Ich nehme an, ich bin ein bißchen eifersüchtig. Ich wollte dich nur für mich behalten.« Cindy lachte verunsichert. »Aber das ist doch verrückt. Wir sind Freunde, du und ich. Niemand und nichts kann daran etwas ändern.« »Ja, du hast recht.« Cindy stieß ein schrilles Lachen aus. »Du machst dir doch keine Sorgen, daß er sich an mich heranmacht? Ich meine, du hast mir gesagt, daß er homosexuell ist. Also haben wir aus dieser Richtung nichts zu befürchten.« Hetties Gesicht hellte sich in einem Grinsen auf. »Stimmt. Also lehnen wir uns zurück und genießen alles.« »Ich bin sicher, daß es Spaß bringt!« Von diesem. Nachmittag an fühlte sich Cindy stark zu Rafe Giacomin hingezogen. Er erzählte ihr, daß er aus einer kleinen Stadt im Osten Kanadas stammte, daß seine Eltern nur französisch gesprochen hätten und sein Vater Profi-Eishockeyspieler gewesen wäre und sich für seinen Sohn auch diesen Beruf wünschte. Im ersten Jahr war Rafe schon von der Universität gegangen; statt zu studieren, hatte er Südamerika bereist und schließlich ein Jahr lang in einem kleinen Dorf im nördlichen Mexico gelebt. Dort hatte er zu malen begonnen. »Du mußt dir mal vorstellen, was es für einen Eishockeyspieler bedeutet, einen homosexuellen Sohn zu haben«, sagte er. »Mein Vater spricht heute noch nicht mit mir.« »Und deine Mutter?« Er hob die Schultern. »Ich schreibe ihr gelegentlich, und vor drei Jahren hat sie mich hier besucht. Aber sie ist eine Ehefrau und muß sich entsprechend verhalten.« Eine Weile schwieg er, dann sagte er: »Ich glaube, wir sollten nicht länger über mich reden.« Er lächelte sie an. »Du hast einen wunderbaren Körper.«
Zuerst kam es ihr seltsam vor, ihm Modell zu stehen, sich vor ihm zu entblößen. Es war fast wie beim Arzt. Es dauerte eine lange Zeit, bis sie die Tatsache akzeptierte, daß Rafe nur die Absicht hatte, sie zu malen. Dann fiel die Anspannung von ihr ab, und erst jetzt konnte sie ihre gemeinsamen Nachmittage genießen. Im Gegensatz zu Hettie unterhielt sich Rafe gern während der Arbeit. Er erzählte von den Paarungsgewohnheiten der Feuerfliegen und von den Beisetzungsriten der Kopfjäger von Neuguinea. Er sagte, daß er gern malte und glaubte, ein bestimmtes Talent dafür zu haben, aber er war davon überzeugt, daß dies nur ein Übergang war, ein Schritt in eine noch undeutliche Zukunft. »Es ist etwas, was ich tue, fühle, sehe. Das löst Reaktionen aus. Auge, Hand, Palette, Pinsel, das ist alles. Alles andere wird hineingeheimnist. Blödes Aufbauschen einer sinnlichen Kunst.« Er erzählte ihr von den Büchern, die er las oder gelesen hatte, über die Bedingungen des Theaters in Amerika, von der ritualisierten Korruption rund um den Broadway, über die eingebaute Häßlichkeit der Gegenwarts-Architektur, die er phallische Repräsentation einer computerisierten Mentalität nannte. »Die Welt befindet sich im Zustand der Gärung«, stellte er fest. »Ich kann mir keine aufregendere Zeit zu leben vorstellen als diese.« Er gab ihr ein Exemplar von Siddharta, in Silberpapier eingeschlagen, mit einem gestreiften Band geschmückt. Nachdem sie das Buch gelesen hatte, diskutierten sie tagelang darüber, und sie beschloß, mehr von Hermann Hesse zu lesen. An einem Nachmittag ließ er sie gar nicht erst in sein Studio, sondern lud sie zu einer Vorführung von gleich zwei HumphreyBogart-Filrnen ein. Danach spazierten sie durch den Central Park, Hand in Hand. »Filme sind immer ein Gewinn«, sagte er, »besonders BogartFilme natürlich. Jeder interpretiert ihn anders, für die einen stellt er das Symbol einer allgemeinen Entfremdung dar, für die anderen ist er die brutale Wahrheit. Hollywoods Version von Camus.
Ich glaube, Bogart hätte über alle Interpretationen gelacht. Die meisten seiner Filme sind schlecht, sehr schlecht sogar, aber er gab ihnen eine besondere Qualität. Hart und verletzlich, zum Lieben fähig, aber doch konnte er den Menschen, die er liebte, nie ganz vertrauen. ›Der Schatz der Sierra Madre‹ und ›Der Malteserfalke‹ sind seine besten Filme, und dafür gebührt John Huston das Lob. Es ist erstaunlich, wie viele gute Sachen sie in dem alten Studiosystem gedreht haben, trotz all seiner Mängel. Heute braucht man nur wilde Schnitte zu machen, Weichfilter einzusetzen, und schon gilt man als Genie.« »Du solltest selber einen Film machen.« Er sah sie an. »Du bist süß, aber schrecklich unschuldig.« »So habe ich mich selbst nie gesehen.« »Versuch es mal, versuch es mal.« Er zeigte hoch. »Drüben, das Karussell! Komm, wir fahren eine Runde!« Minuten später saßen sie auf hübschen handbemalten Pferden und ließen sich drehen. »Keines der Pferde hat gewonnen«, sagte Cindy lachend. »Stimmt. Aber es hat auch keins verloren«, gab Rafe zurück. Eines Tages hörte er plötzlich mit dem Malen auf und wandte sich ihr zu, das knochige Gesicht ernst, die schwarzen Augen fest auf sie gerichtet. »Siehst du eigentlich nie den Mann in mir? Oh, antworte nicht! Was für eine alberne Frage! Nun, es gibt Zeiten, in denen ich mir wünschte, normal zu sein. Wenigstens normal genug, um eine Familie haben zu können. Ja, ich würde verheiratet sein wollen, es muß schließlich alles seine Ordnung haben.« Jetzt sah er auf irgendeinen imaginären Punkt im Zimmer. »Möchtest du das nicht auch, Cindy? Kinder haben?« Sie entspannte sich, gab ihre Pose auf und warf sich den Bademantel über, den er für sie bereitgelegt hatte. »Machst du mir einen Antrag, Rafe?« Er mußte lachen, ein bißchen zu laut, ein bißchen zu schrill, dachte sie. »Sei nicht albern. Du bist noch ein Kind und hast noch eine Menge zu lernen. Außerdem glaube ich nicht, daß ich
es mit einer Frau könnte. Mein Psychiater glaubt das auch nicht. Noch nicht, sagt er.« Seine Augen leuchteten. »Eines Tages muß ich dir von meinem Psychiater erzählen. Das ist ein Typ! So, jetzt aber genug von dem Unsinn. Genug vom Malen. Zieh dich an. Geh nach Hause. Geh, irgendwohin.« Er stellte sich vor eines der hohen Fenster und blickte hinaus in die Straße. Als sie sich angezogen hatte, sagte sie seinen Namen. »Ich gehe jetzt. Morgen wieder um diese Zeit?« Er schüttelte den Kopf. »Morgen nicht. Ich rufe dich an. Ich brauche Veränderung. Urlaub. Ich glaube, ich werde für ein paar Tage verreisen, vielleicht für ein paar Wochen. Ich melde mich, wenn ich wieder zurück bin.« »Habe ich etwas gesagt, was dich verletzt hat, Rafe?« Er wandte sich um und ging auf sie zu, legte einen Arm um ihre Schultern, führte sie zur Tür. »Du hast nichts getan, was mich verletzt hat, das könntest du gar nicht. Ich liebe dich, Cindy. Du bist meine Freundin.« »Und ich liebe dich!« Er küßte sie leicht auf den Mund, schob sie sanft hinaus und verschloß hinter ihr die Tür. An diesem Abend saßen Hettie und Cindy nebeneinander auf der Couch, rauchten Hasch, hörten eine Platte der Mamas and the Papas und sprachen nur gelegentlich miteinander. Cindy fühlte sich gelöst, obwohl sie immer noch mit Sorge an Rafe denken mußte. Sie wiederholte Hettie, worüber sie sich zuletzt unterhalten hatten. »Er scheint so traurig zu sein«, sagte Cindy zum Schluß. Hettie steckte ihre Kippe in eine Spitze, um die letzten Züge machen zu können. »Alle homosexuellen Jungs denken sich in ihren Phantasien aus, wie es wäre, wenn sie verheiratet wären und Kinder machen könnten. Das ist ihr Ego-Trip. Jetzt ist Rafe allein, aber wenn er einen hübschen Jungen findet, wird er wieder ganz der gute alte Rafe sein. Ja, die nächsten Tage wird er das Terrain sondieren und auf der Suche sein. Sobald er fündig geworden ist, wird es ihm wieder besser gehen.«
»Jeder braucht jemanden.« »Du auch, Cindy?« Cindy saugte intensiv an der kleinen Kippe, legte sich zurück und sog tief den Rauch ein. Ein Gefühl der Leichtigkeit nahm Besitz von ihr, alles um sie herum schien zeitlos zu sein, und von den Füßen zog ein leichtes Kribbeln in ihr hoch. Sie fühlte sich weich und warm und liebebedürftig. »O ja«, sagte sie. »Denkst du an jemand besonderen oder an irgendeinen?« »Jeder Mensch braucht einen besonderen Menschen. Hast du gewußt, daß auch Wölfe heiraten?« Ein leichtes Kichern kam über ihre vollen Lippen. »Rafe hat mir erzählt, daß sie zusammenbleiben, nachdem sie sich gepaart haben, bis das Weibchen die Jungen bekommen hat, aber auch danach sorgt das Mannchen für sie, holt die Nahrung und beschützt seine Familie. Ist das nicht wunderbar? Wölfe…« Hettie hatte ihre Position auf der Couch verändert, sie hob sich jetzt hoch zu Cindy und rückte näher heran, sie streckte ihre Arme aus. »Du… mußt… wissen…« Cindy hörte die Worte wie durch einen Nebel. »Wissen? Was mußte sie wissen?« »Was?« murmelte sie. »Von mir. Über mich.« »Was?« »Daß ich dich liebe, Cindy.« »Und ich liebe dich.« »Ich meine, ich liebe dich wirklich.« »Und ich liebe dich.« »Hast du dich noch nie darüber gewundert, daß ich keinen Mann getroffen habe, seit du bei mir bist? Ich bin eine leidenschaftliche Frau, mußt du wissen.« »Mich hat auch keiner mehr angerührt«, murmelte Cindy. »Ich habe keinen mehr an mich herangelassen, seit…« Sie versuchte, sich zu erinnern, aber das fiel ihr zu schwer.
»Ich mag Männer. Es macht auch Spaß mit ihnen. Ich liebe es, wenn sie mit mir Liebe machen.« »O ja, ich auch.« Hettie versuchte, ihren Blick konzentriert auf Cindys Gesicht zu richten. »Ich habe dich beobachtet, Cindy. Im Studio, im Badezimmer, wie du dich bewegst. Du ahnst ja nicht, wie es auf mich wirkt. Du hast einen vollkommenen Körper. Als ob ich nie zuvor einen weiblichen Körper gesehen hätte, als ob alle Teile neu für mich wären.« »Glaubst du, ich sollte schlanker sein? Muß ich abnehmen?« »Ich habe dich beobachtet, während du geschlafen hast. Du hast geschlafen wie ein Kind, dein Gesicht ist ein glattes Oval, es ist wunderschön, und in ein paar Jahren wirst du noch schöner sein. Im Ruhezustand siehst du noch jünger, noch unschuldiger aus.« »Rafe hat gesagt, ich sei unschuldig.« »Manchmal sind die Gefühle so überwältigend, daß ich weinen könnte. Verstehst du mich, mein Liebling?« Cindy betrachtete Hettie mit fernem Interesse, sie sah, wie das Gesicht näher kam, wie es sich herabbeugte. Die Lippen berührten Cindys Wange, ihr Kinn, den Mund. »Bisher«, murmelte Hettie, »war ich mir nicht sicher. Ich wollte dich, o ja. Aber jetzt liebe ich dich, mein Darling, ich liebe dich mit jeder Pore meiner Haut, mit jeder Faser meines Herzens. Und ich will dich mehr, als ich es für möglich gehalten habe.« Cindy hörte die Worte, fügte sie zusammen, versuchte sie zu begreifen. Wieder kicherte sie verlegen. »Es ist komisch, dich so reden zu hören.« »Ich fühle mich ganz heiß und ängstlich, und mein Herz springt wie verrückt. Hier, fühl mal.« Sie nahm Cindys Hand und legte sie auf ihre linke Brust. Langsam, ganz langsam, nahm sie ihre eigene Hand weg. »Sag mir«, hauchte sie heiser, »sag mir, daß du meine Brust magst.«
Cindy blinzelte, als ob sie den Schleier vor ihren Augen wegschieben wollte. Der sanfte Hügel schien in ihrer Hand zu wachsen, und sie spürte, wie der Nippel sich aufrichtete. »Das… das habe ich noch nie getan, ein Mädchen so angefaßt.« »Du magst mich, Cindy, du magst mich wirklich, und ich mag dich. Nur das zählt.« »Ja…« Sie brachte das Wort nur mit Mühe heraus. »Alles andere zählt nicht, die Meinung der anderen, die Konventionen, die Vorschriften und so.« »Ja…« Man konnte es kaum hören. »Die Leute sind schnell mit häßlichen Begriffen bei der Hand, aber wir brauchen keinen Namen dafür. Für uns zählt nur unsere Liebe, unsere reine Liebe. Du bist dir nicht sicher, du bist verängstigt. Das kann ich gut verstehen. Mir geht es genauso. Ich muß erkennen, daß ich dich auf diese Weise liebe. Glaube mir, ich habe dies nie geplant. Als ich erkannte, was ich empfinde, daß ich mich in dich verliebte, habe ich sogar daran gedacht, dich wegzuschicken. Aber das konnte ich nicht tun, meine Liebe, ich brachte es nicht fertig. Ich mußte es dir sagen, dich berühren, dich lieben.« Als Cindy keine Antwort gab, beugte sich Hettie wieder über sie und küßte ihren Hals. Ihre Arme umschlangen ihre Hüften. Cindy hielt sich sehr still, als die andere Frau sie küßte und über ihren Rücken streichelte. Ein leichter Schauer lief über sie, und dann trafen sich ihre Münder. Die Lippen waren trocken, teilten sich in bebender Ungeduld, die Zungen trafen sich, probten, neckten. Cindy erwiderte Kuß für Kuß, Streicheln für Streicheln. Ein Teil ihres Gehirns beobachtete die Szene wie von einem Hochstand aus, unbeteiligt und aus einiger Entfernung. Sie erinnerte sich daran, wie es war, wenn sie ihre eigenen Brüste streichelte, wenn ihre Finger an den Nippeln zupften, und ganz bewußt dachte sie darüber nach, was sie am meisten genoß, welche Berührungen, welche Stellungen, und dann übertrug sie dieses Wissen in ihre Liebkosungen, die sie Hettie zuteil werden ließ.
Zu ihrer eigenen Überraschung spürte Cindy, wie die Lust in ihr stieg, die Lust und die Neugier, wie es weitergehen würde. Sie empfand sich als Beobachterin und als Teilnehmerin, gleichzeitig duldend und aggressiv. Hettie zog sich aus, erhob sich und bückte sich, drehte sich um, beugte sich über Cindy, berührte sie, und dann war sie plötzlich nackt. Cindy hatte sie zuvor schon einmal nackt gesehen, aber nie unter vergleichbaren Umständen, jetzt glühte Hetties Haut, ihre Augen funkelten, ihre Hände griffen zärtlich. Sie half Cindy beim Abstreifen ihrer Kleider. Hettie küßte erst eine Brust und dann die andere, saugte behutsam an den pinkfarbenen Spitzen, was in Cindys Körper etwas in Bewegung setzte; es fühlte sich an, als bildeten sich heiße Kreise in ihrem Bauch, die sich immer weiter ausdehnten. Jetzt wanderte der Mund der älteren Frau an Cindys Körper hinunter, über die sanfte Wölbung des Bauchs hinweg, noch tiefer, die Finger vorweg, als wollten sie das Terrain erkunden, sie spreizten und streichelten, kosten, tasteten vor. Ein Teil von Cindy erinnerte sich zurück, erinnerte sich der Freier, an die BB sie verkauft hatte, diese Männer mit ihren dicken Bäuchen und den feisten Gesichtern und den dicken, diamantenberingten Fingern. Es waren ihre Lippen, die sie jetzt spürte, ihre Finger, die in sie eindrangen, ihre Zungen, die Feuchtigkeit aus ihr heraussaugten. Ja, es war leicht, die Augen zu schließen, ihre Emotionen abzukapseln und sich einzubilden, es wäre einer von denen. Und während sie sich das vorstellte, fragte sie sich, ob sie für Hettie das tun könnte, was Hettie für sie tat, denn sicherlich erwartete Hettie das von ihr. Und während sie noch darüber nachdachte, wartete sie schon darauf, der anderen Frau Vergnügen zu bereiten, ihr die Lust zu geben, die sie selbst jetzt empfand. Sie beugte und bückte sich, tauchte ein und hielt fest, bis da nichts mehr war außer dem heißen Fleisch, das ihr Gesicht umrahmte, außer dem weiblichen Duft und den Lauten der Lust und
der Leidenschaft, dem verzweifelten Verlangen, Befriedigung zu verschaffen. Dann das Bett. Sie lernte schnell, lernte durch Tun. Sie wiederholte alles, was Hettie bei ihr tat, sie wiederholte jedes Wort, das Hettie raunte, flüsterte, schrie. Manchmal war sie unglaublich zärtlich, dann unvorstellbar roh, und beides war richtig und gut, sie wurden eins, lagen Brust an Brust, Bauch an Bauch, Schenkel an Schenkel, und dann eruptierten sie in kreischenden Zuckungen, die sich nur allmählich beruhigten. Zu viel. Und nicht genug. Sie schliefen und wachten auf und liebten sich wieder, schliefen in den folgenden Tag hinein. Fünf Tage lang blieben sie im Studio, sie sahen niemanden, sie sprachen mit niemandem, gingen nicht ans Telefon, behielten sich nur füreinander. Und schließlich versicherten sie sich, daß sie das Nirwana gefunden hatten, sie hatten die Wahrheit entdeckt, und so würde es für immer bleiben.
8
Rafe lächelte dieses sich langsam ausbreitende Lächeln und schaute auf Cindy hinab. »Du und Hettie, wie lange geht das schon mit euch?« Cindy schaute ihn abwehrend an. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« »Ihr seid ein Liebespaar«, sagte er ihr auf den Kopf zu. »Ich sah es in dem Moment, als ich Hetties Studio betrat, um dich zu mir einzuladen. Es steht in deinem Gesicht, in deinem zurückhaltenden Blick, und man sieht es an Hetties sattem Ausdruck. Ja, ich weiß es.« Sie befanden sich in Rafes kleinem Schlafzimmer, man konnte von den übrigen Gästen nur das übliche Partygemurmel hören. Sie wollte protestieren, leugnen, aber sie gab rasch auf. »O Rafe! Ich will so gern mit jemandem darüber reden. Ich bin so verwirrt, ich schäme mich, fühle mich schuldig und schlecht, aber gleichzeitig fühle ich mich auch wahnsinnig glücklich.« »Es gibt keinen Grund, sich zu schämen.« »Findest du das denn gut?« Der volle Mund hob sich, dann sagte er: »Ich bin kaum in der Lage, etwas gegen Homosexualität zu sagen.« Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Sie hatte bisher vermieden, das Wort zu sagen oder auch nur zu denken. »Ich bin nicht lesbisch«, sagte sie. Er tätschelte ihr beruhigend die Wange. »Mach keine große Sache daraus«, riet er. »Du und Hettie, nun, das geht auch vorüber. Genieß es, solange es dauert.« Die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. Sie lachte, froh und beschwingt. »Ich genieße es. Wir haben eine schöne Zeit miteinander. Wir besuchen Hetties Freunde, unternehmen lange Spaziergänge in den Parks, gehen zum Zoo. Ich liebe Tiere, Rafe.«
»Und jetzt bist du hier. Ich hatte schon gedacht, Hettie würde dich nicht gern zur Party gehen lassen.« Cindy zögerte, bevor sie antwortete. »Das hat sie auch nicht gern gesehen«, gab sie zu, und dabei empfand sie ein Gefühl der Illoyalität. »Sie sagte, es sei nur ein Versuch, Geld füf politische Ziele zu sammeln. Hettie findet, daß jede organisierte Politik schlecht ist, ausschließlich darauf ausgerichtet, das Volk zu betrügen.« »Kann sein, daß sie sogar recht hat. Der Gedanke, der hinter unserer Aktion steckt, ist der, Geld für einige Leute in Chicago aufzubringen. Zum Parteitag der Demokraten. Es geht darum, gegen den verdammten Krieg zu protestieren. Die Demokraten sollen wissen, daß viele von uns sehr unglücklich sind über die Richtung, in die die guten alten USA marschieren.« »Ich hatte keine Ahnung, daß du so politisch bist.« »Bin ich eigentlich auch nicht. Ich habe nur mein Studio zur Verfügung gestellt.« Er beugte sich über sie und küßte sie auf die Wange. »Ich wollte nur ein paar Minuten mit dir allein sein. Eines Tages werden wir in der Lage sein, lange Zeit miteinander zu verbringen – wie richtige Freunde.« Impulsiv nahm sie seine Hand. »Oh, wir sind doch richtige Freunde, Rafe.« »Verlaß dich drauf. Aber jetzt müssen wir zurück zur Party. Ich kaufe dir einen Drink, und danach kannst du machen, was du willst.« Im Studio hielten sich mehr als fünfzig Leute auf. Sie wanderten herum, redeten und tranken, gaben sich engagiert. Nachdem Rafe ihr einen Drink gebracht hatte, schlenderte Cindy zum hinteren Ende des Studios, wo Rafes Bilder an der Wand hingen. Es war das erste Mal, daß sie einige seiner Bilder zu Gesicht bekam. Sie schloß den Lärm der Party aus ihrem Kopf aus und konzentrierte sich auf die ungerahmten Leinwände. Ein kleines Landschaftsbild zog sie an. Es war heller und leuchtender als die anderen, man hätte es realistisch nennen können, es war aber von allem Überflüssigem befreit, ein sanftes Ineinanderübergehen
von Feld und Fels und Himmel. Dazu nur ein einziger blattloser Eichenbaum. »Das gefällt dir, was!« Es war weniger als Frage gemeint, eher eine Herausforderung. Sie antwortete, ohne sich umzudrehen. »Mir gefällt es.« »Das ist irrelevant.« Die Stimme an ihrer Schulter klang harsch und beinahe wütend. Sie drehte sich um und sah einen Mann vor sich stehen, der nur ein paar Jahre älter war als sie selbst. Sein Blick traf ihren. Sie sah in die großen, sanften Augen, und es waren die schönsten braunen Augen, die sie je gesehen hatte, die Augen eines friedvollen, geduldigen Menschen. Nur an der Art, wie er seine Schultern eingezogen hatte, erkannte Cindy, daß der Mann unsicher und verspannt war. Er fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel. Er sah gut aus, stellte Cindy fest, unglaublich gut. »Warum irrelevant?« fragte sie. Er schnaufte. »Sieh doch hin!« sagte er und berührte ihre Schultern. »Warum hat er denn keine Fotografie gemacht? Ich vermisse die Strömung im Bild, den persönlichen Ausdruck. Nein, dieses Bild sagt Menschen wir dir und mir nichts.« Sie erwiderte langsam: »Mir gefällt es. Ich meine, es behagt meinem Auge.« »Himmel, du redest wie eine von diesen Matronen in den Wechseljahren. Lauter Phrasen, nichts dahinter. Dabei bist du doch ein Küken. Oh, du mußt noch eine Menge lernen.« »Von dir?« »Von mir kannst du noch eine Menge lernen. Auf allen Gebieten.« Das sollte wohl eine sexuelle Andeutung sein, sagte sie sich. »Okay, bring mir was über Kunst bei.« »Scheiß auf die Kunst. Leute wie dieser Giacomin haben einfach keine Ahnung.« »Und wer hat Ahnung?« fragte sie leise. Die Intensität des jungen Mannes verwirrte sie, die Art, wie er jedes Wort mit Inbrunst
ausstieß, und seine satte Arroganz nahm sie gegen ihn ein. Auf der anderen Seite fühlte sie sich berührt von seiner leidenschaftlichen Hingabe. Sie wollte ihn besser kennenlernen. »Die Straße weiß mehr über Kunst als diese ganzen Typen«, sagte er, und jedes Wort hörte sich wie ein Peitschenschlag an. »Aber Rafe stellt seine Räume zur Verfügung, und diese Typen sammeln Geld für…« »Scheiße! Das tun sie doch nur, um ihr liberales Gewissen zu besänftigen. Dann können sie sagen: Wir haben Geld für ein paar Revoluzzer gesammelt, damit die nach Chicago gehen und den Demokraten Feuer unterm Arsch machen können, ist das nicht wunderbar? Verstehst du, Baby, so läuft das.« »Aber sie tun wenigstens was. Und Rafe ist ein wunderbarer Mensch.« »Du hast keinen Schimmer.« Sie starrte ihn an. »Und ich glaube nicht, daß du mir was beibringen kannst.« Das Harsche wich aus seinem Gesicht, wurde von einem leisen Lächeln abgelöst, und sie konnte nicht anders, als zurückzulächeln. »Du bist zäher, als du aussiehst«, sagte er. »Das ist gut.« »Danke.« »Ich heiße Dan Gregory.« »Cindy Ashe.« Sie mied seine Augen. »Du könntest einen Haarschnitt vertragen.« »Ach? Bist du einer von diesen Spießern?« »Vielleicht bin ich eine von denen.« »Ich sah dich mit Hettie Johns kommen. Dann kannst du alles andere als eine Spießerin sein.« Sie errötete und wandte sich wieder den Bildern zu. »He, ich wollte damit nicht sagen, daß ich dich für eine Lesbe halte.« Ein Schwall von Ekel kam in ihr hoch und sackte wieder ab. »Laß mich in Ruhe«, sagte sie. »Also, jetzt reagierst du aber seltsam.« »Geh weg, bitte.«
Er stieß einen leisen Fluch aus und ging. Als sie noch mit BB zusammen war, hatte sich Cindy oft vorgestellt, daß sie einen ihrer Freier zufällig auf einer Party träfe, und wie peinlich diese Situation sein müßte. Als Hure entlarvt. Dies hier war viel peinlicher. Sie erkannte, daß sie nicht so liberal war, wie sie gern gewesen wäre. Sie wandte sich wieder der Party zu, verunsichert und steif, verängstigt, daß jeder von ihr und Hettie wußte und sie mit dem Begriff belegte, den die Gesellschaft für solche Frauen hatte. Sie drängte sich zur Bar durch, nahm einen weiteren Drink und suchte nach Hettie. Die Bildhauerin hatte sich in eine hitzige Diskussion mit einem Kunstkritiker eingelassen. Cindy wollte nicht stören. Sie trank und wartete darauf, daß Hettie sie mit nach Hause nahm. Hettie arbeitete schon, als Cindy am nächsten Morgen aufwachte. »Der Kaffee ist fertig«, murmelte Hettie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Cindy füllte eine der großen Tassen mit der starken schwarzen Flüssigkeit und kuschelte sich auf die Couch, und die Wärme, die sich in ihr ausbreitete, vertrieb den letzten Rest von Schläfrigkeit aus ihren Gedanken. Sie dachte an die Party gestern abend und wie sehr es ihr gefallen hatte, unter anderen Menschen zu sein. Sie liebte Hettie, ihre Gesellschaft gab ihr viel, aber sie war nicht genug. Sie mußte andere Stimmen hören, andere Gesichter sehen, anderen Ansichten lauschen, über neue Witze lachen, und sie mußte flirten können… Männer. Sie mochte Männer, sie genoß ihre Gesellschaft, ihre Stimmen, so stimulierend, so maskulin. Und die Art, wie sie dich ansahen. Durchdringend, abschätzend, bewundernd. Und wie sie aussahen. Hart und kantig, schwer, drahtig, behaart. Sie schaute durch Zimmer hinüber zu Hettie. Von hinten, in Jeans und einem karierten Hemd, nur die breiten Schultern und die dünnen Schenkel im Blickfeld, hätte sie auch ein Junge sein
können, der mit seinen kräftigen Händen einen noch unförmigen Klumpen aus Ton formte. War das der Grund, warum sie bei Hettie war? fragte sich Cindy. War Hettie nur ein Ersatzliebhaber, eine vorübergehende Affäre, wie Rafe es gesagt hatte, ein Zwischenspiel, das ihr Gelegenheit bot, ihr Selbstvertrauen zu stärken, ihr Gefühl für die eigene Weiblichkeit zu entwickeln? »Es war eine gute Party«, zwang sie sich zu sagen, weil sie mit Hettie ins Gespräch kommen wollte. »Politik langweilt mich.« »Ich dachte, du interessierst dich für Politik.« »Du irrst dich eben.« Cindy fühlte sich unbehaglich. Sie hatte gestern abend schon die Spannung zwischen ihnen gespürt, aber sie hatte sie auf zuviel Scotch zurückgeführt. Sie waren eingeschlafen, ohne sich zu berühren, ohne den üblichen Gutenachtkuß. Hettie drehte sich von ihrer Arbeit herum und wischte sich die Hände an einem schmutzigen Tuch ab. »Ich habe gesehen, wie du dich mit Dan Gregory unterhalten hast.« »Er kann sehr nervend sein.« »Ich mag ihn nicht«, erklärte Hettie. »Viel heiße Luft. Du solltest dich von ihm fernhalten. Sie haben ihn aus Columbia gefeuert, und er…« Cindy sah Dan Gregory vor sich, die sanften braunen Augen, die leidenschaftlich herausgestoßenen Sätze. Er hatte etwas, was ihr fehlte, eine Mission, die er engagiert vertrat. Seine Arroganz, fand sie, war nur ein beschützender Mantel, um seine Ängste zu verdecken. »Hast du dich mit ihm verabredet?« »Was?« »Ich habe gefragt«, sagte Hettie scharf, »ob du dich mit Dan Gregory verabredet hast.« »Natürlich nicht.« »Erzähl mir nicht, daß er es nicht versucht hat. Er steht in diesem Ruf. Du darfst nicht mit ihm ausgehen.«
Cindy nippte an ihrem Kaffee. Er war kalt geworden. Es gefiel ihr nicht, von Hettie kommandiert zu werden, es erinnerte sie an Maggies Befehlston. Hettie war doch nicht ihre Mutter! Sie wollte etwas sagen, ihre Unabhängigkeit herausstreichen, aber sie schwieg. Schuldgefühle stiegen auf, sie war Hettie etwas schuldig. Ohne sie würde sie noch bei Maggie und Bob wohnen, gefangen in einem Leben, in dem es keine Hoffnung für sie gab, keine Freiheit. Hettie hatte ihr die Chance gegeben, eine andere Welt kennenzulernen, andere Menschen. Cindy erinnerte sich daran, daß ein tiefes Band zwischen ihr und der schlanken Frau bestand, eine tiefe Zuneigung. Hetties Einwände gegen Dan Gregory waren verständlich. Cindy lächelte vor sich hin. Sie war froh, daß Hettie eifersüchtig war, es zeigte, wie sehr die andere Frau sie mochte. »Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein«, sagte sie. »Eifersüchtig! Auf Dan Gregory! Das ist nicht einmal komisch!« Cindy stand auf. »Wohin willst du?« Cindy biß sich auf die Unterlippe. »Ich will duschen.« »Versprich mit, daß du diesen Bastard nicht wiedersiehst!« rief Hettie ihr nach. Cindy gab keine Antwort. Sie stellte abwechselnd heißes und kaltes Wasser ein. Der heiße Sprühregen auf ihre Brüste regte eine kribbelnde Sinnlichkeit in ihr an, und sie hob das Gesicht den Strahlen entgegen, bis sie es nicht mehr aushalten konnte. Dann drehte sie kalt auf, und obwohl sie darauf vorbereitet war, trafen sie die eisigen Spritzer so unvermittelt, daß ihr beinahe die Luft wegblieb. Sie drehte sich herum, ließ das Wasser auf den Rücken prasseln, tief in die Kerbe zwischen den festen Backen. Dann wieder auf den flachen Bauch. Sie spürte einen Luftzug, und der Duschvorhang bauschte sich auf. Hettie war ins Badezimmer gekommen. Cindy seufzte und begann, sich einzuseifen. »Es tut mir leid«, sagte Hettie.
»Es braucht dir nicht leid zu tun.« »Ich bin eifersüchtig, Liebling. Ich gebe es zu.« Cindy schloß die Augen und sah Dan Gregory vor sich. Ein arrogantes Grinsen huschte um den sinnlichen Mund. Ihre Haut prickelte und wurde unter dem Waschlappen lebendig. Sie ließ den Schaum von den Wasserstrahlen absprühen. »Du hast keinen Grund dazu.« »Du bist noch so jung, du verstehst Männer wie diesen Dan Gregory nicht. Er hat versucht, mich ins Bett zu bekommen.« »Du bist eine schöne Frau, Hettie.« Cindy stieg aus der Duschwanne, und Hettie hielt ihr ein Badetuch hin. »Dan Gregory«, sagte Hettie, die Stimme voller Abscheu. »Immer bereit, die Welt aus den Angeln zu heben. Aber nur mit Worten. Sie reden und reden, diese Typen. Ich kenne sie. Mein Vater gehörte zu ihnen, ein alter Kommunist, der immer nur von Revolution träumte. Weißt du, warum mich Politik langweilt? Weil jeder sich so anhört wie mein Vater. Es ist dieselbe Intensität, dieselbe Sprache. Sie ziehen sich sogar alle so an. Wollhemden und Kordhosen. Nichts als lebende Klischees. Wie wollen sie in einem Land eine Revolution machen, in dem es der Arbeiterklasse so gut geht, daß sie es sich so verdammt bequem gemacht hat? Die Gewerkschaften sind konservativer als die Konzerne, ihre Führer sitzen auf ihren dicken Ärschen, satt und zufrieden. Wenn die Studenten ein bißchen rebellisch werden und die Schwarzen aufmüpfen, sind es die Gewerkschaften, die Köpfe einschlagen. Nein, Cindy, hör auf mich, laß dich darauf nicht ein. Das ist nichts für dich. Natürlich gibt es Menschen, denen es nicht so gut geht, aber du hast nichts damit zu tun und ich auch nicht. Wir sind nicht verantwortlich, und wir können das Elend nicht abschaffen. Jeder spricht davon, sich nur um sich selbst zu kümmern. Laß dich von so einem Falschspieler wie diesem Dan Gregory nicht aufhetzen.« Und dann trat Hettie näher an Cindy heran, sie ging in die Hocke und rieb sich ihre Wange sanft an Cindys Bauch. Ihre
Arme umfaßten Cindys Hüften. »Bitte, Baby, ich brauche dich so sehr.« Cindy hatte Mühe zu sprechen. Die unerwartete Berührung war erregend, lustvoll und gleichzeitig auch beängstigend. Sie wollte nicht. Nicht jetzt. Ihre Gedanken rasten, überschlugen sich vor Fragen und Zweifeln und Ängsten. Sie wollte sich selbst erforschen, sie wollte Antworten finden. Sie wollte allein sein. »Bitte, Hettie.« Die andere Frau ließ sie los und stand auf. »Entschuldige«, sagte sie. »Ich bin heute morgen ein wenig durcheinander. Während du dich hier fertig machst, bereite ich dir ein Frühstück vor.« »Nein, danke.« Dann, mit einem gequälten Lächeln: »Ich möchte an die frische Luft.« »Ja, eine gute Idee. Ich komme mit.« »Hettie, ich möchte allein sein. Bitte.« »Oh«, sagte Hettie. »Ja, natürlich.«
9
Es war ein schöner Tag. Die Julisonne warm, aber nicht brennend, die Luft klar und frisch. Cindy wanderte ziellos umher, schaute in die Schaufenster, in die Gesichter der Passanten, hörte in die Gespräche von Fremden hinein. Sie ging zu Altman’s und probierte Kleider an, ohne die Absicht zum Kauf zu haben; dann wiederholte sie diesen Vorgang bei Macy’s. Als sie Hunger bekam, steuerte sie einen Straßenverkaufsstand an, ließ sich zwei Frankfurter und eine Cola geben. Danach fuhr sie mit einem Bus zurück in die Downtown. Sie ging in einen Zigarettenladen, kaufte zwei Schokoriegel und freute sich an dem knirschenden Geräusch, das die Riegel unter ihren Zähnen verursachten. Sie blätterte in einem Telefonbuch von Manhattan und ließ sich von der Dicke und der immensen Anzahl von Namen beeindrucken. Mit dem Zeigefinger ging sie das Alphabet durch, dann blieb sie auf einer Seite hängen, der Zeigefinger hielt an bei Gregory, Daniel. Adresse und Telefonnummer. Sie wählte und legte rasch auf, bevor der erste Ton abging. Zurück auf die Straße. Es war eine Adresse an der Sechsten Avenue, unterhalb der Houston Street, also ganz gut zu Fuß zu erreichen. Unentschlossen schlug sie diese Richtung ein. Dan Gregory wohnte in einem alten Mietshaus, rußverdreckt und rissig von zu vielen Jahren. Im Flur stank es nach Urin und anderen, weniger deutlichen Gerüchen. Cindy stieg die Treppe bis zum dritten Stockwerk hoch, fand Apartment drei und klopfte mit mehr Selbstvertrauen, als sie fühlte. Die Tür schwang auf, und Dan Gregory stand da, barfuß, die Hemdschöße aus der Hose. Er starrte sie einen langen Moment an, bevor ein breites, freundliches Lächeln sein Gesicht aufleuchten ließ.
»Hallo…« »Ich war in der Nähe und…« Er führte sie in einen langen Korridor hinein, an einer ganzen Anzahl kleiner Räume vorbei, in denen nur Matratzen auf dem Boden lagen, bis sie das Wohnzimmer erreichten. Dort standen zwei Korbsessel, eine Matratze, über die eine indianische Decke geworfen worden war, und ein paar orangefarbene Kasten. »Eine Bleibe der Heilsarmee«, sagte er. »Ich habe einen Achtundneunzig-Cent-Tafelwein irgendwo stehen, wenn ich ein Glas finden kann…« »Nein, danke.« »Ich habe gutes grass. Willst du high werden?« »Nein.« Er lachte und trat einen Schritt auf sie zu, faßte sie an den Schultern an. Er drückte seinen Mund auf ihre Lippen, und dann drang seine Zunge in ihren Mund ein. Sie drehte sich von ihm weg. »Stell dich nicht so an. Deshalb bist du doch gekommen, oder?« »Bitte…« Er trat beiseite und sah sie prüfend an. »Das verstehe ich nicht. Warum bist du hier, wenn nicht deshalb? Welches Spiel schwebt dir denn vor?« »Kein Spiel. Ich wollte dich sehen, das ist alles. Ein wenig reden vielleicht. Ich will nicht angegrabscht werden. Ich bin… nun ja, ich bin ein menschliches Wesen. All dein Gerede über eine bessere Welt, und dann behandelst du mich wie eine Art Besitz, als ob ich nur ein Gefäß wäre, in dem du dich abreagieren kannst.« »Okay, okay. Setz dich, dann können wir klönen.« Er setzte sich auf den Boden und legte die Füße übereinander. »Setz dich doch. Ich fasse dich nicht an.« Sie lehnte sich in einem der Korbsessel zurück und betrachtete ihn nachdenklich. »Spielst du Schach?« »Ah, deshalb bist du gekommen. Um einen Schachpartner zu finden.«
Sie lachte zu laut. »Das fiel mir nur gerade so ein. Ich meine, Schach ist nicht zum Spaß da, man trägt einen ernsthaften Konflikt aus. Das Gewinnen wird zum wichtigsten, wie in einem Krieg oder in einem Streit. Deshalb verführt das Schachspiel dazu, seine Überlegenheit zu demonstrieren.« Seine Augenbrauen hoben und senkten sich. »Gewinnen ist auf allen Gebieten wichtig«, sagte er leise. »Für viele Menschen ist das ganze Leben ein Krieg, und wenn sie nicht gewinnen, kostet es sie eine Menge.« Sie antwortete nicht direkt und saß eine Weile still da, bis sie sagte: »Hettie findet, daß du nicht ernsthaft genug bist, daß Leute wie du viel über eine Veränderung reden, aber nichts dafür tun.« Seine Stirn teilte sich in kleine Furchen auf. »Manchmal glaube ich das auch. Als ob wir einen Privatstrauß ausfechten, dem wir einen hochtrabenden Namen gegeben haben, Revolution.« »Und was ist es wirklich?« Er hob die Schultern. »Für manche von uns ist es nicht mehr als irgendeine Beschäftigung. Die Jungs machen mit, weil es gerade ›in‹ ist und weil die Girls darauf abfahren. Wegen der Befreiung und so.« Er langte nach ihrem Bein. Sie klopfte ihm auf die Hand und schob sie weg. »Erzähl mir von der Revolution«, sagte sie. »Es gibt Leute, die glauben, daß wir schon mittendrin sind. Aber das glaube ich nicht. Mir kommt es eher so vor, als wollten sich einige Revolutionäre profilieren.« »Wie können die anderen glauben, daß wir schon mitten in der Revolution sind?« »Nun, eine Revolution bedeutet Machtwechsel. Man nimmt der einen Gruppe die Macht und gibt sie einer anderen Gruppe. Aber das ist etwas, was ich mir gar nicht wünsche.« »Was dann?« »Mir geht es um ein anderes Lebensgefühl, verstehst du?« Sie dachte darüber nach, aber es fiel ihr nichts dazu ein. Sie würde später nachfragen. »Du hast gesagt, daß du nach Chicago gehen willst. Wozu?«
»Wozu?« Das klang wie ein Peitschenschlag. »Um es diesem Kerl zu zeigen. Um ihm seine lebensverleugnende Politik in den Rachen zu stecken. Um ihm zu sagen, daß wir seine imperialistischen Grausamkeiten draußen und seinen rassistischen Kolonialismus im Inneren satt haben.« Er beugte sich vor, das Gesicht eine kalte Maske, die sonst so sanften braunen Augen waren hart. »Wir wissen, was wir zu erwarten haben. Das Schlimmste. Man hat uns schon Warnungen zukommen lassen, aber wir sind vorbereitet. Die Bullen bewaffnen sich bis an die Zähne, und dieser faschistische Bürgermeister will die Nationalgarde einsetzen.« Seine Zähne knirschten. »Ich bin sicher, daß einige Köpfe eingeschlagen werden.« Ein kalter Schauer lief über Cindys Rücken. »Und warum gehst du dann hin?« »Was ist denn mit dir los? Ich gehe hin, weil da die action ist. Diese Bastarde jagen mir doch keine Angst ein. Wir gehen hin, und für jeden Kopf, den die Bullen einschlagen, radikalisieren wir hundert Jugendliche. Wir werden gewinnen, wir werden dieses abgefuckte Establishment zerschlagen, wir werden die verrottete Sippschaft und den ganzen Dreck ausmerzen, damit wir alle wieder ein menschliches Leben führen können. Chicago, das wird eine Wucht, sage ich dir.« Er richtete den Oberkörper auf und atmete tief ein. »Komm mit uns.« »Was könnte ich schon tun?« fragte sie und kämpfte gegen das Gefühl an, das seine körperliche Nähe in ihr auslöste. »Ich bin ein Mädchen.« Er legte eine Hand auf ihren Fuß, die Finger schlossen sich sanft darum. Sie wehrte sich nicht dagegen. »Mädchen sind für die Bewegung wichtig. Die Bullen schlagen nicht so schnell auf Mädchen ein. Einige der heißesten Revolutionäre waren Frauen.« Als sie nichts erwiderte, lehnte er sich vor und küßte sie auf die nackten Knie. Sie schüttelte sich und zwang sich aufzustehen. »Ganz egal, was du sagst, es endet alles damit. Bumsen.«
»Was hast du gegen Bumsen?« fragte er und kam auf seine Füße. »Angenommen, ich gehe nach Chicago. Erwartest du, daß ich dann mit dir schlafe?« »Für wen hältst du mich?« »Ich bin nicht sicher. Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.« »Du kannst tun und lassen, was du willst.« Sie sah ihn grübelnd an, drehte sich schließlich um und trat hinaus in den Flur. Er lief hinter ihr her. »Warte eine Minute, verdammt!« Sie drehte sich an der Wohnungstür noch einmal um. »Wir werden viele sein, und natürlich werden wir alle nebeneinander schlafen, in Parks und unter Brücken oder so.« Sie lächelte. »Aber es ist nicht die Bedingung, daß ich mit dir schlafe?« »Nein, wenn du nicht unbedingt willst.« Er hielt die Hände hoch. »Himmel, was für eine dumme Ziege!« »Wenn ich entschieden habe, was ich tun will, lasse ich es dich wissen.« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuß auf die Wange, bevor sie ging. »Aber warum?« rief Hettie schrill. »Es ist verrückt. Es wird gefährlich, es gibt Blutvergießen, und alles für nichts und wieder nichts. Wenn du mit Dan Gregory schlafen willst, dann tu’s, damit du es endlich aus deinem Kopf kriegst oder wo es auch sitzen mag. Aber lauf nicht weg. Es ist so sinnlos!« »Hettie, ich möchte gehen. Es hat nichts mit Dan oder sonst jemandem zu tun. Ich will gehen, weil ich glaube, daß es eine wichtige Erfahrung in meinem Leben sein kann.« »Du liebst mich! Wenn du mich liebst, wie kannst du mich auf diese Weise im Stich lassen?« »Du mußt über mich Bescheid gewußt haben. Du mußt immer gewußt haben, daß dies eine…« – sie erinnerte sich an Rafes
Ausdruck – »eine vorübergehende Affäre war. Ein Experiment. Ich muß gehen.« Die Luft wog schwer, als Cindy ihre Sachen packte. Sie redete nicht viel, der Abschied machte sie traurig. Aber sie empfand auch Erleichterung, und sie wußte, daß Hettie zwar in diesen Tagen eine große Rolle in ihrem Leben gespielt hatte, daß sie aber bald nur noch eine vage Erinnerung sein würde. Sie fuhr mit der U-Bahn in die Stadt. Ihr Stiefvater hielt sich allein in der Stadtwohnung auf, er saß in dem tiefen Velourssessel bei einer Zigarre, einem Glas Sherry und dem Wall Street Journal. Bob stand auf und begrüßte sie und fand die richtigen Willkommensworte, sagte, wie gut sie aussah. »Deine Mutter ist im Augenblick nicht hier, fürchte ich«, fuhr er fort. »Eine ihrer Wohltätigkeitsverpflichtungen, nehme ich an. Diese Frau hat eine unerschöpfliche Energie, hat immer den Vorwärtsgang eingelegt. Sie wäre ein glänzender Geschäftsmann geworden!« Cindy stimmte zu und wollte in ihr Zimmer gehen. »Da waren ein paar Anrufe für dich. Vier oder fünf, alle vom selben jungen Mann. David Altman.« Sie rümpfte die Nase. Bob lachte. »Ich schätze, er steht auf deiner Liste nicht ganz oben.« »Er ist ein Spießer. Todlangweilig.« »Er hat gebeten, daß du ihn zurückrufst.« David Altman war niemand, der mit Dan Gregory mithalten konnte. Er war nicht so vital, nicht so tollkühn. David würde nie gewagte Dinge tun, er befand sich schon zu tief auf seinem EgoTrip. Es gab keinen Grund, warum sie ihn zurückrufen sollte. »Ich gehe weg«, sagte sie. »Nach Chicago.« Bob versank wieder im Velourssessel. »Schön«, sagte er. »In Chicago ist es mir immer gut gegangen. Du solltest im Blackstone wohnen, das beste Hotel überhaupt. Ich werde dir ein paar Telefonnummern von Freunden geben. Du mußt sie anrufen. Sie werden dich königlich bewirten.«
»Ich werde dafür keine Zeit haben.« »Ach so.« Er lächelte sie wissend an. »Aber ein bißchen Geld wirst du sicherlich gebrauchen können, was? Reichen ein paar hundert?« Sie mußte gegen den Impuls ankämpfen, das Geld abzulehnen, nahm das Geld und dankte ihm. »Ich rufe Maggie an, wenn ich zurückkomme.« »Ich richte es ihr aus. Paß gut auf dich auf und melde dich bei mir, wenn du mehr Geld brauchst, Cindy.« Sie dankte ihm noch einmal, bevor sie die Wohnung verließ, aber er war so sehr in die Zeitung vertieft, daß er es nicht hörte.
10
Chicago, Chicago, a wonderful town, a wonderful town… Sie liegt am westlichen Ufer des Michigan-Sees, breit und schwer und mit einem derben Panorama, die Hauptstadt des mittleren Amerikas. Eine prahlerische Stadt, der alten ländlichen Art verhaftet, mißtrauisch gegenüber allem, was aus dem Osten kommt oder anders ist als seine eingefahrenen Gewohnheiten. Die Stadt ist stolz auf ihre Parks und die herrlichen Autostraßen, auf ihre Museen. Sie ist das Zentrum des Versandhandels, und sie hält fest an ihrer leicht anrüchigen Geschichte, in der es mehr Märchen als Fakten gibt. Sie entstand vor dem achtzehnten Jahrhundert als französischer Handelsposten, und der Handel blieb ihr im Blut, er ist Seele und Geist der Stadt. Ein großartiger Ort für Messen und Ausstellungen, eine Stadt mit jedem erdenklichen käuflichen Vergnügen. Chicago, das ist auch eine düstere Ansammlung von Holzfassadenhäusern, die man in endlosen Reihen dicht nebeneinander aufgestellt hat, das sind gotische Kirchtürme und schöne Brükken über dem gleichnamigen Fluß. Und die Front prachtvoller Hotels und billiger Absteigen, uralter Varietetheater. Das sind die anachronistische Hochbahn, die Mafia, deren Macht in jede öffentliche Institution greift, und die Fabriken und Kaufhäuser, der Playboy und eine wunderbare Universität. Chicago riecht nach gekauftem Sex und Muskeln. Da sind die Schlachthöfe mit ihrem entsetzlichen Gestank aus Blut und Gedärm, der von den Winden hinausgetragen wird nach Gary und Cicero. Chicago, wo die Sommerwinde nach Gier und Begierde riechen, angereichert von Gewerkschaftskorruption und Konzernprofiten…
Da kamen sie nun, Cindy Ashe, Dan Gregory und eine ungezählte Armee junger Menschen. Sie folgten den Aufrufen der ›Studenten für eine Demokratische Gesellschaft‹ oder der ›Sozialistischen Arbeiter‹ oder der ›Jugend für ein Neues Amerika‹. Einige waren Hippies und andere Yippies, und viele gehörten gar keiner Gruppe an und ließen sich auch kein Etikett anhängen außer dem, jung und besorgt zu sein, entschlossen, einen Standpunkt zu beziehen und ihre Unzufriedenheit kundzutun. Und einige kamen auch nur, weil sie etwas erleben wollten. Geplant war, daß Tausende im Lincoln Park zelten würden, sie sollten dort schlafen und miteinander reden auf dem Rasen, unter den Bäumen und unter den Sternen. Die Stadt in ihrer Weisheit verbot dies. Andere hatten konventionellere Schlafgelegenheiten arrangiert. Charlie Temple, der ein Jahr lang auf der Columbia gewesen war, ein Mitglied der SDS an dieser Universität, wohnte jetzt in Chicago, in Old Town. Dan und Cindy begaben sich sofort zu seiner Wohnung, als sie am zentralen Busbahnhof eingetroffen waren, um sicher zu sein, daß Charlie noch Platz für sie hatte. »Eine Matratze im vorderen Schlafzimmer«, erklärte er und musterte Cindy mit Wohlgefallen. »Das ist es, Kinder. Diese Behausung wird für die nächsten Tage euer Notquartier sein. Mehr kann ich euch leider nicht bieten.« »Das ist mehr als genug«, sagte Dan. »Und was passiert als nächstes, Charlie? Wann geht’s los?« »Ich und Nadine«, sagte Charlie und deutete auf ein sanftes dunkelhäutiges Mädchen, das ein immerwährendes Lächeln aufgesetzt hatte, »machen uns jetzt auf den Weg in den Lincoln Park, damit wir in Stimmung kommen. Warum geht ihr nicht mit?« »Alles klar«, sagte Dan. Cindy spürte ein steigendes Gefühl der Erwartung in sich, als sie in Richtung Park gingen. Überall sah man junge Leute, und die Luft vibrierte von der Musik und der guten Laune, die überall verbreitet wurde, angekurbelt von dem Wissen, etwas Gutes,
Richtiges zu tun. Cindy schritt schneller. Sie war froh, daß sie sich Dan angeschlossen hatte. Der Lincoln Park erstreckt sich zwischen Old Town und dem Lake Shore Drive, der Uferstraße. An diesem Tag hatten die Pedaltreter ihr Rad zu Hause gelassen. Der Park gehörte denen, die zu einem Festival des Lebens zusammengefunden hatten, um die Delegierten des Demokratischen Parteitags zu beeindrucken. Und sie alle waren fröhlich und freundlich an diesem schönen Sommertag. Im Park wanderten die Leute ziellos herum oder fanden sich zu kleinen Gruppen oder lauschten den Sängern und Gitarrespielern; sie unterhielten sich oder legten sich einfach nur in die Sonne. Eine Gruppe, größer als die anderen, scharte sich um einen Mann in fransenbehangener Hose und einem bestickten Kosakenhemd. Wenn er den Kopf bewegte, flog sein Haar in einer Aureole aus goldenen Locken. Er sprach mit angenehmer Stimme auf eine ruhige Art, ein schwaches Lächeln um die vollen Lippen. »Man hat uns eine gute Frage gestellt. Was wollen wir eigentlich? Die Antwort ist einfach – das Unmögliche. Sie, das Establishment, sie mögen uns überhaupt nicht. Sie nennen uns Wilde oder Verrückte. Sie leben nach ihren materiellen Werten, sie verfolgen ihre Ziele. Wir leben nur unseren Gefühlen. Reißt die ganze Stadt ein, das ganze Land. Es gibt keine Hoffnung hier, nirgendwo. Reißt alles ab…« »Worüber spricht er?« fragte Cindy. »Das ist Telly Webster«, antwortete Charlie fröhlich. »Er ist großartig, und ihm ist alles zuzutrauen. Er war beim Überfall auf die Börse dabei und beim Sitzstreik im Polizeihauptquartier in Cleveland. Telly sagt, alles um uns herum entspringt dem Versagen, all die glänzenden Autos und die Fernsehgeräte. Die vergangene Generation hat der neuen nichts zu bieten, also soll sie weg.« Cindy legte die Stirn in Falten. »Geht es nicht darum, das Land zu reformieren?«
Charlie lachte. »Was ist das für eine Maus, Dan? So ‘n liberales Weibchen?« Er wandte sich wieder an Cindy. »Jede Reform verschleppt nur die Revolution. Wir wollen die Revolution sofort, komplett und total.« »Und dann?« »Und dann?« Charlie stieß einen Fluch aus. »Das ist eine dumme Frage, völlig irrelevant.« »Ich verstehe nicht, warum…«, begann Cindy. Dan unterbrach sie. »Die Idee liegt darin, den neuen Menschen zu schaffen, eine neue Sensibilität herzustellen, eine Welt ohne Ungerechtigkeit.« »Hört doch Telly zu«, raunte Nadine, die gebannt auf den Redner starrte. Telly Webster hob einen Arm und stieß mit einem Zeigefinger bei jedem Wort zu. »Beendet den Krieg in Vietnam. Jetzt. Heute. Bringt die Jungs nach Hause, holt sie von überall auf der Welt nach Hause, holt sie heim. Beendet die Wehrpflicht, die rassistische Wehrpflicht, die dazu führt, daß fünfzig Prozent der Opfer dieses imperialistischen Krieges unsere schwarzen Brüder sind. Schafft die gebührenpflichtigen Bedürfnisanstalten ab! Ja, ihr habt richtig gehört! Warum sollten Menschen fürs Scheißen bezahlen? Wir fordern freien Zugang zu allen Medien, besonders für die schwarzen Menschen. Wir fordern die Zulassung des Bumsens in der Öffentlichkeit. Die Abschaffung der Gesetze, die Abschaffung der Polizei. Freie Drogen. Ich sage, Chicago ist ein Zoo, eine Schweinefarm, und Daley und seine Polizei sind alle Schweine. Chicago will uns die Köpfe einschlagen. Eure Köpfe. Sagt nicht, ihr habt es nicht gewußt. Einige unserer Leute sind gegen Gewalt. Einige haben sich auf den politischen Trip eingelassen. Einige gebrauchen ihren Kopf turn Denken, andere ihre Fäuste zum Zuschlagen. Jeder muß wissen, was er tut. Was die Gewalt angeht, wir sind nicht scharf darauf, uns blutige Nasen zu holen. Aber es ist besser, wenn ihr Gewalt erwartet. Die blauen Schweine hecheln schon, wenn sie
daran denken, daß sie bald ihre Knüppel auf die Schädel junger Leute schmettern können. Sie wollen Blut sehen, da stehen sie drauf. Wenn jemand bei dem Gedanken schon schlecht wird, sollte er lieber gehen. Und die anderen sollten vorbereitet sein. Steckt euren Kopf in einen Helm. Ich sage euch, hört mit diesem Festival des Lebens auf. Das ist Kinderkram. Es wird eher ein Festival des Blutes. Geht lieber in die Karatekurse, die wir anbieten, lernt gewaltlose Verteidigung, lernt, wie man eine zusammengerollte Zeitschrift als Waffe benutzen kann, wohin ihr treten müßt, wie eure Steine ins Ziel kommen. Wir haben eine ganze Reihe von Workshops eingerichtet – Drogengebrauch, Wehrdienstverweigererbüros, Überlebenstraining, Babypflege, Geschlechtskrankheitenvorsorge…« »Hilfe!« schrie jemand in gespieltem Entsetzen, und lautes Gelächter schwoll auf. Telly Webster wartete, bis sich die Unruhe gelegt hatte, dann fuhr er fort: »Wir haben auch eine Bude für die, die auf einem schlechten trip sind. Es gibt ein paar Rockbands, die zur Unterhaltung spielen. Ihr seht, wir haben an vieles gedacht. Wenn ihr bleiben wollt, macht mit. Es wird Spaß bringen…« Die Menge verlief sich, kleinere Gruppen schlenderten durch den Lincoln Park. An einer Stelle zeigte einer der Organisationssprecher, wie man eine Menschenkette zwischen Polizei und Demonstranten bildete, falls es Ärger gab. Die Menschenkette sollte die Polizei so lange zurückhalten, bis sich die Demonstranten verdrücken konnten. Der laute Lärm eines Hubschraubers dröhnte über ihren Köpfen, entfernte sich aber bald. Cindy mußte sich schütteln und packte Dans Arm. »Wird es wirklich Ärger geben?« Charlie lächelte dünn. Er war nur wenig größer als Cindy, hatte aber die dicken, muskulösen Arme und Schultern eines Gewichthebers. »Teufel, ja! Weißt du denn nicht, daß die Schweine vor ein paar Tagen einen schwarzen Jungen auf der Borth Avenue umgebracht haben? Sie wollen, daß es Ärger gibt!«
Nadine sagte mit ihrer sanften Stimme: »Der Junge war Indianer, Charlie.« »Wo ist da der Unterschied?« sagte Charlie. »Amerika tötet immer noch seine Indianer. Er war siebzehn Jahre alt. Hatte das Leben noch vor sich. Und sie bringen ihn einfach um. Es ist ja nur ein toter Nigger.« »Man könnte weinen, nichts als weinen«, murmelte Nadine. »Nur nicht weinen!« rief Charlie. »Du mußt wütend werden. Die Schweine brauchten ihn nicht zu erschießen. Aber das macht ihnen Spaß. Killen. Sie bereiten sich vor.« »Sie bereiten sich vor?« wiederholte Dan. »Wie auf den Krieg, Mann. Sie bewaffnen sich. Alle möglichen Waffen. Sogar Panzerfahrzeuge. Gasmasken. Sie haben die Armee gerufen. Sie wollen uns auslöschen. Auf die gute amerikanische Art.« Cindy schüttelte sich. »Ich kann es nicht glauben. Das ist doch nicht Amerika.« Dan stieß ein harsches Lachen aus. »Ich laufe mit einer Patriotin herum.« »Weißt du, was Bernard Shaw gesagt hat?« fragte Charlie. ›»Wir werden nie eine ruhige Welt haben, bis wir den Patriotismus aus der menschlichen Rasse verdrängen.‹« Es war noch hell, als sie den Park verließen und zurück zu Charlie Temples Wohnung gingen. Während des Nachmittags waren noch mehr Leute gekommen und hatten ihren Platz auf dem Fußboden in Beschlag genommen. Überall lagen Schlafsäkke, Decken und Ponchos herum. Einige der Neuankömmlinge schliefen schon, andere hatten sich aneinander gekuschelt und sprachen leise miteinander. Ein Junge, höchstens fünfzehn, vermutete Cindy, spielte ein trauriges Lied auf einer Zither, und in einer Ecke saß eine junge blonde Frau und gab ihrem Baby die Brust. Nadine sah in der Küche nach dem Eintopf, den sie vorher aufgesetzt hatte, und Charlie bot Marihuana an. Dan zupfte den Tabak aus zwei Filterzigaretten und saugte das zerhackte Gras in
die hohlen Zylinder, brach dann die Filter ab. Er reichte Cindy einen Joint, und sie zündeten sie an, machten es sich auf der Matratze bequem. Sie geizten mit jedem Zug und beobachteten, wie die Asche jedesmal länger wurde, während sie den angestauten Rauch in Lungen und Bauch zogen. Ein Gefühl der Wärme nahm Cindy gefangen, und sie ruhte mit dem Kopf an der Wand, sie versuchte, an nichts zu denken, auch nicht an die unbehaglichen Dinge, mit denen sie im Lincoln Park konfrontiert worden war. Sie überließ sich der Wirkung des Rauchs, hörte als Hintergrundmusik die traurige Zithermusik, gelegentlich ein paar entfernte Stimmen. Sie fühlte sich daheim, sie gehörte zu etwas dazu, was wirklich wichtig war. Schön, dachte sie, wirklich schön. Als sie in den Lincoln Park zurückkehrten, hatte sich die Dunkelheit über die Stadt gesenkt. Die Bewegungen im Park waren langsam und friedlich, in Harmonie mit der warmen Nacht. Mehrere Gruppen saßen um brennende Kerzen herum und starrten gedankenverloren in das flackernde Licht. Cindy hörte alte Volkslieder. Und überall sah sie das, was sie für normale Menschen hielt, gut gekleidete Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, die gekommen waren, um aus nächster Nähe zu sehen, was in ihrem Lincoln Park ablief, um sich die Kinder anzusehen, die in ihre Stadt gekommen waren. Einer der Organisatoren stand auf einer Holzkiste und bat um Aufmerksamkeit. »Die Schweine haben eine Ausgangssperre über den Park verhängt. Elf Uhr heute abend. Niemand darf nach elf Uhr noch im Park sein, es darf also auch niemand hier übernachten. Hört zu«, rief er, und seine Stimme klang plötzlich dunkel und drohend in der Dunkelheit. »Provoziert die Schweine nicht. Denkt dran, das ist genau das, was sie wollen. Geht, sucht euch irgendwo eine Bleibe. Und kommt morgen wieder. Die Stadt ist ein Konzentrationslager, gebt den Schweinen also keinen Anlaß, uns auszulöschen. Wir bestimmen, wann der Krieg beginnt,
wann und wo. Laßt euch nicht zusammenschlagen. Wir haben noch wichtige Arbeit vor uns. Also, kommt morgen früh wieder, und bis dahin, leck uns, LBJ.« Ein hageres Mädchen stimmte ›We Shall Overcome‹ an, und bald sangen alle mit. Die elektronisch verzerrte Stimme eines Polizisten, der durch ein Megaphon sprach, krächzte in das Lied hinein. »Der Park wird um elf Uhr geschlossen. Bitte, verlaßt den Park durch den nächstgelegenen Ausgang. Der Park wird um elf Uhr geschlossen.« Einige Leute pfiffen und zischten und buhten, aber die meisten bewegten sich auf die Ausgänge zu. Eine Gruppe wurde von einem Mann mit Bart und Brille angeführt. »Das ist Allen Ginsburg, der Dichter«, sagte Dan zu Cindy. »Möchtest du auch gehen?« Sie blickte sich nervös um. »Bitte.« Draußen auf der Clark Street empfing sie die Polizei in einer lockeren Linie. Die Leute, die aus dem Park kamen, versammelten sich auf dem Bürgersteig gegenüber und reizten die Polizisten mit Schlachtrufen. »Schickt Daley her!« »Schlachtet alle Schweine!« Plötzlich, und ohne daß sie eine Erklärung dafür hatte, empfand Cindy ein tiefes Zugehörigkeitsgefühl, das von der gemeinsamen Aktion der jungen Leute stimuliert wurde. Sie hielt sich an Dans Arm fest. »Schlachtet die Schweine!« rief sie. Als hätte ihr Ruf das Faß zum Überlaufen gebracht, geriet die Linie der Blauen in Bewegung. Die Polizisten marschierten langsam vor. Die Jugendlichen wichen zurück. Lachend hielt Cindy Dans Hand. Es kam ihr wie ein Spiel vor, die Polizei beleidigen und sehen, wieviel sie vertragen konnten, und gleichzeitig Schutz in der Menge zu finden und sich vor der Gefahr zurückziehen.
»Frieden jetzt!« rief sie. »Frieden jetzt!« Und sofort fielen andere ein, Autohupen dröhnten, die Menge hatte neue Energie gefunden. »Weg mit dem Parteitag!« »Weg mit LBJ!« »Zur Hölle mit allen Bossen!« An der North Avenue kam der Verkehr zum Erliegen, weil die Gruppen die Kreuzung nicht freigaben und hin und her wanderten. Arm in Arm schlenderten auch Dan und Cindy mal hierhin, mal dort, sie wurden geschubst und gestoßen, aber alles geschah friedlich, ohne Hast, ohne Arg. Sie fühlten sich unter Freunden, jeder sprach mit jedem, auch wenn man sich nicht kannte. Der Geräuschpegel schwoll an. Die Autohupen dröhnten ungeduldig. Aus der Mitte der Menge antwortete friedlicher Gesang. Nur am Rand gab es vereinzelt wütende Rufe und Schreie. Polizeiverstärkung war eingetroffen, und die Männer in Blau bewegten sich jetzt gezielt auf die Menge zu, entschlossen, die Demonstranten von der Kreuzung wegzudrängen. Die Flüche wurden lauter, häßlicher, und dann flogen Steine durch die Luft, platzten auf das Blech der Streifenwagen. Cindy drückte sich ängstlich an Dan, und er nahm sie beschützend in seine Arme. »Keine Angst«, sagte er beruhigend. »Es wird nichts passieren.« Er hatte recht. Die blaue Linie behielt Disziplin, drang entschlossen vor, und die Menge wich vor dieser Entschlossenheit zurück, bevor es zu körperlichen Kontakten kommen konnte. Verhältnismäßig friedlich wurde die Kreuzung geräumt. Sie war zwar froh, daß nichts geschehen war, aber gleichzeitig mußte sie sich gestehen, daß sich eine gewisse Enttäuschung in ihr breitgemacht hatte, als Dan sie zurück zu Charlie Temples Wohnung führte. Sie klammerte sich an ihn, während sie an den Leuten vorbeigingen, die in der ganzen Wohnung auf den Matratzen lagen. Sie legten sich hin, dicht beieinander, und sein Mund fand zögernd ihren, als wäre er nicht sicher, von ihr zurückgewiesen zu werden.
Cindy spürte eine Erregung in sich, die ihre Knie weich werden ließ. Sie hielt sich an ihm fest, öffnete ihren Mund und spielte mit seiner Zunge. Sie wartete darauf, daß er weitermachte, und um ihn zu ermutigen, öffnete sie ihre Schenkel. »Jemand könnte hereinkommen«, flüsterte er. Ihre Hände machten sich an seinem Hosengurt zu schaffen, dann mit den Hemdknöpfen. »Komm schon«, sagte sie hitzig, »komm schon.« Er griff zwischen ihre Beine, und wie erlöst stöhnte sie und hob sich ihm entgegen, stieß gegen seine Hand, als sie seine Finger spürte. Sie hob den Hintern an, damit er ihr das Höschen abstreifen konnte. Sie waren jetzt beide nackt, und ihre Hände griffen nach ihm, fanden ihn, spielten hitzig mit seinem Glied, bewegten sich auf und ab. Sie schmiegte sich an ihn, drückte ihre vollen Brüste gegen ihn, und er griff nach ihnen, streichelte sie, nahm die Nippel zwischen Daumen und Zeigefinger und hörte ihr Stöhnen. Sie zog ihn über sich, öffnete sich für ihn, und dann führte sie ihn hinein, und ein befreiendes »Ahh« drang aus ihrem Mund. Er stieß tief in sie hinein und raunte: »Es ist großartig. Ich dachte, wir würden es nie… O Baby, ich glaube, ich explodiere bald…« »Warte, warte auf mich! Stoß zu! Ich will, daß du mich stößt…« »Baby, das fühlt sich phantastisch an!« »Ja, so ist es gut! Weiter! Schneller… komm, tiefer, ja, so ist es gut…« Er stieß hart zu, heftig, ruckartig, und seine Hände umspannten ihren Hintern. Sie versuchte, auf seinen Rhythmus einzugehen, seine Stöße zu erwidern. »Es ist schon so lange her…«, murmelte sie. »Ich hatte schon fast vergessen, wie es sich anfühlt…« »Ist es gut für dich?« »O ja, gut…«
Er beschleunigte seine Stöße, hektisch, fordernd, drängend; er begann zu zittern, und dann ergoß er sich in ihr, wankend, bebend, ächzend. »Nein!« rief sie. »Noch nicht…« Sie warf sich ihm entgegen, versuchte, ihn einzuholen, vergeblich. Er fiel auf sie, schwer und heftig atmend. Sie zwang sich, nichts zu sagen, ließ ihre Lust abklingen, blieb mit ihrer Enttäuschung allein. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Das macht nichts.« »Das erste Mal. Ich hab’ mich so auf dich gefreut, habe eigentlich gar nicht mehr damit gerechnet. Das nächste Mal wird es besser.« »Es macht nichts.« Er rollte sich von ihr und lachte leise. »Puh«, sagte er, »du hast mich wirklich fertiggemacht.« Sie erwiderte nichts, und bald kam sein Atem regelmäßig. Er schlief. Cindy lag noch lange wach.
11
Lincoln Park, Sonntag morgen. Ein freundlicher grüner Flecken, herausgeschnitten aus dem grauen Schmutz der Stadt. Menschen bewegten sich ohne Hast oder lagen ausgestreckt auf dem Rasen und sonnten sich. Ein Junge in Mokassins und einem Stirnband, ein beständiges Lächeln im pausbackigen Gesicht, verteilte – Handzettel. Dan Gregory nahm einen und las laut vor. YIPPIE! Lincoln Park ‘68 Freie Unterkunft Kommt, schlaft bei uns! REVOLUTION FÜR EINE FREIE GESELLSCHAFT – YIPPIE! 1. Sofortiges Beenden des Krieges in Vietnam. 2. Sofortige Freilassung von Huey Newton von den Schwarzen Panthern und aller anderen Schwarzen. Annahme der Selbstverwaltung in unseren Ghettogebieten. 3. Legalisierung von Marihuana und allen psychedelischen Drogen. 4. Ein Justizsystem, das auf dem Konzept der Rehabilitation basiert statt auf Bestrafung. 5. Abschaffung aller Gesetze, die sich mit Verbrechen ohne Opfer befassen. Verfolgt werden nur Verbrechen, bei denen eine nicht zustimmende Person zu Schaden kommt – z. B. Mord, Vergewaltigung, Körperverletzung. 6. Die totale Entwaffnung aller Menschen, angefangen bei der Polizei. Die Entwaffnung schließt nicht nur Schußwaffen ein, sondern auch Tränengas, Knüppel usw.
7. Die Abschaffung von Geld. Abschaffung von Mietzahlungen, von Fernsehgebühren, Beförderungskosten, Lebensmittel kosten, Krankenkassenbeiträgen, Toilettengebühren. 8. Eine Gesellschaft, die aktiv das Konzept der Vollbeschäftigung betreibt. Eine Gesellschaft, in der die Leute von der Eintönigkeit der Arbeit befreit sind. Förderung und Durchsetzung des Konzepts ›Laß es die Maschinen machen‹. 9. Das Ende der Luft- und Wasserverschmutzung. 10.Initiativen zur Dezentralisierung unserer übervölkerten Städte. 11.Freie Geburtenkontrolle. Recht auf Abtreibung. 12.Eine Umstrukturierung des Bildungssystems, damit der Student den Ablauf seines Studiums selbst bestimmen kann. 13.Offener Zugang zu allen Medien. Kabelfernsehen als eine Methode, die Auswahl der Kanäle zu erhöhen. 14.Das Ende der Zensur. Wir sind die Gesellschaft satt, die ohne Zögern Gewaltdarstellungen zuläßt, aber die Abbildung eines vögelnden Paares verbietet. 15.Wir glauben daran, daß die Menschen immer, zu jeder Zeit und an jedem Ort mit wem auch immer vögeln sollen. Das ist kein programmatischer Punkt, sondern lediglich die Anerkennung der Realität um uns herum. 16. Wir fordern ein nationales Volksbefragungssystem über Fernsehen oder Telefon, die Dezentralisierung der Macht mit vielen unterschiedlichen stammesorientierten Gruppen. Das sind Gruppen, in denen die Menschen auf einer Vertrauensbasis leben. Sie können sich ihren eigenen Stamm wählen. 17. Ein Programm, das Kunst ermutigt und fördert. Wir glauben allerdings, daß bei der Umsetzung der Freien Gesellschaft, so wie sie uns vorschwebt und für die wir kämpfen, die Kreativität in uns aktiviert wird. Ihr politischen Schweine, eure Tage sind gezählt. Wir sind die Zweite Amerikanische Revolution. Wir werden siegen. Yippie!
»Wunderschön«, sagte Charlie Temple. »Wunderschön«, stimmte Nadine zu und schaute in den Himmel. »Da ist alles drin«, bekräftigte Dan. »Es sagt alles, wie es sein wird.« Cindy studierte den Handzettel. »Ich frage mich nur…«, murmelte sie, mehr zu sich selbst. »Was?« fragte Dan aggressiv. »Was?« »Da brauchst du nichts mehr zu fragen«, stellte Charlie fest. »Es steht alles da.« »Wenn es keine Gesetze mehr zum Schutz des Eigentums gibt«, sagte Cindy, »was geschieht dann, wenn sich jemand das Auto seines Nachbarn holt?« »Ach du Scheiße«, stöhnte Charlie. »Das verstehst du einfach nicht«, sagte Dan. »Es ist eine freie Gesellschaft«, erklärte Charlie. »Es gibt keine Notwendigkeit mehr, zu stehlen«, ergänzte Dan. »Die Dinge sind einfach da. Zum Zugreifen.« Cindy lächelte müde. Sie schaute wieder auf den Handzettel. »Nummer sechs zum Beispiel. Totale Entwaffnung, per Gesetz, nehme ich mal an…« »Durch den Willen des Volkes«, warf Dan ein. »Okay. Und was ist, wenn die Polizei ihre Waffen als erste abgibt, während eine andere Gruppe sie behält? Die Mafia, zum Beispiel?« »In einer freien Gesellschaft«, sagte Charlie, und man hörte ihm seine Ungeduld an, »existiert die Mafia nicht mehr.« »Wer wird denn das Gesetz durchsetzen?« wollte Nadine wissen. »Himmel, bist du dumm!« stöhnte Charlie. »Die Leute natürlich. Wir alle.« »Das ist der Ärger mit diesen Puppen«, sagte Dan. »Sie sind von dieser materialistischen Gesellschaft verseucht, verdorben von der bourgeoisen Haltung und Einstellung.«
Cindy lächelte Dan lieb an. »Dann erkläre mir eins. Man will die Vollbeschäftigung, aber die Leute sollen keine eintönigen Arbeiten mehr verrichten.« »Die Maschinen…« »Aber Menschen müssen doch die Maschinen bedienen«, antwortete Cindy. »Leute bauen Maschinen. Vielleicht ist die Arbeit gut für die Menschen.« »Willst du vielleicht wieder die Sklaverei einführen oder einen Agrarstaat?« fragte Charlie höhnisch. »Haha«, machte Cindy. »Arbeit macht den Menschen stolz. Er erreicht etwas durch Arbeit, er kann sehen, was er geleistet hat. Für ihn ist es ein Grund, morgens aufzustehen.« Dan wies auf den Handzettel. »Verstehst du wenigstens den Passus darüber, daß jeder Mensch ein Künstler ist?« »Ja, vielleicht könnte das gelingen. Aber ich bin skeptisch, wenn ich diese vorgefertigten raschen Antworten erhalte, ganz egal von wem. Es gibt vieles, was nicht in Ordnung ist und was wir abschaffen müssen. Der Krieg ist schlecht, und wie wir die Schwarzen behandeln…« »Wenigstens etwas«, warf Dan ein. »… ist Amerikas unwürdig. Aber was bringt es schon, die Polizei zu beschimpfen?« »Man muß Feuer mit Feuer bekämpfen«, schnaufte Charlie. »Probier’s mit Wasser.« »Da!« rief Nadine. »Dort ist was los!« Vor ihnen hatte sich ein lockerer Kreis aus Menschen gebildet. »Kommt!« rief Dan und griff Cindys Hand. »Wir marschieren jetzt aus dem Park«, sagte der Sprecher in der Mitte des Kreises. »Wir gehen in die Downtown zu den Hotels, in denen die Parteidelegierten wohnen. Wir stellen diese Kriegstreiber in ihren Höhlen, sie sollen wissen, wer wir sind, daß es uns gibt und daß wir gegen ihren verdammten Krieg sind.« Beifall brandete auf, lauter Jubel, und dann wurde der Kreis immer größer. »Wir sind wütend«, rief der Sprecher. »Wir werden den Bastarden beibringen, daß wir Frieden wollen, daß wir den
Frieden fordern! Gehen wir auf die Straße, zwingen wir die Kerle, uns anzuhören. Kommt, Leute, auf die Straße! Folgt dem Lärm! Unser erstes Ziel um zwei Uhr ist das Sherman Hotel. Kommt alle hin! Wir marschieren in unserer gewohnten unorganisierten Form. Folgt dem Lärm!« »Frieden jetzt!« rief Dan. Er drückte Cindys Hand. »Gehen wir.« »Frieden jetzt!« rief die Menge. »Schluß mit dem Töten!« »Stoppt den Krieg!« Sie strömten aus dem Park. Die Polizei behielt sie im Blick, einige Uniformierte marschierten am Rand mit, als wollten sie die Menschenmenge, die auf der Straße wogte, beschützen. Große Männer allesamt, stellte Cindy mit stillem Unbehagen fest, Männer mit fleischigen Gesichtern, verschlossen, vom glänzenden Helm umgeben, Männer mit kräftigen Oberkörpern und prallen Schenkeln. Cindy wandte den Blick, betrachtete die Leute, die mit ihr marschierten. Sie sah adrett gekleidete junge Leute in Anzügen und mit weißen Kragen und Krawatten, gut frisiert; sie sah einige wenige ältere Leute, ein oder zwei Priester, Nonnen, eine Handvoll Lederjacken, einige Schwarze und viele junge Leute mit langen Haaren und sehr individuell gekleidet. Hippies, dachte sie. Mitglieder eines Stammes, Aussteiger, nun getrieben von einem Ziel. Sie hatte jetzt ihre Zweifel zurückgedrängt, ihre Fragen unterdrückt, statt dessen spürte sie eine steigende Erwartung in sich wachsen, einen Sinn für Solidarität, das Gefühl, einer lebendigen, fast heiligen Bewegung anzugehören. Sie warf den Kopf zurück und schritt stolz die Straße hinunter und rief die Parolen der anderen mit. »He, he, LBJ, wie viele Kids sind heute schon tot?« »Schluß mit dem Krieg!« An der Kreuzung von Wabash und Jackson wartete die Polizei. Eine bedrohliche Barrikade aus dicken Armen und soliden
Knüppeln. Der Marsch verlor an Schwung, die Leute irrten herum, ziellos, richtungslos. »Was jetzt?« riefen einige. »Hier herumzustehen ist doch doof!« »Zurück den Weg, den ihr gekommen seid!« rief eine autoritär klingende Stimme, verzerrt durch das Megaphon. »Geht zurück!« »Der kann mich mal!« knurrte Charlie. »Ich gehe nicht zurück.« »Richtig«, stimmte Dan zu. »Ich bin dabei.« »Kommt schon, Leute«, sagte einer der Organisatoren. »Gehen wir in den Grant Park. Es ist besser, wenn wir in Bewegung bleiben. Wir wollen keinen Ärger. Kommt zum Grant Park, bitte.« Eine graue Wolke schob sich vor die Sonne, und es wurde dunkel in der Straße, die Temperatur ging merklich zurück, plötzlich kam Wind auf. Cindy schlang die nackten Arme um sich. Auf einmal fühlte sie sich fremd in dieser Umgebung, unter diesen Menschen, mitten in diesem Geschehen, sie empfand sich mehr als Opfer denn als Beteiligte, als ob unbekannte Kräfte sie manipuliert hätten. Sie wollte zu Hause sein, auf Fire Island am warmen Strand, beschützt in der vertrauten Umgebung ihrer Familie. »Bitte«, sagte sie zu Dan. »Bitte, laßt uns gehen. Mir ist kalt. Oder könnten wir irgendwo einen Kaffee trinken?« Sie fanden einen Schnellimbiß, der Kaffee war schwach und wäßrig, sie konnte nur einen Schluck trinken. Sie gingen zurück in den Lincoln Park. Eine rastlose Gruppe hatte sich um die halbhohe Bühne einer Rockband geschart. Cindy sah abseits einen jungen Mann auf dem Rasen sitzen und der Musik lauschen. Er war nackt. Eine halbe Stunde später hörte man wütende Schreie auf der anderen Seite der niedrigen Bühne. Cindy fand die Ursache für den Zorn rasch heraus: Dort stand ein Lastwagen mit offener Ladefläche und einem Banner, auf dem ›Trip mit Pegasus‹ stand. Der Truck sollte zur Bühne fahren, durfte aber offenbar nicht durch. Ein Lieutenant hörte sich die Argumente eines langhaarigen Mannes in einem mexikanischen Hemd und in einem Kilt an.
»Der Truck ist für die Band bestimmt, Mann«, rief er laut. »Damit die Leute sie sehen können, verstehst du?« »Ich habe den Befehl, daß kein Fahrzeug in den Park kommt«, sagte der Lieutenant geduldig. »Mann, hier geht’s doch nur um Spaß! Wir pusten dir doch nicht den prächtigen Park in die Luft.« »Ist das nicht dein Freund Telly Webster?« fragte Dan, und Charlie nickte, das Gesicht verkniffen. »Komm, wir gehen hin.« Der Lieutenant, ein stattlicher Mann mit grauen Haaren und einem pinkfarbenen Gesicht, sah den Mann mit den blonden Locken aus porzellanblauen Augen an. »Es war vereinbart, daß keine Fahrzeuge in den Park kommen, ausgenommen der Truck, der die Verstärker gebracht hat.« »Himmel, Mann, wovor hast du Angst?« rief Telly Webster. »Es geht nur um Musik, verstehst du? Damit die Leute ein bißchen Spaß kriegen. He, Mann, hast du was gegen Spaß?« Der Lieutenant gab nach. »Also gut, ich lasse den Truck zu, aber nicht im Bereich der Bühne, sondern weiter außen.« Er gab dem Fahrer ein Zeichen, und dann rollte der Truck langsam auf den Rasen zu, an der Menge vorbei. Wütende Rufe überschlugen sich. »Sie schicken den Truck weg!« »Der Truck gehört uns!« »Wir wollen unseren Truck!« Einige Leute rannten dem Truck hinterher, überholten ihn, blockierten seinen Weg, säumten ihn. Männer kletterten auf die Ladefläche und winkten denen auf dem Boden triumphierend zu. Der Lastwagen hielt an. Ein paar Polizisten schoben sich bis zum Truck vor und versuchten, ihm einen Weg zu bahnen. Widerwillig ließen sich die Leute abdrängen. »Gebt ihnen nicht den Truck!« brüllte Charlie Temple plötzlich, die Stimme voller Haß. »Laßt das nicht zu!« Er rannte an der Polizei vorbei und stellte sich vor den Kühler, die Arme weit
ausgebreitet. »Blockiert den Weg! Greift euch die Schweine! Nehmt ihre Waffen, bringt sie um, killt sie! Killt die Schweine!« Der Lieutenant tauchte auf. »Beiseite, laß den Lastwagen passieren. Er fährt in den Park. Laß ihn passieren.« »Sie nehmen uns den Truck weg!« brüllte Charlie. »Laßt es nicht zu!« Der Lieutenant winkte zwei Streifenpolizisten zu sich. »Nehmt den Mann fest. Schafft ihn in den Wagen.« Charlie wollte weglaufen, aber die Polizisten waren zu schnell. Sie flankierten ihn, griffen ihn bei den Armen und zerrten den strampelnden Mann durch die Menge. »Sie schlagen mich!« kreischte Charlie. »Sie wollen unser Blut!« »Haltet die Schweine auf!« schrie jemand. »Brutale Schweine!« Cindy und Dan waren bis auf drei, vier Schritte an Charlie herangekommen, aber jetzt wurden sie von dem breiten Rücken eines Polizisten abgeschirmt. Dan gab dem Polizisten einen Schubs, daß er auf die Knie fiel. Er raffte sich auf, knallrot im Gesicht und fluchte: »Du elender Bastard, ich gebe dir einen auf die Rübe…« Dan versuchte auszuweichen, als der Cop vor ihm stand, den Knüppel über dem Kopf. Aber Dan blieb keine Zeit mehr, und Cindy begann zu schreien, drängte sich zwischen die beiden Männer. Der Cop warf sie zur Seite, und Cindy stürzte zu Boden. Der rosiggesichtige Lieutenant war sofort da. »Zurück«, fauchte er, und seine Lippen bewegten sich kaum. »Zurück auf Ihren Posten.« Der Polizist ließ langsam den Knüppel sinken. »Jemand hat mich geschoben.« »Sie kennen Ihre Anweisungen«, sagte der Lieutenant. »Halten Sie sich daran.« Während dieser Zeit behielten die beiden anderen Cops Charlie Temple im Doppelgriff und führten ihn zum Streifenwagen. Die Menge folgte ihnen. »Gestapo-Schweine!«
»Killt die Schweine!« Cindy stand wieder auf den Füßen und suchte Dan, aber sie konnte ihn in der wogenden Menge nicht entdecken. Gestalten rannten an ihr vorbei, stießen mit ihr zusammen, und um ein Haar wäre sie wieder zu Boden gegangen. Die Anspannung der letzten Tage schien sich Luft zu verschaffen, als ob die Leute einen Funken suchten, der sie zur Explosion brachte. Cindy lief dem Truck hinterher, und dann sah sie plötzlich, wie Charlie Temple sich immer noch dagegen sträubte, in den Streifenwagen geschoben zu werden. Cindy schrie und warf sich den Polizisten entgegen. »Laßt ihn los! Laßt ihn los!« Mit gespreizten Fingern und gekrallten Nägeln fuhr sie in ein weißes Gesicht; es war ein verdutztes Gesicht unter dem blauen Helm, bar jeden Begreifens, und in den Augen zeigte sich plötzlich Angst. Der Polizist bog den Oberkörper zurück, um der Attacke auszuweichen. »Lauf, Charlie! Lauf!« Etwas Wuchtiges knallte von hinten auf ihre Schultern, und sie stolperte, rang nach Luft, versuchte, ihr Gleichgewicht zu halten. Die Polizisten und Charlie waren weg, und sie wurde von der Menge aufgesogen. Sie sah sich um, aber keiner der Blauen war hinter ihr. Wie ein pelziges Wesen kroch die Furcht unter ihre Haut, als ihr bewußt wurde, was sie getan hatte und was hätte passieren können. Bisher hatte sie in der Polizei stets einen beschützenden Faktor in ihrer Welt gesehen, und jetzt hatte sie es gewagt, gegen diese Kraft anzugehen. Sie staunte über ihren Mut. Während des restlichen Nachmittags vermied sie weiteren Kontakt mit den Männern in Blau, sie ließ sich von Gruppe zu Gruppe treiben, suchte Dan und Nadine, aber sie konnte sie beide nicht finden. Ein paar Hippies von einer Kommune aus Süddakota teilten Käse und Brot und Obst mit ihr, und sie blieb bei ihnen und lauschte andächtig, als ein Gitarrist Dylans Blowin in the Wind sang. Es gefiel ihr bei den Hippies, es war still und friedlich,
und sie blieb bei ihnen, bis ein Mann mit einem gelben Bart mit ihr schlafen wollte. Als die Dunkelheit einsetzte, flackerten Lichter von kleinen Feuern überall im Park auf. Es war kühl geworden, und das Feuer wärmte. Sie hörte Bongotrommeln und ging dem Klang nach. Ein Mädchen mit Blumen in den Haaren verteilte Handzettel mit Tips für Schlafgelegenheiten, wenn man nicht im Lincoln Park bleiben wollte. Cindy spazierte weiter. Sie stieß auf eine Gruppe junger Leute, die im Gras saßen und still in die Dunkelheit sangen. Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna, Krishna, Hare, Hare, Hare Rama, Hare Roma, Rama Rama Hare Hare… Die Sanftheit der Stimmen gab Cindy Zutrauen. Sie wandte sich an einen Jungen, der nah dabei stand. »Was singen die da?« »Das ist ein Mantra, eine Art Gebet.« Er lächelte, und sie lächelte zurück. »Krishna hat etwas mit der Hoffnung auf eine bessere Welt zu tun.« »Dann könnte ich mitsingen«, sagte Cindy. »Der Planet ist krank«, sagte der Junge. »Wir müssen ihn heilen, die verschmutzten Wasser reinigen, die Ozeane abkühlen, die Luft wieder saubermachen. Das Land erstickt an Einwegflaschen und Dosen, die Natur wird geplündert, alles ist Plastik und Zerstörung. Wir brauchen eine heilige Gemeinde des Friedens und des Vergnügens.« »Aber wie?« Wieder das sanfte Lächeln. »Indem wir unser Leben ändern. Entweder erfinden wir ein neues, oder wir kehren zum Leben zurück, das unsere Vorfahren geführt haben. Ohne Geld und ohne diese machtgeilen Männer. Wir müssen die Städte einreißen und wieder bescheidener leben, einfacher, natürlicher. Dann bleibt den Menschen auch wieder mehr Zeit für die Liebe. Keine Ego-Trips mehr…«
Plötzlich hörten sie eine Stimme hinter ihnen. »Laßt uns mal durch, Leute! Wir bringen eine Kamera. Zur Seite, bitte. Verdammt, paßt auf, die Scheinwerfer!« Die Scheinwerfer flammten auf und erhellten das ganze Gebiet, wo die Hare-Krishna-Leute saßen. »He, Junge!« rief ein Mann, der offenbar der Chef des Teams war. »Hast du nicht irgendwas Indisches drauf, ‘n heiliges Zeichen oder was, das sich gut für die Kamera macht?« Der Junge streckte den Mittelfinger seiner rechten Hand hoch. Cindy ging weiter. Ein Streifenwagen rollte langsam quer über den Rasen, und aus dem Lautsprecher tönte eine blecherne Stimme. »Das ist die letzte Warnung. Der Park ist geschlossen. Alle Personen, die sich jetzt noch im Park aufhalten, auch die Vertreter der Medien, verstoßen gegen das Gesetz und müssen mit ihrer Festnahme rechnen. Das ist die letzte Warnung. Sie verstoßen gegen das Gesetz, also raus aus dem Park!« Einige Leute bewegten sich gehorsam auf die Ausgänge zu, andere rückten zusammen und debattierten, was jetzt zu tun war. Cindy schloß sich einer der herumstehenden Gruppen an. »Wir sind in Chicago«, sagte ein Mann in einem Wash-andWear-Anzug, »um dem Land zu zeigen, wie korrupt das System ist, und nicht, damit man uns die Köpfe einschlägt.« »Der Park ist jedem frei zugänglich!« rief ein Mädchen hitzig zurück. »Wir müssen überall die Freiheit verteidigen. Wir bleiben hier und kämpfen.« »Wer bleibt, soll bleiben, und wer gehen will, soll gehen.« Einer der Organisatoren forderte: »Kommt, laßt uns gehen. Sie haben eine Sperrstunde verordnet, und wenn wir den Schweinen einen Vorwand liefern, dann schlagen sie uns die Köpfe ein. Wir haben noch eine Menge zu tun…« »Feigling!« schrie einer. Das Fernsehteam kam mit gleißenden Scheinwerfern näher. Cindy sah, wie ein Junge, höchstens fünfzehn Jahre alt, auf einen Abfallkorb kletterte. Er schwenkte eine Vietcongfahne.
»Bleibt alle im Park!« schrie er. »Bleibt! Der Park gehört dem Volk!« Der Organisationsleiter rief: »Behaltet kühlen Kopf! Überlegt doch mal!« »Faschist!« »Tod allen, die was zu sagen haben!« Die Vietcongfahne knatterte laut im Wind. »Auf die Straße!« brüllte der Junge. »Die Straßen gehören dem Volk! Holt euch die Straßen von den Schweinen zurück!« Der Junge sprang vom Abfallkorb hinunter und rannte, fahnenschwenkend, auf einen der Ausgänge zu. Drei Schwarze folgten ihm, dann auch zwei Mädchen. »Kommt!« rief ein langhaariger Mann. »Wir müssen den Jungen unterstützen. Gehen wir auf die Straßen! Die Straßen gehören uns!« Cindy rannte, mitgerissen von den anderen. Es war alles ganz seltsam, als ob der Wille der anderen ihr eigener geworden wäre, deren Ziel ihre Ziele, deren Träume ihre Träume. Sie schwappten aus dem Park hinaus, eine vielköpfige Bestie mit einer lauten, fordernden Stimme. Hinein in das Eugenie Triangle, weiter in die LaSalle Street. Eine anschwellende Menge, Leute mit bemalten Gesichtern, Barfußläufer, Männer in Anzügen von Brooks Brothers und Frauen in Sommerkleidchen von Peck & Peck, die Bedächtigen und die Verrückten, die Jungen und nicht mehr ganz Jungen. Aber alle vibrierten, erfüllt von dem einen großen Ziel, es ihrem Gegner zu zeigen. »Ho, Ho, Ho Chi Minh!« stimmten die in den ersten Reihen an, und der Ruf setzte sich bis nach hinten fort, auch bis zu Cindy. »Ho, Ho, Ho Chi Minh!« »Weg mit Humphrey!« »Befreit Huey Newton!« Cindy brüllte nach. »Befreit Huey Newton!« Sie versuchte sich zu erinnern, wer Huey Newton war, aber als es ihr nicht einfiel, dachte sie nicht länger darüber nach.
Der Demonstrationszug blockierte die Straße, der Verkehr geriet ins Stocken, die Fußgänger zogen sich verängstigt zurück. Ein Mann schwang einen Baseballschläger und zertrümmerte die Windschutzscheibe eines Autos. Ein anderer Demonstrant protestierte gegen diese sinnlose Gewalt und wurde niedergeschlagen. Cindy sah es, wollte sich um den Mann kümmern, aber sie wurde von den Nachfolgenden mitgeschleppt, sie konnte nicht umkehren. Sie spürte, wie ihr jemand von hinten in die Ferse trat, sie geriet ins Stolpern. Hände packten sie, hoben sie hoch. Ein junges Bartgesicht grinste sie an, lüstern strichen seine Hände über ihren Hintern. »Baby, du bist was Besonderes. Komm, wir machen’s hier und jetzt.« Abgestoßen und verängstigt befreite sie sich aus seinem Griff und stolperte vorwärts. Die Fahrer der blockierten Autos hatten mit einem Hupkonzert begonnen, das die skandierten Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Rufe nicht übertönen konnte. Cindy hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, der Lärmpegel schwoll immer stärker an. Sie suchte nach einem Ausweg, sie wollte aus dem Zug heraus, aber sie wußte nicht, wie. Sekunden später verlangsamte sich der Zug, und die Körper rieben sich aneinander. Auf der Kreuzung hatte sich eine Barrikade in Blau gebildet, deren Botschaft klar war: Die Straße den Autos, die Gehwege für die Fußgänger. Unschlüssig traten die Demonstranten auf der Stelle, während aus den Seitenstraßen weitere Streifenwagen eintrafen, um Verstärkung für die Polizei heranzubringen. Offenbar zogen sich die ersten Polizeireihen auf einen Befehl hin vorsichtig zurück, als ob sie den Demonstranten mehr Platz verschaffen wollten. Aber die Demonstranten rückten sofort nach, verringerten den Abstand zur Polizei. Dann schienen die Anführer der Demonstranten doch noch zu Verstand zu kom-
men, sie wichen in eine Seitenstraße aus. Die meisten der Nachrückenden folgten ihnen. Nur ein Mann wich nicht. Er stand vor der Polizeikette, breitbeinig, die Arme überkreuzt, und starrte in die ernsten, entschlossenen Gesichter der ersten Reihe. Cindy beobachtete die ungleiche Konfrontation mit wachsender Besorgnis. Der einzelne Mann wirkte so verletzlich, so hilflos, dem Untergang geweiht. Jeder Nerv in ihrem Körper vibrierte; sie wollte davonlaufen. Aber es war unmöglich, überall blockierten Menschen ihren Weg. Menschen, von denen Wogen des Zorns ausströmten, des unverhohlenen Hasses, der Rache. Die blaue Linie erreichte den einzelnen Mann. Hinter einem Plexischild öffnete sich ein Mund, ein paar harsche Worte kamen heraus. Der Mann wich nicht von der Stelle. Plötzlich schwang ein Knüppel hoch, wurde hart in die Körpermitte des Mannes getrieben. Ihm ging die Luft aus, er klappte zusammen und ging zu Boden. Ein Stiefel holte aus, zielte, traf. Der Mann stöhnte und lag still da. »Brutale Schweine!« »Faschisten!« »Killt die Schweine!« Die Polizei blieb auf dem Vormarsch, und die Menge wurde in kleinere Gruppen zerteilt, die in die Nebenstraßen abdrängten. Cindy fand sich auf der LaSalle Street wieder. Sie hatte ihre Angst vergessen, das Gefühl der Zusammengehörigkeit war stärker. Die Bewegung war gut und richtig, ihr gehörte die Zukunft, sagte sie sich selbst, überrascht, daß sie in solchen Bahnen denken konnte. Die nächste Kreuzung war abgesperrt worden, die Demonstranten wurden weiter abgedrängt. Cindy mußte an das Bild von eingepferchten Tieren denken. »Frieden jetzt!« riefen einige. »Frieden jetzt!« fielen andere ein, darunter auch Cindy. »Ho, Ho, Ho Chi Minh!« »Die Straße gehört dem Volk!«
Eine Mülltonne wurde umgeworfen, der Inhalt verstreute sich über Straße und Bürgersteig. Cindy hörte das Klirren von Fensterscheiben. Vorne stand ein gelber Triumph. Der Fahrer war von der Demonstration überrascht worden und hatte angehalten in der Hoffnung, daß er bald weiterfahren konnte. Jetzt wurde der Triumph von einem Dutzend Demonstranten umringt, die das Auto schaukelten. Der Fahrer protestierte, und Cindy konnte die Angst und das Entsetzen im Gesicht seiner Begleiterin erkennen, eines hübschen jungen Mädchens mit dunklen Haaren. Ein Mann kletterte auf das Dach und schwenkte die Vietcongfahne, und dabei hüpfte er auf und ab. Ein anderer Mann kletterte zu ihm aufs Dach. Der Fahrer wollte aussteigen, aber er wurde auf seinen Sitz zurückgedrängt. Der Mann mit der Vietcongfahne trat jetzt gegen die Windschutzscheibe, noch einmal. Das Glas zersprang. Cindy sah Blut im Gesicht des Fahrers, als sie im Zug an dem Wagen vorbeigedrängt wurde, weiter die Michigan Avenue hinunter. Die Polizei blockierte den Weg. Dieses Mal wichen die Demonstranten nicht zurück, sie marschierten weiter, riefen Beleidigungen und Parolen. Ein Stein flog durch die Nacht, und Cindy sah einen Polizisten zu Boden gehen. Ein Lieutenant sprach in sein Megaphon. »Geht zurück! Die Straße ist gesperrt! Dies ist eine illegale Demonstration, und hier kommt ihr nicht weiter. Geht zurück!« »Kommt, wir holen uns die Schweine!« »Killt die Schweine!« Die dichte Menschenmauer stürmte gegen die andere Menschenmauer aus blauen Uniformen an, und Cindy wurde mitgerissen, hilflos und verängstigt, zu schwach, um sich dem Schieben und Drücken entgegenzustemmen. Überall Schreie, Rufe, Flüche. Darüber das Stampfen der Füße. Die Polizei wartete mit erhobenen Knüppeln auf die heranstürmenden Demonstranten. Die ersten Reihen zögerten, aber dann flogen Geschosse von den Nachstürmenden, Steine und
Holzscheite und Golfbälle, in die Nägel geschlagen worden waren. Es gab Befehle, und dann marschierten die blauen Linien vor, um eine Antwort auf die Provokation zu geben. Die Choreographie hatte sich radikal geändert; die Demonstranten wichen diesmal nicht zurück. Ohne Vorwarnung verließen zwei behelmte Polizisten die Linie und stürmten vor. Ein Lieutenant schrie ihnen hinterher: »Zurück in die Formation! Zurück!« Die beiden Polizisten stürmten weiter, schwangen ihre Knüppel. »Auf die Kommunistenbastarde!« »Killt die Schweine!« Schreie erfüllten die Luft, als die harten Holzknüppel auf die Menschen trafen. Es flogen Fäuste, niemand wußte, wer gegen wen losging, Verwirrung gewann die Oberhand. Leute drängten sich heran, um bei der Schlägerei dabeizusein, und dann schlossen die Polizeilinien die letzte schmale Lücke bis zu den Marschierern. Schreie vor Pein und Zorn, weitere Steine flogen. An beiden Flanken standen Leute, die den Kämpfenden Mut zuriefen. »Killt die Schweine!« »Schweine sind Schwanzlutscher!« Ein stämmiger Polizist, das Gesicht wutverzerrt und feucht hinter dem Plexiglas, schwang seinen Knüppel. Sein Opfer ging zu Boden, stöhnte und hielt sich den Kopf. Der Polizist sprang hoch in die Luft und kam mit den Füßen auf den am Boden liegenden Mann, der einen langgezogenen Schrei ausstieß und sich nicht rührte. Zwei andere Polizisten zerrten den stämmigen Kollegen zurück. Cindy stand wie angewurzelt da. Um sie herum tobte der Wahnsinn, der ihre Reflexe lähmte und ihre Denkfähigkeit ausschaltete. Sie war sicher, daß sie an diesem Ort sterben würde. Sie und alle anderen auch. Ein davonrennender Mann rempelte sie an, sie geriet ins Straucheln. Hysterische Menschen flohen in alle Richtungen, schreiend, fluchend, weinend. Ein dünner Nebel breitete sich aus, wie eine schreckliche Plage, die ein vergeltungs-
süchtiger Gott geschickt hatte. Die Sommerluft stieg in ihre Nase, drang in ihre Augen ein, ließ sie tränen. »Gas!« Während Tränen ihre Wangen hinunterrannen, lief Cindy blindlings um ihr Leben.
12
Irgendwie schaffte sie es bis zu Charlie Temples Wohnung. Mehrmals hatte sie unterwegs geglaubt, sich verirrt zu haben; dann blieb sie in Hauseingängen stehen und ließ die Tränen laufen. Sie hatte zuviel Angst, um jemandem nach dem Weg zu fragen. Als sie endlich ihr Ziel erreicht hatte, war niemand in der Wohnung. Sie zog sich rasch aus und legte sich auf die Matratze, zog sich die Decke bis zum Kinn. Ihr war kalt; sie zitterte. Sie wußte nicht, wie lange sie bibbernd auf der Matratze gelegen hatte, als sie Stimmen hörte. Hinter der geschlossenen Schlafzimmertür hörte sie Musik und Lachen, als gelte es, irgend etwas zu feiern. Sie zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, alle Gedanken zu verdrängen, nichts zu fühlen und nichts zu hören. Die Dunkelheit fiel über sie, sie kam sich kleiner und kleiner vor, bis sie ein Nichts war. Nichts, aber endlich in Sicherheit. Mit einem Ruck fuhr sie auf. Stille umgab sie, eine unheimliche, bedrohliche Stille. Sie wickelte sich aus den Decken. Tageslicht strömte durch die Fenster, und sie schloß die Augen gegen die gleißende Helle. Sie hörte, wie die Wohnungstür zugeschlagen wurde, hörte Charlie Temples knarrendes Lachen. Und Dans Stimme. Sie stand auf, öffnete die Tür. »Dan…« Er sah sie an und errötete. »He, du bist nackt…« Charlie lachte und sagte: »Sehr hübsch…« »Zieh dir was an.« »Sei doch nicht so ein Spießer«, sagte Charlie und betrachtete Cindy. »Warum tauschen wir nicht mal, Dan? Nadine kennt ein paar Tricks, die dich ganz schön auf die Palme bringen.« Cindy ging zurück zu ihrem Lager. Die beiden Männer folgten ihr.
»Wo, zum Teufel, bist du gewesen?« fragte Dan. »Haben sie dir was angetan, Charlie?« fragte sie, ohne ihn anzusehen. »Die Polizei?« »Nach ein paar Stunden haben sie mich herausgeholt. Das Komitee. Sehr effizient, die Jungs. Die Bullen können uns doch überhaupt nichts.« »Komm«, sagte Dan. »Wir besorgen uns was zu essen. Heute steigt der große Tag.« »Dan, ich möchte hierbleiben.« »Was soll das denn heißen?« »Hier im Bett, bitte.« »Das ist doch verrückt. Du bist doch nicht hergekommen, um im Bett zu bleiben.« »Mir geht es nicht gut.« »Wir müssen raus, damit wir sie stärker unter Druck setzen«, sagte Charlie. »Telly hat mir gesagt, daß die Schweine verdammt gereizt sind. Wir müssen sie noch ein bißchen mehr kitzeln, bis sie aus der Haut fahren, dann haben wir gewonnen. Komm mit, eine gutaussehende Puppe ist immer hilfreich.« »Die Mädchen nach vorn«, sagte Dan ernst. »Dann kommen die Knüppelschwinger ins Grübeln.« »So ist es«, stimmte Charlie zu. »Und wenn sie dann ein paar Puppen treffen, okay. Das macht sich gut im Fernsehen. Auf die Füße, Mädchen, die Zeichen stehen auf Sturm.« Sie sagte leise: »Ich gehe nicht.« »Verdammt«, zischte Dan. »Laß die Kröte«, sagte Charlie. »Wir müssen gehen, wir müssen Revolution machen.« Sie zog sich wieder die Decken über den Kopf, und als sie die Wohnungstür zuschlagen hörte, schloß sie die Augen. Sie schlief ein. Es war noch hell, als sie aufwachte. Sie ging ins Badezimmer, säuberte die Wanne und stieg hinein. Sie ließ das Wasser steigen, so heiß sie es ertragen konnte. Danach war sie so wohlig erschöpft, daß sie sofort einschlief, als sie sich hinlegte. Als sie
wieder wach wurde, war es dunkel, und hinter der Schlafzimmertür hörte sie verschwörerische Stimmen. Sie stand auf und warf sich ein Sweatshirt über, bevor sie ins Nebenzimmer trat. Dan und Charlie hatten sich auf dem Boden ausgebreitet, eine flackernde Kerze zwischen ihnen, und rauchten Marihuana. »He«, sagte Charlie. »Hast du die ganze Zeit geschlafen?« »Willst du dich antörnen?« fragte Dan. »Nein.« »Sie will nichts«, sagte Charlie. »Was für eine Spießerin.« »Du hättest bei uns sein sollen«, sagte Dan. »Ein wildes Faß. Du hättest Charlie sehen sollen.« Charlie kicherte. »Ich war verdammt gut.« »Sag’s ihr.« Charlie saugte an dem langsam abbrennenden Joint, saugte noch einmal. Er bückte sich, um unter Cindys Sweatshirt schauen zu können. »Bist du darunter nackt? Die Puppe ist halbnackt, Dan. Erstklassiges Material.« »Erzähl ihr von heute, Charlie.« Wieder das helle Kichern. »Wir haben eine Flagge verbrannt, wo die Schweine es sehen konnten«, begann er. »Einige von denen sind fast durchgedreht. Es ist nur ein farbig bedrucktes Tuch, aber die Schweine überschlagen sich fast. Das zweite Mal haben wir es für die Fernsehkameras getan. Der Redakteur hat mir einen Zwanziger zugesteckt und gesagt, er brauchte action. Ich hab’ eine der Puppen rübergeholt, und während sie mir den Kopf verband, habe ich mich interviewen lassen. Ich habe erzählt, wie mich die Schweine angesprungen haben, während ich an der Seite stand und zugeschaut habe, und wie mich das gegen die Schweine eingenommen hat. Jetzt bin ich ein Rebell in vorderster Linie, habe ich in die Kamera gesagt. Yeah, Baby.« »Wir sind dann rüber zum Hilton«, berichtete Dan. »Wir haben im zweiten Stock ein kleines Feuerchen gelegt, aber dann tauchte einer vom Sicherheitsdienst auf, und wir mußten uns rasch verdrücken.«
»Was ich nicht schnalle«, murmelte Charlie und saugte wieder an seinem Joint, »ist die Art, wie die Schweine durchdrehen, wenn du irgendeine Parole gegen ihre Frauen oder Töchter schreist. Sie wissen, daß es nur Parolen sind, denn niemand kennt ihre Frauen oder Töchter. Aber sie reagieren wie wild. Total verrückt.« »Ich will nach Hause«, sagte Cindy leise. »Zurück nach New York. Das macht keinen Spaß mehr.« »Du machst Witze!« »Wir werden das Land übernehmen!« sagte Charlie. »An die Wand mit all den Schweinen. Sie hatten ihre Chance, jetzt sind wir dran. Eine neue Welt, jeder ist gut drauf, jeder bumst, mit wem er will.« »Menschen werden verletzt…« »Das ist der Preis der Revolution.« Sie schüttelte den Kopf, verwirrt und furchtsam. »Aber es sind doch noch Kinder…« »Wir sind hier«, sagte Charlie, und seine Stimme hörte sich schnarrend und unsympathisch an. »Wir sind die Zukunft. Wir holen uns, was wir bekommen können, und wir tun, was wir wollen.« Er streckte den Arm aus und legte eine Hand auf Cindys Schenkel. »Hübsch, sehr hübsch. Das würde mir gut gefallen, Dan. Hast du was dagegen?« Sie hielt sich sehr still, während sie darauf wartete, daß Dan reagierte, daß er wütend wurde und laut und deutlich erklärte, daß Charlie gefälligst seine Finger bei sich behalten sollte. Und während sie darauf wartete, durchliefen sie seltsame Gefühle, widersprüchliche Gefühle. Sie fragte sich, wie es sein würde, sich Charlie hinzugeben, während Dan zuschaute. Der Gedanke erregte und verängstigte sie gleichzeitig. Er erinnerte sie an jene Zeit, als sie eine Hure war. Im Augenblick empfand sie sich eher als Nonne. Unberührt. Sie wußte, wie es war, mit Männern zu schlafen, für die sie nichts empfand, es war schlecht und unbefriedigend. Aber als Nonne? Sie war keine Katholikin, sie glaubte nicht an Gott. Nicht richtig.
Und während sie wartete, wurde ihr bewußt, daß sie wieder einmal ihr Schicksal in die Hände anderer legte. Diesmal in Dans Hände. Sie wartete auf seine Entscheidung, als ob sie selbst über ihren Körper nicht verfügen könnte. Instinktiv wich sie zurück. »Ich gehe ins Bett«, verkündete sie. »Ich komme mit«, sagte Charlie grinsend. »Komm mir nicht zu nahe«, brachte sie heraus. »Laß sie in Ruhe«, sagte Dan, aber sehr überzeugend klang es nicht. »Klar«, sagte Charlie. »Kein Problem.« Sie blieb bis zum späten Nachmittag auf der Matratze, als Dan zu ihr kam und ihr sagte, daß es einen Marsch zum Amphitheater geben würde, wo die Parteitagsdelegierten der Demokraten den Kandidaten für die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten wählen würden. »Ich gehe nicht mit«, sagte sie leise. »Aber das wirst du nicht vermissen wollen. Das ist der entscheidende Punkt. Wir wollen die Stadt umkrempeln, das ganze Land reformieren. Das wirst du später deinen Kindern erzählen wollen, wie du den Anfang der Revolution mitgemacht hast, die Zweite amerikanische Revolution, Baby. Wie die Frauen in St. Petersburg 1917 oder die Frauen, die Mao auf dem langen Marsch durch China gefolgt sind, oder die Mädchen, die Fidel in der Sierra Maestra an seiner Seite hatte.« »Ich habe Angst, Dan.« »Klar hast du Angst. Aber du mußt dort sein, wo was los ist. Die Straßen gehören dem Volk, und wir sind das Volk, Baby. Los, zieh dich an, dann gehen wir.« Sie zog sich an.
13
Graues Dämmerlicht hatte sich in die Schluchten der Stadt geschlichen, als Cindy und Dan eintrafen und sich den mehreren tausend Menschen anschlossen, die bereits da waren. Cindy sah Vietcongfahnen und das schwarze Banner der Anarchie, und die Organisationsleiter bemühten sich – ohne Erfolg –, die rasch anschwellende Menge zu kontrollieren. Cindy klammerte sich an Dans Hand, als sie spürte, daß sie von der Woge mitgeschwemmt wurde. Mitten unter den Marschierern sah sie drei Karren, von Eseln gezogen, begleitet von schwarzen Feldarbeitern der Southern Christian Conference, ernsthafte Menschen, in ihrer eigenen Würde verhaftet. »Frieden jetzt!« riefen die Zuschauer, die den Marsch aus nächster Nähe erleben wollten. »Kommt mit!« riefen die Feldarbeiter ihnen zu. Hunderte drängten aus dem Grant Park auf die Straße, wo es jetzt eng wurde; man konnte sich kaum noch bewegen. Auf der Baiboa Avenue hielt die Polizei den Marsch auf. Die Leute entwichen wie Luft aus einem Ballon, sie schwirrten nach allen Seiten aus und nahmen neue Anhänger auf, meist junge Menschen, die aus Neugier gekommen waren und sich jetzt den Demonstranten anschlossen. Überall drängten sich Reporter und Kamerateams, besonders vor dem Hilton Hotel. Die Anspannung wuchs, als Polizisten versuchten, die Marschierer vom Hotel fernzuhalten. »Verlaßt die Straßen!« schallte es aus den Megaphonen. »Zurück auf die Gehwege!« Am Rand der Menge tauchte ein Mann mit einem Megaphon auf. »Hört nicht auf die Schweine!« rief er. »Die Straßen gehören uns! Uns! Killt die Schweine!« »Das ist Charlie!« rief Dan aufgeregt.
Cindy stellte sich auf die Zehenspitzen, um mehr sehen zu können. »Es wird Ärger geben«, sagte sie. »Das sollte er nicht tun.« Dan sah sie verwundert an. »Deshalb sind wir hier«, sagte er. »Um Ärger zu machen.« Ein dickbäuchiger Polizist trat zu Charlie und sprach auf ihn ein. Cindy sah den verächtlichen Ausdruck in Charlies Gesicht. Seine Lippen bewegten sich, und dann stieß er dem Polizisten das Megaphon vor die Brust. Der Mann stolperte rückwärts und ging zu Boden. Ein Ring von Demonstranten hatte sich rasch um den gestürzten Mann gebildet. Jetzt reagierte eine Handvoll blauer Polizisten. Sofort löste sich der Ring auf. Man half dem Kollegen auf die Füße und führte ihn zurück. Als sich ein anderer Polizist umsah, war Charlie untergetaucht. »Dieser Charlie!« sagte Dan lachend. »Er ist ein Teufelskerl!« Cindy wünschte, sie wäre nicht gekommen und läge jetzt unter ihren Decken, weit weg vom Geschrei und dem wachsenden Zorn. »Nie wieder Krieg!« skandierte die Menge. »Nieder mit LBJ!« »Folgt uns zum Amphitheater!« Aus der obersten Etage des Hotels flogen Toilettenrollen, ein Regen aus Konfetti und wassergefüllten Plastiktaschen. In einigen Zimmern blinkten Lichter, ein Signal der Unterstützung für die da unten. Die Polizei änderte ihre Taktik. Sie teilte sich in kleinere Gruppen und trieb Keile in die Demonstrantenmassen. Dadurch mußten sich immer wieder Teile der Marschkolonne zurückziehen. Ein attraktives rothaariges Mädchen löste sich aus der Menge und baute sich vor einem jungen Polizisten auf. Sie hob ihren Rock, darunter war das Mädchen nackt. Das Gesicht hinter dem Plexiglas lief rot an, wandte sich dann ab. Das Mädchen lachte und lief in die Menge zurück.
Etwas weiter oben im Demonstrationszug wurde ein schwarzer Polizist bespuckt. Er wischte sich den Speichel aus dem Gesicht, ohne eine Miene zu verziehen. Auf der Michigan Avenue gab es einen Sitzstreik der Demonstranten. Er sollte dokumentieren, wie ernst die Absichten der Marschierer waren. Vor dem Hilton schwoll der Lärmpegel an. Die vielen Scheinwerfer der Fernsehkameras heizten die Atmosphäre noch an. Geschosse flogen den blauen Linien entgegen. Mehrere Polizisten wurden getroffen, aber die Linien blieben unbewegt. Dan zog etwas aus seiner Tasche, zeigte es Cindy. Es war ein Korkball, in den zwanzig Nägel geschlagen waren, deren Spitzen hervorlugten. Dan holte wuchtig aus und schleuderte den Ball in die Nacht. Eine Flasche zerbrach auf dem Gehweg, ein Mädchen kreischte. Ein unrasierter Mann mit einem Motorradhelm provozierte die nahestehenden Polizisten mit verbalen Attacken. In seiner Hand hielt er ein Rohrstück, offenbar als Waffe gedacht. Zwei Polizisten hatten schließlich genug von den Beschimpfungen und liefen zu dem Mann hin, ihre Knüppel zum Schlag erhoben. Der Mann warf sein Rohr weg, im nächsten Augenblick lag er auf dem Boden und krümmte sich von den Tritten in seine Nieren. Wütendes Protestgeschrei, als die Polizisten den Mann wegschleppten. Ein Mann mit Brille und einer bestickten Lederjacke lief auf die vorderste Polizeilinie zu, das Gesicht verzerrt, die Hände zu Fäusten geballt. »Ihr verdammten Schweine! Geht nach Hause zu euren Frauen, denn die lutschen Schwänze, wenn ihr nicht da seid!« Ein stämmiger Polizist stürmte auf den Mann in der Lederjacke zu, der sich umdrehte und davonrannte. Der Polizist folgte ihm, auch dann noch, als die Menge eine Gasse für die Lederjacke öffnete. Der Polizist tauchte mit in der Menge unter, und im Nu
waren beide verschlungen, umgeben von wütenden, tretenden, schlagenden Demonstranten. Die Polizeilinie geriet in Bewegung, schließlich brachen die Polizisten aus, und mit einem Wutgeheul stürmten sie vor, gingen in die Masse der Demonstranten hinein, knüppelschwingend, schlagend. Die Leute wollten zurückweichen, den wuchtigen Knüppeln entkommen. Sie schlugen blindlings zu, blind vor Wut, ohne jede Disziplin, voller Haß. »Kill! Kill! Kill!« schienen die blauen Polizisten zu schreien, eine Litanei des Hasses und der Frustration. Es war der Schrei von verwirrten und verängstigten Männern, die die Welt aus den Fugen sahen, die eine Ordnung aufrechthalten wollten, der sie sich verpflichtet hatten. Männer, die beschützen und zerstören wollten. Männer, die auf Vergeltung aus waren. »Killt die Wichser! Killt die Hippies!« Und aus der Menge schallte es zurück: »Die ganze Welt sieht zu! Die ganze Welt sieht zu!« Der Polizeiangriff trieb die Demonstranten auseinander, die Menschen flohen einzeln oder in kleinen Gruppen. Einige wurden verfolgt und niedergeschlagen, Männer und Frauen, Jungen und Mädchen. Die Blauen traten in Nieren und Rippen, schlugen Köpfe und Gesichter blutig. Dan Gregory hielt Cindy an der Hand gepackt und zerrte sie aus dem Gewühl auf den Gehweg, aber dort war es noch enger, sie standen dort eingepfercht inmitten schreiender, weinender, blutender Menschen. »Ich habe Angst«, murmelte Cindy. Dan drückte sie in den Eingang des Haymarket Inn, eines Restaurants im Hilton Hotel. Ein behelmter Polizist verfolgte einen Mann, dessen Kamera an einem Gurt um seinen Hals hing. »Presse!« rief der Mann verzweifelt. »Presse!« Cindy sah, wie der Polizist den Knüppel schwang, wie der Fotograf zu Boden ging und der Knüppel immer wieder schwang
und zuschlug. Sie konnte es nicht mehr mit ansehen, mußte sich abwenden. Überall wütete jetzt der blaue Sturm gegen die Bürger, auf deren Beschützung sie eingeschworen worden waren. Eine Frau mittleren Alters drückte sich ängstlich gegen eine Fensterscheibe, als ein Polizist drohend und mit erhobenem Knüppel auf sie zustürmte, er drückte sie mit einer Hand gegen die Scheibe, mit der anderen ließ er den Knüppel niedergehen. Die Frau wollte ausweichen, dabei zerbrach die Scheibe; die Frau flog in den Raum dahinter, blutig von den Splittern, während sich der Polizist ein neues Ziel für seinen tobenden Zorn suchte. »Wir müssen hier weg!« rief Dan und rannte. Cindy lief ihm nach, aber schon Sekunden später hatte sie ihn verloren, abgedrängt von fliehenden Menschen, die dieser Hölle entkommen wollten. Plötzlich eine Pause. Die Menschen standen da, schauten sich an, versuchten zu begreifen, was geschehen war. »Warum?« fragte ein gut gekleideter Mann mit grauen Koteletten. »Ich will wissen, warum.« »Sie drehen durch«, antwortete jemand. »Sie sind verrückt. Die Cops drehen durch.« »Ich will wissen, warum«, wiederholte der Mann mit den grauen Koteletten. »Jemand muß doch eine Antwort darauf haben.« Ein Trio aus drei Polizisten näherte sich der Gruppe. Die Plexiglasgesichter sahen verquollen und grotesk entstellt aus. »Haut ab, ihr Schwanzlutscher!« Der Mann mit den grauen Koteletten trat einen Schritt vor. »Hören Sie, Officer, warum tun Sie das? Ich meine, ich will wissen, warum.« Der Officer, der ihm am nächsten stand, trieb seinen Knüppel in die Weichteile des Mannes. Stöhnend sackte er auf den Gehweg. Der Officer packte ihn am Kragen und stellte ihn wieder auf die Füße, um ihm dann einen Knüppelschlag auf den Rücken zu geben. Der Mann brach wieder zusammen.
Die Umstehenden rannten weg, wollten nicht die nächsten Opfer sein. Cindy rannte auch, sie folgte einem Mann in Khakihosen und freute sich, daß sie mit ihm Schritt halten konnte. Plötzlich stürzte Khakihose, er war über irgend etwas gestolpert. Er raffte sich hoch, kam auf die Knie, aber dann näherte sich eine breite blaue Gestalt, stieß Verwünschungen aus und trat zu. Khakihose stürzte wieder, wälzte sich über den Boden. Blut quoll aus seinem Mund. Das blaue Bein holte zu einem weiteren Tritt aus. »Hör auf!« kreischte Cindy und warf sich dem Polizisten entgegen. »Sie bringen ihn doch um!« Ein stämmiger Arm schlug nach ihr, erwischte sie an der Brust. Sie schrie auf und schwankte zurück, hielt sich aber auf den Beinen. Das Gesicht hinter dem Plexiglas war nicht zu erkennen. Mit einem raschen Schritt war der Polizist bei Cindy und schwang seinen Knüppel. Cindy konnte dem Schlag ausweichen. »Widerliche Fotze!« dröhnte es dumpf hinter dem Plexiglas. Sie wich fünf, sechs Schritte zurück, bis sie etwas Hartes, Kaltes zwischen den Unterschenkeln spürte. Diesmal schaffte sie es nicht, auf den Füßen zu bleiben, sie stolperte über den Knüppel des Polizisten und rutschte auf Knien und Händen über den harten Beton. Ängstlich blickte sie hoch. Vor ihr türmte sich ein blauer Riese auf, der grinsend und wie mit einer Maske aus Haß auf sie starrte. »Jetzt kriegst du’s, du kleine miese…« »Stop!« Der Befehl kam in einem harten, knarrenden Kommandoton. Der uniformierte Polizist ließ seinen Knüppel sinken. »Sie ist eine von ihnen, Lieutenant«, sagte er mit fauchender Stimme. Der Mann, der ihr gegenüber stand, trug eine rote Regenjacke. Er half Cindy auf die Füße. »Verschwinden Sie hier, Gregor«, sagte der Mann in der Regenjacke. »Gut möglich, daß Sie sich wegen dieses Ausrastens verantworten müssen, Sie verrückter Hund.«
Der Polizist zog sich widerwillig zurück, während sich der Mann an Cindy wandte. »Sind Sie in Ordnung?« Sie konnte nicht antworten. »Kommen Sie, ich bringe Sie von hier weg«, sagte er. Er faßte sie am Ellenbogen und führte sie von der Menge weg, um die nächste Straßenecke. Dort schwappte ihnen eine Menschenwoge entgegen, rennend, keuchend. Der Mann in der Regenjacke drückte Cindy gegen eine Hauswand und stellte sich schützend vor sie. Die Leute rannten vorbei, kurz hinter ihnen vier Polizisten, die den Abstand rasch verkürzten. Der Mann führte sie in eine schmale Gasse. »Hier sind Sie sicher. Da hinten ist das Le Petit Chien, ein gutes französisches Restaurant.« Sie blieben stehen, und sie lehnte sich gegen eine Mauer, erschöpft, außer Atem. Sie spürte, wie das Blut durch ihre Adern raste. Er zündete sich eine Zigarette an und bot ihr auch eine an, aber sie schüttelte den Kopf. Er zog gierig an der Zigarette und musterte Cindy ausgiebig, bevor er fragte: »Wie kann ein nettes Mädchen wie Sie nur in einen solchen Schlamassel hineingeraten?« Sie nahm ihn erst jetzt zur Kenntnis. Ein großer Mann, eckig, gepflegt. Er sah aus, als wäre er gerade erst aus der Dusche gestiegen, frisch rasiert und frisiert. Er erinnerte sie an jemanden. »Ich bin Polizist«, sagte er. »Lieutenant. Gut, daß ich gerade vorbeigekommen bin. Dieser Gregor ist ein unbeherrschter Typ, der Blut geleckt hat.« »Warum?« brachte sie heraus. Er rollte die Zigarette zwischen den Fingern. »Manche Cops sind schlimme Typen. Das ist bei Polizisten nicht anders als unter Nichtpolizisten.« »Warum geschieht das alles? Die Leute haben ein Recht darauf, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren.« Seine Lippen wurden dünn. »Wo kommen Sie her? New York, nehme ich an.« Sie nickte. »Ja, ich bin…«
»Das ist nicht New York«, sagte er rasch. »In unserer Stadt gibt es viel Schlägerpotential, auf beiden Seiten…« »Die Polizei ist dazu da, die Menschen zu beschützen.« Er ließ die Zigarette fallen, trat sie aus. »Sie sind keine von diesen Hippies. Ich meine, Sie sehen anständig und gepflegt aus, haben wahrscheinlich ordentliche Eltern…« »Mir geht es jetzt wieder gut. Ich gehe lieber.« »Ja«, sagte er und trat näher an sie heran. »Warten Sie noch eine Minute.« Seine Hände berührten ihre nackten Arme, fuhren leicht darüber. »Sie sind fast noch ein Kind…« »Bitte.« Sie rutschte an der Mauer entlang, aber er hielt sie fest an den Schultern, und sie konnte sich nicht bewegen. »Lassen Sie mich los.« »Ihr Kids seid seltsam.« Er beugte sich über sie, aber sie wich aus. Er hielt ihr Kinn und versuchte wieder, sie zu küssen. Cindy spürte, wie ihre Knie zu schwanken begannen. Eine Art Hilflosigkeit nahm sie gefangen. »Ihr Kids habt keine Verantwortung. Ihr denkt, wenn ihr euch mit Drogen volldröhnt und mit jedem bumst, habt ihr alles, was ihr braucht. Aber ihr habt keine Moral, ihr könnt richtig und falsch nicht voneinander unterscheiden. Deshalb gibt es solche Zusammenstöße wie heute. Es gibt Regeln, nach denen wir leben müssen.« Er preßte seinen Mund auf ihren. Sie versuchte sich zu wehren. »Ha, das gefällt dir, was? Mit einem Fremden in einer engen Gasse. Ja, du brauchst es, was? Ein richtiger Mann hat es dir schon lange nicht mehr besorgt, was?« Er drückte seinen Unterleib gegen sie. »Als ich noch bei der Sitte war, wußte ich genau, welche Mädchen es für Geld und welche es aus Geilheit machten. Und ihr seid alle nur geil. Kommunisten und Atheisten. Ihr verderbt alles. Kinder wie du sollten um diese Zeit zu Hause im Bett sein.« Rhythmisch stieß er mit seinem geschwollenen Glied gegen sie. Sie wollte ihm entkommen, aber er war zu schnell. Seine Hände hielten ihre Hinterbacken gepackt. Sein Atem kam hechelnd.
»Bitte, lassen Sie mich gehen«, jammerte sie. Vielleicht ist das meine Strafe, dachte sie. Strafe… für was? »Irgendeiner muß es euch Kids mal zeigen. Ihr müßt lernen, euch zu benehmen. Hitzköpfe und Huren. Ein Land kann nicht von Hitzköpfen und Huren regiert werden. Ihr müßt lernen…« Er packte jetzt grob ihre Brüste, beugte sich vor, versuchte, sie zu küssen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser in sie hineinzukommen. »Verdammt, hilf mir!« fluchte er. »Hilf mir.« Sie schloß die Augen und wartete, bis seine Zuckungen abebbten. Dann ließ er sie los, stand schwankend da, die Augen gerötet, und seine Zungenspitze fuhr nervös über seine Lippen. Er schaute an sich hinunter, auf den feuchten Fleck auf seiner Hose. »Schau dir das an! Schau mal, was du mir angetan hast!« Er holte mit der Hand aus und gab ihr eine Ohrfeige. Von der Wucht des Schlages fiel sie zu Boden. »Fotze! Ihr seid alle gleich.« Hinten, am Eingang der Gasse, zeigte sich ein Schatten, der vorsichtig näher kam. »Was ist da los?« »Sprague?« »Lieutenant?« »Ja.« »Ah, ich sehe, daß Sie eine von ihnen haben.« Der Lieutenant zog seine Regenjacke aus und hängte sie über den Arm, damit er den Fleck verdecken konnte. Er lachte grimmig. »Ja, ich hab’s diesem Flittchen gezeigt…«
ZWEITES BUCH
Mutter, darf ich schwimmen gehen? Ja, meine liebe Tochter. Häng deine Kleider übern Hickorystamm und geh nicht zu nah ans Wasser. Anonym
1
Ein Hotel in Manhattan, schmuddelig und alt, in Sichtweite vom Lincoln Center. Ihr Zimmer war schmal und dunkel, die Wände voller Flecken, der Fernseher funktionierte nur tagsüber. Da die Wände dünn waren, konnte sie nebenan die ältere Frau mit sich selbst sprechen und lachen hören, oft und laut. In den frühen Morgenstunden weinte die Frau. Cindy verbrachte die meiste Zeit im Bett, verharrte in der Halbwelt zwischen Schlaf und Wachsein, phantasierte, bemüht, alle Gedanken abzuwehren – erfolglos. Ihre Verwirrung wuchs, und ihre Verzweiflung auch. Sie mußte sich eingestehen, daß sie sich auf einer selbstzerstörerischen Bahn befand. Woher kam diese Bereitschaft, sich von anderen mißbrauchen zu lassen? Welches Schicksal war ihr zugedacht? Noch während sie sich diese Fragen stellte, bildete sich schon die Antwort in ihren Gedanken – sie hatte keine Zukunft. Für sie gab es nur die beunruhigende, unbefriedigende Gegenwart und eine Vergangenheit, an die sie lieber nicht zurückdachte. Sie weinte oft, wünschte sich verzweifelt ein anderes Leben. Und nachdem die Tränen versiegt waren, schwor sie sich, ein anderes Leben zu beginnen, die guten Männer von den schlechten unterscheiden zu lernen, den Platz zu finden, den das Schicksal für sie bereithielt. Sie nahm in diesen Tagen nur eine Mahlzeit zu sich, spätabends in einem Eier-und-Schinken-Imbiß, der von Junkies und Huren frequentiert wurde, von Dealern und Zuhältern. Nach dem Essen eilte sie in ihr Hotelzimmer zurück. Nach zehn Tagen schienen sich die Wände nachts auf sie zuzubewegen, als ob sie auf verborgenen Rädern stünden. Die gedämpften Geräusche des Streitens und Liebemachens und das Weinen der Einsamen nisteten sich in ihr Bewußtsein ein. In
einer Nacht mußte sie sich den heftigen Kampf zweier Männer um eine Frau mit anhören. Am anderen Tag wurde einer der Männer erstochen aufgefunden. Es war auf einer niedrigeren Ebene, eine Wiederholung dessen, was sie in Chicago erlebt hatte: Haß und Gewalt. In dieser Nacht träumte sie, daß sie es war, die man erstochen hatte, aufgeschlitzt von der Vagina bis zum Nabel, zum Verbluten zurückgelassen. Sie wachte kalt und zitternd auf und mußte gegen die Panik ankämpfen, die in ihr aufstieg. Am Morgen zog sie aus. Mit einem Bus fuhr sie ins Greenwich Village. Sie traute sich nicht in die U-Bahn. Zu Fuß ging sie in die Barrow Street, wo das rote Ziegelsteinhaus stand, in dem Rafe Giacomin wohnte. Vor seiner Apartmenttür blieb sie wie angewurzelt stehen. Angenommen, er war nicht da? Oder er schickte sie weg? Sie sammelte ihre ganze Kraft und klopfte zaghaft. Sie hörte seine Stimme durch die Tür. »Es ist offen…« Sie entdeckte ihn in der Mitte des Studios, wo er auf dem Boden hockte, nur mit roten Shorts bekleidet, eine Hantel in den Händen, den Rücken ihr zugewandt. »Nur eine Sekunde«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Er sog tief die Luft ein, die Muskeln spannten sich, und dann drückte er sich hoch, die Gewichte dicht an der Brust. Er stellte ein Bein vor und drückte die Gewichte über den Kopf, bis die Arme ausgestreckt waren. Sie schaute fasziniert zu, während die zitternden Arme die schwere Hantel hielten. Dann ließ er sie in einer kontrollierten Bewegung zu Boden sinken. »Einsfünfundsiebzig«, sagte er. »Ganz gut.« Sie sagte leise: »Ich wußte gar nicht, daß du Gewichtheben betreibst.« »Das ist heutzutage meine einzige sportliche Betätigung.« Er drehte sich geschmeidig nach ihr um und lächelte sie an. »Ich habe früher mit den Kids Basketball gespielt, aber dafür bin ich zu alt geworden. Entschuldige mich.« Er betrat den begehbaren Kleiderschrank und holte sich einen Bademantel, den er sich
umwarf. Er deutete auf den Koffer, den Cindy noch in der Hand hielt. »Hast du vor, länger zu bleiben, Cindy?« »Darf ich, Rafe? Nur für eine kleine Weile.« »Du wirst natürlich auf der Couch schlafen müssen. Mein Bett gebe ich für niemanden auf. Außerdem ist es für die meisten Leute zu hart. Ich benutze ein Brett, für den Rücken, verstehst du? Ich arbeite morgens, dadurch könntest du früh wach werden.« Sie lächelte dankbar. »Ich mache für dich sauber, Rafe, und ich kann auch für dich kochen. Aber nicht sehr gut, muß ich dir sagen.« »Verschone mich mit kulinarischen Experimenten. Du hältst sauber, ich koche. Und lauf mir nicht in die Füße. Warum setzt du nicht schon mal den Koffer ab? Wir suchen dir Platz im Kleiderschrank.« »Ich bin dir eine Erklärung schuldig, Rafe«, sagte sie leise. »Ein andermal, bitte.« Er kehrte zu seiner Hantel zurück. »Hierfür brauche ich meine ganze Konzentration. Mach es dir bequem, während ich meinen Körper trainiere.« Sie setzte den Koffer ab, setzte sich darauf und schaute mit Interesse, Freude und Dankbarkeit zu. Im West Boondocks, den Piers vom Hudson River gegenüber, gab es soul food, eine harmonische Rassenmischung und Musik von einem Jazz-Piano. Cindy und Rafe aßen Schweinekoteletts mit schwarzen Erbsen und tranken Bier. Es war der Abend nach dem Tag, an dem Cindy ins Studio eingezogen war. Seither hatten sie sich kaum gesehen, er war zu sehr mit verschiedenen Dingen beschäftigt gewesen. An diesem Abend hatte er gesagt, sie würden essen gehen. Jetzt orderte er Biernachschub. »Ich habe Dan Gregory gestern getroffen«, sagte er, nachdem sie sich zugeprostet hatten. »Er sagt, Chicago sei ein gewaltiger
Erfolg gewesen, der Beginn größerer und besserer revolutionärer Taktiken.« »Ich möchte nicht darüber sprechen.« »War es so schlimm, wie es im Fernsehen ausgeschaut hat? So schlimm, wie es die Zeitungen schreiben?« »Es war schlimm.« »Die Polizei hat durchgedreht?« »Jeder drehte durch, so kam es mir jedenfalls vor. Auf jeder Seite gab es Verrückte. O Rafe, es war bestialisch. Sie haben die Polizisten nur Schweine genannt. Aber es waren nicht nur unsere Leute, es waren auch die Polizisten, von denen einige nur darauf lauerten, endlich zuschlagen zu können. Ohne jeden Sinn, ohne Zweck. Nur aus ihren eigenen, perversen Gründen.« »Schweine sind keine Menschen. Es spielt keine Rolle, was Schweinen widerfährt. Deshalb hat man den Polizisten diese Bezeichnung gegeben.« Sie nickte. »Es war eine Scharade. Die Schauspieler hätten ihre Rollen tauschen können, ohne daß es einem aufgefallen wäre.« Sie seufzte tief. »Ich will das alles aus meinem Gedanken streichen.« »Dan Gregory auch?« »Ja.« »Ist es wirklich vorbei zwischen euch?« »Es hat nicht wirklich etwas zwischen uns gegeben.« Sie sah eine Rückblende, die in ihren Gedanken lief. Dan Gregory. Sie hatte seinen Körper geschätzt, auch die Art und Weise, wie er in sie eingedrungen war, sein hartes Stoßen. Es war ein wildes Sichgehenlassen mit ihm gewesen, es hatte Spaß gemacht, aber es war doch oberflächlich, bedeutungslos gewesen. Er hatte ihr geholfen, über Hettie Johns hinwegzukommen, wie Hettie ihr geholfen hatte, über ihre Mutter hinwegzukommen und über Roy und… Dan Gregory. Sie hatte Schwierigkeiten, ihn sich jetzt in diesem Augenblick bildlich vorzustellen. Seltsam, wie man einem ande-
ren Menschen körperlich so nahe gewesen sein kann, und dann doch zu vergessen, wie er aussah. »Es war ein schlechter Trip«, sagte sie zu Rafe. »Ich bin froh, daß er vorbei ist.« »Ich habe ihn verdrängt«, sagte sie fröhlich. Aber das glaubte sie selbst nicht. Weder Dan Gregory noch Chicago. Beide hatten sich ihr eingebrannt, die Erinnerungen würden vielleicht im Laufe der Zeit verblassen, aber nie ganz verschwinden. »Ich fühle mich verloren, Rafe. Was soll ich tun?« »Wenn es dir wirklich schlecht geht«, sagte er mit erzwungener Fröhlichkeit, »dann empfehle ich Mutters Küche.« »O Gott, nein!« »So schlimm? Nun, vielleicht fällt mir etwas anderes ein.« »Warum kann ich nicht einfach spielend durchs Leben gehen? Anderen Mädchen gelingt das. Sie haben allen Spaß der Welt.« »Das ist nicht das, was du suchst.« Er musterte sie knapp. »Hast du schon mal an ein Kind gedacht? Vielleicht bist du für das konventionelle Leben geschaffen.« Sie verzog das Gesicht. »Kannst du mir sagen, was ein gutes Familienleben ist, Rafe? Wie geht das? Meine Eltern sind geschieden. Meine Mutter hat einen Ehemann, der nie mehr als drei Worte mit mir spricht.« Sie lachte verbittert auf. »Das hört sich nach Seifenoper an. Ich kenne keinen, der glücklich verheiratet ist.« Sie verzog noch einmal ihr Gesicht. »Selbstmitleid, wie ich das hasse!« »Deine Familie hat Geld, und mit Geld kann man sich eine Menge kaufen.« »Mir hat das Geld nichts gebracht.« »Vielleicht hast du versucht, die falschen Dinge zu kaufen.« Er wurde ernst. »Du bist noch ein Kind. Du stehst erst am Anfang.« »Am Anfang von was? Ich bin eher am Ende.« »Jetzt hör aber auf. Okay, man hat dich verletzt. Du hast entdeckt, daß wilde Bestien im Dschungel lauern, daß sie Blut sehen wollen, daß sie Schmerzen zufügen können. Du hast erfahren, daß du hart sein mußt, um in diesem Land bestehen zu können.«
»Es gibt Dinge, über die du nichts weißt«, sagte sie, ein wenig irritiert. »Vielleicht habe ich bisher einfach nur Pech gehabt.« »Dann gehörst du einem großen Club an.« »Danke für dein Mitgefühl.« »Ja, du hast mein Mitgefühl. Reicht dir ein Tag, eine Woche, ein Jahr? Oder soll ich ein ganzes Leben mit dir fühlen?« Er schaute in sein Bier und sprach, ohne den Kopf zu heben. »Cindy, es ist Zeit, sich der Wirklichkeit zu stellen.« »Du hast leicht reden, du hast deine Malerei.« »Die ist nicht wirklich das, was ich will. Das habe ich herausgefunden, und vielleicht werde ich bald etwas anderes machen. Vielleicht ist man als Schwuler auf die Grausamkeiten dieser Welt besser vorbereitet.« Sie hatte vergessen, daß Rafe homosexuell war, hatte die zahlreichen Kränkungen vergessen, mit denen einer wie er leben mußte. »Geh zurück aufs College«, sagte er. »Laß dich von den Büchern führen. Die Schule ist ein sicherer Ort, da bist du behütet…« »In der Schule gibt es nichts, was ich mir wünsche, Rafe. Dessen bin ich mir sicher.« »Also gut. Keine Schule, keine Mutter. Was sonst? Ich komme wieder zurück zur Ehe…« »Würdest du mich wollen, Rafe?« fragte sie flirtend. »Ja«, sagte er ernst. Sie schaute in die offenen schwarzen Augen und erkannte, daß er es ernst meinte, daß er sie wirklich heiraten würde. Sie griff nach seiner Hand. »O Rafe, wir sind gute Freunde, ja?« In dem dunklen Gesicht zuckte es kaum merklich, dann sah er sie an, listig irgendwie, der Blick eines Mannes, der eine Menge gelernt hatte und noch mehr verstand. »Certainement, ma petite«, sagte er mit einem wunderbaren Pariser Akzent. »Und vergiß nicht, Arbeit gibt es überall. Arbeit ist Amerikas Allheilmittel bei Krankheiten der Seele und des Körpers. Und Gott segne uns.«
»Und frohe Weihnachten«, ergänzte sie. Arm in Arm spazierten sie zurück zur Barrow Street, sie lachten und sangen die Melodien vom neuen Album der Beatles.
2
Sie saß auf dem harten Stuhl mit der geraden Rückenlehne, fühlte sich sehr jung und sehr verletzlich, faltete die Hände verlegen im Schoß ihres Sommerkleidchens, gelb und weiß mit einem breiten schwarzen Gürtel, und wartete. Und während sie wartete, erinnerte sie sich. »Mach dir nicht die Mühe, noch einmal zu kommen«, hatte er das letzte Mal gesagt. Zu schrecklich. Du sollst deinen Spaß haben. Hatte sie ihren Spaß? Warum war ihr dann so oft zum Weinen zumute? Vielleicht hätte sie wirklich nicht wiederkommen sollen. Aber er war ihr Vater. Er würde sich bestimmt über einen Besucher freuen. Es war gut möglich, daß Roy den Rest seines Lebens in dieser Umgebung verbringen mußte. Der Gedanke daran ließ sie schaudern. Die Tür öffnete sich, und Roy betrat den privaten Besucherraum, ein Wärter hinter ihm. Der Wärter nahm seine Position an der Wand ein. »Hi, Kid! Du siehst phantastisch aus, tausendeinprozentig!« Sie beugte sich über den Tisch und bot ihm ihre Wange an. Er küßte sie hastig und setzte sich. »Du weißt doch, daß du nicht zu kommen brauchst.« »Vater«, hörte sie sich sagen, und das Wort ging ihr nur langsam von der Zunge, »wie geht es dir?« »He, nenn mich Roy. Oder willst du sagen, daß ich alt geworden bin?« Er blinzelte ihr zu. »Ich kann noch bei Puppen landen, die nicht älter sind als du.« Sie würde rot und wünschte, er würde nicht so mit ihr reden. Ihr fiel das Netzwerk kleiner Falten um seine Augen auf, und seine Lippen waren dünner geworden, als wollten sie seine innere Anspannung verraten.
»Was geschieht mit dir, Roy?« »Geschehen? Nichts, Kid, gar nichts. Es läuft alles für mich.« In ihrem Inneren verkrampfte sich alles zusammen. »Bitte«, sagte sie, »rede mit mir.« »Worüber, Kid?« »Was geschieht jetzt mit dir?« Er brachte die Fäuste hoch, die Daumen nach oben. Er legte den Kopf schief. Eine billige Jimmy-Cagney-Imitation. »Mädchen, mit mir geschieht nichts. Jetzt fängt irgendwann der Prozeß an, und dann bin ich frei. In der Sonne, an der frischen Luft. Unschuldig und wie neu, Kid.« »Hör auf damit!« Sie kämpfte gegen eine aufsteigende Wut an und fügte dann leise hinzu: »Hast du es getan, Roy? Hast du diesen Mann getötet?« »Das sollen die Geschworenen entscheiden.« »Du hast ihn getötet, Roy.« »Laß es gut sein, Kid.« Er grinste, das vertraute Zucken um die Lippen. »Man muß optimistisch sein. Wer weiß, vielleicht wird dies mein Durchbruch sein. Nach den vielen Jahren, in denen ich mich abgestrampelt habe.« »Wovon redest du?« Er lachte kurz auf. »Neil Morgan und ich, wir haben eine Absprache.« »Eine Absprache?« Wieder das krampfartige Zusammenziehen in ihrem Magen. »Vergiß es. Wenn die Zeit reif ist, erkläre ich dir alles. Bis dahin sieh zu, daß du keine Falten in dein hübsches Gesicht bekommst, schon gar nicht wegen Roy Ashe.« »Das ist kein Spiel, Roy. Ein Mann ist tot. Stört dich das denn überhaupt nicht?« »Kann ich den Toten zurückbringen?« fragte er scharf. Dann, im vertrauteren Ton: »Kid, ich hatte nichts damit zu tun. Du wirst sehen, die Jury wird entscheiden, daß ich nicht schuldig bin.« Sie atmete tief ein. »Ich war in Chicago, Roy.«
Er nickte. »Großartige Stadt. Viel Spaß. War mal eine Nacht da, die hat ‘ne Woche gedauert.« Er lachte. »Hast du was aufreißen können, Kid?« »Ja«, sagte sie und stand auf. »Es ist eine Menge gerissen.« »Herrlich. Ich bin froh, daß du gekommen bist, aber mach dir die Mühe nicht noch mal. Ich meine, dies ist kein Ort für junge hübsche Mädchen.« Er ging auf die Tür zu, die vom Wärter geöffnet wurde. Roy Ashe drehte sich um. »In dieser Bude kann man viel nachdenken. Ich habe mir für die Zeit danach einiges vorgenommen. Ich werde nach Mexiko gehen, in die Sonne. Acapulco, wo die Mädchen knackig und braungebrannt sind. Wie hört sich das an, Kid? Vielleicht besuchst du mich da, was?« Sie wollte schreien, wollte ihn beschimpfen, weil er sich ihr noch immer verweigerte, weil er sie nicht zur Kenntnis nahm. Aber sie sagte nur, Acapulco wäre eine gute Idee. Großartig. Die folgenden Wochen erlebte Cindy wie unter einem dichten Nebel. Sie schlief lange und saß oft vor dem Fernseher, sie ging gelegentlich ins Kino, wenn Rafe in seinem Studio nicht gestört werden wollte. Ab und zu versuchte er sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie schottete sich ab, sobald das Thema persönlich wurde. Einmal, als er sie nach ihrem Vater fragte, starrte sie ihn lange an, ohne zu antworten. Er begann sich um sie zu sorgen, aber dann reagierte sie schließlich doch. »Mein Vater hat es getan, Rafe. Er ist ein Mörder, und er wird damit durchkommen.« »Wovon redest du? Wenn er schuldig ist…« »Ich weiß nicht wie«, sagte sie, »aber er hat irgendeine Vereinbarung getroffen und wird freigesprochen.« Es war das letzte Mal, daß sie ihm gegenüber ihre Familie erwähnte. Von ihrer Mutter sprach sie nie. Sie weigerte sich, Rafe an sich herankommen zu lassen. Sie verschloß ihr Inneres.
Sie war fast zwei Wochen bei ihm, als der Anruf kam. Rafe war ungewöhnlich begeistert, und als er aufgelegt hatte, sprang er in die Luft, lachte und sang vor sich hin. »Ich gehe, ich gehe!« Sie lachte, froh über das, was ihn froh machte. »Wohin gehst du?« »Weg«, sagte er abrupt. »Nach Europa. Das war die Schiffahrtslinie. Ich stand auf der Warteliste eines Frachters. Es hat geklappt.« Das Blut in ihren Adern gefror. Ein Gefühl überwältigte sie, das sie von Chicago her kannte, das völlige Verlassensein. »Ich wußte nicht, daß du weg wolltest.« »Es hat keinen Sinn, darüber zu reden, solange es nicht sicher ist. Seien wir doch ehrlich, das ist kein Leben hier. Ich bin mit meiner Arbeit an einem toten Punkt angelangt, ich brauche eine Veränderung. Neue Einsichten, neue Geräusche, neue Gesichter. Ich gehe nach Paris. Ich habe Freunde da.« »Das freut mich für dich, Rafe.« »Ich wünschte, ich könnte dich mitnehmen. Das wäre auch für dich gut, eine neue Situation, ein anderes Land. Aber wir beide zusammen – das wäre nicht so gut.« »Wahrscheinlich nicht.« »Du mußt auf deinen eigenen Füßen stehen, Cindy. Jetzt lebst du wie in einem Traum.« »Ich suche mir eine andere Bleibe.« »Du kannst hier bleiben. Ich will das Studio behalten. Die Miete ist nicht teuer, ich kann sie mir leisten. Sei mein Gast… Aber eines Tages komme ich zurück, dann will ich wieder einziehen.« »Du bist lieb, Rafe.« »Vergiß es.« Sie küßte ihn impulsiv. »Du bist mein Freund, Rafe, und ich liebe dich sehr.« Er wollte etwas sagen, zögerte, begann von neuem. »Ich möchte eins sagen. Über deine Mutter.« Sie zog die Stirn kraus und wandte sich von ihm ab. »Hör mir zu! Sie ist da, und sie ist deine
Mutter. Okay, du magst sie nicht. Aber du brauchst sie. Irgendwie brauchen wir alle unsere Mutter.« »Das kann ich nicht. Sie ist keine Mutter. Sie ist eine…« »Ah, eine Heuchlerin, richtig? Verschlagen und heimtückisch und überhaupt. Trau keinem über dreißig und erst recht nicht Papa und Mama. Sieh dir doch die Jungen an. Uns. Wie großartig wir sind. Perfekt, verständnisvoll, sanft, verzeihend. Und vertrauenswürdig. Diese Erfahrung hast du doch bis heute gemacht, oder?« »Bitte, keine Belehrungen.« »Richtig. Belehrung beendet.« Er zupfte an seiner langen Nase und lächelte. »Wie auch immer, ich liebe dich und wünsche dir nur allererste Sahne. Vielleicht treffen wir uns eines Tages in Paris. Wenn ich seßhaft geworden bin, schicke ich dir meine neue Adresse.« »Wirklich?« fragte sie. »Wirklich.« Acht Tage später reiste er gegen Mitternacht von einem Pier in Brooklyn ab. Sie starrte noch lange, nachdem der Frachter den Hafen verlassen hatte, hinaus auf die dunkle See. Sie dachte mit Grauen daran, zurück in das leere Studio zu gehen.
3
Am darauffolgenden Abend attackierte Cindy ihr Haar mit einer Rasierklinge, bis es wie ein Mönchskäppi um ihren hübschen Kopf lag. Mit ruhiger Hand und einem Geschick, das sie sich nicht zugetraut hatte, schnitt sie sich Fransen in den Pony. Anschließend betrachtete sie sich im Spiegel. Ihr gefiel, was sie sah, sie wirkte lebhafter und frecher, und ihre haselnußbraunen Augen kamen besser zur Geltung. Sie fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare und lachte fröhlich. Sie versuchte es mit Malen, aber sie fand bald heraus, daß die Malerei nicht ihre Stärke war. Die Tage kamen ihr ungewöhnlich lang vor. Sie besuchte die New School und trug sich in einen Kurs mit dem Titel ›Die Geschichte des Films, Vergangenheit und Zukunft‹ ein. Einmal in der Woche wurden Filme gezeigt. Die Kopien waren meist körnig, der Ton kaum zu verstehen, die Beleuchtung dürftig. Die Filme hatten häufig keine Handlung, sie ersetzten Kunst durch Derbheit. Der Lehrer erklärte nach jedem Film, daß der Streifen die unverwechselbare Handschrift des Machers trüge und ein Schritt zur Befreiung des Kinos wäre. Die Derbheit nannte er Ehrlichkeit, den dürftigen Schnitt sah er als Realismus an, die schwachen schauspielerischen Leistungen waren für ihn der Beweis, daß sich die Darsteller diszipliniert an die Anweisungen des Regisseurs gehalten hatten. Der letzte Film der Serie zeigte einen jungen Mann, der auf einer Holzkiste saß und Gitarre spielte. Er saß da und spielte vierundzwanzig Minuten lang, offenbar sang er den Text zu der Melodie, die er spielte. Sicher konnte Cindy nicht sein, denn es gab keinen Ton.
Dies, sagte der Lehrer begeistert, war der Sieg des puren Bewegungsfilms und die Macht des Auges über die irrelevanten Machenschaften der früheren Zeit. Cindy nahm Gitarreunterricht. Sie lieh sich ein Instrument und übte jeden Tag zwei Stunden lang. Am Ende der ersten Woche spielte und sang sie ›Tom Dooley‹, und am Ende der dritten Woche hatte sie Woody Guthries ›Take Me a Ride in the Car, Car‹ gelernt. Am Freitag fuhr sie nach Fire Island hinaus und sagte sich, sie würde schon ein leeres Plätzchen am Strand finden, wo sie übers Wochenende auf der Gitarre üben konnte. Nach dem Abendessen bat sie Maggie und Bob, ihrem Spiel zuzuhören. In der zweiten Hälfte von »Tom Dooley« kam ein verhaltenes Prusten über Maggies Lippen. Cindy hörte auf zu spielen. »Ist es so schlimm?« »Oh, Liebstes«, sagte Maggie, die nicht länger versuchte, ihr Amüsiertsein zu verstecken. »Du hast noch nie einen Ton halten können.« Bob sagte scharf: »Ich glaube, du solltest den Mund halten, Maggie.« Sie ignorierte ihn. »Erinnere dich doch, Liebling«, sagte sie zu Cindy. »Du warst schon in der Grundschule eine Zuhörerin. Und das bist du auch geblieben, fürchte ich.« Kurz darauf ging Cindy aus dem Haus und hinunter an den Strand. Die See war sanft und still, und auf dem Wasser glitzerte das Mondlicht. In einiger Entfernung sah Cindy die Umrisse eines Pärchens, das sich umarmte. Cindy wandte sich ab. Dies war nicht die Zeit, in der sie allein sein wollte; morgen würde sie zurück in die Stadt fahren. Aber der Samstag war ein schöner, klarer Tag, und sie entschied, die Sonne am Strand zu nutzen. Sie fand einen Platz nahe den Dünen und legte sich auf den Rücken. Sie versuchte, ihre Gedanken abzuschalten, aber das wollte ihr nicht gelingen. Sie dachte an den gestrigen Abend. Maggies Bemerkung war wie eine Niederlage gewesen. Sie mußte an BB denken und fragte sich,
was er jetzt wohl machte, wo er war, und wie schön es wäre, wenn er jetzt neben ihr läge; gleichzeitig war sie froh, daß sie ihm nicht begegnete, daß er sie nicht wieder zu etwas überreden konnte, was sie nicht wollte. In ihren Gedanken gefangen, bemerkte sie nicht, daß David Altman neben ihr stand und auf sie hinabschaute. Er räusperte sich. Sie schlug langsam die Augen auf, blinzelte gegen die Sonne und erkannte das Gesicht mit der weißen Nase. Sie schloß die Augen wieder. Er ließ ein kurzes, nervöses Lachen hören. »Ich lag am Strand und habe gelesen, da sah ich dich von hinten und habe dich gleich erkannt.« »Ich versuche, ein bißchen zu dösen, David«, sagte sie und hoffte, daß das reichte, um ihn zu vertreiben. »Oh, ja, natürlich. Nun, es war schön, dich wiederzusehen. Vielleicht können wir uns später mal unterhalten.« Sie seufzte und kam hoch, stützte sich auf die Ellenbogen. Er war schon auf dem Rückzug. »Oh, komm, setz dich zu mir, ich kann sowieso nicht schlafen.« Er kam zurück und setzte sich neben sie auf das Strandtuch, nachdem sie ihm Platz gemacht hatte. »Wie ist es dir ergangen, Cindy?« »O bitte, David! Keine höfliche Konversation. Ich glaube, die könnte ich im Moment nicht ertragen.« Er nickte heftig, und die weiße Nase wippte auf und ab. »Ich glaube, ich weiß, was du meinst.« »Du verstehst nichts, David. Nicht ein bißchen.« Er atmete flach aus, als hätte er Angst, sie zu erschrecken. »Du hast wohl recht.« Wütend fauchte sie ihn an: »O verdammt, David! Warum wehrst du dich nicht, wenn ich dich so demütigend behandle? Du bist doch ein Mann, oder?« »Aber du demütigst mich nicht, Cindy, das weiß ich. Es liegt an mir, an meiner Art. Akademisch und langweilig. So bin ich immer gewesen.«
Es hat keinen Sinn, dachte sie. Es war eben ein Spießer. Seine Gegenwart war ihr zuwider. Sie wünschte, BB säße neben ihr. Trotz all seiner Fehler konnte man mit BB Spaß haben, immer nur Spaß. »Hast du in letzter Zeit wieder gegen die Riesen gekämpft?« fragte sie. Er lächelte wehmütig. »Es ist schwierig, in Washington Sünder ausfindig zu machen, und noch schwieriger, sie an den Pranger zu stellen. Aber Pinsanos Posse bleibt am Ball.« Er hob den Kopf und schaute ihr in die Augen. »Was hast du in letzter Zeit gemacht, Cindy?« Sie starrte auf einen Punkt in der Ferne. »Ich habe gerade das Gitarrespielen aufgegeben.« »Wie traurig.« Sie erzählte ihm von dem Film mit dem Gitarrespieler und von ihrem Entschluß, selbst spielen zu lernen, und dann von ihrem abgebrochenen Konzert gestern abend für Maggie und Bob und von Maggies Reaktion. »Ist sie nicht eine widerwärtige Hexe?« endete sie. »Wie kann eine Mutter so etwas tun?« Er zupfte sich an der Nase, wischte sich Zinkoxyd von den Fingern, steckte die Finger in den Sand und rieb sich den Sand von den Fingern. »Sie muß gewußt haben, daß du ihre Ermutigung hören willst…« »Es ist mir egal, was sie denkt…« »Nein. Du wolltest ihre Bestätigung, ihre Bewunderung. Wir alle brauchen die Zustimmung unserer Eltern zu unserem Tun, auch wenn wir…« Sie ließ sich zurückfallen. »Verschone mich! Das ist hirnloses Partygeschwätz! Mir ist Maggie völlig egal, und mich kratzt es nicht, was sie sagt oder denkt…« »Ich will ja nicht mit dir streiten, aber…« »Ich glaube, ich kenne mich in meiner Situation besser aus als du.«
Er nickte und für eine Weile sagte niemand etwas. »Vielleicht«, begann er dann, »könnten wir in einen Film gehen. Sie zeigen heute…« »Keine Chance. Ich bin weg, sobald die Sonne untergeht. Ich habe die Nase voll von Fire Island. Ich habe noch einiges zu tun.« »Cindy, ich glaube, wenn du wirklich willst, kannst du alles erreichen.« Sie stand auf und sagte heftig: »Halt mich nicht zum Narren, David.« »Es ist mein Ernst«, sagte er und sah ihr zu, wie sie ihre Sachen einsammelte. »Ich habe genug. Ich gehe.« »Ich kann dich bis zu deinem Haus begleiten.« Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. »Ich verlasse die Insel mit der nächsten Fähre.« »Oh. Kann ich dich wiedersehen? In der Stadt? Während der Woche bin ich ein paarmal…« Am liebsten hätte sie ausgeholt und ihm ins Gesicht geschlagen. Sie reckte ihr Kinn. »Ich lebe mit einem Mann zusammen, David. In seiner Wohnung. Ich würde ihn nicht betrügen.« »Oh«, sagte er und errötete. »Ich verstehe. Entschuldige. Das ist, ich meine, er muß ein glücklicher Mann sein. Nun ja, aber wir können doch Freunde sein, ja? Gute Freunde, meine ich. Ja?« Sie fühlte sich verwirrt, unerklärlicherweise verängstigt, verärgert über sich selbst. Sie sehnte sich danach, wegzukommen, weg von David Altman und seiner so offensichtlichen Verletzlichkeit. Sie begann den Heimweg und hörte, wie er ihr nachrief: »Viel Glück.« An diesem Nachmittag kehrte sie in die Barrow Street zurück. Die Gitarre faßte sie nicht wieder an. Die nächsten Tage verbrachte sie meistens damit, durch die Stadt zu schlendern. Sie las Bücher, die sie in der Öffentlichen
Bibliothek ausgeliehen hatte, verschlang sie, brachte sie zurück und lieh sich neue aus. Eines Nachmittags fand sie sich in einem Taschenbuchladen auf der 57. Straße wieder. Sie schlenderte an den Regalen vorbei, besah sich die Titel, die Texte auf der Rückseite und blieb schließlich an einem Exemplar des Titels ›Soul on Ice‹ hängen. Das wollte sie lesen. Das Buch in der Hand, verließ sie den Laden und lächelte dem jungen bärtigen Mann an der Kasse freundlich zu – ohne für das Buch zu bezahlen. Danach wurde das Stehlen von Büchern zur Angewohnheit. Sie verstaute sie in einer großen mexikanischen Schultertasche, die sie eigens für diesen Zweck gekauft hatte. Bei anderer Gelegenheit steckte sie drei oder vier Taschenbücher unter das Elastikband ihres Höschens, wenn sie sicher war, daß sie nicht beobachtet wurde. Die Bücher stapelten sich auf dem Boden in Rafes Studio, ungelesen, unberührt. Sie versuchte, ihre Gründe zu analysieren, warum sie mit dem Stehlen von Büchern begonnen hatte. Vielleicht war es die Herausforderung, sagte sie sich, die Herausforderung an das Establishment. Die Gefahr, erwischt zu werden, verhaftet zu werden, erschreckte sie und trieb sie zu größeren Risiken. Sie fand heraus, daß sie ihre beste Zeit dann hatte, wenn in den Buchhandlungen nicht viel zu tun war. Dann richteten die Verkäuferinnen Regale, ordneten Neuerscheinungen ein, begannen mit der Bestandsaufnahme. Sie kümmerten sich kaum um das einzelne stöbernde Mädchen. Die Zeit von Mittag bis drei Uhr nachmittags war am schlimmsten, die Läden waren gefüllt mit Kunden, und die Angestellten hielten ein waches Auge auf mögliche Ladendiebe. Eines Tages besuchte sie die Taschenbuchabteilung von Brentano’s am University Place. Sie wollte sich gerade ein Exemplar von Camus ›Der Fremde‹ in ihr Höschen stecken, als sie sich zur Sicherheit noch einmal nach allen Seiten umdrehte. Ein großer blaßgesichtiger Mann stand am anderen Ende der Regalflucht. Er
gab vor, in ein Buch zu schauen, aber sie hatte das unbehagliche Gefühl, daß er sie beobachtete. Sie beschloß, für Camus zu bezahlen. Draußen begann sie zu zittern, und zum erstenmal wurde ihr der Preis bewußt, den ihr gefährliches Spiel kostete; wie sehr sie sich davor fürchtete, entlarvt zu werden. Mit weit ausholenden Schritten entfernte sie sich vom Tatort. Es hatte heftig zu regnen begonnen, als sie den Sheridan Square erreichte. Sie lief ins Limelight, setzte sich an einen leeren Tisch und bestellte einen Cappuccino. Sie rührte den Zucker um und versuchte, nicht daran zu denken, wie nahe sie am Abgrund gestanden hatte. Immer noch pochte ihr Herz wie wild. Sie sah nicht die schlanke Gestalt, die sich ihrem Tisch näherte. »Das ist aber ein Zufall, nicht wahr?« Die Stimme kam ihr vertraut vor, tief und voller Ironie. Es fiel Cindy schwer, den Blick zu heben. Hettie Johns stand vor ihr. »Oh. Hallo, Hettie«, stieß sie hervor. »Oh. Hallo, Cindy«, sagte die hoch aufgeschossene Frau spöttisch. »Du könntest mich fragen, ob ich mich zu dir setzen will.« Cindy deutete auf den anderen Stuhl, und Hettie setzte sich. »Ich sah dich hereinkommen«, sagte Hettie. »Du hast eine neue Frisur…« Es klang fast wie eine Anklage. Cindy wischte sich die Fransen aus dem Gesicht. »Ich fand mich langweilig. Das hier ist so einfach…« »Du siehst gut aus«, sagte Hettie nach einer Weile. »Vielleicht ein bißchen dünner.« »Meine Eßgewohnheiten sind nicht die besten, nehme ich an. Vielleicht sollte ich mal Vitamine nehmen.« Sie trank einen Schluck von ihrem Cappuccino und rührte wieder den Zucker um. »Zu viel«, sagte Hettie. »Zucker ist nicht gut für dich.« Cindy blickte auf. Hettie schien gealtert zu sein. In ihre langen Gesichtszüge hatten sich die Falten tiefer eingegraben. »Du siehst sehr gut aus«, sagte sie.
»Ha! Glaubst du, ich sehe das nicht? Ich schlafe nicht mehr so gut, und das sieht man mir an.« Als Cindy darauf nichts sagte, fuhr Hettie fort: »Ich vermisse dich, Cindy. Ich werde dich nicht fragen, ob du mich vermißt, das kann ich wohl nicht erwarten. Aber vielleicht denkst du von Zeit zu Zeit an mich.« Cindy hob den Löffel und legte ihn wieder hin. »Nicht einmal das! Nun, auch gut.« Sie lehnte sich zurück, kerzengerade. »Ich habe nie verstehen können, weshalb du mit diesem Dan Gregory losgezogen bist. Er ist so gewöhnlich. Das mußt du auch festgestellt haben, sonst wärst du noch bei ihm.« »Woher weißt du, daß ich nicht mehr bei ihm bin?« Hettie verzog das Gesicht. »Ich habe ihn vor einer Woche oder so getroffen, auf einer politischen Veranstaltung. Er hat mir von Chicago erzählt, von dir; prahlte damit, daß er dich gevögelt hat, wie du mit ihm gezogen bist, obwohl du nicht radikal eingestellt bist. Er hält sich für unwiderstehlich.« »Das ist mir egal.« »Gibt es einen anderen?« »Natürlich nicht.« Hettie langte über den Tisch, berührte Cindys Hand. »Komm mit mir nach Hause. Ich brauche dich, Darling. Ich will dich.« Cindy zog ihre Hand weg. »Ich kann nicht«, sagte sie, darum bemüht, schnell wegzukommen, weg von Hettie. Auf einmal empfand sie dieselbe Angst, entdeckt zu werden, wie bei Brentano’s. In ihrem Bauch zog sich alles zusammen. Ihr war nach Heulen zumute. »Ich gehe weg«, sagte sie und freute sich über ihre eigene Logik, schalt sich aber gleichzeitig für ihre Angst vor der Wahrheit. Warum konnte sie nicht nein sagen? Ohne Angst, ohne Ausflüchte? »Wohin?« Ihre Gedanken überschlugen sich. »Ins Ausland«, sagte sie. »Europa. Rafe ist in Paris. Vielleicht gehe ich zu ihm, oder ich reise allein durch die Gegend.«
Hetties Augen verengten sich. »Warum komme ich nicht mit dir? Vor Jahren habe ich in Paris gelebt. Ich spreche perfektes Französisch. Wir würden eine wunderbare Zeit erleben, wir beide.« Cindy fühlte sich eingeengt, in eine düstere Ecke gestellt, aus der es kein Entrinnen gab. Der Druck nahm zu, sie hatte Mühe zu atmen. »Wenn das nur ginge«, sagte sie gepreßt. »Ich gehe mit meiner Mutter und ihrem Mann. Es ist eine Familienangelegenheit, verstehst du.« Hetties Gesicht wurde noch länger, dunkler. »Du willst mich nicht bei dir haben.« »Nein. Es ist nur, meine Mutter…« Hettie war schon aufgestanden, ihr Gesicht eine schroffe Maske, die Stimme bebend. »Du lügst, du billiges Flittchen. Du bumst irgendeinen Kerl, hast keine Zeit für mich. Aber ich werde die Wahrheit herausfinden, und dann wirst du bereuen, daß du mich so behandelt hast, das schwöre ich dir.« Cindy schlief die ganze Nacht nicht. Die Dunkelheit mit all ihren Bedrohungen hielt sie umfaßt, nur die hölzerne Tür von Rafes Studio stand zwischen ihr und der Gefahr von draußen. Sie war davon überzeugt, daß Hettie ihr die Pest an den Hals wünschte. Rafe hatte das einzig Richtige getan. Alle Bindungen hinter sich abgebrochen und dieses verdammte Land verlassen. Amerika, das war für sie Chicago und Hettie und ihre Mutter und Roy. Nein, sie würde es wie Rafe machen. Sie mußte lernen, mit ihrem eigenen Leben umzugehen. Sie würde ihr Leben in Europa genießen, sie würde Abenteuer bestehen und Erfahrungen sammeln. Am späten Morgen erreichte die Fähre mit Cindy Ashe den Hafen von Ocean Beach. Sie hastete zum Haus ihrer Mutter, klopfte ungeduldig an die Haustür, bis Maggie endlich öffnete. Sie sah verschlafen aus.
»Mein Gott«, murmelte sie und schlurfte zurück ins Schlafzimmer. »Wie spät ist es?« »Ich muß mit dir reden, Mutter.« »O Gott, noch nicht elf. Meine Augen wollen noch nicht. Ich muß noch ein bißchen schlafen. Wir unterhalten uns später, Liebling.« »Bitte, jetzt«, sagte Cindy. »Ich muß so schnell wie möglich zurück in die Stadt. Ich habe noch viel zu tun.« Maggie musterte sie mißtrauisch. »Wovon redest du?« »Ich setze Kaffeewasser auf«, sagte Cindy. »Dann können wir reden.« Maggie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Mir bleibt wohl nichts anderes übrig. Das Los einer Mutter.« Der Kaffee dampfte, als Maggie in die Küche trat. Sie trug einen blau-grün gestreiften Kittel und eine dunkle Sonnenbrille. Sie setzte sich an den runden weißen Tisch, zündete sich eine Zigarette an und musterte ihre Tochter. »Ich muß zugeben, es ist beinahe so etwas wie ein Schock, dich zu sehen. In letzter Zeit machst du dich ziemlich rar, Cindy.« »Ich will nicht streiten, Mutter.« »Das ist was Neues.« Maggie nippte am schwarzen Kaffee und verzog das Gesicht. Sie hatte gern gesüßten Kaffee, aber in ihrem Alter zählte jede Kalorie. »Ich verstehe euch Kinder nicht. Ich nehme an, du hast das mit BB gehört.« »Was hat er gemacht?« fragte Cindy, alarmiert. »Sie haben ihn geschnappt. Er soll auf Heroin gewesen sein. Hast du gewußt, daß er süchtig ist, Cindy? Du mußt es gewußt haben, aber du hast es niemandem gesagt, du hast zugelassen, daß er sich selbst zerstört. Du kannst dir vorstellen, wie sich Neil und Susan fühlen. Sie sind entsetzt. Ein Junge wie BB, der alle Chancen dieser Welt hatte. Alles vergeudet.« Sie zog an ihrer Zigarette. »Er ist schwul, hast du das gewußt? Sie haben ihn mit einem schwulen Professor erwischt.« »Wo ist BB jetzt? Ich möchte zu ihm und mit ihm sprechen.«
»Das ist keine gute Idee. Außerdem möchte ich mit dir reden. Vielleicht ist noch Zeit, dich zu diesem Semester einzuschreiben. Ich könnte Rektor Fisher anrufen…« »Ich will nicht zur Schule zurück.« Maggie starrte ihre Tochter an. Cindy hielt dem Blick stand. »Ach so. Nun, eine Überraschung ist das nicht. Bob und ich haben erst kürzlich über dich gesprochen. Ich habe gesagt, und du sollst es wissen, daß ich es für eine Schande halte. Eine Schande, daß du so wenig Wert auf eine ordentliche Ausbildung legst, um dich für deine Rolle in dieser Welt vorzubereiten, eine anständige, produktive Rolle.« »Es gibt auch andere Methoden des Lernens.« »Wie nett, daß du mir das sagst«, sagte Maggie höhnisch. »Also gut. Wir müssen für dich einen Job finden. Aber welchen? Du kannst nichts. Bob soll sich mal umhören. Er hat Millionen Kontakte.« »Mutter, ich will nach Europa.« »Das ist keine gute Idee. Du bist noch ein Kind, und ich will nicht, daß du ganz allein in Europa herumtrampst. Für welche Art Mutter hältst du mich denn?« »Aber das ist etwas, was ich tun möchte.« »Nun, du wirst es nicht tun, es sei denn, ich stimme zu. Außerdem braucht man Geld, wenn man reisen will.« »Ja«, sagte Cindy und brachte ein Lächeln zuwege. »Ich dachte, du würdest mir helfen. Du willst doch auch nicht, daß ich dir das ganze Jahr auf der Pelle hänge.« Maggie sah ihre Tochter forschend an. Es stimmte, Cindy wäre ihr nur im Weg, wenn sie ihren gesellschaftlichen Pflichten nachkam. Nach einer ausgedehnten Reise würde Cindy vielleicht ausgeglichener sein. Sie schaute in ihren Kaffee. »Ich könnte mir vorstellen, daß man sich über einen limitierten Aufenthalt im Ausland einigen könnte. Natürlich würde ich darauf bestehen, daß du in London beginnst. Du wirst die Kronjuwelen sehen wollen und all die guten Shows. Und einkaufen kann man herrlich in London. Ich habe Freunde da, die McIvers,
du kannst bei ihnen wohnen. In Paris sind es die Chesins. Wunderbare Leute. Er ist Exportkaufmann, sehr kultiviert. Wir werden dir die ganze Reise zusammenstellen. Ja, ich glaube, es ist eine gute Idee. Es kann eine Erfahrung werden, von der du eine Menge in dein späteres Leben mitnehmen kannst. Du wirst lernen, wie andere Menschen leben, leben sollten. Ja, und dann kannst du rechtzeitig zurückkommen, um dich fürs nächste Semester einzuschreiben. Also gut, Cindy, du kannst nach Europa fliegen. Ich erwarte, daß eine große Veränderung in dir vorgegangen ist, wenn du zurückkehrst. Sichtbare Resultate.« Sie zog die Stirn kraus und lehnte sich zurück, betrachtete Cindy mit schwachem Unbehagen. »Ich sehe, du hast dir die Haare schneiden lassen. Das gefällt mir überhaupt nicht, laß sie wieder wachsen. Mit langen Haaren siehst du viel schöner aus…«
4
»London schwingt wie ein Pendel…« Der Satz aus dem Lied tanzte durch Cindys Gedanken, als sie dem uniformierten Träger durch den Flughafen Heathrow folgte. Um sie herum ein Geschnatter vieler fremder Stimmen, unbekannter Akzente. Irgendwie waren auch die Gesichter anders, und dieser erste Eindruck des Neuen, Frischen ließ Cindy aufleben. Fröhlich stieg sie auf das obere Deck des roten Flughafenbusses und wurde kräftig durchgeschüttelt, bis sie London erreicht hatten. Es war ihr schon jetzt bewußt, daß die Kluft zwischen England und Amerika, zwischen den ersten achtzehn Jahren ihres Lebens und dem, was vor ihr lag, nicht mit dem Flugzeug überbrückt werden konnte. Sie befand sich in einer ganz anderen Welt, dachte sie, als der Bus an den endlosen Reihen einfacher Ziegelsteinhäuser vorbeiratterte, im Hintergrund Fabriken, aus deren Schornsteinen sich Rauch hochkringelte. Sie kam sich wie in einem alten britischen Film vor. Hier lag der Ursprung von allem, die Geschichte der zivilisierten Welt. Die Zelle, aus der ihr eigenes Land entstanden war. … diese königliche Insel, hatte Shakespeare gesagt. … dies andere Eden… … dies kostbare Juwel in der silbernen See… Drei Tage lang wohnte sie in einem kleinen Hotel in der Curzon Street, nicht weit entfernt vom Hyde Park und von Piccadilly Circus. Die meiste Zeit war sie zu Fuß unterwegs, sie ging und schaute, bis ihre Augen trunken waren. Die übergroßen schwarzen Taxis, die kultivierten Bobbies, die ihr bereitwillig die Wege erklärten, das gotische Wunderwerk der Westminster Abbey, die feierliche Majestät des Parlaments.
Ihre Mutter hatte sie mit einer Liste von Namen und Telefonnummern ausgestattet, aber sie rief niemanden an. Sie war entschlossen, sich von den Familienbanden zu lösen, sich auf eigene Füße zu stellen. Swinging London. Hier würde das Leben ganz anders sein. Besser. Die Menschen würden freundlicher sein, großzügiger mit sich selbst, weniger gehetzt. Hier würde man füreinander Zeit haben, mehr Menschlichkeit, und bald schon würde sie sich dem englischen Lebensstil anpassen. Am vierten Tag suchte sie nach einer Dauerbleibe, die weniger teuer sein würde. Die Suche führte sie in eine ruhige Straße nach Chelsea, in ein graues, solides Gebäude, das aus dem Fels gehauen schien, auf dem es stand. Dicke Eisengitter schützten die Fenster im Erdgeschoß. Das schmiedeeiserne Tor stand offen. Sie betrat eine kleine Halle und klingelte. Kurz darauf öffnete sich eine Glastür, und ein hübsches Mädchen mit einem kleinen, dreieckigen Gesicht und fast rosigfarbenen Haaren lächelte sie an. »Hey!« »Ich habe angerufen«, sagte Cindy. »Wegen der Wohnung.« »Oh, das warst du? Gut, komm herein.« Sie zog die Tür ganz auf, und Cindy betrat ein Foyer, das mit Teppich ausgelegt war. »Ich habe dich etwas später erwartet.« Sie kicherte. »Ich hab’ geschuftet wie ‘ne Verrückte, damit die Wohnung anständig aussieht. Zwei Mädchen und keine die geborene Hausfrau, kann man wohl sagen…« Sie ging die breite Treppe voran, Cindy ein paar Stufen dahinter. Dann drehte sich das Mädchen abrupt um und hielt sich eine Hand vor den Mund. »Oh, ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Ich bin Margaret Ferguson, aber nenn mich Peggy.« »Nett, dich kennenzulernen, Peggy.« »Du hörst dich aber sehr nach den Yanks an.« »Oh.« Eine leichte Unsicherheit überfiel Cindy. »Stört das? Ich meine…« »Himmel, nein!« Peggy lachte. »Du mußt nicht all die schrecklichen antiamerikanischen Dinge glauben, die man sich erzählt.
Die meisten saugen sich die Journalisten aus den Fingern. Ich persönlich mag Yanks, besonders die Männer.« Sie faßte Cindy an der Hand. »Komm, du mußt Alva kennenlernen und dir die Wohnung ansehen.« Ein Blick überzeugte Cindy, daß die Wohnung ideal für sie war. Die Decken waren hoch und die Fenster groß, die Fußböden aus dunklem Holz und auf Hochglanz poliert, die Einrichtung ein Potpourri aus Stilen und Perioden, das irgendwie harmonisch zusammenpaßte. Es gab ein Schlafzimmer, das sich Peggy und Alva teilten, und ein Bettsofa im Wohnzimmer, das für Cindy gedacht war, wenn sie einziehen wollte. Ein anderes Mädchen hüpfte ins Zimmer. Schlank und sehr blaß, trug sie eine kurze pinkfarbene Hose mit roten und grünen Blumen, und unter dem dünnen Hemd hüpften die kleinen Brüste bei jedem Schritt. Sie ignorierte Cindy und zog an ihren blondgelben Haaren. »Wie ich aussehe! Häßlich, häßlich! Die Krause geht einfach nicht raus. Und es ist schon so spät!« Peggy faßte an die Rundbürste, die noch in Alvas Haar steckte. »Das hilft nicht?« »Ich hab’s schon zweimal gemacht, aber nichts.« Sie stampfte mit ihrem kleinen Fuß auf. »Was soll ich nur tun?« »Du könntest es schneiden«, bot Cindy zögernd an. »Dann sieht es so aus wie meins. Ich glaube, es würde dir wirklich gut stehen.« »Keine Zeit«, jammerte Alva, »keine Zeit.« »Ich habe meine Haare selbst geschnitten«, sagte Cindy. Alvas Augen weiteten sich. »Oh, das würde ich mich nicht trauen.« »Sie kann es, Alva«, rief Peggy mit Begeisterung. »Ich fühle, daß sie es kann, ehrlich.« »Du brauchst eine richtige Schere dazu«, sagte Alva. »Ich habe eine ganz neue…« »Nur eine Rasierklinge«, sagte Cindy. »Und eine Zeitung, die wir auf den Boden legen.« Nach zwanzig Minuten war das Werk beendet, das Peggy mit immer neuen Überraschungs- und Begeisterungsausbrüchen
begleitet hatte. Schließlich trat Cindy einen Schritt zurück, um ihre Arbeit aus der Distanz zu begutachten. »Oh, ich will gar nicht hinschauen«, stöhnte Alva. Peggy klatschte in die Hände. »Es ist super, wirklich super. Du siehst phantastisch aus! Komm, schau in den Spiegel!« »Ich habe Angst. Ich muß das häßlichste Ding überhaupt sein!« Peggy führte das blonde Mädchen vor einen großen Wandspiegel und stellte sich hinter sie. Alva starrte auf ihr Spiegelbild, ohne etwas zu sagen. Cindy verfolgte die Szene mit Anspannung, sie fürchtete, Alva könnte entsetzt sein. »Es ist ein verdammtes Wunder! Du hast was Hübsches aus mir gemacht! Ooooh!« Sie wirbelte herum, langte nach Cindy. »Du bist wunderbar! Super!« Jetzt wirbelte sie auch Cindy herum. »Sieh zu, daß sie bei uns einzieht, Peggy. Sonst ziehe ich dahin, wohin sie auch geht. Du bist meine Rettung, meine ganze gesellschaftliche Zukunft!« Es war entschieden. Cindy konnte einziehen. »Aber erst später!« kreischte Alva. »Oh, wo ist mein Kleid? Wir sind viel zu spät dran. Die besten Jungs sind alle vergeben. Wir müssen gehen.« Sie verschwand im Schlafzimmer. »Ich gehe dann zurück in mein Hotel und hole die Sachen«, sagte Cindy. »Kommt gar nicht in Frage. Du kommst mit uns. Wir müssen doch unser neues Arrangement feiern. Eine richtige Party, und wenn dann Zeit ist, helfen wir dir alle mit deinem Gepäck.« Alvas Ausgelassenheit und Peggys ruhigere Begeisterungsfähigkeit – wegen solcher Gefühlsbeugungen war Cindy nach London gekommen. Keine schicksalsschweren Entscheidungen mehr, keine drohenden Wolken unmittelbar bevorstehender Katastrophen. Nur Spaß. Freude am Leben. Sie war bereit.
Hung Up. Glitzerndes Neonlicht flackerte den Namen in den düsteren Londoner Nachmittag. Hung Up. Drinnen eine beschwingte, fröhliche Menschenansammlung in grellen Farben und einzigartigen Designs, mit Perlen und Rüschen, Federn und Spitzen, mit seltsam geformten Brillen und eigenartig angemalten Augen. Dazu durchsichtige Blusen und wilde Frisuren. Schrille Musik sprang die Gäste an. Laut, vibrierend, ein hektischer Liverpool Beat. »Hung Up, Hung Up«, gurrte Alva. »Was für ein kurioser Name für eine Boutique!« Peggy erklärte Cindy: »Heute ist Eröffnung, deshalb die Party. Für die Creme.« »Also für uns«, sagte Alva lachend. »Und schau dir mal die Hübschen an! Ich muß mir einen Boy holen oder zwei…« Peggy schwebte davon. »Warum nicht drei oder vier?« rief Alva ihr nach und folgte ihr. Plötzlich war sie allein, und siedendheiß fiel ihr ein, daß sie nicht einmal genau ihre neue Adresse kannte. Cindy suchte eine stille Ecke, aber sie fand keine. Ein Kellner servierte Drinks von einem Tablett. Sie griff nach einem Glas. Es war bitterer, lauwarmer Punch. Sie verzog das Gesicht. »Schreckliches Gebräu, was?« Sie drehte sich um und sah einen Mann, der sie lächelnd anschaute. Er kam näher, hatte ein nachdenkliches Gesicht und schürzte die Lippen, als überlegte er sich seinen nächsten Satz. »Ja«, antwortete sie. Sie hätte sich gewünscht, der erste englische Mann, der sie ansprach, wäre groß und attraktiv gewesen. Dieser hier hatte schütteres braunes Haar, schmale Schultern und traurige Augen. »Das ist der typische Partypunch«, sagte er. »Der ist immer schlecht.« Sie blickte sich um. Sie war nicht an einer Diskussion über Partypunch interessiert. »Ich suche meine Freunde«, sagte sie und bewegte sich weg von ihm, bevor er etwas sagen konnte.
Er folgte ihr. »Sie sind Amerikanerin, nicht wahr?« »Ist das schlimm?« fragte sie patzig. Ein besorgtes Stirnrunzeln. »O nein. Überhaupt nicht. Ich mag die Staaten. Vor ein paar Jahren habe ich einen herrlichen Urlaub dort verbracht. Mit dem Motorrad habe ich sieben Staaten…« »Wir haben fünfzig davon«, sagte sie beißend. »Ja, ich weiß. Ein unglaublich großes Land. Und viele unterschiedliche Völker.« Sie sah in sein Gesicht. Es gab nichts daran auszusetzen, aber es blieb auch keine Einzelheit haften. Und auch sonst war nichts an ihm, was haften blieb, dachte sie. Keine Spur von Humor. »Sind Sie in Urlaub?« fragte er. »Sie sind ein ernster Mann, was?« Er nickte unglücklich. »O Gott, langweile ich Sie? Das tut mir leid. In der Gesellschaft junger Frauen habe ich meine Schwierigkeiten. Sie machen mich nervös, sie bringen mich aus der Fassung, möchte ich sagen.« »Vielleicht auch wütend? Verkrampft?« Er errötete. »Nun, so weit würde ich nicht gehen. Ich fürchte, ich bin einfach ein bißchen schüchtern.« Wollte er sie auf den Arm nehmen? Sie war sich nicht sicher. Sie schätzte ihn auf Anfang Dreißig, und man konnte sich kaum vorstellen, daß jemand in diesem Alter noch Angst vor Mädchen hatte. »Darf ich mich vorstellen?« sagte er. »Ich heiße George Blaine. Vielleicht sagen Sie mir Ihren Namen…« »Cindy Ashe.« Er schüttelte feierlich ihre Hand, er hatte einen festen Griff. »Ich bin sehr glücklich, Sie kennenzulernen.« »Was tun Sie hier?« fragte sie. »Eine Boutique… Sind Sie im Kleidergeschäft?« Er wandte sich halb ab. »Oh, nichts dergleichen. Aber ich habe in diese Boutique investiert. Die Leute, denen sie gehört, sind Freunde von mir. In geschäftlichen Dingen kenne ich mich nicht so gut aus. Mein Vater hat mich in seinem Testament großzügig
bedacht, sonst hätte ich wohl Mühe, meinen Unterhalt zu verdienen.« Sie fand, daß George Blaine ein netter Mann war. Aber nicht einer, mit dem sie ihre Freizeit verbringen wollte. Nett und langweilig. »Sie sind eine bemerkenswert attraktive junge Frau«, sagte er und blickte in ihr Gesicht. »Vielleicht gestatten Sie mir, Sie wiederzusehen. Wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen London zeigen, wir könnten Ausflüge in die Umgebung machen. Ich bin ein ausgezeichneter Touristenführer, darf ich in aller Bescheidenheit sagen.« Er lachte kurz auf, um zu unterstreichen, daß er es als Scherz gemeint hatte. »Ich könnte Sie anrufen.« »Ich ziehe um«, sagte sie. »Ich rufe Sie in Ihrer neuen Wohnung an.« Er war, fand sie, nicht so schüchtern, wie sie gedacht hatte. »Ich weiß die Telefonnummer nicht. Ich muß sie mir erst von den Mitbewohnerinnen beschaffen.« »Dann müssen wir sie finden.« Sie schoben sich durch die wogende Masse im Hung Up. Cindy fühlte sich nach hier geschoben und nach dort gedrängt, sie wurde gerempelt und gestoßen, aber sie konnte weder Alva noch Peggy irgendwo entdecken. Sie drehte sich nach George Blaine um, aber auch er war von der Masse verschluckt worden. Cindy schob sich zum Eingang der Boutique vor. Jemand rief ihren Namen, sie drehte sich um und sah Alva winken. »Oh, Liebes, Liebes, ich habe dich überall gesucht!« rief Alva. »Wir ziehen los zu ‘ner wilden Party. Ein paar super Typen, sage ich dir. Wir fahren zu ihrer Wohnung in Pimlico und…« Die Party war eine Fortsetzung des wilden, hektischen Geschehens in der Boutique, dröhnender Beat, schrilles Lachen, unverhohlenes Grabschen. Cindy war froh, als Peggy zu ihr kam und sagte: »Komm mit uns nach Soho. Wir gehen in den Greek Club. Den kennst du doch, oder?« »Nein.«
»Aber Schatz!« rief sie ungläubig. »Den kennt doch jeder!« Der Greek Club lag im Schatten, innen herrschte eine eigenartige Stimmung, schwül und schwülstig, die Luft gefüllt mit Erwartungen. Ein Mann mit schwammigem Gesicht, dessen einzelne Teile nicht zusammenzupassen schienen, rückte nahe der Bühne ein paar Tische zusammen. Sie waren elf, fünf Mädchen, sechs Jungs. Ein Kellner brachte Champagner, und Alva stöhnte, daß sie verhungern würde, worauf sie ein Käsesandwich erhielt. Plötzlich wurde es noch dunkler im Greek Club, und an jedem Tisch hörte man heiseres Gemurmel, erwartungsvolles Raunen. Ein purpurfarbenes Spotlight holte einen Teil der schwarzen Bühne aus der Dunkelheit, und es dauerte ein paar Sekunden, ehe Cindy begriff, daß sie auf ein Paar weiße Hinterbacken starrte, durchzogen von Orangenhaut, oben und unten begrenzt von scharlachroten Rüschen. Bald war das ganze Mädchen zu sehen, eines jener englischen Puddinggesichter, der Mund stand offen, als wollte er Überraschung signalisieren. Sie paradierte auf der kleinen Bühne auf und ab. Das Spotlight wechselte von Rot zu Gelb, zu Grün. Keine Farbe beeinträchtigte den Blick, als das Mädchen sich ohne jede Finesse auszuziehen begann, viel zu schnell, als ob sie eine Tätigkeit, die ihr zuwider war, rasch abschließen wollte. Schließlich, als sie nur noch ein G-String trug, schaute sie mit leerem Blick in den Zuschauerraum, und nun begann sie ihre Hüften zu bewegen. Bei etwas Phantasie hätte es als Simulation eines Geschlechtsakts durchgehen können. Abrupt schleuderte sie den GString weg. Der Drummer schlug das Becken, der Trompeter blies einen schrillen Ton, das Spotlight erlosch, es gab dünnen Applaus, die Lichter gingen an. Die Unterhaltung wurde fortgesetzt. Der Mann, der Cindy gegenübersaß, beugte sich vor und gab eine derbe Bemerkung über das Stripmädchen von sich. Cindy wandte sich ab. Der Mann rechts neben ihr grinste sie an und stieß seinen Atem in ihr Gesicht, er roch nach saurer Milch. Cindy nahm ihr Champagnerglas und konzentrierte sich auf den warmen Schluck.
Ein hagerer Mann in einem eng geschnittenen blauen Anzug gesellte sich zu ihnen, er wurde begeistert aufgenommen. Zu seinem hageren Körper paßten das längliche Gesicht und der dünne, lange Hals. Seine Haut kam Cindy kränklich blaß vor, und sein lippenloser Mund bewegte sich kaum, wenn er sprach. »Das ist Nikos«, sagte einer der Männer. »Er ist der Grieche.« Cindy trank ihr Glas leer, und der Mann mit dem sauren Atem schenkte ihr nach. Sie trank davon und dachte an ihr Bett. Der Mann mit dem sauren Atem sagte etwas in ihr Ohr, aber sie achtete nicht darauf. Er legte eine Hand auf ihr Knie und drückte, griff dann rasch zwischen ihre Beine. Ohne etwas zu sagen, griff Cindy nach einer Gabel auf dem Tisch und stieß sie in die Hand. Der Mann schrie auf und beschimpfte Cindy. »Dieser Norman!« kreischte Alva. »Er kann das Grabschen nicht lassen!« »Laß Cindy in Ruhe, Norman!« befahl Peggy von ihrem Platz am Tischende. »Sie gehört zu uns.« »Die Hexe hat mich gestochen«, blaffte Norman. »Ich sollte sie durchziehen.« »Norman«, sagte der Grieche mit ruhiger Stimme, in der aber eine deutliche Warnung lag, »sei ruhig und halte deine Finger bei dir.« Norman ging. »Danke«, sagte Cindy zum Griechen. Er zeigte ihr ein Lächeln. »Norman kann manchmal seine Begeisterung nicht zurückhalten«, murmelte er. »Du wolltest von Soho erzählen«, erinnerte jemand. »Ah, Soho«, begann Nikos. »Soho ist London.« Er sprach mit dem fast weiblichen typisch griechischen Lispeln. »Was immer ein Mensch wünscht, in Soho kann er es haben. Die Kleider in der Carnaby Street, die Delikatessen ferner Länder in den besten Restaurants. Die Mädchen. Soho, das ist das Leben. Paris lebt von seinem Ruf, lebt in der Erinnerung. Rom ist ein einziger Verkehrsstau. Amsterdam ist eine langweilige Imitation. New
York ist nur Geschäft, sonst nichts. Aber London, London hat Soho. Da spielt sich das Leben ab, meine Freunde.« »Und der Greek Club?« fragte jemand. »Der Greek Club.« Nikos ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen. »Der ist das Herzstück von London, von Soho. Ein Konzentrat all dessen, was ein Mann will. Das gibt es hier.« »Ich wußte gar nicht, daß du im Fleischgeschäft bist, Nikos«, warf einer der Männer am Tisch ein. Der Grieche breitete entschuldigend die Hände aus. »Die Mädchen sind Künstlerinnen, oder nicht? Individualisten. Sie müssen nach ihren Stimmungen agieren, es wäre ein großer Fehler, wenn ich sie einschüchtern und beschränken würde. Den weiblichen Körper zu zeigen ist Schönheit und Kunst. Und jene bestimmte Stelle zu zeigen, aus der wir alle in diese Welt gekommen sind, ist doch eine feine Sache, oder nicht?« Es war ein dünnes Lächeln, freudlos, beinahe so, als erwartete er Widerspruch. Seine Lider flatterten, und sein Blick huschte über die Gäste am Tisch, blieb schließlich bei Cindy haften. »Ein neues und hübsches Gesicht. Ich kann Normans Interesse gut verstehen, obwohl er in Worten und Taten zum Vulgären neigt.« »Sie heißt Cindy Ashe«, sagte Peggy. »Sie kommt aus Amerika, Nikos.« »Ah, die Staaten«, sagte der Grieche seufzend. »Las Vegas, Covington, Kentucky, Miami. Ich kenne die Staaten sehr gut. Von Zeit zu Zeit hat eine Landsmännin von dir im Greek Club getanzt. Amerikanische Mädchen sind sehr gut in dieser Arbeit.« »Hast du keine Arbeit für ein ehrgeiziges englisches Mädchen, Nikos?« fragte Alva kichernd. Der Grieche sagte ernst: »Englische Mädchen sind dazu selten zu gebrauchen, meine Liebe. Sie sind herrlich, wenn man sie herumstehen sieht, aber beim Tanzen sind sie hoffnungslos. Fast immer ungeschickt bis tolpatschig. Sie ziehen ihre Kleider aus wie ein müdes Fischweib. Das inspiriert niemanden, erst recht keinen Engländer. Für mich sind die deutschen Mädchen am besten. Ihnen fehlt natürlich die Phantasie, aber sage ihnen, was
sie zu tun haben, und sie tun’s. Die skandinavischen Mädchen ziehen sich schon auf die geringste Andeutung hin aus und bieten oft umsonst an, was sie verkaufen sollten. Und französische Mädchen? Fast alle sehr attraktiv, aber sie sind Prostituierte, stimmt’s?« Alva lachte ein durchdringendes, hohes Lachen. »Cindy, Liebste, da ist ein Job für dich. Strippen für den Griechen.« »Das ist nichts für mich«, sagte Cindy nur. Der Grieche betrachtete sie. »Du bist doch keine Puritanerin? Die Puritaner versuchen schon seit zweieinhalb Dekaden, mich aus dem Geschäft zu drängen. Ohne Erfolg, wie ihr seht. Es wird ihnen nie gelingen. Aber die jungen Leute, die neue Generation, die lehrt mich schon das Fürchten. All die hübschen Dinger in den kurzen Röckchen und mit ihrer willigen Art. Die neue Freizügigkeit wird der Untergang meines Geschäfts sein, fürchte ich.« Er schaute Cindy mit einem professionellen, abschätzenden Auge an. »Du bist genau richtig für diese Arbeit. Deine Figur scheint ausgezeichnet zu sein, und deine Brüste sind gut. Es ist wichtig, daß die Brüste groß genug sind, damit sie bei jeder Bewegung hüpfen, aber es müssen keine Melonen sein. In diesem Geschäft sind die Hintern am wichtigsten. Prall und rund, fest. Und die Frauen müssen ein bißchen Bauch haben. Bauch und Hintern, dazu knackige Brüste, das ist es, was die Männer wollen.« Er seufzte. »Aber ich sehe, daß dir die Begeisterung dafür fehlt, deshalb will ich dich nicht weiter bedrängen.« Er stand auf, groß, nur Haut und Knochen, und verneigte sich königlich. »Es ist so schwer, heutzutage Hilfe zu finden.« Cindy wälzte sich auf die andere Seite, als wollte sie die Hände abwehren, die über ihre Schenkel strichen, sich auf das Dreieck zubewegten. Jemand klatschte sie auf den Hintern, und dann war ein vergnügtes Kichern zu hören. Das Bett knarrte, als jemand aufstand, dann war es still.
Sie zwang sich dazu, die kuschelige Atmosphäre ihres Schlafs aufzugeben. Ihre geschwollenen Lider öffneten sich widerwillig. Tageslicht sickerte durch die Jalousie herein, und sie mußte blinzeln, bevor sie die Bewegung registrieren konnte. Ein Mann zog sich an. Er war es, der aus dem Bett aufgestanden war. Cindy unterdrückte ein Stöhnen und wandte sich ab. Alva lag nur eine Armeslänge von ihr entfernt. Der Mann war mit ihnen beiden im Bett gewesen. Cindy setzte sich auf. Der Mann grinste. Sein rundes Gesicht glühte. »Bist ein schönes Mädchen«, sagte er und zeigte auf ihre Brüste. Sie bedeckte sich. »Sehr schön«, sagte er wieder. Er senkte die Stimme und fügte verschwörerisch hinzu: »Du bist allererste Klasse. Viel besser als Alva, glaub mir das.« Sie ließ sich zurückfallen und versuchte, sich zu erinnern. Es kam nichts. Sie erinnerte sich an keine Lust, an keine Befriedigung. Stirnrunzelnd dachte sie, daß es ein vergeudetes Erlebnis war. So sollte es nicht sein. So wollte sie es nicht haben. Wenn es nicht schon der Liebe wegen geschah, dann sollte Sex wenigstens etwas sein, woran man sich mit Genuß erinnerte. Ein Gefühl der Freiheit, Dinge zu tun, die ihr Spaß machten; das Gefühl, sich ausleben zu können, dem animalischen Trieb ihres Körpers zu folgen, lebenswerte Erfahrungen auszukosten. »Weißt du was«, sagte der Mann gerade. »Ich rufe dich eines Tages mal an. Dann wiederholen wir die Nummer. Die gute Alva hat ein paar tolle Tricks drauf. Wir werden bestimmt unseren Spaß haben.« Cindy preßte die Augen zu und zwang sich zu schlafen. Das gelang ihr auch nach einer Weile, und als sie wieder aufwachte, war sie allein. »Kaffee, meine Liebste?« fragte Peggy. Cindy nickte, und Peggy schenkte ein. »Was für ‘n Hammer!« sagte Alva schon zum drittenmal.
Cindy blickte das blonde Mädchen an. »Dieser Mann?« fragte sie vorsichtig. »Jack«, sagte Alva. »Oh, was wir mit ihm angestellt haben, daran wird er sich noch lange erinnern. Ich wette, daß er es jetzt schon seinen Kumpeln erzählt.« »Dieser Jack«, warf Peggy ein, »kann nie genug bekommen. In der Nacht ist er mit seinem Steifen zu mir gekommen.« Cindy sagte nichts. Trotz des Abends und der Nacht mochte sie Alva und Peggy, ihr gefiel auch die lebenslustige Welt der beiden, die Aufregung, die darin zu finden war. Sie wollte das Abenteuer und den Spaß. Aber sie wollte nicht in ihre Schlafzimmeraffären einbezogen werden. Sie wollte es ihnen sagen, überlegte es sich dann aber anders. Sie würde die Wohnung mit ihnen teilen, mit ihnen ausgehen, mit ihnen spielen und lachen, aber ihr Liebesleben wollte sie selbst gestalten. »Ich muß meine Sachen holen«, sagte sie. »Und aus dem Hotel ausziehen.« »Wir helfen«, sagte Peggy. »O ja, und dann in die Geschäfte. Kommt jemand mit?« fragte Alva. »Klar«, antwortete Peggy. Sie wandte sich an Cindy. »Brauchst du was?« »Ich habe nicht viel Geld«, sagte Cindy entschuldigend. »Ich muß mir alles genau einteilen.« »Oh, Liebste«, sagte Alva lachend, »wir werden doch nicht einkaufen.« »Nicht?« »Was sie meint«, sagte Peggy, »ist, daß wir uns was unter den Nagel reißen. Wir schauen uns um, und dann lassen wir das eine oder andere mitgehen.« »Du meinst stehlen?« »Ja, Liebste. Ein Mädchen muß doch gut aussehen. Das mögen die Kerle. Und deshalb müssen wir ab und zu unsere Runden durch die Geschäfte drehen.« »Das törnt dich an, sag’ ich dir.«
»Kommst du mit?« Cindy zögerte. Sie erinnerte sich noch sehr gut an die Erregung, die sie jedesmal ergriff, wenn sie in New York die Bücher hatte mitgehen lassen. Und war sie nicht des Abenteuers wegen nach London gekommen? »Warum nicht?« meinte sie. Es war ein grauer, trister Nachmittag, und ein feiner Nieselregen kam herunter, als Cindy mit ihren neuen Freundinnen zu den Geschäften der High Street eilte. In einer modischen Boutique machte sich Cindy an den Ständern mit Minikleidern zu schaffen, während Peggy sich eine Lederweste unter den Rock schob und lässig den Regenmantel darüber schloß. Im selben Geschäft verhalf sich Alva zu einem Paar brauner Stiefel, die sie mit in eine Kabine genommen hatte. Ihre eigenen Schuhe versteckte sie unter den Armen. Vom Wagemut ihrer Freundinnen angestachelt, verstaute Cindy eine Bluse aus Voile in die Leinentasche, die Alva ihr zugesteckt hatte. Als sie feststellte, daß niemand sie erwischt hatte, fühlte sie sich auf eine Wolke der Euphorie gehoben und war versucht, ihr Glück noch einmal zu probieren. Mit drei Kleidern auf dem Arm ging sie in eine Umkleidekabine, darunter versteckt ein Gürtel aus Goldketten. Als sie der Verkäuferin die Kleider zurückgab, hatte sie sich den Gürtel umgelegt, verborgen unter ihrem eigenen Kleid. Ihre Begeisterung für das neue Spiel wuchs mit jedem Geschäft, das sie heimsuchten, und rasch entwickelte sich ihr Geschick. Am Ende des Nachmittags hatte sie neben Gürtel und Bluse auch noch einen blau-gelb bedruckten Schal, zwei baumelnde Ohrringe, eine lange Hose und drei Strumpfhosen ›erworben‹. Schal und Ohrringe gab sie an Alva weiter. »Was für ein Gefühl!« rief sie aufgeregt, als sie wieder in ihrer Wohnung waren. »Ich fühle mich so stark, als ob es nichts gäbe, was ich nicht tun könnte!« Peggy lächelte. »Nach einer Weile beruhigt man sich. Du darfst nie abräumen gehen, solange dich dieses Gefühl gepackt hat.
Sonst fühlst du dich zu sicher und gehst zu große Risiken ein, und das ist nicht gut.« »Ich fliege!« sagte Cindy. »Ich möchte wilde Dinge tun. Alles!« »Sehr gut«, sagte Alva. »Heute abend gibt es insgesamt drei Parties, und wir können zu allen gehen.« An diesem Abend trank Cindy nur soviel, daß sie sich beschwingt fühlte, genug, daß ihre Hemmschwelle gesenkt war. Sie war entschlossen, sich an alles zu erinnern, was in dieser Nacht geschehen würde. Sie wollte es genießen – und sie genoß. Sein Name war Donald, und ihm gehörte eine Werbeagentur. Er trug sein angegrautes Haar lang über die Ohren und sah ziemlich gut aus. Er sagte ihr, daß sie einen fabelhaften Körper hatte, nachdem er Stück für Stück ihrer Kleidung abgestreift hatte. Er beschäftigte sich lange mit ihren Brüsten, knabberte und leckte und lutschte und saugte, und er fand es großartig, als Cindy von sich aus auf die Idee kam, seinen Penis zwischen ihre Brüste zu drücken, und jedesmal mit der Zunge über die Spitze fuhr, wenn er aus dem Tal auftauchte. Er fragte sie, ob sein Penis groß genug wäre, nachdem er in sie eingedrungen war. Sie hatte nie zuvor über die Bedeutung der Größe nachgedacht. Aber jetzt, auf das Thema gebracht, fand sie, daß er nicht so groß war, wie sie es gern gehabt hätte. Aber das sagte sie ihm nicht. Außerdem gab er sich redlich Mühe, und sie umklammerte seinen Rücken und warf sich ihm mit dem Unterleib entgegen, als er sich in ihr verströmte. Am Morgen bot er ihr fünf Pfund für ein Taxi an. Sie lehnte ab und ging aus seiner Wohnung. Die Tage und Nächte danach gingen ineinander über. Eine fortwährende Runde von Parties, Clubs und Discotheken. Es gab Fahrten aufs Land mit Henry oder Jack und Wochenenden in Schottland mit Arthur und drei Tage in einem Hotel in Westirland mit Richard. Sie schlief in feuchten Schlössern und gemütlichen Gasthäusern, auf eleganten Gütern und in protzigen Eigentumswohnungen, und einmal verbrachte sie eine Woche in einer schwedischen Jagdhütte mit einem Möbeldesigner namens Ulf.
Es gab gute Zeiten und schlechte, Nächte, an die sie sich gern und wohlig zurückerinnerte, und einige, die sie schnell zu vergessen trachtete. Ein kleiner dicker Mann hatte sie geschlagen, als sie sich weigerte, ihn mit der Peitsche zu behandeln. Und eines Morgens wa sie von einer zürnenden Ehefrau geweckt worden, die einen Tag früher als erwartet nach Hause gekommen war. Einige Männer schickten ihr Geschenke, andere boten Geld an, aber das Geld lehnte sie stets ab. »Aber das ist doch dumm, dumm!« regte sich Alva auf. »Wenn ein Mann dich mag«, fügte Peggy hinzu, »dann will er dich das wissen lassen.« Aber Cindy nahm nie Geld an. Es erinnerte sie zu sehr an eine Vergangenheit, die sie vergessen wollte. Sie lebte nun in einer neuen Zeit. Als der Winter zur Neige ging, fand Cindy, daß sie einen Übergangspullover gebrauchen könnte. Etwas Buntes, Fröhliches. Kaschmir, natürlich. Aquascutum müßte der richtige Laden dafür sein. Als sie dort eintraf, hielten sich nur wenige Kunden im Geschäft auf, und sie schlenderte herum, besah sich die einzelnen Angebote, lehnte die Hilfe mehrerer Verkäuferinnen ab und hatte schließlich erreicht, womit sie gerechnet hatte – man interessierte sich nicht mehr für sie. Zu dieser Expedition trug sie einen weiten Regenmantel, der jetzt offen war. Ihr Rock wurde von einem breiten Gürtel gehalten. Ihr Plan war, den Pullover ihrer Wahl auf dem Rücken unter den Gürtel zu schieben und mit offenem Regenmantel hinauszugehen. Das würde völlig unverdächtig sein. »Ah, Miss Ashe!« Die Stimme klang sanft, entschuldigend, aber auch mit einem Element von Befriedigung. Sie fluchte still über die unerwünschte Unterbrechung und drehte sich um. Ein Mann mit strahlenden Augen stand da und kam jetzt auf sie zu, einen fragenden Ausdruck auf dem blassen Gesicht. Wer? fragte sie sich und versuchte krampfhaft, sich zu erinnern. Seit sie mit Alva und Peggy zusammenwohnte, hatte sie so viele
Männer kennengelernt. Die Parties, die Clubs, die Wochenenden. Das blasse Gesicht sagte ihr nichts. »Miss Ashe, wie ich mich freue, Sie wiederzusehen!« Er war nur wenig größer als Cindy, hatte schütteres braunes Haar und trug einen grauen Sportmantel, der eine Nummer zu groß für ihn schien. »Oh, ich sehe, Sie erinnern sich nicht an mich«, seufzte er besorgt. Sie seufzte. Der Idiot hatte zuviel Aufmerksamkeit auf sie gelenkt. Jeder Versuch, sich einen Kaschmir unter den Gürtel zu schieben, wäre jetzt ein zu großes Risiko gewesen. »Nun«, sagte er, »ich wüßte auch nicht, warum Sie sich an mich erinnern sollten.« »Nein, ich kann mich wirklich nicht erinnern«, sagte sie. Das blasse Gesicht nahm diese Tatsache maskenhaft traurig zur Kenntnis, der Blick eines vergessenen Mannes. »Es war auf der Eröffnungsparty des Hung Up«, sagte er. »Wir hatten uns kaum getroffen, da wurden wir auch schon wieder getrennt. Es waren so viele Menschen an diesem Tag da…« Sie reagierte nicht, und er fuhr fort: »Was für ein Pech, Sie wieder aus den Augen zu verlieren. Aber dafür habe ich jetzt Glück – was für ein Zufall, Sie hier wiederzutreffen! Herrlich!« Sie wollte ihn bestrafen, weil er ihr den Kaschmir vermasselt hatte, aber ihr fiel nichts ein. »Ich erinnere mich«, sagte sie nur. Ein freundliches Lächeln. »George Blaine«, sagte er leise. »Ja«, sagte sie. »Nun, nett, Sie wiederzusehen.« Sie wollte sich abwenden. »Oh, Miss Ashe!« Er trat rasch vor sie. »Es ist gerade Mittagszeit. Darf ich Sie nicht zum Essen einladen? Es wäre mir ein großes Vergnügen.« Sie starrte ihn an. Es war das wenigste, was er tun konnte, um die Sache mit dem Pullover wiedergutzumachen. »Ich dachte an La Gauche«, sagte er hastig. »Würde Ihnen das zusagen?«
La Gauche! Eines der besten Restaurants in London, nur aufregende Leute gehen dorthin, die jungen Schauspieler, Fotografen, Designer. »Wunderbar!« rief sie. »Ich freue mich. Ich war noch nie im La Gauche, Mr. Blaine.« Beim Mittagessen entdeckte Cindy etwas Neues an Mr. Blaine. Die Dinge wurden so getan, wie er sie haben wollte. Seine Art, fast schmerzlich höflich, war von einer Autorität, die sie überraschte. Er sagte zwei, drei Worte, und schon erfüllten Kellner und Oberkellner seine Wünsche. Aber ihr gegenüber verhielt er sich zurückhaltend, er wirkte unbehaglich, stammelte mehr, als daß er zusammenhängend sprach, und über längere Zeiträume schwieg er. Als der Kaffee serviert wurde, hatte Cindy genug von ihm. Es war noch nicht zu spät für ihren Kashmir. Vielleicht würde sie es bei Burberry’s oder bei Harrod’s versuchen. Sie zog die Stirn kraus und berührte ihre Augenbraue. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er sofort. »Kopfschmerzen, fürchte ich.« »Soll ich Ihnen ein Aspirin bringen lassen?« »Keine Umstände. Ich trinke den Kaffee, dann gehe ich nach Hause und legte mich etwas hin. Ruhe ist die einzige Hilfe.« »Ich bringe Sie mit einem Taxi nach Hause.« »Das ist nicht nötig. Ich möchte Ihre Zeit nicht noch länger in Anspruch nehmen.« »Tun Sie es!« Er lachte. »Ich habe nichts zu tun. Nichts, außer Geld ausgeben.« »Reichtum imponiert mir nicht.« »Das verstehe ich. Er kauft einem nur Dinge, die für Geld zu haben sind. Trotzdem ist es angenehm, wenn man nicht knausern muß.« »Verdienen Sie denn auch Geld?« »Ja«, sagte er zögernd. »Warum? Wenn Ihnen Geld doch so wenig bedeutet.«
Er hob die Schultern. »Mein Vater hat mir ein paar tausend Pfund hinterlassen, und ich habe ein kleines Haus damit gekauft. Ich habe es renoviert und später mit Gewinn verkauft, um mir ein größeres Haus zu kaufen. So ging das immer weiter, und bald habe ich ganze Häuserzeilen gekauft, Bürogebäude, Fabriken. Es hat sich fast von selbst ergeben, und ehe man sich versieht, steckt man in Geschäften drin, die man eigentlich gar nicht angestrebt hat.« Sie musterte ihn, den Kopf zu einer Seite geneigt. Spielte er den Narren, oder wollte er ihr etwas vormachen? Er hatte sie wissen lassen, daß er stinkreich und gleichzeitig nicht sonderlich interessiert an materiellen Dingen war. Sie erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen, als er ihr erzählt hatte, daß ihm ein Teil der Boutique gehörte. »Wenn Geld Sie nicht interessiert, warum arbeiten Sie dann noch? Ich meine, Sie könnten sich zurückziehen, reisen oder spielen.« »Ich bin kein Spielertyp. Ich habe das nie gelernt. Die Arbeit hat mir nie Zeit dazu gelassen.« Er lachte verlegen. »Das alles muß sich schrecklich spießig anhören. Es tut mir leid.« Er fügte rasch hinzu: »Außerdem sind Geschäfte in erster Linie eine Sache des Glücks.« Ein eigenartiger Typ, dachte Cindy. Seine Schüchternheit, sein Reichtum und ein gewisser stiller Charme. »Ich glaube eher, daß Sie Talent zum Geldmachen haben«, sagte Cindy. »Und ein Talent, Mädchen anzusprechen.« Die blassen Wangen wurden rosig. »Oh, bitte, glauben Sie das nicht. Ich meine, ich möchte nicht, daß Sie annehmen, ich sei einer von den Männern, die… Es ist nur, daß ich Sie sehr mag. Aber welcher Mann würde Sie nicht mögen? Ein so schönes, bezauberndes Mädchen wie Sie.« Sie lachte auf, und das Rot in seinem Gesicht vertiefte sich. »Ich möchte Sie sehr gern wiedersehen. Wenn es Ihnen recht ist, meine ich. Ich könnte Ihnen London zeigen. Ich kenne die Stadt sehr gut und…« »Wann?« fragte sie impulsiv. »Wann immer es Ihnen recht ist.«
»Jetzt. Ich möchte etwas sehen, das ich noch nicht kenne.« »Oh«, sagte er, »was ist mit Ihren Kopfschmerzen? Wenn es Ihnen nicht gut geht…« »Jetzt«, insistierte sie und beugte sich vor. »Ich möchte es jetzt.« Ein angenehmes Lächeln spielte um seinen Mund. »Lassen Sie mich überlegen.« Er führte sie zur neuen Haywood Gallery, um die van-GoghRetrospektive zu sehen. Sie stellte fest, daß er ein unerschöpfliches Wissen über Malerei besaß. Durch ihn erst wurde die Ausstellung für sie lebendig. Später wanderten sie an der Themse entlang, an der WaterlooBridge vorbei. Bei einem Straßenhändler kaufte er ihr Osterglokken. Danach sahen sie sich regelmäßig. Er zeigte ihr den Tower von London und die Kronjuwelen, sie besuchten den Markt von Portobello Road, schauten sich an einem Abend die Kathedrale St. Pauls an und speisten anschließend im Mermaid Theatre Restaurant. In der Oper flüsterte George ihr eine Übersetzung des italienischen Textes zu. Sie schauten sich ausländische Filme an und aßen in stillen Restaurants in stillen Straßen von Mayfair, und an den Wochenenden fuhren sie aufs Land und speisten in Gasthäusern, die über dreihundert Jahre alt waren. Als sie an einem Sonntagabend von Wiltshire zurück nach London fuhren, schwiegen sie beide, bis der Jaguar vor Cindys Wohnung in Chelsea anhielt. »Ich rufe dich an«, sagte er, und seine Stimme klang irgendwie anders als sonst. »Ist etwas nicht in Ordnung, George?« »Nein, überhaupt nicht«, sagte er rasch. »Du mußt ziemlich erschöpft sein…« Sie studierte sein blasses Profil. Seit gut drei Wochen gingen sie nun miteinander aus, und in dieser Zeit war er ihr immer begehrenswerter vorgekommen, es hatte ihr zunehmend Spaß bereitet, in seiner Gesellschaft zu sein, er wirkte weniger schüchtern und zurückhaltend. Trotzdem hatte er sie nie auf den Mund geküßt,
lediglich ab und zu ein flüchtiger Kuß auf die Wange, eher brüderlich. Jetzt fühlte sie sich durch seinen Mangel an männlicher Angriffslust gestört. Männer fummelten doch ständig an ihr herum, grabschten und drängten darauf, daß sie ihre Kleider auszog. Allzu lange brauchten sie nie zu drängen, erinnerte sie sich. »George«, murmelte sie und fragte sich, wie es wohl sein würde, mit George Blaine zu schlafen. Wie würde er im Bett sein? Und während sie darüber nachdachte, fürchtete sie, daß er sie nicht begehrte, daß er überhaupt keine Frau begehrte. Sie erinnerte sich an Rafe Giacomin und an das, was Maggie über BB erzählt hatte. Es hatte zu viele falsche Männer in ihrem Leben gegeben, Männer, die eigentlich keine Frauen liebten. »George«, sagte sie wieder, und sie wollte, daß er zu den Männern gehörte, die Lust an einer Frau empfanden. »George, bitte, küß mich.« Ihre Lippen trafen sich, kurz, trocken. Er hob seinen Kopf, und sie langte hoch. Sie spürte seinen warmen Atem, und dann preßte er seinen Mund auf ihren, ihre Lippen gingen auseinander, und sie streichelte mit den Fingerspitzen über seine Wangen. Er zog sich zurück. »Ich muß gehen«, sagte er. »George, nimm mich bitte mit zu dir nach Hause.« Er zögerte. »Meine Liebste, es ist schon spät, und ich bin sicher, daß du so müde bist wie ich. Wir reden morgen miteinander.« Sie stieg aus dem Jaguar, sah dem schnittigen Auto hinterher, und ihre Gefühle jagten sich, wechselten von Erwartung bis Verzweiflung. Es schien kaum möglich zu sein… Nie hatte sie Vergleichbares erlebt. BB war ein kindliches Verlangen gewesen, Dan Gregory ein zerstörerisches Intermezzo, Mike Birns ein Hirngespinst – und all die anderen nichts. George… George Blaine… Ich liebe dich, George Blaine…
Sie lief die Stufen hoch zu ihrer Wohnung. Sie lag verlassen und still da. Cindy quietschte vor Freude, rief seinen Namen, umarmte sich, tanzte und wirbelte herum, bis sie auf die Couch sank und ausgelassen lachte. Ich muß es ihm sagen. O George, mein Liebling, meine Liebe. Ich liebe dich, George. Sie hastete zum Telefon und wählte seine Nummer. Der Ruf ging ab, und mit jedem Klingeln wurde ihre Ausgelassenheit geringer, sie ging in Enttäuschung über, dann in Ablehnung, endlich in Wut. Offenbar war er nicht nach Hause gefahren, er hatte sie belogen, hatte es vorgezogen, die Nacht mit einer anderen zu verbringen. Sie fühlte sich verwirrt, und zum erstenmal in ihrem Leben empfand sie so etwas wie Eifersucht. Eine entsetzliche Erfahrung. Und so schön.
5
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, rief sie George an. Niemand meldete sich. In den folgenden zwei Stunden rief sie alle fünf Minuten an. Sie geriet außer sich, wurde wütend, dann besorgt. Erst gegen Mittag hörte sie ein Besetztzeichen, und das erklang länger als eine Stunde. Sie zog sich rasch an, wählte dann noch einmal. Wieder besetzt. Sie lief auf die Straße und hielt ein Taxi an. George Blaine wohnte in der zweiten Etage eines herrlichen alten Hauses aus alten roten Ziegelsteinen, abgesetzt mit weißem Granit, das direkt am Grosvenor Square lag. Ein Diener öffnete ihr. Sie nannte ihren Namen. In seinem Gesicht regte sich nichts. »Ich werde Mr. Blaine sagen, daß Sie hier sind, Miss.« Kurz darauf kam er wieder und sagte: »Wenn Sie mir bitte folgen würden…« Er führte sie einen Flur entlang, der voller Bilder hing, und öffnete die Tür zu einem Zimmer, das die Bibliothek sein mußte: Bücher an allen Wänden. Er zeigte auf eine Tür in der gegenüberliegenden Wand: »Mr. Blaine ist da drinnen, Miss.« Sie betrat George Blaines Schlafzimmer und hörte, wie sich die Tür hinter ihr schloß. George saß aufrecht in seinem Bett und sah blasser aus als gewöhnlich, er rief ihren Namen und lachte und winkte sie zu sich heran. »Meine Liebe, wie gut, daß du zu mir gefunden hast!« »Ist alles in Ordnung, George?« fragte sie besorgt. »Ah, ja.« Er lächelte. »Gelegentlich zwinge ich mich zu einer Rast, um mich von der Hektik der Geschäfte zu erholen. Nein, ich habe keine Probleme, meine Liebe. Aber du siehst heute besonders gut aus.« Am Fuße des Bettes stand ein abgewetzter Ledersessel, und er deutete darauf. Aber sie setzte sich aufs Bett,
neben ihn. Er hatte graue Flecken im Gesicht, und seine Lippen waren blutleer, die Augen stumpf. »Es geht dir nicht gut, George.« »Doch, doch. Es geht mir großartig. Mach dir um mich keine Sorgen.« Sie faßte ihn am Handgelenk an. »Ich habe versucht, dich gestern abend anzurufen, George. Aber niemand ist an den Apparat gegangen.« »Ah, ja, manchmal stelle ich den Telefonapparat ab. Eine wunderbare Einrichtung, wenn man nicht gestört werden möchte. Und mein Diener schläft nicht in diesem Haus.« »Auch heute morgen habe ich es immer wieder versucht. Zuerst gar nichts, und dann war immer besetzt. Ich wollte dich so sehr sehen. Du bist doch nicht verärgert, daß ich gekommen bin?« »Ich könnte nie über dich verärgert sein, Cindy.« Sie bückte sich und küßte seinen Handrücken. »Oh, meine Liebste, das darfst du nicht.« Er richtete sie auf und starrte in ihr Gesicht. »Was für ein atemberaubendes Geschöpf du bist. Eine so warme, herrliche Schönheit…« Er brach ab. »Ich habe den ganzen Morgen über dich nachgedacht, Cindy. Ernsthaft nachgedacht.« Sie zuckte zusammen, als ahnte sie, daß nun etwas kommen würde, was sie nicht hören wollte. Sie beugte sich wieder vor und küßte ihn. Er blieb still, reagierte nicht. Sie zog sich zurück. »Da siehst du es«, sagte sie und lachte nervös, »ich bin eines dieser schrecklichen amerikanischen Mädchen, über die man so viel hört.« »Es hat keinen Zweck«, sagte er. »Ich möchte dich immer nur küssen, George, auch in der Öffentlichkeit. Ist das nicht schrecklich? Okay, ich werde versuchen, mich mehr zurückzuhalten.« »Du und ich«, sagte er, »das ist nicht recht…« »Doch, doch.« »Du mußt das verstehen. Du bist so schön, so herzlich, so voller Leben, du bist bereit, alles zu probieren, zu experimentieren.
Es schmeichelte mir, mich mit einem Mädchen in deinem Alter zu zeigen. Aber ich bin fast fünfunddreißig…« »Ich fühlte mich immer schon zu älteren Männern hingezogen. Ich habe mal…« »Sag mir nichts. Versuche, mich zu verstehen. Daß ich mit dir reden konnte, dich herumführen durfte, hat mein Selbstwertgefühl gesteigert, mein männliches Ego aufgeplustert. Aber es ist nur ein Spiel, meine Liebe. Ich kann dich nicht länger hinters Licht führen, ich kann auch mir nicht länger etwas vormachen. Du solltest dich Jungen in deinem Alter zuwenden, kräftigen, gut aussehenden Jungs, die…« Sie küßte ihn, verzweifelt bemüht, ihre eigenen Gefühle auf ihn zu übertragen. Er sollte wissen, wie sehr sie ihn liebte und begehrte, wie sehr sie ihn brauchte. Aber keine Worte würden das ausdrücken können, keine Worte würden ihn zum Schweigen bringen, würden ihn davon überzeugen, daß er ihre Situation falsch einschätzte. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre Brust. Er hielt sie in einem delikaten Griff, die Finger still, sehr sanft. Sie rutschte näher an ihn heran und griff unter das Laken, das ihn bedeckte. »Liebste, tu’s nicht, dir zuliebe.« »Ich liebe dich, George, ich liebe dich wirklich. Bitte, schick mich nicht fort.« »Ich will dir nicht weh tun.« Sie küßte seine Mundwinkel, seine Augen, seine Wangen, leckte über die empfindliche Haut unterm Kinn und ergötzte sich an den prickelnden Stacheln seines Barts, am schwachen Geschmack des Colognes von gestern, am starken Geruch seines Körpers. Und jetzt spürte sie eine Reaktion in ihrer Hand. Sein Glied, das sich bisher nicht bewegt hatte, zuckte unter ihren sanft streichelnden Fingern, dehnte sich, das heiße Blut floß in die Adern und machte es hart. Ihr Herz klopfte, und sie hörte nicht auf, ihn zu küssen und den Schwanz zu streicheln, sie umfaßte ihn kräftiger und begann ihn zu reiben, fuhr mit dem Daumen über die Spitze.
Plötzlich lag sie auf dem Rücken, und er lag über ihr. Seine Hände erforschten ihren Körper mit unendlicher Zärtlichkeit und trieben sie in die höchsten Höhen der Leidenschaft. Sie half ihm, ihre Kleider abzustreifen, und während er ihre harten Brustwarzen koste, hätte sie ihm gern die Lust bereitet, die sie einem Mann bereiten konnte, mit allem, was sie wußte, aber sie fürchtete, daß er sie dann entlarven könnte, daß er ahnen würde, was sie einmal gewesen war. Sie wollte es ihm erklären, aber als sie den Mund aufmachte, verschloß er ihn gleich mit seinem Mund, und behutsam spreizte er mit den Knien ihre Schenkel, und seine harte Spitze versuchte, in sie einzudringen, aber sie verfehlte beim ersten Anlauf ihr Ziel, und sie stieß einen Laut der Enttäuschung aus, griff zwischen seine Beine, hielt seinen Schwanz und führte ihn zwischen die Lippen, und dann stieß er zu und drang ein und zog sich zurück, um wieder beherzt zuzustoßen. Sie schloß die Augen, und in der Dunkelheit sah sie das Bild vor sich, wie sein harter Schwanz ihre Höhle erforschte, und wie von selbst öffnete sie sich ihm weiter, gab sich ihm ganz hin. Stoß um Stoß. Tief hinein, dann zurück, bis nur noch die Spitze von den geschwollenen Lippen gehalten wurde, um erneut vorzustoßen, sie ganz auszufüllen. Es war herrlich für sie, einmalig, erfüllend. Ahhh. Sie rückte jedesmal nach, wenn er sich aus der Höhle zurückzog, und sie stieß dagegen, wenn er sie wieder aufspießte. Ihr Rücken krümmte sich. »Es ist so gut… ich kann dich schmecken…« »Ah.« »Wunderbarer Mann.« »Meine Liebe.« »Ah, Darling… mein Mann, mein wunderbarer Mann.« Die Worte purzelten aus ihr heraus. Alles an ihr fieberte mit, wartete auf jeden seiner Stöße, das ganze Leben konzentrierte sich auf diesen prachtvollen Schwanz und ihre feuchte Grotte.
Bunte, leuchtende Ringe tanzten vor ihren Augen, gurrende Laute sprudelten aus ihr heraus, und dann spürte sie, wie er sich versteifte, wie er zum letzten, entscheidenden Stoß ausholte und in sie hineinsprühte, und es war, als wäre sie ganz umfangen von diesem Balsam des Lebens, und als die tumultartigen Gefühle abebbten und das wohlige Gefühl nichts als Wärme in ihr verbreitete, schwebte sie sanft in einen Zustand glücklicher Ruhe.
6
Sie konnte an nichts anderes mehr denken. Alles, was vorher geschehen war, spielte keine Rolle mehr, war bestenfalls die Vorbereitung auf das Erleben mit George gewesen. George war alles für sie, ein tänzelnder Taumel, bei dem sie in einen erholsamen Schlaf fiel und bei dem sie morgens voller Sehnsucht aufwachte. Das war das Leben! George war das Leben. Sie blieben unter sich, und wenn sie ausgingen, dann nur an jene Orte, wo sie sicher sein konnten, niemanden zu treffen, den sie kannten. Lange Spaziergänge durch die Stadt, bis der unvermeidliche Nieselregen sie zurück in seine Wohnung und in sein Bett eilen ließ. Sie wurde immer zuerst wach und betrachtete ihn dann mit tiefer Zuneigung. Im Schlaf waren die blassen Wangen glatt wie Marmor, das dunkelbraune Haar fiel ihm seitlich in die Stirn, so daß er viel jünger wirkte und so verletzlich, ein Mann, der ihre Liebe brauchte. An diesem Tag fuhr sie mit der Zunge über seine Brust, ihre Lippen umspielten die aufgerichteten Nippel, und während ihre Hände mit seinem noch schlaffen Glied spielten, zog sie eine nasse Spur von den Brustwarzen hinunter zum Nabel, von dort tiefer, leckend, schmatzend, neckend. Er war längst wach geworden und sah, wie sich ihr Kopf in seinen Schoß drückte, wie sie mit der Zunge an der Unterseite des Penis hochfuhr, ganz langsam, geduldig, und wie sie dann die Lippen öffnete und den Stamm in sich aufnahm, auf- und abfuhr, immer und immer wieder. Dreimal versuchte er, in sie einzudringen, und dreimal mißlang es. Er verlor seine Erektion, bevor sie miteinander verbunden waren. Ein trockenes Stöhnen entfuhr ihm, und sie kuschelte seinen Kopf an ihre Brust und küßte ihn.
»Es ist schon gut«, sagte sie. »Du bist müde.« »Ich bin nicht gut für ich. Ich habe dich gewarnt – du braucht einen kräftigeren Mann.« »Ich liebe dich, Darling. Ich liebe dich.« Sie bedeckte seinen Mund mit ihrem, bis er wieder eingeschlafen war. Aber sie lag wach, machte sich Gedanken und Sorgen. Am nächsten Tag war George verschwunden. Niemand hob den Telefonhörer ab, und als sie zu seiner Wohnung ging, öffnete niemand. Sie erzählte Peggy und Alva, was geschehen war, und sie versuchten, Cindy zu trösten. Aber sie wollte sich nicht beruhigen lassen. Sie weinte. »Es ist ihm etwas zugestoßen. Ich weiß es.« »Nein, nein.« »Er ist wahrscheinlich auf einer Geschäftsreise«, mutmaßte Peggy. »Männer sind doch immer in Geschäften unterwegs.« »Ich werde die Polizei anrufen«, schluchzte Cindy. Sie wollten es ihr ausreden, aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Ein Polizist wurde in die Wohnung geschickt, der Hausverwalter ließ ihn ein, und er berichtete später, daß niemand da war und es kein Anzeichen für ein Verbrechen gäbe. Abends wollten die Mädchen Cindy mit auf eine Party nehmen, aber sie weigerte sich. Sie blieb zu Hause, saß neben dem Telefon, trank Scotch und weinte und schimpfte abwechselnd, bis sie ohnmächtig wurde. Als Alva am nächsten Nachmittag nach Hause kam, sah sie Cindy auf dem Boden liegen; sie legte eine Decke über sie und ging dann ins Bett. Es war dunkel, als Cindy aufwachte. Sie fühlte sich entsetzlich, ihre Augen waren geschwollen, und ihr Kopf schien der Kampfplatz verfeindeter Mächte zu sein. Sie raffte sich auf, schaffte es bis zum Badezimmer und schluckte ein paar Aspirin, dann ging sie unter die Dusche. Sie setzte Kaffee auf und ging mit der dampfenden Tasse zum Telefon. Wieder wählte sie Georges Nummer. Nach dem vierten Klingeln hörte sie eine Stimme. »George?«
»Ja. Bist du das, Cindy? Warum schläfst du nicht um diese Zeit?« »O George! O George! Bist du in Ordnung? Ich hab’ mir ja solche Sorgen gemacht! Ich dachte, dir könnte was zugestoßen sein. Ich dachte, du wärst verletzt oder entführt oder ermordet. O mein Liebling, ich hatte solche Panik. Ich hab’ sogar die Polizei angerufen. Wo bist du gewesen?« »Wir sprechen morgen darüber.« »George, bitte. Darf ich jetzt zu dir kommen? Bitte?« »Es ist viel zu spät«, sagte er, Zurückhaltung in der Stimme. »Ich rufe dich an.« Mißtrauen kroch in ihr hoch. »Bist du allein, George?« »Ja, natürlich. Ich liege im Bett.« »Warum kann ich dann nicht zu dir kommen?« rief sie verdrießlich, dann fügte sie lauter hinzu: »Wir brauchen nicht Liebe zu machen, wenn es das ist, was dich sorgt.« Es entstand ein längeres Schweigen, dann: »Es ist spät. Ich bin müde, und du mußt es auch sein.« »Du bist ohne ein Wort gegangen. Ich verstehe dich nicht.« »Morgen. Ich werde dir alles erklären.« »Nein!« brach es aus ihr heraus, lauter, als sie es gewollt hatte. »Ich will es wissen! Ich habe eine Erklärung verdient, George. Ich werde in dreißig Minuten bei dir sein. Das läßt dir genug Zeit, dich deiner neuen Freundin zu entledigen.« »Cindy, ich habe nicht vor, das Gespräch fortzusetzen.« Er klang strenger, als sie ihn je gehört hatte, und sie wußte, daß seine Geduld am Ende war. »Ich wünsche dir eine gute Nacht.« »Leg nicht auf! Ich will mich so nicht behandeln lassen!« »Gute Nacht, Cindy!« »Wer ist es, George? Kenne ich sie? Ist sie besser im Bett als ich? Es gibt Männer, die mich für verdammt gut halten. Männer, die sagen, ich sei unschlagbar. Es gibt nichts, was ich nicht tue, George. Nichts. Du brauchst es mir nur zu sagen, und ich…« »Ich lege auf.«
Sie wollte aufhören, aber sie konnte die Worte nicht zurückhalten, die aus ihrem Mund sprudelten, Worte voller Galle. »Oh, ich weiß. Du bist die ganze Zeit bei ihr gewesen, du hast dich halbtot gefickt. Kein Wunder, daß du immer zu müde bist, wenn ich bei dir bin. Aber für sie bist du nicht zu müde…« Das Klicken in ihrem Ohr war entsetzlich laut, so schrecklich endgültig. Eine wirbelnde Wolke umfing sie. Ihr Gehirn schien Purzelbäume zu schlagen, ihre Glieder fühlten sich bleischwer an. Sie konnte die Zahlen auf der Wählscheibe kaum noch erkennen, aber sie schaffte es irgendwie, seine Nummer zu wählen. Sie ließ es läuten, schließlich legte sie auf und versuchte es noch einmal. Er hatte das Telefon abgestellt! Sie ging ins Bett und konnte nicht schlafen. Ihr Körper war lebendig, aber sie spürte, wie Teile in ihr abzusterben begannen. Sie empfand eine unendliche Leere in sich. Sie schlüpfte aus dem Bett und zog sich an, ging aus der Wohnung. In den Straßen war es feucht und kühl, Nachtluft drang durch das dünne Kleid, das sie trug. Zitternd hastete sie weiter. Ein grüner Porsche fuhr an ihr vorbei, bremste mit quietschenden Reifen. Ein Mann rief sie an, bot ihr eine Geldsumme an. Sie sagte ihm, wohin er sein Geld stecken könnte. Der Porsche fuhr weiter. Eine beleuchtete Telefonzelle. Sie trat hinein, wählte Georges Nummer. Keine Antwort. Es war eng und warm in der Zelle, ein aufrechter Sarg. Sie lief ins Freie. Aus einem Privatklub schwappte ein Schwall Männer auf die Straße. Eine kompakte Gestalt löste sich aus der Gruppe und stellte sich Cindy in den Weg, verbeugte sich übertrieben. »Eine Lady der Nacht«, deklamierte er lallend. »Süße Lady, wir zwei könnten doch…« »Fahr zur Hölle.« Sie ging weiter. Er lief hinter ihr her, die Arme ausgebreitet, und entschuldigte sich wortgewaltig.
»Ich meine es doch nur gut mit uns. Wir können zusammen Spaß haben. Meine Freundin hat mich verlassen, und ich bin ganz allein in dieser großen Stadt.« Sie blieb stehen und drehte sich um, sah ihn an, die Hände in die Hüften gestemmt. »Was willst du?« Er trat noch einen Schritt näher auf sie zu. Er war, fand sie, weniger betrunken, als er sie glauben machen wollte. »Dich, süße Lady, will ich. Ohne jede Einschränkung. Brauchst mir nicht mal deinen Namen zu nennen, wenn du nicht willst. Wir brauchen nicht dabei zu reden. Wir ziehen uns aus, und dann legen wir los.« Sie musterte ihn, und in der nebligen Luft sah sie, wie George Blaine an seine Stelle trat. Sie warf den Kopf in den Nacken. »Wo?« fragte sie. »Mein Auto steht nur einen Block weit entfernt.« »Also gut.« Sie drehte sich um und ging rasch weiter. Er würde sie bald einholen, dachte sie. Sie hatte recht.
7
Ausgelaugt, aber eigenartig ruhig kehrte sie am Morgen in die Wohnung zurück. Sie nahm ein langes Bad, in das sie eine duftende Essenz gegeben hatte, trank schwarzen Kaffee und rauchte. Sie wollte ihre Gedanken betäuben. Dann zog sie sich an, sittsam, nahm ein Taxi zum Grosvenor Square, fuhr mit dem Lift in die zweite Etage und klingelte. George öffnete die Tür, als hätte er sie erwartet. »Ich wollte gerade zu Mittag essen«, sagte er. »Möchtest du auch etwas essen?« »Ja, gern.« Er ging in die Küche und kam kurz darauf mit einem Tablett zurück. Als sie am Tisch im Wohnzimmer saßen, war sie über ihren Hunger überrascht. »Ich habe mich gestern abend schlecht benommen«, sagte sie nach einer Weile. »Es tut mir leid.« »Ich hätte nicht weggehen sollen, ohne dir vorher Bescheid zu sagen.« »Ich war eifersüchtig.« »Du hast keinen Grund.« Sie nippte am Tee. »Du bist so dünn, George, und du kommst mir auch blasser als sonst vor. Vielleicht solltest du mal einen ausgiebigen Urlaub machen und in der Sonne liegen.« »Das glaube ich nicht.« Sie hob das Gesicht, und seine Augen schauten so traurig, daß sie wegsehen mußte. »Ich möchte dir etwas sagen, Cindy. Und wenn ich damit fertig bin, mußt du dich genau an das halten, was ich gesagt habe.« »Könnten wir nicht zum Wochenende nach Schottland fahren?« warf sie rasch ein. Sie wollte nicht hören, was er zu sagen hatte, sie wollte nicht, daß er sprach. »Irgendein stilles Gasthaus. Wir
könnten Golf spielen. Ich spiele es nicht gut, aber ich kann ja lernen. Ich werde auch still sein, wenn ein Spieler vor seinem Ball steht. Du wirst…« Er räusperte sich. »Du mußt gehen. Weit weg von hier, weg von mir. Du darfst nicht zurückkommen. Niemals. Wir werden uns nicht wiedersehen.« »Wenn nicht Schottland«, sagte sie hastig, »wie wäre es denn mit einer Kanalinsel? Ich habe gehört, daß sie wunderschön…« »Hör mir zu!« Die Schärfe ließ seine Worte wie Peitschenschläge knallen. »Du wirst mich in Ruhe lassen. Es ist vorbei zwischen uns.« Sie hob den Kopf, ein Vorgang, der ihr Mühe bereitete. »Du liebst mich doch.« Er erwiderte sanft: »Deshalb sage ich dir das alles. Wir hatten nicht das Recht, uns ineinander zu verlieben. Es ist meine Schuld. Ich hätte es nicht zulassen dürfen.« »Ich wollte es, ich will es noch immer. Bitte, George, tu, was du tun willst, aber schick mich nicht weg. Letzte Nacht… ich war verrückt, wahnsinnig. Das war nicht ich. Ich habe gedacht, du wärst mit einem anderen Mädchen zusammen. Aber wenn du das möchtest, kannst du das auch. Oh, es würde mich aufregen, aber ich werde nichts sagen, werde mich nicht beklagen. Letzte Nacht – du sollst wissen, daß ich keine Puritanerin bin, George –, letzte Nacht war ich so wütend auf dich, daß ich ausgegangen bin und mich von einem Mann habe ansprechen lassen…« »Sprich nicht weiter, Cindy.« »Ich will, daß du es weißt. Ich bin mit in seine Wohnung gegangen. Ein Mann, dessen Namen ich nicht einmal kenne, der nicht einmal attraktiv war. Sobald wir da waren, habe ich mich ausgezogen, er brauchte mich nicht einmal dazu aufzufordern. Ich habe es gehaßt, Liebling, und gleichzeitig hab’ ich Vergnügen daran gehabt. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich werde es nicht noch einmal tun. Das verspreche ich dir, George.« »Hör auf!« Er rang um seine Beherrschung. »Es war nie meine Absicht, dir weh zu tun, Cindy. Aber es gibt Aspekte in meinem
Leben, von denen du nichts weißt. Aspekte, die ich zwar vermutete, über die ich aber jetzt erst Gewißheit habe.« »Was du auch tust, mir ist es recht«, sagte sie rasch. Er schüttelte den Kopf. »Du mußt gehen. Laß mich in Ruhe. Es gibt keine Zukunft für uns.« »Du irrst dich!« »Du kennst mich nicht.« »Wir lieben uns.« »Das ist nicht genug!« Er stieß die Worte zwischen einem Hustenanfall heraus. Sie stand auf, steif und wie betäubt. Sie mußte sich beschützen vor etwas, was zu begreifen sie sich fürchtete. Mit George war eine fremdartige Veränderung vorgegangen, sie fühlte sich weit von ihm entfernt. »Du liebst eine andere«, hörte sie sich sagen. Das blasse Gesicht zeigte keine Regung. »Es gibt niemanden«, sagte er ruhig. »Warum denn?« schrie sie. »Bist du vielleicht ein heimlicher Schwuler? Hast du irgendwo einen Freund?« Sein Gesicht war eine wächserne Maske, aber was versteckte diese Maske? »Sag es mir, verdammt noch mal!« Sie sprang ihn an, fuhr mit ihren Nägeln durch sein Gesicht. Die weiße Haut zeigte rote Striemen. »O mein Gott, George, das habe ich nicht gewollt, ich liebe dich doch! Bitte, vergib mir, George.« Er stand auf und ging durchs Zimmer, blieb vor einem der hohen Fenster stehen und schaute hinunter in die graue Straße. »Cindy, ich wollte dir keinen Schmerz zufügen.« Er drehte sich zu ihr um. »Ich bin die letzten Tage in einer Klinik gewesen. Die Mediziner haben eine Menge Tests mit mir gemacht. Dann haben sie mir gesagt, daß meine Lungen ziemlich kaputt sind. Es gibt einen bestimmten Namen dafür, aber nennen wir es Krebs. Krebs im Endstadium. In beiden Lungenflügeln. Ich werde sterben, Cindy. Bald schon, haben sie mir gesagt. Sehr bald…« In ihrer Brust formte sich ein stummer Schrei, der heraus wollte. Sie spürte den überwältigenden Drang, wegzulaufen, alles
auszublenden, nichts mehr zu sehen und zu hören und zu fühlen. Sie begann zu laufen und lief noch, als sie bewußtlos zu Boden stürzte.
DRITTES BUCH
Ich habe was zu sagen, aber ich weiß nicht, was. Graffito auf einer Mauer in Paris
1
Sie traf mit zwei Koffern in Paris ein, das war einer weniger, als sie mit nach London gebracht hatte. Alles Überflüssige war in London zurückgeblieben, alles, was sie an London und George erinnern würde. Reise leicht, riet sie sich. Und reise schnell. Ein kalter Nieselregen ging über das zentrale Juwel in der französischen Krone nieder, als sie mit dem Bootszug im Gare St. Lazare eintraf. Das Wetter spiegelte ihre Stimmung wider. Mit einem Taxi ließ sie sich durch den dichten Pariser Verkehr kutschieren, über die breiten Boulevards und durch die engen Straßen, an Bistros und Boutiquen vorbei. Schließlich scherten sie auf die Champs Elysées ein und hielten vor dem Hotel Claridge an. Erschöpft und niedergeschlagen sehnte sie sich nach der heilenden Wohltat, die Luxus bieten konnte. Ein englisch sprechender Portier, der wie Fernandel aussah, trug ihren Koffer und führte sie durch die Glastüren, übergab sie dort einem jungen Pagen, der sie wiederum zur Reception leitete, wo ein großer schlanker Mann mit kurz geschorenem schwarzen Haar und verquollenen Augen sie abschätzend musterte. »Hat Mademoiselle eine Reservierung?« Sie hatte genug von dieser französischen Hochnäsigkeit. Der Taxifahrer hatte schon versucht, sie übers Ohr zu hauen, und hatte nur die Schulter gehoben, als sie ihn auf Französisch zurechtgewiesen hatte. Und jetzt dieser arrogante Kerl. »Ich bin sicher, Sie werden keine Schwierigkeiten haben, ein hübsches Zimmer für mich zu finden«, sagte sie, so von oben herab, wie es ihr holperiges Französisch zuließ. »Um diese Jahreszeit wimmelt es nicht gerade von Touristen in Paris.« Der Mann an der Reception hob die Schultern. Alles Schulternheber, die Franzosen, dachte Cindy und unterschrieb das Formular, das er ihr zuschob. Ein paar Minuten später war sie allein in
einem geräumigen Zimmer mit hoher Decke. Als sie ihren Koffer ausgepackt hatte, war sie zu müde, um noch ein Bad zu nehmen, deshalb legte sie sich ins Bett und schlief gleich ein. Ihre ersten beiden Tage in Paris verbrachte sie in ihrem Hotelzimmer. Sie nahm dort alle Mahlzeiten ein, schlief die meiste Zeit, las viel und schrieb Briefe. Sie schrieb an ihren Vater, schickte Maggie eine Ansichtskarte, entwarf einen langen, gefühlvollen Brief an George Blaine und zerriß ihn später, schrieb eine kurze Nachricht an BB, flott und frech, ganz anders, als sie sich fühlte. Sie wünschte, er wäre jetzt bei ihr, sie war sicher, er würde ihre verwirrten Gefühle verstehen und Sympathie zeigen. Den Brief an ihren Vater schickte sie nie ab. Am dritten Tag ging sie aus, schlenderte die Champs Elysées hinunter, durch die Tuilerien. Die Frühlingsblumen hatten zu blühen begonnen, und die Leute hatten die Wintermäntel zu Hause gelassen. Verliebte spazierten Hand in Hand oder eng umschlungen durch den Park, eine Mutter spielte mit ihrem Kind, und drei Männer, klein, kernig und dunkel, standen nebeneinander und trugen einen heftigen Wortstreit aus. Am Louvre machte sie kehrt und ging den Weg zurück an der Seine entlang. Die nächsten Tage erforschte sie Paris. Die unvorstellbar großen alten Gebäude, die die Spanne der Zeit überbrückten, die Eleganz und der Chic der Frauen, die exklusiven Geschäfte. Und alles gewann noch durch das überall gegenwärtige, wunderschön anzuhörende Französisch. An einem Tag besuchte sie das Schloß Versailles und versuchte sich vorzustellen, wie man wohl in einem solchen atemberaubenden Bau wohnen konnte, dieser Palast, der für Louis XIV gebaut worden war. Der Spiegelsaal, in dem der Friedensvertrag, der den Ersten Weltkrieg beendete, unterzeichnet worden war, führte ihre Gedanken zurück in die Tage der französischen Königsfamilien und der blutigen Revolution. Die Erinnerung an Chicago wurde plötzlich wach, an das, was dort in den Straßen geschehen war. Chicago, sagte sie sich wütend, hatte nichts verändert, es war nur eine Charade gewesen.
In den folgenden Wochen nahm sie sich immer vor, das Claridge gegen eine billigere Bleibe zu tauschen, doch sie unternahm nichts. Sie führte weiter das umtriebige Leben einer Touristin, besuchte Museen und Sehenswürdigkeiten, aß in den nahegelegenen Bistros. Sie fand heraus, daß es beinahe unmöglich war, irgendwo in Paris schlecht zu essen. Ihre Sprachkenntnisse verbesserte sie nur, wenn sie mit Kellnern oder Touristenführern redete, sonst unterhielt sie sich mit niemandem. Zweimal, einmal vor Notre Dame und einmal auf dem Eiffelturm, wurde sie von Männern angesprochen. Sie lehnte ab, entschlossen, jede gefühlsmäßige Bindung zu vermeiden; zu sehr schmerzte sie noch ihre Erfahrung mit George Blaine. Sie ging ins Jeu de Paume, ein kleines Museum in den Tuilerien, mußte aber feststellen, daß es dienstags geschlossen hatte. Am Mittwoch ging sie wieder hin und fand die großen Impressionisten des vergangenen Jahrhunderts. Van Gogh, Degas, Manet und Monet. Besonders von den vibrierenden Farben Monets war sie begeistert. »Sieht fast wie ein Foto aus, nicht wahr?« Die Stimme, so männlich und sanft, kam ihr sogar mit diesem Pariser Akzent vertraut vor. Sie verhielt sich still, sie wollte kein Gespräch mit einem Fremden beginnen. »Ein ungewöhnlicher Künstler«, fuhr die Stimme fort. »Die Gemälde liegen jenseits der Realität und kommen uns deshalb um so realer vor, stimmt es nicht?« Es war, als hätte sie diese Worte schon einmal gehört. Ihre Gedanken sammelten sich, und dann erinnerte sie sich an Rafe Giacomin, wie er mit ihr über die Kunst der Impressionisten gesprochen hatte, der Wahrheit nahezukommen. Sie wirbelte herum, das Gesicht offen und lebendig, als sich das Erkennen darauf spiegelte, und dann streckte sie weit die Arme aus. »Rafe!« rief sie. »Rafe, Rafe, Rafe!«
2
Rafe hatte sich verändert, wenn auch nur behutsam. Er war immer noch dunkel und ernst, die schwarzen Augen immer noch groß und forschend, das unglaublich schwarze Haar länger und dichter über den Ohren. Aber der üppige Mund, der so schnell zu lächeln bereit gewesen war oder sich schmollend zu einem Strich gezogen hatte, war weicher geworden, weniger angespannt. Und wenn er redete, war von der schrillen Erregbarkeit nichts mehr zu spüren. In dem schwarzen Rollkragenpullover und einem Tweedjackett, eine Kamera an einem Ledergurt um den Hals, fand Cindy ihn noch attraktiver als vorher. Sie sagte es ihm, und sie umarmten sich und lachten und fielen mit Fragen übereinander her. Er wollte wissen, warum sie sich nicht bei ihm gemeldet hatte, und sie sagte, er wäre dick geworden, was er bestritt. Er beschuldigte sie, auf seine Briefe nicht geantwortet zu haben, und sie hielt dagegen, sie hätte nur einen erhalten. Er fragte nach New York und den Leuten, die sie kannten, und war dann schon beim nächsten Thema. Sie verließen das Jeu de Paume, und auf der breiten Museumstreppe, die Place de la Concorde im Hintergrund, schoß er ein Foto von ihr. »Was für ein Zufall!« rief er ausgelassen, als sie über die Straße liefen. »Daß wir uns so getroffen haben! Man wird es niederschreiben, und Historiker werden noch darüber rätseln!« In einem Café in einer Seitenstraße bestellte er Pernod für sie beide. Er nahm ihr Gesicht in die Hände und schaute sie durchdringend an. »Zum einen ist das Haar kürzer«, sagte er mit seiner dunklen Stimme. »Aber ich glaube, es gibt auch andere Veränderungen. Die Augen blicken trauriger, erfahrener vielleicht. Und
die Wangen haben ihren Babyspeck verloren«, endete er, die Stimme gehoben. Dann setzte er sich zurück. Sie lächelte dünn. »Nichts bleibt ewig.« »Willst du Papa Rafe davon erzählen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ein andermal, nicht jetzt.« Sie nippte am Pernod. »Erzähl mir von Rafe.« »Ah, Rafe… Nun, ich habe mit dem Malen aufgehört.« »O nein!« »Kunst, jede Kunst, hat keine Bedeutung mehr. Ist nicht mehr relevant.« »Ich hasse dieses Wort. Die Leute benutzen es in Gesprächen wie ein Fallbeil. Das Wort ist… irrelevant.« Er knurrte irgend etwas und deutete auf seine Kamera. »Das ist die Kunst von heute. Fotografie. Die Kamera ersetzt Pinsel und Farben. Ein Foto sagt alles.« Sie schaute ihn an, den Kopf leicht schräg geneigt. »Ein geschickter Fotograf kann auch mit der Kamera lügen.« »Gut, gut, aber das ist jetzt meine Welt. Ich werde immer besser und stehe vor dem Durchbruch.« Er griff ihre Hand. »Zurück zu dir. Ich habe tausend Fragen…« Entsetzt darüber, daß Cindy in einem so teuren Hotel wie dem Claridge wohnte, begann Rafe, ein passendes Apartment für sie zu suchen. Zwei Tage später hatte er sie in einem schmalen Zimmer mit Toilette und kleiner Dusche in einer engen, lauten Straße am Montparnasse untergebracht. Von einem winzigen Balkon konnte sie in einen Garten schauen. Als Cindy über das kleine Zimmer stöhnte, wischte Rafe ihre Einwände beiseite. »Das ist Paris, meine Süße. Du wirst auf der Straße leben, in den Cafés. Ein Zimmer ist für deine Kleider und zum Schlafen da, für sonst nichts. Es ist billig und liegt im Studentenviertel, nahe bei Notre Dame. Was willst du mehr? Jetzt werde ich dir zeigen, wo man die besten Dinge einkauft, die man zum Essen oder Kochen braucht.«
Er nahm sie mit in die Rue Mouffetard. »Hier gibt es den besten und billigsten Markt von Paris, jeden Abend von fünf bis sieben geöffnet.« »Ich mach’ uns ein Essen…« »Unsinn! Das ist Paris! Wir werden stilvoll essen…« Sie saßen in einem kleinen Restaurant, das nur von jungen Leuten besucht war. Für den Gegenwert von eineinhalb Dollar erhielten sie eine ausgezeichnete Zwiebelsuppe, ein veau scallopine, Salat und Kaffee sowie einen feinen Beaujolais blanc. Danach schlug er einen Theaterbesuch vor, irgendein typisch französisches Stück. Sie klatschte aufgeregt in die Hände. »Die Folies Bergere!« Er stöhnte verzweifelt auf. »Dein Geschmack stammt aus dem Topeka des neunzehnten Jahrhunderts, Darling. So entsetzlich amerikanisch. Aber wenn du unbedingt willst…« Die Vorstellung war lieblos, schlampig, die Nacktheit vordergründig. Die Mädchen bewegten sich gelangweilt in ihren schäbigen Kostümen. »Es war ziemlich schlecht«, mußte Cindy nachher zugeben. »Das nächste Mal hörst du auf mich. Jetzt wird Papa Rafe die Wahl treffen. La Bonne Temps wird den schlechten Geschmack aus meinen Sinnen waschen.« La Bonne Temps. Tief im zweiten Kellergeschoß eines alten Hauses in der Rue Xavier Privas. Der Besitzer vermied laute Reklame; die Gäste gehörten zu einem kleinen Kreis von Eingeweihten. Es war teils Nachtclub, teils Restaurant, dunkel und zigarettenrauchgeschwängert, gewürzt von Marihuana und algerischem kouskous. Eine Bauchtänzerin drehte und renkte sich auf einer winzigen Bühne, ging auf die Knie und schüttelte die Brüste, gehalten von einem breiten Band mit Schellen und Glöckchen. Sie bückte sich, bis sie mit der Stirn den Boden berührte, begleitet von einer Trommel und einer wehmütigen Flöte. Cindy folgte Rafe in die Mitte von La Bonne Temps, an den gut besetzten Holztischen vorbei, drei Steinstufen hoch und durch einen Rundbogen zu einem länglichen Raum, in dem es nur
einen Tisch gab, der den Raum fast ganz ausfüllte. Einige der Leute am Tisch begrüßten Rafe, als er und Cindy sich setzten. Aufgeregt sah Cindy sich um. Sie wollte alles in sich aufnehmen. »Wild, was?« meinte Rafe. Er bestellte Calvados und Cinzano für Cindy. Am anderen Ende des Tisches brüllten sich zwei Männer an. Im nächsten Augenblick flogen die Fäuste. Eine Frau schrie. Cindy hielt Rafes Arm fest. Er meinte lachend: »Das ist ein lebhafter Laden. Man weiß nie, was passiert.« »Worüber streiten sie?« Er hob die Schultern. »Vielleicht über de Gaulies letzte Fernsehansprache. Oder über die Tatsache, daß Les Halles aus dem Zentrum verlegt werden, die geliebten Markthallen. Ober über eine Frau. Letzte Woche hat es einen Kerl mit dem Messer erwischt.« »Mit einem Messer?« »Ja. Es war eine Frau. Sie wollte ihn kastrieren, erwischte ihn aber nur am Oberschenkel. Während der Algerienunruhen brachen zwei Typen mit Maschinengewehren hier ein und mähten ein paar Kellner um, die der Opposition angehörten. Und während der Streiks im Mai hatte eine Studentengruppe La Bonne Temps als Hauptquartier benutzt.« »Ich weiß nicht, ob es mir hier gefällt.« »Ach, keine Sorge. Die meiste Gewalt wird sehr gezielt angewendet. Unbeteiligte kommen selten zu Schaden.« Sie schaute zu den prügelnden Männern. Sie waren inzwischen voneinander getrennt worden und hatten sich an den Tisch gesetzt, tranken Wein und diskutierten weiter. Im Laufe der Nacht drängten sich immer mehr Menschen durch den Rundbogen an den langen Tisch. Ab und zu stellte Rafe seiner Begleiterin jemand vor, und Cindy hatte bald den Überblick verloren, welcher Name zu welchem Gesicht gehörte. Es wurde heftig diskutiert, aber sie verstand nur hier und da ein Wort oder eine Phrase. Plötzlich saß ein hoch aufgeschossener
Mann neben ihr, der sie mit seinen kleinen heißen Augen bewunderte. Um den langen Hals hatte er einen grünroten Schal geschlungen. »Ich bin Etienne LaRoux«, erklärte er mit dem Anflug eines Lispeins. »Sie haben natürlich schon von mir gehört.« Er pflanzte seine Ellenbogen auf den Tisch, stützte das Kinn auf beide Hände und musterte sie ausgiebig. »Vielleicht nicht. Ich höre, Sie sind Amerikanerin, und es ist bekannt, daß Amerika in kulturellen Fragen stets eine Saison hinterherhinkt.« Er lehnte sich zurück. »Der Couturier«, sagte er dann und legte einen Finger neben die Nase. »Sehr schade. Aber Sie kommen nicht in Frage.« »Für was?« »Als Model für LaRoux natürlich. Ein Model mit Busen ist doppelt benachteiligt.« Der flache Mund wölbte sich zu einem kurzen Lächeln über den eigenen Scherz. »Ich muß Sie ablehnen.« »Ich bin untröstlich«, sagte sie und lächelte, um ihm zu zeigen, daß sie seinen Humor verstand. »Sie sind in Giacomins Begleitung. Zuerst hatte ich geglaubt, Giacomin hätte sich eine Geliebte zugelegt, aber das glaube ich nicht. Amerikanische Frauen sind nichts für Männer wie Giacomin und mich. Unsere Empfindsamkeit ist zu überwältigend, wir sind zu offen für neue Erfahrungen, für Experimente, wir sind zu sehr voller Lust, um uns auf ein Geschlecht zu beschränken. Amerikaner müssen noch viel lernen.« Sie war von der Abneigung überrascht, die sie empfand. »Sollen die Franzosen unsere Lehrmeister sein?« Das lange Gesicht wurde noch länger. »Ah, es ist nicht meine Absicht, Sie zu verärgern. Sie sind eine liebliche Frau, und ich spüre den positiven Strom zwischen uns. Aber Sie müssen wissen, daß komplizierte Männer ein kompliziertes Leben führen.« Er beugte sich vor, seine Haltung war eher vertraulich. »Giacomin und ich haben uns einander anvertraut. Unsere Mütter, diese unglaublichen Hexen. Es wird einem sozusagen aufgezwungen,
sich von Frauen fortzubewegen, nicht wahr?« Er lehnte sich wieder zurück. »Mögen Sie Rafe?« »Sehr sogar. Und Sie? Kennen Sie Rafe gut?« »Ich glaube, niemand kennt Rafe gut. Er ist ein sehr eigener Mann, noch komplizierter als ich. Und vielleicht auch noch talentierter. Aber nur vielleicht.« »Wie sind seine Fotos?« »Er ist ein herausragender Fotograf, aber er ist der Sache schon überdrüssig. Ich bin sicher, daß er eines Tages reich und berühmt sein wird, sein Genie überall anerkannt.« Er zog die Stirn kraus. »Aber jetzt spielt er mit Filmen, er vergeudet seine Zeit und seine Energie, die er besser in ernsthafte Arbeit umsetzen sollte.« Die hitzigen kleinen Augen konzentrierten sich auf Cindy. »Ah, aber Giacomin muß Sie benutzen. Ja, ja, das muß er! Dafür sind Ihre Brüste zu gut. Perfekt! Giacomin! Giacomin! Achtung! Dieses Kind ist es, das mußt du zugeben! Es ist meine Großartigkeit, die das entdeckt hat! Giacomin!« Rafe schaute zu ihnen. »Was schreist du so, LaRoux?« »Dieses Mädchen«, rief LaRoux zurück. »Die Inspiration schläft in deinem verniggerten Gehirn, Giacomin. Sie ist deine Freundin, und du siehst nicht, was da vor dir steht. Sie hat das Etwas, das man für die Nacktheit braucht. Sie ist vollkommen, schau doch!« »Du wolltest das chinesische Mädchen haben.« »Jetzt will ich es nicht mehr. Ich werde wieder einmal der Neuerer sein. Die ganze Modewelt wird LaRoux beneiden und ihm folgen. Sie werden sich krümmen vor Eifersucht. Es ist die Zeit der Frau, die wie eine Frau aussieht. Mit Hüften, Bauch und Busen.« Eine spinnenhafte Hand streckte sich aus und umfaßte Cindys linke Brust. »Das ist eine Brust, mein Freund. Wir werden sie zeigen, stilvoll natürlich. Die Mode wird wieder Brust zeigen.« Cindy schob seine Hand weg. »Vielleicht hast du recht«, sagte Rafe nachdenklich. »Natürlich habe ich recht.« Gegenüber am Tisch lauschte ein Mann mit hochgezogenen Brauen dem Gespräch. Irgend etwas an ihm, die tiefe Intensität
oder auch sein Mangel an Scheu, die Privatsphäre anderer anzuerkennen, ärgerte Cindy. Sie wandte sich wieder LaRoux zu. »Ich könnte nicht nackt posieren«, sagte sie. »Wir machen ein paar Testaufnahmen«, sagte Rafe. »Morgen. Wir fangen gleich morgen an«, fügte LaRoux hinzu. »Wir müssen im Studio beginnen«, fuhr Rafe fort. »Aber die meisten Aufnahmen machen wir draußen. Auf der Straße, in der Oper, in Notre Dame, im Louvre…« »Bäume und Gras passen ideal zu meiner Kreation!« »Ich kann es nicht!« beharrte Cindy. »Ich werde es auch nicht tun.« Der Mann mit den hochgezogenen Brauen lachte laut und klatschte mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Jetzt schauten alle zu ihm. Der höhnische Ausdruck seines Gesichts sagte Cindy deutlich, daß er wußte, sie würde es tun, sie würde genau das tun, was Rafe und LaRoux von ihr wollten. Sie haßte ihn, weil sie wußte, daß er recht hatte.
3
Jeden Abend studierten Rafe Giacomin und Etienne LaRoux die Fotos, die an diesem Tag entstanden waren, verglichen sie mit früheren Bildern, tauschten aus, sortierten neu und waren nie ganz zufrieden. »Einige der Fotos sind für sich gesehen ganz gut«, meinte Rafe, »aber der Gesamteindruck stimmt nicht.« »Warum?« rief LaRoux. »Warum, warum? Kann es an meinen Kreationen liegen?« LaRoux hatte mit Metallicstoffen eine Serie von Tages- und Nachtkleidung entworfen, die bestimmte Teile des Körpers zur Schau stellte und dadurch die Illusion von Nacktheit schuf. Dazu gehörten durchsichtige Blusen und Kleider, die kaum breiter waren als ein Leibchen, Hosen mit elliptischen Freiräumen und Abendkleider, die vorn und hinten tief ausgeschnitten waren. »An Cindy liegt es nicht«, entschied LaRoux schließlich. »Sie ist großartig, ihre Jugend und Schönheit kommt gut rüber. Und doch ist irgend etwas nicht in Ordnung.« »Ich glaube, ich weiß, woran es liegt. Cindys Sinnlichkeit dominiert jedes Bild. Wir fangen morgen noch einmal ganz von vorne an.« Die Fotoarbeiten dauerten noch eine volle Woche, und in dieser Zeit wurde Cindy immer gereizter. Zweimal brach sie in Tränen aus, wenn Rafe sich über ihren Mangel an Energie beklagte, und an einem Tag sagte er ihr, ihr Gesicht wirke schlaff und abgespannt, und er weigerte sich, weiter zu fotografieren, bis ›du wieder zu dir gekommen bist‹. Sie arbeiteten in einer ländlichen Gegend östlich von Paris, und sie rannte weg von ihm, in einen nahen Wald hinein. Sie war etwa fünfzig Schritte gelaufen, als ihr Fuß sich in einer Schlingpflanze
verhakte und sie zu Boden stürzte. Sie blieb liegen, frustriert, und weinte bitterlich. Sie lag immer noch da, als Rafe zu ihr kam. Er reichte ihr sein Taschentuch, zündete zwei Zigaretten an und gab Cindy eine. Sie sog tief den Rauch ein und mußte husten. Er versuchte, sein Lachen zu unterdrücken, aber er hatte keinen Erfolg damit. Sie fluchte und warf ihm die Zigarette entgegen. Sie traf eine junge Birke. Rafe holte die Zigarette und gab sie ihr wieder. Sie machte einen Zug und setzte sich auf. »Du bist ein Ekel«, sagte sie und mußte aufstoßen. »So ist es.« »Ich weiß, daß ich keine Schönheit bin.« »Du bist atemberaubend schön.« Er berührte ihre Wange. »Vielleicht ist es eine prämenstruelle Sache.« »Nein, nein!« rief sie. »O Rafe, ich bin nach Europa gekommen, damit ich endlich meinen Kopf frei habe, aber es ist schlimmer denn je. Ich schlafe nicht, Alpträume machen mir zu schaffen. Letzte Nacht habe ich geträumt, ich hätte Nasenbluten, das einfach nicht aufhören wollte.« »Und dann?« »Dann bin ich wach geworden.« »Der Whisky. Du trinkst zu viel. Dadurch ruinierst du dein Aussehen schneller als mit irgendwas anderem.« Sie schaute in den Wald hinein, und als sie sprach, klang ihre Stimme leise, hörte sich fast entschuldigend an. »Rafe, ich bin nicht prüde. Ich habe Dinge mit meinem Körper angestellt… aber nackt zu posieren ist nicht meine Sache. Ich fühle mich so… so gering und…« Er stand auf und zog sie auf die Füße. »Nur noch ein paar Schüsse.« Sie versuchte zu lächeln, gab es aber gleich auf. »Du bist nicht für eine Karriere als Model gebaut, deshalb leidest du darunter. Bald wird es vorbei sein.« Zwei Tage später waren sie fertig, und zu dritt studierten sie in Rafes Studio die Ergebnisse und trafen die entscheidende Auswahl.
»Ich bin zufrieden«, sagte Rafe schließlich. »Zufrieden!« explodierte LaRoux. »Ich gerate in Ekstase. Diese Perfektion. Du hast dich selbst übertroffen, es ist vollkommen, die Arbeit eines Genies.« Rafe grinste Cindy an. »Nicht schlecht, was?« »Nein, es ist nicht schlecht«, sagte sie. »Amerikanische Untertreibung«, knurrte LaRoux. »Schlimmer noch als die Briten. Jetzt müssen wir nur noch die richtige Umgebung für die erste Präsentation finden.« »Was schwebt dir vor, Etienne?« fragte Rafe. »Wir präsentieren uns in meiner Wohnung. Natürlich wird jeder da sein, die Kritiker, die Künstler, die Kollegen, die Fotografen. Ich werde Sartre und de Beauvoir einladen, obwohl du weißt, was ich von ihr halte. Wäre doch nur der arme Camus noch unter uns, er würde die gezackte Form deiner Kunst zu würdigen wissen. Wer sonst noch? Serraut und Gary natürlich. Ich habe einen Vetter in der Regierung, er kann vielleicht Malraux dazu überreden…« LaRoux wohnte in einem sehr geräumigen Apartment in einem soliden alten Gebäude nahe der Kreuzung Avenue George V und Avenue Montaigne. Gegen zehn Uhr am Abend der Party gab es kaum noch Platz, um sich zu bewegen, und immer noch kamen Leute, ein Querschnitt durch die Pariser Gesellschaft, oben und unten. Cindy hatte das Gefühl, daß sich kaum jemand für die ausgestellten Fotos interessierte. Sie fand einen Platz neben einem der breiten, hohen Fenster und genoß die kühle Nachtluft. Unten schlängelte sich die Seine durch die Stadt, und etwas weiter entfernt sah sie die Lichter des Eiffelturms. Sie versteifte sich, als sie spürte, daß jemand von hinten an sie herantrat. »Das Gebäude dort hinter dem Turm ist Ihr Hilton Hotel.«
Sie hörte eine leichte Irritation in der Stimme heraus; es war die Stimme eines Mannes, der Streit suchte. Sie wollte gar nicht reagieren, aber sie konnte es sich nicht verkneifen. »Das Hotel ist nicht meins.« »Es ist amerikanisch, also gehört es euch.« »Französische Logik«, sagte sie, »scheint sich dadurch auszuzeichnen, daß sie keine Logik enthält.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Rauchen ist ungesund«, sagte die harsche Stimme. »Rauchen Franzosen nicht?« »Die amerikanischen Tabakfirmen sind für ihre geschickte Propaganda bekannt. Sie zielen auf die Schwäche von Menschen ab, die es nicht besser wissen.« Sie versuchte sich vorzustellen, wie der Mann aussah. Groß und attraktiv, gepflegt, dunkelhaarig, umgeben von einem Hauch eau de cologne. Aber alles das würde nicht dazu führen, daß der Mann bei ihr landen konnte. Langsam drehte sie sich um. Er war kaum größer als sie und auch nur ein paar Jahre älter. Sein Gesicht war alles andere als glatt, eine Ansammlung aus Wölbungen und Kanten. Dichte Brauen lagen über dumpf blikkenden Augen. Die Lippen breiteten sich zu einem selbstsicheren Grinsen aus. »Sie erinnern sich natürlich an mich?« Er kam ihr vage bekannt vor. »Ich habe Sie noch nie in meinem Leben gesehen«, sagte sie. Sein Lachen klang arrogant. »La Bonne Temps. Wir saßen am selben Tisch. Daran müssen Sie sich doch noch erinnern.« »Ihr Englisch hört sich entsetzlich an. Sprechen Sie Französisch.« »Amerikanische Frauen«, schnaufte er. »Sie geben immer nur Befehle. Vielleicht sind eure Männer deshalb solche Schwächlinge. Oder sie werden homosexuell.« »Französischer Anti-Amerikanismus ist langweilig. Gibt es nichts Wichtigeres in Ihrem Land, über das sich zu sprechen lohnt?«
»Doch«, sagte er, und dann lächelte er plötzlich. Es war ein charmantes, gewinnendes Lächeln, und sie konnte gar nicht anders, sie mußte es erwidern. »Wir brauchen eine Volksrevolution«, sagte der Mann. »Aber die erreicht man nicht an einem Tag.« Es war, als wäre Chicago zurückgekehrt. Ihr wurde kalt am Fenster, und sie trat tiefer in das Zimmer hinein. Er folgte ihr. »Da sieht man es wieder«, sagte er. »Amerikaner ziehen sich zurück, wenn sie etwas hören, was ihnen nicht gefällt.« »Sie wissen nicht, worüber Sie reden.« »Ich weiß von Vietnam, von der Dominikanischen Republik, von der Schweinebucht, von Chicago…« Sie ließ ihn stehen und spürte erst jetzt, daß ihre Knie zu zittern begonnen hatten. Sie ärgerte sich, daß ein derart selbstgefälliger Franzose sie so aufregen konnte. In einer stillen Ecke des riesigen Foyers versuchte sie, sich zu beruhigen. Dann stand er plötzlich wieder vor ihr. »Ich habe mir Giacomins Bilder angesehen«, verkündete er. »Sie sind ausgezeichnet, sehr empfindsam. Und auf einigen Bildern sind Sie spektakulär. Wenn alle Frauen Amerikas so schön wären, würden die Männer Schwierigkeiten haben, ihrer Arbeit nachzugehen.« Es folgte das charmante Lächeln. Diesmal lächelte sie nicht zurück. »Ich mag Sie nicht.« »Sie kennen mich doch nicht.« »Daran wird sich auch nichts ändern.« »Diese Gewißheit! Ich bin mir da überhaupt nicht sicher. Aber ich mag Sie, und das macht es einfacher für mich, finden Sie nicht auch?« Er sah ihr tief in die Augen. Er war, stellte sie fest, ein sehr beunruhigender Mann. »Gehen Sie«, sagte sie leise. »Ich kann nicht. Für einen Mann wie mich ist eine Frau wie Sie unwiderstehlich. Ich bin eigentlich ein ganz netter Kerl, wenn Sie mich erst einmal kennengelernt haben. Sie müssen mir nur eine Chance geben.«
»Warum muß ich?« fragte sie und wußte, daß sie es bereits getan hatte. Sie hatte ihn ermutigt, als sie nicht gegangen war. Schlimmer noch, es war ihm bewußt, daß aus ihrer Abneigung mindestens Neugier geworden war. »Warum muß ich Ihnen eine Chance geben?« fragte sie noch einmal. »Das kann ich Ihnen sagen. Aber nicht hier, unter so vielen Menschen. Sie und ich, wir fühlen uns in dieser Masse nicht wohl. Also gehen wir woanders hin. Okay?« »Ich weiß nicht einmal Ihren Namen«, sagte sie, von Furcht und Ungewißheit erfaßt. Die Situation war ihr so vertraut. Sie lieferte sich einem fremden Mann aus. Sie wußte schon, was passieren würde, noch bevor es geschehen war. Dieser Franzose erinnerte sie an BB, an Hettie, an Dan Gregory, an einen Katalog von Namen und Gesichtern, die längst vorüber waren, aber noch nicht aus ihrem Gedächtnis. »Alain«, sagte er, als er sie an den Partygästen vorbeiführte. »Alain Delattre.« Sie folgte ihm hinaus. Sie schlenderten am Quai d’Orsay vorbei, und Alain Delattre sprach von sich. Einziger Sohn eines kleinen Postbeamten, war er auf einem Bauernhof im Vaucluse Department aufgewachsen, nicht weit entfernt von Avignon. Er hatte die Sorbonne besucht und Rechtsanwalt werden wollen. Aber nach zwei Jahren hatte er beschlossen, Schauspieler zu werden, weil, sagte er, ›es keine Gerechtigkeit gibt. Das Gesetz ist ein Betrug. Durch die Kunst findet wenigstens eine Kommunikation mit den Menschen statt, man kann revolutionäre Ideale verbreiten.‹ Er hatte seine studentischen Verbindungen aufrechterhalten und war aktives Mitglied der politischen Studentenbewegung geworden. »Als die Mai-Revolution kam, war ich vorbereitet«, sagte er. »Es war eine großartige Zeit. Wir haben die Universität übernommen, und von dort hat sich die Idee ausgebreitet zu den Arbeitern, den Gewerkschaftern. Wir haben die Gaullisten an die Wand gestellt und viele Revolutionäre geschaffen. Es war unsere Zeit, und wir
hätten Frankreich übernehmen können. Aber wir sind verraten worden.« »Wieso?« »Die Wahlen. Die Bourgeoisie hat sich gegen uns verschworen und de Gaulle unterstützt. Das nächste Mal werden wir den alten Institutionen nicht trauen. Selbstbestimmung ist eine Farce. Die Revolutionen müssen von der Masse ausgehen, aber die Arbeiter sind Idioten, zu dumm, um ihre eigene starke Position zu erkennen, auch nicht ihre eigenen Probleme. Wir müssen sie ihnen vor Augen führen.« »Wir?« »Ja, wir, die wir die Situation durchschauen und bereit sind, für die Revolution zu arbeiten. Wir werden das Volk erziehen.« »Wie?« »Es gibt viele Möglichkeiten.« »Gewalt?« »Gewalt lehnst du ab, was? Du hast Angst vor Gewalt. Das hast du mit allen Bequemen gemeinsam. Mit den Satten, den Verweichlichten. Aber ohne Gewalt kann man keine Revolution machen.« »Gewalt bringt Gegengewalt.« »Genau! Und je größer die Unterdrückung, desto mehr Freunde werden wir gewinnen.« »Und danach, wenn ihr gewonnen habt?« »Es ist unvermeidlich, daß eine neue Lebensart eingeführt wird. Wir nehmen den Menschen die traurige Maske ab, wir erschaffen den besseren Menschen. Das hat Marx schon gewollt.« Sie betrachtete ihn von der Seite. Sein Gesicht war angespannt, konzentriert, ernst. Die buschigen Brauen wirkten noch wilder, verwegener. Sie befanden sich jetzt am linken Ufer der Seine, und selbst um diese späte Zeit herrschte dort noch reges Leben. »Mein Vater«, fuhr Alain fort, »ist gegen meine Aktivitäten. Er sagt, ich verrate das süße Frankreich. Süßes Frankreich! Unser Land ist so korrupt wie dein Land. Mein Vater ist für de Gaulle.
Er stammt noch aus einer Zeit, die längst tot ist, und ich werde sie begraben.« »Begräbst du die Zeit oder deinen Vater?« Er sah sie an. »Vielleicht werde ich meinen Vater begraben. Er ist nicht besser als die anderen und ein Hindernis für den Fortschritt, eine Hürde auf dem Weg in eine friedvolle, bessere Welt. Niemand würde ihn vermissen. Magst du deinen Vater? Wenn ja, warum bist du dann nicht zu Hause und massierst ihm den Nakken, statt bei mir zu sein?« Sie sah Roy Ashe vor sich, wie er hinter Gittern saß, und vertrieb diese Vision rasch aus ihren Gedanken. Sie ging schneller. Alain holte sie wieder ein, faßte sie am Handgelenk. »Wir gehen zum Chez Le Chien, das wird dir gefallen.« Mitten im Quartier Latin, in einer dunklen, gewundenen Straße, lag das Chez Le Chien. Die Schwingtüren erinnerten an einen Westernsaloon. Drinnen weiß gekalkte Wände, dunkle Holztische und ein kleiner Tresen. Über eine Lautsprecheranlage dröhnte ein Jazz-Quartett. Entlang der hinteren Wand gab es winzige Nischen. Alain entdeckte eine leere und bestellte Wein und Käse. »Ich habe dich verärgert«, sagte er, nachdem sie bedient worden waren. Er schnitt ein Stück Käse ab und reichte es Cindy. »Du erinnerst mich an ein paar Jungen, die ich gekannt habe«, sagte sie vorsichtig. »Ich bin ein Mann.« »Ja. Aber es erinnert mich an sie, wenn ich dich reden höre. Und meine Freunde damals haben nichts erreicht, fürchte ich.« »Wir sind Franzosen.« »Und welchen Unterschied macht das?« Sie klang resigniert, ohne Zorn. »Wir Franzosen haben der Revolution gegenüber eine andere Einstellung.« »In Chicago«, sagte sie, »habe ich Gewalt ohne Sinn erlebt. Sie hat nichts erreicht, nichts bewiesen. Vielleicht habe ich zuviel erwartet.«
»Bei uns ist das anders. Wir sind praktische Leute. Wir Franzosen verstehen zu leben, wir wollen keine radikale Veränderung. Wir wissen, daß wir nicht alles auf einmal erreichen können. Mit den Zielen von morgen beschäftigen wir uns morgen.« »In einer Revolution werden Menschen verletzt oder gar getötet.« »In einer Revolution mag ein Mann sein Leben verlieren, aber in dieser Welt verliert er seinen Verstand.« Er grinste sie an. »Gewalt erschreckt die Bourgeoisie und schüchtert die Bürokraten ein. Deshalb ist Gewalt eine wirkungsvolle Taktik.« Sie schüttelte den Kopf. »Für manche Leute scheint die Gewalt selbst das Ziel zu sein, es geht ihnen um Blutvergießen, um sonst gar nichts.« Er dachte darüber nach. Nach einer Weile sagte er langsam, als ob er seine Gedanken erst ordnen müßte: »Gewalt kann auch das Ziel sein, das wünschenswerte Ende. Aber dahinter wartet ein neuer Anfang, verstehst du? Wenn die Gerechtigkeit siegt und es wahren Frieden gibt, werden wir keinen Anlaß mehr für die Ausübung von Gewalt haben. Wenn die Macht wirklich in den Händen des Volkes liegt…« Es war spät, als sie Chez Le Chien verließen. Schweigend gingen sie durch die stillen Straßen von Paris. Vor ihrer Tür streckte sie ihre Hand aus und dankte ihm für einen angenehmen Abend. Die dichten Brauen hoben und senkten sich. »Aber ich habe nicht vor, dich jetzt schon zu verlassen.« Er legte seine Hände um ihre Hüften, und sie spürte die Kraft, die von ihnen ausging. »Du bist sehr schön, du strahlst eine Menge aus. Ich möchte die Nacht über bei dir bleiben und Liebe mit dir machen.« Sie versuchte, seine Hände zu lösen. »Dafür bin ich noch nicht bereit.« Er lachte. »Für einen Franzosen ist das eine Herausforderung. Ich werde dafür sorgen, daß du dafür bereit bist.« Er beugte sich über sie und küßte sie. Sie wich ihm aus. »Bitte, verdirb nicht den schönen Abend.«
»Was gibt es denn zu verderben? Käse und Wein machen noch keinen schönen Abend. Der krönende Abschluß ist stets die Liebe. Komm, du bist jung, ein amerikanisches Mädchen, allein in Paris. Es ist allgemein bekannt, daß amerikanische Mädchen nach Europa kommen, um die richtigen Männer kennenzulernen, die richtige Liebe. Nun, Alain Delattre wird dich nicht enttäuschen.« Sie legte ihre Hände auf seine Brust und wollte ihn näher an sich heranziehen. Aber statt dessen trat sie einen Schritt zurück. »Eure Revolution hat euer männliches Ego noch nicht angegriffen. Für euch ist eine Frau immer noch das Objekt, das man einfach benutzen kann, Fleisch für eure Bedürfnisse. Nein, danke. Danke für den Käse und den Wein und die politische Lehrstunde. Gute Nacht.« In ihrem Zimmer wurde ihr bewußt, daß sie zitterte, aber nicht vor Angst; sie sehnte sich nach Alain, sie wollte seine revolutionäre Leidenschaft spüren, sie wollte seine Männlichkeit tief in sich spüren, wie er explodierte und wie sie ertrank in seinen Säften. Sie schämte sich ihrer eigenen Lust, ihrer Schwäche, und so zog sie sich rasch aus und stieg ins Bett und schloß ihre Augen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen, und Bilder von Alain Delattre flatterten in ihrem Kopf, bis sie ihren Gedanken gestattete, die Bilder auszubauen; dann übernahm die Phantasie ihren Verstand und ihr Fleisch. Eine Hand strich leicht über ihren Bauch, drang in das feuchte Gebiet zwischen ihren Schenkeln vor, und ein Finger schob sich zwischen die geschwollenen Lippen, fuhr sanft auf und ab, tauchte hinein, tief, tiefer, langsam, genießend. Langsam zog sie den Finger zurück, ließ ihn zwischen den Lippen liegen, fuhr behutsam über den Kitzler. Ah. Sie warf den Kopf von einer Seite zur anderen, und ohne es zu wollen, drang der Finger wieder ein, tiefer, schneller, intensiver. Es dröhnte in ihren Ohren, alle Muskeln schienen angespannt zu sein, sie verkrampfte, wölbte den Rücken, gab sich ganz ihrer Lust hin.
Die Erlösung kam in heftigen Zuckungen, die sie durchschüttelten, bis ihre Glieder bebten und zitterten. Sie streckte sich, keuchend, stöhnend, und überließ sich dem Schlaf des Vergessens.
4
Zwei Tage später war Alain wieder da. Er trug hohe Arbeitsschuhe und eine Lederjacke, man hätte ihn für einen Straßenarbeiter halten können. Er stand vor ihrer Tür und grinste sie mit diesem charmanten Grinsen an. »Ich gehe ins Kino«, sagte er. »Wenn du willst, nehme ich dich mit.« »Du hättest anrufen können«, sagte sie. Aber sie empfand eine große Freude, daß er gekommen war. Sie hatte schon befürchtet, daß er sie nie besuchen würde. »Ihr Amerikaner seid so formell. Also, kommst du mit?« »Was werden wir denn sehen?« Es gab Belle de Jour von Bunuel in einem Kino an den Champs Elysées. In der Schlange vor der Kasse standen fast nur junge Menschen. »Bunuel ist ein Genie«, verkündete Alain. »Man kann seine Arbeit mit Godard, Resnais und Antonioni vergleichen.« Kurz vor dem Kassenhäuschen brach er seinen Monolog über Bunuel ab und fragte, ohne seinen Tonfall zu verändern: »Hast du ein paar Francs? Ich bin nur ein armer Student.« Sie gab ihm eine Handvoll Francs, und er kaufte zwei Karten, steckte das Wechselgeld ein und führte sie ins Kino. Von den ersten Bildern an war Cindy begeistert von dem Film. Die Schönheit von Catherine Deneuve, ihre Unzufriedenheit mit dem Leben, ihr Zwang, sich zu erniedrigen und dann den Sinn ihres Lebens zu erkennen, das alles sprach bestimmte Gefühle in Cindy an. Sie saß steif in ihrem Sessel, alle Sinne auf die Leinwand gerichtet, ohne einen Blick für ihr Umgebung. Einmal, als Alain ihre Hand nehmen wollte, stieß sie ihn zurück, verärgert über die Unterbrechung, und konzentrierte sich noch tiefer auf das Geschehen.
Als der Film zu Ende war, ließ sich Cindy auf ihrem Sitz zurückfallen, erschöpft, die Augen voller Tränen. Alain lachte leise. »Du bist ein sentimentales Mädchen.« »Das gebe ich zu. Oh, es war ein wunderschöner Film, Alain. Danke, daß du mich mitgenommen hast.« Nach dem Film spazierten sie herum, bis es dunkel geworden war. »Paris ist eine Stadt, die sich von jeder anderen unterscheidet. Paris ist eine Stadt für die Menschen. Eine Stadt, in der man wohnen kann. Durch welche Straße du auch gehst, du wirst immer Kontraste sehen, die dich ganz plötzlich überfallen. Stille mitten im größten Wirbel. Eben noch Beton, danach herrliche Parks, die dir wie Inseln vorkommen. Mit Brunnen, die die Luft reinigen. Es gibt Plätze, an denen die Leute sitzen können, andere, die zum Flanieren gemacht sind, zum Spazierengehen, zum Schlendern.« Sie hörte ihm gern zu, dieser friedlichen, warmherzigen Stimme. Wie er die Stadt beschrieb, hätte er auch sich selbst beschreiben können, die Paradoxien der Natur, die Hoffnungen auf einen Wechsel, die arrogante Sexualität, der Umschwung seiner Stimmungen, seine Neigung zu Gewalttätigkeiten, seine Liebe zu Paris, zu Frankreich. Zu den Menschen. Sie wollte die Stadt mit seinen Augen sehen, sie wollte sie lieben lernen, wie er sie liebte. Sie wollte auch Teil seines Lebens sein, aber das sagte sie ihm nicht. Schließlich erreichten sie Les Halles, die Markthallen. Sie aßen eine Zwiebelsuppe und tranken Wein im Au Chien Qui Fume. »Bald wird es das alles nicht mehr geben«, sagte Alain verbittert. »Man verlegt die Hallen in einen Vorort. Frag die Händler, frag die Käufer, sie wollen nicht wegziehen, aber trotzdem hat die Regierung es beschlossen. Zola hat die Hallen ›den Bauch von Paris‹ genannt. Jetzt verlegen sie den Bauch irgendwo in die Beine, und hier werden nur noch die fetten Ratten zurückbleiben. Vive de Gaulle«, schloß er sarkastisch. Als sie in ihre Wohnung zurückkehrten, fühlte sich Cindy körperlich erschöpft, aber sonst voller Leben, und sie wollte, daß der
Abend noch nicht zu Ende ging. Sie lud ihn ein, und sie saßen auf dem Boden und tranken roten Wein, sie rauchte eine Zigarette und wußte, daß er Liebe mit ihr machen wollte – sie wollte es auch. Sie drückte die Zigarette aus und legte sich rücklings auf den Boden. Er rückte näher an sie heran und beugte sich über sie, und sie wandte ihm das Gesicht zu, die Lippen geöffnet. Sie wartete auf seinen Kuß. Er drückte sich an sie, und sie spürte seinen geschwollenen Penis. Sie drückte sich gegen ihn, um ihm zu zeigen, daß sie ihn wollte, daß sie sich nach ihm sehnte. Er streichelte sie mit den Händen, hastig, leicht, nirgendwo länger verweilend. Er erforschte ihre Schenkel, ihre Brüste, und sie spürte, wie sich die Warzen aufstellten, als wollten sie sich nach seiner Berührung recken. Er löste sich von ihr und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen. Dann schob er eine Hand zwischen ihre Beine, die Hand drang höher, bis sie das Dreieck ihrer Schenkel erreicht hatte. Er drückte, zwickte, forschte. »Ah, was für ein süßes Geheimnis«, raunte er. »Liebling…« »Zieh dich aus. Ich will mit dir schlafen.« »Ja«, sagte sie. Dann, lachend, fügte sie hinzu: »Und nein.« Er zog die Hand zurück, die sich zwischen die Lippen ihres Geschlechts geschoben hatte, und sah sie verständnislos an, bereit, zu kämpfen oder die Flucht zu ergreifen. »Ich verstehe nicht.« »Ich will zuerst unter die Dusche…« Er setzte sich aufrecht hin. »Amerikaner! Wenn ihr leidenschaftlich sein solltet, denkt ihr wie eine Krankenschwester. Das liegt nur an den verdammten Anzeigen. Man sollte Werbung verbieten.« »Ich möchte sauber sein… für dich.« Er lehnte sich zurück auf die Ellenbogen. »Wahrscheinlich wird es nötig sein, eine ganze Generation umzuerziehen, vielleicht auch zwei. Es wird schwierig sein, aber es wird sich lohnen. Also gut«, sagte er seufzend. »Geh und wisch deinen Geruch ab,
ersetze ihn durch irgendeinen chemischen, künstlichen Duft. Und ich werde dann deinen makellosen Körper mit meinem Schweiß besudeln und…« Sie küßte ihn auf den Mund und lief in ihr kleines Badezimmer, hinein in die Dusche. Das Wasser war bestenfalls lauwarm, aber es prasselte auf ihre Haut und erhöhte noch die Sinnlichkeit, die sie empfand. Sie seifte sich das Gesicht ein und hielt es dem Wasser entgegen. Plötzlich spürte sie, wie der Duschvorhang zur Seite geschoben wurde. Sie drehte sich um. Alain stand da, nackt. Lachend machte sie ihm Platz. Er zog wieder den Vorhang vor und umfaßte sie, drückte sie an sich, küßte sie, umarmte sie und achtete darauf, daß die Wasserstrahlen sie beide erfaßten. »Du bist verrückt!« rief sie. »Reinlichkeit ist gar nicht so schlecht, wenn die Menschen sich dabei so gut vertragen.« »Ich dachte, Gemeinschaftsbaden gäbe es nur in Japan«, sagte sie. »Ich finde, es paßt gut zu uns Franzosen.« Sie spürte, wie sein Schwanz gegen ihren Bauch drängte, und sie spreizte die Beine ein wenig, damit er zwischen ihre Schenkel paßte. Er grub seine Finger in ihre Backen und zog sie näher an sich heran. Sie wurden immer noch von dem Strahl erfaßt, und er beugte sich über sie und küßte ihre Brüste, kosend, streichelnd, fordernd. Mit der freien Hand langte er zwischen ihre Beine. Sie öffnete sich ihm, stöhnte und keuchte und war froh, daß er sie stützte und vor dem Fallen bewahrte. »Komm«, keuchte sie, »komm in mich herein… ich will dich spüren.« Er schob sie gegen die Wand, zwirbelte eine Brustwarze zwischen den Lippen, schabte sie mit den Zähnen, und er freute sich an ihrem hechelnden Atem. »Jetzt bist du sauber, und ich werde dich lieben, wie dich nie jemand zuvor geliebt hat«, raunte er. Seine Lippen verließen ihre Brüste, und allmählich nahmen sie Besitz von ihrem Bauch, die Zunge tauchte in ihren Nabel ein,
wanderte tiefer, öffnete die Spalte, drang ein, koste, probte, spielte mit ihr. »Ah, das ist großartig…« Es war, als hätte er doch recht gehabt, als hätte sie nie solche Wonnen erlebt, als berührte er sie auf eine Art, die sie noch nicht gekannt hatte. Mit fahrigen Fingern klammerte sie sich an ihn, eine Hand fuhr an seinem Körper hinab, tastend, forschend, und dann schlossen sich die Finger um seinen Schaft, sie spürte ihn zucken und pochen, rieb ihn behutsam, als hätte sie Angst, ihn zu zerbrechen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und führte die Spitze zwischen die Lippen, und mit einem einzigen wuchtigen Stoß drang er ein, tief in sie hinein. In ihrem Kopf wirbelten die Empfindungen, sie wünschte, sie könnte sie einzeln erleben und auskosten. Sie rang nach Luft, schluckte Wasser, denn unentwegt prasselte die Dusche auf sie beide, während er mit kräftigen Stößen in sie einfuhr und sie seinen Hintern umklammert hielt, als wollte sie ihn ermutigen, noch heftiger, noch wilder und ungestümer zu stoßen. Dann aber überließ sie sich seinem Rhythmus, gab sich ihm ganz hin, ihr Atem kam hechelnd, während sich in ihrem Körper eine Wärme ausbreitete, die sie noch nie gekannt hatte, und als seine letzten Stöße die Erlösung ankündigten, warf sie sich ihm entgegen, zuckend, stöhnend, berauscht. Als es vorbei war, sanken sie auf die Knie, aber sie ließen einander nicht los, hielten sich umschlungen unter dem prasselnden Wasser.
5
Während der folgenden Woche waren sie fast ständig zusammen. Die meiste Zeit verbrachten sie im Bett, das sie nur verließen, um in einem der schmalen Cafés der Nachbarschaft einen Kaffee zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen. Sie machten Liebe, unterhielten sich, bis das Verlangen sie einholte, sich wieder zu lieben. Für Cindy stand fest, daß sie die Liebe nie so gut, so intensiv erlebt hatte. An diesem Tag wachte sie auf und fuhr zusammen, als sie seine Abwesenheit bemerkte. Sie durchbrach die Schleier des Schlafs und hörte seine Stimme, flüsternd, eindringlich. Cindy schlug die Augen auf. Alain stand in der hinteren Ecke des Zimmers, dem Bett den Rücken zugewandt, und telefonierte. Sie betrachtete ihn gern, den muskulösen Rücken, den kleinen, festen Hintern. Sie rief leise seinen Namen. Er hob einen Finger und bedeutete ihr, ruhig zu sein. Das Gespräch dauerte nicht mehr lange, und als er den Hörer auflegte, kam er zum Bett zurück und küßte sie. »Das Gespräch war unvermeidlich. Ich wollte dich nicht wekken.« Sie versuchte, ihn aufs Bett zu ziehen, aber er widersetzte sich. »Du hast einen unersättlichen Appetit«, sagte er. »Schäme dich, du geiles Mädchen.« »Hast du was dagegen?« »Ganz im Gegenteil. Aber nicht heute. Heute habe ich was Besonderes zu tun.« Sie setzte sich abrupt auf, Angst in ihrem Gesicht. »Was?« »Ah, die anspruchsvolle amerikanische Frau. In Frankreich ist der Mann der Boß.«
Er verschwand im Badezimmer, und sie wartete darauf, daß er zu ihr zurückkam. Er setzte sich aufs Bett, und sie schaute ihm beim Anziehen zu. »Laß mich an deiner Sache teilnehmen, Alain«, sagte sie schließlich. »Ich will nicht ausgeschlossen sein.« »Ich habe darüber schon nachgedacht. Du bist eine Besucherin, ein Gast, nicht wahr? Eines Tages wirst du zu deinem Fernsehapparat und deinem Rolls Royce zurückfliegen. Du wirst deinen Freundinnen von deinem Pariser Liebhaber erzählen. Das ist genug für dich.« »Fahr zur Hölle!« Sie wandte sich von ihm ab, drehte sich dann wieder zu ihm um und sagte leise: »Ich glaube an das, was du tust. Ich will dabei sein, ich will Teil deines Lebens sein.« »Die Bewegung stellt Anforderungen an uns, die wir erfüllen müssen. Niemand kann sagen, welche Aufgaben auf uns warten. Es kann gefährlich für uns alle werden.« »Ich habe keine Angst.« Er sah sie lange an, dann nickte er. »Also gut«, sagte er. »Zieh dich an. Zieh was Einfaches, Unauffälliges an. Du darfst keine Aufmerksamkeit auf dich ziehen, verstehst du?« Die Pension befand sich im obersten Stockwerk eines SechsEtagen-Hauses in der Rue Stanislas. Ein Zimmermädchen ging mit einem Arm voller Handtücher an ihnen vorbei, ohne sie anzusehen. Sie bogen in einen zweiten Flur ein, und Alain klopfte an der ersten Tür. Ein Mann mit hoher Stirn und einer metallgerahmten Brille öffnete die Tür und musterte sie. Sein Blick blieb mit sichtlicher Abneigung an Cindy hängen. »Du solltest allein kommen«, sagte er scharf. »Sie ist eine Freundin, eine von uns«, sagte Alain in einem unterwürfigen Ton, den Cindy noch nicht von ihm gehört hatte. »Sie will uns helfen.« Wieder musterte er sie, bevor er die Tür freigab und sie eintreten konnten.
»Das ist Cindy Ashe«, sagte Alain. »Das ist Albert Primaux. Er ist der Leiter unserer Zelle.« »Hallo, Albert.« Wieder betrachtete er sie skeptisch. Seine Lippen schürzten sich. »Wie kann ich wissen, daß sie zuverlässig ist?« Alain lachte kurz auf, Ausdruck seiner eigenen Unsicherheit. »Traust du meiner Menschenkenntnis nicht? Cindy ist Amerikanerin. Sie war in Chicago dabei. Sie ist gut und zuverlässig.« Albert knurrte irgend etwas und setzte sich dann auf ein schmales Bett, das an der Wand stand. Er legte die Finger beider Hände gegeneinander, daß sie eine Pyramide darstellten, und blickte Alain und Cindy aus zusammengezogenen Augen an. »Es geht um eine ernste Sache«, sagte er dumpf. »Das ist mir bewußt. Ich werde tun, was erforderlich ist, und Cindy wird das auch tun.« »Wir werden sehen.« Sein Blick richtete sich wieder auf Cindy. »Dein Französisch ist nicht sehr gut. Amerikaner haben kein Gefühl für die Sprache.« »O Gott!« sagte sie und verdrehte die Augen. »Soll ich zuerst eine Sprachprüfung ablegen? Ihr Franzosen liebt nichts mehr, als euch an den Amerikanern zu reiben.« Albert nickte nachdenklich. »Wen soll man denn sonst kritisieren? Die Russen sind langweilig und tolpatschig, die Chinesen sind leicht verrückt. Also stichelt man gegen die reichen Amerikaner, die so gern geliebt sein wollen. Wenn wir Amerika nicht hätten, müßten wir es erfinden.« Cindy grinste. »Und was liegt jetzt an? Übernehmen wir Paris, damit wir Frankreich beherrschen können?« Entsetzen spiegelte sich auf Alberts Gesicht. »Was für eine schreckliche Vorstellung! Die Franzosen kann man nicht regieren. Wer kann schon ein Land beherrschen, in dem es dreihundert Käsesorten gibt?« Cindy lachte. Nach einer Weile lachte auch Albert. »Ah«, sagte Cindy. »Dann geht es heute also nur um eine kleinere Sache. Sollen wir den Eiffelturm in die Luft sprengen?«
Albert wurde wieder ernst. Er nahm die Brille ab und wischte mit seinem Hemdzipfel über die Gläser. »Heute spielen wir mit dem Feuer. Überall in Paris…« Cindy hörte aufmerksam zu, während Albert ihre Aufgaben erklärte. Er sprach klar, furchtlos und mit Feuer in den Augen. Cindy war überrascht davon, daß auch sie keine Furcht spürte. Nach der Aufgabenverteilung zog Albert eine Schultertasche der Air France unter dem Bett hervor und reichte sie Alain. »Du findest zwei Vorrichtungen, die eine zündet in neunzig Sekunden, die andere nach zweieinhalb Minuten. Mehr Zeit hast du nicht.« »Verstehe.« »Deine Zeiteinteilung muß also genau richtig sein. Andere Leute sind an anderen Stellen unterwegs. Die Operation ist genau aufeinander abgestimmt. Wir wollen die Behörden ein bißchen durcheinanderwirbeln. Wir vergleichen jetzt unsere Uhren.« Danach wandte sich Albert an Cindy. »Du hast keine Probleme, allein durch Paris zu fahren?« »Keine Probleme.« Er reichte ihr seine Hand, wünschte ihr viel Glück und ließ sie hinaus. Auf dem Boulevard Montparnasse wartete sie auf den Bus. Sie stieg in den Bus Nr. 81 ein, fand einen Fensterplatz und schaute hinaus. Unauffällig sein, hatten ihr Alain und Albert eingeschärft. An ihrer Haltestation stieg sie aus und mischte sich unter den Strom der Passanten. Sie war nur eine von Tausenden von Frauen, die das Kaufhaus Lafayette betraten. Sie schaute auf ihre Armbanduhr, Alain war mit der Metro gefahren, und da die Metro schneller war, würde er schon hier sein. Wieder schaute sie auf die Uhr. Noch sieben Minuten. Mit der Rolltreppe fuhr sie in den dritten Stock, schlenderte an den Kleiderständern vorbei, mied den Blick jeder Verkäuferin. Als sie noch zwei Minuten hatte, ging sie über die Treppe neben dem Aufzug nach unten.
Ihr Herz klopfte schneller. Ein Film kalter Feuchtigkeit bedeckte ihre Handflächen. Ihre Beine zitterten. Als sie in der zweiten Etage am Schönheitssalon vorbeischritt, kämpfte sie gegen die wachsende Angst an. Sie hatte einen Auftrag zu erledigen, und sie würde ihre Rolle ausführen. Wieder der Blick auf die Uhr. Noch fünfzehn Sekunden. Alain würde jetzt in der ersten Etage sein und die erste Feuerbombe plazieren und zünden. Mit zitternden Händen legte sie ihre Tasche auf eine Theke. Sie rang um die Kontrolle über sich. Sie schaute sich um, stellte fest, daß sich niemand für sie interessierte. Sie langte in die Tasche, wo die in Zeitungspapier gewickelte Bombe lag. Sie zog an der Zündschnur und versuchte, in der Tasche ein Streichholz anzuzünden. Es gelang nicht. Fluchend probierte sie es ein zweites Mal. Diesmal flammte das Streichholz auf, sie hielt die Flamme an die Zündschnur, nahm die Tasche von der Theke und stellte sie rasch dahinter. In der nächsten Sekunde war sie schon auf der Treppe. Sie konnte einen ätzenden Gestank riechen, und kurz darauf stieß jemand einen Schrei aus. Sie durchquerte das Erdgeschoß, eilte auf den Hauptausgang zu. Alain würde die erste Feuerbombe gelegt haben und jetzt auf dem Weg zum Lager sein, wo er die zweite Bombe deponieren sollte. Sie ging ohne Umschweife zur Metrostation und kaufte eine Fahrkarte zum Luxembourg. Erst als sie tief im Studentenviertel War, umgeben von Menschen in ihrem Alter, fühlte sie sich relativ sicher. In den folgenden Tagen hatten sie viel zu tun, und wenn sie ihre Aufträge erfüllt hatten, liebten sich sich in ihrem kleinen Apartment, in dem jetzt auch Alain praktisch lebte. Sie nahmen an Treffen teil, besuchten Vorlesungen und stritten sich über die Ziele der Bewegung. Sie schrieben und verteilten Flugblätter, schoben Wache vor der Amerikanischen Botschaft, um gegen den Vietnamkrieg zu demonstrieren, gewannen neue Anhänger
an der Sorbonne und organisierten einen Protestmarsch gegen die Unfähigkeit der Regierung, eine wirkliche Universitätsreform durchzusetzen. Und dann waren da natürlich auch die Nächte, in denen sie mit Alain und seinen Freunden trank und diskutierte. Sie waren jetzt auch ihre Freunde. An einem Tag kehrte Alain mit guten Nachrichten in die Wohnung zurück. Er war als Schauspieler für einen experimentellen Film ausgewählt worden, den eine Studentengruppe drehen wollte. Cindy war außer sich vor Freude. »Es gibt keine Gage«, sagte er, um ihre Freude zu dämpfen, »und es besteht auch kaum die Chance, daß der Film je in die Kinos kommen wird. Trotzdem, es ist eine Hauptrolle, und wer weiß…« »Vielleicht wirst du entdeckt!« Die Dreharbeiten sollten auf einem Bauernhof außerhalb von Paris stattfinden, und Alain bestand darauf, daß Cindy ihn begleitete. Er hatte sie als Scriptgirl angemeldet. »Der Film ist das Medium von heute«, erklärte Alain. »Bücher sind tot. Worte sind tot, Gedanken sind tot. Es zählt nur die Tat, die action. Und wir zählen, wir sind jung und können tun, was wir wollen.« Sie stimmte völlig mit ihm überein. Jung und verliebt und in Paris zu sein – das war viel mehr, als sie hatte erwarten können, viel mehr, als sie verdient hatte. Herrlich. Wunderbar. Wie glücklich sie war! Der Bauernhof lag in Richtung Epernay. Der Bauer, ein gebeugter, vierschrötiger Mann in den späten Fünfzigern, hatte Gicht in Armen und Händen. Er beäugte die Filmemacher mit unverhohlenem Mißtrauen, doch sie zahlten eine bescheidene Summe für die Erlaubnis, auf seinem Hof zu drehen, deshalb sagte er nichts. Aber er ließ sie keinen Moment aus den Augen. »Er ist wie mein Vater«, sagte Alain während einer Pause am letzten Drehtag. »Mein Vater war größer und hatte blonde Haare, aber er war von Mißtrauen gegenüber Städtern erfüllt, genau wie dieser da.«
»Wo war der Bauernhof deines Vaters, Alain?« »Im Südosten, in Vaucluse. In der Nähe von Avignon. Es war kein imposanter Bauernhof, und das Land lag verstreut.« »Was heißt das?« »Die meisten französischen Bauernhöfe sind so klein, daß man kaum anständig davon leben kann. Zwölf Morgen sind der Durchschnitt. Deshalb pachten die Bauern Felder dazu, auch wenn sie verstreut in der Umgebung liegen.« »Das hört sich aber sehr unpraktisch an.« Er lachte verbittert auf. »Da würde dir jeder französische Bauer zustimmen. Aber es ist ein Ergebnis unserer glorreichen Revolution. Damit einige Familien nicht zuviel Land erwerben konnten, wurde beschlossen, daß Eltern ihr Land unter ihren Kindern gleichmäßig aufteilen mußten, statt es nur dem ältesten Sohn zu geben.« »Aber das bringt doch nichts…« »Und so einen Bauernhof hatte mein Vater. Er lohnte sich kaum, aber Gott sei Dank hatte er ja die Trüffel.« »Trüffel?« Diesmal lachte er aus vollem Hals. »Amerikaner sind unglaublich ignorant, wenn es um die wirklich wichtigen Dinge im Leben geht.« »Wie zum Beispiel Trüffel?« »Genau, meine Kleine. Man nennt sie die Diamanten der Küche. Es sind die Trüffel, die der pate de foie gras, dem Omelette, dem gefüllten Huhn den exzellenten Geschmack verleihen.« »Aber ich weiß nicht, was Trüffel sind.« »Ein schwarzer Pilz, der unter der Erde wächst.« »Und dein Vater hat sie angepflanzt?« »Man pflanzt keine Trüffel. Trüffel wachsen. Verstehst du?« »Ich glaube nicht.« »Niemand hat gelernt, wie man Trüffel pflanzt, setzt oder kultiviert, obwohl es viele Versuche gegeben hat.« »Aber wie?«
»Nun, sie wachsen im Wald, oft in der Nähe von Eichen. Also muß man Eichen setzen. Und man muß ein Schwein mit einer empfindlichen Nase haben.« »Du nimmst mich auf den Arm.« »Nein! Schweine haben eine besondere Nase für Trüffel. Sie spüren sie in ihren Verstecken unter der Erde auf. Man läuft also dem Schwein hinterher, und wo es anfängt, im Boden zu wühlen, gräbt man nach den Trüffeln.« Als Cindy lachte, fügte er hinzu: »Heute setzt man oft trainierte Hunde ein. Sie sind sicherer, weil sie sich nicht über die Trüffel hermachen, die sie aufgespürt haben.« Cindy kicherte noch, als sie zurück an die Arbeit mußten. Sie saß neben dem Regisseur, das Drehbuch in der Hand, während die letzte Sequenz – Alain läuft durch den spärlichen grauen Wald – gedreht wurde. So sah sie als erste den grünen Renault, der in den Hof rollte. Albert Primaux stieg aus und näherte sich ihnen, ein verkniffenes Lächeln um die dünnen Lippen. Cindy spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Sie konnte sich nicht helfen – sie hatte Angst. Albert saß hinter dem Steuer des grünen Renault und fuhr vorsichtig. Dichter Regen hatte eingesetzt, und die Scheibenwischer wurden mit den Wassermassen kaum fertig. Cindy war kalt. Alain hatte ihr seine Jacke umgelegt, aber sie half nicht viel. Von ihrem Platz auf dem Rücksitz schaute sie auf Alains Nacken. Das volle Haar hing dicht über dem Hemdkragen, sie nahm sich vor, ihm die Haare zu schneiden, sobald sie in der Wohnung waren. »In der Zeit, in der die Nazis Frankreich besetzt hatten«, begann Albert ohne Einleitung, »hat der Maquis die Deutschen beraubt, um die Resistance zu finanzieren. Banken, Lohntransporte, alles, was Geld versprach.« »Ganz gut«, sagte Alain langsam.
»Wovon redest du, Albert?« fragte Cindy abrupt. »Du bist doch nicht gekommen, um uns einen Vortrag über den zweiten Weltkrieg zu halten?« »Nein, ich will über einen bestimmten Nazi reden. Hans Gehrig. Er war Major in der deutschen Wehrmacht, Mitglied der Nazi-Partei, einer von Hitlers engsten Beratern. Er war mit Spionageabwehr befaßt. Man sagt, daß er am Schluß mit Hitler im Bunker gewesen ist, aber dann verschwand er. Die Russen hätten ihn beinahe gehabt, doch er konnte rechtzeitig in den amerikanischen Sektor gelangen.« »Jemand muß ihn versteckt haben«, mutmaßte Alain. Albert fuhr fort: »Gehrig tauchte acht Jahre später in Argentinien, auf, ging aber sofort wieder in Deckung. Es heißt, daß Gehrig fürchtete, die Israelis hätten es auf ihn abgesehen, nachdem sie Eichmann hopsgenommen hatten. Gehrig türmte nach Mittelamerika. Mit einem Frachter fuhr er von Panama nach Nigeria, von dort gelangte er nach Marokko. Von dort war es leicht. Mit einer Fähre nach Spanien…« »Ins faschistische Spanien«, sagte Alain. »Genau. Und dort lebt er jetzt. In Madrid. Wie die Made im Speck, kann ich mir denken.« »Aber er tut keinem was«, murmelte Cindy abwesend. »Du irrst dich gewaltig«, antwortete Albert und lächelte sie im Innenspiegel an. »Es stört mich, daß Gehrig ein stinkreicher Mann ist.« »Was hat das mit uns zu tun?« fragte Alain. »Es ist allgemein bekannt, daß die Nazis während ihrer Zeit ganz Europa ausgebeutet haben. Kunstschätze, Gold, Währungsreserven, Briefmarkensammlungen, Juwelen. Und vieles mehr. Milliarden sind ihnen zugeflossen, sind ihnen in die blutigen Hände gefallen. Ein Teil der Beute ist sichergestellt worden, aber längst nicht alles. Dieses Geld hat viele der engsten Mitarbeiter Hitlers in die Lage versetzt, in den Jahren nach dem Krieg ein komfortables Leben zu führen. Es gibt Gerüchte, daß Martin Bormann eine SS-Gemeinde in Brasilien anführt. Ein Teil des
Schatzes ist versteckt, vergraben oder auf Schweizer Nummernkonten deponiert.« »Und was ist mit diesem Hans Gehrig?« »Er ist eine Schlüsselfigur für die Wiedergeburt der Nazis weltweit. Er ist der Schatzkanzler, Kontaktmann für hohe und weniger hohe Nazis. Über ihn laufen Botschaften, Aufträge, Geldüberweisungen. Er lebt unauffällig in Madrid, geht seiner Arbeit hinter einer ruhigen Fassade nach. Das wollen wir ändern.« »Wir sollen ihn umbringen?« entfuhr es Alain. Albert sah ihn von der Seite an, einen leichten Tadel in seinem Blick. »Wir werden ihn zwingen, uns zu sagen, wo die gestohlene Beute versteckt ist. Wir werden das Gold der Nazis für unsere Bewegung nutzen.«
6
»Habt ihr alles verstanden?« fragte Alain scharf. Er sah zuerst den einen Mann an, dann den anderen. Der Mann, der ihm am nächsten stand, zog die Stirn kraus. Er war hager und trug einen dichten schwarzen Schnurrbart, der sich an den Mundwinkeln nach unten bog. Er hieß Luis, sein Nachname wurde nie erwähnt. Luis hatte eine spanische Mutter, eine überzeugte Kommunistin, die ihr Land verlassen hatte, als Franco den Bürgerkrieg gewonnen hatte und Diktator wurde. Sie war nach Le Havre gegangen, und dort hatte sie Luis’ Vater kennengelernt, einen Hafenarbeiter, der sich politisch betätigte. Nach dem Tod seiner Mutter war Luis nach Paris gekommen. Es hieß, daß er während der Mai-Revolution sieben Autos in Brand gesteckt und unzählige Scheiben eingeworfen hatte. Außerdem führte er Trupps an, die gegen die Polizeilinien vorgingen. »Sag uns noch einmal, woher das Gold kommen soll«, sagte Luis. Sein Französisch war immer noch mit einem spanischen Akzent behaftet. Alain antwortete geduldig: »Gehrig soll uns verraten, wo das Gold vergraben liegt.« »Und wenn er sich weigert?« fragte der zweite Mann, Jean. Er war ein blasser Typ mit Augen, die nie stillstanden. Alain starrte ihn hart an. »Würdest du einem Nazi zugestehen, daß er schweigt, wenn du willst, daß er redet?« Jean rang seine großen Hände. »Nein.« »Du, Jean, und du, Luis, seid aus zwei Gründen für diesen Auftrag ausgewählt worden. Ihr sprecht beide ausgezeichnetes Spanisch, und ihr seid beide stark und mutig. Es wird von euch erwartet, daß ihr das tut, was getan werden muß.« Luis zupfte an seinem Schnurrbart und wies mit dem Kopf auf Cindy. Das Treffen fand in ihrer Wohnung statt, und bisher hatte
sie nichts gesagt, sie stand in einer Ecke des Zimmers und hörte zu, beobachtete die Reaktionen der Männer. Es war ein gewagtes Unternehmen, aber es versprach der Bewegung große finanzielle Unterstützung. Als sie Alain betrachtete, wurde sie an James Mason erinnert, an dessen Rolle in dem Film Odd Man Out. In diesem Film hatte eine Gruppe von Patrioten einen Raub begangen, um den Kampf der Iren gegen die Engländer zu unterstützen. Ein dunkler Gedanke trübte die Erinnerung: Für James Mason und seine Freunde endete das Unternehmen tödlich. Sie blinzelte ein paarmal und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den drei Männern zu, und plötzlich kam es ihr wie ein Spiel vor, wie Kinder, die sich gegen ihre Eltern erheben und genau wissen, daß sie keine Chance haben. »Geht die Yanqui mit uns?« fragte Luis. Er lispelte leicht. »Sie ist eine ausgezeichnete Fahrerin«, erklärte Alain. »In vielen Fällen ist ein Mädchen nützlich. Sie kommt an Stellen heran, wo ein Mann nur auffallen würde. Und wenn man dann ein so schönes Mädchen bei sich hat, sind die Vorteile doppelt groß.« Jean spreizte seinen dünnen Mund zu dem, was er wohl für ein Lächeln hielt. »Sie ist sehr schön. Das wird die Reise angenehmer machen.« »Sie ist meine Freundin«, sagte Alain. Jean hob die Schultern und schaute auf den Boden. »Was ist, wenn es keinen Schatz gibt?« fragte Cindy. »Es gibt einen Schatz«, antwortete Alain mit Bestimmtheit. »Albert hat die Situation genau untersucht und erforscht. Er hat viel Zeit und Arbeit in dieses Projekt gesteckt, und Albert und die anderen rennen keinen Phantastereien nach. Der Schatz existiert.« »Nun gut«, meinte Luis. »Aber nehmen wir mal an, daß Gehrig gar nicht weiß, wo der Schatz ist.« Ein überlegenes Grinsen hob Alains Mundwinkel. »Für diesen Fall haben wir einen Alternativplan. Gehrig kennt die Namen vieler Nazis, die noch frei herumlaufen. Die meisten in Südamerika. Wir werden ihn überreden, uns deren Namen zu nennen.
Und die Namen derer, die in der deutschen Regierung arbeiten. Albert und ich sind davon überzeugt, daß diese Leute bereit sind, ein Lösegeld für Gehrig zu zahlen.« »Vielleicht ist Gehrig nicht wichtig für sie.« »Das wäre möglich«, räumte Alain ein. »Aber sie werden nicht allein für Gehrig zahlen, sondern auch dafür, daß wir ihre Aufenthaltsorte nicht an die Israelis verraten. Die Israelis haben ein langes Gedächtnis und verlangen biblische Gerechtigkeit – Auge um Auge.« Luis lachte. »Wie kommen wir nach Madrid?« »Mit einem Auto«, sagte Alain. »Wir brauchen einen komfortablen Wagen«, sagte Jean. »Ich klaue einen.« »Damit die Polizei euch hetzt?« fragte Alain. »Nein, wir müssen legal vorgehen. Wir werden ein passendes Auto kaufen und zusammen verreisen – Studenten fahren in die Ferien, wir haben nichts zu befürchten und nichts zu verbergen.« Er legte eine Pause ein, und eine steile Falte teilte seine Stirn. »Diese Operation ist lebenswichtig für die Bewegung. Wir erhalten nicht nur viel Geld, sondern werden auch von dem Propaganda-Erfolg zehren, wenn wir nach der gelungenen Operation an die Öffentlichkeit gehen, damit jeder weiß, was wir getan haben.« »Öffentlichkeit?« wiederholte Luis unsicher. »Ich will nicht…« Alain unterbrach ihn. »Wir werden einen Film über unseren Coup drehen, einen Film, der die Jugendlichen auf der ganzen Welt erregen wird, der sie politisiert, der uns alle zusammenschweißt und der sie zu revolutionären Taten ermutigt.« »Unmöglich!« rief Jean. »Um einen Film zu drehen, braucht man eine Kamera, einen Kameramann und die ganze Ausrüstung…« »Richtig«, sagte Alain nur. Luis sagte: »Aber dann erfahren die Bullen, wer wir sind, sie sehen unsere Gesichter…« »Ich habe einen Plan, der das verhindern wird. Ich werde das alles mit dem Filmemacher besprechen. Vertraut mir. Ich leite
diese Operation und werde nichts übersehen.« Er schaute in die Gesichter der Männer. »Ich frage euch jetzt: macht ihr mit? Luis, was sagst du?« Luis überlegte nur kurz. »Ich bin für Madrid.« »Jean?« »Ich bin dabei.« »Gut. Sagt niemandem etwas davon, auch nicht euren Freundinnen. Haltet euch bereit. Wenn alles vorbereitet ist, werdet ihr benachrichtigt, und dann geht es los – ohne weitere Vorwarnung.« Sie tauschten einen Händedruck, und Luis und Jean verabschiedeten sich. Als Alain und Cindy allein waren, ließ sie sich aufs Bett fallen. Sie fühlte sich müde, unsicher und doch gleichzeitig auch erleichtert, weil nun alles feststand und daß sie dabei war. Sie erinnerte sich daran, wie Rafe Giacomin ihr gesagt hatte, sie sollte einen Sinn in ihrem Leben finden. Nun, das hatte sie jetzt getan. Obwohl Rafe das bestimmt nicht gemeint hatte. Alain kuschelte sich neben sie, schob eine Hand unter ihre Bluse und reizte ihre Brustwarzen. Sie hätte gern still neben ihm gelegen und seine Wärme genossen, aber er ließ ihr keine Ruhe, und als er mit der zweiten Hand zwischen ihre Schenkel drang, da öffnete sie sich für ihn, bog sich seinen forschenden Fingern entgegen. Er saugte jetzt an ihren Brüsten, und sie griff nach ihm, öffnete hastig den Reißverschluß seiner Hose. Ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken, als sie seinen harten Penis umfaßte, der in ihrer Hand zuckte, als wollte er ihr zeigen, wie sehr er sich über die Berührung freute. Er nahm sie schnell und hastig, und ebenso schnell war es vorbei, und er wälzte sich auf die Seite und schlief ein. Sie fühlte sich unbehaglich und unbefriedigt, hörte Alains regelmäßige Atemzüge und wünschte auch für sich den Schlaf herbei. Als sie gerade eingedöst war, klingelte das Telefon. Sie setzte sich auf, starrte in die Dunkelheit auf den Apparat, der immer noch klingelte. »Geh ran«, sagte Alain schläfrig.
Sie schwang die Beine aus dem Bett, nahm den Hörer ab und meldete sich: »Hallo?« Eine Stimme sagte ihr, der gewünschte Anruf nach New York sei jetzt zustandegekommen, der Teilnehmer sei am Apparat. Fernes Rauschen drang an Cindys Ohr. Sie griff nach einer Zigarette, konnte aber in der Dunkelheit keine Streichhölzer finden. »Hallo, hallo, bist du da, Cindy?« »Hallo, Mutter.« Cindy schluckte. »Ich habe seit Wochen nichts mehr von dir gehört. Bist du krank? Wann bist du in Paris eingetroffen? Ich habe Freunde da, Norman Carter und seine Frau und auch Bruce Weldon, ein netter Mann. Du mußt sie anrufen, sie werden dich überall herumführen, es wird dir sehr gefallen.« »Wie geht es dir, Mutter?« »Nun ja, ich will dich nicht mit meinen Problemen belasten. Du weißt, daß Bob nicht der ideale Ehemann ist. Ich habe nie Glück mit den Männern gehabt, die ich geheiratet habe. Zuerst dein Vater und jetzt Bob. Zwei derselben Sorte.« »Wie geht es Roy, Mutter?« »Oh, dieser Mensch macht mir nur Probleme. Alle zwei, drei Tage ruft eine Zeitung an, weil ich ein Interview geben soll. Ich meine, schließlich bin ich nicht mehr mit ihm verheiratet.« »Es muß schrecklich für ihn sein. Ich meine, daß er im Gefängnis ist.« »Ha! Für deinen Vater ist es eher ein Landclub als ein Gefängnis. Er und Neil Morgan drehen irgendein Ding, aber niemand sagt mir, um was es geht.« »Ich sollte Roy einen Brief schreiben.« »Nicht nötig. Dein Vater interessiert sich für nichts außer für Roy Ashe. Das fand ich heraus, als wir noch verheiratet waren. Er nimmt keine Rücksicht auf andere. Oh, ich will mit dir nicht über ihn reden. Erzähl mir von Paris. Ist es nicht wunderbar? So voller Lebensfreude, nicht wahr? Hast du Präsident Nixon bei seinem Besuch in Paris gesehen? Das will ich doch hoffen. Wir setzen alle große Hoffnung in ihn. Ich meine, ich hätte nie ge-
dacht, daß ich mal die Republikaner wähle, schließlich bin ich seit Präsident Roosevelt Demokrat. Aber wie es heute aussieht… Selbst auf der Fifth Avenue kannst du dich nicht mehr sicher fühlen. Erst vergangene Woche haben ein paar Tiere, ja, Tiere sage ich zu denen, einen Bus überfallen, mitten in Manhattan. Die Frauen mußten ihre Handtaschen leeren, und die Tiere haben all ihren Schmuck mitgehen lassen. Und Geld. Und sogar Pelzmäntel. Kannst du dir das vorstellen? Du siehst, wir brauchen jemanden, der für Recht und Ordnung sorgt. Es ist schon ganz gut, daß du nicht hier bist. In Paris bist du viel sicherer.« Cindy versuchte, sich ihre Verärgerung nicht anmerken zu lassen, als sie sagte: »Mutter, es gibt einen Grund, warum ich angerufen habe…« »O mein Gott! Du steckst in Schwierigkeiten! Wie konntest du nur, Cindy! Wo es doch die Pille gibt. Ein Mädchen, das so clever ist wie du. Nun ja, es ist nun mal geschehen. Wir müssen was dagegen tun. Ich nehme an, Schweden ist am besten. Die Schweden sind erwachsener in solchen Dingen als wir…« »Mutter, ich bin nicht schwanger.« »Du bist nicht…? Ich dachte…« Ein verlegenes, erleichtertes Lachen kam über die Leitung. »Und ich mache schon Pläne für die…« »Mutter, das Gespräch kostet ein Vermögen…« »Ja, ich wunderte mich schon…« »Ich muß dich um einen Gefallen bitten, Mutter.« »Geld, nehme ich an. Nun gut. Reichen ein paar hundert? Ich kann sie heute abend telegrafisch anweisen lassen.« »Ich brauche ein Auto, Mutter. Ein Freund von mir…« Sie langte hinter sich und legte eine Hand auf Alains Hüfte. »Ein Freund von mir hat ein Schnäppchen für mich gefunden…« »O Gott, bloß kein französisches Auto. Was hältst du von einem Volkswagen? Die Deutschen bauen wunderbare Autos. Das liegt an ihrem Hang für Präzision…« »Es ist ein Gebrauchtwagen, Mutter. Ein Cadillac.« »Das klingt nach viel Geld.«
»Das Auto gehörte einer Botschaft. Irgendein arabischer Scheich, glaube ich. Wir – ich brauche nur ein paar tausend aufzutreiben. Der Wagen ist in einem ausgezeichneten Zustand.« »Wozu brauchst du eine Cadillac-Limousine? Das sind doch nur Benzinfresser. Warum kaufst du nicht einen chicen Sportwagen, die Italiener bauen doch so kleine Dinger…« »Ich möchte den Cadillac, Mutter.« »Du kannst sehr dickköpfig sein, Cindy. Also gut. Wieviel kostet er?« Cindy zögerte. »Mit dreitausend ist alles abgedeckt.« »Du sprachst von ein paar tausend!« »Der Wagen muß überholt werden, dabei fallen ein paar Reparaturen an. Aber glaube mir, es ist immer noch ein Schnäppchen. Das Geld bekomme ich wieder, wenn ich den Cadillac verkaufe.« »Ich bin wirklich nicht dafür, Cindy. Du solltest zu Hause sein, statt in der Welt herumzuziehen wie ein Zigeuner. Muß ich dir sagen, daß du eine Familie hast? Mach uns keine Schande.« »Ich werde es versuchen, Mutter. Kabelst du mir das Geld?« Maggie seufzte. »Also gut.« Dann, rasch: »Und schreib mir ganz genau, was du machst, Cindy. Ich will auch wissen, wann du nach Hause kommst.« »Mutter«, sagte Cindy, »wie geht es BB? Hast du etwas von ihm gehört?« »Dieser Junge«, sagte Maggie, Entsetzen in der Stimme. »Was da an der Universität passiert ist, einfach widerlich. Der schwule Professor, das ist schon schlimm genug, aber es kommen ja auch die Drogen hinzu, und das ist eine Straftat. Einer deiner Freunde hat angeboten, BB zu verteidigen, der junge Altman. Er fragt oft nach dir. Ich habe ihm gesagt, er soll dir schreiben.« Cindy versuchte, sich David Altman vorzustellen, aber ihr fiel nur das gepellte Gesicht ein und die Zinksalbe auf der Nase. »Hat David den Fall für BB gewonnen?« Maggie lachte rauh. »Glaubst du, Neil Morgan hätte es zugelassen, daß irgendein Junge seinen Sohn verteidigt? Keine Chance, meine Liebe. Neil hat H. Carter McHenry engagiert, den berühm-
ten Strafverteidiger aus Boston. Natürlich sehr teuer, aber er hat BB freigekämpft. Neil hat BB auf eine Militärschule nach New Mexico oder Arizona geschickt. Damit sie dort einen Mann aus ihm machen. Weißt du, was er danach gemacht hat?« »Neil?« »BB natürlich. Er ist einfach verschwunden, ohne jemandem ein Wort zu sagen. Neil mußte einen Privatdetektiv anheuern, um ihn aufzustöbern. Er lebte in einer dieser Hippiekommunen oder wie man diese Dinger nennt. In Utah, glaube ich. Er hatte lange Haare und rannte barfuß herum und hat die ganze Zeit gefaulenzt. Vielleicht hat er Nabelschau betrieben und alle möglichen perversen Orgien mitgemacht. Oh, reden wir nicht mehr darüber, es ist zu abscheulich.« »Ich muß jetzt auflegen, Mutter.« »Paß auf dich auf, Baby.« »Und vergiß das Geld nicht, Mutter.« »Wirklich, Cindy, du kannst dich auf mich verlassen. Good-bye, Baby.« Cindy legte auf. Alain zog sie zurück aufs Bett, kuschelte seinen Kopf zwischen ihre Brüste. »Deine Mutter wird das Geld schicken?« Seine Zunge leckte an ihren Nippeln. »Ja«, sagte sie leise. Maggie hätte sich weigern sollen, dachte sie verschwommen, während sie spürte, daß Alains Liebkosungen bei ihr Wirkung zeigten. Ihre Mutter hätte toben und verlangen sollen, daß ihre Tochter nach Hause zurückkehrte. Sie war sicher, daß sie ihr nicht gehorcht hätte, aber sie hätte das Gefühl gehabt, daß ihre Mutter sich Sorgen machte. Das Geld hätte ich mir auf irgendeine andere Weise besorgt, dachte Cindy, während sie die Schenkel spreizte, um Alain den Zugang zu erleichtern. »Schwachsinn!« Das Wort prallte an Cindys Schädeldecke ab, hallte aber lange nach. Das war ihre erste Reaktion gewesen, als sie von der Ope-
ration Madrid gehört hatte, und jetzt verstärkte Rafe ihre Ansicht. Er machte das Verwegene deutlich und die geringe Chance, den Plan erfolgreich durchzuführen. »Ihr landet alle im Gefängnis«, sagte Rafe mit gehobener Stimme. »Oder es ergeht euch noch schlimmer. Wenn dieser Mann ein Nazi ist, wird man nicht leicht an ihn herankommen. Er wird Freunde haben, harte Jungs, die bereit sind, alles Notwendige zu tun, um ihn und sich zu beschützen. Was ist los mit dir, Cindy? Wieso hast du dich auf so etwas eingelassen? Du und Alain, ihr kommt mir wie verrückte Kinder vor.« »Es sind die Verrückten wie wir, die die Welt retten!« »Unsinn«, fauchte er. Er ging in seinem Studio auf und ab, drehte sich um, starrte sie an. »Ich dachte, du hättest in Chicago etwas gelernt.« »Es ist nicht dasselbe.« »Zugegeben. Es ist schlimmer. Alain – nun gut. Er will die Welt in die Luft jagen und stört sich nicht daran, wer mit draufgeht. Aber du bist doch nicht so kaltschnäuzig.« »Vielleicht bin ich es doch. Vielleicht ist es genau das, was ich sein will. Leben wir denn in einer so wunderschönen Welt? Haben wir ein so wunderschönes Leben?« »Ja, ja, mit all seinen Fehlern – es ist ein gutes Leben, das wir führen. Und du bist so jung, so vital, hast diesen Hunger nach Leben in dir. Aber du läßt dich in die Irre leiten. Irgendein perverser Zug in dir bringt dich immer wieder mit Typen wie diesem Alain zusammen.« »Ich bin nicht gekommen, um eine Lektion von dir zu hören, Rafe.« »Ein Freund kann gelegentlich ein paar unbequeme Wahrheiten sagen.« »Die Entscheidung ist getroffen«, sagte sie. »Du könntest helfen.« »Das ist der verrückteste Teil des ganzen Plans! Eine Entführung zu filmen! Unglaublich! Als ob das Leben eine Schau wäre,
die man von einer isolierten Plattform aus betrachten könnte! Du redest von einem Verbrechen, das ihr begehen wollt.« »Du hast das Talent, daraus etwas Großes zu gestalten, Rafe. Du hast die Sensibilität, die Essenz dessen, was dort ablaufen wird, der ganzen Welt zu zeigen. Wirkliche Menschen, wirkliche Realität. Du schaffst es, Rafe.« Er wandte sich ab. »Jean-Luc Godard würde sich nicht abwenden.« Er fuhr herum. »Dann frag Godard, trag ihm diesen Schwachsinn vor, nicht mir!« »Es wird nichts gefälscht sein, Rafe, alles echt.« »Auch das Blut wird echt sein.« »Jede Revolution hat ihren Preis.«
7
Er hatte Filme besprochen für ein obskures linkes Literaturblatt, war ein selber ernanntes Genie, ein Künstler, in einem Atemzug mit Michelangelo und Rembrandt zu nennen. »Meine Palette«, erklärte er, als sie durch die Schloß- und Weinprovinzen fuhren, »ist Acetat. Laute und Phantasien sind meine Farben. Das Kino umfaßt alle Künste, es ist die Kunst von heute.« Sein Name war Henri, und er redete, seit sie Paris hinter sich gelassen hatten. Er lieferte zu jedem Thema seinen Beitrag, auch wenn man ihn nicht darum gebeten hatte. »Der Film ist die entscheidende Waffe im Arsenal der Revolution. Wirkungsvoller als Molotow-Cocktails oder Maschinengewehre. Er verändert die Menschen, führt zu neuen Überzeugungen und baut eine leidenschaftliche Armee von Rebellen auf.« Henri, ein hagerer Mann mit dem Gesicht eines Frettchens und wirren schwarzen Haaren, die ihm in die Stirn fielen, hatte enthusiastisch reagiert, als Alain ihm den Madrid-Plan erzählte; er war sofort Feuer und Flamme gewesen. Seither hatte er seine Geräte überprüft und Filmmaterial ausgesucht. Er wollte unbedingt eine Generalprobe haben, und als Alain ihm sagte, dafür sei keine Zeit, hatte er darauf bestanden: »Kunst läßt sich nicht beschleunigen.« Er wollte die entscheidenden Szenen stellen, damit sie später, im Ernstfall, genauso inszeniert werden konnten. Er wollte auch Jean und Luis und sich selbst interviewen. »Und das Telefongespräch mit Amerika, in dem es um das Geld für die Limousine geht«, schwärmte Henri. »Sehr dramatisch, Mutter und Tochter, Generationenkonflikt. Macht sich hervorragend im Film.« Alain hatte versprochen, die entscheidenden Szenen mit Jean und Luis nach ihrer Rückkehr nachzustellen. Darüber hinaus
machte er nur ein Zugeständnis – Henri durfte Jean und Luis filmen, wie sie einen Bus bestiegen – angeblich den Bus, der sie nach Madrid brachte. Das war eine strategische Variante, um an der Grenze nicht aufzufallen. Henri filmte die Szene dreimal aus verschiedenen Blickwinkeln, und jedesmal wandten Luis und Jean ihre Gesichter ab, damit sie später nicht erkannt würden. Aber als sie schließlich Paris verließen, saßen sie zu fünft im Cadillac. Über den Somport-Paß überquerten sie die Pyrenäen, und bei Canfranc fuhren sie über die Grenze. Die Zollformalitäten zogen sich hin. Die spanischen Zöllner erledigten alles sehr gründlich. Und träge. Alain wurde ungeduldig. Henri, der ausgestiegen war und die Autoschlange vor und hinter ihrem Wagen mit der Handkamera filmte, sagte gelassen: »Die Spanier sind ein unmögliches Volk.« Luis seufzte. »Mag sein. Die Spanier sind religiöse Menschen, weniger philosophisch als die Franzosen. Wir leben angesichts der Ewigkeit. Und im Vergleich zur Ewigkeit ist eine Stunde eben gar nichts. Die Zöllner lassen uns durch, wenn sie dazu bereit sind, basta.« Er legte den Kopf zurück und schloß die Augen. Alain fluchte. Die Nacht verbrachten sie in einer Pension hinter Saragossa. Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, spazierten sie durch uralte Straßen. Zwei Angehörige der guardia civil, unheilvoll in ihren schwarzen Uniformen und der eckigen Kopfbedeckung, schritten vorbei. Luis stieß einen verhaltenen Fluch aus. »Faschisten«, murmelte Alain. »Wir Franzosen würden ein solches Regime stürzen.« »Ah«, sagte Luis, »aber dies ist Spanien. In meinem Land gehen die Uhren anders.« »Du bist Franzose«, sagte Henri. »Meine Mutter war Spanierin, und diese Hälfte fühlt sich in diesem Augenblick sehr lebendig.« »Wartet! Wartet«, rief Henri. »Drüben an der niedrigen Mauer! Ich nehme euch auf, während ihr redet, und lege den Ton auf
den tragbaren Recorder. Ah, sehr gut«, rief er begeistert, als er sie nach seinen Wünschen arrangiert hatte. »Die untergehende Sonne verleiht den Aufnahmen noch eine zusätzliche Qualität. Fange an, Luis. Erzähl die Geschichte.« Alain schnaubte. »Man hat das Gefühl, dies sei ein Familienausflug. Wir befinden uns mitten in einem ernsthaften Unternehmen.« Henri ignorierte die Kritik. »Der Ton kommt gut rüber«, verkündete er. »Fang an, Luis.« »Es heißt«, begann Luis, »als Gott Spanien schuf, erlaubte er dem Volk der Iberer drei Wünsche. Eine lange Zeit überlegten sie, bevor sie eine Entscheidung trafen. Sie sagten Gott, sie wollten das abwechslungsreichste Klima auf der ganzen Erde haben, die schönsten Frauen und den besten Wein, das beste Essen. Gott hörte ihnen zu, und als sie geendet hatten, erfüllte er ihnen die Wünsche. Als sie erfüllt waren, trat einer aus dem Volk vor, den Hut in der Hand, die Augen respektvoll gesenkt, und sagte: ›Wir haben noch einen vierten Wunsch, o Herr. Wir wollen eine gute Regierung haben.‹ Gott betrachtete das Volk mit ernstem Blick und sagte: ›Das ist zuviel verlangt.‹« Und Luis fügte hinzu: »So ist das eben in Spanien.« Als sie gegen Mittag in Madrid eintrafen, trennten sie sich aus Sicherheitsgründen sofort. Cindy und Alain gaben sich als verheiratetes Paar aus und nahmen ein Zimmer in einem vorher ausgewählten Hotel im Zentrum. Kaum waren sie im Zimmer, griff er zum Telefon. »Ich gehe zu unserem Kontaktmann«, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte. »Ich gehe mit.« »Nein, du bleibst hier. Die anderen werden in den nächsten Stunden eintreffen. Ich will nicht, daß sie in der Stadt herumhängen. Wenn ich zurückkomme, habe ich Informationen und kann ihnen entsprechende Anweisungen geben. Du mußt dafür sorgen, daß sie hier warten.«
Als sie allein im Zimmer war, versuchte sie, ihre Sorgen zu verdrängen und nicht daran zu denken, was alles schiefgehen könnte. Was wurde aus ihr, wenn Alain etwas zustieß? Er war der einzige, der den Plan kannte, und ohne ihn würde alles vorbei sein. Ihre Nervosität wuchs, und sie war froh, als Henri schließlich auftauchte. Er brummte vor Aktivität. »Ich filme dich, wie du am Telefon stehst. Es soll so aussehen, als ob du den Kontaktmann angerufen hättest. Den Dialog kannst du improvisieren. Hierhin muß du dich stellen, ganz genau hierhin. Und halte eine Hand vors Gesicht, als wolltest du nicht erkannt werden. Ah, sehr gut. Und wenn du die Hand wegnimmst, drehst du dich um. Ja, das ist es.« »Hat das nicht Zeit, Henri? Ich bin müde.« »Nein, nein. Deine Erschöpfung macht sich gut, sie muß in dieser Szene herausgestellt werden. Die ganze Geschichte steckt voller Emotionen, und Emotionen erzählen die Wahrheit. Fang an.« Als die Szene abgedreht war, beharrte er darauf, daß sie eine politische Erklärung abgab, in der sie die Vereinigten Staaten für alle Unbill dieser Erde verantwortlich machte. »Was soll ich sagen?« »Schluß mit dem Krieg«, sagte er. »Bringt Frieden in die Welt. Schluß mit dem Imperialismus und mit der kapitalistischen Ausbeutung der unterentwickelten Nationen, damit die Menschen dort in Frieden und mit Liebe leben können.« »Das hört sich alles so einfach an«, sagte sie. »Du und Alain, ihr habt die einfachen Antworten. Amerika beschuldigen. Aber hilft das auch den Biafranern, die von den Nigerianern getötet werden? Bringt das auch Ruhe in den Vorderen Orient? Gehen die Russen dann aus der Tschechoslowakei? Hören die Kämpfe an der russisch-chinesischen Grenze auf? Hört dann auf, daß die Moslems im Sudan die Christen in ihrem Land umbringen?« »Überall sind es nur die verdammten Militaristen«, sagte Henri. Sie hob die Schultern und wandte sich ab.
Er sah sie durch den Sucher an. »Jeder Film braucht einen Bösewicht. Ich glaube, du bist der Bösewicht in unserem Film.« Jean und Luis trafen kurz darauf ein, und Henri bestand darauf, daß sie noch einmal hinausgingen, damit er ihren Auftritt filmen konnte. Es war spät, als Alain endlich zurückkehrte, Erregung auf dem knochigen Gesicht. »Ah! Ihr seid alle da! Unser Kontakt hier ist ein guter Mann. Wir können uns auf ihn verlassen.« »Du hättest mich mitnehmen müssen«, maulte Henri, »damit ich die Situation filmen konnte.« »Man sollte fast glauben, daß wir hergekommen sind, um einen Film zu drehen«, sagte Luis. »Meine Arbeit ist wichtig!« kreischte Henri. »Ich…« »Genug!« sagte Alain mit schneidender Stimme. Seine tiefliegenden Augen funkelten kalt, und die schmalen Lippen zogen sich über die Zähne zurück. Er erinnerte Cindy an Richard Widmark, bevor er die alte Frau im Rollstuhl die Treppe hinunterstieß. »Henri, du kannst filmen, was sich ohne Mühe filmen läßt. Aber dies hier ist kein Studio.« »Ich bin Künstler und lasse mich nicht so behandeln«, klagte Henri. »Eine Brücke in die Luft zu sprengen oder einen Präsidenten zu ermorden, dazu braucht man kein besonderes Talent.« »Idiot!« platzte es Jean heraus. »Wir sprengen keine Brücken und töten keine Präsidenten!« »Genug!« sagte Alain wieder. Er griff in seine Jacke und hatte plötzlich eine Pistole in der Hand. Im Zimmer wurde es still. »Oh, bitte, leg sie weg!« rief Cindy. »Sehr hübsch«, sagte Jean. »Eine Luger«, stellte Luis trocken fest. »Eine verläßliche Waffe.« Alain richtete die Waffe auf Henri. »Begreifst du jetzt, daß dies kein Kinderspiel ist? Hört mit dem Weibergeschwätz auf.« »Halte die Waffe höher«, sagte Henri. »Als ob du sie auf jemanden richtest. Ich werde ein paar Meter davon filmen.« »Himmel!« stöhnte Jean. »Ich will was von dir hören, Alain«, sagte Luis.
»Dieser Hans Gehrig«, sagte Alain, »wohnt in der Travesia de Trujillos.« Er stotterte bei der spanischen Aussprache. »Weißt du, wo sie liegt?« »Ja, ich glaube. Gibt es eine Nummer?« »Ja. Ich will, daß du Hans Gehrig studierst, seine Gewohnheiten. Du mußt ihn Tag und Nacht beobachten. Wir dürfen uns keinen Irrtum erlauben. Ich muß wissen, wohin er geht, wen er trifft, wann er allein und am verwundbarsten ist. Denk dran, wir sind in einem fremden Land und können uns kein Risiko leisten.« Henri lachte fröhlich. »Hältst du das für lustig?« fragte Alain scharf. »Du hast dich genau wie Bogart angehört, mein Freund.« Alain starrte Henri an, sagte aber nichts. »Was machen wir mit Gehrig, wenn wir ihn haben?« wollte Cindy wissen. Alain wandte sich ihr zu. »Alberts Mann kümmert sich um ein gutes Versteck.« »Ich brauche ein Fahrzeug, aus dem ich filmen kann«, ließ sich Henri vernehmen. »Vielleicht ein kleiner Lieferwagen.« »Dieser Narr mit seinen Kameras wird uns alle in spanische Gefängnisse bringen«, klagte Jean. »Ich bin bei diesem Projekt unersetzlich«, behauptete Henri. »Ruhe!« befahl Alain. »Ich treffe die Entscheidungen, und ihr habt euch daran zu halten. Wir sind erst einen Tag in Madrid, und schon streitet ihr euch wie die Narren. Auf diese Weise werden wir unseren Auftrag nicht erfüllen können.« Ein Zittern durchlief Cindys Körper. Sie hatten alle Angst, stellte sie fest, und in dieser Angst würden sie Fehler machen. Es schien ihr unvermeidlich, daß sie alle geschnappt werden würden. Sie wollte protestieren, Alain überreden, die ganze Operation abzusagen, aber sie blieb stumm. »Also gut«, sagte Alain. »Cindy, Luis und ich werden heute abend Gehrigs Wohnung ausfindig machen und sofort mit der Überwachung beginnen, wenn wir hundertprozentig sicher sind, daß es sich bei diesem Mann auch um Gehrig handelt. Danach
legen wir unsere weitere Strategie fest. Henri, du wirst bei der Beobachtung nicht eingesetzt. Ich werde dir Bescheid geben, wann du mit dem Filmen beginnen kannst.« Es war eine gemächliche Überwachung. Hans Gehrig führte ein beschauliches Leben, bewegte sich nie in Eile. »Muy espanol«, beschrieb Luis dieses Leben. »Sehr spanisch.« »Aber er ist Deutscher«, erinnerte Jean ihn. »Er ist Nazi.« Luis zuckte die Schultern. »Gehrig lebt so, wie es die Leute hier tun. Zeit hat keine Bedeutung für sie.« Gehrigs Gewohnheiten kamen Cindy entgegen. Viele Stunden lang schlenderte sie durch die Straßen von Madrid, und wann immer es möglich war, besuchte sie den Prado. Zweimal entdeckte sie, daß Henri sie filmte, aber sie gab ihm nicht zu verstehen, daß sie ihn gesehen hatte. Später prahlte er mit seinem Geschick, sich unbemerkt an seine ›Opfer‹ heranschleichen zu können. Zwei Wochen vergingen, die Angst blieb in Cindys Bewußtsein. Da sie nicht in die Überwachung Gehrigs eingebunden war, blieb sie oft allein. Sie probierte neue Restaurants aus und hatte bald eine kundige Nase für ranziges Öl entwickelt. Sie sprach Spanisch bei jeder Gelegenheit und war überzeugt, daß ihr kastilisches Lispeln nahezu perfekt war. Oft dachte sie nicht mehr an Hans Gehrig oder an die Aktivitäten von Alain und den anderen oder an den Grund ihres Aufenthalts in Madrid. Sie redete sich ein, auf einem längeren Urlaub in Spanien zu sein. Am Samstagmorgen hörte das schlagartig auf. Alain saß hinter dem Steuer des Cadillac und holte an verschiedenen Treffpunkten Jean und Luis ab. Ganz zum Schluß stieg Henri dazu, behangen mit Kamera und Tonband und einigen Koffertaschen. Über die Marques de Casa Riera fuhr Alain etwa eine Stunde nach Westen, bis sie in eine Gegend voller Lärm und buntem Treiben auf den Straßen kamen. Alain zeigte auf ein niedriges Gebäude. »Dorthin gehen wir, sobald wir Gehrig haben«, sagte er.
Henri kreischte aufgeregt: »Aber da sind viel zu viele Menschen!« »Genau deshalb haben wir diesen Ort ausgewählt. Unter so vielen wird der einzelne kaum auffallen.« Er fuhr ein paar Block weiter und parkte den Cadillac in einer Nebenstraße. Die anderen sollten zu dem Haus gehen, das er ihnen gezeigt hatte, aber nacheinander. Sie durften nicht zusammen gesehen werden. Die Wohnung lag im zweiten Stock, sie war spärlich eingerichtet – nur ein paar Armeeliegen. »Das Licht ist wenigstens gut«, murmelte Henri. Minuten später hatte er seine Kamera aufgebaut. Er filmte aus dem Fenster die Menschen auf der Straße. »Ich habe jetzt alle Informationen über Gehrig zusammen«, verkündete Alain. »Wir kennen seine Gewohnheiten, wir wissen, wann er sich wo aufhält. Wir gehen jetzt noch einmal alle Informationen durch, und danach legen wir unsere Pläne fest.« Die anderen nickten. Cindy spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle bildete. »Gehrig«, fuhr Alain fort, »ist ein Mann mit eingefahrenen Gewohnheiten. Er lebt zurückgezogen, er erregt kein Aufsehen. Er ißt meistens zu Hause und allein, kauft in den Geschäften der nächsten Umgebung ein. Meistens Konserven. Er ißt gern Fisch, aber auch chorizo, die Pfefferwurst, mit roten Bohnen.« »Igitt«, murmelte Luis. »Muy caliente. Diese Fremden, die verstehen nichts von spanischem Essen.« Alain fuhr fort: »Mittwochs speist Gehrig mit seinem Freund, auch einem Deutschen. Er heißt Franz Mueller. Sie essen stets im Café Atlantico, dazu trinken sie Brandy und Kaffee und spielen Schach. Gehrig gewinnt meistens.« »Wann holen wir ihn uns?« fragte Jean kalt. Cindy fühlte sich unbehaglich. Sie sah die Männer an, einen nach dem anderen, und entdeckte in jedem einzelnen Gesicht die kalte Lust. Sie schüttelte sich.
Alain lächelte dünn. »Jeden Dienstag, um sechs Uhr nachmittags, besucht Gehrig ein kleines pinkfarbenes Haus in der Calle de Gaetano. Dort wohnt eine Frau. Sie heißt Linda und ist eine Hure.« Henri lachte, es klang laut und angespannt. »Dieser Gehrig. Ein schmutziger alter Mann. Vielleicht können wir einen Film davon drehen, wie er und Linda…« »Von Linda geht Gehrig sofort nach Hause«, sagte Alain. »Und das ist der Zeitpunkt, wann wir ihn uns schnappen. Man wird ihn nicht vermissen – erst am folgenden Abend, wenn er Mueller treffen sollte.« »Und wie machen wir es?« fragte Luis leise. Alain schaute Cindy an. »Unsere hübsche Kameradin wird ihn daran hindern, zu seinem Auto zurückzukehren, wenn er von Linda kommt.« Ihr Magen hob und senkte sich. »Du wirst Gehrig auf der Straße ansprechen«, sagte Alain. »Du wirst ihn nach einer Adresse fragen, ihn in ein Gespräch verwickeln, mit ihm flirten. Bis wir mit dem Auto kommen und ihn mitnehmen.« »So einfach«, sagte Luis mit Bewunderung in der Stimme. »Der direkte Weg ist immer der beste.« Cindy biß sich auf die Unterlippe. »Später«, sagte sie, »wird er sich an mich erinnern. Er kann mich identifizieren…« »Nein«, antwortete Alain. »Du wirst deine schwarzen Haare bleichen, dein Make-up verändern, und du wirst eine dunkle Brille tragen.« Wieder sah sie dieses verschlagene, arrogante Lächeln bei Alain. »Außerdem wird man uns nicht finden, wenn alles gelaufen ist, cherie.« Cindy empfand eine vertraute Hilflosigkeit, als ob sie fremden Mächten ausgeliefert sei. Worauf hatte sie sich eingelassen? Sie wollte weglaufen, sich irgendwo verstecken, aber sie wußte nicht, wo. Sie würde das durchstehen. Wegen Alain. Sie konnte nicht nein zu ihm sagen, sie traute sich nicht, sie wollte seine Liebe nicht verlieren. Die Angst davor, von ihm ignoriert und
verlassen zu werden, war größer als die anderen Ängste. Sie zwang sich, Alain weiter zuzuhören. »Wir werden jeden einzelnen Schritt vorher proben«, erklärte er gerade. »Cindy wird in der Straße vor dem pinkfarbenen Haus sein. Jean wird von der anderen Seite kommen. Luis und ich werden im Auto sitzen. Cindy wird uns das Zeichen geben. Wenn sie mit Gehrig zu reden beginnt, starten wir. Jeder von uns gehört zum Team. Hat jeder verstanden?« »Und ich?« fragte Henri entsetzt. »Wo werde ich sein? Ich muß einen Platz haben, von dem aus ich filmen kann. Ich muß vorher…« Alain bedachte Henri mit einem wohlwollenden Nicken. »Für dich gibt es einen eigenen Wagen, aus dem du nach Herzenslust filmen kannst. Du wirst dein eigener Chauffeur sein, damit du selbst entscheidest, was du wie lange aufnimmst. Wenn alles gelaufen ist, kehren wir auf verschiedenen Wegen zu unserem Versteck zurück. Den Wagen lassen wir in irgendeiner Straße stehen, aber nicht zu nahe am Ort des Geschehens.« »Allein!« kreischte Henri. »Dann kann ich aber nicht…« »Genug!« sagte Alain scharf. »Ich habe gesagt, wie es ablaufen wird. Und morgen werden wir es proben. Und übermorgen noch einmal. Und am Dienstag machen wir ernst.« Schon am Vormittag war es an diesem Dienstag so heiß, daß jedem klar war, bald würde der Sommer da sein und weite Teile des Landes lähmen. Trotz der weit aufstehenden Fenster war es stickig in ihrem Versteck, die Luft still und schwer. Henri bewegte sich hin und her und filmte die Vorbereitungen, während Alain noch einmal jede Einzelheit durchging. »Bleibt den ganzen Tag lang voneinander weg«, mahnte Alain. »Kehrt nicht in die Zimmer zurück, in denen ihr wohnt. Zur verabredeten Zeit nehmt ihr eure Positionen in der Calle de Gaetano ein. Wenn jemand nicht pünktlich an seinem Platz steht,
bringe ich ihn um.« Er berührte die Luger unter seinem Gurt. »Geht jetzt, und macht keinen Ärger.« »Was soll ich tun?« fragte Henri und schaltete das Tonband ab. »Geh ins Kino, du Idiot. Oder such dir eine Frau. Was weiß ich, was du tun willst? Aber paß auf, daß du nicht auffällst. Und sei früh genug an der Ecke. Alles begriffen?« Henri nickte unglücklich. Cindy blieb, nachdem die anderen gegangen waren. »Ich fühle mich so seltsam, Alain«, sagte sie und trat dicht an ihn heran. Sie hoffte, er würde sie in die Arme nehmen. »Mit den gebleichten Haaren sehe ich so ganz anders aus. Als ob ich nicht ich selbst wäre.« Er legte seine Hände auf ihre Schultern. »Du bist die wichtigste von uns allen, cherie. Wenn du uns im Stich läßt…« Eine Woge der Zuneigung und des Verlangens überwältigte sie. »O mein Darling, du kannst dich auf mich verlassen. Ich werde keine Fehler machen.« Er lächelte flüchtig und küßte sie leicht auf die Stirn. »Das weiß ich. Geh jetzt. Man sollte uns nicht zusammen sehen.« An der Tür blieb sie stehen. »Wenn dies vorbei ist, Alain, gehen wir dann irgendwo hin? Ich meine, nur wir beide?« Er nickte knapp. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Wir werden später darüber sprechen.« Ihr Glaube an den Madrid-Plan war gestärkt, und mit neuem Mut verließ Cindy die Wohnung und ging auf das Zentrum der Stadt zu. Ihr wurde bewußt, wie hungrig sie war. In einem Restaurant aß sie gazpacho. Die eiskalte Suppe zerging auf ihrer Zunge, erst dort lösten sich die verschiedenen Geschmacksrichtungen auf, die ganz fein zerriebenen Tomaten, der Knoblauch und die Brotkrumen, zerhackte Gurken und grüner Pfeffer, ein Hauch Zwiebel, Öl und Essig. Frisch gestärkt begab sie sich zum Prado. Sie kannte sich inzwischen schon gut aus in diesem Museum. Sie ging direkt in den Saal mit der Dama de Elche, die nahe bei Alicante entdeckt worden war. Bald nahm sie das Stimmengewirr
ringsum nicht mehr wahr, sie verlor sich in der Anmut und der Form des vor dreitausend Jahren gehauenen Kopfes. Ihr war, als wäre sie in eine andere Zeit versetzt worden, und ein Gefühl von Ruhe und Frieden überkam sie. Die Anspannung wich aus ihrem Körper. Später hätte sie nicht sagen können, wie lange sie in den Anblick der Dama de Elche versunken gewesen war, sie schritt versonnen in einen der Hauptsäle und schaute sich die Gemälde der großen Meister an, Dürer und Hieronymus Bosch, Breughel der Ältere und die vielen anderen. Sie nahm alles in sich auf, versuchte, die Eindrücke und Gefühle zu speichern, die Grazie der Linien und Bewegungen, die Feinheit der winzigen Schatten, den dramatischen Einfall des Sonnenlichts. Spanien, sagte sie sich, war ein wunderbares Land. Plötzlich, als ob eine innere Stimme sie gemahnt hätte, blickte sie auf ihre Uhr. Ein paar Minuten nach fünf! Ihr Blut raste, als sie hinaushetzte und heftig nach einem Taxi winkte. Sie hatte entsetzliche Angst davor, zu spät zu kommen. Wenn du uns im Stich lassen würdest… Alains mahnende Worte klangen noch in ihren Ohren nach. Sie dachte an die Luger unter seinem Gurt. Ja, sie hatte Angst.
8
Die Calle de Gaetano ist eine jener abgeschnittenen Straßen, die es überall in Madrid gibt, als wäre sie nur zufällig dort angelegt worden, ohne Anfang und ohne Ende. Sie steigt leicht an, und zu beiden Seiten wachsen schlanke Bäume. Rechts und links stehen kleine, bescheidene Einfamilienhäuser. Cindy mußte an sich halten, um nicht in die Calle de Gaetano zu laufen. Ihre Beinmuskeln schmerzten, und sie fühlte sich wund an den Schenkeln, wenn sie sich bei jedem Schritt aneinander rieben. Sie sah Henri mit einer Handkamera aus einem Fiat filmen. Sie atmete tief ein. Es war sechs Uhr zweiunddreißig. Zeit genug. Gehrig war Deutscher und würde pünktlich sein. Er besuchte die Hure genau um sechs, und vierzig Minuten später stand er wieder draußen. Er wich von diesem Zeitablauf nicht ab. Sie verlangsamte ihre Schritte, näherte sich dem pinkfarbenen Haus. Sie sah durch ihre große Sonnenbrille, wie Henri die Kamera schwenkte. Sie war sicher, daß er unerwünschte Blicke auf sie lenken würde. Es war ein Fehler, ihn mit auf diese Reise zu nehmen. Alains Fehler! Sie war bemüht, ihre Emotionen unter Kontrolle zu bekommen. Hinter dem Fiat wartete ein Mercedes, jederzeit bereit, in die Calle de Gaetano einzubiegen. Durch die Windschutzscheibe erkannte sie am Steuer das vom Sonneneinfall verzerrte Gesicht Jeans. Neben ihm Alain. Luis saß auf dem Rücksitz. Die Nähe der vertrauten Personen gab ihr Sicherheit. Sie bezog ihre Position in der Nähe des pinkfarbenen Hauses. Noch vier Minuten. Komm schon, Gehrig! Cindy fühlte sich aufgedunsen, ihr Bauch fühlte sich aufgequollen. Sie hatte Angst, aber gleichzeitig wollte sie, daß es endlich losging. In diesem Moment haßte sie Gehrig, am liebsten hätte
sie ihn vernichtet. Sie spürte ein Prickeln zwischen den Schenkeln, ein plötzliches Verlangen nach Alain, sie wünschte ihn tief in sich, hart, fordernd, sprühend, sie wollte sich an ihn schmiegen, ihn umfassen, drücken, kosen. Ihr Atem kam stoßweise. Sie schaute auf die Uhr. Seit dem letzten Mal waren höchstens zwanzig Sekunden vergangen. Sie blickte hoch. Jemand kam auf sie zu, den Kopf gesenkt. Alain! »Es ist vorbei«, brach es aus ihm heraus. »Vorbei. Der Bastard ist nicht gekommen!« »Was?« Sie versuchte, ihr Gehirn in Gang zu setzen, sich an die neue Situation zu gewöhnen, die Erkenntnis zu verarbeiten. »Das ist unmöglich!« »Er hat seine Gewohnheiten geändert. Nach dem Schachspiel ist er nach Hause gegangen.« »Was bedeutet das?« fragte sie unsicher. Alle Energie wich aus ihr, sie wollte schlafen, ausruhen, weinen. Der Mercedes schloß zu ihnen auf, und sie stiegen ein, rollten aus der Calle de Gaetano hinaus, ordneten sich in den Verkehrsstrom ein. Hinter ihnen filmte Henri die verlassene, stille Straße. »Wir müssen dieses Auto loswerden«, sagte Luis. »Ich fahre bis zu der Stelle, wo wir den Cadillac geparkt haben«, sagte Jean fröhlich. »Dann können wir alle gemeinsam umsteigen.« »Bist du wahnsinnig?« rief Alain. »Du sorgst noch dafür, daß wir alle verhaftet werden! Diese Karre hier ist gestohlen! Es darf keine Verbindung zwischen diesem Auto und dem Cadillac geben!« »Ja, du hast recht, Alain«, sagte Jean kleinlaut. »Jetzt ist es vorbei, nicht wahr?« fragte Cindy, zugleich erleichtert und enttäuscht. Er starrte sie an. »Wir steigen nacheinander aus. Du läßt den Mercedes irgendwo stehen, Jean, und den Cadillac holen wir uns, wenn es dunkel geworden ist.« »Ja, Alain.«
»Das Mädchen hat recht«, meinte Luis. »Ich glaube, wir sind für solche Aufträge nicht geeignet.« »Sei still!« fauchte Alain. »Der Auftrag ist von Bedeutung, und wir müssen ihn erledigen.« »Aber wie?« fragte Jean verzagt. »Ich lasse mir etwas einfallen, und dann werde ich euch Bescheid geben. Ich will, daß heute abend um zehn Uhr jeder in seinem Zimmer ist. Bis dahin weiß ich, was schiefgelaufen ist und wie wir darauf reagieren können. Halte jetzt das Auto an und laß uns aussteigen. Ich muß einige Dinge erledigen.« Als sie sich an diesem Abend trafen, war Alain schon wieder besserer Laune. Er half Henri bei der Ausleuchtung, und dann setzte er sich, nackt bis zur Hüfte, aufs Bett und erklärte seinen Gefolgsleuten und der Kamera, was er in Erfahrung gebracht hatte. »Ich habe mit dem Kontaktmann gesprochen, und er hat sich erkundigt, was mit Gehrig los ist. Was er entdeckt hat, kann man getrost als lustig bezeichnen. Linda hat Madrid verlassen. Ihre Mutter wohnt in Leon, und vor zwei Tagen ist sie zu ihrer Mutter gefahren. Es war ein Fehler, die Hure nicht observiert zu haben.« »Und was machen wir jetzt?« fragte Jean. Alain ließ ein trockenes Lachen hören. »Linda hat uns einen neuen Plan beschert.« Cindy hörte nicht länger zu. Der ganze Plan war ein Alptraum für sie, von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Keiner von ihnen war gerissen genug, eine solche Aufgabe zu erfüllen. Bisher hatten sie Glück gehabt. Wenn sie weitermachten, würde wieder etwas schiefgehen, und sie alle würden im Gefängnis enden. Sie sah ihren Vater in der grauen Kluft vor sich. Er saß vor ihr und nannte immer wieder ihren Namen. »Cindy!« sagte Alain scharf. »Hör endlich zu! Du bist die Schlüsselfigur der ganzen Operation!« Sie schaute ihn verständnislos an. »Da Linda nicht mehr verfügbar ist«, sagte er und wählte seine Worte bedächtig, »hat er seit vergangenem Dienstag keine Frau
mehr gehabt. Ein Mann mit solchen rigiden Gewohnheiten wird das nur schwer verkraften können.« Die Männer lachten. Alain fuhr fort: »Gehrig ist offenbar ein Mann, der die Gesellschaft einer Frau schätzt und braucht, wenn auch nur einmal die Woche.« Wieder lachten sie. »Es muß schwierig sein für Gehrig, einen Ersatz für Linda zu finden. Deshalb werden wir ihm das liefern, was er vermißt.« Er wandte sich an Cindy. »Du wirst die Hure dieses Nazis sein.« »Nein«, sagte sie, ohne nachzudenken. »Nein«, sagte sie, denn sie erinnerte sich daran, wie es gewesen war, als BB sie verkauft hatte. Sie erinnerte sich, und sie haßte die Erinnerung. »Nein, nein.« Alain stand auf und blieb vor Cindy stehen, schaute ihr in die Augen. »Morgen«, sagte er mit Nachdruck, »morgen wird Gehrig essen gehen, wie gewöhnlich im Café Atlantico. Dort werden wir ihn schnappen. Und du wirst tun, was ich dir sage.« »Hast du vor, ihm ins Restaurant zu folgen?« wollte Henri wissen. Alain fuhr zärtlich über Cindys Wange, bevor er sich wieder aufs Bett setzte. »Der Plan ist einfach, das Risiko minimal. Wenn Gehrig gegessen und mit Mueller Schach gespielt hat, wird sein Bauch voll sein. Er hat nur noch das Verlangen nach einer Frau. Seit einer Woche hat er keine mehr gehabt. Wir werden seine Geilheit bedienen – mit einem hübschen jungen Mädchen. Du, Cindy, wirst dem alten Nazi deine Reize zeigen. Aber sehr zurückhaltend. Du darfst es nicht zu plump anstellen, sonst könnte er den Braten riechen. Du mußt mit ihm flirten, ihn umgarnen, ihn auf dein Zimmer einladen.« Protest lag ihr auf der Zunge, aber ihr fehlte der Wille, ihn zu artikulieren. »Du wirst Gehrig vom Café Atlantico weglotsen«, erklärte Alain. »In eine der Nebenstraßen. Du sagst ihm, dort hättest du dein Zimmer. Und irgendwo dort in dem Schatten werden wir auf euch warten.«
»Exzellent!« rief Henri enthusiastisch. »Aktion und Wagemut, das ist sehr gut. Und die Spannung! Wird Gehrig sich von Cindy überzeugen lassen? Oder lehnt er ab? Die typische Konfliktsituation für eine spannende Handlung. Den Zuschauern wird das Ergebnis schon im vorhinein klar sein. Ich verlange natürlich eine Position, von der aus ich Cindys Annäherung filmen kann. Ich werde es wieder aus dem Auto filmen, aber ich muß noch näher heran.« »Ohne Scheinwerfer«, sagte Alain. Henri lachte selbstbewußt. »Mir reichen die Straßenlampen und die Restaurantleuchte. Ich werde einen ultra-sensitiven Film verwenden. Die geringe Beleuchtung erhöht noch den Dokumentations-Charakter.« Alain blickte einen nach dem anderen an. »Es ist also alles geklärt?« Er wartete darauf, daß Cindy nickte. »Ist alles geklärt?« fragte er sie. Nach ein paar weiteren Augenblicken zwang sie sich zu antworten. »Es ist alles geklärt.« Sie wachte abrupt auf und spürte, daß Alains Platz leer war. Er stand vor dem Fenster und starrte durch die gekippten Jalousienlamellen auf die Straße. Lichtstreifen verwandelten seine Nacktheit in eine psychedelische Skulptur. Sie setzte sich auf und zündete sich eine Zigarette an. Sie sprach ihn an, aber er antwortete nicht. »Hast du Angst vor morgen?« »Ich glaube, es wäre schlimm, wenn ich keine Angst hätte«, sagte er nach einer Weile. »Müssen wir da durch?« »Ja«, sagte er so leise, daß sie es kaum verstehen konnte. Dann, nachdem eine Minute verstrichen war: »Eine Stadt bei Nacht ist etwas ganz anderes, nicht wahr? Geheimnisvoll, fremdartig, alles sehr intim in der Dunkelheit und in der Stille.«
Ein Mann voller Gegensätze, dachte Cindy. Manchmal hart, fast brutal, und dann wieder sehr einfühlsam und rücksichtsvoll. Er war ein vielschichtiger Mann, der sich der Aufgabe gewidmet hatte, eine bessere Welt zu schaffen, damit andere Menschen ein glücklicheres Leben führen konnten. Auf der anderen Seite existierte er nur in sich selbst, und um sich herum hatte er eine unübersteigbare Barrikade errichtet. Nur ein eingebildetes Band hält uns zusammen, dachte Cindy wehmütig, ohne jeden inneren Halt. Sie redeten sich ihre Liebe ein, als ob sie ein Filmliebespaar wären; alle Gesten stimmten, aber es stand fest, daß sich die Darsteller trennen würden, wenn das Spiel vorbei war. »Alain«, sagte sie, »machen wir gemeinsam Urlaub? Du hast es versprochen.« Er drehte sich um, kam zu ihr, setzte sich aufs Bett. Mit einer Hand streichelte er über ihren Bauch, zog immer weitere Kreise, bis er die Hand zwischen ihren Schenkeln ließ. »Sollen wir nach Nizza fahren? Oder willst du lieber nach St. Tropez? Wenn das hier vorbei ist, werden wir viel Geld haben.« »Aber der Schatz ist doch für die Bewegung.« »Natürlich. Aber wir sind Teil der Bewegung. Wer wird etwas einwenden, wenn wir uns einen kleinen Betrag nehmen?« Er beugte sich über sie und küßte ihren Nabel. »Alain, nicht heute abend.« Seine Finger strichen über die empfindliche Haut, rieben, zupften, drangen ein. »Jetzt«, sagte er und leckte mit der Zunge über ihre Brüste. Sie widerstand seinem Versuch, ihre Schenkel zu spreizen. Ohne Warnung biß er sie in einen Nippel, hart, kräftig. Sie schrie auf und wälzte sich von ihm weg. Er zog sie zurück, trieb seine Knie zwischen ihre Beine. »Du mußt tun, was man dir sagt, cherie.« »Ich will… nicht…« Er schlug ihr ins Gesicht. Ihr Kopf ruckte auf die andere Seite. Sie blieb still liegen. »Alain, tu mir nicht weh.«
»Unterwerfe dich.« Sie schloß die Augen. Sein Mund senkte sich wieder auf ihre Brüste. Er saugte mit wilder Entschlossenheit, und sie spürte seine harten Zähne. Da, wo eben noch die Zähne den empfindlichen Nippel gequält hatten, spielten jetzt seine Lippen, und die Zunge labte die geschundene Stelle und salbte sie mit Speichel ein. Er erregte sie gegen ihren Willen, holte sie aus dem stillen Tal heraus, in dem sie sich Ruhe erhofft hatte, und sie spürte, wie sie auf sein Kosen reagierte, und hörte, wie sie ihn ermunterte, weiterzumachen. Er hob sich über sie, und sie fühlte, wie hart er war. Sie wollte ihn haben, wollte ihn ganz tief in sich spüren, und bereitwillig öffnete sie sich für ihn, gehorchte seinen herausgestoßenen Anweisungen, sich ihm hinzugeben, und wieder bewunderte sie seinen eleganten Pariser Akzent, den sie am Anfang so romantisch gefunden hatte, so voller Liebe und Versprechen. Plötzlich stieß er in sie hinein, er füllte sie aus. »Du magst das doch… komm schon… du liebst das mehr als alles andere…« Eine schwache Erinnerung schob sich in den Vordergrund ihrer Gedanken. Die Welt war schwarz und angefüllt mit angstvollen Schreien. Menschen flohen in alle Richtungen. Cindy sah die schmale dunkle Gasse, sie sah sich an die Mauer gedrückt von dem Polizisten im Regenmantel. Michaels, Lieutenant Michaels. Wie verrückt, sich sogar an seinen Namen zu erinnern! Und seine gutturalen Ausbrüche. ›Das magst du doch! Mit einem Fremden in einer Gasse. Ah, du willst, daß ich es dir besorge…‹ »Sag es«, drängte Alain keuchend. »Sag, wie es dir gefällt. Sag, was du fühlst…« »Wunderbar«, sagte sie, und es wurde ihr bewußt, daß das beinahe die Wahrheit war. »Es war nie so gut. Ah, du machst mich scharf. Es gibt niemanden wie dich…« Sie schlang die Beine um seinen Rücken, um ihn noch tiefer in sich zu spüren, und er drang immer wieder mit heftigen Stößen
in sie ein, bis er sich mit einem lauten, wilden Stöhnen in sie ergoß. Nach einer Weile rollte er sich von ihr und ging ins Bad, unter die Dusche. Ihr fiel ein, daß Alain jedesmal nach der Liebe gleich unter die Dusche ging. Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken. Sie zündete sich eine Zigarette an. »Sehr gut«, sagte Alain, als er wieder ins Bett kam. »Hat es dir gefallen?« »Ja«, sagte sie, und in Gedanken fügte sie hinzu: Jemanden körperlich zu befriedigen ist keine schwierige Sache. »Alain, glaubst du, daß es morgen klappt? Ich meine, das Unternehmen Gehrig?« »Es wird klappen, wenn du deinen Part richtig spielst.« »Ich werde es versuchen.« »Du mußt Erfolg haben.« »Ja«, sagte sie, und dann fiel ihr ein, daß sie noch nie bei irgend etwas Erfolg gehabt hatte. Hans Gehrig war ein dicklicher Mann mit hängender Unterlippe und wässrigen Augen. Die goldgerahmte Brille hing ihm tief auf der Nase, was seinem Gesicht einen stets fragenden Ausdruck verlieh. Sein beträchtlicher Bauch schwappte bei jedem Schritt. Beim Gehen hielt er die kleine rosige Nase hoch, als wollte er den warnenden Geruch von Gefahr schnüffeln. Luis hängte sich an Gehrig, als er seine Wohnung verließ, und folgte ihm bis zum Café Atlantico, ging aber nicht hinein. Auf der anderen Straßenseite sah Luis, wie Henri in einem japanischen Auto saß und aus dem Fenster heraus filmte. Etwas weiter, dort, wo der sanfte Anstieg der Kopfsteinpflasterstraße begann, hatte Cindy ihre Position bezogen. Luis gab ihr mit einer Kopfbewegung zu verstehen, daß er sie entdeckt hatte. Sie reagierte nicht, aber Luis wußte, daß sie Gehrig erkennen würde, wenn sie ihn das nächste Mal sah. Cindy fuhr zurück zum Hotel, wo Alain auf sie wartete.
»Er ist im Café«, informierte sie ihn. »Luis hält Wache. Henri filmt alles.« »Dann zieh dich um.« Sie legte Rock und Bluse ab und schlüpfte in ein eng anliegendes gelbes Kleid. Es betonte jede Linie ihres Körpers. Alain hatte es für sie am Morgen gekauft. Sie schminkte sich, und als sie sich im Badezimmerspiegel sah, schaute sie in eine verzerrte Maske ihrer selbst. Sie stellte sich Alain zur Begutachtung. Er war nicht zufrieden. »Ah, jetzt hab’ ich’s«, rief er nach einer Weile. »Zieh den BH aus.« Sie protestierte. »Der Kleiderstoff ist fast durchsichtig.« »Es ist besser, Gehrig zuviel zu zeigen als zu wenig. Wir können kein Risiko eingehen.« Sie gehorchte. Im Spiegel sah sie deutlich die Umrisse ihrer Brüste, die Nippel drückten sich gegen den dünnen Stoff. Sie wollte wieder etwas einwenden, ließ es dann aber sein. Ein paar Minuten später gingen sie die Treppe hinunter und blieben vor dem Eingang stehen. Jean fuhr mit einem englischen Ford vor. Sie stiegen ein. Sobald Jean den Ford in der schmalen Straße geparkt hatte, wo er vom Café Atlantico nicht zu sehen war, trieb Alain sie zur Eile an: »Du darfst ihn nicht verpassen.« Wortlos stieg sie aus. Henri lächelte ihr zu, aber sie mied seinen Blick. Sie schritt an Luis vorbei, der in die andere Richtung eilte, zu Alain und Jean. In den folgenden zwanzig Minuten schlenderten drei Männer vorbei, die sie mit unverhohlener Neugier musterten, aber weitergingen, als sie sich abwandte. Endlich tauchte Gehrig im Eingang des Cafés auf. Er puhlte mit einem Stäbchen zwischen den Zähnen und hatte einen zufriedenen Ausdruck auf dem fetten Gesicht. Cindy atmete tief ein und eilte die Straße hinunter. Er drehte sich um, langsam, ungeschickt, und beäugte sie. Cindy erkannte das rasche Interesse hinter der goldgerahmten Brille. Als sie nur
noch wenige Schritte von ihm entfernt war, fuhr sie sich mit der Zungenspitze ganz sanft über die Lippen. »Guten Abend«, sagte sie leise. Sie spürte den Pulsschlag in ihrem Hals. Er ließ den Zahnstocher auf den Boden fallen. Er räusperte sich und starrte auf ihre Brüste. Sie wäre am liebsten weggelaufen, um sich vor diesen geilen Blicken zu schützen, aber statt dessen brachte sie ein Lächeln zustande. »Ein Mann sollte in einer so romantischen Nacht nicht allein sein«, sagte sie. »Ich bin sicher, Ihre Frau…« »Ich habe keine Frau.« Sein Spanisch klang hart und schwerfällig. »Ich bin allein.« »Ich bin auch allein.« Er befeuchtete seine Unterlippe. »Ich nehme an, wir müssen über das Finanzielle reden.« »Sie sind ein Ehrenmann. Ich traue Ihrem Urteilsvermögen und Ihrer Großzügigkeit.« Die Augen hinter der Goldbrille weiteten sich. »Aber wir können doch nicht unterstellen, daß Ihr Interesse an mir aus lauter Zuneigung besteht.« Ihr wurde klar, daß er nicht nur ein dicker geiler Mann war. Auch Nazis konnten offenbar nett und ironisch sein. »Ich mag Sie«, sagte sie. Ihr Puls hatte sich normalisiert. »Aber ein Mädchen muß auch leben«, sagte er, bevor sie es sagen konnte. »So ist es.« »Sie müssen wissen«, sagte er, »daß ich kein reicher Mann bin.« Sie dachte an die geraubten Millionen. »Ich halte Sie für einen Mann mit reichen Erfahrungen. Wenn Sie mir ein kleines Geschenk dalassen…« Er lachte kurz auf und faßte sie am Ellenbogen. Sie konnte jetzt den Knoblauch in seinem Atem riechen. Sie mußte sich zusammenreißen, um nicht wegzulaufen. »Meine Wohnung«, sagte sie, »liegt gleich um die Ecke. Es sind nur ein paar Schritte.« Und in diesem winzigen Augenblick er-
kannte sie, daß sie – trotz der Furcht – dieses Abenteuer auch genoß. »Wie günstig«, murmelte er. Arm in Arm gingen sie die Straße entlang, unter dem Lichtschein einer Laterne hindurch. Dann erreichten sie die Straßenecke. Ein japanisches Auto rollte heran, zog hinter den parkenden Ford. Henri, schoß es ihr durch den Kopf, dieser Henri mit seiner allgegenwärtigen Kamera. »Eine herrliche Nacht«, meinte Gehrig und drückte ihren Arm. Sie stimmte zu. »Sie sind sehr schön und sehr jung. Wie jung sind Sie? Achtzehn? Oder noch jünger?« Sie erinnerte sich an einen Mann, an den BB sie verkauft hatte; er hatte gewollt, daß sie viel jünger war, als sie tatsächlich war. Je älter Männer werden, desto jünger sind die Mädchen, zu denen sie sich hingezogen fühlen, dachte sie. In diesem Moment fühlte sie sich weder jung noch attraktiv. »Wie alt soll ich denn sein?« fragte sie. Er lachte wieder kurz auf. »Ah, das ist eine Frage, auf die ich lieber keine Antwort gebe.« Noch ein paar Schritte, dann schossen Alain, Luis und Jean aus dem britischen Ford heraus. Gehrig wich instinktiv zurück und sprudelte eine Frage, die er nicht zu Ende stellen konnte. Alain schlug zu, und der untersetzte Mann schwankte gegen eine Hausmauer, Entsetzen im Blick. Zu dritt schlugen sie auf ihn ein, Cindy sah voller Panik zu, aber auch mit einer gewissen Faszination. Sie wartete darauf, daß der Deutsche zu Boden ging. Irgendwie schaffte er es, auf den Beinen zu bleiben, er wehrte sich sogar, den Kopf eingezogen zwischen den Schultern, brachte er einige sehr gezielte Schläge an. Jean erwischte er am Kinn, und als Jean zurücktorkelte, sah Gehrig plötzlich eine Lücke vor sich, und noch bevor Luis und Alain wußten, was geschah, floh der alte Gehrig an ihnen vorbei die Straße hinunter. Es war Luis, der ihn aufhielt, indem er ihm ein Bein stellte, über das Gehrig stürzte. Er versuchte, wieder auf die Füße zu kom-
men, aber dann war Alain bei ihm und hielt ihm die Luger an den Kopf. Gehrig seufzte und blieb liegen. »Teufel«, keuchte Luis, »der Kerl ist verdammt zäh.« »Der Bastard hat mir eine verpaßt«, klagte Jean. »Kommt schon, kommt schon«, drängte Alain. »Bringt ihn ins Auto. Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.« Sie gehorchten. Cindy schaute zu und rang um die Kontrolle über ihren zitternden Körper. Sie wollte nicht weinen. Sie wollte nicht wegrennen. Und auf der anderen Straßenseite saß Henri hinter dem Steuer des japanischen Autos und filmte alles, überzeugt davon, daß er eines Tages für seine Arbeit gerühmt würde.
9
Von der Straße drangen Geräusche hoch in die Wohnung. Eine Autohupe. Kinderlärmen. Eine kreischende Mutter. Der heisere Schrei eines wütenden Kraftfahrers. Im größten Zimmer lagen Alain und die anderen auf den Armeepritschen, ohne sich anzusehen. Aus einem winzigen Radio klang Flamencomusik. Luis schlug den Takt dazu, Henry hob die Handkamera und blinzelte Jean durch den Sucher an. »Wenn du mich noch einmal filmst, breche ich dir das Genick«, fuhr Jean ihn an. »Du hast kein Recht, so mit mir zu sprechen«, gab Henri zurück. »Meine Kamera und ich sind deine Verbindung zur Unsterblichkeit.« »Halt den Mund«, sagte Luis. Er schaute zu Alain. »Nun, mein Freund, was meinst du?« Als Alain nichts sagte, zuckte Luis die Schultern. »Also, ich glaube, daß der Deutsche die Wahrheit sagt.« »Unsinn«, fand Henri. »Er lügt. Deutsche sind hervorragende Lügner. Das liegt ihnen im Blut. Genau wie ihre Überlegenheit in technischen Dingen. Ihre Kameralinsen sind ganz erstklassig.« »Vielleicht sagt er die Wahrheit«, beharrte Luis und suchte einen anderen Sender. »Der Deutsche lügt, um seinen Schatz zu schützen«, sagte Henri mit großer Überzeugung. »Und um seine Kameraden zu beschützen.« »Ich schließe mich eher Luis an«, ließ sich Jean vernehmen. Er wandte sich an Cindy. »Was glaubst du?« Sie zögerte, sah Alain an. »Vielleicht war das ganze Unternehmen ein Fehler.« Henri schnalzte mit den Lippen. »Ein Künstler hat einen angeborenen Instinkt für solche Dinge.«
Alain stand auf, legte die dunkle Brille ab und zog ein Taschentuch über die untere Gesichtshälfte. »Der Deutsche lügt. Henri hat gesagt, wie es ist.« »Wir müssen Gehrig zum Reden bringen«, sagte Henri. »Ihn zwingen.« »Bedeckt eure Gesichter«, sagte Alain. »Wir nehmen uns Gehrig noch einmal vor.« Gehrig lag auf dem Boden eines fensterlosen Raums hinter der Küche, an Händen und Füßen gefesselt. Sein böse zugerichtetes Gesicht kündete von vorangegangenen Verhören. »Hört mir zu«, sagte er, als sie den kleinen Raum betraten. »Ihr versteht nicht…« »Du bist es, der nicht versteht«, unterbrach Alain ihn. Er zerrte den kleinen dicken Mann in eine sitzende Position und drückte ihn gegen die Wand. »Wir wollen alles über das Geld wissen, Gehrig, über die Juwelen, die gestohlenen Bilder. Sie werden uns alles sagen.« Gehrigs Kopf rollte zur Seite, als litte er Schmerzen. »Es gibt kein Geld, keine Bilder. Ich weiß jedenfalls nichts davon.« Henri hatte einen tragbaren Scheinwerfer aufgestellt, schaltete ihn jetzt ein und richtete die Kamera auf den Mann am Boden. »Du bist Hans Gehrig!« sagte er anklagend. Gehrig blinzelte gegen das Scheinwerferlicht. »Ja, ja, das ist mein Name. Aber ich bin kein Nazi. Ich bin nie einer gewesen. Nur ein ganz gewöhnlicher Geschäftsmann. Ihr müßt mir glauben. Ich handle mit Lederwaren und kleinen Möbelstücken, besonderen Gegenständen, die typisch für Spanien sind. Ich verschiffe sie in verschiedene Länder, besonders in die Vereinigten Staaten. Spanische Produkte sind dort sehr populär.« Alain schlug Gehrig, und der alte Mann blinzelte. Tränen traten ihm in die Augen, und die hängende Unterlippe zitterte unkontrolliert. »Sag die Wahrheit, Nazi!« brüllte Jean plötzlich. »Ihr müßt mir glauben«, schluchzte Gehrig. »Ich bin unschuldig.«
Alain schlug ihm auf den Mund, und Gehrig stieß einen Laut aus und kippte zur Seite. Jean packte ihn und richtete ihn wieder auf. Blut tröpfelte aus Gehrigs Mund. »Bitte«, stöhnte er. »Laß mich«, sagte Jean. Er tat einen langen Schritt vor und schlug präzise und mit Wucht zu. Gehrig prallte gegen die Wand, die Luft wich aus ihm, das runde Gesicht wurde krebsrot, die Augen schwollen an. »Hört auf!« kreischte Cindy. »Hört auf! Du mußt ihn aufhalten, Alain!« Alain sprach Jean leise an, und der schwere Mann trat zurück, Enttäuschung im Gesicht. Cindy kniete sich neben Gehrig. Ein Auge war geschwollen, und im Mundwinkel bildete sich eine rote Beule, Rasselnd kam Gehrigs Atem. »Bitte«, flehte Cindy, »bitte, sagen Sie ihnen, was sie wissen wollen. Früher oder später müssen Sie es ja doch sagen.« Gehrigs Kopf bewegte sich, als stimmte er ihr zu. Er versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Da… gibt es… nichts… zu sagen«, brachte er schließlich heraus. »Ich bin nicht der, für den Sie mich halten. Nicht…« Er sackte zur Seite, die Augen geschlossen. Der Körper wurde von Zuckungen geschüttelt. Weinend lief Cindy aus dem Zimmer. Sie versammelten sich im großen Zimmer, alle bis auf Henri, der unterwegs war, um neues Filmmaterial zu kaufen. Cindy sah einer dicken Fliege nach, die durch die Luft kreiste. Gegen die nackten weißen Wände war es leicht, ihre Bewegungen zu verfolgen. »Wir haben einen schrecklichen Irrtum begangen«, sagte sie, eher zu sich selbst. »Gehrig ist kein Nazi.« »Er muß einer sein!« rief Jean. Er sprang auf, ballte die Fäuste und suchte irgendein Opfer. »Sei still«, befahl Alain knapp.
Jean starrte ihn an. »Fahr zur Hölle! Ich bin nicht dein Sklave. Ich bin Franzose, ein Revolutionär, und wenn ein Fehler gemacht wurde, dann muß man ihn eingestehen, damit man ihn begreift und ihn in Zukunft nicht wiederholt. Nur auf diese Weise läßt sich die Reinheit…« »Ah«, sagte Luis, und sein dünner Mund wölbte sich leicht, »erhalten wir jetzt eine Lektion über den politischen Wert eines Geständnisses? Die marxistische Theorie verlangt das Eingestehen des Versagens, nicht wahr, Franzose? Vielleicht wirst du uns auch einen Vortrag halten, wieviel Hektar Zuckerrohr auf Kuba angebaut werden, wieviel Traktoren in der Sowjetunion hergestellt werden. Ich spucke auf alle Geständnisse, auf alle Theorien und auf deinen Marx. Franzose, du hast den Körper eines Gorillas und das dazugehörige Gehirn.« Jean blickte sich um, als erwartete er einen Angriff aus anderer Richtung. Dann wandte er sich Luis zu, in seiner ganzen Größe, wilde Entschlossenheit im Gesicht. »Ich werde dir dein widerliches Gesicht zermalmen, du kleiner spanischer Bastard…« Luis kam rasch auf seine Füße. Eine kurze glänzende Klinge lag in seiner rechten Hand, offen in der Handfläche, als wollte er sie anbieten, »Komm schon, Gorilla, komm und schmeck mal echten Stahl aus Toledo. Er ist so scharf, daß du ihn erst spüren wirst, wenn…« Alain trat zwischen sie. »Steck das Messer weg, Luis. Und du, Jean, hörst mit dem Streit auf. Wir müssen zugeben, daß wir ein Problem haben. Wir müssen es lösen, nicht noch verschlimmern.« »O ja, Alain«, rief Cindy, »wir müssen Gehrig freilassen, und wir verschwinden. Es ist vorbei.« »Noch nicht«, sagte Alain. »Du vergißt, daß Albert und ich alle Möglichkeiten bedacht haben. Gut, wir haben es nicht geschafft, Gehrig zum Reden zu bringen. Er leugnet, etwas über den Schatz zu wissen, leugnet sogar, Nazi zu sein. Und er wird auch leugnen, andere Nazis zu kennen.«
»In diesem Fall«, sagte Luis und zupfte an seinem Schnurrbart, »hat die Yanqui recht. Wir sollten sofort verschwinden, denn es gibt weder Schatz noch Lösegeld.« »Ich muß dem Spanier zustimmen«, sagte Jean. Alain breitete die Arme aus. »Das ist der Grund, warum ich Leiter dieses Unternehmens bin – damit es jemanden gibt, der klar denken und befehlen kann. Gut, wir haben Gehrig nicht knacken können. Aber es gibt andere Möglichkeiten, an seine Kameraden heranzukommen.« »Wie?« fragte Jean. »Ja, wie, wenn er uns keine Namen nennt«, echote Luis. Alain schnaufte verächtlich. »Wir werden allen Nazis verkünden, daß wir ihn haben. Luis, du sprichst das beste Spanisch. Du wirst unser Sprecher sein. Du gehst zu einem öffentlichen Telefon und rufst die größten Zeitungen des Landes an. Du wirst ihnen sagen, daß wir – ohne uns natürlich zu nennen – Gehrig haben, und wenn nicht ein bestimmtes Lösegeld gezahlt wird, werden wir die Identitäten und Verstecke der gesuchten Nazis bekanntgeben.« »Aber Gehrig hat uns nichts gesagt«, wandte Jean ein. »Das wissen nur wir«, sagte Alain. »Und wir werden dieses Geheimnis für uns behalten. Wir lassen die Nazis glauben, daß wir alles über sie wissen. Luis, sage den Zeitungen, daß wir achtundvierzig Stunden warten, bis wir von den Nazis gehört haben…« »Aber wer…?« begann Jean verwirrt. »Denk doch nach!« fuhr Alain ihn an. »Glaubst du, daß die Nazis in einem luftleeren Raum leben? Daß sie keine Organisation haben? Sie arbeiten auf der ganzen Welt zusammen. Sobald unsere Forderungen bekannt sind, wird ihr derzeitiger Führer, wer er auch ist und wo er auch lebt, davon erfahren und bald erkennen, daß er keine andere Chance hat, als unsere Förderungen zu erfüllen. Wir suchen uns einen Journalisten aus, den wir als Mittelsmann einsetzen…« »Ah«, sagte Luis. »Roberto Aguilar, der Kolumnist von El Jornada. Er wäre geeignet für eine solche Aufgabe.«
»Fein. Ich überlasse dir die Einzelheiten.« Cindy hörte zu und fühlte sich so benommen, daß sie nicht in der Lage war, Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden. In ihrem Kopf hörte sie ein pochendes Dröhnen, als ob sich ihr Gehirn weigerte, weitere Komplotte und Komplikationen mitzumachen. Schluß mit diesem Unsinn, wollte sie schreien, gebt die Waffen und Kostüme zurück. Sie wollte zurück in die normale Welt. »Sehr gut«, hörte sie Alain sagen. »Hast du dir schon überlegt, was du den Journalisten sagst, Luis?« »Ich habe alles im Kopf. Und ich lege Sonnenuntergang am Sonnabend als letzten Termin für die Nazis fest.« »Genau. Danach, das mußt du deutlich machen, geben wir die Namen und Verstecke der im Verborgenen lebenden Nazis an die Öffentlichkeit.« Cindy wollte Alain an die Tatsache erinnern, daß sie von Gehrig keine Namen erfahren hatten, sondern in ein Spiel verwickelt waren, in dem sie gleichzeitig Täter und Opfer waren. Ja, sie wollte das sagen, aber sie hatte nicht den Mut dazu.
10
Luis hatte gute Arbeit geleistet. Alle Zeitungen Madrids brachten die Geschichte über die Entführung. Einige lieferten Hintergrundberichte über die Neo-Nazi-Welle in Europa. Diplomaten wurden zitiert über die Gefahren, die in einer Wiedergeburt des Nazismus lagen. Eine Zeitung erinnerte an den legendären Schatz der Nazis, der nie gefunden worden war. Zwischen den Zeilen und an der Zensur vorbei konnte man durchweg Sympathie für die Entführer und ihre Mission lesen. Am frühen Samstagmorgen demonstrierte eine Studentengruppe in den Straßen von Madrid und forderte die Ausweisung aller in Spanien lebenden Nazis, eine stärkere Beteiligung des Volkes an der Regierung und die Freiheit der Rede. Eine Gegendemonstration forderte nach Franco die Wiedereinführung der Monarchie in Spanien. Beide Gruppen trafen sich auf dem Plaza de la Cibeles, und sofort brachen Unruhen aus. Es vergingen mehr als dreißig Minuten, bis Polizei eintraf und die Streitenden mit Tränengas und Wasserwerfern auseinandertreiben konnte. Dreiundachtzig Menschen mußten in verschiedenen Krankenhäusern ambulant behandelt werden, vier Verletzte im Krankenhaus bleiben. Ein Mann starb an einem Herzanfall. Alain, Jean und Henri waren außer sich vor Freude und feierten die Unruhen als Vorboten ihres zu erwartenden Triumphs. Luis war weniger optimistisch. »Noch haben wir den Schatz der Nazis nicht in unseren Händen.« »Und auch nicht das Lösegeld«, fügte Cindy düster hinzu. »Wenn die Nazis auf die Drohung reagieren wollten, hätten sie es inzwischen getan.« Henri sagte verunsichert: »Warten wir die Nachmittagszeitungen ab. Ich bin davon überzeugt, daß sie schon mehr wissen.«
Luis zupfte seinen Schnurrbart. »Deine Überzeugung bringt uns keine Waffen für die Revolution, und sie bringt uns auch nicht hier heraus. Im Augenblick ist die einzige Belohnung, die wir haben, der dicke Deutsche da drinnen.« Der Tag schleppte sich mit schmerzlicher Langsamkeit dahin, aber schließlich gab es die Nachmittagszeitungen. Jean wurde ausgewählt, ein Exemplar von jeder Ausgabe zu kaufen. Schweigend warteten sie auf seine Rückkehr. Dann kam er, blaß, mit unstetem Blick. Alain riß ihm die Zeitungen aus der Hand und begann zu lesen. Als er mit einer Zeitung fertig war, warf er sie auf den Boden und nahm sich die zweite vor. Cindy hob das Exemplar vom Boden auf. »Lies vor«, sagte Henri ungeduldig. Er schaltete seinen Scheinwerfer an, und seine Kamera begann zu surren. Cindy übersetzte den Text mit einigen Schwierigkeiten. Hans Gehrig, das Opfer der Entführung, die Spanien und die zivilisierte Welt so erregt hat, ist tatsächlich deutscher Abstammung, wie die Behörden heute mitteilten. Er lebte bis 1938 in München und emigrierte dann nach Palästina, das damals unter englischem Mandat stand. In Jerusalem arbeitete Gehrig, ein Katholik, als Lehrer an einer Schule, die von deutschen Nonnen geführt wurde. Hauptsächlich unterrichtete er die Kinder von Angehörigen der britischen Armee und Verwaltung. 1948, kurz vor der Staatsgründung Israels, siedelte Gehrig nach Spanien über. Zwei Jahre blieb er in Barcelona, seither lebt und arbeitet er in Madrid. Er exportiert spanische Produkte in alle Welt. Senor Gehrig ist spanischer Staatsbürger. Die Polizei von Madrid hat mitgeteilt, daß sie bald mit einer Verhaftung rechnet. Ihre Ermittlungen zeigten gute Fortschritte. Wie aus einer zuverlässigen Quelle verlautet, verfügt die Polizei über einen Zeugen, der einen Mann mit einer Filmkamera zur Zeit der Entführung in der Nähe des Café Atlantico gesehen hat.
Der geheimnisvolle Kameramann wurde auch in der Straße gesehen, in der Hans Gehrig wohnt. Sobald der Kameramann identifiziert ist, so erwartet man, komme man auch den anderen Entführern auf die Spur… »O mein Gott!« kreischte Henri. »Sie meinen mich! Das bin ich! Die Polizei rückt mir auf den Hals! Ich muß mich verstecken! Ich muß aus dem Land!« Er sprang auf die Füße und stürzte zur Tür. Alain hielt ihn auf, wirbelte ihn herum und schlug ihm hart ins Gesicht. Henri stand steif und schlotternd da. »Setz dich hin«, befahl Alain. »Setz dich und sei ruhig. Gut, ein Zeuge hat dich gesehen. Na und? Das bedeutet gar nichts. Sie haben weder die Kamera noch dich.« Die steile Augenbraue beruhigte sich, ging in die Ausgangsposition zurück. »Du hast die Filme noch nicht zum Entwickeln gegeben, Henri?« Henri schüttelte den Kopf. Alain lächelte, er legte eine Hand auf Henris Arm. »Freund Henri, setz dich. Du bist in keiner Gefahr, solange wir kühle Köpfe behalten.« Henri stolperte zurück zu seiner Pritsche. Alain wandte sich an Cindy. »Steht noch mehr da?« »Reicht das nicht?« fragte sie. »Sie schreiben über Gehrigs Familie, seine Freunde. Sie erwähnen die Firmen, deren Produkte er vertreibt. Soll ich dir seine Biographie vorlesen?« Alain starrte sie an, und sie hielt seinem Blick stand. »Das bedeutet, es gibt keinen Schatz«, resümierte Jean. »Sehr klug«, spottete Luis. »Kein Schatz, kein Lösegeld. Nur ein fetter ängstlicher Deutscher.« »Gehrig war kein Nazi«, sagte Cindy. »Er ist vor Hitler geflohen.« »Was tun wir jetzt?« rief Jean mit sich fast überschlagender Stimme. »Wir sind Kidnapper und…« »Sei still!« fauchte Alain. »Sei still und behalte deine Nerven!«
Jean trat einen Schritt vor, die Hände geballt. »Es sind nicht meine Nerven, um die es hier geht. Ich bin kein Feigling. Ich erledige, was erledigt werden muß. Und ich bin auch nicht der Narr, für den du mich offenbar hältst. Dieser Plan war von Anfang an schlecht. Ein Fehler reiht sich an den anderen. Du und Albert, ihr habt den Plan ausgeheckt, ihr habt uns gesagt, daß er perfekt sei und nichts schieflaufen könne. Aber alles ist schiefgelaufen. Jetzt wird uns die Polizei schnappen, und wir werden bis zum Ende unseres Lebens in spanischen Gefängnissen verrotten.« Er ging langsam auf Alain zu, der genauso langsam zurückwich. »Bleib, wo du bist«, befahl Alain. »Vielleicht willst du mir auch ins Gesicht schlagen, Alain. Aber ich bin nicht so leicht einzuschüchtern. Ich habe die Schnauze voll von deiner Autorität, von deinem ausgeklügelten Plan. Der hat uns in diese verdammte Lage gebracht.« Er hob seine Fäuste. Alain zog die Luger unter seiner Jacke hervor und richtete sie auf Jean. Verblüffung zeichnete sich auf dem Gesicht des bulligen Mannes ab. »Willst du mich erschießen, Alain?« fragte Jean, und plötzlich war der Zorn aus seiner Stimme gewichen, er hatte tiefer Ungläubigkeit Platz gemacht. »Würdest du mich wirklich erschießen?« »Nein«, rief Cindy rasch, »nein.« Die Luger bewegte sich nicht, und Alains Blick fixierte die Augen Jeans. »Du redest wie ein Waschweib, und von dir hätte ich das nicht erwartet. Tapferkeit und Beherrschung, hat man mir gesagt, seien die Stärken von Jean Legrande. Du hast mich enttäuscht.« Jean zögerte. Langsam öffneten sich seine Fäuste. »Es tut mir leid. Du hast recht, ich habe mich wie ein Waschweib benommen.« Er wich zurück, zeigte seine offenen Hände. »Ich werde tun, was du sagst, Alain. Du kannst dich auf mich verlassen.« Alain steckte die Luger weg und schaute sich im Zimmer um. »Benutzen wir unser Hirn. Es gibt keinen Grund zur Panik. Es
wurde ein Fehler gemacht. Aber wir dürfen ihn nicht noch schlimmer machen. Stimmt mir jeder zu?« »Ich stimme zu«, sagte Luis und starrte an die Decke. »Ich stimme zu«, sagte Jean. »Henri?« fragte Jean. »Ich stimme zu«, sagte Henri nach einer Weile. Alain schaute Cindy erwartungsvoll an, aber als sie nichts sagte, lächelte er und sprach sie alle an. »Einen Fehler an der Front zu begehen ist für einen Revolutionär kein Verbrechen.« Sein Gesicht blühte plötzlich auf. »Denkt doch mal an den Propagandawert. In gewisser Weise haben wir einen triumphalen Erfolg erlebt. Dieser Coup zeigt, daß wir überall zuschlagen können, sogar in der Hauptstadt dieses faschistischen Staates. Wie beim Vietcong gibt es keine Zuflucht vor unserer Gerechtigkeit, vor unserer Vergeltung. Was für eine feine Demonstration unserer Macht!« »Noch eine solche Demonstration«, sagte Luis, mehr zu sich selbst, »und wir sind alle Leichen.« »Das ist kein Witz«, fuhr Alain ihn an. »Das sollte auch keiner sein.« »Was machen wir jetzt?« fragte Cindy. »Wir ziehen ab«, antwortete Alain. »Wir verstreuen uns in alle Winde. So lange sich niemand durch seine Angst verrät, kann uns nichts passieren. Die Polizei kann niemanden von uns identifizieren.« »Und Gehrig?« fragte Luis. Alain zögerte, legte eine Hand auf den Griff der Luger. Jean lachte, ein dünner Laut, ein wenig zu schrill. »Nein«, versuchte Cindy zu sagen, aber sie bekam keinen Ton über die Lippen. Henri hielt seine Kamera halbhoch. »Wunderbar. Das wird der Höhepunkt des Films, er macht ihn zum Meisterwerk. Eine realistische Todesszene…« Cindy kämpfte gegen Übelkeit an, die von ihrem Magen hochstieg. Vor sich sah sie das Bild von George Blaine, blaß und
gezeichnet vom Tod, der das Leben aus ihm saugte. Dann sah sie verschwommen das Bild des Mannes vor sich, den ihr Vater getötet hatte. Sie schüttelte sich. »Wahnsinn.« Das Wort schlüpfte ihr aus dem Mund. »Das ist alles Wahnsinn. Gehrig ist ein unschuldiger Mann. Ist das unsere Bewegung, daß wir unschuldige Menschen ermorden?« »Er ist für uns alle eine Bedrohung«, sagte Henri. »Nein, das ist er nicht«, widersprach Cindy, jetzt mit kräftiger Stimme. »Er kann niemanden von uns identifizieren. Wann immer er uns gesehen hat, trugen wir Skimasken und Sonnenbrillen. Nur mein Gesicht hat er gesehen, und ich hatte meine Haare gefärbt und mich ganz anders geschminkt. Hört mir zu«, sagte sie, und sie rang nach Luft, damit ihre Stimme nicht so schrill klang, »hört mir zu. Wenn ihr eine bessere Welt haben wollt, könnt ihr sie nicht erreichen, indem ihr tötet…« »Für eine bessere Welt«, sagte Alain lehrhaft, »muß man Opfer bringen.« Cindy schloß die Augen und sprach, ohne sie zu öffnen. »Hat sich Gehrig denn ausgesucht, unser Opfer zu sein? Frag ihn, und du wirst seine Antwort hören.« Jetzt öffnete sie die Augen, und sie sah jeden einzelnen an. »Henri, vielleicht willst du unser Opfer sein. Oder du, Jean. Luis? Oder du, Alain?« »Wir können den Deutschen nicht einfach laufen lassen«, wandte Henri ein. In Cindys Kopf brodelte es. »Wir lassen ihn hier. Später ruft jemand eine Zeitung an und teilt mit, wo Gehrig gefunden werden kann. Damit gehen wir kein Risiko ein, und wir bringen die Sache sauber hinter uns.« Sie wandte sich an Alain. »Bitte Alain, Liebling. Bitte, keinen Mord.« Er dachte darüber nach. »Sehr gut. Luis wird anrufen.« »Einverstanden«, sagte Luis. »Jetzt würde ich gern über unsere Abreise sprechen.« »Einfach«, sagte Alain. »Einer nach dem anderen.« »Alain!« rief Cindy.
Er nickte. »Cindy kommt mit mir. Mischt euch unter die Touristen, schaut euch die Sehenswürdigkeiten an, und nähert euch Paris auf unauffälligen Wegen. Und stets getrennt.« Luis stand auf und streckte sich. »Dann werde ich zunächst von hier aus nach Portugal gehen. Im Sommer machen dort viele Engländerinnen Urlaub, und für die habe ich immer schon eine Schwäche gehabt, sie haben so eine schöne zarte Haut…« »Jean?« fragte Alain. Der starke Mann schaute verwirrt drein. »Was soll ich tun, Alain?« Alain überlegte einen Moment, dann sagte er: »Geh nach Barcelona, mein Freund, von dort nach St. Laurent am Golf von Lions. Dann Paris. Wirst du das behalten?« »Ja, Alain.« »Ich glaube, ich werde sofort gehen«, sagte Luis. »Telefoniere erst, wenn es dunkel ist«, sagte Alain. »Das läßt uns genug Zeit. Und ruf von einer öffentlichen Telefonzelle aus an.« Luis lächelte sein dünnes Lächeln, bei dem sich die Schnurrbartenden nur leicht hoben. »Kameraden, wir sehen uns alle in Paris wieder.« Er ging. »Jetzt du, Jean«, sagte Alain. Er streckte dem langen Kerl seine Hand hin. »Sei vorsichtig, gehe kein Risiko ein. Nimm die Route, die ich dir genannt habe.« »Ja, Alain.« Er schaute die anderen an, und seine Augen wurden feucht. »Bis Paris, meine Freunde.« Alain schloß die Tür hinter ihm und wandte sich an Henri. Er hatte sich gegen die Wand gedrückt und die Verabschiedungen gefilmt. Jetzt ließ er die Kamera sinken. »Ich habe meine eigene Strategie entwickelt, Alain. Verstehst du, ein Film muß ein dramatisches Ende haben, etwas Symbolhaftes. Ich werde euch beide Hand in Hand zeigen. Die Schlacht ist verloren, aber der Kampf geht weiter. Sehr wirkungsvoll, das kannst du mir glauben. Dann werde ich auf Gehrig schwenken, wie er gefesselt und hilflos daliegt, ein Symbol der Niederlage der Faschisten…« »Er ist kein Faschist«, sagte Cindy.
»Ganz egal. Es wird ein hervorragender Film. In Paris werde ich die Schnitte selbst vornehmen. Die Musik habe ich auch schon im Kopf. Ganz primitiver Rhythmus, nur Percussions, glaube ich. Es wird ein umwerfender Film, wenn ich ihn fertig geschnitten habe. Cinema verité, wie es noch nie da war. Mein Name wird in einem Atemzug mit den feinen Cineasten genannt.« »Es wird keinen Film geben«, sagte Alain. »Ich habe fast alles, was ich brauche«, fuhr Henri fort. »Vielleicht noch einige Special effects, aber sonst…« »Das Risiko ist zu groß«, sagte Alain. »Die moderne Technologie ist unser Feind, Henri. Die Polizei hat ihre Möglichkeiten, uns durch die Filmbilder zu identifizieren, selbst wenn unsere Gesichter nicht zu sehen sind. Stimmbilder, gewisse Eigenheiten, wie man steht und geht… Es ist zu gefährlich, wir müssen uns schützen.« »Alain«, sagte Henri fast bettelnd. »Es wird ein herausragender Beitrag zu unserer Bewegung sein. Ich habe doch schon so viel geopfert, meine Freunde in Paris, meine Arbeit. Du brauchst keine Angst zu haben…« »Du mußt den Film vernichten, Henri. Und die Kamera auch. Wenn man die Kamera bei dir findet, bist du schon verdächtig.« Henri wich zur Tür zurück, schüttelte immer wieder den Kopf. »Nein, nein. Ich kann nicht zulassen, daß du meine Arbeit ruinierst. Du hast keinen wirklichen Grund. Ich werde meinen Film…« Als Henri hinter sich nach dem Türknopf griff, stürzte sich Alain auf ihn. Henri sah ihn kommen und hob einen Arm zur Verteidigung. Aber er erreichte nicht viel damit. Alain stieß seine Faust durch die spärliche Deckung, und Henri schrie vor Schmerzen auf. Alain schlug immer wieder zu, bis Henri zu Boden sank, schluchzend, den Körper schützend über der Kamera. »Gib mir die Kamera!« Henri rührte sich nicht.
Alain trat zu, traf Henris Rippen. Jetzt lag er auf dem Rücken, hielt die Kamera immer noch umarmt, die Augen fest geschlossen, Blut lief aus einem Mundwinkel, unverständliche, schluchzend ausgestoßene Laute drangen über seine Lippen. »Gib mir die Kamera!« Henri versuchte, sich wegzuwälzen. Alain holte zu einem weiteren Tritt aus. »Hör auf!« schrie Cindy. »Du bringst ihn ja um!« Alain beugte sich über Henri und riß ihm die Kamera aus den Händen. Henri begann zu weinen, haltlos, schluchzend. Cindy half ihm auf die Beine und führte ihn ins Badezimmer, tupfte sein Gesicht mit kaltem Wasser ab. Als er sich wieder besser fühlte, kehrten sie in das große Zimmer zurück. »Mörder!« sagte Henri zu Alain. »In ein paar Minuten«, sagte Alain, »werden wir zusammen das Haus verlassen. Wir gehen zu deinem Zimmer, und du wirst mir alle Filme geben. Ich werde sie vernichten und dann die Kamera verschwinden lassen.« »Du hast kein Recht«, stöhnte Henri. »Und denk daran«, warnte Alain. »Wenn du uns verrätst, zu irgendeinem ein Wort dieser Operation sagst, werde ich dafür sorgen, daß du getötet wirst. Verstehst du, was ich sage, Henri?« Die Augen gesenkt, nickte Henri. »Ausgezeichnet«, sagte Alain. »Ich war mir deiner Vernunft sicher. Und jetzt gehen wir, diese Bude kotzt mich an.« Cindy ging voran.
VIERTES BUCH
Wind aus Westen, Wann wirst du wieder wehen? Wann bringst du wieder Regen mit? Wann liegt die Liebste wieder in meinen Armen? Wann in meinem Bette? (um 1530)
1
Cindy bereitete das Essen für Alain zu. Sie war keine erfahrene Köchin und auch sonst nicht sehr gut bei den Fertigkeiten, die man von einer Frau in einem eheähnlichen Verhältnis erwartete. Tränen quollen in ihren Augen auf; sie führte sie auf die Zwiebel zurück, die sie für den Salat zerhackte. Alain tauchte in der Tür auf, und sie wandte ihr verquollenes Gesicht ab und schickte ihn hinaus. Er lachte über sie, und sie stampfte mit dem Fuß auf und hackte wütend auf die Zwiebel ein. Ein heftiger Schmerz verriet ihr, daß sie sich in den Daumenballen geschnitten hatte. Alain trat auf sie zu, leise lachend, und begutachtete die Wunde. Blut rann den Daumen entlang. Alain beugte sich über den Daumen und saugte ihn in den Mund, dann richtete er sich wieder auf, die Lippen zu einem spöttischen Grinsen verzogen. Sie zog die Hand weg und sah, wie sich ein weiterer Blutstropfen bildete, wie er den Daumen hinunterrann, auf die Handfläche, wie immer mehr Blut aus der Wunde trat. Mit Entsetzen und fasziniert starrte sie auf das Blut, das sich in ihrer Handfläche sammelte. Sie blickte zu Alain, hielt ihm die Hand hin, damit er helfen sollte, aber er ging weg, und sein Rücken verschwand zu einem verschwommenen Schemen. Sie begann zu zittern… Sie wachte auf, verängstigt, bebend, frierend, die Haut feucht und klamm. Alain lehnte sich über sie, eine Hand auf ihrer Schulter. Er hatte sie wachgerüttelt. »Du hast bestimmt schlecht geträumt«, sagte er. Sie richtete sich auf, schaute sich um. Sie hatten die Nacht im Auto verbracht, das unter Bäumen im Norden von Cordoba parkte. Alain hatte sich auf den Vordersitzen ausgebreitet, Cindy
auf der Rückbank. Jetzt setzte er sich hinter das Steuer und ließ den Motor an. Der Cadillac schnurrte. »Wohin fahren wir?« fragte sie nervös, da ihr der Traum bewußt wurde. »Zuerst mal ein Frühstück, was?« sagte Alain fröhlich. »Und dann Marbella. Costa del Sol. Sonne, Meer und Urlaub. Wir haben uns das verdient. Wir suchen uns eine hübsche Pension und werden fett von Paella und Sopa de Pescado. So eine Fischsuppe hast du noch nie gegessen. Sie ist nicht so gut wie die Bouillabaisse in Marseille, aber sonst ist sie unvergleichlich.« Um sie herum sah sie ödes Land, grau-braun, und Cindy fühlte sich an Arizona oder New Mexico erinnert. Als ob er ihre Gedanken lesen könnte, erklärte Alain ihr, daß europäische Filmproduzenten in dieser Landschaft ihre Western drehten. »Immer wieder das klassische Thema«, sagte er. »Ein harter Mann, sehr tapfer, der Gerechtigkeit verschrieben, und ihm gegenüber ein paar primitive Typen. Viele Schießereien, Blut, Tod. Wir Europäer gehen weniger heuchlerisch mit eurer Vergangenheit um.« »Bitte«, sagte sie, »verschone mich mit deinen AntiAmerikanismen auf nüchternen Magen.« Er lachte laut auf. »Du vergißt, daß ich Revolutionär bin, und der Imperialismus der Vereinigten Staaten ist der Feind. Das manifestiert sich in allen Bereichen des Lebens.« Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Du hättest im Mai in Paris sein sollen. Phantastisch! Die Kameradschaft war großartig, wir hatten ein ungeheures Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich von selbst ergab, weil wir wußten, daß wir für die Zukunft auf die Straße gingen. Die flies schwärmten aus und benahmen sich wie die Schweine, besonders in der Universität. Erst danach gingen unsere Barrikaden hoch. Als wäre der Sturm auf die Bastille wieder lebendig geworden. Wie waren gut organisiert, hatten verschiedene Gruppen für verschiedene Aufgaben. Eine Frontgruppe, die provozieren sollte. Leute, die Molotow-Cocktails bereitstellten. Die meisten gingen auf die Straße und skandierten
›De Gaulle, adieu!‹ Dann begannen die Arbeiter mit ihren Streiks, und Frankreich hing für ein paar Tage am Abgrund. Ja, Le Grand Charles zeigte sich als hilfloser alter Mann. Die Regierung zitterte.« Er stieß einen Fluch aus. »Aber französische Arbeiter sind bestechlich, sie lassen sich von materialistischen Dingen bestechen, verführen, es geht ihnen nur um ihren Bauch und um ihr Portemonnaie. Wie die Schafe, die sie sind, kehrten sie in die Fabriken zurück, und bei den Wahlen gaben die Bourgeoisie und die Reaktionäre de Gaulle die Autorität wieder.« »Und die Revolution scheiterte.« »Nein! Das war erst der Anfang. Im Augenblick politisieren wir, wir versuchen verschiedene Strategien. Unsere Zeit wird kommen…« Die Straße machte eine scharfe Biegung, und plötzlich fuhren sie durch einen Olivenhain, eine Oase der Stille, die für Cindy viel zu früh endete. Spanien war ein Land dramatischer Kontraste, oft rauh, zeigte es sich im nächsten, unerwarteten Moment mit herrlichen Aussichten atemberaubender Schönheit. Cindy konnte nicht genug davon bekommen. In Cordoba tranken sie frisch gepreßten Orangensaft und starken schwarzen Kaffee und aßen Gebäck in einem Café in einer Nebenstraße. Alain blätterte eine Zeitung durch und suchte Neuigkeiten über ihre Aktivitäten in Madrid. »Hier steht es«, sagte er und faltete die Zeitung, überflog die Geschichte. »Ah, das wird dich freuen, meine humane Amerikanerin. Die Polizei hat den Deutschen gefunden, jetzt kann er seine Hure wieder besuchen.« Er lachte über seinen Scherz, aber als Cindy nicht reagierte, vertiefte er sich wieder in die Zeitung. »Wir sind vollkommen sicher«, strahlte er. »Es gibt keine Spuren, keine Beweise, nichts. Wir waren zu clever für sie. Die Polizei…« Er schnaufte verächtlich, lachte sein helles, lautes Lachen. Dieses nervöse Lachen, dachte sie, und sie fragte sich, warum sie es nie zuvor so charakterisiert hatte. Er blätterte um und las dann einen Artikel auf der Filmseite. »Ah, Antonioni drehte in deinem Land einen Film mit zwei
unbekannten Darstellern. Was für eine Chance, mit einem solchen Regisseur zu arbeiten. Dieses Glück müßte man haben. Ich hätte es beinahe gehabt. Auf einer Party in Paris, mit lauter hochgestochenen Leuten. Ein Freund hatte mich mitgenommen. Godard war auf der Party gewesen, aber er war schon weg, als ich eintraf. Auch der Italiener war da, de Sica. Und Zeffirelli. Ich habe sie alle verpaßt. Aber eines Tages bekomme auch ich meine Chance.« Sie hatte fast schon vergessen, daß er Schauspieler war, ein junger Schauspieler, der noch seinen Platz in dieser schwierigen Welt suchte. Vielleicht sollte er ein wenig von seiner revolutionären Energie in seine Karriere… »Burton und Taylor sind in Las Vegas«, las er vor. »Sie drehen dort einen Film. Ah, und da stehen die Nominierungen für den Oscar. Ein typisch imperialistisches Betrugsmanöver, das nur auf Profit angelegt ist.« Er schlug mit einer Faust auf die Zeitung. »Beatty und Swift drehen einen neuen Film. So gut wie Beatty war ich schon immer.« Arthur Beatty und Amy Swift, seit kurzen verheiratet, hatten sich bei einem gemeinsamen Film kennengelernt. Jetzt, als Mann und Frau, drehten sie nur noch zusammen. ›»Explosion‹ heißt ihr neuer Film«, sagte Alain. »Beatty ist eine Hure, er hat mit der Swift geschlafen, es gab einen Skandal, weil er gerade erst seit einem Jahr mit dieser Engländerin verheiratet war.« »Ich erinnere mich.« »Wegen dieses Skandals ist er für die Produzenten erst interessant geworden. Und nur, weil er mit der Swift geschlafen hat.« Cindy griff nach der Zeitung und las den Artikel. »Vielleicht solltest du das auch tun. Ich meine, statt mit mir mit einer Schauspielerin schlafen.« »Ich bin Künstler und Revolutionär«, erklärte er ernst. »Ich bin keine Hure.« »Bobby Partridge ist der Regisseur von ›Explosion‹«, sagte sie.
»Partridge! Als Regisseur hat er nicht mehr viel drauf. Obwohl er seine Technik noch nicht verlernt hat.« »Ich hielt ›Tod auf dem Berg‹ für einen wunderbaren Film«, sagte sie. »Nicht seine beste Arbeit. Der Kameraeinsatz in ›Der Höhepunkt‹ war einzigartig. Ich mag den Symbolismus. Er ist einer der wenigen empfindsamen Filmemacher Amerikas, das muß ich zugeben.« Als sie wieder im Cadillac saßen, fuhren sie eine Zeitlang schweigend. Zu beiden Seiten der staubigen Straße lagen sonnenverbrannte Felder, auf denen dürre sonnenverbrannte Männer hinter breiten Pflügen trotteten, die von dürren Pferden gezogen wurden, langsam, gemächlich, als ob sie alle Zeit dieser Erde hätten. Sie fuhren an einsam gelegenen Bauernhöfen vorbei, und einmal sahen sie eine Windmühle, die die Jahrhunderte bis zu den maurischen Eindringlingen überbrückte. »Ich denke über den Film nach, den Beatty und Swift drehen«, sagte Alain schließlich. »Hast du gelesen, daß der Film in Mallorca entsteht? Wenn ich eine Rolle in einem solchen Film bekommen könnte, bei einem Regisseur mit dem Ruf von Partridge, dann wäre das bestimmt der Durchbruch für mich.« Sie hätte ihn gern ermutigt, ihm Mut zugesprochen, aber es wollte nicht über ihre Lippen. Er sprach weiter, und sie spürte, daß er jedes Wort behutsam wählte. »Als Schauspieler mit einem gewissen Ruf übt man Einfluß auf andere Menschen aus. Man wird von der Presse wahrgenommen, man wird im Fernsehen interviewt. In dieser Position könnte man seine Ideen verbreiten, man könnte sie leichter der ganzen Welt vermitteln.« »Willst du nach Mallorca?« Er sah sie von der Seite an. Ihre haselnußbraunen Augen verrieten ihm nichts. »Überleg doch mal«, fuhr er fort. »Man muß die Waffen ergreifen, die sich einem bieten. Kanonen, wenn Kanonen gefragt sind. Sabotage, wenn sie sich anbietet. Propaganda. Ruhm kann auch eine wunderbare Waffe sein. Man kann auch
aus dem Establishment heraus aktiv sein, gegen das System arbeiten, ein Instrument für seinen Niedergang sein.« »Also gehen wir nach Mallorca?« Er hob die Schultern. »Die Sonne scheint in Mallorca so heiß wie in Marbella. Ja, machen wir unseren Urlaub auf Mallorca. Wir fahren nach Valencia und verkaufen dort den Cadillac. Wir erzielen bestimmt einen guten Preis, und dieses Geld stecken wir in das Projekt. Von Valencia aus fahren wir mit dem Schiff nach Mallorca. Ich werde Bobby Partridge ausfindig machen und ihn davon überzeugen, mich in seinem Film mitspielen zu lassen. Und du wirst wunderschöne Ferien auf Mallorca machen können.«
2
Zweimal pro Woche ging die Fähre der Compania Trasmediterranea von Valencia nach Palma de Mallorca. Bis zur nächsten Fähre würde es noch zwei Tag dauern. Sie nutzten diese Zeit, um den Cadillac zu verkaufen. Alain suchte den höchsten Bieter. Am Morgen des zweiten Tages verkaufte er, dann gingen sie am Strand von Pinedo y Soler schwimmen. Und später, im Hotel, machten sie Liebe. Als Cindy wach wurde, war es dunkel, und sie hielt sich im Bett ganz still, sie wollte Alain nicht aufwecken. Sie fühlte sich schwach. Es war, als ob sie eine Verpflichtung eingelöst hätte, als sie Alain gestattete, mit ihr Liebe zu machen. Ja, es war gut gewesen, sie hatte Lust empfunden, er hatte sie befriedigt, und trotzdem… Nichts war einfach, rief sie sich in Erinnerung. Sie schlüpfte aus dem Bett und duschte unter den spärlichen Tropfen, dann weckte sie Alain und packte. In einem kleinen Restaurant aßen sie ein billiges Mahl, es kostete nur ein paar Pesetas, was Alain freute. »Wir müssen mit dem Geld vom Cadillac haushalten«, sagte er, als sie an Bord gingen. »Das Geld ist unsere Investition in die Zukunft.« Eingelullt vom sanften Schaukeln des Bootes und vom steten Pochen der Maschinen, schlief sie bald ein. Unter einer weißen Sonne am porzellanblauen Himmel erstreckte sich Palma de Mallorca wie ein Bogen um die Bucht. Weiße viereckige Gebäude durchbrachen die grünen Hügel hinter der Stadt, und oben auf einem der Hügel stand eine maurische Burg. Am Ende des Hafens sahen sie eine großartige gotische Kathedrale. Fischerboote mit aufgeblähten Segeln glitten durch das Wasser. Es schien ein Tag wie aus dem Bilderbuch zu sein.
Sie hielt sich an Alains Arm fest. »Es ist so wunderschön, schau doch nur!« rief sie. »Auch für uns wird es von nun an so schön werden, Alain«, fügte sie hinzu und schaute ihm ins Gesicht. Er legte einen Arm um ihre Schultern. »Wunderschön«, sagte auch er. »Vergangene Nacht, als du geschlafen hast, bin ich an Deck gegangen und habe die Luger ins Meer geworfen. Auf Mallorca droht uns keine Gefahr, dort brauche ich keine Waffe.« »Ich bin ja so froh, Alain.« Sie schmiegte ihre Wange an seine Brust, und ein Gefühl tiefer Zuneigung durchlief sie. Sie hatte an ihren Empfindungen für Alain zu zweifeln begonnen, auch an seinen für sie. Madrid hatte diese Unsicherheit noch vertieft. Aber all das war jetzt völlig anders. Die vertrauten Gefühle waren wieder da, dieses Kribbeln, das sie zuerst empfunden hatte, als sie sich gerade kennengelernt hatten und über die Boulevards von Paris geschlendert waren. »Ich liebe dich«, sagte sie leise, und dann wiederholte sie: »Je t’aime.« Er zog sie enger an sich und hielt sie fest umschlungen, und so verharrten sie schweigend, bis das Boot angedockt hatte und sie die Insel betraten. Sie mieteten sich in La Gloria ein, einem neuen Hotel mit herrlicher Sicht auf den Hafen. Sobald sie allein im Zimmer waren, erklärte Alain, daß er ausgehen wollte. »Ich will keine Zeit verlieren und gleich herausfinden, wo sich das Filmteam aufhält. Ich muß zu Bobby Partridge.« »Ich komme mit dir.« Er zögerte. »Besser nicht. Es geht um einen Job für mich, cherie, deshalb sollte ich das allein tun.« Nachdem er gegangen war, packte Cindy die Sachen aus und richtete sich ein. Die Apartments waren recht komfortabel, aber auch entsprechend teuer. Wenn sie lange hier blieben, würde das Geld vom Verkauf des Cadillac bald aufgebraucht sein. Aber sobald sie sich auf Mallorca besser auskannten, würden sie sich ein preiswerteres Quartier suchen, nahm sich Cindy vor.
Als Alain am Nachmittag noch nicht zurückgekehrt war, verließ Cindy das Hotel. Sie suchte sich ihren Weg durch die verschlungenen Gassen, vorbei an offenen Verkaufsständen, in denen meist Handtaschen und Sandalen feilgeboten wurden, und natürlich alle möglichen Gemüse- und Obstsorten an anderen Ständen, Apfelsinen und dicke reife Datteln. An einem Stand kaufte sie sich einen weichen Strohhut, um gegen die brennende Sonne geschützt zu sein. Sie genoß ihren Spaziergang unter all den Fremden, sie genoß den Wirrwarr der verschiedenen Sprachen, das gutturale Deutsch und das klangvolle Französisch, die kultivierte Aussprache der Londoner, das lebhafte Italienisch, alle gewürzt mit dem überall präsenten Mallorquin, einer Sprache, die dem Katalanischen eher verwandt war als dem Spanischen. Sie nahm sich vor, den Dialekt zu lernen, um sich besser mit den Einheimischen unterhalten zu können. Sie bog um die nächste Ecke und sah die gewaltige gotische Kathedrale vor sich, die sie am Morgen schon von Deck aus erblickt hatte. Sie ging hinein. Das Mittelschiff lag im Schatten, dort war es ruhig, während in einem Seitenschiff eine Touristengruppe um einen Führer geschart war. Sein Vortrag wurde immer wieder vom Klicken der Kameras unterbrochen. Cindy mied den geräuschvollen Gang und wählte einen anderen, in dem es andachtsvoll still war. Sie blieb vor blassen Statuen stehen, bewunderte einen mit Blattgold verzierten Nebenaltar, ließ die alten Gemälde mit Heiligenmotiven auf sich wirken. In einer kleinen Kapelle kniete eine einheimische, schwarz gekleidete Frau vor einer niedergebrannten Kerze und einer Reliquie der Heiligen Jungfrau, bewegte den Rosenkranz in den Fingern und die Lippen im Gebet. Ihr Gesicht war nußbraun, eine Landschaft aus Runzeln und Falten. Ihre nackten Füße waren breit und kräftig, wahrscheinlich waren sie nie in Leder gezwängt gewesen. Plötzlich schaute sie auf und starrte Cindy mit
fast durchsichtigen Augen an, aus denen gleichzeitig Zorn, Verständnis und Leidenschaft sprachen. Verlegen wich Cindy zurück. Sie fühlte sich schuldig. Sie blieb erst wieder stehen, als sie gegen das Grabmal zweier mallorquinischer Könige und eines Antipapstes, Clemens VII. stieß. Er wurde im rosigen Licht gebadet, das durch ein Fenster hereinflutete. Ihre Gedanken kehrten zu der einheimischen Frau zurück. Diese unglaublichen Augen! Sie schienen in Cindys Innerstes zu brennen, als ob sie die geheimsten Ecken ihres Wesens ausleuchten könnten, als ob diese einfache Bauernfrau alles verstand, was es an Cindy zu verstehen gab, ihr Gutes und ihr Schlechtes, als ob sie sehen könnte, wer Cindy war und was aus ihr werden würde. Cindy schüttelte sich und verließ rasch die Kathedrale, sie verdrängte den Zwischenfall aus ihren Gedanken und redete sich ein, daß es nur eine flüchtige Begegnung mit einer Unbekannten gewesen war. Ohne Bedeutung. Nicht wert, länger darüber nachzudenken. Die Tage, die folgten, verliefen ähnlich. Alain versuchte, Kontakt mit Bobby Partridge herzustellen, und Cindy war sich selbst überlassen. Abends speisten sie in den teuersten Lokalen von Palma, obwohl Cindy des Geldvorrats wegen besorgt war. »Das mußt du verstehen«, sagte er ihr. »Bobby Partridge, Arthur Beatty und die Swift futtern nicht in diesen billigen Touristenkaschemmen. Eines Abends werden wir sie treffen. Ich werde mich ihnen vorstellen und…« Es war ein Traum, sagte sie sich verbittert, und er war darin gefangen, glaubte jeden Tag mehr daran. Es war ein Teenagertraum – ein Alptraum –, daß Mädchen und Jungs auf der Straße entdeckt wurden. Sie wollte es ihm ins Gesicht schreien, ihn aus diesem Traum wachrütteln, ihn in die Wirklichkeit zurückholen. Sie sagte nichts. An einem späten Nachmittag kam Alain vor Wut schäumend ins Hotel zurück. »Huren!« brüllte er. »Alle Leute in Hollywood
sind Huren! Man muß ihnen die Füße küssen, sie lassen sich jeden Gefallen bezahlen!« Sie war auf dem Bett eingedöst, richtete sich jetzt auf und versuchte, ihre benebelten Gedanken zu ordnen. »Was war los, Alain?« Er hatte einen Amerikaner getroffen, der sich als stellvertretender Regisseur von Bobby Partridge ausgegeben hatte. Überzeugt, daß er endlich am Ziel seiner Wünsche war, hatte Alain den Amerikaner den ganzen Nachmittag freigehalten. Aber als Alain Interesse bekundet hatte, Partridge kennenzulernen, hatte der Amerikaner ihn ausgelacht. »Er sagte, es wäre keine Rolle mehr frei für mich«, sagte Alain dumpf. »Vielleicht stimmt das.« »Ah! Stehst du vielleicht auf seiner Seite?« »Ich stehe auf keiner Seite, aber vielleicht sind alle Rollen schon besetzt.« »Das glaube ich nicht.« »Aber warum würde er es sonst sagen?« »Aus Gehässigkeit. Das haben solche Leute an sich. Sie sind voller Haß und weigern sich, anderen Menschen zu helfen.« »Was willst du nun tun?« Sie spürte eine zunehmende Hilflosigkeit. Mallorca sollte ein wunderschöner Urlaub werden, eine Zeit, in der sie sich neu finden könnten. Aber bisher war es nur eine Zeit der Anspannung und Enttäuschung. Es war sicher ein Fehler gewesen, auf die Insel zu fahren. Alain trat auf den schmalen Balkon, der auf die Bucht hinaus schaute. »Wir reisen ab«, rief er über die Schulter. Es war, als könnte er Gedanken lesen. Er stimmte ihr zu, entschied dann für sie beide. Ein Glücksgefühl stieg in ihr auf, und sie ging zu ihm und umfaßte ihn mit beiden Armen. »O ja, Alain. Laß uns nach Marbella gehen oder vielleicht in ein kleines Fischerdorf an der Riviera, wo es still und friedlich ist und wir…« Er löste sich von ihr, ging zurück ins Apartment. »Wovon quatschst du? Ich habe nicht vor, Mallorca zu verlassen. Meine
Strategie war falsch, ich muß es anders anfangen. Morgen suchen wir uns eine angemessene Wohnung.« »Ich finde bestimmt was Preiswertes, Darling«, sagte sie, weil sie ihm gefallen wollte. »Hübsch und billig.« Er starrte sie an, und die tiefliegenden dunklen Augen funkelten. »Ich weiß nicht, wovon du redest. Glaubst du, ich will mich im Armenviertel begraben lassen? Du mußt mich wohl für einen Narren halten! Wir mieten uns eine Villa, ein elegantes Haus, in dem wir Gäste empfangen können, damit ich Bobby Partridge einladen und beeindrucken kann.« Du kennst ihn doch gar nicht! wollte sie schreien, aber sie sagte kein Wort. Sie nickte nur, die Lippen aufeinander gepreßt, und wandte sich ab. Drei Tage später entdeckte sie eine Villa etwa drei Meilen außerhalb von Palma. Gerade mal zwanzig Schritte vom Strand entfernt, mit großer Terrasse und einem offenen Kamin im riesigen Wohnzimmer. Vor dem Haus wuchs ein Garten um einen leeren Fischteich herum. Der Makler versprach, er werde den Besitzer Veranlassen, den Fischteich zu überdecken. »Wieviel!« fragte Cindy direkt. »Einhundertfünfzig Dollar im Monat«, antwortete der Makler. »Drei Monatsmieten im voraus.« Er lächelte geübt. Inzwischen hatte Cindy eine Vorstellung von den Mietpreisen entwickelt. Sie starrte den Mann an und sagte: »Ich gebe Ihnen die Hälfte.« Das Lächeln blieb. »Kommen Sie, Senorita«, sagte er und streckte beide Arme aus, »ich fahre Sie zurück nach Palma.« Sie trat auf die Terrasse. »Wie Sie wollen.« »Aber Senorita«, rief er entsetzt hinterher. »Sie dürfen nicht so leicht aufgeben.« Er ließ die Arme sinken. »Die Hälfte reicht natürlich niemals. Ich nehme ein großes Risiko auf mich und ermäßige den Preis um fünfundzwanzig Dollar.« Sie drehte sich um, sah ihn an. »Ich nehme auch ein großes Risiko auf mich und erhöhe mein Angebot um denselben Betrag.
Fünfundzwanzig Dollar. Und ich bin bereit, eine Monatsmiete im voraus zu bezahlen.« »Senorita«, flehte er. »Wir gehen lieber. Es gibt noch eine Reihe anderer Villen, die ich mir ansehen muß.« »Ah«, sagte er seufzend. »Es ist viel besser, mit dem Ehemann Geschäfte zu machen, Männer haben mehr Vernunft, verstehen mehr von finanziellen Zwängen.« »Also sind wir uns einig?« »Ja, gut, Senorita.« Obwohl sie sich über ihre Qualitäten beim Feilschen freute, sorgte sie sich doch über die Tatsache, daß sie die Pesetas mit vollen Händen ausgab. Aber Alain war begeistert; ein Blick überzeugte ihn davon, daß Cindys Wahl ideal war. Achtundvierzig Stunden später zogen sie ein. Am nächsten Morgen teilte Alain ihr mit, daß sie etwas Fahrbares brauchten, da sie nun so weit von der Stadt entfernt wohnten. Er hatte darüber nachgedacht und sich zu einer Vespa entschlossen, ein Motorroller war die billigste Lösung, und außerdem würde es Spaß machen, die Insel auf einer Vespa zu erkunden. Eine Stunde später war er aus dem Haus; er wollte mit dem Bus fahren, der unregelmäßig zwischen den Dörfern und der Hauptstadt verkehrte. Allein in der Villa, überlegte Cindy, wie sie das Haus wohnlicher gestalten könnte. Sie brauchten Holz für den offenen Kamin, sie mußte sich Vorräte zulegen, damit sie nicht jeden Tag einzukaufen brauchte. Dann fehlten Bettücher, Handtücher und andere lebensnotwendige Dinge. Schließlich stellte sie fest, daß es kein Gas gab, um heißes Wasser zu bereiten. Und bei ihrem Rundgang sah sie auch, daß es fast in jedem Zimmer dreckig war. Sie stand mitten in der geräumigen Küche und dachte nach, womit sie beginnen konnte. Plötzlich nahm sie eine Bewegung wahr, gleich unter dem Herd. Sie sah genau hin und entdeckte
eine fette schwarze Küchenschabe, die in einer Fliesenritze verschwand. Einen langen Augenblick blieb sie wie gelähmt stehen, dann rannte sie schreiend hinaus, floh in den Garten, bis ihre Knie nachgaben und sie zu Boden sackte. Ihr Körper wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt. Wie lange sie dort zusammengekauert liegenblieb, wußte sie später nicht zu sagen. Sie zwang sich, zurück in die Küche zu gehen, blieb lange an der Tür stehen und beobachtete jeden Quadratzentimeter des Bodens, bevor sie ans Becken trat und kaltes Wasser laufenließ. Es kam zögernd in einem rostbraunen Tröpfeln. Sie wartete, bis das Wasser klarer geworden war und klatschte es sich ins Gesicht. Da es kein Handtuch gab, benutzte sie Toilettenpapier. Mit den Fingern fuhr sie sich durch die Haare, dann ging sie hinaus zur Straße und wartete auf den Bus.
3
Plaza Mayor, ein einheimischer Markt. Fleisch war teuer, zu teuer, und außerdem lungerten zu viele Fliegen darauf herum. Cindy überlegte, ob sie Fisch kaufen sollte, aber sie kannte sich mit den einheimischen Arten nicht aus, deshalb beließ sie es bei Käse, Obst und Gemüse sowie einer Flasche Rotwein. Sie fühlte sich erschöpft, einsam und verlassen. Sie hätte gern gewußt, wo sich Alain herumtrieb. Vielleicht würde sie ihn in einer der Bars oder einem der Cafés finden, von denen er ihr erzählt hatte. Sie begann mit der Suche, brach sie aber bald ab und setzte sich draußen vor ein Café, trank starken türkischen Kaffee und genoß den Blick über die Bucht. An einem Tisch hinter sich hörte sie amerikanische Touristen lachen und scherzen. Am liebsten hätte sie sich zu ihnen gesetzt, plötzlich von Heimweh erfüllt. Sie sehnte sich danach, wieder Englisch reden zu können, über gemeinsame Bekannte und vertraute Orte zu sprechen. Sie verließ das Café und hielt nach einem Laden Ausschau, der amerikanische Zeitungen oder Zeitschriften verkaufte, vielleicht die Time oder auch Readers Digest. Irgend etwas gekanntes, Vertrautes. Sie suchte in fünf verschiedenen Läden, aber sie fand nichts. Ein Verkäufer hielt sie für eine Engländerin und wollte ihr den Economist reichen, und ein anderer glaubte, daß sie pornografisches Material suchte. Sie trat wieder auf die Straße. Sie hielt den Kopf in einem eigenwilligen Winkel gegen die grelle Sonne und sah auf der anderen Straßenseite einen Laden, der Taschenbücher und Magazine ausstellte. Spontan überquerte sie die Straße und ging hinein. Sie mußte erst einmal stehenbleiben, weil sie nach der blendenden Sonne kaum etwas erkennen konnte, und dann hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Sie drehte
sich langsam um und sah, wie ein großer, hagerer Mann auf sie zukam, die Arme ausgebreitet. »Cindy!« Sie erkannte ihn an der Stimme, denn ihre Augen hatten sich immer noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. »Cindy!« Sie blinzelte ein paarmal, und dann öffnete und schloß sie den Mund. Ihre Knie begannen zu zittern, und sie stammelte: »Oh, Rafe, Rafe, Rafe…« Ein einziger Schritt vorwärts, und sie war in Sicherheit, sie sagte immer wieder seinen Namen und weinte unaufhaltsam in seinen Armen. Sie saßen nebeneinander an einem weißen Metalltisch unter einem rot gestreiften Sonnenschirm und nippten an Krabben in delikater Kräutersauce und tranken einen exquisiten Sherry dazu, während sie abwechselnd redeten, sich anschauten und Händchen hielten. »Du siehst einfach entsetzlich aus«, sagte er. »Diese Haare! Schrecklich!« Sie lachte fröhlich. »Ich werde mir eine andere Frisur zulegen. Und welche Farbe möchtest du an mir sehen!« »Alles, nur nicht dieses tödliche Schwarz.« »Ich mußte mir die Haare färben.« »Als Teil der Verkleidung?« Das längliche Gesicht kam ihr irgendwie anders vor, der Mund war entspannter, die Augen blickten steter, das Lächeln wirkte echter, glücklicher. »Mußtest du dich vor der Polizei verstecken?« Sie mied seinen Blick. In der Ferne sah sie ein Trio von Nonnen. In ihren langen schwarzen Gewändern erinnerten sie Cindy an drei Königinnen beim Schach in dichter Formation. Die Nonnen gingen vorbei, und sie schaute Rafe an. »Ich kann dir nicht sagen, was ich getan habe«, sagte sie bedauernd. »Vielleicht eines Tages, aber nicht jetzt.« »Befindest du dich in Schwierigkeiten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber es gibt andere Leute, die ich in Schwierigkeiten bringen könnte, wenn ich jetzt den Mund aufmache.« Er trank seinen Sherry aus. »Ach, was soll’s! Hauptsache, es geht dir gut. Geht es dir gut?« »Ich glaube ja.« Er lehnte sich zurück und betrachtete sie lange. »Ich glaube, du brauchst Urlaub. Dein Gesicht wirkt verkrampft, und du kaust an deinen Nägeln.« Sie versteckte die Hände instinktiv unter dem Tisch. »Dir fällt aber auch alles auf.« »In meinem Beruf lernt man beobachten. Fotografen sehen alles.« »Mit mir ist alles in Ordnung, Rafe.« Er kaute auf einer Krabbe. »Und Alain? Bist du noch bei ihm?« »Ja.« »Warum verläßt du ihn nicht?« »Wie meinst du das?« Sie bemühte sich, überrascht, verwundert zu klingen. Der Versuch scheiterte. »Ich will Alain nicht verlassen.« »Du bist eine unglaublich schlechte Lügnerin, meine Liebe«, sagte er freundlich. »Was mache ich falsch, Rafe?« fragte sie, die Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Warum geht es mit mir bei keinem Mann gut? Es wird immer ein schlechter Trip. Warum?« »Verlasse ihn, wenn es so ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich fühle… ich glaube, ich liebe ihn.« »Du weißt es nicht?« »Das ist verrückt, was? Ich meine, daß man nicht sicher ist. Ich bin verwirrt. Manchmal ist es gut zwischen Alain und mir, aber manchmal ist es auch… nicht so gut«, endete sie lahm. »Wie jetzt zum Beispiel?«
»Wir sind nach Mallorca gekommen, weil Alain eine Rolle in einem Film haben will. Hier wird irgendein Film gedreht. Arthur Beatty und die Swift spielen die Hauptrollen.« ›»Explosion‹«, fügte Rafe hinzu. Die schwarzen Augen sahen sie durchdringend an. »Was ließ Alain glauben, daß er in diesem Film eine Rolle ergattern könnte? Kennt er den Produzenten oder Bobby Partridge?« Sie schüttelte den Kopf. »Er dachte, er könnte Partridge kennenlernen und ihn davon überzeugen…« »O Himmel, bewahre uns vor der Naivität der Schauspieler!« rief er. »Bobby Partridge würde seiner Mutter keine Stelle anbieten, es sei denn, er hätte einen Vorteil davon.« Sie wollte Alain in Schutz nehmen. »Vielleicht irrst du dich«, sagte sie. »Alain ist nämlich ein guter Schauspieler, und er sieht sehr gut aus. Talent setzt sich irgendwann durch, weißt du. Gerade jetzt ist Alain unterwegs, um Bobby Partridge zu suchen, er möchte bei ihm vorsprechen und…« »Reg dich ab«, sagte Rafe lächelnd. »Vielleicht schafft er es ja doch noch.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Alain hat einen Mann von der Produktion getroffen, und von ihm weiß er, daß alle Rollen besetzt sind.« »Das stimmt nicht. Bobby besetzt viele Nebenrollen mit Einheimischen. Das ist seine Art, es gibt ihm einen besonderen Kick, nehme ich an. Er liebt es, aus Laien eine starke Darstellung herauszuholen.« Sie legte die Stirn in Falten. »Woher weißt du das alles?« »Nun ja, man könnte sagen, daß ich zur Produktion gehöre.« Sie wollte etwas sagen, aber er hob eine Hand. »Ich werde es erklären. Während meiner Zeit in Paris schickte ich einige Fotos an meinen Agenten, und der schickte sie an mehrere Magazine. Life hat ein paar gekauft, andere gingen an die Nachrichtenagenturen. Vor zehn Tagen hat Life mir einen Auftrag erteilt. Ich sollte nach Mallorca und eine Geschichte über die Produktion schreiben, von Anfang bis Ende, und natürlich soll ich die
Produktion mit meinen Bildern begleiten. Beatty, Partridge, Swift und Brightlight, das ist vielleicht ein Quartett, sage ich dir.« »Brightlight?« »Er war mal Footballspieler. Eine schwarze Katze, wuchtig, schnell. Will seine Karriere im Film fortsetzen. Und so wirbelt Rafe Giacomin zwischen all den berühmten und schönen Menschen herum, bis Partridge entschieden hat, daß er bereit ist, mit dem Drehen zu beginnen. Weiß der liebe Gott, wann das sein wird.« Cindy hielt sich die Hand vor den Mund und sagte »Rafe!« voller Hoffnung und Verwunderung. Er verzog sein Gesicht. »O verdammt! Ja, gut, ich werde sehen, ob ich etwas für ihn tun kann. Aber ich wünschte, es wäre irgendein anderer Typ.« Sie griff mit beiden Händen seine Hand und drückte sie an ihre Wange. »Rafe, du mußt Geduld haben mit Alain. Manchmal reißt es ihn einfach fort.« »Du meinst wohl, er dreht durch. Mir ist das egal, ich muß nicht mit ihm leben. Aber ich will nicht zuviel versprechen – Partridge ist ein sehr eigener Charakter, sehr kompliziert, und ich kann unmöglich voraussehen, wie er reagieren wird. Ich will es versuchen. Heute abend. Alain soll im New York Café sein. Spät. Kann sein, daß Partridge kommt, kann aber auch sein, daß er nicht kommt. Er trinkt keinen Tropfen, Alkohol lullt die grauen Zellen ein, sagt er, aber Spaß hat er trotzdem.« »O Rafe, ich liebe dich so!« »Natürlich. Aber, um Gottes willen, tu was mit deinen Haaren…« Die Straße war kaum mehr als eine Gasse, die sich von der Bucht wegschlängelte, an niedrigen weißen und pinkfarbenen Häusern vorbei, die alle kunstvoll geschnitzte Holztüren hatten und Blumenkästen auf den Fensterbänken. Das New York Café befand sich im Erdgeschoß eines dieser Häuser, und ein Fremder hätte leicht vorbeigehen können. Kein Schild kündete davon, nur
eine winzige Holztafel, auf der in blauer Schrift der Name des Lokals geschrieben stand. Die kurze Theke aus poliertem dunklen Holz wurde von zwei attraktiven jungen Frauen bedient. Von dort ging es ein paar Stufen hinunter, der Raum dehnte sich aus, nahm die ganze Breite des Hauses ein. Als Cindy und Alain eintrafen, waren die meisten der dicken Holztische schon besetzt. Auf den Stufen blieb Cindy stehen und hielt nach Rafe Ausschau. Die Kellnerinnen in Hosen und Blusen schnurrten an ihnen vorbei, trugen Tabletts zu den Tischen, ignorierten die beiden. »Das New York Café«, sagte Alain. »Der Name paßt, denn von Service halten die Leute hier nichts.« Cindy erwiderte nichts. Alain war schon auf der Fahrt gereizt gewesen, er sagte, er wollte keine Hilfe von Rafe Giacomin, diesem Mann ohne Ideale, denn schließlich war Rafe der Mann gewesen, der sich geweigert hatte, mit ihnen nach Madrid zu gehen. Er hatte gemurrt und gestritten, aber dann hatte er zugestimmt, mit ins New York Café zu kommen. An einem Tisch erhob sich eine vertraute lange Gestalt, sie winkte mit beiden Armen. Rafe! Sie zwängten sich an den anderen Tischen vorbei. Rafe stellte sie den vier Gästen an seinem Tisch vor, und nachdem sich Cindy und Alain gesetzt hatten, wurde die Unterhaltung dort fortgesetzt, wo sie aufgehört hatte. Cindy saß zwischen zwei Männern und freute sich, weil Alain sich von seiner besten Seite zeigte, er war höflich und witzig und charmant. Es war inzwischen eine Stunde nach Mitternacht, und Cindy war sicher, daß Bobby Partridge an diesem Abend nicht mehr auftauchen würde. Rafe widersprach. »Bei diesem Mann kann man nie wissen. Er hält sich an seinen eigenen Ablaufplan, und die Zeit hat dabei keine Bedeutung. Trinken wir noch einen.« Er winkte einer Kellnerin. »Ein sehr hübsches Mädchen«, sagte Cindy, als die Kellnerin die Runde gebracht hatte.
»Das ist Annie«, erklärte Rafe. »Eines dieser mit Weizen gefütterten Kinder aus Nebraska. Sie malt, aber sie verkauft nichts.« Er beugte sich zu Cindy und raunte ihr zu: »Sie ist sehr gut.« Dann fügte er hinzu: »Man erzählt sich, daß alle Kellnerinnen in diesem Laden lesbisch sind. Sie hätten sich das Geld für das Café in einem Bordell in Saudi-Arabien oder im Jemen verdient.« Cindys Blicke tasteten die Gesichter und Körper der Kellnerinnen ab und suchte nach irgendeinem Fingerzeig, der ihr verriet, ob die Geschichte stimmte oder nicht. »Hältst du das für möglich?« fragte sie Rafe schließlich. Irgendwie fühlte sie sich den Mädchen verwandt, obwohl ihre Erlebnisse auf diesem Gebiet längst vorbei waren. Er hob die Schultern. »Das ist mir egal. Es zählt allein, daß die Geschichte gut ist, deshalb habe ich sie erzählt. Inzwischen sind die Mädchen natürlich zahm geworden, zwei von ihnen sind verheiratet und haben Kinder.« Ein paar Minuten später schälte sich aus der Dunstwolke aus Zigarettenqualm, Schweiß, Bier- und Whiskydunst der lange erwartete Bobby Partridge. Er blieb auf der Treppe stehen, ein Koloß von einem Mann mit gewaltigem Brustkorb und einem noch größeren Bauch. Über den Fleischwülsten spannten sich ein verwaschenes Armeehemd und eine Kordhose. Graues Haar stand ihm vom Kopf ab, und sein kurzer, drahtiger Bart war von grauen Stellen durchsetzt. Die kleinen Augen lagen tief in den Hauttaschen. Er stand da, breitbeinig mit seinen Cowboystiefeln, die breiten runden Schultern leicht nach vorn geneigt, und drehte den Kopf nach allen Seiten, nahm auf, was er sah, oder löschte es sofort wieder, als ob er die Szene festhalten wollte für eine Filmsequenz. Eine auffallend schöne Frau mit vollem blonden Haar, das ihr bis zu den Hüften reichte, sprach den Regisseur an. Er knurrte eine Antwort, und sie wurde blaß und zog sich rasch zurück. Ein untersetzter Mann in einem maßgeschneiderten Anzug näherte sich Partridge; der Regisseur hob abwehrend in einer knappen Geste seine Hand, und verschüchtert zog sich der Mann an
seinen Tisch zurück. Viele winkten ihm zu und riefen seinen Namen, aber Partridge gab nicht zu erkennen, daß er überhaupt Notiz davon nahm. »Er ist ein sehr einschüchternder Mensch«, sagte Cindy verunsichert. »Er jagt jedem einen Schrecken ein«, stimmte Rafe zu. »Er würde einen hervorragenden König Lear abgeben oder Macbeth.« »Mir jagt er keinen Schrecken ein«, sagte Alain. Rafe warf ihm einen Blick zu. »Laß Partridge reden. Er bestimmt, wo’s langgeht.« »Bitte Alain«, sagte Cindy. »Hör auf Rafe…« Bevor Alain etwas erwidern konnte, durchquerte Partridge das Zimmer. Der Mann, der hoch in den Fünfzigern war, bewegte seinen schweren Körper mit einer unerwarteten Anmut, und mit jedem Schritt verkündete er seine Macht und seinen Einfluß. Hinter dem Regisseur folgten zwei Männer, deutlich jünger als er, tadellos gekleidet und frisiert, glatte Typen, sicher im Strahl von Partridges Licht. Das runde Gesicht ging auseinander, als er zu grinsen begann und seine Arme ausbreitete, als wollte er die Welt umarmen. Eine volle, laute Stimme explodierte. »Giacomin! Du, mein Junge! Ich habe dich seit zwei Tagen nicht gesehen! Wo hast du gesteckt, Junge? Ich quäle mich in der Hitze herum auf der Suche nach geeigneten Drehorten, und du treibst dich in kühlen cantinas herum. Nun, Junge, spielst einem armen alten Mann, der dich bei sich aufgenommen hat, übel mit.« Sein Gelächter attackierte Cindys Trommelfelle, tief, maskulin, nicht unsympathisch. »Nun, Junge«, fuhr Partridge fort und begann sich zu setzen, wo kein Stuhl stand. Einer der Männer hinter ihm bewegte sich rasch, und der Stuhl stand rechtzeitig da für den Hintern des Regisseurs. »Nun, Junge, ich sag’ dir eins, die spanische Sonne macht dich fertig. Du schwitzt deinen ganzen Saft aus den Rippen.« Rafe schaute ihn spöttisch an. »Warum finden wir die passenden Drehorte nicht woanders?« »Was?« bellte Partridge. »Aus Spanien weggehen?«
»Warum nicht?« meinte Rafe. »Ah«, sagte Partridge, »wenn ich das nur könnte!« Der haarige Kopf nickte auf und ab, die winzigen Augen blickten nach hier und nach da und blieben dann auf Cindy haften. Er hob eine fleischige Hand, streckte einen Finger. »Sie, Missy, du bist ein saftiges kleines Stück, ehrlich. Gehört das zu dir, Giacomin?« Jetzt klang das Lachen noch lauter, noch fröhlicher. Die schwere Hand klatschte auf den Tisch, und die Gläser hüpften. Cindy hatte Angst vor Alains Reaktion und sah ihn verstohlen von der Seite an. Aber Alain schien sich im Griff zu haben. »Monsieur«, sagte er, »die Lady gehört zu mir.« Partridge nahm zum ersten Mal von Alain Notiz. »Ein Franzmann«, murmelte er. »Und ein hübscher noch dazu. Du überraschst mich, Missy«, sagte er zu Cindy, »so ein süßes junges Ding wie du, und dann nimmst du dir einen solchen Feger.« Unmut stieg in Cindy auf, er richtete sich gegen Alain, der sich Partridges grobe Reden nicht verbat. Sie rief sich in Erinnerung, daß sie wegen Partridge hier waren und daß Alain sich dem Regisseur von der besten Seite zeigen wollte. Und das bedeutete wohl auch, Partridges rüde Anspielungen hinzunehmen. Sie hob ihr Kinn und lächelte. »Alain ist genau die Art Feger, die ich schätze«, sagte sie. »Ha! Amerikanerin. Und keine gewöhnliche Touristin, keine verquere Jungfrau, der man einen Anstandswauwau mitgegeben und eine Zeituhr vor die Muschi gehängt hat. Ich schätze, du bist ‘ne Lebhafte, was? Was meinst du, Giacomin?« »Manchmal, Bobby«, sagte Rafe milde, »bist du unausstehlich.« Das rote Gesicht glühte. »Ich mag dich, Junge«, sagte Partridge, und sein Brustkorb hob und senkte sich. »Ich habe dich gern beim Team, obwohl du mich gelegentlich nervst, wenn du diese zu nichts taugenden Bilder knipst. Aber wenn du mir in die Quere kommst, zerquetsche ich dich.« »Vergiß es«, sagte Rafe, ohne zu lächeln. Partridge musterte ihn, und als hätte er ein neues Element in Rafe entdeckt, das seine Zustimmung fand, nickte er einmal
heftig. »Junge, ich könnte dich fertigmachen. Beruflich und körperlich. Aber du gehst nicht leicht in die Knie, und das gefällt mir.« Er wandte sich wieder an Cindy. »Ah, Missy, rede mit mir. Ich lebe schon viel zu lange in Europa, und die amerikanische Sprache schmeichelt meinen Ohren.« Ihre Abneigung gegen Partridge hatte ihr einen festen Knoten irgendwo im Bauch eingebracht, und sie vergaß, warum sie eigentlich gekommen waren. Sie wußte nur, daß dieser aufgeblasene Regisseur die Menschen in seiner Umgebung mit Worten mißhandelte, keine Rücksicht auf Gefühle und Würde nahm. »Mister Partridge«, sagte sie leise, »Sie sind ein gemeiner, vulgärer Kerl, und wenn ich ein Mann wäre, würde ich Ihnen einen zwischen die Augen geben, denn Sie hätten es verdient.« Das rote Gesicht brach auf. Die Brauen hoben sich, die winzigen Augen gingen auseinander, der Mund formte sich zu einem Oval, und der gewaltige Brustkorb bewegte sich auf und nieder. Er rang nach Luft. »Ha! Ha! Herrlich! Phantastisch! Kannst du dir das vorstellen, wie diese Puppe auf mich losgeht? Auf mich? Phantastisch, sage ich. Hört hin, ihr Memmen, die Kleine erteilt euch eine Lektion in Sachen Mumm!« Er neigte den großen runden Schädel, sah sie unverwandt an und sprach in einer Lautstärke, die bei ihm als Flüstern durchgehen konnte, die aber immer noch das halbe Lokal erreichte. »Laß den Franzmann sausen, Missy. Die Franzosen sind weich, das hat was mit all der Inzucht zu tun. Für viele Sachen sind sie einfach nicht gebaut. Habe ich recht, Giacomin?« »Meine Familie stammt aus der Bretagne«, sagte Rafe. Partridge klatschte sich vor Vergnügen auf den Schenkel. »Ich weiß, ich weiß!« Er rammte den Ellenbogen auf die Tischplatte und hielt Rafe seine Hand hin. »Komm, mein Junge, packen wir’s an. Eine Runde stemmen. Drei Durchgänge, wer zwei gewinnt, ist Sieger.« Rafe grinste. »Ich lasse mir doch nicht das Handgelenk brechen.«
»Und Sie, Monsieur?« fragte Partridge in beinahe freundlichem Tonfall, aber dahinter lauerte eine verborgene Kraft, die Cindy am ganzen Körper spürte. »Nun, Franzmann, nehmen Sie es mit einem guten alten Mann der USA in einem nicht gerade tödlichen Wettstreit auf?« »Ich kann es versuchen, Monsieur.« »Du brauchst es nicht, Alain«, sagte Rafe. »Ich versuche es.« Er packte Partridges Hand. Partridge spreizte seine Finger und ließ Alain Zeit, richtig zu greifen. »Sie sind Schauspieler.« »Ein guter Schauspieler, Monsieur.« »Das ist eine wertende Aussage, die man besser einem Beobachter Ihrer Arbeit überläßt. Aber daran hält sich kein Schauspieler.« Die dicken Finger schlossen sich um Alains Hand. »Sie dürfen es mir nicht zu leicht machen, Franzmann. Ich will, daß Sie mir Ihren besten Kampf liefern.« »Vive la France«, sage Alain, mehr im Spaß. »Amerika ist ein schönes Land«, gab Partridge zurück. »Gib das Startsignal, Missy.« Cindy holte tief Luft. »Los.« Das runde, gerötete Gesicht verschloß sich, die dicken Finger spannten sich und preßten das Blut aus Alains Hand. Mit einem plötzlichen Ruck drückte Partridge die Hand seines Gegners auf die Tischfläche. Er gab nur ein leichtes Grunzen von sich. Partridge ließ ihn los. »Noch einmal«, sagte Alain und spreizte und bog seine Finger. »Sie haben’s nicht, Franzmann. Die Franzosen sind groß im Demonstrieren und Kolonialisieren, aber es ist leicht, sie in einem ehrlichen Kampf aufzuhalten. Zeig einem Franzosen einen Deutschen in Uniform, und der Franzose ergibt sich nach drei Tagen. Es liegt etwas in ihren Genen.« Er lachte laut und stampfte mit seinen Cowboystiefeln auf. »Vielleicht ist diese Generation der Franzosen anders«, sagte Alain ruhig.
Partridge stieß ein ungläubiges Grunzen aus und hob eine Hand. »Zigarre«, sagte er. Einer seiner Männer legte eine Zigarre in seine Hand. Partridge biß ein Ende ab, spuckte es auf den Boden. Ein Feuerzeug flammte auf. Er paffte, winkte die Hand mit dem Feuerzeug weg, und dann blies er dicke Wolken aus grauem Rauch über den Tisch. Es wurde still, jeder wartete darauf, daß er fortfuhr. Er wandte sich an Cindy. »Ich nehme an, Missy, daß du wie dein Freund eine Rolle in meinem Film haben willst.« »Sie nehmen was Falsches an.« »Monsieur Partridge«, sagte Alain, »ist es ein Verbrechen, wenn ein Schauspieler darauf hofft, seine Kunst ausüben zu können?« »Scheiß auf Kunst.« »Sie glauben nicht an Kunst?« fragte Cindy. »Kunst ist was für die schwulen Kritiker in Paris und New York und London. Laß sie brabbeln und schwafeln über Kreativität und Sensitivität. Ich mache Filme. Filme, die unterhalten. Wenn mir das, was ich mache, gefällt, gefällt es auch den Menschen rund um den Globus.« »Trotzdem«, insistierte Alain. »Ihre Filme werden von den cognoscenti hoch gelobt, Monsieur. Der Symbolismus…« »Symbole können mich mal. Freud und Marx, diese beiden Bastarde, haben die Welt ruiniert mit ihrem Scheiß. Sie haben das Theater ruiniert, die Literatur und die Filme. Dieser ganze Schwachsinn des Seelenforschens hat uns eingebracht, daß wir jetzt Krankengeschichten zu lesen und zu sehen bekommen, keine saftvollen Geschichten mehr; wir müssen von Patienten lesen statt von Menschen, von Symbolen und Theorien statt von Ideen und Handlungen.« Alain lehnte sich vor, das Gesicht angestrengt, ernst. »Aber Ihr Thema, Monsieur. Der unterdrückte Mensch triumphiert über ein System, das erstickt und knechtet und…« »Verschone mich«, sagte Partridge. »Ich werde es Ihnen ganz genau auseinanderlegen. Nehmen wir einen Mann, der Hunger hat, wirklich Hunger hat. Ihm gegenüber ein Mann, der alles hat,
es kann auch eine Firma sein, ein Konzern, eine Regierung, eine Armee, eine revolutionäre Bewegung, es ist ganz egal. Jedenfalls haben wir einen Mann, der unbedingt etwas haben will, und seinen Gegenspieler, der nichts von dem abgeben will, was er besitzt. Da haben wir den Konflikt, und aus dem Konflikt entsteht ein Drama. Nun fügen wir ein bißchen körperliche action hinzu, ein bißchen Sex. Wir zeigen die Melonen einer drallen Puppe und den knackigen Arsch eines jungen Mannes, damit bringen wir den mündigen Bürger auf unsere Seite. Wir garnieren das alles mit ein paar Auszügen erstes Semester Philosophie und zweites Semester Ökonomie, und schon haben wir die Vogelhirne und Obermacker gewonnen. Wir bringen irgendwie Che und Franz Fanon mit ins Spiel, das begeistert die Rebellen und die Schwarzen. Dann zeigen wir noch, wie so ein Punk seinem Alten eins überbrät, damit wir auch noch die jungen Wilden ansprechen. Ja, so wird es gemacht.« »Ich will nicht glauben, daß es für Sie nur ein Geldspiel ist«, sagte Alain beharrlich. »Ihre Technik ist zu einfühlsam, zu fein.« Partridge rollte die Zigarre von einem Mundwinkel zum anderen. »Ein Gelbfilter vor der Linse, und schon bist du heutzutage ein Künstler. Geh nah an ein Nasenloch ran oder zeig eine Titte im Großformat, und du gehörst zur Avantgarde.« Er stieß mit der Zigarre auf Alain. »Nach ›Explosion‹ werden die Kritiken wieder rasen, werden mich mit Welles und Bergman und Godard vergleichen. Warum? Weil ich die Kamera ein paarmal kippen werden, weil ich ein paar Tautropfen auf einem Blatt zeige und die Szene mit Hard Rock unterlege. Außerdem will ich zeigen, wie Amy Swift es mit Tod Brightlight treibt. Das bringt die Voyeure in die beengten sogenannten Häuser der Kunst.« »Erzählen Sie mir von Tod Brightlight«, sagte Cindy, weil sie hoffte, die gespannte Atmosphäre lösen zu können. »Tod Brightlight, Missy, ist ein gut aussehender schwarzer Hengst, der dabei ist, die größte Attraktion auf der Leinwand zu werden seit Gable.«
»Brightlight war Footballspieler«, ergänzte Rafe. »Du weißt doch von dem Mythos der schwarzen Männer – groß, kräftig, scharf. Nun, alles das trifft auf Tod Brightlight zu, bei ihm ist es kein Mythos, sondern Wirklichkeit. Er hat mehr Leben in sich als jeder andere Mann, den ich kenne.« »Ausgenommen Partridge, mein Junge«, sagte der Regisseur und paffte wütend. »Weiß oder schwarz oder himmelblau, niemand hat mehr Saft im Gerät als Robert Louis Stevenson Partridge Junior, vergiß das nicht.« Er riß die Zigarre aus dem Mund und zeigte eine Reihe kleiner weißer Zähne in einem unglaublich breiten Grinsen. »Dieser Brightlight ist tatsächlich eine starke Nummer. Eine Gefahr für jeden Mann, eine Versuchung für jede Frau. Ich mache einen Star aus ihm.« »Machen Sie Alain zu einem Star«, hörte Cindy sich sagen. »Ich habe in Paris gearbeitet«, warf Alain ein. »Auf der Bühne und vor der Kamera. Auch fürs Fernsehen.« Partridge bedeutete ihm, still zu sein, und Alain gehorchte. »Du, Missy, solltest zum Film. Dieser Blick auf deinem Gesicht, diese Schönheit, ein wenig traurig, nicht mehr Mädchen, noch nicht ganz Frau. Was, zum Teufel, macht dich traurig? Traurig, aber voller Leben. Das kann ich spüren. Du mußt das Leben aus dir herauslassen, Mädchen, dann wirst du großartig sein.« Er stieß die Zigarre wieder in den Mund. »Aber mach irgendwas mit deinen Haaren, sie sind zu dunkel.« Er lutschte an der Zigarre und verzog das Gesicht, sie war ausgegangen. Die Hand mit dem Feuerzeug tauchte wieder auf. »Nur nicht blond färben«, wies er sie an. »Es muß eine weiche, weibliche Farbe sein, eine Farbe, bei der ein Mann herausfinden möchte, ob alle deine Haare diese Tönung haben!« Er stieß ein Lachen aus, in das Lachen mischte sich der Husten vom Rauch. Er stemmte sich aus dem Stuhl hoch, der gleich hinter ihm weggezogen wurde. Er trat einen Schritt zurück. »Komm mich mal besuchen, Missy«, sagte er mit einer Weichheit in der Stimme, die man ihm nicht zutraute. »Komm mich mal besuchen. Es wird mir Freude machen, dich zu sehen, dich besser kennenzulernen.
Aber ich glaube nicht, daß ich einen Star aus dir mache. Ruhm hat einen zerfressenden Effekt auf junge Menschen.« Er nahm ihre Hand und berührte sie mit den Lippen. »Ich würde keine gute Schauspielerin sein«, sagte sie. »Alain ist ein wunderbarer Schauspieler.« Er gab ihre Hand frei. »Du solltest von dem Franzmann zehn Prozent für deine Bemühungen verlangen.« Er lachte kurz auf, wurde sofort wieder ernst. »Du kannst mit dem Franzmann machen, was du willst. Bring ihn mit oder auch nicht. Mir ist es egal.« Cindy blickte ihm nach, wie er aus dem New York Café ging. Er brauchte mehr Platz als jeder andere Mensch, den sie je gesehen hatte, und er ließ eine Atmosphäre des Friedens und der Stille zurück, der Langeweile und des Bedauerns. Cindy fühlte sich auf einmal erschöpft und sehr müde.
4
Die Nachtluft war kühl und feucht und erfrischend. Cindy klammerte sich fest um Alains Hüften, als sie mit der Vespa durch die Nacht fuhren. Partridge war ein Mann, wie sie nie einen gekannt hatte, dachte sie. Wild und gefährlich, aber höchst stimulierend, er erweckte eine Lebenskraft in ihr, die sie zu ihm hinzog. Auf der anderen Seite hatte er eine Menge Schwächen, die sie abstießen, und so nahm sie sich vor, sichere Distanz zu ihm zu bewahren. »Unmöglich«, rief sie gegen den Wind. »Was?« »Bobby Partridge. Ich glaube, lange könnte ich ihn nicht ertragen. Er laugt einen aus.« »Auf seine Weise ein attraktiver Mann«, rief Alain. Sie legte ihr Gesicht gegen Alains Rücken. Es würde geschehen, dessen war sie sicher. Partridge würde Alain in dem Film einsetzen, es würde der Beginn einer großen Karriere sein. Als sie die Villa erreichten, schien Alain bester Stimmung zu sein, und als sie auf den Eingang zugingen, umarmte er sie. Als sie beklagte, daß es im Haus kühler sei als draußen, versprach er, morgen Holz für den Kamin zu suchen. Sie bereitete sich fürs Bett vor. »Es ist gut gelaufen«, sagte Alain. »Das Gespräch bei Partridge.« »Das glaube ich auch. Ich habe das Gefühl, daß er dich engagieren wird, Alain. Er ist sehr grob, aber ich glaube, daß er dich mag.« »Dich mag er auch, das war überdeutlich zu sehen.« »Ich nehme an, er hat gern junge Mädchen um sich.« »Dann habe ich was mit ihm gemeinsam. Besonders dieses junge Mädchen hier, und das werde ich ihm auf der Stelle beweisen.« Sie legte ihr Kleid über eine Stuhllehne und streifte die Schuhe ab. Alain stellte sich hinter sie, legte seine Arme um sie und fuhr
mit gespreizten Fingern über ihren nackten Bauch, erforschte ihren Nabel. Er küßte ihren Nacken. Es war eine eigenartige Situation, als stünden sie noch am Anfang, wären frisch verliebt. Vielleicht lag es daran, daß sie bisher auf Mallorca nur selten Liebe gemacht hatten. Es war für sie beide eine schlechte Zeit gewesen, sagte sie sich, er auf der Suche nach dem Filmteam, beide mit dem alptraumhaften Geschehen in Madrid belastet. Bald würde all das vorbei sein, und sie könnten wieder glücklich und zufrieden miteinander sein, wie es in den ersten Tagen in Paris gewesen war. »Soll ich dir sagen, was ich mit dir tun will?« raunte Alain ihr ins Ohr. »Zeig es mir lieber.« »Heute abend werde ich es dir besser besorgen als je zuvor.« Sie löste sich von ihm. »Gib mir ein paar Minuten.« »Ich bin ungeduldig.« Sie lief ins Bad. Die Toilette spülte widerwillig, und die Dusche tröpfelte nur. »Alain«, rief sie, während sie sich abtrocknete, »wir sollten uns eine andere Wohnung suchen. Wir könnten ein Haus in einem der zurückgelegenen Dörfer mieten, wo es erheblich billiger ist.« »Bist du verrückt? Jetzt, da ich Partridge kenne, ist dieses Haus noch wichtiger geworden. Wir geben eine Party, laden ihn ein, das ganze Team.« Sie ging ins Schlafzimmer und trug ein kurzes Nachthemdchen aus Flanell, mit Schleifchen an Hals und Ärmeln. Es machte sie jünger, als sie war. Alain lag schon im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Sie schlüpfte neben ihn, kuschelte sich an ihn, drängte ihre Füße zwischen seine Beine. »Es ist nicht fair«, sagte sie schmollend. »Was?« »Daß Männer immer so viel wärmer sind als Frauen.« »Alle Männer?« »Ich kenne nicht alle Männer.« »Wie viele Männer kennst du?«
»Das spielt keine Rolle.« »Sag’s mir. Zehn, zwanzig oder einhundert?« »Du hast mich noch nie danach gefragt.« »Ich bin jetzt neugierig.« Er stützte sich auf einen Ellenbogen. »Komm, mach’s mir«, sagte sie leise. »Küß mich.« Er küßte sie, zog sich dann wieder zurück. »Partridge war fasziniert von dir.« »Red nicht von Partridge. Lieb mich, Alain.« »Ist es Delattre, den du begehrst, oder ist es Partridge?« »Ihn will ich nicht.« »Du hast dich sehr um ihn bemüht und er sich um dich.« »Ich habe nur versucht, dir zu helfen.« »Was für ein Tier dieser Partridge ist! Brutal und behaart wie ein Affe, und dann diese einschüchternde Stimme. Er ist ein Siegertyp, er will Menschen beherrschen, er will sie vernichten.« »Alain, ich bin müde.« »Ist deine Geilheit verschwunden?« »Du mußt ja unbedingt reden«, sagte sie. »Das tötet jede Lust in mir.« »Ich glaube, du hättest lieber Partridge auf dir und in dir.« »Jetzt reicht’s!« »Es hat dir gefallen, wie er mich gedemütigt hat.« »Wovon redest du?« »Meine Niederlage. Er hätte mich genausogut zu Boden schlagen können. Er ist ein starker Mann. Das ist es, was du haben willst, wenn er mit seinem dicken Gerät brutal in dich hineinstößt.« »Fahr zur Hölle«, sagte sie und drehte sich auf die Seite. »Ah, die amerikanische Antwort. Wende ihm den Rücken zu, und das Problem verschwindet. Nun, so läuft das nicht mit Alain Delattre. Ihn besitzt du nicht.« Sie setzte sich auf. »Ich schlafe in dem anderen Zimmer«, sagte sie. »Seltsam, nicht wahr? Ich bin der Schauspieler, aber dir hat er eine Rolle angeboten.«
»Er hat nichts angeboten.« »Wenn du willst, kannst du eine Rolle haben. Jeder am Tisch hat das so verstanden.« Sie schwang sich aus dem Bett und ging auf die Tür zu. Er langte nach ihr und erwischte sie am Kragen des Nachthemdchens und zog sie heftig rückwärts. Sie stolperte und fiel zu Boden. Ein scharfer Schmerz schoß durch ihre Hüfte. Sie schrie auf und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien. Aber er war zu schnell, warf sich auf sie und hielt sie auf den Boden gedrückt. »Ich begreife, was du vorhast. Du hast genug von Delattre und willst ihn gegen Partridge eintauschen.« »Nein!« Er schlug sie zweimal ins Gesicht, und ihr Kopf ruckte von einer Seite auf die andere. Sie schmeckte Blut, und das mobilisierte ihre Kräfte. Sie wehrte sich, sprang ihn an, drückte ihn von sich und wollte sich aufrichten. Sie kam auf die Knie und wollte nach ihm treten, aber in diesem Augenblick warf er sich gegen sie und drückte sie zurück auf den Boden. Er zwang ein Knie zwischen ihre Schenkel und griff ihr mit einer Hand zwischen die Beine. »Du gehörst zu mir«, rief er rauh und zwängte ihre Beine auseinander, »und du wirst mir zu Gefallen sein, wenn ich es befehle. Und ich befehle es jetzt.« Er packte ihre Brüste und drückte hart. Vor Schmerzen traten ihr Tränen in die Augen. Sie schrie und fuhr mit ihren Fingernägeln über seine Hände. Fluchend ließ er sie los. Sie wollte gegen seine Genitalien treten, aber er wich rasch genug aus, und sie traf nur seine Hüfte. Wieder zwang er sie auf den Rücken und warf sich auf sie. »Jetzt. Jetzt werde ich es dir besorgen. Ich werde dich so ficken, daß du nie wieder vergißt, wie es mit Alain Delattre war.« Sein Mund bedeckte ihren, und dann drang er in sie ein, heftig, als setzte er seine Erektion wie eine Waffe ein. Cindys Gedanken schwammen, sie wollte an nichts denken, aber sie konnte nicht verhindern, daß sie kleine Schluchzer ausstieß und Tränen über ihre Wangen liefen.
Sie war nicht sicher, wann die Veränderung begann und was sie ausgelöst hatte, aber plötzlich war alles anders. Er langte nach ihrer Hand und führte sie an sein Glied, seine Stimme klang leise und flehend. »Bitte, mein Liebling, liebe mich. Laß es wieder so sein wie früher. Diese ganze Affäre hat mich mitgenommen, hat mich geschwächt. Spürst du, wie schlapp ich bin? So etwas ist mir nie passiert. Nie. Es kann nur vorübergehend sein. Ich habe doch sonst nie Schwierigkeiten gehabt, das weißt du. Ich habe es dir immer gut besorgt, stimmt’s? Komm, mein Liebling, hilf mir, hilf mir…« In diesem Moment wollte sie ihm alles sein, sie wollte alles tun, was sie konnte, damit seine Erektion zurückkam. Mit beiden Händen umfaßte sie den Penis, der verschrumpelt und verschüchtert zwischen seinen Beinen lag, sie streichelte ihn, berührte ihn sanft. Sie rutschte an seinem Körper entlang, und ihr Mund hinterließ eine nasse Spur von seinem Kinn über den Brustkorb bis zum Nabel, den sie mit der Zunge beleckte, als wollte sie ihn ausloten; und dann rutschte sie noch ein bißchen tiefer, leckte über die Spitze, nahm den Schaft in einen festen Griff ihrer Hand, koste mit der anderen Hand den haarigen Beutel, und dann öffnete sie den Mund und nahm ihn so tief in sich auf, wie es nur ging, und während ihr Kopf sich auf und ab bewegte, hörte sie, wie er sie lobte, wie er beschrieb, was sie gerade mit ihm anstellte, wie gut es ihm tat, wie stolz er darauf war, daß er anschwoll, wie geschickt sie ihn wieder zum Mann gemacht hatte, und sie nahm jedes Wort in sich auf, labte sich daran, spürte, wie sie selbst feucht wurde, wie sie genoß, daß er genoß. Er schob sie weg, zurück auf den Boden, auf den Rücken, er kümmerte sich nicht um ihre Proteste und hievte sich über sie. »Jetzt werde ich es dir geben…« »Ich wollte dich aussaugen…« »Hier«, stöhnte er, »hier kommt mein Schwanz…«
Er stieß wuchtig in sie hinein, sein Atem kam hechelnd und unregelmäßig, und dann ebbten die Stöße ab, seine Geräusche blieben aus, es wurde still, unheimlich. Dann hörte sie es, ganz leise, rhythmisch, furchterregend. Alain weinte. »Was ist los mit mir?« brachte er heraus. »Was ist mit mir geschehen? Bin ich kein Mann mehr?« Ihre Arme umfaßten ihn, und sie hielt ihn fest und streichelte seinen Rücken. »Ich wollte dich so sehr lieben«, sagte er in einer schuldbeladenen Stimme. »Ich wollte dich glücklich machen.« Eine eigenartige Zufriedenheit ergriff sie. Sie drückte ihren Mund gegen seine Wange und empfand eine aufwallende Emotion für ihn, als ob ihre Liebe zu ihm nie größer gewesen wäre, als ob sie nun wüßte, daß er sie mehr brauchte denn je. »Es ist schon spät«, sagte sie weich. »Ja.« »Und wir haben beide zuviel getrunken. Es war ein langer Tag, und wir sind beide müde.« »Ja.« Nach einer Minute löste er sich von ihr und ging zurück ins Bett. Seine Stimme schien sich zu heben, als er, den Blick zur Decke gerichtet, sagte: »Es ist spät… und ich habe viel getrunken… Morgen, wenn ich ausgeruht bin… werde ich dir zeigen, wozu ich fähig bin… Du wirst erleben… wirst gar nicht mehr aufhören zu kommen…« »Ja.« Sie glaubte ihre Stimme zu hören, doch sie war sich nicht sicher. »Komm ins Bett«, befahl er. Aber es dauerte eine Weile, bis sie im Badezimmer den Schmutz der Fliesen vom Rücken gewaschen hatte. Als sie schließlich ins Bett ging, schlief er schon tief und fest.
5
Das Geschehen in dieser Nacht wurde von keinem je wieder erwähnt. Es war, ab fürchteten sie, beim Reden darüber Dämonen freizusetzen, die sie nicht mehr würden bändigen können. Aber Cindy war bewußt, daß sie einander mit einer neuen Behutsamkeit begegneten, immer darauf bedacht, die Gefühle des anderen nicht zu verletzen. Die nächsten Tage verwandten sie darauf, die Villa in Ordnung zu bringen. Alain besorgte eine Fuhre Kaminholz, und Cindy engagierte eine einheimische Frau mit dem Namen Asuncion, die dreimal in der Woche kam. Asuncion machte sauber, ging auf den Markt und kochte an den Tagen, an denen sie da war. Sie erklärte Cindy, daß man das preiswerteste Fleisch am Sonntagnachmittag in der Stierkampfarena kaufen konnte, das Fleisch der tapferen Stiere. Asuncion vergaß auch nicht, darauf hinzuweisen, daß die größte Gefahr darin bestand, die Heilige Messe am Sonntag zu versäumen. Cindy versicherte sich Asuncions Hilfe beim Versuch, ihren Haaren wieder die natürliche Farbe zu geben. Der Prozeß des Bleichens ergab ein Kastanienbraun, etwas heller, als sie gehofft hatte. Später, im Garten, hielt Asuncion den Spiegel, während Cindy ihr Haar mit einem Rasiermesser trimmte, bis ihre Frisur der gold- und kupferfarbenen Kappe eines Mönchs glich. Am selben Tag fuhr Alain nach Palma, und als er zurückkam, hatte er sich eine Harpune, eine Sauerstoffflasche und Hipper gekauft und verkündete, daß er Tiefseefischen wollte. Cindy Wollte protestieren und ihn daran erinnern, daß ihre Ersparnisse knapp wurden und sie beide über kein Einkommen verfügten, aber sie ließ es bleiben, um keinen Streit zu provozieren. Alain
benutzte die Ausrüstung an diesem Morgen, es war auch das letzte Mal. Am Nachmittag besuchte Cindy das Büro von American Express und wurde mit einigen Briefen und Päckchen belohnt, die ihr aus Paris nachgeschickt worden waren. Ein Päckchen enthielt eine kleine Jungenpuppe aus Plastik, die winzige Nase war weiß angestrichen. Eine kleine Notiz war der Puppe angeheftet: Um Dich daran zu erinnern, wer ich bin, und um Dir zu sagen, daß ich oft an Dich denke und Dich vermisse. Die Unterschrift: David Altman. Ein zweites Päckchen, ebenfalls von David Altman, enthielt ein Kaleidoskop, das von dem Künstler Trova entworfen worden war. Bei jeder Drehung ergab sich eine neue männliche Gestalt, eine attraktiver als die andere. Dem Päckchen lag ein Brief bei. Der Sommer ist zu Ende, und ich bin nach New York zurückgekehrt. Ich muß gestehen, daß ich mich noch nicht eingewöhnt habe; ich muß auch noch entscheiden, was ich tun will (arbeitsmäßig, meine ich). Ich war auf Deinen Spuren in Chicago (was Dir hoffentlich gefällt) und habe mich um einige der Jungen gekümmert, die verhaftet wurden. Ich vertrete sie bei den Anhörungen vor Gericht. Wenigstens das konnte ich tun. Was genau die Zukunft bringt, weiß ich nicht. Ich habe Angebote von verschiedenen Kanzleien, aber ich werde wohl keines annehmen. Nach Washington und der Posse ist es schwierig, eine interessante Aufgabe zu finden. Ich habe einen vagen Plan, an dem ich arbeite. Später kann ich dir vielleicht mehr darüber berichten. Ich habe versucht, Deinem Freund BB Morgan aus seinen Schwierigkeiten zu helfen, aber BBs Vater hat mir deutlich gesagt, daß er ›keinen grünen Jungen als Anwalt für seinen Sohn‹ haben will. Ich habe dann H. Carter McHenry empfohlen, der ein sehr bekannter Strafverteidiger ist, und er hat den Fall übernommen – und natürlich gewonnen.
Ich beneide Dich um Deine Europareise. Es hört sich wahnsinnig interessant an, wenn ich Deine Mutter erzählen höre. Sie war so nett, mir Deine Adresse zu geben, und ich hoffe, daß Du dies ohne allzuviel Verzögerung erhalten wirst. Mit getrennter Post schicke ich dir eine kleine Erinnerung und eine Aufmerksamkeit. Ich freue mich auf Deine Rückkehr und hoffe, daß wir dann Wiedersehen feiern können, denn ich möchte von Deinen Abenteuern hören. Du bist oft in meinen Gedanken. In Liebe und Freundschaft – David Altman Es gab auch einen kurzen Brief von ihrer Mutter. Da ich nicht wieder von dir gehört habe, seit Du angerufen hast wegen des Geldes für den Cadillac, dachte ich, daß ich schreiben sollte. Ich will Dich daran erinnern, daß ich Deine Mutter bin und wohl allein deshalb schon die Anständigkeit eines gelegentlichen Briefes verdient habe. Wenn Dir das zuviel ist, dann erwarte ich wenigstens einen Anruf. Gebühren zu unseren Lasten natürlich. Ich habe Roy kürzlich besucht. Er scheint sich in bemerkenswert guter Stimmung zu befinden, wenn man bedenkt, daß er auf den Prozeß wartet, in dem es um sein Leben geht. Er hat nach dir gefragt und schickt seine besten Wünsche, was ich natürlich auch tue. David Altman hat Roy auch besucht und ihm ein paar Bücher mitgebracht. Er ist ein aufmerksamer junger Mann, was man heutzutage nicht von vielen jungen Menschen sagen kann. Cindy beschloß, daß sie auf keinen der Briefe antworten würde. Es gab nichts, was sie Maggie mitzuteilen hatte, und sie wollte David Altman nicht ermutigen. Er hatte sich schon zu oft in ihre Privatsphäre gedrängt, und sie nahm sich vor, ihm das zu sagen, wenn sie sich je wiedersehen würden.
Am Sonntagmorgen, als sie und Alain auf der Terrasse ihr Frühstück einnahmen, tauchte Rafe unerwartet auf, bester Stimmung und voller Energie. Er sagte, er wollte sie mit zum Stierkampf nehmen. Cindy lehnte sofort ab und erklärte, ihr läge nichts daran, dabei zu sein, wenn Tiere getötet würden. Alain sagte, sie sei eine ahnungslose Närrin, daß die Stiere ausschließlich für diesen Zweck gezüchtet würden und sonst gar nicht erst da wären. Rafe sagte, ein Stierkampf machte Spaß, und jeder, der auf Mallorca wäre, müßte sich den Kampf in der Arena ansehen. Schließlich ging sie mit, hingerissen von der Dramatik und dem Spektakel, entsetzt über das Blut. Sie versuchte, nach dem Töten des ersten Stiers zu gehen, aber Alain ließ verhaltenen Ärger durchblicken und sagte, es fiele auf ihn zurück, wenn sie jetzt aus der Gesellschaft ausbräche. Sie blieb, aber den ganzen Nachmittag lang wandte sie ihre Augen ab, wenn der Moment der Wahrheit kam, und sie weigerte sich, noch einmal in die Arena zu schauen, bis der tote Stier herausgebracht worden war. Sie erinnerte sich, daß Asuncion gesagt hatte, hier gäbe es das preiswerteste Fleisch, aber Cindy wußte, daß sie nie davon kaufen würde. Es war zwischen dem vierten und fünften Kampf, während die Spuren des vierten Stiers noch beseitigt wurden, daß Rafe auf der gegenüberliegenden Seite der Arena Bobby Partridge entdeckte. Er saß unter einem riesigen Strohhut und trug eine Sonnenbrille, trank Wein aus einer bota und richtete den dünnen roten Strahl aus einiger Entfernung in seinen Mund; es ging nichts daneben. Einer seiner Lakaien nahm die leere Flasche an sich, und Partridge paffte eifrig an einer schwarzen Zigarre und unterhielt sich angeregt mit einem schwarzen Mann an seiner Seite. »Das ist Tod Brightlight«, sagte Alain. »Er ist wirklich ein schöner Mann.« Cindy legte eine Hand gegen die Stirn, um besser gegen die Sonne sehen zu können. Selbst auf diese Entfernung hin sah man
deutlich, daß dieser Tod Brightlight ein besonderer Mann war. Er hatte einen runden Schädel, kahl rasiert, und seine Farbe war ein glänzendes Kaffeebraun. Gesicht und Gestalt erinnerten Cindy an einen römischen Gladiator. »Er sieht interessant aus«, sagte sie. »Aber ich finde, er hat ein trauriges Gesicht.« »Traurig? Brightlight? Niemals«, widersprach Alain. »Er hat keinen Grund, traurig zu sein.« »Ihr werdet ihn später kennenlernen«, sagte Rafe. »Nach den Kämpfen gehen wir alle zum El Gran Palace. Es gibt dort hervorragenden Castellblanch und die besten gegrillten Langusten von ganz Spanien.« Rafe beugte sich über Cindy und wandte sich an Alain. »Gestern hat Partridge nach dir gefragt. Er wollte wissen, was ich von deinen Schauspielerqualitäten halte. Ich glaube, er will dich engagieren.« »Wir werden sehen«, sagte Alain und wandte sich ab. Cindy war von seiner Reaktion überrascht und wollte etwas sagen, aber sie schwieg. Mit einem Lächeln wandte sie sich an Rafe: »Wie lange noch?« »Noch ein Stier. Es sind immer sechs Kämpfe.« Sie schaute hinüber auf die andere Seite der Arena, wo Bobby Partridge sich wieder Rotwein in den Mund laufen ließ, und wartete darauf, daß das Töten beendet wurde. El Gran Palace. Zwar kein wirklicher Palast, aber doch ein Haus mit einer ihm eigenen Würde. Lederfarbene, stuckverzierte Wände mit großen Gemälden behangen. Dunkle Holzdecken und Pfeiler aus verschiedenen Kunstrichtungen mit dem eingeritzten Namen und Botschaften vieler Generationen von Besuchern. El Gran. Die Woche über strömten Touristen herein, verzehrten Paella, tranken Sangria und suchten in den Bars nach Prominenten, eine Suche, die stets mit einer Enttäuschung endete.
Sonntags kamen sie. Und nur an den Stierkampfabenden. Die dunkel gekleideten Männer mit den schlanken Hüften und den eleganten Bewegungen, die Männer, die es mit den Stieren aufnahmen. Sie hatten ihre Bewunderer im Schlepptau, jene Menschen, die glaubten, nur im Licht der Tapferen existieren zu können, im provozierenden und leicht ranzigen Geruch des Todes. Auf einer schmalen Bühne hinter der Bar stand ein älterer Gitarrist und zupfte traurige Melodien; seine einzige Zuhörerin war eine versonnene Lady aus Vermont, die beschlossen hatte, ihm in dieser Nacht zu gehören. Weiter hinten debattierte eine Gruppe langhaariger junger Leute bei reichlich Wein über die Fähigkeiten der Matadore des Nachmittags. An einem Nachbartisch beklagten deutsche Touristen die Qualität des einheimischen Biers. In der Mitte der Bar waren die Tische zusammengerückt, es gab nur schmale Gänge dazwischen für die Kellner. Fünf amerikanische Lehrerinnen, die drei Tage lang die Sonne auf Mallorca genießen wollten, tranken Sherry und rauchten zuviel und hielten Ausschau nach einzelnen Männer; neben ihnen ein Tisch mit britischem Adel, sie trugen marineblaue Blazer und Mienen zurückgehaltener Verachtung. Ihnen gegenüber ein italienischer Archäologe, der eine schmuckbehangene Witwe aufgegabelt hatte; neben den beiden ein griechischer Millionär, häßlicher als die meisten, mit drei willfährigen Blondinen, zwei arabische Schmuggler, händchenhaltend, ein albanischer Diplomat mit seiner Frau, die deutlich zu erkennen gaben, was sie von dieser dekadenten Szenerie hielten, ein Doppelagent für die Franzosen und die Sowjets, ein Polizeibeamter aus Tanger und viele andere. Der hintere Teil der Bar lag erhöht; vier Stufen führten zu ihm, und dort in der Mitte stand ein runder Tisch, zwei Meter im Durchmesser, die unebene Tischplatte glänzte, ein Ergebnis vom Polieren seit einhundert Jahren. Es gab unzählige Kratzer und Kerben auf der Platte, Brandstellen von sorglosen Rauchern. Am Rand befand sich ein tiefer Einschnitt von einem Messer, Erinnerung an einen tödlichen Kampf um eine ungetreue Ehefrau
vor fünfzig Jahren. Seit dieser Zeit galt ein offizielles Waffenverbot, und wer dagegen verstieß, wurde hinauskomplimentiert . Am runden Tisch standen oder saßen in unausgesprochener, aber deutlich sichtbarer Rangfolge die Mutigen, die Privilegierten, die Berühmten. Da saß in einer Hose, die so eng anlag, daß man deutlich die Umrisse seiner Männlichkeit erkennen konnte, Numero Uno, Spaniens erster Matador Melendez, das Gesicht von Furchen durchzogen, die feuchten braunen Augen auf der Lauer, als witterten sie überall Gefahr. Bobby Partridge saß neben ihm, gewaltig und lärmend wie immer, die Zigarre rollte von einem Mundwinkel in den anderen, während er Melendez’ Vorstellung am Nachmittag rühmte. Tod Brightlight war dabei, an seiner Seite die blonde Tochter eines polnischen Exil-Prinzen, an der anderen Seite ein schwuler Grieche mit Schmollmund. In seinem knallrot-gelb-grünen dashiki ähnelte Brightlight einer üppig geschmückten afrikanischen Hoheit, dekoriert mit Gold- und Silberringen an sieben Fingern und einer dreifachen Kette um den Hals. Das Medaillon, das an der Kette hing, zeigte die Tierkreiszeichen rund um die Abbildung eines Mannes und eines Hundes im Augenblick höchster sexueller Ekstase. Ein pausbäckiger Kolumnist aus New York saß neben Melendez, bemüht, eine Geschichte für seine Zeitung aus ihm herauszuholen. Ein millionenschwerer Waffenhändler mit den besten Beziehungen zu den kommunistischen Ländern sprach ernsthaft auf eine bekannte ungarische Hure und deren Schwester ein. Ein Londoner Taschendieb, ein Rennfahrer aus Peru, ein Kunstsammler mit seiner reichen Frau und ihrem jungen Geliebten, ein französischer Rauschgifthändler, ein kanadischer Aktienbetrüger, ein New Yorker Berufsspieler, eine rothaarige Madam aus Chicago und eine Reihe junger hübscher Frauen und junger hübscher Männer, alle darauf hoffend, eine profitable Beziehung herstellen zu können – und natürlich ein italienischer Prinz. Der pausbäckige Kolumnist fragte Melendez, ob er seine Tötungen an diesem Nachmittag zu seinen besten zählte. Aber es
war Bobby Partridge, König einer Welt, die er selbst geschaffen hatte, der in einer Stimme antwortete, die alle anderen Gespräche am Tisch sterben ließ. »George Fox«, dröhnte Partridge vielsagend. »George Fox, Begründer der Gesellschaft der Freunde der Quäker, dieser friedliebenden, nichtgewalttätigen Gemeinschaft dümmlicher Edelmenschen, sagte einmal, und ich zitiere jetzt original, ihr ignoranten Genüßlinge, also sperrt die Ohren auf – Mister George Fox sagte also: ›Mister William Shakespeare wurde in Stratford upon Avon im County von Warwick geboren. Sein Vater war ein Metzger, und einige seiner Nachbarn haben mir erzählt, daß er als Junge den Beruf des Vaters ausgeübt hat, aber wenn er ein Kalb tötete, tat er das höchst stilvoll und hielt eine Rede.‹« Partridge schüttelte sich vor Vergnügen, und die Gläser auf dem großen Tisch tanzten, als er sich darauf lehnte. »Höchst stilvoll!« röhrte er und sah dabei den Kolumnisten an, der eifrig mitschrieb. »Das haben wir heute von Melendez gesehen. Er tötete den Stier höchst stilvoll. Eine feine Demonstration von historischem Ausmaß!« Das feiste runde Gesicht zog sich zusammen, der Kopf drehte sich nach allen Seiten, dann blieb der Blick bei Cindy haften, die links von ihm saß. »Missy, sag mir die Wahrheit. Hat dir das Töten heute nachmittag mißfallen?« »Eher ja.« »Hat es dich krank gemacht? Ist dir übel geworden?« »Es hat mir nicht gefallen.« »Es war dir zu vulgär und obszön, ein unnötiges Blutvergießen?« »Das Ritual selbst war wunderschön, und die Matadore sind voller Anmut und Eleganz und so tapfer. Aber müssen sie töten? Die Stiere wollen nicht sterben.« »Ha!« brach es aus Partridge heraus. »Brightlight, hast du das gehört? Die Stiere wollen nicht sterben. Was ist deine Meinung, Brightlight? Fürchten die Stiere den Tod? Sag uns, wie es ist, Brightlight!«
Das braune Gesicht zeigte keine Regung, die Augen hinter der goldgerahmten Sonnenbrille sah man nicht. Cindy sah in ihm den Herrscher eines Kriegerstammes oder den Schamanen von nomadisierenden Apachen. »Die Stiere, Partridge«, antwortete Brightlight mit gelassener Stimme, die am ganzen Tisch zu hören war, »die Stiere wissen nicht, was auf sie zukommt. Aber sie wissen trotzdem alles.« Von seinem Platz hinter Cindy richtete Rafe seine Yashica auf Brightlight und drückte immer wieder ab. »Das klingt gut, hört sich philosophisch an«, sagte Rafe. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie es sich in der Arena lebt? Was wäre deine emotionale Reaktion?« Brightlight nahm seine dunkle Brille ab. Es war ein kluges Gesicht, fand Cindy, leicht spöttisch. »Mann, Schwarz liebt Schwarz. Ich wäre der Stier.« Das brachte ihm einen Ausbruch der Bewunderung von Partridge ein. »Hört, hört! Das As des Teams hat gesprochen. Komm, schwarzer Mann, erdrück uns mit deiner Weisheit.« »Wenn ich dich jemals erdrücken sollte«, sagte Brightlight wie nebenbei, »dann platzt du in tausend Stücke.« »Herrlich!« rief Partridge. »Was bist du doch für ein Brutalo. Groß, schwarz, mit einem Gehänge wie die Stiere. Dieser Film, Mann, mein Film, bringt dich groß raus, macht dich zum Star. Ich mache dich zum Star. Du wirst reich und berühmt. Wie gefällt dir das, Brightlight?« »Stark, Mann. Moos macht Macht.« »Nach ›Explosion‹, Brightlight, wieviel Geld wird dein Agent für dich herausschlagen? Zweihunderttausend pro Film?« »Was kassiert Arthur Beatty?« »Ha! Auf diesem Trip bist du! Arthur erhält eine Million. Und Amy auch.« »Ja, das hört sich gut an. Eine Million. Vielleicht heirate ich eine scharfe Tante, mach’ sie zum Star und verdopple das Moos.« »Du bist wirklich ein Brutalo«, sagte Partridge und trank das Glas Champagner leer. Sofort wurde es von jemandem gefüllt.
Alain meldete sich das erste Mal zu Wort, er zitierte was Französisches. »L’homme n’est qu’un roseau, le plus faible de la nature, mais c’est un roseau pensant.« »Was?« fragte Partridge mißtrauisch. »Das soll mir jemand übersetzen, mein Französisch gibt nicht viel her.« Brightlight setzte wieder seine dunkle Brille auf und grinste Partridge an. »›Der Mensch ist weder Engel noch Teufel; das Unglück ist, daß derjenige, der den Engel spielt, oft wie der Teufel handelt.‹« Partridge lehnte sich in seinem Stuhl zurück, faltete die Hände über den Bauch und beäugte Alain. »Also, das interessiert mich, ein Schauspieler, der Blaise Pascal zitiert. Gut, Franzmann, schwing deinen entzückenden Hintern her zu mir, damit ich herausfinden kann, ob du wirklich so klug bist.« Er schaute Cindy an. »Tausch deinen Platz mit deinem Freund, und widme dich mal unserem Star Brightlight. Wie die Stiere, so weiß auch er alles.« Sie gehorchte ohne ein Wort und ging um den Tisch herum. Brightlight sah den schwulen Griechen an, der sofort aufstand und Cindy seinen Stuhl anbot. »Bring ihr ein Glas«, sagte Brightlight zu niemand besonderem. Von irgendwoher kam ein Glas, das gefüllt wurde. »Das ist zwanzig Jahre alter Scotch. Ich mußte dreiunddreißig Jahre warten, bis ich Geld genug hatte, um mir dieses Gebräu leisten zu können.« »Das Zitat hat mir gut gefallen«, sagte sie. »Ich hatte es noch nie gehört.« »Das intellektuelle Endprodukt von vier Jahren Stanford. Das und ein kaputtes Knie.« »Ich habe das Gefühl, Sie haben viel mehr gelernt.« »Wie Sie meinen.« Er wies mit dem Kopf auf Partridge und Alain. »Buhlen Sie auch um einen Job in dem Film?« »Mein Freund ist der Schauspieler.« Die dunkle Brille irritierte Cindy, sie wünschte, er würde sie abnehmen. »Dieser Partridge«, sagte Brightlight, »ist in seinem
Herzen ein faschistischer Bastard, aber er weiß, wie man einen Film dreht.« Sie befeuchtete ihre Lippen. »Sie meinen nicht wirklich, daß er Faschist ist.« »Ich meine es.« Der sinnliche Mund wölbte sich. »Partridge steht politisch rechts von Attila dem Hunnen. Im Vergleich zu ihm war Hitler ein wohlmeinender Liberaler. Er ist gegen die Rassentrennung, weil er für die Sklaverei ist.« Er ließ ein leises Glucksen hören. »Er ist ein durch und durch böser Mann. Kann sein, daß wir mal kräftig aneinanderrasseln.« »Wenn Sie so empfinden, warum…« »Warum ich dann für ihn arbeite? Weil ich schwarz bin, und weil diese Chance auf mich zukam. Partridge mag mich nicht mehr als ich ihn, aber wir brauchen uns gegenseitig. Er wollte Poitier haben, aber Sidney drehte gerade einen anderen Film. Auch Jimmy Brown mußte absagen. Also blieb nur noch der alte Brightlight. Sie wissen, Lady, daß der Markt für schwarze SexSymbole sehr begrenzt ist. Aber wenn ›Explosion‹ wirklich abzischt, bin ich durch. Der schwarze Gable. Die Welt braucht einen schwarzen Gable. Und die Umstände sprechen für mich. Beatty und Swift sind dabei, und Partridge führt mich, also wird das, was von mir auf die Leinwand kommt, nicht allzu schrecklich sein. Und Partridge reißt sich ein Bein aus, um fair zu sein. Er will nicht, daß seine Vorurteile sichtbar werden. Deshalb wirft er immer noch eine Szene mehr für mich rein. Action. Das ist meine Stärke, da kann ich Muskeln zeigen. Ich brauche nur da zu sein und schön auszusehen und mich am Riemen zu reißen, um Partridge nicht in Stücke zu zerlegen.« »Würden Sie wirklich mit ihm kämpfen?« »Das können Sie mir glauben, Lady.« Sie legte den Kopf schief, schaute ihn an, um herauszufinden, ob er so furchterregend war, wie er tat. Sie glaubte es nicht und sagte es ihm. »Nun, ich habe nichts gegen Weiße, die freundlich sind, so lange ich ihnen ins Gesicht schauen kann.« »Trauen Sie den Weißen nicht?«
Brightlight gab einen Laut von sich, der zwischen einem Kichern und einem Aufschrei lag. »Sie wollen sich lustig machen über mich.« Sie lachte. »Manchmal sage ich nicht gerade die klügsten Dinge. Aber ich kann nicht glauben, daß Sie soviel Haß in sich spüren, wie Sie vorgeben.« Er hob sein Glas, hielt es in beiden Händen und betrachtete es. »Das können Sie unmöglich verstehen«, sagte er ernst. »Sie wissen nicht, was es bedeutet, schwarz und Amerikaner zu sein. Ich will nicht klagen, ich habe es geschafft. Footballstar, nicht allzu dunkel, immer ein guter Schüler. Aber die meisten haben nicht soviel Glück.« Er schwieg eine Weile, und als er wieder sprach, klang seine Stimme sanfter. »Amerika ist ja so dumm. Alles in seiner Geschichte beweist: Wenn der Wohlstand verteilt wird, trägt er Früchte und bringt noch größeren Wohlstand. Aber wenn diese Frucht gewissen Gruppen vorenthalten wird, verdorren die Menschen, sie liegen brach. Man sollte glauben, daß diese verrückten Politiker das erkennen, daß sie sehen, was geschieht. Aber sie sehen es nicht, sie wollen es nicht sehen. In den Ghettos ist es nicht besser. Die Zahl der schwarzen Gangster wächst, häßliche, gemeine Kerle, schießwütig. Typische Amerikaner. Und dann diese verdrehten weißen Kids, die Revolution spielen und die Schwarzen als Stoßtrupps benutzen. Und die benebelten Liberalen, die das alles stimulierend und produktiv finden. Es ist ein Hexenkessel, und wenn das weiße Amerika nicht bald klug wird, geht das Feuer an, wie Jimmy Baldwin gesagt hat.« Er leerte sein Glas und verlangte nach Scotch. »O Mann, wälze ich schwere Gedanken!« »Wird ein schwarzer Clark Gable die Situation verbessern?« Er grinste. »Eigentlich wollte ich John Wayne werden, aber da ist Jimmy Brown mir zuvorgekommen.« Sein Scotch kam, und er rührte umständlich sein Glas. »Laß uns von was anderem reden, Baby.«
Cindy nickte. Sie sah sich am Tisch um und fragte: »Wo sind Arthur Beatty und Amy Swift? Legen sie keinen Wert auf Geselligkeit?« »Lady, wie kann man nur so naiv sein? Beatty und Swift mischen sich nicht unter das Volk, sie streiten und ficken. Sie sitzen mit ihren Million-Dollar-Ärschen auf der Million-Dollar-Yacht und kreuzen auf der anderen Inselseite mit ihren neun Gören…« »Neun?« »Ja, insgesamt, aus ihren verschiedenen Ehen. Beide zusammen waren so etwa fünf- oder sechsmal verheiratet. Neun Kinder und eine kleine Armee von Dienern und Friseuren und Presseagenten und Anwälten und Buchhaltern und Leibwächtern und weiß der Teufel was sonst noch. Zwei Köche, habe ich gehört, und Leute, die sie anziehen und die ihnen den Rücken schrubben und sie noch schöner machen, und einige, die ihnen den Hintern abputzen, nehme ich an. Und dann haben sie auch noch vierzehn Hunde auf dem Kahn, drei Katzen und einen Affen. Ein verdammter Bastard mit einem verrunzelten Gesicht, einem roten Arsch und pinkfarbenen Augen. Ich meine, wer dieses häßliche Ding noch nicht gesehen hat, der weiß nicht, was häßlich ist.« Cindy mußte so herzhaft lachen, daß ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Brightlight bot ihr ein frisches rotes Taschentuch an, um die Tränen abzuwischen. Sie rieb sich die Augen und gab es ihm zurück. »Behalten Sie es. Ich wette, kein Nigger hat Ihnen je ein rotes Taschentuch gegeben.« »Müssen Sie immer so sprechen?« fragte „sie, plötzlich verärgert. Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich nehme an, daß ich das tun muß, um mich daran zu erinnern, wo mein Platz ist.« »Fahren Sie zur Hölle«, sagte sie weich. »Keine Panik«, sagte er. »Wir quatschen noch ein wenig über Beatty und Swift. Stehen Sie auf ihn?« »Ich habe nie darüber nachgedacht.«
»Eher Dustin Hoffman, was? Er kommt schwer bei den Miezen in Ihrem Alter an.« »Filmstars machen mich nicht an. Zu weit weg, nur ein Schatten auf der Leinwand.« »Oh, das müssen Sie Amy Swift erzählen. Wenn sie ihre tiefblauen Augen auf Sie richtet, wird sie steif wie’n Brett. Sie bewacht Old Beatty mit Argusaugen, er ist ihr Eigentum, und sie paßt höllisch auf ihn auf. Sie ist eine alte Kampfhenne, Old Amy. Sie hat Arthur einer anderen Mieze weggeschnappt, also weiß sie, daß es möglich ist, und sie will kein Risiko eingehen. Dieser Beatty läßt nämlich nichts anbrennen, deshalb folgt Amy ihm auf Schritt und Tritt. Wann immer eine Puppe in seinen Dunstkreis stößt, scheucht Amy sie davon. Deshalb auch die Yacht. Da kommt so leicht keine Puppe hin. Das Boot hat alles, was man sich nur vorstellen kann, Swimmingpool, Spielzimmer, Gemäldegalerie mit einem Van Gogh und einem Gauguin, ein paar Jack Levines und irgend so ein Scheiß von Warhol, glaub’ ich.« Er musterte Cindy neugierig. »Für manches Girl ist Arthur der Mount Everest.« »Nicht für mich.« »Mag sein. Aber wenn Arthur Sie sieht, ist er sofort angemacht, und wenn er angemacht ist, schmelzen die Miezen dahin. Miezen sind Seelennahrung für Arthur.« »Da unterscheidet er sich kaum von anderen Männern.« »Aber schon von Tod Brightlight.« »Wie?« »Himmel, Lady, sind Sie blind? Wir sind so verschieden wie schwarz und weiß.« Sie sagte leichthin: »Eher ein warmes Braun.« »Ja, stimmt, was? Mein Urgroßvater war Baptistenprediger. Der Typ tingelte von Texas nach Alabama und Mississippi und wieder zurück. Ein wahrer Gentleman aus dem Süden. Dieser weiße Bastard pflanzte seinen Samen in meine Urgroßmutter, und sie hat mir seine blassen Gene vererbt. Nun, braune Fotografien sehen besser aus als schwarze, deshalb sollte ich dem Urgroß-
daddy dankbar sein.« Er nahm seine dunkle Brille ab. »Das ist noch nicht alles. Schauen Sie sich diese Adlernase und die schräggestellten Augen an. Das ist Indianerblut, ein ehrlicher Häuptling der Natchez, der’s einer meiner weiblichen Vorfahren besorgt hat. Die Frau war natürlich eine seiner Sklavinnen…« »Ich glaube, Sie wollen mir einen Bären aufbinden«, sagte Cindy. Er hob die Schultern und stand auf, massig und turmhoch in seinem dashiki, die nackten Unterarme unbehaart und dickadrig. »Ich gehe jetzt«, sagte er. »Es war nett, mit Ihnen zu reden. Vielleicht treffen wir uns mal wieder.« Er drehte sich um, und die blonde Tochter des polnischen Exil-Prinzen folgte ihm rasch. Während sie Brightlight nachschaute, wie er sich mit katzenhafter Gewandtheit zwischen den Tischen bewegte, empfand Cindy heftiges Bedauern, daß er sie verlassen hatte. Verwirrung überkam sie, und sie stellte fest, daß ihre angeregte Unterhaltung sie mehr beeindruckt hatte, als ihr lieb war. Sie schalt sich albern und kindisch und nahm sich vor, Tod Brightlight aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie fühlte sich müde, ihre Augen brannten. Sie wollte zurück in die Villa oberhalb der Bucht, sie wollte sich hinlegen und schlafen. Sie schaute sich am Tisch um, schaute zu Bobby Partridge und Alain und sah erst jetzt, daß die beiden Plätze leer waren.
6
Am Morgen erklärte Alain den Grund für sein Verschwinden gestern abend. »Partridge ist an mir interessiert, Cindy«, sagte er, aufgeräumter, als sie ihn je zuvor gesehen hatte. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, und in seiner Stimme schwang ein Hauch von Triumph mit. »Die Chancen stehen gut, daß er mir eine Rolle in seinem Film gibt. Gestern abend war es zu laut im El Gran, deshalb hat Bobby mich mit hinaus auf die Straße genommen. Dort hat er mit mir über die Rolle gesprochen, über meine Rolle, cherie. Ein junger Mann von der Straße, der Amy Swifts Geliebter wird. Es gibt einige hervorragende Szenen, hat Bobby mir versprochen, Szenen mit allen Stars, was ja besonders wichtig ist. Um vom Publikum wahrgenommen zu werden, muß man gemeinsame Auftritte mit den Publikumslieblingen haben.« Sie hielt ihre Stimme ruhig. »Und das hat die ganze Nacht gedauert, Alain? Ich habe lange auf dich gewartet…« »Ich bin untröstlich, cherie. Aber ich wußte, daß dich jemand zur Villa begleiten würde. Giacomin oder sonst jemand. Das war richtig, ja?« Sie nickte, und er lachte froh. »Man muß sich nach Bobby richten. Er hat dieses monströse Ego, weißt du. Man kann ihn nicht einfach auf der Straße stehenlassen.« »Und du bist also die ganze Nacht mit ihm herumgewandert?« Alain hob die Schultern. »Eine Zeitlang. Dann sind wir quer durch Mallorca gefahren. Er wollte mir die Drehorte zeigen, die er für den Film ausgewählt hat.« »Im Dunkeln?« »Er hat ein starkes Suchlicht an seinem Auto. Es ist ein herrliches Auto, ein maßgeschneiderter Rolls-Royce. Er nimmt ihn überallhin mit. Im vergangenen Jahr hat er einen lukrativen
Auftrag abgelehnt, weil sich der Produzent weigerte, die Transportkosten für den Rolls-Royce zu übernehmen. Was für ein Auto! Eines Tages werde ich auch so eins haben. Mit eingebauter Bar und Fernsehen. Und mit einem Chauffeur, der Tag und Nacht zur Verfügung steht. Außerdem gibt es noch…« »Hör schon auf«, sagte sie. »Ich will nichts mehr über das Auto hören!« »Du bist böse mit mir.« Ja, wütend. Aber wieso? Sie waren genau aus diesem Grund nach Mallorca gekommen. Um Bobby Partridge zu treffen und eine Rolle in seinem Film zu ergattern. Sie hatte kein Recht, Alain zu kritisieren. Wenn er alles tat, um seine Karriere aufzubauen. Sie dachte an ihre Mutter – ja, Maggie würde so reagieren wie sie es getan hatte, mit Wut und einem Mangel an Verständnis, nur auf die persönlichen Wünsche bezogen, ohne Rücksicht auf andere. Cindy wollte nicht sein wie Maggie. Sie verstand, was für Alain wichtig war. Sie wollte ihm helfen. »Ich war enttäuscht«, sagte sie und zeigte ein Lächeln, das bereits zu erkennen gab, daß sie ihm vergeben hatte. »Ich wollte dich bei mir haben.« Er berührte flüchtig ihre Wange. »Es war wichtig für mich, daß Bobby mich kennenlernte und mich mag.« »Und er mag dich?« »Ich bin sicher.« »Oh, das freut mich für dich, Alain.« »Eigentlich«, sagte Alain mit einem selbstsicheren Grinsen, »eigentlich war Bobby von Anfang an angetan von mir. Aber er hat seine Gefühle nicht zeigen wollen, damit sie sein professionelles Urteil nicht trüben, verstehst du? Er hat mich aber beobachtet, hat sich ein Bild von mir gemacht, ob es der Rolle entspricht.« »Dann hat er sich also schon entschieden?« »Nein, nein, noch nicht. Bobby ist ein Künstler, er will sich nicht von persönlichen Erwägungen leiten lassen. Für ihn gibt es nur die Produktion, sonst nichts. Es wird Vorsprechen geben, ein paar Zeilen aus dem Drehbuch.«
»Und ein Kameratest?« Er lachte. »Das ist nicht erforderlich. Bobby sagt, ich hätte ein vollkommenes Gesicht für die Kamera, ich verkörperte den gegenwärtigen Stil. Wie Belmondo, sagt er. Eh, was sagst du? Wie Belmondo! Phantastisch, nicht wahr? Alain Delattre! Leute auf der ganzen Welt werden meinen Namen kennen. Bobby verspricht, daß ich ein Star werde, cherie, ein Star!« »Ich hoffe es«, sagte sie abwesend. Ein vages Bedauern wurde in ihr lebendig, als ob einem angekündigten Opernsänger mitten in der Eingangsarie die Luft ausging. Sie verdrängte dieses Gefühl und lächelte Alain ermutigend an. »Ich hoffe es.« »Es kann keinen Zweifel geben«, sagte er. »Überhaupt keinen Zweifel. Jetzt wird alles so werden, wie ich es mir immer gewünscht habe. Alles.« Die Dreharbeiten für ›Explosion‹ begannen beinahe unbemerkt am folgenden Nachmittag. Es handelte sich um einige Szenen, in denen die Stars des Films gedoubelt wurden. Einen Tag später arrangierte Bobby Partridge sechs Stunden lang eine Massenszene an einem von Mallorcas schmalen Stränden, es ging um die Reaktion auf ein Unglück der Fischer. In der darauffolgenden Nacht drehte Partridge das einheimische Fest eines Namenspatrons. Wegen dieser engen Planung mußte Alains Vorsprechen verschoben werden, so daß auch die Entscheidung über seine Rolle noch nicht gefallen war. »Aber Bobby hat mir versichert, daß es keine Rolle spielt, cherie«, hörte Cindy von Alain. »Außerdem läßt es mir mehr Zeit, mich auf ihn einzustellen. Er ist ein phantastischer Mensch, ein Mann unbeschränkter Talente mit unglaublichen intellektuellen Fähigkeiten. Für ihn zu arbeiten wird mir eine Ehre sein.« Am folgenden Morgen, nachdem Alain zum Drehort gefahren war, hörte Cindy ein Auto, das vor der Villa anhielt. Rafe. Sie begrüßte ihn herzlich und bot ihm den Rest des Frühstücks an.
»Ich bin gekommen, dir einen Job anzubieten«, sagte er, als sie sich auf der Terrasse niedergelassen hatten. Er fuhr fort, bevor sie etwas entgegnen konnte. »Es gibt natürlich nicht viel Geld«, sagte er grinsend, »aber denk nur an die Erfahrung, die es für dich bedeutet, mit dem großen Giacomin zu arbeiten. Also, ich brauche eine Assistentin. Jemand, der meine Ersatzkameras lädt, der sich Notizen macht, der Bildunterschriften entwirft, so ein Mädchen für alles. Glaubst du, du schaffst es?« Sie warf sich ihm um den Hals, herzte und küßte ihn. »O ja, ja!« Er mußte kämpfen, daß er mit dem Stuhl nicht nach hinten kippte. »Also gut«, sagte er mit gespielter Rauhheit. »Dann fangen wir gleich an. Partridge dreht heute die erste große Action-Szene, und ich will soviel wie möglich davon aufnehmen.« Während sie mit seinem gemieteten Jeep quer über die Insel fuhren, erklärte er ihr: »Brightlight und Arthur Beatty streiten sich in der Szene. So wie ich Partridge kenne, wird es eine Kampfszene geben, wie man sie auf der Leinwand noch nicht gesehen hat.« Die Kampfszene fand in einem Dorf statt, das an einem Hügel lag und terrassenförmig zum Meer gebaut war. Für diese bestimmte Sequenz setzte Partridge drei Kameras ein. Zwei Handkameras würden den Kampfhähnen folgen, die dritte stand an einem festen Platz. Partridge hatte gerade mit seinen männlichen Stars zu arbeiten begonnen, als Rafe und Cindy eintrafen. »Was ich von euch will«, sagte Partridge mit einer für ihn geradezu flüsternden Stimme, »ist Bewegung, und in jeder Bewegung muß die Gewaltbereitschaft zum Vorschein kommen. Sie muß sich so stark aufbauen, daß der Zuschauer begreift, da stehen sich zwei gleich schöne animalische Typen gegenüber, die darauf aus sind, sich gegenseitig zu vernichten, oder die bei dem Versuch sterben.« Rafe schoß Aufnahmen von den drei Männern, wie sie auf der untersten Terrasse zusammenkauerten. Cindy befolgte Rafes Anweisungen und hielt sich die ganze Zeit etwa sieben Schritte hinter ihm, eine Rolleiflex über einer Schulter, einen Block in der
Hand, auf dem sie festhielt, mit welcher Kamera er welche Einstellung schoß. »Der Kampf beginnt hier«, sagte Partridge. »Hier auf der ersten Terrasse. Er wird sich rasch ans Meer verlagern. Dort werdet ihr von der Brandung erwischt, gegen die Felsen getrieben – wir haben Stuntmen da, und es wäre natürlich besser, wenn…« »Ich mache meine Drecksarbeit selbst«, sagte Brightlight ohne besondere Betonung. »Und ich auch, Sir«, sagte Arthur Beatty. Bisher hatte er dagestanden, die Hände auf dem Rücken, den Kopf gebeugt, ganz Ohr. Plötzlich schaute er auf, und sein Blick fiel auf Cindy, blieb bei ihr. Man sah einen amüsierten, fragenden Blick in seinem Gesicht, das Beatty’sche Gütezeichen. Der Blick eines Mannes, der jedes seiner einundvierzig Jahre voll ausgeschöpft hatte, und jedes einzelne war auf seinem listigen, fuchsähnlichen Gesicht eingraviert. Die blassen Augen wurden von einem Netzwerk von Fältchen umgeben, die Wangen lagen hohl in diesem Gesicht. Er hatte einen breiten Mund, geformt von Ironie und gutem schottischen Whisky. Er war nicht annähernd so groß wie Brightlight oder Partridge und hatte zu breite Schultern für den hageren Körper, nur die Arme waren dick und muskulös. Die leichte Wölbung unter seinem Gürtel war das Ergebnis von fünfzehn Jahren teuren, guten Lebens. Die starken, kräftigen Finger und die geschwollenen Knöchel erinnerten an die vielen gewonnenen und verlorenen Schlägereien in den Bars und Straßen von Glasgow. »Ausgezeichnet, Gentlemen«, dröhnte Partridge fröhlich. »Das trägt zu einem besseren Film bei, volle Beteiligung. Unten bei den Felsen, Arthur, wird dich Brightlight zweimal niederstrecken. Nach dem ersten Schlag setzt er dir nach ins Wasser, und dort werdet ihr beide gegen die Felsen geschleudert. Ihr werdet auseinandergetrieben. Er setzt erneut nach, versetzt dir wieder einen Schlag, der dich auf diese kleine Sandbank haut. Bevor er wieder über dich herfallen kann, rennst du davon. Er wird dir folgen,
und der Kampf setzt sich fort, während ihr von einer Terrasse zur nächsten klettert. Alles begriffen?« »Eine Frage noch, Bobby«, sagte Beatty, und sein harter schottischer Akzent verlieh seiner volltönenden Stimme eine weitere Dimension. Von ihrem Standort aus konnte Cindy das schwache, fast spöttische Grinsen auf Brightlights Gesicht sehen, als wäre er in der Lage, Beattys Gedanken zu lesen und die Frage im voraus zu wissen. »Ja, Arthur.« »Daß ich das Handtuch werfe, sind die Leute im Film von Beatty nicht gewohnt. Du mußt mir schon eine überzeugende Erklärung für dieses untypische Verhalten liefern.« »Wie alles in einem Partridge-Film ist jede Aktion natürlich begründet, Arthur. Ich weiß, daß du das Manuskript nicht bis zu Ende gelesen hast…« »Es langweilt mich zu Tode, wenn ich ein Script lesen soll, Bobby, das weißt du. Sag mir, was ich zu sagen habe, und ich sage es besser als jeder andere Schauspieler in der Welt.« »Zugegeben, Arthur. Und hier ist deine Motivation. Zu diesem Zeitpunkt der Geschichte hat Brightlight entdeckt, daß du ihn betrogen hast, daß du die ganze Diamantenbeute auf die Seite geschafft und auf eigene Rechnung verkauft hast. Unter anderen Umständen würdest du ihm gern einen entsprechenden Kampf liefern, aber du hast keine Zeit. Du hast eine Verabredung mit dem Mann aus Genf. Wenn du ihn verpaßt, könnte das ganze Manöver umsonst gewesen sein…« »Ah, ja, ausgezeichnet. Das wird meine Fans natürlich überzeugen.« »Natürlich.« Brightlight setzte seine dunkle Brille auf und zeigte seine Zähne in einem dünnen Lächeln. »Du wirst immer ein Held für mich sein, Arthur.«
Beatty lächelte zurück. »Es macht einen dankbar, wenn man unter den Kollegen einen Bewunderer findet.« Rafe ging zurück zu Cindy und tauschte die Kamera. »Ich glaube, die beiden mögen sich nicht«, sagte Cindy. »Arthur Beatty und Tod Brightlight.« Rafe schaute zu den Schauspielern. »Eigentlich kommen sie ganz gut miteinander aus. Alle drei. Sie zollen sich gegenseitig Respekt. Sie sind nach innen und außen ziemlich rauhe Typen, immer im Wettbewerb. Partridge und Beatty sind in jeder Szene auf ihren Status bedacht. Und Brightlight ist aus demselben Holz geschnitzt, hungrig und ehrgeizig. Er weiß, was er will und was dieser Film für ihn bedeuten kann.« Cindy schaute an Rafe vorbei auf Alain, der etwas abseits bei den Stars stand und zuhörte, wie Partridge Anweisungen gab. Cindy glaubte, bei Alain einen harten, fast zornigen Ausdruck zu erkennen, als ob er ihre Anwesenheit am Drehort aus tiefstem Herzen ablehnte. Partridge rief Alain herbei und stellte ihn Arthur Beatty vor. Sie tauschten einen Händedruck. Alain wollte wieder zurücktreten, aber Partridge gab ihm zu verstehen, daß er bleiben sollte. »Das ist ein gutes Zeichen, nicht wahr?« fragte Cindy und schaute Rafe an. »Ich bin sicher, daß Partridge Alain engagieren will.« Rafe setzte ein Weitwinkelobjektiv auf die Rolleiflex und antwortete, ohne aufzusehen. »Es ist entschieden. Alain hat die Rolle vor zwei Tagen erhalten.« Cindy dachte für einen Moment, daß sich ihr Magen drehte. »Aber das kann nicht sein. Alain hätte es mir gesagt.« Rafe warf ihr einen kurzen Blick zu. »Er hat die Rolle.« Er zeigte zum Hügel und rief, Begeisterung in der Stimme: »Ah, die Königin unter den Königinnen ist unter uns, die Lady mit ihrem Anhang…« Cindy unterdrückte ihr Unbehagen und folgte Rafes Blicken. Dort kam Amy Swift den Hang herunter, eingehüllt in einen langen weißen Seidenmantel, das schwarze Haar wehte ihr um
die Schultern, die Alabasterhaut strahlte in der Morgensonne, und die meergrünen Augen blickten weit hinaus. Sie war kleiner als Cindy und ein bißchen speckig um die Hüften herum, aber sie besaß eine seltene Schönheit, die Aufmerksamkeit verlangte und erhielt. Sie bewegte sich mit majestätischer Anmut, den Rücken gerade, die Arme locker schwingend, aus jedem Schritt sprach das Bewußtsein, daß sie dort das Sagen hatte, wo sie auftrat. Hinter ihr fünf Kinder verschiedener Altersstufen, eine Kinderschwester, zwei Leibwächter, ein Friseur, ihr persönlicher Publicity-Mann und ein schlanker Junge, der als ihr privater Dolmetscher diente, falls ihre Worte ins Spanische übersetzt werden mußten. Sie schritt direkt auf Arthur Beatty zu und hielt ihm die Wange hin. »Ich möchte zusehen, Darling«, verkündete sie. Ihre Stimme klang unangenehm schrill, und selbst Hollywoods Toningenieure hatten oft Mühe, sie weicher ausfallen zu lassen. Sie übertönte leicht die Geräusche der Brandung, und jedes Wort kam sehr betont und für sich. »Ich möchte dabei sein«, sagte sie. »Niemand soll sich um mich kümmern. Ich will keinem von euch zur Last fallen, damit das klar ist. Es ist nur so, wenn eine gute Szene gefilmt werden soll, treibt es den Profi in mir zum Zuschauen. Macht weiter, ihr alle. Kümmert euch nicht um mich. Ich werde mir einen Sitzplatz suchen und alles beobachten und meine Kinder um mich scharen.« Sie ließ den Blick schweifen, als wollte sie jedem einzelnen versichern, daß man sich nicht um sie zu kümmern brauchte, und dann blieb der Blick an Cindy haften. Eine winzige vertikale Linie erschien zwischen den meergrünen Augen. »Wer«, verlangte sie im Befehlston zu wissen, »ist dieses schöne Kind mit den Brüsten?« »Oh, oh«, sagte Rafe. »Wir könnten in Schwierigkeiten geraten.« »Warum?« fragte Cindy verwirrt. Arthur Beatty bemühte dieses berühmte bollernde Lachen. »Ich bin diesmal unschuldig, Darling.«
Partridge knurrte etwas und massierte seinen gewaltigen runden Bauch. »Das Mädchen gehört zu dem jungen Delattre hier, Amy. Sie leben hier. Und sie arbeitet mit Giacomin.« Amy Swift schaute Arthur Beatty durchdringend an, ein hartes Lächeln um den vollkommenen Mund. Jetzt klang ihre Stimme schneidend scharf. »Wenn ich herausfinde, daß du diese Babytitten angerührt hast, Arthur, mein Lieber, schneide ich sie ab.« »Nie im Leben, Liebchen«, sagte Beatty rasch. Amy Swift bewegte sich zwanzig Schritte abseits, erklärte das Gebiet als ihr eigenes und ließ sich in einen der Leinenstühle nieder, die ein Regieassistent behende bereitgestellt hatte. Sie bescherte ihm ein Lächeln. Arthur Beatty atmete tief aus, sichtlich erleichtert, und stellte sich mit dem Rücken zu Amy. Brightlight fluchte in fröhlicher Bewunderung. Partridge grunzte wieder und fuhr fort mit seinen Anweisungen an die beiden Schauspieler. »Sie ist unglaublich«, sagte Cindy zu Rafe. »Das härteste Weib der Welt. Halt dich fern von ihr, sonst stampft sie dich in den Boden.« »Ich werde auf mich achtgeben«, sagte sie nüchtern, denn ihr war klar, daß Amy Swift eine ernsthafte Gefahr war.
7
Es war später Nachmittag, als Partridge sich mit dem Kampf zufriedengab. Er war viermal gedreht worden, aus verschiedenen Blickrichtungen und Perspektiven, und er war sicher, daß er beim Schneiden aus den jeweiligen Einstellungen ein spektakuläres Stück Filmgeschichte komponieren konnte. Cindy half Rafe, die Ausrüstung auf den Jeep zu laden. Als sie damit fertig war, sah sie Alain auf Bobby Partridges Wohnwagen zugehen. Sie lief ihm nach und rief seinen Namen. Er blieb stehen, drehte sich widerwillig um und wartete, bis sie ihn erreicht hatte. »O Alain!« rief sie außer Atem, »ich bin ja so glücklich für dich! Du hättest mir sagen sollen, daß du die Rolle hast. Ich bin richtig aufgeregt.« Er sah sie aus verengten Augen an. »Wie hast du das herausgefunden?« »Ist es denn ein Geheimnis? Rafe hat es mir gesagt. Partridge hätte dich schon vor zwei Tagen engagiert.« Er begann, auf den langen Trailer zuzugehen. Cindy folgte ihm. »Gibt es einen Grund, mir nichts davon zu sagen?« Er zögerte mit der Antwort, dann sagte er: »Ich wollte dich überraschen und vielleicht ein bißchen mit dir feiern.« »Oh, was für ein wunderschöner Einfall. Heute abend. Nur wir beide. Rafe hat mir von einem herrlichen Restaurant auf einem Berg erzählt, wo…« »Heute abend ist es unmöglich«, unterbrach er sie. »Ich muß meine Szenen mit Bobby durchgehen. Ich muß so viel lernen, und Bobby ist ein Meisterlehrer.« Sie versuchte, ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. »Geht es denn morgen?«
»Frag mich morgen. Ich muß jetzt gehen. Bobby mag nicht, daß man ihn warten läßt.« Er verschwand im Innern des Wohnwagens. Sie starrte auf die geschlossene Tür. Dann ging sie zum Jeep zurück, ihr Kopf war hohl. Sie kletterte auf den Sitz neben Rafe, und er startete den Motor, lenkte ihn auf die unbefestigte Straße, die sie aus dem kleinen Dorf hinausführen würde, zurück nach Palma. Vor ihnen schnurrte ein roter Maserati, der jetzt abgebremst wurde. Die massive Gestalt von Tod Brightlight hob sich hinter dem Steuer hoch, er winkte und rief. »He, Baby, wie geht’s denn so?« Sie winkte zurück, müde, gedankenverloren. Ja, es ginge gut und machte Spaß, sagte sie. »Ich fahre zum Hafen, will mir ein Boot ansehen. Haben Sie Lust mitzukommen?« Sie blickte Rafe unsicher an. »Geh mit ihm«, sagte er. »Aber sei vorsichtig. Brightlight ist ein wilder Mann.« Sie nickte, und plötzlich fühlte sie sich wieder besser, aus ihrer Niedergeschlagenheit herausgerissen. Sie stieg vom Jeep in den Maserati um und setzte sich neben den wuchtigen Schauspieler. »Legen Sie sich den Sicherheitsgurt um«, riet er. »Der alte Brightlight ist ein Tiefflieger.« Als sie angeschnallt war, machte der Maserati einen Satz und kratzte die Straße auf, entfernte sich im Renntempo vom Drehort. Erst im Stadtgebiet von Palma ging er vom Gaspedal. »Ihr Franzmann hat sich ‘ne Rolle ergattert«, sagte Brightlight und brach damit das Schweigen. »Ich bin ja so froh für Alain«, sagte sie mit einer Begeisterung, die sie nicht empfand. »Er hat es sich verdient. Aber es ist nur eine kleine Rolle.« Brightlight murmelte: »Die wird bestimmt noch größer.« »Glauben Sie wirklich?« »Ganz sicher.« »Aber woher wollen Sie das wissen?«
Er hielt den Blick auf die Straße gerichtet. »Wenn der alte Partridge sich einen geangelt hat, dann ist er Feuer und Flamme. Er wird Ihren Jungen nach oben bringen.« »Das hoffe ich.« »Wie geht’s Ihnen auf einem Boot?« fragte er abrupt. »Ich werde schon in einer Badewanne seekrank.« Sie lachte. »Und warum interessieren Sie sich dann für ein Boot?« »Teufel, wenn Arthur Beatty auf einer Yacht campen kann, dann kann der alte Brightlight das schon lange. Ich werde der erste schwarze Admiral sein – selbsternannt, natürlich.« »Sie sind komisch.« »Natürlicher Witz«, sagte er fröhlich. »Das ist ein Merkmal der Rasse.« »Hören Sie nie auf, sich daran zu erinnern, daß Sie schwarz sind?« Er sah sie von der Seite an. »Geht man nich’.« Er grinste flüchtig. »Ich hab’ Ihr hübsches Gesicht nicht eingeladen, um Sie jetzt in den Farbtopf zu stecken. Verstehen Sie etwas von Booten?« »Nur ein bißchen. Ich war mal auf einem Fischerboot, und ein paarmal bin ich an Bord von einem Sechs-Meter-Kahn in der Great South Bay gewesen.« »Wo ist die Great South Bay?« »Fire Island.« »Das ist Schwul Island, nicht wahr?« fragte er. »Sie sind doch nicht ‘ne Naturlesbe?« Sie mußte plötzlich an Hettie Johns denken, aber nur für einen Augenblick. »Halten Sie mich dafür?« »Nee, für ‘n weißes Mädchen sind Sie ganz okay.« »Da fangen Sie schon wieder damit an…« Er antwortete nicht, lenkte den Maserati geschickt durch die schmalen Gassen und stand schließlich am Yachthafen. Ein untersetzter Mann in einem weißen Leinenanzug und mit einer schwarzen Lederkrawatte und einem blonden Schnurrbart kam ihnen entgegen.
»Mister Brightlight?« fragte er. »Der und kein anderer. Sie sind McAndrews?« McAndrews streckte seine Hand aus, und Brightlight schlug ein. »Meine Informationen sagen mir, daß Sie ein herausragender Footballspieler in den Staaten waren, Mister Brightlight.« »Das ist Cindy Ashe. Sie berät mich bei Booten und solchen Sachen.« McAndrews befingerte seinen Schnurrbart. »Miss Ashe«, sagte er freundlich, konnte aber nicht verbergen, daß er über die ›Beraterin‹ nicht glücklich war. »Was haben Sie für mich, McAndrews?« »Ja«, sagte McAndrews. »Kommen Sie mit. Ich nehme an, daß Sie kaufen wollen?« »Mal langsam, Mann. Nur mieten.« »Nun, ich bin sicher, wir werden etwas Passendes für Sie finden. Es stehen drei Schiffe für Sie zur Verfügung, die Ihren Ansprüchen genügen werden, da bin ich sicher. Eins bietet sechs Schlafplätze, die beiden anderen je acht. Sie werden natürlich, wenn Sie selbst nicht sehr erfahren sind, einen Kapitän brauchen und vielleicht einen…« »Mann«, sagte Brightlight knurrend, »die Kähne will ich sehen, sonst nichts.« Ohne ein weiteres Wort führte McAndrews sie auf das erste Boot. Als sie alle drei besichtigt hatten, gingen sie wieder an Land, und Brightlight wandte sich an Cindy. »Sagen Sie, welches das beste ist.« »Ich soll entscheiden?« Er nickte. Sie dachte kurz nach. »Das zweite.« McAndrews nickte ernst. »Die Hatteras. Eine ausgezeichnete Wahl, Miss. Ein feines, bequemes Schiff, und der Preis beträgt nur…« Brightlight unterbrach ihn. »Verderben Sie den Brei nicht mit Geldgequatsche. Machen Sie den Vertrag fertig und tragen Sie ein, wieviel ich für einen Monat zu bezahlen habe. Und suchen
Sie mir einen Käptn, der das Ding kutschieren kann. Ich kann ein Ruder nicht von einer Pferdepeitsche unterscheiden.« Cindy mußte lachen. »Wirklich nicht?« Brightlight blieb ernst. »Nein, denn von Pferden verstehe ich auch nichts.« Er wandte sich an McAndrews. »Der Käptn soll sich rasch bei mir melden. Man kann nie wissen, wann mich der Drang überkommt, auf der Kutsche zu reiten.« Danach feierten sie das Boot mit Sherry in einem kleinen Café, und Brightlight warnte sie, daß sie jederzeit zu einem Trip über den Ozean bereit sein sollte. »Ich werde bereit sein«, sagte sie. »Wer soll sonst noch mitkommen?« »Alain«, sagte sie zögerlich. »Der Franzmann kann mit. Wer sonst?« »Rafe. Er ist ein guter Freund.« »Klar. Er kann Bilder von uns machen, damit wir unseren Leuten in den Staaten zeigen können, wie wir hier leben.« »Und wann?« fragte sie. Sie fühlte sich wie ein kleines Kind, dem man eine aufregende, geheimnisvolle Reise versprochen hatte und das es jetzt kaum abwarten konnte. »Wann segeln wir los?« »Bei der ersten Gelegenheit«, antwortete er. »Sobald mir Partridge nicht mehr im Nacken sitzt, zischen wir ab, das ist versprochen.« Aber diese Möglichkeit ergab sich erst zwei Wochen später. Partridge hatte eine zweite Technik-Crew zusammengestellt und setzte Doubles ein, um die Aufnahmen in der Totalen gleichzeitig drehen zu können. Deshalb mußte Rafe, der von jeder Einstellung seine Bilder haben wollte, von einem Drehort zum anderen rasen und Cindy mit ihm. Abends fiel sie müde ins Bett und schlief sofort ein. Trotzdem fühlte sie sich selten erholt, und Rafe verwies auf die Tatsache, daß sie zuviel trank und fast immer eine Zigarette im Mund hatte. Alain sah sie nur gelegentlich, es vergingen Tage, an denen sie kein Wort gewechselt hatten. Er verbrachte fast jede Nacht bei
Partridge, um den Text für den nächsten Tag zu lernen und die Posen durchzugehen, und oft blieb er die ganze Nacht in Partridges prächtiger Villa auf einem Hügel oberhalb von Palma. Eines Tages stellte Cindy ihn während der Mittagspause zur Rede. Sie beschwerte sich, daß sie viele Nächte allein verbringen müßte. »Ich bin es nicht gewöhnt, daß man mich ignoriert.« Er sagte hitzig und ärgerlich: »Dies ist die beste Gelegenheit, die ich je haben werde. Erwartest du, daß ich sie nicht wahrnehme? Es fällt mir nicht leicht, in einem so großen Film mitzuspielen, deshalb ist es nicht fair, daß du mich jetzt unter Druck setzt. Ich bin nach Mallorca gekommen, um in diesem Film dabei zu sein, und ich lasse mich von niemandem davon abhalten…« »Ich dachte, du seist nach Mallorca gekommen, um Geld für eure Revolution zu verdienen.« Sein Gesicht war eine einzige Zurückweisung. »Ich habe dich nicht um deinen Rat in Sachen revolutionärer Strategien gebeten. Da kenne ich mich besser aus.« Am folgenden Nachmittag saß sie auf einer niedrigen Steinmauer, die das Bergdorf umgab, das Partridge als Hintergrund für seine Aufnahme nutzte. Brightlight entdeckte sie dort und rief sie von hinten an. »Übermorgen!« rief er. »Was?« fragte sie geistesabwesend. Hinter ihr schlugen die Wellen gegen die steilen Felsen, und weiter draußen funkelte das Mittelmeer in der gleißenden Sonne. Ein paar Schnellboote schienen ein Wettrennen zu veranstalten, Wasserskier im Schlepp. »Ich habe mit Partridge gesprochen. Er braucht mich erst wieder am nächsten Mittwoch. Das heißt, wir können von Freitag bis Dienstag auf dem Boot bleiben. Sind Sie dabei?« Vier Tage weg vom Filmteam, vom steigenden Druck, von der wachsenden Unzufriedenheit, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Das versprachen die besten Ferientage zu werden, die sie je gehabt hatte. Dann drängte sich ihr ein störender Gedanke auf.
»Kann ich Alain bitten, mitzukommen?« Mit einem langen Finger richtete Brightlight den Sitz seiner Sonnenbrille. »Der Typ kommt nicht.« »Vielleicht kann er sich frei machen.« »Mädchen«, sagte er dumpf, »sind Sie dumm oder blind? Muß ich es denn deutlich sagen? Der Typ kommt nicht mit.« Sie schaute zu Brightlight hoch. Im Profil sah das Gesicht aus, als hätte ein Bildhauer seinem Werk den letzten Schliff gegeben. Er sah mehr als nur gut aus, er hatte diese sinnliche, exotische Ausstrahlung, und dazu sah man ihm die Klugheit und Intelligenz an. »Alain liebt mich«, hörte sie sich sagen. Er stellte sich vor sie und sagte laut, jedes Wort betont: »Sie müssen wissen, ob Sie kommen. Wir stechen am Freitag bei Tagesanbruch in See. Wenn Sie nicht da sind, segeln wir ohne Sie los.« Als er den Hügel hinunterging, dachte sie an das, was er gesagt hatte, was er ihr hatte sagen wollen. Sie versuchte, Gedanken zu verdrängen, die ihre Stimmung verschlechtern und ihre Hoffnungen vernichten könnten. Aber Alain könnte alles gerade rücken. Sie sehnte sich nach seiner Versicherung, daß alles noch so war wie früher. Wie damals in den Pariser Nächten. Sie stand vor Partridges Trailer und klopfte zögernd. Sie hörte, wie Partridges dröhnende Stimme »Herein« rief. Sie saßen an einem niedrigen Tischchen und tranken dunkles Bier und aßen russischen Kaviar mit Sauerrahm auf winzigen Crackers. Partridge begrüßte sie mit fröhlicher Unbekümmertheit. »He, Missy, ich bin froh, daß du kommen konntest! Komm, setz dich zu uns. Es gibt Fischeier und Bisquits. Bedien dich.« »Ich möchte mit Alain sprechen.« Partridge fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und den weißen Bart. »Alain, du hast die Lady gehört. Sie will sich mit dir unterhalten. Tu ihr den Gefallen.«
Alain starrte sie an. »Was ist denn?« »Könntest du für einen Augenblick mit hinausgehen? Es ist was Privates.« Rülpsendes Gelächter brach aus Partridge heraus, er hielt sich den hüpfenden Bauch. »Draußen, Alain!« rief er und griff nach einem Scheibchen mit Kaviar. »Draußen erfährst du, was Missy will.« Alain sah sie unter zusammengekniffenen Brauen an. »Es gibt nichts, was nicht auch hier gesagt werden kann. Hier, vor Bobby.« Sie wollte davonlaufen, aber ihre Füße schienen festgewachsen zu sein, als gäbe es keine Fluchtmöglichkeit vor diesen beiden Männern. Furcht schoß durch ihre Eingeweide, und in ihrer Kehle schmeckte sie Galle. Sie befeuchtete sich die Lippen. »Tod…«, brachte sie heraus. »Brightlight fährt für ein paar Tage mit seinem Boot hinaus. Er hat mich eingeladen, und ich…« »Dann geh doch«, sagte Alain. »Du bist auch eingeladen«, sagte sie. »Ich habe zu tun.« Partridge kicherte vor sich hin, der dicke Kopf nickte auf und ab. »Geh, wenn du willst, Alain. Ich komme auch ohne dich zurecht.« »Ich kann nicht weg«, sagte Alain steif und starrte irgendeinen Punkt in der Luft an. Ein leiser Stöhnlaut kam über ihre Lippen. »Brightlight hat mir gesagt, daß du nicht mitkommen würdest.« »Dieser Nigger ist ein gerissener Nigger«, sagte Partridge. »Ich gehe nicht mit«, wiederholte Alain. Unsicher sah sie sich mit gehetzten Blicken um. »Warum denn nicht, Alain? Was habe ich falsch gemacht? Was es auch ist, ich werde es nicht wieder tun. Bitte, Alain, behandle mich nicht so…« »Sag’s ihr, Junge«, sagte Partridge dumpf. »Sag’s ihr jetzt.« Alain sagte nichts.
Partridge räusperte sich und richtete sich in seinem Sessel auf. »In diesen Tagen ist dein Alain bei mir, Missy«, sagte er, die Stimme nicht unfreundlich. »Er gehört mir, Leib und Seele. Ich habe ihm einen persönlichen Mitarbeitervertrag gegeben, so daß er mir dienstlich gehört. Aber er gehört mir auf jedem anderen Gebiet auch. Es ist am besten, wenn du zu diesem Zeitpunkt gehst. Wenn du zurückkommst – falls du zurückkommst – , wird Alain aus eurer Villa ausgezogen sein und sich meinen Privatgemächern angeschlossen haben. Wir hätten das gleich von Anfang an so handhaben sollen, von diesem ersten Abend an. Ich habe es vorgeschlagen, aber Alain ist schwach, wie du weißt, Missy, er macht immer nur halbe Sachen. Er ist mehr der Gefolgsmann als der Führer, deshalb braucht er eine starke Autorität über sich. Die gebe ich ihm. Jetzt wirst du diesem Mädchen sagen, wie es ist, Alain. Sag’s ihr, verdammt, aber freundlich! Und so, daß sie’s versteht!« Alain atmete tief ein. »Bobby und ich, wir lieben uns. Seit dem ersten Abend im Gran Palace.« Partridge hievte sich aus dem Sessel hoch und baute sich vor Cindy auf. Seine massige Gestalt füllte beinahe den ganzen Wohnwagen aus. »In dieser Nacht, Missy, hat er mich geliebt und ich ihn, wir haben gestoßen wie wilde Hengste. Kraft und Schönheit, Missy. Wie es nur zwischen Männern sein kann. Es gab keine Öffnung, in die wir nicht eingedrungen sind, keine Stellungen, die wir nicht genossen haben, ausgekostet haben bis zum spritzigen Höhepunkt. Jetzt weißt du’s also, Missy. Jetzt kennst du den Grund, warum Alain sich weigert, dich auf das Boot dieses Niggers zu begleiten. Er ist zu beschäftigt, tagsüber ein Filmstar zu werden, und nachts hat er vollauf damit zu tun, mir Lust zu bereiten. Der kleine Franzmann ist fertig mit den Frauen, Missy, und er ist auch fertig mit der Revolution. Er gehört zu mir, solange ich ihn haben will, solange ich ihn begehre. Alain, meine kleine Missy, hat endlich sein wahres Zuhause gefunden.«
Sie rannte aus dem Trailer und stürzte zu Boden. Sie hätte nicht sagen können, daß sie gefallen war, und auch nicht, wie sie sich wieder aufgerichtet hatte. Sie rannte, aber sie wußte nicht, wohin, sie hatte nur das eine Ziel, das, was sie eben gehört hatte, aus ihrem Herzen zu verbannen. Sie wehrte sich gegen die Bilder, die sich ihr aufdrängten nach dem, was Partridge gesagt und beschrieben hatte. Sie kämpfte ums Vergessen. Sie sagte sich, sie hätte das alles nicht gewußt, sie hätte es nicht wissen können. Und gleichzeitig wußte sie, daß sie es gewußt hatte. Die ganze Zeit. Jetzt endlich konnte sie sich nicht mehr gegen die Wahrheit wehren, ganz egal, wie weit sie lief oder wie lange. Es gab kein Versteck.
8
Sie kamen vor Tagesanbruch und fanden sie auf den rissigen Fliesen des Wohnzimmers. In ihrer Nähe lagen eine leere Ginflasche und ein leeres Röhrchen mit Schlaftabletten. Brightlight bewegte sich flink, trug sie ins Badezimmer. Er hielt sie mit einer Hand fest und schlug sie mit der anderen Hand dreimal kräftig ins Gesicht. Sie stöhnte, aber sie wachte nicht auf. »Halt sie an den Hüften fest«, sagte er rauh. Rafe packte sie, und der wuchtige schwarze Mann öffnete gewaltsam Cindys Mund und steckte einen langen Finger in ihre Kehle. Sie würgte und ächzte, wollte sich losreißen, den Kopf abwenden. Brightlight ruckte den Kopf zurück und wiederholte die Prozedur. Würgend und röchelnd spuckte sie schließlich den Inhalt ihres Magens in die Toilettenschüssel. Brightlight hielt sie mit starker Hand fest und streichelte ihr mit einem Finger sanft über eine Augenbraue. »Was für ‘ne Art, sich zu verabschieden«, sagte er. »Komm, Baby, da kommt noch mehr raus.« Ihr Magen hob sich wieder, aber es gab nichts mehr, was heraus wollte. Sie stöhnte von dem Wundschmerz, der die ganze Körpermitte erfaßt hatte. Brightlight gönnte ihr eine Pause, als es vorbei war, ließ sie vornübergebeugt stehen. Dann richtete er sie wieder auf. Ihr Kopf rollte hin und her, sie schaute ihn aus starren Augen an. »Halt sie fest«, sagte er wieder zu Rafe. Brightlight streifte ihr Kleid vom Körper. Rafe wollte etwas einwenden, überlegte es sich dann aber anders. Er stellte Gindy mit einer einzigen flüssigen Bewegung unter die Dusche und drehte den Kaltwasserhahn auf. Sie prustete, gurgelte Proteste hervor und stieß eine Reihe spitzer Schreie aus, dann wollte sie aus der Dusche springen. Brightlight hielt sie fest.
»Dieser Bastard Alain«, murmelte Rafe. »Ich würde ihn am liebsten umbringen.« »Jeder kriegt, was er verdient«, antwortete Brightlight. »Die Kleine mußte irgendwann mal aufwachen.« »Brutalo«, murmelte Rafe ohne große Überzeugung. Brightlight lachte kurz auf. »So ist’s richtig, Baby«, sagte er, als Cindy wieder versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen und dem kalten Wasserstrahl zu entkommen. »Laß mich ruhig arbeiten.« »Ich ertrinke!« rief sie. Brightlight hielt ihren Kopf fest und hielt ihn genau unter den Strahl, bevor er sie los ließ. Sie ließ sich gegen die hintere Wand fallen. Brightlight drehte das Wasser ab und reichte ihr ein Badetuch. Er trocknete seine Hände. »Sieh zu, daß sie sich gründlich abtrocknet. Ich setze Kaffee auf. Ich will auf dem Kahn sein, bevor Partridge seine Meinung ändert und mich zurückpfeift. Also, beeilt euch.« »Neinnn!« rief Cindy schrill. »Ich komme nicht mit!« Er ging aus dem Badezimmer, ohne sich noch einmal nach ihnen umzusehen.
9
Sie brachten Cindy in eine Kabine, legten sie in die Koje und überzeugten sich davon, daß sie eingeschlafen war, bevor die Hatteras aus der Bucht von Palma ausgelaufen war. Der Kapitän, ein hagerer Spanier namens Jaime, mit der Verschlossenheit eines alleinstehenden Mannes, hielt Kurs auf Richtung Ibiza, etwas mehr als einhundert Kilometer entfernt. Sie segelten südwestwärts unter einem wolkenlosen Himmel, umgeben von einer sanften, glitzernden See. Brightlight und Rafe, nur mit Badehosen bekleidet, richteten sich auf dem oberen Deck auf Matten ein, eine Kühltasche mit Bier griffbereit. Nach einer Weile stand Brightlight auf und rieb seine breiten Schultern mit Sonnencreme ein. Rafe schüttelte den Kopf. »Seltsam«, sagte er. »Was ist seltsam?« »Ich bin dunkler als du.« »Mach dir nichts vor, Mann. Du bist weiß, ich bin schwarz. Den Unterschied habe ich herausgefunden, als ich zwölf war. Da habe ich gegen einen weißen Typen gekämpft, der vier oder fünf Jahre älter was als ich, aber ich habe ihm einen übergebraten.« Er stieß ein Geräusch aus, als wollte er Dampf ablassen. »Das hat mir drei Jahre bei ‘ner Straßenrotte in Georgia eingebracht. Zwölf Jahre alt, und die Bastarde haben mich in den Steinbruch geschickt.« Ein beinah jungenhaftes Grinsen breitete sich auf dem gut geschnittenen Gesicht aus. »Seitdem habe ich keinen weißen Lümmel mehr zusammengeschlagen.« »Ich kann mir vorstellen, daß du zuschlägst, wann immer du zuschlagen willst.« Die schwarzen Augen schauten hinaus auf die See, wo eine Gruppe Tümmler ihre Späße im ruhigen Wasser trieb.
»Warum willst du einen Sonnenbrand riskieren?« fragte Rafe, vorsichtig in der Wortwahl. Brightlight schaute ihn an und sagte ernst: »Einige von uns bekommen sogar Sommersprossen.« Er grinste in der Erinnerung. »Bei uns zu Hause in Natchez haben sich die Weißen höllisch darüber aufgeregt. Sie fanden, daß Sommersprossen den Weißen vorbehalten sein müßten.« Er legte sich wieder auf den Rücken, die Augen geschlossen. »Natchez«, murmelte Rafe, »liegt in Mississippi. Die Biographie, die dein Studio herausgegeben hat, gibt deine Heimat mit Nebraska an.« Brightlight schnalzte mit der Zunge. »Man kann diesen Presseheinis nichts glauben, sie saugen sich diese Dinge aus den Fingern.« »Du kommst aus Mississippi und warst in einem Steinbruch in Georgia?« »Das ist mein unruhiger Geist, der Indianer in mir.« »Ich wollte dich sowieso mal nach deinen indianischen Vorfahren fragen.« Brightlight öffnete ein Auge. »Weißer Mann, du bist ein Ungläubiger.« »Dann überzeug mich«, sagte Rafe. Er griff nach einem Bier und trank einen Schluck. Brightlight streckte eine Hand aus, und Rafe reichte ihm die Dose. Er setzte sie an seinen Mund, schluckte und stellte die eisgekühlte Dose auf seinen Brustkorb. »He, Mann, das nenn’ ich cool.« »Erzähl mir von deiner indianischen Abstammung.« Brightlight schüttelte den Kopf. »Das ist typisch für Bleichgesichter, zu ungeduldig.« Er setzte die Bierdose wieder an. »Hast du noch nie vom Volk der Natchez gehört? Natürlich nicht. Weißt du, warum nicht? Schlechte Öffentlichkeitsarbeit. Apachen und Komantschen kennt jeder; ich schätze, sie haben einen der ersten amerikanischen Werbemanager von der Madison Avenue angeheuert, um sie bekanntzumachen.«
Rafe mußte lachen. »Du wolltest mir von den Natchez erzählen.« Brightlight leerte die Dose, warf sie über Bord. »Die Natchez waren ein feiner Stamm, sie lebten in dem Gebiet, das die Weißen Louisiana nannten, und dort in einem Dorf namens White Apple. Die Franzosen hatten dort das Sagen, sie hatten sich in New Orleans niedergelassen. Die Franzosen hatten aber keinen Bock, in der heißen Sonne zu arbeiten, deshalb haben sie ein paar Schwarze herüberkarren lassen, die ihnen die Arbeit verrichteten. Sklaven, verstehst du?« »Ich verstehe.« »Ein paar der schwarzen Jungs haben rund um Fort Rosalie gearbeitet, aus dem heute Natchez, Mississippi, geworden ist. Diese Nigger lebten unter dem Code Noir, der festlegte, wie die Weißen mit den Schwarzen zu verfahren hatten, die sich irgendwas zuschulden kommen ließen. Unter dem Code Noir sind auch die Juden aus Louisiana vertrieben worden. Sie wollten nur Katholiken in ihrem Land haben.« Er hob den Kopf und sah Rafe mißtrauisch an. »Bist du auch ein Katholik, Giacomin?« »Ich bin als Katholik geboren, aber jetzt bin ich keiner mehr.« »Und schleppst Schuldgefühle mit dir rum, was?« Rafe grinste. »Diesen Affen hab’ ich abgelegt. Was war mit Fort Rosalie?« Brightlight legte sich wieder hin, schloß die Augen. »Ein Captain Chepart war der Boß in Fort Rosalie, ein harter Kerl. Als aus N’Orleans die Kunde kam, daß die Natchez aus White Apple vertrieben werden sollten, hat Chepart dem Häuptling der Natchez, Große Sonne, die schlechte Nachricht überbracht. Große Sonne wurde rot vor Zorn und sagte: ›Chepart, darauf pisse ich, Mann, dies ist unser Land, und wenn du was willst, dann such dir selbst was.‹ Der alte Chepart verlor die Beherrschung und läßt seinen Harten raushängen, wenn du weißt, was ich meine. ›Bewegt eure Ärsche, Rothaut, sonst mach ich euch Beine.‹
Große Sonne war kein Narr, und so senkt er den Kopf und geht und berät sich mit seinem Kriegsrat, und dann denken sie sich eine List aus, eine kleine Überraschung für die Franzosen. Sie gehen zurück zum Fort und bringen Pelze und Mais und andere Sachen, und Chepart und seine Leute nehmen alles an. Wirklich, die Franzosen flippen fast aus über diese Dinge, und so fällt ihnen nichts auf. Große Sonne hatte nämlich alle Natchez zusammengetrommelt, und so fangen die jungen Kerle an, kreuz und quer ihre Pfeile abzuschießen, und als es vorbei ist, atmen zweihundertundfünfzig Franzmänner durch Löcher, die sie vorher nicht gehabt haben. Die Natchez hatten auch Gefangene genommen, darunter ein paar weiße Frauen und Mädchen und auch schwarze Sklaven. In dieser Nacht ließen die Natchez die Sau raus, Mann. Saufen, tanzen, lieben. Und niemand kümmerte sich um Rassentrennung. Am anderen Morgen war es Zeit, die Fliege zu machen. Große Sonne wußte, wenn N’ Orleans erfuhr, was in Fort Rosalie passiert war, würde der Gouverneur alle Soldaten und Polizisten zusammenziehen, und obwohl die Natchez tapfere Krieger waren, hatten sie gegen die geballte Kraft der Franzmänner keine Chance. Und so zogen sie Leine, die Natchez, die gefangengenommenen Weißen und die schwarzen Sklaven.« Ibiza ist fünfundsechzig Kilometer lang und nur fünfundzwanzig Kilometer breit, viel kleiner als Mallorca. Die Sonne war ein weißglühender Ball an einem Himmel ohne Wölkchen und verbrannte das Land. Die Hatteras segelte in den Hafen der Stadt Ibiza und kam zitternd zum Halten, als der Kapitän die Maschinen rückwärts laufen ließ. Rasselnd hörten sie die Ankerkette fallen. Rafe und Brightlight standen an der Reling und sogen den Blick auf die alte Stadt ein. La Ciudad, die Stadt, schien sich aus dem blauen Wasser zu erheben, weiße viereckige Häuser mit kleinen
hölzernen Baikonen und dunklen Holztüren und Fensterläden. Tupfer in Farbe – scharlachfarbene Blumen, weißer Hibiskus, purpurne Bougainvillea. In unregelmäßigen Terrassen stieg die Stadt bis zur mittelalterlichen Festung an, die ihr wie eine Krone stand. Der Kapitän gesellte sich zu ihnen. »Ich habe mein Ruderboot an der Seite festgetäut. Wir könnten es benutzen, um an Land zu kommen.« »Ich glaube, Bier brauchen wir dringender«, sagte Brightlight. »Und den hiesigen Wein will ich probieren.« »Ich habe auch was zu essen an Bord, wenn ihr wollt«, bot der Kapitän an. »Ihr beide geht an Land«, entschied Brightlight. »Ich warte hier auf Cindy, falls sie aufwacht. Vielleicht schlafe ich selbst ein bißchen. Amüsiert euch. Laßt euch Zeit.« Der Kapitän nickte und ging zu seinem Ruderboot. Rafe warf Brightlight einen Blick zu, dann schaute er hinaus auf die See. »Cindy hat eine harte Zeit durchgemacht«, sagte er ruhig. »Es wäre nicht fair, ihr Leben noch schwerer zu machen.« »Das Leben ist hart.« »Du weißt nicht alles von ihr.« »Ich will es auch nicht wissen.« Die schwarzen Augen blinzelten nicht. »Spar dir deinen Sermon.« »Cindy ist meine Freundin. Ich will nicht, daß ihr noch mehr weh getan wird.« »Hau ab«, knurrte Brightlight, aber die Spannung wich aus seinem Gesicht. »Ich werde ihr keinen Schaden zufügen. Jetzt verpiß dich, Mann.« Er sah ihnen nach, wie sie an Land ruderten und dann in einer Straße verschwanden, die nicht breiter als eine Gasse war. Brightlight griff nach einem frischen Bier. Er hatte die Dose fast leer getrunken, als er sich entschied, sich im Meer abzukühlen. Er tauchte von der hinteren Reling ins Wasser und schwamm etwa hundert Meter hinaus, bevor er umkehrte. Kurz bevor er das
Boot erreichte, schaute er auf und entdeckte Cindy, die an der Reling stand und zuschaute. Er zog sich an Bord. Niemand sagte etwas, während er sich trocken rubbelte. Er nahm ein frisches Bier aus der Kühltasche und bot es ihr an. Sie lehnte schweigend ab. Er öffnete die Dose und setzte sie an die Lippen, trank, schluckte, stellte die Dose aufs Deck. Er sah Cindy an und sagte: »Sie sehen schrecklich aus.« »Ich fühle mich schrecklich.« Sie setzte sich ihm gegenüber, die Knie angezogen, die Arme um die Knie geschlungen, das Kinn auf einen Arm gestützt. Die haselnußbraunen Augen waren von roten Fäden durchzogen und blickten unstet. Sie biß sich auf die Unterlippe. »Wo sind wir?« fragte sie. Er sagte es ihr. »Ist Rafe mitgekommen?« Er nickte. »Wo ist er?« Er sagte es ihr. Sie wich seinem Blick aus. »Sie machen mich nervös.« »Unsinn. Das sind Sie selbst.« Sie lächelte fast, und auf ihrem hübschen Gesicht erschien so etwas wie ein unschuldiger Blick. »Sind Sie wirklich so ein harter Typ, wie Sie sich den Anschein geben?« »Ich bin hart genug, um in dieser Welt zu überleben. Und um mich zu behaupten.« »Und ich nicht, meinen Sie.« Er hob die Schultern. »Ich wollte mich nicht umbringen«, sagte sie plötzlich. »Okay.« »Nein, wirklich nicht.« »Okay«, sagte er wieder, »wirklich nicht.« »Bastard!« fluchte sie. Dann, verträglicher: »Ich konnte nicht schlafen. Ich war bestürzt, Alain und…« »Ich weiß.« »Ich habe Gin getrunken, weil ich hoffte, davon würde ich bewußtlos. Aber mein Gehirn blieb wach. Ich mußte aufhören zu denken, verstehen Sie das? Ich mußte einfach. Deshalb habe ich ein paar Pillen geschluckt, Schlaftabletten.«
»Sie hatten Glück, daß Giacomin und ich unbedingt Gesellschaft haben wollten. Rafe sagte: ›Komm, wir holen Cindy ab. Wir wecken sie und bringen sie her.‹« »Danke.« »Meine Idee war es nicht. Ich wäre auch ohne Sie losgesegelt. Wer nicht kommt – selber schuld. Aber dieser Rafe hat mir in den Ohren gelegen, bis ich nachgegeben habe. Also, meine Schuld ist es nicht, daß Sie nicht gestorben sind.« Er trank die Dose leer und schloß die Augen. Fünf Minuten vergingen, und niemand sagte etwas. Er öffnete die Augen, und sie hatte sich nicht bewegt. »O Himmel!« rief er. »Essen Sie was, trinken Sie was. Tun Sie irgendwas. Und ziehen Sie sich einen Badeanzug an und legen sich in die Sonne. Sie sehen aus wie der aufgewärmte Tod, und dieser Anblick stülpt meinen empfindsamen Magen um.« Er schloß die Augen wieder, und nach ein paar Minuten gehorchte sie. Der Kapitän und Rafe kletterten gerade an Bord, als Brightlight an Deck auftauchte, tadellos gekleidet mit weißer Hose und gelben Sporthemd. Er trug einen Krug mit Martinis in der einen und vier langstielige Gläser in der anderen. »Zeit für einen Drink!« rief er, verteilte die Gläser und füllte sie. Cindy lehnte mit einem säuerlichen Gesicht ab, und niemand bedrängte sie. »Du mußt mit an Land kommen«, sagte Rafe. »Was für eine herrliche Insel! Die Römer waren hier und die Mauren, die Byzantiner und die Phönizier. Und alle haben irgendwas hinterlassen – ihren Baustil, Merkmale ihrer Rassen. Man sieht den Eingeborenen an, daß sie Opfer der Sonne sind, ledergegerbt, ausgetrocknet, faltig und verschrumpelt. Sie sehen älter aus, als sie sind.« »Du malst Bilder mit deinen Worten«, sagte Brightlight.
»Wie mit deiner Kamera«, fügte Cindy hinzu. Trotz eines Pochens in ihren Schläfen und einer Wundheit hinter ihrem Nabel fühlte sie sich wieder bei Kräften und ein bißchen optimistischer als vor ein paar Stunden. »Ich habe einen Mann in der Stadt getroffen«, fuhr Rafe fort. »Er stammt aus New York und hat uns ein Restaurant und Café in der Stadt empfohlen. Da soll wirklich was los sein. La Tienta.« »Nicht für mich«, sagte Cindy. »Es wird dir gut tun«, sagte Rafe. »Ich will allein sein, bitte.« »Nun hör dir das an!« rief Brightlight. »Ich glaube, die Kleine wirft mich von meiner eigenen gemieteten Yacht!« Er verbeugte sich vor ihr, schaute sie spöttisch an. »Sonst noch was, Miss Cindy, Maam, was ich für Sie tun kann?« Sie grinste. »Ach, hören Sie auf!« Er richtete einen ausgestreckten Zeigefinger auf sie. »Hört zu. Ich nehme das Vorrecht des Eigners in Anspruch und erkläre, daß dies die Zeit des Taufens ist.« »Wovon spricht er?« fragte sie Rafe. »Geduld.« Er sprang die Treppe hinunter und kehrte kurz darauf mit einem großen viereckigen weißen Karton wieder, einer Rolle Klebeband und einer nicht geöffneten Colaflasche. »Also Leute«, rief er, »wenn Brightlight ein Boot mietet, erhält dieses Boot einen neuen Namen, und jetzt ist es Zeit, diesen Kahn zu taufen.« Er reichte Cindy die Colaflasche. »Sie übernehmen die Taufzeremonie.« »Mit einer Cola?« »Ich werde doch keinen Champagner für so ‘ne Arie verschwenden. He, Rafe, hilf mir mal, den neuen Namen festzukleben.« Er zeigte ihnen den weißen Karton und was er als Name des Boots darauf geschrieben hatte: BLACK POWER
Brightlight lachte fröhlich und stampfte mit beiden Füßen auf. »Ist das kein Hammer? Damit mache ich das ganze Mittelmeer nervös. Komm schon, Rafe, ich halte den Karton, und du klebst ihn fest.« Brightlight hielt den Karton über den ursprünglichen Namen des Bootes, und Rafe klebte kreuz und quer. Als das Schild am Bug hing, sagte Brightlight, nun sei Zeit für Cindys Auftritt. Sie schritt zur Reling und packte die Colaflasche am Hals. »Ich taufe dich…« »Nein, nein!« rief Brightlight. »Sie müssen eine angemessene Rede halten, Lady. Wo bleibt denn Ihre Vorstellungskraft?« »Genau richtig«, stimmte Rafe zu. Cindy nickte. »Zu Ehren von Tausenden tapferen Negern…« »Schwarzen«, berichtigte Brightlight. »Zu Ehren und in Erinnerung an die Tausende tapferen schwarzen Männer, die auf See gestorben sind, taufe ich dich auf den Namen Black Power…« Sie klatschte die Colaflasche gegen den Rumpf, aber sie zersplitterte nicht. Sie packte die Flasche erneut und holte wieder aus. »Sie zerbricht nicht«, sagte sie. »Versuch’s noch einmal.« »Es geht nicht«, jammerte sie nach dem weiteren Versuch. »Noch einmal«, drängte Brightlight aufgeregt. Sie atmete tief ein, holte weit aus und ließ die Flasche mit aller Wucht krachen. Die Flasche zersplitterte, das Cola sprühte und zischte und erwischte Brightlight. Er war klatschnaß. »Black Power!« brüllte er in gespieltem Entsetzen. »Black Power! Hast du denn überhaupt keinen Verstand? Wie kannst du mich damit unter Wasser setzen? Verdammtes Cola. Da seht ihr mal, das ist Medizinkraft aus Georgia, White Power, und die hat mich naß und klebrig gemacht.« Im nächsten Augenblick war er über Bord gesprungen und tauchte elegant durchs Wasser. »Dieser Dummkopf!« rief Cindy und sah ihm nach. Sie wartete bange Sekunden ab, aber er tauchte nicht wieder auf. »Vielleicht hat er sich verletzt«, sagte sie zu Rafe.
Rafe stieg aus seinen Schuhen, starrte hinunter aufs Wasser, das inzwischen wegen der Dunkelheit nicht mehr so einladend grünblau glänzte. »Wirf mir einen Rettungsring zu, ich werde ihn finden.« Er tauchte. Minuten später kam er wieder hoch. »Zu tief! Ich kann ihn nirgendwo sehen!« Er atmete tief ein und tauchte wieder. Aber auch jetzt kam er ohne Brightlight an die Oberfläche. »Ich kann ihn nicht sehen!« rief er verzweifelt. Cindy spürte, wie ihre Knie schwach wurden, wie sie zu zittern begannen. Sie wollte sich übergeben. »O nein!« murmelte sie, und plötzlich fiel ihr George Blaine ein, und ihre Angst steigerte sich noch. »Das darf doch nicht wahr sein…« »Was denn, was denn?« Sie hörte die Stimme hinter sich, laut und spöttisch. »Was darf nicht wahr sein?« Sie ruckte herum und sah Brightlight vor sich stehen, ein schelmisches Lächeln über dem ganzen Gesicht. Er schaute auf Rafe hinunter, der sich im Wasser abstrampelte. »Da schwimmt es sich gut, was, Freund Rafe?« Erleichtert stieg Rafe die Leiter hoch. Brightlight wandte sich lachend an Cindy. Sie warf sich ihm entgegen, hämmerte mit ihren kleinen Fäusten gegen seinen Brustkorb. Er lachte immer noch, packte ihre Handgelenke und achtete darauf, daß er ihr keine Schmerzen zufügte. »Sie sind schrecklich!« rief sie. »Ein quälender verdammter Bastard!« Er beugte sich über sie, die Augen verengt, aber sonst das Gesicht ohne Regung. »Jetzt habe ich Heißhunger auf ein gutes Essen. Wir gehen alle an Land und probieren diesen Laden aus, von dem Rafe gesprochen hat. Und Sie müssen mit uns kommen. Durch eine Frau wird das Essen erst genießbar.« Sie hörte auf, sich in seinen Armen zu wehren, und er gab sie frei. »Es wird eine Weile dauern«, sagte sie, »denn ich will mich schönmachen.« Als Rafe endlich an Deck auftauchte, begrüßte Brightlight ihn mit einem Martini und einem Grinsen. Rafe nahm den Drink an, und dann grinsten sie beide.
Es war kurz nach Mittag am folgenden Tag, als sie rund um die zerklüftete Küste Ibizas zu segeln begannen. Sie suchten eine abgelegene cala, einen jener Finger des Meeres, die in das Land hineingreifen. Schließlich entdeckten sie eine solche Bucht, und Jaime verlangsamte die Fahrt der Black Power und steuerte sie in die schmale Öffnung hinein. Das Wasser war ruhig und durchsichtig. Am Ende der cala ein feinkörniger Sandstrand, dahinter ein Wald aus hohen, breiten Pinien. Als sie den Anker geworfen hatten, holte Jaime Taucherausrüstungen hervor und gab einen Schnellkurs in diesem Sport. Rafe und Brightlight waren entschlossen, genug Fische fürs Abendessen zu fangen. Cindy genügte es, gemächlich unter Wasser zu paddeln und sich dem Gefühl der Abwesenheit von Ort und Zeit hinzugeben. Vielfarbene Fische schwebten vorbei, beäugten sie ohne Furcht, dann auch ein rundes, stacheliges Ding und ein langes, schlankes Etwas, das sich nervös durchs Wasser peitschte. Sie ging tiefer, bis auf den Grund. Ein Krebs flüchtete. Sie suchte den Boden nach einem Souvenir ab. Als sie etwas gefunden hatte, hielt sie es in der geschlossenen Hand und strampelte hoch. An Bord streifte sie die Sauerstoffflasche ab und zeigte Jaime die beigefarbene Muschel. Sie war dick in der Mitte, fast kreisrund. »Was ist das, Jaime?« »Ein Ochsenherz. Sie haben ein besonderes Exemplar gefunden. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen den Inhalt herausholen.« Sie betrachtete das Ochsenherz. »Es verliert die Farbe«, klagte sie. Sie erinnerte sich an einen Trick, den ihre Mutter ihr vor Jahren auf Fire Island beigebracht hatte. Sie hatten einige besonders schöne Schneckenmuscheln gefunden, und Maggie hatte sie mit farblosem Nagellack angestrichen, der die Farben erhielt und noch verstärkte. Das würde sie auch mit dem Ochsenherz machen. An diesem Abend verspeisten sie den Hecht, den Rafe und Brightlight harpuniert hatten, in Butter gebraten und mit ganz
leichten Gewürzen angemacht, besprenkelt mit Zitronensaft. Danach brachte Cindy den Männern ein Kartenspiel bei, sie gewann andauernd. Um Mitternacht schliefen sie alle. Nach dem Frühstück segelten sie nach Formentera, an unbewohnten kleinen Inseln vorbei, die ihnen den Weg wiesen. Sie warfen Anker in Cala Savina und gingen an Land und fuhren mit einem uralten Bus die fünf rauhen Kilometer nach San Francisco Xavier. Dort labten sie sich an einheimischem Käse mit krustigem Brot und Weintrauben und dazu den feinen Weißwein der Insel. Jeder von ihnen nahm Formentera-Käse mit zum Boot. Den Rest ihrer Ferien verbrachten sie in Cala Savina, sie schwammen und sonnten sich, aßen und tranken, unterhielten sich mit Wortspielen, und Brightlight zeigte ihnen Kartentricks. Nach dem Mittagessen am Dienstag erinnerte Rafe sie daran, daß es Zeit war, nach Mallorca zurückzusegeln. »Vielleicht wollen wir gar nicht zurück«, sagte Brightlight. »Du bist gleich morgen früh mit einigen Einstellungen dran«, mahnte Rafe. »Es würde Partridge nicht gefallen, wenn du…« »Partridge kann mich mal.« Cindy legte eine Hand auf Brightlights Arm. »Bitte, Tod, mach keinen Ärger. Wenn wir zurück auf Mallorca sind, werde ich abreisen.« »Warum?« fragte Brightlight. »Es gibt keinen Grund mehr für mich, dort zu bleiben.« »Ich mag keine Leute, die einfach weglaufen.« »Ich sagte doch, daß ich keinen Grund mehr habe…« »Rafe und ich sind Gründe genug.« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Gute Gründe.« »Also ist alles klar.« Er zog die Stirn kraus. »Entweder du bleibst, oder die Black Power bewegt sich keinen Schritt.« »Er hat recht«, sagte Rafe. »Du bist mir eine große Hilfe. Außerdem – wohin willst du gehen? Paris? London? Zurück nach Hause?« Der Gedanke an diese Entscheidung lastete schwer auf ihr.
Sie sehnte sich nach einer warmen, freundlichen Welt, durch die sie ziellos driften konnte. »Also gut, ich bleibe.« »Dann werden der Kapitän und ich den Anker lichten. Es ist nämlich so, wenn ich dieses Gesicht nicht vor Partridges Kamera hänge, werde ich nicht der Millionen-Dollar-pro-Film-Star.« Er verschwand in seiner Kabine. Cindy schaute ihm nach und sagte: »Er ist nett.« »Cindy, ich weiß nicht, was in deinem hübschen Kopf herumschwirrt, aber laß dich nicht mit ihm ein.« »Weil er schwarz ist?« »Weil er nichts als Ärger bedeutet, und das weißt du so gilt wie ich.« »Wie unterscheidet er sich dadurch von anderen? Ich habe noch keinen Mann kennengelernt, der mir nicht Ärger eingebracht hat. Tod… er ist sanftmütig und anständig, der erste wirklich starke Mann, den ich kenne. Und er mag mich wirklich.« »Er ist nicht gut für dich.« »Bist du sicher?« »Da gibt es eine alte Fabel«, sagte Rafe. »Eine Spinne wollte ans andere Ufer eines breiten Flusses, konnte aber nicht schwimmen. Da kam ein Frosch, und die Spinne fragte den Frosch, ob er sie hinübertragen könnte. ›Keine Chance‹, antwortete der Frosch. ›Ich bin doch nicht dumm. Wenn ich dich auf meinen Rücken klettern lasse, beißt du mich, und dann bin ich tot.‹ ›Nein, nein‹, sagte die Spinne. ›Was hätte ich davon? Ich würde ja auch sterben, weil ich ertrinken würde.‹ Der Frosch dachte darüber nach und konnte keinen Fehler in dieser Logik entdecken, und so war er damit einverstanden, daß er die Spinne auf den Rücken nahm und ans andere Ufer trug. Sie zogen also los, und als sie an der tiefsten Stelle des Flusses waren, biß die Spinne den Frosch. Sterbend begann der Frosch zu sinken. Er schaute die Spinne an. ›Wie konntest du das tun?‹
krächzte er. ›Du hast uns beide umgebracht, und dabei hast du doch versprochen…‹ ›Es tut mir leid‹, sagte die Spinne traurig, ›aber schließlich bin ich eine Spinne.‹ Und so ertranken sie beide.«
10
Jose Antonio ist ein Pünktchen auf der Landkarte von Mallorca, direkt an der Westküste. Obwohl es nur gut dreißig Kilometer von Palma entfernt liegt, ist man in der Lebensweise ein ganzes Jahrhundert zurück. Vor einigen Steinhütten und weiß angestrichenen Baracken boten junge Mädchen mit unglaublich großen schwarzen Augen und olivfarbener Haut gestickte Taschentücher für die Touristen feil, während ihre Mütter Flachs spannen und das rauhe Gewebe mit ihrem Speichel geschmeidiger machten. Esel und aufgeregte Hühner und ausgemergelte Hunde belebten die wenigen Straßen des Dorfes; junge Frauen trugen Bleche mit ungebackenen Broten auf dem Kopf zum Gemeindeofen, und junge Burschen zogen selbstgemachte Holzpflüge auf die Felder. Abgesehen vom Besuch des Arztes, der einmal in der Woche ins Dorf kam, und einer gelegentlichen Hochzeit und der unvermeidlichen Beerdigung und dem fröhlichen Ereignis einer Geburt, verlief das Leben in Jose Antonio in festgefahrenen Bahnen. Da es im Dorf keine Elektrizität gab und das Wasser vom Gemeindebrunnen in jedes Haus gebracht werden mußte, schien Jose Antonio ein denkbar ungeeigneter Ort für einen MultiMillionen-Film zu sein. Aber nicht für Bobby Partridge. »Es ist vollkommen!« rief er seinem ersten Kameramann begeistert zu. »Dieses hartgebackene primitive Bild, der dumpfe Ausdruck in den Augen der Menschen, beinahe leblos. Diesen harschen Blick will ich im Film wiedergeben.« Er schrieb ein paar Szenen um, die das Budget belasteten und dehnte auch die Drehdauer aus. Er mietete Wohnwagen für die gesamte Crew, damit sie während der Touristensaison aus Palma ferngehalten wurde.
Cindy und Rafe dagegen fuhren jeden Tag nach Jose Antonio, sie entwickelten jeden Abend die Filme und schickten Abzüge nach New York. Die Redaktion ließ wissen, daß sie mit den Arbeiten sehr zufrieden war und eine längere Strecke mit Bildern fahren würde. Als die Produktionsfirma von der verlängerten Drehdauer erfuhr, schickte sie Partridge ein Telegramm, in dem er aufgefordert wurde, die Dreharbeiten zu beschleunigen. Die Banker, die das Projekt finanziert hatten, fürchteten um ihr Geld. Partridge ignorierte das Telegramm. Am Tag darauf verlangte Amy Swift eine Woche Urlaub für eine Verjüngungskur in Genf. Da er unterstellte, daß ihre Abwesenheit seine Auftraggeber noch mehr in Rage bringen würde, stimmte Partridge zu. Amy reiste ab, nachdem sie ihrem Presseagenten aufgetragen hatte, Arthur Beatty nicht aus den Augen zu lassen. Keine Frau, gleich welchen Alters, welcher Hautfarbe und welcher Position, sollte in seine Nähe gelangen können. Da dem Presseagenten bewußt war, daß er diesen Auftrag unmöglich erfüllen konnte, rief er vorsichtshalber einen Freund in Hollywood an, daß er sich nach einem neuen Job für ihn umhören sollte. Sobald die Nachricht von Amy Swifts Abwesenheit vom Drehort New York erreicht hatte, wurde ein Vize-Präsident nach Mallorca geschickt. Drei Tage lang scharwenzelte er um Bobby Partridge herum, drei Tage und drei Nächte, um den Regisseur anzuhalten, termingerechter und kostengünstiger zu arbeiten. »Ich bin Filmemacher!« röhrte Partridge, als ihm schließlich der Kragen platzte. »Kein Klempner! Ich bin Künstler, kein Buchhalter! Sagen Sie Ihren verdammten Geldverleihern, daß Partridge dabei ist, ein Meisterwerk zu schaffen, und dabei will er sich nicht von der Niggermentalität von Pygmäen beirren lassen.« »Aber die Kosten!« stöhnte der Vize-Präsident. »Sie müssen die Swift zurückholen und weniger Zeit mit Beatty verschwenden. Er sollte seinen Text vor Drehbeginn gelernt haben und…«
»Raus!« brüllte Partridge und schnappte sich einen Spazierstock, mit dem er wild in der Luft herumfuchtelte. »Raus, sonst mache ich diesen gehirnlosen Kopf eines Vize-Präsidenten platt. Raus! Raus!« Der Vize-Präsident wich zurück, stolperte über ein elektrisches Kabel, fiel auf den Hintern und schrie wie am Spieß. Die Unterhaltung fand im Essenszelt statt, das für die Fütterung von Besetzung und die Mannschaft aufgebaut worden war, und jetzt schrie der Vize-Präsident den Köchen zu, daß sie eigentlich von ihm bezahlt würden, nicht von Partridge, deshalb erwartete er Hilfe von ihnen. Keine Hand rührte sich. Der wuchtige Regisseur stand über dem gestürzten Mann und tobte sich wieder seinen Zorn aus dem Leib. Er packte den Spazierstock an beiden Enden und ließ ihn auf seinem angewinkelten Knie zerkrachen. Der Vize-Präsident raffte sich hoch, kam aber nicht auf die Füße. Partridge stieß ein gepeinigtes, frustriertes Heulen aus. »Sie!« röhrte er. »Das nächste, was ich breche, ist Ihr Genick! Ich werde Sie zerlegen wie das fette Geldschwein, das Sie sind. Ich werde Sie aufschlitzen und ausnehmen, werde Sie zerhacken und zermahlen und in den Gully streuen. Ich werde Ihr feistes Gesicht zertrampeln, bis es Pudding ist. Ich werde Sie atomisieren, Sie zerquetschen, Sie elender Kretin. Sie sind ausgemerzt. Erledigt. Einfach nicht mehr da!« Der Vize-Präsident rannte aus dem Essenszelt, verschwand im schwarzen Mercedes, den er am Flughafen gemietet hatte, und ließ sich vom Chauffeur in die Sicherheit seines Hotelzimmers fahren. Von dort rief er New York an. Wegen des Zeitunterschieds weckte er den Präsidenten der Gesellschaft auf, der eine angenehme, aber anstrengende Nacht mit einem Mädchen aus der Vertragsabteilung verbracht hatte. Wütend versprach er, Partridge ein geharnischtes Telegramm zu schicken, und als er aufgelegt hatte, nahm er sich vor, den Vize-Präsidenten zu feuern.
Gleich nach der Konfrontation mit dem Vize-Präsidenten ordnete Partridge Dreharbeiten für eine Szene Brightlight/Beatty an. Ganz egal, wie Brightlight seinen Text – es waren nur ein paar Zeilen – sprach, er konnte den Regisseur nicht zufriedenstellen. Die Szene wurde in einer einzigen Einstellung elfmal gedreht, und Brightlight ließ es klaglos geschehen. Als Partridge auf einer weiteren Wiederholung bestand, wandte sich Brightlight ihm zu, das Gesicht kalt und gelassen. »Noch einmal, Mann«, sagte er ruhig, aber mit schneidender Stimme. »Du wirst es so oft tun, wie ich es sage«, kam die Antwort. Der Schauspieler sagte nichts darauf und nahm wieder seine Position ein. Als Partridge ›action‹ rief, trat Brightlight zwei Schritte vor und sprach seinen Text. »Verdammt!« kreischte Partridge, sein Gesicht rot glühend. »Kannst du überhaupt nichts richtig sagen? Was, zum Teufel, ist los? Jetzt wirst du es immer wieder sagen, bis du es gepackt hast.« Brightlight ging auf den anderen Mann zu, blieb auf Armeslänge vor ihm stehen. »Sie haben zwölf Aufnahmen. Wenn Sie mehr haben wollen, suchen Sie sich einen anderen. Ich habe genug.« Er marschierte davon und ignorierte die schrillen Schreie, lauter Drohungen, die Partridge ausstieß. Fünf Minuten später saß Brightlight hinter dem Steuer seines Maserati und raste auf Palma zu. Zwanzig Minuten später versenkte er den ersten Brandy. Um neun Uhr abends war er sturzbetrunken und allein. Er verließ die Bar und begab sich auf die Suche nach Cindy. Er fand sie in Rafes Apartment, wo sie gerade Abzüge der Tagesaufnahmen fertigte. Brightlight bestand darauf, daß sie ihn auf einem Streifzug durch Palmas Bars begleiteten. Rafe versuchte, ihm das auszureden. »Du hast genug getrunken. Warum bleibst du nicht hier? Du kannst dich auf die Couch legen und…« »Laß mich in Ruhe, Mann! Wenn ich mich hinlege, dann nur mit dem hübschen bleichen Ding da drüben.« Er zeigte seine Zahne, es sollte wohl ein Grinsen sein. »Ich bin fertig, Mann. Ich
bin fertig mit diesem Schwulmann Partridge und dem Rest dieser ganzen Bastarde vom Team. Ich will die ganze Nacht einen draufmacheri.« Er wandte sich an Cindy. »Kommst du mit oder nicht?« Das Ausmaß von Brightlights Gereiztheit brachte Cindy dazu, ihn noch größer und bedrohlicher zu sehen, als er war. Auf der anderen Seite wollte sie ihm helfen, sie wollte ihn vor Ärger bewahren, obwohl sie sicher war, daß er genau diesen Ärger haben wollte. Ihr ging durch den Kopf, daß es eine gefährliche Aufgabe sein würde, sich zwischen irgend etwas von Tod Brightlight zu stellen. Sie warf Rafe einen flüchtigen Blick zu, aber er sah sie nur hilflos an. »Wir kommen mit«, sagte Cindy schließlich, »aber bitte, keinen Ärger, Brightlight.« Der verkrampfte zornige Ausdruck in seinem Gesicht schwand, wurde durch einen traurigen Blick ersetzt, es war der Blick eines Mannes, der sich mißverstanden fühlte. Er breitete die Arme aus und sagte: »Wir wollen nur ein bißchen Spaß haben, das ist alles.« Draußen schien Brightlight allen Frust abgelegt zu haben, singend und Arm in Arm suchten sie die nächste Bar. Sie blieben einen Drink lang. In der zweiten Bar verkündete Brightlight, daß er beabsichtigte, jede Bar in Palma zu besuchen. Im nächsten Lokal ging es laut zu, viele Gäste waren Amerikaner. Brightlight holte ein teures silbernes Zigarettenetui hervor und hielt es Cindy und Rafe hin. »Für mich nicht«, sagte Rafe. Brightlight beugte sich vor. »Mann, das ist bestes Gras, das macht dich high.« Cindy blickte sich verstohlen um. »O Tod, bitte nicht hier«, sagte sie leise. »Nimm einen Joint«, drängte er. »Acapulco Gold, wirklich bester Stoff.« »Ich bin müde«, sagte Cindy. »Ich finde, wir sollten alle nach Hause gehen und schlafen.«
»Unsinn«, murmelte Brightlight. Er zündete den Stengel an und sog geschickt den Rauch ein. Nach einem Augenblick hob ein heimliches Lächeln die Winkel seines vollen Mundes an. »Die Weißen sind nicht an das gute Leben gewöhnt. Also, dies ist Brigthlights Nacht, und jeder, der jetzt abhauen will, fordert Brightlights gemeine Art heraus, er wird den Spielverderber aufstöbern und durchschütteln.« Er sog wieder an der braunen Zigarette, und bald waren sie von dem süßlichen Geruch umgeben. Ein großer Junge mit Schnurrbart und in einer Kordjacke näherte sich ihnen, das blasse Gesicht sehr ernst. »Sind Sie bereit, einem Landsmann einen Joint zu verkaufen? Ich habe schon seit drei Tagen keinen Stoff kaufen können.« Brightlight musterte den Jungen ausgiebig, dann zog er sein silbernes Etui hervor, gab ihm zwei Joints und winkte ab, als der Junge bezahlen wollte. »Freundlicher Kerl«, murmelte Brightlight, als der Junge gegangen war. »Das ist wichtig. Freundlichkeit über alles.« »Ich bin müde«, sagte Cindy wieder. »Wir schwarzen Hengste werden nie müde«, meinte Brightlight. »Den ganzen Tag über drehen wir einen Film, und nachts saufen und vögeln wir.« Sein tiefes, dröhnendes Lachen übertönte den hohen Geräuschpegel des Lokals. »He, da, Mann!« Man hörte an der Aussprache, daß der Mann aus dem mittleren Amerika stammte. Ohio, Missouri oder Kansas. Und die harsche Stimme klang verhalten ungehalten. Cindy schaute Brightlight an. Wo immer er sich aufhielt, was immer er tat, er war die Achse, um die sich seine Welt drehte. Gut oder schlecht, friedlich oder gewalttätig, fröhlich oder traurig, er war Brennpunkt und Ziel. Dinge gerieten allein durch seine Anwesenheit in Bewegung. Brightlight sog wieder an der Zigarette und ließ den Schwall blauen Rauchs langsam aus seinem offenen Mund, dann atmete
er ihn wieder ein, schluckte ihn. Er legte seine Ellenbogen auf die Theke und sah den Mann an, der gesprochen hatte. Sie saßen an einem runden Tisch, zehn Personen insgesamt, alle in den Dreißigern, sechs Männer in Gabardineanzügen, die vier Frauen in gemusterten Kleidern und weißen Schuhen und mit dazu passenden Handtaschen. Alle Augen waren auf Brightlight gerichtet. Er nickte ihnen freundlich zu. »Landsleute, was?« Der Mann, der gesprochen hatte, breite Schultern, breites Kinn und den klaren Augen eines Jägers, ergriff wieder das Wort. »Stimmt, Mann, Landsleute. Es sind Damen anwesend, achten Sie deshalb auf Ihre Sprache.« Der Befehlston war unüberhörbar. Brightlight ließ die Kippe auf den Boden fallen und trat sie aus. »Klar, Mann«, sagte er, die Sprache schwerfällig vom Ärger, der sich in ihm staute. »Wir Nigger haben unsere Last mit der Sprache.« »Sie wissen, was ich meine«, sagte der Mann mit den klaren Augen, die Stimme noch schneidender. »Ich erwarte nur ein bißchen Respekt.« »Clyde«, sagte eine der Frauen am Tisch nervös. »Respekt«, sagte Brightlight. »Wir Amerikaner wissen alles über Respekt. Respekt für Freiheit und persönliche Würde und alles.« Bitte, flehte Cindy. Bitte nicht. Bitte, laß uns gehen, bevor was passiert. Bitte… Aber sie brachte kein Wort heraus. »Ich glaube, jetzt reicht es«, sagte Clyde. Bewegung am Tisch. Zwei der Männer schoben ihre Stühle nach hinten. Brightlight grinste. »Mann, den Zustand, daß es mir reicht, habe ich längst hinter mir. Jetzt ist es zuviel.« »Komm, Tod«, sagte Rafe. »Laß uns verschwinden.« »Ich gehe«, sagte Cindy. »Keiner bewegt seinen Arsch!« befahl Brightlight, ohne sie anzusehen. Er ging einen Schritt auf den runden Tisch zu, sah nur den Mann mit den klaren Augen an. »Ich nehme an, Sie erwarten, daß ich mich bei den Ladies entschuldige, stimmt das, Massa?«
Er verbeugte sich übertrieben, und eine der Frauen kicherte unkontrolliert. »Ich soll wohl um Verzeihung bitten. Aber ein beschissener kleiner Straßennigger kriegt die richtigen Worte nich’ raus…« »Das reicht«, sagte Clyde, und seine Zähne knirschten. »Ihr Leute seid wirklich allererste Klasse. Weiß hat recht, und deshalb wollen Sie auch nicht, daß ich vögeln sage vor diesen chromgetrimmten Plastikfrauen. Kann doch sein, daß diese edlen weißen Ladies nichts sehnlicher wünschen, als sich auf einem großen schwarzen Schwanz zu winden. Nun, Ladies, hier ist er, kommt und holt ihn euch!« Seine linke Hand packte und hob seine Genitalien. Fluchend kam Clyde von seinem Stuhl hoch, die Fäuste geballt. Brightlight trat ihm entgegen und schlug ihn zwischen die Augen. Clyde segelte rückwärts und blieb reglos liegen. Schreie kreischten, Stühle kippten um. Alle fünf Männer standen jetzt auf ihren Beinen, gingen auf Brightlight zu. Lachend, die Hände gehoben, die Arme ausgestreckt und mit den eleganten Bewegungen eines Stierkämpfers, der dabei ist, die banderillas zu stecken, zog er sich zwischen den Tischen zurück, auf einmal ganz lässig und sehr beherrscht. »Die Straße«, rief er den fünf Männern zu. »Es soll auf der Straße passieren.« Er verschwand durch den Eingang, die fünf Männer hinterher. Die Leute rannten auf die Tür zu, darauf erpicht, nichts zu verpassen. Cindy wollte ihnen nach, aber Rafe hielt sie am Handgelenk fest und leitete sie an der Theke vorbei zu einer Tapetentür, die zu einem Hinterausgang führte. Sie umkreisten das Gebäude, bis sie die Menschentraube sahen und dahinter Brightlight und die fünf Männer. Die fünf hatten den großen schwarzen Mann gegen eine Mauer gedrückt und näherten sich ihm in einem Halbkreis. Cindy sah Blut an Brightlights Schläfe und einen häßlichen Riß auf der rechten Wange. Einer der weißen Männer hielt ein Messer in der
Hand, ein anderer trug einen Schlagring, und ein dritter hatte sich mit einem Stück Holz bewaffnet. »Jetzt, Nigger«, rief einer von ihnen, »jetzt bist du dran.« Cindy grub ihre Finger in Rafes Arm. Er löste sich von ihr und rannte nach vorn. »O nein!« rief sie ihm hinterher. »Sie machen dich auch fertig.« »Bleib, wo du bist!« rief er über die Schulter. Bevor Rafe sich einmischen konnte, hatte sich Brightlight von der Mauer abgestoßen. Er griff den Mann mit dem Messer an und schaffte es, der zustoßenden Hand auszuweichen und sich den anderen Arm zu schnappen und auf den Rücken zu drehen. Für einen Augenblick waren sie in einem pas de deux vereint, gewalttätig choreographiert. Faust, Ellenbogen und Schulter landeten in rascher Folge auf Nase, Wange und Kinn des Messermannes. Er ging ohne einen Laut zu Boden. Die Wucht der Bewegung trug Brightlight aus dem Halbkreis hinaus, fast auf die andere Seite der Straße. Er wirbelte herum, die Hände lässig unten. Die verbliebenen vier Mann zögerten nur kurz, bevor sie auf ihn zu kamen. Er ging ihnen entgegen. Cindy sah, wie das Holzstück durch die Luft geschwungen wurde, einmal, zweimal, dreimal, sie hörte dumpfes Krachen und lautes Stöhnen. Sie schrie. Rafe durchbrach den Kreis der Zuschauer und schwang die Fäuste. Einer der Männer drehte sich um, das Gesicht verzerrt, und holte zu einem wilden Schwinger aus. Rafe fiel auf seinen Hintern, wollte wieder aufstehen, schaffte es aber nicht. Ohne jede Vorwarnung stürmte eine Gestalt aus der Zuschauermenge und stieß einen gewaltigen Kriegsschrei aus. Arthur Beatty, tadellos gewandet in ein weißes Voilehemd, einen Seidenschal um den Hals, und in eine weiße Glockenhose. Er keilte geschickt und mit Wucht, schlug einen Mann hinters Ohr und nahm ihn damit aus der Schlacht. Eine lange Minute währte das wilde Schlagen und Treten, begleitet von Schreien, Stöhnen und Anfeuern der Zuschauer und vom Geräusch krachender Knochen.
Plötzlich war es vorbei. Brightlight stand da, blutend und gezeichnet, und suchte weitere Gegner. Beinah widerwillig ließ er seine Fäuste fallen. Beatty, der nicht mehr so tadellos aussah, blickte auf die geschlagenen Fünf hinab und grinste Brightlight an. »Die Power der Stars, was, mein Junge?« Brightlight streckte eine Faust zum Himmel. »Die Power der Stars!« brüllte er. Jemand in der Menge begann zu klatschen, und dann breitete sich der Applaus rasch aus. Beatty verbeugte sich feierlich. »Freunde«, rief er. »Man ist immer erfreut darüber, daß seine besten Mühen belohnt werden. Zu oft erkennt die Öffentlichkeit nicht die Nuancen einer künstlerischen Arbeit.« Brigthlight ging zu Rafe und hob ihn auf die Füße. »Bist du okay, mein Junge?« »Ich glaube, ja.« Cindy konnte sich nicht bewegen. Erleichterung und Verwirrung hatten sie erfaßt, und instinktive Furcht vor dem, was folgen würde. Sie sah, wie Brightlight einen Arm um Rafes Schultern legte, wie sie beide zu Arthur Beatty stießen, und wie sie die Straße hinunter gingen, Arm in Arm in der geheimnisvollen Bruderschaft blutiger, aber siegreicher Krieger. Unten blieb Brightlight stehen und schaute zurück. Er entdeckte Cindy und rief: »Nun komm doch! Das müssen wir feiern! Die Party hat gerade erst begonnen. Die Nacht ist noch lang, Baby. Komm.« Sie riß sich zusammen, setzte langsam einen Fuß vor den anderen, dann begann sie zu laufen. Sie wollte nichts verpassen.
11
»Das Leben ist gefährlich«, deklarierte Arthur Beatty schon zum vierten oder fünften Mal. »Gespickt mit Bedrohungen. Geh langsam und nimm immer einen Stock mit«, kam es von Cindy. »Das hat Theodore Roosevelt gesagt«, endete er fröhlich. »Nicht Churchill?« fragte Beatty, leicht beleidigt. »Du hörst doch, was die Lady sagt«, murmelte Brightlight. »Es war Roosevelt der Erste.« Seit dem Kampf hatten sie unentwegt getrunken, waren von Kneipe zu Café zu Bar gezogen. Kaltes Wasser hatte die größten Beschädigungen in den berühmten Gesichtern der Filmschauspieler behoben. Nach dem ersten Siegestrunk hatten die beiden Schauspieler zu einem Wettbewerb angehoben – wer konnte den meisten Alkohol konsumieren? Nach fast zwei Stunden lagen sie immer noch Glas an Glas. Brightlight schien sich mehr in sich zurückgezogen zu haben, er beobachtete seine Umgebung, die dunklen Augen voller Geheimnisse. Beatty dagegen ging mit jedem Schluck Scotch mehr aus sich heraus. Er bestellte eine weitere Runde und hob sein Glas. »Und fortan«, deklamierte er in feinstem britischen Akzent, »werden sie diesen Tag feiern.« Er lachte und trank und hustete. »Shakespeare. Eines Tages werde ich den ultimativen Hamlet spielen.« »Das war ein phantastischer Kampf«, warf Rafe ein, der gern Teil dieser rauhen Verbindung zwischen Brightlight und Beatty gewesen wäre. »Junge«, rasselte Brightlight. »Hast du überhaupt einen Haken landen können?«
»Er hat’s versucht«, sagte Cindy rasch. »Ich bin sehr stolz auf dich, Rafe.« »Das Leben ist gefährlich«, wiederholte Beatty. »Schei… eiße«, sagte Brightlight gedehnt. »Was weißt du denn von Gefahren? Nichts. Gefahr ist, wenn man schwarz ist, und ein schwarzer Typ ist nur sicher, wenn er tot ist und unter der Erde.« Beatty setzte sich steif aufrecht hin und sagte laut und mit klangvoller Stimme: »Ich lebe ständig in Gefahr. Gut verheiratet, und ein Mann bekommt Flügel, schlecht verheiratet, und er liegt in Eisen.« Er kicherte. »Das ist von H. W. Beecher. Seine Worte passen auf meine Situation ganz genau, meine Freunde.« »Die bestaussehende Puppe«, sagte Brightlight. »Ja«, sagte Beatty. »Nimm dir meine Frau – bitte.« »Diese Witze sind doch uralt«, warf Cindy ein. Beatty nickte. »Alle meine Witze sind alt. Uralt. Ich fürchte, ich habe keinen Sinn für Humor. Was für eine absurde Vorstellung – der teuerste Schauspieler der Welt ohne Sinn für Humor. Ich habe Witz, ja, aber keinen…« »… Sinn für Humor«, beendete Brightlight. »Jeder so, wie er kann.« »Sehr wahr.« Beatty trank sein Glas leer und bestellte eine neue Runde. »Amy Swift. Sie ist mit Helena von Troja verglichen worden. Feines, wohlgeschnittenes Gesicht, herrliche Haut, fabelhafte Augen. Aber Freunde«, er beugte sich vor. »Da enden die Vergleiche. Die Schwerkraft hat sie geschafft. Diese immensen Brüste sacken, werden nach unten gezogen, sind blaß und von blauen Äderchen durchsetzt. Sie hat natürlich noch einen wohlgerundeten, immer noch festen Arsch. Und ein überwältigendes Verlangen, dir zu gefallen. Doch, das muß der Lady nachgesagt werden.« »Und warum ist sie dann gefährlich?« fragte Rafe. »Ah, eine ausgezeichnete Frage. Hast du meine Gattin schon mal in vollem Temperament erlebt? Sie ist ein Wirbelsturm, ein ausgewachsener Tornado, der jedes Hindernis, das er vor sich
hat, aus dem Weg fegt.« Er blies die Backen auf und lachte fröhlich. »Amy Swift ist eine gegenwärtige und zukünftige Gefahr.« Brightlight stieß einen Fluch aus. »Ich hab’s doch gesagt, du weißt nichts von Gefahr. Schwarzer in Amerika zu sein, das ist gefährlich.« »Die Dinge bessern sich«, sagte Rafe ruhig. »Quatsch ist das! Wie denn? Seit diesem angeblichen Bürgerkrieg von euch hat es keine Verbesserung gegeben, hat sich nichts geändert. Ein Kerl, wenn er Glück hat und Arbeit findet, kriegt einhundertundfünf Dollar die Woche. Ist das nicht großartig? Aber leider braucht er fünfundzwanzig Dollar mehr, damit seine Haut auf den Knochen bleibt. Das ist die Gefahr, mit der ein Schwarzer lebt. Sag diesem Kerl, er soll sich anstrengen, er soll mehr aus sich machen. Weißt du, was es heißt, schwarz zu sein? Daß du Mühe hast, zu überleben. Und wenn mein Kerl überleben will, muß er klauen. Oder ein paar Bleichgesichter ausrauben. Oder seine Alte auf den Strich schicken. Das sind Überlebensakte in einem gefährlichen Dschungel, Mann.« »Einige von uns sind bemüht, daß die Dinge sich ändern«, beharrte Rafe. Brightlight schnaufte verächtlich. »Du meinst, weil sie angefangen haben, Schwarze und Weiße in eine Schule gehen zu lassen, was? Mann, das ist nichts anderes als damals auf den Plantagen. Die Weißen machen ihre eigene Politik, haben ihre eigene Ideologie. Die Schwarzen wollen ein Stück vom Kuchen haben, Mann. Aber wenn du schwarz bist, kannst du dir diesen ideologischen Kram nicht erlauben. Die Schwarzen wollen Brot.« »Die neue Kunstrichtung will genau das darstellen«, sagte Rafe. »Die Dinge so zeigen, wie sie sind…« »Hör doch auf«, sagte Brightlight verächtlich. »Halt endlich deine schwule weiße Klappe.« »Aufhören!« brach es aus Cindy heraus. »Du hast kein Recht, so mit mir zu reden«, sagte Rafe. »Dann tu was dagegen.«
Rafe wurde bleich, »Du kannst mich zusammenschlagen, aber…« »Kein Aber«, unterbrach Brightlight ihn. »Du kannst es jetzt hier auf der Stelle haben.« Rafe stand auf. »Ich gehe«, verkündete er. »Ich bringe dich nach Hause, Cindy.« »Sie bleibt«, sagte Brightlight in sein Glas. »Wenn die Lady gehen will…«, sagte Beatty, schaute aber niemanden an. Cindys Blicke huschten von einem Mann zum anderen. Sie hatte Angst. Es war spät, sie hatten alle zuviel getrunken, jeder von ihnen wurde von heimlichen dunklen Emotionen getrieben, und sie wollte doch nur, daß die Nacht friedvoll endete. Sie lächelte Rafe zu. »Geh ohne mich«, sagte sie. »Tod wird dafür sorgen, daß ich sicher nach Hause komme.« »Das mach ich. Brightlight wird sich um die Lady kümmern, du kannst also verschwinden, Mann… Hau ab.« Rafe zögerte noch einen Moment, dann drehte er sich um und ging. »Das hättest du nicht tun dürfen«, sagte Cindy zu Brightlight. »Bei dem Streit hat er versucht, dir zu helfen, er hat sein Bestes gegeben.« »Niemand hat ihn um seine Hilfe gebeten, nicht um seine oder um die irgendeines anderen.« »Rafe ist mein Freund…« Brightlight hob sein Glas in spöttischer Kapitulation. »Also gut. Wenn es hell ist, sage ich dem Mann, daß ich meine harsche Art bedaure.« Er zog eine Grimasse. »Dieser ganze Scheiß über eine neue Kunstrichtung…« Beatty sagte beiläufig: »Es setzt sich gerade eine neue Kunst durch, auch im Film.« »Neue Kunst! Neues Kino! Es gibt zwei Arten von Kunst, gute und schlechte. Das weißt du auch. Du bist ein verdammt guter Schauspieler, wenn du dich reinhängst. Aber manchmal hältst du
die Leute zum Narren, du spielst mit ihnen. In diesem Streifen hier hängst du dich rein, mit allem, was du hast. Dieser Partridge, dieser üble Hundesohn, kitzelt den Schauspieler in dir raus. Er macht mich ja beinahe zum Schauspieler.« Beatty trank sein Glas leer, pflanzte den Ellenbogen auf den Tisch, den Arm hochgereckt. Er streckte die Hand aus. »Hast du Partridge schon mal getestet?« Brightlight musterte den Schotten durch schmale Augen. »An dem Tag, an dem er sich mit mir einläßt, wird er’s schmerzlich spüren.« Beatty streckte die Finger, zog sie zusammen, streckte sie. »Komm, eine Runde.« Brightlight überlegte, dann legte er seinen Arm an. »Gib das Kommando.« »Los.« Sie hielten gegeneinander. Die Hände zitterten. Nach ein paar Sekunden hatte Brightlight die Hand Beattys auf den Tisch gezwungen. Beatty lachte freudlos und ließ seine Finger spielen. »Sehr gut«, sagte er und forderte Revanche. Sie erhielten frische Drinks, Beatty nippte an seinem Scotch und stemmte den Ellenbogen wieder auf den Tisch. »Zwei von drei«, sagte er. Ihre Hände griffen ineinander. »Du hast noch nicht die Feinheiten des Schauspielens begriffen«, sagte er dann mit nachsichtiger Stimme. »Das Feingefühl in den Anweisungen des Regisseurs.« Brightlight hielt spielerisch mit seiner Hand dagegen. »Ich verabscheue den ganzen Abschaum um das Filmgeschäft herum. Die Kritiker, die analysieren und erklären und doch keine Daseinsberechtigung haben. Oder wenn eine Meute schwuler Schauspieler nackt über eine Bühne läuft, wie ich es in New York und London gesehen habe. Und die Leute im Publikum, diese Idioten, kreischen vor Wonne und stöhnen sich einen ab, wie schön das alles ist und wie frei, eben die neue Kunst. Schei-eiße.« »Los?« fragte Beatty.
»Los.« Es war ein ausgeglichener Kampf, niemand gab nach. Die Anspannung war an den blutleeren Knöcheln zu sehen und am zusammengepreßten Mund. Plötzlich, ganz unerwartet, gab Brightlight nach. Zuerst langsam, dann schneller, als Beatty noch einmal zusätzliche Kraft mobilisierte. Als Brightlights Hand nur noch einen Zentimeter von der Tischplatte entfernt war, konnte er die Abwärtsbewegung stoppen. Beatty schaute in das Gesicht auf der anderen Tischseite. »Dieser Durchgang gehört mir«, sagte er gepreßt. Brightlight gab keine Antwort, stemmte sich auf. Beatty sog hörbar die Luft ein, seine Finger schienen noch fester zu packen. Brightlights Knöchel schlugen auf der Tischplatte auf. »Du hast es geschafft«, sagte er milde. »Jetzt ist es gut«, rief Cindy ängstlich dazwischen. Bei einem Entscheidungskampf hätte es vielleicht auch zwischen den beiden noch Ärger gegeben. Beatty hob sein Glas mit der linken Hand. »Nacktheit im Theater«, sagte er, »ist eine Reaktion auf den Puritanismus. Es ist eine neue Freiheit, Teil der größeren Revolte in allen Lebensbereichen. Eine neue Technik, die Wahrheit auszudrücken.« »O Mann, ihr Weißen seid verrückt. Ihr tut gerade so, als hättet ihr euren Körper und den Sex entdeckt. Ich hab’s zum erstenmal mit zwölf gemacht, und die Frau war fünfzehn Jahre älter. Und seitdem bin ich dabei geblieben. Und wenn ein paar weiße Kids so tun, als hätten sie’s Ficken erfunden, kann mich das nicht beeindrucken. Nacktheit ist der Wahrheit nicht nahe.« Er leerte sein Glas. »Weißt du, was Weiße anmacht? Nicht neues Theater oder altes Theater, neue Kunst oder alte. John Wayne macht sie an. Das ist die Wahrheit. Mit John Wayne können sie sich identifizieren, mit dir nicht, Beatty. Auch nicht mit Richard Burton, nicht mit irgendeinem Schönredner oder mit einem tiefsinnigen Denker. Aber mit einem kernigen Typ, der so aussieht, als könn-
te er einen Truck steuern und seine Lady oder wen auch sonst gründlich durchgeigen.« »Okay, Brightlight«, sagte Beatty und richtete sich auf den dritten Durchgang ein, spreizte einladend seine Finger. »Okay, die Leute sind nicht alle für Klassik zu haben und auch nicht für die klassischen Schauspieler. Aber du wirst groß rauskommen, weil man deinem Spiel anmerkt, daß du es ernst meinst.« Brightlight packte Beattys Hand. »Versuch nicht, mir zu schmeicheln. Ich werde dich diesmal ganz schnell fertigmachen.« »Wenn du Glück hast.« »So ist es nun mal«, sagte Brightlight. »Wenn du mit der Wahrheit durchkommst, hast du Glück gehabt.« »Wir hatten Glück«, warf Cindy ein, »daß Arthur rechtzeitig zur Stelle war und in dem Kampf mitmischen konnte.« Beatty schloß seine Finger um Brightlights schwere Hand. Er kicherte, vergnügt mit sich. »Das ist das erste Mal, daß ich den Wachhund abschütteln konnte, den Amy mir auf die Spur gehetzt hat, und ausgerechnet diesmal hätte ich ihn brauchen können. Er weiß mit seinen Fäusten umzugehen.« »Wir brauchen keine Hilfe«, sagte Brightlight. »Los?« »Los.« Die Adern auf den Handrücken schwollen an, die Muskeln in den Armen spielten. Und noch ehe es richtig begonnen hatte, war es schon vorbei. Brightlight klatschte die Hand des Schotten auf den Tisch. Beatty schüttelte das Handgelenk und grinste. »Der Sieger und neue Champion…« »Und ohne Hilfe«, fügte Brightlight hinzu. »Ich brauche keine Hilfe. Von niemandem.« Die Nacht war klar und warm und sehr still. In den schmalen Straßen rührte sich nichts. Sie wanderten ziellos herum, versuchten, Brightlights Maserati zu finden, und dabei tranken sie abwechselnd aus der Flasche Scotch, die Arthur Beatty von einem verständnisvollen Barmann gekauft hatte. Wie sie so zwischen
den beiden Männern durch die verlassenen Straßen wanderte, empfand Cindy eine seltsame Mischung aus Sicherheit und Bedrohung. Beide Männer verfügten über ein explosives Temperament, das ohne Vorwarnung ausbrechen konnte und dabei alles niedermachte, was sich in Reichweite befand. Und doch fühlte sie sich auch geborgen bei ihnen, denn sie strahlten eine wahrhaftige Menschlichkeit aus. »Verdammter Maserati«, sagte Brightlight gelassen. »Wunderschöne Maschine«, sagte Beatty. »Niemand machte bessere Autos als die in Detroit«, erwiderte Brightlight. »Du bist ein elender Patriot!« Brightlight lachte. »Das kannst du glauben. Ich bin ein hundertprozentiger guter Amerikaner, gut wie Gold. Diese afrikanische Abstammungsscheiße ist doch Blödsinn. Was wissen wir YankeeNigger schon von Afrika? Nein, ich halte es mit dem Land der Freien und der Heimat der Tapferen.« Er blieb stehen, stand stramm und sang die Nationalhymne. Als er geendet hatte, applaudierte Beatty, dann salutierte er und begann Scotland, The Brave zu singen. Mittendrin stimmte Brightlight We Shall Overcome an. Erst danach setzten sie die Suche nach dem Auto fort. »Die Karre versteckt sich vor uns«, vermutete Brightlight. Er setzte sich mitten auf das Kopfsteinpflaster der Straße. »Also gut, wenn das so ist, dann kann die Karre zu mir kommen. Warum soll ich den Maserati suchen, wenn der Maserati mich suchen kann?« Beatty bückte sich, die Beine gestreckt, stellte die Scotchflasche vorsichtig auf die Straße, drückte die Handflächen auf den Boden und schwang die Beine hoch in die Luft. Er schwankte unsicher. »Oh!« rief Cindy. »Vorsichtig!« »Sehr hübsch«, fand Brightlight. Er klatschte in die Hände. »Sehr schöner Trick.«
Beatty bewegte sich auf den Händen die Straße entlang. Nach zehn Metern stand er wieder auf den Beinen. »Das ist eine Disziplin, bei der ich dich schlagen kann«, sagte Brightlight. »Das ist nicht dein Ernst.« »Versuch’s doch.« Brightlight stand auf, stellte sich neben Beatty. »Ein Rennen«, sagte er. »Bis zur Ecke.« »Du gibst das Kommando.« Brightlight wandte sich an Cindy. »Du machst den Start.« »Auf die Plätze.« Die beiden Männer gingen in die Hocke. »Fertig.« Sie schwangen sieh auf die Hände, kämpften ums Gleichgewicht. Cindy wartete, bis sie es geschafft hatten. »Los.« Cindy ging neben ihnen her, trieb sie an, bevorzugte aber niemanden. Die ersten fünfzehn Meter war es ein enges Rennen, dann zog Beatty davon, dehnte seine Führung aus. Brightlight bemühte sich, den Abstand zu verringern. Die Füße gingen auseinander, er rang um Balance, verlor und landete auf dem Rücken, alle viere ausgestreckt. Beatty erreichte die Ecke allein und stieß seine Arme triumphierend in die Höhe. »Schottenkraft!« röhrte er. Cindy lief zurück, holte die Flasche, und sie prosteten sich zu, tranken auf Beattys Sieg. Nach einer Weile erreichten sie den Yachthafen. Dort leerten sie die Flasche. Fluchend warf Beatty sie ins Wasser. »Wir können auch anders high werden«, sagte Brightlight. Er suchte sein silbernes Zigarettenetui. Er fand es nicht. »Du mußt es während des Wettrennens verloren haben«, meinte Cindy. »Dann muß ich es suchen.« »Es ist schon schrecklich spät«, sagte sie. »Ich bin müde. Ich will schlafen.« »Ins Bett«, verbesserte Beatty. »Nicht schlafen.« »Bist du so gut, wie man sagt?« fragte Brightlight ihn. »Besser. Die ganze Nacht, den ganzen Tag.«
Brightlight musterte den Schauspieler von oben bis unten. »Du siehst nicht gerade austrainiert aus. Ein bißchen dick um die Hüften.« Beatty zeigte seine Zähne in einem freudlosen Grinsen. »Fünfmal in einer Nacht. Öfter, wenn es sein muß. Ich halte jedes Kommen von dir mit – und setze dann noch einmal drauf.« Er sah Cindy an. »Das ist ein Wettbewerb, der dir doch Spaß machen muß.« »Nein!« rief Cindy und wich zurück. »Laß sie«, sagte Brightlight. »Klar, Mann«, sagte Beatty. »Nun gut, wenn wir schon keinen Kopulationswettbewerb zustande bekommen, können wir dann wenigstens um Geld pissen? Jeder von uns hat einen Wettbewerb gewonnen. Jetzt kommt der entscheidende. Außerdem muß ich meine Nieren spülen.« Er fummelte an seiner Hose, trat zurück auf das Straßenpflaster. »Markier die Stelle. Cindy, du bist Schiedsrichter. Wer am weitesten pullert, hat gewonnen.« »Alles klar«, sagte Brightlight. Er stellte sich neben Beatty. Einen Augenblick später standen sie beide bereit, ihre Glieder in die Nacht gereckt. »Ich warne dich«, rief Beatty. »Diesmal bist zu zu weit gegangen, Brightlight! Dieser mein Schlauch jagt einen gewaltigen Strahl hinaus, es ist ein Ausstoß, der jeder Welle einen Schrecken einjagt, wenn ich im Meer bade.« Brightlight hob seinen Penis. »Mann, ich werde dich ins Vergessen fluten. Ich habe in dieser Disziplin die College-Meisterschaft, ich bin sozusagen ein examinierter Pisser cum laude. Aus dem Weg, Cindy, ein Tropfen von Brightlight wirft dich zu Boden. Sag, wenn’s losgehen soll.« Mit tränenden Augen hielt sie sich den Bauch vor Lachen und hüpfte aus der Schußlinie. »Fertig! Los! Löschen!« In fast parallelen Bogen durchdrangen ihre Strahlen die Nachtluft und klatschten auf den Bürgersteig. Cindy schaute neugierig
zu, sie hatte Männer noch nie urinieren sehen und war beeindruckt von der lässigen, aber delikaten Art, wie sie es taten. Sie wandten unterschiedliche Griffe an: Beatty hielt sein dickes, schlaffes Glied in den vier Fingern seiner linken Hand, wobei der Daumen als stabilisierender Ausgleich fungierte, während Brightlight von der rechten Hand nur Daumen und Zeigefinger einsetzte und seine Männlichkeit himmelwärts richtete, um durch die höhere Flugbahn eine größere Distanz zu erreichen. Wie auf ein geheimes Signal schwand der Bogen abrupt und endete in einem Tröpfeln. Die Männer schüttelten sich, ein Bild, das Cindy zum Totlachen fand. »Nun?« fragte Brightlight. »Wer hat gewonnen?« wollte Beatty wissen. Sie betrachtete die nassen Spuren auf dem Boden mit gewissenhafter Aufmerksamkeit. »Dieser hier, glaube ich«, sagte sie und zeigte mit dem Finger. »Ha!« röhrte Brightlight. Beatty knurrte: »Damit bist du mir eins drüber. Ich muß die Chance zum Ausgleich haben.« Er schaute auf seinen noch entblößten Penis. »Meiner ist größer als deiner«, forderte er Brightlight heraus. Brightlight starrte ihn an. »Dicker oder länger?« »Ein bißchen von beidem, würde ich sagen.« »Um was geht es?« »Hundert. Pfund oder Dollar?« »Dollar.« »Die Wette gilt.« Cindy sah zu, wie sich die beiden Männer nebeneinander stellten und ihr Glied streckten. »Da!« rief Beatty. »Es gibt überhaupt keinen Zweifel.« »Mann, bist du verrückt? Cindy, beweg dich mal und leih uns ein Auge. Welcher ist größer?« Sie ging zögernd auf die beiden zu. Jetzt lachte niemand mehr, und sie spürte ein seltsames Gefühl im Bauch, und als sie eine Gänsehaut bekam, wußte sie nicht, ob es an der ungewöhnlichen
Szene lag oder an der kühlen Nachtluft. Sie spürte den kurzen Rock an ihren nackten Schenkeln, als sie sich den Männern näherte, und zwang sich, nach unten zu schauen. Brightlight und Beatty. »Gib’s zu, Kind«, sagte Beatty. »Vergiß mal dein Nationalgefühl und daß er dein Landsmann ist, jetzt mußt du die Wahrheit sagen.« Sie trat einen Schritt zurück, drehte sich um. »Ich… ich bin mir nicht sicher.« Leise sagte sie: »Ich möchte nach Hause gehen.« Es war Arthur Beatty, der das bedrückende Schweigen brach, das danach entstand. Er starrte Brightlight an, und Brightlight hielt seinem Blick stand. »Na ja, es hätte sowieso nicht viel zu bedeuten. Ich meine, eigentlich zählt es nur, wenn er hart ist.« Brightlight nickte. »Sehr richtig, Mann. Ich muß ihn zum Steigen kriegen.« Er drehte sich nach Cindy um. Sie wich automatisch ein paar Schritte zurück. »Nein«, murmelte sie. »Nein, nein, nein.« »Faß uns an«, sagte Beatty. »Bei meinem hast du nicht viel Mühe. Bei dir wird er sofort stehen.« »Beweg deinen Arsch hierhin«, befahl Brightlight. Sie schüttelte den Kopf. »Ich tue das nicht. Ihr könnt mich nicht zwingen.« Sie gingen auf sie zu, und sie wich weiter zurück. »Nur ein paar Streicheleinheiten, Kleines, dann steht er wie eine Fahnenstange.« »Mann, hör doch, was er sagt.« »Ihr seid verrückt. Ich schaue nicht hin, und ich greife auch nicht hin.« Brightlight griff nach ihr, packte ihr Handgelenk, zerrte sie mit einem Ruck an sich heran. »Du hast zwei Hände, setz beide ein.« Er ließ sie los. Ihre Fingerspitzen berührten die warme, samtene Haut, vertraut und doch fremd, und sie spürte die sofortige Reaktion, das kurze Zucken, als der Penis anschwoll, sich füllte, hart wurde, sie spürte die unglaubliche Hitze, die von ihm auf-
stieg. Und sie spürte auch, wie das Kribbeln in ihrem Bauch stärker wurde, wie es sich fortsetzte in ihrem Inneren, sich ausbreitete, und wie sich in ihrer Scheide klebrige Feuchtigkeit bildete. Ohne sich dessen bewußt zu sein, rieb sie an dem dunklen Glied Brightlights, sie tastete nach dem behaarten Hodensack, fühlte die schwere Ladung, hörte das harsche Atmen, einen unterdrückten Schrei. Das war ihre eigene Stimme, gedämpft von der Anspannung in ihrem Körper. »Ah«, sagte Beatty, »das sieht gut aus…« »Geil, Baby.« Dann stieß sie wieder einen Schrei aus, geboren aus Begierde und Verzweiflung. Sie wandte sich ab und rannte. Sie wußte nicht, wie lange sie rannte, wie weit. Sie hörte erst auf, als sie keine Kraft mehr in den Beinen hatte, als sie stolperte und stürzte. Sie lag auf dem Gesicht und wartete darauf, daß die Kraft zurückkehrte, und schaffte es schließlich, sich in eine sitzende Position zu bringen. Eine große schwere Hand tauchte aus dem Nichts in ihrem Blickfeld auf, packte sie, und dann spürte sie, wie ihr die Sinne schwanden. Sie öffnete den Mund und schmeckte etwas Bitteres, Galliges. Sie würgte und hustete, und dann wußte sie nichts mehr.
12
Nackt und allein, kalt und ängstlich. Sie stützte sich auf die Ellenbogen auf und verengte die Augen gegen die Streifen Tageslicht, die durch die Ritzen der Holzläden fielen. Es war ein graues Licht, frühe Dämmerung, schätzte sie. Viel zu früh. Noch Schlafenszeit. Sie ließ sich zurück aufs Kissen fallen und starrte an die hohe weiße Decke. Sie wollte den Schlaf zurückzwingen, wollte eingelullt werden von seiner angenehmen Wärme. Es gelang ihr nicht. Sie setzte sich auf. Ihr Kopf fühlte sich weich an, leicht geschwollen, aber sie spürte keinen pochenden Schmerz. Nur der Geschmack in ihrem Mund war entsetzlich, schmutzig, ekelhaft. Sie schlüpfte aus dem Bett. Es dauerte eine Weile, bis sie stehen konnte, ohne zu schwanken. Sie zog ein Laken vom Bett und schlang es um ihre Schultern. An der hohen Holztür blieb sie zögernd stehen, ängstlich vor dem, was sie hinter der Tür erwarten könnte. Sie schalt sich albern, öffnete die Tür und trat hinaus in einen Flur, in dem sich kein einziges Möbelstück befand. Auch die Wände waren nackt. Sie ging weiter und betrat einen länglichen, breiten Raum mit einer niedrigen, schrägen Decke. Eine Wand bestand nur aus Glas, Schiebetüren führten hinaus in einen herrlich grünen Garten. Wo war sie? Gemächlich ging sie im Zimmer herum, unter ihren bloßen Füßen spürte sie dicke orientalische Teppiche. An einer Wand bewunderte sie Intarsienkommoden sowie dunkle, unheimliche Gemälde. Zwei samtbezogene Sofas und mehrere tiefe, breite Sessel standen im Zimmer. Sie ließ sich in einen der tiefen Sessel fallen. Weichheit umgab sie und weckte eine freundliche Erinnerung in ihr. Sie war noch
sehr jung gewesen – als Maggie und Roy noch verheiratet waren – , und sie hatten in einem alten Ziegelsteinhaus in der 12. Straße Ost in Manhattan gewohnt. Das Mobiliar war alt gewesen, abgewetzt und muffig, aber sie hatte sich dort heimelig gefühlt, so gemütlich. Sie hatte oft in so einem Sessel gesessen und zugeschaut, wie Roy und Maggie getanzt hatten, und der Bretterfußboden hatte unter ihren Füßen gequietscht, sie hatten gelacht und sich geküßt. Ja, damals waren sie glücklich gewesen… Ein kalter Luftzug wehte herein, sie mußte sich schütteln und kam in die Gegenwart zurück. Der Geschmack in ihrem Mund wurde immer ekelhafter. Sie schloß die Augen und nahm sich vor, an nichts zu denken. »He, Baby…« Die schwarze Resonanz der Stimme konnte nur Brightlight gehören. Und dies war seine Villa! Sie hätte es wissen sollen. Aber sie hatte keine Erinnerung daran, wie sie hergekommen war, was sich abgespielt hatte. »Guten Morgen«, sagte sie. Ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren, zu tief und zittrig. Sie schluckte. Er trat hinter ihren Sessel und berührte ihre Wange mit seinem Handrücken, überraschend sanft. Für Cindy war es eine besitzergreifende Geste. Er hatte sie hergebracht, sie ausgezogen, sie ins Bett gelegt und sie benutzt. Aber sie konnte sich an nichts mehr erinnern, und dieser Umstand machte alles noch viel unerquicklicher und geschmackloser. »Faß mich nicht an«, fauchte sie. Er stellte sich vor sie, starrte sie durch seine Sonnenbrille an. »Sag doch, wie es ist. Sag, ich soll meine schwarzen Pfoten von deiner weißen Haut lassen.« »Brightlight«, sagte sie und wich seinem Blick aus, »du bist ein Rassist.« Er nahm die Brille ab, »Baby; was nagt an dir?« »Alle weißen Girls wachen morgens miesgelaunt auf, hast du das nicht gewußt?«
»Das ist schon das zweite Mal«, sagte er. »Du hast schon das zweite Mal vom Morgen gesprochen.« Sie schaute an ihm vorbei, durch das Glas in den herrlichen Garten. Das Tageslicht drang nur noch schwach herein. Das graue Licht, das durch die Fensterläden gefallen war, war nicht die Morgendämmerung gewesen, sondern die Abenddämmerung. »Habe ich geschlafen seit…« »Seit ich dich hergebracht habe. Du hast gepennt wie ein Murmeltier. Ich und Beatty haben dich gesucht. Ich hatte Glück und habe dich gefunden.« »Oh«, sagte sie leise. »Glück war das nicht. Ich bin kein großartiger Fund.« »Drüber läßt sich streiten. Wie auch immer, wir haben ausgemacht, wer dich findet, dem gehörst du.« »Dem gehöre ich?« »Für fleischliche Genüsse, natürlich.« »Hast du… ich meine, während ich geschlafen habe… haben wir…?« »Himmel! Das ist nicht mein Stil.« Er hob eine Augenbraue. »Weißt du was? Ich mixe dir einen Drink.« »Nein! Nicht für mich!« »Und dazu trinkst du Kaffee.« Er kam mit einer großen Tasse Kaffee zurück und einem Glas Tomatensaft, stellte beides auf das kleine Tischchen neben ihr. Er ließ sich auf das Sofa nieder, schaute sie an und nippte an seinem Bourbon auf Eis. Das ausgedehnte Schweigen war ihr unbehaglich. »Wie war’s heute beim Dreh?« fragte sie. Er stieß einen Knurrlaut aus. »Nichts Großes für mich. Ich mußte Kratzfüße machen und mich vor dem großen Bobby verneigen. Tut mir leid, Herr Regisseur, entschuldigen Sie, daß ich aufgemüpft habe. Ich habe vergessen, wo mein Platz ist. Der fette Bastard zupfte nur an seinem Bart und hetzte mich den ganzen Tag durch die brennende Sonne. Im Vergleich zu ihm ist Vince Lombardi ein Pfadfinderführer.«
»Wer ist Vince Lombardi?« Seine Augenbrauen hoben sich. »Willst du mich auf den Arm nehmen? Lombardi ist für den Profi-Football, was de Gaulle für Frankreich ist. Nur, daß ein Trainer nicht abgewählt werden kann.« Sie trank ihren Kaffee, er seinen Bourbon, und beide schwiegen. Er schenkte sich neu ein, ließ sich wieder aufs Sofa fallen. Schließlich sagte sie ganz leise, verschüchtert seinen Namen. Er sah sie an, wartete, daß sie fortfuhr. »Das war dir ernst, nicht wahr? Ich meine, daß ich dir gehöre?« Er kam ihr dunkler vor denn je, geheimnisvoller in dem dunklen Zimmer. »Es war mir ernst.« »Ich werde mich wehren, falls du es versuchen solltest.« Sie sagte es mehr zu sich. Er sah sie über den Glasrand hinweg an, die Augen leicht schräg gestellt, beobachtend, reglos. Sehr indianisch, dachte sie. »Gib’s doch endlich zu«, sagte er, »schwarz macht dich geil.« »Du weißt, daß das nicht so ist.« »Ich weiß gar nichts.« »Du und Beatty, wie konntet ihr das nur tun? Um mich feilschen? Es darauf ankommen zu lassen, wem ich gehöre…« Er hob die Schultern. »Wenn ich dich will, werde ich dich nehmen.« »Bitte… nicht.« Er stieß einen Fluch aus, leerte sein Glas, schenkte sich erneut ein. »Zieh dich endlich an«, sagte er. »Ich bringe dich in dein Haus. Aber paß auf Beatty auf. Er ist nicht so zivilisiert wie ich.« »Brightlight«, sagte sie weich. Er drehte sich vom Barschrank halb herum. »Bitte«, sagte sie, mit einem Flehen in der Stimme. »Bitte.« Verstehen blitzte in den schwarzen Augen auf, und eine kaum wahrnehmbare Veränderung durchlief seine Gesichtszüge. Er stellte das Glas weg und kam ohne Hast auf sie zu. Groß, geschmeidig, mit einer draufgängerischen Kraft, die sie erregte und gleichzeitig verängstigte. Bilder heißer Farben zuckten durch ihr
Gehirn, und sie sehnte sich danach, sich ihm hinzugeben – oder würde sie sich wehren? »Bitte«, wimmerte sie, und ihr Sehnen war stärker, als sie je für möglich gehalten hatte. »Bitte.« Er zog sie auf die Füße und hielt sie sanft in seinen Armen. »Ich will dich doch lieben, Baby, weh tun könnte ich dir nie.« Seine Lippen waren überraschend weich, die Berührungen zurückhaltend, unsicher, delikat. Sie überließ ihm ihren Mund, ließ ihn vordringen, eindringen, forschen. Sie empfand eine Hilflosigkeit, die sie noch nie gekannt hatte, als wollte sich ihr Innerstes dieser Kraft ausliefern. Als ob er ihr Verlangen spürte, verstärkte sich der Druck seiner Arme um sie, und ihre Körper preßten sich noch dichter aneinander, und sein angeschwollener Penis drückte hart gegen ihren Bauch. Ein wohliger, lustvoller Schauer durchlief sie, und sie mußte an gestern nacht denken, als sie sein Glied in der Hand gehalten hatte, und in einer Welle zusätzlicher Erregung erwiderte sie den Druck seiner Hüften und rieb ihren Leib gegen seinen Schwanz. Mund auf Mund, Lippen und Zungen in hektischem Proben und Forschen verwoben, hob er sie vom Boden hoch, wodurch sein Glied genau in das Delta ihrer Beine stieß, und trug sie langsam ins Schlafzimmer. Auf dem Bett waren seine Größe und seine Kraft keine Bedrohung mehr, und sie rollten sich herum, spielten miteinander, sprachen gedämpfte, gemurmelte, zärtliche Geilheiten. Er küßte ihr Gesicht, sie leckte seine Lippen, seine Ohrläppchen. Er schlürfte an ihrer Kehle. Sie ließ ihre Finger über seinen Bauch wandern, bewunderte die harte, behaarte Bauchdecke. Er umfuhr mit der Zungenspitze die Umrisse ihrer Brüste und saugte an den Nippeln. Ihre Fingerspitzen drangen in seinen krausen Urwald vor. Er biß spielerisch in ihren Po.
Sie beugte sich über sein Glied, hielt es mit einer Hand umfaßt, ließ die Hand leicht an dem eindrucksvollen Schaft auf- und abwandern. Er barg sein Gesicht zwischen ihren Schenkeln, strich mit Behutamskeit über die kurzen Härchen, ließ einen Finger in die feuchte Ritze gleiten, und dann schob er sich näher heran, und seine Zunge drang in sie ein, was sie mit einem gurgelnden Schrei beantwortete. Sie hatte den Mund über die Schaftspitze gesenkt, umfuhr sie mit Lippen und Zunge, als wollte sie ihn schmecken, bevor sie tiefer hinabtauchte und versuchte, den ganzen prallen, dicken Schaft zu verschlingen. Und dann lagen sie wieder Mund an Mund, Bauch an Bauch. Sie lag auf dem Rücken, gespreizt, einladend, zog ihn mit beiden Händen näher zu sich heran. Er hatte sich über sie erhoben, ein Riese mit einem Riesen, der zuckend und bereit von seinem Körper abstand. Sie langte danach, fuhr noch einmal mit der Hand an der ganzen Länge auf und ab und zog ihn dann in sich , hinein, stöhnend, wimmernd, lüstern verlangend, und im nächsten Augenblick senkte er sich über sie, und sie spürte, wie zuerst die Spitze eindrang, langsam, herrlich langsam und dann, ebenso zelebriert wie zu Anfang, der ganze Schaft, der sie ausfüllte, daß sie beinahe glaubte, er könnte sich in ihr nicht bewegen. Und dann stieß er zu. Sie umfaßte Brightlights Nacken, küßte seinen Mund und genoß die gleichmäßigen Stöße, die sie mit rhythmischen Bewegungen begleitete, synchron, als wären sie ein eingespieltes Team. Als er schneller, wilder zuzustoßen begann, ging sie bedenkenlos mit, ihr Atem preßte aus ihrem Mund, kam mit ihren spitzen Schreien. Sie schlang die Beine hoch über seinen Rücken, damit er in Tiefen vordrang, die er bisher nicht hatte erreichen können, und sie spürte, wie ihre eigenen Säfte rannen, irgendwo in ihr schien eine Quelle der Lust zu sein, die sie jetzt überflutete. Es kam von den äußersten Spitzen ihrer Glieder, setzte sich kribbelnd durch alle Knochen ihres Rückgrats fort und erzwang
sich seinen Weg durch ihre verschlungenen Eingeweide, ein wildes, herrliches Pochen und Pumpen, das jeden seiner Stöße begleitete. »Brightlight!« rief sie. »Komm, komm, komm…« Ein Fieber schüttelte sie, er hob sie hoch, hielt sie in der Luft, ohne auch nur einen Augenblick den Kontakt mit ihr zu verlieren, er blieb tief in ihr drin, während ihre Finger über seine Schultern ratschten und sie ihre Lust in seinen Mund schrie. Und dann setzte sich das Pochen und Pumpen in wilden Zukkungen fort, die ihren ganzen Körper erfaßten, als er mit einem Aufschrei in sie hineinspritzte, kraftvoll, daß sie alles spüren konnte, und eine plötzliche Wärme umfing sie. Beautiful, Baby. Sie schliefen. Sie wachten auf und hatten Hunger. Sie ging in die Küche und kochte. Im Bett verschlangen sie Eier und spanisches Brot und Käse, und dazu tranken sie viele Tassen Kaffee. Eigelb tropfte auf seinen Schenkel. Sie beugte sich hinunter und leckte es auf, und weil sie mit dem Eigelb nicht genug hatte, setzte sie ihr Schlecken fort, und sie juchzte, als sie sah, wie schnell er sich erholt hatte, wie er unter ihren Lippen wieder wuchs. Diesmal gab sie nicht auf, bis sie ihn geschmeckt hatte, und mit dem Ausdruck einer gesättigten Katze schlief sie wieder ein. Als sie diesmal aufwachte, gingen sie unter die Dusche. Er entdeckte ein Muttermal an ihrem Innenschenkel, und diese Entdeckung bot ihm Anlaß, aus nächster Nähe hinzuschauen, und während das Wasser auf sie prasselte, gab sie sich seiner Zunge hin. Es war noch dunkel, als er wieder aufwachte. Sie bewegte sich. »Was ist?« murmelte sie. »Schlaf weiter.«
Sie schaute zu ihm hoch, berührte seine Schulter. »Erwartest du Besuch?« neckte sie ihn. »Weißt nie, wer gerade vorbei kommt.« Sie lachte und preßte ihren Mund auf seine Hüfte, knabberte an seiner Haut. »Brightlight, ich glaube, ich werde nie genug von dir kriegen können.« »So ist das eben mit uns schwarzen Hengsten – nur Schwanz.« »Du bist wunderschön.« »Wie viele?« fragte er. »Mit wie vielen Niggern hast du schon geschlafen?« Sie rollte sich weg von ihm. »Siehst du das so? Ich bin eine weiße Puppe, und du bist ein schwarzer Hengst?« »Wann war’s denn mal nicht so?« Sie wandte ihm den Rücken zu. »Ich bin nicht wegen deiner Farbe hier.« Er stand aus dem Bett auf, trat ans Fenster. In der Bucht bewegten sich, wie von unsichtbaren Händen gezogen, die roten und grünen Lichter der Boote. Von draußen drangen traurige Gitarrenklänge herein, sehr passend, sehr spanisch. »Schwarze Männer«, sagte er, ohne sich umzudrehen, »können sich nicht von ihrer Schwarzheit lösen. Sie können nicht vergessen, wie sie in den Augen der Weißen aussehen.« »Vielleicht wärst du besser dran, wenn du aufhörst, von dir als schwarz und von mir als weiß zu denken…« »Das ist doch Unsinn. Ich kann dir von meiner Schwarzheit erzählen. Ich war Football-Star in der Nationalliga, Lady. Ich habe das ganze Spießrutenlaufen mitgemacht, vom Sandkasten zur High-School, zum College. Wegen meiner Figur haben sie mich geholt, mich zum Star gemacht. Mir wurde Knete von allen Seiten hingehalten. Leute sind zu mir gekommen, die mir gesagt haben, sie würden mich in zwei Jahren zum Schwergewichtsmeister im Boxen machen. Die Boston Celtics wollten, daß ich für sie Basketball spiele. Mann, ich hatte es geschafft.
Ich begann zu vergessen, daß ich ein Nigger war. Begann zu glauben, daß ich verdammt Glück hatte. Begann mich nur noch als Mann zu fühlen, als Mensch. Da war diese Puppe. Weiß. Ich habe sie in New York getroffen, als sie mir die Heisman Trophy als Nummer Eins im Football überreichten. Oh, sie war fein, edle Zucht, und jeden ihrer Mayflower-Vorfahren sah man ihr an mit ihrem zarten Körper und den naturblonden Haaren. Ich fuhr sofort auf sie ab, und sie flippte aus. Wir haben’s wild getrieben. Ich habe bei den Profis unterschrieben, und zwei Jahre lang war ich der King. Ein Haufen Geld, und die Leute lachten freundlich, wenn sie mich sahen, und diese weiße Puppe war überall, wo ich auch war. Das war die Zeit, in der ich vergaß, was ich war. Ich habe mit ihr über Liebe gesprochen und dachte, es wäre doch schön, wenn wir alles legalisierten und Babies haben könnten. Das war’s für sie. Sie hat mich ganz schnell wissen lassen, wie es war. Sie spielte ganz gern mit mir, ritt gern auf einem schwarzen Schwanz, aber damit hatte es sich auch. Zurück auf deinen Platz, Nigger, spiel den Clown oder den Deckhengst für die schönen Weißen, aber glaub nur nicht, daß wir dich auf unser Spielfeld lassen. Diese Puppe hat’s mir klargemacht. Old Brightlight ist ein Nigger, bleibt ein Nigger. Daran ändert sich nichts, kein Geld, keine Berühmtheit. Darin unterscheide ich mich nicht von dem armen Kerl, der die Kloaken ausfegt. Einziger Unterschied ist, daß ich ein Nigger bin, der Glück gehabt hat.« »Aber ich bin nicht dieses Mädchen.« »Stimmt.« Er drehte sich um. »Dieses Bett da, das kann auch ein Spielfeld sein. Komm, Nigger, zeig, was du kannst.« »Hör auf! Verdammt! Was ist denn los mit dir?« Er ging auf sie zu, blieb neben ihr stehen, schaute auf sie hinab. »Es gibt keinen Nigger ohne Komplexe. Glaub’s mir. Wir haben alle Angst. Jeder einzelne von uns. Ganz egal, ob er es geschafft hat oder nicht. Poitier, Martin Luther King, Rap Brown, Cleaver, Malcolm, Mohammed Ali, Lena, Sammy Davis, Redd, ich, jeder
von uns kennt diese heimliche Angst. Wir können uns nicht verstecken. In dreihundertfünfzig Jahren kann einem die Angst schon unter die Haut gehen. Man wird damit geboren.« Sie brachte keinen Laut heraus, nickte nur schwach. Er stieß ein unsicheres Lachen aus. »Ich schätze, ein Kind wie du ist nicht leicht zu überzeugen. Das werden wir schon noch hinkriegen.« Sie streckte die Hand nach ihm aus, zog sie aber dann zurück, bevor sie ihn berührte. »Wenn du nichts dagegen hast«, sagte sie, »würde ich eine Weile bei dir bleiben.« »Wenn du willst…«, sagte er gedehnt. Dann fügte er rasch hinzu: »Aber es geht auch schon mal wild zu bei mir. Besser, wenn du das weißt.« »Ich weiß.« Er ließ einen eigenartigen Laut hören, der zwischen Seufzen und hilflosem Knurren lag. »Also gut, warum kommst du nicht her zu mir, Baby, und dann sehen wir mal, ob noch alles zueinander paßt…«
13
Am anderen Morgen tauchte Beatty auf. Sie waren schon seit über einer Stunde wach, sie hatten spanische Melone und Kaffee zum Frühstück gehabt. Jetzt saßen sie nackt nebeneinander auf dem breiten Wohnzimmersofa, redeten, lachten und berührten sich gegenseitig. »Wir müssen mal auf die andere Seite der Insel. Ich habe eine Bucht entdeckt, da sind kaum Touristen. Nur Einheimische.« »O ja, laß uns hinfahren.« »Okay. Wir nehmen uns was zum Essen mit, Wein, und bleiben den ganzen Tag. Vielleicht auch noch die Nacht, wenn wir was finden, wo wir schlafen können.« »Fabelhaft!« rief sie. »Ich kümmere mich ums Essen. Ziehst du dich schon mal an?« In diesem Moment quietschten draußen auf der Zufahrt die Reifen, eine Autotür knallte zu, und man hörte Schritte aufs Haus zukommen. Eine kräftige Hand pochte gegen die Tür. Cindy fürchtete sich plötzlich. »Wer kann das sein?« »Warte drinnen.« »Erwartest du jemanden?« »Ich sagte, du sollst drinnen warten.« Sie ging ins Schlafzimmer, legte sich ins Bett, die Decke hochgezogen, den Rücken zur Tür. Sie versuchte, gegen die Angst anzukämpfen, aber es gelang ihr nicht. Brightlight öffnete die Haustür, und Arthur Beatty trat ein, schaute sich um. Er trug ein schwarzes Hemd und eine rote Sporthose. Sein Gesicht zeigte die Spuren einiger durchzechter Nächte. »Du hast eine hübsche Bleibe hier, Tod.«
»Danke. Kann ich dir was anbieten?« »Wo ist das Mädchen?« »Ich mag dieses Mädchen, Arthur.« Beatty legte den Kopf ein wenig schief. »Sag mal, Tod, mußt du deinen Schädel jeden Tag rasieren? Solche Dinge interessieren mich.« »Was wir an dem Abend getrieben haben, Arthur, war ein Spiel. Wir waren doch alle betrunken.« »Aber nicht derart betrunken, daß ich nicht mehr weiß, was wir abgemacht haben. Wir haben unsere Abmachung mit einem Händedruck besiegelt.« »Wir waren ein bißchen verrückt vom vielen Saufen. Zuerst der Kampf, dann die Siegesfeier, und als ich dann meine Karre nicht finden konnte…« »Die Wettbewerbe«, sagte Beatty. »Sie gingen unentschieden aus.« »Dabei sollten wir es belassen.« »Dafür ist es zu spät. Es sollte einen letzten Wettbewerb geben. Um den besten Mann zu küren, sozusagen. Das Mädchen soll das Urteil fällen.« Brightlight wiegte den Kopf. »Ich kann dir bei Gelegenheit was anderes anbieten, Arthur.« »Das würde mir nicht genügen. Du hast sie zwei Tage und zwei Nächte gehabt. Jetzt bin ich dran, und ich habe nicht mehr viel Zeit, denn meine liebe Frau Amy wird bald zurück sein und jugendlicher denn je aussehen und verlangen, daß ich ihr das mit meinem Schwanz beweise. Dann sind meine Möglichkeiten der außerhäuslichen Aktivitäten eingeschränkt.« »Cindy mag mich, Arthur, ich mag sie.« »Wirklich! Solche Sentimentalitäten, Brightlight! Du enttäuschst mich.« »Cindy gehört zu mir.« »Dummer Junge, natürlich gehört sie zu dir, wenn du sie willst. Unsere Abmachung hat nichts mit dem Besitzzustand zu tun, nur mit der Benutzung.«
»Ich werde nicht mitmachen.« »Das glaube ich aber doch. Der Handel war einfach und unmißverständlich: Wer sie fand, konnte sie zuerst vögeln. Der andere sollte danach seine Chance erhalten.« »Ich mache nicht mit, Arthur.« Beatty machte es sich in einem der tiefen Sessel bequem. Er sah zu Brightlight hoch. »Habe ich eigentlich je erwähnt, daß Amy und ich hoch in diese Produktion investiert haben? Daß wir quasi Ko-Produzenten sind? Nein, ich glaube, ich habe das bisher noch nicht gesagt, ich muß es wohl vergessen haben. Man gewöhnt sich schnell an die Machte Ich könnte dich auf der Stelle entlassen, Brightlight. Du hast bisher nur ein paar Szenen abgedreht und könntest leicht durch irgendeinen anderen ersetzt werden.« Brightlight zuckte sichtlich zusammen. »Du bist ein Bastard.« »Das hast du doch schon immer gewußt, mein Junge. Man erreicht meine hohe Position nicht mit dem Verhalten eines netten Jungen.« Sein Mund war nur noch ein dünner Strich, als er sagte: »Ich will das Mädchen. Jetzt.« »Sie wird es nicht tun.« »Unsinn. Natürlich will sie. Wenn nötig, wirst du sie überzeugen.« Brightlight streckte die Arme aus, spreizte die Finger beider Hände. »Damit könnte ich dir das Genick brechen, Mann.« Beatty stieß ein prustendes Geräusch aus. »Wieder Unsinn. Dies ist der ultimative Wettkampf zwischen uns beiden, Brightlight. Du hast nie gemerkt, daß du keine Chance hast. Dein Sieg liegt darin, daß du durch diesen Film zum Star wirst – und das kann ich dir vermiesen. Vielleicht würde ich dich nicht feuern lassen, möglich, daß ich Bobby nur dazu bringe, deine Rolle auf Statistenniveau runterzudrücken. Überleg’s dir. Auf der einen Seite das Mädchen, auf der anderen deine Zukunft.« Er grinste breit. »Welchen Triumph willst du haben, Brightlight? Auf welchem Gebiet willst du die Niederlage einstecken?« Ohne ein Wort ging Brightlight ins Schlafzimmer und drückte die Tür hinter sich zu.
»Das glaube ich nicht.« »Glaub’s mir. Er wartet auf dich.« Ein schmerzvoller Ausdruck verzerrte Cindys Gesicht. »Einfach so? Beatty ist da, und er will ficken. Mach die Beine breit, Cindy. Einfach so?« Sie zitterte und schüttelte sich. »Willst du zuschauen, Brightlight? Oder wartest du nebenan, bis er fertig ist, damit du als nächster drankommst?« »Ich gehe schwimmen. Ich schwimme bis zur Erschöpfung, damit ich nicht daran denken muß. Und dann habe ich die ganze Szene aus meinem Gedächtnis gestrichen.« »Das glaube ich nicht. Du bedeutest mir was, und ich bedeute dir auch was. Das kannst du nicht leugnen.« »Rührseliges Zeug. Ich bin ein Nigger und muß locker bleiben. Ich muß sehen, wo ich bleibe. Ich will mit diesem Film groß rauskommen, damit ich mehr weiße Pussy kriege, verstehst du?« »Lügner!« Der Schrei drang aus ihr heraus, endete in einem Wimmern. Er drehte sich herum und ging aus dem Zimmer. Erschöpft fiel sie ins Kissen zurück, voller Haß auf sich selbst, der sich mit Selbstmitleid abwechselte. Sie wünschte, stark genug zu sein, um sich zur Wehr zu setzen. Oder wegzulaufen. Aber sie wußte, sie würde beides nicht tun. Sie wußte, daß sie bleiben würde, bis Arthur Beatty durch diese Tür kam, und sie wußte auch, daß sie ein perverses Vergnügen an ihm haben würde.
FÜNFTES BUCH
Ich rufe Himmel und Erde an, Zeugnis zu geben über diesen Tag. Vor dir liegen Leben und Tod, Segen und Fluch; daher wähle das Leben, damit du und deine Nachkommen leben können. Fünftes Buch Mose
1
Ein grollender Donner weckte sie, sie saß im Bett und wußte nicht, wo sie war. Das dunkle Zimmer schien sich zu drehen und zu schweben, sie rang um ihr Gleichgewicht und hielt sich an den Laken fest. Der Donner hielt an, und sie hörte den prasselnden Regen, der ihn begleitete. Ihre Erinnerung setzte wieder ein, und ängstlich sank sie zurück. Sie befand sich in ihrem eigenen Zimmer im Apartment ihrer Mutter an der Ostseite von Manhattan. In Sicherheit. Der Sturm verstärkte sich, das Donnern schwoll an, der Regen klang wütender. Sie empfand irgendwie Vergnügen daran, den Elementen nicht ausgeliefert zu sein, sie stellte sich die überfluteten Straßen vor, die Angst, die jene spüren mußten, die nicht im sicheren Zuhause waren. Morgen früh würde es in den Nachrichten heißen, daß Highways überflutet und gesperrt waren, daß U-Bahnstationen wegen Hochwassers geschlossen wurden. Die Menschen auf Long Island, stolz auf ihre Stelzenhäuser und blumenreichen Vorgärten, würden über den Sturm am unglücklichsten sein, die Blumen waren ertrunken, und die Ehemänner würden am nächsten Morgen kaum zu ihren Arbeitsstellen in Manhattan gelangen. Sie trat ans Fenster und schaute hinab. Die Straßen glänzten, das Licht der Straßenlampen brach sich in den Pfützen. Das Echo des Donners hallte wider. Die Scheiben in den Fenstern zitterten, hielten aber stand. Ein passender Auftakt dieses Tages, dachte Cindy: Um zehn Uhr würde das Gericht zusammentreten, und der Staat von New York würde Beweise vorlegen, daß Roy Ashe vorsätzlich einen Menschen umgebracht hatte…
Sie riß sich vom Fenster los und ging zurück ins Bett. Es war ein Fehler gewesen, diese Rückkehr nach New York. Nach Mallorca hätte sie Paris, London oder Rom besuchen sollen. Nein, statt dessen war sie nach New York zurückgeflogen. Nach Hause. Dieses Wort hüpfte durch ihr Gehirn. Es war Maggies Zuhause, nicht ihres. Und New York war auch nicht ihre Stadt. Vielleicht war sie es einmal gewesen, aber jetzt nicht mehr. In den drei Wochen seit ihrer Rückkehr hatte sie ziellos die tiefen Straßenschluchten Manhattans durchwandert, eine Fremde unter Fremden, verunsichert, mißtrauisch, zurückhaltend. Taxis schienen es darauf abgesehen zu haben, sie anzufahren, die Busfahrer gaben sich unhöflich, die Fußgänger waren aggressiv und feindlich. Sie hätte nicht zurückkommen sollen. Rafe hatte darauf bestanden. Er hatte ihr ein Flugticket gekauft, hatte ihr beim Packen geholfen, sie aufgemuntert, ihr Beruhigungsmittel gegeben und ihrem Jammern und Wehklagen zugehört, bis sie sich erschöpft hatte und schließlich eingeschlafen war. Er hatte auch Geduld mit ihr, als sie an diesem Dienstagmorgen am Flughafen geschluchzt hatte, daß sie nicht sterben wollte, denn sie wußte, daß das Flugzeug abstürzen würde. Er hatte sie wieder zurück in seine Wohnung mitgenommen, zahllose Telefongespräche geführt und schließlich eine Schiffspassage auf einem israelischen Schiff gebucht. Und in dieser Nacht, als sie versucht hatte, ihren Schädel zu zerschmettern, indem sie ihren Kopf gegen den Kaminpfeiler schlug, war er wachgeworden, hatte die Platzwunde unter ihren Haaren gewaschen und desinfiziert, hatte ihr zwei Schlaftabletten gegeben und sie mit in sein Bett genommen, damit er sie vor sich selbst bewahren konnte. Oh, wie entsetzlich hatte sie sich am nächsten Morgen gefühlt! Ihr Kopf schmerzte noch Tage danach, und Rafe hatte sie gewarnt, daß sie sich eines Nachts wirklich schlimm verletzen könnte.
»Das wird uns allen leid tun«, sagte er, gespielt fröhlich. Es gab kaum etwas in ihrem Leben, dachte Cindy wehmütig, was ihr nicht leid tat. Daß sie geboren war, daß sie lebte und wie sie gelebt hatte. Es tat ihr leid, daß ihr Vater vor Gericht stand. Der arme Kerl tat ihr leid, den Roy getötet haben sollte. Aber sie war sicher, daß Roy Ashe freigesprochen werden würde, und wenn nicht, tat er ihr auch leid…
2
Enttäuschung war Cindys erste Reaktion. Ohne darüber nachzudenken, hatte sie sich einen Gerichtssaal mit skandalgeilen Zuhörern vorgestellt, die sich an der Geschichte von Habgier und Mord ergötzen wollten. Der Richter hatte in ihrer Phantasie wie ein strenger Rächer ausgesehen, mit der Stimme eines Propheten aus dem Alten Testament. Die Geschworenen ihrer Phantasie waren ernst und hohlwangig, sie hatten nichts anderes im Sinn, als der bürgerlichen Moral das Wort zu reden. Es war ganz anders. Über dem Gerichtssaal mit seinen blassen Paneelen lag eine milde, antiseptische Stimmung, und nur vier oder fünf Zuhörer nahmen die unbequemen Plätze ein. Sie schienen sich eher zu langweilen. Ein Neger mit dem weisen Gesicht einer Eule leitete die Verhandlung, und die Staatsanwaltschaft wurde von einem jungen Assistenten vertreten, während die Geschworenen eine gelangweilte Meute zu sein schienen. Der Verteidiger war ein dickleibiger Mann in einem befleckten Hemd mit glanzlosen Schuhen und einem sehr unsicheren Verhalten. Roy Ashe dagegen hatte sich in Schale geworfen. Blaues Hemd, Krawatte von Princeton University. Er war der beeindruckendste Mann im Saal. Er sah gut und gesund aus, und seine Augen nahmen alles wahr. Er sah Cindy und blinzelte ihr zu, formte aus Zeigefinger und Daumen eine Pistole und feuerte einen Salutschuß ab. Dabei grinste er sein verwegenes James Cagney-Grinsen. »Derselbe alte Roy«, raunte Maggie in Cindys Ohr. Cindy schaute ihre Mutter von der Seite an. Das sonst so glatte und schöne Gesicht zeigte jetzt ein Netzwerk kleiner Falten unter den Augen, und zwischen Nasenflügeln und Mund hatten sich tiefere Kerben eingegraben.
»Du hättest ihn nicht heiraten sollen«, sagte Cindy. Maggie war schockiert. »Was für ein Gedanke? Wie kannst du nur so etwas Schreckliches sagen? Roy und ich, wir haben uns geliebt.« Sie schaute nach vorn. »Es hat nur nicht hingehauen mit uns.« »Warum, Mutter?« »Was meinst du?« »Warum hast du dich scheiden lassen?« »Ich habe es doch gerade gesagt: Es hat nicht hingehauen.« »War da nicht ein anderer Mann?« fragte sie boshaft. »War es nicht Roys bester Freund? Ich habe gehört, daß du und…« »Dann hast was Falsches gehört«, zischte Maggie. »Du hast was Falsches gehört. Ich bin deine Mutter, Cindy, und du hast kein Recht…« Sie brach ab. Bevor Cindy etwas antworten konnte, begann der Staatsanwalt mit der Eröffnung. Als sich das Gericht zur Mittagspause vertagte, wollten Cindy und Maggie gemeinsam hinausgehen, aber sobald sie den Korridor erreicht hatten, drängte sich eine Schar von Reportern um sie. In der Flurmitte stand eine Fernsehkamera, und das gebündelte Licht der Lampe zwang Cindy, den Blick abzuwenden. »Miss Ashe«, sagte der Mann von NBC aggressiv. »Glauben Sie, daß Ihr Vater freigesprochen wird?« »Das ist eine alberne Frage«, fauchte Maggie. »Komm, Cindy, wir müssen an die frische Luft.« Der Mann von NBC war hartnäckig. »Sie waren auf Mallorca, Miss Ashe, hatten irgendwas mit einem Film zu tun.« »Ich habe für einen Fotografen gearbeitet«, brachte Cindy heraus und sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. »Heißt das, daß Sie auf eine Karriere beim Film abzielen?« fragte der NBC-Mann. »Ich bin keine Schauspielerin.« Der Mann von WPIX rief eifrig: »Sie wurden mit bestimmten Mitgliedern des Filmteams ›Explosion‹ in Verbindung gebracht.«
Bilder kamen in ihr hoch. Brightlight und Beatty. Am Hafen, als sie Brightlights Glied in die Hand genommen hatte. Diese exquisite Berührung… Dann der schreckliche Augenblick in Brightlights Villa, als sie aus dem Schlafzimmer stelzte. Sie hatte eine heftige Wut, in sich, ein Verlangen, sich zur Wehr zu setzen, sich zu verweigern, und gleichzeitig wußte sie, daß sie sich unterwerfen, daß sie sich benutzen lassen würde. Und Beatty, der auf sie zu gekommen war, die lächerliche rote Hose schon ausgezogen… »In Europa hat es Gerüchte gegeben«, sagte einer der Reporter, »über Sie und Arthur Beatty…« »Mister Beatty ist ein verheirateter Mann…« »Stimmt es, daß er und Miss Swift sich trennen werden?« »Er und Miss Swift sind glücklich verheiratet, nehme ich…« »Wie fanden Sie Bobby Partridge? Stimmt es, daß er Ihnen angeboten hat, eine Rolle für Sie in den Film hineinzuschreiben?« »Das ist nicht wahr…« »Es heißt, daß Amy Swift den Drehort wütend verlassen hat und sich in der Schweiz verborgen hielt, bis Sie Mallorca den Rücken gekehrt hatten. Wann werden Sie Arthur Beatty wieder sehen? Haben Sie…« Ein Kloß saß in Cindys Kehle, sie hätte am liebsten aufgeschrien. Sie schob sich gegen den Kreis der Reporter, die sie einschnürten. Hände streckten sich nach ihr, ihr Name wurde gerufen, Fragen prasselten auf sie nieder. Sie zwängte sich vorbei, begann zu rennen. Hinter sich hörte sie Schritte, aber sie sah sich nicht um; sie hatte den Ausgang erreicht und hielt verzweifelt nach einem Taxi Ausschau. »Cindy!« Sie schwang herum, angriffsbereit. Aber dann sah sie nur David Altman vor sich, der verlegen einen Arm zur Begrüßung hob. »Was machst du denn hier?« fragte sie. Sie hatte vergessen, daß es ihn überhaupt gab.
Seine Mundwinkel hoben sich, sackten aber gleich wieder ab. »Nun ja, ich bin Anwalt und natürlich interessiert an…« »Das geht dich überhaupt nichts an!« Sie drehte sich zur Straße um, entdeckte ein leeres Taxi, dessen Fahrer ihr ungestümes Winken ignorierte. Sie stieß einen Fluch aus und winkte weiter. David stellte sich in die Gosse und hob einen Arm. »Ich bin nur gekommen, um dich zu sehen, Cindy.« Ein Taxi hielt an, er öffnete die Tür. Sie zögerte, stieg dann aber ein. Er setzte sich neben sie und gab dem Fahrer präzise Anweisungen. »Wohin bringst du mich?« »Es ist Mittagszeit, und ich habe Hunger. Ich dachte, es wäre am besten…« »Ich habe keinen Hunger. Ich möchte was trinken.« Er gab keine Antwort. Er brachte sie zu einem unauffälligen Lokal auf der Neunten Avenue. Eine Thekenhälfte war für den Außer-Haus-Verkauf reserviert, da lagen Sandwiches aufgestapelt, Würste hingen an der Wand, und es roch nach Knoblauch. Eine Schlange aus Männern in Arbeitskleidung hatte sich vor der Kasse gebildet. David führte Cindy zu einem zurückliegenden Raum. Ein Dutzend Tische mit blütenweißen Decken und tropfenden Kerzen in Chiantiflaschen. »Es sieht vielleicht nicht großartig aus«, sagte David, als sie einen Tisch gefunden hatten, »aber das Essen ist phantastisch. Mama Rupolo ist die Chefin in der Küche, und Papa führt die Verkaufstheke. Gelegentlich geraten sie aneinander, weil sich ihre Interessen überschneiden. Dann fliegen die Fetzen.« Er lachte, und Cindy mußte mit ihm lachen. Sie legte den Kopf schief, schaute ihn an. »Ich glaube, du bist anders geworden, David. Du hast dich verändert.« Er grinste und zupfte seine Nase. »Kein Zinkoxyd mehr, und die Haut pellt sich auch nicht. Außerdem mache ich in meinen Kleidern einen besseren Eindruck.« Jetzt lachte sie aus vollem Herzen. Lachen tat ihr gut, und es war auch gut, so entspannt sein zu können. Es mußte an David
liegen; bei ihm stand sie nicht unter Druck, er stellte keine Forderungen an sie. Er hatte etwas Sanftes an sich. Ein Kellner stellte sich vor sie. »Was wollen Sie?« fragte er barsch. »Wir nehmen das Kalbspiccata, wenn du keine Einwände hast, Cindy. Es ist wirklich ausgezeichnet hier.« Sie nickte. »Und einen kleinen Salat dazu.« Der Kellner ging, nachdem David noch eine Karaffe Wein bestellt hatte, und Cindy sagte: »Es war nett von dir, daß du versucht hast, BB zu helfen.« »Nun ja, ich habe nichts erreicht.« »Aber du hast es geschafft, daß dieser berühmte Anwalt den Ball übernahm.« »Mister McHenry. Das war leicht.« Sie musterte ihn unverhohlen, und nach einer Weile wandte er sich ab und schien froh zu sein, daß der Kellner mit dem Wein kam. Er hob sein Glas und trank. Er hatte sich wirklich verändert, dachte sie. Er zeigte ein stilles Selbstbewußtsein, das sie früher nicht an ihm entdeckt hatte. Vielleicht war er gar nicht so spießig, wie sie immer gedacht hatte. Er war nur anders. »Erzähle mir von deiner Arbeit, David«, sagte sie leise. Er hob die Schultern. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Pinsanos Posse ist in diesem Sommer aufgelöst worden, nachdem die meisten Kids zurück in ihre Schulen mußten.« »Und du?« »Ich bin zurück nach New York gekommen.« Er errötete. »Ich bin wieder zu meinen Eltern gezogen.« Er sah, wie Cindy die Stirn kraus zog. »Oh, meine Eltern sind gar nicht so übel.« »Kein Generationenkonflikt?« fragte sie zweifelnd. »Doch, ja, natürlich. Aber sie respektieren mich und das, was ich tue. Ich meine, jeder lebt nach seinem eigenen Schema, nicht wahr? Man reagiert auf den Druck und den Einfluß um einen herum.« Sie war nicht sicher, daß sie ihm zustimmte und ob sie ihn verstanden hatte, aber sie ermunterte ihn, weiter zu erzählen. »Au-
ßerdem kann ich mir keine eigene Wohnung leisten. Ich lebe von einer kleinen Unterstützung aus dem Saperstein Fond. Sie fördern kleinere lokale Projekte.« »Und was machst du da?« »Es ist eine Ergänzung der Posse. Ich habe, als ich spürte, daß Pinsanos Posse den Sommer nicht überleben würde, darüber nachgedacht, wie ich seine Arbeit fortsetzen könnte. Jetzt habe ich meine eigene Posse. Gleichzeitig gehe ich in die verschiedenen Rechtsschulen New Yorks und organisiere StudentenKomitees, um überalterte Lehrpläne abzuschaffen.« »Aber das ist großartig!« Er schaute in sein Glas. »Es gefällt mir. Es gibt mir das Gefühl, etwas zu bewegen. Mir behagt die politische Richtung nicht, und mir gefällt nicht, wie rasch sich Studenten politisieren lassen. Mir ist das zu theoretisch, zu intellektuell. Ich will Dinge bewegen, ich will Veränderungen erreichen, nicht erörtern.« Ihre Gedanken gingen zurück nach Chicago. Und nach Paris. Zu dem schrecklichen Fiasko, das sie in Madrid erlebt hatte. Sie schüttelte sich und wunderte sich, daß sie diesen anpackenden David Altman nicht früher schon richtig eingeschätzt hatte. Er kam ihr männlicher vor als alle, die sie bis heute kennengelernt hatte. Oder? Konnte sie ihrem Urteil überhaupt noch trauen? Sie hatte für eine lange Zeit genug von Männern. Das sagte sie ihm auch, als er sie um ein Wiedersehen bat. Sie hoffte, daß sie es höflich gesagt hatte.
3
»Du brauchst nicht zu gehen«, sagte Maggie zum hundertsten Mal. Cindy saß vor dem Frisiertisch und schaute auf ihr eigenes und auf das Spiegelbild ihrer Mutter. Die Ähnlichkeit in den Gesichtern war nicht zu übersehen. Das gleiche spitz zulaufende Gesicht, der gleiche üppige, sinnliche Mund, das gleiche ermunternde Aufblitzen in den haselnußbraunen Augen. Dann aber endeten die Gemeinsamkeiten. Cindy hatte sich einen Ausdruck von Hoffnung und Wunder erhalten, den Glauben daran, daß das Leben gut und süß sein könnte. Maggies Gesicht war anders. Ihr Augen waren verhangen, verschleiert, und nur manchmal konnten sie hart und herzlos blikken. Ihre Unterlippe schien ständig in Bewegung zu sein, der Mund war zu rasch zu einem Lächeln bereit. Sie stellte sich hinter Cindy und starrte sich selbst im Spiegel an. »Die verdammten Falten«, murmelte sie. »Findest du, daß ich mir ein Peeling machen lassen sollte, Baby? Jede läßt es sich heutzutage machen. Es ist schließlich kein Liften.« »Amy Swift hat es sich machen lassen«, sagte Cindy langsam. Sie wollte nicht an Mallorca denken. »Wirklich? Ich habe von einem Vier-Tage-Peeling gelesen, das man sich in der Arztpraxis machen lassen kann. Am vierten Tag wird einem die Haut abgeschält, und nach ein paar Tagen ist alles vorbei. Es ist kaum was anderes als ein arger Sonnenbrand.« Cindy stand auf und wandte sich ihrer Mutter zu. »Ich bin fertig.« »Du brauchst wirklich nicht mitzukommen.« »Ich will aber«, antwortete Cindy. Sie hätte sich lieber nicht verpflichtet gefühlt, dem Prozeß gegen ihren Vater beizuwohnen. Die Jury hatte sich gestern nachmittag zur Beratung zurückgezo-
gen und war noch zu keinem Urteil gelangt. Damit wurde für heute gerechnet. »Nun, ich will nicht«, sagte Maggie. »Ich gehe nur, weil Roys Anwalt mich gebeten hat. Er sagte, es sähe besser aus, wenn seine frühere Frau Interesse am Prozeß zeigt. Das macht einen guten Eindruck.« Sie seufzte. »Gehen wir.« Im Taxi, das sie zum Gericht brachte, formte sich in Cindys Kopf die Frage, über die sie schon länger nachgedacht hatte. »Warum sollte Roys Anwalt jetzt noch auf einen guten Eindruck bedacht sein? Er geht doch davon aus, daß er freigesprochen wird, oder?« Maggie nickte. »Natürlich besteht immer die Gefahr, daß er verurteilt wird, und dann beginnt der Streit um ein neues Verfahren. Aber sie sind alle sicher, daß er davonkommt…« Cindy schüttelte langsam den Kopf. »Also warum denn?« Ein freudloses Lachen kam über Maggies Lippen. »Hast du schon einmal darüber nachgedacht, woher dein Vater das Geld hat, einen so guten Anwalt zu bezahlen? Also, das geht alles auf Neil Morgan zurück.« Cindy schaute ihre Mutter fragend an. Was hatte BBs Vater damit zu tun? »Neil ist ein gerissener Hund«, sagte Maggie mit Bewunderung in der Stimme. »Er hat Roy überredet, einem Autor seine Geschichte zu erzählen. Daraus soll dann ein Buch werden…« Cindy starrte ihre Mutter an. »Sie haben zuerst versucht, Mike Birns dafür zu gewinnen, aber Mike wollte nichts damit zu tun haben, deshalb haben sie irgendeinen Typen aus Hollywood geholt, der übrigens ein Freund von Neils Frau ist. Und dies ist nur die Hälfte der Geschichte. Neil hat schon einen Vertrag mit einem Filmstudio. Sie wollen einen Film darüber drehen. Bei dieser Vorgabe fanden sie leicht einen Verleger für das ungeschriebene Buch. Jetzt fehlt nur noch das letzte Kapitel – das Urteil und seine Begründung.« Sie stieß wieder ihr freudloses Lachen aus. »Du siehst, dieser Prozeß ist
das beste, was deinem Vater geschehen konnte. Er wird bald reich und berühmt sein.« Cindy schüttelte ungläubig den Kopf. Das Taxi hielt vor dem Gerichtsgebäude an, und sie schritten auf das Portal zu. »Ich halte ihn für schuldig«, sagte Maggie. »Ich glaube, daß Roy diesen Mann umgebracht hat. Und es würde mich nicht überraschen, wenn er das in seinem Buch enthüllte. So eine Art Ego-Trip paßt zu deinem Vater.« Die Geschworenen kamen herein, und von den Gesichtern las Cindy ab, daß sie Roy für nicht schuldig befunden hatten. Sie hatte recht. Sie blieb steif sitzen und schaute zu, wie Roy, ausgestattet mit dem James Cagney-Grinsen, seinem Anwalt die Hand schüttelte, dann Neil Morgan, dann jedem einzelnen Geschworenen. Sie sah, wie er die Fragen der Reporter beantwortete, und dann stand sie auf. Aber bevor sie den Saal verlassen konnte, trat Roy auf sie beide zu, lässig, selbstsicher, aufgeblasen. Die kleinen blassen Augen leuchteten. »He, Maggie!« rief er. »Was sagst du nun? Gratuliere deinem Ex-Mann, auch wenn du es nicht meinst!« »Gratuliere, Ex-Mann«, sagte Maggie ohne Betonung. Er packte Cindys Handgelenke und zog sie dichter an sich heran. »Nun, Baby, was hältst du jetzt von deinem Alten? Ich habe dir doch gesagt, daß du dir keine Sorgen machen mußt.« Cindy löste sich von ihm. »Du hast es getan, Vater, nicht wahr?« »Jetzt aber, Baby«, sagte er grinsend. Neil Morgan, die Augen verquollen, trat näher an sie heran. »Die Jury hat deinen Vater freigesprochen, sie hält ihn für unschuldig, Cindy. Nach unseren Gesetzen heißt das auch, daß er unschuldig ist.« »Wie geht es BB, Mister Morgan?« Neil Morgans Mund wurde zu einem dünnen Strich. »Dieser Junge… er taugt nichts. Ein Junge, der alles haben konnte. Ich
habe mein Bestes versucht, aber es gibt für alles eine Grenze. Zuletzt habe ich von ihm gehört, daß er auf dem Weg zu einer Kommune in British Columbia war. Er hat mich angerufen, weil er Geld haben wollte. Ich habe mich von ihm gelöst, ich habe genug von ihm, ich bin fertig mit diesem Jungen.« Seine verengten Augen richteten sich auf Maggie, dann auf Roy. »Ihr könnt froh sein, ein anständiges Mädchen wie Cindy zu haben und keinen verrückten Sohn wie BB.« Er klopfte Roy auf den Rücken und grinste ihn breit an. »Genug von meinen Problemen. Dies ist Roys Tag, und was für ein großartiger Tag das ist!« »Laßt uns abhauen«, sagte Roy, »und feiern. Nur ein paar Glas.« Cindy wollte etwas sagen, wollte dem Horror Ausdruck geben, den sie empfand, wollte ihnen zeigen, wie sehr sie das alles entsetzte. Sie wollte Roy und Maggie an den Kopf werfen, daß ihre Tochter nicht besser war als BB; sie wollte sie bestrafen, ihnen Schmerzen zufügen. Aber sie brachte kein Wort heraus. Statt dessen rannte sie weg. Draußen empfing sie ein heller, warmer Tag, der die Menschen mit Energie auftankte. Sie beschleunigte ihre Schritte, als wollte sie alles hinter sich lassen. Sie betrat einen Drugstore, bestellte sich eine Cola und schluckte einen Tranquilizer. Wieder auf der Straße, wurde ihr bewußt, daß ihr Herz nicht mehr so schnell schlug wie vorher, aber die Ruhe, die sich in ihrem Körper ausbreitete, erfüllte sie nicht. Furcht packte sie, und mißtrauisch sah sie jeden Passanten an. Sie sehnte sich nach einem sicheren Hafen, wo sie sich ausruhen könnte und wo sie vor der feindlichen Welt in Sicherheit wäre. Wo gab es einen Menschen, zu dem sie flüchten konnte? Sie sah ein Telefon, steuerte darauf zu, ohne zu wissen, wen sie anrufen konnte. In ihrem Kopf rumorte es, sie wollte klare Gedanken fassen. Sie wollte, daß ihr einfiel, bei wem sie sich sicher fühlen konnte. R… Ra… Rafe…
Rafe! Er war wieder nach New York zurückgekommen. Bisher hatte sie die Gedanken an ihn verdrängt, weil er sie zu sehr an das Geschehen auf Mallorca erinnern würde. Aber jetzt brauchte sie ihn. Nur Rafe würde sie verstehen, sie beschützen, sie nehmen, wie sie war. Sie wählte, hörte, wie der Ton abging. Was sollte sie tun, wenn Rafe nicht da war? Wenn er New York wieder verlassen hatte, um einen neuen Auftrag anzunehmen? Ihre Handflächen wurden feucht. »Rafe Giacomin…« Ahhhh.
4
Er hatte das Apartment in dem roten Ziegelsteingebäude an der Barrow Street behalten. Die Zeichen des Verfalls waren auch geblieben. Der abgetretene Teppich über den knarrenden Treppen, die verblichene Tapete, das bedrohliche Wackeln der Balustrade. Er begrüßte sie an der Tür, schlank und gutaussehend in verwaschenen Jeans und einem Sweatshirt, die Füße braun und nackt und kräftig. Er öffnete die Arme, und sie warf sich an seinen Körper, schluchzte und lachte abwechselnd, während er sie nur hielt und nichts sagte. Erst als sie sich beruhigt hatte, führte er sie in seine Wohnung. Er bot ihr eine Erfrischung an, aber sie entschied sich für Scotch. Er hatte keinen Scotch, stellte ein Glas Sherry vor sie. Sie sagte, er sähe phantastisch aus. Er sagte, sie sähe müde und nervös aus. Sie wollte wissen, was ihn nach New York zurückgeholt hätte. Er sagte, er hätte New York vermißt. Sie konnte das nicht verstehen, New York war für sie eine schmutzige und bedrohliche Stadt. Alle Türen wären doppelt gesichert. Er fragte, ob sie auch doppelt gesichert wäre. Sie sagte, das ginge ihn nichts an, sie bräuchte keine Psychiater. Das reizte ihn zu einem kurzen, trockenen Lachen. »Ich wünschte, das könnte ich auch sagen. In den letzten Jahren hat es immer wieder Zeiten gegeben, in denen ich einen brauchte. Das ist auch einer der Gründe, warum ich zurückgekommen bin.« Sie betrachtete ihn von der Seite. Für sie war Rafe immer Herr seines Lebens gewesen. Sie lächelte wehmütig. »Du bist der normalste Mensch, den ich kenne.«
»Du wirst es nicht glauben«, sagte er. »Mein heimlicher Wunsch ist es, zu heiraten. Ja! Ich will seßhaft werden, eine Frau finden, Kinder haben, ein schönes, normales Mittelklasseleben führen. Glücklich sein.« »Das ist ein Widerspruch in sich… verheiratet und glücklich sein.« »Du bist zu jung für diesen Zynismus.« »Ich bin tausend Jahre alt«, murmelte sie. Sie schaute ihn an. »Würdest du mit mir ins Kino gehen, Rafe? Ich gehe in letzter Zeit oft ins Kino. Wir könnten Händchen halten und Popcorn essen…« »Was wollen wir denn sehen?« »Das ist mir egal.« Das hagere Gesicht zeigte Verdruß. Die dunklen Augen studierten sie. »Das kann doch nicht egal sein.« Er ließ sie nicht aus den Augen. »Cindy, rück schon damit heraus. Nimmst du irgendwas?« »Komm, wir gehen zur zweiundvierzigsten Straße. Wir finden bestimmt was, was wir sehen wollen.« »Antworte mir.« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist völlig aufgedreht, und deine Augen bleiben keine Sekunde still.« Sie hob die Schultern. »Pillen, Pillen, damit ich schlafen kann; Pillen, die mich wachhalten; Pillen, die mich beruhigen. Aber keine harten Sachen.« Ihre Augäpfel verdrehten sich, dann konzentrierte sich ihr Blick wieder auf ihn. »Es kommt schon mal vor, daß ich fürchte, ohnmächtig zu werden. Alles ist so verrückt, es lastet auf mir, erdrückt mich.« Sie seufzte. »Sie haben meinen Vater heute freigelassen.« »Wenn er unschuldig ist…« »Er ist schuldig.« »Hat er dir das gesagt?« »Er ist schuldig und meine Mutter auch. Sie alle.« »Im Prozeß gegen deinen Vater ging es nur um Mord, um sonst nichts.«
»Du verstehst das nicht. Sie haben ihn freigelassen, damit er reich und berühmt werden kann. Sie schreiben ein Buch über ihn, und daraus entsteht ein Film.« »Ich glaube, du liebst deinen Vater sehr.« Sie stand auf, ihr Körper zusammengesackt. »Verschone mich mit diesem Freudschen Quatsch. Verwahre das für deinen Gehirnklempner.« Sie ging auf die Tür zu. »Ich dachte, du wärst mein Freund, mein guter Freund. Ich dachte, du…« »He«, sagte er mit sanfter Stimme. »Gehen wir nun ins Kino oder nicht? Ich muß nur noch meine Brille suchen.« Sie streckte sich, und plötzlich fiel ihr das Atmen leichter. »Okay.« In dieser Nacht schlief sie auf seiner Couch im Wohnzimmer, und es war fast so, als hätte sie sein Studio nie verlassen, als wäre sie nie in London, Paris, Madrid oder Mallorca gewesen. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, arrangierte er bereits ein Stilleben vor einer breiten weißen Papierrolle, die an der Decke befestigt war und den Hintergrund für seine Fotos lieferte. »Was soll das denn werden?« fragte sie. »Ich bin Fotograf und arbeite«, sagte er. »Gleich kommt ein Model. Das soll ein Titelbild für ein Taschenbuch werden. Auf dem Herd steht Kaffee.« Sie ging in die Küche, kam mit einer vollen Tasse Kaffee zurück und sah ihm bei der Arbeit zu. »Ich habe mal als Assistentin eines Fotografen gearbeitet«, sagte sie leise. »Vielleicht könnte ich dir nützlich sein. Ich bin billig. Ein Platz zum Schlafen, ein bißchen Essen.« Er schaute nicht von seiner Arbeit auf. »Nichts dagegen. Ein paar zusätzliche Hände könnte ich gut gebrauchen. Kannst ab sofort ins Schlafzimmer umziehen. Ich schlafe auf der Couch.« »O nein, das könnte ich nicht.« »Denk dran, ich bin der Boß.« Es klingelte, und er richtete sich auf. »Das wird Michelle sein. Laß sie herein, bitte. Es wird Zeit, ein bißchen Geld zu verdienen.«
Danach arbeiteten sie zusammen, im Studio und auch bei einigen Aufträgen im Freien. In einer Ecke seines Studios hatte sich Rafe eine Dunkelkammer eingerichtet, und dort entwickelte er jeden Abend die Arbeit eines Tages, und während er arbeitete, erklärte er Cindy den Vorgang. Nach einiger Zeit konnte sie selbst Abzüge und Vergrößerungen machen. Wenn sie keine Aufträge hatten, schlenderten sie durch die Stadt, sprachen über Bücher, die sie gelesen hatten, über Filme. Aber sie weigerte sich, mit ihm zu den Parties zu gehen, zu denen er eingeladen war. Sie beharrte darauf, daß sie lieber allein war. Er sagte, sie sollte ihre Mutter anrufen, um ihr zu sagen, wo sie sich aufhielt, aber sie lehnte strikt ab. Sie wollte auch nicht darüber reden. Er bedrängte sie weiter, und schließlich rief sie an, und danach gab sie zu, daß sie sich besser fühlte. An einem Sommersonntag mietete er ein weißes Mustang Coupe und fuhr mit ihr in die Berkshire Mountains. In einem herrlichen Birkenund Pinienwald picknickten sie, labten sich an einer exquisiten Antipasto, die Rafe am Vorabend vorbereitet hatte. Nachdem sie gegessen hatten, fotografierte Rafe die sich sonnende Cindy im Gras, die zwischen den Bäumen herumlaufende Cindy oder auch die gedankenvoll zum Himmel schauende Cindy. Ein paar Tage später, als er die Bilder entwickelt und einige vergrößert hatte, legte er sie nebeneinander auf den Böden. Gemeinsam schauten sie die Bilder an. »Ein gutes Gesicht«, sagte er ihr, als ob die Eindrücke in den Gesichtern nichts mit ihr zu tun hätten. »Sehr vielseitig, sehr wandelbar. Hast du schon mal darüber nachgedacht, dein Geld als Model zu verdienen?« »Paris hat mir gereicht. Ich will mein Geld nicht auf diese Weise verdienen.« Die Antwort überraschte ihn, und das sagte er ihr. »Ich würde lieber hinter der Kamera arbeiten als davor«, sagte sie. »Vor der Kamera komme ich mir wie eine… wie eine…« Sie zögerte, sprach nicht weiter. Er lachte trocken auf. »Wie eine Nutte?«
Sie nickte. »Ich war eine, weißt du.« »Was?« »Ich war Nutte.« Er schüttelte den Kopf. »Das finde ich nicht komisch.« »Es war auch nicht komisch. Ein sehr ernstes Geschäft. Als ich jünger war.« Die Formulierung amüsierte sie. »Es ist gerade erst ein Jahr her. Da gab es einen Jungen, einen netten Jungen, der ein bißchen außer Tritt geraten war. Er stand auf Drogen.« »Heroin?« »Ja. Ich liebte BB, ich liebe ihn immer noch. Aber nicht so wie damals. Ich nehme an, das kommt mit dem Erwachsenwerden, daß man die verschiedenen Arten des Liebens und Geliebtwerdens unterscheidet.« »Und sie akzeptiert.« »Der arme BB«, murmelte sie. »Groß und schlank mit den schwärzesten Haaren auf der Welt. Er sah aus wie ein Kriegerhäuptling, aber innendrin war er kaputt. Ich habe angeschafft, damit er sich sein Laster erlauben konnte.« »Und was geschah dann?« »Ich weiß es nicht genau. Oh, es passierte eine Menge. Ich müßte immer daran denken, daß ich eine Hure bin, getrieben von BBs Drogensucht. Dann wurde Bobby Kennedy ermordet. Das hat mich hart getroffen. Ich meine, ich war eigentlich kein großer Fan von ihm, dafür war er mir zu sehr Plastik. Ein Kunststoffprodukt für eine Kunststoffgesellschaft.« »Phrasen!« warf er ein. »Ja, stimmt. Wie auch immer, Bobby wurde erschossen, und ich nahm mir vor, mich von BB zu trennen und meine eigenen Wege zu gehen. Mir wurde bewußt, daß ein Leben einfach so weggeputzt werden konnte. Es war mir plötzlich zu schade, mich für die Sucht eines anderen zu opfern.« »Und du hast nicht mehr angeschafft.« »Richtig. Das war übrigens, bevor ich dich kennengelernt habe.« »Vor Hettie Johns?«
»Vor Hettie Johns. Es war auf Fire Island. Meine Mutter hat ein Haus dort. BBs Eltern auch. All die verrückten Erwachsenen, die im Sandkasten spielen, sich besaufen und geil auf die Frau des Nachbarn sind. Sie quatschen nur Unsinn. Eine unerträgliche Szene.« »Hört sich nach vielen Szenen an, die ich kenne.« Er schürzte die Lippen. »Wenn das Leben zu hart wird, gibt es Leute, die einem anderen ihren Affen umhängen.« »Und du glaubst, daß ich das tun will?« »Nein?« »Ist das die Methode deines Gehirnklempners, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten? O verdammt, Rafe, ich will mich mit dir nicht streiten.« »Ich auch nicht mit dir.« »Ich weiß einfach nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll.« »Lebe.« »Das tue ich doch. Ich arbeite für dich und…« »… und versteckst dich hinter mir.« Ablehnung stieg in ihr auf. Sie mußte sich erst räuspern, bevor sie sprechen konnte. »Ich ziehe heute aus.« »Wenn ich wollte, daß du auszögest, würde ich es dir sagen. Du kannst hier so lange bleiben, wie du möchtest. Ich habe nur was gegen dein Selbstmitleid. Und gegen deinen Selbstbetrug.« »Du Bastard!« hörte sie sich selbst sagen. Zorn wallte in den Gängen ihrer Gehirnwindungen auf. Ihre Adern schwollen an. Sie griff nach einer Waffe, hob einen schweren Aschenbecher hoch. Er flog etwa zwei Meter an seinem Kopf vorbei und krachte gegen die Wand. Er schüttelte in gespielter Traurigkeit den Kopf. »Überhaupt kein Augenmaß.« Zwei Tag lang weigerte sie sich, auch nur ein Wort mit ihm zu sprechen, höchstens während sie arbeiteten. Erst am Donnerstagnachmittag brach er die Stille zwischen ihnen; sie hatten drau-
ßen gearbeitet, und als sie fertig waren, wandte er sich ihr zu und gab ihr einen langen schmatzenden Kuß auf den Mund. »Das«, rief er fröhlich, »soll dich daran erinnern, daß ich dich liebe, auch wenn du eine kleine Hexe bist, auf dem Weg zu einer großen Hexe.« Sie hatte immer an Maggie als eine Hexe gedacht, und jetzt sah sie Bilder von Maggie vor sich. Maggie, die nur um ihr eigenes Vergnügen bemüht war. Maggie, die Katze, hatte Tennessee Williams die weibliche Charakterrolle in seinem Stück genannt. Maggie, die Hexe, hatte Cindy ergänzt. Sie wollte nicht so werden wie ihre Mutter. Nicht einmal teilweise. Ein scheues Lächeln hob ihre Mundwinkel. »Warum die plötzliche Leidenschaft?« »Heute ist ein großer Tag, und heute abend werden wir feiern.« Seine Aufregung war ansteckend. »Was feiern wir denn?« »Mein erstes Album. Ich habe den Auftrag für das erste AlbumCover. Das Album einer neuen Rockgruppe.« Sie warf ihre Arme um seinen Hals und gab den Kuß zurück. Er umfaßte ihre Hüften und schwang sie im Kreis. »Das ist phantastisch!« rief sie. »Ich bin ja so froh für dich, Rafe!« »Für uns beide«, sagte er. »Du wirst mein Model sein…« Anziehen, dachte sie trübselig, wurde immer einfacher. Immer weniger Dinge zum Tragen. Knappes Höschen, schwarzes Röckchen und eine braune spitzenbesetzte Bluse aus durchsichtigem Stoff. Drei Goldkettchen um den Hals und fünf Ringe an den Fingern. Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel, bevor sie ins Studio trat, wo Rafe wartete. Sie drehte sich vor ihm. »Nun?« Er betrachtete sie mit übertriebenem Interesse. »Zuviel?« fragte sie ungeduldig. »Ich hätte mich von dir nicht überreden lassen sollen.« »Nicht von dieser Welt«, sagte er außer Atem.
»Ich bin praktisch nackt«, klagte sie. »Kann ich nicht wenigstens einen BH anziehen?« »Nein. Das ist jetzt die Szene, der nude look. Und diese prallen Melonen, die sind zum Anschauen gemacht. Man soll sie bewundern können. So richtig was zum Aufgeilen.« »Ich will nicht aufgeilen.« »Na gut, also zum Provozieren. Es geht darum, Adam Gilbert anzumachen. Wenn er dich sieht, und sein Mund geht nicht zu, dann nimmt er dich auch für sein Album.« »Du wirst recht haben.« Aber die Zweifel plagten sie trotzdem noch, als sie im Taxi saßen und zum Beekman Place fuhren. Sie hatte ein schlechtes Gefühl. Das Stadthaus, vierstöckig, weißer Granit, war im vorigen Jahrhundert gebaut worden und diente ursprünglich einem Kaufmann und seiner Familie als großzügiges Heim. Später wurde es in Wohnungen aufgeteilt, eine je Etage. Aber als Adam Gilbert das Haus vor drei Jahren gekauft hatte, war es nach seinen Angaben renoviert worden, und jetzt lebte er allein dort. Ein Diener im weißen Jackett ließ Rafe und Cindy ein und führte sie durch das breite Foyer in einen kleinen Flur und dort in einen beengten Fahrstuhl. Eine Etage höher stiegen sie aus und befanden sich in einem Raum, der die gesamte Ebene einnahm; eine gewaltige Dimension. Eine Wand bestand aus roten Ziegeln, an jedem Ende ein offener Kamin. Eine schwarze Wendeltreppe, kunstgeschmiedet, führte am anderen Ende des Raums zu der höher gelegenen Etage. In der Mitte der roten Wand dröhnte eine Rockband ihre harte Musik, der Text des Sängers war nicht zu verstehen. Lichtorgeln drehten sich, mal gegeneinander, mal in Harmonie, und dazu gab es Spotlights, die in unregelmäßigen Abständen dazwischen fetzten. Neben der Rockband wurden die Bilder eines Stummfilms an die rote Wand geworfen, und zu beiden Seiten des flimmernden Bildes standen Flipper, deren Geräusche das Chaos vervollständigten.
Leute tanzten überall, in allen Formationen, alleine oder mit mehreren zusammen. Sie zeigten ausdruckslose Gesichter, und der Lärm enthob sie der Mühe, sich unterhalten zu müssen. Deshalb konnte man auch nicht erkennen, welche Partner zusammen tanzten. Brüste hüpften, Beine schwangen, Schultern ruckten vor und zurück. Viele stießen mit dem Unterleib vor, als wollten sie ihn zur Schau stellen. Hier tanzte ein Mann mit seiner Frau und einem Mädchen, das bei ihnen wohnte; dort tanzten zwei Männer miteinander, ernst und feierlich im Gegensatz zu ihrer schrillen Kleidung. Eine mächtige Frau mit schweren Brüsten schaukelte sich energiegeladen durch die Menge, unter dem kurzen Miniröckchen ließ sie ihre blaugeäderten Schenkel sehen. Ein großes, schlankes orientalisches Mädchen tanzte weltvergessen nur für sich selbst. Rafe grinste Cindy zu. Er schnüffelte. »Überall wird Gras geraucht«, sagte er. »Willst du was? Oder bleibst du heute abend bei Drinks?« »Ein Drink wäre mir lieb.« Sie starrte ihn anschuldigend an. »Adam Gilbert hat ein paar Leute eingeladen, hast du gesagt. Eine kleine Party. Ha! Halb New York muß hier sein.« Er lachte und nahm zwei Gläser von dem Tablett, das ein Kellner vorbeitrug. »Wild«, sagte Rafe und reichte Cindy ein Glas. »Adam macht alles in großem Stil.« »Wo ist er?« Rafe sah sich um. »Keine Ahnung. Ich kann ihn nirgendwo entdecken. Es ist durchaus möglich, daß er in Nashville oder Palm Springs oder London ist. Ah, da kommt Madeline Gherry, die Jazz-Organistin. Sie wird dir gefallen.« Cindy machte zwei, drei Schritte, bevor ein schlaksiger schwarzer Tänzer sie mit dem Hintern anrempelte. Sie strauchelte und wäre fast gefallen, konnte sich aber an einem anderen Tänzer festhalten. Als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, war von Rafe nichts mehr zu sehen. Unentwegt wirbelten, zuckten, tobten Tänzer um sie herum.
Sie suchte eine Insel, wo sie verhältnismäßig sicher sein konnte, und zog sich Stück für Stück zur hinteren Wand zurück. Jemand stieß gegen ihren Ellenbogen, und sie verschüttete ihren Drink. »Oops! Tut mir leid«, hörte sie hinter sich eine schrille Stimme der Entschuldigung. »Es war nicht Ihr Fehler«, sagte sie gleich. »Nun ja, eher wohl doch.« Die Stimme hörte sich langgezogen an und paßte nicht zu dem Mann, der vor ihr stand. Er war kaum so groß wie sie, hatte ein rundes pinkfarbenes Gesicht mit aufgedunsenen Wangen, geschwungenen Lippen und kleinen Augen. Sein gewelltes Haar fiel bis auf die Schultern. Er trug eine kurze schwarze Samtweste und eine dazu passende Hose, ein spitzenbesetztes safrangelbes Hemd. Die goldgerahmte Brille war bis auf die Nasenspitze gerutscht. Er zupfte nervös an seinen Manschetten und bemühte sich erfolglos, nicht allzu auffällig auf Cindys Brüste zu starren. »Ich habe sie angestoßen, und Sie haben Ihren Drink verschüttet, also muß ich Ihnen einen neuen besorgen, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Bitte.« Die winzigen Augen flackerten wieder, als sie die vollen Brüste noch einmal vereinnahmten, dann sah er einen der Kellner in den roten Jacketts. »Folgen sie mir, Ma’am. Hier entlang.« Sie schulterten sich bis zum Kellner durch und erreichten einen stilleren Platz in der Nähe der Wand. Der Mann im schwarzen Samt reichte Cindy ein Glas. »Da!« sagte er triumphierend und sah Cindy erwartungsvoll an. Cindy nippte an ihrem Drink. »Sehr gut«, sagte sie. »Ma’am«, sagte er, immer noch jedes Wort langgezogen, »ich bin Melvin.« »Melvin.« Er nickte glücklich. »Sie kennen mich.« »Sollte ich?« Das feiste Gesicht wurde lang. »Nun ja, vielleicht nicht.« Er betrachtete sie dumpf. »Ich nehme an, Sie gehören zu Adam.«
»Sie nehmen falsch an.« »Tatsächlich?« Jetzt strahlte er wieder. »Dachte, so ein duftes Mädchen wie Sie… nun ja, ich dachte, Adam hakt sich da sofort rein. So, wie ich Adam kenne.« »Wie ist Adam denn?« »Erste Sahne, Ma’am. Ich meine, das, was ich heute bin, bin ich durch Adam.« Er kicherte, und die vollen Wangen schwappten auf und ab, die langen braunen Locken gerieten in Bewegung. Er erinnerte Cindy an eine dieser grell bemalten Plastikpuppen, die auf Jahrmärkten verkauft wurden, und wenn man sie aufdrehte, hoppelten sie hin und her. Sie wartete, bis Melvin wieder ruhig stand. »Was sind Sie denn heute?« »Mist«, sagte er traurig. »Ich dachte, Sie hätten Spaß gemacht, als Sie sagten, daß Sie mich nicht kennen. Nun ja, ich bin Melvin Hollifield, ich singe Country-Rock. Jedenfalls sagen die Leute, daß es das ist, was ich singe. Mir ist egal, wie sie es nennen. Ein bißchen Country, ein bißchen Gospel. Adam hat gesagt, ich sollte nur noch meinen Vornamen verwenden. Hört sich besser an, paßt besser ins Showgeschäft, hat er gesagt.« »Sind Sie berühmt, Melvin?« »Nun, Ma’am, das weiß ich nicht. Aber mein letztes Album I hat mir eine goldene Schallplatte eingebracht. Ich hab’ sie bei mir zu Hause im Spielzimmer aufgehängt.« »Aber das ist doch eine Menge, was?« »Ja, Ma’am. Das ist, als wenn man in seinem Garten auf Öl stößt. Ich meine, man scheffelt Geld. Und am besten ist, daß ich nicht mehr in verräucherten Kneipen auftreten muß. Und daß ich jetzt auf diesen Parties sein kann, wo es die vielen Stadtmädchen gibt.« Er betrachtete wieder ihre Brüste, dann hob er den Blick und sah ihr in die Augen. »Wie Sie, Ma’am.« »Danke, Melvin.« Sie fand, daß er nett war, ein Unschuldiger in einer verruchten Welt, ein Junge vom Lande unter den Großstadthorden. Sie glaubte nicht, daß die Mädchen in seiner Heimat Blusen trugen, durch die man Brüste sehen konnte.
Als ob er ihre Gedanken lesen könnte, hörte sie ihn sagen: »Muß schon zugeben, Ma’am, Sie haben die strammsten Titten, die ich seit langem gesehen habe. Groß und reif, bereit zum Melken.« Sie revidierte rasch ihre Meinung über Melvin. Die ganze Unschuld war aus seinem Gesicht gewichen. Sie erkannte diesen Blick, die Heiserkeit in der Stimme, und sie legte keinen Wert darauf, sie hatte genug von den Männern, die sich alles nahmen. Sie wollte nicht wieder ein Opfer werden. Sie bewegte sich weg von ihm. »He, wohin denn? Wir haben doch gerade erst angefangen.« Sie stieß ihm ihr halb gefülltes Glas in die Hand. »Behalten Sie’s, Melvin, denn mehr kriegen Sie nicht von mir.« Eine kunstvoll geschnitzte Holztür führte auf eine schmale Terrasse, die verlassen dalag. Erleichtert atmete Cindy auf und lehnte sich an das Holzgeländer, schaute hinunter auf einen japanischen Garten. »Ein friedlicher Anblick, nicht wahr?« Die Stimme gehörte einem Mann, der dicht hinter ihr stehen mußte. Sie gab keine Antwort und kein Zeichen, daß sie die Stimme gehört hatte. Eine Gestalt schob sich an ihre Seite, eine Armeslänge von ihr entfernt. Sie konzentrierte sich auf den Garten. Die Bonsaibäume sahen wie Plastik aus. »Die Japaner haben Geschick für solche Dinge«, fuhr die Stimme fort. »Solche Gärten bieten Ruhe. Sie erfreuen nicht nur das Auge durch ihre Wohlgestalt und Disziplin, sondern auch die Seele. Und solche Gärten sind Vorbild für den Menschen. Jeder steht an seinem Platz, jeder weiß, wohin er gehört.« Obwohl sie sich eigentlich nicht in ein Gespräch ziehen lassen wollte, wuchs ihr Interesse. »Ist das denn so gut?« fragte sie. »Den Menschen in seinen festgefügten Umkreis zu stellen und ihn dort zu belassen?« »Die Japaner haben viele Jahrhunderte nach diesem Muster gelebt. Jetzt leben sie nach der Weise des zwanzigsten Jahrhunderts, und es bringt ihnen schwere innere Konflikte, die sie noch längst nicht gelöst haben.« »Kennen Sie Japan?«
»Ich war zweimal dort. Einmal während des Koreakrieges und dann vor ein paar Jahren geschäftlich. Im Koreakrieg aber nur zur Wiederherstellung.« »Waren Sie verwundet?« »Ein paar Schrammen.« »Sie waren ein Held«, sagte sie mit kaum verhohlener Ironie. »Es gibt keine Helden«, antwortete er ernst. Sie wandte sich ihm zu, obwohl sie es zuerst nicht wollte. Sie hatte einen großen, körperlich beeindruckenden Mann erwartet. Aber er war eher klein und dürr, hatte ein blasses Gesicht, das sich nach vorn reckte, als suchte es etwas, das verloren war und wonach es sich verzweifelt sehnte. Seine Blicke tasteten sie ab, blieben an ihren Augen hängen, dann nickte er kurz zur Begrüßung. Ein Mundwinkel bewegte sich bei einem geizigen Grinsen. Sie wartete darauf, daß er auf ihre Brüste starrte und eine anzügliche Bemerkung machte, aber sein Blick blieb auf ihrem Gesicht haften. »Sie sind eine sehr schöne Frau«, sagte er. »Aber noch sehr jung.« »Neunzehn«, sagte sie und schaute ihm herausfordernd in die Augen. »Ich bin doppelt so alt wie Sie«, gestand er. »Deshalb kommen Sie mir so jung vor.« »Ich finde es langweilig, über Alter zu sprechen.« Er richtete sich auf. »Ich langweile Sie. Es tut mir leid. Wäre es Ihnen lieber, wenn ich gehe?« Sie schaute hinunter in den Garten. »Das entscheiden Sie.« Er lachte kurz auf. »Gut, dann bleibe ich.« Nach einem längeren Schweigen fragte Cindy: »Waren Sie wirklich verwundet?« Er streckte seinen linken Arm aus. Zeige- und Mittelfinger blieben starr. Eine gezackte Narbe zog sich vom Ballen zum Knöchel. »Sie sind wirklich ein Held«, stieß sie hervor.
Er zog seinen Arm zurück. »Wenn ich einer wäre, dann wäre ich zu Hause geblieben und nicht in die Armee gegangen.« »Warum haben Sie das nicht gemacht?« »Sich der Einberufung zu entziehen war damals keine populäre Sache.« »Töten ist schlechter.« »Viel schlechter«, stimmte er ernst zu. »Jeder ist dieser Meinung«, sagte sie. »Und doch gibt es immer noch Kriege. Kann es sein, daß nicht alle Menschenwissen, wie schlecht Töten ist?« »Sie wissen es alle. Aber sie können nicht danach leben.« »Sie meinen, daß Gewalt leichter ist?« »Ja, genau. Wir alle verstehen Gewalt. Überreden und überzeugen dauert länger und ist nicht immer erfolgreich. Wer Gewalt anwendet, hat gute Aussichten, sein Ziel zu erreichen, und anschließend kann er seine Gewalt moralisch verbrämen. Man wird uns erzählen, daß sie im Namen des Lebens getötet haben.« »Und niemand lernt daraus?« »Nun für viele Menschen, besonders Ihrer Generation, hat die Vergangenheit keine Bedeutung. Der größte Teil der Geschichte, finden sie, ist eine Aufzeichnung hehrer Erklärungen und fehlgeschlagener Absichten.« Sie betrachtete ihn, seine blasse Intensität, die forschenden Blicke, den leicht arroganten Mund. Alles kam ihr irgendwie bekannt vor. Er schien ihr ein Mann zu sein, der sich völlig unter Kontrolle hatte. »Dann finden Sie, daß die jungen Leute recht haben, wenn sie eine Revolution haben und unser System in die Luft blasen wollen.« Seine Stimme klang leicht vergnügt, als er sagte: »Ich werde nicht in die Luft blasen, aber ich bin schon für einen neuen Anfang. Für einen radikalen Wechsel. Der Ärger mit Revolutionen liegt darin, daß wir immer noch eine Herrscherstruktur haben, die wieder regiert, wenn die Revolution vorbei ist. Für die
meisten Leute sind nur die Namen anders, das Spiel aber hat sich nicht verändert.« »Sie sind zynisch.« »Nur realistisch. Wenn die Macht schon in einer Hand liegen muß, dann lieber in meiner.« Seine Ehrlichkeit gefiel ihr, ließ sie lächeln. Er lächelte zurück, und es wurde ihr bewußt, wie stark sie auf ihn reagierte. Er war ein Mann, der als Ganzes attraktiver war als einzelne Äußerlichkeiten. Ein Mann, der einer Frau gefährlich werden konnte. »Genug von diesen trüben Gedanken«, sagte er. »Ich bin nicht gekommen, um über Revolutionen und Menschenrechte zu grübeln.« »Warum sind Sie gekommen?« fragte sie, und noch während sie sprach, ertappte sie sich dabei, daß sie mit ihm flirtete. »Sagen Sie es nicht«, fügte sie rasch an. »Warum nicht?« »Weil ich Sie nicht in die Irre leiten will. Ich bin nicht daran interessiert, irgend etwas mit Ihnen anzufangen. Oder mit irgendeinem anderen Mann.« Ihre Gedanken überschlugen sich. »Ich lebe mit jemandem zusammen.« Ein Mundwinkel hob sich. »Oh.« Sie fühlte sich gezwungen, weiter zu reden. »Es hat keinen Sinn, etwas zu beginnen, das zu nichts führen wird.« »Sie sind ein sehr ernstes Mädchen.« »Ja.« »Ich bin auch ernst. Ich nehme das Spielen sehr ernst, meine ich. Mit Arbeit ist es eine ganz andere Sache.« »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen folge…« »Wenn Arbeit keinen Spaß macht, lohnt es nicht, sie überhaupt zu tun. Beim Spielen kann man wirklich Spaß haben, deshalb muß man das Spielen üben, perfektionieren, und das ist schwierig.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich weiß nicht, ob ich das unterschreiben will. Diese ganze leichte, lockere Art ist nicht die Welt, der ich angehören will.«
»Aber Sie sind hier…« »Mein Freund hat mich überredet, ich sollte jemanden kennenlernen.« »Sie haben mich kennengelernt.« Er trat einen Schritt zurück. »Wir werden uns wiedersehen«, sagte er. »Bald.« Dann ging er hinein. Sie wartete ein paar Minuten, bevor sie ihm folgte. Es dauerte eine Weile, bis sie Rafe entdeckte. »Ich gehe jetzt«, sagte sie. »Du kannst bleiben, wenn du möchtest.« »Ich suche dir ein Taxi«, sagte er, als sie am Aufzug standen. »Eigentlich wollte ich ja, daß du Adam kennenlernst.« »Ein andermal.« »Ah, da ist er!« rief Rafe aufgeregt. Sie drehte sich um. Der Mann von der Terrasse kam auf sie zu, den Mund spöttisch gehoben. Adam Gilbert. Cindy trat in die Aufzugskabine, drückte auf den Knopf und sah, wie sich die Türen schlossen.
6
Um elf Uhr am nächsten Morgen rief Adam Gilbert an. Genauer, seine Sekretärin rief an. Es ging sehr knapp zu. »Miss Ashe«, sagte die Sekretärin mit lässiger Autorität. »Adam möchte heute mittag mit Ihnen essen. Ein Uhr, Rushmore Studios.« Dann war die Leitung tot. »Ich will nicht!« rief sie und warf den Hörer hin. »Was willst du nicht?« fragte Rafe. »Adam Gilbert befiehlt mir praktisch, mit ihm essen zu gehen. Irgendein Mädchen hat angerufen.« »Du solltest gehen. Er kann eine Menge für dich tun.« »Ich habe es nicht nötig, daß jemand viel für mich tut.« Rafe hob die Schultern. »Dann gehst du also nicht und kannst mir mit den Drucken für die Daly-Anzeigen helfen.« Sie starrte ihn an, bis er sich aufrichtete, ihrem Blick standhielt und zu lachen anfing. Sie fiel in sein Lachen ein. »Geh«, sagte er. »Und mach was mit deinem Gesicht. Du willst ihm doch nicht den Appetit verderben.« Die Rushmore Studios lagen in der West 24. Straße in einem sorgfältig renovierten Gebäude. Sie fuhr mit dem Aufzug in die vierte Etage und fragte einen langmähnigen Mann nach Adam Gilbert. »Keine Ahnung. Versuchen Sie’s im Studio Sieben.« Studio Sieben war leer. Sie ging den Flur entlang. Eine Bürotür stand offen, sie schaute hinein. Zwei Mädchen saßen vor ihren Schreibmaschinen, unterhielten sich und tranken Kaffee. Niemand schaute Cindy auch nur an. »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich suche Adam Gilbert.«
Eines der Mädchen blickte auf. Verärgerung auf dem Pfannkuchengesicht. »Bei welcher Gruppe ist er?« »Er gehört nicht zu einer Gruppe. Er produziert.« Die Mädchen wandten sich wieder dem Kaffee zu. »Versuchen Sie’s ganz am Ende. Da weiß man über solche Sachen Bescheid.« Sie suchte weiter und stieß auf einen dicken Mexikaner, der ihr riet, auf der fünften oder sechsten Etage nachzusehen. Auf der fünften war er nicht, auf der sechsten fragte Cindy eine steife Blondine, die ihr auf dem Flur begegnete. »Können Sie mir helfen? Ich suche Adam Gilbert.« Die Blondine beäugte sie mißtrauisch. »Sind Sie Sängerin?« »Ich bin mit ihm zum Essen verabredet.« Die Blondine überlegte. »Okay, kommen Sie mit. Aber wenn Sie mich reinlegen wollen, trete ich Sie höchstpersönlich in Ihren hübschen Arsch.« Zwei Büros, einen Probenraum und drei Telefongespräche später führte die Blondine Cindy in einen Kontrollraum. Dort saß, inmitten von Konsolen und Schaltpulten, zuckenden Nadeln und aufleuchtenden Lichtern, Adam Gilbert auf feinem hohen Hokker, seine Beine auf die Sprossen gestützt vorgebeugt, das Kinn auf einer Hand, die Augen geschlossen. »Ein Geschenk für dich, Adambaby«, sagte die Blondine. Sie setzte sich an eine Bandmaschine, schlug die Beine übereinander, griff sich einen gelben Stenoblock und wartete. Adam gab nicht zu erkennen, daß er etwas gehört hatte, er lauschte angestrengt auf den Sound, der durch die getönten Scheiben vom Studio in den Kontrollraum drang. Cindy schaute zu, wie vier junge Männer in wild gemusterten Hosen herumhüpften, ihre Elektrogitarren zupften und dabei die traurige Ballade einer verlorenen, wiedergefundenen und erneut verlorenen Liebe sangen. »Weicher«, murmelte Adam, und die Blondine machte sich eine Notiz. »Letzte sechzehn«, sagte ein anderer Mann. »Zu grell.«
»Wunderbar«, murmelte Adam voller Sarkasmus. »Was habe ich den Typen immer wieder gepredigt?« »Bleib cool, Adambaby. Wir equalizen das.« »Scheiße«, sagte Adam, die Augen immer noch geschlossen. Zehn Sekunden später öffnete er sie. Er drückte auf einen Schalter. »Schnitt!« Dann schaltete er das Mikrophon ins Studio ein. »Kommt schon, Leute, das zieht sich ja ewig. Wir müssen was anderes versuchen. Sollen wir die Percussion verstärken? Noch einmal Banjo zulegen? Na, was sagt ihr?« »Wir brauchen eine Pause«, sagte einer der Sänger. »Okay. Zurück um halb drei.« Cindy wandte sich Adam zu, arrangierte ein freundliches Lächeln im Gesicht. Er ignorierte sie. »Man sollte euch einzeln spielen lassen«, sagte Adam ins Mikrophon. »Als Gruppe habt ihr kein Talent.« Ein Telefon schlug an, die Blondine sprach etwas hinein, reichte es an Adam weiter. Er lauschte, dann explodierte er. »Also, das ist doch Unsinn! Die kommen dreitausend Meilen weit, um mir die Ohren voll zu sausen! Mann, kannst du ihnen nicht klar machen, daß sie nichts sind ohne Adam Gilbert? Entweder hören sie auf mich, oder keiner wird sie hören! Sag ihnen, wie es ist. Ich will bis morgen zur Happy Hour eine Antwort haben.« Er warf der Blondine das Telefon zu. Dann fuhr er den breitschultrigen Mann am Schaltpult an. »Charlie, wie war das mit der Gruppe aus München? Ich will sie sofort hier haben. Mach ein paar Konzerte mit ihnen, Pressetermine, TV-Auftritte.« Er kletterte von seinem Hocker. »Wenn wir von den Typen bis morgen nachmittag keine Antwort haben, sind sie draußen. Draußen!« brüllte er. Er nahm Cindys Ellenbogen und sprach mit der Blondine. »Beth, ein paar Sandwiches, Pickles, was dazu gehört.« Er führte Cindy aus dem Kontrollraum hinaus, den Flur entlang, in sein Büro. Er machte eine umfassende Handbewegung. »Gefällt es Ihnen?«
Das Büro war mit einem dicken schwarzen Teppich ausgelegt, die Sofas waren mit goldenem Samt bezogen. Es gab einen Kaffeetisch aus Glas und Chrom, einen Farbfernseher, eine Musikanlage und holzvertäfelte Wände. »Sehr hübsch«, sagte sie. »Sehen Sie, es gibt keinen Schreibtisch. Am Schreibtisch schläft man ein. Ich sage Ihnen, der Umgang mit diesen Rockgruppen kann einem den Nerv töten. Die meisten können keinen Ton halten, aber die Kids stehen auf sowas, deshalb verdient man Geld damit.« Er ließ sich auf eines der Sofas fallen und deutete für sie auf das gegenüberliegende. »Mögen Sie Musik?« »Die meiste.« Er stand auf, öffnete das Zigarettenetui, das auf dem Tisch stand, und hielt es ihr hin. »Gras?« Sie schüttelte den Kopf. »Stehen Sie nicht drauf?« »Jetzt nicht.« »Fein.« Er stellte das Etui wieder hin. »Eigene Entscheidungen treffen, was? Ich bin voll dafür. Unter den freien Musikproduzenten bin ich der größte«, fuhr er fort. »Aber ich sage den Gruppen auch, wo’s langgeht. Entweder gehen sie mit mir, oder sie fliegen. Ohne elektronische Begleitung wären sie alle eine Null. Ich kümmere mich um sie, verpasse ihnen eine Diät, wenn es sein muß, mache die Öffentlichkeit verrückt nach ihnen, und ich achte darauf, daß sie sich keinen Tripper holen.« »Hört sich sehr umfassend an.« Die Tür zu seinem Büro schwang auf, und die Blondine kam mit dem Mittagessen. Sie stellte Papierteller auf den Kaffeetisch, verteilte Sandwiches, Kartoffelsalat, Pickles, grünen Salat, Kaffee und Pepsi-Cola in Dosen. Sie wandte sich an Cindy. »Oder möchten Sie Bier?« »Nein, danke.« Die Blondine richtete sich auf. »Die Horns schreien nach dir«, sagte sie zu Adam Gilbert. »Sie haben sich mit Sydney angelegt. Jetzt wollen sie nur noch mit dir reden.«
»Okay, sie sollen hereinkommen. Sag ihnen aber, daß sie ruhig sein sollen daß ich Kopfschmerzen habe.« Die Blondine zog sich zurück, und ein paar Sekunden später traten drei Jungen im Teenageralter in Anzügen aus der Edwardischen Zeit ein. Die runden Gesichter, umrahmt von glatten braunen Haaren, blickten übelgelaunt. »Dieser Sydney!« platzte einer heraus. »Er ist ein mieser Typ!« rief der zweite. »Er hat immer was an uns auszusetzen!« sagte der dritte. »Jungs«, sagte Adam mit leiser Stimme. »Diese Puppe hier und ich, wir sind gerade beim Aufwärmen, und ihr platzt herein und stört uns. Also, um was geht es? Ich will endlich zu meinem Mittagessen kommen.« »Sydney ist eine Hure!« »Sydney«, sagte Adam und füllte seinen Mund mit Kartoffelsalat, »ist einer meiner besten Produzenten.« »Wir wollen Anybody Blue schneiden, aber er will nicht.« »Sydney sagt, wir sollen Long Life Losing herausbringen.« »Wir sind Künstler«, riefen sie beinahe gleichzeitig. Adam legte eine Hand an seinen Kopf. »Meine Kopfschmerzen werden schlimmer…« »Adam, es tut uns leid…« »Sorry, Adam.« »Wirklich, Adam.« Adam schaute zu Cindy. »The Horns«, murmelte er. »Haben Sie schon mal von den Horns gehört? Nein, nicht. Ich werde Ihnen sagen, warum nicht. Niemand kauft ihre Platten, kein DJ spielt sie. Die Horns machen die Leute nicht an, sie singen nicht gut, und sie spielen nicht gut. Aber sie quälen mich. Im Quälen sind sie gut, das ist das einzige, was sie wirklich können. Sie waren vorher Laufburschen in einem Bordell in Indianapolis. Und jetzt sind sie in New York, und Adam Gilbert versucht, Stars aus ihnen zu machen. Und sie kommen zu mir und beschweren sich.« »Aber Sydney…«
»Sydney ist mein Mann, mein Kopf, meine Stimme. Wenn Sydney sagt, ihr bringt Long Life Losing heraus, dann bringt ihr Long Life Losing heraus. Wenn Sydney mir sagt, laß die Horns fallen, dann lasse ich die Horns fallen. Ergibt das ein Bild für euch?« Er strahlte sie lächelnd an, und seine Stimme wurde weicher. »Jungs, wir wollen doch alle dasselbe. Wir wollen mehr Platten verkaufen.« Er stand auf, ging auf sie zu, schob sie zur Tür. »Vielleicht seid ihr um diese Zeit im nächsten Jahr schon die großen Stars. Bleibt locker, Leute, dann tönt bald das Horn.« »Tut uns leid, Adambaby.« »Hoffentlich sind die Kopfschmerzen bald weg.« »Alles Gute, Adam.« Als sie gegangen waren, kehrte Adam auf seinen Platz zurück und setzte seinen Angriff auf den Kartoffelsalat fort. »Diese Jungs werden sich eines Tages groß durchsetzen, da bin ich sicher.« »Wie können Sie so sicher sein?« »Nun ja, wirklich sicher ist niemand. Mein Job ist, die Wahrscheinlichkeitsquote hochzuhalten. Es gibt bestimmte Indizien. Bei den Auftritten zum Beispiel. Ich schaue mir die Reaktionen des Publikums ganz genau an.« Die Tür öffnete sich, und ein dunkler Mann trat ein. Ohne ein Wort stellte er drei Plattenhüllenentwürfe an die Wand. Er trat ein paar Schritte zurück, eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere unterm Kinn. Adam warf einen flüchtigen Blick auf die Cover. »Eins und drei sind in Ordnung. Nummer zwei kannst du vergessen. Ich will was weniger Repräsentatives, Henry.« Henrys Augen gingen himmelwärts. »Also, wie soll ich das umsetzen?« »Wenn ich das wüßte, würde ich Plattenentwürfe machen, und du würdest Alben produzieren. Henry, ich verlasse mich auf dich.« »Sehr gut. Ich lasse mir was einfallen.« Er sammelte die Entwürfe wieder ein und verschwand. Bevor sich die Tür hinter ihm
schließen konnte, trat ein anderer Mann ein. Es war Charlie, der Mann aus dem Kontrollraum. »Adam, da ist Tony von Audio Inc. Maria dreht durch. Zuviel Heroin und Gin. Sie haben sie rüber zu Doc Fried gebracht, und er hat sie ruhiggestellt, aber Tony sagt, das müßte aufhören, sonst…« »Dumme Kuh«, murmelte Adam. »Okay, sage ihm, daß ich zu Maria fahre.« Charlie nickte und verschwand. Adam stellte sich vor Cindy, hob sie auf die Füße. »Ich muß gehen. Bleiben Sie hier, essen Sie fertig.« »Ist es immer so schlimm?« Er lachte trocken. »Immer.« Er legte seine Hände auf ihre Hüften. Seine Stimme wurde vertraulicher. »Ab und zu ist es in meinem Haus etwas ungestörter. Sie müssen bald mal zu mir kommen, ja?« Sie mahnte sich, nicht gleich verfügbar zu sein, aber sie spürte, daß es keinen Sinn hatte, mit Adam zu spielen. Und sie wollte das auch gar nicht. Er war ein Mann, ein richtiger Mann, und sie wollte bei ihm sein, sie verlangte danach, diese Kraft und Energie in ihrem Bauch spüren zu können. Ein erwartungsfrohes Schütteln überlief sie, als sie sich vorstellte, daß es mit Adam mehr als nur was Körperliches war, daß es reicher sein und tiefer gehen würde. Oh, liebe mich, Adam, liebe mich. Dieses Mal würde es anders sein, besser, dauerhafter. Für immer. »Ja«, sagte sie leise. Er packte ihren festen runden Hintern mit beiden Händen und preßte sie an sich, ließ seine Mitte rotieren, rieb sich an ihr. »Sie bekommen wohl immer, was Sie wollen?« Er lachte. »Als ich dich auf der Terrasse sah, habe ich nur einen Blick auf deinen knackigen Hintern geworfen und wollte am liebsten gleich reinbeißen. Und das will ich irgendwann nachholen.« »Mache ich den Eindruck, daß ich so leicht zu haben bin?«
Die Schwellung, die sich gegen sie gerieben hatte, war zurückgegangen, und er ließ sie los. »Wir werden Spaß miteinander haben, Baby.« »Ich habe das Gefühl, daß ich schon mal Männer wie Sie getroffen habe.« »Nicht genau wie ich«, gab er zurück, dann vertiefte er sich in irgendwelche juristische Papiere. »Ich muß gehen«, sagte sie. Er schaute nicht hoch. »Morgen abend, gegen zehn. Komm zum Haus. Dann sehen wir weiter.« Sie wollte eine geistreiche Bemerkung machen, irgendwas, um seine Selbstsicherheit zu erschüttern, aber sie brachte nichts über die Lippen. Sie wollte ihn ebenso haben, wie er sie haben wollte, redete sie sich ein. Sie bewegte sich auf die Tür zu. Sie wußte, daß der Sex mit ihm gut sein würde. Hemmungslos, erfüllend, befriedigend. Die Anspannung, die sie seit so langer Zeit in ihrem Körper spürte, würde verschwinden, sie würde wieder besser schlafen können. Mit weniger Pillen. Ja, es würde gut werden. Beinahe vollkommen…
7
Um eine Minute vor zehn Uhr fuhr das Taxi vor dem Haus am Beekman Place vor. Cindy schaute auf ihre Uhr und war verärgert über sich selbst, daß sie so pünktlich war, so sehr ihren Eifer zeigte. Sie wandte sich vom Eingang ab und ging hinüber zur Ersten Avenue, wanderte Richtung Downtown. Ja, sie wollte verspätet eintreffen. Sie konzentrierte sich auf ihren Körper, auf den gespannten Unterleib, auf das Schwingen ihrer Arme, das Anschwellen der Muskeln bei jedem Schritt und auf die warme Nachtluft, die ihre Haut streichelte. Sie dachte an Adam, der allein sein und auf sie warten würde, sie machte kehrt und beschleunigte ihre Schritte. Sie läutete. Ein zweites Mal. Die Tür schwang auf, und eine Gestalt schob sich in die Öffnung, eine Gestalt aus Silberlame, auffallend schön und auffallend groß, fast einsneunzig, schätzte Cindy. Eine Kaskade roter Haare fiel über die Schultern, die Augen glühten, die Lippen gingen leicht auseinander. »Hi, Baby!« rief sie ausgelassen. »Genau zum richtigen Zeitpunkt! Wir wollen gerade mit all den schönen Sauereien anfangen. Da können wir eine weitere Puppe gebrauchen.« Sie faßte Cindys Arm und zog sie auf sich zu. »Adam erwartet mich…« Das große Mädchen legte einen Arm um Cindys Schultern und führte sie zum Fahrstuhl. »Diese Abende bei Adam sind immer großartig. Er bietet das beste Zeugs an. Drinks, Gras, was immer du haben willst. Und erst die Hengste, sag’ ich dir. Warte, bis du sie gesehen hast. Wir haben diesmal sogar einen Japaner dabei. Ich glaube, der ist leicht pervers. Mal sehen, vielleicht lasse ich’s mir mal von ihm besorgen.« »Wo ist Adam?«
Sie standen jetzt in der Fahrstuhlkabine nebeneinander, berührten sich fast in der Enge. Cindy hatte Schwierigkeiten zu atmen. Der Fahrstuhl hielt ruckend an. »Irgendwo da hinten«, sagte sie kühl, »wirst du Adam finden. Aber ich wette, du wirst bei uns in der Schlangengrube landen.« Cindy betrat einen kleinen antiseptischen Raum, überall weißer Kunststoff, modernes Design. Ein Empfangsraum, schätzte sie. Irgendwo hörte sie eine Frauenstimme ein Gedicht rezitieren. Sie folgte der Stimme über einen hellbeleuchteten Flur, an geschlossenen Türen vorbei. Plötzlich stand sie vor einer Glaswand, und dahinter sah sie Adams blonde Assistentin sitzen, die feinen langen Beine ausgestreckt, im Schoß der gelbe Schreibblock. Hinter ihr stand ein Mädchen, etwa in Cindys Alter, zupfte auf einer Gitarre und sang. Sie blickte ausdruckslos in die Gegend, und Cindy sah, daß sie stabil gebaut war, volle Brüste, breiter Hintern. Tiefer im Zimmer lag Adam Gilbert auf einer breiten Stoffcouch. Er trug nur einen blauen Seidenmantel, seine Füße waren nackt. Er hatte die Augen geschlossen, und auf seinem Bauch stand ein hohes Glas. Als das Mädchen gesungen hatte, langte Adam nach dem Glas, ohne die Augen zu öffnen. »Fein«, sagte er. »Hast du was Langsames, Balladiges auf Lager?« »Ist Both Sides Now okay?« »Ja.« Das Mädchen schlug einen Akkord an und schaute hoch. Jetzt entdeckte sie Cindy. »Ich wußte nicht, daß wir Zuhörer dabei brauchen.« Adam öffnete die Augen. Er winkte Cindy mit einem Finger heran, und sie betrat das Studio. »Such dir einen Platz«, sagte er zur Begrüßung, dann schloß er wieder die Augen. »Los, Eva.« Eva senkte den Kopf und begann zu singen. Die Darbietung wurde dem zarten Text und der harmonischen Melodie nicht gerecht, die Bewegungen des Mädchens waren zu harsch und zu
abrupt. Mit ihrem gequält-gelangweilten Gesicht erreichte sie die Zuhörer nicht. Plötzlich hörte sie auf. Das Lied war fertig. Ende. Der kleine blasse Mann auf der Couch schwang sich hoch in eine sitzende Position. Der blaue Mantel teilte sich und gestattete einen Blick auf die Genitalien. Adam Gilbert stand auf und band den Mantel zusammen. »Sehr gut«, sagte er und ging auf Eva zu. »Wunderschön.« »Haben Sie schon genug gehört?« Adam grinste. »Genug. Und jetzt…« Eva sah ihm in die Augen. »Wollen Sie jetzt mit mir schlafen?« fragte sie eifrig. Das Grinsen im blassen Gesicht vertiefte sich. »Ich lasse es dich wissen. Das hier ist in erster Linie Geschäft.« »Sind wir denn zusammen im Geschäft?« Adam wandte sich an seine Blondine. »Mach ihr den Standardvertrag. Die üblichen Bedingungen, die üblichen Prozente.« Zu Eva sagte er: »Du wirst tun, was ich sage. Alles. Musik, Kleidung, Konzerte, Publicity. Ich übernehme das Denken für dich.« Sie lachte rauh und laut. »Solange Sie nicht auch noch das Singen übernehmen. Alles andere ist mir egal.« Während sie sprach, belebte sich das starrte Gesicht. »Adam, wann immer du es mit mir tun willst, kannst du mich haben. Für alles. Du brauchst es nur zu sagen.« »Geh jetzt. Komm morgen irgendwann vorbei.« »Am späten Nachmittag«, sagte die blonde Assistentin und machte sich Notizen. Eva nickte. »Wann fange ich mit der Arbeit an?« »Wir werden sehen«, sagte Adam, führte sie zur Tür und gab ihr einen Kuß auf die Wange, bevor er sie wegschob. »Großartig, nicht wahr?« fragte er Cindy, als er sich wieder den anderen zuwandte. »Eva hat die neue Lässigkeit, sie ist wild, ungezähmt. Die Kids werden verrückt auf sie sein. Und Eva bringt mir ‘ne Menge Moos.« Die Blondine drückte ihre Zigarette im Ascher aus, zündete sich sofort eine neue an. »Sie wird schnell ausgebrannt sein. Sie
säuft harte Drinks wie Muttermilch. Und Speed nimmt sie auch. Bevor sie dreißig ist, ist sie fertig oder tot.« »Das muß sie selbst wissen, es ist ihr Leben. Bereite alles vor für sie.« Die Blondine nickte und schaute in ihrem Schreibblock nach. »Willst du dir jetzt die Bänder von heute anhören?« Ihr Blick fiel auf Cindy. »Warum nicht?« Die Blondine verließ das Studio, und Adam lächelte Cindy zu. Sie lächelte zurück, offen, gefühlvoll, freundlich. In der Nähe dieses vitalen Mannes zu sein, stimulierte sie, es gab ihr Optimismus und eine steigende Erregung. »Es wird ein bißchen dauern«, sagte er. »Geh nach oben, zur Party. Amüsier dich.« »Kann ich nicht hier bleiben? Ich werde auch nicht im Wege sein.« Er gab keine Antwort und trat an einen kleinen Tisch, der weiter hinten an der Wand stand. Er setzte sich und studierte Terminpläne. Die Stimme der Blondine, metallisch hart und streng, drang ohne Vorwarnung in den Raum. »Alles fertig.« Cindy entdeckte die Blondine hinter einer Glaswand, die den Kontrollraum vom Studio trennte. »Die Horns kannst du überspringen«, sagte Adam. »Okay, wir beginnen bei Nummer drei. Gorcey mit Good Morning, Sunshine.« Während sie Adam beobachtete, wurde Cindy klar, daß er sich Musik anders anhörte. Er schien in der Lage zu sein, jeden Ton einzeln zu hören, jedes Instrument und jede Stimme. Er wollte eine Sequenz erneut hören, einen Einsatz überprüfen, und immer wieder machte er sich Notizen und gab neue Anweisungen. Nach der dritten oder vierten Gruppe konnte Cindy nicht länger zuhören. In ihrem Kopf drehte sich alles, sie konnte eine Gitarre nicht mehr von einem Sitar unterscheiden, die Stimmen klangen ihr zu laut oder zu leise, zu gefühlsträchtig oder zu kalt.
Sie stand auf und ging zur Tür, schaute sich dort noch einmal um. Adam hatte sie gar nicht wahrgenommen. Sie ging hinaus und blieb stehen, wartete, bis sich ihre Sinne an die Stille gewöhnt hatten. Dann fuhr sie mit dem Fahrstuhl nach oben in den großen Salon. Es war dunkel, und sie ging davon aus, daß die anderen Gäste gegangen waren. Über verdeckte Lautsprecher hörte sie eine gedämpfte Bach-Fuge. Ein Lichtblitz vom anderen Ende des großen Zimmers erregte ihre Aufmerksamkeit, zog sie an. Schon nach einigen Schritten konnte sie verschiedene Umrisse erkennen, Gestalten auf dem Boden, die einen Kreis gebildet hatten, um dessen Mitte eine niedergebrannte Kerze stand. Alle Gesichter starrten in das Licht der Kerze, als vermuteten sie in dem flackernden gelben Licht ein mystisches Geheimnis, die Lösung all ihrer Probleme. Sie suchte sich einen Weg an dieser Gruppe vorbei, setzte sich dann mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Nach einer Weile spürte sie, wie ihre Augenlider schwer wurden, zufielen. Die Musik beruhigte, die fehlenden Stimmen empfand sie als Wohltat, und sie ließ sich treiben, hinein in eine Schwärze, weder wach noch schlafend, aber angenehm abgehoben. Ganz allmählich, wie von der anderen Seite einer breiten Schlucht, machte sie eine Art Bewegung aus, sie hörte auch Geräusche, die sie nicht sofort einzuordnen wußte. Sie schlug die Augen auf. Alles war wie eben, nur anders. Die flackernde Kerze, die tanzenden Schatten an der gegenüberliegenden Wand. Aber die Schatten bewegten sich nicht im Einklang, als würden sie falsch synchronisiert, und auch die Geräusche paßten nicht dazu. Es fiel ihr schwer, ihre Gedanken zu sammeln, die Blicke von der Schatten-Show zu reißen. Auf dem Boden zuckte ein eigenartiges Wesen auf und ab, es sah fast so aus, als attackierte es sich selbst. Allmählich erkannte sie Einzelheiten im Schein der Kerze. Zwei Männer und eine Frau griffen ineinander und übereinander,
bewegten sich, stießen zu, hielten dagegen, verschafften sich Spaß, wo immer sie ihn finden konnten. Auf der anderen Seite eine neue Gruppe nackter Leiber und Glieder, pumpende Schenkel, schwappende, klatschende, hüpfende Brüste. Das große rothaarige Mädchen war von zwei Frauen vereinnahmt worden. Cindy wollte aufstehen, aber ihre Knie versagten. Sie robbte, verlor sich in der Dunkelheit. Ihre Finger berührten heiße Haut, sie zuckte zusammen und kroch in die andere Richtung weiter. Hände griffen nach ihr, forschten und grabschten, und von allen Seiten drangen Stimmen auf sie ein. »Hier, Baby, nimm das…« »Laß mich ran, komm, ich mach’s dir…« »Du und ich, Baby, und meine Frau…« Sie sprang auf die Füße und begann zu laufen. Sie strauchelte, stürzte. Nein! Sie spürte die Panik in sich aufsteigen, das Entsetzen, das sie gepackt hatte. Sie rannte weiter, stieß gegen eine Wand. Tränen schossen ihr aus den Augen, rannen über ihr Gesicht. Nicht das schon wieder. Das machte sie nicht mehr mit. Davon hatte sie genug. Kühle Luft streifte ihr Gesicht. War sie in der Nähe des Fahrstuhls? Sie ging drei, vier Schritte und fühlte sich plötzlich gefangen. Ihre Arme wurden an den Seiten festgehalten. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber sie bekam etwas Nasses, Warmes in den Mund, sie begann zu würgen und fühlte sich verloren. Sie wehrte sich nicht mehr, gab sich geschlagen, überwältigt von der Kraft des anderen. Ein letztes Mal würde sie benutzt werden, dachte sie, rollte den Kopf zur Seite und überließ sich der Dunkelheit, der Leere, dem Sterben…
8
Sie kämpfte sich aus der Schwärze heraus, schlug um sich und protestierte und zerrte an den Fesseln, die ihre Arme hielten. Der einengende Druck verstärkte sich, und sie begann zu weinen. »Langsam, Mädchen…« Die Stimme kam ihr vage vertraut vor. Sie hörte auf, sich zu winden, blieb reglos auf dem Rücken liegen und öffnete die Augen. Ein angenehmes gelbes Licht, über ihr ein scharlachroter Betthimmel. Sie lag auf einem altmodischen Bett mit vier Pfosten. Adam Gilbert saß neben ihr, und hinter ihm stand die tüchtige Blondine. Adam nahm die Hände von Cindys Schultern und lächelte. »Du warst auf einem schlechten Trip, Baby«, sagte er. Sie wartete, bis ihr Herz nicht mehr so raste. »Diese Leute… ich bekam Angst, geriet in Panik…« Die Blondine verzog verächtlich das Gesicht und ging aus dem Zimmer. Adam lachte leise. »Sie hält dich für eine Spießerin.« »Vielleicht bin ich eine.« »Ich hielt dich für einen Swinger.« Ihre Gedanken griffen zurück, und eine Folge unangenehmer Erinnerungen stieg in ihr hoch. Sie schüttelte sich. »Diese Leute in der Dunkelheit, das war wirklich ein Alptraum. Damit kann ich nichts anfangen, Adam. Ich mag Sex, aber nicht so…« »Okay, du bist also keine Orgienpuppe. Es ist gut, daß ich zu deiner Rettung gekommen bin. Du warst völlig weg. Ich fand dich, wie du blind in der Gegend herumgetastet hast. Es ist mir noch nie passiert, daß eine Puppe ohnmächtig wurde, wenn ich sie geküßt habe.« »Du mußt einen ziemlichen Zungenschlag haben.«
Er tätschelte ihre Wange. »Dies ist mein Schlafzimmer. Niemand kommt ungebeten herein. Ich habe noch ein bißchen zu tun. Ruhe dich aus, ich komme so schnell wie möglich zurück.« Sie wollte etwas einwenden, ihn bitten, bei ihr zu bleiben. Aber er war schon weg. Sie lag allein in dem großen Bett. Sie drehte sich herum und streckte sich und wußte sofort, wo sie war. Sie hatte wie durch einen Nebel in der Nacht bemerkt, wie Adam zu ihr ins Bett geschlüpft war, hatte sich an ihn geschmiegt und eine ruhige Nacht verbracht. Was für ein Mann! dachte sie. Er hatte die Kraft gehabt, neben ihr zu liegen, ihre Brüste und ihre Schenkel zu streicheln und doch nicht mit ihr zu schlafen. Er hatte Feingefühl, er wußte, daß ihr das Kuscheln in dieser Nacht lieber gewesen war. Sie zog sich an und ging hinunter. Ein Dienstmädchen saugte im Wohnzimmer, behob die Schäden der vergangenen Nacht. Sie nahm Cindys Auftauchen weder überrascht noch interessiert zur Kenntnis. »Ist Mister Gilbert hier?« fragte Cindy. »Nein, Ma’am. Er weg. Sagt, daß er anruft, wenn Gelegenheit.« Enttäuscht ging sie aus dem Haus. Sie versuchte sich einzureden, daß sie kein Recht hatte, irgend etwas anderes zu erwarten. Adam war tief in seine Arbeit vergraben, und es war albern und selbstsüchtig zu erwarten, daß ein solcher Mann sich auf konventionelle Weise um eine Frau bemühen würde. Als drei Tage ohne ein Wort von Adam Gilbert vergingen, rief sie ihn an. Es war schon schwierig genug, ihn in einem Studio an der Lower East Side ausfindig zu machen. Er verschwendete keine Zeit mit Vorreden. »Ich hatte zu tun, Baby«, begann er. »Immer noch. Warum kommst du nicht hierhin? Sagen wir um sieben. Du hast die Adresse. Vielleicht können wir hier was miteinander anstellen.«
Sie traf eine halbe Stunde zu früh vor dem Studio ein, ging aber zu ihm und blieb in einer Ecke sitzen und schaute seiner Arbeit zu. Um Viertel nach acht sah Adam sie das erste Mal. Er hob den Kopf und nickte ihr zu. Eine Stunde später schickte er einen Assistenten zu ihr, der ihr ausrichtete, es könnte nur noch ein paar Minuten dauern. Um zwanzig vor elf schlug er ihr vor, daß sie ohne ihn zum Essen gehen sollte, er würde sie morgen oder übermorgen anrufen. Die Blondine rief am folgenden Mittwoch um sechs Uhr an, um ihr mitzuteilen, daß Adam auf dem Weg war, sie abzuholen; es gab eine Presse-Party zur Feier eines neuen Albums. Die Party fand in einem Raum der Four Seasons statt, sehr vornehm, die Menschen chic und schön und voller Ambitionen. Cindy stand, ein Martiniglas in der Hand, in einer Ecke und schaute Adam zu. Er und nicht die Rockgruppe, deren Album man feierte, stand im Mittelpunkt des Geschehens. Er zog Menschen an wie Licht die Motten. Sie alle redeten ihm nach dem Mund, ganz offensichtlich wollten sie alle etwas von ihm, oder sie verteidigten, was sie schon hatten. Niemand näherte sich ihm wie ein Gleichberechtigter. Und dann die Frauen. Alle Typen, jedes Alter. Sie alle reagierten auf seine fühlbare Männlichkeit. Da waren die jungen, die sich ihm aggressiv näherten, den Mund leicht geöffnet, die Augen groß und rund, die Brüste nach vorn gereckt, Schultern zurück. Und die älteren. Sie arbeiteten mehr mit den Augen und mit den Händen, eine sanfte Berührung hier, eine gewagte Geste da. Aber es waren die Augen, die das Verlangen signalisierten, die Versprechungen machten. Die ihre Verfügbarkeit deutlich machten. Er verhielt sich höflich zu allen, schenkte ihnen Aufmerksamkeit, und wenn er sie nach einer bestimmten Zeit, die er offenbar nach einer inneren Uhr festlegte, weiterreichte, geschah das mit Charme und Überzeugung, und niemand war beleidigt, daß Adam nicht mehr Zeit für sie hatte. Ab und zu schaute er zu Cindy hinüber, dann trafen sich ihre Blicke, und sie war schon zufrieden, daß er ihre Anwesenheit
nicht vergessen hatte. Sie sah ihm an, daß er sich wohl fühlte. Hier bin ich zu Hause, schien er zu sagen. Aber zwischen uns besteht ein engeres Band, ein stärkeres, das das hier überleben wird. So verliefen die nächsten Wochen. Sie sahen sich häufig, waren aber immer von anderen Menschen umgeben. Sie trafen sich mittags zum Essen in irgendeinem Studio, aber immer waren auch andere dabei, Musiker, Techniker. Er nahm sie mit zu Vorab-Filmvorführungen, zu Cocktailparties und zu Pressekonferenzen, zu spontanen Reisen nach Hollywood, Chicago und Detroit und zweimal nach London. In einigen Nächten ging sie zurück zu Rafes Studio. Allein, erschöpft, aber zu aufgedreht, um schlafen zu können, lag sie wach im Bett und dachte über sich und Adam Gilbert nach. Bis auf einen flüchtigen Kuß oder ein beruhigendes Streicheln hatte er bisher keinen körperlichen Kontakt zu ihr gesucht. Zuerst hatte sie das erfreut. Sie hatte geglaubt, Adam wollte, daß sie sich besser kennenlernten, bevor sie sich in den Sex stürzten. Aber Wochen vergingen, und nichts geschah, und das bereitete ihr Unbehagen. Und so, um ihre Befürchtungen zu verdrängen, um wieder etwas mehr Selbstsicherheit zu erlangen, um ihr Leben auf andere Gebiete auszudehnen, um neue Menschen kennenzulernen, ließ sie sich wieder von David Altman umwerben. Er hatte vor zwei Wochen wieder angerufen, nachdem er erfahren hatte, daß sie bei Rafe wohnte. Er hatte sie zu einem Abendessen eingeladen. Die ersten Male hatte sie abgelehnt, aber schließlich akzeptierte sie seine Einladungen. Sie aßen in preiswerten Restaurants, gingen ins Kino und diskutierten über den Wert der neuen Techniken, die die Filmemacher jetzt einsetzten. Sie besuchten Galerien an Samstagnachmittagen und versuchten herauszufinden, ob Pop Art nur eine kurzlebige Erscheinung war oder eine künstlerische Bewegung, die spätere Generationen noch beeinflussen würde. David lud sie zu den
Theatern jenseits des Broadways ein und zu Jazz-Konzerten in einer Bar an der East Side. Es machte Spaß, und sie lernte David zu schätzen, sie erfuhr seine persönlichen Hoffnungen und Wünsche, bewunderte seine Intelligenz und seine Vorstellungskraft. Sie hielt ihn nicht mehr für langweilig und spießig, sie erkannte, daß er sich für das einsetzte, was er als richtig und wertvoll ausgemacht hatte. Der Enthusiasmus für seine Arbeit war ansteckend, und sie konnte seine Entschlossenheit nachempfinden. Am Anfang hatte sie versucht, hinter seinem Ehrgeiz den Trieb nach Geld oder Macht oder beidem zu suchen, aber je länger sie sich mit ihm unterhielt, desto mehr schwanden ihre Zweifel. »Ich glaube wirklich an das Fundament, auf das diese Nation gebaut worden ist«, sagte er ernst. »Die Verfassung, die Unabhängigkeitserklärung. Ich glaube, es ist die Aufgabe der Regierung, jeden einzelnen Bürger zu beschützen, den hohen Standard seiner Existenz zu sichern…« »Oh, David, hör doch damit auf! Die Regierung steht für das große Geschäft, sie will die Konzerne schützen, die die dicksten Profite reinfahren. Das ist überall so.« »Vielleicht. Aber das ist es, was ich ändern will. Die Leute haben sich gefragt, was Ralph Nader eigentlich erreichen wollte, als er die Sicherheitsmängel in unseren Autos bloßstellte. Seine einzige Triebfeder war, den Verbrauchern zu helfen. Das gilt auch als Maxime für Pinsano, und es gilt für mich. Mir geht es um das öffentliche Interesse. Ich habe vor, den Politikern und Bürokraten auf die Finger zu sehen, dafür zu sorgen, daß sie es ehrlich meinen. Ich will die Fabriken dazu zwingen, mit der Luftverschmutzung aufzuhören, die Luftfahrtgesellschaften, ihre lärmenden Maschinen aus bewohnten Gebieten fernzuhalten, die Fernsehapparatehersteller, die gefährlichen Strahlen zu reduzieren.« Er unterbrach sich, lächelte sie verlegen an.
»Du hast nichts gesagt, womit ich nicht einverstanden sein könnte«, erwiderte Cindy. »Aber ist es nicht naiv zu glauben, daß du das alles erreichen könntest?« »Nicht ich allein. Ich habe Hilfe, Menschen, die für die Öffentlichkeit arbeiten wollen.« »Einige der Leute, die ich kennengelernt habe«, sagte sie nachdenklich, »würden dir heftig widersprechen. Sie sagen, daß man Veränderungen nur durch Gewalt erreichen kann, durch eine Revolution.« »Und nach der Revolution? Wieder eine Bürokratie. Jede Nation, die eine sozialistische Revolution hinter sich hat, wird von einer autoritären Regierung geführt. Das Ergebnis ist, neben vielen anderen, eine Produktion, die schleppend vorankommt und meistens weit unterhalb des Standards liegt.« Wenn sie in David Altmans Gesellschaft war, wurde sie von seiner Ernsthaftigkeit gefangen genommen, von seinen guten, überzeugenden Argumenten. Aber später, wenn sie allein war, schwand der Eindruck rasch, und sie erkannte wieder das Jungenhafte in seiner Begeisterung, die Unerfahrenheit. David war noch ein Junge, vielversprechend, aber noch nicht reif. Wie anders war da Adam Gilbert. Adam, der selbstsicher auf ein Ziel zusteuerte, der sich nicht in philosophischen Betrachtungen erging, geschickt seine Möglichkeiten einsetzte, um das zu erreichen, was er erreichen wollte. Immer. Adam war der Mann, nach dem Cindy sich sehnte, den sie immer schon gebraucht hätte, erinnerte sie sich. Er war ein Mann. Ein richtiger Mann. Sie traf ihn, wann immer es möglich war und hin und wieder auch, wenn es nicht möglich schien. Sie zwang sich in seinen Arbeitstag hinein, was ihn auch schon mal ungehalten werden ließ. Und sie mußte immer damit rechnen, von ihm kaum zur Kenntnis genommen zu werden. Das lange Warten, die endlosen Stunden, die sie mit Trinken und Rauchen verbrachte, die frustrierenden Tage des Alleinseins, dies alles forderte bald einen sichtbaren Tribut bei ihr. Die Haut unter ihren Augen schwoll an, die kleinen Fältchen vertieften
sich. Ohne Pillen konnte sie nicht schlafen, und nach einer Woche mußte sie die Dosis verdoppeln. Ihre Gedanken kreisten nur noch um Adam. Als er keine Anstalten machte, mit ihr zu schlafen, ihren Körper zu benutzen, sie zu befriedigen, verwandte sie mehr Zeit darauf, sich für ihn attraktiver zu machen. Sie glaubte sogar, daß irgend etwas mit ihr nicht stimmte, daß sie etwas an sich hatte, was ihn abstieß. Um einen möglichen Körpergeruch zu bekämpfen, badete sie dreibis viermal am Tag, sie bestäubte sich mit wohlriechenden Pudern und Parfüms und benutze alle Augenblicke ein Deodorant. Die Wirkung blieb null. Bei jenen seltenen Gelegenheiten, da sie unter sich waren, zeigte sie sich ihm in gewagten, herausfordernden Positionen. Sie wollte seine Reaktion sehen. Sie setzte sich ihm breitbeinig gegenüber, so daß er ihr Höschen sehen konnte. Sie zog den BH aus, bevor sie zu ihm ging, und wenn sich eine Gelegenheit ergab, beugte sie sich tief über ihn, damit er ihre vollen Brüste sehen konnte. Oder sie rieb sich an ihm, bis ihre Nippel hart geworden waren. An einem Nachmittag in seinem Büro hielt sie es nicht mehr aus und sprach ihn direkt darauf an. »Willst du nicht mit mir schlafen, Adam?« »Das finde ich aber gar nicht komisch.« »Warum tust du es dann nicht?« »Du kennst doch mein Leben. Wenn wir mal Zeit hatten, war ich zu kaputt.« »Vielleicht hältst du mich nicht für attraktiv.« »Das weißt du besser.« Sie kniete sich auf den Boden vor ihn, legte ihren Kopf zwischen seine Beine, streichelte ihn. »Bitte, Adam, bitte. Ich brauche es. Du quälst mich. Bitte, gib mir, was ich brauche.« Er hob ihren Kopf, half ihr auf die Füße. »Mal sehen, heute abend…« »Nein, jetzt. Hier auf dem Boden…« »Büroficks sind nicht meine Szene. Nein, warte bis heute abend.«
Aber am Abend mußte er dringend nach Nashville. Alabama Tate hatte an den ersten drei Tagen des folgenden Monats eine neue Platte aufnehmen sollen, aber durch irgendeine Verschiebung eines Konzerts ergaben sich weitere Zwänge, so daß die Platte jetzt sofort aufgenommen werden mußte. »Laß einen anderen nach Nashville fahren«, bettelte Cindy, als sie auf dem Weg zum Flughafen waren. »Ich erkläre es dir«, sagte er geduldig. »Neben Johnny Cash ist Alabama der größte Star in der Country Music. Ich kann mir kein Risiko bei ihm erlauben. Diese Platte ist wichtig.« »Dann nimm mich mit.« Er drückte ihren Oberschenkel. »Wozu? Ich werde Tag und Nacht im Studio sein, zweiundsiebzig Stunden lang. Das ist bei diesen gepreßten Terminen nicht anders zu machen. Charlie hängt seit zwei Stunden am Telefon, um die richtigen Leute zusammenzutrommeln. Alabama wird nicht aufnehmen, wenn nicht die Leute im Studio sind, die er haben will. Ich bin in drei Tagen zurück, und dann nehmen wir beide uns ein paar Tage frei. Urlaub. Wir suchen uns ein stilles Plätzchen aus, liegen faul herum, rauchen uns high und bumsen. Okay?« Nicht okay. Es lief nicht so, wie sie sich das alles vorgestellt hatte. Sie fühlte sich schlecht, ihr Inneres war aufgewühlt. Quälende Zweifel fraßen sie auf, und sie konnte nichts tun, um die Zweifel zu ersticken. Sie sagte nichts über ihre Gefühle, und als sie sich auf dem Flughafen verabschiedeten, gab sie sich kühl und locker. Am ersten Tag ohne ihn schlief sie fast ununterbrochen. Die ganze Nacht schaute sie sich Filme im Fernsehen an und trank Gin. Als Rafe sie am Morgen weckte, fand er sie betrunken vor, wie sie auf das Testbild starrte. Er gab ihr zwei Schlaftabletten und brachte sie zu Bett. Eine Stunde später wachte sie auf und begann, Reisebüros anzurufen. Sie erkundigte sich nach Möglichkeiten, in der Nähe aus-
zuspannen. Sie wollte aber nicht warten, bis man ihr Prospekte schickte, deshalb zog sie sich an und klapperte die nächstgelegenen Reisebüros ab. Wieder im Studio, blätterte sie alle Unterlagen durch. Sie rief drei Reisebüros an und reservierte drei verschiedene Hotels für das kommende Wochenende, ausgestellt auf Mister und Mrs. Adam Gilbert. Danach begann sie wieder zu trinken. Als Rafe nach Hause kam, fand er Cindy bewußtlos auf dem Boden vor. Er zog sie aus und legte sie ins Bett. Am Morgen wartete er, bis sie aufgewacht war. Er brachte ihr eine Tasse Kaffee und bestand darauf, daß sie etwas zum Frühstück aß. Und er verkündete, daß er den ganzen Tag bei ihr bleiben würde. Sie stieß ein schrilles Lachen aus. »Darling, mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut. Adam wird morgen zurück sein, und ich muß mich darauf vorbereiten. Ich habe noch so viel zu tun.« Nachdem sie ihm versprochen hatte, daß sie nicht weiter trinken würde, verließ er sie. Sie entdeckte ihre Handtasche und schüttete den Inhalt auf dem Bett aus. Sie schaute auf die Pillen, blaue, pinkfarbene, gelbe. Es war wichtig, daß sie bei Adams Rückkehr gut drauf war. Mit welchen Pillen würde sie das am ehesten schaffen? Sie ließ den Zeigefinger kreisen und tippte auf die blauen. Sie schluckte zwei. Nach einer Weile schienen ihre Sinne geschärft zu sein, sie sah besser, sie hörte genauer, alle Farben leuchteten prächtiger. Sie rief in Adams Büro an und fragte nach seiner Ankunftszeit, aber sie erfuhr nur, daß es diese Information noch nicht gäbe. »Sobald ich es weiß«, sagte die Blondine, »rufe ich dich an.« Cindy begann mit den Vorbereitungen. Sie badete und rasierte sich die wenigen Härchen an den Beinen ab, polierte die Nägel, fand, daß ihre Haare eine Behandlung benötigten. Sie rief im Schönheitssalon an und erhielt für die nächste Stunde einen Termin. Sie hastete hin, ließ ihre Haare schneiden und stylen und entschied sich auch noch für eine Gesichtspackung. Die aufgedunsenen Stellen unter den Augen und um den Mund straften ihr
Alter Lügen. Die Gesichtspackung half. Wenn sie später dick Make-up auflegte, würde nichts mehr zu sehen sein. Als sie zurück in Rafes Studio war, telefonierte sie wieder. Keine Nachricht aus Nashville. Sie zog sich aus und ging unter die Dusche, rief Adams Privatnummer an. Der Anrufbeantworter teilte ihr mit, daß Mister Gilbert verreist sei; eine Aussage über seine Rückkehr gab es nicht. Sie legte auf und zog sich an, widmete sich jedem Detail. Nagelneue schwarze Höschen, sehr zart, sehr kurz. Keine Stümpfe, kein BH. Eine ärmellose schwarze Bluse, die ihre Brüste eng umschmiegte. Und einen weit schwingenden Faltenrock, sehr kurz. Sie betrachtete ihr Bild im Spiegel. Sie sah ein strahlendes, aufregendes, aufgeregtes Mädchen, nach dem sich jeder Mann die Finger lecken würde. Sie ging zur Tür, drehte den Knopf, überlegte versonnen, wohin sie gehen wollte. Zum Flughafen, natürlich! Adam abholen. Aber wann traf er ein? Mit welcher Gesellschaft? Welche Flugnummer? Sie trat einen Schritt zurück und begann zu weinen, die Arme hingen schlaff nach unten, den Kopf hatte sie gesenkt. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden, und dann sackte sie langsam auf den Boden. Rafe fand sie dort, als er nach Hause kam. Er setzte sie auf die Couch. Sie schaute ihn verständnislos an. »Was ist mit mir los?« Er schüttelte den Kopf. »Warum? Warum liebt mich Adam nicht so, wie ich ihn liebe? Ich liebe ihn, Rafe.« »Männer wie Adam«, sagte er und wählte seine Worte sorgsam, »ernähren sich von anderen. Sie geben nichts, sie nehmen nur.« »O nein, du mußt dich irren. Adam liebt mich, du wirst es sehen.« Der Abend zog sich hin. Rafe bereitete das Essen zu, aber Cindy rührte das Steak kaum an. Sie schauten sich einen Film im Fernsehen an, aber bis auf einen gelegentlichen Seufzer blieb sie stumm.
Ein paar Minuten nach Mitternacht läutete das Telefon. Sie war zuerst dran. »Oh. Adam!« hörte Rafe sie sagen, die Stimme voller Verzweiflung und Klage. Als sie auflegte, waren ihre haselnußbraunen Augen feucht. »Siehst du, ich hatte recht. Er ist zurück. Er hat sofort angerufen, als er aus dem Flugzeug war. Ich soll zu seinem Haus kommen und ihn dort treffen. Er hat es gar nicht erwarten können…« »Cindy, hör auf…« »Ich habe keine Zeit, Rafe. Ich rufe dich morgen oder übermorgen an, dann können wir reden.« Noch lange nachdem sie gegangen war, lag er wach und dachte über sie nach. Am liebsten hätte er über Cindy geweint. Und über sich.
9
Das Haus am Beekman Place lag im Dunkeln, als sie dort eintraf, und niemand reagierte auf ihr Klingeln. Sie lehnte sich gegen den schwarzen Kunstschmiedezaun und zündete sich eine Zigarette an, paffte ungeduldig. Ein Streifenwagen rollte vorbei. Die Polizisten betrachteten sie mit ausdruckslosen Gesichtern. Zwanzig Minuten später kamen sie wieder vorbei, diesmal hielten sie an. »Können wir etwas für Sie tun, Miss?« fragte einer der Polizisten. Seine Stimme klang voller Langeweile und Mißtrauen. »Ich warte auf jemanden«, sagte sie und fühlte sich schuldig. »Und auf wen warten Sie?« Es schien ohne Hintersinn gefragt zu sein, entwaffnend offen, aber in ihren Gedanken schrillten die Alarmglocken. Es war nach zwei Uhr morgens, und in ihren Augen mußte sie eine Streunerin sein. Was trauten sie ihr zu? Prostitution? Einbruch? Sie konnte ganz gut die Schmiere für eine Einbruchgang sein. Sie lächelte die beiden Polizisten an. »Ich warte auf Mister Gilbert. Dies ist sein Haus.« Die Polizisten lächelten zurück. Es war ein dünnes, weises Lächeln, und es sagte ihr, daß schon andere Mädchen um diese Zeit auf Adam Gilbert gewartet hatten. Mädchen, die bereit gewesen waren, ihm alles hinzuhalten, was er greifen wollte. Sie spürte, wie zwischen den Polizisten und ihr eine Verbindung geschaltet wurde, eine Kommunikation aus dem Bauch heraus. Das, was sich den beiden Männern mitteilte, bestand aus schmutzigen Gedanken, und sie wußte, wie diese Gedanken waren. »Grüßen Sie Mister Gilbert von uns«, sagte einer der Cops. »Lieber und Malloy. Er weiß Bescheid.« Sie schaute dem weiterfahrenden Streifenwagen zu, bis er um die Straßenecke verschwunden war. Geile Böcke mit dreckigen
Gedanken, schimpfte sie still hinter ihnen her. Sie schaute auf ihre Uhr. Noch fünf Minuten, Adam. Nur noch fünf Minuten warte ich auf dich! Er traf genau um drei Uhr fünfzehn ein. Neben ihm im Taxi saß noch jemand. Adam gab dem Fahrer einen Schein und stieg aus. »Sehen sie zu, daß die Lady sicher nach Hause kommt.« »Das ist sehr lieb von dir, Adam«, sagte die Frau mit kehliger Stimme. »Ich rufe dich an, Helga«, sagte Adam und schlug die Hintertür des Taxis zu. Er öffnete die Haustür und wandte sich an Cindy. »Ich bin erschlagen«, sagte er. Sie folgte ihm zum Fahrstuhl. Schweigend fuhren sie hinauf in die vierte Etage. Sobald sie im Schlafzimmer waren, begann er, sich auszuziehen. »Wer ist sie?« fauchte Cindy. Er hob die Achseln. »Helga Soundso. Ich weiß es nicht. Ich habe sie am Flughafen getroffen, und wir haben einen zusammen getrunken. Dann haben wir gemeinsam ein Taxi genommen.« »Warum kommst du so spät? Du hast schon vor mehr als drei Stunden angerufen. Ich habe auf dich gewartet.« »Sei ruhig. Ich bin nicht in der Stimmung für dein Gekeife.« Sie befeuchtete sich die Lippen. »Du bist irgendwo mit ihr gewesen, du hast mit ihr gebumst. Ich kann ihren Geruch an dir riechen.« »O Himmel! Du bist wirklich schlecht drauf. Okay, das ist deine Sache, aber versuch nur nicht, mir auch noch meine Laune zu verderben.« »Du fickst sie, aber mich willst du nicht ficken. Warum mich nicht? Habe ich irgendwas an mir?« »Ich habe dir gesagt, du sollst damit aufhören. Das war mir ernst. Wenn du so weitermachst, werfe ich dich auf der Stelle raus.«
Er zog seine Unterhose aus und legte sich ins Bett, zog die Decke hoch. »Soll ich gehen?« fragte sie zögernd. »Tu, was du willst. Aber nerv mich nicht.« »Ich will bei dir bleiben.« »Ja, gut«, sagte er ohne Begeisterung. »Willst du da stehen bleiben, oder willst du zu mir ins Bett kommen?« Sie zog sich aus und blieb unsicher am Fußende des Bettes stehen. »O Adam«, murmelte sie. »Du weißt nicht, wie man sich fühlt, wenn man immer auf dich warten muß…« Er legte sich auf den Rücken, faltete die Hände hinter dem Kopf zusammen und betrachtete sie aus zusammengezogenen Augen. »Du hängst dich wirklich an mich ran.« Sie nickte und kaute auf der Unterlippe. Er hob einen Mundwinkel. »Ich sollte dir wirklich einen Gefallen tun…«, murmelte er nachdenklich. »Bitte…« Er lachte kurz auf. »Vielleicht, wenn du mich nett darum bittest…« »Adam, was willst du? Ich tue alles, was du sagst. Komm, sag es einfach. Aber sei lieb zu mir.« »Zieh die Decke weg.« Sie gehorchte und blieb wartend stehen. »Siehst du, er ist zu müde. In dieser Verfassung bringt er in dieser Nacht nichts mehr zustande.« Er schaute ihr in die Augen. »Glaubst du, daß du ihm irgendwie auf die Sprünge helfen kannst?« »O ja.« Er spreizte die Beine. »Okay, Baby, mach.« Sie wollte zu ihm ins Bett, aber er winkte sie zurück. »Ich verstehe nicht«, sagte sie. »Bleib dort stehen, neben dem Bett. Von dort aus kannst du dich an die Arbeit begeben.« Es kam ihr so vor, als befände sie sich in einem tiefen, wolkigen Becken und könnte nicht an die Oberfläche, und so krebste sie herum, allein und hilflos in einer gefährlichen Welt.
»Komm schon«, sagte er, die Stimme ungeduldig. »Fang endlich an, sonst bin ich eingeschlafen.« Sie bückte sich, beugte sich tief über ihn, den Kopf nur wenige Zentimeter über dem schlaffen bleichen Fleisch. Zaghaft berührte sie es mit ihren Fingern, bange hoffend. Sie befürchtete, er könnte unzufrieden sein, weil sie es ihm nicht gut genug besorgte. Mit der Wange streifte sie seinen Oberschenkel, fuhr langsam daran hoch, behutsam, testend, zögerlich. »Komm schon«, drängte er. Mit einer Hand streichelte sie seinen Bauch, berührte mit den Fingerspitzen das drahtige Haar, dann den blassen knochenlosen Knochen. Die Finger schlossen sich darum. Ein aufgeregtes Zucken fuhr durch ihren Bauch, als sie spürte, daß sie ihn endlich umfaßt hielt, und mit neuer Inbrunst ließ sie die Finger auf- und abgleiten, wobei sie den Druck abwechselnd verstärkte und zurücknahm. Sie spürte keine Reaktion bei ihm. Es stimmte! Er fand sie unattraktiv, nicht begehrenswert, und sie würde nicht in der Lage sein, ihn zu erregen. Er würde schlaff bleiben, nutzlos. Plötzlich kam sie sich ganz klein vor, klein in einer Welt von Riesen. Der weiche Finger seiner Männlichkeit lag wie eine Bedrohung vor ihren Augen. Ein leises Stöhnen drang über ihre Lippen. »Komm endlich«, verlangte er. »Zieh ihn dir rein, zeig, was du kannst.« Sie rückte ein wenig näher heran, bückte sich noch tiefer, preßte ihr Gesicht in das Dreieck seiner Schenkel und fühlte, wie die Angst sie plötzlich verließ. Jetzt konnte sie sich auf die Aufgabe konzentrieren, die vor ihr lag. Sie nahm den geschrumpften Schwanz in den Mund, leckte ihn, küßte, koste, schleckte. Sie bedeckte ihn mit Speichel, und dann leckte sie den Speichel mit der Zunge ab, um dann wieder nur die Spitze in den Mund zu nehmen, während sie den Schaft mit einer Hand rieb, auf und ab, die Eichel im Mund, umspült von der Zunge. Aber sie spürte keine Reaktion.
Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, lutschte, rieb, schluckte, setzte die Lippen an. Sie drückte die beiden haarigen Bälle, koste sie sanft, drückte sie mit leichter Gewalt, und immer wieder leckte und saugte sie. Nichts geschah. Während sie mit beiden Händen Schaft und Beutel umfaßte, drückte sie ihr Gesicht darauf, sie atmete den strengen Geruch ein, hörte seine Stimme, auffordernd, verlangend, befehlend. Sie kniete jetzt zwischen seinen Beinen, hatte den besseren Zugriff, kam leichter mit der Zunge an die empfindlichen Stellen. Sie leckte mit ausgestreckter Zunge über die bloßgelegte Spitze, rauh, feucht, erregend. Rhythmisch fuhren die Hände auf und ab, und innerlich stieß sie einen Jauchzer aus, als sie ein leises Zucken spürte und als auch Adam durch kleine Laute zu erkennen gab, daß er Lust empfand. »Gut«, hörte sie ihn murmeln. »Das ist die Stelle, da genau, da will ich dich haben.« Ihre Gedanken überschlugen sich, sie wollte es ihm gut machen, besser als jede andere. »Sag’s mir.« »Was?« »Was du empfindest, was du denkst, wie großartig es ist…« »Oh, es ist großartig«, raunte sie. Ihre Hände arbeiteten weiter. »Du liebst es?« »Ich liebe es.« »Und wann immer ich es will, wann und wo…« »Wann immer du es willst, ganz egal, wo, ganz egal, was…« »Schau mal!« rief er strahlend und richtete sich auf die Ellenbogen auf. »Schau mal, was jetzt auf dich wartet!« Sie senkte den Kopf über den ausgefahrenen Schaft und begann einen oralen Ritt über die samtene Haut, sie spürte das Pochen, das Zucken, sein Aufbäumen, seine Anspannung. Ganz tief stülpte sie sich darüber, rauf und runter, tief in ihren Schlund. »Oh, das ist fein, ja, großartig, noch tiefer, komm, Baby, du kannst es. In dir steckt die beste Schwanzlutscherin, die es je
gegeben hat. Das willst du doch werden, was? Die beste Schwanzlutscherin…« Sie konnte sich nicht dazu bringen, ja zu sagen. »Eine Puppe war mal da, die hatte ein unwahrscheinliches Talent. Eine raffinierte Zunge. Und Lippen, die umklammerten dich wie ein Schraubstock…« Cindy versuchte alles, um ihre unbekannte Rivalin zu übertreffen, sie verstärkte den Griff von Fingern und Lippen, tauchte tiefer hinab, bis seine drahtigen Härchen ihre Nasenlöcher kitzelten. »Das ist es! So ist es richtig. Großartig! Der Mund muß gleichzeitig weich und hart sein. Auf und ab und dazu die Zunge, sie muß ständig in Bewegung sein. Du bist fast so gut wie sie…« Sie saugte härter. Die Spannung im Schaft teilte sich ihr über Fingerspitzen und Zunge mit, die Spannung ergriff die ganze Region, und sie fühlte, wie sich die Hoden hoben, als ob sie zurück in den Leib wollten. »O Baby, jetzt bist du bald da! Oh, saug, Baby, ich wußte ja, daß du es kannst, nimm alles auf, schluck es, schluck alles, was du fassen kannst…« Sie gehorchte, aber sie spürte nur ein dünnes Tröpfeln, ein lauwarmer Saft ohne Kraft, als wenn jemand die letzte Spucke von sich gegeben hätte. Sie wartete, rieb, saugte, drückte, aber das Glied erschlaffte schon unter ihren letzten Bemühungen, da war nichts mehr, es hatte sich verausgabt. Seine Finger griffen in ihre kurzen Haare und zogen ihren Kopf weg. »Das nächste Mal wirst du es besser können«, sagte er. »Ich bringe es dir bei, mach meine ganz persönliche Saugmaschine aus dir…« Das Gefühl, versagt zu haben, hing wie ein Winterdunst über ihr, und am liebsten hätte sie geweint oder über seine Unfairneß geklagt. Ob sie noch einmal von vorn beginnen sollte? Als ob er ihre Gedanken hätte lesen können, rollte er sich auf die Seite. »Putz dir die Zähne.« Sie stand auf, ging zum Bad.
»Die pinkfarbene ist meine«, rief er ihr nach. »Benutze die grüne Bürste.« Im Badezimmer sah sie sich um. Überall hingen erotische Darstellungen, Bilder, Skulpturen. Sie war versucht, die pinkfarbene Zahnbürste zu benutzen, aber sie traute sich nicht.
10
Adam Gilbert war der Mittelpunkt ihrer Existenz. Für sie zählten nur die Stunden, in denen sie bei ihm sein konnte, und wenn das unmöglich war (zu oft, viel zu oft), lechzte sie nach seiner Stimme am Telefon. Aber eigentlich zählte nur, in seiner Umgebung zu sein, seine Gegenwart zu spüren, von seiner Nähe gewärmt zu werden. So verbrachte sie Stunden in verlassenen Empfangsräumen und leeren Studios; sie nippte kalten, schwachen Kaffee aus Papierbechern und schluckte Pillen, um sich wach zu halten und für Adam bereit zu sein, falls er überhaupt noch an sie dachte; sie stand in zugigen Korridoren und schaute der Parade junger Sängerinnen zu, die zu ihm wollten, und versuchte verzweifelt, sich nicht vorzustellen, was hinter den geschlossenen Türen alles geschehen könnte. Am Ende eines solchen ermüdenden Tages bat sie ihn, zu ihm in das Haus am Beekman Place ziehen zu dürfen, bei ihm zu wohnen. »Ich werde dir nicht im Wege sein, ehrlich. Aber ich wäre immer da, wenn du mich haben willst.« Er starrte sie an, ohne seinen Ausdruck zu verändern. »Und was würdest du sagen, wenn ich irgendeine Puppe mit nach Haus bringe?« Sie wich seinem Blick aus. »Ich würde nichts sagen, es wäre nicht so schlimm.« »O doch, du würdest schreien. Das ist nicht deine Szene.« »Du kennst mich noch nicht, Adam.« »Ich bleibe allein«, sagte er. »So gefällt es mir am besten, und so soll es bleiben.« Wenn sie schon nicht bei Adam wohnen konnte, entschied sie, würde sie in seiner Nähe wohnen. Als sie ihm verkündete, daß sie
eine Wohnung in der Nähe suchen wollte, hatte er nichts dagegen. »Dann kannst du schneller hier sein, wenn mir nach dir zumute ist.« Rafe hatte weniger Verständnis dafür. »Wie willst du dafür bezahlen? Diese Apartments an der East Side sind wahnsinnig teuer. Kommt deine Mutter für die Miete auf?« »Ich würde sie nie fragen.« »Adam?« »Natürlich nicht. Ich werde arbeiten und für mich selbst aufkommen.« »Wie?« »Ich dachte, du würdest mir helfen. Ich könnte als Model arbeiten.« »Es gab mal eine Zeit, da hast du gesagt, du kämst dir wie eine Hure vor, wenn du als Model arbeitest.« Er schüttelte den Kopf. »Also gut, ich werde sehen, was ich für dich tun kann. Aber das heißt nicht, daß du gleich Arbeit findest. Ich muß dich bei den verschiedenen Kunden bekanntmachen. Auch dann ist nicht sicher, daß du schnell an das große Geld herankommst. Du bist neu im Geschäft. Bleib bei mir, bis du dir einen Namen gemacht hast.« Sie schmollte, bis er sich bereit erklärte, ihr zu helfen, Arbeit und Apartment zu finden. Nach einer Woche mit trostlosen Apartments in trostlosen Gebäuden zu irren Mieten verlor sie die Geduld. Trotz Rafes Bedenken mietete sie an diesem Nachmittag eine Wohnung in der 48. Straße nahe der Dritten Avenue. Rafe unterdrückte seine Verärgerung, die Kritik, die ihm auf der Zunge lag. Er teilte ihr nur mit, daß er ihr beim Kauf der Einrichtung nicht helfen könnte, weil er zu viele Aufträge aufzuarbeiten hätte. Sie nahm ihm seine Haltung übel und konnte nicht begreifen, warum er die Notwendigkeit nicht einsah, daß sie nahe bei Adam sein mußte. Sie ging zu Sloane’s, stellte aber fest, daß sie allein keine einzige Entscheidung treffen konnte. Der Unterschied von
einem Bett zum nächsten schien so groß und weitreichend zu sein, daß sie sich vor der falschen Wahl fürchtete. Sie überlegte, wer ihr helfen könnte, und dabei fiel ihr David Altman ein. Sie rief ihn an, und er sagte sofort zu. An diesem Nachmittag gingen sie zu Macy’s, wo sie ein großes, breites Bett kaufte, das in zehn Tagen geliefert würde. Ein paar Tage später fanden sie und David eine alte viktorianische Kommode. Als sie am Abend geliefert wurde, war David in ihrer Wohnung, um ihr zu helfen, sie an den richtigen Platz zu stellen. Sie feierten ihr erstes Möbelstück in einer Bar in der neuen Nachbarschaft, danach brachte David sie zurück zu Rafes Studio. Er nahm ihre Hand und räusperte sich. »Es hat Spaß gemacht«, sagte er leise, »mit dir einkaufen zu gehen.« »Es war lieb von dir, daß du Zeit hattest für mich.« Sie zog ihre Hand zurück. Er beugte sich zu ihr und küßte sie zum erstenmal. Sie hielt still, bewegte weder Lippen noch Zunge. Seine Lippen zitterten leicht, als hätte er keine große Erfahrung im Küssen. Vielleicht hielt er sich aber auch zurück, weil er sich genierte, sein Verlangen zu zeigen, dachte Cindy. Was auch immer, später kam es ihr so vor, als hätte es diesen intimen Moment zwischen ihnen nie gegeben. Eine große Null. Nichts. Trotzdem, David war ein Lieber… An dem Tag, an dem das Bett geliefert wurde, zog Cindy in das neue Apartment ein. Das L-förmige Zimmer war ihre eigene Welt, das hatte sie noch von keiner anderen Wohnung sagen können. Immer hatte sie mit anderen zusammengewohnt, mit ihren Eltern, Freundinnen, Männern. Aber dieses Apartment, das neue Bett und die antike Kommode gehörten ganz allein Lucinda Ashe. Das Telefon war schon vor ein paar Tagen installiert worden, und jetzt rief sie zuerst Adam Gilbert an. Sie wollte, daß er sie sofort besuchte, um das neue Bett in aller Form einzuweihen. Der Anrufbeantworter meldete sich. Eine zischende Frauenstimme verkündete: »Dies ist die Wohnung von Mister Gilbert.
Er ist nicht zu Hause. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen wollen, beginnen Sie nach dem Pfeifton.« »Scheißpfeifton«, sagte Cindy fröhlich und rief seine Büronummer an. Das Mädchen, das den Anruf beantwortete, schlug vor, daß sie es bei Audio, Inc. versuchte. Von dort wurde sie zur Brooklyn Recording in Queens verwiesen. Er war nicht da und wurde auch nicht erwartet. Nein, sie hatten keine Ahnung, wo Mister Gilbert sein könnte. Cindy fiel aufs Bett zurück und wartete darauf, daß Adam sie anrief. Warten wurde in den nächsten Wochen zu ihrer wichtigsten Aufgabe. Rafe hatte sie bei einer Modellagentur untergebracht, und nun wartete sie auf Aufträge. Als sie endlich den ersten Auftrag übernahm, wartete sie in heißen Studios, bis sie an der Reihe war, und wenn sie nach Hause kam, wartete sie auf Adam. Damit die Zeit schneller vorbei ging, kaufte sie sich einen Fernsehapparat. Sie ließ ihn fast ständig laufen. Sie schaute sich jeden Film an, jede Show, und obwohl sie keinen Gefallen daran fand, konnte sie sich nicht dazu bringen, das Gerät abzuschalten. Und immer hielt sie ein Glas in der Hand. Gin und Tonic, Gin und Orangensaft, Gin über Eis. Sie brauchte diese Stimulanzien, damit sie die langen heißen Tage und die nicht enden wollenden Nächte überstehen konnte. An einem Abend, als sie während eines alten Westerns mit Randolph Scott eingeschlafen war, wurde sie vom Läuten des Telefons geweckt. Mit schwerem Kopf und bedächtigen Reaktionen hob sie den Hörer auf. Es war Adam. »Ich bin gerade zurück ins Haus gekommen«, sagte er ohne Begrüßung. »Liebling«, murmelte sie. »Du kannst kommen, wenn du willst.« Sie zwang sich in eine sitzende Position. Ein leeres Glas rollte vom Bett, fiel auf den Boden. »Ja, ja sofort.«
»Gewöhnlich ist die Pizzeria auf der Zweiten Avenue um diese Zeit noch auf. Bring ein paar kleine mit und auch ein paar Dosen Bier.« »O ja Liebling, ja, sobald ich…« Er hatte aufgelegt. Sie trat um das zerbrochene Glas herum, torkelte trunken und aufgeregt ins Bad, ging unter die Dusche und stellte den Kaltwasserhahn an. Sie schrie, als die prasselnden Strahlen ihren Körper malträtierten, aber sie fühlte sich sofort besser. Sie putzte die Zähne und lutschte ein Pfefferminz, um den Geschmack des schalen Gin abzutöten. Adam hatte was gegen ihr unmäßiges Trinken. Er ließ sie ins Haus ein, und sie gingen ins Wohnzimmer, wo er die Pizza aß und genüßlich Bier trank. Sie hatte sich zu seinen Füßen auf den Boden gekauert und schaute ihm zu und wartete. »Ich hoffe, die Pizza schmeckt dir«, sagte sie. »Ja. Sie ist nicht gut, nicht schlecht. Aber sie schmeckt.« Er trug einen Hausmantel, und sie streichelte mit einer Hand unter dem Soff über die Innenseite seines Schenkels. »Ich habe nur Hunger auf dich.« Er sah sie an. »Das macht dich geil, was, wenn du mir beim Essen zuschaust?« »Du machst mich immer geil, Adam.« Er nahm sich das zweite Pizzastück vor und kaute geräuschvoll. »Ist meiner denn so anders als all die anderen?« Bastard! Verdorbener Bastard! Perverser sadistischer Bastard! »So viele andere hat es nicht gegeben«, sagte sie leise. »Mach mir doch nichts vor. Du hast eine Menge üben müssen, um so gut blasen zu können. Und man merkt dir’s an, daß es dir Spaß macht.« Abneigung stieg in ihr auf, Abneigung und Ärger. Sie wollte sich revanchieren für seine häßliche Art, mit ihr umzugehen, sie wollte ihn verletzen. »Nun gut, aber lieber wäre mir, wenn du es richtig mit mir machst. Du scheinst mehr auf das eine zu stehen.
Weißt du, daß du mich noch nie wie ein normaler Mann gevögelt hast? Du hast es nicht einmal versucht. Vielleicht…« »Halt den Mund!« fauchte er. »Wenn du dich beschweren willst, kannst du ja abhauen. Aber komm bloß nicht wieder!« Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. »O nein, bitte, schick mich nicht weg, Darling.« »Dann benimm dich entsprechend.« Sie nickte und kniete sich vor ihn hin, drückte ihr Gesicht zwischen seine Schenkel, öffnete den Mund, um ihn aufzunehmen, und hörte, wie er weiter auf seiner Pizza kaute. Zwei Tage später teilte er ihr mit, daß er für eine Woche nach Los Angeles fliegen würde. Es gab einige Aufnahmen sowie Verhandlungen mit einem Vertrieb an der Westküste, und außerdem wollte er ein Wochenende dranhängen, um sich in Palm Springs zu entspannen. Sie bettelte ihn an, sie mitzunehmen, aber es war ihr klar, daß er sich weigerte. Aber sie überraschte sie beide, indem sie darauf bestand, und schließlich stimmte er zu. An diesem Tag kaufte sie sich neue Kleider, darunter auch zwei Bikinis, die ihre Figur atemberaubend unterstrichen, und drei übergroße Sonnenbrillen. Am Samstagmorgen ließen sie sich mit einer Limousine zum Flughafen fahren. Die tüchtige Blondine und Charlie fuhren mit, damit sie letzte Anweisungen von Adam entgegennehmen konnten. »Am wichtigsten«, sagte er, als sie vor dem Terminal der TWA eintrafen, »ist das Treffen von Moose Abrams mit den Leuten von Connors. Dann macht ihr mir einen Termin mit den Universal-Leuten. Und mit der Fox.« Er stieg aus der Limousine und achtete auf den Porter, der das Gepäck aus dem Kofferraum hob. Er deutete auf Cindys Koffer. »Den nicht, Mann. Laß ihn im Wagen.« »Das ist meiner«, sagte Cindy.
Er drehte sich zu ihr um. »Planänderung in letzter Minute. Ich werde überhaupt keine Zeit für dich haben, also hat’s keinen Sinn, dich mit herumzuschleppen. Diesmal kommst du nicht mit. Charlie«, fuhr er fort, während er auf den Eingang zu ging, »du gibst mein Gepäck auf, dann treffen wir uns am Flugsteig.« Er verschwand im Terminal. Sie schloß sich während der Woche von Adams Abwesenheit in ihrem Apartment ein und trank. Sie ignorierte das Telefon und ging auch nicht an die Tür, als es klingelte. Am Sonntag, als Adam gegen Abend zurückerwartet wurde, rastete eine Warmlampe in ihrem alkoholvernebelten Gehirn ein. Sie trank heißen schwarzen Kaffee, duschte und schluckte ein paar Pillen, obwohl sie nicht sicher war, ob sie die blauen oder die roten genommen hatte und ob sie schläfrig oder munter machten. Gegen Nachmittag fühlte sie sich kräftig genug, sich anzuziehen und die Wohnung zu verlassen. Auf der Lexington Avenue bestellte sie sich in einer Snackbar Eier und Toast, aber sie aß nur ein paar Bissen. Zurück in der Wohnung, versuchte sie zu schlafen. Aber ein Nerv in ihrem Oberschenkel zuckte und hielt sie wach. Sie stand auf, braute sich Kaffee, trug ihn zum Bett und rief Adam an. Der Anrufbeantworter teilte ihr mit, daß Mister Gilberts Rückkehr nach New York erst Ende der Woche zu erwarten sei. Sie warf den Hörer auf die Gabel, und in ihre Gedanken kroch ein vages Mißtrauen. Sie zog sich an und ging hinaus, eilte mit weit ausholenden Schritten zur 53. Straße, wo sie an einem Straßenkiosk die Frühausgaben der Times und der Daily News kaufte. Zu Hause schlug sie zuerst die Klatschseite der News auf. Sie fand ein Foto von Adam Gilbert, der am Abend vorher in New York eingetroffen war. In seiner Begleitung war eine spektakulär aussehende Frau abgebildet, eine Filmschauspielerin. Cindy
zerriß die Seite und schwor sich, Rache an Adam Gilbert zu nehmen. Sie weinte, und als sie sich wieder gefaßt hatte, wählte sie Adams Nummer. Cindy erkannte die Frauenstimme, die sich meldete, als jene, die zu dem vollbusigen Filmstar gehörte. Sie rannte zum Beekman Place. Das Haus war dunkel, und niemand antwortete auf ihr Klingeln. Am nächsten Tag versuchte sie erfolglos, Adam ausfindig zu machen. Erst spät in der Nacht antwortete er. »Jaaa…« Seine Stimme klang gedämpft und fremd. »O Adam, du bist ein Widerling!« »Es ist drei Uhr morgens«, sagte er wütend. »Du hast mich geweckt!« »Ist sie bei dir, diese Hure mit den dicken Brüsten?« »Was soll das?« »Diese Diva, bläst sie dir jetzt gerade einen? Ja, Adam? In diesem Augenblick?« Er knallte den Hörer auf. Entsetzen packte ihre Kehle, hinderte sie am Atmen. Sie drehte hektisch die Wählscheibe, erwischte eine falsche Nummer. Sie versuchte es erneut. Das Telefon läutete und läutete, aber schließlich hob er ab. Seine Stimme hörte sich tief resigniert an. »Hör mir jetzt mal zu«, sagte er. Sie wiederholte immer wieder seinen Namen, aber er sprach weiter. »Ich bin erschossen, fertig. Ich kenne diese Frau überhaupt nicht. Irgendein Fotograf hat sie mir an die Seite gestellt. Aber wie dem auch sei – es geht dich nichts an. Du bestimmst nicht mein Leben. Niemals. Ich werde jetzt auflegen und schlafen, und wenn du schlau bist, wirst du das auch tun.« Sie war so entnervt, daß sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Was hatte sie getan? Sie hatte alles zerstört, sie hatte den Mann verloren, den sie liebte, den sie brauchte. Ohne Adam war die Welt leer. Eine große schwarze Leere. Sie sprach seinen Namen, als könnte sie ihn damit aufhalten. »Bitte«, flüsterte sie heiser. »Laß mich zu dir kommen.« »Schlaf endlich ein.«
»Bitte, Liebling.« »Ich rufe dich an.« »Wann?« Er legte auf. Sie wachte gegen Mittag auf und rief im Haus am Beekman Place an. Er war schon ausgegangen. Sie rief in seinem Büro an; die Blondine behauptete, nicht zu wissen, wo er sich aufhielt. Sie versuchte danach jedes Studio, das ihr einfiel, aber nirgendwo traf sie auf eine Spur von Adam Gilbert. Sie mahnte sich, nicht in Panik zu geraten, die Beherrschung zu bewahren. Sie trank Kaffee, machte sich zurecht, war mit dem Resultat unzufrieden und fing von vorn an. Wieder begann sie mit den Anrufen, das Ergebnis blieb gleich. Sie zog sich an, ging zum Beekman Place, hielt den Finger auf der Klingel. Niemand antwortete. Sie entfernte sich mit raschen Schritten, ging in ein Kino. Sie wußte nicht, wie lange sie dort blieb. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, welchen Film sie gesehen hatte. Nach Hause, wieder die Telefontortur. Erfolglos. Sie füllte ein Wasserglas mit Gin und trank ihn in drei Schlukken. Danach erlitt sie einen Hustenanfall, der länger als eine halbe Stunde dauerte. Geschwächt, naß vom Schweiß, ließ sie sich aufs Bett fallen. Das Telefon klingelte, sie griff danach. Eine Stimme sagte: »Cindy, ich habe versucht dich zu erreichen…« Es war nicht Adams Stimme, also legte sie sofort wieder auf. Sie wußte nicht, wie spät es war, als sie endlich eine Stimme hörte, nachdem sie Adams Haus angerufen hatte. »Wer ist da?« fragte sie. »Sie haben angerufen«, sagte die Stimme. »Also will ich wissen, wer da ist.« »Ist Adam da?« fragte sie. »Wer ist Adam?«
Sie legte den Hörer auf, raffte ihre ganze Kraft zusammen, duschte, zog sich an, hastete zum Beekman Place. Überall im Haus brannten Lampen. Sie drückte auf die Klingel. Nach einer Weile wurde die Tür geöffnet. Ein Junge, nicht viel älter als sie selbst, schaute durch den Türspalt. Sein breites Gesicht wurde bei seinem zufriedenen Grinsen noch breiter. »Komm rein«, sagte er, »Puppen wie du sind hier immer willkommen.« Sie schritt an ihm vorbei. Er lief hinter ihr in die Aufzugskabine. »Warum hast du es denn so eilig? He, Kleine, wir haben die ganze Nacht noch vor uns.« »Wo ist Adam?« Der Aufzug hielt abrupt an, und sie trat hinaus ins Wohnzimmer. Menschen überall. In einer Ecke wurde getanzt. »Gehörst du zu Adam?« Sie versuchte, ihn unter den verschiedenen Gruppen zu erkennen. »Wo ist er?« »Mist«, sagte der Junge und verschwand in der Menge. Cindy sah ein vertrautes Gesicht an der Bar und schob sich an den Tanzpaaren vorbei. Es war die tüchtige Blondine, die mit einem kleinen, kahlköpfigen Mann sprach. »Wo ist Adam?« fragte Cindy. »Was tust du hier?« fragte die Blondine kühl. »Er ist mit Geka«, sagte der Glatzkopf. Er deutete nach oben. »Ich wette, er hat mit dieser Geka genug zu tun.« »Du sprichst zuviel, Teddy«, tadelte die Blondine. Cindy ging zum Aufzug zurück. Ihre Gedanken drehten sich wirr, vor ihren Augen hing ein dichter Schleier, der ihre Sicht trübte, und überhaupt schienen alle ihre Sinne nicht mehr synchron zu funktionieren. Nur eins war wichtig – Adam zu finden, bei ihm zu sein, ihm klarzumachen, wie sehr sie ihn liebte, wie sehr sie ihn brauchte. Die Fahrt ins Schlafzimmer dauerte schmerzlich lange.
Geka war groß und geschmeidig, Anfang Vierzig, mit dem Gesicht und Körper einer viel jüngeren Frau. Ihre prallen Brüste sackten kaum, und die großen braunen Nippel reckten sich keck und einladend nach oben. Ihr Bauch, sanft gerundet, hatte zwei Söhne bis zur Geburt getragen und zwei weitere zum Abtreiber. Als sie Adams Schlafzimmer betrat, blieb Cindy in der Tür stehen. Sie starrte auf die nackten Hinterbacken Gekas, die im weichen Licht der Nachttischlampe glühten. Geka hatte die Beine gespreizt, um das Gleichgewicht besser halten zu können, lange, schön geformte Glieder, die trainierten Muskeln einer erfahrenen Reiterin. Ihr Rücken war gebeugt, lang und schmal, und ihre Brüste rieben sich an Adam Gilberts Oberschenkeln. Adam hatte den Kopf leicht gehoben, um Gekas Tun besser verfolgen zu können. »Verdammte Hure!« platzte Cindy heraus. »Elende Schlampe! Und du, du perverser…« Gekas Kopf kam hoch, sie ließ das bleiche Glied herausflutschen und lächelte Cindy freundlich zu. »Was für ein hübsches Kind. Sie scheint dich zu kennen, Adam.« »Raus!« brüllte Adam. »Du hast gesagt, du würdest anrufen«, jammerte Cindy. »Bist du gekommen, um mitzuspielen, oder willst du nur zuschauen?« fragte Geka freundlich. »Ich habe darauf gewartet, daß du mich anrufst…« »Raus!« »Warum? Warum? Du weißt, wie sehr ich dich liebe. Es gibt nichts, was ich nicht tun würde…« »Wenn das so ist«, sagte Geka folgerichtig, »warum fängst du nicht schon mal an, dich auszuziehen?« Adam erhob sich vom Bett, klein und blaß, den Mund verächtlich gehoben. »Gott, wie sie mich nervt! Faselt dauernd was von ihrer Liebe. Mösen wie dich gibt’s dutzendweise zum Frühstück. Du bist nichts als ein Groupie, und wenn man ein Groupie satt hat, reicht man’s weiter an die nächste Band. Du hast’s hinter dir, Baby, such dir irgendeinen anderen Knüppel. Wenn du bumsen
willst, geh nach unten, dort laufen ein paar Schwänze rum. Ich habe genug von dir.« Sie rannte mit schwingenden Armen auf ihn zu, die Finger gespreizt, die Nägel gekrallt. Er wich aus, ging rückwärts, aber sie setzte nach, bekam ihn zu fassen, riß mit der rechten Hand über sein Gesicht. Er fluchte, stieß sie von sich, rannte von ihr weg. Geka klatschte in die Hände und feuerte sie beide an. Adam Gilbert tastete mit den Fingerspitzen über seine Wange und fuhr zusammen, als er Blut sah. »Die verdammte Hexe! Ich blute!« Sie griff wieder an, aber diesmal war er vorbereitet. Er packte einen ihrer Arme und drehte ihn hart auf den Rücken, dann gab er ihr einen Schubs und stieß sie weg. Sie strauchelte, fing sich und lief wie eine Furie auf ihn zu. Er wich aus und hob einen Fuß, der sie an der Seite erwischte. Sie packte seine Haare und zerrte daran. Er fluchte und schlug zweimal zu; der erste Hieb traf sie am Bauch, der zweite an der Brust. Sie fiel auf den Boden, stützte sich auf Knie und Ellbogen und öffnete den Mund, um zu schreien, aber es kam kein Ton heraus. »Oh, das war ein Volltreffer«, rief Geka begeistert. »Einen Augenblick lang habe ich gedacht, sie würde dich fertigmachen, Adam. Das wäre zu komisch gewesen, was? Ich meine, daß eine Frau dir zeigt, wo’s langgeht…« »Halt den Mund!« schrie er. Geka zeigte sich wenig beeindruckt. »Solange dein prächtiger Apparat nicht in Mitleidenschaft gezogen ist…« »Was, zum Teufel, soll ich nur mit ihr anfangen?« Er ging zu der kleinen Bar in einer Ecke und füllte ein Glas mit Bourbon, brachte es zu Cindy. »Trink«, befahl er. Sie kam hoch, blieb aber auf den Knien. Sie konnte jetzt wieder besser atmen, nahm das Glas und trank. Er half ihr auf die Füße, und sie leistete keinen Widerstand mehr. Er führte sie aus dem Schlafzimmer, einen Flur entlang bis in das kleine Gästezimmer im hinteren Teil des Hauses. »Zieh deine Sachen aus«, befahl er.
»O ja, Liebling«, hauchte sie. »Ich werde besser sein als sie, du wirst es sehen.« Er hielt das Glas mit dem Bourbon fest, während sie sich auszog. Dann reichte er ihr wieder das Glas. »Trink aus.« »Ich brauche nicht…« »Trink.« Sie gehorchte, kämpfte gegen den brennenden Bourbon an. Sie nahm einen weiteren Schluck, dann war das Glas leer. »Jetzt legst du dich hin. Du wolltest doch immer durchgezogen werden«, sagte er. »Nun, das besorgen wir jetzt. Du bekommst, was du haben willst.« Er verschwand plötzlich, und sie lag auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit, murmelte seinen Namen, rief nach ihm, am ganzen Körper zitternd. Sie wartete, daß er zu ihr kam. Daß sie eins wurden. »Bleib brav liegen«, hörte sie seine Stimme. Sie klang entfernt. »Verlaß mich nicht. Ich…« »Du wirst nicht lange allein sein.« Sie hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloß, und die Dunkelheit wurde tiefer, undurchdringlicher. In ihren Schläfen pochte es, vor ihren Augen tanzten Visionen. Sie öffnete die Augen, aber sie konnte nichts sehen. Sie hatte das Gefühl, als würde sie fallen, in einen tiefen Brunnen purzeln und auf das Aufklatschen warten. Die Tür öffnete sich. Sie versuchte, etwas zu sehen, die Schwärze zu durchdringen. Es gelang nicht. Tiefe Schatten schwebten um sie herum, verschwanden, wurden deutlicher, größer. Wie albern, dachte sie kichernd. Ein Mädchen mit ihrem Grad an Gewöhnung, und schon von einem Bourbon betrunken. »Adam?« Die Schatten arrangierten sich um ihr Bett herum. Ein Quartett antiker Statuen. Junge Männer, schlank, groß, schön. Römische Kopien der überlegenen griechischen Kunst, dachte sie, und sie war froh, daß ihr Grips offenbar noch funktionierte.
Weiche Bänder wurden um ihre Fußfesseln geschlungen und festgezurrt. Sie spürte, wie ihre Beine auseinandergezogen wurden. Sie wollte sich wehren, wollte… »Adam, du tust mir weh…« Ein plötzlicher Stoß ließ sie aufschreien. Schmerz folgte auf Schmerz, Stoß auf Stoß, hart, heftig, unerbittlich. Plötzlich konnte sie das Geschehen einordnen, als wenn ein Schleier von ihren Augen genommen worden wäre. Das kleine Zimmer, in das Adam sie geführt hatte, die vier Schatten. Vier Männer. Einer war jetzt auf ihr, in ihr, die anderen schauten zu, feuerten ihn an. Dann war er fertig. Sein Körper sackte zusammen, rollte sich von ihr. Ein anderer nahm seine Stelle ein. »Jetzt«, hörte sie eine seltsam dünne Stimme. »So macht ein Mann das…« Ein verzweifeltes Stöhnen drang aus ihren Lippen. Vier. Vier fremde Männer. Adam hatte sie ihnen zur Verfügung gestellt. Sie wurde… … durchgezogen. Ihr ganzes Innerstes wehrte sich, schrie auf, explodierte, aber ihr Körper blieb reglos. Es dröhnte in ihren Ohren, es pochte hinter ihren fest geschlossenen Augen, aber Ihr Körper reagierte nicht, er spürte nur das Gewicht dieser Kerle, und ihr Gehirn hatte aufgehört, sie zu zählen. Wenn doch nur ihre Gedanken so still wären wie ihr Körper… »Ist sie in Ordnung?« fragte eine Stimme. »Klar. Diese Puppe ist noch nie so gekonnt georgelt worden.« »Gib ihr das.« Jemand hielt ein Glas an ihre Lippen, und Flüssigkeit rann in ihren Mund. Sie verschluckte sich und prustete und hustete. Sie hörte jemanden lachen. »Das war eine geile Kiste, Baby.« »Komm, wir hauen ab.«
Die Schatten versammelten sich und zogen sich zurück, vergingen in einem Rechteck sanften Lichts. »Dieser Adam ist immer für eine Überraschung gut.« »Prima Kerl.« Sie war schwerelos und voller neuer Lebensfreude. Sie sprang und hüpfte herum, wirbelte an den Horden hastender ernster Menschen vorbei. Die Nachtluft wehte kühl über ihre nackte Haut und versorgte sie mit neuer Kraft und Vitalität. Plötzlich waren die Menschen weg, und sie war allein in diesen dunklen Glas- und Betonschluchten der Stadt. Sie ließ sich durch die leeren Straßen treiben, hinein ins Nichts, ins Nirgendwo. Im nächsten Moment war sie drinnen, tief drinnen in einem gräulichen Korridor. Aus dem Korridor wuchs ein langer schwarzer Tunnel, der auf sie zukam, als ob er sie erdrücken wollte. Sie begann zu rennen. Dann stürzte ihr das Rot entgegen. Alles war rot, als ob sie sich mitten in einem roten Nebel befände, nein, es war roter Schleim. Ihr Mund öffnete sich, sie wollte um Hilfe rufen, aber der Schleim füllte ihren Mund, und ihr Schrei ging unter in der dikken Masse. Sie schaffte es, sich loszureißen und wegzurennen. Sie drehte sich nach ihren Verfolgern um, aber sie konnte keine Gesichter erkennen, nur schleimige Fratzen, und dann hörte sie schrecklich fluchende Stimmen, die ihr befahlen, nicht so schnell zu laufen. Jetzt drehte sie sich nicht mehr um, sie hatte Angst davor, die Fratzen zu erkennen, es könnten sich Menschen dahinter verstecken, die ihr vertraut waren. Sie lief und lief, bis sie nicht mehr konnte, drückte sich gegen eine Hausmauer, machte sich klein, fast unsichtbar. Tiefe Schatten umgaben sie, und aus den Schatten formten sich Figuren, immer wieder neue. Die Schatten näherten sich, tiefblau und furchterregend, und irgend etwas an ihnen blinkte hell. Sie drangen aus der Nacht auf
sie ein, gewaltige, gewichtige Figuren, furchteinflößend, Unheil verkündend. Sie entwand sich ihnen, aber sie folgten ihr, ließen sie nicht los. Sie schrie gellend auf, aber die blauen Schatten gaben nicht auf, blieben an ihr dran, packten sie an, hielten sie in ihrem harten, kalten Griff. Jetzt war es vorbei.
11
Sie ließ sich nicht an der Nase herumführen. Trotz des feinen blauen Nadelstreifenanzugs und seiner freundlichen Manieren hatte sie ihn durchschaut, wußte sie, was er wollte. Sie unterdrückte ein Kichern, indem sie eine Hand vor den Mund preßte. Ihre Augen hielten Ausschau nach ihm. Sie freute sich auf ihn, es machte Spaß, weil sie wußte, was er hören wollte, und weil sie auch wußte, daß sie durchaus in der Lage war, ihn hinters Licht zu führen. Sie würde ihm die Antworten geben, die er hören wollte. Klein-Sigmund. So nannte sie ihn bei sich. Die verrückte Cindy Ashe und Dr. Vernon Miller, jünger, als er aussah mit den ernsten Augen hinter der Hornbrille. Am dritten Tag begrüßte sie ihn mit einem Lächeln. »Guten Tag, Dr. Miller.« Er legte den Kopf schief, zeigte sich nicht überrascht, daß sie das erste Mal gesprochen hatte. »Guten Morgen, Cindy.« Sie hob einen Zeigefinger. »Wir müssen die Formalien einhalten. Wenn ich Sie mit Dr. Miller anrede, müssen Sie mich Miss Ashe nennen.« »Wenn Sie das wollen…« »Nein, es klingt so formell, so…« »Spießig?« »Ah, Sie begreifen’s, Dr. Miller. Nein, Vernon. Ich werde Sie Vernon nennen, und Sie sagen Cindy zu mir. Ich meine, auch wenn wir nicht derselben Generation angehören, können wir uns doch näherkommen, oder?« Sie berührte mit den Fingerspitzen seinen Handrücken und fuhr leicht mit der Zunge über ihre Lippen. Er zog seine Hand zurück. »Sollen wir beginnen, Cindy?«
»Was immer Sie wollen, Vernon. Schließlich bin ich nur eine von vielen Patienten, und Sie sind der Gehirnklempner, den mir die Stadt New York und das Bellevue Hospital zur Verfügung gestellt haben.« Das Brillengesicht blieb bewegungslos. »Ich will in Ihrem Kopf nicht klempnern, ich möchte Ihre Gedanken erweitern.« Sie schaute ihn aus großen Augen an. »Oh, Bewußtseinserweiterung, ja? Auf was für einen Trip sollen wir gehen? Acid? Speed? Oder was?« »Wahrheit.« Sie ließ sich zurück aufs Bett fallen. ›»Wer die Wahrheit spricht‹«, rezitierte sie, ›»sticht der Falschheit ins Herz.‹« »Von wem stammt das?« »James Russell Lowell«, sagte sie. »Kennen Sie seine Lyrik, Vernon?« »Sie sind ein interessantes Mädchen, Cindy. Ich glaube, bei den Gesprächen mit Ihnen werde ich eine Menge lernen.« Als er gegangen war, fühlte sie sich sehr traurig und den Tränen nahe. Aber als er am nächsten Tag wiederkam, fühlte sie sich gezwungen, ihm wieder eine Darstellung zu bieten. Zuerst hatte sie gedacht, er läge auf ihrer Wellenlänge, aber als er fortfuhr, hohle und absurde Fragen zu stellen, wobei seine Bemühungen, sie zu selbstenthüllenden Äußerungen zu provozieren, beleidigend plump waren, entschied sie, in ihm einen langweiligen Dummkopf zu sehen, und erfand wilde, unwahrscheinliche Geschichten, die sie ihm auftischte. Es war keine unangenehme Zeit. Ihre Mitpatienten ergötzten sie mit Geschichten über ihre Erlebnisse während des Tages; aber während der Nacht hörte man das unterdrückte Schluchzen auf der Station in fast allen Zimmern, und oft wachte Cindy erschrocken auf, wenn eines der Mädchen schreiend aus einem Alptraum zu sich kam. Maggie und Bob besuchten sie dreimal, zeigten aber wenig Verlangen, Cindy dort herauszuholen. Roy kam auch an einem
Nachmittag, er brachte ihr ein sexy Nachthemd mit. Er blieb nur ein paar Minuten. Und David Altman. Er küßte sie auf die Wange und hielt ihre Hand und erzählte ihr, daß seine Untersuchungsgruppe nun einsatzbereit sei. Ihr Spezialgebiet waren Schlampereien und Korruptionen der lokalen Verwaltungen. Er erzählte ihr auch vergnügliche Geschichten aus Washington, die sie zum Lachen brachten. Als es Zeit zum Gehen war, schaute er nachdenklich auf sie hinab. »Ich weiß nicht, was eigentlich in deinem Privatleben vor sich geht, Cindy«, sagte er behutsam, »und es ist mir auch egal, ob ich es weiß oder nicht. Aber ich bin sicher, daß du nicht an diesen schrecklichen Ort gehörst. Du solltest draußen sein, im Freien, im herrlichen Sonnenlicht, an der frischen Luft. Du solltest eine ambitionierte Arbeit haben und dich am Leben erfreuen.« Ein vager Gedanke kroch in ihr Bewußtsein. Sie spürte, wie Ärger in ihr hochstieg. David Altman erinnerte sie an Rafe, an dessen hochtrabendes Philosophieren über Verpflichtungen und Verantwortungen, über die therapeutischen Werte des Arbeitens. Dieser ganze Unsinn. Sie starrte David kalt an. Das hagere blasse Gesicht sah zusammengezogen aus, die Augen waren verengt. »Hast du in letzter Zeit deine Augen untersuchen lassen, David?« fragte sie. »Was?« Er wurde rot und mied ihren Blick. »Ich glaube, du brauchst eine Brille«, sagte sie. Er nickte ruckartig. »Ich habe eine Brille, aber nur fürs Kino und zum Lesen. Meine Augen sind nie sehr gut gewesen.« Eine erdrückende Traurigkeit umfaßte sie, und nun war sie es, die es nicht wagte, ihn anzuschauen. Er war in Freundschaft zu ihr gekommen, der einzige Freund, der uneigennützig half, ohne daraus eine große Sache zu machen. Er war der einzige, dem sie vertrauen konnte, und sie wußte auch, daß er immer da war, wenn sie ihn brauchte. »Es tut mir leid, David«, murmelte sie. »Manchmal kann ich wirklich biestig sein.«
Er beugte sich vor und küßte sie auf die Wange. »Du bist im Augenblick eben schlecht drauf, das ist alles. Sobald du aus diesem Kasten hier wieder raus bist, sieht alles schon ganz anders aus.« Er ging zur Tür, drehte sich dort noch einmal um. »Später, wenn du dich eingerichtet hast, könntest du mir vielleicht zur Hand gehen. Ein bißchen Forschungsarbeit, Interviews und so. Ich weiß, daß du das gut machen würdest.« Bevor sie etwas entgegnen konnte, war er schon aus der Tür, und sie entdeckte zu ihrer Überraschung, daß sie ihn jetzt schon vermißte. Später an diesem Tag ließ Rafe sich sehen. Er brachte ihr eine Mappe seiner jüngsten Arbeiten. Sie sollte sie in Ruhe ansehen, wenn er weg war. Sie sprachen nicht viel. Bevor er ging, küßte er sie auf den Mund und lächelte. »Du und ich, wir sind entgegengesetzte Enden desselben Stocks«, murmelte er. »Wir sind bis an unser Lebensende zusammengebunden.« »Das gefällt mir.« »Vielleicht«, sagte er leichthin, »sollten wir einen Dauerzustand daraus machen.« Sie lachte. »He, Rafe, soll das ein Antrag sein?« Er hob die Schultern. »Denk mal drüber nach. Ich glaube, ich wäre ein erstklassiger Ehemann.« Sie dachte eine Zeitlang darüber nach, dann war sie davon überzeugt, daß er nur einen Scherz gemacht hatte, um sie aufzuheitern. Es gab keinen Zweifel daran, daß Rafe lieber Jungen in seiner Gesellschaft sah. Trotzdem, er hatte es lange mit ihr ausgehalten, und es gab wahrscheinlich schwule Jungs, die irgendwann zu Mädchen fanden. Oder? Sie sprach dieses Thema bei Dr. Vernon Millers nächstem Besuch an. »Es gibt homosexuelle Männer, die eine Frau heiraten«, erklärte Dr. Miller. »Dies ist häufig das Ergebnis einer gründlichen Gesprächstherapie und einer kräftigen Motivation.« »Willenskraft?« fragte sie listig.
»Wenn Sie so wollen. Ein Mann kann vieles erreichen, wenn er es entschieden genug will.« »Das hört sich nach dem amerikanischen Traum an, Vernon. Jeder Mann kann Präsident der Vereinigten Staaten werden, wenn er es nur will. Kommen Sie, Sie müssen mir schon was Überzeugenderes bieten.« »Ein andermal«, sagte er nachsichtig und ging. Ihre Traurigkeit kehrte zurück. In dieser Nacht, während sie um sich herum das Schluchzen und Weinen hörte, begriff sie, daß sie Vernon Miller gegenüber unfair war. Schließlich sollte er ihr nur helfen. Sie konnte ihm wenigstens das Gefühl geben, daß er Erfolg mit ihr hatte. Danach gab sie ausgewählte Einzelheiten über ihr Leben preis und wartete auf seine Reaktion. Sie hatte erwartet, daß er mißbilligend den Kopf schütteln oder gar mahnend moralisieren würde, aber nichts dergleichen. Am Tag vor ihrer Entlassung lud er sie in sein Büro ein, ein winziges weißes Viereck mit einem Glasfenster, durch das man in den Flur sehen konnte. Sie saß ihm gegenüber, und zum erstenmal bemerkte sie, daß er ein recht attraktiver Mann war. »Ich bin nicht sicher, was für ein Mensch Sie eigentlich sind und was Sie wollen, Cindy.« »Da haben wir etwas gemeinsam, Vernon.« »In den Wochen, seit wir uns kennen, haben Sie mich nicht an sich herangelassen.« »Vernon!« Sie flatterte mit den Augenlidern. »Was sind Sie doch für ein schmutziger junger Mann.« Er lächelte. »Sie scheinen verzweifelt bemüht zu sein, mir Tatsachen über Ihr Leben vorzuenthalten.« »Ich enthalte Sie nicht nur Ihnen vor, sondern auch mir«, sagte sie. »Richtig.« Sie beugte sich vor, sprach mit übertriebenem Ernst. »Mein Leben ist ein komplettes Durcheinander, Vernon, es wimmelt nur so von schlechten, verdorbenen Ereignissen. Ich versuche,
Ihre Seele vor Schaden zu bewahren, wie es Ihre alte jüdische Mutter getan hätte.« »Warum jüdische Mutter?« »Ach, hören Sie doch auf! Alle Gehirnklempner sind jüdisch, stimmt’s?« »Ich bin Mitglied der Episkopalkirche.« »Gratuliere.« Sie spürte Wut in sich aufsteigen und wollte sie an ihm auslassen. »Sie wollen meine Lebensgeschichte hören? Nun, das können Sie sich abschminken. Mehr, als ich Ihnen erzählt habe, werden Sie nicht zu hören bekommen. Die Bullen haben mich eingesperrt, weil ich splitternackt durch die Straßen gelaufen bin. Können sie mir erklären, warum? Ist das ein freies Land oder nicht? Ist es nicht«, antwortete sie, bevor er etwas sagen konnte. »Ich kann nicht meine Kleider ablegen, wann und wenn ich will. Ich kann ohne Paß nicht verreisen. Ich kann kein Pot rauchen. Ich scheiße auf Ihre Freiheit.« Er stützte sein Kinn auf eine Hand und schaute sie an, wartete, daß sie fortfuhr. »Himmel, Sie sind eine Nervensäge. Sitzen einfach da und starren mich an, erwarten wohl, daß ich mich öffne wie ‘ne Banane, die man schält. Ich soll wohl alles aus mir rauslassen, was? Vergessen Sie’s, Doktor.« »Zuerst dachte ich, ich hätte Sie richtig eingeordnet, Cindy.« »Ein Hippie, was?« »Nein, in Ihnen ist zuviel Zorn, um sich in dieser Szene wohl zu fühlen. Es ist nicht Ihr Stil, einfach auszusteigen. Sie wollen dabei sein, am Leben teilhaben.« »Ich will das System über Bord werfen, das ist meine Szene.« »Ich kann in Ihnen nicht den Kreuzzügler sehen, nicht die heiße Revolutionärin.« »Sie haben eben keine Ahnung.« »Ich weiß, daß Sie in Chicago waren und daß irgend etwas geschehen ist, während Sie sich in Europa aufhielten. Sie waren anwesend, aber eher Zuschauerin als Mitwirkende.«
»Ich habe aktiv für die Revolution gearbeitet«, sagte sie laut. »Ich habe mir Gedanken über den Zustand der Welt gemacht, und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß man den Menschen helfen muß.« »Manchmal werden die grausamsten Taten aus den besten aller Gründe begangen. Ich habe den Eindruck, daß Sie sehr grausam gegen sich selbst gewesen sind.« Die Wut stieg wieder in ihr hoch und mit ihr ein Unbehagen, das sie nicht unterdrücken konnte. Daran war nur dieser Vernon Miller schuld, dieser Klein-Sigmund. »Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit für Sie, Cindy. Wir fangen gerade erst an, Fortschritte zu erzielen.« Die ruhigen Augen schienen sie amüsiert anzuschauen. »Alle diese Märchen, die Sie mir erzählt haben, sind nicht sehr originell gewesen. Andere Patienten…« Sie war auf den Füßen, die Wut verraucht, und ohne Wut befürchtete sie, wehrlos zu sein, empfänglich für seine verführerische Art. Dieser Bastard war auch nicht anders als all die anderen. »Setzen Sie sich«, sagte er ruhig. »Ich bin nicht Ihre Patientin«, antwortete sie. »Ich bin niemandes Patientin.« »Ich bat Sie, sich zu setzen.« Sie zögerte noch einen Moment. »Warum nicht?« Sie grinste. »Sie sind gerissener, als ich gedacht habe, Vernon. Sehr trickreich. Ehe ich mich versehe, erzähle ich Ihnen auch noch, wie ich versucht habe, meinen Vater anzumachen, daß mein letzter Liebhaber…« Sie brach ab. Adam und Roy, Roy und Adam. Sie sah die beiden Gestalten vor sich, und plötzlich überlappten sie sich, wuchsen zusammen, als ob sie ein und dieselbe Person wären, unterscheidbar höchstens durch ihr Alter. Sie schüttelte sich und verdrängte das Bild. »Cindy«, sagte Vernon Miller. »Ich möchte Ihnen einen guten Therapeuten empfehlen. Falls er Sie annehmen kann, sollten Sie zu ihm gehen und…«
»In meinem Kopf ist alles in Ordnung. Nehmen sie es doch mal zur Kenntnis, Vernon, ich verstecke meine Probleme nicht im Dunkeln. Ich lasse meine Komplexe raushängen, damit jeder sie sehen kann.« »In dieser Umgebung…« »Vernon, ich tauge nicht für Ihre Couch…« »Sie lassen an mir Ihre Feindseligkeiten aus.« »Welche Feindseligkeiten? Wem sollte ich feindlich gegenüberstehen? Ich bin jung und gesund. Ich trinke ein bißchen zuviel, manchmal werde ich high von etwas Gras, ich reise gern, mische mich in Dinge ein, das ist meine Szene.« Er hielt ihrem Blick stand. »Wie oft haben Sie versucht, sich das Leben zu nehmen?« fragte er. Sie saß da und spürte, wie ihre Knie schwach wurden. Sie preßte sie fest zusammen, hielt sich ganz still, entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. »Das ist eine alberne Frage. Warum sollte ich mich umbringen wollen?« »Ja, warum?« »Mir gefällt das Leben, ich lebe gern«, sagte sie, und sie selbst empfand, daß sich die Worte leer anhörten. »Ich habe keinen Grund, mich umzubringen.« Er wiegte den Kopf von Seite zu Seite, dann nickte er. »Sie sagten, daß Männer Sie mögen. Mögen Sie auch Männer?« »Wow! Ihre Fragen werden immer schlimmer. Ich bin heiß darauf, verstehen Sie? Der ganze Sex ist wie für mich gemacht.« »Ich habe gefragt, ob Sie Männer mögen«, sagte er. Bevor sie antworten konnte, fuhr er fort: »Manchmal glaube ich, daß viel Sex eine Manifestation des Verlangens ist, Macht auszuüben.« »Sex macht Spaß.« »Gut, wenn es so ist. Ich möchte gern etwas über den Mann erfahren, der Ihrem Vater ähnelt.« Einen langen Moment wurde ihr der Sinn dessen, was er gesagt hatte, nicht bewußt. Dann wurde ihr Gehirn von Schuld und Scham überflutet.
»Was für ein Bastard Sie doch sind! Nicht nur Sie, ihr alle! Ich werde kein Wort mehr sagen.« Sie stand auf und ging zur Tür, blieb dort noch einmal stehen und drehte sich nach ihm um. »Sie werden es nie schaffen«, sagte sie ohne Gehässigkeit. »Ein protestantischer Gehirnklempner. Sie müssen Jude werden, Vernon, das ist Ihre einzige Chance.« Er antwortete ernst: »Ich werde darüber nachdenken.«
12
In der Empfangshalle kam ein exzellent geschneiderter blauer Nadelstreifenanzug aus einem Polyester-Woll-Gemisch auf Cindy zu. Das ausdruckslose Gesicht verbreiterte sich zu einem Begrüßungslächeln. »Hallo, Bob«, sagte Cindy. Er küßte sie auf die Wange. »Du siehst großartig aus.« »Wo ist Maggie?« Er faßte sie am Ellenbogen an. Sein Griff war fest, aber man spürte, daß keine Kraft dahinter lag. »Deine Mutter ist nicht mitgekommen, Cindy. Du weißt ja, wie sie über Krankenhäuser denkt.« Enttäuschung fraß sich in Cindy fest. Sie riß ihr eine frische Wunde. Jedes Mädchen sollte eine wirkliche Mutter haben. Draußen der elegante schwarze Mercedes, Bobs ganzer Stolz, eine seiner wenigen Freuden. Er half ihr auf den Rücksitz und setzte sich dann hinter das Lenkrad. Von ihrem klimatisierten Platz aus betrachtete Cindy die Welt da draußen, die geräuschlos an ihr vorbeihuschte. Bob war ein guter Fahrer. Er sprach nur wenig, wenn er hinter dem Steuer saß. Cindy war dankbar für das Schweigen, sie ließ sich ins Polster zurücksinken, schloß die Augen und versuchte, an nichts zu denken. Vor allem nicht an das zu denken, was vor ihr lag. Maggie telefonierte, als sie die Wohnung betraten. Sie hob eine Hand zum Gruß, machte aber keine Anstalten, ihr Gespräch abzubrechen. Cindy ließ sich in einen tiefen Sessel fallen, das Kinn auf der Brust, und starrte ihre Mutter an. Maggie warf ihr forschende Blicke zu. Während sie noch telefonierte, gab sie Cindy durch Gesten zu verstehen, daß sie sich
aufrecht hinsetzen und ihren Rock dezent hinunterziehen sollte. Cindy schaute in die Luft. An diesem Abend feierten sie Cindys Heimkehr im L’Etoile. Während sie beim Nachtisch angekommen waren, setzte Maggie eine ernste Miene auf und sprach Cindy mit mißbilligender Stimme an. »Da gibt es etwas, worüber wir reden müssen, meine Liebe.« Cindy widmete ihre Aufmerksamkeit dem Dessert. »Hör mir zu, Cindy.« »Ich höre, Maggie.« »Du mußt einsehen, daß dies eine sehr ernste Angelegenheit ist, Cindy.« »Ja, es ist wirklich ernst«, sagte Bob. Cindy schaute zuerst ihre Mutter, dann Bob an. Sie verzog keine Miene. »Du hast mir etwas Ernstes mitzuteilen, Maggie?« »Und deinen Sarkasmus kannst du dir sparen. Denk dran, ich bin deine Mutter.« »Ich denke dran«, murmelte sie. Ihre Mutter hatte immer auf diese Weise mit ihr gesprochen, tadelnd, mißbilligend. Sie hatte ihr immer vorgehalten, was sie tun sollte, wie sie sich zu verhalten hatte, und sie hatte stets heftige Konsequenzen angedroht, wenn sie nicht gehorchte. Und sie hatte recht gehabt. Sie und alle Eltern und Lehrer und dieser vertrottelte Gehirnklempner, all die Spießer: Die Konsequenzen waren heftig gewesen. Hört auf, mich zu nerven! »Es ist Zeit, daß du endlich erwachsen wirst«, sagte Maggie. »Und daß du dich dementsprechend aufführst.« »Warum?« »Hör auf deine Mutter«, sagte Bob in seiner Langweilerstimme. »Sie weiß, wovon sie redet.« »Du hast zu fliehen versucht…« Ja, ja! Sie hatte raus gewollt. Manchmal ist es wichtig, daß man davonläuft, daß man der Verwirrung entkommt, die auf einen einstürmt und die dir angst macht. Wenn dir der Kopf schwirrt, ist Davonlaufen eine gute Lösung. Was soll man denn sonst tun?
»… und nun sieh doch mal, wohin es dich gebracht hat«, fuhr Maggie fort, die Stimme immer noch voller Mißbilligung. »Du mußt mir dein Wort geben, dein Ehrenwort, daß du es nicht mehr nehmen wirst.« »Was?« »Dieses Zeug«, sagte Maggie. »Acid oder LSD oder wie immer ihr es nennt. Die Ärzte im Bellevue haben mir gesagt, als die Polizei dich abgeliefert hätte, wärst du außerhalb jeder Kontrolle gewesen und…« Diese widerlichen Kerle! Adam hatte ihr einen Drink gegeben, und später hatte einer der vier Männer ihr etwas eingeträufelt. Sie hatten sie auf einen Acid-Trip geschickt und kein Wort davon gesagt, es war ihnen egal, ob sie dabei draufging. »Du hörst nicht einmal zu«, rief Maggie wütend. »Tut mir leid, Mutter.« Maggie blickte sie strafend an. »Ein paar Martinis, das kann ich verstehen. Vielleicht auch ein bißchen Marihuana. Ja, ja, Bob, seien wir ehrlich, selbst erwachsene, reife Menschen rauchen heutzutage Gras. Aber ich werde nicht zulassen, daß du dich an LSD vergreifst, Cindy, oder an irgendwas anderem, womit du dich kaputtmachst. Das mußt du mir versprechen, daß du nicht mehr…« »Ich verspreche es.« Maggie lehnte sich zurück und führte ihre Serviette an ihre Lippen. Zufrieden nickte sie, nahm einen Schluck Kaffee. »Gut. Dann brauchen wir über dieses leidige Thema nicht mehr zu reden, stimmt’s?« Nein… Sie blieb in der Wohnung. Die meiste Zeit lief der Fernseher. Seifenopern an den Nachmittagen, Talk Shows und Filme bis in die Nacht hinein, bis Schlaftabletten ihre Wirkung zeigten. Wenn sie aufwachte, war Bob längst zur Arbeit gegangen, und Maggie bereitete sich auf ihre Verabredung zum Mittagessen vor, oder sie wollte einen Schaufensterbummel genießen, oder sie verfolgte
die Ziele irgendeiner der zahlreichen Organisationen, denen sie angehörte. »Du solltest irgend etwas tun«, sagte Maggie an einem Morgen, während sie ihr dreieckiges Gesicht zurechtmachte, um es der Welt da draußen zu zeigen. »Jedenfalls, bis du zurück zur Schule gehst.« Ich gehe nicht zurück zur Schule. Nicht zurück. Nie. »Wann mußt du dich einschreiben lassen?« »Im September.« »Erkundige dich nach den genauen Terminen. Ich sage Bob, er soll dich hinfahren. Natürlich wirst du auch neue Kleider brauchen. Warum nehmen wir uns nicht vor, nächste Woche einen ganzen Tag bei Saks zu verbringen? Sagen wir, Dienstag. Nein, ich glaube, Mittwoch wäre besser. Oder willst du lieber allein gehen? Das kannst du auch, wenn dir das lieber ist. Kaufe alles auf Rechnung und…« An einem Abend lag Cindy im Bett und schaute sich einen Spätfilm an, als Maggie nach Hause kam. Sie wirkte ein wenig mitgenommen, das enge schwarze Kleid sah zerknautscht aus, und ihr Atem roch nach Gin. Sie stellte sich zwischen Bett und Fernsehapparat und schaute ihre Tochter nachdenklich an. »Wir sollten Freunde sein, Cindy«, sagte sie wehmütig. Maggies unerwartetes Auftauchen löste in Cindy eine Flut widersprüchlicher Emotionen aus. »Andere Mütter und Töchter«, murmelte Maggie, »haben Beziehungen, sie reden miteinander. Warum sprichst du nie mit mir, Cindy?« »Was möchtest du denn hören?« »Da! Das ist genau das, was ich meine.« Maggie geriet ein wenig ins Schwanken, gewann aber wieder das Gleichgewicht. »Du kannst eine sehr grausame junge Frau sein.« »Das will ich aber nicht.« »Laß mich deine Freundin sein…«
Die offene Aufforderung bereitete Cindy Unbehagen. Am liebsten hätte sie ihr Gesicht in den Kissen verborgen, bis sie im Schlaf Vergessen fand. Sie wollte weg. »Gut, Mutter«, sagte sie ohne Betonung in der Stimme, »wir sind Freundinnen.« Maggies Mund wurde dünn wie ein Strich, auf steifen Beinen stakste sie zur Tür. »Du«, sagte sie über die Schulter, »kannst meinetwegen zur Hölle fahren.« Am folgenden Nachmittag verließ Cindy zum ersten Mal die Wohnung. Sie spazierte durch den Central Park, ging hinunter bis zum Midtown Theater und schaute sich Midnight Cowboy und danach Last Summer an. Die Filmwelt war voller unterdrückter junger Menschen, umgeben von einer feindseligen Gesellschaft. Nach dem dritten Film hatte sie genug, sie ging hinaus, spazierte hinüber zur Dritten Avenue und schaute sich die Menschen an, die draußen vor den Lokalen saßen und tranken. Es erinnerte sie an Paris; eine angenehme Erinnerung. Im Halbschatten sah sie ein vertrautes Gesicht, ihr Blick konzentrierte sich darauf. Es war Roy. Er saß da, nach vorn gebeugt, unterstrich fast jedes Wort mit den Händen, im Gesicht das James-Cagney-Grinsen, und seine ganze Aufmerksamkeit galt einem Mädchen, das gerade mal in Cindys Alter war. Ihr Vater schaute hoch, sah sie. Für eine Sekunde schoß Betroffenheit in die kleinen Augen, aber gleich darauf kehrte das alte Selbstbewußtsein wieder, und er gab Cindy mit einer großzügigen Geste zu verstehen, daß sie sich zu ihnen setzen sollte. Sie hastete an ihm vorbei und suchte sich ein anderes Kino. Ich komme mit dieser Welt nicht mehr zurecht… Filme und Museen. Museen vermitteln ihr die Erinnerung daran, zu welchen großen Dingen der Mensch fähig war.
Picassos Guernica im Museum of Modern Art. Melancholie erfaßte sie, Tränen schossen ihr in die Augen, und ihre Gedanken kehrten zurück zu ihren hohen Erwartungen und der niederschmetternden Erkenntnis, daß die Wirklichkeit ganz anders war. Idealismus hatte sie und Alain und die anderen nach Madrid getragen. Idealismus und Hoffnung, und als sie zerschlagen waren, hatte die Korruption eingesetzt. Draußen im Garten der Skulpturen steckte sie sich eine Zigarette in den Mund und suchte nach Streichhölzern. Ein rundgesichtiger Mann mit angegrauten Haaren trat auf sie zu, das Feuerzeug in der Hand. Es flammte auf, und sie hielt die Zigarette in die Flamme und zog. »Danke.« »Ich habe Sie oben schon gesehen.« »Oh…« »Sie sind sehr schön, deshalb sind Sie mir aufgefallen.« Keine originelle Eröffnung. Der grauhaarige Mann trat einen Schritt zurück. »Lassen Sie sich zu einem Drink einladen…« Warum nicht? Danach wechselten die Männer, daß sie sich gar nicht mehr an die Gesichter erinnern konnte, sie sah sie durch einen Nebel aus Alkohol und Pillen. Die Männer kamen, als würden sie von einem stillen und unsichtbaren Signal angezogen, das ihnen ihre Verfügbarkeit verriet. Es waren Männer jeden Alters, jeder Größe, jedes Standes. Nur ihre Wünsche waren gleich, ihr Verlangen. Sie wollten ihren Körper, ihre Brüste, ihre Lippen, ihre Scheide. Die Regeln waren klar, sie wurden mit puritanischer Strenge eingehalten. Sobald sie ihre Spermatozoen versprüht hatten, endete die Beziehung, sie zog sich an und ging. Es wurden keine Telefonnummern ausgetauscht, sie kannten sich nur unter fal-
schen Namen, und immer verweigerte sie ihnen die Intimität, bei ihnen zu schlafen. Wenn sie allein in ihrem eigenen Bett lag, begann sie zu träumen. Es waren unangenehme Träume voller Angst. Sie sah sich an fremden Orten, umgeben von fremd aussehenden Männern, die aufreizend, bedrohlich langsam auf sie zu kamen, sie einkreisten und dabei vulgäre Dinge sagten. Sie lief weg; und im Laufen blähte sich ihr Körper auf, eine groteske Verzerrung ihrer jungen Schönheit. Sie war häßlich und floh vor dieser Häßlichkeit. Sie wachte auf, setzte sich, zündete sich eine Zigarette an und schluckte eine Handvoll Pillen, die sie mit einem Schluck Scotch hinunterspülte. Sie weigerte sich, weiter über ihren Traum nachzudenken. An diesem Nachmittag wurde sie auf der Zweiten Avenue beinahe von einem Taxi überfahren. Eine Frau schrie ihr noch eine Warnung zu, und der bleich gewordene Taxifahrer schickte ihr einen Fluch nach. Sie betrat eine Bar und trank zwei Martini und ließ sich von einem Verlagsmanager, dessen Frau mit den Kindern in Maine Urlaub machte, in seine Wohnung abschleppen. An diesem Tag folgten noch drei weitere Männer; ein Lastwagenfahrer, der sie in einem Coffee Shop auflas und sie mit in seinen Truck nahm; ein Reservespieler der Yankees, der die Zeit totschlug, bis er bei seiner Mannschaft sein mußte; ein Klavierspieler in einer Pianobar in der Downtown. Es war Mitternacht, als sie das Zimmer des Klavierspielers verließ, und der Gedanke, jetzt in Maggies Wohnung zu gehen, verursachte ihr Übelkeit. Ihr fiel eine Singles Bar an der Ersten Avenue ein.
13
Rafe entdeckte sie zusammengerollt vor der Tür seines Studios und brachte sie zu Bett, küßte sie auf die Wange und schaltete das Licht aus. »Bitte«, rief sie leise hinter ihm her, »kannst du das Licht anlassen?« In den nächsten drei Tagen putzte sie das Studio, und sie bestand darauf, alle Mahlzeiten für ihn zu kochen. Sie ging auch auf den Markt, um günstig und frisch einzukaufen. Aber sie weigerte sich, über das zu sprechen, was mit ihr geschehen war und was sie wieder zu ihm gebracht hatte – niedergeschlagen und elend. Am vierten Tag spazierten sie nach dem Abendessen durch Greenwich Village, blickten in die Schaufenster und in die Gesichter der Leute. »Du mußt es mir sagen«, platzte es aus Rafe heraus. »Es gibt nichts zu sagen.« »Wieder ein Mann?« Sie starrte ihn an, die haselnußbraunen Augen groß und unbewegt, das schöne Gesicht regungslos. »Männer sind mein Untergang.« »Das ist absurd.« »Nein, es stimmt«, sagte sie mit mühsam erzwungener Ruhe. »Ich begehe einen langsamen Selbstmord. Ich habe nicht den Mut, es schnell zu tun.« Sie erreichten Washington Square Park und setzten sich auf eine Bank. Er legte einen Arm um ihre Schulter, und sie kuschelte sich mit dem Kopf an seine Brust. »Gib mir noch ein paar Tage, Rafe«, sagte sie, »bis ich ein bißchen klarer denken kann. Dann werde ich dir auch nicht mehr zur Last fallen und wieder gehen.« »Das will ich nicht.«
Sie setzte sich aufrecht hin, mied seinen Blick. Es wurde allmählich dunkel, eine Art purpurner Dunst legte sich über die Stadt. Die Menschen bewegten sich langsam, sie schienen von der Sommerlethargie erfaßt zu sein. Hinter dem Brunnen hatten sich ein paar Musiker versammelt; Cindy hörte das stete Trommeln von Bongos und mehreren Gitarren. »Cindy«, sagte er milde und gleichzeitig irgendwie gepreßt. »Ich habe dir gesagt, daß ich eine Therapie mitgemacht habe. Sie war schmerzlich, aber ich glaube, ich bin von einer Last befreit. Seit über einem Jahr habe ich keinen Jungen mehr angefaßt. Und es hat zwei Begegnungen mit Frauen gegeben.« Er nahm ihre Hand und drückte sie gegen seine Wange. Er lächelte scheu. »Nicht, daß ich mich plötzlich in einen sexuellen Champion verwandelt hätte.« Jetzt lachte er lauter, als ob er gegen seine Verlegenheit anlachen wollte. »Ich dachte… ich meine, unsere Beziehung war immer sehr eng. Ich weiß, daß ich dich liebe und…« »Und ich liebe dich, Rafe.« »Na, bitte!« rief er fröhlich. »Es gibt für uns nur eins zu tun – wir müssen heiraten.« Sie starrte ihn an, ohne ein Wort zu sagen. »Siehst du«, fuhr er dann fort, »es gibt nichts, was wir nicht voneinander wissen, das Gute und das Schlimme. Ich will das Leben üppig genießen, und ich weiß, daß du das auch willst. Wir können es gemeinsam tun, wir müssen nur wollen…« Sie blickte in das eckige, knochige Gesicht, suchte seine dunklen warmen Augen. »Was sagst du da, Rafe?« Er sog seine Lungen voll Luft. »Ich will, daß du mich heiratest, daß du meine Frau wirst.« Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken. Sie wartete, bis er vorüber war. Das alte vertraute Gefühl des Alleinseins überfiel sie wieder, das Gefühl des Verlorenseins. Sie sehnte sich danach, sich sicher zu fühlen, den Nackenschlägen des Lebens ausweichen zu können. Sie legte den Kopf an seine Schulter und sagte nicht nein.
Sie lebten in einer hellen Euphorie in Pink. Zwei Kinder, die Hand in Hand und furchtlos am windstillen Strand entlangliefen. Sie bat ihn um Zeit, damit sie sich an den Gedanken gewöhnen konnte. Sie wollte warten, bis ihr Verstand wieder zu leben begonnen hatte. Er stimmte gerne zu. Er gab ihr Geld und schickte sie, neue Kleider zu kaufen, damit sie nicht zurück in Maggies Wohnung mußte, aber wieder bestand er darauf, daß sie ihre Mutter anrief. Cindy rief an und legte rasch auf, als Maggie mit ihren Tiraden begann. Die Tage verliefen nach einem eingefahrenen Muster. Jeden Morgen stand sie mit Rafe auf und bereitete das Frühstück zu. Sie selbst trank nur Kaffee. Danach ging sie aus und kaufte sich die Times und studierte Wohnungsanzeigen. Sie wollten ein größeres Studio finden, eins, das eher für ein verheiratetes Leben geeignet war. Sie markierte die passendsten Angebote und klapperte sie alle ab, doch an jedem war etwas auszusetzen. Nicht genug Platz oder das falsche Licht, zu teuer, irgendwas. Danach ging Cindy einkaufen. Sie schaute mehr, als sie kaufte und kehrte rechtzeitig in die Barrow Street zurück, um Rafe den Wodka Martini zu bereiten. Sie selbst trank nur Wermut. Sie hatte erklärt, daß die Zeit ihres Trinkens vorüber war. Und sie entwöhnte sich allmählich von ihren Pillen. Es war eine gute Zeit, nur gelegentlich überkam sie ein Gefühl der Unbehaglichkeit, als ob ein tief im Inneren verborgenes Geheimnis an die Oberfläche zu dringen trachtete, ein Geheimnis, das sie wissen sollte. Aber sie gab sich keine Mühe, danach zu graben. Auch die Abende verliefen in harmonischer Atmosphäre. Sie gingen oft essen, zu O’Henry’s oder in die Mexican Gardens oder nach Chinatown. Aber nachts wurde sie regelmäßig wach, aufgerüttelt von einem Gefühl, daß irgend etwas Unfertiges unter ihrer Haut flatterte. Es beunruhigte sie zwar, aber gleichzeitig empfand sie auch etwas wild Triumphales dabei.
Ihr Verstand kämpfte gegen die Botschaften aus dem Bauch an. Und dann, eines Abends, als sie genüßlich in der Badewanne lag und sich behutsam und zart abtastete und berührte, wußte sie es. Sie wußte es einfach. Nichts war mehr wie vorher. Ihr Körper sprühte, als sie mit den Fingerspitzen darüber glitt, ihre nassen Brüste waren unverkennbar größer geworden, voller, wie mit Muttermilch gefüllt, und ihr Bauch war noch nie so vollkommen sanft gerundet gewesen. Später, viel später, als sie in der Lage war, sich dieses unglaublichen Augenblicks bewußt zu werden, staunte sie über ihre Gelassenheit und Ruhe, über ihre Beherrschung. Sie meldete sich bei einem Gynäkologen an. Er drückte ihren Bauch und untersuchte ihre Gebärmutter. »Wir können es noch nicht mit Sicherheit sagen, Miss Ashe. Aber wenn Sie wollen, können wir einen Test machen.« Sie verließ die Praxis und spazierte ziellos durch die Stadt, in ihren Gedanken verloren, gefangen von der Sensation in ihrem Körper. Sie erlebte eine Woge des Selbstbewußtseins. Sie schaute in die Gesichter der Menschen und wußte plötzlich, daß sie dazu gehörte. Es war, als hätte sie jetzt endlich ihren Platz gefunden. Die frühe Sonne wärmte ihre Wangen, und sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. Einige Leute schauten sie an und wichen ihr aus, aber andere lachten zurück. Von einem Moment zum nächsten schwand ihre Euphorie. Irgend etwas löste eine rasche Bilderfolge in ihren Gedanken aus. Es begann mit ihrer Mutter, dann BB und Dan Gregory, Alain, Tod Brightlight und all die anderen. Und David Altman. Sie sah eine Telefonzelle und wollte ihn anrufen, aber sie wußte die Nummer nicht auswendig. Sie erhielt sie von der Information. Sie rief seine Nummer an, er meldete sich. »David?« fragte sie unsicher. Er zögerte. »Bist du das, Cindy?« »David, ich möchte gern mit dir reden. Kann ich zu dir kommen?«
Er nannte seine Adresse, und sie wiederholte sie. Sie brauchte zwanzig Minuten bis zu seinem Büro, das aus zwei Räumen in einem alten Gebäude in den West Zwanzigern bestand. Ein paar junge Leute saßen an ihren Schreibtischen und tippten und kümmerten sich nicht um sie. Sie ging durch in das zweite Zimmer. David stand hinter seinem Schreibtisch auf und ging ihr entgegen. Er führte sie zu einem Stuhl. Er lehnte sich gegen den Schreibtisch und sah sie lange an. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er schließlich. »Du bist ein Pessimist.« »Du hast mich noch nie angerufen. Ich bin überrascht.« Sie lachte unsicher auf. »Ich bin nie sehr nett zu dir gewesen, David.« »Du bist Cindy für mich«, sagte er, »und das hat mir immer gereicht. Fast gereicht«, fügte er hinzu und lächelte. Er ging wieder um den Schreibtisch herum und setzte sich. Sie wollte zu reden anfangen, aber hielt gerade noch rechtzeitig inne. Auf einmal wußte sie, daß sie ihm von dem wachsenden Leben in ihrem Bauch erzählen mußte. Sie hob den Kopf. »Ich bekomme ein Kind, David.« Er sah sie nachdenklich an, und ihr wurde bewußt, daß er sie noch nie so lange angeschaut hatte. Ohne etwas zu sagen, ging er zu der Tür und drückte sie zu. »Bist du sicher?« fragte er, als er wieder an seinem Schreibtisch saß. Sie nickte. »Der Arzt muß den Test zwar noch auswerten lassen, aber das Ergebnis wird nur das bestätigen, was ich fühle.« Er atmete hörbar aus. »Dann ist es also noch nicht sicher.« Er hörte sich erleichtert an. Sie lächelte milde. »Mein Körper sagt mir die Wahrheit.« Er glaubte ihr. »Man sieht es dir an, wie du da sitzt und strahlst. Ich habe dich noch nie so schön gesehen.« Ernst antwortete sie: »Seit etwas mehr als einer Woche sehe ich so gut aus.«
»Sehr schön bist du.« »Ich werde eine Mutter sein, David. Ich werde ihn lieben und ihn richtig erziehen.« »Ihn?« »Ja, ich weiß, daß ich einen Sohn zur Welt bringen werde.« »Der Vater?« Sie sagte sanft: »Das Kind ist meins, David. Es wird uns gut gehen, meinem Kind und mir.« Er schob eine Haarsträhne zurück, die über seine Braue gefallen war, aber sie rutschte sofort wieder nach vorn. Sie hörte einen heftigen Unterton in seiner Stimme, als er fragte: »Warum bist du hier, Cindy? Was willst du von mir?« Sie lächelte ihn gewinnend an. »Ich dachte, du würdest mir helfen, David.« Er starrte sie an und sagte dann: »Du wirst doch bestimmt heiraten.« Sie schüttelte den Kopf. Tiefe Falten gruben sich in seine Stirn. »Ich verstehe, und du möchtest, daß ich dir eine Abtreibung besorge. Das kann ich nicht, Cindy. Es mag zwar jetzt legal sein, aber ich bin gegen Abtreibungen. Ich…« Sie lachte fröhlich. »O David, natürlich werde ich mein Baby bekommen.« Er wandte sich ab und sprach halb über die Schulter, wobei seine Stimme gepreßt klang. »Was willst du denn von mir? Ich weiß nicht, was du hier bei mir willst.« Plötzlich verstand sie und fühlte sich dumm und schuldbewußt. »O David, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich habe an dich als Freund gedacht, als guten, lieben Freund.« »Aber nicht als Mann, dem du etwas bedeutest.« Er drehte sich zu ihr um. »Was ich für dich empfinde, Cindy, nun, ich weiß nicht, ob es Liebe ist, aber es ist stark und hält an und wird immer stärker. Ich habe gleich von Anfang an stark für dich empfunden. Ich habe dir einmal gesagt, daß du irgendwann einmal in
die richtige Welt eintrittst, und daß ich dann eine Chance bei dir hätte. Heute weiß ich, daß das ziemlich albern von mir war.« In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken, und sie bemühte sich, die richtigen Worte zu finden. »David, es hat lange gedauert, bis ich dich richtig gesehen habe, bis ich begriffen habe, was du mir wert bist. Es ist mein großer Fehler, daß ich den Wert von Menschen nicht einschätzen kann. Ich habe ständig auf der Flucht gelebt. Es gab nur einen Mann, den ich wirklich geliebt habe, aber er war krank und starb, und so hatte ich wieder einen Grund zur Flucht. Aber jetzt laufe ich nicht mehr davon, David. Jetzt lasse ich mich auch nicht mehr ausnutzen. Von nun werde ich für mich und für mein Baby kämpfen. Ich werde lernen, mit erhobenem Kopf zu leben. Deshalb bin ich zu dir gekommen, David. Du hast mal von der Möglichkeit gesprochen, für dich zu arbeiten. Natürlich mußt du mir eine Menge beibringen, und dann mußt du mir freigeben, damit ich mein Baby bekommen kann, aber ich bin sicher, daß ich dir eine Hilfe sein würde, und ich erwarte auch nicht zuviel Geld…« Er schüttelte den Kopf. »Viel Geld verdienen wir alle nicht. Du könntest zu deiner Mutter gehen…« »Nein«, sagte sie schnell. »Nicht zu meiner Mutter. Ich will das allein durchstehen. Wenn du mir keinen Job geben kannst, okay, dann muß ich mir was anderes suchen.« Sie atmete tief durch und fuhr fort: »David, ich weiß jetzt, daß ich mir einen Mann wie dich wünsche. Aber ich kann nicht erwarten, daß du an einer Frau interessiert bist, die das Baby eines anderen bekommt. Ich möchte nur, daß wir Freunde bleiben.« »Wir sind Freunde«, sagte er. »Und das andere…« Er zuckte mit den Schultern. »Wir sind beide nicht so weit, das jetzt zu erforschen. Ich muß viel nachdenken.« Sie stand auf und ging zur Tür. David begleitete sie. »Komm am Montag wieder, dann arbeiten wir einen Plan aus. Du mußt angelernt werden, und ich erwarte, daß du dich anstrengst.«
Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Oh, darauf kannst du dich verlassen, David.« Am Fahrstuhl blieben sie stehen. Er küßte sie auf die Wange, dann verschwand sie in der Kabine. Sie freute sich auf Montag, sie freute sich auf die Geburt ihres Sohnes, auf die aufregende Erfahrung des Lebens. Rafe würde auf sie warten. Sie würde ihm sofort sagen, daß sie ein Kind erwartete, und sie würde ihm auch sagen, warum sie ihn nicht heiraten konnte. Das wäre wieder ein Rückzug gewesen, ein Verstecken hinter Rafe, ein Leugnen ihrer Verantwortung. Rafe würde verletzt sein, denn er liebte sie, aber mit der Zeit würde er ihre Beweggründe verstehen, und er würde ihr stets nahe bleiben. Rafe und David, beide voller Liebe und Menschlichkeit. Wie schön, zwei so gute Freunde zu haben. Es war dunkel, als sie in die Barrow Street einbog. Am Horizont sah sie einen dünnen silbernen Streifen zwischen zwei dunklen Wolkengruppen.
ENDE