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Kriminalroman
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Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Sie waren zum Angeln verabredet, der Transportarbeiter Hors...
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Kriminalroman
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Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Sie waren zum Angeln verabredet, der Transportarbeiter Horst Reblaus und der Ingenieur und passionierte Heimelektroniker Manfred Raddatz. Doch Reblaus wartet vergeblich. Und weil die Polizei Ahnungen eines Unheils allein wegen einer versäumten Verabredung nicht als zwingendes Argument für eine Suchaktion akzeptiert, beschließt er, eben selbst nach dem Rechten zu sehen. Er steigt ein in die Wohnung des Freundes, und dort findet er ihn: ermordet und beraubt um all seine phonotechnischen „Schätze“. Wolfgang Kienast erzählt in seinem dritten Kriminalroman von einem beispiellos raffiniert inszenierten Verbrechen und den Problemen der K, den Herausforderer eines Schachspiels mit lebenden Figuren matt zu setzen. Wie in „Gillermanns Tod“ und „Das Ende einer Weihnachtsfeier“ nutzt er einen fiktiven „Fall“, um Alltägliches auf spannende Weise bewußt zu machen.
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Wolfgang Kienast
Das Risiko der Perfektion
Verlag Das Neue Berlin
Die Geschichte ist erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen und tatsächlichen Begebenheiten wären zufällig.
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ISBN 3-360-00077-3 1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin ■ 1988 Lizenz-Nr.: 409-160/212/88 • LSV 7004 Umschlaggestaltung: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Lichtsatz: Karl-Marx-Werk Pößneck V15/30 Druck und buchbinderische Weiterverarbeitung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 658 2 00200
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Der Mann, der am Sonnabend Vormittag beim Polizeirevier 83 sehr bestimmt eine Meldung vortrug, stand auf kräftigen Beinen, die säulengleich im Fußboden verankert schienen. Das war wohl auch nötig, weil der Körper, kompakt und gedrungen, zweifellos eine tüchtige Last ausmachte. Die Hände, mit denen der Mann dem Diensthabenden seine Erklärungen gestenreich verdeutlichte, bestätigten eindrucksvoll, daß sein Tagewerk nicht aus Lumpensortieren oder Papierstempeln bestand. Sein Gesicht hingegen strahlte Friedfertigkeit aus. Doch so gleichbleibend freundlich er auch dreinblickte, während der Wachtmeister auf der anderen Seite der Luke bereits ein Stakkato mit seinem Kugelschreiber auf einem Stenoblock zelebrierte, er war fraglos gewillt, den Genossen zwingend zu überzeugen, mochten seine Argumente auch noch so bescheiden sein. „Ich bin Horst Reblaus“, sagte er zum wiederholten Male, „wohnhaft hier in der Schreiner.“ Das bezweifelte der Diensthabende hinter der Scheibe keineswegs. Er sah jedoch den geröteten Teint des Besuchers und die kreuz und quer über Wangen und Nase springenden Äderchen und kam zu dem Urteil: Der Mann genoß lebensfroh all die Flüssigkeiten, die unters Jugendschutzgesetz fallen. Wenn so einer das Verschwinden eines Mannes meldet, war zumindest Relativierung am Platze. Die gestische Beredsamkeit Horst Reblaus’ mündete einzig in der Mitteilung, daß der dreiundvierzigjährige Manfred Raddatz aus der Liebigstraße 7, mit dem er zum Angeln verabredet gewesen war, nicht zum Treffpunkt gekommen und auch nicht in seiner Wohnung sei, also auf unerklärliche Weise verschwunden war. Nun, der Diensthabende teilte diese Schlußfolgerung
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nicht. Ein erwachsener Mensch, der eine Verabredung versäumt, ist kein Fall für den Suchdienst. Sofern nicht objektive Verdachtsmerkmale vorliegen. Die Abwesenheit von zu Hause sei keiner, sie unterstrich lediglich, daß Reblaus versetzt worden war. Raddatz hatte eben anderes, Dringenderes vor. Volkstümlich ausgedrückt, ihm war etwas dazwischengekommen. Reblaus’ Miene nahm den Ausdruck verblüffter Empörung an. Womöglich schien es ihm unvorstellbar, daß es Wichtigeres gab als Angeln, zumindest Angeln mit ihm. Seine naive Beharrlichkeit ging dem Wachtmeister auf die Nerven. „Werter Bürger,“ sagte er, sich zu souveräner Gelassenheit zwingend, „wir sind nicht dazu da, anderen ins Privatleben zu pfuschen. Wir sind auch kein individuelles Kontaktbüro.“ „Ja, wozu sind die Polypen denn da?“ entfuhr es Reblaus. Jetzt wurde es dem Polizisten doch zuviel. Als Polyp wollte er sich nicht bezeichnet wissen. „Herr“, sagte er scharf, „ich habe keine Lust, mich von Ihnen beleidigen zu lassen. Vielleicht bevorzugen Sie das Vokabular aus Schundromanen, aber dies hier ist nicht der Ort, es anzuwenden.“ Beschämt senkte Reblaus den massigen Schädel. „Is mir so rausjerutscht, Jenosse Major.“ Arglos, wie er war, glaubte er, den erzürnten Polizisten besänftigen zu können, wenn er ihn verbal beförderte. Leider fühlte der sich dadurch erst recht verspottet. Er schob Reblaus’ Personalausweis mit entschiedener Gebärde durch die Luke. „Bitte, gehen Sie, und verschwenden Sie Ihren Humor anderswo. Auf Wiedersehen!“ Reblaus’ Beine blieben in ihrer Verankerung. Er bewegte nichts als Arme und Hände und dann wieder den Mund, um unter diesen Umständen ein Gespräch mit Detlev Kühl zu for-
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dern. Mein Gott, jetzt will der Kerl auch noch zur Kriminalpolizei, dachte der Wachtmeister erbittert. Entweder ist er ein kompletter Idiot oder ein Provokateur, vielleicht beides. Allerdings machte ihn die Vertraulichkeit stutzig, die der Koloß da an den Tag legte, indem er den Leutnant der K dieser Revierdienststelle beinahe familiär bei Vor- und Zunamen nannte. Es gab jede Menge Typen, die mit der Polizei auf du und du standen, hauptsächlich deshalb, weil sie sie mit unsinnigen Anzeigen bombardierten. Und es gab eine ungeschriebene Regel, sie freundlich und höflich zu behandeln; wegen der vagen Möglichkeit, unter tausend Nieten könnte auch einmal ein Treffer sein, vor allem aber, um zu verhindern, daß sie weitergingen, zur Inspektion, zum Präsidium gar oder, was die Sache ganz verfahren machte, zur Staatsanwaltschaft. Solche Leute kannten sich bestens aus. Der Wachhabende setzte eine verbindliche Miene auf. „Wir haben Wochenende, Herr Reblaus; der Genosse Kühl hat dienstfrei. Sie kennen ihn?“ „Is ‘n Kumpel von mir“, sagte Reblaus, ohne dieser Feststellung auch nur einen Hauch von Gewichtigkeit zu geben. Im übrigen sah er nicht aus wie ein Angeber, eher etwas einfältig. So wenig der Wachtmeister sich eine Freundschaft zwischen Leutnant Kühl und dem Bürger Reblaus auch vorstellen konnte, so wenig zweifelte er an einer näheren Bekanntschaft der beiden. „Tja, tut mir leid. Bereitschaft hat der Genosse Kühl auch nicht, deshalb wird er vermutlich am Wochenende gar nicht in der Stadt sein.“ „Is’ er doch, weil er morjen jegen Fortuna Pankow spielen muß“, erklärte Reblaus bündig.
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„Natürlich“, beeilte sich der Wachtmeister zu versichern und ergriff die Gelegenheit beim Schopfe, Reblaus von seinem eigentlichen Anliegen abzulenken. „Fortuna Pankow, ja, ja. Fußball, was?“ Es war fehlspekuliert, wie er sogleich erfuhr. Reblaus ging es nicht um Fußball, sondern um seinen Freund Manne aus der Liebigstraße. „Übrigens, kricht er ‘n paar blaue Kalles von mir. Die braucht er. Dringend. Du glaubst doch nich, det er die so ohne weiteres sausen läßt?“ „Der Genosse Kühl?“ Der Wachtmeister überhörte geflissentlich, daß Reblaus ihn zu duzen begonnen hatte. „Was für Kalles bekommt Leutnant Kühl von Ihnen?“ „Doch nich Detta. Manne! Kalles sind fünf Scheine klaret Jeld. Es jibt jrüne Johnnys, rote Fritzen und eben blaue Kalles, verstehste.“ „Verstehe, Ihr Freund bekommt von Ihnen fünfhundert Mark, und die wollten Sie ihm heute geben,“ sagte der Diensthabende brav wie ein Schüler, der vor dem Lehrer seine Lektion memoriert. Er hatte wirklich etwas gelernt, nämlich was Johnnys, Fritzen und Kalles sind. „Jenau, Manne is dringend dadruff anjewiesen. Er is also überhaupt nich irgendwie verhindert. Ihm is wat zujestoßen.“ Seufzend setzte der Wachtmeister erneut zu der Erklärung an, daß die Umstände für eine Vermißtenanzeige nicht ausreichten. Am Donnerstagabend hätten sie die Verabredung getroffen, heute sei Sonnabend, zehn Uhr, dazwischen lägen keine vierzig Stunden. Im Laufe des Tages noch, spätestens morgen oder am Montag würde sein Freund sich das Geld abholen und wahrscheinlich auch eine Erklärung parat haben für sein Versäumnis. Er irrte sich sehr. Das, was sich etwas hochtrabend Sportkasino nannte, maß
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höchstens fünfundzwanzig Quadratmeter und war mit einer kleinen Theke, einem Stehtisch, fünf Tischen und etlichen Stühlen so vollgepfropft wie ein Möbelspeicher. Trotzdem fanden dort noch ein paar Dutzend Leute Platz. In Spitzenzeiten. Jetzt war von solch lebensgefährlichem Gedrängel allerdings keine Rede. Vier spielten mit klappernden Würfeln Lügenmax und machten viel Geschrei, weil einer Sechserpasch angesagt und der nächste übernommen hatte, schon ein an Dummheit grenzendes Risiko. Aber der trudelte sogar noch einen Max, worauf sich das Gebrüll zu einer Phonstärke steigerte, die den Mauern von Jericho gefährlich werden konnte. Indes schienen die Wände des Sportkasinos robuster, sie wiesen nur ein paar Risse im Putz auf. Reblaus kam gerade herein und dachte, die Trommelfelle müßten ihm platzen. Er verachtete Würfelspiele, fand sie noch kindischer als Siebzehnundvier, geschweige denn, daß sie mit geistesbildenden Kartenspielen wie Skat und Klammern konkurrieren konnten. Sein Blick fiel auf das Angelzeug in der Ecke, und im Gedenken an die Bleie, Plötzen und womöglich sogar Aale, die im Fangschleuser Werlsee förmlich danach schrien, von ihm gelandet zu werden, verdüsterten sich seine Gedanken noch mehr. Das kam alles zusammen: die verpatzte Angelei, Mannes Verschwinden, der Ärger mit dem Ordnungshüter vom Revier 83 und das Krakeelen um Einunddreißig, Oma, Sechserpasch und Max, diese primitiven Tatwaffen, um Zeit totzuschlagen. „Ihr solltet euch bei die Polizei bewerben, die brauchen sone Experten“, brummte er mißvergnügt und bestellte einen Gespritzten. Diesmal spürte er keine Skrupel bei der Respektlosigkeit gegenüber den Wächtern von Sicherheit und Ordnung. Das Sportgelände war exterritoriales Gebiet mit eigenen Ge-
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setzen, höchstens daß mal der ABV hereinschaute, sei es, um mahnend auf eine ruhebedürftige Nachbarschaft hinzuweisen, eher jedoch, um zu sehen, wie die Blau-Weißen jeden Gegner zerpflückten und in den Staub rieben. Das Gelände entbehrte aller Vorzüge gepflegter Sportplätze. Vielmehr entsprach es den Merkmalen seines Sportkasinos; es war klein und eng, zusammengepfercht zwischen den Hinterfassaden vierstöckiger Mietskasernen. Statt eines grünen Rasens gab es schwarzen Sand, statt Ozon Staubwolken und statt ungestörten Spiels und Sports Klagen wegen Lärmbelästigung von den Anwohnern. „Ick gloobe, man muß die Bullen da hintraren, wo se rinkieken soll’n. Anders kricht man se nich in Bewegung,“ setzte Reblaus den Punkt aufs i. Er betrachtete leicht versöhnt den Gespritzten, den Achim, der ehrenamtliche Wirt, vor ihm hingestellt hatte. Ein Gespritzter war eine vierstöckige Emulsion völlig unverträglicher geistiger Getränke: zwei Teile Wodka und je ein Teil Kirsch und Boonekamp. Genießerisch nahm Reblaus den ersten Schluck, und seine Laune besserte sich etwas. „Haben sie dir deine Frau geklaut?“ fragte Achim mitfühlend. „Nee, uff die Idee kommt keener. ‘n Jauner hat nie wirklich jute Einfälle.“ Reblaus schaute durchs Fenster auf den Platz hinaus, wo sich zwei Rudel Freizeitkicker tummelten. Ein Bums mit der Pike – und alle hinterher. Das hatte mit dem gepflegten Blau-Weiß-Stil in der zweiten Kreisklasse wenig zu tun. „Ick suche Manne. Is weg. Einfach weg.“ „Und du suchst ‘n mit der Polizei. Du hast se nicht nur nicht alle im Schrank, sie sind auch samt und sonders zerbrochen.“
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Diese einwandfrei formulierte Rede und der Gespritzte bewirkten, daß Reblaus’ Sorge sich in stille Wut gegen Manne wandelte. Ihm ging plötzlich auf, daß so einer eher bei einem Weibsstück ins Bett geriet als in irgendeine andere Klemme. Manfred Raddatz war ein wirklich Freier. Er wurde ob seines ungebundenen Lebens von den Ehekrüppeln mehr oder weniger beneidet. Seine Mark war nicht bloß einen Fünfziger wert oder gar nur dreißig Pfennige. Er brauchte nicht strammzustehen wegen eines ausgedehnten Kneipabends oder eines verspielten halben Wochenlohns. Er konnte reinweg alles in seine Hobbys investieren. Das war ein Leben! Reblaus trank noch einen Gespritzten und lauschte auf das Klappern der Würfel in dem abgedeckten Becher. Die Summe der hochprozentigen Essenzen füllte schnell den Schädel und lenkte die darin umherschießenden Gedanken in die eigenwilligsten Bahnen, bis hin zu der philosophischen Erkenntnis, daß die wirklichen Dinge abhängig waren von der Aufnahme durch die Sinne des Betrachters, demnach eine objektive Realität erst entstand durch subjektives Erkennen. Das formte sich in Reblaus’ Kopf natürlich viel einfacher. Weiß der Teufel, wo der Kerl abgeblieben ist, dachte er. Und dann fiel ihm ein Spruch ein, den er großartig fand, weil er ihn nicht kapierte. Wenn der Prophet nicht zum Berge kommt, muß der Berg eben zum Propheten. Woll’n wir doch mal sehen, ob ein Reblaus es nicht schafft, dich aus den Krakenfängen selbst des begehrenswertesten Frauenzimmers zu reißen. Wie er das anstellen wollte, darüber dachte er nicht weiter nach. Reblaus setzte sich in Bewegung, und da er auf nüchternen Magen zwei Gespritzte intus hatte, immerhin acht Schnäpse beziehungsweise vier Doppelte, schlingerte er ein bißchen; ein nicht eben massiver Berg, eher eine Wander-
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düne. Das Viertel hier war gerastert von schnurgeraden sich kreuzenden Straßen, deren Monotonie durch die Bombenlükken des Krieges, die mit Baracken ausgefüllt waren oder mittlerweile durchgerosteten Blechgaragen, keineswegs gemildert wurde. Reblaus indes nahm die Wege eher kurvenförmig. Besonders schwungvoll gerieten die Ecken, und im Schwünge gestalteten sich auch die Gedanken des Spaziergängers, aber in der vertikalen Dimension. Himmelhoch jauchzend und von betrüblichen Ahnungen heimgesucht, malte er sich die verschiedensten Varianten, den Propheten betreffend, aus. Schließlich versäumte Manne kaum einmal einen schnellen Schluck, sonnabends morgens im Sportkasino, ehe das Spiel der Alte-Herren-Mannschaften begann. Auch eine Ungereimtheit in dem von Gewohnheiten geprägten Verhalten des Freundes. Der „Berg“ und sein „Prophet“ gehörten zum Uraltinventar des Sportvereins, waren einst unter seinen Gründern gewesen und hingen mit jeder Faser ihres Herzens an ihm. Die Alten kannten sich, weil sie hier im Kiez aufgewachsen waren, und so war es auch bei den Jungen und den Jüngsten. Mitunter waren die Jungen sogar die Söhne der ersten Generation. Ein paar Minuten später beschäftigte Reblaus wieder das Problem, das ihn zum Besuch der Revierwache 83 veranlaßt hatte. Er stand vor der Wohnungstür seines Freundes, und ihm wurde nicht geöffnet, so heftig er auch klingelte. Der Vorsatz, Manne irgendwelchen weiblichen Krakenfängen zu entreißen, blieb im Ansatz stecken, entweder weil dieser nicht entrissen werden wollte oder weil der Ort der Rettungsaktion falsch gewählt war. Reblaus schabte ratlos sein stachliges Kinn. Die Wohnung des „Propheten“ lag im Parterre des Vorderhauses, und die Straße strebte ziemlich steil von der
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Frankfurter Allee aus hinauf zum Viehhof, weshalb die Fensterkanten zwanzig bis dreißig Zentimeter über dem Straßenniveau begannen. Wohl oder übel hatten die Baumeister das Gefälle ausgleichen müssen und dort so etwas wie ein Souterrain geschaffen. Diese an und für sich belanglose architektonische Notlösung erhält nun zufällig Bedeutung. Die Oberlichter von den Fenstern zu Mannes guter Stube standen einen Spalt offen und hatten die Gardine ein wenig verschoben. Dadurch war es dem „Berg“ möglich, begünstigt durch die bauliche Besonderheit an dieser Stelle, bescheidenen Einblick in das Allerheiligste des abtrünnigen „Propheten“ zu nehmen und einige Einzelheiten auszumachen. An der ihm im Blickfeld liegenden Seite der Raddatzschen Stube befand sich eine Antiquität von morgen, das heutigentags modische Möbel aus Pappe, Preßspan und Funierbelag, das, weiß der Kuckuck, warum, den Handelsnamen „Elegant“ führte, ein Spitzenerzeugnis aus der Klasse der Schrankwände. Und was er sah, vielmehr was er nicht sah eine von Mannes Stereoboxen, präzis die linke –, irritierte ihn. Manne hatte seine Krawallanlage abgebaut, umgelagert wahrscheinlich, was nichts anderes bedeuten konnte als tatsächlichen schmählichen Treuebruch. Eine Party vermutlich, ein Tanzfest mit biegsamen Mädchenkörpern, schlank und rank und erregender als der wendigste Meister Esox in stillen märkischen Gewässern. Weiberröcke sind ja wie Leimruten. Aber nein, Horst Reblaus wollte nicht an einen so plumpen Verrat glauben. Seine Ehre hieß Vertrauen. Die Party war sicher gestern gewesen und hatte über Gebühr gewährt, vermutlich angereichert mit konditionsschwächenden Wässerchen. Das gibt’s ja, daß einer sich überschätzt und schließlich, ohne
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es selber zu merken, kapitulieren muß. Manne ratzte da in seinem hinteren Gemach; er hatte nicht die Angeltour vergessen, sondern nur die Zeit verschlafen. Drinnen im weichen Pfuhl lag er und wartete im Unterbewußtsein auf die Hilfe des Kumpels. Der Kumpel schritt also durch den Hausflur, auf den Hof hinaus und wandte sich dort nach rechts, den nicht sehr reinen Fensterscheiben von Mannes Küche zu. Aber auch das Pochen dagegen verhallte ungehört. Also doch Verrat. Reblaus fielen die fünf blauen Scheine ein. Manne brauchte die, dringend sogar. Geld ist immer noch der entscheidende Hebel. Und plötzlich sollte Manne auf den halben Riesen verzichten? Reblaus konnte sich eine Menge vorstellen, das jedoch nicht. Er erspähte, daß auch vom Küchenfenster das Oberlicht geöffnet war. Na warte, meine Zuverlässigkeit soll dich beschämen, dachte er. Wahrscheinlich dachten die beiden Gespritzten mit, und gemeinsam beschlossen sie, beim Freunde einzusteigen; nicht um zu holen, sondern um zu bringen. Die Penunzen knall ich dir auf deinen ollen Tisch, daß er ächzt. Staunen sollst du. Das Küchenfenster, wußte Reblaus, hatte nur einen einfachen Hakenverschluß. Und welcher Angler verstünde nicht, mit einem Haken umzugehen. Zur Zierde dieses Hofes gehörte stachliges Robiniengestrüpp. Reblaus kappte einen festen Zweig, stach sich dabei, leckte fluchend seinen Daumen, besaß aber nun einen prächtigen Hakenlöser. Er brauchte nur noch auf das Fensterblech zusteigen, seinen Arm durchs Oberlicht zu schieben und die spärliche Verriegelung zu lösen. Offene Oberlichter sind der Diebe Wonne. Er dachte nur kurz daran, daß seine Aktion be-
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obachtet und die Polizei alarmiert werden könnte. Das Polizeirevier 83. Was täte dieser Mensch dort im gläsernen Käfig? Käme er spornstreichs angelaufen? Eine herrliche Vision. Das Gesicht wollte er sehen. Es kümmerte sich keine Menschenseele um den Einsteiger. Manche Berufe haben eben verblüffend leichte Bedingungen. Mannes Küche hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Modell eines schmucken Hausfrauenreiches. Ihre Einrichtung stammte noch von seinen Eltern und die malermäßige Instandsetzung vermutlich auch: grünes Paneel und von Dreck und Wrasen nachgedunkelter ockerfarbener Leimfarbenanstrich. Der Abwasch im Spülstein dagegen war höchstens eine Woche alt, ebenso der knochentrockene Harzer Käse auf dem Tisch, der aber immer noch atemberaubend stank. Nein, hier hatte seit längerem kein Weib mehr gewirkt. Jede Frau, mochte ihr Charakter noch so fragwürdig sein, wurde von einem Urinstinkt getrieben, der sie zu ganz bestimmten Handlungen veranlaßt. Sie hätte zumindest den aromatischen Harzer fortgeworfen. Reblaus kannte die Küche wie die übrigen Räume von Mannes Wohnung. Er hatte nie einen kritischen Gedanken an sie verschwendet. Manne pflegte alle seine Kräfte auf die gute Stube zu konzentrieren. Nicht unbedingt auf die Schrankwand Marke „Elegant“ oder einiges andere unumgängliche Mobiliar, auf dem man liegen oder sitzen konnte oder in dem man seinen Kram unterbrachte, sondern auf seine Anlage. Diese Anlage war der Oberbegriff für alles, was auf elektronischem Wege Bilder erzeugte oder Töne. In dieser Anlage fehlte nichts, und es waren keine Geräte schlechthin, sondern solche mit exotischen Bezeichnungen wie Philips, Blaupunkt, Sharp
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oder Sanyo. Man drückte da nicht einfach auf irgendeinen Knopf, und es dudelte und flimmerte, nein, bei Manne besaß ein simpler Radioapparat Sendersuchlauf, Speicher und eine automatisch drehbare Antenne. Seine Color-Glotze sammelte die Programme über Videorecorder; da jaulte Nena und dort wurde Colombo aufgezeichnet. Bei Manne konnte man sogar Blau-Weiß im Kreispokalendspiel auf dem Bildschirm sehen, weil er eine Videokamera besaß und Videobänder und… und… ; und das alles, weil kein liebend Weib sein schwerverdientes Geld in den Exquisit trug. Gegen diese Anlage mußten natürlich Küche und Bett und Stuhl und Habit verblassen. Es sah, all dies in Rechnung gestellt, in Raddatz’ Küche völlig normal aus. Wenn Horst Reblaus plötzlich mit scharfem Blick und bürgerlicher Elle eine gewisse Nonkonformität feststellte, rührte das von seinem schlechten Gewissen her. Die Wohnung eines Freundes, und sei es ein noch so intimer, ist eine fremde ohne dessen Anwesenheit. Das löst unweigerlich einen Hemmungsmechanismus aus, zumal wenn man sie illegal betritt. Mit jedem Schritt, den Reblaus weiter vordrang, fühlte er sich unbehaglicher. Im Korridor dann erreichte dieses Unbehagen seinen Höhepunkt. Manne Raddatz, besagte ein hartnäckiges Gerücht, besaß einen sogenannten guten Anzug, ein paar richtige Oberhemden und sogar eine Krawatte, gesehen hatte ihn Reblaus jedoch noch nie in solcher Montur. Manne trug Jeans und derbe bunte Hemden und darüber immer eine abgewetzte Kutte mit vielen Taschen und einem ausknöpfbaren Pelz. Er ging nie auf die Straße ohne Kutte und ohne eine braune Baskenmütze mit zerrissenem Schweißband. Genau diese Kutte und diese braune Baskenmütze hingen im Korridor an der
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Garderobe. Mannes Uniform am Haken erschreckte Reblaus nur einen Augenblick, dann wurde ihm sofort besser. Manne war also doch daheim und pennte, pennte wie ein Toter. Reblaus riß die Tür zur Schlafstube auf und hoffte nur, der Freund läge allein im Bett. Mitunter konnte der recht pingelig sein, kriegte richtige Intelligenzlermanieren, zum Beispiel in Gesellschaft irgendeiner Schönen, die er abgeschleppt hatte. Mit so ‘ner im Bett, na Mahlzeit. Es gab erfreulicherweise keine Schöne; es gab unerfreulicherweise auch keinen Manne. Es gab ein unberührtes Bett, darüber ein altes Poster von Paul Breitner und einen ebenso verjährten Wandkalender des BFC Dynamo. Ansonsten standen da noch ein Schrank, eine Kommode, ein Stuhl. Wirkte das Schlafgemach karg eingerichtet, so wirkte die gute Stube auf eine befremdliche Weise leer, jedenfalls für den Kundigen. Es schien, als wäre Manfred Raddatz ausgezogen und hätte nur zurückgelassen, worauf er keinen Wert legte. Es fehlte nicht nur die linke Stereobox, es fehlte ebenso die rechte. Der dazugehörige Plattenspieler mit dem Lichtabtastsystem war nicht mehr da. Es gab keine Color-Glotze mehr, keinen Videorecorder, kein Stück Technik von Philips bis Sanyo. Und die gute Stube strömte eine unheilvolle Ruhe aus. Hier tickte nichts, keine Uhr und kein Holzwurm, keine Diele knarrte und keine Fliege summte. Horst Reblaus ließ den Blick in die Runde schweifen. Nach einem Schwenk von weniger als hundertachtzig Grad erstarrte er. Das Sportkasino hatte sich belebt durch die Teilnehmer an dem Alte-Herren-Spiel gegen Union Mitte. Die Spieler kamen einzeln oder in kleinen Gruppen, warfen ihre Taschen in die
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Ecke und pflanzten sich irgendwo nieder. Sie redeten nicht viel, es war, als meditierte jeder für sich über das vor ihm liegende Match. Sogar die Würfelspieler hatten Schluß gemacht. Achims Stimme durchbrach die Stille. „Kein Bier und kein Schnaps mehr jetzt, Leute. Bis Spielschluß.“ Dieter Nelson, genannt Nelli, kam von der Theke zurück mit zwei Flaschen einer bonbonrosafarbenen Limonade. Er stellte eine vor Detlev Kühl, einem langaufgeschossenen hageren Kerl mit blassem, asketischem Gesicht auf den Tisch. Aus der anderen nahm er, als er sich gesetzt hatte, einen Schluck. „So eine Freude,“ brummelte er und blickte mißbilligend auf die Flasche in seiner Hand. „Schmeckt so, wie sie aussieht.“ Kühl nickte. „Schlabbes. Am besten ein paar Tropfen Schierling rein.“ Er nahm ebenfalls einen Schluck und nickte wieder. „Schmeckt sogar noch schlimmer.“ Nelli rollte die Flasche zwischen den beiden Handflächen. „Bist du fit?“ fragte er. „Ich immer,“ sagte Kühl. Er bewegte kaum seine Lippen beim Sprechen. „Wir hatten Oktoberfest, gestern.“ Nelli grinste anzüglich. „Feier zum Tag der Republik mit allem Drum und Dran. Büttenreden. Blech an Hühnerbrüste und ein paar Scheinehen im Kuvert für die braven Kinder.“ „Warst du auch ein braves Kind?“ „Keine Frage. Ganz artig und folgsam. Ja, ohne mich wäre die Welt noch unvollkommener.“ „Hoffentlich dankt’s dir die Welt.“ „Die Welt dankt nie, sie entschuldigt sich auch nicht, wenn sie dir eine Bauchlandung verpaßt hat.“ Er grinste noch eine Spur anzüglicher. „Es war ein Böse-Buben-Ball: Wein, Weib
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und Gesang. Um ehrlich zu sein, ich habe einen fürchterlichen Kater.“ Er setzte die Flasche an und trank gierig. „Ach, was bewundere ich euch Nüchternheitsapostel, obwohl ich sie langweilig finde. Pardon.“ „Ich bin kein Nüchternheitsapostel,“ sagte Kühl gleichmütig. Er nahm Nelli die Fopperei nicht krumm. Sie kannten sich zu lange, um jedesmal einzuschnappen; sie hatten schon im Buddelkasten zusammen gespielt. Nelli sah sich um. „Elf,“ sagte er. „Genau elf Mann. Naja, mit Heini zwölf.“ „Mit Heini elf,“ berichtigte ihn Kühl sanft. Er wußte, was kam, und blockte sofort ab. „Das Spiel morgen reicht mir völlig. Heute bin ich nur ein bon Fan, und anschließend werde ich auch ein braver Junge. Ich fahre raus, um meine Sommerlaube winterfest zu machen, wie meine Favoritin es begehrt.“ „In voller Kluft.“ Nelli nickte. „So dacht’ ich’s mir.“ „Die bleibt hier für morgen, weil ich gleich von draußen hierherkomme.“ „Jetzt jubelt der liebe Nelli, denn er darf erste Spitze spielen. Wenigstens bei den Alten Herren.“ Es klang eine Spur aggressiver, als es wohl beabsichtigt war. Sie waren beide vierunddreißig; da konnte man noch bei den Jungen, durfte aber auch schon bei den Alten. Die Jungen duldeten die Opas noch, beobachteten sie jedoch genau. Sogar in der zweiten Kreisklasse. Niemals und nirgends geschieht beim Sport etwas nur des Spaßes halber, schon gar nicht beim Fußball. „Toi, toi,“ sagte Kühl nachsichtig. „Auf den ersten Punkt.“ Nelli zog mit den Füßen seinen Sportbeutel unter dem Tisch hervor, ergriff ihn und stand auf. „So, wie wir stehen, könnten wir ruhig mit drei Spitzen spielen. Aber was bedeutet das
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schon? Wir brauchten auch ein doppeltes Mittelfeld und eine vierfache Abwehr. Wir müßten mit dreißig Mann spielen.“ Er ging hinaus, sehr aufrecht, straff, elastisch. Keine Spur von Kater. Seine Konstitution war beneidenswert. Nach und nach verkrümelten sich alle in die Garderobe, ohne daß irgendeine Aufforderung an sie ergangen war. Nur wer mit dem Spiel nichts zu tun hatte, blieb. Kühl gehörte dazu und ging zurTheke, „gib mir um Himmels willen eine Flasche Bier. Deine Brause ist reines Gift.“ Achim ignorierte seine eigene Anweisung. Er öffnete ein Bier, spülte ein Glas aus und stellte beides vor Kühl hin. „Keinen Bock heute?“ „So ist es, Freund. Die Zeiten sind vorbei, in denen ich drei Spiele in einem Wochenende gemacht habe. Le temps perdu.“ Er ging zu seinem Tisch zurück und schob die Limonadenflaschen an die äußerste Kante. Dann seufzte er zufrieden. Es war sein erstes Bier seit Tagen. Er hatte sich danach gesehnt. Er trank zwar wenig Alkohol, um so mehr aber genoß er ihn. Diesmal wurde ihm der Genuß verwehrt. Heini war hereingekommen und schoß wie ein Habicht auf ihn zu. „Pulle weg und ab durch die Mitte, Maigret!“ Seine Stimme klang heiser, ein bißchen bellend und gerade deshalb sehr bestimmt. „Indiesem Verein wird nicht rumgezickt.“ Es war sein Verein, er gehörte ihm wirklich. Er war Spieler, Trainer, Organisator, und das schon, solange es den Verein gab. Ein anstrengendes Vergnügen, doch Heini widmete sich ihm mit Hingabe. „Ich bin für morgen aufgestellt“, erklärte Kühl gemütlich und nahm noch einen Schluck. „Egal, wenn du schon hier bist, dann kannst du auch spielen,
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statt zu saufen.“ Heini glich dem Arzt, der, selber rauchend, seinen Patienten den Tabak verbot und auf entsprechende Einwände zu antworten pflegte: Kennen Sie einen Wegweiser, der den Weg selber geht? „Erzähle das denen, die du am Donnerstag für das Spiel heute aufgestellt hast. Die sitzen jetzt bei Dieter warm und sicher, weil du dort nie aufkreuzt. Du grabschst dir einfach deine Leute, wo sie dir gerade über den Weg laufen.“ Heini lachte. „Ein Polizist ist immer im Dienst. Det hier ist sozusagen Alarmbereitschaft. Einer ist immer dabei, der sich den Zeh verstaucht.“ Der Verein verfügte über Spieler für zehn Mannschaften, aber stets waren gerade elf da – oder zwölf. Die andern hockten beim Kieper Dieter, weil es ihnen zu warm war oder zu feucht oder zu kalt oder zu trocken. Damit mußte man leben, und Heini kam ganz gut damit zurecht. Er nahm Kühls Bier und stellte es auf die Theke. „Det kannste ihm aufheben bis nachher.“ Damit war die Sache für ihn erledigt. Wer einem Unterschied nachspürt zwischen der ersten Mannschaft des FC Liverpool und einem x-beliebigen Veteranenteam, wird ihn nicht finden – in der Garderobe. Hier wie dort salben sich die Spieler, kneten Waden und Oberschenkel, wikkeln ihre empfindlichen Gelenke in lange Bandagen ein, und es stinkt hier wie dort in der Kabine nach Schlangengiftcreme; höchstens daß die Liverpooler einiges mehr an Komfort gewöhnt sind. Kühl kam schnuppernd herein und erntete sogleich Nellis sauren Blick. Die Freundschaft stieß sich an einer einzigen Kante, an jener runden Neun auf dem blauen Trikot, die so gut war wie ein Orden. Bimbo Binders Neun, Hanne Sobeks
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Neun, Will Trögers Neun, Gerd Müllers Neun. Detlev Kühls Neun in der ersten Mannschaft und Dieter Nelsons Neun bei den Alten Herren. Kühl suchte lange in dem Vulkanfiberkoffer, bis er Nelli ein Hemd mit der Nummer dreizehn zeigen konnte. Es war besser erhalten als die anderen, weil es so gut wie nie gebraucht wurde. Welcher Star konnte sich schon diese Nummer leisten. Allenfalls Platini. Die Zeremonie des Umkleidens ist ein Teil des Spiels. Kühl entledigte sich seines privaten Habits und verwandelte sich von einem Individuum in einen Mannschaftsteil. Er legte alles ab, Familienstand, Beruf, Herkunft und wurde Ersatzspieler, indem er feierlich in die blau-weiße Kluft stieg. Langsam regte sich auch die Lust zum Spielen. Eine Halbzeit lang oder eine halbe Stunde wenigstens. Sogar zwanzig Minuten würden reichen. Es gibt keinen Fußballer, dem nicht die Füße jucken, wenn er einen Ball sieht, und spätestens, wenn er in der Mannschaftskluft steckt, hat er vergessen, daß da draußen ein Modderfeld wartet, Regen oder Frost oder ein grimmiger Gegner, der es einem zweistellig geben will. Kühl betrachtete seine Kameraden jetzt mit anderen Augen und nahm Heinis heisere Anweisungen aufmerksamer wahr als vordem. Kein Gedanke mehr, daß eine Fußballmannschaft solchen Zu-schnitts eigentlich eine obskure Angelegenheit war. Da waren große und kleine versammelt, dicke und dünne, in der Regel untrainierte und unbeholfene, sogenannte gesetzte Männer, zu einem Treiben, dem Oberliga gewöhnte Zuschauer höchstens Beifall wie für ein Komikerballett zollen konnten.Das alles war mit einem Schlage vergessen. Man klapperte mit seinen Aluminiumstollen über den Betonfußboden, und die Außenwelt drang nur noch von ungefähr ins Bewußtsein. Sie war freilich nicht
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völlig verdrängt. Man nahm das Vertraute nicht mehr wahr, das Fremde um so mehr. Ein Rumoren draußen gehörte nicht hierher, und dann glaubte Kühl das Wort „Detta“ zu vernehmen. Er wußte die Geräusche vor der Kabine nicht zu deuten, aber er besaß einen sicheren Instinkt für Gefahren. Er spürte Kälte in seinen Lippen, sein Körper spannte sich wie von selbst, und seine Sinne wurden hellwach. „Detta, komm doch mal,“ hörte er Achim rufen. Die Tür wurde geöffnet, und in dem Spalt erschien Achims rundes Gesicht, dessen Miene äußerste Bestürzung ausdrückte. „Da ist Fred Feuerstein,“ sagte er. Es klang töricht für unbefangene Zuhörer. Kühl ging hinaus und schritt an gaffenden Zuschauern vorbei wie durch ein Spalier, dachte nicht nach darüber, wo sie so plötzlich hergekommen waren und was Schreckliches passiert sein konnte, das ihre Mienen so gerinnen ließ. Reblaus, der Feuerstein genannt wurde, hockte im Kasino auf dem niedrigen Dauerbrandofen. Wie eine Rodin-Figur saß er da, wenngleich er nicht wie ein Denker wirkte, sondern wie eine völlig hilflose Person. Alle Kraft schien ihn verlassen zu haben; er schwitzte auf eine ungesunde Weise, der Schweiß saß auf den Jochbeinen und am Kinn, und Reblaus wischte fahrig mit der Hand darüber. Dann sah er auf, blickte flehend zu Kühl, der in der Tür stehengeblieben war. „Manne is dot“, murmelte Reblaus. „Dotgeschlagen in seine eigene Wohnung.“ Er fuhr wieder mit der Hand übers Gesicht und verschmierte außer dem Schweiß wahrhaftig Tränen über die Wangen. Er wiederholte seine beiden Sätze und gleich darauf noch einmal. Kühl fühlte einen Schmerz in den Kiefergelenken. Das Blut strömte aus dem Kopf, er atmete tief und angestrengt wie ein Erstickender, die Kälte breitete sich aus bis zum Herzen, er
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hustete krampfhaft und gequält. Gewaltsam zwang er sich selber Ruhe auf, der schwankende Fußboden geriet wieder in seinen normalen Zustand, die jähe Verdüsterung im Raum schwand, und Kühl fand seine Fassung wieder. Keine Frage, daß mit Manne Manfred Raddatz gemeint war und man aus Reblaus vorläufig nichts anderes herausbringen würde als die beiden Sätze. Ebenso klar war, daß mit Raddatz etwas geschehen war. Totgeschlagen, wie Reblaus behauptete, oder verunglückt, verletzt, bewußtlos – tot. „Der sucht schon den ganzen Morgen Manne Raddatz,“ sagte jemand aus dem Kreis der Würfelspieler. Kühl trat hinter die Theke zum Telefon. In der Tür drängten sich die von draußen und schauten scheu herein, vornweg Achim. „Komm ‘rein und mach die Tür zu,“ sagte Kühl schroff. Unschlüssig wählte er die Nummer der Dienststelle. Genaugenommen wußte er gar nichts, also mußte er sowohl einen Toni in die Liebigstraße beordern, als auch die Schnelle Medizinische Hilfe. Er mußte für alle Fälle die Einsatzbereitschaft der MUK verständigen und selber erste Sofortmaßnahmen treffen. Mit andern Worten: Er mußte handeln, als wäre das Schlimmste wahr. Die Meldung durch das Telefon war ebenso knapp wie präzis und für die Uneingeweihten absolut unverständlich. „Wat is denn nun?“ fragte Achim. „Die haben Manne sein ganzen Kram geklaut,“ sagte Reblaus dumpf. „Jedet Stück.“ Damit zerstörte er alle Mutmaßungen jenseits eines Verbrechens. „Also, wat ist?“ fragte Achim noch einmal. „Das werdet ihr schnell genug erfahren.“ Die Situation war unüberschaubar. Einerseits war der Verdacht eines Gewaltverbrechens drin-
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gend gegeben, andererseits handelte es sich bei dem Sportplatzgelände keinesfalls um den Tatort. Drittens waren hier über ein Dutzend Leute versammelt, die das mutmaßliche Opfer sehr genau kannten. Und die Tatsache, daß Manfred Raddatz ein Freund Detlev Kühls war, machte eine Entscheidung keineswegs einfacher. „Am besten, keiner verläßt den Platz,“ sagte Kühl. „Jedenfallswas unsere Leute betrifft.“ Es hätte dieser Aufforderung nicht bedurft. Das Problem war, ob irgendeiner überhaupt in den nächsten Stunden das Feld räumen würde. „Das ist ein Punktspiel“, wandte Achim ein. Er begann mechanisch Gläser zusammenzutragen und auszuspülen. „Horst, wir gehen zu Manne.“ Die knappe Aufforderung war genau das Mittel gegen Reblaus’ Apathie. Er fuhr zusammen. „Nee, nee, ick kann nich! Ick geh’ nich zurück.“ Er furchtelte abwehrend mit den Händen. Die Erinnerung an den Anblick des toten Freundes schüttelte ihn wie ein Fieberanfall. „Ick geh’ nich mehr wegvon hier.“ Daß ihm keine Wahl blieb, sah er letztendlich ein. Er selbst hatte sich schließlich in diese Lage gebracht. Sie waren gerade in die Liebigstraße eingebogen, da rollte von unten der Toni heran und wendete vor dem Haus Nummer 7. Die drei uniformiertem Männer, die ihm entstiegen, beförderten Reblaus’ Gefühle noch. Jetzt geschah genau das, was er vor einer guten Stunde beim Diensthabenden der Revierwache ge-fordert hatte. Doch nicht im Traum hatte er daran gedacht, Manne könnte tot sein, totgeschlagen in seiner Wohnung! Er folgte Kühl nur zögernd zum grün-weißen Wartburg. Die Be- klemmung nahm zu mit jedem Schritt. Zudem war der Strei-fenleiter kein Mann, dem man auf Anhieb eitel Zutrauen ent-gegenbringen
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wollte. Siebenundzwanzig Dienstjahre hatten sein Auftreten geprägt; die Uniform wurde von seinem fülli-gen Leib gespannt, er wirkte grobschlächtig und vielleicht so-gar ein bißchen hinterhältig, woran vor allem wohl sein „Sil-berblick“ schuld war. Klaus Bankel schielte wahrhaftig hervorragend, und mit diesen verschränkten Augen hatte er in Jahrzehnten mehr gesehen, als eine sehr lebhafte Phantasie sich vorzustellen in der Lage war. Das hatte ihm eine charakteristische Kaltschnäuzigkeit anerzogen. Er war weder brutal noch hinterlistig, dafür um so direkter und derber. Er musterte Leutnant Kühls Kostümierung, und ein Lächeln verunschönte sein Gesicht. Mit seinem Lächeln konnte er bei unkomplizierten Leuten geradezu Panik hervorrufen. „Frühsport gemacht und dabei über eine Leiche gestolpert, was?“ fragte er freundlich. Er wandte sich um. „Dort?“ „Ja, dort. Parterre rechts,“ antwortete Kühl mechanisch. „Na, denn wollen wir mal.“ Bankel strebte dem Hauseingang zu, auf den Fersen gefolgt von seinem zweiten Mann. Der dritte, der Fahrer, sah ihnen beinahe gelangweilt nach. In einigem Abstand ging Kühl hinterher und dann erst Reblaus, unsicher, widerstrebend. Bankel wartete vor der Tür und wies seinen Kollegen an: „Du gehst gleich nach hinten durch und nimmst dir jeden vor, der raus- oder reinwill.“ Detlev Kühl erklärte er: „Vor ein paar Wochen war er noch bei der Feuerwehr, wenn’s brennt, weiß er, was zu tun ist. Aber jung und entwicklungsfähig.“ Er konzentrierte seinen Blick auf Reblaus. „Zeuge?“ „Hat den Toten gefunden,“ sagte Kühl. „Aha. Ist die Wohnungstür verschlossen?“ Reblaus schüttelte den Kopf.
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„Das ist gut, macht es leichter. Aber Sie sehen mir etwas grün aus im Gesicht. Am besten, Sie setzen sich in meinen Wagen, da tut Ihnen keiner was.“ Zu Kühl sagte er: „Wollen Sie die Einsatzbereitschaft abwarten?“ „Nein. Es ist eine unklare Situation. Vielleicht auch ist erste Hilfe nötig. Sofortmaßnahmen eben.“ „Anders als ein Kellereinbruch, was?“ Ein bißchen Spott klang da schon mit. Kühls höhere Dienststellung kümmerte Bankel nicht, sie kannten sich recht gut. Er nahm seine Mütze ab und fuhr sich mit einem Taschentuch über die schweißnasse Stirn. „Demnach ist nicht sicher, ob da drinnen wirklich ein Toter liegt?“ Kühl deutete mit einer Kopfbewegung nach draußen. „Er ist in heilloser Verwirrung.“ „Na ja.“ Bankel nickte verstehend. Sie traten in den Treppenflur, und Bankel leuchtete mit einer Taschenlampe auf die Wohnungstür. „Gewalt ist nicht,“ sagte er befriedigt. Er suchte in seiner Tasche und brachte ein Bündel Schließhaken zutage. Das einfache Drückerschloß bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Er leuchtete den Korridor aus, schnüffelte. „Der Gestank kommt von einem gut abgelagerten Harzer. Sie gestatten, daß ich vorangehe.“ Die Diensterfahrung von mehr als der Hälfte seines Lebens machte sich bemerkbar, ihm unterlief auch nicht der geringste Fehler. Sie fanden Manfred Raddatz in seinem Wohnzimmer im Sessel neben dem Ofen. Sein Oberkörper war leicht zur Seite geneigt und nach vorn zusammengesunken. Der Kopf hing zur Brust herab. Die Augen waren geöffnet und gebrochen. Die Haut war wächsern, das schüttere braune Haar von verkrustetem Blut verklebt. Die Totenstarre hatte längst eingesetzt. Bankel zuckte, die Schultern. „Da ist nichts mehr zu
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machen. Ich würde sagen, es ist vor mindestens vierundzwanzig Stunden geschehen.“ Er schaute Kühl an, dessen Gesicht kaum eine Spur lebendiger aussah als das des Toten. „Sie kennen ihn?“ „Ein Freund von mir.“ „Ach nee, was für ein Zufall.“ „Kaum. Warum, glauben Sie, wurde zuerst ich alarmiert?“ „Ist klar. Und der dort….“ Bankel wies mit dem Daumen zum Fenster, durch das man genau auf seinen Toni sah, „auch ein Freund?“ Kühl nickte. „Gewissermaßen eine Angelegenheit im engsten Rahmen.“ Bankel neigte nachdenklich den Schädel. „Mir kommt es merkwürdig vor.“ Kühl schwieg. Es war merkwürdig, aber dafür fehlte ihm im Augenblick jedes Gefühl. Er stand hier ja nicht als ein Mitarbeiter der Kriminalpolizei, der die vorläufigen Untersuchungen durchführte. Er war alles mögliche: Beteiligter, Betroffener, Zeuge, sogar, wenn man wollte, Leidtragender. Was er empfand, war Trauer – und Zorn. Alles andere trat dahinter zurück. Trotzdem stellte er sofort fest, was auch Reblaus bemerkt hatte. „Raubmord,“ sagte er dumpf. „Bitte?“ fragte Bankel irritiert. Er konnte keinen Hinweis auf solch ein Delikt finden; weder Spuren eines Kampfes, noch jene Unordnung, die für einen Raub charakteristisch ist. Er schaute hinüber zu dem Toten im Sessel. Es schien, als wäre Manfred Raddatz völlig ahnungslos gewesen, als ihn der Schlag des Täters traf. „Er hat getrunken.“ Bankel betrachtete aufmerksam die Szene, ohne etwas anzurühren. „Klaren Schnaps, Korn oder Wodka. Wie es aussieht, allein. Aber die Flasche fehlt. Viel-
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leicht ist er damit erschlagen worden, und der Täter hat sie mitgenommen. Was hat er noch mitgenommen?“ Der Streifenführer war keineswegs oberflächlich oder gedankenlos. Man konnte auf Anhieb kaum Lücken in der Zimmereinrichtung entdecken. Mechanisch zählte Detlev Kühl die Teile der Anlage auf, soweit sie ihm geläufig waren: „Farbfernseher, Videorecorder, Radiogerät und Plattenspieler, Heimstudio, Radiorecorder, zwei mindestens, Kassettenständer. Allein die bespielten Kassetten hatten einen beträchtlichen Wert gehabt.“ Bankel zischte erstaunt. „Tatsächlich, das alles? Und ein Heimstudio – was ist das? Hat er einen illegalen Sender betrieben?“ „Keinen Sender und nicht illegal. Ein Heimstudio eben.“ Er konnte es nicht genau definieren. Raddatz hatte sich damit eigene Programme zusammenstellen können. Audiovisuelle. Was sollte man als Laie mehr darüber sagen? Raddatz hatte mit seiner Videokamera sogar selber Filme aufgenommen. Die fehlten auch, und wahrscheinlich würde sich die Liste noch verlängern lassen. Es sah nach einem Raubmord aus, zweifellos. Manfred Raddatz schien friedlich dagesessen zu haben, hatte getrunken und offensichtlich nichts Böses geahnt. Und eben da begannen die Ungereimtheiten. Es mußte jemand bei ihm gewesen sein. Ein Bekannter, ein Freund, eine Freundin? Mehrere Personen? Jedenfalls waren sie nicht gewaltsam eingedrungen, hatten aber dem Anschein nach nicht mit ihm gezecht. Stattdessen brachten sie die Beute beiseite. Ein ziemlich aufwendiges Unternehmen, und ein riskantes. Bankel brummte: „Elf Uhr einundfünfzig. Wir können wohl den genauen Zeitpunkt mit elf Uhr fünfundvierzig ange-
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ben.“ „Wie bitte?“ fragte Kühl zerstreut. „Der Zeitpunkt unseres Erscheinens hier. Wir sind vorläufig fertig. Der Rest ist für die MUK.“ Er schaute wieder aus dem Fenster und riß die Augen auf. „Verflucht, müssen die Idioten denn…“ Er deutete hinaus. Ein zweiter Toni war eingetroffen und hatte sich quer zur Fahrbahn gestellt. Hatte der erste Toni schon einige Neugierige angelockt, tat es der andere mit noch größerem Erfolg. Erstaunlich, wie viele Leute sich in so kurzer Zeit an einem stillen Sonnabendvormittag in einer Nebenstraße versammeln konnten. Bankel stürzte hinaus und auf seine Kollegen zu. „Fein gemacht, wie im Kino. Die MUK ist ganz wild auf solche Schau. Sie hat nichts lieber als viele Zuschauer.“ Die Einsatzbereitschaftsgruppe der MUK unter Leitung von Oberleutnant Zocher erschien 12 Uhr 07 mit einem grauen Barkas. Zocher war ein mittelgroßer kräftiger Mann, Mitte bis Ende Dreißig. Der mürrische Zug um seine Augen vertiefte sich noch, als er den großen Bahnhof erblickte, der ihnen zuteil wurde. Wahrscheinlich ahnte er, daß es an diesem Wochenende mit einem Feierabend nichts mehr werden würde. Er steuerte an Leutnant Kühl vorbei und zielstrebig auf Bankel zu. Ein Kerl wie ein Baum, mit einer Figur, die jeden Raum füllte, und in Uniform schien ihm sicherlich solider als ein Genosse in einem kornblumenblauen Trainingsanzug. Bankels Meldung war kurz, knapp, ohne Flitter. Erst dann richtete Zocher an seinen Kollegen von der Inspektion Friedrichshain das Wort. „Mir scheint, hier stinkt was meilenweit gegen den Wind. Sie vermuten einen Raubmord, wahrscheinlich durch einen oder mehrere Bekannte
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des Opfers. Ein anderer Bekannter findet den Toten und sagt dem dritten oder fünften oder siebenten Bescheid. Der wiederum sind Sie.“ „Es ist naheliegend.“ „Schon, schon, aber auffällig.“ Er musterte Kühl ohne Verbindlichkeit. „Also gut, sehen wir uns das einmal an.“ Er gab seinen Leuten einen Wink. Es waren insgesamt sieben: er, Kriminalmeister Bodenstädt, der Gerichtsmediziner Dr. Merbs sowie zwei Mitarbeiter von der Spurensicherung und zwei Polizisten in Uniform. Zocher postierte einen vor der Hausund den anderen vor der Wohnungstür; die Techniker beschäftigten sich vorerst außerhalb der Wohnung mit der Spurensuche und – Sicherung, und nur er, der Arzt, Bodenstädt, Kühl und Bankel gingen vor zum Wohnzimmer. „Was hier stinkt, ist Käse,“ sagte Bankel. Er erntete den Anflug eines verächtlichen Lächelns. „Humor macht alles leichter, nicht wahr? Wir Sonnyboys meistern unsere Probleme ganz nebenbei.“ Zocher trat vor den anderen ins Zimmer und wandte sich sofort dem Toten zu. Schon nach dem ersten gründlichen Blick auf das Opfer verflog der mürrische Ausdruck auf seinem Gesicht. „Bitte, Sie,“ sagte er zu dem Arzt. Dann sah er sich um und schüttelte den Kopf. „Sie wissen, was geraubt wurde?“ fragte er Kühl. „Ja, aber ich kann nicht sagen, ob das alles ist, was die Täter mitgenommen haben, und ich kann nicht von jedem Gerät den Wert und die Marke angeben.“ Zocher winkte ab. „Das wird sich finden. Ein Glücksfall sind Sie doch für uns. Wenigstens ein Zeuge, der weiß, worauf es ankommt.“ Dr. Merbs trat von dem Toten zurück. „Zweifellos Schädelfraktur. Ob sie ursächlich zum Tode führte, wird die Autopsie ergeben. Die Spanne der Todeszeit ist recht groß. Mindestens
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vierundzwanzig, höchstens achtundvierzig Stunden.“ „Vierzig Stunden,“ warf Kühl ein. „Am Donnerstag um achtzehn Uhr hat er noch gelebt.“ „Die Autopsie wird auch die genaue Todeszeit ergeben,“ sagte der Arzt, „aber es ist schon eine Hilfe, zu wissen, wo die obere Grenze liegt.“ Zocher nickte. „Sie wird sich wahrscheinlich noch mehr einengen lassen. Doch räumen wir jetzt den Technikern das Feld.“ Er sah sich noch einmal prüfend um, als wollte er sich jedes Detail merken. Dann wandte er sich Kühl zu. „Wir haben da unseren kleinen gemütlichen Barkas, in dem können wir uns glänzend unterhalten, Sie und ich. – Setzen Sie sich schon mal rein,“ sagte er, als sie auf die Straße traten, und ging hinüber zu Bankel, der abwartend an seinem Toni stand. Kühl nahm im Barkas Platz und schloß erschöpft die Augen. Er fühlte sich so ausgepumpt, als hätte er ein Fußballspiel mit Verlängerung hinter sich. Er hob erst wieder die Lider, als der Oberleutnant in den Wagen stieg. „Sie sehen etwas mitgenommen aus,“ stellte Zocher fest. „Ich hoffe, Sie können mir dennoch ein paar Fragen beantworten. Wie kommt es, daß Ihr Freund den Toten gefunden hat? Besitzt er einen Schlüssel für die Wohnung?“ „Unwahrscheinlich.“ „Ja, nicht wahr? Wie kann man einen Toten entdecken, der in einer abgeschlossenen oder zumindest offenstehenden Wohnung liegt. Aber Ihr Freund fand ihn und….“ Zocher machte eine bedeutungsvolle Pause, „alarmierte Sie. Er benutzte nicht den Polizeiruf, lief nicht zum ABV oder zum Revier, nein, er lief zu Ihnen. Waren er, Sie und Manfred Raddatz ein unzertrennliches Dreiergespann?“
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Kühl schüttelte den Kopf. „Wir sind oder waren Mitglieder einer sechzig- bis siebzigköpfigen Sportgemeinschaft. Der Sportplatz ist in der Nähe, und dort befindet sich auch das nächste Telefon. Insofern also hat er sich nicht ungewöhnlich verhalten. Und ich bin dort auch nicht nur zufällig gewesen.“ Kühl wies auf seine Sportkleidung. „Völlig klar.“ „Manfred Raddatz war Ingenieur für Fernmeldetechnik, alleinstehend, ohne Beziehung zu Verwandten, soviel ich weiß. Sein Umgang waren die Sportfreunde im Verein.“ „Frauen?“ „Hier und da Frauen, doch keinesfalls enge Bindungen.“ „Demnach sind die Täter im Sportverein zu suchen. Unter sechzig oder siebzig Personen, die Herrn Raddatz kannten und mit seinen Lebensumständen vertraut waren; die wußten, was sie finden würden, und die ihn töteten, um unerkannt zu bleiben. Sie müssen zugeben,; alles deutet auf eine weitgehende Intimität zwischen den Tätern und dem Opfer. Natürlich kommt da auch eine der Frauen in Frage.“ Zocher spielte nachdenklich mit seinen Fingern. „Wie es sich darstellt, ein verblüffend simpler Fall. Nur ein begrenzter Täterkreis, überschaubar vor allem. Sie haben Herrn Raddatz am frühen Donnerstagabend zuletzt gesehen. Bei welcher Gelegenheit war das?“ „Im Sportkasino. Er spielte Karten. Ich ging vor dem Training dorthin. Die Halle ist auf der anderen Straßenseite, und wir treffen uns immer vorher im Kasino. Gesprochen haben wir nicht miteinander, und nach acht Uhr war er schon weg.“ „Sie hatten also keine sehr enge Beziehung zueinander?“ „J…ein,“ sagte Kühl vorsichtig. „Wir waren nicht wie die Kletten. Wir mochten uns, konnten miteinander, wie es so
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schön heißt.“ „Und dieser andere?“ „Horst Reblaus? Gehört zum harten Kern aus der Gründerzeit. Er, Manfred Raddatz und noch eine Handvoll anderer Mitglieder des Vereins haben schon in der allerersten Mannschaft gespielt. Die sind natürlich enger befreundet gewesen. Stammtisch, Sportplatz und so weiter.“ „Fragt sich, ob die Freundschaft von der Art war, daß sie sich gegenseitig umbringen würden, falls es sich lohnt. Die Beute scheint einen Mord ausreichend zu motivieren.“ Detlev Kühl wehrte sich gegen diese Version. Er glaubte, jeden einzelnen zu kennen. Gewiß, es gab regelrechte Stromer im Verein, Hitzköpfe, die schnell mal mit der Faust zur Sache gingen, Trinker mit Problemen in der Familie oder im Beruf. Es hatte kleinere Diebstähle gegeben und mittlere Transaktionen; in sechzehn Jahren wenig genug – aber es hatte sie gegeben. „Ich merke, Sie wollen mir nicht folgen. Nun gut, es handelt sich hier offensichtlich um ein von A bis Z ausgetüfteltes Verbrechen, und Sie sind keinesfalls so naiv, daß Sie bestimmte Anzeichen dafür in Ihrem Kreise nicht irgendwann wahrgenommen hätten. Außerdem, es war ein riskantes Unternehmen, zu riskant für jemand, der hier im Viertel bekannt ist. Die Täter mußten damit rechnen, daß sie beobachtet werden, wenn sie die Beute aus der Wohnung schaffen. Bliebe die andere Variante: eine Frau. Lockere Verbindungen mit Frauen das könnte man auch so interpretieren: flüchtige Bekanntschaften mit lockeren Frauen.“ Das hörte sich an, als hätte Raddatz die Frauen gewechselt wie andere Leute das Hemd, als wenn er sie von der Straße aufgelesen und abgeschleppt hätte. Kühl erschien diese Vari-
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ante noch unwahrscheinlicher als die erste. Zudem rückte sie Raddatz in ein schiefes Licht, stempelte ihn quasi zum Selbstschuldigen. „Es funkt nichts bei mir,“ sagte er. „Über Raddatz’ Frauenbe-kanntschaften weiß ich so gut wie nichts. Es gab sie nicht zu Dutzenden, es gab nicht einmal eine Handvoll. Manfred Raddatz war auch nicht der Typ, sich mit Flittchen zu befassen. Wenn ich irgend jemanden verdächtigen sollte, müßte ich bei mir anfangen.“ „Aber bei Ihnen sind Sie sich natürlich am sichersten?“ „Gewiß.“ „Diese Sicherheit mal siebzig bis mal hundert, und der Fall ist geklärt.“ Der Oberleutnant verzog die Lippen. „Außer viel Arbeit keine Probleme. Gerichtsmedizinische Untersuchungen, Spurensicherung, Alibiüberprüfungen et cetera.“ Er blickte demonstrativ zu Bankels Toni. „Eine Menge Befragungen, und damit wollen wir nun beginnen. Wie war doch gleich der Name unseres Kronzeugen?“ „Horst Reblaus.“ „Und wie muß man ihn behandeln, meinen Sie?“ „Er tappt Ihnen in jede Falle. Er pflegt auch sonst in jedes Fettnäpfchen zu treten. Er ist nicht etwa dumm, nur völlig arglos, reagiert spontan wie ein Kind, verbiegt eher ein Hufeisen als einen Gedanken.“ „Vielleicht ist es besser, Sie vernehmen ihn?“ „Nein. Ich bin befangen. Außerdem gehöre ich nicht zur Untersuchungsgruppe.“ „Das wird sich ändern. Wir lassen uns doch nicht einen Genossen durch die Lappen gehen, der besser Bescheid weiß als irgendeiner von uns. Also, dann rede ich jetzt mit Ihrem Reblaus. Ich werde ihn nicht beißen.“
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Reblaus hockte im Fond des Streifenwagens und stierte vor sich hin. Er begriff nicht, wie jemand seinen Freund hatte erschlagen können, einfach so, nicht mal im Zorn, sondern nur wegen ein paar lächerlicher Gegenstände. Daß jemand in Versuchung geraten konnte, etwas Begehrenswertes zu stehlen, das verstand er, aber Mord oder Totschlag aus schnöder Raffgier… Er saß bewegungslos da und rührte sich auch nicht, als der Oberleutnant den Schlag öffnete und zu ihm hereinkletterte. Selbst als Zocher sich vorstellte, mit Namen und Dienstrang, reagierte er nicht. Erst als ihn der Oberleutnant sacht am Arm packte, machte er eine abwehrende Geste. Es dauerte noch einige Zeit, bis ein Gespräch mit ihm möglich war, ein etwas seltsames Gespräch, in dem dem Oberleutnant absonderliche Fakten mitgeteilt wurden, die ihn in eine tiefe Ratlosigkeit stürzten. Eine Vermißtenmeldung beim Revier 83 kam zur Sprache, nein, es handelte sich lediglich um eine Anzeige, das Opfer betreffend, die dort abgewiesen worden war. Dann ein Einstieg in die Wohnung durchs Küchenfenster, was objektiv wenigstens Hausfriedensbruch bedeutete, durch den aber das Verbrechen entdeckt wurde. „Also, das müssen Sie mir erklären. Am besten zweimal oder dreimal, eher kapiere ich es wahrscheinlich nicht. Weil Herr Raddatz morgens nicht in diesem Sportkasino erschien, in dem Sie sich treffen wollten, marschierten Sie schnurstracks zur Polizei. Was für einen Anlaß gab es dafür?“ Ungewiß, ob der Oberleutnant Reblaus für nicht ganz zurechnungsfähig hielt, umgekehrt war es ganz gewiß so. Was wollte der Bursche denn noch? Manne Raddatz war umgebracht worden, Anlaß genug – oder nicht? „Ich widerspreche Ihnen da gar nicht,“ stimmte Zocher
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diesem Argument zu. „Allerdings scheint mir die Reihenfolge etwas seltsam. Wußten Sie, daß Raddatz sich in Gefahr befand? Hat er Ihnen gegenüber solch eine Möglichkeit erwähnt?“ „Nee“, sagte Reblaus. „Det kam mir nur merkwürdig vor.“ „Hatten Sie solche Ahnungen schon früher?“ Zocher fragte nicht, ob Reblaus über einen siebenten Sinn verfügte, ob ein Bild von der Wand gefallen war oder nach anderen okkulten Erscheinungen, obwohl er durchaus versucht war, es zu tun. Reblaus schwieg ihn an, offensichtlich begriff er denSarkasmus nicht. „Wieso sollte ick det schon früher ahnen?“ fragte er nach einer Weile verwundert. „So lange war doch allet in Ordnung.“ Genau das glaubte der Oberleutnant nicht. Doch das Horst Reblaus plausibel zu machen, war fast unmöglich. „Ich meine, rennen Sie jedesmal von Hunz zu Kunz, wenn was nicht so läuft, wie Sie es sich vorgestellt haben?“ Die Antwort entwaffnete ihn vollends. „Natürlich, det könnte ja wat passiert sein.“ „Was hatten Sie denn befürchtet? Einen Raubüberfall auf Ihren Freund?“ Reblaus dachte angestrengt darüber nach, was ihn zum Revier getrieben haben könnte. „Ick weeß es nich,“ gestand er endlich. „Ick habe bei Achim jesessen und jewartet. Denn bin ick zu ihm jejangen. Zu Manne.“ „Doch erfolglos.“ „Ja. Er war nich da. Jedenfalls dachte ick, er is nich da. Morgens, nich wahr.“ „Er hätte einkaufen gegangen sein können. Erregte etwas irgendeinen Verdacht? An der Wohnungstür vielleicht, oder an den Fenstern?“
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„Die Krawallbombe,“ sagte Reblaus. „Die Kugelbox, mein ick. Von seine Stereoanlage. De Jardine klaffte ein Stücke. Aber det is erst später jewesen,“ fügte er resigniert hinzu, „als ick denn in de Küche ‘rin bin durchs Fenster.“ „Ja, das ist das nächste, was mich interessiert. Was wollten Sie da drin, wenn Sie annehmen mußten, Ihr Freund sei überhaupt nicht zu Hause?“ „Det Geld.“ „Welches Geld?“ „Ick hatte mir im Sommer fünf ganze Scheine jeborgt. Eigentlich wollte ick det abklappern, so jede Woche ‘n halben Schein. Aber nu brauchte et Manne.“ „Wofür?“ „Keene Ahnung. Donnerstag hat er es mir jesagt. Ick mußte janz schön kratzen.“ „Wo ist das Geld?“ Reblaus zog aus der Gesäßtasche ein abgegriffenes Portemonnaie und nahm fünf gefaltete Hundertmarkscheine heraus. „Befand sich Ihr Freund in finanziellen Schwierigkeiten? Hat er dergleichen verlauten lassen?“ „Nee.“ Vielleicht hatte er ein neues Stück erwerben wollen oder ein anderes bezahlen müssen; aus Reblaus war in dieser Hinsicht nicht viel herauszubringen. Statt dessen hörte Zocher eine komplizierte Lektion in Sachen Freizeitverhalten des Volkes. Am Donnerstag hatte Raddatz mit drei Personen namens Menninger, Perlwitz und Wurzelpeter Klammern gespielt. Raddatz mit Menninger gegen Perlwitz und Wurzelpeter. Ohne Vorkenntnisse schaute man da kaum durch. Jedenfalls hatten Raddatz und Wurzelpeter um Geld gegeneinander ge-
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spielt und die anderen nur um Bierlagen. Dabei war es diesmal darauf angekommen, Wurzelpeter zu schröpfen. Die drei anderen steckten unter einer Decke und nahmen jenen Wurzelpeter nach Strich und Faden aus. Deswegen hatte es gehörigen Stunk gegeben. „Rauhe Sitten,“ kommentierte Zocher. „In unseren Kreisen nennt man so etwas Betrug.“ Er registrierte, daß es sich bei dem Opfer nicht gerade um einen Musterknaben gehandelt hatte. „War doch unter uns,“ verteidigte Reblaus die Wildwestrnanieren im Sportkasino. „Jing doch nur gegen das Schlitzohr Wurzelpeter.“ Das „Schlitzohr“ hatte natürlich den Vorgang nicht einfach hingenommen, sondern wollte sogar tätlich werden. „Hat Wurzelpeter auch einen bürgerlichen Namen?“ „Peter Krüger, der wohnt hier gleich nebenan. In det Eckhaus da.“ Das Eckhaus war das Nebenhaus und gehörte zur Rigaer Straße. Immerhin interessant, daß gerade diese beiden am Donnerstag Streit miteinander gehabt hatten. Raddatz brauchte Geld, er spielte um Geld und gewann mit recht fragwürdigen Mitteln. Reblaus schien begriffen zu haben, daß er mit seiner Offenheit seinen Freund ganz schön reinritt. Er wurde zunehmend wortkarger, vor allem, als es um sein eigenes Verhältnis zu Wurzelpeter ging. Einer, der nicht wegen Fußball ins Kasino kam, sondern zum Kartenspielen. Natürlich hatte er auch schon mit ihm gespielt. „Auf die schnöde Tour?“ „Ick spiele nie um Geld, und Manne sonst ooch nich…“ Er verstummte, weil ihm einfiel, daß Raddatz nie wieder um et-
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was spielen würde. „Es würde mich interessieren, ob in Ihrer Sportgemeinschaft auch Fußball gespielt wird,“ bemerkte Zocher bissig. „Diesen Reblaus, Ihr Unschuldslamm, werden wir uns nochmal gründlich vornehmen müssen. Eine Fundgrube, der Mann. Wer weiß, was ihm noch alles einfällt, wenn ich ihn vor mir auf dem Stuhl habe.“ Er blickte zur Haustür, aus der gerade Dr. Merbs trat. „Sagt Ihnen der Name Wurzelpeter etwas?“ Kühl nickte. „Krüger. Sieht aus wie aus ‘nem Stubben geschnitzt, deshalb der Spitzname.“ „Raddatz hat ihn am Donnerstag beim Kartenspiel betrogen und anschließend Rabatz mit ihm gehabt. Wissen Sie, dass Wurzelpeter dort drüben wohnt?“ Kühl wurde einer Antwort enthoben, weil der Arzt herangekommen war. „Mein Part ist erledigt,“ sagte er. „Es war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Schädelfraktur, die zum Tode führte. Aber da ist noch etwas.“ „Was?“ „Der Mann war gefesselt, bevor er getötet wurde. Gefesselt und vielleicht auch geknebelt. An Armen und Beinen gebunden mit einem nicht allzu starken elastischen Seil, wahrscheinlich aus einem synthetischen Material. Übrigens war er auch noch gefesselt, als der Tod bereits eingetreten war. Können Sie sich vorstellen, warum man jemand, den man umbringen will, vorher bindet?“ „Kann ich,“ sagte Zocher grimmig. „Aber ich habe keine Lust zu romantischen Spekulationen. Meinetwegen sollen die Täter auch noch maskiert gewesen sein. Mit ‘nem Damenstrumpf über’m Gesicht oder so. Es ist mir egal. Ich bin kein Filmregisseur, der auf Gags aus ist. Schreiben Sie das alles in
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Ihren Bericht und fertig. Weiß die Spurensicherung Bescheid?“ „Natürlich,“ sagte Dr. Merbs. Zocher musterte Leutnant Kühl grimmig. „Mein einziger Wunsch ist, dieses Sportkasino kennenzulernen. Scheint mehr ein ,Schwarzer Walfisch von Ascalon’ zu sein. Gratuliere, Genosse Kühl.“ Fünfundfünfzig Stunden später, am Dienstagabend, fand im Präsidium die erste resümierende Dienstbesprechung statt. An ihr nahmen alle Mitarbeiter der Morduntersuchungskommission, Leutnant Kühl und der Leiter der Kriminalpolizei, Major Goll, teil. Es wurden alle gerichtsmedizinischen und labortechnischen Resultate ausgewertet und die Ergebnisse der Ermittler in Beziehung zueinander gebracht. Die Autopsie hatte ergeben, daß Manfred Raddatz am Donnerstagabend gestorben war. Der Tod war etwa zwischen 21 Uhr und Mitternacht eingetreten. Als Todesursache wurde eine Schädelfraktur infolge eines Schlages mit einem stumpfen Gegenstand festgestellt. Als erwiesen konnte gelten, dass das Opfer zum Zeitpunkt des Todes an Händen und Füßen gefesselt gewesen war. Die Untersuchung verwertbarer Spuren waren noch nicht abgeschlossen. Vor allem galt es, zwischen primären und sekundären Tatortspuren zu unterscheiden. Raddatz hatte getrunken, Wacholderbranntwein der Marke Schinkenhäger; das Glas auf dem Tisch war zweifellos von ihm benutzt worden. Ein anderes Glas vom selben Satz hatte im Spülstein in der Küche zwischen dem Abwasch gelegen. Die Flasche wurde nicht gefunden. Es könnte sich bei ihr um das Tatwerkzeug handeln. Der Ablauf der Tat war einwandfrei geklärt worden. Vor allem was die zeitliche Bestimmung betraf, gab es kaum Lücken.
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Ein Dutzend Zeugen konnte den Framo-Pritschenwagen beschreiben, der kurz vor 22 Uhr auf dem Bürgersteig direkt vor dem Fenster von Raddatz’ Wohnzimmer geparkt hatte. Die Dreistigkeit, mit der die Aktion vonstatten ging, hatte jeden Augenzeugen zu der Annahme verführt, daß hier ein völlig legaler Vorgang ablief. Den auffälligen Wagen zu finden, machte auch keine Schwierigkeiten. Er war in derselben Nacht auf einem Parkplatz in Oranienburg abgestellt worden. Es handelte sich um ein Fahrzeug mit Magdeburger Kennzeichen, das einer Produktionsgenossenschaft des Elektrohandwerks in Stendal gehörte. Diese PGH setzte es für Serviceleistungen ein; der Fahrer hatte es in persönlicher Pflege, das heißt, er nahm es stets nach Hause mit und parkte es in der Nähe seiner Wohnung in einer Nebenstraße. Sein Verschwinden wurde erst am Sonntagabend bemerkt, weil der Servicemonteur mit seiner Familie einen verlängerten Wochenendurlaub über dem Bodetal im Hotel ROSSTRAPPE verbrachte. Als der Diebstahl angezeigt wurde, hatte man das Fahrzeug bereits sichergestellt. Das war allerdings ein bemerkenswertes Indiz, dessen Bedeutung noch nicht abzusehen war. Wer wußte, daß der Framo dort zu stehen pflegte und daß er an jenem Wochenende ab Donnerstagmittag nicht mehr gebraucht wurde? Die Räuber mußten nicht nur die Gewohnheiten des Fahrers genau gekannt haben, sondern auch so vertraut mit ihnen gewesen sein, daß sie Unregelmäßigkeiten sofort auszunutzen in der Lage waren. Vorausgesetzt, dieser Wagen war gezielt von ihnen ausgewählt worden – und das durfte man bei der genauen Vorbereitung des Raubüberfalls als sicher annehmen –, dann hatten sie vielleicht sogar selber für den Urlaub des Fahrers gesorgt. Die etwas abenteuerliche Schilderung des Mannes, wie er zu diesem
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Trip gekommen war, bekam einen Hauch von Wahrscheinlichkeit. Die Stendaler PGH installierte seit dem Sommer die Kraftstromanlage eines Rindermaststalles in Heudeber. Während dieses Einsatzes wohnten die Kollegen in einem Bauarbeiterhotel in Niegripp, Kreis Burg. Dort wurde dem Mann das Zimmer angeboten. Er konnte einen Namen nennen, Hägin, doch er hatte diesen Kollegen nie gesehen. Hägin wohnte auch nicht in dem Hotel. Er hatte den Hausmeister angerufen und eine Telefonnummer hinterlassen, unter der der Monteur, Billerbeck hieß er, mit ihm in Verbindung treten sollte. Er tat es, und Hägin offerierte ihm ein Zimmer für vier Personen im ROSSTRAPPE-Hotel für die Zeit vom 4. bis 7. Oktober. Jener Hägin spielte zweifellos eine Rolle in der undurchsichtigen Angelegenheit mit dem Framo. Major Goll mischte sich selten und ungern ein. Hier tat er es. „Erstens: Wenn wir davon ausgehen, daß einer der Täter womöglich Schicksal gespielt, das heißt, den Fahrer des Wagens gezielt für jene Tage aus dem Verkehr gezogen hat, in denen man den Framo brauchte, stellt sich die Frage: Warum ausgerechnet der? Schlußfolgerung: Der oder die Täter kannte beziehungsweise kannten das Fahrzeug und offensichtlich seinen Fahrer ebenso. Also stehen oder standen sie in einer Beziehung zu ihm und zu der PGH. Zweitens: Heudeber, Niegripp, Stendal – alle drei Orte liegen im Bezirk Magdeburg. Da es sich bei dem Raubüberfall offensichtlich auch um eine Beziehungstat handelt, müssen wir ermitteln, ob es in irgendeiner Weise eine Verbindung des Opfers mit dem Bezirk Magdeburg gab. Des weiteren, wer aus dem Bekanntenkreis des Opfers dorthin Verbindungen hat? Außerdem ist da noch das Beutegut. Können wir es lückenlos in die Sachfahndung auf-
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nehmen?“ „Nein, nur sehr lückenhaft,“ antwortete Hauptmann Barabasch. „Für einige Geräte haben wir Verkaufsurkunden oder Garantiescheine gefunden. Übereinstimmende Auskünfte der Zeugen gibt es nur über einen Teil des Raubgutes, freilich einen sehr prägnanten. Dazu gehören eine Videoausrüstung, eine Sharp-Anlage mit Recorder und Aufnahmekamera. Das dürften auch die wertintensivsten Gegenstände sein, einschließlich eines Blaupunkt-TV-Color, Typ dreihundert. Die Rede ist auch von einer HiFi-Stereoanlage mit zwei Kugelboxen und von einem Heimstudio, aber dafür fehlen alle näheren Angaben. Die besitzen wir belegt für zwei Kassettenrecorder der Marke Philips und Stern sowie für einen Satz Kopfhörer. Unbestimmt sind Art und Menge der Sekundärgegenstände, also Zubehörteile, Kassetten und so weiter.“ „Viel Arbeit,“ sagte der Major, „aber die Aussichten sind nicht schlecht.“ „Sie wissen, warum wir Sie in die Kommission geholt haben,“ sagte Barabasch zu Detlev Kühl. „Sie haben die beste Übersicht über den Kreis um Manfred Raddatz.“ Er schwieg nachdenklich. „Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, dass Sie Ihre Freunde vom Sportverein so weit zu kennen glauben, um einen Täter unter ihnen auszuschließen,“ fuhr er dann fort. „Eine normale Einstellung, aber eine hinderliche.“ Kühl nickte. „Ich habe dem Major aufmerksam zugehört. Doch Beziehungstäter hin und Beziehungstäter her, den Leuten dort fehlt es an Voraussetzungen. Sie haben weder das Vermögen noch die Zeit, ein Ding von solchen Ausmaßen auszubaldowern. Das sind Arbeiter, Lehrlinge, Schüler. Außer einem Lehrer und drei Ingenieuren gibt es in dem Verein kaum sogenannte Intellektuelle. Selbst ich als Behördenange-
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stellter bin dort schon so etwas wie ein Exot.“ „Ah ja? Aber vergessen Sie nicht, es gibt da noch einen anderen Bekanntenkreis von Raddatz. Er hatte intime Beziehungen zu Frauen, und die wußten bestimmt um die Werte in seiner Wohnung. Es wäre doch möglich, daß Enttäuschung, Streit oder was auch immer der Spiritus rector gewesen ist.“ Der Hauptmann schlug die Akte auf. „Irene Paßlak, Jahrgang vierundvierzig, ledig, mit Raddatz bis vorigen Winter liiert. Eine Enttäuschte. Jahrelang Hoffnung auf mehr, bis plötzlich eine andere ihre Stelle einnahm. Monika Will. Ihre Vorgängerin und kurze Zeit ihre Nachfolgerin. Ebenfalls vierzig Jahre alt, Angestellte bei der Staatsbank.“ Kühl zuckte die Achseln. „Ja, vage. Ich gebe es zu. Trotzdem. Da wäre noch Ilona Voigt, halb so alt wie die beiden anderen, ein rechtes Früchtchen. Ist nichts anderes als eine kleine Herumtreiberin und nur deshalb nicht einschlägig erfaßt, weil sie ihrem Vater den ,Haushalt führt’.“ „Ich habe nie ein Wort mit ihr gesprochen.“ „Das können Sie nachholen. Sie hat erklärt, nichts zu wissen, und dabei nicht länger nachgedacht, wie man braucht, um das auszusprechen. Ich habe vor, sie Ihnen anzuvertrauen, denn bei ihr gibt es noch eine Menge dunkler Punkte. Undefinierbare Männerbekanntschaften. Ich wüßte gern mehr darüber. Und von der ,Bierglocke’ möchte ich auch mehr wissen. Ihr Stammlokal?“ „Nein. Aber wenn man jemand aus der Sportgemeinschaft sucht, kann man ihn am ehesten dort finden.“ „Genau das meine ich. Am vierten Oktober feierte der Wirt seinen Geburtstag, da waren so gut wie alle Ihre Sportfreunde mal präsent. Ich wüßte gern: wer, wann, wie lange. Solch ein
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Diagramm fällt Ihnen leichter als anderen, glaube ich, außerdem ist es ein Liebesdienst an Ihren Kumpel. Wer dort gefeiert hat, fällt durchs Sieb.“ Ilona Voigt war ein Schönchen, das erklärte, irgendwann einmal den Schalter in ihrem Kopfe herumgedreht zu haben. Sie hatte sich eine Karriere als Mannequin vorgestellt, und das hatte nicht geklappt. Seitdem war sie Kleindarstellerin beim Fernsehen – manchmal. Ihr Name rangiere in der alphabetischen Kartei zu weit hinten, kommentierte sie die Besetzungspolitik der Komparserieleitung. Sie versuchte das Grinsen der Sue Ellen aus der Seifenoper „Dallas“. Die Affäre mit Manfred Raddatz sei doch längst zu Ende gewesen, monierte sie dann die erneute Befragung. Längst bedeutete ungefähr einen Monat. Wegen Andy, der von der Fahne demnächst freikam. „Wegen eines anderen haben Sie mit ihm Schluß gemacht,“ stellte Detlev Kühl lakonisch fest. „Nur deswegen?“ „Nee. Manne war eigentlich der andere. Andy kenne ich schon viel länger.“ Sie verschwendete wieder dieses affektierte Lächeln an den Kriminalleutnant. „Um genau zu sein, Manne war ein ziemlich langweiliger Patron.“ Sie fügte eine echte Tautologie hinzu: „Er war ein richtiger alter Greis.“ Es ließ sich nicht übersehen, daß Manfred Raddatz’ Wesen recht vielschichtig war. Er hatte also auch eine Affinität zu was Jungem, Frischem gehabt, doch der Erfolg seiner Bemühungen um Ilona Voigt war nur kurzlebig gewesen. Er wurde ihr einfach zu anhänglich, vermerkte sie naserümpfend. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie jeden Abend Hand in Hand mit ihm vor der Röhre sitzen müssen. Der rührte sich doch bis auf gelegentliche Kneipenbesuche kaum aus dem Bau.
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Natürlich interessierte sie sich für das Spielzeug des alten Herren, besonders für die Videokamera. Endlich konnte sie, sooft sie wollte, auf der Mattscheibe posieren, in Farbe. Auf die Dauer wurde das aber auch fade. Für den Mordabend schien sie sogar ein Alibi zu haben, wenngleich sie eingestand, nicht mehr zu wissen, wo sie überall gestreunt sei. Immerhin entsann sie sich ihrer Weggefährten, Burschen ihres Alters und vielleicht auch ihres Kalibers. Keinesfalls aber gewiefte Profis, die sich aus Stendal einen Framo holen, in der Nachbarschaft eine Wohnung ausräumen und den Inhaber umbringen. Die „Bierglocke“ war ein Lokal wie unzählige andere Eckkneipen in Berlin. Zwei Räume, links ein Tresen, die Toiletten geradeaus; die Preistafel an der Wand hing so hoch, daß man ein Fernglas benötigte, um sie lesen zu können. Aber die Gäste kannten sich eh in den Preisen aus. Preisstufe eins. Das Bier neunundvierzig Pfennige, der Korn fünfundsechzig, der Weinbrand achtzig. Und der Wirt kannte jeden Gast beim Vornamen. Er hieß Dieter Rolff und war seit fünf Tagen dreiunddreißig Jahre alt. Er hatte gerade erst aufgemacht und noch keine Kundschaft außer einem verknitterten Männchen am Stammtisch, das eben seinen ersten Doppelten mit beiden Händen gepackt hatte. Rolff reichte Detlev Kühl flüchtig seine nasse Hand über die Theke. „Pils?“ „Kaffee.“ „Also dienstlich,“ sagte Rolff seufzend. „Ich habe in meinem ganzen Leben nicht so viele Polizisten gesehen wie in den letzten Tagen. Aber der Aufwand hat sich wohl noch nicht gelohnt, was?“
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„Er lohnt sich immer. Leider hinterläßt ein Mörder oder Totschläger selten seine Visitenkarte neben seinem Opfer.“ „Ist es wahr, daß es ein Mitglied von Blau-Weiß gewesen sein soll?“ „Nein. Aber wahrscheinlich kannte Manne den Täter. Kannte ihn sogar gut.“ „Dann kenne ich ihn vielleicht auch gut, weil er einer von meinen Gästen ist.“ Er sah zu dem Männchen ‘rüber, das noch immer mit seinem Schnaps beschäftigt war. Kühl folgte seinem Blick. „Hoffentlich bricht er sich nicht seine Arme dabei.“ „Der zitterte nicht etwa, weil er den ersten noch nicht drin hat, sondern er hat wirklich den Tatterich. War mal Kellner hier. Noch bei meinem Vater. Jetzt ist er das da.“ „Na, du hast Irene. Wo ist sie?“ „Sie hat Manne geliebt. Ist nicht in der Lage jetzt, ein Tablett zu tragen. Weiß der Teufel, es ist zum Kotzen.“ Rolff schob Kühl den Kaffee hinüber. „Am schlimmsten ist das Gerede. Jeder weiß mehr als der andere, dabei ist es alles derselbe Quatsch. Gestern hat einer erzählt, daß ihr Fred Feuerstein hochgezogen habt. Seltsam ist es allerdings schon, wie er Manne gefunden hat. Und richtig randaliert haben soll er vorher, auf dem Revier und auf dem Platz. Begreifst du das?“ „Darauf kommt es nicht an. Leider begreift er es selber nicht. Jedenfalls kann er keine einleuchtende Erklärung dafür liefern.“ „Also habt ihr doch…“ „Nein, wir haben nicht. Den Haftbefehl unterschreibt kein Staatsanwalt.“ „Wenn du mich fragst, Feuerstein ist ein saudummer Hund.
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Immer spontan, immer was ihm gerade einfällt.“ Rolff schenkte sich einen Schluck ein und kippte ihn hinunter. „Nein, er tut mir leid.“ „Wem sagst du das. War Horst am Donnerstag bei dir?“ „Wann ist Feuerstein nicht hier? Wenn ich Schließtag habe. Donnerstag kam er ein paar Mal.“ Ein Pärchen hatte an einem Tisch im Nebenraum Platz genommen, und Rolff wurde seinen zweiten Kaffee an diesem Nachmittag los, dazu eine Cola. Der nächste Gast wollte nur eine Schachtel „Juwel“. „Doller Betrieb bei dir,“ sagte Kühl. „Punkt halb fünf geht’s los. Nach dem Schließtag müssen sich die Leute erst umgewöhnen.“ Die „Bierglocke“ war berüchtigt wegen ihrer Öffnungszeiten. Sie hatte montags Ruhetag, öffnete dienstags bis donnerstags von 16 bis 24 Uhr, freitags von 18 bis 1 Uhr, sonnabends und sonntags von 9 bis 13 Uhr. Man brauchte ein gutes Gedächtnis, um sich das merken zu können, doch die meisten hatten es im Laufe der Jahre begriffen. Rolff lächelte. „Wollen wir wetten, daß Feuerstein um halb fünf auf der Matte steht? Falls ihr ihn nicht doch eingespundet habt.“ „Wann war er Donnerstag hier?“ „Halb fünf. Er fällt aus dem halber Bus raus, direkt in meine Pinte, trinkt eine Selters und zwei Gespritzte, dann geht er essen. Donnerstag ist danach der Sportplatz dran, und wenn dort zugemacht wird, kommt er hierher. Das ist gegen zehn. Donnerstag ist sein freier Tag, und die Ausrede heißt Fußball. Sonst darf er nicht. Manchmal schleicht er sich auf Latschen runter.“ Er schaute nachdenklich in das Spülwasser. „Ich muss Opa Gustig rasch ‘nen neuen Schnaps bringen. Entschuldige.“
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Er kam zurück und sagte: „Es war ja mein Geburtstag, letzte Woche. Feuerstein gierte nach meiner Stubenlage, deshalb hat er wohl die Zellestraße ziemlich abgekürzt. Er war schon gegen acht hier. Und dann hat er seine vier Teile doch nicht abbekommen. Der säuft doch immer seine Gespritzten, kostet mich zweizweiundneunzig.“ „War er trotzdem zu spät?“ „Gott bewahre, nein. Die Stubenlage gibt es präzis vier vor zehn, das ist die genaue Zeit meines werten Erscheinens auf der schönen Erde. Es war übrigens auch ein Donnerstag.“ „Der Arme ging also leer aus?“ „Jawohl. Als er nämlich wieder auftauchte, war der Zug abgefahren. Eiserne Regel: vier vor zehn. Da zahlt die Bank Geld drauf. Er war ziemlich angesäuselt und entsprechend beharrlich. Drohte sogar, die Stampe hier zu meiden, wie er sagte. Dauerte keinen ganzen Tag. Pünktlich mit dem Halbfünfer war er wieder da.“ „Es wär mir lieb, du könntest dich an jeden Gast so gut erinnern: Wer am Donnerstag hier war, wann, wie lange, mit wem. Das würde uns weiterhelfen.“ „Wobei?“ „Alle zu entlasten, die Manfred kannten. Manfred hat sich bis kurz vor acht Uhr abends auf dem Sportplatz aufgehalten.“ Kühl sah Rolff lange und nachdenklich an. „Und etwa als deine Lage fällig wurde, fand der Raub statt, und Manne wurde erschlagen.“ Rolff kratzte sich den Kopf. „Wofür hältst du mich? Für einen Computer? Glaubst du, ich brauche meinen Speicher einfach abzurufen, und die Erinnerung marschiert? Hier drin habe ich fünfzig Stühle. Außerdem hat Irene serviert.“ „Kennst du diese Puzzles?“ Rolff nickte.
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„Betrachte es so. Mach dir Zettel. Für jeden Tisch einen. Einen für die Laufkundschaft. Ein Name ergibt den anderen, eine Stunde ergibt sich aus der vorigen. Es ist notwendig.“ „Du hast Nerven,“ brummte Rolff, „aber wenn’s nützt. Übrigens kommt da der erste. Aber die Wette hätte ich verloren.“ „Detta in der Kneipe. Ich sage immer, unter bestimmten Umständen wirft sich auch ein Engel dem Teufel in die Arme.“ „Auch der Teufel ist ein Engel, Nelli,“ sagte Kühl, ohne sich umzudrehen. „Die kleine Kneipe in unserer Straße, wo das Leben noch lebenswert ist. Nun, in meinem Falle stimmt es. Nebenstraße. Doch in deinem? Eins – zwei – drei Stationen mit der Straßenbahn. Viel Weg, viel Weg.“ „Markier nicht den Dummen, Nelli.“ „Entschuldige,“ sagte Nelson. „Natürlich hast du Gründe. Jeder Polizist in dieser Stadt hat in diesen Tagen denselben Grund. Manchmal hilft nur noch Sarkasmus. Oder was bleibt unsereinem übrig?“ „Weißt du was?“ „Die berühmte Mithilfe der Bevölkerung. Im Zusammenhang mit einer Straftat wird gesucht… Hinweise werden vertraulich behandelt. Meinst du, ich würde es nicht tun? Aber wo soll ich beginnen?“ Nelli schüttelte den Kopf, als Rolff eine Biertulpe schwenkte. Gleich darauf sagte er: „Doch, Molle und Korn, aber ich muß sitzen dabei.“ Er griff Kühl an die Schulter. „Setzen wir uns, Alter. Diese Stehtische kommen mir immer vor wie Viehtränken. Vielleicht kannst du dir mal ein Pils genehmigen. Auch ein Bulle wirkt komisch, wenn er die Nase in Selters stippt.“
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„Für einen Bullen ist die Viehtränke der richtige Platz.“ „Unsereiner hat sein Vokabular aus dem Fernsehen und aus Jerry-Cotton-Romanen. Warum auch nicht. Folge mir, ich laß mich auch widerstandslos von dir verhören. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.“ Er ging voran und in den Nebenraum, wo noch immer nur das Pärchen saß und sich liebkoste. Er tätschelte ihren Arm, und sie hatte ihren Kopf an seiner Achsel, voller Zutrauen zu seiner Kraft und seiner Liebe. Nelli betrachtete die beiden ein bißchen vergnatzt. „Ohne zimperlich zu sein, hier ist nicht der richtige Ort dafür. – Also zwei Bier und einen Korn,“ rief er zurück zu Rolff und ließ sich an einen Ecktisch am Fenster nieder, dem Pärchen demonstrativ den Rücken zukehrend. „Weißt du, daß auch Manne einmal mit seinem Teenager diese Schau hier abgezogen hat? Und Irene ist mit weißer Nase rumgerannt. Die andern Gäste mußten es ausbaden. Man denkt darüber nicht nach, erst nach einer Katastrophe fällt es einem Stück für Stück ein. Es ist lächerlich, wenn ein alter Knabe mit so ‘nem jungen Ding rumzieht. Torschlußpanik. Kennst du sie?“ „Ich habe sie mal gesehen.“ „Dann brauche ich dir nicht viel zu erzählen. Manfred hatte verschiedene solcher Schrullen. Er ist mit Mitte Vierzig rumgelaufen wie ein Hippy. Nicht gerade mit langen Haaren, die fielen ihm ja schon langsam aus, aber sonst… Er benahm sich eigentlich wie ein zu kurz gekommenes Mädchen in reiferen Jahren. Dergleichen zieht das Unheil regelrecht an.“ „Wenn du meinst; du kanntest ihn besser als ich.“ „Das stimmt. Ich kannte ihn besser. Du erscheinst zum Training und zum Spiel, dann verschwindest du wieder. Es soll kein Vorwurf sein, doch wahrscheinlich, ohne dir dessen bewußt zu
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sein, baust du Mauern um dich auf. Du bist verbindlich, hörst jeden an, richtig verstanden aber hast du keinen. Du wirst es schwer haben, jetzt. An dir bleibt es kleben. Du mußt uns auspressen wie die Zitronen, und nicht viele werden dieses Muss begreifen.“ Eben das war das Problem, über das Kühl von Anfang an keine Illusionen gehegt hatte. Aus Nellis Munde klang es allerdings viel herber. Er hatte die Distanz nicht aufgebaut, nicht bewußt jedenfalls, doch zweifellos war sie da. Kühl, Kriminalpolizist, Maigret, Bulle; es schwang doch viel Ernst zwischen den scherzhaften Anzüglichkeiten. „Ich rede zuviel, was? Nur nicht das, was du von mir hören willst. Beginn dein Verhör, Detta.“ Nelli lachte rauh, er wirkte durchaus nicht sicher. „Du verkennst meine Funktion, Nelli. Ich habe kein Recht, Vernehmungen durchzuführen in diesem Fall. Ich bin ein simpler Ermittler, darf fragen und fordern, daß du mich nicht anschwindelst.“ „Und was sollst du ermitteln?“ „Unter anderm, was du am Donnerstag getan hast, wen du getroffen hast, wann, in welcher Reihenfolge.“ „Mehr nicht?“ Nelli zwirbelte eine Haarsträhne zwischen seinen Fingern. „Man sollte Tagebuch führen. Dich habe ich getroffen. Es war ungefähr zehn vor fünf im Kasino. Wir sind zusammen rübergegangen in die Halle. Beim Training waren wir zwölf Spieler; vier hatten vorher ein Weilchen im Kasino gesessen, und acht sind mit uns zusammen nach dem Training wieder rüber. Nur Felix und Emmi sind gleich weg. Emmi, weil er was vorhatte, und Felix, weil er so einen weiten Weg hat. Als wir kamen, war Manfred auch da und spielte Karten. Mit wem doch gleich?“
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„Mit Atze Gericke alias Menninger, Knut Perlwitz und Peter Krüger.“ „Richtig. Alle vier waren später nicht mehr da. Außerdem kann ich mich noch an Achim erinnern, natürlich. Aber sonst? Aus – Maus. Es ist weg.“ Zögernd fuhr er fort. „Nicht nur in Krimis ist immer etwas undicht bei den Aussagen. Wahrscheinlich hat jeder Mensch etwas zu verbergen. Kleinigkeiten in der Regel, doch solche Kleinigkeiten machen eine Menge aus für den einzelnen. Man ist ja gerne ein Mitmensch ohne Fehl und Tadel, den anderen haushoch überlegen. Normalerweise komme ich direkt aus dem Büro zum Training. Am Donnerstag war es nicht so. Es war einer von diesen Gummitagen. Ich hatte reinweg nichts zu tun, weißt du, saß am Schreibtisch und starrte Löcher in die Luft. Blödsinnige Situation. Du verteilst dir einen Haufen Sero-Papier auf dem Schreibtisch, damit der Alte, falls es ihm einfallen sollte, seine Nase in deine Angelegenheiten zu stecken, denkt, du bist tief in deine Arbeit versunken. Jede Minute, jedes Gramm, jeder Pfennig und so weiter. Der reine Schwachsinn. Noch vor der Mittagspause hatte ich es satt und meldete mich für einen Dienstweg ab. Der Dienstweg führte mich stante pede in die Thaerstraße. Ich legte mich auf die Couch, faulenzte, las, hörte Radio und hatte nicht die Spur eines schlechten Gewissens dabei. Das ist mein Fleck auf der Weste, was den Donnerstag betrifft.“ „Kommen wir also zu den weißen Stellen.“ „In Ordnung. Wir sind nach dem Training zusammen los, du und ich. Wann war das? Viertel neun? Zwanzig nach acht? Ich habe keine Ahnung.“ „Ich auch nicht.“ „Sagen wir, zwischen Viertel und halb. An der Rigaer Straße
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haben wir uns getrennt. Du bist links, ich rechts runter. Ja, und dann bin ich zu Dieter ‘rein.“ „Dann hast du aber einen tüchtigen Umweg gemacht.“ „Stimmt. Ich wollte nach Hause, war schon vor der Haustür, da begann meine Bude mich anzuöden. Mein Soll an gepflegter Wohnkultur hatte ich diesen Tag ja erfüllt, indem ich mich den ganzen Nachmittag dort rumgetrieben habe. Ich kriegte also die Kurve hierher, und das war es dann wohl auch.“ „Wie lange bliebst du?“ „Anderthalb, zwei Stunden? Ich weiß nicht, wie spät es war, als ich kam, und ebensowenig, wann ich ging. Ich trank noch einen Korn auf Dieter. Dann habe ich mich verdrückt.“ „Vier vor zehn,“ sagte Kühl. „Schön, daß du es schon rausbekommen hast. Vier vor zehn. Danach könnte ich ohne weiteres Manfred Raddatz umgebracht haben, denn für die nächsten Stunden habe ich nicht das kleinste Alibi, und von hier zu mir ist es genauso weit wie von hier zu Manfred. Ich bin niemandem begegnet, jedenfalls niemandem, den ich kenne. Nächsten Morgen bin ich pünktlich um halb sechs aufgestanden.“ „Wen sahst du hier, und wer hat dich hier gesehen?“ „Wer mich, weiß ich nicht. Ich sah eine Menge Leute.“ Er zählte rund ein Dutzend Namen auf. „Weißt du, was das wirklich Deprimierende ist?“ „Nein.“ sagte Detlev Kühl. „Daß jeder für euch ein potentieller Verdächtiger ist. Jeder kramt verzweifelt in seinem Oberstübchen nach Entlastungsgründen. Die Wahrheit ist, daß ihr Verdachtsgründe nicht beweisen müßt, sondern der unter Verdacht Stehende muß sie widerlegen. Wir sind alle von vornherein verdächtig, und aus
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diesem Kreis greift ihr den heraus, der euch am meisten belastet erscheint. Der Rest bleibt angeschlagen auf der Strecke.“ „Ich will dir nicht unterstellen, du weißt genau, daß es nicht so ist,“ sagte Kühl leise. Er fühlte eine unbeschreibliche Leere im Kopf und Druck im Magen. Reine Nervensache. Nelli war nicht bösartig, er denunzierte ihn, um ihm irgendwas zu beweisen. Die Welt war für ihn ein Objekt, an dem er sich selber maß. Und er wollte partout nirgendwo „angeschlagen auf der Strecke bleiben“. Die „Bierglocke“ füllte sich mit den Gästen, die zum Feierabendtrunk kamen, ihre Gespräche plätscherten monoton dahin. „Es wäre zuviel Mühe, jeden zu verdächtigen. Wir gehen analytisch vor, nicht synthetisch. Wir schließen das Unwahrscheinliche aus, statt aus willkürlich aneinander gereihten Einzelheiten Belastungsmaterial zu basteln. Der Begriff des Beschuldigten ist bei uns sehr genau abgegrenzt.“ „Prima. Minus mal minus ergibt Plus. Ich sehe noch den Richter vor mir. Analytisch? Das war nix analytisch. Die Verhandlung hat kaum zehn Minuten gedauert, dann hatte dieser Gerechtigkeitsapostel sein Urteil parat. Sechs Wochen Knast.“ „Es ist sechzehn Jahre her. Man sollte sein Trauma nicht hätscheln.“ „Hör mal,“ sagte Nelson böse, „daran hängt ein Leben. War ‘ne ganze Menge damals. Zuerst kein Abi, das durfte ich abends nachholen – und ich hab’s geschafft. Aber daß ich auch mein Studium auf Umwegen absolvieren mußte, verlängerte diese sechs Wochen auf ein halbes Leben. Andere haben es sich da leichter gemacht.“ „Du meinst mich. Stimmt, ich habe gelernt davon. Es hat mir
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geholfen, ein guter Schutzpolizist zu werden, und ich hoffe, daß ich auch ein guter Kriminalist werde.“ Es war gegen Ende ihrer letzten Schulferien passiert, an einem prallen, schönen Sommertag. Nelli und er waren schwimmen gewesen im Stadtbad Mitte. Warum sie ihren Rückweg über die Invaliden- und die Veteranenstraße einschlugen, wußten sie selber nicht. Es gefiel ihnen eben, faul durch die Stadt zu bummeln. Dann wollten sie durch die Fehrbelliner zur U-Bahn. Unten sahen sie einen Menschenauflauf. Es waren meist Jugendliche in ihrem Alter. Das interessierte sie natürlich, so etwas interessiert immer. Sie erfuhren es aber erst später, was dort vonstatten gegangen war. Im Polizeipräsidium in der Keibelstraße. Die Einsatzkommandos kamen von hinten, durch die Fehrbelliner Straße, und räumten ziemlich wahllos auf. Die letzten waren die ersten, und die letzten waren sie. Nelson und Kühl waren getrennt worden und sahen sich dann auch nicht mehr, hörten auch nichts voneinander. Bei der Vernehmung hatte Detlev Kühl seine Aussage gemacht und war nach Feststellung seiner Personalien freigelassen worden. Es kam auch nie etwas nach. Aber von Dieter Nelson fehlte vorläufig jede Spur. Er hatte in einem beschleunigten Verfahren sechs Wochen Freiheitsentzug erhalten. „Ich habe es mir nicht leicht gemacht, Nelli. Du weißt das ganz genau. Ich habe die Wahrheit gesagt, nichts weiter. Nur klipp und klar die Wahrheit.“ „Du hast dich bei denen angebiedert. Von da an ging’s bergab. Jetzt gehörst du selbst dazu. Halali, Detta. Auf zum fröhlichen Jagen.“ „Ich ermittle in einem Mordfall, Nelli. Es geht um einen unbegreiflichen, sinnlosen Mord.“
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„Das ist dasselbe,“ sagte Nelson schroff. „Erzähl mir nicht, du könntest dir deine Fälle aussuchen. Das nächste Mal sagt man dir, du sollst einen Burschen vernehmen, der angeblich randaliert hat. Du wirst ihn in die Enge treiben, weil der keine Erfahrung hat mit euch. Es ist deine Aufgabe aufzuklären und nicht, eine Sache einzustellen. Analytisch gehst du vor, Detta? Erfolg willst du haben. Erfolg um jeden Preis. Da geht es dir nicht anders als mir. Bloß an deinen Erfolgen hängt in der Regel ein Schicksal, und dieses Schicksal wird zementiert in einer Akte. Diese Akte, Detta, folgt dem armen Teufel, wohin er auch geht.“ Er grinste böse. Es schien ihm wohlzutun in diesem Augenblick, seinen Freund zu kränken und Ungerechtigkeiten rund um sich zu streuen, denn er fuhr fort: „Ein gemeiner Mord, klar. Diesmal ein gemeiner Mord. Und warum? Weil irgendein Neidhammel auf Mannes Zeug scharf war. Wenn du mich fragst, Manne hatte das eigentlich nur für die Leute. Er hat damit überall gehörig angegeben. Irgendeiner war dabei, den dann die blanke Gier packte. Der wurde so lange provoziert, bis er hinging und Manne eins über die Rübe gab. So ist die Welt, Detta. Mannes Erfolg waren die elektronischen Klamotten, ihr Verlust seine Niederlage.“ „Ich würde darüber nächdenken, wenn deine Ausfälle einen Funken Verstand zeigten.“ „Gut gebrüllt, Detta. Aber zeugt es von Verstand, wenn ihr euch immer wieder Reblaus vornehmt? Ausgerechnet Feuerstein, der an dem Mord rein gar nichts gewänne, keine Befriedigung, kein Geld, keinen Genuß. Ihr solltet euch mehr mit Mannes Transaktionen beschäftigen. Ich kenne die Szene ein bißchen. Gerade dieses Gebiet hat einen Underground par excellence. Manfred besaß immerhin Blaupunkt,
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vollautomatisch mit Fernbedienung, um beim Geringsten zu bleiben. Ich rede nicht einmal von der Video-Anlage.“ „Würdest du das als Aussage zu Protokoll geben?“ „Nein. Alles, was ich besitze, habe ich im Laden gekauft. Nicht einmal im Intershop. Alles andere kenne ich nur vom Hörensagen. Aber vielleicht habt ihr im Präsidium eine Kommission, die sich mit Wirtschaftssachen beschäftigt.“ „Haben wir.“ „Dann ist ja die Sache erledigt. Diese Genossen da wissen besser Bescheid als ich.“ Nelli schüttelte den Kopf, entschieden und unwiderruflich. Er war nicht gewillt, sich noch einmal aufs Glatteis zu begeben. Nie mehr. „Weshalb hast du gerade Horst erwähnt?“ „Als Kontrapunkt,“ erwiderte Nelson kurz. „Wenn jemand keinen Fernseher klaut, ist es Feuerstein. Ausgerechnet den nehmt ihr in die Mangel.“ „Er war, hörte ich, seit acht Uhr abends hier?“ „War er?“ Nelson schaute sich um, als suchte er Reblaus. „Nicht, solange ich hier war.“ Das stimmte teilweise mit Rolffs Aussage überein. Als es die Lage gab, war er nicht dagewesen. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“ fragte Nelson mißtrauisch. „Nein, nein, überhaupt nicht.“ „Schlagt euch Horst aus dem Kopf.“ „Gib diesen Rat dem Leiter der Ermittlungen.“ „Völlig klar, der reibt sich die Hände. Ich wär für ihn ein gefundenes Fressen.“ „Auf jeden Fall redete er deutlicher mit dir als ich. Und vermutlich hätte er auch bessere Argumente. Keiner ist gern der Buhmann für einen anderen. Wir waten im Dreck, mein Lie-
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ber, und der Dreck zieht uns beinahe die Stiefel aus, so bodenlos ist er und so schmierig. Bei dem Geschäft kann man sich Emotionen nicht leisten. Das erste, was sie mir im Seminar eingebleut haben, ist der Leitsatz, daß unsere subjektiven Eindrücke objektiv begründet werden müssen. Sie gelten einzeln für sich nichts. Es ist nicht von Belang, ob wir jemand verdächtigen oder ob wir es nicht tun. Wenn du das begriffen hast, weißt du auch, was wir wirklich tun.“ „Na gut, komme ich dir also objektiv. Feuerstein hatte ebenso wenig wie ich ein Motiv, sich an Manne zu vergreifen. Selbst all die idiotischen Dinge, die er am Sonnabend getrieben hat, widerlegen seine Beteiligung an dem Verbrechen. Der hat schon so oft durchgedreht, daß es kaum noch zu zählen ist, aber noch nie war ein linkes Ding dabei.“ Dieser Satz stimmte von vorn bis hinten. Reblaus war ein echtes Weddinger Kind, sogar aus der Müllerstraße. Im Afrikanischen Viertel war er aufgewachsen, am Nachtigallenplatz, wo man seine Stellung verteidigen mußte, wollte man nicht untergehen. Er lernte schon mit acht, mehr Prügel auszuteilen als einzustecken, bekam aber doch genug ab, um auch im ferneren Leben resistent zu sein. Der harte Weg ins Leben gestaltete sich freilich etwas einseitig. Die geistige Entwicklung blieb hinter der seiner Muskeln fraglos ein bißchen zurück, begünstigt durch das Einklassenschulsystem der Nachkriegsjahre. Schon im zartesten Alter waren Horst Reblaus’ Weichen mehr auf die Tat als den Rat gestellt worden. Er hatte nie gelernt zu taktieren, auch beim geliebten BSC Rehberge nicht, wo Hotte in der ersten Schülermannschaft einen Stopper abgab, wie es keinen jemals zuvor im Volkspark gegeben. Als die Eltern aus der Müller- in die Schreinerstraße umzo-
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gen, war das nicht einfach ein Umzug aus einer Wohnung im Arbeiterbezirk Wedding in eine andere im Arbeiterbezirk Friedrichshain. Es bedeutete vielmehr: Sie siedelten um in den Ostsektor, und, was zu erwähnen man nicht vergessen darf, sie taten es aus Überzeugung. Es war die Überzeugung, daß ein Gemüseladen bei den Russen einkömmlicher ist als eine Stem-pelkarte bei den Franzosen. Den Gemüseladen führten die Großeltern, doch die waren in die Jahre gekommen und brauchten Hilfe. Horst geriet in die „Graue Laus“ in der Rigaer Straße, eine Schule, die völliges Umdenken verlangte, was er, Hotte, weder leisten konnte noch wollte. Es vertrug sich nicht, Junger Pionier und Stopper beim BSC Rehberge zu sein – also verzichtete er auf das blaue Halstuch. Zwar erkannten die Pädagogen in der „Grauen Laus“ messerscharf, daß seine Sturheit überlebten kleinbürgerlichen Denkweisen entsprang, sogenannten Relikten, begründet durch sechsjähriges Vegetie-ren in kapitalistischen Verhältnissen und gefördert von privat-wirtschaftlich Weißkohl und Möhren verkaufenden Elterntei-len, aber ihre Konsequenzen trugen dem nicht Rechnung. Sie schlugen den Sack und meinten den Esel, das heißt, sie schlu- gen natürlich nicht wirklich, sondern mit Argumenten und - als es nichts nützte – mit Erziehungsmaßnahmen. Doch wie gesagt, Hotte war bereits resistent. Er kompensierte jegliche Unbill mit desto größerem Einsatz in Rehberge. Bis in die er-ste Männermannschaft schaffte er es, spielte noch neben Nelte, Gloger, Thürnagel und Obersteller I. Dann wurde sei-ner Fußballkarriere beim BSC Rehberge durch den Schutz-wall ein Ende gesetzt. Diametral dazu gestaltete sich seine berufliche Karriere. Nach zehn Schuljahren aus der siebenten Klasse ins Leben entlassen, schob er die Transportkarren des VEB Leuchtenbau.
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Er wechselte die Karren mitunter, stieg um auf Gabelstapler und, für kurze Zeit sogar auf Ladebäume des Osthafens, bis er beim VEB Schwertransport den Job seines Lebens fand. Dort wirkte er nun schon an die zwanzig Jahre, war sogar Facharbeiter für Lastenbewegung geworden. Ansonsten war er ganz der alte geblieben, wenngleich an der Kandarre geführt von einem Eheweib, das Fußball und Angeln tolerierte, aber sonst ihren Golem nicht aus den Augen ließ. Jetzt allerdings versagten ihr Schutz und Schirm. Der Mann, den Oberleutnant Zocher von der Morduntersuchungskommission eine „Fundgrube“ genannt hatte, kam von dem „Stuhl“ kaum noch herunter. Zocher war zweifellos ein guter Vernehmer, er war nur nicht gut genug für Reblaus. Nach dem Stand der Ermittlungen schied Reblaus als Täter aus. Sofern er Aussagen machen konnte, erwiesen sie sich als stichhaltig; in seiner Wohnung wurde nichts gefunden, was für seine Beteiligung an dem Raub sprach. In der erneuten Befragung von Reblaus ging es um etwas anderes. Raddatz war einem geplanten Verbrechen zum Opfer gefallen. Die Tatumstände wiesen darauf hin, daß der Rädelsführer ein guter Bekannter von ihm gewesen war. Die ganze Aktion hatte nur wenige Minuten gedauert, und das bedeutete, daß die Täter über die örtlichen Verhältnisse genau im Bilde waren. Der mysteriöse Hägin hatte in Niegripp, Thale und Stendäl sehr sorgfältig gearbeitet; das Zimmer für den Fahrer des Framo im ROSS-TRAPPEHotel wurde Wochen vorher bestellt. Es lag nahe, daß jener Hägin nicht nur die Aktion selbst, sondern auch Rad-datz „vorbereitet“ hatte. Vermutlich hatte er sich unter einem Vorwand mit ihm verabredet, um den Tatort abzusichern und seinen Komplizen den Zutritt zur Wohnung zu ermöglichen. Das war nicht schwierig. Raddatz’ Toilette befand sich außer-
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halb der Wohnung. Das bot eine Gelegenheit, hinauszugehen und die Tür bei der Rückkehr offen zu lassen. Die Tötung Raddatz war, wie es schien, nicht geplant gewesen; die Fesselung deutete darauf hin. Wahrscheinlich hatte der Bekannte sich als Mittäter verraten und deshalb Raddatz erschlagen. Eine Version mit Wenn und Aber. In diesem Falle müßte der Rädelsführer sich aktiv an der Tat beteiligt haben, was allerdings von vornherein ausgeschlossen hätte, Raddatz lebend zurückzulassen. Doch wozu dann die Fesselung, sie’ wäre ein Zeitverlust gewesen. Wenn aber der Rädelsführer die Wohnung vorher verlassen hatte, gab es für die Räuber kein Motiv, Raddatz zu töten, es sei denn, sie hätten durch irgendwas ihre eigene Identität verraten. Unstrittig war der Zeitpunkt des Geschehens: zwischen 20 Uhr und spätestens 22 Uhr 15. Zweifelhaft hingegen war Horst Reblaus’ Aufenthalt während dieser Zeitspanne. Zocher zog jedoch in Betracht, daß ein Mörder oder der Initiator eines Tötungsverbrechens nicht zwei Tage später Polizeireviertüren einrennt, um eine „Ahnung“ kundzutun, und anschließend in die Wohnung seines Opfers einsteigt, um die Tat melden zu können. Er war aber nicht bereit, eine Ahnung als Anlaß für Reblaus’ Aktivitäten zu akzeptieren, er vermutete vielmehr, daß ein handfester Grund Motivation gewesen war. Doch gegen Reblaus’ Logik kam er nicht an. Der nämlich er-klärte die Ursache mit dem Resultat: Er wäre zur Polizei gegangen, weil ja seinem Freund tatsächlich etwas passiert sei, basta. Auch die übrigen Aussagen über sein Tun und Lassen an jenem Donnerstag gerieten dergestalt. Feierabend hatte Reblaus
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immer um Viertel fünf. Da war er meist schon geduscht und umgezogen, um auf jeden Fall den Bus zu erreichen, der Punkt halb fünf gegenüber der „Bierglocke“ hielt. Auch am letzten Donnerstag war es so und nicht anders gewesen. Reblaus pflegte donnerstags wohlweislich auf das Abendessen zu Hause zu verzichten; es könnte unangenehme Ratschläge geben, von denen er die Woche über mehr als genug entgegennehmen mußte. Lieber würgte er vier von Dieter Rolffs Buletten hinunter, die von ebenso fester Konsistenz waren wie Schiffszwieback. Die Stationen hießen immer „Bierglocke“ und Sportplatz, mitunter pendelte er zwischen beiden, sie lagen ja nicht weiter als dreihundert Meter voneinander entfernt. Wie oft und wann am letzten Donnerstag, konnte er nicht sagen. An diesem Donnerstag hatte er mit Raddatz verabredet, am Sonnabend gemeinsam zu angeln. Treffpunkt 8 Uhr im Sportkasino. Bei dieser Gelegenheit hatte ihn Raddatz an das Geld erinnert. Er brauchte es dringend. Wo das gewesen war? Wann? Keine Ahnung. Hauptsache war doch, daß er es am Sonnabend bei sich hatte. Reblaus räumte schließlich ein, dass es im Kasino gewesen sein mußte. Da war doch Wurzelpeter beim Klammern reingefallen. „Jaja,“ sagte Zocher sarkastisch. „Also noch mal von vorn. Halb fünf ,Bierglocke’. Ist das richtig?“ „Jenau,“ bestätigte Reblaus. „Wo?“ „Ick stell mir nachmittags immer gleich an die Theke. Det is so: Wenn ick sitze, sitze ick.“ Reblaus hatte seine Gummihappen runtergeschlungen und zwei Gespritzte hintergekippt, dann war er verschwunden. Daran konnten sich einige Gäste und der Wirt erinnern. „Wie lange – eine halbe Stunde?“
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Eifrig nickte Reblaus. „Oder vielleicht eine Stunde?“ Reblaus gab zu, daß es auch eine Stunde gedauert haben könnte. „War es denn noch hell, als Sie zum Sportplatz hinübergingen?“ „Na um fünfe ist es doch noch hell.“ „Um halb sechs auch, aber das will ich nicht wissen. Ich will wissen, ob es noch hell war, als Sie gingen, oder ob es schon dämmerte.“ „Vielleicht hat et schon ein bißken gedämmert.“ Am 4. Oktober war die Sonne um 17 Uhr 41 untergegangen. „Als Sie im Sportkasino ankamen, wer befand sich da?“ „Manne natürlich. Achim, wa? Wo soll Achim sonst jewesen sein? Manne hat gespielt, deshalb waren ooch Atze, Knut und Wurzelpeter da. Und noch ‘n paar andere.“ Er zählte aufs Geratewohl ein paar Namen auf, und einer stimmte sogar. In Leutnant Kühls mühselig erarbeitetem ZeitDiagramm waren insgesamt siebzehn Anwesende innerhalb des betreffenden Zeitabschnitts verzeichnet. Aus ihren Angaben ging hervor, daß Manfred Raddatz das Kasino verlassen hatte, bevor die Spieler vom Training herübergekommen waren. Der Hausmeister der Turnhalle hatte das Tor kurz vor acht abgeschlossen. „Wann haben Sie Ihre Verabredung mit Manfred Raddatz getroffen – während er spielte?“ Niemand von den drei Mitspielern hatte derartiges wahrgenommen. „Ja. Nee, er hatte jrade aufgehört. Wurzelpeter hat ihm ja de Karten beinah an den Kopp geschmissen.“ Auch diese Aussage stimmte nicht ganz, denn Peter Krügers
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Zorn hatte sich vor allem gegen seinen Partner Knut Perlwitz gerichtet. Dessen Unfairneß ritt ihn überhaupt erst rein. Reblaus präzisierte: „Manne jing grade, und ick sagte, na denn Sonnamd um achte. Verabredet ham wir uns eijentlich schon Sonntag uffs Angeln. Weil ich mal für kleine Jungs mußte, bin ick mit raus. Und da draußen kam er aufs Jeld zu sprechen. Ob ick könnte, ihm sei et ziemlich dringend damit, aber natürlich wolle er nich drängeln. Is ja klar, hab ick gesacht, bring ick Sonnamd früh mit.“ Die Schulden hatte Reblaus angeblich im Sommer gemacht, als er vor dem Urlaub ziemlich knapp bei Kasse war. Das konnte er zwar nicht beweisen, seine Frau bestätigte aber zumindest, daß er Raddatz fünfhundert Mark bringen wollte. Auf die Frage, wo er binnen so kurzer Zeit das Geld aufgetrieben hatte, lautete seine verschämte Antwort: „Det hab ick meine Inge unter de Wäsche vorjezupft. Sie spart im Kleiderschrank. Jeden Monat einen blauen Kalle.“ Auch das bestätigte Frau Reblaus. Seine Auskünfte über den weiteren Verlauf des Donnerstagabend waren noch verworrener. Es stand fest, daß er kurz vor acht das Kasino verlassen hatte und gegen acht und nach zehn wieder in der „Bierglocke“ gewesen war; zweifelhaft aber war, daß er, wie er behauptete, die ganze Zeit in diesem Lokal verbracht hatte. „Allerdings muß ick gestehen,“ sagte Reblaus, „daß ick mir ein bißken übernommen hatte. Een ziemlichet Stücke fehlt.“ Das ziemliche Stück war gerade das, das auch den Kriminalisten noch fehlte. Es war zudem ein entscheidendes Stück. Nur ein Stückchen Alibi, gewiß. Aber das Alibi des Ahnungsvollen. „Ich komme keinen Zentimeter weiter mit dem,“ konstatierte
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Oberleutnant Zocher erbost und überließ das Feld anderen Vernehmern, die sich redlich abmühten – erfolglos wie Zocher. Es lag nicht am Entgegenkommen Feuersteins. Der gab sich wenigstens ebensoviel Mühe wie seine Interviewer, und sein schlechtes Gewissen wuchs von Mal zu Mal. Er fühlte sich isoliert. Alle Freunde konnten sich, wie er erfuhr, alles mögliche gegenseitig bestätigen, nur bei ihm funktionierte das nicht. Viele hatten ihn gesehen oder gesprochen, aber niemand konnte mit Sicherheit sagen, daß es in der entscheidenden Zeit zwischen einundzwanzig und zweiundzwanzig Uhr gewesen war. Wenn ick doch wenigstens in die Skatrunde einjestiegen wäre, dachte er erbittert. Dieser Viererdauerskat lieferte wahrhaftig der halben Gästeschaft ein im wirklichen Sinne stichfestes Alibi. Da war dieses Herzspiel ohne fünfen, dort ein kippliger Grand, und in der dritten Runde verlor einer mit der Schnapszahl fünfhundertfünfundfünfzig, die nächste begann mit einem Grand ouvert von einhundertzweiundneunzig Punkten. Solche Eckdaten ließen mühelos rekonstruieren, wer wann bei wem gekiebitzt, seinen Kommentar beigesteuert, wer wem widersprochen oder zugestimmt hatte. Aber Reblaus stand draußen, weil er die Skatpartie ausgeschlagen hatte. An ihn erinnerte sich nicht einmal die Kellnerin Irene, obwohl er zweifellos bei ihr wenigstens eine bescheidene Zeche gemacht hatte. Kein Gespritzter stand da, das war das Entscheidende. Die übrigen Ermittlungen verliefen ebenfalls im Sande. Die Sachfahndungsliste verlängerte sich, wurde präziser, doch kein Stück der Beute tauchte auf. Der auffällige Framo, der noch die verheißungsvollste Spur darstellte, verwandelte sich in ein
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Orakel. Er sprach durch viele Hinweise, aber seine Rede blieb dunkel. Er war ohne alle Gewaltanwendung gestohlen und betrieben worden, folglich hatten die Täter die Wagenschlüssel besessen, und sie mußten auch gewußt haben, daß er nicht sofort vermißt werden würde. Sie waren demnach in der PGH, in ihrem Umkreis oder im Umkreis des Servicetechnikers zu suchen. Freilich blieb es bei derartigen Mutmaßungen. Weder die Vernehmungen des Technikers noch die der anderen Mitarbeiter der PGH brachten Hinweise. Nie war ein Satz Schlüssel des Wagens vermißt, nie waren die Schlösser ausgetauscht worden. Er war nie zuvor gestohlen oder unberechtigt benutzt worden, und als er nach der Tat aufgefunden wurde, hatte man nicht eine nennenswerte Spur in oder an ihm entdecken können. Die Personenfahndung konzentrierte sich auf gegenwärtige und ehemalige Mitarbeiter der PGH, ihren Kundenkreis sowie auf Freunde, Bekannte und Nachbarn des Servicetechnikers. Je weiter die Kreise gezogen wurden, desto unübersichtlicher wurde die Lage. „Pressemitteilung!“ entschied Major Goll in der Dienstbesprechung. Er hatte sich zahllose Ermittlungsergebnisse und Versionen angehört. Es befand sich nichts darunter, was er verwarf, jedoch auch kaum etwas, mit dem er zufrieden war. Offensichtlich gab es für die Aufklärung des Verbrechens nur die Alternative Zufall oder Ermittlung der Beute, zumindestens eines Teils der geraubten Gegenstände. Bis zu diesem Tage gehörte Leutnant Detlev Kühl der Ermittlungsgruppe an; am Donnerstagmorgen wurde er wieder für seinen Dienst bei der Revierwache freigestellt. Hauptmann Barabaschs Lob für seinen Einsatz klang wie Hohn. Gute Arbeit, nur leider ohne Resultat. Arm, aber sauber, dachte Detlev Kühl sarkastisch. Er saß in
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seinem Büro, zusammen mit Unterleutnant Siebusch und Kriminalmeister Knorr, die beide die gleichen Gedanken zu hegen schienen. Knorr stand auf, murmelte, daß Kaffee vielleicht in dieser Bredouille das beste wäre, und ging hinaus. Siebusch hingegen sagte: „Vielleicht hilft uns die Beobachtung dieses Mannes da doch weiter!“ „Was für eine Beobachtung und vor allem, wieso doch?“ „Ich habe eine Meldung darüber telefonisch ans Präsidium gegeben, sogar noch einmal rückgefragt. Aber sie meinten dort nur: ,Schönen Dank, aber da ist nichts dran.’ Der Mann heißt Bommer und wohnt auch in der Liebigstraße, der Wohnung von Raddatz direkt gegenüber. Konnte dem sozusagen ins Fenster sehen.“ „Ach, und da ist nichts dran?“ „Vielleicht doch. Bommer kam etwa zur Tatzeit nach Hause. Etwas später vermutlich, denn er hat weder den Framo noch die Täter gesehen. Um genau zu sein: Er hat gar nichts gesehen.“ „Schön. Warum ist da nichts dran? Konnte er die Zeit annähernd genau angeben?“ „Sogar ganz genau. Er kam mit der Straßenbahn aus Richtung Prenzlauer Allee und stieg Bersarinplatz aus. Dort ist doch die Säule mit vier Uhren. Auf der in Richtung Bersarinstraße wares sieben vor elf, das schien ihm etwas zu spät zu sein. Er schaute auf seine Armbanduhr, und die zeigte gerade die volle Stunde. Zehn, nicht elf. Er hielt die Uhr ans Ohr und stellte fest, daß sie stehengeblieben war. Als er sie aufgezogen hatte, wollte er sie stellen und schaute noch einmal auf die Uhrensäule.“ „Geht es nicht etwas geraffter?“ „Nein. Diesmal hatte Bommer die andere Uhr im Blick-
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feld, die, die zur Rigaer weist. Die war zwei nach zehn. Das machte den Mann ein bißchen neugierig, und er ging einmal um die Säule herum. Die dritte war kurz vor halb eins und die vierte dreiviertel sechs. Bommer sagte, er hätte zu Hause seine Armbanduhr mit der Küchenuhr verglichen. Da war es elf nach zehn.“ „Herr Bommer bestätigt also das Ende der Tatzeit. Das heißt, er schränkt sie sogar noch ein. Zweiundzwanzig Uhr elf, wahrscheinlich sogar noch etwas eher.“ „Nicht nur das,“ erwiderte Siebusch bedächtig. „Durch das Küchenfenster sieht Bommer, wie schon erwähnt, genau auf das Wohnhaus von Raddatz. Im ganzen Haus war kein Licht. Völlig duster. Kurz nach halb elf führte der Mann dann seinen Hund noch einmal aus. Als er zurückkam, brannte in Raddatz’ Wohnung mindestens eine Stehlampe.“ „Und welcher Experte meinte, daran wäre nichts?“ Siebusch griff gelassen nach seinem Notizbuch und blätterte darin. „Kriminalmeister Bielau. Er würde eine Aktennotiz machen, versicherte er. Ich rief dann noch einmal an. Es scheint, daß dieser Genosse Bielau dort den Telefondienst verrichtet. Er hätte die Notiz dem Leiter der Kommission auf den Tisch gelegt. Da der Zeitpunkt der Tat feststand, meinte er, ergänzt-e sie nur die Unterlagen.“ „Denkst du das, was ich denke?“ fragte Kühl. Siebusch kratzte sich. „Schon möglich. Das Licht, nicht wahr?“ „Ein Täter ist am Tatort geblieben oder zurückgekehrt. Er hat Manfred Raddatz erst nach dem Raubüberfall getötet. Nach halb elf, mindestens eine halbe Stunde später. Er befand sich also nicht in dem Wagen, den wir in Oranienburg gefunden haben.“
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„Du solltest die Polizei anrufen,“ sagte Frau Söderkvist nervös. Sie saß im Sessel, hatte in einer Zeitung geblättert, die jetzt auf ihren Knien ruhte, und schaute anklagend auf die großgeblümte Zimmerwand. Sie forderte jedoch nicht die Polizei, damit die diese scheußliche Tapete abreißen sollte – die hatte sie schließlich selbst ausgesucht. Es war ein hellhöriges Betonhaus, und hinter der farbintensiv gemusterten Wand war was los. „Polizei, Polizei“, brummte ihr Mann und reckte sich kriegerisch. „Ich werde rübergehen und die Burschen zur Ordnungrufen.“ Trotz der Drohgebärde sah er nicht so recht nach einem Wikingerhelden aus, nicht mal nach einem großen, starken, blonden Schweden, wie es sein Name vermuten lassen könnte. Zwar stammte er aus einer Gegend, die einst zu Südschweden gehörte, doch das war lange her. Er kam aus Wismar. „Ich weiß nicht. Ich habe ja nichts gegen junge Menschen, die keinen Beruf gelernt haben, aber der dort drüben macht keinen guten Eindruck. Wer weiß, was das für einer ist. Daß er überhaupt so eine schöne Neubauwohnung bekommen hat.“ „Dieses Haus hier gehört zur AWG der Dienstleistungsbetriebe, und Kotsch ist bei der Müllabfuhr,“ sagte Söderkvist gereizt. Auch ihm ging der Lärm hinter der Wand auf die Nerven, aber nicht nur der Lärm. Sie raschelte mit der Zeitung. „Ich habe ja nichts gegen Müllfahrer, nur sind es meistens rohe, ungehobelte Kerle. Schlägertypen.“ Söderkvist spürte den Wunsch in sich aufsteigen, ebenfalls ein Schlägertyp zu sein oder wenigstens den Mut zu haben, runterzugehen in den „Prenzlauer Krug“. Die Kerle dort drü-
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ben, es waren anscheinend zwei, veranstalteten einen Heidenlärm. Sie schrien aufeinander ein – warum sie stritten, war jedoch nicht zu verstehen – , und dann bummste es, als begännen sie, die Möbel umzuschmeißen. „Na schön, ich werde den Abevau rufen,“ sagte Söderkvist. „Ich habe gar nichts gegen Rätschke,“ erwiderte sie. „Aber glaubst du, er ist der richtige Mann für solche Rowdys?“ Sie hatte gegen nichts und niemand etwas, sie war nur eine Zweiflerin. Wahrscheinlich hatte sie in vierzig Jahren die Erfahrung gemacht, daß die Welt anders beschaffen wäre, wären alle Menschen anders beschaffen, einschließlich ihrem Ehemann. „Eine Funkstreife wäre das richtige,“ bemerkte sie weise. „Warum?“ „Weil die da drüben eine Belästigung sind für anständigeLeute.“ Söderkvist hieb zornig auf seine Sessellehne. Das war ein ganz akzeptabler Gefühlsausbruch für ihn, in Gegenwart seiner Frau. Aber die Lehne war gepolstert, und Frau Söderkvist guckte gerade wieder in die „Freie Erde“. Drüben schubsten sie sich gegenseitig gegen die Wand, die auch Söderkvists Wand war. Es schien, als zitterten die bunten Blütenblätter, es sah beinahe echt aus. „Der Abevau ist zuständig und basta,“ grollte Söderkvist in einem Anfall von Entschlossenheit. Er stemmte sich aus dem Sessel, tastete nach seinen Kamelhaarlatschen, fand sie endlich und schlurfte hinaus in die Diele, wo das Telefon stand. Sie lauschte mit langem Hals. Es war ein Vorteil, daß der Abschnittsbevollmächtigte Rätschke im Nachbarblock wohnte. Er brauchte sich nur den Schlaf aus den Augen zu reiben, in die Kluft zu steigen, auf den
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Fahrstuhl zu warten, den balligen Gang bis zur Tür zu bewältigen, rüberzukommen, den Gang zum Fahrstuhl… Und so weiter. Es dauerte wahrscheinlich überhaupt nicht lange, kaum solange, wie eine Funkstreife brauchen würde, um in diesem unübersichtlichen Viertel überhaupt die Straße zu finden, in der die Söderkvists wohnten. Selbst Taxifahrer fanden sich hier nicht zurecht und kamen äußerst ungern, seit das Gerücht umging, ein Geistertaxi, eine Art Fliegender Holländer, kurvte seit einem Jahr hier rum und fand nicht hinaus aus diesem Neubauviertel. Nicht mal eine Senta konnte dabei helfen, hieß es, aber das war nur ein Gerücht, wie gesagt. Es konnte allerdings so lange dauern, daß die Kumpels in der Wohnung nebenan ihre Probleme selbst lösten, indem sie sich gegenseitig totschlugen. Frau Söderkvist hatte nichts gegen gelöste Probleme, nicht einmal auf solche Art gelöste, doch etwas leiser durfte es dabei ruhig zugehen. „Rätschke kommt gleich,“ meldete Söderkvist. „Er war nicht begeistert, ich konnte ihn jedoch überreden.“ Dieses Erfolgserlebnis ließ seine Augen richtig strahlen. Jetzt lauschte er beinahe gierig auf etwas von nebenan, aber plötzlich war es still. „So etwas,“ murrte der Südschwede. „Warum? Ist doch gut, wenn Ruhe ist.“ Die Frau verstand ihn nicht. Sie hatte ihn noch nie verstanden. Leutnant Eduard Rätschke, Abschnittsbevollmächtigter des Wohngebiets III im Onkel-Bräsig-Viertel dieser Mecklenburger Bezirksstadt, verspürte tatsächlich keinerlei Elan. Zwar hatte er nicht, wie Frau Söderkvist vermutete, geschlafen, doch immerhin einer gewissen Gemütlichkeit gefrönt, der Gemütlichkeit, die Söderkvist stets anstrebte und doch nie er-
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reichte. Diese Leute, wußte Rätschke, waren ewige Nörgler und im ganzen Onkel-Bräsig-Viertel berüchtigt. Unerhört aktiv. Frau Söderkvist sollte allein das Kundenbuch in der Kaufhalle einmal vollgeschrieben haben, immer mit Reklamationen. Damit konnte man schon einen guten Teil seines Lebens zubringen, ohne Zweifel. Auch er widmete sich angelegentlich den Problemen der modernen Zivilisation. Er spürte regellos parkenden Autos nach, lärmenden Kindern, jeder Art Schmutz inklusive Schneematsch und Regenpfützen vor der Haustür und fehlkoordinierten Buslinien. Leutnant Rätschke war ein beliebter Partner des Herrn Söderkvist, beliebter noch als der Vorsitzende des Rats oder der Vorsitzende des Staatsrats. Er war ja auch leichter zu erreichen. Ihn brauchte man nur anzurufen. Diesmal also ruhestörender Lärm, na Mahlzeit. Rätschke stiefelte fröstelnd den nassen, aus groben Platten notdürftig geebneten Gehweg entlang. Vielleicht spielten Söderkvists Nachbarn Mikado, und sie fühlten sich durch das Klappern der Hölzer gestört. Man sollte den Leuten das Telefon wegnehmen. Der ABV fand sich nicht nur in seinem Bereich blind zurecht. Er hätte sich in jedem Neubaugebiet des Landes blind zurechtgefunden. Hinter der Eingangstür sieben Stufen, eine Wohnungstür an der rechten, eine an der linken Seite und die dritte gegenüber, gleich neben der Parade häßlicher und noch dazu demolierter Briefkästen. Links neben der Treppe der Fahrstuhl und daneben die Tür zum Müllschlucker. Der Aufzug war bekrittelt wie jeder andere auch, aber mit anderen Sprüchen. In diesem hatte jemand mit einem spitzenMesser in akuraten Versalien eingeschnitzt: HIERMIT ERKLÄRE ICH
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DIR DEN FRIEDEN! Rätschke überlegte, ob das dort stehen durfte. Wer erklärte wem den Frieden? Unter welchen Umständen? Wahrscheinlich war es nicht Söderkvist gewesen, der jemandem den Frieden erklärte, und auch nicht Söderkvist, dem jemand den Frieden… Söderkvist wohnte links, und damit war klar, wie seine Wohnung aussah. Diele zwo mal vier Meter, hie die beiden kleinen Zimmer, gegenüber das Bad, da das große Zimmer mit Küche drin und dem langen Balkon nach hinten, das heißt zur Stadt raus. Man konnte da nicht irren, auch kaum in der Einrichtung. Rätschke traf auf einen mißgelaunten Hausherrn. Hatte er anderes erwartet? „Es ist schon längst zehn durch,“ sagte Söderkvist, „muß man sich das bieten lassen?“ „Ich fürchte, ja. Die Uhrzeiten sind international festgelegt.“ Söderkvist glotzte sprachlos. Seine Lippen öffneten und schlossen sich wieder. Endlich schluckte er und preßte hervor: „Ich meine den Lärm.“ „Welchen Lärm?“ „In der Wohnstube. Kommen Sie nur.“ Söderkvist breitete einladend seine Arme aus und ließ sie plötzlich entmutigt wieder sinken. „Sie haben ja aufgehört.“ „Dann ist doch alles in Ordnung,“ sagte Rätschke fröhlich. „Ich habe meinen Abendspaziergang gemacht, das ist gut für den Kreislauf, und Ihre Wohnung kennengelernt. Was kann man mehr verlangen, nach zehn.“ „Sie wollen doch nicht etwa schon wieder gehen?“ fragte Söderkvist erbittert. Er lauschte wie ein Eichhörnchen. Das ganze Haus war hellhörig. Im ganzen Haus war es still. „Ich möchte Sie nicht stören, wenn Sie verstehen, was ich meine,“ sagte Rätschke mild.
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„Aber das geht doch nicht. Das…“ Söderkvist sog tief und qualvoll die Luft ein. „Der Lärm, der Krach da drüben!“ Endlich fand Frau Söderkvist Gelegenheit, sich einzumischen. „Sie haben sich geschlagen, können Sie glauben, regelrecht umgebracht gegenseitig.“ „Ja, sie scheinen beide tot zu sein,“ bestätigte der ABV scheinheilig. „In ewiger Ruh. Wer waren die beiden eigentlich?“ „Ein Müllfahrer und noch einer,“ sagte die Söderkvist, ohne sich um den Spott zu kümmern. „Ein alleinstehender junger Mensch ohne Manieren. Aber zwei Zimmer. Ich habe ja garnichts dagegen, daß er Besuch empfängt, doch es ist mitten in der Nacht. Womöglich übernachtet dieser andere sogar dort. Unangemeldet. In unserem Hause. Und anständige Leute lassen sie nicht schlafen.“ Leutnant Rätschke fühlte eine gewisse Nervosität. Ein leichtes Kribbeln. Die Söderkvist stand vor ihm und schwenkte die “Freie Erde“ zur Blütenwand, hinter der es allerdings still war wie im Grab. „Ich begehre, daß Sie sich zu ihnen begeben und sie zurechtweisen,“ mischte sich Herr Söderkvist wieder ein. Er begehrte, daß sich Rätschke zu ihnen begab. Vor soviel natürlicher Vornehmheit konnte der nur kapitulieren. „In Ordnung, ich rede mit ihnen,“ brummte er. „Bitte, kommen Sie mit.“ „Ich?“ fuhr Söderkvist auf. „Was habe ich damit zu tun?“ „Sie sind die beschwerdeführende Partei.“ „Das bin ich“, sagte sie und trat entschlossen dazwischen. „Er ist ein Schlappschwanz. Angst hat er. Ja, Angst. Vor einem Müllkutscher.“ Ohne Manieren, vervollständigte Rätschke ihren Satz in Gedanken.
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Sie reckte sich und faltete die Zeitung zur Fliegenklatsche zusammen. „Stundenlang ging der Krach. Zuerst haben sie sich nur angebrüllt, aber dann… Ich dachte, die Wand fällt ein. Und was geschieht, wenn denen später, wenn Sie weg sind, ihr Hader wieder in den Sinn kommt?“ Sie maß ihren Mann mit einem vernichtenden Blick. „Der dort drüben soll ruhig wissen, daß wir uns nicht alles gefallen lassen.“ Sie ging vornweg das Presseorgan wie eine Waffe vor sich hertragend. Von Tür zu Tür war es nicht einmal ein Schritt. Sie läutete. In die Stille darauf setzte sich mit Getöse der Aufzug in Bewegung. Er war noch immer hier oben gewesen, jetzt hatte ihn jemand abgerufen, und er rasselte abwärts. Noch ehe er unten angelangt war, meldete sich hinter der Tür eine Männerstimme. „Is ‘n da?“ „Frau Söderkvist, Ihre Nachbarin, Herr Kotsch. Ach, machen Sie doch bitte für eine Sekunde mal auf.“ Tatsächlich, das war sie selbst, die da zirpte. Der Abend war voller Wunder für Rätschke. „Woll’n Sie denn?“ „Der Genosse Leutnant Rätschke ist hier, wissen Sie.“ „Wer? Wohl nicht bei Troste.“ „Ich bin in der Tat hier, Herr Kotsch,“ sagte der ABV. „Es wird nicht lange dauern.“ Die nächsten Worte von drinnen klangen ungefähr wie „dämliche Ziege“. Kotsch öffnete, ein Mann Ende Zwanzig bis Anfang Dreißig, ungefähr einsachtzig groß, breitschultrig, kräftig. Er sah ganz passabel aus, nicht unbedingt freundlich, aber durchaus nicht aggressiv. Er trug Jeans und ein T-Shirt mit der aufgedruckten Nummer 69. „Es geht auf elf’,“ sagte Kotsch. „Eben, eben,“ säuselte die Söderkvist, „auch bei uns, und
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wir fühlen uns gestört. Ich habe ja nichts dagegen, wenn Sie Ihre Meinungsverschiedenheiten handfest austragen, aber ob es die richtige Zeit ist?“ „Haben Sie sich tatsächlich geschlagen?“ fragte Rätschke. Kotsch stand in der Tür wie ein Fels. Er lächelte boshaft. „Geschlagen, ach was, ein bißchen gebalgt. Und Punkt zehn haben wir aufgehört. Na?“ Er musterte seine Nachbarin. „Zwanzig nach zehn, schließlich sitzen wir nebenan.“ Der Müllfahrer schaute gleichmütig auf die drohend auf ihn gerichtete Zeitung. „Lassen Sie sich man nicht was platzen, ‘n bißchen ausgelebt haben wir uns. Abendgymnastik.“ Er wandte kaum den Kopf, als er rief: „Fränki, mein Guter, haben wir uns geschlagen?“ Fränki erschien in der Diele und bestätigte ergeben ihre völlige Unschuld. Er war kleiner als Kotsch, schlanker und wahrscheinlich auch weitaus schwächer. Kaum denkbar, daß sich die beiden wirklich geprügelt hatten. „Ich bitte Sie herzlich, in Zukunft etwas mehr Rücksicht auf Ihre Nachbarn zu nehmen,“ sagte Rätschke friedlich. Er war gewillt, die Angelegenheit zu vergessen. Außerdem gönnte er den Söderkvists die Niederlage. Allein dessen Miene sagte alles. Söderkvist wagte sich nicht mal aus der Tür, stand auf der Schwelle und warf Kotsch empörte Blicke zu. Als er merkte, wie billig sein ungeliebter Nachbar davonkommen sollte, rief er aufgebracht. „Der andere da wohnt doch schwarz hier.“ „Ist das wahr?“ fragte der ABV, gewillt, sich mit jeder Antwort zufrieden zu geben. „Besuch von mir. Ein Freund. Außerdem haut er gleich ab.“ Damit hätte es Rätschke bewenden lassen können. Er tat es nicht. Da war etwas in Fränkis Augen, das ihm nicht gefiel.
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„Wo sind Sie denn zu Hause, Herr… Herr…“ „Grusche,“ gab Kotsch an Fränkis Stelle Auskunft. „Ein Landei aus Pretzier.“ Fränki hatte von Anfang an nicht viel Selbstsicherheit ausgestrahlt. Bei dem Wort „Landei“ klappte regelrecht das Visier herunter. „Das ist nun nicht gerade nebenan.“ Rätschke schüttelte den Kopf. „Pretzier, Pretzier? Nicht mal hier im Kreis. Oder?“ „Salzwedel.“ Kotsch ließ seinen Freund überhaupt nicht zu Worte kommen. „Ist spät geworden, wissen wir alles. Was macht es schon, wenn er mal bei mir schläft.“ Rätschke nickte. „Kein Problem. Ich würde mir aber gern mal Herrn Grusches Personaldokument ansehen.“ „Was? Meine Gäste sollen sich ausweisen? Wo leben wir denn?“ Plötzlich war auch Kotsch unsicher geworden. Rätschke schaute von einem zum anderen. „Tja, wo schon. Aber das ist doch nur eine Formalität. Bitte.“ Der Leutnant streckte Fränki auffordernd die Hand entgegen. Fränki fummelte in seiner Gesäßtasche und brachte schließlich eine zerknautschte Brieftasche zutage. Der entnahm er ein noch zerknautschteres Stück Papier. „Naja, schön, ich hab die Jugendkarte,“ sagte er. Es handelte sich um ein vorläufiges Dokument für den eingezogenen Personalausweis, gültig bis Ende des Jahres. Frank Grusche, geboren am 9. März 1963 in Pretzier, Kreis Salzwedel und dort selbst wohnhaft in der Bahnhofstraße 22. „Sie haben eine Aufenthaltsbeschränkung, Herr Grusche?“ Fränki nickte schuldbewußt. „Weshalb wurde diese Maßnahme gegen Sie verhängt?“ „Kinderkacke,“ sagte Fränki. „Bin mit meinem Schieber
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nicht klargekommen und habe gebummelt. Da haben se mich eben gegriffen. Arbeitsplatzbindung. Und denn eben das da.“ Es war garantiert nicht einmal die Hälfte der Wahrheit. Der Leutnant schüttelte den Kopf. „Den Rest, bitte.“ „Die Arbeitsplatzbindung galt für denselben Betrieb und dieselbe Brigade. Könn Se sich vorstellen, daß das Klima da besser wurde? Na also. Wieder dasselbe. Da mußte ich denn endlich zum VPKA. Aber ich arbeite jetzt woanders, und da gehalles klar. Wirklich.“ Rätschke sah Klotsch an. „Ich würde doch gerne mal eintreten?“ – „Nein, Sie nicht, Frau Söderkvist“ wehrte der Leutnant ab, als Kotsch seine Zustimmung gegeben hatte und sie sich schon in Marsch setzte. „Ich danke Ihnen, gute Nacht.“ Er nickte freundlich in ein enttäuschtes Gesicht hinein und trat in Kotschs Wohnung. Kotsch schlug der Söderkvist die Tür vor der Nase zu und sagte mürrisch: „Da lang. – Es ist wirklich Kinderkacke, Fränki hat recht,“ erklärte er, als sie in seinem Wohnzimmer saßen. „Reine Bürokratie. Er arbeitet jetzt regelmäßig, ohne Fehlschichten.“ Der Leutnant ignorierte Gastgeber Kotsch. Fränki sah aus, als bewegte ihn ein größeres Problem als „Kinderkacke“. Er streifte seinen Freund mit raschen, ängstlichen Blicken, und den ABV sah er gar nicht an. Kotsch hingegen versuchte eindeutig, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er erläuterte lang und breit Gründe und Hintergründe für Fränkis Aufenthalt bei ihm. Mitunter nickte Fränki wie befreit, als wäre seinem Freund eben eine Formulierung eingefallen, auf die er partout nie gekommen wäre. „Gestatten Sie, daß ich Herrn Grusche dazu befrage,“ sagte Rätschke endlich und betrachtete aufmerksam das Ersatzpa-
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pier für Fränkis Identität. Es stand nichts anderes drin als vorhin auch, und der Leutnant hatte nicht vor, den Text auswendig zu lernen. Fränki sah ihn wie paralysiert an. Es schien, als kannte er sich nicht so gut aus in seinem Behelfsausweis und vermutete, daß er codierte Nachrichten oder Mitteilungen enthielt. Dem war durchaus nicht so. Aber da war eben etwas in Fränkis Augen, das Rätschke nicht gefiel. „Wann sind Sie gekommen, und was war der Grund für diese Reise?“ fragte er deshalb, mit einem Touch gefährlicher Neutralität in seiner Stimme. Fränki begann vor Aufregung fast zu stottern. „Heute morgen. Ich bin über Potsdam und Birkenwerder gefahren und dann mit der S-Bahn. In Oranienburg habe ich die Bummelbahn genommen. Das war doch nur wegen dem Gerät da. Ich will es verkaufen, damit ich zu Weihnachten flüssig bin. Das Ding ist doch mir.“ Fränki deutete mit dem Kopf auf das Ding, und Rätschke betrachtete es voller Hochachtung. Kotsch hingegen sah aus, als hätte er es mit der Galle. „Ist das das Streitobjekt? Gibt es Unklarheiten über das Eigentumsverhältnis?“ Der ABV trat einen Schritt näher. Das Ding war ein Sony, ein Kassettenrecorder der Extraklasse. Er nickte. „Der ist seine anderthalbtausend wert. Ja, damit wird man zu Weihnachten ganz schön flüssig. Und Sie haben was dagegen?“ Kotsch kaute an seiner Unterlippe, als wollte er sie roh essen, und verzog gleichzeitig voller Schmerz das Gesicht. Er war so beschäftigt, daß vor Anstrengung seine Halsadern hervortraten. Er brauchte lange, ehe ihm eine Antwort einfiel. „Der soll das nicht verhökern wie auf einem Flohmarkt, das meine ich.“
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Seine Stimme klang, als würde er gefoltert. „Wie ist er in seinen Besitz gelangt?“ fragte Rätschke Fränki und trat noch näher an das Ding heran. Der Sony war so groß wie ein mittlerer Koffer. „Er hat….“ begann Fränki, doch Kotsch war schneller. „Ich hatte es mir von ihm ausgeliehen.“ Fränki nickte dazu. Der Sony stand in der einen Ecke auf einem niedrigen Schränkchen. In der Schrankwand standen noch andere Ge-räte: rechts in einem Regal ein zweiter Recorder, daneben eine HifiRadioanlage „hanseatic“ und in der Mitte ein ColorFernseher. „Alle Wetter, gut bestückt. Da kann man nicht meckern.“ Der ABV gab sich geradezu verdächtig leutselig, aber das fiel den beiden nicht auf. Leutnant Rätschke fühlte sich in der Klemme. Er war von nebenan herübergeeilt, um der Anzeige eines Bürgers wegen ruhestörenden Lärms nachzugehen. Dass dieser Bürger Söderkvist gewesen war, hatte ihn zu gewissen Nachlässigkeiten verleitet; Rätschke hatte sich zwar in seine Uniform geworfen, auf die übrige Ausrüstung jedoch verzichtet. Er war weder bewaffnet, noch hatte er seine Schulterriementasche dabei. In dieser Tasche befand sich einiges, was er jetzt lebhaft vermißte, unter anderem seine Fahndungsunterlagen. Das wollte er die beiden keinesfalls spüren lassen, denn ihm schien, als stünden diese vielen schönen Apparate hier auf der Liste. Wenn er recht hatte, handelte es sich um Raubgut. Im geringsten Falle hatten sich die beiden der Hehlerei schuldig gemacht, im äußersten waren sie eiskalte Totschläger. Rätschke dachte nicht über Heldentum nach, lediglich über die hier angebrachte Taktik. Er konnte die beiden vorläufig festnehmen; dann riskierte er jedoch, daß sie versuchen wür-den, sich
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zu widersetzen, und zumindest gegen Kotsch hatte er keine Chance. Das bedeutete, die Burschen würden fliehen. Er konnte jedoch auch nach Hause gehen und Hilfe anfordern. Dann mußte er allerdings, falls er sich geirrt hatte, eine Bla-mage und eine berechtigte Beschwerde einkalkulieren. Er konnte Grusche vorgeblich wegen seiner Ausweisgeschichte dem Revier zuführen – doch wie würde Kotsch reagieren? Jede Möglichkeit barg Für und Wider, und Rätschke mußte sich eingestehen – mehr Wider. Die Situation war so, als hätte man im Tele-Lotto bereits vier Richtige und wartete nunmehr auf die entscheidende fünfte Kugel. Es gab ja nur noch einunddreißig Möglichkeiten. „Teuer genug. Und schwer zu kriegen.“ Klotsch betrachtete seine Schätze fast unwillig, als wären sie ihm plötzlich sehr im Wege. „Aber gut gekauft.“ Der ABV hatte sich zur Offensive entschlossen. So lange die Burschen ihre Unsicherheit nicht zu beherrschen vermochten, war er ihnen überlegen, und das wollte er ausnutzen. „Was bin ich nicht alles gelaufen nach etwas Ähnlichem. Wo war das Gerät zu haben? Blaupunkt, nicht wahr?“ Rätschke gab sich bestens aufgelegt, während er pro forma Notizbuch und Kugelschreiber aus der Tasche zog. Er wußte Frank Grusches Personalien inzwischen auswendig. „Ab und zu mal einen Blick in die Zeitung,“ murmelte Kotsch widerwillig. „Das wird oft angeboten. ,Norddeutsche Zeitung’ am besten. Freitags.“ „Die Zeitung!“ Rätschke guckte verwundert wie ein Kind, das eine Blume davonfliegen sah, die sich als Schmetterling entpuppt hatte. Man hätte tatsächlich meinen können, er erfuhr erst jetzt, daß man seine Wohnung auch über die Zeitung
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einrichten konnte. Dann sagte er beiläufig: „Sie werden nicht drum herum kommen, mir den Namen und die Adresse des Verkäufers zu nennen. Bei den anderen Geräten wüßte ich das natürlich genauso gerne, falls Sie nicht über Verkaufsunterlagen wie Garantieurkunde oder Kassenzettel verfügen.“ Der Überfall hatte gewirkt. Kotsch sah blaß aus. Er betrachtete seine Füße und nuschelte, daß er sich solche Kleinigkeiten nicht zu merken pflege. Ware gegen Geld, und die Sache ist erledigt. Wo doch der Verkäufer es ihm selber ins Haus gebracht hatte. Das Nicken des Leutnants schien ihn zu beruhigen, bis Rätschke wissen wollte, wann die Annonce aufgegeben worden sei. Und weil Kotsch auch hier arge Gedächtnislücken eingestehen mußte, forderte Rätschke die beiden auf, ihn zu begleiten – zwecks Feststellung eines Sachverhalts. Eingeweihte wußten, das bedeutete fast immer Verdruß. „Sie haben Gegenwehr geleistet, aber ohne nennenswerte Courage. Waren wohl doch zu überrascht. Jedenfalls sind sie noch in derselben Nacht von der K in der Bezirksbehörde Neubrandenburg vernommen worden. Zwei der sichergestellten Geräte gehören zweifelsfrei zum Raubgut. Hier ist das übermittelte Ergebnis der Vernehmungen.“ Zocher schwenkte zufrieden ein langes Fernschreiben. Hauptmann Barabasch nahm den Bogen, sah ihn aber kaum an. Mit einer Handbewegung forderte er den Oberleutnant auf, weiterzureden. Zocher tat nichts lieber als das. „Sie zogen die übliche Schau ab. Unter der Hand gekauft, und zwar von Unbekannten. Was sie mit Sicherheit reinreiten wird, ist die Behauptung, sie hätten die Geräte zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Leuten erworben.“
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„Sind sie zu dem Raubüberfall vernommen worden?“ „Nein. Schwerpunkte der Vernehmungen waren die Angaben zur Person und zur Herkunft der sichergestellten Geräte. Frank Grusche, einundzwanzig Jahre, in Pretzier, Kreis Salzwedel, geboren und wohnhaft, unverheiratet; Andreas Kotsch, siebenundzwanzig Jahre, aus Neustadt-Glewe, jetzt in Neubrandenburg ansässig. Beide nicht vorbestraft, Grusche aber immerhin wegen asozialen Verhaltens mit Auflagen bedacht. Kotsch ist übrigens geschieden und hat ein Kind. Keine Unterhaltsrückstände. Grusche und Kotsch kennen sich, seit sie ihren Dienst im selben Regiment geleistet haben. Das war von Herbst einundachtzig bis Frühjahr dreiundachtzig in Drögerheide. Kotsch ist seitdem Fahrer beim städtischen Dienstlei-stungsbetrieb, Betriebsteil Stadtreinigung und Müllentsor-gung. Hat anscheinend keinen schlechten Ruf.“ „Na, dann wollen wir uns die beiden mal vornehmen. Ich meine, ihnen schwant schon etwas. Wann sind sie nach Berlin überstellt worden?“ „Sie sind vor zwei Stunden angekommen.“ „Das reicht,“ sagte Barabasch. „Eine schlaflose Nacht, einen aufregenden Tag und der Transport. Wenn sie nicht völlig abgebrüht sind, werden wir sie redselig kennenlernen wie die Schackelstern.“ Sie schwitzten schon, ehe sie überhaupt auf dem Stuhl saßen. Barabasch nahm sich Grusche vor, Zocher Kotsch, und nach jeweils einer Stunde wechselten sie. Dabei verlagerten sie den Tenor ihrer Fragen sehr langsam, beinahe unmerklich, auf das Verbrechen. In der ersten Stunde ging es jeweils um die Herkunft der Geräte, in der zweiten kam die Rede auf Beziehungen zur Hauptstadt, die Besuche dort, Bekanntschaften. Barabasch und Zocher mußten konstatieren, daß die beiden nachd
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em Wechsel des Themas zunehmend sicherer wurden. Man hätte meinen können, Friedrichshain sei ihnen so fremd wie Kreuzberg, und von der Stadt kannten sie angeblich nicht mehr als das, was auf jeder Ansichtskarte abgebildet ist. Entsprechend fiel ihre Auskunft über Verwandte, Freunde oder Bekannte aus, und wenn sie sich vorher in Dutzende Widersprüche verstrickt hatten, machten sie jetzt alles bestens. Berlin war ihnen ein Buch mit sieben Siegeln und einem schönen Umschlag, auf dem ein Fernsehturm zu sehen war, ein Alexanderplatz und eine Straße Unter den Linden. In der vierten Runde schob Zocher Grusche ein Foto über denTisch. Darauf war ein Framo mit Holzaufbau zu sehen, und der gefiel Fränki wenig. Seine Augen strichen unruhig über das Bild und suchten dann einen angenehmeren Gegenstand der Betrachtung. Es war die dekorative Schreibtischlampe neben dem Oberleutnant. „Schauen Sie ruhig dahin,“ sagte Zocher und tippte auf das Foto. „Kennen Sie dieses Fahrzeug?“ Grusche schüttelte den Kopf. „Damit ist am vierten Oktober kurz vor Mitternacht Ihr Sony-Recorder transportiert worden, und zwar bis zu dem Parkplatz in Oranienburg gegenüber der Kanalstraße. Das ist in der Nähe des Schlosses, wissen Sie. Und hier ist der Garantieschein für Ihren Sony. Da, schauen Sie… ,“ Zocher legte die Garantieurkunde neben das Foto. „Wir fanden ihn allerdings in der Wohnung dieses Mannes hier.“ Ein zweites Foto zeigte Manfred Raddatz. „Dieser Mann, Herr Grusche, wurde nicht nur um seinen Recorder und einige andere Gegenstände gebracht, sondern bei derselben Gelegenheit umgebracht. Und ich bin nicht irgendeiner, der Auskunft über ein paar geklaute Sachen haben will, sondern Mitglied der Morduntersuchungs-
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kommission. Dies nur, um die Gewichtigkeit unserer Gespräche klarzustellen.“ Die Reaktion Grusches war frappierend. Kein noch so gut placierter Kinnhaken hätte ihn besser treffen können. „Nein,“ schrie er, „nein! Sie wollen uns doch nicht unterjubeln, dass wir den da umgebracht haben.“ „Doch, doch, das heißt, unterjubeln wollen wir Ihnen das eigentlich nicht. Schauen Sie: Wir kennen den Hergang der Tat, ihren genauen Zeitpunkt, die geraubten Gegenstände, das Fahrzeug, mit dem sie abtransportiert wurden. Und nun kennen wir sogar die neuen Besitzer einiger dieser Gegenstände. Was meinen Sie denn, wie viele Indizien noch nötig sind. Zudem haben Sie selber einige geliefert. In Neubrandenburg gaben Sie zu Protokoll, den Sony im Sommer erworben zu haben, und diese Behauptung wiederholten Sie an dieser Stelle noch einige Male. Wir wissen aber, Herr Grusche, Ihr Sony befand sich bis zum Abend des vierten Oktober in einer Wohnung in der Liebigstraße sieben. Und da Sie absolut nicht sagen können, wer Ihnen den Recorder verkauft hat – im Sommer , brauchen wir Ihnen nichts unterzujubeln.“ „Aber der ist doch nicht tot. Der kann doch nicht tot sein. Weshalb denn, Mensch?“ „Kennen Sie diese Pressemitteilung?“ Zocher legte eine Zeitung vor Grusche auf den Tisch. Sie war zweimal gefaltet, und auf dem Viertel der Lokalseite sah man Manfred Raddatz’ Foto, dasselbe, das Grusche vorher gezeigt worden war, mit dem Text: Im Zusammenhang mit einem Tötungsverbrechen, bittet die Kriminalpolizei um Mithilfe der Bevölkerung. Wer hat… Grusche hielt sich an der Kante der Schreibtischplatte fest. Seine Augen quollen fast aus ihren Höhlen, so fassungslos
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starrte er darauf. „Kennen Sie diesen Text?“ Grusche schüttelte abwesend den Kopf. „Kennt ihn Ihr Freund?“ Erneutes Kopfschütteln; Grusche hatte es die Sprache verschlagen. Seine Bestürzung war so echt, daß ihm Zocher unter Umständen seine völlige Unschuld geglaubt hätte. Er betrachtete beinahe mitleidig das Bürschchen auf dem Stuhl. Bei dem waren drei Stunden verschenkt worden. Diese Tatsache am Anfang der Vernehmung, und er wäre sofort zusammengefallen wie ein Klitschkuchen. „Wir haben ihm doch nichts getan. Das geht doch nicht.“ Grusche versuchte, den fürchterlichen Verdacht wegzureden. Bislang hatten sich seine Gedanken darum gedreht, den Besitz gestohlenen Gutes möglichst glaubwürdig zu verschleiern. Diese dämlichen Nachbarn von Andy hatten sie reingeritten, die wegen dem bißchen Lärm nichts anderes zu tun gehabt hatten, als den ABV zu holen. Und den Zeck hatten sie miteinander gehabt, weil Andy ihm den Recorder nicht aushändigen wollte, der zu seinem Anteil gehörte. So schnell konnte das gehen, wenn man Pech hatte. Andy hatte gemeint, daß das Zeug erst mal dicht bleiben sollte, nicht eher versilbert werden durfte, bis sich der Spektakel um ihren Coup gelegt hatte. Denn wenn sie den Braten erst mal rochen, hatte Andy gesagt, brauchten sie bloß den Hahn her zu bringen, der sein Zeug und vor allem sie identifizieren konnte. Darüber hatten sie sich gestritten. Und plötzlich sollte dieser Hahn tot sein. Ermordet, von ihnen. „Was haben Sie ihm denn getan?“ Zochers Worte tropften gleichmütig in die Stille, die unendlich lange gewährt hatte, so lange, wie Fränki brauchte, um mit der neuen Lage fertig zu
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werden – also beinahe ewig. Fränki sagte, daß ihm schlecht sei, kotzübel sogar, und daß er nichts wüßte. Oberleutnant Zocher schüttelte langsam den Kopf. „So nicht, mein Freund. Wir haben uns schon viel zuviel Zeit um die Ohren geschlagen, jetzt bringen wir es zu Ende, ist das klar?“ Zu Ende, zu Ende. Frank Grusche glaubte wahrhaftig, daß es aufs Ende zuging. Für Raub gab’s ein paar Jahre, das konnte er sich vorstellen, und seitdem sie auf diese ungeheuer läppische Art reingefallen waren, hatte er mit dem Gedanken gespielt, auf der Stelle reinen Tisch zu machen, um vielleicht ein paar Monate weniger zu kriegen. Aber bei einem Mord? Wenn er jetzt auspackte, lückenlos auspackte, glaubten sie ihm wahrscheinlich kein Wort, weil trotzdem eine Lücke blieb, über die er nichts sagen konnte. Nebenan geschah das gleiche mit Kotsch. Ihm präsentierte Hauptmann Barabasch die Garantieurkunden des „Stern“Recorders und des „Cumlands“, für das eine Gerät ausgestellt 1979 von Phono-Vision in Prenzlauer Berg, für das andere von A & V in der Kopernikusstraße als Teilgarantie. Kotsch war ein anderer Typ als Grusche, hatte immer Varianten parat, wenn ihm ein Widerspruch nachgewiesen wurde. Zuletzt gab er zu, daß sie alle drei Radiorecorder zum Vorzugspreis erworben hatten. Unter der Hand – in einer Kneipe. Bloß für den Blaupunkt-Color hatte er eine andere Erklärung. Den besaß er schon länger, und wenn es heiße Ware sein sollte… Er zuckte die Achseln, bei dem Preis für die Recorder hätten sie schon damit gerechnet, doch den Fernseher hätte er praktisch zum Ladenpreis erworben. Er hatte gemerkt, daß dieser Blaupunkt die schwache Stelle war; die Kriminalisten, vermutete er, konnten nicht nachweisen, daß er aus dem
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Raub stammte. „Wir könnten Sie dem ehemaligen Besitzer gegenüberstellen,“ sagte Barabasch. „Was halten Sie davon? Er wird doch sein Fernsehgerät wiedererkennen. Und natürlich auch die Leute, die ihn um seinen Besitz gebracht haben.“ Er betrachtete sein Gegenüber aufmerksam, der zeigte jedoch keine Reaktion. „Es ist dieser Mann.“ Er legte Kotsch das Foto von Manfred Raddatz vor. „Das scheint Ihnen nichts auszumachen.“ „Ich kenne ihn nicht. Wenn er mich wiedererkennt, irrt er sich.“ „Sie sind ziemlich sicher, Herr Kotsch. Er kann Ihnen nicht gefährlich werden, meinen Sie. Oder Sie meinen, er kann Ihnen nicht mehr gefährlich werden.“ Jetzt landete die Polizeimitteilung vor ihm, und Kotsch reagierte ähnlich wie Grusche. Er las entgeistert den Text und schloß für einen Moment die Augen, als traute er ihnen .nicht. Dann las er ihn noch einmal. Seine Hände zitterten. Er hatte aufgerichtet vor dem Hauptmann gesessen, kühl, überlegt, ziemlich kaltblütig gewirkt. Jetzt sackten die Schultern, er beugte sich vor. „Das habe ich nicht gewußt,“ sagte er leise. „Was haben Sie nicht gewußt? Der Fahndungsaufruf war in allen Tageszeitungen abgedruckt.“ Kotsch winkte mit einer hilflosen Gebärde ab. „Ich lese nicht eine einzige oder schaue nur flüchtig rein, wenn irgendwo eine liegt. Ja, wir haben das Ding gedreht. Aber das da waren nicht wir. Nein, umgebracht haben wir ihn nicht.“ Er hielt ein und dachte nach, schüttelte den Kopf und betrachtete wiederum die Pressemitteilung. „Wie ist er ums Leben gekommen?“
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Barabasch antwortete nicht. „Es war von vornherein abgemacht, keine Gewalt gegen den dort anzuwenden. Ein todsicherer Coup, wenn der Plan genau eingehalten wurde. Den Plan lieferte….“ er sah einen Moment lang regelrecht verwundert aus, „ja, er nannte sich Georg, aber ich würde jede Wette eingehen, daß er nicht so heißt. Dieser Georg hatte die Idee und die ganze Ausführung fix und fertig im Kopf. Er suchte nur noch zwei Leute die ihm halfen, und es mußten zwei sein, die miteinander wenig oder überhaupt keine Beziehungen unterhielten, am besten so weit voneinander entfernt wohnten, daß niemand eine Querverbindung nachvollziehen könnte. Verstehen Sie, drei, die vorher nichts miteinander zu schaffen hatten und auch mit dem Opfer nicht bekannt waren. Georg sorgte für alles andere auch, vorher und nachher. Es ging nur darum, an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Zeit an einer verabredeten Stelle zu sein und an einer anderen, ebenfalls vorher ausgemachten, ein Fahrzeug zum Weitertransport abzustellen. Der Ort war ein Parkplatz in Oranienburg. Wir trafen uns dort um sechs Uhr nachmittags. Ich hatte Frank Grusche als dritten Mann gewonnen, vor allem, weil er bequem zu handhaben war, einer, der nie mitdenkt, aber alles treu ausführt, was ihm aufgetragen wird. Man muß es ihm nur gründlich eintrichtern. Was meinen Teil an der Organisation anging, hatte ich keine Schwierigkeiten. Ich meldete mich zur Sperrmüllbeseitigung im Landkreis, eine Sonderaktion zum Jahrestag. Jugendobjekt. Dafür bekam ich einen W 100, und das hatte den Vorteil, dass ich mit dem abends nicht auf den Hof zurück brauchte. Ich konnte ihn mit nach Hause nehmen. Um fünf holte ich den Kollegen ab, der mit mir fuhr. Wir machten unsere Touren
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durch die Dörfer und zur Halde, um eins setzte ich ihn wieder dort ab, wo er hinwollte. Also hatte ich den Wagen mindestens sechzehn Stunden zu meiner freien Verfügung. Georg brachte eine Klapperkiste an, die denkbar geeignet war für unser Vorhaben. Das Auto hatte bestimmt seine dreißig Jahre auf dem Buckel und fiel höchstens deshalb auf. Georg hatte sogar einen Fahrauftrag organisiert, so daß wir nicht mal eine Kontrolle wegen Schwarzfahrten zu fürchten hatten. Wir fuhren gegen neunzehn Uhr los und waren eine Stunde später irgendwo in der Berliner Innenstadt. Dort warteten wir in einer Nebenstraße bis etwa einundzwanzig Uhr. Inzwischen besorgte Georg ein paar Lattenkästen, solche Obsthorden, von einem Gemüseladen. Damit verschwand er um die Ecke. Als er zurückkam, sagte er, er hätte sie dort abgestellt, wo wir parken sollten, damit niemand in der Zwischenzeit etwa seinen Trabant dazwischenschummeln könnte. Es wäre genau die Wohnung davor. Wenn er losgegangen wäre, sollte ich präzis zwanzig Minuten warten, dann den Wagen an Ort und Stelle bringen und mit Grusche in die Wohnung kommen. Die Tür würde offen sein.“ Kotsch starrte verloren geradeaus. „Wir machten es genau so, und als wir hineinkamen, hatte Georg den Mann dort im Schwitzkasten. Das war kein Schwächling, doch er saß, während Georg stand. Gegen alle drei hatte er dann sowieso keine Chance. Wir banden ihn und erklärten ihm, daß er nichts zu befürchten hätte, wenn er ruhig bliebe, wir wären nicht auf ihn, sondern auf seine Einrichtung aus. Er muckste sich auch nicht; es war ein kluger Bursche.“ Kotsch streckte sich. „Wir brauchten nichts weiter als ein bißchen Mut, es lief dann wie ein Kinderspiel. Ja, ich meine, das hat man gerade zehn Minuten gedauert. Dann ‘rein in
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den Wagen und ab. Wir waren völlig ungestört. Zurück nach Ora-nienburg sind wir über die Autobahn. Wenn man es richtig bedenkt, war das Riskanteste an der Sache das Umladen dort und das Abladen.“ „Wo das?“ fragte der Hauptmann. Er hatte Kotsch bisher mit keinem Wort unterbrochen, aber nun schien es ihm an der Zeit, wieder die Gesprächsführung zu übernehmen. „Bei mir. Ich habe da einen Verschlag im Hauskeller. Im Grunde sind die Leute gewöhnt, daß ich ab und zu was anfahre. Bei der Mülle fällt dies und jenes an, was man gebrauchen kann, und das kommt in meinen Keller. Aber es war mitten in der Nacht.“ „Wann etwa?“ „Wir sind um Mitternacht von Oranienburg weg. Ich möchte sagen, nach drei.“ „Sie sind alle zusammen gefahren, Grusche, Sie und Georg?“ „Nein. Nur Georg und ich. Fränki schickten wir nach Hause.“ „Warum das?“ „Er bekam kalte Füße wegen seiner Auflagen, vor allem wegen seiner Arbeitsplatzbindung. Meinte, wenn er nicht um sieben an seiner Stanze steht, geht der Zirkus wieder los. Ich hatte bis dahin übrigens nichts davon gewußt, und Georg war ziemlich sauer, als Fränki damit rausrückte. Sein Meister sei wie eine Glucke, erklärte er, und um Viertel acht stünde er vor der Mansarde, um ihn zu holen, falls er verschlafen hätte. Wir verabredeten uns für den Sonnabend bei mir, um das Zeug zu verteilen. Georg und ich fuhren also zu mir, und wir luden aus. Es ging alles klar, bloß Georg war mit Fränki nicht zufrieden. Arbeitsplalzbindung und Jugendfleppe, das war ihm zuviel Risiko. Es scheitert immer an Kleinigkeiten,
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sagte er. Wann sollten wir ihn da getötet haben?“ Kotsch wies auf die Zeitung. „Zum Beispiel, als Sie die Wohnung wieder verließen.“ Im Grunde glaubte der Hauptmann nicht mehr daran. Die postmortalen Merkmale bewiesen, daß Raddatz die Fesseln erst nach dem Tode abgenommen worden waren. Hingegen stimmte Kotschs Darstellung im großen und ganzen mit dem ermittelten Tatablauf überein. „Bleiben wir bei Georg. Ein falscher Name, demnach kannten Sie ihn vorher nicht.“ Kotsch bestätigte das. „Der große Unbekannte. Halten Sie das für wahrscheinlich? Wie haben Sie ihn kennengelernt?“ „Im Zickenstall.“ Barabasch nickte. „Im Magdeburger ,Zickenstall’? Ist das richtig?“ Er kannte die Kneipe. Es war ein Etablissement genau jenen Zuschnitts, in der einschlägige Kontakte geschlossen wurden. „Wir saßen an einem Tisch“, fuhr Kotsch fort. „Da redet man dies und das.“ „Natürlich. Vor allem über Raubüberfälle. Das tut man am besten mit wildfremden Leuten, und haste-nicht-gesehen, springt ein fix und fertiger Plan dabei heraus. Wofür halten Sie mich, Herr Kotsch?“ „Wofür schon. Sie sagen mir knallhart, daß ich an einem Mord beteiligt gewesen sein soll. An einem Mord!“ Kotsch biß die Zähne zusammen, daß seine Kiefergelenke scharf hervortraten. Seine Augen waren plötzlich trüb, auch seine Stimme klang niedergeschlagen, und er machte eine lange Pause. Er erwartete keine Zwischenfrage, und es kam auch keine. Der Hauptmann sah ihn ruhig an, ohne Mitleid, aber auch ohne
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Aggressivität. Die Geschichte, die er gehört hatte, klang ziemlich überzeugend, weil sie sich deckte mit den bisherigen Ermittlungen. Nur der große Unbekannte paßte da nicht hin-ein. Ein großer Unbekannter paßt nirgendwo hinein, schon gar nicht in ein sogenanntes todsicheres Ding. Natürlich auch kein Mord. „Ich bin zufällig in den ,Zickenstall’ geraten. Ich kannte die Kneipe gar nicht. Ich kannte auch Magedeburg so gut wie überhaupt nicht. Es war ziemlich heiß zu dieser Zeit, damals. Ich hatte Durst und ging einfach irgendwo hinein, um ein Bier zu trinken – eben in den ,Zickenstall’. An dem Tisch, an den ich mich setzte, saßen schon zwei. Einer war ein zahnloser Kerl von etwa fünfzig in Arbeitsklamotten, ein Hausmeister irgendwo, wie ich heraushörte. Der Zahnlose redete und redete – ohne nennenswerten Erfolg, weil der andere kaum das Maul aufmachte. Er war jünger, in meinem Alter etwa. Kein Wunder, daß dann ich drankam. Im Grunde war alles nur Geschwafel. Der ohne Zähne meckerte über alles und nichts. Daß es keinen billigen Schnaps mehr gibt und dies und das. Ich war auch nicht gerade ein richtiger Partner für ihn. Solche Schnapsdrosseln gehen mir auf die Nerven, wissen Sie. Ich trinke gerne einen, trinke auch öfter mehrere und manchmal zuviel. Aber warum soll man darüber pausenlos reden? Ich war ziemlich froh, als Georg kam.“ „Ach, dann kam Georg?“ „Ja, der vierte Mann an unserem Tisch. Es war wohl nirgendwo mehr was frei, deshalb setzte sich Georg zu uns. Wir hatten sofort einen Draht zueinander. Georg nahm den Zahnlosen regelrecht hoch. Er ging auf das Lamento ein, auf eine Art, daß schließlich sogar dieser Hausmeister merk-te, daß er verscheißert wurde. Georg bestätigte alles, was der
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sagte, und gab immer noch einen drauf, was den Alten so ver-wirrte, daß er endlich auch die Schnauze hielt. Solche Typen imponieren mir. Sie sind irgendwie – souverän. Das war si- cherlich der Grund, weshalb er mich in die Tasche steckte.“ „Und dann offerierte er Ihnen den Plan für ein perfektes Verbrechen.“ „Keine Spur,“ sagte Kotsch nachdenklich. „Es war im Gegenteil keine Rede von irgendwas in dieser Richtung. Er hat mich, glaube ich, regelrecht ausgehorcht. In weniger als einer Stunde wußte er alles über mich. Ich war ziemlich down damals, wissen Sie. Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, was ich in Magdeburg wollte.“ „Nein, das haben Sie nicht.“ „Ich wollte meine Frau zurückholen. Wir waren eben geschieden worden, und sie war zu ihren Eltern gezogen. Sie ist Magdeburgerin. Es war eigentlich alles in Ordnung gewesen zwischen uns. Neubauwohnung und gutes Einkommen bei der Mülle. Die Extras. Aber die Mülle störte sie ziemlich, das klingt nach Dreck und Kuli und dritte Klasse. Dafür wäre das Einkommen denn doch nicht gut genug, meinte sie. Sie wollte mehr. Auto, Grundstück, Top-Einrichtung, alles auf einmal wo möglich. Ich wollt’s ihr schon bieten. Aber selbst gestandene Leute brauchen Jahrzehnte dazu.“ „Ja, normalerweise.“ „Normalerweise, Sie sagen es. Ich erwog eigentlich schon alles mögliche. Mit Schrott läßt sich eine ganze Menge machen, doch allzuviel Schrott gibt es nicht mehr. Auch Omas Trödel nimmt ab. Und der zeitliche Aufwand für Sonderschichten steht in keinem Verhältnis zu dem, was sie einbringen. Georg war voller Verständnis und hatte auch eine Theo-
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rie parat.“ „Eine Theorie.“ „Ja. Das falsche Sozialismus-Modell, wie er es nannte. Das leuchtete mir ein, und damit kriegte er mich auch ganz schnell. Jedem das gleiche, sagte er, bedeutet, allen wenig. Und jedem nach seiner Leistung, meinte er, bedeutet, daß die einen auf Kosten der anderen mehr haben. Eine Pyramide und ein endlos langer Weg bis zur Spitze. Aber wo die Leistung entscheidet, entscheidet jede Leistung. Es ist egal, ob ein Kellner den Schnaps pantscht oder ein Handwerker Aufpreise nimmt. Wer seinen Trabant, der hunderttausend Kilometer ‘runter hat, für den Neuwert verkauft, ist ein Betrüger, ganz egal, wie leicht ihm die Leute den Betrug machen. Fast jeder, der viel erworben hat, tat es irgendwie mit unlauteren Mitteln.“ „Ich verstehe: Besitz ist das Resultat von Diebstahl, und Diebe zu bestehlen ist nicht mehr ehrenrührig. Damit oder mit ganz ähnlichen Argumenten versucht sich jeder Spitzbube herauszureden.“ Barabasch merkte augenblicklich selbst, daß sein Einwurf nicht geschickt gewesen war, und Kotschs Gesicht verdüsterte sich dann auch um eine Spur. Der mieseste Strolch, der kaum seinen Namen schreiben kann, ist mit einer bestimmten mathematischen Formel vertraut, dachte Barabasch. Minus mal minus ergibt Plus. Alle edlen Räuber der Literatur existieren davon: Rinaldo Rinaldini, Robin Hood, der Graf von MonteChristo. Jeder ist gut, der jenseits der Legalität etwas korrigiert, das jenseits der Legalität in Unordnung gekommen ist, ergo gilt es, jedwede Legalität überhaupt in Frage zu stellen. „Sie glauben mir kein Wort, nicht wahr?“ sagte Kotsch mürrisch. Er rieb sich das Kinn. „Vielleicht würde ich es auch nicht tun. Aber ich habe niemanden ermordet und nicht bei
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einem Mord geholfen.“ Es klang so entschieden, als betrachte er das Verhör nach diesem Satz für beendet. Der Hauptmann lenkte ein. „Ich glaube Ihnen, doch das nützt weder Ihnen noch mir. Jener Georg, den Sie nicht kennen, hat Ihnen erstens das perfekte Verbrechen offeriert und zweitens die moralische Rechtfertigung dafür geliefert. Das perfekte Verbrechen hat nicht geklappt, und was die moralische Rechtfertigung betrifft, da sind Sie inzwischen, merkte ich, in Zweifel geraten.“ „Fränki, der Idiot….“ fluchte Kotsch. Der Hauptmann unterbrach ihn abrupt. „Ihr Kumpel hat die Sache nur beschleunigt. Irgendwann hätten wir die gestohlenen Geräte sowieso entdeckt. Ich wüßte nun aber doch gern mehr über Georg.“ „Wir waren ziemlich voll nach diesem Nachmittag. Das heißt, Georg sah ich es nicht an. Ich habe überhaupt nichts mehr gesehen. Er brachte mich nach Hause.“ „Wo war das?“ „Eine Laube von meinen Schwiegereltern. Sie standen auf meiner Seite und haben mich eigentlich aufgefordert, zu kommen. Und ich habe Urlaub genommen!“ Er lachte kurz auf, ein blechernes, verzweifeltes Lachen. „Es wäre besser gewesen, ich hätte Georg nie wiedergesehen. Es wäre besser gewesen, ich hätte mich um das Weibsstück nie mehr gekümmert. Was sie wollte, bot er mir, das kam zusammen, verstehen Sie.“ „Nein.“ „Natürlich nicht. Zwei Tage später lief er mir erneut über den Weg oder ich ihm. Wir gingen natürlich in den ,Zickenstall’.“ Kotsch war ein erstaunlicher Mensch. Nicht Larmoyanz beherrschte seine Aussage, sondern sachliche Analyse. Wie ein Routinier alter Prägung hatte dieser Georg ihn getestet, seine
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Stärken und seine Schwächen erkundet und ihn für brauchbar befunden. Keine Frage, ob dieser ihm oder jener diesem über den Weg gelaufen war; Georg hatte gewußt, wie lange Kotsch in Magdeburg bleiben würde und wo er sich aufhielt. Er hatte in dem jungen Mann sozusagen seinen Idealpartner gefunden. Kotsch war just so labil, wie er ihn brauchte, im rechten Maße verbittert, genügend beeinflußbar, außerdem lebte er weit genug vom Tatort entfernt, um damit rechnen zu können, dass die polizeilichen Ermittlungen ins Leere laufen. Eine raffinierte Strategie, dachte Barabasch. Wer weiß, wielange Georg nach seinem Mann gesucht hatte, ehe er auf Kotsch gestoßen war. Kotsch beschrieb Georg als einen groß wirkenden, sehr schlanken Mann mit dunkelblondem Haar, einem schmalen, asketischen Gesicht mit tiefliegenden dunk-len Augen, dünnen Lippen und gerader Nase. Er erinnerte sich weder an sprachliche Eigenarten noch an besondere Merkmale wie Narben, Leberflecke oder Tätowierungen. „Präzisierte er seinen Plan bei Ihrem zweiten Zusammentref-fen?“ fragte der Hauptmann. Kotsch schüttelte den Kopf. „Er redete von einem Tip, den er hätte. Eine sehr sichere Sache, wenn sie richtig in die Hand genommen würde, und was er selber in die Hand nähme, würde garantiert klappen. Aber von einem Toten war keine Rede,“ beteuerte Kotsch noch einmal. „Das Opfer war aber die dünne Stelle in ihrem Plan, meinen Sie nicht auch? Der Mann hatte Sie drei gesehen und konnte Sie beschreiben. Hätte Sie beschreiben können.“ Kotsch bemerkte wohl die Modifikation in dem letzten Satz des Hauptmanns. Um eine Sache sehr sicher zu machen, mußte man auch die letzte Unsicherheit ausschalten, wollte der sagen. Kotsch schüttelte verbissen den Kopf. „Also dann von vorne,“ sagte Barabasch ruhig. „Von An-
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fang an. Vielleicht haben wir etwas vergessen.“ Zocher hatte Frank Grusche mit bedeutend weniger Erfolg vernommen. Fränki hatte keine Ahnung, wie der Raub ausbaldowert worden war. Andreas Kotsch hatte ihm vorgeschlagen, mitzumachen, und wie schon während der Dienstzeit in der Armee hatte Fränki getan, was der wollte. Sie waren von ihrem Treffpunkt in Oranienburg aus mit dem Framo nach Berlin gefahren, und dort hatte sich alles so abgespielt, wie es Kotsch dem Hauptmann beschrieben hatte. Über Georg wußte er nichts, hatte ihn am Tattage zum ersten Male gesehen und konnte ihn auch nicht näher beschreiben. Fränki hätte allerdings auch seine eigene Mutter nicht beschreiben können. Immerhin bestätigte er die Aussagen seines Kumpans. „Wichtig ist, daß anscheinend alle drei ein Alibi für den Mord haben. Kotsch und Georg fuhren mit der Beute nach Neubrandenburg, Grusche nach Hause.“ „Sagen Sie selber,“ warf Zocher ein, „Zeugen haben Sie keine. Angenommen, Sie sind noch einmal zurückgekehrt, weil Boß Georg eingefallen war, daß Raddatz lebend ein zu großes Risiko darstellte, auf wie viele Minuten kommt es dann noch an?“ „Moment mal.“ Der Hauptmann griff nach der Ermittlungsakte. „Wie war das doch gleich mit der Beschwerde des Genossen Kühl? Die vergessene Aktennotiz über die Beobachtung dieses Mannes von gegenüber…“ Er schlug die Mappe auf und blätterte darin. „Hier ist es; der Geniestreich unseres Genossen Bielau. Jener Mann konnte mit genauen Uhrzeiten aufwarten. Demnach war die Tat, was wir inzwischen auch von Kotsch und Grusche wissen, um zweiundzwanzig Uhr zehn bereits geschehen, Raddatz’ Wohnung dunkel, aber eine halbe
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Stunde später brannte in der Stube Licht. Leutnant Kühl hat von sich aus nachgeholt, was wir dank dem Genossen Bielau versäumten. Er befragte den Mann noch einmal und setzte ein Protokoll auf samt Weg-Zeit-Diagramm. Der Mann ist ein pensionierter Eisenbahner, daher die präzisen Zeitangaben. Das hilft uns weiter.“ „Wobei?“ „Bei der Alibiüberprüfung der Täter.“ „Brat mir einer ‘nen Storch,“ maulte Zocher. „Ich glaub nicht mal an den unbekannten Georg, geschweige denn an die Unschuld dieser beiden Strolche. Sie kennen Georg mindestens so gut, wie wir uns kennen. Sie sind ein Team. Solche Dinger dreht man nicht mit zufällig zusammen gesammelten Leuten.“ „Ich teile deine Vorbehalte,“ gab der Hauptmann zu. „Aber Aussagen sind Aussagen, wir müssen sie überprüfen. Außerdem gibt es keine Widersprüche zwischen den beiden, soweit ich das bisher übersehen kann. Oder bist du anderer Meinung?“ „Nein,“ sagte Zocher widerwillig. „Es ist wie ein mit lebhafter Phantasie in Szene gesetzter Action-Film. Ich sag’s nicht gern: Der Fall ist nicht typisch.“ „Aha.“ „Außerdem scheint hinter dem großen Unbekannten, der sich Georg nennt, der ganz große Unbekannte zu stehen. Damit wird die Sache völlig verworren.“ Hauptmann Barabasch lächelte. „Der Tipgeber, nicht wahr?“ Er stand auf und trat zum Fenster. Er fühlte sich abgespannt. „Es gibt nur eine Möglichkeit, die Märchen aus der Spinnstube als solche zu entlarven.“ „Ja?“
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„Wir müssen den Rest der Beute finden.“ Detlev Kühl zwang sich, das Bett zu verlassen, und taumelte taub und blind ins Bad. Die Kälte belebte ihn etwas, aber das Unwohlsein blieb. Seine Zunge fühlte sich geschwollen und pelzig an, sie schien den ganzen Rachen zu füllen. Eine unbestimmte Angst ergriff ihn, die Furcht, er könnte ersticken. Aus dem Spiegel starrte ihn jemand mit einem hektisch geröteten Gesicht an. Die Visage eines Säufers nach durchzechter Nacht, dachte er. Dazu dieselben Beschwerden, Mensch, Detlev. Die Knie zitterten ihm. Er trank gierig Wasser aus der Leitung, viel zuviel und viel zu hastig, er verschluckte sich, und das quälende Gefühl, an seiner eigenen Zunge womöglich zu ersticken, machte ihn nervös. Ich bin krank, dachte er. Eine Erkältung mit Fieber, nichts weiter. Er wusch sich und tappte unsicher ins Wohnzimmer. Es war noch nicht ganz vier, überhaupt nicht seine Zeit, doch er brachte es nicht über sich, zurückzukriechen ins Bett. Er setzte sich in einen Sessel und versuchte, den Alptraum in sein Gedächtnis zurückzuholen. Eine dieser quälenden Verfolgungshalluzinationen; die Allernächsten hatten sich verbündet gegen ihn, eine schweigende Mauer gebildet, ihn anzuklagen. Wessen? Es blieb im Dunkeln. Vielleicht eine glückliche Einrichtung der Natur, daß man solche Träume vergaß, kaum daß man aufgewacht war. Wäre das nicht so, die Welt bestünde bald nur aus Psychopathen. Trotzdem wollte er sich nicht zufrieden geben damit; in seinem Falle bedeutete das Vergessen keinen Trost, weil da etwas gewesen war, ein Signal, eine Warnung oder ein Hinweis, irgendeine Kleinigkeit, die ihm wichtig schien.
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Er lauschte in sich hinein, vernahm aber nur das Klopfen des aufgeregten Pulses in den Schläfen. Ich bin wach geworden, weil ich schrie, dachte er. Ich weiß, daß ich schrie. Nein, ich schrie nicht, ich brüllte. Ich war in die Ecke gedrängt von Anklagen, grundlosen Anklagen, und mußte mich wehren. Ich wehrte mich gegen alle. Gegen alle. Er hatte seine Mutter angebrüllt, in ihr erschrecktes, vorwurfsvolles Gesicht hineingeschrien, und sie war stillgeblieben. Ja, das wußte er jetzt. Je stiller die anderen wurden, desto lauter hatte er gebrüllt. Er hatte auch Christine, seine Frau, angeschrien. Wie ein Rasender war er gewesen – aber warum? Warum? Man hätte sich vielleicht ein bißchen mit Freud beschäftigen müssen, dachte er, vielleicht wüßte man dann besser über sich Bescheid. Er wußte fast gar nichts über Freud, höchstens daß sich bei dem letztendlich alles auf sexuelle Grundmuster reduzierte. Detlev Kühl fühlte sich frei vom Ödipuskomplex, und er haßte seine Mutter nicht. „Das fällt mir nicht mal im Traume ein,“ sagte er laut. Vielleicht halfen ihm Selbstgespräche. „Ich hasse auch meine Frau nicht,“ erklärte er in die Dunkelheit hinein, die matt und nüchtern aufgehellt wurde durch das blaue Licht von den Straßenlaternen, das durch die Vorhänge drang. „Wir haben uns gestritten, das heißt, ich habe mit ihnen gestritten, und die Ursache des Streits hatte mit ihnen nichts, rein gar nichts zu tun. Ich muss hinter die Ursachen kommen. Ich habe ja auch mit anderen gestritten, mit dem dicken Knorr und dem dünnen Siebusch.“ Unterleutnant Siebusch und Kriminalmeister Knorr; das war wenigstens ein Anhaltspunkt. Knorr mit seinem verfluchten Kaffeegeschirr. Er ging hinaus mit diesem Geschirr, um Kaffee zu kochen, und kam wieder, ging, um das Geschirr abzu-
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waschen, und kam, um es im Schrank zu verstauen. Hin und her ging er, es klapperte und klirrte. Oder Siebusch. Ein fleißiger Mensch, ein pedantischer Mensch. Ein Schreibtischmensch, der sich voller Hingabe Statistiken und Diagrammen widmete. „Auch kein Grund zum Brüllen, und wie habe ich gebrüllt,“ erklärte Detlev Kühl in das dunkle Zimmer hinein. Ein Rascheln war die unerwartete Antwort. Sie mußte schon geraume Zeit hinter der Tür gestanden haben. „Ich freue mich, daß du mich nicht haßt,“ sagte sie. „Wenigstens das nicht.“ Sie trat hinter seinen Sessel. „Aber wem erzählst du das – und mitten in der Nacht?“ „Ich spinne“, antwortete er. „Ich habe Fieber und Wahnvorstellungen.“ „Das ist ein Grund,“ bestätigte sie ohne Spott. „Du hast wirklich sehr unruhig geschlafen.“ Sie selber schlief wie ein wachsames Tier, mit stets offenen Sinnen und auf dem Sprung. Kein Wunder, sie war Oberschwester auf der Intensivstation. Sie legte ihre kühle Hand auf seine Stirn und konstatierte leichte Temperatur. Auch beschleunigten Puls stellte sie fest. „Es ist selten tödlich,“ resümierte sie. „Ich bin auch selten dran gestorben.“ Er fühlte Zorn in sich aufsteigen und hatte Mühe, ihn zu zügeln. Wach war er beherrschter als im Traum. Sie hatte ihn aufgestört, eben als er sich selbst auf die Sprünge helfen wollte. Warum konnte das Weib einen nicht in Ruhe seine Selbstgespräche führen lassen? „Wenn Knorr und Siebusch mit deinen Wahnvorstellungen zu tun haben, sind es dienstliche Probleme,“ sagte sie sachlich. „Du hast damit zu tun, meine Mutter, Nelli, Feuerstein.“ Er hielt inne, weil mit einemmal alles wieder da war. Er hätte
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fortfahren können, und es wäre eine ziemlich komplette Aufzählung aller seiner Freunde, Verwandten und Bekannten geworden. Verrückt. „Ich gebe dir eine Packung Agacin-Aktiv. Nimm jetzt zwei Tabletten und nochmal zwei um zehn. Alle sechs Stunden zwei.“ „Es ist selten tödlich,“ zitierte er sie und fuhr fort: „Ich werde mich hüten, eure Giftmischer-Präparate zu fressen.“ „Was von allein kommt, geht auch von allein, nicht wahr?“ Sie lachte leise. „Die Natur hilft sich selbst, klar. Ich habe keine Lust, einen leidenden Mann um mich zu haben, das ist es. Ein Mann mit Erkältung ist das Letzte, kann ich dir sagen.“ „Hast du gelesen, nicht?“ Er konnte sich nicht erinnern, ihr jemals mit irgendwelchen Wehwehchen Mühe gemacht zu haben. „Erzähl mir deinen Traum,“ sagte sie. Sie setzte sich ihm gegenüber mit angezogenen Beinen, die Arme verschränkt. Das sah gut aus in diesem Dämmerlicht. „Ich habe ihn vergessen,“ bekannte er. „Du hast mit uns gestritten, wenn ich dich recht verstanden habe. Wir, das sind ich, Knorr und Siebusch, deine Mutter, deine Freunde vom Fußballverein. Gibt es noch jemand?“ Er zuckte die Achseln. „Außerdem fühlst du dich schuldig. Du hast sie, das heißt uns, angebrüllt, und wer brüllt, hat Unrecht, wie du weißt.“ Er schloß die Augen und rieb sie. Fünkchen sprangen auf, vereinigten sich zu schmerzhaft hellen Sonnen. Er hob die Lider und sah nichts, nur dunkle Flecken waren da – schwarze Löcher.
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„Ich weiß es eben nicht mehr. Aus – vorbei.“ „Wir haben dir Vorwürfe gemacht. Wie es scheint, berechtigte Vorwürfe, sonst hättest du auf deine erfrischende, kaltschnäuzige Art gekontert. Du bist nämlich am wenigsten zu genießen, wenn du recht hast. Dann bist du, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, geradezu beleidigend höflich, und jeder – ich betone, jeder steht bei dir im Regen.“ „Ich habe Fieber, verehrte mütterliche Gemahlin. Da kann man nicht unbedingt alles auf die psychologische Goldwaage le…“ Er unterbrach sich plötzlich selbst und starrte sie verblüfft an. „O Gott, was erfährt da mein krankheitsgeschütteltes Hirn: Ich bin ungenießbar, wenn ich im Recht bin?“ „Genau. Bei dir heißt es vielleicht trockener Humor. Es ist jedoch blanker Hohn, unmäßiger, verletzender Hohn, der tiefer trifft als ein Dolch.“ „Dolch ist gut,“ murmelte er nachdenklich. „Weniger Shakespeare, eher, warte mal, Karl May, eh.“ „Du bestätigst mich. Du bist so unverfroren, mitten in der Nacht, um halb fünf, den Wahrheitsbeweis anzutreten.“ „Es ist auch nicht Karl May. Ich kenne da einen, doch leider fällt mir der Name nicht ein. Es ist vielleicht wirklich noch zu früh.“ Er stand auf und versuchte ein paar Kniebeugen, gab es aber schnell auf. Wieder tanzten Sterne vor seinen Augen, ihm schwindelte, er wäre beinahe gestürzt. „Ich halte die Grippe für eine der gefährlichsten Krankheiten, jawohl. Es ist eine irgendwie deprimierende Krankheit. Man verliert seinen sonnigen, trockenen Humor. Sag mal, war das dein Ernst, eben?“ „Wer dich nicht kennt, könnte es so auffassen.“ „Ich habe in letzter Zeit zuviel Steinbeck gelesen, diese Ame-
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rikaner sind gefährlich. Tja, bei Ratajczak wäre mir das nicht passiert.“ „Bei wem?“ „Ratajczak. Mach dir nichts daraus, wenn du den Namen nicht kennst, ich habe ihn soeben erfunden. Ich will nicht, dass einem mein Hohn wie ein Dolch ins Herz fährt und so weiter.“ Er lächelte ihren Schatten an. Sie konnte es wahrscheinlich nicht sehen, ihn beruhigte das. Er sagt: „Der ganze Traum hat mit Nelli angefangen, jawohl. Er stritt mit mir oder ich mit ihm, und ihr habt euch auf seine Seite gestellt. Du magst Nelli sehr, nicht wahr?“ „Sehr ist übertrieben, aber ich mag ihn. Du nicht?“ „Meine Mutter liebt ihn förmlich. Sie hat ihn immer geliebt und mir stets als Vorbild hingestellt. Er war es eigentlich auch immer. Du fragst, ob ich ihn mag. Natürlich, er ist mein Freund, solange ich denken kann. Ich verstehe ihn nicht, das ist es. Im Traum stritten wir sozusagen auf Leben und Tod. Alle waren auf seiner Seite. Ich war grenzenlos allein und verbittert. Übrigens ist sein Dolch spitzer und schärfer als meiner.“ „Du hast ganz einfach ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber,“ sagte sie gelassen. „Tief drinnen akzeptierst du seinen Zynismus, doch du willst das nicht zugeben. In deinen Träumen lebst du diesen Konflikt aus. Deine Mutter und ich, alle, die auf seiner Seite sind, sind nichts anderes als dein inneres Ich. Aber was haben deine Genossen Knorr und Siebusch damit zu tun?“ „Keine Ahnung. Mein Außen ich. Ich hatte in meinem Traum so unverschämt normale Leute gegen mich, und mich ärgerten ihre kleinen Macken. Da ist zum Beispiel
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Knorrs Lei- denschaft für Kaffee, Siebuschs Korrektheit bei der Arbeit, die bis zur Kleinkariertheit reicht. Der ganze Fußballverein, der so konventionell zusammengesetzt ist, wie es das über-haupt nicht mehr geben dürfte, die strengen Kriterien für Or-dentlichkeit, die meine Mutter vertritt. Weißt du, weshalb sie Nelli so liebt?“ „Keine Ahnung.“ „Er hatte immer eine ordentliche Frisur.“ „Das ist natürlich verdächtig.“ „Auffällig. Fred Feuerstein hat kurze Haare, man kann sagen, er läuft ziemlich kahlgeschoren herum. Fassonschnitt. Heini Betcke kämmt sich die Haare hinten zu einem sogenannten Entenschwanz und drückt sich immer eine fesche Welle in die Pomadentolle. Achim Schulz ist undenkbar ohne gestreifte Krawatte zum karierten Hemd.“ Kühl schwieg gedankenvoll. „Eine Person fehlt noch in deinem Panoptikum,“ sagte Christine. „Welche?“ fragte er einsilbig. „Deine Frau. Trägt sie Dutt und Büstenhalter mit Einlage?“ „Anwesende sind ausgeschlossen,“ brummte er. „Ich erinnere mich jetzt wieder genau an meinen Traum. Ich selber bin ja auch nur so einer in grauem Flanell, wie das früher einmal hieß. Ein Revierleutnant. Ich bin immer gut rasiert, wenn ich zum Dienst gehe, und immer pünktlich. Nach dem Dienst habe ich für Blau-Weiß meine Tore geschossen, ich tat keinem was, und mir tat keiner was. Aber dann bin ich rausgetreten aus dem zweiten Glied, habe ihn aufgewühlt, diesen ganzen wohlfunktionierenden Ameisenhaufen – mit keinem andern Erfolg, als daß ich nach einiger Zeit zurückkehrte in dieses zweite Glied. Ich habe keinem eine Schuld nachweisen können und, was noch schlimmer ist, keinem die Unschuld.“
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„Und was wirfst du dir vor?“ „Nichts. Das ist es ja. Ich tat, was ich tun mußte, und das Resultat war, wie es sein mußte. Gib mir deine Tabletten da, wie heißen sie doch gleich?“ „Agacin-Aktiv. Von Bayer Leverkusen. Auch ein Fußballverein, oder?“ „Ja, aber weniger ein Fußballverein als ein Stück IG Farben. Dort sind schon viele wirkungsvolle Präpiarate entwickelt worden.“ Christine sprang aus ihrem Sessel und ging zu der Stehlampe, um Licht zu machen. „Die Seance ist beendet,“ sagte sie blinzelnd. „Agacin-Aktiv lassen wir mal. Was du brauchst ist etwas ganz anderes.“ „Was denn?“ fragte er hoffnungsvoll. Sie schüttelte den Kopf. „Nix ist, ich muß mich fertigmachen für den Dienst, und darauf wirst du heute verzichten. Knorr wird ohne dich Kaffee kochen und Siebusch ohne dich Statistik führen. Du bist krank und bleibst im Bett. Lies Steinbeck, hör Radio oder schlafe. Wenn du träumst, brülle ruhig, das kompensiert viele Belastungen.“ Resignierend ließ er die Schultern sinken. „Ich habe nur noch Ratajczak und fürchte mich vor meinen Träumen wie Rotkäppchen im Wald.“ „Du bleibst im Bett,“ entschied sie. Um acht Uhr rief er in der Dienststelle an und meldete sich krank. „Gehst du zum Arzt?“ erkundigte sich Siebusch hinterlistig. Kühl knurrte, daß er Fieber hätte und sich nicht so fühlte, um ein paar Stunden im Wartezimmer zuzubringen. „Ich schicke dir einen Notarzt,“ schlug Siebusch vor. „Es ist wahrscheinlich nicht höflich, aber ich verstehe ü-
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berhaupt keinen Spaß heute. Muß am Fieber liegen. Übrigens bleibe ich erreichbar für euch.“ Der Hinweis war völlig überflüssig, denn Unterleutnant Siebusch hätte auf jeden Fall noch einmal angerufen. Bereits um neun Uhr schrillte das Telefon. „Tut mir leid,“ sagte Siebusch „daß ich deine Krankheit unterbrechen muß. Die Umstände sind nicht so.“ Merkwürdigerweise drang kein einziges vergnatztes Wort an sein Ohr. Detlev Kühl, nur hundertzwanzig Minuten allein und verlassen, hatte erfahren, wie trist ein trautes Heim sein kann, in dem man gewissermaßen illegal seine Zeit verbringt. Die Sonata-Quäke hatte ihn genervt, statt ihn zu entspannen, er hatte ein halbes Dutzend Bücher, eins nach dem anderen, in die Hand genommen und wieder fortgelegt, ohne jeweils über die erste Seite hinausgekommen zu sein. Er war in die Küche gegangen und hatte sich heiße Milch mit Honig bereitet, nur, um sie wieder fortzuschütten. Er war ans Fenster getreten, um das Treiben auf der Straße zu beobachten. Es war so aufregend wie immer gewesen: Ein Köter machte krumme Knie und ließ etwas auf den Gehsteig fallen, frenetisch bejubelt von seinem Frauchen. Die alten Linden schienen mit ihren starken Wurzeln das Pflaster noch mehr gehoben zu haben. Diese Bäume besaßen eine märchenhafte Kraft, kippten Bordsteinkanten wie nichts aus ihrem Verband, verwandelten Gehsteige in Berg- und Talbahnen und schickten sich eben an, auch die Quader des Fahrdammes zu lüften. Regelrecht sensationelle Ereignisse. „Gesegnet seien diese und andere Umstände,“ seufzte Detlev Kühl. „Hat der Genosse Knorr ein neues Kaffeerezept komponiert?“
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„Nein, wie immer einen Löffel für jede Tasse und einen extra für die Kanne. Manche Leute tun eine Prise Salz dran, aber davon will er sich nicht überzeugen lassen. Er trinkt nur schwarz, meint er, keine Milch, keinen Zucker, schon garnicht Salz.“ Detlev Kühl wartete, doch dies war schon die Pointe gewesen. Danach konnte nur noch Ernsthaftes kommen. „Deine Freunde von der MUK sehnen sich nach dir, auch deine Leiden halten sie nicht ab. Ich sagte Zocher, du würdest sofort zurückrufen.“ Siebusch schwieg, womöglich um sich an dem Protest um so inniger weiden zu können. Er wartete vergebens. Es kam nichts außer Schweigen. „Bist du noch da?“ fragte Siebusch. „Aber gewiß doch. Gewiß.“ „Es wird dich doch nicht allzusehr anstrengen?“ Detlev Kühl sagte genüßlich: „Diese Nacht litt ich unter Alpträumen. Auch du spieltest eine Rolle darin. Ich habe dir kräftig meine Meinung gesagt, das war das einzig Tröstliche an ihnen.“ Er legte auf und stellte sich das Gesicht seines Kollegen vor. Sein Gesicht freilich war auch nicht geistreicher. Die MUK brauchte ihn wieder. Er war wieder gefragt, und das konnte dieses und jenes bedeuten. Im Grunde fühlte er sich nach seinem Kurzeinsatz wie jemand, der jede Sackgasse gefunden und einzeln abgeschritten hatte. Die Erkenntnis, auf dem falschen Wege zu sein, ist auch ein Resultat. „Ich hätte Sie gern gesprochen,“ sagte Zocher. „Falls es Ihnen sehr schlecht geht, würde ich auch zu Ihnen kommen.“ „Ich ziehe mich nur an,“ sagte Kühl. „Nein, dann mache ich mich auf den Weg.“ Detlev Kühl schaute sich um in seinem Reich. Man mußte
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den Oberleutnant möglichst rasch ins Wohnzimmer führen, dort ließ sich noch am ehesten eine gewisse Ordnung herstellen. Es war erstaunlich, wieviel Wirbel um seine Erkältung gemacht wurde. Er vermutete eine gehörige Portion Spott dabei, aber er war nicht sicher. Seine bisherigen Krankheiten konnte er an beiden Händen abzählen, und Erkältungen rechnete er sowieso nicht dazu. Man konnte ihn also nicht als wehleidig bezeichnen, und ihm hätte eher Spott zugestanden über jammernde Männer mit roten Nasen. Er hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken. Zwei Stunden Einsamkeit hatten ausgereicht, in der Wohnung ein heilloses Durcheinander anzurichten, es galt nun, sie notdürftig wieder herzurichten. Wenigstens Wohnzimmer, Diele und Bad, jene Territorien, die der Oberleutnant zu Gesicht bekam. Zwar waren sie nicht zum gemütlichen Kaffeeplausch verabredet, und Zocher würde auch nicht mit flinken, neugierigen Augen seinen Intimbereich inspizieren, um später im Kollegenkreis eine spitze Zunge dran zu schärfen. Trotzdem. Der Oberleutnant kam schnell, sehr schnell und fand Kühl noch in seinem altehrwürdigen Bademantel vor. „Ich will mir nur schnell was überwerfen,“ murmelte Kühl befangen. „Lassen Sie das ruhig sein. Es ist unzumutbar, daß jemand, der krank im Bett liegt, sich jedesmal anzieht, wenn Besuch kommt. Ist es etwas Ernstes?“ Kühl schüttelte den Kopf. „Ein bißchen Fieber. Ich will nur verhindern, daß es etwas Ernstes wird.“ „Hoffentlich nicht, wir brauchen Sie nämlich wieder.“ Detlev Kühl zog skeptisch die Augenbrauen hoch. „Es kommt mir eher so vor, als hätte ich mich als völlig unbrauchbar herausgestellt.“
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„Keineswegs,“ widersprach der Oberleutnant, „Sie haben Ihre Aufgabe hundertprozentig erfüllt.“ „Danke für die Blumen.“ „Ich habe nichts über die Qualität gesagt, nur über die Erfüllung der Ihnen übertragenen Aufgaben,“ schränkte Zocher ein. „Sie haben kein Resultat erzielt, doch die Voraussetzungen, unter denen wir antraten, waren nicht so, daß etwas herauskommen mußte.“ Kühl erwiderte nichts. Es war anzunehmen, daß sich die Voraussetzungen geändert hatten und die Ermittlungen wieder dort aufgenommen wurden, wo er sie abbrechen mußte. Trotzdem fand er keinen Ansatzpunkt für gezielte Fragen. Er würde es sowieso erfahren. Zocher öffnete seine Aktentasche, die natürlich keine war, sondern ein Diplomatenkoffer jener Art, der Ausweis routinierter Dienstreisender war. Keine Aktentasche barg mehr irgendwelche Akten, sondern die Stullenbüchse und die Tageszeitung; für Bilanzen und Geschäftsvorgänge war solch ein Koffer zuständig. „Wir haben zwei dringend Verdächtige, die auch bereits Teilgeständnisse abgelegt haben. Ihren Aussagen nach war an dem Raubüberfall mindestens eine dritte Person beteiligt. Von dieser haben wir ein subjektives Porträt anfertigen lassen. Bei der hervorragenden Beobachtungsgabe von Kotsch und Grusche, so heißen die beiden, hätten wir ohne weiteres sechs Porträts herstellen können mit sechs verschiedenen Nasen, Mündern, Augen, Kinnpartien und so weiter.“ „Für eine Person eine recht breite Auswahl,“ meinte Detlev Kühl. „Die beiden sind, wie ich schon sagte, schlechte Beobachter, und ihre Beschreibungen weichen erheblich voneinander ab.
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Wobei anzumerken ist, daß keiner der beiden Männer den dritten nur einmal, nämlich in den Stunden vor, während und nach der Tatzeit gesehen hat. Diese Zeichnung hier entstand nun nach ihren Angaben.“ Zocher reichte Kühl einen Bogen. „Die Frage ist: Hat einer aus dem Umfeld des Ermordeten Ähnlichkeit mit diesem Porträt. Ich bitte Sie, besonders die Details zu betrachten.“ „Weiß ich,“ brummte Kühl. „Identisch ist wahrscheinlich keiner mit diesem Bild.“ Er betrachtete es aufmerksam. „Die Haarfarbe wird von beiden als sehr dunkelblond, fast brünett angegeben. Tiefliegende Augen, auffällig ausgeprägte Wangenknochen. Augenfarbe dunkel, dunkelgrau oder braun, vorspringender Adamsapfel.“ „Tut mir leid, da muß ich passen.“ „Hochgewachsen, schlank – düster.“ „Düster?“ „Sehr pauschal ausgedrückt, ich, weiß. Im Grunde ergibt sich solch ein Charakteristikum aus der Summe der körperlichen Einzelheiten. Vielleicht trotzdem wichtig.“ Kühl schüttelte den Kopf. „Einigen Details nach würde ich auf Knut Perlwitz tippen. Die Nase, das Kinn, die Mundwinkel. Anderes stimmt wiederum überhaupt nicht überein.“ „Trotzdem.“ „Nein. Knut wirkt niemals düster. Hochgewachsen und schlank – das trifft zu. Aber normaler Schildknorpel. Vor allem….“ Detlev Kühl fuhr mit der Hand über seine graumelierte Tolle, „kein Mensch, auch der schlechteste Beobachter nicht, käme auf die Idee, dies hier als dunkelblond oder gar brünett zu bezeichnen. Perlwitz ist so grau wie ich. Es gibt noch einige andere, denen dies oder jenes so gewachsen ist wie dem Mann hier auf dem Bild. Wie wäre es, wenn Sie sie alle
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Parade laufen ließen vor Ihren Verdächtigen?“ „Wir haben daran gedacht. Aber es wäre die allerletzte Maßnahme. Wir können nicht ein paar Dutzend Bürger als potentielle Täter auf die Bühne stellen, von denen vielleicht allenfalls einer schuldig ist.“ „Ich habe bereits meine Erfahrung mit dieser Methode gemacht. Es kam so weit, daß verschiedene Sportfreunde gingen, wenn ich auftauchte. Erreicht habe ich, daß genau der im Sieb hängen blieb, dem niemand, mich eingeschlossen, das mindeste zutraut.“ „Sie meinen Horst Reblaus, beschäftigt bei Auto Trans Berlin, Betriebsteil Schwertransporte. Kein Alibi, nicht einmal ein vorgebliches, dafür einige unerklärliche Ungereimtheiten.“ „Er hat jedenfalls keine Ähnlichkeit mit dem hier,“ sagte Kühl und deutete auf die Zeichnung. „Aber es gibt noch ein Indiz. Womöglich ist dieser dritte ein sehr mobiler Mann, der, ohne aufzufallen, bald hier und bald dort auftaucht. Zum Beispiel in Magdeburg und Schönebeck, Stendal und Berlin. Er versteht etwas von Autos, darf man vermuten.“ „Von einem Auto weiß Feuerstein lediglich, daß es fährt, ebenso wie es ihm das blanke Rätsel ist, daß aus einem Fernsehgerät Bilder kommen können. Bunte noch dazu. Die Mobilität des Täters in Rechnung gestellt, kommen in der Sportgemeinschaft etliche in Frage. Auto Trans ist ein großer Laden mit vielen Filialen. Wir haben einige Mitglieder, die für die Möbelspedition arbeiten oder für die Bautransporte; Knut Perlwitz ist Trucker.“ „Trucker?“ „Modewort. Er fährt eine Zugmaschine. Containertransport.
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Fast so etwas wie die Tramper in der Seefahrt.“ Zusammenhanglos sagte Zocher: „Bei der Untersuchung des Tatfahrzeuges haben die Techniker keine äußeren Einwirkungen festgestellt. Es ist unbefugt benutzt worden, aber offensichtlich mit dem passenden Schlüssel. Die Ermittlungen in dieser Richtung sind noch nicht abgeschlossen, doch so viel ist klar, daß der Fahrer, Mitglied der PGH Elektrotechnik, über jeden Verdacht erhaben ist. Für den Framo existieren drei Schlüsselsätze. Natürlich besitzt der Fahrer einen, und einer wird im Vorstandsbüro aufbewahrt. Den dritten hat der Meister ständig bei sich. Wir vermuten, daß eine Kopie angefertigt wurde.“ „Seifenabdruck?“ „Nein. War auch nicht nötig. Es handelt sich um einen Code-Schlüssel. Das Profil ist durch einen Zahlencode gekennzeichnet. Wer ihn kennt, kann sich den Schlüssel praktisch bei jeder beliebigen Schlüsselfertigung herstellen lassen. Das dauert keine Stunde.“ „Also die Schlüsselfertigungen befragen.“ „Ist geschehen. Zwecklos. Kein Mensch registriert bei einem Sofortauftrag die Code-Nummer, die wird nur auf der Rechnung vermerkt. Für Sofortaufträge wiederum werden keine Rechnungen erteilt. Hinzu kommt, man kann sich solch einen Schlüssel selbst feilen, wenn man einen entsprechenden Rohling besitzt.“ Zocher setzte sich bequemer zurecht und schlug die Beine übereinander. „Und nun beginnt der längere Teil meiner Rede. Zu dem lang vorbereiteten, exakt durchgeführten Plan des Verbrechens paßt das Täterbild unserer beiden Verdächtigen in gar keiner Weise. Sie geben diesem Mann hier den Namen Georg. Er hat sie angeheuert, wie man einst die Docker
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anheuerte, auf Zeit, trotz gezielter Auswahl zufällig. Man beteiligte sie an der Beute, danach war die Geschichte für sie erledigt. Sie fielen uns in die Hände, weil ihre Intelligenz eben doch nicht ausreichte, um sie schadlos durchzustehen. Solche kommen nicht auf die Idee, etwas langfristig zu starten. Wir haben, wie es sich gehört, an ihrer Version gezweifelt, letztendlich aber spricht so gut wie nichts dagegen, sondern alles für sie. Bleibt also Georg. Im Augenblick kursiert diese Zeichnung in der gesamten Republik – bislang negativ. Es gab Tips dieser und jener Art, meist auf eine Einzelheit bezogen. Im Zentrum der Ermittlungen stehen die Hauptstadt als Tatort, Magdeburg, die Stadt, in der Georg Kotsch als seinen ersten Komplizen anwarb, Stendal, wo das Tatfahrzeug entwendet wurde, und Schönebeck.“ „Warum Schönebeck?“ fragte Kühl. „Dort installierte die betreffende PGH die elektrische Anlage für einen neuen Rinderintensivstall. Der Framo pendelte praktisch ein halbes Jahr nur zwischen Stendal und Schönebeck. Unsere Ermittlungen waren, wie gesagt, bislang ohne Erfolg. Keine Spur von Georg.“ „Ich kann Ihnen auch Kaffee machen,“ sagte Kühl unvermittelt. Es brachte den Oberleutnant tatsächlich aus der Fassung. Sein Mund blieb offen, die Fortsetzung seiner Erklärung ließ vorläufig auf sich warten. Hoffentlich habe ich nicht auch schon einen Kaffeetick wie Knorr, dachte Detlev Kühl und sagte: „Ich gehe sicherlich nicht fehl in der Annahme, dass auch Georg nur angeheuert wurde.“ „In der Tat, diese Version haben wir ins Auge gefaßt. Wir schließen es aus zwei Überlegungen. In den Vernehmungen des Kotsch, das ist der geistig Aktivere unserer beiden Gano-
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ven, fiel quasi en passant die Bemerkung von einem Tip, den Georg hatte. Mehr noch; Kotsch erwähnte einen todsicheren Tip. Das klingt trivial, denn ein Tip ist weder todsicher noch unsicher. Ein Tip ist ein Tip. Ein Tip signalisiert eine Möglichkeit. Wir gehen deshalb davon aus, daß mit dem todsicheren Tip nichts anderes als der fix und fertige Plan gemeint war.“ „Die andere Überlegung müßte demnach sein, daß jemand, der einen so abenteuerlichen Plan ausheckt, das Opfer sehr genau kennen muß. So einer wird garantiert nicht den Fehler begehen, sich persönlich an dem Verbrechen zu beteiligen.“ „Das liegt auf der Hand,“ sagte Zocher, ohne deshalb seine Anerkennung zu verbergen. „Georg hat also weder den Schlüssel anfertigen lassen, noch überhaupt die Idee mit diesem Framo gehabt. Man sollte nachdenken darüber, warum gerade dieser auffällige Wagen gewählt wurde. So’n Ding findet Zeugen über Zeugen, jeder halbwegs vernünftige Ganove wäre dieses Risiko nicht eingegangen. Aber nein, dieser Wagen wurde ausgewählt, genauso wie die drei Handlanger ausgewählt wurden. Der vierte Mann trat überhaupt nicht in Erscheinung.“ Detlev Kühl sagte schleppend: „Ich bin da gar nicht so sicher. Vielmehr meine ich, daß sein Auftreten zu dem eigentlichen Verbrechen führte. Das Verbrechen heißt Mord, alles andere ist wohlinszenierter Firlefanz, um uns abzulenken.“ Zocher nahm den linken Unterschenkel vom rechten Knie und stützte seine Hände auf die Sessellehnen, als wollte er zum Sprang absetzen. „Vielleicht möchte ich jetzt doch einen Kaffee.“ „Ich hoffte, Sie würden es vergessen. Mir ist eingefallen, dass die Dame des Hauses die letzten Bohnen zum Dienst
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mitgenommen hat. Milch ist da.“ „Was ist Ihnen noch alles eingefallen?“ Kühl zuckte die Achseln. „Als Ermittler habe ich die wenigsten Erfahrungen. Das spurt bei mir noch nicht so recht. Vermutlich haben Sie auch mit Revierdienst angefangen. Dann wissen Sie, was für eine aufregende Beschäftigung unsereiner hat. Manchmal bedarf’s eines Leumundszeugnisses für den Bürger X, oder man klappert die Trödelläden ab, um Ypsilons Tafelsilber wiederzufinden. Der Rest besteht darin, Anzeigen aufzunehmen und, in fünfzig Prozent der Fälle, dem anzeigenden Bürger klarzumachen, daß es sich bei seiner Angelegenheit um eine Sache für den Zivilrichter handelt. Bestenfalls. Unsere Verbrechen gegen Leib und Leben erschöpfen sich meist darin, daß einer einem anderen mit der Faust ans Kinn fährt. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Mir ist nichts eingefallen, bis auf eines. Die Beute aus dem Überfall hat einen hohen Wert, aber ist sie auch profitabel? Wer will wo ein Heimstudio absetzen, eine Videokamera? Das andere mag noch angehen, freilich sinkt es stark im Wert, und der Absatz ist riskant. Für den eigenen Bedarf klauen wiederum die wenigsten. Ich glaube, in der gesamten Tätervergleichskartei gibt es keinen Fall, der diesem auch nur entfernt ähnelt.“ „Da brauchen Sie nicht zu wetten,“ sagte Zocher. „Ich täte es auch nicht. Nicht in diesem Falle. Der, der Manfred Raddatz ans Leben ging, pfiff auf den ganzen Quatsch, der bei ihm zu holen war. Es war Haß, und zwar die gefährlichste Form des Hasses, verdeckter, unterschwelliger, verzehrender Haß. Dazu noch, was genau paßt, eine Form romantischer Rache. Der Graf von Monte Christo läßt grüßen.“ „Jetzt lassen Sie Ihre Phantasie ins Kraut schießen, mein Lieber.“
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„Ich habe ja gesagt, daß ich kein guter Ermittler bin. Ein guter Ermittler setzt sich in Trab und sammelt nüchterne Fakten. Die Genossen vom KI gucken durchs Mikroskop und sammeln nüchterne Fakten. Sie, ich zitiere Sie, meinten, als Sie den Toten gesehen hatten, Sie hätten keine Lust zu romantischen Spekulationen. Wenn ich es noch genau in Erinnerung habe, hielten Sie den Raubmord vom vierten Oktober für einen verblüffend simplen Fall. Er ist es schon längst nicht mehr. Der Mörder wandelt auf einem schmalen Grat, seine Methode könnte von Dorothy Sayers stammen. Vier Täter. Zwei können nicht sagen, wer der dritte ist, es sei denn, er wird ihnen gegenübergestellt, und sie wissen nicht mal von der Existenz eines vierten, und der dritte, darauf wette ich nun wirklich, kennt den vierten auch nicht.“ „Erzählen Sie mir also mehr über das Opfer. Ich muß gestehen, daß ich nie eine gradlinigere Biographie zu Gesicht bekam als seine. Da stimmt einfach alles: sein Bildungsweg, seine berufliche Laufbahn, sein Privatleben, selbst im Zusammenhang mit seinem Hobby finden sich keine Flecken, er hat alles auf legale Weise erworben. Soweit es zu ermitteln war, gab es auch keinen Widerspruch zwischen dem Wert seiner Geräte und seinem Einkommen. Er verdiente gut und lebte bescheiden. Gewiß besaß er Neider, aber Neider sind nie romantische Mörder.“ „Es klingt seltsam, Raddatz hatte viele Freunde, doch nicht ein einziger kannte ihn in seiner ganzen Persönlichkeit. Man hat Zugang zu verschiedenen Zonen eines Charakters, eine Form der Selektion; dieser schätzt das und verurteilt etwas anderes, bei jenem ist es umgekehrt, das übrige vergißt man. Bei Raddatz fügte sich alles zusammen, das ist wahr, aber zwischen den Fugen gab es noch etwas. Zumindest ein Mensch
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hatte Grund, ihn zu hassen. Irene Paßlak.“ „Die Kellnerin der ,Bierglocke’. Ihr Alibi stimmt.“ „Vergessen Sie nicht, daß wo vier Täter lose verbunden sind, auch ein fünfter im Bunde sein kann. Doch lassen wir das, auch ich glaube nicht an eine Tatbeteiligung der Paßlak. Ich erwähnte nur die Möglichkeit. Und dann ist da noch Peter Krüger, den Raddatz beim Kartenspielen aufs Kreuz gelegt hat. Manchmal genügt so etwas. Bloß Wurzelpeter ist ein Typ, der seinen Feind zusammenschlägt. Der macht nicht viel Federlesens.“ Kühl verstummte, starrte vor sich hin, und es schien, als hätte er den Oberleutnant völlig vergessen. Es war, als wollte er sich an etwas erinnern, von dem er nicht einmal wußte, ob es wirklich existiert hatte. Dann murmelte er: „Es ist absurd, daß drei Kerle ihren Wagen Raddatz direkt vors Stubenfenster stellen, in die Wohnung marschieren, ihn fesseln, berauben und wieder losfahren. Raddatz hätte es mit dreien jeder Sorte aufgenommen, das wäre nicht ohne Krach und Radau abgegangen. Sie müssen ihn überrumpelt haben. Was haben die beiden gesagt, wie sie da reingekommen sind?“ „Georg hat ihnen Einlaß verschafft. Er ging voraus, und sie folgten ihm nach einiger Zeit.“ „Das ist noch absurder. Nach neun Uhr abends geht dieser Georg zu ihm. Demnach kannten sie sich, und das wirft meine Hypothese völlig über den Haufen. Manfred Raddatz durfte keinen von den dreien kennen, das ist nun mal die Voraussetzung.“ Und immer noch zerstreut, fügte er hinzu: „Wenn dieser Georg einen Vorwand benutzt hat? Kommt nach neun noch jemand, um den Zählerstand zu prüfen? Oder der Versicherungsvertreter?“ „In der Regel wohl nicht. Aber in Ausnahmefällen? Wer
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weiß.“ „Eine Verabredung mit einem Unbekannten? Wie stellt man es an, spätabends von jemand ohne Argwohn empfangen zu werden?“ „Heiratsannonce,“ schlug der Oberleutnant vor. „Stichhaltig, wenn man glaubt, daß Raddatz diesen Georg heiraten wollte. Ansonsten abgelehnt.“ „Eine geschäftliche Verabredung, vielleicht in Sachen seines Hobbys.“ „Das hat fast alles für sich. Wurde irgendwelcher Schriftkram gefunden, der Bezug darauf hatte?“ „Einiges, aber längst Verjährtes.“ „Klar, Georg wird das verräterische Schriftstück beiseite geschafft haben.“ „Unsere Kandidaten haben nichts davon bemerkt.“ „Sie haben also auch schon daran gedacht. Natürlich, es bietet sich an.“ Kühl versank in noch tieferes Nachdenken. Ein Mord vermittels Annonce, das lag völlig jenseits der Realität. Hatte Raddatz annonciert? Das würde sich feststellen lassen. Hatte er auf eine Annonce geantwortet. Dieser Beweis wäre schon schwerer anzutreten. „Das paßt alles nicht,“ brummte er. „Jemand, der auf Monate hinaus ein Verbrechen plant, verläßt sich nicht auf den Zufall einer Anzeige in der Zeitung.“ Er lächelte plötzlich und nickte. „Der Mann spielte regelrecht Schach. Er plante viele Züge im voraus. Zwingende Züge. Also spielte er mit Weiß.“ „Wenn es Sie zu sehr anstrengt, verlegen wir unsere Unterhaltung,“ meinte Oberleutnant Zocher vorsichtig. „Nein, nein, das ist nicht das Fieber. Es geht mir relativ gut, jetzt,“ versicherte Detlev Kühl mit einem Anflug von Eifer. „Ich erinnere mich an eine Fernpartie mit einem Russen aus
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Kasan. Gregori Tschukin hieß er. Er eröffnete mit dem Königsbauern. Darauf antwortet man eigentlich Sizilianisch, aber ich wählte Königs-Indisch. Leider unterlief mir ein Schreibfehler, f 6 statt g 6, das war fatal. Ich hätte normalerweise gleich aufgeben müssen. So ein Fehler zerstört das ganze Spiel. Der Königsflügel ist völlig lahmgelegt: Läufer, Springer und Turm. Drei Offiziere sozusagen im Arrest. Daraufhin machte mich Gregori mit seinem ganzen Korps auf dem Damenflügel kaputt. Er tauschte Dame, Springer, Läufer und Turm ab. Praktisch mit Materialvorteil, wegen meiner gefangenen Figuren. Zwanzig Züge habe ich durchgehalten.“ „Sehr interessant.“ „Nicht wahr? Deprimierend, daß mir immer nur ein einziger Gegenzug blieb. Ich konnte nicht anders, verstehen Sie?“ „Nein.“ „Natürlich war mir klar, in welcher Klemme ich saß. Oft weiß man das gar nicht. Ein cleverer Spieler zwingt einem die Züge auf, ohne daß man es merkt.“ Als hätte er nie von etwas anderem gesprochen, fuhr Detlev Kühl fort: „Die Anzeige wurde Raddatz zugespielt. Es war eine fingierte Anzeige, eine sehr lukrative. Er mußte darauf anspringen, und dann ging es Zug um Zug. Bis zum bitteren Ende.“ „Mann, Sie haben eine Art,“ stöhnte Zocher, „Schach.“ „Sehr anregend. Ich spiele gerne, verliere aber nicht so gern. Aber Sie müssen zugeben, daß diese Analogie meine Hypothese stützt.“ „Der Nachteil besteht darin, daß es eine Hypothese bleibt. Man müßte das Inserat finden und beweisen, daß Raddatz darauf geantwortet hat. Man muß den Inserenten finden und ihm außerdem die Absicht nachweisen.“
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Kühl hob die rechte Hand und zählte. „Fünfzehn Bezirkszeitungen.“ Das war der Daumen. „Die Parteien geben ebenfalls fünfzehn Zeitungen heraus, mit TRIBÜNE und JUNGE WELT sind das zweiunddreißig.“ Der Zeigefinger. „WOCHENPOST, BAUERNECHO und JUGEND UND TECHNIK – macht fünfunddreißig.“ Mittelfinger. Kühl dachte nach. „Sicherlich gibt es drei bis fünf Fachblätter wie FUNKAMATEUR oder dergleichen. Sagen wir vier, macht neununddreißig.“ Ringfinger. Er betrachtete beinahe traurig den kleinen Finger, für ihn fiel ihm nichts mehr ein. „Aber das genügt,“ fuhr er freudig fort. „Einen Zeitraum von drei Monaten gerechnet, sind das rund zweitausend Ausgaben. Es wäre eine herrliche Aufgabe für meinen Genossen Siebusch. Er ist ein regelrechter Experte für so was.“ Er wurde sofort wieder ernst. „Die Frage ist nur: Worauf war Raddatz angesprungen?“ Als der Oberleutnant fort war, schlurfte Detlev Kühl in die Küche und betrachtete skeptisch die halbvolle Plastetüte mit Milch. Der Rest war im Ausguß versickert. Er beschloß, dass kalte Milch ihm bekömmlicher sei als warme, und goß sich eine Tasse voll ein. Trank, ohne abzusetzen, und seufzte zufrieden. Dann schaute er in den Spiegel. Sein Pendant hatte ein ziemlich graues Gesicht und Augenringe. „Ich wußte garnicht, daß du so schlecht aussiehst. Bist du etwa wirklich krank?“ Er verzog seine Lippen zu einem hämischen Lächeln. „Das Wort ist heute schon viel zu oft gefallen. Du gefällst dir offensichtlich in deiner Rolle. Dabei bist du nur so, wie du aussiehst; ungenießbar, wenn du im Recht bist; kaltschnäuzig, unmäßig, verletzend…“ Er griff sich an den Magen – ein kolikartiger Schmerz drohte ihn schier zu zersprengen. „Kalte Milch, klar. Die Gesundbeter wissen schon, daß warme Milch
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mit Honig heilsamer ist, selbst wenn dir davon das Kotzen kommt.“ Er keuchte. „Der Spiegel schmeichelt dir, lieber Freund, wie ein Hohlspiegel einem dicken Mann – oder ist es ein Zerstreuungsspiegel? Du hast doch studiert, Mensch, warum weißt du es nicht mehr?“ Es zog ihn mit Gewalt ins Bett, er schleppte sich durch den Flur ins Schlafzimmer. Und dann wurde ihm auf einen Schlag besser. Allerdings war er völlig in Schweiß gebadet und ziemlich schwach. Kaum daß er lag, war er auch schon ins Unterbewußtsein getaucht, tief und traumlos diesmal, und er vergaß. Als er erwachte, war es dämmrig und still, und eine Gestalt ragte vor seinem Bett auf. „Bist du es, die mit Dutt und Einlage im Büstenhalter?“ fragte er. Sie schaltete eine Lampe an und schaute von weit oben auf ihn herab. „Ich hatte dich besser in Erinnerung,“ stellte sie fest. „Die Zeit,“ erklärte er, „der Mensch altert, weißt du.“ Sie fühlte seine Stirn. „Neununddreißig,“ sagte sie, „mindestens.“ „Vierunddreißig erst, glaub mir; so steht es überall, im Ausweis, in der Kaderakte und in Gottes großem goldenem Buch. Oder habe ich etwa fünf Jahre geschlafen? Aber dann mache ich Euch mein Kompliment, Gebieterin. Ihr habt Euch trefflich gehalten.“ „Die Schnauze ist wenigstens nicht mitgealtert,“ entgegnete sie ungerührt. „Mach sie auf, damit ich sie dir stopfen kann.“ „Womit?“ „Mit einem Thermometer.“ „Ein Vorschlag zur Güte, achtunddreißigdrei. Ist das ein Wort?“ „Das ist eine Tirade. Der kleine Junge, der im Walde
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pfeift, weil er Angst hat.“ „Es war Rotkäppchen, Mädchen. Rotkäppchen, nicht ein kleiner Junge. Erinnerst du dich nicht? Wir sprachen davon, kaum daß der Tag graute.“ Sie setzte sich auf die Bettkante und sagte, daß sie aufgäbe, es wäre zwecklos mit ihm. Er hingegen berichtete von seinem Besucher und dem Erfolg, wieder aufgestiegen zu sein in die Oberliga der Kriminalisten. Allerdings im Schachspiel nur und lediglich durch Anwendung der Strategie. Worauf sie noch einmal ihre Kapitulation erklärte, ihn lediglich bat, er möge seinen Pyjama wechseln, der sei klitschnaß. „Aber ich habe nicht geträumt,“ erklärte er stolz, „das heißt nach einer Theorie, ich bin unschuldig an jedem Frevel. Sozusagen rehabilitiert.“ Er stand auf und dann neben ihr, wacklig zwar, doch tapfer, und entledigte sich der nassen Nachtwäsche. Anstelle dieser begehrte er China-Brokat, schwarz mit goldenen Drachen bestickt, die Feuer spien, rotes Feuer, denn ihm sei gerade so. Ohne sich in spekulative Deutungen einzulassen, überdachte Detlev Kühl doch noch einmal seinen Traum. Er fühlte sich klar im Kopf, wenngleich eine merkwürdige Gefühllosigkeit übriggeblieben war, eine Unkörperlichkeit, so als gäb’s ihn garnicht mehr in seiner materiellen Gestalt. Was er anfaßte, spürte er kaum, er frühstückte, ohne zu schmecken, was er aß, stand, saß oder ging, ohne einen Kontakt wahrzunehmen mit dem Fußboden oder dem Stuhl. Nur eine leichte Kälte empfand er, die ihn umgab wie eine zweite Haut, nicht störend, eher schützend. Kein Schmerz, keine Angst, nirgendwo hämmerte sein Puls. Er war ein phantasievoller Mensch und träumte daher oft, mitunter waren auch regelrechte Horrorvorstellungen darun-
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ter. Dieser Traum jedoch unterschied sich von allen anderen. Er war so realistisch gewesen, wie es nur möglich schien, das heißt, alles war so verflucht normal abgelaufen, und trotzdem hatte er gehaßt, grenzenlos gehaßt. Der Gegenstand des Hasses waren Menschen gewesen, für die er sonst Freundschaft empfand, Liebe sogar, und die Anlässe waren Nichtigkeiten gewesen. In ihm war etwas abgelaufen, über das er völlig die Kontrolle verloren hatte. Und danach, überlegte er, hatte ich das ekelhafte Gefühl, an meiner Zunge zu ersticken. Die Angst übermannte mich beinahe, ich war nicht mehr Herr meiner selbst. Mit anderen Worten: Ich war verrückt! Es gab bei genauerem Nachdenken einen einfachen Grund dafür. Er fühlte sich hilflos seinem Schicksal ausgeliefert. Nicht irgendeiner realen Gefahr, nicht einmal der Gefahr, Vorwürfen über sein Versagen ausgesetzt zu sein. Er stand lediglich dem Phänomen gegenüber, nichts mehr zu verstehen, Objekt der Abläufe zu sein statt Subjekt. Es war eine Art von Verfolgungswahn. Was für ein Glück, daß dieser Zocher aufgetaucht war, dachte er. Zufall? Der Oberleutnant war gekommen, um ihm dieses Porträt vorzulegen, das nach den voneinander abweichenden Angaben zweier Zeugen angefertigt wurde. Nützt so etwas überhaupt? Die beiden hatten mit einem Dritten ein Verbrechen ausgeführt, das allein schon aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fiel. Es mußte einfach ein intensives Erlebnis für sie gewesen sein. Sie waren viele Stunden beisammen gewesen, trotzdem hatten sie diesen Georg unterschiedlich beschrie-ben. Vermutlich war das Bild dem Original ähnlich, doch im Grunde unergiebig für die Fahndung. Wer besaß schon die Vor-aussetzungen, ein solches Bild lesen zu kön-
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nen? Wer war genü-gend geschult, zu beobachten und seine Beobachtungen in einen kausalen Zusammenhang zu bringen? Für sie waren diese Dinge elementare Bestandteile der Ausbildung. Sie lernten anatomische und anthropologische Eigentümlichkeiten wahrzunehmen und in ein Gesamt-geschehen einzuordnen. Die meisten Menschen würden nach einem solchen Porträt nicht einmal den nächsten Nachbarn wiedererkennen. Mir hat das Gespräch geholfen, Oberleutnant Zocher dagegen nicht die Spur, dachte Detlev Kühl sachlich. Er zweifelte daran, daß seine Kombinationen der MUK nütz-lich waren. Schach, dachte er fast belustigt, Schach und eine Zeitungsannonce. Mein Gott, wann habe ich diese Partie ver-gurkt, weshalb ist sie überhaupt mit jedem Zug in meinem Ge-dächtnis haftengeblieben? Na ja, an Blamagen erinnert man sich halt noch lange. Auf das Inserat ist der Oberleutnant eigentlich von selber gekommen. Trotzdem ist es unredlich, seine eigenen Niederlagen mit zu lebhaften Spekulationen zu verkleistern, stellte Detlev Kühl kategorisch fest. Wie aus den Ermittlungen klar hervorgeht, ist das Verbrechen in mehreren abgeschlossenen Etappen abgelaufen. Die erste war die akribische Vorbereitung des Raubes. Sie war abgeschlossen mit der Festlegung des Termins für den Überfall. Innerhalb dieses Komplexes wurde Georg angeheuert, der Tatwagen ausgesucht und präpariert, das Team vervollständigt und der Zeitpunkt bestimmt. Dann haben die drei den Coup durchgeführt, wobei es denen eindeutig allein um die Beute ging. Der Mord schließlich wurde verübt, als sie mit ihrem Framo über alle Berge waren. Die ersten beiden Etappen dienten also nur dazu, die wirklichen Motive des Mordes zu verschleiern. Völlig klar. Die beiden Helfershelfer wissen nichts über Ge-
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org, Georgs Spur selber verläuft im ungefähren; entweder muss Kommissar Zufall ‘ran, oder Georg läßt sich im Zusammenhang mit einem anderen Verbrechen erwischen. Vermutlich aber weiß er über den legendären Vierten ebenso wenig wie seine Komplizen über ihn. Dieser Vierte nun hatte mit dem auffälligen Framo dafür gesorgt, daß eventuelle Zeugen die Polizei auf den Raubüberfall hinweisen und alle Beobachtungen zwangsläufig darin kanalisierten. Detlev Kühl ertappte sich bei einem vor allem gestisch äußerst ausdrucksstarken Vortrag. Er wusch das Frühstücksgeschirr ab und schwenkte die Geschirrteile zu einem imaginären Publikum. „So kam es denn auch prompt dazu, daß die Aussage eines pensionierten und Hunde liebenden Eisenbahners unter den Tisch fiel.“ Als er gegen dreiviertel acht zum Dienst erschien, empfing ihn Unterleutnant Siebusch mit einem seiner feinsinnigen Sprüche: „Jedes Übel, jede Pein, sogar ein Delilirium schwindet strax, wenn stellt sich ein die Order vom Präsidium.“ Detlev Kühl hob die Augenbrauen. „Ist das eine Dichtung von dir?“ „Nee, ausnahmsweise nicht. Den Spaß hat sich ein anderer mal ausgedacht. Aber gut, was?“ „Hm, etwas klapprig,… wenn stellt sich ein… Das klingt ein bißchen nach Regulax-Reklame.“ „Dichtung muß nicht schön sein, wenn sie wahr ist. Kurze Grippe, das gestern. Oder war die MUK eine so wirkungsvolle Medizin?“ In diesem Moment fiel die Jalousie. Eine Grippe, eine Erkältung ganz ohne Husten und Schnupfen, nur mit den unklaren Symptomen psychosomatischer Beschwerden, war etwas ganz und gar Unmögliches. Er hatte sich an dem Fall festge-
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fressen und alle Demütigungen geschluckt, sogar die völlige Erfolglosigkeit. Deshalb hatte er die Ausquartierung aus der Kommission nicht überwunden. Er konnte diesen Fall natürlich nicht vergessen, er konnte ihn nur verdrängen und verdrängte ihn ins Unterbewußtsein, wo er Blasen trieb. Vielleicht war Oberleutnant Zocher tatsächlich eine wirkungsvolle Medizin gewesen. „Wenigstens werden dort keine Reime rezitiert.“ „Ich vernehme, aus dem Präsidium kommt nur ungereimtes Zeug. Das ist eine Häresie, Genosse Leutnant.“ „Diese Folgerung ist eine Unterstellung, Genosse Unterleutnant!“ Siebusch grinste. „Nur die Interpretation einer Aussage. Du bist nervös und gereizt. Was ist es, Überarbeitung? So reagiert man, wenn man auf einem Holzweg erwischt wurde.“ „Bei mir äußert es sich genau umgekehrt. Ich bin am wenigsten zu genießen, wenn ich recht habe, hat eine mir nahestehende Person geäußert.“ „Oh,“ sagte Siebusch. Dann fragte er: „Bist du wieder aufgenommen worden – im Rat der Weisen?“ „Weiß nicht,“ brummte Detlev Kühl. „Ich habe einige merkwürdige Hypothesen zum besten gegeben, und plötzlich scheint’s mir, daß ich gar nicht so falsch liege. Es sind des Merkens würdige, glaube ich. Verstehst du etwas von Elektronik?“ „Wir haben Fernsehen, Radio und Plattenspieler. Wozu die letzten beiden Dinge, weiß ich nicht, weil stets die Röhre läuft. Aber meine Frau bringt regelmäßig Platten angeschleppt, weil wir die ja unbedingt brauchen. Der Sohn hat sein Gerät, Heule mit Recorder. Dazu ein paar Dutzend Kassetten mit gängigen Hits.“
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„Woher bezieht er sie?“ „Er schneidet mit, wie er es nennt. Manchmal tauschen die Kumpels untereinander Kassetten, selten hökern sie. In der Regel überspielen sie gegenseitig ihre Schätze. Probleme haben sie nur mit Leerkassetten. Es gibt da unverkennbare Qualitätsunterschiede. Am höchsten in der Gunst stehen, glaube ich, die japanischen.“ „Das meine ich. Wie kommt man zum Beispiel an japanische Kassetten?“ Siebusch zuckte die Achseln. „Frag mich doch was Leichteres. Sie besorgen sie sich halt. Ich werde mich hüten, dahinterzuhaken.“ „Du wirst es tun. Soweit ich es übersehe, gibt es einen regulären Markt für alles mögliche, nämlich den staatlichen Einzelhandel. Ferner einen, den ich pararegulär nennen möchte, den Handel vermittels Annoncen.“ „Pararegulär?“ fragte Siebusch interessiert. „Para heißt neben. Wie parallel zum Beispiel.“ „Ich weiß, was para heißt. Aber pararegulär kenne ich nicht.“ „Vermutlich habe ich den Begriff eben geprägt. Gemeint ist jedenfalls alles, was vermittels Inserat vertrieben wird. Ich schlage vor: DEWAG-Zentrale. Was wird wo aufgenommen, was nicht, warum nicht. Ich hoffe, daß es eine zentrale Erfassung dafür gibt, hoffe weiterhin, daß die privaten Anzeigenannahmestellen unter DEWAG-Regie arbeiten. Dazu lenkst du dein Hauptaugenmerk auf die speziellen Dinge, die seltenen, vor allem importierten.“ „Hör mal,“ protestierte Siebusch und rückte nervös an seiner Brille. „Dies hier ist das Revier dreiundachtzig, wir unterstehen der VPI Friedrichshain; das ist nicht unser Gebiet. Oder hast du eine Weisung von Beimler?“
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„Habe ich nicht. Immerhin aber hat sich der Fall in unserem Bereich ereignet, was willst du also?“ Siebusch nahm die Brille ab und schaute von weitem durch die Gläser. Er erblickte wohl nichts Neues, denn er schüttelte den Kopf. „Außerdem wird es dir nicht erspart bleiben, die Annoncen in der Presse ab Anfang des Sommers durchzuforsten, damit uns auch nichts durch die Lappen geht. Ich weiß, es ist viel Arbeit.“ „Du hast uns gesagt. Was ist dein Part dabei?“ „Manfred Raddatz hat fortwährend etwas gekauft oder eingetauscht. Er war Fanatiker, und wie jeder Fanatiker hatte er sein Thema Nummer Eins: Die verschiedenen Möglichkeiten der Aufnahme und Wiedergabe. Er hatte Probleme damit, und was wäre ein besserer Gesprächsstoff als Probleme? Raddatz jagte nach seltenen Dingen auf seinem Gebiet wie jeder Sammler. Ich möchte wissen, was sein spezielles Ziel gewesen ist.“ „Ich ahnte es, du wählst den kleineren Berg. Können wir nichttauschen?“ „Kleiner, aber steiler. Wie oft hat mir Manfred Raddatz mit seinem Hobby in den Ohren gelegen, und ich habe ja, ja gesagt, ohne wirklich hinzuhören. Kannte ich doch nicht einmal die Bezeichnungen, mit denen er um sich warf. Es ging mir wie dem, der von einem Experten die Relativitätstheorie erklärt bekommt. Im besten Falle wie dir mit deinem Jungen.“ „He,“ wehrte sich Siebusch, „ich bin kein Idiot. Wenn ich wollte, würde ich schon kapieren. Doch das tangiert mich nicht.“ „Sagte ich das nicht eben? Es tangiert Außenstehende nie. Das ist doch der Jammer.“
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Der Unterleutnant räumte resigniert seinen Schreibtisch auf, um Kühls ausgefallene Wünsche zu erfüllen. Er hing vielleicht doch weniger an seinen Aufstellungen und Diagrammen als an seinem Schreibtisch. Wenigstens wußte er, was er suchte. Er konnte unter vielem wählen. Detlev Kühl stand am Fuße des „kleinen Berges“, und der schien zu wachsen. Tatsache war, daß Raddatz seine Sammlung ständig vergrößert hatte. Die Palette umfaßte das ganze weite Gebiet, das die Industrie der Unterhaltungselektronik aller Herren Länder entwickelt hatte. Am Tage seines Todes hatte er es eiliger gehabt als sonst, nach Hause zu kommen. Er hatte signalisiert, daß er Geld brauchte, er forderte seine Außenstände zurück, zum Beispiel das Geld, das er Reblaus geliehen hatte. Das alles deutete auf das Vorhaben eines Kaufes, den er am Abend des vierten Oktober zumindest einleiten wollte. Dazu hatte er eine Verabredung getroffen, die ihm zum Verhängnis wurde. Doch etwas stimmte nicht an dem Ablauf dieses Abends. „Preschen Sie nicht allzuweit vor,“ sagte Hauptmann Barabasch ruhig. „Ihr Plan ist verlockend, aber auch fast hoffnungslos. Was wollen Sie suchen? Wie lange?“ „Wenn es vielleicht nicht nutzt, es schadet auch nicht.“ Barabaschs Gesicht drückte arge Zweifel aus. Er schwieg jedoch. „Wie weit kommen Sie mit der Suche nach Georg? Wie lange dauert das? Und wenn der Mann gefunden wird, wo stehen wir dann? Ich fürchte, allenfalls auf der nächsten Stufe.“ „Wie würde also Ihr Plan aussehen?“ „Tja,“ murmelte Detlev Kühl. Er hob kaum die Stimme. „Er ist auch erst in groben Umrissen fertig.“ „Bitte.“
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„Es gibt drei Grundrichtungen in den Ermittlungen. Die Stendaler PGH, ihr entwendeter Framo samt den vorhandenen Schlüsseln für dieses Fahrzeug, ist die erste. Also Stendal und Schönebeck. Die zur Sachfahndung ausgesetzten geraubten Gegenstände, sofern sie nicht bei Kotsch sichergestellt wurden, ist die zweite. Die dritte schließlich ist die Überprüfung des Personenkreises um Manfred Raddatz. Routine und bislang ohne greifbares Resultat. Defensive Maßnahmen. Nun ist mir eingefallen, daß wir auch die Offensive versuchen könnten.“ „Wie ich schon sagte, der Einfall mit dem Inserat sieht verlockend aus. Doch liegen seine Schwächen auf der Hand. Die erste und größte ist der Umfang des Gebiets. Wir können nicht sämtliche einschlägigen Angebote eines längeren Zeitraums überprüfen. Und falls wir da doch fündig werden, für eine Offensive gibt es auch dann keinen Ansatzpunkt. Selbst wenn der Mörder diese Anzeige aufgegeben hat, werden wir nie nachweisen können, daß sein Opfer darauf geantwortet hat. Die Voraussetzungen bleiben also dieselben. Wir haben dann zwar einen Verdächtigen, doch keinen Beweis gegen ihn. Die Kaltblütigkeit seines Vorgehens ist unübersehbar, deshalb ist es wahrscheinlich, daß er selbst gar nicht annonciert hat. Man kann jemandem eine x-beliebige Anzeige unterschieben, um ihm die Antwort aufzudrängen, die dann von dritter Seite erwidert wird. Woher will einer, der auf eine Annonce geantwortet hat, wissen, ob sein Partner wahrhaftig der Inserent ist?“ Es gab für jedes Argument ein Gegenargument. Zum Beispiel, daß der Mißbrauch eines echten Inserates das Risiko in sich barg, daß plötzlich zwei Angebote bei Raddatz eingegangen wären. Davon hätte er mit Sicherheit gesprochen, denn das wäre schon recht ungewöhnlich gewesen.
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„Und wie wollten wir wirklich offensiv werden?“ fuhr der Hauptmann fort. „Wir müßten unseren Mann zum Handeln zwingen. Er hat keine Veranlassung dazu, solange wir Georg nicht gefunden haben, und Georg finden wir garantiert nicht durch diese Zeitungsaktion.“ „Wir müßten uns von ihm selbst zu Georg führen lassen.“ Barabasch blieb der nächste Satz im Halse stecken. Er öffnete den Mund wie zu einer Erwiderung, doch nichts kam. Erst nach geraumer Zeit sagte er: „Das ist, nun fürwahr ganz weit vorgeprescht.“ „Wir müssen ihn zum Handeln zwingen, haben Sie gesagt.“ „Gewiß, gewiß. Aber wie machen wir aus dem Konjunktiv einen Imperativ?“ In der Tat hatte Kühl die Worte des Hauptmanns variiert, aus müßten war müssen geworden, ein kleiner, aber unübersehbarer Unterschied. „Die Vermutungen darüber, wie das Verbrechen abgelaufen ist, sind stichhaltig. Unser Mann X hat die Schlingen gelegt. Wir können sozusagen ein Psychogramm des Täters aufzeichnen. Er ist intelligent, unauffällig und energisch. Fänden wir sein Motiv, stünden wir dicht vor der Aufklärung. Doch es gibt einen Nebenstrang, bei dem wir ansetzen müßten. Der Ausgangspunkt ist, daß sich Mörder und Opfer genau kannten, daraus resultiert ein großer potentieller Täterkreis bis hin zu Horst Reblaus. Praktisch käme jeder in Frage, der mit Raddatz verkehrt hatte und seine Intimsphäre kannte. Es gibt freilich einen Umstand, der den Kreis beträchtlich einschränkt.“ „Was wäre das für ein Umstand?“ fragte Barabasch. „Was tangierte die einzelnen mit Manfred Raddatz?“ „Das verstehe ich nicht.“ „Ich muß immer daran denken, daß an dem Ablauf des
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Abends irgend etwas nicht stimmt. Raddatz spielte Karten, und zwar mit Wurzelpeter, Menninger und Perlwitz. Er plünderte Wurzelpeter förmlich aus, weil Perlwitz auf der Gegenseite Beistand leistete. Wenn man will, kann man von Betrug reden. Raddatz war jedoch nie ein leidenschaftlicher Spieler gewesen, aber er hatte gern gespielt. Mit Reblaus hatte er sich zum Angeln verabredet. Angeln, Fußball und auch Karten waren das einzige, was sie tangierte.“ „Das Wort gefällt mir nicht,“ sagte Barabasch unwillig. „Dann streichen wir das Wort, an der Sache ändert sich trotzdem nichts. Die Beziehungen aller Beteiligten zu Raddatz beruhten auf Gemeinsamkeiten, auf gleichen oder gegenseitigen Interessen. Ihre Aussagen treffen sich, wo sich diese Interessen treffen, das übrige wird eher beiläufig und mitunter sogar falsch wiedergegeben. Wenn von Raddatz’ Hobby die Rede war, beschränkten sich die meisten auf Bewunderung oder Neid, in zwei Fällen sogar auf Verärgerung.“ „In welchen Fällen?“ „Die beiden Frauen, Irene Paßlak und Monika Will. Hier störte die Passion zu technischen Dingen die menschliche Harmonie. Im Grunde war es dasselbe mit dem Sternchen Ilona Voigt. Sie wurde zwar angezogen von der Videokamera und der Möglichkeit, selber auf der Mattscheibe zu posieren, doch war das nur ein schmaler Steg zwischen beiden. Er sei ein langweiliger Patron gewesen, meinte sie. Auf ihre bezaubernde Art gab sie mir zu verstehen, daß sie es überdrüssig geworden war, jeden Abend bei ihm hocken zu müssen, weil er seinen Experimenten frönte. Das Mädchen geht gern aus, plausibel, sie ist Anfang Zwanzig.“ „Ich beginne zu begreifen, was Sie meinen. Unser Täter mußte mit Raddatz auf diesem bestimmten Gebiet auf einer Welle
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schwimmen.“ „Zumindest etwas davon verstehen, um die gleiche Wellenlänge vortäuschen zu können.“ „Und wer kommt Ihrer Meinung nach dafür in Frage?“ „Kollegen zum Beispiel, Fachleute.“ „Genau dort sind wir am weitesten gekommen – in negativer Hinsicht. Raddatz pflegte keinen anderen als beruflichen Umgang mit ihnen. Alle, die auch nur entfernt in die Sache verwickelt sein könnten, sind so oder so entlastet.“ „Dann gibt es noch zwei oder drei mit etwa dem gleichen Hobby, wenn auch nicht in derselben Dimension. Sie sammeln Platten, besitzen gewaltige Beschallungsanlagen et cetera, freilich kaum geistige oder sonstige Möglichkeiten, um dieses Verbrechen vorzubereiten.“ „Der Rest? Die, die gleiche Interessen vielleicht nur vorgetäuscht haben?“ „Da wäre vorerst einmal – ich selbst,“ sagte Detlev Kühl vorsichtig. „Ich habe versucht, auf ihn einzugehen. Es lief allerdings meist auf eine Lehrer-Schüler-Beziehung hinaus, und ich muß gestehen, daß ich alles immer wieder recht schnell vergessen habe. Das liegt an meinem gestörten Verhältnis zu solchen Dingen. In unserm Haushalt existieren recht fragwürdige Gerätschaften, da klingt’s wie reines Blech, und die Bilder, na ja, wir sind zufrieden mit unserm Preomat. Unsere Gäste meinen, es läge an der Antenne.“ „Sie haben sich nicht die rechte Mühe gegeben, schön. Haben Sie andere Beispiele?“ „Zwei oder drei noch.“ „Auf die Sie sich konzentrieren wollen, weil einer von ihnen unser Mann sein muß. Wie wollen Sie sie zum Handeln zwingen?“
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„Ich bin mir noch nicht ganz im klaren.“ „Versuchen Sie es immerhin mit dem Anzeigen-Heuhaufen. Und vergessen Sie nicht, es muß eine Verbindung zu Stendal oder Schönebeck geben. Wenn uns einfällt, wie wir ihn aufstöbern können, lassen wir es Sie wissen. Wir lassen Sie überhaupt alles wissen, was den Fall angeht, doch verzeihen Sie, wenn ich weiterhin skeptisch bin.“ Der Leiter des großen Spezialgeschäftes am Alex befand sich in seinem Element, konnte er doch wenigstens davon erzählen, was zu verkaufen ihm so gut wie nie vergönnt war. „Der Renner im Moment sind wohl Videospiele,“ meinte er. „Sie werden sparsam importiert und eingesetzt, eigentlich nur auf Rummelplätzen. Man kann alles spielen: Fußball, Tennis, Squash; es gibt fast jedes mögliche Geschicklichkeitsspiel, man kann Autorennen veranstalten, fliegen, es gibt Jagd- und Kriegsspiele. Wer ein Videogerät besitzt, braucht lediglich die nötigen Kassetten.“ „Und die sind zu haben?“ „In beschränktem Umfang, natürlich. Man muß das relativieren, weil es ein teurer Spaß ist.“ „Wo kann man sie kaufen.“ „Spielkassetten über Genex oder im Intershop. Aber sie werden auch sehr oft über die Grenze gebracht.“ „Legal?“ „Sagen wir so, sie werden nicht deklariert. Man kann sie bequem in der Jackentasche unterbringen, sie sind zwar größer als die Radiokassetten, etwa wie eine flache Zigarrenkiste, aber durchaus nicht auffällig. Sie werden zum fünf- bis sechsfachen Preis gehandelt. Anders ist es bei Leerkassetten. Die sind zwar knapp, doch weil der Bedarf sich in Grenzen hält, wirkt sich das nicht sonderlich aus. Die können Sie sogar im Sekundär-
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handel bekommen. Beim An- und Verkauf, meine ich.“ „Was gibt es sonst noch für Extras?“ Der folgende Vortrag brachte Detlev Kühl doch ein bißchen in Verwirrung. Er hörte von VI-Dekodern, Langzeitspeichern, Überspielmodalitäten, Raubkopien. Dingen, die er, da er bislang noch nicht von ihnen Kenntnis genommen hatte, in überhaupt keinen Zusammenhang bringen konnte: Der Leiter indes, richtig in Fahrt gekommen, hatte glänzende Augen. Eine komplette Anlage, erfuhr Kühl, versetzte seinen Besitzer in den Stand, jede nur mögliche Kombination selber herzustellen. Die Krönung waren eigene Videos, wo man selbst kunstvolle Tricks produzieren konnte ebenso wie normale Streifen vom Familiengeburtstag, der Bescherung unterm Weihnachtsbaum oder von der Urlaubsreise. Findige Köpfe brächten es fertig, sich selbst in Filme zu schummeln. Raddatz hatte mit seiner Kamera ein Fußballspiel aufgezeichnet und Aufnahmen von Ilona Voigt gemacht. Sie hatte gesagt, daß er nur drei Bänder besessen hätte. „Diese Leerkassetten, sagten Sie, seien zwar knapp, aber relativ leicht zu bekommen. Sind sie für jede Art der Wiedergabe gleich gut geeignet?“ Der Mann lächelte. „Das Urteil liegt bereits in Ihrer Frage. Natürlich gibt es wie überall qualitative Unterschiede. Bildund Farbintensität sind bei den einzelnen Marken nicht gleich. Die üblichen reichen aus, ein Programm aufzunehmen, aber kaum, um bei schönem Wetter im Freien zu arbeiten. Innenaufnahmen sind noch diffiziler. Eine Kassette ist nicht wie die andere.“ Die Auskünfte waren eher deprimierend gewesen. Die Glotze ersetzte alles. Die Illusion an Stelle des Lebens, Tennisspielen im Sessel. Wenn man dem Experten glauben sollte, wurden
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sogar Bücher und Zeitungen überflüssig, ein Druck aufs Knöpfchen, und die Schlagzeilen erschlagen einen in der guten Stube. Wem das Programm nicht gefällt, der macht sich sein eigenes. Theater und Kino sind nicht mehr nötig, eigentlich ist kaum noch was nötig, außer daß man arbeiten geht, um das Geld ranzuschaffen für den nicht eben billigen Krempel. In der „Bierglocke“ kostete ein Pils neunundvierzig Pfennige und der Korn fünfundsechzig, aber die Leute rümpften die Nasen über versoffene Kneipengänger. Warum? Die Droge Fernsehen war bedeutend gefährlicher. Da war den Leuten das Kino ins Haus gebracht worden, und sie blieben zu Haus. Keine überfüllten Straßen mehr abends, wenn man von den abgestellten Autos absah. Und die, die noch nicht süchtig waren, wurden endlich mit Video ans traute Heim gefesselt. Also die „Bierglocke“. Detlev Kühl stellte sich an den Tresen und sah Dieter Rolff zu, wie er Bier zapfte und Schnaps einschenkte. „Eigentlich erstaunlich,“ sagte er, „daß du noch zurechtkommst. Den Korn gibt’s doch auch im Konsum und das Bier in diesen Getränkezentralen. Was braucht man noch außer dem Montags- oder dem Wahlfilm?“ „Und ist der Handel noch so klein, bringt er mehr als Arbeit ein. Du solltest öfter mal zu mir kommen und nicht nur dienstlich, dann kenntest du auch meine Kunden besser. Es sind nur noch die treuesten übrig, und auch die bleiben weg, wenn Olympia ist, Weltmeisterschaft oder einfach nur Europapokal. Zuzeiten meiner Ahnen besaß dieser Kietz über siebzig Kneipen, vor fünfzehn Jahren waren’s immerhin noch rund zwei Dutzend, jetzt vielleicht noch zehn. Glaube mir, besser besucht als früher ist keine. Die meisten Gäste habe ich gleich nach Feierabend. Da laufen noch die Tips für den Gar-
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tenliebhaber oder die Kindersendungen. Abends kommt junges Volk. Ja, und dann habe ich noch meine Skatspieler.“ „Wann siehst du fern?“ „Vormittags läuft das Programm vom letzten Abend, das sollte dir inzwischen hinlänglich bekannt sein, auch wenn du zu dieser Zeit normalerweise im Büro sitzt oder Räuber jagst.“ Er blickte Kühl ironisch an. „Reden wir weiter über Fernsehen im allgemeinen oder kommen wir zur Sache? Wer guckt heutzutage in Manne Raddatz seine Röhre? Ist es nicht das?“ „J-ein,“ antwortete Kühl wahrheitsgemäß. „Obwohl es schon einige Überlegungen wert ist, wem dieses Kulturgut einen Mord wert ist.“ „Es heißt, ihr habt sie schon erwischt.“ Rolff zuckte die Achseln. „So geht es unsereinem. Zuerst gibt es einen Riesenwirbel, und man braucht ein Gedächtnis wie ‘n Elefant, um eure Fragen beantworten zu können – und plötzlich ist Funkstille. Nichts mehr. Man hört zwar dies und das, es sind aber alles nur Gerüchte. Wenn man Glück hat, steht irgendeines schönen Tages eine karge Notiz auf der Lokalseite: Die Kriminalpolizei konnte die Ermittlungen in einem Tötungsverbrechen abschließen… und so weiter.“ „Wir haben zwei, doch weder sind die Ermittlungen abgeschlossen noch alle Umstände völlig geklärt. Wir suchen noch einen dritten Mann.“ „Das dürfte ja nun wirklich nicht mehr allzu große Umstände machen,“ brummte Rolff. „Wer zwei hat, dem läuft der dritte von ganz allein ins Netz.“ Er stellte ein halbes Dutzend Biergläser aufs Tablett und ging, um sie zu verteilen. „Die Irene hat gekündigt“, sagte er, als er zurück kam. „Sie hält es nicht mehr aus in diesem Laden, kann die Gesichter nicht mehr sehen. Verstehen kann man’s. Wäre für alle besser, es
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wäre endlich erledigt. Zwei habt ihr also, na, wenn das nicht gut ist. Darf man davon Gebrauch machen? Ist doch endlich mal kein Gerücht.“ Er blickte Detlev Kühl forschend an. „Verstehe, das könnte diesen Burschen warnen. Er verkehrt womöglich tatsächlich bei mir. Aber wenn sowieso schon Gerüchte kursieren, ist es wohl egal. Vielleicht wird er nervös und verrät sich.“ „Vielleicht,“ antwortete Detlev Kühl und legte ein Geldstück auf den Tresen. Er war von einer Sekunde zur anderen regelrecht vergnügt. Georg würde sich weder von Gerüchten noch von gezielten Informationen in der „Bierglocke“ provozieren lassen, er würde kaum etwas davon erfahren. Es sei denn, dachte er, es sei denn, er… Aber klar. „Hör zu,“ sagte er, „du mußt es nicht jedem auf die Nase binden. Es kann sich nur noch um Tage handeln, schlimmstenfalls um Wochen. Wir rechnen damit, daß jeder Verbrecher bei seiner Tat mindestens einen Fehler macht.“ „So liest man das immer.“ „Eine Binsenwahrheit. Wir wissen auch, wie Raddatz mit den Tätern Kontakt bekam.“ Er schüttelte heuchlerisch den Kopf. „Wieso erzähle ich dir das eigentlich, ich wollte doch nur ein, zwei Bier bei dir trinken. Der dritte Mann, weißt du, hat mit deiner ,Bierglocke’ soviel zu tun wie ich mit ,Auerbachs Keller’.“ Kühl weidete sich an Rolffs verständnislosem Gesicht. Das sah er noch vor sich, als er bereits wieder auf der Straße war. Eines schien ihm sicher: So sparsam der brave Kneipwirt Dieter Rolff mit seinen Auskünften auch immer umgehen würde, zwei Dinge würden sich verbreiten wie ein Buschfeuer: Man war dem dritten Täter dicht auf den Fersen, und dieser Mann hatte mit ihnen hier nichts zu tun. Das mußte einen Menschen in die Zwickmühle bringen. In Zugzwang, berich-
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tigte er sich. Er mußte die Drohung spüren und versuchen, ihr auszuweichen. Und es durfte nur einen einzigen Weg geben. Ihm war nicht wohl dabei. Die Partie mußte bis zum Matt genau durchdacht sein, und genau das war sie bisher noch nicht. Der Tag zeigte sich wenig winterlich. Er war klar und sonnig gewesen, mild, höchstens ein bißchen zugig. Die Dunkelheit hatte auch den Wind eingeschläfert. Detlev Kühl ging die paar Schritte zur Liebigstraße und dann langsam hinunter bis zur Nummer 7. Er betrachtete nachdenklich die Fenster im Parterre. Nichts schien sich hinter ihnen verändert zu haben. Er trat in den Hausflur, drückte den Lichtschalter und sah, das Siegel an Raddatz’ Wohnungstür war entfernt worden. Kühl glaubte einen leichten muffigen Geruch zu spüren. So ist das also jetzt, Manne, dachte er. Es gibt nicht mal einen, der dir die Wohnung auflöst. Du hättest beteuert, viele Freunde zu haben. Auch ich hätte versichert, dein Freund zu sein. Doch in Wahrheit waren die Beziehungen ziemlich oberflächlich. Tief ging nur der Haß deines bekannten unerkannten Feindes. Bis zum Mord ging er – vorsätzlich, planmäßig, kaltblütig. Er lief zurück, die Rigaer Straße östlich hinunter und bog zum Sportplatz ein. Er war sogar geöffnet. Achim wirkte im Kasino. Er war nicht nur Platzmeister, Materialwart, Kasinowirt, sondern auch Raumpfleger. Er hatte geputzt und gewischt und saß jetzt da in einem dreckigen Kittel mit einem Glas dampfenden Grog vor sich. „Lange nicht hiergewesen. Auch einen Grog.“ Detlev Kühl schüttelte den Kopf und ließ sich ihm gegenüber nieder. „Die Umstände waren nicht so.“ „Versteh ich,“ sagte er. „Haben sie sich jetzt geändert?“ „Ich weiß es selbst nicht.“
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„Heute abend ist hier Vorstandssitzung. Krisensitzung könnte man es auch nennen. So tief unten waren wir schon lange nicht.“ „Wie ist die Stimmung?“ „Gegen dich?“ fragte Achim. „Mach dir keine Sorgen, niemand wirft dir etwas vor. Was sein muß, muß sein. Natürlich fehlst du. Nelli spielt deinen Part, aber er ist ebenso nervös wie alle anderen.“ „Eine Flasche Bier,“ sagte Kühl, „würde ich trinken.“ Achim nickte und stand auf. „Es wird eine Menge geredet. Ihr steht auf dem Schlauch, was. Habt welche und doch wieder nicht.“ „Wer hat das gesagt?“ „Als ob es darauf ankommt. Jeder redet nach, was er woanders gehört hat. Anfangs hieß es, die Sache wäre geklärt, dann wieder nicht, dann doch, und zuletzt hatten sie Reblaus wieder am Wickel. Der traut sich kaum noch aus der Wohnung. Sie nennen ihn schon nicht mehr Feuerstein, sondern den Würger von Boston. Herzig, was?“ Detlev Kühl überging das schweigend. Sie verdrängten die Probleme auch nur, und ihre Witze waren nie sehr geschmackvoll gewesen. Was sie unter schwarzem Humor verstanden, wurde anderswo Klamotte genannt. Er goß das Bier ins Glas und wartete darauf, daß sich die Blume legte. Achim redete wie unter einem Zwang. „Die Leiche ist freigegeben, und wir wollen alles arrangieren. Es scheint, daß sie uns nicht trauen. Bis alles ausgekippt ist, meine ich. Sag, können sie das dem ganzen Verein anhängen?“ „Können sie nicht, und tun sie auch nicht. Freilich gibt es ge-wisse Formalitäten. Zum Beispiel kann die Wohnung nur von Verwandten und bestellten Treuhändern aufgelöst wer-
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den.“ „Bestellte Treuhänder,“ brummte Achim unzufrieden. „Wenn’s die Bürokratie nicht gäbe, müßte man sie glatt erfinden. Wir waren seine Freunde.“ Kühls Miene verhärtete sich wieder. Er trank hastig einen Schluck. „Wer kommt alles?“ fragte er, um abzulenken. „Ich, zum Beispiel,“ ertönte es hinter ihm. Nelli kommt immer von hinten, dachte Detlev Kühl. – Das war Unsinn, denn dort befand sich nun mal die Tür. Nelli legte leicht die Hand auf Kühls Schulter. „Grüß dich, Alter, wir haben uns schon allzu lange nicht gesehen. Gibt es Gründe? Auch deine Kollegen haben sich mich nur dreimal vorgenommen. Haben sie mich aus ihrer Liste gestrichen? Entschuldige, du redest wahrscheinlich nicht gern davon, darfst es vielleicht auch nicht.“ Er ging um den Tisch herum und setzte sich mit dem Rücken zur Wand. Achim sah von einem zum anderen. „Ich muß noch mal raus. Wollt ihr was trinken?“ „Bier,“ sagte Nelson. Er lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. Blinzelnd schaute er Achim zu. „Die Seele vom Geschäft. Sieben volle Arbeitstage die Woche und keine achthundert netto. Verstehst du solchen Einsatz? Von acht bis acht oder noch länger. Ist er nun eine hervorragende sozialistische Persönlichkeit oder einfach nur ein Narr?“ „Wieder mal beim Thema.“ „Ich meine nicht dich. Du mußt helfen, einen Mord aufzuklären. Das geht nicht nach der Uhr. Geht es überhaupt in diesem Fall? Man hört zuviel und zuviel Widersprüchliches.“ „Und was hast du gehört?“ Er wehrte ab: „Nein, nein, ich werde mich hüten, den Buschfunk zu kommentieren. Da gerät man in sonstwas hinein.
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Wenn sie nur geklaut haben und nicht gemordet, ist das Thema viel zu offen.“ Detlev Kühl sah ihn einen Moment prüfend an und senkte dann wieder den Blick auf das vor ihm stehende Bierglas. „Reden wir über die Sitzung hier. Bleibst du? Nur fünf Punkte in einer halben Saison. Du fehlst uns sehr, Alter.“ „Du bist doch ein vollwertiger Ersatz.“ „Ich habe deinen Platz, stimmt. Vielleicht ist es sogar ein Stammplatz geworden, aber ich muß dich überwinden, verstehst du. Es ist ein Zweikampf, und der muß entschieden werden.“ „Radikal wie immer. Ich mache dir freiwillig Platz.“ „Das genügt nicht. Ich kenne das, glaube mir. Freiwillig Platz machen ist Opportunismus, und in dieser Welt ist Opportunismus immer noch die beste Methode, stets die Nase vorn zu haben. Ich denke nur an jenen Tag vor sechzehn Jahren.“ „Auch da war ich ein Opportunist?“ „Von da an ging es aufwärts mit dir und abwärts mit mir. Ich habe gesessen, und du wurdest Polizist.“ Detlev Kühl schaute ihn an. Nelli saß da, gerade, aufrecht, in untadeliger Haltung. Die Aggressivität lag nur in seiner Stimme und in seinem herausfordernden Blick. Kühl fiel der Traum wieder ein. Ja, das war Nelli. Korrekt, ordentlich, kalt. „Du willst mich deswegen als Fußballer fertigmachen? Ist das nicht albern?“ „Ich will dich nicht fertigmachen. Ich will dich überwinden. Wir sind Freunde, aber auch Rivalen. Fußball als Gegenstand, Kreisklassenfußball noch dazu, mag albern sein. Es ist unser Berührungspunkt. Wo wir uns berühren, reiben wir uns, und dort sind wir Rivalen. Ich will gewinnen.“
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„Egal wie?“ „Nein, nicht egal wie,“ sagte Nelson. „Es muß schon Format haben. Mit deinem Mörder kann ich nicht konkurrieren. Er ist dir wirklich über, scheint’s.“ Kühl runzelte die Stirn. „Du hörst viel und weißt viel. Aus welcher Quelle schöpfst du dein Wissen?“ „Gerüchte.“ Nelson sagte es regelrecht zufrieden. Sein Tonfall hatte sich verändert. „Ihr könnt mit den beiden, die ihr habt, nichts anfangen, heißt es.“ Er ist offen, wie man’s von ihm gewohnt ist, dachte Kühl, doch es hört sich an, als ob er sich innerlich die Hände reibt. Das irritierte ihn, aber nicht nur das. Was wußte Dieter Rolff, bei dem sich die Gerüchte sammelten? Daß sie zwei Leute geschnappt hatten. „Aus welcher Quelle schöpfst du?“ fragte er noch einmal. Nelli tippte sich an die Stirn. „Dahinter sprudelt’s am besten.“ Er trank einen Schluck Bier und sagte dann: „Dich stört etwas, Alter. Dich stört meine Sachlichkeit, du nennst sie Zynismus. Meine vornehme Trauer kann Mannes Tod nicht rückgängig machen, und mein Wohl und Wehe hängt davon auch nicht ab. Deine vornehme Trauer wiederum hilft nicht, den Fall aufzuklären. Doch du hängst existentiell darin. Das ist der Unterschied zwischen uns. Tja, Alter, so ist das und nicht anders.“ „Du schwätzt auf einmal, Nelli, und es ist dummes Zeug, das du schwätzt. Wovon willst du mich überzeugen? Daß das Leben gemein ist und das Verbrechen normal? Oder davon, dass ein Mensch aufhört zu existieren, wenn seine physische Existenz erloschen ist?“ „Nein.“ Nelson schüttelte den Kopf. „Davon brauche ich dich nicht zu überzeugen. Manne ist vergessen, sobald er ver-
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brannt und begraben ist und ihr eure Akten geschlossen habt. Und sollte ich etwa einen Kriminalisten davon überzeugen, daß das Verbrechen keine Ausnahme ist? Wie viele Ausnahmen bearbeitet ihr? Wie viele Mitarbeiter hat die K zur Verfügung, um mit den Ausnahmeerscheinungen fertig zu werden? Ihr trefft feine Nuancierungen und frisiert die Statistiken mit Begriffen wie Verstöße, Vergehen, Verbrechen. Wenn man’s genau nimmt, ist jede Handlung eines Lebewesens Kampf ums Dasein, und jedes Dasein endet mit dem Tode.“ Nelson trat hinter die Theke und holte sich eine neue Flasche Bier. „Du hast es gesehen, Alter. Ich will die Pulle hier nicht klauen.“ Er machte eine Pause. „Entschuldige. Ich kratze an eurer Existenzberechtigung. Natürlich haltet ihr eine bestimmte Ordnung aufrecht. Wir einigen uns auf gewisse Regeln des Zusammenlebens, und ihr achtet darauf, daß diese nach Möglichkeit eingehalten werden. Ja, es stimmt. Du empfindest mich nicht als deinen Rivalen. Dein Rivale ist der Mörder. Das ist dein Kampf. Ich gestehe dir zu, daß du wir und uns sagst, doch es ist dein ganz persönlicher Kampf, und der Gegner ist dein ganz persönlicher Gegner. Du kommst nicht aus, ohne dich völlig zu engagieren. Kampf ums Dasein.“ „Amen,“ sagte Detlev Kühl. „Gestattest du eine Frage? Wirst du diesen Kampf verlieren? Ist er dir über?“ Detlev Kühl lächelte mit dünnen Lippen. „Wir müssen zweifellos auch Niederlagen einstecken, aber die Chancen für einen Mörder, unerkannt davonzukommen, sind sehr gering. Bei Tötungsverbrechen handelt es sich oft um eine Beziehungstat, das heißt, Täter und Opfer hatten miteinander zu tun.“ „Nur noch eine Frage des Beweises.“
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„Ja, eine Frage des Beweises.“ „Ich sehe, ihr seid unschlagbar. Alter, ich bewundere dich. Kennst du die Beweise gegen mich, die damaligen? Du kennst die Wahrheit.“ „Du solltest das endlich vergessen. Mich hat keiner je gefragt, und du hast mich auch nicht als Zeugen benannt.“ „Einige Dinge kann man nicht vergessen, vor allem nicht, wenn sie die Weiche des Lebens bedeuteten. Die entscheidende Weiche. Ich war achtzehn. Man hat mich auch nicht gefragt, ob ich einen Zeugen benennen wollte. Die Bullen waren die Zeugen.“ „Außerdem war ich als Beteiligter kein Zeuge,“ sagte Detlev Kühl unwillig. „Das hatten wir schon zu oft, Nelli. Sechs Wochen sind nicht das ganze Leben.“ „Bist du sicher? Dieses Jahr achtundsechzig brachte mich nicht nur sechs Wochen in den Knast. Das Abi war futsch. Auf dem Rückweg von einem Badeausflug sechs Wochen einzufangen, hat vielleicht nichts Besonderes, doch dann ist alles übrige auch nichts Besonderes.“ „Abgehakt, Nelli.“ „Ich hab’s schon vor langem abgehakt, Detta. Trotzdem steht’s auf meiner Liste. Mit Haken dran.“ Er schüttete den letzten Rest Bier hinunter. „Berlinisch ausgedrückt: Olle Icke wundert sich jar nich mehr! Einer baut seine Karriere zu Lasten des anderen auf. Ich denke, der Richter von damals ist Oberrichter heute. Ob er gelernt hat, eure Beweise zu prüfen?“ „Ich denke, ja. Falls er noch Richter ist. Oder Oberrichter.“ „Sind sie wirklich gelehrig. Wenn ja, wer lehrt was?“ „Du schlägst den Sack und meinst den Esel, Nelli. Den Opportunisten, der ein Polizist wurde. Du meinst mich. Ist in
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Ordnung, Freund. Ich bin so sehr Opportunist, daß ich es schlucke. Hast du noch nie gehört, daß die unangreifbar sind? Wie der Spießer, der Beifall klatscht seinem Kritiker. Es hat keinen Zweck, Nelli. Du bist eingesperrt worden, weil du eine große Schnauze gehabt hast. Damals sind dreihundert junge Leute vorläufig festgenommen worden, und verurteilt wurden siebenundzwanzig. Neun Prozent.“ Nelson nickte. „Kamen plötzlich alle vom Baden oder von sonst irgendwo zufällig vorbei. Wären nur sechsundzwanzig gewesen, ohne mich, und waren doch in Wirklichkeit ein paar hundert. Ist das Urteil gerechter geworden, deshalb? Du hast die Wahrheit gesagt, und wurdest entlassen – zusammen mit den Lügnern. Ich habe gelogen und wanderte zusammen mit den Wahrhaftigen in den Knast.“ „Das war nicht die Alternative, Nelli. Das Umgekehrte ist nie eine Alternative. Aber wir waren jung, damals. Vielleicht fühlst du dich gar noch als Opfer. Die meisten standen einfach nicht ein für ihre Heldentaten. Sie waren Helden nur solange, wie es nichts kostete. Du hast damals dumm gehandelt, Nelli.“ „Seitdem habe ich nie mehr dumm gehandelt.“ Es sah aus, als wäre das Gespräch für Nelson erledigt, und Detlev Kühl war es recht so. Der Stachel saß auch in ihm noch irgendwie fest, denn auch seine Rolle damals war nicht gerade eine rühmliche gewesen. Diese Rivalität zwischen ihnen hatte es immer gegeben. Nelsons Temperament ließ keine andere Freundschaft zu, und man konnte auch nicht umhin, sie produktiv zu nennen. Außerdem hatte sich das stets auf einer fairen Grundlage abgespielt. Sie hatten immer die gleichen Bedingungen vorgefunden. Bis zum Jahre achtundsechzig, bis kurz vor dem Abitur. Die Schlagworte von damals waren
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ihnen kaum noch im Bewußtsein, doch sie hatten auf einige der damaligen Jugendlichen Eindruck gemacht. Prager Frühling, Pariser Mai, Westberliner APO. Sie hatten das in der Schule oder auf der Straße auf eine kleinkarierte Weise nachgespielt; Nelson, er und noch ein paar andere waren da nur zufällig hineingeraten. Als Reaktion darauf wurden einige vom Abitur relegiert. Nelson war unter ihnen gewesen, er merkwürdigerweise nicht. War seine Einsicht der Grund gewesen? Oder wirklich Opportunismus. Detlev Kühl wußte es nicht. „Lieg ich dir in den Ohren, Alter? Laß es rein und raus, schalte auf Durchgang. Ich bin wie eine unbefriedigte alte Jungfer. Da ist die Hälfte vorbei von diesem Leben, und ich projektiere elektrische Anlagen. Für das Stadttheater in Staßfurt, Alter. Da kommt nix mehr, weißt du. Nach dem Stadttheater vielleicht das neue Kulturhaus von der LPG Klitschendorf. So geht das Jahr für Jahr. Nirgendwo der Schimmer von einem Erfolgserlebnis. Das lass’ ich dann ab und zu mal bei dir ab. Scheißfreundschaft, was?“ „Nein, nein, ist schon recht so, Nelli. Berge dein Haupt an meine breite Brust. Ich halt ‘s schon aus. Besser bei mir als anderswo. Könntest mal ganz schlimm anecken.“ „Ist in Ordnung. Nur nicht anecken. Lieber einmal mehr nicken und das Maul höchstens im engsten Kreise aufreißen. An so einem Tisch hier zum Beispiel. Es gibt so viel zu sagen. Mangelhafte Trainingsbeteiligung, fehlende Einsatzbereitschaft, Sportstaffette.“ Achim kam wieder, lächelnd, hatte sich in Schale geworfen gestreifter Schlips zum karierten Hemd; ein Vorstandsmitglied vom Scheitel bis zur Sohle. „Bleibst du? Ist keine öffentliche Vorstandssitzung, aber für einen wie dich immer offen. Dein Rat ist so wichtig für uns wie deine Tat.“
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Er meinte es zweifellos so, wie er es sagte. Seine Augen glitten flink von Kühl zu Nelson und zurück. „Oder ist was zwischen euch?“ Nelli lächelte. „Ist immer was zwischen uns. Wir sind Freunde, beinahe Brüder. Ungleiche Brüder allerdings. Positiv und negativ geladen. Weißt du, wie man den lieben Kinderchen in der Schule die Elektrizität erklärt?“ „Nee,“ sagte Achim verblüfft. „Das Charakteristikum unserer Schulbildung, nichts bleibt hängen, außer man braucht ‘s jeden Tag. Elektrizität: Was ist Elektrizität? Knips und knaps – an und aus.“ „Ah ja, und wie erklärt man’s?“ „Mit ungleichen Brüderchen, positiven und negativen. Sie ziehen sich an und stoßen sich ab. Oder besser, die guten und die schlechten ziehen sich an, die guten und die guten oder die schlechten und die schlechten stoßen sich ab. Spannung ist nötig, um etwas zu bewirken, zum Beispiel Elektrizität.“ „Das lernt man in der Schule?“ Achim leuchtete dieses Bild gar nicht ein. Wo blieb denn da das Kollektiv? „Wir haben ‘s noch so gelernt, nicht wahr, Detta.“ Detlev Kühl zuckte die Achseln. „Knips und knaps,“ sagte er schleppend. „Es geht den Menschen wie den Leuten. Aber mir scheint, ich habe auch davon gehört. Oder gelesen. Was ich davon behalten habe, ist nur eine Frage, nämlich die, ob positiv wirklich gut und negativ wirklich böse ist.“ „Das ist eine gute Frage, Detta. Man kann die Kräfte der Natur nicht in ethische Begriffe fassen. Weil die einen einem objektiven Gesetz folgen und die anderen subjektiven Gesetzen untergeordnet sind. Die gibt’s und die anderen sind eine Fiktion. Mein Lieber, du jagst Fiktionen nach.“
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Es war schon 20 Uhr durch, als Detlev Kühl die zwei Treppen zu seiner Wohnung hinaufstieg. Keiner der hektischen Tage, nur halb oder gar nicht erledigte Belanglosigkeiten. Er wollte sie vergessen, wenigstens bis morgen früh. Christine saß bequem im Sessel, ein Handtuch wie einen Turban um den Kopf geschlungen, das Gesicht eingeweicht in einer dicken Maske. „Schaut nur, der Herr kommt heim nach des Tages Müh und Last.“ Er grinste. „Und drinnen waltet die tüchtige Hausfrau. Wessen, meine Dame, ist dieser Kopf?“ „Einer, die Aphrodite huldigt. Chemie ist Schönheit, Leutnant. Was soll ein einsames, alterndes Weib tun, sag mir das.“ „Einen Liebesfilm ansehen. Oder läuft ein Krimi?“ „Weiß ich das? Ich pflege mich, da läßt ein Weib sich nicht ablenken.“ Er senkte sich behaglich in den zweiten Sessel. „Mir ist voll und ganz danach, dich abzulenken.“ „Ich verzög gern höhnisch das Antlitz, doch das schadete meinem Teint. Was hast du getrieben, daß dir der Sinn nach feinen Komplimenten steht?“ Sie wandte das Gesicht in seine Richtung, obwohl sie nichts sehen konnte. Zwei Wattebällchen bedeckten die Augen. „In richtige Gesichter geschaut und auch in Bierseidel und das Ohr an die Masse gehalten. Derartiges also.“ „Mein Vater beschrieb es so, wenn er ausgiebig gekneipt hatte.“ „Es war auch eine Kneiptour, in der Tat.“ „Ja, die Kriminalisten. Ein freies Leben führen sie.“ „Sie sind eben keine Karbolmäuse.“ „Hör mal, ich bin keine Karbolmaus,“ protestierte sie.
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„Wir schützen Leben.“ „Wie viele waren es heute?“ „Was interessieren dich meine Klinikprobleme? Ich sorgte mich den ganzen Tag um deine Grippe, ist das nichts? Und du rennst von einer Kneipe in die andere.“ „Das bewirkten deine Aga Khan.“ „Agacin.“ „Meinetwegen – Agacin. Sie haben mich jedenfalls wieder aufgemöbelt.“ Sie seufzte. „Du fühlst dich gut, wie schön.“ Darauf schwiegen sie. Die Müdigkeit übermannte ihn. Es war still, und die Welt war weit fort, draußen, jenseits der Mauern. Auch jenseits der tückischen Mattscheibe, die stets darauf lauerte, ihn mit Lärm und flimmernden Bildern zu überschütten. Wenigstens gerate ich nicht in Versuchung, darauf zu kegeln, dachte er träge. Was für eine verzweifelte Zukunftsvision: Fußballspielen vermittels Video. „Es ist irrwitzig.“ „Sprich, mein Junge. Was bedrückt dich?“ Ihr Arm glitt herüber, und die Hand angelte nach seiner. „Kannst du dir vorstellen, daß es ihm Wonne bereitet, wenn der Mord nicht aufgeklärt wird?“ „Dem Mörder? Kann ich sehr gut.“ „Quatsch. Wie kann ein Mörder Wonne empfinden. Triumph, Erleichterung, alles mögliche. Nein, Nelli, empfindet Wonne.“ „Du solltest ihn endlich kennenlernen,“ antwortete sie milde. „In Träumen schlägst du dich mit ihm herum, doch du weißt gar nichts von ihm. Nelli ist….“ sie suchte nach Worten. „Nelli ist, nun ich würde sagen, er ist ein Spieler. Alles ist
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Spiel für ihn, doch er ist ein Typ Spieler, der ein Spiel bitterernst nimmt, und zwar jedes Spiel. Er ist nicht leichtfertig und nicht oberflächlich, er ist ein Fanatiker. Es gibt solche Mentalität. Diese Menschen vermögen nicht, verschiedene Wertigkeiten zu unterscheiden und differenziert einzuordnen. Leben und Tod im Kartenspiel und Leben und Tod im Kampf sind gleichwertige Begriffe für ihn. Er ist in gewisser Hinsicht ein Kind geblieben, für das das Spiel den Hauptinhalt des Lebens bedeutet. Du solltest das nicht so wichtig nehmen.“ Christine stand auf, wischte sich mit einem anderen Wattebausch die Augen aus und setzte sich kopfschüttelnd wieder. „Aber nein, das paßt nicht zusammen. Natürlich nimmt er Partei in jedem Spiel, dem er beiwohnt. Aber warum sollte er gegen das Opfer Partei nehmen, gegen seinen Freund? Nein, das paßt nicht. Wirklich nicht.“ Er ging in die Küche, um eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Das Bier war so kalt, daß die Flasche beschlug. Er mochte kein kaltes Bier, doch das war ihm jetzt egal, denn er hatte überhaupt keinen Appetit auf Bier. Er war nur hinausgegangen, um nicht dasitzen zu müssen, und hatte das Bier geholt, um, etwas zu tun. Irgend etwas. Manchmal half das, wenn er hinter einen Gedanken kommen wollte, den er nicht fassen konnte, aber diesmal versagte auch dieses Mittel. Christine war im Bad verschwunden und klopfte jetzt wohl die restliche Kruste auf ihrem Gesicht mit dem Hammer ab. Sie war ein Adept, in geheime Künste eingeweiht, oder ein Naturwesen, das die Instinkte ihrer Altvorderen alle noch besaß. Sie betrieb Schönheitsriten, wie ein Medizinmann bei den Naturvölkern Götter beschwor, beschmierte sich mit irgendwelchen Erden, salbte sich, bemalte sich. Es war faszinierend, wieviel Zeit sie darauf verwandte. Er lauschte den bekannten Geräuschen
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nach, die aus dem Bad zu ihm drangen, und plötzlich fiel es ihm ein. Er sprang auf und ging zu ihr. Sie verwöhnte ihr Gesicht eben mit einem duftenden Dampfbad. „Ich glaube, es hat mit Raddatz nichts zu tun,“ sagte er. „Was?“ Ihre Stimme klang dumpf und gleichgültig unter dem Handtuch. Das ärgerte ihn. Es gab Gelegenheiten, bei denen auch sie verschiedene Wertigkeiten nicht differenzieren konnte. Während ihrer Riten existierte keine Welt mehr für sie. „Er ist tot und hat also aufgehört zu existieren, spielt deshalb keine Rolle mehr in dem Spiel. Um Nellis Pietät ist es nicht allzugut bestellt, das hat er mir selber gesagt. Partei ergriffen hat er gegen mich. Ich bin immer sein Gegner gewesen, sein Rivale, von Kindesbeinen an. In der Schule, bei den Mädchen, beim Fußballspiel. Ja, er ist ein Fanatiker und differenziert nicht. Hätten wir ähnliche Berufe, würde er sich vor allem dort mit mir auseinandersetzen. Doch ich bin Kriminalist.“ Erschrocken verstummte er. Sie hob das Gesicht aus dem Dampf und schüttelte energisch den Kopf, um die Wassertropfen von der Haut zu bekommen. „Das paßt erst recht nicht,“ sagte sie sachlich. „Natürlich benutzt er jede Gelegenheit, die sich bietet, um sich mit dir zu messen, und wo die großen Anlässe fehlen, nimmt er die kleinen. Plötzlich ist der große Anlaß da – der Mord an Manfred Raddatz.“ „Und er schlägt sich auf die andere Seite?“ „Vergiß nicht, du bist nicht Angehöriger der Kriminalpolizei schlechthin, du bist ein Vertreter der Staatsmacht, die ihn einmal scheinbar ungerecht behandelt hat. Alles, was er tut, geschieht, um seine Frustrationen loszuwerden. Natürlich würde er selber keinen Mord begehen, einen Mord auch nicht billi-
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gen, doch in der jetzigen Situation genießt er deine vermeintliche Niederlage.“ „Ich glaube dir jedes Wort, Göttin,“ murmelte er, mit dem hilflosen Versuch, ihre Späße weiterzuführen. Es war vergeblich. Seine Lippen waren kalt, und sein Gesicht war gespannt. Es existierte glücklicherweise eine zentrale Kartei für Presseanzeigen, und glücklicherweise bezogen sich nur etwa zwanzig Prozent aller Angebote auf Radio- und Tele-Artikel. Etwa zweihundert Anzeigen kamen in Frage. Siebusch bemerkte es mit gehöriger Betonung, um die Intensität seiner Bemühungen zur Geltung zu bringen. „Die Frage ist nur: Was suchen wir?“ „Attraktionen. Bespielte und unbespielte Kassetten.“ „Also diese.“ Siebusch blätterte stolz einige Zettel vor Detlev Kühl hin. Ein größerer Stapel betraf Zusatz- und Ersatzteile für ausländische Markengeräte. „Brav, brav,“ sagte Kühl und tätschelte Siebusch den Arm. Der fuhr zurück, als sei er geschlagen worden. „Spott ist das nun wahrlich nicht wert.“ „Der Orden kommt später. Zuerst die Arbeit, wobei das meiste wohl über die Kreisämter erledigt werden kann.“ Kühl blätterte die Anzeigen durch. „Das sind die Berliner, und diese hier aus Zossen könnte man auch noch dazu schlagen.“ Eine Frau Marlis Kohn, Zossen, Straße 131, Nummer 19, bot in der Septemberausgabe der Fachzeitschrift NACHRICHTEN-TECHNIK unbespielte Kassetten an. Es war die einzige Annonce in dieser Richtung. „Übrigens können wir die hier wohl beiseite lassen.“ „Warum das?“ fragte Siebusch. „Computerspiele fallen flach. Die Möglichkeit besaß Raddatz nicht.“
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„Noch nicht,“ wandte Siebusch ein. „Richtig,“ sagte Kühl. Er stutzte. „Schreinerstraße acht,“ murmelte er, „sieh mal an, Schreinerstraße acht.“ „Direkt um die Ecke. Hobusch, W. Kennst du ihn?“ „Nein.“ Es klang abwesend. Kühl nahm das Blatt. „Den Mann suche ich auf, und die Dame in Zossen auch. Mit dem Rest wirst du dich auch nicht langweilen, denke ich.“ „Kaum,“ bestätigte Siebusch säuerlich. Er fühlte sich in die Ecke gestellt, Kühl schien ihn gar nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen, schwebte irgendwo in anderen Sphären, wohin er keinen Zugang hatte. Und Kühl machte nicht den leisesten Versuch, ihn heraufzuziehen zu sich. Bei der Zusammenkunft am Nachmittag kamen weitere Realitäten zur Sprache. Sachen zum Anfassen sozusagen, die Resultate der Ermittler, keine kühnen Kombinationen oder Eingebungen im Schlaf. Zunächst ging es um das zur Tat benutzte Fahrzeug. Sie wuß-en, daß es gezielt ausgesucht worden war, jener Georg einen Schlüssel dazu besaß und der Fahrer durch einen geschickten Trick mitsamt seiner Familie ins ROSSTRAPPEHotel expediert worden war. Natürlich hatten sich die Ermittlungen zuerst auf den Verwandten-, Bekannten- und Kollegenkreis dieses Mannes konzentriert. Doch ein Täter in dieser Umgebung paßte nicht in die Gesamtstrategie des Verbrechens. Wenn Kotsch und Grusche Georg nicht gekannt hatten, kannte der Stendaler Monteur mit Sicherheit auch keinen aus der Bande. Trotzdem mußte er jenem ominösen Hägin gut bekannt gewesen sein, so gut, daß der an die Wagenschlüssel herankam und von dem bescheidenen Wunsch des biederen Mannes wußte, nach dem Streß beim Aufbau des Rinderstalles in Heudeber, einen verlängerten Wochenendurlaub mit seiner
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Familie in schöner Umgebung zu verbringen. Er wußte auch den Termin der Übergabe. Was sich anhörte wie ein Märchen, löste sich auf in die sachlichen Rasterpunkte eines Bildes. Hägin sorgte schon im Sommer dafür, daß Billerbeck im Herbst verreiste. Wenn Billerbeck der Name Hägin auch nichts sagte, hatte er doch irgendeinen Kontakt mit ihm gehabt. Im Niegripper Bauarbeiterhotel logierten die Angehörigen sehr vieler Betriebe, doch nicht allzu viele. Der Berührungspunkt mußte deshalb irgendwo bei den Einsätzen der PGH gewesen sein. „Hägin hat nichts dem Zufall überlassen. Er steuerte jedes Detail. Ein kleiner Gott, der Schicksal spielte. Aber wie es so ist: Kennt man den Gott, durchschaut man auch seine unerklärlichen Ratschlüsse.“ Oberleutnant Zocher fühlte sich in seinem Element. „Hägin schickte Billerbeck in den Harz, Georg heuerte Kotsch und Grusche an. Vermutlich wurde Georg auf ähnliche Weise von Hägin angeheuert. Als Gage erhielten Georg und seine beiden Komplizen die Beute, die sie sich teilten. Und da erhebt sich die Frage: Welchen Nutzen hatte Hägin? Kotsch und Grusche behaupten, sie hätten Raddatz lebend zurückgelassen, was durch die Aussage dieses Eisenbahners gestützt wird, der Licht in Raddatz’ Wohnung gesehen hat, als der Framo längst wieder fort war. Es scheint, daß der Raub nur Mittel war, das Mordmotiv zu verschleiern. Was hat nun Hägin zu dieser Tat getrieben? Ich vermute: Rache, Vergeltung, irgendeine Form persönlicher Rehabilitierung, gekoppelt mit einem perversen Ehrgeiz, nämlich das perfekte Verbrechen zu begehen.“ „Demnach rücken die Leute aus Raddatz’ engerem Bekanntenkreis wieder mehr ins Zentrum,“ warf der Hauptmann ein. „Natürlich. Wir können uns von elektronischen Insidern
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trennen, von Freunden schöner Klänge und bunter Bilder. Der Genosse Kühl lag genau richtig, als er vermutete, man habe Raddatz ein Inserat zugespielt. Er wird dazu noch einiges sagen, wenn ich fertig bin. Wir haben aufgrund der Aussagen von Kotsch und Grusche ein Porträt anfertigen lassen. Die Angaben der beiden sind aber so widersprüchlich, daß die Suche nach Georg vermittels dieses Bildes zum Lotteriespiel wird. Wir haben es natürlich sowohl im Niegripper Bauarbeiterhotel, wie auch auf den betreffenden Baustellen und in den ausführenden Betrieben vorgelegt. Nicht genug damit, haben wir alle Werktätigen dieses Bereichs überprüft. Mit negativem Resultat, denn alle Stränge treffen nirgendwo aufeinander. Offensichtlich beschränkten sich die Aufgaben des Georg auf die Anwerbung der Komplizen, die Entwendung des Framo und den Überfall auf Raddatz samt den Sicherheitsmaßnahmen nach der Tat. Immerhin verstand er ja auch, seine Spuren gegenüber Kotsch und Grusche zu verwischen. Die Beute wurde in Oranienburg auf Kotschs Wagen umgeladen und bei ihm vorläufig untergestellt. Da sie damit rechnen mußten, daß Raddatz sie beschreiben konnte und die Fahndung nach ihnen binnen kurzem auf Hochtouren laufen würde, wurde das Raubgut nicht eher aufgeteilt, als sie sicher sein konnten, daß ihnen die Polizei nicht auf den Fersen war. Aus all dem muß man folgern, daß der Unbekannte, Hägin, die Vorbereitungen in Berlin und im Bezirk Magdeburg selber traf. Wir können demnach das Täterbild – wir haben es mit einem überdurchschnittlich intelligenten, logisch denkenden und planenden, geistig regsamen, aber gefühlskalten Menschen zu tun – durch zwei wichtige Punkte ergänzen. Hägin kannte Raddatz nicht nur sehr gut, sie hatten auch steten Um-
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gang miteinander, und er ist örtlich sehr beweglich. Hägin kennt sich im Bereich Magdeburg, speziell Niegripp, so gut aus, daß er sich das Spielchen mit Billerbeck leisten konnte. Genau hier verlieren sich alle Möglichkeiten. Raddatz hatte nie in dieser Gegend zu tun, auch sein Arbeitsgebiet lag außerhalb dieses lokalen Bereichs, und der Betrieb hatte nur sporadische Kontakte nach dort. Sein Freundes- und Bekanntenkreis ist relativ groß, aber überschaubar, seine Überprüfung dauert an. Vertrauten Umgang hatte er nur mit wenigen Leuten – einigen Frauen, Schulfreunden aus der Kindheit, die sämtlich direkt oder indirekt zu dem Sportverein des Kietzes gehören. Wie auch Leutnant Kühl, der außerdem durch seinen Dienst auf dem dortigen Revier mit den Verhältnissen im Kietz bestens vertraut ist.“ „Mit dem Opfer und vermutlich auch mit dem Mörder,“ sagte Detlev Kühl mit holziger Zunge. Dieses Gefühl, er würde an seiner Zunge ersticken, wollte nicht mehr schwinden. Sie quoll und quoll und wurde steif wie ein Brett. Er schluckte und hustete, fühlte sich scharf fixiert von seinen Kollegen, und das machte ihn noch unsicherer. „Ich will bei den aktuellen Dingen beginnen, bei dem Inserat, das Raddatz zugespielt wurde. Es brauchte zwei Bedingungen zum Gelingen des Plans: Das Angebot mußte lukrativ sein, und es durfte nicht eines der tatsächlichen Inserate sein, von denen in jedem einschlägigen Presseerzeugnis Dutzende in einer Ausgabe abgedruckt sind. Es ist also zu vermuten, dass der Täter die Anzeige selbst aufgegeben hat oder sie hat aufgeben lassen.“ „Es ist zu vermuten?“ fragte Barabasch. „Ja. Wir sind noch nicht ganz soweit. Raddatz besaß fast alles, was auf seinem Gebiet, im Bereich seines Steckenpferdes,
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möglich war. Das heißt, daß das, was für ihn lukrativ gewesen sein konnte, begrenzt ist. Die Geräte besaß er und hätte sie höchstens ausgetauscht gegen technisch verbesserte. Bleiben also einige wenige Verschleißteile und – Kassetten. Darauf richteten wir unser Augenmerk und fanden in dem in Frage kommenden Zeitraum zwei sehr interessante Angebote und anderthalb Dutzend interessante. Ihnen wird zur Zeit nachgegangen, eines, in Beelitz aufgegeben, stammt von einer Frau aus Zossen. Sie werde ich selber aufsuchen, und über die Resultate bekommen Sie sofort Bescheid.“ Er räusperte sich wieder, sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. „Sie kennen meine Ermittlungsergebnisse im Sportverein,“ sagte er dann rauh. „Der Genosse Zocher hat eben das Spezifische dieser Tat markiert. Wer sich diese Mühe macht, hat einen zwingenden Grund. Haß kann einer sein, aber es gibt niemanden, der Raddatz so abgrundtief hassen konnte. Die kleineren Auseinandersetzungen sind bekannt, sie wiegen nicht annähernd so schwer, um dies alles auf sich zu nehmen; außerdem trifft das Täterbild in diesen Fällen nicht zu. Über die intellektuellen Voraussetzungen für ein solches Unternehmen verfügen nur drei Personen.“ Er machte eine Pause. „Vier, wenn Sie mich in Betracht ziehen, obwohl ich bei mir selber nicht sicher bin, ob ich das so gebracht hätte. Ja, ich bin mir nicht sicher, und ebenso unsicher bin ich bei den anderen. Zudem haben wir vier ein Alibi. Ich selber womöglich das unsicherste, denn lediglich meine Frau kann es mir geben. Die anderen aber, Horst Kühnel, Knut Perlwitz und Dieter Nelson können mit einer Schar von Zeugen aufwarten – die Gäste der ,Bierglocke’ an jenem Abend.“
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Die Straße 131 war ein Winkel, in den vier andere Straßen einmündeten. Jede steuerte ein altes, halbzerfallenes Wohnhaus bei. In der Straße 131 führten diese Häuser die Nummern 1, 83/84, 33 und 19. Letzteres war dreistöckig, ein vielfältig umgebautes und völlig verfälschtes Fachwerkhaus mit zerstörter Fassade. Neben einem verwilderten Vorgarten führte ein einstmals gefliester Weg zur Hinterfront des Hau-ses, wo der Eingang lag. Offensichtlich hatten die Fliesen schon vor längerer Zeit andere Liebhaber gefunden. In jeder Etage lagen zwei Wohnungstüren nebeneinander, jede mit Außenklinke und Milchglasscheiben. Über den Türen gab es Oberlichte, durch die man vom nächsthöheren Zwischenge-schoß in die Wohnungen sehen konnte. Arglose Leute wohnten hier, solche, die nichts zu verbergen hatten und nicht mehr hier wohnten, hätten sie so viel, daß bei ihnen zu stehlen sich lohnen würde. Es war hier sauber, und das war schon alles, was man über den Wohnkomfort sagen konnte. Frau Kohn wohnte mit ihrem fünfjährigen Sohn ganz oben unterm Dach, wo die Räume schon so niedrig waren, daß ein Kerl wie Detlev Kühl förmlich in sich zusammenkriechen mußte, um nicht an die Decke zu stoßen. Marlis Kohn mochte Ende Dreißig, Anfang Vierzig sein; eine ansehnliche Frau. Der Leutnant hatte das Glück, sie mittags anzutreffen. Das er-sparte ihm mühselige Erkundigungen nach ihrer Arbeitsstelle und einen eventuellen weiteren Weg dorthin. Ihre Freundlichkeit erlosch, als Detlev Kühl sein Anliegen vorbrachte. „Ja, ich habe dieses Inserat aufgegeben,“ sagte sie reserviert. Die Worte schienen auf ihren Lippen zu gefrieren. „Mit Erfolg?“ Frau Kohn schwieg. Ihre Feindseligkeit war unübersehbar. Endlich raffte sie sich zu einer Entgegnung auf. Es war keine
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Antwort. „Dieses Inserat war völlig legal,“ sagte sie. „Warum wollen Sie denn wissen, was es damit auf sich hatte? Es ist außerdem schon lange her.“ „Wenn alles in Ordnung ist, verstehe ich Ihre Zurückhaltung nicht.“ Sie lächelte böse. „Weil das mein Privatleben betrifft. Das ist doch unantastbar, nicht wahr?“ „Richtig,“ erwiderte Detlev Kühl. „Ich will es auch nicht antasten. Nur eine Routinebefragung, einschlägige Anzeigen betreffend. Es ist nämlich selten, daß Videokassetten in der Presse angeboten werden, wissen Sie.“ Es war tatsächlich nur eine Routineangelegenheit, bis er ihre Abwehr, ihre Widerspenstigkeit bemerkte. Ihre Steifheit lockerte sich um Nuancen. Wenigstens bot sie ihm jetzt einen Platz an und setzte sich ebenfalls, aber viel weiter ging das Entgegenkommen nicht. Sie wartete ab, was er nun tun würde, und so herrschte wieder Schweigen zwischen ihnen. „Ich interessiere mich auch weniger für Ihre Annonce als für die Zuschriften, die Sie bekommen haben.“ „Da kann ich Ihnen nicht helfen.“ „Ach, warum nicht?“ Sie zuckte die Achseln. „Sie sind nicht mehr da.“ Anscheinend kämpfte sie mit sich selber; sie verschränkte die Hände ineinander und drehte sie nervös. Schließlich über-wand sie sich. „Ich glaube Ihnen nicht,“ sagte sie. „Routinebefragungen und so, das ist Tinnef. Warum sollten Sie sich für die Zuschriften interessieren, wenn Ihnen das Inserat nicht – unlauter vorkommt. Na schön, ich habe es nicht für mich aufgegeben.“ „Sondern?“
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„Es ist ein halbes Jahr her,“ erwiderte sie spröde. „Im Sommer war es. Es ist sehr lange her.“ „Nicht so sehr lange.“ „Wie man ‘s nimmt. Ich bin ein Schaf, verstehen Sie, bin immer ein Schaf gewesen. Sie sind ihm auf die Schliche gekommen, nicht wahr?“ „Bitte, erzählen Sie.“ Sie lachte freudlos. „Ab und zu funkt es bei mir. Ich vergesse jedesmal, daß es in der Regel ein Kurzschluß ist. Sie können mir glauben, daß es keinen Spaß macht, immer an die Falschen zu geraten.“ Sie zögerte, dann fuhr sie tapfer fort: „Die besten sind noch die, die nur mal schnell mit mir ins Bett wollen. Dann gibt’s welche, die nicht nur das wollen, sondern sich auch für mein Portemonnaie interessieren. Bei diesem hier freilich hatte ich von vornherein ein schlechtes Gefühl.“ „Wer ist er?“ „Jürgen Wolf!“ schrie sie. „Tun Sie doch nicht so, als wüßten Sie das nicht. Sie sind doch seinetwegen hier. Für ihn habe ich das Inserat aufgegeben, und damit war die Sache auch schon erledigt. Ich Idiot, Idiot, Idiot…!“ Sie schlug mit der Faust gegen ihre Stirn. „Die Kassetten wurden angeblich im Studio nicht mehr gebraucht, weil sie die Geräte dort umgestellt hatten… Sollten in den Schrott, und das wäre schade drum gewesen. So hat er es mir erklärt. War von Anfang an fadenscheinig, die Geschichte. Naja, danach habe ich ihn nur noch einmal gesehen, als er die Zuschriften abgeholt hat. Längere Dienstreise, Filmen irgendwo im Balkan, oder was weiß ich. Alles Lüge. Er wollte nur eine Strohpuppe für seine krummen Dinger.“ „Jürgen Wolf,“ sagte Kühl langsam. „Arbeitet in einem Studio.“
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„Natürlich, Kameramann im Filmstudio für Feintextilien, was denn sonst?“ Verstört sah sie ihn an. „Wenn Sie nicht nur so tun, dann haben Sie womöglich tatsächlich nichts von ihm gewußt…“ „Was würde das ändern?“ „Tatsächlich, was würde das ändern? Er hat mich benutzt, das ist Fakt. Benutzt und fallenlassen und verleugnet. Begegnet bin ich ihm im Sommer auf dem Zeltplatz. Ich habe einen Dauerplatz, wissen Sie. Ist doch so herrlich romantisch, Camping am See. Ich bin eine Transuse und falle auf jede Art von Romantik immer wieder rein.“ Diesmal war es als Jürgen Wolf gewesen, der Naturbursche mit Bergzelt und Faltboot, Stoppelbart und Schlapphut, Kameramann beim Film. Sie hatte sich bedingungslos in ihn verliebt, ohne Illusionen anfangs, dann aber doch voller Hoffnung und am Ende des Urlaubs mit lauterer Gewißheit. Seine Beschreibung fiel indes ziemlich blaß aus, zu blaß nach drei glücklichen, intimen Ferienwochen. „Kurz und gut, ein Scharlatan.“ „Mit falschem Namen und falscher Adresse, ich kann es mir denken.“ Sie lächelte zornig. „Keinesfalls, noch viel gemeiner. Er stritt rundweg ab, mich überhaupt zu kennen. Was? Sommer, Zeltplatz, Liebe? Meine Dame, Sie müssen mich verwechseln. Als er die Zuschriften abholte, war jedenfalls von Verwechslungen nicht die Rede. Da brauchte er mich ja auch noch. Nein, nein, Jürgen Wolf, Schönhauser Allee hundertneunundsechzig, Kameramann in diesem Studio, das hat alles seine Richtigkeit. Bloß das andere nicht mehr.“ „Wann hat er die Briefe abgeholt?“ „Ah ja, das auch noch. Genaugenommen gar nicht bei mir.
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Er rief mich im Betrieb an, ich möchte sie doch in meinem Briefkasten hinterlegen. Sie haben das Ding da unten vielleicht gesehen, das kann jeder öffnen, und das wußte er natürlich. Auf einmal konnte er nicht mehr warten, nicht die paar Stunden, bis ich am nächsten Tag nach Hause gekommen wäre. Die Reise, das müßte ich doch verstehen. Und trotzdem habe ich ihn noch von weitem gesehen. Ich bin immer gegen dreiviertel fünf zu Hause, und er holte das Zeug um diese Zeit ab. Er rannte fast, um mir nicht zu begegnen. Damals fand ich das noch merkwürdig und habe deshalb bei ihm angerufen. Danach wußte ich freilich Bescheid. Es ist ihm nur um die Anzeige gegangen und um die Zuschriften.“ „Sie haben ihn zweifelsfrei erkannt?“ „Gewiß, sein Schlapphut war nicht zu verkennen. Ein richtiger Filmhut.“ „Danach haben Sie nie mehr Kontakt gesucht zu ihm?“ „Wozu? Ich habe Erfahrungen genug, um zu wissen, wann etwas zu Ende ist.“ „Wieviele Zuschriften haben Sie bekommen?“ „Zehn, ein Dutzend. So ungefähr.“ „Haben Sie die Absender gelesen oder sogar die Briefe geöffnet?“ „Ja und nein. Die Briefe habe ich nicht geöffnet, doch die Absender habe ich wohl gelesen. Gelesen und vergessen. Müller, Meier, Schulze. Aus Berlin, Leipzig, Markneukirchen und sonst woher. Es interessierte mich nicht sonderlich.“ „Aber vielleicht erinnern Sie sich noch daran, ob ein Manfred Raddatz, Berlin, Liebigstraße 7, unter den Adressanten war?“ Sie runzelte die Stirn. „Raddatz, Raddatz. Das ist mehr als Müller oder Meier. An einen Liebich erinnere ich mich aus
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einem Nest über Riesa. Mehltheuer, ja, Mehltheuer über Riesa. Dann gab es einen Namen, der irgendwie polnisch klang, so mit ‘ner Menge R, S, Z drin. Hm, einer schrieb anonym, ohne Absender auf dem Kuvert, meine ich. Kann sein, sogar aus Berlin.“ „Danke, Sie haben mir sehr geholfen.“ Das befriedigte sie nicht besonders. Dumm war sie auch nicht. „Hören Sie, seinen Namen kannten sie nicht und wußten nicht, wo er arbeitet, also hat er sicherlich keine Videos geklaut. Jedenfalls sind Sie nicht deshalb hinter ihm her. Handelt es sich tatsächlich nur um den Absender?“ „Es hat den Anschein,“ murmelte Kühl und verabschiedete sich. Das Filmstudio für Leichtindustrie wirkte wie eine recht obskure Angelegenheit. Es hatte sich in einem Dutzend ehemaliger Lädchen eingemietet, das waren die Büros, und in einem alten Kino, dem eigentlichen Studio. Detlev Kühl klappertedie Lädchen ab, wobei er sich von einem zum nächsten durchfragen mußte. Sie hatten dort alles, was die DEFA wahrscheinlich auch unterhielt, eine Unmenge Verwaltung bis hin zur Dramaturgie. Nirgendwo wußte man, wo sich Kameramann Wolf gerade aufhalten könnte. Er befand sich in seiner Wohnung in einem alten Viertel des Stadtbezirks Friedrichshain. Von der Schönhauser Allee konnte keine Rede sein – natürlich nicht. Wolf war nicht gerade die Freundlichkeit selbst. „Sie hat mal bei mir angerufen, ja. Ein dämlicher Witz vielleicht. Irgendeiner hat das Fräulein vernascht und sich dafür meinen Namen und meine Arbeitsstelle ausgeliehen. Was will sie? Alimente? Nicht von mir. Ich laß es auf eine gerichtliche Feststellung ankommen.“ Er lachte höl-
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zern. „Sie hat auch davon geredet, dass ich zur Seite gebrachte Videos angeboten haben soll. Quatsch. Unsere kann kein Mensch gebrauchen, wenn er nicht über ein professionelles Studio verfügt.“ „Was ist ein professionelles Studio?“ „Gehen Sie und schauen’s sich an. Adlershof oder Johannisthal. Nein, Sie können’s auch bei uns sehen, wenn auch eine Nummer kleiner. Aber für Privatleute trotzdem zehn Nummern zu groß. Ebenso ein Witz wie der mit meinem Namen.“ „Hätten Sie so einen Spaßvogel in petto?“ Detlev Kühl beschrieb den Mann mit Frau Kohns Worten. Wolf hielt den Kopf schräg wie ein mißtrauisches Huhn. Dann überlegte er eine Weile. „Nee, weiß Gott nicht. Obgleich…“ Er verzog das Gesicht. „Obgleich Ihre Darstellung nicht besonders originell ist. Da kommen zwölfe aufs Dutzend.“ „Die würden mir reichen.“ „Eine Frage: Ist da mehr dran als Alimente oder das dämliche Inserat?“ „Ja, der Mann, der sich für Sie ausgab, hat unter Ihrem Namen vermutlich ein Verbrechen vorbereitet und ausgeführt. Er muß Sie also kennen. Entweder beruflich über das Studio oder privat, wahrscheinlich über das gemeinsame Interesse an dem Fachgebiet.“ Jürgen Wolf begann zu schwitzen. Er neigte von seiner körperlichen Konstitution her dazu. „Auf die Schnelle fällt mir natürlich nichts ein, doch ich will mir Mühe geben. Natürlich komme ich oft mit dem einen oder anderen zusammen, mit dem man fachsimpelt.“ „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Ihnen etwas einfallen würde,“ sagte Detlev Kühl gemessen.
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Punkt 16 Uhr 30 stand Detlev Kühl an der Bushaltestelle neben der „Bierglocke“, und aus dem 30er fiel mehr als er stieg der schwitzende Horst Reblaus. „Eh, Detta,“ sagte er lahm und vermied es, Kühl anzusehen. Von Polizisten hatte er ein für allemal die Nase voll, selbst wenn sie Blau-Weiß-Mittelstürmer waren. Er vermerkte mißtrauisch, daß der Bus ohne Kühl abfuhr. „Hast du etwa uff mir jewartet?“ „Ja, Feuerstein.“ Reblaus seufzte. Es war eher ein gepreßtes Stöhnen. Er riß resigniert die Augen auf, seine Art, sich mimisch auszudrücken, und aus seinem Brustkorb blubberte undeutlich eine Obszönität. „Prost Feierabend,“ murrte er dann. „Also gehen wir da ‘rein, nicht wahr.“ Kühl schob den schwitzenden Brocken Mensch an seinen geliebten Stehtisch vorbei zu einem leeren Tisch. „Es wird länger dauern, mein Freund.“ „Wat willste nu wieder? Ick werde immer det selbe jefragt und rede immer detselbe.“ „Redeste mal was anderes, wie war’s?“ „Ick kann nur sajen, wat ick weeß.“ „Sagst du also, was du weißt.“ Reblaus’ Augen wurden noch größer. Dieter Rolff kam herbei und fragte, ob er störe. „Das ist so, daß ich mein Bier verkaufen muß, ehe neues kommt, weißt du.“ Den Gespritzten für Reblaus hatte er gleich mitgebracht. Detlev Kühl beobachtete vergnügt, wie sich Reblaus veränderte, als er seine Emulsion hintergekippt hatte. Der Bursche lebte förmlich auf. Er fuhr sich mit dem Joppenärmel übers Gesicht und lächelte sogar. Rolff brachte ein Bier und noch
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einen Gespritzten. Es war ein großes Bier. „Damit ich euch nicht über Gebühr störe,“ meinte er grinsend. „Wat is nu?“ fragte Reblaus. „Stell dir vor, ich käme jetzt schnurstracks von Hobusch.“ „Von wem?“ „Hobusch, Schreiner acht.“ „Der den Aushang da bei Bernert jemacht hat?“ „Ich sehe, wir kommen uns näher. Du hast ihn am vierten Oktober wegen der Videos aufgesucht, nicht wahr?“ „Ja,“ sagte Reblaus. „Siehste, ist doch schon was, wovon du keinem meiner Kollegen etwas erzählt hast. Ich vermute, du wolltest die Videos nicht für dich kaufen.“ „Nee, wat soll ick denn damit?“ „Eben, eben, was solltest du damit anfangen.“ „Ick hab den Aushang zufällig bei Bernert jesehn.“ „Und da dachtest du, das wäre was für Manne.“ „Jenau.“ „Dann hast du ihm davon erzählt.“ „Nee, eben nich. Ick hatte det verjessen.“ Er schaute Detlev Kühl an, aber der schwieg und schaute ihn an. „Na ja, ick dachte, Manne spritzt druff, nich.“ Kühl schwieg weiter, deshalb sagte Reblaus wütend: „Wozu hätt ick det denn eenem von euch sagen soll’n. Denn war er ja dot.“ Detlev Kühl schüttelte den Kopf. „Nee?“ „Hör mal zu, Freund, du trampelst einen Elefanten nieder, wenn er dir zufällig im Wege steht. Du krauchst durch’s Küchenfenster, weil du anders nicht an Manne ‘ran konntest. Wie eine Dampfwalze bist du. Wer dich nicht kennt, kann
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dich wirklich nicht begreifen. Selbst hartgesottene Kriminalisten geraten in schiere Verzweiflung bei dir.“ Ein Anflug von Stolz leuchtete in Reblaus’ Augen auf, erlosch jedoch sogleich wieder. „Ich muß zugeben, daß mir auch beinahe die Luft weggeblieben ist bei deiner Aktion. Aber sie war letzten Endes nützlich, wenngleich mir die Motive dafür nicht klar waren. Ich dachte schließlich, ein paar Gespritzte waren schuld.“ „War’n det ja ooch.“ „Möglich. Doch da ist noch etwas. Am vierten Oktober gehst du zu dem Hobusch wegen seines Aushangs. Ich möchte wetten, du hast den Zettel erst am selben Tag in dem Laden dort entdeckt.“ „Det stimmt. Ick bin gleich hoch zu Hobusch.“ „Und auch gleich zu Manne, nicht wahr?“ Reblaus nickte. „Ick bin gleich zu Manne und denn uff ‘n Platz. Denn bin ick hierher. Er war nirgends. Ick hab ‘n denn erst später gesehn, als er jespielt hat und det den Krach jab mit Wurzelpeter.“ „Aber du hast ihm nichts gesagt von dem Aushang.“ „Nee, da hatte ick det verjessen.“ „Glaube ich dir auch, denn das wäre dir später eingefallen. Du hattest gar keine Gelegenheit mehr, es Manne zu sagen.“ „Jenau,“ bestätigte er erleichtert. „Et war wie nich jewesen.“ Kühl heftete seine Grauaugen fest auf Reblaus’ Gesicht. „Dessen bin ich mir nun nicht mehr so sicher. Dir fehlen ein paar Meter Film vom Donnerstagabend, wie du selber erklärt hast. Du bist stur dabei gelieben. Aber zwischen Film fehlen und selber fehlen ist ein Unterschied. Bis gegen zwanzig Uhr warst du auf dem Platz, dann kamst du hierher zu Dieter. Doch als seine Geburtstagslage fällig war, fehlte von dir jede
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Spur, sowohl hier wie dort. Erst nach zweiundzwanzig Uhr bist du wieder aufgetaucht, und um zweiundzwanzig Uhr war das vermutlich passiert, was Mannes Tod vorausging.“ So fahl hatte Reblaus nur an jenem Sonnabend ausgesehen, als er den toten Manfred Raddatz entdeckte. „Icke habe ihn nich umjebracht. So dämlich kannste doch jarnich sein, Detta, um so wat zu denken.“ „Nein, so dämlich bin ich nicht. Du hast den Raub nicht organisiert und Georg angeheuert, zumal du tatsächlich erst am Donnerstag von den Videos erfahren hast.“ „Wat for’n Jeorch denn nu schon wieder? Ick kenn keen Jeorch.“ „Das will ich meinen. Ich überlege nur, ob dir im Laufe des Abends nicht etwa wieder eingefallen ist, daß du wegen der Videos mit Manfred sprechen wolltest.“ Reblaus schüttelte verbissen den Kopf. „Wo also warst du? Es gibt nicht viele Varianten für den bewußten Donnerstagabend. Zu Hause warst du nicht, auf dem Sportplatz nicht, hier nicht.“ „Vielleicht in ‘ne andre Kneipe.“ „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, Fred Feuerstein, und wenn irgend jemand sich selbst treu bleibt, bist du das. Ist es verkehrt, anzunehmen, du seist spazieren gegangen.“ „Hm,“ brummte Reblaus zögernd. „Wohin?“ „Det hätte mir doch keen Mensch jegloobt, Detta.“ „Was?“ „Det mit die Videos. Daß det mir zufällich einfällt, abends um halb zehne, jenau um die Zeit, in der eener Manne abmurkst.“ „Aber es ist dir eingefallen?“
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Er rang mit sich und nickte endlich. Dann seufzte er tief und qualvoll. „Und wat hätte et euch ooch nützen können. Ick hab keen Menschen jesehn.“ „Also der Reihe nach. Dir fiel ein, daß du Manfred die Geschichte von den Videos erzählen wolltest, und du setztest dich in Trab. Um welche Zeit war das?“ „In de fragliche Zeit, uff de Minute weeß ick det nich. Et war duster bei Manne. Denn bin ick also wieder zum Platz, ob er da is, aber die hatten schon dichte. Als ick denn zurück jing, war plötzlich Licht bei Manne. Da hab ick an’t Fenster jekloppt und jerufen.“ Er hob hilflos die Schultern. „Denn bin ick wütend wieder ab, weil er sich nich jemeldet hat. Ick wußte ja nich, detter nich mehr konnte.“ „Da wäre es vielleicht angebracht gewesen, durchs Küchenfenster bei ihm einzusteigen,“ meinte Detlev Kühl mit dumpfer Stimme. „Du hättest es deinen Vernehmern sagen sollen, es hätte ihnen eine Menge Arbeit erspart. Und sehr viel Zeit auch.“ „Was hätte et ihnen jenützt….“ begann Reblaus wieder, aber Kühl unterbrach ihn abrupt: „Das ist das eine, doch es fehlt noch einiges. Woher wußtest du, daß Manne scharf war auf solche Kassetten?“ „Det wußte doch jeder.“ „Präzis, Fred. Hat er mal geäußert, du solltest dich nach solchen Dingen umschauen?“ „Also, icke nich…“ „Noch präziser. Hat er so etwas geäußert, als du dabei warst?“ „Er hat et mal jesagt.“ „Wann, wo, und wer war dabei?“ „Wir kiekten so ‘nen Horror, den er uffjenommen hatte. War
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wat Japanischet. Hatter mitjeschnitten und meinte, detter jerne eeneTheke anlejen würde mit sone Filme und eigene, vielleicht ooch mit die Spiele da, wie se der Olle angeboten hat.“ „Wir?“ „Na Manne und icke – und Knut war dabei, Kühnel, der jab eene Flasche uff seinen Jeburtstach aus an den Tag, denn noch Nelli und Achim, gloobe ick. Ja, Achim.“ „Achim, Nelli, Kühnel und Knut“, sagte Detlev Kühl erbittert, „mit dir fast ein halbes Dutzend Leute, doch nicht eine einzige Aussage darüber, nur allgemeines Geseire. Mensch, es war unser Freund, den sie da umgebracht haben, und wenigstens in einem solchen Falle solltest du dich zu einer vertrauensvollen Mithilfe bequemen. Du und alle anderen auch. Und ihr hättet es getan, wenn ihr nur einen Bruchteil der Lauterkeit meiner Kollegen besäßet. Aber was sind wir für euch? Die dußligen Greifer mit ihrem gehässigen Jagdeifer.“ Dieser Ausbruch schien Reblaus eher aufzurichten. Er kratzte sich das Kinn. „Det is nich wahr, Detta. Also, wat dir betrifft, is det janz und jar nich wahr. Und wat de anderen sind, Mensch, wat haben die mir sich vorjenommen. Die haben mir doch nischt jeglaubt, nich mal, det ick Manne det Jeld habe bringen wollen. Die janze Bude haben se uns um und um jedreht, ob ick villeicht det Seil habe, mit det Manne jefesselt jewesen war. Sie haben ooch wissen jewollt, ob det nich etwa Mannes Jeld jewesen ist.“ „Sie haben dir schon geglaubt, aber sie mußten sich vergewissern, weil Glaube allein bei uns nichts nützt. Wir haben nicht gewußt, daß Manne hinter Videos her war. Solche Dinge müssen wir ermitteln, und wir sind um so unbequemer und lästiger, je mehr wir jedes Wort aus euch herausquetschen müssen. Warum bist du nicht wenigstens zu mir gekommen
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mit der Hobusch-Geschichte?“ „Wie bist ‘n du druff jekommen?“ fragte er zurück. „Es hat Tage gedauert, um erst einmal herauszufinden, dass Hobusch inseriert hat. Eine Anzeige unter vielen, doch sie fällt mir natürlich auf, wenn Hobusch Schreiner acht wohnt und ein gewisser Feuerstein Nummer zehn. Er hat in der WOCHENPOST inseriert und am Bahnhof Frankfurter Allee eine Anzeige in den Schaukästen einsetzen lassen.“ „Und bei Bernerts Tabakladen hatter ooch ‘n Zettel ausje-hängt,“ bestätigte Reblaus. „Den hab ick jesehen und bin ruff zu den Ollen. Ick hab jesacht, det Manne een Anjebot bei Ber-nert abjeben wird, wenn er intressiert is. Det war allet.“ „Nicht ganz,“ sagte Detlev Kühl wütend. „Ich nehme dir ab, daß du anfangs nicht mehr wußtest, was du zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Uhr getrieben hast. Du warst also ehrlich bis zur zweiten, dritten, meinetwegen auch vierten Verneh-mung, danach hast du zu lügen begonnen.“ „Ick dachte, eh ick mir janz rinreite…“ „Du hast gedacht, jawohl, Feuerstein. Du hast gedacht. Leider.“ Kühl erhob sich. „Morgen vormittag tanzt du im Präsidium an und berichtigst deine Aussage. Ist das klar?“ Reblaus nickte. „Is klar, Detta. Bin ick ja jewöhnt. Entweder kommen die zu mir, oder ick jeh zu sie.“ Er wartete mißtrauisch, bis Kühl gegangen war, dann flüchtete er sich zu seinem geliebten Stehtisch. „Bißchen blaß um die Nase, mein Lieber,“ sagte Rolff. „Sah richtig nach Standpauke aus.“ „Det man blöd is, merkt man immer erst später,“ gestand Reblaus selbstkritisch. „Ick bin bei dei’m Jeburtstach unter-
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wegs jewesen zu Manne, und nu muß ick wieder bei ‘t Präsidium antreten.“ Der Gastwirt hielt inne bei seiner Lieblingsbeschäftigung, dem sorgfältigen Putzen seiner kostbaren Tulpen. Er besaß nur noch ein Dutzend von ihnen und hütete sie streng. Jetzt stellte er das Glas, das er gerade poliert hatte, so hart ab, daß es klirrte. „Feuerstein, du bist eine Kraft.“ Wie sehr diese Gardinenpredigt Horst Reblaus beeindruckt hatte, war daran zu merken, daß er einen ihm vom Wirt mitleidig kredenzten vierstöckigen Gespritzten nicht anrührte. Der wurde lediglich finster betrachtet. Diese Spezialität eines handfesten Kerls, eines wackeren Facharbeiters für Schwertransport, sonst Gegenstand gutmütigen Spotts, weil sie eh Sieger blieb über den Mann mit der Kraft eines Pferdes, hatte dem seine ganze Heimtücke offenbart. „Ick nehm lieber ‘ne Selters,“ grollte es tief aus dem Brustkorb des Opfers. Und gewissermaßen als Kompromiß forderte er einen Braunen dazu. Das war natürlich eine Sensation in der „Bierglocke“, wo jeder aus dem Verein mal hereinschaute. Fred Feuerstein hatte den „harten Drogen“ abgeschworen! Damit nicht genug, er widerstand auch der Lockung, in der Skatrunde mitzumischen, und starrte nur verloren auf die blankgescheuerte Stehtischplatte. Die Erklärung des Wunders erfolgte in kleinen Dosen durch Dieter Rolff. Detta Kühl hatte Feuerstein gekippt. Knut Perlwitz schließlich gelang es, Reblaus aus der Lethargie zu wecken. „Dir erzählt er seins ooch noch – und Nelli und Kühnel,“ erfuhr er. Perlwitz war groß und schlank und hatte fast weiße Haare,
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die einen lebhaften Kontrast bildeten zu seinem gebräunten Teint und der Brille mit getönten Gläsern. Er mochte schwarze Hemden, sandfarbene Hosen und das Image eines souveränen Mannes. Solcher weiß Bescheid über das Leben. „Auf Detta kann man sich verlassen,“ erklärte er. „Der läßt keinen im Regen stehen.“ Es fehlte niemand, auf den es ankam, nur Kühnel. Als Lehrer konnte er sich die „Bierglocke“ nicht oft leisten, und als Fußballspieler leistete er sich dubiose Stammtische sowieso nicht. Drittens wohnte er nicht gerade nebenan, er kam von jenseits der Frankfurter Allee. Die andern jedoch, denen Feuerstein Ärger mit Detlev Kühl angedroht hatte, also auch Dieter Nelson, waren da. „Überschätze Detta nicht,“ sagte Nelson langsam. „Maigret ist nur Treppenterrier bei denen, mehr nicht. Ich kann mir allerdings vorstellen, daß sie empfindlich reagieren. Sie sind jetzt, nach zwei Monaten, noch keinen Schritt weiter. Du hast ihnen viel Zeit gekostet. Falls du nicht wieder Blödsinn geredet hast.“ „Wieso Blödsinn?“ begehrte Reblaus auf. „Detta is mir doch von alleene druff gekommen.“ „Eben. Von alleine. Der hat dir Stück für Stück geflüstert, was er sich so vorstellt. Du warst besoffen, mein Lieber. Ob du nun wegen dem dämlichen Zettel unterwegs warst oder nicht, weißt du nicht mehr. Es kommt dir nur logisch vor, weil Detta es logisch findet. Im Suff verwechselst du alles.“ „Ick bin aber bei Manne jewesen und habe mir nur nich jetraut, det zuzujeben. Hinter seine Fenster war Licht, und deshalb habe ick jekloppt.“ „Wo?“ fragte Nelson fast drohend. „Waren das wirklich Mannes Fenster? War es Mannes Straße? Sie werden dir den
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Mord kaum in die Schuhe schieben wollen, aber du kommst garantiert noch mehr in die Bredouille. In zwei Monaten ist so ein Fall kalt, will ich dir sagen. Dann greifen sie nach jedem Strohhalm. Du bist ihr Strohhalm.“ Reblaus schwieg verstört, und sein Gesicht lief dunkelrot an. „Was soll das überhaupt heißen, wir, Knut und ich und Horst Kühnelv kriegen auch noch unseres erzählt? Wir sind ebenso vernommen worden wie jeder andere hier. Was soll’s also?“ „Detta hat mir nach eenen Jeorch jefragt,“ sagte Reblaus zusammenhanglos. „Er is hinter Jeorch her, aber ick kenne keenen, der so heißt.“ „Du kennst einen Georg nach dem andern. Schorch Zaubitzer zum Beispiel, unseren Altfan. Aber ich glaube nicht, daß er seine Krücke noch so hoch kriegt, um einen erwachsenen Mann zu erschlagen. Wie kommt Detlev auf einen Georg?“ „Woher soll ick det wissen? Uff den Ollen mit seinem Aushang isser ja ooch jekommen.“ „Kunststück, in ‘ner Tabakbudike gleich nebenan.“ „Nee, nee, der Olle hat ooch inne Zeitung inseriert. Erst dadurch is er ja uff den Aushang jekommen.“ „Ach,“ Nelson kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. „Ja, Detta hat mehr drauf als Brot essen,“ sagte Knut Perlwitz. „Natürlich fragt er, warum wir wußten, daß Manne auf die Kassetten scharf war, und keinen Ton verlauten ließ darüber.“ „Weil wir alle der Meinung waren, daß etliches bei Manne nicht ganz rund lief, oder?“
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„Könnte sein,“ antwortete Perlwitz. „Seht mal an, so einfach ist das. So einfach kann man das denen auch sagen. So einfach sind Wahrheiten.“ Sie schwiegen beeindruckt. Nelli hatte recht. Jeder von ihnen hatte gedacht, daß bei Manfred Raddatz einiges nicht legal vonstatten gegangen war. Knut Perlwitz sagte: „Wir wollten ihn nicht reinreiten, obwohl es doch schon ganz egal war. Einer, meine ich, hat das ausgenutzt.“ Er seufzte und schaute Reblaus an. Dann Nelson und dann alle anderen. „Der Aushang in diesem Laden hat tatsächlich keine Bedeutung. Es gab keine Reaktion auf Hobuschs Offerte außer der in Aussicht gestellten durch Reblaus. Der konnte Raddatz nicht mehr Bescheid sagen,“ berichtete Detlev Kühl. Oberleutnant Zocher verzog schmerzlich das Gesicht, als die-ser Name fiel. Hauptmann Barabasch hingegen blieb unbeeindruckt. „Frau Kohn ist aber eine wichtige Zeugin, nicht wahr?“ „Scheint so. Dieser Jürgen Wolf weist auf den ersten Blick alle Voraussetzungen auf, die ein linkes Ding mit Leerkassetten ermöglichen. Er ist Kameramann in einem Filmstudio. Dort werden sogenannte Videoclips für den Fernsehfunk produziert, und die Art – und Weise, wie die Sache laufen sollte, dünkt plausibel. Man sucht Kontakt auf einem Campingplatz und findet so eine Deckadresse – ein mehr oder weniger attraktives Mädchen mit heimlichen Sehnsüchten. Der Fehler besteht darin, daß die Studiokassetten für den privaten Gebrauch ungeeignet sind; es wäre etwa so, als wollte man Studiobänder für sein privates Tonbandgerät verwenden. Außerdem bestreitet Herr Wolf entschieden, Frau Kohn über-
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haupt zu kennen, obwohl ihm durch eine Gegenüberstellung gegebenenfalls das Gegenteil bewiesen werden könnte. Und ich glaube ihm. So allgemein und zurückhaltend Frau Kohns Beschreibung von dem Mann, den sie als Jürgen Wolf kennt, auch ist – auf ihn trifft sie keinesfalls zu. Er ist klein, dick, dunkelhaarig. Seinen Urlaub hat er erst im Herbst angetreten, weil er den Sommer über Aufnahmen im Ausland machte. Herr Wolf ist der Meinung, jemand hätte sich mit ihm einen Spaß erlaubt und seinen Namen verwendet.“ „Es ist aber kein Spaß,“ bemerkte Barabasch. „Jürgen Wolf ist ein fiktiver Name wie Hägin, doch zum ersten Mal steckt hinter dem fiktiven Namen ein Mann von Fleisch und Blut. Frau Kohn würde ihn wiedererkennen.“ „Vorausgesetzt, wir haben ihn,“ sagte Zocher sarkastisch. „Ein Fünftel aller Bezirke sind wir schon durch, Magdeburg, Berlin und Neubrandenburg. Die DDR ist gewiß ein kleines Land, doch größer als Andorra allemal.“ „Allemal,“ bestätigte Kühl langsam. Er strich sich übers Gesicht, als wollte er Spinnweben fortwischen. „Aber es bleibt weniger als ein Zehntel Andorras übrig. Ein paar Straßenzüge in Berlin.“ Wieder plagte er sich mit den unsichtbaren Gespinsten ab, ohne Erfolg. Zocher beobachtete es interessiert. „Unser Mann hat sich viel Mühe gegeben, die Brocken weit zu streuen. Er arbeitete genau. Zu genau. Dadurch entstehen solche Fehler ja erst.“ „Das hatten wir schon des öfteren,“ sagte Zocher. „Ich wiederhole es nur für mich. Um meinen Gedanken Konturen zu geben. Wie war das doch mit Horst Reblaus? Er war am vierten Oktober voll wie eine Haubitze und konnte sich hinterher an nichts mehr erinnern. Irgendwie war er trotzdem unruhig, unterbewußt alarmiert, und er stieg schließlich drei
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Tage später bei Raddatz ein. Völlig logisch. Er folgte seiner Intuition, folgt ihnen stets. Am vierten Oktober war ihm in seinem Alkoholrausch eingefallen, daß er noch etwas zu erledigen hatte, und er trabte los. Aber bei seinem Freund war es dunkel. Das heißt, der Raubüberfall war da bereits gelaufen; Georg, Kotsch und Grusche befanden sich schon auf dem Wege nach Oranienburg. Hätte Reblaus doch eine Viertelstunde früher die Idee gehabt – die drei hätten sich gratulieren können. Er war der Unsicherheitsfaktor bei dieser Sache, ein unbekannter Unsicherheitsfaktor. Den gibt es immer. Er heißt Zufall oder Pech oder sonstwie. Raddatz saß, wie wir wissen, gefesselt und geknebelt in seiner ausgeraubten Wohnung. Im Dunkeln. Reblaus ging, als er kein Licht hinter den Fenstern sah, noch einmal zum Sportplatz, weil er den Freund dort vermutete. Später, als er wieder bei Raddatz vorbeikam, sah er plötzlich Licht. Leicht vorstellbar, daß er ein ziemliches Spektakel am Fenster veranstaltet hat.“ „Und drinnen hockte Raddatz’ Mörder,“ warf Barabasch ein. „Ist das eine der Ungereimtheiten?“ „In der Tat.“ Zocher nickte. „Der Mord ist die Ungereimtheit. Von Anfang an paßte er nicht in die bestens eingefädelte Aktion, weil alle Beteiligten dadurch in die Klemme gerieten. Kotsch und Grusche als chronische Nichtleser der Presse ahnten nichts Böses. Doch wie wird Georg reagieren? Er ist der einzige, der den Mörder kennt. Ich meine, die Tat war eine Kurzschlußhandlung. Der Mörder bereitete das Terrain vor und setzte sich rechtzeitig ab. Er selbst wollte mit dem Raub keinesfalls konfrontiert werden.“ „Weshalb kehrte er dann an den Tatort zurück?“ fragte Barabasch.
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„Das mag verabredet gewesen sein. Möglicherweise wollte er eventuelle Spuren tilgen oder sich weiden an dem Erfolg seines Unternehmens. Plötzlich taucht ein Reblaus vor dem Fenster auf. Der Täter kennt diesen Mann und weiß, wessen er fähig ist. Er gerät in Panik.“ „Es ist heiß hier,“ murmelte Detlev Kühl. „Sie haben gesagt, er wollte sich weiden an der Tat?“ „Möglicherweise. Das todsichere Verbrechen. Er wollte beweisen, daß es das gibt.“ „Das todsichere Verbrechen. Der Tod mußte eine Position im Kalkül gewesen sein, schon wegen der Anzeige in der NACHRICHTENTECHNIK. Es hätte, lebte Raddatz, keine zwei Tage gedauert, und wir wären über jene Frau Kohn auf den Urheber gestoßen. Wir hätten Querverbindungen zwischen ihm und dem Niegripper Arbeiterhotel hergestellt. Der Ablauf des Abends hätte ihn entlarvt, wie der auch immer geweseni st.“ „Hätten wir es ihm auch beweisen können?“ wandte Zocherein. „Hätten wir beweisen können, daß er als Hägin das Wochenende auf der Roßtrappe arrangiert hat? Hägin ist nie persönlich irgendwo aufgetreten. Was wäre ihm denn in der Sache mit Frau Kohn anzulasten? Daß er ihr gegenüber einen falschen Namen gebrauchte? Er wollte sich nur gegen etwaige unangenehme Folgen absichern. Und die Anzeige? Er hatte vielleicht tatsächlich Kassetten anzubieten. Wir hätten eine lückenlose Indizienkette aufbauen können, ohne sein Geständnis oder die Zeugenaussage des unbekannten Georg hätten wir ihn nicht überführen können. Er wollte sich an uns messen. Das todsichere Verbrechen ist nicht das unaufklärbare, es ist das nichtbeweisbare.“ Es war wirklich heiß in dem Büro. Detlev Kühl lockerte seine
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Krawatte, ohne die mindeste Linderung zu erreichen. „Natürlich,“ flüsterte er rauh, „er wollte sich an uns messen. Das heißt, er wollte sich an mir messen. Ich wäre einbezogen worden in den Fall. So oder so wäre ich sein Rivale geworden und hätte mit meinen Indizien vor ihm gestanden. Mein Gott, er ist verrückt. Er ist immer maßlos gewesen.“ Jetzt zeigte auch der Hauptmann Neugierde, aber er stellte keine Frage. „Manfred Raddatz war nur sein Medium und allein deshalb sein Opfer, weil sich bei ihm eine spektakuläre Beute anbot. Gemeint hat er aber mich, und das ist die wirkliche Ungereimtheit. Er wollte weder materielle Vorteile, noch haßte er irgend jemanden. Ich glaube, er haßt nicht einmal mich; es war nur ein Spiel für ihn wie Dame oder Mühle oder Schach. Er hat es mir immer wieder unverblümt zu verstehen gegeben: es existieren keine ethischen Kriterien für ihn.“ „Klartext,“ forderte der Hauptmann. Kühl nickte. „Natürlich, Klartext. Wir sind miteinander aufgewachsen. Wohnten in demselben Haus, besuchten dieselbe Schule, gingen in dieselbe Klasse. Sein Ehrgeiz war stets, der Erste zu sein, überlegen zu sein. Unangreifbar. Er bog sich unter keinem Wind und erlitt deshalb Niederlagen. Sie haben mich gefragt, wie ich ausgerechnet in diese Sportgemeinschaft, in diese Gesellschaft geriet. Er hat mich dort eingeführt, so einfach ist das. Vielleicht wollte er unsere Auseinandersetzung anfangs auf dem Sportplatz austragen, denn er war der Star der Mannschaft – heute ist er mein Ersatzmann. Also verlegte er sich auf unser ureigenstes Metier. Hätte ich geahnt, dass er…. ich hätte…“ „Das hätte gar nichts genützt,“ unterbrach ihn der Hauptmann.
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„Er hat sich immer selbst eine Falle gestellt. Ich hätte es ahnen müssen. Ich habe es sogar geahnt und schreckte davor zurück, daß er ein Mörder sein könnte.“ „Das sind Emotionen und – verzeihen Sie – Vermutungen. Sie meinen Nelson, nehme ich an.“ Detlev Kühl zögerte, zuzustimmen, doch er dachte an seinen Traum, in dem seine unterbewußte Angst Ausdruck gefunden hatte, an Nellis zynische Kommentare und seine unverhohlene Kälte. „Er hatte im Bezirk Magdeburg zu tun, beim Stadttheater Staßfurt,“ sagte er vage. „Ich bin ihm gegenüber mit Scheuklappen aufgetreten. Ich wollte ihn nicht verdächtigen, aber es paßt alles zueinander. Er verfügt über die Möglichkeiten und die erforderliche Intelligenz. Das einzige, was ihm fehlte, war ein Motiv.“ „Das fehlt ihm freilich noch immer, scheint mir,“ sagte Zocher skeptisch. Der Hauptmann war anderer Meinung: „Übersteigertes Geltungsbedürfnis war schon oft das Motiv. Lassen wir offen, ob es in diesem Fall für einen Mord ausreichte. Totschlag, Tötung im Affekt, wir werden es noch herausbringen. Doch mir scheint, daß er sich jetzt zum Mord gezwungen sieht. Sein einziger Belastungszeuge befindet sich in größter Lebensgefahr.“ Nelli zeigte keinerlei Überraschung, als er Detlev Kühl vor der Tür stehen sah. Weder Angst noch Unsicherheit oder Spannung. „Detta, komm rein.“ Kühl empfand diesen Satz wie einen Hieb, doch er gehorchte beinahe automatisch der Aufforderung, trat in die kleine Diele und folgte Nelson ins Zimmer. Die Wohnung war nüchtern bis in den intimsten Winkel, kalt, zweckmäßig, rationell. Ob-
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wohl sie ihm seit langem vertraut war, hatte er nie über die strenge Askese in dieser Umgebung nachgedacht. Kühl spürte sich steigernde Hilflosigkeit, besonders als er in Nellis Gesicht blickte. Dieselbe Vertrautheit, dieselbe Kälte. „Du bist allein?“ Nelli wies mit der üblichen knappen Geste auf seine Sitzgelegenheiten und wartete darauf, daß sein Gast sich niederlassen würde. Detlev Kühl setzte sich nicht, und Nelson kommentierte es – als hätte er es nicht anders erwartet- mit einem leichten Kopfnicken. „Du bist allein,“ wiederholte er, diesmal ohne jede Frage im Tonfall. „Das ist ja wohl kein privater Besuch und deshalb – nicht genau nach Dienstvorschrift.“ Kühl reagierte nicht darauf. Er hatte sich die Situation vorzustellen versucht, und in seinen Vorstellungen glich sie jenem Alptraum damals. Da hatte er schon einmal diese Verzweiflung empfunden und sich nicht anders zu helfen gewußt, als sie hinauszuschreien, gegen alle Vernunft. Jetzt würde er nicht schreien, konnte es nicht, durfte es nicht. So stand er also da, wehrlos, hilflos. Nelli schien ihn zu durchschauen wie ein gnadenloses, neutrales Röntgenauge. „Das hättest du dir ersparen sollen.“ „Du hättest mir das ersparen sollen,“ antwortete Detlev Kühl mühsam. Nelli nickte mechanisch. „Da ist was dran,“ sagte er. „Der Abend ist klüger als der Morgen.“ Diese banale Weisheit, die Nelli von sich gab, entspannte Kühl plötzlich. Er setzte sich und starrte seinen ehemaligen Freund an wie ein fremdes, exotisches Tier, vor dem man schaudert, das man aber nicht haßt.
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„Du bist allein, also nicht hundertprozentig legal hier, nehme ich an,“ fuhr Nelson fort. Er setzte sich ebenfalls und sah Kühl direkt in die Augen. Den Umständen nach war das völlig schamlos. „Ich rechne dir hoch an, daß du mir eine Chance gibst.“ „Du bekommst keine Chance von mir,“ preßte Kühl heraus. „Es ist – eine Prüfung für mich.“ „Egal, wie du das nennst, es läuft aufs gleiche hinaus. Du bist allein, also kannst du unser Gespräch nicht verwenden.“ „Das Gericht wird mich mit Sicherheit als Zeugen laden.“ Nelson runzelte die Stirn und dachte nach. Dann nickte er langsam. „Mit Sicherheit, ja. Es ändert nichts. Du gibst mir eine Chance, und ich will sie nutzen.“ Er leckte seine trockenen Lippen, das einzige Zeugnis dafür, daß er auch Gefühle besaß. „Du hältst mich für einen Mörder, nicht wahr?“ „Du bist ein Mörder.“ Nelson wischte den Einwand mit einer unwilligen Gebärde weg. „Ich habe getötet, das ist wahr. Alles andere hat das Gericht zu entscheiden. Es ist spät, aber du bist trotzdem gekommen.“ „Ich habe auf dich gewartet.“ Vorsichtig fügte Kühl hinzu: „Wir haben auf dich gewartet.“ „Kann ich mir denken. Deine Genossen warten, bis du hier mit deiner – Prüfung fertig bist. Wo warten sie? Unten auf der Straße? Im Treppenhaus?“ Er wehrte einen Einwand ab. „Du brauchst es mir nicht zu sagen. Mir genügen die paar Minuten unter uns. Wäre ich ein Mörder, hätte ich heute gemordet. Ich tat es nicht, obwohl ich euch durch die Lappen gegangen bin. Ich hatte Zeit und Gelegenheit, den einzigen Mitwisser aus der Welt zu schaffen.“
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„Georg.“ „Georg, jawohl. Natürlich habe ich mit dem Gedanken gespielt. Ihr habt eine Idee zu langsam geschaltet, und das hätte mich vielleicht gerettet.“ „Nichts hätte dich gerettet, schon gar nicht ein weiterer Mord.“ „Okay, du hast es schon mal gesagt. Bei Mord hört bei euch der Spaß auf, da werden die Ermittlungen nicht eingestellt. Niemals. Bei Mord wird die erste Mannschaft in Trab gesetzt, die Elite. Und hättest du es mir nicht gesagt, es ist einleuchtend genug, um selbst darauf zu kommen. Schon deshalb hätte ich nicht gemordet.“ „Wie vorausschauend von dir. Wie klug. Wie sachlich. Das Verbrechen als strategisches Manöver. Du hast nicht mehr Moralempfinden als ein Regenwurm, Nelli.“ „Die Natur hat keine Moral, Detta. Die Natur kennt auch kein Erbarmen. Die Natur kennt nur den Kampf.“ „Ums Überleben, Dieter, ums Überleben. Das ist die Moral. Der Kampf ums Überleben spielt sich bei den Menschen anders ab als bei Tieren. Es gibt keine natürliche Rechtfertigung für dich.“ „Ich brauche auch keine, Detta.“ „Was brauchst du? Die Befriedigung krankhafter Triebe. Bist du krank?“ Von einer Sekunde zur anderen verlor Dieter Nelson all seine Fassung – als hätte jemand ihm seine Maske abgenommen. Seine Züge wurden weich, aber auch schlaff. Kühl betrachtete ihn mit Widerwillen. „Ich akzeptiere eine Krankheit nicht, Dieter, doch du hast recht. Meine Meinung spielt keine Rolle, das Urteil wird von einem Gericht gesprochen. Meine Aufgabe ist es, Tatsachen
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zu ermitteln und zu beweisen.“ Er berichtigte sich: „Das ist unsere Aufgabe.“ Er musterte Nelson ohne Mitleid. „Ich habe lange Zeit nicht begriffen, daß mir ein besonderer Part zugedacht war. Nicht wir haben zu spät geschaltet, sondern ich habe die Signale falsch gedeutet. Falsch gedeutet, weil ich die Wahrheit für nicht möglich hielt. Anfangs gingen wir einem Raubmord nach, vielmehr einem raffiniert eingefädelten Raub, bei dem das Opfer ums Leben kam. Doch uns wurde bald klar, daß es vielleicht einen kausalen, aber keinen linearen Zusammenhang von Raub und Mord gab. Der Mord erfolgte später. Die Räuber konnten ihn gar nicht begangen haben. Nenne es Zufall oder Glück, daß wir zwei von den Tätern sehr bald am Wickel hatten. Es war weder das eine noch das andere. Ein so weitläufig ausbaldowertes Verbrechen hat um so mehr Schwach stellen, je mehr Sicherungen eingebaut sind. Logisch, daß bei vier Tätern die Risikoquelle viermal so groß ist wie bei einem Täter. Von den beiden, Grusche und Kotsch, erfuhren wir, daß Manfred Raddatz keinen von den drei Räubern kannte. Das Verbrechen war offenbar angestiftet worden von einem vierten. Die drei hatten keinen Grund, Manfred Raddatz zu töten; also mußte den Grund der vierte besitzen, der Drahtzieher. Raddatz mußte sterben, weil er diesen Drahtzieher kannte oder ihn durch irgendeinen Umstand hätte überführen können. Es war übrigens nicht das einzige Indiz. Fast jedes derartige Verbrechen hat eine Täter-Opfer-Beziehung. Jeder, der von den Werten in Raddatz’ Wohnung wußte, kam als potentieller Drahtzieher und – also Mörder in Frage. Das Motiv: Bereicherung an fremdem Eigentum. Allerdings machte uns der Umstand stutzig, daß der vierte Täter sich offensichtlich gar-
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nicht an diesem fremden Eigentum bereichert hat. Das bedeutete, daß der Raubüberfall auch nur eine Sicherheitsmaßnahme darstellte wie die Planung in Niegripp, in Magdeburg, in Stendal und auf dem Zeltplatz. Der Raub war ein Täuschungsmanöver, und es ergab sich ein neues Motiv: Haß! Tödlicher Haß!“ „Ich habe Manfred Raddatz nicht gehaßt,“ sagte Nelson matt. „Er war auch nur ein Mittel zum Zweck. Ein Stein im Spiel, den man schlägt, um den Gegner herauszufordern. Das gereicht dir am wenigsten zur Ehre, Nelli. Sofern man deine Auffassung von Ehrgeiz mit Ehre auch nur im entferntesten verbinden kann. Du gehst im wörtlichen Sinne über Leichen, um deine Ziele zu erreichen.“ Erneut schwappte die Fassungslosigkeit über ihn zusammen, daß ihm schwindelte. Er schloß die Augen und preßte die Lippen aufeinander. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder gesammelt hatte. „Du hast mich gehaßt. Jahrzehntelang hast du deinen Haß gepflegt und genährt. Du trugst schwer an deiner Niederlage damals, das glaube ich dir. Ich verstehe auch, dass du meintest, man hätte uns ungleich, also dich ungerecht behandelt. Ich verstehe sogar, daß du mich dort treffen wolltest, wo ich am verwundbarsten bin. Aber warum mußte Manfred Raddatz sterben?“ Er schwieg und fühlte sich so elend wie nie: Nelson verkrampfte die Hände zu Fäusten, öffnete sie mit Mühe wieder und legte sie dann flach auf die Tischplatte vor sich. „Manne,“ sagte er heiser, „Manne… Hast du ihn denn je richtig gekannt? Du hast recht. Du bist das Ziel gewesen und Manne das Mittel. Deine bornierte Rechtschaffenheit hat mich fast um den Verstand gebracht. Vor dir liegen sie auf
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den Knien, Detta, denn du bist ja einer aus den Serien, die immer recht haben, und wenn du einen armen Hund am Kragen hast, der das kostbare Eigentum von eitlen Idioten angerührt hat, ist das das Größte, was man für die Gesellschaft tun kann. Immer edel und tapfer und den gradesten Weg nach oben. Über Leichen, Detta, wer noch?“ Er schluckte angestrengt. „Ich wollte Manne nicht töten. Verachtet habe ich ihn, jawohl. Wie er über seinen Schätzen gluckte, seinen Errungenschaften, und dabei immer mehr verluderte. Das riesengroße Ich, das er vor sich hertrug. ICH HABE! Diese Lächerlichkeit, wenn er mit der Göre umherzog wie ein alternder Star. Sein törichter Triumph, wenn er mit der Videokamera filmte – denk bloß: ein Kreisklassenfußballspiel.“ Er machte eine Pause. „Es hat dich nicht interessiert, ich glaube, du hast das überhaupt nicht wahrgenommen. Klar, du hast den Firlefanz angeschaut wie alle, doch interessiert hat er dich nicht die Bohne. Da sind wir nämlich auch gleich, ebenbürtig. Es gibt dir nichts. Was uns unterscheidet, ist: Du bist der Beschützer solcher Narren. Schutzengel von denen, die ihr Auto blankwichsen mit dem Eifer, mit dem vernünftige Menschen die Relativitätstheorie entwickeln oder weiter- entwickeln. Ich wollte ihm einen Denkzettel verpassen.“ „Das ist dir auch voll und ganz gelungen.“ „Ich begreife es, wenn dein Sarkasmus jetzt danebengeht. Nein, sein Tod hat mir nichts gegeben. Ich habe ihn nicht töten wollen. Ich habe gesagt, Denkzettel,- und meinte es auch so. Er sollte es spüren, wissen, was seine gesammelten Schätze wirklich wert sind. Nichts.“ „Und ich sollte spüren, wie es ist, wenn ein Genie eine Sache anpackt.“
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„So könnte man es nennen. Wen kriegt ihr denn? Die Mittelmäßigen. Die Miesen. Ich habe Georg heute getroffen, Detta, habe überlegt, ob ich ihn umbringe. Er wohnt irgendwo zwischen Lauben; es war dunkel, als er aus dem Bus stieg, und er ging durch einen einsamen Park. Niemand hat mich gesehen, auf mich geachtet, es gibt niemanden, der irgendeine Verbindung zwischen uns bezeugen könnte. Hingegen ist Georg der einzige, der mich identifizieren kann. Wäre ich ein Mörder, Detta, ich hätte ihn mir vom Halse geschafft.“ „Ich verstehe, du begreifst dich als edler Räuber von vornehmer Gesinnung, und nun als Märtyrer.“ „Nein, ich weiß einfach, wann ich verloren habe. Und verloren habe ich schon an jenem Abend in Mannes Wohnung, als ich nicht die Nerven behielt. In dem Augenblick war mein perfekter Plan perdu.“ Nelson straffte sich, es war, als hätte er sich seine Maske wieder übergestreift. „Eigentlich ein zufälliger Plan, geboren in einer schmutzigen Bahnhofskneipe eines Vorortes in Gesellschaft eines zu kurz gekommenen Gernegroß – Georg. Solche Typen triffst du oft. Sie haben einen Schluck zuviel getrunken, du bist ihnen fremd, und das gibt ihnen die Sicherheit, dir ihre verschwommenen Vorhaben auszuplappern. Verstiegen und verschwommen. Ich weiß nicht, wie es dir geht bei solchen Leuten, mich juckt es, ihnen zu zeigen, wo der Hammer hängt. Ich habe einfach drauflos gesponnen. Als ich merkte, wie fasziniert er mir zuhörte, begann mich das Spiel zu erregen. Wir verabredeten uns noch einige Male, bis ich meinen Plan detailliert fertig hatte.“ Nelson lachte trocken. „Georg weiß bis heute noch nicht, wer ich wirklich bin. Natürlich könnte er mich in dieser Umgebung
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hier orten, soviel mußte ich preisgeben. Doch er wird sich hüten es zu tun. Er ist ein brauchbarer, mittelmäßiger Mann, der so läuft, wie man ihn schiebt. Daß er diese beiden Luschen angeheuert hat, war ein Fehler, doch kein so entscheidender. Er traute den beiden sowieso nicht. Er traute auch dem Framo nicht und nannte ihn einen Zirkuswagen. Es ging trotzdem alles glatt.“ „Und wie ging es?“ „Ich jubelte Manne die Anzeige unter, und der fuhr sofort darauf ab. Für den fraglichen Abend verabredeten wir uns und tranken eine halbe Flasche Schinkenhäger. Ich wollte Störungen abblocken. Als die Zeit für das Trio ranrückte, ging ich, um Nachschub zu holen. Den Drücker für die Wohnungstür nahm ich mit, er hing immer auf dem Klo, weißt du. Sie waren mutig, die drei, das muß man sagen, und sie taten haargenau das, was ich ihnen eingeschärft hatte. Manne saß verschnürt, mit verbundenen Augen und geknebelt in seinem Sessel am Ofen, und sie räumten ihm die Wohnung aus. Es muß wie ein richtiger Umzug ausgesehen haben. Tja, ich wollte als der rettende Engel auf der Szene erscheinen. Zu spät zwar, Rolffs Geburtstag war ja eine ausreichende Entschuldigung, doch rechtzeitig genug, ehe jemand anders kam.“ „Rechtzeitig genug, um ihn umzubringen.“ „Nein, daran dachte ich nicht. Im Gegenteil. Aber die Burschen haben zwei Fehler gemacht. Sie verbanden Manne die Augen mit einem Wollschal, zogen ihn aber so fest, daß er durchsehen konnte. Er sah zwar nicht viel, doch genug. Sie bewegten sich zu sicher. Und sie konnten ihre Gusche nicht halten. Sie redeten zuviel. Er registrierte, wie zielbewußt sie sein Zeug einsammelten. Das brachte ihn natürlich auf die richtigen Gedanken.“
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Nelson sah zum ersten Male resigniert aus. „Ich wollte ihn auf keinen Fall töten. Ihr solltet suchen, Detta. Je länger, desto besser. Stück für Stück solltet ihr sammeln und Mann für Mann. Und jedes Mal solltet ihr vor einem größeren Rätsel stehen, denn je fündiger ihr geworden wärt, desto größere Rätsel hätten sich aufgetan. Georgs Typen haben euch ja tatsächlich nichts genützt ohne Georg selber. Und Georg hättet ihr schwerlich gefunden.“ Er seufzte. „Vielleicht hättet ihr etliche Indizien gegen mich zusammengetragen, doch ohne mein Geständnis wären sie nichts wert gewesen. Die Kohn hätte mich identifizieren können, aber ihr hättet kein Stück der Beute bei mir gefunden, kein Motiv, nichts. Ich kam, wie geplant, zurück. Ich fand Manne gefesselt und geknebelt vor, tat außer mir. Es wäre alles richtig gelaufen, hätte er nicht zuviel gehört und gesehen. Er kreischte heraus, daß er genau wüßte, wer das Ding eingefädelt hat. Er meinte nicht mich, meinte irgendeinen aus seinem Bekanntenkreis, doch das war dasselbe. Was er beobachtet hatte, änderte alles, zerschlug mein ganzes schönes Gebäude. Und im selben Augenblick randalierte Feuerstein draußen vor dem Fenster. Da habe ich die Nerven verloren. Mit der Flasche, die ich bei Rolff gekauft hatte, schlug ich zu.“ Detlev Kühl glaubte ihm, daß das die Wahrheit war. Diese Wahrheit machte ihn nicht stärker, machte das Unfaßbare nicht faßbar. Soviel verschwendete Energie, soviel Dummheit. Und eine geradezu lächerliche Lappalie, die dann einem Menschen das Leben kostete. „Mir war danach sofort klar, daß ich verloren hatte,“ sagte Nelson leise. „Alles andere war nur ein Aufschub. Georg umzubringen wäre auch nur ein Aufschub gewesen. Ich bin kein Mörder.“
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„Aber gegen dich wurde ein Haftbefehl wegen des Verdachts des Mordes und der Anstiftung zum Raub erlassen.“ Nelson nickte. „Natürlich,“ sagte er. „Natürlich. Ich werde keine Sperenzchen machen. Nicht mehr.“ ENDE
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