Nelleke Noordervliet
Das Auge des Engels Roman
Deutsch von Franca Fritz und Heinrich Koop
Deutscher Taschenbuch Verl...
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Nelleke Noordervliet
Das Auge des Engels Roman
Deutsch von Franca Fritz und Heinrich Koop
Deutscher Taschenbuch Verlag
Von Nelleke Noordervliet ist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen: Der Name des Vaters ( 12010) Ungekürzte Ausgabe Februar 1996 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 1991 Nelleke Noordervliet und J. M. Meulenhoff BV, Amsterdam Titel der niederländischen Originalausgabe: ›Het oog van de engel‹
© 1993 der deutschsprachigen Ausgabe: Byblos Verlag GmbH, Berlin ISBN 3-929029-22-7 Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Gemäldes von Johann Heinrich Füssli Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany • ISBN 3-423-12133-5
»›Dein linkes Auge ist größer als das rechte. Was hast du gesehen?‹ – ›Ich habe gesehen, daß durch Reibung Elektrizität entsteht.‹ – ›Wissen macht häßlich, wußtest du das?‹« Sehnsucht nach Erkenntnis ist unziemlich für eine Frau, und die junge Elisabeth zahlt einen hohen Preis dafür: Ihr linkes Auge ist für immer entstellt. Als sie nach Frankreich fliehen muß und in den Pariser Salons ihre hellseherischen Fähigkeiten zur Schau stellt, wird es zum »Auge des Engels«, das die Wahrheit sieht und in die Zukunft blickt. Und sie erkennt: Auch der Kampf um die Menschenrechte kann mit den falschen Mitteln geführt werden. »Aus Historie, Philosophie und Literatur hat Nelleke Noordervliet eine einzige Geschichte geschrieben, die ebenso genau wie klug wie spannend und keineswegs Vergangenheit ist.« (Iris Junker in der ›Frankfurter Rundschau‹)
Die Flucht
1
Er fiel beim Essen vornüber in seinen Teller, als ob er einen plötzlichen Tod vorspielen wolle. In der Vereinigung »Gelehrsame Kurzweil« hatte er zu den besseren Schauspielern gezählt, aber nun klebten kleine Breiklümpchen in seinen zu weit geöffneten Augen. Der Trauerbesuch sagte am Mittag, daß ihm das Heimweh nach Haarlem den Geist zerbrochen hätte. Dadurch sei eine Ader geplatzt, und das Blut hätte sein Gehirn überschwemmt wie das Wasser die Äcker nach einem Deichbruch. Aber Elisabeth Lestevenon glaubte nicht an sentimentale Erklärungen. »Eine Apoplexie ist die Folge einer langsam abnehmenden Dehnbarkeit der Adern, wodurch ein schwacher Punkt im System leichter zerreißen kann«, sagte sie. »Es war nicht vorherzusehen, nicht zu verhindern, und es ist auch nicht wieder rückgängig zu machen.« Der Besuch erschrak vor ihrer Sachlichkeit und wandte sich der taubstummen Maaike zu, die wenigstens untröstlich war. Elisabeth wehrte alles Mitleid ab und zeigte keine Gefühle. Nicht einmal, um der Etikette zu genügen. Sie saß neben der Bahre und blickte vor sich hin. Außer dem Bild in ihrem Inneren gab es nichts, das seine Gesichtszüge festhielt: kein Portrait, keine Miniatur, kein Scherenschnitt. Und auch der lebendige, sich bewegende Mensch, der er einmal gewesen war, begann bereits in ihrer Erinnerung zu verschwimmen. Statt dessen sah sie einen drolligen Federbusch, der von seinem Hut stammte und nun zwischen seinen gefalteten
Händen steckte, den steifen Kragen, der die gelbliche Haut umspannte, die leicht geöffneten Lippen, hinter denen noch das letzte Wort zu schimmern schien und unter seiner knochigen Stirn die Augen, die sie geschlossen und nach innen gekehrt hatte; zu erschreckt hatten sie in die Ewigkeit gestarrt. Er war zu einem Äffchen aus Elfenbein geworden, das nichts Böses mehr sah, hörte oder sprach. Sie schämte sich, weil sie die rituellen Worte nicht sprechen konnte, die die Lebenden den Toten nachrufen. Er war gestorben in der Überzeugung, daß ihr Gebet seine Seele ein Stück begleiten würde, aber schon als sein Kopf den Teller berührte, war er unerreichbar weit fort. In der Nacht wachte sie neben ihm. Maaike war erschöpft eingeschlafen, und die Freunde hatten sich verabschiedet. Nur eine Kerze brannte. Es war still. Das Blut pochte ihr im Kopf. Die Bestimmung des Menschen war nicht das, was dort lag, sondern das, was sie fühlte: Leben und alles, was Leben ausmachte. Sie existierte, sie lebte. Sie war zwanzig. Nur das zählte. Elisabeth dachte über die Seele nach. War es ein Fluidum, eine unsichtbare Teilchenwolke, eine Kraft? Hing Vaters Seele noch in den Gardinen, wie Maaike glaubte? Die war plötzlich in Panik geraten und hatte alle Fenster aufgerissen, um ihn zu befreien. Elisabeth lächelte. Dank des Toten war sie in der Lage, wissenschaftliche Erklärungen zu finden für Vorgänge, die für die meisten anderen Menschen Teil eines großen Mysteriums blieben. Er hatte sie das Maß und die Zahl aller Dinge gelehrt und dabei immer das Lob Gottes gesungen, der erkennen ließ, was erkennbar war. Unbekümmert setzte er den Fortschritt in Wissenschaft und Technik gleich mit der Vollendung des Menschen durch den Willen Gottes. Der Beweis für die Existenz Gottes ist die Güte, mit der Er alles in der Natur für einen bestimmten Zweck geschaffen hat, sagte er.
Er lag scheinbar bewegungslos da, aber in ihm arbeiteten Kräfte, die den Zusammenhalt seines Körpers zerbrachen. Sterben beginnt erst nach dem Tod, dachte Elisabeth, und sie sah unter der vorläufig noch geschlossenen Haut die beginnende Trennung in Gase, Flüssigkeiten und feste Stoffe. Wenn er erst einmal unter der Erde lag, würde sein Körper aufbrechen wie Fallobst, und Tiere würden durch seine Augen hineinkriechen. Sie forderte Gott auf, ihr zu beweisen, daß seine Seele sicher an dem Ort angekommen war, an den er sich in seinen Gebeten sein ganzes Leben lang gewünscht hatte. Sie lauschte, hörte aber nur Erinnerungen. Das Knistern von frischem Papier, das Aufschneiden eines Bogens, sein Murmeln bei der Kontrolle einer Druckfahne. Gedruckte Buchstaben klingen anders als handgeschriebene, sagte er. Und jeden Abend las er vor. Er wog das Buch in seiner Hand, schlug es auf und roch daran, blätterte bedächtig bis zu der Stelle, zu der er gekommen war, und begann. Im Winter las er schwere Kost, Rindertalg für den Geist, aber an Sommerabenden, an denen der grüne Geruch von Bakenessergracht und Spaarne durch die offenen Fenster hereinwehte, begleitet von den Geräuschen der Vögel, Hunde und Kinder und dem Plätschern der Riemen im Wasser, las er gern Reiseberichte, in denen fremde Völker entdeckt und den edlen Wilden die Botschaft des Fortschritts und der Güte Gottes verkündet wurde. Sonntags nach dem Gottesdienst nahm er seine Töchter mit auf lange Spaziergänge, die entlang der Bleichereien und der Brouwersschleuse bis in die Dünen führten. Er liebte dieses öde Gebiet, das gerade noch die Trennung von Wasser und Land erkennen ließ. Manchmal faltete er seine langen, hageren Gliedmaßen zusammen und zog sie beide zu sich herunter in das Dünengras. Dann saßen sie lange still und warteten auf Kaninchen, Füchse oder ein Rudel Hirsche. Eines Tages fanden sie eine Drossel, die sich in
einem dornigen Strauch verfangen hatte. Dennoch sang der Vogel und ließ sich durch nichts davon abhalten. Vater befreite ihn vorsichtig und legte ihn in Maaikes Hände. Das braungefleckte Kehlchen zitterte. Das war Glück: der blaue Himmel, der warme Sand, der würzige Duft von Weinrosen und die sprachlose Verwunderung in Maaikes Augen, die zwischen ihren Händen ein Geräusch fühlen konnte. Einen Moment lang füllte dieses Bild die Lücke, die der Tod geschaffen hatte.
Wie gut seine Erziehung auch gemeint war, sie verurteilte Elisabeth zur Einsamkeit. Wären ihre Mutter und die beiden zwischen ihr und Maaike geborenen Brüder noch am Leben, hätte sie einen Kreis von Freundinnen zum Schwatzen, Nähen und Musizieren gehabt und einen standesgemäßen Ehemann, einen reichen Bandweber oder einen armen Junker. Statt dessen las sie Algarottis Il Newtonianismo per le dame und berechnete die Kräfte, die zwei Körper aufeinander ausüben. Sie zählte Staubblätter und Stempel und lernte, daß die Menschheit durch Wissenschaft und Technik aus ihrem hilflosen Zustand der Armut und des Unwissens befreit werden würde. Elisabeth lebte in zwei Welten, der der Erkenntnis und der der Frauen, und deshalb in keiner von beiden. Eine Frau brauchte nicht mehr zu wissen, als für eine galante Konversation über die neuesten Erfindungen notwendig war; sie mußte Unwissenheit vortäuschen, um den Mann nicht bloßzustellen. Einem Blaustrumpf wurde überall mißtraut. Keine vertraulichen Geheimnisse von Ohr zu Ohr, kein Gespräch über Modefragen und keine Mütter, die ihre Söhne unauffällig in ihre Nähe schoben. Elisabeth versteckte ihr Wissen nicht, und obwohl man sie in den Kreisen der
bürgerlichen Haarlemer Gesellschaft als gute Partie betrachtete, blieben die Heiratsanträge aus. Zu einem gelehrten Geist gehörte ein beklagenswerter Körper. Elisabeth wirkte nicht wie die anderen Milch-und-Honig-Kaufmannstöchter. Sie war größer als die meisten Mädchen ihres Alters, dabei aber keineswegs spindeldürr, und ihre ganze Haltung trug ihr mißtrauische Blicke ein. Die dunklen Augen und der matte Teint verrieten ihre südländische Herkunft. Maranenblut, hieß es. Das schreckte die Bleicher und die Bierbrauer ab. Ihre Schönheit erweckte kein Vertrauen, kein Verlangen, sie zu besitzen, sondern nur den Wunsch, sie zu verletzen. Nach ihrem achtzehnten Geburtstag befreite sie sich mehr und mehr von der sanften, aber stets spürbaren Führung ihres Vaters. Dabei wußte sie nicht einmal, welche Ziele sie sich setzen sollte. Elisabeth wurde unruhig. Sie wollte nicht zurück in den Zustand der Unschuld und Ajourarbeiten; aber ebensowenig lockte sie ein Schattendasein an seiner Seite, bei dem sie sich zufrieden geben mußte mit den Abfällen seines Geistes und den Büchern, die er las. Eine Stunde vor Beginn des Experiments schlich sie sich unbemerkt in Teylers Ovalen Saal, stieg über die Treppe auf die Galerie und kroch in einen der halbleeren Bücherschränke. Es roch hier noch nach Harz und frischem Holz. Sie wußte, daß man norwegische Dielen verwendet hatte, kein Danziger oder Memelner Holz. In diesem Holz steckten weit entfernte Wälder und fremde Städte; es war vom Wasser reißender Flüsse durchtränkt und von vielen Händen bis an diesen Ort gebracht worden, an dem es für die nächsten Jahrhunderte festgenagelt lag. Licht fiel durch die gewölbten Dachfenster nach innen, und sein Goldton wechselte langsam ins Grau. Die Umrisse und Zeichnungen der Stuckgirlanden – fröhlich, aber stilvoll, wie es sich für einen Tempel des aufgeklärten Wissens
gehörte – verblaßten, Schränke wurden zu Höhlen, und das Knacken des Holzes klang lauter. Elisabeth wartete. Ein Diener zündete Kerzen an. Nach und nach betraten die Gäste den Saal, die Herren von Teylers Zweiter Gesellschaft und die Vorstandsmitglieder der Stiftung, zu denen auch Elisabeths Vater zählte. Sie hatten sich trotz des exorbitanten Preises zur Anschaffung einer in Europa einzigartigen Elektrisiermaschine entschlossen und wollten nun auch mit eigenen Augen sehen, wozu diese Apparatur fähig war. Zu Elisabeths Schrecken kamen einige von ihnen auf die Galerie, um ungehindert zuschauen zu können. Sie kroch tiefer hinter die Planken. Ihre größte Angst bestand nicht darin, entdeckt zu werden, sondern nachher nichts mehr sehen zu können. Sie mußte niesen und hielt sich die Nase zu. Van Marum, Arzt von Beruf und uomo universale aus Berufung, hielt als Direktor des Museums eine einleitende Ansprache. Seine Stimme mit ihrem unüberhörbaren Groninger Akzent war ebenso durchdringend wie sein Blick. Auf sein Zeichen entfernten zwei Männer das hölzerne Futteral, das den zerbrechlichsten Teil der Maschine schützte. Elisabeth steckte ihren Kopf aus dem Schrank und spähte vorsichtig nach unten. Alle Einzelteile der Installation waren in eine Anordnung gebracht worden, die äußerste Präzision erahnen ließ. Aus vier Mahagonisockeln wuchsen Kupferstangen mit kupfernen Hanteln und Kugeln, groß wie Kinderköpfe. Zwei standen zu beiden Seiten und zwei in der Verlängerung einer Achse, die durch zwei gläserne Platten führte und in einer Kurbel endete. Die Glasplatten hatten einen Durchmesser von mehr als eineinhalb Metern und waren speziell in St. Gobains bestellt worden, der weltweit einzigen Schleiferei, die solche Platten anfertigen konnte. Ihre unversehrte Ankunft war ein beinahe noch größeres Wunder als ihre Größe. Die Ober- und Unterkanten der Platten ruhten
in acht mit Pferdehaar gefüllten und mit Amalgam überzogenen Kissen. Am anderen Ende des Saals stand eine Batterie von Leidener Flaschen, aus denen Kupferstangen herausragten, die wie die Stäbe eines riesigen Regenschirms in einem faustdicken Knoten endeten. Kupfer und Holz waren glänzend poliert und strahlten Kraft aus. Elisabeth vergaß die Steifheit in ihren Gliedern. Während der Diener einige Kerzen löschte, stellten sich zwei Helfer an die Kurbel und brachten die gläsernen Platten knirschend in Bewegung. Ein Summen, Singen und Stöhnen erfüllte die Luft und hallte durch den Saal, als ob ein Ungeheuer zu sprechen begann, das jahrelang geschwiegen hatte. Vorsichtig kroch Elisabeth dichter an die Balustrade. Ihr Blick war auf den leeren Raum zwischen den Hanteln gerichtet. Dort würde es geschehen. Das schneidende Geräusch schmerzte ihr in den Ohren und bohrte sich in jede Faser ihres Körpers, bis es ihr so vorkam, als ob sie es selbst erzeugen würde. Ihre Hände krampften sich um die Eisenstangen; sie krümmte sich vor Angst. Ein blauer Feuerstrahl knallte durch den Raum. Elisabeth schloß die Augen, während immer neue Lichtblitze explodierten. Jemand rief: »Die Nadel bewegt sich.« Im Saal verbreitete sich ein eigenartiger Geruch: die Bleichereien nach einem Gewitterschauer. Die erschöpften Männer ließen die Kurbel los. Die Glasscheiben drehten sich langsamer, und ihr Singen ging allmählich in ein Flüstern über, das schließlich erstarb. Van Marum machte eine triumphierende Geste, als wolle er eine Kirmesattraktion anpreisen. Die bauchigen Herren mit ihren frisch gepuderten Perücken applaudierten und riefen: »Bravo.« Man entzündete die Kerzen wieder, und der erste Mann, der die Galerie verlassen wollte, stolperte über die regungslose Elisabeth.
»Ein blinder Passagier«, rief er, während er ihr aufhalf. »Elisabeth Lestevenon.« »Schande!« Elisabeth heuchelte eine demütige Haltung und wurde nach vorn gebracht. Aber die Unbefangenheit, mit der sie Van Marum ansah, entging ihm nicht. Sein Blick schoß plötzlich zwischen ihren beiden Augen hin und her. »Dein linkes Auge ist größer als das rechte. Was hast du gesehen?« »Ich habe gesehen, daß durch Reibung Elektrizität entstanden ist.« »Wissen macht häßlich, wußtest du das? Du mußt dich nur umschauen.« Er zeigte auf die Brokatwesten. Einige Männer lachten, aber die meisten sahen sie mißbilligend an. »Jemand sagte, daß die Nadel sich bewegt. Das habe ich nicht verstanden«, sagte Elisabeth. »Du sollst auch nichts verstehen«, sagte Van Marum. »Hast du Schmerzen am Auge?« »Nein«, sagte Elisabeth. Lestevenon nahm seine Tochter mit nach Hause, sagte aber kein Wort. Diese Demonstration von Unabhängigkeit stand zwischen ihnen, ohne daß darüber gesprochen wurde oder sich am äußerlichen Einvernehmen zwischen Vater und Tochter etwas änderte. Die Welt gutgelaunter Sammler und Philosophen, in der Elisabeth aufwuchs, verstand die Zeichen der neuen Zeit und forderte in der Verwaltung von Stadt und Land Mitspracherecht für alle Bürger, also für alle niederländischen Männer, die hohe Steuern bezahlten. »Haarlem verludert«, sagte Vater, »aber der Rat teilt nur Suppe an die Armen aus und wartet auf bessere Zeiten!« Mißerfolge und Trägheit säten Unfrieden und Aufsässigkeit und ebneten den Weg für
Lestevenons Partei, die sich angesprochen fühlte von der Flugschrift: »An das Volk der Niederlande.« Der Sommer des Jahres 1787 war ereignisreich. In vielen Städten, darunter auch in Haarlem, hatten die Patrioten rebelliert und die Macht an sich gerissen. Der Statthalter wurde aus Den Haag verjagt, und Elisabeth und ihr Vater hofften, daß sich nun alles zum Besseren wenden würde. Aber Oranien schlug mit Unterstützung von England und Preußen zurück. Zwar hatte Frankreich den Patrioten Unterstützung versprochen – nicht aus Überzeugung, sondern weil es die internationalen Verhältnisse ratsam erscheinen ließen – aber aus Geldmangel kam es dieser Zusage nur zögernd nach. Bei Vreeswijk lieferten sich Oranje-Soldaten und patriotische Freikorps eine Schlacht. Prinzessin Wilhelmina wurde bei Goejanverwellesluis gefangengenommen, und preußische Heere marschierten ein. Haarlem entsandte fünfzig Freiwillige für das Utrechter Freikorps, das den ersten Angriff auffangen mußte, sowie einhundert Waisenjungen, die an den Kanonen helfen sollten. Elisabeth stand mit ihrem Vater und Maaike in der Menge auf dem Großen Markt und gab den Jungen das Geleit. Sie jubelte mit ihnen und winkte ihnen nach. Sie sah sich selbst in den Krieg ziehen. In dieser Zeit bekam sie zum erstenmal Kopfschmerzen und Schwindelanfälle. Van Marum konstatierte einen Blutstau am linken Auge und verordnete ihr einen Aderlaß. Als das nichts half, sollte sie mit nassen Tüchern auf dem Gesicht schlafen. Danach versuchte er es mit einer Diät aus Milch und Gemüse, und schließlich gab er ihr Opium.
Auf der Warmoesstraat schien ihr die Spätsommersonne genau ins Gesicht. Die runden Kopfsteine warfen lange Schatten. Ein Fenster öffnete sich und reflektierte plötzlich das Licht.
Geblendet suchte Elisabeth Halt an einem Fensterrahmen. Als sie ihre Augen wieder öffnete, war sie von Bettlern umringt, die ihr grinsend ins Gesicht sahen und ihr die Hände entgegenstreckten. Wollten sie ihr helfen oder um Almosen betteln? In ihren Bärten klebte Dreck, und über ihre Köpfe liefen die Läuse. Rot entzündete Augen. Sie stanken nach Bier und den Pinkelecken auf dem Parlaarsteeg. Für Prinz und Preußen, riefen sie, oder bist du ein Kees? Keesteef, Patriotenhure! johlte einer. Laß sehen, ob sie auch huren kann, rief ein anderer. Sie brüllten und heulten vor Lachen, bis ihnen der Speichel aus dem Mund tropfte. Einer der Kerle versuchte, ihre Röcke hochzuheben. In einem wilden Wirbel drehten sich vor ihr die Köpfe mit den weit aufgesperrten Mäulern, in denen abgebrochene Zähne standen und Zungen wie Tiere hinund herglitten. Warum half ihr niemand? Sie öffnete ihren Mund, um zu schreien, aber es kam kein Ton heraus. Dies war ein Traum, aus dem sie sich wachkämpfen mußte. Sie blickte starr geradeaus, als ob sie ein Loch in den Schleier des Traumes brennen wollte. Zu ihrer Überraschung schraken die Bettler zurück. Einer hob abwehrend seine Arme, ein anderer zischte etwas. Dann verschwanden sie hinkend und stolpernd um die Ecke des Ausgangs. Verängstigt lief Elisabeth nach Hause. Es bereitete ihr Sorgen, daß sie in manchen Momenten Wachen und Schlafen nicht voneinander unterscheiden konnte, aber noch mehr beunruhigte sie der drohende Bürgerkrieg. Der Pöbel war auf Seiten von Oranien. Der wirtschaftliche Rückgang hatte ihn zuerst und besonders hart getroffen, während die Herren immer noch auf Samt saßen. Der Prinz zeigte sich gern als Beschützer des einfachen Volkes, und dieses fühlte sich bestärkt durch die näherrückenden prinzentreuen Truppen. Sie fand ihren Vater in der Druckerei über den Setzkasten gebeugt
und erzählte ihm, was geschehen war. Sie mußten einen sicheren Fluchtweg in die österreichischen Niederlande oder nach Frankreich finden, schließlich wußte niemand, was geschehen würde, wenn die Repressalien einsetzten. Die Druckerei würde eines der ersten Ziele sein, warnte, sie ihn. Aber er wollte von einer Flucht nichts hören, denn flüchten hieße Schuld bekennen. Als im September die Preußen vor der Stadt standen und das Volk sich mit Schnapsflaschen und Betteltrögen zur Plünderung patriotischen Eigentums aufmachte, entschied er sich dennoch, dem Vorbild einiger Freunde zu folgen und nach Süden zu gehen. Vor etwa einhundert Jahren, als der Flüchtlingsstrom – französische Hugenotten – von Süden nach Norden zog, war ein Zweig der Familie Lestevenon im Artois steckengeblieben. Dorthin würde man gehen können, um ein neues Leben zu beginnen oder abzuwarten, bis Haarlem wieder sicher war. Außer ihrem Geld und einigen Kleidungsstücken konnten sie fast nichts mitnehmen, aber Lestevenon wickelte auch die Uhr, die er selbst gemacht hatte, in eine Decke.
Elisabeths Welt, die bis dahin so schmal gewesen war wie der Streifen zwischen der Spaarne und dem Meer, öffnete sich wie ein Vorhang – mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der das Pferd ihre Schute über das Wasser zog. Zu Anfang sah sie nicht viel mehr als hohe grüne Ufer, über denen täglich ein anderer Himmel lag, und hin und wieder die wippenden Hüte einiger Reiter. Das Deck war überfüllt mit Kaufleuten, Hausierern und Flüchtlingen, die sich als gewöhnliche Reisende ausgaben, Tonpfeifen rauchten, Preußen und Patrioten in einem Atemzug verfluchten und verängstigt blickten, wenn man nach ihrem Reiseziel fragte.
An jeder Anlegestelle wurden die Gerüchte erschreckender: der Prinz zurück in Den Haag und Amsterdam gefallen. Brandstiftung, Vergewaltigung, Mord. Verräter wechselten ihre Kokarden. Oranien überall. Lestevenon hielt sich von den aufgeregten Gesprächen fern. Zwischen den bäuerlichen Mitreisenden wirkte er wie ein Priester aus gutem Hause: lang, mager, bleich, ganz in Schwarz und mit einem Dreispitz bekleidet, aber ohne Perücke. Sein dünnes schwarzes Haar wurde im Nacken von einer schwarzen Samtschleife zusammengehalten. Er saß kerzengerade da und hielt Maaikes Hand in seiner. Niemand wagte es, ihn anzusprechen. Die grobe Sprache, die einige Mitreisende führten, ließ ihn noch steifer werden. Mit seinen kurzsichtigen Augen, einer alten Druckerkrankheit, blickte er nachdenklich auf die Landschaft, in der Elisabeth ihm die Türme beschrieb. Wenn Stille eintrat, hörte man die Spaarne fließen und die Glocken von St. Bavo läuten. Vater suchte sein Heil in einer geflüsterten Fortsetzung von Elisabeths Unterricht. Er nannte ihr Zahlen über die Rinderpest, die schon jahrelang wütete, sagte, daß das Licht der Sonne etwa sechs Minuten benötige, um die Erde zu erreichen, so daß der Mensch in einem ewigen Zeitrückstand lebe, berechnete die erhöhte Geschwindigkeit der Schute für den Fall, daß zwei Pferde sie ziehen würden. Und jede Zahl, die er nannte, schrieb er gleichzeitig mit seinem Zeigefinger auf den Stoff seiner Hose. Bei Rijnsburg behandelte er Spinoza und bei Leiden Boerhaave. Mit Zahlen und Worten harkte er die Welt zusammen. Elisabeth blickte um sich und wunderte sich über die Formen, die das Leben annahm. War dies alles Teil des Großen und Erkennbaren Plans? War hier der Leendert Viervant einer höheren Macht am Werk, ein Baumeister, der die Krümmung des Himmelsbogens berechnete, täglich sein Bauwerk
vervollkommnete und Einblick gewährte in Sein Vorhaben? Oder las der Mensch Geheimnisse, die er nicht lesen durfte? Was lag verborgen hinter dem Meßbaren? Eine Postkutsche ersetzte die Treckschute. Die Landschaft blieb flach, aber sie war gelblich und ohne den Glanz des Wassers. Die Wälder wurden dichter und die Wege trockener und sandiger. Das Reisen schien zu einem Ziel an sich geworden zu sein und keine Flucht. Die Zeit war aufgehoben. Ab Bergen op Zoom reisten sie in der Gesellschaft eines Goldschmieds aus Schoonhoven, der schon bei Woensdrecht erzählte, daß er seine ganzen Waren im doppelten Boden seiner Tasche versteckt hatte und bei seiner Abreise eine Frau und sieben Kinder zurückließ. »Die werden schon zurechtkommen, und wenn sie dafür betteln gehen müssen«, lachte er. »Ich hatte genug von Kindern und Windeln und dem Gravieren von Hochzeitspfennigen und Taufbechern. Ich möchte auch einmal ein schönes Collier anfertigen. Und in Frankreich gibt es genügend Kunden dafür.« Er zwinkerte ihnen zu. Verstanden sie seine Anspielung auf die Affäre mit der Diamantenkette, durch die die französische Königin in Verruf geraten war? »Die Angelegenheit hat den Juwelier doch nur Geld gekostet«, sagte Lestevenon. »Nun ja, der Boden wurde mir in Holland sowieso zu heiß unter den Füßen.« »Seid Ihr vor den Preußen geflohen?« fragte Elisabeth. »Ja, ja, Kind, natürlich bin ich geflohen. Ich lasse doch nicht so einfach meine Familie im Stich. Natürlich bin ich geflohen.« Er holte ein Tuch aus seiner Tasche, wickelte einen dicken Bückling aus und begann zu essen. »Auch ein Stück?« Er hielt Elisabeth den Lappen hin, auf dem der Fisch lag und sie mit glasigen Augen verwundert
anstarrte. Ihr wurde schlecht von dem Gestank, und sie schüttelte verneinend den Kopf. Ein magerer Junge von etwa fünfzehn Jahren, der neben dem Goldschmied saß und zu einer kranken Frau gehörte, die in einer Ecke der Kutsche am Türrahmen lehnte, schaute verlangend auf den Bückling. »Darf ich, bitte?« fragte er höflich. »Ich habe solchen Hunger.« Der Goldschmied sah ihn kurz an, schlug das Tuch zusammen und steckte den Fisch zurück in die Tasche. Dann wedelte er mit seinen Fingern unter der Nase des Jungen umher. »Du darfst riechen.« Er schüttelte sich vor Lachen. »Wenn wir heute abend keinen Platz mehr in der Herberge bekommen«, fuhr er fort, »was durchaus möglich wäre, weil so viel Volk unterwegs ist, dann weiß ich noch eine Möglichkeit.« Er nickte Elisabeth und ihrem Vater beruhigend zu, zeigte auf Maaike und fragte: »Kann die nicht reden?« »Nein«, sagte Elisabeth. »Hätte ich nur so eine Frau gehabt«, sagte der Mann und lachte wieder laut. Dann rülpste er, faltete die Hände über seiner Reisetasche und nickte ein.
Es gab keinen Platz mehr in der Herberge. Auch nicht im Stall. Auch nicht für gutes Geld. Lestevenon nahm das Angebot des Goldschmieds an, unter der Bedingung, daß der Junge und seine Mutter mitkommen durften. »Warum auch nicht. Aber es wird sofort bezahlt, mein Neffe hat schließlich keine Wohlfahrtseinrichtung.« In der Dämmerung brachte er sie zu einem alten Bauernhaus. Der Junge mußte seine Mutter stützen. Der Neffe des Goldschmieds forderte einen viel zu hohen Betrag für einen
Schlafplatz auf dem Heuboden zwischen Wanzen, Spinnen und Mäusen. An ein Bett für die kranke Frau war nicht zu denken, und für das Essen mußten sie extra bezahlen. Der Junge besaß kein Geld mehr. Lestevenon gab ihm genug für die Unterkunft und zwei Teller Brei. Ohne seiner Mutter etwas davon anzubieten, aß der Junge sie leer. Lestevenon sagte, daß sie dankbar sein mußten für ein Dach über dem Kopf. Gott hatte das Beste für sie im Sinn. Er breitete ihnen ein Bett aus, half dem Jungen und seiner kranken Mutter, betete mit ihnen und sagte leise: »Das eitle Spiel treibt fort, gleich einem Traum. Dann ist’s vorbei; das Leben stört es kaum.« Elisabeth konnte nicht schlafen. Weshalb lag sie hier? Wo waren die Bakenessergracht und das Bett, von dem aus sie an der hölzernen Decke die Spiegelungen des Wassers erkennen konnte? Und wenn sie zu Hause geblieben wären? Konnte etwas noch schlimmer sein als dies hier: ein fremdes Haus und eine unsichere Zukunft? Sie hörte, wie sich Maaike im Heu umdrehte. Sie war bei ihr. Vater war bei ihr. Etwas anderes brauchte sie nicht. Es war ein Abenteuer. Alles, was feststand, hatte sich losgerissen. Was für sich sprach, schwieg. So war es gut. Sie hatte Durst und kletterte die Leiter herunter auf der Suche nach einem Schluck Wasser. Die Nachtluft war frisch. In der Ferne bellte ein Hund den Vollmond an. Umkreist die Erde in achtundzwanzig Tagen, zeigt stets dieselbe Seite, dachte sie mechanisch, verursacht Ebbe und Flut, auch wenn die meisten Menschen das noch nicht glauben wollen. Mit dem bloßen Auge sind die ausgetrockneten Seen und die Vulkankrater erkennbar. Sie beugte sich über den Brunnen und schöpfte mit der Hand ein wenig Wasser aus dem Eimer, der über dem
Rand hing. Der Goldschmied kam, schwankend vom vielen Bier, aus dem Vorderhaus und zog eine kichernde Frau an den Armen mit sich über den Hof. Elisabeth duckte sich hinter den Brunnen. Ungesehen konnte sie nicht mehr zurück. Er drückte die Frau außer Sicht des Hauses gegen die Stallwand und zog ihr das Tuch von den Brüsten. Mit schnellen Bewegungen öffnete er seine Hose, während sie ihren Rock bis über die weißen Schenkel hochhob. Elisabeth sah, wie er sein Glied in sie hineinstieß. Die beiden bewegten sich und keuchten, als ob sie in Eile wären, aber nicht vom Fleck kommen könnten: die Hände des Mannes griffen nach den Brüsten der Frau, sie schlug ihre Arme um ihn und bestimmte den Rhythmus des statischen Tanzes. Elisabeth fühlte ein Jucken in der Nase. Sie nieste so leise wie möglich und schaute atemlos zu. Nach einem erstickten Schrei des Goldschmieds erstarrten dessen Bewegungen. Sie hörte sein fettes Lachen. Er knöpfte die Hose zu; die Frau schob ihre Brüste wieder in ihr Kleid; er gab ihr einen Klaps auf den Hintern und ging in den Stall, während sie im Vorderhaus verschwand. Als Elisabeth einige Zeit später auf den Heuboden zurückkroch, lag der Goldschmied in seiner Ecke und schnarchte. Am nächsten Morgen war die Mutter tot, der Junge verschwunden und die Reisetasche des Goldschmieds gestohlen. Er war wütend und beschuldigte Lestevenon der Mittäterschaft. Auf dessen Bitte hin hätte er dem Dieb eine Unterkunft verschafft. Lestevenon antwortete, daß er den Jungen nicht kannte und das Geschehene auch nicht vorhersehen konnte: der Junge sei sicher durch den Tod der Mutter in Panik geraten und würde mit seiner Beute nicht weit kommen. Wenn er mit einer Anzeige oder durch eine Zeugenerklärung helfen könne, würde er gerne mit dem Schmied zum Dorfschulzen gehen. Der Goldschmied gab klein bei und brach plötzlich in Tränen aus. Elisabeth versuchte,
Mitleid mit ihm zu haben, aber statt dessen sah sie ihn immer wieder in die Frau hineinfahren und hörte sein Lachen. Lestevenons Gleichmut schien durch den Vorfall erschüttert zu sein. Unterwegs schwieg er viel länger als gewöhnlich und schrieb nur noch Zahlen auf seine Hose, ohne dabei zu sprechen. In Brügge fanden sie ein Bett in einem überfüllten Gasthof. Am äußersten Ende eines schmutzigen Tisches, umgeben von Hollandgängern, die ihren Lohn für eine Erntesaison versoffen, aßen sie eine dünne Brühe. Danach gingen sie in die Liebfrauenkirche gegenüber der Pension, um dem Lärm zu entkommen. Maaike blieb beim Anblick der Farben und Holzschnitzereien und beim Glanz von Gold und Silber der Mund offen stehen. Das ganze Kirchengewölbe duftete nach Weihrauch und dem Wachs gelöschter Kerzen. Ein buckliger Knecht ordnete reich bestickte Fahnen für ein kommendes Fest. An einem Seitenaltar betete ein Priester die Vesper. Immer wieder streckte er mit einer Gebärde der Hilflosigkeit die Arme aus. Dann bekreuzigten sich die Gläubigen und riefen: »Amen.« Ein lebensgroßer Christus mit blutrot gemalten Wunden spreizte seine sehnigen Arme an einem Kreuz aus; dabei verdrehte er schamhaft seine Hüften, um auf diese Weise einen Lendenschurz vor seinen Geschlechtsteilen festzuhalten. Elisabeth betrachtete lange eine Pieta mit einer Maria, die viel zu jung war für einen so großen Sohn und viel zu schön für einen so großen Schmerz. Dem Calvinismus entging vieles: die täglichen Wunder, die Heiligen für jedes Leiden und die Mutter als Symbol der Liebe und Reinheit. Elisabeths Wege waren abgeschnitten. Keine Mutter, keine Religion, kein Zuhause. Ein vages Bild kauerte hinter dem Horizont. Eine Hand, die einen Rock raffte. Ein singender Mund. Augen. Bevor sie zu Bett gingen, sagte Lestevenon: »Katholiken beichten beim Priester und erhalten von Gott die Vergebung
ihrer Sünden. Wir beichten untereinander. Das ist viel schwieriger.« Er schwieg einen Augenblick, senkte den Kopf, so daß sie seinen Schädel zwischen den glattgekämmten Haaren glänzen sah, und sagte dann: »Ich habe gesündigt.« Elisabeth fürchtete sich vor dem, was nun geschehen würde. Was konnte sie ihm vergeben, sie, die die geheime Sünde gesehen und nichts gesagt hatte und sich nicht schuldig fühlte? »Ich habe den Jungen gehen lassen. Ich habe gesehen, wie er die Tasche des Goldschmieds stahl, und ich habe ihn nicht davon abgehalten.« Elisabeth sagte, daß sie ihm vergab. Der Goldschmied sei wahrscheinlich selbst ein Dieb. »Das gibt uns nicht das Recht, ihn zu betrügen.« »Welche Sünde ist schlimmer, Vater: die Sünde des Goldschmieds, des Jungen oder deine?« »Am schwersten hat derjenige gesündigt, dem man die Missetat am stärksten anlasten kann, weil er am besten weiß, was gut und richtig ist. Ich also.« Es stimmte nicht, dachte Elisabeth. Es war anders. Da war mehr.
Lestevenon schloß sich mit seinen Töchtern dem Hauptstrom der Flüchtlinge in Saint-Omer an, kurz hinter der Grenze der österreichischen Niederlande und Frankreichs. Dort sprach das einfache Volk noch einen flämischen Dialekt. Von einem entfernten Verwandten mieteten sie den Dachboden eines Kutscherhauses. Lestevenon kaufte eine alte Handpresse und Papier, um damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das Bedürfnis nach Information und Aufklärung war groß. Menschen konnten unterdrückt und vertrieben werden, aber ihre Ideen nicht. Die wehten dorthin, wohin der Wind sie blies.
Mit mehr Elan als jemals zuvor schrieben die Patrioten in der Verbannung ihre Flugschriften, als ob sie nicht von all denen im Stich gelassen worden wären, die sich einst Verbündete genannt hatten. Aber die Lage in Holland stabilisierte sich. Den Patrioten ging das Geld aus, und aus Frankreich kam, trotz der moralischen Verpflichtung, nur spärliche Unterstützung. Die Verbannten suchten Halt beieinander; sie schlichen sich in verfallene Häuser und betrauerten ihre Flucht. Viele von ihnen hatten sich in ein Abenteuer gestürzt, als willkommene Abwechslung zu einem aussichtslosen Dasein als Buchhalter oder kleiner Selbständiger mit einem bankrotten Geschäft. Aber das Leben in Saint-Omer legte den rosigen Schleier eines verlorenen Paradieses über die Vergangenheit. Nichts Menschliches war den Idealisten fremd: sie stritten, lästerten und wurden zu Opportunisten. Die Pamphlete, die man bei Lestevenon in Druck gab, enthielten meist ordinäre gegenseitige Beschimpfungen. Er versuchte, die Einheit und die Ideale aufrechtzuerhalten, und der Dachboden des Kutscherhauses entwickelte sich zu einem politischen Zentrum. Abend für Abend kamen sie zusammen, um sich zu streiten und sich zu versöhnen, um Pläne zu schmieden und wieder aufzugeben, um zu jammern, zu klagen und um Geld zu betteln. Er konnte dem Untergang nichts entgegensetzen. Seine Sanftmut war in Wirklichkeit Schwäche; aus Angst sprach er nie deutliche Worte und nannte das Strategie; nie schlug er etwas ab und nannte das Nächstenliebe, auch wenn sie manchmal selbst kein Brot mehr hatten. Elisabeth sah, wie sich ihr Vater von Tag zu Tag veränderte. Lestevenon versank in Schwermut. Wenn keine Besucher kamen, die seinen Rat oder sein Geld wollten, saß er in seinem Stuhl und starrte aus dem Fenster. »Laß uns zurückgehen nach Haarlem, Vater.«
»Es gibt keinen Weg zurück.« »Warum nicht?« »Ich kann nicht mehr zurück.« »Wovor schämst du dich?« »Ich hätte bleiben müssen und kämpfen.« »Es ist meine Schuld, Papa. Wenn ich nicht so ängstlich gewesen wäre, hätten wir zu Hause bleiben können.« »Das stimmt leider nicht. Wenn ich in den letzten Monaten etwas über mich selbst gelernt habe, dann, daß ich ein Feigling bin.« Hilflos blickte er sie an. »Ich kann nicht zurück. Und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.« »Es gibt noch so viel zu tun.« »Nicht für mich.« »Ich schaffe es nicht ohne dich, so wie du früher warst.« »So werde ich nie wieder sein.«
So werde ich nie wieder sein, hatte er am Abend zuvor noch gesagt. Er hatte ihr Leben ausgefüllt, er war ihr Prüfstein und ihre Richtschnur gewesen, sie hatte ihre Selbständigkeit nach seinen Grundsätzen definiert, aber nun wußte sie nicht mehr, wer er war und wo er war. Sie stand am Ufer eines breiten Flusses; das gegenüberliegende Ufer war kaum zu erkennen. Schilf rauschte in einer plötzlich aufkommenden Windbö. In der Ferne sammelten sich dunkle Wolken wie nach einem warmen Tag. Die Fähre war auf halbem Wege. Sie hörte Musik über dem Wasser, einen sanft gestrichenen Baß und eine Glasharmonika. Sie spielten ein wehmütiges Lied von Trauer und Abschied. So muß es sein, dachte Elisabeth, wenn sie einen Toten begleiten, so ist es schon seit Jahrhunderten. Aber sie war nicht traurig. Das Schiff wurde kleiner und kleiner, bis
es die Wellen zu verschlucken schienen, noch bevor es das andere Ufer erreicht hatte. Sie lief ins Wasser. Ihre Röcke bauschten sich auf und trieben in einem Kreis um sie her. Der Boden war weich, und die Strömung zog und schob. Wasserpflanzen und Fische strichen um ihre Beine. Sie knöpfte ihr Leibchen und den Rock auf und ließ beide Kleidungsstücke forttreiben. Sie würden in einer Flußkrümmung an Land gespült werden. Ein Fischer würde denken, daß eine Frau ertrunken sei und im Schilf nach verfangenen Haaren suchen oder nach einem Körper, blauweiß wie ein Fisch. Aber sie lebte, ihre Arme und Beine bewegten sich träge und graziös; sie tanzte und blickte auf ihren grünlichen Körper, ihre schimmernden Arme und glänzenden Brüste, die so leicht waren und so hoch. Dann schwamm sie. Auf dem Rücken liegend, schaute sie in den Himmel, wo Möwen flogen. Auf der Grenze zwischen Vogel und Fisch lag sie und war in beiden Elementen heimisch. Sie paarte sich mit dem Flußgott, dessen kühle Hand ihre Beine spreizte.
2
Einmal in der Woche stieg Maître Mounier de Bresse die Treppen hinauf zu den Zimmern über dem Kutscherhaus. In einem Anfall von Familiensinn und Sentimentalität hatte er den Dachboden an einen entfernten Verwandten aus Holland vermietet, der plötzlich an einem Herbsttag vor der Tür stand mit zwei Töchtern, von denen die eine taubstumm war und die andere für zwei redete. Es gab ihm einen Anflug von Selbstlosigkeit, der ihm gefiel, außerdem war es gut für seinen Ruf. Seine Position ging ihm über alles. Von Hause aus hieß er einfach Mounier. Sein Vater hatte sich vom Binnenschiffer zum Reeder emporgearbeitet und ihm ein Studium ermöglicht. Als er sich mit seiner Anwaltspraxis in Saint-Omer niederließ, hängte Mounier das feine De Bresse an seinen Namen an. Die Ehe mit der etwas älteren Mademoiselle d’Arras de Neufville war zwar nicht standesgemäß, aber als dritte Tochter einer verarmten Familie aus niederem Adel hatte sie die Wahl zwischen einem Bürgerlichen und dem Kloster, und sie wählte das erste. Aber ihr Geschmack blieb standesgemäß. Das Haus füllte sich mit kostbaren Möbelstücken. Die Motive auf den dünnen Ledertapeten waren in Blattgold gearbeitet, und allein der Gedanke daran, daß man sie ursprünglich für die Prinzessin de Lamballe entworfen hatte, die aber leider den Geruch von frisch gegerbtem Leder nicht ertragen konnte, machte den Kauf unerläßlich, auch wenn Mounier dafür seine Tarife kräftig erhöhen mußte. Er dankte Gott für seinen Arbeitseifer und seine Schläue, die immer für ausgeglichene Bilanzen sorgten. Der Umfang seiner Geschäfte dehnte sich aus wie der seines Körpers; er trug eine Perücke und aß Weißbrot.
Lestevenon erwies sich als hochgebildet, aber keineswegs arrogant, und ohne eine Spur von Eitelkeit oder Schöngeistigkeit. Man konnte sich durchaus mit ihm sehen lassen. Dennoch fühlte sich Mounier in Gegenwart der Haarlemer Familie immer etwas unbehaglich. Vergeßlich für Details, richtete er von Zeit zu Zeit das Wort an Maaike, die ihn dann lächelnd und mit großen blauen Augen anstarrte. Elisabeth dagegen beantwortete seine Fragen auf eine Art und Weise, die er als ungehörig empfand. Sie redete wie ein Mann und verstand mehr vom Seerecht als er. Wofür war es nötig, eine Frau mit Wissen zu ermüden? Trotz seiner fortschrittlichen Einstellung, die von Locke, Montesquieu und Voltaire geprägt war, teilte er die gängigen Ansichten über die Erziehung von Mädchen. Wenn sie den Mund hielt und er ihr Profil sah, faszinierten ihn ihre klassischen Gesichtszüge, aber ihr asymmetrischer, direkter Blick mit den ungleichen schwarzen Augen jagte ihm eine unbestimmte Angst ein. Lestevenons Tod weckte in Maître Mounier ein aufrechtes Gefühl des Mitleids. Er versprach ihnen Hilfe. Sie mußten das Haus nicht verlassen. Wohl aber kam er einmal in der Woche, um die Miete zu kassieren, auch als das Geld aufgebraucht war.
Auf dem Markt in Saint-Omer verkaufte Jan Martens seinen selbstgebrauten Theriak, ein jahrhundertealtes Mittel gegen alle Leiden, das seine Popularität der Tatsache verdankte, daß außer Natternfleisch auch Opium zu den Zutaten gehörte. Daneben importierte er billige englische Töpferwaren und war spezialisiert auf kleine, schmutzige Nebengeschäfte. »Zu einem Drucker gehört mehr als eine Handpresse und viel guter Wille, Elisabeth«, sagte er. »Drei Sou, Fräulein, und
nimm zwanzig Tropfen täglich. Wenn es schlimmer wird, mußt du mehr nehmen. Vielen Dank, bald wird es dir besser gehen, da bin ich ganz sicher. Auf Wiedersehen. Gott segne dich.« Er machte eine Verbeugung, bekreuzigte sich flüchtig, zeigte beim Lachen ein schlechtes Gebiß und steckte die Münzen in seine Börse. »Es ist ein Hundeleben, aber für Geld glaube ich auch an den römischen Gott.« Er wandte sich einem neuen Kunden zu, der sofort einen kräftigen Schluck aus dem Fläschchen nahm, und pries lauthals seine Waren an, wobei er einen Hühnerzüchter und den konkurrierenden Quacksalber übertönte. »Das Ende der Pein bei Jan Martijn! Fin de chagrin chez Jean Martin!« »Martens, bitte…« »Liebes Kind. Das ist mein Geschäft, von dem ich Frau und Kinder ernähren muß. Politik mache ich abends und am Sonntag.« »Ich möchte doch nur wissen, warum ihr mir keine Arbeit gebt. Du hattest es versprochen. Ich habe die Presse, ich habe Papier, ich spreche die Sprache, ich kenne das Fach. Ich brauche Geld, Martens.« »Kennst du die Schmuggelrouten für verbotene Druckschriften? Wer sind deine Kontaktmänner? Wie willst du es schaffen, der Polizei nicht in die Hände zu fallen? Wenn du soweit bist, sind wir auch so weit.« »Verbotene Schriften? Aber die Franzosen unterstützen uns doch?« »Jung, unerfahren, Frau und auch noch naiv. Such dir einen Mann, heirate ihn und bekomme Kinder.« »Vater…« »Dein Vater war ein guter Mensch. Aber er ist tot. Drei Sou! Ihre Leiden verschwinden wie Schnee an der Sonne! Drei Sou!«
»Jan Martens. Du verdienst an jedem Fläschchen zwei Sou. Kannst du mir nicht etwas vorschießen? Für die Miete?« »Ich bin kein Leihhaus. Aber ich werde dir etwas geben, nur dieses eine Mal. Hier hast du zehn Sou und ein Fläschchen gegen deine Kopfschmerzen. Dafür darfst du mir ein Lied vorsingen.« In diesem Augenblick stellten sich fünf Männer rund um den Karren auf. Sie schwiegen, bildeten aber deutlich eine Einheit. Einer von ihnen nahm einen Steingutteller in die Hand, betrachtete ihn sorgfältig von allen Seiten, blickte Jan starr ins Gesicht und ließ den Teller zu Boden fallen. Der zweite machte dasselbe mit einem Krug. Der dritte Mann fegte einige Fläschchen Theriak vom Karren. Jan protestierte heftig, drohte mit der Polizei, aber die Männer lachten nur und fuhren mit der Zerstörung seiner Waren fort. »So ergeht es Ausländern und Geschäften von Ausländern, die unsere Geschäfte ruinieren.« »Das Brot, das du frißt, stiehlst du meinen Kindern.« »Hau ab und geh zurück zu deiner Mutter.« »Wo du auch hingehst, wir werden dich finden.« »Und das ist nur der Anfang.« Niemand kam ihm zu Hilfe: die anderen Markthändler und Kunden sahen interessiert zu und bekundeten murmelnd ihre Zustimmung zu den Worten der Plünderer. Jan Martens wurde leichenblaß; er versuchte zu retten, was noch zu retten war, warf alles auf seinen Karren und floh. Langsam ging Elisabeth über den Markt. Aasvögel staksten um einen stinkenden Haufen aus Fischabfällen, faulem Gemüse und Gedärmen. Eine Krähe fiel Möwen an. Die Luft war erfüllt von ihrem Krächzen und Kreischen. Ein räudiger Hund biß und zerrte wild an einem Kadaver. In einer Gasse zwischen zwei Häusern entblößte jemand einen bleichen Hintern, um sein Bedürfnis zu verrichten. Vor einer Dirne
standen zwei alte Bauern und zögerten, während sie ihre mit Schlamm bespritzten gelben Strümpfe zeigte und eine Blume in ihrem wirren Haar richtete. Sie sagte etwas und ließ ein Lachen erschallen; die Bauern grinsten. Die Hure und der scheißende Bettler kratzten die letzten Krümel zusammen, um am Leben zu bleiben, genauso wie sie selbst, dachte Elisabeth. Es brauchte so wenig, um der Zukunft das Gesicht einer Müllhalde zu verleihen. Sie ging schnell weiter, um das Gefühl der Machtlosigkeit abzuschütteln, passierte die Wachen am Stadttor und suchte die Weite der Landschaft. Außerhalb des Schutzes der Mauern blies der Wind kräftig und kalt; aus Südwesten trieb Seeluft herüber. Sie ging immer weiter geradeaus und folgte einer schlammigen Wagenspur, in der ihre Füße manchmal steckenblieben. Saint-Omer lag mitten in einem Sumpfgebiet. Aber den holländischen Flüchtlingen war der Anblick von Wasser vertraut. Es erinnerte sie an Zuhause. Sie hatte Hunger. Überall waren die Vorräte erschöpft. Der Brotpreis war viel zu hoch. Man erzählte sich, daß die Reichen täglich gebratenes Fleisch und Gebäck aßen, Suppen, auf denen Fettaugen schwammen, Gänseleberpastete und Trüffel, daß Prälaten schweren Burgunder tranken, um die Kälte aus ihren Knochen zu vertreiben und daß von den Resten, mit denen die Köche in Versailles die Schweine fütterten, in Saint-Omer eine ganze Familie ein Jahr lang satt werden könnte. Eigentlich hätte sie in die Wärme des Kutscherhauses zurückkehren sollen, aber dort war Maaike, die manchmal stundenlang mit dem Gesicht zur Wand gedreht dalag. Vaters Tod hatte ihren Kontakt zum Leben unterbrochen, und Elisabeth wußte nicht, wie sie die Verbindung wiederherstellen sollte. Wenn sie abends am Tisch saßen und darauf warteten, daß es Zeit wurde, zu Bett zu gehen, schlug sie manchmal die Bibel auf und tat, als ob sie las, während sie Maaikes Blicke
auf sich fühlte. Wenn sie aufblickte, schlug Maaike die Augen nieder. Einmal hatte Elisabeth ihre Hand auf die ihrer Schwester gelegt. Sie fühlte deren Finger zittern und wollte etwas tun, um sie zu beruhigen. Aber die Worte, die sie auf die Schiefertafel schrieb, waren häuslicher Art. Sie hatte eine Abneigung gegen die fügsame Erbsenzählerei, mit der sich Maaike beschäftigte, gegen den Schmerz, den sie sah und wiedererkannte. Die Last beider Leben lag nun auf Elisabeths Schultern, und sie wußte nicht, ob sie dem gewachsen war. Zwar war sie endlich Herrin über sich selbst, ihre Zeit und ihre Zukunft, aber sie hatte keinen festen Boden mehr unter ihren Füßen. Edle Prinzipien und schöne Träume hatten keinen Bestand gegen finanzielle Not, Einsamkeit und sparsame Gastfreundschaft. In manchen Momenten stand ihr klar und deutlich vor Augen, was in dieser verschandelten Welt getan werden mußte, dann wieder brachten Visionen den Rhythmus ihres Herzens aus dem Takt. Angst, Unsicherheit und Schuldgefühle nach dem Tod ihres Vaters verschmolzen in ihr zur Rebellion gegen die Ungerechtigkeit des Zufalls. Zwischen den schnurgeraden Kanälen, mit deren Hilfe man das Moor trockenlegen wollte, lag das Land, in schwarze Kloben verteilt. Im Herbst waren Ochsen, dampfend und stampfend den Pflug ziehend, träge über die Felder getrottet. Denn bevor die Saat keimen konnte, mußte erst der Frost den lehmigen Boden aufbrechen. Die tiefer gelegenen Stellen standen voller Wasserpfützen. Hier und dort durchbrach ein Weidenstrauch die Eintönigkeit der Landschaft: Winkel und Linien wie bei ihren alten Mathematikaufgaben. Sie schrieb in Gedanken ihre Berechnungen dazu, aber es half nicht. Kein Trost in der Natur. Kein Balsam für die Seele in süßen Düften, linden Lüften oder jungen Blättern. Nur Schwarz und Grau, das brachliegende Land, Regen und der Rauch von schwelendem
Holz. Laufen bis zum Horizont, um zwischen Himmel und Erde zu liegen und dann begraben zu werden. Wenn sie nur nichts mehr fühlen würde. In Vaters Augen stand nur die Überraschung. Messer kratzten ihr in der Kehle. Mein Gott, dachte sie. Mein Gott. Mein Gott. Sie dachte die Worte so lange, bis sie sie laut aussprach. Mein Gott. Vater. Gegen den Wind. Lauter. Mein Gott! Noch lauter. Vater! Sie geriet außer Atem und mußte sich setzen, um gegen das Schwindelgefühl anzukämpfen.
Das Schlingern der Karre an einem Schlagloch brachte sie wieder zu sich; ihr fiel auf, daß sie auf einem Brett zwischen zwei Rädern lag. Ein Esel zog. Sie richtete sich auf und sah neben dem Esel einen Bauern gehen. »Bleibt ruhig liegen. Wir sind bald da.« »Was ist geschehen?« »Das müßt Ihr mir erzählen. Ich fand Euch am Weg.« Er sah sie neugierig an, sagte aber nichts mehr, bis sie zu einem Landarbeiterhäuschen kamen. Er half ihr von der Karre und stützte sie. Die Hütte bestand aus einem Raum mit einem Fußboden aus festgestampfter Erde und einem Dach aus Stroh. In der Mitte brannte ein Feuer. Der Rauch sollte eigentlich durch ein Loch im Dach abziehen, blieb aber in der Hütte hängen und schlug ihr auf die Kehle. Sie hustete. Der Mann setzte sie auf einer Holzbank ab. Daneben erkannte sie ein Bett, eine Kiste, einen Tisch und eine Krippe. Auf dem Bett saß eine Frau mit einem dick eingewickelten Säugling an der Brust. An einem Haken, der neben dem Bett in der Wand stak, hing ein weiteres dieser Pakete, aus dem ein Geschrei kam, das an zu früh geborene Lämmer erinnerte. Es stank hier nach verfaulten Kartoffeln. In einer Ecke saß ein Kind von etwa drei Jahren und spielte mit Holzstückchen.
»Wer ist das?« fragte die Frau. In Elisabeths Schädel herrschte Leere, und nur einige Worte verloren sich darin. Mechanisch sagte sie: »Ich bin Elisabeth Lestevenon. Ich bin am Wegrand in Ohnmacht gefallen. Euer Mann fand mich und hat mich hierher gebracht. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.« Hatte sie etwas vergessen? Was war geschehen? Da war ein Gedanke gewesen, eine klare Einsicht. Der Bauer verschwand, ohne etwas zu sagen; sie hörten, wie sich das Knarren der Karre auf dem Weg entfernte. Elisabeth schaute sich um. Zwischen diesen brüchigen Wänden in einem gottverlassenen Winterland war also Leben möglich. »In der Kanne ist Wasser, und in der Kiste liegt ein Stück Brot«, sagte die Frau. »Eßt etwas.« »Danke«, sagte Elisabeth. Das Wasser schmeckte brackig, und das Brot war schwarz und knochenhart. Die Frau nahm das Kind von der Brust. Sofort ertönte ein Protestschrei, der aber nur schwach ausfiel, da die Lungen fest von den steifen Windeln umgeben waren. Sie legte es in die Krippe und nahm das andere Kind vom Haken, an dem es bis dahin geschaukelt hatte. Der Säugling besaß kaum die Kraft, die Milch aus ihren Brüsten zu saugen. »Jetzt bist du an der Reihe. Viel ist nicht mehr da. Aber vom Nuckeln wird sie auch ein bißchen ruhiger.« »Sind das Zwillinge?« »Nein. Sie sind nicht von mir. Mein eigenes Kind ist bei der Geburt gestorben. Dadurch hatte ich Platz für zwei Säuglinge. Der eine bezahlt besser. Deshalb bekommt er zuerst und am meisten. Einmal im Monat kommt ein Knecht vorbei und sieht nach, ob er noch lebt, und dann bekomme ich Geld. Es ist zwar ein Bastard, aber er muß dennoch gut gefüttert werden. Nach dem anderen sieht niemand. Ich habe den gesamten Betrag auf einmal bekommen – es ist nicht viel, aber die Milch kostet
mich auch nichts – und ich bekomme den gleichen Betrag noch einmal, wenn ich sie in vier Jahren wieder zurückbringe.« »Ist dies denn Euer Kind?« Elisabeth wies auf das Kleinkind, das sie mit großen Augen anstarrte. »Ja. Das ist meins. Der Rest ist tot oder totgeboren. Gebe Gott, daß ich keines mehr bekomme. Daß mein Schoß so unfruchtbar wird wie das Land meines Mannes. Daß er seinen Samen auf felsigem Grund vergießt, denn eine weitere Niederkunft überlebe ich nicht. Das versteht Ihr doch.« Elisabeth nickte. »Immer schwanger, immer Sorgen, immer Hunger«, sagte die Frau, und sie nutzte die Gelegenheit, Elisabeth ausführlich über ihre Entbehrungen zu berichten. Sie erzählte die Geschichte aller Frauen auf dem Land und in den Dörfern, in den Gassen der großen Städte, die krank wurden vor Hunger und schwerer Arbeit, während reiche Frauen krank wurden vor Freßlust und Langeweile; sie erzählte von Hoffnungslosigkeit und einem frühen Tod. »Aber Ihr werdet das sicher nicht kennen. Ihr seht sehr hübsch aus. Und unverheiratet. Habt Ihr einen Mann?« »Nein.« »Das sieht man.« »Woran?« Die Frau lachte. Ihre Brustwarze entglitt dem Mund des Babys, das noch einmal quengelte und dann einschlief. »An deinen Augen, oder nicht? Sei froh. Weißt du, wie alt ich bin? Fünfundzwanzig.« Elisabeth hätte die Frau auf vierzig geschätzt. »Und ab dem achtzehnten Lebensjahr schwanger. Es ist sein Recht und meine Pflicht, und wieso man behauptet, daß Frauen liederlich sind und den Mann verführen, ist mir ein Rätsel. Von mir aus kann ein Stöpsel drauf. Das versteht Ihr doch.«
Die Lektionen Lestevenons waren nie weiter gegangen als bis zu dem Satz, daß die Liebe zwischen Mann und Frau heilig sei und man seinen Körper auf gottgefällige Weise benutzen sollte zum größeren Ruhm und zur Ehre des Herrn und um der Nachkommenschaft willen. Leidenschaft kam in seinem Wörterbuch ebensowenig vor wie Haß, und es hatte lange gedauert, bis Elisabeth das unbestimmte Verlangen, das sich aus dem warmen Kern zwischen ihren Beinen über den ganzen Körper ausbreitete, bis ihre Haut prickelte, mit dem Geschlechtsakt in Verbindung brachte. Sie stand auf. Das spielende Kind wackelte auf sie zu; der Kopf glich einem Kürbis auf einem zu dünnen Stiel mit Augen wie Löchern. Es strich vorsichtig mit einer kleinen schwarzen Hand über Elisabeths Rock und lachte sie an. »Ich muß gehen.« »Weshalb die Ohnmacht und warum so weit von daheim?« Die Frau ging zum Feuer und warf einen Ast hinein. »Ich weiß es nicht. Vor Hunger, denke ich. Außerdem habe ich immer wieder Kopfschmerzen.« »Kommst du aus Saint-Omer?« »Ja.« »Du klingst wie jemand aus dem Ausland.« »Ich bin ein Flüchtling aus Holland. Wir wohnen bei einem entfernten Verwandten. Maître Mounier de Bresse.« Die Frau erstickte beinahe vor Lachen. »Na, dann liegt hier Verwandtschaft von dir. Das ist sein Bastard.«
Es war nicht zu glauben. Sie stieß sich an allen Ecken und Kanten dieses Tages. Überall war Armut und Lieblosigkeit. Zwar hatte Vater ihr Denken geschult und sie zu sehen gelehrt, aber er hatte die Welt für sie unversehrt gelassen. Nun, da alles
auseinandergebrochen war, konnte sie ihre Augen nicht mehr verschließen. Auf dem langen Weg zurück nach Saint-Omer, während ihr Kopf im Takt ihrer Schritte klopfte, entwarf sie den Text für einen offenen Brief. An Madame la Reine, Mutter und Ernährerin Wer Hunger hat, sucht etwas zu essen. Dieses Gesetz ist so alt wie das Leben selbst. Der Tiger sucht nach Beute, die Amsel pickt nach Würmern, das Schaf grast, und der Mensch jagt oder bäckt Brot aus dem Korn, das er anbaut. Wer nicht ißt, stirbt. Das Leben strebt nach Selbsterhaltung. Wo einmal der Atem den toten Staub berührte, bleibt das ruhelose Verlangen nach Bewegung. Die Zweige und Blätter wollen den Wind; ihr Rauschen und Zittern nimmt kein Ende; das Schilfgras an den Ufern erzählt lange Geschichten; die Saat liegt in der Erde und wächst heran. Man sagt, daß das Leben ein Geschenk Gottes ist und uns zu Dank verpflichtet. Der Körper ist der Schrein, in dem wir seinen Lebensatem als Lehen bewahren, bis er ihn zurückfordert. Wir wissen, daß Ihr, Madame, Eure Aufgabe sehr ernst nehmt. Ihr pflegt Euren Körper, das Tabernakel der Seele, Ihr umsorgt und ernährt ihn nach bestem Vermögen. Ihr füttert und kleidet ihn und ruft nach dem Doktor, wenn er krank ist. Wenn Gott Eure Seele einfordert, wird sie in einem würdigen Haus gelebt haben. Sobald Ihr Hunger fühlt, laßt Ihr einen Kammerdiener mit Pasteten kommen, Euren Durst löscht Ihr mit klarem Wasser oder Wein. Falls Euch der Sinn nach Wärme und Zärtlichkeit steht, entzündet Euer Diener ein Feuer und küßt Euer Liebhaber Eure Brust. Nie leidet Ihr Not. Und Ihr habt es verdient. Aber was werdet Ihr tun, wenn eines Tages die Kornkammern leer sind und Eure Diener geflohen? Wenn Euer Liebhaber Euch schlägt? Wenn es kein Brot mehr gibt und Ihr selbst hinaus müßt, um Holz für das Feuer zu
holen? Seid Ihr dadurch ein anderer oder schlechterer Mensch? Nein. Ihr bleibt dieselbe, was immer das Schicksal Euch auch bringt, mit dem gleichen Recht auf das, was Euch zusteht, wie jeder andere, solange Ihr Gottes Gesetze befolgt. Darum solltet Ihr Mitleid haben mit denen, die an einem niedrigeren Platz ihre Arbeit vor Gottes Angesicht verrichten, mit dem Bauern, der das Korn für Euer Brot aussät, mit dem Arbeiter, der die Ernte einholt und der Frau, die Euer Gemüsebeet jätet. Darum solltet Ihr wissen, daß Ihr nur dann in Ruhe Euer Gebäck essen dürft, wenn auch sie gefüttert und gekleidet sind. Sind sie gefüttert und gekleidet? Geschieht ihnen Recht? Beginnen wir auf dem Lande. Soll ich Euch zeigen, wie schwierig es ist, seinen Lebensunterhalt auf den fruchtbaren Böden Frankreichs zu verdienen? Durch Mißernten, zu hohe Steuern und andere Bürden und Dienste wird der Lebensstrang vieler Menschen roh durchtrennt. Wenn das der Wille Gottes ist, was für ein Gott muß das sein? Das frage ich Euch, aber bemüht Euch nicht um eine Antwort. Es gibt keine Antwort. Laßt uns festhalten, daß dort auf dem Lande Menschen leben, Männer und Frauen, die ebenso wie Ihr und ich das Leben als Geschenk bekommen haben und angehalten sind, es zu schützen und zu pflegen. Laßt uns festhalten, daß sie ebenso leidenschaftlich nach dem Glück verlangen wie Ihr und ich. Das Glück: Essen und Feuer und der tägliche Tod ein Stückchen weiter entfernt. Laßt uns festhalten, daß das ihr gutes Recht ist. Ihr seid eine Frau, Madame, und ich schlage Euch vor, das Leben einer Schicksalsgenossin näher zu betrachten. Sie stammt ab von einfachen, hart arbeitenden Eltern, die so wenig Land besaßen, daß sie davon nicht leben konnten. Sie war kräftig und starb nicht. Jedes Kind auf dem Land übernimmt schon früh einen Teil der Arbeit. Keine Spiele, kein Unterricht, kein Zeitvertreib, sondern Schafe hüten, Schweine füttern und
Mist karren. Mit achtzehn Jahren wurde ihr junger Körper einem Mann gegeben. Sie überlebte Krupp, Keuchhusten, Masern, Pocken und Gehirnentzündung, fürchtet aber, daß die nächste Geburt ihr Tod sein könnte. Denn er schwängert sie, Jahr für Jahr. Keine Liebesbezeugungen, keine Komplimente, keine Lust, kein Vergnügen, sondern immerwährende Erschöpfung. Ihr Körper wird hart geprüft, aber schlecht gepflegt, denn das Land bringt nur wenig hervor; manchmal verfaulen in nassen Jahren die Kartoffeln, dann wieder verdörrt in einem trockenen Jahr das Getreide zu Spreu, oder Krankheiten plagen das Vieh. In Zeiten der Not nimmt sie den Säugling einer anderen bei sich auf, aber wenn sie Hunger leidet, sind ihre Brüste so trocken wie ein versandeter Brunnen. Sie weiß nicht mehr, was ihre Pflicht ist. Wenn sie ihren Mann zu sich läßt, gerinnt ihre Milch durch seinen Samen, und sie tötet ein Kind, das sie nach Gottes Willen am Leben erhalten soll. Verweigert sie sich ihm, sündigt sie gegen den Willen desselben Gottes. Der Priester kann ihr – wie gewöhnlich – keinen Ausweg zeigen. Der Tod, Madame, ist überall. Wie oft geschieht es, daß ein Kind verkehrt liegt und daß der Chirurg die Frucht in Stücken aus dem Mutterleib herausschneiden muß, nachdem die Frau oft tagelang in den Wehen gelegen hat. Wie oft geschieht es, daß die Frau im Wochenbett verblutet, daß ihr geschwächter Körper vom Fieber angegriffen wird, das wie ein Aasgeier ihre Seele durch die Augen aus dem Körper zerrt. Und wenn ihr Kind lebt, wird es dann auch weiterleben? Man rät den Eltern, sich nicht zu sehr an einen Säugling zu klammern, da die Trauer über den Verlust eines geliebten Kindes beim zweiten Mal unerträglich würde. Aber Ihr wißt das alles. Ich erzähle Euch nichts Neues. Und Ihr tut, was Ihr könnt, um das Los der Frauen erträglich zu machen: Ihr widmet ihnen einen Satz in Euren Gebeten, und
Ihr schaudert beim Anblick einer Vanitas-Darstellung auf einem Eurer Gemälde. Manchmal, in einem Eurer menschlicheren Augenblicke, fragt Ihr Euch ehrlich, was Ihr noch mehr tun könntet. Denn es ist schließlich Gottes Wille, daß das Haus der Gesellschaft auf diese Weise erbaut wurde. Bequem ist es, Madame, dies alles auf Gott abzuwälzen. Wenn der Tag kommt, an dem über uns geurteilt wird, möchte ich nicht in Eurer Haut stecken. Das Leben ist ein kostbares Geschenk, für Euch, für mich und für die namenlose Frau, die Garben bindet auf dem Land. Würdet Ihr bitte, wenn Ihr am Ende einer Nacht voller Genüsse Euer weiches, warmes Bett aufsucht, einen Augenblick an sie denken, die zur gleichen Zeit aufsteht, um ein kleines Feuer zu entfachen und einen weinenden Säugling an ihre ausgezehrte Brust zu legen, und die den Tag nur mit dieser einen Hoffnung beginnt: zu leben. Obwohl das Pamphlet kein Erfolg wurde, fühlte Elisabeth sich stärker. Was sie sah, erstickte sie nun nicht mehr. Sie übertrug es in Worte und Sätze, in dem naiven Glauben, das Angesicht der Welt verändern zu können. Und es schuf einen Abstand zwischen ihr und der Kolonie von Landsleuten, die sich in alles einmischten und das Kutscherhaus nach wie vor als Treffpunkt benutzten. Einige von ihnen versuchten, eine politische Gruppierung zu bilden, und machten es sich zur Aufgabe, die französische Regierung für eine Intervention in den Niederlanden zu gewinnen. Ein anderer, sehr kleiner Teil der sogenannten »erfahrenen Aufständischen« bot unzufriedenen französischen Bürgern gefragt oder ungefragt ihre Hilfe an. Manchmal organisierten sie einen Aufruhr um des Aufruhrs willen und stahlen in der allgemeinen Verwirrung straflos ihren Lebensunterhalt zusammen. Bei den meisten Flüchtlingen hatte sich Mutlosigkeit breitgemacht; sie
versuchten sich in ihrem neuen Vaterland so unsichtbar wie möglich zu machen. Aber die katholische Bevölkerung empfand die zumeist protestantischen Fremden als Bedrohung – als Gefolgschaft der inzwischen rehabilitierten Hugenotten, die intrigierte, ihnen die Vorräte wegfraß, in ihren Häusern lebte und ihre Töchter heiratete. Die allgemeine Unruhe nahm zu. Aufstände in Genf, Amerika und in den Niederlanden bewiesen, daß man sich gegen das Gesetz auflehnen konnte. In den Kaffeehäusern schrieb man immer neue Zeitungsartikel, und die nouvelles à la main fanden reißenden Absatz. Ein einzelner sprachgewandter Hitzkopf genügte, um – durch den Alkohol angespornt und hinter einem dichten Vorhang aus Pfeifenrauch kaum zu erkennen – eine Rede zu entwerfen, die die Gerichtsbarkeit, die lettres de cachet, die Staatsschulden, die unaufhörlichen und unbeständigen Reformen immer neuer Minister und die Impotenz von Ludwig XVI. verspottete und eine sofortige Zusammenkunft der Generalstände forderte. Tropfenweise und verwässert waren die Ideen der lumières, der Aufklärung durchgesickert. Nach und nach, unterstützt von Mißernten und dem Bankrott des alten Systems, bewirkten sie ein Umdenken, das sich nicht so sehr in wiedererkennbaren politischen Programmen äußerte, sondern eher in einer Veränderung der Mentalität. Die Entdeckungen der Wissenschaft stärkten das Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Nichts war mehr selbstverständlich, weder Hunger noch Macht. Einige besaßen ein Interesse daran, die alten Ideen aufrechtzuerhalten, und sie brachten die Philosophen des neuen Contrat Social in Mißkredit. Andere wollten die Erneuerung, warnten aber vor den Gefahren der Technik und der Verstädterung. Es bildete sich eine explosive Mischung aus
Repression und Erneuerungsdrang, aus Verstand und Glauben, aus Erbarmungslosigkeit und Sentimentalität. Elisabeth fühlte die Unruhe und die drohende Entwurzelung, und sie klammerte sich am Schreiben fest wie an einem Stock, den man einem Ertrinkenden hinhält. Manchmal, wenn sie sich umschaute und nichts mehr wiedererkannte, hatte sie das Gefühl, an geistiger Verwirrung zu leiden. Sie träumte von ihrem Haus an der Bakenessergracht, dem Tisch mit seinem Tischtuch aus Mechelener Spitze, dem glänzend geputzten, vielarmigen Kupferkandelaber darüber, von den glasierten Fliesen, den dicken Türen des antiken Schrankes und den Büchern, von denen einige noch keinen Ledereinband besaßen und an deren kahlen Rücken Drähte zu sehen waren, die die einzelnen Hefte zusammenhielten. Dies war ihr vertraut. Dann kehrte auch Vater von irgendwoher zurück, die Hände ringend vor Bedauern. Aber sie mußte in der Wirklichkeit von SaintOmer leben, auch wenn diese ihr noch so fremd erschien. Jede Woche ertönten die schweren Schritte von Maître Mounier im Hof, und ein Keuchen auf der Treppe kündigte sein Kommen an. Seine schwarzen Augen und der südländische Teint wurden durch die gepuderte Perücke und eine hellblaue Satinweste noch betont und ließen ihn wie einen Italiener erscheinen. Trotz seiner großen Nase und den fleischigen Lippen wirkte er nicht unansehnlich. Ein Waldgeist wie aus einem Gemälde von Goltzius. Bei seiner Ankunft stand Maaike still auf und machte sich davon. Er schloß die Tür und setzte sich, ohne auf eine Einladung zu warten, breit in Vaters Sessel. Die Schwestern Lestevenon betrachtete er nicht mehr als Gäste. Gäste wurden mit Rücksicht behandelt, weil ihr Aufenthalt zeitlich begrenzt war, auf eine Einladung hin geschah und weil Maître Mounier niemals Gäste hatte, die ihm nicht auch ihrerseits einen Dienst hätten erweisen können. Elisabeth und ihre Schwester waren
für sein soziales Prestige nicht mehr von Nutzen, denn es war schon lange nichts Außergewöhnliches mehr, Flüchtlinge zu beherbergen. Er konnte nach eigenem Gutdünken mit ihnen verfahren, hatte Madame Mounier ihm zu verstehen gegeben, und das bedeutete, daß er sie hinauswerfen sollte. Sie empfand ihre Anwesenheit – wie bescheiden auch immer – als lästig und beunruhigend. Die Zusammenkünfte der Patrioten auf dem Dachboden des Kutscherhauses stellten eine potentielle Gefahrenquelle dar, auch wenn es damit mehr und mehr bergab ging. Maître Mouniers Verhalten war von einer Vertraulichkeit, die etwas weniger intim war als die Zwanglosigkeit von Familienmitgliedern untereinander, aber größer als die eines Herren gegenüber seinen Knechten. Er gab keine Befehle, sondern erteilte Ratschläge. Es war doch wieder ruhig in Holland; das Leben in Frankreich war teuer; Waisenkinder seien eine leichte Beute für gewissenlose Verführer; gab es denn keine nähere Verwandtschaft, er sei nur ein entfernter Großneffe. Jede Woche erklang dieselbe Litanei. Ihr Schicksal lag in seinen Händen, und sie durften dankbar sein für seine Langmut. Andererseits weckte Elisabeths durchdringender Blick in ihm einige verführerisch peinigende Phantasien, vor allem, da sie nun nicht mehr durch die Anwesenheit des Vaters geschützt war. Sie wäre in jedem »Salon« als exotische Zierde willkommen gewesen, vor allem bei Madame Mounier, wo man ausschließlich braven, langweiligen Damen und ehrgeizigen Parvenüs begegnete. Aber Madame Mounier hatte leider nicht sehr viel für sie übrig. Mounier nahm eine Prise aus einer emaillierten Dose und nieste zweimal aus vollem Herzen. Nacheinander stiegen zwei Puderwölkchen aus seiner Perücke hoch und rieselten zu Boden.
»Die Erweiterung des Personals, die meine Frau schon so lange wünscht, ist bald nicht mehr aufzuhalten, Elisabeth«, sagte er, während er die Dose einsteckte und ein Taschentuch aus dem Ärmelaufschlag zog. Elisabeth wartete ab. Seit mehreren Wochen kam er immer mit derselben Leier. Er seufzte, als ob ihn etwas schwer bedrückte. »Eigentlich benötige ich das Kutscherhaus als Unterkunft.« Auch das hatte Elisabeth schon häufiger gehört, aber immer hatte er ihr einen Aufschub gewährt, wenn Elisabeth ihm das Geld für die Miete gab oder versprach, so schnell wie möglich zu bezahlen. Heute würde er sich zum dritten Mal hintereinander mit einem Versprechen begnügen müssen. »Ich bedaure es, mehr als ich sagen kann, aber selbst wenn du die Miete bezahlen könntest, müßte ich diese Räume wieder für den eigenen Bedarf zurückfordern.« Das war neu. Seine Stimme klang aufrichtig. »Wo sollen wir hin?« rief Elisabeth. »Du armes Kind. Das ist wahr. Die Stadt ist voll, und andere verlangen für eine Scheune viel mehr als nur den symbolischen Betrag, den du mir für diese anständige Wohnung entrichten mußt.« Er versank in Gedanken und drückte das Taschentuch gegen seine Nase. »Aber ich weise dir nicht die Tür. Du bist immer willkommen, wenn Madame Mounier empfängt.« Er nieste und wedelte nach dem Puder. Elisabeth dachte an die Frau, die seinen Bastard geboren hatte. Ein Küchenmädchen, eine Kammerzofe, eine einsame Witwe? Ihre Schande war auch seine Schande, aber er besaß Geld, und sein Wohlwollen hielt Mutter und Kind am Leben und verurteilte die Frau zum Stillschweigen. Oder war Maître Mounier de Bresse zu der gleichen zärtlichen Leidenschaft fähig wie einige Helden in den neuesten Romanen? Madame Mounier war eine
verbitterte Frau, die keine Freude ausstrahlte, und auch Maître Mounier hatte ein Recht auf Glück. »Gibt es denn keine andere Lösung? Laßt mich mit Madame sprechen.« »Elisabeth, ich habe doch schon so lange schützend die Hand über euch gehalten. Madame Mounier mag euch sehr, das weißt du, aber unsere wachsenden Verpflichtungen machen die Anschaffung von weiteren Pferden, einem Stallburschen und einem am Orte wohnenden Kutscher dringend nötig, vor allem nun, wo Jean langsam zu alt wird für diese Aufgaben. Ich glaube nicht, daß meine Frau eine andere Lösung weiß.« Er betonte die Worte »meine Frau«, und in diesem Moment wußte Elisabeth, daß er ein Spiel spielte. Sie hatte Bücher gelesen, in denen eine Heldin von untadeligem Ruf einem Gentleman-Verbrecher ihr Vertrauen schenkt, der sie ins Verderben stürzt. Der Tod war der Heldin dann meist gnädig, aber den Verführer traf ewige Reue oder eine schreckliche Krankheit. Clarissa, Pamela und auch Sara Burgerhart hatten Elisabeth gezeigt, aus welcher Ecke der Wind wehte. Sie war schon seit Jahren auf der Hut vor einem Lovelace. Dennoch brachten sie Les Liaisons Dangereuses in Verwirrung. Auch wenn der Text deutlich die Auffassung vertrat, daß frivole Ansichten die Sitten verdarben, wurden die Betrachtungen und Intrigen von Valmont und Madame de Merteuil dennoch mit unverhülltem Vergnügen wiedergegeben. Das Ganze bildete eine Mischung aus Genuß und Moral. Grenzen wurden auf raffinierte Weise verschoben. Sollte sie Maître Mouniers Spiel mitspielen? Der Bastard war der Trumpf, mit dem sie jederzeit das Spiel zu ihrem Vorteil wenden konnte. Elisabeth beschloß, daß Tränen in diesem Moment geeigneter waren als Wut oder Worte. Es war leichter, als sie angenommen hatte, in überzeugender Verzweiflung die Hände vors Gesicht zu schlagen. Ohne
Zögern kam er auf den Köder zu, wie ein Fisch, der sich selbst für den Fischer hielt. »Nicht weinen, Elisabeth, ich bitte dich.« Sie fühlte seine Hand auf ihrer Schulter und roch seine Nähe. Sie nieste. Es klang wie ein Schluchzen. »O Gott, Elisabeth. Nicht weinen! Kommt Zeit, kommt Rat. Du mußt nicht denken, daß ich dir nicht helfen will.« Elisabeth schluchzte weiter, während Maître Mounier ihr sein Taschentuch anbot und ihr auf den Rücken klopfte, ein Klopfen, das in Streicheln überging. Elisabeth sah sich selbst, und sie sah den Goldschmied mit der Frau an der Stalltür. »Wie gerne würde ich dieses alte, graue Kleidchen vertauschen mit einem Satinkleid, einem Fichu aus Gaze, die Haare in Locken gelegt, die Ohrläppchen geschmückt mit Juwelen, diesen festen Körper mit seinem schlanken Hals, der sich kokett über einem entzückenden Dekolleté erhebt.« Seine Hand glitt die Körperstellen entlang, von denen er sprach, und Elisabeth putzte sich die Nase. Sie löste sich von ihm und sagte mit abgewandtem Kopf: »Seid Ihr auch ehrlich zu mir? Statt dessen wollt Ihr mich auf die Straße setzen.« »Nicht ich, Elisabeth, nicht ich. Meine Frau drängt mich. Und ich kann es ihr nicht abschlagen, denn sie hat recht.« »Gibt es denn gar keine Hoffnung mehr? Hat sie kein christliches Herz? Laßt mich sie anflehen. Auf meinen Knien. Ich werde zu ihr gehen.« Elisabeth lief zur Tür, aber er versperrte ihr den Weg. »Nein, nein, nicht doch. Sie ist unerbittlich. Aber es gibt vielleicht eine andere Lösung.« Er erklärte ihr, daß er eventuell bereit sei, das Kutscherhaus zu vergrößern, daß die Ausgaben dafür durch die Miete getilgt werden könnten und es herzlos sei, mehr zu verlangen. Aber wenn sie nur wollte, könnten alle ihre Schulden beglichen werden. An dieser Stelle hätte sie den Bastard erwähnen
müssen, um ihre Ehre zu retten. Aber sie sagte nichts. Nicht, um etwa später – und vollständiger – Rache zu nehmen, und auch nicht, weil sie vor einer Erpressung zurückschreckte. Sie wollte Grenzen überschreiten und erwachsen werden. Sie verlangte nach Macht über ihn, der selbst Macht zu besitzen glaubte. Außerdem mußten sie von etwas leben. So schenkte Elisabeth Lestevenon aus Not und Neugier ihren Körper Maître Mounier de Bresse, der sie mit Eifer nahm und sich als atemloser, aber aufmerksamer Liebhaber erwies. Er war kein schlechter Mensch, aber die Leere blieb ihr ebenso wie die Träume und die Kopfschmerzen. Die Welt klang wie eine gesprungene Glocke.
3
Der Frühling kam. Überall in Frankreich, auch in Flandern und im Artois, verletzten die Bauern und Dorfbewohner das Jagdrecht des Adels. Es war ein Verbrechen, einen Königlichen Hasen, ein Rebhuhn oder einen Hochwohlgeborenen Fasan zu ermorden, aber es gab zu viele davon, und sie fraßen die Felder kahl. Darum schlugen die Bauern zu. Gegen diese massenhaften Gesetzesübertretungen war der Staat machtlos. Das gab dem Volk nicht nur Fleisch, sondern auch Mut. Mounier de Bresse hatte keinen Stalljungen oder Kutscher eingestellt und ebensowenig mit dem Umbau des Kutscherhauses begonnen. Sein Verhältnis mit Elisabeth und seinen Mangel an ehelicher Liebe rechtfertigte er mit der Berufung auf eine althergebrachte kirchliche Vorschrift, die eine zu große Liebe zwischen Mann und Frau verbot, da Gott sonst vom ersten Platz im Herzen jedes Menschen verdrängt würde. Derselben Vorschrift entsprechend durfte ihm Madame Mounier den geschlechtlichen Verkehr nicht verweigern, aber sie war eine Meisterin im Vorschützen von Unpäßlichkeiten, die die fleischliche Gemeinschaft auf ein christliches Minimum beschränkte. Ihr Beichtvater unterstützte sie in ihrer Heuchelei. Pure Eifersucht, glaubte Mounier. Elisabeth erzählte, daß sie gesehen hätte, wie eine Gruppe festlich gekleideter Frauen schreiend aus einem Gasthaus gelaufen kam. Sie bildeten einen schützenden Ring um ein Mädchen mit einem Brautkranz auf dem Kopf, das herzzerreißend weinte. Etwas später stürmten junge Männer heraus, und ein Handgemenge entstand, bei dem der offensichtliche Bräutigam
seine Auserkorene zu überwältigen versuchte. Die junge Braut kämpfte wie eine Furie. Man hörte Schläge, Kleidungsstücke zerrissen, die Wange des Bräutigams wurde aufgeritzt. Die Hochzeitsgäste sahen beifällig zu. Der Kampf war beendet, als der Mann seiner um sich tretenden Braut die Röcke über den Kopf zog und sie, gefesselt und mit verbundenen Augen, unter dem Applaus der Gäste mitnahm. »Ein alter Brauch in dieser Gegend«, erklärte Mounier, »ein Mädchen, das sich dem Beischlaf widersetzt, gilt als besonders tugendhaft; und je wilder der Kampf ist, desto mehr kann sich der Mann auf die Treue seiner Frau verlassen.« »Und desto mehr kann er sein Heil anderweitig suchen«, ergänzte Elisabeth. »Es gibt zwei Sorten von Frauen, mein Kind. Heilige und Huren. Eine Heilige heiratet man, und die Huren liebt man.« Er lachte und küßte sie schmatzend auf den Hals. Immer öfter dachte Elisabeth daran, den Bastard zur Sprache zu bringen, aber dieses Wissen war ihr Kapital, das sie nicht leichtfertig verschwenden wollte. Und zu ihrer eigenen Überraschung war sie inzwischen fasziniert von diesem Spiel. Manchmal spielte sie die verlegene Jungfrau, manchmal öffnete sie ihr Leibchen schon, bevor er noch die oberste Treppenstufe erreicht hatte. Am liebsten hatte er es, wenn sie frech war und ihn schlug. Sobald Elisabeth dies wußte, nutzte sie seine besonderen Wünsche, um damit kleine Gunstbeweise zu erzwingen, Kleider, Essen, Geld. Mit fast wissenschaftlicher Neugier studierte sie die Reaktionen ihrer beiden Körper. Elisabeth entdeckte, wie sie befriedigt werden konnte, und sie erinnerte sich an Träume, aus denen sie erwachte, während sich ihr Bauch wohlig zusammenzog. Für Mounier war es eine Offenbarung, daß so etwas wie ein weiblicher Orgasmus existierte, und nach einigem Zögern akzeptierte er es, aufgeklärt und tolerant, wie
er war. Sie überraschte ihn mit einem Talent für die Liebe, das er hinter ihrer wohlerzogenen Fassade nie vermutet hätte. »Woher hast du das nur«, sagte er oft mit einer Mischung aus Entzücken und Mißtrauen, »wenn ich es nicht besser wüßte, könnte man glauben, daß du eine von diesen Pariser Tänzerinnen wärst.« Aber er wußte sehr gut, daß er der erste gewesen war, und es schmeichelte seinem männlichen Stolz nicht wenig, daß seine Liebeskunst sie eingeweiht hatte. Er verweigerte ihr nichts, was vor Madame Mounier verborgen bleiben konnte. Sie überboten einander in immer neuen Phantasien. Mit dem Teppichklopfer schlug sie ihn gratis, und im Tausch für eine Woche Miete schmierte sie ihn mit Honig ein und leckte ihn ab. Das brachte ihn zwar in eine nie gekannte Ekstase, aber den Rest des Tages klebte ihm das Hemd am Körper, und ein ganzer Fliegenschwarm plagte ihn, als er in einer Ecke des Hofes an seiner üblichen Stelle pinkeln wollte. Er gewöhnte sich an ihre Verbindung wie an eine schlechte Gewohnheit. Wenn Elisabeth nachts nicht schlafen konnte, lag es nicht an ihrer »Sündhaftigkeit«, sondern daran, daß sie ihre Handlungen nicht als unmoralisch empfand. Sie hatte Angst davor, mit dem Glauben an eine barmherzige Vorsehung auch das Gefühl für Rechtschaffenheit und Tugend verloren zu haben, und prüfte ihr Gewissen, so wie man es ihr beigebracht hatte. Durfte sie sich immer noch auf eine natürliche Moral berufen, die innerhalb gewisser Grenzen die Befriedigung eines Körpers erlaubte, der kein Kerker war, sondern ein Quell der Freude? War der Verlust ihrer Jungfräulichkeit ein Übel? Wenn Jungfräulichsein eine Tugend war, hätte die Natur eine andere Art der Fortpflanzung gewählt. Das Christentum widersprach den natürlichen Neigungen eines Menschen in so vielen Punkten, daß es schien, als wollte man Verstöße provozieren, um strafen zu können: eine Verschwörung von
Priestern und Tyrannen. Wenn Mouniers Hand die Innenseiten ihrer Schenkel streichelte und sich höher tastete, wenn sich seine Lippen um ihre Brustwarzen schlossen und seine Zunge sie in kleine Türme verwandelte, ergab sie sich der Natur. Aber sie liebte ihn nicht, und das machte sie unruhig. »Das Gewissen ist die Stimme der Seele, die Leidenschaften sind die Stimme des Herzens, und das Gewissen betrügt nie. Göttlicher Instinkt, verläßlicher Führer eines intelligenten und begrenzten, aber freien Wesens, unfehlbarer Richter über Gut und Böse, der den Menschen zu Gottes Ebenbild macht, Ihr seid es, der ihn über alles andere hinausragen läßt; ohne Euch finde ich in mir nichts, das mich über die Tiere erhebt, außer dem traurigen Vorrecht, von der einen Irrung in die nächste zu geraten mit Hilfe von Verstand ohne Regeln und Vernunft ohne Prinzipien«, fand sie bei Rousseau. Aber ihr Gewissen und Gott widersprachen einander. Sie las und schrieb und suchte. Elisabeth Lestevenon war auf der Suche nach einer Moral, und sie war sich schmerzlich der Tatsache bewußt, daß es nur um eine Rechtfertigung für ihr gegenwärtiges Handeln ging. Die Begeisterung für die Wissenschaft war bis in obskure Provinzstädtchen wie Saint-Omer vorgedrungen, wo die Gesellschaft »Scire est Mensurare« unter der Schirmherrschaft von Maître Mounier de Bresse ein blühendes Leben führte, das in monatlichen Zusammenkünften und in einer alljährlichen Grande Réunion gipfelte. Im Kielwasser von Newtons Physik segelte eine große Zahl von Tüftlern, die sich nicht selten bei unsachgemäßen Versuchen oder durch den nachlässigen Umgang mit Gasen und brennbaren Flüssigkeiten verstümmelten. Dabei war das Schicksal von Pilâtre du Rozier bezeichnend für den Hochmut, der dem Fall vorangeht. Er war mit seinem seidenen Ballon vor den Augen eines tausendköpfigen Publikums aus großer Höhe zu Tode gestürzt;
man mußte seinen Leichnam von den Steinen kratzen. Diejenigen, die in der Ballonfahrt eine Gefahr für die Monarchie und die bestehende Ordnung sahen, sprachen von einem Gottesurteil. Aber die Amateurwissenschaft nahm epidemische Formen an, die zu krankhaften Auswüchsen führen konnte: die Comtesse de Coigny ging niemals ohne eine Leiche auf Reisen, die sie unterwegs zum Vergnügen sezierte. Das jährliche Treffen von »Scire est Mensurare« war jedoch weder morbide noch sittenwidrig und bestand, außer der Demonstration einiger erprobter Experimente, mit denen man die Damen in sprachloses Erstaunen versetzte, hauptsächlich aus niveauvoller Konversation und reichlich Essen und Trinken. Elisabeth kleidete sich mit Sorgfalt. Die Begegnung mit der haute volée der Gegend würde ihr vielleicht die Möglichkeit bieten, Mounier zu entkommen. Meistens blickte sie nur flüchtig in den verwitterten Spiegel, aber heute fiel ihr zum ersten Male auf, wieviel größer ihr linkes Auge geworden war. Vielleicht lag es am Lichteinfall oder an der Art, wie ihr Haar aus der Stirn gekämmt war oder daran, daß sie ihren arglosen Blick übte. Es war scheußlich. Ihr Gesicht hatte sich langsam bis zur Unkenntlichkeit verändert. Sie legte eine Hand über das linke Auge und sah ein vertrautes Bild; sie legte ihre Hand über das rechte Auge, und ein erschreckter Frosch blickte ihr ins Gesicht. Immer wieder wechselte sie die Hände, kalt vor Angst. Zwei Gesichter besaß sie, die nichts miteinander zu tun hatten, von denen jedes einen eigenen Ausdruck besaß und die zusammen eine monströse, groteske Maske bildeten, einen Irrtum der Natur. Das Auge starrte sie an, und vergeblich suchte Elisabeth sich selbst in diesem Blick. Es zwinkerte ihr zu, ein obszönes Zeichen. Sie drehte sich zu Maaike um, die hinter ihr stand, nahm die Schiefertafel und schrieb: »Mein Auge. Es wird schlimmer.«
Maaike schrieb zurück: »Schmerzen?« Nein, schüttelte Elisabeth, ja doch, die Kopfschmerzen. Dagegen nahm sie Opiumpillen. Sie verdeckte wieder das rechte Auge und rollte das linke in seiner Höhle. Die Bewegung zu den Augenrändern hin war schmerzhaft, und ihr Gesichtsfeld wirkte wie ein bemalter Stofflappen, den eine große Hand gepackt, zerknüllt und wieder losgelassen hatte, so daß die Falten und Knicke noch zu sehen waren. Sie brauchte einen Aderlaß oder Abführmittel, Kompressen mit rohen Zwiebeln oder verschimmelten Käserinden. Sie mußte sich von den bösen Säften befreien, die sich in ihrem Auge ansammelten und ihr Alpträume verursachten. Vielleicht saß ihr Gewissen, entzündet und geschwollen, hinter diesem Auge und eiterte ihre Schlechtigkeit hinaus in Tränen aus Eiter und Blut. Sie schaute und schaute und wurde sich selbst immer fremder. Elisabeth sann auf ein Mittel, ihr Auge zu verbergen; wer würde diesen Froschblick nicht verabscheuen? Sie nahm das breite schwarze Band aus dem Schrank, mit dem ihr Vater sein Haar zusammengebunden hatte, und legte es über ihr Auge. Jetzt glich sie einem Piraten, einem Seebären, einem unheilvollen Abenteurer, einer Karnevalsfigur, aber von weitem betrachtet hob der Gegensatz zwischen Eleganz und Unbarmherzigkeit die Häßlichkeit wieder auf. Es wirkte beinahe herausfordernd.
Das Haus von Maître Mounier – der ernsthaft überlegte, in diesen unruhigen Zeiten das aristokratische De Bresse wieder fallen zu lassen – lag am Rande des Städtchens, gerade außerhalb der Stadtmauern in einem ummauerten Garten, ein viereckiger und massiver Herrensitz. Es war vor zehn Jahren aus den schlichten Steinen der Gegend gebaut worden, mit
Hilfe der Erbschaft von Vater Mounier und der Mitgift von Madame. Auf beiden Seiten der bescheidenen Eingangstreppe erweckten zwei etwas zu kräftige Säulenimitate den Anschein, das Dach zu stützen. Über den Fenstern und am Rande des Daches sah man Friese aus Naturstein, mit klassischen Motiven aus Lorbeerkränzen und Akanthusblättern. Der Architekt hatte die Proportionen frei entworfen; dabei war der Entwurf zwar ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten – zu plump hier und zu sparsam dort – vermittelte im Ganzen aber immer noch einen soliden und solventen Eindruck. Am Abend der Grande Réunion strahlte Licht aus allen Fenstern, und in jedem Kamin brannte ein Feuer. Aus der ganzen Umgebung trafen Kutschen mit angesehenen Persönlichkeiten ein: die gesamte Magistratur, die Geistlichkeit, die medizinische Wissenschaft, die großen Fabrikanten, Vertreter des Adels, die den bürgerlichen Ideen gegenüber aufgeschlossen waren und einige »Philosophen« wie etwa der Buchhändler. Mounier war kein bedeutender Denker, doch er besaß genügend Verstand, um verträglich und vorsichtig zu sein. Er kam seinen religiösen Pflichten der Form halber nach, verabscheute aber den Fanatismus seiner Frau. Versammlungen dieser Art boten ihm die Möglichkeit, sein Talent als Vermittler in einer langsam auseinanderbrechenden Gesellschaft unter Beweis zu stellen. Die lederne Tapete erfüllte den Salon immer noch mit dem Geruch eines parfümierten Stalls. Die Stühle, deren Beine sich unter dem Gewicht Mouniers gekrümmt hatten, standen an der Seite; die facettierten Ränder der neuen Spiegel reflektierten das Licht und imitierten auf provinziellem Niveau die räumliche Wirkung des Spiegelsaals von Versailles. Madame Mounier de Bresse, ihrem Stande gemäß gekleidet in einen weiten Reifrock aus aprikotfarbenem Taft, einem Überrock aus bordeauxroter Lyoner Seide und reichlich
champagnerfarbener Brügger Spitze rund um einen strengen Halsausschnitt, eilte hin und her, als stehe sie auf Rollen. Was sie sagte, war unverständlich vor Hochmut. Ihr Mund war breit und ihre Lippen schmal und zu rot geschminkt für ihr langes Kinn und die schweren Kiefer, die sie der Königin ähnlich sehen ließen: ein Habsburger Kopf mit dem Charme eines Schimpansen, sagte Mounier und war dabei so großmütig, ihre Verdienste als Hausfrau zu loben. Auf der Wange prangte ein frivoler Schönheitsfleck, der, ihrer wenig sinnlichen Persönlichkeit entsprechend, echt sein mußte. Die Schwestern Lestevenon in ihren gestreiften Baumwollkleidchen wurden von ihr kühl empfangen, denn obwohl sie gesellschaftlich etwas über dem Hauspersonal standen, waren sie in Madame Mouniers Augen noch nicht einmal Gäste untersten Ranges. Verloren standen sie neben der Tür. Die blonde Maaike mit ängstlichen Kinderaugen, selbst für ihr Alter zu naiv, hielt einen Zipfel vom Rock ihrer Schwester umklammert. Elisabeth fiel das Sehen mit nur einem Auge schwerer, als sie gedacht hatte: alles erschien ihr flach und ohne Tiefe, sie konnte keine Abstände mehr einschätzen und hatte Angst davor, zu stolpern oder einen Gast anzustoßen. Vor dem Kamin stand der große Eßtisch, bedeckt mit einem Tuch, unter dem sich undeutliche Formen abzeichneten. Zwei ältere Musikanten spielten auf einem Virginal und einer Geige Airs von Lully und Rameau; der Klang war dünn. Sorgfältig nach Rang getrennt, standen oder saßen die Gäste in Gruppen beieinander und hielten eine so einfache Konversation in Gang, daß man die anderen und die Neuankömmlinge jederzeit im Auge behalten konnte. Gab es neuen Schmuck, waren Familienjuwelen verpfändet und durch billigen Flitter ersetzt worden, gab es sichtbare Schwangerschaften, Krankheiten oder Trauer, sah man frische junge Frauen mit saftigen Dekolletés, schelmische Blicke anständiger Herren, leere Plätze, gab es Streit und kühle Blicke
in guten Beziehungen, Ehrgeiz oder Berechnung? Man konnte von allem etwas finden und wußte gar nicht, wohin man zuerst schauen sollte. Neben Elisabeth stand Madame Dumont, die Witwe eines Faßfabrikanten, die so dick war, daß sich die Fischbeinstäbe ihres Korsetts nach außen bogen wie die Reifen einer Tonne. Ihre Wangen waren zu rot, ihre Stirn zu weiß, weiße Schminke bedeckte ihre sich schuppende Haut, und ihre Stimme klang wie frisch vom Scherenschleifer gewetzt. Der kleine flämische Doktor Vandenplasse besaß eine wundersam schöne und vornehme Stimme und sang die Melodie zu Madame Dumonts schneidender Begleitung. Der dritte in der Runde war der asketische Buchhändler Mably, der seine chronische Verstopfung hin und wieder mit einer Diarrhöe von Worten kompensierte. Momentan schwieg er und blickte unglücklich auf den vierten Mann, an dem Elisabeth zuerst die Waden auffielen. Es waren kräftige, muskulöse Waden eines Bergsteigers, die in weißen Strümpfen steckten. Sie wirkten ein wenig gebogen, als ob ein Pferd zwischen ihnen fehlte. Hose und Jacke waren von raffinierter Schlichtheit: schwarz, aber aus bestem Tuch und von vollkommenem Schnitt. Der Nacken, der hilfloseste Teil des menschlichen Körpers, der unwillkürlich verriet, was das Gesicht zu verbergen verstand, war auf der Hut und zeigte einen Hauch Arroganz. Ein Satinbeutel hielt das glatte schwarze Haar zusammen. Ab und zu verflochten sich seine Finger hinter dem Rücken. Elisabeth sah kurz sein Profil: der Teint eines Naturmenschen, magere Wangen mit tiefen Lachfalten und eine große, scharfe Nase. Sie fing einen flüchtigen Blick seiner Augen auf, die unerwartet blau waren. Statt Mounier ein solcher Mann in ihrem Bett. Und dann Liebe mit Liebe. »Wozu dient die ganze Bildung?« sagte Madame Dumont, als Vandenplasse einen Moment schwieg. »Müssen der Korbmacher und der Müller lesen lernen, nur um bei Rousseau
zu entdecken, daß sie glücklicher waren, als sie es noch nicht konnten? Ich meine nur…« Farbe schoß in die bleichen Wangen des Buchhändlers. Er hatte einmal einen bewundernden Brief nach Ermenonville geschickt, der genau an dem Tage angekommen sein mußte, an dem sein großes Vorbild aufstieg in das himmlische Clarens. Seitdem sah er sich in besonderer Beziehung zu dem Mann, auf den er sich immer mit dem vertraulichen »Jean-Jacques« bezog. »Jean-Jacques«, sagte der Buchhändler, »hat uns allen die Augen geöffnet.« »Aber was er uns sehen läßt, ist nur ein Traum«, sagte Vandenplasse, bevor der Buchhändler seine übliche Apologie auf Rousseau beginnen konnte. Der Doktor hatte nichts gegen Rousseau, wohl aber gegen Mably. Dumont schwatzte weiter: »Meine Köchin will ihren Sohn auf eine Schule schicken. Man stelle sich das vor. Wenn jeder seine Kinder einfach weiter lernen ließe, wer macht dann die einfachen Arbeiten? Denken Sie nur: Ein Bauer, der hinter seinem Pflug lateinische Verse aufsagt.« Ihr Lachen klang wie das Quietschen eines Stiftes auf einer Schiefertafel. »Daraus kann nichts Gutes entstehen, ich meine nur… Sie beginnen einfach zu denken, und wer nachdenkt, wird unzufrieden und fragt sich: Warum habe ich nicht so ein Kleid, warum habe ich keine Magd und keine weichen Hände. Ehe man sich’s versieht, steht die Welt auf dem Kopf.« Vandenplasse beugte sich geduldig zu ihr und sagte überredend: »Wissen hat sehr viel Gutes gebracht, Madame. Wissen ist die Basis für die Blüte des dritten Standes. Und von ihm hängt die Zukunft Frankreichs ab, gerade jetzt, wo der Adel innerlich verfault ist und die Geistlichkeit korrupt und tyrannisch. Die Verbreitung des Wissens ist die erste Bedingung für die Verbesserung der Lebensumstände der
Bauern und Handwerker. Wenn wir sie nicht an unserem Wissen teilhaben und von der Wissenschaft profitieren lassen, dann begehen wir ein Verbrechen, das sich an uns rächen wird.« Dumont wurde schrill. »Aber was lösen wir damit aus? Habt Ihr gesehen, wie diese Menschen leben? Denkt Ihr, daß Ihr diese abgestumpften Tiere Kunststücke lehren könnt? Wißt Ihr, was sie lernen müssen? Gehorsamkeit, Gottesfurcht und Geduld: Wir sind nicht auf Erden, um hier besonders glücklich zu sein.« »Dann hoffe ich, daß Ihr besonders unglücklich seid, Madame.« Da er mit dem Rücken zu ihr stand, konnte Elisabeth seine Stimme kaum hören. Sie trat einen Schritt näher hinzu. Er sprach mit einem Akzent. Der Buchhändler und der Doktor wirkten amüsiert, während Madame Dumont gleichzeitig mit ihrem Unterkiefer auch ihren Fächer zuklappte. »Warum leben sie wie die Tiere? Und warum lebt Ihr in Wohlstand?« fuhr der Unbekannte fort. Während er sprach, wippte er von den Hacken auf die Zehen. Elisabeth sah, wie sich die Muskeln in seinen Waden bewegten, und sie konnte ihre Augen nicht davon abwenden. »Vor Gott seid Ihr gleich. Aber Besitz schafft eine Kluft. Er verändert die Natur des Menschen. Brot und die Abschaffung des Eigentums bringen mehr Frieden als Wissen, das gebe ich zu. Denn wer etwas zu essen hat, hält den Mund, und wer das Volk nicht füttert, erntet Ungleichheit und Aufstand. In Nancy hat das hungernde Volk Häuser geplündert; viertausend Bauern belagerten die Stadt Bordeaux, ein Jahr später zählte man in Touraine achttausend Aufständische, zehn Gendarmen wurden getötet und vier Rebellen aufgehangen, in Toulouse fünfundsechzig Tote und Verwundete, jedes Jahr gibt es überall im Land Tote. Die Liste wird täglich länger. Der
Widerstand richtet sich gegen die Rechtsprechung, gegen die Steuern, gegen die Zölle. Auch in dieser Gegend. Das weiß niemand besser als Ihr, und es beunruhigt Euch, weil auch Ihr den Mißbrauch von Privilegien verurteilt, ihm aber kein Ende machen könnt oder wollt. Widerstand wird es dennoch geben, und man muß weder Voltaire gelesen haben, um Schandtaten ausrotten zu wollen, noch d’Holbach oder Helvetius zu Rate ziehen, um die natürlichen Rechte des Menschen zu kennen.« »Ihr behauptet doch nicht«, sagte Vandenplasse erschrocken, »daß Wissen unnütz ist?« »Ich behaupte, daß ein hungriger Wissender dasselbe fühlt wie ein hungriger Unwissender.« »Und der Hunger nach Wissen?« scherzte der Buchhändler, wie üblich im falschen Moment. »Werdet Ihr davon satt?« fragte der Mann und beugte sich lächelnd zu Mably, um danach wieder ernst fortzufahren: »Sowohl die Verherrlichung des einfachen Lebens als auch die gute Erziehung für den Sohn von Madame Dumonts Köchin dienen nur als Kunstgriffe, um vom wirklichen Problem abzulenken.« »Und das wäre?« »Die absolute Monarchie.« Madame Dumont schnaubte entrüstet: »Ihr predigt den Aufstand, Monsieur. Ihr seid Atheist. Haltet Eure Zunge im Zaum, der Kommandant persönlich ist anwesend.« »In den Salons des Adels hört Ihr eine noch freimütigere Sprache, Madame.« Der Buchhändler sagte vorsichtig: »Ihr schreitet mir ein wenig zu schnell voran. Der Sturz der Monarchie wird doch den Hunger nicht abschaffen?« »Wenn das Land durch den Willen der Mehrheit des Volkes regiert wird und eine ehrliche Verteilung von Geld und Gütern gelingt, dann ja.«
»Aber damit kommt Ihr wieder zu meinem Wissen«, sagte Vandenplasse mit erhobenem Finger. »Wenn Ihr mit Volk das Volk meint, dann müssen die ›abgestumpften Tiere‹, wie Madame Dumont die ungebildeten und unzivilisierten Arbeiter nennt, unterrichtet werden. Denn wie sonst können sie in die Lage versetzt werden, die Regierung eines Landes mitzutragen? Ist das nicht auch eine Utopie?« »Eine Gesellschaft ohne Ideale und ohne die Überzeugung, diese Ideale auch verwirklichen zu können, ist tot.« Mably nickte und begann, mit weitschweifigen Zitaten die Ausführungen des Fremden zu unterstützen, aber Maître Mounier klatschte in seine Hände und bat die Gäste, Platz zu nehmen. Freudestrahlend stand er vor der Gesellschaft, zwinkerte einer Dame zu, rieb sich noch einmal die Hände und drehte sich auf seinen hochhackigen Schuhen mit den silbernen Schnallen. »Ich habe das besondere Vergnügen, Ihnen allen einen Mann anzukündigen, der in Turin sein Studium abgeschlossen hat, der der engste Mitarbeiter des berühmten Bertrandi war, der bei Mesmer und Deslon selbst zum Wohle der Menschheit Untersuchungen über die Kräfte der Elektrizität und des Magnetismus durchführte und der bereit ist, sein Wissen mit uns zu teilen und uns allen nützlich und angenehm ist und, wie ich hoffe, nicht zu schwierig für die Unterhaltung der Damen. Doktor Dieudonné Doppet aus Annecy!« Der Fremde mit den kräftigen Waden machte eine schwungvolle Verbeugung. Ein Savoyer. Daher der Akzent und die Muskeln. Daher vielleicht auch, als Ausländer, seine Kühnheit. Madame Dumont, die neben Madame Mounier saß, flüsterte in ihren Fächer. Auf einem Tisch mit Instrumenten, von dem Doppet das Tuch entfernte, als ob er ein Denkmal enthüllen würde, entdeckte Elisabeth zu ihrem Vergnügen neben vielen anderen bekannten Dingen auch eine kleine
Elektrisiermaschine mit einem Donnerschiffchen. Der einzige Gegenstand, den sie nicht einordnen konnte, war ein abgedeckter Bottich, aus dem eiserne Stäbe herausragten. »Der hochverehrte König Ludwig…«, begann Doppet; ein Lächeln vertiefte die langen Falten in seinen Wangen, als Madame Dumont hörbar die Luft einzog, »Ihr geliebter Fürst, ist Schlosser. Dies ist nicht nur ein ehrbarer Beruf, der die Einfachheit Ihres Landesherrn unterstreicht, es ist auch ein Fach von einiger Symbolik. So wie Sie alle wissen, nahm der König vor nicht allzu langer Zeit bei der Parlamentseröffnung den Ausdruck ›Schlaf der Gerechten‹ so wörtlich, daß er in Schlaf fiel…« Hier lachte der aufgeklärte Teil der Gesellschaft. »… was auf seine Empfänglichkeit für Symbole schließen läßt. Darum bezweifle ich nicht, daß er durchdrungen ist von der tiefen Bedeutung, die der Herstellung von Schlössern und Schlüsseln zugrunde liegt. Die Welt, meine Damen und Herren, die Welt der Erscheinungen verbirgt einen Schatz, und unser Hunger nach Wissen ist der Schlüssel, um Zugang zu erlangen zu den Geheimnissen der Schöpfung.« Madame Dumont zog wieder die Luft ein. Doppet verstand sich darauf, den richtigen Ton zu treffen, und er besaß die große Gestik eines Schauspielers. Was er sagte, war weniger wichtig als die Art, wie er es sagte. Während sich seine Worte in der Rede logisch aneinanderreihten, sprachen seine Augen in einer ganz anderen Grammatik. Sie übermittelten Madame Mounier seine Bewunderung für ihre moralische Kraft und Würde als Gastgeberin und sagten ihr, daß er nur für sie und ihre Seele sprach. Vandenplasse, Mably und einige andere bedeutende Persönlichkeiten empfingen die entschuldigende Botschaft, daß er – notgedrungen – weit unter ihrem intellektuellen Niveau bleiben mußte. Mit kühler Strenge begegnete sein
Blick Madame Dumont, die plötzlich ihren gefürchteten Vater aus dem Grab steigen sah und zusammenschrumpfte. Maaike, die ja nur die Augensprache verstand, blickte die ganze Zeit schuldbewußt auf die Spitzen ihrer Schuhe, als ob sie ein Gespräch belauschte, das nicht für ihre Ohren bestimmt war. In Elisabeths Bewunderung für seine theatralische Raffinesse mischte sich Ärger über die Mühelosigkeit des Betrugs. Hörten Vandenplasse, Dumont und Mably denn nicht, daß er seine früheren Ansichten verleugnete? Sahen sie denn nicht, daß die wissenschaftlichen Experimente Schnee von gestern waren? Die Gesellschaft ließ sich von den einfachsten Versuchen begeistern, applaudierte für einen Taschenspielertrick und geriet völlig außer sich, als die kleine Elektrisiermaschine knallte und blitzte und den Mast des Donnerschiffchens spaltete. Die Damen seufzten »Uuh!« und fächelten sich Kühlung zu, die Herren nahmen vor Schreck schnell eine Prise und niesten im Chor. »Parbleu!« riefen sie. Elisabeth wünschte sich nach Hause, nach Haarlem in den Harzduft des Ovalen Saales; sie wollte zurück in ihr fest umrissenes Leben, in dem die Dinge und die Menschen genau das waren, was sie zu sein schienen. Man mußte sich nur Mounier ansehen, dessen dicker Leib in einem für seine Verhältnisse einfachen Rock steckte: er galt als verläßlich und tugendhaft, aber sein Kind hing eingewickelt am Wandhaken einer Hütte und wurde von einer Fremden gefüttert. In der Pause, während die Gäste ihre erregten Nerven mit Champagner und Gebäck beruhigten, ging Elisabeth, mit Maaike an ihrem Rockzipfel, zu Doppet, der in Gesellschaft von Mounier und mit Hilfe eines auffallend jungen und engelhaften Assistenten alle Instrumente, Fossilien und Föten in Formalin wieder einpackte, bis auf die Elektrisiermaschine und den merkwürdigen Bottich. Mounier war begeistert über den Erfolg, den seine Attraktion geerntet hatte.
»Ich möchte Euch die Schwestern Lestevenon vorstellen, meine Großnichten, die bei uns im Hause wohnen. Die eine ist gelehrt und die andere stumm.« Diese Art von Scherz erlaubte er sich, da Maaike es doch nicht hören konnte und er es nicht böse meinte. Für ihn war es ein unschuldiger Spaß. Er kratzte sich unter seiner Perücke, die dadurch ein wenig in die Höhe ging. Doppet verbeugte sich und sagte mit einem schiefen, ironischen Lächeln: »Enchanté. Das Lesen hat Euch doch nicht halbblind werden lassen? Früher warnte man mich vor allzu großem Eifer.« »Nein, Monsieur, als ungebetene Gäste sind wir hier nur zur Hälfte willkommen. Ich habe also auch nur ein Anrecht auf die Hälfte des Anblicks, den Mounier uns in seiner Pracht bietet.« »Hohohoho«, lachte Mounier, »glücklicherweise ist deine scharfe Zunge der am wenigsten anmutige Teil deines Körpers.« Mit einer mißglückten Imitation von Eleganz begab er sich zum Kommandanten der Polizei und zum Hilfsbischof, die in einen Disput mit dem Buchhändler zu geraten drohten wegen dessen vermeintlichen Handels mit pornografischen und atheistischen Schriften, zwischen denen ihrer Meinung nach kein bedeutender Unterschied bestand. Doppet war amüsiert. »Nehmt es mir bitte nicht übel«, sagte er, »mein Lachen gilt nicht dem Esprit Eures Onkels, sondern seinem Mangel daran. Hoffentlich mißhandelt er Euch nicht täglich mit seinem Gefühl für Humor.« »Wenn man so wenig in Gesellschaft verkehrt wie wir, sind sogar Beleidigungen eine willkommene Unterbrechung der Stille.« »Ist es so schlimm? Warum geht Ihr dann nicht weg? Vergebt mir, ich stelle Euch eine impertinente Frage. Aber es interessiert mich. Ich habe Euch beide im Hintergrund stehen
sehen. Ihr machtet den Eindruck, als hättet Ihr das alles schon einmal gesehen. Gelangweilt. Und böse. So wie jetzt.« »Ich habe es alles schon einmal gesehen. Und besser. Ihr spielt Theater. Was ist Eure Wahrheit, Monsieur?« »Was ist Wahrheit? Meint Ihr Philosophie, Theologie, Wissenschaft; sprecht Ihr von der Wahrheit der Vernunft oder des Gefühls, der Wahrheit des Herrn oder des Sklaven? Wahrheit ist eine Frage der Position oder des Glaubens. Denn für den Ungläubigen besteht keine Wahrheit außer der des Augenblicks.« »Für mich existieren Wahrheiten, die länger Bestand haben als nur für die Dauer einer launischen Konversation.« »Seid Ihr zu mir gekommen, um mich zurechtzuweisen?« »Nein. Sondern um Euch zu fragen, warum Ihr so etwas tut. Ihr wißt doch, daß diese Experimente längst nichts Besonderes mehr sind?« »Es ist in der Tat vieux jeu. Aber so etwas will man nun einmal sehen. Nach der Pause werde ich etwas anderes zeigen. Vielleicht wollt Ihr oder Eure Schwester an einem Experiment teilnehmen, damit ich Euch beweisen kann, daß ich kein Scharlatan bin?« Er verbeugte sich. »Ich nicht, Maaike müßt Ihr selbst fragen. Hier ist ihre Schiefertafel.« Elisabeth war kurz angebunden, weil sie nicht wußte, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Mit ihrem Wissen zu prahlen, würde ihm sicher nicht imponieren, und sie hatte ihre Augenbinde nicht mitgenommen, um ein verführerisches Spiel zu spielen. Das Grauen, das sie im Spiegel gesehen hatte, ließ all ihre Handlungen unsicher werden. Doppet lächelte Maaike zu und schrieb in einer kritzeligen Handschrift eine Botschaft auf die Tafel. Maaike zitterte wie ein Kaninchen und las begierig. Als sie nickte, daß sie begriffen hatte, wischte er die Worte fort und schrieb neue. Es endete mit einem
Fragezeichen auf einer leeren Tafel. Maaike zögerte keinen Augenblick. Jaja. Ihr Kopf ging auf und nieder, und die Röte stieg ihr ins Gesicht. Elisabeth schämte sich. Sie hatte Maaike nie um Trost gebeten und ihr niemals Trost geboten. »Was werdet Ihr mit ihr tun?« »Nur Gutes.« »Sie ist verletzlich. Ihr dürft ihr kein Leid antun und sie nicht lächerlich machen.« »Seid ganz unbesorgt.« Zwei Gäste unterbrachen das Gespräch. »Monsieur Doppet, wir haben eine Meinungsverschiedenheit. Ist es wahr, daß ein Wissenschaftler von einem Feuerball aus seinem eigenen Blitzableiter tödlich getroffen wurde und völlig verkohlt ist?« »Das war Richmann, in der Tat. Es muß vor etwa dreißig Jahren geschehen sein. Er kam seinem Blitzableiter zu nahe, als ein Blitz einschlug, und das Feuer zog durch seinen ganzen Körper.« Elisabeth nahm Maaike mit auf ihren Platz und schrieb auf die Tafel: »Möchtest du wirklich? Es muß nicht sein.« »Ich will«, schrieb Maaike zurück.
Ein Diener löschte die Kerzen; nur an den Wänden blieben einige Lichtpunkte übrig. Im Halbdunkel klang die Unterhaltung gedämpfter, wie in einer Kirche. Der alte Musikant begann, auf seinem Virginal das Adagio von Albinoni zu spielen; es klang nicht so, wie man es kannte, paßte aber zu einer Atmosphäre voll gespannter Erwartung und Ungewißheit. Der Assistent des Savoyers, schön wie Antinous, hielt eine Phiole mit bläulicher Flüssigkeit in der Hand und blickte starr auf einen Punkt. Doppet spielte gedankenverloren mit einem silbernen Stab.
Als das Stimmengewirr verebbt war, kündigte er den zweiten Teil des Programms an: ein kleiner Beweis für die großen Entdeckungen der Wissenschaft, die das Antlitz der Erde verändern würden. Stille. Fächer klappten auf und wehten erregt hin und her: in der Provinz war man nicht zu versessen darauf, die neue Welt kennenzulernen. Würde nun etwas Unschickliches oder Gotteslästerliches geschehen? Im Gegenteil, versicherte er. Die Pforten des Neuen, des Überwältigenden, des Heilsamen waren durch den Schöpfer selbst geöffnet worden, voll Mitleid mit der leidenden und suchenden Menschheit, die sich schon so lange in Unwissenheit wälzte wie ein Schwein im Schlamm. Diesem Vergleich wollte man nicht so recht beipflichten; einige Münder verzogen sich säuerlich. Als Arzt habe er viel Leid gesehen, mehr noch, als sie alle zusammen am eigenen Leibe erfahren hätten. Er erinnerte sie an die Kinder, die Augäpfel ihrer Eltern, die von der galoppierenden Schwindsucht aus ihrem Spiel gerissen wurden, an Krebsgeschwülste und Geschwüre und die Cholera, die ihre Verwandten ins Grab gebracht hatte, an Pocken, an Fieber, an Entzündungen und Abszesse, mit denen sie selbst täglich zu kämpfen hatten. Er fand Vergnügen daran, die schrecklichsten Krankheiten und Schwären so plastisch darzustellen, daß der eine oder andere Zuhörer mit weißem Gesicht aus dem Saal lief. Die Kirche sagt, daß wir unsere Leiden frohgemut ertragen sollen; aber wenn Leiden unnötig sind, warum müssen wir sie dann noch erdulden? Heilte nicht Jesus Christus selbst die Blinden, die Lahmen und die Aussätzigen, erweckte er nicht Lazarus von den Toten? Er war ein Heiler und kein Henker, und Er selbst gab uns den Auftrag, wo immer möglich die Leiden zu mildern oder aufzuheben. Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Doppet legte dar, welches die Wurzel aller Leiden war: Disharmonie. Er
wiederholte das Wort und seine Synonyme mehrere Male, schmeckte es mit seiner Zunge nach, bis es jedem deutlich war. Der Mensch, ja sogar die ganze Natur strebt nach Harmonie und erfährt deren Fehlen als Schmerz. Schmerzen sind ein Signal, so wie das Fieber die Waffe ist, mit der der Kranke kämpft. Auf dem Höhepunkt einer Krankheit tobt die Schlacht am heftigsten, und sie wird entweder vom Leben oder vom Tod gewonnen, so daß danach der ewige oder der heilende Schlaf folgt. Ja, nickte man, ja. Gesehen. Miterlebt. Nun, der Kranke ist sein eigener Arzt, er muß selbst das Gleichgewicht wiederherstellen, die Kräfte wecken, die ihn heilen können. Die Medizin hilft ihm nur dabei. Mesmer, dessen außergewöhnliche, revolutionäre und komplizierte Lehre er nun nicht im Detail erläutern könne, käme das Verdienst zu, den Menschen, den kranken Menschen, den ganzen Menschen ernstgenommen zu haben. Eine kleine Demonstration würde nun folgen, mit der zumindest eine vage Idee von den Möglichkeiten und der Wirkung dieser Therapie vermittelt werden könne. Zunächst der Beweis, daß der Mensch als Leiter außergewöhnlicher Kräfte auftreten könne, als, Reservoir des Fluidums, der matière lumineuse, jener äußerst flüchtigen Substanz, die alles und alle durchströmt und verbindet. Auf sein Zeichen schüttete der göttliche Junge etwas Weingeist in eine kleine Schale. Doppet kurbelte die Elektrisiermaschine an, und der Junge hielt die eine Hand an die Maschine und die andere über die Schale. Wie Zeus selbst schleuderte das Kind einen Blitz in den Spiritus, der mit einer blauen Flamme zu brennen begann. Elisabeth fragte sich, wie viele Jungen das Experiment pro Monat kostete. In der ersten Reihe fiel Madame Bonnier in Ohnmacht, sie hing wie eine zerbrochene Marionette in ihren Röcken. Doppet eilte ihr zu Hilfe, goß ihr etwas Cognac zwischen die Lippen, hielt ihr ein
Fläschchen Riechsalz unter die Nase, und als sich die ersten Lebenszeichen zeigten, half er ihr in einen Lehnstuhl, der neben dem geheimnisvollen Kübel stand. Er wirkte freundlich und bemüht und bat sie, da sie nun einmal in der Nähe war, einen Augenblick den Stab festzuhalten, der aus dem Kübel herausragte. »Ihr werdet Euch gleich besser fühlen. Konzentriert Euch auf das Schwindelgefühl und laßt die Kräfte dorthin strömen.« Noch leicht abwesend, tat Madame Bonnier wie geheißen. Sie starrte trübe vor sich hin, mit dem Stab in ihrer Hand. Monsieur Bonnier wandte sich ab, voll Furcht, seine Frau auf einem Feuerball in den Himmel reiten zu sehen. Da er kein anderes feierliches Stück kannte, spielte der alte Musikant das Adagio noch einmal. Der Geiger strich über sein Instrument und entlockte ihm klagende, vibrierende tiefe Töne. Antinous saß kreidebleich auf einer Bank neben dem Virginal. Madame Bonnier seufzte zwei-, dreimal tief und bebend, ließ dann den Stab los und sagte: »Ich fühle mich nun sehr viel besser.« Die Farbe war in ihre Wangen zurückgekehrt. Monsieur Bonnier blickte dankbar zum Himmel. Das Publikum flüsterte, und Doppet lachte. »Eine zufällige Demonstration, meine Damen und Herren. Und ich muß ehrlich hinzufügen: eine Ohnmacht ist nur eine zeitweilige Störung des Gleichgewichts und darum leicht zu behandeln. Ich schulde Ihnen etwas wesentlich Schwierigeres, es sei denn, daß Sie alle bereits überzeugt sind.« Nein, jetzt begann man sich wirklich dafür zu interessieren. »Ich kann Ihnen keine Garantie dafür geben, daß der Beweis tatsächlich glückt. Wir haben hier nur eine Versuchsanordnung: die eigentliche Behandlung einer hartnackigen Erkrankung findet unter anderen Umständen statt und kostet mehr Zeit, als uns nun zur Verfügung steht. Ich würde gerne einige Damen zu mir bitten, nicht wegen ihrer
Schönheit oder ihrer Anfälligkeit für Krankheiten – obwohl die Herren wissen, daß das andere Geschlecht nicht nur schöner ist, sondern auch schwächer – nein, ich frage die Damen, weil eine Frau empfindlichere Nerven besitzt. Sie kennt stärkere Gefühlswallungen, ist leichter erregbar, muß sich aus diesem Grunde an strengere Lebensregeln halten, ist aber dadurch auch empfänglicher für diese Kräfte.« Die Fächer klapperten. Blicke gingen hin und her. Traut Ihr Euch? Ich nicht. Euer Hexenschuß. Eure Zahnschmerzen. Eure Unfruchtbarkeit. Eure Wallungen. Geht Ihr doch. Nein. Doppet ließ seine Augen über die Damen schweifen, die eine nach der anderen sittsam zu Boden schauten. Aber Manon Jodelle sagte: »Ich wage es.« Sie trat nach vorn. »Und Ihr dürft auch wissen, was mir fehlt«, kicherte sie, während sie Doppet schelmisch ansah. Sie zeigte ihm eine verwachsene Klaue, die Folge eines Unfalls. »Biegt die nur wieder gerade.« . Auch Madame Bonnier bot an, sitzenzubleiben; sie hatte noch das eine oder andere lästige Wehwehchen und wollte gern ihr Glück versuchen. Doppet erreichte Maaike mit seinen Augen und winkte ihr. Mit gesenktem Kopf ging sie. Elisabeth unterdrückte einen Schrei. »Ich habe in der Pause diese junge Frau gebeten, an unserem Experiment teilzunehmen. Sie kennen sie. Sie ist taubstumm. Ich kann sie auf keinerlei Weise beeinflussen. Sie weiß nur, daß sie sich konzentrieren muß und daß ihr nichts geschehen wird.« Galant nahm er Maaikes Hand und ließ sie auf dem dritten Stuhl Platz nehmen. Die Frauen bekamen die Anweisung, einen Stab zu umfassen. »Eure Gedanken richten sich auf ein Ziel, auf den Teil des Körpers, der erkrankt ist.«
Er ging von der einen zur anderen, blickte sie durchdringend an und hielt kurz den silbernen Stab an ihren Hals. Er wiederholte die Worte, die Blicke und die Berührung einige Male, während die Musikanten zum dritten Male das Adagio spielten: die Monotonie ließ die Musik zwingend wirken. Das Publikum hielt den Atem an. Die Spannung stieg. Man hörte ein Lachen, gezischte Bitten um Ruhe. Die Fächer schwiegen. Die Kerzen im Wandleuchter flackerten, als ob ein Luftzug an ihnen entlangfuhr. Alle, die Romane lasen über Gräber, Tote und Seelenwanderungen, erschauderten. Elisabeth schlug das Herz in der Kehle. Sie wußte mit lähmender Sicherheit, daß etwas Unwiderrufliches geschehen würde, aber sie war machtlos. Dort saß Maaike, starr und still, zerbrechlich, ihre Augen blickten durch Elisabeth hindurch. Sie schien angestrengt zu lauschen. Es dauerte und dauerte. Man wurde bereits unruhig. Dann begannen ihre Hände und ihre Arme zu zittern, und kurz danach zitterte sie am ganzen Körper. Alle betrachteten sie mit Schrecken und beinahe morbider Neugier. Man hatte von Konvulsionären, Jansenisten und anderen religiösen Fanatikern gehört, die in Zuckungen und Krämpfen ihren Glauben bezeugten, man hatte auch schon einen Epileptiker gesehen, aber so etwas noch nie. Maaikes Kopf schlug nach hinten, ihre Augen rollten, ihr Mund öffnete sich, und plötzlich erklang durch die Stille ein rauhes und unbenutztes Geräusch. Es kam aus Maaikes Kehle. Elisabeth wurden die Knie weich, sie suchte Halt an einer Wand, Schauder liefen ihr über den Rücken und ihr Herz raste und hämmerte. Die blasse Kehle schluckte und zitterte wie bei einer Drossel. Der Mund suchte nach Artikulation. Was sagte sie? Madame Dumont verstand die Aneinanderreihung von Tönen als eine Beleidigung gegen Maître Mounier. »Sie sagt: Mounier Vergewaltiger«, flüsterte sie für alle hörbar und sackte ohnmächtig zusammen, wurde aber durch
ihr Korsett aufgefangen, so daß niemand es bemerkte. Schockiert wartete man. Einige bekreuzigten sich, der Curé küßte sein Priestergewand und murmelte eine Exorzierformel. Mounier wurde rot, seine Frau bleich. Maaikes Kopf fiel auf ihre Brust, ihre Hände ließen den Stab los, und es schien, als ob sie in Schlaf fiel. »Maaike!« Elisabeth schob die Männer, die vor ihr standen, zur Seite und kniete vor ihrer Schwester nieder. »Maaike!« Sie schüttelte sie, nahm sie in ihre Arme, küßte sie. »Ich bin es. Komm, wir müssen weg. Wach auf. Wir müssen weg.« Angst wallte in ihr auf. Ihr wurde schlecht, sie würgte und schluckte. Vandenplasse und Doppet eilten hinzu, aber Elisabeth schob sie weg und zischte bissig: »Rührt sie nicht an!« Sie riß die Augenklappe herunter, weil sie sie behinderte. Maaike hob den Kopf und schaute sie mit lieben blauen Augen verwundert an. War es möglich, daß sie von nichts wußte? Elisabeth half ihr hoch und führte sie weg. »Komm nur, komm nur. Wir gehen.« Und zu der gaffenden Menge: »Was glotzt ihr so! Laßt uns gehen!« An der Tür sah sie aus dem Augenwinkel Antinous, der stumpfsinnig lachte. »Es ist nichts geschehen. Nichts, worüber du dir Sorgen machen müßtest«, schrieb Elisabeth auf die Tafel. »Wie fühlst du dich?« Gut, nickte Maaike bedächtig, gut. Unsicher zog sie sich aus. Jeder Knopf schien einen neuen Gedanken hervorzurufen, der in neuen Zweifeln endete. Auf jede fürsorgliche Geste von Elisabeth reagierte sie mit leichtem Unglauben. Tausend Ausdrücke besaß dieses Gesicht. Ängstlich versuchte Elisabeth, sie zu lesen. Als Maaike wie ein Kind in ihrem
Nachthemd vor dem Bett stand, hielt sie Elisabeth zurück, drückte ihre Hand gegen ihr Ohr und gegen ihre Lippen und schüttelte ihren Kopf in einem Nein. Bestätigte sie ihre Taubheit oder stritt sie sie einfach ab? Elisabeth machte die bekannte Gebärde der Ohnmacht, Vergeblichkeit und des Nicht-Wissens und deutete ihr, sie solle zu Bett gehen. Es war unmöglich, sie mit der Wahrheit zu belasten. Erst als Maaike – unruhig – schlief, begann Elisabeth zu zittern, als ob sie nackt in winterlicher Kälte stehen würde. War es möglich, sich fünfzehn Jahre lang im wahrsten Sinne des Wortes taub zu stellen? Kein lautes Geräusch, keine bösen Worte, keine bewegende Musik hatten Maaike je geweckt. Die Ärzte, die ihr Vater regelmäßig kommen ließ, um die neuesten Errungenschaften der Wissenschaft bei Maaike anzuwenden, unternahmen hinter ihrem Rücken Überraschungsangriffe mit Krachern oder schmückten sie mit übergroßen Ohren und Fühlern, die das Weltall nach wahrnehmbaren Signalen abtasten sollten. Geduldig ertrug sie diese Heimsuchungen, um Vater einen Gefallen zu tun, aber sie wollte nicht genesen, und die Ärzte waren einhellig der Meinung, daß sie absolut und unheilbar taub war. Sie fügte sich, allem Anschein nach heiter, in ihr Schicksal und hängte sich mit rührender Hingabe an Vater, der sie seinerseits mit unendlicher Geduld in Niederländisch und Französisch lesen und schreiben lehrte. Einmal hatte Vater erklärt, daß Taubheit die Ursache wäre und Dummheit nur eine Folge dessen. War Maaike nun zum Klingen gebracht worden, wie man die Saiten einer Harfe anschlug? Und wer hatte dann die Melodie komponiert? Elisabeth suchte nach plausiblen physikalischen Erklärungen, konnte aber keine finden. Maaikes Stimme dröhnte in ihrem Kopf wie das Grollen eines Vulkans über flachem Land. Etwas war entfesselt worden, das das Bild ihrer Schwester und die Vergangenheit für immer veränderte.
Wie schon einmal an diesem Abend setzte sie sich vor den Spiegel. Mit der Flucht aus Haarlem hatte es begonnen: sie war aus den vertrauten Mustern herausgerissen worden und hatte sich nach dem Tode ihres Vaters Schritt für Schritt von ihnen gelöst. Durch ihr Verhältnis mit Mounier hatte sie die alte Moral herausgefordert. Nun mußte sie sich erneut von der relativen Sicherheit in Saint-Omer lösen. Früher oder später wäre dies ohnehin geschehen. Aber wohin? Frei, um was zu tun und wie zu leben? Die Auswahl wurde immer kleiner. Sie würden sich beim Abschaum wiederfinden, sich für einen Sou verkaufen müssen und bettelnd am Straßenrand stehen. Sie würden enden wie die Huren von Bicêtre, die man auf Viehwagen nach La Rochelle brachte, sie dort mit Verbrechern verkuppelte und in die Kolonien verschiffte. Ihr Auge starrte sie an. Ein großes, gläsernes Auge. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Rund um die Iris war überall das Weiße sichtbar und fing das Licht ein. Ihr Atem ließ ihre Handflächen feucht werden. Es mußte einen Ausweg geben. Sie mußte einen Tunnel zum Licht graben. Sie bauten in den Dünen einen Berg aus nassem Sand, drückten die Seiten glatt und hart und gruben, mit ihren Händen als Schaufeln, einen Tunnel von der einen Seite zur anderen. Da der Berg sehr groß war, mußten sie sich flach auf den Bauch legen und ihre Arme bis zu den Achseln in den Sand stecken. Manchmal schauten sie in die Röhre, die andere Seite war ein rundes Teufelsauge aus Licht. In die Mitte, genau unter der Bergspitze, gruben sie ein tiefes Loch; dort hinein legten sie die tote Drossel und bedeckten sie mit Sand. Der Grabhügel war sicher bald verweht und die Drossel mit ihren leichten, hohlen Knochen zum Himmel aufgestiegen, und es regnete Fossilien und Saiteninstrumente, nackte Leiber fielen wie Mehlsäcke nieder und starrten gebrochen nach oben, großäugig, eine schwarze Kokarde auf der Brust. Inzwischen hörte man einen gewaltigen
Donnerschlag: Vergewaltiger, und Mounier wuchs aus dem Horizont hervor, ein Satyr mit Bocksfüßen und einem enormen Phallus. Sie schüttelte den Kopf, um die Bilder loszuwerden, und benannte die Gegenstände, die sie sah: Spiegel, Kandelaber aus Zinn, Vaters Tabaksdose, Bibel, Tisch, Stuhl, Uhr. Auf der Treppe erklangen Schritte. Hoffentlich, war es nicht Mounier, im Moment hatte sie noch keinen Plan oder eine Haltung ihm gegenüber. Die Schritte klangen leichter und schneller als die des dicken Maître. Doppets Stimme fragte, ob er hereinkommen dürfe. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihr Herz überschlug sich. Wenn jemand für die Ereignisse verantwortlich war, die ihr Leben veränderten, dann war er es. Außer einer Erklärung war er ihr auch eine Lösung schuldig. Aber als er vor ihr stand, versickerte die Wut aus ihren Gedanken wie Wasser aus einem lecken Beutel. »Wie geht es ihr?« fragte er. Elisabeth wies auf das andere Zimmer. »Sie schläft.« »Das ist gut. Und wie geht es dir?« Unsicher setzte sie sich an den Tisch, zupfte an ihrem Kleid herum und drehte Kügelchen aus dem Wachs einer tropfenden Kerze. »Ihr habt unsere Position hier unmöglich gemacht.« Sie sah zu ihm auf. Er wirkte schuldbewußt, aber in seinen Augen leuchteten auch Vergnügen und Spott. »Es herrscht große Aufregung. Wenn du sie haßt, die aufgeblasenen Bürger, dann hättest du Madame Mouniers Reaktion genossen. Sie erinnerte an eine billige Puppe, deren Kopf von immer mehr Rissen gespalten wurde, bis sie auseinanderfiel und wie ein Fischweib keifte. Der Curé mußte sie beruhigen. Mounier begann sofort mit großer Geistesgegenwart eine Hetzkampagne gegen euch. Dein Kredit ist in der Tat aufgebraucht.« »Lacht nur fröhlich. Es ist Eure Schuld. Wo sollen wir hin?«
»Hör zu«, sagte er und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Über die Kerze hinweg sah er sie ernst an. Sie bemerkte, daß ein Viertel seiner linken Iris schwarz war; seine Pupille wirkte wie ein Schlüsselloch. »Laß mich dir eine Geschichte erzählen. Vielleicht hast du von der berühmten Pianistin Marie-Thérèse Paradis gehört. Nur in ihrem eigenen Haus und auf dem Klavier kannte sie den Weg; ansonsten war sie hilflos, denn sie war blind. Sie spielte wie eine Göttin. Aber von Zeit zu Zeit überkamen sie Anfälle tiefster Melancholie. Musik konnte sie nicht trösten. Man fürchtete, daß sie sich erhängen würde und band sie darum auf ihrem Bett fest, wo sie sich ihren Fesseln zu entwinden versuchte und herzzerreißend jammerte. Ihre Phantasie malte ihr die schrecklichsten Szenen aus. Einige Ärzte sagten, daß zurückschlagende Feuchtigkeit ihren Blick getrübt hätte, andere sahen nervöse Anfälle als Grund für ihre Blindheit an: als Kind hätte sie sich vor einem angsteinjagenden Geräusch an ihrer Zimmertür erschrocken. Elektroschocks verbesserten ihren Zustand nicht. Sie war hochtalentiert, stockblind und hysterisch. Die melancholischen Anfälle laugten sie aus und machten es ihr unmöglich, aufzutreten. Vater Paradis griff zur letzten Rettung und brachte sie in das Haus von Doktor Mesmer in Wien. Um zu verstehen, was dieser Mann tat, mußt du wissen, daß die Ärzte, die medizinische Fakultät und die Akademie eine geschlossene Gruppe bilden. Sie sind konservativ und schwören auf Einläufe, Säfte und Brei, Melissengeist, Hoffmannstropfen und Ungarisches Wasser. Aderlässe, Brandsalben und Zugpflaster sind die Höhepunkte ihres Könnens. Wenn ihre Mittelchen nicht helfen können, ist der Kranke nicht krank. Chronisch Kranke sind zu einem Schattendasein verurteilt, ihre Leiden werden geleugnet. Mesmer, der das Schicksal so vieler Menschen bedauert, steht nichtsdestotrotz in der akademischen Tradition und entdeckte
mit Hilfe von sorgfältigen Beobachtungen und nach langem Studium die Existenz des animalischen Magnetismus. In unserem Kosmos sind unsichtbare und unmeßbare Kräfte am Werk, die einander anziehen und abstoßen, die alle lebende Materie durchströmen. Wo diese Kräfte aufgehalten werden, entsteht eine Störung des Gleichgewichts: Krankheit. Durch eine sachgemäße Anwendung des animalen Magnetismus kann man diese Hemmnisse überwinden und heilen. Das Wartezimmer von Mesmer war überfüllt mit Patienten. Alles und jeder war vertreten, Hohe und Niedrige, denn für ihn bestanden keine Unterschiede durch Geburt oder Stand, für ihn gab es nur kranke Menschen, denen geholfen werden mußte. Das ist etwas anderes als die Behelfsmittelchen und die GeldHeilkunst der etablierten Ärzte, nicht wahr? Die Mediziner stecken unter einer Decke mit der Geistlichkeit: Halte das Volk dumm und krank, halte sie wie Sklaven. Mesmer predigt nicht weniger als eine medizinische und menschliche Revolution.« Trotz ihres Widerstandes erlag Elisabeth dem Zauber seiner Stimme, sie lauschte mehr seinem Tonfall als seinen Worten. Er hatte schöne weiße Zähne: auf seiner Lippe sah sie eine dünne Narbe, die ihm einen leicht ironischen Ausdruck verlieh und zugleich etwas Scharfes, etwas Schneidendes. Das intensive Blau seiner Augen stand in Kontrast zu seinen schwarzen Haaren und wirkte abwehrend. Sie fühlte sich nicht hineingezogen, wie in den samtbraunen Blick von Mounier, dem nichts verborgen blieb, sondern auf sich selbst zurückgeworfen. »Marie-Thérèse Paradis wurde von Mesmer behandelt. Zuerst wußte er nicht, was er mit ihr anfangen sollte. Sie war kaum ansprechbar. Er ließ sie in einem Zimmer voller weicher Kissen und Vorhänge wohnen; er band sie nicht fest, sie durfte ihrem Wahnsinn freien Lauf lassen. Jeden Tag verbrachte er Stunden an ihrem Bett und sprach mit ihr. Mit Liebe und
Geduld konnte er sie davon überzeugen, sich einer magnetischen Behandlung zu unterziehen. Sie lernte, ihm zu vertrauen, öffnete ihm ihr Herz, und am Schluß der Behandlung konnte sie sehen. Niemand glaubte es; also wurden Professoren herbeigerufen, um die Probe aufs Exempel zu machen. Aber es stimmte: Sie konnte sehen.« Er schwieg. »Was wollt Ihr mir mit dieser Geschichte sagen?« »Denk darüber nach. Ich will euch mitnehmen. Ich will Maaike behandeln.« »So wie heute abend? Vor Publikum?« »Privat. Aber auch vor interessierten Kollegen und wissenschaftlichen Gesellschaften.« »Das ist grausam.« »Dies ist die Provinz. Die Menschen sind zurückgeblieben und beschränkt.« Noch vor ein paar Stunden hätte sie ihm ohne Zögern zugestimmt, aber Maaikes Stimme und die Unvermeidlichkeit der Abreise ließen die Freiheit außerhalb dieses Dorfes wie ein schwindelerregendes Abenteuer erscheinen. »Ich weiß es nicht. Ich werde darüber nachdenken. Wir können ebensogut nach Hause zurück.« Welches Zuhause? Haarlem? Wer würde es dort wagen, ihnen zu helfen? Bei wem konnten sie wohnen? Er stand auf. »Warum hast du heute abend die Augenbinde getragen?« »Es ist widerwärtig.« »Schau mich an.« Er nickte, wollte etwas sagen, zögerte einen Moment und sagte leichthin: »Ja, es ist außergewöhnlich. Der böse Blick.« An der Tür sagte er: »Ich komme morgen wieder, um deine Entscheidung zu hören.«
In dieser Nacht schlief Elisabeth nicht. Sie versuchte, eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Es gab sicherere Lösungen als die Teilhaberschaft mit dem Fremdling Doppet: zurück nach Haarlem, wo sie sich unter den Schutz der alten Freunde aus Teylers Gesellschaft flüchten konnten. Das Abenteuer einer mesmeristischen Behandlung schien ihr auf einen unwiderruflichen Verlust aller Hoffnungen herauszulaufen. Maaike war taub. Der Zwischenfall war eine grausige Laune des Schicksals, Zufall, eine kollektive Sinnestäuschung, aber kein Beginn einer Heilung. Und die Erzählung über die Paradis war noch nicht beendet. Etwas fehlte. Die Kutschen der Gäste rumpelten fort, die Lichter im großen Haus erloschen. Mounier würde diesen Schlag sicher überwinden, und seine Frau hatte ihren Gott und einen geharnischten Glauben. Die Gäste würden das Wunder nach einiger Zeit in ihre Gespräche einflechten über die zunehmende Zahl von Bettlern, den Verfall der Sitten und die Notwendigkeit von Reformen. Während sie im Dunkeln saß und zusah, wie der Mond über die Baumspitzen strich und bei seinem Aufstieg immer heller schien, schloß Elisabeth mit weitaus mehr Schmerzen einen Teil ihres Lebens ab als zu der Zeit, da sie Haarlem verließ. Es erschien ihr wie ein aufgeschobener Abschied. Tastend suchte sie ihren Weg zu der Kiste, in der der Reisemantel ihres Vaters lag. Sie drückte ihre Nase in den Mantel und sog den Geruch von Kampfer, Tabak und Druckerschwärze ein, wie um dem toten Stoff Weisheit zu entnehmen.
4
Er betrachtete Savoyen, Piémont, Valais, das Pays de Vaud und ganz Frankreich als seine Heimat, mit Ausnahme von Flandern und Artois. Der Horizont mußte unterbrochen sein, die Landschaft mußte Zufluchtsorte bieten und widerborstig sein, mit überraschenden, freigiebigen Ausblicken und dann wieder verschlossen. Egal, wie fruchtbar der Boden hier auch war und wie wohlhabend das Volk: nichts blieb im Verborgenen. Die Bigotterie, zu der das führte, paßte ihm nicht. Die Gastwirte in dieser Gegend betrachteten schweigsame Reisende mißtrauisch und mit einem Argwohn, der seiner Meinung nach aus Vorurteilen und Intoleranz entstand. Aber lieber ungestört bleiben als aufgenommen zu werden in den Kreis schwafelnder Schausteller und Saisonarbeiter. Unter ihnen fand er seine Kundschaft nicht. Mesmers egalitäre Auffassungen über Heilkunst teilte er nur in der Theorie. Er hielt sich an die wohlhabenden Bürger, die mit Wissen aus zweiter Hand leicht zu beeinflussen waren und freigiebig mit dem Geld umgingen, da sie ihre Machtansprüche auf Handel, Wissenschaft und Technik begründen wollten. Manchmal akzeptierte er die Gastfreundschaft eines Adligen, hohen Beamten oder eines Bischofs, aber meist gab er der Anonymität eines Gasthauses den Vorzug. Nach seinem Besuch bei Elisabeth saß er bis zur Sperrstunde in einer Ecke der Gaststube und wurde hin und wieder von einem der Schriftsetzer belästigt, die in Gruppen von Druckerei zu Druckerei zogen, so lange arbeiteten, bis genug Geld für ein vierzehntägiges Besäufnis zusammen war, und die dabei immer nur wilde Geschichten erzählen wollten. Antoine
Lebrun, sein Antinous, war verschwunden; er folgte sicher seinen unergründlichen nächtlichen Wegen. Er war wie ein junger Kater, der sich in den dunklen Ecken jedes Dorfes blind zurechtfand. Doppet war es überdrüssig geworden, sich um den Jungen zu sorgen, der immer wieder zurückkam, manchmal gezeichnet von den Spuren eines Kampfes, aber niemals reuevoll. Aber als Doppet mit einem Leuchter auf sein Zimmer ging, lag Antoine in tiefem Schlaf auf seiner Matratze. Doppet setzte sich auf den Rand seiner knarrenden, nicht allzu sauberen Bettstatt und betrachtete den Jungen lange. Mädchenhaft schön war er, nein, mehr als das. Sogar im Schlaf waren Mädchen noch fürsorgliche Mütter, Betschwestern oder angehende Kurtisanen; ihre Zukunft blieb in ihren Zügen sichtbar, ihre Träume verbargen nichts. Antoine war ein zeitloser Engel. So hatte sich der alte Barnabit Pater Anastasius vom Seminar Chapuisien in Annecy Engel vorgestellt, als er mit kaum verhohlener Wollust die Früchte seines Bemühens um mystische Visionen beschrieb. Seraphim, Cherubim, Erzengel, Soldaten des Heeres der Heerscharen, ewig jung, erfüllt von Kraft und Unschuld, umringten den Thron des Allmächtigen. Ihre strahlende Schönheit blendete das Auge. Die kräftigen weißen Flügel hingen ruhig von ihren Schultern herab; siehe, dort steigt ein Geist empor, mächtiger als ein Adler. Oh, Körper maßlosen Verlangens! Rein! Rein! Rein! rief Anastasius in seiner Ekstase und verfluchte im gleichen Atemzug das Fleisch im allgemeinen und das der Jungen, die sich selbst befleckten, im besonderen. Anastasius’ Apokalypse ließ ihn vor Angst und Abscheu erzittern, aber der Drang nach Schönheit, nach Vollkommenheit war für immer in ihm verwurzelt. Er verehrte und haßte sie. Lebruns bleiches, ovales Gesicht war von schwarzen Locken umrahmt, seine geschlossenen Augen warfen lange
Wimpernschatten auf die Wangen, auf der Oberlippe zeigte sich schwarzer Flaum, der Mund war kaum geöffnet, der weiße, zerbrechliche Hals erschien gebogen wie bei Alexander dem Großen, die knochige Schulter, auf der die Spuren des Trageriemens noch zu sehen waren, ragte aus dem grauen Hemd hervor, er sah gerade noch den Rand einer dunkelbraunen Brustwarze auf der unbehaarten Brust des Jungen. Eine zärtliche, warme Leidenschaft und ein starkes Heimweh nach dem Stand der Gnade erfüllten Dieudonné Doppet. Er blies die Kerze aus und versuchte zu schlafen.
Wo keine Postkutsche fuhr, gingen sie zu Fuß. Doppet trug den Kübel, die Eisenstäbe ragten wie die Beine eines Insektes nach allen Seiten. Antoine Lebrun schleppte auf seinem Rücken eine hohe Kiste mit Schubladen, wie sie typisch ist für die Hanfkämmer und Kesselflicker aus Savoyen. Sie waren ein Teil der namenlosen Menge, ohne Ziel von Stadt zu Stadt ziehend, ohne festen Wohnsitz, Tagelöhner, Söldner, Schmuggler, Bettler, Männer und Frauen, arm geboren oder durch Brand, Krankheit, Krieg und Schulden außerhalb der Grenzen der Ehrbarkeit gestoßen. Der April war kalt. Die geringe Kraft der Sonne wurde durch den Seewind gedämpft. Zwischen Wallhecken lagen Äcker mit keimender Saat in der rotbraunen Erde. Auf brachliegenden Flächen wuchsen hohes gelbes Gras und niedrige Sträucher wie wirre Strubbelköpfe; auf grasreichen Erdbuckeln weideten Kühe und Schafe. Die Wolken waren viel zu weiß, und zu Beginn ihrer Reise spiegelte das Licht noch die helle Nähe des Wassers. Elisabeth betrachtete neidisch die Kniebundhosen der Männer. Maaike und sie trugen nicht nur eine Tasche mit Gepäck, mit jedem Schritt stießen sie ein Pfund Wollstoff vor
sich her und traten auf den Saum ihrer Röcke, bis sie sie auf die Länge der Röcke der Bäuerinnen schürzten. Dann und wann wichen sie vom Weg ab und pflückten auf Anweisung von Doppet Kräuter an einem Bach oder in einem Waldstück. Obwohl sie sich für die wichtige Verbindungsstraße zwischen Calais und Lille entschieden hatten, sahen sie in den ersten Tagen außer Bauernkarren nur ein einziges Fuhrwerk, das einem englischen Reisenden gehörte, der sie in miserablem Französisch ansprach und ihre Antworten in ein kleines Reisetagebuch schrieb. Das Laufen gab Elisabeth die nötige Ruhe zum Ordnen ihrer Gedanken. So wie eine Schlange ihrer alten Haut entwächst, warf sie ihre Vergangenheit ab. Nicht mehr daran denken. Denk an morgen. Aber in ihr entstand ein Dröhnen gleichartiger Gedanken, die keinen Zusammenhang untereinander besaßen. Sie befand sich in St. Bavo und hörte Vater sagen: »Nur mit der Hilfe des Christentums kann man die Tugend bewahren.« Rund um seine Stimme klangen andere Stimmfetzen in ihrem Kopf, die sie nicht verstand. Danach kam ihr die Erinnerung an einen stürmischen Herbsttag; sie ging gegen den Wind die Spaarne entlang – wohin und warum dieser Fluß? – und erkannte plötzlich, daß sie einsam war und außer Vater und Maaike niemanden hatte; selbst diese beiden verschwanden Schritt für Schritt aus ihrem Blickfeld. Sie lief hierhin und dorthin, bis sie an das Kaminfeuer in Mouniers Büro dachte, wo sie ihm von ihrer Abreise erzählte, es brannte gedankenlos mit verschwenderischen, fröhlichen Flammen. Und dann begann die Gedankenkette ihren zwingenden Rhythmus von neuem. Vater, Spaarne, Feuer. Nach einiger Zeit verdampften die Bilder, und ihr Kopf wurde leicht. Nur der Augenblick bestand, und selbst das erschien ihr unwirklich. Maaike ging neben ihr wie des Teufels Großmutter, Vaters Uhr in den Reisemantel unter ihrem Arm gewickelt. Sie blickte zu
Antoine Lebrun. War er ihnen überlegen oder war er geistig behindert, nur eine schöne leere Hülle? Er wich ihrem Blick aus. Sie blickte zu Dieudonné Doppet. Auf jeden Fall vertraute Maaike ihm. Unmerklich bezog er sie in seine Beobachtungen ein. Die Schiefertafel benutzte er nur selten: er zeigte, machte einfache Gebärden und sprach mit ihr, wobei sie die Worte von seinen Lippen las und mit ihren Händen und ihrem Gesicht antwortete. Maaikes Sprache gehorchte eigenen Gesetzen. Vater hatte sich damit ausgekannt, und nun auch Doppet, während Elisabeth nie besonders weit vorgedrungen war. Sie war dankbar und neidisch. Als sie sich nach der Reiseroute erkundigte, holte er einen Stapel von Einladungen aus seiner Jagdtasche und sagte, daß er in jeder Stadt mit einer Akademie, einem Gymnasium, einer Gesellschaft oder einer Privatschule seine Experimente vorführen konnte, was bedeutete, daß sie überall willkommen waren. Wenn die Institute die nötigen Instrumente für eine chemikalische oder physikalische Demonstration besaßen, konnte er sein Repertoire anpassen. Keine Sorgen also. Abwarten. Keine festen Pläne machen, keine Möglichkeiten auslassen. Elisabeth war nur halb beruhigt. Zum Glück war in ihren Unterrock das Schweigegeld eingenäht, um das sie Maître Mounier de Bresse gebeten hatte. Er zahlte ohne Zögern und bezahlte auch Doppet, als der von ihm einen Betrag für die »Erziehung« der Schwestern Lestevenon verlangte. Elisabeth träumte davon, eine Schule für Mädchen zu eröffnen, und sie hoffte, durch Doppet mit reichen und aufgeklärten Familien in Kontakt zu kommen, die ihre Töchter nicht in ländlicher Unwissenheit aufwachsen lassen wollten. Maaikes Behandlung mußte so lange wie möglich zurückgestellt werden, auch wenn sie dafür keine guten Gründe nennen konnte.
Auch Doppet zögerte, Maaike zu behandeln, die so jung und so voll Vertrauen war; aber die Sache ließ ihn nicht los. Puységur, der Mesmers Weg gefolgt war und ihn weiterentwickelte, hatte den Somnambulismus entdeckt, einen Schlafzustand, in dem der Patient Handlungen vornimmt und Worte ausspricht, die ihm vorher unbekannt waren und an die er sich später nicht mehr erinnern konnte. Wenn man ihn künstlich in diesen Zustand versetzte, konnte ein Somnambuler Aufträge ausführen, die ihm der Magnétiseur gab. Diese Methode förderte den Heilungsprozeß, gab aber auch Anlaß zu Mißbrauch und Betrug. Seit Doppet von der Entdeckung gehört hatte, beschäftigte er sich mit Experimenten und dem Suchen nach einer Erklärung für diese Erscheinung. Seine Schlußfolgerung erschreckte ihn. Es war unvorstellbar, daß der menschliche Geist ein Reservoir besaß, zu dem der Verstand im wachen Zustand keinen Zugang hatte, ein unendliches unterirdisches Meer, ein Brunnen der Instinkte, ein Lager unerträglicher Trauer und verbotenen Verlangens, eine geheime Triebfeder. Das stellte nicht nur die Ausgangspunkte der Wissenschaft auf den Kopf, einer Wissenschaft, die auf diese Weise ihre eigenen Fundamente aushöhlte, sondern es bot auch schwindelerregende Möglichkeiten für jede Art von Ausbeutung. Er war sich unsicher, wem er den Vorzug geben sollte – genaueren Untersuchungen oder bedenkenloser Anwendung – aber er machte sich wenig Illusionen über die Habsucht der Menschheit, sich selbst eingeschlossen. Über Béthune und Arras zogen sie nach Cambrai. Am Horizont erschienen immer neue Türme von Städten, in denen an Markttagen ein Gewimmel wie in einem Bienenstock herrschte. In den schmalen Straßen drängten sich Reiter, Reisende und Kaufleute; Tonnen, Karren, Schweine und Marktstände versperrten den Weg. Elisabeth faßte Maaike fest am Arm, die die geschrieenen Warnungen nicht hörte und mit
großen Augen das lautlose Chaos betrachtete. Wenn Elisabeth, durch ihre Augenklappe behindert, ein niedriges Aushängeschild oder ein Vordach übersah, stieß Maaike sie weg. Ein schönes Paar, dachte sie, die eine ein taubes Ohr, die andere einen Riß im Kopf. Die Gasthäuser, in denen sie einkehrten, unterschieden sich kaum voneinander: Ställe für die Pferde rund um einen Innenhof aus Kopfsteinpflaster oder festgestampfter Erde; in der Gaststube mit niedriger Decke, langen Holztischen und einem rauchenden Feuer im Kamin die immer gleiche Gesellschaft, arm und reich durcheinander. Es wurde gelacht, gestritten, gesungen und gesoffen. In Cambrai war es nicht anders. Lebrun aß mit ihnen die dicke Suppe und das schwarze Roggenbrot und verschwand. Wie jeden Abend blickte Doppet ihm nach und seufzte. Zwischen Doppet und Lebrun bestand keine gewöhnliche Beziehung. Elisabeth spürte eine ständige Unruhe, eine anziehende und abstoßende Bewegung. Sie wollte gerne mit ihm darüber sprechen, ebenso wie über alles andere, was sie beide betraf. Obwohl sie zufrieden war mit ihrem Talent zur Einsamkeit, das sie im Laufe der letzten Monate entwickelt hatte, verlangte sie nach Vertraulichkeit und Freundschaft. Sie war gerade zwanzig und setzte ihre Hoffnungen auf die Liebe und das Gute im Menschen. Er spielte mit Maaike und zeichnete Bildrätsel auf ihre Tafel, über die sie sich dann mit gerunzelter Stirn beugte und von der sie hin und wieder lachend und errötend zu ihm aufsah. Seine Hände fesselten Elisabeths Aufmerksamkeit: die Finger, Gelenke, Nägel, Linien, die Haut mit Sommersprossen und das Blut, das darunter floß, die Haare auf dem Handgelenk, die Bewegungen, die die Hand wie von selbst zu machen schien. Ein Tier. Ein freundliches Tier vielleicht, aber unberechenbar. Sie sah die Hand mit einem Stück Brot spielen, einen Bettler wegstoßen und der Wirtin winken, Maaike ein Zeichen geben,
das schwarze Haar nach hinten streichen, als ob das Tier an etwas anderes denken mußte, sie sah sie streicheln und schlagen. Wie würde sich seine Haut anfühlen? Seine Zunge, sein Mund, seine Hände? Als Maaike todmüde über ihrem Rätsel einschlief und Doppet sie anstieß und ins Bett schickte, blieb Elisabeth sitzen. »Das kann sie auch allein«, sagte sie, »es geht ihr gut.« Maaike ging und bemerkte nicht, daß hinter ihrem Rücken ein Kampf ausbrach, als ein betrunkener Hausierer sabbernd hinter ihr herschwankte und dabei den Bierkrug eines Schornsteinfegers umwarf, der prompt in Wut geriet. Der Wirt griff zum Wassereimer, der immer zum Löschen kleinerer Brände bereitstand, goß ihn über die Kämpfenden und trieb sie nach draußen. »Hast du schon einmal den Himmel betrachtet, wenn das Wetter umschlägt?« fragte Doppet plötzlich, und sein Schlüssellochauge betrachtete sie aufmerksam. »Sehr hoch hängen Wolkenschleier. Sie verändern ihre Position und ihre Form kaum. Aber darunter jagen Wolken, die sich ausdehnen und zusammenballen und ständig verändern. Die Schleier und die Sturmwolken scheinen keinen Kontakt miteinander zu haben. Oben geschieht alles langsam und träge, unten geht alles schnell.« Er schwieg. Erwartete er eine Antwort? Elisabeth fühlte sich unbehaglich. Nun, nachdem ihre Phantasie seinen nackten Körper gezeichnet hatte, war ihre Unbefangenheit dahin. Bevor sie eine Antwort fand, fuhr er fort. »Auf dem Land und in den Dörfern geht die Geschichte nur langsam voran. Jahrhundert für Jahrhundert bleibt das Leben gleich: das Land wird bearbeitet mit dem Ochsen vor dem Pflug, das Wasser kommt aus einem alten Brunnen, heidnische Bräuche tragen nur ein katholisches Mäntelchen. Kriege, Epidemien und Hungersnöte kommen und gehen, man
übersteht sie; Menschen leben und sterben und wissen nicht mehr, als ihre Väter wußten. Aber an anderer Stelle geht die Geschichte schnell. Durch unsere zunehmenden Kenntnisse trennen wir uns von unseren Vorfahren. Entdeckungen, Erfindungen und Ideen jagen einander und verdunkeln den Himmel. Wir werden von diesem Mahlstrom mitgerissen, ebenso willenlos, wie der Bauer in der Auvergne verankert ist in der Trägheit der Jahrhunderte.« Elisabeth wußte nicht, was sie davon halten sollte. Die gleichzeitige Existenz primitiver Gebräuche und raffinierter Technik erschien ihr als ein auf die Dauer unüberbrückbarer Graben. Sie hatte den Glauben an den Fortschritt und die Macht des Menschen über die Materie mit der Muttermilch eingesogen. Der Ausdruck »Zurück zur Natur« durfte nicht wörtlich aufgefaßt werden, sondern rein als Aufforderung, die Schlichtheit des Herzens zu bewahren, und willenlos war der Mensch nie. Was wollte er? Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nie in derart betrachtenden Worten mit ihr gesprochen. »Wofür würdest du dich entscheiden, wenn du die Wahl hättest?« fragte sie. »Zu sein, wo ich nicht bin, ungeschehen zu machen, was nicht ungeschehen zu machen ist.« »Was meinst du damit?« »Daß ich in Reichtum nach Einfachheit verlange, mich in Armut nach Besitz sehne, daß ich mein Wissen für Unwissenheit eintauschen will und eine Antwort auf meine Fragen suche. Ich will…« Mitten im Satz brach er ab und blickte zur Tür des Gasthauses, die von einer Gruppe lärmender junger Leute geöffnet wurde. Einer der Jungen ähnelte Lebrun. »Das spielt keine Rolle«, sagte er und neigte ein wenig den Kopf. Aber als Doppet die Enttäuschung in Elisabeths sichtbarem Auge erkannte, bekam er Mitleid. Er wurde nicht
recht schlau aus ihr. Schon seit sechs Tagen reiste sie mit ihm, entschlossen und stark, aber auch so verletzlich, daß er es manchmal bereute, die Schwestern aus einem Impuls heraus ins Schlepptau genommen zu haben. »Früher habe ich Rousseau angebetet. Also bin ich dem Rat meines ehrenwerten Landsmannes, des Vikars aus Savoyen, gefolgt und habe meine Bücher geschlossen. Denn, dachte ich mit ihm, ein Buch liegt offen vor unser aller Augen, das Buch der Natur. In diesem großen und erhabenen Buch habe ich gelesen und dabei zu lernen versucht, wie man dem Schöpfer dieses Buches dient und ihn anbetet.« »Das kenne ich«, sagte Elisabeth sanft. »Dort steht auch: Der wirkliche Gottesdienst ist der des Herzens.« »Und was hältst du davon? Aber sag nichts. Du hast geweint.« »Nein«, sagte sie empört. »Das habe ich nicht. Ich gebe ihm nicht in allem recht.« »Tröste dich. Ich auch nicht. Ich kehrte immer wieder zum Ausgangspunkt zurück. Wie war es auch wieder? ›Ich bedachte das traurige Los der Sterblichen, die auf dem Meer menschlicher Meinungen treiben, ohne Ruder, ohne Kompaß und ihren stürmischen Leidenschaften ausgeliefert. Als einzigen Lotsen haben sie einen unerfahrenen Steuermann, der den Kurs nicht kennt und weder weiß, woher er kommt, noch wohin er geht. Ich sagte zu mir selbst: Ich liebe die Wahrheit, ich suche sie, und ich kann sie nicht erkennen. Zeigt sie mir, und ich werde ihr verbunden bleiben. Ich sah Gott in all Seinen Werken; ich fühle Ihn in mir, ich sehe Ihn überall um mich her: aber sobald ich Ihn und Sein Wesen ergründen will, sobald ich herausfinden will, wo Er ist, was Er ist und woraus Er besteht, entflieht Er mir, und mein verwirrter Geist erkennt nichts mehr.‹«
Elisabeth zitterte, als ob ihr kalt wäre: es schnürte ihr die Kehle zu. Ihr gegenüber schwieg Doppet. In den Falten um seinen Mund war der Schatten eines Lächelns zu erkennen. Schließlich legte er seine Hand über ihre. »Bücherweisheit«, sagte er. »Geh ruhig schlafen, es ist schon spät.« Zum ersten Mal war Lebrun nicht zurückgekehrt. Falls Doppet sich bereits Sorgen machte, ließ er es sich nicht anmerken. Selbstbeherrschung war der Panzer, der die Außenwelt gegen seine »stürmischen Leidenschaften« schützte und Eindringlinge auf Distanz hielt. Aber Lebruns Verschwinden warf seine Pläne um, und die Schwestern Lestevenon kamen ihm näher, als er selbst es für wünschenswert hielt. Träume quälten ihn, in denen er sie nackt in die kalte Nacht hinausjagte, sie blutig schlug und danach ihre Hände küßte und ihren weißen Körper und ihre zarte, zarte Haut, und dabei heulte wie ein Wolf, während Antoine Lebrun zusah und ihn auslachte. Seine größten Ideale waren im täglichen Kleinkrieg um Macht und Einfluß außer Sicht geraten. Es gab zu viele, die wie er, als Betrüger und Betrogener zugleich, nicht in der Lage waren, sich über die Masse halb mißglückter, nachtragender Wolkenritter zu erheben: Gelehrte, die nichts besaßen außer ihrem Wissen und dem Ehrgeiz, der Gosse zu entkommen. Sie alle riefen im Namen des Vaterlands nach Gleichheit und Gerechtigkeit. Schwätzer. Sein Zynismus wurde umso bitterer, je mehr er selbst in seinem Streben enttäuscht wurde, das Licht der neuen Zeit zu verbreiten. Es gärte in ihm. Lebrun war ausgeflogen; das zwang ihn zu einer Entscheidung im Falle der Versehrten Schwestern, die so verwirrend schön waren. Sie mußten ihn erheben und erlösen. Elisabeth war stolz und froh über die Aufgabe, Lebrun ersetzen zu dürfen. Voller Hingabe trug sie dazu bei, die
Demonstration an einer Privatschule zu einem vollen Erfolg werden zu lassen. Sie war geschickter als Lebrun, engagierter und sachkundig, und ihre Vorschläge zur Änderung und Ergänzung der Experimente waren deutliche Verbesserungen. Da sie ein so großes Vergnügen daran zeigte, fiel es Doppet schwer, ihr zu erzählen, daß im Rahmen eines Auftritts beim Bischof von Cambrai die erste Bestätigung seines Experiments mit Maaike stattfinden sollte. Der Bischof war ein anspruchsvoller Mann, und gerade ihn wollte Dieudonné Doppet schockieren, vor allem nun, da er ihn nicht mehr mit Antoine Lebruns Engelsgesicht entzücken konnte. Außerdem hatte sie selbst gesagt, daß Maaike Fortschritte machte. Elisabeth protestierte, es sei noch zu früh. Sie hatte Angst. Reichte das übliche Programm nicht aus? Vielleicht konnte sie sich etwas Neues ausdenken; zur Not würde sie Gedichte rezitieren. Zunächst wollte sie Genaueres erfahren über Magnetismus, Mesmerismus, Somnambulismus und all die anderen okkulten -ismen, die im Widerspruch standen zu allem, was sie bis dahin für wahr gehalten hatte. Es sei nicht neu, beschwor Doppet sie. Es sei eine Kombination aus althergebrachten magnetischen Kenntnissen und moderner Wissenschaft. Intuition und Verstand arbeiteten dabei zusammen. Die Resultate seien verblüffend. Der Widerstand der Fakultät beruhe auf purer Mißgunst. Aber vorläufig betrachtete Elisabeth es als Zufall oder Betrug, und wenn es so war, konnte sie ebensogut Maaikes Platz einnehmen, die Taubstumme spielen und so tun, als ob sie in Trance sprach. Doppet mußte sich entscheiden zwischen der Angst vor einem mißglückten Experiment mit Maaike oder der Angst vor dem Scharfsinn des Bischofs, zwischen seinem eigenen Talent oder dem Elisabeths. Nach ein paar Proben entschied er sich für sie.
Während Doppet mit dem Bischof tafelte, wartete Elisabeth in der Küche. Es war ein großer, warmer Raum, in dem das ganze Jahr über unter einer enormen Feuerstelle und im Backofen ein Feuer brannte. Man sah Bratspieße und Stelleisen, Dreifüße und Kochkessel in allen Arten und Größen, gescheuerte Tische und Bänke, Betten für die Dienerschaft, Holzeimer mit Schöpflöffeln, Zinnteller, Krüge aus Steingut für Öl, ein Faß Wein und eine Kiste für Mehl und Brot. Ein schwitzender Küchenjunge drehte ein halbes Schwein auf einem Bratspieß; Fett tropfte herunter und qualmte. Der Koch knetete mit weißbestäubten Armen Brotteig. Ein Diener stellte Schüsseln auf und goß Wasser und Wein in Kannen. Ein Hund schnüffelte umher und fraß Abfälle vom Boden. Elisabeth saß still auf ihrem Hocker; sie war taub, also existierte sie nicht. Ein zweiter Diener kam zu Hilfe. »Es ist wieder ein Doktor, nicht?« »Ja.« »Welcher?« »Der Savoyer.« Die Stimme des Lakaien klang geringschätzig. Nach der gängigen Meinung konnte man »das Bergvolk« für jede schmutzige Arbeit mieten; es verlangte nicht viel dafür und verdarb die Preise. Gegenseitiger Haß war unter Ausgestoßenen natürlicher als gegenseitige Solidarität. »Ich kann sie nicht mehr auseinanderhalten. Und wer ist das?« fragte der andere und deutete auf Elisabeth. »Gehört zu unserem sogenannten Doktor. Stocktaub.« »Oh, ich dachte schon… Aber sie haben doch sonst immer Jüngelchen? Und das ist ein Frauchen, wenn ich mich nicht irre.« Er hob mit dem Stiel eines Kochlöffels Elisabeths Umhängetuch hoch und pfiff durch die Zähne: »II y a du monde sur le balcon! Nichts für Monseigneur.«
»Monseigneur tanzt auf allen Hochzeiten.« »Woher weißt du das?« »Tja, woher weiß ich das. Ich sehe das eine oder andere.« »Wenn er es nur dabei lassen würde. Aber nimm nur den Fall Armand Ducros. Eine Mißernte wegen Krankheit, um drei Ecken leiht er Geld beim Bischof, kann seine Steuern nicht bezahlen, sein Land wird beschlagnahmt, fällt an Monseigneur. Der arme Schlucker fischt in den Teichen und jagt auf dem Land, das früher ihm gehörte, denn er hat Hunger und seine Kinder verrecken. Monseigneur läßt ihn festnehmen und foltern. Der Schwarzrock ist so gierig wie die Pest und erstickt fast im Geld. Nächstenliebe? Nie davon gehört. Armutsgelübde? Hör doch auf.« »Halt dein Maul, Kerl.« »Die Messe leiert der doch nur herunter. Wenn er sie nicht sowieso abgibt.« »Aber immer zu Ostern.« »Ja, eine schwarze Messe.« »Sei ruhig. Die Wände haben Ohren.« »Von mir aus kann er zum Teufel gehen. Schau dir bloß an, was alles nach oben geht. Kein Wunder, daß die Doktoren sich die Klinke in die Hand geben. Und was müssen sie tun?« »Halt doch den Mund, Kerl.« »Du kennst doch das Sprichwort: Hüte dich vorn vor einer Frau, hinten vor einem Esel und überall vor einem Pfaffen.« »Du hast zu essen und ein Dach über dem Kopf.« »Einmal habe ich heimlich zugesehen. Ein Jüngelchen, schön wie das Jesuskind, splitternackt vor Monseigneur. Der Doktor daneben, erklärt Körperteile, sogenannte anschauliche Wissenschaft, und Monseigneur befummelt das Kind, umdrehen, bücken lassen, Pobacken auseinander. Der Junge
schreit. Die Augen quellen ihm aus dem Kopf. Mir drehte sich der Magen um.« »Du lügst doch.« »Ich schwöre es.« Ein Stallbursche kam atemlos aus dem Hof in die Küche gerannt und brachte einen Schwall frische Luft mit. Er blieb an der Tür stehen und wartete auf die Erlaubnis, sprechen zu dürfen. Der Koch gab ihm ein Zeichen. »Sie kommen.« »Wann?« »Heute abend.« »Wie viele?« »Viele.« Der Junge bekam ein Stück Brot und ein kurzes Nicken, daß er verschwinden konnte. »Kein Wort«, fügte der Koch noch hinzu, »und bleib heute abend weg von den Fenstern.« Vergnügt schob er das Brot in den Ofen. »Es wird Zeit, daß der Hochmut fällt.« »Frankreich stinkt wie ein frischer Haufen Scheiße«, sagte der Diener und trug eine Schüssel nach oben. Monseigneur de F. wirkte wie ein bartloser Säulenheiliger und war ein gefährlicher Mann. Trotz seiner schmächtigen Gestalt füllte er den ganzen Salon mit seiner Anwesenheit. Er bildete den Konvergenzpunkt dieser erlesenen Gesellschaft, die mit ihm zusammen die Mahlzeit einnahm und Gedanken austauschte über Theologie, Philosophie und Macht. Die Ideen der Aufklärung mußten in der Provinz eine so tiefe Dunkelheit durchdringen, daß immer noch so manch schattiger Fleck übrigblieb; aber Cambrai lag nicht allzu weit von Paris entfernt, und der Bischof war vor einigen Jahren ein gern gesehener Gast im Salon von Madame du Deffand gewesen. Wie viele jüngste Söhne aus reichen Familien hatte man ihn,
um das Erbe nicht aufteilen zu müssen, für eine Karriere im ersten Stand vorgesehen; und sein Mangel an Berufung wurde von seinem Ehrgeiz mehr als ausgeglichen. Die Bindung an Gelübde war für ihn ein Hindernis, das er ohne jeden Skrupel umschiffte. Zwar wurde die Prunksucht der Prälaten von den einfachen Dorfpfarrern mit dem Hinweis auf die christliche Demut verurteilt, aber jeden Vorwurf von Seiten dieser Habenichtse wies er weit von sich. Durch den Aufwand, den er betrieb, ernährte er mindestens zehn Familien; wenn er sich an das Armutsgelübde gehalten hätte, wäre ein halbes Dorf dem Untergang geweiht gewesen. Lieber befaßte er sich mit Diskussionen über den Absolutismus und die Teilung der Gewalten und nahm in Fragen der Tagespolitik eine gemäßigte Haltung ein. Toleranz? Bis zu einem gewissen Punkt. Deismus? Vage, aber anziehend. Luftige Gebilde aus Idealen und Utopien konnten mit seinem Interesse rechnen. Er liebte Wortgefechte und war begierig auf die neuesten Entwicklungen der Wissenschaft. Keine Theorie war vor seinem Scharfsinn sicher: er schnüffelte daran, bohrte darin herum, riß und zerrte sie auseinander wie eine Hyäne einen Kadaver. Elisabeth war schlau genug, die Küchengerüchte nicht allzu ernst zu nehmen; aber als man sie in den Salon führte, wäre sie am liebsten wieder umgekehrt. Mit Mühe bezwang sie einen Anfall von Panik; es rauschte in ihren Ohren und klopfte hinter ihrem Auge. Ihre Knie wurden weich. Das Vertrauen in Doppet schwand. Sie war einsamer denn je, nicht mehr sie selbst, sondern eine andere, unbekannten Kräften ausgeliefert und nicht in der Lage, das Geschehen selbst zu lenken. So mußte sich ein Ertrinkender fühlen, wenn sich das Wasser über seinem Kopf schloß. Das Licht der Kerzen spiegelte sich in den kostbaren Glasscheiben der Fenster. Das bischöfliche Palais war eines der wenigen Häuser, in denen man das
Ölpapier durch wunderbar durchsichtiges Glas ersetzt hatte. Purpur war die vorherrschende Farbe in diesem Raum und ließ das Ganze in Elisabeths Augen wie die Glut der Hölle erscheinen. An der Wand hing eine Grablegung mit einem nackten Männerkörper, kunstvoll und hilflos verkrümmt. Sie erkannte auch ein Gemälde von oder nach Greuze, in dem die Tugend als attraktive junge Frau dargestellt war, die über ihren bloßen Brüsten die Augen sittsam niedergeschlagen hielt. Diese scheinheilige Mischung aus Genuß und Moral war auch hier wieder vertreten. Gerade hier, so schien es. Schwere Vorhänge verbargen Türen, der Boden war mit Teppichen bedeckt. Der Raum war warm und roch nach Weihrauch, Schnupftabak und lange abgestorbenem Fleisch, und wenn jemand die Toilette aufgesucht hatte, eine Neuheit, die in einem abgeschirmten Bereich aufgestellt worden war, nahm er bei seiner Rückkehr etwas von dem Duft mit, den der Diener als typisch für ganz Frankreich beschrieben hatte. Der Bottich stand bereit, die Beine ragten in die Höhe. Doppet fiel kaum auf in seiner schwarzen Kleidung. Würde sie je ihren Kopf an seine Schultern legen? Würde er je die Leere füllen? Trösten? Sie rief sich selbst zur Ordnung. Es war schwach, zu verlangen, daß ein anderer ihrem Leben Sinn gab, und die Verantwortlichkeit für ihre eigenen Taten von sich abzuwälzen. Sie stand hier, sie hatte es so gewollt. Wenn sie um ihre Existenz kämpfen mußte, würde sie das mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln tun, und Furcht vor der Macht und der Bösartigkeit anderer durfte sie dabei nicht aufhalten. Vicit vim virtus: Die Tugend siegt über die Gewalt. Sie machte den Wappenspruch der Stadt Haarlem zu ihrem Wahlspruch. Zwar hatte ihre Tugendhaftigkeit bei Maître Mounier Schaden genommen, aber wenn sie sich hier umsah, war sie unbefleckter als die Heilige Jungfrau. Das Los von Clarissa und Madame de Tourvel brauchte sie nicht zu teilen.
Das Leben war kein Roman. Tugend lag nicht in Jungfräulichkeit, sondern in Einfachheit und Mut, in Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit, in einem Leben mit Herz und Verstand; und Tugend war für Männer und Frauen gleich. Daß die Umstände sie zwangen, ihre Ideale zu kompromittieren, machte sie nur umso erstrebenswerter. Wie damals, als sie an der Bahre ihres Vaters saß und den Tod besiegte, so faßte sie nun, vor dem Thron von Monseigneur, den Mut, dieses Spiel zu Ende zu spielen und zu gewinnen. Der Bischof saß auf einem mit purpurnem Samt bekleideten und mit purpurnen Quasten und Borten behängten Sessel und kraulte ein Kapuzineräffchen in einem purpurnen Anzug, aus dem der Schwanz wie ein Apostroph hervorragte. Das Tierchen sprang in dem purpurnen Schoß hin und her, aß mit schnellen Bewegungen Nüsse aus der Bischofshand und blickte schüchtern von einem zum anderen. Als Elisabeth vor ihm stand, zog Monseigneur eine Augenbraue hoch, lächelte und streckte seine Hand aus, wie um ihr zu zeigen, wo sie sich niederknien sollte. Er besaß eine zarte rosa Haut mit einem Gewirr von Adern auf den Wangen; seine Nägel waren manikürt und zeigten leuchtendweiße Halbmonde. Sie küßte den Ring, so wie sie es von Doppet gelernt hatte. Dicht hinter ihr schlug jemand plötzlich so hart auf einen Gong, daß alles zu vibrieren schien. Die unwillkürliche Bewegung, die sie vor Schreck machte, baute sie zu einer absichtlichen Gebärde aus, die sich logisch einfügte in das Knien, Küssen, Wanken und Aufstehen. »Beginnen Sie, Doppet«, sagte der Bischof. Elisabeth wußte nicht, was bei Tisch besprochen worden war, aber Doppet schien sich nur mit Mühe beherrschen zu können. Während er sie mit einer galanten Geste auf einem Taburett Platz nehmen ließ, brachte sein wütender Blick sie einen Augenblick lang aus der Fassung. Er wandte sich an die kleine
Gesellschaft und begann zur Einleitung dieses bereits angekündigten Experiments mit einem einfachen und tauben Mädchen aus dem Volke eine Lobrede auf den edlen Wilden, einfach im Geiste, der in Harmonie lebt mit der Natur und dessen Reinheit dem himmlischen Frieden näher ist als der Lebenswandel derjenigen, die von Gott aufgerufen sind, ihre Aufgaben vorbildlich zu erfüllen: König, Papst, Priester. Wer könne übrigens mit Sicherheit sagen, fuhr er mit erhobener Stimme fort, ob Luzifer den Kampf verloren hatte? Es handelte sich deutlich um eine Anspielung auf eine frühere Meinungsverschiedenheit. Deutete der miserable Zustand, in dem sich das zivilisierte Frankreich befand, nicht eher darauf hin, daß Satan die Macht besaß und also das Böse gut und das Gute böse sei? Doppet schrie immer lauter. Elisabeth zitterte; sie durfte nur auf einen Punkt starren und keine Reaktion auf seine Worte zeigen. Er schwieg einen Augenblick, und als er weitersprach, schien sein Wutanfall berechnet gewesen zu sein, denn der neue Ton war sanft. Wer hatte ihn gelehrt zu predigen, wo hatte er die Kniffe des Priesteramtes gelernt? »In den geistig Armen liegt die Seele dicht unter der Oberfläche und ist leicht zugänglich. Die Seele dieser Frau ist unverdorben; sie hat nie hören können, und das Leben auf dem Land hat ihre Augen vor der Sünde bewahrt. Ihre Seele ist noch genau so, wie Gott sie schuf. Und dank der Entdeckungen von Mesmer, Puységur und Ihrem Diener können wir mit dieser Seele kommunizieren. Mit Gott. Und die Wahrheit vernehmen aus ihrem Mund.« Der Bischof bedeutete ihm mit einer Bewegung zu schweigen; das Affchen krümmte sich zusammen unter der Drohung der erhobenen Hand. »Verführt mich nicht, indem Ihr über Gott und die Seele sprecht, Doppet. Ihr wißt so gut wie ich, daß dieses Jahrhundert nicht nur das der Vernunft ist, sondern auch das
erste Jahrhundert ohne Gott, weil der Gebrauch der Vernunft unvermeidlich zur Verneinung Gottes geführt hat. Und wenn es keinen Gott gibt, gibt es auch das Gute nicht. Wir können damit leben, aber wenn diese Botschaft bis zum Bodensatz des Volkes vordringt, dann gibt es kein Halten mehr. Wir bewahren die Menschheit vor dem Abgrund des ewigen Nichts, vor der verzweifelten Suche nach einer Moral, indem wir ihr Rituale und eine Hierarchie bieten. Wir halten den Staat zusammen. Aber es ist ja alles Theater, Doppet. Ich liebe Theater. Fahrt mit Eurer Vorstellung fort.« Die Gäste lachten hinter vorgehaltener Hand und beugten sich vor, gespannt auf den Ausgang des Streits. Würde der Savoyer seine Versprechungen wahr machen? Würde die Stumme sprechen? War sie wirklich taub? Sie verhielt sich wie eine Taube, mit ihrem seligen Lächeln und scharfen Blicken aus ihrem einen Auge. Der Gong war ein guter Einfall gewesen. Aber das Kind hatte sich nicht erschrocken. Doppet begann mit seinen Beschwörungen. Elisabeth war durch die Spannung in einen Gemütszustand geraten, der sich am ehesten mit einem detaillierten Alptraum vergleichen ließ. Die Wirklichkeit bekam eine übertriebene Schärfe, während sie selbst immer weniger Teil davon ausmachte. Die Gäste hatten versteinerte Vogelköpfe. Die Gemälde erwachten zum Leben. In den Draperien wogten Landschaften und zogen Menschenmengen vor die Paläste. Sie hörte die Geräusche anschwellen, und Bilder stiegen in ihre Augen und verdrängten das Purpur. Sie hob ihre Hände und ließ den Kopf nach hinten sinken, so wie sie es bei Maaike gesehen hatte; sie öffnete den Mund und preßte einen Aufschrei heraus, der dem Äffchen ein knappes Echo entlockte. Hier und dort war unterdrücktes Lachen zu hören, das sofort erstickte, als sie, wie Salome ihren letzten Schleier, langsam die Augenbinde ablegte. Während sie stammelnd zu sprechen begann, bohrte sie plötzlich den
furchterregenden Blick aus ihrem viel zu großen Auge in den des Bischofs. »Und die Zahl der Streitmassen des Reiterheeres war zwanzigtausend mal zehntausend… ich vernahm ihre Zahl… Und es wurde ihnen befohlen, daß sie weder das Gras der Erde schädigen sollten noch irgend etwas Grünes, noch irgendeinen Baum, sondern nur die Menschen, die nicht das Siegel Gottes auf den Stirnen tragen. Auch wurde ihnen aufgetragen, sie nicht zu töten, sondern sie zu quälen. In jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen, ohne ihn zu finden… und werden zu sterben verlangen… doch der Tod flieht vor ihnen… Wehe, wehe, du große Stadt, die sich in Byssus-Linnen, Purpur und Scharlach kleidete und mit Gold und Edelgestein und Perlen sich schmückte; in einer einzigen Stunde war der große Reichtum dahin… Aber sie, sie werden nicht mehr hungern und dürsten; nimmer wird die Sonne auf sie fallen noch irgendeine Glut. Denn das Lamm in der Mitte vor dem Throne wird sie weiden und zu den Wasserquellen des Lebens führen… Und Gott wird jede Träne wegwischen von ihren Augen.« Der Sekretär hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, die Gäste saßen stocksteif und lauschten mit offenem Mund dem apokalyptischen Engel, der »mit mächtiger Stimme« sprach. Der Bischof war in seinem Sessel zurückgewichen, mit zusammengekniffenen Augen, eine Hand abwehrend zu einem Segenszeichen erhoben, als wollte er einen Teufel austreiben. Am meisten traf das Auge. Das Auge blickte und sah. So wie ein Maler die Gnade darstellte, wie ein Lichtstrahl wirkte die Kraft, die von diesem Auge ausging; aber ihr fehlte die Sanftmut. Das Auge war hart. Scharf. Es durchbohrte. Es sah das Verborgene, das Ferne, das Nahe, das Geliebte, das Geheime.
Das Auge kannte kein Mitleid. Es urteilte. Es war das Auge Gottes am Tage des Jüngsten Gerichts. Der Bischof faßte sich und applaudierte höflich. »Bravo.« Mit einer ungeduldigen Geste brachte Doppet ihn zum Schweigen. Es war nicht die Trance des Somnambulen, die von Elisabeth Besitz ergriffen hatte. Hieran war er nicht beteiligt. Dies war nicht abgesprochen. Es überraschte ihn; das Auge war eine besondere Gabe, die womöglich noch mehr versprach als die Ausbeutung von Maaikes Sensibilität. »Sie kommen«, sagte Elisabeth, »sie kommen.« Aus der kleinen Straße vor dem Palais hörte man Schritte. Eine wachsende Menge. Stimmen und Schreie. Ein Stein flog durch eine Scheibe. Es klirrte. Die Scherben fielen lautlos auf den Teppich. Noch ein Stein und noch einer. Die Kerzen flackerten. Dann erst reagierte der Bischof. Er stand auf, bleich und mit verzerrtem Gesicht; das Äffchen sprang auf seine Schulter. »Ergreift sie«, befahl er den Dienern und zeigte auf Elisabeth und Doppet. »Beruhigt die Leute. Gebt ihnen Brot.« Über den draußen entstandenen Tumult hinweg rief er seinen Gästen zu: »Verbergt Euch.« Ein überflüssiger Rat. Die Herren stolperten übereinander und über ihre eigenen Beine im Versuch, schnell aus dem Raum zu kommen. Einige bekreuzigten sich in Richtung von Elisabeth, um sich gegen den bösen Blick zu schützen. Doppet wartete nicht erst, bis die Diener bereit waren, den Befehl von Monseigneur auszuführen. Er griff Elisabeth am Arm, schüttelte sie kräftig und schob sie zur Tür, wo in diesem Augenblick die Vorhut der wütenden Menge nach innen drängte. Die Aufrührer hielten einen Moment inne, vor dem Reichtum des Raumes und der Gestalt des Bischofs, der sie in vollem Ornat erwartete. Aber die zweite Reihe drängte nach, und die ursprüngliche Wut nahm beim Anblick des Reichtums noch weiter zu. Jemand warf einen Stein. Ein Hagel von
Wurfgeschossen ließ das Kristall nach allen Seiten zerplatzen und die Gardinen wehen. Das Affchen kreischte und fiel blutend zu Boden. Monseigneur de F. sank auf die Knie und versuchte, das Tierchen mit seinem Körper zu schützen, während er die Angreifer verfluchte. Doppet zog Elisabeth rückwärts aus der Tür. Die Diener unternahmen nichts, um sie aufzuhalten. Das war das letzte, was sie von Monseigneur de F. sahen: ein Stein traf ihn über dem Auge, Blut und Purpur flossen ineinander.
Während sie stockend und strauchelnd durch die stockfinsteren Straßen zu ihrem Gasthaus liefen, kam ein Platzregen herunter, der sie völlig durchnäßte. »Das beste Mittel, um die Wut der Masse abzukühlen«, rief Doppet in ihr Ohr. »Eine Pause, ich kann nicht mehr.« Sie schlüpften in einen Torbogen, der sie vor dem Regen schützte. Elisabeth keuchte und wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Doppet zog seine schwarze Tuchjacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Sie konnte seine Gesichtszüge kaum erkennen, aber sie sah einen großen Tropfen an seiner Nasenspitze glitzern und begann nervös zu lachen; ihre Angst und ihre Verblüffung über das, was sie ausgelöst hatte, äußerten sich in kichernder Euphorie. So arbeiteten also die Kräfte des Magnetismus: reine Geschicklichkeit, Gefühl für Theater und das Bedürfnis aller Menschen, an Wunder zu glauben. Und sie, Elisabeth Lestevenon, besaß die glückliche Kombination aus Talent, Intelligenz und kosmischer Empfänglichkeit, mit der die Welt zum Stehen gebracht werden konnte! Es war ihr geglückt, der Hochmut war gefallen!
»Das arme Äffchen«, lachte sie. »Ob es tot ist? Ob der Bischof tot ist?« »Ich weiß es nicht.« »Der Bottich steht noch dort«, sagte sie erschrocken. Sie brach wieder in Lachen aus: »Er war wie ein toter Käfer.« »Wir brauchen ihn nicht mehr«, sagte Doppet. Der Tropfen fiel von seiner Nase. Plötzlich schlug Elisabeths Stimmung um. Auch wenn sie die Ereignisse leichthin besprachen, so hatte sie doch eine unbekannte Kraft freigesetzt, die sie unbedingt beherrschen mußte. Sie kannte die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Vision und Betrug. Doppets Anteil daran war verschwindend gering. Aber wußte er das selbst? Und sollte sie es ihm sagen? »Nein, wir brauchen ihn nicht mehr«, pflichtete sie ihm bei. Aus einem Impuls heraus trat sie einen Schritt nach vorn und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Durch sein Hemd fühlte sie die Wärme seiner Haut auf ihrer nassen Wange. Ihr Geist, der ein Stück über ihrem Kopf geschwebt hatte, sank zurück in den vertrauten Kerker und erregte die Sinne des apokalyptischen Engels. »Wir gehen weiter«, sagte er. Schweigend liefen sie zum Gasthaus. Von einem Aufstand war nichts mehr zu sehen. Elisabeth ging mit auf das Zimmer, das er mit Lebrun geteilt hatte, und zog sich ohne Scham aus. Sie berührte ihn und zeichnete mit den Fingerspitzen Linien auf seine Haut. So fühlte er sich also an. Sie ließ ihn schauen. Es war ihr egal, ob ihre Gefühle gebührend beantwortet wurden. Konventionen hatten keinen Wert mehr. Die Reinheit ihrer Absichten wurde durch die seinen weder beurteilt noch besudelt. Sie war keine Bittstellerin, keine Hure, keine Hörige und ganz bestimmt keine Heilige; sie war unabhängig. Ihr Verlangen hatte nichts Böses; sie empfand es als eine Befreiung.
Aber nach der Liebe fiel sie in einen unruhigen Halbschlaf. Sie war den fremden Körper und den unbekannten Geruch neben ihr nicht gewohnt. Wie war er zu dem geworden, der er war? Wo war er geboren und unter welchem Sternzeichen, wer waren seine Eltern, seine Familie, wen hatte er geliebt, was hatte er gesehen, was trieb ihn? War er ein guter Mensch? Ihr Kopf platzte; ein Glassplitter steckte hinter ihrem Auge. Sie zitterte vor Müdigkeit. Der Bischof und sein Sekretär und Maître Mounier und dessen Frau und Lebrun und ihr Vater starrten gelähmt vor Schreck auf ein Dreieck, in dessen Mitte sie in einem großen Auge, gefangen saß; sie kämpfte, um zu entkommen, versank aber immer tiefer in einem Strudel. Mit klopfendem Herzen erwachte sie kurz aus ihrem Traum, desorientiert, bis sie wußte, wer neben ihr lag, und erneut in chaotischen Bildern versank. »Doppet. Doppet. Aufwachen.« Eine halblaut flüsternde Stimme. Drängend. Eine Hand, die sie schüttelte. »Was ist? Wer ist da?« Doppet saß aufrecht im Bett. Im tiefen Dunkel kurz vor Tagesanbruch konnte er sich nur an Geräuschen orientieren. »Ich bin es. Antoine.« »Antoine?!« »Die Polizei sucht euch. Ihr müßt weg.« »Warum?« »Der Bischof.« »Tot?« »Verletzt und wütend.« »Aber wir haben nichts getan«, sagte Elisabeth. »Das würde ich ihm besser nicht erklären.« Er wußte natürlich nicht genau, was geschehen war, dachte Elisabeth, sonst würde er einen anderen Ton anschlagen. Oder gerade deshalb. Doppet stand auf, entzündete tastend eine Kerze und suchte seine Kleider zusammen. Während er sich
ankleidete und Elisabeth hastig dasselbe tat, fragte er: »Wie kommen wir aus der Stadt heraus? Die Tore sind verschlossen, und die Wachen werden gewarnt sein.« »Ich habe schon eine Idee«, sagte Lebrun. Maaike ließ sich ohne Protest, aber voller Angst in den Augen mitführen, während sie in der schwindenden Nacht hinter Lebrun herliefen. Er trug wieder die Kiste auf dem Rücken. Die Gassen waren eine offene Kloake, Ratten flüchteten an ihren Beinen entlang. In einer dunklen Toreinfahrt wartete ein alter Mann neben einem Karren mit einem Esel davor. »Bezahl ihn«, befahl Lebrun. Der alte Mann nahm schweigend das Geld in Empfang und übergab ihnen die Zügel. Auf dem Karren lagen Tücher, die nach Schweiß, Urin und Erbrochenem stanken. Darin sollten sie sich einwickeln. Lebrun warf eine Plane über sie. »Das ist der Karren des Leichenträgers. Ihr seid tot. Gestorben an einer ansteckenden Krankheit. Es gibt hier eine Verordnung, nach der in solchen Fällen die Toten auf den Friedhof außerhalb der Stadt gebracht werden müssen. Dort werden wir hinfahren. Was auch immer geschieht, bewegt euch nicht.« Elisabeth legte sich dicht neben Maaike, um sie zu beruhigen. Sie erstickte beinahe und würgte. Nie mehr würde sie das schreckliche Auge dazu benutzen, Menschen Angst einzujagen oder ihnen die Leviten zu lesen. Macht ließ sich nicht mit einem Augenaufschlag umstürzen. Es war ihr wie eine Heldentat vorgekommen, als sie den Bischof mit den in die Apokalypse verpackten Küchengerüchten überraschte. Wenn sie besser nachgedacht hätte, wäre ihr bewußt geworden, wie leicht sich dieser Einfall gegen sie kehren konnte. Aber wie paßte Lebrun in diese Geschichte? War dies alles nur Zufall, oder wurde sie von Doppet als Bauer in einem unbekannten
Spiel gebraucht? Was wußte Antoine? Er ging pfeifend neben dem Esel. Die Geräusche drangen gedämpft zu ihnen. Die Torwächter verhandelten mit Lebrun. Sie schienen seine Geschichte nicht glauben zu wollen. Jemand stocherte mit einem Stock in den Tüchern herum; Elisabeth unterdrückte einen Aufschrei. »Wenn ihr mir nicht glauben wollt, schaut doch selber nach«, hörte sie Lebrun sagen und fühlte, daß er Anstalten machte, die Plane zurückzuschlagen und die Tücher auseinanderzufalten. »Garantiert habt ihr morgen das Gesicht voller Pocken und krepiert genau so wie diese drei.« Der Wächter brummte etwas und öffnete das Tor. Der Karren rumpelte durch den Torbogen. »Liegenbleiben«, zischte Lebrun, »bis wir außer Sicht sind.« Dieser Teil der Fahrt dauerte am längsten. Als der Esel stehenblieb, ging die Sonne rot in den tiefliegenden Nebeln über den Feldern auf. Die Erde kannte keine Geschichte. An einem kleinen Fluß wuschen sie den Gestank von ihren Händen und Gesichtern. Die Tücher verbargen sie unter ein paar Sträuchern. Maaike durfte auf dem Karren sitzenbleiben, als sie weiterzogen. Sie packte die Uhr ihres Vaters aus, putzte sie, zog sie auf, packte sie wieder ein, war nicht zufrieden damit, packte sie wieder aus, rieb und putzte, packte sie wieder ein und aus; ab und zu öffnete sie den Mund, als ob sie etwas sagen wollte. Doppet erklärte ihr, daß sie wegen falscher Anschuldigungen auf der Flucht waren und darum die Hauptstraßen meiden mußten. Nach Paris würden sie gehen, darauf freute sie sich sicher: schöne Häuser, schöne Damen, schöne Herren, Theater, Juwelen, Gold und Brokat. Maaike seufzte und nickte, zum Zeichen, daß sie verstanden hatte. Unterdrückt schlug die Uhr die Stunden. Die Seitenstraßen waren nicht mehr als eine Wagenspur, kaum breit genug für den Karren und überwuchert mit
Wiesenkerbel und dornigen Büschen. Niemand begegnete ihnen, und nach einiger Zeit verschwand die Angst vor möglichen Verfolgern. Die Morgenkälte und der Tau drangen ihnen durch Schuhe und Strümpfe. »Mit dem Auge muß etwas geschehen«, sagte Elisabeth, während sie neben Doppet hinter dem Karren herging. »Warum?« »Es stört mich.« »Hast du Schmerzen?« »Ja.« Er sagte nichts. Elisabeth blickte ihn scheu von der Seite an. Er wirkte fröhlich und tatkräftig. Er war ihr fremder als gestern. Ihre gemeinsame Nacht hatte die aufkeimende Freundschaft gestört und noch kein neues Band geschaffen. Die Sicherheit dieser Nacht war in weite Ferne gerückt. Die Sonne stieg höher und wärmte das Land; es war ein schöner Tag. Am Rande des Waldes stand ein Reh mit seinem Kitz, in der Bewegung erstarrt. Vögel zwitscherten und flogen haarscharf an ihnen vorbei. Es sang und flimmerte über den Feldern. Der Gegensatz zwischen der Natur, die sich nicht an Leid erinnern konnte, und dem Leben eines Menschen traf sie wie ein Blitz. »Weinst du?« »Ja.« »Warum?« Voller Wut über die Verwunderung in seiner Stimme weinte sie lauter und lief weg von ihm. »Verstehst du denn die Zeichen der Zeit nicht?« rief er ihr nach. Sie drehte sich um, stemmte die Hände in die Hüften und baute sich auf wie ein Fischweib aus Zandvoort. »Ich will dir sagen, was ich verstehe! Ich hatte ein Haus und eine Existenz. Nun bin ich auf der Flucht und habe alles verloren, was ich besaß. Und durch wen? Durch dich! Im
nächstbesten Dorf stelle ich mich der Polizei. Ich werde sagen, daß du mich verzaubert und mißbraucht hast. Und das ist schließlich auch die Wahrheit!« Maaike sprang vom Karren und schaute ängstlich von einem zum anderen. Sie stellte sich vor Elisabeth und schüttelte den Kopf. Dann rannte sie zu Doppet und tat das gleiche. »Sie will nicht, daß wir streiten«, sagte er. »Laß uns darüber sprechen.« Er setzte sich in den Schatten einer Buche und winkte sie zu sich. Lebrun band den Esel an, streckte sich ein Stück entfernt im Gras aus und schlief ein. Maaike wartete, bis Elisabeth neben Doppet saß; dann ging sie zum Esel und streichelte das Tier mit derselben weltfremden zärtlichen Zuwendung, mit der sie auch die Uhr putzte. »Ich weiß nicht, worüber wir reden müssen«, sagte Elisabeth, während sie die Arme um ihre Knie schlug und unverwandt auf den Waldrand starrte. »Ich will dich zu nichts zwingen.« »Warum sollte ich bei dir bleiben? Ich kenne dich nicht.« Sie sah ihn an. Sein Gesicht zerfiel in einzelne Teile: Lippen und Zähne, unrasierte Wangen, Schlüssellochauge, Haaransatz, Ohren. Ein Ganzes existierte nicht, und es hatte keinen Namen. »Ich werde dir sagen, wer ich bin.« »Woher weiß ich, daß du die Wahrheit sagst?« »Das kannst du nicht wissen.« Sie nickte. So war es. Sie wischte die Tränen weg und zog ihre Nase hoch. Ihr Auge fühlte sich an wie ein Klumpen aus Blei. »Dann erzähl.«
5
Ich wuchs auf im Schatten des Montblanc. Mein Vater war Wundarzt und Herr über Leben und Tod im gesamten Vallée Montjoie, da der Doktor zu weit entfernt wohnte. Er kannte alle Pfade, Schluchten, Berge und Bäche, und er besaß die Augen einer Katze, denn selbst bei Neumond fand er seinen Weg. Oft durfte ich mitkommen. Als ich zehn war, wußte ich mehr über den menschlichen Körper als mancher Medizinstudent. Meine Mutter kenne ich nur aus den Geschichten, die mein Vater mir unterwegs über sie erzählte. Sie war die Tochter des Stadtkommandanten von Annecy und dazu vorbestimmt, den Sohn des Staatsanwalts zu heiraten, den sie seit ihrer frühesten Jugend haßte. Sie verliebte sich in meinen Vater, erkannte, daß sie nur diese eine Chance bekommen würde, glücklich zu sein, und lief weg. Sie scheint diese Entscheidung nie bedauert zu haben, auch wenn sie den Luxus eines Lebens in der Stadt aufgeben mußte für ein Dasein in einem armen Gebirgsdorf. Als mein Vater wegen eines gebrochenen Beines zu einem abgelegenen Bauernhof gerufen wurde, kündigte sich die Geburt ihres zweiten Kindes an. Zu früh. Es lag falsch. Die Füße kamen zuerst. Und der Rest blieb stecken. Niemand konnte ihr helfen. Nur mein Vater konnte sie mit einem Kaiserschnitt erlösen. Man schickte jemanden hinter ihm her. In der Zwischenzeit versuchten sich abwechselnd Hebammen, Hexen und Handaufleger an ihr. Sie machten es nur noch schlimmer. Meine Mutter verblutete. Das Kind starb in ihrem Bauch.
Mein Vater heiratete wieder, diesmal eine Bauerntochter, die ihm einen Sohn nach dem anderen schenkte. Allesamt häßlich, aber gesund. Schon früh erkannte ich, daß ich nicht dazugehörte. Meine Stiefmutter hatte mit ihrer eigenen Brut genug zu tun. Mein Vater war der einzige, der sich meiner annahm. Die Reue verzehrte ihn, und – immer, wenn er mir von Mutter erzählte, sprach er über sie in der Gegenwart. Er verfluchte die Natur, die unvernünftige, blinde Macht, die die sorgfältig angelegten Gärten menschlicher Liebe willkürlich zertrampelte. Manchmal war er tollkühn und trieb sein Pferd so nahe an den Abgrund oder so tief in einen reißenden Bach, daß es sich vor Angst aufbäumte. Dann lachte er. Ich entwickelte eine zwiespältige Haltung der Schöpfung gegenüber. Demut und Ehrerbietung, ja sogar atemlose Bewunderung, aber auch den Willen, sie zu bezwingen, rein aus Ärger und Wut. Krankheit, Leid und Tod waren die Bausteine meines Lebens. Wenn im Winter der Schneefall unsere Rückkehr unmöglich machte, verbrachten wir den Abend und die Nacht, manchmal auch die darauffolgenden Tage, in einer Scheune, zusammen mit den Tieren und den Familien des Dorfes, die beieinander Wärme suchten und sich Geschichten erzählten. Diese Tage habe ich sehr genossen. Und jedes Jahr kam der Frühling, und das Schmelzwasser der Gletscher, die ihre Zungen bis weit ins Tal herunterstreckten, füllte die Flüsse, und die Tiere wurden auf ihre Sommerweiden getrieben. Dann war das Leben eindrucksvoll und schön. Der Berg war mein Wahrzeichen. Jeden Tag muß ich seinen Anblick gesucht haben, denn noch immer suche ich ihn jeden Tag. Als ich zwölf war, stürzte mein Vater vor meinen Augen in eine Schlucht. Wir konnten seinen Körper nicht mehr erreichen, auch wenn wir ihn dort liegen sahen. Er war noch sehr lange zu sehen, solange, bis sein Leib abgefressen und
seine Knochen bis auf den letzten Rest abgenagt waren und weggespült wurden. Mit mir war nichts mehr anzufangen. Ich wurde nach Annecy geschickt, zur Familie meiner Mutter, die ein herrschaftliches Haus in der Rue Sainte-Claire bewohnte. Liebe erhielt ich nicht, wohl aber eine Erziehung, denn ich war letzten Endes immerhin der Enkel des Stadtkommandanten. Alles war darauf ausgelegt, mich innerlich und äußerlich nach Maß zu schneidern. Die Einsamkeit meiner frühen Jugend war mir durch die Freiheit und die Natur versüßt worden, aber nun wurde sie körperlich und geistig zu einem Gefängnis. Regeln für das Denken, Tun und Fühlen beherrschten den Tag. Ständig spürte ich die Augen meines Großvaters, Père Anastasius’ und Gottes auf mir. Ich machte alles falsch. Ich war zu wild, zu frech, zu eigensinnig, zu empfindlich. Ich war launisch. Ich verfiel in extreme Fröhlichkeit oder Melancholie. Und das ist eine Sünde gegen die Lehre der Harmonie und Selbstbeherrschung. Die Stadt stank. An warmen Sonntagen war es in der Kirche kaum auszuhalten. Aus den frischen Gräbern stieg ein Übelkeit erregender Leichengeruch. Der Müll wurde in ganzen Wagenladungen in den Fluß gekippt. In den Straßen scharrten und wühlten Schweine und Ratten. Das war die Zivilisation, die mir, der ich in der Bergluft und mit dem Duft von Harz und Regen, Holzfeuern und warmem Vieh aufgewachsen war, vorkam wie das Höllenfeuer. Und zu allem Überfluß sollte ich auch noch dankbar sein. Der Menschenschlag, zu dem meine Verwandtschaft zählt, gilt als das Rückgrat des Landes. Das Geld gibt ihnen Macht. Ihre Mittelmäßigkeit bewahrt sie vor Exzessen. Ihr Anstand schließt andere Auffassungen aus. Ihre Toleranz ist Schein. Sie dienen jedem Herren. Wenn die Zeiten turbulent sind, warten sie im Windschatten und
bereichern sich schweigend. Pflicht geht über alles. Ihr Gott ist ein Gott der Rache. Sie vergeben dem anderen keine Schuld, nur sich selbst. Sie verachteten mich, erwarteten von mir aber Liebe und Respekt. Ich verstand nichts mehr und suchte die Antworten auf meine Fragen in Büchern. Ich habe gelesen und gelesen, bis ich fast blind war. Ich las alles, was sie mir vorsetzten: mit einem Hunger, den sie lobten, aber auch mit einer kritischen Haltung, die sie glücklicherweise nicht vermuteten. Heimlich las ich verbotene Bücher. Vielleicht hätte ich das besser nicht tun sollen, denn in meiner empfänglichen Knabenseele formte sich ein Ideal, das ich gegen die Wirklichkeit schützte, da meine Seele sonst nicht überlebt hätte, das aber später… Nein, es ist noch da. Es hat sich in mir festgefressen wie ein Krebsgeschwür. Die Pflege der Tugend sei das höchste Glück, hielt man mir vor. Aber ihre Tugend war Scheinheiligkeit und ihr Glück Selbstgefälligkeit. Ich fürchte, daß dies ein Grundgesetz jeder Gesellschaft ist, denn noch nie habe ich einen Beweis für das Gegenteil gefunden: kein größerer Egoismus als der, der unter dem Deckmantel der Nächstenliebe und der christlichen Tugend daherkommt. Kein Mensch hilft einem anderen Menschen, kein Volk hilft einem anderen Volk, außer aus Eigennutz. Dies wäre nicht so schlimm, wenn man den Grund erkennen und Selbstsucht als einzige Triebfeder menschlichen Handelns betrachten würde. Darüber hinaus sollte diese Erkenntnis nicht durch die Berufung auf den sogenannten angeborenen Drang der Seele zum Guten verschleiert werden. Das ist Unsinn! Nur wer dies einsieht, kann sich eine Moral auswählen, ja, auswählen und einen aufrichtigen Pakt schließen im Interesse des Glücks der größtmöglichen Anzahl von Menschen. Allein diese Haltung garantiert ein stabiles Glück für jeden einzelnen Menschen. Warum mußte ein Gebot geschrieben werden, den Nächsten so zu lieben wie uns selbst?
Weil es nicht natürlich ist, und weil sich eine Zivilisation nur dann weiterentwickelt, wenn der Mensch sich selbst Gewalt antut statt einem anderen. Und was für eine Zivilisation! Nächstenliebe als moralischer Imperativ und nicht als freie Entscheidung aus wohldurchdachtem Eigennutz wurde erfunden von einem Tyrannen, mit dem Ziel, die Herde gefügig zu machen, um sie so besser regieren zu können. Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen Du sollst und Ich will. Hüte dich vor der Güte. Hüte dich vor der Liebe. Ich wußte nichts mehr mit mir anzufangen. Mein eigener Körper wurde mir fremd. Was ihm gefiel, war verboten. Man trennte meinen Geist von meinem Körper. Beide waren verdorben und mußten durch die unumstößliche Hierarchie von Kirche und Stand im Zaum gehalten werden. Meine Auffassungen von Gut und Böse paßten nicht in meine neue Umgebung, wo man abschätzig über meinen Vater und die unzivilisierten Bauernlümmel in den Bergen sprach. Und ich begann zu zweifeln. An allem. Am meisten an mir selbst. Tollkühn wie mein Vater forderte ich Gott heraus, mich aus meiner Existenz zu reißen und mich für immer zu verdammen. Er tat es nicht. Und ich hing doch zu sehr am Leben, um mich selbst im See zu ertränken. Ich war sechzehn. Die Korsen waren gegen Frankreich aufgestanden, das die Insel gerade von Genua gekauft hatte. Pasquale Paoli war mein Held. Wenn ich mit meinen Cousins und Freunden in die Berge rund um die Stadt zog, teilten wir uns in zwei Gruppen und spielten die Gefechte und Hinterhalte nach. Meinen Haß reagierte ich mit besonderer Grobheit im Spiel ab. Eines Tages begegneten wir einem Mädchen, das wahrscheinlich auf dem Weg zu einem weiter entfernten Dorf war. Wir betrachteten sie als Kriegsbeute. Mein Cousin, schon sein ganzes Leben lang gekrümmt und geknechtet und innerlich verwachsen, beschloß, aus dem Spiel Wirklichkeit
werden zu lassen. »Blutrünstige Halunken, die Korsen«, rief er, »Vendetta und Vergewaltigung an der Tagesordnung.« Die anderen Jungen waren seinem Vorschlag nicht abgeneigt. Was machte es schon, ein Bauernmädchen? Zu viert hielten sie das Mädchen fest, und während sie einander dabei anfeuerten, vergewaltigten sie sie einer nach dem anderen. Sie sagte nichts, schrie nicht, ertrug es geduldig, weinend und mit geschlossenen Augen, so, als ob es ihr öfter geschehen sei. Ich habe sie nicht verteidigt. Der Mensch muß seiner Natur folgen, sein Glück suchen, seine Bedürfnisse befriedigen. Dachte ich. Wollte ich. Meine Erektion bewies es. Aber ich wandte mich ab. Die Angst vor der Leidenschaft, die aus allen Büchern sprach, die ich las, hatte mir deren Bedeutung klar vor Augen geführt. Jeder Versuch, sie zu unterdrücken, würde zu einer Anhäufung und Gärung und schließlich zu einer Explosion führen, die gefährlicher war als ihre freie Entfaltung. Es war eine prächtige Theorie. Worte, Worte, Worte. Was hielt mich zurück? Respekt? Scham? Verachtung der Leidenschaft? Dies war die Praxis! Ich sehe sie vor mir, die Köpfe der Jungen, ein Glanz in den Augen, ein verzerrter, halboffener Mund, nie zuvor gehörte Schreie; ein anderes Wesen in ihnen kam zum Vorschein, ein Dämon, der ebenso einen Teil ihres Wesens verkörperte wie das gezähmte Ich. Es war häßlich. Häßlich! Ich verabscheue alles, was häßlich ist. Und die Vögel zwitscherten, die Bäume rauschten im Wind, als ob nichts Unwiederbringliches geschähe. Das Verwirrendste aber war, daß ich keinen Deut besser war als sie. In Gedanken nahm ich an noch wollüstigeren Handlungen Teil. Das Urteil, das mein Gewissen über sie sprach, kehrte sich gegen mich selbst. Abscheu und Wahnsinn kamen und gingen in Wellen. Ich habe auf einem Felsen gestanden und in den Abgrund gestarrt, in dem mein Vater lag.
Daß ich Arzt werden wollte, stand für mich fest, auch wenn der Verlust der menschlichen Schönheit durch Krankheit und Tod meiner Sehnsucht nach Anmut und Vollendung im Wege stand. Dies ist ein Widerspruch, den ich bis zum heutigen Tage nicht auflösen kann. Man konnte mit mir über keinen anderen Beruf mehr sprechen. Schließlich gab mein Großvater nach. Ich kann dir gar nicht sagen, welche Erleichterung Turin für mich bedeutete. Es war die glücklichste Zeit meines Lebens. Bertrandi war eine Mißgeburt, sein Kopf zu groß für seinen rachitischen Körper, aber seine Augen und seine Stimme machten das alles wieder wett. Er wirkte lebhaft und leidenschaftlich, ernst und gleichzeitig ausgelassen. Er war in jeder Hinsicht die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Nur jemand, der so häßlich ist, kann ehrlich und gut sein. Mühelos fand ich die Verbindung von der Praxis, wie ich sie als Kind bei meinem Vater kennengelernt hatte, zu den täglichen Arbeiten in Bertrandis Klinik. Ich hatte keine Zeit mehr, über Probleme von Tugend und Moral nachzudenken; so etwas bestand für Bertrandi einfach nicht im Angesicht des Leidens. Es konnte vorkommen, daß sich eine hochschwangere Frau maskiert anmeldete. Ihre Identität sollte geheim bleiben, und niemand, wirklich niemand war so herzlos, das Geheimnis lüften zu wollen oder die Frau von oben herab zu behandeln. Bertrandi war Hofarzt. Aus diesem Grunde konsultierte ihn die beau monde von Turin bei jeder Kleinigkeit, und man versuchte, über ihn die Gunst des Königs zu erlangen. Falls er korrupt war, verbarg er es. Ich war sein Assistent und habe bei ihm nur eine Abneigung gegen Speichellecker entdecken können. Unter den Patienten, die ich behandeln sollte, war auch die Frau eines Botschafters oder Gesandten. Sie war nicht mehr sehr jung, aber ihre Schönheit nahm mir den Atem. Es kam, wie es kommen mußte: Ich verliebte mich in sie. Und der Kampf zwischen Anstand und Sinnlichkeit, zwischen Angst
und Leidenschaft war schnell entschieden, als sie mich eines Tages allein empfing. Es war ein goldener Herbstmorgen. Die Türen zur Loggia standen offen. Wilder Wein um jeden Pfeiler und in üppigen Kaskaden an den Wänden. Ein Duft von reifen Früchten und Septemberrosen. Sie saß im Garten. Sie trug ein weißes Morgenkleid und einen offenen Hut mit breitem Rand. Über den Rand wallte ihr Haar, das von der Sonne gebleicht wurde, während ihre Haut weiß blieb. Ein Gemälde aus Weiß und Licht. Sie fühle sich gesund, sagte sie, aber ein Dorn stecke in ihrem Fuß, den ihre Kammerzofe nicht hatte entfernen können. Ich kniete vor ihr nieder, nahm ihren Fuß in meine Hand und versuchte, mit einer Pinzette den Dorn zu entfernen. Es gelang mir nicht. »Ihr müßt ihn heraussaugen«, sagte sie, »das habe ich bei Schäfern gesehen.« Ich folgte ihrem Rat, hob den kleinen Fuß an meinen Mund, berührte ihre Haut mit meinen Lippen und fühlte mit meiner Zunge, wo der Dorn saß. Ich biß sanft zu und sog daran. Ich schmeckte ihr Blut. Ich wagte nicht mehr, sie anzusehen. So saß ich eine Weile still mit gesenktem Kopf und ihrem Fuß in meiner Hand, bis sie lachte und sagte, daß es nun genug sei. Ich konnte mich nicht länger beherrschen, preßte meinen Kopf in ihren Schoß und stammelte, daß ich sie liebte. Wieder lachte sie. Ich fühlte mich verspottet. Sie schickte mich weg. Am hellichten Tag hatte ich Visionen von ihr. Um jede Straßenecke sah ich die Schleppe ihres Kleides verschwinden, in jeder Kutsche entdeckte ich den Schimmer ihres Profils. Ich hörte ihr Lachen und sah sie vor mir, wie sie in der Loggia mit ihren Rundbögen voller Licht saß und auf den üppigen Garten und die Berge in der Ferne hinaussah, während das Kleid ihre Füße wie Meerschaum umspielte. Und in der Klinik, zwischen
all den pestkranken, von Pocken übersäten Gestalten mit ihren Wunden voller Eiter, träumte ich nur von ihrer Anatomie. Sie hat mich unzählige Male rufen lassen, wegen Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Zahnschmerzen, Erkältung, Wallungen. Nur im Beisein ihrer Kammerzofe durfte ich sie berühren. In der Stadt kursierten die wildesten Gerüchte über sie, die ich in meiner Eifersucht allesamt als Neid abtat. In meinen Augen war sie tugendhaft, unnahbar und anbetungswürdig. Und sie langweilte sich. Ständig war sie auf der Suche nach Zerstreuung, aber obwohl sie ein Spatzenhirn besaß, war sie erfahren genug, um zu wissen, daß der Zauber gebrochen sein würde, sobald ich ihren Körper einmal besessen hatte. Ich weiß immer noch nicht, durch welchen Zufall oder welche Unaufmerksamkeit ihrerseits es eines Wintertages dennoch geschah… Vielleicht war sie doch einsamer und liebesbedürftiger, als ich dachte. Ich habe sie aufgesaugt, so wie ich das Blut aus ihrer Ferse gesaugt hatte. Die Leere machte sie grausam, und die Gier machte mich gehorsam. Wenn ihr Mann ihr Schlafgemach besuchte, ließ sie mich manchmal hinter einer spanischen Wand zum Zeugen ihres Liebesspiels werden; ich hörte die Worte, die sie ihm zuflüsterte und das Vergnügen, das sie dabei empfand. Wenn er gegangen war, dann durfte ich, nein, dann mußte ich, und dabei roch ich den Geruch seines alten Körpers auf ihrer Haut und vermischte meinen Samen mit seinem. Ihr Körper gehöre ihrem Mann, sagte sie, aber ihr Herz gehöre ihrem Liebhaber. Sie amüsierte sich über meine Wut und meine Eifersucht, und wenn ich ihr wehtat, sie mit meinen Händen und meinem Körper auf dem Bett festnagelte und mit meiner Kraft bestrafte, gab sie mir einen Klaps wie einem frechen Hund. Ich habe sie umbringen wollen. Ich habe meine Hände um ihren Hals gelegt. Aber sie traf keine Schuld.
Als man ihren Mann nach Paris schickte, bin ich ihnen gefolgt. Aber in einer Welt der Salons, in der ich als ihr Leibarzt einen bescheidenen Platz einnahm, hatte ich schnell ausgedient. Ich war wie ein Zinnsoldat, der vergessen in einer Ecke lag, nun, da sie so viel aufregenderes Spielzeug vorfand. Niemand beachtete mich; es gab viel zu hören. Ernst stand unter Strafe. Der Ton war scherzhaft, manchmal exaltiert. Alle Frauen sprachen affektiert bis zur Lächerlichkeit. Sie lispelten; pigeon klang wie pizon und choux wie soux. Die Leidenschaft für das Theater hatte auch das tägliche Leben infiziert. Das Spiel verlangte, daß man seelische Qualen und Erniedrigungen, die nun einmal zur theatralischen Überhöhung der Wirklichkeit gehören, mit einem Lächeln ertrug. Kein Wunder, daß man in der Krankheit seine Zuflucht nahm. Das rechtfertigte die Niederlage. Das Leben war ein abgestandenes Fest. Zwar spielte die Musik noch, aber die Tänzer waren müde, und weiße Schminke klebte unter ihren Augen. Ich hatte viel gesehen, ich hatte die Grenzen sozialer Stände überschritten, ich kannte den Hunger und die Armut, die Abstumpfung und den Aberglauben der Bauern, die Selbstgefälligkeit der Bürger, die Eitelkeit des Hofes, die Irrtümer und Hingabe der Wissenschaft, aber dort in den Salons wurde mir zum ersten Male klar, daß dies alles in eine furchterregende Nacht führen mußte. Ich stand Auge in Auge mit der Sinnlosigkeit des Lebens. Genau wie sie, die Tänzer, die Redner, die Priester, die Liebhaber, die Philosophen, auch sie, aber sie weigerten sich zu sehen. Eines Abends, Ende Februar – es war schon spät und bitterkalt – bot mir ein Vikar einen Platz in seiner Kutsche an, als er hörte, daß ich denselben Weg hatte. Paris ist nur spärlich beleuchtet und unsicher, wie ich schon mehrere Male hatte feststellen müssen; also nahm ich sein Angebot an. Der erste
Teil der Fahrt verlief ohne besondere Vorkommnisse; das Klappern der Räder verhinderte jedes Gespräch. Mitten im Marais war der Weg durch eine umgestürzte Kutsche versperrt. Wir konnten weder vor noch zurück und mußten warten. Im Licht der weit entfernten Fackeln sah ich den Blick des Priesters auf mich gerichtet. Hellblaue Augen in einem mageren Gesicht. Aus reiner Höflichkeit fragte ich ihn nach seiner Meinung über die Verherrlichung Voltaires, der vor kurzem, nach langen Jahren der Verbannung, in der Comédie bejubelt und bekrönt worden war. Zu meiner Überraschung brach er in Lachen aus. Keine frommen Verwünschungen gegen den alten Gotteslästerer. »Die Philosophen«, sagte er, »sind nun definitiv domestiziert. Sie haben mit aller Kraft versucht, die Schwächen des Christentums und die Korruption des Adels anzuprangern. Jetzt haben sie den Himmel erstürmt, nur um selbst darin aufgenommen zu werden. Sie haben um Pfründen gebettelt und um Protektion. Als sie sie schließlich erhielten, dachten sie, daß sie den Streit gewonnen hätten, aber man hatte sie nur gezähmt. Ihre Zähne sind gezogen, ihr Stachel wurde entfernt. Sie wollten die Sklaverei ausrotten und wurden zu Sklaven ihres Ehrgeizes. Und ihre Nachfolger haben sich vom alten Aberglauben abgewandt, nur um einen neuen Glauben à la mode zu schaffen.« »Nennt Ihr das Christentum etwa auch Aberglaube?« »Jeder Glaube ist Aberglaube.« »Wie könnt Ihr Priester sein?« »Wer besser als ich?« »Das ist Betrug.« Er beugte sich zu mir und legte seine Hand auf mein Knie. »Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd. Habt Ihr nie betrogen?«
Ich protestierte. Natürlich hatte ich gelogen, aber ich war kein Priester. Hatte ich auch mich selbst betrogen? fragte er. Auch das mußte ich eingestehen. Ohne Zweifel. Wer hatte sich selbst noch nie etwas vorgemacht? »Ich nicht«, sagte er. »Es kommt darauf an, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Ich weiß, wer ich bin und was ich will. Und ich habe immer bekommen, was ich mir wünschte. Das Schicksal hat mir seine Gunst vorenthalten, aber ich habe sie ihm abgeschwatzt. Ich bin Herr über mein Schicksal.« Und Gott? War nicht Gott sein Herr? »Nicht Er hat mich geschaffen nach Seinem Bilde, sondern ich Ihn.« Und Mißerfolge, Leid, Trauer? Wie wollte er das alles verhindern? »Leid bedeutet Genuß. Christus hätte einen anderen Weg gewählt, uns zu erlösen, wenn er in seinem Schmerz keine Befriedigung gefunden hätte. Mademoiselle de Lespinasse, die ich selbst gekannt habe, genoß ihre unglückliche Liebe zu Guibert und erlebte ihre Krankheit besonders intensiv: die Schwindsucht verstärkte ihre Euphorie, und auch das Opium trug das Seine dazu bei. Jeden Abend besuchte sie Orfeo ed Euridice von Gluck, um zu weinen und in ihrem Leid zu schwelgen. Che faro senza Euridice…« Mit wohlklingender Stimme sang er einen Teil der Arie. Er fand Vergnügen daran, sie für mich zum Klingen zu bringen. »Letztendlich war ihr Leben eine Verherrlichung der Trauer und des Verlangens, eine Ode an den Tod; und dieses Paradox bildet den Kern unserer Existenz.« »Was ist dann Glück?« fragte ich, neugierig wie ein Kind, »und was ist Tugend? Und wer stellt die Regeln auf?« Wieder begann er zu lachen. »Armes gequältes Menschenkind! Zerrieben zwischen Ideal und Wirklichkeit!
Auf der Suche nach Glück und Ordnung. Man sucht Liebe und findet Egoismus; man träumt vom Absoluten und muß dafür die Freiheit opfern. Man will die Freiheit, kann aber nur frei sein ohne Gott. Und wer Gott verliert, verliert seinen Halt und seine einzige Rechtfertigung. Die Gesellschaft in den Salons erzeugt nur Geringschätzung und Ratlosigkeit, und man wirft der Welt vor, daß sie uns nicht glücklich macht. Die Welt trifft keine Schuld, Freund.« Er wußte genau, wie er mich treffen konnte, aber ich fühlte mich nicht wie ein zurückgesetztes Kind. Ich suchte nach einer Möglichkeit, ihm zu beweisen, daß ein ständiger Kampf stattfindet zwischen den Menschen untereinander und zwischen den Interessen des einzelnen und denen der Gemeinschaft; daß zwar eine Partei diesen Kampf gewinnen kann, dadurch aber sofort den Widerstand der anderen Partei hervorruft. Daß die Suche nach dem Gleichgewicht der Kern unseres Lebens ist. »Grenzenlose Selbstsucht ist in der Praxis unmöglich«, sagte ich. »Hingabe, mein Freund, Hingabe und Geduld schenkt Euch alles, was Ihr begehrt.« Er lehnte sich gegen den roten Samt und starrte mich mit einem Lächeln an. Er war nicht viel älter als ich, wirkte aber so viel weiser. Er schien den Widerspruch, der mich zerriß, für sich gelöst zu haben. Plötzlich regte sich in mir der Drang, ihn zum Mitwisser meiner Erlebnisse werden zu lassen. Ich erzählte ihm von meiner Jugend, von meinem Kampf, von meiner Geliebten und ihrer Gleichgültigkeit und von meinen Zweifeln über meine Zukunft. Er ließ mich erzählen, stellte ab und zu eine kurze Frage. Ich legte eine vollständige Beichte ab. Gegen Ende meines Berichts hatte man das Hindernis auf der Straße beseitigt, und wir konnten unsere Reise fortsetzen. Als wir bei meiner Adresse angelangt waren, lud er mich ein, am
nächsten Tag mit ihm zu dinieren. Das tat ich. Ich bin ein Jahr geblieben. Als Sekretär, Arzt, Vertrauter. An seinem Hof – denn so konnte man die Gruppe von Männern nennen, die sich regelmäßig an seiner Tafel versammelte – herrschte Freimut. Keine Zügellosigkeit, keine Ausschweifungen, keine Trinkgelage, sondern geistige Freiheit und eine Neugier, die ich nach seinem Hohn für die Philosophen nicht vermutet hatte. Zum ersten Male hörte ich, daß Gespräche über Politik wie ein ernstes Spiel ausgetragen wurden, bei dem jeder mitspielen konnte, der bereit war, den Einsatz zu zahlen. Offensichtlich besaßen einige aus der Gruppe Einfluß. Vaterlandsliebe hieß das Zauberwort, das sich am römischen Ideal von virtus orientierte, einem viel männlicheren Ideal als der christlichen Tugend, der feigen Politik der anderen Wange. In einer strengen virtus lag die Hoffnung auf eine neuerwachte Größe Frankreichs, das durch den Einfluß läufiger Hündinnen wie der Pompadour, der österreichischen Hure und wie die Morganas alle hießen, vollkommen weibisch und verweichlicht war. Aber man verlor die politische Wirklichkeit nicht aus dem Auge und benutzte die alten Werkzeuge Zwang, Erpressung und Einschüchterung, um dem guten Zweck zu dienen. Praktische Philosophie nannte es mein Freund, der Vikar, obwohl er sich immer im Hintergrund hielt, sobald sich die Gemüter erhitzten. Er war vorsichtig, hielt den Funken an das trockene Holz, aber verbrannte sich nicht am Feuer. Ich ahmte ihn nach, übte mich in Zynismus und sprach über Menschen wie über Gegenstände. Selbstverständlich kam nie eine Frau dorthin. Es hieß, daß sie leidenschaftlich seien, mit einer Neigung zu Übertreibungen und Ekstasen, nicht vernunftbegabt, Intrigantinnen, Unruhestifterinnen, abergläubisch, in jeder Hinsicht dem Manne unterlegen. Delilah, Eva, Lilith, Bathseba. Unrein, verwerflich. Der Geschlechtstrieb sei ein Dämon, der den
Fortschritt aufhielt; er war das unberechenbare Element, das eliminiert werden mußte; er war wie ein Sumpf, der den Menschen hinabzog und ihn daran hinderte, Klarheit und Größe zu erreichen. Dennoch nagte in mir das Verlangen nach meiner Geliebten. Der Vikar war ein Hypochonder. Beinahe jeden Tag konsultierte er mich. Einmal hatte er Schwierigkeiten mit seiner Blase, dann wieder war es die Galle. Häufig waren seine Därme erkrankt, und er litt an Migräne. Er hatte unerklärliche Schmerzen, und obwohl ich kein Heilmittel dagegen wußte, behauptete er, daß meine Anwesenheit heilsam sei. Daß Leid Genuß bedeutete, war ihm nicht anzumerken. Er beanspruchte meine gesamte Aufmerksamkeit, körperlich und geistig. Ich befand mich auf der Insel der Kalypso. Eines Tages wurde ich zur Frau des Botschafters gerufen, die krank war vor Trauer, weil ihr letzter Liebhaber sich einer anderen zugewandt hatte. Sie bat mich um anregende Mittel und um Trost. Das mondäne Leben hatte seine Spuren bei ihr hinterlassen. Sie war ruheloser und unberechenbarer denn je, aber immer noch die Mühe wert. Jetzt stellte ich die Forderungen, und sie tat, was ich wollte. Der Vikar bemerkte meine wiederholte Abwesenheit und geringere Hingabe. Er zog die Zügel an. Da wurde mir klar, daß er auch mich dem Schicksal abgeschwatzt hatte und daß der Freiheit, die ich zu spüren geglaubt hatte, von ihm die Grenzen gesetzt worden waren. Ich bäumte mich auf wie das Pferd, das meinen Vater an den Rand der Schlucht geführt hatte. Aber je mehr ich widerstrebte, je tiefer das Zaumzeug einschnitt, desto stärker wurde auch mein Verlangen. Der Vikar hatte mich in seiner Macht. Was er mir im Tausch für meine Hörigkeit gab, war das Gefühl, Teil eines sinnvollen Ganzen zu sein. Ich war der Meinung, ihm nur meine Kenntnisse und meinen Körper zur Verfügung gestellt zu
haben, aber es war mehr gewesen. Ich hatte mich ihm ausgeliefert. Von einer Gleichheit zwischen uns, die ich so gern öffentlich propagierte und die er mir lächelnd bestätigte, konnte keine Rede sein. Er war mein Herr. Aber nur aus dem einen Grunde, sagte ich zu mir selbst, weil ich es zuließ und nur, solange ich es wollte. Jetzt hatte er die Grenzen unserer Verbindung überschritten und betrat verbotenes Terrain. Lieber würde ich in Einsamkeit eine furchterregende Wahrheit suchen als in Abhängigkeit eine falsche Sicherheit. Das gilt auch für das Volk. Die alte Ordnung hatte ihr Blatt überreizt. Bauer wird Bürger und fordert Rechte, Bürger wird Baron und fordert Macht, der Baron pflügt seine dürren Äcker und hat außer hohlen Privilegien nichts mehr, an dem er sich festhalten kann. Wenn es keinen Gott gibt, oder wenn Gott sich von der Welt abgewandt hat, dann ist der König ein Mensch, und seine Autorität gilt nur, solange das Volk es will. Es bricht eine neue Zeit an, Elisabeth. Der Vikar ließ seine Wut an meiner Geliebten aus. Er setzte sie gefangen wie Manon Lescaut. Und ich besaß zu wenig von der blinden, selbstlosen Liebe, wie sie Chevalier des Grieux für Manon empfand. Ich habe sie niemals wiedergesehen. Aber ich habe meinen Groll gegen den Vikar gehegt und seine Karriere verfolgt, in der Hoffnung, ihn eines Tages so demütigen zu können, wie er mich gedemütigt hat. »Wehe, wehe, du große Stadt, die sich in Byssus-Linnen, Purpur und Scharlach kleidete und mit Gold und Edelgestein und Perlen sich schmückte – in einer einzigen Stunde war der große Reichtum dahin.« Meine wiedergewonnene Freiheit hatte ihre Schattenseiten. Ich mußte Arbeit finden. Vorläufig hatte ich von den höheren Ständen genug und suchte mein Glück etwas niedriger. Aber das einfache Volk zahlte schlecht, und es gibt keine Medizin gegen schlechte Unterkünfte, einseitige Nahrung und
körperliche Erschöpfung. »Volk« ist ein gesichtsloser Ausdruck für unzählige verschiedene Mäuler, alle ebenso dumm, gewissenlos und durchtrieben wie Bürgertum und Adel, aber namenloser, machtloser, hoffnungsloser. Der Zufall oder das Schicksal oder Gott, was im Grunde dasselbe ist, hat sie in einem Keller oder einer Scheune anonym zur Welt kommen lassen und sie nie etwas anderes gelehrt als Häßlichkeit und Haß. Wie konnten sie sich verbessern, wo konnten sie Recht finden. Mitleid und Abneigung übermannten mich jedesmal, wenn ich in eine Hütte ging, um die Pocken oder die Cholera zu konstatieren oder Unterernährung oder Typhus oder den Tod oder erstickenden Wahnsinn oder törichte Freude wegen eines neugeborenen Kindes. Eine Zeitlang versuchte ich, einige arme Schlucker lesen, schreiben und rechnen zu lehren. Ich las ihnen vor. Ich las ihnen vor, während ihnen die Zähne aus dem Mund fielen, ihre Wunden schlecht heilten und ihre Kinder dank der Englischen Krankheit furchtbar krumme Beine hatten. Dadurch würden sie sich aus der Sklaverei befreien können, dachte ich. Aber der Sklaventreiber aus Nazareth hatte alles gut unter Kontrolle. Ich kämpfte gegen Priester, die ihnen ewiges Heil versprachen im Tausch für kurze Entbehrungen auf Erden, die sie beschwichtigten und fesselten mit dem Hinweis auf die große Erlösung am Ende, denn eher würde ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen als ein reicher Mann das Königreich Gottes betreten. Ich sagte ihnen, daß sie nicht so lange zu warten brauchten. Ich hielt ihnen eine Wurst vor die Nase, sie rochen sie, sahen sie, schmeckten das Fleisch schon; aber sie wagten es nicht, sie ohne Garantien anzufassen. Jeder Mensch für sich ist ein Feigling und hat Angst, eine Grenze zu überschreiten: aber in der Masse schreien sie alle. Durch Zufall begegnete ich Franz Anton Mesmer. Für manche war er ein Messias. Sie glaubten und folgten ihm
blind. Andere, wie Bergasse, Brissot, Carra und Marat, sahen in ihm eine Möglichkeit, ihre Rechnungen mit der alten Ordnung zu begleichen. Mesmers Lehre wurde von den offiziellen Stellen geschmäht. Das zog seriöse Forscher an, die schon seit Galilei wußten, daß die Wahrheit immer erst verworfen wird, bevor man sie akzeptiert. Er wirkte auch wie ein Magnet auf rachsüchtige Irre und Träumer, auf neugierige Mitläufer, gelangweilte Aristokraten und ehrgeizige Bürger. Ganz Paris mesmerisierte zu Beginn der achtziger Jahre. Mesmer besaß eine sehr gute Menschenkenntnis; er unternahm keinerlei Versuch, der Vereinnahmung seiner Lehre entgegenzutreten, so als ob er wußte, daß es nichts nützen würde. Er behandelte seine Patienten mit Überzeugung und Hingabe. Mesmer war ein integrer Mensch, den ich nie völlig habe durchschauen können, da er nur sehr schlecht Französisch sprach. Und obwohl ich den Ausgangspunkt seiner Theorie ablehne – das Ganze basiert auf einem Irrtum, es existiert kein Fluidum, animalischer Magnetismus als physische Erscheinung ist Unsinn – haben die Resultate seiner Arbeit mich auf die Spur einer Annahme über den menschlichen Geist gebracht, die so weitreichende Folgen haben kann, daß mir dabei schwindelt. Nun, da Mesmer beide Bedeutungen des Wortes animal vereinigt hat und so das tierische Prinzip mit der Seele versöhnt hat, werde ich meinerseits die Seele aus der Metaphysik befreien. Es ist eine Theorie denkbar, die Gott aus der Arbeitsweise des Geistes ausschließt, aber mehr erklärt als der unbefriedigende Materialismus. Das Irrationale ist nicht der Feind der Ratio. Es ist der Efeu, der sich um den Stamm windet, und vielleicht ist es sogar umgekehrt, und das Irrationale ist der Nährboden und das Rationale eine Auswahl daraus, die Frucht eines ordnenden Prinzips, das wir auf unsere Seelen geprägt bekommen ebenso wie unser Vermögen, aus
dem Meer von Sprache, die uns zur Verfügung steht, und aus dem Berg von Bildern die Worte auszuwählen, mit denen wir einander verstehen können. Wir müssen die Angst besiegen, Elisabeth. Die neue Zeit bildet den Übergang vom ›Du sollst‹ zum ›Ich will‹. Vor zwei Jahren bestiegen Paccard und Balmat den Montblanc. Sie haben ihn in Besitz genommen, vermessen, unterworfen. Es gibt keine Grenzen mehr, wir bauen überall unser Haus, nichts ist unmöglich. Das sind die jagenden Wolken, über die ich mit dir sprach und die mir willkommen sind, denn der Sturm vernichtet das Unrecht und die Dummheit. Unsere Entdeckungsreise zu den Grenzen der menschlichen Möglichkeiten öffnet ungeahnte Perspektiven. Wenn ich an etwas glaube, dann daran. Ich habe den Berg seit über zwanzig Jahren nicht gesehen. Er ist mehr als ein Berg für mich. Er ist das Symbol des unendlichen Abenteuers, Oberfläche und Tiefe zugleich, ewig zunehmendes und ewig schwindendes Wissen, erstiegen, aber nicht erobert. Er ist meine Hoffnung, mein Verlangen, die Quelle meines Lebens.
Paris
1
Höher. Kühler hier. Aber feuchter. Nach oben schwimmen. Jeder Schritt ein Sieg über die Schwerkraft. Meine kleine Masse gegen die immense Masse der Erde. In der Dunkelheit des Treppenhauses schießen Lichtblitze und bunte Flecken wie furchtsame Fische vor meinen Augen hin und her. Die Geräusche sind gedämpft, wie damals, als ich in der Wed mit dem Kopf unter Wasser geriet. Mein Herz klopft. Es ist eine Pumpe, die schneller arbeitet, wenn ich mich stark anstrenge. Wenn ich Angst habe. Wenn ich im Bett liege und träume. Wenn er mich anschaut. Ich bin nicht Herr meines Herzens. Es klopft einfach, ich will tief einatmen, aber irgend etwas klemmt. Ich gähne und seufze. Mein Schädel sticht, meine Kopfhaut schrumpft zusammen, ich fühle jedes einzelne Haar. Je höher ich komme, desto wärmer und enger wird es. Durch die Tür der Mansarde fällt ein Lichtstreifen. Daran orientiere ich mich. Da ist noch eine letzte Stufe, merke ich, als ich falle. Auf der Schwelle zum Zimmer ergießt sich unvermittelt die Hitze, die unter den Balken wartet, über mich. Das Licht blendet. Tastend suche ich das Bett mit dem Geruch der vielen Unbekannten. Und ihrer Läuse. Ihrer Flöhe. Ich habe den Strohsack so gut wie möglich ausgeklopft und ausgelüftet. Wenn du glaubst, daß es etwas nützt, dann mach es ruhig, sagte er. Natürlich nützt es. Ab und zu fange ich noch einen Floh, den ich zwischen meinen Nägeln zerdrücke. Mit einem trockenen Knacken haucht er seinen Geist aus.
(»So vergehen Menschen zwischen den Nägeln Gottes«, sage ich. »Besser als umgekehrt«, sagt er. »Weißt du das sicher?« Wir lachen.) Ich lege mich hin und warte, bis das Hämmern hinter meinem Auge nachläßt. Es gibt dort ein Hilfsherz, das pumpt und klopft. Mit jedem Schlag ein Lichtblitz. Ich halte meine Augen hinter den Lidern ruhig, Bewegung ist Schmerz. Rhythmus des Herzens und Hilfsherzens. Zähle die Schläge. Atme den Kontrapunkt. Eine Maschine bin ich, ein Uhrwerk von Stahl, meines Vaters Uhr, meine Rädchen greifen stolz ineinander, meine Unruhe geht hin und her, meine kleine Fabrik arbeitet, mein Magen knurrt und brummt, mein Blut strömt und rauscht durch meine Adern. Immer weiter, wie ein Esel in einer Tretmühle. Ich kann nicht sagen: Halt, hör auf, kehr um. Was getan ist, ist unwiederbringlich. Was habe ich getan? Nichts. Ich habe es unterlassen. Wie weit reicht mein Wille? Ich falle in einen Halbschlaf, träume nicht, aber verlasse meine ruhelose Mechanik, stelle mich neben das Fenster und schaue dem einfallenden Licht nach. Ich sehe den Körper einer jungen Frau auf einem Bett. Sie trägt ein grünes Damastkleid, das schon bessere Zeiten gesehen hat: In den Nähten ist die Farbe dunkler, und das Gewebe ist an den Stellen, wo die Hände die Verschlußhäkchen zusammenziehen, ausgeleiert und glänzt. Ihre Brust geht auf und nieder, mit jeder Bewegung schimmern die Wölbungen im Halsausschnitt. Ihre Röcke hat sie hochgeschoben. Nackte Beine. Lange, schlanke Beine ohne Strümpfe. Aufgeschürfte Knie. Blut hat die Monatsbinde durchtränkt und Flecken auf ihrer Unterwäsche hinterlassen. In ihrer Hand hält sie einen schwarzen Lappen. Sie ist allein im Zimmer. Außer dem Bett steht dort ein Tisch mit zwei Stühlen. Auf dem Tisch Schreibzeug, ein vierarmiger Kerzenleuchter, ein Stapel engbeschriebenes Papier. An der Wand eine hohe Kiste mit Schubladen, wie sie die Hanfkämmer und
Kesselflicker aus Savoyen auf ihrem Rücken tragen. In der Ecke ein kleiner Kabinettschrank mit einer Waschschüssel und einer Wasserkanne, daneben eine Wanne mit Wasser und Wäsche, ein zwischen zwei Balken gespanntes Seil, an dem ein Hemd trocknet. Längst trocken ist in dieser Hitze. An einem Haken ein schwarzer Reisemantel aus Tuch. Ihr schlafendes Gesicht ist heiter, mir fällt kein anderes Wort dafür ein, heiter wie das eines Kindes. Was könnte sie sein? Schauspielerin, Verkäuferin, Konkubine eines armen Junkers, Strumpfnäherin, Gerberin, Porzellanmalerin, Wäscherin, Blumenfrau? Ihre Finger verraten keinerlei Handarbeit. Ihre Haut ist gesund, sie verwendet weder weiße Schminke noch Rouge. Lange kann sie also noch nicht in Paris sein. Warum ist sie so müde? Ihr linkes Auge wölbt sich unter den geschlossenen Lidern stärker als das rechte. Ich liege neben ihr, öffne meine Augen und sehe meine Knie wie Treibholz aus einem grünen Meer herausragen. Wie rund und fremd sie sind. Wie unschuldig sie sind! Sie gehören niemandem. Sie sind einfach da. Ein Mann kommt ins Zimmer. Er setzt sich auf einen Stuhl. Ich flüchte in einen Winkel an der Zimmerdecke. Er hat ein mageres, braungebranntes Gesicht mit tiefliegenden, leuchtend blauen Augen. Ein Viertel der linken Iris ist schwarz. Niemand für den Hof oder für Watteau. Eher ein Seemann. Sympathisch. Schwarzes Haar, im Nacken zusammengebunden, offenstehendes Hemd. Ein Mund, dem vieles anzusehen ist: Ironie und Wollust, bien étonné de se trouver ensemble. Sie hat ihre Röcke hinuntergeschoben und reibt, auf dem Bettrand sitzend, mit einem Zipfel des Lakens ihren Hals und ihre Brust trocken. »Gute Neuigkeiten! Ich habe gehört, daß der Bischof seinen Koch festnehmen ließ«, sagt er.
Sie nickt und kämmt ihr Haar mit langsamen Bürstenstrichen, steckt es auf dem Kopf fest. »Wir sind in Sicherheit!« Er lacht laut. »Nun können wir an die Arbeit.« Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. »Würdest du Wasser holen, dann kann ich mich waschen«, sagt sie. Er steht auf, nimmt Kanne und Schüssel. An der Tür dreht er sich um, will etwas sagen, grinst aber nur. Pfeifend geht er nach unten. Sie hört es. Dann erst lächelt sie. Sie steht auf und zieht sich aus. Das grüne Damastkleid legt sie vorsichtig über einen Stuhl. Ihre Unterwäsche stopft sie in die Wanne mit Wäsche. Sie rümpft kurz die Nase. Das Wasser stinkt. Gleich wird sie zur Waschstelle an der Seine gehen, dort gibt es genügend Waschwasser. Sie steht nackt im Zimmer, ihre Arme am Körper. Lange Beine. An der Innenseite der Schenkel klebt Blut. Sie hebt ihre Arme über den Kopf und reckt sich wie ein Perlentaucher, der jeden Moment tauchen will. In diesem vollkommenen Körper mit sanften Schatten, wohlgeformten Brüsten, die voll in der Hand liegen, rosa Brustwarzen, einem bescheidenen Dreieck aus dunklem Schamhaar ist das linke Auge ein störendes Element. Eine Verschandelung. Weiß sie das? Sie dreht sich um. Ich sehe ihren Rücken. Spitze Schulterblätter. Zwei rührende Grübchen über den Pobacken. Eine Haarsträhne hat sich losgelöst. Der Nacken eines Mädchens. Herzzerreißend. Der Mann kommt herein und stellt Schüssel und Kanne auf den Kabinettschrank. Er legt sich auf das Bett und betrachtet sie, während sie sich wäscht. Ich hasse es, wenn er mir beim Waschen zusieht. Er hält es für etwas Besonderes, daß ich mich wasche. Aber ich will mich waschen. Ich fühle mich schmutzig. Wenn man um sich herum nichts außer Unordnung und Schmutz sieht, dann neigt man dazu, sich anzupassen. Glücklicherweise habe ich das
rechtzeitig bemerkt. Es gibt mir Halt, daß mein Körper frisch und meine Kleider sauber sind. Ich wasche mich zweimal am Tag, vor allem jetzt, da ich meine Menstruation habe und es so warm ist. Niemand außer mir tut das. Er stellt sich hinter mich, bedeckt meine Brüste mit seinen Händen und reibt meine Brustwarzen hart. Ich muß niesen. Ich fühle, wie das Blut fließt. »Ich habe meine Regel«, sage ich. Er beißt mich in den Hals. »Es ist zu warm«, sage ich. »Ich möchte dich nur berühren«, sagt er. Seine Hände heben sich braun von meinem weißen Körper ab. Eigenartige Tiere. Liebe Tiere, die den Weg zu den geheimen Stellen meines Körpers so gut kennen. Aber nun löse ich sie von mir und kleide mich an. Es wundert mich, daß ich hier stehe. Was ist die Wirklichkeit? Die Gegenwart oder die schwindende Vergangenheit, in der ich jemand anderes war und alles festgelegt und vorherbestimmt war? Hat das Dasein verschiedene Aggregatzustände? Ist es heute gasförmig und war es früher ein fester Stoff? Dasselbe, nur anders, und keiner weiß vom anderen. Ich gieße die Pflanze mit meinem Waschwasser. Sie steht auf einem schmalen Balkon mit einem Eisengeländer, das in der Hitze Blasen wirft, sobald man es anfaßt. Es ist eine Weinrose. In Liebe erblühend. Sie gehört nicht auf ein Sims aus Zink hoch über der Stadt. Sie gehört in die Dünen oder an einen Strandweg, aber ich bin froh, daß ich sie ausgegraben und mitgenommen habe. Durch meinen Willen blüht sie. Ich rieche den Duft. Die Drossel. Dünengras und warme Tannen. Luft von Ruysdael. Vater. Ich steche mich an den Dornen. Wie leben? Was ist gut? Was ist böse? Bereits auf der Treppe verkündet er sein Kommen durch den lauten Ruf, daß der Freund des Volkes Neuigkeiten habe.
Marat. Er kommt immer mit Neuigkeiten und Empörung und erscheint wie eine Ratte, die aus einem unsichtbaren Loch hervorschießt. Seine Augen sitzen wie bei einer Krähe auf beiden Seiten seines Schnabels und schauen in verschiedene Richtungen, so daß man nie sicher sein kann, ob er einen beobachtet Seine Haut ist rot, schuppig und rußbefleckt. Ständig kratzt er sich durch sein Hemd hindurch, stößt dabei hin und wieder Laute der Befriedigung oder des Schmerzes aus. Er stinkt. Seine Mißachtung trivialer Tugenden – wie er sie nennt – stellt er groß zur Schau und läßt seine Kleider verdrecken. Ich hege eine Abneigung gegen ihn, nicht so sehr, weil sein Äußeres in mir Widerwillen erweckt, sondern weil er Talent hat und sein Talent durch Bitterkeit verunstaltet ist. Was er sagt, ist wahr. Aber seine Schärfe grenzt an Grausamkeit, seine Wahrheit liegt in der Nähe der Lüge. Jedes Wort eines anderen kann falsch aufgenommen werden, und dann sticht er mit seinem scharfen Schnabel nach dir und überhäuft dich mit einem Schwall von Verwünschungen. Er ist, glaube ich, des Mordes an jedem Menschen fähig, der seine Ansichten nicht teilt. »Daß du ihn ertragen kannst«, habe ich gesagt. »Er hat Qualitäten.« »Welche denn?« »Mut. Treue. Unabhängigkeit.« »Er ist ein Quacksalber, sagt man. Ein Viehdoktor.« »Lügen. Er war Arzt bei Artois’ Leibwache. Natürlich kam er häufig in die Stallungen.« Marat ist sein Waffenbruder. Sie haben viel gemein, sie sind beide Fremde, beide Kämpfer gegen Dummheit und Selbstgefälligkeit, gegen Privilegien und Unrecht, gegen die herrschende Klasse und gegen Korruption und alle Ausschweifungen, für die diese Klasse steht. So nennen sie es. Sie sind die Läuse im Pelz des Systems. Natürlich nur, weil es
sie – wie im Falle Marats – ausschloß. Marat hatte dazugehören wollen, er hatte ein Schwert getragen und sein Werk zur Académie geschickt. Sie machten sich über seine Feuer- und Lichttheorien lustig, und seitdem taugte die Académie in seinen Augen nichts mehr. Aber auch in der Welt der Läuse laufen Verräter und Falschmünzer herum, und Marat behält alle scharf im Auge. »Sie wollen die Zusammenkunft der Generalstände verhindern.« Er zieht einen Stuhl heran, streckt seinen Kopf wie ein Geier nach vorne und sagt, daß sie bei Hornmann besprechen müssen, was zu tun sei. Widerstand organisieren. Der Schnabel klappert. Doppet hört ernsthaft zu oder erweckt zumindest den Anschein. Zu mir sagte er: Freiheit beginnt außerhalb des Gesetzes. Freiheit beginnt beim Betrug. Er ist nicht das, was er zu sein scheint. Er hat mir seine Geschichte erzählt, aber damit kenne ich ihn noch nicht. Manchmal ist er in seinem Urteil hart und grausam, dann wieder zärtlich bis ins Sentimentale. Doppet ist ein Suchender, denke ich manchmal, von der Unvollkommenheit seiner Seele gequält, und ich habe ihn lieb. Hüte dich vor der Güte, hüte dich vor der Liebe. Welch ein Ratschlag! Ohne Güte ist das Leben eine Wüste, und die Liebe überkommt dich einfach. Mit Mounier war die Liebe mechanisch, aber nun weiß ich, was Liebe mit Liebe ist. Als ich mit meiner Wanne Wäsche auf dem Weg nach draußen an den beiden Männern vorbeigehe, zwinkert er mir zu. Ich gehe zur Seine: es ist nicht weit. Die Wäscherinnen kennen mich. Anfangs wiesen sie mir einen Platz stromabwärts zu, wo viel Dreck angespült wird. Heute machen sie mir Platz und necken mich mit gutmütigen Scherzen. Sie singen Lieder und treiben ihren Spott mit den Aristokraten. »Hohe Herrn sind eine Qual, zum Teufel mit diesen Faulpelzen. Gold lieben sie, verdammt noch mal, laßt es in
ihren Mäulern schmelzen. Aufrichtig wünschen wir uns dies, die Fischverkäufer von Paris.« Ein arroganter, reich gekleideter Geck wandelt in Begleitung eines jungen Dieners vorbei. Er bekommt einen Eimer Wasser über seine Hose, sagt, daß es Absicht war, was stimmt, und verpaßt der Waschfrau mit seinem Stock einen Stoß. Das hätte er nicht tun sollen. Im nächsten Augenblick hat die dicke Marie ihren Arm wie einen Schraubstock um seinen Hals gelegt und zielt die fahlgelbe und jähzornige Jeanne mit dem Messer auf sein Herz. Eine dritte nimmt ihm sein Schwert und seinen Stock ab. »Nieder mit ihm! Nieder mit ihm!« skandieren die Frauen. Der Fatzke kreischt und schreit und tritt. Aber die Polizei wagt sich wohlweislich nicht zwischen die Waschweiber. Der junge Diener macht sich aus dem Staub. Wie die Aasgeier stürzen sich die Frauen auf ihre Beute. Stück für Stück fliegen die Kleidungsstücke durch die Luft. Und zum Schluß wird die bleiche, fast mitleiderregende Gestalt an Händen und Füßen gepackt und nackt in den Fluß geworfen. Seine Perücke treibt mit der Strömung fort. Er faßt sich an seinen kahlen Kopf, ersäuft beinahe, aber kann sich zappelnd an einem vorbeifahrenden Ruderboot festklammern, dessen Schiffer ihn an Bord zieht. Das sind die fröhlichen Momente des Tages. Der Wasserstand ist niedrig; in diesem Frühjahr hat es wenig geregnet. Während ich Achten drehe, wringe und die schmutzigen Stellen zusätzlich zwischen den Händen reibe, stelle ich mir vor, daß ich an der Spaarne sitze. Ich weiß nicht, wie ich den Schmerz aus Heimweh und Schuldgefühl lindern soll. Manchmal scheint es, als ob ich neben mir stehe und mein Körper auseinanderfällt, während ich dabei zuschaue. Der Bischof hat den Koch festnehmen lassen. Er sucht uns nicht mehr, oder er wartet, bis wir uns sicher glauben. Polizeispitzel sind überall. Die Menschen hocken hier zu dicht
aufeinander, und in der brütenden Sommerhitze lodert schnell die Gewalt auf. Paris ist eine Stadt der Lust. Eßlust, Wollust, Streitlust, Mordlust. Genau so wie Prévost den Mord an Lescaut mit zwei Sätzen beschrieb, spielt es sich noch immer ab: »Aha, da ist Lescaut, sagt der Mörder, heute abend speist er mit den Engeln. Er schießt, macht sich aus dem Staub und Lescaut fällt steif zu Boden.« Punkt. Mit ähnlicher Leichtigkeit werden Tiere und Bettler niedergemetzelt. Wenn es eine Hölle gibt, dann befindet sie sich hier in diesen Gassen, wo das hungrige Volk haust. Ich laufe, wie jeden Tag, an den vielen halbfertigen Häusern, Palais und Mietskasernen vorbei und kann mich nicht sattsehen an den Märkten von Paris. Anfangs fühlte ich mich beobachtet, aber jetzt bin ich ein Schatten, sogar weniger als das. Ich komme zu den Schlachthöfen in der Stadtmitte, die Mercier so beschreibt: »Das Blut strömt in Rinnsalen über die Straße und gerinnt unter deinen Füßen, deine Schuhe verfärben sich rot. Während du so durch die Straße gehst, triffst du plötzlich auf klägliches Gebrüll. Ein junger Ochse liegt auf dem Boden, seine Hörner sind mit Seilen am Boden befestigt; sein Schädel wird mit einem schweren Knüppel eingeschlagen, ein großes Messer reißt eine tiefe Wunde in seine Kehle; sein Blut strömt dampfend mit seinem Leben davon. Blutige Arme tauchen in die dampfenden Eingeweide ein; seine Glieder werden mit einem Hackbeil durchtrennt und in Stücke zerteilt, und das Tier ist zugleich Aushängeschild und Ware. Manchmal ist der Ochse vom Schlag nur betäubt und nicht tot, dann zerreißt er seine Fesseln und entkommt den Klauen des Todes; er entrinnt seinen Peinigern und trampelt alles nieder, was ihm in den Weg kommt.« Es stimmt. Ich sehe, wie kreischende Ferkel geschlachtet und zum Ausbluten aufgehängt werden. In einem Korb abgehackte Köpfe mit groteskem Grinsen. Auf den Köpfen dicke Fliegen. Ein Vogel, der in die Augen pickt. Der
Tod ist aller Heiligkeit und Präzision entledigt. So wie ich Vater sah, so schön tot, so ruhig und ohne Kampf, so sachlich und wissenschaftlich tot, so ist der Tod hier nicht. Nackter, rauher Tod, dreckiger Tod, Abfall-Tod. Wie der Tod, so das Leben. Nach diesem Tod kein Himmel. Dies ist der gottlose, lieblose, hoffnungslose Tod. Die Gedanken über Gut und Böse sind ein gekünsteltes Menuett zwischen den Kadavern. Mehrere Männer kommen auf mich zu, die glauben, daß ich ihnen für ein paar Sou zu Diensten bin. Sie sind beleidigt, als ich ablehne. Lauf dann nicht allein herum. Du forderst es ja heraus, Einauge. Ich weiß es. Aber Doppet ist mit anderen Dingen beschäftigt. Er knüpft Kontakte, sagt er, und bereitet unser wissenschaftliches Experiment vor. Ich habe ihm immer noch nicht gesagt, daß meine Begabung in erster Linie aus Schauspieltalent besteht. Mein Auge ist krank. Ich will, daß er mich heilt, nicht, daß er meine Krankheit mißbraucht. »Da ist nichts zu machen«, sagte er. »Du weißt, daß Aderlässe nutzlos sind.« »Und eine magnetische Behandlung?« fragte ich. Er lachte: »Wenn du glaubst, daß es hilft, dann hilft es.« Er verschob es immer wieder. »Es wird schlimmer«, sagte ich. »Wird schon nicht so schlimm sein«, sagte er. Ich fühle mich beschmutzt, entstellt, schuldig. Es ärgert mich, daß er mir seinen Willen aufzwingt. Mehr noch ärgert mich, daß ich es zulasse. Aber ich lasse es zu. Aus einer Türnische springt ein Schwachkopf hervor, der mir sein gewaltiges Geschlechtsteil präsentiert und obszöne Bewegungen macht. Ich bekomme eine Gänsehaut. Eine alte Frau läuft ihm mit erhobenem Messer hinterher. »Komm her, ich hacke ihn ab«, ruft sie. Aus einem Fenster lehnen Nachbarsfrauen, die sich vor Lachen verschlucken.
»Wenn du das tust, kriegt er sie überall!« ruft eine. Nach oben, ins dunkle Treppenhaus. Sie hat kein Gasthaus, aber eine Reihe fester Abendgäste und zusätzlich immer wieder einen armen Schlucker, den sie von der Straße holt und durchfüttert. Ihr Essen ist schlecht, aber preiswert. Wichtiger als das Essen sind ihre bodenständige, freimütige Art und ihre Herzlichkeit, die sie sowohl ihrer alten Tante Mathilde wie auch dem Professor von der Sorbonne oder dem Landstreicher entgegenbringt. Ihre Figur ist überreif, aber appetitlich; alles an ihr läßt sich mit Eßwaren vergleichen, wie sie sie selbst nicht serviert: saftig, herzhaft, süß, pikant. Doppet kennt sie von früher. Als wir, gerade in Paris angekommen, bei ihr anklopften, wurde er wie ein verlorener Sohn empfangen. Marie Cercueil nennen wir sie, da sie zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit erzählt, wie sie als Neugeborenes zu Füßen ihres gerade eingesargten Großvaters gelegt wurde und von diesem Erlebnis eine innige Verachtung des Todes und eine warme Liebe für das Leben zurückbehalten habe. Priester sind bei ihr nicht willkommen. Predigten über Hölle und Verdammnis lacht sie in Grund und Boden. Sie hatte viele Liebhaber, aber leider nie einen reichen, sagt sie, denn sie kann nicht heucheln und entflammt immer wieder für mittellose Intellektuelle oder wohlgestaltete Betrüger. Obwohl Doppet bestimmt zehn Jahre jünger ist, erfüllt er beide Voraussetzungen und hat früher sicher ihr Bett geteilt. Sie kommt herein, während die Gesellschaft am Tisch sitzt, und hält uns eine dicke Kerze entgegen, die in der Sonne gestanden hat und dadurch wie ein Rüssel nach unten hängt. »Grüßt den König!« sagt sie. »Grüßt Seine Majestät!« Tante Mathilde schüttelt sich lautlos vor Lachen. Der alte Kastrat, der im betrunkenen Zustand mit Cercueil Duette singt – sie den Tenor, er den Sopran – kniet nieder, bekreuzigt sich, hebt dann den Kopf, schließt die Augen und öffnet den Mund,
um die Heilige Kommunion zu empfangen. Während sie die schlaffe Kerze in seinen Mund gleiten läßt, sagt sie: »So sehr liebte Gott die Menschen, daß er seinen einzigen Sohn hingegeben hat, damit ein jeder, der an ihn glaubt, nicht die ewige Verdammnis, sondern das ewige Leben erlange…« »Impotenz ist wahre Liebe«, sagt der Student, »Liebe, die sich im Angesicht der Erfüllung demütig verleugnet, Liebe, die sich im Übermaß von Liebe auflöst und entschwindet.« »Würde der König das Volk doch nur so lieben, daß er selbst im ewigen Leben verschwände, aber uns kann er ja vögeln«, sagt der Verfasser von Flugblättern in einer Anspielung auf Seiner Majestät früheres Gebrechen. Marie Cercueil lacht so laut, daß jeder mitlacht. »Er gedachte, die Ehe zu vollziehen, indem er ihn dagegen hielt! Kannst du dir das vorstellen?! Das österreichische Milchmädchen mit seinen weitgespreizten Beinen, und er läßt seine Kuhglocke ein bißchen dagegen schwingen!« Der Kastrat macht ein paar Hüftbewegungen und sagt mit hoher Stimme: »Tingeling, tingeling!« Wir bekommen Lachkrämpfe in den Wangen. »Was ist wahre Liebe? Was ist Glück?« fragt der Professor, leicht vom Thema abschweifend. Er hat ein Darmleiden und läßt manchmal enorme Winde fahren, die seinen Darlegungen Nachdruck verleihen. Er wiederholt seine Frage, wobei er jedes Wort betont. Der Student seufzt. Ein nach drei vergangenen Modestilen gekleideter Müßiggänger, den wir Rameaus Großneffen nennen, klemmt eine imaginäre Violine unter sein Kinn. »Wahre Liebe ist die Liebe zur Musik«, singt er. Er steht auf und spielt ein inbrünstiges Konzert auf seinem fiktiven Instrument. Sein Gesichtsausdruck ist abwechselnd lyrisch und gequält. Tante Mathilde schlägt den Takt. Der Kastrat singt zu irgend etwas die zweite Stimme.
»Wahre Liebe ist die Liebe zur Wissenschaft«, sagt der Professor. Er hebt den Hintern für einen Furz. »Die Wissenschaft sucht die Wahrheit. Die Wahrheit muß von den Windeln der Kinderstube der Menschheit befreit werden. Die Menschheit…« So fährt er mit seinem Rattenschwanz fort. Niemand hört zu. Doppet sagt, daß in dieser Zeit die Wahrheit käuflich ist, daß auf der Straße Tausende von Wahrheiten im Dutzend billiger gehandelt werden. Was ist noch sicher in diesem Leben? Auf Bitten des Studenten erklären die Gäste der Reihe nach, was ihre wahre Liebe ist. »Die vergebliche Hoffnung auf meine verschwundenen Eier«, sagt der Kastrat und tut, als wische er eine Träne weg. »Schönheit«, sagt Doppet, der sich wohlfühlt und lacht und gierig ißt und trinkt. »Warum? Weil sie nicht existiert. Wahre Liebe ist das Verlangen nach dem Unmöglichen.« Alle schauen mich an. »Freiheit«, sagt der Schriftsteller, »weil Unterdrückung Menschen zu Hunden macht, die die Hände ihres Peinigers lecken.« Erfahrung? Haha, und ob. »Ich schweife gar nicht in die Ferne, meine wahre Liebe ist die Liebe selbst«, sagt Marie, während sie sich über den Professor lehnt und seine Perücke an ihrem weichen Busen zerdrückt. »Ein lecker gebratenes Hähnchen«, quietscht Tante Mathilde. »Das Gute?« sage ich fragend, als ich an der Reihe bin, »weil ohne das Gute alles andere sinnlos erscheint.« »Ach Gott!« rufen sie mitleidig im Chor. Ich lache mit ihnen. Wer weiß schon, was das Gute ist. Es ist zu selten, um erkannt zu werden. Ich trinke mehr Wein als sonst. Sie sprechen über Liebe und Tod und lachen viel. Auf einmal merke ich, daß ich von meinem Vater erzähle. Wie er plötzlich vornüber in seinen Teller fiel. Komisch. Ich mache es vor. Bumm. Ich nehme
meine Augenklappe ab und mache es noch einmal. Bumm. Ich starre. Wie ein Blitz trifft mich die Erscheinung des Nichts. Sie nimmt mich mit in die Küche und tröstet mich. Ich weine, wie ich noch nie geweint habe. »Armes Täubchen«, sagt sie. Sie streichelt mein Haar und nimmt mich in ihre Arme. Ich muß mich bücken, um meinen Kopf auf ihre Schulter zu legen. Sie drückt mich auf einen Hocker und streichelt meine Wangen. »So«, sagt sie, »so.« Sie wischt die Tränen mit ihren Fingern weg, die nach Knoblauch und Zwiebeln riechen. »Was für ein Auge hast du da bloß? Hast du Schmerzen? Und welch ein Kummer. Erzähl es mir ruhig. Ist er wirklich der Richtige für dich?« Sie schaut mich forschend an. »Ich kenne die Männer. Ich kenne ihn. Ich weiß mehr über ihn, als mir lieb ist. Aber ich werde dich nicht warnen, das nutzt ja doch nichts. Ich habe auch mal so einen gehabt. Schlau und stark und prächtig. Der Körper eines jungen Gottes und die Potenz eines Stiers. Aber so verdorben wie Seinewasser. Und ich verzieh ihm alles.« Marie Cercueil setzt jede Trauer in Begriffe von Leidenschaft und Betrug um. Wie kann ich ihr erklären, daß ich entwurzelt bin? Ich erzähle ihr, daß er Maaike in Abbé Sicards Taubstummeninstitut gebracht hat, daß ich es zugelassen habe, daß ich sie vermisse und nicht weiß, ob sie glücklich ist, auch wenn er sagt, daß sie glücklich sei. »Kind, dann fahr doch einfach hin!« »Ich traue mich nicht.« »Warum nicht?« »Ich fürchte mich vor ihren Vorwürfen.« »Wenn sie glücklich ist, hat sie dir nichts vorzuwerfen, und wenn sie das nicht ist, nimmst du sie einfach wieder mit.« »Das will er nicht.« »Warum nicht?«
»Weiß ich nicht.« Ich weiß es sehr wohl. »Frag ihn.« »Er weicht aus.« »Ist er dein Mann? Dein Herr? Dein Vater?« Ich suche nach einer Antwort. Seine Macht steht fest. Ich hänge in seinem Kielwasser wie abgerissene Algen am Ruder eines Schiffes. Von Vater zu Maître Mounier de Bresse und von Mounier zu Doppet. Was haben meine mutigen Gedanken über Unabhängigkeit zu bedeuten, wenn ich mich doch immer wieder an jemanden klammere? Warum dann doch so steuerlos? Marie Cercueil hat gearbeitet und gelebt, von Tag zu Tag, ohne Philosophie, Physik und Bücher, und sie steht wie ein Fels in der Brandung. »Er hat keine Macht über mich«, sage ich. »Doppet und ich sind einander ebenbürtig und brauchen uns gegenseitig.« »Hast du deinen Vater sehr geliebt?« Ich nicke. »Armes Schaf. Geht es wieder besser? Komm nur zu Marie, wenn du in Not bist.« So möchte ich mich an meine Mutter erinnern. Sie fühlt sich an wie warme, trockene Erde, während ihre Arme doch kühl sind. Alles wird wieder es selbst. Die Dinge bekommen erkennbare Form. Aber hat man es einmal gesehen, bleibt das Nichts in jedem Blick anwesend. Seitdem befinde ich mich in einem Zustand erhöhter Wachsamkeit. Ich bin noch immer unterwegs. Mein Ausgangspunkt und mein Ziel sind unbekannt. Ich wollte fort von Orten und Menschen, die mich in ihrer Unabänderlichkeit gefangen hielten. Habe ich sie deshalb gehen lassen? Sie zeigten auf mich und nannten mich fortlaufend bei meinem Namen; und ich nannte ihren. Dadurch existierte ich. Jetzt bin ich so vergänglich wie das Wasser eines Flusses. Transparent. Es scheint, als hätte ich mich verborgen, nicht nur vor dem Bischof, sondern auch vor
der Vergangenheit und der Zukunft, vor mir selbst. Ich nehme wahr und werde selbst nicht wahrgenommen. Ich bin eine Durchgangsstation für Bilder. Cupio dissolvi.
Er lehrt mich, zu »sehen«. Er ist Apollo, und ich bin Kassandra. Ich habe ihm gesagt, daß mein Auftritt beim Bischof lediglich auf Vorwissen und Zufall beruhte. »Das glaube ich nicht«, sagt er. Beginnt es jetzt schon, daß man mir nicht glaubt, wenn ich die Wahrheit spreche? Ich habe noch kein Versprechen gebrochen, nicht einmal ein Versprechen gegeben, bis auf das Versprechen zur Mitarbeit. »Jedes Wunder läßt sich erklären«, sage ich, »früher oder später.« Was wird von mir erwartet? Ich will es wissen. Er sagt mir folgendes: »Frankreich braucht eine Revolution. Aber öffentliches Handeln hieße, einen Mißerfolg geradezu herauszufordern. Um Erfolg zu haben, müssen wir die Revolution mit einem geheimnisvollen Schleier umgeben. Wir müssen uns unter dem Vorwand naturwissenschaftlicher Experimente treffen, aber in Wirklichkeit den Sturz des Despotismus vorbereiten und eine neue, harmonische Ordnung begründen.« Was ist diese Ordnung? Er sagt seine Lektion auf: »Das Universum wird durch eine tiefsinnige Kombination und ein vollkommenes Gleichgewicht von physikalischen und moralischen Gesetzen regiert. Die Natur läßt sich von dem Wunsch nach einer konstanten und langfristigen Harmonie leiten. Gut ist alles, was die Harmonie fördert. Wer gut ist, ist gesund. Und umgekehrt. Die Harmonie wird durch Gegenkräfte gestört, die im Menschen, in einem Volk und im Universum wirken. Die Idee und die Ausführung
des Bösen sind eine Gegenkraft, die die Harmonie stört. Böse ist das, was gegen die Natur geht. Es macht den Körper krank. Es macht ein Volk krank, wenn sein Anführer Böses denkt und tut. Wir brauchen andere Gesetze und andere Sitten, die nicht aus Vorurteilen entspringen, sondern unseren Neigungen entsprechen; einfache Sitten sind das, weil die Natur dem Menschen wenig verboten hat, aber zugleich auch eindeutige Sitten, da die Natur dem Menschen, der ihre Herrschaft anerkennt, nichts ohne Grund verbietet.« »Wer hat das gesagt?« »Mesmer und Bergasse.« »Und du glaubst nicht an das Fluidum!« »Wohl aber an die Kraft der Natur und an die Quellen, aus denen wir täglich schöpfen, ohne uns dessen bewußt zu sein.« »Was muß ich tun?« »Die Augen öffnen.« Ich verstehe überhaupt nichts mehr, aber ich bin sicher, daß er dieser merkwürdigen Lehre nur anhängt, um seine eigenen Ziele zu verfolgen. In seiner Stimme klingt ein Quentchen Ironie mit, die mich beruhigt und neugierig macht. »Muß ich an das, was ich mache, glauben?« »Sie müssen an das, was wir machen, glauben.« »Wer sind ›sie‹?« »Zuerst Hornmann, Bergasse, Marat, Carra, Brissot, d’Epremesnil, Lafayette.« Eine prominente Gesellschaft. »Und danach?« »Jeder, der es hören will. Und auch alle, die es nicht hören wollen.« »Wie? Was?« »Warte nur ab. Zuerst das Ritual.« Es klopft. Hinter einem Berg von Stoffen – Brokat, Satin, Seide, Bombasin und Batist in Schwarz und Weiß, Rotgold,
Pfauenblau – kommt Lebrun herein. Ich erschrecke. Wo kommt er her? Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit wir in Paris sind. Darüber war ich froh. Er verändert Doppet durch seine Anwesenheit. Er ist der Engel, der Engel des Paradieses, der Engel der Rache, der Engel des Todes. Aber er begrüßt mich freundlich, legt die Stoffe auf das Bett und setzt sich an den Tisch. Der Engel der Verkündung. Es ist noch immer schwül. Die Wärme muß sich entladen. Vielleicht heute nacht. Das letzte Tageslicht ist schwer und schwefelgelb. Die Weinrose steht müde und staubig auf dem Balkon. »Was hast du gehört?« fragt Doppet. »Ich habe es aufgeschrieben«, sagt Lebrun und zieht ein zerknittertes Blatt Papier aus seinem Hemd hervor. »Mir wäre es lieber, wenn du nichts aufschreibst«, sagt Doppet. Antoine zuckt mit den Schultern. »Von mir aus.« »Worum geht es?« frage ich. »Das erzähle ich dir später«, sagt Doppet. »Komm her und zieh dich aus.« Er stellt einen Stuhl in die Zimmermitte. Ich zögere. Lebrun ist dabei. »Kümmer dich nicht um Antoine. Er ist nur ein Diener. Und Bedienstete empfinden ihren Herren gegenüber keine Lust. Die Königin steigt unter den Augen ihrer Lakaien ins Bad. Jeder Korsettschneider kennt das nackte Fett der Grande Dames. Hinter einem nackten Körper verbirgt sich nichts Böses.« Dennoch schäme ich mich, als ich mein grünes Damastkleid über einen Stuhl lege. »Auch das Hemd«, sagt er. »Nein, das ist doch nicht nötig«, sage ich. Lebrun lächelt schwachsinnig. Wenn ihm in ein paar Jahren die Zähne aus dem Mund fallen, ist er häßlich.
»Das Böse verbirgt sich in deinen eigenen Gedanken. Schuld erweckt Sünde.« Sie warten. Doppet schaut mich unverwandt an. Ich leiste Widerstand. In meinem Inneren erstreckt sich ein schmerzhafter Stich vom Hals bis zum Unterleib, ein Prickeln pflanzt sich entlang meiner Wirbelsäule fort, und mein Auge unter der Klappe beginnt zu stechen, als wolle dort ein Küken aus seiner Schale hervorbrechen. Hinter Doppet sehe ich Lebrun, sein Mund steht offen vor Aufregung. Plötzlich wirkt er wie ein Schwachsinniger, dessen unschuldige Schönheit nicht durch die geringste Lebenserfahrung getrübt ist. Er ist bis ins Lächerliche infantil. Ich fühle mich ihm unendlich überlegen. Jetzt, in diesem Augenblick, will ich meinen Körper aus stolzer Unabhängigkeit und freien, Stücken zeigen. Aber bevor ich meine Arme kreuzen kann, um das Hemd über meinen Kopf zu ziehen, macht Doppet zwei Schritte nach vorne und reißt es mit einem Ruck von meinem Körper. In einer Reflexbewegung gebe ich ihm einen Klaps ins Gesicht. Er schlägt zurück. Fest. Ich werde zum ersten Mal in meinem Leben geschlagen. Die Tränen schießen mir in die Augen. Ich senke den Kopf, um meine verzweifelte Wut und mein verletztes Ich zu verbergen. Da steht sie mit gesenktem Kopf. Ich scheine sie immer nur stehend und nackt zu sehen. Er nimmt sie sanft bei den Schultern. Einen kurzen Moment reagiert sie auf seine Berührung mit einem scharfen Blick aus ihrem einen Auge, läßt sich dann aber doch auf den Stuhl setzen. Stolz hält sie den Kopf erhoben und drückt ihre Schultern nach hinten, ohne jede Spur von Scham, im Gegenteil, herausfordernd. Der ungewöhnlich engelhafte Junge verschiebt mit engelgleichem, leerem Gesichtsausdruck etwas in seiner Hose und schaut zu, wie der Mann eine Stoffbahn vom Bett nimmt und um ihre Schultern drapiert. Es ist die pfauenblaue Seide. Die Farbe
macht aus ihr eine exotische indische Prinzessin. Er nimmt das Rotgold und hält es ihr vor. Der Stoff schimmert und glänzt; der Glanz ihres einen schwarzen Auges verschwindet hinter diesem Funkeln. Danach das Schwarz, und dann das Weiß. Abwechselnd Schwarz und Weiß. Dann nur noch den weißen, beinahe durchsichtigen Batist. Er schaut wie ein zufriedener Bildhauer. Auf einmal sagt er: »›Ihr habt mir das Herz geraubt, meine Schwester, o Braut, mit einem Eurer Augen; Ihr seid ein verschlossener Garten, eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Brunnen. Erwache, Nordwind und komme, Südwind, durchwehe meinen Garten, auf daß seine Spezereien ausströmen.‹« Er bittet sie, die Augenklappe abzunehmen und ihn anzusehen. Ich nehme meine Augenklappe ab und sehe ihn in einer Wolke von zuviel Licht. »›Setzt mich wie ein Siegel auf Euer Herz, wie ein Siegel auf Euren Arm; denn die Liebe ist stark wie der Tod: der Eifer ist hart wie das Grab; ihre Kohlen sind feurige Kohlen, Flammen der Heerschar. Viele Wasser würden diese Liebe nicht löschen können, und Flüsse würden sie nicht ertränken‹«, sage ich, auch wenn er mich geschlagen und gedemütigt hat. Ich will aus dieser Wirrnis fortlaufen, aber sein Blick weicht nicht von mir. Er teilt mir eine tiefe Stille mit, und ich fliege durch das Blau seiner Augen in ihn hinein. Der Körper eines gerade verstorbenen Jungen, schlank, leicht gebräunt durch die Arbeit in der Sonne, mit entblößtem Oberkörper und unbehaart, noch nicht muskulös, aber mit den ersten Anzeichen von Härte. Die Arme hängen schlaff zu Boden, die Hände in einer Geste der Vergeblichkeit und Ergebung geöffnet. Kein Lendenschurz; ein hilfloses und zartes Geschlecht ruht wie ein kleines schlafendes Tier am Oberschenkel. Der Kopf ist nach hinten geneigt, so daß der
Adamsapfel eine sichtbare Wölbung bildet, in einer Schluckbewegung erstarrt. Es ist keine Verletzung zu sehen. Wer hält ihn fest, wer sitzt dort vor Kummer versteinert mit dem Menschensohn auf dem Schoß? Er murmelt etwas; ich lese die Worte von seinen Lippen ab. »Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld.« Einen Moment lang ist das Bild klar und deutlich. Es erfüllt mich, und ich spreche die Worte, die ich von seinen Lippen las. »Was siehst du?« fragt Doppet. »Ich sehe dich und Lebrun.« »Das meine ich nicht.« »Doch sehe ich euch beide.« »Warum sagtest du ›durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld‹?« »Sagte ich das?« Er hat es selbst gesagt. Er begreift mich nicht, denkt statt dessen, daß ich ihn betrüge und die Wahrheit verschweige. Er setzt sich mir gegenüber und klemmt meine Knie zwischen seine. Er berührt mich sanft und sagt, daß ich tief und regelmäßig atmen solle. Seine Finger bewegen sich langsam meine Arme entlang. Mir wird warm. Ihre Körper glänzen vor Öl. Sie nehmen verschiedene Gegenstände und entfernen sich von einander. Dann wirft Doppet den Diskus, und Lebrun stürzt plötzlich getroffen nieder. Er nimmt den sterbenden Jungen auf seinen Schoß. Die Seele entweicht seinem Mund wie ein Vogel. Und wieder Doppet als schuldige mater dolorosa. Ich weiß nicht, was das alles bedeutet. Meine Phantasie geht mit mir durch wie ein erschrecktes Pferd. Ich bringe sie zum Stehen. »Was siehst du?« fragt er wieder. »Nichts«, sage ich.
Er schaut mich lange und nachdenklich an. Ich sehe Mißtrauen in seinen Augen. Dann gibt er Lebrun ein Zeichen, sich zu entfernen. Der Junge steht gehorsam auf und streichelt Doppet in einer zärtlichen Geste, als er an ihm vorbeigeht. Ein wollüstiger Engel. Ich werde wütend auf ihn. Er hat mich entwaffnet gesehen und weiß, wo er mich treffen kann. Ich sitze noch immer mitten im Zimmer mit meterweise Batist um mich herum. »Steh einmal auf«, sagt Doppet. Da Lebrun nun weg ist, gibt es keinen Grund, dies zu verweigern. Der Stoff gleitet von meinen Schultern und windet sich um meine Knöchel. »Wie Meerschaum zu deinen Füßen. Aphrodite«, sagt er. »Eher die kuhäugige Hera.« Ich fange an zu lachen. Er auch. Die ersten Tropfen des Gewitters verursachen auf dem Zinkbalkon das Geräusch von anschwellendem Applaus. Regen wird zu Hagel. Die Blüten und Blätter der Weinrose fallen unter diesem Ansturm von Gewalt. Der zarte Stengel bricht. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Ich suche Schutz in seinen Armen. Können Götter wie Menschen lieben? Kann ein Gott einen Menschen lieben wie ein Mensch einen Gott liebt, so verwundbar? (»Der Gott fordert ein, was seine Begierde erweckt. Verführung ist ein Spiel. / Wer kein Gehör schenkt dein göttlichen Befehl / seinen Willen zu erfüllen, seinen Saum zu küssen, / sein Wort zu sprechen, sein feuriges Blut zu löschen, / den schlägt er mit Dummheit. Hart und grausam. / Er wendet sich ab von der Geliebten und vergißt.«) »Du bist Apollo«, sage ich. Das gefällt ihm, der Mausgott zu sein, der Wolfsgott, der Widersprüchliche, Talentvolle, Phoibos der Strahlende, Bote des Lichts und der Harmonie, der Gesundheit und des
barmherzigen, schnellen Tods, Sucher der Schönheit. Er steigt aus dem Bett und wirft das Laken über seine Schulter. »Wie wird er dargestellt? Mit Lyra und Lorbeerkranz? Mit Sonnenwagen, Pferde lenkend?« Hätte ich es nur nicht gesagt. Er schlug mich, und ich mache ihn zu einem Gott. »Das ist eine Idee«, findet er. »Wir werden uns als Gott und Priesterin ausstaffieren, wie bei einem Gemälde von David.« Ich frage, ob er mich nun endlich über seine Absichten aufklären will. »Zeus erteilte Apollo den Auftrag, unrechtmäßige Taten der Sterblichen zu strafen und die Ordnung wiederherzustellen«, sagt er, »und das werden wir tun.« Ich werde nicht schlau aus ihm. Er setzt sich an den Tisch, das Laken um seine Hüften drapiert, nimmt das Blatt Papier, das Lebrun aus seinem Hemd gezogen hatte, streicht es glatt und liest. Der Hagelschauer hat zweifellos die Ernte zerstört, aber auch Abkühlung gebracht. Vielleicht ein Zeichen für plötzliche Veränderungen. Ich ziehe die pfauenblaue Seide über mich und denke, daß sie Maaike prächtig stehen würde. In unerwarteten Momenten erscheint sie mir. An sie zu denken, macht mich ruhelos. Ich möchte ihr entfliehen. Weg mit der Seide. Dann lieber den schwarzen Bombasin, der hart und rauh ist und nach Appretur riecht. »Hör gut zu«, sagt er, »es ist wichtig, daß du das weißt. Madame Hornmann hat ihren Mann betrogen. Er hat einen Prozeß wegen Ehebruchs gegen sie angestrengt. Beaumarchais verteidigt sie. Bergasse und Marat klagen an. Sie hüpfte in jedes adlige Bett, das sie haben wollte und wurde von Lenoir dort hineingelegt, dem Polizeikommandanten, Gegner der Aufklärung und, wohlgemerkt, erklärtem Feind jeder Liederlichkeit. Warum tat er das? Weil Hornmann Mesmers Lehre anhängt. Weil Mesmer in bestimmten Kreisen persona non grata war. Weil Mesmers Erkenntnisse das stärken, was
die Regierung schwach haben will. Und wer ist nun Spion im Dienste Lenoirs? Brissot. Unser eigener Brissot. Merk dir das gut. Diese Information wirst du später gebrauchen können. Jetzt noch nicht.« »Was habe ich mit Madame Hornmanns Ehebruch zu tun? Und mit Brissot? Ich kenne ihn gar nicht.« »Er ist einer von uns.« »Wer ist ›uns‹?« Ungeduldig steht er auf, hält das Laken mit einer Hand um seine Hüften und macht mit der anderen Hand eine Geste der Verzweiflung. »Ich hasse Marat!« rufe ich schnell, als könnte ich mich dadurch von dem unerwünschten »uns« distanzieren. Zu ihm will ich gehören, nicht zu einer Reihe Unbekannter oder Ungeliebter. »Hast du behalten, was ich dir erzählt habe?« fragt er. »Ja«, sage ich und kehre ihm meinen Rücken in schwarzem Bombasin zu. »Wer ist Beaumarchais?« fragt er. »Weiß ich nicht. Verteidigt Madame Hornmann. Wird daher wohl auch was mit ihr gehabt haben. Oder möchte was haben.« »Weiter?« »Weiß ich nicht.« »Politiker. Betrüger. Kaufmann. Steinreicher Parvenü. Schriftsteller. Der Barbier von Sevilla. Die Hochzeit des Figaro.« »Oh.« »Mehr als ›oh‹.« »Herzlichen Glückwunsch.« Plötzlich reißt er mir die Decke weg; ich versuche, sie zurückzuziehen, aber er steht vor dem Bett und schaut mich mit wütenden Blicken an.
»Ich bin sie leid«, sagt er, »deine Launen und deine Widerspenstigkeit. Du erinnerst mich an einen Esel. Du mißtraust mir. Aber habe ich dir dafür je einen Anlaß gegeben? Ich habe dir meinen Schutz angeboten, als du in Saint-Omer auf der Straße standest. Ich gebe dir eine Bleibe, Essen und Liebe und die Möglichkeit, deine Talente zu entfalten. Ich habe dich ins Vertrauen gezogen. Aber du, du tust als würde ich dich vergewaltigen und mißbrauchen. Wenn es dir nicht gefällt, kannst du ja gehen. Geh zurück nach Holland, wo du nichts außer Redlichkeit und Vorurteilen findest und wo du mit ein wenig Glück auch einen Mann abbekommst, einen durch und durch christlichen, scheinheiligen Witwer mit vielen Kindern, der bezüglich der Jungfräulichkeit seiner Frau nicht wählerisch sein darf. Wer will dich noch, außer einem Idioten wie mir, dich mit der Augenklappe, dich mit dem Auge, das schaut und schaut und schaut! Schau mich nicht so an! Häßlich ist es. Hörst du! Häßlich!« Er steht am Fußende, und während das Laken von seinen Hüften gleitet und er den Bombasin in der Hand hält, brüllt er erbittert. In seiner Wut ist der Savoyer Akzent deutlich zu hören. »Falls Euch mein Auge stört, reißt es heraus!« schrei ich zurück; danach rolle ich mich wie ein Fötus zusammen. »Ich will Maaike sehen«, sage ich. Er schweigt. Als ich zu ihm aufschaue, sehe ich, daß er nicht mehr böse ist und Mitleid empfindet. Das Haus ist alt, aber hell und geräumig. Doppet wird wie ein Freund empfangen. Das überrascht mich, aber mein Mißtrauen, der falsche Akkord in meiner Liebe, bleibt. Die weiße Haube der Nonne fliegt uns wie eine Möwe voran. Hinter hohen Flügeltüren am Endes des Ganges erklingt Musik. Cembalo, Geige, Cello. Sie spielen eine Gavotte. Ich höre Fußgetrampel. Als sich die Tür öffnet, sehe ich einen großen Raum mit
blankgescheuertem Holzboden und hohen Fenstern, mit Sicht auf einen Garten. An den Wänden hängen Spiegel, als Mobiliar ein langer Holztisch mit Bänken, sonst nichts. Die Musikanten ähneln Imkern, auf denen sich ein Bienenvolk niedergelassen hat. Die Kinder, große und kleine durcheinander, haben jeder eine Hand auf ein Instrument gelegt. Der Geiger kann kaum streichen und der Cellist teilt ab und zu einen Knuff aus. Ein paar Kinder lassen das Cembalo los und tanzen zum Takt, den sie mit ihren Händen gefühlt und mit ihren Füßen mitgestampft haben. Ein blondes Mädchen von etwa fünfzehn Jahren nimmt einen kleinen Jungen bei der Hand und zusammen hoppeln sie durch den Saal, direkt auf den Spiegel zu, in dem sie ihre eigenen lachenden Gesichter sehen. Es ist Maaike. Sogar als noch alles gut war und wir in Haarlem wohnten, habe ich sie so nie gesehen, außer in dem Moment, als wir die Drossel fanden. Ich könnte weinen. »Ich will weg«, sage ich. »Du bleibst«, sagt Doppet. »Sie ist glücklich, ich sehe es«, sage ich. Ich kann es nicht ertragen. Es durchschneidet meine Seele: meine Scham, meine Wut, meine Freude. Als die Musik beendet ist, entdeckt sie uns. Sie umarmt mich und küßt mich und meine Hände und hält mich fest und hüpft auf und nieder. Sie nimmt mich bei der Hand und bringt mich zu dem Abbé, der die Geige spielte. Mit Gesten erzählt sie ihm, daß ich ihre Schwester bin. »Ich bin erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen«, sagt er höflich. »Geht es Maaike gut?« »Wir können sie nicht mehr entbehren. Euer Vater hat sie vieles gelehrt, und sie wiederum ist in der Lage, die Kleinen zu unterrichten.« Während er spricht, übersetzen seine Finger. »Wir haben eine spezielle Gebärdensprache entwickelt, mit der
wir uns so leicht und schnell wie mit Worten unterhalten können.« Sicard trägt eine Soutane voller Fettflecken; im Nacken kann man den Rand erkennen, bis zu dem er sich wäscht. In seinem krausen Haar um die Tonsur könnten Amseln ihre Nester bauen. Er streichelt Maaikes Wange. Ich erschauere vor Ekel, aber Maaike lächelt ihn glücklich an. Ein kleines Mädchen zieht an seinem Ärmel und beansprucht seine Aufmerksamkeit. Maaike führt mich herum und stellt mich den Kindern und Helfern vor. Sie zeigt mir die Schlafsäle und die Stelle, wo ihr Bett steht. Vaters Uhr nimmt die gesamte Fläche des Nachttischchens ein; das Schlagen des Uhrwerks wird hier niemanden in seiner Nachtruhe stören. Anschließend sind die Unterrichtsräume an der Reihe, dann die Küche und die Werkstätten, in denen die Kinder einfache Arbeiten verrichten, um einen Beitrag zu ihrem Lebensunterhalt zu leisten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie sich hier zu Hause fühlt, aber ich weiß, daß ich ihr keine Wahl gelassen habe. Die Sicherheit und Freundschaft von Schicksalsgenossen, die sie hier findet, ihre Kenntnisse, die hier beansprucht werden, sind natürlich wichtiger als ungeduldige Schwesternliebe und eine unsichere gemeinsame Zukunft. Die Verantwortung, die ich ohnehin gegen meinen Willen tragen mußte, ist von mir genommen. Es fühlt sich leer und einsam an, aber auch frei. Diese Insel der Menschenliebe in einer egoistischen Stadt, in einem bankrotten und korrupten Land, in einer herzlosen Welt, scheint nicht möglich. Die Taubstummen werden einander nach dem Leben trachten, überfüttert von der Süße fader Christenpflicht, denke ich zynisch. So kann es hier nicht bleiben. Das Ganze ist von einer unerträglichen Wärme und so, wie das Leben sein sollte, aber niemals ist.
Meine kleine Schwester braucht mich nicht mehr. Wer überhaupt noch? Ehe ich zuviel Selbstmitleid empfinde, nehme ich Abschied und verspreche wiederzukommen.
Leere existiert nicht lange. Leere läßt sich gerne füllen. Ich suche eine Tat, die mich bindet. Ich suche ein Ziel, das mir paßt. Alles führt mich auf einem Weg weiter, den ich selbst eingeschlagen habe und dem ich widerstrebend folge. Ich will zu Doppet gehören und tun, was er von mir verlangt, und ich will ihm entfliehen, weil ich mich gegen eine aufgezwungene Wahl wehre. Ich schreibe einen Brief an Van Marum in Haarlem. Möglicherweise ist Euch zu Ohren gekommen, daß mein Vater vor einigen Monaten in Saint-Omer gestorben ist. Meine Schwester und ich haben bei einem Familienmitglied Unterkunft gefunden; als wir dort durch bestimmte Umstände nicht länger willkommen waren, wurden wir von Doktor Dieudonné Doppet aus Annecy, einem herumreisenden Arzt und Wissenschaftler wie Ihr, liebevoll aufgenommen. Wir sind mit ihm nach Paris gegangen, wo er meine Schwester der Obhut des bekannten Abbé Sicard, Leiter eines Instituts für taubstumme Kinder, anvertraut hat. Doppet ist in der Heilkunst von Franz Anton Mesmer erfahren, von dem Ihr sicher bereits gehört habt. Er sagt, er sei auf dem besten Wege zu wichtigen wissenschaftlichen Entdeckungen, und er hat mich gebeten, ihm zu helfen. Der Zustand meines Auges hat sich verschlechtert. Es ist größer geworden, und die Schmerzen lassen sich mit Opiumpillen kaum noch lindern. Doppet erachtet gerade mein Auge und meine Empfänglichkeit für den Somnambulismus, der durch den Mesmeristen Puységur entdeckt wurde, als geeignet zum Beweis seiner Theorien. Was sagt Ihr dazu? Ich bin davon trotz meiner Vorbehalte sehr
angetan und möchte mitarbeiten. Aber ich sehne mich auch nach Haarlem und würde gerne von Euch hören, ob ich beruhigt zurückkehren kann und ob für mich in der Haarlemer Gesellschaft wieder ein Platz gefunden werden kann. Vielleicht könnt Ihr dies mit den alten Freunden meines Vaters besprechen, die hoffentlich bereit sind, zu seinem Gedenken ein gutes Werk an seiner Tochter zu verrichten.
Es ist ein pflichtgemäßer, matter Brief, der meinem intensiven Wunsch nach Veränderung und Umbruch nicht gerecht wird, aber es beruhigt mich einigermaßen, daß ich Worte finden konnte, die alles normal klingen lassen. Bis ich eine Antwort erhalte, werde ich Kassandra sein, sehen und weissagen.
2
Im Schrittempo passiert die Kutsche das ehemalige Hotel de Coigny, Rue du Coq Héron – die Straße des Reihers. Über dem Torbogen befindet sich ein Giebelstein, in den das Bild eines brennenden Altars unter einem Himmel mit Mond und Sternen und das Motto Omnia in pondère et mesura gemeißelt ist. »Hier war Mesmers Hauptquartier. Hier spielte er auf seiner Glasharmonika, während die Näherin neben der Prinzessin am Bottich saß.« »Was war sein Geheimnis?« »Er war ein Alchimist, er stellte Gold her, aber erkannte es nicht.« »Wo ist er jetzt?« »Verschwunden.« »Warum?« »Er hatte Erfolg. Dadurch entstand böses Blut. Er floh vor Hohn und Geringschätzung.« »Aber du sagst doch, daß er Erfolg hatte.« »Eine Regierungskommission hat ihm seine Arbeit praktisch unmöglich gemacht. Im Zeitalter der Wissenschaft verlangt man für alles eine Theorie. Mesmers Lehre ist reine Praxis. Es geht um die Befreiung des Verhaltens. Und das ist eine Gefahr für alle Konventionen, auf die sich diese ausgehöhlte Gesellschaft noch stützt. Eines Abends besuchte er ein Konzert von Marie-Thérèse Paradis, die wieder erblindet war, nachdem ihr Vater sie mit gezücktem Säbel bei Mesmer weggeholt hatte – eine blinde Pianistin verspricht mehr Gewinn als eine sehende. Man entdeckte ihn im Publikum. Man flüsterte und
tuschelte und erhob sich von den Plätzen, um ihn zu beschimpfen.« »Glaubst du ihm?« Er schweigt. Ich wiederhole meine Frage. »Nein. Ich glaube niemals. Es gibt Dinge, die ich weiß. Und ich suche nach Beweisen für Dinge, die ich vermute. Man muß neugierig bleiben. Glaube macht träge.« Er lacht. Ich betrachte ihn von der Seite. Wir sind Verbündete. Wir sind zusammen auf dem Weg zum ersten wichtigen Treffen. Ich bin aufgeregt, froh und ängstlich zugleich. Marat ist glücklicherweise nicht dabei. Ich weiß nicht, ob ich es unter seinen kritischen Blicken könnte. Er gehört nicht zu der Gesellschaft, die sich bei Hornmann versammelt. Seine Ideen sind nützlich, aber sein Verhalten erzeugt Unmut. Vergleich ihn mit dem Advokaten und Patriziersohn Bergasse oder mit dem adeligen Volkshelden Lafayette: das paßt nicht zusammen. Er wird geduldet. Marat macht daraus eine Auszeichnung. Sie treiben ihn mit Fußtritten zum Volk? Er wird das Volk erhöhen, sagt er. Bis dahin arbeitet er mit der Bourgeoisie zusammen, die sich in Gesellschaften mit hübschen Namen und Zielen organisiert. In dieser von Unruhen erfüllten Zeit gedeihen seltsame Freundschaften. Das Haus von Hornmann, dem Bankier aus Straßburg, atmet Reichtum aus jeder Pore. Der Salon, in dem die Séance stattfinden soll, ist dunkel; die Damastvorhänge sind zugezogen und nur wenige Kerzen brennen. Die Wände sind zum Teil mit Palisanderintarsien verkleidet, deren helle Muster vom dunklen Eichenparkett noch einmal spiegelbildlich aufgenommen werden, zum Teil sind sie auch mit Landschaftsgobelins verhängt; an der Decke befinden sich elegante Medaillons, hellblauer Himmel mit Putten. Die Anordnung der Stühle, Bänke, Tische und anderer
Gegenstände ist ungewöhnlich; alles scheint einen symbolischen Wert zu besitzen. Jede Handlung, selbst die Begrüßung der Gäste, ist Teil eines Rituals. Der Gruppe gehören viele intelligente und hochgestellte Männer an. Das gefällt mir. Sie nehmen uns ernst, und das erhebt Doppets Idee in meinen Augen über das Niveau von halbgarer Utopie oder Spielerei. Wir kleiden uns in dem Zimmer um, in dem Hornmann seine Sammlung von Münzen, Zeichnungen und Fossilien bewahrt – er erinnert ein wenig an Pieter Teyler van Hülst, der das Museum in Haarlem erbauen ließ. Wir wirken in unseren Gewändern wie Schauspieler, die Racines Phèdre aufführen. Ich habe Angst, mich lächerlich zu machen, aber Doppet preist die Strenge meiner Erscheinung und die Tragik der Augenbinde, die ich tragen werde. »Du bringst Gerechtigkeit«, sagt er. »Sei unbesorgt. Es ist anders als beim Bischof. Dies sind Mitstreiter. Es ist keine Feuerprobe, sondern eine Demonstration. Ich weiß heute mehr als damals. Du kannst es. Du brauchst nicht zu lügen.« »Ich werde Geheimnisse verraten.« »Wahrheit sprechen. Wahrsagen.« Ich bin nicht so sicher, ob diese Wahrheit mit Applaus aufgenommen wird. Er sagt, daß ich es nicht verstehe, aber ich verstehe es verdammt gut. Doppet wird mich gleich in eine somnambulistische Trance versetzen, und wenn es gelingt, vertrauen wir darauf, daß meine Visionen apokalyptisch und enthüllend sind; gelingt es nicht, dann werde ich so tun, als ob, und mit der Mächtigen Stimme des biblischen Engels verborgene Sünden anklagen, die Lebrun herausgefunden hat, und für die Notwendigkeit der neuen Ordnung plädieren, der sie hier alle anhängen. Die Wahrheit über den Lebenswandel einiger ihrer Mitglieder soll sie davon überzeugen, daß ich auch in allen anderen Dingen recht habe. Das gilt a fortiori für
Außenstehende, vor denen wir die gleiche Vorstellung aufführen werden. Wer Zugang zu gutgehüteten Geheimnissen besitzt, hat auch Zugang zum bestgehüteten Geheimnis: der Zukunft. Sie alle – die Mitglieder dieser Gesellschaft und danach die Pariser, Frankreich, die Welt – werden Ehrfurcht vor mir haben, mir zuhören und meinem Aufruf Folge leisten. Das ist Politik. Ich habe Zweifel. »Sind die Menschen so gutgläubig?« »Ja. Willensfreiheit ist ein glühendes Stück Eisen, das sie weit von sich werfen. Freiheit wollen sie nur dem Namen nach, aber nicht wirklich. Die Freiheit opfern sie dem Schein der Gleichheit.« »Und du?« »Ich tue, was mir gefällt.« »Weißt du, was du willst?« »Für mich oder für die Welt?« »Für beide.« Er schaut mich lange an und sagt dann entwaffnend: »Ja, aber ich habe gelernt, nicht auf mein Urteil zu vertrauen. In mir, in uns gibt es zu vieles, das sich meinem Blick entzieht. Jedes Ideal kann sich in sein Gegenteil verkehren.« »Warum möchtest du zu ihnen gehören?« Ich deute mit dem Kopf in Richtung des Salons. »Es ist umgekehrt: sie wollen zu mir gehören.« Er grinst und spielt eine falsche Tonfolge auf seinem Psalterium. Wer war bei den Griechen die Personifizierung des Bösen? Ich weiß es nicht. Jeder Gott hatte seine Schattenseite. Das Böse war mit dem Guten verbunden. Der Diener ruft uns und geht voran. Ein Augenblick der Leere.
Doppet flüstert: »Wir machen den Engel.«
Einen kurzen Moment weiß ich nicht, was er meint. Die Augenbinde ist verschwunden. Ich schaue mich um. Weiße Perücken leuchten im Dämmerlicht. Darunter verwirrte, erfreute, abwartende, ängstliche und einige amüsierte Gesichter. Wer sind sie, und warum bin ich hier? Irgend etwas ist mit mir und durch mich passiert und ohne mein Wissen. Ich suche in meinem Gedächtnis. Ich schäme mich und möchte mich verstecken. Wie belustigt sie schauen. Was habe ich gesagt? Doppet erklärt, daß ich während der Trance in meiner Muttersprache redete. Das beruhigt mich halbwegs. Für sie war es Kauderwelsch. Und dennoch: ich habe mich – wie lange – verloren. Anders als im Schlaf, tiefer und weiter als während der Experimente. Ich war eine andere, die ich nicht kenne. Dort, wo mein Herz sitzt, entsteht ein Wirbel. Mein Kopf greift nach den Putten, meine Hände nach dem orientalischen Teppich mit seinen seltsamen, eingewebten Zeichen. Ich konzentriere mich auf einen Gedanken, wie Vater es mich lehrte. Der Beweis für die Existenz Gottes ist die Güte, mit der Er alles in der Natur für einen bestimmten Zweck geschaffen hat. Der Beweis für die Existenz Gottes ist die Güte, mit der Er alles in der Natur geschaffen hat. Der Beweis für die Existenz Gottes ist die Güte. Der Beweis für die Existenz Gottes. Der Beweis. Der Beweis. Bis die Gedanken und die Worte bedeutungslos sind. Doppet sieht mich unverwandt an und zischt: »Der Engel.« Gehorsam gebe ich auf französisch den apokalyptischen Engel: Ich reiße mein krankes Auge weit auf und spreche mit der Mächtigen Stimme. Ich verrate die sündigen Begierden der unwichtigen Perücken und verrate die unbekannten Heldentaten der bescheidenen Großen. Sehe sie zusammenzucken und erbleichen, die in der hintersten Reihe. Sehe, wie vorne ein scheinbar demütiges Lächeln Lafayettes Lippen verzieht. Mit einer Handbewegung wehrt er die
Lobpreisungen ab. Es war nichts, scheinen seine geschürzten Lippen und seine geschlossenen Augen zu sagen. Danach spreche ich über die Notwendigkeit, im Herzen rein und an Leib und Seele gesund zu sein, damit die Harmonie zwischen dem Menschen und dem Kosmos wiederhergestellt wird. Ich spreche über Verantwortung, Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Ich schildere ihnen die Armut, die ich in der Hütte des Landarbeiters gesehen habe, das Elend der Amme, die Lieblosigkeit der Mutter, die ihren Säugling fortgab, die Scheinheiligkeit des Lüstlings, die Verschwendungssucht des Hofes und den Hochmut der Wissenschaft, die uns auf dem verhängnisvollen, kalten Weg des Materialismus vorangeht. Das letztere ist hart an der Grenze, suggeriert aber eine gewisse Unparteilichkeit. Ist nicht überall deutlich zu sehen, wie sehr das Gleichgewicht gestört ist? Wie die Natur vergewaltigt wird? Wer es sieht, muß Wundarzt werden und einer radikalen Politik anhängen. Ich halte ihnen ein Ideal von Gemeinsinn, Genügsamkeit und Freiheit vor Augen. Ich beschreibe ein Land, in dem Hungernde gefüttert, Nackte gekleidet, Schuldige gestraft werden, ein Land, wo Hochmut den Fall bringt. Lächerlich, wie sie meine Worte trinken. So fühlte Er sich also, als Er ihnen den Traum zeigte, der nie Wirklichkeit werden konnte. Hat Er die Leere gesehen? Ganz gewiß. Er nannte sie Vater. Das Nichts, das das Gehirn erdrückt, wie Mühlsteine Getreidekörner zermahlen, wird mit Versprechungen beschworen. Wer glauben will, der glaube. Ich merke, wie ein Lachen meine Kehle kitzelt, aber plötzlich strömen Tränen über meine Wangen. Was ist das für ein Kummer? Als ich meinen Kopf neige und schweige, ist es lange Zeit still. Dann bersten die Beifallsbekundungen los. Männer kommen nach vorne, um meine Hand zu schütteln. Sie können nicht sprechen vor Ergriffenheit.
Was habe ich in der Trance gesagt? Sie lassen mir keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Angst und Scham verdränge ich. Ein langer Mann kommt auf mich zu. Er spricht mit einem elsässischen Akzent. Es ist Hornmann. Nomen est omen. »Ihr besitzt eine bemerkenswerte Begabung«, sagt er ernst. »Ihr könnt für uns von großer Bedeutung sein.« Er lädt uns ein, zum Souper zu bleiben.
Da sitzt sie wie eine chimère, bleich und viel zu jung, mit runden Schultern und einem ranken Hals, das schwarze Haar nach hinten gesteckt und mit einem silbernen Netz umfangen, das kranke Auge hinter weißer Seide verborgen. Sehr gerade sitzt sie und sehr still, die einzige Frau, eine leuchtende Säule. Was ist mit ihr geschehen, daß sie so überirdisch wirkt? Sie ist anwesend und ist es doch nicht. Das zeigt sich an ihrer Haltung, im sinnenden Blick des gesunden Auges, als ob sie in sich selbst nach den Gründen für ihre Existenz sucht und darüber erstaunt ist, wo sie sich befindet. Ich erschrecke. Bergasse hat das Wort an mich gerichtet und muß seine Frage wiederholen. Ob ich lesen könne. Ich halte es für vernünftig, mit »nein« zu antworten. Doppet verbirgt ein Lachen hinter seiner Hand. Bergasse lehnt mit dem Oberkörper über dem Tisch; er ißt kaum; Essen ist für ihn reine Zeitverschwendung, Beanspruchung seines Mundes, mit dem er lieber spricht. Wie ein kleines Raubtier beherrscht er seine Umgebung und eilt von einer Seite des Territoriums zur anderen. Was bei Marat wirr ist und Angst einjagt, wirkt bei Bergasse faszinierend. Er fällt jedem ins Wort und liest regelrecht im Geist desjenigen, der gerade spricht. Besonnenheit ist ihm fremd, aber sein schnelles Auffassungsvermögen bewahrt ihn vor Mißgeschicken. Wirft
er die Freiheit von sich wie ein Stück glühendes Eisen? Ich kann es mir nicht vorstellen. »Es gibt nur eine Krankheit und ein Heilmittel«, sagt er und bricht ein Stück Brot. Das sind die Worte des Meisters, und er spricht sie, als erzähle er die Genesis. Im Anfang war das Wort. Bergasse hat den animalischen Magnetismus zu einem politischen, sozialen und pädagogischen System vervollkommnet, und er wird es nicht müde, die Richtigkeit seiner Thesen zu beweisen. Wie einig sie sich sind, die aufgeklärten Herren. Die Macht haben sie aufgeteilt und eingesteckt. Mit sicherem Federstrich skizzieren sie ein Konzept für die Zukunft. Zweifel sind ihnen fremd. Herrscher sind sie. Nicht die Welt duldet ihre Schritte, sondern sie halten die Welt unter ihren Füßen im Zaume. Wenn das souveräne Volk »Tod dem Adel« ruft, was dann, Lafayette, Glückskind, Volksheld, Edelmann? So sei es, sagt er. Er weiß: Sollte er jemals den Gang zum Schafott antreten, werden die Fischweiber weinen und Mütter ihre Kinder zu ihm hochheben, die Arbeiter des Vorortes Saint-Antoine die Ochsen ausspannen, den Karren ziehen, seine Fesseln lösen und ihm den Ehrentitel »Sohn des Volkes« verleihen, den umgekehrten Ritterschlag. Er wird dieses Schicksal nicht erleiden. Er macht es sich gefügig. Für Zweifel ist er zu oberflächlich. Die Politik ist für ihn ein Spiel. Er spielt den Radikalen, er spielt sein Leben, er spielt die Geschichte. Was tut Hornmann, wenn Eigentum Diebstahl ist und Gleichheit Gesetz, wenn die Losungen alle Unterschiede beseitigen und die Verdienste des einzelnen allen zugeschrieben werden, wenn die Grenzen des Individuums dadurch beschützt werden, daß man sie negiert, wenn der Bettler ungebeten hereintritt und das verlauste Haupt auf sein Kissen legt? Hornmann kennt das Dilemma der Bourgeoisie. Das Ignorieren der Unruhen wird den Pöbel nicht nur zum
Plündern des adligen Eigentums, sondern auch der bürgerlichen Besitztümer verleiten. Hornmann weiß, daß es so weit kommen wird, aber er schweigt und trifft seine Vorkehrungen. Und wenn das Volk nicht frei sein will und nicht nach der Pfeife der Bourgeoisie tanzen will, sondern nach dem König und seinen Vasallen ruft, was dann, Bergasse? Schau nur nach Holland, Bergasse! Zeit. Gebt uns Zeit, sagt er, und Geld und Schulen, in denen der Bottich das Zentrum des Lernprozesses ist, damit alle Kinder so werden wie er. Er deutet auf Hornmanns bleichsüchtigen Sohn. Das Kind hatte schlechte Augen, aber profitierte als erster Mensch im vollen Umfang vom Leben im Umfeld des Bottichs. Das Fluidum fand in seinem weichen Kinderkörper und seiner sündenfreien Seele einen guten Nährboden. Er genas, wie es heißt. Aber der Junge hängt beinahe mit der Nase in seinem Teller. Das Souper ist überreichlich. Das gesamte erste Kapitel der Genesis zieht gebraten und gekocht an uns vorbei: alles, was schwimmt, fliegt, singt, blökt, meckert. Kultivierter Kannibalismus. Ich esse nicht mehr, als von einem Orakel erwartet werden darf: wenig und ohne besondere Lust. Ich habe keinen Appetit. Obwohl ich nicht den geringsten Grund habe, am guten Willen der Herren und der Richtigkeit ihrer Thesen zu zweifeln, fühle ich mich nicht wohl. Im Überfluß sind Worte billig. »Mademoiselle Lestevenon kündigt uns den Neuen Menschen an«, sagt Bergasse. »Durch die Bescheidenheit ihrer Herkunft, die Unbeflecktheit ihres Wesens, das fern von städtischer Korruption geformt wurde, hat sie sich ihre Begabung, das Gute zu sehen, unversehrt bewahrt…« Was hat Doppet ihnen erzählt? Ich schaue ihn an. Der Blick aus seinem Schlüssellochauge verrät nichts.
»Wenn wir den Weg gehen, den sie uns weist, wird Gott der Welt sein Antlitz wieder zukehren.« Das möchte ich nicht unbedingt auf dem Gewissen haben. »Mögen wir werden wie sie«, betet Bergasse. Die Unwissenheit, die sie mir andichten, ist offenbar ein höheres Ideal als die Bildung, die Vater mir mitgab. Warum schwören sie dann auf Wissenschaft und Ratio? Wie erklären sie ihren Hang zur Mystik und zu Ritualen, ihre Bewunderung für das Komplexe, die Hierarchie in ihren Reihen? »Ein sauberes Hemd auf einem schmutzigen Körper wäscht das Schwarze nicht weg. Ein Mund, der von Reinheit spricht, macht das Herz nicht rein«, sage ich. Doppet sieht mich warnend an. Aber die Männer nicken und rufen: »Wie wahr, wie wahr.« Wer sich ein Orakel erwählt hat, fällt nicht so schnell von seinem Glauben ab. Ich kann alles sagen. Ich habe Macht. Da sitze ich. Ich erzähle, was man ist. Ich bin, was man erzählt. Ich kann auf hunderterlei Weisen erzählen und erzählt werden. Logos. Im Anfang war die Geschichte. Aber was ist die wahre Geschichte? Menschen ziehen an mir vorbei und ich an ihnen, Fragmente einer Geschichte. Nie sind die Geschichten gleich. Nie beweisen sie ihre gegenseitige Existenz. Es gibt keinen Kern. Die Worte sind Betrug. Aber was ich sage, ist wahr, halte ich mir vor Augen. Das Ideal ist ebenso wahr wie die Wirklichkeit. So kommen wir also nicht weiter. Wahrheit ist genauso trügerisch wie Güte. Der Naturstaat war gut, behaupten sie. Ich denke: Das wirklich Gute ist für das Böse unangreifbar. Dennoch wurde der Naturzustand befleckt. Und sobald das Böse anwesend ist, kann das Urteil über Gut und Böse nicht mehr rein sein. Gut und Böse existieren nicht, falls sie austauschbar sind. Wie dann leben?
Zurück, Elisabeth. Zurück zur Oberfläche. Das Bild, nicht die Sprache. Sehen. Sein.
Wir sind umgezogen. Apollo und Kassandra bewohnen eines von Hornmanns prächtigen Gemächern. Das Bett hat gedrechselte Pfosten und Vorhänge, die in einem Baldachin mit Fruchtbarkeitssymbolen enden. Die Wände sind mit Gemälden behängt: Landschaften mit vielen Bäumen, ernst blickende Ahnen. Deutsche Schwermut. Wir essen im Speisesaal, und die Wäsche wird gemacht. Einmal in der Woche holt die dicke Marie den Wäschekorb; sie schnappte nach Luft, als sie mich in meinen neuen Kleidern sah und zischte mir zu: »Verräterin!« Das Geld von Mounier de Bresse befindet sich nun in einem Seidensäckchen zwischen den Falten eines Satinunterrocks. Mein Auge, das Symbol meiner wertvollen Begabung, bereitet mir manchmal unerträgliche Kopfschmerzen und schreckliche Träume. Bergasse hat einen offenen Brief an den König geschrieben, gegen die Minister, die die Zusammenkunft der Generalstände verhindern wollen, und ist danach außer Landes geflohen. »Die Hydra verschlingt viele von uns«, sagt er, »aber die Zahl der mündigen Bürger wächst schneller als der König Haftbefehle unterzeichnen kann. Zusammen bilden wir einen starken Körper, und der Körper macht jeden von uns stark.« Bei seinem Abschied bat er uns inständig, die Einheit zu wahren. Der Mesmerismus ist in viele, einander bekämpfende Parteien zerfallen, aber Bergasse bezeichnet unsere Gruppe als den einzig wahren Erben. Lafayette, Hornmann und d’Epremesnil führen uns in Kreise ein, die für Carra, Brissot und Marat nicht zugänglich sind. Die letzteren beeinflussen das Volk mit ihren Pamphleten und
Schriften, während die ersteren in ihrem eigenen Stand die Gemüter für die neue Zeit vorbereiten. Den Nährboden aus frivoler Neugier, durch den sich unser gebildetes Publikum auszeichnet, impfen wir mit unserem wissenschaftlichen Exorzismus. Carra hat sein Steuerungssystem für Ballons erklärt, und nun beschäftigen wir uns mit der Fertigung großer taftseidener Flügel, die mit einer komplizierten Takelage an meinen Schultern befestigt werden sollen. Wenn ich an der Kordel um meine Taille ziehe, schlagen die Flügel hin und her. Wir hoffen, daß ich bis zu dreißig Zentimeter vom Boden abheben werde. Die Neugierigen strömen herbei. Lange im voraus werden Plätze in der ehemaligen Böttcherei reserviert, die Hornmann gekauft und die wir als Theater umgebaut haben. Der Geruch von frischem Holz erinnert mich an den Ovalen Saal. Jedesmal wenn ich hereinkomme, befinde ich mich einen Augenblick lang auf der Galerie und sehe die Blitze der Elektrisiermaschine. Für die Erinnerung existiert die Zeit nicht. Carras Flügel funktionieren nicht; die Fischbeinstäbe brechen beim ersten Versuch, flatternd wie ein Huhn von Newton wegzukommen. Nun haben wir einen alten Deus ex machina, der mich niederläßt und hochhebt. Gleichzeitig mit dem Flaschenzug erstanden wir biblische Phantasiekostüme. Doppet ist Adam nach dem Sündenfall und daher bekleidet, und ich bin der Engel, der von Gott »östlich vom Garten Eden mit der flammenden Schwertklinge aufgestellt wurde, den Weg zum Baum des Lebens zu behüten«. Wir machen keine somnambulistischen Experimente mehr. In Trance spreche ich niederländisch. Er kann nicht kontrollieren, was ich sage, und ich kann mich nicht erinnern. Exit scientia. Lebrun versorgt den Engel mit geheimen Informationen. Dieser Weg führt sicherer zum Ziel. Die Atmosphäre, die wir
erzeugen, die fast fühlbare Spannung im Saal und die tiefe Stille trotz der vielen atmenden Menschen versetzen mich in meinen Zustand der Gnade – wie Doppet es nennt. Dann sehe ich, wie unsere sorgfältig recherchierten und einstudierten Enthüllungen Angst und Schrecken verbreiten, wie Ehrfurcht und Glaube wachsen, und mich erfüllt ein grenzenloses Mitleid mit der Menschheit. Da sitzen sie, gefangen in ihrem Aberglauben, ihrer Verzweiflung und ihrem armseligen Körper, erfüllt vom Verlangen nach Unsterblichkeit und bereit, für einen Funken Hoffnung jede Lüge zu akzeptieren, sich sogar gegenseitig zu ermorden, wenn sie dadurch nur dem Heil ein Stückchen näherkommen. Ich strafe ihre Sündhaftigkeit. Das wollen sie. Gegeißelt werden und während der Schläge einen Zipfel des Himmels erblicken. Zu Hunderten, zu Tausenden strömen sie herbei. Doppet und ich haben ein Bündnis. Aber wenn wir einander im Bett anschauen und uns umarmen, wissen wir, ohne es auszusprechen, daß wir etwas voreinander verbergen. Müssen wir offenherzig sein? Was gewinne ich, wenn er mir sagt, daß er lieber den knabenhaften Körper Lebruns streichelt, weil er so der vollkommenen Schönheit näher kommt als mit meinem allgegenwärtigen, hervorstehenden Auge. Was nützt es mir, wenn ich erfahre, daß seine Zärtlichkeit korrigierte Grausamkeit ist. Er braucht es mir nicht zu sagen. Ich fühle es, wenn wir nebeneinander liegen und sein Körper den meinen berührt. Die Haut spricht die Wahrheit. Ich glaube nicht, daß er mich so kennen möchte, wie ich ihn kenne. Er hält mich, wie man Hühner hält. Aus Liebhaberei und Notwendigkeit. Aus dem gleichen Grund bleibe ich bei ihm: aus Liebhaberei und Notwendigkeit. Wenn ich früher an die Liebe dachte, sah ich ein Leben mit jemandem wie meinem Vater, Zuwendung und Wärme in einem stillen Haus an einer Gracht, mit dem Glanz
von Kupfer und poliertem Holz. Es hätte wahr werden können, hat sich aber nicht erfüllt. Was ich außer meiner Liebe verschweige, ist meine Zwiespältigkeit: der Zweifel an meiner vermeintlichen Fähigkeit einerseits und andererseits der Glaube, der aus den Augen der Menschen spricht, die meine Worte hören. Ich finde keine Erklärung für dieses Phänomen. Doppet interessiert es nicht mehr, er ergötzt sich am Resultat und treibt mich voran. Das macht mich stark. Was passiert, ist mehr als Politik: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde.« Ich versuche, daran zu glauben. Es muß eine Quelle geben. Es ist mehr als Theater. Begeisterung und Vorstellungskraft treiben doch zum Guten an, das ich aus dem Nichts zu schaffen versuche? Plötzlich steht er auf und reckt sich. Sehr häufig geht er unerwartet weg. Ich schaue ihn so gerne an, wenn er nackt ist. Die Rippen sehe ich und die Muskeln zwischen Brustkorb und Schultern, die schmalen Hüften, die feinen Linien seiner Haare wie Zeichnungen auf Schmetterlingsflügeln. Sein Geschlecht finde ich herrlich. Seine Haut riecht nach frischem Brot und sein Samen nach Austern. Ich habe das starke Verlangen, so zu sein wie er. Wir gewinnen an Boden. Paris liegt mir zu Füßen. Menschen flehen um Wahrheit. Um Heilung. Und um Hoffnung. Ich bin auserkoren. Ich pflüge ihre Seelen um und säe den Samen der neuen Zeit.
Während das Publikum in den Saal strömt, kommt Marat mit seinen Krähenaugen – und auch sonst beinahe ebenso schwarz – aufgeregt hinter die Bühne. »Orleans ist hier. Inkognito. Nutz deine Chance«, sagt er.
»Der Cousin des Königs ist willkommen«, sagt Doppet, »was sollen wir tun?« »Ihn als Libertin, Zuhälter, Hurenbock, Betrüger entlarven. Das Palais Royal ist durch sein Zutun ein Sündenpfuhl geworden.« »Er ist auf der Seite des Volkes.« »Man kann ihm nicht vertrauen. Man kann niemandem vertrauen, der nur ein Lippenbekenntnis zur Gleichheit abgibt. Während ihre Bauern verrecken, schaffen sie ihr Familienvermögen in Sicherheit«, zischt Marat Doppet zu. Ich sehe Schweißflecken auf seinem Hemd, und der Pelzkragen um seinen Hals ist von Motten zerfressen, ein Pasticcio von königlichem Hermelin. »Wenn Elisabeth sieht, wird sie die Wahrheit sprechen«, sagt Doppet. »Sehen! Daß ich nicht lache. Du hast einen guten Informanten.« Er läßt ein kurzes Krächzen hören. »Der Zweck heiligt die Mittel.« »Noch etwas«, sagt Marat, und seine Augen schießen hin und her. Er tritt ganz nah heran. Sein Atem und sein Körper riechen nach feuchtem Keller und Tod. »Auch die Polizei ist da. Ein ganz hohes Tier. Der Generalleutnant.« Wieder das krächzende Geräusch, das ein Lachen darstellen soll, und dann ist er weg, mit den Schatten verschmolzen. Die Polizei ist häufig anwesend; sie beobachten alles und jeden. Aber einen Publikumsliebling nehmen sie nicht so schnell fest. Es könnte eine Lunte im Pulverfaß sein. Da wir Protektion genießen, waren wir nie ernsthaft besorgt. »Wir sollten vorsichtig sein«, sagt Doppet. Orleans ist trotz seiner Verkleidung leicht zu erkennen. Die fleischigen Gesichtszüge der Bourbonen verraten ihn. Der Generalleutnant sitzt nicht weit von ihm. Um ihn herum ist
Platz. Das Publikum weiß Bescheid. Während des Vorprogramms, bei dem Doppet einen bestochenen Zuschauer in Schlaf versetzt und einen Vortrag über Magnetismus und Somnambulismus hält, ist der Raum mit Scharren und Gemurmel erfüllt, aber wenn ich langsam mit der knarrenden Takelage hinunterschwebe, senkt sich mit mir eine Stille herab, die sich bis in die äußersten Ecken des Saals verbreitet. Ich trage eine Augenbinde und halte ein Schwert vor mir hoch. Ein Diener schlägt plötzlich einen Trommelwirbel. Das Publikum erschaudert einen Moment. Doppet spricht die magische Formel. Ich halte das Schwert waagerecht vor meine Augen und löse mit der rechten Hand das Tuch. Die Schwertklinge fängt das Licht der Fackeln auf und spiegelt es durch den ganzen Saal. Statt meiner Augen sehen sie den Glanz des Feuers. Dann hört der Trommelwirbel auf, und ich nehme das Schwert weg. Mit einem unterdrückten Aufschrei hält das Publikum den Atem an. Mein Auge, mein krankes Auge, dreimal größer als das andere, ein scharfer schwarzer Punkt, von Weiß umgeben wie das allsehende Auge Gottes, schaut glühend und direkt auf sie nieder, schneidet durch ihre Seele wie ein Messer durch zartes Fleisch. Das Auge sieht. Es sieht alles. Und sie, sie sehen nichts als das Auge. Dieses Mal rufe ich nicht »Wehe! Wehe!«, sondern suche Orleans. Ich flüstere. Die Dunkelheit des Saals ist ein großer Gehörgang, in dem sich das Geräusch raschelnd fortpflanzt. »Euer Kopf, Monsieur, ist Euer kostbarster Besitz. Laßt Euer Herz sprechen, dann werdet Ihr Euren Kopf behalten.« Es klingt wie eine Drohung. Ich sehe einen überraschten und erschreckten Ausdruck in seinen Augen. Seine Hand greift nach seiner Brust, als wolle er sagen: Meinst du mich? Der Generalleutnant richtet sich auf. Ich warte. Dann feuere ich meinen erbarmungslosesten Blick auf ihn ab. Er soll sich wie ein Hund unter den Peitschenschlägen seines strengen Herrn
fühlen. Schau mich an. Er schlägt die Augen nieder. SCHAU MICH AN! Ich packe ihn; er kann nicht mehr weg. Ich suche nach Worten. Und dann erinnere ich mich an Brissot. Indem ich ihn als Spion anklage, zeige ich dem Generalleutnant, daß wir ihm einen Schritt voraus sind. Es geht noch weiter, sage ich, doch die nationale Sicherheit und die Unantastbarkeit Eures Lebens gebieten mir zu schweigen. Welch eine Farce! Aber es gelingt. Ich halte ihn mit meinem Blick fest, bis er auf seinem Stuhl unruhig hin und her rutscht. Ich zerbreche ihn. Das ist Macht: die aus der Schuld geborene Angst ansprechen. Ich würde gerne lachen, aber ich kann nicht, jeder Muskel in meinem Körper zittert. Dann fahre ich mit dem Porträt eines Landes fort, wo man sagen kann, was man will, wo die Obrigkeit sich nicht vor dem Wort fürchten muß, da alle Handlungen des Staates über jede Kritik erhaben sind und von der Mehrheit des Volkes getragen werden. Die Regierung, die dem Volk Schweigen auferlegt, verurteilt sich selbst. Jemand ruft »Bravo«. Eine andere Stimme nimmt es auf. Die Menschen erheben sich. Auch Orleans. Sie jubeln. Sie kommen nach vorne. Ich befinde mich zwischen knienden Männern und Frauen, die den Saum meines Kleides küssen.
Zur Feier unseres Erfolges unternehmen wir einen Ausflug aufs Land. Hornmann hat uns eingeladen, an einer Gesellschaft teilzunehmen, die sich an einem schönen Herbstmorgen nach Cythera einschifft. Die Aussicht auf einen Tag inmitten einer Gruppe kichernder Damen und vergeistigter Herren lockt mich überhaupt nicht, aber die Sehnsucht nach dem Horizont und nach Grün und nach Luft zum Atmen besiegt die Angst vor meiner Ungeschicklichkeit. Mir mangelt es völlig an der Fähigkeit, in leichtfüßigen Konversationen zu glänzen. Auf Bonmots und Komplimente weiß ich nicht neckisch zu
antworten. Ich nähere mich einem Thema viel zu ernsthaft und schwer. Ich kann es nicht lassen, diese Herren, die nicht wissen, was die Glocke geschlagen hat, auf ihren Irrtum hinzuweisen und vergesse immer wieder, daß ich ein unschuldiges Mädchen vom Lande bin. Schon mehrmals habe ich feststellen müssen, daß das Tischgespräch verstummt, wenn ich mich daran beteilige. Doppet sagt, daß es nicht schlimm sei. Nun nicht mehr. Ich habe meine Verdienste auf anderen Gebieten, und sie sind bereit, ein Auge zuzudrücken. Das wisse ich doch sicher? Ja, das weiß ich. Und doch. Auch Lebrun darf mitkommen, mit den Bediensteten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß er gerade an einem solchen Tag wertvolle Informationen sammeln kann. Mir gegenüber in der Kutsche sitzt Hornmanns Sohn. Er starrt mich aus seinen kurzsichtigen Augen mürrisch an. Er ist ein hinterlistiges Jüngelchen, denn sein Fuß sucht meinen, und dann gräbt er die Hacke seines Schuhs fest in meine Zehen. Wenn ich meinen Fuß zurückziehe, beginnt das Spiel von vorne. In der Kutsche ist nicht viel Platz, ich kann meinen Fuß nicht ständig hin und her schieben, ohne die anderen zu belästigen. Aber er hört nicht auf, mich anzustarren und zu malträtieren, obwohl ich ihn darauf hingewiesen habe, daß er mir weh tut. Seine Tante sitzt neben ihm und schaut mich mit einer Mischung aus Furcht und Verachtung an. Ich bin eine Somnambule, und das jagt ihr Angst ein, aber in ihren Augen bin ich auch eine flämische Dirne, die ihren Platz zu kennen hat. Mein Aufstieg in der Welt darf nicht sein. Er tut gar nichts, versichert sie. Der Junge lacht sie an und drückt seine Hacke wieder in meinen Fuß. Ich trete ihn zurück. »Au!« brüllt er. »Sie tut mir weh!« Die Damen schauen mich mißbilligend an. Wie kann man nur: ein erwachsener Mensch gegen einen kleinen Jungen. Als sie wieder über eine gemeinsame, nicht anwesende Lieblingsfeindin sprechen, strecke ich ihm meine
Zunge heraus und zeige ihm mit zwei Fingern das Zeichen des bösen Blicks. Er erschrickt und verhält sich während der restlichen Fahrt ruhig. Es ist warm. Die Erde riecht nach Pilzen und Lilien. Die Getreideernte ist eingefahren, Strohbündel liegen zum Trocknen aus, hier und dort schwelt ein Feuer aus Laubblättern. In den Obstgärten stehen Leitern an den Baumstämmen, und Pflücker werfen Äpfel in die Körbe der bereitstehenden Träger. Auf den Äckern liegt das Licht wie eine Staubschicht. Aber in den Buchenalleen herrscht Zwielicht. Am liebsten würde ich neben der Kutsche herlaufen und durch den Wald tollen, von Baum zu Baum, Marienfäden wie ein silbernes Netz in meinem Haar sammeln, an einem Ort mit dichtem Gras und Insekten ausruhen, und dann nach den Grillen suchen, deren Echo über jedes sonnige Fleckchen erklingt. Wir kommen zu einer Herberge, in der Manon und Des Grieux logiert haben sollen. Eine abschüssige Weide führt zu einem kleinen, dunkelgrünen See. Am Ufer liegt ein Kahn bereit, der uns zu der kleinen Insel bringt, auf der zwischen Zypressen eine künstliche Ruine errichtet wurde. Dort können wir uns – so sagt Hornmann – unserer Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit hingeben, als der Mensch noch in Schlichtheit und Ehrfurcht mit der Natur verkehrte. Damals sei die Beziehung zwischen dem Menschen, der Schöpfung und Gott noch unversehrt gewesen. Wenn sich sein herzerwärmender Appell, einander wie Brüder und Schwestern zu lieben, doch auch an seinen Sohn richten würde. Dieses ganze Entzücken und die süßliche Bescheidenheit, mit der er mich zum Ehrengast dieses Ausflugs ernennt, bereitet mir leichte Übelkeit. In seiner Gegenwart sind die Damen außergewöhnlich freundlich zu mir, aber sobald er weg ist, bin ich Luft für sie. Sie erscheinen
tugendhaft und sittsam und lassen lieber den Saum ihres Kleides verdrecken, als zuviel Bein zu zeigen. Die Diener breiten die Tischdecken aus und legen Kissen auf den Boden. Die Korsetts machen das Bücken sehr schwierig, so daß die Damen wie Kaffeemützen auf die Kissen plumpsen. Sie rufen nach ihrem breitrandigen Hut, denn die Sonne scheint ihnen in die Augen. Die mitgeführten Speisen werden aufgetischt: Huhn in Gelee, Spanferkel, geräucherte Forelle; der Wirt bringt Kannen mit Rahm sowie frisches Brot, Nüsse und Früchte. Dazu gibt es nach Elsässer Art Krüge mit schäumendem Bier und Flaschen mit säuerlichem Weißwein. Ich bekomme einen Ehrenplatz, und man prostet mir zu. Ausführlich werden die Resultate der somnambulistischen Séancen diskutiert. Es hat sich überall herumgesprochen; in Weinlokalen und Salons werden meine Worte zitiert und gehen meine Enthüllungen von Mund zu Mund. Die Verfasser von Pamphleten übernehmen meine Prophezeiungen und Beschwörungen. Unter den Mächtigen ist Unruhe entstanden, soviel ist sicher. Die Ordnung schwankt, weil das Beil an der Wurzel angesetzt ist. Die Notwendigkeit von Reformen ist allen klar, selbst dem König, aber man versucht verzweifelt, das morsche System beizubehalten. Minister fürchten sich davor, zur Hauptfigur des nächsten Skandals zu werden und unternehmen alles Mögliche, dies zu verhindern. Kein besserer Beweis für die Richtigkeit unserer Thesen. Wir müssen den eingeschlagenen Weg weitergehen. Alle nicken. Sie erheben mit der rechten Hand ihr Glas und erbitten feierlich und ernsthaft den Segen für unsere Pläne. Niemand zweifelt daran. Wir sind zu allem bereit, rufen sie auf Hornmanns Bitte. Der Sieg ist unser, dem Bürgertum eines freien Landes. Geschmeichelt nehme ich die Jubelrufe entgegen. Ich sehe, wie ein Kaninchen weghoppelt und mir spottend ein rundes, schwarzes Löchlein unter seinem weißen Schwänzchen zeigt.
»Woher nehmt Ihr all Euer Wissen? Wie kommt Ihr an die ganzen Skandale?« fragt eine Dame neugierig. »Woher weiß sie das alles, Monsieur Doppet?« »Das kann sie Euch nicht sagen. Sie ist die Posaune von Gottes Engel. Weiß die Posaune, warum sie erklingt?« »Aber Ihr laßt sie erschallen, Monsieur Doppet. Verratet Ihr es doch.« »Das ist wahr«, lacht er. Er hebt sein Glas und leert es in einem Zug. Doppet trägt einen pflaumenblauen Mantel mit Goldtressen, sein weißes Halstuch hebt sich von seiner braunen Haut ab. Er ist der attraktivste Mann in dieser Runde. »Könnt Ihr sie nicht extra für uns erklingen lassen, Monsieur Doppet?« »Fühlt Ihr Euch dem denn gewachsen?« Sie lachen und gehen wohlweislich nicht weiter darauf ein. Ich verhalte mich ruhig. Es ist offensichtlich, daß sie sich bei Hornmann einschmeicheln. In seinem Gesicht lesen sie die gewünschten Reaktionen. Die Gesellschaft besteht aus acht Damen und zwölf Herren. Viele von ihnen habe ich bereits in der Böttcherei oder im Speisesaal gesehen, aber ich weiß nicht im geringsten, wer sie sind und was sie machen. Sie sagen, daß sie sich im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zusammengeschlossen haben, aber das habe ich schon einmal in Saint-Omer miterlebt. Große Worte verbergen kleine Motive. Sie sind wahrscheinlich finanziell von Hornmanns Bank abhängig. Und Hornmann liebt Macht. Ist denn niemand aufrichtig? Aber ja, alle sind aufrichtig und guten Glaubens. Außerdem haben sie recht. Sie sind standhaft und vom Glauben an die Menschheit beseelt. »Ihr Anstand schließt andere Auffassungen aus«, erinnere ich mich plötzlich. Sie taugen. Und sie wissen es. Mir wird klar, daß Doppet sie haßt. Es wird viel getrunken und gegessen. Als Lebrun Doppets Becher nachfüllt, beugt er sich vertraulich über ihn und berührt
mit einer Hand Doppets Schulter. Die Mahlzeit wird von einer immer größeren Ausgelassenheit begleitet, so daß ich glücklicherweise nicht länger im Mittelpunkt des Interesses stehe. Danach spaziert man über die Insel und zur Ruine oder schläft unter einem Baum. Ich suche Doppet. Er lehnt mit dem Rücken zu mir nonchalant an einem Baum. Er bemerkt mein Kommen nicht, denn er spricht mit lauter Stimme zu drei hingerissenen Damen. Hornmanns Sohn hängt an einem Ast und hört zu. Doppet erzählt, wie er mich fand, als er damals bei einem abgelegenen Bauernhof im schrecklichen Flandern anklopfen mußte, weil die Achse seiner Kutsche gebrochen war. Im Stall saß ich, mit Kuhmist beschmutzt, und molk die Ziege. Er war – als Kenner – von meiner eigenartigen Schönheit sofort gefangen, die natürlich nicht im geringsten mit der ihren zu vergleichen ist. Verbeugung. Seine Wadenmuskeln bewegen sich. Die Damen lachen sehr selbstsicher und richten ihre Frisur. Als Arzt hatte er sofort eine ungewöhnliche Augenveränderung konstatiert, die in rückständigen Gegenden als Teufelszeichen betrachtet wird, aber in wissenschaftlichen Kreisen als besondere Empfänglichkeit für magnetische und somnambulistische Behandlungen bekannt ist. Es kostete gewaltige Mühe, mich einigermaßen präsentabel herzurichten und ein annehmbares Französisch zu lehren. Nun bin ich sein Meisterwerk. Der Erfolg ist allein ihm zu verdanken. Ohne ihn säße ich noch unter der Ziege. Achtet einmal darauf, ihre Hände scheinen immer noch melken zu wollen. Dann hört er eine Bewegung von mir und dreht sich um. »Aha! Da ist sie ja. Entschuldigt mich bitte«, sagt er und kommt auf mich zu. Er ist angetrunken. »Elisabeth.« Er nimmt mich beim Ellbogen, führt mich von den starrenden Damen fort. »Hast du es gehört?« »Ja«, sag ich.
Er fängt an zu kichern. »Wie findest du es? Ist es keine phantastische Geschichte?« »Erzählst du das immer so?« »O nein, stets mit anderen Details.« »Warum tust du das?« »Elisabeth!« ruft er laut. »Wo bliebe unsere Glaubwürdigkeit, wenn ich die Wahrheit erzählen würde!« »Ginge es nicht etwas weniger herablassend?« »Was meinst du? Bist du beleidigt?« »Ich hätte gerne gewußt, welche Lügen du erzählst.« »Erzähle ich denn Lügen? Habe ich dich nicht in Flandern gefunden? Es war allerdings kein Stall, sondern ein Kutscherhaus, und keine Ziege, sondern ein geiler Bock. Wo ist der Unterschied? Ich habe dich zu dem gemacht, was du jetzt bist. Vergiß das nicht. Und daß du, dank meiner Bemühungen, heute in Paris gefeiert wirst, ist kein Grund für Dünkel.« »Ich weiß genau, wie es war«, sage ich matt. Und dann überkommt ihn die Schwermut des Trinkers. »Du bist so schön«, sagt er, »zwischen diesen bedeutungslosen Angebern, die so leicht zu täuschen sind, und dann spreche ich von dir, wie ich von ihnen gerne sprechen würde.« Ich wünschte, er wäre ehrlicher. Er verletzt mich, um seine Überlegenheit zu wahren. Und das ist einfacher, als er glaubt. »Ich frage mich manchmal, ob wir weitermachen sollen. Ich habe einen Brief nach Haarlem geschickt, um mich nach den Möglichkeiten für eine Rückkehr zu erkundigen.« Erschrocken packt er mich bei den Schultern. »Natürlich müssen wir weitermachen.« »Warum?« »Ich muß dir die Gründe doch nicht mehr erklären. Es ist wichtig.«
»Aber ist es einen Betrug wert?« »Sind wir für die Gutgläubigkeit der anderen verantwortlich?« »Ja, wahrscheinlich schon.« »Unsere Mittel sind unorthodox, aber nicht unehrlicher als die der anderen. Solange man sich selbst nicht betrügt.« »Nein«, sage ich, »aber wie kann man das wissen? Schau dich um. Sie sind alle guten Glaubens, und niemand kennt sich selbst.« Er lacht. »Du bist ein richtiger Philosoph.« »Ja, unter der Ziege habe ich eine Menge gelernt.« Wir müssen unser Lachen unterdrücken, denn es würde einen sehr merkwürdigen Eindruck bei den Damen hinterlassen, die uns von weitem eifersüchtig beobachten. »Komm mit«, sagt er. Als wir an Hornmann Junior vorbeigehen, hält sich dieser mit zwei Fingern demonstrativ die Nase zu. »Ich rieche Kuhmist«, sagt er. Doppet nimmt mich mit auf die andere Seite der kleinen Insel. Wir lassen uns an einer Stelle nieder, wo der See das Land umarmt. Ich atme tief ein. Was kümmert mich das alles. Wenn ich es genau betrachte, dann habe ich seit unserer Flucht aus Haarlem gar nicht schlecht abgeschnitten; und es stimmt: Wir tun niemandem etwas Böses. Die Umgebung macht mich unbekümmert. Die aufdringliche Stadt, die mich manchmal so einzwängt und deprimiert, ist weit weg. »Hörst du die Tauben? Ich habe eben ein Kaninchen gesehen.« »Bist du glücklich?« »Ich?« »Ja. Du.« »Diese Frage stelle ich mir eigentlich nicht. Ich glaube, daß ich so glücklich bin, wie ich es sein kann.« »Bedauerst du es, daß du mit mir mitgekommen bist?«
»Ab einem bestimmten Punkt führt kein Weg zurück.« »Du hast die Wahl.« Ich lege mich auf den Rücken ins Gras und nehme mir vor, den Augenblick zu genießen. Ich lebe. Vivre au jour la journée, prenez le temps comme il vient, profitez de tous les moments, sagt Madame de Choiseul. Er streckt sich neben mir aus und streichelt mich vorsichtig. Nichts ist aufregender, sagt er, als einander hier zu lieben, in Rufweite dieser Gruppe von überaus tugendsamen Bürgern und unter den Augen der Vögel. Das ist seine Art, seine Herrschaft zu bestätigen. Auch wir spielen ein Spiel. Ich reagiere auf seine Liebkosungen, aber setze mich, unter dem Vorwand, mein Kleid nicht verschmutzen zu wollen, auf ihn und vertausche die Rollen. Meine Röcke bedecken ihn, und es muß für die Vögel ein seltsamer Anblick sein: die wippende Kaffeemütze, unter der auf der einen Seite die Füße und auf der anderen Seite der Kopf eines Mannes hervorschaut, als nehme er eine Reparatur unter einer Kutsche vor. Ich weiß nicht, wieso ich mich als Sieger fühle, bis ich Lebruns Gestalt zwischen den Büschen sehe. Dann begreife ich, daß ich auf seine Anwesenheit gehofft habe. Man erbittet meinen Rat zu persönlichen Problemen, die meistens auf vereitelte Ambitionen und unerfüllte Sehnsüchte zurückzuführen sind. Nicht während eines zwanglosen Tête-àtête nach der Vorstellung, o nein, nach Absprache und sorgfältiger Auswahl durch Doppet. Man wird nur unter strengen Voraussetzungen zugelassen, wobei ich mich nicht näher mit den Strategien befasse, die Doppet dazu entwickelt hat. In einem spartanisch eingerichteten Vorzimmer werden die Kandidaten jeglicher Unterscheidungsmerkmale entledigt. Eine weite, graue Kutte mit Kapuze macht sie beinahe unkenntlich. Durch den Umhang befinden sie sich außerhalb der vertrauten Hierarchie der Äußerlichkeiten, und das bringt
sie für einen Moment aus der Fassung. Natürlich müssen sie für die Audienz bezahlen, allerdings je nach finanziellen Möglichkeiten, denn auch die einfachen Bürger haben ein Recht darauf, betrogen zu werden; aber vor allem diejenigen, die etwas zu verlieren haben, kommen zahlreich – diejenigen, die sich an der Peripherie des Systems befinden, die Unentschlossenen, die nicht mehr wissen, auf welches Pferd sie setzen sollen und wie sie dabei vorgehen müssen. Seit Jahren spielen sie mit beim Spiel der Liebesintrigen, der Pfründe und Begünstigungen, aber sie befürchten, daß die Tage dieser Lotterie gezählt sind. Dicke Vorhänge schließen den Tag aus dem Zimmer aus, in dem ich mich befinde. In einer Ecke steht ein Kandelaber mit vier Kerzen, orientalische Räuchermittel verbreiten einen für meinen Geschmack zu schweren und zu süßen Qualm. Doppet hat kostbare Glaswaren kommen lassen, die noch lange, nachdem sie dem Sonnenlicht ausgesetzt waren, einen grünlichen Schimmer ausstrahlen. Wenn ich eine Frau empfange, sitze ich auf einem Taburett und trage einen schlichten, dunkelroten, hochgeschlossenen Mantel von orientalischem Schnitt; ich reiche heiße Schokolade und erzeuge trotz der geheimnisvollen Umgebung eine freundschaftliche und vertrauliche Atmosphäre. Wird ein Mann angekündigt, lege ich den Mantel ab und strecke mich auf einem Diwan mit vielen Kissen aus. Ich trage ein schlichtes Kleid aus pfauenblauer Seide, das als einziges auffälliges Detail ein unanständig tiefes Dekolleté aufweist. Meine Lage auf dem Diwan ermöglicht es mir außerdem, meine Knöchel zu zeigen. Mein Auge bleibt hinter einer dünnen Maske verborgen. Diese Vorkehrungen verfehlen ihre Wirkung nicht. Ich bin keine Hexe, sondern eine Ratgeberin, die offensichtlich über die gefährlichen Beziehungen gut informiert ist, die die
traurige Existenz meiner Klienten gänzlich ausfüllen. Welchen Rat soll ich ihnen mitgeben? Wie sollen sie leben? Genügsamkeit? Askese? Bürgerpflichten? Zurück zur Natur? »Schenke ihnen Hoffnung auf Glück. Dafür kommen sie.« »Welches Glück?« »Das Glück der Freiheit.« Doppet hat ein Talent für apodiktische Bemerkungen, auf die mir zu spät eine passende Erwiderung einfällt. Freiheit? Wovon? Wozu? Darum weiß ich nie so genau, wie meine Rolle aussehen soll. Ich lasse die Kutten reden, und schon bald verwickeln sie sich in Widersprüche. Was immer wieder zum Vorschein kommt, ist das Mißverständnis des Gewissens. Du sollst im Gegensatz zu Ich will. La vertu ne consiste pas à suivre la nature mais a lui résister, haben sie gelernt. Meistens kennen sie das Gebot, gegen das sie sich versündigen, besser als ihre natürlichen Triebe, die sie zur Sünde verleiteten. Sie fragen nicht, ob das Gesetz mit der Natur im Streit liegt oder ob die Natur nicht Vorrang vor ausgedienten Konventionen haben könnte. Nun ja, auch ich verheddere mich hoffnungslos in den Listen und Tücken der Definitionen. Alles ist Kultur und daher durch sichtbare und unsichtbare Regeln bestimmt, sogar und wahrscheinlich gerade unsere Auffassung von der Natur. Unsere neue Zeit setzt eine Menge Dinge in Gang. Doppet belauscht die Gespräche und amüsiert sich köstlich über die Geständnisse. Wir werden mit einem uralten Rezept reich: Seht, wir machen alle Dinge neu. Wir waschen die Seelen rein und gewähren Glauben ohne Schuld. Ich mache mich darüber lustig, da ich von meinem Ernst mitgerissen zu werden drohe. Die heiße Luft des Glaubens bläht auch mich auf wie einen Ballon. Eines Tages kündigt Doppet den Besuch eines jungen Mannes an. Ich ziehe meinen Mantel aus und drapiere mich auf dem Diwan, meine Knöchel gekreuzt, meinen Rock bis zur
Hälfte der Wade nonchalant hochgezogen. Der Junge kommt zaghaft herein, die Hände wie ein echter Mönch in die weiten Ärmel geschoben, die Augen niedergeschlagen. Er ist jung, vielleicht achtzehn, und er bleibt schweigend an der Tür stehen. Meine üblichen Begrüßungsworte passen nicht zu ihm. Intuitiv unterlasse ich die koketten Gesten, die die Besucher beruhigen. So dauert es eine Zeit, bis er seine Augen aufschlägt und mich ansieht. Er erschrickt und errötet; sein Blick wandert hastig von meinen Knöcheln und meinem Busen weg, kehrt wieder zurück, um dann noch schneller zu einem Punkt oberhalb meines Kopfes zu flüchten. Er schiebt die Kapuze nach hinten und kniet vor mir nieder, verneigt tief sein Haupt. Ich sehe seinen Nacken, die Wirbel ragen wie Handknöchel heraus. Er stammelt: »Was soll ich tun?« Ich unterdrücke den Impuls, meine Hand wie ein Priester oder eine Mutter segnend auf seinen Kopf zu legen. Er überrascht mich. »Tun?« »Ja. Ich habe Euren Aufruf gehört. Ihr habt bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen.« Er schaut auf und errötet erneut. »Bis jetzt hatte ich in meinem Leben kein Ziel, mit Ausnahme dessen, was meine Familie für mich bestimmt hat, aber das erfüllt mich nicht. Ich fühle ein Verlangen nach mehr, nach höheren Dingen. Ich wußte, ich weiß, ich fühle, daß ich für große Taten bestimmt bin. Aber ich hatte keine Sache, für die ich kämpfen konnte. Nun, da ich Euch gehört habe, weiß ich, was ich will. Sagt mir, was ich tun soll.« »Wer bist du, und woher kommst du?« »Ich bin Philippe. Ich komme aus Chartres. Ich werde Advokat, genau wie mein Vater und mein Großvater und dessen Vater. Ich werde ein Mädchen heiraten, das meine Familie für mich ausgesucht hat, und wenn ich sterbe, ist das Familienvermögen noch umfangreicher geworden, und mein
Sohn wird in meine Fußstapfen treten. So zieht unser Geschlecht eine Furche in die Zeit, aber ich fühle mich gefangen. Ich will raus!« »Wohin?« »Als Ihr über die Befreiung aus der Sklaverei des Gottesdienstes und Despotismus spracht, über die Liebe, die das erste Gebot zwischen den Menschen ist, über die Notwendigkeit, im alltäglichen Leben aller Menschen der Harmonie, der Einheit aller Dinge mit dem kosmischen Geist, der Weltseele Gestalt zu geben… da traft Ihr mich mitten ins Herz. Ihr verlieht den Dingen Worte, die ungeformt in mir lebten. Ihr seid mein Leitstern. Ich liebe Euch. Sagt mir, was ich tun kann.« Habe ich das gesagt, das über die Weltseele? Ich erkenne meine eigenen Worte nicht. Wenn er sie ausspricht, klingen sie rührend echt. Was der Glaube nicht alles vermag! Er verwandelt Lüge in Wahrheit. Nein, ich lüge nicht, ich bin von dem, was ich sage und von der Machbarkeit der Zukunft überzeugt, aber ich mache ein Theater aus der Wahrheit, und das sorgt für Distanz zwischen mir und meinem Publikum, das in der Vorführung Teil dieser Vereinbarung ist, und hier bei mir nicht. Er sucht meinen Blick hinter der Maske. Glücklicherweise sieht er meine Verlegenheit nicht. Wenn Lebrun äußerliche Schönheit verkörpert, dann ist Philippe die Personifizierung der inneren Schönheit. Seine Stirn ist hoch und glatt, seine Augen stehen weit auseinander; solche Augen habe ich schon einmal gesehen, stets sind sie von hohen Wangenknochen, einem breiten, vollen Mund und einer frischen Gesichtsfarbe begleitet, so wie Doppets tiefliegende Augen zu einer scharfen Nase und Furchen in den Wangen gehören. Ich möchte ihn lachen sehen. »Jeder muß auf dem Platz an der neuen Zeit arbeiten, der ihm durch das Schicksal bestimmt wurde.« Ein nicht sehr
inspirierender Ratschlag, das gebe ich zu. Ich ringe nach Worten. Ich weiß nie, wie ich mich gegenüber Aufrichtigkeit und Unschuld verhalten soll. Er verwirrt mich. Als ich mich anders hinlegen will, rutscht mein Kleid von meiner Schulter und entblößt meine Brust. Er sieht es. Ich sehe, daß er es sieht, und ich sehe, was er denkt und fühlt. Ich fühle das gleiche. Ich taste nach dem dunkelroten Mantel und bedecke mich. »Ich hatte gehofft, daß Ihr…« »Ich kann dir nicht helfen.« »Warum nicht.« »Ich kann dir nicht vorschreiben, wie du zu leben hast.« »Aber Ihr habt meine Augen geöffnet, Ihr könnt mich nun nicht im Stich lassen.« »Wenn du siehst, kennst du den Weg.« Ich ahme Doppet mit seinen unwiderlegbaren Bemerkungen nach. Es gelingt mir nicht. Philippe berührt meinen Fuß. Er zögert und drückt dann einen Kuß auf meinen Strumpf. Seine Hände beben. Ich ziehe meinen Fuß zurück und beuge mich nach vorne, um ihn zum Aufstehen zu bewegen. Mein Mantel fällt herab, sein Gesicht ist einen kurzen Augenblick sehr nahe. Sein Atem mischt sich mit meinem. Er riecht wie ein freundlicher Mensch. Er muß mein Auge durch die Seide hindurch sehen können, mein abscheuliches Auge. Ich schäme mich. Wie lange sitzen wir so, kniend, auf gleicher Höhe? Ich erfahre seine Nähe. Meine Haut prickelt, als würde er mich überall berühren. Es ist ein vollkommenes Verlangen, das in sich selbst Erfüllung findet. Aber Doppet hört mit. Ich stehe auf. »Gehe zurück nach Chartres, werde Advokat, aber stelle dich in den Dienst eines anderen Rechtes als des heutigen, eines Rechtes, das der Wahrheit dient und für alle gleich ist. Ein
Recht, das barmherzig ist.« Ich verfalle wieder in den Ton der Seherin, um meine Verlegenheit zu verbergen. Er schaut mich prüfend an. »Wollt Ihr für mich Eure Maske ablegen?« »Nein.« Außerhalb der Vorstellungen nehme ich für niemanden meine Maske ab. Er geht. Bis Doppet hereinkommt, um mir den nächsten Besucher anzukündigen, bleibe ich wie versteinert stehen. – Sehr verehrte Mademoiselle Lestevenon, die Situation in Haarlem ist so stabil, daß Ihr eine Rückkehr in Erwägung ziehen könnt. Niemand wird Euch hinderlich sein. Über Politik wird kaum noch gesprochen. Wohl müßt Ihr damit rechnen, nicht mehr das Leben führen zu können, das Ihr gewöhnt wart. Ihr werdet Euch mit einer einfachen Anstellung in irgendeinem Haushalt zufrieden geben müssen. Mit Eurer schnellen Auffassungsgabe könntet Ihr vielleicht die Bücher der Witwe Barnaart führen. Sie ist nicht abgeneigt, Euch dazu in ihren Dienst zu nehmen. Seid vorsichtig mit Eurem Auge. Große Anstrengungen können die Geschwulst platzen lassen. Van Marum. Ich gehe nicht zurück. Man stelle sich vor: die Seherin von Paris führt die Bücher der Witwe Barnaart! Meine Bestimmung ist hier, beim Volk, das mich braucht. Bei Doppet, den ich brauche.
Der Bankier verachtet Geld. Und was ein Mensch verachtet, das zieht er an, sagt er. Daher sein Reichtum und seine Freigebigkeit. Die einzige Bedingung für seine Gastfreundschaft ist, daß ich mich weiß kleide. Ich besitze fünf Gewänder, die jedes für sich genommen ein Vermögen wert sind, aus schwerem Ottoman, Organdy, Satin, mit Brügger
Spitze, Spanischen Bändern, und mit kleinen Perlen bestickt, deren Pendant an meinen Ohren hängt. Es ist ein Genuß, sie zu berühren und sie dann raschelnd und knisternd und kühl über meine Haut gleiten zu lassen. An Geld gewöhnt man sich schnell. Doppet sagt, daß es uns zusteht. Morgens empfangen wir Hornmann während meiner Toilette – eine Angewohnheit des französischen Adels. Die Männer besprechen politische und finanzielle Fragen, die Frauen geben sich je nach Alter und selbstgewähltem Typus geistreich, kokett, prüde, dekorativ oder klug. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Es ist nicht einfach, mit dem Bankier ein Gespräch in Gang zu halten; er erzeugt keine kameradschaftliche Atmosphäre, ich habe bei ihm ständig das Gefühl, etwas Falsches zu sagen. Wenn ich mein Haar kämme, schaut er schweigend zu. Er war schon so häufig hier, daß ich ihn auch jetzt hereinlasse, wo Doppet nicht da ist. Die Kammerzofe hat mein Kleid bereitgelegt und bringt mein Waschwasser weg. Sie hält die täglichen, ausgedehnten Ablutionen für eine exzentrische Absonderlichkeit. Hornmann läßt sich auf dem Sofa direkt unter einem Porträt nieder, das ihn verdoppelt; allerdings hat er auf seinen Wangen deutliche Pockennarben. »Fahr fort«, sagt er, als ich zögere, »fahr fort.« Ich kehre ihm den Rücken zu und lege mein weites Morgenkleid ab in der Gewißheit, daß mein Korsett und mein Unterrock ihn nichts Unschickliches sehen lassen, während ich in meine Mittagstoilette steige. Die Häkchen auf meinem Rücken kann ich nicht selbst schließen. Hornmann stürzt herbei. Mit kühlen Fingern berührt er kurz meinen Nacken und legt eine Locke zurecht. »Laß mich dein Haar kämmen.« Er drückt mich auf einen Hocker, nimmt die Bürste vom Frisiertisch und beginnt mit sorgfältigen und langsamen
Strichen zu bürsten. In kleinen kurzen Rucken wird mein Kopf immer wieder nach hinten gezogen. »So reicht es schon«, sage ich. »Vielen Dank.« Aber er macht weiter. Im Spiegel sehe ich sein andächtiges Gesicht. Er spielt mit meinem Haar, zieht es straff nach hinten und läßt es dann über seine Hände gleiten. In seiner Wange zuckt ein Muskel. Dann legt er die Bürste weg und lehnt sich gegen mich. Ich fühle seinen weichen, runden Bauch und seine Erektion. Er reibt sich hin und her; mit seinem Finger fährt er am Rand meines Kleides entlang. Ich muß niesen. »Zieh es aus«, sagt er. »Die Kammerzofe kommt jeden Moment«, stammle ich. »Welche Kammerzofe?« Natürlich. Ich hätte es wissen müssen. »Doppet wird nicht lange wegbleiben.« »Lange genug. Zieh es aus.« Er schiebt das Kleid von meinen Schultern, öffnet die Häkchen meines Leibchens. Im Spiegel sehe ich, wie sich sein Mund öffnet; seine Hände schwitzen; seine Finger mit den dicken Fingerspitzen und den abgekauten Nägeln schließen sich um meine Brüste. »Doppet ist sehr eifersüchtig«, sage ich verwirrt. »Doppet hat mich gebeten, dich angenehm zu unterhalten. Er hat mir erzählt, was dir gefällt und mir versichert, daß du mir zu Willen sein wirst.« Seine Hände kneten und kneifen, sein Becken drängt sich an mich; der Atem geht schwer; die kleinen blauen Augen sind zu engen Schlitzen zusammengekniffen. Er nennt alle obszönen Dinge, die er mit mir machen wird. Ich weiß nicht, was mich mehr verletzt: diese unverhohlene Geilheit eines als anständig bezeichneten Mannes oder die Leichtigkeit, mit der Doppet meinen Körper zur Verfügung stellt, als ließe er einen Hahn zu
seinen Hühnern. Ich schiebe seine Hände weg, erhebe mich und richte mich zur vollen Länge auf. »Ihr irrt Euch«, sage ich und ordne mein Kleid. »Du irrst dich, wenn du glaubst, daß du mich abweisen kannst.« »Ich bin ein freier Mensch.« Er lacht und entblößt dabei seine kleinen Zähne und zuviel Zahnfleisch. »Frei? Denk nach.« Er kommt einen Schritt näher. Durch den Duft von »Violettes de Parme« hindurch, mit dem er sich reichlich besprenkelt hat, rieche ich seinen Körpergeruch: wie ein Hund aus der Schnauze stinkt. »Würdet Ihr bitte mein Zimmer verlassen?« »Mein Zimmer? Mein Zimmer! Du wohnst in meinem Haus! Mein Brot ißt du, mein Geld hat dich dahin gebracht, wo du jetzt bist!« »Und doch bin ich frei«, sage ich. »Dann geh.« Er deutet mit einer Geste auf die Tür. Ich gehe so würdevoll wie möglich an ihm vorbei. Die Tür ist verschlossen. Als ich mich sprachlos umdrehe, beginnt er laut zu lachen. Er genießt diesen Moment, er hat mich in die Enge getrieben. Sein Morgenrock öffnet sich und entblößt seinen nackten Körper. Er ist lang und kräftig, aber ich kann mir genau vorstellen, warum Madame Hornmann ihr Heil woanders sucht. Die Abscheu in meinem Gesicht vor seinem aufgeblähten, blauadrigen, haarlosen Bauch und seinem harten, aber für diesen groben Körper viel zu kleinen Penis macht ihn wütend. »Hure! Du glaubst, wählerisch sein zu können. Den Engel zu spielen, die Botschaft von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu bringen, unnahbar auf deinem Thron, himmlisch wie die Jungfrau Maria. Aber alle Frauen sind
Huren. Allesamt. Du bist käuflich! Ich habe dich gekauft. Du gehörst mir. Mir. Mir. Knie nieder!« Sein Handrücken mit Siegelring hinterläßt Striemen auf meinem Gesicht. Ich wische das Blut weg. Was soll ich tun? Mounier de Bresse ließ ich gewähren, um am Leben zu bleiben, warum kann ich das hier nicht? Warum ist hier die Grenze? Aus Angst schimpfe ich wie ein Fischweib, ausdauernd und vielfältig, wie ich es an der Waschstelle gehört habe. Seine Augen glänzen, während er mich anfeuert und mir elsässische Verwünschungen an den Kopf wirft. Mit schnellen Handbewegungen hält er seinen Erregungszustand aufrecht. »Knie nieder und iß mich, trink mich wie du mein Brot ißt und meinen Wein trinkst!« Ich fauche ihn an wie eine Katze und krümme meine Krallen, auf den Moment wartend, in dem seine Aufmerksamkeit nachläßt. Was soll ich tun? Lachen und schmeicheln und sagen, daß mein Liebesspiel mit einer schwierigen Eroberung beginnt, damit die Hingabe desto süßer ist, um ihn dann erbarmungslos zwischen die Beine zu treten? Mit Bekanntmachung drohen? Beaumarchais würde diese Information gut gebrauchen können. Den Kerzenständer greifen? Ich werde ihn zwischen den Augen treffen. Das Blut soll wie ein Kainszeichen seine Stirn brandmarken. So deutlich sehe ich, wie er schwankt und fällt, daß ich erschrecke. Ist es oder ist es nicht passiert? Von meiner Verwirrung macht er Gebrauch. Ehe ich mich’s versehe, packt er mich bei den Haaren und zwingt mich auf die Knie. Ich schreie und würge, als er sein Geschlecht in meinen Mund stopft. Dann beiße ich zu. Er flucht und zieht meinen Kopf nach hinten. Ich lasse ihn wieder los, und als er sein kostbarstes Kleinod – soweit sichtbar – nach den Abdrücken meiner Zähne inspiziert, laufe ich zum Fenster. Aber er springt nach vorne und schraubt seine Arme um mich. Er keucht. Ich versuche, um mich zu treten,
aber als ich um Hilfe rufe, schneidet er mir mit einem Ruck seiner Arme den Atem ab. Er dreht meinen Arm auf den Rücken und legt seinen anderen Arm wie einen Schraubstock um meinen Hals, so daß ich nicht schreien kann. Er zwingt mich auf das Bett und drückt meinen Kopf zwischen die Kissen. Ich ersticke beinah. Ich muß ihm seinen Willen lassen, ehe er mich erwürgt. Der Wert meines Körpers wird nicht durch den Gebrauch unter Zwang bestimmt. Aber genau die Unfähigkeit zu wählen macht mich rasend. Fehler sind erlaubt, deinen Körper verkaufen, es spielt keine Rolle, falsch urteilen, sündigen, nichts ist erniedrigend, so lange man in Freiheit handelt. Freiheit? Denk nach! sagte er. Es ist Schein. Alles ist Schein. Ich gebe meinen Widerstand auf und erdulde seine brutalen und schmerzhaften Liebkosungen. Ich versuche, diesem Moment zu entfliehen. Der Beweis für die Existenz Gottes ist die Güte, mit der Er alles in der Natur für einen bestimmten Zweck geschaffen hat. Da liegt sie. Ich will es nicht sehen. Als er fertig ist und mich ohne ein Wort verläßt, merke ich, daß ich mein Auge nicht mehr schließen kann. Es gibt eine Grenze. Es gibt eine Wirklichkeit. Es gibt eine Elisabeth Lestevenon. Auch wenn mein Schicksal von Zufall und Willkür bestimmt scheint, von einem Zusammentreffen von Umständen, die mich wie ein Boot ohne Ruder oder Riemen mit dem Strom mitreißen, bin ich verantwortlich. Auch wenn ich keinen Halt habe und mich nicht auf eine Moral berufen kann, die mir als Haltetau vom Ufer zugeworfen wird, muß ich mich allem widersetzen, das meine Grenzen überschreitet. Auch wenn ich keine Worte finde, um meine Gesetze zu erlassen und meine Grenzen abzustecken, muß ich mir selbst vertrauen, wer immer ich auch bin. Es gibt nichts anderes als diesen Körper und diesen Geist.
Mein Augenlid schiebe ich mit der Hand über das Auge, es klappt ständig wieder hoch. Ich warte schon seit Stunden auf Doppet, aber er kommt nicht. Ich habe mein grünes Kleid angezogen. In dem großen Haus herrscht Stille. Die Geräusche der Straße dringen kaum herein. Ich sehe die Landschaften meiner Jugend: die Dünen mit Strandhaferbüscheln wie die blonden Haarschöpfe der Bauernjungen, die Wälder von Elswout, in deren stille Bäche braune Buchenblätter fallen, die fruchtbaren Ufer der Spaarne, die sich in der Ferne bis zum schimmernden Haarlemermeer erstrecken, die Gärtnereien, in denen gebückte Figuren die Reihen aus roten Dahlien entlanggehen. Wie geheimnisvoll ist es doch unter den Bäumen im Hout, schauerlich die Vorstellung, daß in diesen Stämmen Leben gefangen sitzt, das gerne sprechen möchte, aber nicht kann und unverständlich in den Wipfeln rauscht. Das weitentfernte Glück ist meine Richtschnur, auch wenn ich nicht weiß, wohin sie mich führt. Vielleicht war auch diese Idylle ein für Kinder und andere Gutgläubige inszeniertes Theaterstück. Doppet, Doppet, wenn du noch einen Funken Aufrichtigkeit besitzt, eine Spur von Mitleid, einen kleinen Zugang zu deiner Trauer, dann laß mich nicht im Stich, sag, daß Hornmann lügt, vergiß deine Rache und zieh mit mir in deine Berge.
Gegen Abend ist er immer noch nicht zurück. Ich mache mich auf die Suche nach ihm. Ungesehen verlasse ich Hornmanns Haus. Die gepflasterten Straßen sind voller Pfützen, Gassen werden zu Schlammpfuhlen. Der Herbstregen hat nach dem trockenen Sommer Wasser im Überfluß gebracht. Keller wurden überschwemmt; die Bewohner haben ihren armseligen Hausrat auf trockene Bereiche der Straße gestellt und aus altem Holz kleine Überdachungen gebaut. Die Welt hat ihr
Inneres wie einen Handschuh nach außen gekehrt. Der Hades ist ans Tageslicht getreten. Schatten, verfolgt, gehetzt, besessen, starren mich an und rufen mir unverständliche Dinge zu. Kutschen mit verhangenen Fenstern, die für die Fahrgäste den Wahn von der Wirklichkeit trennen, fahren haarscharf vorbei und bespritzen uns mit Schlamm. Wenn eine Kutsche sich festgefahren hat, stürzen kleine Jungen herbei, um das Fuhrwerk gegen Bezahlung von einem Sou anzuschieben. Ich trete nach einem mageren Arm, der sich an mir festklammert. Ein betrunkener, schwankender Mann winkt mit einem Krug in der Hand. Er lacht laut, als erzähle ihm der Wein Witze. Hicksend weist er auf die Passanten und lacht und lallt mit schwerer Zunge. Ich gehe auf die andere Straßenseite, aber er sieht mich. »Was schaust du häßlich drein! Hat dein Freund dich im Stich gelassen? Komm nur zu mir, Schätzchen. Ich werde dich wärmen. Es geht nichts über die Liebe… Nichts… Selbst das nicht!« Er nimmt einen Schluck und lacht wieder, wischt sich mit dem Handrücken die Tropfen vom Kinn. »Aber das hier ist eine gute zweite Wahl!« Der Trunkenbold weiß genau, was er unter Liebe versteht: zwei warme Tiere in einer Höhle. Ich weiß es nicht mehr. In der Böttcherei ist er nicht. Dann überquere ich die Pont-auchange auf dem Weg zu unserem vorigen Quartier. Vielleicht ist der neue Bewohner der Mansarde ein Bekannter, der weiß, wo er steckt. Der Wind pfeift mir ins Gesicht, ich muß durch den schützenden Lappen hindurch mein Auge zuhalten. Während ich langsam und tastend nach oben steige, wird mein Auge von einem kalten Film überzogen, der mit kleinen Nägeln befestigt zu sein scheint. Neben der Tür der Dachkammer lehne ich mich an die Wand und lausche. Ist jemand da? Ich höre Geräusche und Musik. Ein Junge singt ein Lied und begleitet sich auf einer Laute. Er muß allein sein in
diesem Zimmer, so in sich versunken und fern jeder Effekthascherei klingt seine Stimme. Es ist ein Volkslied über einen Matrosen, der sich auf hoher See nach seiner Liebsten verzehrt und bei seiner Liebsten nach dem Meer verlangt. Er sieht das Meer in ihren Augen und ihre Haare in den Wellen. Wo er auch ist, er möchte woanders sein. Es erinnert mich an das, was Doppet sagte: »Zu sein, wo ich nicht bin, ungeschehen zu machen, was nicht ungeschehen zu machen ist.« Als das Lied zu Ende ist und der Junge die Laute niederlegt und hörbar gähnt, klopfe ich an die Tür. Ich höre ein Poltern. Ein junger Mann mit offenem Hemd öffnet die Tür und schirmt mit seinem Körper die Sicht in das Zimmer ab. Es ist Antoine Lebrun. »Verschwinde«, sagt er. »Ich suche Doppet.« »Hier ist er nicht.« Ich recke meinen Hals, um zu sehen, wen er vor mir verbirgt. Ein gutgekleideter Mann sitzt auf dem Bettrand und versteckt sein Gesicht in einem Spitzentaschentuch. »Das ist mein Onkel«, sagt Antoine, und ein schiefes Lächeln spielt um seine Lippen. »Weißt du, wo er ist?« »Keine Ahnung.« »Kommt er noch hierher?« »Jede Nacht«, sagt er provozierend. »Du lügst.« Er zuckt mit den Schultern. Ich versuche, ihn beiseite zu schieben. »Dann warte ich eben hier auf ihn.« Mit einer Hand hält er seine Hose zu und mit der anderen stößt er mich gegen die Brust. »Hau ab! Scher dich zum Teufel. Such ihn doch bei Marat.« »Wo wohnt Marat?« frage ich, während ich nach unten laufe.
»Rue de l’Ecole de Médecine. Neben dem Drucker.« Bevor er die Tür zuschlägt, sagt er: »Weidmannsheil!« »Danke. Gleichfalls«, rufe ich in die Dunkelheit. Als ich unten ankomme, fluche ich lauthals. Was soll ich mich von einem hirnlosen Strichjungen, einem Erpresser an die Kandare nehmen lassen! So kommt er an die Geheimnisse! Es ist widerlich. Dieser Intrigant hat von Anfang an alles Gute zwischen Doppet und mir beschmutzt. Und Doppet hat es zugelassen und ihn ermuntert. Doppet und sein Hang zur Schönheit! Sein Verlangen nach Reinheit! Sein hochgespanntes Ideal, das seine Seele am Leben hält! Ein Opportunist ist er. Er kann sich von mir aus zwischen Selbstsucht und Mitleid zerreißen, ich weigere mich, ein Opfer dessen zu werden. Ich weigere mich, meinen Körper von einem reichen Idioten mißbrauchen zu lassen. Ich bin nicht von der Liebe für einen heruntergekommenen Doktor abhängig. Und ich fürchte mich nicht vor dem Groll der Kanalratte Marat. Wenn ich die Gabe besitze, zu sehen, wie es ist und wie es sein sollte, dann muß ich mich vor allem von dem Diktat vager Philosophien, falschem Mitleid und dem Hunger nach Macht befreien. Ich bin für mich selbst und mein Denken und Handeln verantwortlich. Und ich werde alle zertreten, die meine Grenzen überschreiten.
Marats Haus ist feuchtkalt, die Wände sind mit Schimmel überzogen, aber in seinem Zimmer herrscht peinliche Ordnung. Das Ziel, das er sich gesetzt hat, soll nicht durch Schlampigkeit außer Reichweite gelangen. Er ist der fanatische Stratege des Heers der Schatten. An einem blankgescheuerten, aufgeräumten Tisch lesen Marat und Doppet Korrekturfahnen. Seit die Zensur etwas entschärft ist, stehen die Druckerpressen nicht mehr still. Die
häusliche Atmosphäre dieser Szenerie entwaffnet mich einen Augenblick. Sie sitzen da wie zwei brave Brüder und arbeiten an der neuen Ordnung. »Was will die denn hier?« schnauzt Marat. Er kann mich nicht einmal selbst fragen. »›Sie‹ kommt, um euch mitzuteilen, daß ihr auf der Suche nach einem neuen Engel seid«, sage ich. »Was meint diese Närrin?« »Diese Närrin meint, daß sie es ablehnt, sich mißbrauchen zu lassen«, sage ich. Doppet sieht mich überrascht an. »Was ist denn los?« fragt er. »Es gibt Grenzen«, sage ich. »Warum willst du plötzlich nicht mehr? Du bist das Tagesgespräch. Du bist berühmt. Die Menschen beten dich an.« »Ich will das nicht!« schreie ich. »Ich will keine Macht. Ich will keinen Betrug. Ich will frei sein.« »Launen! Weiberlaunen«, sagt Marat ungeduldig. »Schick sie zurück.« »Ich gehe nicht zu Hornmann zurück. Nie mehr.« »Aber wir brauchen ihn. Du dienst der Sache am besten, wenn du bei ihm bleibst«, sagt Doppet zögernd. Ich sehe, daß er auf der Hut ist. Ich ersticke fast vor Wut, und ich habe ihn so lieb, daß es in meiner Kehle und hinter meinen Augen brennt. »Du wußtest es! Verdammt nochmal, du wußtest es!« Auf einmal wird es in dem Zimmer dunkler. Ich will ihn umarmen und erwürgen. Auf dem Weg zu ihm stolpere ich und falle und falle. Ich bin unter Wasser zwischen den Algen, in denen sich mein Haar verfängt. Die Flügel eines Engels sind keine Kiemen, auch wenn sie ihnen ähneln, aber man kann ganz ordentlich
mit ihnen schwimmen. Wie eine Luftblase werde ich nach oben getrieben. Zwischen Luft und Wasser. Auf der Grenze zwischen Vogel und Fisch. Ich bin es. Ich bin es selbst, die da schwebt. Ich bin leicht und es ist Licht um mich herum. Dennoch bin ich nicht tot. »Ein Schatten in einem Traum, das ist der Mensch. Aber wenn er einen Zipfel des Himmels sieht, umgibt ihn ein strahlender Glanz, und das Leben ist süß.« Ich betrachte die Menschen. Sie sind durchsichtig. Vergänglich. Epameroi. Ich sehe sie und alles Sichtbare. Ich ergieße mich wie Wasser. Lebenspendendes Wasser. Da ist Gemurmel. Bittsteller umringen meine Knie. Ich gebe ein Versprechen. Sie haben mich auf eine Matratze gelegt, zugedeckt, mit ein paar Tropfen Cognac und etwas Essen zu Bewußtsein gebracht. Zwischen Wachen und Schlafen liege ich nun und höre, was sie sagen. Sie sprechen über die kommende Revolution, über die Generalstände, über den dritten Stand, über die Art der Abstimmung, über politische Klubs, die entstehen. Marat mißtraut allem und jedem, besonders den als Mitstreitern vermummten Honoratioren und Geistlichen. »Wenn bald der Wagen der Demokratie rollt, sind sie das lahme Pferd, das den Fortschritt behindert«, sagt er, und sein krächzendes Lachen erklingt. »Aber wenn das Volk es will, hängen wir alle Priester auf. Was machen wir mit ihr?« Doppet schweigt. Ich fühle, wie er mich ansieht. »Irgend etwas ist geschehen«, sagt er, »und ich weiß nicht, was.« »Sie dachte, du wüßtest es.« »Ich weiß nichts.« »Nun komm schon.« »Nein, ich wünschte, ich wußte es.«
»Sie muß zu Hornmann zurück. Sie muß weiter den Engel spielen. Das ist im Interesse des Volkes«, sagt Marat. »Elisabeth.« Doppet setzt sich zu mir auf das Matratzenlager. Seine warme Hand auf meiner Stirn. »Elisabeth.« Er nennt meinen Namen. Ich habe einen Namen. Ich bin Elisabeth. Er kennt mich. »Mein Auge«, sage ich, »ich kann mein Auge nicht mehr schließen.« »Laß mich mal sehen«, sagt er und nimmt meine Augenklappe ab. Er erschrickt über die Wunde, die durch Hornmanns Ring entstanden ist. »Wer hat das getan?« »Hornmann«, flüstere ich. Sie sprechen nicht mehr; ich höre nur noch das Knistern der Papierbögen. Vater liest mir etwas vor. »Manchmal sagte Pangloß zu Candide: ›In dieser besten aller Welten sind alle Geschehnisse eng miteinander verknüpft. Denn wären Sie nicht wegen Ihrer Liebe zu Fräulein Kunigunde mit wuchtigen Fußtritten in den Hintern aus einem schönen Schloß verjagt worden und nicht in die Hände der Inquisition geraten, hätten Sie nicht Amerika zu Fuß durchwandert, dem Baron einen tüchtigen Degenstich versetzt und nicht alle Ihre Hammel aus dem schönen Lande Eldorado verloren – dann würden Sie jetzt nicht hier kandierte Zedratfrüchte und Pistazien essen.‹ ›Sehr richtig‹, gab Candide zu, ›aber wir müssen unsern Garten bestellen.‹« Sie sind der Ansicht, daß ich zu Hornmann zurück muß. Niemand weiß genau, was passiert ist, und die Scham hält mich davon ab, ihnen alles zu sagen. Hornmann hat mich geschlagen, sage ich, als er mir Avancen machte. Ich sei ein launenhaftes Kind, sagen sie, ein bockiger Esel, ein verwöhntes Gör, eine dumme Gans. Die neue Zeit verlangt ihre Opfer, aber welch ein Opfer, in einem Palais zu wohnen und drei Mahlzeiten am Tag zu bekommen. Wenn da noch die
zärtlichen Gefühle des Bankiers hinzukommen, muß mein Glück doch perfekt sein. »Aber ich kann doch mit den Vorstellungen weitermachen!« rufe ich. »Wir sind von seinem Geld nicht abhängig. Wir verdienen selbst genug.« »Das bedeutet einen neuen Bruch, ein neues Schisma. Das schadet der Sache.« »Die Sache, die Sache!« rufe ich, »und der Schaden an mir?« Aber sie begreifen es nicht oder wollen es nicht begreifen. Doppet schweigt und wartet ab. Er hat sich nicht in die Diskussion eingemischt. Das finde ich feige und unanständig. Ich beharre auf meinem Standpunkt. »Wen braucht ihr nötiger, Hornmann oder mich?« Doppet sagt: »Wir brauchen dich, aber auch Hornmann. Er ist gastfreundlich und großzügig. Wir können nicht einfach wegbleiben, ohne mit ihm zu sprechen.« Ich stimme zu. Es scheint ein vernünftiger Vorschlag. Hornmann empfängt uns in seiner Bibliothek. Er ist zuvorkommend und fragt teilnahmsvoll: »Wie kommt Ihr an die Wunde an Eurem Auge?« Da erst wird mir klar: sein Wort steht gegen das meine, und das Wichtigste daran ist, daß man ihm glauben wird. Auch Doppet. Ich fühle mich erneut vergewaltigt und muß es geschehen lassen. Das Publikum in der Böttcherei besteht in zunehmendem Maße aus Handwerkern und Schreibern – einfache Menschen, die den Boden unter den Füßen verloren haben und auf einen Ausweg hoffen. Ich verschaffe mir mit meinen falschen Enthüllungen, Prophezeiungen und Versprechen einen unrechtmäßigen Zutritt zum Geist der Wehrlosen und Verzweifelten. Ich betrüge sie, indem ich für sie denke und spreche; ich betrüge mich selbst, indem ich die Macht akzeptiere, die sie mir zusprechen. Die Losung von Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit ist falsch. Jedes System entsteht aus dem Bedürfnis nach Ordnung, aus gegenseitigem Mißtrauen und Angst. Solange sie mich brauchen, sind sie nicht frei. Solange sie selbst über andere Macht ausüben, die ihnen diese Macht nicht freiwillig zuerkennen, solange werden sie nicht frei sein, um sich gegen Macht zu wehren oder sie jemandem einzuräumen. Das werde ich ihnen sagen. Sie glauben mir nicht mehr, jetzt, wo ich nur das sage, was ich für die Wahrheit halte. Das heißt: ich stammle eher, als daß ich spreche, und ich schweige manchmal so lange, daß das Publikum unruhig wird. Ich selbst bin ebensowenig frei. Nichts kann die Barbarei aufhalten. Die Wissenschaft hat die Welt verändert, aber nicht den Menschen. Doppet ärgert sich. »Du redest wirres Zeug. Sie verstehen es überhaupt nicht mehr.« Manchmal buhen sie mich aus. »Siehst du, sie hören mir zu«, sage ich dann. Die Sehkraft meines Auges vermindert sich mit jedem Tag. Schleier und Fäden und Flecken trüben meinen Blick. In meinem weißen Kleid mit Brügger Spitze und spanischen Bändern stehe ich vor der Gesellschaft im Salon. Man hat Hornmann gratuliert. Sein Prozeß hat einen günstigen Verlauf genommen. Er segelt mit dem Wind. Die Genugtuung macht ihn umgänglich. Aber als ich zu Beginn der Demonstration seinen selbstgefälligen Ausdruck und sein verschwörerisches Lächeln sehe, ist die Grenze erreicht. Sein Geruch dringt wieder in meine – Nase, ich höre sein Lachen, und ich fühle die Kraft seiner Arme um meinen Hals, seine Hand auf meinem Mund, seinen Einbruch in meinen Körper. Als Doppet seine Beschwörungsformeln spricht, wird die Erinnerung immer stärker, bis ich nur noch Hornmanns verzerrtes Gesicht sehe und mein Körper im erneut erlebten Rhythmus seiner Penetration zuckt. Halb bewußt werde ich zum Instrument
einer nie gekannten Wut. Ich stürze mich mit gespreizten Krallen auf Hornmanns Gesicht, reiße es auf und sehe zu meiner Befriedigung Blut. Ich schlage wild um mich, als man versucht, mich unter Kontrolle zu bekommen. Ich beschimpfe sie alle und schreie und trete, bis Doppet mir meinen Rock über den Kopf stülpt und mich in seinen Armen einklemmt.
Dieser Winter ist der kälteste seit Menschengedenken. Olivenbäume und Weinstöcke sind erfroren. Die Seine liegt ruhig. Wassermühlen stehen still. Der Transport über die vereisten Wege ist mühsam und gefährlich. Die Menschen, die für ihren Lebensunterhalt auf das Wasser angewiesen sind, werden arbeitslos. Brauer, Gerber, Schiffer schließen sich dem wachsenden Heer der Hoffnungslosen an, das in die Stadt zieht, um bei der Zusammenkunft der Generalstände auch einen Krümel vom Kuchen abzubekommen. Die Natur trägt schon seit zehn Jahren dazu bei, die Not des Volks zu verschärfen und die Ohnmacht der Regierung aufzudecken. Die Hungernden denken hartnäckig, daß das Land reiche Frucht trägt, aber daß sie durch ein Komplott zwischen Erzeugern, Händlern und letztendlich dem König ihrer Nahrung beraubt werden. Das Land besitzt keine Widerstandskraft gegen strengen Frost, gegen Dürre, gegen starke Regenfälle. Es ist ein kranker Körper, der sich dem Kollaps nähert.
3
Seit Hornmann uns fortschickte und uns alles nahm, arbeitet Doppet zusammen mit Brissot, der aus Amerika zurück ist und life, liberty and the pursuit of happiness geschmeckt hat. Sie schreiben an einer Zeitung, die Pressefreiheit proklamiert, indem sie sie in die Praxis umsetzt: Le Patriote Français. Es soll ein Wachtposten sein, beständig wachsam für das Volk. Nach der zweiten Vorankündigung hat der repressive Apparat seine Arbeit aufgenommen, und das Erscheinungsdatum muß verschoben werden. Die Redaktionstreffen finden weiterhin statt; sie sind verworren, ekstatisch, prophetisch, streitlustig und enden in Auseinandersetzungen. Doppets Ironie, die ihm eine zweite Natur zu sein schien, wurde von einem Feuer aufgezehrt, das auf angrenzende Gebäude übergreift. Bald ist er niedergeschlagen, bald ausgelassen. Er scheint sein Gleichgewicht und seine Sicherheit verloren zu haben. Er teilte meine Wut, aber hielt sie für eine schlechte Taktik. Ich suche die Bestätigung meiner Existenz dadurch, daß ich ihn wider besseres Wissen sehr, sehr lieb habe, so wie ein Kind mit festgeschlossenen Augen die Erfüllung eines großen Wunsches erbittet. Und Doppet, liebt er mich? Hüte dich vor der Liebe, sagte er. Er hat recht, aber es ist zu spät. Trotz allem fühlen wir uns aufeinander angewiesen. Je länger ich ihn kenne, desto weniger weiß ich von ihm. Manchmal geht er mir aus dem Weg. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht deshalb, weil mein Auge mich häßlich macht. Aber warum sind wir dann noch zusammen? Ich weiß nichts mehr. Mein Wissen war für ein anderes Leben bestimmt.
Dieses Jahr ist der Frühling spät gekommen, die Kälte hängt noch in der Luft. Die Wohnviertel des Volkes gleichen einer belagerten Stadt: alles Brenn- und Eßbare ist aus dem Straßenbild verschwunden. Die Märkte sind leer. Bei der Kapelle Saint-Julien-le-Pauvre ist ein Gerber auf einen Sockel geklettert. Der steinerne Heilige läßt ihm wenig Platz und spielt die schweigende Hälfte eines komischen Duos. Die Furchen und Falten in der Haut des Arbeiters sind dunkelbraun. Über den Lärm der erwachten Stadt und den auffrischenden Wind hinweg schreit er einer Handvoll Neugierigen etwas zu. Die Adern und Sehnen an seinem Hals sind angeschwollen. Die Empörung spannt seinen Körper. »Heute lassen wir uns nicht mehr von den sogenannten Bürgern wegschicken, die durch den dritten Stand gewählt sind und denken, Paris gehöre ihnen. Heute lassen wir uns nicht mehr abkanzeln. Heute hängen wir Réveillon.« Eine Frau tritt vor. Sie ist spindeldürr, aber ihr Bauch steht wie eine Trommel hervor. Mit beiden Händen schlägt sie darauf. »Hier! Welche Chance bekommt dieses Kind? Was ist seine Zukunft? Hunger und Armut! Arbeit und Armut! Arbeitslosigkeit und Armut! Eine Verschwörung ist das. Dort die Herren. Hier das Volk.« Wieder übernimmt der Gerber das Wort. Er schlägt den Arm um die Taille des Standbilds. »Wir sind Menschen. Vor Gott sind wir alle gleich. Warum dann nicht vor dem König? Vor dem Gesetz? Sie schicken uns zu den Hügeln von Montmartre, damit wir den steinhart gefrorenen Boden wie Sklaven umgraben. Unser Lohn: ein Brot und noch mehr Hunger. Sie laugen uns aus, damit wir den Mund halten. Aber das tun wir nicht. Wir kämpfen für unsere Rechte.« »Welche Rechte?« ruft jemand aus dem Publikum. »Das Recht zu krepieren!«
»Das Recht zu urteilen!« ruft der Gerber. »Heute werden wir Recht sprechen. Heute hängen wir Réveillon.« »Wer ist Réveillon?« frage ich Doppet. »Ein Fabrikant von Tapeten und Wandbehängen.« »Warum wollen sie ihn hängen?« »Weil er gut zu seinen Arbeitern ist.« »Das verstehe ich nicht.« »Die Wege des Volkes sind unergründlich.« Wir setzen uns auf eine kleine Mauer. Ich ziehe das Umhängetuch fest um meine Schultern und klappe mein Auge zu. »Réveillon«, sagt Doppet, »hat sich vom Arbeiter zum Industriellen hochgearbeitet. Er beschäftigt vierhundert Mann und bezahlt sie gut. Auch wenn die Arbeit ruht. Er denkt fortschrittlich. Aber er hat gesagt, daß ein Arbeiter von fünfzehn Sous am Tag leben kann, wobei ein Brot bereits fünfzehn Sous kostet. Er meinte damit, daß auch die Brotpreise sinken müssen, aber sie haben nicht zugehört. Sie hören, was sie hören wollen und was ihre Wut nährt. So geht das. Es gibt keine Vernunft. Die kann es nicht geben. Die darf es nicht geben.« Der Gerber und die schwangere Frau wiegeln einander auf. Es ist ein Duett in einer neuen Art von Musik. Die Gruppe wächst an. Aus Gassen und Straßen kommen Neugierige. Einige hören kurz zu und gehen weiter; andere bleiben stehen und geben ihren Kommentar dazu. Drei junge Männer schlagen die Arme umeinander und beginnen eine Parole zu skandieren. Mit ihren Füßen stampfen sie den Takt. In der Parole kommen viele kläffende A’s vor. Eine Frauenstimme fügt sich zu diesem Chor, hoch und schrill. »A bas les aristocrats! A bas les aristocrats!« Der Gerber ist inzwischen nicht mehr zu verstehen. Der Wind verweht jedes Geräusch, und um die Kirche fegen Asche und
Sand. Wir klettern auf die Mauer. Wenn jetzt niemand dieser Wut eine Richtung und ein Ziel gibt, wird sie sich selbst verzehren, und die Gruppe löst sich auf. »Auf nach La Folie-Titon!« ruft Doppet von unserem Standpunkt aus, seine Hände wie einen Trichter vor dem Mund. Er meint es nicht ernst, er ruft einfach nur irgend etwas, denn er lacht mir zu und stößt mich an. Es ist nur ein Spiel, Übermut. Aber der Mann vor uns, ein großer Kerl mit einem Brustkorb wie ein Bierfaß und einer tiefen Stimme, übernimmt den Aufruf. »Auf nach La Folie-Titon! Hängt Réveillon. Wandbehängt Réveillon!« Der Mann lacht brüllend über seinen eigenen Witz. »A bas les aristocrats!« Der Gerber hat es gehört, setzt seine Mütze dem Heiligen auf den Kopf und winkt mit dem Arm in Richtung des Vorortes Saint-Antoine. Er springt von seinem Sockel, gestikuliert, daß man ihm folgen solle, hebt seine Faust und geht voran. A bas les aristocrats! Hängt Réveillon. »Wir gehen mit«, sagt Doppet. »Für die Zeitung. Der vierte Stand fordert seinen Anteil an der neuen Zeit!« Schon bald sind wir nicht mehr die letzten. Von allen Seiten schließen sich Menschen an, ohne zu wissen, wohin die Masse sich bewegt. Ohne zu wissen, warum wir marschieren. Sie marschieren einfach mit. Es gibt nur einen Grund, warum ein mittelloser Haufen sich ein Ziel wählt, und das ist Brot. Die Hoffnung auf Plünderung zieht junge mit Stöcken bewaffnete Burschen an. Eine große Gruppe von ihnen läuft die Reihen entlang nach vorne und setzt sich an die Spitze des Zuges; sie haben aus Lumpen eine Puppe improvisiert und sie am oberen Ende eines Stocks aufgehängt. Es gibt immer irgend jemanden, der den Strang verdient. Jeden Tag ein anderer Name. Jeden Tag der gleiche
Name. Die Puppe baumelt wie eine Wurst vor der Meute. Händler holen ihre Waren herein und schließen hastig die Läden. Die Menge wird zu einer Stimme, die Masse zu Rhythmus. Als der große Körper Atem holt, höre ich während der kurzen Stille den Gegengesang eines anderen Heeres, das auf einem anderen Weg aufmarschiert und sich mit unserem vermischt. Einen kurzen Moment geraten die Parolen aus dem Takt, fügen sich dann aber schnell zusammen. Eine Trommel schlägt einen Wirbel. Manchmal rollt ein Geräusch wie eine Welle heran, worauf das »A bas les aristocrats« mit mehr Kraft als zuvor erklingt. Hin und wieder steht die Menge aus unerklärlichen Gründen still. Die Masse dickt ein, brennt an, kocht zu Sirup ein, bis plötzlich wieder Bewegung in die Menge kommt und das Gewebe auseinanderzieht. Dann suchen wir im Laufschritt Anschluß. Doppet hält meine Hand fest. Wir dürfen einander nicht verlieren. Er ist aufgeregt und fest entschlossen. »Die Masse ist ein Instrument der Veränderung. Wer die Masse in Bewegung setzt, organisiert die Zukunft. Hunger ist das Brecheisen, mit dem die alte Ordnung aufgebrochen wird.« »Der Hunger kommt dir gut zupaß!« Er grinst. »Es braucht nicht zu schlimm zu werden.« Zählen Menschen für ihn? Als ich mich umschaue, sehe ich nur Häßlichkeit, die er so haßt, Abstumpfung, primitive Habgier, atemberaubendes, unbegreifliches Anderssein. Es sind die Mäuler der Bettler in Haarlem, die Köpfe des Goldschmieds und seiner Magd, die Hure in Saint-Omer, die Aufständischen in Cambrai, die Waschfrauen, der Narr, der betrunkene Kerl, Hornmann. Es ist der entmenschlichte Mensch. Wir. Unser Kern. Und Ideale? In welchem Körperteil hausen sie? Wie werden sie – außer in Worten – sichtbar? Für wen hegt man sie und warum? Welche Fähigkeit zum Betrug und zur Selbstverleugnung läßt uns die Kathedralen der neuen
Zeit errichten, der Harmonie zwischen Körper und Geist, des Glaubens an Fortschritt und Güte? Das Geräusch summt in meinen Ohren. Ich höre die Glasplatten der Elektrisiermaschine. Es vibriert. Der Boden unter meinen Füßen bewegt sich, die Luft ist von einem Vibrieren erfüllt, die Luft ist ein Geschöpf. Wer nicht selbst zu Lärm wird, wird verrückt. Doppet ist in den ihn umringenden Wesen aufgegangen. Ein Körper, eine Stimme. Als ich beinahe hinfalle, packt mich der Kerl mit der Baßstimme und stellt mich auf meine Füße. »Fall nicht, Mädchen«, sagt er zärtlich, und ich entdecke einen humanen Zug an ihm, aber dann ruft er wieder: »A bas les aristocrats!« und ich erkenne seine Blutgier, die sich gegen jeden wenden kann. »Mach mit«, drängt Doppet, »sie könnten denken, daß du gegen das Volk bist.« Entschlossen presse ich meine Lippen aufeinander. Ich widersetze mich dem Geist der Massen, obwohl ich selbst diesen Geist mit meinem Auge und meinen apokalyptischen Prophezeiungen hervorgerufen habe. Wer trägt die Schuld in einer Masse? Wer ist verantwortlich? Alle und deshalb niemand. Das ist die Gefahr. Plötzlich fürchte ich mich sehr. Die Masse hat kein Gewissen und kein Gedächtnis. Gut und Böse sind austauschbar. Willkür. Was ist das: der Wille der Mehrheit? Jubel ergießt sich über mich, als die Menge auf zwei Karren mit Steinen stößt, die neben einer verlassenen Baugrube stehen. Die schwangere Frau erklimmt die Karre auffallend gelenkig, nimmt einen Stein, hebt ihn wie eine Opfergabe hoch und ruft mit schneidender Stimme, die der Wind über die Köpfe der wogenden Menge weht, zur Plünderung von La Folie-Titon auf, Reveillons Haus. Wir sind fast da. Wir haben
uns durch die Gassen gepreßt wie ein Bergbach durch eine Kluft, jagend, schäumend, immer schneller. »Bewaffnet Euch«, ruft sie, »bewaffnet Euch mit Empörung, mit Entschlossenheit, mit Glauben, mit Hoffnung, mit Steinen. Steine für Brot. Steine für Brot. Vorwärts.« Im Nu sind die Karren leer. Starke Männer haben die Frau heruntergehoben und tragen sie auf den Schultern wie eine Galionsfigur. Ihre Arme rudern wild, ihr Haar weht. Ich bekomme einen Stoß in den Rücken und muß Doppets Hand loslassen. Sie drängen vorwärts. Er wird von mir weggesogen, sieht sich nicht mehr um, schaut nur noch nach vorne, und ich habe ihn verloren. Panik. Mir schwindelt. Nicht in Ohnmacht fallen, sonst treten sie dich tot. Das Geräusch schwillt an und verebbt. Es schließt sich über meinem Kopf. Ich bin unter Wasser. Ich bekomme keine Luft mehr. Mühsam bewege ich mich quer zum Strom auf den Schutz der Häuser zu, wo der Druck weniger stark ist. Die Strömung zieht nach vorne, das Ziel spielt keine Rolle. Die Bewegung wird von einer unbekannten Quelle gespeist. Das also meinte Doppet. Das also liegt in uns verborgen. Wir kennen ihre Natur nicht und können sie nicht kontrollieren, aber sie ist immer vorhanden – auch wenn keine Hungersnot herrscht – unter der Kruste von Gewohnheiten und Ritualen, unter dem religiösen Freudentaumel einander ablösender Zukunftsträume, unter Haß und Liebe. Wir alle werden daran zugrunde gehen. »Verdammt!« schreie ich, aber niemand versteht mich. Dann steht die Menge plötzlich still. Die Nachhut drängt weiter nach vorn. Und ehe sie der Ruf »Les Gardes Françaises!« erreicht, sind vorne schon ein paar zu Tode getreten. In der Ferne sehe ich, wie ein Kind über die Köpfe hinweg weitergereicht – ein blasses geknicktes Köpfchen an einem Stiel, die Armchen schlaff – und in ein Haus geschoben wird. Eine Zeitlang stehen wir so. »Laßt uns durch! Laßt uns
durch!« ist der neue Ruf. Aber unter der Nachhut entsteht Aufregung. Die eine Stimme zerfällt in viele verschiedene. »Laßt sie durch.« »Wir können nicht. Es ist zuwenig Platz.« »Geh zurück.« »Geh zur Seite.« »Was wollen die Kutschen hier?« »Zum Pferderennen in Vincennes.« »Verdammich, wir krepieren, und sie fahren zum Pferderennen. Laßt sie doch umkehren.« »Laßt sie durch. Sie sitzen fest. Sie können nicht mehr zurück.« »Wir auch nicht.« »Es ist Orleans.« »Orleans!« Zwei Kutschen schwanken wie riesige Spinnen auf dünnen Beinen unter dem Druck der Menge. Man erkennt das Weiße in den Augen der Pferde, die ihre Köpfe im festen Zaumzeug unruhig auf und ab schütteln. Sie treten eher zur Seite als nach vorne und bringen dadurch ihre Ladung aus dem Gleichgewicht. Der Kutscher schlägt mit der Peitsche um sich. Als sich die Kutschen überhaupt nicht mehr bewegen können, wird der Vorhang beiseite geschoben, und es erscheint der jovial lachende Herzog von Orleans. »Was ist denn los?« ruft er. Sein Haupt ist sauber und rosig und wohlgenährt, seine Perücke frisch gepudert, seine Weste spannt sich über dem Bauch. Seine Hände sind zart und mit duftiger Spitze umhüllt. Er schaut sich vergnügt um, als würde nur für ihn ein lustiges Theaterstück mit vielen Statisten und besonders realistischen Kostümen aufgeführt. Es wird still rund um die Kutsche. Hier und dort nimmt jemand seine Kopfbedeckung ab. Auge in Auge mit einem solch hohen Herrn zeigt sich der Respekt des
Sklaven vor dem Meister. Aber eine Frau tritt vor und erzählt freimütig, daß das Volk nicht länger wartet. Es nimmt sich seine Rechte, wenn sie ihm nicht gegeben werden. Orleans betrachtet sie mit deutlichem Vergnügen. Er wartet, bis sie zu Ende gesprochen hat, klatscht höflich zweimal in die Hände, greift dann ins Innere der Kutsche und wirft eine Handvoll Goldstücke unter die Umstehenden. Eine andere Antwort kennt Orleans nicht. Eine andere Antwort kennt die Regierung nicht. Und wenn man Hunger hat, spielt eine Erniedrigung mehr oder weniger keine Rolle. Er ist der Sieger. Große Kerle nehmen die Pferde bei der Kandare und treiben die Menge auseinander. Vorsichtig setzen sich die Kutschen wieder in Bewegung. Um die Goldstücke entstehen Prügeleien. Sie reißen sich gegenseitig die Kleider vom Leib. Mehr! Mehr! Mehr! Und wieder streut Orleans Gold um sich. Sollen sie darauf verzichten? Wird Orleans überleben? Es ist unwichtig. Ihm jubeln sie zu, und Réveillon wollen sie hängen! Worum geht es? Was kann man vom Pöbel erwarten, dem es an Logik mangelt? Sie sind für alles zu haben, messen Ideen in erster Linie an ihrem Nährwert. Wer verspricht ihnen Brot, wer verspricht ihnen Blut, wer verspricht ihnen Rache? Ihm folgen sie. Zweifel machen schwach, und das schwächste Tier der Herde wird als erstes gejagt. Als die Kutsche an mir vorbeifährt, fange ich seinen Blick auf. Erkennt er mich? Ich trete aus der Masse und aus meiner Zeit hervor. Dieser Augenblick ist ewig. Ich bin ein Faden im Gewebe der Geschichte. Im Kielsog der Kutschen schließt sich die Menge wieder und dringt durch das Loch in den Reihen der Gardes Françaises. Die Barriere ist niedergerissen. Das Wasser rauscht und strömt durch den Spalt. Unter Jubelschreien wird La Folie-Titon erreicht.
Schwindelig lehne ich mich an eine Hauswand und bleibe dort stehen. Kann nicht mehr zurück, will nicht mehr vorwärts, bekomme Atembeklemmungen. Réveillons Haus wird geplündert, die Möbel auf die Straße geworfen und angezündet. Die Gardes Françaises erhalten Verstärkung. Während Rauchwolken herüberwehen und sich der Brandgeruch schwer auf meine Kehle legt, fallen trockene Schüsse. Die Soldaten schießen direkt in die Menge. Zwischen den Schüssen herrscht einen kurzen Augenblick unheilvolle Stille. Niemand glaubt, was da geschieht. Frauen, die aus den Fenstern hängen, um den Menschenstrom zu beobachten, schreien auf. Panik bricht aus. Ich drücke mich in eine Nische in der Hauswand. In einer Fluchtbewegung drängt die Menge in die andere Richtung. Menschen schieben und treten, straucheln, rappeln sich auf. Es ist kein Durchkommen mehr. Aber die Garde schießt weiter auf die menschliche Mauer. Geheul, Geschrei. Die Wut kennt keine Richtung mehr, dreht sich wild in den Köpfen. In Todesangst schubsen sich die Menschen gegenseitig in die Schußlinie. Ich schaue und schaue und sehe Leichen. Blut. Jemand kniet bei einem Toten nieder, wird kniend von einer Kugel getroffen und fällt tot über den Toten. So wird es immer sein. Das ist der Mensch. Dazu wird er getrieben. Dies tut er. Dies passiert ihm. Ich strecke meine Hände wie eine Blinde von mir und gehe vorwärts, bis ich blindlings um eine Ecke biege, eine Tür aufstoße und im Schutz eines Portals niederfalle. Mit meinen Armen um meine Knie, meinem Kopf auf meinen Händen, meinem Atem auf meinen Beinen, bleibe ich sitzen und versuche, nicht mehr zu denken.
Spuren: Kopfsteine, die mit bloßen Händen aus dem Pflaster gezogen und auf die Soldaten geworfen wurden, Schuhe
derjenigen, denen auf die Hacken getreten wurde, Lumpen, Holzstücke, Fetzen von Kleidungsstücken, eine Uniformjacke, Stoffstreifen, Knäuel, Blutflecken, Löcher in den Mauern. Und Tote, die niemandem gehören; ein Karren fährt ab und zu vor, um sie wegzuräumen. Bettler stochern mit Stöcken in den qualmenden Überresten von Réveillons Besitz. Frauen suchen ratlos nach ihren Männern, Männer nach ihren Frauen. Das ist die Natur. Wir wollen Rousseaus Idylle, wir arrangieren unsere Gärten zu einer sorgsamen Wildnis, um unseren Ursprung zu imitieren, aber das ist lächerlich und verlogen. Die Natur ist das, was ich hier sehe. Zu diesem Ursprung kehren wir immer wieder zurück. Es ist von grauenerregender Schönheit. Neunhundert Tote, höre ich. Es muß sich um eine Schätzung handeln. So schnell können sie nicht zählen. Zahllose Verwundete. Die Krankenhäuser sind voll. Der König schweigt, sagen sie. Der König jagt oder ißt oder tanzt oder baut seine Schlösser. Was soll der König auch sagen? Und warum legt man auf seine Meinung Wert? Ich höre jemanden sagen: »Wenn wir uns dies nicht sorgfältig merken und unseren Kindern und Enkeln erzählen, wird dieser Tag aus dem Gedächtnis der Menschheit gestrichen, denn die Geschichte liegt in den Händen der Machthaber.« »Du bist Buchhändler«, antwortet jemand, »schreib du es auf.« Die Bilder wiederholen sich vor meinem inneren Auge und werden in mein Gedächtnis gebrannt. Ich werde es behalten. Ich werde es erzählen. Der Mensch ist. Nicht gut. Nicht schlecht. Er ist. Er will sein. Und dieser Wille zum Sein macht ihn zum Feind. Er wendet sich gegen sich selbst. Wie soll ich es erklären? Wenn das, was man selbst als gut erachtet, gut ist, dann kann alles gut sein. Jede Offenbarung und jeder Gott, jede Wahrheit ist eine Waffe. Alles ist umkehrbar. Wenn das so ist, gibt es keine Hoffnung auf Liebe. Ich will nicht, daß es
so ist. Ich weiß es nicht mehr. Gott, mein Gott, an den ich nicht mehr glaube, ich sehe, aber kann nicht sprechen. Ich entsage der Worte, verzichte darauf.
Stundenlang irre ich durch die Stadt auf der Suche nach Doppet. Ich bin eine Maschine. Von innen kommt die Kälte. Nie mehr Wärme. Stumpf, leer, tot. Aber meine Sorge um sein Schicksal deutet auf einen Rest von Empfindung. Natürlich fühle ich. Ich bin nichts als Gefühl. Mit Vernunft hat diese Denkensart nichts mehr zu tun. Auch nicht mit dem Tod. Hier handelt sich alles um das Leben. Was ich empfinde, ist der Schmerz des Lebens und nicht der des nahenden Todes. Denn der Tod naht, oh ja, er naht. Er hat mein Auge angegriffen und haust in der dunklen Nische dahinter, wo kein Bild hingelangt. Dort fällt er mich an, dort verspottet er mich. Das Licht und die Sicht wird er mir als erstes nehmen, der mißgünstige Tod. Und dann Stück für Stück den Rest. Er wird sich mit schwarzen Tentakeln in meinem Gehirn ausbreiten und meinen Geist aushöhlen, erobern. Aber ich werde mich wehren. Ich werde ihm nicht kampflos in die ewige Nacht folgen. Falls er nicht bei Marie Cercueil ist, kann ich zumindest im Duft ihrer Küche und in der Berührung ihrer Hand Trost suchen. Sie öffnet selbst. Erschreckt sie mein Gesicht? Ich habe meine Augenklappe um. Sie zieht mich herein, schlägt ihre Arme um mich und wiegt mich hin und her. »Kind, Kind, Kind«, ist alles, was sie sagt. »Ist er hier?« Ich kann kaum noch sprechen. Mein Gesicht ist steif. »Gott sei Dank, daß du da bist. Ja, er ist hier. Gott sei Dank, daß du da bist.« »Wo ist er?« Ich will mich aus ihrer Umarmung lösen, aber sie hält mich zurück.
»Warte.« »Was ist mit ihm? Ist er tot?« »Nein, er ist nicht tot.« Sie schweigt und zögert. »Komm mit«, sagt sie. Sie führt mich durch das Eßzimmer, wo das Geschirr mit den Speiseresten noch auf dem Tisch steht, durch die Küche, wo ein Kessel mit Wasser über dem Feuer brodelt und in einer Schüssel blutige Lappen liegen, über einen Innenhof zu einer Tür, die nur angelehnt ist. In der dahinterliegenden Kammer brennt Licht. Marie klopft an. »Ja.« Es ist Marats Stimme. »Hier ist Mademoiselle Elisabeth.« »Endlich«, sagt Marat. Er öffnet die Tür. Sein mottenzerfressener Pelzkragen hängt schief um seinen Hals. Die Haare kleben ihm an der Stirn. Rote Flecken verschandeln sein Gesicht. »Was ist passiert?« frage ich, während ich über die Türschwelle trete. Ich registriere alles, wie beim Betrachten eines Gemäldes. Kein Detail entgeht mir. Wenn jemals irgend etwas sicher ist, dann bin ich mir sicher, daß ich dieses Bild bis zu meinem Tod zu jedem beliebigen Augenblick wieder hervorrufen kann, und ich fürchte, daß es mir auch ungewollt vor Augen stehen wird. Die Kammer ist bis auf einen Tisch und ein Sofa leer. Auf dem Boden steht die gleiche Zinnschüssel mit blutigen Lappen wie in der Küche, daneben ein Messer und eine Schale Wasser. Ich rieche Spiritus. Alle Kerzen und Öllampen aus Maries gesamtem Haus brennen und werfen ein theatralisches Licht auf den Mittelpunkt der Vorstellung. In Doppets Schoß, der auf dem Bett sitzt, liegt ein engelhaft schöner junger Mann, den Kopf nach hinten, den bleichen, blauen Tod um die Lippen, in der Mitte des nackten Oberkörpers eine offene
Wunde mit dunklem geronnenen Blut an den Rändern. Es ist Antoine Lebrun. »Durch meine Schuld, durch meine Schuld«, flüstert Doppet, und er streichelt die schwarzen Haare des Jungen, der jetzt nicht mehr lächelt. Neben mir krächzt Marat mit verhaltenem Triumph: »Es hat begonnen, Elisabeth. Es hat begonnen!« Der weiße Berg. Voller Verlangen und viel zu schnell stieg er hinauf zum Col des Aravis. Das Wetter war so klar, daß die Entfernungen kürzer erschienen. Die Landschaft drängte sich ihm förmlich auf. In der Tiefe glänzten die Dächer von La Clusaz wie Kupfer, und auf dem Kirchturm konnte er das Muster der Schieferplatten erkennen. Das Kreuz spiegelte und reflektierte den Schein der Frühlingssonne. War dieses Gotteshaus seiner Aufmerksamkeit entgangen? Die Glocken läuteten, ihr Klang rollte unschuldig und freimütig über Felder voll zartestem Grün, und der Hirte, der seine Schafe weidete, nahm den Hut ab und betete das Angelus. Doppet rief ihm zu: »Sobald ich zurückkomme, sind auch eure Glocken an der Reihe.« Der Hirte vermutete einen Gruß und winkte. Doppet brach in Lachen aus. Auf seinen Befehl waren in ganz Savoyen die Kirchen demontiert worden, hatte man das Gold und Silber der Monstranzen und Kelche eingeschmolzen und als klingende Münze in die Kassen der Revolution eingezahlt. Die neue Zeit hatte ihren Preis. Selbst wenn der Hirte seine Worte verstanden hätte, würde er immer noch keine Ahnung haben von der Macht, mit der er, Doppet, hier ein einsamer Wanderer, unten in Annecy ausgestattet war. Der Hirte weidete seine Schafe und betete das Angelus um sechs Uhr und um zwölf Uhr und um sechs Uhr noch einmal; und ob es nun Glocken gab oder
nicht, er würde auch weiterhin sein Dankgebet sprechen, zur Not auch nach dem Stand der Sonne. Was änderte sich also? Doppet rief sich selbst zur Ordnung. Es hatte sich viel verändert. Der Hirte gehorchte nun einem anderen Herrn: der französischen Republik und dem französischen Volk, zu dem er seit kurzem gehörte. Er durfte seine Abgeordneten für die Nationalversammlung und die Gemeinden wählen, er durfte seinen Bischof bestimmen. Er war autonom an Leib und Seele. Seine Kinder würden von einer guten Erziehung profitieren. Er durfte nur seinen Käse nicht mehr in Aosta und im Piémont verkaufen, und Weizen durfte nicht mehr nach Genf ausgeführt werden. Aber dies geschah zu seinem eigenen Besten. Doppet winkte einen Gruß zurück und blickte hinauf zum Paß über ihm, eine Beule in den Felsen, und in den Himmel, der so blau war wie die Augen von Maaike Lestevenon. Nach zwei Tagesreisen hatte er seinen alten Rhythmus gefunden, auch wenn Schneereste sein Tempo behinderten. Er war wieder der Junge, der, geschmeidig wie ein Steinbock, die Berge als seinen Lebensraum betrachtete. Die Natur ist, dachte er. Nichts leitet sich daraus ab, keine Sehnsucht und keine Angst. Wir können sie nicht für uns in Anspruch nehmen. Diese Gegebenheiten sind moralisch und ästhetisch neutral, seit man sie von der Theologie befreit hat. Erst jetzt hat der Mensch seine Bestimmung erfüllt und ordnet den Dingen Eigenschaften und Werte zu, erst jetzt schafft er sich ein unschuldiges Universum. Die Zukunft stand Doppet klar vor Augen. Warum dann die Rückkehr an die Hänge seines Parnaß? Welches Verlangen trieb ihn? Er war Teil der Natur und teilte ihre blinde Vitalität, aber zugleich war er ihr Betrachter, ihr Schöpfer, ihr Maßstab. Wie sollte diese Pilgerfahrt den Widerspruch auflösen? Weg mit den Gedanken. Weg mit dem Denken.
Je höher er kam, desto mehr nahm seine Erregung zu. Als ob er kurz davor stand, eine Geliebte zu treffen, die sich mehr als zwanzig Jahre vor ihm versteckt hatte. Er stellte sich vor, wie es sein würde. Von der Aiguille Verte bis zum Mont Tondu würde er das Massiv mütterlich vor sich liegen sehen, hoch hinausragend über die weite Umgebung, Raum schaffend, weiß und gut. Natürlich kannte er die Gefahren der Berge wie kein anderer, die Freundlichkeit des Montblanc war ebenso sehr Schein wie die Liebe derer, die seine Leidenschaft beantwortet hatten. Aber er war bereit zu jeder Art von Betrug, um die Harmonie und die Lebenslust der Vergangenheit zurückzugewinnen. Kurz bevor er den Paß erreichte, begann er unbändig zu zittern. Seine Knie knickten ein, sein Herz überschlug sich; er bekam keine Luft mehr. Die Riemen der Schubladenkiste schnitten in seine Schultern und verhinderten den freien Durchfluß des Blutes zum Gehirn. Die Last absetzen. Tief bücken, den Kopf zwischen die Knie und Atem holen. Tief. Tief. Die kalte Luft verursachte einen heftigen Hustenreiz. Er setzte sich neben die Kiste und blickte auf die Weiden, auf denen zwischen Flecken mit altem Schnee Frühlingsblumen standen. Er lauschte auf einen Willkommensgruß der Natur. Nach langen Wanderungen war er zurückgekehrt, an die Schwelle seines Vaterhauses, der verlorene Sohn. Er streckte sich auf dem kalten Boden aus und schloß die Augen. Als der Pfad, ein schmaler Sims entlang der Bergwand, ein wenig breiter wurde, gab er seinem kleinen Pferd die Sporen. Er würde zeigen, was er konnte, wie behende sie beide – Reiter und Pferd – die Schwierigkeiten meisterten und wie schnell sie waren. Wo die Bergwiese begann, wollte er warten, bis Vater, der ihm überrascht folgte, ihn wegen seines Mutes loben würde. Er stieß dem Pferd die Hacken in die Flanken, zog die
Zügel an und stieß einen Triumphschrei aus, als das Tier ohne Zögern gehorchte. Seine Knie schrammten die Felswand entlang. Einen kurzen Augenblick sah er das Weiße in den Augen von Vaters Pferd. Er hörte ein Wiehern. Er drehte sich um. Es bäumte sich auf. Vater verlor das Gleichgewicht, griff noch hastig mit wildem Blick nach den Zügeln, die er zu locker gehalten hatte, fiel dann. Zuerst stürzte er auf den Rand der Steine, die den Pfad begrenzten. Der Schädel brach hörbar. Danach fiel der Körper in die Tiefe, ab und zu im freien Fall, dann wieder an der Felswand aufprallend. Es dauerte nicht lange, nicht länger als ein Blick über die Schulter. Es schien gar nicht geschehen zu sein, während sein Pferd weitertrabte und erst am Rande der Wiese zum Stehen kam, dampfend und schnaubend, wie überwältigt durch die plötzliche Aussicht auf den weißen Berg. Gleichzeitig geschah es immer und immer wieder. Als er sah, wie Antoine Lebruns Blut zu fließen aufhörte und sich trotz seiner Versuche, die Kugel zu entfernen, dunkelrot färbte, wußte er, daß die alte Schuld nicht beglichen war. Es kam kein Zeichen der Versöhnung oder Kapitulation. Wenn dies der Stand des Kampfes war, wußte er, was er tun mußte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seine eigene Halbherzigkeit zu verbannen. Weg mit denen, die Mitleid zeigten, weg mit denen, die – schlimmer noch – ihn liebten, weg mit dem Weichen, Schwachen, Biegsamen, dem Zärtlichen, weg mit Ironie und Lachen. Er war Eulenspiegel gewesen und hatte im Betrug seine Freiheit gefunden; aber Eulenspiegel war ein Moralist, aus Spott wurde Ernst, der ihn schließlich einholte und dazu zwang, seine betrügerische Freiheit einzutauschen gegen die Kälte der Geradlinigkeit, die unantastbare Wahrheit eines Ideals, welches die Schuld für alle Dinge, die in seinem Namen geschehen waren, auf sich nahm.
Danach gab es kein eifrigeres Mitglied im Klub der Cordeliers und Jakobiner als ihn, den Freibeuter Doppet, keinen kompromißloseren Anhänger der Revolution als den Zyniker Doppet, keinen treueren Adepten des Advokaten aus Arras als den Opportunisten Doppet. Das persönliche Schicksal wurde zugunsten des Gemeinwohls zurückgestellt. Es war diese nachträgliche Auslegung, die den Tod erträglich machte. Sie hatte ihm einen Weg gewiesen, dem er noch immer folgte und der ihn vorläufig zu seinem Geburtsort zurückführte. Es gab keinen anderen Grund, den Berg sehen zu wollen, als die Inspektion der Grenzen seiner Gerichtsbarkeit. Keinen anderen Grund. Er erinnerte sich an den Beginn der Revolution. Im Klub der ausländischen Patrioten, der fast ausschließlich aus Verbannten bestand, traf er Savoyer wie ihn selbst, die nicht nur von der Notwendigkeit der Veränderung überzeugt waren, sondern darin auch eine Gelegenheit zur Rache für ihre Lebensumstände sahen. Sie gründeten nach dem Vorbild der Bataver den Klub der Allobrogen, nahmen teil am Blutbad in den Tuilerien vom zehnten August 1792, das das Ende der Monarchie einläutete, und zogen aus, um dem sich nach Befreiung sehnenden Savoyen die Segnungen der Revolution zu bringen. »Das französische Volk respektiert euren Leib, euer Gut, euer Eigentum, es bietet euch die Freundschaft und kommt, um mit euch das kostbarste Gut des Menschen zu teilen, wonach Hoffen und Sehnen immer trachten, sogar im Herzen eines Sklaven: der Freiheit«, schrieb General Doppet in einer Proklamation, die am Abend des Einmarsches erschien. Die Armeen des Herzogs von Savoyen waren weder in den Feldern noch auf den Straßen zu finden; sie zogen es vor, bei Nacht und im Regen nicht zu kämpfen. Ohne Stoß oder Schlag zogen die Allobrogen und die Franzosen ein. Die Bevölkerung
begrüßte die durchweichten Soldaten mit Begeisterung. Aber viele Patrizierhäuser waren leer. Reiche Bürger flohen vor der Freiheit. Unter den Arkaden der Rue Sainte-Claire in Annecy war es trocken. Auf den gepflasterten Dielen versammelten sich Kaufleute, die frühmorgens ihre Waren ausbreiten wollten. Der Rest der Straße war eine Schlammpfütze, in die der Regen große Blasen schlug. Hier und dort sorgte ein Bürgersteig für einen trockenen Übergang. Es schien nicht Tag werden zu wollen. Die Berge und der See waren in Wolken gehüllt. Das Schloß, das auf einem steilen Hügel am Rande der Altstadt wuchs, verschwand im Nebel. Zielbewußt bahnte sich Doppet einen Weg durch die Käufer und Verkäufer, die ihm nachstarrten und sich fragten, welche Beschränkungen die neue Ordnung bringen würde. Er blieb vor einem hölzernen Tor stehen und griff nach der Klinke. Vielleicht hatte der Knecht trotz der frühen Stunde den Riegel schon entfernt. Er drückte die Tür auf und befand sich in einem Durchgang mit schimmeligen Wänden. Danach kam er in einen kleinen Innenhof. Stille. Nur das eintönige Geräusch des Regens. Glänzendes Pflaster. Eine nasse, magere Katze überquerte den Hof und verschwand hinter einem Stapel Holz. Die Läden der meisten Fenster waren geschlossen. Zuhause. Das eigenartigste Wort, das er kannte. Wie stellte er es sich vor? Nein, kein warmes Willkommen, eher ein Empfang, der seiner Position als verachtetes Mitglied der Familie und General einer Besatzungsarmee gerecht würde. Oder hatten sie die Prinzipien der Revolution angenommen? Auch das würde ihn nicht überraschen. Wie auch immer, er kam zurück, ausgestattet mit Macht und Autorität, er kam, um die neuen Regeln aufzustellen. Darauf freute er sich. Aber die Läden waren geschlossen.
Er stieg über die Steintreppe zum Portal und klopfte mit seinem Stock gegen die Tür, über der sich in einem halbrunden Fenster das Familienwappen drohend dem Besucher entgegen neigte. Lasciate ogni speranza voi che entrate dachte er, genau wie früher, als er jung war. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. »Es ist niemand zu Hause«, sagte der Diener. »Erkennst du mich nicht?« Doppet stellte seinen Fuß zwischen Tür und Rahmen. Der Diener sah ihn prüfend an und schüttelte dann den Kopf. »Wo ist die Familie?« »Wer seid Ihr?« Doppet drückte die Tür weiter auf. Der Diener wich zurück. »Geflohen?« Der Diener nickte. »Ich soll das Haus hüten.« Geflohen. Auf daß ihre Reise voller Entbehrungen sein möge, daß Räuberbanden ihre Koffer voller Geld plünderten, daß ihre Töchter vergewaltigt würden, daß sie von Dorf zu Dorf ziehen mußten und nirgends eine Zuflucht fänden. »Jetzt ist es mein Haus«, sagte Doppet. Der Diener wurde rot und stammelte einen Protest. »Es kommt mir von Rechts wegen zu. Ich bin Dieudonné Doppet.« Der Mann schluckte. »Monsieur Dieudonné!« Größeres Erschrecken war nicht denkbar. »Euer Herr Großvater ist noch im Haus. Aber er ist krank. Er kann das Bett nicht verlassen.« »Laß mich zu ihm.« Doppet schob den alten Pierre beiseite und ging durch die abgetakelten Zimmer. Wo hatten sie so schnell die Teppiche versteckt und die Möbel, die Gobelins und die Schränke, die Gemälde und das Porzellan? Selbst die Vorhänge waren abgenommen und verschwunden. Seine Schritte klangen hohl. Pierre versuchte, ihm zu folgen.
»Ich muß Euch ankündigen. Er hat Probleme mit dem Herzen. Wartet doch bitte einen Moment.« Der alte Potentat war geblieben. Wie alt? Wie krank? Wie hinfällig? Es war ihm egal. Die Enttäuschung über die Flucht der Familie verschwand. Es ging letztendlich um Großvater. Alles andere war nur schmückendes Beiwerk. Die Vorhänge des Bettes waren halb geschlossen. Doppet trat beim Näherkommen gegen einen vollen Nachttopf. Pierre wischte mit dem Saum seiner langen Schleppe den Urin auf, drückte die Fensterläden auf, so daß graues Tageslicht ins Zimmer fiel, und warf den leeren Topf in den Innenhof. Doppet stand neben dem Bett und sah auf den alten Mann nieder. Mit einer Hand konnte er ihn unter einem Kissen ersticken, so zart und zerbrechlich wirkte er, so wenig Widerstand versprach er. Keine Kraft mehr, kaum noch ein Körper, die Seele nicht mehr als ein Atemzug. »Glaube nicht, daß du meiner Aufmerksamkeit entflohen bist.« Die Augen waren überzogen mit dem Schleier des Alters, aber in seinem Blick fand man immer noch Leben und Herrschsucht. Die Stimme war heiserer, als er sie in Erinnerung hatte. »Ich bin dir gefolgt, wohin du auch gingst.« »Warum?« Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete ihn der alte Mann und sagte: »Ich habe das Urteil widerrufen lassen. Frage nicht, was es mich gekostet hat.« Diese Mitteilung war ein Schlag von hervorragender Qualität. Monseigneur de F. hatte ihn seinerzeit, aus Rache für seine Untreue, der Sodomie beschuldigt. Wie er bis dahin angenommen hatte, war seine Freilassung einzig und allein der Furcht des Vikars vor einer Gegenklage zu verdanken. Zu viel der Ehre.
»Warum habt Ihr Euch eingemischt?« Was wollte er hören? Weil ich dich liebe, mein Junge? Um im Angesicht des Todes noch einmal den Geschmack des Sieges auszukosten? »Du hast deiner Familie Schande gemacht und dein Talent verschleudert. Und Gott weiß, daß du jedes Vergehens schuldig bist, für das man dich hängen will; aber keines meiner Kinder und keiner meiner Enkel wird meinen Namen im Gefängnis in den Schmutz ziehen. Deine Strafe kommt noch.« Als Junge war er von hier fortgegangen. Nun stand er als Mann seiner Vergangenheit gegenüber, die verschrumpelt und kraftlos in den Kissen hing. Er mußte niemandem Rechenschaft ablegen. Er mußte nichts ungeschehen machen, was nicht mehr ungeschehen zu machen war. Er trug nicht einmal den Namen seines Großvaters. In seinem Kopf hämmerte es, seine Hände zitterten, und nur die Anwesenheit des Knechts hielt ihn von einer Gewalttat zurück. »Du hast dich von deinen Leidenschaften leiten lassen. Aber sie haben dich nicht glücklich gemacht. Züchtigung, Askese, Disziplin. Es hat dir an allem gefehlt.« »Es hat mir an Liebe gefehlt.« Es war die Wahrheit, nach der diese Konfrontation verlangte. Und ohne es zu wollen, glich das Ganze einer flehentlichen Bitte. Oder würde Großvater es als einen Vorwurf auffassen? War Liebe von Belang in der Welt des Anstands? Ein lange nicht benutztes Lächeln brach das Gesicht des alten Mannes auf. »Das weiß ich. Deine Art von Liebe hat immer den Tod zur Folge. Wenn du mich tötest, wird das ein neuer Beweis dafür sein.« Nach all den Jahren brachte ihn der Alte immer noch innerhalb von fünf Minuten zur Raserei. Großvater wußte alles und verdrehte alles. In seiner Phantasie drückte er die magere
Kehle zu und las in den hervorquellenden Augen die Angst vor Gottes Urteil. »Du bist ein Flüchtling, mein Junge. Ideen jagen dich vor sich her, angeblich hin zu einem bestimmten Ziel, zum Heil, zum Glück, aber du entfernst dich immer weiter von der Ruhe, die die Seele in Gott findet.« Mit Macht drängten sich ihm Erinnerungen auf an die Drohungen, die Strafen, den Verrat und die Scheinheiligkeit. Ruhe! Mit dem allgegenwärtigen doppelzüngigen Gott der Anständigen hatte er gekämpft, sein Leben lang, und in ihm sollte er seine Ruhe finden? »Meine Ideen bringen Freiheit und Selbstachtung. Glaube knebelt und demütigt.« »Was für eine Sprache, mein Junge. Welch mächtige Gefühle. Hochmut.« Großvater hustete und sank noch tiefer in die Kissen. Seine seltsam große, knochige Hand winkte schwach. »Ich bin müde. Dies Haus gehört dir. Ich schenke es dir, bevor du es mir nimmst.« Selbst dieses Vergnügen gönnte er ihm nicht. Doppet stand neben dem Bett und schaute auf ihn nieder. Seine Wut verflog, ein ganzes Leben voller Streit versank unter der Gebärde dieser Hand. Es lohnte die Mühe nicht mehr. Er war nur ein alter Mann, der nicht mehr lange zu leben hatte. Man konnte daraus keinen Gewinn mehr ziehen. Kein Recht mehr bekommen. Es war unwiederbringlich. Warum hatte er sich auf diesen Moment gefreut? Er drehte sich um. Liebe. Auch so ein Wort wie »Zuhause«. In diesem Wort ließ sich nicht wohnen. Da waren Spiegel, die das schwache Licht nicht reflektierten, sondern schluckten. Vage Schatten bewegten sich darin. Dort, wo keine Spiegel standen, hingen Vorhänge aus pfauenblauer Seide, rotgoldenem Brokat und schwarzem Bombasin. Auf dem Fußboden lagen orientalische Teppiche, in die Zeichen
eingewoben waren, die er zu entziffern suchte. Es war warm. Seine Sinne waren wie in Tücher eingewickelt. Vage erkannte er, daß ihm die alte Frau zuwinkte, die ihm geöffnet hatte. Ihr Haar war zu verworrenen Krausen und Löckchen festgesteckt; mit einer Hand hielt sie ein Umhängetuch zusammen, das ihr Fleisch vor dem Auseinanderfallen bewahrte. Plötzlich verschwand sie. Hinter einem Spiegel führte eine Treppe nach unten, und er folgte ihr. Es raschelte und flüsterte in dem Keller, es bewegte sich mit kleinen Bewegungen, es zitterte, es glitzerte und glänzte hier und dort, es wurde heller, er roch den Duft eines warmen Stalles, Heu, Stroh, Kot, Schweiß, Schlaf. Wieder Vorhänge und Spiegel, aber auch menschliche Wesen in Betten, als ob er in einen überfüllten Krankensaal gekommen war. Zwei, drei zählte er in jedem Bett. Viele Arme und Beine, Köpfe und Haare durcheinander. Du kannst wählen, sagte die Frau. Sie gähnte und setzte sich, ließ ihr Fleisch los und quoll wie ein monumentaler Pudding über die Ränder ihres Hockers. Du kannst wählen. Würde das seinen Hunger stillen? Oder seine Wut dämpfen? Er schaute sich um. Alles Frauen. Zum größten Teil jung. Schlafende Frauen, denen im Schlaf Züge von Unzufriedenheit und Koketterie um den Mund spielten. Erschöpfte Bacchantinnen mit Porzellanbrüsten und rotbemalten Lippen. Grotesken. Er hörte unterdrücktes Kichern, als ob sie sich schlafend stellten, nur um jeden Augenblick in einen ekstatischen Tanz auszubrechen, ihn hochzuheben und zu den Hängen des Kithairon zu führen, wo sie ihn triumphierend zerreißen würden. Er schmeckte Blut. In einer Ecke lag eine große Frau mit langen schwarzen Haaren. Sie lag auf dem Rücken, mit von sich gestreckten Armen und gespreizten Beinen. Das Laken war hochgeschoben und bildete eine Draperie über ihrem Gesicht und Oberkörper. Ansonsten war sie nackt. Zwischen ihren Beinen lag, zusammengerollt wie ein Fötus, ein junges Mädchen; ihre
Hand lag an der Stelle, aus der sie gerade erst geboren zu sein schien. Er fühlte seine Erektion wachsen. Die will ich, sagte er. Der Angstschweiß brach ihm aus. Sie kommt, sagte die Frau. Geh schon mal nach oben. Während er die Treppe hochlief, hörte er hinter sich, wie sie aufstand und sich reckte und seufzte und sich ihm mit einem leisen Geraschel von Batist näherte. Seine Sinnesorgane hatten sich wieder erholt, aber er wagte es immer noch nicht, sich umzublicken. Voller Vertrauen ergriff sie seine Hand. Wie heißt du? fragte er. Sie gab keine Antwort. Wie heißt du? Er drehte sich um. Sie sah ihn an, hielt den Finger vor die Lippen und danach gegen ihre Ohren und schüttelte den Kopf. Er erschrak.
Doppet öffnete die Augen und bewegte seine steifen Gliedmaßen. Die Kälte war ihm bis in die Knochen gedrungen. Denken war übergegangen in Schlafen. Das war gefährlich im Gebirge. Er mußte weiter. Aber als er aufzustehen versuchte, wurde ihm schwarz vor Augen, und es rauschte in seinen Ohren. Er lehnte sich gegen die Schubladenkiste und wartete darauf, daß es vorüberging. Er verbannte den Traum vom Bordell aus seinen Gedanken und nahm wieder den Faden seiner Erinnerungen auf. Das Regierungsvakuum in Savoyen wurde schnell mit Volkskommissaren überbrückt, die sich über die politischen Klubs nach oben gearbeitet hatten. Aber ihr Elan reichte nicht aus, um die republikanischen Einrichtungen dauerhaft zu begründen und die neuen Gesetze auszuführen. Schon bald kehrten die alten Beamten auf ihre Posten zurück und leisteten in vielen Fällen passiven Widerstand, so daß der Baum der Freiheit, den man so überwältigend schnell gepflanzt hatte, nur schlecht Wurzeln schlug. Die bäuerliche Bevölkerung blieb ausgeschlossen von Macht und Morden. Paris diktierte, daß die
Revolution mit Händen und Füßen verteidigt werden müsse. »Man muß deutlich zu verstehen geben, daß eine revolutionäre Regierung keinen Kriegs- oder Belagerungszustand darstellt, sondern den Übergang vom Schlechten zum Guten, von der Korruption zur Unbestechlichkeit.« Unverdächtige Neuerer wanderten umher, um für die Sache zu werben. Und um deutlich zu machen, daß es mit der Gleichheit ernstgemeint war, wurden die Besitztümer der Reichen beschlagnahmt und die Besitzer gefangengesetzt. Allein radikale Maßnahmen konnten die Erinnerung an das frühere Übel ausrotten. Die Namen von Tagen, Monaten, Jahren, Straßen und Dörfern wurden geändert; das Land wurde säkularisiert. Die neue Regierung machte aus den Kirchen Gemeinschaftsräume, Krankenhäuser und Schulen, schleifte die Ornamente und gebrauchte sie für praktische Zwecke. Priester wurden verfolgt und verbannt. Kein Kult außer dem für die Republik. In Annecy sammelte Doppet drei-hundertvierunddreißig Kirchenglocken aus der weiteren Umgebung, stellte sie öffentlich aus und ließ sie im Triumphzug zur Gießerei bringen. Er gab den Befehl, Wände und Böden der Kathedrale zu reinigen, um Salpeter zu gewinnen, und entwarf Pläne zur Industrialisierung des Gebietes. Das würde Wohlstand bringen und das Los des Volkes verbessern. Er war glücklich. Die Stadt war in seiner Macht, und das Volk schaute zu ihm auf. Die Opfer hatten einen Sinn. »Eine gerade Linie ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten«, hielt er den Schwächlingen vor, die bei jeder Maßnahme um Ausnahmen bettelten. »Wenn wir uns einig sind über das Ziel, dann sind wir uns auch einig über den Weg.« Als er das bischöfliche Palais (jetzt revolutionäres Tribunal) verließ und die Kathedrale (jetzt Tempel der Vernunft) entlangging, sah er zehn Meter vor sich zwei Frauen in langen,
weiten Mänteln, die Kapuzen über die Köpfe gezogen. Sie gingen eng zusammen. Der Himmel hing wie eine modrige Zeltplane über der Straße und drohte mit Schnee. Er wußte nicht, was ihm an ihrer Haltung auffiel. Er verlangsamte seine Schritte und folgte ihnen. Es gelang ihm nicht, einen kurzen Blick auf ihr Profil zu werfen, nicht einmal, als sie rechts durch das Tor bogen, das zum Quai führte, auf die Brücke über den Thiou und hin zur Rue Sainte-Claire. Wie Geister schwebten sie vor ihm und lockten ihn. Gleich, wenn er sie eingeholt hatte, würden sie ihm ihre Totenschädel zuwenden und ihm grinsend zuwinken. Die Angst schob ihn auf sie zu. Aber als er den dumpfen Klang ihrer Schritte auf den Brückenplanken hörte, blieb er stehen. Sie waren wirklich. Sie überquerten den Fluß. Eine von beiden war klein und dick und hatte Schwierigkeiten beim Gehen. Die andere, deutlich jünger, mußte sie stützen. Es waren bestimmt Frauen aus Annecy, sagte er zu sich. Seine Vermutung hielt er so lange für unmöglich, bis sie in das offene Tor seines Hauses einbogen. Er wartete und begann ein Gespräch mit einem Stuhlflechter, der in einer Nische der Arkaden seinen Arbeitsplatz hatte. In der Zwischenzeit beobachtete er das Haus, und als die Frauen wieder herauskamen, wandte er sich einem Sitzgeflecht aus Rohr zu und betrachtete es ganz aus der Nähe, damit sie ihn nicht sahen. »Fühlt Ihr Euch nicht gut, Monsieur Doppet?« fragte der Stuhlflechter, als die Frauen vorübergingen. »Ich fühle mich ausgezeichnet, du Esel!« Er hastete nach Hause. »Es war Besuch für Euch da«, sagte der Diener, der ihm seit dem Tode des Großvaters mit Argwohn und Widerwillen diente. »Zwei Damen.« »Was wollten sie?«
»Nichts. Sie fragten nach Euch.« »Haben sie eine Nachricht hinterlassen?« »Nein.« »Eine Adresse?« »Nein.« »Kommen sie wieder?« »Nicht, daß ich wüßte.« »Was haben sie dir gesagt?« Er sagte es viel zu laut, viel zu schnell; er verriet sich noch gegenüber Pierre. »Ich wußte nicht, daß es so wichtig war für Monsieur.« »Was hast du ihnen gesagt?« »Daß Ihr nicht zu Hause wärt.« Er schlug ihn mit seinem Handschuh. Der Mann wich dem Schlag nicht aus, sondern blieb unbeweglich stehen. »Was sonst noch?« »Nichts. Ich schwöre es.« Als Pierre sich umdrehte, fühlte Doppet den Haß wie eine körperliche Berührung an sich entlangstreifen. Vielleicht existierte das Fluidum doch. Er bemerkte, daß es zu schneien begann, und warf ein Stück Holz aufs Feuer: den Arm eines hölzernen Franziskusbildes mit einem kunstvoll geschnitzten Vögelchen auf der Hand. Funken sprühten aus dem kleinen Schnabel. Der kleine Schädel zerbrach, mit sanftem Knacken glühte die Hand auf. Die verdammten Erinnerungen. Er hatte nicht darum gebeten. Mit seinem Großvater hatte er auch die Gewissensbisse begraben. Das Feuer war niedergebrannt, dachte er, und die Reste von Bedauern, die unter der Asche aufglühten, erstickte er sorgfältig. Er befriedigte die Bedürfnisse seines Körpers und versuchte, nicht auf die Melodie zu hören, die den Geist zum Denken verleitet, ebenso wie ein Schwimmer die Wasseroberfläche sucht und sich dabei nicht um die Tiefe des Wassers kümmert. Er weigerte sich zu zweifeln, aber er
weigerte sich auch zu glauben. Er las nur die Anordnungen aus Paris und die Exekutionslisten. Er war ein Mann der Tat geworden. Aber nun, während er in das Feuer starrte, in dem sich der Finger des heiligen Franziskus wie ein Menetekel in einer obszönen Gebärde hochreckte, brannte in ihm ein Schmerz, der sich nicht löschen ließ. Mit einem Schürhaken schlug er in das halb verbrannte Holz, die Funken stoben über den Boden und hinterließen Brandflecken. Auch wenn hier alles in Flammen aufginge, würde es ihm nichts ausmachen. Er war frei. Die Vergangenheit war besiegt. Er drehte sich brüsk um und verließ das Haus, um alle Gasthäuser und Herbergen der Stadt nach den beiden Frauen abzusuchen. »Endlich«, sagte der junge Mann, der die Tür öffnete. »Wir haben Euch überall gesucht.« Er hatte das Gesicht schon einmal gesehen. Wo und wann? »Aber keine Adresse hinterlassen bei meinem Diener.« »Das haben wir wohl.« Die Stimme von Marie Cercueil klang scharf. »Laß ihn herein, Philippe.« Der Junge mit der hohen Stirn und den nahezu bartlosen Wangen, die eine so frische Farbe zeigten, als ob er sich ständig auf etwas freuen würde, trat einen Schritt zur Seite und ließ ihn ins Zimmer treten. Danach schloß er die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, demonstrativ den Fluchtweg für Doppet versperrend. Doppet warf ihm einen erstaunten Blick zu; die Wangen des Jungen verfärbten sich dunkelrot, aber fest entschlossen verschränkte er die Arme. Auf einem Sofa saß Marie Cercueil; ihre Füße in einer Wanne. Neben ihr kniete Maaike Lestevenon mit einem Handtuch. Sie blickte auf. Einen Moment lang meinte er, Freude zu sehen. Dann beugte sie sich über Maries Beine, nahm einen Fuß aus dem Wasser und begann, ihn gründlich abzutrocknen. Er sah ihr Profil und die beinah vergessene Linie ihres Kinns, den Hals unter dem Ohr, das dort ordentlich, rosafarben und
vollständig lebte, gerichtet auf eine andere Welt. Marie betrachtete ihn gründlich von oben bis unten. Kein rührendes Wiedersehen. »General Doppet«, sagte sie höhnisch. Er überhörte ihren Tonfall und wies mit dem Daumen über die Schulter auf den jungen Mann. »Wer ist euer Kavalier? Ich glaube, ich habe ihn schon einmal gesehen.« »Das ist Philippe.« »War er bei mir in Dienst? Habe ich ihn behandelt? Sein Gesicht kommt mir so bekannt vor.« »Ich habe Mademoiselle Elisabeth konsultiert«, sagte Philippe feierlich. Das war es also. Er lächelte bei der Erinnerung. »Was bringt euch nach Annecy? Kann ich etwas für euch tun?« »Wir sind auf dem Weg nach Lyon.« »Dann wäre eine andere Route schneller gewesen.« »Aber wir haben erst noch eine Angelegenheit mit dir zu regeln.« Maaike nahm den anderen Fuß aus dem Wasser und trocknete ihn ab. Die Zehen waren rot und blau, voller Schwielen und Hühneraugen; eingewachsene Nägel bildeten dicke, gelbe Kissen. »Hast du Schmerzen an den Füßen, Marie?« fragte er. Sie kniff ihre Augen zusammen. »Wer von Paris nach Lyon läuft, hat Schmerzen an den Füßen, ja.« »Warum bis du dann nicht dort geblieben?« »Man kann niemandem mehr vertrauen. Es ist ein einziges Durcheinander. Die Macht wechselt jeden Tag. Und die neuen Herren ermorden die vorigen. Was heute wahr ist, ist morgen Lüge. Niemand ist mehr seines Lebens sicher.«
»Aber die Säuberungen sind notwendig!« rief Philippe. »Die Republik wird von innen und außen durch die Feinde des Fortschritts bedroht. Sogenannte Anhänger erweisen sich als käuflich. Das Volk kann nicht länger auf Recht und Frieden warten. Darum muß man mit den Renegaten kurzen Prozeß machen. General Doppet wird darüber sicher einer Meinung mit mir sein!« Marie befahl ihm, den Mund zu halten. Offensichtlich stritten sie sich häufiger über dieses Thema. Sie war alt geworden; ihre Korpulenz besaß nichts Angenehmes mehr. »Der liebe Philippe ist ein Anhänger der Tugend«, sagte sie erklärend. »Unser Land sollte mehr von seinesgleichen haben.« Sie seufzte. Doppet sah über die Schulter. Der Junge biß sich auf die Lippen. »Ich kenne Robespierre«, sagte Doppet. »Ich bewundere ihn«, sagte Philippe. In seinen Augen leuchtete das missionarische Feuer. »Ich bewundere seine Standhaftigkeit. Seine Hingabe an die Sache der Revolution. Seine Reinheit.« »Halt dein Maul«, schnauzte Marie ihn wieder an. »Wir sprechen nicht über Robespierre.« Es wurde still. Aus den anderen Zimmern hörte man streitende Stimmen, das Weinen eines Kindes und ein hohes, klägliches Geräusch wie von einer eingesperrten Katze. »Worüber sollen wir dann sprechen?« Doppet ergriff einen Stuhl, setzte sich und nahm die Haltung eines Besuchers ein, der sich sichtlich wohlfühlt. Maaike massierte die Füße. Marie unterdrückte einen Schmerzensschrei und gab Maaike ein Zeichen, daß sie aufhören sollte. »Warum nach Lyon?« fragte er. »Es gibt dort eine Frau, die besondere Heilungen vornimmt«, sagte Philippe. »Wer ist denn krank?«
Marie kratzte sich am Hals. Philippe war in Verlegenheit gebracht worden. »Maaike«, sagte er schnell. »Was hat sie denn?« Ärgerlich verdrehte der Junge die Augen. »Als ob Ihr das nicht wüßtet.« Er löste sich von der Tür, hob die Waschschüssel vom Boden hoch, stellte sie auf den Tisch und half Maaike vorsichtig und galant, aufzustehen. Mein Gott, dachte Doppet, ein Gläubiger! Ein Fanatiker! Ein Guter Mensch! Ein Gerechter! Er wandte sich Marie zu. »Ist das wahr?« »Wenn er es sagt.« »Aber du weißt es doch besser.« »Wenn er es will.« »Was hat er über sie zu bestimmen?« »Er ist mit ihr verheiratet.« Philippe rückte inzwischen einen Stuhl für Maaike heran und ließ sie Platz nehmen. Doppet wollte ihn schlagen. »Warum läßt du sie nicht in Ruhe?« fragte er. »Wir müssen alles versuchen, um sie zu heilen. Das sind wir ihr schuldig.« »Sie ist nicht krank. Sie ist taub.« »Denkt daran, was ihr entgeht.« »Ihr entgeht nichts! Nichts!« Seine Wut war größer, als es der Anlaß rechtfertigte. Was machte es schon aus, ob ein Milchbart an Wunder glaubte, an die Revolution, an den Menschen? Was hatte er damit zu tun? Aber kein Einwand konnte ihn beruhigen. »Du läßt deine Finger von ihr.« »Mit welchem Recht sprecht Ihr so?« Der Junge schlug einen hochmütigen Ton an. »Ich bin Arzt.«
»Der Ärztestand ist korrupt und in Traditionen erstarrt, die den Kranken kränker machen. Wir müssen uns von ihrer Tyrannei befreien.« In Philippes Worten hörte Doppet die Karikatur seiner eigenen Ansichten. Ekelerregend. Oder war Philippe echt und er selbst ein Witz? Er hatte sich in der völligen Trennung von Denken und Sprache geübt. Weil er keinerlei Ideale akzeptierte, konnte er alle Ideale verteidigen. Er war eine Hülle, eine leere Form. Philippes Ideen fielen zusammen mit seinen Worten und seinen Taten. Neid und Abscheu erfüllten Doppet. »Du weißt nicht, wer ich bin.« »Ich weiß es wohl. Ihr habt Euren Eid gebrochen. Euren Berufsstand verraten. Ihr habt das Vertrauen mißbraucht, das Eure Patienten in Euch hatten.« »Erkläre mir das.« »Ihr habt Euch geweigert, Mademoiselle Elisabeth zu behandeln. Ihr habt ihre Krankheit mißbraucht, um Euch selbst eine gute Position zu verschaffen, und als das gelungen war, habt Ihr sie im Stich gelassen.« Der Junge sprach monoton, als ob er es auswendig gelernt hätte, während Marie ihn genau beobachtete, offensichtlich zum Eingreifen bereit. Die Ungeheuerlichkeit der Behauptung traf ihn wie ein Schlag vor die Brust. Er blickte zu Marie Cercueil. Sie verzog ihren Mund zu einem Lachen, sagte aber nichts. Maaike blickte auf ihre Hände. Nach seiner Ankunft hatte er ihre Augen nicht mehr gesehen. Er zwang sich selbst zur Ruhe. »Wenn ihr den Umweg über Annecy nur gemacht habt, um mich zu beleidigen, dann war eure Mühe vergeblich. Nur wer sich schuldig fühlt, verteidigt sich gegen Verleumdungen.« Er stand auf und ging zur Tür. »Doppet, warte!« sagte Marie. »Ich sagte doch, daß wir eine Angelegenheit mit dir zu regeln hätten. Achte nicht auf
Philippe. Er meint es gut. Er ist noch jung. Sie erben eine Welt, die sie immer weniger verstehen. Und du bist für ihn ein schwieriger Fall: erhabener Verteidiger der einen, unteilbaren Republik und gleichzeitig ein Mensch mit Fehlern. Elisabeth…« Der Name blieb in der Luft hängen. Marie machte eine Gebärde der Hilflosigkeit: »Laß nur.« Sie schwieg. »Wo ist Elisabeth?« Er wagte kaum zu fragen. »Wir kommen in ihrem Namen.« Er wartete. Marie Cercueil sah ihn an. Sie verachtete ihn. Aber alles war gekommen, wie es kommen mußte. Man konnte ihm nichts vorwerfen. Er hörte Maaikes Kleid im Rhythmus ihrer schnellen Schritte rascheln. Sie hielt ihm ein viereckiges Päckchen entgegen, das in pfauenblaue Seide gewickelt war. Er nahm es an und nickte ihr zu. Er durfte nicht daran denken, daß Philippe sie mit seinem scheinheiligen haarlosen Körper bedeckte und mit seinen tugendhaften Fingern an ihr herumspielte. Auch diese Reinheit war befleckt. Er hatte sie bei Abbé Sicard untergebracht, weil er ihrer stillen Schönheit nicht gewachsen war und weil er sie schützen wollte. Es war die einzige Tat aus Askese und Abstinenz, auf die er stolz gewesen war. Solange sie in ihrer unschuldigen Welt lebte, war er entlastet. Sie war seine Absolution. Aber was er sehen wollte, existierte nicht mehr in ihren Augen. Er stand auf. »Wann reist ihr weiter?« »Das hängt von Euch ab«, sagte Philippe. »Auf Wiedersehen«, sagte Marie. Was wollten sie von ihm? Wenig später, in der Dunkelheit des Torbogens, beugte er sich nach vorn und roch an dem Stoff rund um das Päckchen. Ihr Duft hing noch darin und zeugte von ihrer Existenz. »Für Dieudonné Doppet« stand in großen Buchstaben auf dem Deckblatt, das um das Päckchen gebunden war. Er löste
die Schnur und blieb eine Weile sitzen, ohne sich zum Lesen entschließen zu können. Der Besuch bei den drei Reisenden hatte einen Widerhaken in ihn gebohrt. Sie hatten etwas verschwiegen. Und er wußte nicht, ob er wissen wollte, was sie verborgen hielten. Wenn er die eng beschriebenen Blätter ins Feuer warf, würden die Worte nie existiert haben. Ein Monolog für taube Ohren, ein Brief an einen Blinden. Aber er las, und die Worte veränderten ihn, so wie er lesend die Worte veränderte.
Dies diktiere ich Philippe, aber Du wirst auch einige von mir selbst geschriebene Papiere finden. Nach Vaters Tod habe ich eine Zeitlang alles aufgeschrieben, was mich beschäftigte und mit mir geschah. Tue damit, was Du für richtig hältst. Du bist neben Deiner Tätigkeit als Arzt und Soldat doch auch ein gebildeter Mensch mit Interesse an Wissenschaft und Literatur. Du hast mir einmal von den Tiefen erzählt, die Du im menschlichen Geist vermutetest. Wer weiß, vielleicht helfe ich Dir bei der Erforschung dieses neuen Gebietes, das umso interessanter wird, je mehr wir das Göttliche in uns selbst suchen. Nein, das ist alles zu schön formuliert. Dieser Brief entsteht nicht aus dem Bedürfnis, Dir zu helfen. Ich muß den Schein nicht mehr aufrechterhalten, nun, da der Tod naht. Ja, Du mußt gewußt haben, daß mich mein letzter Liebhaber für sich forderte. Du warst so freundlich, mich an ihn abzutreten. Ich fühle, wie er meinen Körper streichelt und von mir Besitz nimmt. Sein Kommen weckt und schärft die Sinne. Aber er ist in nichts mit Dir zu vergleichen. Wenn ich an Dich denke, erfaßt mich ein Verlangen, das ich kaum beherrschen kann und das gegen jegliche Vernunft ist. Nach nichts anderem sehne ich mich so sehr wie nach Deiner Umarmung, Deiner
Haut an der meinigen. Mit der Leidenschaft weiß ich ebenso wenig anzufangen wie Du. Sie ist eine dunkle Macht. Und das Verwirrendste: die Intensität, die jedes Maß und jede Harmonie übersteigt, im Guten wie im Bösen. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das wir bei Marie führten. Wir erzählten einander, was unsere wahre Liebe sei. Ihr lachtet mich aus, als ich sagte, daß ohne das Gute alles andere sinnlos sei. Damals wußte ich nicht, wovon ich redete. Erst jetzt kann ich mir langsam ein Bild davon machen, nun, da ich nichts mehr verleugnen und nichts mehr glauben muß, nun, da mir nichts mehr Angst einjagt, nun, da die Klarheit wie ein Geschenk aus einem nicht existenten Himmel mein Leben erleuchtet, nun, da ich keinen Trost mehr benötige. Das letztere ist nicht wahr. Deshalb dieser Brief. Was ist mit mir geschehen in der Zeit zwischen dem Tag, als Lebrun starb und meine Aufgabe für die Revolution Deiner Ansicht nach vollendet war, und dem Moment, wo Du dies liest? Ich blieb bei Marie und half ihr in der Küche; ich strich durch die Stadt und das umliegende Land auf der Suche nach Mehl, Eiern, Milch, Hühnern, Kohle. Das Essen der Pensionsgäste war noch nie so gut, aber das war auch nicht schwer, wie Du weißt. Wir hatten viel zu tun. Ich war glücklich. Ich bin sehr gut in der Lage, mich den jeweiligen Umständen anzupassen. Gerade jetzt, da mich das Glück für immer verlassen hat, finde ich in mir selbst die Kraft, mich gegen die Verzweiflung zu wehren. Aber mein Auge verschlimmerte sich ständig. Die Hornhaut trocknete aus. Die Kopfschmerzen ließen sich mit keinem Mittel mehr bekämpfen. Es machte mich wahnsinnig. Auf einem meiner Streifzüge traf ich Philippe, als ich vor dem Regen Unterschlupf suchte. Während der Glanztage des apokalyptischen Engels hatte er mir seine Ergebenheit erklärt,
und ich löste den Wechsel darauf ein: Er brachte mich nach Hause. (Sie suchte keinen Unterschlupf. Sie war in Ohnmacht gefallen. Philippe.) Von diesem Moment an hat er wie ein Sohn und Bruder für Marie und mich gesorgt. Er ist wirklich ein guter Mensch. Er hat Mitgefühl, und er ist aufrichtig. Seine Zuwendung kennt keine Bedingungen. Aber er ist noch so jung. Ach, ich bin nicht viel älter als er, und über das Leben weiß ich nur wenig mehr; es gibt keinen einzigen Grund, mich weiser zu fühlen als er. Maaike und er geben mir Hoffnung und das Gefühl, daß es nicht umsonst ist, daß das Leben in neuer Gestalt weitergeht. Daß die Liebe existiert. Manchmal. Einen kurzen Moment lang. Deine neue Zeit brach mit einer Morgenröte an, so schön und blutig rot, wie sie die Menschheit niemals zuvor sah. Es war ein Geschenk, das wir erzwungen hatten, und als es in unseren Händen lag, gingen wir damit so ungeschickt um wie ein Haufen ausgehungerter Kinder mit einem lebendigen Huhn. Überall flogen die Federn, und die Kinder rollten kämpfend über den Boden, während das Huhn in alle Richtungen flatterte. Es ist ein profaner Vergleich mit einer so heiligen Sache wie der Freiheit. Was mir bei allen Reden und Schriften auffällt: wie kriegerisch die Sprache auch sein mag, wie plastisch die Ausdrucksweise, es ist eine saubere und in jeder Hinsicht erhabene Revolution, die spricht. »Uétendard sanglant est levé« klingt, als ob nur ordentliche und gutgewaschene Truppen ins Feld zögen. Kein Schlamm. Kein Blut. Kein Schrecken. Nur Versprechungen von Glück und Gleichheit. Aber ich träume jede Nacht von dem Ideal, das auf dem Schlachtfeld und in den Straßen von Paris, in der Vendée, in Dir, in mir zugrunde geht. Eines Tages wurde das Institut von Abbé Sicard geschlossen und die taubstummen Kinder auf die Straße gesetzt, weil alles Alte vernichtet werden mußte, auch das, was nützlich war.
Maaike fand mich bei Marie. Wir waren wieder zusammen, auch wenn wir nicht miteinander sprechen konnten: ich sehe nicht, was sie aufschreibt oder welche Gebärden sie macht, sie hört nicht, was ich sage, aber durch die Berührung ihrer Hand sagt sie alles, was ich wissen will. Nun kommt es auf andere Sinnesorgane an. Ende August ging eine kleine Abordnung der Taubstummenschule zum Gefängnis, wo Deine Freunde in ihrer unendlichen revolutionären Weisheit die Priester eingesperrt hatten, weil sie das Volk ins Verderben führten. Ich bestreite nicht die Richtigkeit Eurer Thesen, aber ich klage das Recht an, das kein Erbarmen kennt. Die Taubstummen überreichten eine Bittschrift. »Wir bitten Euch flehentlich um die Freilassung von Abbé Sicard, unseren Lehrer, unseren Vater, der wie ein Verbrecher eingesperrt ist. Aber er ist gut und rechtschaffen und rein, und er hat uns alles gelehrt, was wir wissen. Ohne ihn wären wir wie Tiere. Seit er nicht mehr bei uns ist, sind wir besorgt und betrübt. Gebt ihn uns zurück, und wir werden wieder glücklich sein.« Es waren Kinder des Volks, aber das Revolutionsrecht wollte für sie keine Ausnahme machen. Natürlich nicht. Sie müssen warten, bis sich die Revolution mit der Erziehung der Taubstummen beschäftigt. Und steht das vielleicht oben auf der Liste? Das Individuum ist der Gemeinschaft untergeordnet, damit das Individuum Glück in der Sicherheit findet, die für alle gilt, aber ist das möglich? Und dabei ist dies nur ein kleines Beispiel. Abbé Sicard konnte glücklicherweise während der schrecklichen Septembertage entkommen. Aber Monseigneur de F. nicht. Es würde mich nicht wundern, wenn du es gewußt hättest. Philippe erzählte mir, was mit der Prinzessin de Lamballe geschah. Er stand daneben, als sie ihre Leiche zerteilten und auf Spieße steckten. Ihre Geschlechtsteile wurden von einem Metzger aus ihrem Leib geschnitten und ebenfalls während des Umzugs mitgeführt. Vor einem
Weinlokal stand auf einem Stuhl ein Eimer Wasser für die Pferde der durstigen Gäste, und ein Mann tauchte das blutige Haupt der Prinzessin in den Eimer und präsentierte es tropfend und sauber der jubelnden Menge. Philippe sieht keine andere Möglichkeit, Freiheit und Demokratie zu erlangen, als die Blutrunst des Volkes zu stillen, bevor man ihnen etwas Bildung vermitteln kann, so wie man einen Tiger zuerst mit einem Lamm füttert, ehe man ihm den Kopf ins Maul steckt. Dies ist bei all seinem Idealismus ein für mich völlig unverständlicher Zynismus. (Ich schreibe dies auf, weil sie es wünscht, aber sie verdreht meine Worte. Ich glaube an die Unvermeidlichkeit des Fortschritts, wie langsam er sich auch entwickelt und welche schrecklichen Umwege er auch nehmen mag. Philippe.) Ich begreife es überhaupt nicht mehr. Auch wenn es das universelle und unveränderliche und erkennbare Gute nicht gibt, hoffe ich doch, daß wir eines Tages einen chemischen Vorgang erfinden werden, mit dem wir das Böse herausfiltern, auffangen und neutralisieren können und das Gute behalten. Wenn ich über die Ideale nachdenke, die ich gehegt habe und noch stets hege, Ideale, die mich mein Vater lehrte, und über das Bild der Wirklichkeit, das Du mit mir teiltest – auch wenn Du Dich darüber lustig gemacht hast –, für das wir bereit waren zu betrügen, dann kann ich dabei nichts Böses entdecken. Wie kommt es dann, daß wir nicht überzeugt sind, daß wir einander nicht haben überzeugen können und daß ein Dämon über alle kommt, die sich in den Dienst der Wahrheit stellen? Sie kämpfen darum, wer von ihnen die wirklich reine Lehre vertritt und lassen sich zum Instrument einer Macht machen, die sie nicht kontrollieren. Wo ist ihre Autonomie, wo ist ihre Freiheit? Und was läuft verkehrt? Was veranlaßt einen Menschen, das Ideal über alles zu stellen, ein selbst geschaffenes Phantom als höchsten Richter über Leben und
Tod? Ich kenne dieses Dilemma. Du darfst das Ideal der Menschlichkeit nicht durch Unmenschlichkeit zertreten lassen. Widerstand ist Pflicht. Kampf ist das Gebot der Stunde. Die Konsequenzen müssen akzeptiert werden, und sie sind jeden Einsatz wert. Aber wenn man zwischen zwei Leben wählen muß, welches verdient dann den Vorzug, das des Freundes oder das des Feindes, das eigene Leben oder das Leben des anderen? Ich werde sterben, und ich will nicht sterben. Das ist für alle gleich. Und doch ist nichts so persönlich und unausweichlich wie der Tod. Mein linkes Auge ist blind und mein rechtes Auge angegriffen. Manchmal werde ich bewußtlos. Und ich kann schlecht gehen. Mein Bein ist lahm. Über die Schmerzen spreche ich nicht mehr. Mein berühmter Blick ist unwiderruflich nach innen gekehrt. Ich habe Zeit zum Nachdenken. Auch Zeit, um wahnsinnig zu werden, obwohl das von selbst geschieht. Ab und zu umschließt mich die Dunkelheit. Ich habe meine Augen von der Welt abgekehrt, aber über meine Ohren dringt der Lärm zu mir durch. Philippe hält mich auf dem Laufenden, ob ich will oder nicht. Nur noch einen kurzen Zeitraum und ich bin erlöst, es sei denn, ein Wunder geschieht. Ich glaube nicht mehr an Gott, aber ich möchte gerne noch ein wenig an Wunder glauben. Du bist ein Wundertäter, weißt Du das? Du hast eine Kraft in Dir, die Du nie ausgenutzt hast. Durch Deine Hilfe sah ich Dinge, die ich nicht erklären konnte, deutlicher als in einem Traum. Vielleicht kannst Du mich nicht mehr heilen, aber wenn Du die Schmerzen lindern kannst, ist es mir die Reise wert. Ob ich es schaffen werde, weiß ich nicht. Aber wenn ich in Annecy ankomme, laß mich diesmal nicht im Stich. Ich brauche Dich. (Sie braucht Euch mehr, als sie sich selbst eingestehen will. Sie lebt noch, weil sie Euch wiedersehen möchte. Wir tun alles, was wir können. Wenn unser flehentliches Bittgesuch
Euch etwas bedeutet, dann schenkt ihrem Anliegen Gehör. Philippe.) Er nahm die Instrumententasche seines Vaters mit, die schon seit Jahren unbenutzt zu seinem Gepäck gehörte. Arzt war er, und als Arzt würde er sie besuchen. Das war seine vorrangige Aufgabe und Angelegenheit. Der Rest mußte warten. Er wollte noch nicht darüber nachdenken. Ihr Vermächtnis war eine verfrühte Entscheidung für jemanden, der an Wunder glaubt. Es schneite. Hatte er einen Kamin in ihrem Zimmer in der Unterkunft gesehen? Hatten sie Feuer? Genügend Geld für ein Essen? Warum waren sie zu Fuß gekommen? Konnten sie die Postkutsche nicht bezahlen? Keine Kutsche mieten? Marie öffnete ihm persönlich. Philippe und Maaike sah er nicht. »Wo ist Elisabeth?« fragte er. »Warum durfte ich sie heute mittag nicht sehen?« »Das wollte sie nicht. Sie wollte dir die Wahl lassen.« »Wo ist sie? Wie seid ihr gereist? Sie kann nicht laufen.« »Sie saß auf einem Karren. Wir liefen nebenher. Wir hatten ein Pferd.« »Wo ist sie?« Marie nahm einen Leuchter, winkte ihm und ging voran zu einem Zimmer auf der anderen Seite des Ganges. Sie öffnete die Tür und rief leise: »Ich bin es. Marie. Ich habe ihn mitgebracht.« Im Zimmer hing ein durchdringender Gestank. Auf einem Bett lag Elisabeth, die Augen verbunden, ein Stock in ihrem Mund, um darauf beißen zu können. Sie machte ein Geräusch wie eine eingesperrte Katze. Er war auf diesen Schock nicht vorbereitet. Sein Magen krümmte sich zusammen, und Speichel floß in seinen Mund. Er setzte sich zu ihr auf das Bett und bemerkte, daß der Gestank zunahm.
»Ich bin es, Elisabeth.« Welch ein wahnwitziger Satz! Welche Worte waren passender? Sie nahm den Stock aus ihrem Mund, ergriff seine Hand und sagte: »Vielen Dank.« »Ich komme, um dir zu helfen, falls ich kann. Aber ich will das nicht hier in diesem schrecklichen Haus tun. Es ist hier kalt. Hier kann ich nicht für dich sorgen. Ihr kommt mit mir.« »Schau erst, ob du das auch willst.« »Wie meinst du das?« »Nimm einmal den Verband ab.« Er wickelte den Verband ab, und während er dies tat, stöhnte sie, ein Stöhnen, das eine Beschwörung gegen den Schmerz zu sein schien. Warum stank sie so? Sie sah sauber aus, und er kannte ihre Manie, sich zu waschen. Als er den Verband beinahe vollständig entfernt hatte, hielt sie seine Hand fest. »Warte. Ich schäme mich so.« »Warum?« »Ich glaube, daß ich ekelerregend bin, und ich wollte immer schön für dich sein.« »Das bist du auch. Du brauchst dich nicht zu schämen.« Er schob ihre Hand weg und entfernte vorsichtig das letzte, verklebte Leinentuch. In Turin bei Bertrandi und in den Armenvierteln von Paris hatte er alle möglichen Arten von Verstümmelungen und eiternden Wunden gesehen, aber so etwas noch nie. Das linke Auge war durch die Geschwulst fast vollständig aus der Höhle getreten. Die Hornhaut war ausgetrocknet und hatte sich entzündet, ein Prozeß, der das ganze Auge infiziert hatte, so daß es wie ein verfaulter Apfel fast auf ihrer Wange lag und eine stinkende Flüssigkeit absonderte. Das andere Auge war entzündet, die Augenlider verklebt. Er erinnerte sich, wie er sie zum ersten Mal bei Maître Mounier sah, eine lange, auffällige junge Frau mit einem
stolzen schwarzen Auge und einer selbstbewußten Haltung, die fast schon unverschämt war; eine Schönheit, die nicht sofort ins Auge fiel und sicher nicht zärtlich stimmte. Er erinnerte sich an ihren Ernst und ihre Verletzlichkeit. Er erinnerte sich an seine Schuld und seine Ohnmacht. »Marie, schick einen Diener des Gasthauses zu meinem Haus. Er soll meinem Diener ausrichten, mit der Kutsche hierherzukommen. Pack eure Sachen, benachrichtige Philippe und Maaike. Ihr kommt mit mir.« Marie beeilte sich. »Gott sei Dank«, seufzte sie im Hinausgehen. »Du enttäuschst mich doch nicht, General.« »Es ist schrecklich, was?« sagte Elisabeth. »Ja«, sagte er. »Ich habe solche Kopfschmerzen.« »Ja«, sagte er. »Ich kann mich nicht daran gewöhnen.« »Was möchtest du, das ich tun soll?« »Was kannst du tun?« »Nicht viel.« »Was denn?« »Das Auge entfernen.« »Werden die Schmerzen dann nachlassen?« »Ich hoffe es.« »Auf jeden Fall der Gestank?« »Ja, der Gestank geht weg.« »Das wäre schon eine Wohltat für meine Familie.« Stille. Mit jedem Atemzug erzeugte sie ein schmerzerfülltes Geräusch. »Wird dir davon nicht schlecht?« fragte sie. »Ich bin einiges gewöhnt.« »Warum bist du gekommen?« »Ich weiß es nicht.«
Er saß neben ihr auf dem Bett und rührte sie nicht an. Sie bat um keinen billigen Trost. Er überdachte eine Behandlungsweise nach der anderen, aber er besaß nicht viel mehr als dieselben überholten medizinischen Kenntnisse, die er selbst seit Jahren bekämpfte. Sie hatte recht, er unterwarf sich einem neuen »Du sollst«. Natürlich diente er der Revolution mit entschiedener Überzeugung, aber diese Überzeugung hatte ihren Sitz in seinem Verstand und zeigte nichtsdestotrotz Anzeichen eines nicht herausgeforderten Glaubens. War das eine Schwäche? Und mußte sie berichtigt werden? Sie tastete nach ihm. Einen kurzen Moment schrak er vor dieser Hand zurück, als würde sie ihn mit dem Tod infizieren. Er widersetzte sich gegen den Appell an seine Gefühle, den sie an ihn richtete, indem sie dort so krank lag und so abscheulich litt und dabei so tapfer war. »Kannst du noch laufen?« fragte er. »Nur schwer. Es scheint, als ob der Schmerz aus meinem Gehirn bis zu meinem Rücken durchgedrungen sei und von da aus meine Beine lähme.« »Ich werde dich tragen.« »Weißt du, was ich so schlimm finde?« »Nun?« »Daß ich hier in Annecy bin und deine Berge nicht sehen kann. Ich habe noch nie einen Berg gesehen.« »Ich werde versuchen, dein anderes Auge ein wenig zu heilen.« »Wie soll das gehen?« »Ich weiß es nicht. Ich versuche es.« »Ich habe nichts zu verlieren.« »Es tut mir leid«, sagte er plötzlich. »Was tut dir leid?« »Ich habe dich schlecht behandelt.« »Apollo strafte Kassandra.«
»Er hatte kein Recht dazu.« »Sie hielt ihr Versprechen nicht.« »Ein Versprechen kann nur aus freiem Willen gegeben werden.« »Freiheit existiert nicht, aber das ist nicht schlimm. Kassandra widersetzte sich. Das machte den Gott wütend.« »Nein. Apollo sah, daß seine Liebe durchkreuzt wurde.« »Das lag an ihm, nicht an denjenigen, die er liebte.« »Aber ich bin nicht Apollo.« »Und ich bin Elisabeth.« Aus der Instrumententasche holte er einen sauberen Verband. Er stand auf, um nachzuschauen, ob sich eine Schüssel mit Wasser im Zimmer befand, sah aber nur die Uhr von Lestevenon. Elisabeth tastete nach ihm und rief ängstlich: »Wo gehst du hin?« . »Hab keine Angst. Ich suche Wasser, um dein rechtes Auge auszuwaschen.« »Es ist kein Wasser da, glaube ich.« Es war kein Wasser da. Dann mußte das eben warten, bis sie zu Hause in der Rue Sainte-Claire waren. Er verband ihre Augen, richtete sie auf, schlug seinen Mantel um sie und hielt sie fest, bis der Knecht kam und ihm mitteilte, daß die Kutsche vor der Tür stand.
Pierre begegnete den Neuankömmlingen mit Mißtrauen, tat aber seine Christenpflicht und wurde von Maaike mit einem Lächeln belohnt. Von diesem Moment an war sein Herz gewonnen, und Doppet erfuhr, daß der Haß seines Dieners eine Kehrseite besaß. Die Pflege des Großvaters hatte ihn mit der Behandlung von Kranken und ihren Bedürfnissen vertraut gemacht; er sorgte für saubere Wäsche, warmes Wasser, Seife, Feuer im Kamin. Er kämmte Elisabeths Haar und schnitt ihre
Nägel. Er legte einen mit Schnee gefüllten Lederbeutel auf ihren Kopf. Während er sich damit beschäftigte, sprach er mit ihr über das Wetter, den Brotpreis, die Ernte des vergangenen Jahres, als hätte sie eine klitzekleine Grippe, die bald kuriert sein würde. Das beruhigte sie. Marie gestand, daß sie und Philippe nicht in der Lage waren, sich auf diese Weise um sie zu kümmern. Die Schwelle ihres Mitleids war zu hoch. Das Alltägliche blieb ihnen im Halse stecken. Der Tod lag ihnen auf der Zunge. Darum sprachen sie kaum mit ihr. Maaike hielt häufig Elisabeths Hand. Dann schlief sie kurz ein, und das Stöhnen wurde bedeutungslos, wie eine Gewohnheit. Die Sonne schien, die Fensterläden waren weit geöffnet, das Zimmer war hell. Das Bett war vor das Fenster geschoben worden. Auf einem Tischchen daneben legte Doppet die Instrumente aus, von denen er annahm, daß er sie benötigte. »Wir halten dich fest«, sagte er. »Das ist gut.« »Marie deinen Kopf, die anderen deine Arme und Beine. Zur Sicherheit.« »Ich vertraue dir.« »Konzentriere dich auf meine Stimme. Sieh meine Augen vor dir. Kannst du das?« »Das kann ich.« »Ich berühre dich. Und lasse dich schlafen.« Er betrachtete ihr Gesicht, das sie ihm voll unverdientem Vertrauen zugewandt hatte. Dort, wo er herkam, töteten die Bauern ein Kaninchen durch einen Schlag in den Nacken und hebelten dann mit einer schnellen Bewegung eines Messers die Augen heraus, die braunen, glänzenden Augen, die noch die letzte Liebkosung zeigten. Aber Elisabeths Auge war ein Organismus ganz anderer Art. Das eigentliche Auge war verschwunden, es war eine Wucherung, ein Geschwür, ein stinkendes Zeichen des Teufels. Nun konnte er die Schuld
begleichen, aber seine Stimme bebte, und seine Hände zitterten. Er sprach die ihr vertrauten Worte. »Vertraue mir. Ich lasse dich schlafen. Tief schlafen. Du wirst sein, wo Wasser und Luft einander treffen, zwischen Vogel und Fisch, und du bist leicht. Aller Schmerz ist genommen.« Er wiederholte seine Beschwörung, strich mit seinen Fingern über ihre Wangen, ihren Hals, ihre Schultern und wieder zurück. Wie konnte er feststellen, ob sie schlief? Er überprüfte den Reflex in ihrer Hand. Elisabeth öffnete ihren Mund und murmelte Worte in ihrer Muttersprache, immer wieder die gleichen, die er nicht verstand. Er nickte Marie zu. Ja, sie schläft. Er nahm eine gekrümmte Nadel mit einem festen Draht und befahl den anderen, ihre Augen zu schließen. »Was ich jetzt tun werde, davon spürst du nichts.« Er atmete tief ein, stach die Nadel durch das Auge, so weit wie möglich, und zog den Draht hindurch. Ein leichtes Beben ging durch ihren Körper. Wenn das Gewebe noch Widerstand bot, bestand noch eine Chance. Der Schweiß lief seinen Rücken herab. Die anderen hielten krampfhaft Elisabeths Gliedmaßen fest und kniffen ihre Augen fest zusammen. Er zog mit einer Hand an den beiden Drahtenden, während er mit der anderen Hand einen Löffel vom Beistelltisch nahm und versuchte, ihn hinter den Augapfel zu bringen. Das Auge ließ sich nicht bewegen. Elisabeth schien bewußtlos. Erneut zog er und noch einmal, bis etwas nachgab. Der Draht riß den Augapfel auf. Flüssigkeit und Eiter und Blut flossen heraus. Der Gestank schlug ihm entgegen. Wieder stach er die Nadel hinein, nun noch tiefer, bis zu den Nerven und den Augenmuskeln. Eine letzte Chance. Er fluchte und zog in kurzen Rucken, wie ein Angler einen zappelnden Karpfen aus dem Wasser holt. Philippe hatte seine Augen geöffnet und erbrach sich neben das Bett, ohne dabei Elisabeths Arm
loszulassen. Marie murmelte Gebete. Maaike saß ruhig und gefaßt auf Elisabeths Beinen. Der Diener sah ihn zum ersten Mal respektvoll an. Er fühlte, wie sich das Auge mit einem Knacken von den ausgeleierten Muskeln löste und dann unsagbar schmierig auf dem Löffel schwabbelte. In der Aughöhle hatte sich die Geschwulst wie ein Embryo in der Wand festgesetzt. Er wagte nicht, es zu berühren. Mit sauberen Leinentüchern, die er mit blutstillenden Kräuteressenzen präpariert hatte, betupfte er die Wunde. Danach nahm er eine andere Nadel und vernähte das obere Augenlid mit dem unteren. Es schien, als habe sie noch ihr Auge, so perfekt schlossen sich die Augenlider über dem Tumor. Er legte ihr einen Verband an. »Haltet sie noch einen Moment fest. Ich werde sie wecken.« »Es scheint fast, als hätte sie keine Schmerzen mehr, das arme Lamm«, sagte Marie. »Kannst du sie nicht so lassen.« »Ich bin nicht sicher, ob sie schläft«, sagte er. Sie war zu vielem imstande. Auch zu diesem Betrug. »Wach auf, Elisabeth«, sagte er. Der Schrei, der ihr entwich, glich einer Mischung aus Schmerz und Triumph, wie er es bei gebärenden Frauen gehört hatte.
»Als ich klein war, wunderte ich mich über die Ausmaße der Grote Kerk in Haarlem. Das Haus Gottes war riesig, während die Häuser der Menschen so klein waren. Ob Er wohl schön wohnte, fragte ich mich. Mir wurde schwindelig, wenn ich nach oben schaute. Gott entwischte mir, flüchtete in die Kreuzbögen und Gewölbe und eilte in den Turm, um aus einer möglichst großen Entfernung auf uns nieder zu schauen, als wolle er mit mir nichts zu tun haben. Dann kniff ich meine
Augen fest zu und zwang Ihn, zurückzukehren. Leicht wie eine Feder strich Er über meine Schulter und flüsterte mir ins Ohr.« »Was flüsterte Er?« »Was alle kleinen Mädchen von ihrem Gott hören möchten, glaube ich. Versprechungen des Glücks im Tausch gegen Gehorsamkeit.« »Was flüstert Er großen Mädchen zu?« »Versprechungen von Gehorsamkeit im Tausch gegen Glück. Nein, das ist nur ein Scherz. Er sitzt wie ein Papagei auf meiner Schulter.« »Was wirst du tun, wenn ich nicht mehr da bin?« »Darüber denke ich nicht nach.« »Pierre sagt, daß du Magistrat bist.« »Das ist richtig.« »Wie dein Großvater es wünschte.« »Wenn ich eine Rechenaufgabe nicht verstand, sagte Vater immer: ›Aber siehst du das denn nicht!?‹ Sehen ist ein Auftrag. Sehen ist das Zusammentreffen mit. Sehen ist Sein.« »Sehen ist nicht genug.« »Ich weiß. Das ist das Problem. Lavoisier sagte, daß es unmöglich sei, die Nomenklatur von der Wissenschaft zu trennen, das Sehen zu trennen vom Benennen. Die Fakten, die Betrachtungsweise und die Sprache sind drei Abdrücke eines Druckstocks. Wie sicher die Fakten auch sind, wie genau die Betrachtungsweise auch immer ist, beide sind nichts, wenn wir nicht einen präzisen Ausdruck dafür finden. Aber das ist es ja gerade, das Benennen ist das Schwierigste.« »Du hast ein gutes Gedächtnis.« »Ich rieche die Dünen.« »Ich habe Tannenzweige für dich geholt.« »Du sagtest: Siehst du die Zeichen der Zeit denn nicht? Ich sah sie. Sahen wir dasselbe?«
»Ja sicher. Wir sehen dasselbe, aber wir beurteilen es anders.« »Wie beurteilst du?« »Nun darf ich zitieren. Voltaire sagte, daß die Geschichte des menschlichen Geistes zeigt, wie Fehler und Vorurteile einander folgen und Wahrheit und Vernunft vertreiben. Die Geschickten und die Glücklichen machen die Dummen zu Sklaven und vernichten die Unglücklichen, und doch sind auch sie Spielball des Schicksals. Das werden sie einsehen. Je weiter die Zeit voranschreitet, desto mehr wird eine Gesellschaft lernen, ihre Ideen zu entwickeln; der Mensch erlernt das Denken.« »Du ähnelst Philippe. Glaubst du das wirklich?« »Ich möchte es.« »Falls es nicht so ist, dann ist Leiden sinnlos.« »Leiden ist immer sinnlos.« »Das ist wahr.« »Mein Vater war lange Zeit ein glücklicher Mensch. Die Wissenschaft vervollkommnete ihn, indem sie seine Kenntnisse der Schöpfung erweiterte, und sein Glaube sagte ihm, was gut und was böse war. Er stand fest auf dem Boden. Später war er wie ein steuerloses Schiff.« »Warum?« »Er lehnte sich auf. Seine Vorstellung von Gut war von anderer Art, als ihn sein Glaube gelehrt hatte.« »Und das brachte ihn aus dem Gleichgewicht?« »Die Begründung einer persönlichen Moral außerhalb welchen Glaubens auch immer, aber nicht im Widerspruch mit dem Glück der anderen, ist eine Sisyphusarbeit.« »Ist es dir gelungen, den Stein nach oben zu wälzen?« »Noch einen kleinen Moment, und ich bin da.« »Warum widersprichst du mir nie? Ich werde zwar sterben, aber noch lebe ich.
Solange ich lebe, mußt du mich wie einen lebendigen Menschen behandeln.« »Sei ehrlich, wußtest du, daß ich sterben würde?« »Ja, von dem Augenblick an, als ich dein Auge sah.« »Bist du deshalb weggegangen?« »Ich dachte, das Nichts sei dunkel, aber es ist hell. Nicht, daß das eine Rolle spielte.« »Ich habe keine Schmerzen mehr.« Im Frühjahr starb sie, gegen Morgen, als die Nacht am dunkelsten war und er im Stuhl neben ihrem Bett schlief. Sie glitt davon, als habe sie darauf gewartet, ohne Abschied gehen zu können. Beinahe, dachte Doppet, während er die Schubladenkiste festzurrte und sein Blick die Entfernung zum Paß prüfte. Es kam Wind auf. Er hörte ihn flüstern und pfeifen. Der Berg erschien, so wie er ihn in Erinnerung hatte.