Das Buch Es ist nicht leicht, sich effektiv zu verteidigen, wenn man nicht einmal aufrecht stehen kann und mit jedem At...
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Das Buch Es ist nicht leicht, sich effektiv zu verteidigen, wenn man nicht einmal aufrecht stehen kann und mit jedem Atemzug puren Äther inhaliert. So hatte sich der Amateurjockey und Wirtschaftsprüfer Roland Britten die Feierlichkeiten nach seinem größten Triumph als Reiter nicht vor gestellt. Hatte er doch als krasser Außenseiter erst kurz vorher den be gehrten Gold Cup gewonnen. Jetzt fand er sich gefesselt und mit hef tigem Kater auf einem Boot wieder. Klar war ihm nur, daß man ihn entführt hatte. Aber wer steckte dahinter? Und weshalb?
Der Autor
Dick Francis, geboren 1920, war viele Jahre Englands erfolgreichster Jockey, bis ein mysteriöser Sturz 1956 seine Karriere beendete. Seit 35 Jahren schreibt er jedes Jahr einen Roman. Dick Francis wurde un ter anderem dreifach mit dem Edgar Allan Poe Award und dem Grand Master Award ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau auf den CaymanInseln.
Dick Francis
Risiko
Roman
Aus dem Englischen von
Michaela Link
Diogenes
Titel der 1977 bei
Michael Joseph Ltd., London,
erschienenen Originalausgabe: ›Risk‹
Copyright © 1977 by Dick Francis
Die deutsche Erstausgabe erschien 1978
unter dem Titel ›Ein Goldcup zur Entführung‹
im Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin
Umschlagzeichnung von
Tomi Ungerer
Dem Andenken Lionel Vicks, amtlich bestellten
Wirtschaftsprüfers und Steuerberaters – nach einer
Karriere als Berufsjockey in Jagdrennen
Dank auch seinem Kompagnon Michael Foote
Neuübersetzung Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 1999
Diogenes Verlag AG Zürich
ISBN 3 257 23117 2
1
D
onnerstag, 17. März. Morgens war ich in Sorge, nachmittags in Ekstase und abends bewußtlos. Donnerstag nacht, irgendwann zwischen Abend- und Morgendämmerung, erwachte ich langsam in einem Alp traum, an dem nichts auszusetzen gewesen wäre, wenn ich geschlafen hätte. Ich brauchte beträchtliche Zeit, um zu begreifen, daß ich wirklich wach war. Nun ja, zumindest halb wach. Es war stockdunkel. Ich glaubte, die Augen geöffnet zu haben, aber die Finsternis war undurchdringlich. Dafür hörte ich um so mehr Lärm. Verschiedene Geräu sche, laut und verwirrend. Ein schwerer Motor. Rattern. Knirschen. Brausen. Ich lag benommen da und hatte das Gefühl, von einer wahren Flut von Geräuschen überrollt zu werden. Ich lag … auf einer Art Matratze. Mir war kalt, mir war übel, und steif war ich auch. Ich hatte Schmerzen, und ich zitterte: Ich fühlte mich körperlich elend und geistig ver wirrt. Ich versuchte, mich zu bewegen. Konnte aus irgendei nem Grund weder die linke noch die rechte Hand ans Ge sicht heben. Sie schienen beide an meinen Beinen zu kle ben. Sehr seltsam. Endlos lange Zeit verstrich. Mir wurde immer kälter und übler, meine Glieder wurden immer steifer, und schließlich war ich hellwach. Versuchte, mich aufzusetzen. Stieß mit dem Kopf gegen 6
ein Hindernis dicht über mir. Legte mich wieder hin, kämpfte einen jähen Anfall von Panik nieder und zwang mich, die Sache Schritt für Schritt anzugehen. Meine Hände. Warum konnte ich die Hände nicht bewe gen? Weil meine Handgelenke an meiner Hose befestigt zu sein schienen. Es ergab keinen Sinn, aber genauso fühlte es sich an. Der Ort. Was war das für ein Ort? Steif bewegte ich meine eiskalten Füße. Stellte fest, daß ich keine Schuhe anhatte. Nur Socken. Gleich links von mir eine Wand. Dicht über mir eine Decke. Rechts ein weicheres Hinder nis. Möglicherweise Stoff. Ich bewegte meinen ganzen Körper ein winziges Stück nach rechts und betastete das Hindernis mit den Fingern. Kein Stoff, sondern ein Netz. Wie ein Tennisnetz. Straff gespannt. Um mich festzuhalten. Ich schob die Finger durch die Maschen, konnte aber auf der anderen Seite nichts fühlen. Meine Augen. Wenn ich nicht plötzlich blind geworden war – das kam mir nicht so vor –, dann lag ich irgendwo, wo kein Licht hingelangte. Brillante Schlußfolgerung. Überaus konstruktiv. Ha und noch mal ha. Die Ohren. Das war fast das schlimmste Problem. Unab lässiges Getöse betäubte sie, hielt mich unerbittlich in der engen, schwarzen Kiste gefangen, hinderte mich daran, ir gend etwas anderes zu hören als die mächtige, dröhnende Maschine dicht neben mir. Mich überkam das beängsti gende Gefühl, daß niemand mich hören würde, wenn ich schrie. Und plötzlich stellte sich das noch beängstigendere Gefühl ein, daß ich schreien wollte. Um irgend jemanden zu zwingen herzukommen. Um jemanden zu zwingen, mir zu sagen, wo ich war, warum ich hier war und was um al les in der Welt hier vorging. Ich öffnete den Mund und schrie. 7
Ich schrie: »He« und »Hierher« und »Komm her, du Scheißkerl, und laß mich raus«; ich trat in sinnlosem Zorn um mich, erreichte aber nur, daß meine Stimme und meine Angst von den Wänden des geschlossenen Raumes zurück geworfen wurden und die Sache nur noch verschlimmerten. Kettenreaktion. Einbahnstraße in Richtung Erschöpfung. Am Ende stellte ich mein Geschrei ein und lag still da. Schluckte. Knirschte mit den Zähnen. Versuchte, mich zu zwingen, nicht den Verstand zu verlieren. Desorientierung lähmt das Denkvermögen. Konzentrier dich, sagte ich mir. Denk nach. Diese Maschine … Ein großer Motor. Leistete ein mächtiges Stück Arbeit. Befand sich irgendwo in meiner Nähe, aber nicht genau an der Stelle, an der ich lag. Auf der anderen Seite einer Wand. Vielleicht hinter meinem Kopf. Wenn er nur endlich stehenbliebe, dachte ich benommen, dann wäre mir nicht mehr so übel, fühlte ich mich nicht mehr so zerstoßen, wäre meine Panik geringer, verlöre sich das Gefühl der Bedrohung. Der Motor dröhnte unverdrossen weiter, versetzte mich durch die Wände hindurch in dumpfe Vibrationen. Keine Turbine: Es fehlte das weiche Sausen, das Heulen. Ein Kolbenmotor. Für Schwerlasten ausgelegt, wie bei einem Traktor … oder einem Lastwagen. Aber ich befand mich nicht auf einem Lastwagen. Ich konnte keinerlei Be schleunigung wahrnehmen, und die Drehzahl des Motors blieb konstant. Kein Bremsen und Wiederbeschleunigen. Keine Gangwechsel. Also kein Lastwagen. Ein Generator. Es ist ein Generator, dachte ich. Der Elektrizität produziert. Ich lag gefesselt in der Dunkelheit auf einer Art Vor sprung in der Nähe eines Elektrizitätsgenerators. Frierend, von Übelkeit geplagt und voller Angst. Aber wo? 8
Was die Frage betraf, wie ich hierhergekommen war … nun, das konnte ich, jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt, sagen. An den Anfang erinnerte ich mich, o ja. Die sen Donnerstag, den 17. März, würde ich nie vergessen. Die Fragen, die mir am meisten zu schaffen machten, waren die, auf die mir keinerlei Antwort einfallen wollte. Warum? Zu welchem Zweck? Und was kam als näch stes?
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A
n besagtem Donnerstag morgen hielt mich ein Klient, dessen Leben in Trümmern lag, über Gebühr lange in meinem Büro in Newbury fest. Ich hätte schon längst auf dem Weg zu den Rennen in Cheltenham sein sollen, aber es wäre mir ungehobelt erschienen zu sagen: »Ja, Mr. Wells, mir tut ja furchtbar leid, was Sie da durchmachen, aber ich kann mich jetzt nicht länger damit aufhalten, Ih nen zu helfen, weil ich los muß, um mich ein wenig zu vergnügen.« Mr. Wells, dessen starrer Blick Selbstmordbe reitschaft signalisierte, mußte erst einmal aus seinem Treibsand herausgezogen werden. Es kostete dreieinhalb Stunden Analyse, Mitleid, Brandy, Erörterung möglicher Mittel und Wege und ganz allge meines, gutes Zureden, um auch nur den leisesten Funken Hoffnung an seinem Horizont aufschimmern zu lassen. Und dabei war ich weder sein Arzt noch sein Priester, we der sein Anwalt noch sonst ein berufener Händchenhalter, sondern nur der Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, den er am Abend zuvor in einem Anfall von Verzweiflung en gagiert hatte. Mr. Wells war den Künsten eines betrügerischen Finanz beraters zum Opfer gefallen und auf Grund gelaufen. Und Mr. Wells hatte – schon halb verrückt vor Verzweiflung – gehört, Roland Britten habe sich ungeachtet seiner jungen Jahre für einige Firmen als Rettungsanker erwiesen. Mr. Wells hatte am Telefon doppeltes Honorar, Tränen und 10
lebenslange Dankbarkeit als Köder ausgeworfen. Und Mr. Wells war eine gräßliche Nervensäge. Ich sollte an diesem Donnerstag zum ersten und wahr scheinlich einzigen Mal in meinem Leben im Cheltenham Gold Cup reiten, dem Rennen, das im Leben britischer Hindernisreiter gleich nach dem Grand National rangiert. Auch wenn die Tipster meinem Pferd kaum Chancen ein räumten und die Buchmacher Vorwetten zum Kurs von vierzig zu eins anboten: Für einen Teilzeitamateur wie mich war das Angebot eines Ritts im Gold Cup das Non plusultra schlechthin. Dank Mr. Wells blieb mir ein ruhiger, geordneter Rück zug aus dem Büro – nach schneller Durchsicht der Tages post – verwehrt. Erst um Viertel nach eins konnte ich dar an denken, mich von seiner blutegelartigen Anhänglichkeit zu lösen und ihn seiner Wege zu schicken, und das gelang mir auch nur, weil ich ihm ein weiteres langes Gespräch am folgenden Montag versprach. Er war schon halb durch die Tür, als er abermals wie angewurzelt stehenblieb. Ob ich auch sicher sei, daß wir die Sache aus jedem Blick winkel betrachtet hätten. Ob ich ihm nicht noch den Nachmittag widmen könne? Montag, sagte ich ent schlossen. Ob er dann nicht mit irgend jemand anderem sprechen könne? »Tut mir leid«, sagte ich. »Mein Seniorpartner ist im Ur laub.« »Mr. King?« fragte er und zeigte auf den säuberlichen Schriftzug »King & Britten« auf der offenen Tür. Ich nickte und überlegte düster, daß mein Seniorpartner, wäre er nicht gerade irgendwo in Spanien unterwegs ge wesen, darauf bestanden hätte, daß ich zeitig nach Chel tenham aufbrach. Trevor King, groß, mit Silberfäden im Haar, gebieterisch und weltoffen, kannte meine Prioritä ten. 11
Wir arbeiteten seit sechs Jahren zusammen, seit er mich aus der Sozietät in der City, wo ich auch ausgebildet wor den war, mit dem einen Köder weggelockt hatte, dem ich nicht widerstehen konnte: flexible Arbeitszeiten, die mir die Teilnahme an Rennreiten möglich machten. Er hatte damals bereits fünf oder sechs Klienten aus der Welt des Rennsports, da viele der Rennställe entlang der Berkshire Downs im Einzugsgebiet von Newbury lagen. Und als er nach einem Ersatz für einen scheidenden Mitarbeiter such te, überlegte er sich, daß er noch mehr Kundschaft aus die sem Bereich gewinnen könnte, wenn er mich engagierte. Nicht daß er jemals etwas Derartiges gesagt hätte, denn er war kein Mann, der zwei Worte machte, wo eines genügte; aber seine sichtbare Zufriedenheit, als sein Plan allmählich Früchte trug, ließ keinen Zweifel offen. Um meine fachlichen Fähigkeiten – im Gegensatz zu denen als Amateurjockey – zu überprüfen, hatte er an scheinend lediglich meine damaligen Arbeitgeber gefragt, ob sie mir eine beträchtliche Gehaltserhöhung zubilligen würden, um mich zu halten. Sie sagten ja und taten es. Trevor war, wie es schien, mit einem Lächeln wie dem ei nes milde gestimmten Haifisches von dannen gezogen. Das Angebot, mit dem er daraufhin an mich herantrat, sah eine gleichberechtigte Partnerschaft und viel freie Zeit für meine Rennen vor; die Partnerschaft würde mich zehntau send Pfund kosten, die ich ihm im Laufe mehrerer Jahre von meinen Einkünften abbezahlen konnte. Was ich zu diesem Angebot meinte? Ich meinte, daß sich das als gute Sache erweisen könne; und das hatte es auch getan. In gewisser Weise kannte ich Trevor heute nicht besser als an jenem ersten Tag. Unsere Beziehung begann und endete gewissermaßen an der Bürotür, und unsere gesell schaftlichen Kontakte beschränkten sich auf eine formelle 12
Dinnerparty im Jahr, zu der seine Frau mich brieflich ein lud. Sein Haus war aufwendig; sowohl der Bau als auch die Einrichtung stammten aus den Zwanzigern unseres Jahrhunderts; mit schwerem, passend zugeschnittenem Spiegelglas auf den Oberflächen der polierten Tische und einer mit allen Schikanen ausgestatteten Bar in Trevors »Schankstube«. Seine Freunde kamen aus den höchsten Etagen des Managements oder waren vielleicht Landräte, also verdiente und vermögende Bürger wie Trevor selbst. In beruflicher Hinsicht kannte ich ihn gut. Bewährt bür gerliche Einstellung, nüchtern und konservativ. Patriarcha lisch, aber nicht aufgeblasen. Gab die Art wertvoller Rat schläge, die immer noch vernünftig klang, selbst wenn sie sich im nachhinein als falsch erwies. Vielleicht auch eine Neigung zum Strafen. Mir schien, daß es ihm manchmal regelrecht Vergnügen bereitete, ei nem Klienten das Ausmaß seiner Steuerschulden vorzu rechnen und zuzusehen, wie dieser in sich zusammensank. Klarer Verstand, präzise Methoden, zurückhaltender Ehrgeiz, Freude an der Tatsache, eine bekannte lokale Größe zu sein, und von nicht zu überbietendem Charme reichen, alten Damen gegenüber. Seine Lieblingsklienten waren gutgehende Firmen; die, die er am wenigsten moch te, waren inkompetente Privatpersonen in unüberschauba ren Schwierigkeiten. Endlich wurde ich den inkompetenten Mr. Wells los und begleitete meine Nervosität hinunter auf unseren Firmen parkplatz. Es waren knapp hundert Kilometer von Newbu ry nach Cheltenham, und nägelkauend quälte ich mich durch zwei Straßenbaustellen und an einem Armeekonvoi vorbei; außerdem wußte ich, daß ich für die letzten Kilo meter bis zur Rennbahn im Gewimmel und Gedränge der Rennbesucher eine halbe Stunde brauchen würde. Es war bereits genug über das Risiko gesagt worden, gegen die 13
Crème de la crème der Berufsjockeys auf den besten Pfer den des Landes im wichtigsten Rennen der angesehensten Veranstaltung der Saison einen Amateur aufzustellen (»wie gut er auch sein mag«, hatte irgendein Kolumnist geschrieben); »Roland Britten hat schon viel erreicht, wenn er mit Tapestry keine anderen Teilnehmer behin dert«, war die Meinung eines weniger freundlichen Schreibers, und obwohl ich ihm mehr oder weniger bei pflichtete, hatte ich dieses Ziel doch nicht erreichen wol len, indem ich nicht rechtzeitig antrat. Von allen denkba ren unprofessionellen Verhaltensweisen würde dies die schlimmste sein. Die mögliche Verspätung war durchaus nicht das einzi ge, das mir zu schaffen machte, sondern nur der letzte und zweifellos akuteste Punkt einer ganzen Liste. Ich hatte seit meinem sechzehnten Geburtstag als Amateur Hindernis rennen geritten, fand es aber inzwischen, da ich stramm auf die zweiunddreißig zuging, zunehmend schwierig, mich fit zu halten. Alter und Schreibtischarbeit nagten an meiner Kondition, die ich immer für selbstverständlich genommen hatte. Was ich früher getan hatte, ohne einen einzigen Gedanken darauf zu verschwenden, kostete mich jetzt große Anstrengung. Die anderthalb Stunden jeden Morgen, die ich für einen Trainer am Ort ritt, waren nicht mehr ausreichend. Mehrmals hatte ich in jüngster Zeit während eines knappen Finish gespürt, wie meine schmer zenden Muskeln mich plötzlich im Stich ließen, und min destens ein Rennen hatte ich deswegen verloren. Ich hätte nicht beschwören können, daß ich für den Gold Cup aus reichend vorbereitet war. Die Arbeit im Büro hatte derartig zugenommen, daß sie allein kaum noch korrekt zu bewältigen war. Mit meinen freien halben Tagen fürs Rennen kam ich mir langsam wie ein Verräter vor. Die Samstage gingen in Ordnung, aber 14
ein Donnerstag in Stratford-upon-Avon oder ein Mittwoch in Ascot konnte bei ungeduldigen Klienten zu einer gewis sen Gereiztheit führen. Daß ich die Arbeit abends zu Hau se nachholte, stellte Trevor zufrieden, aber sonst nieman den. Eine wahre Klientenschwemme, wie es im Jargon hieß, schien mich unter sich zu begraben. Ich hätte mich an diesem Vormittag außer um Mr. Wells noch um andere Dinge kümmern müssen. Gegen den Steuerbescheid eines Jockeys der Spitzenklasse war Wi derspruch einzulegen, ein Gutachten für einen Anwalt mußte unterzeichnet werden, und in der Sache zweier Klienten, die eine Vorladung der Steuerbehörde erhalten hatten, bestand dringender Handlungsbedarf, wenn auch nur als Ausweichmanöver. »Ich werde um Aufschub nachsuchen«, sagte ich zu Pe ter, einem unserer beiden Assistenten. »Rufen Sie beide Klienten an, und sagen Sie ihnen, sie sollten sich keine Sorgen machen; ich würde mich unverzüglich um ihre Fäl le kümmern. Und überprüfen Sie, ob wir auch alle not wendigen Unterlagen dafür haben. Bitten Sie sie, uns alles zu schicken, was eventuell fehlt.« Peter nickte verdrossen und unwillig – damit deutete er an, daß ich ihm immer zuviel Arbeit auflud. Vielleicht hat te er recht. Trevor hatte seine Pläne zur Einstellung eines weiteren Assistenten fürs erste wieder auf Eis gelegt – wegen eines Angebots, das uns beiden zur Zeit Kopfschmerzen bereite te. Eine große Londoner Firma wollte bei uns einsteigen, oder besser gesagt in unserem Revier mit uns fusionieren und mit uns darin eine große Zweigniederlassung einrich ten. Materiell würden wir davon profitieren, da ja bisher die in die Höhe schnellenden Geschäftskosten – Büromie te, Strom, Sekretärinnenlöhne – direkt aus unserer Tasche bezahlt wurden. Auch der Streß würde nachlassen. Zur 15
Zeit hatte ja einer von uns die ganze Arbeitslast zu tragen, wenn der andere einmal krank war oder Urlaub machte. Aber die Aussicht auf Verlust der unumschränkten Herr schaft bereitete Trevor einiges Ungemach, und mir mißfiel der Gedanke, möglicherweise meine zeitliche Verfügungs freiheit einzubüßen. Wir hatten die Entscheidung bis nach Trevors Rückkehr aus Spanien in zwei Wochen hinausge schoben, würden uns aber dann doch den harten Realitäten stellen müssen. Ich trommelte mit den Fingern ungeduldig auf das Steu errad meines Dolomites und wartete, daß die Baustellen ampel endlich grün wurde. Sah zum hundertsten Mal auf meine Armbanduhr. »Na komm schon«, sagte ich laut. »Komm schon.« Binny Tomkins würde fuchsteufelswild sein. Binny, Tapestrys Trainer, wollte mich nicht auf dem Pferd haben. »Nicht im Gold Cup«, hatte er kategorisch festgestellt, als die Eigentümerin den Vorschlag machte. Nach Tapestrys Auftritt im Drei-Meilen-Jagdrennen hatten sie einander vor dem Waageraum der Rennbahn von New bury streitlustig gegenübergestanden: Mrs. Moira Lon german, klein, blond und vogelähnlich, gegen hundert Ki lo frustrierter Männlichkeit. »… nur weil er Ihr Steuerberater ist«, sagte Binny verär gert, als ich nach dem Zurückwiegen wieder zu ihnen trat. »Das ist doch lächerlich, verdammt noch mal.« »Nun, heute hat er doch gewonnen, oder?« sagte sie. Binny breitete in einer ohnmächtigen Geste stöhnend die Arme aus. Mrs. Longerman hatte mir den Ritt in Newbury ganz spontan angeboten, nachdem der Stalljockey sich bei einem Sturz im vorangegangenen Rennen den Knöchel gebrochen hatte. Binny hatte mich einigermaßen wohlwol lend als Notlösung akzeptiert, aber Tapestry war das beste Pferd in seinem Stall, und für einen mittelmäßigen Trainer 16
wie ihn war es ein Ereignis, wenn er einen Starter im Gold Cup hatte. Er wollte den besten Berufsjockey, den er krie gen konnte. Auf keinen Fall wollte er Mrs. Longermans Steuerberater, der dreißig Rennen im Jahr ritt, wenn er Glück hatte. Mrs. Longerman dagegen hatte etwas in der Art vor sich hin gemurmelt, daß sie Tapestry auch bei ei nem entgegenkommenderen Trainer unterbringen könne, ich war nicht selbstlos genug gewesen, das Angebot abzu lehnen, und Binny hatte vergeblich geschäumt. Mrs. Longerman hatte bei ihrem früheren Steuerberater jahrelang mehr Steuern gezahlt, als notwendig gewesen wäre, und mir war es gelungen, eine Rückzahlung in vier stelliger Höhe für sie zu erwirken. Das war nicht das beste Kriterium für die Auswahl eines Jockeys für den Gold Cup. Sie wollte sich damit bei mir bedanken. Indem sie mir etwas Unbezahlbares schenkte. Ich hatte den leiden schaftlichen Wunsch, sie nicht zu enttäuschen; und auch das gehörte zu den Dingen, die mir jetzt zusetzten. Ich befürchtete aber lediglich, meine Sache möglicher weise nicht gut genug zu machen, nicht aber, ich könne stürzen. Wenn sich die Angst zu stürzen einstellte, war es Zeit, mit dem Rennen aufzuhören. Eines Tages würde es vermutlich so weit sein, aber bisher war ich noch frei da von. Mir machte also vorerst nur zu schaffen, daß ich we der fit genug noch erwünscht war und möglicherweise zu spät kommen würde. Das war für den Augenblick auch genug. Binny zischte wie eine brennende Zündschnur, als ich endlich keuchend im Waageraum erschien. »Wo zum Teufel sind Sie gewesen?« wollte er wissen. »Ist Ihnen klar, daß das erste Rennen bereits vorüber ist und Sie in fünf Minuten wegen Nichterscheinens mit einer Geldbuße belegt worden wären?« »Tut mir leid.« 17
Ich trug meinen Sattel, meinen Helm und die Tasche mit meiner Ausrüstung in den Umkleideraum, ließ mich dank bar auf die Bank sinken und versuchte, nicht mehr zu schwitzen. Um mich herum herrschte der gewohnte Tru bel; Jockeys zogen sich an und aus, fluchten, lachten und akzeptierten mich aufgrund langer Bekanntschaft als einen Teil der Szenerie. Ich war für zweiunddreißig Jockeys als Steuerberater tätig und hatte unter der Hand für ein weite res Dutzend die Steuerformulare ausgefüllt. Überdies war ich derzeit bei einunddreißig Trainern als Steuerberater engagiert, bei fünfzehn Gestüten, zwei Stewards vom Jok keyclub, einem Rennplatz, dreizehn Buchmachern, zwei Pferdetransportfirmen, einem Schmied, fünf Futterhänd lern und über vierzig Besitzern. Ich wußte wahrscheinlich mehr über die privaten Finanzangelegenheiten der Renn welt als irgend jemand sonst aus der Szene. Im Führring zwitscherte Moira Longerman glücklich erregt vor sich hin; ihre Stupsnase ragte wie die eines Kätzchens aus einem flauschigen, aufgestellten Zobelkragen in die Höhe. Unter dem Kragen schmiegte sie sich in einen dazu passenden Mantel, und auf den blonden Locken segelte ein flauschiger Zobelhut. Ihre nicht mehr ganz jungen blauen Augen strahlten vor Aufregung, und der ausgelassene Frohsinn, den sie verströmte, machte auch klar, warum so viele tausend Menschen das Geld, das ihnen für ein Hobby zur Verfügung stand, für den Besitz von Rennpferden aus gaben. Nicht nur des Wettens wegen und auch nicht nur, um anzugeben: eher wohl wegen des Kicks, den ihnen zu sätzliche Adrenalinstöße verschafften, und weil sie einfach dazugehören wollten. Moira Longerman wußte sehr wohl, daß aus ihrer Freude schnell Enttäuschung mit Tränen wer den konnte. Die tiefen Täler, in die man unversehens gera ten konnte, machten die Bergeshöhen um so kostbarer. 18
»Ist Tapestry nicht einfach wunderbar?« Und ihre klei nen, behandschuhten Finger flatterten in die Richtung, in der das Pferd unter dem Blick der zehn Reihen tief stehen den, aufmerksamen Zuschauer dahintrabte. »Großartig«, sagte ich wahrheitsgemäß. Binny warf einen finsteren Blick in den kalten, sonnigen Himmel. Er präsentierte das Pferd hier in einem Glanz, den seine anderen Starter nur allzuoft missen ließen: Mäh ne und Schwanz säuberlich geflochten, Hufe geölt, Sattel zeug aus glänzendem, gewienertem Leder und ein raffi niertes geometrisches Muster in das wohlgepflegte Fell der Hinterhand gebürstet. Binny sagte damit aller Welt, daß es nicht an mangelnder Vorbereitung lag, wenn sein Pferd versagen sollte. Binny würde mich für den Rest sei ner Tage als Grund vorschieben, warum er den Gold Cup nicht gewonnen hatte. Ich kann nicht behaupten, daß mich das besonders ge stört hätte. Wie Moira Longerman beherrschte mich die atemberaubende Erregung der vor mir liegenden, für mein Leben wohl einmaligen Erfahrung. Möglich, daß die Kata strophe auf dem Fuß folgte, aber was auch geschah, die Tatsache, daß ich im Gold Cup geritten war, konnte mir niemand mehr nehmen. Es waren mit Tapestry acht Starter. Wir stiegen auf, ritten im Schritt zur Bahn hinüber, paradierten an den voll be setzten, lärmigen Tribünen vorüber und dann im Aufga lopp zum Start. Ich merkte, wie ich zitterte, und wußte, daß das dumm war. Nur mit kühlem Kopf ließ sich ein vernünftiges Ergebnis erzielen. Aber das wußten meine Nebennierenrinden leider nicht. Immerhin konnte ich so tun als ob. Das Schmetterlings kribbeln der Nerven betäuben und mich geben, als ob ich Rennen dieses Kalibers ein halbes dutzendmal in jeder Saison bestritt. Keiner der anderen sieben Reiter wirkte 19
ängstlich oder angespannt, aber ich vermutete, daß es eini ge von ihnen doch sein mußten. Selbst für die Profis der Spitzenklasse war dieses Rennen ein herausragendes Er eignis. Wahrscheinlich war also die von ihnen zur Schau getragene Ruhe ebenso vorgetäuscht wie meine. Bei die sem Gedanken ging es mir gleich besser. Wir erreichten die Startmaschine in einer unruhigen Rei he, den Vorwärtsdrang der Pferde mit kurzem Zügel im Zaum gehalten, das ganze Gewicht der Reiter noch im Sat tel. Als der Starter seinen Hebel umlegte und die Bänder in die Höhe schnellten, warf Tapestry mit einem Ruck den Kopf nach vorn, biß in die Luft und riß mir fast die Arme aus den Gelenken. Die meisten Hindernisrennen über dreieinviertel Meilen beginnen verhalten, werden etwa eine Meile vorm Ziel schneller und enden möglicherweise schon wieder mit nachlassendem Tempo. Aber das Feld des Gold-CupRennens legte diesmal los, als wolle es über die Distanz die Rekordzeit des Derbys brechen. Moira Longerman er zählte mir nachher, Binny habe ein ihr bis dahin völlig un bekanntes Vokabular benutzt, weil es mir nicht gelang, Ta pestry auf Fühlung mit dem Hauptfeld zu halten. Als wir über die ersten zwei Hindernisse und auf Höhe der Tribüne waren, lag ich gut sechs Längen zurück – ein Ab stand, der an sich nicht viel zu bedeuten hatte, aber so früh im Rennen sicherlich für ein ›Ich habe es ja gleich gesagt‹ reichte. Tatsache war, daß ich mich nicht recht entscheiden konnte. Sollte ich es schneller angehen? Mich dichter hinter die Schweife vor mir klemmen? Tapestry war das Rennen schon schneller angegangen als bei unserem Siegesritt in Newbury. Wenn ich ihn mit den anderen laufen ließ, war er vielleicht auf halber Distanz erschöpft und würde vollends zurückfallen. Wenn ich ihn zurückhielt, würden wir das Rennen vielleicht wenigstens bis zum Finish reiten können. 20
Während er über das dritte Hindernis und den Wasser graben sprang, vergrößerte sich der Abstand zum Feld weiter, und ich war mir über meine Taktik immer noch nicht im klaren. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß die anderen das Rennen so schnell angehen würden. Ich wußte nicht, ob sie das Tempo durchzuhalten hofften oder später langsamer werden und sich meiner Position wieder annä hern würden. Unmöglich zu sagen, was davon wahr scheinlicher war. Aber was würde Binny sagen, wenn ich mich falsch ent schied und im ganzen Rennen vom Start bis zum Ziel hin terherritt? Würde er mir das geringste ersparen? Was tat ich bloß in diesem Rennen, in einer für mich fal schen Klasse? Ich machte mich zum Narren. O Gott, dachte ich, warum hatte ich es nur versuchen müssen? Wirtschaftsprüfer und Steuerberater gelten als von Hause aus vorsichtig, aber ich war jetzt soweit, alle Vorsicht über Bord zu werfen. So gut wie alles war besser, als vom Start bis zum Ziel hinterherzureiten. Kluge Überlegungen hal fen mir jetzt nicht weiter. Ich gab Tapestry einen Kick, den er nicht erwartet hatte, und er schoß wie ein Pfeil nach vorn. »Ruhig«, keuchte ich. »Ruhig, zum Teufel.« Schließ zu den anderen auf, dachte ich, aber nicht zu schnell. Wenn du zu schnell läufst, verbrauchen wir die Reserven, die wir für das letzte Stück bergan benötigen. Wenn wir es überhaupt jemals bis dorthin schaffen … Wenn ich nicht vorher stürze … Wenn ich nicht zulasse, daß Tapestry ein Hindernis falsch angeht, sich vorzeitig verausgabt oder einen Sprung völlig verweigert. Erst eine Meile geritten und schon mehrere Leben durch litten. 21
Am Ende der ersten Runde war ich immer noch letzter, aber nicht mehr so weit abgeschlagen, daß es eine Schande gewesen wäre. Noch eine Runde … vielleicht konnten wir bis zum Ziel doch noch an einem oder zweien vorbeige hen. In dieser Phase begann ich mich langsam wohl zu fühlen – eine Grundstimmung, die meist durch nervöse Konzentration überdeckt wurde. Aber ich wußte von ver gangenen Renntagen her, daß ich mich später mehr meiner Freude als meiner Zweifel erinnern würde. Nach dem Wassergraben lagen wir immer noch an letzter Stelle dicht hinter dem geschlossenen Feld. Dann der Gra ben; Tapestry kam genau richtig ab, und wir machten in der Luft ein gutes Stück wett. Setzten Nase an Schweif des Starters vor uns auf. Hielten uns dort bis zum nächsten Hindernis und machten wieder im Sprung etwas gut, setz ten neben und nicht mehr hinter unserem bisherigen Vor dermann auf. Gut. Ich war nicht mehr der letzte. Nur noch mit der letz te. Und welche Befürchtungen auch immer ich hinsichtlich Tapestrys Stehvermögen hegen mochte, er stieg inzwi schen jedenfalls mit Schwung über die Hürden. An der nächsten Hürde, auf der Gegengeraden, löste sich das Rennen in Einzelereignisse auf. Der Favorit stürzte und brachte den zweiten Anwärter auf den Sieg mit zu Fall. Tapestry brach ungestüm zur Seite aus, als er die sich am Boden wälzenden Leiber erreichte, und rammte das Pferd neben sich. Dessen Reiter stürzte ebenfalls. Es ging alles so furchtbar schnell. Eben noch ein ordent liches Gold-Cup-Rennen, und in der Sekunde darauf ein Schlachtfeld. Drei am Boden, die hohen Hoffnungen der Besitzer, Trainer, Pferdepfleger und Wetter im Wind zer stoben. Tapestry brach aus dem Gewühl hervor wie ein Stier, aber als wir die Steigung vor uns in Angriff nahmen, lagen wir wieder an letzter Stelle. 22
Versuche niemals, bergauf zu beschleunigen, heißt es, denn die Pferde, an denen du vorbeigehst, werden bergab an dir vorbeiziehen. Geh mit den Kräften sparsam um, verschwende sie nicht. Ich ging mit Tapestrys Kraft spar sam um, bergauf und an letzter Stelle, und es kam mir so vor, als ob die anderen auf der Kuppe plötzlich von mir wegschossen, jedes Quentchen irgendwas, das sie noch besaßen, mobilisierten und davonjagten, während wir auf der Stelle traten. Komm schon, dachte ich inständig, komm schon, jetzt oder nie. Jetzt oder niemals. Vorwärts, Tapestry. Komm in die Gänge. Wir flogen den Hügel schneller hinunter, als ich in meinem ganzen Leben jemals geritten war. Eine Hürde auf halbem Weg den Abhang hinunter. Ein minimaler Schrittwechsel. Ein Sprung, der jede Gemse be schämt hätte. Da lag noch ein Jockey am Boden, zusammengerollt, um möglichen Tritten zu entgehen. Pech … Wirklich übel … Drei Pferde vor mir. Noch zwei Hindernisse. Ich begriff plötzlich, daß außer uns und den drei Pferden vor uns niemand mehr im Rennen war. Und sie waren auch nicht weit vor uns. Mein Gott, dachte ich und mußte beinahe la chen, einmal angenommen, ich komme an einem davon vorbei, dann bin ich dritter. Dritter im Gold Cup. Ein Traum, von dem man bis zum Lebensende zehren kann. Ich trieb Tapestry noch weiter an, und erstaunlicherweise sprach er darauf an. Das Pferd, über dessen Qualität im Finish man sich nicht im klaren war, das man schonen mußte. Das Pferd, das jetzt über das Geläuf donnerte wie in einem Sprint. Um die Kurve … nur noch ein Hindernis vor uns … ich kam ihm schneller näher als die anderen … hob neben dem dritten Pferd ab, landete vor ihm … und nur noch der letzte, anstrengende Anstieg bis zum Ziel. Ich werde drit 23
ter, dachte ich jauchzend. Ich bin dritter, verdammt noch eins. Für manche Pferde ist das Finish in Cheltenham ein er bärmlicher Kampf. Manche gehen vor Mattigkeit seit wärts, schlagen mit dem Schweif und stocken, wenn sie vorn liegen, sind völlig verausgabt, werden bleiern lang sam, so langsam, daß sie das Ziel kaum noch zu erreichen scheinen. Tapestry widerfuhr nichts dergleichen, aber den beiden Pferden vor uns. Eines wankte die Gerade in immer breite ren Schlangenlinien hinauf. Das andere schien von einer Sekunde zur anderen immer langsamer zu werden und schließlich stehenzubleiben. Zu meinem eigenen und je dermanns anderem Unglauben drosch Tapestry in ge strecktem Galopp an beiden vorbei und gewann den Gold Cup. Es war mir schnurzegal, daß alle Welt sagen würde (und auch tatsächlich sagte), ich hätte niemals eine Chance ge habt, wenn nicht die beiden Favoriten gestürzt wären. Es war mir vollkommen schnuppe, daß das Rennen als ›schlechter‹ Gold Cup in die Geschichte eingehen würde. Ich erlebte auf dem langen, langsamen Ritt vom Ziel bis zum Absattelring einen solchen Gipfel der Ekstase, daß nichts mehr in meinem Leben, dachte ich, dem je gleich kommen konnte. Das Unmögliche war wahr geworden. Mrs. Longermans Steuerberater hatte ihr einen beträchtlichen steuerfreien Gewinn eingebracht. Eine umnebelte Stunde später – ich trug mittlerweile wie der Straßenkleidung, im Waageraum floß der Champagner in Strömen, und alle Hände, die ich mir nur wünschen konnte, schlugen mir auf die Schulter – war ich immer noch so unbeschreiblich glücklich, daß ich am liebsten die 24
Wände hochgelaufen wäre, laut gelacht und Handstand überschläge gemacht hätte. Reden, Verstellungen, Moira Longermans Tränen der Erregung, Binnys ungläubige Ver legenheit, das alles war in einem Tumult über mich her eingebrochen, den ich später ordnen wollte. Ich schwamm wie berauscht auf den Wogen des Ruhms, die alles Opium dieser Welt überflüssig machten. In dieses Fest von einem Tag trat ein Mann in der Sanitä teruniform von St. John und fragte nach mir. »Sind Sie Roland Britten?« sagte er. Ich nickte über einem Glas Schampus. »Da ist ein Jockey, der Sie sprechen möchte. Im Kran kenwagen. Sagt, er will sich nicht ins Krankenhaus brin gen lassen, bevor er mit Ihnen geredet hat. Ganz schön durcheinander, der Bursche. Würden Sie also bitte mit kommen?« »Wer ist es denn?« fragte ich und setzte meinen Drink ab. »Budley. Ist im letzten Rennen gestürzt.« »Ist er schwer verletzt?« Wir gingen aus dem Waageraum und über das mit Men schen bevölkerte Stückchen Asphalt auf den Krankenwa gen zu, der direkt außerhalb der Tore wartete. Es war fünf Minuten vor dem letzten Rennen des Tages, und Tausende hasteten umher, liefen auf die Tribünen zu und plazierten in aller Eile die letzte Wette des Tages. Der Sanitäter und ich liefen gegen den Strom jener, die vor dem Massenan sturm Richtung Parkplatz wollten. »Ein gebrochenes Bein«, sagte der Sanitäter. »Was für ein elendes Pech.« Ich konnte mir nicht vorstellen, weshalb Bobby Budley mich sprechen wollte. An seiner letzten Jahresabschluß rechnung war nichts auszusetzen gewesen, und der Herr vom Finanzamt hatte sie abgesegnet. Eigentlich dürfte er im Augenblick keinerlei drängende Probleme haben. 25
Wir kamen an die Hecktüren des weißen Krankenwa gens, und der Mann vom St. John öffnete sie. »Er ist da drin«, sagte er. Keiner von den großen Krankenwagen, dachte ich und stieg hinauf. Eher ein weißer Lieferwagen, dessen Höhe gerade eben nicht ausreichte, um aufrecht stehen zu kön nen. Wahrscheinlich hatten die Krankenhäuser an Rennta gen nicht genug reguläre Krankenwagen zur Verfügung. Auf einer Trage lag unter einer Decke verborgen eine Gestalt. Den Kopf unter dem niedrigen Dach gesenkt, trat ich darauf zu. »Bobby?« sagte ich. Es war nicht Bobby. Es war jemand, den ich nie zuvor gesehen hatte. Jung, beweglich und alles andere als ver letzt. Er sprang von der Trage und warf die dunkelgraue Decke wie eine Wolke von sich. Ich drehte mich um, um den Rückzug anzutreten. Fand den Sanitäter neben mir im Lieferwagen. Hinter ihm wa ren die Türen bereits geschlossen. Sein Gesichtsausdruck war alles andere als freundlich, und als ich versuchte, ihn aus dem Weg zu drängen, trat er mir gegen das Schien bein. Ich drehte mich abermals um. Der Herr von der Bahre riß gerade eine Plastiktüte auf, die einen handgroßen, feuchten Baumwollklumpen enthielt. Der Sanitäter hielt einen meiner Arme fest und der Herr von der Bahre den anderen, und trotz ziemlich verzweifelten Keuchens und heftiger Gegenwehr meinerseits gelang es ihnen mit ver einten Kräften, mir die feuchte Baumwolle auf Mund und Nase zu drücken. Es ist schwierig, sich effektiv zur Wehr zu setzen, wenn man nicht gerade stehen kann und jeder Atemzug reinster Äther ist. Das letzte, was ich in einer ergrauenden Welt sah, war die spitze Mütze, die dem Sanitäter vom Kopf 26
fiel. Sein hellbraunes Haar entfaltete sich zu einem zotte ligen Mop und verwandelte ihn von einem Engel der Barmherzigkeit in einen einfachen Schurken. Ich hatte schon ein- oder zweimal zuvor den Rennplatz auf einer Bahre verlassen, aber nie fest schlafend. Jetzt, hellwach in der lärmerfüllten Dunkelheit, konnte ich keinen Sinn in alledem entdecken. Warum sollte irgend jemand mich entführen? Hatte es etwas mit meinem Sieg im Gold Cup zu tun? Und wenn ja, was? Mir schien, daß ich noch schlimmer fror, daß mir noch übler war und daß die knirschenden, brausenden Nebenge räusche noch lauter geworden waren. Hinzu kam nun ein unkoordiniertes Gefühl der Bewegung. Aber dennoch be fand ich mich nicht in einem Lastwagen. Wo dann? In einem Flugzeug? Plötzlich gab sich die Übelkeit als das zu erkennen, was sie wirklich war. Ich litt nicht unter den Nachwirkungen des Äthers, wie ich vage vermutet hatte, sondern unter ei ner vertrauten Krankheit, die mich von Kindesbeinen an hin und wieder befallen hatte. Ich war seekrank. Auf einem Boot.
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ch lag, wie mir nun klar wurde, in einer Koje. Das straff gespannte Netz vor der offenen Seite zu meiner Rechten sollte verhindern, daß ich herausfiel. Das Brausen kam von den Wellen, die gegen den Schiffsrumpf schlugen. Das Knirschen und Rattern resultierte daraus, daß ein fe ster Körper von einem Motor gegen dessen Widerstand durchs Wasser geschoben wurde. Es war eine enorme Erleichterung, daß ich mir jetzt we nigstens auf meine Umgebung einen Reim machen konnte. Das verschaffte mir einen festen Bezug zum Raum und er laubte mir, meinen Zustand wie von außen zu betrachten. Andererseits kamen mir nach Lösung des verwirrendsten Teils des Rätsels die körperlichen Mißempfindungen um so schärfer zu Bewußtsein. Kalt. Hände an die Beine ge fesselt. Muskeln steif von zu langer Ruhe. Und das Wis sen, daß ich mich auf einem Schiff befand, das Wissen, daß mir auf einem Schiff immer übel wurde, trug eindeu tig und erheblich zu meiner Übelkeit bei. Unwissenheit war ein wunderbares Beruhigungsmittel, dachte ich. Die Intensität eines Schmerzes hing von dem Maß an Beachtung ab, die man ihm schenkte, und man fühlte sich am hellichten Tag in Gesellschaft von Men schen nicht halb so mies wie allein und im Dunkeln. Wenn jemand käme und mit mir redete, würde ich vielleicht nicht so frieren, mir wäre nicht so elend zumute und viel leicht auch nicht mehr ganz so übel. Etwa ein Jahrhundert lang kam niemand. 28
Die Bewegungen des Schiffes wurden stärker und mit ihnen das flaue Gefühl in meinem Magen. Ich spürte, daß ich leicht von einer Seite zur anderen rollte, und hatte den allzu deutlichen Eindruck, daß ich auch in Längsrichtung geneigt wurde, einmal mit den Füßen, dann mit dem Kopf nach unten, im selben Rhythmus, mit dem sich der Bug mit den Wellen hob und senkte. Draußen auf dem Meer, dachte ich hilflos. Auf einem Fluß wäre es nicht so rauh. Mit Witzeleien wie »Nun Gott, in den Dienst gepreßt«, »Shanghait!« und »Jim, mein Junge, jetzt hat Long John Silver dich beim Wickel« versuchte ich eine Weile, der Si tuation eine heitere Seite abzugewinnen. Ohne durch schlagenden Erfolg. Schließlich gab ich es auch auf, darüber nachzugrübeln, warum ich wohl hier war. Ich gab es auf, Besorgnisse zu hegen. Ich verlor sogar das Empfinden für die Kälte und die Unbequemlichkeit. Zu guter Letzt konzentrierte ich mich nur noch darauf, mich nicht zu übergeben, und das gelang mir nur, weil ich seit dem Frühstück nichts geges sen hatte. Frühstück? Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Ich wuß te nicht, wie lange ich bewußtlos gewesen war, ja, nicht einmal, wie lange ich wach im Dunkeln gelegen hatte. Ich mußte jedenfalls lange genug bewußtlos gewesen sein, um von Cheltenham an die Küste und an Bord eines Schiffes gebracht worden zu sein. Und war lange genug wach, um mich nach Schlaf zu sehnen. Die Maschine stoppte. Die plötzliche Stille war so wunderbar, daß mir jetzt erst in vollem Maße bewußt wurde, wie zermürbend die Lärmfolter gewesen war. Ich hatte richtiggehend Angst, daß sie wieder einsetzen würde. Funktionierte so eine Gehirnwäsche? 29
Dann kamen plötzlich neue Geräusche von oben. Schlur fende Laute, dann metallische und dann – überwältigend – ein Strahl Tageslicht. Ich zuckte zusammen, schloß meine ans Dunkle adaptierten Augen und öffnete sie langsam wieder. Über mir war aus dem Lichtstrahl ein helles Rechteck geworden. Jemand hatte eine Luke geöffnet. Frische Luft wehte wie Schauer herein, kalt und feucht. Ohne große Begeisterung sah ich mich in der kleinen Welt hinter dem weitmaschigen, weißen Netz um. Ich befand mich, wie man es ausdrücken könnte, in vor derster Front. Im Vorschiff, im Bug. Die Koje, in der ich lag, wurde zu meinen Füßen hin schmaler, und die Sei tenwände der Kabine liefen nach vorne hin zusammen wie eine Pfeilspitze. Die Koje war ungefähr sechzig Zentimeter breit, und darüber befand sich eine weitere Koje. Ich lag auf einer mit einem Tuch bedeckten Matratze; marineblau. Der Rest der Kabine wurde größtenteils von zwei gro ßen, eingebauten, oben offenen, lackierten hölzernen Be hältern beansprucht. Um Segel zu verstauen, dachte ich. Ich befand mich in der Segelkoje eines Segelboots. Hinter meiner rechten Schulter sah ich eine zur Zeit fest verschlossene Tür, die wahrscheinlich nach oben und zu Wärme und Leben führte, in die Kombüse und den Salon. Auch die Sache mit meinen Handgelenken wurde klar. Sie waren tatsächlich beidseits an meine Hose gebunden. So weit ich sehen konnte, hatte jemand auf Höhe der Seitenta schen einige Löcher in den Stoff gestochen, etwas Ver bandsartiges durch die Löcher gezogen und auf wirkungs volle Weise meine Handgelenke an den Stoff gefesselt. Eine gute Hose ruiniert: Aber andererseits waren alle Katastrophen relativ. Über mir erschien ein Kopf in der Luke. Ich konnte ihn durch das Netz nur undeutlich als Silhouette gegen den 30
grauen Himmel ausmachen, hatte aber den Eindruck, daß der Mann ziemlich jung und von kompromißloser Härte war. »Sind Sie wach?« sagte er, während er herabspähte. »Ja«, antwortete ich. »Gut.« Er ging weg, kam aber kurz darauf zurück, um sich mit Kopf und Schultern in die Luke zu beugen. »Wenn Sie vernünftig sind, binde ich Sie los«, sagte er. Seine Stimme hatte etwas von der herrischen Kraft des sen, der gewohnt ist, zu befehlen statt gut zuzureden. Eine Stimme, die ihr Handwerk auf die harte Tour gelernt hatte und unterwegs einiges an Aggressivität angesammelt hat te. »Haben Sie etwas Dramamin für mich?« fragte ich. »Nein«, sagte er. »In der Kabine ist eine Toilette. Da können Sie reinkotzen. Sie müssen mir erst bestätigen, daß Sie sich ruhig verhalten werden, wenn ich jetzt runter komme und Sie losbinde. Sonst laß ich’s bleiben. Klar?« »Ich bin einverstanden«, sagte ich. »Gut.« Ohne weiteres Aufhebens kam er mühelos durch die Lu ke herunter und füllte – eins neunzig groß in Bootsschu hen – praktisch den ganzen verfügbaren Raum aus. Er be wegte sich ganz selbstverständlich das Gleichgewicht haltend auf dem schlingernden Boot. »Hier ist das Klo«, sagte er und hob den Deckel einer dieser beiden Dinger, die wie eingebaute, lackierte Kisten aussahen. »Sie müssen das Seeventil öffnen und mit die sem Hebel Seewasser durchpumpen, wenn Sie fertig sind, sonst werden Sie hier überflutet.« Er schloß den Deckel und öffnete eine Klappe in der Wand darüber. »Da drin finden Sie eine Flasche mit Trinkwasser und ein paar Pappbecher. Ihre Mahlzeiten bekommen Sie, wenn wir un 31
sere kriegen.« Er griff tief in eine der Segelkisten, die an sonsten leer zu sein schien. »Hier ist eine Decke. Und ein Kissen.« Er zog sie heraus, zeigte sie mir – beide waren dunkelblau – und ließ sie wieder hineinfallen. Dann blickte er nach oben zu dem großzügigen Quadrat offenen Himmels über ihm. »Ich stelle die Luke so weit auf, daß Sie Luft und Licht bekommen. Um herauszukommen reicht das nicht. Und es gibt auch nichts, wofür sich das Rauskommen lohnte. Wir haben kein Land mehr in Sicht.« Er zögerte einen Augenblick und löste dann das Netz, das einfach mit verchromten Haken in Ösen an der Koje über mir festgehalten wurde. »Sie können das Netz wieder einhängen, wenn es unge mütlich wird«, sagte er. Ohne weiße Maschen dazwischen betrachtet, wirkte er keineswegs vertrauenerweckend, ein kantiges Gesicht mit kräftigen Knochen. Ziemlich kleine Augen, schmallippiger Mund, wettergegerbte Haut und glattes, braunes, schlaff herabhängendes Haar. Ungefähr in meinem Alter, aber keinerlei Seelenverwandtschaft. Er blickte ohne jede Spur sadistischen Vergnügens auf mich herab, wofür ich dank bar war, aber auch ohne Entschuldigung und jedes Mitleid. »Wo bin ich?« fragte ich. »Warum bin ich hier? Wo fah ren wir hin? Und wer sind Sie?« Er sagte: »Wenn ich Ihre Hände losbinde und Sie ir gendwas versuchen, beziehen Sie Dresche.« Du machst wohl Witze, dachte ich. Einsneunzig gesunde Muskulatur gegen einsfünfundsiebzig durchgefrorene, steife Seekrankheit. Na, vielen Dank auch. »Worum geht es überhaupt?« fragte ich. Selbst in mei nen eigenen Ohren klang das ziemlich schwach. Aber an dererseits fühlte ich mich auch genau so – ziemlich schwach. 32
Er antwortete nicht. Er bückte sich nur, beugte sich über mich und knotete den Verband an meinem linken Handge lenk auf. Dann zog er sich aus der Enge zwischen den Ko jen wieder zurück und wiederholte das Ganze mit meiner rechten Hand. »Bleiben Sie liegen, bis ich hier raus bin«, sagte er. »Erklären Sie mir, was hier vorgeht.« Er stellte einen Fuß auf den Rand der Segelkiste, stemm te die Hände gegen die Seiten der Luke und zog sich halb nach oben in die Außenwelt hinauf. »Ich kann Ihnen nur eines sagen«, meinte er völlig emo tionslos, als er noch einmal hinabblickte, »daß Sie mir verdammt lästig sind. Ihretwegen muß ich sämtliche Segel auf Deck verstauen.« Mit einem Klimmzug, einer Windung und einem Tritt hievte er sich hoch. »Erklären Sie es mir«, rief ich inständig. »Warum bin ich hier?« Er antwortete nicht. Er fummelte am Lukendeckel her um. Ich schwang meine Füße über den Rand der Koje und kam äußerst wackelig auf die Füße. Das Stampfen des Schiffs brachte mich prompt aus dem Gleichgewicht und warf mich, ein Häufchen Elend, auf den Boden. »Sagen Sie’s mir«, rief ich, zog mich wieder hoch und hielt mich an irgendwelchen Dingen fest. »Sagen Sie es mir doch, zum Teufel.« Der Lukendeckel glitt über die Öffnung und sperrte den größten Teil des Himmels aus. Aber diesmal wurde er nicht fest verschlossen, sondern ruhte auf Metallverstre bungen, die einen Spalt von wohl sieben, acht Zentimetern frei ließen: wie ein Deckel, der über einem Kasten ein Stückchen offenstand. Ich faßte mit der Hand durch die Lücke und schrie abermals: »Sagen Sie es mir.« 33
Die einzige Antwort, die ich bekam, war das Geräusch, mit dem der Lukendeckel gegen alle Öffnungsversuche meinerseits gesichert wurde. Dann erstarben auch diese Geräusche, und ich wußte, er war fort; und eine oder zwei Minuten später wurde die Maschine wieder angelassen. Das Boot schlingerte und wurde wild hin und her gewor fen, und meine Seekrankheit gewann in Sekundenschnelle die Oberhand. Ich kniete auf dem Boden, den Kopf über der Kopfschüssel, und keuchte und würgte, als versuchte ich, den ganzen Magen loszuwerden. Ich hatte so lange nichts mehr gegessen, daß ohnehin nur hellgelbe Galle kam, aber das machte die Sache keineswegs besser. Das war das ganze Elend an der Seekrankheit: Der Körper schien nie zu begreifen, daß es einfach nichts mehr zu erbrechen gab. Ich wälzte mich auf die Koje, schwitzte und zitterte gleichzeitig und wollte nur noch sterben. Decke und Kissen, dachte ich. In der Segelkiste. Eine furchtbare Anstrengung, aufzustehen und beides zu holen. Ich beugte mich in die Kiste hinein, und vor meinen Augen drehte sich alles. Noch eine scheußliche Sitzung über der Schüssel. Zum Teufel mit der Decke und dem Kissen. Aber mir war so kalt. Beim zweiten Versuch bekam ich sie zu fassen. Hüllte mich fest in die dicke, marineblaue Wolle und bettete mei nen Kopf dankbar auf das marineblaue Kissen. Irgendwo gab es doch noch Barmherzigkeit, wie es schien. Ich hatte ein Bett und eine Decke und Licht und Luft und ein Was serklosett, und Heerscharen von Schiffsgefangenen vor mir hätten ihre Seele für all das gegeben. Es war wohl ein wenig viel, obendrein noch eine Erklärung zu verlangen. Der Tag verging, und es wurde immer schrecklicher. Wer jemals richtig seekrank war, würde keiner weiteren Erklä 34
rung bedürfen. Der Kopf schmerzt, die Haut ist schweiß naß, der Magen revoltiert, es ist einem schwindlig, und man fühlt sich durch und durch unglaublich krank. Wenn ich die Augen öffnete, würde es noch schlimmer. Wie lange, dachte ich, wird das so weitergehen? Über querten wir den Kanal? Gewiß mußte dieses unablässige Stampfen bald aufhören. Wo immer wir hinfuhren, weit konnte es nicht sein. Irgendwann kehrte er zurück und öffnete den Lukendeckel. »Essen«, sagte er; er mußte schreien, um sich über das Getöse der Maschine hinweg verständlich zu machen. Ich antwortete nicht; war der Mühe nicht wert. »Essen«, rief er noch einmal. Ich bedeutete ihm mit einer schwachen Handbewegung, er könne gehen. Ich könnte schwören, daß er gelacht hat. Sehr merkwür dig, wie komisch Seekrankheit für diejenigen ist, die nicht darunter leiden. Er schob den Lukendeckel wieder zurück und ließ mich mit meiner Übelkeit allein. Das Licht verdämmerte zu Dunkelheit. Ich versank in Träume, die erheblich tröstlicher waren als die Wirklich keit, und erwachte wieder; und während einer dieser kur zen Schlafphasen kam jemand und schloß die Luke. Es war mir ziemlich egal. Wenn das Boot gesunken wäre, hät te ich dem Ertrinken als einer willkommenen Erlösung entgegengesehen. Als die Maschine das nächste Mal stoppte, war das nur eine geringfügige Erleichterung, verglichen mit dem all gemeinen Grad an Jammer. Ich hatte geglaubt, daß mir nur meine Phantasie vorgaukele, das Boot würde von einem Sturm hin und her geworfen, aber als der Motor stoppte, rollte ich unverzüglich aus der Koje. Nachdem ich mich unbeholfen wieder aufgerappelt hat te, hielt ich mich mit einer Hand an der oberen Koje fest 35
und tastete nach der Tür und dem Lichtschalter daneben. Fand den Schalter und drückte ihn. Kein Licht. Kein ver dammtes Licht. Diese elenden Scheißkerle gaben mir kein Licht. Ich tastete mich in der Finsternis zu der unteren Koje zu rück. Stolperte über die Decke. Rollte sie um mich herum, legte mich hin und fühlte mich alles andere als sicher. Suchte blind nach dem Netz. Befestigte ächzend und stöh nend einige der Haken; nicht gerade ordentlich, aber für den Zweck ausreichend. Aus der nächsten Folge von Geräuschen draußen schloß ich, daß jemand Segel setzte. Auf einem Segelboot nicht mehr und nicht weniger als vernünftig. Rattern, Klatschen und undeutliche Rufe, aber alles kümmerte mich einen Dreck. Allerdings erschien es mir ein wenig merkwürdig, daß jemand ausgerechnet zu dieser Stunde das Deck ei merweise mit Wasser spülte, bis es mir dämmerte, daß das schwere, regelmäßige Klatschen von den Wellen kam, die sich über dem Bug brachen. Der fest verschlossene Lu kendeckel machte Sinn. Ich hatte mir noch nie im Leben irgend etwas leidenschaftlicher gewünscht, als meine Füße auf warmes, festes, trockenes Land zu setzen. Ich verlor endgültig den Überblick über die Zeit. Das Leben war schließlich nur noch absolutes Elend und scheinbar ohne Ende. Ich hätte ganz gern einen Schluck Wasser gehabt, brachte aber zum einen nicht die Energie auf, danach zu suchen, und fürchtete zum anderen, es im Dunkeln zu verschütten. Vor allem aber war es mir der Mühe nicht wert, denn jedesmal, wenn ich den Kopf hob, zwangen die schwindelerregenden Übelkeitsanfälle mich würgend auf die Knie. Das Wasser würde, kaum daß es unten war, gleich wieder draußen sein. Er kam und öffnete die Luke: nicht weit, aber gerade ge nug, um ein wenig graues Tageslicht und eine Flut frischer 36
Luft einzulassen. Er schien nicht die Absicht zu haben, mich den Erstickungstod sterben zu lassen. Draußen regnete es heftig. Vielleicht war es aber auch nur Spritzwasser, das über die Reling kam. Ich sah das hel le Leuchten seines gelben Ölzeugs, und ein Schauer schwerer Tropfen spritzte durch die schmale Öffnung. Dann seine Stimme. Er rief laut. »Wollen Sie was zu es sen?« Ich lag apathisch da und antwortete nicht. Er rief abermals. »Heben Sie die Hand, wenn mit Ihnen alles in Ordnung ist.« Ich fand, daß die Bezeichnung ›in Ordnung‹ ein relativer Ausdruck war, schwang mich aber dennoch zu einem schwachen Winken auf. Er sagte etwas, das wie »stürmischer Wind« klang, und schloß die Luke wieder. Verdammter Mist, dachte ich verbittert. Wohin fuhren wir, daß wir in stürmische Winde geraten konnten? Raus auf den Atlantik? Und weshalb? Ein alter Spruch über die Seekrankheit kam mir in den Sinn: »Im einen Augenblick hast du Angst zu sterben, im nächsten hast du Angst, nicht zu sterben.« Während des Sturms stöhnte ich stundenlang jämmerlich in mein Kissen, unbeschreiblich krank von nichts als reiner Bewegung. Ich erwachte aus einem sonnigen Traum, das x-te Erwa chen in totaler Dunkelheit. Etwas ist anders, dachte ich benommen. Dasselbe wilde Wetter draußen, der Bug klatschte immer noch in die Seen und nahm schwere Wellen über. Dasselbe Knirschen und Schlagen des windgebeutelten Riggs. Aber bei mir war etwas ganz anders geworden. Ich atmete vor Erleichterung tief durch. Die Übelkeit schwand dahin, zog sich langsam zurück wie das Meer bei 37
Ebbe; ich hatte mich an eine fremde Umgebung angepaßt. Eine Weile lag ich in schlichter Zufriedenheit einfach nur da, während die Normalität wie ein vergessener Luxus zu rückgeschlichen kam: Dann jedoch machten sich augen blicklich andere Probleme bemerkbar. Durst, Hunger, Er schöpfung und ein drückender Kopfschmerz, den ich schließlich auf Dehydration und Mangel an frischer Luft zurückführte. Ein säuerlicher Geschmack im Mund. Ein juckender Stoppelbart. Ein Gefühl, als hätte ich einen Mo nat lang dieselben verschwitzten Kleider angehabt. Aber schlimmer als diese körperlichen Nadelstiche waren die geistigen Felstrümmer. Die Verwirrung hatte etwas für sich gehabt. Die Klarheit brachte nicht den leisesten Trost. Je genauer ich geradeaus denken konnte, um so weniger gefielen mir die Aussich ten. Jede Entführung mußte einen Grund haben, aber der häufigste Grund ergab den wenigsten Sinn. Ein Lösegeld … unmöglich. Es gab niemanden, der für meine Entlas sung eine Million bezahlt hätte: keine Eltern, weder reiche noch arme. Eine Geiselnahme … aber Geiseln wurden für gewöhnlich willkürlich genommen und nicht mit kompli zierten Vorbereitungen an einem öffentlichen Ort. Ich hatte keinerlei politische Bedeutung und verfügte über keine be sonderen Kenntnisse: Man konnte keine Terroristen gegen mich austauschen, ich kannte auch keine Geheimnisse, hatte keinen Zugang zu Regierungsunterlagen oder Vertei digungsplänen oder wissenschaftlichen Enthüllungen. Niemand würde mehr als flüchtiges Bedauern empfinden, ob ich nun lebte oder starb, bis auf Trevor vielleicht, der es als ärgerliche Last empfinden würde, einen Ersatz für mich suchen zu müssen. Ich erwog so leidenschaftslos wie nur möglich den Ge danken des Todes, ließ ihn aber schließlich wieder fallen. 38
Wenn man mich hätte ermorden wollen, wäre das bereits geschehen. Die Kabine war für einen lebenden Gefange nen hergerichtet worden, nicht für eine zukünftige Leiche. Auf hoher See wäre nicht mehr als ein kurzes Hiev-ho und vielleicht etwas Ballast vonnöten gewesen. Mit etwas Glück würde ich also überleben. Wie unrealistisch es mir zu sein schien: Mir fiel nur ein Grund ein, der überhaupt ein wenig Sinn machte. Ich muß te aus Rache hierher gelangt sein. Obwohl für den größten Teil der Menschheit Wirt schaftsprüfer staubtrockene Kreaturen sind, die sich schwerfällig durch langweilige Zahlenkolonnen fressen, betrachteten die Unehrlichen sie als Todfeinde. Ich hatte auch einige finanzielle Betrügereien aufge deckt. Ich hatte ein Dutzend Leute um ihre Jobs gebracht, andere hatten es infolge meiner Tätigkeit mit dem Fiskus zu tun bekommen, und fünf Personen, die Gelder verun treut hatten, waren ins Gefängnis gewandert. Die Gehäs sigkeit in den Augen einiger der Betroffenen war wie Säu re gewesen. Wenn zum Beispiel Connaught Powys Urheber dieses Ausflugs war, hatten meine Schwierigkeiten noch gar nicht erst angefangen. Als ich ihn vor vier Jahren das letz te Mal sah – vor Gericht und frisch verurteilt –, hatte er geschworen, es mir heimzuzahlen. Er müßte seine Zeit in Leyhill mittlerweile abgesessen haben. Wenn er mit ›heim zahlen‹ volle vier Jahre als Gefangener in einer Segelkabi ne meinte … nein, das konnte es nicht sein. Konnte nicht. Konnte nicht. Ich schluckte und redete mir ein, daß so et was schon aus rein praktischen Erwägungen unmöglich war. Meine Kehle war trocken. Das kam vom Durst, sagte ich mir entschlossen, nicht von der Angst. Angst würde mich nirgendwo hinführen. 39
Ich schob mich aus meiner Koje, stand auf der winzigen Bodenfläche und hielt mich an der oberen Koje fest. Die schwarze Welt tanzte um mich herum, aber der Schwindel war bereits verflogen. Die Flüssigkeit in den semizirkulä ren Kanälen meiner Ohren hatte sich endlich daran ge wöhnt, chaotisch hin und her zu schwappen: Ein Jammer nur, daß sie das nicht mit weniger Aufhebens bewerkstel ligen konnte. Ich fand die Klinke des Wandfaches, öffnete es und ta stete das Innere ab. Pappbecher, wie versprochen. Wasser flasche dito. Große Plastikflasche mit Schraubverschluß. Im Dunkeln war es aussichtslos, einen der Becher zu be nutzen: Ich zwängte mich auf den einzigen verfügbaren Sitzplatz – den heruntergelassenen Klodeckel – und trank gleich aus der Flasche. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme rann mir bei dem heftigen Schlingern und Schaukeln ein gut Teil davon den Hals hinunter. Ich schraubte den Deckel vorsichtig wieder zu, suchte den Weg zurück zur Koje und nahm die Flasche mit. Hängte das Netz wieder ein. Legte mich, den Kopf auf das Kissen gestützt, auf den Rücken, preßte mir die Wasserfla sche auf die Brust und pfiff O Susanna, um zu beweisen, daß ich noch lebte. Dann verging lange Zeit, während der ich ziemlich viel trank und jede Melodie pfiff, die mir einfallen wollte. Danach stand ich auf, schlug mit den Fäusten und der Flasche gegen die Kabinentür und schrie aus Leibeskräf ten, daß ich wach und hungrig sei und stinksauer über die ganze verfluchte Scharade. Ich steckte ein gut Teil Energie in diese Unternehmung, aber das Ergebnis war gleich null. Als ich wieder in der Koje lag, beschäftigte ich mich mit Fluchen statt mit Pfeifen. Mal eine Abwechslung. Die Elemente machten dem Boot weiterhin schwer zu schaffen. Ich setzte meine fruchtlosen Spekulationen dar 40
über fort, wo wir uns befanden, wie groß das Boot war, wie viele Mann Besatzung es hatte und ob sie etwas taug ten. Ich dachte an heiße Würstchen und knuspriges Brot und roten Wein, und eine recht fröhliche Stunde lang dach te ich an meinen Sieg im Gold Cup. Als ich allmählich ernsthaft darüber nachzudenken be gann, ob vielleicht alle außer mir über Bord gespült wor den waren, hörte ich von oben abermals die Lukenöff nungsgeräusche. Er war es, nach wie vor in seinem Öl zeug. Ich sog den erfrischenden Schwall kalter Luft gierig ein und fragte mich, was für ein stinkender Mief ihn wohl begrüßen mochte. Ich hängte das Netz aus und stand auf, mußte mich aber taumelnd festhalten. Der Wind draußen kreischte wie eine Horde Stare. Er rief: »Wollen Sie was zu essen?« »Ja«, brüllte ich. »Und mehr Wasser.« Ich hielt ihm die fast leere Flasche hoch, und er streckte die Hand danach aus. »Gut.« Er schloß die Luke und ging weg, aber nicht bevor ich ei nen furchteinflößenden Blick auf die Außenwelt werfen konnte. Das Boot rollte wie gewohnt schwer zur Seite, nach links, und bevor es sich wieder nach rechts legte, sah ich das Meer. Eine gewaltige, ungleichmäßige Welle türmte sich auf, löschte den Himmel aus, anthrazitfarben, glän zend, mit Gischtkämmen überzogen. Der nächste schwere Wasserschwall, der sich über die Luke ergoß, ließ mir mei ne trockene Kabine in etwas günstigerer Sicht erscheinen. Er kam zurück, öffnete den Lukendeckel etliche Zenti meter weit und ließ an einem Tau eine Einkaufstüte aus Plastik hinunter. Dann rief er mir etwas zu. »Wenn ich Ihnen das nächste Mal Essen bringe, geben Sie mir diese Tüte zurück. Verstanden?« 41
»Ja«, rief ich zurück, während ich das Seil löste. »Wie viel Uhr ist es?« »Fünf. Nachmittags.« »Welcher Wochentag?« »Sonntag.« Er zog das Seil hinauf und machte Anstalten, den Lukendeckel zu schließen. »Geben Sie mir etwas Licht«, brüllte ich. Er rief etwas, das wie ›Batterien‹ klang, und verurteilte mich wieder zur Blindheit. Ja, nun … man konnte auch sehr gut ohne Licht leben. Ich rutschte wieder in die Koje, befestigte das Netz und erkundete die Einkaufstasche. Die Wasserflasche voll; ein Apfel; und ein Paket mit zwei dicken, etwas warmen Sandwiches. Sie erwiesen sich als Hamburger, die mit Brot statt mit Brötchen zubereitet worden waren, und als sehr lecker. Ich aß alles auf. Fünf Uhr am Sonntag. Drei ganze beschissene Tage, seit ich in den weißen Lieferwagen gestiegen war. Ich fragte mich, ob irgend jemand mich ernsthaft genug vermißt hatte, um zur Polizei zu gehen. Ich war unvermit telt aus dem Waageraum verschwunden, aber niemand würde das für verdächtig halten. Der Jockeydiener mochte überrascht gewesen sein, daß ich nicht meine Brieftasche, meine Schlüssel und meine Uhr bei ihm abgeholt hatte, die er während des Rennens wie gewöhnlich für mich ver wahrt hatte. Vielleicht erstaunte es ihn auch, daß ich ihn nicht bezahlt hatte: Aber er würde meine Vergeßlichkeit gewiß auf die Aufregung zurückgeführt haben. Mein Wa gen würde wohl immer noch auf dem Jockeyparkplatz ste hen, aber bisher hatte sich wohl kaum jemand deswegen den Kopf zerbrochen. Ich wohnte allein in einem Cottage fünf Kilometer au ßerhalb von Newbury: Mein nächster Nachbar würde le diglich denken, daß ich das Wochenende irgendwo ver brachte, um zu feiern. Unsere beiden Bürogehilfen, ein 42
Junge und ein Mädchen, hatten wahrscheinlich nachsichti ge Betrachtungen angestellt – oder vielleicht auch sarka stische Bemerkungen gemacht –, als ich am Freitag nicht zur Arbeit erschienen war. Die Klienten, mit denen ich verabredet war, mußten verärgert gewesen sein, aber mehr nicht. Trevor war im Urlaub. Also würde niemand nach mir su chen, schlußfolgerte ich. Am Montag morgen würde der bankrotte Mr. Wells viel leicht Krach schlagen. Aber selbst wenn man dann begriff, daß ich verschwunden war, wie sollte man mich jemals finden? Ich mußte mich der Tatsache stellen, daß dieser Fall nicht eintreten würde. Rettung war unwahrscheinlich. Wenn ich nicht entkam, würde ich in der Segelkabine bleiben, bis irgend jemand Lust hatte, mich rauszulassen. Die Nacht von Sonntag auf Montag war eine lange, kal te, wilde, niederschmetternde Nacht.
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m Montag, dem 21. März, wurde die Luke zweimal geöffnet, um Luft, Essen, Wasserspritzer und flüchti ge Aussichten auf einen beständig grauen Himmel einzu lassen. Bei beiden Gelegenheiten verlangte ich Informa tionen und bekam keine. Das Ölzeug vermittelte lediglich den Eindruck, daß die Mannschaft so viel damit zu tun hatte, das Boot unter diesen Bedingungen zu manövrieren, daß keine Zeit blieb, verdammt dämliche Fragen zu be antworten. Ich war daran gewöhnt, allein zu sein. Ich lebte allein und arbeitete bis zu einem gewissen Maß auch allein; ich war von Natur aus ein Einzelgänger und fühlte mich selten einsam. Ich war ohne Geschwister aufgewachsen und lan ge daran gewöhnt, mir selbst Gesellschaft zu leisten; die ständige Anwesenheit einer größeren Anzahl von Men schen empfand ich häufig als bedrückend, so daß ich ihr soweit wie möglich zu entkommen trachtete. Dennoch wurde ich, während die Stunden sich dahinschleppten, das einsame Leben in der Segelkabine zunehmend leid. Eine Existenz in der Zwischenwelt des Ungewissen, dachte ich. Als läge man in einer schwarzen Kapsel, die endlos hin und her geworfen wurde. Wie lange brauchte der menschliche Geist, um sich aufzulösen, wenn man ihn allein der Ungewißheit der ratternden, schlingernden Fin sternis überließ? Verdammt lange, gab ich mir rebellisch selbst zur Ant wort. Wenn der Zweck dieser Gefangenschaft darin be 44
stand, aus mir ein greinendes Wrack zu machen, dann würde dem kein Erfolg beschieden sein. Unbeugsame Ge danken, unbeugsame Worte … Ich überlegte ein wenig realistischer, daß es von den wahren Fakten abhing. Ich konnte diese Behandlung noch eine Woche einigermaßen passabel überstehen, zwei Wochen mit Mühe. Danach … unbekanntes Territorium. Wo konnten sie hinfahren? Quer über den Atlantik? Oder – falls das Ziel wirklich darin bestand, mich kleinzukrie gen – vielleicht einfach nur die Irische See hinauf und hinunter? Vielleicht waren sie der Ansicht, daß jeder län gere Aufenthalt in rauher See zum Ziel führte. Und wer waren ›sie‹? Nicht der Typ in dem Ölzeug. Er betrachtete mich als lä stiges Anhängsel, nicht als Zielscheibe für Bosheiten. Wahrscheinlich hatte er, was mich betraf, seine Anweisun gen, die er eben ausführte. Ich fand es gar nicht komisch, daß seine Anweisungen vielleicht lauteten, mich erst wie der nach Hause zu bringen, wenn ich den Verstand verlo ren hatte. Scheiße, dachte ich. Verdammte elende Scheiße. Da würde er einen lausig langen Trip vor sich haben. Zum Teufel mit ihm. Zum Teufel mit dem Mistkerl. Das Fluchen schaffte eine Erleichterung, die half, bei Verstand zu bleiben. Eine ziemlich lange Zeit nach meinem zweiten Montags blick auf die Außenwelt schien es, als würden die wahnsin nigen Bewegungen des Bootes langsam ruhiger. Wenn ich jetzt aus der Koje kroch und mich aufrecht hinstellte, wurde ich nicht mehr gar so arg herumgeschleudert. Ich mußte mich immer noch festhalten, aber ich brauchte mich nicht mehr festzuklammern, als gelte es mein Leben. Das Vor schiff klatschte nicht mehr so heftig in die See. Das Don nern des Wassers über der Luke ließ an Häufigkeit und Ge 45
walt nach. Ich hörte Rufe auf Deck, Knarren und vernehm liches metallisches Klirren; vermutlich wurde die Segelfüh rung den veränderten Verhältnissen angepaßt. Ich stellte auch zum ersten Mal seit meinem ersten Er wachen in der Kabine fest, daß ich nicht mehr fror. Ich trug immer noch die Kleider, die ich in der fernen Welt der Normalität angezogen hatte: Einen anthrazitfar benen Anzug, darunter einen ärmellosen Westover, hell blaues Hemd, Unterhose und Socken. Irgendwo im Dun keln auf dem Boden lag meine Lieblingskrawatte, italieni sche Seide, die ich zur Feier des Gold Cup angelegt hatte. Die Schuhe waren völlig verschwunden. Das lange strapa zierte Ensemble, das anfangs selbst zusammen mit einer Decke nicht ausgereicht hatte, war mir plötzlich zuviel. Ich zog mein Jackett aus und rollte es zu einem ordentli chen Ball zusammen. Als tadelloses Stück Herrenbeklei dung gehörte es bereits der Vergangenheit an, aber als zu sätzliches Kissen trug es beträchtlich zur Annehmlichkeit des Lebens bei. Erstaunlich, wie man durch Entbehrungen die kleinsten Extras zu schätzen lernt. Mein Zeitgefühl war mir verlorengegangen. Ohne feste äußere Bezüge zwischen dem Zustand des Schlafens und Wachens hin und her zu gleiten, war eine merkwürdige Sache. Meistens konnte ich nicht sagen, ob ich Minuten oder Stunden geschlafen hatte. Träume kamen auch im Halbschlaf, manchmal in so kurzen Sequenzen, daß ich sie nicht nach Sekunden hätte messen können. Andere Träume waren tiefer und länger, und ich wußte, daß sie das Ergeb nis eines festeren Schlafes waren. Kein einziger von ihnen schien irgend etwas mit meiner gegenwärtigen Zwangsla ge zu tun zu haben, und keiner steuerte irgendwelche un terbewußten Informationen bei, was die Frage betraf, war um ich hier war. Auch in meinen tiefsten Tiefen schien ich in dieser Hinsicht völlig ahnungslos zu sein. 46
Dienstag morgen – es mußte Dienstag morgen gewesen sein – kam er ohne Ölzeug. Die Luft, die durch die offene Luke hereinströmte, war frisch und sauber wie immer, aber nun auch trocken und milde warm. Der Himmel war hellblau. Ich konnte ein Stückchen weißen Segels sehen und das Zischen hören, mit dem der Bootsrumpf das Was ser durchschnitt. »Essen«, sagte er und ließ eine der mittlerweile vertrau ten Plastiktüten hinunter. »Sagen Sie mir, warum ich hier bin«, sagte ich, während ich den Knoten öffnete. Er antwortete nicht. Ich band die Einkaufstüte los, knote te die leere an das Tau und hielt es fest. »Wer sind Sie? Was ist das für ein Boot? Warum bin ich hier?« fragte ich. Sein Gesicht zeigte keine Reaktion bis auf eine leichte Verärgerung. »Ich bin nicht hier, um Ihre Fragen zu beantworten.« »Wozu sind Sie dann hier?« fragte ich. »Geht Sie nichts an. Lassen Sie das Tau los.« Ich hielt fest. »Bitte, sagen Sie mir, warum ich hier bin«, sagte ich. Er blickte ungerührt zu mir hinab. »Wenn Sie noch mehr Fragen stellen und das Tau nicht loslassen, kriegen Sie kein Abendessen.« Die Einfachheit der Drohung und die Einfachheit des Geistes, der dahintersteckte, waren schon ziemlich atem beraubend. Ich ließ das Tau los, versuchte es aber doch noch einmal. »Dann sagen Sie mir bitte wenigstens, wie lange Sie mich hier festhalten werden.« Er warf mir einen finsteren, sturen Blick zu und zog die Tüte hoch. »Sie kriegen kein Abendessen«, sagte er, zog den Kopf zurück und machte sich daran, die Luke zu schließen. 47
»Lassen Sie die Luke auf«, rief ich. Das brachte mir auch nichts ein. Er verbannte mich ent schlossen wieder in die Dunkelheit. Ich stand da, schwankte mit dem Boot hin und her, hielt mich an der oberen Koje fest und versuchte eine jähe, überwältigende Flut zornigen Ärgers zu unterdrücken. Wie konnten sie es wagen, mich zu entführen, in dieser winzigen Zelle einzu sperren und wie ein unartiges Kind zu behandeln. Wie konnten sie es wagen, mir jegliche Gründe dafür vorzu enthalten und mich, was die Zukunft betraf, im Ungewis sen zu lassen. Wie konnten sie es wagen, mich in das schmutzige Elend meines jetzigen ungewaschenen, unge kämmten, unrasierten Zustands zu stürzen. In dem wilden Zorn, der mich buchstäblich erbeben ließ, lag eine gehöri ge Portion gekränkter Stolz und Unbeherrschtheit. Ich könnte zum Berserker werden und alles um mich herum kurz und klein schlagen, dachte ich, oder mich wieder beruhigen und essen, was immer er mir in der Tüte gebracht hatte: Und die Tatsache, daß ich diese Alternative überhaupt wahrgenommen hatte, bürgte bereits dafür, daß ich mich für sie entschied. Der bittere, frustrierte Zorn lö ste sich zwar nicht auf, aber zumindest bekam ich ihn mit einem Seufzer wieder unter Kontrolle. Die Intensität meiner Gefühle und ihr gewaltsamer, un erwarteter Ausbruch erschreckten mich. Ich würde vor sichtig sein müssen, dachte ich. Es führten viele Wege in den Untergang, und Zorn, so schien es, war einer davon. Wenn ein Psychiater an meiner Stelle hier eingesperrt wäre, überlegte ich, verfügte er dann über irgendwelche Sicherheitsmechanismen, die mir fehlten? Hätte sein Wis sen um das, was der Psyche eines Menschen in solchen Situationen zustoßen konnte, ihm geholfen, den Sympto men zu widerstehen, wenn sie auftraten? Ich hätte Psy chologie studieren sollen, nicht Betriebswirtschaft. Wäre 48
im Falle einer Entführung nützlicher gewesen. Gar keine Frage. Die Tüte enthielt zwei abgepellte, hartgekochte Eier, ei nen Apfel und drei kleine, in Folie gepackte Dreiecke Schmelzkäse. Ich hob mir eines der Eier und zwei Stücke Käse für später auf, falls er das mit dem Abendessen ernst gemeint hatte. Das hatte er. Unzählbare Stunden verstrichen. Ich aß das zweite Ei und den Rest des Käses. Trank etwas Wasser. Als einziger Zeitvertreib des ganzen Tages nicht gerade ein Renner. Als die Luke das nächste Mal geöffnet wurde, war es draußen dunkel, obwohl die Dunkelheit von einem leuch tenden Grau war, das sich von dem Schwarz in der Kabine durchaus unterschied. Da keine Plastiktüte mit Essen er schien, schloß ich, daß mir diese Erleichterung nur ver gönnt wurde, damit ich nicht erstickte. Der Mann hatte die Luke geöffnet und war verschwunden, bevor ich dazu kam, weitere Fragen zu riskieren. Weg. Die Luke stand weit offen. Draußen auf Deck wurden Stimmen laut, und es herrschte rege Betriebsamkeit mit Seilen und Segeln. »Laß los.« »Wenn du das Mistding ins Meer fallen läßt …« »Fang das verdammte Tuch auf … beweg dich, kannst du nicht …« »Du mußt die Genua längs der Reling stauen.« Überwiegend seine Stimme, die ganz aus der Nähe An weisungen gab. Ich stellte einen Fuß auf den schenkelhohen Rand der Segelkiste, so wie er es getan hatte, hängte meine Hände über die Kanten der Luke und hievte mich hoch. Mein Kopf ragte hinaus in die freie Welt, und es dauerte unge fähr zwei ganze Sekunden, bis er mich bemerkte. 49
»Runter mit Ihnen«, sagte er schroff und unterstrich sei ne Worte, indem er mir auf die Finger trat. »Runter mit Ih nen, und bleiben Sie unten.« Er trat nach meiner anderen Hand. »Oder wollen Sie was auf den Kopf?« Er hielt eine schwere, chromglänzende Winschkurbel in der Hand und schwenkte sie mit einer unmißverständlichen Geste in meine Richtung. »Es ist kein Land in Sicht«, sagte er und trat wieder zu. »Also, gehen Sie wieder runter.« Ich ließ mich auf den Boden fallen, und er schloß die Luke. Ich preßte meine brennenden Finger an die Brust und schätzte mich glücklich, daß niemand mit Nagelstie feln segeln ging. Aber die zwei Sekunden, um das Boot in Augenschein zu nehmen, waren die Sache wert gewesen. Ich setzte mich auf den Klodeckel, legte die Füße gegenüber auf die untere Koje und dachte über die Bilder nach, die noch immer lebhaft auf meiner Netzhaut standen. Selbst im Abendlicht hatte ich, da meine Augen an eine tiefere Dun kelheit gewöhnt waren, eine Menge sehen können. Zum einen hatte ich drei Männer gesehen. Den, den ich kannte und der nicht nur für mich, sondern für das ganze Boot zuständig zu sein schien. Zwei weitere, beide jung, die ein großes, halb über die Reling hängendes Segel einholten, es mit ausgestreckten Armen heranzogen und zu verhindern suchten, daß es sich wieder aufblähte, soweit sie es schon an Deck hatten. Möglicherweise gab es noch einen vierten Mann, am Steuer: Das hatte ich nicht sehen können. Gut drei Meter hinter der Luke ragte der einzige Mast des Bootes majestä tisch gen Himmel, und Klampen, Blöcke und Taue am Mastfuß bildeten ein Hindernis, das jeden direkten Blick bis ins Cockpit unmöglich machte. Dort konnte sich durchaus noch ein Steuermann mit weiteren drei bis vier 50
Mann Besatzung aufhalten. Vielleicht verfügte das Boot aber auch über eine automatische Steuerung, und ich hatte die gesamte Mannschaft auf Deck gesehen. Das Boot er schien mir jedoch ziemlich groß, um von nur drei Män nern gesegelt zu werden. Ganz grob geschätzt und nach dem fernen Glitzern der Chromkurbeln zu urteilen, würde ich sagen, daß es so lang war wie der Teil des Cricketplatzes zwischen den beiden Dreistäben. Knapp zwanzig Meter vielleicht. Also nicht gerade ein spritziges kleines Bötchen für den Sonntagnachmittag auf der Themse. Eher eine hochsee taugliche Rennyacht. Ein ehemaliger Klient war Besitzer einer Hochseerenn yacht aus zweiter Hand gewesen. Er hatte für neun Meter Abenteuer fünfundzwanzigtausend hingeblättert und strahlte jedesmal, wenn er daran zurückdachte. Seine Stimme schien die Distanz der Jahre zu überwinden: »Die Leute, die Regatten fahren, müssen jedes Jahr ein neues Boot kaufen, im Ernst. Es gibt immer etwas Neues. Wenn sie sich kein besseres Boot anschaffen, können sie unmög lich gewinnen, und um die Möglichkeit eines Siegs, nur darum geht es ihnen. Ich dagegen, ich will lediglich im Sommer wochenendweise rund um Großbritannien schip pern können. Also kaufe ich mir eins von den abgelegten Booten der großen Nummern. Das sind gut gebaute Boote, genau das Richtige für mich.« Er hatte mich einmal zu ei nem Sonntagslunch auf sein Boot eingeladen. Ich hatte mir den Gegenstand seines freudigen Besitzerstolzes mit Vergnügen angesehen, war insgeheim jedoch überaus er leichtert gewesen, als ein plötzlicher Sturm uns daran ge hindert hatte, den Hafen seines Yachtclubs zu der für den Nachmittag versprochenen Segelpartie zu verlassen. Durchaus wahrscheinlich, daß ich mich derzeit auf ir gendeinem anderen abgelegten Boot irgendeiner anderen 51
großen Nummer verlustierte. Die große Frage war nur, wer die ganze Chose bezahlte? Die Wetterbesserung war eine durchaus zweifelhafte Seg nung, denn nun setzte auch die Maschine wieder ein. Der Lärm schien meine Nerven noch heftiger zu attackieren als am Anfang. Ich lag auf der Koje und versuchte mir mit den Fingern und dem Kissen die Ohren zuzuhalten, aber die dröhnenden Vibrationen ließen sich von solch lächerli chen Hindernissen nicht aufhalten. Ich mußte mich entwe der an den Krach gewöhnen und ihn ignorieren, dachte ich, oder in Raserei geraten, bis ich hoffnungslos überge schnappt war. Ich gewöhnte mich daran. Mittwoch. War es Mittwoch? Ich bekam zweimal Essen und frische Luft. Ich sagte nichts zu ihm, und er sagte nichts zu mir. Der ständige Lärm des Motors erschwerte das Reden. Der Mittwoch war eine schwarze Wüste. Donnerstag. Ich war jetzt eine Woche hier. Als er die Luke öffnete, rief ich: »Ist heute Donnerstag?« Er sah überrascht aus. Zögerte und rief dann zurück: »Ja.« Er sah auf seine Uhr. »Viertel vor elf.« Er trug ein blaues Baumwoll-T-Shirt. Es schien ein schöner Tag zu sein. Zuviel Licht ließ mir die Augen schmerzen. Ich band die Tüte von dem Tau los und befestigte die vorhergehende daran, die wie gewöhnlich eine leere Was serflasche enthielt. Als er die Tüte hochzog, blickte ich zu ihm auf, und er starrte zu mir hinunter, in mein Gesicht. Er trug seine gewohnte ungerührte Miene zur Schau: ein har ter junger Mann, eher gefühllos als wirklich brutal. Ich fragte nicht bewußt danach, aber nach einer kurzen Pause, während der er den Horizont in Augenschein zu 52
nehmen schien, begann er die Luke so festzustellen, wie er es am ersten Tag getan hatte, so daß sie überall etwa acht Zentimeter hoch aufstand und einen beständigen Zustrom von Luft und Licht einließ. Die Erleichterung darüber, nicht abermals in die Dun kelheit gesperrt zu werden, war absolut niederschmet ternd. Ich stellte fest, daß ich von Kopf bis Fuß zitterte. Ich schluckte, versuchte, mich gegen die Möglichkeit zu wappnen, daß er seine Meinung ändern könne. Versuchte, mir einzureden, daß ich dankbar sein mußte, selbst wenn sich herausstellen sollte, daß er mir nur fünf Minuten gab. Er sicherte die Luke und ging weg. Zitternd holte ich ein paarmal tief Luft und hielt mir einen fruchtlosen Vortrag zum Thema stoischer Verhaltensweise, komme, was da wolle, Licht oder Finsternis. Nach einer Weile setzte ich mich auf den Klodeckel und aß meine erste Mahlzeit an Bord, die ich tatsächlich sehen konnte. Zwei hartgekochte Eier, etwas Knäckebrot, drei Dreiecke Käse und ein Apfel. Meine Kost war nie beson ders abwechslungsreich, aber zumindest hatte niemand die Absicht, mich verhungern zu lassen. Ungefähr eine halbe Stunde nachdem er fortgegangen war, kam er zurück. Verdammt, dachte ich. Eine halbe Stunde. Sei dankbar dafür. Zumindest hatte ich mich soweit bringen können, einer neuerlichen Dosis Dunkelheit entgegenzusehen, oh ne restlos zusammenzubrechen. Er war jedoch nicht gekommen, um die Luke zu schlie ßen. Ohne etwas an der Art zu ändern, wie sie festgemacht war, schob er eine weitere Plastiktüte durch die Öffnung. Diesmal war sie nicht an einem Tau befestigt, denn als er losließ, fiel sie zu Boden; und bevor ich irgendeine Be merkung machen konnte, war er wieder verschwunden. 53
Ich hob die Tüte, die leicht und beinahe leer zu sein schien, auf und blickte hinein. Um Gottes willen, dachte ich. Lach drüber. Lach, aber fang, verdammt noch mal, nicht an zu heulen. Eine Unze Freundlichkeit wirkte verheerender als eine Woche Elend. Er hatte mir ein Paar saubere Socken und ein Taschen buch gegeben, einen Roman. Einen gut Teil des Tages brachte ich mit dem Versuch zu, aus der Luke zu spähen. Einen Fuß auf dem Rand der Se gelkiste und die Hände in die Öffnung der Luke gestemmt, konnte ich den Kopf ohne weiteres nach oben bekommen, aber das Bild, das sich mir bot, wäre aufschlußreicher ge wesen, wenn entweder der Lukendeckel ein paar Zentime ter höher eingestellt gewesen wäre oder ich meine Augen etwas höher in der Stirn gehabt hätte. Was ich sah – mit schräggelegtem Kopf und einäugig –, waren jede Menge Seile, Rollen, Blöcke, eingerollte Segel, reichlich grünes Meer und eine dunkle Linie Land vorne am Horizont. Obwohl sich während des Tages nichts von alledem ver änderte – nur das Fleckchen Land wuchs langsam –, wur de ich es nie müde hinzusehen. Nun konnte ich auch die Befestigung des Lukendeckels aus der Nähe betrachten, und nach einer Weile stellte ich fest, daß sie für meinen Besuch ein wenig modifiziert worden war. Die Metallstützen, die die Luke offenhielten, hatten Gelenke und klappten nach innen ein, wenn man den Lukendeckel schloß. Außen war der Lukendeckel an zwei schwereren Gelenkarmen befestigt, an denen man ihn ganz auf- und bis aufs Deck umklappen konnte. In der Kabine konnte man den Lukendeckel, wenn man ihn von innen geschlossen hatte, mit zwei kräftigen Klemmen sichern. Auf Deck gab es ebenfalls zwei solcher Klemmen, um den Deckel von außen zu sichern. 54
Soweit entsprach alles dem Üblichen auf Booten dieser Art. Darüber hinaus waren jedoch Vorkehrungen getroffen worden, um zu verhindern, daß jemand von innen den Lu kendeckel weit öffnen konnte, nachdem er die inneren Ge lenkstützen gelöst hatte. Bei der Normalkonstruktion wäre das ohne weiteres möglich gewesen. Die Luke zur Segel kabine sollte sich normalerweise leicht und weit öffnen lassen, damit man die Segel schnell verstauen oder wieder an Deck holen konnte. Das zu erschweren hätte normaler weise wenig Sinn gemacht. Über den Lukendeckel meines Gefängnisses jedoch waren zwei Ketten gespannt worden, eine mittschiffs und die andere quer dazu von Backbord nach Steuerbord. Beide waren an ihren Endpunkten an Klampen belegt, die für mich so aussahen, als seien sie erst vor kurzem aufs Deck geschraubt worden. Die Ketten hielten den Lukendeckel auf den Gelenkstützen nieder wie Spannseile, straff und fest. Wenn ich diese Ketten losbe käme, könnte ich ausbrechen. Wenn ich irgend etwas ge habt hätte, um sie zu lösen. Das waren ›Wenns‹, die sich wie der Mount Everest vor mir auftürmten. Ich konnte die Hände unter der keine zehn Zentimeter weit aufgestellten Klappe hindurchschieben, aber kaum die Arme. Nicht weit genug jedenfalls, um die Klampen zu erreichen, ge schweige denn die Ketten loszumachen. Und was das Werkzeug anbetraf – Hebel, Schraubenzieher, Hämmer und Feilen –, hatte ich nichts außer Papierbechern, einem dünnen Tragebeutel und einer Wasserflasche aus Plastik. Es war eine Qual, Stunde um Stunde die unerreichbare Freiheit vor mir zu sehen. Zwischen langen Wachen dicht unter der Decke saß ich auf dem Klodeckel und las das Buch, einen amerikani schen Krimi mit einem karatekundigen Helden, der sich binnen fünf Minuten aus einer Segelkabine herausgehauen hätte. 55
Von ihm inspiriert, nahm ich mir die Kabinentür noch einmal vor. Sie widerstand meinen Versuchen wie eine un verrückbare Mauer. Offensichtlich hätte ich neben Psycho logie auch Karate studieren sollen. Das mußte ich beim nächsten Mal anders machen. Der Tag verging im Flug. Das Licht wurde schwächer. Das Fleckchen Land draußen war zu einer immer sichere ren Gewißheit geworden. Aber ich hatte keine Ahnung, um welches Land es sich handelte. Er kam zurück, ließ die Plastiktüte hinunter und wartete, während ich die leeren festband. »Vielen Dank«, rief ich, als er sie hochzog, »für das Buch und die Socken.« Er nickte und machte sich daran, die Luke zu schließen. »Bitte nicht«, rief ich. Er hielt inne und blickte hinunter. Wir schienen immer noch den Seid-nett-zu-Gefangenen-Tag zu haben, denn zum ersten Mal erklärte er irgend etwas. »Wir laufen in einen Hafen ein. Sie brauchen erst gar nicht zu versuchen, Krach zu schlagen. Wir werden drau ßen vor Anker liegen. Niemand wird Sie hören können.« Er schloß die Luke. In der lärmenden, betäubenden Dunkelheit aß ich in Scheiben geschnittenen Dosenschin ken und eine heiße gebackene Kartoffel und überlegte, um mich selbst aufzuheitern, daß jetzt, da die Reise sich ihrem Ende näherte, sie mich gewiß nicht mehr sehr lange hier festhalten würden. Morgen vielleicht, dachte ich. Morgen würden sie mich vielleicht rauslassen. Und dann bekam ich möglicherweise auch ein paar Antworten. Die düsteren Zweifel erstickte ich. Die Maschine wurde langsamer; es war das erste Mal, daß sie ihren Rhythmus änderte. Ich hörte Schritte auf Deck und Rufe, und der Anker fiel mit einem Platschen ins Was 56
ser. Die Ankerkette ratterte; es klang, als liefe sie mitten durch die Segelkabine; hinter der Vertäfelung zweifellos. Die Maschine wurde abgestellt. Ich hörte keinen Laut mehr, von nirgendwo her. Das Knarren und Brausen hatte aufgehört. Keine wahrnehmbare Bewegung mehr. Ich hat te erwartet, daß der Friede eine Erleichterung sein würde, aber im Laufe der Zeit stellte sich heraus, daß das Gegen teil der Fall war. Selbst unangenehme Reize schienen bes ser zu sein als überhaupt keine. Ich schlief in zerrissenen Phasen und lag stundenlang wach und fragte mich stun denlang, ob man wirklich an zuviel von gar nichts den Verstand verlieren konnte. Als er das nächste Mal die Luke öffnete, war draußen heller Tag. Freitag; mitten am Vormittag. Er ließ die Tüte hinab, wartete auf den Austausch, zog das Tau hoch und schickte sich an, die Luke zu schließen. Ich machte unwillkürlich eine vage, flehentliche Geste mit den Händen. Er hielt inne und blickte hinab. »Ich darf Sie nicht sehen lassen, wo wir sind«, sagte er. So nahe war er einer Entschuldigung noch nie gekom men, einem Eingeständnis, daß er mich vielleicht besser behandelt hätte, hätte er nicht seine Anweisungen gehabt. »Warten Sie«, schrie ich, als er den Lukendeckel in Posi tion brachte. Er hielt abermals inne, war bereit, zumindest zuzuhören. »Können Sie nicht Sichtblenden um die Luke herum aufstellen, wenn Sie nicht wollen, daß ich das Land sehe?« sagte ich. »Lassen Sie doch die Luke offen …« Er dachte darüber nach. »Ich überleg’s mir«, sagte er. »Später.« Mir kam es sehr viel später vor, aber er kam tatsächlich zurück, und er öffnete auch tatsächlich die Luke. Während er sie feststellte, fragte ich: »Wann werden Sie mich raus lassen?« 57
»Stellen Sie keine Fragen.« »Ich muß«, platzte es aus mir heraus. »Ich muß es wissen.« »Wollen Sie, daß ich die Luke schließe?« »Nein.« »Dann stellen Sie keine Fragen.« Es mag rückgratlos von mir gewesen sein, aber ich frag te tatsächlich nicht weiter. Er hatte mir in acht Tagen keine einzige nützliche Antwort gegeben, und wenn ich nicht lockerließ, würde ich kein Licht und kein Abendessen be kommen, und die neue Ära teilweiser Menschlichkeit würde enden. Sonst nichts. Als er wieder weg war, kletterte ich auf die Koje, um ei nen Blick hinauszuwerfen, und stellte fest, daß er zu dik ken Wülsten zusammengerollte Segel um die Luke herum gelegt hatte. Mein Gesichtskreis war auf etwa einen hal ben Meter zusammengeschmolzen. Ich lag zur Abwechslung mal auf der oberen Koje und versuchte, mir vorzustellen, was ich in diesem Hafen, der so nahe und doch so hoffnungslos fern war, vielleicht er kennen könnte. Der Himmel war blaß; die Sonne schien durch hohe, dunstige Wolken. Es war warm wie an einem schönen Frühlingstag. Ich hörte sogar Möwen. All das ließ in mir ein so lebendiges Bild entstehen, daß ich schließlich überzeugt war, ich würde den Hafen und den Strand, wo ich als Kind gespielt hatte, vor mir sehen, wenn nur die Segelwülste nicht wären. Vielleicht waren wir während der ganzen wilden Segelpartie nur im Ärmel kanal hin und her gefahren und waren jetzt sicher wieder zu Hause in Ryde, Isle of Wight. Ich schüttelte den trostspendenden Traum ab. Nur eines ließ sich mit Sicherheit sagen: Wir befanden uns bestimmt nicht im Polarkreis. Gelegentlich hörte ich andere Geräusche von draußen, die aber alle sehr fern klangen und mir in keiner Weise 58
von Nutzen waren. Ich las den amerikanischen Krimi noch einmal und dachte ziemlich viel über Flucht nach. Als der Tag verblaßte, kam er mit dem Abendessen zu rück, aber diesmal schloß er die Luke nicht wieder, nach dem wir die Tüten ausgetauscht hatten. An diesem Abend sah ich zu, wie das Licht erstarb, um erst der Abenddäm merung, dann der Nacht zu weichen, und ich atmete süße Luft ein. Kleine Wohltaten konnten zu großen Wohltaten werden, dachte ich. Samstag, 26. März. Die Morgentüte enthielt frisches Brot, frischen Käse, frische Tomaten: Jemand war zum Einkau fen an Land gewesen. Sie enthielt außerdem eine zusätzli che Flasche mit Wasser und ein ausgiebig benutztes Stück Seife. Ich betrachtete die Seife und fragte mich, ob ich sie aus Freundlichkeit bekommen hatte oder weil ich stank; und dann überlegte ich mit einem Anfall von Hoffnung, ob man sie mir gegeben hatte, damit ich zumindest sauber war, wenn sie mich freiließen. Ich zog all meine Kleider aus und wusch mich von Kopf bis Fuß, wobei ich eine Socke als Schwamm benutzte. Nach den oberflächlichen Bemühungen mit Salzwasser aus dem Klo in der vergangenen Woche war der Seifen schaum eine phantastische körperliche Wonne. Ich wusch mir Gesicht, Ohren und Hals und fragte mich, wie ich wohl mit einem Bart aussehen mochte. Danach, bekleidet mit Hemd und Unterhosen, die beide schon überfällig für dieselbe Behandlung gewesen wären, aß ich meine Morgenmahlzeit. Danach räumte ich die Kabine auf, faltete die Decke und meine Kleider – soweit ich sie nicht am Leib trug – und stapelte alles säuberlich auf. Danach brachte ich es lange Zeit nicht fertig, mich der Tatsache zu stellen, daß meine hochfliegenden Hoffnun 59
gen unbegründet waren. Niemand kam, um mich heraus zulassen. Es war schon seltsam, wie schnell der heißestersehnte Luxus alltäglich und unzureichend wurde. Im Dunkeln gierte ich nach Licht. Jetzt, da ich Licht hatte, nahm ich es als selbstverständlich und gierte nach Raum, um mich zu bewegen. Die Kabine war dreieckig, ihre drei Seiten jeweils knapp zwei Meter lang. Die Kojen an Backbord, das Klo und die Segelkiste an Steuerbord nahmen den größten Teil der Ka bine in Anspruch. Der freie Raum dazwischen war an der Kabinentür gut einen halben Meter breit und lief nach vorn spitz zu bis zu dem Punkt etwa einen Meter zwanzig von der Tür entfernt, wo die Kojen und die Segelkiste zu sammentrafen. Ich hatte genug Platz, um zwei kleine Schritte zu machen oder einen großen. Jeder Versuch, was Kniebeugen oder Armestrecken betraf, führte zu unplan mäßiger Berührung mit dem Holz um mich herum. Vor der Kabinentür hatte ich mehr oder weniger genug Platz, um auf dem Kopf zu stehen. Das tat ich einige Male. Es zeigt nur wieder, wie närrisch man werden kann. Nach dem zweiten Mal schlug ich mit dem Knöchel auf den Rand der Segelkiste auf und beschloß, Yoga Yoga sein zu lassen. Wenn ich den Lotussitz probiert hätte, wäre ich sicher für den Rest meines Lebens festgesessen. Ich verspürte einen ständigen Drang, zu schreien und zu brüllen. Ich wußte, daß niemand mich hören würde, aber das hatte auf diesen Impuls keinerlei Einfluß. Er entsprang der Frustration, dem Zorn und der durch die Situation be dingten Klaustrophobie. Ich wußte, wenn ich dem Drang nachgab und schrie und schrie, würde ich am Ende wahr scheinlich nur noch schluchzen. Der Gedanke, daß das möglicherweise genau das war, was irgend jemand mir an tun wollte, war eine enorme Hilfe. Ich konnte nichts daran 60
ändern, daß das Schreien und Brüllen in meinem Kopf weiterging, aber zumindest kam es nicht heraus. Nachdem ich mich an den Gedanken gewöhnt hatte, daß der Tag meiner Freilassung noch nicht gekommen war, wandte ich viel Zeit für die Betrachtung des Klos auf. Nicht im metaphysischen Sinne, sondern im mechani schen. Alles in der Kabine war entweder eingebaut oder weich. Man hatte dafür gesorgt, daß ich keine potentiellen Waffen und keine potentiellen Werkzeuge in die Hand bekam. Meine gesamte Nahrung hatte ich mit den Fingern essen können, und sie war in Papier oder Plastik gekommen, wenn sie überhaupt in irgend etwas eingewickelt gewesen war. Keine Teller. Nichts aus Metall, Porzellan oder Glas. Man hatte nicht nur die Glühbirne aus ihrem Sockel ge schraubt, sondern auch den gläsernen Lampenschirm ent fernt, der meiner Vermutung nach die Birne abgedeckt hatte. Die Taschen meines Anzugs waren geleert worden. Die Nagelfeile, die ich für gewöhnlich in meiner Brusttasche aufbewahrte, war nicht mehr da, ebensowenig meine Ku gelschreiber, die ich in der Innentasche trug, und mein Ta schenmesser. Ich saß auf dem Boden, hob den Deckel hoch und be trachtete aus nächster Nähe die Mechanik des Klos. Kloschüssel, Spülhebel, Pumpe. Eine Menge Rohrlei tungen. Der Absperrhahn, mit dem das Seeventil geöffnet und geschlossen wurde. Alles so stark haltbar, wie die wil den Bewegungen des Meeres es erforderten. Der Spülhebel war hinten mit der Verkleidung der gan zen Einrichtung gelenkig verbunden. Vorn hatte er einen Holzgriff. Ungefähr auf einem Drittel seiner Länge – von vorn aus – ging nach unten die Stange ab, die in der Pum pe den Kolben nach oben und unten bewegte. Der ganze 61
Hebel vom Handgriff bis zum Gelenk, an dem er befestigt war, maß etwa fünfundvierzig Zentimeter. Ich hatte es auf den Hebel abgesehen wie ein Sitten strolch auf sein Opfer, sah aber keine Möglichkeit, ihn oh ne Werkzeug zu demontieren. Sowohl das Gelenk als auch die Verbindung mit der Kolbenstange wurden durch Schraubenbolzen und Muttern zusammengehalten, die At las persönlich angezogen haben mußte. Daumen und Fin ger konnten gegen diese Schraubenmuttern nichts ausrich ten. Ich habe es zwei Tage lang wieder und wieder versucht. Ein Schraubenschlüssel. Mein Königreich für einen Schraubenschlüssel, dachte ich. Da es mit dem Schraubenschlüssel nichts war: Was kam sonst noch in Betracht? Ich versuchte es mit meinem Hemd. Der Stoff linderte den Druck auf Haut und Knochen, änderte aber an dem bescheidenen Kräfteeinsatz nichts. Die Muttern saßen bombenfest. Es war, als versuche man sich an einem Rad wechsel mit nichts als den bloßen Händen und einem Ta schentuch. Meine Hosen? Der Stoff war noch rutschiger als der des Hemdes. Dann versuchte ich es mit dem Hosenbund; das gefiel mir schon sehr viel besser. Über die Innenseite des Hosenbundes zog sich ein Band mit zwei schmalen Strei fen aufgerauhten Gummis. Dessen eigentlicher Zweck be stand darin, die Hose auch ohne Gürtel oben zu halten – mittels des Reibungswiderstands zwischen der Gummi oberfläche und einem in der Hose getragenen Hemd. Mit dem Hosenbund um die Mutter hatte man einen festeren Griff und ein wenig mehr Hoffnung, aber trotz vieler hef tiger Versuche blieben die Ergebnisse aus. Der Tag schleppte sich dahin. Ich blieb auf dem Boden sitzen und versuchte erfolglos, Muttern zu lösen, die sich 62
nicht lösen ließen, einfach weil ich nichts anderes zu tun hatte. Wieder Dosenschinken zum Abendessen. Ich entfernte sorgfältig alles Fett und aß nur das Magere. Die Luke blieb offen. Ich sagte danke für die Seife und stellte keine Fragen. Sonntag. Noch ein Sonntag. Wie konnte irgend jemand mich so lange ohne Erklärung eingesperrt halten? Draußen ging das Getriebe der ganzen modernen Welt ungerührt weiter, und ich saß hier eingekerkert wie der Mann mit der Eisenmaske oder jedenfalls beinahe, verdammt. Ich behandelte die Muttern mit dem Schinkenfett, um festzustellen, ob ein Schmiermittel irgendwelche Wir kung zeitigte. Den größten Teil des Tages verwandte ich darauf, die Muttern, mit der die Kolbenstange ange schraubt war, in meinen Fingern zu wärmen, sie ringsum mit Fett zu bestreichen und mit Hilfe meines Hosenbun des zu drehen. Nichts passierte. Ab und zu stand ich auf und reckte mich und kletterte hinauf, um zu sehen, ob die Segelwülste immer noch mei nen Blick versperrten, was sie stets und ständig taten. Ich las noch einmal einzelne Stellen des Krimis. Ich schloß den Klodeckel und setzte mich drauf und starrte die Wän de an. Ich lauschte den Möwen. Mein normales Leben schien in weite Ferne gerückt. Die Wirklichkeit spielte sich in der Segelkabine ab. Die Wirk lichkeit war ein Mysterium. Die Wirklichkeit bestand aus geisttötenden Strecken leerer Zeit. Die Sonntagnacht kam schleichend, vertiefte sich und wurde wieder zum Morgen. Er kam viel früher als sonst 63
mit meinem Frühstück, und als er die Austauschtüte hoch gezogen hatte, begann er, die Luke zu schließen. »Nicht«, schrie ich. Er hielt nur kurz inne und blickte ungerührt hinab. »Notwendig«, sagte er. Noch lange nachdem er fortgegangen war und mich im Dunkeln zurückgelassen hatte, schrie ich, er solle die Luke wieder öffnen. Nachdem ich erst einmal mit dem Krawall begonnen hatte, fiel es mir schwer, damit aufzuhören: All die unterdrückten Schreie und Rufe versuchten, durch das Loch in dem Damm herauszubrechen. Aber wenn der Damm brach, würde ich ebenfalls zusammenbrechen. Ich stopfte mir das Kissen in den Mund, damit ich keinen Laut mehr von mir geben konnte, und widerstand dem Drang, statt dessen mit dem Kopf gegen die Tür zu schlagen. Die Maschine wurde angelassen. Lärm und Vibration und Dunkelheit, alles wie zuvor. Es ist zuviel, dachte ich. Zuviel. Aber es gab nur zwei grundlegende Alternativen. Bei Verstand bleiben oder verrückt werden. Letzteres nicht zu tun wurde eindeutig schwieriger. Denk vernünftige Gedanken, ermahnte ich mich. Sag Verse auf, löse im Geiste Rechenaufgaben, erinnere dich an all die Tricks, die andere Menschen in Einzelhaft be nutzt haben, um Wochen und Monate und Jahre zu über stehen. Ich riß meine Gedanken von derart aberwitzigen Zeit vorstellungen los und konzentrierte mich auf die Gegen wart. Die Maschine brauchte Treibstoff. Sie hatte auf der Fahrt hierher schon viel Treibstoff verbraucht. Wenn die Fahrt also weitergehen sollte, würde Treibstoff gebunkert wer den müssen. Während des Tankens wurden die Maschinen immer ab gestellt. Wenn ich dann ein möglichst gewaltiges Getöse 64
machte, würde mich vielleicht, nur vielleicht, irgend je mand hören. Mir war ehrlich gesagt unklar, wie irgendein Geräusch, das ich produzieren konnte, genug Aufmerk samkeit auf sich ziehen sollte, aber ich konnte es versu chen. Die Kette ratterte durch ihren verborgenen Schacht wie der zurück, während der Anker hinaufgeholt wurde, und ich vermutete, daß sich das Boot in Bewegung setzte, ob wohl ich keinerlei Bewegung wahrnahm. Dann kam jemand, stellte ein Radio auf die Luke und drehte die Lautstärke voll auf. Die Musik kämpfte eine Weile einen erfolglosen Kampf gegen den Lärm der Ma schine, aber kurze Zeit später spürte ich, daß das Boot ir gendwo anstieß, und beinahe gleichzeitig wurde die Ma schine abgestellt. Ich wußte, daß wir jetzt Treibstoff bunkerten. Ich konnte nur laute Popmusik hören. Und ganz gleich, was ich tat, niemand auf dem Kai hätte mich hören können. Kurze Zeit später wurde die Maschine wieder angelas sen. Einige leichte Stöße waren durch den Bootsrumpf spürbar, dann nichts mehr. Irgend jemand nahm das Radio wieder weg: Ich brüllte, man solle die Luke öffnen, aber die Mühe hätte ich mir ebensogut sparen können. Langsam kam wieder Bewegung in das Boot und damit eine hoffnungslose Erkenntnis. Wir fuhren wieder hinaus aufs Meer. Hinaus aufs Meer in Dunkelheit und Lärm. Immer noch ohne zu wissen, warum ich hier war oder für wie lange noch. Während sich mein körperlicher Zustand aufgrund mangelnder Bewegung verschlechterte und es mir immer schwerer fiel, mit dem psychischen Druck fertig zu wer den. Also noch einmal die Qualen der vergangenen Woche. Ich saß, mit dem Rücken gegen die Kabinentür auf dem Boden, verschränkte die Arme über den Knien, legte den 65
Kopf auf die Arme und fragte mich, wie ich das aushalten sollte. Den Montag verbrachte ich in völliger Verzweiflung. Am Dienstag kam ich raus.
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ontag nacht lag das Boot irgendwo vor Anker, aber wir fuhren den Ankerplatz erst an, nachdem ich mein Abendessen bekommen hatte, und setzten die Fahrt gleich am Dienstag morgen fort. Es regnete die meiste Zeit, und die Wassertropfen trommelten auf die Luke. Ich war dankbar für die Atempause ohne Motorengeräusche, aber ansonsten war mein Elend jämmerlich. Als er die morgendliche Essenszuteilung brachte, stellte er die Luke auf. Das Ausmaß meiner Erleichterung war mitleiderregend. Kurz danach stoppten sie die Maschine und hißten Segel, und der graue Himmel draußen wurde langsam blau. Ich aß die hartgekochten Eier und den Apfel und dachte über die dicke Scheibe Brot nach, auf die er mir zum er sten Mal Butter gestrichen hatte. Dann riß ich einen Knopf von meinem Hemd ab, um ihn als Schaber zu benutzen, und schmierte soviel Butter wie möglich auf die bockigen Muttern und Bolzen des Spülhebels. Dann aß ich das Brot. Später setzte ich mich auf den Boden und wärmte mit der Hand eine Mutter nach der anderen, in der Hoffnung, daß die Butter und das Schinkenfett ihren Weg in die Rillen des Gewindes finden würden. Nachdem ich ein Stück des gummierten Bundes meiner Hose abgerissen hatte, angelte ich in einer der Segelkisten nach dem weißen Netz, das ich nach dem Sturm dort ver staut hatte. Es war mehr Aktivität um der Aktivität willen als echte 67
Hoffnung. Ich wickelte den Stoffstreifen zweimal um die Mutter auf dem Gelenk der Kolbenstange – sie war besser zu erreichen als die am hinteren Ende des Hebels – und setzte den Haken, der das Netz an der oberen Koje gehal ten hatte, darüber. Und dann zog ich an dem Netz. Zuerst faßte er kurz, aber dann drehte der Haken über dem Stoff durch und fiel hinunter. Ich versuchte es noch einmal, aber diesmal faltete ich das Ende Hosenbund so, daß sowohl zur Mutter als auch zum Haken hin eine gummierte Seite zu liegen kam. Diesmal blieb der Haken, wo er war, aber das gleiche tat auch die Mutter. Ich zog wieder und wieder. Wenn ich zu fest zog, rutsch te der Stoff mitsamt dem Haken von der Schraubenmutter ab. Sonst passierte nichts. Verzweifelt warf ich das Netz zurück in die Segelkiste. Dann saß ich jahrhundertelang da, die Hand auf der Mut ter, bis sie so warm war wie eine Handvoll Pennies, die ein Kind krampfhaft festhält. Dann wickelte ich den Hosen bundstreifen schnell dreimal um die Mutter, damit ich eine größere Angriffsfläche hatte, und versuchte es noch einmal unter Einsatz all meiner Muskelkraft. Der Stoffetzen drehte sich. Zur Hölle damit, dachte ich hoffnungslos. Ich zog den Bundstreifen ab und wickelte ihn aufs neue um die Mutter, versuchte, sie noch fester zu fassen. Er drehte sich wieder. Es mag lächerlich erscheinen, aber erst als es sich beim dritten Mal leichter drehen ließ, begriff ich, daß ich die Mutter gegen den Schraubenbolzen und nicht den Hosen bund gegen die Mutter drehte. Unglaublich. Ich saß da und hielt Maulaffen feil. Die Er regung ließ meine Kehle flattern wie ein unterdrücktes La chen. Wenn ich die eine losbekommen hatte, wie wär’s dann mit der nächsten? 68
Bei der ersten hatte die Zeit keine Rolle gespielt. Ich hat te ja ohnehin nichts Besseres zu tun gehabt. Aber bei der zweiten, der Mutter, die den Spülhebel in der Verkleidung festhielt, verfiel ich in fieberhafte Ungeduld. Ich erwärmte die Mutter, wickelte das Bündchen herum und ließ meine Muskeln spielen. Nichts rührte sich. Noch einmal. Ein Flop. Sie mußte sich einfach drehen, dachte ich wütend. Muß te einfach. Nach weiteren erfolglosen Versuchen besann ich mich auf die Grundlagen. Vielleicht hatten die Versuche mit dem Haken doch ir gendeine Wirkung gehabt. Ich holte das Netz wieder hervor und bearbeitete damit die Mutter am Befestigungsgelenk des Spülhebels, zog wieder und wieder, setzte den Haken immer wieder auf die Mutter, wenn er heruntergefallen war. Dann wärmte ich diese Mutter so gründlich an, wie ich es mit der anderen getan hatte, so daß das geschmolzene Fett und die minimale Wärmedehnung des Metalls ihr Werk verrichten konnten. Dann wickelte ich einmal mehr das Hosenbündchen um die Mutter und versuchte es mit aller Kraft der gesamten Muskulatur meines Arms zu drehen. Und diesmal drehte sich der Stoff. Und wieder konnte ich mir nicht sicher sein, ob ich es wirklich geschafft hatte, bis sich die Mutter nach der dritten Umdrehung etwas leichter bewegen ließ. Ich kletterte auf die Segelkiste und spähte hinaus in die freie Welt. Zu meiner Linken konnte ich lediglich Himmel und das Glitzern der Sonne auf dem Wasser sehen. Ich wandte den Kopf nach rechts und fiel beinahe von meinem Ausguck herunter. Dort sah ich ein Segel, und darunter leuchtete grün und felsig und einigermaßen nah Land auf. Ich dachte, wenn er jetzt käme, um die Luke zu schlie ßen, würde ich perverserweise dankbar sein. 69
Was ich als nächstes tat, war von reiner Verzweiflung diktiert. Denn ich konnte mir sicher sein, daß er mir die Hände fesseln und mich im Dunkeln auf Hungerrationen setzen würde, wenn er mich bei einem Fluchtversuch er wischte. Das Risiko, daß ich nicht ungesehen herauskam, war furchterregend. Meine gegenwärtige Lage war gerade noch am Rande des Erträglichen; meine zukünftige Lage danach würde das nicht mehr sein. Andererseits – wenn ich es nicht riskieren wollte, warum hatte ich mich dann so lange mit den Muttern abgemüht? Ich wandte mich wieder dem Klo zu und schraubte die Muttern ganz ab. Dann drückte und zog ich die Bolzen heraus und löste den Hebel. Ohne diesen Hebel konnte niemand das Klo abspülen. Mir schoß der bittere Gedanke durch den Kopf, daß dies ei ne zusätzliche Komplikation sein würde, falls ich mich an schließend noch einmal in der Kabine wiederfinden würde. Auf Deck war niemand zu sehen, und wie gewöhnlich konnte ich nicht feststellen, ob das Boot automatisch ge steuert wurde oder ob jemand am Steuer stand. Zögerlich war ich jedoch ausschließlich in Gedanken. Gehandelt haben mußte ich jedenfalls, wie es im Rück blick scheint. Ich klappte die Gelenkstützen des Lukendeckels nach innen ein, so wie man es normalerweise getan hätte, um die Luke von innen zu schließen. Die Folge war, daß die Spannung der Ketten, die über dem Lukendeckel über Kreuz geführt waren, merklich nachließ. Durch die jetzt viel engere Öffnung, die nicht viel mehr war als ein Schlitz, steckte ich den Hebel. Ich hatte es auf die Belegung der Ketten auf den Klampen abgesehen. Langen Stunden geduldiger Betrachtung verdankte ich die Vorstellung, daß die Ketten nur auf diese Weise befe stigt waren. Einfach ein Kettenglied über einen Haken ei 70
ner Klampe zu legen, mußte ihnen sicher genug erschie nen sein, denn sie waren sich ja sicher, daß ich keine Mög lichkeit hatte, mich daran zu schaffen zu machen. Ich steckte den Hebel durch die Kette zu meiner Rechten, ver keilte ihn darin und schob dann. Mit fast wunderbarer Ele ganz glitt die ganze Kette von der Luke weg, und das be wußte Kettenglied rutschte von der Klampe. Ohne jede Pause, nur mit einem lautlosen Hipp-hipp hurra, setzte ich den Hebel ein zweites Mal an. Jetzt ging es um die in Längsrichtung gespannte Kette, die vor mir auf dem Vorschiff auf einer Klampe belegt war. Und wie der rutschte das Kettenglied anstandslos herunter. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich konnte die Ketten ja nicht wieder befestigen. Ich mußte jetzt die Luke öffnen und auf Deck steigen. Ohne Wenn und Aber. Ich schob zuerst den Hebel – ein letztes Mittel, falls ich wieder eingefangen wurde – auf Deck. Dann löste ich mit beiden Händen den Lukendeckel aus seinen Gelenkstützen und drückte ihn weit auf. Klappte ihn um und ließ ihn vor sichtig herunter, bis er flach dalag. Dann schob ich mich bäuchlings auf Deck. Wälzte mich nach rechts unter das Vorsegel. Erreichte die Reling, hielt mich mit beiden Händen daran fest und war mit einem Sprung über Bord. Mit den Füßen voran versank ich wie eine Säule im Wasser. Es war nicht gerade die sicherste Art, ein Schiff zu ver lassen, aber ich überlebte sie und blieb unter Wasser, bis meine Lungen protestierten. Der Augenblick des Auftau chens gehört zu den angsterfülltesten in meinem ganzen Leben, aber als ich vorsichtig mit Mund, Nase und Augen über Wasser kam, war das Boot hundert Meter entfernt und segelte stetig weiter. Mit einem gewaltigen Atemzug tauchte ich wieder ab und schwamm unter Wasser in Richtung Ufer los; vorsich 71
tig, um nur ja nicht durch verräterisches Spritzen auf mich aufmerksam zu machen. Das Wasser war kühl, aber nicht so kalt, wie ich erwartet hatte. Als ich wieder auftauchte, schätzte ich, daß ich bis zum Ufer noch anderthalb Kilometer zu schwimmen ha ben würde, obwohl Entfernungen auf See trügerisch sind. Das Boot segelte friedlich weiter. Auf seinem Rumpf muß wohl ein Name gestanden haben, obwohl ich in der Aufregung keinen gesehen hatte. Ich fragte mich, wie lan ge es wohl dauern würde, bevor sie herausfanden, daß ich verschwunden war. Mit etwas Glück bis zur Zeit des Abendessens. Das Land sah nach einer überaus vielversprechenden Zu flucht aus. Nach links hin war es felsig mit grasbewachse nen Klippen, aber direkt vor mir lag ein viel grünerer Teil mit Häusern und Hotels und einem Sandstrand. Zivilisati on, heiße Bäder, Freiheit und ein Rasierapparat. Ich schwamm stetig darauf zu, verschnaufte aber auch immer wieder mal. Anderthalb Kilometer sind für einen mittel mäßigen Schwimmer eine beträchtliche Strecke, und ich war lange nicht mehr so kräftig wie noch vor zwölf Tagen. Ich drehte mich nach dem Boot um. Es war ein ganzes Stück längs des Ufers vorangekommen. Es wurde kleiner. Das große Hauptsegel sackte den Mast hinunter. O Gott, dachte ich, und mein Herz machte einen Satz, wenn sie die Segel einholen, sehen sie die offene Luke. Die Zeit war abgelaufen. Sie wußten, daß ich geflohen war. Ich pflügte mich Richtung Ufer durchs Wasser, bis mir vor Anstrengung schwindlig wurde. Schwamm weiter, bis ich graue Pünktchen vor den Augen hatte und noch graue re Pünktchen im Gemüt. Ich würde in dieses dunkle Loch nicht zurückkehren. Ich konnte es einfach nicht. 72
Als ich das nächste Mal zurückschaute, waren alle Segel unten, und das Boot wendete. Die Hotels vor mir lagen an einer sandigen Bucht. Zwei große Hotels, weiß mit Balkonreihen und einer Menge kleinerer Gebäude drumherum. Am Strand waren Leute, und vier oder fünf standen im Wasser. Fünfhundert Meter vielleicht. Ich würde Jahre brauchen, um fünfhundert Meter zu schwimmen. Ich verlangte meinen durch und durch nutzlosen Mus keln in verzweifelter Anstrengung das Äußerste ab. Wenn ich nur die anderen Badenden erreichen konnte, wäre ich lediglich ein Kopf mehr. Das Boot war unter Segeln nicht sehr schnell vorange kommen. Den Rückweg unter Motor würden sie schneller zurücklegen können. Ich hatte Angst, mich umzusehen; sie dicht hinter mir zu finden. In meiner Phantasie hörte ich ihn rufen und Befehle erteilen, ich sah vor mir, wie sie das Boot in meine Bahn steuerten, spürte schon, wie sie mich mit Bootshaken packten und hineinzogen. Als ich am Ende doch die Nerven aufbrachte, einen Blick zurückzuwerfen, war es schlimm genug, aber sie waren immer noch zu weit weg, um irgend jemanden deutlich ausmachen zu können. Als ich das nächste Mal hinsah, war es erschreckend. Sie holten mich so schnell ein wie die Hunde den Hasen. Der nächste Punkt an Land war immer noch ungefähr dreihun dert Meter entfernt, und es war unebener Fels, kein sanft ansteigender Strand. Der Sandstrand befand sich in der Mitte der Bucht; daran schlossen sich zu beiden Seiten seichte Klippen an. Ich würde den Strand nie erreichen, dachte ich. Und doch … Segelboote mit ihren Kielen hatten großen Tiefgang. Sie würden nicht bis an den Strand fahren kön nen. Vielleicht konnte ich es doch noch schaffen. 73
Ich hatte mich noch nie im Leben so ausgelaugt gefühlt, so bleiern. Nicht einmal das härteste Hürdenrennen hatte mich je so gründlich um meine Kraft gebracht, nicht ein mal die, die ich verloren hatte, weil ich nicht fit genug ge wesen war. Ich kam immer langsamer voran, jetzt, da es doch nur auf Geschwindigkeit ankam. Am Ende brauchte ich meine ganze Kraft, nur um mich über Wasser zu halten. Eine Strömung, die mir zuerst nicht aufgefallen war, trug mich nach links, weg von meinem direkten Weg zum Strand. Nicht besonders heftig, aber doch kräftezehrend. Ich hatte nicht mehr genug Elan, um dagegenzuhalten. Ein weiterer Blick zurück. Buchstäblich furchterregend. Ich konnte ihn auf Deck sehen; er stand vorn am Bug und legte schützend die Hand über die Augen. Er hielt sich jetzt dichter unter Land als vorher, und er schien vor allem das Ufer selbst genau ab zusuchen. Ich schwamm mit schwächlichen, kaum noch wirksamen Stößen weiter. Mittlerweile war mir auch klar, daß ich den Sandstrand nicht erreichen würde. Die Strömung trug mich unausweichlich zu der höher gelegenen linken Seite der Bucht hin, wo die Bäume bis zu drei Metern ans Was ser heranreichten und unter den Bäumen Felsen lagen. Als ich bereits das benommene Stadium erreicht hatte, lieber zu ertrinken, als wieder eingefangen zu werden – wobei ich immer noch bezweifelte, daß man sich selbst kaltblütig ertränken konnte –, stellte ich plötzlich fest, daß ich nicht mehr meilenweit an der Küste entlangblicken konnte. Ich hatte endlich den geschützten Bereich der Bucht erreicht. Als ich zurückschaute, konnte ich das Boot nicht mehr sehen. Es blieb jedoch nicht lange außer Sicht. Es kroch in einer geraden Linie weiter, bis es das Zentrum der Bucht er reichte, wo es vor Anker ging. Mit angsterfüllten Blicken 74
über die Schulter beobachtete ich das Manöver. Sah, wie sie ein schwarzes Gummidingi losbanden und zu Wasser ließen. Wie sie einen Außenbordmotor und Riemen hinun terließen und zwei von ihnen in das Boot stiegen. Ich hörte, wie der Außenborder stotternd zum Leben er wachte. Nur noch etwa zehn Meter bis zum Land. Mir kamen sie wie zehn Kilometer vor. Am Ufer vor mir befand sich ein betonierter Abschnitt zwischen den Felsen. Ich blickte am Ufer entlang zum Strand hinüber und sah, daß es noch andere gab. Eine Einund Ausstiegshilfe für die Badegäste. Die aufmunterndste Hilfe auf der Welt für den Badegast, der sich ihnen von al len Hunden der Hölle gehetzt im Schneckentempo näherte. Das Dingi löste sich von dem vor Anker liegenden Boot und nahm Kurs Richtung Ufer. Ich erreichte den Betonstreifen. Es war eine Fläche nur wenige Zentimeter über dem Wasserspiegel. Keine Griffe, um sich raufzuziehen. Nur eine glatte Flä che. Ich legte eine Hand darauf und einen Fuß und hievte mich mit gummiartigen Muskeln bäuchlings hinauf. Es reichte nicht. Es reichte nicht. Ich würde noch dort liegen, wenn das Beiboot kam. Mein Herz hämmerte. Vor Anstrengung und vor Angst gleichermaßen. In äußerster Verzweiflung kroch ich auf der Suche nach einem Versteck auf allen vieren die Felsen hinauf. Normalerweise wäre alles ganz einfach gewesen. Das Ufer war seicht und stellte keine großen Anforderungen. Ein Kind hätte hinaufspringen können, wo ich mich hin aufquälte. Ich kletterte fast zwei Meter hoch in die Felsen und fand dort eine flache, halb mit Wasser gefüllte Grube. Ich rollte mich hinein und lag keuchend und hoffnungslos erschöpft da, während ich dem Außenbordmotor lauschte, der ständig lauter wurde. 75
Sie mußten mich gesehen haben, dachte ich verzweifelt. Mußten gesehen haben, wie ich aus dem Wasser stieg. Trotzdem, wenn ich an Ort und Stelle liegengeblieben wä re, hätten sie mich genauso sicher gefunden. Ich lag da, im Elend der Besiegten, und fragte mich, wie um alles in der Welt ich überleben sollte, was mir bevorstand. Das Beiboot kam näher. Ich hielt den Kopf unten. Sie würden schon herkommen und mich finden und wegtragen müssen, und wenn ich noch tief genug Luft holen konnte, würde ich schreien, bis einige Leute am Strand aufmerk sam wurden. Nur daß sie weit genug weg waren, um das Ganze für ein Spiel halten zu können. Der Motor erstarb, und ich hörte seine Stimme; er sprach laut, aber brüllte nicht direkt. Er sagte: »Entschuldigung, haben Sie vielleicht einen Freund von uns hier ans Ufer schwimmen sehen? Wir glauben, daß er über Bord gegangen ist.« Eine Frauenstimme antwortete ihm, und sie war so nah, daß ich beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. »Nein, ich habe niemanden gesehen.« Er sagte: »Er nimmt Drogen. Er könnte sich vielleicht merkwürdig benommen haben.« »Na, dann geschieht es ihm wohl recht«, sagte sie sal bungsvoll. »Ich habe gelesen. Ich habe ihn nicht gesehen. Kommen Sie von diesem Boot da?« »Ja, genau. Wir glauben, daß er ungefähr hier über Bord gegangen sein muß. Wir haben ein Platschen gehört, dach ten aber, es wäre nur ein Fisch. Zuerst jedenfalls.« »Tut mir leid«, sagte sie. »Warum erkundigen Sie sich nicht am Strand?« »Wir haben halt auf dieser Seite angefangen«, sagte er. »Wir arbeiten uns von hier aus vor.« Es folgte das Geräusch von Riemen, die in die Dollen gelegt wurden, dann das Platschen und Knarren, als sie 76
sich entfernten. Ich blieb, wo ich war, ohne mich zu rüh ren, und hoffte, die Frau würde nicht hysterisch werden, wenn sie mich sah; ich fürchtete, sie würde sie mögli cherweise zurückrufen. Ich konnte ihn ein Stück weiter entfernt hören, wie er laut dieselbe Frage an jemand anders richtete. Ihre Stimme sagte: »Haben Sie keine Angst. Ich weiß, daß Sie da sind.« Ich antwortete nicht. Sie hatte mich um den ohnehin kläglichen Rest Luft gebracht, der mir noch verblieben war. Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Nehmen Sie Dro gen?« »Nein«, antwortete ich. Es war kaum mehr als ein Flü stern. »Was haben Sie gesagt?« »Nein.« »Hm. Besser, Sie rühren sich nicht vom Fleck. Die ge hen methodisch vor. Ich denke, ich werde jetzt weiterle sen.« Ungläubig befolgte ich ihren Rat. Ich lag halb im Wasser und spürte, wie Herz und Lungen langsam zu einem er träglicheren Rhythmus zurückfanden. »Sie sind am Strand gelandet«, sagte sie. Mein Herzschlag beschleunigte sich wieder. »Suchen sie den Strand ab?« fragte ich ängstlich. »Nein. Ich denke, sie stellen wohl Fragen.« Sie hielt in ne. »Sind diese Männer Verbrecher?« »Das weiß ich nicht.« »Aber … würden sie Sie mit Gewalt von hier wegholen? Vor den Augen all dieser Leute?« »Ja. Sie haben sie gehört. Falls ich nach Hilfe rufen soll te, würden sie behaupten, ich wäre verrückt, im Drogen rausch. Niemand würde sie aufhalten.« 77
»Sie gehen weiter, zur anderen Seite der Bucht«, sagte sie. »Befragen die Leute.« »Mein Name ist Roland Britten«, sagte ich. »Ich wohne in Newbury und bin Steuerberater. Ich wurde vor zwölf Tagen entführt, und diese Männer haben mich seitdem auf diesem Boot festgehalten, und ich weiß nicht, warum. Al so bitte, wer Sie auch sind, falls es ihnen gelingen sollte, mich wieder einzufangen, würden Sie die Polizei benach richtigen? Ich brauche wirklich verzweifelt dringend Hil fe.« Es entstand ein kurzes Schweigen. Ich dachte, daß ich es übertrieben haben mußte, daß sie mir nicht glaubte. Ande rerseits mußte ich es ihr sagen, für alle Fälle. Sie hatte anscheinend ihre Entscheidung getroffen. »Nun«, sagte sie energisch, »es wird Zeit, daß Sie ver schwinden.« »Wohin?« »In mein Zimmer«, sagte sie. Sie verstand sich wirklich großartig auf Hiebe in den mentalen Solarplexus. Trotz des allgemeinen Ernstes der Lage konnte ich mir ein Lachen kaum verkneifen. »Können Sie mich sehen?« fragte ich. »Ich kann Ihre Füße sehen. Ich habe Sie ganz gesehen, als Sie aus dem Wasser gestiegen und hier heraufgeklettert sind.« »Und wie soll ich mit nichts anderem am Leib als einem nassen Hemd und nassen Unterhosen in Ihr Zimmer kom men?« »Sie wollen doch diesen Männern aus dem Weg gehen, oder?« Diese Frage bedurfte keiner Antwort. »Bleiben Sie liegen«, sagte sie scharf, obwohl ich mich überhaupt nicht gerührt hatte. »Sie schauen her. Irgend jemand da drüben scheint in diese Richtung zu zeigen.« 78
»O Gott.« »Bleiben Sie liegen.« Es folgte eine ziemlich lange Pau se, dann sagte sie: »Sie gehen wieder den Strand hinunter, zurück zu ihrem Boot. Wenn sie in unsere Richtung kom men, werden wir gehen.« Ich wartete dumpf und betete mehr oder weniger. »Oberhalb von uns gibt es einen Weg«, sagte sie. »Ich werde Ihnen ein Handtuch geben. Wickeln Sie sich darin ein, und steigen Sie zu dem Weg hinauf.« »Kommen sie?« »Ja.« Ein dreieckiges, hell gestreiftes Badehandtuch erschien oberhalb des Felsen neben meinem Kopf. Es gab kaum etwas in meinem Leben, das mir jemals so widerstrebt hat te, wie jetzt aufzustehen und mein sicheres Versteck zu verlassen. Meine Nerven waren absolut dagegen. »Beeilen Sie sich«, sagte sie. »Und sehen Sie sich nicht um.« Ich stand, den Rücken zum Meer gewandt, tropfnaß auf. Zog das Handtuch zu mir heran, wickelte es wie einen Sa rong um mich und nahm den felsigen Abhang zu dem Weg hinauf in Angriff. Die Ruhepause in meinem Wasserloch hatte mir überraschend viel Energie zurückgegeben: Viel leicht war es aber auch schlichte Angst. Jedenfalls kletterte ich den zweiten Teil deutlich flinker hinauf als den ersten. »Ich bin hinter Ihnen«, sagte ihre Stimme. »Sehen Sie sich nicht um. Wenn Sie den Weg erreichen, gehen Sie nach rechts. Und rennen Sie nicht.« »Ja, Ma’am«, sagte ich kaum hörbar. Man soll sich nie mit seinem Schutzengel streiten. Der Weg war zu beiden Seiten von Bäumen gesäumt und führte über Sand und kahlen Fels. Das Sonnenlicht fiel durch die Zweige, und zu jeder anderen Zeit wäre das Ganze ein hübscher Anblick gewesen. 79
Als der Weg breiter wurde, holte sie mich ein und ging zwischen mir und dem Meer. »Nehmen Sie die Abzweigung nach links«, sagte sie, als sie auf gleicher Höhe war. »Und laufen Sie nicht so schnell.« Ich schaute sie an, neugierig zu erfahren, wie sie aussah. Sie paßte zu ihrer Stimme: eine resolute Dame mittleren Alters mit Brille und Sinn fürs Praktische. Selbstbewußt. Groß, beinahe eins achtzig. Dünn und alles andere als eine Schönheit. Sie trug eine hellrosa Bluse, eine rehbraune Baumwoll hose und Strandschuhe; überm Arm hatte sie eine geräu mige Strandtasche aus Leinen. Strand. Schwimmen. Im März. »Wo sind wir hier eigentlich?« fragte ich. »In Cala St. Galdana.« »Und wo ist das?« »Na, auf Menorca natürlich.« »Wo???« »Bleiben Sie nicht stehen. Menorca.« »Die Nachbarinsel von Mallorca?« »Natürlich.« Sie hielt inne. »Wußten Sie das nicht?« Ich schüttelte den Kopf. Unser Weg hatte einen sanften Hang hinaufgeführt; nun ging es jenseits des Kamms zwi schen Bäumen wieder hinunter. Als wir über die Höhe gingen, blickte sie verstohlen nach rechts. »Diese Männer kommen gerade über den unteren Pfad; sie gehen auf die Stelle zu, wo ich gesessen habe. Ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn wir uns jetzt ein we nig beeilen würden, meinen Sie nicht auch?« »Um es vorsichtig auszudrücken«, sagte ich. Noch größere Eile bedeutete, daß ich mir die nackten Zehen an verschiedenen aus dem Weg emporragenden 80
Steinen stieß und abermals spürte, wie die furchtbare Schwäche Gummi aus meinen Beinen machte. »Während die da unten auf den Felsen nach Ihnen su chen, werden wir mein Hotel erreichen«, sagte sie. Ich schlurfte weiter und versuchte, mit meiner Luft zu haushalten. Blickte über die Schulter zurück. Nur ein men schenleerer Weg. Keine Furien, die mich hetzten. Warum also hatte ich das Gefühl, daß sie durch Hügel und Bäume sehen konnten und genau wußten, wo ich zu finden war? »Wir müssen noch über diese kleine Brücke und dann über die Straße. Da drüben.« Sie zeigte auf ein Gebäude. »Das ist das Hotel.« Es war eins der beiden großen, weißen Häuser. Wir er reichten die breiten Glastüren und gingen hinein. Schaff ten es ohne Beanstandung durch das Foyer und in den Lift. Fuhren in den fünften Stock. Sie angelte irgendeinen Schlüssel aus ihrer Strandtasche und schloß die Tür zu Zimmer 507 auf. Wir hatten unterwegs so gut wie niemanden gesehen. Es war immer noch heiß und sonnig genug für Urlauber, um draußen am Strand zu liegen, und für das Personal, um zu schlafen. Zimmer 507 hatte einen Balkon mit Seeblick, ein Dop pelbett, zwei Sessel, einen gelben Teppich und orange braune Vorhänge. Ein gewöhnliches Hotelzimmer, in dem kaum etwas von den Besitztümern meiner Retterin zu se hen war. Sie ging hinüber zu der Glastür, die weit offenstand, und trat halb hinaus auf den Balkon. »Wollen Sie sich’s ansehen?« fragte sie. Ich schaute vorsichtig über ihre Schulter. Aus dieser Hö he konnte man das ganze Panorama der Bucht überblik ken. Etwa in der Mitte lag das Boot. Das Beiboot war auf den Strand hinaufgezogen worden. Die Landzunge, wo ich 81
aus dem Meer gekrochen war, befand sich auf der rechten Seite, und der Weg, der vom Strand aus dorthin führte, war durch die Bäume wie eine gescheckte gelbe Schlange deutlich zu sehen. Zwei Männer gingen den Weg entlang, mein vertrauter Wärter vorneweg. Sie marschierten langsam Richtung Strand auf das Beiboot zu und sahen sich immer noch fortwährend um. Schließlich schoben sie das Boot ins Wasser. Sie stiegen beide hinein. Sie ließen den Außenbordmotor an. Sie entfernten sich vom Strand. Ich fühlte mich völlig ausgelaugt. »Haben Sie was dagegen, wenn ich mich hinsetze?« fragte ich.
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ank Telefon, Konsul, Bank und Freunden flog ich am folgenden Abend nach England zurück, aber nicht bevor Miss Hilary Margaret Pinlock mich um einige wei tere unvergeßliche Erinnerungen bereichert hatte. Sie ließ sich meine Maße geben, stieg in die heimischen Boutiquen hinab und kehrte mit neuen Kleidern zurück. Sie stellte mir ihr Badezimmer zur Verfügung, nahm mich gesäubert und angekleidet in Augenschein und be schloß, Rasierzeug zu kaufen. Ich protestierte. Sie ging. Miss Pinlock ließ sich etwa ebenso leicht aufhalten wie eine Lawine. Mit einiger Erleichterung kratzte ich den struppigen, dunklen Zwölftagebart von meinem Gesicht, nachdem ein einziger Blick in den Spiegel mich davon überzeugt hatte, daß ich mit Bart auch nicht besser aussehen würde. Nach dem ich zwölf Tage nicht ins Freie gekommen war, war ich nun dünn und blaß, mit grauen, eingefallenen Wangen und Tränensäcken, die ich meiner Erinnerung nach vorher nicht gehabt hatte. Nichts, was ein wenig Freiheit nicht wieder in Ordnung bringen würde. Von ihrer zweiten Expedition hatte sie auch Brot, Käse und Obst mitgebracht; sie erklärte mir, sie habe einen Pau schalurlaub gebucht und das Hotel bediene Zufallsbesu cher nicht. »Ich werde um sieben wie gewöhnlich zum Abendessen hinuntergehen«, sagte sie. »Sie können hier essen.« Durch all ihre Bemerkungen und Taten zog sich die reso 83
lute Entscheidungsfreudigkeit eines befehlsgewohnten Menschen. »Sind Sie Kinderkrankenschwester?« fragte ich neugie rig. »Nein«, sagte sie, ohne zu lächeln. »Schuldirektorin.« »Oh.« Das Lächeln kam, aber nur kurz. »An einer Gesamtschu le für Mädchen in Surrey.« Mit einem Anflug spöttischen Humors sah sie zu, wie ich sie im Lichte dieser Enthüllung neu einschätzte. Keine auf gute Werke versessene, alte Jungfer mit Neigung zur Bevormundung, sondern eine erfüllte, berufstätige Frau von unangefochtener Autorität. »Ja. Hm …« Sie zuckte die Achseln. »Wenn Sie mir die Telefonnummern geben, werde ich Ihre Gespräche bei der Vermittlung anmelden.« »Und ich brauche ein Zimmer«, sagte ich. »Ihre Freunde könnten zurückkommen und fragen, ob sich irgendein Fremder ein Zimmer genommen hätte«, sagte sie. Dieser Gedanke war mir ebenfalls gekommen. »Ja, aber …«, sagte ich. Sie zeigte auf eins der beiden Einzelbetten. »Sie können da schlafen. Ich bin allein hier. Die Freundin, die mich be gleiten wollte, mußte in letzter Minute absagen.« »Aber …« Ich hielt inne. Sie wartete gelassen ab. »Also gut«, sagte ich. »Vielen Dank.« Als sie vom Abendessen zurückkehrte, brachte sie eine Neuigkeit und eine Flasche Wein mit. »Ihr Freund vom Boot war unten in der Lobby und hat jeden, der Englisch spricht, gefragt, ob er einen verrückten jungen Mann heute hier ans Ufer kommen gesehen habe. Alle sagten nein. Er schien äußerst besorgt zu sein.« 84
»Wahrscheinlich denkt er, ich wäre ertrunken.« Das Boot war aus der Bucht verschwunden. Er mußte sich einen anderen Ankerplatz gesucht haben und über die Straße nach Cala St. Galdana zurückgekehrt sein. Ich frag te mich, wie lange und wie gründlich er seine Suche fort setzen würde: Je mehr er seinen Auftraggeber fürchtete, um so weniger würde er geneigt sein aufzugeben. Die Abendluft war kühl. Miss Pinlock schloß die Glastür vor dem nächtlichen Himmel und öffnete sachkundig ihre Flasche Marqués de Riscal. »Erzählen Sie mir von Ihrer Fahrt«, sagte sie und reichte mir ein Glas. Ich erzählte ihr den Anfang und das Ende und nicht viel von der Mitte. »Außergewöhnlich«, sagte sie. »Wenn ich nach Hause komme, werde ich herausfinden müssen, worum es überhaupt ging …« Sie sah mich ernst an. »Es ist vielleicht noch nicht vor bei.« Sie hatte die unbequeme Angewohnheit, meine schlimm sten Befürchtungen in Worte zu fassen. Wir tranken den hervorragenden Wein, und sie erzählte mir ein wenig von ihrem bewegten Leben. »Es gefällt mir«, sagte sie nachdrücklich. »Ja, das merke ich.« Es entstand eine Pause. Sie betrachtete eingehend den Wein in ihrem Glas. Sie sagte: »Werden Sie mit mir ins Bett gehen?« Ich vermute, daß ich wenig gentlemanlike und mit offe nem Mund in mich zusammensank. Den Mund klappte ich im Bewußtsein der Beleidigung, die diese Geste bedeutete, wieder zu. Als ich den ersten Schock verwunden hatte, blickte sie auf. Ihr Gesicht war ruhig und geschäftsmäßig wie zuvor, 85
aber plötzlich spiegelte es auch Verletzlichkeit und Verle genheit wider. Vom Hals her begann es rot anzulaufen. Sie war zwischen zweiundvierzig und sechsundvierzig, schätzte ich. Sie hatte dunkelbraunes, gewelltes Haar, das langsam grau wurde und ordentlich, aber nicht besonders elegant frisiert war. Eine breite, gefurchte Stirn, eine große Nase, ein schmales Kinn, und ihre Mundwinkel zogen sich auf natürliche Weise nach unten. Hinter ihrer Brille waren ihre Augen braun und wirkten, wahrscheinlich aufgrund der Gläser, klein. Sie hatte Falten, wo man Falten hatte, und ihre Haut war glanzlos. Ein Gesicht mit Charakter, aber ohne sexuellen Reiz, zumindest für mich. »Warum?« fragte ich, was eine ziemlich blöde Frage war. Sie errötete noch ein wenig tiefer und schüttelte den Kopf. »Sehen Sie«, sagte ich, »so einfach ist es ja nicht. Ich kann nicht … ich meine, man kann so etwas nicht ein- und abstellen wie einen Wasserhahn.« Wir saßen in verlegenem Schweigen da. Sie stellte ihr Glas ab und sagte: »Es tut mir leid. Es war lächerlich, so etwas zu sagen. Bitte, versuchen Sie, es zu vergessen.« »Sie haben es gesagt, weil der Gedanke Ihnen gekom men war. Also … nun … Sie müssen es ernst gemeint ha ben.« Sie lächelte kläglich. »Der Gedanke geht mir seit langer Zeit gelegentlich im Kopf herum. Sie werden es außerge wöhnlich finden, aber ich habe nie … sozusagen mit ei nem Mann geschlafen.« »In diesem freizügigen Zeitalter?« fragte ich. »Da haben Sie’s! Es fällt Ihnen schwer, das zu glauben. Aber ich war nie hübsch, nicht einmal als Kind. Und ich war sehr begabt … für so vieles. Lernen. Unterrichten. Organisieren. Verwalten. Lauter unweibliche Dinge. Mein 86
ganzes Leben lang haben sich irgendwelche Leute auf mich verlassen, weil ich tüchtig war. Ich war immer ge sund und voller Energie, und es hat mir Spaß gemacht, weiterzukommen, aufzusteigen, und vor fünf Jahren hat man mir schließlich den Posten einer Direktorin angebo ten. In fast jeder Hinsicht war mein Leben fesselnd und er freulich erfolgreich.« »Aber?« hakte ich nach. Sie nickte. »Aber. Als Teenager habe ich mich nie für Jungen interessiert, und dann hielt ich sie für unreif, und auf der Universität habe ich von morgens bis abends gear beitet, um den besten Abschluß zu schaffen, und danach habe ich grundsätzlich an Mädchenschulen unterrichtet, weil es an gemischten Schulen offen gesagt immer ein Mann ist, der den Direktorposten bekommt, und der Rolle einer Masseuse für das männliche Ego konnte ich nie etwas abgewinnen. Nichts, was ich je gewesen bin oder getan hätte, hätte je zu einem Liebesverhältnis führen können.« »Warum dann jetzt?« »Ich hoffe, Sie werden nicht böse sein, aber es ist vor al lem Neugier und Wissensdurst.« Ich war nicht wütend. Nur erstaunt. Ihre Röte hatte sich genauso schnell aufgelöst, wie sie gekommen war. Sie befand sich wieder auf sichererem Grund. »Ich denke schon seit einiger Zeit, daß ich diese Erfah rung hätte machen sollen. Ich meine Geschlechtsverkehr. Als ich jung war, hat sich irgendwie keine Gelegenheit er geben, aber ich habe auch nicht damit gerechnet, verstehen Sie. Jetzt denke ich, daß ich hätte versuchen sollen, einen Mann zu finden, aber andererseits – als ich das College besuchte, hatte ich teilweise Angst davor, und ich habe auch keinen großen Drang verspürt; außerdem war ich ganz in meine Arbeit vertieft. Danach habe ich mir jahre 87
lang nicht den Kopf darüber zerbrochen, bis ich etwa drei ßig war, und in dem Alter sind natürlich alle Männer, die man kennenlernt, verheiratet. Davon abgesehen, lernt man, wenn man nur unter Frauen unterrichtet, selten irgendwel che Männer kennen, außer Schulräten und so weiter. Ich besuche natürlich viele offizielle Veranstaltungen, aber die Leute neigen nun mal nicht dazu, unverheiratete Frauen zu privaten Anlässen einzuladen.« »Was hat Sie bewogen, Ihre Meinung zu ändern?« fragte ich fasziniert. »Oh, die Notwendigkeit, mit sexbesessenen jungen Mädchen fertig werden zu müssen. Die Jugend von heute ist ja so gut informiert. So frech und unverblümt. Ich mag sie. Aber ich muß auch ihre Sexualkundestunden planen. Früher habe ich diese Stunden sogar selbst gegeben, nach Lehrbüchern. Ich habe das Gefühl, daß es erheblich besser wäre, wenn ich wüßte … wie sich der Geschlechtsakt an fühlt. Ich fühle mich vielen der älteren Mädchen gegen über im Nachteil, vor allem, da ich im vergangenen Halb jahr eine schwangere Vierzehnjährige beraten mußte. Vierzehn! Sie weiß mehr als ich. Wie soll ich sie beraten?« »Dieses Problem haben die katholischen Priester nicht«, bemerkte ich. »Katholische Priester genießen vielleicht wegen ihrer Jungfräulichkeit besonderes Ansehen, aber für Schuldirek torinnen gilt das nicht.« Sie hielt zögernd inne und fuhr dann fort. »Um ehrlich zu sein, ich fühle mich sogar den verheirateten Mitgliedern meines Lehrkörpers gegenüber im Nachteil. Einige von ihnen haben die Neigung, mich herablassend zu behandeln, sogar unbewußt. Es gefällt mir nicht. Ich könnte jedoch bestens damit fertig werden, wenn ich wirklich wüßte, was sie wissen.« »Bin ich«, sagte ich langsam, »der erste Mann, den Sie gefragt haben?« 88
»O ja.« Sie lächelte verhalten und trank etwas Wein. »Es gibt praktisch überhaupt keine Männer, die man wirklich fragen kann. Vor allem, wenn man Direktorin ist und ziemlich bekannt. Meinen Job würde ich auf keinen Fall gefährden.« »Ich kann mir vorstellen, daß die Sache schwierig ist«, sagte ich und dachte darüber nach. »Also bleiben nur die Urlaube übrig«, sagte sie. »Ich ha be an archäologischen Reisen nach Griechenland teilge nommen und an allen möglichen anderen Sachen, und ich habe erlebt, wie sich andere Paare bildeten, aber mir ist das nie passiert. Und dann habe ich gehört, daß einige ein same Frauen sich Skilehrern und Kellnern an den Hals werfen und Männern, die für Geld zu haben sind, aber ir gendwie ist das nicht das, was ich wollte. Ich meine, ich möchte meine Selbstachtung behalten. Ich will das Wis sen, aber ohne Schuld oder Scham.« »Der Traum vom Garten Eden«, sagte ich. »Was? O ja.« »Was ist mit Ihrer Freundin?« fragte ich und zeigte auf das zweite Bett. Sie lächelte ein wenig schief. »Keine Freundin, nur eine Erklärung dafür, daß ich allein reise.« »Weil Freundinnen der Tod der Wissenssuche sind?« »Genau.« Wir tranken noch etwas Wein. »Ich bin seit letzten Samstag hier«, sagte sie. »Ich ver schaffe mir nach dem Ende des Schulhalbjahrs grundsätz lich eine absolute Pause und kehre dann erfrischt für neue Taten zurück.« »Ein perfektes System«, sagte ich geistesabwesend. »Warum haben Sie … ähm … mich nicht verraten, als die Männer in dem Beiboot hinter mir her waren?« »Wenn Sie meinen, ob ich sofort gedacht habe, Sie seien 89
… ein in Frage kommender … nein, natürlich nicht. Ich war fasziniert, irgendwie. Ich hatte noch nie einen Men schen in solch panischer Angst gesehen. Ich habe Sie schon beobachtet, als Sie noch ziemlich weit draußen wa ren. Wie Sie schwammen und sich immer wieder umsa hen. Aber erst als Sie die Betonstufe erreichten und ich Ihr Gesicht deutlich sehen konnte, wurde mir klar, daß Sie ge jagt wurden. Es bedarf einer gewissen Mentalität, um die Jagdhunde auf eine erschöpfte, am Boden liegende Beute aufmerksam zu machen, und diese Mentalität ist mir nicht zu eigen.« »Und dafür danke ich Gott«, sagte ich. Ich stand auf, öffnete die Glastür und ging hinaus auf den Balkon. Die kühle Nacht war klar, und über dem zeitlosen Mittelmeer leuchteten helle Sterne. Am Ufer der Bucht sanft gekräuselte Wellen und weiches Mondlicht auf der weiten, leeren Fläche, wo das Boot vor Anker gelegen hatte. Es war die unheimlichste Art von Schuld. Sie hatte mich davor bewahrt, erneut gefangen zu werden. Ich verdankte ihr eindeutig die Unversehrtheit meines Verstandes, wenn nicht sogar mein Leben. Wenn der einzige Lohn, den sie wollte, in etwas bestand, das ich nicht unbedingt geben wollte, dann war das eben Pech. Eine extreme Gefällig keit, dachte ich sardonisch, verdiente die andere. Ich ging hinein und setzte mich. Trank mit trockenem Mund etwas Wein. »Wir können es versuchen, wenn Sie wollen«, sagte ich. Sie saß ganz still da. Ich hatte einen Augenblick lang den Eindruck, daß sie jetzt, da ich zugestimmt hatte, hastig den Rückzug antreten würde, daß die verhaltene Angst ihrer Studententage jedenfalls immer noch da war. »Sie müssen nicht«, sagte sie. »Nein. Aber ich will.« Der Himmel vergebe allen Lüg nern. 90
Sie sagte, als spreche sie mit sich selbst und nicht mit mir: »Ich werde wohl nicht noch eine Gelegenheit be kommen.« Die Stimme einer Sehnsucht, die vor dem Sprung ins Dunkle zaudert. Ihre Willensstärke, das war mir klar, wür de ihr hindurchhelfen. Ich bewunderte sie. Ich beschloß, dafür zu sorgen, daß Hilary Pinlock ihren gewagten Sprung wenigstens nicht würde bedauern müssen – wenn ich es konnte. »Zuerst«, sagte ich, »knipsen wir die Lichter aus und setzen uns für eine Weile ans Fenster und reden darüber.« Wir saßen in dem schwachen, vom Meer reflektierten Mondlicht einander gegenüber, und ich stellte ihr einige ziemlich medizinische Fragen, auf die sie offene Antwor ten gab. »Was ist, wenn Sie schwanger werden?« fragte ich. »Dieses Problem würde ich später lösen.« »Sie wollen es also tun?« Sie holte tief Luft. »Wenn Sie es auch wollen.« Wenn ich kann, dachte ich. »Dann wäre es wohl das beste, wenn wir uns zuerst aus ziehen«, sagte ich. »Haben Sie ein Nachthemd? Und könn ten Sie mir einen Morgenmantel leihen?« Während ich in der Abgeschiedenheit des Bads ihren blauen Chenille-Morgenrock anzog, ging es mir durch den Kopf, daß große körperliche Müdigkeit eine denkbar schlechte Grundlage für diese Sache darstellte. Ich gähnte. Vor allem anderen wollte ich schlafen. Als ich aus dem Badezimmer kam, saß sie am Fenster; sie trug ein langes Baumwollnachthemd mit Rüschen am Ausschnitt, das natürlich nicht durchsichtig war. »Kommen Sie«, sagte ich. »Wir setzen uns aufs Bett.« Sie stand auf. Das Nachthemd betonte ihre Größe und Magerkeit und enthüllte lange, schmale Füße. Ich zog die 91
Bettdecken zurück, setzte mich auf das weiße Laken und hielt ihr die Hand hin. Sie kam, griff nach meiner Hand und setzte sich neben mich. »So«, sagte ich. »Also, wenn Sie an irgendeiner Stelle abbrechen wollen, brauchen Sie das nur zu sagen.« Sie nickte. »Dann legen Sie sich hin«, sagte ich, »und stellen Sie sich vor, Sie wären zwanzig.« »Warum?« »Weil dies keine Sache des Gehirns ist. Es geht darum, die Nervenenden zu stimulieren. Zu fühlen, nicht zu den ken. Wenn Sie die ganze Zeit daran denken, wer Sie sind, wird Ihnen das vielleicht hinderlich sein. Im Dunkeln gibt es kein Alter. Wenn Sie sich vorstellen, Sie wären zwan zig, dann sind Sie zwanzig, und Sie werden es befreiend finden.« »Sie sind ein sehr ungewöhnlicher Mann.« »Oh, klar«, sagte ich. »Und Sie sind eine sehr unge wöhnliche Frau. Also legen Sie sich hin.« Sie stieß ein leises, unerwartetes Kichern aus und tat wie geheißen. »Nehmen Sie die Brille ab«, sagte ich, und sie legte sie ohne Kommentar auf den Nachttisch. In dem schwachen Licht sahen ihre Augen größer aus, ganz wie ich vermutet hatte, und ihre große Nase kleiner und ihr entschlossener Mund weicher. Ich beugte mich vor und küßte sie auf die Lippen, und wenn es auch im Grunde ein Kuß wie zwi schen Neffe und Tante war, brachte er doch ein Lächeln auf ihr Gesicht und ein Grinsen auf meins. Es wurde der denkbar merkwürdigste Liebesakt, aber er funktionierte. Mir blieb vor allem der Augenblick in Erin nerung, als sie zum ersten Mal Gefallen an dem Gefühl fand, gestreichelt zu werden; das Beben der Überraschung, als sie mit ihren Händen die Größe einer Erektion spürte; 92
die Leidenschaft, mit der sie schließlich reagierte; und schließlich die überwältigende Befreiung zu keuchender Ungläubigkeit. »Empfindet«, sagte sie atemlos, »empfindet jede Frau das so?« Ich wußte, daß sie einen äußerst befriedigenden Höhe punkt erreicht hatte. »Ich denke schon«, sagte ich. »An gu ten Tagen.« »O mein Gott«, sagte sie mit einem Gefühl des Jubels. »Dann weiß ich es jetzt also.«
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m Donnerstag morgen war ich wieder im Büro und versuchte, mein Leben da wieder aufzunehmen, wo ich es verlassen hatte. Derselbe Geruch nach Schreib maschinen, Aktenschränken und Papier. Dieselbe Geschäf tigkeit, dieselben Rechenmaschinen, Telefone. Dieselben Stapel von zuviel Arbeit. Alles vertraut, alles unwirklich. Unsere beiden Gehilfen, Debbie und Peter, hatten eine harte Zeit hinter sich, so wie sie sich beschwerten. Und es sei gar nicht einfach gewesen, den Leuten meine rät selhafte Abwesenheit zu erklären. Sie hatten mein Ver schwinden der Polizei gemeldet; dort sagte man ihnen, ich sei über einundzwanzig und hätte das Recht, mal ab zutauchen, wenn mir danach wäre, und daß sie nur dann nach mir suchen würden, wenn ich ein Verbrechen be gangen hätte oder offensichtlich Opfer eines Verbrechens wäre. Man hatte vermutet, ich hätte zur Feier meines Sie ges im Gold Cup lediglich eine ausgedehnte Sauftour an getreten. »Wir haben denen erklärt, daß Sie niemals so lange weggeblieben wären«, sagte Peter. »Aber das hat die nicht besonders interessiert.« »Wir haben die Polizei gebeten, sich über Interpol mit Mr. King in Verbindung zu setzen«, beklagte Debbie sich. »Und die haben bloß über die Idee gelacht.« »Das kann ich mir denken«, sagte ich. »Trevor ist also immer noch im Urlaub?« »Er wird nicht vor Montag zurück erwartet«, sagte Peter
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– überrascht, daß ich etwas vergessen haben sollte, das ich so genau wußte. »O ja …« Den Vormittag verbrachte ich damit, den Terminplan neu zu organisieren und Peter dazu zu bringen, für meine ver säumten Verabredungen neue Termine zu vereinbaren. Den Nachmittag verwandte ich darauf, herauszufinden, daß meine Probleme, soweit es die Polizei betraf, immer noch von geringem Interesse waren. Ich war doch wieder zu Hause, oder? Unverletzt. Ohne Lösegeld zahlen zu müssen? War irgendeine Form der Erpressung im Spiel gewesen? Nein. Hatte ich Hunger gelitten? Nein. Sei ich geschlagen worden? Nein. Mit Seilen, Riemen, Hand schellen gefesselt gewesen? Nein. Ob ich sicher sei, daß es sich nicht um einen Scherz gehandelt hätte? Sie würden der Sache nachgehen, sagten sie. Aber einer von ihnen bemerkte, daß er seinerseits nichts gegen zwei Wochen kostenlose Mittelmeerkreuzfahrt einzuwenden hätte, und sein Kollege lachte. Mir wurde klar, daß ich, wenn ich es wirklich wissen wollte, die Nachforschungen selbst in die Hand nehmen mußte. Ich wollte es wissen. Es nicht zu wissen, schien mich nur gefährlicher Unsicherheit auszusetzen, so als stünde man hinter einem übellaunigen Pferd. Wenn ich nicht wußte, warum man mich beim ersten Mal entführt hatte, wie soll te ich dafür sorgen, daß es nicht noch einmal passierte? Donnerstag abend holte ich meinen Dolomite, den man auf die Ausfahrt des Rennbahndirektors von Cheltenham gestellt hatte. (»Wo um alles in der Welt haben Sie ge steckt? Wir haben über die Polizei herausbekommen, daß es Ihr Wagen ist.«) Als nächstes fuhr ich zu dem Haus des Jockeydieners, um meine Brieftasche, meine Schlüssel und meinen Reitsattel abzuholen. (»Wo um alles in der Welt haben Sie gesteckt? Ich habe dem Rennbahndirektor 95
Ihre Wagenschlüssel gegeben; ich hoffe, das war in Ord nung.«) Dann fuhr ich zu meinem Cottage (die vergangene Nacht hatte ich in einem Flugplatzhotel verbracht) und trat mit kleinmütiger Vorsicht ein. Niemand erwartete mich im Dunkeln mit Totschlägern oder Äther oder einem Fahrschein für die Segelkabine, ein fache Fahrt. Ich knipste alle Lichter an, schenkte mir einen ordentlichen Scotch ein und gab mir selbst die Order, mich zu beruhigen und wieder unter Kontrolle zu kriegen. Ich telefonierte mit dem Trainer, für den ich regelmäßig bei der Morgenarbeit ritt (»Wo um alles in der Welt haben Sie gesteckt?«), und verabredete, daß ich am Montag wie der anfangen würde, und ich rief einen Mann an, der mich gebeten hatte, bei einem Jagdrennen zu reiten, um mich für mein Nichterscheinen zu entschuldigen. Ich sah keinen Grund, die Fragen nach meinem Verbleib nicht zu beant worten, daher erzählte ich es ihnen allen: Ich sei entführt und auf einem Boot nach Menorca gebracht worden, und ich wüßte nicht, warum. Ich dachte, daß zumindest einer vielleicht mit einer möglichen Erklärung aufwarten konn te, aber alle, denen ich es erzählte, klangen genauso ratlos, wie ich mich fühlte. Ich hatte nicht viel zu essen im Cottage, und dem Steak im Kühlschrank waren Schnurrbarthaare gewachsen. Ich entschied mich für Spaghetti, auf denen ich kleingehack ten Käse schmelzen lassen wollte, aber bevor ich mich ans Kochen machte, ging ich nach oben, um mein neues Jak kett gegen einen alten Pullover einzutauschen und einen Abstecher ins Bad zu machen. Ich blickte beiläufig aus dem Badezimmerfenster und verbrachte einen erstarrten Augenblick in schierer Panik. Im Garten stand ein Mann, der zu den oberen Räumen des Cottages hinaufblickte. Das Licht aus dem Wohnzim merfenster fiel hell auf sein Gesicht. 96
Ich hatte ihn nicht bewußt in Erinnerung behalten, er kannte ihn aber sofort. Er war der falsche St.-JohnSanitäter von der Rennbahn in Cheltenham. Hinter ihm auf der Straße stand ein Wagen, dessen Dach und Fenster im Licht aufblitzten. Ein zweiter Mann hievte sich gerade vom Beifahrersitz; er hatte etwas in der Hand, das wie ein Plastikbeutel mit Baumwolle aussah. Eine drit te Gestalt, die nur schwach sichtbar war, ging durch den Garten ums Haus herum. Das konnten sie nicht, dachte ich: Sie konnten doch nicht annehmen, daß sie mich abermals überlisten würden. Aber da sie zu dritt waren, hatten sie es kaum nötig, ir gendeine List anzuwenden. Der Mann vom St. John winkte dem Mann am Wagen zu und zeigte auf das Haus, woraufhin sie ihre Positionen be zogen, je einer auf jeder Seite meiner Haustür, so daß man sie nicht sehen konnte, wenn man von innen öffnete. Der Mann vom St. John drückte auf meine Klingel. Meine Erstarrung fiel von mir ab. Schon wunderbar, wie das Entsetzen den Geist schärft. Es gab nur eine Stelle, an der ich mich verstecken konnte, nämlich mein Schlafzimmer. Die Geschwindigkeit, mit der ich über die Reling des Boots gesprungen war, war nichts im Vergleich zu meinem Verschwinden in meinem eigenen Cottage. In dem großen alten Kamin unten im Wohnzimmer war auf einer Seite ein Brotofen eingebaut, den meine Vormie ter hatten entfernen lassen. Statt dessen hatten sie einen mannshohen Alkoven mit Regalen einbauen lassen. Da sie einen sicheren Aufbewahrungsort für ihre Wertsachen be nötigten, hatten sie den oberen Teil des Brotofens zum dar überliegenden Schlafzimmer hin geöffnet, so daß sie dort eine Art Senke unterhalb des Bodens des eingebauten Wandschranks hatten. Da ich nicht viel an Wertsachen 97
aufzuweisen hatte, lagerte ich dort statt dessen meine bei den Koffer. Ich öffnete die Schranktür, klappte dessen Bodenkappe auf und zog die Koffer heraus. Es klingelte abermals und ziemlich beharrlich. Es dauerte nur Sekunden, mich in den Hohlraum hinab zulassen, und als sie durch die Haustür hereinkrachten, hatte ich die Schranktür bereits geschlossen und die Fuß bodenklappe beinahe wieder in ihre alte Position ge bracht. Sie tobten durchs Haus, rissen Türen auf und schlugen sie wieder zu, schrien und versammelten sich schließlich alle im unteren Stock. »Er muß hier sein, verdammt noch mal.« »Britten! Britten, komm raus, wir wissen, daß du hier bist.« »Der Scheißkerl ist getürmt.« Durch die Spanplatte zwischen meinem Versteck und dem Wohnzimmer konnte ich jedes laute Wort hören. Ich fühlte mich grauenvoll verletzlich, wie ich dort saß, auf derselben Höhe mit dem Bild über dem Kaminsims, prak tisch mit ihnen in einem Zimmer, verborgen nur durch ein dünnes Stück Wand. »Er kann nicht gesehen haben, wie wir kamen.« »Nach hinten ist er nicht raus, das kann ich euch mit Si cherheit sagen.« »Aber verfluchte Scheiße, wo ist er denn dann?« »Was ist mit diesen Koffern von ihm da oben?« »Nein. Da ist er nicht drin. Die sind zu klein. Außerdem hab ich nachgesehen.« »Er muß schon vorgehabt haben zu türmen, verdammt.« »Ja.« »Nimm dir den oberen Stock noch mal vor. Er muß hier irgendwo sein.« 98
Sie durchsuchten noch einmal das ganze Haus und pol terten mit ihren schweren Stiefeln durch jedes Zimmer. Einer von ihnen öffnete ein zweites Mal den Schrank über mir und sah nichts als Kleider, wie schon zuvor. Ich saß unter ihren Füßen und schwitzte und spürte, wie mein Puls in die Hunderter hochschnellte. »Sieh mal unter dem Bett nach«, sagte er. »Geht nicht. Das Bett ist direkt auf dem Boden.« »Wie wär’s dann mit dem anderen Schlafzimmer?« »Ich hab nachgesehen. Da ist er nicht.« »Dann sieh noch mal nach, verdammt.« Die Schranktür wurde über mir geschlossen. Ich wischte mir den Schweiß aus den Augen und versuchte, meinen Beinen etwas Erleichterung zu verschaffen, ohne mit den Schuhen über die Wand zu kratzen und ein Geräusch zu machen. Ich steckte in halb sitzender, halb liegender Posi tion in einer Nische, die ungefähr einen Meter lang und einen guten halben Meter tief war und gerade breit genug für meine Schultern. Ich hatte die Knie angezogen, so weit es ging, und meine Fersen preßten sich in die Hinterseiten meiner Schenkel. Für jeden Muskel, der mir einfiel, eine denkbar ungünstige Position. Zwei von ihnen kamen ins Wohnzimmer, einer nach dem anderen. »Was hast du da? Zeig her.« »Das geht dich einen Dreck an.« »Das ist seine Brieftasche. Du hast seine Brieftasche.« »Ja. Na schön, sie lag in seinem Schlafzimmer.« »Dann bring sie verdammt noch mal dahin zurück.« »Wohl kaum. Er hat dreißig Mäuse drin.« »Du wirst tun, was ich sage, du Dreckskerl. Du kennst die Anweisungen, genauso wie ich. Es wird nichts gestoh len, nichts kaputt gemacht. Ich hab’s dir doch gesagt.« »Meinetwegen kannst du die Hälfte haben.« 99
»Gib her. Ich bringe die Brieftasche zurück. Dir trau ich nicht.« Ich glaubte die Stimme des Mannes vom St. John zu erkennen. »Es ist doch einfach dämlich, nichts mitgehen zu lassen, wo wir schon mal die Gelegenheit haben.« »Willst du die Bullen am Hals haben? Sie haben beim ersten Mal keinen Finger krumm gemacht, um ihn zu su chen, und sie werden auch diesmal nichts unternehmen, aber wenn wir hier alles auf den Kopf stellen, dann haben wir sie am Hals. Benutz doch dein Hirn, verdammt noch mal.« »Wir haben ihn noch nicht.« »Nur eine Frage der Zeit. Er muß hier irgendwo sein. Muß.« »Er wird aber nicht zurückkommen, wenn er uns hier drin sieht.« »Nein, da hast du recht. Ich sag dir was, wir knipsen die Lichter aus und warten auf ihn. Dann schnappen wir ihn uns.« »Er hat die Lichter selber angelassen. Er wird nicht rein kommen, wenn sie aus sind.« »Am besten wartet einer von uns in der Küche und die beiden anderen im Garten. Wenn er dann herkommt, kön nen wir ihn von beiden Seiten angreifen, sobald er wieder durch die Tür kommt.« »Klar.« Mitten im Pläneschmieden erklang plötzlich eine neue Stimme, weiblich und fragend. »Mr. Britten? Mr. Britten, sind Sie hier?« Ich hörte, wie sie die Haustür aufdrückte und den Schritt ins Wohnzimmer machte. Die Stimme meiner Nachbarin von nebenan. Ja, Mrs. Morris, ich bin hier, dachte ich. Und es würde mehr dazu gehören als ich und eine kleine, dickliche, älte 100
re Mitbürgerin, um meine unerwünschten Gäste abwehren zu können. »Wer sind Sie?« fragte sie. »Freunde von ihm. Zu Besuch bei ihm sozusagen.« »Er ist nicht da«, entgegnete sie scharf. »Doch, ist er wohl. Er ist wieder da. Sein Wagen steht hinten. Und er hat sich einen Drink genehmigt, sehen Sie? Whisky.« »Wo ist er denn dann? Mr. Britten?« rief sie. »Hat keinen Zweck, Lady. Er ist ausgegangen. Wir war ten auf ihn, sozusagen.« »Ich glaube nicht, daß Sie hier im Haus etwas zu suchen haben.« Eine tapfere Dame, die alte Mrs. Morris. »Wir sind Freunde von ihm, verstanden?« »Sie sehen nicht wie seine Freunde aus«, sagte sie. »Dann kennen Sie seine Freunde also, ja?« Eine gewisse Nervosität stahl sich in ihre Stimme, aber ihre Entschlossenheit war ungebrochen. »Ich glaube, Sie sollten besser draußen warten.« Es entstand eine kurze Pause, dann sagte der Mann vom St. John: »Was meinen Sie, wo er sein könnte? Wir haben überall nach ihm gesucht.« Lieber Gott, gib, daß sie nichts von diesem Versteck weiß, betete ich. Daß sie nicht daran denkt. »Er könnte in den Pub gegangen sein«, sagte sie. »War um gehen Sie nicht mal nachsehen? Im Fox.« »Ja, vielleicht.« »Wie auch immer, ich denke, ich werde Sie eben hinaus begleiten.« Furchtlose kleine Mrs. Morris. Ich hörte sie alle hinaus gehen, dann wurde die Haustür hinter ihnen geschlossen. Das Schloß klickte unmißverständlich. Plötzlich herrschte Stille im Cottage. Ich lag still da und wartete, daß sie ihren Wagen anließen. 101
Nichts geschah. Sie waren immer noch da, dachte ich. Draußen. Auf der anderen Seite meines Hauses. Um zu warten. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte. Ich schob vorsichtig die Klappe über meinem Kopf zur Seite, setzte mich auf und straffte voller Erleichterung Knie, Rücken und Hals. Das Licht im Schlafzimmer brannte immer noch; es fiel durch die Ritze unter der Schranktür. Ich ließ die Tür zu. Wenn sie auch nur einen Schatten sich regen sahen, wür den sie mit Sicherheit wissen, daß ich im Haus war. Ich überlegte, daß ich weiß Gott zu viel Praxis darin hat te, ungewisse Stunden in kleinen, dunklen Kammern zu zubringen. Das Schloß an meiner Haustür klickte. Man lernt die Geräusche des eigenen Hauses so gut ken nen, daß man sie auch zu deuten weiß, wenn man nicht sieht, was vorgeht. Ich hörte unmißverständlich die Türan geln und das Knarren eines Schuhs auf den bloßen Fliesen der Eingangsdiele. Dann folgten leise Geräusche im Wohnzimmer, gedämpfte Stimmen und das Quietschen der Küchentür. Sie waren auf eine Weise zurückgekehrt, die Mrs. Morris’ Aufmerksamkeit nicht erregen würde. Ich saß stocksteif da und fragte mich, ob ich mich in die kleinere Nische gleiten lassen und riskieren sollte, daß sie meine Bewegungen hörten, oder ob ich mit Kopf und Schultern oberhalb des Fußbodens sitzen bleiben und ris kieren sollte, daß sie abermals meinen Kleiderschrank durchsuchten. Wenn ich hustete oder nieste oder auch nur mit dem Ellbogen gegen die Spanplatte stieß, während ich mich in das sicherere Versteck hinabließ, würden sie mich hören. Ich saß unbeweglich da, lauschte angestrengt und fragte mich voller Verzweiflung, wie lange sie bleiben würden. 102
Gleichmäßiges Atmen war schwierig, meinen Herz schlag zu kontrollieren unmöglich. Akute Angst über eine Zeitdauer von mehreren Stunden hinweg wirkte sich ver heerend auf die Nerven aus. Von Zeit zu Zeit konnte ich hören, wie sie sich bewegten und murmelten, aber ihre Worte waren für mich nicht mehr deutlich auszumachen. Ich vermutete, daß auch sie sich versteckten, daß sie an Stellen auf meine Rückkehr warteten, wo ich sie nicht würde sehen können. Es war beinahe komisch, wenn man darüber nachdachte: Sie ver steckten sich hinter den Möbeln und ich hinter den Wän den. Aber durchaus nicht mehr komisch, wenn sie mich fan den. Vielmehr entsetzlich. Mit einem Zittern holte ich tief Luft. Nicht zum ersten, nicht zum letzten Mal. Jemand kam leise die Treppe herauf. Das vertraute Knar ren der alten Stufen ließ mich erbeben wie eine Serie von Elektroschocks. Ich mußte jetzt das Risiko eingehen, mich zu bewegen. Ich zog die Ellbogen an, beugte die Knie und ließ mich vorsichtig in mein Versteck hinab. Die Klappe fiel mit einem harten Aufprall auf mein Haar, und ich dachte halb wahnsinnig vor Angst, daß sie es gehört haben mußten. Aber niemand kam mit triumphierendem Ge schrei herbeigelaufen. Die grauenvolle Spannung blieb. Meine gekrümmte Haltung verursachte mir Schmerzen, und ich bekam Krämpfe, aber ich konnte nichts anderes tun, als mich ins Unvermeidliche zu fügen. Einer von ihnen verbrachte ziemlich viel Zeit in meinem Schlafzimmer. Ich konnte seine Schritte auf den Bodendie len hören und auch den leisen Aufprall von Schubladen, die zugeschoben wurden. Er suchte wohl nicht mehr nach mir, sondern nach dem, was ich besaß. Das machte seine Nähe aber nicht ungefährlicher. 103
Die Angst schien endlos zu sein; aber alles hat einmal ein Ende. Ich hörte sie wieder im Wohnzimmer murmeln; dann wurde die Küchentür geschlossen. Der Mann oben ging wieder hinunter. Noch mehr Gemurmel: ein Chor. Dann eine Weile Stille. Dann ein oder zwei Schritte im Flur und das Klicken der Haustür, die ins Schloß fiel. Ich wartete, weil ich glaubte, daß nur einer von ihnen gegangen sei. Sie ließen ihren Wagen an. Legten leise einen Gang ein. Fuhren davon. Ich lag immer noch reglos da, wagte nicht, darauf zu vertrauen, daß alles vorüber war, daß es kein Trick war. Aber die absolute Stille dauerte an, und am Ende drückte ich die Klappe hoch und kroch unter vielen Schmerzen und wie von Tausenden von Nadelstichen gepeinigt auf meinen Schlafzimmerteppich. Die Lichter brannten immer noch, aber das schwarze Rechteck des Fensters war grau. Es hatte die ganze Nacht gedauert. Es dämmerte. Ich warf ein paar Sachen in einen der Koffer und verließ das Cottage zehn Minuten später. Das Sicherheitsschloß an der Haustür zeigte keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung, und ich vermutete, daß sie die Tür mit einer Kreditkarte geöffnet hatten; das hatte ich selbst einmal gemacht, als ich mich ausgesperrt hatte. Mein Wagen stand unberührt, wo ich ihn zurückgelassen hatte, und auf dem Wohnzimmertisch entdeckte ich sogar mein halbgetrunkenes Glas Scotch. Trotz meiner merklichen Beunruhigung fuhr ich zuerst in das Hotel Chequers, wusch mich, rasierte mich und frühstückte. Dann ging ich zur Polizei. »Wieder da?« lautete die Begrüßung. Man hörte zu, machte sich Notizen, stellte Fragen. 104
»Wissen Sie, wer die Leute waren?« »Nein.« »Irgendwelche Hinweise auf gewaltsames Eindringen?« »Nein.« »Irgendwas gestohlen?« »Nein.« »Dann können wir nichts unternehmen, Sir.« »Hören Sie«, sagte ich, »diese Leute versuchen mich zu entführen. Es ist ihnen einmal gelungen, und sie versuchen es wieder. Können Sie denn verdammt noch mal gar nichts tun, um mir zu helfen?« Sie schienen durchaus Mitleid zu haben, aber die Ant wort war nein. Sie hatten weder genug Leute noch genug Männer noch genug Geld, um irgend jemanden ohne sehr guten Grund auf unbestimmten Zeitraum hinaus rund um die Uhr zu bewachen. »Ist eine drohende Entführung nicht ein sehr guter Grund?« »Nein. Wenn Sie an die Drohung glauben, könnten Sie sich einen privaten Leibwächter engagieren.« »Vielen Dank«, sagte ich. »Aber wenn mich noch einmal jemand vermißt meldet, bin ich bestimmt nicht aus freien Stücken unterwegs, und Sie könnten mir den Gefallen tun, dann nach mir zu suchen.« »Das tun wir, Sir – falls jemand Sie vermißt meldet.« Ich ging ins Büro, setzte mich an meinen Schreibtisch und sah zu, wie meine Hände zitterten. Meine geistige und körperliche Zähigkeit hatte einen Tiefstand erreicht. Peter brachte mir mit seiner wie gewohnt leicht ver ständnislosen Miene ein Telegramm. Eine schlechte Neu igkeit. AUTO KAPUTT, KOMME MITTWOCH ZURÜCK, ENTSCHUL DIGUNG, TREVOR.
»Haben Sie das gelesen?« fragte ich Peter. 105
»Ja.« »Dann sollten Sie mir wohl mal Mr. Kings Liste für die nächste Woche und auch seinen Terminkalender holen.« Er zog los, und ich saß da und betrachtete ausdruckslos das Telegramm. Es war in irgendeiner Stadt in Frankreich aufgegeben worden, von der ich noch nie gehört hatte. Ohne Angabe einer Adresse. Trevor würde sich keine Sor gen machen, wo auch immer er war. Er würde sicher sein, daß ich seine zusätzlichen Urlaubstage spielend bewälti gen würde. Peter kam mit der Liste zurück, und ich verschränkte meine Finger, um sie still zu halten. Welche Tranquilizer nahmen die Leute gewöhnlich? »Bringen Sie mir eine Tasse Kaffee«, sagte ich zu Peter. Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich weiß, daß es erst Vier tel nach neun ist«, sagte ich, »aber bringen Sie mir eine Tasse Kaffee … bitte.« Als er mir den Kaffee gebracht hatte, schickte ich ihn noch einmal los, damit er auch Debbie holte und ich die wichtigsten Arbeiten zwischen ihnen aufteilen konnte. Sie waren beide nicht besonders klug, aber beharrliche, zuver lässige Arbeitstiere – eine unschätzbare Eigenschaft für einen Steuerberatergehilfen. Die Assistenten vieler Steuer berater waren intelligent und bemühten sich aktiv, selbst Steuerberater zu werden, aber Trevor schien aus irgend welchen Gründen lieber mit dem ehrgeizlosen Typ zu sammenzuarbeiten. Peter war zweiundzwanzig, Debbie vierundzwanzig. Peter, so vermutete ich, war latent homo sexuell und hatte das selbst noch nicht ganz kapiert. Deb bie, tugendhaft, großbusig und mit mausfarbenem Haar, hatte einen Freund, der in einer Schlosserei arbeitete. Peter riß gelegentlich Witze übers Bumsen, die sie schockierten. Sie saßen mit gezückten Notizblöcken vor meinem Schreibtisch und sahen mich beide voller Mißtrauen an. 106
»Sie sehen wirklich furchtbar schlecht aus«, sagte Deb bie. »Noch schlechter als gestern. Irgendwie grau.« In ih rer Stimme schien eher makabre Schadenfreude als Be sorgnis zu liegen. »Hm, na ja, kümmern Sie sich gar nicht darum«, sagte ich. »Ich habe mir Mr. Kings Liste angesehen; einige der Abschlüsse können nicht warten, bis er wieder da ist.« Um zwei davon hätte er sich eigentlich vor seiner Abreise kümmern müssen, aber niemand ist vollkommen. »Be glaubigung für die Anwälte Mr. Crest und Mr. Grant. Ich fürchte, die sind bereits überfällig. Könnten Sie mir für diese beiden alle Unterlagen bringen, Debbie? Später, meine ich. Nicht sofort. Dann sind da noch zwei Vorla dungen von der Steuerkommission für nächsten Donners tag. Ich werde in beiden Fällen um Aufschub nachsuchen, aber Sie bringen mir besser trotzdem die Bücher rein, Debbie, damit ich schon mal damit anfangen kann.« »Es geht um den Rennstall Axwood, nicht wahr? Und um das Gestüt Millrace?« »Nicht das Gestüt; das ist erst nächste Woche dran. Dar um kann Mr. King sich kümmern. Der Rennstall Axwood, ja, und dieser Getreidehändler, Coley Young.« »Die Bücher von Coley Young haben wir noch nicht hier«, sagte Peter. »Nun, warum um Himmels willen haben Sie nicht getan, was ich Ihnen vor zwei Wochen aufgetragen habe, nämlich die Leute angerufen, damit sie sie schicken sollen?« Ich hörte selbst, wie ungehalten ich klang, und tat mein Bestes, um diesen Ton zu unterdrücken. »Okay«, sagte ich lang sam. »Haben Sie sie gebeten, die Unterlagen zu schicken?« »Ja, habe ich.« Peter neigte zum Schmollen. »Aber sie sind nicht gekommen.« »Dann rufen Sie sie noch mal an, ja? Und was ist mit Axwood?« 107
»Die haben Sie selbst überprüft, falls Sie sich erinnern.« »Hab ich das?« Scheinbar in der Vergangenheit eines früheren Lebens. Die beiden Vorladungen vor die Steuer kommission waren nichts Ernstes. Es kam selten einmal vor, daß wir tatsächlich dort erscheinen mußten. Die Vor ladungen ergingen, wenn die Steuerbehörde befand, daß irgendwelche Steuererklärungen oder Abschlußberichte allzu lange überfällig waren. Eine Art Aufforderung, end lich tätig zu werden. Es lief dann darauf hinaus, daß Tre vor oder ich um Aufschub baten, die angeforderten Unter lagen erstellten und sie vor Ablauf der einberaumten Frist einreichten. Ende der Affäre. Die beiden fraglichen Vorla dungen waren uns zugestellt worden, nachdem Trevor sei nen Urlaub angetreten hatte, so daß er darauf nicht mehr selbst hatte reagieren können. »Sie haben gesagt, das Journal für die kleine Kasse habe bei den Unterlagen noch gefehlt«, sagte Peter. »So? Und haben Sie es angefordert?« »Ja, aber es ist noch nicht gekommen.« Ich seufzte. »Rufen Sie noch mal an.« Ziemlich viele Klienten hatten nicht die mindeste Eile mit ihren Abschlüssen und Steuererklärungen, und unsere Nachfragen wurden oft wochenlang ignoriert. »Sagen Sie beiden, daß sie tatsächlich vor der Kommis sion werden erscheinen müssen, wenn sie ihre Bücher nicht schicken.« »Aber das müssen sie eigentlich doch nicht, oder?« frag te Peter. Nicht gerade der Hellste, dachte ich. »Eine Fristverlängerung werde ich so oder so bekom men«, sagte ich geduldig, »aber Trevor muß die Unterla gen komplett zur Hand haben, sobald er zurück ist.« Debbie sagte: »Mr. Wells hat gestern nachmittag dreimal angerufen.« »Wer ist Mr. Wells? Ach ja, Mr. Wells.« 108
»Er sagt, einer seiner Gläubiger habe beantragt, ihn für zahlungsunfähig erklären zu lassen, und er möchte wissen, was Sie deswegen unternehmen werden.« Die Einzelheiten von Mr. Wells’ Problemen waren mir völlig entfallen. »Wo sind seine Bücher?« fragte ich. »In einer dieser Kisten«, sagte Debbie und zeigte auf die Pappkartons, die an der Wand unter dem Fenster in Dreier reihen übereinandergestapelt waren. Die Kartons waren mit dem Namen des Klienten in großen, schwarzen Let tern versehen und enthielten die Kassenbücher, Rechnun gen, Quittungen, Hauptbücher, Einzahlungsbücher, Kon toauszüge, Portokassenjournale, Jahresinventuren und alles andere Drum und Dran, das für die Steuerermittlung nötig war. Jeder dieser Kartons stand für eine Aufgabe, die ich noch vor mir hatte. Ich brauchte im Durchschnitt zwei Arbeitstage, um die Abschlüsse und Steuerberechnungen für einen Klienten zu erstellen. Für einige auch länger. Ich hatte grob geschätzt zweihundert Klienten. Das war das Problem. Trevor hatte sich die größeren Firmen gesichert und verwandte gern annähernd eine Woche auf jede. Er küm merte sich um sieben Klienten. Kein Wunder, daß die Vor ladungen der Steuerkommission wie Schnee auf uns her abregneten. Peter und Debbie kümmerten sich um den größten Teil der Routinearbeiten, verglichen Bankauszüge mit Scheck nummern und den bezahlten Rechnungen. Wenn wir eine zusätzliche Kraft für diese Arbeiten einstellten, würde das Trevor und mich nur bis zu einem gewissen Maß entla sten. Wenn wir dagegen einen dritten, voll gleichberech tigten Partner mit hereinnahmen, würde das den Druck gewiß verringern, aber es würde auch die Teilung unserer Gewinne durch drei statt durch zwei und damit eine be trächtliche Verringerung unserer Einkommen bedeuten. 109
Trevor war absolut dagegen. Eine Verschmelzung mit der Londoner Firma hieße, daß Trevor nicht mehr der Boss wäre und ich keine Rennen mehr reiten könnte … alles in allem eine ausgewachsene Sackgasse. »Debbie und ich haben letzte Woche unsere Lohnschecks nicht bekommen«, sagte Peter. »Und Beth auch nicht.« Beth war die Schreibkraft. »Und der Durchlauferhitzer im Waschraum funktioniert nicht mehr«, fügte Debbie hinzu. »Und Sie haben gesagt, ich könne heute nachmittag um halb vier zum Zahnarzt gehen.« »Tut mir leid wegen der ganzen Extraarbeit«, sagte Peter in einem Tonfall, der keineswegs bedauernd klang, »aber leider ist heute der Freitag, an dem ich Unterricht im Insti tut für Steuerberater habe.« »Hm«, sagte ich. »Peter, rufen Sie im Gefängnis von Leyhill an und fragen Sie, ob Connaught Powys immer noch dort ist.« »Was?« »Im Gefängnis von Leyhill. Irgendwo in Gloucester shire. Lassen Sie sich die Nummer von der Telefonaus kunft geben.« »Aber …« »Tun Sie’s einfach«, sagte ich. »Connaught Powys. Ob er noch dort ist.« Mit verwunderter Miene ging er hinaus, aber anderer seits waren er und Debbie während dieses überaus heiklen Prozesses noch nicht bei uns gewesen. Debbie holte den ersten Stapel mit Unterlagen, die ich brauchte, und ich nahm die Beglaubigungen für die Anwälte in Angriff. Da die Veruntreuung von treuhänderisch verwalteten Klientengeldern sich zu einem blühenden Gewerbe ent wickelt hatte, war gesetzlich vorgeschrieben worden, daß alle sechs Monate geprüft wurde, ob sich die einem An 110
walt anvertrauten Gelder und Sicherheiten auch tatsächlich noch in dessen Obhut befanden. Wenn nicht, wurde dem Anwalt unverzüglich die Zulassung entzogen. Hatte dage gen alles seine Ordnung, unterschrieb der Wirtschaftsprü fer die Beglaubigung und strich sein Honorar ein. Peter kehrte mit stolzgeschwellter Brust zurück, als hätte er eine gefährliche Mission bestanden. »Die vom Gefängnis sagen, er sei vor sechs Wochen ent lassen worden, am 16. Februar.« »Danke.« »Es war gar nicht einfach, bis zu denen durchzudrin gen.« »Ähm … gut gemacht«, sagte ich. Er schien eine etwas ausführlichere Belobigung für angemessen zu halten, be kam sie aber nicht. Wenn Connaught Powys seit sechs Wochen draußen war, hatte er einen ganzen Monat Zeit gehabt, um meine See reise zu organisieren. Ich gab mir große Mühe, mich auf die Arbeit an den Beglaubigungen zu konzentrieren, aber die Segelkabine kam mir immer wieder dazwischen. Meine Berechnungen in Sachen Rechtsanwalt Grant gingen etwa beim dritten Versuch auf, aber bei Denby Crest machte ich immer wieder Fehler. Ich hatte einen kla ren Kopf immer für selbstverständlich gehalten, wie das Laufen: Dinge, die man nicht bewußt zu schätzen weiß, bevor man sie verloren hat. Zahlen waren mir seit Kinder tagen wie eine zweite Sprache gewesen, die ich mühelos begriff. Ich überprüfte Denby Crests Zahlen fünfmal und kam immer wieder auf eine Diskrepanz von fünfzigtau send Pfund, aber da ich ihn kannte – er arbeitete gelegent lich für uns – war das lächerlich. Denby Crest war kein Gauner, dachte ich verärgert. Es sind nur meine nutzlosen, wirren Gedanken. Irgendwo vertauschte ich eine Dezimal stelle, machte aus einem Maulwurfshaufen von Fehlbe 111
trag, der sich wahrscheinlich auf fünf Pfund oder fünfzig Pence belief, einen wahren Berg. Am Ende rief ich sein Büro an und bat darum, zu ihm durchgestellt zu werden. »Sagen Sie, Denby«, sagte ich, »es tut mir furchtbar leid, aber sind Sie sich sicher, daß wir alle relevanten Unterla gen haben?« »Davon gehe ich doch aus«, sagte er. Er klang ungedul dig. »Warum lassen Sie die Sache nicht für Trevor liegen? Er wird doch morgen wieder zurück sein, oder?« Ich erzählte ihm, daß Trevor unterwegs mit dem Auto liegengeblieben sei. »Er wird vor Mittwoch oder Donners tag nicht wieder im Büro sein.« »Oh.« Er klang beunruhigt, und es entstand eine deutli che Pause. »Trotzdem«, sagte er, »Trevor kennt sich mit unseren Angelegenheiten aus. Bitte, lassen Sie unsere Be glaubigung liegen, bis er zurück ist.« »Aber sie ist überfällig«, sagte ich. »Richten Sie Trevor aus, er soll mich anrufen«, sagte er. »Es tut mir leid, aber ich habe einen Klienten hier. Wenn Sie mich also bitte entschuldigen würden …« Er legte auf. Ich legte dankbar seine Unterlagen zusam men und dachte, wenn er das Risiko eingehen wollte, auf Trevors Rückkehr zu warten, hatte ich gewiß nichts dage gen einzuwenden. Um halb eins gingen Peter und Debbie zum Mittagessen, aber ich hatte keinen Hunger. In Hemdsärmeln saß ich vor den noch unerkundeten Tiefen der deprimierenden Ge schäftspapiere des Mr. Wells. Stemmte die Ellbogen auf den Schreibtisch, stützte die Stirn auf das rechte Handge lenk und schloß die Augen. Hegte eine Reihe höchst nie derträchtiger Gedanken und überlegte, ob ich mir nicht ein Ticket in die Antarktis, einfache Fahrt, kaufen solle. Eine Stimme sagte: »Sind Sie krank, schlafen Sie, oder posieren Sie für Rodin?« 112
Ich blickte erschrocken auf.
Sie stand in der Tür. Jung, blond, schlank, hübsch.
»Ich wollte zu Trevor«, sagte sie.
Man konnte eben nicht alles haben.
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enne ich Sie nicht?« fragte ich verwirrt und stand auf. »Klar doch.« Sie schien resigniert, als gehe ihr das häufig so. »Kramen Sie mal in Ihrer Erinnerung: langes Haar, kein Lippenstift, schmutzige Jeans und Ponys.« Ich musterte den kurzen, flauschigen Bubikopf, das mo dische Make-up, den schwingenden braunen Rock, über dem sie eine adrette, taillenlange Pelzjacke trug. Irgend jemandes Tochter, dachte ich; jüngst und in durchaus zu friedenstellender Weise erwachsen geworden. »Sie sind die Tochter von …?« sagte ich. »Ich bin Frau von eigenen Gnaden.« »Verständlich.« Sie amüsierte sich; freute sich über ihre Wirkung auf Männer. »Jossie Finch, um genau zu sein.« »Whow«, sagte ich. »Jede Larve breitet einmal die Flügel aus.« »Wohin werden Sie fliegen?« »Ja«, sagte sie, »ich hab schon gehört, daß Sie alles wechseln können.« »Trevor ist leider nicht da.« »Hm. Immer noch auf Achse?« Ich nickte. »Dann soll ich Ihnen die Botschaft ausrichten, falls ich Sie an seiner Stelle antreffe.« »Wollen Sie sich setzen?« Ich deutete auf einen Stuhl. 114
»Keine Zeit. Tut mir leid. Botschaft von Dad. Was wer den Sie wegen der Kommission unternehmen? Er sagte, er würde auf gar keinen Fall nächsten Donnerstag vor ir gendeiner Kommission erscheinen. Oder vielmehr, er äu ßerte sich in finsteren Worten dieses Inhalts.« »Nein, das wird auch nicht nötig sein.« »Außerdem sagt er, er hätte mir heute das Portokassen journal oder was es auch sein mag mitgegeben, aber seine Sekretärin ist krank, und wenn Sie mich fragen, ist sie das kränkste Geschöpf, das sich jemals seine Fingernägel an einer Schreibmaschine abgebrochen hat, und sie hat rein gar nichts mit irgendwelchen dämlichen Quittungen oder Belegen oder was immer Sie sonst brauchen, gemacht. Aber …« Sie hielt inne und atmete übertrieben tief ein. »Dad sagt, wenn Sie heute abend vorbeikommen wollen, können Sie mit ihm während der Abendstallzeit die Runde machen und anschließend einen Schluck trinken, und er wird Ihnen persönlich das Buch in Ihre warmen kleinen Hände drücken, um dessentwillen Ihr Gehilfe ihm die Höl le heiß gemacht hat.« »Einladung angenommen«, sagte ich. »Gut. Ich richte es ihm aus.« »Werden Sie auch da sein?« »Ah«, sagte sie, und ihre Augen lachten, »ein wenig Un gewißheit ist der Ketchup auf den Pommes.« »Und für Sie auch die Würze des Lebens.« Sie schenkte mir ein besonders gelungenes Lächeln, fuhr auf dem Absatz herum, so daß ihr Rock wippte und ihr Haar hochflog, und spazierte aus dem Büro. Jossie Finch, Tochter von William Finch, dem Herrn der Axwood-Ställe. Ich kannte ihren Vater, wie alle langjähri gen Amateurreiter alle Top-Trainer kannten; genug, um ihn zu grüßen und beim Rennen mit ihm zu plaudern. Da er zu den Galoppsportklienten aus der Zeit vor meinem 115
Beitritt zur Firma gehörte, die Trevor gern für sich behielt, hatte ich seinen Stall noch nie zuvor besucht. Die Sache interessierte mich genug, um hinzugehen, trotz all meiner Probleme. Er hatte schätzungsweise neun zig Pferde in seiner Obhut – sowohl Hindernis- als auch Flachpferde –, und Sieger galten als selbstverständlich. Abgesehen von Tapestry waren die meisten Pferde, die ich für gewöhnlich ritt, eher mittelmäßig und ihre Besitzer eher von Hoffnung als von vernünftiger Erwartung be seelt. Einen großen Stall voller Pferde der Spitzenklasse zu sehen, war immer ein Genuß. Dort würde ich auch vor meinen Entführern sicher sein. Und Jossie schien mir die Sahne auf dem Kuchen zu sein. Als Peter und Debbie zurückkamen, fiel ich über sie her, weil sie gegangen waren, ohne die Außentür zu verschlie ßen. Sie setzten gleich gekränkte Mienen auf; sie hätten geglaubt, es sei in Ordnung so, weil ich doch dagewesen sei, so daß bestimmt niemand auf die Idee gekommen wä re, hereinzuschleichen und irgendwas zu stehlen. Meine Schuld, dachte ich ein wenig vernünftiger. Ich hätte die Tür selbst hinter ihnen zusperren sollen. Ich wür de viele Gewohnheiten neu überdenken müssen. Es hätte ohne weiteres der Feind sein können, der da hereinspaziert gekommen war, und nicht Jossie Finch. Einen Teil des Nachmittags verwandte ich auf Mr. Wells, aber der größere Teil ging für den Versuch drauf, Con naught Powys aufzuspüren. Wir hatten seine alte Adresse in den Akten, noch aus je nen Tagen, da er durch Manipulation der EDV seine Firma binnen fünf Jahren um eine Viertelmillion Pfund erleich tert hatte. Die Buchprüfung der Firma war normalerweise Trevors Sache gewesen, aber in einem Jahr, als Trevor wegen eines Magengeschwürs häufig nicht da war, hatte ich die Prüfung durchgeführt und durch reinen Zufall den 116
Betrug entdeckt. Es war eine dieser Sachen, die man nicht glaubt, selbst wenn man sie direkt vor Augen hat. Con naught Powys war geschäftsführender Direktor gewesen und hatte für ein recht ordentliches Einkommen auch seine Steuern bezahlt. Der schöne Batzen unversteuerter Knete war spurlos verschwunden, aber Connaught selbst war nicht schnell genug gewesen. Ich versuchte es bei seiner alten Adresse. Eine scharfe Stimme am Telefon erklärte mir, daß die neuen Bewohner nichts über Powys’ Verbleib wüßten; sie wünschten, sie würden nicht dauernd damit belästigt, und bereuten den Tag, an dem sie in das Haus des Betrügers eingezogen waren. Ich versuchte es bei seinen Anwälten, die erstarrten, so bald sie erfuhren, wen ich zu finden versuchte. Sie konn ten, so erklärten sie mir, seine gegenwärtige Adresse nicht ohne seine ausdrückliche Erlaubnis preisgeben. Aber eher entschlösse sich ein Shylock zu einer mildtätigen Gabe an den Kirchenbasar, als daß ich mit dieser Erlaubnis rechnen könne – das besagte ihr Tonfall. Ich versuchte es im Gefängnis von Leyhill. Fehlanzeige. Schließlich versuchte ich es bei Vivian Iverson, einem Bekannten aus der Rennszene. Der Mann betrieb einen Spielclub in London und schien immer über alle Korrupti onsskandale im Bild zu sein, bevor die Geschichten an die Öffentlichkeit kamen. »Mein lieber Ro«, sagte er, »bei meiner Kundschaft er freuen Sie sich nicht gerade großer Beliebtheit, aber das müßten Sie eigentlich wissen.« »Ich kann’s mir denken.« »Sie haben die Betrüger ganz schön das Fürchten ge lehrt, mein Freund. Sie ziehen in Scharen aus Newbury und Umgebung ab.« »Na klar. Und ich suche auch jedes Jahr den Derbysieger aus.« 117
»Sie haben gut lachen, mein lieber Junge, aber es gehen da Gerüchte um …« Er zögerte. »Glitberg und Ownslow, diese beiden kleinen Angeber, sind mit Powys gesehen worden, der sich inzwischen seiner Stubenhockerblässe auf einer Sonnenbank entledigt hat. Sie haben natürlich, wie ich aus ziemlich verläßlicher Quelle weiß, im Cher die Wir-alle-hassen-Britten-Arie angestimmt.« »Mit Racheabsichten?« »Darüber habe ich keine Informationen.« »Könnten Sie’s rausfinden?« »Ich höre lediglich zu, mein lieber Ro«, sagte er. »Wenn ich erfahre, daß die Messer gezückt sind, sag ich Ihnen Bescheid.« »Sie sind ein Schatz«, erwiderte ich trocken. Er lachte. »Connaught Powys ist freitags meistens zum Spielen hier.« »Um wieviel Uhr?« »Sie haben viele Fragen, mein lieber Junge. Zwischen Abendessen und Morgendämmerung.« »Wie wär’s, wenn Sie mich auf der Stelle in Ihren Club aufnehmen würden?« Er seufzte schwer. »Wenn Sie unbedingt Selbstmord be gehen wollen, sag ich am Empfang Bescheid, daß man Sie reinläßt.« »Bis dann«, sagte ich. »Und vielen Dank.« Ich legte den Hörer auf und starrte düster ins Leere. Glitberg und Ownslow. Sechs Jahre pro Kopf, Strafver minderung wegen guter Führung … Sie konnten Con naught Powys in Leyhill kennengelernt haben, und keiner der drei konnte besonders glücklich darüber gewesen sein, daß ich ihn dort hingebracht hatte. Glitberg und Ownslow hatten in einer Gemeindeverwal tung gearbeitet und sich aus dem Topf der Kommunalsteu er bedient. Ich war ihnen wegen irgendwelcher Machen 118
schaften mit einem meiner Klienten auf die Schliche ge kommen. Mein Klient war mit einer Geldstrafe davonge kommen und hatte mir unter wilden Flüchen seinen Auf trag entzogen. Ich fragte mich, wieviel Zeit all die Betrüger, die be stechlichen Anwälte und korrupten Politiker im Gefängnis von Leyhill damit zubrachten, sich neue Gaunereien für die Zeit nach ihrer Entlassung auszudenken. Glitberg und Ownslow mußten jetzt etwa seit sechs Monaten auf freiem Fuß sein. Debbie war zum Zahnarzt gegangen und Peter zu seinem Steuerberaterkurs, und diesmal schloß ich tatsächlich hin ter ihnen die Tür ab. Ich war so jämmerlich müde, daß ich keine Lust hatte, mich weiter mit Mr. Wells abzumühen. Das Zittern vom Vormittag war abgeklungen, aber nicht einmal die bele bende Stimulanz Jossie Finchs konnte das beharrliche Ge fühl der Bedrohung verscheuchen. Ich verbrachte eine Stunde dösend in dem Armsessel, den wir für bevorzugte Klienten im Büro stehen hatten, und als es Zeit war, ver schloß ich die Aktenschränke, meinen Schreibtisch und je de Tür im Büro, bevor ich hinunter zu meinem Wagen ging. Niemand lauerte hinter den Vordersitzen. Niemand lun gerte irgendwo am Rand des Parkplatzes herum. Nichts im Kofferraum außer dem Koffer, den ich am Morgen dort verstaut hatte. Ich ließ den Motor an und fuhr hinaus auf die Straße, wo mich nichts quälte als meine eigenen Ner ven. William Finchs Rennstall lag südwestlich von Newbury. Die weitläufigen Baulichkeiten lagen in eine Senke ge schmiegt, und auf dem Hügel darüber erhob sich ein mit Kletterpflanzen überwuchertes viktorianisches Wohnhaus. Ich fuhr gerade in dem Augenblick vor dem Haus vor, als 119
Finch herauskam, und wir gingen zusammen hinunter zu der ersten Gruppe von Stallboxen. »Freut mich, daß Sie kommen konnten«, sagte er. »Die Freude ist ganz meinerseits.« Er lächelte mit unbefangenem Charme. Ein hochge wachsener Mann um die fünfzig, der langsam ergraute und sich selbst sowie alles andere bestens unter Kontrolle hat te. Er hatte ein breites Gesicht, einen schönen, wohlge formten Mund und die Augen der Erfahrung. Pferden und Besitzern ging es bestens in seiner Obhut, und die Jahre des Erfolgs hatten ihm ein Format verliehen, das er offen kundig genoß. Wir gingen von Box zu Box und verbrachten in jeder ei nige Minuten. Finch erklärte mir, welches Pferd wir uns gerade anschauten, und erzählte auch ein wenig über des sen Herkunft und Form. Jedesmal sprach er kurz mit dem Pferdepfleger, der den Kopf des Tieres hielt, und mit dem Futtermeister, der mit uns die Runde machte, um sich zu versichern, daß alles seine Richtigkeit hatte. Wenn alles in Ordnung war, tätschelte er den Hals des Pferdes und gab ihm eine Möhre aus einer Tasche, die der Futtermeister trug. Eine sorgfältige, wichtige abendliche Routineinspek tion, wie sie jeder Trainer im Land durchführte. Wir kamen zu einer leeren Box in einer vollen Reihe. Finch machte mich mit einem Lächeln darauf aufmerk sam. »Ivansky. Mein Starter im National. Er ist schon in Liverpool.« Es fehlte nicht viel, und ich hätte ihn mit offenem Mund angestarrt wie ein Vollidiot. Ich hatte so sehr den Kontakt zur normalen Welt verloren, daß mir sogar ganz entfallen war, daß diesen Samstag das Grand National stattfand. Ich räusperte mich. »Er sollte … ähm … eine recht gute Chance haben bei seinem Ausgleich.« Diese Behauptung 120
schien mir ziemlich ungefährlich zu sein, aber er war an derer Meinung. »Zehn zwölf ist viel zu viel für das, was er in Haydock gezeigt hat. Da ist er gegen Wassermann schwer im Nach teil, meinen Sie nicht?« Ich versuchte, mich an all meine Auffassungen zu erin nern, die ich in dem sicheren und weit zurückliegenden Leben von vor drei Wochen vertreten hatte. Aber es kam nicht viel dabei heraus. »Er wird sich bestimmt ganz gut schlagen«, sagte ich. Finch nickte, als sei ihm die Dürftigkeit dieser Bemer kung nicht aufgefallen, und wir gingen weiter. Die Pferde waren weiß Gott eine beeindruckende Herde und boten ein prächtiges Bild, das von gutem Futter, sorgfältiger Pflege und wohlbemessenem Training rührte. Lange be vor ihm die Pferde ausgingen, gingen mir die Kompli mente aus. »Was zu trinken?« fragte er, als der Futtermeister die letzte Tür schloß. »Gern.« Wir gingen zum Haus hinauf, und er führte mich in ein Wohnzimmer, das gleichzeitig als Büro diente. Chintzbe zogenes Sofa mit dazugehörigen Sesseln, großer Schreib tisch, Tisch mit Drinks und Gläsern, Wände bedeckt mit gerahmten Fotografien aus der Rennwelt. Normales Am biente für einen wohlsituierten Trainer. »Gin?« fragte er. »Scotch, wenn Sie haben.« Er gab mir einen doppelten und schenkte sich selbst Gin ein, als wäre es Wasser. »Auf Ihre Gesundheit«, sagte er. »Und auf Ihre.« Wir tranken den rituellen ersten Schluck, und er bedeute te mir, Platz zu nehmen. 121
»Ich habe dieses verdammte Kassenbuch für Sie aufge stöbert«, sagte er und zog eine Schreibtischschublade auf. »Bitte schön. Das Buch und ein Ordner mit Quittungen der kleinen Kasse.« »Wunderbar.« »Und was ist nun mit diesen Kommissaren?« »Keine Sorge, ich habe um Aufschub nachgesucht.« »Aber wird man ihn auch gewähren?« »Bisher hat man unsere Anträge noch nie abgelehnt«, sagte ich. »Man wird ein neues Datum etwa in Monatsfrist festlegen, und bis dahin haben wir Abschluß und Steuer rechnung für Sie fertig.« Zufrieden entspannte er sich über seinem Gin. »Dann dürfen wir also nächste Woche Trevor hier erwarten? Um Heuballen und Sättel zu zählen?« Die Gründlichkeit der bevorstehenden Prüfung brachte einen belustigten Tonfall in seine Stimme. »Nun«, sagte ich, »vielleicht gegen Ende der Woche oder in der Woche darauf. Er wird nicht vor Mittwoch oder Donnerstag zurück sein.« Bedeutete »komme Mitt woch zurück«, fragte ich mich jetzt, daß er Mittwoch los fahren wollte oder bereits zur Arbeit kam? »Ich werde ei nen Großteil der Vorarbeiten schon für ihn erledigen, um ihm Zeit zu sparen.« Finch kehrte an den Tisch mit den Drinks zurück und schraubte die Ginflasche auf. »Ich dachte, er würde Mon tag zurück erwartet.« »Wagenpanne irgendwo in Frankreich.« »Das ist ihm bestimmt nicht unangenehm.« Er nahm ei nen gewaltigen Schluck. »Aber egal, wenn Sie die Sache schon mal in die Hand nehmen, sollte die Prüfung recht zeitig über die Bühne gehen können.« »Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Kommissa re«, sagte ich; aber jeder machte sich Sorgen, wenn die 122
verpflichtende Vorladung in seinem Postkasten landete. Wenn man weder um Aufschub nachsuchte, noch zur fest gesetzten Stunde erschien, setzten die Kommissare die zu zahlenden Jahressteuern nach eigenem Ermessen fest, und gegen diese Schätzung ließ sich anschließend nichts mehr unternehmen. Da solche Schätzungen für gewöhnlich weit höher lagen als der normalerweise errechnete Steuerbe trag, mied man sie wie die Pest. Zu meinem Vergnügen traten nun der wippende braune Rock und das flauschige blonde Haar schwungvoll in Er scheinung. Sie hielt eine bernsteinfarbene Katze im Arm, die versuchte, ihrem Griff zu entfliehen. »Verdammtes Vieh«, sagte sie, »warum läßt er sich nicht streicheln.« »Er ist ein Mäusefänger«, sagte ihr Vater emotionslos. »Man sollte doch meinen, er wäre dankbar für eine Streicheleinheit.« Der Kater befreite sich und schoß los. Jossie zuckte die Achseln. »Hallo«, sagte sie zu mir. »Sie sind also gekom men.« »Mhm.« »Und«, fragte sie ihren Vater, »was hat er gesagt?« »Hm? Oh … ich habe ihn noch gar nicht gefragt.« Sie warf ihm ein liebevoll verärgertes Lächeln zu und sagte zu mir: »Er wollte Sie fragen, ob Sie ein Pferd für ihn reiten würden.« Finch sah sie kopfschüttelnd an, und ich sagte: »Wann?« »Morgen«, sagte Jossie. »In Towcester.« »Ähm«, sagte ich, »ich bin nicht gerade ultrafit.« »Unsinn. Sie haben vor vierzehn Tagen den Gold Cup gewonnen. Sie müssen fit sein.« »Josephine«, sagte ihr Vater. »Halt den Mund.« Dann wandte er sich an mich. »Ich fliege morgens nach Liver pool, aber ich habe noch einen Starter in Towcester. Um 123
ehrlich zu sein, er ist dort nur noch genannt, weil jemand vergessen hat, die Nennung fristgemäß zurückzuziehen …« »Die chronisch kranke Sekretärin«, murmelte Jossie. »Also müssen wir ihn entweder doch starten lassen oder eine Geldstrafe bezahlen. Ich würde ihn lieber laufen las sen, wenn ich nur einen passenden Jockey bekäme.« »Die meisten von ihnen sind nämlich beim National«, fügte Jossie hinzu. »Welches Pferd?« fragte ich. »Notebook. Bisher sieglos in Hürdenrennen. Vierjähriger brauner Wallach, im oberen Hof.« »Der mit flachsfarbener Mähne und Schwanz?« »Genau der. Er ist erst ein paarmal gelaufen. Vielver sprechend, aber immer noch grün.« »Der letzte von sechsundzwanzig in Newbury«, meinte Jossie fröhlich. »Es ist piepegal, wenn Sie nicht fit sind.« Sie hielt inne. »Ich bin zum Aufsatteln delegiert. Vielleicht tun Sie uns ja den Gefallen und reiten ihn.« »Liegt ganz bei Ihnen«, sagte Finch. Der delegierte Aufsattler war eine starke Attraktion, auch wenn Notebook selbst nichts Besonderes war. »Ja«, sagte ich schwach. »Geht in Ordnung.« »Gut.« Jossie schenkte mir ein blitzendes Lächeln. »Ich fahre Sie rauf, wenn Sie wollen.« »Das wäre schön« sagte ich bedauernd, »aber ich werde heute abend in London sein. Also werde ich wohl von dort aus direkt nach Towcester fahren.« »Dann treffe ich Sie also draußen vor dem Waageraum. Er startet übrigens im letzten Rennen. Typisch für ihn.« Hürdenrennen für Sieglose wurden für gewöhnlich an erster oder letzter Stelle des täglichen Programms abgehal ten (oder an beiden): Viele Zuschauer ließen diese Rennen wegen des Mittagessens aus oder weil sie aufbrachen, um 124
dem Gedränge zu entgehen. Die Rennen für die große Masse der Mittelmäßigen, bei denen es nur Brosamen vom Tisch der Elite zu gewinnen gab. Aber gelegentlich stieg auch ein neuer Star kometenhaft aus dieser Menge empor. Ein Pferd in einem Hürdenrennen für Sieglose zu reiten hieß früh von zu Hause aufbrechen oder erst spät wieder heimkommen. Aber in diesem Rennen waren auch viel mehr Pferde am Start als in allen anderen. Als ich aufbrach, begleitete Jossie mich durch die Ein gangshalle, um mich zu verabschieden. Während wir über einen riesigen, altersschwachen Perserteppich gingen, be trachtete ich die großen, dunklen Porträts, die meterweise Wandraum beanspruchten. »Das sind natürlich Nantuckets«, sagte sie, da sie mei nem Blick gefolgt war. »Wir haben sie mit dem Haus übernommen.« »Die machen ganz schön verkniffene Gesichter«, sagte ich. »Sie wissen doch, daß Dad das alles hier nicht wirklich gehört, oder?« »Ja, das weiß ich.« Ich lächelte still, aber sie sah es. »Na schön«, verteidigte sie sich, »aber Sie wären über rascht, wie viele Leute sich an mich ranmachen, weil sie denken, sie würden die Tochter des Trainers heiraten und das alles hier übernehmen können, wenn er in Ruhestand geht.« »Sie wollen also als erstes die Grundregeln klarstellen?« »Okay, Sie Superhirn, ich hatte vergessen, daß Sie es von Trevor wissen müssen.« Ich wußte ganz im allgemeinen, daß Axwood Stables Ltd. einer amerikanischen Familie gehörte, den Nantuk kets, die sich persönlich an den Ställen nur als Investition interessiert zeigten. Ein Unternehmer von urwüchsigem Typ, der aus der Art geschlagene Sproß einer vornehmen 125
Bankiersfamilie, hatte ihn in den fünfziger Jahren gekauft und groß gemacht. Der alte Naylor Nantucket hatte seine Energie und seinen Unternehmungsgeist nach England ge bracht, sich in den englischen Rennsport verliebt und ei nen prächtigen, modernen Stall gebaut, den er mit prächti gen Pferden gefüllt hatte. Er hatte den jungen William Finch als Trainer engagiert, und der in die Jahre gekom mene William Finch arbeitete immer noch für seine Erben, nur daß heutzutage neun Zehntel der Pferde anderen Be sitzern gehörten und die jungen Nantuckets, die sich ein wenig für Onkel Naylor schämten, nie den Atlantik über quert hatten, um ihre eigenen Pferde beim Rennen zu se hen. »Ist Ihr Vater es nicht manchmal leid, für abwesende Be sitzer zu trainieren?« fragte ich. »Nein. Die streiten nicht rum. Sie rufen ihn nicht mitten in der Nacht an. Und wenn sie verlieren, jammern sie nicht. Er sagt, die Arbeit eines Trainers wäre viel einfa cher, wenn alle Besitzer in New York lebten.« Sie stand an der Türschwelle, um mir nachzuwinken, selbstbewußt und halb spielerisch, eine junge Frau mit leuchtendbraunen Augen, anmutigem Hals und einer hüb schen Nase und einem hübschen Mund dazwischen. Ich nahm mir ein Zimmer im Gloucester Hotel, wo ich noch nie zuvor abgestiegen war, und aß in einem Restau rant in der Nähe gemächlich ein dringend benötigtes Abendessen. Ich hätte den Ritt auf Notebook nicht an nehmen sollen, dachte ich reumütig; ich hatte ja kaum ge nug Kraft, um ein Steak zu schneiden. Das starke Gefühl, mit verbundenen Augen auf einen Abgrund zuzusteuern, hemmte den ganzen Weg zu Vivian Iversons Spielclub meine Schritte. Ich weiß nicht, in wel cher Richtung der Abhang lag: vor mir, hinter mir oder 126
überall um mich herum. Ich vermutete nur, daß er immer noch da war, und wenn ich nichts tat, um ihn zu finden, lief ich womöglich einfach in ihn hinein. Der Vivat Club erwies sich als ebenso verbindlich und wohl gepflegt wie sein Besitzer und bestand aus miteinan der verbundenen kleinen Räumen, nicht aus großen, freien Flächen wie ein Casino. Es gab keine Croupiers mit Schirmmützen, keine spektakuläre Ausleuchtung durch Scheinwerfer über den Tischen und keine Damen, die im Halbschatten mit Diamanten klimperten. Was es jedoch gab, waren zwei oder drei dezente Kronleuchter, jede Menge Zigarrenrauch und eine Art ehrerbietiger Stille. Vivian hatte seinem Wort getreu Weisung gegeben, mich einzulassen und mich als Sondervergünstigung wie einen Gast zu behandeln. Ich ging langsam von Raum zu Raum, einen Cognacschwenker in der Hand, und hielt Ausschau nach seiner eleganten Gestalt, fand ihn aber nicht. Ich begegnete ziemlich vielen Geschäftsleuten in Straßen anzügen, die mit ernsten Mienen Chemin-de-fer spielten, und Frauen unter ihnen, deren Augen bei jeder ausgeteilten Karte konzentriert von einer Seite zur anderen flackerten. Ich hatte nie den Drang verspürt, stundenlang auf die näch ste gezogene Karte zu wetten, aber jedem sein eigenes Gift. »Ro, mein lieber Freund«, sagte Vivian hinter mir. »Sind Sie zum Spielen gekommen?« »Mit dem Gehalt eines Steuerberaters?« sagte ich, drehte mich zu ihm und lächelte. »Wie hoch sind die Einsätze?« »Was immer Sie sich zu verlieren leisten können, mein lieber Freund.« »Leben, Freiheit und eine Eintrittskarte für das CupFinale.« Seine Augen schienen nicht so innig zu lächeln wie sein Mund. »Einige verlieren Ehre, Vermögen, Ansehen und den Kopf.« 127
»Stört Sie das nicht?« fragte ich. Er deutete mit einer verhaltenen Geste auf den Chemin de-fer-Tisch. »Ich biete einen Zeitvertreib. Die Gelegen heit, sich seinem Impuls zu überlassen. Wie beim Bingo.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter, als wären wir Freunde, die sich nach langer Zeit endlich einmal wieder sahen, und lenkte mich auf einen weiteren Raum zu. Er trug schwere, goldene Manschettenknöpfe und ein blaues Samtjackett, das mit Seidenstoff paspeliert war. Dunkles, glänzendes Haar auf einem wohlgeformten Kopf, flacher Bauch und ein schwacher Duft nach frischem Körperpu der. Ungefähr fünfunddreißig und auf raffinierte Weise er folgreich, wo andere den Vollstreckungsbeamten zum Op fer gefallen waren. In dem betreffenden Raum stand ein mit grünem Boi be zogener Spieltisch mit hohem Rand, aber niemand spielte Karten. Hinter dem Tisch saßen in den für den Club typischen, mit hölzernen Armlehnen und ledernen Sitzpolstern ausge statteten Sesseln drei Männer. Sie waren groß, elegant gekleidet und unfreundlich. Ich kannte sie, von früher. Connaught Powys. Glitberg. Ownslow. »Wir hören, Sie suchen nach uns«, sagte Connaught Po wys.
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ch stand ganz still. Vivian schloß die Tür hinter mir und setzte sich in einen weiteren Sessel am linken Rand meines Gesichtsfeldes. Er schlug ein Bein vornehm über das andere und strich mit einer trägen Handbewegung den Stoff über dem Knie glatt. Ownslow sah ihm mißbilligend zu. »Verpissen Sie sich«, sagte er. Vivians Antwort kam gedehnt und war besonders ge wählt. »Mein lieber Freund, wenn ich ihn Ihnen hier prä sentiere, heißt das keineswegs, daß er jetzt Ihnen gehört.« Es standen noch mehrere freie Sessel im Raum, die man achtlos von dem Tisch in der Mitte weggezogen hatte. Ich setzte mich ohne Eile auf einen davon und versuchte mich an Vivians Ritual des Beineübereinanderschlagens – in der Hoffnung, mit dieser beiläufigen Geste den Geruch der Schlägerei aus der Luft zu nehmen und durch die Atmo sphäre einer Vorstandssitzung zu ersetzen. Ownslows haß erfüllter Blick sprach kaum dafür, daß ich mit meiner Tak tik Erfolg gehabt hatte. Ownslow und Glitberg hatten jahrelang eine gutgehende Sache im Baubereich durchgezogen und die Kommunal kasse buchstäblich um Millionen erleichtert. Wie alle gro ßen Betrügereien hatte sich auch die ihre auf dem Papier vollzogen, mit Glitberg im Planungsamt der Kommunal verwaltung und Ownslow im Bauamt. Sie hatten schlicht und einfach eine große Zahl von Gebäuden erfunden: Bü ros, Wohnungen und Wohnsiedlungen. Wenn der Rat ei 129
nem geplanten Bauvorhaben prinzipiell zugestimmt hatte, schrieb Glitberg die Arbeiten kraft seines Amtes offiziell aus. Die günstigsten ordentlich wirkenden Angebote ka men oft von einer Firma namens National Construction (Wessex) Ltd., die dann vom Rat gutgläubig mit der Durchführung beauftragt wurde. Die Firma existierte aber lediglich in Form teurer Brief köpfe. Die bewilligten Gebäude wurden nie gebaut. Ge waltige Summen wurden genehmigt und an National Con struction (Wessex) Ltd. ausgezahlt, und es wurde regelmäßig über die Baufortschritte Bericht erstattet, da Glitberg vom Planungsamt regelmäßige Inspektionen durchführte. Nachdem die Gebäude angeblich bezugsbe reit waren, übernahm das Bauamt deren Wartung und Be treuung. Ownslows Männer unterhielten die Bauten in gu tem Glauben, und Ownslow beantragte große Summen für den Unterhalt der wohldokumentierten Luftschlösser. Die Sache war buch- und aktenmäßig sorgfältig, ja sogar brillant abgewickelt worden. Es gab komplette Aufzeich nungen über die Mieteinnahmen der imaginären Bauten und über die von deren imaginären Bewohnern entrichte ten Kommunalsteuern; aber da alle Kommunalverwaltun gen davon ausgehen, daß alle Baulichkeiten in Kommu nalbesitz stark subventioniert werden mußten, wurde die beständig zwischen Einnahmen und Ausgaben klaffende Lücke als normal hingenommen. Wie viele Betrügereien war auch dieser durch Zufall entdeckt worden, und der Zufall bestand darin, daß ich mich etwas zu sehr in die Angelegenheiten eines der klei neren Beteiligten vertieft hatte, für die ein paar Krümel vom großen Kuchen abfielen. Als ich den Rat informierte, wollte man mir nicht glau ben. Besser gesagt, so lange nicht, bis die Leute ihr Gebiet sorgfältig abgefahren hatten und wild wucherndes Gras 130
fanden, wo sie unter anderem sechs Stockwerke Wohnun gen für Familien mit geringem Einkommen errichtet, eine Sackgasse mit Maisonettes für alleinlebende Senioren um baut und zwei Straßenzüge mit Doppelhausbungalows für Ruheständler und Behinderte bestückt hatten. Verschiedene Ratsmitglieder hatten offensichtlich Geld dafür erhalten, daß sie ein Auge zudrückten, aber Beste chung mit Bargeld war schwer zu beweisen. Der Rat war öffentlich beschämt worden und hatte mir nicht verziehen. Glitberg und Ownslow, denen bewußt gewesen war, daß sie mit diesem Betrug nicht bis in alle Ewigkeit weiterma chen konnten, hatten bereits einen unauffälligen Abgang vorbereitet, als die Polizei sie eines Sonntagnachmittags mit einer ganzen Schar von Beamten dingfest machte. Auch sie hatten mir nicht direkt verziehen. Wie es ihr sorgfältiges, auf die Details setzendes Vorge hen nicht anders erwarten ließ, hatten sie beide nicht den Fehler begangen, über ihre legalen Verhältnisse zu leben. Die riesigen Summen, die sie abgesahnt hatten, waren im Lauf der Jahre in Form eines Stroms von Schecks und Bargeld vom Bankkonto der National Construction (Wes sex) Ltd. abgeflossen und hatten auf diese Weise bei der Bank keinen Verdacht erregt. Dann waren sie scheinbar im Nichts verschwunden. Von der guten Million, die jeder von ihnen gestohlen hatte, war nicht ein einziges Pfund wiedergefunden worden. »Was auch immer Sie von uns wollen«, sagte Glitberg, »werden Sie nicht kriegen.« »Sie sind eine Gefahr für uns«, sagte Connaught Powys. »Und wie eine Wespe werden Sie zerquetscht werden«, sagte Ownslow. Ich sah in ihre Gesichter. Alle drei wiesen die schwam mige Rundheit eines zügellosen Lebenswandels auf, und alle drei Männer hatten den durchdringenden, wachsamen 131
Blick der Schuld. Wäre er allein gewesen, hätte Con naught Powys mit seiner Sonnenbankbräune und seinem glattgebürsteten Haar wie ein hohes Tier aus der City aus gesehen. Ein schwerer Leib in marineblauem Nadelstrei fenanzug. Hellgraue Seidenkrawatte. Eine Aura von Macht und Wohlstand. Keine Spur von Zellenmief und allmor gendlichem Leeren des Fäkalienkübels. Ownslow paßte schon besser in ein Gefängnis. Das blonde Haar fiel ihm in einem Kranz um einen kahlen Scheitel bis auf den Kragen hinab. Dicker Hals, Stiernak ken, Hände wie Baseballhandschuhe. Ein harter, unange nehmer Bursche, dessen Sprache Welten von Connaught Powys einwandfreiem Englisch trennten. Glitberg, ein Brillenträger, hatte kurzes, buschiges, grau es Haar und fächerförmig ausgewachsene, weiße Kotelet ten, so daß er an eine Affenart erinnerte. Wenn Connaught Powys Macht war und Ownslow Muskeln, dann war Glit berg Haß. »Haben Sie’s schon versucht?« fragte ich. »Was versucht?« fragte Ownslow. »Das Zerquetschen.« Alle drei starrten ausdruckslos irgendeine Stelle in der Luft zwischen mir und Vivian an. »Irgend jemand hat es versucht«, sagte ich. Connaught Powys zeigte die Andeutung eines Lächelns. »Was immer wir Ihretwegen getan haben oder zu tun be absichtigen«, sagte er, »wir werden nicht so dämlich sein, es vor einem Zeugen zuzugeben.« »Sie werden sich den Rest Ihres Lebens über die Schul ter blicken«, sagte Glitberg befriedigt. »Wagen Sie sich in dunklen Nächten nicht in die Nähe von Baustellen«, sagte Ownslow. »Das ist ein Rat von mir, den Sie umsonst, gratis und ohne Gegenleistung bekom men.« 132
»Wie steht’s mit einem Segelboot in einer dunklen Nacht?« fragte ich. »Ein seegängiges Boot.« Ich wünschte sofort, ich hätte es nicht gesagt. Die Un freundlichkeit auf allen drei Gesichtern verhärtete sich zu Bedrohlichkeit, und im ganzen Raum wurde es sehr still. Vivians Stimme, entspannt und leicht gedehnt, brach das Schweigen. »Ro … nun wird es aber Zeit, daß wir beide einen Drink zusammen nehmen.« Er stand auf, und auch ich erhob mich – ziemlich schwach in den Knien. Connaught Powys, Glitberg und Ownslow strahlten ei nen solchen Haß aus, daß anscheinend sogar Vivian lang sam nervös wurde. Er fummelte am Türknauf herum, und als er hinter mir den Raum verließ, wäre er beinahe über seine eigenen Füße gestolpert. »Puh«, sagte er mir ins Ohr. »Sie lassen sich aber mit großen, bösen Jungs ein, mein lieber Freund.« Diesmal lenkte er mich in ein luxuriöses, kleines Büro; drei Sessel, keiner davon besetzt. Er lud mich ein, Platz zu nehmen, und schenkte Brandy in zwei Cognacschwenker. »Es ist weniger das, was Sie sagen«, sagte er, »als die Art, wie Sie es sagen.« »Und das, was Sie nicht sagen.« Er sah mich versonnen über seine Brillengläser hinweg an. »Haben Sie bekommen, was Sie wollten? Ich meine, war es Ihnen das wert, diesen Leuten unter die Flinte zu kom men?« Ich lächelte schief. »Ich glaube, ich habe eine Antwort bekommen.« »Na dann …« »Ja. Aber es war eine Antwort auf eine Frage, die ich nicht gestellt habe.« »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.« 133
»Ich fürchte«, sagte ich langsam, »daß ich alles erheb lich verschlimmert habe.« Ich schlief im Gloucester Hotel tief und fest, aber mehr aus Erschöpfung als aus Sorglosigkeit. Der Rennseite der Zeitung, die mir am Morgen an die Tür gebracht wurde, entnahm ich, daß mein Name auf der Liste der Starter stand – als Reiter von Notebook im letz ten Rennen in Towcester. Ich nagte an meiner Unterlippe. Ich hatte nicht daran gedacht, William Finch zu bitten, meinen Namen von seiner Liste für die Presse zu strei chen, und jetzt würde die ganze Welt erfahren, wo ich an diesem Nachmittag um halb fünf zu finden war. Das heißt, soweit sie sich die Mühe machte, sich mit einem unbedeu tenden Rennen bei einer kleineren Veranstaltung am Tag des Grand National zu beschäftigen. »Sie werden sich für den Rest Ihres Lebens über die Schulter blicken«, hatte Glitberg gesagt. Ich hatte nicht die Absicht. Das Leben würde unerträg lich sein, wenn ich in jedem Schatten einen Dämon witter te. Ich würde in Towcester nicht vertrauensvoll in irgend welche Krankenwagen klettern, aber ich würde hinfahren und dort reiten. Mir schien, daß es ein furchtbar schmaler Grat war, der zwischen Vorsicht und Feigheit lag. Jossie, die draußen vor dem Waageraum wartete, zer streute alle Ängste. »Hallo«, sagte sie. »Notebook ist hier, sieht so edel aus wie immer und wird seine gewohnt nutzlose Vorstellung geben.« »Entzückend.« »Die Traineranweisungen für den Jockey«, sagte sie, »sind unmißverständlich. Bleiben Sie oben, und bringen Sie sich nicht in Schwierigkeiten. Er will nicht, daß Sie sich verletzen.« 134
»Ich auch nicht«, sagte ich mit Nachdruck. »Er möchte nicht, daß irgend etwas den Tag verdirbt, wenn Ivansky das National gewinnt.« »Ah«, sagte ich. »Erwartet er das denn?« »Er ist heute morgen mit der üblichen gequälten Eupho rie mit dem Lufttaxi losgeflogen«, sagte sie voller Zunei gung. »Seine Hoffnung zwischen Überzeugung und Zwei fel hin und her gerissen.« Finch hatte zwei Pferde nach Towcester geschickt, und das zweite davon, Stoolery, war der eigentliche Grund für Jossies Fahrt hierher. Ich half ihr, das Pferd für das Zwei-Meilen-Ausgleichsrennen zu satteln, und jubelte mit ihr auf der Tribüne, als es gewann. Das Grand National selbst wurde gleich danach überall auf der Rennbahn im Fernsehen übertragen, so daß Jossie es wegen Stoolerys Sieg einigermaßen gefaßt aufnahm, daß Ivansky nur Fünfter wurde. »Ach, na ja.« Sie zuckte die Achseln. »Das war das. Dad wird am Boden zerstört sein, die Besitzer werden am Bo den zerstört sein, die Stallburschen werden sich trübsinnig betrinken, und dann reden sie sofort alle übers nächste Jahr.« Wir schlenderten ohne eigentliches Ziel umher und ka men schließlich an den Eingang zur Bar. »Lust auf einen Drink?« fragte ich. »Wär’ vielleicht kein schlechter Zeitvertreib.« Die Bar war von Leuten bevölkert, die die Ergebnisse des National analysierten, und die Kunden, die sich mit den Ellbogen vordrängelten, um bedient zu werden, stan den in Viererreihen. »Das ist die Mühe nicht wert«, sagte Jossie. Ich gab ihr recht. Wir wandten uns zum Gehen, da wurde aus dem dichten Gedränge vor der Theke eine dünne Hand vorgestreckt und umfaßte meinen Unterarm mit festem Griff. 135
»Was wollen Sie?« erhob sich eine Stimme über den Lärm. »Ich werde gerade bedient. Was wollen Sie? Schnell!« Die Hand gehörte, wie ich nun sah, Moira Longerman, und hinter ihr stand mit seiner gewohnt finsteren Miene Binny Tomkins. »Jossie?« fragte ich. »Obstsaft. Grapefruit, wenn’s geht.« »Zweimal Grapefruitsaft«, sagte ich. Die Hand ließ los und verschwand, nur um kurze Zeit später mit einem Glas wieder aufzutauchen. Ich nahm die ses Glas und auch das nächste in Empfang, und schließlich kämpfte Moira Longerman selbst sich, gefolgt von Binny, durch das Gedränge. Sie hielt zwei Gläser hoch über ihrem Kopf, um nur ja keinen Fingerhut voll von den ebenso teu ren wie spärlich bemessenen Getränken zu verschütten. »Das ist ja super!« sagte sie. »Ich hatte Sie gerade ent deckt. Ich versuche schon seit Wochen, Sie telefonisch zu erreichen, und jetzt kommt mir da so eine ungewöhnliche Geschichte zu Ohren – daß jemand Sie gekidnappt hätte.« Ich stellte Jossie vor, die bei Moiras Worten ungläubig aufgeblickt hatte. »Gekidnappt?« Sie zog geradezu komisch die Augen brauen hoch. »Sie?« »Sie haben gut lachen«, sagte ich kläglich. Moira reichte Binny ein Glas, der mit einem spärlichen Nicken seinen Dank bekundete. Undankbarer Kerl, dachte ich. Schon ein starkes Stück, es irgendeiner Frau zu über lassen, sich bis zur Theke vorzukämpfen, um ihm einen Drink zu beschaffen, erst recht, wenn es sich um die Be sitzerin des wichtigsten Pferdes in seinem Stall handelte. Sie hatte natürlich auch bezahlt. »Meine Liebe«, sagte Moira Longerman zu Jossie. »Gleich nachdem Ro den Gold Cup auf meinem Liebling 136
Tapestry gewonnen hat, hat jemand ihn von der Rennbahn entführt. Stimmt’s?« Sie strahlte fragend zu mir auf, und in ihren blauen Augen leuchtete freundliches Interesse auf. »Klar stimmt es«, pflichtete ich ihr bei. Binnys Blick verfinsterte sich noch. »Wie geht’s dem Pferd?« fragte ich. Binny bedachte mich mit einem unfreundlichen Blick und antwortete nicht, aber Moira Longerman sprudelte über von Neuigkeiten und Begeisterung. »Ich wünsche mir so sehr, daß Sie Tapestry von jetzt an bei all seinen Rennen reiten, Ro, daher hoffe ich, Sie sagen ja. Er ist bereit für Ascot nächsten Mittwoch, sagt Binny, und ich versuche ständig, Sie zu erwischen, um Sie zu fra gen, ob Sie ihn reiten wollen.« Binny sagte mürrisch: »Ich habe bereits einem anderen Jockey zugesagt.« »Dann sagen Sie ihm wieder ab, mein lieber Binny.« Un ter dem freundlichen, vogelgesichtigen Strahlen lag der selbe Hauch von Stahl, der mir seinerzeit den Ritt im Gold Cup eingetragen hatte. Moira mochte zwar nur die Hälfte von Binnys Körpergewicht auf die Waage bringen, aber sie hatte doppelt so viele geistige Muskeln. »Es wäre vielleicht besser, den anderen reiten zu lassen …«, begann ich. »Nein, nein«, unterbrach sie mich. »Ich will Sie, Ro. Sie und keinen anderen. Das habe ich Binny auch ganz deut lich gesagt, und zwar gleich nachdem Sie den Cup gewon nen hatten. Jetzt, wo Sie gesund und munter zurück sind, werden entweder Sie auf meinem Pferd sitzen, oder ich lasse ihn nicht laufen.« Sie sah Binny trotzig und Jossie schelmisch an und wandte sich dann mit einem entschlos senen Nicken ihres blonden Lockenkopfes erwartungsvoll an mich. »Also? Was sagen Sie?« »Ähm«, sagte ich, was kaum sehr hilfreich war. 137
»Ach, machen Sie’s doch«, sagte Jossie. »Sie müssen einfach.« Binnys finsterer Blick suchte sich ein neues Ziel. Jossie bekam die volle Dosis ab und zeigte sich nicht im minde sten beeindruckt. »Er hat doch den Gold Cup gewonnen«, sagte sie. »Sie können nicht behaupten, er tauge nichts.« »Aber genau das sagt er, meine Liebe«, strahlte Moira Longerman glücklich. »Ist das nicht merkwürdig?« Binny murmelte irgend etwas Düsteres, von dem nur das Wort ›Amateure‹ zu hören war. »Ich glaube, was Binny wirklich meint«, sagte Moira honigsüß und unmißverständlich, »ist, daß Ro wie die meisten Amateure immer alles daransetzt zu siegen und nicht auf gegenteilige Prophezeiungen hören will.« Binnys Gesicht lief dunkelrot an. Jossie kicherte gerade zu. Moira sah mich mit klaren blauen Augen an, als wäre ihr gar nicht recht bewußt, was sie gesagt hatte, und ich sann hilflos über eine vernünftige Antwort nach. »Wie die meisten Jockeys«, sagte ich schließlich. »Sie sind so nett, Ro«, erwiderte sie. »Sie glauben, jeder wäre ehrlich.« Ich neigte wie die meisten Buchprüfer eigentlich dazu, genau das Gegenteil zu glauben, aber wie die Dinge lagen, hatte ich mir nie groß Gedanken über Binny gemacht. Ein Pferd wie Tapestry zu trainieren, hätte eigentlich genügen müssen, ohne auch noch zu versuchen, seine Ergebnisse zu manipulieren. Binny selbst hatte beschlossen, nicht zu verstehen, was Moira gesagt hatte, und tat so, als hätte er auch den Ab grund, der sich zu seinen Füßen auftat, nicht gesehen. Moira bedachte ihn mit einem schelmischen Blick und ließ ihm keine Illusionen, was ihre Macht betraf, ihn zur Räson zu bringen. 138
»Mein lieber Binny«, sagte sie, »ich würde mich niemals von dem Mann trennen, der einen Gold-Cup-Sieger für mich trainiert hat. Nicht, solange er meine Pferde weiter hin so herrlich fit hält und ich bestimme, wer sie reitet.« In der nun folgenden Stille räusperte Jossie sich und sag te dann ermutigend zu Binny: »Ich nehme an, Sie hatten beim Gold Cup eine gute Wette plaziert? Mein Vater setzt immer etwas auf seine Starter im Cup und im National. Zu dumm, wenn man gewinnt und es nicht getan hat. Man steht dann anschließend wie ein Esel da, sagt er.« Wenn sie versucht hätte, Salz in seine offenen Wunden zu reiben, hätte sie ihre Sache wohl kaum besser machen können. Moira Longerman lachte fröhlich auf. »Sie böses Mädchen«, sagte sie und tätschelte Jossies Arm. »Der arme Binny hatte nämlich so wenig Zutrauen, daß er es nicht nur unterlassen hat, auf Tapestrys Sieg zu setzen – nein, ich habe sogar gehört, daß er so unglücklich war, auf seine Niederlage zu wetten. Wirklich schade. Ar mer Binny, den Gold Cup zu gewinnen und am Ende dabei zu verlieren.« Binnys entsetzter Gesichtsausdruck ließ ahnen, welch furchtbarer Schreck es für ihn sein mußte, wenn sie alles wußte. »Na, macht nichts«, sagte Moira freundlich. »Vorbei ist vorbei. Und wenn Ro nächsten Mittwoch Tapestry reitet, wird alles gut sein.« Binny sah so aus, als werde dann alles andere als gut sein. Ich fragte mich müßig, ob er möglicherweise bereits alles so arrangiert hatte, daß Tapestry am Mittwoch verlie ren sollte. Bei seinem ersten Rennen nach einem Sieg im Gold Cup würde jedes Pferd als Favorit gehandelt. So mancher Buchmacher würde dankbar sein, wenn er mit Sicherheit wüßte, daß er nicht würde auszahlen müssen. Binny konnte diese willkommene Information bereits ver 139
kauft haben, weil er glaubte, daß ich nicht in der Nähe sein würde, um die Dinge aus dem Lot zu bringen. Für Binny lief im Augenblick alles ziemlich schlecht. Ich überlegte, daß ich es mir einfach nicht leisten konnte, mir den Mittwoch frei zu nehmen. Die Berge liegenge bliebener Arbeit verursachten mir eine leichte Übelkeit. »Ro?« fragte Moira schmeichelnd. »Ja«, sagte ich. »Es gäbe nichts auf der Welt, was ich lieber täte.« »Na prima!« Ihre Augen blitzten vor Freude. »Dann se hen wir uns also in Ascot. Binny wird Sie natürlich anru fen, falls sich irgend etwas Unplanmäßiges ereignet.« Binny blickte düster. »Sie müssen mir alles erzählen«, verlangte Jossie, als wir zu der Trainertribüne hinübergingen, um das nächste Ren nen zu sehen. »Das ganze Drama Ihrer Entführung.« Ich erzählte die Sache kurz und ohne viele Einzelheiten. »Das heißt also, die haben Sie einfach auf ein Boot ge worfen und sind mit Ihnen ins Mittelmeer gesegelt?« »Genau das.« »Was für ein Jux.« »Ich fand es unbequem«, sagte ich milde. »Kann ich mir vorstellen.« Sie hielt inne. »Sie sagen, Sie seien entkommen. Wie haben Sie das geschafft?« »Ich bin über Bord gesprungen.« Ihr Mund zuckte vor Mitleid. Ich überlegte, daß seit die sem verzweifelten Bad im Mittelmeer erst vier Tage ver gangen waren. Das Ganze erschien mir einer anderen Welt anzugehören. Jossie entstammte der realen, vernünftigen Welt, wo die Dinge verständlich, wenn auch nicht immer angenehm wa ren. Wenn ich mit ihr zusammen war, fühlte ich mich er heblich ruhiger, normaler und sicherer. 140
»Wie wär’s, wenn wir etwas zu Abend äßen«, sagte ich, »auf dem Heimweg?« »Wir sind mit zwei Wagen hier«, sagte sie. »Nichts kann Sie hindern, am selben Ort anzuhalten.« »Wie wahr.« Sie trug wieder einmal Kleider, die ihrem Pep gerecht wurden, diesmal in einem sanften Rostrot. Nichts an ihr war gekünstelt und nichts unordentlich. Ein Mädchen, das gut beieinander war, das gern Freude hatte und Freude machte. »In der Nähe von Oxford gibt es einen recht ordentlichen Pub«, sagte ich. »Dann werde ich Ihnen folgen.« Zu gegebener Zeit zog ich mich für Notebooks Rennen um und gab dem Reisefuttermeister der Axwood-Ställe, der an der Tür darauf wartete, meinen leichtesten Sattel. »Sie haben wohl Übergewicht, wie?« fragte er sarka stisch. »Vier Pfund.« Er hob beredt den Blick gen Himmel und sagte damit lauter als mit Worten, daß Trainer besser beraten wären, in Hürdenrennen für Sieglose Berufsjockeys reiten zu lassen statt Amateure, die ihre Sechsundsechzig Kilo nicht hiel ten. Ich erwähnte nicht, daß ich am Tag des Gold Cup elf Pfund zuviel gewogen hatte. Als ich zum Führring ging, warteten er und Jossie bereits auf mich, während ein Stallbursche den noblen Notebook, der jetzt über einer Nummerndecke meinen Sattel trug, im Kreis herumführte. Nummer dreizehn. Wer war hier aber gläubisch? »Er bockt ein wenig«, sagte der Reisefuttermeister be friedigt. »Wenn Sie nach Hause fahren«, sagte Jossie zu ihm, »richten Sie meinem Vater bitte aus, daß ich unterwegs mit 141
Roland zu Abend esse. Damit er sich nicht über Autounfäl le den Kopf zerbricht.« »Geht in Ordnung.« »Dad regt sich leicht auf«, sagte Jossie. Der Reisefuttermeister warf mir einen weiteren Blick zu, der keiner Worte bedurfte und in dem die Frage mit schwang, ob es mir wohl gelingen würde, sie ins Bett zu bekommen. Ich wußte nicht recht, ob ich den Reisefutter meister besonders gut leiden konnte. Ziemlich viele Leute waren bereits nach Hause gefahren, und vom Führring aus konnte man einen stetigen Strom Richtung Tor sehen. Es gab nur wenige Dinge, die ähnlich entmutigend waren, dachte ich, wie vor einem dahin schwindenden Publikum anzutreten. Auf der anderen Seite – wenn man eine Sache gräßlich verpfuschte, war man besser dran, wenn weniger Leute einem dabei zusahen. »Es hieß schon vor einer halben Stunde Jockeys aufstei gen«, sagte Jossie. »Zwei Sekunden«, sagte ich. »Ich habe zugehört.« Der Reisefuttermeister warf mich rauf. Notebook bockte versuchsweise. »Bringen Sie sich nicht in Schwierigkeiten«, sagte Jos sie. »Die befinden sich unter mir«, sagte ich und spürte, wie das edle Tier abermals versuchte, mich abzuwerfen. Sie grinste teilnahmslos. Notebook sprang davon, ge langte dann mit Bewegungen wie bei einem Schluckauf bis zum Start und ließ dann alle warten, während er auf seinen Hinterbeinen eine Zirkusnummer hinlegte. Von we gen ›Bockt ein wenig‹, dachte ich verbittert. Wenn ich nicht aufpaßte, würde ich abgeworfen werden, bevor ge startet wurde. Das Rennen begann, und Notebook beschloß großmütig, daran teilzunehmen. Er galoppierte mit unkoordinierten 142
Bewegungen los, schüttelte den Kopf hin und her und gierte von einer Seite zur anderen. Sein Anlauf auf das er ste Hindernis führte zu einem schweren Vertrauensverlust bei seinem Reiter, denn er schien es seitwärts überspringen zu wollen, im Krebsgang sozusagen. Da ich nicht vorsichtig genug gewesen war, ihn ent schlossen an letzter Stelle, hinter dem Feld, zu halten – immer vorausgesetzt, ich hätte das überhaupt schaffen können bei seiner Kraft, die seiner Eigenwilligkeit nicht nachstand –, trug mir sein diagonaler Sprung über das Hindernis einen Hagel von Flüchen seitens der anderen Jockeys ein. ›Entschuldigung‹ ist in einem Hürdenrennen ein nutzloses Wort, besonders wenn es ein Amateur ge braucht, der nicht so dumm hätte sein sollen, sich von ei nem hübschen Mädchen auf Abwege führen zu lassen. An der nächsten Hürde brachte ich Notebooks Kopf mit einem Gewalteinsatz, der die Leute aus der Liga gegen grausame Behandlung von Tieren hätte aufjaulen lassen, in gerade Richtung. Er zahlte es mir heim, indem er mitten in der Luft die Hinterhand wegdrehte und auf allen vieren gleichzeitig aufsprang – schräg zu den Rails, im Winkel von etwa fünfundvierzig Grad. Durch dieses Manöver fiel er wenigstens auf den letzten Platz zurück, ein Zustand, den er zu korrigieren gedachte, indem er alles daransetzte, mir vor der Tribüne durchzu gehen. Während wir im Clinch miteinander den Weg hin aus auf den anderthalb Meilen langen Kurs bewältigten, begriff ich erst die volle Tragweite der Reitorder des Trai ners an seinen Jockey. »Bringen Sie sich nicht in Schwie rigkeiten.« Großer Gott. Es erstaunte mich mittlerweile nicht mehr im geringsten, daß Notebook in Newbury letzter von sechsundzwanzig Startern geworden war. Er wäre auch letzter von einhun dertsechsundzwanzig geworden, sofern sein Jockey auch 143
nur halbwegs bei Verstand war. Mit Notebook Letzter zu werden war auch nicht unbedingt sicher, aber wenn man sich überhaupt irgendwo auf ihm befinden mußte, war der letzte Platz das Klügste. Davon hatte allerdings niemand das Pferd in Kenntnis gesetzt. Der Kurs in Towcester führte von den Tribünen an ab wärts, wurde auf der Gegengeraden flach und endete mit einer kräftezehrenden Steigung zur Zielgeraden hin. Auf dieser Bahn schleppten sich auf tiefem Geläuf als Ab schluß der Jagdrennen über drei Meilen die langsamsten Einläufe der Welt dahin. Notebook jedenfalls legte berg abwärts auf festem Geläuf ein gnadenloses Tempo vor, rollte wie ein Raupenfahrzeug über die in Maximaldistanz zueinander aufgestellten Hürden und verlor erst das Inter esse, als er auf dem Rückweg den scharfen Anstieg er reichte. Zu diesem Zeitpunkt lagen die neunzehn anderen Starter völlig zu Recht vor uns, denn Notebook verlor bei seinen seitlichen Hürdensprüngen mit ihrem Stop-and-Go jedes mal wieder die Längen, die er zwischen den Hürden gut gemacht hatte. Wahrscheinlich hatte ich mich ein wenig entspannt. Er erwischte die nächste Hürde vollkommen falsch, ignorier te mein Angebot, ihm zu helfen, warf sich im Sprung hef tig herum und sprang mit der Nase auf dem Turf und allen vier Hufen dicht dahinter auf. Nichts völlig anderes als die sechs Aufsprünge davor, nur extremer. Bei annähernd fünfzig Kilometer die Stunde vom Pferd katapultiert zu werden ist ein kaleidoskopisches Erlebnis. Himmel, Bäume, die Rails und das Gras überschlugen sich in einem zerrissenen Durcheinander in meinem Gesichts feld, und wenn ich den Kopf einzog, dann nur instinktiv und nicht wohlüberlegt. Der Turf traf mich hart an diver sen Stellen, und Notebook versetzte noch einen Ab 144
schiedstritt auf mein Bein. Die Welt überschlug sich nicht mehr, und eine halbe Tonne Pferd hatte mich nicht unter sich begraben. Das Leben ging weiter. Ich setzte mich langsam und vollkommen atemlos auf und sah zu, wie das edle Hinterteil unbekümmert weiter jagte. Ein Sanitäter lief in der vertrauten schwarzen Uniform des St. John auf mich zu. Ich spürte eine Woge der Panik aufsteigen. Ein bedingter Reflex. Ein freundliches Gesicht, ein völlig Fremder. »Alles in Ordnung, Kollege?« fragte er. Ich nickte schwach. »Sie haben sich ganz schön gestreckt.« »Hm.« Ich machte meinen Helm auf und nahm ihn ab. Sprechen war unmöglich. Meine Brust bebte, weil ich kei ne Luft mehr bekam. Er schob mir eine Hand unter die Achseln und half mir erst auf die Knie und dann, sobald ich wieder richtig atmen konnte, auf die Füße. »Die Knochen alle noch heil?« Ich nickte. »Nur keine Luft gekriegt«, sagte er fröhlich. »Mhm.« Ein Landrover blieb mit einem Ruck neben uns stehen, und der Tierarzt darin meinte, daß er, da keine verletzten Pferde seine Aufmerksamkeit erforderlich machten, mich mit zurück zu den Tribünen nehmen könne. »Sie sind vom Pferd gefallen«, bemerkte Jossie, als ich mit normaler Atmung und von den Ärzten im Sanitätsraum freigegeben wieder auftauchte. Ich lächelte: »Zugegeben.« Sie bedachte mich mit einem Seitenblick aus den großen Augen. »Ich dachte, alle Jockeys seien furchtbar empfindlich, wenn man ihnen sagt, sie seien vom Pferd gefallen«, 145
meinte sie. »Der ganze Quatsch von wegen, es sei das Pferd, das stürzt, und der Jockey würde bloß mit dem Schiff zusammen untergehen.« »Ganz recht«, sagte ich. »Aber Notebook ist ja nicht gestürzt, also müssen Sie gestürzt sein.« Sie klang übermütig, wollte mich ein biß chen necken. »Ich bestreite es ja gar nicht.« »Nein, sind Sie langweilig.« Sie lächelte. »Man hat Note book in der Nachbargemeinde aufgegriffen. Ich gehe jetzt rüber zu den Ställen, mal sehen, ob er alles gut überstan den hat. Sie können sich in der Zeit ja umziehen, und wir treffen uns dann auf dem Parkplatz.« »Okay.« Ich zog mir wieder meine Straßenkleidung an, vereinbar te mit dem Jockeydiener, daß er meine Sättel, meinen Helm und die übrige Ausrüstung für den nächsten Mitt woch mit nach Ascot nahm, und ging dann das kurze Stück zum Parkplatz. Die Menge hatte sich zerstreut, und nur Nachzügler wie ich brachen nun zu zweit oder zu dritt auf. Die letzten üb riggebliebenen Autos standen einzeln und unregelmäßig verteilt da statt in wohlgeordneten Reihen. Ich sah in den Kofferraum meines Wagens und hinter die Vordersitze. Niemand da. Ich überlegte mit einem Schaudern, was ich getan hätte, wenn doch jemand dagewesen wäre. Kilometerweit gelau fen, ohne Zweifel. Ich stand an meinen Wagen gelehnt da und wartete auf Jossie, und niemand sah auch nur entfernt danach aus, als könne er versuchen, mich von hier wegzu schleppen. Ein ruhiger, frühlingshafter Samstagabend im ländlichen Northamptonshire.
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ie folgte mir in ihrem blaßblauen Midget zu dem Pub im Süden von Oxford und entschied sich für einen langen, kalten Drink mit Früchten oben und einem Schlückchen Alkohol unten. »Dad hat Notebook trainiert, bis er blau im Gesicht war«, sagte sie und nahm mit geschürzten Lippen ihren Strohhalm in Angriff, der wie ein Mast aus den oben trei benden Früchten herausragte. »Einige lernen’s nie«, sagte ich. Sie nickte. Ein höflicher Austausch, dachte ich. Sie hatte sich indirekt für das abscheuliche Benehmen des Pferdes entschuldigt, und ich hatte akzeptiert, daß ihr Vater sein Bestes getan hatte, ihm das Springen beizubringen. Einige Trainer – aber nicht solche von William Finchs Format – schienen zu glauben, der beste Ort für einen grünen Neu ling, das Springen zu lernen, sei ein Rennen: ganz als dränge man ein Kind, den Eiger zu besteigen, ohne ihm vorher zu zeigen, wie man klettert. »Wieso sind Sie eigentlich Steuerberater geworden?« fragte sie. »Es ist doch so ein öder Job.« »Meinen Sie?« Sie ließ mich in den uneingeschränkten Genuß der gro ßen Augen kommen. »Sie sind offensichtlich anderer An sicht«, sagte sie. Dann legte sie den Kopf nachdenklich ein wenig schräg. »Sie sehen nicht langweilig oder spießig aus, und Sie benehmen sich auch nicht langweilig und spießig. Also lassen Sie mal hören.« 147
»Richter sind nüchtern, Krankenschwestern hingebungs voll, Bergarbeiter, Helden und Schriftsteller trinken.« »Oder mit anderen Worten, erwartet nicht, daß die Leute zu ihrem Image passen?« »Sie sagen es«, entgegnete ich. Sie lächelte. »Ich kenne Trevor seit meinem sechsten Lebensjahr.« Ein schwerer Treffer. Wenn man seine Phantasie nicht sehr strapazierte, konnte Trevor wohl durchaus als spießig und langweilig eingestuft werden. »Also weiter«, sagte sie. »Warum?« »Sicherheit. Feste Anstellung. Gute Bezahlung. Die ge wohnten Lockmittel.« Sie sah mich direkt an. »Sie lügen.« »Was bringt Sie auf diesen Gedanken?« »Leute, die in Hindernisrennen für nichts ihren Hals ris kieren, sind nicht so irre versessen auf Sicherheit, feste Anstellung und Geld.« »Na, dann eben wegen meiner Mum«, sagte ich schnod derig. »Sie hat Sie da reingedrängt?« »Nein.« Ich zögerte, denn ich hatte noch nie irgend je mandem erzählt, warum ich mit einer so wilden Ent schlossenheit aufgewachsen war, die an Leidenschaft einer wahren Berufung nicht nachstand. Jossie wartete mit fra gendem Blick auf meine Antwort. »Sie hatte einen miesen Steuerberater«, sagte ich. »Ich versprach ihr, daß ich, wenn ich erwachsen war, die Dinge selbst in die Hand nehmen würde. So kitschig war das.« »Und haben Sie sie in die Hand genommen?« »Nein. Sie ist gestorben.« »Rührselige Geschichte.« »Ich hab’s Ihnen ja gesagt. Reinster Kitsch.« Sie rührte mit ihrem Strohhalm in den Früchten und sah 148
mich nicht mehr ganz so spöttisch an. »Sie haben Angst, ich könnte Sie auslachen.« »Das tun Sie bestimmt«, sagte ich. »Dann stellen Sie mich auf die Probe.« »Nun … Sie war eine ganz miese Geschäftsfrau, meine Mum. Mein Vater kam bei so einem sinnlosen Unfall ums Leben, und sie mußte mich allein großziehen. Sie war un gefähr dreißig. Ich war neun.« Ich hielt inne. Jossie lachte tatsächlich nicht, daher mühte ich mich weiter. »Sie miete te ein Haus in Ryde – nicht direkt am Meer, aber gleich in der zweiten Reihe – und machte ein Ferienhotel daraus, eine Spur besser als eine Pension. Behaglich, aber ohne Schanklizenz. Auf diese Weise war sie da, wenn ich aus der Schule nach Hause kam, und in den Ferien.« »Tapfer von ihr«, sagte Jossie. »Und weiter?« »Den Rest können Sie sich denken.« Sie zog den Rest ihres Getränks durch den Strohhalm und produzierte dabei blubbernde Geräusche. »Klar«, sag te sie. »Sie kochte gut, und die Gäste fühlten sich wohl, hatte aber keine Ahnung, wieviel sie berechnen sollte.« »Und sie bezahlte Steuern auf ihre Einnahmen, ohne vorher die Unkosten abzuziehen.« »Und das ist schlecht.« »Verrückt.« »Hmm, sprechen Sie weiter«, ermutigte sie mich. »Aus Ihnen eine Geschichte rauszuholen, ist ja noch schwieriger als Pilze suchen.« »Manchmal habe ich sie weinen sehen, vor allem im Winter, wenn wir keine Gäste hatten. Für ein zehn- oder elfjähriges Kind ist es ziemlich beängstigend, seine Mutter weinen zu sehen. Man könnte also sagen, daß es mich sehr aufregte. Außerdem wollte ich sie wahrscheinlich beschüt zen. Nun ja, wie auch immer, zuerst dachte ich, es ginge immer noch darum, daß sie Dad verloren hatte. Dann wur 149
de mir klar, daß sie immer weinte, wenn sie sich mit Mr. Jones getroffen hatte; das war ihr Steuerberater. Ich versuchte herauszubekommen, was für Schwierigkeiten sie hatte, aber sie sagte, ich sei zu jung.« Ich hielt abermals inne. Jossie seufzte gequält und sagte: »Nun machen Sie schon.« »Ich riet ihr, Mr. Jones den Laufpaß zu geben und sich einen anderen Steuerberater zu suchen. Sie meinte, ich verstünde das alles nicht, ich sei zu jung. Ich versprach ihr, daß ich, wenn ich älter war, Steuerberater werden und ihre Angelegenheiten in Ordnung bringen würde.« Ich lächelte schief. »Als ich dreizehn war, ging sie eines Morgens zu Boots und kaufte sich zweihundert Aspirin. Sie rührte sie in ein Glas Wasser und trank sie. Ich fand sie auf dem Bett, als ich von der Schule nach Hause kam. Sie hinter ließ mir einen Zettel.« »Was stand drauf?« »›Lieber Ro, tut mir leid, alles Liebe, Mum.‹« »Armes Mädchen.« Jossie blinzelte. Sie lachte nicht. »Sie hatte ein Testament gemacht«, sagte ich. »Eins von diesen einfachen Dingern auf einem Formular aus dem Schreibwarengeschäft. Sie hinterließ mir alles; das war ja im Grunde nicht viel mehr als ihre persönlichen Dinge. Ich behielt alle Rechnungsbücher und Kontoauszüge. Dann wurde ich ein paar Jahre lang zwischen Onkeln und Tanten herumgereicht, nahm aber diese Rechnungsbücher immer mit. Schließlich konnte ich einen anderen Steuerberater dazu bewegen, sie sich anzusehen. Er erklärte mir, daß Mr. Jones anscheinend in dem Glauben gelebt hatte, für das Finanzamt zu arbeiten, nicht für seine Klientin. Ich sagte ihm, daß ich Steuerberater werden wolle, und ließ mir zeigen, was genau Mr. Jones alles falsch gemacht hat te. Da haben Sie’s also. Das ist alles.« »Und Sie sind immer noch damit beschäftigt, Mr. Jones 150
umzubringen, um die Tränen Ihrer Mutter zu trocknen?« Der neckende Tonfall war wieder da, aber ein wenig sanf ter als zuvor. Ich lächelte. »Ich bin gerne Steuerberater. Wenn Mr. Jones nicht gewesen wäre, hätte ich vielleicht nie dar an gedacht.« »Na dann: Gott schütze die Schurken.« »Er war entsetzlich selbstgerecht. Ein blasierter, selbst herrlicher Esel. Es gibt immer noch jede Menge von seiner Sorte hier, die ihre Klienten nicht auf alle legitimen Mög lichkeiten hinweisen, wie man Steuern umgehen kann.« »Hm?« »Es ist töricht, Steuern zu zahlen, wenn man nicht muß.« »Das liegt auf der Hand.« »Aber viele Menschen tun es, und zwar entweder aus Unwissenheit oder weil sie schlecht beraten werden.« Ich bestellte uns noch einen Drink und erklärte Jossie, daß nun sie an der Reihe sei, die Familienskelette vorzu zeigen. »Meine Ma?« sagte sie überrascht. »Ich dachte, die ganze Welt wüßte Bescheid über meine Ma. Sie paddelt den Ama zonas rauf und runter wie ein Jojo, um urtümliche Indianer zu entdecken. Berichtet darüber in Form ernsthafter Ab handlungen in obskuren Zeitschriften. Dad und ich haben sie seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Im Januar kriegen wir Telegramme mit Weihnachtswünschen.« Nach und nach dämmerte es mir. »Christabel Saffray Finch! Unerschrockene Entdeckerin, die durch die Re genwälder stürmt?« »Meine Ma«, nickte Jossie. »Heiliger Bimbam.« »Man kann das ständige Läuten auch leid werden.« »Davon hat Trevor mir nie erzählt«, sagte ich. »Aber an dererseits ist das wohl kein Wunder.« 151
Jossie grinste. »Es mißfällt Trevor. Trevor haben auch im mer Dads kleine Trostpflästerchen mißfallen. Früher habe ich sie Tanten genannt. Jetzt nenne ich sie Lida und Sandy.« »Er ist sehr diskret.« Selbst auf der Rennbahn, wo der Klatsch die zweitwichtigste Beschäftigung war, hatte ich nie von Lida und Sandy gehört. Oder davon, daß Christa bel Saffray Finch, der Liebling anthropologischer Doku mentarfilme, Williams Frau war. »Sandy ist seine dauerkranke Sekretärin«, sagte Jossie, »die ständig zwischen Bronchitis, Rückenschmerzen und Abtreibung hin und her pendelt.« Ich lachte. »Und Lida?« Jossie schnitt eine Grimasse und wirkte plötzlich unter all ihrem Strahlen verletzlich. »Lida hat sich an ihm festgebissen wie ein Bandwurm. Ich kann sie nicht ausstehen. Reden wir lieber übers Es sen; ich bin halb verhungert.« Wir lasen die Speisekarte und bestellten, tranken unsere Drinks aus und gingen zum Dinner in den jahrhunderteal ten Speisesaal: Steinmauern, nackte Eichenbalken, roter Samt und gedämpftes Licht. Jossie aß, als würde sich eine schlanke Linie nie mehr verändern, was ich nach dem affektierten Gestocher der Dame, mit der ich das letzte Mal ausgegangen war, erfri schend fand. Ich versuchte, sie wegen ihres guten Appetits zu foppen. »Tja, Glück gehabt«, meinte sie selbstgefällig, während sie einen Butterberg auf ihre gebackene Kartoffel strich. Es ging mir durch den Kopf, daß sie nicht nur in puncto Stoffwechsel Glück hatte. Ein schneller Verstand, ein fas zinierendes Gesicht; groß und schlank: Die Natur kannte keine Gleichheit. Die meisten Tische um uns herum waren von leise plau dernden Zweier- und Vierergrüppchen besetzt, aber eine 152
größere Gesellschaft an der gegenüberliegenden Wand machte den Löwenanteil des Lärms. »Diese Leute sehen dauernd her«, sagte Jossie. »Kennen Sie sie?« »Der mit dem Rücken zu uns sieht aus wie Sticks El roy.« »Ach ja? Feiert wohl seinen Sieger?« Sticks Elroy, so genannt wegen der extremen Magerkeit seiner Beine, war mir im Umkleideraum von Towcester geflissentlich aus dem Weg gegangen und mußte äußerst verunsichert gewesen sein, mich beim Dinner in seinem heimischen Pub wiederzufinden. Er war einer meiner Klienten unter den Jockeys, aber wie lange das noch so sein würde, war fraglich. Gegenwärtig stand ich jedenfalls nicht gerade hoch im Kurs bei ihm. Der Lärm kam jedoch nicht von ihm, sondern von dem Gastgeber der Gesellschaft, einem störrisch wirkenden Typ mit von Natur aus lauter Stimme. »Sehen Sie woandershin«, sagte ich zu Jossie. Die großen Augen richteten sich über Salat und Steak hinweg auf mich. »Wie der sprichwörtliche Vogel Strauß?« fragte sie. Ich nickte. »Wenn wir den Kopf in den Sand stecken, wird der Sturm uns vielleicht übersehen.« Der Sturm schien jedoch an Stärke zuzunehmen. Worte wie ›Bastard‹ erhoben sich mühelos über das allgemeine Getöse, und das Interesse der unbeteiligten Mehrheit nahm langsam zu. »Das riecht nach Ärger«, sagte Jossie ohne sichtbares Bedauern, »und der Geruch weht eindeutig in unsere Rich tung.« »Verdammt.« Sie grinste. »Feigling.« Der Ärger kam mit den entschlossenen Bewegungen des 153
leicht Angetrunkenen. Ende vierzig, schätzte ich. Etwa eins siebzig, kurzes, dunkles Haar, gerötete Wangen und aggressiver Blick. Er baute sich vor uns auf und ignorierte Jossie vollkommen. »Mein Sohn sagt mir, Sie wären Roland Britten, dieser Mistkerl.« Seine Stimme war nicht nur fortissimo, sondern auch leicht undeutlich. Wenn ich ihn ignoriert hätte, wäre das der Herausforde rung einer Schlägerei gleichgekommen. Ich legte Messer und Gabel beiseite. Lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. Benahm mich, als sei die Nachfrage höflich gewesen. »Ist Sticks Elroy Ihr Sohn?« »Verdammt richtig, genau das ist er«, sagte er. »Er hat heute einen schönen Sieg nach Hause geritten«, sagte ich. »Gut gemacht.« Das hielt ihn knappe zwei Sekunden lang auf. »Er braucht Ihr beschissenes ›Gut gemacht‹ nicht.« Ich wartete freundlich und ohne zu antworten ab. Elroy senior beugte sich vor, atmete mir eine schwere Alkohol fahne ins Gesicht und hielt mir anklagend einen Finger un ter die Nase. »Sie lassen meinen Sohn in Ruhe, kapiert? Er tut nie mandem etwas Böses. Er will nicht, daß so ein Mistkerl wie Sie ihn an die verdammten Steuerfritzen verpfeift. Ein Judas, genau das sind Sie. Ihn hinter seinem Rücken zu verpfeifen. Ein beschissener Denunziant, das sind Sie.« »Ich habe nichts über ihn weitergegeben.« »Was soll das heißen?« Streitlustig wackelte er mit dem Finger hin und her. »Sie kosten ihn Hunderte, die er an die verdammten Steuerfritzen zahlen muß. Einen Mistkerl wie Sie sollte man einsperren. Würde Ihnen verdammt recht geschehen.« Der Oberkellner tauchte unauffällig hinter Elroy auf. »Entschuldigen Sie bitte, Sir«, begann er. 154
Elroy ging wie ein Stier auf ihn los. »Sie ziehen ab! Sie Majordomus oder was auch immer Sie sind. Ziehen Sie Leine! Ich sage, was ich zu sagen habe, und wenn ich es gesagt habe, setze ich mich wieder hin, verstanden? Keine Sekunde vorher.« Der Oberkellner zog sich feige zurück, und Elroy wandte sich wieder seiner ursprünglichen Zielscheibe zu. Jossie starrte ihn ungnädig an, was ihn nicht im mindesten beein druckte. »Ich höre, jemand hätte Sie gerade eben für zehn Tage oder so eingesperrt, und Sie sind wieder rausgekommen. Eine elende Schande. Sie verdienen es, eingesperrt zu werden, jawohl. Ein Mistkerl wie Sie. Wer auch immer Sie eingesperrt hat, hatte genau die richtige Idee.« Ich sagte nichts. Elroy wandte sich halb ab, aber er war keineswegs fertig. Wandte sich lediglich an ein größeres Publikum. »Wissen Sie, was dieser Mistkerl meinem Sohn angetan hat?« Das Publikum wandte mit durch und durch briti scher Verlegenheit den Blick ab, aber die Leute bekamen die Antwort zu hören, ob es ihnen gefiel oder nicht. »Dieser Speichellecker und Schleimscheißer ist zu den Heinis vom Finanzamt gekrochen und hat ihnen erzählt, mein Sohn hätte da etwas Geld, für das er keine Steuern bezahlt hat.« »Das habe ich nicht getan«, sagte ich zu Jossie. Er fuhr abermals zu mir herum und hielt mir den Finger steif unter die Nase. »Verdammter Lügner. Sie einzusper ren, ist für einen Bastard wie Sie noch tausendmal zu gut.« Der Geschäftsführer erschien, gefolgt von einem zöger lichen Oberkellner. »Mr. Elroy«, sagte der Geschäftsführer höflich. »Eine Flasche Wein für Ihre Gesellschaft mit Empfehlungen von 155
der Geschäftsführung.« Er winkte den Oberkellner heran, der flink eine Flasche Claret darbot. Der Geschäftsführer war jung und gut gekleidet und er innerte mich an Vivian Iverson. Sein unerwartetes Öl auf die Wogen wirkte wahre Wunder, was den Sturm betraf, der nun inmitten einiger zusätzlicher »Mistkerle« abflaute und sich leise murrend wieder an seinen Tisch verzog. Die Leute an den anderen Tischen sahen unter dem Deckmantel angeregter Gespräche zu, wie der Oberkellner die Flasche für Elroy entkorkte und den Gratiswein aus schenkte. Der Geschäftsführer schlenderte beiläufig zu Jossie und mir zurück. »Man wird Ihnen Ihr Dinner nicht in Rechnung stellen, Sir.« Dann hielt er taktvoll inne. »Mr. Elroy ist ein ge schätzter Kunde.« Mit der denkbar knappsten Andeutung einer Verbeugung und ohne auf eine Antwort zu warten, entschwebte er. »So eine Kaltschnäuzigkeit«, sagte Jossie, die einer Ex plosion nahe war. »So eine Professionalität.« Sie starrte mich an. »Sitzen Sie oft einfach still da und lassen sich als Mistkerl beschimpfen?« »Einmal die Woche und sonntags zweimal.« »Kein Rückgrat.« »Wenn ich aufgestanden wäre und ihm eine verpaßt hät te, wären unsere Steaks kalt geworden.« »Das ist meines sowieso.« »Bestellen Sie sich ein neues«, sagte ich. Ich begann da weiterzuessen, wo ich aufgehört hatte, und ein oder zwei Sekunden später tat Jossie dasselbe. »Dann erzählen Sie mal«, sagte sie. »Ich bin ganz Ohr. Worum ging es denn jetzt überhaupt?« Sie sah sich im Re staurant um. »Sie sind jetzt der Gegenstand des Getu schels, und die allgemeine Meinung scheint zu Ihren Un gunsten auszufallen.« 156
»Für gewöhnlich«, sagte ich, während ich ein Salatblatt aufspießte, »sollten die Leute von ihren Steuerberatern nicht erwarten, daß sie ihnen dabei helfen, das Gesetz zu brechen.« »Sticks?« »Und Steuerberater dürfen unglücklicherweise nichts über ihre Klienten verlauten lassen.« »Meinen Sie das ernst?« Ich seufzte. »Ein Klient, der von seinem Steuerberater will, daß er ihm bei einer gewaltigen Steuerhinterziehung hilft, wird nicht gerade wahnsinnig begeistert sein, wenn der Steuerberater dies ablehnt.« »Hm.« Sie kaute munter auf ihrem Steak. »Das leuchtet mir ein.« »Und«, fuhr ich fort, »ein Steuerberater, der einem sol chen Klienten rät, seine Einnahmen anzugeben und die Steuern zu zahlen, weil die abscheulichen Herren vom Fi nanzamt zweifellos alles herausfinden würden, so daß der Klient zu den Steuern auch noch Geldstrafen zahlen muß und am Ende insgesamt äußerst übel dastehen wird, weil er nicht nur wegen dieses Vergehens den Kopf hinhalten muß, sondern weil in Zukunft jede seiner Steuererklärun gen unter die Lupe genommen werden wird und man ihn bis in alle Ewigkeit für jeden Penny verfolgen wird und die Inspektoren um zwei Uhr morgens jeden Winkel seines Hauses durchsuchen werden …« Ich holte tief Luft. »… ein solcher Steuerberater macht sich möglicherweise unbe liebt.« »Wie unvernünftig.« »Und ein Steuerberater, der sich weigert, das Gesetz zu brechen, und seinem Klienten erklärt, daß er, nämlich der Klient, anderswo hingehen muß, wenn er die Sache durch ziehen will, ein solcher Steuerberater muß möglicherweise damit rechnen, als Mistkerl bezeichnet zu werden.« 157
Sie aß ihr Steak auf und legte Messer und Gabel beiseite. »Verpfeift dieser hypothetische Steuerberater seinen Kun den beim Finanzamt?« Ich lächelte. »Wenn der Klient nicht länger sein Klient ist, weiß er nicht, ob sein Ex-Klient Steuern hinterzieht oder nicht. Daher – nein, er verpfeift ihn nicht.« »Dann hat Elroy die Sache also vollkommen falsch ver standen.« »Ähm«, sagte ich, »er war derjenige, der den Plan ausge tüftelt hat, der Sticks das Geld eingebracht hat. Deshalb ist er so wütend. Und eigentlich sollte ich Ihnen das gar nicht erzählen.« »Sonst werden Sie Ihre Zulassung verlieren oder auf die schwarze Liste gesetzt oder so was.« »Tiefschwarz.« Ich trank etwas Wein. »Es ist schon bemerkenswert, wie viele Leute versuchen, ihre Steuerberater dazu zu bewe gen, sie bei irgendwelchen Steuerschwindeleien zu unter stützen. Ich finde, wenn jemand schwindeln will, sollte der letzte, dem er es erzählt, sein Steuerberater sein.« »Man soll’s einfach machen und den Mund halten?« »Wenn man das Risiko eingehen will.« Sie lachte beinahe. »Welches Risiko? Steuerhinterzie hung ist ein Nationalsport.« Die Leute wußten einfach zu wenig über die Besteue rung, dachte ich. Die Gnadenlosigkeit, mit der Steuern eingefordert werden konnten, hätte selbst einen viktoriani schen Gutsherrn in den Schatten gestellt, und heute hatte der Fiskus furchteinflößende Sonderbefugnisse zur Durch führung und Fahndung. »Es ist bei weitem ungefährlicher, seinen Arbeitgeber zu bestehlen als den Fiskus«, sagte ich. »Sie machen Witze.« »Nehmen Sie von den Profiteroles«, sagte ich. 158
Jossie beäugte den herannahenden Wagen mit Superdes serts und erklärte sich mit vier kleinen, sahnegefüllten und in Schokoladensauce getunkten Bällchen einverstanden. »Nehmen Sie keine?« fragte sie. »Denken Sie an Tapestry am Mittwoch.« »Kein Wunder, daß Jockeys fett werden, wenn sie es sich endlich gestatten zu essen.« Zufrieden löffelte sie das dunkelbraune, klebrige Zeug auf. »Warum ist es ungefähr licher, seinen Arbeitgeber zu bestehlen?« »Er hat nicht die Möglichkeit, Ihren Besitz zu verkaufen, um sein Geld zurückzubekommen.« Die großen Augen weiteten sich. »Donnerwetter!« sagte sie. »Wenn man Schulden macht, können die Gerichte Ge richtsvollzieher aussenden, die Ihnen Ihre Möbel weg nehmen. Wenn Sie aber statt dessen etwas gestohlen ha ben, besteht diese Möglichkeit nicht.« Sie hielt mit vollem Mund und ausdrucksloser Miene in ne; dann kaute sie weiter und schluckte. »Nur weiter«, sagte sie. »Ich bin fasziniert.« »Nun … Diebstahl ist der eigentliche Nationalsport, nicht Steuerhinterziehung. Geringfügiger Diebstahl. Klau en. Stibitzen. Die meisten Ladendiebstähle gehen auf das Konto des Personals, nicht auf das der Kunden. Niemand macht einem Mädchen ernsthafte Vorwürfe, das den gan zen Tag Strumpfhosen verkauft und sich abends, wenn sie nach Hause geht, ein Paar in die Handtasche steckt. Seinen Arbeitgeber zu beklauen, gilt beinahe als rechtmäßige Ne beneinkunft, und wenn in einer Fabrik einmal eine wirk same Kontrolle an den Personalausgängen ausgeübt wird, gibt es praktisch einen Aufstand, bis man wieder davon Abstand nimmt.« »Weil dadurch der Abtransport von Schraubenschlüsseln und Gabelstaplern aufgehalten wird?« 159
Ich grinste. »Man könnte eine Armee von dem verpfle gen, was aus Hotelkühlschränken verschwindet.« »Steuerberater und Wirtschaftsprüfer«, sagte sie, »sollten das nicht komisch finden.« »Schon gar nicht, da sie ihr Leben damit verbringen, nach Betrügereien Ausschau zu halten.« »Tun sie das?« fragte sie überrascht. »Tun sie das wirk lich? Ich dachte, Steuerberater würden einfach Zahlen ad dieren.« »Der Hauptzweck einer Wirtschaftsprüfung besteht dar in, Schwindeleien aufzudecken.« »Ich dachte, es ginge … nun … um die Berechnung von Gewinn und Verlust.« »Im Grunde nicht.« Sie dachte nach. »Aber wenn Trevor bei uns das Holz, die Sättel und alles andere zählt, dann macht er doch eine Inventur für die Steuer.« Ich schüttelte den Kopf. »Es geht eher darum, im Sinne Ihres Vaters zu überprüfen, ob nicht ein Stallbursche hier und da unter der Hand einen Ballen Heu oder ein Zaum zeug verkauft.« »Gütiger Himmel.« Sie war ehrlich erstaunt. »Ich werde Wirtschaftsprüfer nicht länger als verknöcherte alte Kerle betrachten. Sondern eher als Polizisten vom Betrugsdezer nat.« »Das auch wieder nicht.« »Warum nicht?« »Wenn ein Wirtschaftsprüfer zum Beispiel herausfindet, daß eine Firma von ihrem Kassierer betrogen wird, dann unterrichtet er lediglich die Firma davon. Er verhaftet den Kassierer nicht. Er überläßt es der Firma zu entscheiden, ob sie nach Handschellen rufen wird.« »Aber das tut sie doch gewiß immer.« »Absolut nicht. Firmen steigt die Röte ins Gesicht, und 160
sie verlieren oft Kunden, wenn jeder erfährt, daß ihr Kas sierer sie hinters Licht geführt hat. Meistens werfen sie den Kassierer raus und halten den Mund.« »Finden Sie es langweilig, mir all das zu erzählen?« »Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Dann erzählen Sie mir mal von einem guten Betrug.« Ich lachte. »Haben Sie in letzter Zeit denn mal von ir gendeinem guten Betrug gehört?« »Spucken Sie’s aus.« »Hm …« Ich dachte nach. »Viele der besten Betrügerei en sind ein kompliziertes Jonglieren mit Zahlen. Es sind die Akten und Bücher, die das Auge trügen wie bei einem Trick mit drei Karten.« Ich hielt inne, dann lächelte ich. »Ich kenne einen interessanten Fall. Es ging nicht um meine Klienten, Gott sei Dank. Der Geschäftsführer eines Hähnchenmastbetriebes verkaufte jede Woche Tausende von Hähnchen an eine Tiefkühlfirma. Und unter der Hand verkaufte er außerdem jede Woche hundert Hähnchen an einen Metzger, der nicht wußte, daß die Tiere sozusagen von einem Laster gefallen waren. Niemand konnte je sa gen, wie viele Hähnchen genau gerade in dem Betrieb wa ren, denn die Fluktuation war so groß und schnell, und Küken gehen nun mal leicht ein. Der Geschäftsführer steckte sich ein hübsches kleines, steuerfreies, regelmäßi ges Einkommen in die Tasche, und wie die meisten guten Betrugsmanöver wurde die Sache nur durch Zufall ent deckt.« »Was war das für ein Zufall?« »Der Metzger bezahlte den Geschäftsführer mit einem Scheck, den er auch auf den Namen des Geschäftsführers ausstellte. Eines Tages traf er zufällig einen der Direktoren der Firma, zu der die Hähnchenmast gehörte, und um Por to zu sparen, holte er sein Scheckbuch heraus, stellte einen Scheck auf den Namen des Geschäftsführers aus und bat 161
den Direktor, den Scheck als Bezahlung der Hähnchenlie ferung des vergangenen Monats weiterzuleiten.« »Und die Sache flog auf.« »Mit einem Knall. Der Geschäftsführer wurde rausge worfen.« »Keine Strafverfolgung?« »Nein. Nach meinen letzten Informationen verkauft der Mann heute Rosenbüsche im Postversand.« »Und Sie fragen sich natürlich, für wessen Baumschule er arbeitet?« Ich grinste und nickte. Sie war intelligent und amüsant, und es schien mir unglaublich, daß ich sie erst am Tag zu vor kennengelernt hatte. Wir tranken Kaffee und sprachen über Pferde. Sie sagte, sie hätte es mal mit Vielseitigkeitsprüfungen versucht, wolle das aber bald wieder aufgeben. »Warum?« fragte ich. »Mangel an Talent.« »Was werden Sie statt dessen tun?« »Heiraten.« »Oh.« Ich war merkwürdig enttäuscht. »Wen?« »Keine Ahnung. Wird schon irgend jemand auftauchen.« »Einfach so?« »Natürlich einfach so. Man findet Ehemänner, wo man sie am wenigsten erwartet.« »Was machen Sie morgen?« fragte ich. In ihren Augen glitzerten Licht und Leben. »Eine Freun din besuchen. Und Sie, was werden Sie machen?« »Rechnen, vermute ich.« »Aber morgen ist Sonntag.« »Und ich habe den ganzen Tag das Büro für mich allein, ohne jede Störung. Ich arbeite oft sonntags. Fast immer.« »Ach du liebe Güte.« Wir gingen hinaus auf den Parkplatz, wo der Midget und der Dolomite Seite an Seite standen. 162
»Vielen Dank für die Einladung?« sagte Jossie. »Ich danke Ihnen für Ihre Gesellschaft.« »Und Ihnen geht’s auch wirklich gut?« »Ja«, sagte ich überrascht. »Warum?« »Nur so«, sagte sie. »Dad wird danach fragen. Der Sturz sah ziemlich übel aus.« Ich schüttelte den Kopf. »Ein oder zwei blaue Flecken.« »Gut. Na dann gute Nacht.« »Gute Nacht.« Ich küßte sie auf die Wange. Ihre Augen glühten in dem schwachen Licht, das durch die Fenster des Pubs fiel. Ich küßte sie ganz kurz und mit geschlossenen Lippen auf den Mund. Sie antwortete mit derselben Art von Kuß. »Hm«, sagte sie und trat zurück. »Das war nicht schlecht. Ich hasse dieses nasse Gesabber.« Sie glitt gekonnt auf den Fahrersitz des Midgets und ließ den Motor an. »Ich seh Sie im Heu«, sagte sie. »Zum Zählen.« Dann fuhr sie lächelnd davon; wahrscheinlich ein Spie gelbild meines eigenen Gesichtsausdruckes. Ich schloß meine Wagentür auf und blickte, obwohl ich mir leicht dämlich vorkam, in den dunklen Bereich hinter den Vor dersitzen. Niemand da. Ich setzte mich in den Wagen, ließ ihn an und rang mit der Frage, ob ich es riskieren sollte, nach Hause ins Cot tage zu fahren oder nicht. Der Freitag und der Samstag waren ohne Gefahr verstrichen; aber vielleicht beobachte ten die Katzen immer noch das Mauseloch. Ich fand, daß eine weitere Nacht außer Haus nur klug sei, und fuhr von dem Pub aus in nördlicher Richtung noch einmal um Ox ford herum in die Anonymität der großen Raststätte und des Motels, die am Kreisverkehr eines belebten Knoten punkts lag. 163
Das Motel war wie gewöhnlich voller Lichter und Le ben: Flaggen, die auf hohen Pfosten wehten, und ratternde Benzinpumpen. Ich meldete mich im Empfangsbüro an, nahm den Schlüssel entgegen und fuhr zu dem eine Spur ruhigeren Flügel mit Schlafzimmern im hinteren Teil der Anlage. Das Schlafen würde mir keine Probleme bereiten, dachte ich. Das beständige Dröhnen des Verkehrs würde mich einlullen. Das reinste Schlaflied. Ich gähnte, nahm meine Koffer heraus, schloß den Wa gen ab und schob den Schlüssel in die Zimmertür. Etwas traf mich hart zwischen die Schultern. Während ich gegen die noch geschlossene Tür krachte, traf mich etwas hart am Kopf. Diesmal war es brutal. Diesmal kein Äther. Ich glitt benommen an der Tür herunter und sah nur dunkle, unkenntliche Gestalten, die sich vorbeugten, um zu schlagen und zu treten. Die dumpfen Schläge vibrierten durch meine Knochen, und ein weiterer Treffer auf den Kopf stürzte mich tief in friedvolle Erlösung.
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ch erwachte im Dunkeln. Schwarze, absolute Dunkel heit. Ich konnte nicht begreifen, warum ich in absoluter Dunkelheit auf einer harten Oberfläche lag und mir jeder Knochen im Leib weh tat. Ein Sturz, dachte ich. Ich war in Towcester gestürzt. Warum konnte ich mich nur nicht erinnern? Mir war kalt. Kalt bis auf die Knochen. Wenn ich mich bewegte, wurden die Schmerzen schlimmer. Plötzlich fiel mir ein, daß ich mit Jossie zu Abend geges sen hatte. Ich erinnerte mich deutlich an alles bis zu dem Gutenachtkuß auf dem Parkplatz. Und was dann? Ich versuchte mich aufzusetzen und hob den Kopf, aber weiter kam ich nicht. Das Ergebnis waren schwindelerre gende Übelkeit und donnernde Kopfschmerzen. Ich tastete mich mit den Fingern zaghaft durch mein Haar und fand eine geschwollene Stelle, eine Entdeckung, die zu soforti gem Zusammenzucken führte. Ganz behutsam ließ ich den Kopf wieder sinken. Ich hörte keinerlei Geräusche bis auf das Rascheln mei ner Kleidung. Kein Motor. Kein Knarren oder Rauschen, keine Wassergeräusche. Ich lag nicht auf einer Koje, son dern auf einer größeren Fläche, hart und flach. Ich war vielleicht nicht in einer Segelkabine, aber fest stand, daß ich mich trotzdem im Dunkeln befand. Im Dunkeln in jeder Hinsicht. Schwacher, frustrierter Zorn verhöhnte mich, daß es mir in vier Tagen Freiheit nicht ge 165
lungen war, genug herauszufinden, um mich vor der düste ren Gegenwart zu retten. Jede Bewegung sagte mir, woran ich mich immer noch nicht erinnern konnte. Ich wußte nur, daß der Sturz von Notebook nicht die Quelle dieses umfassenden körperli chen Ungemachs sein konnte. Ich mußte mit ein paar Prel lungen rechnen, die über Nacht hatten schlimmer werden können, aber nichts, was sich mit meinem jetzigen Gefühl vergleichen ließe, wie ein Teig durchgeknetet worden zu sein. Ich rollte mich grunzend auf den Bauch und legte den Kopf auf meine verschränkten Arme. Das einzig Posi tive, das mir einfallen wollte, war die Tatsache, daß sie mir nicht die Hände gefesselt hatten. Sie. Wer waren sie? Wenn mein Kopf zu hämmern aufhörte, dachte ich, wür de ich genug Energie aufbringen müssen, um herauszufin den, wo ich war, und zu versuchen herauszukommen. In der Zwischenzeit genügte es, einfach nur stillzuliegen und darauf zu warten, daß die Dinge sich besserten. Noch etwas, wofür ich dankbar sein mußte, dachte ich. Der harte, flache Untergrund, auf dem ich lag, schwankte nicht hin und her. Mit etwas Glück befand ich mich nicht auf einem Boot. Ich würde mich nicht übergeben müssen. Ein zerschlagener Körper war absolut nichts im Vergleich zu den Qualen der Seekrankheit. Ich hatte keine Schuhe an, nur Socken. Als ich auf mein Handgelenk blinzelte, fand ich dort keine leuchtende Zif fernscheibe: keine Uhr. Es schien mir nicht der Mühe wert, all meine Taschen zu durchsuchen. Ich war mir ganz sicher, daß sie leer sein würden. Nach einer Weile erinnerte ich mich an meinen Ent schluß, in ein Motel zu gehen, und danach fiel es mir Stück um Stück ein: Wie ich mich angemeldet hatte und wie ich an der Tür überfallen worden war. 166
Sie mußten mir den ganzen Weg von Towcester gefolgt sein, dachte ich. Mußten während meines Dinners mit Jos sie auf der Lauer gelegen haben. Mir ins Motel gefolgt sein. Ich hatte sie kein einziges Mal bemerkt. Ich hatte in dem ständigen Verkehrslärm nicht einmal ihre Schritte hinter mir gehört. Mit meinem instinktiven Gefühl, daß ich in Jossies Ge sellschaft sicher sein würde, hatte ich genau richtig gele gen. Eine Ewigkeit verstrich. Das Getöse in meinem Schädel flaute allmählich ab. Sonst passierte nichts. Ich hatte das Gefühl, daß es fast Morgen war und Zeit aufzuwachen. Es war halb elf gewesen, als man mich k.o. geschlagen hatte. Ich konnte nicht feststellen, wie lange ich bewußtlos gewesen war oder hilflos in meinem ge genwärtigen Zustand dagelegen hatte, aber der Körper be saß seine eigene Uhr, und meiner sagte sechs Uhr mor gens. Das Morgendämmerungsgefühl stachelte mich zu ir gendeiner Art von Aktivität an, obwohl die Morgendäm merung, wenn sie sich denn draußen vollzog, nicht zu mir vordrang. Vielleicht, dachte ich beklommen, lag ich mit der Zeit falsch. Es war draußen immer noch Nacht. Ich be tete dafür, daß es draußen immer noch Nacht war. Ich versuchte noch einmal, mich aufzusetzen. Ich konnte nicht behaupten, daß ich mich wunderbar gesund gefühlt hätte. Es dauerte eine Weile, bis die Folgen einer Gehirn erschütterung nachließen, und Kälte war erwiesenermaßen schlecht für geschundene Muskeln. Die Kombination von beidem machte jede Bewegung zu einer Qual. Es war eine vertraute Art von Schmerz wegen der Rennstürze in der Vergangenheit, nur schlimmer. 167
Die Oberfläche unter mir war schmutzig: Ich konnte den sandigen Staub spüren. Es roch schwach nach Öl. Es war flach und glatt und nicht aus Holz. Ich tastete meine Umgebung in alle Richtungen ab und traf zu meiner Linken auf eine Wand. Ich schob mich in die se Richtung und erkundete sie vorsichtig mit den Fingern. Eine weitere glatte Fläche, rechtwinklig zum Boden. Ich hämmerte sachte mit der Faust dagegen. Die Antwort wa ren die Vibrationen von Metall. Ich dachte, wenn ich mich eine Weile mit dem Rücken gegen die Wand lehnen würde, würde es bald hell werden, und dann würde es nicht weiter schwierig sein, festzustel len, wo ich war. Es mußte hell werden, dachte ich ver zweifelt. Es mußte einfach. Aber das tat es natürlich nicht. Als sie mir auf dem Boot Licht gegeben hatten, war ich geflohen. Ein Fehler, den es zu vermeiden galt. Ich mußte mich der Tatsache stellen. Die Dunkelheit war Vorsatz und würde andauern. Es hatte keinen Sinn, er mahnte ich mich streng, wie ein Häufchen Unglück da zu sitzen und mir selber leid zu tun. Ich unternahm eine weitere Entdeckungsreise in nicht kartographiertes Territorium und stellte fest, daß meine Welt deutlich kleiner war als die von Columbus. Es schien mir geraten, mich im Sitzen zu bewegen. Wegen der Theo rie von der Erde als Scheibe, über deren Rand man mögli cherweise fallen konnte. Aber nachdem ich mich einen gu ten halben Meter nach rechts geschoben hatte, erreichte ich eine Ecke. Die angrenzende Wand war ebenfalls flach, glatt und aus Metall. Ich schob mich an dieser Wand entlang, abermals nach rechts. Ich kam beinahe sofort an eine weitere Ecke. Ich stellte fest, daß ich, wenn ich in der Mitte der Wand saß, beide 168
Seitenwände gleichzeitig und ziemlich mühelos mit den Fingerspitzen erreichen konnte. Schätzungsweise ein Me ter fünfzig von einer Seite zur anderen. Ich schleifte mich um die zweite Ecke und drängte wei ter vorwärts. Knapp einen Meter weiter wußte ich, wo ich war. Die Ebenmäßigkeit der Metallwand wurde durch eine große, gerundete Ausbuchtung unterbrochen, deren Be deutung meinen Fingern ebenso klar war, als hätte ich sie gesehen. Es war ein halbkreisförmiger Radkasten; ich befand mich in einer Art Lieferwagen. Augenblicklich blitzte ein starkes Bild von dem unech ten Krankenwagen in mir auf, in den ich in Cheltenham gestiegen war. Ein weißer Kastenwagen, ein Standardmo dell, dessen Hintertüren sich nach außen öffneten. Wenn ich mich an dem Radkasten vorbeischob, käme ich an die Hintertüren. Und ich würde mich unglaublich dämlich fühlen, dachte ich, wenn ich lediglich die Türen zu öffnen und ins Freie zu treten brauchte. Ich hätte nichts dagegen gehabt, mich absolut dämlich zu fühlen. Die Türen waren fest verschlossen und würden dies wahrscheinlich auch bleiben. Es gab keinen Griff an der Innenseite. In der vierten Ecke stieß ich auf das, was man mir dies mal als Unterhalt dagelassen hatte. Obwohl meine Stim mung bereits den Nullpunkt erreicht hatte, schoß sie an dieser Stelle noch weiter in die Tiefe. Es war ein 20-Liter-Kanister aus Plastik voller Flüssig keit und eine große Einkaufstüte. Ich schraubte den Deckel des Plastikkanisters ab und be schnupperte den Inhalt. Kein Geruch. Kippte etwas von der Flüssigkeit auf meine Hand und kostete sie. Wasser. 169
Ich schraubte den Deckel wieder zu, hatte in der Dun kelheit einige Mühe damit. Zwanzig Liter Wasser. O nein, dachte ich benommen. Oh, lieber Gott. Die Tüte war bis oben hin vollgepackt mit flachen Pla stikpaketen, von denen jedes etwa zehn Zentimeter im Qua drat maß. Auch sie hatten keinerlei Geruch. Ich riß eines der Pakete auf und stellte fest, daß sein Inhalt aus dünnen, zehn mal zehn Zentimeter großen Käsescheiben bestand. Mit sinkendem Mut zählte ich die Päckchen, indem ich sie eins nach dem anderen aus der Plastiktüte nahm und auf dem Boden stapelte. Es waren sechzig. Alle, soweit ich das sagen konnte, genau gleich. Kläglich zählte ich sie eins nach dem anderen vom Bo den zurück in die Tüte, und es waren immer noch sechzig. Sie hatten mir genug Essen und Wasser gegeben, um min destens vier Wochen auszukommen. Es würde keine zwei Besuche pro Tag geben: überhaupt niemanden, mit dem ich reden konnte. Zum Teufel mit ihnen, dachte ich wütend. Wenn das Ra che war, war es schlimmer als alles, was ich jemals über irgendeinen Betrüger gebracht hatte. Angestachelt von Zorn stand ich ohne jede Vorsicht auf, um den oberen Teil des Lieferwagens zu erkunden, und schlug mit meinem schmerzenden Kopf gegen das Dach. Es war alles zusammen etwas viel. Ich fand mich auf den Knien wieder, fluchte, hielt mir den Kopf und versuchte, nicht zu weinen. Eine geschundene, schwächliche Gestalt, die im Dunkeln schniefte. So ging das auf gar keinen Fall, dachte ich. Es war ein Gebot der Notwendigkeit, sich streng von allen Emotionen freizumachen. Den Schmerz und die Qualen zu ignorieren. Die Dinge kühl und fest in den Griff zu bekommen und einen Plan für das Überleben zu schmieden. 170
Als die neuerlichen Wogen des Kopfschmerzes vorüber gingen, machte ich mich ans Werk. Das Vorhandensein von Essen und Trinken bedeutete wohl, daß ein Überleben erwartet wurde. Daß eines Tages, wenn ich keine zweite Flucht zuwege bringen konnte, je mand mich freilassen würde. Abermals schien der Tod nicht auf der Tagesordnung zu stehen. Nun, warum machte ich dann so ein Theater? Ich hatte einmal von einem Mann gelesen, der wochen lang in Stille und Dunkelheit in einer Höhle zugebracht hatte, um festzustellen, wie ein totaler Mangel an äußeren Bezügen sich auf den menschlichen Körper auswirkte. Er hatte mit unversehrtem Verstand und nicht besonders stra paziertem Körper überlebt, und sein Zeitgefühl war be merkenswert wenig in die Irre gegangen. Was er schaffen konnte, konnte ich auch schaffen. Es war unerheblich, dachte ich streng, daß der Wissenschaftler seine Gefan genschaft freiwillig angetreten hatte und daß sein Herz schlag und andere Lebenszeichen an der Oberfläche auf gezeichnet wurden; unerheblich, daß er jederzeit hätte herauskommen können, wenn er fand, daß er genug hatte. Nach der kleinen Ansprache vor meinem Einmannpubli kum fühlte ich mich deutlich ruhiger und stand ein wenig langsamer auf, wobei ich mich mit dem Rücken die Sei tenwand hinaufschob und mit den Händen nach dem Dach tastete. Es war zu niedrig, als daß ich aufrecht hätte stehen können; es fehlten zehn oder fünfzehn Zentimeter. Mit ge senktem Kopf und gebeugten Knien tastete ich mich abermals durch den Lieferwagen. Beide Seitenwände waren vollkommen glatt. In der vor deren Wand waren die Umrisse eines kleinen Bleches tast bar, das sich zur Fahrerkabine hin einmal hatte öffnen las sen müssen. Es schien eine Art Schiebefenster gewesen zu sein, das nun aber so fest verschlossen war, als hätte man 171
es zugeschweißt. Es gab weder Griff noch Riegel auf mei ner Seite, nur geglättetes Metall. Die Hintertüren schienen zunächst vielversprechend zu sein, da ich herausfand, daß sie nicht durch und durch aus solidem Metall bestanden, sondern Fenster hatten. Auf je der Seite eins, etwa dreißig Zentimeter breit – das Maß meiner Elle vom Handgelenk bis zum Ellbogen – und halb so hoch. In den Fenstern war kein Glas. Ich streckte die Hand vorsichtig durch das Fenster auf der rechten Seite und wurde sofort aufgehalten. Etwas Hartes hielt die Türen von außen zu. Ich konzentrierte mich so sehr darauf, was mir meine Finger sagten, daß ich zuerst gar nicht bemerkte, daß ich mit geschlossenen Augen dahockte. Wirklich komisch. Ich öffnete sie. Kein Licht. Was nutzten einem Augen ohne Licht? Draußen vor den Fenstern war rauher Stoff gespannt, der sich wie schweres Segeltuch anfühlte. Vor den zu den Sei tenwänden hin gelegenen Hälften der Fenster konnte man das Segeltuch acht oder zehn Zentimeter von dem Liefer wagen wegdrücken. Vor den inneren Hälften der Fenster war das nicht möglich; dort wurde der Stoff von außen fest gegen die Türen gedrückt, durch dasselbe Etwas, das auch die Türen selbst fest zudrückte. Ich streckte nacheinander den Arm durch die Außenhälf ten des linken und des rechten Fensters und tastete den Wagen von außen ab, so weit ich konnte. Das war nicht weit, und es nutzte mir nichts. Die gesamte Rückseite des Lieferwagens war mit Segeltuch verhüllt. Ich ließ mich wieder auf den Boden herunter und versuchte mir das, was ich gefühlt hatte, bildlich vorzustellen. Ein mit Segeltuch verhüllter Lieferwagen mit zugekeilten Hintertüren. Wo konnte man so etwas parken, ohne daß es augenblicklich 172
entdeckt wurde? In einer Garage? Einem Schuppen? Wenn ich gegen die Seitenwände hämmerte, würde irgend je mand mich hören? Ich hämmerte gegen die Seiten des Lieferwagens, aber meine Fäuste machten kaum ein Geräusch, und ich hatte nichts anderes, womit ich gegen die Wände hätte hämmern können. Ich rief ziemlich oft »Hilfe« durch die Fenster, aber niemand kam. Durch die fehlenden Fenster drang deutlich wahrnehm bar Luft: Ich konnte es spüren, wenn ich das Segeltuch nach außen drückte. Keine Gefahr zu ersticken. Es ärgerte mich, daß ich mir diese Fenster nicht zunutze machen konnte. Sie waren zu klein, um hindurchzukrie chen, selbst ohne das Segeltuch und was immer sie gegen den Lieferwagen drückte. Ich konnte nicht mal den Kopf durch die Löcher stecken, ganz zu schweigen von den Schultern. Ich beschloß, etwas Käse zu essen und über die Dinge nachzudenken. Der Käse war nicht schlecht. Die Gedan ken nahmen eine unwillkommene Wendung. Mir wurde bewußt, daß ich diesmal keine Matratze hatte, keine Dek ke, kein Kissen und kein Klo. Und keinen Taschenbuch roman, keine Ersatzsocken, keine Seife. Die Segelkabine war ein Hilton gewesen im Vergleich zu dem Lieferwagen. Auf der anderen Seite hatte die Zeit in der Segelkabine mich auf gewisse Weise besser für diese härtere Zelle vor bereitet. Statt mehr Angst, mehr Hysterie und mehr Ver zweiflung zu empfinden, empfand ich weniger. Ich hatte das ganze Grauen schon einmal durchgemacht. Außerdem war ich während der vier Tage Freiheit nicht an den Süd pol gegangen, um neuerliche Gefangenschaft zu vermei den. Ich hatte sie gefürchtet und mein Bestes getan, ihr auszuweichen, aber ich hatte auch gewußt, was ich mit der Wiederaufnahme meines Lebens riskierte. 173
Der Grund für die erste Entführung existierte vermutlich immer noch. Ich war vor dem beabsichtigten Zeitpunkt entkommen, und in irgend jemandes Augen war das eine ganz unangenehme Sache gewesen. Schlimm genug, um das Überfallkommando erneut auszusenden, damit es mich abermals entführe, aus meinem Cottage, binnen eines Ta ges nach meiner Rückkehr nach England. Schlimm genug, um das Risiko einzugehen, mich abermals verschwinden zu lassen, obwohl diesmal, wie ich hoffte, die Polizei nach mir suchen würde. Ich war mir ziemlich sicher, daß ich mich immer noch in England befand. Ich hatte nicht die leiseste Erinnerung an den Transport vom Motel bis zu meinem jetzigen Standort, wo immer der auch sein mochte, aber der Eindruck, daß ich nur ein oder zwei Stunden bewußtlos gewesen war, war überzeugend stark. Sonntag morgen. Niemand würde mich vermissen. Es würde Montag werden, bevor Debbie und Peter aufmerk sam wurden. Dienstag vielleicht, bevor die Polizei es ernst nahm, wenn sie es denn trotz ihrer Zusicherung überhaupt tat. Ein oder zwei weitere Tage, bis irgend jemand wirk lich mit der Suche begann: Und ich hatte keine Frau und keine Eltern, die die Suche vorantreiben würden, wenn ich nicht kurz darauf gefunden wurde. Jossie hätte es vielleicht getan, dachte ich bedauernd, wenn ich sie länger gekannt hätte. Jossie mit ihren strah lenden Augen und ihrer unverblümten Sprache. Jedenfalls stand mir auch bei hoffnungsvollster Ein schätzung immer noch eine lange, harte, qualvolle Schin derei bevor. Dann drängte sich ein praktisches Problem in den Vor dergrund. Es war zwingend, augenblicklich die Frage der Entsorgung flüssiger Abfälle zu lösen. Ich mußte mögli cherweise in einem Blechkasten leben, aber wenn ich es 174
irgend vermeiden konnte, nicht in einem schmutzigen, stinkenden Metallkasten. Not macht erfinderisch, wie andere vor mir ebenfalls bemerkt hatten. Ich nahm aus einem der dicken Plastikpa kete die Käsescheiben heraus und benutzte dieses Plastik behältnis; dann leerte ich es mehrmals durch das hintere Fenster, indem ich das Segeltuch so weit wie möglich von dem Lieferwagen wegdrückte. Nicht gerade das hygie nischste Verfahren, aber besser als gar nichts. Nach diesem kleinen Abenteuer setzte ich mich wieder hin. Mir war immer noch kalt, obwohl es jetzt nicht mehr die allumfassende Kälte des Verletzungsschocks war. Ich hätte vielleicht ein paar armeschwingende Aufwärmübun gen machen können, wenn da nicht meine Prellungen pro testiert hätten. So wie die Dinge lagen, und da jede Re gung eines Muskels mir meine Situation ins Gedächtnis rief, saß ich einfach nur da. Bisher hatte mir die Erkundung meiner Umgebung etwas zu tun gegeben, aber die nächsten Stunden enthüllten das wahre Ausmaß meiner Isolation. Von außen drang keinerlei Laut zu mir herein. Wenn ich das schwache Geräusch meines eigenen Atems unter drückte, hörte ich buchstäblich gar nichts. Keinen Verkehr, kein Summen von Flugzeugen, keinen Wind, kein Knir schen, kein Rascheln. Nichts. Es herrschte absolute Finsternis. Es kam zwar ständig Luft herein, aber sie brachte kein Licht mit. Ob ich die Augen weit aufriß oder fest geschlossen hielt, es lief auf dasselbe hinaus. Ich konnte auch keine Veränderung der Temperatur wahrnehmen. Es war und blieb einfach zu kalt, um sich wohl zu fühlen, und das trotz meiner Versuche, mich auf zuwärmen. Man hatte mir Hose, Unterhose, Hemd, Sport jackett und Socken gelassen, aber weder Krawatte noch 175
Gürtel noch andere lose Besitztümer irgendwelcher Art. Heute war Sonntag, der 3. April. Es mochte ein sonniger Frühlingstag gewesen sein, aber wo auch immer ich mich befand, war die Temperatur einfach zu niedrig. Die Leute lasen jetzt in ihren Sonntagszeitungen über das Grand National, dachte ich. Lagen warm und behag lich im Bett. Standen auf und schlenderten zum Pub. Aßen heiße Mahlzeiten, spielten mit den Kindern, beschlossen, das Rasenmähen um eine weitere Woche zu verschieben. Millionen von Menschen, die ihr Sonntagsleben lebten. Ich servierte mir einen Sonntagslunch, bestehend aus Käsescheiben, und trank mit großer Vorsicht etwas Wasser aus dem Kanister. Er war schwer, da randvoll, und ich konnte es mir nicht leisten, ihn umzukippen. Mir lief ge nug Wasser den Hals hinunter, um über die Verwendbar keit von Käsepäckchen als Trinkbecher nachzudenken. Nach dem Lunch ein Schläfchen, dachte ich. Ich machte mir, indem ich die Käsepäckchen in der Plastiktüte um schichtete, ein einigermaßen brauchbares Kissen und ver suchte entschlossen zu schlafen, aber die Gesamtheit der körperlichen Beschwerden hielt mich wach. Na schön, dachte ich, während ich auf dem Rücken lag und den Blick an die unsichtbare Decke heftete, versuche ich also, mir einen Reim auf das zu machen, was ich wäh rend meiner vier Tage in Freiheit herausgefunden hatte. Den ersten Tag brauchte ich nicht weiter zu berücksich tigen, da ich ihn auf Mallorca verbracht und meine Rück kehr nach Hause organisiert hatte. Damit blieben zwei Ta ge im Büro und einer beim Rennen übrig. Eine Nacht, in der ich mich im Cottage versteckt hatte, eine, in der ich in dem Hotel in Gloucester fest geschlafen hatte. Während dieser ganzen Zeit hatte ich nach Gründen gesucht, und dadurch unterschied sich diese neuerliche Gefangenschaft deutlich von der ersten. Seinerzeit war ich vollkommen 176
verwirrt gewesen. Diesmal hatte ich zumindest ein oder zwei Ideen. Stunden vergingen. Nichts wurde irgendwie besser. Ich setzte mich für eine Weile hin und legte mich wieder auf den Rücken, und alles tat weh, alles wie gehabt. Ich ergötzte mich mit dem Gedanken, daß die schmerzhafte Steifheit blauer Flecken zu guter Letzt stets besser wurde, niemals schlimmer. Angenommen zum Beispiel, es wäre eine Blinddarmentzündung gewesen. Ich hatte gehört, daß Leute, die zum Mount Everest oder in andere gottverlas sene Winkel dieser Erde wollten, sich nur für den Fall des Falles ihren völlig gesunden Blinddarm hatten entfernen lassen. Alles in allem wünschte ich, ich hätte gar nicht erst an Blinddarmentzündung gedacht. Oder an Zahnschmer zen. Ich hatte das Gefühl, daß es Abend war, und dann, daß es Nacht war. Nichts veränderte sich, außer in mir. Mir wurde langsam noch kälter, aber es schien, als käme die Kälte von innen. Ich hielt die Augenlider fest geschlossen. Gelegentlich nickte ich ein, wachte auf und nickte wieder ein; es war ein langes, schläfriges Dämmerlicht, unterbrochen von kurzen Phasen, in denen ich jedesmal, wenn ich mich be wegte, stöhnend erwachte. Als ich mit klarem Kopf auf wachte, hatte ich das Gefühl, es müsse die Zeit der Mor gendämmerung sein. Wenn dieser Wechsel anhielt, würde ich wohl einen Ka lender führen können. Ein leeres Käsepäckchen für den Tag, das ich in der rechten vorderen Ecke des Lieferwa gens aufstapeln wollte. Wenn ich grundsätzlich bei Mor gendämmerung eins dorthin legte, würde ich wissen, wie 177
viele Tage vergangen waren. Eins für Sonntag: ein zweites für Montag. Ich nahm zwei Käsescheiben heraus und machte zwei vorsichtige, schwerfällige Schritte nach vorn, um die leeren Päckchen dorthin zu legen. Ich aß und trank, was ich als Frühstück ansah: Und ich stellte fest, daß ich mich in der Dunkelheit schon sehr viel mehr zu Hause fühlte. Körperlich war ich nicht mehr so unbeholfen. Es fiel mir zum Beispiel leichter, mit dem Wasserkanister umzugehen, und wenn ich den Verschluß auf den Boden legte, blieb mir die Frustration erspart, daß ich das verflixte Ding nicht wiederfand, nachdem ich ge trunken hatte. Jetzt griff ich automatisch dorthin, wo ich den Verschluß ursprünglich abgelegt hatte. Auch geistig lastete die Dunkelheit nicht mehr so schwer auf mir. Auf dem Boot hatte ich sie gehaßt, und von all den elenden Aspekten, die eine neuerliche Gefangenschaft bereithielt, war es der Gedanke, abermals ins Dunkle ge sperrt zu werden, der mich am meisten erschreckt hatte. Ich haßte die Dunkelheit immer noch, aber die Beklem mung, die anfänglich von ihr ausgegangen war, hatte an Schwere verloren. Ich stellte fest, daß ich nicht mehr be fürchtete, die Dunkelheit an sich könne mich verrückt ma chen. Den Vormittag verwandte ich darauf, über mögliche Gründe für meine Entführung nachzudenken, und am Nachmittag machte ich mir aus in Reihen angeordneten Käsepäckchen einen Abakus und stellte verschiedene ma thematische Berechnungen an. Ich wußte, daß andere Menschen in Einzelhaft sich mit dem Wiederholen von Versen beschäftigt hatten, aber mir war es immer leichter gefallen, in Zahlen und Symbolen zu denken; außerdem hatte ich nicht genug Worte auswendig gelernt, als daß sie mir im Augenblick von Nutzen sein konnten. Eene meene miste hatte seine Grenzen. 178
Die Montagnacht kam und ging. Nach dem Aufwachen deponierte ich ein weiteres Käsepäckchen in der vorderen rechten Ecke und beugte Arme und Beine, die nicht mehr so weh taten, als daß es sich nicht gelohnt hätte. Den Dienstagvormittag verwandte ich auf körperliche Ertüchtigung und auf die Suche nach weiteren Gründen für meine Entführung; am Dienstag nachmittag tastete ich mich vorsichtig um den Abakus herum, erweiterte ihn und steigerte damit seine Rechenkapazität. Am Dienstag abend saß ich da, die Arme um die Knie geschlungen, und dachte deprimiert darüber nach, daß es ja schön und gut war, wenn ich mir vornahm, tapfer und entschlossen zu sein, daß ich mich in Wirklichkeit aber alles andere als tapfer und entschlossen fühlte. Drei Tage seit meinem Dinner mit Jossie. Nun ja … zu mindest konnte ich jetzt an sie denken, etwas, das ich auf dem Boot noch nicht gehabt hatte. Wieder war es Zeit einzudösen. Ich legte mich hin und ließ mich stundenlang vom Schlaf umspülen und betrach tete diese Stunden als Dienstagnacht. Mittwoch tastete ich den Lieferwagen auf der Suche nach einem möglichen Ausweg zum zwanzigsten Mal Zentime ter um Zentimeter ab. Und zum zwanzigsten Mal fand ich keinen Ausweg. Es gab keine Riegel zu öffnen. Keine Hebel. Es gab nichts. Keinen Ausweg. Ich wußte es, konnte aber nicht aufhören zu suchen. Mittwoch war der Tag, an dem ich in Ascot Tapestry rei ten sollte. Ob nun deswegen oder einfach weil mein Kör per annähernd wieder in Normalform war, jedenfalls ver ging die Zeit langsamer denn je. Ich pfiff und sang und fühlte mich rastlos und wünschte mit Inbrunst, genug Platz zu haben, um mich aufrichten zu 179
können. Wenn ich die Wirbelsäule durchstrecken wollte, mußte ich mich flach auf den Rücken legen; eine andere Möglichkeit hatte ich nicht. Ich spürte, wie meine hart er strittene Ruhe ganz allmählich abzubröckeln begann, und es kostete mich beträchtliche Anstrengung, mich weiter mit dem Käsepäckchenrechenschieber zu beschäftigen. Am Mittwoch verlor ich das Gefühl dafür, ob es gerade Mittag oder Abend war, und die Vorstellung, daß noch Ta ge um Tage dieser Art der Existenz vor mir lagen, war demoralisierend. Verdammt, dachte ich sarkastisch. Bleib ruhig. Immer schön einen Tag nach dem anderen. Einen Tag, eine Stunde, eine Minute – immer eins nach dem an deren. Ich aß etwas Käse und fühlte mich schläfrig, und damit war der Mittwoch endlich geschafft. Am Donnerstag hörte ich gegen Mittag ein Geräusch. Ich konnte es nicht glauben. Ein fernes Klicken und ein knirschendes Geräusch. Ich lag auf dem Rücken, fuhr mit den Beinen Fahrrad und sprang gewissermaßen in voller Fahrt ab, indem ich auf die Knie ging und zu den Hintertüren kroch. Ich schob die Leinwand von einem der Fenster weg und schrie aus Leibeskräften. »He … he … hierher.« Dann hörte ich Schritte; Schritte, die von mehr als zwei Füßen kamen. Leise Schritte, aber in dieser gewaltigen To tenstille ziemlich deutlich. Ich schluckte. Wer es auch sein mochte, es hatte keinen Sinn, sich ruhig zu verhalten. »He«, rief ich noch mal. »Hierher.« Die Schritte hielten inne. Eine Männerstimme ertönte, dicht beim Lieferwagen und sehr laut. 180
»Sind Sie Roland Britten?«
»Ja …«, sagte ich schwach. »Wer sind Sie?«
»Polizei, Sir«, sagte er.
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ie brauchten ein ganzes Weilchen, um mich rauszuho len, weil sie, wie die körperlose Stimme mir erklärte, zum Zwecke künftiger Strafverfolgung Fotografien und Notizen machen mußten. Dann war da natürlich noch die Sache mit den Fingerabdrücken, die eine weitere Verzöge rung bedeuten würde. »Und wir können Sie nicht rausholen, ohne den Wagen zu bewegen, Sir«, sagte die Stimme. »Er steht nämlich di rekt an einem gemauerten Pfeiler, und wir können die Hin tertüren nicht öffnen. Obendrein sind beide Türen der Fah rerkabine abgeschlossen, die Bremse ist angezogen, und in der Zündung steckt kein Schlüssel. Wenn Sie also noch etwas Geduld haben könnten, Sir, holen wir Sie raus, so bald wir können.« Er hörte sich an, als beruhige er ein kleines Kind, das je derzeit alles zusammenschreien konnte. Wenn er nur ge wußt hätte, wie leicht es mir fiel, geduldig zu sein. Nach einer Weile vernahm ich noch weitere Stimmen, und von Zeit zu Zeit fragten sie mich, ob ich klarkäme, und ich bejahte; schließlich ließen sie den Motor des Wa gens an, fuhren ihn einige Meter weiter und zogen die Leinwandhülle herunter. Die Rückkehr des Augenlichts war ein besonderes Er lebnis. Die beiden kleinen Fenster erschienen als graue Rechtecke, und ich hatte Mühe, sie deutlich zu erkennen. Ein Gesicht schaute herein, rund und gesund, fragend und besorgt, und obendrauf eine Uniformmütze. 182
»Jetzt können wir Sie im Handumdrehen rausholen, Sir«, sagte es. »Wir haben bloß ein paar Probleme mit diesen Türen, da die Griffe unbrauchbar gemacht worden sind.« »Schön«, sagte ich vage. Das Licht war immer noch ziemlich schwach, aber für mich ein Luxus wie kein zwei ter auf Erden. Eine halb vergessene Freude neu entdeckt. Wie ein Wiedersehen mit einem toten Freund. Vertraut, verloren, kostbar und neu geschenkt. Ich saß auf dem Boden und sah mich in meinem Ge fängnis um. Es war kleiner, als ich mir vorgestellt hatte: eng und beklemmend, jetzt, da ich die mich umschließen den grauen Wände sehen konnte. Der Wasserkanister war aus weißem Plastik mit einem roten Schraubverschluß. Die Einkaufstüte war braun, wie ich es mir vorgestellt hatte. Der kleine, aus fünf leeren Päckchen bestehende Kalenderstapel lag in seiner Ecke und die langsam verkrustenden Käsestücke meiner Re chenmaschine in einer anderen. Sonst war nichts da außer mir und Staub. Schließlich öffneten sie die Türen und halfen mir hinaus; dann machten sie sich Notizen und schossen Fotos von meinem Gefängnis. Ich stand ein oder zwei Schritte ab seits und sah mir neugierig meine Umgebung an. Der Lieferwagen war tatsächlich der weiße Wagen aus Cheltenham oder sein genaues Ebenbild. Ein alter Ford. Keine Steuermarke, keine Nummernschilder. Die Lein wand, die den Wagen verdeckt hatte, war eine riesige, schmutzige, dunkelgraue Plane, wie man sie zum Abdek ken von Lastwagenladungen benutzt. Man hatte den Lie ferwagen darin eingewickelt wie ein Päckchen und mit Leinen verschnürt, die durch Ösen an den Rändern der Plane gezogen worden waren. Der Lieferwagen, die Polizei und ich befanden uns alle in einem Gebäude von ungefähr dreißig Metern im Qua 183
drat. An sämtlichen Wänden waren in großen, unförmigen Stapeln staubbedeckte, nicht identifizierbare Bündel, graue Kisten und etwas, das nach Sandsäcken aussah, aufge häuft. Einige der Stapel reichten bis zu der niedrigen, fla chen Decke hinauf, die von vier stabilen Steinpfeilern ge stützt wurde. An einem dieser Pfeiler in dem kleinen freien Bereich in der Mitte hatte man den Lieferwagen verkeilt. »Was ist das für ein Bau?« fragte ich den Polizisten ne ben mir. »Sind Sie unversehrt und gesund, Sir?« fragte er. Er schauderte leicht. »Es ist kalt hier drin.« »Ja«, sagte ich. »Wo genau sind wir hier eigentlich?« »Das war früher einer der Läden, in denen überschüssi ges Material der Armee verkauft wurde. Ist jedoch seit ei ner Weile pleite, und der ganze Mist ist noch nicht wegge räumt worden.« »Oh. Hm … wo liegt das Gebäude denn?« »Am Ende der Schienen einer ehemaligen Eisenbahnne benlinie.« »Ja«, sagte ich entschuldigend. »Aber in welcher Stadt?« »Hm?« Er sah mich überrascht an. »In Newbury natür lich, Sir.« Die Uhren in der Stadt zeigten auf fünf, als die Polizei mich zum Revier fuhr. Mein Zeitgefühl hatte sich als be merkenswert konstant erwiesen, dachte ich. Es hatte je denfalls viel besser funktioniert als auf dem Boot, wo der Lärm, das Schaukeln und die Übelkeit Unordnung gestiftet hatten. Man gab mir einen Stuhl in dem Büro desselben Polizi sten, mit dem ich schon einmal gesprochen hatte und der keinerlei Bedauern darüber zeigte, daß er meine Behaup tungen anfänglich für übertrieben gehalten hatte. 184
»Wie haben Sie mich gefunden?« fragte ich. Er klopfte sich mit einem Bleistift gegen die Zähne, ein hart arbeitender Detective Inspector, der so aussah, als verdächtige er Unschuldige so lange, bis ihre Schuld er wiesen war. »Bei Scotland Yard ist ein Anruf eingegangen«, sagte er widerstrebend. »Wir brauchen jetzt eine Aussage von Ih nen, Sir, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« »Zuerst hätte ich gern eine Tasse Tee«, meinte ich. Sein Blick wanderte über mein Gesicht und meine Klei dung. Ich muß furchtbar ausgesehen haben. Er brachte beinahe so etwas wie ein Lächeln zustande und erteilte ei nem jungen Constable den entsprechenden Auftrag. Der Tee schmeckte köstlich, obwohl ich behaupten möchte, daß er es nicht war. Ich trank langsam und schil derte dem Polizisten mit recht dürren Worten, was gesche hen war. »Diesmal haben Sie ihre Gesichter also überhaupt nicht zu sehen bekommen?« »Nein«, sagte ich. »Schade.« »Meinen Sie«, sagte ich zaghaft, »daß irgend jemand mich zum Motel zurückbringen könnte, damit ich meinen Wagen dort abholen kann.« »Das ist nicht nötig, Sir«, sagte er. »Ihr Wagen steht ne ben Ihrem Cottage.« »Was?« Er nickte. »Mit einer Menge Dingen darin, die Ihnen ge hören. Koffer. Brieftasche. Schuhe. Schlüssel. Alles im Kofferraum. Ihre Bürogehilfen haben uns am Montag da von verständigt, daß Sie wieder verschwunden waren. Wir haben einen Mann zu Ihrem Cottage geschickt. Er melde te, daß Ihr Wagen dort sei, Sie aber nicht. Wir haben getan, worum Sie uns baten, Sir. Wir haben nach Ihnen gesucht. 185
Das ganze Land hat übrigens nach Ihnen gesucht. Das Mo tel hat uns gestern angerufen, um uns mitzuteilen, daß Sie sich vergangenen Samstag dort angemeldet, das Zimmer dann aber nicht benutzt hätten; abgesehen davon hatten wir nichts in der Hand. Nicht die geringste Spur. Um ehr lich zu sein, wir dachten, man hätte Sie vielleicht wieder mit einem Boot weggeschafft.« Ich trank den Tee aus und dankte ihm dafür. »Würden Sie mich dann wohl zu meinem Cottage fah ren?« Er meinte, das lasse sich arrangieren. Er begleitete mich ins Foyer, um es zu veranlassen. Ein hochgewachsener Mann mit verzweifeltem Ge sichtsausdruck kam von der Straße in das Gebäude geeilt; er riß die Tür weit auf und versuchte hastig, die vielver sprechendste Richtung für seine Vorhaben zu ermitteln. Mein Partner zeigte sich von seiner arrogantesten Seite, und seine tiefe Stimme hallte durch das Foyer, als er nach Information verlangte. »Hallo, Trevor«, sagte ich. »Reg dich nicht auf.« Er hielt mitten in seiner schönsten Vorstellung inne und sah mich an, als wäre ich ein aufdringlicher Fremder. Dann erkannte er mich und musterte meine allgemeine Er scheinung, und sein Gesicht wurde starr vor Schreck. »Ro!« Er schien Probleme mit seiner Stimme zu haben. »Ro, mein lieber Freund. Mein lieber Freund. Ich habe ge rade erst gehört … mein Gott, Ro …« Ich seufzte. »Beruhig dich, Trevor. Alles, was ich brau che, ist ein Rasierapparat.« »Aber du bist so dünn!« Seine Augen verrieten Entset zen. Ich überlegte, daß ich wahrscheinlich erheblich dün ner war als bei unserer letzten Begegnung irgendwann in der verschwommenen, fernen und sicheren Vergangenheit. »Mr. King hat uns schon den ganzen Tag lang unter Be 186
schuß«, sagte der Detective Inspector mit einem Anflug von Ungeduld. »Mein lieber Ro, du mußt unbedingt mit mir kommen. Wir werden schon auf dich aufpassen. Mein Gott, Ro …« Ich schüttelte den Kopf. »Mir geht’s gut, Trevor. Ich bin dir wirklich dankbar, aber ich würde lieber nach Hause fahren.« »Allein?« fragte er voller Angst. »Angenommen … ich meine … glaubst du, du kannst es riskieren?« »O ja«, nickte ich. »Wer immer mich da eingesperrt hat, hat mich auch rausgelassen. Ich denke, es ist alles vorbei.« »Was ist alles vorbei?« »Das«, sagte ich trocken, »ist eine Sache für sich.« Das Cottage umfing mich wie Balsam. Ich nahm ein Bad und rasierte mich, und aus dem Spie gel blickte mir ein graues Gesicht voller ausgezehrter Schatten entgegen. Kein Wunder, daß Trevor so schockiert gewesen war. Nur gut, dachte ich, daß er die zu schwarzen und gelben Flecken verblassenden Prellungen nicht gese hen hatte, mit denen ich von Kopf bis Fuß bedeckt war. Ich zuckte die Achseln und dachte dasselbe wie schon einmal: Nichts, was sich mit ein paar Tagen Freiheit nicht in Ordnung bringen ließe. Ich zog eine Jeans und einen Pulli an und ging auf der Suche nach einem großen Scotch nach unten – und das war der letzte friedliche Augenblick des Abends. Das Telefon klingelte unaufhörlich. Vor meiner Tür er schienen zu meinem Erstaunen Reporter. Eine Fernsehka mera tauchte auf. Als man mein Erstaunen bemerkte, frag te man, ob ich denn nicht die Zeitungen gelesen hätte. »Welche Zeitungen?« Man holte sie hervor und breitete sie aus. The Sporting Life: Die Schlagzeile am Dienstag lautete: ›Wo ist Roland Britten?‹ Gefolgt von einem Artikel über 187
meine Seereise, wie ich sie Freunden geschildert hatte. Man hatte mich seit Towcester nicht mehr gesehen. Freun de machten sich Sorgen. Am Mittwoch Meldungen in allen Tageszeitungen: »Ta pestrys Reiter abermals verschwunden« hieß es in einem der seriöseren Blätter und »Sonntagsreiter zweimal aus dem Verkehr gezogen?« in der Revolverpresse. Am Donnerstag – also heute – zeigten viele Titelseiten ein Bild von mir, breit lächelnd, aufgenommen fünf Minu ten nach dem Gold Cup. »Suchen Sie Roland Britten« ver langte eine Zeitung, und »Angst um das Leben des Jok keys« unkte eine andere. Ich betrachtete sie voller Erstaunen und dachte mit einem Anflug von Ironie an meine früheren Sorgen, daß womöglich überhaupt nie mand nach mir suchte. Wieder klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab und sagte Hallo. »Ro? Sind Sie das?« Die Stimme war frisch und unver kennbar. »Jossie!« »Wo zum Teufel sind Sie gewesen?« »Essen Sie morgen mit mir zu Abend, dann erzähle ich es Ihnen.« »Holen Sie mich um acht ab«, sagte sie. »Was ist das für ein Lärm bei Ihnen?« »Die Presse hat mich in der Mangel«, sagte ich. »Journalisten.« »Ach du liebe Güte.« Sie lachte. »Geht es Ihnen gut?« »Ja.« »Es kam in den Nachrichten, daß man Sie gefunden hat.« »Ich fasse es nicht.« »Ganz große Sache, Kamerad.« Die Spottlust war un überhörbar und deutlich. 188
»Haben Sie das in Gang gesetzt … die ganze Publicity?« fragte ich. »Nicht ich, nein. Moira Longerman. Mrs. Tapestry. Sie hat am Sonntag versucht, Sie zu erreichen, und sie hat es am Montag noch mal in Ihrem Büro versucht. Dort hat man ihr dann gesagt, Sie seien verschwunden und mögli cherweise abermals gekidnappt worden. Also hat sie den Herausgeber der Sporting Life angerufen, der ein Freund von ihr ist und den sie um Hilfe gebeten hat.« »Eine energische Dame«, sagte ich dankbar. »Sie hat Tapestry übrigens gestern nicht laufen lassen. In der Sporting Life stehen ein paar wunderbar rührselige Sätze. ›Wie kann ich mein Pferd laufen lassen, solange Roland verschwunden ist‹ und lauter so Zeug. Dreht ei nem förmlich den Magen um.« »Binny Tomkins’ Magen hat sich bestimmt umgedreht.« Sie lachte. »Ich kann die Wölfe schon nach Ihnen heulen hören. Also dann, bis morgen. Und verschwinden Sie nicht vor acht in der Versenkung.« Ich legte den Hörer wieder auf, aber die Wölfe mußten noch ein Weilchen länger warten, da das Telefon sofort abermals klingelte. Moira Longerman fuhr mit ihrem aufgeregten Geschnat ter durch die Leitung wie ein Stromstoß. »Dem Himmel sei Dank, daß Sie wieder frei sind. Ist es nicht wunderbar? Geht es Ihnen gut? Können Sie am Samstag Tapestry reiten? Erzählen Sie mir alles über die sen schrecklichen Wagen, in dem man Sie gefunden hat … und bitte, mein lieber Roland, ich möchte, daß Sie über haupt nicht hinhören, wenn Binny Tomkins davon redet, Sie seien nach allem, was Sie durchgemacht haben, nicht fit genug zum Reiten.« »Moira«, sagte ich in dem vergeblichen Versuch, ihrem Redefluß Einhalt zu gebieten, »ich bin Ihnen ja so dankbar.« 189
»Mein lieber Junge«, sagte sie, »es hat regelrecht Spaß gemacht, alle Welt zu mobilisieren. Natürlich habe ich mir wirklich furchtbare Sorgen gemacht, daß Ihnen etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte, und es war ganz klar, daß irgend jemand irgend etwas unternehmen mußte, sonst wären Sie womöglich noch wochenlang festgehalten worden, und ich hatte das Gefühl, daß man da am besten ordentlich auf die Pauke haut. Ich dachte, wenn das ganze Land nach Ihnen sucht, würden Ihre Entführer vielleicht kalte Füße bekommen und Sie freilassen, und genau das ist passiert. Also hatte ich recht, und die dumme Polizei lag völlig daneben.« »Welche dumme Polizei?« fragte ich. »Die Leute, die mir gesagt haben, ich würde Sie viel leicht in Gefahr bringen, wenn ich in der Sporting Life von Ihrem neuerlichen Verschwinden berichten ließe. Ich bitte Sie! Die Polizisten meinten, wenn Kidnapper in Pa nik geraten, bringen sie ihr Opfer womöglich um. Aber was soll’s, sie hatten eben unrecht, nicht wahr?« »Glücklicherweise«, pflichtete ich ihr bei. »Also, Sie müssen mir alles erzählen«, sagte sie. »Stimmt es, daß Sie in einem Lieferwagen eingesperrt waren? Was war das für ein Gefühl?« »Es war langweilig«, sagte ich. »Also wirklich, Roland! Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?« »Ich habe am Mittwoch den ganzen Tag an Sie gedacht und mir vorgestellt, wie wütend Sie sein würden, wenn ich in Ascot nicht auftauche.« »Das ist schon besser.« Sie lachte ihr silberhelles La chen. »Das können Sie ja am Samstag wieder gutmachen. Tapestry ist für den Oasthouse Cup in Kempton genannt, obwohl er dort mit Ausgleich G läuft. Deshalb wollten wir ihn ja lieber in Ascot starten lassen. Aber jetzt fahren wir eben nach Kempton.« 190
»Ich fürchte«, sagte ich, »daß Binny recht hat. Diesmal bin ich wirklich nicht fit genug. Ich würde ihn schrecklich gern reiten, aber … hm … im Augenblick hätte ich nicht einmal die Kraft für zwei Runden mit einem Fohlen.« Am anderen Ende der Leitung herrschte ein oder zwei Sekunden lang Schweigen. »Ist das Ihr Ernst?« fragte sie zweifelnd. »Ich sage es nur sehr ungern, aber es ist tatsächlich mein Ernst.« Der Zweifel in ihrer Stimme flaute ab. »Schlafen Sie sich erst mal richtig aus, danach sind Sie bestimmt wieder voll da. Schließlich haben Sie noch fast zwei Tage, um sich zu erholen, und selbst Binny gibt zu, daß Sie für einen Amateur ziemlich zäh sind … ach bitte, Roland, bitte, Sie müssen am Samstag reiten, denn das Pferd strotzt nur so vor Kraft, und die Konkurrenz ist nicht so stark, wie sie es in zwei Wochen beim Whitbread Gold Cup sein wird, und ich spüre es in den Knochen, daß Tapestry dieses Rennen gewinnen wird, aber nicht das andere. Und ich möchte nicht, daß Binny den Ritt einem anderen Jockey gibt, denn um ehrlich zu sein, vertraue ich nur Ihnen, und das wissen Sie. Also, bitte, sagen Sie ja. Ich war so überglücklich, als ich hörte, daß Sie wieder frei wären, so daß Sie am Sams tag reiten können.« Ich rieb mir die Augen. Ich wußte, daß ich nicht zusagen sollte; es war höchst unwahrscheinlich, daß ich in zwei Tagen auch nur fit genug sein würde, um die Bahn auf meinen eigenen Beinen bewältigen zu können, geschweige denn auf einer halben Tonne Vollblutmuskulatur. Aber ihr würde eine Weigerung nach ihrem engagierten Feldzug zu meiner Befreiung wie eine grobe Undankbarkeit erschei nen, und auch ich argwöhnte, daß Tapestry, wenn er als Favorit mit einem anderen, von Binny ausgesuchten Jok key an den Start ging, nicht siegen würde. Und dann war 191
da noch diese heimtückische alte Sehnsucht nach dem Rennen, die allem gesunden Menschenverstand zum Trotz wieder einmal den Kopf hob. Die Vernunft sagte mir, daß ich beim ersten Hindernis vor Schwäche aus dem Sattel kippen würde, und die unwiderstehliche Versuchung eines Ritts in einem weiteren hochkarätigen Hindernisrennen dieser Saison gaukelte mir vor, daß ich es schaffen könnte. »Hm …«, sagte ich zögernd. »Oh, Sie machen es«, sagte sie begeistert. »O Roland, ich bin ja so froh.« »Ich sollte die Finger davon lassen.« »Ich verspreche auch«, sagte sie fröhlich, »wenn wir nicht siegen, werde ich Ihnen keine Vorwürfe machen.« Ich würde mir selbst Vorwürfe machen, dachte ich, und das mit Recht. Am nächsten Morgen ging ich um neun Uhr ins Büro, und Trevor machte erheblich zuviel Aufhebens. »Du brauchst Ruhe, Ro. Du gehörst ins Bett.« »Ich brauche Menschen und Leben und eine Beschäfti gung.« Er saß in dem für meine Klienten vorgesehenen Sessel in meinem Büro und machte ein sorgenvolles Gesicht. Die Sonnenbräune seines Urlaubs stand ihm gut; sie unter strich seine vornehme Ausstrahlung noch. Sein silbergrau es Haar war flauschiger als gewöhnlich, und sein Luxus bauch sah runder aus. »War es schön«, fragte ich, »in Spanien?« »Wie bitte? O ja, wunderbar. Wunderbar. Natürlich nur, bis der Wagen liegenblieb. Und während wir es uns wohl sein ließen, hast du die ganze Zeit …« Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte«, sagte ich trocken, »daß ich mit der Arbeit schrecklich ins Hintertreffen geraten bin.« 192
»Um Himmels willen …« »Ich werde versuchen, möglichst viel wieder aufzuho len«, sagte ich. »Ich wünschte, du würdest es noch ein paar Tage ruhig angehen lassen.« Er sah aus, als sei es ihm ernst damit; in seinen Augen lag ein Ausdruck besorgter Unruhe. »Kei nem von uns ist damit gedient, wenn du zusammen brichst.« Meine Lippen zuckten. Das klang schon eher nach Tre vor. »Ich bin aus Plastilin gemacht«, sagte ich und blieb trotz seines Protests, wo ich war, um mich abermals daran zu machen, die Spur geplatzter Termine wiederaufzunehmen. Mr. Wells befand sich in schlimmerem Zustand denn je, nachdem er irgendwo mit einem Scheck bezahlt hatte, der prompt geplatzt war. Für dieses Vergehen zeichnete sich nun eine Strafverfolgung ab. »Aber Sie wußten doch, daß die Bank ihn nicht einlösen würde«, protestierte ich, als er mir am Telefon von seinen jüngsten Schwierigkeiten erzählte. »Ja … aber ich dachte, vielleicht tun sie’s doch.« Seine Naivität war erschreckend: Derselbe törichte Op timismus, der ihm diesen ganzen Schlamassel überhaupt eingetragen hatte. Er blendete die Realität aus und glaubte an Märchen. Ich hatte andere wie ihn kennengelernt und nie erlebt, daß auch nur einer sich geändert hätte. »Kommen Sie Montag nachmittag in mein Büro«, sagte ich resigniert. »Und wenn Sie noch mal entführt werden?« »Das wird schon nicht passieren«, sagte ich. »Also, Montag um halb drei.« Ich ging mit Debbies Hilfe die Briefe der vergangenen Woche durch und legte die dringlichsten heraus. Als ich sah, was da alles auf mich zukam, machte ich beinahe schlapp. 193
»Wir werden sie am Montag morgen beantworten«, sag te ich. Debbie holte Kaffee und sagte mit lobenswerter Men schenfreundlichkeit, daß ich nicht in der Verfassung sei zu arbeiten. »Haben wir von den Kommissaren die Fristverlängerun gen für die Axwood Stables und Coley Young bekom men?« sagte ich. »Ja, die sind am Mittwoch gekommen.« »Und was ist mit Denby Crests Beglaubigung?« »Mr. King sagte, er würde sich heute vormittag darum kümmern.« Ich rieb mir das Gesicht. Sinnlos, mir etwas vorzuma chen. Wie sehr es mir auch mißfiel, ich fühlte mich jäm merlich schwach. Mein Einverständnis, Tapestry zu reiten, war eine egoistische Narrheit gewesen. Das einzig Ver nünftige war, Moira Longerman augenblicklich anzurufen und abzusagen: Aber wenn es ums Pferderennen ging, war ich noch nie vernünftig gewesen. »Debbie«, sagte ich, »würden Sie bitte ins Archiv im Keller gehen und mir sämtliche alten Akten über Con naught Powys, Glitberg und Ownslow bringen?« »Über wen?« Ich schrieb ihr die Namen auf. Sie warf einen Blick auf den Zettel, nickte und ging. Sticks Elroy rief an; seine Worte ergossen sich in einem Strom zusammenhanglosen, mit schwerem OxfordshireAkzent vorgestoßenen Kauderwelschs über mich. Er war jetzt bei weitem redseliger als beim Dinner in dem Pub, als sein Bulle von Vater ihn überschattet hatte. »Halt!« sagte ich. »Ich habe kein Wort verstanden. Spre chen Sie langsam.« »Ich sagte, daß es mir ja so leid tut, daß man Sie in die sen Wagen gesperrt hat.« 194
»Nun … vielen Dank.« »Mein alter Herr kann das nicht gewesen sein, hören Sie?« Er klang ängstlich und schien weniger selbst über zeugt zu sein als bemüht, mich zu überzeugen. »Glauben Sie?« »Ich weiß, er hat gesagt … hören Sie – hm – er hat den ganzen Abend weitergeschimpft, und ich weiß, daß er ei nen Lieferwagen hat, der im Augenblick irgendwo zur Re paratur steht, weil das Getriebe nicht in Ordnung ist oder irgend etwas, und ich weiß, daß er furchtbar war, und er sagte, Sie gehörten eingesperrt, aber ich glaube nicht, daß er es gewesen ist, wirklich nicht.« »Haben Sie ihn danach gefragt?« erkundigte ich mich neugierig. »Ja.« Er zögerte. »Also … Wir hatten einen ganz fürch terlichen Streit, er und ich.« Eine neuerliche Pause. »Als wir Kinder waren, hat er uns immer viel geschlagen. Mit Riemen, Stiefeln, allem.« Wieder eine Pause. »Ich habe ihn nach Ihnen gefragt … Er hat mir ins Gesicht geschlagen.« »Hm«, sagte ich. »Wie haben Sie sich wegen dieses Geldes entschieden?« »Tja, hm, darum ging es bei unserem Streit nämlich. Ich fand, daß Sie recht hatten, und ich wollte keine Schwie rigkeiten mit dem Gesetz, und Dad ist in die Luft gegan gen und sagte, ich hätte ihm nichts von alledem, was er für mich getan hat, zu danken gewußt. Er sagt, wenn ich die ses Geld angebe und Steuern dafür bezahle, würde er selbst in Schwierigkeiten kommen, und ich glaube, er war so maßlos wütend, daß er zu allem fähig war.« Ich dachte ein wenig nach. »Welche Farbe hat sein Lie ferwagen?« »Weiß, jedenfalls mehr oder weniger. Ein alter Ford.« »Hm. Wann haben Sie sich dazu entschlossen, in diesem Pub zu Abend zu essen?« 195
»Dad ist direkt vom Rennen aus dorthin gefahren, auf einen Drink eigentlich, aber dann rief er an und sagte, man habe dort noch Platz für uns alle, zum Abendessen, und wir könnten die Gelegenheit beim Schopf fassen und mei nen Sieg feiern.« »Hätte er«, sagte ich, »sechzig Pakete Schmelzkäse auf treiben können?« »Worauf wollen Sie hinaus?« Ich seufzte. »Der Käse war in dem Lieferwagen.« »Hm, das kann ich nicht wissen, oder? Ich wohne nicht mehr bei ihm. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß er in einen Supermarkt gehen würde. Frauensache, verste hen Sie?« »Ja. Wenn Sie beschließen sollten, dieses Geld an zugeben, dann könnten davon einige Ausgaben ganz legal als gewinnmindernd abgesetzt werden.« »Verdammte Steuer«, sagte er. »Nimmt einem alles. Ich werde mir jedenfalls nicht noch mal die Seele aus dem Leib schwitzen, um irgendwas auszuhecken. Das ist die Sache, verdammt noch mal, nicht wert.« Er ließ sich einen Termin für die nächste Woche geben, und ich hörte ihn noch ins Telefon brummeln, als ich auf legte. Ich saß da, blickte ins Leere und dachte an Sticks Elroy und seinen gewalttätigen Vater. Schwere Besteuerung war immer kontraproduktiv, und das Land verlor sukzessive immer mehr, je fester es die Schraube anzog. Überstunden und Eigeninitiative lohnten sich nicht mehr. Auswande rung schon. Je höher die Steuern, desto weniger gab es zu besteuern. Es war verrückt. Wenn ich Finanzminister ge wesen wäre, hätte ich Großbritannien zu einem Steuerpa radies gemacht und all die reichen Leute mit offenen Ar men willkommen geheißen, die mitsamt ihrem Geld das Land verlassen hatten. Fünfzig Prozent Steuern auf Mil 196
lionen wären besser für das Land gewesen als achtund neunzig Prozent auf nichts. Wie die Dinge lagen, mußte ich meine Klienten im Einklang mit einer Finanzpolitik beraten, die ich für schlecht hielt; mußte mich an Gesetze halten, die mir unvernünftig erschienen. Wenn der Zorn der Elroys auf das System sich in Beschimpfungen des Steuerberaters Luft machte, der sie zwang, den unerfreuli chen Tatsachen ins Gesicht zu sehen, dann war das keine besondere Überraschung. Ich bezweifelte jedoch, daß selbst Elroy senior so weit gehen würde, handgreiflich zu werden. Es war eins, mich einen Mistkerl zu schimpfen, und etwas ganz, ganz anderes, mich einzusperren. Debbie kam mit einem Armvoll Akten und einem ver wirrten Gesichtsausdruck herein. »Draußen ist eine Dame, die darauf besteht, mit Ihnen zu sprechen. Sie hat keinen Termin, und Mr. King sagte, man dürfe Sie heute auf gar keinen Fall mit irgend etwas aufre gen, aber sie geht einfach nicht. – Oh!« Die in Frage stehende Dame trat in Debbies Schlepptau ins Büro. Groß, dünn, selbstsicher und um die Vierzig. Ich stand auf, lächelte und schüttelte Hilary Margaret Pinlock die Hand. »Das geht schon in Ordnung, Debbie«, sagte ich. »Oh, hm, na gut.« Sie zuckte die Achseln, legte die Ak ten ab und ging hinaus. »Wie geht es Ihnen?« sagte ich. »Nehmen Sie doch Platz.« Margaret Pinlock setzte sich in den Klientensessel und schlug ihre dünnen Beine übereinander. »Sie sehen halb tot aus«, sagte sie. »Eine halb leere Flasche ist immer auch halb voll.« »Und Sie sind Optimist?« »Für gewöhnlich«, sagte ich. 197
Sie trug einen bräunlichgrauen Tweedmantel, dem der sonnenlose Apriltag kein Leben einzuhauchen vermochte. Ihre Augen hinter den Brillengläsern waren klein und leuchtend, und ein korallenfarbener Lippenstift verlieh ih rem Mund ein wenig Wärme. »Ich bin hergekommen, weil ich Ihnen etwas sagen will«, eröffnete sie mir. »Genaugenommen ist es wohl ziemlich viel, was ich sagen will.« »Gutes oder Schlechtes?« »Tatsachen.« »Sie sind doch nicht schwanger?« Sie blickte belustigt auf. »Das weiß ich noch nicht.« »Hätten Sie gern ein Glas Sherry?« »Ja bitte.« Ich stand auf und holte aus einem Aktenschrank eine Flasche und zwei Gläser hervor. Dann reichte ich ihr eine großzügige Portion von Harvey’s Luncheon Dry. »Ich bin gestern nach Hause gekommen«, sagte sie. »Ich habe auf dem Rückweg im Flugzeug von Ihrer neuerlichen Entführung gelesen. Stand ja alles in der Zeitung. Dann hörte ich in den Nachrichten, daß Sie gefunden worden und in Sicherheit seien. Ich dachte, ich rede besser mit Ih nen persönlich, statt mit meiner Information zur Polizei zu gehen.« »Was für eine Information ist das?« fragte ich. »Und wollten Sie nicht schon letzten Samstag nach Hause flie gen?« Sie nippte gelassen an ihrem Sherry. »Ja, das stimmt. Aber ich bin länger geblieben. Ihretwe gen. Es hat mich ein Vermögen gekostet.« Sie sah mich über ihr Glas hinweg an. »Es tat mir leid zu lesen, daß man Sie doch wieder eingefangen hatte. Mir war klar … wie sehr Sie sich davor gefürchtet haben.« »Hm«, sagte ich kläglich. 198
»Ich habe für Sie herausgefunden, was es mit diesem Boot auf sich hatte«, sagte sie. Ich hätte beinahe den Sherry verschüttet. Sie lächelte. »Um genauer zu sein, beziehen sich meine Erkundigungen auf den Mann. Den Mann in dem Beiboot, der Sie gejagt hat.« »Wie?« fragte ich. »Nachdem Sie abgeflogen waren, habe ich einen Wagen gemietet und alle Orte auf Menorca abgefahren, an denen man Yachten festmachen kann. Der nächste brauchbare Hafen von Cala St. Galdana aus war Ciudadela, und ich konnte mir denken, daß das Boot nach Ihrer Flucht dorthin gefahren ist, aber als ich mit meiner Suche anfing, war es dort jedenfalls nicht.« Sie nahm einen Schluck Sherry. »Ich habe einige Engländer auf einer Yacht dort gefragt, und sie sagten, am Abend zuvor sei eine englische Mann schaft auf einem achtzehn Meter langen Boot dort gewe sen; sie hatten die Leute darüber reden hören, ob wohl der Wind für eine Fahrt nach Palma günstig sei. Ich habe sie gebeten, mir den Kapitän zu beschreiben, und sie sagten, ihrer Meinung nach hätte es keinen richtigen Kapitän ge geben, nur einen großen jungen Mann, der einen ziemlich zornigen Eindruck gemacht habe.« Sie hielt inne und dachte nach, bevor sie weiter erklärte: »Sämtliche Yachten in Ciudadela lagen mit dem Heck zum Kai verzurrt, ver stehen Sie. Alle dicht beieinander, Seite an Seite.« »Ja«, sagte ich. »Ich verstehe.« »Also bin ich einfach die ganze Reihe abgegangen und habe überall gefragt. Es waren Spanier, Deutsche, Franzo sen, Schweden … alles mögliche. Den Engländern war die andere englische Mannschaft nur deshalb aufgefallen, weil sie eben Engländer waren, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Durchaus«, sagte ich. 199
»Und auch deshalb, weil es an diesem Abend die größte Yacht im Hafen war.« Sie hielt inne. »Also bin ich, statt am Samstag nach Hause zu fliegen, nach Palma gefahren.« »Eine große Stadt«, sagte ich. Sie nickte. »Ich habe drei Tage gebraucht. Aber ich habe den Namen dieses jungen Mannes in Erfahrung gebracht und noch einiges mehr, was ihn betrifft.« »Wollen wir etwas zu Mittag essen?« fragte ich.
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ir gingen zum La Riviera am Ende der High Street und bestellten dort Moussaka. Das Lokal war wie gewöhnlich voll, und Hilary beugte sich über den Tisch, um sich verständlich zu machen, ohne daß die Nachbarn mithören konnten. In ihrem kräftigen, reizlosen Gesicht spiegelte sich das Interesse und die Energie, die sie um meinetwillen in ihre Suche investiert hatte, und es zeugte von ihrem Selbstbewußtsein, daß sie sich ausschließlich auf das in Frage stehende Thema konzentrierte und nicht auf den Eindruck, den sie als Frau machte. Eine Schuldi rektorin, dachte ich, keine Geliebte. »Sein Name«, sagte sie, »ist Alaistair Yardley. Er ist ei ner von einem ganzen Heer junger Männer, die anschei nend im Mittelmeerraum umherziehen und sich um Boote kümmern, deren Besitzer daheim in England, Italien, Frankreich oder sonstwo sind. Sie leben in der Sonne, am Meer, nehmen Jobs an, wo sie sich ihnen bieten, und füh ren ein merkwürdiges Aussteigerleben, das es aber den Bootsbesitzern ermöglicht, sich ihre nützlichen Dienstlei stungen zunutze zu machen.« »Klingt reizvoll.« »Es sind Gammler«, sagte sie barsch. »Im Augenblick hätte ich nichts dagegen auszusteigen.« »Sie sind aus härterem Holz geschnitzt.« Plastilin, dachte ich. »Erzählen Sie mir mehr über Alaistair Yardley«, sagte ich. 201
»Ich habe mich zwei Tage lang ohne jeden Erfolg umge hört. Meine Beschreibung des Mannes schien auf die Hälf te der Bevölkerung zuzutreffen, und obwohl ich das Boot natürlich gesehen hatte, war ich mir nicht sicher, ob ich es wiedererkennen würde, da ich für solche Dinge kein ge schultes Auge habe. Es gibt zwei große Yachthäfen in Palma, und in beiden liegen die Boote dicht an dicht. Eini ge sind mit dem Heck zum Kai hin festgemacht wie in Ciudadela, aber Dutzende weiterer Boote lagen weiter draußen vor Anker. Ich habe mich von einem Bootsverlei her auf dessen Motorboot durch den ganzen Hafen fahren lassen, aber ohne Ergebnis. Er hat bestimmt gedacht, ich spinne. Ich war dann übrigens auch ziemlich entmutigt und sah meiner Niederlage bereits ins Auge, als er – also der Bootsverleiher – sagte, es gäbe weniger als eine Tage reise über See entfernt noch einen kleinen Hafen und war um ich nicht dort nachsähe. Also habe ich mir am Mitt woch ein Taxi genommen und bin in den Hafen von Andraitx gefahren.« Sie hielt inne, um etwas von ihrer Moussaka zu essen, die gerade gebracht worden war und einfach köstlich roch. »Essen Sie«, sagte sie, während sie eine dritte gut bela dene Gabel zum Mund führte, und zeigte auf meinen im mer noch vollen Teller. »Ja«, sagte ich. Es war die erste ordentliche Mahlzeit, die ich seit meinem Dinner mit Jossie in Angriff nahm, und ich hätte vollkommen ausgehungert sein müssen. Statt dessen schien die Käsediät eine verheerende Wirkung auf meinen Appetit gehabt zu haben, und ich stellte fest, daß ich kaum etwas herunterbekam. Ich war außerstande ge wesen, irgend etwas zum Abendessen zu mir zu nehmen, nachdem die Journalisten am Abend zuvor endlich gegan gen waren, und beim Frühstück heute morgen war es mir kaum besser ergangen. 202
»Erzählen Sie mir von Andraitx«, sagte ich. »Gleich«, sagte sie. »Ich möchte dieses wunderbare Ge richt nicht kalt werden lassen.« Sie aß mit Genuß und mißbilligte meine erfolglosen Versuche, es ihr gleichzutun. Ich mußte auf die nächste Fortsetzung der Geschichte war ten, bis sie den letzten Krümel aufgegessen und ihre Gabel beiseite gelegt hatte. »War das gut!« sagte sie. »Ein richtiges Festessen.« »Andraitx«, sagte ich. Sie lachte leise. »Also gut. Andraitx. Gemessen an Pal mas Maßstäben klein, aber größer als Ciudadela. Die klei nen Häfen sind die Übrigbleibsel dessen, was die Insel früher war. Mit alten Häusern … Dort gibt es keine neuen Hotels wie das Ritz, denn es gibt da auch keine Strände. Tiefes Wasser, felsige Klippen und so weiter. Ich habe in dieser Woche so viel mehr über die Inseln erfahren, als es der Fall gewesen wäre, wenn ich in Cala St. Galdana ge blieben und letzten Samstag nach Hause geflogen wäre. Die Insel hat eine blutige Geschichte von Schlachten und Belagerungen und Invasionen. Eine furchtbar gewalterfüll te Geschichte. Man mag jetzt darüber stöhnen, daß sie sich in ein Touristenparadies verwandelt hat, aber die lärmen de, moderne Zivilisation muß allemal besser sein als die mörderische Vergangenheit.« »Meine liebste Hilary«, sagte ich. »Lassen Sie den Vor trag weg, und kommen Sie zum Kern der Sache.« »Es war die größte Yacht in Andraitx«, sagte sie. »Ich war beinahe sofort ganz sicher, und dann sah ich den jun gen Mann auf dem Kai, nicht weit entfernt von der Stelle, an der ich den Taxifahrer entlohnte. Er kam aus einem Ge schäft und ging über die große, freie Fläche zwischen den Gebäuden und dem Wasser. Er trug eine schwere Kiste mit Vorräten. Die setzte er dann am Rand der Kaimauer ab – neben diesem schwarzen Gummiboot, mit dem er in Cala 203
St. Galdana ans Ufer gekommen war. Dann verschwand er wieder; er ging eine Straße hinauf, die vom Kai wegführte. Ich bin ihm nicht direkt gefolgt, sondern habe ihn einfach im Auge behalten. Er ging zu einem Hauseingang ein klei nes Stück weiter die Straße hinauf und kam kurze Zeit darauf mit einem in Plastik gewickelten Bündel zurück. Dann lief er wieder zu dem Boot hinunter, lud die Kiste und das Bündel ein und fuhr zu seiner Yacht hinüber.« Der Kellner kam, um unsere Teller abzuräumen und uns nach Dessert, Käse und Kaffee zu fragen. »Käse«, entschied sich Hilary. »Nur einen Kaffee«, sagte ich. »Sprechen Sie weiter.« »Nun … ich ging also in den Laden, aus dem er gekom men war, und erkundigte mich nach ihm, aber die Leute dort sprachen nur spanisch, und das verstehe ich nicht. Al so bin ich die Straße hinauf zu dem Haus gegangen, in dem er für kurze Zeit verschwunden war, und da habe ich dann den Jackpot geknackt.« Sie hielt inne, um sich ein wenig Käse aus einer Auswahl auf einem Brett abzuschneiden. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis ich selbst das Zeug wieder ge nießbar fand. »Es war eine Wäscherei«, sagte sie. »Ganz weiß und luf tig. Und sie wurde von einem englischen Ehepaar betrie ben, das ursprünglich in Mallorca Ferien gemacht und sich dann in die Insel verliebt hatte. Ein nettes Paar. Freund lich, glücklich, fleißig und sehr, sehr hilfsbereit. Sie kann ten den jungen Mann ziemlich gut, sagten sie, weil er im mer seine Wäsche brachte, wenn er in Andraitx war. Sie waschen dauernd die Wäsche für die Leute von den Boo ten. Man bekommt dort einen Sack schmutziger Wäsche binnen eines halben Tags gewaschen und gebügelt.« Sie aß ein Brötchen und etwas Käse, und ich wartete. »Alaistair Yardley«, sagte sie. »Die Leute von der Reini 204
gung meinten, er sei ein guter Segler. Besser als die mei sten seinesgleichen. Er bringt häufig Yachten von einem Ort zum anderen, damit sie dort verfügbar sind, wo der Besitzer sie gerade haben will. Er kann mit großen Booten umgehen und ist bekannt dafür. Er segelt vier- oder fünf mal im Jahr nach Andraitx, und vor drei Jahren hatte er noch eine Wohnung dort, die er als Stützpunkt benutzte. Die Leute von der Reinigung meinten, sie wüßten im Grunde nicht viel von ihm, nur daß sein Vater auf einer großen Werft arbeitete. Er hatte ihnen einmal erzählt, daß er segeln gelernt habe, sobald er laufen konnte, und seine erste bezahlte Arbeit war ein Job als Mitsegler bei einer Hochseeregatta. Davon abgesehen hätte er nicht viel von sich oder seinem derzeitigen Arbeitgeber erzählt, und die von der Reinigung wußten auch von sich aus nichts, weil sie zwar gern ein Schwätzchen hielten, aber ihre Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten steckten.« »Sie sind wunderbar«, sagte ich. »Hm. Ich habe einige Fotos von dem Boot gemacht und sie bei einem 24-Stunden-Service entwickeln lassen.« Sie öffnete ihre Handtasche und zog ein gelbes Päckchen her aus, das neben Urlaubsansichten drei gestochen scharfe Farbfotografien von meinem ersten Gefängnis enthielt. Drei verschiedene Ansichten, aufgenommen, als das Boot sich mit der Flut drehte. »Sie können sie haben, wenn Sie wollen«, sagte sie. »Ich könnte Sie küssen.« Ihr Gesicht leuchtete vor Belustigung auf. »Wenn Sie das Päckchen weiter durchsehen, werden Sie ein ziemlich schlechtes Bild von Alaistair Yardley finden. Ich habe den Apparat nicht richtig scharf gestellt. Ich war ein wenig in Eile, und er kam mit seiner Wäsche auf mich zu, und ich wollte ihn nicht wissen lassen, daß ich ein Foto von ihm persönlich machte. Ich mußte so tun, als interessierte mich 205
eine allgemeine Ansicht des Hafens, daher ist die Auf nahme leider nicht besonders gut geworden.« Sie hatte ihn von der Taille aufwärts geknipst, und das Bild war, wie sie gesagt hatte, leicht unscharf, aber für jeden, der ihn kannte, immer noch erkennbar. Er blickte ge radeaus, wenn auch nicht in die Kamera, und hatte ein weiß verpacktes Bündel unterm Arm. Trotz der ver schwommenen Umrisse verliehen die unnachgiebigen Konturen seiner Knochen seinem Gesicht Stärke und Här te, einen Ausdruck aggressiver Entschlossenheit. Ich dach te, daß ich ihn vielleicht gemocht hätte, wenn wir uns un ter anderen Umständen begegnet wären. »Werden Sie mit den Fotos zur Polizei gehen?« fragte Hilary. »Keine Ahnung.« Ich dachte darüber nach. »Könnten Sie mir die Negative leihen, damit ich weitere Abzüge machen lassen kann?« »Suchen Sie sie raus, und nehmen Sie sie an sich«, sagte sie. Das tat ich, und wir ließen uns reichlich Zeit mit dem Kaffee. »Ich nehme an«, sagte sie, »daß Sie ein- oder zweimal über … über unsere gemeinsame Zeit nachgedacht ha ben?« »Ja.« Sie sah mich mit einem Lächeln in den bebrillten Augen an. »Bedauern Sie es?« »Natürlich nicht. Und Sie?« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist vielleicht noch zu früh, um es zu sagen, aber ich glaube, es hat wahrscheinlich mein ganzes Leben verändert.« »Wie ist das möglich?« fragte ich. »Ich denke, Sie haben in mir eine gewaltige geistige Energie freigesetzt. Ich wurde von Gefühlen der Unwis 206
senheit, ja sogar der Unterlegenheit gehemmt. Diese Ge fühle sind jetzt vollkommen verschwunden. Meine Treib stofftanks sind jetzt voll, ich bin bereit abzuheben.« »Wohin?« fragte ich. »Was gibt es Höheres als den Po sten einer Direktorin?« »Nichts Meßbares. Aber meine Schule wird besser wer den, und dann gibt es da noch Dinge wie Macht und Ein fluß und das Ohr derer, die in der Politik bestimmen.« »Miss Pinlock wird ein Machtfaktor im Land sein?« »Das bleibt abzuwarten«, sagte sie. Ich dachte an die Zeit zurück, als ich zum ersten Mal mit einem Mädchen geschlafen hatte; ich war achtzehn gewe sen und überaus erleichtert herauszufinden, wovon alle Leute geredet hatten, aber ich konnte mich nicht daran er innern, daß dieses Gefühl von einer Aufwallung von Machtbewußtsein begleitet worden wäre. Vielleicht war mir das Wissen zu mühelos und zu früh in den Schoß ge fallen. Wahrscheinlicher war jedoch, daß ich nie das Pin lock-Potential besessen hatte. Ich beglich die Rechnung und ging auf die Straße hin aus. Die Aprilluft war kalt, wie sie es während der ganzen letzten Woche gewesen war, und Hilary schauderte leicht in ihrem Mantel. »Das ist das Dumme bei warmen Räumen … das Leben fällt gleich über einen her, wenn man wieder rauskommt.« »Bildlich gesprochen?« fragte ich. »Natürlich.« Wir traten den Rückweg zum Büro an, gingen die High Street entlang an den Läden vorbei. Die Leute huschten wie Bienen am Eingang eines Bienenstocks zwischen Bürgersteig und Ladentüren hin und her. Das vertraute Straßenbild schien mir nach den vergangenen drei Wochen oberflächlich und unwirklich. Wir kamen an eine Bank. Es war nicht die, bei der ich mein Konto hatte, und auch nicht 207
die, die unser Geschäftskonto führte, sondern eine, die viele unserer Klienten als Kunden hatte. »Würden Sie wohl einen Augenblick warten?« fragte ich. »Mir sind in dieser Woche ein oder zwei Dinge durch den Kopf gegangen … ich möchte nur schnell etwas über prüfen.« Hilary lächelte und nickte wohlgemut und wartete ohne Kommentar, während ich schnell meine Besorgung erle digte. »Alles in Ordnung?« sagte ich, als ich mich wieder zu ihr gesellte. »Bestens«, sagte sie. »Wo befand sich eigentlich dieser Lieferwagen, in dem Sie gefangengehalten wurden?« »In einem Lagerhaus.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr. »Wollen Sie es sehen? Ich wollte es mir ohnehin noch mal ansehen.« »Also gut.« »Mein Wagen steht hinter dem Büro.« Wir gingen weiter und kamen an einem kleinen, sympa thisch wirkenden Bekleidungsgeschäft vorbei. Ich warf ei nen müßigen Blick in das Schaufenster, ging zwei Schritte weiter und blieb dann stehen. »Hilary …« »Ja?« »Ich möchte Ihnen etwas schenken.« »Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte sie. Nur unter Protest betrat sie das Geschäft, und erst ein Blick auf das, was ich ihr kaufen wollte, ließ sie verstum men: das Kleidungsstück, das ich im Fenster gesehen hat te; einen langen, gewagten, scharlachroten Umhang. »Probieren Sie ihn an«, sagte ich. Kopfschüttelnd zog sie den faden Tweedmantel aus und ließ sich von der jungen Verkäuferin das leuchtende, schwingende Cape über die Schultern legen. Dann stand 208
sie unbeweglich da, während das Mädchen die Knöpfe schloß und den hübschen Kragen zurechtzog. Schließlich betrachtete sie sich im Spiegel. Von der Ente zum Schwan, dachte ich. Sie sah imposant und prachtvoll aus; die Verwandlung einer ehemals reizlo sen Frau. Durch ihre Größe bildeten sich dramatische Fal ten im Wurf der leuchtendroten Wolle. »Raketen«, sagte ich, »werden von Flammen angetrie ben.« »Sie können mir das unmöglich kaufen.« »Warum nicht?« Ich stellte der Verkäuferin einen Scheck aus, und aus nahmsweise einmal schien Hilary sprachlos zu sein. »Lassen Sie es an«, sagte ich. »Es sieht wunderbar aus.« Das Mädchen packte den alten Mantel in eine Trageta sche, und wir setzten den Weg zum Büro fort. Die Leute sahen Miss Pinlock im Vorübergehen auf eine Weise an, wie sie es zuvor nicht getan hatten. »Dazu gehört Mut«, sagte sie und hob das Kinn. »Der gehört zu Jungfernflügen immer.« Sie dachte sofort an die Nacht in Cala St. Galdana. Ich sah es ihren Augen an. Sie lächelte still und richtete sich bis zu ihrer vollen Größe auf. Nichts auszusetzen an dem PinlockNervenkostüm, weder damals noch sonst irgendwann. Von vorne sah das Lagerhaus klein und baufällig aus; sei ne Farbe blätterte ab wie weißer Schorf, und darunter wurden ungleichmäßige graue Narben sichtbar. Ein ange schraubtes Schild bot neunhundertfünfundsiebzig Qua dratmeter zur Vermietung an, aber nach dem fahlen, vom Alter gezeichneten Schild zu urteilen schienen die Kunden nicht gerade Schlange gestanden zu haben. Es war ein freistehendes Gebäude am Ende einer Neben straße, die jetzt nirgendwohin mehr führte, eine Folge der 209
Stillegung der Eisenbahnstrecke und der anschließenden radikalen Umgestaltung der Landschaft zu Autobahnen und Umgehungsstraßen. Man kam durch eine kleine Tür hinein, die in ein großes Rolltor eingelassen war; beide waren unverschlossen. Die Schlösser schienen sogar zerschmettert worden zu sein, aber in lange zurückliegenden Zeiten. Das ringsum zersplit terte Holz war verwittert, mit den Jahren grau geworden. Ich drückte für Hilary die kleinere Tür auf, und wir tra ten ein. Als die Tür hinter uns zuschwang, war die Dun kelheit genauso blendend wie ein Übermaß an Licht; ich stellte die Tür mit einem Stein auf, aber trotzdem verfolg ten uns Schatten auf Schritt und Tritt. Es lag auf der Hand, warum die Vandalen es dabei hatten bewenden lassen, die Türen aufzubrechen. Alles dahinter war mit einer so dik ken Staubschicht überzogen, daß jeder Tritt gegen irgend einen Gegenstand eine erstickende Wolke aufgewirbelt hätte. Geräusche wurden sofort verschluckt, als saugten die hohen, verfaulenden Müllhaufen jeden Schall auf, bevor er auch nur einen Meter weit kam. Auf der kleinen, freien Fläche in der Mitte rief ich »Hey«, und es schien kaum über meine eigene Kehle hin auszureichen. »Es ist kalt hier drin«, sagte Hilary. »Kälter als drau ßen.« »Ich glaube, das hängt irgendwie mit den Entlüftungs ziegeln zusammen«, sagte ich. »Ein Luftzug, der Staub einläßt und die Temperatur drückt.« Unsere Stimmen hatten keinen Widerhall. Wir gingen das kurze Stück zu dem weißen Lieferwagen hinüber, ne ben dem ein unförmiges Gebilde lag – die dunkle Plane. Nachdem unsere Augen sich an das schwache Licht ge wöhnt hatten, blickten wir in den Lieferwagen hinein. Die 210
Polizei hatte den Wasserkanister und den Beutel mit Käse mitgenommen, so daß der Wagen leer war. Es war eine enge Zelle. Schmutzig und hart. »Und da drin haben Sie fast eine Woche zugebracht«, sagte Hilary ungläubig. »Fünf Nächte und viereinhalb Tage«, sagte ich. »Wir wollen nicht übertreiben.« »Nein, natürlich nicht«, sagte sie trocken. Ein oder zwei Minuten lang sahen wir uns den Liefer wagen an, dann begann die tote Kälte dieses Orts in unser Gehirn zu dringen. Ich schauderte leicht und ging davon, durch die Tür hinaus an die lebendige Luft. Hilary folgte mir und trat den Türstopper weg. Die Tür, von der die Farbe abblätterte, fiel ins Schloß. »Haben Sie letzte Nacht gut geschlafen?« fragte sie be kümmert. »Nein.« »Alpträume?« Ich blickte in den grauen Himmel hinauf und atmete in tiefen, genießerischen Zügen ein. »Hm … Träume«, sagte ich. Sie schluckte. »Warum wollten Sie noch einmal hierherkommen?« »Um den Namen des Maklers festzustellen, der dieses Lagerhaus feilbietet. Er steht auf dem Schild. Als mich die Polizei gestern von hier wegbrachte, habe ich nicht auf allzuviel achtgegeben.« Sie befreite sich mit einem kleinen, explosiven Lachen von ihrer Anspannung. »Sehr praktisch gedacht!« »Wer auch immer den Lieferwagen da reingestellt hat, wußte von der Existenz dieses Hauses«, sagte ich. »Ich wußte nichts davon, und ich lebe jetzt sechs Jahre hier in Newbury.« »Überlassen Sie das der Polizei«, sagte sie ernst. »Schließlich hat die Sie ja auch gefunden.« 211
Ich schüttelte den Kopf. »Irgend jemand hat Scotland Yard angerufen und sie über meinen Aufenthaltsort infor miert.« »Überlassen Sie es der Polizei«, bedrängte sie mich. »Das ist jetzt nicht mehr Ihre Sache.« »Ich weiß nicht. Um es bildlich zu sagen, schwimmt hier ein riesiger Eisberg umher, und dieser Lieferwagen ist nur die Spitze davon.« Wir stiegen in mein Auto, und ich fuhr sie zurück zu dem Parkplatz in der Stadt, auf dem sie ihren eigenen Wa gen abgestellt hatte. Sie stand groß und schlank in ihrem scharlachroten Umhang daneben und angelte in ihrer Handtasche nach einem Stift und einem Notizbuch. »Hier«, sagte sie, während sie schrieb. »Das ist meine Adresse und meine Telefonnummer. Sie können jederzeit kommen. Möglich, daß Sie …«, sie hielt einen Augenblick lang inne, »… ein sicheres Versteck brauchen.« »Darf ich auch kommen, wenn ich einen Rat brauche?« fragte ich. »Sie können kommen, ganz egal, was Sie brauchen.« Ich lächelte. »Nein«, sagte sie. »Deswegen nicht. Ich will eine Erin nerung, keine Gewohnheit.« »Nehmen Sie die Brille ab«, bat ich. »Damit ich Sie besser sehen kann?« Mit fragendem Blick tat sie, worum ich sie gebeten hatte. »Warum tragen Sie eigentlich keine Kontaktlinsen?« fragte ich. »Ohne Brille sind Ihre Augen einfach toll.« Auf dem Rückweg ins Büro machte ich Halt, um etwas zu essen zu kaufen, und zwar aufgrund der Erkenntnis, daß ich mir unbedingt wieder einen Vorrat von Dingen zulegen mußte, die ich gerne aß; ansonsten würde ich nie zu mei nen normalen Eßgewohnheiten zurückfinden. Außerdem 212
ließ ich mir von Hilarys Negativen bei einem Eilservice Abzüge machen, so daß es fast fünf war, bis ich im Büro war. Debbie und Peter hatten wie jeden Freitagnachmittag das Weite gesucht – Zahnärzte und Kurse waren dafür nur ex emplarische Gründe von vielen. Der Einfallsreichtum, den sie dabei im Laufe der Jahre gezeigt hatten, wäre, auf ihre Arbeit verwandt, durchaus wertvoll gewesen: Aber ich wußte aus Erfahrung, daß es keinen Sinn hatte, sie zwangsweise bis fünf Uhr dazubehalten; nach Viertel nach vier waren sie mir ohnehin nicht mehr von Nutzen. Beth, die von den beiden angesteckt worden war, hatte bereits ihre Schreibmaschine zugedeckt und war eifrig damit be schäftigt, neues Make-up über das alte aufzutragen. Beth, achtzehn und kurvenreich, betrachtete die Arbeit als lang weilige Unterbrechung ihres Geschlechtslebens. Sie schenkte mir ein strahlendes Lächeln, fuhr sich mit der Zunge über den frischen, glitzernden Lippenstift und ließ auf dem Weg zur Kurzweil des Wochenendes provokativ die Hüften kreisen. Aus Trevors Büro kamen Stimmen. Trevors laute Stim me in kurzen Sätzen und die leiseren Töne eines Klienten in langen Abschnitten. Ich räumte meinen eigenen Schreibtisch auf und trug die Akten Glitberg, Ownslow und Connaught Powys auf dem Weg zum Auto in das äußere Büro. Plötzlich wurde die Tür von Trevors Raum geöffnet, und ich sah Trevor und seinen Klienten, wie sie sich herzlich die Hände schüttelten. Der Klient war Denby Crest, der Anwalt, ein kleiner, dicker Mann mit steifem Schnurrbart und ständig gereizt zuckenden Mundwinkeln. Selbst wenn er einen persönlich anlächelte, vermittelte er den Eindruck, daß er sich über den Zustand der Dinge im allgemeinen ärgerte. Viele sei 213
ner eigenen Klienten interpretierten dies als Mitleid für ih re eigenen Schwierigkeiten, was ein Irrtum war. »Ich werde dafür sorgen, daß Sie es nicht bereuen, Tre vor«, sagte er. »Ich werde Ihnen ewig dankbar sein.« Plötzlich sah Trevor mich; er starrte mich ausdruckslos an. »Ich dachte, du wärst nach Hause gegangen, Ro«, sagte er. »Ich wollte einige Akten holen«, sagte ich und warf ei nen Blick auf die Ordner in meinen Armen. »Guten Tag, Denby.« »Guten Tag, Roland.« Er nickte mir kurz zu und schoß eilig auf die Außentür zu; selbst für seine Verhältnisse ein schroffer Abgang. Ich sah seinem schnell entschwindenden Rücken nach und bemerkte zu Trevor: »Hast du sein Gutachten unterschrie ben? Er sagte, er wolle auf deine Rückkehr warten.« »Ja, das hab ich erledigt«, sagte Trevor. Auch er zeigte keine Neigung zu einem gemütlichen Plauderstündchen und wandte sich von mir ab und seinem eigenen Schreib tisch zu. »Was habe ich falsch gemacht?« fragte ich. »Bei mir kamen immer fünfzigtausend Pfund zu wenig raus.« »Dezimalkomma an der falschen Stelle«, sagte er knapp. »Laß mal sehen«, sagte ich. »Nicht jetzt, Ro. Es wird Zeit, Feierabend zu machen.« Ich legte die Akten auf Beths Schreibtisch und ging in Trevors Büro. Es war größer als meins und viel ordentli cher; außerdem reihten sich hier auch keine wartenden Pappkartons an der Wand auf. Es standen drei Sessel für Klienten bereit, an den Wänden hingen Nachdrucke eini ger Pferdebilder von Stubbs, und auf seinem Schreibtisch stand eine Schale mit blühenden Narzissen. »Trevor …« 214
Er war ganz damit beschäftigt, die Papiere – Denby Crests Papiere – zusammenzuschieben, und blickte nicht auf. Ich stand in seinem Zimmer und wartete, bis er end lich von mir Notiz nehmen mußte. Sein Gesichtsausdruck war gleichgültig, gelassen, nichtssagend, und wenn ich vor wenigen Sekunden eine gewisse Spannung wahrgenom men hatte, hatte sie sich jetzt verflüchtigt. »Trevor«, sagte ich. »Bitte zeig mir, an welcher Stelle ich in die Irre gegangen bin.« »Vergiß es, Ro«, sagte er freundlich. »Sei ein guter Jun ge.« »Wenn du sein Gutachten unterzeichnet hast und ihm wirklich fünfzigtausend Pfund fehlen, dann betrifft das auch mich.« »Du bist todmüde, Ro, und du siehst krank aus, und es ist kein guter Zeitpunkt, um darüber zu reden.« Er kam um seinen Schreibtisch herum und legte mir sachte eine Hand auf den Arm. »Mein lieber Freund, du weißt, wie entsetzt und besorgt ich wegen der Dinge bin, die dir zugestoßen sind. Es ist mir ungemein wichtig, daß du die Sache lang sam angehen läßt und erst mal wieder richtig zu Kräften kommst.« Es war eine lange Rede für seine Verhältnisse, eine ver wirrende Rede. Als er mein Zögern bemerkte, fügte er hinzu: »Mit Denbys Angelegenheiten ist alles in Ordnung. Wenn du willst, gehen wir die Sache am Montag durch.« »Ich würde es lieber gleich erledigen«, wandte ich ein. »Nein.« Er wich keinen Millimeter zurück. »Wir erwar ten heute abend Freunde zu Besuch, und ich habe verspro chen, früh nach Hause zu kommen. Am Montag, Ro. Die Sache kann ruhig bis Montag warten.« Ich gab nach, teilweise weil ich einfach nicht wahrhaben wollte, was ich vermutete, daß nämlich Trevor das Gut achten in dem Wissen unterzeichnet hatte, daß die angege 215
benen Zahlen falsch waren. Ich hatte die Sache auf mei nem Käseabakus wieder und wieder durchgerechnet, und die Antwort war eintönig gleichbleibend, ganz gleich, welche Methode ich zu ihrer Ausarbeitung verwandte. Er führte mich wie ein guter Onkel an seine Tür und sah mir zu, wie ich den Haufen Akten von Beths Schreibtisch nahm. »Was sind das für Akten?« fragte er. »Du solltest dieses Wochenende wirklich nicht arbeiten.« »Es ist auch eigentlich keine Arbeit. Es sind abgelegte Akten. Ich wollte sie mir nur noch mal ansehen.« Er kam zu mir und warf einen Blick auf die Etiketten, wobei er die oberste Akte verschieben mußte, um die dar unter liegenden sehen zu können. »Was soll denn das um Himmels willen?« fragte er stirn runzelnd, als er Connaught Powys’ Namen las. »Ich weiß nicht …« Ich seufzte. »Ich dachte nur, daß diese Leute möglicherweise irgend etwas mit meiner Ent führung zu tun haben könnten.« Er sah mich mitleidig an. »Mein lieber Ro, warum über läßt du das alles nicht der Polizei?« »Ich behindere sie ja nicht.« Ich hob die schweren Akten auf und lächelte. »Ich glaube allerdings nicht, daß ich dort ganz oben auf der Dringlichkeitsliste stehe. Ich wurde nicht ausgeraubt, man hat mich nicht um Lösegeld erpreßt oder als Geisel genommen, und eine kleine ungesetzmäßi ge Gefangennahme allein zählt wahrscheinlich weniger als Parken im Halteverbot.« »Aber«, sagte er zweifelnd, »meinst du nicht, daß die Polizei irgendwann doch herausfindet, wer es war oder warum?« »Das kommt ganz darauf an, wo sie suchen, würde ich meinen.« Ich zuckte die Achseln, ging zur Tür und blieb noch einmal stehen, um mich umzudrehen. Er stand neben 216
Beths Schreibtisch und wirkte eindeutig besorgt. »Trevor«, sagte ich, »es ist mir völlig egal, ob die Polizei Antworten findet. Ich bin nicht auf öffentliche Rache versessen, und ich habe, was Gerichtsverfahren betrifft, meinen Anteil Publicity gehabt – als Zeuge. Ich habe absolut keine Lust, so etwas aus der Perspektive des Opfers zu erleben. Aber um meines eigenen Seelenfriedens willen möchte ich es gern wissen. Wenn ich es herausfinde, werde ich nicht un bedingt etwas deswegen unternehmen. Die Polizei müßte es tun. Das ist also der Unterschied. Es könnte besser sein – das kann man nie wissen –, wenn ich der Sache auf den Grund gehe statt der Polizei.« Er schüttelte beunruhigt und keineswegs überzeugt den Kopf. »Na, dann bis Montag«, sagte ich.
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J
ossie kam mir an der Tür entgegen. Sprühend vor Le bendigkeit. »Dad sagt, Sie sollen doch bitte auf einen Drink herein kommen.« Sie hielt mir die Tür auf und sah mich unsicher an. »Geht es Ihnen auch wirklich gut? Ich meine … wahr scheinlich war mir gar nicht bewußt …« Ich küßte sie auf den Mund. Weich und süß. Der Kuß machte mich hungrig. »Ein Drink wäre schön«, sagte ich. William Finch schenkte bereits den Scotch ein, als wir in den Raum traten, der ihm gleichzeitig als Büro und Wohn zimmer diente. Er begrüßte mich mit einem Lächeln und hielt mir das Glas hin. »Sie sehen aus, als könnten Sie’s gebrauchen«, sagte er. »Nach allem, was ich höre, haben Sie eine harte Zeit hin ter sich.« »Ich kann jetzt einem Fußball nachfühlen, was er durchmacht.« Ich nahm das Glas entgegen, prostete ihm symbolisch zu und nippte an dem guten, hellen Whisky. Jossie sagte: »Viele Tritte abbekommen?« Ich nickte lächelnd. »Irgend jemand«, sagte ich, »spielt ein strategisches Spiel.« Finch sah mich neugierig an. »Wissen Sie, wer?« »Nicht genau. Noch nicht.« Jossie stand neben ihrem Vater und goß aus einer kleinen Flasche Grapefruitsaft ein. Eine Art Anschauungsunter richt in Vererbungslehre: Sie hatten beide denselben gro 218
ßen, wohlproportionierten Körperbau, dieselbe Haltung des Kopfes auf einem langen Hals, dieselbe Art, sich die Welt untertan zu machen, statt sich selbst unterkriegen zu lassen. Er sah sie liebevoll und mit einer Spur kultivierter Belustigung in seinem väterlichen Stolz an. Selbst ihren gewohnheitsmäßigen Spott hatte sie anscheinend von ihm. Dann wandte er seinen ergrauenden Kopf wieder mir zu und sagte, er rechne damit, daß die Polizei mit der Zeit schon alle Probleme lösen würde. »Das denke ich auch«, sagte ich unbestimmt. »Und ich hoffe, die Schurken werden endlose Jahre lang in kleinen Räumen eingesperrt«, sagte Jossie. »Na ja«, sagte ich, »vielleicht werden sie das.« Finch vergrub seine Nase in einem großen Gin Tonic und tauchte mit einer Rückkehr zu dem Thema, das ihn am meisten interessierte, wieder daraus auf. Entführungen nahmen einen jämmerlichen zweiten Platz nach dem Pfer derennen ein. »Mein nächster Ritt?« wiederholte ich. »Um genau zu sein, morgen. Tapestry läuft im Oasthouse Cup.« Sein Erstaunen gab meinem nicht vorhandenen Selbst vertrauen kaum Auftrieb. »Gütiger Himmel«, sagte er. »Ich meine, Ro, ist das klug?« »Absolut nicht.« »Warum tun Sie’s dann?« »Ich kann so furchtbar schlecht nein sagen.« Jossie lachte. »Kein Rückgrat«, sagte sie. Die Tür öffnete sich, und eine dunkelhaarige Frau kam herein; sie trug ein langes, schwarzes Kleid und sah bild schön darin aus. Sie schien sich in einer Art eigenem Glanz zu bewegen; und Jossies Freude erstarb wie ein ge löschtes Feuer. Finch ging dem Neuankömmling mit herzlichem Lä cheln entgegen. Nahm besitzergreifend den Ellbogen der 219
Frau und lenkte sie auf mich zu. »Lida, meine Liebe, das ist Roland Britten. Ro, Lida Swann.« Ein Bandwurm mit Widerhaken, hatte Jossie gesagt. Der Bandwurm hatte eine breite, faltenlose Stirn, dunkelblaue Augen und rabenschwarzes, glatt zurückgekämmtes Haar. Als wir uns die Hände schüttelten, fiel mir der warme Druck ihrer Finger auf. Ihr schweres, süßes Parfüm ver breitete dieselbe Botschaft wie die vollen Brüste, die schmale Taille, die schlanken Hüften und ein herausfor derndes Lächeln: die sinnliche Frau in voller Blüte. Mei ner eigenen Vorliebe für Herbheit und Humor genau ent gegengesetzt. Jossie beobachtete unseren höflichen Austausch von Belanglosigkeiten mit einem Stirnrunzeln, und ich hätte sie am liebsten in die Arme genommen und fest gedrückt. Warum nicht, dachte ich. Ich löste mich von der schwül erotischen Aura Lidas, trat zu Jossie und legte ihr meinen Arm fest um die Taille. »Dann wollen wir mal«, sagte ich. »Auf daß die Hun gernden gespeist werden.« Jossies Stirnrunzeln hielt den ganzen Weg durch die Die le bis ins Auto an und dann noch für acht Kilometer Fahrt. »Ich hasse sie«, sagte sie. »Diese sexy, kehlige Stimme … Es ist alles so aufgesetzt.« »Es ist Gin«, sagte ich. »Was?« »Zuviel Gin verändert die Stimmbänder.« »Sie machen sich über mich lustig.« »Ich glaube, ich liebe Sie«, sagte ich. »Das ist eine verdammt blöde Bemerkung.« »Warum?« »Sie können nicht eine Frau lieben, bloß weil sie die Freundin ihres Vaters haßt.« »Ein besserer Grund als viele andere.« 220
Sie richtete ihre großen Augen suchend auf mich. Ich selbst schaute stur weiter geradeaus und widmete mich der nächtlichen Landstraße. »Starke Männer fallen in ihrer Nähe um wie die Kegel«, sagte sie. »Aber ich bin schwach.« »Kein Rückgrat.« Ihre Stimmung erfuhr eine deutliche Verbesserung, und schließlich brachte sie sogar ein Lä cheln zustande. »Soll ich morgen mit nach Kempton kommen, um Sie anzufeuern?« »Kommen Sie lieber mit, um Moira Longerman einen doppelten Brandy auszugeben, wenn ich vom Pferd falle.« Während des Essens sagte sie mit einigem Ernst: »Es ist Ihnen doch wahrscheinlich aufgefallen, daß man Sie nach Ihren letzten beiden Rennen jedesmal gleich anschließend in irgendwelche schwarzen Löcher gesteckt hat?« »Das ist mir aufgefallen, ja«, sagte ich. »Haben Sie denn gar keine Angst wegen morgen?« »Ich wäre überrascht, wenn es wieder passierte.« »Überraschung würde Ihnen aber nicht viel helfen.« »Stimmt.« »Sie können einen wirklich auf die Palme bringen«, sag te sie explosiv. »Wenn Sie wissen, warum Sie entführt wurden, warum erzählen Sie es mir dann nicht?« »Könnte sein, daß ich mich irre, und ich möchte zuerst einige Fragen stellen.« »Was für Fragen?« »Was haben Sie am Sonntag vor?« »Das ist keine Frage.« »Doch, ist es«, sagte ich. »Hätten Sie Lust auf einen Tag auf der Isle of Wight?« Mit bösen Vorahnungen und schlechtem Gewissen, was meinen Ritt auf Tapestry betraf, gab ich mir alle Mühe zu 221
essen, und später, nachdem ich Jossie bis zu ihrer Haustür begleitet hatte, nach Hause zu fahren und zu schlafen. Da mein Organismus sich halsstarrig gegen meine Absicht zur Wehr setzte, ihn zu einer Rückkehr zur Normalität zu be wegen, waren beide Unternehmungen nur teilweise von Erfolg gekrönt. Das Samstagmorgengesicht im Rasier spiegel hätte auf niemanden vertrauenerweckend gewirkt, nicht einmal auf Moira selbst. »Du bist ein verdammter Idiot«, sagte ich laut, und mein Spiegelbild stimmte mir zu. Nach Kaffee, gekochten Eiern und Toast als Dreingabe ging ich in die Stadt hinunter, um Besitzer baufälliger La gerhäuser ausfindig zu machen. Beim Makler, wo man vollauf mit händchenhaltenden Paaren beschäftigt war, wurde mir ungeduldig erklärt, daß man die Informationen bereits der Polizei gegeben habe. »Na, dann geben Sie sie mir auch«, sagte ich. »Es han delt sich doch wohl kaum um ein Geheimnis, oder?« Der bärtige, blaßgesichtige Mann, den ich gefragt hatte, sah mich gequält an und ging davon, um Rat einzuholen. Er kam mit einem Stück Papier zurück, das er mir über reichte, als hätte die Berührung damit seine Seele besudelt. »Wir sind nicht mehr für diese Leute tätig«, sagte er ge wissenhaft. »Unser Schild dürfte eigentlich gar nicht mehr dort fixiert sein.« Ich hatte bisher noch niemanden kennengelernt, der das Wort ›fixieren‹ tatsächlich benutzte. Das war jedoch noch nicht alles, was er sagte. »Wir möchten nicht als mit dieser ganzen Situation assoziiert betrachtet werden.« Ich las, was auf dem Papier stand. »Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich. »Könnten Sie mir sagen, wann Sie das letzte Mal von diesen Leuten gehört haben? Und hat sich in letzter Zeit irgend jemand danach erkundigt, ob er das Lagerhaus mieten oder benutzen könne?« 222
»Diese Leute«, sagte er mißbilligend, »haben das Lager haus anscheinend vor einigen Jahren an einen Handel mit Armeeüberschüssen vermietet, ohne uns darüber zu in formieren oder die uns zustehende Provision zu bezahlen. Wir haben keinerlei Anweisungen von ihnen bekommen, weder damals noch seither, was eine zukünftige Vermie tung oder Untervermietung betrifft.« »Tausend Dank«, sagte ich und ging grinsend hinaus auf die Straße. Die Worte auf dem Blatt Papier, die die Makler rückblik kend in solche Aufregung versetzt hatten, lauteten »Natio nal Construction (Wessex) Ltd.«, oder mit anderen Worten die mystischen Bauunternehmer, die Ownslow und Glit berg erfunden hatten. Ich holte die Vergrößerungen von Hilarys Fotos ab und ging weiter ins Büro. Dort war wie gewöhnlich am Sams tag alles still, und nach wie vor wartete unerledigte Arbeit stapelweise. Ich wandte den Blick ab und rief die Polizei an. »Irgendwas Neues?« fragte ich und bekam zur Antwort: Nein, nichts Neues. »Haben Sie den Besitzer des Lieferwagens ausfindig gemacht?« fragte ich. Nein, hatten sie nicht. »Hatte der Wagen eine Motornummer?« fragte ich. Ja, sagte man, aber es sei nicht die ursprüngliche Nummer für dieses spezielle Gefährt gewesen; besagtes Gefährt sei wahrscheinlich durch viele Hände gegangen und vielfach umgebaut worden, bevor es schließlich in dem Lagerhaus landete. »Und haben Sie Mr. Glitberg und Mr. Ownslow gefragt, wie ich in einen Lieferwagen in ihrem Lagerhaus kommen konnte?« Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. »Also?« fragte ich noch einmal. 223
Warum ich diese Frage stelle. »Ach, tun Sie doch nicht so«, sagte ich. »Ich war bei dem Makler, genau wie Sie.« Mr. Glitberg und Mr. Ownslow waren, so schien es, vollkommen verwirrt gewesen, als man sie fragte, warum ihr Lagerhaus zu einem solchen Zweck gebraucht worden sein könne. Soweit es sie betraf, war es an einen Weiter verkäufer von Armeeüberschüssen vermietet worden, und die Polizei sollte ihre Erkundigungen bei diesen Leuten einholen. »Können Sie diesen Händler finden?« fragte ich. Bisher nicht, sagte man mir. Man räusperte sich und fügte vor sichtig hinzu, daß Mr. Glitberg und Mr. Ownslow ent schieden geleugnet hätten, Mr. Britten in einem Lieferwa gen in ihrem Lagerhaus oder, was das betraf, an einem anderen Ort gefangengehalten zu haben. Auch nicht, um sich an dem besagten Mr. Britten dafür zu rächen, daß er wesentlich zu ihren Freiheitsstrafen wegen Betrugs beige tragen habe. »Das waren ihre Worte?« fragte ich interessiert. Nicht direkt. Man hatte mir den Kern ihrer Aussage vorgetragen. Ich dankte für die Information und legte auf. Ich glaubte nicht, daß man mir alles gesagt hatte, was man wußte, aber andererseits hatte ich das auch nicht getan, und damit wa ren wir quitt. Die Tür zu Trevors Büro war abgeschlossen, so wie meine es gewesen war, aber wir hatten beide Schlüssel für die Räume des anderen. Ich wußte trotzdem, daß er es nicht gern gesehen hätte, wenn ich unaufgefordert die Pa piere in seinem Aktenschrank durchsuchte, aber da ich während seines Urlaubs ohnehin Zugang zu diesen Papie ren gehabt hatte, hielt ich es nicht für einen Übergriff in seine Privatsphäre, wenn ich jetzt noch einmal einen Blick darauf warf. Ich verbrachte eine Stunde mit der konzen 224
trierten Lektüre von Rechnungsbüchern und überprüfte dann mit einem mehr oder weniger normal funktionierenden Gehirn noch einmal die Zahlen von Denby Crest. Mir war kein Versehen bei ihnen unterlaufen, nicht mal in meiner damaligen Benommenheit. Es fehlten fünfzigtau send Pfund aus den Treuhandfonds seiner Klienten. Ich starrte blicklos auf den Druck von »Lady and Gentleman in a Carriage« und dachte trostlos darüber nach, was das bedeutete. Im äußeren Büro stand ein Kopierapparat, der werktags von Debbie und Peter fleißig benutzt wurde. Ich verbrach te eine weitere Stunde dieses stillen Samstagmorgens dar auf, mir methodisch Kopien für mich persönlich zu ma chen. Dann legte ich alle Bücher und Papiere wieder dorthin, wo ich sie gefunden hatte, schloß Trevors Büro ab und ging in unser Archiv im Keller. Die Akten, nach denen ich dort suchte, waren leicht zu finden, aber dünn und wenig informativ, da sie nur Kopien der Abschlüsse enthielten und nicht sämtliche Rechnun gen, Kassenbücher und Zahlungsbelege, anhand deren die Abschlüsse erstellt worden waren. Daran war nichts Ungewöhnliches. Nach den gesetzli chen Vorgaben mußten all diese Papiere drei Jahre lang verfügbar gehalten werden und durften erst nach Ablauf dieser Frist legal vernichtet werden. Aber die meisten Steuerberater gaben die Bücher zur Aufbewahrung an ihre Klienten zurück, da sie genau wie wir einfach nicht genug Lagerraum dafür hatten. Ich ließ die Akten, wo sie waren, verschloß alle Bürotü ren, schob meinen Ordner mit Fotokopien in einen großen Umschlag, den ich anschließend zuklebte, und nahm ihn ziemlich niedergeschlagen mit nach Kempton Park. Der Anblick Jossies in ihrem wippenden, braunen Rock ließ für mich dann doch die Sonne wieder etwas scheinen, 225
und wir genehmigten uns in freundschaftlichem Verständ nis einen Grapefruitsaft. »Dad hat die abscheuliche Lida mitgebracht«, sagte sie, »daher bin ich allein hergefahren.« »Lebt sie bei Ihnen?« fragte ich. »Nein, Gott sei Dank nicht.« Der Gedanke erschreckte sie. »Acht Kilometer entfernt, und das sind achttausend Kilometer zu wenig.« »Was sagt denn die dauerkranke Sekretärin dazu?« »Sandy? Die Geschichte macht sie noch kränker.« Sie trank ihren Saft aus und lächelte mich über das Glas hin weg an. »Sandy wäre übrigens gar nicht so schlimm, wenn sie nicht so behämmert wäre. Aber schlagen Sie sich bitte alle raffinierten Theorien über Töchter, die wie ein Zerbe rus über ihre ungebundenen Väter wachen, aus dem Kopf. Ich hätte es wirklich gern gesehen, wenn er sich in irgend ein Goldstück verliebt hätte.« »Weiß er, daß Sie Lida nicht mögen?« »Na klar«, seufzte sie. »Ich habe ihm gesagt, sie sei eine fleischfressende Pflanze, und er erwiderte, ich verstünde das nicht. Ende des Gesprächs. Das komische an der Sa che ist«, fügte sie hinzu, »daß ich nur in Ihrer Gegenwart an diese Frau denken kann, ohne Gift und Galle zu spuk ken.« »Blinddarmentzündung lenkt wunderbar von Zahn schmerzen ab«, sagte ich. »Was?« »Gedanken, ausgebrütet in kleinen, weißen Lieferwa gen.« »Die Hälfte der Zeit«, sagte sie, »denke ich, Sie sind ver rückt.« Sie traf ein paar Freunde und zog mit ihnen los, und ich verschwand im Umkleideraum, um mir Reithosen, Stiefel und Moira Longermans rot-weißen Dress anzuziehen. Als 226
ich herauskam – ich trug mittlerweile meine Jacke über den leuchtend bunten Rennfarben –, wartete Binny Tom kins bereits auf mich. Seine Miene spiegelte das Gegenteil von Wärme und Licht wider. »Ich will mit Ihnen reden«, sagte er. »Gut. Warum nicht.« Er sah mich finster an. »Nicht hier. Zu viele Leute. Ge hen wir da runter.« Er zeigte auf den Pfad, den die Pferde auf dem Weg vom Führring zur Bahn nahmen: eine breite Grasfläche, auf der kaum Rennbesucher zu finden waren. »Worum geht’s?« fragte ich, als wir das Gedränge vor der Tür zum Waageraum hinter uns gelassen hatten und in die von ihm vorgeschlagene Richtung gingen. »Ist mit Ta pestry irgend etwas nicht in Ordnung?« Er schüttelte ungeduldig den Kopf, als wäre die Vorstel lung absurd. »Ich möchte, daß Sie es dem Pferd leicht machen.« Ich blieb wie angewurzelt stehen. Ein leichtes Rennen bedeutete mit anderen Worten, daß ich nicht versuchen sollte zu siegen. »Nein«, sagte ich. »Kommen Sie, da steckt mehr dahinter …« Er ging ein oder zwei Schritte weiter, sah sich nach mir um und warte te darauf, daß ich ihm folgte. »Ich muß mit Ihnen reden. Sie müssen mir zuhören.« Sein Benehmen verriet mehr als die gewohnte finster blickende Übellaunigkeit. Etwas wie schlichte Angst. Kopfschüttelnd ging ich weiter mit ihm über das Gras. »Wieviel wollen Sie?« fragte er. Ich blieb abermals stehen. »Ich mache da nicht mit«, sagte ich. »Ich weiß, aber … Wie wär’s mit zweihundert Pfund, steuerfrei?« »Sie sind dumm, Binny.« 227
»Sie haben gut reden«, sagte er wütend. »Aber wenn Ta pestry heute siegt, verliere ich alles. Meinen Hof, meinen Lebensunterhalt – alles.« »Warum?« Er zitterte vor Anspannung. »Ich habe hohe Schulden.« »Bei Buchmachern?« fragte ich. »Natürlich bei Buchmachern.« »Sie sind ein Narr«, sagte ich nachdrücklich. »Selbstgefälliger Mistkerl«, sagte er zornig. »Ich würde alles darum geben, wenn Sie wieder in diesem Lieferwa gen wären statt heute hier beim Rennen.« Ich sah ihn nachdenklich an. »Tapestry gewinnt viel leicht auch so nicht«, sagte ich. »Nichts ist sicher.« »Ich muß es im voraus wissen«, sagte er unvorsichtiger weise. »Und wenn Sie Ihrem Buchmacher versichern, daß Ta pestry nicht siegen wird, läßt er Sie aus seinen Klauen?« »Er wird mir ein bißchen mehr Leine geben«, sagte er. »Und mich wegen des restlichen Geldes nicht bedrängen.« »Bis zum nächsten Mal«, sagte ich. »Bis Sie noch tiefer drinsitzen.« Binnys Blick kehrte sich nach innen, einer hoffnungslo sen Zukunft entgegen, und ich vermutete, daß er den er sten Schritt zurück auf sicheren Grund niemals tun würde, nämlich in seinem Fall – das Spielen ganz und gar an den Nagel zu hängen. »Trainern stehen doch einfachere Wege offen, wenn sie ein Rennen verlieren wollen«, bemerkte ich, »als zu ver suchen, den Jockey zu bestechen.« Sein finsterer Blick hätte es inzwischen mit dem eines Neandertalers aufnehmen können. »Sie bezahlt den Stall burschen, der sich um Ihr Pferd kümmert, dafür, daß er Ta pestry mit Argusaugen bewacht und ihr über alles Bericht erstattet, was passiert. Ich kann ihn weder rauswerfen, noch 228
ihm ein anderes Pferd zuweisen, weil sie in diesem Fall Tapestry zu einem anderen Trainer schicken würde.« »Es erstaunt mich, daß sie das nicht bereits getan hat«, sagte ich – und sie hätte es getan, ging es mir durch den Kopf, wenn sie dieses Gespräch hätte mit anhören können. »Sie brauchen nur ein schlechtes Rennen zu reiten«, sag te er. »Sorgen Sie dafür, daß Sie auf der entgegengesetzten Seite eingeklemmt werden, und reiten dann weit außen auf die Zielgerade.« »Nein«, sagte ich. »Nicht mit Absicht.« Ich schien ein bemerkenswertes Talent zu haben, andere auf die Palme zu bringen. Binny hätte mit Freuden zuge sehen, wenn ich ihm jetzt tot vor die Füße gefallen wäre. »Hören Sie«, sagte ich, »es tut mir leid, daß Sie so in der Klemme sitzen. Es tut mir wirklich leid, ob Sie’s glauben oder nicht. Aber ich werde nicht versuchen, Ihnen aus der Patsche zu helfen, indem ich Moira betrüge oder das Pferd oder die Wetter oder mich selbst, und das ist mein letztes Wort.« »Sie Mistkerl«, sagte er. Als ich fünf Minuten später wieder mitten im Getriebe, draußen vor dem Waageraum, stand, nahm mich jemand am Arm, und eine gedehnte Stimme wurde hinter meinem Ohr laut. »Mein lieber Ro, wie stehen Ihre Chancen?« Ich drehte mich um und lächelte in das intelligente Ge sicht Vivian Iversons. Im Tageslicht und auf der Renn bahn, wo ich ihm das erste Mal begegnet war, trug er seine Kleidung mit derselben Eleganz, die er auch auf seinen Vivat Club ausgedehnt hatte. Ein dunkelgrüner Blazer über einer grauen, karierten Hose; in der Aprilsonne leuch tendes, schwarzes Haar. Stille Belustigung in den auf merksamen Augen. 229
»In der Liebe, im Krieg oder im Dreiuhrdreißig?« fragte ich. »Ich rede von Ihren Chancen, in Freiheit zu bleiben, mein lieber Junge.« Ich blinzelte. »Hm«, sagte ich. »Was würden Sie set zen?« »Fünf zu vier dagegen?« »Ich hoffe, Sie irren sich«, sagte ich. Unter dem neckischen Geplänkel war es ihm spürbar ernst. »Wie der Zufall es will, habe ich gestern abend im Club gehört, wie unser Freund Connaught Powys telefo nierte. Um offen zu sein, mein lieber Ro, habe ich, nachdem Ihr Name fiel, mehr oder weniger absichtlich gelauscht.« »An einem Nebenapparat?« »Tss, tss«, sagte er tadelnd. »Unglücklicherweise nicht. Ich weiß nicht, mit wem er sprach. Aber er sagte – das wa ren seine genauen Worte – ›soweit es Britten betrifft, müs sen Sie mir doch zustimmen, daß Vorbeugen besser ist als Heilen‹, und ein wenig später sagte er: ›Wenn Hunde an fangen herumzuschnuppern, legt man sie am besten an die Kette‹.« »Entzückend«, sagte ich ausdruckslos. »Brauchen Sie einen Leibwächter?« »Wollen Sie den Job übernehmen?« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich könnte Ihnen einen engagieren. Karate. Kugelsicheres Glas. Mit allen moder nen Annehmlichkeiten.« »Ich glaube«, sagte ich nachdenklich, »daß ich einfach die Versicherung erhöhen werde.« »Gegen Kidnapping? Da wird Sie aber niemand anneh men.« »Schecks und Bilanzen«, sagte ich. »Niemand wird mich von einem Sprungbrett stoßen, wenn das bedeutet, daß ihm dann selbst ein Fels auf den Kopf fällt.« 230
»Dann sehen Sie zu, daß die Betreffenden von der Exi stenz des Felsens erfahren.« »Ihr Rat«, sagte ich lächelnd, »ist wert, in seegetrennten Yachten aufgewogen zu werden.« Moira Longerman zwinkerte vor Tapestrys Rennen im Führring mit ihren leuchtenden Vogelaugen und streichelte wiederholt meinen Arm, wobei ihre kleine, dünne Hand sachte über den glänzenden, scharlachroten Ärmel fuhr. »Also, Roland, Sie werden Ihr Bestes geben, ich weiß, Sie werden Ihr Bestes geben.« »Ja«, sagte ich schuldbewußt, dehnte einige schlaffe Muskeln und sah zu, wie Tapestrys bestens durchtrainierte Muskeln unter seinem Fell arbeiteten, während sein Stall bursche ihn im Ring herumführte. »Ich habe Sie vorhin mit Binny reden sehen, Roland.« »Ach ja, Moira?« Ich wandte den Blick von Tapestry ab und sah ihr ins Gesicht. »Ja.« Sie nickte strahlend. »Ich war oben in den Tribü nen in der Bar und habe auf den Führring hinunterge schaut. Ich habe gesehen, wie Binny mit Ihnen weggegan gen ist.« Sie sah mich mit ruhigem, klugem Blick an und stellte die wesentlichen Fragen, ohne ein einziges Wort zu verlie ren. Ohne in ihrem Streicheln innezuhalten. Sie wartete gespannt auf eine Antwort. »Ich verspreche Ihnen«, sagte ich schlicht, »wenn ich die Sache verpfusche, dann gegen meinen Willen.« Sie hörte auf, mich zu streicheln – klopfte mir statt des sen auf die Schulter und lächelte. »Das reicht mir voll kommen, Roland.« Binny stand drei Meter von uns entfernt und vermochte die Höflichkeit, die ein Besitzer von seinem Trainer erwar ten durfte, nicht einmal zu heucheln. Sein Gesicht war 231
starr und seine Augen ausdruckslos, und selbst der ge wohnte finstere Blick hatte sich zu einer allgemeineren und tieferen Düsternis gesteigert. Ich hatte Binny für einen Narren und Dummkopf gehalten, aber das war wahr scheinlich ein Irrtum gewesen, ging es mir jetzt durch den Kopf. Im Augenblick hatte er etwas an sich, das einem ei ne Gänsehaut einjagte und an Mord denken ließ. Die Glocke ertönte; das Signal für die Jockeys, aufzusit zen, und es war der Stallbursche, nicht Binny, der mich in den Sattel warf. »Ich werde diese Dinge nicht mehr lange hinnehmen«, sagte Moira freundlich zu sich und zu der Welt im allge meinen. Binny ignorierte sie, als hätte er ihre Worte nicht gehört; und vielleicht hatte er es tatsächlich nicht. Er hatte mir auch keine Reitanweisungen gegeben, was mich nicht im mindesten bekümmerte. Er schien vollkommen in sich selbst zurückgezogen und teilnahmslos zu sein, und als Moira mir kurz zuwinkte, während ich mich auf Tapestry in Bewegung setzte, begleitete er sie nicht zur Tribüne hin auf. Selbst für seine Verhältnisse war dieses Benehmen unglaublich. Tapestry selbst war bei bester Laune, warf erregt den Kopf hoch und galoppierte mit winzigen Schritten, als hät te er ein Übermaß an Frühlingsgefühlen im Blut. Ich erin nerte mich an seinen stürmischen Start beim Gold Cup, und plötzlich wurde mir klar, daß ich diesmal von Glück sagen konnte, wenn er nicht wie eine Rakete vom Start abgehen würde. Statt aus Unentschlossenheit das Schluß licht zu bilden, konnte ich diesmal in meinem geschwäch ten Zustand bereits am zweiten Zaun um vierzig Längen vorn liegen und damit alle Chancen auf ausreichendes Stehvermögen bis zum Ende des Rennens abschreiben. Tapestry tänzelte in der Parade an den Tribünen vorbei, 232
während die anderen Starter Schritt gingen. Er tänzelte spielerisch im Galopp zum Start zurück, der bei den DreiMeilen-Hindernisrennen im Kempton Park links von den Tribünen lag, so daß die meisten Zuschauer ihn voll im Blick hatten. Außer mir waren noch elf weitere Jockeys am Start und nahmen letzte Korrekturen an Gurten und Brillen vor. Der Hilfsstarter, der die Gurte des Pferdes neben dem meinen straff zog, warf einen Blick über die Schulter und fragte mich, ob bei mir alles in Ordnung sei oder ob er die Gurte strammziehen solle. Wenn ich in letzter Zeit nicht so häufig durch den Wolf gedreht worden wäre, hätte ich einfach ja gesagt, er hätte die Gurte ein oder zwei Löcher strammer gezogen, und ich hätte nicht weiter darüber nachgedacht. Aber in meinem übervorsichtigen Zustand sah ich plötzlich und mit großer Deutlichkeit Binny in seiner gefährlichen, distanzierten Gleichgültigkeit vor mir, und ich erinnerte mich an die Verzweiflung, mit der er mich angefleht hatte, das Rennen zu verlieren. Die Gänsehaut kehrte mit Macht zurück. Ich ließ mich von Tapestrys Rücken gleiten und schlang mir die Zügel um den Arm. »Ich will nur mal nachsehen …«, sagte ich unbestimmt zu dem Hilfsstarter. Er nickte kurz und warf einen Blick auf seine Uhr. Noch eine Minute bis zum Rennen, sagte sein Gesicht, also beei len Sie sich. Es war mein eigener Sattel. Ich war mit jeder Lasche, je der Schnalle, jedem Kratzer und jedem Flecken absolut vertraut. Ich suchte ihn mit Fingern und Augen gründlich ab und konnte keinen Mangel entdecken. Gurte, Steigbü gel, Unterlagen, Schnallen; alles war, wie es sein sollte. Ich zog die Gurte selbst stramm, und der Starter wies mich an, aufzusitzen. 233
Für den Rest meines Lebens, dachte ich, werde ich mir über die Schulter sehen. Werde im Dunkeln Dämonen se hen. Aber das Gefühl der Gefahr wollte nicht weichen. »Beeilen Sie sich, Britten.« »Ja, Sir.« Ich stand auf dem Boden und sah zu, wie Tapestry den Kopf hochwarf. »Britten!« Zügel, dachte ich. Trense. Gebiß. Zügel. Wenn die Tren se riß, konnte ich das Pferd nicht unter Kontrolle halten, und es würde das Rennen nicht gewinnen. Viele Rennen waren wegen gerissener Trensen verloren worden. Es war nicht allzu schwer festzustellen, wenn man wirk lich genau hinsah. Die Lederzügel waren an die Ringe zu beiden Seiten des Gebisses genäht, und die Stiche der rechten Naht waren beinahe alle aufgetrennt worden. Drei Meilen und zwanzig Hindernisse bei halsbrecheri scher Geschwindigkeit und nur zwei Fäden Garn, die mei nen rechten Zügel hielten. »Britten!« Ich zog einmal kräftig, und die restlichen Stiche lösten sich. Ich riß den Zügel aus dem Ring und schwenkte das lose Ende hin und her. »Tut mir leid, Sir«, sagte ich. »Ich brauche eine neue Trense.« »Was? Oh, na schön …« Er rief über Telefon im Waage raum an, um eiligst einen Ersatz herzubestellen. Tapestrys Stallbursche erschien mit besorgter Miene, um beim Aus wechseln des Kopfstücks zu helfen, und als ich ihm Bin nys Trense gab, machte ich ihn auf die aufgetrennten Sti che aufmerksam. »Ich weiß nicht, wie die Trense in diesen Zustand gera ten konnte«, sagte er nervös. »Ich wußte nichts davon, ehr lich. Ich habe sie gestern gesäubert und alles.« 234
»Machen Sie sich keine Gedanken«, sagte ich. »Es ist nicht Ihre Schuld.« »Ja, aber …« »Werfen Sie mich rauf«, sagte ich, »und machen Sie sich keine Gedanken.« Seine Besorgtheit legte sich jedoch nicht. Gute Stallbur schen nahmen es sich sehr zu Herzen, wenn ihre Fürsorge für die Pferde in irgendeiner Weise Mängel aufwies, und Tapestrys Stallbursche war so gut, wie das Pferd es ver diente. Binny, so ging es mir nicht zum ersten Mal durch den Kopf, war ein einziges Einmannkatastrophengebiet, eine Seuche für sich selbst und alle um ihn herum. »Aufstellung nehmen«, rief der Starter, der die Hand be reits am Abzug hatte. »Wir haben schon fünf Minuten Ver spätung.« Zwei Sekunden später tat Tapestry sein Bestes, mir beim Start abermals den Arm auszureißen, aber dank ein oder zwei gleichermaßen stürmischer Gegner konnte ich ihn glücklicherweise in der Mitte des Feldes festsetzen; und dort blieben wir während der ganzen ersten Runde. Das Tempo war, nachdem es sich erst einmal eingependelt hat te, bei weitem nicht so hoch wie im Gold Cup, und ich hatte Zeit, mir über die alltäglicheren Dinge Sorgen zu machen, wie etwa den Absprung über die Hindernisse richtig zu treffen oder nicht völlig vom Kurs abzukom men. Das war in Kempton eine zusätzliche Gefahr, weil hier die Führungen zu den Hindernissen hin kleiner und niedriger waren als anderswo und ein einfallsreiches Pferd schon mal auf eine Idee bringen konnten … Während der zweiten Runde machte sich mein desolater Zustand deutlich und häßlich bemerkbar, und es wäre nur fair zu sagen, daß Tapestrys Jockey während der letzten Meile kaum mehr tat, als sich im Sattel zu halten. Tapestry war jedoch ein wahrer Meister seines Faches, und infolge 235
des Jubels und des Beifalls im Absattelring nach dem Gold Cup schien er wie zahlreiche gefeierte Pferde sich seines eigenen Status bewußt geworden zu sein. Es war diese zu sätzliche Dimension seines neu entdeckten Stolzes, die uns in einem geradlinigen und fehlerlosen Lauf über die letz ten Hindernisse brachte, und sein eigener Wille zum Sieg, der ihn beim Einlauf seinen Hals vorrecken und seinen Schritt weiten ließ. Tapestry gewann den Oasthouse Cup um vier Längen, und dieser Sieg war ausschließlich das Werk des Pferdes, nicht meins. Mit tränenüberströmtem Gesicht küßte Moira erst ihr Pferd, dann mich und dann unterschiedslos jeden anderen in Kußweite. Ihre Freude hatte nichts Steifes oder Ver klemmtes. Nur der Trainer des Pferdes, Binny Tomkins, war nirgends zu sehen, um ihre Freude zu teilen. »Trinken wir etwas«, kreischte Moira mich an. »In der Bar für Besitzer und Trainer.« Ich nickte sprachlos vor Anstrengung und von dem reichlichen Schulterklopfen, mit dem man mich bedacht hatte. Einen Augenblick später kämpfte ich mich mit mei nem Sattel zum Zurückwiegen durch das Gedränge. Es war fabelhaft, dachte ich benommen. Phantastisch, ein weiteres großes Rennen gewonnen zu haben. Mehr als ich je für möglich gehalten hätte. Ein Hochgefühl wie kein zweites auf Erden. Nicht einmal das Wissen darum, wie wenig ich zu dem Sieg beigetragen hatte, konnte den wil den, inneren Jubel dämpfen. Ich werde es niemals aufge ben können, dachte ich. Ich werde mich noch mit fünfzig durch Schlamm und Regen kämpfen und dem herrlichen Traum nachjagen. Sucht war nicht nur eine Frage von Na deln im Arm. In der Bar verteilte Moira Champagner und strahlendes Lachen in reichem Maße; außerdem hatte sie Jossie unter ihre Fittiche genommen. 236
»Ro, mein lieber Ro«, sagte Moira, »haben Sie Binny ir gendwo gesehen?« »Nein.« »Fanden Sie es nicht auch seltsam, daß plötzlich die Trense gerissen war?« Ihre scheinbar unschuldigen Augen blickten in die meinen. »Ich habe mit dem Stallburschen gesprochen, müssen Sie wissen.« »Kann schon mal vorkommen«, sagte ich. »Sie meinen, niemand kann da irgend etwas beweisen?« »So ungefähr.« »Aber sind Sie denn nicht ein winziges bißchen wü tend?« Die strahlende Freude, die mich erfüllte, nötigte mir ein Lächeln ab. »Wir haben das Rennen gewonnen. Was sonst zählt?« Sie schüttelte den Kopf. »Es war eine Gemeinheit.« Verzweiflung, dachte ich, konnte Taten hervorbringen, die die Täter bei klarem Verstand nicht in Erwägung zie hen würden. Wie zum Beispiel einen Zügel einzuschnei den. Wie die Entführung des Feindes. Wie alles andere, was noch vor mir liegen mochte, bevor wir fertig waren. Ich verbannte die schattenhaften Teufel aus meinen Ge danken und trank auf das Leben und den Oasthouse Cup. Als ich später mit Jossie zum Parkplatz schlenderte, nahm auch sie mich aufs Korn. »Hat Moira recht?« wollte sie wissen. »Hat Binny die Trense manipuliert, damit Ihnen etwas zustößt?« »Ich denke schon.« »Sie sagt, Sie sollten es melden.« »Das ist nicht nötig.« »Warum nicht?« »Er ist auf Selbstzerstörung noch vor Ende der Saison programmiert.« »Sprechen Sie von Selbstmord?« fragte sie. 237
»Sie nehmen das zu wörtlich. Ich meine, er wird mit ei nem gewaltigen Knall bei den Buchmachern pleite ge hen.« »Sie sind betrunken.« Ich schüttelte grinsend den Kopf. »High. Ganz was an deres. Hätten Sie Lust, mich auf meiner Wolke zu beglei ten?« »Ein einziger Windstoß«, sagte sie, »und Sie sind ver dampft.«
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J
ossie fuhr zu irgendeiner Party nach London, und ich begab mich, eingedenk früherer unplanmäßiger Reise ziele nach dem Rennen, mit größter Vorsicht die Straße hinunter zum nächsten öffentlichen Telefon. Niemand folgte mir, soweit ich sehen konnte. Hilary Margaret Pinlock ging, nachdem ich schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, nach dem zwanzigsten Klingeln an den Apparat und sagte atemlos, daß sie in die sem Augenblick erst nach Hause gekommen sei; sie hatte Tennis gespielt. »Haben Sie heute abend etwas vor?« fragte ich. »Nichts Besonderes.« »Darf ich Sie besuchen?« »Ja.« Sie zögerte einen winzigen Augenblick lang. »Was wollen Sie? Eine Mahlzeit? Ein Bett?« »Ein Ohr«, sagte ich. »Und gebackene Bohnen viel leicht. Aber kein Bett.« »Gut«, erwiderte sie gelassen. »Wo sind Sie? Soll ich Ihnen den Weg beschreiben?« Sie erklärte mir genau, wie ich zu ihr fand, und vierzig Minuten später fuhr ich vor einem großen Haus aus der Zeit König Edwards in einer belaubten Straße in den Randbezirken einer weitläufigen Stadt in Surrey vor. Es stellte sich heraus, daß Hilary das Erdgeschoß gehörte, be stehend aus zwei großen, hohen Räumen, einer modernen Küche, einem zweckmäßigen Badezimmer und einem an genehmen, altmodischen Wintergarten mit Pflanzen und 239
Rattanstühlen und einer Treppe, die in einen vernachläs sigten Garten hinunterführte. Im Haus selbst war alles ordentlich, wohlorganisiert und auf eine etwas einfallslose Art und Weise behaglich. Soli de Sessel mit düsteren Bezügen, schwere Vorhänge aus qualitativ hochwertigem, aber glanzlosem, irgendwie braunem oder grünem Samt und dazu ein gemusterter Teppich in Oliv und Rehbraun. Das Heim eines lebhaften, akademischen Geistes ohne angeborenes Verständnis für Farben. Ich fragte mich, wie oft sie wohl den fremdarti gen, scharlachroten Umhang trug. Die Abendsonne schien immer noch in den Wintergar ten, und dort saßen wir in den Rohrsesseln und tranken Sherry in der grünen Umgebung von Palmen, Gummi bäumen und Fensterblatt. »Es macht mir ja nichts aus, die Blumen zu gießen«, sagte Hilary. »Aber die eigentliche Gartenarbeit hasse ich. Die Leute oben sollten sich eigentlich um den Garten kümmern, aber sie tun es nicht.« Sie deutete angewidert auf die wild wuchernden Büsche, die unbeschnittenen Ro sen, die vom Unkraut überwachsenen Wege und die ver trockneten, braunen Halme, die vom ungemähten Gras des vergangenen Jahres übriggeblieben waren. »Besser als Beton«, sagte ich. »Ich werde Sie den Kindern als Vorbild empfehlen«, antwortete sie lächelnd. »Hm?« »Wenn es einmal böse aussieht, ertragen Sie, was Sie er tragen müssen, und danken Gott, daß es nicht noch schlimmer gekommen ist.« Ich stieß einen leisen Protestlaut aus. »Nun«, sagte ich hilflos, »was soll man denn sonst tun?« »Man könnte nach staatlichen Sozialleistungen schrei en.« 240
»Und sich einen Gärtner schicken lassen?« »Sie wissen verflixt genau, was ich meine.« »Mit dem Ertragen ist es wie mit der Steuer«, sagte ich. »Man wäre dumm, mehr zu bezahlen, als man muß, aber man kann ihr nicht immer entkommen.« »Und man kann dabei jammern«, sagte sie nickend, »oder es mit Anstand ertragen.« Sie trank gefaßt ihren Sherry aus und fragte mich nach dem Grund meines Kommens. »Ich wollte Sie bitten, ein Päckchen für mich aufzube wahren«, sagte ich. »Aber selbstverständlich.« »Und sich eine ziemlich lange Geschichte anzuhören, damit …« Ich hielt inne. »Ich meine, ich möchte, daß je mand davon weiß …« Ich brach abermals ab. »Für den Fall, daß Sie wieder verschwinden sollten?« fragte sie nüchtern. Ich war dankbar für ihre Gelassenheit. »Ja«, sagte ich. Ich erzählte ihr von meiner Begegnung mit Vivian Iverson bei den Rennen und von unseren Ge danken bezüglich Versicherung, Sprungbrettern und Fel sen. »Sie sehen also«, endete ich, »Sie würden der Fels sein, wenn Sie wollen.« »Sie dürfen«, sagte sie, »felsenfestes Vertrauen haben.« »Also«, sagte ich, »ich habe ein versiegeltes Päckchen mit kopierten Dokumenten mitgebracht. Es liegt im Wagen.« »Holen Sie es«, sagte sie. Ich ging auf die Straße hinaus und nahm den dicken Umschlag aus dem Kofferraum. Gleichzeitig warf ich ei nen Blick hinter die Vordersitze und suchte die harmlose Straße ab. Die Macht der Gewohnheit. Aber niemand ver steckte sich, und niemand beobachtete mich, soweit ich sehen konnte. Niemand war mir von der Rennbahn aus hierher gefolgt, dessen war ich mir sicher. 241
Ich würde mir für den Rest meines Lebens über die Schulter sehen. Ich nahm das Päckchen mit hinein und gab es Hilary, ebenso wie die Negative von ihren Fotos, von denen ich weitere Abzüge hatte machen lassen, wie ich ihr erklärte. Sie legte alles auf den Tisch neben sich und meinte, ich solle mich hinsetzen und mit meiner Geschichte fortfah ren. »Ich erzähle Ihnen besser ein wenig von meiner Arbeit«, sagte ich. »Dann werden Sie alles besser verstehen.« Ich streckte mich mit wohliger Müdigkeit in dem Rohrsessel aus und betrachtete ihr kräftiges, reizloses Gesicht, das aufmerksames Interesse verriet. Wirklich schade, dachte ich, das mit der Brille. »Ein Steuerberater, der lange Zeit am selben Ort arbeitet, bekommt nach und nach ein umfassendes Bild dessen, was sich dort so zuträgt – vor allem, wenn es sich um eine ländliche Kleinstadt handelt.« »Ich kann Ihnen folgen«, sagte sie. »Sprechen Sie wei ter.« »Die Transaktionen eines Klienten tauchen häufig in den Unterlagen anderer Klienten wieder auf. Zum Beispiel kauft ein Rennpferdtrainer Pferdefutter von einem Futter lieferanten. Ich sehe die Rechnung in den Unterlagen des Trainers, und später stoße ich in den Büchern des Liefe ranten nochmals darauf, wenn der ebenfalls mein Klient ist. Ich stelle fest, daß der Futterlieferant einen Bauunter nehmer für einen Anbau an sein Haus bezahlt hat, und spä ter sehe ich in den Unterlagen des Bauunternehmers, was er für die Steine und den Zement bezahlt hat. Ich sehe, daß ein Jockey soundsoviel Pfund für ein Lufttaxi ausgegeben hat, und später sehe ich, weil die Lufttaxifirma ebenfalls zu meinen Klienten zählt, die Empfangsquittung für die soundsoviel Pfund, unterschrieben von dem Jockey. Ich 242
sehe die Bewegung des Geldes innerhalb der Nachbar schaft … die ineinander verwobenen Interessen … die Ströme des Handels. Ich erfahre die Namen von Lieferan ten, das Ausmaß der Geschäfte und die Art von Diensten, die die Leute benutzen. Mein Wissen nimmt zu, bis ich ei ne Art geistiger Landkarte habe, wie von einer großen Landschaft, in der alle Namen vertraut sind und an den richtigen Stellen auftauchen.« »Faszinierend«, sagte Hilary. »Nun«, sagte ich, »wenn ein vollkommen fremder Name auftaucht und man ihn nicht mit irgendwelchen anderen in Verbindung bringen kann, stellt man natürlich Fragen. Zu erst stellt man sich selbst die Fragen, dann anderen. Dis kret. Und auf diese Weise habe ich mir eines Tages Schwierigkeiten mit zwei Erzganoven namens Glitberg und Ownslow eingehandelt.« »Die Namen klingen nach einer Varieténummer.« »Sie sind genauso komisch wie der Schwarze Tod.« Ich trank ein wenig Sherry. »Sie haben für die Stadtverwal tung gearbeitet, und die Buchprüfungen der Stadtverwal tung wurden von einer großen Londoner Firma gemacht, der natürlich intime Ortskenntnisse fehlten. Ownslow und Glitberg hatten eine Scheinfirma namens National Con struction (Wessex) Ltd. aufgezogen, eine Baugesellschaft, durch die sie pro Kopf mehr als eine Million Pfund aus dem Stadtsäckel abschöpften. Und ich hatte einen Klien ten, einen Baustoffhändler, der mehrere Schecks von Na tional Construction (Wessex) Ltd. erhalten hatte. Ich hatte in anderem Zusammenhang noch nie von dieser Firma ge hört und stellte meinem Klienten einige eingehendere Fra gen, auf die er mit unübersehbarer Panik reagierte. Glit berg und Ownslow wurden verurteilt und verschwanden mit Racheschwüren im Gefängnis.« »Die Schwüre bezogen sich auf Sie?« 243
»Auf mich.« »Unangenehm.« »Einige Wochen später«, sagte ich, »ist noch einmal fast das gleiche passiert. Ich stieß auf einige seltsame Zahlun gen, die der Geschäftsführer einer Elektronikfirma über den firmeneigenen Computer hatte vornehmen lassen. Sein Name war Connaught Powys. Er hatte seine Firma um mehr als eine Viertelmillion erleichtert; auch er ging ins Gefängnis, und auch er schwor, es mir heimzuzahlen. Er ist jetzt wieder draußen, und Glitberg und Ownslow ebenfalls. Und ich war danach noch die Ursache für den Sturz zweier weiterer großformatiger Veruntreuer, die bei de, als man sie in ihre Zellen führte, schworen, mich in Stücke zu reißen und mir die Kehle durchzuschneiden.« Ich seufzte. »Glücklicherweise sitzen beide immer noch im Bau.« »Und ich dachte, Steuerberater führten ein eintöniges Leben!« »Einige vielleicht.« Ich trank meinen Sherry aus. »Diese fünf Veruntreuer haben außer meiner Rolle bei ihrer Ent deckung noch eine Gemeinsamkeit, nämlich die, daß nie mals ein Penny des Geldes, das sie veruntreut haben, wie der aufgetaucht ist.« »Ach wirklich?« Sie schien dem keine besondere Bedeu tung beizumessen. »Ich nehme an, es liegt alles auf ir gendwelchen Bankkonten unter verschiedenen Namen.« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn sie es nicht buch stäblich auf tausende kleiner Konten eingezahlt haben, was unwahrscheinlich erscheint.« »Warum müssen es Tausende sein?« »Die Banken müssen das Finanzamt heute von der Exi stenz eines jeden Kontos informieren, für das sich der Jah reszins auf fünfzehn Pfund oder mehr beläuft. Das bedeu tet, daß die Inspektoren vom Finanzamt über alle Konten 244
Bescheid wissen, auf denen mehr als drei- oder vierhun dert Pfund liegen.« »Davon hatte ich keine Ahnung«, sagte sie verblüfft. »Na, jedenfalls«, sagte ich, »wollte ich wissen, ob es möglich war, daß Powys oder Glitberg oder Ownslow mich aus Rachsucht entführt hatten, also habe ich sie ge fragt.« »Gütiger Himmel.« »Ja. Es war keine gute Idee. Sie haben weder ja noch nein gesagt.« Ich dachte an den Abend im Vivat Club zu rück. »Sie haben mir jedoch etwas anderes gesagt …«, fuhr ich fort und erzählte Hilary, was es war. Ihre Augen weiteten sich hinter den Brillengläsern, und sie nickte einoder zweimal. »Ich verstehe. Ja«, sagte sie. »So stehen die Dinge also«, sagte ich. »Inzwischen sind ein paar Jahre ins Land gegangen, und jetzt habe ich nicht nur meine geistige Landkarte von der näheren Umgebung, sondern verfüge auch über umfassende Kenntnis eines Großteils der Rennwelt mit unzählbaren Querverbindun gen. Ich bearbeite für so viele Leute aus der Rennwelt die Steuern, daß ihrer aller Leben sich wie ein gewaltiger Tep pich vor mir ausbreitet, und jede kleine Transaktion trägt zu meinem Verständnis des Ganzen bei. Als Jockey bin ich selbst Teil von alledem. Ich spüre den Stoff um mich her um. Ich weiß, wieviel ein Sattel kostet und welcher Sattler den größten Teil des Geschäfts macht und welche Besitzer ihre Rechnungen nicht bezahlen und wer wettet und wer trinkt, wer spart, wer für wohltätige Zwecke spendet, wer sich eine Geliebte hält. Ich weiß, wieviel die Frau, deren Pferd ich heute geritten habe, für die Fotos von dem Hengst bezahlt hat, die sie vergangenes Jahr als Weih nachtskarten verschickt hat, und ich weiß, wieviel ein Buchmacher für seinen Rolls-Royce ausgegeben hat. Ich 245
kenne tausende und abertausende ähnlicher Fakten. Alles passend, alles harmlos. Erst wenn irgendwelche Dinge nicht zusammenpassen … wie bei einem Jockey, der plötzlich mehr ausgibt, als er verdient, und von dem ich feststelle, daß er sich in einem ganz neuen Geschäftszweig engagiert, ohne einen Penny des verdienten Geldes an zugeben … wenn die einzelnen Teile nicht mehr zusam menpassen, dann sehe ich die Ungeheuer in der Tiefe. Nur vage und verborgen … aber eindeutig vorhanden.« »Wie jetzt zum Beispiel?« fragte sie stirnrunzelnd. »Ihr Eisberg?« »Hm.« Ich zögerte. »Noch ein Veruntreuer.« »Und dieser da – wird auch der ins Gefängnis wandern und schwören, Ihnen die Kehle durchzuschneiden?« Ich antwortete nicht sofort, und sie fügte trocken hinzu: »Oder wird er Ihnen die Kehle durchschneiden, bevor Sie ihn dort untergebracht haben?« Ich schenkte ihr ein klägliches Grinsen. »Nicht mit ei nem Fels wie Ihnen, nein.« »Seien Sie vorsichtig, Roland«, sagte sie ernst. »Das kommt mir alles todernst vor.« Sie erhob sich rastlos und war, wie sie da zwischen ihren Palmwedeln stand, auf ihre Weise genauso dünn wie deren Stämme. »Kommen Sie mit in die Küche. Was möchten Sie es sen? Ich kann uns ein spanisches Omelett machen, wenn Sie möchten.« Ich sah ihr zu, die Ellbogen auf den Küchentisch ge stützt, wie sie Zwiebeln, Kartoffeln und grüne Pepperoni kleinschnitt; ich erzählte ihr noch sehr viel mehr – das meiste davon meinem Berufsethos widersprechend, da ein Steuerberater niemals Näheres über die Angelegenheiten eines Klienten preisgeben darf. Sie hörte mit wachsendem Entsetzen zu, und ihre Bearbeitung des Gemüses wurde 246
immer langsamer. Schließlich legte sie das Messer weg und stand einfach nur da. »Ihr Partner«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wieweit er ein Auge zugedrückt hat«, sagte ich, »aber am Montag … muß ich es herausfinden.« »Informieren Sie die Polizei«, sagte sie. »Überlassen Sie es denen, Näheres herauszufinden.« »Nein. Ich arbeite jetzt seit sechs Jahren mit Trevor zu sammen. Wir sind immer gut miteinander ausgekommen, und er scheint mich zu mögen, auf seine distanzierte Art. Ich kann ihn nicht einfach so verpfeifen.« »Sie werden ihn warnen.« »Ja«, sagte ich. »Und ich werde ihn von der Existenz des … Felsens in Kenntnis setzen.« Sie widmete sich automatisch wieder ihrer Kocherei, aber man konnte sehen, daß es hinter ihrer Stirn arbeitete. »Glauben Sie«, sagte sie, »daß Ihr Partner von den ande ren Veruntreuern wußte und versucht hat, deren Betrüge reien zu vertuschen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht in den Fällen Glitberg und Ownslow. Ganz bestimmt nicht. Bei den letzten bei den auch nicht. Die Firmen, für die sie arbeiteten, zählten beide zu meinen Klienten, und Trevor hatte keinen Kon takt zu ihnen. Aber was Connaught Powys betrifft …« Ich seufzte. »Das weiß ich wirklich nicht. Trevor hat früher immer eine Woche in dessen Firma verbracht und die Prü fungen an Ort und Stelle durchgeführt, was man bei gro ßen Konzernen so gut wie nie tut, und ich bin in betreffendem Jahr nur deshalb hingegangen, weil er ein Magen geschwür hatte. Es war Connaught Powys’ Pech, daß ich durchschaut habe, was er da trieb. Trevor hätte die Warn zeichen tatsächlich übersehen können, weil er nicht immer so arbeitet, wie ich es tue.« »Wie meinen Sie das?« 247
»Nun, ein Großteil der Arbeit eines Steuerberaters ist ziemlich mechanisch. Das ›Belegen‹ zum Beispiel. Darun ter versteht man die Nachprüfung, ob ein im Kassenbuch eingetragener Scheck wirklich über den angegebenen Be trag ausgestellt wurde. Mit anderen Worten, wenn bei spielsweise der Kassierer ins Kassenbuch einträgt, daß Scheck Nr. 1234 an Joe Bloggs über die Summe von acht zig Pfund als Bezahlung für eine Fuhre Sand ausgestellt wurde, dann überprüft der Wirtschaftsprüfer, ob die Bank Joe Blogg wirklich achtzig Pfund auf Scheck Nr. 1234 ausgezahlt hat. Das ist eine Routinearbeit, die bei größeren Abschlüssen ziemlich viel Zeit in Anspruch nimmt und vielfach nicht vom Prüfer oder Steuerberater selbst, son dern von seinem Gehilfen durchgeführt wird. Die Gehilfen in unserem Büro kommen und gehen; sie entwickeln nicht unbedingt ein Gefühl dafür, was wahrscheinlich und plau sibel ist und was nicht. Unsere gegenwärtigen Gehilfen würden sich beispielsweise kaum fragen, ob es einen Joe Blogg tatsächlich gibt, ob er Sand verkauft, ob er Sand im Gegenwert von achtzig Pfund geliefert hat oder vielleicht nur für fünfzig Pfund und sich zusammen mit dem Kassie rer die dreißig Pfund ›Gewinn‹ eingestrichen hat.« »Roland!« Ich grinste. »Lauter kleine Fische. Die großen Fische sind es, die damit drohen, einem die Kehle durchzuschnei den.« Sie schlug vier Eier in eine Schüssel. »Nehmen Sie bei Ihren Prüfungen denn all dieses … hm … Belegen selbst vor?« »Nein, nicht alles. Das würde zu lange dauern. Aber ich überprüfe für einige Abschlüsse alles selbst und für alle Abschlüsse einiges. Um ein Gefühl für die Dinge zu be kommen. Um mich zu orientieren.« »In Ihrer Landschaft von Transaktionen«, sagte sie. 248
»Ja.« »Und Trevor tut das nicht?« »Einiges macht er wohl selbst, aber im großen und gan zen, nein. Verstehen Sie mich nicht falsch. Die Mehrheit der Steuerberater arbeitet wie Trevor; es ist absolut üb lich.« »Wollen Sie meinen Rat?« fragte sie. »Ja, bitte.« »Gehen Sie direkt zur Polizei.« »Vielen Dank. Machen Sie uns das Omelett fertig.« Sie ließ die Masse zischend in die Pfanne gleiten und verteilte sie später, saftig und weich in der Mitte, auf die Teller. Das Omelett war ein Beleg ihrer Tüchtigkeit und das Beste, das ich je gegessen hatte. Danach, beim Kaffee, erzählte ich ihr ziemlich viel von Jossie. Sie blickte in ihre Tasse. »Lieben Sie sie?« fragte sie. »Ich weiß nicht. Es ist zu früh, um das zu sagen.« »Sie klingen«, bemerkte sie trocken, »wie verzaubert.« »Es hat schon andere Mädchen gegeben. Aber nicht sol che.« Ich blickte in ihr abgewandtes Gesicht. Mein Mund zuckte. »Falls Sie sich wegen Jossie Gedanken gemacht haben«, sagte ich, »nein, ich habe nicht.« Sie blickte auf, die Brillengläser blitzten, und ihre Augen lachten plötzlich; eine leise Röte, die am Hals ihren Ur sprung nahm, überzog ihr Gesicht. Sie äußerte eine ganz und gar nicht schuldirektorinnenhafte Meinung. »Sie sind ein blöder Hund«, sagte sie. Die Fahrt von Hilarys Haus bis zu meinem Cottage dauer te eine Stunde. Niemand folgte mir oder interessierte sich auch nur im mindesten für mich, soweit ich sehen konnte. Ich rollte leise und mit ausgeschalteten Scheinwerfern die Straße hinunter auf das Cottage zu und kundschaftete die letzten hundert Meter lautlos und zu Fuß aus. 249
Alles um mein Heim herum war dunkel und friedlich. Die Lichter aus Mrs. Morris’ Wohnzimmer nebenan schie nen schwach durch das Muster ihrer Vorhänge. Der Nacht himmel war mit Sternen übersät und die Luft kühl. Ich wartete eine Weile, lauschte und ließ mich langsam überzeugen. Keine Ungeheuer in der Dunkelheit. Keine vernichtenden, schwarzen Gefängnisse, die sich wie Fuß angeln vor mir auftaten. Keine Halsabschneider mit blit zendem Stahl. Angst, so dachte ich, war keine gute Art zu leben; aber ich konnte nicht dagegen an. Ich schloß das Cottage auf und knipste alle Lichter an; es war leer, freundlich und normal. Ich holte den Wagen von der Straße, sperrte mich in dem Cottage ein, zog die Vor hänge zu, stellte die Heizgeräte an und umgab mich mit der tröstlichen Illusion, sicher in meinem Bau zu sitzen. Danach machte ich mir eine Kanne Kaffee, förderte et was Brandy zutage und lümmelte mich mit den alten Un terlagen der Missetaten von Powys, Glitberg & Ownslow in einen Sessel. Früher einmal hatte ich mich mit schlafwandlerischer Si cherheit in diesen Akten bewegt, aber in den seither ver gangenen Jahren war mir vieles entfallen. Ich fand Notizen in meiner eigenen Handschrift über Schlußfolgerungen, die gezogen zu haben ich mich nicht entsinnen konnte, und Rückschlüsse, die so beißend waren wie Säure. Ich staunte nicht schlecht über die Qualität der Arbeit, die ich geleistet hatte, und es war geradezu unheimlich, das Ganze aus einer objektiven Entfernung zu sehen, also gleichsam mit voll kommen neuen Augen. Wahrscheinlich verstand ich erst jetzt das Erstaunen, das ich damals hervorgerufen hatte; seinerzeit war mir das, was ich tat, vollkommen natürlich erschienen; es war meine Arbeit gewesen, und ich hatte sie lediglich so gut getan, wie ich es vermochte. Ich lächelte 250
angenehm überrascht. In jener fernen Zeit mußte ich für Veruntreuer geradezu ein Schrecken der Hölle gewesen sein. Nicht so wie heute, wo ich sechs Versuche brauchte, um einen Denby Crest zu erkennen. Ich stieß auf seitenlange Notizen über die Arbeitsweise von Computern, Einzelheiten, die ich genauso schnell ver gessen hatte, wie ich sie in einem Crash-Kurs in einer Elektronikfirma gelernt hatte, die der Powys’ sehr ähnlich gewesen war. Ich hatte es damals als überaus befriedigend empfunden, in der Lage zu sein, das, was er getan hatte, genau zu sezieren und zu erklären, und nichts hatte ihn mehr in Rage gebracht. Es war Eitelkeit meinerseits gewe sen, dachte ich: und ich war immer noch eitel. Die Be wunderung der eigenen Arbeit zählte zu den intellektuel len Todsünden. Ich seufzte. Ich würde niemals vollkommen sein, wes halb sollte ich mir also den Kopf zerbrechen. In der Akte Glitberg/Ownslow waren nirgends Unterla gen über den Kauf des Lagerhauses enthalten, aber es schien möglich zu sein, daß es tatsächlich von Glitberg und Ownslow gebaut worden war, wenn ich nur gründli cher nach Hinweisen suchte; damit wäre es dann das ein zige reale Bauwerk der National Construction (Wessex) Ltd. Wer ganze Straßen von Gebäuden erfinden konnte, würde wohl auch ohne große Probleme in der Lage sein, ein echtes Lagerhaus zu bauen. Ich fragte mich, wozu sie es gebraucht hatten, wo doch alles andere nur auf dem Papier bewerkstelligt worden war. Ein materieller Vermögenswert, der nicht zu Geld ge macht worden war, heruntergekommen, benutzt, um mich darin kaltzustellen. Man hatte der Polizei mitgeteilt, daß ich dort sei, und die Spur des Maklers hatte ohne Proble me direkt zu Ownslow und Glitberg geführt. 251
Warum? Ich saß da und dachte lange und gründlich darüber nach, dann trank ich den Kaffee und den Brandy aus und ging zu Bett. Ich holte Jossie um zehn Uhr eines grauen Morgens ab und fuhr mit ihr nach Portsmouth, um von dort aus die Luftkissenfähre zur Isle of Wight zu nehmen. »Die große Nostalgiewelle?« fragte Jossie. »Zurück ins Internat?« Ich nickte. »Die sonnige Insel der Kindheit.« »Ach ja?« Sie nahm meine Bemerkung wörtlich und blickte vielsagend zu dem bewölkten Himmel auf. »Platz eins der britischen Sonnenscheinliga«, sagte ich. »Erzählen Sie das den Leuten in Torquay.« Eine zehnminütige Spritztour mit dem Hovercraft brach te uns bei Spithead übers Meer, und als wir in Ryde an Land gingen, lagen die Wolken hinter uns, schwebten wie ein graues Laken über dem Festland. »Das ist unfair«, sagte Jossie lächelnd. »So ist es häufig.« Die Stadt erstrahlte in frischen Frühlingsfarben, und die Häuser aus der Regency-Epoche standen sauber und wür devoll in der Sonne. Jedes Jahr, bevor die Urlauber kamen, gab es ein allgemeines Großreinemachen und jeden Win ter, wenn sie wieder weg waren, einen gemütlichen Rück fall zu Pantoffeln und salzverkrusteten Fenstern. »Die Seebrücke von Ryde«, sagte ich, »ist siebenhun dertzwei Komma sechs Meter lang und wurde im Jahre achtzehnhundertvierzehn eröffnet.« »Das wollte ich gar nicht wissen.« »Auf dieser sonnigen Insel gibt es schätzungsweise sechshundert Hotels, Motels und Pensionen.« »Das auch nicht.« 252
»Neun Städte, zwei Burgen, eine Menge Flamingos und das Parkhurst-Gefängnis.« »Und das erst recht nicht, um Himmels willen.« »Mein Onkel Rufus«, sagte ich, »war oberster Ausmister in der heimischen Reitschule.« »Ach du liebe Güte.« »Als sein Hilfsausmister«, sagte ich, »bin ich seit mei nem sechsten Lebensjahr unter Pferdebäuche geklettert.« »Das wundert mich gar nicht.« »Ich habe den ganzen Winter über, wenn die Feriengäste wieder daheim waren, die Pferde und Ponys bewegt. Und die neuen eingeritten. Und ich kann mich wirklich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht reiten konnte, aber hier wer den natürlich keine Rennen veranstaltet. Mein erstes Ren nen war das ›Isle of Wight Foxhounds Querfeldein‹ drüben auf dem Festland, und dabei bin ich vom Pferd gefallen.« Wir gingen die Promenade entlang, und die Enden von Jossies langem, grünem Schal flatterten wie zwei Wimpel hinter ihr her. Sie zeigte mit weit ausladender Geste auf das blitzende Wasser und sagte: »Warum Pferde? Warum um Himmels willen nicht Boote, wo Sie die doch quasi vor der Haustür hatten?« »Ich werde seekrank.« Sie lachte. »Als käme man in den Himmel und hätte eine Allergie gegen Harfen.« Ich ging mit ihr in ein Hotel, das ich kannte, wo es eine sonnige, windgeschützte Terrasse mit einem atemberau benden Blick auf den Solent und den Schiffsverkehr von und nach Southampton gab. Wir tranken heiße Schokolade und lasen die Lunchkarte und sprachen über dies und das und nichts Besonderes, und die Zeit plätscherte wie ein Mühlbach dahin. Nach Roastbeef für uns beide und Apfelpastete, Eiscre me und Käse für Jossie pfiffen wir uns ein Taxi heran. An 253
einem Sonntagnachmittag im April waren nicht viele Taxis auf den Straßen unterwegs, aber wozu wäre ich ein Ein heimischer gewesen, hätte ich nicht gewußt, wo die Perlen zu finden waren. Der Fahrer kannte mich und mißbilligte es, daß ich aufs ›Festland‹ desertiert war, aber er wußte auch, daß ich die Straßen kannte wie meine Westentasche. Daher kamen wir auf direktem Weg über Blackgang Chine in die wilden Klippen an der Südwestküste, ohne idiotische Umwege für den Kilometerzähler. Dort trödelten wir etwa eine Stunde lang herum und hielten häufig an, um aus dem Wagen auf das windgepeitschte Gras zu klettern. Jossie nahm mit tie fen Atemstößen die seelenerfüllende Landschaft in sich auf und fragte, warum ich denn nur in Newbury lebte. »Pferderennen«, sagte ich. »So einfach.« »Macht es Ihnen was auch, wenn ich auf dem Rückweg bei einem Freund vorbeischaue?« fragte ich. »Auf zehn Minuten oder so?« »Natürlich nicht.« »Dann also nach Wootton Bridge«, sagte ich zu dem Fahrer. »Zur Werft Frederick.« »Die werden geschlossen haben. Heute ist Sonntag.« »Wir versuchen’s trotzdem.« Er zuckte theatralisch mit den Schultern, überließ mich den Konsequenzen meiner eigenen Dummheit und fuhr zurück über die Insel durch Newport und weiter Richtung Ryde bis zu der tiefen Bucht, die Hunderten kleiner Yach ten als natürlicher Hafen diente. Die weißgetünchte Fassade des Werftgebäudes präsen tierte sich uns mit geschlossenen Türen und ohne jedes Lebenszeichen. »Da haben Sie’s«, sagte der Fahrer. »Hab ich doch ge sagt.« 254
Ich stieg aus dem Wagen, ging zu der Tür mit der Auf schrift ›Büro‹ und klopfte an. Binnen weniger Augenblik ke wurde die Tür geöffnet, und ich drehte mich grinsend zu Jossie um und bat sie mit einer knappen Kopfbewegung zu mir. »Ich habe deine Nachricht bekommen«, sagte Johnny Frederick. »Und Sonntagnachmittags schlafe ich.« »In deinem Alter?« Er war genauso alt wie ich, fast auf den Tag: Wir hatten in der Schule dieselbe Bank gedrückt und zusammen so manchen Witz gerissen. Der rundgesichtige, schelmische Junge war zu einem muskulösen Mann mit salzgegerbter Haut, den Händen eines Handwerkers und einem einge fleischten Groll gegen jeglichen Papierkram herangewach sen. Er rief mich gelegentlich an, um in Erfahrung zu bringen, ob sein heimischer Steuerberater seine Sache auch richtig machte, und bombardierte den armen Mann anschließend mit meinen Ratschlägen. »Wie geht es deinem Vater?« fragte ich. »So ziemlich wie immer.« In lange vergangenen Tagen war Johnnys Vater ein Holz balken auf den Kopf gefallen. Es hatte eine Menge un freundlicher Witze über ›jetzt ein Brett mehr vorm Kopf‹ gegeben, aber unterm Strich war schließlich ein kränkelndes Familiengeschäft unter den Händen eines wachen, neuen Geistes wieder aufgeblüht. Mit Johnnys Plänen und seinem Gefühl für Material ging es mit Frederick Boats bergauf. Ich stellte ihm Jossie vor, die daraufhin einer scharfsichti gen Musterung in puncto Aerodynamik unterzogen wurde und ihre schlanken Finger in einer Hand wiederfand, die Ähnlichkeit mit einem Stück knorrigen Teakholzes hatte. »Nett, Sie kennenzulernen«, sagte er, was so ungefähr das Äußerste an höflicher Unterhaltung war, das ich ihm zutrau te. Dann wandte er sich von Jossie ab und sah mich an. 255
»Den Zeitungen zufolge hast du in letzter Zeit ganz schön was mitgemacht.« »Könnte man so sagen.« Ich grinste. »Was baust du im Augenblick?« »Komm mit und sieh’s dir an.« Er ging durch das rein zweckmäßig eingerichtete, kleine Büro und öffnete die gegenüberliegende Tür, die direkt in die Werfthalle führte. Wir gingen hindurch, und Jossie quittierte die unerwartete Größe der gewaltigen Halle, die bis ans Wasser hinunterreichte, mit einem lauten Ausruf. In der Halle standen einige kleinere Fiberglasrümpfe aufgebockt und in der Mitte zwei große mit je etwa an derthalb Meter langem Kiel nebeneinander. »Wie groß sind diese Boote?« fragte Jossie. »Elf Meter zehn Länge über alles.« »Sie sehen größer aus.« »Nachher auf dem Wasser nicht mehr. Diese Boote sind die größten, die wir augenblicklich hier bauen.« Johnny führte uns um eines von ihnen herum und erklärte uns vol ler Stolz die Feinheiten der Rumpfform. »Läßt sich auch bei schwerer See noch gut beherrschen. Kursstabil und nicht allzuschwer zu segeln. So wollen es die meisten Kunden.« »Keine Rennyacht?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Die kleinen da drüben ja. Aber die großen Regattayachten sind was für Spezialisten. Da für ist unsere Werft nicht groß genug und nicht ausgerü stet. Außerdem mag ich Kreuzer. Ein bißchen Teppich im Salon und Schapps mit seidenweich schließenden Türen.« Jossie schlenderte die betonierte Schräge hinunter, be trachtete die halbfertigen Boote und wirkte ausreichend interessiert. Ich zog den Umschlag mit vergrößerten Foto grafien aus meiner Innentasche und zeigte sie Johnny. Drei Bilder von einem Segelboot und eines von einem unschar fen Mann. 256
»Das ist das Boot, auf dem ich entführt wurde. Kannst du anhand dieser Fotos irgend etwas darüber sagen?« Er sah sie sich, den Kopf zur Seite gelegt, genau an. »Wenn du sie mir hierläßt, vielleicht. Ich gehe mal die Kata loge durch und frage die Jungs drüben in Cowes. Erinnerst du dich vielleicht an irgendeine Besonderheit des Bootes?« Ich erklärte ihm, daß ich nicht viel gesehen hatte außer der Segelkabine. »Ich denke, das Boot war ziemlich neu. Oder jedenfalls gut gewartet. Und hat England irgendwann am Abend des siebzehnten März, eines Donnerstags, ver lassen.« Er blätterte die Abzüge durch, um einen Blick auf den Mann zu werfen. »Sein Name ist Alaistair Yardley«, sagte ich. »Ich habe es auf die Rückseite geschrieben. Er kommt aus Bristol und ist früher als Deckhand bei Hochseeregatten gefahren. Er war der Skipper des Bootes. Und er müßte ungefähr so alt sein wie wir.« »Brauchst du diese Informationen schnell?« »Je eher, desto besser.« »In Ordnung. Ich rufe mal ein paar Leute an. Ich melde mich dann morgen bei dir, wenn ich irgend etwas heraus gefunden habe.« »Wunderbar.« Er schob die Abzüge wieder in ihren Umschlag und wandte seinen Blick gemächlich Richtung Jossie. »Ein Vollblutfüllen«, sagte er. »Gute Linien.« »Hände weg.« »Mir sind die etwas erdenschwereren lieber, Junge. Viel Busen und nicht zuviel Grips.« »Langweilig.« »Wenn ich nach Hause komme, will ich einen heißen Tee und ein bißchen schmusen, wenn mir danach ist, und kein Emanzipationsgeschwätz.« 257
Wenn ich nach Hause kam, dachte ich, wäre Jossie mir gerade recht. Sie kam mit großen Schritten auf ihren langen Beinen die Helling wieder hinauf und stand schließlich neben uns. »Ich hatte mal eine Freundin, deren Freund sie unbedingt mit zum Segeln nehmen wollte«, sagte sie. »Sie sagte, es mache ihr nicht viel aus, naß zu sein oder kalt oder hung rig oder seekrank oder in Panik. Nur das alles gleichzeitig wolle sie nicht.« Johnny sah mich verstohlen von der Seite an. »Mit die sem Freund wäre sie aus dem Schneider gewesen. Der wird schon im Hafen seekrank.« Jossie nickte. »Schwächlich.« »Danke«, sagte ich. »Gern geschehen.« Wir gingen durch das Büro zurück und stiegen wieder ins Taxi. Johnny winkte uns zum Abschied nach. »Noch mehr alte Kumpel?« fragte Jossie. »Heute nicht. Wenn ich mit den Tanten anfange, hängen wir ewig hier fest. Besuchst du eine, mußt du alle besu chen, sonst gibt es einen Aufstand.« Wir fuhren jedoch auf Jossies Bitte hin an der ehemali gen Pension meiner Mutter vorbei. Über die ganze Vorder seite zog sich eine neue Glasveranda, und hinter dem Gar ten befand sich ein Parkplatz. Blumenkübel, helle Marki sen und ein im Wind baumelndes Schild mit der Aufschrift ›Zimmer frei‹. »Tapfer«, sagte Jossie, eindeutig gerührt. »Meinen Sie nicht auch?« Ich bezahlte den Taxifahrer, und wir gingen von der Pen sion aus ans Meer hinunter; über uns geiferten die Möwen, während die weiße, kleine Stadt auf ihrem sonnigen Hügel der Teezeit entgegenschlummerte. »Es ist hübsch«, sagte Jossie. »Und ich verstehe, warum Sie weggegangen sind.« 258
Es schien ihr genauso recht zu sein wie mir, den Rest des Tages zu vertrödeln. Wir nahmen auch auf dem Rückweg das Luftkissenboot und fuhren dann langsam Richtung Norden. Als es däm merte, machten wir auf einen Drink und eine gummiartige Schweinepastete in einem Pub halt und waren schließlich zwölf Stunden nach unserem Aufbruch wieder am Ax wood House. »Dieser Wagen«, sagte Jossie und zeigte ungnädig auf einen harmlosen Volvo, »gehört der abscheulichen Lida.« Die Lampe über der Haustür beschien ihr verärgertes Ge sicht. Ich lächelte, und sie schloß mich in ihre Ungnade ein. »Ihnen macht das nichts aus. Sie brauchen auch nicht zu befürchten, daß sie bei Ihnen einzieht.« »Sie könnten ja ausziehen«, sagte ich milde. »Einfach so?« »In mein Cottage vielleicht.« »Ach du liebe Güte!« »Sie könnten es ja mal inspizieren«, sagte ich, »auf Sau berkeit, Fäulnis und Spinnen.« Sie schenkte mir ihren unduldsamsten Blick. »Butler, Koch und Hausmädchen?« »Sechs Lakaien und eine Zofe.« »Ich komme mal auf Tee und Gurkensandwiches vorbei. Ich nehme doch an, Sie haben Gurkensandwiches?« »Natürlich.« »Hauchdünn und ohne Krusten?« »Selbstredend.« Ich hatte sie wirklich überrascht. Sie wußte nicht, was sie darauf sagen sollte. Andererseits stand außer Frage, daß sie mir nicht verzückt in die Arme sinken würde. Es gab vieles, was ich gern gesagt hätte, aber ich wußte nicht recht wie. Dinge wie Fürsorge und Trost und Zukunft. 259
»Nächsten Sonntag«, sagte sie. »Um halb vier. Zum Tee.« »Ich werde das Personal Aufstellung nehmen lassen.« Sie beschloß, aus dem Auto zu steigen, und ich ging um den Wagen herum, um ihr die Tür zu öffnen. Ihre Augen wirkten riesig. »Meinen Sie das ernst?« fragte sie. »O ja. Es liegt an Ihnen … die Entscheidung zu treffen.« »Nach dem Tee?« Ich schüttelte den Kopf. »Jederzeit.« Ihr Gesichtsausdruck wurde langsam weicher und wan delte sich zu ungewohnter Sanftheit. Ich küßte sie und küßte sie dann noch einmal mit Überzeugung. »Ich glaube, ich gehe jetzt rein«, sagte sie unschlüssig und wandte sich ab. »Jossie …« »Was?« Ich schluckte. Schüttelte den Kopf. »Komm zum Tee«, sagte ich hilflos. »Komm zum Tee.«
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16
A
m Montag morgen ging ich nach einer weiteren Nacht ohne Störungen oder Ausflüge mit der guten Absicht ins Büro, wirklich etwas Arbeit wegzuschaffen. Peter stellte seine allmontagliche Jammermiene zur Schau, Bess hatte ihre Tage und Bauchschmerzen, und Debbie war wegen eines Streits mit ihrem schraubenverkaufenden Verlobten in Tränen aufgelöst: Büroalltag, wie ich ihn kannte. Trevor kam mit väterlich besorgter Miene in mein Büro und schien beruhigt zu sein, daß mein Äußeres nicht mehr so leichenhaft wirkte wie am Freitag. »Du hast dich also ausgeruht, Ro«, sagte er erleichtert. »Ich habe ein Rennen geritten und bin mit einem Mäd chen ans Meer gefahren.« »Gütiger Himmel. Na, jedenfalls scheint es dir gutgetan zu haben. Besser, als die ganze Zeit zu arbeiten.« »Ja …«, sagte ich. »Trevor, ich war allerdings Samstag morgen noch ein paar Stunden im Büro.« Seine sorgenvolle Miene kehrte kaum merklich zurück. Er wartete mit dem Benehmen eines Patienten, der von seinem Arzt eine schlechte Neuigkeit befürchtete, auf meine nächsten Worte: Und ich verspürte unsagbares Be dauern darüber, ihm eben diese schlechte Nachricht über bringen zu müssen. »Denby Crest«, sagte ich. »Ro …« Er breitete die Hände aus, die Handflächen nach unten; es war eine Geste, die von väterlicher Unge 261
haltenheit über einen aufsässigen Sohn sprach, der sich nicht mit dem Wort seines Erzeugers abfinden wollte. »Ich kann nun mal nicht dagegen an«, sagte ich. »Ich weiß, er ist ein Klient und ein Freund von dir, aber wenn er fünfzigtausend Pfund unterschlagen hat und du die Sa che vertuschst, betrifft uns das beide. Es betrifft dieses Bü ro, diese Partnerschaft und unsere Zukunft. Das muß dir doch klar sein. Wir können nicht einfach die ganze Sache ignorieren und so tun, als wäre es nie passiert.« »Ro, glaub mir, es kommt alles wieder in Ordnung.« Ich schüttelte den Kopf. »Trevor, ruf Denby Crest an und bitte ihn, noch heute zu uns zu kommen, damit wir bespre chen können, wie es weitergehen soll.« »Nein.« »Doch«, sagte ich kategorisch. »Ich nehme das nicht hin, Trevor. Ich bin die Hälfte unseres Unternehmens, und wir werden nichts Illegales tun.« »Du bist halsstarrig.« Die Mischung aus Kummer und Ärger hatte sich bei ihm verschärft. Genau die beiden Ge fühle, schoß es mir durch den Kopf, die einem leise Ge wissensbisse verursachten, während man ein Kaninchen abschoß. »Bestell ihn für vier Uhr her«, sagte ich. »Ich kann ihn nicht so herumkommandieren.« »Es könnte ihm Schlimmeres widerfahren«, sagte ich. Ich sprach ohne besonderen Nachdruck, aber er wußte ganz gut, daß es eine Drohung war. Der Ärger gewann schließlich die Oberhand über den Kummer. »Na schön, Ro«, sagte er verdrossen. »Na schön.« Er verließ mein Büro bar jeder mitfühlenden Besorgnis für mich, mit der er gekommen war, und ich fühlte mich einsam; als hätte ich etwas verloren. Ich konnte ihm alles verzeihen, dachte ich niedergeschlagen, aber das Gesetz würde es nicht tun. Ich lebte nach dem Gesetz, und das 262
entsprang sowohl meiner Neigung als auch meiner freien Entscheidung. Wenn mein Freund das Gesetz brach, sollte ich dem Gesetz dann um seinetwillen den Rücken kehren, oder sollte ich meinem Freund um des Gesetzes willen den Rücken kehren? Abstrakt betrachtet sah ich darin kein Problem. Wenn es aber um Menschen aus Fleisch und Blut ging, schreckten mich diese Konsequenzen. Es war nicht im mindesten vergnüglich, das Werkzeug von Kummer, Ruin und Strafverfolgung zu sein. Wieviel einfacher wäre es, wenn der Missetäter aus eigenem freien Willen geste hen würde, statt seinen Freund zu zwingen, ihn anzupran gern: Eine sentimentale Lösung, dachte ich ätzend, die es nur in Schnulzen gab. In meinem Falle fürchtete ich, wür de es keinen so einfachen Ausweg geben. Inmitten dieser pessimistischen Überlegungen kam ein Telefongespräch von Hilary, deren Stimme, als ich an den Apparat ging, erleichtert klang. »Was ist los?« fragte ich. »Nichts. Ich wollte nur …« Sie hielt inne. »Sie wollten nur was?« »Ich wollte nur wissen, daß Sie da sind, wo Sie sind.« »Hilary!« »Klingt wahrscheinlich dumm, jetzt, da wir beide wis sen, daß Sie eben dort sind. Aber ich wollte eben sicher sein. Immerhin hätten Sie mir nicht die Rolle des Felsens zugewiesen, wenn Sie nicht glaubten, daß Ihnen keinerlei Gefahr drohe.« »Hm«, sagte ich und lächelte ins Telefon. »Felsige Er mahnungen.« Sie lachte. »Passen Sie auf sich auf, Ro.« »Sehr wohl, Ma’am.« Ich legte den Hörer auf und staunte über ihre Freund lichkeit; und fast im selben Augenblick klingelte es aber mals. 263
»Roland?« »Ja, Moira?« Ihr Seufzen kam deutlich hörbar durch die Leitung. »Gott sei Dank! Ich habe gestern den ganzen Tag versucht, Sie zu erreichen, aber es hat nie jemand abgenommen.« »Ich war den ganzen Tag nicht da.« »Ja, aber das wußte ich nicht. Ich meine, ich habe mir al les mögliche eingebildet, zum Beispiel daß man Sie wie der gekidnappt hat und alles nur meinetwegen.« »Das tut mir leid.« »Ach, es ist nicht so wichtig, jetzt, da ich weiß, daß es Ihnen gutgeht. Ich hatte diese gräßliche Vision, daß man Sie wieder eingesperrt hätte und Sie jemanden brauchen könnten, der Sie rettet. Ich habe mir ja solche Sorgen ge macht. Wegen Binny.« »Was ist mit Binny?« »Ich glaube, er ist jetzt wirklich verrückt geworden«, sagte sie. »Übergeschnappt. Ich bin gestern morgen zu seinem Stall gefahren, um zu sehen, ob mit Tapestry nach dem Rennen alles in Ordnung war, und er wollte mich nicht auf den Hof lassen. Binny, meine ich. Alle Tore wa ren mit Vorhängeschlössern und Ketten versperrt. Das ist Wahnsinn. Er kam angelaufen und baute sich vor dem Tor des Hofes auf, auf dem sich Tapestry befindet, fuchtelte mit den Armen herum und sagte, ich solle weggehen. Ich meine, das ist doch wahnsinnig.« »Das ist es ganz gewiß.« »Ich habe ihm gesagt, daß er einen furchtbaren Unfall hätte verursachen können, weil er an diesem Zügel her umgepfuscht hat, und er schrie, er hätte es nicht getan, und ich könne es nicht beweisen, und alles, was Ihnen zustie ße, wäre meine Schuld, weil ich darauf bestanden hätte, daß Sie das Pferd reiten.« Sie hielt inne, um Atem zu ho len. »Er sah so … hm, so gefährlich aus. Und gefährlich 264
ist er mir bisher nie erschienen, nur einfach dumm. Sie werden es gewiß für töricht halten, aber ich hatte richtig Angst.« »Ich halte es keineswegs für töricht«, sagte ich wahr heitsgemäß. »Und plötzlich wußte ich es; es war wie eine Offenba rung«, sagte sie, »daß es Binny gewesen war, der Sie ent führt hat, beide Male, und daß er es wieder getan hatte oder etwas noch Schlimmeres …« »Moira …« »Ja, aber Sie haben ihn nicht gesehen. Und dann ging bei Ihnen niemand ans Telefon. Ich weiß, Sie denken be stimmt, ich wäre töricht, aber ich habe mir solche Sorgen gemacht.« »Ich bin Ihnen sehr dankbar …«, begann ich. »Sehen Sie, Binny hat nie gedacht, daß Sie den Gold Cup gewinnen würden«, sprach sie hastig weiter. »Und in dem Augenblick, in dem Sie tatsächlich siegten, habe ich ihm erklärt, daß in Zukunft immer Sie Tapestry reiten würden, und er war fuchsteufelswild, absolut fuchsteu felswild. Sie würden es nicht glauben. Also hat er Sie na türlich sofort entführen lassen, damit Sie aus dem Weg wa ren und ich einen anderen Jockey akzeptieren mußte, und dann sind Sie entkommen und sollten in Ascot reiten, also hat er Sie noch mal entführt. Er hat regelrecht durchge dreht, als ich nicht erlaubte, daß Tapestry mit einem ande ren Jockey in Ascot an den Start ging. Außerdem habe ich bei der Presse solchen Wirbel gemacht, daß er Sie rauslas sen mußte, aber jetzt mußte er sich etwas anderes ausden ken, wie zum Beispiel die Zerstörung des Zügels. Jetzt, glaube ich, ist er derart wahnsinnig, daß er nicht mehr weiß, was er tut. Ich meine, er scheint zu denken, daß ich, wenn er Sie entführt oder sogar tötet, nächste Woche Samstag einen anderen Jockey für den Whitbread Gold 265
Cup akzeptieren muß, und ich glaube ehrlich, daß er nicht mehr bei Sinnen ist, daß er wirklich furchtbar gefährlich ist. Er ist besessen, also verstehen Sie bestimmt, daß ich mir furchtbare Sorgen um Sie gemacht habe.« »Das verstehe ich durchaus«, sagte ich. »Und ich bin Ih nen unglaublich dankbar dafür.« »Aber was werden Sie tun?« jammerte sie. »Wegen Binny? Hören Sie zu, Moira, bitte hören Sie zu.« »Ja«, sagte sie, und ihre Stimme klang schon ein wenig ruhiger. »Ich höre zu.« »Unternehmen Sie absolut nichts.« »Aber Roland«, protestierte sie. »Hören Sie zu. Ich bin mir sicher, daß Sie durchaus rich tig mit Ihrer Vermutung liegen, daß Binny sich in einem gefährlichen Geisteszustand befindet, aber alles, was Sie oder ich tun könnten, würde seinen Zustand noch ver schlechtern. Lassen Sie ihn sich ein wenig beruhigen. Ge ben Sie ihm ein paar Tage Zeit. Schicken Sie dann einen Pferdetransporter, wenn möglich mit Polizeieskorte – und man kann Polizisten für solche privaten Aufträge gewin nen, man braucht lediglich auf dem örtlichen Revier vor zusprechen und anzubieten, die Männer für ihre Arbeit zu bezahlen –, dann holen Sie Tapestry ab und schicken ihn zu einem anderen Trainer.« »Roland!« »Man kann’s mit der Treue auch übertreiben«, sagte ich. »Binny hat, was das Training des Pferdes betrifft, wahre Wunder gewirkt, da bin ich Ihrer Meinung, aber Sie schul den ihm nichts. Wenn Sie nicht einen so ausgeprägten Wil len bewiesen hätten, hätte er das Pferd manipuliert, um sich selbst zu bereichern, wie Sie sehr wohl wissen, und Ihr Vergnügen wäre dabei völlig auf der Strecke geblie ben.« 266
»Aber was Ihre Entführung betrifft …«, begann sie. »Nein, Moira«, sagte ich. »Das ist er nicht gewesen; es war nicht Binny. Ich zweifle nicht daran, daß er begeistert darüber war, aber er hat die Sache nicht arrangiert.« Sie war erstaunt. »Aber er muß es gewesen sein.« »Nein.« »Warum nicht?« »Jede Menge komplizierte Gründe. Aber zum einen hätte er mich nicht direkt nach dem Gold Cup entführt. Das wä re nicht notwendig gewesen. Wenn er mich aus dem Weg haben wollte, damit ich Tapestry nicht mehr reiten konnte, hätte er es erst vor dem nächsten Rennen des Pferdes ge tan, annähernd drei Wochen später.« »Oh«, sagte sie zweifelnd. »Die erste Entführung war geschickt eingefädelt«, sagte ich. »Binny kann unmöglich Zeit gehabt haben, die Sache zwischen dem Gold Cup und dem Augenblick zu arrangie ren, in dem ich überwältigt wurde, also etwa eine Stunde später.« »Sind Sie sich da sicher?« »Ja, Moira, ziemlich sicher. Und als er dann wirklich ver suchte, mich daran zu hindern, weiter zu siegen, tat er das auf eine sehr direkte und einfache Weise, nicht mit etwas Kompliziertem wie einer Entführung. Er hat mich zu beste chen versucht, und er hat den Zügel zerschnitten. Das paßt viel besser zu ihm. Er war schon immer ein Narr, und jetzt ist er ein gefährlicher Narr, aber er ist kein Kidnapper.« »Ach du liebe Güte«, sagte sie und klang enttäuscht. »Und ich war mir so sicher.« Schließlich heiterte sich ihre Stimmung ein wenig auf, und sie fragte mich, ob ich Tapestry in Whitbread reiten würde. Ich sagte, mit Freuden, und sie versetzte meinem Ego einen Dämpfer, indem sie die Meinung eines ihrer Freunde bei der Presse an mich weitergab. Etwas in dem 267
Sinne, daß Tapestry eines jener Pferde sei, die gern das Sagen hatten, und daß ein Amateur, der einfach im Sattel saß und nicht viel tat, genau das sei, was dem Pferd am besten gefiel. Leise grinsend legte ich den Hörer auf. Der Freund bei der Presse hatte recht; aber wen interessierte das schon? Während des restlichen Vormittags versuchte ich, mich durch den Dschungel allfälliger Korrespondenz zu kämp fen, mußte aber feststellen, daß ich mich einfach nicht konzentrieren konnte. Die Früchte von zwei Stunden, in denen ich Briefe gelesen und auf meinem Schreibtisch hin und her geschoben hatte, waren drei Stapel mit der Auf schrift »Überfällig«, »Dringend« und »Wenn wir die nicht heute rauskriegen, gibt es Ärger«. Debbie rümpfte ihre tugendhafte Nase angesichts meiner Unfähigkeit, mich meiner Arbeit zu widmen, und bemerk te steif, daß ich sie unterfordere. Unterfordere … oh, ihr Götter! Wo hatte sie bloß dieses hochtrabende Geschwafel aufgelesen? »Sie meinen, ich gebe Ihnen nicht genug zu tun?« »Genau das habe ich gesagt.« Über Mittag blieb ich allein im Büro und blickte ins Lee re. Und dann klingelte abermals mein Telefon. Johnny Frederick, voller Neuigkeiten. »Was dagegen, wenn ich dir eine Rechnung für Telefon anrufe schicke?« fragte er. »Der Spaß hat mich bestimmt dreißig Mäuse gekostet. Ich habe den ganzen Vormittag geredet.« »Ich schicke dir einen Scheck.« »In Ordnung. Also, Kumpel, dann stell mal deine Lau scher auf. Das Boot, auf dem du warst, wurde in Lyming ton gebaut und segelte am siebzehnten März nach Ein bruch der Dunkelheit von dort aus los. Das Boot war absolut brandneu, hatte noch nicht alle Tests durchlaufen 268
und war weder registriert noch getauft. Gebaut hat es eine erstklassige Werft namens Goldenwave Marine, und zwar für einen Kunden namens Arthur Robinson.« »Für wen?« »Arthur Robinson. Jedenfalls sagte er mir, so hätte der Name gelautet. Und an Mr. Robinson sei nur eine einzige Kleinigkeit ungewöhnlich gewesen, nämlich daß er das Boot in bar bezahlt hätte.« Er wartete gespannt auf meine Antwort. »Wieviel Bargeld?« fragte ich. »Zweihunderttausend Pfund.« »Menschenskind!« »Na ja«, sagte Johnny, »diese Preislage ist für Golden wave die untere Kante. Sie bauen vorzügliche kleine Kreuzer für eine Million an aufwärts. Mit goldenen Was serhähnen. Für Araber.« »Und alles in bar?« »Oft genug jedenfalls, vermute ich mal. Arthur Robinson also hat immer pünktlich bezahlt, so wie die Raten wäh rend der Bauzeit des Bootes fällig wurden, aber immer, wie gesagt, mit Papiergeld. Goldenwave Marine interes siert sich natürlich nicht für die Frage, ob ihr Kunde seine Mäuse versteuert. Geht sie nichts an.« »Klar«, sagte ich. »Weiter.« »An betreffendem Donnerstag – dem siebzehnten März – rief Arthur Robinson irgendwann vormittags bei Gol denwave an und sagte, er wolle am Abend mit einigen Freunden an Bord eine Party feiern und ob man bitte dafür sorgen würde, daß die Wasser- und Benzintanks aufgefüllt wären und alles in Ordnung gebracht wurde. Was Gol denwave natürlich tat.« »Ohne Frage.« »Klar. Man streitet nicht mit zweihunderttausend Pfund. Na, jedenfalls war das Boot draußen in tiefem Wasser 269
vermurt, man bereitete alles für den Besuch des Besitzers vor und brachte das Beiboot an Land, damit er sein Schiff irgendwie erreichen konnte.« »Ein schwarzes Gummibeiboot?« »Danach habe ich nicht gefragt. Man hatte den Nacht wächter über die Party ins Bild gesetzt, daher ließ er die Leute aufs Boot und legte ganz allgemein mit Hand an, damit sie auslaufen konnten. Ich habe ihn heute morgen aus dem Bett geklingelt, um mit ihm zu reden, worüber er natürlich nicht übermäßig begeistert war, aber er erinnert sich recht gut an den Abend, denn das Boot segelte seiner zeit davon und kehrte nie mehr zurück.« »Was hat er gesagt?« »Es wären zwei Gruppen von Leuten gewesen, sagte er. Die eine Gruppe sei mit einem alten, weißen Lieferwagen gekommen, der ihm für den Besitzer eines solchen Bootes doch recht bescheiden erschien. Man würde eher einen Rolls erwarten, meinte er.« Johnny kicherte. »Die ersten Ankömmlinge, drei Leute, waren die Mannschaft. Sie lu den Vorräte aus einem Kombi und brachten sie in zwei Fuhren aufs Boot. Dann kam der weiße Lieferwagen mit weiteren Männern, von denen einer lag. Dem Nachtwäch ter erzählten sie, er sei stockbetrunken; ich nehme an, das warst du. Dann gingen die ersten drei Männer und der Be trunkene an Bord, und die anderen Männer fuhren in dem alten Lieferwagen und dem Kombi weg, und das war’s dann. Der Nachtwächter fand, daß das wohl eine ziemlich langweilige Party war, notierte sich die Auslaufzeit in sei nem Dienstbuch und kümmerte sich nicht weiter um die Sache. Am nächsten Morgen kein Boot mehr weit und breit.« »Und keine Meldung an die Polizei?« »Der Besitzer hatte sein Eigentum mitgenommen, für das er voll bezahlt hatte. Goldenwave hatte ohnehin erwar 270
tet, daß er das Boot eine Woche später in Besitz nehmen würde, also haben sie nicht viel drum gegeben.« »Du hast ein richtiggehendes Wunder vollbracht«, sagte ich. »Möchtest du noch etwas über Alaistair Yardley wis sen?« »Du hast noch mehr auf Lager?« »Und ob. Er scheint recht gut bekannt zu sein. Mehrere der größeren Werften haben ihn Kunden empfohlen, die ihre Boote von England, sagen wir, nach Bermuda gese gelt haben wollten oder in die Karibik und so weiter, keine eigene Mannschaft haben und auch keine Lust, selbst über den Atlantik zu segeln. Yardley stellt sich seine eigene Mannschaft zusammen und bezahlt die Leute auch selbst. Er ist kein Betrüger. Hat einen guten Ruf. Aber ein ziem lich harter Bursche. Und er ist nicht billig. Wenn er bereit war, dabei zu helfen, dich zu shanghaien, kannst du darauf wetten, daß Mr. Arthur Robinson sich dumm und dämlich dafür bezahlt hat. Aber du kannst ihn selbst fragen, wenn du willst.« »Wie meinst du das?« Johnny triumphierte, zu Recht. »Ich hatte unglaubliches Glück, Kumpel. Wohlgemerkt, ich habe sechs Werften nach ihm abgesucht, aber er ist jetzt in England, um die nächste Yacht abzuholen, und er wird mit dir reden, wenn du ihn mehr oder weniger auf der Stelle anrufst.« »Ich fasse es nicht!« »Hier ist seine Nummer.« Er gab sie mir durch, und ich schrieb mit. »Ruf ihn vor zwei Uhr an. Wenn du willst, kannst du auch mit dem Burschen reden, der Goldenwave leitet. Das ist seine Nummer. Er sagte, er würde dir helfen, so gut er könnte.« »Du bist ein As«, sagte ich; sein Erfolg raubte mir schier den Atem. 271
»Wir hatten unheimlich Dusel, Kumpel, denn als ich gleich heute morgen mit diesen Fotos nach Cowes ging, habe ich mich überall umgehört, und auf der dritten Werft, bei der ich es versucht habe, war jemand, der letztes Jahr bei Goldenwave gearbeitet hat, und er sagte, das Boot sähe wie deren Golden Sixty Five aus, also habe ich dort ange rufen, und das Abfahrtsdatum gab den Ausschlag.« »Ich kann dir gar nicht genug danken.« »Um die Wahrheit zu sagen, Kumpel, es war ganz schön aufregend, und im Augenblick läuft hier nicht besonders viel. Der Vormittag hat mir Spaß gemacht. Tatsache.« »Ich rufe dich an. Und erzähle dir, wie die Sache weiter gegangen ist.« »Super. Ich kann’s gar nicht erwarten. Dann mal bis bald.« Er legte auf, und ich rief mit einem seltsam flauen Ge fühl in der Magengrube die erste Telefonnummer an, die er mir gegeben hatte. Eine Werft. Ob ich bitte mit Alaistair Yardley sprechen könne? Bleiben Sie dran, sagte die Ver mittlung. Ich blieb. »Hallo?« Die bekannte Stimme. Kühn, selbstsicher, was kostet die Welt, ich kauf sie mir. »Hier ist Roland Britten«, sagte ich. Nach kurzem Schweigen sagte er langsam: »Ja.« »Sie sagten, Sie würden mit mir reden.« »Ja.« Er hielt inne. »Ihr Freund, dieser John Frederick, der Bootsbauer, hat mir heute morgen erzählt, man hätte mir, was Sie betrifft, einen Bären aufgebunden.« »Wie meinen Sie das?« »Man hat mir erzählt, Sie seien ein Erpresser.« »Ein was?« »Ja.« Er seufzte. »Na ja, dieser Arthur Robinson sagte mir, Sie hätten seine Frau mit ein paar kompromittieren 272
den Fotos reingelegt und versuchten jetzt, sie zu erpressen, und er wollte Ihnen eine Lektion erteilen.« »Oh«, sagte ich verblüfft. Das erklärte eine Menge, dachte ich. »Ihr Freund Frederick hat mir erzählt, das sei alles Blöd sinn gewesen. Er sagte, man hätte mich aufs Kreuz gelegt. Damit hat er wohl recht. All die anderen Jungs hier auf der Werft wissen, daß Sie dieses Rennen gewonnen hatten und anschließend verschwanden. Sie haben es mir gerade er zählt. Scheint in allen Zeitungen gestanden zu haben. Aber ich habe diese Zeitungen natürlich nicht zu Gesicht be kommen.« »Wie lange«, fragte ich, »sollten Sie mich auf dem Boot festhalten?« »Er sagte, wir sollten ihn Montag, den vierten April, abends anrufen, dann wollte er mir Anweisung geben, wann und wo und wie ich Sie freilassen sollte. Aber Sie sind ja am Dienstag davor von Bord gegangen, und wie Sie diesen Hebel abbekommen haben, ist mir ein ver dammtes Rätsel … Ich habe noch am gleichen Abend an gerufen, und er war so maßlos wütend, daß er gar nicht mehr sprechen konnte. Dann sagte er also, er würde mich für die Sache mit Ihnen nicht bezahlen, und ich sagte, wenn er das nicht täte, könnte er sein Boot in den Kamin schreiben, ich würde es einfach in irgendeinen Hafen se geln und davonspazieren, und er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen müssen, um es wiederzufinden. Also sagte ich, er könne mir das Geld nach Palma schicken, wo ich ein Konto hätte, und wenn ich es bekäme, würde ich tun, was er wollte, nämlich sein Boot nach Antibes brin gen und es dort dem Schiffsmakler übergeben.« »Dem Makler?« »Ja. Komisch, nicht? Er hatte es gerade erst gekauft. Weshalb wollte er es schon wieder verkaufen?« 273
»Nun …«, sagte ich. »Erinnern Sie sich noch an seine Telefonnummer?« »Nein. Die habe ich natürlich weggeworfen, sobald ich sein Boot los war.« »In Antibes?« »Genau.« »Haben Sie ihn mal kennengelernt?« fragte ich. »Ja. An diesem Abend in Lymington. Er hat mir gesagt, ich solle auf keinen Fall mit Ihnen reden und Ihnen auch nicht zuhören, denn Sie würden mir nur Lügen erzählen; ich sollte Ihnen auch nicht sagen, wo wir waren, und keine erkennbaren Spuren auf Ihnen hinterlassen. Und aufpas sen, weil Sie so schlüpfrig seien wie ein Aal.« Er hielt ei nen Augenblick lang inne. »Was das betraf, hatte er wohl recht, wenn ich so darüber nachdenke.« »Erinnern Sie sich, wie er aussah?« »Ja«, sagte er, »soweit ich ihn gesehen habe; aber das war überwiegend in der Dunkelheit draußen auf dem Kai.« Er beschrieb Arthur Robinson so, wie ich es erwartet hatte, und gut genug, um daraus weitere Schlüsse zu ziehen. »Ich wollte erst eine Woche später aufbrechen«, sagte er. »Die Wetterberichte für die Biskaya waren durchweg schlecht, und ich war nur einmal mit dem Schiff draußen gewesen, bei gutem Wetter; ich kannte es nicht gut genug, um zu wissen, wie es in einem Sturm reagieren würde. Aber Robinson rief an diesem Morgen bei Goldenwave an und sprach auch mit mir. Er sagte, Sturm hin, Sturm her, es würde sich für mich lohnen, wenn ich noch an diesem Abend lossegelte und Sie mitnähme.« »Ich hoffe, es hat sich gelohnt«, sagte ich. »Ja«, antwortete er ehrlich. »Er hat mir das Doppelte be zahlt.« Ich unterdrückte ein Lachen. »Öhm …«, sagte ich, »kann ein Boot denn so ohne weiteres von England ins 274
Mittelmeer und dort von einem Hafen zum anderen se geln, wenn es nicht mal einen Namen hat? Ich meine, muß man nicht irgendwo durch den Zoll und so weiter?« »Man kann zum Zoll, wenn man elend viel Zeit ver schwenden will. Im übrigen weiß im Hafen niemand, ob man gerade zwei Meilen Fahrt die Küste entlang oder zweitausend Meilen hinter sich hat – wenn man’s nicht selbst sagt. Die großen Häfen verlangen Liegegebühren, das ist das einzige, wofür sie sich interessieren. Wenn man an einem Ort wie Formentor vor Anker geht, was wir eines abends mit Ihnen gemacht haben, schert sich niemand auch nur einen Deut darum. So ist das auf See. Meiner Meinung nach die beste Art zu leben.« »Es klingt wunderbar«, seufzte ich neidisch. »Ja. Hören Sie …« Er hielt einen Augenblick lang inne, »werden Sie mir die Polizei auf den Hals schicken oder ir gendwas in der Art? Denn ich haue heute hier ab, mit der Nachmittagsflut, und ich werde niemandem sagen, wo hin.« »Nein«, sagte ich. »Keine Polizei.« Er atmete hörbar erleichtert auf. »Ich schätze …« Er hielt inne. »Also, vielen Dank. Und, na ja, hm, tut mir leid.« Ich erinnerte mich an das Taschenbuch und die Socken und die Seife, und ich hatte nichts gegen ihn. Zehn Minuten später erhielt ich von Goldenwave Marine einige Hintergrundinformationen über große Boote im all gemeinen und Arthur Robinson im besonderen. Goldenwave hatte im Augenblick vier weitere Golden Sixty Fives auf der Helling liegen, alle von privaten Kun den in Auftrag gegeben. Arthur Robinson war nur einer von vielen gewesen. Die Golden Sixty Five sei ein erfolg reiches Modell, wie man mir mit Freude und Stolz erklär 275
te, und Goldenwaves Qualitätsarbeit werde weltweit re spektiert. Ende der Reklame. Dankbar legte ich den Hörer auf. Saß da, dachte nach, kaute kleine Stückchen von meinen Fingernägeln. Be schloß freudlos, einen leicht unvorsichtigen Weg einzu schlagen. Debbie, Peter, Bess und Trevor kamen zurück, und das Büro füllte sich mit Schreibmaschinengeklapper und Ge schäftigkeit. Mr. Wells kam zwanzig Minuten zu früh zu seinem Termin und erinnerte mich an die Faustregel der Psychiater über ihre Patienten: Wenn sie zu früh kommen, haben sie Angst, wenn sie zu spät kommen, sind sie ag gressiv, und wenn sie pünktlich kommen, dann ist das pa thologisch. Ich hatte oft gedacht: Was wissen Psychiater schon von Zügen und Bussen und sonstigen Verkehrsge gebenheiten, aber in diesem Fall konnte an der Angst nicht viel Zweifel bestehen. Mr. Wells Haare, sein Benehmen und seine Augen sprachen alle gleichermaßen eine deutli che Sprache. »Ich habe die Leute angerufen, denen Sie den ungedeck ten Scheck geschickt haben«, sagte ich. »Sie waren ein bißchen zickig, haben sich aber schließlich einverstanden erklärt, von einer strafrechtlichen Verfolgung abzusehen, wenn Sie nach dem unausweichlichen Konkurseröffnungs beschluß an sie denken würden.« »Wenn ich was?« »Wenn Sie sie später bezahlen«, sagte ich. »Oh.« »Sie müssen zuerst die Forderungen des Fiskus befriedi gen, der die Steuer in voller Höhe eintreiben und Ihnen außerdem für jeden Tag Säumnis Zinsen berechnen wird.« »Aber ich habe nichts, womit ich sie bezahlen könnte.« 276
»Haben Sie wie vereinbart Ihren Wagen verkauft?« Er nickte, war aber nicht imstande, mir in die Augen zu sehen. »Was haben Sie mit dem Geld gemacht?« fragte ich. »Nichts.« »Dann geben Sie es dem Finanzamt als Teilzahlung.« Er wich meinem Blick aus, und ich seufzte über seine Torheit. »Was haben Sie mit dem Geld gemacht?« wieder holte ich meine Frage. Er wollte es mir nicht sagen, und ich schloß daraus, daß er den illegalen Weg vieler verfolgt hatte, denen der Bank rott unmittelbar bevorstand; er hatte seine Habe verkauft und den Erlös anderenorts unter falschem Namen einge zahlt, so daß der Gerichtsvollzieher nicht mehr viel vor finden würde. Ich gab ihm einige gute Ratschläge, die er, wie ich wußte, nicht befolgen würde. Die selbstmörderi sche Hysterie seines früheren Besuchs hatte sich zu Groll gegen jeden gewandelt, der ihn unter Druck setzte, ein schließlich mir. Er hörte mir mit der maultierhaften Hals starrigkeit zu, die mir nur allzu oft in der Vergangenheit begegnet war, und das einzige, was er wirklich zusagte, war, daß er keine weiteren Schecks ausstellen würde. Um halb vier hatte ich genug von Mr. Wells und er von mir. »Sie brauchen einen guten Anwalt«, sagte ich. »Er wird Ihnen dasselbe sagen wie ich, aber vielleicht werden Sie auf ihn hören.« »Es war ein Anwalt, der mir Ihren Namen genannt hat«, sagte er düster. »Wer ist Ihr Anwalt?« »Ein Bursche namens Denby Crest.« Wie klein unsere Welt hier doch ist, dachte ich. Wie alles ineinandergreift, sich berührt, wie bei einem Flickentep pich. Wenn die vertrauten Namen immer wieder auftauch ten, herrschte Normalität. 277
Zufällig befand sich Trevor im äußeren Büro, als ich Mr. Wells an die Tür brachte. Ich stellte die beiden einan der vor und erklärte, daß Denby ihn zu uns geschickt habe, Trevor bedachte Wells mit einem wohlwollenden Blick, der etwas weniger freundlich ausgefallen wäre, hätte er den desolaten Finanzzustand des Mannes gekannt. Es folg te ein kurzes, höfliches Gespräch, währenddessen Mr. Wells Trevors gediegene Ausstrahlung wahrnahm, sein höheres Alter und den allgemeinen Eindruck der Weltgewandtheit, den er vermittelte, und ich sah praktisch, wie ihm der Ge danke durch den Kopf schoß, daß er vielleicht den fal schen der beiden Partner konsultiert hatte. Und vielleicht, dachte ich zynisch, hatte er das auch ge tan. Als er gegangen war, sah Trevor mich düster an. »Komm mit in mein Büro«, seufzte er.
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ch saß auf einem der Klientensessel, und Trevor hatte mit amtlicher Miene an seinem Schreibtisch Platz ge nommen. Sein Gehabe spielte irgendwo zwischen Unbe hagen und Schmeichelei, als wäre er sich seines Territori ums nicht recht sicher. »Denby sagte, er würde um vier hier sein.« »Gut.« »Aber Ro … Er wird alles erklären. Er wird dich zufrie denstellen, dessen bin ich mir sicher. Ich denke, ich werde es ihm überlassen, die Sache zu erläutern, dann wirst du schon sehen … daß es keinen Grund gibt, weshalb wir uns Sorgen machen müßten.« Er brachte ein wenig überzeugendes Lächeln zustande und ließ die Fingerspitzen über den Tintenlöscher strei chen. Ich betrachtete die vertraute, freundliche Gestalt und wünschte mir von ganzem Herzen, daß die Dinge nicht so lägen, wie sie lagen. Denby kam zehn Minuten zu früh, was die Psychiater gefreut hätte, und er war angespannt wie eine Feder, wozu er allen Grund hatte. Stocksteifes Rückgrat in dem kurzen, dicklichen Körper, Schnurrbart gespreizt über dem vor springenden Mund und die gereizte Ausstrahlung deutli cher denn je. Er schüttelte mir nicht die Hand, sondern nickte mir le diglich zu. Trevor kam um seinen Schreibtisch herum, um ihm einen Stuhl anzubieten, eine Höflichkeit, die ich für übertrieben hielt. 279
»Also Ro«, sagte Denby ungehalten. »Ich höre, Sie ha ben Vorbehalte wegen meines Gutachtens.« »Das ist richtig.« »Was im einzelnen bemängeln Sie?« »Nun«, sagte ich. »Um genau zu sein … daß fünfzigtau send Pfund auf den Einlagekonten Ihrer Klienten fehlen.« »Quatsch.« Ich seufzte. »Sie haben Gelder dreier verschiedener Klienten von deren Einlagekonten zu deren Kontokorrent konten transferiert«, sagte ich. »Dann haben Sie von die sen Kontokorrentkonten fünf Schecks über verschiedene Summen ausgestellt, und zwar auf Ihren eigenen Namen, während eines Zeitraumes von sechs Wochen, vor drei bis vier Monaten. Diese Schecks beliefen sich zusammen auf genau fünfzigtausend Pfund.« »Aber ich habe das Geld zurückgezahlt. Wenn Sie ge nauer hingesehen hätten, hätten Sie die Gutschreibungen auf den Bankauszügen gefunden.« Er war gereizt. Unge duldig. »Ich konnte nicht ermitteln, woher diese Gutschriften gekommen waren«, sagte ich. »Also habe ich die Bank gebeten, mir eine Zweitschrift des Kontoauszugs zu schik ken. Er ist heute morgen gekommen.« Denby saß da wie versteinert. »Die Zweitschrift des Kontoauszugs«, sagte ich bedau ernd, »weist keine Rückzahlung des Geldes aus. Der Bankauszug, den Sie uns gegeben haben, war … hm … eine Fälschung.« Die Zeit tickte dahin. Trevor wirkte unglücklich. Denby änderte seine Position. »Ich habe mir das Geld nur geborgt«, sagte er. Es gab immer noch kein Bedauern auf seiner Seite und auch keine echte Angst. »Es ist in jeder Weise sicher. Das Geld wird in kürzester Zeit zurückgezahlt werden. Sie haben mein Wort darauf.« 280
»Öhm …«, sagte ich. »Ihr Wort reicht nicht.« »Also wirklich, Ro, das ist doch lächerlich. Wenn ich sa ge, das Geld wird zurückgezahlt, dann wird es zurückge zahlt. Dafür kennen Sie mich doch sicher gut genug?« »Wenn Sie meinen«, sagte ich, »ob ich Sie für einen Dieb gehalten hätte, dann nein, das hätte ich nicht.« »Ich bin kein Dieb«, sagte er wütend. »Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, daß ich das Geld nur geborgt habe. Zeitweilig und unbürokratisch. Es ist unglücklich, daß … wie die Dinge sich entwickelt haben … ich nicht in der Lage war, es zurückzuzahlen, bevor das Gutachten fällig wurde. Aber wie ich Trevor bereits erklärte, es ist nur eine Frage von einigen Wochen, höchstens.« »Ihre Klienten«, wandte ich berechtigterweise ein, »ver trauen Ihnen ihr Geld nicht an, damit Sie es als privates Darlehen für eigene Zwecke benutzen können.« »Das wissen wir doch alle«, sagte Denby schroff. »Sie haben fünfzigtausend zu wenig«, sagte ich, »und Trevor hat es durchgehen lassen, und weder er noch Sie scheinen zu begreifen, daß es für beide das berufliche Aus bedeutet, wenn die Sache ans Tageslicht kommt.« Sie sahen mich an, als wäre ich ein Kind. »Aber es ist doch nicht nötig, daß es ans Licht kommt, Ro«, sagte Trevor. »Denby wird das Geld bald zurückzah len, und damit ist alles erledigt. Wie ich es dir schon er klärt habe.« »Es ist nicht rechtens«, sagte ich. »Nun blas die Dinge nicht so auf, Ro«, sagte Trevor, ganz der väterliche Freund, und schüttelte bekümmert den Kopf. »Warum haben Sie das Geld genommen?« wollte ich von Denby wissen. »Zu welchem Zweck?« Denby sah Trevor fragend an, und dieser nickte. »Sie werden ihm wohl alles sagen müssen, Denby. Er ist 281
sehr beharrlich. Sagen Sie ihm besser alles, dann wird er es verstehen, und wir können die ganze Sache aufklären.« Denby kam dieser Aufforderung nur ungern nach. »Ich hatte die Gelegenheit«, sagte er, »eine kleine Anlage mit Eigentumswohnungen zu kaufen. Brandneu. Noch nicht ganz fertig. Sie wissen schon: Der Bauunternehmer steckte in Schwierigkeiten und wollte einen schnellen Verkauf. Die Wohnungen waren natürlich günstig zu haben. Also habe ich sie gekauft. Das durfte man sich einfach nicht entgehen lassen. Habe sowas natürlich früher schon ge macht. Bin ja kein Narr. Ich wußte, was ich tue und so weiter.« »Sie haben selbst als Notar beurkundet?« sagte ich. »Wie? O ja.« Er nickte. »Na ja, dann brauchte ich eben etwas zusätzliches Kapital, um die Sache zu finanzieren. Ohne jedes Risiko. Gute Wohnungen. Da gibt’s nichts dran auszusetzen.« »Aber sie sind noch nicht verkauft worden?« fragte ich. »So was braucht seine Zeit. Im Winter ist der Markt ziemlich flau. Aber mittlerweile sind alle verkauft, Verträ ge sind abgeschlossen. Sind noch Formalitäten, Hypothe ken und so weiter zu regeln. So was braucht seine Zeit.« »Hm«, sagte ich. »Aus wie vielen Wohnungen besteht die Anlage, und wo liegt sie?« »Acht Wohnungen, klein natürlich. In Newquay in Cornwall.« »Haben Sie sie besichtigt?« wollte ich wissen. »Natürlich.« »Was dagegen, wenn ich sie mir auch ansehe?« fragte ich. »Und würden Sie mir bitte auch die Adressen der Leu te geben, die die Wohnungen kaufen, und mir sagen, wie viel jeder von ihnen bezahlt?« Denby plusterte sich auf. »Wollen Sie damit andeuten, daß Sie mir nicht glauben?« 282
»Ich bin Wirtschaftsprüfer«, sagte ich. »Ich glaube nicht. Ich prüfe.« »Sie können mein Wort darauf haben.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben uns einen gefälsch ten Bankauszug geschickt. Ich kann Ihr Wort auf gar nichts nehmen.« Es herrschte Schweigen. »Wenn diese Wohnungen existieren und wenn Sie dieses Geld binnen einer Woche zurückzahlen, halte ich still«, sagte ich. »Ich will eine briefliche Bestätigung von der Bank. Das Geld muß bis Freitag dort sein, und den Brief will ich am Samstag hier haben. Andernfalls gilt der Han del nicht.« »Ich kann das Geld in dieser Woche noch nicht bekom men«, sagte Denby übellaunig. »Leihen Sie es sich bei einem Kredithai.« »Aber das ist doch lächerlich. Die Zinsen, die ich zahlen müßte, würden meinen ganzen Profit auffressen.« Geschieht dir recht, dachte ich mitleidlos. Ich sagte: »Wenn das Geld der Klienten nicht bis Freitag wieder auf der Bank ist, werde ich die Anwaltskammer informieren müssen.« »Ro!« protestierte Trevor. »Wie sehr Sie sich auch bemühen, das Ganze als ›un glücklich‹ und ›unbürokratisch‹ zu umschreiben«, sagte ich, »die Tatsache bleibt bestehen, daß es sich um eine Straftat handelt. Ich werde das als Partner dieser Firma nicht mittragen. Wenn das Geld bis Freitag nicht zurück gezahlt ist, werde ich einen Brief schreiben des Inhalts, daß wir im Lichte neuer Erkenntnisse das gerade ausge stellte Gutachten zurückzuziehen wünschen.« »Aber dann würde Denby seine Zulassung verlieren!« sagte Trevor. Sie beide machten Gesichter, als seien die nüchternen 283
Realitäten des Lebens etwas, mit denen sich nur andere Menschen herumschlagen mußten. »Unfreundlich«, sagte Denby wütend. »Unnötig aggres siv, das sind Sie, Ro. Selbstgerecht. Unbeugsam.« »Das alles bin ich wohl wirklich«, sagte ich. »Es hat wohl keinen Sinn vorzuschlagen, daß ich … öhm … Sie beteiligen könnte?« Trevor machte eine schnelle, erschrockene Geste und versuchte ihn aufzuhalten. »Denby, Denby«, sagte er bekümmert. »Sie können ihn auf keinen Fall bestechen. Um Himmels willen, nehmen Sie doch ein wenig Vernunft an. Wenn Sie Ro wirklich ge gen sich aufbringen wollen, bieten Sie ihm Geld an.« Denby warf mir einen finsteren Blick zu und erhob sich fuchsteufelswild auf die Füße. »Na schön«, sagte er verbittert. »Ich beschaffe das Geld bis Freitag. Und erwarten Sie für den Rest Ihres Lebens niemals irgendeinen Gefallen von mir.« Dann marschierte er zornig aus dem Büro und ließ einen Wirbelwind aufgewühlter Luft und noch längere Spuren zerstörter Freundschaft zurück. Ein turbulentes Kielwas ser, dachte ich. Wild und destruktiv, richtete alles zugrun de, was es berührte. »Bist du jetzt zufrieden, Ro?« fragte Trevor sanft und traurig. Ich saß da, ohne zu antworten. Ich fühlte mich wie ein Mann auf einem hohen Sprung brett, der vor dem Augenblick der Entscheidung steht. Vor einem der Sprung in die Tiefe. Hinter einem der stille Rückzug nach unten. Die Entscheidung lag bei mir. Ich konnte einfach gehen, dachte ich. So tun, als wüßte ich nicht, was ich wußte. Mich mit Schweigen, Freund schaft und Frieden begnügen. Davon Abstand nehmen, Kummer und Schande und trostloses Unglück zu bringen. 284
Mein Freund oder das Gesetz. Wem war ich verpflichtet? Dem Gesetz oder meinem eigenen Vergnügen … O großer, allmächtiger Gott. Ich schluckte mit trockenem Mund. »Trevor«, sagte ich, »kennst du Arthur Robinson?« Es machte keinen Spaß, überhaupt keinen Spaß, der end gültigen Katastrophe ins Gesicht zu sehen. Langsam wich das Blut aus Trevors Haut, so daß seine Augen als große, dunkle Flecke zurückblieben. »Ich hole dir einen Brandy«, sagte ich. »Ro …« »Warte.« Ich holte ihm ein Glas aus seinem Gästeschrank, mit viel Alkohol und wenig Soda. »Trink«, sagte ich voller Mitleid. »Ich fürchte, ich habe dir einen Schock versetzt.« »Wie …« Sein Mund zitterte plötzlich, und er hob das Glas an die Lippen, um das Zittern zu verbergen. Er trank langsam und hielt das Glas ein Stück weit von sich: Eine kleine Hilfe in Schwierigkeiten. »Wieviel … weißt du?« fragte er. »Warum ich entführt wurde. Wer es getan hat. Wem das Boot gehört. Wer es gesegelt hat. Wo es jetzt ist. Wieviel es gekostet hat. Und woher das Geld kommt.« »Mein Gott … mein Gott …« Seine Hände zitterten. »Ich will mit ihm reden«, sagte ich. »Mit Arthur Robin son.« Ein schwaches Aufblitzen von etwas wie Hoffnung leuchtete in seinen Augen auf. »Kennst du … seinen anderen Namen?« Ich nannte ihn ihm. Der Hoffnungsfunke erstarb zu dumpfer Ausdruckslosigkeit. Das Glas klirrte an seinen Zähnen. 285
»Ich möchte, daß du ihn anrufst«, sagte ich. »Sag ihm, daß ich Bescheid weiß. Sag ihm, daß ich mit ihm reden will. Sag ihm, falls er sich mit irgendwelchen Ideen trägt, irgend etwas anderes zu tun als das, was ich verlange, werde ich von diesem Büro aus geradewegs zur Polizei gehen. Ich möchte heute abend mit ihm reden.« »Aber Ro, so wie ich dich kenne …« Er klang verzwei felt. »Du wirst trotzdem zur Polizei gehen.« »Morgen früh«, sagte ich. Er sah mich sehr, sehr lange an. Dann streckte er mit ei nem schweren Seufzer, der halb wie ein Stöhnen klang, die Hand nach dem Telefon aus. Wir fuhren zu Trevor nach Hause. Dort redete es sich bes ser, meinte er, als im Büro. »Und deine Frau?« fragte ich. »Sie übernachtet heute bei ihrer Schwester. Das tut sie häufig.« Wir fuhren mit zwei Autos, und seinem benommenen Gesichtsausdruck nach nahm Trevor während der ganzen gut sechs Kilometer bewußt nichts von der Straße wahr. Sein großes Haus lag in seiner ganzen Pracht im Son nenschein des späten Nachmittags, die Ehrbarkeit der zwanziger Jahre in jedem Ziegelstein. Ungezählte Qua dratmeter kleiner, rautenförmig verbleiter Fensterscheiben, schwarze Farbe, ein breiter Säulengang mit Korkenzieher säulen, Glyzinien, die sich hier und da entlangrankten, und jede Menge Giebel mit dekorativ sichtbaren Balken. Trevor schloß die Haustür auf und ging voran in die ab gestandene Luft, die nach kaltem Kaffee und Möbelpolitur roch. Parkettboden in der geräumigen Diele, Teppiche. »Komm mit in die gute Stube«, sagte er und ging voran. Die Stube war ein langgestreckter Raum, der zwischen Wohn- und Eßzimmer lag und von dem aus man einen 286
Blick auf die Säulenloggia mit dem Rasen dahinter hatte. Für Trevor war die Stube psychologisch ebenso wie topo graphisch das Herz des Hauses, der Raum, in dem er sich seinen Geschäftsfreunden gegenüber am ehesten als Gast geber fühlte. Es gab dort eine eingebaute Bar, an der er gerne stand und leutselig Drinks ausschenkte. Mehrere dunkelrote Le dersessel. Einen kleinen, massiven Eßtisch mit vier leder gepolsterten Stühlen. Einen großen Fernseher. Bücherrega le. Einen offenen, gemauerten Kamin mit einem Leder schirm. Eine Palme in einem Messingtopf. Weitere Drucke von Stubbs. Mehrere kleine Beistelltischchen. Einen Tep pich mit Blattmuster. Schwere, rote Samtvorhänge. Rote Lampenschirme. An Winterabenden, wenn das Feuer brannte, die Vorhänge zugezogen waren und die Lampen ihr warmes Licht verbreiteten, war der Ausdruck Stube trotz der Größe des Raumes überaus passend. Trevor knipste die Lichter an und zog, obwohl es heller Tag war, die Vorhänge vor. Dann ging er direkt auf die Bar zu. »Möchtest du was trinken?« fragte er. Ich schüttelte den Kopf. Er machte sich einen Brandy von der doppelten Größe zurecht, wie ich ihn ihm im Büro gegeben hatte. »Ich kann einfach nicht glauben, was jetzt passiert«, sag te er. Er nahm sein volles Glas und ließ sich in einen der roten Ledersessel fallen, um ins Leere zu starren. Ich hockte mich auf den Tischrand, der wie so vieles in diesem Haus von einer Glasplatte abgedeckt war. Wir warteten beide, und keinem von uns gefiel, was ihm durch den Kopf ging. Wir warteten fast eine Stunde. In diesem vornehmen Haus, überlegte ich dumpf, würde nichts Gewalttätiges geschehen. Gewalt war eine Sache 287
von Hintergassen und dunklen Ecken. Nichts für ein schö nes Wohnzimmer an einem Montagabend. Ich spürte das Flattern böser Ahnung in jedem Nerv und dachte an Au gen, die sich vor Rachgier verdunkelten. Draußen fuhr ein Wagen vor. Eine Tür fiel ins Schloß. Auf dem Kies waren Schritte zu hören. Schritte, die die Türschwelle überquerten, durch die offene Haustür kamen, über das Parkett liefen und schließlich die Tür der guten Stube erreichten. Um dort stehenzubleiben. »Trevor?« fragte er. Trevor blickte schwerfällig auf. Er deutete auf mich – ich war durch die offene Tür halb verdeckt. Er stieß die Tür weiter auf. Trat ins Zimmer. Er hielt eine Schrotflinte in der Hand, die er auf seinem Unterarm balancierte, den Kolben unter der Achsel, den Doppellauf auf den Boden gerichtet. Ich holte tief Luft, um mich gegen das Kommende zu wappnen, und sah in sein entschlossenes, vertrautes Ge sicht. Jossies Vater. William Finch. »Wenn Sie mich erschießen«, sagte ich, »sind Ihre Pro bleme damit keineswegs gelöst. Ich habe bei Freunden Fo tokopien und eine Darstellung des ganzen Vorgangs hin terlegt.« »Wenn ich Ihnen den Fuß abschieße, werden Sie keine Rennen mehr reiten.« In seiner Stimme vibrierte bereits abgrundtiefer Haß: Und diesmal befand ich mich nicht auf der anderen Seite eines Gerichtssaals, in dem es nur so wimmelte von Polizisten, sondern drei Meter vom fal schen Ende eines Gewehrs entfernt. Trevor machte eine ruckartige, beschwichtigende Geste mit beiden Händen. »William … das siehst du doch bestimmt ein. Es wäre 288
eine Katastrophe, wenn du Ro erschießen würdest. Eine nicht wiedergutzumachende Katastrophe.« »Es ist ohnehin nicht mehr wiedergutzumachen.« Seine Stimme klang belegt, rauh von der Anspannung in Kehle und Hals. »Dafür hat dieser kleine Dreckskerl da gesorgt.« »Nun«, sagte ich und hörte die Anspannung in meiner eigenen Stimme, »ich habe Sie nicht gezwungen zu steh len.« Es war nicht gerade die klügste aller Bemerkungen. Je denfalls trug sie nicht zu einer Reduktion der kritischen Masse bei: William Finch war wie ein Atomreaktor. Die Läufe des Gewehrs fuhren in seinen Händen in die Höhe und richteten sich auf meine Lenden. »William, um Himmels willen«, sagte Trevor eindring lich; schwerfällig erhob er sich aus seinem Sessel. »Be nutz doch deinen Kopf. Wenn er sagt, es würde nichts nüt zen, ihn zu töten, mußt du ihm glauben. Er hätte es niemals riskiert, hierherzukommen, wenn es nicht die Wahrheit wäre.« Finch zitterte vor Zorn; jeder Zoll seines zu vornehmer Größe aufgerichteten Körpers erbebte. Der Konflikt zwi schen Haß und Vernunft schlug sich in den hervortretenden Muskeln seines Kiefers nieder und in seinen zu Krallen ge krümmten Fingern. Einen entsetzlichen Augenblick lang war ich mir sicher, daß der blutrünstige Drang, sich zu rä chen, alle Angst vor den Konsequenzen auslöschen würde, und ich dachte zusammenhanglos, daß ich es nicht spüren würde … Die schlimmsten Wunden spürte man in den er sten Sekunden nie. Erst danach, wenn man überlebte, schlug der Schmerz wie eine Woge über dem Opfer zu sammen. Ich würde es nicht erfahren … Ich würde es nicht spüren, und ich würde es vielleicht nicht einmal wissen … Er wandte sich heftig von mir ab und drückte Trevor die Flinte in die Arme. 289
»Nimm sie. Nimm sie«, sagte er mit zusammengebisse nen Zähnen. »Ich traue mir nicht.« Ich spürte, wie das Zittern meine Beine hinunterlief, daß Schweiß die Hälfte meines Körpers bedeckte. Er hatte mich nicht gleich zu Anfang getötet, solange es noch et was genutzt hätte, und es war schön und gut, darauf zu setzen, daß er es auch jetzt nicht tun würde, da er nichts mehr zu gewinnen hatte. Es war nur viel zu nah dran ge wesen. Ich lehnte mich schwach an den Tisch und bemühte mich, meinen Mund wieder etwas zu befeuchten. Versuch te, die Dinge so nüchtern darzulegen, als besprächen wir eine unbedeutende Kleinigkeit. »Sehen Sie …« Es klang halb erstickt. Ich räusperte mich und versuchte es noch einmal. »Morgen werde ich in New York anrufen und mit den Nantuckets reden müssen. Genauer gesagt, mit einem der Vorstände ihres Familien imperiums, nämlich mit dem, dem Trevor jedes Jahr die Abschlüsse schickt.« Trevor nahm die Flinte und verstaute sie hinter der kunstvollen Bar, so daß sie außer Sicht war. William Finch stand mitten im Raum, und die geballte Energie, die kein Ventil gefunden hatte, bebte durch seinen ganzen Körper. Ich sah zu, wie seine Hände sich zu Fäusten ballten und wieder öffneten, wie seine Beine sich in seinen Hosen be wegten, als wolle er im Zimmer auf und ab marschieren. »Was werden Sie ihnen sagen?« wollte er zornig wissen. »Was?« »Daß Sie die Familie … öhm … während des letzten Geschäftsjahres betrogen haben.« Zum ersten Mal fiel ein Teil des Zorns von ihm ab. »Während des letzten …« Er hielt inne. »Über die Jahre davor«, sagte ich, »kann ich nichts sa gen. Ich habe die Prüfungen nicht vorgenommen. Ich habe 290
nie einen Blick in die Bücher geworfen, und sie befinden sich nicht in unserem Büro. Sie müssen allerdings drei Jahre lang aufbewahrt werden, daher nehme ich an, daß Sie sie noch haben.« Es entstand ein langes Schweigen. »Ich fürchte«, sagte ich, »daß der Vorstand der Nantuk kets mir den Auftrag geben wird, mich sofort an die Poli zei zu wenden. Wenn wir es noch mit dem alten Naylor Nantucket zu tun hätten, sähe es vielleicht anders aus. Er hätte um Ihretwillen vielleicht alles vertuscht. Aber die neue Generation – diese Leute kennen Sie nicht. Das sind hartgesottene Geschäftsleute, denen der Stall ohnehin ein Dorn im Auge ist. Sie haben sich ihn nicht einmal angese hen. Sie betrachten ihn als Geschäftsunternehmen und zahlen Ihnen einen guten Lohn für die Führung dieses Un ternehmens und sehen zweifellos jeden Gewinn daraus als ihr Eigentum an. Wie milde ich mich auch ausdrücken mag – und ich tue es bestimmt nicht gerne –, die Nantuk kets müssen davon in Kenntnis gesetzt werden, daß ihre Gewinne während dieses Geschäftsjahres in Ihre Taschen geflossen sind.« Mein nüchternes Vorgehen zeigte die ersten Ergebnisse. Trevor schenkte zwei Drinks ein und drückte einen davon William Finch in die Hand. Er betrachtete ihn blicklos und setzte ihn wenige Sekunden später wieder auf die Bar. »Und Trevor?« fragte er. »Ich werde dem Vorstand der Nantuckets sagen müs sen«, erwiderte ich bedauernd, »daß der Wirtschaftsprüfer, den Sie bestellt haben, mitgeholfen hat, sie über den Tisch zu ziehen.« »Ro«, sagte Trevor; er protestierte wohl eher gegen meine laxe Ausdrucksweise als gegen die Wahrheit meiner Worte. »Die Geschäftsbücher von Axwood sind die reinste Mär chensammlung«, sagte ich zu ihm. »Kassenbücher, Haupt 291
bücher, Rechnungen … alles einfallsreiche Lügen. Ohne deine Hilfe wäre William mit einem so umfassenden Be trug niemals durchgekommen. Jedenfalls nicht ohne …«, sagte ich und versuchte, meine Bemerkung ein wenig ab zumildern, »nicht ohne daß du davon wußtest und ein Au ge zudrücktest.« »Und sich einen verdammt großen Anteil von dem Ku chen abzuschneiden«, sagte Finch hitzig; er wollte wohl dafür sorgen, daß sein Freund mit ihm zusammen unter ging. Trevor machte eine angewiderte Handbewegung, aber Finchs Anschuldigungen mußten der Wahrheit entspre chen. Trevor hatte einen herzhaften Appetit auf Geld und hätte ein solches Risiko niemals ohne Gewinn in Kauf ge nommen. »Diese Bücher scheinen auf den ersten Blick in Ordnung zu sein«, sagte ich. »Einen Wirtschaftsprüfer von außer halb hätten Sie zufriedengestellt, wenn etwa die Nantuk kets ein Londoner Unternehmen oder eins aus New York damit betraut hätten. Aber was Trevor und mich betrifft, die wir hier leben …« Ich schüttelte den Kopf. »Die Ax woodställe haben Tausende an Futterlieferanten bezahlt, die das Geld nicht bekommen haben, an Sattler, die es gar nicht gibt, und an Wartungsleute, Elektriker und Klemp ner, die keinerlei Arbeit getan haben. Die Rechnungen lie gen alle vor, allesamt sauber getippt, aber die Transaktio nen, auf die sie sich beziehen, sind dünne Luft. Das ganze Geld ist direkt an William Finch gegangen.« Ein Teil des sich langsam abkühlenden Zorns schlug sich augenblicklich wieder in Finchs Benehmen nieder, und ich hielt es für klüger, den Rest der Liste von Betrügereien nicht laut aufzuzählen. Er hatte den Nantuckets Löhne für mehr Stallburschen in Rechnung gestellt, als tatsächlich angestellt waren: eine 292
Masche, die nur schwer aufzudecken war, da die Zahl der Stallbediensteten von Betrieb zu Betrieb stark variierte. Er hatte mehr als neuntausend Pfund für die Anmietung zusätzlicher Boxen in Rechnung gestellt und für die Ver sorgung von Pferden durch einen ortsansässigen Bauern. Aber ich wußte, daß er nur einen Bruchteil der angegebe nen Summe gezahlt hatte, da der Bauer einer meiner Klienten war. Er hatte viel mehr für Jockeyverträge angegeben, als die Jockeys bekommen hatten; und er hatte Reisekosten für Rennen angegeben, zu denen die Pferde laut Rennberich ten niemals den Hof verlassen hatten. Er hatte sich schwindelerregende Summen in Form von Kommissionen auf den Verkauf Nantucketscher Pferde von einem Vollblutagenten auszahlen lassen: etwa fünfzig tausend im vergangenen Jahr, wie mir der Agent beiläufig am Telefon bestätigt hatte, ohne zu wissen, daß Finch kei nerlei Recht auf das Geld hatte. Ich vermutete außerdem, daß Finch den Besitzern, die nicht der Familie Nantucket angehörten, überhöhte Rech nungen geschickt hatte; dann hatte er sie wahrscheinlich dazu bewogen, die Schecks auf ihn persönlich auszustellen statt auf die Firma, so daß er sich ein Scheibchen davon abschneiden konnte, bevor er einen angemessenen Betrag in die Geschäftskasse einzahlte. Die Nantuckets waren weit weg und desinteressiert. Wahrscheinlich hatten sie lediglich schwarze Zahlen sehen wollen, und er hatte ihnen gerade genug gegeben, um sie zufriedenzustellen. Dann hatte er den Nantuckets noch – welche Ironie! – sechstausend Pfund für das Honorar des Wirtschaftsprü fers in Rechnung gestellt, aber nirgendwo in unseren Bü chern gab es auch nur eine Spur von sechstausend Pfund von Axwood. Trevor mochte allerdings seine Hälfte im stillen einkassiert haben: wirklich ein Witz. 293
Eine lange Liste verschiedener Betrügereien. Viel schwieriger aufzudecken als ein einziger großer Betrug. Obwohl das Ganze für Finch auf eine durchschnittliche Ausbeute von über zweitausend Pfund die Woche hinaus lief. Steuerfrei. Jahrein, jahraus. Unterstützt von seinem Wirtschaftsprüfer. Und – das stand fest – unterstützt von der stets kranken Sekretärin Sandy, obwohl ich nicht wußte, ob mit oder oh ne ihr Wissen. Wenn sie tatsächlich so häufig krank war und dadurch ihrem Arbeitsplatz fernblieb, wußte sie viel leicht nichts davon. Vielleicht aber machte auch gerade das Wissen sie krank. Allerdings hatte wie bei den meisten großen Gaunereien der Papierkram ordentlich gemacht werden müssen, und im Fall Axwood war das tatsächlich zu einem großen Teil geschehen. Neunzig bis hundert Pferde. Gut trainiert, erfolgreich in den Rennen. Ein großer Stall mit einem beträchtlichen wöchentlichen Umsatz. Ein erstklassiger Trainer. Ein Trai ner, dem, so ging es mir durch den Kopf, sein eigener Stall nicht gehörte, der nur einen Lohn bekam und noch dazu einen hochbesteuerten; ein Trainer, der sich in Zeiten der Inflation der Tatsache gegenübersah, daß er kein Kapital besaß, von dem er im Alter leben konnte. Ein Mann in den Fünfzigern, ein Angestellter, der in eine Zukunft mit unzu reichender finanzieller Versorgung blickte. Ein erzwunge ner Ruhestand. Kein eigenes Haus. Keine Macht. Ein Mann, durch dessen Hände tagtäglich das Geld wie Was ser rann. Alle Rennpferdtrainer waren Unternehmer, mußten einen Organisationswillen haben. Die meisten betrieben ihr Ge schäft auf eigene Rechnung, und es gab keine Mutterge sellschaft weit weg, die sie betrügen konnten. Ich bezwei felte, daß William Finch an Unterschlagung auch nur 294
gedacht hätte, wenn er sein eigener Herr gewesen wäre. Bei seinen Fähigkeiten und bei einem normalen Verlauf der Dinge hätte er das nicht nötig gehabt. Notwendigkeit. Fähigkeit. Gelegenheit. Ich frage mich, wie groß der Schritt in die Unehrlichkeit gewesen war. Der Schritt ins Verbrechen. Wahrscheinlich nicht sehr groß. Eine Lohntüte für einen nichtexistenten Stallburschen, für ein kleines, regelmäßi ges Zusatzeinkommen. Die Kosten für eine nicht bestellte Tonne Heu. Kleine Schritte, einfallsreiche Schwindeleien, die sich multiplizierten und vervielfachten, die zu einem breiten Strom führten. »Trevor«, sagte ich nachsichtig, »wann hast du Williams … Unregelmäßigkeiten entdeckt?« Trevor sah mich bekümmert an, und ich lächelte schief. »Du hast sie … einige der ersten … in den Büchern ge sehen«, sagte ich, »und du hast ihm gesagt, daß es so nicht gehe.« »Natürlich.« »Du hast ihm vorgeschlagen«, fuhr ich fort, »daß die Sa che, wenn er sie richtig aufzöge, sich für euch beide bei weitem lohnender gestalten würde.« Finch reagierte sehr heftig mit einer leidenschaftlichen Geste seines ganzen Armes, aber Trevors bekümmertes Gehabe verstärkte sich dadurch nur noch. »Genau wie Connaught Powys«, sagte ich. »Ich habe so sehr versucht, mir einzureden, daß du wirklich nicht be griffen hattest, was er mit seinem Computer anstellte, aber ich fürchte … Ich muß mich der Tatsache stellen, daß ihr beide gemeinsam dahintergesteckt habt.« »Ro …«, sagte er traurig. »Wie auch immer«, sagte ich zu Finch, »Sie haben uns die Bücher zur jährlichen Wirtschaftsprüfung geschickt, 295
und da alles gut eingespielt war, waren weder Sie noch Trevor übermäßig nervös. Trevor und ich hängen schon seit Ewigkeiten chronisch mit der Arbeit hinterher, also wird er sie wohl lediglich in seinem Schrank eingeschlos sen haben, um sich dann so bald als möglich darum zu kümmern. Er wußte, daß ich mir Ihre Bücher nicht anse hen würde. Das hatte ich nie getan, in sechs Jahren nicht; und ich hatte zu viele eigene Klienten. Und dann, als Tre vor im Urlaub war, geschah das Unvorhergesehene. Am Tag des Gold Cups flatterte in Ihren Briefkasten wie in meinen die Vorladung an Sie, vierzehn Tage später vor der Finanzkommission zu erscheinen.« Er sah mich mit zornigen, dunklen Augen an, sein kräfti ger, eleganter Körper groß und gerade wie der eines ge waltigen Hirsches, der von einem unverschämten Jagd hund angekläfft wird. An den Rändern der Vorhänge kümmerte das Tageslicht der Dämmerung entgegen. Hier in dem Raum schien das elektrische Licht weich auf zivili sierte Menschen. Ich lächelte schief. »Ich habe Ihnen eine Nachricht ge schickt. Keine Bange, Trevor ist im Urlaub, aber ich werde um Aufschub nachsuchen und mir selbst Ihre Bücher vor nehmen. Dann bin ich gleich aufgebrochen, um im Gold Cup zu reiten, und habe keinen zweiten Gedanken daran verschwendet. Aber Sie, für Sie bedeutete diese Nachricht den Ruin. Erniedrigung, Strafverfolgung, wahrscheinlich Gefängnis.« Ein Beben durchlief ihn. Die Muskeln seines Kinns zuckten. »Ich könnte mir vorstellen«, sagte ich, »daß Sie dachten, das Einfachste wäre es, sich die Bücher zurückzuholen; aber Sie waren in Trevors Schrank eingeschlossen, und nur er und ich hatten die Schlüssel dazu. Außerdem wäre es mir, da Ihnen schon die Finanzkommission im Nacken 296
saß, sehr verdächtig erschienen, wenn Sie sich geweigert hätten, mir die Bücher zu zeigen. Besonders verdächtig, wenn man ins Büro eingebrochen und diese Papiere ge stohlen hätte. Alles in dieser Richtung hätte zu Nachfor schungen und schließlich zur Katastrophe geführt. Da Sie also die Bücher nicht von mir fernhalten konnten, be schlossen Sie, mich von den Büchern fernzuhalten. Die Möglichkeiten dazu hatten Sie. Ein neues Boot, das beina he auslaufbereit war. Sie sorgten lediglich dafür, daß es ein wenig früher lossegelte und mich mitnahm. Wenn Sie mich bis zu Trevors Rückkehr aus dem Büro fernhalten konnten, war alles in Ordnung.« »Das ist doch blanker Unsinn«, sagte er steif. »Seien Sie nicht töricht. Es hat keinen Sinn mehr, zu leugnen. Trevor wurde am Montag, dem vierten April, im Büro zurückerwartet, so daß er drei Tage Zeit gehabt hätte, den Antrag auf Fristverlängerung einzureichen. Völlig aus reichend. Trevor würde die Bücher von Axwood wie ge wöhnlich bearbeiten, und mich würde man freilassen, oh ne daß ich je erfuhr, warum man mich entführt hatte.« Trevor begrub das Gesicht in seinem Brandy, was mich durstig machte. »Wenn du vielleicht etwas Mineralwasser oder Tonic für mich hättest, Trevor, würde ich nicht nein sagen«, meinte ich. »Geben Sie ihm nichts«, sagte Finch, dessen aufgestaute Gewalttätigkeit immer noch in seiner belegten Stimme zu hören war. Trevor machte fahrige Bewegungen mit seinen Händen, holte dann aber nach kurzem Zögern und mit einem ent schuldigenden Blick auf Finchs zusammengepreßte Lip pen ein Glas und goß eine Flasche Tonic water hinein. »Ro …«, sagte er, als er mir das Glas reichte. »Mein lie ber Junge …« 297
»Mein lieber Scheißkerl«, sagte Finch. Dankbar trank ich das sprudelnde Chininwasser. »Ich habe diesen schönen Plan ruiniert, indem ich ein paar Tage zu früh nach Hause kam«, sagte ich. »Ich nehme an, Sie waren außer sich. Genug jedenfalls, um das Ent führungskommando zu meinem Cottage zu schicken, da mit es mich ein zweitesmal aufgriff. Und als diese Leute es nicht schafften, haben Sie jemand anders geschickt.« Ich trank die kribbelige Flüssigkeit und schmeckte Galle. »Am nächsten Tag schickten Sie Ihre Tochter Jossie.« »Sie weiß nichts, Ro«, sagte Trevor. »Halten Sie die Klappe«, sagte Finch. »Sie hat ihn an der Nase herumgeführt.« »Vielleicht hat sie das getan«, sagte ich. »Es sollte nur ein oder zwei Tage dauern. Trevor wurde an diesem Sonn tag zurückerwartet. Aber während Sie ganz damit beschäf tigt waren, meine Zeit mit einer Führung durch Ihren Stall auszufüllen, erzählte ich Ihnen, daß Trevor in Frankreich mit dem Wagen liegengeblieben sei und erst Mittwoch oder Donnerstag zurück sein würde. Und ich versicherte Ihnen abermals, daß Sie sich keine Sorgen zu machen brauchten, ich hätte bereits um Fristverlängerung nachge sucht und würde die Prüfung selbst in die Hand nehmen. Also standen Sie wieder ganz am Anfang, und die Aus sichten waren so tödlich wie nur je.« Finch funkelte mich an, leugnete aber nichts. »Sie boten mir einen Tag beim Pferderennen mit Jossie«, sagte ich. »Und einen Ritt im Hürdenrennen für Sieglose. Ich bin ein Narr, wenn es darum geht, solche Angebote an zunehmen. Ich weiß nie, wann ich nein sagen muß. Sie müssen gewußt haben, daß Notebook nicht in der Lage war, richtig zu springen. Und als Sie zum Grand National davonflogen, müssen Sie gehofft haben, daß ich mit ihm stürzen und mir ein Bein brechen würde.« 298
»Den Hals«, sagte er rachsüchtig und ohne einen Hauch von Humor. Trevor sah ihn an und wandte dann den Blick wieder ab, als wäre ihm so viel unverhüllte Emotion peinlich. »Ihre Männer müssen schon parat gestanden haben, für den Fall, daß ich das Rennen unbeschadet überstand, was ich natürlich tat«, sagte ich. »Sie folgten uns in den Pub, wo ich mit Jossie zu Abend aß, und dann in das Motel, in dem ich absteigen wollte. Ihr zweiter Entführungsversuch war insofern erfolgreicher, als ich nicht herauskommen konnte. Und als Trevor wieder im Lande war, riefen Sie Scotland Yard an, und die Polizei ließ mich frei. In einer Hinsicht hatten all Ihre Bemühungen genau das angestreb te Resultat gezeitigt, denn ich hatte tatsächlich nicht eine einzige Seite oder einen einzigen Eintrag Ihrer Bücher zu Gesicht bekommen.« Ich dachte zurück und berichtigte diese Feststellung. »Ich hatte nichts zu Gesicht bekommen, außer dem Jour nal der Portokasse, das Sie selbst mir gegeben haben. Und das, könnte ich mir vorstellen, war Ihr eigenes, korrektes Buch und nicht dasjenige, das Sie für die Prüfung frisier ten. Es blieb mit all meinen anderen Besitztümern in mei nem Wagen, und als ich letzten Freitag wieder ins Büro ging, nahm ich es mit. Am Samstag war es immer noch dort. Am Samstag morgen nahm ich mir die Bücher von Axwood vor, studierte sie und machte Fotokopien davon.« »Aber warum, Ro?« fragte Trevor frustriert. »Was hat dich auf den Gedanken gebracht … Wie bist du auf Willi am gekommen?« »Die Dringlichkeit«, sagte ich. »Die gnadenlose Hast und die Zeitfaktoren. Als ich auf dem Boot war, glaubte ich nämlich, man hätte mich aus Rache entführt. Das wür de wohl jeder Wirtschaftsprüfer denken, der einige Verun treuer zu Fall gebracht hat, wenn er sich in einer solchen 299
Lage wiederfände. Vor allem, wenn man ihn direkt be droht hatte, Auge in Auge, so wie mich Connaught Powys bedroht hatte und früher Ownslow und Glitberg und später all die anderen. Aber als ich fliehen konnte und nach Hau se kam, verging kaum Zeit, bevor ich abermals in Gefahr geriet. Bevor ich gejagt wurde. Und gefangen. Beim zwei ten Mal also, letzte Woche in dem Lieferwagen, begann ich nachzudenken … und überlegte mir, daß es vielleicht keine Rache, sondern eine Vorbeugungsmaßnahme war, und danach war es im großen und ganzen nur noch eine Frage von Deduktion, Elimination und anderen langweili gen Dingen. Aber ich hatte viele Stunden lang Zeit …« Bei der Erinnerung mußte ich unwillkürlich schlucken. »Ich hatte viele Stunden Zeit, in denen ich über alle in Frage kommenden Leute nachdenken und die Sache aus knobeln konnte. Also ging ich am Samstag morgen in un ser Büro und überprüfte meine Ergebnisse.« Finch drehte sich zu Trevor um; er suchte nach einem Prügelknaben. »Warum zum Teufel haben Sie die Bücher an einer Stelle aufbewahrt, wo er sie einsehen konnte? Warum haben Sie sie nicht in den verdammten Safe ge sperrt?« »Ich habe einen Schlüssel zum Safe«, sagte ich trocken. »Allmächtiger!« Er hob die Hände zu einer gewalttäti gen, explosionshaften, nutzlosen Geste. »Warum haben Sie sie nicht mit nach Hause genommen?« »Ich nehme nie irgendwelche Bücher mit nach Hause«, erwiderte Trevor. »Und Sie haben mir gesagt, daß Ro am Samstag zu den Rennen fahren und den Sonntag mit Jossie verbringen würde. Wir hatten also keinen Grund zur Sor ge. Außerdem hätte keiner von uns auch nur im Traum ge dacht, daß er etwas wußte … oder vermutete.« Finch drehte sein verzweifeltes Gesicht in meine Rich tung. 300
»Wie hoch ist Ihr Preis?« fragte er. »Wieviel?« Ich antwortete nicht. Trevor protestierte: »William …« »Er muß doch irgend etwas wollen«, sagte Finch. »War um würde er uns das alles sonst erzählen, statt sich direkt an die Polizei zu wenden? Weil er ein Geschäft machen will, deshalb.« »Es geht mir nicht um Geld«, sagte ich. Finch sah weiterhin aus wie ein Blitzschlag, der in Kno chen und Fleisch gefangen war, aber er verfolgte das Thema nicht weiter. Er wußte, wie er es immer gewußt hatte, daß es keine Frage des Geldes war. »Wo haben Sie die Männer gefunden, die mich entführt haben?« fragte ich. »Sie wissen doch so viel. Das können Sie schön selber rausfinden.« Angeheuerte Ganoven, dachte ich zynisch. Irgend je mand irgendwo wußte, wie man an ein paar schwere Jungs kommen konnte. Aber das konnte die Polizei herausfin den, dachte ich, falls sie wollte. Ich würde mir diese Mühe nicht machen. »Beim zweiten Mal«, sagte ich. »Haben Sie ihnen da den Auftrag gegeben, keine sichtbaren Spuren bei mir zu hin terlassen?« »Und wenn schon.« »Haben Sie’s getan?« fragte ich. »Ich wollte nicht, daß die Polizei sich zu sehr für die Sa che interessiert«, antwortete er. »Keine Verletzungen. Kein Diebstahl. So daß Sie als Fall minderer Bedeutung einge stuft werden würden.« Also waren die Fäuste und Stiefel, dachte ich, eine klei ne Privatunternehmung gewesen. Der Lohn für die Schere reien, die ich dem Fußvolk gemacht hatte. Kein Befehl von oben. Auf eine etwas verbitterte Weise war ich wohl dankbar dafür. 301
Das Lagerhaus hatte er wahrscheinlich ausgesucht, weil sich ein sichereres Versteck auf die Schnelle wohl kaum finden ließ: Und weil er glaubte, es würde meine Auf merksamkeit noch mehr auf Ownslow und Glitberg lenken – und weg von ihm. Trevor sagte: »Hm … was … was machen wir denn jetzt?« Aber niemand antwortete, denn draußen auf dem Schotter waren Reifen zu hören. Autotüren schlugen zu. »Haben Sie die Haustür offenstehen lassen?« fragte Tre vor. Finch brauchte nicht zu antworten. Er hatte es getan. Mehrere Füße trampelten geradewegs hinein, durchquer ten die Diele und strebten zweifelsfrei der guten Stube zu. »Da wären wir also«, sagte eine kraftvolle Stimme. »Bringen wir’s hinter uns.« Das Licht des Triumphs flackerte in Finchs Gesicht auf, und er lächelte den Neuankömmlingen, die in den Raum drängten, mit herzlicher Dankbarkeit zu. Glitberg. Ownslow. Connaught Powys. »Haben wir die Ratte also in die Enge getrieben?« fragte Powys.
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I
n diesem Augenblick prägte sich mir für alle Zeit das Bild dieser fünf Männer ein. Ich erhob mich, mein Herz hämmerte, und ich sah sie einen nach dem anderen an. Connaught Powys in seinem dunklen Anzug, ganz Estab lishment, als sei er eine der Stützen der Regierung. Kaffee farbene Sonnenbräune auf seinem fleischigen Gesicht. Glattes Haar, bleiche Hände. Ein großer Mann, der darauf abstellte und es genoß, sein ganzes Gewicht in die Waag schale zu werfen. Glitberg mit seinen bösartigen Augen und dem absto ßenden, weißen, krausen, zehn Zentimeter langen Backen bart, der ihm wie eine Rüsche vom Kopf abstand. Kleine, rosafarbene Lippen und ein Grinsen. Ownslow, der Bulle, mit seinem kahlen Schädel und dem Kranz langen, zotteligen, blonden Haars. Er hatte die Tür geschlossen und lehnte sich nun, die Arme in einer Geste ausgeprägter Zufriedenheit verschränkt, dagegen. William Finch, hochgewachsen und distinguiert, vibrier te in der Mitte des Raumes in einer Mischung aus Furcht und Zorn und unerfreulicher Freude. Trevor, silberhaarig, weltmännisch, abgewirtschaftet. Saß angstvoll in seinem Sessel und blickte seiner Zukunft mit mehr Kummer als Entsetzen entgegen. Der einzige von ihnen, der auch nur das kleinste Zeichen der Erkennt nis zeigte, daß er sich selbst in Schwierigkeiten gebracht hatte und nicht ich. Veruntreuer waren normalerweise keine gewalttätigen 303
Männer. Sie stahlen auf dem Papier, nicht mit ihren Hän den. Sie mochten hassen und drohen, aber tatsächliche körperliche Aggression war ihnen nicht an der Wiege ge sungen. Ich blickte trostlos in die fünf Gesichter und dach te abermals an die nukleare Wirkung von kritischen Massen. Kleine Mengen radioaktiver Substanz konnten jede für sich nutzbare Energie freigeben. Werden sie zu ei ner größeren Masse vereint, erfolgte die Explosion. »Warum sind Sie hergekommen?« fragte Trevor. »Finchy hat uns telefonisch herbestellt«, sagte Powys und deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung in meine Richtung. »So eine Gelegenheit kriegen wir nie wieder, oder? Da doch klar sein dürfte, daß Sie und Finchy für ei ne Weile aus dem Verkehr gezogen werden.« Finch schüttelte wild den Kopf. Aber es gab wohl ver schiedene Arten von Verkehr, und es würde sehr lange dauern, bevor er wieder auf einer Rennbahn auftauchte. Ich hätte dem Ruin, der ihm bevorstand, nicht ins Gesicht sehen mögen, dem Sturz von einer solchen Höhe. Glitberg sagte: »Vier Jahre eingesperrt in einer Zelle. Vier elende Jahre, seinetwegen.« »Flennen Sie nicht«, sagte ich. »Vier Jahre Gefängnis für eine Million Pfund sind ein gutes Geschäft. Bieten Sie das doch mal an, Sie würden jede Menge Abnehmer finden.« »Das Gefängnis ist entmenschlichend«, sagte Powys. »Die behandeln einen da schlimmer als Tiere.« »Mir kommen die Tränen«, sagte ich. »Sie haben sich den Weg, der Sie dorthin geführt hat, selbst ausgesucht. Und Sie alle haben bekommen, was Sie wollten. Geld, Geld, Geld. Also laufen Sie los, und spielen Sie damit.« Vielleicht lag in meinen Worten zu große Heftigkeit, aber die sich selbst entzündende Bombe würde ohnehin nichts entschärfen. Der Zorn darüber, daß ich mir diesen Schlamassel selbst 304
zu verdanken hatte, versetzte mir einen Stich. Der Gedan ke, daß Finch Verstärkung holen könnte, war mir einfach nicht gekommen. Es war auch nicht notwendig gewesen: Er hatte aus reiner Gehässigkeit gehandelt. Ich hatte ge glaubt, mit Finch und Trevor einigermaßen risikolos fertig werden zu können, und plötzlich befand ich mich in einer vollkommen anderen Schlacht. »Trevor«, sagte ich tonlos, »vergiß die Fotokopien nicht, die ich bei Freunden hinterlegt habe.« »Bei welchen Freunden?« fragte Finch, der im Beisein seiner Spießgesellen an Streitlust gewann. »Barclays Bank«, sagte ich. Finch war wütend, konnte mir aber das Gegenteil nicht nachweisen, und selbst er mußte begriffen haben, daß je der ernsthafte Versuch, mir eine andere Antwort abzupres sen, ihnen weitere Jahre im Bau eintragen konnte. Ich hatte ursprünglich gehofft, mit Finch einen Handel abschließen zu können, aber das war nicht mehr möglich. An dieser Stelle dachte ich nur daran, mit einem Hauch von Würde zu überstehen, was auch immer mir zustoßen sollte. Ein zweifelhafter Plan, wie mir schien. »Wieviel weiß er?« fragte Ownslow Trevor. »Genug …«, sagte Trevor. »Alles.« »Verdammte Scheiße.« »Wie hat er es rausgefunden?« wollte Glitberg wissen. »Weil William ihn auf sein Boot gesteckt hat«, sagte Trevor. »Ein Fehler«, sagte Powys. »Das war ein Fehler, Finchy. Er hat bei uns in London rumgeschnüffelt und sich nach Booten erkundigt. Wie ich es dir gesagt habe.« »Hunde legt man an die Kette«, entgegnete Finch. »Aber nicht in einen schwimmenden Zwinger, Finchy. Nicht diesen Mistkerl hier mit seinen beschissenen flinken Augen. Sie hätten ihn nicht auf Ihr Boot bringen sollen.« 305
»Ich wüßte nicht, was das jetzt noch für eine Rolle spielt«, sagte Trevor. »Wie er bereits bemerkt hat, wir alle haben unser Geld.« »Und was ist, wenn er redet?« wollte Ownslow wissen. »Oh, er wird reden«, sagte Trevor mit unverbrüchlicher Sicherheit. »Und natürlich wird es Schwierigkeiten geben. Fragen und Nachforschungen und jede Menge Unannehm lichkeiten. Aber am Ende sollten wir, wenn wir vorsichtig sind, das Geld behalten können.« »Sollten ist nicht genug«, sagte Powys wild. »Nichts ist sicher«, sagte Trevor. »Eines ist sicher«, entgegnete Ownslow. »Dieser wider liche Schnüffler kriegt sein Fett weg.« Sämtliche fünf Gesichter wandten sich in meine Rich tung, und in jedem einzelnen, selbst in Trevors Gesicht, las ich dieselbe Absicht. »Dafür sind wir hergekommen«, sagte Powys. »Vier elende Jahre«, sagte Ownslow. »Und der Hohn, den meine Kinder sich gefallen lassen mußten.« Er stieß sich von der Tür ab und ließ die Arme sinken. Glitberg sagte: »Richter, die uns angesehen haben, als wären wir Dreck.« Sie alle kamen – langsam – näher. Es war unheimlich und beängstigend. Die Bildung eines Rudels. Hinter mir war der Tisch und dahinter die Wand. Sie wa ren zwischen mir und den Fenstern und zwischen mir und der Tür. »Hinterlaßt keine Spuren«, sagte Powys. »Wenn er zur Polizei geht, steht sein Wort gegen unseres, und wenn er nichts vorzuzeigen hat, können die nicht viel tun.« An mich gewandt sagte er: »Wir werden ein verdammt gutes Alibi haben, das kann ich Ihnen sagen.« 306
Meine Chancen schienen erschreckend gering. Ich warf mich plötzlich zur Seite, um dem bedrohlichen Aufmarsch auszuweichen, um die Kohorten zu überlisten, um zur Tür zu stolpern. Ich kam genau nirgendwohin. Zwei Schritte weit, nicht mehr. Ihre Hände packten mich aus allen Richtungen, zerr ten mich zurück, und ihre Körper bedrängten mich mit ih rem gemeinschaftlichen Gewicht. Es war, als hätte mein Fluchtversuch sie in Gang gesetzt. Entschlossen, schwer und ächzend. Ich kämpfte mit aufwallendem Zorn, um mich von ihnen zu befreien, aber ebenso schlecht hätte ich mit einer Krake ringen können. Sie hoben mich hoch und setzten mich auf die Tischkan te. Drei von ihnen hielten mich dort mit Händen wie Schraubstöcken fest. Finch zog eine Schublade an der Seite des Tisches auf und zog ein rot-weiß kariertes Tischtuch heraus, das durchs Zimmer flog und auf einen Stuhl fiel. Unter dem Tischtuch kamen mehrere große, quadratische Servietten zum Vorschein. Rote und weiße Karos. Tapestrys Rennfar ben. Lächerlicher Gedanke in einem solchen Augenblick. Finch und Connaught Powys rollten jeder eine Serviette wie einen Verband zusammen und knoteten ihn um einen meiner Knöchel. Sie banden meine Füße an die Tischbeine. Sie zogen mir die Jacke aus. Sie rollten je eine rotwei ße Serviette für jedes meiner Handgelenke zusammen, banden sie darum und zogen die Knoten stramm. Die En den der Servietten hingen wie fröhliche, leuchtende Fähn chen herunter. Sie machten schnell. Alle Gesichter waren gerötet, die Augen verschwom men, auf dem Gipfel der Lust. Glitberg und Ownslow drückten mich, jeder auf einer Seite, flach auf den Rücken hinunter. Finch und Connaught Powys zogen mir die Arme 307
über den Kopf und banden die Servietten an meinen Handgelenken an die beiden anderen Tischbeine. Mein Widerstand ließ sie noch härter zupacken. Der Tisch war meiner Schätzung nach etwa sechzig mal hundertzwanzig Zentimeter groß. Lang genug, um mir von den Knien bis zum Scheitel zu reichen. Hart, mit einer Glasplatte bedeckt und unbequem. Sie traten zurück, um ihr Werk zu bewundern. Alle außer Atem von meinem nutzlosen Kampf. Alle übergewichtig, außer Form und reif, jederzeit an Koronarthrombose zu sterben. Sie lebten weiter. »Was jetzt?« fragte Ownslow abwägend. Er ließ sich auf die Knie hinab und zog mir die Schuhe aus. »Nichts«, sagte Trevor. »Das ist genug.« Der Instinkt des Rudels hatte ihn am schnellsten verlas sen. Er wandte sich ab, um mir nicht in die Augen sehen zu müssen. »Genug!« sagte Glitberg. »Wir haben doch noch gar nichts getan.« Powys beäugte mich abschätzig von Kopf bis Fuß. Viel leicht begriff er als einziger, was sie da getan hatten. »Doch«, sagte er langsam. »Das ist genug.« Onslow sagte wütend: »Hey!« und Glitberg: »Aber im Leben nicht.« Powys ignorierte beide und wandte sich an Finch. »Er gehört Ihnen«, sagte er. »Aber ich an Ihrer Stelle würde ihn einfach so liegenlassen.« »Ihn liegenlassen?« »Sie haben Besseres zu tun, als mit ihm rumzuspielen. Sie wollen doch keine Spuren an ihm zurücklassen, und ich sage Ihnen, so, wie wir ihn gefesselt haben, ist es ge nug.« William Finch dachte darüber nach, nickte und kehrte zumindest halb in das Reich kalter Vernunft zurück. Er trat 308
näher, bis er direkt neben meinen Rippen stand. Er blickte auf mich herab, und in seinen Augen leuchtete der vertrau te Haß auf. »Ich hoffe, Sie sind zufrieden«, sagte er. Er spuckte mir ins Gesicht. Powys, Glitberg und Ownslow hielten das für eine her vorragende Idee. Sie taten es ihm abwechselnd nach und taten es so widerwärtig, wie sie nur konnten. Trevor nicht. Er sah unbehaglich zu und machte kleine, nutzlose Gesten des Protests. Ich konnte vor lauter Speichel kaum sehen. Es fühlte sich ekelhaft an, und ich konnte es nicht abwischen. »Na schön«, sagte Powys. »Das wär’s dann also. Sie hauen jetzt ab, Finchy, und Sie packen Ihre Sachen, Tre vor, dann können wir alle hier weg.« »Hey!« protestierte Ownslow noch einmal. »Willst du nun ein Alibi, oder nicht?« fragte Powys. »Du mußt dich schon ein wenig bemühen. Dich an ein paar Or ten sehen lassen. Den Lügen ein wenig auf die Sprünge helfen.« Ownslow fügte sich ungnädig und gab sich damit zufrie den, sicherzustellen, daß sich keine der Tischservietten ge lockert hatte. Was nicht der Fall gewesen war. Finch war aus meinem verringerten Gesichtsfeld ver schwunden und, wie es schien, auch aus meinem Leben. Auf der Einfahrt wurde ein Wagen angelassen, der darauf hin über den Schotter knirschte und immer leiser wurde. Trevor verließ das Zimmer und kehrte schließlich mit ei nem Koffer zurück. Die Zwischenzeit verbrachte Owns low mit Hohn, Glitberg mit Spott, und Powys prüfte, wie weit ich meine Arme bewegen konnte. Ein, zwei Zentime ter höchstens. »Da kommen Sie nicht raus«, sagte er. Er schüttelte mei nen Ellbogen und beobachtete das Ergebnis. »Ich schätze, 309
damit sind wir quitt.« Als Trevor zurückkehrte, drehte er sich um. »Sind alle Türen abgeschlossen?« »Alle, bis auf die Haustür«, sagte Trevor. »Schön. Dann nichts wie weg hier.« »Aber was ist mit ihm?« fragte Trevor. »Wir können ihn doch nicht einfach so liegenlassen.« »Ach nein? Warum nicht?« »Aber …«, sagte Trevor – und verfiel in Schweigen. »Irgend jemand wird ihn morgen schon finden«, sagte Powys. »Eine Putzfrau oder so was. Haben Sie eine Putz frau?« »Ja«, meinte Trevor zweifelnd. »Bloß die kommt diens tags nicht. Aber meine Frau wird morgen zurück sein.« »Da haben Sie’s also.« »Na schön.« Er zögerte. »Meine Frau bewahrt etwas Geld in der Küche auf. Ich gehe es eben holen.« »In Ordnung.« Trevor ging seiner Wege und kehrte zurück. Dann trat er mit besorgter Miene neben mich. »Ro …« »Kommen Sie schon«, sagte Powys ungeduldig. »Er hat Sie ruiniert, genauso, wie er uns ruiniert hat. Sie schulden ihm verdammt noch mal gar nichts.« Er führte sie zur Tür hinaus; Trevor unglücklich, Glit berg höhnisch, Ownslow unbesänftigt. Powys blickte von der Tür aus noch einmal zurück; sein Gesicht war, soweit ich das sehen konnte, voller selbstgefälliger Befriedigung. »Ich werde an Sie denken«, sagte er. »Die ganze Nacht.« Er zog die Tür zu sich heran, um sie zu schließen, und knipste das Licht aus. Menschliche Körper sind nicht dafür geschaffen, stunden lang in ein und derselben Position zu verharren. Selbst im Schlaf bewegen sie sich regelmäßig. Gelenke beugen und 310
straffen sich, Muskeln ziehen sich zusammen und ent spannen sich. Kein menschlicher Körper ist dazu bestimmt, so zu lie gen, wie ich lag, in einer Position, in der ständig Druck auf Beine, Bauch, Brust, Schultern und Arme ausgeübt wurde. Binnen fünf Minuten – bevor sie das Haus verlassen hat ten – war es unerträglich geworden. Niemand wäre frei willig in dieser Haltung geblieben. Als sie fort waren, konnte ich mir die vor mir liegende Zeit einfach nicht vorstellen. Meine Phantasie versagte. Setzte aus. Was tat man, wenn man etwas nicht ertragen konnte, aber es mußte? Der größte Teil des Speichels glitt langsam von meinem Gesicht herunter, aber der Rest blieb klebrig und juckend zurück. Ich riß die Augen in der Dunkelheit weit auf und stellte mir vor, ich läge zu Hause in meinem eigenen ruhi gen Bett, wie ich es mir für diese Nacht erhofft hatte. Ich stellte fest, daß ich überraschende Schwierigkeiten hatte zu atmen. Man nahm den Atem so sehr als selbstver ständlich hin, aber die dazu erforderlichen Bewegungsab läufe waren keineswegs so simpel. Die Muskeln zwischen den Rippen dehnten den Brustkasten, so daß die Luft in die Lungen dringen konnte. Es war sozusagen nicht die Luft, die die Brust dehnte, sondern die Dehnung der Brust, die die Luft einließ. Wenn der Brustkorb ständig auseinan dergezogen war, würde das normale Ausmaß muskulärer Bewegung stark eingeschränkt. Ich trug immer noch Kragen und Krawatte. Ich würde ersticken, dachte ich. Das andere Organ, das das Atmen besorgte, war das Zwerchfell. Dem Himmel sei gedankt für Zwerchfell, dachte ich. Mögen sie lange herrschen. Meins tuckerte je denfalls nach Kräften vor sich. Wenn ich die Nacht im Delirium verbrächte, dachte ich, 311
wäre das eine gute Idee. Wenn ich Yoga gelernt hätte … den Geist aus dem Körper schicken. Dafür war es jetzt zu spät. Ich kam immer zu spät. War nie vorbereitet. Scharfe Schmerzen befielen meine beiden Schultern. Nadeln. Schwerter. Denk an etwas anderes. Boote. Denk an Boote. Große, teure Boote, die in erst klassigen, britischen Schiffswerften nach hohem Standard gebaut wurden und von Großbritannien aus zu Schiffs maklern in Antibes und Antigua gesegelt wurden. Riesige, schwimmende Vermögenswerte in veräußerli cher Form. Keine der gewöhnlichen bürokratischen Schwierigkeiten, Geld in großen Mengen nach Übersee zu transferieren. Keine Dollarabschläge, über die man sich Gedanken machen mußte, und auch sonst keine Hürden, die einem von gierigen Regierungen in den Weg gestellt wurden. Steck einfach dein Geld in Fiberglas und Tauwerk und Segel, und schwimm mit der Flut davon. Der Mann bei Goldenwave hatte mir erzählt, daß es ih nen nie an Aufträgen mangelte. Schiffe, sagte er, verloren nicht wie Flugzeuge oder Autos an Wert. Steck eine Vier telmillion in ein Schiff, und es wird im Laufe der Jahre höchstwahrscheinlich an Wert zunehmen. Verkauf das Boot, bring das Geld auf die Bank und – bingo – alles gut, alles ordentlich und legal erledigt. Meine Arme und Beine protestierten furchtbar. Ich konn te sie in keiner Richtung mehr als zwei, drei Zentimeter bewegen: konnte ihnen keine Ruhepause verschaffen. Es war, ging es mir durch den Kopf, wirklich eine absolut elende Rache. Sinnlos, darüber nachzudenken, daß ich selbst Powys und Ownslow und Glitberg aufgescheucht hatte. Wenn du eine Klapperschlange mit einem Stock aufscheuchst, wun dere dich nicht, wenn sie dich beißt. Ich war losgezogen, 312
um herauszufinden, ob sie mich entführt hatten, und hatte statt dessen herausgefunden, was sie mit all dem ver schwundenen Geld gemacht hatten. Es in Schiffe gesteckt. Die Erwähnung von Schiffen hat te die Bedrohung aufleben lassen, nicht die Erwähnung meiner Entführung. Schiffe, für die der Steuerzahler ge zahlt hatte, die Elektronikfirma und die Nantuckets aus New York. Von den vier Winden verweht. Eingetauscht gegen ein Häufchen schöner, starker Währung, das ir gendwo auf einer ausländischen Bank lag und darauf war tete, daß die Besitzer vorbeigeschlendert kamen, um es abzuholen. Trevor war das Verbindungsglied zwischen ihnen allen. Vielleicht waren die Schiffe ursprünglich seine Idee gewe sen. Ich war nicht auf den Gedanken gekommen, daß Wil liam Finch Connaught Powys kennen könnte, und ganz gewiß nicht darauf, daß er ihn so gut kannte, wie es offen sichtlich der Fall war. Aber über Trevor, über den Weg von der Veruntreuung zum Bootsbau … Irgendwo auf diesem Weg waren sie einander begegnet. Die Schmerzen in meinen Armen und Beinen nahmen zu, und eine Welle der Qual verschlang meine Brust. Ich dachte: Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll. Ich weiß nicht wie. Es ist unmöglich. Trevor, dachte ich. Trevor hätte mich doch bestimmt nicht so liegengelassen … nicht so … wenn es ihm klar gewesen wäre. Trevor, den mein zerzaustes Aussehen auf dem Polizeirevier so bekümmert hatte, dem meine Ge sundheit, soweit ich sehen konnte, wirklich am Herzen ge legen hatte. Oh, mein Gott, dachte ich, ich würde mit Freuden wie der in eine Segelkabine zurückkehren … in den Lieferwa gen … an beinahe jeden Ort, auf den man sich besinnen konnte. 313
Einige meiner Muskeln zitterten. Ich fragte mich, ob die Fasern einfach kollabieren würden. Würden die Muskeln schlicht zerreißen, die Bänder sich von den Knochen lö sen? Oh, um Gottes willen, sagte ich mir, du hast doch so schon genug Probleme. Denk an etwas Erfreuliches. Aber das konnte ich nicht, nicht einfach so. Selbst er freuliche Themen wie Tapestry nutzten nichts. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich in der Lage sein würde, im Whitbread Gold Cup zu reiten. Minuten schleppten sich dahin und gingen ineinander über, dehnten sich zu Stunden. Die einzelnen, getrennt wahrnehmbaren Schmerzen verschmolzen allmählich zu einem alles durchdringenden Feuer. Das Denken wurde bruchstückhaft und hörte dann, vermute ich, mehr oder weniger auf. Das Unerträgliche war da, in mir, wild und verzehrend. Unerträglich … Ein solches Wort gab es nicht. Gegen Morgen hatte ich einen langen Weg in ein extre mes Land zurückgelegt, von dessen Existenz ich bisher nichts gewußt hatte. Eine andere Dimension, in der die Erinnerung an gewöhnlichen Schmerz einfach lachhaft war. Ein innerer Ort; der schwere Kern. Die äußere Welt hatte sich zurückgezogen. Ich fühlte mich nicht länger, als wäre ich von bestimmter Gestalt, hatte keine Vorstellung von Händen oder Füßen oder davon, wo sie sich befanden. Al les war blutrot und dunkel. Ich existierte als Masse. Vereinheitlicht. Ein einziger Klumpen Substanz, von einem Gewicht und einem Feuer wie das Zentrum der Erde. Sonst gab es nichts. Keinen Gedanken. Nur das Gefühl und die Ewigkeit.
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Ein Geräusch zerrte mich zurück. Menschen, die redeten. Stimmen im Haus. Ich sah, daß das Tageslicht zurückgekehrt war und um die Ränder der Vorhänge herum wieder ins Zimmer strömte. Ich versuchte zu rufen und konnte es nicht. Schritte kamen durch den Flur näher und entfernten sich wieder, und endlich, endlich öffnete jemand die Tür und knipste das Licht an. Zwei Frauen kamen herein. Ich starrte sie an, und sie starrten mich an: auf beiden Seiten voller Ungläubigkeit. Es waren Hilary Pinlock und Jossie. Hilary schnitt mit einer kleinen Schere aus ihrer Handta sche die rotkarierten Tischservietten durch. Ich versuchte, mich aufzusetzen und Kaltblütigkeit an den Tag zu legen, aber meine gedehnten Muskeln gehorch ten meinen Befehlen nicht. Irgendwie endete ich mit dem Gesicht an ihrer Brust, und aus meiner Kehle kam ein halb ersticktes Stöhnen, gegen das ich machtlos war. »Es ist schon gut, Ro. Es ist alles gut, mein Lieber, mein Lieber.« Ihre dünnen Arme hielten mich fest umfangen und wieg ten mich sanft; sie nahm den unmöglichen Schmerz in sich hinein, litt für mich wie eine Mutter. Mutter, Schwester, Geliebte, Kind … eine Frau, die die Kategorien sprengte und als etwas Verschwommenes hinter sich zurückließ. Ich nahm einen Mundvoll Blusenknopf und fühlte mich bis in die Seele hinein getröstet. Sie legte mir einen Arm um die Taille und trug mich mehr oder weniger in den nächsten Sessel. Jossie stand da und sah zu, und ihr Gesicht spiegelte einen größeren Schock wider, als mich hier zu finden. »Wissen Sie«, sagte sie, »daß Dad weg ist?« Mir war nicht danach zumute, viel zu sprechen. 315
»Haben Sie gehört?« fragte Jossie. Ihre Stimme war ge preßt, unfreundlich. »Dad ist weg. Einfach verschwunden. Hat alle Pferde dagelassen. Hören Sie? Er hat die Hälfte der Papiere aus dem Büro rausgeschleppt und im Ofen verbrannt, und die se Dame sagt, das läge daran, daß mein Vater Geld verun treut hat, und Sie … Sie würden ihn an die Nantuckets verraten und an die Polizei.« Die großen Augen waren hart. »Und Trevor auch. Tre vor. Ich kenne ihn mein Leben lang. Wie konnten Sie? Und Sie wußten … Sie wußten am Sonntag … den ganzen Tag … was Sie tun würden. Sie haben mich ausgeführt, und Sie wußten, daß Sie unser aller Leben zerstören wür den. Ich finde Sie abscheulich.« Hilary machte zwei Schritte auf sie zu, packte sie an den Schultern und schüttelte sie regelrecht. »Hören Sie auf, Sie dummes Ding. Machen Sie Ihre dummen Augen auf. Das alles hat er nur für Sie getan.« Jossie riß sich los. »Was meinen Sie damit?« fragte sie. »Er wollte nicht, daß Ihr Vater ins Gefängnis kommt. Weil er Ihr Vater ist. Die anderen hat er dorthin geschickt, aber er wollte nicht, daß es Ihrem Vater zustößt oder Tre vor King. Also hat er sie gewarnt und ihnen Zeit gegeben, alles mögliche zu zerstören. Beweise. Papiere und Unter lagen.« Sie drehte sich kurz zu mir um. »Er hat mir am Samstag erzählt, was er vorhatte … daß er Ihrem Vater sa gen wollte, wieviel er wußte, und ihm einen Handel vor schlagen wollte. Zeit, genug Zeit, wenn er seine Spuren verwischen und weggehen würde, und zwar auf eine Wei se, die Ihnen so wenig Schmerz wie möglich verursachte. Zeit, wegzugehen, bevor die Polizei kam, um seinen Paß zu beschlagnahmen. Zeit, sein Leben so gut es eben ging in Ordnung zu bringen. Und sie haben ihn für die Zeit, die er ihnen gegeben hat, zahlen lassen. Er hat für jede einzel 316
ne Sekunde gezahlt …« Sie zeigte mit frustriertem Ab scheu auf den Tisch und die zerschnittenen Stoffservietten, »… er hat mit Qual gezahlt.« »Hilary«, protestierte ich. Aber wenn Hilary Pinlock einmal in Fahrt war, konnte niemand sie bremsen. Wütend sagte sie zu Jossie: »Er kann eine Menge verkraften, aber ich schätze, es ist zuviel für ihn, wenn Sie ihn jetzt auch noch beschimpfen für das, was er um Ihretwillen gelitten hat. Also sehen Sie zu, daß Sie einen Funken Verstand in Ihr kleines Spatzenhirn krie gen und ihn um Verzeihung bitten.« Ich schüttelte hilflos den Kopf. Jossie, die auf solche Weise aus ihrem Schock gerissen worden war, stand mit offenem Mund da, blickte dann zu dem Tisch hinüber und verwarf den Gedanken. »So etwas hätte Dad nie getan«, sagte sie. »Sie waren zu fünft«, sagte ich schwach. »Die Menschen tun in Horden Dinge, die sie allein nie tun würden.« Sie sah mich mit verschatteten Augen an. Dann drehte sie sich jäh auf dem Absatz um und ging aus dem Zimmer. »Sie ist furchtbar aufgeregt«, räumte Hilary ein. »Ja.« »Ist mit Ihnen alles in Ordnung?« »Nein.« Sie schnitt ein Gesicht. »Ich hole Ihnen etwas. Sie müs sen doch wenigstens ein paar Aspirin in diesem Haus zu rückgelassen haben.« »Erklären Sie mir zuerst«, sagte ich, »wieso Sie hier sind.« »Oh. Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich habe den ganzen Abend in Ihrem Cottage angerufen. Bis spät in die Nacht hinein. Und dann heute morgen wieder, ganz früh schon. Ich hatte so ein Gefühl … Ich dachte, es würde wohl nichts schaden, wenn ich zu Ihnen rüberfuhr, um nachzu 317
sehen, also war ich bei Ihrem Cottage … Aber Sie waren natürlich nicht da. Ich habe Ihre Nachbarin angetroffen, Mrs. Morris, und sie meinte, Sie seien die ganze Nacht über nicht zu Hause gewesen. Dann bin ich also in Ihr Bü ro gefahren. Die Leute da waren vor Aufregung ganz aus dem Häuschen, weil Ihr Partner irgendwann zwischen ge stern abend und heute morgen eine gewaltige Menge Pa piere weggeholt hatte und weder er noch Sie heute zur Ar beit aufgetaucht sind.« »Wieviel Uhr …«, sagte ich. »Als ich in Ihr Büro fuhr, war es halb zehn.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Jetzt ist es Viertel vor elf.« Vierzehn Stunden, dachte ich benommen. Ich mußte mindestens vierzehn Stunden dagelegen haben. »Tja, dann bin ich zum Haus der Finchs gefahren«, sag te sie. »Es war nicht ganz einfach, den Weg zu finden, und als ich ankam, fand ich dort ein Trümmerfeld vor. Ei ne junge Sekretärin heulte wie ein Schloßhund. Irgend welche Leute fragten, was los sei … und Ihr Mädchen, Jossie, war vollkommen außer sich. Ich fragte sie, ob sie Sie gesehen hätte. Ich sagte, meiner Meinung nach wären Sie möglicherweise in ernsten Schwierigkeiten. Ich fragte sie nach Trevor Kings Adresse. Ich zwang sie, mit mir zu fahren, um mir den Weg zu zeigen. Ich versuchte, ihr zu erklären, was ihr Vater getan hatte und daß er für Ihre Ent führung verantwortlich war, aber sie wollte es nicht glau ben.« »Nein.« »Na, und dann kamen wir hierher und fanden Sie.« »Wie sind Sie reingekommen?« »Die Hintertür stand weit offen.« »Weit …?« Plötzlich sah ich Trevor vor mir, wie er zur Küche hin ausging, angeblich, um etwas Geld zu holen. Um die Tür 318
zu öffnen. Um mir eine winzige Chance zu geben. Armer Trevor. »Das Päckchen, das ich bei Ihnen deponiert habe«, sagte ich. »Mit all den Fotokopien. Wenn Sie nach Hause kom men, würden Sie es bitte verbrennen?« »Wenn es das ist, was Sie wollen.« »Hm.« Jossie kam zurück und ließ sich in einen roten Sessel fal len. »Tut mir leid«, sagte sie abrupt. »Mir auch.« »Sie haben ihm wirklich geholfen«, sagte sie. Hilary meinte: »Sei gut zu jenen, die dich auf gehässige Weise mißbrauchen.« Ich sah mich schwerfällig nach ihr um. »Das ist jetzt ge nug davon.« »Wovon redet ihr?« fragte Jossie. Hilary schüttelte lächelnd den Kopf und machte sich auf Aspirinjagd. Butazolidin, überlegte ich, würde mir bessere Dienste leisten. Die Dinge waren jetzt, da ich in einem Sessel saß, erträglicher, aber noch immens weit davon ent fernt, wieder in Ordnung zu sein. »Er hat mir einen Brief dagelassen«, sagte Jossie. »Mehr oder weniger desselben Inhalts wie bei Ihrem.« »Wie meinen Sie das?« »Liebe Jossie, tut mir leid, dein Dad.« »Oh.« »Er schrieb, daß er nach Frankreich gehen wolle …« Sie brach ab und starrte ins Leere; ihr Gesicht war ein Bild des Kummers. »Das Leben wird unaussprechlich miserabel, nicht wahr?« fragte sie. »Und zwar auf lange Zeit?« »Hm.« »Was werde ich tun?« Die Frage war ein rhetorisches Jammern, aber ich antwortete trotzdem. 319
»Ich wollte Sie wirklich warnen«, sagte ich. »Aber ich konnte es nicht … nicht bevor ich mit Ihrem Vater gespro chen hatte. Aber als ich sagte, Sie könnten bei mir im Cot tage wohnen, war das mein Ernst. Wenn Sie meinen … wenn du könntest.« »Ro …« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Atemzug. Ich saß da und litt und dachte niedergeschlagen an den Anruf bei den Nantuckets und das Chaos, mit dem ich mich im Büro würde auseinandersetzen müssen. Jossie drehte sich zu mir um und sah mich lange und prüfend an. »Du siehst aus, als hättest du kein Rückgrat«, sagte sie. Ihre Stimme spiegelte schon halbwegs den alten, gesunden Spott wider; zittrig noch, aber sie tat ihr Bestes. »Und ich erzähle dir noch etwas.« Sie hielt inne und schluckte. »Als Dad ging, ließ er mich zurück, aber die abscheuli che Lida, die hat er mitgenommen.« Das war Hoffnung genug für die Zukunft.
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