Bettina Paul · Henning Schmidt-Semisch (Hrsg.) Risiko Gesundheit
Bettina Paul Henning Schmidt-Semisch (Hrsg.)
Risiko ...
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Bettina Paul · Henning Schmidt-Semisch (Hrsg.) Risiko Gesundheit
Bettina Paul Henning Schmidt-Semisch (Hrsg.)
Risiko Gesundheit Über Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheitsgesellschaft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16544-8
INHALT
Henning Schmidt-Semisch/Bettina Paul Risiko Gesundheit. Eine Einführung ............................................................... 7 Bettina Schmidt Der kleine Unterschied: Gesundheit fördern – und fordern ........................... 23 Barbara Prainsack Die Verflüssigung der Norm: Selbstregierung und personalisierte Gesundheit ............................................ 39 Heiner Friesacher Nutzerorientierung – Zur normativen Umcodierung des Patienten ............... 55 Frauke Koppelin/Rainer Müller Gesundheit und Krankheit in „biopolitischen Zeiten“ .................................. 73 Andreas Hanses Gesundheit und Biographie – eine Gradwanderung zwischen Selbstoptimierung und Selbstsorge als gesellschaftliche Kritik .................... 89 Friedrich Schorb Fit for fun? – Schlankheit als Sozialprestige .............................................. 105 Craig Reinarman Policing Pleasure – Drogenpolitik und die Politisierung der Nahrungsaufnahme ................................................................................ 123 Henning Schmidt-Semisch Doing Addiction. Überlegungen zu Risiken und Nebenwirkungen des Suchtdiskurses .......................................................... 143
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Henning Schmidt-Semisch/Bettina Paul
Bettina Paul „Pinkeln unter Aufsicht“. Zur gesundheitlichen Problematik von Drogen- und Dopingtests ...................................................................... 163 Gesa Thomas Warum Lucky Luke das Rauchen aufgeben musste .................................... 187 Heino Stöver Im Dienste der Männlichkeit: Die Gesundheitsverweigerer ....................... 203 Tobias Grave/Oliver Decker Mal d’Archive? Die elektronische Patientenakte ........................................ 213 Wendy Fitzgibbon Risikoträger oder verletzliche Individuen: Über die präemptive Kriminalisierung von Menschen mit psychischen Problemen ......................................................................... 227 Matthias Leanza Die Gegenwart zukünftiger Erkrankungen. Prävention und die Person ........................................................................... 241 Andrew Lakoff Nationale Sicherheit und der sich wandelnde Gegenstand der öffentlichen Gesundheit ........................................................................ 263 Autoren/Autorinnen ..................................................................................... 287
Risiko Gesundheit. Eine Einführung Henning Schmidt-Semisch/Bettina Paul
Gesundheit bezeichnet einen der zentralen Werte in unserer gegenwärtigen Gesellschaft: Sowohl das öffentliche wie auch das persönliche Interesse an Gesundheit hat in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen. Aber auch wenn (zumindest in den westlichen Industriestaaten) die durchschnittliche Lebenserwartung seit Ende des 19. Jahrhunderts enorm angestiegen ist und das System der gesundheitlichen Versorgung sich deutlich verbessert hat, so heißt dies doch nicht, dass das Leben heutzutage (zumindest subjektiv) weniger riskant und die Gesundheit weniger gefährdet wäre. Im Gegenteil kann man mit Bezug auf Luhmann (1991, 1993) sagen, dass es mit der Mehrung des medizinischen und epidemiologischen Wissens sowie entsprechender Informationen auch zu einer Ausweitung der Entscheidungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten kommt – und damit zugleich zu einem Mehr an Risiken, sich in gesundheitlicher Hinsicht richtig oder falsch zu entscheiden. Diese Entwicklung wird zugleich aber noch dadurch gefördert, dass immer mehr Probleme einer medizinischen Lösung zugeführt und immer mehr Verhaltensweisen als gesundheitsschädlich bezeichnet und bekämpft werden: Hinter jedem Zipperlein wird die Manifestation, zumindest aber der Beginn einer ernstzunehmenden Krankheit vermutet, immer öfter werden eigentlich gesunde Prozesse (etwa Alterung oder Menopause) problematisiert und medizinalisiert und jede noch so lustvolle Tätigkeit wird vor dem Hintergrund ihrer immanenten Gesundheitsrisiken taxiert. Jede Entscheidung, die wir treffen, so wird suggeriert, ist zugleich eine Entscheidung über unsere Gesundheit. Auf diese Weise wird Gesundheit zu einem konstitutiven Merkmal gesellschaftlicher Entwicklungen und Entscheidungen, und zugleich prägen die mit der Sorge um sie verbundenen Notwendigkeiten und Befürchtungen die Lebens-, Befindlichkeits- und Bewusstseinslagen der Individuen maßgeblich mit. Je umfassender Gesundheit in diesem Prozess definiert werde, so Kickbusch (2006: 10f.), „umso mehr Bereiche der Gesellschaft und des individuellen Handelns werden durch und durch über die Gesundheit definiert“. Dies habe zur Folge, dass Gesundheit grenzenlos werde, denn immerhin sei „mehr Gesundheit … immer möglich: sie ist Teil der Erfahrung durch die das moderne Ich sich selbst bestimmt“.
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Henning Schmidt-Semisch/Bettina Paul Kollektive Gesundheits-Akteure
Betrieben und aufgegriffen wird dieses neue Gesundheitsbewusstsein von verschiedenen Akteuren, wobei uns drei Gruppierungen von besonderer Bedeutung zu sein scheinen, um die Vielschichtigkeit und auch Widersprüchlichkeit der neueren Entwicklungen zu kennzeichnen: a) VertreterInnen einer modernen Gesundheitswissenschaft bzw. einer New Public Health, die unter dem Rubrum der Gesundheitsförderung darauf zielen, „allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen“ (Ottawa Charta); b) die (Gesundheits-) Wirtschaft, die – in Gestalt eines ökonomisierten Gesundheitswesen (im engeren Sinne) wie auch einer sehr breit zu verstehenden Gesundheitsindustrie – „Gesundheit“ in Form einer unüberschaubaren Vielzahl an Gesundheitsprodukten und -dienstleistungen bereit stellt und produziert; und c) staatlich-politische Akteure, welche die emanzipativen Absichten der GesundheitswissenschaftlerInnen mit den Interessen der (Gesundheits-)Wirtschaft kurzschließen und in neoliberaler Manier den gesundheitlich befähigten Bürger zum Gesundheitsmanager seiner selbst erklären. Auf diese drei Akteure soll im Folgenden kurz eingegangen werden. a. Gesundheitswissenschaften/New Public Health Nach Kickbusch (2006: 103ff.) ist die gesellschaftliche und kulturelle Dominanz des Gesundheitsthemas das Ergebnis dreier „großer Gesundheitsrevolutionen“: Der große Fortschritt der ersten Gesundheitsrevolution (im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert) sei es gewesen, die öffentliche Gesundheit zu sichern, d.h. man investierte in die Trink- und Abwasserversorgung, regulierte Arbeitsschutz und Schulpflicht, führte Krankenversicherungen ein, verbesserte die Ernährung, die Wohnbedingungen usw. Die zweite Gesundheitsrevolution habe im Verlaufe des 20. Jahrhunderts zum einen die Absicherung bei Krankheit, Invalidität und Alter auf nahezu die gesamte Bevölkerung ausgeweitet und zum anderen umfassende medizinische Versorgungssysteme geschaffen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts nun würden wir Zeugen der dritten Gesundheitsrevolution, bei der die Förderung der Gesundheit in den vielfältigen Lebenswelten des modernen Alltags im Zentrum stehe. Die – um im Duktus von Kickbusch zu bleiben – revolutionären Subjekte sind dabei nicht (in erster Linie) Mediziner, sondern die VertreterInnen einer neuen multidisziplinären und anwendungsbezogenen Gesundheitswissenschaft oder (New) Public Health, die nicht mehr nach Art der Medizin „kranke“ Individuen in den Blick nimmt, sondern die sich (in gesundheitsfördernder Absicht) auf Bevölkerungsgruppen und „settings“ (etwa Bals et al. 2008) sowie auf das Gesundheitssystem oder seine Teile konzentriert (vgl. Franzkowiak 2004:
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121ff.; Kolip 2002: 16f.; Trojan 2002). Dabei ist das vorrangige Ziel nicht die Behandlung von Krankheit, sondern deren Verhinderung (Prävention) sowie die Förderung von Gesundheit bzw. gesundheitsförderlichen Strukturen im Sinne einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik (Schmidt-Semisch 2007). Hervorgegangen war die neue Perspektive der Gesundheitsförderung insbesondere aus einer (in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts) zunehmenden Kritik des hegemonialen bio-medizinischen Blicks, die etwa Illich (1995: 9ff.) mit Schlagwörtern wie „Medikalisierung des Lebens“, „Iatrogenesis“ oder „pathogene Medizin“ zu fassen suchte. Die Kritik richtete sich zugleich auch auf das so genannte Risikofaktorenkonzept (vgl. etwa Franzkowiak 1986), das unter Rückgriff auf epidemiologische Erkenntnisse die gesundheitsgefährdenden Begleiterscheinungen moderner Lebensweisen thematisierte, dabei allerdings weniger strukturelle Gefährdungen (Armut, Umweltgifte etc.) ins Zentrum entsprechender Interventionen rückte, sondern in erster Linie riskante Verhaltensweisen (wie etwa Rauchen, Alkoholkonsum oder Bewegungsmangel) in den Blick nahm. Unter dem Rubrum der Verhaltensprävention sollten mithilfe von Gesundheitserziehung diese Verhaltensweisen geächtet, sanktioniert und zum Verschwinden gebracht werden. An dieser – in der bio-medizinischen Tradition wurzelnden, verhaltenspräventiv orientierten – Gesundheitserziehung wurde vielerlei kritisiert, unter anderem dass sie die (verborgene) Funktion habe, „bei allen Beteiligten beständig schlechtes Gewissen zu erzeugen“ (Franzkowiak 1992: 254), und eine „Umwertung von Risikoverhalten zu abweichendem Verhalten“ (ebd. 255) betreibe: Ohne normative und ethische (Selbst-) Reflexion gehe sie in paternalistischer Art und Weise von der Vorstellung „eines epidemiologisch bestimmbaren ‚prinzipiell richtigen’ Lebens“ (ebd. 258) aus und basiere zudem auf der „Vision eines präventiven Mustermenschen“ (ebd. 256)1, womit „den präventiven Adressaten … die persönliche und gemeinschaftliche Mündigkeit gründlich abgesprochen“ (ebd. 263) werde. Unter dem Eindruck (und parallel zu) dieser Kritik formierten sich seit den 1980er Jahren verschiedenste Gesundheitsinitiativen, alternative Behandlungsund Beratungsformen, Selbsthilfegruppen etc. (einschließlich unterschiedlichster Ausbildungsgänge an verschiedenen Hochschulen), um einen anderen Zu- und Umgang mit Gesundheit zu entwickeln (Brunnet 2007: 172). Eine besondere Rolle kommt seither insbesondere dem bereits angesprochenen Konzept der „Gesundheitsförderung“ zu, das seit der von der WHO 1986 verabschiedeten „Ottawa Charta“ sowohl national als auch international an politischer Bedeutung gewonnen hat. In programmatischer Hinsicht handelt es sich dabei um ein in hohem Maße emanzipatives Projekt, welches einerseits auf einem bio-psycho1 Ferber hatte diesen Mustermenschen bereits 1978 treffend als „homo epidemiologicus“ bezeichnet.
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sozialen Konzept von Gesundheit und Krankheit fußt und dessen Maßnahmen andererseits „dem Subjekt eine aktive Rolle verleihen und den Schwerpunkt auf Selbstbestimmung über Gesundheit, Eigenverantwortung und die Orientierung an einem positiven, lebensweltorientierten Umgang mit der eigenen Gesundheit legen ... Durch diese Prozesse wird die Hegemonie der Verobjektivierung von Gesundheit/Krankheit durch die Bio-Medizin zugunsten eines lebensweltorientierten, subjektbezogenen Gesundheitsverständnisses aufgeweicht“ (Brunnet 2007: 172; vgl. auch Bengel et al. 2001: 19f.). Es geht den Protagonisten der Gesundheitsförderung um Aufklärung und Informierung, um Befähigung und Empowerment der Subjekte, so dass sowohl „einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. sie verändern können“ (WHO 1986). Zudem sollen diese Maßnahmen wiederum eingebunden sein in eine „gesundheitsförderliche Gesamtpolitik“, die insbesondere auch strukturelle Problematiken in den Blick nehmen soll (vgl. etwa Labonte/Wenzel 1986). Soweit die Theorie. Für die Praxis allerdings gilt, was Hagen Kühn und Rolf Rosenbrock bereits 1994 in ihrem Aufsatz „Präventionspolitik und Gesundheitswissenschaften. Eine Problemskizze“ herausgearbeitet hatten und was die Herausgeber des 2009 erschienen Sammelbandes „Normativität und Public Health“ (Bittlingmayer et al. 2009) dazu veranlasste, besagten Beitrag unverändert wieder abzudrucken. Kühn und Rosenbrock vertreten in diesem Beitrag die These der „konservativen Zuchtwahl der Präventions- und Gesundheitsförderungskonzepte“. Sie besagt, dass sich stets nur diejenigen Präventions- und Gesundheitsförderungskonzepte durchzusetzen pflegen und (vorrangig) zur Anwendung kommen, die am besten an die normativen und strukturellen Bedingungen des jeweiligen Gesundheitssystems angepasst sind – „also die bestehenden Verhältnisse am wenigsten antasten und bei den Adressaten die geringsten Wirkungen erzielen“ (Bittlingmayer et al. 2009a: 29). Neben klassischen medizinischen Konzepten „der Verursachung durch Erreger oder genetische Bedingungen, die zu pathogenen Mikroereignissen im menschlichen Körper führen“ (Kühn/Rosenbrock 2009: 58) und bei denen (lediglich) das Agens aus dem ansonsten unveränderten (gesellschaftlichen) Feld entfernt wird, handelt es sich dabei um solche Präventions- und Gesundheitsförderungskonzepte, die es erlauben, die infrage stehenden Probleme als individuelles Fehlverhalten in den Blick zu nehmen: „Die pathogenen Ursachen verbleiben beim Individuum, befinden sich dort auf der Verhaltensebene, die in der dominierenden Sichtweise wiederum auf Faktoren des so genannten ‚Lebensstils’ reduziert werden“ (ebd.; vgl. auch Gerlinger/Stegmüller 2009: 156f.). Dass sich an dieser Situation seit den 1980er Jahren allenfalls wenig geändert hat, dass Prävention und Gesundheitsförderung weiterhin in aller Regel mit Blick auf Verhaltensmodifikationen (im
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Sinne einer Veränderung des jeweils „abweichenden Verhaltens“) in Anschlag gebracht werden, dass es bei alledem weiterhin vor allem um die Verhinderung von Krankheit und weniger um die Förderung von Gesundheit geht und dass schließlich strukturelle Interventionen in Bereiche wie etwa Armut, Erwerbsoder Machtlosigkeit weitgehend fehlen, hat zum einen mit einer zunehmenden Ökonomisierung und Vermarktlichung des Gesundheitssektors, zum andern aber auch mit Veränderungen im sozialstaatlichen Denken und Handeln zu tun (vgl. etwa Kühn/Rosenbrock 2009: 59; Kühn 2009; Schnabel 2009: 191; Hanses 2008: 12; Ahrens 2007; Schmidt 2007a, 2007b). b. Die Gesundheitswirtschaft Das so genannte Gesundheitswesen hat sich in den vergangenen dreißig Jahren zu einem der größten Arbeitgeber in der Bundesrepublik entwickelt (Schnabel 2007: 12). Im Kontext dieser quantitativen Ausweitung hat sich allerdings zugleich auch eine neue Qualität der Kostenkalkulation durchgesetzt, „die das Grundgut Gesundheit häufig hinter ökonomischen Kriterien zurücktreten [lässt] … Im Rahmen umfassender Privatisierungen und Deregulationen wurde das Gesundheitssystem seit mindestens fünfzehn Jahren von einem System der Bereitstellung des Grundgutes Gesundheit zu einem profit-orientierten Sektor“ (Schnabel et al. 2009: 17). In diesem Kontext werden einerseits ÄrztInnen, Krankenhäuser, Pflegeinrichtungen, Reha-Zentren usw. zu (konkurrierenden) Unternehmen (bzw. Unternehmern), die ihre Dienstleistungen vor allem vor dem Hintergrund betriebswirtschaftlicher Berechnungen bereit stellen (vgl. auch Borgetto/Kälble 2007: 166ff.); andererseits wird der Patient aufgrund der sukzessiven „Verschlankung“ des Leistungsspektrums der gesetzlichen Krankenkassen immer häufiger tatsächlich zum Kunden, der für seine Gesundheit selbst zu zahlen hat, mithin also zum Konsumenten, der sich für oder gegen bestimmte Leistungen entscheiden kann und auch muss. Aber auch wenn sich diese Entwicklung häufig über die emphatische Rede von der Autonomie und Eigenverantwortung der Patienten-Konsumenten legitimiert, so verweist sie doch vor allem auf die gleichermaßen expandierenden wie kommodifizierenden Tendenzen des Gesundheitssystems. Die Tendenz der Vermarktlichung ist dabei keineswegs auf das Gesundheitssystem (im engeren Sinne) beschränkt, sondern vielmehr wird Gesundheit bzw. das Gesundheitsthema zu einem zentralen Bezugspunkt (gesundheits-)industrieller Vermarktungsstrategien. Kaum einer anderen Angelegenheit, so formuliert Peter-Ernst Schnabel (2007: 11), widmeten die Menschen dermaßen viel Aufmerksamkeit wie der Gesundheit, die inzwischen ihrerseits zum Leitgedanken und Produkt einer eigenen „Industrie“ geworden sei: „Kein Fernsehsender, der auf sich hält, kann heute auf sein Gesundheitsmagazin, keine Zeitung auf ihre Gesundheitsbeilage verzichten. Was in den 50er und 60er Jahren
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des vergangenen Jahrhunderts das Streben nach Besitz und Wohlstand war, ist für die Werbung der 80er und 90er Jahre das Streben nach einer gesunden und ästhetischen guten Figur, nach Fitness bis ins hohe Alter, nach totaler Gesundheit als allwaltendem Prinzip in jeder Lebenslage, nach Gesundheit als einer Ressource, über die bedenkenlos verfügt und die im Fall stärkerer Vernutzung wieder hergestellt werden kann. Gesundheit ist zum Traumbild, Lockmittel, zur ‚Phantasmagorie’ moderner Gesellschaften geworden … mit Hilfe derer sich fast alles, von der Armbanduhr über den Komfortschuh bis zum Milchriegel, von der Gefriertruhe bis zum Abenteuerurlaub, vermarkten lässt“ (Schnabel 2007: 11f.). Das Problematische dieser Entwicklungen ist, so kann man mit Kühn/ Rosenbrock (2009: 63) schlussfolgern, dass mit der Vermarktlichung gesellschaftliche Probleme der Gesundheit tendenziell in subjektive Probleme solcherart transformiert werden, dass für ihre Lösung vermarktungsfähige Waren nachgefragt werden können. Die Chance eines gesundheitsbezogenen Konzepts, realisiert zu werden, erhöhe sich in einer Marktgesellschaft in dem Maße, in dem es sich in der ‚Sprache’ dieses Systems, nämlich als Angebot von Waren, ausdrücken könne: „Durch entsprechende Anreize sozialisieren Marktgesellschaften ihre Mitglieder dahingehend, Bedürfnisse gleich in einer marktkonformen Weise als Kaufwunsch wahrzunehmen“. Diese Transformation und Individualisierung von Gesundheitsproblemen komme nun wiederum den Erfordernissen der Ökonomie wie auch des politischen Systems gleichermaßen entgegen, da auf diese Weise politische Bedarfe in private Nachfrage verwandelt würden. Gerade eine solche Rücküberantwortung sozialer Problemlagen ins Private ist ein zentrales Kennzeichen der sozialstaatlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre: In diesem Prozess werden die „Nachfrage“ nach individuellen Gestaltungsspielräumen sowie Autonomiebestrebungen zusammengebunden (oder besser: kurzgeschlossen) mit dem neoliberalen Axiom, dass Probleme vorrangig über Marktmechanismen gelöst werden können – und gelöst werden sollen. c. Staatliche und politische Akteure Aus heutiger Perspektive kann man sagen, dass die Hinwendung2 zu emanzipativen und partizipativen Gesundheitskonzepten zwar noch einem wohlfahrtsstaatlichen Duktus folgte, dem es nicht nur um eine nach individuellem Vermögen herzustellende persönliche gesundheitliche Sicherung ging, sondern um eine gesellschaftlich verfasste und strukturell herzustellende, allen mehr oder weniger gleichermaßen zustehende und garantierte gesundheitliche Sicherheit – ein An2 Schmidt/Kolip (2007: 9) sprechen in diesem Kontext emphatisch von einem „Paradigmenwechsel von der individuumszentrierten Krankheitsheilung zur ressourcenorientierten Gesundheitsförderung … der eine gesellschaftspolitische Verantwortung zur Gestaltung gesundheitsförderlicher Rahmenbedingungen einschloss.“
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sinnen, dass zum Beispiel in dem von der WHO (Europa) im Jahr 1985 in Kopenhagen verabschiedeten Zielpapier „Gesundheit für alle in Europa bis zum Jahr 2000“ zum Ausdruck gebracht wurde. Allerdings hatte zu dieser Zeit der auf die „Inklusion aller“ zielende Wohlfahrtsstaat seinen Zenit bereits überschritten: Denn in den 1970er und 1980er Jahren setzte auch jene Entwicklung ein, die spätestens mit dem Übergang ins 21. Jahrhundert einen tief greifenden Umbau des sozialstaatlichen Arrangements mit sich bringen sollte (vgl. Lessenich 2009: 73ff.). Wesentlicher Bestandteil dieser Entwicklungen ist dabei die Umstrukturierung der gesellschaftlichen Verantwortungsverhältnisse, also eine NeuBeantwortung der Frage: Was schuldet die Gesellschaft dem Einzelnen und was der Einzelne der Gesellschaft? Hatte der „versorgende Wohlfahrtsstaat“ diese Frage sehr eindeutig zulasten der Gesellschaft beantwortet, so werden mit der Idee des „aktivierenden Sozialstaates“ die Verantwortlichkeiten zunehmend auf die Individuen verlagert. Was wir auch aus anderen Bereichen des aktivierenden Sozialstaates (Arbeitslosigkeit, Renten etc.) kennen, greift mit der gleichen Logik auch auf das Feld der Gesundheit zu: Mit der Zunahme des medizinischen und gesundheitswissenschaftlichen Wissens wachsen nicht (mehr) nur die Optionen, (allen) Menschen eine bessere Gesundheit zukommen zu lassen, sondern vor allem auch die Anforderungen an die Individuen, dieses Wissen adäquat und eigenverantwortlich umzusetzen – weshalb das neue Verständnis des Gebens und Nehmens nicht mehr (nur) die Möglichkeit oder das Recht, sondern zugleich vor allem auch die Pflicht zur individuellen Gestaltung der eigenen Gesundheit betont. Zentraler Bezugspunkt dieser Debatte über einen „richtigen“ Umgang mit Gesundheit ist dabei seit einiger Zeit immer einseitiger die Finanzierbarkeit der gesundheitlichen Versorgung (vgl. Gerlinger/Stegmüller 2009: 149; Hanses 2008: 13). Die individuelle Pflicht zur Gesundheit betrifft demnach nicht nur das Individuum selbst, sondern verweist zugleich auf die moralisch-soziale Verantwortung der Subjekte gegenüber den knappen Ressourcen der Gemeinschaft: Jeder „Akt unterlassener Hilfeleistung der Individuen gegenüber sich selbst“, so Lessenich (2009: 83), müsse dann nicht nur als irrationales, sondern zudem noch unmoralisches Verhalten erscheinen, jedes Anzeichen fehlender Bereitschaft zur Aktivität und Selbstsorge gelte nicht bloß als unwirtschaftlich, sondern als asozial (vgl. auch Schmidt-Semisch 2000). Die Konstituierung von „Knappheit“ als allgemeingültiger Tatbestand, so Dahme/Wohlfahrt (2007: 80), lasse dann nicht nur die komplementäre Effizienzsteigerung der sozialstaatlichen Versorgungssysteme als folgerichtig erscheinen, sondern mache „auch in der Gesundheitspolitik die Eigenverantwortung und Eigenvorsorge des Bürgers zu einer immer gewichtigeren Forderung.“ Auf diese Weise allerdings lande die Idee der „Gesundheitsförderung im aktivierenden Staat auf radikalere Weise wieder bei dem Aus-
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gangspunkt, den sie mit der Kritik der Verhaltensprävention einmal skeptisch aufs Korn genommen hatte.“ Wie deutlich wird, sind Gesundheitswissenschaft, -politik und -versorgung, Gesundheitsförderung und Prävention, die daran anschließenden konkreten gesundheitlichen Maßnahmen ebenso wie auch ihre Bewertung und Kommunikation stets eingebunden in übergreifende kulturelle, gesellschaftliche und politische Diskurse, die ganz eigenen Denk- und Bearbeitungsweisen gesundheitlicher Problematiken folgen (vgl. etwa Schmidt-Semisch/Schorb 2010: 145f.). Insofern ist „Gesundheit“ immer auch Gegenstand von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, von ökonomischen, politischen und professionellen Interessen, die sie befördern, aber eben auch im jeweils eigenen Sinne funktionalisieren und instrumentalisieren können – gerade weil sie eine solch bedeutende Rolle in der Gegenwartsgesellschaft innehat. Schnabel et al. (2009: 15) weisen daher zu Recht auf die Notwendigkeit der permanenten Reflexion „der eigenen gesellschaftlichen Eingebundenheit“ von Public Health sowie der Gesundheitswissenschaften hin. Auch wenn also gegen eine zunehmende individuelle und gesellschaftliche Orientierung an Gesundheit im Prinzip nur wenig einzuwenden ist, so wird sie gleichwohl in dem Moment ambivalent oder sogar problematisch, wenn Gesundheit nicht mehr deshalb angestrebt, gefördert und produziert wird, um etwa „gesund zu bleiben, wieder gesund zu werden oder trotz spezifischer, chronischer krankheitsbedingter Lebenseinschränkungen ‚gut’ zu leben“ (Keupp 2000: 22), sondern sich die Zweck-Mittel-Relationen in diesem Feld verändern. Das ist z.B. dann der Fall, wenn, wie Hagen Kühn es 2004 formuliert hat, Geld nicht mehr Mittel zur Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung ist, sondern die Versorgung von Kranken (und solchen, die es sein sollen) tendenziell zu einem Mittel wird, durch das in erster Linie Gewinn erzielt werden soll. Es ist auch dann der Fall, wenn die Gesundheit von Mitarbeitern nicht mehr von individuellem oder auch gesellschaftlichem Interesse ist, sondern vor allem als (vernutzbare) Ressource und Fähigkeit betrachtet wird, die dem Profit und der Produktivität des jeweiligen Unternehmens zugute kommt (vgl. Gerlinger/Stegmüller 2009: 154). Und es ist schließlich dann der Fall, wenn gesundheitsgerechtes Verhalten gleichsam zur Pflicht wird, deren Nichterfüllung nicht mehr nur (potentiell) gesundheitliche Probleme verursacht, sondern insbesondere gesellschaftliche Sank3 tions- und Ausschließungsprozesse in Gang setzt.
3 Vgl. exemplarisch für die Bereiche Übergewicht und Adipositas: Schorb 2008; Klotter 2008; Schmidt-Semisch/Schorb 2008.
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Die Beiträge des Bandes
Es sind solche und ähnliche Ambivalenzen der Gesundheitsgesellschaft, mit denen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes befassen: Zunächst lenkt Bettina Schmidt ihren Blick auf die Forderungen nach Eigenverantwortung sowie auf die gegenwärtigen „Gesundheit-fördern-fordernKampagnen“, die vermeintlich auf die Selbstbestimmung der Menschen abzielen. Sie kommt zu dem Schluss, dass es bei alldem keineswegs (nur) um Selbstbestimmung, sondern vor allem auch um die „folgsame Umsetzung gesundheitlicher Normvorstellungen und Handlungsregularien“ geht, was im Ergebnis die gesundheitliche Ungleichheit eher noch vergrößert. Eine andere Spielart dieser Folgsamkeit wird von Barbara Prainsack thematisiert, die sich der „personalisierten Genomik“ als einer aktuellen Ausprägung des kommerzialisierten Gesundheitsbereichs zuwendet. Prainsack problematisiert Online-Genom-Angebote, wie etwa „23andMe“, sowie die von ihren Betreibern lancierte These, dass die kommerzielle Genomik eine Demokratisierung der Informationen über das eigene Erbgut darstelle. Im Gegenteil müsse die personalisierte Genomik als die gegenwärtig radikalste und zugleich stärkste symbolische Form des Imperativs zum Optimalverhalten verstanden werden. Auch das Konzept der NutzerInnenorientierung als Leitidee eines modernen Gesundheitswesens ist auf seinen Demokratiegewinn hin zu befragen: Heiner Friesacher unternimmt seine Analyse aus einer kritischen pflegewissenschaftlichen Perspektive und zeigt, wie dieses Konzept unter den Bedingungen eines ökonomisierten Gesundheitssystems instrumentalisiert und in eine Menschenführungstechnologie im Sinne des New Public Management (NPM) transformiert wird. Offenkundig problematisch wird dies dadurch, dass der gepflegte Mensch in der Regel kein aktiver und informierter Nutzer ist – und dies auch oft nicht sein will. Friesacher entlarvt das Konzept der NutzerInnenorientierung als ein Minderheitenkonzept für eine gut informierte und kommunikativ präsente Mittelschicht. Den Einfluss des medizintechnischen und naturwissenschaftlichen Fortschritts auf Normierung, Pathologisierung und Medikalisierung einerseits sowie auf das Individuum mit seiner Gesundheit, seinem Körper und seinem Leib andererseits reflektieren Frauke Koppelin und Rainer Müller. Die besagten Entwicklungen, so ihre These, hätten dazu geführt, dass das, was früher als Natur galt und schicksalhaft hinzunehmen war, heute in erster Linie dem Sicherheitsund Gesundheitsversprechen der medizin-technischen Intervention zugeordnet werde. Gesellschaft und Politik stünden angesichts dieser Entwicklungen vor der Herausforderung, die Grenzen des wissenschaftlich-technischen Zugriffs auf die „Natur des Menschen“ neu zu bestimmen.
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Andreas Hanses fragt im Anschluss daran, wie sich das Verhältnis von Gesundheit und Biographie vor dem Hintergrund der aktuellen sozialstaatlichen Bedingungen gestaltet. Ist das Konzept der Biographie dazu prädestiniert, die neue Gesundheitsprogrammatik ungebrochen in die Individuen zu inkorporieren, oder birgt es umgekehrt gerade auch ein politisches Potential? Hanses kommt zu dem Ergebnis, dass sich eine kritische Position gerade dann aus der Subjektanalyse gewinnen lässt, wenn „Biographie als Form gesellschaftlicher Selbstbeschreibung der Subjekte“ verstanden wird und damit als „zentrales Medium für die Analyse von Gesundheitspraxen“ dienen kann. Die Schlankheit – als allgegenwärtiger Anspruch an das Individuum – ist Gegenstand des Beitrages von Friedrich Schorb. Er untersucht die Entwicklung dieses Schönheitsideals vor dem Hintergrund sich wandelnder gesellschaftspolitischer und ökonomischer Bedingungen an Beispielen aus Printmedien, Fernsehunterhaltung und staatlichen Gesundheitskampagnen. Zwar werde Übergewicht schon seit einigen Jahrzehnten problematisiert, allerdings würden die Ursachen des Phänomens heute vorrangig bei einer „beratungsresistenten Unterschicht“ gesehen. Der Kampf gegen Übergewicht und Fehlernährung breche so gesehen die Ideologie der Leistungsgesellschaft auf die reine Körperlichkeit herunter, wodurch Schlankheit immer mehr zur Grundvoraussetzung für Erfolg und gesellschaftliche Teilhabe werde, von der wiederum all jene ausgeschlossen blieben, die diesem Anspruch nicht gerecht werden (können oder wollen). Gleichwohl aber geht es im Kontext von Übergewicht und Ernährung keineswegs nur um die Eigenverantwortlichkeit der Subjekte, sondern zunehmend auch um handfeste staatliche Interventionen: Stehen wir daher, so fragt Craig Reinarman, am Beginn einer Ära, in welcher der Staat über gesunde und ungesunde Nahrungsmittel befindet und die ungesunden für illegal erklärt? Er analysiert die gegenwärtig fortschreitende Politisierung der Nahrungsaufnahme, erörtert erste rechtliche und sanktionierende Eingriffe in die „Lebensmittelfreiheit“ und zieht die (inzwischen) durchaus plausible Parallele zu Drogenverboten. Er warnt davor, in der Ernährungspolitik die Fehler der Drogenpolitik zu wiederholen. Gerade das gesundheitliche Feld „Drogen und Sucht“ ist wiederum eines, in dem sich die staatlich-kontrollierende Interventionen als ebenso problematisch erweisen wie die Dominanz eines naturwissenschaft-medizinischen Blicks: Unter dem Titel „Doing Addiction“ fragt Henning Schmidt-Semisch nach den Wechselwirkungen zwischen dem kulturellen Wissen über „Drogen“, „Sucht“ und „süchtiges Verhalten“ auf der einen und dem Handeln der beteiligten Akteure (Helfenden wie „Betroffenen“) auf der anderen Seite. Unter Rückgriff auf empirische Forschungsergebnisse analysiert er das medizinisch-naturwissenschaftlich geprägte Konzept der „Sucht“ als ein fatalistisches, das aufgrund seiner Defizit-
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orientierung (im kurativen wie im präventiven Bereich) eher ent-powernde als em-powernde Wirkungen entfaltet. Ein weiteres, gesundheitlich keineswegs unbedenkliches Instrument der Drogenkontrolle sind so genannte Drogentests (im Sport und am Arbeitsplatz). Diese Tests sollen zwar offiziell dem Schutz der Gesundheit dienen und werden auch mit Verweis darauf legitimiert, Bettina Paul stellt gleichwohl die These auf, dass es eher ökonomische Motive sind, die mit diesen Tests verfolgt werden. Dies begründet sie u.a. damit, dass mit Doping- und Drogentests die gesundheitlichen Risiken eher vergrößert werden, da auf diese Weise die strukturellen Bedingungen der Substanzeinnahme aus dem Blick geraten. Im Anschluss daran macht uns Gesa Thomas mit einer weiteren Facette staatlicher Kontrolle im Kontext von Gesundheit vertraut. Am Beispiel der PopMedien zeigt sie auf, dass beim Umgang mit Gesundheitsrisiken auch die Zensur wieder hoffähig zu werden scheint. Exemplarisch legt sie dar, wie und vor allem warum Lucky Luke mit dem Rauchen aufhören musste, und kann zugleich zeigen, dass der paternalistische Eingriff in die künstlerische Freiheit nur bei bestimmten Themen (vor allem Drogen und Rauchen) erfolgt. Bei anderen potentiell schädlichen oder tödlichen Verhaltensweisen (etwa Alkoholkonsum oder Waffengewalt) traue man der Leserschaft hingegen durchaus eine eigenständige Beurteilung des Gefährdungspotentials zu. Heino Stöver wiederum fragt nach Verhaltensdeterminanten ganz anderer Art, indem er sich dem Zusammenhang von Männlichkeitsbildern und der Gesundheit bzw. dem Gesundheitsverhalten von Männern widmet. Traditionelle Männlichkeitskonstruktionen, so seine These, müssten fast schon zwangsläufig mit den heutigen Gesundheitsimperativen kollidieren, da es zwar zum MannSein gehöre, gesund und fit zu sein, nicht aber, sich gesund zu verhalten: Die in der Geschlechtsrolle angelegte, spezifisch männliche Pflicht zur Gesundheit bzw. zum Gesund-Sein, hindere ihn daran, für seine Gesundheit zu sorgen und entsprechende Angebote in Anspruch zu nehmen. Die elektronische Gesundheitskarte und die elektronische Patientenakte stehen im Zentrum des Beitrages von Oliver Decker und Tobias Grave. Mit Ihrer Einführung, so die beiden Autoren, verändere sich nicht nur die medizinische Dokumentation grundlegend, sondern zugleich auch die Gesellschaft selbst. Unter Bezugnahme auf den von Foucault beschriebenen Panoptismus Benthamscher Prägung konstatieren sie eine neue Form sozialer Kontrolle, die sich sowohl auf die Beziehung von Arzt und Patient als auch auf unsere Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit auswirke Wie sich die Kontrolle psychisch erkrankter Inhaftierter verändert, zeichnet Wendy Fitzgibbon am Beispiel Großbritannien nach: Der einst wohlfahrtsstaatliche Blick auf diese Personengruppe, der vor allem auf Resozialisierung und me-
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dizinisch-psychologische Hilfe zielte, werde zunehmend aufgegeben. An seine Stelle trete eine Rationalität der (stereotypen) Risikobewertung die vor allem an der Sicherheit und dem Schutz der Bevölkerung interessiert sei und deren Maßnahmen nicht mehr vorrangig auf Wiedereingliederung und Hilfe, sondern auf präemptive (vorverlagerte) Kriminalisierung sowie sichernden Ausschluss zielten. Anhand empirischer Ergebnisse zur Prognosepraxis der britischen Bewährungshilfe zeigt sie, dass die Resozialisierungs-Chancen für die Gruppe der psychisch erkrankten „Straftäter“ fast vollständig eliminiert wurden. Von Fitzgibbons präemptiver Kriminalisierung führt uns Matthias Leanza noch einen Schritt weiter, nämlich zur Vorverlagerung der Prävention. Mit dieser Vorverlagerung, so seine These, würden die „zukünftigen Krankheiten“ gleichsam gegenwärtig, da am Horizont der Gesundheit immer schon die mögliche Krankheit aufscheine, welche ihren Schatten auf die Gegenwart werfe. Gerade auch eine Gesundheitswissenschaft, die darauf ziele, Krankheit durch präventive Interventionen zuvorzukommen und entsprechendes Wissen zu generieren, sei maßgeblich daran beteiligt, dass wir unsere Gegenwart mit Zukunft überlasteten. Leanza plädiert daher dafür, Gesundheitssoziologie nicht in erster Linie in einem Hurrelmannschen Sinne (als „Sociology in Public Health“) zu verstehen, sondern in einem reflexiven Sinne als „Sociology of Public Health“ bzw. als Soziologie der Gesundheitswissenschaften zu betreiben. Der letzte Artikel dieses Bandes wirft einen Blick darauf, wie Gesundheitsprobleme – zumindest in den USA – zu nationalen Sicherheitsproblemen mutieren (können). Am Beispiel von (lediglich) antizipierten Epidemien, zu deren Bekämpfung das Gesundheitssystem auch militärische Mittel erwägt, verdeutlicht Andrew Lakoff, wie zur Umsetzung vorverlagerter Eingriffsstrategien auf imaginative (gesundheitliche) Bedrohungsszenarien zurückgegriffen wird: Die reine Vorstellung des Worst Case diene inzwischen als Handlungsmaxime und legitimiere einschneidende Maßnahmen in der Gegenwart, während die gesundheitsgefährdenden alltäglichen Lebensbedingungen der Bevölkerung zugleich vernachlässigt würden. Abschließend möchten wir uns bei den Autorinnen und Autoren dieses Bandes bedanken, ohne deren Arbeit und Geduld dieses Buch nicht hätte realisiert werden können. Für kritische und hilfreiche Anregungen danken wir überdies Bernd Dollinger, Susanne Fleckinger und Silke Gräser. Auch wenn wir uns bewusst sind, dass die hier behandelten Themen und Aspekte auch anders hätten ausgewählt und überdies noch um zahlreiche weitere hätten ergänzt werden können, so hoffen wir doch, dass die Beiträge Anlass geben für weitergehende Diskussionen und Reflexionen sowie konstruktiven Streit.
Risiko Gesundheit. Eine Einführung
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Der kleine Unterschied: Gesundheit fördern – und fordern Bettina Schmidt
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Einführung: Vom Fördern der Gesundheit …
Gesundheit ist Mega-Trend. Von Arbeit bis Zucker wird alles unter Gesundheitsgesichtspunkten betrachtet und im Hinblick auf den individuellen und Bevölkerungsnutzen bewertet. Fortwährendes Streben nach (mehr) Gesundheit ist Universaltugend – vor allem der und die Einzelne werden von Freunden, Medien und der Gesundheitspolitik dazu aufgefordert, sich um die eigene Gesundheit zu bemühen. Diesem individuenzentrierten, auf Eigenverantwortung setzenden Gesundheitsauftrag, liegt die Hoffung zugrunde, dass sich Gesundheit vornehmlich in Eigenregie herstellen lässt. Ignoriert wird dabei die Tatsache, dass Krankheit weitaus stärker bestimmt wird von der sozialen Lage und weniger von der persönlichen Leistung. Spätestens seit 1986, d.h. seit der Verabschiedung der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, besteht unter Public-Health-ExpertInnen Konsens darüber, dass Gesundheitsförderung ein gesamtpolitischer Auftrag ist, mit dem das Individuum nicht allein gelassen werden darf, sondern dem sich alle gesundheitsrelevanten Akteure gemeinsam stellen müssen.
… und Fordern der Eigenverantwortung Unberührt vom sozialepidemiologischen Forschungsstand setzt die gegenwärtige Gesundheitspolitik mit großem Engagement auf simple individuelle Gesundheitserziehung – neudeutsch: auf eigenverantwortliche Gesundheitsförderung. Damit folgt die Gesundheitspolitik der aktuellen gesamtpolitischen Entwicklung, die sich in Begriffen wie „Aktivierender Staat“ oder in der politischen Strategie des „Fördern und Fordern“ manifestiert und darauf ausgerichtet ist, die Verantwortlichkeiten zwischen Staat, Markt, Zivilgesellschaft und Einzelnem neu zu organisieren, wobei insbesondere die Verantwortung des Individuums gestärkt werden soll (Aust et al. 2006). Das Konzept des Fördern und Fordern strebt an,
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Bettina Schmidt
jeden Menschen in größtmöglichem Maße zu befähigen und zu verpflichten, seine typischen Lebensrisiken einerseits auf ein Minimum zu beschränken und andererseits seine Selbstversorgungs-Kompetenzen auf ein Maximum auszudehnen (Lessenich 2005). Die gegenwärtige, vorgeblich zur Mündigkeit befähigende Gesundheitfördern-fordern-Kampagne zielt de facto allerdings nicht auf souveräne Selbstbestimmung, auch wenn der reine Wortsinn dies nahe legt. Die Menschen sollen nicht zu autonomer Lebensführungsfreiheit befähigt werden, sondern gefordert und gefördert wird die folgsame Umsetzung gesundheitlicher Normvorstellungen und Handlungsregularien (Bauch 2004). Jeder Mensch soll sich eigenverantwortlich entscheiden – und zwar stets für die gesundheits- bzw. leistungsgerechte Lebensweise und gegen einen genuss- und lustorientierten und ggf. gesundheitsriskanten Lebensstil. Als Zielgröße individuellen gesundheitlichen Schaffens wird die „einfache Gesundheit“, im Sinne der spezietypischen Normalfunktion, zunehmend abgelöst durch einen Handlungsauftrag, der die idealisierende Normsetzung einer „großen Gesundheit“ vorgibt – gesund, gesünder, am gesündesten (Hick 2008). Gesundheit ist das höchste Gut – das kann auch grenzenlos bedrohlich klingen. Es soll natürlich nicht bestritten werden, dass es häufig sinnvoll ist, sich um seine Gesundheit zu bemühen, allerdings führt hier der Terminus der Eigenverantwortung in die Irre: Zwar impliziert der Begriff die Aspekte Eigenständigkeit, Eigenmächtigkeit und Eigenwille, gerade diese Elemente von Handeln sind aber nicht gemeint, wenn der Ruf nach eigenverantwortlichem Gesundheitsverhalten erschallt.
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Eigenverantwortlich gesund – Wunsch und Wirklichkeit
Die Erwartungen, die an den so genannten eigenverantwortlichen Gesundheitsmenschen gekoppelt werden, sind nahezu grenzenlos: Durch ihn sollen die Zivilgesellschaft gestärkt und die Sozialausgaben ebenso wie bürokratische Hürden und Regularien reduziert werden; die Beschäftigtenzahlen sollen steigen, die Wirtschaft soll wachsen, und schlussendlich soll der soziale Fortschritt gefestigt werden (Meier 2004). Diese Heilserwartung muss bezweifelt werden, denn sie ist gekoppelt an fragwürdige Grundannahmen, u.a. daran, dass bislang die Eigenverantwortung in der Bevölkerung unterausgeprägt ist, dass sich schwache Eigenverantwortung mittels politischer Förderprogramme stärken lässt, dass die gezielte Förderung und Forderung der Eigenverantwortung zu mehr Gesundheit führt und dass mehr Gesundheit zur Verringerung der Gesundheitsausgaben beiträgt. Diese Annahmen sind weder theoretisch plausibel noch empirisch erhärtet
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(Schmidt 2008). Die Schwächen der aktuellen Gesundheit-fördern-fordernKampagne sind folglich nicht weniger zahlreich als die imaginären Stärken, und die Risiken sind nicht geringer als die Chancen. Da die Chancen von gesundheitlicher Eigenverantwortung in zahlreichen Publikationen nachzulesen sind, fokussiert die folgende Erörterung die Risiken.
2.1 Ist der Mensch verantwortungsschwach und kann politisch gestärkt werden? Beharrlich wird behauptet, dass das Verantwortungsbewusstsein der Bevölkerung zu schwach ausgeprägt ist und darum individuelle Handlungsmöglichkeiten ungenutzt bleiben (Lessenich 2006). Die „Vollkaskomentalität der Menschen“ soll diese angeblich dazu verführen, sich in Problemlagen entweder auf das kollektive Versicherungssystem oder den starken Staat zu verlassen und dabei das Eigenengagement zu vernachlässigen. Die Vorstellung von der Vollkaskomentalität basiert auf der Idee des Moral Hazard, der zufolge versicherte Menschen dazu neigen, individuelles Risikoverhalten zu zeigen, weil sie einen möglichen Schaden auf das Versicherungskollektiv abwälzen können (Musil 2003). Doch der hemdsärmlige Transfer des Moral Hazard aus dem Individual- in das Sozialversicherungssystem ist unzulässig: Auch wenn Moral Hazard vielleicht theoretisch plausibel klingt, empirisch lässt sich nicht belegen, dass Menschen abenteuerlustig eine Herztransplantation riskieren oder gern eine Darmspiegelung in Anspruch nehmen, nur weil sie dafür jahrelang Krankenkassenbeiträge bezahlt haben (Holst/Laaser 2003). Empirisch zeigt sich auch nicht, dass der rundumversorgende Wohlfahrtsstaat ehemals eigenverantwortliche Menschen durch seine Vollversorgung zu antriebslosen Hilfebeziehern macht: Zumindest zeigt die seit Jahren beständig steigende soziale Entsicherung keine vermehrten Aktivierungseffekte bei den scheinbar lange Zeit zu fürsorglich Belagerten (Becker 2004). Die Daten z.B. des deutschen Wertesurveys oder der Schell-Jugendstudie verweisen umgekehrt auf die hohe Priorität, die die Eigenverantwortung in der Bevölkerung genießt: „Der Wert Eigenverantwortung [stellt sich] über alle Bevölkerungsgruppen und Gebietsteile hinweg betrachtet als ein spektakulär konsensueller Wert der Deutschen dar, dem – ungeachtet aller pessimistischen Äußerungen, die diesbezüglich im Schwange sind – eine stabile Spitzenposition zukommt“ (Klages 2006: 112). Diese Wertschätzung ist nicht bloßes Lippenbekenntnis, sie ist messbar handlungsrelevant – beispielsweise ist freiwilliges Engagement, also die unaufgeforderte Übernahme von Sozialverantwortung, in Deutschland im steten Wachsen begriffen (BMFSFJ 2005). Diese Ergebnisse sind überaus plausibel, denn es ist irrig anzunehmen, dass Menschen gerne und
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freiwillig Verantwortung für das eigene Leben an andere delegieren: Nur die persönliche Verantwortungsübernahme garantiert, dass die subjektiven Bedürfnisse nach eigenen Vorstellungen befriedigt werden (Bierhoff/Neumann 2006). Diese Bedürfnisse nach Selbstverantwortlichkeit bestehen sowohl im Hinblick auf die eigene Gesundheit als auch auf die Mitbestimmung bei der gesundheitlichen Versorgung (Knesebeck, v.d./Trojan 2007). Es ist erstaunlich, mit welcher Großzügigkeit die verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse ignoriert werden und wider besseres Wissen die Schwäche der Eigenverantwortung beklagt und ihre Stärkung gefordert wird. Zusätzlich wird ignoriert, dass sich politische Programme zur einer solchen Stärkung der Eigenverantwortung – wenn überhaupt – nur durch deutliche Eingriffe in die Privatsphäre und nur mit erheblichem organisatorischen und finanziellen Aufwand durchsetzen und kontrollieren lassen (Buyx 2005).
2.2 Kann der eigenverantwortliche Mensch seine Gesundheit mehren? Eigenverantwortlich zu handeln ist gar nicht so einfach. Die Herausforderung beginnt bereits damit, dass Menschen die Wahl zwischen mehreren Handlungsalternativen haben; sie müssen entscheiden, welche Verhaltensweise die günstigste ist und diese Entscheidung in korrektes Handeln umsetzen; eine Handlungskontrolle und ggf. -optimierung ist erforderlich; außerdem Disziplin zur Aufrechterhaltung des Verhaltens sowie eine angemessene Frustrationstoleranz, falls der erhoffte Nutzen doch nicht eintritt (Bierhoff et al. 2005; Birnbacher 2001; Haisch 2004). Nahezu Heldentum ist also gefordert, um erfolgreich eigenverantwortlich handeln zu können. Der gesundheitsbewusste Mensch bedarf vergleichbarer Kompetenzen: Selbstwirksamkeitserwartungen, Selbstregulationskompetenzen, Gewissenhaftigkeit etc. sind notwendige Bedingungen, um sich regelmäßig gesund verhalten zu können (Bierhoff et al. 2005). Das Risiko, dem vorgebeugt werden soll, muss außerdem als bedrohlich und das Präventionsverhalten als nützlich erlebt werden, und schlussendlich müssen habituelle und situative Barrieren objektiv und subjektiv überwindbar sein, bevor Gesundheitsverhalten im Alltagsleben tatsächlich realisiert wird (Kals 2001; Schwarzer 2004). Doch auch wenn alle personalen und strukturellen Voraussetzungen für eigenverantwortliches Gesundheitsverhalten erfüllt sind, ist eine gesunde Realisierung nicht zwingend. Bekanntlich springen wir morgens auf dem Weg zur Arbeit nicht aus dem neunten Stock unserer Wohnung, obwohl dies schneller ginge als die Treppen zu nehmen (Weitkunat 2004). Doch nur in solchen seltenen Fällen ist der Zusammenhang zwischen Verhalten und Gesundheitsfolgen so eindeutig.
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Im Normalfall sind die Zusammenhänge von Ursachen und Folgen weniger deterministisch, sondern bewegen sich innerhalb gewisser Wahrscheinlichkeiten. Die faktische Nützlichkeit einer getroffenen Gesundheitsentscheidung kann folglich oft erst im Nachhinein beurteilt werden (Finerman/Bennett 1995). Nach einem stressigen Arbeitstag kann man zur Entspannung wählen zwischen einer Tafel Schokolade, einer Zigarette, einer Flasche Wein, einer Runde Sport oder einer Runde Fernsehen. Doch erfahrungsgemäß ist man meist erst nachher schlauer und kann beurteilen, ob die gerauchte Zigarette nicht bedeutend gesünder gewesen wäre als die beim Sport zugezogene Verletzung. Wer vorbeugen will, weiß zwar nie genug, darf sich aber dennoch nie zurücklehnen (Bröckling 2008). Gesundheit und Krankheit sind nicht nur abhängig vom Gesundheitswissen und Gesundheitsverhalten, sondern erwiesenermaßen auch von sozialen Rahmenbedingungen sowie kulturellen Wertsetzungen, nach denen Gesundheit und Krankheit definiert werden (Honecker 2008): Schwul zu sein oder für Frauenrechte zu kämpfen galt einmal als Sünde, auch schon als Krankheit, inzwischen gehören beide Daseinsformen zum Repertoire des Normalverhaltens. Ob und welche Lebensbedingungen und Lebensstile in den Blickpunkt der Gesundheitsförderer geraten, ist nicht nur gesundheitswissenschaftlicher Evidenz geschuldet. Das in den unteren sozialen Schichten weit verbreitete Übergewicht steht derzeit im Fokus der Gesundheitsförderer. Reine gesundheitswissenschaftliche Notwendigkeit? Es ist zu befürchten: nein und zu argwöhnen, a) dass riskante Lebensweisen, die in den niedrigen sozialen Schichten weit verbreitet sind, mit öffentlicher Aufmerksamkeit bedacht werden (z.B. Bewegungsmangel); b) dass riskante Verhaltensweisen, die in allen Schichten weit verbreitet sind, negativ assoziiert werden mit niedriger Sozialschicht (z.B. Alkoholmissbrauch); c) dass riskante Lebensweisen, die in den hohen sozialen Schichten weit verbreitet sind, eher im Hinblick auf ihre gesundheitlichen Potenziale betrachtet (z.B. berufliches Engagement und psychische Gesundheit) und negative Folgen vernachlässigt werden (z.B. mobilitätsverursachte Schwächung des sozialen Netzwerks); d) dass gesundheitsriskante Lebensweisen, die vornehmlich strukturell bestimmt sind, individualisiert werden (z.B. Sonnenbaden unter dem Ozonloch); e) dass Gesundheit als das definiert wird, was die Definitionsmächtigen für Gesundheit halten (z.B. belastbare Fitness statt entschleunigende „Inaktivität“1). Die Trennlinie zwischen denen, die ihr Verhalten ändern sollen, und denen, die die Verhaltensänderung verordnen, verläuft nicht allein zwischen den Gesundheitsprofis und den Gesundheitslaien, sondern auch zwischen den Mächtigen und Ohnmächtigen (Bartens 2008). Es ist recht einfach, sich gesund zu ver1 Auch auf dem Sofa zu sitzen ist eine Aktivität, jedoch gilt diese Aktivität innerhalb des Gesundheitsdiskurs als unerwünschte Inaktivität – es sei denn, es dient der produktiv leistungssteigernden Entspannung.
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halten, wenn als krank vor allem das gilt, was andere tun. Für diese Anderen ist eigenverantwortliches Gesundheitsverhalten schwierig: einerseits, weil sie nicht über die Macht verfügen, auf die politische Tagesordnung zu setzen, was krank macht und veränderungswürdig ist (beispielsweise die Beschäftigung unter prekären Arbeitsbedingungen); andererseits ist das „Health Capital“ analog zum ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital in Deutschland zwischen den Sozialschichten ungleich verteilt (Jungbauer-Gans 2006). Es ist also überaus fraglich, ob durch die aktuelle Gesundheit-fördernfordern-Kampagne eine in allen Sozialschichten gleichmäßige Vermehrung von Eigenverantwortung und Gesundheit erzeugt wird (Gerlinger 2009). Wenn überhaupt, gelingt eigenverantwortliche Gesundheitspflege vermutlich vornehmlich in den begünstigten Bevölkerungsgruppen. Eine weiter steigende Spreizung des Gesundheitszustandes zwischen privilegierten und nicht privilegierten Bevölkerungsgruppen ist zu befürchten (Greenhalgh/Wesseley 2004). Benachteiligende Benachteiligung findet hier einen deutlichen Ausdruck: „Wer heute krank wird, dem wird unterstellt, er habe sich nicht konsequent an die Regeln gesunden Lebens gehalten; wer arbeitslos ist, von dem nimmt man an, er habe es versäumt, sich richtig auf das Vorstellungsgespräch vorzubereiten, habe sich nicht ausreichend um Arbeit bemüht oder sei einfach arbeitsscheu … das hört man heute allenthalben als Erklärung, und dementsprechend handeln Männer und Frauen so, als wäre es die Wahrheit … Risiken und Widersprüche werden nach wie vor sozial produziert, lediglich zu ihrer Bearbeitung wird man individuell genötigt“ (Baumann 2000: 45).
2.3 Entlastet der eigenverantwortliche Mensch das Gesundheitswesen? Auf die Annahme, dass mehr Eigenverantwortung zu mehr Gesundheit führt, folgt die Vorstellung, dass mehr Eigenverantwortung das Gesundheitswesen entlastet, einerseits weil weniger Kranke die Kostenexplosion eindämmen und anderseits, weil weniger öffentliche Verantwortung die kostenintensive Bürokratie eindämmt. Doch es ist keinesfalls ausgemacht, dass die Verantwortungsverlagerung auf den Einzelnen Kosten oder Regulierungen reduziert. Die Kostenexplosion im deutschen Gesundheitswesen wurde bereits vor Jahren als Märchen entlarvt (Braun et al. 1998): Zwar stiegen die absoluten Gesundheitsausgaben in den letzten Jahren deutlich an, doch der Anteil am BIP ist von 1995 bis 2006 nur von 10,1% auf 10,6 gestiegen (Reiners 2009). Ohnehin stellt sich das Kostenproblem in der deutschen Kranken- und Pflegeversicherung weniger als Ausgaben-, denn als Einnahmeproblem dar (Rothgang 2006). Des Weiteren ist die Kostenkrise keine objektive Krisen-, sondern eine politisch er-
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zeugte Knappheitssituation, die auf normativen Verteilungsentscheidungen beruht (Mack 2001; Wille 1999). Und schließlich stellt das Gesundheitswesen für über vier Mio. Menschen Arbeit und Lohn bereit. Eine reale Kostendämpfung ist folglich weder gewünscht noch zweckmäßig und wird in der Regel mit Leistungs- und Kostenverlagerungen kompensiert (Holst/Laaser 2003). Der einzelne Patient – und sei er noch so eigenverantwortlich gesundheitsund kostenbewusst – hat hier wenig Handlungsspielraum. Das Gesundheitssystem ist als wettbewerbsorientierter Anbietermarkt konzipiert, d.h. die Inanspruchnahme einer Leistung legt – vor allem aufgrund eines systematischen Informationsvorsprungs – der Leistungserbringer fest (Haacke 2001). Gesundheitsgüter sind also Vertrauensgüter, und die PatientInnen können, wenn überhaupt, nur ex post ihre Qualität beurteilen (Musil 2003). Sie können kaum abschätzen, ob ihnen Leistungen aus medizinischen oder aus marktwirtschaftlichen Gründen angeboten werden, denn die professionelle Krankheitslobby hat längst auch die Gesunden zu potenziellen Kunden umgewidmet (Moynihan et al. 2002). Obwohl also die Steuerungsmöglichkeiten der Laien begrenzt sind, werden die Verantwortungslasten vor allem diesen Personen aufgebürdet – und nicht den verantwortlichen Gesundheitsprofis. Betroffen von der Verantwortungslast sind in überdurchschnittlichem Ausmaß die chronisch kranken Menschen aus niedrigen sozialen Schichten (Holst/Laaser 2003). Abgesehen davon, dass die Gesundheit-fördern-fordern-Strategie kaum Kosten senkt, ist außerdem zu bezweifeln, dass durch diese Maßnahmen der bürokratische Aufwand sinkt (Schimank/Volkmann 2008). Die Verschiebung von staatlicher Verantwortung in die Verantwortung des Einzelnen und der Zivilgesellschaft wird die Steuerungsaufgaben nicht reduzieren, sondern dezentralisieren (Maaser 2006). Bereits Niklas Luhmann warnte (nach Nullmeier 2006b: 156) vor der gefährlichsten Zielsetzung von Politik, nämlich die Änderung von Personen erreichen zu wollen. „Die Erziehung zur Eigenverantwortlichkeit“, so Nullmeier 2006a: 177), „belastet die Politik mit Aufgaben der Verhaltenssteuerung, die komplexer, problematischer, kostspieliger und unberechenbarer sind als jene Aufgaben, von denen sich Politik entlasten will.“
2.4 Kann mehr Eigenverantwortung zumindest nicht schaden? Im günstigen Fall kann davon ausgegangen werden, dass die Gesundheitfördern-fordern-Kampagne keinen Nutzen stiftet – zumindest keinen im Hinblick auf „Gesundheit für alle“. Im ungünstigen Fall verursacht sie gar Schäden. Eigenverantwortung führt nicht zwingend zu mehr Gesundheit. Diesen Widerspruch zwischen Gesundsein-Sollen und natürlich auch Gesundsein-Wollen
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und dem Gesundsein-Können erleben die betroffenen Menschen einerseits als persönliche Niederlage und andererseits als politisches Unvermögen. Krankheit in der Selbstverantwortungsgesellschaft wird nicht länger auf Pech, gesundheitsriskante Lebensbedingungen oder unzureichende Gesundheitspolitik zurückgeführt, sondern auf die individuelle Schwäche bei der gesundheitlichen Selbstoptimierung (Kühn 2001). Opfer werden zu Tätern umdefiniert, beim Rauchen zeigt sich dies besonders deutlich: Ein Moral- und Entrüstungsbedürfnis manifestiert sich, das insbesondere das Rauchen im Beisein von anderen in die Nähe mörderischer Rücksichtslosigkeit rückt (Bauch 2004). Da vor allem in den niedrigen sozialen Schichten Krankheit überzufällig häufig verbreitet ist, trifft die Täterkonzipierung insbesondere die benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Die Unterklasse wird zum „kollektiven Entrüstungsobjekt“ (Neckel 2006: 376), und die gültige „social correctness“ (Lessenich/Nullmeier 2006: 22), die es den etablierten Schichten bislang öffentlich verbot, rücksichtslose Urteile über benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu fällen, kann aufgekündigt werden. Die gesunde Mitte grenzt sich offensiv ab gegen die ungesunde Randbevölkerung und deren Konsumvorlieben (fast food), Freizeitgewohnheiten (fernsehen) und Krankheiten (fett sein). Die ungesunde NichtMitte wird pathologisiert und pädagogisiert, gleichsam ermöglicht ihre Existenz eine sich abgrenzende Selbstvergewisserung all jener, die selbst zur erfolgreichen Mittelschicht gehören oder gehören wollen (Lessenich/Nullmeier 2006). Gesundheit wird zum Markenzeichen der leistungsorientierten Gesellschaftselite und wirkt als mächtiges Distinktionsinstrument zur Unterscheidung von Masse und Klasse. Ein guter Gesundheitszustand eignet sich ideal zur Distinktion, denn dafür sind nicht nur multiple individuelle, soziale, strukturelle und finanzielle Ressourcen erforderlich, sondern außerdem das knappste Gut der Leistungsgesellschaft, produktiv nutzbare Zeit. Gesundheit eignet sich neben Gehalt und Golfschläger hervorragend, um sich auf dem Kampfschauplatz der Klassen zu behaupten. Das Übergewicht zeigt idealtypisch, wie aus feinen „fette“ Unterschiede werden (Bartens 2008). In der Leistungsgesellschaft ist Gesundheit als funktionstüchtige Arbeitsfähigkeit konzeptioniert. Doch je nach Lebenslage ist diese Art Gesundheit nicht das persönliche Maß der Dinge (Gerlinger 2006). Soziale Sicherheit oder private Harmonie gehören ebenfalls zu den fundamentalen Lebenszielen – sie sind besonders relevant unter prekären Lebensbedingungen. Wenn die gesellschaftlich herrschende Norm nach Gesundheit subjektiv keine Priorität genießt, kann dies beispielsweise in schulterzuckende Gleichgültigkeit münden oder auch in gezielt unvernünftiges Verhalten (Poferl 1998). Selbstbewusst wird Normablehnung und Differenz inszeniert, und ein wie auch immer definierter Trash-Stil findet Verbreitung bei all jenen, die nicht angepasst sind bzw. sein wollen (Lesse-
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nich/Nullmeier 2006). Die Inszenierung von Ungesundheit wird zum avantgardistischen Modeausdruck all jener, die sich Gesundheit nicht leisten können und nicht leisten wollen – Fit or Fun! Insgesamt ist zu befürchten, dass die auf Eigenverantwortung setzende Gesundheit-fördern-fordern-Kampagne die feinen Unterschiede der Gesellschaft vertieft. Sie weist ggf. nützliche Folgen für die höheren Sozialschichten auf, doch für den Durchschnittsmenschen verringert sie die Chancen auf gelingendes gesundes Leben (Schui 2004): Oder wie Heribert Prantl es pointiert formuliert: „Es heißt jetzt ‚Eigenverantwortung‘, wenn die Schwächeren sich selbst überlassen bleiben“ (2005: 18).
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Gesundheitsförderung reloaded – oder: Alle für einen statt einer für alle
Die Betonung der individuellen Verantwortung für Gesundheit ist unterkomplex. Unter Komplexitäts-Bedingungen erscheint einerseits ein weniger komplexes und ambitioniertes Gesundheitsverständnis erforderlich, das das Ideal optimaler Gesundheit auf Normalmaß zurückstuft – beispielsweise gemäß Ingmar Pörn, der Gesundheit beschreibt als generalisierte Angepasstheit, die es dem Individuum erlaubt, unter typischen Lebensbedingungen realistisch gewählte Lebensziele zu erreichen (nach Hildt 2008: 282). Erforderlich sind anderseits differenzierte Prozeduren der Verantwortungszuweisung für Gesundheit. Eine Umstellung des Paradigmas von der Individualverantwortung zur kooperativen Verantwortung erscheint unerlässlich (Heidbrink 2003).
3.1 Verantwortungsakteure: alle statt einer Im gestuften Verantwortungssystem wird nicht nur das eigenverantwortliche Individuum zur Verantwortung verpflichtet, sondern alle relevanten Akteure sind einbezogen in die Prozeduren der Verantwortungsübernahme. Es ist unstrittig, dass (potenzielle) PatientInnen einen bedeutsamen Verantwortungsanteil an ihrer Gesundheit innehaben. Unzweifelhaft trägt jeder Mensch, der dazu in der Lage ist, die Verantwortung für seine Gesundheit – er trägt diese jedoch nicht in Alleinzuständigkeit. Doch in der Rolle des Patienten handelt ein Mensch unter Bedingungen der Informations-, Macht- und Beschwerdeasymmetrie. Hier muss er u.U. auf Stellvertreter zurückgreifen, die die unlösbare Aufgabe der Qualitätsbeurteilung und -sicherstellung für ihn übernehmen (Musil 2003). Diese Stellvertreter – HausärztInnen, FachärztInnen,
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Krankenkassen etc. – verfolgen allerdings nicht zwingend die Interessen der PatientInnen, sondern zum Teil sogar gegenläufige und vor allem wirtschaftliche Eigeninteressen. Zur gesundheitsverträglichen Verantwortungsübernahme lassen sich die Gesundheitsberufe darum kaum freiwillig verpflichten, denn zahlreiche systemimmanente Gründe wirken dem entgegen. Aus diesem Grund hat die rahmengebende Gesundheitspolitik zentrale Zuständigkeiten inne. Es ist dringend geboten, wieder mehr politische Verantwortung zu übernehmen, denn Politik ist der Garant dafür, dass BürgerInnen ein gelungenes Leben führen können. PolitikerInnen dürfen sich dieser Verantwortung nicht entziehen: Verantwortungsübernahme funktioniert als reziprokes System – politische Verantwortungsverweigerung wirkt ansteckend auf die Gesellschaft und ihre BürgerInnen (Bierhoff et al. 2005).
3.2 Verantwortungszuweisung: ergebnis- statt ursachenorientiert Die Schlüsselfrage ist, wie Verantwortung im Gesundheitswesen angemessen verteilt werden kann. Ein Paradigmenwechsel – weg von der bisherigen ursachenorientierten hin zu einer lösungsorientierten Betrachtungsweise – ist hier möglicherweise Erfolg versprechend. Ein solcher Richtungswechsel gemäß eines konsequenz- oder effizienzorientierten Verantwortungsparadigmas ist in zahlreichen Arbeitsfeldern bereits erfolgreich implementiert. Besonders die Flugsicherheit, die typischerweise ein sehr geringes Maß an Fehlertoleranz aufweist, ist als Vorreiter des systemischen Risikomanagements bekannt. Hier wird nach den systemischen Ursachen – nicht den individuellen Verursachern – von Risiken oder Fehlern geforscht, um nützliche Schadensabwehrstrategien zu entwickeln. Nicht die Frage steht im Vordergrund, wer verantwortlich ist und Verantwortung übernehmen muss für einen Schaden, sondern wer am effektivsten Verantwortung übernehmen kann zur Vermeidung künftiger Schäden. Die ergebnisorientierte Schadenskultur ist gekennzeichnet durch ein systemtheoretisches Verständnis von unerwünschten Ereignissen, die nicht als Schuld eines einzelnen Verantwortlichen definiert und sanktioniert, sondern als Störung innerhalb eines interaktiven System-Prozesses interpretiert und bearbeitet werden. Ein solches Risikomanagement wird inzwischen auch für das Gesundheitswesen empfohlen (SVR-Gesundheit 2003). Der komplexe Prozess von Krankheitsentstehung und Gesundheitserhalt ist prädestiniert für verursacherunabhängige Prozeduren der Verantwortungszuweisung. Im Bereich der Patientensicherheit z.B. hat systemisches Risikomanagement bereits erfolgreichen Niederschlag gefunden. Auch im Straßenverkehr wird seit Jahrzehnten mit Erfolg auf die Sicherheitsoptimierung des Fahrzeug- und Straßenbaus sowie auf gesetzliche Re-
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gelungen gesetzt, statt auf die eigenverantwortliche Optimierung des „unfallverursachenden“ Individuums. Internationale Erfahrungen, etwa in der Chirurgie, zeigen, dass ein systemisches, verursacherunabhängiges Risikomanagement zu bedeutsamen Qualitätsverbesserungen im Gesundheitswesen beitragen kann (Lauterberg/Kolpatzik 2005). Hingegen führt die beharrliche Suche nach den ursächlich Verantwortlichen (‚Schuldigen’) eher zur Verantwortungsverschleierung und Verantwortungsverschleppung statt zu einer effektiven Risikoreduktion (Schrappe 2005). Für die Verbesserung der Gesundheit erscheint es darum nützlich, ursachenorientierte Such- und Sanktionsstrategien aufzugeben zugunsten prozessund ergebnisorientierter Verfahrensweisen, mittels derer wirkungsmächtige Gesundheitsbeförderer zur effektiven Verantwortungsübernahme angeregt werden. Es soll weniger darum gehen, nach den – im multidimensionalen Gesundheitsbereich ohnehin unidentifizierbaren – finalen Krankheitsproduzenten zu suchen, sondern die Aufmerksamkeit darauf zu richten, mittels effektiven Verantwortungsmanagements die Auftretenswahrscheinlichkeit von Krankheitsereignissen bestmöglich zu vermindern. Es ist durchaus sinnvoll, Menschen für ihre Entscheidungen verantwortlich zu machen, die Folgen ihrer Entscheidungen sind jedoch der Gemeinschaftszuständigkeit zu überantworten. „To hold people responsible for the actual consequences of their choice would therefore be to hold them responsible for too much“ (Cappelen/Norheim 2005: 479). In einer neuen Verantwortungskultur bleibt die Handlungsverantwortung beim Einzelnen, die Folgenverantwortung wird jedoch von jenen getragen, die die besten Möglichkeiten zur Linderung des Schadens haben. Dies verhindert einerseits die Überforderung des Einzelnen und andererseits die Korrumpierung des allgemeinen Rechtsempfindens (Cappelen/Norheim 2005). Aus rational-praktischen Gründen sollte die Verantwortungszuteilung unter Bedingungen des optimalen Ressourceneinsatzes erfolgen: Je umfangreicher die Macht zur Veränderung von unerwünschten Zuständen ist, desto Erfolg versprechender ist der erwartbare Nutzen. Das Verantwortungsmanagement erfolgt entlang einer Potenzial-identifizierenden Verantwortungshierarchisierung. Wer bereits heute wirksam Verantwortung für die individuelle und strukturelle Gesundheit übernehmen kann, soll dies tun. Wer über ungenutzte Verantwortungspotenziale verfügt, soll die produktive Nutzung dieser Reserven schnellstmöglich gewährleisten. Wer noch nicht zur Verantwortungsübernahme fähig ist, soll befähigt werden. Wer gar nicht zur Verantwortungsübernahme fähig ist, dem ist Solidarverantwortung garantiert. Diese Verantwortungshierarchie gemäß Verantwortungsfähigkeit erscheint sowohl aus pragmatischen als auch psychohygienischen Gründen zweckmäßiger als die derzeit gültige Strategie, die zuerst die Ak-
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teure identifiziert, die keine Verantwortung übernehmen, diese werden dann differenziert nach Unfähigen und Unwilligen, die Unfähigen werden befähigt, und die Unwilligen werden bestraft. Auf der Grundlage von Verantwortungsfähigkeit ließe sich Eigenverantwortung als „Eigenmächtigkeit“ (Nullmeier 2006b: 161) etablieren. Eigenmächtigkeit pointiert den Doppelcharakter der Selbstverantwortung – schließt sowohl selbstverantwortliche Eigenständigkeit als auch eigenwillige Selbstermächtigung ein. Eigenmächtigkeit betont das Recht, das dem Subjekt zukommt, das Leben nach eigenen sinnhaften, eigensinnigen Vorstellungen zu führen. Eigenmächtigkeit nimmt Abstand von den bestehenden Vorstellungen des richtigen und guten Gesunden und schafft Akzeptanz, auch wenn Verhalten unverständlich oder unverantwortlich zu sein scheint. Selbstbestimmten Menschen muss die Freiheit gelassen werden, das eigene Leben und die eigene Gesundheit mit subjektivem Sinn zu versehen und entsprechend der eigenen vorhandenen Logik zu handeln, statt sie als krankheitsuneinsichtig zu etikettieren und sie zu Verhaltensänderungen zu disziplinieren (Rehbock 2002). Eigenverantwortung für die Gesundheit muss schließlich auch das Recht einschließen, „Nein zu sagen, zur Therapie, zur Krankheitsverarbeitung, zur Selbstverantwortung“ (Pflanz 2004: A2443).
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Die Verflüssigung der Norm: Selbstregierung und personalisierte Gesundheit1 Barbara Prainsack
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Allelische Allianzen oder: Adam sucht eine Frau
Adam sucht eine Freundin. Er hat jetzt lang genug gewartet; seit dem Ende seiner letzten Beziehung sind fast zwei Jahre vergangen. Fast alle von Adams Freunden sind mittlerweile Teil der „Pärchen-Mafia“, wie Adam sie gerne bezeichnet; viele haben auch schon Kinder, und Adam wird auch nicht gerade jünger. Ein halbes Jahr lang hat Adam sein Glück mit Hilfe einer herkömmlichen dating-Website versucht. Eigentlich war ihm die Sache vom ersten Augenblick an suspekt gewesen: Fast eine Stunde lang hatte er Fragebögen ausgefüllt, seine Lieblingsfilme, Lieblingsbücher, und Lieblingsreiseziele aufgelistet, seinen wöchentlichen Alkohol-Konsum untertrieben, und seine politische Einstellung deklariert. Unter den Dutzenden Frauen, die Adam als besonders gut zu ihm passend empfohlen worden waren, hatte er kaum zehn angeschrieben, und mit nur zwei sich zum Essen verabredet. Einer der beiden Abende war geradezu grausam gewesen, der andere zumindest unterhaltsam; keine der beiden Frauen hatte Adam wieder sehen wollen. Dabei habe er selbst sehr viel zu bieten: ein fast exakt 100% über dem nationalen Durchschnitt liegendes Jahreseinkommen; einen relativ krisensicheren Job; einen gut trainierten Körper; eine robuste Allgemeinbildung; und, wie ihm seine Freunde immer wieder attestieren, einen ausgeprägten Sinn für Humor. Außerdem ist Adam Optimist und sich sicher, dass es die richtige Frau für ihn irgendwo da draußen gibt – er muss sie nur finden. Seitdem seine 1 Dank ergeht an meine Kollegen und Kolleginnen vom „Genes without Borders“-Projekt (finanziert durch das GEN-AU/ELSA Programm des Österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung) – Jenny Reardon, Nikolas Rose, Richard Hindmarsh, Herbert Gottweis, und Ursula Naue – für hilfreiche Diskussionen zum Thema. Eva Bartlmä verdanke ich Kommentare zum Rohentwurf dieses Artikels. 2 Gene können in verschiedenen Varianten auftreten: Ein Allel ist eine bestimmte Erscheinungsform, also eine bestimmte Variante, eines Gens.
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Kollegin Leonie ihm von ihrer neuen Eroberung erzählt hat, weiß Adam auch, wie er es anstellen könnte. Leonie hat ihr neues Date auch auf einer Website kennen gelernt. Bei dieser Website handelt es sich jedoch weder um eine klassische dating-Website, noch um Facebook oder einen anderen Tummelplatz für Teenager; Leonie hat Daniel auf der Website der kalifornischen Firma 23andMe kennen gelernt, die Kunden für ein paar hundert Dollar einen „Blick auf ihre DNA“ anbieten. Die Transaktion ist einfach: man registriert sich, akzeptiert die Geschäftsbedingungen, und bezahlt online; dann bekommt man einen so genannten spit kit zugesandt, einen Behälter, den man mit Speichel füllt und per Express-Post nach Kalifornien schickt. Nach einigen Wochen erhält man per e-Mail das Passwort, und das persönliche Genom-Profil steht online zur Ansicht bereit. Für über hundert verschiedene Phänotypen, das heißt von Eigenschaften wie der Augenfarbe hin bis zu Krankheiten wie Diabetes und Brustkrebs, gibt die Website personalisierte Risikoberechnungen an. Die Kundin erfährt zum Beispiel, wie hoch ihr persönliches Risiko ist, an Fettleibigkeit zu leiden, gerechnet über das gesamte Leben. Als Leonie sich im Frühjahr 2010 ihr Profil ansah, wurde sie etwa dazu angehalten, sich über ein verringertes Risiko zu freuen, an Diabetes Mellitus (Typ 2 Diabetes) zu erkranken: ihr Lebensrisiko liege bei 14,5%, das des „Durchschnittsmenschen“ bei 18,2%. Sie wurde auch darüber aufgeklärt, dass Diabetes Mellitus zu 26% erblich sei, und dass daher Umweltund Lebensstileinflüsse auch von Bedeutung sind; diese kann 23andMe allerdings nicht berücksichtigen, da die Risikokalkulationen der Firma auf genetische Merkmale beschränkt sind. Dafür untersucht 23andMe die Genome ihrer Kunden nicht nur im Hinblick auf ihre Gesundheit, sondern auch auf ihre genetischen Vorfahren: Darüber gibt die so genannte „Ancestry Painting“-Seite Aufschluss. (In Leonies Fall stammten alle Vorfahren aus dem mittel- und osteuropäischen Raum.) Am allerbesten hatten Leonie allerdings die Networking-Seiten von 23andMe gefallen: Hier können alle registrierten Kunden ihre Genom-Profile mit denen von Freunden und Familienmitgliedern vergleichen und herausfinden, mit wem sie welche Gemeinsamkeiten haben; zudem können Nachrichten gepostet und Kontakt mit Leuten aufgenommen werden, die dieselben Gen-Varianten haben wie man selbst. Hier hat Leonie Daniel kennen gelernt; sie hatte auf ein Posting reagiert, in dem er nach anderen Personen gesucht hatte, die Träger des „AG“-Genotypen3 sind. Bei Daniel (auch das hatte er in seinem Posting verraten) 3 Der Genotyp eines Menschen ist die Gesamtheit seiner Erbinformation. Als Phänotyp hingegen bezeichnet man die exprimierten und/oder beobachtbaren Eigenschaften wie äußere Merkmale (Haarund Augenfarbe, Körperbau, Haut, etc.), Entwicklungs- und Charaktereigenschaften, sowie Verhaltensmuster.
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war vor einigen Jahren eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert worden. Nun war er daran interessiert, herauszufinden, ob andere Menschen mit demselben Genotyp unter ähnlichen Symptomen litten wie er. Leonie hatte Daniel geantwortet, auch sie habe den AG-Genotyp, jedoch ohne dass in ihrem Fall jemals ADHS diagnostiziert worden war. Auf der Website der elektronischen Selbsthilfe-Community Patients Like Me4 hatte Leonie allerdings gelesen, dass die moderate Form von ADHS sich bei manchen Personen bloß darin äußere, dass sie keine Geduld für Details hätten und sich lieber mit größeren Fragen und „the bigger picture“ beschäftigten. Hier hatte sich Leonie sofort selbst wiedererkannt; schon im Kindergarten habe sie es unmöglich gefunden, still in ihrem Stuhl zu sitzen und stundenlang Bilder auszumalen. Drei Wochen nach dem ersten E-Mail-Austausch hatte Leonie Daniel in London besucht, und kommendes Wochenende würde Daniel nach Wien kommen, um Leonie zu sehen. Adam gefällt diese Geschichte; er findet es auf absurde Weise charmant, dass sich zwei Menschen in einander verlieben, weil sie beide nicht stillsitzen können (Adam hat sich die Frage, ob Leonie sich denn keine Sorgen wegen des potenziellen Nachwuchs mache, bisher verkniffen). Adam selbst ist sich ziemlich sicher, dass er nicht zur Gruppe der AG-Genotypen gehört; im Gegensatz zu Leonie hat er überhaupt kein Problem damit, sich stundenlang mit ein und derselben Aufgabe zu beschäftigen. Leonies Erzählungen haben ihn allerdings neugierig auf sein eigenes Genom-Profil gemacht. Adams Vater hatte sich letztes Jahr einer Prostata-Operation unterzogen; hatte er, Adam, eventuell ein erhöhtes Risiko von seinem Vater geerbt? Außerdem könne es nicht schaden, dachte Adam, zu erfahren, ob er gegen bestimmte Stämme des HI-Virus resistent sei (Adam war im Moment promiskuitiv). Ganz nebenbei würde er auf der Community-Website von 23andMe nach interessanten Frauen in seiner Nähe suchen; im Gegensatz zu Leonie würde er Personen, mit denen er Gen-Varianten teilte, allerdings eher meiden. Das hatte Adam auf der Website von Scientific Match gelernt: je größer die Unterschiede zwischen seinem Genom und dem seiFür die in Daniels Posting erwähnte „AG“-Gen-Variante (Gen ANKK1 am 11. Chromosom, Position 112776038) wird eine Korrelation mit einem Dopamin-Rezeptor (Typ 2) vermutet. Aus diesem Grund ist die AG-Gen-Variante für ADHS relevant; ADHS ist eine „Störung“, die sich häufig in Konzentrationsstörungen und Hyperaktivität äußert. Ein zu schwaches Dopamin-Signal kann sich nachteilig auf Gefühlsäußerungen und auf das Gedächtnis auswirken. Der so genannte marker für den AG-Genotypen ist ein so genannter single nucleotide polymorphism [SNP] namens rs1800497 (http://www.snpedia.com/index.php/Rs1800497). Als SNP („Snip“ ausgesprochen) bezeichnet man eine Gen-Variante, bei der es zum Austausch eines einzigen Nukleotiden im DNA-Molekül kam. Man nimmt an, dass pro 200-1000 Basenpaaren im menschlichen Genom etwa ein SNP zu finden ist. 4 Siehe http://www.patientslikeme.com/ (letzter Zugriff am 8. April 2009).
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ner Partnerin, desto besser für das Liebesleben und den potenziellen Nachwuchs.5 Hauptsächlich geht es ihm darum, sich diesmal das mühselige Fragebogenausfüllen und die kitschigen Bilder glücklicher Paare am Bildschirmrand zu ersparen; zudem wären die Frauen, die er auf 23andMe kennenlernen würde, wie er an gesunder und aktiver Lebensführung interessiert. Auch haben sie mit hoher Wahrscheinlichkeit einen guten Job; sonst könnten sie sich keinen Genom-Test leisten.6 Adam hat ein gutes Gefühl, dass sich hier etwas ergeben könnte.
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Umverteilung oder Ausbeutung? Die „Demokratisierung des Genoms“
Die Figur des Adam in der Einleitung dieses Kapitels ist erfunden; die einzelnen Teilelemente seiner Geschichte jedoch nicht. Die erwähnten Websites und Firmen (die häufig unter dem Stichwort „Personalisierte Genomik“ zusammengefasst werden) existieren real – auch wenn einige Kommentatoren die Meinung vertreten, dem Verkauf von Genom-Analysen im Internet müsse ein Riegel vorgeschoben werden. Als im Herbst 2007 drei Firmen (23andMe und Navigenics in den USA, and deCODEme in Island) damit begannen, SNP-basierte GenomAnalysen online anzubieten, gab es zahlreiche besorgte Reaktionen. Die geäußerten Bedenken reichten von der fragwürdigen wissenschaftlichen Grundlage dieser Tests7 (Allison 2008; Janssens et al. 2008; Khamsi 2008; Nature 2008; 5 Die U.S. amerikanische Firma Scientific Match (http://www.scientificmatch.com/html/index.php) vermittelt Partnerschaften nicht nur unter Berücksichtigung persönlicher Eigenschaften und Präferenzen der Kunden, sondern auch auf der Basis verschiedener genetischer Marker, die mit dem Immunsystem in Verbindung stehen: „The theory is that nature wants us to breed with other people who have different immune systems because it creates babies with a wider variety of immune system genes, and therefore, more robust immune systems in other words, healthier babies“, (http://www.scientificmatch.com/html/about_physical_chemistry_defined.php) (März 2009). 6 Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels kosteten am Markt erhältliche Genom-Analysen um die 400 US-Dollar. 7 Die individuellen Krankheitsrisiko-Profile werden von den Firmen auf der Basis von publizierter Fachliteratur erstellt. Der Großteil dieser Literatur besteht aus den Ergebnissen so genannter Genomweiter Assoziationsstudien (GWAS). Diese Forschungsmethode, die erst seit wenigen Jahren eingesetzt wird, operiert hypothesenfrei nach dem folgenden Prinzip: man untersucht die Genome einer großen Anzahl von Patientinnen mit einem bestimmten Krankheitsbild und vergleicht diese mit den Genomen von gesunden Personen in einer Kontrollgruppe (Pearson/Manolio 2008). Findet man genetische Merkmale, die in der Gruppe der Patienten signifikant häufiger vorkommen als in der Kontrollgruppe, so gibt dies Anlass zur Vermutung, dass diese Gen-Varianten in irgendeiner Verbindung zur Krankheit stehen (was freilich nicht unbedingt bedeutet, dass diese Verbindung eine kausale ist). Firmen wie 23andMe durchforsten die Fachliteratur nach solchen Gen-Varianten, die mit Krankheiten korrelieren, und analysieren anschließend die Genome ihrer Kundinnen im Hinblick auf diese genetischen Marker. Ein Teil dieser Forschungsergebnisse ist noch ungesichert (weil nicht reproduziert), was heftige Kritik bezüglich der Verwendung solcher Ergebnisse im Kontext kommerzieller Genom-Analysen aus-
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van Ommen et al. 2008; Kaiser 2007) bis hin zur Sorge über genetische Diskriminierung (Nature Biotechnology 2008; Hunter et al. 2008). Ärztinnen fürchteten, von unnötig besorgten Genom-Test-Kunden belagert zu werden, die herausfinden möchten, was ihre Test-Resultate praktisch bedeuten; Datenschützer kritisierten, dass die Testergebnisse der Genom-Test-Kunden im Internet keinesfalls sicher seien (Aldhous/Reilly 2009), und Ethikerinnen warfen die Frage auf, ob es denn vertretbar sei, Menschen unmittelbaren Zugang zu Informationen über genetische Krankheitsdispositionen zu gewähren, die erstens wissenschaftlich ungesichert seien und für die es zweitens keine Therapie gab (Borry 2008; Gniady 2008). Die Genom-Analyse im Internet, so schien es, war eine unausgereifte und potenziell gefährliche Spielerei, vor der die Bevölkerung geschützt werden musste. (Die Tatsache, dass eine der beiden Gründerinnen von 23andMe, Anne Wojcicki, mit dem Google-Gründer Sergey Brin verheiratet ist, trug angesichts der wachsenden Konzentration von Infrastruktur- und Machtressourcen in den Händen des Firmenkonglomerats nicht gerade zur Beruhigung der Situation bei). Tatsächlich stellt die Genom-Analyse im Internet in zumindest dreierlei Hinsicht eine Neuerung gegenüber dem Bereich des bisherigen genetischen Testens dar: 1.
Während beim „klassischen“ genetischen Testen nach der An- oder Abwesenheit einer bestimmten Mutation gesucht wird, produziert die GenomAnalyse einen Datensatz von rund einer Million SNPs, die im Internet gespeichert und anlässlich jeder neuen wissenschaftlichen Erkenntnis „nachanalysiert“ werden können. Wenn etwa übermorgen ein genetischer Lokus identifiziert wird, der mit dem Phänotyp Schizophrenie korreliert,8 dann kann der Genom-Datensatz der Kunden nach diesem bestimmten genetischen Merkmal durchsucht werden. Die Information auf der Website wird entsprechend aktualisiert, und die Kundin sieht auf einen Blick, ob sie die Gen-Variante hat, die sie für Schizophrenie „prädisponiert“. Während beim traditionellen genetischen Testen das Ergebnis in der Regel aus einer „ja“ oder „nein“-Antwort besteht (das heißt, die fragliche Mutation liegt bei der Patientin vor, oder sie liegt nicht vor), liefert die Genom-Analyse einen Datensatz, der durch eine theoretisch unbeschränkte Anzahl gegenwärtiger oder zukünftiger Analysen Hinweise auf Krankheits- oder VerhaltensPrädispositionen geben kann.
gelöst hat (siehe etwa Ioannidis 2008; 2009). Andere Kritiker halten den Erkenntnisgewinn der GWAS-Methode im Bereich komplexer Krankheiten für allgemein sehr beschränkt (Goldstein 2009). 8 Das bedeutet, dass etwa im Rahmen einer GWAS (siehe Fußnote 7) eine Gen-Variante identifiziert wird, die bei Schizophrenie-Patienten signifikant häufiger vorkommt als in der Kontrollgruppe gesunder Patienten.
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Traditionelles genetisches Testen konzentriert sich auf seltene Mutationen, die nur bei wenigen Menschen auftreten und bei diesen relativ große Effekte haben können. Einen Extremfall stellt der Test für Chorea Huntington dar, weil jeder Mensch mit der betreffenden Gen-Variante die Krankheit irgendwann in seinem Leben entwickeln wird. Aber auch genetische Tests für andere Erkrankungen wie etwa Brustkrebs haben in der Regel relativ große Aussagekraft.9 Genom-Analyse andererseits „suchen“ nach Gen-Varianten, die in der Bevölkerung sehr häufig vorkommen; dafür ist ihr Effekt relativ beschränkt. Dies trifft insbesondere auf so genannte komplexe Krankheiten zu; hier ist der Beitrag genetischer Faktoren häufig gering und immer mit vielen anderen Faktoren, wie Lebensstil und anderen Umweltfaktoren, verschränkt. Wie oben erwähnt gibt 23andMe gibt beispielsweise an, dass das Auftreten von Typ2-Diabetes „zu 26%“10 auf genetische Faktoren zurückzuführen sei; dies bedeutet, dass Gene überhaupt nur in sehr geringem Ausmaß für das Auftreten der Krankheit verantwortlich sind. Herkömmliches genetisches Testen findet zumeist im klinischen Kontext statt. In der Regel wird dem Patienten von einer Ärztin ein Gentest empfohlen, welcher nach genetischer Beratung in einem Krankenhaus oder in einem Labor durchgeführt wird. Der Patient hat typischerweise auch keinen direkten Zugriff auf die Ergebnisse, sondern ausschließlich über Vermittlung durch medizinisches Fachpersonal. Im Fall der Genom-Analyse hingegen bestellt der Patient ohne Kontakt mit der Ärztin den Test direkt übers Internet und erhält auch seine Testresultate ohne Vermittlung fachkundiger Berater.
3.
Dieser letzte Aspekt mag auch zumindest teilweise für den erheblichen Widerstand verantwortlich sein, den die kommerzielle Vermarktung der GenomAnalyse ausgelöst hat. Wie wir an anderer Stelle argumentiert haben (Prainsack et al. 2008), so ist es eine der wesentlichen Eigenschaften der Personalisierten Genomik, zu verdeutlichen, in welch großem Ausmaß die Grenzen zwischen Expertinnen und so genannten „Laien“ bereits brüchig geworden sind. Ärzte fürchten sich nicht nur deshalb vor Patientinnen, die sie mit Fragen zu ihren Testergebnissen belagern könnten, weil sie wenig Zeit haben, sondern auch weil sie in der Regel nicht zur Interpretation von Gentests ausgebildet wurden. Die Grenzen der professionellen Expertise werden hier offenkundig. Nicht zuletzt aufgrund der Existenz von Web-Services wie SNPedia,11 die der interessierten 9 Das Risiko, irgendwann in ihrem Leben an Brustkrebs zu erkranken, liegt für Trägerinnen der BRCA1 oder BRCA2-Mutation bei 40-90%; siehe Antoniou et al. 2003; Ford et al. 1998. 10 Siehe www.23andMe.com. 11 Siehe http://www.snpedia.com/index.php/SNPedia.
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Öffentlichkeit kostenlose elektronische Unterstützung bei der Interpretation von Genom-Daten zur Verfügung stellen, weiß der interessierte Patient unter Umständen weit besser über die genetischen Faktoren von komplexen Krankheiten Bescheid als die nicht auf Genetik spezialisierte Ärztin. Selbst für die Expertise der genetischen Beraterinnen stellt die Personalisierte Genomik eine Bedrohung dar, da deren Ausbildung sie auf die Arbeit mit traditionellen Mutations-Tests (siehe oben Punkt 2) vorbereitet hat, und nicht auf die Interpretation genetischer Marker für komplexe Krankheiten.12 Die Kunden zu Experten zu machen scheint Teil des Bussinessplans der Firmen zu sein, welche die Genom-Analysen anbieten: Manche Blogger sprechen im Zusammenhang mit der Firma 23andMe etwa von einer „Blog-Polizei“, die angeblich Mitarbeiterinnen damit betraut, user blogs zu lesen, Antworten zu posten, und wichtige Kritikpunkte an die Firmenleitung weiterzuleiten, um das Serviceangebot besser an die Anregungen der Kunden anzupassen. In manchen Fällen hat die Auseinandersetzung mit der Expertise der Verbraucherinnen bereits zu einer Korrektur bestimmter Inhalte auf der Website geführt. Auch der firmeneigene Blog mit dem passenden Namen Spittoon („Spucknapf“) geht häufig auf die Kritiken und Anregungen von user blogs ein. Radikal neu ist dieser Prozess der sich auflösenden Grenzen zwischen Experten und Laien freilich nicht. Abgesehen davon, dass die theoretische Frage, wie sich denn professionelle Expertise von Nicht-Expertise abgrenzen lässt, im Bereich der Science and Technology Studies (STS) schon seit vielen Jahren intensiv diskutiert wird (siehe etwa Collins/Evans 2002), haben Carlos Novas und andere Autoren zahlreiche empirische Beispiele dafür aufgezeigt, dass Patientinnen regelmäßig zu Expertinnen im Gebiet ihrer eigenen Krankheit werden. In manchen Fällen sind Patienten oder deren Angehörige an der Entwicklung von Gen-Patenten oder sogar der Verwaltung von Forschungsgeldern beteiligt (Gibbon/Novas 2007; Novas 2006). Es handelt sich hier also nicht bloß um ein Bekenntnis zur Wichtigkeit der Einbeziehung der Patientin in die Therapieentscheidung, sondern um das Phänomen einer autodidaktischen Entwicklung der von Krankheiten betroffener Menschen zu medizinischen Expertinnen in ihrem Krankheitsbereich. Das Fachwissen dieser „Laienexperten“ kann die Expertise der sie behandelnden Ärztinnen und Ärzte ergänzen, sie aber in manchen Fällen 12 Die Szenarien dafür, wie die Berufsgruppe der genetischen Berater mit diesem Problem umgehen wird, sind abhängig vom jeweiligen Gesundheitssystem und dem Status der genetischen Beratung in diesem System. In Großbritannien beispielsweise, wo die genetische Beratung in ein staatlich finanziertes Gesundheitssystem eingebettet ist, mehren sich die Zeichen dafür, dass genetische Berater nichts mit dem „Hokuspokus“ der Genom-Tests zu tun haben möchten. In den USA hingegen, wo sich genetische Beraterinnen in einem weitgehend freien Markt behaupten müssen, kann vermutet werden, dass der Markt der Personalisierten Genomik von dieser Berufsgruppe bald als neues gewinnträchtiges Betätigungsfeld erschlossen sein wird.
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auch überlagern. In jedem Fall ist die starre Trennlinie zwischen medizinischen Experten und medizinischen Laien überholt. Der Fall der Personalisierten Genomik ist daher nicht deshalb besonders, weil er die Aufweichung der Grenzen zwischen Experten und Laien ausgelöst hätte (dieser Prozess ist zumindest so alt wie das Internet, das vielen Patientinnen Zugang zu Wissensformen ermöglicht, die bisher den universitär ausgebildeten und formal zertifizierten Experten vorbehalten war). Die Personalisierte Genomik ist vielmehr deshalb so vielbeachtet und aufschlussreich, weil sie uns vor Augen führt, wie weit die Aufweichung dieser Grenzen mittlerweile gediehen ist. Wie die teils verzweifelt anmutenden Reaktionen in der medizinischen und ethischen Fachliteratur zeigen, sehen sich die Bastionen der „alten“ MedizinElite als relativ wehrlos gegen den Angriff der neuen Web-Elite. Im Kontext der Personalisierten Genomik besteht diese Web-Elite aus krisenfest finanzstarken Gesundheitsrevolutionären, die es sich zum Ziel gemacht haben, den MedizinEliten ihren Alleinanspruch auf genomisches Wissen streitig zu machen und „unter die Leute zu bringen“. Dies alles soll dazu dienen, die Pharma-Industrie dabei zu unterstützen, Konsumentinnen und Patientinnen die Segnungen der personalisierten Medizin ein Stück näher zu bringen. Wie 23andMe-Mitgründerin Anne Wojcicki verlauten ließ, sei es ihr Ziel, dass sich bald keine Mutter mehr in der Situation befinde, ihren Kindern Medikamente zu verabreichen, ohne vorab mit Hilfe eines Gen-Tests abzuklären, ob das Kind unter Nebenwirkungen leiden werde: Dies ist exakt das Heilsversprechen der Personalisierten Medizin (Gurwitz et al. 2009; Prainsack/Naue 2006). Auf der Technologie-NetworkingWebsite Crunch Base verkündet Wojcicki die Vision ihres Unternehmens: “From her vantage point, Anne saw a need for creating a way to generate more information – especially more personalized information – so that commercial and academic researchers could better understand and develop new drugs and diagnostics. By encouraging individuals to access and learn about their own genetic information, 23andMe will create a common, standardized resource that has the potential to accelerate drug discovery and bring personalized medicine to the public” (http://www.crunchbase.com/person/anne-wojcicki, 31. März 2009). Dies ist mit ein Grund dafür, dass 23andMe auch soziales Networking auf ihrer Website anbieten; Kundinnen sollen sich „um spezielle Genotypen herum“ zusammenfinden (come together around specific genotypes; Wojcicki zitiert in Weiss 2008) und Lobbying für Forschung in ihrem eigenen Krankheitsfeld betreiben. Kundinnen werden auch dazu angehalten, Fragebögen zu Lebensstil, Vorlieben, und körperlichen Merkmalen auszufüllen; diese Informationen werden von 23andMe bei Bedarf an universitäre und kommerzielle Forscherinnen weitergeleitet. Craig Venter, einer der „Väter“ des Humangenomprojekts, wie er
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gern genannt wird, belobigte Wojcicki angesichts ihrer Verdienste um die „Demokratisierung des Genoms“ (Venter zitiert in Weiss 2008).13
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Das Argument, Firmen wie 23andMe „demokratisierten“ die Genomik und sorgten damit für eine gerechtere Machtverteilung, hat ambivalente Züge. Wenn man 23andMe tatsächlich als revolutionäre Kraft ansehen möchte, dann liegt ihr revolutionärer Charakter eher in ihrer Einbettung in eine webbasierte Gemeinschaft14 denn in ihrer ideologischen Ausrichtung. Es ist fraglich, welcher Demokratiegewinn einem Geschäftsmodell zugeschrieben werden kann, das Kundinnen für ihre Genom-Analysen bezahlen lässt, wenn die Daten anschließend – wenn auch „anonymisiert“ – an die Pharmaindustrie weitergegeben werden. Zudem werden Kunden durch regelmäßige e-Mail-Zusendungen dazu aufgerufen, zusätzliche Informationen über Lebensstil und Phänotyp in die 23andMe Datenbank einzuspeisen, um den Wert der Genom-Daten für die Forschung zu erhöhen. Ein solches „Demokratisierungsmodell“ ist bestenfalls als paternalistisches Weltverbesserungskonzept zu bezeichnen, das einen bestimmten Lösungsvorschlag als gesellschaftliches Heilsmodell verkauft und die Bürger die Kosten dafür tragen lässt. Genom-Test-Konsumentinnen bezahlen in mehrfacher Hinsicht den Preis: Abgesehen von den Kosten der Genom-Analyse tragen sie auch Risiken, welche die Firmengründerinnen nicht teilen. Diese Risiken mögen nicht so überwältigend sein, wie es einige Kommentatoren befürchten (siehe Prainsack et al. 2008; Prainsack 2008), aber sie sind auch nicht völlig bedeutungslos: eine einmal erstellte und im Internet gespeicherte Genom-Analyse kann weder jemals vollständig vernichtet noch absolut vor unautorisiertem Zugriff geschützt werden (Gurwitz/Bregman-Eschet 2009). Zudem bieten Genom-Test-Anbieter im Internet fast ausnahmslos keine „Opt-in“-Modelle an. Das Fehlen eines solchen Modelles bedeutet, dass alle neuen entdeckten Krankheits-Gene im eigenen Risiko-Profil aufscheinen, unabhängig davon, ob die einzelne Kundin diese Informationen er13 Die Euphorie im Fahrwasser der Ernennung von 23andMe zur „Erfindung des Jahres“ seitens des TIME-Magazins im Oktober 2008 (Hamilton 2008) wurde von Beobachtern im Internet sehr bald mit dem Argument gedämpft, dass dem TIME Magazin anscheinend kein Preis zu hoch sei, Sergey Brin, den Google-Billionär und Ehemann von Anne Wojcicki, zur Preisverleihung zu locken. 14 Die so genannte Web.02-Gesellschaft hat in den letzten Jahren durch den „Machtgebrauch von unten“ einige kommerzielle und politische Veränderungen herbeigeführt, die vor der Massennutzung des Internets als nahezu unmöglich gegolten hätten. Vielzitierte Beispiele sind hier die den Urheberrechtsbruch zum System machende „Napster-Revolution“ (siehe z.B. Robinson/Halle 2002), und die Wahl von Barack Obama zum Präsidenten der USA im Jahr 2008 (siehe z.B. MacIntosh 2008).
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halten möchte, oder nicht.15 Diese Situation wird dadurch weiter kompliziert, dass es unmöglich ist, im Voraus zu ahnen, um welche Gene und um welche Krankheiten und Prädispositionen es sich dabei handeln wird. Ihr „Recht auf Nichtwissen“ (Zinberg et al. 2006) bezüglich aller noch unerforschten genetischer Anteile an komplexen Krankheiten gibt die Kundin zu jenem Zeitpunkt auf, in dem sie auf der Website bestätigt, die Geschäftsbedingungen gelesen zu haben. Dieses Modell kommt dem Konzept eines „Generalkonsens“ (blanket consent) in der medizinischen Forschung sehr nahe, also einer generellen Einverständniserklärung des Versuchsteilnehmers zur Verwendung seines Spendermaterials (in diesem Fall DNA) für jeglichen zukünftigen, gegenwärtig noch unbestimmten Forschungszweck. Während dieses Modell im Kontext öffentlich geförderter wissenschaftlicher Forschung kontroversiell diskutiert wird (Steinmann 2009), hat dieser Aspekt im Zusammenhang mit privat bezahlten GenomAnalysen bisher kaum Beachtung gefunden. Der Trend zur Personalisierten Genomik ist jedoch auch in einer anderen Hinsicht bedeutsam. Die Idee, dass einzelne Personen Geld, Zeit und ihre DNA in den Dienst der Heilsphantasien dritter Personen stellen (die zudem im Zentrum einer neuen Machtkonstellation situiert sind), wäre ohne die sich ausbreitende Rationalisierungsmentalität nicht denkbar (Lemke et al. 2000). Nikolas Rose beschreibt diesen Trend zur Rationalisierungsmentalität anhand eines Beispiels aus der Arbeitsmarktpolitik: „Arbeitslosigkeit wird [heute] als ein Phänomen verstanden, auf das – sowohl auf der makroökonomischen Ebene als auch auf der Ebene des sozialen Verhaltens der Arbeitslosen selbst – regulierend einzuwirken ist, indem man die Bemühungen der Betroffenen forciert, Arbeit zu finden, und sie verpflichtet, unablässig und aktiv nach einem Arbeitsplatz zu suchen und ihre beruflichen Qualifikationen zu verbessern. Einerseits wird das allgemeine Problem der Arbeitslosigkeit unter dem Gesichtspunkt einer rundum herrschenden Konkurrenz zwischen den Arbeitskräften neu formuliert und zumindest teilweise als Frage ihrer psychischen Verfassung, ihrer Neigung und Motivation betrachtet. Andererseits wird der Einzelne als Verbündeter des ökonomischen Erfolgs angesprochen, indem man dafür sorgt, dass er in das Management, die Präsentation, die Weiterentwicklung und Stärkung des eigenen 15 Zum Zeiptunkt des Verfassens dieses Artikels (Sommer 2009) stellten die einzigen Ausnahmen der Test für genetische Marker für die Parkinson-Krankheit und für Brustkrebs auf der Website von 23andMe dar. In diesem Zusammenhang muss jedoch auch erwähnt werden, dass andere Anbieter – wie etwa Navigenics und deCODEme – aus ethischen Gründen Marker für manche unheilbare Krankheiten erst gar nicht in die Analyse mit einbeziehen. Heftige Kritik traf 23andMe zu Beginn des Jahres 2009 auch deshalb, weil die Firma die Grenze zum klassischen Mutations-Testen (siehe oben, 2. Unterkapitel, Punkt 2) überschritten hatte: Mit einem von der Firma Illumina eigens fuer 23andMe hergestellten Analysechip erfahren Kundinnen nun etwa auch, ob sie Trägerinnen der mit Brustkrebs verbundenen BRCA-Gen-Varianten, oder ob sie Überträgerinnen der Mukoviszidose sind.
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persönlichen Kapitals im Sinne eines persönlichen Vermögens und lebenslangen Projekts investiert“ (Rose 2000: 92-93; siehe auch Dean 1995).
Arbeitslosigkeit wird demnach nicht länger primär als kollektives Problem gesehen, sondern als individuelles Problemfeld definiert, das vom einzelnen Bürger gemanagt werden muss. Scheitert das Individuum, so ist dies nicht als Versagen der Gesellschaft, sonder in erster Linie als persönliche Fehlleistung zu sehen. Nur wer ein guter Manager seines eigenen Lebensprojekts ist, hat vollen Anspruch auf soziale Anerkennung und finanzielle Vergütung seines Erfolgs. Rose spricht in diesem Zusammenhang von einem wachsenden Trend der Individualisierung der Verantwortung (Rose 1999), der freilich nicht auf den Bereich der Arbeitsmarktpolitik beschränkt bleibt. Wie viele Autorinnen in den letzten Jahren gezeigt haben, so stellt gerade auch der Bereich der Gesundheit einen Paradefall der neuen Selbst-Regierung dar (Kollek/Lemke 2008; Gottweis et al. 2004; Clarke et al. 2003). Im Namen der Gesundheit werden wir dazu angehalten, fit zu sein oder zu werden, auf gesunde Ernährung zu achten, und Nikotin, Alkohol, und anderen Drogen am besten völlig abzuschwören. Das gesunde Leben wird jedoch keineswegs von Seiten des Staates als zwingende Norm formuliert, deren Nichtbeachtung rechtliche Sanktionen nach sich zieht. Vielmehr wird „richtiges“, „rationales“ und „gesundes“ Verhalten belohnt, während „ungesundes“ Verhalten betroffene Menschen immer weiter an die Außenseiten der Gesellschaft drängt: Wer krank wird, weil er raucht oder zu dick ist, ist selbst schuld. Die Sanktionen bleiben dabei nicht immer auf soziale Stigmatisierung beschränkt: In manchen Ländern ist der Zugang zu bestimmten medizinischen Leistungen wie In-Vitro-Fertilisation für rauchende und stark übergewichtige 16 Menschen bereits eingeschränkt. Das Konzept des Risikos (Lemke 2000) – das sich im Kontext der Personalisierten Genomik als genetisches Krankheitsrisiko manifestiert – ist ein illustratives Beispiel für Verschränkung von Herrschafts- und Selbsttechnologien (Prainsack 2006). Eine hegemoniale Autorität – die im vorliegenden Fall keine staatliche, sondern eine primär ökonomische ist, verkleidet als zivilgesellschaftliche Bewegung – stellt eine scheinbar harmlose und wertneutrale Dienstleistung zur Verfügung, die die aufgeklärte und selbstbestimmte Bürgerin nach Belieben nutzen kann. Die Gesundheits-Emphase der Marketing-Strategie stellt dabei sicher, dass ausreichend auf Selbstverantwortung konditionierte Menschen den Impuls spüren, sich für diesen Test zumindest interessieren zu müssen. Sie überprüfen, ob ein solcher Test ein geeignetes Instrument zur Verbesserung der eige16 Siehe z.B. http://www.portsmouthcitypct.nhs.uk/index/haveyoursay/consultations/access_to_ivf.htm (letzter Zugriff am 7. April 2009).
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nen Gesundheit darstellen könnte. Im Moment sind die Preise für kommerzielle Genom-Analysen für viele Menschen zu hoch, und der antizipierte Nutzen zu klein (Cherkas et al. 2009). Sinkt der Preis in den folgenden Monaten jedoch weiter, dann ist zu erwarten, dass immer mehr Menschen den Erwerb eines solchen Tests als zweckmäßig und vernünftig erachten. Die Rationalisierungsmentalität wirkt; nur eine vernünftige, „gesunde“ Entscheidung hat Platz in der neoliberalen Gemeinschaft des selbstbestimmten, autonomen Individuums. Die Bürgerin übersetzt die Ziele hegemonialer Autoritäten in ihre eigenen Wertpräferenzen und Praktiken und regiert sich damit selbst (Rose 1999). Auch hier besteht die primäre Bedeutung der Personalisierten Genomik nicht darin, diesen Modus der rationalen Selbst-Regierung zu ermöglichen; weitaus ältere Erfindungen wie das Fitness-Center und die Kalorientabelle stellen weit verbreitete Hilfsmittel zur Selbstregierung dar. Was die Personalisierte Genomik verdeutlicht, ist vielmehr das Fortschreiten des Wandels von der Orientierung an einer für alle verbindlichen Norm hin zu einem individuell definierten Optimalverhalten: es gibt nicht länger die eine richtige Ernährung für alle Menschen, sondern unterschiedliche Optimal-Diäten, die auf den individuellen Metabolismus und die spezifische Lebensführung des betreffenden Menschen zugeschnitten sind. Die herkömmliche Turnstunde, in der alle Teilnehmerinnen dieselben Übungen machen, ist dem personal trainer im Fitness-Center gewichen, der individuelle Problemzonen zu verbessern hilft. Das Endziel ist nicht länger das Erreichen eines mehr oder weniger standardisierten Norm-Körpers, sondern das Erlernen nachhaltiger Verhaltensmuster, die uns unserem individuellen Optimal-Zustand näher bringen. Die Personalisierte Genomik stellt die gegenwärtig radikalste und zugleich am stärksten symbolische Form des Imperativs zum Optimalverhalten dar, indem die Unterschiedlichkeit der Körper im Kernbereich der Gene zum Ausgangspunkt des Unternehmens wird, während gleichzeitig weiterhin bestimmte WertIdeale im Hintergrund wirken, die der Disposition des einzelnen Individuums entzogen sind. Einerseits scheint es, als gäbe es keine universelle Wahrheit mehr, was unsere Gesundheit betrifft: Gesundheit ist individuell und relativ; sie ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Andererseits hat sich wenig daran geändert, dass genau jene Merkmale als gut und gesund gelten, die die Halt- und Belastbarkeit unserer Körper erhöht und uns damit zu nützlicheren und produktiveren Mitgliedern der Gesellschaft macht. Der Kontext der Personalisierten Genomik zeigt, wie sich die Norm der Gesundheit verflüssigt hat (Baumann 2000): sie lastet nicht länger gut sichtbar als klar definierter Imperativ auf unserer Brust, sondern umschließt uns wie Wasser und dringt in jede Pore. Sie ist untrennbar mit dem verknüpft, wer und was wir sind. Widerstand gegen diesen Prozess der Vereinnahmung kann sich deshalb
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nicht sinnvoll gegen die Instrumente richten, derer wir uns im Zuge unserer Selbstregierung bedienen (Prainsack et al. 2008). Widerstand muss vielmehr die Grundideen der Rationalisierungsmentalität selbst in Frage stellen. Wenn von Gesundheit die Rede ist, wessen Gesundheit ist gemeint? Und wer bezahlt den Preis für unsere Ego-Optimierung? Für wen ist unser Optimalverhalten optimal? Selbst eine Genomanalyse vermag auf diese Frage keine Antwort zu geben.
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Nutzerorientierung – Zur normativen Umcodierung des Patienten Heiner Friesacher
Einleitung Das Konzept der Nutzerorientierung als Leitidee eines modernen Gesundheitswesens wird in diesem Beitrag aus einer kritischen pflegewissenschaftlichen Perspektive analysiert. Zunächst werden Entwicklungslinien, der Bedeutungsgehalt und Ziele des Konzeptes aufgezeigt. Dabei wird deutlich, dass die Idee des Nutzers ein äußerst ambivalentes Konstrukt darstellt, das sowohl Dimensionen von Freiheit als auch Zwang einschließt. Unter den Bedingungen eines ökonomisierten Gesundheitssystems wird das Nutzerkonzept instrumentalisiert und zu einem Menschenführungskonzept mittels neuer Steuerungsansätze im Sinne des New Public Management (NPM) transformiert. Das wird anhand der DiseaseManagement-Programme, Clinical Pathways und dem Pflegeprozessmodell, die alle dem kybernetischen Imperativ, d.h. einem technisch- funktionalen Paradigma mittels Information, Steuerung und Kontrolle folgen, expliziert. Der gepflegte Mensch ist in der Regel kein aktiver und informierter Nutzer und will das auch oft nicht sein. Das Nutzerkonzept entpuppt sich als Minderheitenkonzept für eine gut informierte und kommunikativ präsente Mittelschicht. Eine echte Emanzipation und Partizipation gerade der sozial Schwächeren in der Gesellschaft ist noch in weiter Ferne.
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Entwicklungen und Begriffsklärungen
Die Idee der Stärkung der Position der Patienten und Pflegebedürftigen hat eine längere Tradition, wenn auch der Begriff des Nutzers im Zusammenhang mit der gesundheitlichen Versorgung relativ neu ist. Das Aufkommen der Rede vom aufgeklärten und mündigen Patienten als Partner der Ärzte und Pflegenden Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts fällt zusammen mit a) der Kritik an den dominanten medizinischen Experten und dem allzu vereng-
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ten naturwissenschaftlich geprägtem Paradigma der Schulmedizin (vgl. Cooper 1975; Illich 1975), b) einem Wandel im Verständnis der Pflege weg von einer funktionalen, zweckrationalen Form der Versorgung hin zu einer patientenorientierten (erstmals Abdellah 1960; vgl. Seidl 1991) und ganzheitlichen Pflege (Meier 1989; kritisch dazu: Bischoff 1996) und c) gesundheitlichen Demokratisierungstendenzen insgesamt (vgl. Deppe 1973 et al.). Spätestens mit der Veröffentlichung der Ottawa-Charta der WHO von 1986 ist die Idee der größeren Selbstbestimmung und Einflussnahme der Patienten fester Bestandteil der internationalen und nationalen Gesundheitspolitik. War das Bild des klassischen Patienten bestimmt von einer passiven und gehorsamen, der Dominanz der Experten weitgehend unterworfenen Haltung, so ist die Idee des Nutzers mit einer Stärkung der Autonomie des Betroffenen verbunden, die die Beziehung zu den Professionellen (in erster Linie Pflegende und Ärzte) als partnerschaftliche konzipiert bis hin zur gemeinsamen Aushandlung und informierten Entscheidung über Therapieoptionen und Pflegeinterventionen, die sich an den Kriterien der evidenzbasierten Medizin und Pflege zu orientieren haben. Diese als Shared decision making und informed consent bezeichneten Konzepte fungieren als Leitbilder einer neuen Beziehungskultur zwischen den Helfern und den Betroffenen (Klemperer 2003; vgl. Dieterich 2006). Im Rahmen von Qualitätsentwicklungsansätzen und der Realisierung größerer Transparenz im Gesundheitswesen werden Partizipationsmöglichkeiten (z.B. im gemeinsamen Bundesausschuss = GBA) und Instrumente zur Erfassung, Bewertung und Umsetzung von Betroffeneninteressen (wie etwa Beschwerdemanagement, Patientenbefragungen, regionale Gesundheitskonferenzen) entwickelt und durchgeführt (vgl. Gerlinger 2009; Essers et al. 2005; Hart 2002) bis hin zur aktiven Einflussnahme auf und Beteiligung an wissenschaftlichen Forschungsprogrammen (Nowotny et al. 2005: 176ff.; vgl. Stengers 1998). Damit bekommt der Nutzerbegriff eine semantische Erweiterung, die weit über die Begriffe des Patienten und auch des Kunden, Konsumenten und Klienten hinausgeht, diese aber zugleich mit einschließt. So definiert der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) Nutzer und Nutzerinnen als „Bürger, Versicherte und Patienten, die in unterschiedlichen Rollen dem Gesundheitssystem gegenüberstehen und durch ihr Wissen, ihre Einstellung und ihr Nutzerverhalten wesentliche, aber bislang vernachlässigte Einflussgrößen bei der Steuerung des Systems und seiner Ergebnisse darstellen“. Nutzer ist jeder, „der Zugang zum gesundheitlichen Versorgungssystem hat, ungeachtet dessen, ob dieser Zugang aktuell genutzt wird oder nur fakultativ besteht“ (SVR 2002, Band I: 12 u. 148, zit. n. Rehm/Zündel 2009: 66f.). Nach Schaeffer (2004: 15) geht es bei der Nutzerorientierung um den Versuch, der passiven Patientenrolle und dem „im Versorgungsalltag ungebrochen zu beo-
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bachtenden Paternalismus in der Kommunikation und Interaktion mit Erkrankten entgegenzutreten“.
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Nutzerorientierung – Interessen und Ziele
Die Idee der Nutzerorientierung und des mündigen Patienten geht einher mit äußerst heterogenen, sich zum Teil widersprechenden Aufgaben, Eigenschaften, Rollen und Verantwortlichkeiten. Im ärztlichen Diskurs um den mündigen Patienten lassen sich nach Dieterich (2006) vier abgrenzbare Diskursstränge rekonstruieren (1. Recht und Ethik, 2. Wissen und Information, 3. Strukturprobleme und 4. Finanzierungsfragen), die jeweils sehr unterschiedliche und sich zum Teil widersprechende Charakteristika aufweisen: aktive, eigenverantwortliche und kooperierende Patientinnen ebenso wie gut informierte und den Arzt in seiner Fachlichkeit kritisch bewertende Patientinnen. Ärzte sind dem Konzept des mündigen Patienten durchaus zugeneigt, wenn es darum geht, den Einfluss der Krankenkassen durch die Partizipation der Patientinnen zu verringern. Hier stehen demnach berufsständische Interessen im Vordergrund (vgl. Dieterich 2006). Die Idee der Eigenverantwortlichkeit und des patient empowerment enthält emanzipatorische Anteile und verweist auf die gestalterische und partizipatorische Rolle des Nutzers, gleichzeitig wird die Eigenverantwortlichkeit des Nutzers aber unter den vermeintlichen Sachzwängen des Gesundheitssystems in eine ganz andere Richtung gelenkt. Denn wird der aufgeklärte und mündige Nutzer als Konsument von Gesundheitsleistungen angesehen, dann gibt es kaum noch eine Unterscheidung zum Kunden und Konsumenten in privatwirtschaftlichen Bereichen. Die Hervorhebung dieses Aspektes des Nutzerbegriffes passt zum gesamtgesellschaftlichen Umbau des Gesundheitssystems nach marktwirtschaftlichen und wettbewerbsorientierten Prinzipien seit den 1990er Jahren. Und es passt zur Europäisierung der Gesundheitspolitik, in der die Tätigkeiten der Anbieter im Gesundheitsmarkt primär als handelbare, personenbezogene Dienstund Serviceleistungen angesehen werden. Dabei sind die Rechte der Betroffenen im Sinne von Kunden hinsichtlich einer grenzüberschreitenden Mobilität durchaus gestärkt worden, ihre Rolle als aktiv gestaltende, partizipative Nutzer ist hingegen eher eingeschränkt. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union (EU) – geringe Gestaltungskompetenzen der Bürger bei gleichzeitiger Übertragung gesundheitspolitischer Kompetenzen auf die EU – trifft auch auf den Gesundheitsbereich zu: „Politische Steuerung wird durch eine europäische Marktorientierung überformt, die die Gestaltungsfreiräume öffentlicher Entscheidungsträger einschränkt“ (Schmucker 2009: 80). Die dann noch zum Tragen kommende Partizipation des Nutzers beschränkt sich eher auf das ‚Mit- Entscheiden‘ und ‚Mit-
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Verantworten‘ bei scheinbar unausweichlichen Rationierungsmaßnahmen wie z.B. Priorisierung von Gesundheitsleistungen. Wie selbstverständlich geht der Sachverständigenrat (SVR 2003, Band I) davon aus, dass durch diese Form der Partizipation die Legitimation und Akzeptanz für derartige Maßnahmen erhöht werden kann. Der nächste konsequente Schritt wäre die Durchsetzung der Erhöhung der finanziellen Eigenbeteiligung, für die das Konzept des Nutzers mit der „Eigenverantwortlichkeitsideologie“ (Holst 2008: 19) durchaus plausibel als Argumentationshilfe herangezogen werden kann. Einer der immer wieder genannten Gründe für ein nicht mehr zu finanzierendes Gesundheitssystems ist neben dem rasanten medizinisch-technischen Fortschritt die ökonomische These der ‚Anspruchsspirale‘ (vgl. Herder-Dorneich 1983) bzw. des ‚Moral Hazard‘ (vgl. Holst 2008; Braun et al. 1998). Ausgehend von einem rationalen und nutzenmaximierenden Konsumenten von Gesundheitsleistungen, der im umlagefinanzierten öffentlichen Gesundheitssystem den Konsum auch bei steigenden Kosten ausdehnt, ist eine stärkere finanzielle Eigenbeteiligung als ein Akt der Solidarität und der Übernahme von Verantwortung anzusehen. Da die These vom ‚Moral Hazard‘ empirisch nicht belegt ist, sondern ganz im Gegenteil, eine jüngste Studie nach Sichtung und Bewertung der Literatur der letzten vier Jahrzehnte zu dem Schluss kommt, „dass belastbare Belege für das Moral-Hazard-Verhalten von Versicherten bzw. Patienten bisher fehlen und die üblicherweise angeführte Empirie für den Nachweis ungeeignet ist“, erweist sie sich letztlich als „Popanz der akademischen Wirtschaftstheorie“ (Holst 2008: 3). Zusammenfassend macht die Diskussion um den Nutzerbegriff deutlich, dass Befreiung und Zwang, Mündigkeit und Verantwortungsübernahme nur zwei Seiten der äußerst ambivalenten gesamtgesellschaftlichen Entwicklung der Moderne darstellen. Neuen Freiheiten stehen neue Zwänge gegenüber. Aber eine Grundtendenz ist bei der äußerst vielschichtigen und kontrovers geführten Diskussion um den Nutzerbegriff auszumachen: Es geht um die zielorientierte Lenkung und Beeinflussung, Förderung, Schwächung und Modifizierung des individuellen Handelns der Patienten (vgl. Dieterich 2006; SVR 2003). Im Sinne von Foucault (vgl. 2004a und b) wäre dies als Führung, Regierung oder umfassend als Gouvernementalität1 zu bezeichnen und stellt eine Form der Machtausübung dar, die vor allem auf die Handlungsmöglichkeiten anderer Individuen einwirkt und das Feld eventuellen Handelns der anderen strukturiert. Dieser Typus von 1 Der Regierungsbegriff steht im Zentrum der Vorlesungen Foucaults von 1978. Die meisten Vorlesungen sind erst in jüngster Zeit in schriftlicher Form zugänglich. Die zweibändige „Geschichte der Gouvernementalität“, herausgegeben von Michel Sennelart (Foucault 2004a und b), und Foucaults Aufsatz „Das Subjekt und die Macht“ (Foucault 1987) in Dreyfus & Rabinow (1987) stellen grundlegende Überlegungen dar und sind für die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Gouvernementalität äußerst fruchtbar.
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Macht wird nur auf „freie Subjekte“ ausgeübt, „Macht und Freiheit stehen sich also nicht in einem Ausschließungsverhältnis gegenüber“ (Foucault 1987: 255f.). Realisiert wird diese Idee der Leitung und Lenkung mittels neuer Steuerungsinstrumente, die die medizinischen und pflegerischen Prozesse verbessern und die Nutzer schnittstellenoptimiert durch die Institutionen führen.
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Der Nutzer im prozessoptimierten Gesundheitswesen
Die seit etwa zwei Jahrzehnten vehement vorangetriebene ‚Verbetriebswirtschaftlichung‘ des Gesundheitssektors hat zur Entstehung zahlreicher neuer Steuerungsinstrumente geführt, die sich zu großen Teilen unter dem Begriff des New Public Management (NPM) zusammen fassen lassen. Dabei geht es um „ziel- und ergebnisorientierte Steuerung“, persönliche „Ergebnisverantwortung“, „deutliche Orientierung am Bürger (Kunden) und an klaren Qualitätsmaßstäben“, „Öffnung in Richtung Wettbewerb“, „Transparenz von Kosten und Leistungen“ und „Personalmanagement, das vor allem auf Leistungsmotivation und Personalentwicklung abstellt“ (Oppen 1996: 39). Bei Görres et al. (2006: 161) heißt es dann noch ergänzend dazu: „In Erweiterung eines rational-technischen Steuerungsbegriffs bedeutet Steuerung auch – und dies ist von besonderer Relevanz – die kommunikative Einwirkung eines sozialen Systems und darin Handelnder auf ein anderes System … Ausgangspunkt ist die evidenz-basierte Weiterentwicklung pflegerischen Handelns, die einfordert, dass sich pflegerisches Handeln weniger auf langjährig entwickelte Intuitions- oder Erfahrungskonzentrate der Interaktions- und Beziehungsebene stützt, denn zunehmend mehr auf professionell systematisiertes Wissen und eine daraus abgeleitete zielgerichtete Steuerung von Prozessen“. Als Problem erweist sich jetzt aber die Tatsache, dass die im vorherigen Abschnitt aufgezeigten Entwicklungen im Gesundheitswesen primär eine Kostenreduktion als Zielgröße anvisieren, obwohl die Finanzprobleme eher ein Einnahmeproblem als Ursache haben und andere Lösungen hier zu favorisieren wären (vgl. Simon 2007). So geraten die Konzepte und Instrumente der Prozessoptimierung in den Sog einer „Instrumentalisierung durch den Zeitgeist“ (Deppe 2009: 63). Ein Blick auf einige gängige Ansätze soll das verdeutlichen.
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3.1 Neue Steuerungsinstrumente im Gesundheitsbereich – eine kritische Analyse Die seit 2002 existierenden Disease-Management-Programme (DMP)2, das sind evidenzbasierte Behandlungsprogramme für Menschen mit epidemiologisch relevanten chronischen Erkrankungen wie z.B. Diabetes Typ I und II und koronare Herzkrankheit (KHK), sollen zu einer verbesserten sektoren- und berufsgruppenübergreifenden Versorgung und einer Senkung der Leistungsausgaben der Krankenkassen führen (vgl. Müller de Cornejo 2005). Bisher zeigen internationale wie nationale Studien zur Wirkung der Programme zunächst einen immensen bürokratischen und administrativen Aufwand, der in keinem Verhältnis zu den Ergebnissen steht. So erweisen sich weniger als die Hälfte der DMP`s, die Angaben zur Krankheitskontrolle und Kostenentwicklung machen, als effektiv. Die Effektgröße bleibt dabei auch eher gering (Fischer et al. 2005: 16). Andere Autoren berichten zwar durchaus über positive Ergebnisse (Müller de Cornejo 2005: 32ff.). Insgesamt lässt sich aber ein primär an Kosten ausgerichtetes Ergebnis feststellen. Das Handeln ist stark an ärztlichen Leitlinien orientiert und die individuelle Patientensicht wird weitgehend ausgeblendet. Im Sinne einer verbesserten Mitarbeit wird der Patient als aktiver Nutzer benötigt und entsprechend ‚empowert‘ durch zielgruppenspezifische Schulungsprogramme; Feedback-Berichte und Erinnerungssysteme ermöglichen eine qualitätsgesicherte Kontinuität der Behandlung. Die Expertenorientierung der DMP-Programme führt zur ausschließlichen krankheitsbezogenen Arbeit, die alltagsbezogene und biografische Arbeit, wie sie von den Betroffenen im Rahmen der Verlaufskurve zu leisten ist, bleibt ein „blinder Fleck“ des DMP (Blättner/Wachtlin 2005: 71). Sind die Betroffenen in der Institution einer Klinik zu versorgen, soll anhand von Clinical Pathways, d.h. klinischen Behandlungspfaden zur Optimierung der Prozessabläufe, eine bessere Versorgung und Kostentransparenz bzw. einsparung erreicht werden. Auch dieser Ansatz erweist sich nach Sichtung einschlägiger Studien als überwiegend eher technisch-pragmatisches Instrument, welches der „zweckrationalen Logik des biomedizinischen Paradigmas sowie der betriebswirtschaftlichen Perspektive“ folgt und zu einer „pflegekulturellen Verarmung“ führt mit einem „verbleibenden Rest an Gefühlsarbeitszeit als ‚nanosecond-emotionality‘“ (Hellige/Stemmer 2005: 178, 183; Bone 2002). Behandlungspfade als allgemeines Rahmenkonzept für die Versorgung bestimmter Pa2 Die ursprüngliche Initiierung der ersten internationalen DMP- Programme ging von US- amerikanischen Pharmafirmen aus, die damit die in den 1990er Jahren durch politische Einflussnahme gesunkenen Preise für Medikamente durch eine Steigerung der Absatzzahlen korrigieren wollten. Über DMP`s sollte ein Zugriff auf die Verteilung der knappen finanziellen Ressourcen ermöglicht werden (Fischer et a. 2005).
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tientinnengruppen stehen im Spannungsverhältnis zum individuellen Fallverstehen im Arbeitsbündnis. Beim Überwiegen der technisch-ökonomischen Aspekte der Pfade und ihrer vorstrukturierten und vorinterpretierten Wirklichkeitskonstruktion bleibt die emanzipatorische und individuenorientierte Seite der Nutzerinnenorientierung ungenutzt. Dieser Befund lässt sich ebenso für den in der Pflege scheinbar so zentralen und notwendigen Pflegeprozess, ein als Regelkreis konzipiertes Arbeitshandeln für die praktisch tätigen Pflegenden, konstatieren. Trotz fehlender wissenschaftlich überzeugender Studien für die Wirksamkeit, d.h. belegbare Qualitätsverbesserung der Patientenversorgung anhand von validen Qualitätsindikatoren, wird das Instrument weltweit als handlungsleitender Orientierungsrahmen für die pflegerische Praxis propagiert und mit viel Aufwand in die Praxis integriert (vgl. Hülsken-Giesler 2008; Habermann/Uys 2006; Isfort 2005). Eine zielorientierte, geplante und systematisch durchgeführte und evaluierte Pflege auf der Mikroebene (im Arbeitsbündnis Pflegende – Patient bzw. Nutzer) schließt sich dabei nahtlos an weitere Steuerungsinstrumente (Clinical Pathways, Case- und CareManagement) an und ermöglicht die Integration in Systeme der Gesundheitsversorgung auf höherer Ebene. Der systemisch-kybernetische Ansatz des Pflegeprozesses und seine technokratische Passung in die bestehende Praxis lassen die Rede von selbstbestimmten, die Ziele der Pflege aushandelnde Nutzerinnen und Nutzer als absurd erscheinen. Obwohl alternative Vorstellungen eines stärker situativen und verstehenden Arbeitshandelns in der Pflege existieren und auch erfolgreich praktiziert werden (vgl. Bräutigam 2003; Benner et al. 2000; Böhle et al. 1997), wird ein am Regelkreis orientiertes, analytisch zergliedertes und detailliert geplantes und dokumentiertes Vorgehen gefordert, überprüft und bei Nichteinhaltung sanktioniert (vgl. Borutta/Ketzer 2009; MDS 2005a und b; Isfort 2005).
3.2 Die Renaissance der Kybernetik – Steuerung als Herrschaftsinstrument Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Lehre der Kybernetik, deren Hochzeit in den 1950er bis in die 1970er Jahre währte und die als neue Universalwissenschaft gepriesen wurde, eine denkwürdige Renaissance erlebt. In einer Sprache mit den Zentralbegriffen Information, Kommunikation, Rückkoppelung und Steuerung verschmilzt Erkennen (episteme) und Handeln (techné im Sinne von poiesis, also herstellen) und schafft einen Brückenschlag zwischen den verschiedenen Wissenschaftskulturen. So ließen sich alle Bereiche menschlichen Lebens in der Sprache der Kybernetik modellieren. Diese „Kybernetisierung des Menschen“ restrukturierte das Humane mit technisch-mathematischen Grundbegrif-
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fen, der Mensch wurde als komplexer Funktionsmechanismus aufgefasst, der sich von Maschinen nicht grundsätzlich unterschied (Hörl/Hagner 2008: 10f.). Die vor allem von Habermas (1971) scharf formulierte Herrschaftskritik an „Technik und Wissenschaft als Ideologie“ in den 1960er Jahren und die damit verbundene Zurückweisung einer ausschließlich an zweckrationalen Handlungsimperativen ausgerichteten Gesellschaft führte zusammen mit einer insgesamt kritisch-emanzipatorischen Aufbruchsstimmung zu einem sang- und klanglosen Verschwinden der Kybernetik „in den Kellerräumen der Wissenschaftsgeschichte“ (Hagner 2008: 71). Mit der seit etwa zwei Jahrzehnten konsequenten Umsetzung marktwirtschaftlicher Steuerungsprinzipien im Gesundheitsbereich wurde die kybernetische Idee reanimiert und reaktiviert und erlebt eine nicht zu übersehende Präsenz. Als „kybernetische Maschine“ (Manzei 2003: 117) und als „kybernetischer Kapitalismus“ (Tiqqun 2007: 41) sind die Grundideen dieses Ansatzes beibehalten und mit den aktuellen Entwicklungen im Gesundheitswesen verschmolzen worden. Kybernetik bildet dabei sowohl die Folie für die neueren Technisierungsprozesse als auch eine Form des modernen Kapitalismus ab.3 Die Nähe zur Technik und zur Maschinenlogik ist immanent und in der ursprünglichen Idee der Kybernetik angelegt. Sie ist ein wesentliches Element einer zu beobachtenden „Maschinisierung“ der Medizin und der Pflege mit den Folgen eines „Erfahrungsverlustes“ von Wissensformen, die sich der Formalisierung entziehen und als nichtprofessionalisierte entwertet werden (Hülsken-Giesler 2008: 223ff., 388; Friesacher 2008: 199ff.). In der Weiterentwicklung einer neoliberalen und markförmigen Logik, die wesentlich auf Steuerung und Kontrolle abhebt, fungiert die Kybernetik als „neue Herrschaftstechnologie“, die kybernetische Hypothese ist den „totalitären Ideologien ebenso verwandt wie all den Formen des ganzheitlichen Denkens …,“, die kybernetische Hypothese ist „heute der konsequenteste Anti-Humanismus, der die allgemeine Ordnung der Dinge aufrechterhalten will und sich zugleich damit brüstet, das Humane überschritten zu haben“ (Tiqqun 2007: 12, 14, 16). Folgt man Foucaults Analyse moderner Regierungskunst, dann ist diese neue und zugleich alte Form der Technik des Steuerns in drei Bereichen wesentlich präsent: in der Heilkunst, der Regierung der Bürger und in der Leitung seiner selbst (Foucault 2004a und b). Die kybernetische Idee wurde erstmals auf wissenschaftlichen Konferenzen4 in die Sozialwissenschaften übertragen und findet sich seither in gruppendynamischen Prozessen ebenso wie in modernen Managementstrategien und 3 Auch Manzei (2009) zeigt in ihrer Arbeit über neue betriebswirtschaftliche Steuerungsformen im Krankenhaus den engen Zusammenhang von Technisierung und Ökonomisierung auf. 4 Diese fanden von 1946 bis 1953 statt und sind als Macy-Konferenzen in die Geschichte eingegangen (vgl. Bröckling 2008).
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Qualitätsdiskursen. Mit der Denkfigur des ‚Unternehmers seiner Selbst‘ lassen sich sowohl Ärzte und Pflegende als auch die Nutzer im Sinne neoliberaler Subjektbildung formen. Ontologisch wird dabei von einem rationalen Subjekt ausgegangen, welches sich handlungslogisch nutzenmaximierend verhält. Die scheinbaren Freiheiten (informiert sein, Optionenvielfalt, Wahlfreiheit), die zum Kernbestand der Idee des autonomen Subjekts und auch der Konstruktion des Nutzers gehören, entpuppen sich bei genauer Analyse als Fiktion. Die permanenten Wettbewerbs- und Steigerungszwänge haben zu neuen Steuerungsinstrumenten und prozessoptimierten Verfahrensweisen geführt, die der Logik der Beschleunigung folgen und die Subjekte (Ärzte/Pflegende und Nutzer) unter permanenten Druck setzen bei gleichzeitig erhöhter individueller Verantwortung und Risikoübernahme. Der Aktivierungsimperativ im Nutzerkonzept, der unter Begriffen wie Empowerment und Partizipation verhandelt wird, ist ein äußerst ambivalentes Konstrukt: zunächst muss den Betroffenen ja Passivität (die klassische Patientenrolle) unterstellt werden, die dann durch die Mobilisation von Ressourcen überwunden werden soll. Als Co-Produktion von Leistungen und Übernahme von Verantwortung wird Aktivierung von den Nutzern verlangt, auch wenn diese oftmals nicht dazu in der Lage sind oder, was empirische Studien andeuten, mit der Rolle des „passiven Konsumenten“ (guter Service aber Delegation der Verantwortung an den Arzt) zufrieden sind (Stollberg 2008: 356). Dass die These vom mündigen Patienten dennoch weithin akzeptiert ist, lässt sich dann eher mit einer Legitimationsstrategie der Gesundheitswissenschaftler begründen, die die „Positionierung gesundheitswissenschaftlich ausgebildeter professionals in der Gesellschaft zu festigen“ suchen, „indem sie das politisch-pädagogische Konzept vom aktiven Konsumenten vertreten“. Eine weiter gefasste Erklärung liefert der „Zeitgeist“, welcher die Kunden- gegenüber der Patientensemantik“ stützt, wodurch es zu einer „Ökonomisierung des Rollengefüges kommt“ (Stollberg 2008: 359). Der kybernetische Kapitalismus ist darauf ausgerichtet, Verantwortlichkeiten zu vervielfältigen. „Die Rede vom Risiko ist der Motor zur Entfaltung der kybernetischen Hypothese: sie wird zunächst verbreitet und dann verinnerlicht. Denn Risiken werden umso besser akzeptiert, wenn diejenigen, die ihnen ausgesetzt sind, den Eindruck haben, sie hätten die Wahl gehabt, sie einzugehen, wenn sie sich verantwortlich fühlen und das Gefühl haben, sie selber kontrollieren und beherrschen zu können … Da das Risiko für das System ständig gegeben ist, ist es ein ideales Werkzeug zur Affirmation neuer Formen der Macht, die den wachsenden Einfluß der Dispositive auf Kollektive und Individuen begünstigen“ (Tiqqun 2007: 51). Mittels dieser Strategien lässt sich das Nutzerkonzept – unter Beibehaltung des Mythos vom mündigen Patienten – in ein ökonomisch transformiertes Gesamtkonstrukt des Gesundheitsmarktes einfügen.
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Heiner Friesacher Der gepflegte Mensch – in der Regel kein Nutzer
Der pflegebedürftige und gepflegte Mensch ist in der Regel ein anderer, als es uns die Rede vom Nutzer, Konsumenten oder Kunden suggerieren möchte. Natürlich ist es zunächst eine angenehme und beruhigende Vorstellung, dass wir auch als Patienten souverän und autonom, informiert und mobilisiert, kommunikativ und rational sind. Abgesehen von der Tatsache, dass ein großer Teil der Bevölkerung auch in ‚gesunden Zeiten‘ kaum dazu in der Lage ist, diese Ideale zu verwirklichen, sind Menschen, die Pflege bedürfen, in einer völlig anderen Situation. „Intensivpatienten sollten die Intensivstation meiden, wenn sie könnten, aber Sie können nicht“, schreibt Lubin (2007: 1) einleitend in seiner Diplomarbeit über die Situation von Patienten auf einer Intensivstation. Mehr als eine Millionen Menschen werden jährlich auf den Intensivstationen versorgt, und sie sind, ebenso wie Wachkoma-Patienten, schwerst- und mehrfachbehinderte Menschen, Frühgeborene, Säuglinge, Kinder und Menschen in extremen psychischen Situationen keine souveränen Konsumenten und aktive Nutzer von Gesundheitsleistungen. Aber auch wenn wir es mit wachen, gut gebildeten Betroffenen zu tun haben, die sich im Gesundheitssystem auskennen5, ist die folgende Schilderung wohl als typisch zu bezeichnen: „Auch medizinisch Vorgebildete sollten nie ohne Begleitung in solche Gespräche gehen. Besonders bei der Aufklärung. Mir wurde klar, dass das Gerede vom Patienten als Kunden dummes Zeug ist. Gut, bei den ‚Hoteldienstleistungen‘ des Krankenhauses wie Unterkunft, Verpflegung, Reinigung lasse ich den Vergleich noch gelten. Ich kann mich aber nicht erinnern, freiwillig zu meiner Dienstleistungsanbieterin ‚Ärztin‘ gegangen zu sein. Ich kann mich nicht erinnern, dass es für mich nach der Diagnose (Darmkrebs, Ergänzung durch H.F.) eine freie Wahl gegeben hat, ob behandelt werden muss oder nicht, sozusagen ob ich das Produkt kaufe bzw. die Dienstleistung annehme. Ich kann mich nicht erinnern, beim Kauf einer Hose oder beim Friseur in einer ähnlichen psychischen Verfassung gewesen zu sein. An Rücktrittsrecht, Reklamation oder Umtausch war schon gar nicht zu denken. Die Gleichsetzung von Patient und Kunde wird da zur Farce“ (Anonym 2000: 163). Die demographische Entwicklung lehrt uns, dass wir in Zukunft mit immer mehr Menschen in hohem und sehr hohem Alter zu rechnen haben. Diese begrüßenswerte und positive Tendenz wurde auch lange durch die Interventionsgerontologie dahingehend gestützt, dass Alter als individuelle Entwicklungsaufgabe angesehen und primär als aktive und positive Phase deklariert wurde. Dieses Altersbild trifft für die erste Altersphase auch weitgehend zu, verkennt jedoch die 5 Der Autor dieses publizierten Berichts ist dem Verfasser bekannt.
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Tatsache, dass Phänomene wie Hochaltrigkeit und Langlebigkeit eben vielfach mit Krankheit, Leiden, Verfall und Verlusterfahrungen einhergehen. Dem Körper bzw. dem Leib6 kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Chronische Krankheit und dauerhafte Einschränkungen verlangen von den Betroffenen Biografie-, Identitäts- und auch Trauerarbeit zur Widerherstellung der biografischen Körperkonzeption und zur Bewältigung im Umgang mit Verlusten (Corbin/Strauss 2004: 87; Gröning 1998: 40). Bei immer mehr Menschen im hohen und höchsten Lebensalter treten zusätzlich dementielle Syndrome mit sogenannten herausfordernden Verhaltensweisen auf.7 Pflegetherapeutische Konzepte basieren in erster Linie auf gelingender Beziehungsgestaltung, Interaktion vor allem auch über leibliche Kommunikation in Form von Berührungen und wertschätzende Haltung (vgl. Weidert 2007). Das typisch ‚Pflegerische‘, der Kern oder das Originäre der Pflege zeichnet sich durch eine ganz spezifische Zugangweise zum Patienten und durch die typischen Handlungsbögen der Pflegenden aus. Das Ansetzen an der Leiblichkeit des Betroffenen (und nicht nur an seinem Körper), seine derzeitige Existenz umfassende heilende, fürsorgende und fürsprechende Anteilnahme, sind die pflegerische Domäne und grenzen sie ab von den anderen Professionen, begründen den ihr eigenen ‚Pflegerischen Blick‘ (Friesacher 2009: 9f.; Friesacher 2008: 236; Wettreck 2001: 260). Die Beziehung ist im Falle von Krankheit, Pflegebedürftigkeit und in Sterbesituationen geprägt von der Ungleichheit der beiden Handelnden. Aufklärung und Information sind zwar notwendige Grundlagen einer jeden Arzt- Patient bzw. Pflegende-Patient-Beziehung, sie sind aber nicht hinreichend. Ein Kranker, Pflegebedürftiger oder Sterbender ist, anders als ein Kunde oder Nutzer, in aller Regel auch leidend, benötigt Begleitung, oftmals Nähe und Anwesenheit. Dazu ist eine affektive Anteilnahme im Sinne einer gesteigerten Aufmerksamkeit als anerkennende Haltung gegenüber dem anderen notwendig. Dieses existentielle Involviert sein berührt auch das eigene Selbstverhältnis (vgl. Honneth 2005: 46ff., hier 56; Cavell 2002: 70). Die nicht auf6 Zur Etymologie der Begriffe Körper und Leib vgl. Lorenz 2000: 32; Waldenfels 2000: 14ff.; Uzarewicz/Uzarewicz 2005: 71ff. Vielfach wird der Begriff des Körpers in der Literatur verwendet, auch wenn damit eigentlich der Leib gemeint ist. So deute ich auch die Ausführungen von Corbin & Strauss (2004: 87ff.). Die Verbundenheit bzw. Verschränkung der zwei unterschiedlichen Perspektiven des einen Gegenstands lässt sich mit den Begriffen ‚körperlicher Leib‘ (Schmitz), ‚Leibkörper‘ (Waldenfels) oder der Formel ‚Körper-haben‘ und ‚Leib-sein‘ (Plesnner) ausdrücken. Leib ist die Natur, die wir selbst sind und die wir durch eigenleibliches Spüren erfahren können, dagegen ist Körper die objektive Außenperspektive. Erstere Sichtweise wird in der (Leib)Phänomenologie vertreten, die Rede vom Körper hat sich erst durch den naturwissenschaftlichen Diskurs durchgesetzt und dabei den historisch älteren Leibdiskurs verdrängt (vgl. Böhme 2008; Jäger 2005). 7 Unter den Menschen über 65 Jahren wird die Anzahl der dementiell Erkrankten auf über eine Million geschätzt, für Altenheimbewohner über 75 Jahren wurde eine Prävalenzrate von 47, 6 % sowie eine jährliche Inzidenzrate von 17,2 % ermittelt (Halek/Bartholomeyczik 2006: 21), Tendenz steigend.
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hebbare asymmetrische Konstellation, Machtprozesse und organisatorische Zwänge sind nicht durch marktförmige Konzepte einer Kunden- oder Nutzersouveränität aufzulösen, diese leisten eher einer Entfremdung Vorschub (vgl. Rosa 2009; Jaeggi 2005). Das Nutzerkonzept erweist sich als ein äußerst einseitiges „Minderheitenkonzept“ mit einem Überhang an Wissens- und Informationsorientierung, denn es trifft am ehesten noch auf die mittleren und höheren sozialen Schichten zu und auf Menschen, die nicht durch Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Leiden über längere Zeiträume beeinträchtigt sind (Braun 2009: 35).8 Patienten benötigen vor allem eine sorgende, begleitende und anerkennende Hilfe. Und Sie müssen sich auch krank und schwach fühlen dürfen, sich zurückziehen, passiv sein und einen verengten Horizont haben dürfen (vgl. Kühn 2005: 8ff.). Das Konzept der informierten Einwilligung, hinter dem eine äußerst einseitige Idee der Autonomie steht, zeigt noch einmal die Einbindung des Nutzerkonzeptes in den ökonomisierten Gesundheitsmarkt. Dabei wird der philosophischmoralische Diskurs um Autonomie und freien Willen in eine juridische Form gebracht. Sichtbar wird das vor allem an einer kaum noch zu übersehenden (und oftmals die Autonomie der Betroffenen einschränkenden!) Fülle an Gesprächen zur Information und Aufklärung, an Formularen, Infozetteln und Checklisten und letztendlich dem Unterschreiben und Gegenzeichnen. Die scheinbare Stärkung der Betroffenenautonomie tritt in der Institution hinter die formale Absicherung und freiwillige Risikoübernahme seitens des Patienten/Nutzers zurück. Die informierte Einwilligung schafft Planungs- und Ablaufsicherheit und entlastet in erster Linie die Institution. Die juristisch-medizinische Fachsprache rationalisiert den alltagssprachlichen Diskurs, lenkt den Blick auf klare Entscheidungen des Einzelnen und klammert damit bewusst offenere, mehrschichtige Möglichkeitsfelder und Handlungsoptionen aus. Informierte Einwilligung ist an Experten gebunden, welche durch Informationen eine „präparierte Zukunft“ in Kraft setzen. Die Einwilligung gleicht somit einer „blinden Kaufentscheidung“ (Gehring 2002: 28). Das Paradigma der Einwilligung in Form von informierten Entscheidungen, Patientenverfügungen und Pflege- und Behandlungsverträgen führt zu einer Verrechtlichung, Rationalisierung und Risikoverschiebung in ursprünglich lebensweltlich geprägten Situationen, in denen es um Verständigung, Aushandlungsprozesse und Situationsdeutungen geht. Diese Transformationsleistung er8 Im Rahmen des Nutzerkonzeptes wird die Gesundheitskompetenz der Betroffenen, das heißt unter anderem die Fähigkeit, sich gesundheitsbewusst zu verhalten und die entsprechenden Informationen dazu zu finden, zu verstehen und umzusetzen, als zentrale Schlüsselqualifikation angesehen. Die Idee der 2006 an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) gegründeten Patientenuniversität will dazu beitragen. Erste Ergebnisse der Evaluation zeigen, dass 26 Prozent der Nutzer bei einer privaten Krankenkasse versichert sind. Dies wird als Hinweis darauf gedeutet, „dass mit den Kursen eine eher privilegierte, bildungsnahe Bevölkerungsschicht erreicht werden konnte“ (Dierks 2009: 101).
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möglicht es, soziale Handlungen auf entscheidungs- und nutzentheoretische Erwägungen zu reduzieren, welche die Anschlussfähigkeit an ökonomische Diskurse ermöglichen. Die Arzt bzw. Pflegenden-Patient-Beziehung wird instrumentalisiert und gouvernementalisiert, Autonomie verliert in diesem Kontext gänzlich seinen ursprünglichen semantischen Gehalt und seinen Sinn (Gehring 2002: 32; vgl. Graefe 2007).
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Fazit und Ausblick
Die nicht neue Idee des mündigen Patienten als Nutzer ist eine richtige und wichtige Innovation im Gesundheitswesen zur Überwindung eines mit zahlreichen unerwünschten Folgen behafteten Paternalismuskonzepts. Die emanzipatorischen Aspekte mit Blick auf die subjektive Situation und die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen sind zentrale Dimensionen im Nutzerkonzept. Diese Bereiche sind aber unter den Bedingungen von Krankheit und Pflegebedürftigkeit zu denken, d.h. Autonomie beschränkt sich nicht auf Information, Wahlfreiheit und Optionenvielfalt. Autonomie als Souveränität ist eine Haltung, die man lernen muss. Die Freiheit der Selbstbestimmung ist eine große Last – verbunden mit einem großen Aufwand – die längst nicht jeder tragen kann und will. Souveränität heißt aber auch, ein Selbstbewusstsein zu entwickeln im Umgang mit Krankheit, Schmerzen und Leid, das auch die Abhängigkeit von anderen nicht als Kränkung empfindet. Pflege ist dann viel eher Beistand und Begleitung als Aktivierung und Mobilisation von Ressourcen (vgl. Böhme 2008: 188ff.; Akashe-Böhme & Böhme 2005). Unter den Bedingungen eines marktwirtschaftlich orientierten und betriebswirtschaftlich organisierten Gesundheitssystems werden diese Aspekte weitgehend ausgeblendet, es entstehen eher neue Abhängigkeiten und Unfreiheiten, die sich hinter Begriffen wie Verantwortungsübernahme und Partizipation verbergen. Als Instrumente der Umsetzung lassen sich die neuen Steuerungsinstrumente zur Prozessoptimierung identifizieren, die eher Systemerfordernissen Rechnung tragen und weniger den Patientinnen bzw. Nutzerinneninteressen folgen. Die in der Gesellschaft Benachteiligten profitieren offensichtlich wenig vom Nutzerkonzept, hier gilt es primär anzusetzen. Dazu müssen aber die Strukturen und Bedingungen auf der Makro-Ebene verändert werden, und das betrifft auch die Finanzierungsbedingungen. Ohne grundlegende Innovationen in diesem Bereich wird das Nutzerkonzept lediglich affirmativ den Status Quo festigen. An der Bereitschaft, daran etwas zu ändern, zeigt sich die Ernsthaftigkeit der Idee des mündigen Patienten.
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Gesundheit und Krankheit in „biopolitischen Zeiten“ Frauke Koppelin/Rainer Müller
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Biopolitische Zeiten
Auch wenn in jüngster Zeit häufig Landwirtschaft mit gentechnisch verändertem Saatgut als Gegenstand von Biopolitik verstanden wird, so leben wir doch schon erheblich länger in „biopolitischen Zeiten“. Im Rahmen dieses Beitrages wird unter Biopolitik ein Politikfeld verstanden, das als Folge moderner naturwissenschaftlicher bzw. medizinischer Erkenntnisse und deren technologischer Umsetzung in Praxis entstanden ist. Natur- bzw. Lebensprozesse sind in den letzten Jahrzehnten derart gestaltbar geworden, dass das Wechselverhältnis von Natur/Leben und Politik neu konzipiert werden muss. Konzeptionen, die natürliche Lebensgrundlagen als Basis von Politik verstehen, reichen für das Verstehen und die Regulierung der modernen biotechnologischen Entwicklungen nicht mehr aus. Notwendig ist eine Bestimmung, die eine historische Sichtweise einnimmt, um Biopolitik als komplexes wechselseitiges Geflecht von Lebenswissenschaft, Biotechnologie und Politik zu verstehen. Nur so kommen die Politisierung und ebenso der Trend zur Ökonomisierung des Lebens in den Blick (Sunder Rajan 2009). Biopolitik umfasst somit ein weites Gebiet. Dieses ist gekennzeichnet durch Verschiebungen der Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen natürlich und technisch, zwischen Schicksal und Gestaltung, zwischen gesund und krank. Der Gedanke einer Optimierung von Prozessen kennzeichnet diese Politik. Biopolitik bedeutet eine Veränderung des Politischen, das bislang als geplante Handlungen von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen hinsichtlich demokratischer und rechtlicher Interventionen verstanden wurde. Auch Formen des Wissens und der Kommunikation sowie Arten und Weisen der Subjektivierung verändern sich (Lemke 2007). So stehen die technologischen Entwicklungen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit ihren Innovationen für die medizinische Diagnostik und Behandlung in einem Spannungsverhältnis zu den subjektiven Perspektiven und Erwartungen der Individuen. Was aber sind die Antriebskräfte für diese Verwissenschaftlichung und Technisierung der Welt? Gewiss ist, dass diese Dynamik nicht unabhängig von
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ökonomischen Verwertungsinteressen zu erklären ist und nicht selten einer instrumentellen Rationalität folgt. Gleich welche Auffassung man persönlich teilt, ob Technik als Kulturfaktor anzuerkennen oder abzulehnen, ob die Gesellschaft den angeblichen Sachzwängen der wissenschaftlich-technischen Revolution verfallen ist oder sich Freiheitsräume öffnen: Es ist davon auszugehen, dass die alltägliche Lebenswelt – auch dort, wo es um Krankheit bzw. Gesundheit geht – durchsetzt ist von Technologie und mithin als soziotechnische Konfiguration anzusehen ist. Zu fragen ist deshalb, wie sich unsere Lebenswelten im Verhältnis von Natur/„Natürlichkeit“ – einschließlich unserer Körperlichkeit – zu Wissenschaft und Technologie entwickelt haben und sich heute in ihren dynamischen Veränderungen zeigen. Wie verändern die aktuellen Entwicklungen der Biopolitik (z.B. in Bereichen wie der Genetik, der Hirnforschung und der Pharmakologie über die Reproduktions-, Transplantations-, Nano- oder Telemedizin bis hin zu Lifestyle-Medizin und Functional Food) das Verhältnis von Medizin, Gesellschaft und Individuum? Um solche Fragen zum Thema „Gesundheit und Krankheit zwischen Lebenswelt und Wissenschaft“ beantworten zu können, muss man die aktuellen Entwicklungen in den Life Sciences (Lebenswissenschaften) betrachten: Wie sieht der Wissensfortschritt in den verschiedenen Sparten der neuen Biologie (z.B. der Gehirn- und Genforschung) aus? Was sind die Anwendungsfelder der Biotechnologie, der Gen- und Neurotechnik? Welche individuellen und gesellschaftlichen Folgen können die modernen technologischen Szenarien haben? Sind sie politisch bzw. gesellschaftlich regulierungsfähig und steuerbar? Nach welchen Kriterien und über wie geartete Politiken können Technologien, als Sozialkonfiguration verstanden, sozialverträglich, menschengerecht und nachhaltig gestaltet werden? Der vorliegende Beitrag fragt nach dem Einfluss des medizintechnischen und naturwissenschaftlichen Fortschritts auf die Ausweitung von Normierung, Pathologisierung und Medikalisierung und reflektiert die Wirkung, die diese Prozesse (in einer biographischen Perspektive) auf das Individuum mit seiner Gesundheit, seinem Körper und seinem Leib haben. Die Unterscheidung zwischen Körper und Leib spricht auf die Debatte in den Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaften über den Unterschied und das Verbindende zwischen Natur und Kultur an (Barkhaus et al. 1996; Schroer 2005; Honnefelder/Schmidt 2007). Unter Leib wird der lebendige Körper verstanden. Während der Körper eine objektive von außen wahrnehmbare Tatsache ist, kann der Körper als Subjekt, also als eigener Leib, nur von innen wahrgenommen werden. Körperliches Tun wie Arbeiten oder Sport und leibliche eigene Erfahrung wie Freude, Ärger oder
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Wohlbefinden sind immer untrennbar miteinander verwoben (Gugutzer 2004:152-155).
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Die Rolle der Technikentwicklung und Naturwissenschaften
Die Naturwissenschaften haben in den vergangenen 150 Jahren ein von niemandem mehr zu überschauendes Wissen aufgehäuft und befinden sich derzeit in einem enormen Schub des Erkenntnisfortschritts. Allerdings verbleibt dieser Wissensfortschritt nicht auf der Stufe des reinen Wissens, sondern wird in Technik, Technologien umgesetzt und zur sozialen Anwendung gebracht. Im beruflichen wie außerberuflichen Alltag haben wir Umgang mit Technik, Maschinen, Geräten und technischen Großsystemen. Wir erleben eine andauernde Diffusion von neuen Technologien in unsere Lebenswelt. Verwiesen sei auf Informations- und Computertechnologie, auf Biotechnologie, auf Gen- und Neurotechnik, auf Robotertechnik sowie auf das Internet und Cyber-Technologien mit ihren virtuellen Welten (Dolata/Werle 2007). Ob nun die Systemwelt der naturwissenschaftlich bestimmten Technik und deren Rationalität unsere Lebenswelt kolonisiert, wie Habermas (1981) meint, oder nicht: Sicher ist, dass unser technikbezogenes Alltagshandeln uns als techniknutzendes Sozialwesen sozialisiert. Die Menschen werden zu (auch) technisch versierten Alltagsexperten. Unter Technik wird üblicherweise die Anwendung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zur Produktion von Maschinen und Verfahren in vielfältigen Bereichen verstanden. Bei der Beschreibung von menschlichen Handlungsfertigkeiten in der Arbeit, im Sport oder Alltag wird ebenso von Techniken gesprochen. In humanwissenschaftlicher, soziologischer Sicht ist zu betonen, dass Technik als Nutzung der Erkenntnisse der Naturwissenschaften oder als menschliches Tun immer in sozialen Kontexten, d.h. in Interaktion bzw. Kommunikation zwischen Menschen stattfindet. Geprägt durch unterschiedliche mediale Vermittlungen und naturwissenschaftliche bzw. medizinische Erkenntnisse und die darauf aufbauenden technologischen Umsetzungen, wird die Vorstellung und Selbstdeutung des Individuums über seinen Körper und Leib beeinflusst. Leiblichkeit, Gesundheit und Krankheit sowie die Natürlichkeit des menschlichen Körpers unterliegen den biopolitischen Rationalitäten und Technologien. In öffentlichen Diskursen, ökonomischen Vermarktungen und professionellen Denkweisen sowie Interventionsformen – eben auch in der Alltagswelt – erhalten sie eine bestimmende Macht. Diese nennt man Biomacht (Geyer 2001; Gehring 2006; Lemke 2007). Das natürliche Leben wurde zum Gegenstand von Wissenschaft, technischer Optimierung, ökonomischer Verwertung und administrativer Regulierung. Die Poli-
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tik wiederum verändert sich unter den Bedingungen von lebenswissenschaftlicher Technologie. Neue Gestaltungsoptionen und Regulierungsnotwendigkeiten ergeben sich. Direkte autoritative Steuerung und indirekte Mechanismen der Anreizung und Anleitung, der Vorsorge bzw. Vorhersage, der Moralisierung und Normierung treten auf die Tagesordnung (Lemke 2007: 147). Verwiesen sei an dieser Stelle auf die genetische Diagnostik, um z.B. die Veranlagung für familiären Krebserkrankungen zu erkennen, die Verfahren der Reproduktionsmedizin (wie Präimplantationdiagnostik oder Invitro-Fertilisation) oder auch auf die Entwicklungen der Stammzellforschung für Diagnostik und Therapie. Bei aller kritischen Betrachtung soll dennoch Folgendes festgestellt werden: Das Thema Gesundheit und Krankheit zwischen Lebenswelt und Wissenschaft hat zwar durch den naturwissenschaft-technischen Fortschritt der Medizin der letzten Jahrzehnte eine enorme Brisanz bekommen, diskutiert wird es aber seit Beginn der Aufklärung der Moderne: Im christlichen Mittelalter war der menschliche Leib im religiösen Weltbild eingeordnet. Gesundheit wurde als Zeichen von Glaube und Gottgefälligkeit sowie Gnade gedeutet. Krankheit wurde mit Sünde und göttlicher Prüfung in Verbindung gebracht. In der Zeit der Renaissance um 1600 galt es, den menschlichen Leib als objektivierten Körper durch Aufschneiden (Anatomie) und Augenschein (Autopsie) zu entdecken. Leibniz setzte um 1700 die Ordnung des Körpers, der Seele und der Gesellschaft mit Gesundheit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit in eins. Medizin, Kirche und Justiz waren die zuständigen Institutionen. Die Französische Revolution proklamierte ein Recht auf, aber ebenso eine Pflicht zur Gesundheit. Mit der Bakteriologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Louis Pasteur 1822-1895 und Robert Koch 1843-1910) werden Gesundheit und Krankheit eine Angelegenheit des rationalen naturwissenschaftlichen Labors. Gesundheitssicherung und Krankheitsbekämpfung wird zu einer Aufgabe der technischen Hygiene, frei von religiösen, philosophischen oder traditionalen Wertungen. Allerdings – das wissen wir heute – sind auch diese so genannten wertfreien Wissenschaften und ihre Anwendungen im höchsten Maße bestimmt durch außerwissenschaftliche Faktoren sowie Gesellschafts- und Menschenbilder. In Anlehnung an die Denkfigur des Homo oeconomicus wurde vom „Homo hygienicus“ (Labisch 1992) gesprochen mit dem Anspruch einer wissenschaftlich begründeten Lebensführung als Individuum in Familie, Gemeinschaft und Gesellschaft. Im Nationalsozialismus wurde die Sozialhygiene pervertiert zur Rassenhygiene. Mit dem Aufkommen der Klinik und der ärztlichen Profession mit den Bezugsdisziplinen der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhalten die Medizin und die Ärzteschaft das Definitions- und Handlungsmonopol über den menschlichen Körper und damit eine exklusive Stellung in der Gesellschaft. Der Ausbau des sozialen Sicherungssystems im vorigen Jahrhun-
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dert sichert der Ärzteschaft durch das neutrale wissenschaftliche Gutachten zur Arbeits- und Erwerbsfähigkeit im Falle von Krankheit, über Diagnostik und Therapie, bis hin zur prognostischen Aussage, eine gesellschaftlich steuernde Funktion. Doch auch wenn in Bezug auf Krankheit und Gesundheit die Definitionsund Handlungsmacht der Medizin beständig gewachsen ist, so offenbart die Geschichte der modernen Medizin mit ihrem viel beschworenen Siegeszug und Fortschrittsoptimismus jedoch zugleich auch die Widersprüchlichkeit der Moderne. Denn „im existentiellen und niemals abgeschlossenen ‚Sinnzwang’ des Leibes, des Körpers, der Gesundheit, der Behinderung, der Krankheit, des Leidens und des Todes liegen die unmittelbaren Grenzen der Medizin“ (Labisch 1999: 26).
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Leib, Leiblichkeit und Körper
Zum Thema „Gesundheit und Krankheit“ kann jeder mitreden, denn im alltäglichen Tun macht jeder seine individuellen, leibgebundenen Erfahrungen mit Wohlsein bzw. Unwohlsein, Schmerz, Leid oder Erkrankung. Die persönliche Erfahrung mit Befindlichkeit erlebt und deutet jeder nicht nur im alltäglichen, sondern auch im lebenszeitlichen Rhythmus der Entwicklungsphasen seines Lebenslaufs bzw. seiner eigenen Biografie. Dies reicht von den vorgeburtlichen Erfahrungen über die späteren Phasen als Kind, Jugendlicher, Erwachsener, Altund Älterwerdender und Sterbender. Es gehört also zu den lebenspraktischen Erfahrungen, dass Gesundheit an Leiblichkeit gebunden ist. Die Integration der Ebenen des Körperlichen, des Psychischen/Spirituellen und Sozialen im biografischen Prozess läuft sowohl über die Sinne und die Sinnlichkeit des Leibes, als auch über die den Handlungen Orientierung gebenden Sinnstrukturen und Deutungsmuster. In diesem biografischen Prozess bildet die Person ihre Sozialität und Subjektivität aus. Im biopolitischen Diskurs wird nun gefragt, ob die Verbreitung und Veralltäglichung biotechnischer bzw. biomedizinischer Optionen (bei massiver medialer Inszenierung) neue Biosozialitäten hervorbringt oder zu einer Biologisierung bzw. Naturalisierung des Sozialen führt (Wehling et al. 2007). Denn die biotechnologischen bzw. biomedizinischen Sprachen, Texte und Zeichen sowie ihre Interpretationen und Konzepte des Körpers und des Selbst prägen die alltägliche Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsaktivität von Körper und Selbst. Ebenso wandern verhaltenswissenschaftliche Texte, Zeichen und Konstruktionen, so z.B. der Psychologie, in Selbstbilder und Leiblichkeitsvorstellungen von Laien und legen fest, was als normal bzw. pathologisch, was als das Selbst und was als das Andere gelten kann.
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Leiblichkeit kann biopolitisch nicht mehr als „Nur-Körper“ (Rittner 1982) verstanden werden, sondern muss als die lebenspraktische Einheit der organischen, seelischen, geistigen, spirituellen und sozialen Ebenen des eigenen Selbst verstanden werden (Gugutzer 2004; Schroer 2005). Die Integration dieser Ebenen wird durch praktische Auseinandersetzung mit der stark bio- und sozialtechnisch strukturierten Umwelt geleistet. Hierbei ist Arbeit eine wesentliche Sphäre dieses Stoffwechsels zwischen der Eigenwelt und der Umwelt. Arbeit soll hier nicht auf Erwerbsarbeit reduziert, sondern im umfassenden Sinne, so von Marie Jahoda (1983) formuliert, als das ’innerste Wesen der Lebendigkeit’ verstanden werden. Aufrechterhaltung und Entwicklung von Selbstidentität ist selbstverständlich auch in diesen Deutungen als ein reflexiver Prozess zwischen innerer und äußerer Welt zu begreifen und als eigene Biografie zu konstruieren. Die erlebte und erzählte Lebensgeschichte wird geprägt durch Vorstellungen von der eigenen Handlungsfähigkeit, vom Vermögen, Ereignisse der Außenwelt in die eigene Biografie zu integrieren. Aber auch von der Fähigkeit, Kontrolle durch Nutzung der biopolitischen Angebote über den eigenen Körper ausüben zu können (Barkhausen 1996; Alheit/Hansen 2004; Hauser-Schäublin et al. 2001). In dem Diskurs über „reflexive Modernisierung“ wird von einer Erosion der Grenze zwischen Privat und Öffentlich, von einer Uneindeutigkeit von Macht und Herrschaft bzw. von normativen Ambivalenzen gesprochen. Paradoxe Handlungsziele und Werte würden in komplexe Neukombinationen von Autonomie und Kontrolle münden (Beck/Lau 2004). Gefragt wird nach den Möglichkeiten zur Emanzipation von Individuen in ihrer „freigesetzten, riskanten Lebensgestaltung“ (Hirseland/Schneider 2008: 5647) mit den Handlungsoptionen und Handlungszwängen. Denn die moderne Biopolitik eröffnet neue Formen der „Subjektivierung von Macht und Herrschaft“, von „Technologien des Selbst“ (Hirseland/Schneider 2008: 5640). Dieser Diskurs wurde sehr intensiv am Beispiel der Reproduktionsmedizin geführt. Paare mit Kinderwunsch haben sich als Individuen wie als Gemeinschaft mit den Angeboten dieser Disziplin auseinanderzusetzen, zu entscheiden und entsprechend zu handeln. Einerseits wird auf Freiheit in der Entscheidung, anderseits auf Verantwortlichkeit gegenüber Kind und Gesellschaft /Solidargemeinschaft verwiesen. Wunschträume, Visionen und Idealbilder der Aufklärungsepoche sind weiterhin wirksam und erhalten mit der postmodernen Medizin einen neuen Schub: die Hoffnung auf Realisierung des vollkommenen Lebens. Dieses impliziert ein Leben von langer Dauer, ohne Not und Verletzungen, ohne Leiden, Krankheit und vorzeitigem Tod. Jugend und Schönheit, Wohlbefinden und Unversehrtheit sind Leitmotive von Körperbildern, Körperkulturen und Leiblichkeitsverständnissen.
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Gesundheit und Krankheit im Spiegel der (sozialen) Rolle des Patienten und der Krankheitsbewältigung
Wissenschaft, Medizin und Technik sowie die sozialen Institutionen scheinen Träger und Realisierer dieser Utopien und Visionen zu sein. Die Machbarkeitspotentiale der Biomedizin bzw. von Life Sciences versprechen nicht mehr nur eine Disziplinierung und Reparierung des Körpers, sondern eine Gestaltung nach eigenen Wünschen und Idealen; verwiesen sei auf Designerbabies, AntiagingMedizin und Wellness. Diese Optionen und Versprechungen fließen ein in institutionelle Steuerungen und individuelle Handlungsstrategien bei der Planung und Bewältigung von Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf sowie in die alltägliche reflexive Lebensführung.1 Individuen sind gehalten, ein bewusstes Management ihres Selbst als Einheit von Körper, Seele und Geist angesichts der Optionen der Bio-, Psycho- und Sozialtechnologien zu betreiben. Sie werden gefragt, ob sie ihre genetischen, psychischen und sozialen Dispositionen mit ihren Risikofaktoren wie auch Ressourcen wissen und ob sie die entsprechenden diagnostischen und therapeutischen Angebote der Experten annehmen wollen. Mit Experten ist nicht allein die Ärzteschaft gemeint. Hierzu zählen auch die Versicherungen und die Gesundheitsmärkte insgesamt. Die soziale Beziehung der Institution Medizin zu ihrer Laienklientel wird komplizierter, denn die medizinisch-technischen Experten verfügen über ein wachsendes und komplexer werdendes Wissen über Krankheit und Gesundheit. Dieses Wissen erschließt sich in seinen wissenschaftlichen Aussagen und Bedeutungen den Laien nicht oder kaum noch. Der Laie braucht Übersetzungen in das Alltagsverständnis und zugleich muss er mit den Modellen und Aussagen der Biomedizin vertraut gemacht werden. Eine Integration in die alltäglichen Bilder von Körper und Leib, von Gesundheit und Krankheit muss jeweils dynamisch entlang des Fortschritts erfolgen. Die Spezialisierung in der Medizin bei permanentem Erkenntnisfortschritt stellt selbst die Ärztinnen und Ärzte der professionellen Teams in ihrem Berufsalltag vor Herausforderungen nach einer Integration des heterogenen Wissens. Auch sie können diesem nur schwerlich nachkommen. Eine Identitätsbildung des einen Leibs steht immer auf fragiler Grundlage, denn der subjektiv konkrete Leib ist und bleibt verletzbar und sterblich. Er entfaltet in seiner rhythmischen Dynamik quasi einen Eigensinn. Unter rein funktionalen Anforderungsmustern, wie z.B. der Leistungsfähigkeit in der Erwerbsarbeit oder im Sport, wird er als unzulänglich angesehen. Von daher wurde und wird er zum Objekt sozialer Normierung und Disziplinierung (Foucault 2004). 1Dies wird weiter unten am Beispiel der Pränataldiagnostik aufgezeigt.
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Er lässt sich zwar trainieren und zu Höchstleistungen bringen. Diese können auch biotechnologisch stimuliert sein. Dennoch ist der Leib in seiner eigenen Deutung und mit seiner Abwehr bzw. seinen Bewältigungsmodalitäten Außeneinwirkungen ausgesetzt, z.B. natürlichen Einwirkungen durch Viren, Eiweiße oder chemisch toxische Stoffe, aber auch psychosozialen Stressfaktoren. So kann es zu Erkrankungsgeschichten und Krankheitskarrieren kommen. Schmerzen, Unwohlsein, Leiden mit Funktionsstörungen oder auch Verlust von Leistungsfähigkeit und Autonomie stellen sich ein, den sozialen Verpflichtungen kann nicht mehr nachgekommen werden, so dass man zur sozialen Rolle des Patienten gezwungen wird. Die Person wird zu einem Hilfsbedürftigen und um Hilfe Nachsuchenden. Die Patientenrolle erfordert ein Bemühen um Bewältigung mit unterschiedlichen Strategien sowohl innerpsychisch als auch im Verhalten, bewusst oder unbewusst, kontrolliert oder eher fremdbestimmt durch Experten unter Inanspruchnahme biotechnologischer Möglichkeiten. Erkrankung ruft zur Selbstdeutung und zu Sinnfragen auf. Deutungen, Sinnstiftungen und Bewältigungsformen der erkrankten Person sind nun entscheidend geprägt durch die lebensweltlichen Erfahrungen und Sinnhorizonte. Diese hat die Person in ihrem Leben aufgebaut bzw. verändert und entwickelt. Die biografischen Erfahrungen von Realität und Erschließung der Welt mit ihren Vertrautheiten, Verständnissen und Interpretationen sowie Verlässlichkeiten stellen dem Individuum ein Inventar für Orientierungsleistungen zur Verfügung. Über eine gemeinsame Alltags-, Erfahrungs-, Sozial- und Kulturgeschichte werden Individuen in ihren Lebensformen und Handlungsmustern sowie Sinnstrukturen sozialisiert. Gemeinschaft, Gesellschaft und Kultur haben hier ihren Einfluss. Entscheidend ist, dass die lebensweltliche Sozialisation zum Deuten und schließlich Handeln immer an Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit gebunden ist. Das Verständnis von Körper bzw. Leib unterliegt – wie oben angesprochen – lebensweltlichen Einflüssen. Diese werden durch die Entwicklungen im Feld der Biopolitik geprägt. Das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Medizin verändert sich aktuell grundlegend. Somit wird Gesundheit und Krankheit ebenfalls neu gedeutet und für die alltägliche Praxis, sei es die Verwirklichung eines Kinderwunsches oder die vorverlegte Kenntnis über ein Krebsrisiko oder die mögliche höhere Empfindlichkeit gegenüber Nahrungsmitteln bzw. Umweltgefahrstoffe relevant gemacht.
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Biopolitik und Biomacht
Auf welches Wissen über molekularbiologische Mechanismen stützt sich z.B. die Ankündigung der Abschaffung des Alterns. Gerade in der Medizin haben wir
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es mit einem permanenten Prozess der Integration neuer biologischer Wissensbestände und technologischen Handelns in die Praxis und Deutung von Krankheit und Gesundheit zu tun. Nicht nur der Patient und die Patientin sind mit diesen Entwicklungen konfrontiert, sondern ebenso der Gesunde. Durch Früherkennungsuntersuchungen, z.B. durch Screenings von großen Bevölkerungsgruppen, wird nach dispositiven Krankheitsrisiken gefahndet. Die Bürger und Bürgerinnen werden als Gesunde und sich gesund Fühlende aufgefordert, sich mit den Angeboten und Diagnosen der modernen prädiktiven Medizin auseinanderzusetzen. Gerade an der prädiktiven genetischen Diagnostik lässt sich das komplexe Wechselverhältnis zwischen medizintechnischen Innovationen und gesellschaftlichem Umgang studieren. Gesunde werden zu genetischen Risikopersonen und evtl. zu Objekten von Primärprävention. Tendenzen der Medikalisierung machen die Familie zur Patientin, so z.B. bei familiären Krebserkrankungen der Brust oder Hirnerkrankungen wie der Huntington-Krankheit. Eigenverantwortung wandelt sich zur Pflicht zum Management genetischer Risiken. Institutionen und Professionen des Gesundheitswesens, erst Recht die Märkte der globalen Gesundheitswirtschaft regen im Verhältnis von Angebot und Nachfrage prädiktiver Gentests Erwartungen, Hoffnungen und Praktiken an, die unsere Sozialordnung und sozialpolitischen Regulierungen über Gerechtigkeit und Solidarität verändern. Dies vollzieht sich trotz der Kritik der neuen Erkenntnisse der System- und Entwicklungsbiologie am genetischen Determinismus (Kollek/Lemke 2008: 320f.). Ebenso wie die Genetik macht die Hirnforschung von sich reden. Sie scheint sich als Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts etablieren zu wollen. Hier wurden bereits Neurochips entwickelt, mit denen Sehbehinderungen behoben werden können. Ferner werden Forschungen zur Entwicklung von Neuroimplantaten aus Silizium als Gedächtnisstützen für Alzheimer-Kranke und Schlaganfallopfer vorangetrieben. Darüber hinaus erobern aber auch so genannte LifestyleMedikamente, die von der Pharma-Industrie entwickelt wurden, verstärkt den Markt. Große ökonomische Gewinnchancen werden in diesem Sektor gesehen. Der Konsum von neuropharmakologischen Mitteln hat längst Einzug in den Alltag gehalten, eben nicht nur zur Behandlung von Krankheit, sondern zur Beeinflussung von emotionaler Stimmung, Gedächtnis, Appetit, Libido und Schlaf bzw. Wachheit. Im Manifest von elf führenden Neurowissenschaftlern/-innen der Bundesrepublik über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung (Elger et al. 2004: 33ff.), wird der Anspruch der Hirnforschung als Leitwissenschaft mit seinen Konsequenzen für kulturelle und soziale Umwälzungen offenkundig: „Die Hirnforschung wird in absehbarer Zeit, also in den nächsten 20 bis 30 Jahren, den Zusammenhang zwischen neuroelektrischen und neurochemischen Prozessen einerseits und perzeptiven, kognitiven, psychischen und motorischen
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Leistungen andererseits soweit erklären können, dass Voraussagen über diese Zusammenhänge in beiden Richtungen mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad möglich sind.“ (S. 36). „Geist und Bewusstsein – wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden – fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht. Und: Geist und Bewusstsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet. Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis der modernen Neurowissenschaften“ (S. 33). „Denn in diesem zukünftigen Moment schickt sich unser Gehirn ernsthaft an, sich selbst zu erkennen. Dann werden die Ergebnisse der Hirnforschung, in dem Maße, in dem sie einer breiteren Bevölkerung bewusst werden, auch zu einer Veränderung unseres Menschenbilds führen. Was unser Bild von uns selbst betrifft, stehen uns also in sehr absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus“ (S. 37). Wie sehr der biomedizinische Forschritt Leben und Handeln und damit Deutung und Verständnisse von Gesundheit und Krankheit verändert hat, lässt sich an der historischen Entwicklung von Schwangerschaft und Geburt bzw. der Reproduktionsmedizin aufzeigen. Dieser Bereich eignet sich sehr gut dafür, um den Prozess der Normierung, Pathologisierung und Medikalisierung zu verdeutlichen. In den 1960er Jahren wurden die ersten hormonalen Ovulationshemmer zur Schwangerschaftsverhütung massenhaft eingenommen und damit die Trennung von Sexualität und Fruchtbarkeit ermöglicht. 1978 wurde zum ersten Mal eine In-vitro-Fertilisation mit Embryonentransfer mit Erfolg durchgeführt. Inzwischen wurden immer präzisere chemisch-technische Fertilisationstechniken und genetisch-diagnostische Überwachungsverfahren einschließlich der Ultraschalluntersuchungen der pränatalen Medizin als Alltagsroutinen in der Reproduktionsmedizin etabliert. Präimplantationsdiagnostik und Keimbahntherapie sind naturwissenschaftlich-technisch machbar, wenn auch juristisch in Deutschland nicht erlaubt. Was früher der Metapher „Natur“ bzw. „Natürlichkeit“ zugeschrieben wurde, ist heute der medizinischtechnischen Intervention zugänglich und hat den Aktionsradius der Medizin enorm erweitert. Traditionale lebensweltliche und natürliche Umgangsformen mit Empfängnis und Schwangerschaft sind heute auf dem Rückzug. Paare, Ärztinnen/Ärzte und Hebammen sind mit den naturwissenschaftlichen und technischen Instrumentarien der Reproduktionsmedizin konfrontiert. Ob sie wollen oder nicht, sie müssen sich dazu verhalten. Was früher als Natur galt und schicksalhaft hinzunehmen war, wird heute dem Sicherheits- und Gesundheitsversprechen der medizin-technischen Intervention zugeordnet. Allerdings haben Paare sich der Unsicherheit der Entscheidung für oder gegen die Option „Natürlichkeit“ versus Reproduktionsmedizin zu stellen. Sie sind zu einer Entscheidung aufgerufen. Zugleich werden sie mit normativen gesell-
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schaftlichen Auffassungen und Erwartungen nach gesunden, nicht behinderten Kindern konfrontiert. Denn diese, sich auf das Versprechen der Medizintechnik nach einem gesunden Kind beziehende normative Erwartungshaltung, breitet sich in der Gesellschaft aus. Habermas spricht in diesem Zusammenhang von der Möglichkeit einer „liberalen Eugenik“ (Habermas 2001). Das Recht auf Gesundheit wandelt sich immer deutlicher zu einer Pflicht zur Gesundheit. In den modernen Konstruktionen und Strategien der präventiven Medizin hat sich dieses technische und auch normative Verständnis zunehmend etabliert. Das Individuum wird immer mehr zur Eigenverantwortung aufgerufen. Die prädiktive Genetik verweist auf Möglichkeiten der Vorhersage gesundheitlicher Risiken mit komplexen individuellen, familialen, gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen psychosozialen Implikationen und Handlungsoptionen. Das Verständnis von Krankheitsursachen wird genetifiziert. Gesundheit wird als moralische Kompetenz ausgelegt und zum ökonomischen Gut: Es kommt vom Kinderwunsch zum Wunschkind und damit zur Koproduktion von Technik und Gesellschaft (Kollek/Lemke 2008). Wehling et al. (2007) betonen, dass eine sozialwissenschaftliche Analyse des heterogenen Feldes der Biopolitik die Vielschichtigkeit differenziert darzustellen habe. Sie unterscheiden für Gesundheit bzw. Krankheit vier biopolitische Dynamiken: 1. 2. 3. 4.
die Ausweitung medizinischer Diagnostik, die Entgrenzung medizinischer Therapie, die Entzeitlichung von Krankheit, sowie eine Perfektionierung der menschlichen Natur.
Dadurch würden die eingespielten Grenzziehungen zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen Heilung und Optimierung des Körpers (Enhancement) infrage gestellt. Für Individuen oder professionelle Akteure entstünden neue Handlungsspielräume. Zugleich erzeugten die Möglichkeiten allerdings schwerwiegende Uneindeutigkeiten, Paradoxien und Dilemmata. Diese zeigen sich im alltäglichen individuellen, institutionellen und professionellen Handeln. Dadurch wird es notwendig, soziale Rollen und Verantwortlichkeiten, Rechte und Pflichten neu zu definieren. Obwohl auch in früheren Diskursen über Krankheitsursachen ebenfalls naturwissenschaftliche Erklärungen und Deutungsmuster dominierten, blieb Raum für Berücksichtigung von sozialen und psychischen Aspekten der Krankheitsentstehung und -bewältigung. Gegenwärtig allerdings haben wissenschaftliche Konzepte, die Gesundheit und Krankheit als Ergebnis komplexer Zusammenhänge sozialer, psychischer, spiritueller und physiologischer Prozesse begreifen,
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in der Medizin einen schweren Stand. Die größeren Chancen, akzeptiert und für Interventionen genutzt zu werden, haben jene Konzepte, die Krankheitsursachen im Individuum verorten. Hierzu zählen Konzepte, die die genetische Ausstattung, den Einfluss von Krankheitserregern oder das individuelle Fehlverhalten in den Vordergrund rücken. Dieser Reduktionismus zeigt sich im Alltag von Ärztinnen und Ärzten. Denn durch ihre berufliche Sozialisation, auf den einzelnen Fall hin orientiert, kommen nur diejenigen Faktoren in den Blick, die sie durch individualmedizinische Interventionen auch angehen können. Im Gegensatz dazu haben die sozialwissenschaftlichen Gesundheitswissenschaften ein sozio-psycho-physiologisches Modell von Krankheit und Gesundheit konzipiert. Hierin ist eine hierarchische Abfolge von Kausalzusammenhängen dargestellt: Sozialstrukturell bedingte ungünstige bzw. prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen (wie niedriger sozioökonomischer Status, Armut, chronische Disstresserfahrungen in der Erwerbsarbeit und außerhalb davon) führen zu Depression, erlernter Hilflosigkeit oder Resignation, zu negativen Bewusstseinsformen, wie Feindseligkeit und Hoffnungslosigkeit. Dies wiederum führt zu gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen (etwa dem übermäßigen Gebrauch von Alltagsdrogen) und pathologischen physiologischen Reaktionen (wie z.B. Bluthochdruck- und Herz-Störungen). Es gilt als gesichert: Niedrige Kontrollmöglichkeiten in Lebenskontexten, wie z.B. am Arbeitsplatz und die darin erlebten Gratifikationskrisen (weniger zurück bekommen zu haben als man gegeben hat), erhöhen signifikant das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das lebensweltliche Wissen, dass Arme eher sterben und kränker sind als Reiche, wird durch die Public-Health-Forschung und Sozialepidemiologie unbestreitbar belegt und erklärt (Helmert et al. 2000; WHO 2008).
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Fazit
Trotz dieser Erkenntnisse dominiert die Biomedizin. So lässt sich am Beispiel der geplanten risiko- und schmerzfreien sicheren Schwangerschaft und Geburt sogar die Ausweitung der zugeschriebenen und auch beanspruchten Zuständigkeit der Medizin nicht bloß für Krankheit, sondern auch für die Gesundheit und natürliche Lebensprozesse beschreiben. Die Eingriffskompetenz der wissenschaftlich-technischen Medizin steigt ständig, wobei der medizinisch-technische Fortschritt als Wert an sich interpretiert und ökonomisch wie politisch stark gefördert wird. Die Gesundheitswirtschaft wurde mittlerweile als der boomende Wachstumsmarkt erkannt, auf den Gewinnerwartungen spekulativen Kapitals wie auch regionaler Arbeitsmarktpolitiken setzen. Zugleich wächst die Erwartungshaltung der Individuen und der Gesellschaft an die Medizin. Dies lässt sich
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nicht nur bei der Krankheitsbekämpfung, sondern eben auch bei der Sicherung von Gesundheit im gesamten Lebenslauf nachvollziehen. Erwartet wird ein Garantieversprechen auf ein langes gesundes Leben. Annahmen, Überzeugungen, Wissen und Praktiken der Medizin, der Naturwissenschaften, der Biotechnologie wie auch der Verhaltenswissenschaften erlauben bereits heute analytische und gestalterische Eingriffsmächtigkeiten in das Leben. Die Vernetzung dieser Bereiche durch Informations- und Kommunikationstechnologie unterstützt diesen Prozess. Es ist zu vermuten, dass sich dies zukünftig noch intensivieren wird. Die Frage nach dem existentiellen Sinn stellt sich den Menschen alltäglich – nicht nur im Falle von Krankheit im alltäglichen Lebensvollzug, sondern generell. Wissenschaft und Technik sind außerstande, Werte zu setzen, Orientierung im Lebenslauf zu geben, dem Handeln einen letzten Sinn bzw. eine Gewissheit zur Verfügung zu stellen. Zwar werden die biopolitischen Optionen und die biomedizinischen Errungenschaften in die Alltagskulturen sowohl der Laien als auch der Professionellen und Experten einfließen, doch beide haben in ihrem alltagspraktischen Tun nach Sinnhaftigkeit und Verantwortlichkeit gegenüber der Würde des Menschen zu fragen (Dabrock 2004; Menke/Pollmann 2007). Gesellschaft und Politik stehen angesichts dessen vor der Herausforderung, die Grenzen des wissenschaftlich-technischen Zugriffs auf die „Natur des Menschen“ neu zu bestimmen. Allerdings scheint es offen, wie in individualisierten und globalisierten Gesellschaften mit sehr heterogenen kulturellen und politischen Orientierungen demokratisch auf nationaler, europäischer bzw. internationaler Ebene Grenzziehungen rechtlich und institutionell gezogen werden können. Denn mit Säkularisierung und Erosion religiöser bzw. politischer Weltbilder schwinden verbindliche Konsense über Menschenbilder und das „richtige“ individuelle und soziale Leben.
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Gesundheit und Biographie – eine Gradwanderung zwischen Selbstoptimierung und Selbstsorge als gesellschaftliche Kritik Andreas Hanses
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Einleitung
Gesundheit und Biographie in einem gemeinsamen Bezugsverhältnis zu thematisieren verweist erst einmal auf eigensinnige Selbstverständlichkeiten und bei genauerer Betrachtung auf hintergründige Besonderheiten. Folgt man der Definition der WHO, die Gesundheit erst einmal als einen „Zustand“ des völligen Wohlbefindens beschreibt, so wird Gesundheit gerade als Verweisung auf einen sozialen Akteur, eben als Konstruktion eines Zustandes der „Person“ markiert, ein Sachverhalt der durchaus selbst aus der Perspektive der WHO idealtypischen Charakter besitzt und dabei von großer Flüchtigkeit getragen ist. Für das Konzept der Biographie, der Verweis auf ein erlebtes, erzähltes und rekonstruiertes Leben, eben auf die Dimension einer Zeitspanne, eines Lebensverlaufs, besitzt Gesundheit angesichts seiner Flüchtigkeit eine gewisse unattraktive Fremde. Es ist mit Hans Georg Gadamer (1993) gesprochen „die Verborgenheit der Gesundheit“, die sie für eine biographische Dimension maximal zur Zieloption werden lässt. Vielmehr scheint Krankheit mit ihrem Einbruch in einen normalen Lebenskontext, dem Leiden, den Krisen, Gefährdungen und Chronifizierungen das Biographische geradezu herauszufordern. Krankheit muss von dem Betreffenden wie seinem sozialen Umfeld in irgendeiner Art und Weise aufgegriffen, ratifiziert, ausgehandelt, ignoriert oder verdrängt werden, führt notgedrungen zu einer „Biographiearbeit“. Insofern scheint der Titel dieses Beitrags falsch gewählt: Krankheit und Biographie würde sinnfälliger sein. Allerdings hat Gesundheit den Zustand des völligen Wohlbefindens und die Unschuld seiner „Verborgenheit“ längst verloren. Gesundheit ist zum gesellschaftspolitischen Programm geworden, dem sich keine Disziplin, Profession, Organisation und auch die BürgerInnen nicht mehr entziehen können. Die Probleme des Gesundheitswesens lassen sich nicht mehr allein durch verbesserte medizinische Versorgung lösen, sondern bedürfen auf allen Ebenen Strategien der
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Krankheitsvermeidung und Gesunderhaltung. Gesundheit verbleibt somit nicht mehr eine sehnsuchtsvolle Option der erkrankten Menschen, sondern verlässt die engen Grenzen des „Spitals“ und wird zur Angelegenheit, Aufgabe, Herausforderung und Verheißung aller BürgerInnen. Gesundheit rückt uns gewollt oder ungewollt auf den Leib und wird damit zu einem biographischen Projekt der richtigen Lebensführung. Wie gestaltet sich aber nun unter den aktuellen sozialstaatlichen Bedingungen das neue Verhältnis von Gesundheit und Biographie? Dieser Frage geht der vorliegende Beitrag in zwei Schritten nach. Zuerst wird angesichts der Entwicklungen im Kontext der Prävention und Gesundheitsförderung die Bedeutung der Biographie ausgelotet und die kritische Frage aufgeworfen, ob das Konzept Biographie gerade dazu prädestiniert ist, das neue Gesundheitsparadigma ungebrochen in die Individuen inkorporieren zu können. Mit einem zweiten Analyseschritt wird Biographie stärker aus ihren theoretischen und methodischen Dimensionen vorgestellt und das politische Potential eines biographischen Zugangs zur sozialen Wirklichkeit für die Sozial- und Gesundheitswissenschaften entfaltet. Mit einem kurzen Plädoyer für eine politische Subjektkonstruktion im Kontext der Gesundheitsdebatten werden die Erörterungen abgeschlossen.
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Gesundheit als erwartbare Biographiearbeit?
Das Thema Gesundheit ist in den modernen Sozialstaaten zu einem besonderen „Kulturgut“ geworden. Gesundheit hat die Dimension, lediglich eine Residualgröße zu sein (vgl. Krumenacker 1988), hat die Zuweisung, unbestimmte Schattenseite elaborierter (medizinischer) Krankheitsmodelle zu sein, längst verlassen. Vielmehr kann sich gegenwärtig kaum ein gesellschaftlicher Teilbereich dem neuen Gesundheitsparadigma entziehen. Viel zu sehr erscheint Gesundheit für die gesellschaftlichen Mitglieder und die gesellschaftlichen Arrangements eine Art „ultima ratio“, eine Zielorientierung kultureller und sozialer Praxis und damit ein „verheißungsvolles Gut“ zu sein. Dabei haben sich in den letzten Jahrzehnten wesentliche Akzentverschiebungen in der Perspektive auf Gesundheit ergeben. Mit dem Aufkommen der Gesundheitsbewegung(en) und der Etablierung der „Gesundheitsförderung“ als neues paradigmatisches Gesundheitskonzept der WHO in den 1980er Jahren besaß Gesundheit das Potential einer „konkreten Utopie“ (Bloch) für die Verbesserung der Lebenswelten und Lebensbedingungen der Menschen. Das Konzept „Gesundheit“ intendierte mit dem expliziten Settingansatz eine Implikation auf Veränderung und Bearbeitung der sozialen Rahmen und der gesellschaftlichen Institutionen (vgl. Bals/Hanses/Melzer 2008). Damit war eine Perspektive auf Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen
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lanciert. Theoretisch war Gesundheit mehr ein offener Horizont, der weit über die körperliche Befindlichkeit der Individuen hinausging und mit politischen Kategorien wie Partizipation, Gestaltbarkeit eigener Lebenskontexte und Selbstbestimmung konnotiert wurde. Diese Konzeption hat in ihrer Bedeutung durch die Dominanz eines neuen Gesundheitsmodells dramatisch verloren. Vobruba (1983) hat diesen Perspektivenwechsel der Gesundheitsschwerpunkte schon zu Beginn der 1980er Jahre in seinen Anfängen markiert. Die Gesellschaft drohte immer weniger Interesse an den „Arrangements der Institutionen“ zu haben. Vielmehr wurden die „Arrangements der Subjekte“ für neue Dienstleistungsentwürfe auch im Kontext von Gesundheit immer bedeutsamer. Dabei hat dieser Perspektivenwechsel von einer Verhältnis- zu einer Verhaltensprävention gegenwärtig ihren gesundheitspolitischen Höhepunkt erlangt. So fallen nicht nur gesellschaftliche Bedingungen von Problemlagen mehr und mehr aus einem öffentlichen Diskurs zur Gesundheitsförderung, sondern das Individuum wird zum zentralen Gegenstand professioneller und politischer „Bearbeitungen“. Im Kontext traditioneller medizinischer Perspektiven auf die Behandlung von Krankheit ist mit dem „klinischen Blick“ (Foucault 1976) das Interesse an dem erkrankten Menschen auf die Konstituierung eines Körperkonzepts reduziert worden und in den Anfängen der Gesundheitsförderungen lagen die Perspektiven auf der Analyse der sozialen Lagen und dem Bedingungsgefüge der angesteuerten Settings von Gesundheitsförderung. Pointiert formuliert könnte vordergründig der gegenwärtige Perspektivenwechsel auf das Gesundheitsverhalten der Person als eine „Einführung des Subjekts“ in den Gesundheitsdiskurs gedacht werden. Eine Forderung, die Viktor von Weizsäcker (1997) mit der Konstituierung einer „anthropologischen Medizin“ für die medizinische Praxis und Wissenschaft gefordert hat, droht nun vor dem Hintergrund ganz anderer Herausforderungen in eigensinnigen Formen Einlass ins gesundheitspolitische Denken gefunden zu haben. Auch wenn bei genauerer Analyse die gegenwärtigen Debatten zur Prävention und Gesundheitsförderung die theoretische Komplexität der Weizsäckerschen Subjektkonzeption nicht erreichen, so ist dennoch in der Geschichte des Gesundheitsthemas ein bedeutsamer Perspektivenwechsel entstanden. Von einem objektivierenden Blick auf den Körper und den gesellschaftlichen Bedingungen des Krankwerdens ausgehend steht nun mehr und mehr der gesunde Bürger, seine Person, sein Verhalten, seine riskanten Lebensstile, sein Wissen und seine Handlungsmuster im Vordergrund der Problembearbeitung. Krankheit und Gesundheit werden somit zur Frage des verantwortungsvollen Handelns des Einzelnen. Die Frage nach dem richtigen Maß an Bewegung, Ernährung und der verantwortungsvolle Umgang mit Genussmitteln, dass Wissen um die Risiken und das Vermeiden von Risikoverhalten werden zu zentralen Be-
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stimmungen eines gesellschaftlichen Gesundheitskonzepts. Dabei ist hervorzuheben, dass Präventionskonzepte, die die gewünschte Verhaltensänderung spezieller Risikogruppen allein durch die Vermittlung gesundheitsrelevanten Wissens zu vermitteln suchen, schnell zu scheitern drohen. Die Konzeption eines rationalen Wissenssubjekts greift zu kurz. Vor allem Lebenslagen- und Lebensweisenkonzepte weisen in ihren empirischen Untersuchungen nur zu deutlich darauf hin, dass gesundheitsbezogene Verhaltensweisen von Menschen durch die sozialen Rahmenbedingungen und ihren Habitualisierungen bedingt sind, also keineswegs durch Fachwissen langfristig zu ändern sind (vgl. Gärtner/Grünheid/Luy 2005). Haben die ersten Forschungen zu den Lebensweisenkonzepten in den Gesundheitswissenschaften noch versucht in Anlehnung an das Habitus-Konzept Pierre Bourdieus, die Inkorporation von Gesundheitshandeln vor dem Hintergrund der sozialen Lage herauszuarbeiten, so reicht es allerdings vielen neueren Studien, die Typik von gesundheitsrelevanten Lebensweisen zu beschreiben und die gesundheitspolitischen Implikationen dieses Konzepts zurückzustellen. Dennoch verbleibt eine zentrale Erkenntnis: Gesundheitshandeln hat Geschichte, ist Teil längerer biographischer Prozesse, entfaltet somit biographischen wie sozialen Sinn und besitzt eine Beharrlichkeit. Informationsvermittlung über das „richtige“ Gesundheitswissen erweist sich als erfolgslose Präventionsstrategie. Die Konsequenz könnte sein, dass Verhaltensprävention unbedingt als notwendige „Biographiearbeit“ zu konzeptualisieren wäre. Stellt Biographie somit einen zentralen Zugang für die aktuellen Präventions- und Gesundheitsförderungekonzepte dar? Angesichts der Tatsache, dass die Frage nach der Lebensführung im Sinne einer Diätetik immer schon Teil medizinischer Praxis im Laufe der europäischen Geschichte war, mag es nicht überraschen, dass auch heute die Frage nach dem „gesunden Lebensstil“ aktuell große Bedeutung hat. Dennoch erschöpft sich die gegenwärtige Debatte hinsichtlich des gesunden Handelns nicht allein in der Frage sinnvollen ärztlichen Handelns, sondern ist Teil einer spezifischen diskursiven gesellschaftlichen Praxis geworden. Wesentlicher Hintergrund dieser Prozesse kann in der Entwicklung des aktivierenden Wohlfahrtsstaates gesehen werden. Mit ihm sind zentrale Neuorientierungen folgenreich lanciert worden. Anstatt von zur Aneignung fähigen NutzerInnen sozialer und gesundheitlicher Dienstleistungen auszugehen, wird die zentrale Perspektive in der Aktivierung der BürgerInnen gesehen (vgl. Schaarschuch 2006). Damit sind bedeutsame Veränderungen wohlfahrtsstaatlicher Praxis gesetzt. Die NutzerInnen des Sozialstaates werden für einen begrenzten Zeitrahmen unterstützt und sollen dabei eine „autonome Lebenspraxis“ entwickeln, sollen Gesundheit, Bildung und soziale Integration leisten. Dabei sind diese Maßnahmen durch Kriterien der Effektivität und Effizienz gekennzeichnet. Gleichzeitig zieht sich der Sozialstaat angesichts
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begrenzter finanzieller Ressourcen aus vielen Verantwortungsbereichen zurück (vgl. Kessl/Otto 2009). Hinsichtlich der Gesundheitsförderung hat dies unterschiedliche Konsequenzen: (a) Strategien der Prävention werden gegenüber Konzepten der Gesundheitsförderung aufgrund eines unterstellten Effektivitätsund Effizienznachweises bevorzugt und (b) mit der Verhaltensprävention wird über die gesellschaftlichen Diskurse die Relevanz einer Verantwortungsübernahme eines richtigen Gesundheitshandeln als Teil eigener Selbstkonzeption von Gesundheit lanciert. Bettina Schmidt (2007a, 2007b) betitelt diese Prozesse pointiert in einer Doppelperspektive folgendermaßen: Die Gesundheitsförderung ist längst zur selbstverständlichen Gesundheitsforderung geworden und diese hat sich von der Forderungsperspektive kaum bemerkt zur selbstredenden Strategie der Selbstoptimierung gewandelt. (c) Damit sind noch weitergehende Konsequenzen der gegenwärtigen Gesundheitskonzeption gesetzt. Gesundheit erweist sich nicht allein als die Suche nach dem richtigen Gesundheitshandeln, sondern wird zur Strategie gesellschaftlicher Disziplinierung. Mehr noch, Gesundheit avanciert zur Zentralkategorie gegenwärtiger Selbsttechnologien. Die Sorge um das gesunde Leben verbleibt nicht allein als ein von Außen gesetzter Erwartungsdruck, sondern wird Teil eigener Selbstgestaltung und sozialer Positionierung. Das Gesundheitsdispositiv wird somit Teil von Subjektivierungsstrategien, ist zentrale Folie für eine Subjektkonstitution unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen. Gesundheit wäre somit unter einer Perspektive des Werkes Michel Foucaults als funktionaler Teil gouvernementalisierender Strategien zu sehen, ist sinnvoller Bereich des Regierens und wird gleichsam als Subjektivierungsperspektive des gesunden Bürgers als hoffnungsvoller Horizont der Selbstbestimmung erlebt (vgl. Brunnett 2007). Erneut ist die Frage des Subjekts durch die Gesundheitsdebatte aufgeworfen. Doch geht es in diesem Kontext nicht um die Notwendigkeit einer „Einführung des Subjekts“ in die Humanwissenschaften wie sie noch Viktor von Weizsäcker gefordert hat, sondern das Subjekt wird durch die diskursive Praxis eines Gesundheitsfeldes erst hervorgebracht und ist somit in der Subjektivierungsleistung der einzelnen gesellschaftlichen Individuen Ausdruck dieser Machtstrukturierung. Damit stellt sich notwendigerweise die Frage nach der Bedeutung von Biographie im Kontext dieser machtpolitischen Neubewertung von Gesundheit. Insbesondere im Kontext der Sozialen Arbeit und der Erziehungswissenschaften hat Biographie vor allem in den 1990er Jahren eine große Aktualität erhalten. Unter den Konzepten „biographischer Fallanalysen“, „pädagogischer Biographiearbeit“, und als Biographieforschung in den empirischen Analysen subjektiver und lebensweltlicher Bezugnahmen ist der Biographieansatz als innovativer Zugang verstanden worden, um (machtvolle) Expertenperspektiven kritisch durch die Subjektkonstruktionen kontrastieren und neue Möglichkeiten nutzerIn-
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nenorientierter Dienstleistungen sowohl im Sozial- wie im Gesundheitsbereich ermöglichen zu können (vgl. Hanses 2004, 2005; Oelerich/Schaarschuch 2005). Biographie wurde insofern als ein innovatives Konzept eingeschätzt, da angesichts der immer geringer werdenden normativen und vorstrukturierenden Kraft gesellschaftlicher Institutionen oder des Konzepts des Lebenslaufs, das biographische Wissen als letzte Folie und Ressource der Gestaltungs- und Entscheidungspotentiale gesehen wurde, mit der eine Kohärenz in der Zeit gegebenenfalls noch aufrecht zu erhalten war. Konzepte wie „Biographizität“ (Alheit 1995), „Lebensbewältigung“ (Böhnisch/Schefold 1985) oder „Normalitätsbalancen“ (Mollenhauer 1998) verweisen bei aller Unterschiedlichkeit gerade auf das Dilemma, dass die Subjekte verstärkt in die Lage geraten sind, das „eigene Leben“ selbst immer wieder hervorbringen und sichern zu müssen. Mit der Entwicklung eines aktivierenden Sozialstaates können und müssen diese biographischen Ansätze hinsichtlich ihrer euphorischen Auslegung kritisch hinterfragt werden. Biographie als soziale Konstruktion, als historische Hervorbringung durch die Moderne ist gerade als Subjektivierungspraxis zu verstehen, in der das Eigene interaktiv immer wieder hervorgebracht und hergestellt werden muss. Als moderne BürgerInnen haben wir heute keine Chance, keine Biographie haben zu können. Und mit der gesellschaftlichen Formierung des unternehmerischen Selbst (vgl. Bührmann 2007) wird „Biographiearbeit“ unter den neuen sozialund gesundheitspolitischen Bedingungen zur Notwendigkeit der ewigen Produktion des Eigenen. Diese ist vielleicht nicht mehr so stark der Option einer Kohärenz in der Zeit geschuldet als vielmehr der Perspektive der ständigen Selbstbearbeitung und Selbstpräsentation. Die Konzepte Gesundheit und Biographie rangieren unter dieser Perspektive auf ähnlichem Niveau. Beide bilden gesellschaftlich gesetzte und diskursive Herausforderungen an die Individuen und schaffen die Möglichkeit einer erforderten Subjektivierungspraxis. Gesundheit ist pointiert formuliert ohne konsequente Biographiearbeit nicht zu haben und für die eigene biographische Selbstkonzeption lässt sich der explizite Rückbezug auf den gesunden Bürger überaus erfolgsversprechend nutzen und eröffnet gesellschaftliche Anerkennungspraxis. Unter dieser Perspektive stellt sich die Frage, ob das Konzept Biographie jedwedes kritisches Potential einer „Einführung des Subjekts“ (Weizsäcker) oder einer nutzerInnenorientierten gesundheitlichen Sicherung verloren hat. Schlimmer noch, ist Biographie zentrales Einfallstor gouvernementalisierender Machtpraxen?
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Biographie – ein notwendiges politisches Konzept für die Gesundheitswissenschaften?
Die Potentialität des Begriffs Biographie liegt gerade in seiner Komplexität. Biographie ist eben nicht nur der Verweis auf ein Individuum oder ein Subjekt, ist nicht nur die Aufschichtung von Erfahrungen und ihre narrative Rekonstruktion in der Erzählung. Sie ist aber genauso wenig auf ihre soziale und gesellschaftliche Konstruiertheit oder auf die Eingebundenheit in lebensweltliche und politische Dimensionen zu reduzieren. Ohne an dieser Stelle auf die unterschiedlichen theoretischen Implikationen von Biographie eingehen zu können (vgl. Hanses 2008, 2010), lässt sich ihr eigentliches (Erkenntnis-)Potential in ihrer Ambiguitätsstruktur ausmachen. Biographie verweist eben nicht nur auf ein Subjekt oder eine Lebenswelt, ist nicht nur Eigensinn oder soziale Strukturiertheit, ist nicht Veränderung oder Konstanz, Vergangenes oder Gegenwärtiges, sondern immer in unauflösbarer und widerspruchsvoller Durchdringung der unterschiedlichen Kategorien gleichermaßen. Damit kann Biographie keineswegs nur als gesellschaftlicher (machtvoller) Zugriff oder als individuelle Gegenwehr interpretiert werden. Vielmehr sind in ihr jeweils beide Perspektiven potentiell enthalten. Genau dieses komplexe Strukturelement von Biographie macht sie für die Analyse der gegenwärtigen Gesundheitsdebatten relevant. Biographie ist eben nicht nur als ausschließliche Subjektivierungskategorie zu deuten, über die Gesundheitsdiskurse inkorporierbar werden, sondern es lassen sich durch sie relevante Aspekte für eine Kritik gegenwärtiger Gesundheitspraxen und Gesundheitspolitiken entwickeln. Im Folgenden sollen dabei drei Perspektiven einer politischen Relevanz von Biographie erörtert werden. Es handelt sich um (a) die Zugänge zum „beschädigten Leben“, (b) um die Relevanz der „unterdrückten Wissensarten“ (Foucault) in biographischen Erzählungen und (c) um die Relevanz biographischer Bedingungsgefüge. a. Zugänge zum beschädigten Leben: Biographische Selbstpräsentationen beinhalten eben nicht nur Verweise auf das glückliche, erfolgreiche und gelungene Leben. Oftmals sind sie in einem viel stärkeren Maße explizite Thematisierungen des gescheiterten, dramatischen und ungelebten Lebens. Qualitative empirische Studien wie die Analyse „Beschädigtes Leben“ zur Jugendarbeitslosigkeit von Peter Alheit und Christian Glaß (1986), das „Elend der Welt“ von Pierre Bourdieu und MitstreiterInnen (1997), dass als Kompendium dramatischer Lebenssituationen gesehen werden kann oder die Psychiatriestudie von Gerhard Riemann (1987) „Das Fremdwerden der eigenen Biographie“ – und viele andere ließen sich ergänzen – verweisen schon mit ihren Titeln auf das Leiden der Subjekte hin. Bedeutsam ist dabei, dass mit
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den biographischen Erzählungen keineswegs nur das Individuelle einzelner Schicksale eingefangen wird, sondern diese Studien verweisen auf das subjektive Elend an der sozialen Welt. Pierre Bourdieu und Loie J.D. Wacquant (1996) machen zu Recht darauf aufmerksam, dass das Gesellschaftliche im Individuellen, das im Persönlichen verborgene Unpersönliche und das tief in das Besondere eingegangene Allgemeine zu erfassen ist. Um das „Verstehen“ der Lebensdramen zu ermöglichen, gilt es die Entfremdung, die „Alienation“, wie Pierre Bourdieu sie nennt, das heißt diese „Präsenz der Andersheit im Kern der Subjektivität“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 237) und die für das Subjekt in eine Selbstverborgenheit geratenen sozialen Prozesse zu erfassen. Einen in diesem Sinne geschaffenen Zugang zum „beschädigten Leben“ erweist sich als Kritik und Krise der gesellschaftlichen Bedingungen. Die erlebten Dramen der Menschen verweisen sehr eindrücklich auf die Macht der Institutionen und professionellen Systeme, auf die prekären und widerspruchsvollen Strukturen der Lebenswelten und gesellschaftlichen Arrangements sowie auf die Verunmöglichung von Lebensgestaltungen. Biographie als Zugang zum „beschädigten Leben“ eröffnet somit wichtige Optionen für eine politische Kritik gesellschaftlicher Bedingungsgefüge. Im Kontext von Gesundheit und Krankheit wird diese Perspektive um so erforderlicher, da entweder das „beschädigte Leben“ mit dem „klinischen Blick“ auf ein Körpermodell reduziert wird oder als dramatisches leibliches Erleben als schicksalhafte Figur des kranken Menschen verstanden wird. In jedem Fall entzieht sich Krankheit den Beschädigungen durch soziale und gesellschaftliche Praxen. Biographische Studien zeigen dabei, dass professionelles Handeln und gesundheitsbezogene Institutionen nicht die Unschuld vom Lande sind, sondern machtvolle Praxen beinhalten. Sie dokumentieren, dass professionelle Praxen in Krankenhäusern zum Teil unverstanden an den Sinnhorizonten der kranken Menschen mit weit reichenden Konsequenzen vorbeioperieren und biographische sowie soziale Problemlagen weiter prozedieren (vgl. Hanses 1996; Hanses/Börgartz 2001; Schulze 2006 sowie Riemann 1987) oder dass es sich bei professionellen Aushandlungen mit PatientInnen um machtvolle Überformungen von Wissensordnungen handelt (vgl. Richter 2009; Hanses/Richter 2010). Dennoch fokussieren die hier genannten Studien den Bereich der Krankheit und des Krankenhauses. Eine systematisch biographieanalytische Thematisierung zur Gesundheit, Prävention und Gesundheitsförderung liegt bisher kaum vor (vgl. Hanses 1996; Sander/Hanses 2009). Dennoch wäre es in diesem Kontext von hoher (gesundheitspolitischer) Bedeutung, zu erfahren, welche Wirkungen, Folgen und Beschädigungen Strategien der Prävention und Gesundheitsförderung sowie der gegenwärtigen Gesundheitsdiskurse haben. Theoretische Deduktionen existieren diesbezüglich genügend (vgl. stellvertretend Brunnett 2007), es fehlen
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politisch sensibilisierte empirische Analysen aus den Perspektiven der Subjekte. Gleichzeitig stellt sich nicht nur die Frage nach den „Beschädigungen“, sondern die vielleicht noch wichtigere Perspektive nach den die Diskurse konterkarierenden Strategien durch die Subjekte. Damit wäre eine weitere Perspektive politischer Bedeutsamkeit von Biographie angesprochen. b.
Die „unterdrückten Wissensarten“ (Foucault) und ihre Relevanz für die Biographie Hat Foucault mit dem Konzept der Biopolitik und der Gouvernementalisierung zentrale theoretische Aspekte für die Subjektivierung und damit die Subjektbildung im Machtraum der Gesellschaften gelegt, so hat er gleichzeitig wichtige Spuren für ein Wissenskonzept gelegt, dass nicht durch den diskursiven Machtraum dominiert ist: das Konzept der unterdrückten Wissensarten. In seiner Vorlesung „Historisches Wissen der Kämpfe und Macht“ (vom 7. Januar 1976) greift er im Rückblick auf die Bedeutung sozialer Bewegung (wie z. B. der Antipsychiatrie) auf die Relevanz der „unterdrückten Wissensarten“ zurück (vgl. Foucault 1978: 55-74). Dabei entfaltet Foucault in seinem Rückgriff auf diese Wissensform kein eigenständiges Konzept, dennoch legt er mit seinen Überlegungen wichtige Spuren, die Hans-Herbert Kögler (2004) dann in seinen theoretischen wie forschungspolitischen Bedeutungshorizont weiter elaboriert hat. Folgendes Zitat aus der Vorlesung Michel Foucaults soll einen zentralen Einblick in die Bedeutung der unterdrückten Wissensarten vermitteln: „Und gerade über diese aus der Tiefe wieder auftauchenden Wissensarten, diese nicht qualifizierten, ja geradezu disqualifizierten Wissensarten (das Wissen der Psychiatrisierten, des Kranken, des Krankenwärters, das des Arztes .... das Wissen der Delinquenten usw.), die ich als Wissen der Leute bezeichnen würde und die nicht zu verwechseln sind mit Allgemeinwissen oder gesunden Menschenverstand, sondern im Gegenteil ein besonderes, lokales, regionales Wissen .... darstellen, das seine Stärke nur aus der Härte bezieht, mit dem es sich allem widersetzt, was es umgibt; über das Widerauftauchen dieses Wissens also, dieser lokalen Wissen der Leute, dieser disqualifizierten Wissensarten, erfolgte die Kritik“ (Foucault 1978: 60f.). Das Besondere dieser Wissensarten ist, dass sie nicht gänzlich in das diskursive Wissen aufgenommen sind. Dadurch besitzen sie zweierlei bedeutsam hervorzuhebende Qualitäten: Zum ersten sind die unterdrückten Wissensarten der „Leute“ gekennzeichnet durch Erfahrungen mit machtvollen sozialen Arrangements (z. B. den professionellen und politischen Strukturen) und geben damit wichtige Einblicke in die Praxen der Macht und ihre Wirkung auf die einzelnen Personen (vgl. Hanses 2007); zum zweiten ermöglichen sie Perspektiven auf Formen der Selbstsubjektivierungen der „Leute“. Es ist vor allem der von Fou-
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cault genutzte Begriff des „lokalen Wissens“, der als Abgrenzung zu einem Zeit und Raum umspannenden diskursiven Wissen von Bedeutung ist. Diese Dualität diskursiven und lokalen Wissens lässt sich auch in biographischen Erzählungen empirisch beobachten (vgl. Hanses/Richter 2010). Das lokale Wissen kann in Narrationen als Erzählung ausgemacht werden, die nicht (gänzlich) in die biographische Gesamtformung und damit in eine reflexive Verfügbarkeit der Erzählenden überführt worden ist. Denn die Gesamtgestalt einer biographischen Erzählung als kognitive Figur autobiographischer Stegreiferzählungen leistet als Konstruktion über die „Einheit“ und Kohärenz des eigenen Lebens aus der Gegenwartsperspektive auch immer eine eigene „Anpassung“ an die Sozialwelt und die damit gesetzten diskursiven Deutungsangebote biographischer Formierungen. Das lokale Wissen kann biographietheoretisch als lebensgeschichtliches Wissen beschrieben werden, das sich nicht in den biographischen Gesamtformungen auflöst. Es hat in der Biographie eine lokale, spontane, leibliche Qualität, die sich nicht in eine ausschließlich reflexive Verfügbarkeit auflöst, sondern als hintergründige „eigensinnige“ Ressource verbleibt. Dabei können sich diese lokalen Wissensarten in den biographischen Selbstpräsentationen sehr unterschiedlich zeigen. Sie sind anhand erster empirischer Beobachtungen nicht einfach auf Ressourcen eines bildungsbürgerlichen Milieus zurückzuführen, sie sind auch nicht einfach nur Heldengeschichten, in der die ProtagonistInnen sich als wehrhafte Personen zeigen und präsentieren. Das lokale Wissen als eine von den gesellschaftlichen (professionellen) Diskursen abgegrenzte Wissensform kann dabei eigensinnige Formen annehmen. So wäre hier die Geschichte einer an Brustkrebs erkrankten Frau hervorzuheben, die zwar die Diagnose als schlimm erlebt und den vorgeschlagenen medizinischen Therapieplan einhält, sich dann aber nach fünf Jahren selbst als „gesund“ erklärt und weitere Nachsorgetermine nicht mehr aufgreift. Das Besondere dieser Geschichte liegt gerade in der Spannung, dass der formale, professionelle Ablauf einer Krankheitsdiagnose und behandlung eingehalten wird, aber die Erzählerin diesen Ereignissen ganz eigene Bedeutungszuweisungen verleiht. Zugespitzt formuliert hat sie sich zwar (stillschweigend) diagnostizieren und behandeln lassen, aber ihre biographische Erzählung folgt nicht den medizinischen Diskursen über die Sorge um das eigene Leben angesichts einer lebensbedrohenden Krankheit und der Einhaltung des richtigen Behandlungsverfahrens. Vielmehr erzählt sie ihre eigene Geschichte des Krankseins, der Sorge um andere und der Veränderungen ihrer sozialen Situation. Diese Brechung medizinischer Wissensordnungen durch eine eigensinnige Konstruktionslogik eröffnet ihr einen Deutungsfreiraum und damit einen (begrenzten) Handlungsspielraum (vgl. Richter 2009; Hanses/Richter 2010). Die Bedeutung des lokalen Wissens in biographischen Erzählungen eröffnet erneut eine Perspektive auf die Ambiguität von Biographie: In der Spannung
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zwischen diskursiven und lokalen Wissensformen liegt neben den Strukturen der Subjektivierung der durch Eigensinn geprägte Möglichkeitsraum der SelbstSubjektivierung. Ohne dass Foucault selbst eine Verknüpfung zwischen den unterdrückten, lokalen Wissensformen und seinem späteren Konzept der Selbstsorge herstellt, kann doch eine vorsichtige Verbindung skizziert werden. Auch wenn das Konzept der unterdrückten Wissensarten eher als Wissenskonzept angelegt ist und die Selbstsorge eher als durch Selbstpraxis getragene „Kompetenz“ vereinfacht zu bezeichnen wäre, so sind beide Konzepte gleichsam Kritik an gesellschaftlicher Praxis und verweisen auf ein nicht gänzlich in die diskursive Praxis aufzulösendes Subjekt. Kögler (2004) sieht die Standpunktepistemologie der unterdrückten Wissensarten als praktische Möglichkeit, wie der Macht ein ethischer, das meint konkret gelebter Widerstand durch die Erzeugung selbstbestimmter Subjektivität entgegengehalten werden kann. Mit Michel Foucault gesprochen geht es um die Schaffung von Subjektivität: „Wir müssen neue Formen von Subjektivität suchen und die Art von Individualität zurückweisen, die man uns seit Jahrhunderten aufzwingt“ (Foucault 2005: 250). c. Zur Relevanz biographischer Bedingungsgefüge Haben die ersten beiden Aspekte gerade die Beschädigung und die Befähigung des Subjekts zum Thema gehabt, so sollen mit der dritten Perspektive die Bedingungen biographischer Entfaltungen thematisiert sein. Die schon mehrfach angesprochene Beziehung zwischen Subjektivität und Sozialität in der Biographie soll erneut aufgegriffen werden. Denn vordergründig liegt es nahe, mit der Thematisierung des Biographischen den Blick auf das „Erstpersönliche“, auf das Subjekt und seinen Erfahrungs- und Rekonstruktionsraum zu lenken. Auch bei professionellen Strategien auf der Suche nach Problemlösungen wird der Blick bei der Einbeziehung der Biographie meistens auf die einzelne Fallberabeitung gelenkt. In dieser fast vordergründig zwingend erscheinenden Kohärenz zwischen biographischer Fallbetrachtung und individuell ausgerichteten Lösungsstrategien wird vergessen, dass Biographie ohne die soziale lebensweltliche Kontextualität und gesellschaftliche Formierung nicht wirklich zu verstehen ist. Auch die schon oben genannten Konzepte Michel Foucaults zur (Selbst)Subjektivierung und dem Ansatz Pierre Bourdieus (1996) zur „sozialisierten Subjektivität“ verweisen gerade unmissverständlich auf die soziale Bedingtheit des Subjektiven und damit auch auf die Soziopoiese der Biographie. Dieser Aspekt lässt sowohl den analytischen als auch den praxisbezogenen Blick von der alleinigen Aufmerksamkeit auf das Persönliche des Falls zu den sozialen Bedingungen des konkret Biographischen oszillieren. Konkret formuliert eröffnet Biographie bedeutsame Einsichten in die Bedingungsgefüge des Subjektiven. An einem Beispiel aus dem Kontext eines Gesundheitsförderungsprogramms mit
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Jugendlichen aus sozial benachteiligten Milieus im Rahmen beruflicher Bildung soll dies verdeutlicht werden. Im Rahmen der beruflichen Bildung des Bildungsträgers wurden den Jugendlichen im Kontext eines Modellprojekts zur Gesundheitsförderung Angebote körperlicher Bewegung, Sport und Entspannung sowie gesunder Ernährung ermöglicht. Im Rahmen einer Evaluationsstudie (vgl. Sander/Hanses 2009) sind mit den Jugendlichen biographische Interviews durchgeführt worden. Auffällig war, dass die Interviews nicht nur zum Teil unter schwierigen Bedingungen aufgenommen wurden, sondern dass auch die Erzählungen wenig biographisch narrativ sind. Die Erzählungen sind weniger durch biographische Gesamtformungen geprägt, sondern durch einen Erzählmodus der Thematisierungen von bedeutsamen Verortungserfahrungen. Dies ist nicht als Artefakt der Interviewführung, sondern eher als konstitutiver (biographischer) Darstellungsmodus dieser Jugendgruppe mit ihren speziellen sozialen Bedingungen zu werten. Bezogen auf die Evaluierung des Gesundheitsförderungsprogramms bedeutet dies, dass weniger die Frage einer Wirkung zwischen gesundheitlichem Outcome bei dem Jugendlichen und spezifischen Angeboten zu stellen ist, sondern dass die Bedeutung der Orte als soziale Räume und die Praxen der Verortung der Jugendlichen durch die Institutionen die eigentlich bedeutsame Frage sein muss. Der Blick auf das Biographische hat hier notwendigerweise den Blick auf die institutionellen Bedingungen der Gesundheitsförderungsprogramme geworfen. Biographie eröffnet somit nicht nur den Blick für die „Arrangements des Subjekts“ sondern fordert die Analyse der „Arrangements des Sozialen“ zwingend ein. Eine Perspektive, die für die gegenwärtigen Debatten zur Prävention und Gesundheitsförderung enormes Erkenntnispotential eröffnen kann.
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Biographie und Gesundheit – eine Neubestimmung des Subjekts?
Biographie nimmt gegenwärtig – wenn auch nicht immer explizit thematisiert – eine ganz prominente Position in den Gesundheitsdebatten ein. Sie kann wie eingangs hervorgehoben als wesentliche Matrix für Strategien von gesundheitsbezogenen Subjektivierungspraxen beschrieben werden, mit der eine selbstredende wie freiwillige Selbstoptimierung im Gesundheitshandeln der sozialen Akteure ermöglicht werden kann. Aber die Ausführungen zu einer politischen Dimensionierung des Ansatzes „Biographie“ haben hoffentlich deutlich machen können, dass mit den Bezugspunkten des „beschädigten Lebens“, der „unterdrückten Wissensarten“ und den sozialen Bedingungsgefügen des Biographischen gleichzeitig bedeutsame wissenschaftliche wie politische Kritik an den gegenwärtigen Gesundheitsdiskursen und Gesundheitspraxen eröffnet werden können. Erstaun-
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lich ist, dass das kritische Potential eines Biographieansatzes gleichzeitig in der Neubewertung des Subjekts zu liegen scheint. Die von Weizsäcker geforderte „Einführung des Subjekts in die Lebenswissenschaften“ erfährt hier eine erstaunliche Aktualität und gleichsam eine notwendige theoretische Erweiterung. Das Subjekt darf dabei nicht als Gegenfigur zum Sozialen und Gesellschaftlichen aufgebaut werden. Das Subjekt besteht erst genau durch diese und bringt sich durch seine Gesellschaftsgebundenheit in seiner Subjektivierungspraxis erst hervor. Gleichzeitig lässt es sich allerdings nicht auf diese reduzieren und in ihr gänzlich auflösen. Diese dialektische Figuration des Subjekts kann durch die Ambiguitätsstruktur des Konzepts Biographie theoretisch, wissenschaftlich wie in praktischen Ansätzen komplex erfasst werden. Mit ihr lassen sich die Beschädigungen des Subjekts durch die Gesundheitsdiskurse, die Selbstsubjektivierung durch das Potential lokaler Wissensarten und die Selbstsorge als gesellschaftliche Kritik sowie notwendige gesellschaftliche Ermöglichungsrahmen für eine Unterstützung dieser Prozesse erfassen. Allerdings wird mit solchen Analysen kein herrschaftsfreier Raum geschaffen, sondern bedarf einer Sensibilisierung für widersprüchliche Strukturbedingungen des gesellschaftlichen Subjekts. Für eine Sozial- und Gesundheitswissenschaft, die sich den gesundheitsbezogenen Herausforderungen in unserer Gesellschaft stellen will, bietet solch eine politisch sensibilisierte Biographie- und Subjektkonzeption die Möglichkeit, wenig brauchbare individuumzentrierte Ansätze aufzugeben und eine kritische Position nicht nur von einer das Subjekt eher negierenden Macht- und Gouvernementalisierungsdebatte aus führen zu müssen. Vielmehr lässt sich eine kritische Position gerade aus einer Subjektanalyse hervorbringen, mit dem Vorteil, die kritischen Optionen viel schärfer, eben aus der Nähe der Lebensverhältnisse der Subjekte vortragen zu können. Biographie als Form gesellschaftlicher Selbstbeschreibung der Subjekte kann dabei als zentrales Medium für die Analyse der Gesundheitspraxen aufsteigen. „Das Festhalten an der subjektiven Perspektive ist die einzige, freilich auch hinreichende Garantie dafür, dass die soziale Wirklichkeit nicht durch eine fiktive, nicht existierende Welt ersetzt wird, die irgendein wissenschaftlicher Beobachter konstruiert hat“ (Schütz 1977, zitiert nach Bührmann 2007: 71).
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Fit for fun? – Schlankheit als Sozialprestige Friedrich Schorb
„Dick und doof?“ titelte STERN ONLINE als Anfang 2008 die Zweite Nationale Verzehrsstudie vorgestellt wurde, die Rheinische Presse entschied sich für „Schlechte Bildung führt zu Übergewicht“ als Schlagzeile, die taz wählte „Die dicke Unterschicht“, während das Magazin FOCUS seine Berichterstattung mit „Armes dickes Deutschland“ überschrieb. Die Tagesschau lieferte den neuesten Diättipp mit der Headline „Bildung macht schlank“ gleich mit. Die empirische Basis für die Wahrnehmung von Übergewicht als einem Problem der bildungsfernen „Unterschicht“ lieferten die Zahlen der Zweiten Nationalen Verzehrsstudie (vgl. Max Rubener Institut 2008). Dabei wurde vor allem bei Frauen ein deutlicher Zusammenhang zwischen Bildungsabschluss und der Betroffenheit von Übergewicht festgestellt. So liegt die Zahl der übergewichtigen Frauen mit Hauptschulabschluss in Deutschland etwa dreimal so hoch wie die von Frauen mit Hochschulreife. Bei den Männern ist der Trend zwar nicht so stark ausgeprägt, doch auch bei ihnen finden sich unter den Hauptschulabsolventen fast doppelt soviel Übergewichtige wie unter den Abiturienten. Die Schlüsse, die die Presse aus den Daten der Studie gezogen hatte, lassen sich in der Aussage zusammenfassen: wer ungebildet ist, weiß wenig über Ernährung, ernährt sich entsprechend schlecht und wird deswegen dick. Ganz neu war die Erkenntnis, dass Angehörige der unteren sozialen Schichten häufiger übergewichtig sind als Mitglieder der Mittel- und Oberschicht allerdings nicht. Schon 1962, zu einer Zeit also als das Wirtschaftswunder jung und die Löhne der Arbeiter noch recht bescheiden waren, berichtete der Mediziner Hans Bansi (vgl. Neuloh/Teuteberg 1979: 38) vom häufigeren Auftreten der Fettleibigkeit bei „Werkmeistern“ und ihren Ehefrauen im Vergleich zu Beamten und Angestellten. Bansi stand mit seiner Beobachtung nicht allein, auch der Sozialmediziner Manfred Pflanz wies in seinem 1962 erschienen Buch „Sozialer Wandel und Krankheit“ auf die Zunahme der Übergewichtigkeit bei sinkendem Bildungsniveau hin (vgl. ebd.). Ein soziales Stigma war Übergewichtigkeit damals allerdings nur für Frauen. Da gesellschaftlicher Erfolg für Frauen lange Zeit so gut wie ausschließlich
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über den Heiratsmarkt möglich war, spielte die optische Erscheinung für ihr Sozialprestige eine viel größere Rolle als bei Männern. Zwar galten dicke Männerbäuche auch in den Nachkriegsjahrzehnten nicht gerade als glamourös oder erotisch, wohl aber als standesgemäß und respektabel. In besonderer Weise zeigen dies die beiden Ikonen des bundesdeutschen Wirtschaftswunders der Schauspieler Heinz Erhardt und sein Namensvetter, der Bundeskanzler und langjährige Wirtschaftsminister Ludwig Erhardt. Ein gepflegter Kugelbauch und der Konsum von Zigarren, Cognac und Whiskey standen bis in die 1970er Jahre für behaglichen Wohlstand und eine seriöse, väterliche Ausstrahlung. Sport wurde als Freizeitvergnügen für junge Menschen angesehen und war noch nicht Teil der Alltagskultur der Eliten. Im Gegenteil: einen joggenden und Hanteln stemmenden Bankdirektor oder Spitzenpolitiker hätte man als unwürdig angesehen. Heute dagegen schwitzen Manager auf Laufbändern, Heimrädern und Crosstrainern und stöhnen unter Gewichten und Expandern. Und nicht nur in den USA lassen sich hohe Regierungsfunktionäre mit Vorliebe beim Joggen ablichten. In den Hinterzimmern der ökonomischen wie politischen Macht ist das Cognacgläschen längst dem Vitamindrink gewichen. Der Herzinfarkt, der bis in die 1980er Jahre als Managerkrankheit hohes Sozialprestige belegte, gilt heute als Folge mangelnder Selbstdisziplin (vgl. Bartens 2008: 60). Im Gegensatz dazu wurden Arbeiter noch bis vor wenigen Jahrzehnten gerne als Musterathleten stilisiert, sei es in Filmen oder auf Plakaten politischer Parteien und Gewerkschaften. Mit der Realität hatte dieses Bild wenig zu tun. Die Arbeiterkultur war alles andere als eine Gesundheitskultur. Trinken, Rauchen, fettes Essen und ein insgesamt wenig schonender Umgang mit dem eigenen Körper waren fester Bestandteil der proletarischen Alltagskultur. Eine Kultur, die ihren ökonomischen Zweck durchaus erfüllte, garantierte sie doch eine gewisse Fatalität gegenüber ungesunden und körperlich anstrengenden Arbeitsverhältnissen. Seit dem Niedergang der Industrie- und dem Aufstieg der Dienstleistungsgesellschaft werden die athletischen Körper dagegen nicht länger bei der Arbeit, sondern im Fitnessstudio gestählt. Einstige Insignien des wirtschaftlichen Erfolgs, wie der Kugelbauch oder der Konsum von Rauchwaren und hochprozentiger Alkoholika gelten heute als typisch für die Verlierer des wirtschaftlichen Reformprozesses. In dem Augenblick, in dem der dicke Bauch nicht länger das Privileg der wirtschaftlich und politisch Mächtigen ist, wird er als Symbol der Überlegenheit unbrauchbar. An seine Stelle tritt der fitnessgestählte Körper, der im Zuge der Frauenemanzipation nicht länger nur Männern vorbehalten bleibt. Der athletische Körper steht in der Dienstleistungsgesellschaft für Triebverzicht, Durchset-
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zungsstärke und Durchhaltevermögen. Der übergewichtige Körper wird dagegen zum Zeichen mangelnder Einsatzbereitschaft und fehlender Selbstdisziplin. Parallel zum abnehmenden Sozialprestige übergewichtiger Körper gewann die Wahrnehmung von Fettleibigkeit als einem politischen Problem an Relevanz. Dieser Prozess reicht länger zurück als wir es heute wahrhaben wollen. So wurde in Deutschland schon vor über 30 Jahren in demselben alarmistischen Tonfall vor Übergewicht als einer verheerenden Volkskrankheit gewarnt wie heute. Schon damals galt mindestens jedes fünfte Kind und mehr als jeder zweite Erwachsene als zu dick, schon damals sprach man von einer gigantischen Kostenwelle, die unser Gesundheitssystem erschüttern werde, schon damals bezifferte man die Kosten für Fehlernährung auf die gewaltige Summe von 17 Milliarden DM und damit auf über zwei Prozent des Bruttosozialprodukts (vgl. Schorb 2009). Die Wahrnehmung von Übergewicht als einer Volkskrankheit ist also kein neues Phänomen. Was sich aber verändert hat, ist die Analyse der Ursachen, die sich hinter dem massenhaften Übergewicht mutmaßlich verbergen, ebenso wie die daraus resultierenden Strategien mit denen Übergewicht bekämpft werden soll. Die Auswirkungen, die dieser veränderte gesellschaftliche Blick auf Übergewichtige für die Betroffenen – und das sind nicht nur die Dicken, sondern auch diejenigen, die dick werden könnten, also letztlich alle – mit sich bringt, sind Inhalt des folgenden Beitrags. Untersucht werden soll die Entwicklung des schlanken Schönheitsideals in Politik und Alltagskultur vor dem Hintergrund sich wandelnder gesellschaftspolitischer und ökonomischer Bedingungen an Beispielen aus Printmedien, Fernsehunterhaltung und staatlichen Gesundheitskampagnen.
Yes you can, … mit unserer Hilfe: Das Schlankheitsideal und die Medien In so genannten „Frauenzeitschriften“ wurde das Thema Übergewicht lange Zeit fast ausschließlich als Frage der richtigen Diät verhandelt. Heute stellt sich das Bild sehr viel differenzierter dar. Neben den klassischen Frauenzeitschriften mit ihren schier endlosen Diätvarianten, aufgelockert von Verschönerungsvorschlägen für Haus und Heim, Koch- und Backrezepten oder originellen Urlaubsideen, entstand in den letzten Jahren ein neuer Typ Zeitschrift, der Frauen unter der Überschrift „gesunde Lebensführung“ als Managerin ihrer Ressourcen anspricht und physische wie psychische Gesundheit als Teil der Persönlichkeitsentwicklung versteht. Neben der Pflege und der Modellierung des eigenen Körpers fungieren diese Zeitschriften auch als Ratgeber in intimen Angelegenheiten, bieten etwa Psychotests an, in denen die Leserinnen ihre Eignung für berufliche Aufga-
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ben, ihre Teamfähigkeit, ihren Sex- und ihren Beziehungstyp ermitteln können und maßgeschneiderte Verbesserungsvorschläge serviert bekommen. Der ursprünglich auf Fitnessübungen beschränkte Begriff des „Work Outs“ wird hier umfassend als Körper- und Psychotraining verstanden. Der Begriff des Coachings emanzipiert sich ebenfalls zunehmend von seiner ursprünglich auf das Anleiten sportlicher Übungen begrenzten Bedeutung. „Coaching? Bringt das etwas? Spitzensportler wären über diese Frage erstaunt. Ganz selbstverständlich lassen sie sich dabei helfen, das Beste aus sich herauszuholen. Das funktioniert auch am Arbeitsplatz“, meint dazu eine Persönlichkeitstrainerin im Lifestylemagazin Emotion (Asgodom 2009). Prominente sind in Zeitschriften wie Emotion im Gegensatz zu den Frauenzeitschriften alten Typus keine Märchenfiguren aus einer trotz Dauerdiät unerreichbaren Traumwelt, sondern Vorbilder aus Fleisch und Blut zu deren Erfolgsgeschichten auch ihre ganz irdischen Schwächen und Selbstzweifel gehören. Der heimliche Traum der leistungsorientieren Mittelklasse-Frauen ist nicht mehr den entrückten Stars körperlich ganz nah zu kommen, sondern deren Körper (und das dazugehörige Ego) selbst zu besitzen. Der Weg dorthin führt über die richtigen Expertinnen. Denn genau wie die Vorbilder aus der Glamourwelt müssen auch die Heldinnen einer rauer gewordenen Arbeitswelt in der Lage sein, Höchstleistung auf den Punkt abzuliefern und brauchen dazu das gesamte verfügbare Arsenal an professionellen Hilfestellungen. Männermagazine der alten Schule wie der Playboy lassen biedere Familienväter einen Blick in die Welt der Sean Connerys, Hugh Hefners und Silvio Berlusconis werfen. Sie bedienen das Bedürfnis nach Entspannung und der Flucht aus dem Alltag. Von den Covern moderner Männermagazine wie Men’s Health, die längst eine weitaus höhere Auflage erreichen, grüßen dagegen keine Fotomodelle in knappen Bikinis, sondern durchtrainierte Waschbrettbäuche. „Alles was Männern Spaß macht“ wird bei Men’s Health zu „Wir machen Männer schlank“. Ganz wie in Frauenzeitschriften von jeher Usus wird mit erhobenem Zeigefinger vor Zwischenmahlzeiten gewarnt und zu Sit Ups geraten, damit der Strandflirt diesmal auch garantiert zum Erfolg führt. Statt Whiskey-Sorten werden zuckerarme Trendlimonaden verköstigt. Selbst die Menüvorschläge unterscheiden sich nicht mehr von denen aus Frauenzeitschriften. Auch hier gilt: Hauptsache wenig Fett und Zucker und dafür viel Obst und Gemüse. Letztere werden dem modernen Mann mit der Aussicht auf „verbesserte Samenproduktion“ schmackhaft gemacht. Den ultimativen Weg zum „Lebensziel Waschbrettbauch“ (Heitmann) weist der Men’s Health Abnehm-Coach. Für nur 1,92 Euro die Woche wird ein persönlicher Trainings- und Ernährungsplan, individuelle Expertenberatung, und eine eigene Startseite zur Erfolgskontrolle versprochen (vgl. www.menshealth.de).
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Die Inhalte eines zeitgemäßen Lifestylemagazins lassen sich von denen der Allgemeinen Ortskrankenkasse nicht länger unterscheiden. Was Emotion, Myself, Gesund Leben, Men’s Health, Fit for Fun, Wellfit oder Healthy Living der AOK allerdings voraushaben, ist der popkulturaffine Stil mit dem sie ihren Leserinnen und Lesern die Gesundheitstortur verkaufen. Denn anders als die selbsternannten Gesundheitskassen sind moderne Lifestylemagazine in der Lage ihren Leserinnen und Lesern zu vermitteln, dass die eigenen Anstrengungen nicht der unvermeidliche Preis für den Lohn der Schönheit und des Erfolgs sind, sondern Teil der Persönlichkeitsentwicklung und somit selbst schon eine Bereicherung. Ganz gleich, ob dabei die körperlichen oder die mentalen Stärken der „Marke Ich“ (Emotion) in den Vordergrund gerückt werden, dreht sich in besagten Magazinen alles um die Optimierung des eigenen Humankapitals auf dem Partnerund Arbeitsmarkt. Ein attraktives Äußeres, das mit einem schlanken, sportlichen Körper gleichgesetzt wird, ist dafür die Grundvoraussetzung.
Makeover or die tryin’ Das Publikum dieser Lifestylemagazine, deren Gesamtauflage die Millionengrenze deutlich überschreitet, setzt sich überwiegend aus denjenigen zusammen, die ihren Lebensstil bereits mehr oder weniger erfolgreich an diesem neuen Ideal ausgerichtet haben. Diejenigen dagegen, die an diesen neuen Herausforderungen scheitern, gehören eher nicht zu ihrer Leserschaft. In diese Lücke springen die im Fernsehen mittlerweile omnipräsenten Makeover-Shows. Makeover-Shows bezeichnen ein Genre, in dem Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen vor gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen kapituliert haben, durch eine konzertierte Expertenintervention wieder auf den rechten Weg gebracht werden sollen. Das Spektrum dieser Shows ist riesig und viele Formate im deutschen Fernsehen noch unbekannt. Die Sendungen laufen meist auf den Privatsendern und werden überwiegend von einer Klientel konsumiert, die ebenfalls nicht zu den Gewinnern zählt und somit unmittelbar angesprochen ist. In den extremen Varianten dieser Shows wie THE SWAN oder I WANT A FAMOUS FACE werden Menschen „wie du und ich“ von Schönheitschirurgen im wahrsten Sinne des Wortes umgebaut. Im Ankündigungstext für die deutsche Variante dieses Sendetyps, EXTREM SCHÖN! ENDLICH EIN NEUES LEBEN, die im Frühjahr 2009 auf RTL II zu sehen war, heißt es paradigmatisch: „Schöne Menschen haben es besser: Schöne Babys bekommen mehr Zuwendung, schöne Erwachsene haben mehr Erfolg – im Beruf und im Privatleben. Doch was ist
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Friedrich Schorb mit denen, die von der Natur nicht mit einem attraktiven Äußeren bedacht wurden? ‚Extrem schön! Endlich ein neues Leben’ zeigt Menschen, die aufgrund ihres Aussehens ausgegrenzt werden, ihr Selbstwertgefühl verloren und sich aus dem Leben zurückgezogen haben. In jeder Folge geht für zwei verzweifelte Außenseiter ihr größter Wunsch in Erfüllung. Ein kompetentes Expertenteam schenkt ihnen ein neues und glückliches Leben. Erstklassige Ärzte, Psychologen, Fitnesstrainer und Ernährungsberater verhelfen den Kandidaten zu ihrem Traumaussehen und begleiten sie auf ihrem hochemotionalen Weg zu einem neuen Selbstwertgefühl. Der Preis ist hart: acht Wochen Trennung von der Familie, acht Wochen Entbehrungen, Schmerzen und Kampf. Doch die überschäumende Freude nach den Verwandlungen ist überwältigend.“ (http://www.rtl2.de/27127.html)
Doch das Gros der Makeover-Shows bilden nicht diese spektakulären und bisweilen bizarren TV-Formate. In der Mehrzahl der Programme sehen wir stattdessen Kleinfamilien, denen die Schulden über den Kopf wachsen, alleinerziehende Mütter, denen die Kindererziehung außer Kontrolle geraten ist oder Kleinstunternehmer, denen das Restaurant Pleite zu gehen droht und denen Experten nun dabei helfen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Die Fernsehzuschauer beobachten in ihrer Freizeit also Menschen, die mit Problemen konfrontiert sind, die sie selbst zu genüge kennen. Anders als bei den Dauerwerbesendungen der chirurgischen Schönheitsindustrie vom Typ EXTREM SCHÖN! ENDLICH EIN NEUES LEBEN müssen die Protagonisten von Sendungen wie RAUS AUS DEN SCHULDEN, DIE SUPER NANNY oder RACH, DER RESTAURANTTESTER ihre Probleme, zwar unter Anleitung, aber letztlich eben doch durch eigene Anstrengung wieder in den Griff bekommen. Diese Makeover-Shows haben somit neben dem Unterhaltungsfaktor immer auch den pädagogischen Zeigefinger und den praktischen Ratgeber im Gepäck. Gemeinsam ist allen Makeover-Shows ein grundlegendes Gesellschaftsund Menschenbild: die Probleme und die Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben sind in der Regel selbstverschuldet, aber Dank professioneller Hilfe bei entsprechendem Mitwirken auch individuell lösbar. Notwendig für die Lösung der Probleme ist das richtige Coaching, durchgeführt von engagierten und kompetenten Experten. Indem diese Sendungen so die Botschaft vermitteln, dass die Probleme der Kandidaten durch gezieltes Fördern lösbar seien, fügen sie sich nahtlos in eine politische Rationalität, die soziale Probleme individualisiert als selbstverschuldet porträtiert und eigenverantwortliche Lösungen anmahnt. Analog zu den Wellness- und Fitnesszeitschriften wird auch bei den Makeover-Shows dem optischen Eindruck – sowohl was die Körpermaße angeht, aber auch was Kleidung und Stil betrifft – große Priorität eingeräumt. Das angepasste Äußere gilt als Voraussetzung ohne die weitergehende Bemühungen chancenlos bleiben.
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In der Sendung DAS MODELL UND DER FREAK etwa werden junge Männer, die auf dem Beziehungsmarkt als schwer vermittelbar gelten, mit der Methode der öffentlichen Bloßstellung darauf aufmerksam gemacht, dass der optische Eindruck, den sie beim anderen Geschlecht hinterlassen, zu wünschen übrig lässt. Hier geht es zwar weniger um zuviel Fett auf den Rippen, als um Kleidung, Frisur und Köperhaltung, doch das dominierende Schönheitsideal ist das gleiche. An einem zentralen Platz werden die Kandidaten an einer Art Pranger zur Schau gestellt und dabei die Kommentare der Passantinnen von der mitlaufenden Kamera dokumentiert. Der Weg zum Beziehungsglück führt durch die tiefsten Niederungen der Selbsterkenntnis. Den so Ausgestellten werden die Kommentare der Passantinnen daher auch nicht erspart. Doch das demütigende Feedback dient nicht allein dazu den Voyeurismus der Zuschauer zu befriedigen, sondern auch als Ansporn es besser zu machen. Auf die Erniedrigung folgt das Empowerment: über die Edelboutique, zum Starfriseur und weiter zum PsychoCoaching. Ein Subgenre unter den Makeover-Shows bilden die Sendungen, bei denen der Interventionsfokus auf die Bereiche Gewicht und Ernährung gelegt wird. Prominentes Beispiel ist die aus Großbritannien stammende Sendung LIEBLING, WIR BRINGEN DIE KINDER UM. In der Sendung waren zeitweise auch auf RTL II Familien mit dicken Kindern zu sehen, denen Experten aus den Bereichen Fitness, Psychologie und Ernährungslehre dabei halfen ihren Nachkommen einen schlanken Körper und damit – so der Subtext – eine glückliche Zukunft samt Partner, Eigenheim und Festanstellung zu ermöglichen.
Schlanke Bürger im schlanken Staat Die Parallelen zwischen den Fernsehsendungen und der praktischen Politik liegen sowohl auf der semantischen und als auch auf der programmatischen Ebene. „Dicke Kinder sterben vor ihren Eltern“: mit diesem Slogan warb sowohl die ehemalige Verbraucherschutzministerin Renate Künast als auch die britische Regierung für ihren jeweiligen Maßnahmenkatalog gegen den dicken Bauch. „Wenn ihr so weiter macht, bringt ihr eure Kinder um“, lautete der Cliffhanger mit der die Expertin bei LIEBLING, WIR BRINGEN DIE KINDER UM auf das nur noch durch ihre Intervention vermeidbare Schicksal der Kleinen hinwies. Unterstützt wurde sie dabei durch ein ominöses Computerprogramm, das den vermeintlichen Verfall der Kleinen ohne Expertenintervention simulieren sollte. Die Kinder wurden dabei mit den Jahren nicht nur immer dicker, sondern glichen optisch auch immer stärker dem gängigen Bild von im Leben gescheiterten „Sozialfällen“.
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Solche Mittel stehen der Politik natürlich nicht zur Verfügung. Ihr bleibt allein der Verweis auf spektakuläre Einzelfälle. Ein dreijähriges Mädchen etwa, das angeblich aufgrund seines Übergewichts den Herztod erlitten hatte, fand ebenso Eingang in die britische Regierungserklärung zur Bekämpfung von Übergewicht wie in die der ehemaligen Verbraucherschutzministerin Renate Künast (vgl. House of Commons 2004; Künast 2004). Dass der Tod des Mädchens einem angeborenen Gendefekt geschuldet war (Bosley/Owen/Watt 2004), spielt dabei ebenso wenig eine Rolle, wie die Tatsache, dass eine Gewichtszunahme im Erwachsenenalter nicht zwangsläufig zu einem aufgedunsenem Gesicht und tiefen Augenringen führt, wie es das Computerprogramm von LIEBLING, WIR BRINGEN DIE KINDER UM suggerierte. Doch die politischen Initiativen gegen Übergewicht bedienen sich nicht nur ähnlicher „scare tactics“ wie ihre medialen Pendants, sie tragen bisweilen gar denselben Namen. THE BIGGEST LOSER ist einerseits der Name einer USamerikanischen Fernsehsendung, bei der zwei Teams gegeneinander im Abspeckwettkampf antreten, andererseits wird so auch ein betriebsinterner Wettbewerb in Großbritannien bezeichnet. Eine Gemeinschaftsinitiative aus Britischer Herzgesellschaft, dem nationalen Sportverband, dem Gesundheitsministerium und dem staatlichen Lotterie-Fond legte in den Betrieben einen Abspeckwettbewerb mit besagtem Titel auf. Genau wie in der Fernsehsendung gab es für die Gewinner des Abnehmmarathons Geld zu gewinnen; im Unterschied zur Fernsehshow allerdings keine 100 000 US-Dollar, sondern lediglich bescheidene 130 britische Pfund in Form von Geschenkgutscheinen (Department of Health 2008). Auch der Einsatz von staatlichen Nannys in Haushalten mit übergewichtigen Kindern könnte in Großbritannien, ganz wie in den entsprechenden Makeover-Shows bald Alltag werden. Nach dem neuesten Aktionsplan der britischen Regierung im Kampf gegen Übergewicht sollen Sozialarbeiter und Ernährungsberater in Großbritannien im Auftrag von Staat und Gemeinden Familien mit übergewichtigen Kindern aufsuchen (ebd.). Dabei dürfte es sich schon in naher Zukunft um Super Nannys mit der Lizenz zum Sorgerechtsentzug handeln. Denn wenn es nach den Vorstellungen von Ärztevertretern und Lokalpolitikern in Großbritannien geht, soll Adipositas bei Kindern gesetzlich zukünftig wie Kindesmisshandlungen behandelt werden (Martin 2007; Morris 2008). Ein besonders skurriles Beispiel dafür, wie eng beieinander Medienevent und politische Maßnahmenkataloge liegen können, zeigt der staatliche Kampf gegen dicke Bäuche in Japan. Dort hatten die stellvertretenden Gesundheitsminister Noritoshi Ishida und Keizo Takemi 2006 angekündigt öffentlich Diät halten zu wollen. Per Blog konnten alle Staatsbürger ihren Ministern beim Abspecken zuschauen. Regelmäßig wurden dort Fotos veröffentlich, die eine Mitarbeiterin dabei zeigten, wie sie die entblößten Bäuchlein der Minister maß. Erst
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wenn sie ihren Bauchumfang auf unter 85 Zentimeter getrimmt hätten, gelobten die Minister, würde der Blog abgeschaltet (BBC 2006). Die Aktion ist in Japan, dem Land mit der weltweit höchsten Lebenserwartung und der niedrigsten Adipositas-Rate unter allen Industrieländern kein kurioser Einzelfall. Seit 2006 wird von allen Bürgern des Landes im Alter zwischen 40 und 74 Jahren jährlich der Bauchumfang gemessen. Erlaubt sind bei Frauen maximal 90 Zentimeter, bei Männern sogar nur 85 Zentimeter. 56 Millionen Bäuche und damit 44 Prozent der Gesamtbevölkerung werden in einer zentralen Datei erfasst. In vier Jahren soll die Zahl der übergewichtigen Japaner auf diese Weise um zehn Prozent und in sieben Jahren sogar um 25 Prozent gesenkt werden. Alle Japaner, die nicht in einem Großbetrieb arbeiten und nicht privat versichert sind, erhalten die Aufforderung, sich jährlich einmal zur Bauch-Musterung in ein Krankenhaus in ihrer Nähe zu begeben. In den größeren Firmen sind die Bauchmessungen Teil der traditionellen jährlich stattfindenden Gesundheitschecks. Den Firmen, die besonders viele füllige Mitarbeiter beschäftigen, drohen finanzielle Konsequenzen. Die Sanktionen für die Firmen sind so drastisch – allein der Computer-Hersteller NEC rechnete für 2008 mit Strafzahlungen von fast 15 Millionen Euro – dass die Betriebe den finanziellen Druck bald an ihre Mitarbeiter weitergeben dürften (Onishi 2008).
Schlank und schön, für wen eigentlich? Die Beispiele aus Japan und Großbritannien zeigen die repressive Seite der staatlichen Mobilmachung für mehr Fitness und weniger Fett: die finanzielle Sanktionierung von Übergewichtigkeit und die lückenlose Registrierung und Überwachung abweichender Körper. Doch das allgegenwärtige Schlankheits- und Schönheitsideal beruht nicht allein auf repressiven Maßnahmen. Der Wunsch nach Schlankheit, Fitness und einem attraktiven, angepassten und gleichzeitig einzigartigen Äußeren ist ein Bedürfnis, das sich nicht auf die kommerziellen Interessen von Textilunternehmen, Sportgeräteherstellern und Zeitschriftenverlagen oder die gesundheitspolitischen Ambitionen von Politikerinnen und Wissenschaftlern reduzieren lässt. Die Frage, die sich an dieser Stellte stellt, ist so alt ist wie das berühmte Spieglein an der Wand. Nicht wer die oder der Schönste ist, sondern für wen mache ich mich eigentlich schön und schlank, für mich oder für andere? Schönheitshandeln ist ambivalentes Handeln, gleich ob es sich um so alltägliche Dinge wie Diäten, Fitnesstraining, Make Up oder Kleidung handelt, oder um tiefergehende Eingriffe wie Magenverkleinerungen und Schönheitsoperationen. „Entscheidend scheint mir gleichwohl“, schreibt Sabine Maasen mit Bezug auf Letz-
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tere, „dass hier mehr als eine bloße Unterordnung unter das Diktat der Schönheit am Werke ist.“ Denn die Frauenbewegung gebe Frauen durchaus auch die Chance, schönheitschirurgische Praktiken als Resultat souveräner Entscheidungen zu betrachten (Maasen 2008: 109). Diese Ambivalenz aus Unterwerfung unter das fremdbestimmte Schönheitsdiktat und die Selbst-Ermächtigung über den eigenen Körper macht Schönheitshandeln zum Paradebeispiel für die Subjekttheorie Michel Foucaults. Den Status eines Subjekts zu erlangen bedeutet für Foucault einerseits „vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein“, andererseits „durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner Identität verhaftet sein“. (Foucault 1994a: 246f.) Macht kann dabei Foucault folgend immer nur auf freie Subjekte ausgeübt werden, auf Menschen also, die sich zwischen Alternativen entscheiden können. Daher steht in Foucaults Machtanalytik auch nicht der gewaltsame Zwang, sondern die Lenkung von Subjekten im Mittelpunkt. Diese „Führung der Führungen“, die Foucault mit dem Begriff Regierung überschrieben hat, sieht er als ein „Ensemble von Handlungen in Hinsicht auf mögliche Handlungen“: „sie operiert auf dem Möglichkeitsfeld in das sich das Verhalten der handelnden Subjekte eingeschrieben hat; sie stachelt an, gibt ein, lenkt ab, erleichtert oder erschwert, erweitert oder begrenzt, macht mehr oder weniger wahrscheinlich, im Grenzfall nötigt oder verhindert sie vollständig; aber stets handelt es sich um eine Weise des Einwirkens auf ein oder mehrere handelnde Subjekte, und dies, sofern sie handeln oder zum Handeln fähig sind.“ (Foucault 1994b: 255) Regiert wird das Subjekt also nur im Ausnahmefall mit Gewalt und Zwang, der Regelfall ist die Anleitung zur Selbstführung, für die das gesamte zur Verfügung stehende Arsenal der Humanwissenschaften zur Anwendung gebracht wird. Macht im Foucaultschen Sinn hat also nichts zerstörerisches, nichts unterdrückendes, sondern ist im Idealfall produktiv und ermöglichend. Sie dient nicht dazu die Subjekte zu brechen, sondern ihre Kreativität, Produktivität und Originalität für spezifische Ziele zu mobilisieren. Die Art und Weise wie Subjekte sich selbst verstehen bzw. wie sie verstanden und angeleitet werden, „lässt sich nur erschließen über die historischen Semantiken und Wissenskomplexe, die Selbst- und Sozialtechnologien, die zu seiner theoretischen Bestimmung und praktischen Formung aufgerufen wurden und werden“ (Bröckling 2007: 22f.). Gegenwärtig sind diese Selbst- und Sozialtechnologien geprägt durch die Radikalisierung beider Seiten der Foucaultschen Subjektivierungsmedaille. Zum einen eröffnet sich den Subjekten eine ungekannte Vielzahl von Möglichkeiten da religiöse, familiäre, standesgemäße und technologische Hürden fallen. Zum anderen wird der gesellschaftlich vorgegebene Zwang zur erfolgreichen Selbstvermarktung immer totaler. „Die Gleichzeitigkeit
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von Selbst-Ermächtigung als Versprechen der Moderne wie Beck/Beck Gernsheim formulieren und Selbst-Unterwerfung – wie etwa Max Weber, die kritische Theorie oder Michel Foucault die rationalisierte Moderne kennzeichnen – ist … das wirklich Faszinierende reflexiv-moderner Praxen“, schreibt Paula Irene Villa (2008) mit Blick auf Schönheitshandlungen. Ein weiteres Spezifikum der Foucaultschen Machtanalytik ist, dass er Machtstrukturen nicht von einem Zentrum ausgehend, hierarchisch nach unten durchdekliniert, sondern eine Machtanalyse vertritt, die in „vielen unendlichen Mechanismen“ ihre Basis findet (vgl. Morgan 2008: 144). Diese vielen kleinen Mechanismen bezeichnet Foucault an anderer Stelle auch als Mikropolitiken. Mikropolitiken wiederum sind auf Akteure angewiesen, die ihnen zum Durchbruch verhelfen. „Subjektivierungsregime brauchen Subjektivierungsregisseure“, schreibt Ulrich Bröckling. „Sie verleihen den Programmen Autorität, sie definieren die Aufgaben, vermitteln die Technologien zu ihrer Lösung, sie motivieren und sanktionieren, sie geben Feedbacks und evaluieren schließlich die Ergebnisse. Zu den klassischen Spezialisten wie Seelsorgern, Lehrern oder Ärzten ist inzwischen eine unübersehbare Zahl von Beratern, Gutachtern, Therapeuten und Trainern hinzugetreten“ (Bröckling 2007: 41). Mit dem gleichzeitigen Anwachsen von Möglichkeiten und dem Zwang zur Selbstinszenierung multipliziert sich die Zahl der Berater ebenso wie ihre Einsatzgebiete. Spitzenfußballerinnen werden heute von einer Vielzahl an Fitnesstrainern, Psychologinnen, und Ernährungsberatern betreut, die eigentliche Trainerin wird zur Teamleiterin eines Heers an Spezialisten. Auch die Mangerinnen und Manager des Alltags werden von einer Armada an Experten beraten, wenn auch meist nicht persönlich, sondern vermittelt über Zeitschriften, Fernsehprogramme und Ratgeberliteratur. Mit dem Einzug des „Regime des Managements“ (Bröckling) wird die Expertinnenschar aber nicht nur zahlreicher und ihr Einsatzgebiet umfangreicher, es entgrenzt sich auch ihre zeitliche und örtliche Präsenz. Mit Blick auf die Wellness-Bewegung hat Monica Greco dieses idealtypische „Konsumenten- und Produzenten-Ich“ folgendermaßen skizziert: „Die alte Wohlstandskultur gefährdet – in dem sie ausschweifenden Konsum ebenso wie eine zusehends sitzende Lebensweise fördert, was beides zu chronischen und kostspieligen Krankheiten führt, nicht nur die Produktivität der Arbeitskräfte, sondern auch den ökonomischen Nutzen derselben Individuen als Konsumenten. Wellness-Konsumenten hingegen maximieren ihr eigenes Humankapital – sie sind keine passiven Nutzer von Wohlstandsgütern, sondern sorgfältige Manager jener Risiken, welche die Wohlstandskultur produziert. Wellness-Konsumenten vergessen niemals, dass es die eigene Produktiv- und Konsumkraft zu erhalten gilt. Der Schlüssel zu diesem neuen Gleichgewicht liegt darin, neue Formen des
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Vergnügens zu lernen und Askese für Konsumzwecke einzuspannen.“ (Greco 2004: 298) Damit vollzieht sich auf der Ebene der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie ähnliches wie es Soziologinnen schon länger für den Arbeitsmarkt konstatieren. Die strikte Grenzziehung zwischen Reproduktion und Produktion zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Produktion und Konsum, die das fordistische Arbeitsregime kennzeichnete, ist ebenso aufgehoben, wie die zwischen Beratung und Entertainment. Jedes Handeln, auch und gerade das Konsumentenhandeln, ist immer zugleich eine Investition in die Ich AG, lautet die Botschaft von modernen Lifestylemagazinen ebenso wie von zeitgenössischer Managementliteratur und Fernsehunterhaltung.
Dress(ur) to Success im Aktivierenden Staat Die fordistische Trinität aus Vollzeitjob, Kraftfahrzeug und Kleinfamilie wusste der Wohlfahrtsstaat bis vor wenigen Jahrzehnten noch jeder zu garantieren, die sich so einigermaßen an die Spielregeln hielt. Heute gelten dagegen andere Bedingungen: Denn weil der Wohlfahrtsstaat in den Augen seiner Vordenker nicht länger in der Lage ist, diese Normalbiographie zu garantieren, sucht er die Voraussetzungen jedes Einzelnen, eben jenen Lebensstandard doch noch zu erreichen durch Anleitungen zur Selbstoptimierung zu steigern. Die Forderung nach mehr unternehmerischer Kreativität, Wagemut und Eigenverantwortung statt der alten „Vollkaskomentalität“ wird durch Maßnahmen flankiert, die durch die Ideologie des eigenverantwortlich Sorge tragenden Individuum, das sich seinen Zugang zum Sozialstaat durch Vorleistungen erst einmal verdienen muss, geprägt sind. Die beschriebenen Mikropolitiken aus Printmedien und Fernsehunterhaltung schweben also nicht im luftleeren Raum, sondern sind Teil einer veränderten gesellschaftlichen Rationalität. Mit dem Ende der fordistischen Produktionsweise und der keynesianischen Finanzpolitik geht ein Umbau des als schwerfällig und teuren aber auch bevormundend porträtierten Sozialstaats einher. Dabei ist dieser Umbau nicht nur in der Rhetorik seiner Protagonistinnen mehr als ein bloßer Abbau. Vielmehr wird der Abbau von garantierten Leistungen, durch einen Aufbau aktivierender Maßnahmen flankiert. Im Gegensatz zum USamerikanischen Modell des Neoliberalismus, der tatsächlich wenig mehr als ein Zurück zum klassisch liberalen Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts beinhaltet, ist seine europäische Variante nicht so sehr durch einen Rückzug des Staates als durch seine ideologische und praktische Neuausrichtung gekennzeichnet. „Die neuen Beziehungen zwischen Ökonomie und Gesellschaft sind nicht wie
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einige Demagogen behaupten, durch ein Zurück zum ‚wilden’ Kapitalismus gekennzeichnet, sondern eher durch die Entwicklung politischer Strategien, welche die Gesellschaft in die Ökonomie integrieren, schrieb – seiner Zeit weit voraus – schon 1984 der französische Publizist Henry Thibault (zit. nach Bröckling 2007: 52). In Großbritannien prägte vor allem der Soziologe Anthony Giddens die Vorstellung eines Dritten Weges zwischen Neoliberalismus und sozialdemokratischer Rundumversorgung (vgl. Dingeldey 2006). Der so skizzierte „Social Investment State“ sollte die Alternative zur neoliberalen Politik Margaret Thatchers ebenso formulieren wie zum sozialen Recht, dass der theoretische Begründer des britischen Sozialstaats T.H. Marshall eingefordert hatte. „No Rights without Responsibilities“, keine Leistung ohne Gegenleistung, wie Giddens formuliert hatte, heißt aber keine Beschränkung des Staates auf seine repressiven Funktionen, sondern die Organisation des Sozialstaats nach ökonomischen Modellen, mit, zumindest der Rhetorik nach, ermöglichenden statt repressiven Begleitmaßnahmen. Die Idee des „Social Investment State“, in der bundesdeutschen Debatte als Aktivierender Staat bezeichnet, hat ihren Weg über die Arbeit der Zukunftskommission Bayern-Sachsen unter Leitung von Kurt Biedenkopf (1997) und das Schröder-Blair Papier (1999) in die Politik der Agenda 2010 gefunden und ist in der deutschen Arbeitsmarktpolitik längst fest etabliert. Aktuelle Beispiele für diese Ökonomisierung des Sozialen sind die Wiedereingliederungs- und Zielvereinbarungsverträge, die Hartz IV-Empfänger heute unterzeichnen müssen und die das ökonomische Grundprinzip des Äquivalententauschs und des freien Vertragschlusses ebenso simulieren wie die unter rein haushaltspolitischen Gesichtspunkten kontraproduktiven Ein-Euro-Jobs. Wie die praktische Umsetzung der Prämissen des Aktivierenden Sozialstaats in den Niederungen der Sozialen Arbeit aussieht, skizzierten Heinz-Jürgen Dahme und Norbert Wohlfahrt im Jahr 2000, als die neue Staatsdoktrin in Deutschland erst in seinen Grundzügen zu erkennen war, so: „Individuelles Verhalten muss sich den Verhältnissen anpassen und im Zweifelsfall dementsprechend trainiert oder ‚dressiert’ werden. Wie die Individuen sich den Verhältnissen unterordnen müssen, so die Sozialpolitik den Anforderungen des Arbeitsmarktes. Die Forderung, Verhaltensweisen zu zeigen, die ‚Arbeitsbereitschaft’ signalisieren (‚kein Kaugummi; kleide Dich für den Erfolg; sei pünktlich’), zielt ab auf Einstellungs- und Verhaltensänderungen von Hilfebeziehern, die als eigentlicher Grund für prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Unterbeschäftigung unterstellt werden. Die Entwicklung und Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen erscheint damit als methodisches Prinzip der Beeinflussung und Veränderung defizitärer Persönlichkeitsstrukturen, die letztendlich auch die Ursachen für dauerhafte soziale Ausgrenzungen bildeten.“ (Dahme/Wohlfahrt 2000: 4f.)
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Und auch in diesem Punkt fallen Soziale Arbeit im aktivierenden Sozialstaat und ihre mediale Spiegelung in den Makeover-Shows zusammen. Denn im Fall der Schwervermittelbaren, gleich ob es sich um den Arbeit- oder den Beziehungsmarkt handelt, lassen sich die konstatierten Probleme hier wie dort scheinbar durch eine oberflächliche Expertenintervention, die allein auf der Ebene der Selbstinszenierung, des Auftretens und der Kleidung basiert, korrigieren. Die zugrundeliegenden Mechanismen, die Ausschluss und Marginalisierung in verschiedensten gesellschaftlichen Sphären bedingen, können so nonchalant übergangen werden.
Fazit In einer Gesellschaft, in der die Notwendigkeit sich im Alltag körperlich zu verausgaben rapide zurückgeht und gleichzeitig preiswerte und kalorienreiche Nahrungsmittel universal verfügbar sind, ist es äußerst schwierig schlank zu bleiben bzw. zu werden. Doch obwohl aus epidemiologischer Sicht vieles dafür spricht (vgl. u.a. Flegal et al. 2005; Bender et al. 1999), dass Übergewichtige und moderat adipöse Menschen nicht ungesünder leben als normalgewichtige, wird die unrealistische Körpernorm von offizieller Seite aufrechterhalten und die Bevölkerungsmehrheit damit als zu dick oder gar als krankhaft fettleibig gebrandmarkt. Im Unterschied zur ersten großen Problematisierungswelle in den 1970ern gilt Übergewicht heute nicht länger als eine Volkskrankheit, die alle gleichermaßen betrifft, sondern zuvorderst als ein Problem beratungsresistenter „Unterschichten“. Die Ansicht, dass die Dicken überspitzt gesagt auch noch doof und arm seien, verschärft die Ausgrenzung abweichender Körper und Ernährungsweisen. Und das hat Folgen: So wirkt sich die Stigmatisierung Dicker längst empirisch messbar als Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt aus – und zwar sowohl was die Chancen auf eine Anstellung als auch was die Höhe der Bezahlung anbelangt (Cawley/Grabka/Lillard 2005; Puhl/Brownell 2001). Schlankheit wird so immer mehr zur Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und Erfolg. Diese Entwicklung wird durch staatliche Kampagnen noch verstärkt. So heißt es etwa in der Präambel für den jüngsten Aktionsplan der Bundesregierung im Kampf gegen Übergewicht IN FORM: „Für jede Bürgerin und jeden Bürger ist es in Deutschland grundsätzlich möglich, gesund zu leben, sich insbesondere eigenverantwortlich gesund zu ernähren und ausreichend zu bewegen. Dennoch nehmen in Deutschland und in den meisten Industrienationen Krankheiten zu, die durch eine unausgewogene Ernährung und zu wenig Bewegung begünstigt werden. Das bedeutet, dass nicht alle Menschen in der Lage
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oder willens sind, diese bestehenden Möglichkeiten zu nutzen. … Die Unterstützung von Verhaltensänderungen durch Information und Motivation sowie die Weiterentwicklung gesundheitsförderlicher Strukturen sind zentrale Aufgaben des Nationalen Aktionsplans. Denn Gesundheit ist nicht nur ein individueller Wert, sondern eine Voraussetzung für Wohlbefinden, Lebensqualität und Leistung, ein Wirtschafts- und Standortfaktor, die Voraussetzung für die Stabilität des Generationenvertrags und sie leistet einen Beitrag zur Teilhabe an der Gesellschaft und zur sozialen Gerechtigkeit.“ (BMELV/BMG 2008: 7)
Der Kampf gegen Übergewicht und Fehlernährung im Namen der Standortkonkurrenz, der Daseinsfürsorge und der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten bricht den ideologischen Sermon der Leistungsgesellschaft auf die reine Körperlichkeit herunter. Doch die Hoffnung, über die unermüdliche Arbeit am eigenen Körper im rauer gewordenen Wettbewerb verloren gegangene Planungs- und Existenzsicherheit zurückgewinnen zu können, wird sich nicht erfüllen. Denn leider gewährleisten weder die „richtige Ernährung“, noch ein Waschbrettbauch, ein straffer Busen oder ein niedrigerer BMI ein annehmbares Einkommen, immerwährende Gesundheit und unerschöpfliche Kraftquellen und sie sind auch kein Garant für erfüllte zwischenmenschliche Beziehungen. Sie sind lediglich die verlangte Vorleistung, ohne die die Teilnahme am Spiel von vorneherein aussichtslos erscheint.
Literatur Asgodom, S. (2009): hier geht’s zum Erfolg. http://www.emotion-coaching.de/de/themen/artikel/default.aspx?artikelid=36. [Letzter Zugriff 09.06.2009]. Bartens, W. (2008): Vorsicht Vorsorge. Wenn Vorsorge nutzlos oder gefährlich wird. Frankfurt a.M. BBC (2006): Diet Blog for Japanese Ministers. 04.12.2006. http://news.bbc.co.uk/2/hi/ asia-pacific/6205894.stm. [Letzter Zugriff 09.06.2009]. Bender, R./Jöckel, K.-H./Trautner, C. et al. (1999): Effect of Age on Excess Mortality in Obesity. In: Journal of the American Medical Association 281 (16), S. 1498-1504. Bosley, S./Bowcott, O./Watt, N. (2004): Doctor Irate Over Report on Child’s Death. In: The Guardian 10.06.2004. Bröckling, U. (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M. Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz – BMELV, Bundesministerium für Gesundheit – BMG (2008): Der nationale Aktionsplan zur Prävention von Fehlernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und damit zusammenhängenden Krankheiten. In Form: Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung. Berlin.
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Policing Pleasure – Drogenpolitik und die Politisierung der Nahrungsaufnahme1, 2 Craig Reinarman
Am 5. Dezember 2006 beschloss die New Yorker Gesundheitsbehörde zwei sehr unterschiedliche Verordnungen, die ebenso unterschiedliche Reaktionen auslösten. Eine der beiden war „das erste stadtweite Verbot von Transfetten in Restaurants, ausgenommen kleinster Mengen“. Die Behörde zog für ihre Entscheidung Erkenntnisse heran, die belegen, dass bei der Aufnahme solcher ungesättigter Fette ein besonders schädliches Cholesterin gebildet wird, welches für die Verursachung von Herzerkrankungen verantwortlich gemacht wird (Lueck/Stevenson 3 2006b: a1). In den Nachrichtenmeldungen wurde diesen Erkenntnissen nicht widersprochen. Dennoch wurde das Verbot kritisiert, da der Staat unberechtigter Weise in den Freizeitbereich der Bürger eingedrungen sei. Ein Sprecher des Nationalen Gaststättenverbands bezeichnete das Verbot als einen „verfehlten Versuch eines social engineerings durch eine Gruppe von Ärzten, die offensichtlich nichts von der Restaurantindustrie verstehen“ (ebd.). Ein Anwalt des New Yorker Gaststättenverbands erinnerte an staatsbürgerliche Freiheiten: „Ich will mir nicht vorschreiben lassen, was ich essen darf“ (Lueck/Stevenson 2006a: c16). New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg hingegen berief sich zu seiner Verteidigung klar auf Public Health-Ansätze und versicherte den Menschen, dass die Regierung „not going to take away anybody`s ability to go out and have the kind of food they want, in the quantities they want. We`re just trying to make food safer” (Lueck/Stevenson 2006b: a1; vgl. Lueck 2006: a1). Taktisch geschickt
1 Dieser Beitrag erschien im Original als: “Policing Pleasure: Food, Drugs, and the Politics of Ingestion,” in: Gastronomica 7, no. 3 (Summer 2007), pp. 53-61. Wir danken der University of California Press für die unkomplizierte Genehmigung des Abdrucks. Verantwortlich für die Übersetzung aus dem Amerikanischen ist Josefin Wagner. 2 Craig Reinarman bedankt sich herzlich bei E. Melanie DuPuis, Harry G. Levine, Darra Goldstein und Marsha Rosenbaum für die hilfreichen Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Essays. 3 Kalifornien und andere Staaten erwägen ähnliche Maßnahmen (vgl. Yi 2006: b1).
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umging er es, sich zwischen die New Yorker Bevölkerung und ihre Nahrungsbedürfnisse zu stellen. Am selben Tag wurde eine weitere Maßnahme verabschiedet. Anstelle des Verbotes einer gefährlichen Substanz, wurde den Fast-Food-Ketten auferlegt, den Kaloriengehalt ihrer Produkte kenntlich zu machen. Auch hier war es das Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern und etwas gegen die vermeintlich „landesweite Adipositasepidemie“ zu tun (Lueck/Stevenson 2006b: a1). Diese Reglementierung war weniger umstritten. Vielleicht, weil sie eher im Einklang mit den typischen Laissez-faire-Prinzipien steht, wie der Konsumentensouveränität und des „Caveat emptor“, also mit dem Slogan „Gekauft wie gesehen“. Die Verordnung beschränkt sich auf die Bereitstellung von Informationen, damit die Konsumenten in die Lage versetzt werden, bessere Entscheidungen hinsichtlich ihrer Ernährung treffen zu können. Gesetze zu erlassen, die der Verbesserung der allgemeinen Gesundheit dienen, aber die Rechte und Freiheiten der Menschen nicht beschneiden, ist nicht einfach. Gerade die Vorgehensweise, ungesunde nicht etwa giftige oder Krebs erregende Nahrungsmittel zu verbieten, ist keineswegs selbstverständlich. Denn unter welchen Umständen sollte man aus Public Health-Sicht bestimmte Nahrungsmittel verbieten? Diejenigen von uns, die in den USA Drogenforschung betreiben, können den Ernährungsforschern nur den Rat geben, nicht den selben Weg einzuschlagen, den die Drogenpolitik beschritten hat. Interessanterweise haben die Nahrungsmittel- und Drogenpolitik der USA gemeinsame Wurzeln, die sich bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts zurück verfolgen lassen. Mit dem 1906 verabschiedeten Pure Food and Drug Act versuchte der US-Kongress den skandalösen und gesundheitsgefährdenden Praktiken in der Fleisch verarbeitenden Industrie (die treffend von Upton Sinclair beschrieben wurden) Herr zu werden. Zugleich erschien damals eine Flut von Zeitungsartikeln über „Schlangenölverkäufer“, also über Personen, die den Leuten Allheilmittel mit geheimen Zutaten (oft Alkohol oder Opiate) aufschwatzten. Das neue Gesetz schrieb unter anderem die wahrheitsgemäße Kennzeichnung der Inhaltsstoffe von Nahrungs- und Arzneimitteln vor und ermöglichte den Behörden die regelmäßige Inspektion von Betrieben. 14 Jahre später, also 1920, begann die Alkohol-Prohibition und die Drogen- und Arzneimittelkontrolle wurde den Protagonisten der Prohibition unterstellt. Diese nahmen nicht mehr die Drogenproduzenten in den Blick, sondern richteten ihr Augenmerk auf die Kriminalisierung von Einzelpersonen größtenteils auf Anhänger der unteren sozialen Schicht oder andere, wenig angesehene Gruppen der Gesellschaft. Diese Verlagerung war der Grundstein für die zukünftige Drogenpolitik der USA (Duster 1970; Musto 1973).
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Im 20. Jahrhundert wurden in den USA dann kontinuierlich immer mehr Substanzen verboten bzw. deren Konsumenten als kriminell definiert, was zur Schaffung einer riesigen Drogen-Kontrollindustrie führte. Zusätzlich zur Drug Enforcement Administration (DEA) und dem Büro des obersten Drogenbeauftragen der USA (der ironischerweise „Drogenzar“ genannt wird) existieren Drogenbekämpfungsabteilungen im Außenministerium, in der CIA, dem FBI, den Streitkräften, der Marine, Luftwaffe, Küstenwache, Einwanderungsbehörde, dem Zoll, im Heimatschutzministerium und fast jeder Bundes- und örtlichen Polizeidienststelle. Auf dem Höhepunkt der Crack-Cocaine-Panik in den späten 1980er Jahren verabschiedete der US-Kongress unter anderem den Drug-Free America Act, der lange Haftstrafen für Drogendelikte vorsah. Durch diese Gesetze verdreifachte sich die Anzahl der Gefängnisinsassen (unter denen sich im Übrigen unverhältnismäßig viele arme Farbige befanden), was den USA die höchste Inhaftierungsrate der westlichen Welt bescherte (Bureau of Justice Statistics 2007). Auch an jenem Tag, an dem die New Yorker Gesundheitsbehörde bestimmte Trans-Fette verbot, wurden, wie an jedem anderen Tag des Jahres, in New York City ca. 80 Personen wegen des Besitzes kleinster Mengen Marihuana verhaftet. 4 Hochgerechnet kommt man dabei auf bis zu 30.000 Personen pro Jahr. Im Vergleich dazu ist es der Ernährungspolitik gelungen, die Gesundheitssituation der Bevölkerung ohne solche drakonischen Strafen zu verbessern. Dennoch lohnt die Frage: Stehen wir am Beginn einer Ära, in welcher der Staat über gesunde und ungesunde Nahrungsmittel befindet und die ungesunden für illegal erklärt? Und wenn ja, was halten wir von der Vision einer Welt, in der alles Ungesunde verboten ist? Oberflächlich betrachtet scheint der Vergleich von Nahrungsmitteln und Drogen überzogen. Beide haben unterschiedliche Einflüsse auf den Körper. Zudem wird zumeist davon ausgegangen, dass sie zu unterschiedlichen Substanzkategorien zählen. Der menschliche Körper benötigt Nahrung zum Überleben, Drogen, die für die kleinen Freuden des Alltags genutzt werden, allerdings nicht. Gleichwohl sollte sich jeder, der sich für die Reglementierung unserer Nahrung interessiert, auch mit der Drogenkontrolle befassen, denn es gibt überraschende Ähnlichkeiten zwischen den Genüssen, die einerseits durch Drogen und andererseits durch Nahrung erfahrbar sind – ebenso wie Überschneidungen in der politi4 New York State Division of Criminal Justice Services, Computerized Criminal History system (Stand: April 2005). In die Berechnungen wurden alle Vergehen gegen Artikel 221 des New Yorker Strafgesetzbuches, bei denen Fingerabdrücke genommen werden konnten und nur Täter, die älter als 16 Jahre alt waren, einbezogen. Dies ergab 29.027 Festnahmen in New York City wegen Marihuanabesitzes für das Jahr 2004. Teilt man dies durch 365, erhält man 79,5 als Tagesmittelwert. Dieser Wert ist der niedrigste der letzten sieben Jahre. Daten abrufbar unter www.hereinstead.com/nyCityMarijuana-Arrest-Graphs.htm.
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schen Programmatik. Außerdem sind beide Bereiche mit einer Vielzahl potenzieller Probleme konfrontiert: die Medikalisierung von immer mehr Verhaltensweisen, die wachsenden Möglichkeiten der technologischen Überwachung des Ernährungsverhaltens der Bevölkerung durch den Staat, und schließlich werden die Bürgerrechte, die einst Schutz vor solchen Übergriffen gewähren sollten, im aktuellen politischen Kontext immer mehr eingeschränkt (vgl. Hentoff 2003). Obwohl es abzuwarten bleibt, inwieweit Ernährungsfragen in Zukunft ihren im Kulturellen angesiedelten Ort verlassen und ins politische Feld verlegt werden, scheinen aktuelle Regulationsbemühungen richtungsweisend zu sein und geben Anlass, das Ganze aufmerksam zu verfolgen.5
Verschwommene Grenzen Das Vokabular, das üblicherweise im Zusammenhang mit Drogenmissbrauch, Abhängigkeit oder Krankheit gebraucht wird, schleicht sich zunehmend in die öffentliche Ernährungsdebatte ein. Dies geht weit über die Ansicht hinaus, dass übermäßige Nahrungsaufnahme oder ungesunde Ernährung die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten verschiedener Krankheiten erhöhen. Medien berichten routinemäßig von einer „nationalen Adipositasepidemie“ (Lueck/Stevenson 2006b: a1) und die Auffassung verfestigt sich, dass Millionen Menschen Essen „missbrauchen“ oder gar davon „abhängig“ sind. Auch die American Psychiatric Association listet in ihrem Diagnostischen und Statistischen Handbuch Psychischer Störungen (DSM-IV) Essstörungen auf. Das 12-Schritte Programm der Anonymen Alkoholiker wurde mittlerweile von Overeaters Anonymous, den Selbsthilfegruppen für Menschen mit Essstörungen, übernommen, die ebenso wie die Anonymen Alkoholiker und andere Selbsthilfegruppen für Drogenabhängige, Kokainabhängige usw. in den kirchlichen Räumlichkeiten überall in den USA 6 tagen. Man könnte diese Entwicklungen als konzeptionellen Imperialismus der Medikalisierung verstehen, in dessen Kontext mehr und mehr Verhaltensweisen als krank klassifiziert werden. So werden etwa Millionen amerikanischer Kinder, denen einst in ihren Zeugnissen „Konzentrationsschwierigkeiten“ attestiert wurden, heute als „Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom“ diagnostiziert und paradoxerweise mit stimulierenden Medikamenten wie Ritalin behandelt (vgl. deGrandpre 2000). Kinder, die eher langsam lesen, haben nun eine 5 Für eine aufschlussreiche Analyse des Themas vgl. Guthman/DuPuis (2006: 427-448). Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Behauptung, es gäbe eine „Adipositasepidemie“ vgl. Oliver 2006. 6 Zur Ausbreitung des Zwölf-Schritte-Programms vgl. Reinarman (1995: 90-109).
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„Lernschwäche“. Männer um die 60, deren Libido nicht mehr das ist, was sie einmal war, leiden nun an ED (diese steril klingende Abkürzung steht für Erektile Dysfunktion). Die entsprechende Behandlung Viagra und andere Vertreter dieser Medikamentengruppe ist so ungemein profitabel, dass Pharmakonzerne sich nun intensiv damit beschäftigen, auch Frauen davon zu überzeugen, dass ihre im höheren Alter schwindende Lust eine Krankheit sei. Sogar Schüchternheit ist nun neuerdings als „social anxiety disorder“ definiert und damit medizi7 nisch klassifiziert. Die Medikalisierung der verschiedenen ernährungsbezogenen Probleme führt allerdings nicht dazu, dass diese nun besser verstanden oder automatisch humaner behandelt würden. Anscheinend können wir ohne große Probleme mit widersprüchlichen Etikettierungen leben: Wir definieren Verhaltensweisen zur selben Zeit sowohl als krankhaft als auch als abweichend, d.h. als Verhalten, das sowohl behandelt wie kontrolliert werden muss. Zwar stimmen alle Ärzte und Politiker eingeschlossen in das Mantra der „drug-treatment industry“ ein, dass Sucht eine Krankheit sei. Allerdings gilt dies nur für die Patienten, die Probleme mit Alkohol, Zigaretten oder Essen haben. Diejenigen jedoch, die Probleme mit unerwünschten Substanzen haben, werden für ihre „Krankheit“ üblicherweise eingesperrt (Reinarman 2005: 307-320). Eine Ironie ist es dabei, dass die neuen Begrifflichkeiten, die die Ernährungs- und Drogenproblematik wieder vereinen, den Prozess ihrer Trennung umkehren. Über weite Teile der Menschheitsgeschichte zählte man alkoholhaltige Getränke, psychoaktive Pflanzen und Medikamente zur großen Gruppe der Nahrungsmittel. Im früheren Sumer fanden Archäologen 8000 Jahre alte, kunstvoll verzierte Tongefäße, die Bierrückstände enthielten; ein Hinweis darauf, dass getreidehaltige Nahrung in der Antike und eventuell schon in der Jungsteinzeit in Form alkoholischer Getränke eingenommen wurde (Katz/Voigt 1986; New York Times 1987: c1; Levine: 2006: 227-270). Ein Brei, der überwiegend aus Bier bestand, war ein typisches Frühstücksgericht im Mittelalter und in der frühen Moderne. Bevor die Kartoffel in Europa heimisch wurde, war „Bier nach Brot das zweitwichtigste Nahrungsmittel für die meisten Zentral- und Nordeuropäer“. Im 17. Jahrhundert „verzehrten die Engländer circa drei Liter Bier pro Person und Tag, (Kinder eingeschlossen)“ (Schivelbusch 1992: 22-23). In Weinkulturen wie Frankreich und Italien wird Wein größtenteils immer noch als Nahrung angese8 hen.
7 Vgl. Conrad 2006; Conrad/Schneider 1992. Zur Medikalisierung von Alkoholproblemen vgl. Peele 1989. Für einen Überblick über Medikalisierung im Alltag vgl. Welch/Schwartz/Woloshin 2007: d5. 8 Die Kerncharakteristika von Weinkulturen hat Levine in einer vergleichenden Studie herausgearbeitet (1992: 16-36).
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Auch Medizin gehörte zur Nahrung. Der Historiker Massimo Montanari stellte fest, dass das Kochen mit Feuer „selbstverständlich von Anfang an dazu diente, die Kost hygienischer und geschmackvoller zu machen“. Dementsprechend kann man mit einiger Sicherheit annehmen, dass die Ernährungslehre mit dem Kochen entstand. Diese Beziehung entwickelte sich mit der Zeit zu „einer Wissenschaft innerhalb der theoretischen und praktizierenden Medizin“. Kräuter, Wurzeln, Nüsse und Heilpflanzen waren Bestandteil einer einheitlichen Kategorie „Nahrung“. Montanari fand “signs of medical precepts in recipe collections, since medicine and cookery are two aspects of the same corpus of knowledge … The dynamic of pleasure-health, which contemporary iconography often tends to perceive in conflicting terms, was thought of as an indissoluble union in premodern cultures … Beginning with the seventeenth and eighteenth centuries, dietetic science began to speak a different language, one based on chemical analysis and experimental physics … The new dietetics introduced concepts, formulas, and language no longer tied to sensorial experience“ (Montanari 2006: 51-57). Die neue Sprache brachte auch eine neue Systematisierung hervor, in der zwischen alkoholhaltigen Getränken sowie anderen Drogen auf der einen und Nahrung auf der anderen Seite unterschieden wurde. Diese Trennung war teilweise ein Ergebnis der Aufklärung ab Ende des 18. Jahrhunderts. Der Fortschritt der Wissenschaft in dieser Zeit brachte sowohl genauere Kenntnisse über Drogen mit sich als auch die Möglichkeit, diese in konzentrierten Formen herzustellen. Zwar waren bereits seit einiger Zeit verschiedene destillierte Spirituosen bekannt gewesen, doch durch die Massenproduktion und den Handel wurden sie nun weiter verbreitet. Viele Trinker wandten sich dadurch von Bier und Wein ab, was die „Gin-Epidemie“ im England des 18. Jahrhunderts anheizte. In ähnlicher Weise wurden nach der Synthetisierung des Kokain-Alkaloids im Jahre 1877 die alten Praktiken des Kauens von Cocablättern oder des Trinkens von Cocatee und -wein durch die neuen Formen Kokaininhalation oder injektion abgelöst. Das Rauchen von Opium wurde durch das Spritzen von Morphium und später Heroin verdrängt. Generell ist festzustellen, dass die pflanzlichen Mittel die Grundlage bildeten für den Aufstieg der frühen Pharmazeutik. Jede Klassifizierung, die in Nahrung und Drogen trennt, ist auf je spezifische Art mit Politik verwoben. Troy Duster vertritt die These, dass Alkohol und andere Drogen für die Sozialwissenschaften eine ähnliche Bedeutung haben, wie Farbstoffe für die Mikroskopie: Genauso wie die Farbstoffe fundamentale Charakteristika einer Zelle unter dem Mikroskop sichtbar machen, werden durch Drogen (und den Umgang mit ihnen) die fundamentalen Strukturen einer Gesellschaft erkennbar (Duster 1981: 326). Als beispielsweise der Tabak seinerzeit aus den amerikanischen Kolonien nach England kam, passte er nicht in die Kategorie Nahrung. Die Tabakpflanze war neu in Europa und Rauchen war eine radikal
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neue Art und Weise der (Nahrungs-) Aufnahme. Anfangs wurde „Rauchen“ von den Europäern als „Rauch trinken“ umschrieben. Diese neuartige Drogenkonsumform verbreitete sich rasend schnell, obwohl sie von König Jakob von England als abweichend verurteilt wurde. Doch seine Kampagne gegen das Rauchen verlief im Sande, da die Besteuerung des Tabakhandels bald eine der wichtigsten Einkunftsquellen des Königshauses wurde (Best 1979: 171-180). Auch der Aspekt der sozialen Klassen spielt eine Rolle bei der Klassifizierung von Substanzen. Die Bourgeoisie in Frankreichs Ancien Régime trank Kaffee vor allem, weil es ihnen die nötige Energie für den Arbeitstag zu geben schien. Ihrer Meinung nach war die Tatsache, dass die Aristokratie Schokolade bevorzugte, Ausdruck für die Dekadenz der Obrigkeit. Kaffee und Tee gewannen an Bedeutung und wurden die „trockenen“ Alternativen zu Alkohol. Für die aufstrebende Klasse der Kaufleute wurden Kaffeehäuser wichtige und vor allem „trockene“ Orte der Geschäftstüchtigkeit, so wie man es auch heute wieder beobachten kann. In Abgrenzung zum Kaffeehaus standen die Wirtshäuser der Arbeiterklasse, in denen angeblich Ausschweifungen und Chaos herrschten (Schivelbusch 1992: 15-95). Im frühen 19. Jahrhundert betrieben die evangelikalen Christen in den USA einen regelrechten Kreuzzug gegen Alkohol („temperence movement“). Im Laufe dieses Kreuzzuges wurde aus Alkohol, der die ersten zweihundert Jahre der USA als Geschenk Gottes galt, zu einem dämonischen „Zerstörer“, der für jedes Übel (von der Immigration über die Urbanisierung bis hin zur Industrialisierung; Levine 1978: 143-174, Gusfield 1963) verantwortlich gemacht wurde. Gleichermaßen wurde zwischen dem späten 19. und dem frühen 20. Jahrhundert Kokain zum Gegenteil dessen, was es einmal war: von einem medizinischen Wundermittel, das von Freud und anderen berühmten Ärzten gepriesen wurde und der Coca-Cola ihren Namen verlieh, wurde es nun zu einem kriminalisierten Übel was unter anderem auf die Behauptung von Polizei und Politiker zurückzuführen ist, dass Kokain Negro Crime verursachen würde (Musto 1973). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Idee, Drogen seien nicht Teil der gemeinsamen Kategorie Nahrung, eine relativ neue Erfindung ist. Oberflächlich betrachtet, scheint diese Unterscheidung vernünftig zu sein. Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass es nicht in erster Linie der Fortschritt der Wissenschaft war, der zu dieser Trennung führte, sondern dass die Abgrenzung in vielerlei Hinsicht politischen Ursprungs war und bis heute relevante politische Konsequenzen zeitigt. Im Krieg bezeichnet man seine Feinde als „die Anderen“. Hat man sie erst einmal dämonisiert und zu einem Typ reduziert, lässt sich ein Angriff auf sie
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leichter rechtfertigen. Sobald eine bestimmte Substanz oder Art der Einnahme aus der Kategorie Nahrung herausgelöst war, wurde es wesentlich leichter, Konsumenten zu „Anderen“ zu machen und sie zu bestrafen. Die definitorische Ausgrenzung war die Grundvoraussetzung für jeden der nachfolgenden Kriege gegen Drogen.
Appetit und Genuss Aldous Huxley schrieb in seinem Buch „Die Pforten der Wahrnehmung“: „Die meisten Menschen führen ein schlimmstenfalls so beschwerliches, bestenfalls so eintöniges, armseliges und beschränktes Leben, dass der Drang, ihm zu entfliehen, die Sehnsucht wenn auch nur für ein paar Augenblicke , aus und über sich selbst hinauszugelangen, eine der vornehmlichen Begierden der Seele ist und dies auch schon immer war“ (Huxley 2005: 48). Die Behauptung, dass Menschen Drogen nehmen, um den Leiden der Armut zu entkommen, scheint so lange plausibel bis man feststellt, dass diese Aussage von einem Mann stammt, der einer prominenten Familie der britischen Oberschicht angehörte und über seine eigenen intensiven Erfahrungen mit Halluzinogenen berichtete. Zudem zeigt die Geschichte des Drogenkonsums, dass sozioökonomisch Bessergestellte ebenso wie Unterdrückte gleichermaßen ein Bedürfnis nach transzendentalen Erfahrungen verspüren, wobei die Angehörigen der Oberschicht allerdings stets den Vorteil hatten, dass sie Dank ihrer Ressourcen die Konsequenzen des Drogenkonsums leichter verbergen konnten. Gleichwohl war Huxley auf der richtigen Spur, da er die lange Tradition und Allgegenwärtigkeit der Einnahme bestimmter Substanzen zur Bewusstseinserweiterung erkennt, weshalb seine Aussage, die menschliche Seele hätte einen „Appetit“ darauf, wohl nicht nur metaphorisch zu verstehen ist. Nahrung und Drogen haben letztlich gemeinsam, dass beide Genuss verursachen und Genuss etwas ist, worauf Menschen „Appetit“ haben. In einigen westlichen Kulturen wurde eine Abgrenzung des Appetits auf Essen vom dem auf einen flüchtigen Rausch und auf Euphorie nie vollständig vollzogen. Für den niederländischen Begriff genotmiddelen genau wie für das deutsche Äquivalent Genussmittel gibt es im Englischen nur die Umschreibung ‚articles of pleasure’. Darunter werden Substanzen verstanden, die gegessen, getrunken oder inhaliert werden und dem Konsumenten eine Art von Genuss bereiten sollen, die über die reine Versorgung mit Nährstoffen oder Medizin hinausgehen. In dieser Kategorie trifft man auf essbare Delikatessen, Gewürze, Aroma9 Ähnliche Prozesse laufen in allen Kulturen ab und dienen dazu, „normal“ von „krankhaft“ oder „Reinheit“ von „Gefahr“ abgrenzen zu können (vgl. Durkheim 1982; Douglas 1966).
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te, Cannabis, Opiate, alkoholische Getränke sowie andere legale und illegale Rauschmittel (Schivelbusch 1992: xii). Vielleicht ist es nicht überraschend, dass es im Englischen keinen Begriff für diese Worte gibt. Ich behaupte, dass der Grat, der zwischen „Ich esse, weil es gut schmeckt“ und „Ich esse, weil es sich gut anfühlt“ besteht, schmaler ist, als er in der englischsprachigen Welt wahrgenommen wird. Ist der Hunger gestillt und der Körper mit den wichtigsten Nährstoffen versorgt, dient die Nahrung ebenso wie der Drogenkonsum dazu, das Bedürfnis nach sybaritischen Freuden zu befriedigen. Essen und Drogen sind miteinander verknüpft und gleichermaßen Teil derselben sozialen Situationen. Kein Weinkenner würde sich jemals zu der Äußerung hinreißen lassen, man trinke einen herrlichen Haut-Médoc nur für den „Schwips“. Vielmehr sind die vielen Geschmacksdimensionen des Weins sowie sein Zusammenspiel, mit dem, was man dazu isst, von Bedeutung. Der „Schwips“ bleibt dennoch Teil der gesamten Weinerfahrung. Wenn der Genuss des Weins im Kontext von Essen, Familie, Freunden und Feiern geschieht, ist die Berauschung nach wie vor ein Bestandteil der Erfahrung, auch wenn dieser Teil in den Hintergrund rückt. Selbst in der Zeit der Temperenz-Movement in den USA blieb die Verschränkung von Essen und Trinken weit verbreitet. Im Fannie Farmer Cookbook, das 1896 erstmals erschien, wurde auf Weine verwiesen, die zu den einzelnen Gängen serviert werden sollten. Die moderne Konnotation des Begriffs appetizer versteht sich als Vorspeise. Als er in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den allgemeinen Sprachgebrauch überging, verstand man darunter alkoholhaltige Getränke, die vor dem Essen serviert wurden, um den Appetit anzuregen (Murdoch 1998: 102-104). Wenn wir nach einem guten Essen einen Espresso trinken, versteht sich dies als eine besondere Gaumenfreude. Gleichzeitig sind wir dankbar für die Stimulation des zentralen Nervensystems, die uns durch die Droge Koffein beschert wird, und die uns mit der nötigen Energie versorgt, um den Abend länger auskosten zu können. In manchen Kreisen erfüllt das zeremonielle Schnupfen von Kokain nach dem Essen den gleichen Zweck. Viele Jahre lang scherzte der Komiker George Carlin in seinem Programm, dass „wenn Supermarktbesitzern wirklich klar wäre, was Marihuana bewirkt, würden sie es umsonst an der Eingangstür verteilen“. Es gibt noch viel mehr Witze über Marihuana sowie Munchies, und die Mehrheit der 25 Millionen Amerikaner, die im letzten Jahr Marihuana konsumiert haben (Office of Applied Statistics 2003), wird bestätigen können, worauf all die Witze beruhen: Marihuana stimuliert den Appetit und verstärkt die Wertschätzung des Gegessenen. Selbst ohne solch psychoaktive Stimulierung ist oftmals bereits die Nahrungsaufnahme an sich eine bewusstseinserweiternde Erfahrung. Wenn man das Genusserlebnis einmal ausklammert, beginnt der Weg vom Hunger zur Sättigung
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mit Unbehagen und sogar Beklemmung, um mit Befriedigung und Entspannung zu enden. Wer von uns kennt nicht das Gefühl der Verzückung nach einer besonders schmackhaften Mahlzeit oder dem perfekt zubereiteten Lieblingsessen? Zum Beispiel der Genuss frischen Hummers: die Sinnlichkeit, mit der man das warme, zarte Fleisch mit den Fingern aus der Schale löst, gefolgt vom herrlich schmeichelnden Geschmack, der sich im Mund explosionsartig ausbreitet, versetzt viele Esser in einen tranceartigen Zustand, was sich vor allem in Augenrollen und extaseartigem Stöhnen äußern kann. Es ist wohl nicht nur reine Geschäftstüchtigkeit, wenn Kochbuchautoren zur Beschreibung der Geschmackseffekte ihrer Gerichte Worte wie „berauschend“ und „feurig“ verwenden. Der Unterschied zwischen dem high nach einem großartigen Essen oder einem high durch Alkohol oder Drogen liegt einer neueren neurowissenschaftlichen Studie nach eher in dem Grad als der Art und Weise. Neurowissenschaftler nutzten Magnetresonanztherapie (MRT) um nachzuweisen, wie das so genannte Belohnungssystem des Gehirns auf psychoaktive Substanzen reagiert.10 Diese Experimente bedeuten nicht das Ende der Suche nach dem Heiligen Gral der Drogenforschung einer einfachen biologischen Erklärung für Sucht , aber sie sorgen für Verlegenheit in anderer Hinsicht. Es stellte sich heraus, dass ähnliche Veränderungen in der Gehirnaktivität nicht nur durch Drogen ausgelöst werden egal ob Stimulanzien oder Sedative, legal oder illegal sondern auch durch Adrenalin auslösende oder andere beflügelnde Tätigkeiten, die nichts mit Drogen zu tun haben, was vom Glücksspiel über Mutterliebe bis hin zum Anblick schöner Gesichter alles umfassen kann.11 Alle Studien verweisen auf die neurowissenschaftliche Common Pathways-Theorie (vgl. Nestler/Malenka 2004: 75-85; McGee 2006: d1), die im Kern besagt, dass Freude stiftende Verhaltensweisen die Dopaminausschüttung im Gehirn ankurbeln und somit tendenziell zu Wiederholung führen. Dabei spielen die einzelnen Aktivitäten eine untergeordnete Rolle, egal ob Drogenkonsum, ein Konzertbesuch oder Essen mit Freunden.
Das Orwell’sche Gespenst: Müssen sich Feinschmecker bald Sorgen machen? Der langen und verworrenen Geschichte der Versuche der US-Regierung, die Nahrungsaufnahme ihrer Bürger zu regulieren, müssen einige neue Kapitel hinzugefügt werden. Im wirtschaftspolitischen Bereich gehen die Konservativen seit ihrem Aufstieg in den 1980er Jahren zwar den Weg einer Laissez-faire-Politik: 10 Für einen leicht zugänglichen Überblick siehe Volkow (2003: 3-4). 11 Moles/Kieffer/D’Amato (2004: 1983-1986); Goleman (1989: b1); Blakeslee (2002: d1); Aharon/Etcoff/Chabris/O’Connor/Breiter (2001: 537-551).
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Lockerungen in Trinkwasser- und Lebensmittelsicherheit, weniger Inspektionen und verminderte Durchsetzung. Im Hinblick auf die Privatsphäre allerdings und dies betrifft auch die Ernährung lässt sich im gleichen Zeitraum eine Ausweitung der Überwachung durch den Staat feststellen.12 Einige der aktuellen regulatorischen Eingriffe basieren auf soliden Nachweisen und bieten gesundheitlichen Nutzen bei minimalem Eingriff in die persönliche Freiheit. Für andere Kontrollmaßnahmen mit fragwürdigem Nutzen und substanziellem Eingriff ist die Evidenz hingegen konfus, manchmal sogar manipuliert. Haben auf der einen Seite Informationen zum Thema Rauchen in Verbindung mit den dazugehörigen Gesetzen, welche die Verfügbarkeit von Zigaretten und das Rauchen selbst einschränken, zu messbaren Erfolgen geführt, wobei Freiheiten nur minimal beschnitten wurden, so lässt sich eine solche positive Bilanz mit Blick auf die 750.000 Amerikaner, die jährlich wegen Marihuanabesitzes verhaftet werden (Federal Bureau of Investigation o.J.), nicht ziehen.13 Politische Entscheidungen in den Bereichen Ernährung und Drogen sind aus Public Health-Sicht im Prinzip legitim, doch mehr haben sie nicht gemein. Der amerikanische Eifer beim Verbieten bestimmter Substanzen und Bewusstseinszustände ist dabei einzigartig in der westlichen Welt. Kein anderer Staat führte je einen 100 Jahre langen Kreuzzug gegen Alkoholkonsum, der in einer nationalen, verfassungsmäßigen Prohibition gipfelte. Selbst nach ihrer Aufhebung führten ähnliche, auf Angst beruhende, politische Entscheidungen zu einer Reihe von Drogen-Paniken und einer noch rigideren Anti-Drogen-Gesetzgebung (Reinarman/Levine 1997: 5-8). Sukzessive haben die Drogenbeauftragten der USRegierung die Nulltoleranz-Maxime als Fundament der amerikanischen Drogenpolitik proklamiert. Dies erklärt wohl, weshalb die Zahl der Drogenstraftäter in US-Gefängnissen größer ist als die Gesamtheit aller Gefängnisinsassen in den EU-Gründungsländern zusammen - trotz der insgesamt deutlich größeren Bevölkerung der EU (International Centre for Prison Studies 2007). Seit 1980 hat sich die Zahl der inhaftierten Drogenstraftäter in den USA von 50.000 auf 400.000 verachtfacht (Bureau of Justice Statistics 2003: 519). Unter der kalifornischen Three Strikes and You’re Out-Gesetzgebung wurden mehr Menschen nach dem dritten Verstoß bei Marihuana-Besitz zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt als für Mord, Vergewaltigung und Raub zusammen (Zimring/Hawkins/Kamin 2001: 63-85). Wenn ein Staat in einem solchen Bereich so weit geht, haben die Bürger jedes Recht zu fragen, ob er auch bereit ist, in anderen Bereichen so weit zu gehen.
12 Für einen kritischen Überblick vgl. Marx 1998: 171-186; Friedman 2000: 186-212. 13 Für eine hilfreiche kritische Auseinandersetzung mit dieser politischen Programmatik vgl. Earleywine 2007.
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Die staatliche Kontrolle darüber, was die Bürger zu sich nehmen, weitet sich aus. Ein Beispiel dafür liefert der aktuelle Drogenbeauftragte des Weißen Hauses, John Walters, mit einer Kampagne, in der er die Schulbezirke überzeugen will, dass man alle High School-Schüler überwachten Urintests auf illegale Drogen unterziehen sollte. Es gibt einige Gründe, warum dies besorgniserregend ist. So gibt es etwa keine Belege dafür, dass in Schulbezirken, in denen Drogentests durchgeführt werden, weniger Drogenkonsum oder -probleme vorherrschen als in solchen, in denen die Schüler nicht auf Drogen getestet werden (McLure 2004). Noch wichtiger ist, dass die verdachtsunabhängigen Drogentests unter den Schülern zu einem falschen Verständnis der amerikanischen Verfassung führen, denn sie bedeuten die Umkehrung der Unschuldsvermutung und untergraben damit die nordamerikanische Tradition hinsichtlich der Bürgerrechte. Doch weder die Unschuldsvermutung noch die Bill of Rights hält die US-Regierung davon ab, 14-jährigen Schülern abzuverlangen, in einen Plastikbecher zu urinieren beobachtet (bis jetzt noch) von der Schulleitung um ihre moralische Reinheit zu beweisen. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die Urintests Rückstände von Alkohol und Tabak generell nicht erfassen, obwohl es gerade diese Drogen sind, die Jugendliche am ehesten konsumieren und missbrauchen. Durch dieses Vorgehen lernen Jugendliche vor allem, dass es den Behörden eher um Konformität geht als um Gesundheit. Schüler, die positiv auf illegale Drogen getestet werden, können von außerschulischen Aktivitäten und schulischer Nachmittagsbetreuung (also gerade von dem, was viele Experten als beste Maßnahmen gegen Drogenmissbrauch ansehen) ausgeschlossen und zu Therapien gezwungen werden, ob sie diese nun brauchen oder nicht. Die technischen Voraussetzungen für eine solche Überwachung werden immer besser. Dank moderner Technik gibt ein einziger Haarfollikel inzwischen Auskunft über den Drogenkonsum der letzten Jahre. Wissenschaftler des MarioNegri-Instituts für Pharmakologische Forschung haben kürzlich ein Verfahren entwickelt, mit dem sich die Prävalenz illegalen Drogenkonsums ganzer Städte durch chemische Tests des Wassers in Abwasseraufbereitungsanlagen oder Flüssen auf Reste von illegalen Drogen oder deren Abbauprodukte schätzen lässt (Castiglioni et al 2006: 8421-8429). Ist dies schon rein oberflächlich betrachtet eine unseriöse Vorgehensweise, so kann sie darüber hinaus aber auch dazu verwendet werden, die Kontrolle in Städten mit angeblich sehr hoher Prävalenz gezielt zu erhöhen. Dazu kommt, dass die verwendeten Verfahren auch dazu verwendet werden können, Drogenrückstände und -Abbauprodukte in menschlichem Blut, Schweiß und Speichel zu messen. Werden diese Formen der Kontrolle auch auf unsere Ernährung ausgeweitet werden? Im Moment scheint dies unwahrscheinlich. Sollten jedoch Ernährungssünden immer mehr wie Drogensünden betrachtet werden, könnten die gleichen
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Rationalitäten und Methoden zur Anwendung kommen. Da die Zahl der Produkte, die als gefährlich eingestuft wird, stetig zunimmt, sind z.B. Bluttests für cholesterinlastige Nahrungsmittel nicht mehr unvorstellbar. Viele Motorradfahrer lehnen die Helmpflicht ab, da sie ihrer Meinung nach ihre persönliche Freiheit einschränkt. Diese Freiheit muss man gegen die Zahl der Schwerstverletzten bei Missachtung der Helmpflicht und die daraus resultierenden Kosten, die auf alle Versicherungsnehmer umgelegt werden, aufrechnen. So gesehen ist die Helmpflicht für die Mehrheit der Bevölkerung gewissermaßen ein Tauschgeschäft, das sie zu akzeptieren gewillt ist: ein minimaler Eingriff in die Privatsphäre im Sinne des Wohls der Gemeinschaft. Viele der Interventionen bei der Ernährung reihen sich nahtlos in diesen Gedankengang ein: Sie scheinen substantiellen Gesundheitsschutz zu bieten, ohne oder mit nur geringen Einschnitten in die persönliche Freiheit des Einzelnen. In diesem Sinne haben Starköche wie Alice Waters oder Jamie Oliver einen Beitrag zur qualitativen Verbesserung der Schulspeisung geleistet; und Präsident Clinton war an den Verhandlungen zur Begrenzung von Erfrischungsgetränkeautomaten in Schulcafeterien beteiligt. Auch das New Yorker Verbot der ungesättigten Fette und der Kennzeichnungszwang des Kalorien-Gehalts in Fast-Food-Restaurants sind zwar durchaus Eingriffe in die unternehmerischen Freiheiten; sie sind aber dennoch aus Public-Health-Sicht viel versprechend, ohne dass sie die Ernährungsfreiheiten übermäßig beschneiden. Gleichwohl kann man sich vorstellen, wie zukünftige Einschnitte aussehen könnten, die wesentlich invasiver sind. Krankenversicherungen verweigern beispielsweise zunehmend Patienten die bereits Gesundheitsprobleme aufweisen, die Aufnahme in ihr Versichertenkollektiv. So ist es denkbar, dass Patienten mit Ernährungsproblemen also z.B. mit Übergewicht oder der Unfähigkeit, sich cholesterinbewusst zu ernähren in Zukunft gar nicht mehr neu versichert werden oder Ihnen ihre Versicherung aufgekündigt wird. Die Wellness- und Präventionsprinzipien der HMOs in den USA ermöglichen den Patienten jährliche Check-ups; Blut- und Urintests werden oftmals vierteljährlich durchgeführt. Was, wenn Dir Dein Arzt in der näheren Zukunft sagt, dass du übergewichtig bist, erhöhte Cholesterin- und Blutdruckwerte hast und dass sich, solltest Du nicht gewillt sein, die Finger vom Käsekuchen zu lassen, sich dein Versicherungsbeitrag erhöht oder dir sogar der Ausschluss droht? Um die Fettleibigkeit bei Kindern zu bekämpfen, werden in immer mehr Schulbezirken Body-Mass14 Index-Werte im Zeugnis der Erstklässler vermerkt (Kantor 2007: a1). Die Losung „Deine Gesundheit liegt in deiner Hand“ kann helfen, die Menschen zu er14 Für einen kritischen Überblick vgl. Oliver 2006.
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mutigen, sich eine gesündere Lebensführung anzueignen. Gleichzeitig ist sie aber auch ein Signal in Richtung „Selbstkontrolle, sonst …“ eine Haltung, wie sie gegenüber Bürgern eingenommen wird, die illegalisierte Drogen konsumieren. Noch wird heutzutage niemand für schlechte Ernährungsgewohnheiten verhaftet und eingesperrt. Wenn jemand, der zu viel fettige Nahrung zu sich nimmt, seine Ration von zwei Pizzen auf eine reduziert, wird ihm sein Arzt sagen „Gut, machen Sie weiter so!“. Wenn eine herzkranke Patientin ihren Cholesterinwert um ein Drittel senkt, wird sie von ihrem Kardiologen dafür gelobt. Wenn „Fresssüchtige“ Schwierigkeiten haben, bekommen sie Hilfe und Behandlung ohne Zwangsauflagen. Natürlich käme auch keiner auf die Idee, Essen zu verbieten oder Bauern einzusperren, weil eine Minderheit der Bevölkerung Essen missbraucht oder gar davon „abhängig“ ist. Der wahrscheinlich erfolgreichste Public-Health-Schlag gegen schädliche Drogenauswirkungen war es, die Hälfte der erwachsenen Raucher zum Aufhören zu bringen. Dieser Erfolg basierte vor allem auf überzeugender Aufklärungsarbeit, leicht zugänglichen Behandlungen sowie der Besteuerung und Abgabekontrolle von Zigaretten, um die Zugänglichkeit zu begrenzen. Niemals wurden Raucher aus ihrem Entwöhnungsprogramm ausgeschlossen, weil sie ihr Nikotinpflaster nicht getragen haben. Keiner wurde je verhaftet, um ihn vom Rauchen abzuhalten und keiner musste eine Nacht im Gefängnis verbringen, um herauszubekommen, ob er geraucht hat. Wenn jedoch ein Drogenstraftäter während seiner Bewährungszeit seinen Drogenkonsum halbiert, wird dies eher als Rückfälligkeit und/oder Verleugnung gewertet, und er muss zurück ins Gefängnis. Ähnlich ergeht es ehemaligen Heroinabhängigen in Methadonprogrammen, die oft ihr Programm verlassen müssen oder inhaftiert werden, wenn ihnen ein Ausrutscher passiert und bei ihnen wieder Heroinrückstände im Urin nachgewiesen werden. Ira Glasser, der langjährige Geschäftsführer der American Civil Liberties Union, formulierte 1999 eine hilfreiche Analogie zwischen Essen und Drogen als er sich vor dem US-Repräsentantenhaus für Reformen der US-Drogenpolitik aussprach: „The state has no legitimate power to send me to prison for eating too much red meat or fat-laden ice cream … even if an excess of red meat and ice cream demonstrably leads to premature heart attacks and strokes … Obesity and compulsive eating disorders … are not a justification to put people in jail, to search them for possession of forbidden foods or to seize their property when they are caught with such foods. Even more certainly, the self-abuse of compulsive overeating by some cannot possibly justify punishing others for eating the same foods, but in moderation and without apparent ill effects … Similarly, excessive and compulsive consumption of alcohol or tobacco does not justify im-
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prisonment, police searches or seizures of property … Why we do it with other substances, for example marijuana … is the key question this nation needs to begin openly and fairly debating“ (Glasser 1999). Glassers Aussage basiert auf einem Grundsatz, den John Stuart Mill in seinem Aufsatz On Liberty formulierte und dessen man sich als Grenze für alle Versuche, in den Konsum von Nahrung, Drogen oder anderen Substanzen einzugreifen, bedienen kann: „… der einzige Zweck, um dessentwillen man mit Recht gegen ein Glied einer gebildeten Gesellschaft Gewalt gebrauchen darf, ist: Schaden für andere zu verhüten. Das eigene physische oder moralische Wohl des Handelnden ist kein genügender Vorwand. Man kann jemanden gerechterweise nicht zwingen, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, weil es für ihn selbst so besser sei, weil es ihn glücklicher machen würde oder weil es nach der Meinung anderer weise oder gerecht wäre, wenn er so handelte. Dies sind gute Gründe, um jemandem Vorhaltungen zu machen oder mit ihm zu debattieren, ihn zu überzeugen oder in ihn zu dringen; aber es sind keine Motive, um ihn zu zwingen (oder Strafen über ihn zu verhängen, falls er anders handelt) ... Der Mensch ist Alleinherrscher über sich selbst, über seinen Körper und seinen Geist“ (Mill 2009: 16). Im Großen und Ganzen, sind die Regulierungen im Bereich der Ernährung (wie etwa das Verbot ungesättigter Fette oder die obligatorische Angabe der enthaltenen Kalorien oder Inhaltsstoffangaben) mit Mills Souveränitätsgrundsatz vereinbar. Gerade die USA werden als Vorreiter eines Souveränitätsbegriffs im Sinne einer Souveränität des Individuums angesehen. In diesen Sinne schrieb auch Thomas Jefferson in The Declaration of Independence, dass Menschen „unveräußerliche Rechte“ haben und dass „zur Versicherung dieser Rechte Regierungen … eingeführt worden sind“ (zitiert nach Jonas 1964: 39-43). Die Gründerväter der USA erklärten eindeutig und zum ersten Mal in der Geschichte überhaupt, dass der fundamentale Zweck von Regierungen der Schutz und die Förderung der individuellen Rechte ist (Glasser 1991: 34). Zudem lassen sich Thomas Jeffersons Ausführungen sogar auf die hier diskutierten Themen beziehen: “If people let government decide what foods they eat and what medicines they take, their bodies will soon be in as sorry a state as are the souls of those who live under tyranny. A society that will trade a little liberty for a little order will lose both, and deserve neither” (Jefferson 1782). Die Tatsache, dass alle Menschen Nahrung zum Überleben brauchen, hat Konsumenten bislang vor dem Gesetz geschützt. Dementsprechend werden auch diejenigen, die als ungesund geltende Lebensmittel zu sich nehmen, noch nicht mit Sprüchen angegangen wie „Watch out, the state is coming to you next“. Andererseits sollten sich die Liebhaber von foie gras und anderen berauschend guten, aber Arterien verstopfenden Leckerbissen die Frage stellen, was sie mit den-
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jenigen, die illegale Drogen konsumieren, gemeinsam haben. Schließlich würden sich kulinarische Genießer zu Recht widersetzen, wenn die Regierung das Verständnis von Ernährungspolitik zu weit in Richtung Drogenpolitik verschieben würde. Genau deshalb wäre es wohl auch das Beste für uns alle, wenn sich Nahrungsmittel- und Drogenkonsumenten gemeinsam dafür einsetzten, dass die Regierung Drogenkonsumenten mehr wie Nahrungsmittelkonsumenten behandelt. In diesem Sinne schrieb der ehemalige Richter des Obersten Gerichtshofs der USA, William O. Douglas, dass die Verfassung und die Bill of Rights „guarantee to us all the rights to personal and spiritual self-fulfillment. But the guarantee is not self-executing. As nightfall does not come at once, neither does oppression. In both instances, there is a twilight when everything remains seemingly unchanged. And it is in such twilight that we all must be most aware of change in the air however slight lest we become unwitting victims of the darkness.” (Urofsky 1987).
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Doing Addiction Überlegungen zu Risiken und Nebenwirkungen des Suchtdiskurses Henning Schmidt-Semisch
“… dealing with drug problems rationally depends on giving back to people the sense of personal power and volition which they require if they are to control their drug use for themselves; a power which existing concepts of ‘addiction’ frequently seek to limit or deny at the outset as a precondition to further treatment.” (John B. Davies 1997: XII)
Dass Drogen und Sucht zusammen gehören, erscheint uns selbstverständlich, ebenso, dass es zur Sucht disponierte Persönlichkeiten gibt: Die damit verbundenen Vorstellungen von der Sucht sind so tief in unserer Alltagssprache und unseren Alltagtheorien verwurzelt, dass heute praktisch jedes Verhalten mit dem Suffix „Sucht“ verbunden werden kann – von den klassischen Alkohol- und Drogensüchten über die jüngeren Phänomene der (substanz-ungebundenen) Fernseh-, Sexoder Spielsucht bis hin zu der gegenwärtig hoch aktuellen Fettsucht (Adipositas) (Dollinger/Schmidt-Semisch 2007a: 7; Schmidt-Semisch/Schorb 2010). Diese Selbstverständlichkeit, mit der wir Verhaltensweisen der unterschiedlichsten Art als Sucht bezeichnen oder gar diagnostizieren, ist aus zwei Gründen durchaus erstaunlich: Zum ersten hat die Menschheit, wie es Scheerer (1995: 9) zu Recht formuliert, „während fast ihrer gesamten Geschichte in einer ‚Welt ohne Sucht’ gelebt – in einem Zustand und einer Selbstwahrnehmung, die sich erst im Zeitalter der Aufklärung und Industrialisierung radikal änderten und zur ‚Entdeckung’, wenn nicht sogar ... zur ‚Erfindung’ der Sucht führten.“ Zum zweiten muss man mit Uchtenhagen (2000: 5) konstatieren, dass die Begriffe bzw. Diagnosen „Sucht“ und „Abhängigkeit“ heute keineswegs etwas Einheitliches bezeichnen. So seien die einzelnen Diagnosesysteme (z.B. DSM-IV oder ICD-10) an sehr unterschiedlichen Diagnosekriterien orientiert, die überdies in ganz unterschiedlichen Bereichen angesiedelt seien: „Sie manifestieren sich körperlich, psychisch, im Verhalten oder in sozialen Auswirkungen. Keines der Kri-
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terien trifft immer zu, und einzelne Kriterien kommen bei bestimmten Substanzen nicht oder nur selten vor .... Andererseits gibt es Zustandsbilder, für welche einzelne Kriterien zutreffen, ohne dass deshalb von Abhängigkeit gesprochen wird.“ So betrachtet gebe es auch nicht ein Abhängigkeitssyndrom, sondern zutreffender sei es, von einem „Spektrum von Abhängigkeitssyndromen“ zu sprechen (vgl. ausführlicher Dollinger/Schmidt-Semisch 2007a). Neben dieser eher systemimmanent argumentierenden Kritik, steht für viele Wissenschaftler das Suchtkonzept zudem ganz grundsätzlich auf dem Prüfstand: So bezeichnet etwa Reinarman (2005: 24ff.) das „Suchtkonzept“ als „konzeptionelle Akrobatik“; Davies (1992) spricht vom „Myth of Addiction“; Peele (1989) warnt mit Blick auf die Suchthilfe vor einem „Diseasing of America“; Luik (1996) begreift „Addiction as Ideology“ und Cohen (2000) kann nur mit „ja“ auf seine selbst gestellte Frage antworten: „Is the Addiction Doctor the Voodoo Priest of Western Man?“. Trotz solcher grundsätzlichen Kritik sowie der begrifflichen Variabilitäten und theoretischen Unsicherheiten und Ungeklärtheiten hat sich das Suchtkonzept (in seiner naturwissenschaftlich-medizinischen Orientierung) allerdings gerade auch im wissenschaftlichen Diskurs so weit verfestigt, dass – wie Hanan Frenk und Rewen Dar (2000: 1) es auf den Punkt bringen – „to the majority of the scientific community ... addiction is no longer a theory which can be legitimately questioned“1. Weitgehend unbestritten ist dabei – zumindest in einer sozialwissenschaftlichen Perspektive – dass die unterschiedlichen Drogenkonsummuster durch drei wesentliche Variablen beeinflusst werden, nämlich durch „Drug, Set und Setting“ (Zinberg 1984), also a) durch die Art der Droge selbst (Drug), b) durch die individuelle biologische, soziale und psychische Ausstattung und Konstitution des jeweiligen Konsumierenden (Set) sowie schließlich c) durch die situativen, sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Gebrauchs (Setting). Diese drei Variablen wirken nicht isoliert auf den Konsum ein, sondern beeinflussen sich vielmehr auch wechselseitig, d.h. die Drogenwirkung wird z.B. durch das Set, also etwa die Erwartungen oder Ängste des Konsumierenden, beeinflusst, diese aber wiederum auch durch das Setting vorgeprägt usw. (ausführlich hierzu etwa Blätter 2007, 2000, 1990). Trotz dieses potentiell recht komplexen Ansatzes des „Drug, Set und Setting“ haben sich die Bemühungen der Suchtforschung bislang weitgehend auf die Variablen Drug (etwa die Suchtpotentiale einzelner Substanzen und deren gesundheitliche Risiken) und Set (psychische und soziale Defizite, „Suchtpersönlichkeiten“ etc.) konzentriert. Weitgehend ausgespart geblieben ist hingegen 1 Es sei angemerkt, dass Frenk und Dar ihre Aussage zwar auf die Nikotinsucht beschränken; ich halte sie allerdings auch in ihrer hier verallgemeinerten Version für zutreffend (vgl. auch Reinarman 2005: 23).
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die Frage, welchen Einfluss das Setting bei der Entstehung und Perpetuierung von exzessivem Konsumverhalten bzw. „Sucht“ ausübt. Damit sind an dieser Stelle nicht Broken-Home-Szenarien, lern- und verhaltenstheoretische Aspekte oder ähnliche soziologische Ansätze angesprochen, die sich durchaus einer gewissen Beliebtheit erfreuen (vgl. hierzu Schmidt-Semisch 1997). Vielmehr geht es, wie der Titel dieses Beitrags bereits erahnen lässt, um eine Perspektive, die Sucht als etwas betont, das wir alle in unserem Alltag produzieren und reproduzieren – als Betroffene und ExpertInnen, als Professionelle und LaiInnen, als Eltern, Kinder, FreundInnen usw. „Sucht“ ist in diesem Kontext immer zu verstehen als ein Produkt interpersoneller Kommunikation und soziokultureller Entwicklungen sowie nicht zuletzt als Resultat gesellschaftlicher Machtkonstellationen. Betrachtet man „Sucht“ auf diese Weise, dann stellt sich die Frage, welche Wirkungen, vor allem aber auch, welche negativen Wirkungen und Nebenwirkungen der gesellschaftliche Suchtdiskurs erzeugt. Um mich dieser Problematik zu nähern, werde ich zunächst kurz auf „Doing Addiction“ als Forschungsperspektive eingehen, wobei hier betont sei, dass es sich bei dieser nicht um eine in allen Details ausgearbeitete Theorie handelt, sondern eher um eine „sensitivierende Perspektive“, der es um eine Dynamisierung der Diskussion und die Skizzierung neuer Probleme und Bezugsrahmen im Kontext von Drogen und „Sucht“ geht. In einem zweiten Schritt wird exemplarisch aufgezeigt, welche Forschungsergebnisse eine solche Sicht der Dinge stützen. Schließlich soll, drittens, überlegt werden, welche Risken mit dem Suchtkonzept und dem entsprechenden Suchtdiskurs verbunden sind.
1
„Doing Addiction“ als Forschungsperspektive?
„Doing Addiction“ ist angelehnt an den (u.a. auf West/Zimmerman 1987 zurückgehenden) Ansatz des „Doing Gender“. Da an dieser Stelle nicht auf die differenzierten Diskussionen eingegangen werden kann, die es zwischen den Vertreterinnen und Vertretern dieses Ansatzes mittlerweile gibt, seien hier lediglich 2 einige generelle Aspekte skizziert. Die Forschungsperspektive des „Doing Gender“ soll vor allem deutlich machen, dass Geschlecht bzw. Geschlechtszugehörigkeit kein natürliches Personenmerkmal ist, sondern dass vielmehr „jene sozialen Prozesse in den Blick zu nehmen [sind], in denen ‚Geschlecht’ als sozial folgenreiche Unterscheidung hervorgebracht und reproduziert wird“ (Gildemeister 2008a: 137). Geschlecht wird somit nicht mehr als quasi natürlicher Ausgangspunkt für Unterscheidungen im menschlichen Handeln, Verhalten und Erleben 2 Vgl. hierzu etwa die Beiträge in Wilz 2008 sowie Gildemeister 2008a; Wetterer 2008.
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betrachtet, sondern als das Ergebnis komplexer sozialer Prozesse. Zwar seien es, so West/Zimmermann (1987: 14), durchaus auch die Individuen selbst, die das Geschlecht hervorbringen, aber dieses Tun sei immer situativ eingebettet und würde in der virtuellen oder realen Gegenwart anderer vollzogen, bei denen wir wiederum bestimmte Erwartungen vermuteten: „Rather than as a property of individuals, we conceive of gender as an emergent feature of social situations: both as an outcome of and a rationale for various social arrangements and as a means of legitimating one of the most fundamental divisions of society.“ Im diesem Sinne verweist „Doing Gender“ darauf, dass wir uns in unserem Handeln, Verhalten und Erleben an einem kulturellen Wissen darüber orientieren, wie man sich als ‚Mann’ oder ‚Frau’ zu verhalten hat, und daran, was von anderen wiederum als männliches bzw. weibliches Verhalten erwartet und gedeutet wird. „Wer sich mit ‚doing gender’ beschäftigt“, so Helga Kotthoff (2002: 2), „will beschreiben, wie sich Menschen performativ als männlich oder weiblich zu erkennen geben und mittels welcher Verfahren das so gestaltete kulturelle Geschlecht im Alltag relevant gesetzt wird“. Das bedeutet zugleich, dass nicht ein vermeintlich natürlicher Unterschied der Geschlechter deren unterschiedliche Bedeutungen konstituiert, sondern dass über die unterschiedlichen Bedeutungen die Geschlechterdifferenz hergestellt wird. Und „dieser ‚Zirkel der Selbstbezüglichkeit’ funktioniert eben dadurch, dass wir diese Klassifikation in der ‚Natur’ oder der Biologie verankern (‚naturalisieren’). Der Vorgang der sozialen Konstruktion wird damit unsichtbar und tritt uns im Ergebnis als so hochgradig selbstverständlich entgegen, dass schon die Frage nach dem Herstellungsmodus i.d.R. Irritationen auslöst“ (Gildemeister 2008a: 137). „Doing Gender“ ist also die (inter-)aktive Hervorbringung eines Verhaltens, das einerseits als männliches bzw. weibliches Verhalten gemeint ist und das andererseits ein Interaktionspartner oder auch ein Publikum als ‚männliches’ oder ‚weibliches’ Verhalten erwartet und interpretiert (und auch interpretieren soll). Geschlecht ist also nicht ein Merkmal von Personen als vielmehr ein Merkmal sozialer Situationen bzw. Interaktionen und verweist damit zugleich auf ein kulturell tief verwurzeltes Wissen zur Differenz der Geschlechter, das durch das konkrete Handeln (aller Beteiligten) permanent aktualisiert und reproduziert wird – und vor dessen Hintergrund wir uns verhalten wie ein Mann oder wie eine Frau. Ähnliches kann man nun m.E. auch über die „Sucht“ sagen. Auch „Sucht“ ist (wie weiter unten noch ausführlicher dargelegt werden wird) nicht zu verstehen als ein natürliches oder erworbenes Personenmerkmal, sondern muss – im Sinne eines „Doing Addiction“ – stetig und (inter-)aktiv im Alltag hergestellt und reproduziert werden. Es genügt bei der Betrachtung und Erklärung von „Sucht“ nicht, den Fokus auf die physio-pharmako-biologische Variable des
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Suchtpotentials (einer Substanz) oder das Personenmerkmal einer „Suchtpersönlichkeit“ zu legen, sondern es müssen jene sozialen Prozesse in den Blick genommen werden, in denen „Sucht“ als folgenreiche Unterscheidung hervorgebracht und reproduziert wird. D.h. auch „Süchtige“ verhalten sich nicht auf bestimmte Weisen, weil sie gewissermaßen von der „Sucht“ oder einer Droge dazu gezwungen werden, sondern auch süchtiges Verhalten ist vor allem an dem kulturellen Wissen darüber orientiert, wie man sich als ‚Süchtiger’ (etwa als „Junkie“ oder „Kettenraucher“) zu verhalten hat, und daran, was von anderen als süchtiges Verhalten erwartet und gedeutet wird. Dies wiederum bedeutet, das nicht die vermeintlich „natürlichen“ Unterschiede in der (Sucht-)Persönlichkeit oder auch im „Suchtpotential“ von Substanzen die Bedeutungen von „Sucht“ konstituieren, sondern dass die Rede von und über die „Sucht“ diese Differenzen erst herstellt. Auch hier, so könnte man in Anlehnung an Gildemeister (2008a: 137) formulieren, ist ein „Zirkel der Selbstbezüglichkeit“ am Werk, der eben dadurch funktioniert, weil wir die Differenz zwischen „Sucht“ und „Nicht-Sucht“ in der Natur bzw. Biologie oder Pharmakologie verankern und damit naturalisie3 ren. Zu konstatieren wäre also zunächst, dass es auch hinsichtlich der „Sucht“ sowie des Verhaltens „Süchtiger“ ein tief verwurzeltes kulturelles Wissen4 gibt, das durch die impliziten Erwartungen und das konkrete Handeln (aller Beteiligten) permanent aktualisiert und reproduziert wird und vor dessen Hintergrund wir uns verhalten wie Süchtige – oder eben nicht. Dieses „Doing Addiction“ findet sowohl im alltäglichen Miteinander statt, wenn wir z.B. das Suffix „Sucht“ ganz selbstverständlich und in inflationärer Art und Weise mit den unterschiedlichsten Verhaltensweisen verknüpfen, aber auch und vielleicht vor allem in der professionellen Praxis (etwa der Suchthilfe und prävention). In den neueren Arbeiten zu einer Soziologie sozialer Probleme wird dieses Phänomen als „Soziale-Probleme-Arbeit“ bezeichnet5, wobei davon aus3 Davies (1992: 46) weist auf die kategoriale, also auf Differenz zielende Funktion des Suchtbegriffs hin, „‚Addicted’ is the opposite of ‘not-addicted … and with the sureness of Inevitability the categorical nature of the word leads to the search of differences between those who are ‘addicted’ and those who are ‘not addicted’; and subsequently to cures or treatments for those who have ‘got it’ as opposed to those who ‘haven’t got it’.” 4 Dies gilt freilich ebenso für „Drogen“, wie es etwa von Quensel (2004: 156) auf den Punkt gebracht wird: „Gesellschaftlich ‚funktionieren’ Drogen niemals allein als Substanz; sie sind stets bis in ihren innersten Kern hinein kulturell geprägt, konstruiert und geregelt. Regelungen, die ihrerseits von den Individuen – Konsumenten, Experten und Publikum – jeweils in ihre eigenen Deutungs- und Wissensschemata eingebaut, aufbereitet und interpretiert werden“ (vgl. auch Nolte 2007; Dollinger 2005; Reinarman 2005); zur Kulturgebundenheit des „Rausches“ vgl. umfassend Korte 2007: 29-110 m.w.V.; schließlich zum ‚Doing Gender’ while ‚Doing Drugs’: Barsch 2007; Vogt 2005 und 2007. 5 Verwiesen sei an dieser Stelle insbesondere auch auf den von Axel Groenemeyer (2010) zusammengestellten Band zum Thema „Doing Social Problems“.
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gegangen wird, dass „social problems work and culture are inextricably linked through the ways cultural representations and understandings are interpretivley applied to concrete people, events, and situations“ (Holstein/Miller 1997, XIV). Hervorgehoben wird dabei, etwa von Schmidt (2008: 39), dass Problemarbeit gerade für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in sozialen Diensten zum Tagesgeschäft und zur Alltagsroutine gehöre, da soziale Dienste sich qua Aufgabenstellung mit Problemfällen und -lagen befassten und sie in gewisser Weise eben erst als solche konstituierten: „Dies insofern, als mit den vor Ort verwendeten Beschreibungen von Personen und Umständen spezifische Realitäten weniger abgebildet als vielmehr konstruiert bzw. ‚erarbeitet’ werden“. Diese Beschreibungen seien nun von den Akteuren nicht etwa frei gewählt, sondern vielmehr übe insbesondere das institutionelle Setting, in dem die Problematisierung stattfinde, einen maßgeblichen Einfluss aus. Das heißt, sowohl die Professionellen und das institutionelle Setting wie schließlich auch der gesellschaftliche Problemdiskurs bringen das spezifische Problem – wie z.B. eben die „Sucht“ – interaktiv und sprachlich-diskursiv hervor und richten es auf je spezifische Weise zu (vgl. ausführlich auch Reinarman 2005: 34ff.) Allgemein gesprochen geht es bei der Forschungsperspektive des „Doing Addiction“ also um die Wechselwirkungen zwischen dem kulturellen Wissen über „Sucht“ und süchtiges Verhalten und dem Handeln der beteiligten Akteure, also sowohl der Betroffenen wie der Helfenden, der Experten wie der Laien, der Angehörigen usw. Dass Wechselwirkungen dieser Art von einer ganz erheblichen Bedeutung sind, haben zahlreiche Forschungen der letzten Jahre gezeigt.
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Welche Forschungsergebnisse stützen die Perspektive des „Doing Addiction“?
Forschungsergebnisse zu den Wechselwirkungen zwischen dem kulturellen Wissen über „Sucht“ auf der einen und dem Handeln der beteiligten Akteure auf der anderen Seite lassen sich (keineswegs erschöpfend) in drei Bereichen aufzeigen: a) Erlernter Entzug: Ein früher Beleg für die Wechselwirkung zwischen Suchtdiskurs, subjektiven Bedeutungszuschreibungen und sozialen Erwartungen sind die Untersuchungen von Norman E. Zinberg aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, die auf eine wissens- und erwartungsabhängige Morphologie der Entzugssymptomatik verweisen. So beschrieben Zinberg und Robertson (1972) etwa, wie unterschiedlich sich verschiedene institutionelle settings bzw. institutionelle Kulturen sich auf das Erleben des Entzugs der dort Untergebrachten auswirken können: Während die Betroffenen „in Daytop Village, a treatment center
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in New York, do not manifest significant withdrawal symptoms because they are not excused from work duties when they do manifest symptoms“, hätten „many of the same patients … undergone extreme withdrawal in prison, where such behavior was expected and, in a way, endorsed“ (Peele 1977: 112). In einer anderen Untersuchung stellte Zinberg (1971) fest, dass die Entzugserscheinungen bei „heroinabhängigen“ US-amerikanischen Soldaten in Vietnam sehr stark, aber in spezifischer Weise variierten: Während sich nämlich die von den Soldaten beschriebenen Entzugserscheinungen von Stationierungseinheit zu Stationierungseinheit unterschieden, stimmten sie innerhalb der jeweiligen Einheit überein. Die Männer lernten also in einem sozialen Lernprozess, wie ein Entzug auszusehen hat. Die Versuchung ist groß, dieses Ergebnis mit Stanton Peele (1977: 112f.) dahin gehend zu verallgemeinern, “that those addicts who do evidence elaborate displays of withdrawal have themselves learned to do so from television and movie depictions!“ (vgl. auch Reinarman 2005: 25f.; Peele 1985: 57, 122). Ähnliches gilt hinsichtlich der medizinisch indizierten Verabreichung von Morphin an Schmerzpatienten, die auch über längere Zeiträume in der Regel nicht zu einer Abhängigkeit führt. Zwar realisierten die Patienten durchaus sowohl, dass sie eine Droge einnehmen, als auch deren Wirkungen, aber, so Peele (1998: 69), sie assoziierten diese Effekte mit ihrer Krankheit und erwarteten auch nicht eine Abhängigkeit, weshalb selbst für den Fall, dass Entzugssymptome auftreten sollten, sie nicht als solche gedeutet würden: „When they leave the hospital (or later when their prescription for painkillers runs out) they know any discomfort will be temporary and a necessary part of convalescence and thus they do not become addicted.“ b) Kontrolliertes Trinken/Kontrollierter Drogenkonsum: Ein anderes, etwas jüngeres Beispiel für die Bedeutung der Wechselbeziehungen zwischen „süchtigem“ Verhalten und Suchtdiskurs sind die Forschungen zum so genannten Kontrollierten Trinken. Lange Zeit sah man gerade in diesem Bereich die einzig Erfolg versprechende Maßnahme gegen den Alkoholismus in der totalen und lebenslangen Abstinenz der Betroffenen: Wie etwa die Anonymen Alkoholiker ging man (in der Logik der so genannten „Weinbrandbohnen-Theorie“) davon aus, dass der abstinente Alkoholiker beim ersten Schluck Alkohol wieder mit dem zwanghaften Trinken beginne (vgl. http://www.anonyme-alkoholiker.de). Seit einigen Jahren ist diese Sicht der Alkoholsucht durch Forschungen zum kontrollierten Konsum bei Alkoholikern relativiert worden, aus denen hervorgeht, dass zahlreiche Alkoholiker in der Lage sind, ein kontrolliertes, mäßiges Konsummuster zu erlernen (für einen Forschungsüberblick vgl. etwa Körkel 2005, 2000). In diesem Sinne wird kontrolliertes Trinken durchaus auch als „al-
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ternatives Therapiekonzept für die Behandlung von Problemtrinkern“ (Arend 1991) betrachtet. Der Erfolg solcher Versuche hängt nach Körkel (2000: 173) wesentlich von drei Aspekten ab, nämlich den Bedingungen a) des Konsumenten (u.a. Zutrauen in die eigene Fähigkeit des kontrollierten Trinkens), b) des Behandlungsprogramms (Vermittlung von Kompetenzen des kontrollierten Trinkens in ausreichender Form) und c) des Lebensumfelds (Unterstützung durch den Partner, Arbeitstätigkeit usw.). Es wird deutlich, dass es bei allen drei Aspekten vor allem darum geht, dass das kontrollierte Trinken überhaupt für möglich gehalten wird, d.h. es wird erst möglich, wenn es auch im Bewusstsein der Betroffenen als Option existiert. Orford/Keddie (1986) haben dies als die „persuasion hypothesis“ („ÜberzeugtheitsHypothese) bezeichnet und ebenso wie Kavanagh/Sitharthan/Sayer (1996) auch empirisch belegen können: Sie besagt, dass ein Alkoholiker sich umso wahrscheinlicher das kontrollierte Trinken aneignet, je überzeugter er davon ist, dies auch zu können. Körkel (2000) resümiert diese Ergebnisse zu Recht dahingehend, dass die Überzeugtheit von Wünsch- und Erreichbarkeit des kontrollierten Trinkens die entscheidende Rolle hinsichtlich der Realisierung dieses Konsum6 musters spiele. Wenn diese „Überzeugtheits-Hypothese“ im Kontext von Alkohol richtig ist, dann ist sie auch auf andere Drogen übertragbar. D.h. ein kontrollierter Drogenkonsum ist nicht nur möglich (und eine Vielzahl von Forschungen haben dies überzeugend belegt7), sondern er ist umso wahrscheinlicher, je mehr der Konsument davon überzeugt ist, das ein solcher Konsum (für ihn) möglich ist. Innerhalb des herrschenden Suchtdiskurses allerdings, der von Vorstellungen dominiert wird, wie etwa, dass Drogen einen Menschen physisch versklaven, dass man durch Entzugssymptome zum weiteren Konsum gleichsam gezwungen wird usw., ist eine solche Überzeugung freilich nur schwer zu erlangen und aufrecht zu erhalten. c) Selbstheilung von der Sucht: Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch die jüngeren Forschungen im Bereich der Selbstheilung von der „Sucht“ (also die Veränderung eines problematischen Konsummusters ohne die Hilfe Dritter). Auch hier finden sich etliche Indizien für die Wechselwirkungen zwischen Suchtdiskurs und „süchtigem“ Verhalten, die ich hier aber lediglich skizzieren möchte. 6 In diesem Sinne bezeichnet er es als Kunstfehler in der Alkoholismustherapie, kontrolliertes Trinken auszuklammern und Abstinenz gewissermaßen zu dogmatisieren, denn mit dem Abstinenzdogma würde zum einen die Autonomie der „Patienten“ gerade auch in der Therapiezielfrage erheblich eingeschränkt, zum anderen würden die meisten Menschen mit Alkoholproblemen nicht erreicht und damit ein potentiell verbesserter Behandlungserfolg nicht genutzt (vgl. Körkel 2000). 7 Vgl. als Überblick zum kontrollierten Konsum etwa Kolte/Schmidt-Semisch 2006; Kolte 2006; Kemmesies 2004: 22ff.; Werse u.a. 2005 (jeweils m.w.V.).
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Der aktuelle Forschungsstand ist 2006 von Klingemann und Sobell zusammengefasst worden (vgl. auch Kemmesies 2004: 23ff.), wobei insgesamt deutlich wird, dass das gerade auch in der Wissenschaft weit verbreitete Krankheitsmodell der Sucht, das eine Selbstheilung (wie im Übrigen auch den kontrollierten Drogengebrauch) für weitgehend unmöglich hält, nicht aufrechterhalten werden kann. Die wichtigsten Ergebnisse sind folgende fünf: a) Selbstorganisierte Ausstiege aus der „Sucht“ sind möglich; dafür gibt es inzwischen eine große Menge an empirischen Belegen für alle Arten von Drogen, für Alkohol und Nikotin gleichermaßen wie für Heroin, Kokain usw. b) Selbstorganisierte Ausstiege sind nicht die Ausnahme, sondern sogar eher die Regel: Beim Nikotin liegt die Selbstheilerquote bei über 90%, aber auch für Alkohol liegt nach Sobell (2006: 13) der Anteil der Selbstheiler zwischen 30% bis gut 90%. c) Es gibt keinen quasi natürlichen (oder linearen) Verlauf der vermeintlich unvermeidlichen „Suchtentwicklung“ (Sobell 2006: 8), sondern es handelt sich um einen Prozess mit zahlreichen Brüchen sowie Vor- und Zurückentwicklungen – auch dies kann für die unterschiedlichsten Drogen belegt werden, was zugleich bedeutet, dass es keine Droge gibt, deren Konsum in einen Automatismus der „Sucht“ führt (hierzu auch Kemmesies 2004: 27). d) Es gibt viele Wege in die „Sucht“ und ebenso viele aus ihr heraus – (es gibt keine generell richtige Therapie oder Behandlung, sondern so viel Lösungswege wie es Probleme gibt; vgl. Sobell 2006: 36; Blomquist 2006: 79). Und schließlich: e) Der selbst organisierte Weg aus einem problematischen Konsummuster wird umso wahrscheinlicher, je mehr Zutrauen die betreffende Person hat, dies auch bewerkstelligen zu können. Mindestens ebenso wichtig ist allerdings das Zutrauen des sozialen Umfeldes und das Maß der sozialen Unterstützung, welches wiederum „stark von den jeweiligen Alltagskonzepten von ‚Sucht’ abhängt, die in den Bezugsgruppen der Süchtigen vertreten werden“ (Klingemann/Zulewska 2006: 197). Die hier vorgestellten Forschungsergebnisse lassen sich grob in den folgenden drei Punkten zusammenfassen: a) Es gibt eine große Variabilität von Konsummustern – für alle Drogen sind äußerst unterschiedliche Konsummuster bekannt, und die einzelnen Individuen variieren ihre Konsummuster während ihres Lebens z.T. ganz erheblich. b) Das, was wir (in der Regel pauschal) als „Sucht“ diagnostizieren, ist Ergebnis einer je individuellen Konstellation und Wirkung unterschiedlichster (biologischer und psychologischer, vor allem aber sozialer und kultureller) Variabeln. c) Das konkrete, von uns als süchtig bezeichnete Verhalten sowie eine etwaige Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit ist wesentlich (mit-) geprägt durch die Erwartungen und Vorstellungen, die kulturell mit diesem Verhalten verbunden sind.
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Henning Schmidt-Semisch Das kulturelle Wissen von der Sucht und seine Nebenwirkungen
Geht man nun also von Wechselwirkungen zwischen dem kulturellen Wissen über “Sucht“ und dem Handeln der beteiligten Akteure aus, dann müssen Aussagen darüber getroffen werden, was die zentralen Bestandteile dieses kulturellen Wissens sind. Auch wenn hier eine umfassende Antwort zweifellos weiterer Forschungen bedarf, so lassen sich doch einige wesentliche Elemente des Suchtdiskurses durchaus skizzieren. Zunächst ist festzustellen, dass der Diskurs maßgeblich geprägt ist von einer medizinisch-naturwissenschaftlichen Perspektive, die aufgrund ihrer „naturwissenschaftlichen Diktion mit einer gleichsam ‚natürlichen Objektivität’ ausgestattet zu sein“ scheint und deren „diagnostische und therapeutische Zuständigkeit und Gültigkeit praktisch nicht in Zweifel gezogen wird“ (Dollinger/SchmidtSemisch 2007a: 9; vgl. auch etwa Quensel 2004: 82ff.; Klingemann/Zulewska 2006: 198; Schmidt 2000: 349). Aber auch wenn diese Perspektive den Suchtdiskurs dominiert, so heißt dies jedoch – wie einleitend bereits angeführt – nicht, dass sie etwas Einheitliches wäre (Uchtenhagen 2000), und auch nicht, dass differenzierte wissenschaftliche Erkenntnisse oder medizinische Manuale (ungebrochen) in den kulturellen Wissensbestand eingehen. In diesem Sinne bleiben die Details des medizinischen Suchtkonzeptes für den Laien eher diffus, auch wenn das Krankheitsmodell der „Sucht“ gleichzeitig den Hintergrund bildet, vor dem der gesellschaftliche Diskurs stattfindet. D.h. das kulturelle Wissen über „Sucht“ ist zwar durchaus mitgeprägt von – in aller Regel medial selektierten und mit Blick auf Publizität aufbereiteten – wissenschaftlichen Befunden, folgt aber wohl in erster Linie weit verbreiteten und geteilten Alltagstheorien bzw. Alltagvorstellungen von „Sucht“, deren Regeln, Bewertungen und Interpretationen sozial erlebt, erlernt und weiter tradiert werden. Mit Johannes Herwig-Lempp (1994) kann man diese Alltagsvorstellungen in sechs Punkten pointiert zusammenfas8 sen : a. b. c. d.
Die „süchtige“ Person hat in Bezug auf den Konsum ihre Selbständigkeit verloren. Die „süchtige“ Person hat keine Fähigkeit mehr zu bewerten, was gut und richtig für sie ist. Die „süchtige“ Person wird irgendwie (z.B. von einer Droge) fremdbestimmt und fremdgesteuert. Die „süchtige“ Person ist nicht mehr selbst verantwortlich für ihr Handeln und dessen Folgen.
8 Vgl. auch Dollinger/Schmidt-Semisch 2007b: 331; Davies 1992: X.
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Dies ist ein unerwünschter und unnatürlicher, mithin krankhafter Zustand. Die „Sucht“ oder auch nur der Drogenkonsum ist in der Regel die Ursache für weitere gesundheitliche, soziale und psychische Probleme.
Aus dieser Perspektive handelt es sich bei „Süchtigen“ um durch und durch defizitäre Persönlichkeiten, weshalb sie oft auch nicht mehr als vollwertige Subjekte gesehen werden, sondern eher als Kranke und Unmündige, die behandelt und geheilt werden müssen – eine Defizit-Perspektive, von der zu vermuten ist, dass sie zugleich auch tief in den Sektor der Drogen- und Suchthilfe sowie der Drogen- und Suchtprävention hineinreicht (vgl. etwa Quensel 2004: 157) und dort (im Sinne der oben angesprochenen „Social Problems Work“) in Form typisierter Probleminterpretationen und institutionalisierter Problemattributionen Handlungsroutinen prägt und in Gang setzt (vgl. Dollinger/Schmidt-Semisch 2007b: 330f.). So weist Reinarman (2005: 35) etwa darauf hin, dass denjenigen „Süchtigen“, die zu einer Behandlung gedrängt werden, in aller Regel das Bekenntnis abverlangt wird, an einer Krankheit zu leiden, die sie davon abhalte, Kontrolle über ihren Drogenkonsum auszuüben. Man könnte also sagen, die potentiell Abhängigen werden „gelehrt“, ihr Leben und Verhalten im Kontext von „Sucht“ zu verstehen und das Bild des (defizitären) „Süchtigen“ für sich zu übernehmen: Sie lernen, sich im Kontext des Erklärungsprinzips „Sucht“ als fremdbestimmt und letztlich krank wahrzunehmen und entwickeln so eine kognitive Erwartungsstruktur der Hilflosigkeit und des Scheiterns, die nicht viel Raum lässt für stabile Selbstwirksamkeits- oder Kompetenzerwartungen hinsichtlich der Steuerungsmöglichkeiten des eigenen Dro9 genkonsums (Dollinger/Schmidt-Semisch 2007a: 332) . Wenn ich z.B. von der Weinbrandbohnen-Theorie (also von der Vorstellung, dass der Verzehr einer Weinbrandbohne einen „trockenen Alkoholiker“ zwangsläufig in alte Trinkmuster zurück fallen lässt) überzeugt (worden) bin, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass es nach dem Verzehr einer solchen Praline auch zum erwarteten Dammbruchszenario kommt (vgl. Körkel 2005: 309). Mit Kellog (1993: 236) kann man in diesem Zusammenhang vermuten, dass „the idea of ‚once an addict, always an addict’ may plague an individual’s attempts at recovery and may be a serious roadblock to the neccessary identity changes“. In diesem Sinne ist „Sucht“ (zumindest hinsichtlich der dominierenden Facetten des Suchtdiskurses) ein entmündigendes und fatalistisches Konzept (Kolte/Schmidt-Semisch 2003), das im Kontext eines „Doing Addiction“ zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung (Blomquist 2006: 60) werden kann – was dann in der Tat einen selbstbestimmten
9 Zu einer explizit wissenssoziologischen Perspektive auf die „Opferwerdung“ des „Süchtigen“ in der Gegenwartsgesellschaft vgl. etwa Schetsche 2007 und 2000:150ff.
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oder kontrollierten Konsum ebenso verhindert wie eine selbst organisierte Veränderung eines etwaigen problematischen Drogengebrauchs. Gerade auch die Vorstellung, eine Droge habe die Macht, ein Individuum zu „versklaven“, kann dabei, wie Peele (1989: 170) ausführt, kontraproduktive Wirkungen entfalten: “Cultural and historical data indicate that believing alcohol has the power to addict a person goes hand in hand with more alcoholism. For the belief convinces susceptible people that alcohol is stronger than are they, and that – no matter what they do – they cannot escape its grasp.” Eine solche Vorstellung schwächt das Individuum nicht nur, sondern liefert ihm auch eine Rechtfertigung dafür, warum es eine eingeschliffene Gewohnheit nicht zu ändern vermag: „I can’t help myself“ (Luik 1996). Der Gewinn einer solchen (Selbst-) Unterwerfung unter das Suchtkonzept mag (im Sinne eines „Krankheitsgewinns“) sogar so attraktiv sein, „that people stretch the criteria in order to include themselves, or perhaps even expand their behaviour to meet the criteria“ (Peele 1989: 135). Denn immerhin ist die „Sucht“ durchaus insoweit funktional, als sie „Geschichten anbietet, die es ihm oder ihr ermöglichen, deviantes Verhalten, das während der Sucht verübt wurde, gleichzeitig ‚anzunehmen’ und zu ‚verleugnen’. So werden implizit die Sünden des früheren, süchtigen Selbst zugegeben, während Anspruch erhoben wird auf ein neu geschaffenes Selbst“ (Reinarman 2005: 36). Interessant ist, dass genau durch diese individuelle „Entschuldung“ die kulturelle Vorstellung von der „Versklavung durch Substanzen“ wiederum bestätigt wird: Der von Gildemeister (2008a: 137) so bezeichnete „Zirkel der Selbstbezüglichkeit“ ist im Feld der „Sucht“ genau an dieser Stelle wirksam, indem das individuelle Verhalten an die physio-pharmako-biologische Variable des Suchtpotentials (einer Substanz) zurück gebunden wird. Der Suchttherapeut Rudolf Klein (2002: 72,76) hat diesen Mechanismus folgendermaßen auf den Punkt gebracht: Im „zirkulären Prozess zwischen historisch-kulturellen Metaerzählungen, den subjektiven Erzählstrukturen und den familiären Interaktionsmustern … dient die Metaerzählung [der Sucht] als Deutungsmuster für Verhalten, das Verhalten dient als Grundlage für subjektive Erzählungen, und die subjektiven Erzählungen stabilisieren wiederum die Metaerzählungen“ (vg. auch Quensel 2004: 108). Dies wird auch von Reinarman (2005: 35) gesehen, der von einem „performativen Prozess“ spricht, in dem „Abhängige“ wieder und wieder ihre neu hergestellte Lebensgeschichte erzählten, und zwar „gemäß der grammatischen und syntaktischen Regeln des Krankheitsdiskurses, den sie gelernt haben“. Die auf diese Weise sich immer wieder selbst bestätigende Defizitperspektive ist umso problematischer, je deutlicher sie sich nicht nur auf die vermeintlich „Süchtigen“ beschränkt, sondern sich – in präventiver Absicht – auf Drogenkonsum insgesamt erstreckt und damit in weitgehend unproblematische Ver-
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haltensbereiche vorverlagert wird. Ein eindrückliches Beispiel für diese (gleichermaßen wissenschaftlich wie alltagstheoretisch weit verbreitete) Sicht der Dinge bilden die Ausführungen von Hurrelmann in seinem Buch zur „Gesundheitssoziologie“: Beim Konsum psychoaktiver Substanzen im Jugendalter, so Hurrelmann (2000: 17), handele es sich um „eine ‚ausweichende’, ‚eskapistische’ Variante der Problem- und Belastungsverarbeitung … Durch den Konsum von psychoaktiven Substanzen, vor allem schmerzstillenden Arzneimitteln, Tabak, Alkohol oder anderen Drogen, die das zentrale Nervensystem anregen, betäuben oder dämpfen, werden Probleme des Selbstwertgefühls kompensiert und Handlungsanforderungen verdrängt. Die konsumierten Substanzen haben die psychische Funktion, sich der Alltagswelt zu entziehen, den harten und unangenehmen Realitäten zu entfliehen und damit der Bearbeitung und Bewältigung der Entwicklungsaufgaben auszuweichen.“ Mit einer solchen Problemsicht wird jeder Drogenkonsum mit Blick auf das vermeintlich negative Ende des Konsumspektrums („Sucht“) gedeutet: Indem Drogenkonsum nur als Flucht- und Ausweichverhalten interpretierbar ist, werden nicht nur die zahlreichen potentiell positiven Aspekte des Drogengebrauchs (Geselligkeit, Genuss etc.) ausgeblendet, sondern bereits schon die Möglichkeit, dass der Drogenkonsum selbst Teil der Bearbeitung und Bewältigung von Entwicklungsaufgaben sein könnte. Da Gebrauch somit stets nur als Missbrauch gedeutet werden kann, wird er gleichsam zum Indiz für den (zumindest potentiellen) Beginn einer „Suchtkarriere“, weshalb dann aus präventiven Überlegungen alles unternommen werden muss, um bereits dem Gebrauch vorzubeugen – und dies, derselben Logik folgend: je früher, desto besser! Diese „suchtpräventive“ Logik, die stets vom negativen Ende her argumentiert, schießt allerdings deutlich über’s Ziel hinaus, da sie den Blick auf die positiven Drogenwirkungen verstellt und deshalb für viele Jugendliche, die ja vor allem auch über positive DrogenErfahrungen verfügen, unglaubwürdig wird (Quensel 2004:106). Dies wäre – angesichts der Eindimensionalität suchtpräventiver Botschaften – noch hinnehmbar, wenn damit nicht zugleich auch die notwendige sachliche Auseinandersetzung über jene problematischen Konsumformen sabotiert würde, die sich nicht (oder nur mühsam) unter das Sucht-Etikett bringen lassen: „In der Folge werden Gefahren, die sich aus einem Drogenkonsum zur ungeeigneten Zeit, am ungeeigneten Ort, durch ungeeignete Personen, in ungeeigneten Mengen – also Gefahren, die sich aus seiner kulturellen und instrumentellen Einordnung in den Alltag – ergeben können, gar nicht wahrgenommen und thematisiert“ (Barsch 2001: 267). Denn weil im Kontext von Suchtprävention Drogenkonsum immer nur als Drogenmissbrauch gedeutet wird, kann diese Prävention nicht wirklich darüber sprechen, wie denn ein unproblematischer Drogenkonsum gestaltet sein könnte, und welcher Fähigkeiten man bedarf, um ihn zu praktizieren (vgl. Kol-
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te/Schmidt-Semisch 2006: 12f.). Aufgrund dieser Nicht-Thematisierbarkeit widersprechen sich dann auch, wie Quensel (2004: 109) formuliert: „fast tragikomisch“, die primärpräventive „Du-kannst-es!“-Botschaft der LebenskompetenzTrainings mit der „Sucht-Botschaft“ des „Du-kannst-es-nicht!“ Anstatt die Kompetenzen und das Empowern der Kinder und Jugendlichen auch auf einen möglichst risikoarmen Drogenkonsum zu beziehen, verengt man die (angestrebte) Kompetenz auf das „Nein-Sagen“ („Just say NO“) zum Drogenkonsum – und lässt die, die „Ja“ sagen, gewissermaßen im Regen stehen. Auch in diesem Bereich zeigen sich also die ent-powernden und kontraproduktiven Wirkungen des Suchtdiskurses. Abgesehen davon, dass man hier enorme Bildungschancen10 vergibt, werden auf diese Weise die oben skizzierten Alltagstheorien und -vorstellungen der „Sucht“ implizit oder explizit an die nächste Generation weitergegeben und sichern so die Verfestigung des Suchtkonzepts mit allen seinen Nebenwirkungen – eines Konzepts zumal, das zwar in unserer Gegenwartsgesellschaft naturwissenschaftlich-medizinische Legitimität genießt (s.o.), das aber sowohl in seiner Begrifflichkeit als auch hinsichtlich der entsprechenden Theorien und Grundannahmen höchst zweifelhaft ist. Perfiderweise wird seine Legitimität, wie Reinarman (2005: 36) ergänzt, gerade im Kontext von Suchprävention häufig dadurch tradiert, dass man ehemalige „Süchtige“ dazu auffordert, als „Experten für Sucht“ in Schulen und Medien aufzutreten, wobei ihre Ausführungen aufgrund ihrer Betroffenheit besondere Autorität beanspruchen sollen: „Dies rundet das Bild ab und verheimlicht, wie ein guter Zaubertrick, die tatsächlichen Prozeduren, durch die dies ermöglicht wurde.“ Oder, um noch einmal mit Gildemeister (2008a: 137) zu sprechen: „Der Vorgang der sozialen Konstruktion wird damit unsichtbar.“
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Resümee: Undoing Addiction
Wenn ich „Doing Addiction“ zu Beginn dieses Beitrages als eine sensitivierende Perspektive bezeichnet habe, dann meint dies, den Widersprüchen und Kurzsichtigkeiten, die sich z.B. aus einer medizinisch-naturwissenschaftlichen Perspektive ergeben, nachzugehen, die scheinbare Nicht-Hinterfragbarkeit des Suchtkonzepts durch eine sozialwissenschaftliche Analyse aufzubrechen und schließlich die impliziten Konstitutionsbedingungen von Sucht-Wissen und Sucht-Verhalten (einschließlich ihrer jeweiligen Wechselwirkungen) thematisierbar und bewusst zu halten. 10 Zu „Suchtprävention als Bildungsaufgabe“ vgl. etwa Sting/Blum 2003: 87ff.; Kappeler 2007; Kolte/Schmidt-Semisch 2006: 12f.; Quensel 2004: 300ff.; Franzkowiak 1999.
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Zwar steht außer Frage, dass das medizinische Konzept der „Sucht“ durchaus auch Positives insofern bewirkt hat, als es über die Anerkennung von „Sucht“ als Krankheit gelungen ist, jenen Personen, die bestimmter Hilfen bedürfen, ein Recht auf diese zu sichern – wie auch ein Recht auf Abrechnung über die Krankenkasse. Gleichwohl aber sind die skizzierten Nebenwirkungen und Risiken dieses Konzepts (Entmündigung, Fatalismus, Selbst-erfüllendeProphezeiung etc.) sowie auch der daraus abgeleiteten Prävention so bedeutsam, dass überlegt werden sollte, auf das Konzept der „Sucht“ weitestgehend zu verzichten. Dabei geht es nicht darum, Drogenkonsum zu verharmlosen oder Probleme, die in seinem Kontext auftreten können, wegzudefinieren, sondern darum, diese nicht stereotyp in einen Suchtrahmen zu pressen. Denn wie gezeigt wurde, ist es vor allem auch dieser (vorgefertigte) Rahmen, der über die damit verbundenen Erwartungen, Zuschreibungen und Interpretationen das vermeintlich „süchtige“ Verhalten herstellt und verfestigt und die „Betroffenen“ schwächt. Gerade für professionell in Suchthilfe und -prävention Tätige könnte es daher (im Sinne einer „reflexiven Professionalisierung“) Gewinn bringend sein, die problematischen Effekte der eigenen „Social Problems Work“ und damit auch des „Doing Addiction“ systematisch ins Kalkül zu ziehen und daraus eine Haltung zu entwi11 ckeln, die sich als „Undoing Addiction“ bezeichnen ließe – eine Haltung, die es ermöglichen würde, „dem Drogengebrauchenden (und eben auch dem vermeintlich Abhängigen) als einem autonomen, in eigener Verantwortung und vor allem mit Sinn handelnden Individuum gegenüberzutreten, und ihm nicht nur eine einzige Bewertung seines Verhaltens, nämlich die der Sucht, anzubieten“ (Dollinger/Schmidt-Semisch 2007b: 334). Dies gilt in besonderem Maße auch für die Prävention: Anstatt das „Pferd von hinten aufzuzäumen“, also Prävention stets vom negativen Ende her als „Suchtprävention“ zu verstehen, sollte man möglicherweise viel mehr (und in gesundheitsförderlicher Absicht) auch über die positiven Seiten des Drogengebrauchs sprechen, über seine sozialen und kulturellen Aspekte, über seine kommunikativen, emanzipatorischen und sonstigen Funktionen, über die Möglichkeiten und Vorzüge des moderaten und risikoarmen Gebrauchs – und vor allem natürlich auch über Genuss und Rausch. Dies könnte bedeuten, die stets am negativen Ende der Entwicklung ansetzende Suchtprävention durch eine positiv gewendete Genusspolitik zu ersetzen, deren Konzepte unter Bezug auf eine „gemeine Drogenkultur“ (Marzahn 1994) oder auf „Drogenmündigkeit“ (Barsch
11 Auch „Undoing Addiction“ ist der Gender-Debatte entlehnt: Gerade, aber nicht nur mit Blick auf instutionelle Arrangements müsse auch ein „Undoing Gender“ (i.S. einer Neutralisierung des „Doing Gender“) möglich und erforschbar sein (Hirschauer 1994; vgl. auch Gildemeister 2008b: 192).
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2008) als eine akzeptierende oder besser: genussorientierte Prävention entwickelt werden könnten. Die Voraussetzung dafür allerdings wäre eine grundlegende Änderung auch unserer weiterhin repressiven, auf staatliche Verbote und Bestrafung setzenden Drogenpolitik, die nicht nur ein offenes und angemessenes Sprechen über Drogenkonsum und Drogengenuss sabotiert, sondern die vor allem (staatlich erzeugtes) Leid und Probleme in einem Ausmaß verursacht hat und weiterhin erzeugt, wie es die Drogen selbst nie vermocht hätten. Auch dieser „War on Drugs“ bezieht seine (heutige) Legitimität vorrangig aus dem Argument der „Sucht“ – was wohl die schwerwiegendste Nebenwirkung des Suchtkonzepts sein dürfte.
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„Pinkeln unter Aufsicht“ – Zur gesundheitlichen Problematik von Drogen- und Dopingtests Bettina Paul
Sportliche Wettkämpfe und Gesundheit stehen seit jeher im Widerspruch zueinander. Die Legende des Boten Feidipides, der 490 v.Ch. nach der Schlacht von Marathon bis nach Athen lief, um dort – kurz bevor der tot zusammenbrach – vom Siege zu berichten, zeugt davon. Dieser (historisch nicht verbürgte) ‚Marathonlauf‘ inspiriert den Wettkampfsport bis heute und signalisiert zugleich, dass für den sportlichen Sieg der Ruin der Gesundheit in Kauf genommen werden muss. Und doch werden heutige international verbindliche Kontrollen der Athleten mit dem Hinweis auf den Gesundheitsschutz begründet (neben den Aspekten der Fairness und Gleichheit). Eine ganz ähnliche Legitimation von Drogenkontrollen findet sich inzwischen am Arbeitsplatz wieder. Während sich die Kontrollen beim Doping im Sport jedoch in der Kontrollintention auf die illegitime Manipulation der körperlichen Konstitution beziehen, ist die Intention der Kontrollen am Arbeitsplatz eher mit der Unterstellung der Leistungsminderung der Arbeitnehmer in Verbindung zu bringen. Trotz dieses Unterschieds in der Kontrollintention finden sich viele Parallelen, von denen der folgende Beitrag zunächst jene in den Fokus nimmt, bei dem die Kontrollen mit dem Schutz der Gesundheit legitimiert werden. Im Anschluss werde ich eine alternative Begründung der Drogenkontrollen bei Arbeitnehmern und Sportlern vorstellen, die nahelegt, dass sie weniger durch gesundheitliche, als vielmehr durch ökonomische Motive legitimiert sind. Sodann werde ich aufzeigen, dass die m.E. nur vorgeschobene Gesundheitsschutzargumentation sogar gesundheitlichen Risiken Vorschub leistet, da sie die strukturellen Bedingungen ausblendet und nur auf das Verhalten der Akteure zielt.
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Bettina Paul Drogentests an der Arbeit und im Sport
Drogentests am Arbeitsplatz Wenig wird öffentlich über die Verbreitung der Drogentestpraxis im Arbeitskontext diskutiert. Umso erstaunlicher ist es, dass diese in vielen Betrieben bereits gängige Praxis sind. Da die Branchen bis hin zu einzelnen Betrieben eigene Regelungen treffen, ist wenig Konkretes über die Verbreitung und die Praxis der Tests bekannt (d.h. man weiß nur wenig darüber, wann getestet wird und welche Konsequenzen beim Vorliegen positiver Testergebnisse gezogen werden). Eine Bestandaufnahme zur Verbreitung von Drogentests in der Arbeitswelt, die von Nov. 2007 bis Feb. 2008 vom Institut für Kriminologische Sozialforschung erstellt wurde, zeigt, dass die meisten Berufsgenossenschaften keinerlei Kenntnisse über Tests in ihrer Branche haben (Schröder 2008). Vereinzelten betrieblichen Veröffentlichungen ist zu entnehmen, dass Drogentests in Deutschland am häufigsten im Rahmen des Einstellungsverfahren stattfinden und inzwischen ein Standardprozedere bei Fluggesellschaften, der Polizei, der Chemie-, Metall- und Transport/Verkehrsbranche sind (z.B. bei BASF, Aventis, Degussa, Saarstahl, Krupp, Daimler-Chrysler, VW). So berichtet die BG Verkehr, dass Drogentests vor allem in den größeren Verkehrsunternehmen des ÖPNV (mit ca. 1.000 bis 5.000 Beschäftigten) vorkommen und innerhalb der letzten 10 Jahre eingeführt wurden (Schröder 2008). Das VW-Werk Kassel berichtet, dass es bereits seit 1991 Drogentests durchführt, womit es einer der ersten Betriebe in Deutschland war (Saake/Stork/Nöring 2001: 422). Bekannt ist, dass ein positives Drogentestergebnis im Einstellungsverfahren bedeutet, dass die Bewerbung nicht weiter berücksichtigt wird, weniger ist darüber bekannt, was solche Ergebnisse im Rahmen eines bestehenden Arbeitsverhältnisses bedeuten. Die Angaben der Betriebe stehen oftmals im Kontrast zu Angaben von Mitarbeitern und Bewerbern, die sowohl über Tests während der Bewerbungsphase als auch (auf Zufallsbasis) im regulären Arbeitsverhältnis berichten. Diese Tests werden aus arbeitsrechtlicher (vgl. Fleck 2008; Heilmann et al. 2001) wie ethischer Sicht (vgl. PPG 2010) als bedenklich eingestuft. Legitim dagegen sind Tests bei einem konkreten, verhaltensbedingtem Anlass, sofern sie nach dem berufsgenossenschaftlichen Grundsatz im Rahmen arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen durchgeführt werden, die die „Fahr, Steuer- und Überwachungstätigkeit“ des Arbeitnehmers testen sollen. Grundsätzlich gilt bei den Tests immer, dass sie nur mit der Zustimmung der Betroffenen durchgeführt werden dürfen. Diese Klausel der Freiwilligkeit ist jedoch ein rhetorisches Moment, da die Konsequenzen der Weigerung weitreichend sein können (z.B. Betriebsausschluss, vgl. PPG 2010). Getes-
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tet wird in der Regel auf die gängigen illegalen Drogen, außer Acht gelassen werden Alkohol und Medikamente (Heilmann et al. 2001).1
Drogentests beim Sport Die gegenwärtige Definition von Doping, wie sie die Nationale Anti-Doping Agentur (NADA) in Anlehnung an den Code der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) in ihrer Fassung von 2006 vorgelegt hat, besagt lediglich, dass beim Verstoß einer oder mehrerer Artikel der aufgelisteten Anti-DopingBestimmungen Doping vorläge. Hierunter fällt z.B. „[d]as Vorhandensein eines verbotenen Wirkstoffs, seiner Metaboliten oder Marker in den Körpergewebe oder Körperflüssigkeitsproben eines Athleten“ (Feiden/Blasius 2008: 2). Die alltagsgebräuchliche Deutung, dass es sich beim Doping um den Versuch der illegitimen Leistungssteigerung handele, geht nicht auf die Regelungswerke zurück. Die Zielsetzungen der Dopingpraxis sind indessen vielfältiger, da sie auch eine Verbesserung der Regeneration u.v.a.m. beabsichtigen (Feiden/Blasius 2008: 5f.). Im Unterschied zu den Kontrollsystemen am Arbeitsplatz, welche der individualisierten Durchführung unterliegen, gehen die Dopingkontrollen heute auf internationale Kooperationen und Vorgaben zurück. Das Übereinkommen des Europarats von 1989 war lange Zeit die einzig völkerrechtlich verbindliche Regelung, denn erst seit 2005 gibt es das internationale Übereinommen der UNESO gegen Doping im Sport, wodurch sich die Vertragsstaaten verpflichteten, Maßnahmen gegen Doping durchzuführen und welchem der Deutsche Bundestag 2007 zustimmte (Feiden/Blasius 2008: 100). Welche der Maßnahmen in die Zuständigkeit der staatlichen und welche in die der Sportverbände fallen, hängt vom jeweiligen Rechtssystem ab. Auf der internationalen Ebene existiert als oberste Kontrollinstanz die WADA, die seit 1999 ein eigenes Kontrollsystem und einen Code vorhält. Auf nationaler Ebene gibt es (seit 2002) eine entsprechende Instanz (NADA, Nationale Anti Doping Agentur), die das nationale Kontrollsystem vorhält, einen entsprechenden Code etc.2 In Deutschland wurde bereits 1970 vom Deutschen Sportbund Richtlinien zur Doping-Bekämpfung erlassen, die all seine Verbände zu befolgen hatten. Bestandteil dieser Richtlinien war die Doping-Verbotsliste des Internationalen Olympischen Komitees (Feiden/Blasius 2008). Die Kontrollen bei Olympischen Spielen fingen in 1972 an. Ende der 1980er begann man mit Trainingskontrollen 1 Zur den Testverfahren und Nachweiszeiten der verschiedenen Substanzen siehe Paul 2007. 2 Der NADA-Code enthält die Hauptbestandteile des WADA-Codes wie die Dopingdefinition, den Anwendungsbereich, Vorgaben zu den Kontrollen und Sanktionen sowie die Liste der verbotenen Methoden und Stoffen.
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– d.h. Doping-Kontrollen, die außerhalb eines Wettkampfes angesetzt werden. Allerdings wurden diese in verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeiten eingeführt (Kimura 2003). Seit Inkrafttreten des Doping-Kontroll-System (DKS) in 1992, gab es jährlich ca. 4500 Trainingskontrollen, im Jahre 2008 wurden diese auf ca. 8000 im Jahr erhöht (http://www.nada-bonn.de/dopingkontrollen/ [10.02.2010). Deutschland hält damit den Spitzenplatz unter den Kontrolleuren (Feiden/Blasisus 2008: 81). Neben den Kontrollen außerhalb von Wettkämpfen (out of competition testing) sieht das Doping-Kontroll-System noch Kontrollen vor Wettkämpfen (pre-competition testing) und nach Wettkämpfen (in competition testing) vor (Feiden/Blasius 2008: 88ff.). Die einzelnen Sportler werden entweder im Rahmen ihres Beschäftigungsverhältnisses (Bundeswehr, Bundespolizei, Zoll – siehe BMI 2007) oder durch einen Athletenvertrag an die Vorgaben gebunden. Diese Vorgaben werden durch diverse Aktionen ergänzt, z.B. hat der Deutsche Sportbund im Jahre 2006 den „Anti-Doping-Aktionsplan“ ins Leben gerufen, der sich für eine Verschärfung der WADA-Vorgaben einsetzt. Erreicht werden sollte, dass die Athletinnen bei Dopingsünden hart, schnell und international bestraft werden etc. (Feiden/Blasius 2008: 87).3 Im Anschluss wurde eine Rechtskommission des Sports gegen Doping gegründet, die das erst vor Kurzem in Kraft getretene Anti-Doping-Gesetz vorbereitet und ein Gütesiegel für Anti-Doping-engagierte Ärzte gegründet hat, so dass in Zukunft bei sportlichen Großveranstaltungen nur noch Ärzte mit diesem Siegel eingesetzt werden (Feiden/Blasisus 2008: 88). Die Liste der Kontrollentwicklungen ist kontinuierlich in Bewegung (vgl. vor kurzem die Verschärfung des Arzneimittelgesetzes).
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Die Legitimierung der Drogentests mit dem Gesundheitsschutz
Die Legitimationen des Einsatzes von Drogentests am Arbeitsplatz und im Leistungssport beziehen sich oftmals auf das Argument, dass es um den Schutz der Gesundheit der involvierten Personen ginge. Im Folgenden werde ich ausschließlich diese Argumentation aufgreifen, um sie später mit einer alternativen Interpretation zu konfrontieren, die ich im Anschluss anhand der Testpraxis belegen werde.
3 Ein gutes Beispiel einer solchen Vorgehensweise liefert der Fall der Eisschnellläuferin Claudia Pechstein die in 2009 als erste Athletin rein aufgrund von Indizien, d.h. ohne einen einzigen positiven Drogentest, wegen „auffälliger Blutwerte“ verurteilt wurde (Süddeutsche Zeitung vom 29.11.2009: 3).
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Zur Legitimierung von Drogentests am Arbeitsplatz Zur offiziellen Legitimation der Tests werden die Aspekte Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz herangezogen. Dabei wurde die klassische Bedeutung der „Work Place Safety“ als gesundheitsbezogene Sicherheit am Arbeitsplatz inzwischen auf die der „Business related safety“ ausgeweitet. Diese Ausweitung wird von der International Labour Organisation problematisiert, da sie die Gesundheit der Arbeitnehmer in den Hintergrund dränge (ILO 2003). Auf der Legitimationsebene von Drogentests in Deutschland wird zumeist pauschal auf das Argument der Arbeitssicherheit mit seiner klassischen Bedeutung hingewiesen. Verwiesen wird dabei auf die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, der dafür sorgen muss, dass die Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit gewährleistet ist. Die Durchführung von Tests werden damit geradezu als rechtlich vorgesehen suggeriert (vgl. Heilmann et al. 2001). Tatsächlich sind diese Tests im Arbeitsrecht aber nicht vorgesehen. Eine ausführliche Legitimation wird mit diesem Pauschalargument daher umgangen. Diejenigen Unternehmen, die bereitwillig über ihre Testpraxis sprechen (wie z.B. Krupp oder Degussa, BG), bezeichnen die arbeitsrechtliche Situation, in der die Tests vollzogen werden, als „Grauzone“ resp. ein „Minenfeld“, was die Vorsicht der Betriebe in der öffentlichen Diskussion widerspiegelt (Schröder 2008). Betriebsvereinbarungen taugen laut Degussa nichts, weil sie natürlich geltendes Recht nicht aussetzen können: So sind randomisierte Tests z.B. verboten, werden aber immer wieder als Praxis angeführt. Die klassische gesundheitsbezogene Arbeitssicherheit als Legitimation für Drogentests umfasst vor allem die Abwendung von Selbst- oder Fremdgefährdungen durch Arbeitsunfälle. Zu der gesundheitlichen Fremdgefährdung werden nicht nur die Kollegen gezählt, sondern auch die Bevölkerung, die z.B. durch eine Fehlfunktion im Betriebsablauf eines Chemiekonzerns schweren Schaden erleiden könnte etc. So verweist die ‚IG Bergbau, Chemie, Energie’ auf die „besondere Gefährdungssituation” der chemischen Industrie, weswegen die Drogentests generell, aber zusätzlich auch an besonders gefährlichen Arbeitsplätzen (mit Absturzgefahr etc.) durchgeführt würden. Als erstes Ziel der Screening-Praxis am Arbeitsplatz nennt der deutsche Vertreter im EWDTS, Kauert, die „Verbesserung der Gesundheit der Beschäftigten“ (Kauert 2004: 299), ohne dass er dies expliziert. Gesundheit und Drogen scheinen als Kontrapunkte zu gelten, die jede weitere Erklärung obsolet machen. So beschreiben Heilmann et al. (2001), dass für Personal-, Werks- und Betriebsärzte das Drogenscreening ein absolut wichtiges Instrument der Gesundheitsförderung darstellt, ohne dass dessen Durchführung tatsächlich in ihren Aufgabenbereich fallen würde. Drogenscreenings werden im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung oder des so genannten „Gesundheitschecks“ durchgeführt und auf diese
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Weise mit einem Gesundheitsetikett versehen (vgl. Weichert 2004), und zwar selbst dann, wenn sie vor allem der Personalauswahl dienen (vgl. Heilmann et al. 2001). Im Falle von Daimler Benz, bei dem die Medien die Testpraxis aufgegriffen haben, erklärt ein Unternehmens-Sprecher (ebenfalls) unter Bezug auf die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, dass sichergestellt werden soll, dass jemand mit Diabetes auch an einem entsprechenden Arbeitsplatz eingesetzt wird. D.h. man argumentiert mit grundsätzlichen Gesundheitsbelangen der Beschäftigten, für die eingehende Blut- und Urintests notwendig seien (Hamburger Abendblatt vom 29.10.2009, S. 25). Nicht zuletzt fällt das Argument, den Betrieb von Drogen sauber halten zu wollen: Auf diese Weise kommen zugleich alle die negativen Attribute von Drogen ins Spiel, die man alltagstheoretisch gleichsam zwangsläufig mit ihnen verbindet (also vor allem „Sucht“ und Krankheit). So wird in betriebsbezogenen Publikationen vor allem auf illegale Drogen abgestellt, obschon die Prävalenz in Betrieben eher für eine Aufmerksamkeit gegenüber Alkohol und Medikamentenkonsum sprechen müsste (vgl. Heilmann et al. 2001: 465). Argumentiert wird jedoch mit der abstrakten gesamtgesellschaftlichen Drogenkonsumrate, die sich innerhalb der Betriebe widerspiegeln müsse. Der Geschäftsführer der Deutschen Hauptstellte für Suchtfragen Rolf Hüllinghorst gibt an, dass es zwar keine Angaben zum Ausmaß gäbe, jedoch wagt er trotzdem die Schätzung, dass durch die Arbeitsunfähigkeit „Suchtkranker“ ein Schaden von rund 2,7 Milliarden Euro entstehen würde (Wolff 2008). Elizabeth Wienemann, die sich in Deutschland bislang am einschlägigsten mit der Frage der Zulässigkeit von Drogentests und der betrieblichen Praxis auseinandergesetzt hat (1999, mit Heilmann et al. 2001, mit Schumann 2006), führt zudem an, dass viele Betriebe tatsächlich hofften, sich des schlechten Images, das mit illegalen Drogen einhergehe, mit Hilfe von Drogentests erwehren zu können. Vom Bild der negativen Konsequenzen illegalen Drogenkonsums geprägt, würden viele Arbeitgeber auch einen Erziehungsauftrag verspüren, die jungen Mitarbeiter in ihren Betrieben vor Drogen bzw. Drogenkonsum zu bewahren (Wienemann/Müller 2005: 71).
Zur Legitimation von Dopingtets im Sport Anders wird in der Begründung der Drogen(hier: Doping)-Tests im Sport mit dem Schutz der Gesundheit argumentiert. Das Argument hat zwar gewichtige Legitimations-Konkurrenten (wie Fairness, Gleichheit), gleichwohl aber wird der Gesundheitsschutz als die klassische Aufgabe der Dopingbekämpfung angesehen. Dass der frühere Begriff des IOC-Dopingverbots „Medical Code“ hieß, unterstreicht dies (Prokop 2000: 246). Da aber den Verbänden durchaus präsent ist,
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dass der Leistungssport wenig mit körperlicher Unversehrtheit im Sinn hat, wird für die Argumentation, dass Dopingtests dem Schutze der Gesundheit dienen, weit ausgeholt: Aus sportrechtlicher Sicht (d.h. dem materiellen Rechtfertigungsgrund „Gesundheitsschutz“ als Verbandsziel) ist festzustellen, dass „der Gesundheitsschutz im Sinne der Dopingbekämpfung .. nicht die Abwehr jeder sportbedingten Verschlechterung der körperlichen Befindlichkeit [bezweckt].“ (Prokop 2000: 246) Denn wäre das der Fall, müsste schon das Training oder auch der Wettkampf selbst verboten werden. Gelöst wird das argumentative Dilemma durch den Zusatz, dass „die allein durch den ‚Gebrauch‘ des eigenen Körpers eintretenden Folgen nicht vom Gesundheitsschutz erfasst [werden]“ (Prokop 2000: 247). Der verbandliche Schutz bezieht sich daher nur auf die „Nachteile … die entstehen, wenn die naturgegebenen Möglichkeiten des Sportlers durch andere Methoden oder Stoffe beeinflusst werden … Gesundheitsschutz im Sinne der Dopingbekämpfung bedeutet daher Abwehr von Störungen der körperlichen, geistigen oder seelischen Lebensvorgänge eines Menschen, die durch Überschreitung der naturgegebenen Möglichkeiten hervorgerufen werden“ (Prokop 2000: 247). Dass heißt, dass die Bedeutung und das Ziel des „selbstbewegten Sportes“4 die Betätigung durch den reinen Sportler beinhaltet und die Drogentests zur Gesundheit beitragen, indem sie überprüfen, ob der Sport auch in dieser Reinform ausgeführt wird. Natürlich muss das Verhältnismäßigkeitsgebot beachtet werden, d.h. es müssen erhebliche Gesundheitsstörungen mit dem Verbot abgewendet werden können. Auch die Reform des AMGs bezweckt nun den „Schutz der Gesundheit“, während ein früherer Entwurf über einen anderen Sportbegriff verfügte und nicht den Schutz der Gesundheit, sondern die Sicherheit im Arzeneimittelverkehr zum Inhalt hatte (Schild 2008: 59). Den rechtlichen Legitimationen gehen natürlich die Überzeugungen der Kontrollinstanzen voraus: So findet die Proklamation des Gesundheitsschutzes ihren Niederschlag im Code der World Anti-Doping Agency. Danach sind alle Substanzen und Methoden verboten, die nach Ansicht der WADA Risiken für die Gesundheit bergen (also noch nicht einmal nachweislich die Gesundheit schädigen), die die Leistung verbessern sowie den Geist des Sports zerstören würden – und dieser wiederum wird mit Werten wie der Gesundheit, die Respektierung von Regeln, Mut, Freude etc. beschrieben (Savulescu/Foddy/Clayton 2004: 666). Der „Kampf“ gegen Doping im Sport wird von seinen Befürwortern als der „sportpolitische Elchtest“ verstanden, da sie das neue Antidopinggesetz (von 2007) als Ausdruck staatlicher Verantwortung sehen, welche die Eigenverantwortung der Sportverbände flankieren würde (Nolte 2008: 142). Auch die 4 Die Verbandsbestimmungen zum Begriff des Gesundheitsschutzes orientieren sich am Prinzip des „selbstbewegten Sports“, das ist das Selbstverständnis des Sports und Ziel eines Sportverbandes, dem alle Maßnahmen gelten (Prokop 2000: 246).
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ehemalige Justizministerin Zypris vertrat die Überzeugung, dass die Kontrollen effektiv seien, wie die aufgedeckten Fälle zeigen würden. Außerdem werde viel Geld in die Forschung gesteckt, um z.B. das genetische Fingerprinting zur Vermeidung von Urinmanipulation, die Haaranalytik sowie andere neue Nachweisverfahren zu verbessern, damit der Staat seiner Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit der Bürger nachkommen könne (Zypris 2002: 42, 48). Und noch ein weiterer Akteur argumentiert mit dem Gesundheitsschutz: die Kontrollfirmen. „Null Toleranz – null Risiko“, verkündet z.B. die PWC GmbH, die fest daran glaubt, „dass es einen dopingfreien Sport geben muss. Zum Schutz der Athleten, zum Schutz unserer Kinder und Jugendlichen, die im Sport ihre Zukunft sehen und – nicht zuletzt – zum Schutz des Sportes selbst. Ob es moralisch verwerflich ist zu dopen, wird immer Kontroversen auslösen. Aber über die negativen medizinischen Auswirkungen wird man nie diskutieren können.“ Seit 1994 übernimmt die Firma nach eigenen Angaben sämtliche Trainingskontrollen im In- und Ausland (PWC GmbH 12.08.2009, http://www.pwc-dopingkontrolle.de/ [10.2.2010]).
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Plausibilität der Kontrollen oder: Vom ökonomischen Kalkül
Eine alternative Sicht zur offiziellen Legitimation ist, dass die Kontrollen weniger aus gesundheitsfürsorglichen Motiven als vielmehr aus ökonomischen Gründen durchgeführt werden. Dies lässt sich sowohl beim Sport als auch beim Arbeitsplatz beobachten.
Wirtschaftlichkeit und Drogentests am Arbeitsplatz Bei der Kontrolle am Arbeitsplatz geht es um die unternehmerische Freiheit sowie die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen: „From the employers perspective, testing workers is rational policy“ (Nelkin/Tancredin 1989: 76). So kann der Arbeitgeber nach außen (z.B. bei Haftungsklagen) nachweisen, dass er alle möglichen Maßnahmen zur Herstellung der Sicherheit am Arbeitsplatz unternommen hat. Ob diese tatsächlich angemessen sind, ist eine andere Frage, wichtig ist die symbolische Außenwirkung der Maßnahmen, die dem Unternehmen als Absicherung dient. Die Übertragung von Verantwortung auf den Arbeitnehmer ist ein zweiter wichtiger Grund: Als Gewerkschaften in den 1960ern die Arbeitgeber dafür kritisierten, dass sie für fehlende Sicherheit zuständig seien sowie für hohe Unfallraten und eine schlechte Ausstattung, konterten diese damit, dass das Problem
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bei den Arbeitern läge (Gilliom 1996: 44). Dieser Zug der Verantwortungsabgabe lebt in der Drogentestpraxis weiter: [the] “shift focus of the safety debate away from job conditions, work schedules, machinery design, productivity rates, and other factors controlled by the employer toward a questioning of the skill and integrity of the individual worker. With the worker defined as the problem, greater surveillance and control become the answer, and the balance of workplace power continues to accrue in the hands of management. Furthermore, with accidents perceived as the result of individual error or malfeasance, employers don`t need to spend a lot of money working on solutions that call for changing the workplace environment or lowering the pace of production” (Gilliom 1996: 44). Dorothy Nelkin beschreibt die wirtschaftlichen Zwänge und den Regulationsdruck, der auf Firmen in den USA, die schon eine lange Tradition in der Drogentestpraxis haben, liegt. Je mehr sich die Tests in einigen Branchen durchsetzten, umso mehr seien einzelne Betriebe im Zugzwang, diese auch einzusetzen, da sie sonst all jene Arbeitnehmer anzögen, die sich ganz bewusst gegen die Tests entscheiden. In den USA gibt es seit langem staatlich auferlegte Verpflichtungen der Unternehmen zur Testimplementation ebenso wie versicherungsrechtliche (vgl. Tunnell 2001). Dies ist zu einem großen Teil auf die Entwicklung von billigen Massentests und die Expansion eines Industriezweiges zurückzuführen, der die Behörden und Unternehmen von den Vorteilen der Tests zu überzeugen versucht (Gilliom 1996: 43). Die extensive Werbung durch die Screening-Industrie spielt inzwischen auch bei den Unternehmen in Deutschland eine Rolle (vgl. Heilmann et al. 2001). Auf der EU-Ebene gibt es zudem Versuche der Lobbyisten (wie der EWDTS)5, international verbindliche Verpflichtungen für Drogentests am Arbeitsplatz durchzusetzen. Seit geraumer Zeit testen Unternehmen in den USA immer mehr auch auf genetische Prädispositionen, was zur Folge hat, dass die Arbeitnehmer entsprechend der Test-Ergebnisse selektiert werden, da man sich einen möglichst geringen Arbeitsausfall sowie eine Minimierung der medizinische Kosten und Haftungsansprüche erhofft (Nelkin/Tancredi 1989: 75ff). Screenings der Arbeitnehmer garantieren mehr unternehmerische Freiheit. Der Drogentests ist dabei eines der verbreitetesten Instrumente um sicherzustellen, dass nur solche Arbeitnehmer beschäftigt werden, die vermeintlich wenig Risiken für den Betrieb mitbringen: „Productivity is the gold standard of the workplace, and drugs and drug testing have been closely associated with perceptions of a productivity problem and its solution” (Gilliom 1996: 47). Während genetische Tests noch relativ teuer sind, sind Drogentests kostengünstig, vor allem verglichen mit klassischen, aufwendi5 Die European Workplace Drug Testing Society (EWDTS) fühlt sich den Zielen des War on Drugs verbunden und will entsprechende Kontrollen am Arbeitsplatz auf europäischer Ebene durchsetzen.
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gen Formen der Einstellungstests (wie dem Check des sozialen Hintergrunds oder psychologische Profile; vgl. Tunnell 2004: 99). Die Selektion der Arbeitnehmer ist von großer Bedeutung für die Betriebe, nicht nur bei der Einstellung, sondern auch im weiteren Verlauf. Drogentests helfen ihnen, ein Image zu wahren oder zu etablieren, dass aussagt, dass nur eine bestimmte Art von Arbeitnehmern gewollt ist. Zum Image eines Unternehmens gehören gemeinnützige oder kommunale Aktivitäten, aber eben auch das plakative Bekenntnis, ein „drogenfreier Betrieb“ zu sein (vgl. Heilmann et al. 2001: 465). Dazu erscheint es manchen Betrieben notwendig, sich ein Bild über die Freizeitidentität der Arbeitnehmer machen, welches im Zeitalter der obligatorischen FacebookSelbstdarstellung ein Leichtes ist.6 So kann im Vorhinein aussortiert werden, wessen Lebensstil nicht erwünscht ist. Hagen Kühn beschreibt den Zugriff auf den privaten Lebensstil der Beschäftigten zudem als ein wesentliches Merkmal der betrieblichen Gesundheitsförderung, wie sie sich seit den 1980ern hervorgetan hat. „Die Verausgabung der Arbeitskraft ist kein Thema für die betriebliche Gesundheitsförderung. Statt dessen interessiert es, in welchem Fett der heimische Hamburger gebraten wird, wieviele Drinks danach genommen werden …“ (Kühn 1993: 382). Ähnlich wie Kühn die bösen Fette als Feind der Arbeitgeber in den USA beschreibt, gehört der Drogenkonsum als Zeichen eines Risikoverhaltens zu den Freizeitaktivitäten, die ein Unternehmen auch in Deutschland bei seinen Angestellten nicht sehen will. Dabei geht es den Arbeitgebern nicht darum, herauszufinden, ob ein problematischer oder ein unproblematischer Konsum besteht. Drogen-Konsum – und hierunter versteht man zumeist den Konsum illegaler Substanzen – begreift man in der Logik der Drogentestbefürworter per se als Synonym für Krankheit und Kriminalität. Drogen-Screenings funktionieren daher als ein willkommenes Instrument der Personalauswahl (Wienemann/Müller 2005: 71).
Wirtschaftlichkeit und Drogentests im Sport Die „eigentlichen Gründe“ für die Implementation und Aufrechterhaltung der Dopingkontrollen sind in ähnlichen Zusammenhängen zu finden. So sind die Olympischen Spiele ein Millionengeschäft – und längst kein Amateursport mehr. Australien hat z.B. bei der Athener Olympiade 13,8 Millionen Dollar für sein Team sowie 547 Millionen Dollar an Sport-Förderung ausgegeben – im Austausch haben sie dafür 17 Goldmedaillen geholt. D.h. eine Goldmedaille ist in etwa 32 Millionen Dollar wert (Savulescu et al. 2004: 668). Die Summen, die 6 “Drug testing as a condition for employment has quickly become a primary technique for distinguishing the reputable from the disreputable.“ (Tunnell 2004: 99)
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investiert werden, zeigen deutlich, dass es eine erhebliche wirtschaftliche Ungleichheit in den sportlichen Vorbereitungen für die Wettkämpfe gibt (vgl. auch Park 2005).7 Dies erzeugt einen Dopingdruck, denn hohe Preisgelder winken und noch mehr Sponsorengelder und Werbedeals. Da gerade der Leistungssport nicht bis zur Rente ausgeübt werden kann, versucht man so viel Geld wie möglich in kürzester Zeit zu machen. Die Verbände müssen daher Sorge tragen, dass der Sport ein reines Ansehen behält – ihr Kampf gegen Doping ist eine Imagekampagne zur Sicherung der Einkünfte und diese beruht auf der binären Ethik von natürlich versus unnatürlicher, rein versus unreiner Bewegtheit.8 Die Bewahrung des Ansehens des Sports ist zudem wichtig, weil der Spitzensport von Finanzgebern, Politik etc. abhängig ist, umgekehrt aber keine dieser Institutionen von ihm (siehe dazu Bette/Schimank 2006: 326ff.) 1977 wurde dagegen im Bundestag noch über eine kontrollierte Akzeptanz des Dopings diskutiert, erst seit den 1990ern wurde der Kampf für eröffnet erklärt9 und die Politik wurde verpflichtet, den Sportorganisationen bei der Dopingkontrolle finanziell unter die Arme zu greifen (Prokop 2000: 25). Sie müssen die Verfügbarkeit sowie die Anwendung von Dopingwirkstoffen und methoden einschränken und die Förderung von Athleten oder Sportorganisationen davon abhängig machen, ob diese sich aktiv am Kampf gegen Doping beteiligen. Inzwischen hat sich der Kampf gegen das Doping verselbstständigt und nur noch, wer in ihn involviert ist, kann auf Sponsoren- oder Fördergelder hoffen. Der Auslöser für die heutige Zwangslage kann in der De-Amateurisierung des Sports gesehen werden (siehe Waddington 2001: 123). Früher waren das Vergnügen am Spiel und der sportliche Amateurstand sehr wichtig, heute finden sich auch im Breitensport Konkurrenz und Rufe nach Kontrolle der Akteure wieder. Bis 1981 verschafften die Amateurbestimmungen den Verbänden Kont-
7 Diese ökonomische Ungleichheit betrifft zudem die Frage, wer eigentlich in der Lage ist, flächendeckende Tests umzusetzen, den Zugriff auf Trainingsmethoden, Bedingungen und medizinische (etc.) Betreuung der Sportler. Wer, wann und wie kontrolliert bzw. sanktioniert, wird ebenso ungleich praktiziert. Für Deutschland zählte man in 2006 198 dopingrelevante Vorfälle, wobei nur 18 Sanktionen nach sich zogen. Die NADA Bonn gab bekannt, dass in allen anderen Fällen rechtzeitig Genehmigungen für Medikamente nachgereicht werden konnten. Dies lädt zur Vermutung ein, dass die Sanktionen wirklich nur einige wenige erreichen, die nicht über ein bürokratisch versiertes Umfeld verfügen (siehe Krüger 2008: 144). 8 Der Nachweis eines positiven Drogentests beim Sport setzt ein als „unrein“, „unnatürlich“, „fremd“ und „gefährlich“ angesehenes Verhalten voraus, dass sein Pendant im „reinen“, „natürlichen“, „(körper)eigenen“ und „sicheren“ Verhalten hat. Diese binäre Ethik (vgl. Kimura 2003: 225ff.) proklamiert das Ideal eines natürlichen Körpers, der ohne die Zufuhr illegitimer Substanzen als rein gilt. 9 Selbst Samaranch hat sich in 1998 für eine Legalisierung von nicht schädlichen Substanzen ausgesprochen – wurde dafür jedoch extrem kritisiert (Savulescu et al. 2004: 670).
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rolle über die Sportler;10 nach dem Ende des Amateurcodes brauchte es ein neues Regelsystem, damit die Verbände noch Zugriff auf die Werbeeinnahmen etc. der Sportler haben konnten. Gerade die Star-Athleten, so befürchtete man, würden sich ansonsten kaum kontrollieren lassen. Und gerade sie sind es, die die Massen zum Sport bringen und daher unersetzbar sind (vgl. Kimura 2003: 224). Mit der Etablierung anerkannter Wettbewerbe setzte die Kommerzialisierung des Sports ein: Siegesprämien, Antrittsgelder, Sponsorengelder, Werbeeinnahmen: Zugleich hielt auch die Medikalisierung des Sports Einzug (Waddington 2001: 121ff.), was zur Folge hatte, dass sich entsprechende Forschungszweige mit der Leistungssteigerung durch Trainingsmaßnahmen und medizinische Behandlung befassten. Der Nutzen der Medizin ging dabei weit über die Frage der Verletzungsheilung und -verhinderung hinaus.
Konformität und Wirtschaftlichkeit Zur Sicherung der Wirtschaftlichkeit braucht es die Konformität der untergebenen Arbeitnehmer. Sobald der Arbeiter verpflichtet ist, muss der Arbeitgeber versuchen, das meiste aus ihm herauszuholen – für den Sportler gilt dasselbe (vgl. Gilliom 1996: 48). Während die Tests nicht wirklich die Produktivität erhöhen können – so können sie doch helfen, den (vom Management aus gesehenen) perfekten Arbeiter zu kreieren (Gilliom 1996: 51): Der gute Arbeiter/Sportler zeichnet sich nicht nur durch den Produktivitätslevel aus, sondern auch dadurch, dass er sich dem bürokratischen Kontrollsystem unterordnet. Das Hauptcharakteristikum des guten Arbeiters/Sportlers ist jedoch die „Orientierung an den Regeln“. Drogentests können zwar keine Aussage über die Produktivität machen, aber darüber, ob die Regeln des Betriebs resp. des Sports befolgt werden oder nicht. Denn, „since one who uses illegal drugs is by definition a violator of official rules” (Gilliom 1996: 51). Die Verfügung der Sportverbände über den Sportler lässt sich ähnlich dem des Arbeitgebers über den Arbeitnehmer und somit als eine Art der Konformitätsherstellung deuten: „The real reasons for the prohibition of doping and the way doping control is organized cannot be found in the purity of sport but in the maintenance of power” (Kimura 2003: 222). Das beste Beispiel dieses Machterhalts liefert die Kontrollpraxis außerhalb der Wettkämpfe, die mal angekündigt 10 Die gegenseitige Angewiesenheit von Sportlern und Funktionären wird wie folgt beschrieben: „If the athletes wanted to be protected by their federation, they did not only have to be athletically good, but also be obedient to their sports governing body… the reasons for many doping rules are neither fair play nor favor the health of the athlete, but the power structure of the sports federations“ (Kimura 2003: 224f.).
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sind und mal nicht. Denn, “by having the power to decide the length of the advance notice, the sports governing body has maintained its power over the body of the athletes“ (Kimura 2003: 224). Wie auch in anderen Bereichen zunehmender Bürokratisierung sind jene, die die Macht ausüben wollen, immer weniger sichtbar, da die Regelwerke, Vereinbarungen etc., die Vorgaben für die Kontrollen vornehmen. Diejenigen aber, die kontrolliert werden, müssen allseits sichtbar sein (vgl. Gilliom 1996: 57). Deutlich wird dies an den Außer-WettkampfKontrollen, die den Sportlern auferlegen, ihren Aufenthaltsort jederzeit erkennbar zu machen – auch wenn sie im Urlaub oder beim Besuch der Großeltern sind.11 Die Arbeitnehmer müssen gleichsam jederzeit zur Verfügung stehen und sind durch das erniedrigende Urinieren unter Aufsicht zudem unaufhörlich sichtbar.12
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Zu den Risiken und Nebenwirkungen der Drogentests (im Namen der Gesundheit)
Auch wenn (oder gerade: weil) hinter dem Drogen- und Doping-Screening ökonomische Gründe zu vermuten sind, so heißt dies doch nicht, das sich in den Bereichen Sport und Arbeit daraus keine gesundheitlichen Risiken ergeben würden. Im Gegenteil: Der Blick auf die Testpraxis belegt diese Risiken und Nebenwirkungen ebenso, wie er deutlich machen kann, dass die Gesundheit der Individuen kaum im Blickpunkt von Drogenkontrollen steht. Dies soll mit den folgenden zwei Thesen verdichtet werden: a.
Die Konzentration auf das Verhalten der Arbeitnehmer und der Sportler führt dazu, dass strukturelle Bedingungen der jeweiligen Tätigkeit ausgeblendet werden:
Die Entwicklung der betrieblichen Gesundheitsförderung zeigt, dass gerade diejenigen Gruppen den geringsten Gesundheitsschutz genießen, die am häufigsten Drogentests über sich ergehen lassen müssen (vgl. auch Weichert 2004). Für die USA gilt dabei, dass Drogentests vor allem im Bereich der Blue Collar Berufe angesiedelt sind (vgl. Tunnell 2004), für Deutschland ist bekannt, dass es eine intensivere Testpraxis für Auszubildende und jüngere Arbeitnehmer gibt (vgl. 11 Über die „athlete whereabouts information guidelines“ auf der WADA Website erhalten die Athleten ein Formular, in dem sie ihren Aufenthaltsort jeweils eintragen können (vgl. auch Kimura 2003). 12 Siehe grundsätzlich Lemke (2004: 241); für die Drogentests am Arbeitsplatz Tunnell (2004: 111) sowie Prokop (2000: 59, 61) für die Dopingkontrollen.
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Heilmann et al. 2001). Dies liegt daran, dass jüngeren Leuten einerseits ein erhöhter Drogenkonsum unterstellt wird und andererseits die Relevanz des Problems ‚illegaler Drogen‘ extrem überschätzt wird, „zumindest im Vergleich zu dem weit dringlicheren Thema Alkohol und zu dem kaum thematisierten Medikamentenkonsum, die beide vom Umfang der im Betrieb verursachten Problem her bedeutsamer sind.“ (Heilmann et al. 2001: 465) Da sich die Tests hauptsächlich auf die jüngeren Arbeitnehmer beziehen, sagt die positive Ergebnisrate natürlich nur etwas über den Konsum in eben dieser Gruppe aus. Ganz abgesehen von der inhaltlichen Unangemessenheit der Ungleichbehandlung der Überwachung einer Arbeitnehmergruppe, muss berücksichtigt werden, dass sich Tests auf illegale Drogen (im Unterschied zum Alkoholtest) gerade nicht dazu eignen, eine Aussage darüber zu treffen, ob eine Person im Moment des Tests unter Drogeneinfluss steht. Da die Halbwertzeit der Substanzen der entscheidende Faktor für das Ergebnis ist, gilt z.B. für Kokain, dass das Ergebnis eines Drogentests umso weniger positiv ist, je näher dieser dem eigentlichem Konsumzeitpunkt liegt. Selbst wenn man aber über den Test erfahren könnte, ob die Person aktuell unter Einfluss von Drogen stünde, würde wiederum daraus keine Aussage dahingehend abgeleitet werden können, ob und wenn ja, wie dies die Leistungsfähigkeit der Person im jeweiligen Augenblick und in der Zukunft beeinflusst (vgl. Gilliom 1996: 49). Selbst das Expertenkomitee für Ethikfragen und Berufsstandards des EU-Rats hat dies formuliert: „Dass ein Bewerber manchmal illegale Drogen oder tendenziell regelmäßig Alkohol konsumiert, erlaubt klar nicht, davon auszugehen, dass er eines Tages unter Einfluss psychoaktiver Substanzen zur Arbeit kommen könnte“ (PPG 2010: 7). Für das Argument der Gesundheitsüberwachung am Arbeitsplatz ist aber genau diese Erkenntnis relevant, da man ja herausbekommen möchte, ob eine Person die Tätigkeit sachgemäß ausführen kann und ob sie sich und andere durch ihre Unpässlichkeit gefährdet. Da man die Tests aber hauptsächlich auf illegale Drogen fokussiert, die z.B. eine weitaus geringere Rolle als Medikamente am Arbeitsplatz spielen, kann die Sorge um die gesundheitlichen Gefahren der Kollegen etc. nicht so groß zu sein. Dazu kommt noch ein weiteres wichtiges Moment, würde man es mit der Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz ernst meinen: die Unzuverlässigkeit der Tests. Hierzu zählt zum einen die Uneindeutigkeit bei den getesteten Substanzen, die die vermeintlich klare Testpraxis verschleiert.13 Eine eindeutige Grenze zwi13 Die Tests haben dabei ein Image als vermeintlich „wissenschaftlich objektive“ Beurteilungstechnik, wodurch sowohl Arbeitgeber als auch Mediziner geblendet werden (Nelkin/Tancredi 1989). Das streng wissenschaftliche Fundament ist jedoch schon getrübt, da innerbetriebliche Ärzte, die zwischen den Loyalitätsfronten stehen, über die Tests der Mitarbeiter entscheiden. Die Tests helfen den Medizinern in dieser Zwickmühle eine (vermeintliche) Neutralität und Faktizität zu vermitteln und so in einer neutraleren Position wahrgenommen zu werden. Vergessen werden dabei die der Testpraxis inhärenten Interpretationen.
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schen verschiedenen Substanzen zu ziehen, ist oftmals nicht möglich, vor allem wenn es um Drogentests am Arbeitsplatz geht, die eher großflächig und mit billigen Verfahren vorgenommen werden. Dabei wird nicht nach einer Substanz gesucht, sondern nach den Metaboliten einer Substanz – diese ähneln wiederum anderen (siehe Paul 2007). Auch sind die festgelegten Grenzwerte durchaus unterschiedlich, je nachdem welches Labor die Tests analysiert – weswegen es zertifizierte Labore gibt (die für die Dopingkontrollen vorgeschrieben sind, für die Kontrollen am Arbeitsplatz jedoch nicht). Liegt also ein negatives Ergebnis für einen Test vor, so kann es trotz allem sein, dass die/der Betroffene besagte Substanzen konsumiert hat – nur lagen die produzierten Metaboliten unter dem Grenzwert, der benutzt wurde, was auf vielfältige Einflüsse zurückzuführen ist (Halbwertzeit etc.). Umgekehrt können positive Tests aufgrund vielfältiger anderer Substanzrückstände entstehen, aufgrund einer unsachgemäßen Testdurchführung bzw. Lagerung der Testflüssigkeit etc. Die momentane Leistungsfähigkeit, deren Sicherstellung ja für die Gesunderhaltung aller am Arbeitsplatz tätigen relevant ist, ist also nicht Gegenstand der Drogentests. Dies wird einmal mehr deutlich, wenn man sieht, dass „viele andere Faktoren das Bewusstsein von Arbeitnehmenden trüben können“ (PPG 2010: 6). So können schlechte Laune, Tagträumerei, Liebeskummer u.v.a., aber auch die unterschiedliche Konstitution von Arbeitnehmern Einfluss auf ihre Leistungsfähigkeit haben. Die EU sieht daher im Sinne des Gesundheitsinteresses des Betriebs ein Vorgehen für erforderlich, welches sich nicht um Testergebnisse oder spezifisch ausgewählte Substanzen kümmert: „Um die Arbeitnehmenden selbst und Dritte vor möglichen Schäden zu schützen, wäre … in gewissen Sparten (z.B. Piloten, Lastwagenlenker …) die Arbeit so zu organisieren, dass Kollegen oder Vorgesetzte bei der Arbeitsaufnahme feststellen können, wenn jemand an einem Tag nicht in optimaler Verfassung für die Ausübung seiner Arbeit ist“ (PPG 2010: 6). Durch die Drogentests wird jedoch die Verantwortung der Arbeitnehmer für die Gesundheit der Betriebsangehörigen auf den Arbeitnehmer selbst übertragen. Dadurch entzieht er sich der Verantwortung für ein gesunderhaltendes Arbeitsumfeld zu sorgen. Hagen Kühn beschreibt dies mit dem Blick auf die Rhetorik der betrieblichen Gesundheitsförderung: „Obwohl es sich um Gesundheit in der Arbeitswelt handelt, wird die Arbeitswelt nicht zum Thema. Der Betrieb ist nicht deshalb Ort der Gesundheitsförderung, weil dort Menschen ihre Arbeitskraft verausgaben. … Die Einbeziehung der Arbeitsbedingungen, d.h. des Arbeitspensums, der Arbeitsinhalte (z.B. Monotonie, einseitige Belastung), der Arbeitsumwelt (z.B. toxische Stoffe, Lärm) und -organisation (z.B. Streß durch inkonsistente Anforderungen oder Überlastung, Unterordnungsverhältnisse) … wird in keiner Studie über die Verbreitung der betrieblichen Gesundheitsförderung be-
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richtet. Man versucht das mit dem Argument zu legitimieren, Gesundheitsförderung gehe über Prävention hinaus und sei krankheitsunspezifisch. Aber das gleiche wie für das Nichtrauchen, nämlich Prävention und Gesundheitsförderung zugleich zu sein, gälte auch für Lärmdämmung, Temperaturregulierung oder die Verhinderung von Vorgesetztenschikanen“ (Kühn 1993: 383). Auf ähnliche Weise kann man nun auch eine Ausblendung struktureller Probleme beim Sport konstatieren: Dass der Leistungssport nicht viel mit Gesundheit zu tun hat, ist keine neue Erkenntnis, wird aber vielfach im Diskurs um die Gesundheitsgefahren des Dopings vergessen. Dass heißt, der Sport selbst bietet zahlreiche Gesundheitsrisiken, ebenso wie es vom Doping behauptet wird. Fußball z.B. birgt ebenso wie Squash, ernsthafte Risiken für die Knie, Knöchel, Bänder etc.; Eishockey und American Football haben ein hohes Verletzungsrisiko der Wirbelsäule etc. (vgl. Waddington 2001). All diese Risiken jedoch werden als notwendig angesehen für den Wettkampf. Dabei wird vergessen, dass Regeln (wie sie z.T. bei der Formel 1 und beim Boxen in den letzten Jahren umgesetzt wurden) diese Sportarten sicherer machen könnten. Doch gibt es auch Grenzen der Ver-Regelung und Versicherheitlichung des Sports, da er sonst seinen Wettkampf-Charakter verlieren würde. Gesundheitsgefahren sind somit ein Teil des Sports, die durchaus akzeptiert werden. Beim Doping scheint dies jedoch anders zu sein. Während die Gesundheitsgefahren des Sports in Kauf genommen werden, gibt man vor, dass die Gesundheitsgefahren des Dopings dazu berechtigen würden, dieses zu unterbinden und die Sportler weitreichend zu überwachen (vgl. Kayser et al. 2007). Dabei straft auch hier die Praxis die Verbotslegitimation der Gesundheitsfürsorge Lügen: So wird z.B. auch auf THC getestet, wobei THC-Tests aus sportlicher wie aus gesundheitlicher Sorge völlig unsinnig sind und nichts mit dem Vorwurf der Leistungssteigerung zu tun haben (Kayser et al. 2007: 16). Ähnliches gilt für Kaffee, der bis 2003 auf der Verbotsliste stand und seit 2004 wieder heruntergenommen wurde. Wer also zum falschen Zeitpunkt drei Mal vier Tassen Kaffee vor einem Wettkampf zu sich nahm, sah sich im schlimmsten Fall mit einer lebenslangen Sperre konfrontiert (Krüger 2008: 154). Für die Testpraxis ist es – ähnlich wie der beim Arbeitsplatz – nicht relevant, wie gesundheitsgefährdend z.B. eine Bewusstseins-Beeinträchtigung während einer Sportart ist, als vielmehr was das Risikoprofil des Sportlers über dessen Doping-Anfälligkeit aussagt. Was beim Arbeitsplatzscreening die Überhöhung des Fokus auf illegale Drogen ist, ist beim Dopingscreening die Überhöhung des Kampfes gegen das Doping, ungeachtet reeller Gefährdungslagen oder gesundheitlichen Problematiken. Ressourcen (gesetzlicher, verbandsbezogener, informativer sowie finanzieller Art), die in die strukturelle Verbesserung des Sports zur Eliminierung von Gesundheitsgefahren gehen könnten, werden zur
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Zeit fast ausschließlich dem Kampf gegen das Doping gewidmet. Bezüglich der Auswahl der zu testenden Sportler betonen die Testanbieter daher die Systematik ihrer Risikoprofilierung: „Die Intensität der Kontrollen richtet sich dabei nach der Zugehörigkeit der Athleten zu bestimmten Testpools und nach dem Grad der Gefährdung ihrer Sportart [für Doping, BP]. Etliche Dopingmittel lassen sich nur schwer direkt nachweisen, bei anderen erschweren geringe Dosierungen die Überführung von Dopingsündern. Der internationale Trend geht deshalb dahin, neben den obligatorischen Kontrollen individuelle Profile (Steroide und Blutprofile) von Athleten anzulegen … Gemäß dem internationalen Trend hat die NADA damit begonnen, Profildatenbanken aufzubauen.“14 b.
Die Konzentration auf das Verhalten von Arbeitnehmer und Sportler führt dazu, dass erst durch die Testimplementation gesundheitliche Probleme bzw. Gefährdungslagen entstehen.
Vielfache Problematiken bzw. Risiken entstehen erst durch den Einsatz von Drogentests. Die zunehmende und durch die Tests legitimierte Verantwortungsabgabe des Arbeitgebers hinsichtlich der strukturellen Arbeitsplatzverbesserung wurde bereits erwähnt. Dieses Argument ist noch weiterzudenken, bis hin zu einer dauerhaften Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, die nur noch die Arbeitnehmer passend zum schlechten Arbeitsplatz aussuchen und nicht mehr den Arbeitsplatz den Arbeitnehmern und ihrer Gesunderhaltung anpassen. „Anstatt die Gefahren, Belastungen und Risiken abzubauen, werden Informationsgrundlagen bereitgestellt, die es gestatten, Arbeitskräfte zu finden, die für eine bestimmte Zeit den gegebenen und unveränderten Bedingungen gewachsen zu sein versprechen“ (Kühn 1993: 380). Dies birgt auf lange Sicht die Gefahr einer Verfestigung von Arbeitsplatzrisiken, da die Arbeitnehmer austauschbar sind.15 Nicht nur strukturelle Arbeitsplatzbedingungen werden ausgeblendet, auch die Problemlagen der Arbeitnehmer, die u.U. tatsächlich zu Drogen greifen, werden ignoriert. Statt ein Arbeitsklima zu schaffen, in dem Arbeitnehmer und geber über Konflikte (Stress am Arbeitsplatz, persönliche Probleme etc.) sprechen können, die einen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit des Arbeiters haben, wird der Druck auf den Arbeitnehmer noch weiter erhöht und verschärft damit im Ansatz vorliegende Problemlagen. So kann der Druck am Arbeitsplatz (inklusive Arbeitsplatzverlustängste etc.) erst zur gesundheitlichen Beeinträchtigung 14 http://www.pwc-dopingkontrolle.de/unternehmen.html [10.2.2010] 15 Dagegen konstatiert Weichert, dass die Arbeitgeber in Deutschland gewiss noch ein hohes Interesse an gesunden Arbeitsbedingungen haben, da sich ein Verschleiß der Arbeitnehmer nicht rentieren würde. Insofern würde sich Deutschland noch von weniger entwickelten Staaten unterscheiden, in denen ein Ersatzheer an gesunden Arbeitskräften warten würde (2004: 7).
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der Arbeitnehmer führen, die ja eigentlich verbal durch die Testpraxis eliminiert werden sollen (Heilmann et al. 2001). Die Arbeitgeberseite setzt auf Abmahnung statt auf den Dialog und die Suche nach Lösungen. Der Arbeitnehmer wird seine Sorgen und Nöte kaschieren müssen, sei es im Umgang mit Kollegen oder beim Fälschen eines Drogentests. Und eben dieser Effekt der Problemverdrängung kann dabei nicht nur für den einzelnen schwerwiegende Konsequenzen haben, geht man von einer Eskalation der Probleme aus (Drogenkonsum nimmt zu, Situation wird aussichtsloser, Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit führt zu Unfällen etc.). Vergleicht man diesen Umgang mit der Situation des Drogenkonsums am Arbeitsplatz, die noch nicht mit einem Stigma oder Kontrollen belastet ist, 16 erkennt man, dass repressive Lösungen kaum von Erfolg gekrönt sind: Orchestermusiker z.B. verwenden Betablocker, um leistungseinschränkende Symptome zu bekämpfen (das sind angstreduzierende Medikamente die beim Sportdoping verboten sind) (Hobermann 1994: 131/132). Weil so ihr Stress limitiert wird, sind sie weniger nervös und spielen besser. Verbote und strikte Kontrollen würden nicht zu einem Verzicht auf den Konsum führen, sondern lediglich zu einer Verdrängung in die Heimlichkeit, wie es beim Konsum illegaler Substanzen, der den Kontrollen unterliegt, der Fall ist. Ähnliche Positionen lassen sich beim Sport vertreten: „[D]oping cannot be sufficiently safe as long as it is prohibited” (Kayser et al. 2007: 5). Denn durch die vehementen Kontrollen werden Sportler mit ihren Versuchen der Leistungssteigerung in die Illegalität gedrängt, wodurch unter Umständen gefährlichere Praktiken angewendet und dadurch erst recht Gesundheitsrisiken geschaffen werden (etwa neue Substanzmischungen, über die noch wenig bekannt ist, oder der Rückgriff auf alte Verfahren, z.B. Eigenblutdoping zur Erhöhung der Sauerstoffzufuhr im Blut17). Auf diese Weise werden ggf. mehr Schäden angerichtet, als würde die Leistungssteigerung unter Aufsicht erfolgen und mit dem Ziel der „Schadensminimierung“ durchgeführt. Zudem werden Substanzen getestet, deren Legalität daran gemessen wird, ob eine Ausnahmegenehmigung zur Benutzung vorliegt oder nicht. Allerdings funktioniert diese Vorgehensweise zur medizinisch erlaubten Vergabe von einigen Heilsubstanzen nicht immer (TUE: Therapeutic Use Exemption). Die Konsequenz der Doping-Regelungs-Bürokratie ist, dass die Sportler nicht ihre ange16 So problematisiert die Techniker Krankenkasse den Psychopharmakakonsum von Studierenden (2009) und auch der Gesundheitsreport 2009 der Deutschen Angestellten-Krankenkasse widmet sich in seinem Schwerpunkt dem „Doping am Arbeitsplatz“ (DAK 2009: 60; Weber/Rebscher 2009). Doch noch ist in dieser Diskussion nicht entschieden, wie man mit dem Konsum verfahren will – ob eher helfend oder repressiv. 17 Nach dem Verbot von EPO ist das Eigenblutdoping wieder populär geworden. In den 1970ern fingen Athleten damit an, EPO zu spritzen, offiziell wurde es dann 1985 verbannt (Savulescu et al. 2004: 667).
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messene Behandlung bekommen: Asthma z.B. kann nicht ordentlich behandelt werden wegen der strikten Regeln. Sichere Substanzen, die auf der Verbotsliste erscheinen, werden durch wesentlich gefährlichere ersetzt, da die Frage der Entdeckung Priorität hat und nicht mehr die der unerwünschten Nebenwirkungen.18 Andererseits führt auch die schon erwähnte ökonomische Ungleichheit, dazu, dass jene, die sich teure Trainingsmethoden nicht leisten können, eher in die Illegalität der Leistungssteigerungsmethoden abgedrängt werden. Teure Trainingsmethoden, wie etwa die der Hypoxic Air Machine, kosten um die 7000$, EPO dagegen nur 122$ im Monat (Savalescu et al. 2004: 668). Weiterhin ist die Weiterentwicklung von Dopingsubstanzen, die noch nicht als verboten gelistet sind, eher jenen Teams vorbehalten, die über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen. Diverse Autoren, die sich mit der Gesundheit von Sportlern auseinandersetzen, plädieren daher dafür, Gesundheit nicht mehr nur auf der rhetorischen Ebene abzuhandeln, sondern das Motto zu beherzigen: „test for health, not drugs“ (Savulescu et al. 2004: 670). Ein Aufgeben der Dopingbekämpfung würde den Sport aus ihrer Sicht nicht nur sicherer, sondern auch fairer machen: „Seit ihren Ursprüngen in den 20er Jahren hat die Kampagne gegen Doping stets Gesundheits- und Fairnessargumente, die nichts miteinander zu tun haben, auf eine unangenehm synergistische Weise verbunden. Wenn die medizinischen Risiken der Steroide beseitigt werden könnten, würde das Argument an Stärke verlieren, dass sie einen unfairen Vorteil verschaffen. Es wäre dann die Behauptung möglich, dass alle Sportler diese Medikamente sicher verwenden könnten. An diesem Punkt wäre man an der Abschaffung des Dopingkonzepts näher als zuvor, und viele Spitzensportler würden von der Last befreit werden, Doping heimlich zu betreiben“ (Hobermann 1994: 131).
18 Oft lassen sich die Medikamente aber gar nicht richtig auseinanderhalten. Da sich die TUE nur auf bestimmte Darreichungsformen bezieht, sind bei ähnlichen Handelsbezeichnungen Verwechslungen möglich, „wie beim Nasenspray Rhinopront, welches als unbedenklich gilt, während die Kapseln und der Saft mit dem gleichen Handelsnamen die verbotene Substanz Phenylephrin enthalten. Das Hustenmittel Mucosolvan ist erlaubt, während Spasmo Mucosolvan die Substanz Clenbuterol enthält und damit wiederum verboten ist. Das Erkältungsmittel Wick Formel 44 kann unbedenklich genommen werden; Wick Medi Nait hingegen enthält Ephedrin und darf nicht eingenommen werden. Und während gegen Aspirin und Aspirin Plus C nichts einzuwenden ist, enthält das Erkältungsmittel Aspirin Complex ebenfalls die verbotene Substanz Pseudoephedrin.“ http://www.highfive.de/1825. 0.html?&no_cache=1&tx_prfaq%5Bright%5D=1&tx_prfaq%5BshowUid%5D=274 [10.2.2010] Diese Informationen erhält man auf der Anti-Doping-Kampagnen-Seite „High Five“.
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Drogentests haben also Effekte der unterschiedlichsten Art: Sie schaffen neue Probleme und auch gesundheitliche Risiken, sie führen zu Überwachung in allen Lebenslagen, zu Stigmatisierung, Verlust des Jobs usw. All dies sind Auswirkungen einer Kultur des Misstrauens, die sich im Drogentest ritualisiert und gerade auch mit Verweis auf die Super-Norm Gesundheit durchgesetzt hat. Doch wohin führt uns dieser Weg? Die Vorausschau auf eine genetische Blacklist z.B. ist eine recht realistische Einschätzung, da sie bereits in anderen Ländern praktiziert wird (in den USA seit den 70ern, siehe Nelkin/Tancredi 1989: 94ff). Mittels Genomanalyse wird die Passgenauigkeit des Arbeitnehmers zum Arbeitsplatz getestet, ob er anfällig ist für spezifische Krankheiten (die am Arbeitsplatz hinderlich wären), ob er leistungsfähig ist u.v.a.m. Diese Art der ökonomisch motivierten Testpraxis der Unternehmen wird auch als „ecogenetics“ bezeichnet (Nelkin/Tancredi 1989: 94). In Deutschland ist man diesbezüglich noch verhaltener, wenngleich die Frage der Nutzen- und Gefahrenabwägung schon seit einiger Zeit diskutiert wird (vgl. Weichert 2004: 7f.). Wenn sich allerdings, wie es bei den Drogentests geschehen ist, die Praxis bereits im Vorfeld einer öffentlichen Diskussion bzw. rechtlichen Regelung etabliert, werden wir vor vollendete Tatsachen gestellt werden, die zum Substrat einer genetischen Klassengesellschaft (Weichert 2004: 8) werden könnten: „If biological tests are used to conform people to rigid institutional norms, we risk reducing social tolerance for the variation in human experience. We risk increasing the number of people defined as unemployable, uneducable, or uninsurable. We risk creating a biological underclass“ (Nelkin/Tancredi 1989: 176). Die gleiche Gefahr gilt für den Sport. Wird heute noch oftmals die genetische Ungleichheit der Sportler vergessen und eine vermeintliche Gleichheit als oberste Prämisse des Sports behauptet, so wird den Genen auf anderem Wege bereits mehr Aufmerksamkeit zuteil. Anstelle der Tests auf Substanzmittelkonsum werden die Sportler inzwischen auch auf ihre genetische Leistungsfähigkeit hin getestet. Damit lässt sich herausfinden, zu was ein Mensch in der Lage ist – läuft er schneller als die laut der Genomik erwartbare Zeit, kann nur eine Manipulation im Spiel sein. Ein Nachweis muss nicht mehr erbracht werden, da dies von vornherein feststeht. So ist abzusehen, dass der inzwischen etablierte Athletenpass19 zukünftig auch die Daten zur genetischen Prädisposition eines Sportlers enthalten wird.20 19 Das genetische Screening lehnt die WADA inzwischen auch nicht mehr völlig ab (vgl. Kayser et al. 2007). 20 In Italien hat die Fahrrad Federation bereits im Jahre 2000 entschieden, dass alle Junioren getestet und ein hermatologischer Passport erstellt werden sollte (Savulescu et al. 2004: 670).
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Angesichts der massiven Werbung der Screening-Industrie könnte man davon ausgehen, dass sich die Praxis der Drogentests immer mehr ausweitet – auf andere Lebensbereiche und Substanzen. Doch diese Aussicht könnte schon bald von der „ecogenetics“-Entwicklung überholt werden, womit Drogenscreenings auf lange Sicht überflüssig würden. Denn wenn die Genomanalysen erst einmal so günstig werden, dass sie alltagstauglich sind, können sie noch viel weitgreifender über die Konformität des Individuums entscheiden – eine Konformität, bei der es nicht mal mehr um Verhalten geht, sondern um die Zuschreibung von Anlagen, Charakterzügen, Anfälligkeiten etc..
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Warum Lucky Luke das Rauchen aufgeben musste Gesa Thomas
Einleitung Lucky Luke, Cowboy und Westernheld in Comics und Trickfilm, gibt im Laufe seiner Karriere das Rauchen auf. Statt der Zigarette hängt ihm inzwischen ein Grashalm im Mund. Doch wie kommt es dazu, dass eine Comicfigur, deren Abenteuer in einer Zeit angesiedelt sind, in der das Rauchen selbstgedrehter Zigaretten immer mehr an Popularität gewonnen hat, mit dem Rauchen aufhört? Die Gefahren des Rauchens sind zu dieser Zeit weltweit kaum bekannt und daher auch noch nicht öffentlich thematisiert. Eher im Gegenteil. Folgt man Wilhelm Buschs Geschichte „Die beiden Enten und der Frosch“ aus dem Jahr 1862, so zeigt sich ein anderes Image des Rauchens: „Drei Wochen war der Frosch so krank! Jetzt raucht er wieder. Gott sei dank!“. Was also kümmert es uns, ob Lucky Luke nun raucht oder nicht? Im Sinne des gegenwärtigen Diskurses über die Gefahren des Rauchens kann es uns doch nur Recht sein, dass ein Westernheld, der in seiner Rolle auch als Vorbild gilt, das Rauchen einstellt und sich in den Dienst der Gesundheitsbotschafter stellt. Mit einem Blick hinter die Kulissen der Comicserie und auf zensorische Maßnahmen, die die Darstellung von gesundheitsschädigendem Verhalten im Comic beeinflussen, werde ich zeigen, warum die auf den ersten Blick so lobenswerte Verhaltensänderung unseres Westernhelden einer kritischen Betrachtungsweise bedarf.1
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Lucky Luke: vom Ketten – zum Nichtraucher
Lucky Luke wurde 1946 von dem Zeichner Morris (Maurice de Bévère 1923 – 2001) als humoristischer Abenteuercomic für Kinder erschaffen und wird seit 1947 regelmäßig bis heute veröffentlicht. Die Serie spielt im Westen der USA in 1 Ausführlicher habe ich mich mit dem Thema in meinem Buch: „Helden rauchen nicht? – Darstellung, Rezeptionsannahmen und Zensur von Drogen in Comics“, Berlin, 2006 auseinandergesetzt.
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der Zeit von 1850 bis 1900. Sie greift Ereignisse und Mythen auf, die den „Wilden Westen“ charakterisieren. Dabei werden sämtliche Westernklischees parodiert, weshalb Lucky Luke auch mit allen Attributen ausgestattet ist, die einen Westernhelden ausmachen. Er ist ein armer, einsamer Cowboy, wie er im letzten Panel jedes Albums immer wieder betont, wenn er aus dem Bild und dem Sonnenuntergang entgegen reitet2. Mit seiner Gabe, schneller als sein Schatten schießen zu können, vertritt der Cowboy Recht und Gesetz und verdingt sich in vielen Städten als Sheriff oder Bürgermeister. Er nimmt an diversen historischen Ereignissen dieser Zeit teil und trifft viele berühmte Persönlichkeiten dieser Epoche, reitet für den Pony-Express, begleitet Pioniere nach Kalifornien, hilft beim Eisenbahnbau und beim Aufstellen der Telegrafenmasten, begleitet Viehtransporte und hilft Farmern. Von 1948 bis 1983 wird Lucky Luke als mal mehr und mal weniger starker Raucher selbstgedrehter Zigaretten präsentiert. Findet er in den ersten Geschichten noch wenig Gefallen an Tabakprodukten: „Ein Zigarrenstummel! Er qualmt noch!“ … „Puuuh! Widerlich!“3 und: „Raus aus der Bude! Hier stinkt`s nach Tabak und gepanschtem Whisky!“4, raucht er seine erste Zigarette dann doch schon in Band 2 („Rodeo“ 1948-49) und zwar mit jener lässigen Attitüde, für die er später bekannt werden sollte und lange bevor der Marlboro-Cowboy 1955 das Licht der Welt erblickt. Zunächst erscheint Lucky Luke als Gelegenheitsraucher. Dann steigert er seinen Konsum. In den Comicgeschichten der Jahre 1952-1957 raucht er zwischen 13 Zigaretten (und einmal Kautabak) in Band 7 und 19 Zigaretten in Band 11. Das Konsumverhalten von Lucky Luke wird zunehmend alltäglicher. Er raucht nicht mehr nur in bestimmten Situationen, um sich vor anderen darzustellen, sondern tritt als Gewohnheitsraucher auf. Kettenrauchend dreht er häufig schon die nächste Zigarette, während er noch eine im Mund hat. Ohne Zigarette wird er später nur noch selten abgebildet, vielmehr raucht er bei allen Gelegenheiten, sogar dann, wenn Explosionsgefahr droht.5 Er zeigt sich dabei als begab2 Seit 1961, mit Band 19: „Familienkrieg in Painful Gulch“ ist der Ritt dem Sonnenuntergang entgegen, bei dem Lucky Luke das Lied: „I´m a poor lonesome Cowboy“ singt, ein festgeschriebenes Ritual, mit dem die Geschichte beendet wird. Die Jahresangaben beziehen sich auf das Erscheinungsjahr der französischsprachigen Veröffentlichungen, sowie auch die Bandangaben, da sie hier im Gegensatz zu Deutschland chronologisch veröffentlicht werden. 3 Band 1 „Der Doppelgänger” in „Die Goldmine von Dick Digger” (1947: 67). 4 Band 4 „Die Rückkehr von Revolver Joe” in „Texas und kein Ende” (1949-50: 167). 5 Er raucht z.B. neunmal vor Gericht, achtmal bei einem Faustkampf, sechsmal beim Duell, viermal bei Kunstvorführungen mit seinem Pferd, dreimal beim Rodeo und wenn er gehängt werden soll, in sieben Alben in der Badewanne, während er sich gleichzeitig wäscht, einmal beim Sport, beim Exerzieren, beim Tierarzt, im Theater, bei einem an ihm durchgeführten Initiationsritus bei den Indianern und in der Kirche. Sogar wenn er gefesselt ist (16 mal), über Stunden und Nächte, lässt er die Zigarette nicht aus dem Mund fallen und zündet sie sofort nach der Befreiung wieder an. Trotz Explosi-
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ter Raucher, da er Rauchringe und Totenköpfe über der Zigarette kreisen lassen kann. Er dreht Zigaretten in einer Hand und wenn er gerührt ist oder sich erschreckt, zerkrümelt er diese. Auch beim Alkoholgenuss beweist Lucky Luke eine ausgesprochene Konsumfertigkeit. Trotz der häufig geäußerten Annahme, er würde Cola dem Alkohol vorziehen, nimmt er das koffein- (und bis 1906 noch kokain-) haltige Getränk in nur sieben Alben zu sich.6 Im Gegensatz dazu wird er in 57 Alben Whisky und/oder Bier trinkend dargestellt. Lucky Luke ist seit ihrem Erscheinen eine der beliebtesten Comicserien in Europa. Die sich in den 1960er Jahren durchsetzende Erkenntnis, dass Rauchen gesundheitsschädigend ist, hat zunächst keinen Einfluss auf das Rauchverhalten Lucky Lukes oder anderer Figuren. Eher im Gegenteil, mit dem Wechsel zu einem anderen Herausgeber 1968 werden nun auch Frauen rauchend dargestellt. Lucky Luke selbst kommentiert zwar schon im Band 38 („Ma Dalton“) aus dem Jahr 1971 seine Leidenschaft mit den Worten: „Ach ja, Rauchen gefährdet...“, während die Rauchwölckchen aus der Flamme des Streichholzes mit dem er sich seine Zigarette anzündet, in Totenkopfform aufsteigen, doch ist dies eher scherzhaft als warnend gemeint. Aufgrund des Erfolges, den die Comic-Serie Lucky Luke seinem Erfinder und Zeichner Morris sowie Texter Goscinny bescherte, entschieden sich diese, den Helden auch auf der Leinwand auftreten zu lassen. Mit den beiden Trickfilmen „Daisy Town“ (1971), gedreht in Belgien, und „La Ballade des Daltons“ (1978, in Deutschland „Sein größter Trick“), deren Animation in Frankreich entstand, wurde die Idee in Trickfilmstudios realisiert. Morris entschloss sich schließlich, ein drittes Leinwandabenteuer bei den Hanna-Barbera-Filmstudios in Kalifornien produzieren zu lassen: „Les Daltons en Cavale“ (1983) sowie eine Serie mit 26 Folgen (1983), die auf bereits veröffentlichten Alben basierte. Die Hanna-Barbera Filmstudios stimmten daraufhin unter folgenden Bedingungen zu: Der Cowboy dürfe nicht mehr rauchen, wie in den bis dahin in Europa produzierten Comics und Filmen, ansonsten ließe sich die Serie auf dem amerikanischen Markt nicht veröffentlichen. Begründet wurde diese Entscheidung damit, dass es sich bei Lucky Luke um ein Produkt handeln würde, dessen Zielgruppe Kinder seien. Zudem befürchteten die amerikanischen Bearbeiter Ärger mit dem Bureau of Standards and Practices, der amerikanischen Selbstzensurbehörde für das Fernsehen, wenn Lucky Luke Whisky trinken oder Waffen tragen würde. Auch die Totengräber sollten aus der Serie entfernt werden und onsgefahr in der Erdölstadt Titustown, in der er als Sheriff tätig ist, raucht er dort ca. 33 Zigaretten und wird zweimal wartend gezeigt mit insgesamt 17 Zigarettenstummeln vor seinen Füßen. 6 Band 12 „Vetternwirtschaft“ (1957), Band 15 „Die Daltons brechen aus“ (1958-59), Band 16 „Am Mississippi“ (1959), Band 19 „Familienkrieg in Painful Gulch” (1961), Band 26 „Die Daltons bewähren sich“ (1963-64), Band 67 „Marcel Dalton“ (1998) und Band 69 “Der Kunstmaler” (2001).
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Schwarze oder Indianer nicht in niederen Positionen arbeiten. Morris aber setzte sich für den Erhalt seiner Totengräber ein, die dann auch tatsächlich in der amerikanischen Serie auftauchen.7 Dass sein Held nicht mehr rauchen sollte, da die Fernsehserie sich an Kinder richtet, sah er jedoch ein (Delporte 1993). Durch die erstarkenden Anti-Raucher-Kampagnen in Europa wuchs Anfang der achtziger Jahre der Druck auf die Verleger. Auch hier war der rauchende Lucky Luke vielen zunehmend ein Dorn im Auge (Hiebing 1996). Seine 35jährige Gewohnheit, selbstgedrehte Zigaretten zu rauchen, wurde bei dem einst unfehlbaren, als Vorbild konzipierten Helden 19 Jahre nach Erscheinen des TerryReports,8 nicht mehr gern gesehen. Die Befürchtung, er könne seine jugendlichen Leser zum Rauchen verführen, war groß. So kam es, dass Lucky Luke nicht nur in den amerikanischen Filmprodukten zum Nichtraucher stilisiert wurde, sondern gleichzeitig auch in der frankobelgischen9 Comic-Serie seine Zigarette gegen einen Grashalm eintauschte. Der Cowboy, der sich in den ersten Jahren in lässigen Rauchposen präsentierte, dann seine Abenteuer stets mit Zigarette im Mundwinkel bestand, verkündet seitdem die Botschaft, dass Rauchen gesundheitsschädlich ist. Von wissenschaftlicher Seite aus kann kein Beleg erbracht werden, dass der rauchende Westernheld seine Leserschaft zum Rauchen verführen würde. Es gibt keine Studie, die dies nachzuweisen vermag. Und trotzdem wird angenommen, dass die Leserschaft das Verhalten des Helden übernimmt. Diese Annahme einer Rezeptions-Wirkung reicht aus, um zu begründen, dass Lucky Luke das Rauchen einstellen soll. Wie es zu dieser Annahme kommt und warum sie einen so großen Einfluss auf die Darstellung risikobehafteter Verhaltensweisen von Comicfiguren hat, soll im Folgenden ausgeführt werden.
7 Vergleicht man den Comic Band 33 „Das Greenhorn“ (1967-68) mit der gleichnamigen Serienverfilmung, stellt man fest, dass neben der Zigarette, die in der deutschen Videoausgabe übrigens auf dem Cover abgedruckt ist, auch Whisky gegen Apfelwein ausgetauscht und der indianische Haushälter gegen einen Trapper ersetzt wurde. 8 1964 veröffentlicht General Surgeon Terry einen Bericht über die gesundheitsschädliche Wirkung des Tabakkonsums und den Zusammenhang des Rauchens mit der Krebserkrankung. Obwohl schon in den 1930er Jahren deutsche Wissenschaftler die gesundheitsschädlichen Folgen nachgewiesen haben, erregt der Terry-Report erstmals weltweite Aufmerksamkeit und Annerkennung (Kolte/Schmidt-Semisch 2003). 9 Der französische und belgische Markt sind schwer voneinander zu trennen und werden daher als frankobelgischer Markt bezeichnet. Da in beiden Ländern in französischer Sprache veröffentlicht wird, erscheinen die Produkte zeitgleich in beiden Ländern. Zudem arbeiten Zeichner und Texter häufig zusammen oder wechseln in ihrer Tätigkeit von einem französischen zu einem belgischen Verleger oder umgekehrt. So auch z.B. bei Lucky Luke.
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„Comics are the Marihuana of the Nursery“: Wirkungsforschung und Comic-Zensur
Die Vorstellung, dass der Leser eines Comics die Verhaltensweisen eines Protagonisten übernimmt, etablierte sich Ende der 40er Jahre, nachdem der amerikanische Comic in den 1930er und 1940er Jahren einen Verkaufsboom erlebte, der dieser Ära den Namen „Golden Age of Comics“ einbrachte. Dabei lösten die Darstellungsformen des Comics, die das Publikum auf der einen Seite in ihren Bann zogen und begeisterten, auf der anderen Seite große Ängste aus. Da die für den Erwachsenenmarkt konzipierten Crime- und Horror-Comics mit ihren zum Teil durchaus brutalen Gewaltdarstellungen auch von Kindern gelesen wurden, befürchteten Eltern und Pädagogen negative Einflüsse auf die Entwicklung ihrer Kinder. Der Comic wurde zunehmend als Bedrohung betrachtet, was die in den USA und später auch in Deutschland öffentlich durchgeführten ComicVerbrennungen verdeutlichen (Knigge 2004). Gleichzeitig wurden diese Befürchtungen durch die Forschungsergebnisse von einigen Psychologen und Psychiatern10 gestützt und geschürt. Diese betätigten sich als „Moral-Unternehmer“ (Becker 1991) und führten in den folgenden Jahren einen Kreuzzug gegen Comics an. Sie setzten ihre Ansicht, dass Comics das soziale Verhalten des Lesers schädigen, mit selbst durchgeführten Untersuchungen durch. Frederic Wertham, der bekannteste von ihnen, begann 1946 über den Einfluss von Comics auf die Kriminalität von Jugendlichen zu forschen11 (Fuchs/Reitberger 1973). Durch Artikel und öffentliche Auftritte verbreitete er seine Ansichten und wurde zur nationalen Berühmtheit. Mit Äußerungen wie: „Comics are the Marihuana of the Nursery“ brachte er Comiclesen mit Drogen10 Mit den sich in der Aussage ähnelnden Studien etablieren sich einige Psychologen und Psychiater, wie z.B.: Freitag (1953/54), Mosse (1954/56/63) und Spitta (1955). So veröffentlicht der Psychologe Gershon Legman bereits 1949 die Ergebnisse seiner Wirkungsforschung in seinem Buch Love and Death. Er kommt u.a. zu dem Ergebnis, dass Comics Kinder wie Tiere konditionieren und ihren Willen brechen. Sie beschränken den Bezug zum realen Leben und füttern Kinder mit Gewalt (Knigge 2004). 11 1954 wird Frederic Wertham mit der Veröffentlichung seines Buches „Seduction of the Innocent“ endgültig zum führenden Kopf im Kreuzzug gegen die Comics. In seinem Buch veröffentlicht er die Ergebnisse seiner siebenjährigen Studie über den Einfluss von Comics auf die Kriminalität Jugendlicher. Wertham befragt straffällige Jugendliche danach, ob sie gerne und wie oft sie Comics lesen. Aus der Tatsache, dass alle befragten Jugendlichen gerne Comics gelesen haben, zieht er den Schluss, dass Comics Jugendliche dazu verleiten, Straftaten zu begehen. Insbesondere die in den vierziger Jahren beliebten Crime- und Horror-Comics, die explizit ein erwachsenes Publikum ansprechen, sind laut Wertham (und auch Legman 1949) für Verbrechen bis hin zum Mord, verantwortlich. Für ihn stehen solche Taten in direktem Zusammenhang mit dem Lesen von Comics, welche durch die dargestellten Verbrechen nicht nur eine Gebrauchsanweisung liefern, sondern auch eine Identifikationsmöglichkeit mit den Verbrechern bieten. Daher können nach Wertham Comics als die Ursache für die steigende Jugendkriminalität angesehen werden.
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konsum in Verbindung.12 Im Zuge des Kampfes gegen den Comic etablierte sich die konservative Wirkungsforschung, durch die der bestehende Mythos – Comics seien gefährlich – gefestigt wurde (vgl. Gusfield 1981). Comics waren damit zu einem öffentlichen Problem geworden. Nun musste zur Lösung des Comic-Problems eine Regelung geschaffen werden. Anfang der 1950er Jahre wurde ein Gesetz gegen die als jugendgefährdend geltenden Comics diskutiert (Fuchs/Reitberger 1973). Aus Angst vor Profitverlusten gründeten die Comic-Syndikate 1955 die Comic Magazin Association of America (CMAA), eine Art Selbstzensurbehörde, deren Aufgabe es bis heute ist, jede Seite eines Comics, der veröffentlicht werden soll, auf seine moralische und soziale Unbedenklichkeit zu prüfen. Die Richtlinien für diese Prüfung bildete der Comic Code, der im Detail regelte, was im Comic veröffentlicht werden durfte.13 Aufgrund dessen nahmen die Händler nur noch Comics mit dem Siegel der CMAA14 in den Verkauf auf, mit der Folge, dass der Markt für Comics, deren Zielgruppe Erwachsene waren, in den USA 1955 fast vollständig zusammenbrach. So lösten sich z.B. 24 von 29 Verlagen, die Crime-Comics vertrieben, auf (Hiebing 1996). 1956 wurden in den USA gerade noch 200.000 Comic-Hefte verkauft. Der Comic Code und das sogenannte CCA-Siegel der CMAA bestimmten in den USA den Markt (Knigge 2004). Parallel zu den USA hatte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts auch in Frankreich und Belgien eine Comic-Kultur entwickelt. Hier trat bereits 1949 das französische Gesetz 49956 zum Schutz der Jugend in Kraft, das die Darstellung von Straftaten begrenzen sollte.15 Zudem wurde die Verbreitung amerikanischer Comics erheblich eingeschränkt. Da beide Länder in französischer Sprache veröffentlichen und die Produkte in beiden Ländern auf dem Markt erschienen, hielten sich auch die belgischen Verleger an die Vorgaben. Die Verlagshäuser ers12 Nachdem der moralische Kreuzzug gegen Marihuana zunächst zum Marihuana Tax-Act 1925 und 1937 mit Verboten umgesetzt wird, nutzt Wertham damit den Erfolg dieses Kreuzzugs für seinen eigenen aus. 13 So wird im Comic Code von 1955 u.a. bestimmt, dass das Wort Crime auf dem Titel eines Comics niemals größer sein darf als andere Wörter, niemals allein abgedruckt werden und - wenn überhaupt zurückhaltend gebraucht werden muss. Verbrechen dürfen nicht so dargestellt werden, dass sie dazu verleiten, das Verbrechen nachzuahmen; das Gute muss über das Böse siegen. Verbrecher dürfen nicht sympathisch und Ordnungshüter nicht respektlos dargestellt werden. Der Code erlässt nicht nur Vorschriften über die Bekleidung der Helden, sondern auch zu ihrem Sexualverhalten; sie müssen heterosexuell und treu sein, mit dem Ziel die Ehe einzugehen. 14 Das Siegel mit den Worten:„Approved by the Comic Codes Authority“, auch CCA-Siegel genannt, wird auf dem Titelblatt der Comics abgedruckt. 15 Das Gesetz wird auf Druck von Kirchenvertretern, die die Moral gewahrt haben wollen, von kommunistischen Vertretern, die amerikanische Einflüsse fürchten, und von Nationalisten, Verlegern und Regierung, die ihre eigene Industrie stärken wollen, verabschiedet (Metken 1970; Fuchs/Reitberger 1973).
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tellten eigene, meist rigidere Selbstzensurrichtlinien, an die sich die Autoren zu halten hatten. Legale Drogen wurden von den Helden der Geschichten nun eher in Maßen konsumiert (während sie vor Erlass des Gesetzes auch in Comics, die sich an Kinder richten, manchmal betrunken durch die Bilder torkelten), illegale Drogen wurden nur noch in Kriminalgeschichten und als Schmuggelware o.Ä. thematisiert. Am 29.04.1966 wurde vom europäischen Verband der Verleger von Jugendzeitschriften (europress junior) die „Association Européen des Editeurs de Publication pour la Jeunesse“ gegründet. Der „Code Moral Europress junior“ nach Vorbild des amerikanischen Comic Codes wurde als Richtlinie der Verleger entwickelt und von nun an angewandt (Fuchs/Reitberger 1973). Derartige Bestrebungen gab und gibt es in Japan, dem Land mit dem heute weltgrößten Marktanteil im Comicgeschäft, nicht. Hier ist die Vorstellung, dass Comics das soziale Verhalten der Leser negativ beeinflussen könnten, völlig fremd. Comics, hier Mangas genannt, werden als „imaginärer Gegenentwurf zur Realität und Projektionsfläche für Wünsche, Sehnsüchte und Phantasien verstanden“ (Knigge 2004: 327). Zwar erreichte die Kritik gegen Comics auch Japan, doch ohne Folgen: Schließlich arbeitet hier fast jedes Kommunikationsmedium mit Comics, sei es in Ratgebern, Telefonzellen oder zur Verbreitung politischer Botschaften. Die japanische Gesellschaft kommuniziert über Mangas16. Knigge (2004) macht diese Selbstverständlichkeit der Comic-Nutzung an dem 2001 in den USA erschienen Krimi „Tödliche Manga“ deutlich, der von einem Manga erzählt, welcher dessen Leser so in seinen Bann zieht, dass sie die Abenteuer des Helden nachahmen und sogar morden. Knigge äußert dazu: „Für Japaner klingt eine derartige Kausalität eher nach Parapsychologie, und auch der Vergleich amerikanischer mit japanischen Verbrechensstatistiken und denen des ComicKonsums spricht eine eindeutige Sprache“ (Knigge 2004: 327).
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Drogenkonsum als Gegenstand der Comic-Zensur
In den USA stiegen erst in den 1960ern die Verkaufszahlen von Comics wieder an. Dies war vor allem beeinflusst durch die Entwicklung der Marvel-Helden, die sich neben ihren Superkräften auch durch menschliche Schwächen auszeichnen. Gleichzeitig entstand auch eine neue Künstlerszene, die ihre Produkte in eigenen Fanzines abdruckte und sie in eigenen oder den entstehenden linken Buchläden als Comix vertrieb. Die Comix richten sich explizit an erwachsene 16 Dieser Umstand wird seit 1995 auch kritisch betrachtet, da der Gründer der Aum-Sekte Shoko Asahara seine Sektenideologie aus Science-Fiction-Mangas entwickelt und in Mangas und Animes (am Computer animierte Zeichentrickfilme) verbreitet hat. Seine Anhängerschaft hat sich vorwiegend aus dem Publikum der eigenen Manga- und Animeprodukten begründet (Knigge: 2004).
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Leser, sind experimentell und kennen kaum Tabus.17 In den Underground-Comix wurden auch zum ersten Mal die eigenen Lebenserfahrungen der Künstler im Comic thematisiert, so auch der Umgang mit illegalen Drogen wie Haschisch und LSD (Knigge 2004). Auf dem offiziellen Markt veröffentlichte allein Mad, das als Magazin nicht den Bedingungen des Code unterliegt, Comicstrips zum Thema Drogen, in denen es sich über kiffende Blumenkinder oder trinkende Moralapostel lustig machte (Jöricke 2002). Das ansonsten herrschende Tabu illegale Drogen im Comic zu thematisieren, wurde auf dem offiziellen Markt in den USA erst gebrochen, als sich 1970 das Office of Health, Welfare and Education mit der Bitte an Stan Lee, den Schöpfer von Spiderman wandte, eine Geschichte über die Gefährlichkeit von Drogen zu bringen. Stan Lee ließ daraufhin einen Drogenplot als Substory einarbeiten: Ein junger Mann konsumiert nicht näher definierte Pillen, von denen er abhängig wird. Am Ende glaubt er, dass er ein Vogel sei und fliegen könne. Spiderman rettet ihn. Später muss er feststellen, dass sein Mitbewohner Harry Osborne auch Pillen schluckt und fast an einer Überdosis stirbt. Auch hier greift Spiderman ein, rettet Harry Osborne und vernichtet die Drogen (Green 2000).18 Trotz der eindeutigen Botschaft, dass Drogen gefährlich seien, verweigerte die CMAA das Siegel. Obwohl Stan Lee sich auf die Bitte des Office of Health, Welfare and Education berief, wich die CMAA nicht von ihrem Standpunkt ab. Stan Lee und Marvel veröffentlichten die Geschichte trotzdem. Sie erschien von Mai bis Juni 1971 in den Ausgaben 96 bis 98 von The Amazing Spiderman – ohne das Siegel. Und sie hatten Erfolg mit dieser Entscheidung. Die Hefte verkauften sich gut, ohne öffentliches Aufsehen zu erregen. Die CCMA modifizierte daraufhin die Richtlinien des Comic Codes, der seit dem 27.10.1971 Gültigkeit hat. Die Darstellung des Umgangs mit Drogen wurde hier erstmals geregelt. 1989 überarbeitete die Comics Code Authority die Richtlinien, in denen nun das Hauptaugenmerk auf „Political Correctness“ gelegt wurde, erneut.19 Für die Gesundheitsförderung wurden die Standards folgendermaßen festgelegt:
17 Hier haben auch Gilbert Sheltons ewig kiffende Freak Brothers in Feds´n´Heads Comics, 1967 ihre ersten Auftritte. 18 Auch: www.maikeldas.com/Spiderman.html (14.12.2004). 19 Neben neuer Bestimmungen zur Darstellung von Drogen werden hier politisch korrekte Darstellungsformen geregelt z.B., dass Schwarze nicht in niederen Angestelltenverhältnissen gezeigt werden dürfen.
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„Missbrauch von bestimmten Substanzen 1.
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Gesunde, vernünftige Art zu leben wird als etwas Wünschenswertes dargestellt. Trotzdem ist der Gebrauch und Missbrauch von kontrollierten Substanzen, legal oder illegal, eine Tatsache des modernen Lebens und darf gezeigt werden, wenn es aus Gründen der Dramaturgie angemessen ist. Der Konsum von Alkohol, Betäubungsmitteln, Medikamenten und Tabak wird nicht als etwas Bewundernswertes dargestellt. Wenn die Linie zwischen dem normalen, verantwortungsbewussten Konsum legaler Substanzen und dem Missbrauch von Substanzen überschritten wird, wird der Unterschied deutlich gemacht und die verabscheuungswürdigen Konsequenzen eines solchen Missbrauchs aufgezeigt. Der Missbrauch von bestimmten Stoffen wird definiert als der Gebrauch von illegalen Drogen- sowie der selbstzerstörerische Gebrauch von Produkten, wie Tabak (inklusive Kautabak), Alkohol, verschreibungspflichtigen Drogen, frei erhältlichen Drogen, usw. Der Gebrauch von gefährlichen, sowohl legalen, als auch illegalen Substanzen sollte mit Einschränkungen als notwendig für den Zusammenhang der Geschichte gezeigt werden. Trotzdem dürfen Geschichten nicht so detailliert sein, dass sie als Anleitung für den Missbrauch dieser Substanzen dienen können. In jeder Geschichte wird gezeigt werden, dass der Konsument/die Konsumentin die physische, geistige und/oder soziale Strafe für seinen/ihren Missbrauch bezahlt.“ (Auszug aus dem Comic Code von 1989)
Wurde im Bereich der Erwachsenen-Comics nun ein alltäglicher Konsum von legalen und illegalen Substanzen (als Ausdruck einer bestehenden Drogenkultur innerhalb der Gesellschaft) durchaus dargestellt,20 so findet sich in Geschichten, die für Kinder und Jugendliche konzipiert waren, eine abschreckende oder negative Darstellung von Drogen, wie z.B. der Schmuggel illegaler Drogen durch skrupellose Drogendealer als einschlägige Handlung.21 Zugleich wurden Comics inzwischen auch als Trägermedien in der Drogenpräventionsarbeit genutzt, um die Leser vor Drogenkonsum zu warnen. Erste abschreckend wirkende Comics aus den 1970er Jahren in Deutschland z.B. zeigten, 20 Bsp.: Gerhard Seyfried: „Invasion aus dem Alltag“ (1981), Magerin: Die Vorstadtgang: „Koks aus Bolivien“ (1985), Ralf König: „Bullenklöten“ (1992), Walter Moers: „Schöner Leben mit dem kleinen Arschloch“ (1992). 21 Bsp: Hergé: Tim und Struppi: „Die Zigarren des Pharaos“ (1932-34), „Die Krabbe mit den goldenen Scheren“ (1941-42), Fournier: Spirou und Fantasio: „Kodo, der Tyrann“ (1977-78), „Nichts als Bohnen“ (1979), Seron: Die Abenteuer der Minimenschen: „Der Stoff aus dem die Träume sind“ (1987).
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wie ein betrunkener Tarzan seine Liane verfehlt oder ein rauchender Westernheld vom Raucherhusten geplagt, beim Duell versagt. Doch es wurden nicht nur Comics für die Raucher- und Drogenpräventionsarbeit entworfen, sondern es wurde auch in bestehende und beliebte Comicserien eingegriffen, damit deren Helden die erwünschte gesundheitspolitische Botschaft verbreiteten. Künstler und Verleger nahmen die Beschränkungen der künstlerischen Freiheit in Kauf und richteten sich nach Comic Codes, Gesetzen oder informeller Zensur, um auf dem Markt bestehen zu können. In den USA schlossen die staatlichen Behörden Kooperationen mit Künstlern und Verlagen: 1990 z.B. erarbeitete Marvel mit dem FBI die Story: „Captain Amerika Goes to the War Against Drugs”22, 1991 warnte Batman vor Drogenkonsum.23 1998 beschloss Bill Clinton ein Eine-Milliarde-Dollar-Programm zur Drogenprävention für Kinder. Zweieinhalb Millionen erhielt Marvel allein für eine vierteilige Comic-Buch-Story, in der Spiderman erneut den Kampf gegen Drogen aufnahm. Mit diesem Comic-Kreuzzug hoffte man, 65% aller Schulkinder mit Spidermans Botschaft: „Smoking pot can get you killed“ zu erreichen (Green 2000). Obwohl die Rezeptionswirkung eines Medieninhalts auf den Konsumenten heute differenzierter betrachtet wird, haben sich die Ansichten der eindimensionalen Wirkungsforschung der 1950er Jahre in den westlichen Industrienationen heute durchgesetzt. Wurde sie in den 1950er Jahren dazu benutzt, den Comic zu diskreditieren, findet sie heute im Kampf gegen Drogen Anwendung.
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Widersprüche in der Darstellung des gesundheitspolitisch korrekten Lucky Luke
Aufgrund der Veränderung des gesellschaftlichen Diskurses in Bezug auf das Tabakrauchen, wurde ab 1983 Lucky Luke als rauchender Held weder in den USA noch in Europa akzeptiert. Morris, der den Begriff „Neunte Kunst“ für den Comic einführte24, musste nun Einschnitte in seine künstlerische Freiheit hinnehmen. Mit Band 52 „Fin22 Captain Amerika vernichtet schon in der Eingangsszene Außerirdische, die in ihrem Raumschiff ein Drogenlabor eingerichtet haben. 23 Batman nimmt selbst Drogen, um seine Kraft zu verstärken, was ihm kurzfristig auch gelingt. Langfristig gerät er jedoch in Abhängigkeit und gibt Kriminellen für Drogen die Freiheit. Mit Hilfe seines Dieners Alfred gelingt ihm schließlich der Entzug (Green 2000). 24 Morris stellte in einer Zeitschrift, zusammen mit Pierre Vankeer, dem interessierten Publikum unbekannte Comics vor. Diese Rubrik nannte er „Neunte Kunst“, mit der Überlegung, dass, wenn das Kino die „Siebte Kunst“ sei, müsse das Fernsehen die „Achte Kunst“ sein. 1971 wurde der Begriff daraufhin durch den Literaturwissenschaftler Francis Lacassin in der Grand ecnyclopédie alphabé-
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gers“ erschien 1983 das erste Nichtraucheralbum, in dem Lucky Luke unkommentiert ohne Zigarette auftritt und nicht, wie später üblich, die Zigarette durch einen Grashalm ersetzt. In den folgenden Jahren lehnt Lucky Luke angebotene Zigaretten mit der Begründung ab, das Rauchen aufgegeben zu haben. Doch die Umstellung vom Raucher zum Nichtraucher bringt auch Widersprüche mit sich, die ich im Folgenden darlegen möchte. Umgesetzt wurde diese Veränderung z.B. nicht nur in den Geschichten selber, sondern auch bei der Umschlaggestaltung, wie auf dem Rückenbild der Alben. Neben dem die Zigarette ersetzenden Grashalm war auch eine Vermehrung der Revolveranzahl zu erkennen, statt mit einer, schoss Lucky Luke nun mit zwei Pistolen. Die Schussrichtung Lucky Lukes änderte sich ebenfalls: Statt in den Magen seines Schattens schoss er nun in sein Herz und der Rauch, der aus dem Revolver qualmte, wurde dichter. Morris-Autor Delporte kommentierte die Veränderung des Titelbildes folgendermaßen: „Komisch, dass heutzutage der Rauch von Pulver scheinbar weniger schockierend wirkt als der von Zigaretten“ (Delporte 1993: 55). Die gewalttätigere und nun tödliche Schuss-Darstellung auf der Rückseite des Heftes wurde erst Jahre später wieder entschärft. In Deutschland erscheint erst ab dem Jahr 2000 mit dem Album „Der Prophet“ wieder regelmäßig die alte Darstellung auf der Rückseite (ein Revolver mit Schuss in die Magengegend), Lucky Luke hält jetzt auch auf diesem Bild den Grashalm im Mund. Gelegentlich greift Lucky Luke doch noch zur Zigarette, so z.B. in Band 54 „Die Verlobte von Lucky Luke“ (1985). Hier raucht er erst mit den Indianern Friedenspfeife und dreht sich dann einmal aus Verzweiflung über seine Verlobung eine Zigarette mit den Worten: „Ich muss aus dem Schlamassel raus, den Schuh zieh´ ich mir nicht an! Erst mal eine Zigarette zur Beruhigung. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt!“ Seine Verlobte Jenny hält ihn jedoch davon ab: „Rauchen und Trinken gefährden Ihre physische und psychische Gesundheit! Und verderben den Teint!“ 1986 zündet er sich aus Reflex einen Grashalm an,25 und 1994 dreht er sich eine weitere Zigarette zur Beruhigung,26 später raucht er noch eine Zigarre in dieser Geschichte. In drei Alben27 zwischen 1993 und 2001 raucht Lucky Luke bei seinem Abgang mit Gesang im letzten Panel eine Zigarette und wird dabei sogar in „Der Kunstmaler“ von Frederic Remington so porträtiert. Im gleichen Band lehnt er allerdings das Angebot „Wie wär´s thique Larousse für den Comic eingeführt. Er hat seitdem im frankobelgischen Bereich offiziell Geltung und dem Comic Anerkennung als Kunstgut verschafft (Delporte 1993). 25 Band 56 „Die Geisterranch” in „Die Geisterranch oder andere Storys” (1986: 7). 26 Band 63 „Die Brücke am ol´man river“ (1994: 6). 27 Band 62 „High Noon in Hadley City” (1993), Band 66 „O.K. Corral” (1996) und Band 69 „Der Kunstmaler” (2001).
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mit einem Friedenspfeifchen?“ ab: „Danke nein! Ich habe das Rauchen schon vor Jahren aufgegeben.“ So greift er im Abspann also gelegentlich noch kontrolliert zur Zigarette und raucht bildlich gesehen ab und an eine letzte Zigarette. Setzt man die Geschichten des Westernhelden in den historischen Kontext der Zeit, in der sie spielen, wird man feststellen, dass die Darstellung des Zigarettenkonsums von Lucky Luke der damaligen Realität eines armen Cowboys nahe kommt (vgl. auch Schievelbusch 2002). Dass ein Lucky Luke jener Tage das Rauchen aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben hätte, ist jedoch unwahrscheinlich und entspricht nicht den Erkenntnissen der damaligen Zeit. Schließlich waren die gesundheitsschädigenden Auswirkungen damals noch nicht bekannt. Kritik am Tabakkonsum war im 19. Jahrhundert moralisch begründet. Hauptsächlich gingen protestantische Fundamentalisten aus dem sogenannten Corn- und Bible Belt der USA gegen die für sie verdorbenen Sitten vor. Tabak, der zuvor den Ruf eines Anti-Aphrodisiakums hatte, wird nun als enthemmende Substanz betrachtet (Hess/Kolte/Schmidt-Semisch 2004). Über die Begründung der Gefährlichkeit des Rauchens macht sich Zeichner Morris gelegentlich lustig, indem z.B. ein zum Tode Verurteilter vor der Hinrichtung eine letzte Zigarette aus gesundheitlichen Gründen ablehnt.28 Ob er damit der unterstellten Vorbildfunktion des Cowboys entspricht, ist fraglich. Trotz aller Dekulturationsversuche hat Lucky Luke, zumindest im deutschsprachigen Raum, das Image des Rauchers noch nicht verloren. Im Hinblick auf die Veröffentlichungsweise29 und die Tatsache, dass im Handel alle Jahrgänge der Serie vertreten sind, mehrheitlich sogar die alten Jahrgänge, wird er es, obwohl schon seit 26 Jahren Nichtraucher, auch noch lange behalten. Dass Lucky Luke das Rauchen aufgegeben hat, ist zudem aufgrund der nicht chronologischen Veröffentlichungen und der zusätzlichen Abbildungen eines rauchenden Lucky Luke vom deutschsprachigen Leser nur schwer zu erkennen. Gehe ich von einer Vorbildfunktion Lucky Lukes aus und – gemäß der Wirkungsforschung unter Einbeziehung der Stimulationshypothese – von der Annahme, dass Kinder und jugendliche Leser ihn in seinem Verhalten nachahmen, bietet er verschiedene Varianten im Umgang mit Tabak. Je nachdem welche Alben gelesen werden, präsentiert er sich als Raucher oder als Nichtraucher, der es geschafft hat, das Rauchen aufzugeben. Ob allerdings Lucky Luke tatsächlich Einfluss auf das Rauchverhalten seiner Leserschaft hat, ist bisher wissen28 Band 64 „Belle Star“ (1995) 29 Bis heute veröffentlicht der Ehapa-Verlag die Bände der Lucky-Luke-Reihe nicht chronologisch. Neben den Neuerscheinungen werden auch alte Bände neu veröffentlicht, die beim Ehapa-Verlag in Deutschland bisher nicht erschienen sind und teils in den 1940er und 1950er Jahren geschrieben wurden.
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schaftlich nicht überprüft worden. Eine solche Studie ist meines Erachtens aber auch nicht realisierbar, da der Anteil, den Lucky Luke im alltäglichen Leben eines Lesers einnimmt, zu gering ist gegenüber anderen rauchmotivierenden oder rauchhemmenden Faktoren. Eltern oder Peer-Group haben den größten Einfluss auf die Entscheidung eines Menschen zu rauchen (Hess/Kolte/Schmidt-Semisch 2004). Es wären zu viele Variablen zu berücksichtigen und das Ergebnis im Endeffekt immer noch zweifelhaft. Manche Untersuchungen über Zigarettenwerbung zeigen, dass sie nicht die Entscheidung beeinflusst, ob jemand raucht oder nicht, sondern nur die Marke, die gewählt wird (Marquart/Merkle 2003). Vielleicht wirkt Lucky Luke auf das Rauchverhalten, indem einzelne Leser statt Filter- selbstgedrehte Zigaretten rauchen. Vielleicht motiviert er andere Leser zu rauchen oder mit dem Rauchen aufzuhören. Jede Vermutung in die eine oder andere Richtung bleibt hypothetisch.
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Fazit
Durch den Comic-Boom in den 1930/40er Jahren in den USA und die (kriegsbedingt) zunehmenden Gewaltdarstellungen werden die Comics für ansteigende und zunächst unerklärbare Kriminalität verantwortlich gemacht. Um die angenommene Gefahr, die vom Comic ausgeht, wissenschaftlich zu untermauern, werden Untersuchungen im Rahmen der konservativen Wirkungsforschung durchgeführt. Es wird von einer Rezeption ausgegangen, die den Leser dazu veranlasst das Gelesene nachzuahmen. Die stark moralisierende, durch mediale Verbreitung geschürte öffentliche Angst führt in den USA und Europa zu Standards der Zensur von Comics mit Tabuisierung vieler Darstellungen und Themen. Die Regeln für und die Einschränkungen in den Darstellungen erfolgen auf moralischen Druck. Die Darstellung des Umgangs mit den jeweiligen Drogen wird zum einen durch die heutigen Definitionen der Drogen als gesellschaftlich akzeptiert, gesundheitsschädlich oder verboten beeinflusst, zum anderen durch die angenommene Rezeption der Leser.30 Durch die Einbindung in die bestehende Kultur wird der Comic von Behörden zu Aufklärungszwecken und Warnungen vor dem Drogenkonsum genutzt. Allerdings spiegeln diese Comic-Geschichten selten ein realistisches Konsumbild wieder. Es wird ein generelles Image von Drogenkonsum gezeichnet, das unweigerlich Versagen, Zerstörung, Verrücktheit und Tod mit sich bringt. Spidermans eindeutig falsche Aussage: „Smoking pot can get you killed“ zeigt, dass 30 Dabei spielt auch eine Rolle, was überhaupt als Drogenkonsum wahrgenommen wird. So stört sich bei Asterix bisher niemand an seinem ebenso vorbildhaften Doping mit Zaubertrank, den er sogar ausdrücklich zum Zwecke der Gewaltanwendung einnimmt.
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hier auf Abschreckung gesetzt wird und Aufklärung zugunsten der erhofften abschreckenden Rezeptions-Wirkung zurückgestellt wird. Wichtig ist dabei nur, Drogen als Problem zu definieren. Um die erwünschte Darstellung durchzusetzen, wird sogar in die künstlerische Freiheit eingegriffen. Lucky Luke darf nicht mehr rauchen, um seine Leser nicht zur Nachahmung zu animieren. Dabei geht es allein um die Durchsetzung der erwünschten Botschaft „Rauchen ist gesundheitsschädlich“. An der deutlich gewalttätigeren und damit eindeutig gesundheitsschädlichen, bzw. sogar tödlichen Darstellung von Lucky Lukes Schuss auf seinen Schatten bei der Umschlaggestaltung, wird jahrelang keine Kritik geübt. Gewaltdarstellung wird hier anscheinend als weniger gravierend eingeschätzt, als die Darstellung eines Rauchers. Durch die Begründung, er habe das Rauchen aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben, wird die Darstellung des Rauchens zudem in den heutigen und nicht den damaligen Kontext gesetzt. Bei anderen Verhaltensweisen, wie z.B. dem Umgang mit Frauen im 19. Jahrhundert, wird scheinbar angenommen, das der Rezipient die kognitive Fähigkeit besitzt, diese in den historischen Kontext einzubetten, denn hier werden die historischen Gegebenheiten nicht zugunsten einer gleichberechtigten Darstellung verändert. Auch werden Schwarze nicht aus antirassistischen Motiven als Bankiers, Richter oder Ärzte, sondern weiterhin als gerade befreite Sklaven oder billige Lohnarbeiter dargestellt. Es kann weder behauptet werden, dass das soziale Verhalten durch Comiclesen beeinflusst, noch, dass es nicht beeinflusst wird. Der in Lucky Luke dargestellte Drogenkonsum stellt nur einen winzigen Ausschnitt dessen dar, was durch die gesellschaftlichen Bräuche, erlerntes Verhalten, Medieneinfluss und vieles andere in der Wahrnehmung des gesamtgesellschaftlichen Umgangs mit Drogen auf einen Menschen einwirkt. Man kann den Standpunkt vertreten, dass eine gutmeinende Zensur, durch die ein Held als Vorbild das Rauchen einstellt, nicht schaden kann. Gibt es eine Wirkung auf den Leser, wird ihm ein positives Beispiel vorgeführt, gibt es keine Wirkung, entsteht kein Schaden. Dass dies jedoch ein Irrglaube ist, belegen die Folgen der auf Abschreckung setzenden Drogenprävention spätestens seit dem Film Christiane F., welcher von den Jugendlichen eher als Werbung denn als Abschreckung wahrgenommen wurde. Abschreckung im Kontext von Drogen und Sucht erfüllt häufig nicht nur nicht ihren Zweck – sie macht auch unglaubwürdig, denn sie verschweigt, dass Drogen auch positive Eigenschaften haben und deswegen konsumiert werden (vgl. hierzu auch Schmidt-Semisch in diesem Band). Jugendliche suchen sich so ihre eigenen Wahrheits-/Informationsquellen. Ein authentischer, sachgerechter Umgang mit Drogen – ob im Comic oder anderen Medien, würde Jugendliche viel eher zu einem selbstbestimmten und aufgeklärten Verhalten führen.
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Eine andere Frage ist, ob ein Westernheld aus einer alles parodierenden Comic-Serie den Ansprüchen unserer Zeit genügen muss und ob es legitim ist, die künstlerische Freiheit auf solche Weise einzuschränken. Drogen gehören zu unserer Geschichte und Kultur und werden somit auch auf der künstlerischen Ebene verarbeitet und dargestellt. Die Entscheidung, wie ein Künstler ein Thema in seinem Werk verarbeitet und darstellt, sollte ihm selbst überlassen sein.
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Im Dienste der Männlichkeit: Die Gesundheitsverweigerer Heino Stöver
Einleitung Frauen und Männer, Mädchen und Jungen haben je ihre eigenen Formen, ihr Geschlecht zu inszenieren und Weiblichkeits- bzw. Männlichkeitsformen in einer Welt zu konstruieren, die voll festgefügter Erwartungen und Anforderungen an das Verhalten beider Geschlechter ist. Insbesondere im Gesundheitsverhalten unterscheiden sich beide Geschlechter bezogen auf Wahrnehmungen, ZurSprache-bringen von Störungs-/Krankheitssymptomen (vgl. kritisch: Dinges 2007: 32), Gesundheitsbewusstsein (z.B. Risiko-/Gefahrenabschätzung), Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen (Rohe 1998) und Arbeitsunfähigkeiten (DAK 2008). Männer bemerken Krankheitszeichen nicht nur später, sie negieren diese auch oft und gehen demgemäß seltener zum Arzt. Zusätzlich gibt es wichtige Unterscheidungen bezüglich der Möglichkeiten von Frauen und Männern, Gesundheit zu thematisieren: Mädchen und Frauen sind viel stärker gewöhnt, über ihren Körper zu sprechen, Veränderungen wahrzunehmen, sich darüber vorwiegend mit anderen Mädchen/Frauen auszutauschen und bestimmte Gesundheitsstrategien in diesem Prozess zu entwickeln. Dieser Beitrag widmet sich dem Zusammenhang von Männlichkeitskonstruktionen und der Gesundheit von Männern und versucht, Antworten auf die Frage zu finden, warum Männer für bestimmte Gesundheitsbotschaften unempfänglich sind, warum traditionelle Genderkonstruktionen mit Gesundheitsimperativen kollidieren müssen, und wie Angebote zugeschnitten sein müssten, um Männer zu erreichen.
Traditionelle Männlichkeitsproduktion Bei Jungen und Männern in den meisten Ländern Europas kollidiert der Gesundheitsdiskurs immer wieder mit der Konstruktion von Männlichkeit: „Je mehr die
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Gesundheitsforschung den Mann zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Arbeit macht, desto deutlicher wird, wie krank Männer sind und wie krankmachend die gesellschaftlichen Bedingungen unter denen Männlichkeit gelebt und exerziert werden muss“ (Hollstein 2001: 7). Der Maßstab traditioneller Männlichkeit, so Lenz (1998: 139), „ist der vollerwerbstätige, heterosexuelle deutsche Mann mittleren Alters, der sich durch Leistungsstärke, Funktionstüchtigkeit, Anpassungsfähigkeit, Belastbarkeit, psychische und gesundheitliche Stabilität auszeichnet“. Dabei ist die Abspaltung von sozialen emotionalen Bedürfnissen und Bedürftigkeiten (Schwäche, Trauer, Ängste etc.) überaus wirksam, denn Emotionen sind weiblich konnotiert und verschwinden aus der männlichen Lebensund Erfahrungswelt. Wer den traditionellen männlichen Normen von Stärke und Härte nicht genügen kann, sucht bei sich selbst nach Defiziten. Traditionell wird von Männern erwartet, ‚ihren Mann zu stehen’ – in der Kindheit, im Beruf, in der Partnerschaft/Familie und unter Männern. Die Ingredienzien von Männlichkeitskonstruktionen umfassen Mut, Risikobereitschaft und -verhalten, das Suchen von Grenzüberschreitung bzw. Grenznähe, das Durchhalten in schwierigen und belastenden Lebenslagen und Aushalten von Schmerzen und psychisch belastenden Strukturen. Gesundheitsverhalten als vorausschauende, erkennende und permanente Alltagsaufgabe, findet hier keinen Platz. Getreu dem Motto „Was von alleine kommt, geht auch von alleine wieder weg“, werden Professionelle und Selbsthilfegruppen bei auftretenden Störungen und Erkrankungen eher gemieden. Selbst ist der Mann, Inanspruchnahme von Hilfe wird als ein Zeichen von Schwäche gedeutet. Im Grunde gelten nach wie vor die von Brannon und David bereits 1976 entwickelten Leitbilder traditioneller Männlichkeiten:
Der Junge und spätere Mann muss alles vermeiden, was auch nur den Anschein des Mädchenhaften, Weichen und Weiblichen erweckt. Seine männliche Identität erreicht er nur in klarer Absetzung vom anderen Geschlecht („no sissy stuff”). Der Junge und spätere Mann muss erfolgreich sein. Erfolg stellt sich ein über Leistung, Konkurrenz und Kampf. Erfolg garantiert Position und Status. Nur wer Erfolg hat, ist ein richtiger Mann; der Erfolglose hingegen ist ein Versager („the big wheel”). Der Junge und spätere Mann muss wie eine Eiche im Leben verwurzelt sein. Er muss jederzeit seinen Mann stehen, hart, zäh, unerschütterlich, unbesiegbar („the sturdy oak”). Der Junge und spätere Mann ist wie ein Pionier im Wilden Westen oder wie ein Held auf dem Baseball-Feld. Er wagt alles, setzt sich ein, ist aggressiv,
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mutig, heftig und wild; er riskiert alles, ist der Siegertyp par excellence („giv’em hell”). Weiterhin sind die Grundprinzipien männlicher Sozialisation nach Böhnisch und Winter (1994 durch die Aspekte: Rationalität, Kontrolle, Körperferne, Stummheit, Gewalt und Externalisierung bestimmt. Die traditionelle männliche Rolle erwartet von einem Mann, dass er sich über seine Leistung definiert, als feminin konstruierte Eigenschaften vermeidet, Abenteuer und Risiken sucht und Schwächen verheimlicht (Bockholdt/Stöver/Vosshagen 2009). In welchen Bereichen männlichen Lebens wir auch immer Männlichkeitskonstruktionen auf der Spur sind, werden wir gesundheitlich hoch problematischen Konsequenzen begegnen, die in weiten Teilen weder thematisiert noch analysiert werden. Mittlerweile geht man auch in der Mainstream-Diskussion der Gesundheitsberichterstattung von Krankenkassen darauf ein, dass männliches Gesundheitsverhalten „häufig mit traditionellen Männlichkeitsidealen wie Leistungsorientierung und Verneinung von Schwäche begründet [wird] und .. sicherlich auch dazu bei[trägt], dass der durchschnittliche Krankenstand der Männer im Vergleich zu den Frauen niedriger ist“ (DAK 2008: 98). Pointiert gesagt: Zum Mann-Sein gehören zwar Gesundheit und Fitness, nicht aber Gesundheitsverhalten.
Genderkonstruktionen und Gesundheitsrisiken: Wann ist ein Mann ein Mann – und wie gesund ist er dann? Der Mann wird heute immer mehr zum Sorgenkind, denn für ihn gelten eine geringere Lebenserwartung sowie insgesamt erheblich höhere Prävalenzen in Morbidität und Mortalität bei: Unfällen, Krebs, Herzinfarkt, Übergewicht, MuskelSkelett-Erkrankungen, HIV-Infektionen, AIDS-Erkrankungen, Drogenabhängigkeit, Suiziden und Mordopfern (vgl. Klingemann 2009). Viele dieser überdurchschnittlichen Häufigkeiten von Erkrankungen und Todesfällen bei Männern sind verhaltensbedingte und daher veränderbare Konsequenzen männlichen Lebens. Sie sind aber auch Tribute an spezifische Anforderungen an Jungen und Männer in unserer Gesellschaft, insofern sind sie wiederum verhältnisbedingt und nicht einfach veränderbar. Doing Gender ist ein harter Job, der zudem äußerst gesundheitsriskant ist. Dem ‚harten Mann’ wird alles an Risiken abverlangt, um alle Männlichkeitserwartungen zu bedienen: auf den Körper nur achten, wenn er gestählt werden soll, innere Signale ignorieren, Gefahrenvermutungen der Männlichkeitsinszenierung unterordnen etc. Dies mündet dann zugespitzt in einer riskanten Lebensweise mit
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wenig Schlaf, reichlich Drogenkonsum (einschl. Nikotin und Alkohol), riskanten Sportarten und Freizeitbeschäftigungen (z.B. Motorradfahren und Klettern), schlechter Ernährung und zu wenig Bewegung. Lebenszerstörerische Einstellungen und aggressive Verhaltensweisen werden für ausgesprochen männlich gehalten, während Vorausschau, Abwägung, Vorsicht, persönliche Verwirklichung und Zufriedenheit weiblich konnotiert sind und daher eher als ‚unmännlich’ diskriminiert werden. Der Mann versucht mit allen Mitteln (man könnte auch sagen „zwanghaft“), Angst, Abhängigkeit, Unterordnung, Unterwerfung, Verlust der Kontrolle und Passivität zu verleugnen. Die Pflicht, gesund zu sein, macht ihn krank und hindert ihn daran, sich gesund zu verhalten. Meuser (2007) sieht einen Grund für dieses Phänomen darin, dass es sich bei der Forderung nach einem gesundheitsadäquaten Verhalten aus Männersicht um einen Defizitdiskurs handelt, der ihre vermeintlichen Schwächen in Bezug auf ihre Gesundheit in den Mittelpunkt rückt. Diese ‚vernünftig’ daherkommenden gesundheitspädagogischen Überlegungen zur permanenten Risikoexposition des Mannes funktioniert dann wie eine Strafpredigt: „Weil und wenn sich Männer nicht gesundheitsförderlich verhalten, folgt zwingend die Strafe in Form von Krankheit oder einem kürzeren Leben“ (Dinges 2007: 24). Diese Defizitorientierung – übrigens auch von Männerforschern mantrahaft selbst geführt (z.B. Hollstein 2001) – kollidiert aber gerade mit den (meisten) Männlichkeitsvorstellungen von Stärke und Autonomie, und kommt deshalb bei der Zielgruppe nicht an. Wenn es um den genderbezogenen Blick auf Gesundheitsverhalten geht, muss beachtet werden, dass Jungen und Männer weniger als medizinisch bedürftig definiert werden. Umgekehrt ließe sich sagen, wie es Ute Wülfing (1998: 114) herausarbeitet, das bezogen auf die gesundheitliche Versorgung von Frauen, ein Klima der Bedürftigkeit aufgebaut wird: „Nach ärztlicher Zuschreibung bleiben Frauen das ‚kranke Geschlecht’, werden zweieinhalbmal so häufig Pillenschlucker/innen wie das andere Geschlecht und stimmen chirurgischem Zugriff auf ihre inneren und äußeren Genitalorgane in der Regel ohne großen Widerstand zu.“ Der Androzentrismus des Medizinsystems (sowohl in Forschung als auch in den Angebotsstrukturen) nimmt noch traditionell eine Zuschreibung von Krankheit auf Mädchen und Frauen vor, die Jungen und Männer auf der Behandlungsebene ausblendet: Ärztliche Diagnosen und Verordnungen beispielsweise werden bei Mädchen in der Pubertät und später bei Frauen erheblich häufiger als bei Jungen und Männern vorgenommen. Ernst/Füller (1989: 11) schließen daraus für den Lebensabschnitt der Pubertät dass „männliche Jugendliche die schwierige Phase der Pubertät weitgehend ohne ärztliche Unterstützung bewältigen, (dagegen) scheinen die Mädchen ohne intensive medizinische Betreuung verloren zu sein.“
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Diese Praxis produziert eine Abhängigkeit der Mädchen und Frauen vom Medizinsystem, schafft permanent Bedürftigkeiten, während Jungen und Männern offenbar zugetraut wird, trotz geschlechtstypischer und überproportionaler Auffälligkeiten allein mit Problemen fertig werden zu können: Jungen und Männer werden also vom traditionellen Medizinsystem als „gesundes Geschlecht“ betrachtet. Diese Medizinalisierung des Geschlechts kann durchaus Vorteile darin haben von einer ‚Verkrankungspolitik‘ unentdeckt und damit verschont zu bleiben. Die Nachteile liegen allerdings darin, dass das Gesundheitssystem bis dato eine wenig männerspezifische Ausrichtung erfahren hat, sowohl was Angebote als auch Ansprache angeht. In Deutschland gilt allgemein immer noch „Gender means women“ (Scambor/Scambor 2006). Deutlich wird dies in der Politik des Bundesgesundheitsministeriums, das zwar übergeordnet den zentralen gesundheitspolitischen Stellenwert einer zielgenauen, geschlechterdifferenzierten Gesundheitsvorsorge und -versorgung anerkennt, zugleich aber vor allem Gesundheitsrisiken und Krankheiten thematisiert, die ausschließlich bei Frauen auftreten, bei diesen häufiger vorkommen oder schwerwiegender verlaufen (Gewalt gegen Frauen, gesundheitliche Prävention bei Frauen in der zweiten Lebenshälfte, Hormonersatztherapien, Wechseljahre und Hormontherapie). Daran hat auch eine (verordnete) Gender Mainstreaming-Debatte wenig geändert: Auch sie konzentriert sich im Wesentlichen auf die gesellschaftlichen Benachteiligungen und biologische Aspekte bei Frauen – ein Phänomen „einseitiger Vergeschlechtlichung“ (Schwarting 2005: 165). Einerseits werden also wenig bis keine der männlichen Identität entgegenkommenden Gesundheitsangebote und -strategien vorgehalten, andererseits ist ein Resultat des traditionellen Medizinsystems das „Unentdecktbleiben“ der Männer für den medizinisch-therapeutischen Zugriff.
Der Mann – unerreichbar für Prävention? Männer nehmen v.a. geschlechtsneutrale Gesundheitsförderungsangebote kaum in Anspruch (Altgeld 2006). Aber ist das die einzige Möglichkeit Gesundheit anzugehen? Sind traditionelle Gesundheitsangebote und ggf. auch die Gesundheitsdefinition weiblich konnotiert, um sich selbst sorgend, nach innen gekehrt, vorsichtig, dem vermeintlich ‚kranken Geschlecht’ (den Frauen) zugewandt – und zementieren so traditionelle Weiblichkeit (Wülfing 1998)? Müssten Gesundheitsangebote nicht dort ansetzen, wo die männlichen Selbstinszenierungen verlaufen: entlang bewusster, gesuchter und freudvoll erlebter Risiken? Keinesfalls – und das gilt natürlich für Gesundheitsangebote für beide Geschlechter – sollten Gesundheitsangebote das Etikett von ‚Schwäche’ tragen, sondern sie sol-
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len stark machen: „Herkömmliche geschlechtsspezifische Bildungsangebote konservieren allzu oft das, was sei eigentlich verändern wollen“ (Wülfing 1998: 118). Es geht um männliche Ess-, Trink-, Schlaf- und Arbeitsgewohnheiten, um Umgangsweisen mit Stress, Belastung und auch Freude. In diesen Bereichen sollten risikominimierende Angebote geschaffen und Exzesse nicht verteufelt werden. Vielmehr wären Hilfen angebracht, die zeigen, wie unerwünschte Nebenwirkungen zu vermeiden sind. Es geht also um einen Abwägungsprozess zwischen Männlichkeitsinszenierungen und der Befolgung von Gesundheitsimperativen. Adäquate Lösungen können sich nur auf Risikomanagement beziehen, nicht auf Unterlassung des Risikos. Angebote zielen übergeordnet darauf ab, den Mann wieder in Kontakt zu bringen mit seinem Körper: Er ist nicht mehr in Berührung mit den Botschaften und Signalen, die ihm sein Körper sendet. Daher versucht er seinen Körper mit Messungen und äußerlichen Manipulationen eher quantitativ zu verstehen, statt sich ein Bild von seinem physischen und psychischen Gesamtzustand zu machen. Ein verändertes Gesundheitsverhalten – das steht außer Frage – ist mittlerweile von den meisten Männern gewollt. Doch was wollen sie dafür tun, was sind sie bereit zu verändern? Haase meint, dass gesundheitsbezogene Einstellungen und Verhaltensweisen von Männern nur dann verändert werden können, „wenn sie eine Veränderung ihrer Identität akzeptieren und diese in ihr Selbstbild integrieren. Identität ist hier zu verstehen als Erklärungs- und Bewertungsmuster eigenen Verhaltens, letztendlich das Selbstbild das mann von sich hat“ (1998: 71). Auch Lenz (1998) sieht die Hauptaufgabe für Gesundheitsangebote für Männer darin, „ein Bewusstsein der Männer für ihre personale Integrität zu schaffen“ (S. 145). Damit sollen Räume für die eigenen Befindlichkeiten geöffnet werden und es soll sensibilisiert werden für die eigene Geschlechtlichkeit“ (S. 145). Wie aber müssten die Gesundheitsangebote aussehen, die von Männern in Anspruch genommen werden? Wie können Männer motiviert werden, mehr für ihre Gesundheit zu sorgen? Dies ist eine zentrale gesellschaftliche Herausforderung. Der österreichische Männergesundheitsbericht (Bundesministerium 2004) schlägt vor, „Männer durch Gesundheitsinformationsveranstaltungen wie Männergesundheitstage und Gesundheitskampagnen zu motivieren, besser auf ihre eigene Gesundheit zu achten und die Sensibilität für die körperlichen Warnsignale zu erhöhen. Dies wird nur möglich sein, wenn die bestehenden Gesundheitsangebote männerfreundlicher werden und die Bedeutung von Lebensstiländerungen für Männer auch in den Medien nachhaltiger verbreitet wird“. Thomas Altgeld (2004: 279) hat vier Haupthandlungsfelder für die Entwicklung einer männergerechteren Gesundheitsförderung und -versorgung skizziert:
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„Sensibilisierung und Qualifizierung von Multiplikatoren im Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich für männerspezifische Gesundheitsproblematiken und Gesundheitsförderungsansätze, Entwicklung einer jungen- und männerspezifischen Gesundheitskommunikation, Ausdifferenzierung von klar umrissenen Subzielgruppen, Implementation von Gender Mainstreaming als Querschnittsanforderung und Qualitätsmerkmal von Gesundheitsförderung und Prävention“.
Auch setzt sich in den letzten Jahren eine verstärkte Diskussion um geschlechtshomogene Arbeit in Therapie, Pädagogik etc. durch. Für Männer heißt dies, sie können zusammen mit anderen Männern Schwächen eingestehen, ohne das Gefühl in gemischtgeschlechtlichen Gruppen zu erfahren, vorgeführt zu werden, oder als „dumme Jungs“ dazustehen. Im Rahmen männlicher Solidarität sind viele brisante Lebens- und Gesundheitsfragen eher oder überhaupt bearbeitbar.
Fazit Geschlechtsspezifik meint leider immer noch Frauenspezifik, nicht zuletzt als Folge langer Verkrankungshistorie und Defizitzuschreibung. Männerspezifische Gesundheitsprobleme werden nur zögerlich erkannt, erforscht und behandelt. Einzig der boomende Markt um Männergesundheit/-wellness/-schönheit mit Angeboten, die traditionelle Männerrollen bedienen, schafft es, Gesundheit erfolgreich zu thematisieren. Von diesen Marktimperativen („Sei einfach gesund, fit und schön!“) werden auch Jungen und Männer mittelfristig immer mehr angesprochen werden. Während die den Geschlechtskonstruktionen unterliegenden Risiken nicht benannt und angegangen werden, führt die Kommerzialisierung ästhetisch-kosmetischer Angebote zu einer Verfestigung der Geschlechtsrollen. In der Gesundheitspolitik ist daher sowohl eine geschlechtsspezifische Ausrichtung gefordert, die zudem auf Partizipation, Ressourcenförderung und Nutzung der Betroffenenkompetenz für und mit den jeweiligen Geschlechtern setzt, als auch eine geschlechtssensible Ausrichtung die querschnittlich immer unterschiedliche Bedarfe und Ressourcen mitdenkt und -organisiert. Für die meisten Männer ist das Thema Gesundheit weiblich besetzt – jenseits eines leistungsorientierten ‚Maschinendiskurses’ über ihren Körper sind viele Männer oftmals nicht in der Lage, Gesundheit zu ihrem Thema zu machen. Aber auch der hiermit verbundene Thematisierungsimperativ ist schon wieder übergriffig, als müsse mann das ständig tun. Es wird deutlich, dass Jungen und Männer noch keine eigene Sprache gefunden haben, positiv über Körper und
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Seele zu sprechen. Der gesellschaftsumspannende pädagogische, mit Defizitblick daherkommende Gesundheitsdiskurs verfängt (glücklicherweise?) jedenfalls nicht.
Literatur Altgeld, Th. (2004): Jenseits von Anti-Aging und Workout? Wo kann Gesundheitsförderung bei Jungen und Männern ansetzen und wie kann sie funktionieren? In: Altgeld, Th. (Hrsg.): Männergesundheit – Neue Herausforderungen für Gesundheitsförderung und Prävention. Weinheim/München, S. 265-286. Altgeld, Th. (2006): Warum Gesundheit noch kein Thema für „richtige“ Männer ist und wie es eines werden könnte. In: Jacob, J./Stöver, H. (Hrsg.): Sucht und Männlichkeiten – Entwicklungen in Theorie und Praxis der Suchtarbeit. Wiesbaden, S. 79-100. Böhnisch, L./Winter, R. (1994): Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf. Weinheim/München. Brannon, R./David, D. (1976): The Male Sex Role: Our Culture's Blueprint for Manhood, and What it's Done for us Lately. In: David, D.S./Brannon, R. (Hrsg.): The FortyNine Percent Majority: The Male Sex Role. Mass. S.14-15, 30-32. Bundesministeriums für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz (2004): 1. Österreichischer Männergesundheitsbericht der männerpolitischen Grundsatzabteilung des Bundesministeriums für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz. Wien. DAK (2008): Gesundheitsreport 2008. Hamburg. DER SPIEGEL (2009): Der Fall Merckle. Das Ende eines Milliardärs. (Ausgabe 3/2009, v. 12.1.09). Dinges, M. (2007): Historische Forschung und die aktuelle Diskussion zur Männergesundheit. In: Stiehler, M./Klotz, T. (Hrsg.): Männerleben und Gesundheit. Weinheim, S. 24-35. Ernst, A./Füller, I. (1989): Mit Pillen in die Anpassung. In: Psychologie heute (Hrsg.): Frauen und Gesundheit. Thema: Körper und Psyche, S. 11-27. Haase, A. (1998): Perspektiven für eine geschlechtsspezifische Gesundheitsforschung. Ein Blick von Männern für Männer. In: GesundheitsAkademie Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, NRW (Hrsg.): Die Gesundheit der Männer ist das Glück der Frauen? Chancen und Grenzen geschlechtsspezifischer Gesundheitsarbeit. S. 63-74. Haase, A./Stöver, H. (2009): Sinn und Funktion exzessiven Drogengebrauchs bei männlichen Jugendlichen – zwischen Risikolust und Kontrolle. . In: Jacob, J./ Stöver, H. (Hrsg.): Männer im Rausch. Konstruktionen und Krisen von Männlichkeiten im Kontext von Rausch und Sucht. Bielefeld, S. 129-138. Hollstein, W. (2001): Potent werden – Das Handbuch für Männer. Bern. Klingemann, H. (2009): Sucht, Männergesundheit und Männlichkeit – ein neu entdecktes Thema. In: Jacob, J./Stöver, H. (Hrsg.): Männer im Rausch. Konstruktionen und Krisen von Männlichkeiten im Kontext von Rausch und Sucht. Bielefeld, S. 33-76.
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Mal d’Archive? Die elektronische Patientenakte Tobias Grave/Oliver Decker
Ausgehend von Überlegungen zur elektronischen Gesundheitskarte (Decker 2005) wird die Wirkung der elektronischen Patientenakte auf die ärztliche Tätigkeit untersucht. Ein Panoptismus Benthamscher Prägung setzt an der Überwachung an, die immer oder nie stattfinden kann und dennoch die Überwachten sublim in ihre Kontrolle einbindet (Decker/Grave 2009). Foucault griff das Panoptikum als Metapher für das Regieren im Liberalismus auf. Für die Insassen des Panoptikums ist nicht einsehbar, wann und von wem sie beobachtet werden und so ergeht es den Patienten – und dem Arzt. Ihnen ist nicht zugänglich, wann ihre elektronische Patientenakte von wem ausgewertet wird. Die Gesundheitstelematik braucht einen Zulieferer der Informationen, die dann auch der Beobachtung seiner Tätigkeit zugänglich sind: den Arzt. Der Arzt dokumentiert seine Behandlung; diese Archivierung ist eng mit der Professionalisierung der ärztlichen Tätigkeit verbunden und war auch immer schon Kontrolle der Abweichung, der Krankheit – nun verändert sich aber die Position des Arztes im Medizinalsystem.
Die elektronische Gesundheitsakte Das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung trat zum 1. Januar 2004 in Kraft, ein Kernelement dieses Modernisierungsgesetzes ist die so genannte elektronische Gesundheitskarte (eGK). Die administrative Entwicklung und die Schwierigkeiten bei der Umsetzung sind anderenorts bereits dargestellt worden (Decker/Grave 2009). Nachgezeichnet werden soll der Prozess der Einführung hier nur mit Blick auf die Dokumentation. Die eGK führte lange Zeit neben der ebenfalls in dem o.g. Gesetz enthaltenen Zuzahlungsregelung bei Arzneimitteln und der Praxisgebühr ein Schattendasein. Sie wurde in der Öffentlichkeit und auch bei den betroffenen Fachgruppen zunächst nur wenig zur Kenntnis genommen. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Der Widerstand gegen die eGK hat sich seit 2005 deutlicher formiert. Die Front gegen die Gesundheitskarte kam erstaunlich spät, betrifft sie doch alle Versicherten – die komplementär
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eingeführte Heilberufskarte darüber hinaus alle Ärzte, Psychotherapeuten und Apotheker. Während die eGK sich inzwischen einer gewissen Aufmerksamkeit, wenn auch aus Sicht der Bundesregierung nicht erfreuen, so doch sicher sein kann, gilt das für eine eng mit ihr verbundene Entwicklung nicht. Dabei befindet sich die eGK gewissermaßen an der Peripherie – und das ist nicht nur räumlich gemeint. Räumlich gilt das Bild auf jeden Fall, denn die von den Versicherten mitgeführte Karte befindet sich weit weg vom physischen Speicher ihrer Daten. Und damit ist die eGK auch bildlich gesprochen nur der sichtbare Vordergrund einer weitgehenden Umgestaltung im Gesundheitswesen. Denn viel entscheidender ist, dass die eGK die elektronische Patientenakte (ePA) möglich machen soll. Während sich nun viele mit der eGK beschäftigten, die gleichzeitig auf sich warten lässt, ist der elektronischen Patientenakte bisher wenig bis gar keine Aufmerksamkeit zuteil geworden. Wie die eGk und die ePA miteinander verbunden sind, dem gelten einige einleitende Worte zur Telematikarchitektur. Die ab 2010 geplante Ausgabe der eGK ersetzt die bisher bekannte Krankenkassenkarte. Ein rein äußerlicher Unterschied zur Krankenkassenkarte ist ein Passbild auf der Rückseite der eGK. Bedeutsamer sind allerdings die inneren Parameter, die die Gesundheitskarte von der Krankenversichertenkarte unterscheiden. Zwar verfügte auch die Krankenversichertenkarte über einen Speicherträger, aber die Gesundheitskarte soll mit einem wieder beschreibbaren Mikroprozessorchip ausgestattet werden. Dieser Mikroprozessor mit seinen 64 kB kann nicht unbedingt mehr Informationen aufnehmen als die bisherige Krankenversichertenkarte mit ihren etwa 300 kB. Das Besondere ist vielmehr, dass der Chip – wie ein kleiner Computer – selbst Rechenoperationen durchführen kann und programmierbar ist. Über die geringe Speicherkapazität der Gesundheitskarte darf man durchaus irritiert sein, denn die Diskussion war lange Zeit ausschließlich und ist heute noch vornehmlich geprägt von dem vordergründigen Ziel, Informationen direkt auf der Karte zu speichern. Neben einem elektronischen Rezept, welches die bisherige Papierversion in der Kommunikation zwischen Arzt und Apotheker ablösen soll, wird daran gedacht, etwa Notfallinformationen aufzunehmen, die dem Sanitäter oder Arzt vor Ort bereits sämtliche relevanten Informationen für die notfallmäßige Versorgung zugänglich machen. Auch Informationen zu chronischen Krankheiten oder Medikamentenunverträglichkeiten sollen auf der Karte direkt abgelegt werden (Schmücker 2005). So wird daran gedacht, auf der Karte lesbar für die Patienten die Kosten der Arztinanspruchnahme abzulegen, um sie damit in eine gleichberechtigte Position mit dem Arzt zu bringen. Hierbei wurde etwa von der Seite des Bundesgesundheitsministeriums aus argumentiert: „Mit der elektronischen Gesundheitskarte werden bestehende Patientenrechte umge-
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setzt. Für Patienten bietet die elektronische Gesundheitskarte die Chance, besser als bisher über die eigenen Gesundheitsdaten und über deren Verwendung eigenverantwortlich verfügen zu können. Mit modernen Informations- und Kommunikationstechnologien kann den Patienten ein Service geboten werden, wie sie ihn aus anderen Lebensbereichen kennen.“ (Bales 2005: 728). Gerade für die jedoch wäre die Speicherkapazität der neuen Karte denkbar gering, um wirklich der physische Speicher der Behandlungsinformationen zu werden – und dennoch ist das Ziel des Patienten-Empowerment mehr als taktisches Lippenbekenntnis. Wichtig ist unseres Erachtens, dass der Mikroprozessor gegenüber dem bisherigen Speicherträger in eine andere Richtung führen soll. Das eGovernment – und damit auch die Telematikmedizin – würde nicht aus bei jedem einzelnen Bürger abgelegten Daten bestehen, sondern aus zentral gebündelten personenbezogenen Informationen – und das gilt auch für die Gesundheitsdaten: Die Gesundheitskarte soll die elektronische Patientenakte ermöglichen. Damit diese Daten jedem behandelnden Arzt zur Verfügung stehen, sollen sie nicht auf der Karte, sondern auf Servern, also auf dezentral betriebenen, aber miteinander vernetzten Computern abgelegt werden. Nicht die Karte soll der physische Speicherort sein, sondern ein Servernetz. Damit wiederum wären die Daten nicht nur zentral verfügbar, sondern sie können es vielmehr auch dann noch sein, wenn das für physische Teile der solcherart Repräsentierten schon nicht mehr gilt. Authentifiziert durch die Gesundheitskarte des Patienten und die Heilberufskarte des behandelnden Arztes sollen die Patientendaten durch den jeweiligen Heilberufsangehörigen als elektronische Patientenakte in das Servernetz eingespielt werden: Wie bei der Internetnutzung soll in der Telematikmedizin der Zugang über jede Arztpraxis, jedes Krankenhaus oder jede Apotheke möglich sein. Zugriffsberechtigungen werden durch die Heilberufskarte in Verbindung mit der jeweiligen Gesundheitskarte des Patienten nachgewiesen. Eine Telematikarchitektur nämlich muss man sich als informationstechnischer Laie in Anlehnung an das Internet als einen verteilten, dezentralen Serververbund vorstellen (Paland/Riepe 2005: 627). Auf verschiedenen, von einem privaten Firmenkonsortium eingerichteten und betriebenen Datenbanken werden die Informationen, in diesem Fall die elektronische Patientenakte, abgelegt. Neben den einzelnen Servern ist ebenfalls ein „Backendsystem“ geplant, mit dem die Daten der Server gesichert werden (ebd.). Die Umsetzung dieser Telematikinfrastruktur ist 2003 von der Bundesregierung ausgeschrieben und an ein Industriekonsortium bestehend aus IBM Deutschland, Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation, InterComponentWare AG, ORGA Kartensystem GmbH und SAP Deutschland unter dem Titel „bIT4health“ vergeben worden (Schmücker 2005). Die Betreiber dieser Backendsysteme sind noch nicht ausgewiesen, es ist aber wahrscheinlich, dass es die Leistungsträger, also die Kassen und Versicherungen
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selbst sind, bei denen sich dann die Informationen bündeln (Weichert 2004: 398). Diese Datenbanken sollen jedenfalls in eine Architektur eingebunden sein, die es dem Arzt möglich macht, die relevanten Daten an dem Ort abzurufen, an dem sie zur Behandlung zur Verfügung zu stehen haben (DIMDI 2004). Insofern gilt es, die Kommunikation zwischen den im Gesundheitssystem aktiven Heilberufen zu erleichtern: Die Telematikarchitektur soll die bisherige papierbasierte Kommunikation vollständig ersetzen (Schmidt/Koch 2005). Um diese auf Servern abgelegten personenbezogenen Daten abzurufen, muss eine Lösung gefunden werden, die alle dezentral arbeitenden zugriffsberechtigten Nutzer authentifiziert. An dieser Stelle kommt wiederum die Gesundheits- und die Heilberufskarte ins Spiel. Die Fähigkeiten eines Mikroprozessors und den Speicherplatz, für den die o. g. verschiedenen Nutzungen in der Literatur diskutiert werden, braucht die Gesundheitskarte vor allem, um eine zentrale Information aufzunehmen: Wichtig ist die elektronische Signatur (Bales 2005; Goetz 2005) – und das hat sie mit der Heilberufskarte und der gleichzeitig geplanten JobCard zur Dokumentation der Berufsbiographie und dem digitalen Personalausweis gemein (Decker 2005). Die vom Bundeskabinett beschlossenen Eckpunkte sehen vor, dass die geplanten Kartenprojekte gleiche Standards für die elektronische Authentisierung (Identifizierung des Karteninhabers) aufweisen und die qualifizierte elektronische Signatur (Äquivalent zur manuellen Unterschrift) vereinheitlicht wird (Bundesregierung 2005). Damit wird deutlich, dass die Gesundheitskarte in einen bereits viel länger andauernden politischen Prozess eingebunden ist. Bereits 2001 wurde das Gesetz über Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen (Signaturgesetz, kurz: SigG) verabschiedet. Dem Signaturgesetz folgte die Signaturverordnung (SigV). Mit dieser juristischen Rahmengebung wurde vorbereitet, was sich via Gesundheitskarte schließlich einmal durch JobCard und Personalausweis vollziehen soll, die Authentifizierung jedes Individuums entlang einer elektronischen Signatur. Es geht um eine virtuelle Unterschrift. Diese hat aber gegenüber der von Hand erzeugten eine neue Qualität. Während die eigenhändige Unterschrift auf Papier justitiabel ist, aber aufgrund der Materialität ortsgebunden und vergänglich, erhebt sich die elektronische über den Ort ihrer Niederschrift auf dem Papier und erhält mit ihrer virtuellen eine neue, dauerhaftere und zugleich ungreifbarere Realität. Als Zwischenstand soll aber zunächst festgehalten werden, dass die elektronische Signatur auf der Gesundheitskarte und der Heilberufskarte der unabdingbare Schlüssel zur Umsetzung eines vernetzten Gesundheitswesens ist. Die elektronische Patientenakte solle es ermöglichen, einrichtungsübergreifend auf elektronischem Weg jede Behandlung zu dokumentieren. Sie soll die Informationen aus den unterschiedlichen Versorgungsbereichen in strukturierter Form sammel-
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und speicherbar machen, um für die medizinische Versorgung zur Verfügung zu stehen – und um sie auch, wie ein Bericht der Unternehmensberatung Roland Berger im Auftrag zweier Bundesministerien verdeutlicht, für analytische Zwecke zur Verfügung zu stellen (o.A. 1997). Im Lancet wird dieses Vorhaben als „Millenium Project“ bezeichnet. Als Fernziel ist dort eine Globalisierung des Gesundheitssystems genannt, durch die administrativ besserer Zugang zu forschungsrelevanten Daten weltweit gewährleistet werden kann. Nichts, was dokumentiert wurde, soll verloren gehen.
Panoptische Architektur Mit der elektronischen Gesundheitsakte wird eine Phantasie Realität, die als Modell eines idealen Gefängnisses vom englischen Ökonomen, Theoretiker des Utilitarismus und Philosophen Jeremy Bentham formuliert worden ist: Das Panoptikum. Sein Prinzip besteht darin, dass von einem zentralen Punkt des Gefängnisses aus alle Gefängniszellen einsehbar und jederzeit zu kontrollieren sind. Dieses Prinzip sollte durch bauliche Maßnahmen erreicht werden, bei der sämtliche Zellen ringförmig um einen Turm im Zentrum angeordnet gewesen wären, so dass alle Insassen jederzeit von einer Person zu beobachten sind, ohne diese selbst wahrnehmen oder den Zeitpunkt der Beobachtung bestimmen zu können. Ein Motiv bei dieser Planung war für den liberalen Ökonomen Bentham die Effektivität des Überwachungssystems, da es mit relativ wenig Personalaufwand einen möglichst großen Überwachungseffekt zeitigt. Bentham sah sein Modell ebenfalls als sehr geeignet an, um Schulen, Krankenhäuser und Fabriken zu bauen – sämtliche Einrichtungen, die eine Überwachung und Disziplinierung von Individuen zum Ziel haben, könnten nach diesem Organisationsprinzip gebaut werden. Obwohl dieses Bauprinzip zu Lebzeiten von Bentham nicht realisiert worden ist, können wir doch in modernen Gefängnissen (etwa in den Vereinigten Staaten) und unseren Krankenhäusern Elemente davon realisiert sehen. Aber im Sinne des Erfinders greift diese Architektur erst wirklich, wenn sie ortlos wird, als Telematikarchitektur. Unschwer ist in der Verfügbarkeit der elektronischen Patientenakte jene nicht-sichtbare und dadurch permanente Kontrolle erkennbar. Dass dieses Dilettieren eines ökonomischen Theoretikers auf dem Gebiet der Architektur uns ein Begriff ist, dafür sorgte die Analyse der Herrschaft durch Foucault. Foucault war es, der den von Bentham geprägten Begriff des Panoptismus übernahm. Die analytische Kraft, die diese Übernahme für die aktuelle Entwicklung hat, liegt nicht nur in einer wagen Analogiebildung begründet. Foucaults Genealogie der Kontrolle, in die der Panoptismus eingebunden ist, ist auch eine Genealogie der Medizin. Genauer: Sie ist, wenn auch nicht ausdrücklich in
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diesen Kontext gesetzt, so doch unschwer in die von Foucault selbst so bezeichnete „Archäologie des ärztlichen Blicks“ einzubinden (Foucault 1963). Der Umgang mit Devianz, Krankheit, Kriminalität oder Irrsinn hat stets das Modell für die allgemeine Herrschaft abgegeben, weshalb Foucault der Medizin als Institution besonderes Interesse entgegen brachte. Die von ihm historisch geschiedenen Formen der Kontrolle, vom Souverän über die Disziplinargesellschaft zum Gouvernement, geben, wenn auch am Besonderen untersucht, das Exempel ab für die Technik, mit der Herrschaft allgemein ausgeübt wird. Foucault betrachtete die Disziplinierungstechniken nicht nur als Kontrolle des Straftäters oder des Kranken, sondern pars pro toto als übergreifende, alle Mitglieder einer Gesellschaft erfassende Herrschaftstechniken. Mit dem Begriff des „Panoptismus“ beschreibt Foucault (1975), das PestReglements am Ende des 17. Jahrhunderts. Eindrücklich schildert er den Versuch, der Pest durch Kontrolle und Einschluss der Körper, und zwar eines jeden, gleichviel ob krank oder gesund, Herr werden zu können. In diesem Versuch, die von der Pest heimgesuchte Stadt zu kontrollieren, ist der Keim einer „Disziplinierungsanlage“ erkennbar, das „Modell der Disziplinierung“ (Foucault 1975: 254): „Dieser geschlossene, parzellierte, lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste Plätze eingespannt sind, die geringste Bewegung kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden, eine ununterbrochene Schreibarbeit das Zentrum mit der Peripherie verbindet, die Gewalt ohne Teilung in einer bruchlosen Hierarchie ausgeübt wird, jedes Individuum ständig erfasst, geprüft und unter die Lebenden, die Kranken und die Toten aufgeteilt wird – dies ist das kompakte Modell der Disziplinierungsanlage“ (Foucault 1975: 253). Die Disziplinierung vollzieht sich durch die ständige Sichtbarkeit – und die Dokumentation. Die Reichweite der Veränderung durch die beständige Sichtbarkeit wird akzentuiert durch den historischen Kontrast. Wenn im absolutistischen Staat die Macht des Souveräns auf die Kontrolle eines Territoriums mittels repressiver Herrschaftstechniken abzielte und dabei die Kontrolle über Ausschluss bzw. Einschluss der Körper der Delinquenten oder Kranken funktionierte, so wird die Reichweite des neuen medizinischen Regimes deutlich. Kontrolliert wurde der kranke oder delinquente Körper in gröbster Manier, indem er eingesperrt und einer ständigen Überwachung durch Wärter unterworfen war. Wen dieses System erfasste, der war ausgeschlossen und im Dunkeln. Dagegen beschrieb Foucault die nationalstaatliche „Disziplinargesellschaft“ (Foucault 1975: 269), die sich im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts entwickelt, vervielfältigt und verfeinert hat, als eine Kontrolle ihrer Mitglieder durch systematische Sichtbarmachung. Das Prinzip des Kerkers – einsperren, verdunkeln und verbergen – verkehrt sich
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in das Gegenteil: Die Disziplinargesellschaft erfasst alles durch ständige Sichtbarkeit. Inwieweit Foucaults Analyse eine Erfassung der Gegenwartund inwieweit sie eine hellsichtige Prognose der Zukunft war, wird erst jetzt, mit der Einführung der neuen, EDV-gestützten Verwaltungstechniken in aller Tiefenschärfe deutlich. Die Kontroll- und Dokumentationstechniken in der Seuchenzeit kennzeichnen für Foucault einen Übergang, aber im Vollsinne des Wortes konnte die ständige Visibilität erst als panoptische Kontrolltechnik verwirklicht werden, nachdem die Technik inzwischen mit Benthams Phantasie Schritt halten kann. Die bauliche und damit ortsgebundene Architektur bleibt gegenüber der ortlosen Telematikarchitektur hinter den Möglichkeiten und Wünschen der panoptischen Phantasie zurück. Die Idee war zwar geboren, von ihrer Umsetzung war sie jedoch noch Jahrhunderte entfernt. Für Foucault bestand der Wert der Benthamschen Planung in ihrer Beispielhaftigkeit für die Herrschaftstechnik der bürgerlich-liberalen Gesellschaft und ihrer doppelten Wirkung auf das Subjekt. Das Panoptikum war für Foucault die Metapher für die bürgerlich-liberale Herrschaft. Die Rationalität der liberalen Wirtschaftsordnung wird nicht wie die Rationalität des Feudalsystems in vergangenen Zeiten eingehalten, indem die Devianz ausgeschlossen und verdunkelt wird, sondern durch eine Partialisierung und beständige Sichtbarkeit des Individuums. Die Sichtbarkeit hat zur Folge, dass jeder zu jedem Zeitpunkt in seinem individuellen Handeln und seinen individuellen Motiven ausgemacht werden und seine Handlung auf Stimmigkeit mit der herrschenden Rationalität überprüft werden kann. Und diese ständige Sichtbarkeit hat eine Wirkung auf das Subjekt: „Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selbst aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“ (Foucault 1975: 260). Diese Sichtbarkeit durch Dokumentation hat einen eigentümlichen Subjektivierungsschub zur Folge. Die Machttechnik der Partialisierung betont die Isoliertheit des Individuums im Kontakt mit der herrschenden Ordnung. Damit führt die „Technik der Macht“ gleichzeitig auf Seiten des Individuums zu einer Selbst-Objektivierung, einer Prüfung der Handlung und ihrer Motive auf ihre Kompatibilität mit der gesellschaftlichen Rationalität. Aufgrund dieser Techniken des Selbst wird dann bei zunehmender panoptischer Regierungstechnik die Sanktion und direkte repressive Machtausübung immer weniger nötig: „In jeder dieser (panoptischen) Anwendungen ermöglicht es die Perfektionierung der Machtausübung: weil es die Möglichkeit schafft, dass von immer weniger Personen Macht über immer mehr ausgeübt wird; weil es Interventionen zu jedem Zeitpunkt erlaubt und weil der ständige Druck bereits vor der Begehung von Fehlern, Irrtümern, Verbrechern,
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wirkt; ja weil unter diesen Umständen seine Stärke gerade darin besteht, niemals eingreifen zu müssen, sich automatisch und geräuschlos durchzusetzen, einen Mechanismus von miteinander verketten Effekten zu bilden“ (Foucault 1975: 264/265). Es gibt aber noch eine weitere Größe: den Arzt, der dokumentiert. Diese Position ist für das Funktionieren des Panoptismus nicht trivial – sowenig wie sie es für die ärztliche Tätigkeit bleibt. Die Disziplinierung vollzieht sich in jedem Fall unmittelbar am Körper, allerdings verschiebt sich der Ort der Kontrolle: War es in der Kontrollgesellschaft der Wärter, so entwickelt sich in der Disziplinargesellschaft die Dokumentation zu einem Zentrum, an dem die Informationen zusammenlaufen. Die absolute Sichtbarkeit des Individuums, das „Regieren aus der Distanz“ (Krasmann 1999: 109) setzt diese Dokumentation voraus. Wird mit der Telematikarchitektur die Gefängnisarchitektur des Bentham zum allgemeinen Prinzip, muss die Dokumentation zum Turm im Zentrum werden.
Dokumentation Betrachten wir die Einführung der elektronischen Patientenakte. Sie entwickelte sich aus den zunächst nur beschränkt elektronisch gespeicherten Informationen, die im Wesentlichen aus Verweisen auf Papierakten bestehen und nur lokal zugänglich sind, hin zur „Electronic Health Record“, einer Akte, die alle versorgungsrelevanten Informationen eines Patienten enthält und alle Maßnahmen, die von den Leistungserbringern (Kliniken, Ärzte, Labors, etc.) getätigt worden sind. Eingespeist ebenfalls in eine Telematikinfrastruktur wird sie ortlos und kann von jedem Heilberufsbeteiligten abgerufen werden. Sie wird dann auch als eEPA bezeichnet, als einrichtungsübergreifende elektronische Patientenakte. Tatsächlich wäre die Pflege der Akte aber immer noch Aufgabe des für die Heilbehandlung ausgebildeten Personals. So wenig wie die Akte auf der Karte abgelegt und damit in die Verantwortlichkeit der Patienten gelegt werden sollte, so wenig sollte der Patient unkontrollierten Zugriff auf sie erhalten. Zwar können Patienten Informationen für bestimmte Heilberufsgruppen unterdrücken, aber die Pflege der Information übernehmen sie nicht. Das bleibt für die ePA nach dem Willen des Gesetzgebers Aufgabe des ärztlichen Berufsstandes.1 Die sich aus deren Einführung ergebenden Rückwirkungen auf die ärztliche Tätigkeit nämlich sind vielfältig (Brunngraber 2008) und keineswegs bloß technischer Natur. Eine davon ist die subjektivierende Wirkung der Patientenakte. 1 Wie wenig dieser Wille sich in der Realität behaupten kann, die Patienten diese elektronische Dokumentation ihrer Krankheit, bzw. des Bemühens um ihre Gesundheit bereits in Eigenregie übernommen haben, ist an anderer Stelle nachzulesen (Decker/Grave 2009).
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„[T]he record is involved in the performance of the patient`s body“ (Berg/Bowker 1997: 513f.). Allerdings betrifft die Wirkung der elektronischen Dokumentation nicht nur den Patienten und seinen Körper. Der erkrankte Körper ist eingebunden, genauer gesagt, der eigentliche Anlass für die Dokumentation, nicht aber das strukturierende Moment seiner Fassung im Medium der Akte. Dokumentation als Bestandteil der ärztlichen Tätigkeit ist historisch eng mit der wissenschaftlichen Etablierung der modernen Medizin verbunden. Die Dokumentation der Behandlung war und ist auch immer Forschung. Entlang von dokumentierten Behandlungsverläufen konnten Krankheitsursachen erschlossen und Therapien etabliert werden. Daneben ist der Arzt zur ordnungsgemäßen Dokumentation auch rechtlich verpflichtet. Diese Verpflichtung ergibt sich allerdings nicht mehr aus dem wissenschaftlichen Anspruch, sondern aus den unterschiedlichen Verpflichtungen, die der Arzt mit seiner Tätigkeit eingeht. So ist er Vertragsnehmer, und die Dokumentation ergibt sich als Nebenpflicht aus dem Behandlungsvertrag, den er mit dem Leistungsträger, in der Regel den Krankenkassen oder Versicherungen, abgeschlossen hat. Aber auch der Leistungsnehmer, der Patient, hat aufgrund seiner Persönlichkeitsrechte Anspruch auf eine Dokumentation, in die er jederzeit Einsicht nehmen kann. Daraus ergibt sich bereits bei oberflächlicher Betrachtung, dass die Dokumentation auch heute schon ebensowenig nur als Gedächtnisstütze für den Arzt dient, wie es bei der Zentralisierung der Ablage der Fall wäre. In der Praxis wird die Dokumentation herangezogen zur Therapieplanung und -kontrolle, der Beweissicherung im Falle von Haftpflichtprozessen und der Rechenschaftslegung gegenüber den Leistungsträgern. Der Arzt dokumentiert nicht wie in einem Tagebuch einen inneren Dialog, sondern die Patientenakte ist ein Instrument der Kommunikation mit anderen. Dies wird noch einmal deutlicher, wenn nicht nur die Patientenakte in der Praxis des niedergelassenen Arztes betrachtet wird, sondern auch die Dokumentation im Krankenhaus. Hier dient die Akte der Kommunikation zwischen den verschiedenen Heilberufen, die an der Behandlung und Pflege beteiligt sind. Sie wird allerdings nur im Bedarfsfall geöffnet. Das gilt für die ePA nicht mehr. Vielmehr vollzieht sich mit der grundlegenden Veränderung der Dokumentation auch eine Veränderung der Gesellschaft, mit Auswirkungen auf die Beziehung von Arzt und Patient sowie die Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit. Denn die Spielregeln der medizinischen Praxis verändern sich, und das in Aussicht gestellte Empowerment der Patienten gibt zwar den ökonomischen Rahmen zu erkennen – vom Patienten zum Nachfrager, vom Arzt zum Anbieter – macht aber keinesfalls die Veränderungen in der Dokumentation verstehbar, denn diese Dokumentation wird zum zentralisierten Archiv und entwickelt eine eigene Dynamik. Deren Wirkung auf
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die Arzt-Patienten-Beziehung soll hier kursorisch und abschließend die Aufmerksamkeit gelten.
Auslegung des Archivs Marc Berg hat dargelegt, inwiefern die Patientenakte nicht nur Ablage und Registratur, sondern Vehikel der und Instrument bei der Erstellung der Diagnose ist: Man schreibt sie beständig um (Berg 2007). Sie ähnelt damit der menschlichen Erinnerung, der Auswahl und Interpretation lebensgeschichtlicher Ereignisse durch das Individuum. Während auf der einen Seite zu beobachten ist, wie spezifische und situationsbedingte Äußerungen des Patienten zur Herstellung einer klinisch aussagekräftigen Krankenbeurteilung weggelassen oder modifiziert werden, beginnen andererseits bestimmte nicht einschlägige „Syndrome“ einer neuerlichen und von der vorigen unterschiedenen Krankheit eine Bedeutung zu bekommen, die ihnen vorher gar nicht anzusehen war. Eine geradlinige und kontinuierliche Patientenakte setzt eine geradlinige und kontinuierliche Krankheitsgeschichte voraus, im Grunde diejenige einer einzigen Krankheit, deren Ende mit dem der Akte in eins fällt. Derartiges kommt selten genug vor. Eine Umwertung des in der Akte Vermerkten gehört nicht nur zum erfolgreichen Gebrauch, sondern zur Hermeneutik der Akte. Mit anderen Worten: Das Datum ist nicht deshalb schon eine Aussage, weil es einmal etwas bedeutet hat, sondern bekommt seinen Wert erst im Prozess der Abwägung zwischen dem Tatbestand nach Lage der Akten und der Dinge, wie sie neu eingetreten sind. Die Interpretation des Gegenwärtigen rückt auch das längst Vergangene zurecht. Das Vergangene nämlich wird überhaupt erst gebildet, wenn bisher Abseitiges und Diskontinuierliches plötzlich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt und alles, was damit neu verbunden werden kann, zum Gegenstand der Betrachtung gerät, um hier etwas zu erblicken, dass kaum im Aufgezeichneten allein, aber noch viel weniger ohne es zu finden ist. Die Akte ist das medizinische Gedächtnis und jede Erinnerung bedient sich der Eindrücke, in denen die Gegenwart einst selbst auf medizinische Begriffe gebracht worden ist. Auf die Patientenakte bezogen meint solche Erinnerungsarbeit: die Beschwerden des Patienten bzw. oft auch nur deren Beschreibung, unterstützt durch routinierte Indikation, werden in medizinische Kategorien gebannt. Ein Vorgang an dem beide Seiten, Arzt und Patient, beteiligt sind. Der Vorgang selbst war mit der erfolgreichen Behandlung und seiner Dokumentation auch erledigt: und nur in Ausnahmefällen von der spezifischen Erinnerungsarbeit der Akteneinsicht unterbrochen. Ansonsten gelangte die Akte schnell in eine Art von Latenz. Ortsgebunden, in der ärztlichen Praxis, verblieb das Ergebnis; als
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„Karteileiche“ ist der Fall bekannt, zu dem trotz korrekter Erfassung der Daten niemand mehr passt. Keinesfalls war die Akte regel- wie dauerhaft einem externen Zugriff ausgesetzt. Das ändert die elektronische Akte mit Nachwirkung auf die Arzt-PatientenBeziehung. Die Dokumentation wird durch die ePA nicht nur in Ausnahmefällen, sondern regelhaft und, wie es sich für die panoptische Sichtbarkeit gehört, potentiell immer sichtbar. Strukturiert wird die ortlose Dokumentation genau hierfür auf allgemeine Verfügbarkeit: „... in the future it will be necessary to incorporate different kinds of standardized instruments, electronic interviews and nursing documentation system in EHR (Electronic Health Records, d. A.) systems“ (Häyrinen et al. 2007: 291). Hier wird ein Archiv angelegt, welches nicht mehr dem Verfallsdatum des Materials überantwortet ist und dem Zweck der ärztlichen Tätigkeit dient. Damit der Benthamsche Turmbau nicht zum babylonischen wird, sondern als Archiv dienen kann, bedarf es eines so weit gehenden Eingriffs in die Dokumentation, dass er die Arzt-Patienten-Beziehung und die Krankheitsvorstellung nachhaltig verändern wird. Hier gewinnt die Derridasche Doppeldeutigkeit des „Mal d’Archiv“ eine eigentümliche Pointiertheit im Angesicht der ePA (Derrida 1997). Die Archivierung des Leidens bringt ein Leiden am Archiv mit sich. Nicht vergessen zu dürfen und zu können, ist unmenschlich. Dass dem so sein wird, hängt ebenfalls mit der Verlagerung des Archivs zusammen, mit der noch eine weitere Verlagerung von statten geht: Nämlich „das Recht und die Kompetenz auf Auslegung“ (Derrida 1997: 11). Will sagen: Die „Macht, die Archive zu interpretieren“ geht von der exklusiven ArztPatientenbeziehung an einen „externen Träger“ (Derrida 1997: 19) über. Durch die elektronische Patientenakte kann der Leistungsträger, oder wer auch immer das System betreiben wird, den Besuch des Patienten in der Praxis bereits registrieren, bevor der Arzt selbst weiß, wer in seinem Wartezimmer sitzt – nämlich im Moment des Einlesens der Signatur von der eGK am Tresen. Da es dabei nicht stehen bleibt, verändert sich die Kontrolle der Krankheit grundlegend. Zwar waren Ärzte immer in diese Kontrolle an prominenter Stelle eingebunden, doch die Intimität und Ortsgebundenheit der Behandlung und Dokumentation verschaffte einen Interpretationsfreiraum, in dem Kontrolle nur vermittels der an der Behandlung Beteiligten funktionierte (Lorenzer 1993). Nun allerdings scheint diese vermittelte Kontrolle den neuen Anforderungen nicht mehr zu genügen. Nicht mehr Ärzte übernehmen die Interpretation der archivierten Akte, sondern über die Köpfe der Beteiligten hinweg, von „Draußen“, wird der Körper nun zum Gegenstand der elektronischen Verwaltung. Und das auch, wenn dem Arzt Handreichungen zum Verhalten gegeben werden, wie er gleichzeitig die ePA pflegen und mit dem Patienten sprechen kann (Shachak/Reis 2009). Dieser Versuch, die auch heute nicht gerade allgemeingültigen Regeln des patienten-
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zentrierten Gesprächs sicher zu stellen, kann nur wenig darüber hinwegtäuschen, dass die Arzt-Patienten-Beziehung elektronisch auf eine Dokumentation gebaut wird, deren Interpretation beide nicht mehr in der Hand haben – und welche die intime Beziehung zwischen Arzt und Patient nicht nur unterläuft, sondern sie aufhebt. Wenn Shachak & Reis feststellen: „EMR (Electronic Medical Records, d. A.) have a greater potential to improve other aspects of healthcare quality but documentation“, dann haben sie eine Aufbereitung der Patientendaten vor Augen, die eben nicht vom Arzt und schon gar nicht vom Patienten selbst erfolgt: „One such aspect is the physician’s ability to share information with patients, for example by showing trends of lab results over time, use of risk calculating software, links to external credible health information resources ...“ etc. (Shachak/Reis 2009: 6/7). Die elektronisch auf Dauer archivierte Krankengeschichte wird zu einer des Körpers, deren Interpretation weder dem Arzt noch dem Patienten obliegt. Wenn nicht mehr das Alter, sondern die Übereinstimmung von Kategorien die Durchsicht des Vermerkten lenkt, bilden sich leichter Verdachte chronischer Kontinuität, zumal wenn Suchprogramme die Durchsicht dieser ortlos gewordenen und damit panoptisch verfügbaren Archive vornehmen. Nicht nur Diagnosen werden diese vergleichen, sondern das Verhältnis aller sie begleitenden Werte zu denen, die sich überdies in der Akte befinden. Je mehr Daten, umso verlässlicher das Ergebnis, heißt es hier, so dass die Interpretation der aktuellen Diagnose nicht mehr unter dem pragmatischen Druck schneller Heilung zukünftig, sondern umfassend retrospektiv ausgerichtet sein wird. Ziel ist nicht mehr der geheilte, sondern der von vornherein gesunde Körper, wie er unverdorben am Anfang der Datenerhebung erschien. Vornehmlich wäre dann nach dem Moment der Verderbnis zu fragen: wann trat jene Veränderung ein, durch die sich Krankheit erstmalig manifestiert? Und: was hätte man anstellen können, um das zu verhindern? Das Vergessen des einmal Notierten wird in diesem Szenario zur Fahrlässigkeit.
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Risikoträger oder verletzliche Individuen: über die präemptive Kriminalisierung von Menschen mit psychischen Problemen1 Wendy Fitzgibbon
Psychisch kranken Personen wird oftmals mit Beklemmungen, Angst und stereotypen Vorverurteilungen begegnet. Besonders wenn sie bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten sind, sehen sie sich einer medialen Sensationsgier gegenüber, die auch Politik und Gesetzgebung beeinflusst. Am Beispiel Großbritanniens werde ich den zunehmenden Rückgriff auf die präemptive Kriminalisierung2 von marginalisierten Gruppen diskutieren (Fitzgibbon 2007a) – eine Vorgehensweise, die vor allem Menschen mit psychischen Problemen betrifft, da man so versucht, das von Ihnen vermeintlich ausgehende Risikopotential einzuschränken und zu managen. Im Anschluss werde ich mich exemplarisch mit zwei Studien auseinandersetzen, die die Risikoanalyse von psychisch kranken Straffälligen zum Gegenstand haben. Solche Risikobewertungs-Prozesse werden bei der Bewährungshilfe in England und Wales durchgeführt und gewinnen zunehmend Beachtung durch Öffentlichkeit, Regierung und Strafrechtspflege-Professionen. Im Fokus meiner Betrachtung steht die Frage, ob diese Risikoentscheidungen die Öffentlichkeit so schützten, wie vorgegeben wird, ob diese Prozesse die Rechte der Probanden sichern, oder ob sie nicht viel eher als Indiz für eine systematische Vorverlagerung von Kriminalisierung gesehen werden müssen.
1 Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Paul. 2 Die vorverlagerte Kriminalisierung (preemtive criminalisation) beschreibt im Sinne von Wendy Fitzgibbon einen Vorgang, in dem die Zuschreibung der „Kriminalität“ nicht auf die Strafrechtsverletzung eines Individuums zurückzuführen ist, sondern darauf, dass diese Person in den Blick der Strafverfolgungsbehörden gerät, da sie einer Gruppe angehört, von der angenommen wird, dass sie eine hohe statistische Wahrscheinlichkeit hat, Strafrechtsbrüche zu begehen – in diesem Fall die „Gruppe“ der Personen mit psychischen Problemen (vgl. Fitzgibbon 2004: 19f.).
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Vom Wandel der Werte in der Strafrechtspflege Die stereotypen und irreführenden Bilder von straffälligen Personen, die unter psychischen Problemen leiden, sind das Produkt aus medialer Verarbeitung und Alltagsverständnis. In einigen einschlägigen und skandalumwobenen Fällen in Großbritannien, wie z.B. denen von Christopher Clunis (Applin/Ward 1998) und Anthony Rice (H.M. Inspectorate of Probation 2006a), hat das dazu geführt, dass neue Vorschriften und Gesetze erlassen wurden, die der Öffentlichkeit demonstrieren sollten, dass die Regierung in der Lage sei, ihrem Auftrag als Sicherheitsgarant seiner Bürger nachzukommen (Butler/Drakeford 2005; Fitzgibbon 2004). Die diesen Kontrollaktivitäten zugrundeliegenden Bewertungen von „psychischen Störungen“ bezeichnet Peay (2002) als „bedenkliche logische Ungenauigkeit“ (acute logical innexactitude). Auch Herschel Prins (1999, 2005) und andere (Gray et al 2002; Gagliardi et al. 2004) weisen darauf hin, dass psychisch erkrankte Straffällige keineswegs häufiger (erneut) straffällig werden als Menschen ohne psychische Probleme, die sich in einer ähnlichen Situation befinden gerade auch im Hinblick auf gewaltförmige Handlungen. Gleichwohl werden die gegenwärtigen Regulierungsbestrebungen hinsichtlich psychischer Erkrankungen und Kriminalität in England und Wales, wie in vielen anderen westlichen Ländern vor allem von Risikobewertungen und -zuschreibungen geleitet (Peay 2002). Ganz allgemein kann man sagen, dass sich das System der Strafrechtspflege dahingehend verändert hat, dass es heute den Schutz der Öffentlichkeit als oberste Priorität ansieht. Dies hat weitreichende Konsequenzen für so genannte „Risikogruppen“ und damit vor allem für Menschen mit psychischen Problemen. Die derzeitige Ausbreitung des Strafrechtspflegesystems kann als Teil des grundsätzlichen Wandels unserer Gesellschaft gesehen werden, bei dem sich immer mehr Bereiche (von der Industrie bis zur Sozialarbeit) um die Frage der Kriminalitätskontrolle drehen (siehe Garland 2001; Lea 2002). Anstatt eine periphere Rolle im Kontext von Sozialpolitik und sozialer Sicherung zu spielen, wird die Strafrechtspflege zur zentralen Institution (siehe Zedner 2007). Sozialpolitik fokussiert sich also zunehmend auf Kriminalitätskontrolle, und zwar mit der Maßgabe, für die Sicherheit und den Schutz der Bevölkerung zu sorgen. Auch wenn der Staat seine Macht in den letzten Jahren in einigen Bereichen geschwächt sieht, etwa seine Fähigkeit, die globalen Kapital- und MigrationsStröme zu kontrollieren, so behält er doch die Kontrolle über seine Justiz- und Strafrechtspflegesysteme. Aus verschiedenen Gründen (siehe Lea 2002)3 haben 3 An anderer Stelle habe ich diesen Wandel hin zur Schwerpunktsetzung der Kriminalitätskontrolle auch als einen offenkundigen Trend in der Bewährungshilfepraxis aufgezeigt (vgl. Fitzgibbon 2007a, 2007b).
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diese Institutionen ihre wohlfahrtsstaatliche Orientierung beim Umgang mit den Armen, Ausgeschlossenen und psychisch Kranken, die v.a. auch auf Bildung, Unterbringung und soziale Hilfen zielte, aufgegeben. Wenn man davon ausgeht, dass diese Gruppen weniger als Bürger, denn als Risiko gesehen werden, ist dies eine beinahe selbstverständliche Entwicklung. Denn nach dieser Einschätzung ist die psychische Krankheit eines Straffälligen nur die Spitze des Eisbergs einer viel größeren Gruppe bedrohlicher und riskanter Verhaltensweisen, die gemanagt und kontrolliert werden müssen, um der Bevölkerung Schutz und Sicherheit zu bieten. Die Konzentration auf das Management von „Risikogruppen“ hat sich in den letzten Jahren in unterschiedlicher Weise verfestigt, wobei auch Ansätze aus der Kriminologie für die Untermauerung dieser Entwicklung herangezogen wurden. Von größter Bedeutung war dabei die Argumentation von Wilson und Kelling (1982), wodurch die klassische Beziehung zwischen den Strafverfolgungsbehörden (vor allem der Polizei) und den sozial benachteiligten Stadtteilen umgekehrt wurde: Im Sinne der klassischen Theorien über das „gemeindenahe Policing“ ignorierten die Polizeibeamten alle kleinen Verstöße oder „anti-sozialen Verhaltensweisen“, da dies die Akzeptanz der Polizeipräsenz in der Gemeinde und die Bereitschaft der Bürger bei ernsteren Vergehen zu kooperieren, sicherstellte. Für Wilson und Kelling (1982) hingegen sind es jedoch genau diese kleineren Verstößen, die, wenn man sie nicht zur Kenntnis nimmt, zu Vorboten für ernsthafte Verbrechen werden. Dies hat dazu geführt, dass „Pre-Crime“4 zum legitimen Zielobjekt von Eingrenzungs- und Zwangsmaßnahmen wurde (siehe Zedner 2007): Wilson und Kellings Aufwertung von Zeichen der Unordnung (Incivilities) oder antisozialen Verhaltensweisen zu Vorboten ernsthafter Kriminalität läuft darauf hinaus, „anti-soziales“ Verhalten als Pre-Crime aufzufassen.
Stigmatisierende Praxis: Risikobewertung Es gibt einige Zusammenhänge zwischen dieser Strategie der vorverlagerten (managereralen) Kriminalisierung sozial schwächerer Bevölkerungsgruppen auf der einen und der Risikoanalyse als Methode zur Identifizierung von Problemgruppen auf der anderen Seite (Fitzgibbon 2004, 2007b). Ein wichtiger Aspekt dieser Entwicklung ist der so genannte „versicherungsmathematische Trugschluss“ („actuarial fallacy“), welcher den Methoden der Risikoidentifikation inhärent ist. Er betrifft sowohl straffällige wie nicht-straffällige Personen, wobei 4 Der Begriff ist abgeleitet vom Film „Minority Report“ (Spielberg 2002).
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„Risikogruppen“ hauptsächlich davon betroffen sind (Fitzgibbon 2007a, 2008a). Mit „versicherungsmathematischem Trugschluss“ wird die Tatsache beschrieben, dass auch wenn Individuen zu einer Gruppe von Personen gehören, der eine statistisch gesehen hohe Wahrscheinlichkeit zugeschrieben wird, kriminell zu werden oder eine Bedrohung darzustellen, es doch keine Möglichkeit gibt, Aussagen darüber zu treffen, welches der Individuen dieser Gruppen ein solches Verhalten an den Tag legen wird (Fitzgibbon 2007a). D.h. diese Bewertungsprozesse führen zu einer tendenziellen Stereotypisierung von Personen (etwa Mitgliedern ethnischer Minderheiten, psychisch kranker und jüngerer Menschen, Fitzgibbon 2004, 2007b). Statt eine ganzheitliche und historische Kontextualisierung des Lebensweges der Straffälligen vorzunehmen, veranlassen die versicherungsmathematischen Techniken die Praktiker5 dazu, alle möglichen Daten über die betroffenen Personen zu sammeln. In diesem Sinne zeigt der „versicherungsmathematische Trugschluss“ deutlich den Kontrast zwischen der neuen kriminalpolitischen Orientierung am Bevölkerungsschutz (durch das Herausfiltern von Risikogruppen) und der alten klassischen Kriminalpolitik, die sich mit dem Ergreifen und der Bestrafung von Rechtsbrechern beschäftigt hat. Zur Identifizierung von Risikogruppen müssen die Bewertungsmaßstäbe und die Vorhersagbarkeit der Risiken operationalisiert werden. Dies gelingt mit der Verwendung der versicherungsmathemathischen Instrumentarien zur Errechnung der Wahrscheinlichkeit (Kenshall 2003). Dies kann aber sowohl zu einer Überschätzung der Risikoprognose führen, da man sich für die Bewertungen später rechtfertigen muss, als auch zur vorverlagerten Kriminalisierung spezifischer Gruppen wie hier der Gruppe der psychisch Kranken (Fitzgibbon 2004, 2007a, 2007b). Dabei ist zu beobachten, dass anhand von Risikobewertungen nichttransformative Strategien entwickelt werden, die zur Neutralisierung und Management dieser Personen verwendet werden (Hannah-Moffat 2005). Dies steht im Kontrast zum althergebrachten Einsatz transformativer Strategien, die noch auf das Verhalten und die Denkweise der Probanden Einfluss nehmen wollten. Im Bereich der Strafrechtspflege und der Sozialen Dienste herrscht inzwischen eine neue manageralistische Kultur, die Leistungsziele, Maßnahmen zur Effizienz- und Effektivitätssteigerung sowie eine überzogene Beschäftigung mit „Best Values“ hinsichtlich öffentlicher Ausgaben mit sich bringt (Cutler/Waine 1997; James/Raine 1998). Die Hauptaufgabe der Praktiker besteht dabei in der effektiven Bewertung und des Managements eines Problems (Webb 2006). Ebenso, wie sich das Strafrechtssystem nunmehr vordringlich mit Risikokalkulationen und -management (im Vorfeld) befasst, wird das Vertrauen zum Arbeitnehmer wie zum Klienten durch Audits ersetzt (Munro 2004). In dieser Audit5 Mit dem Begriff der „Praktiker“/“practitioner“ bezeichnet die Autorin jene Personen, die in der Strafrechtspflege professionell tätig sind. In diesem Sinne wird er weiterhin benutzt [Anmerk. BP].
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Kultur werden Leitungsziele und Ergebnisse zunehmend messbar und führen dazu, dass Professionelle/Praktiker reglementierte und formelhafte Bewertungen durchführen, die zu rechtfertigen sind, sollten sie von Kontrolleuren überprüft werden (Fitzgibbon 2007a; Fitzgibbon/Green 2006). Inspektionen mit messbaren Zielen und Ergebnissen sind zur Priorität von Institutionen des öffentlichen Dienstes geworden, in dem die Vorgehensweisen des Neuen Managerialismus und der Wirtschaft zur neuen Norm geworden sind (Fitzgibbon 2007a, 2008a; Fitzgibbon/Cameron 2007; Munro 2004).
Von der Entkörperlichung der Person Man könnte behaupten, dass der Rechtsbrecher, um ihn einer messbaren Risikobewertung zu unterziehen, entkörperlicht werden muss, d.h. er wird zu einer Anhäufung von Daten, die mit seiner Boigraphie nicht mehr zu tun haben und die frei sind von jeder Kontextualisierung der Bedeutung seines Verhaltens (Aas 2004, 2005). Dieser Vorgang verstärkt die Tendenz, bestimmte Gruppen zu stereotypisieren. Daran schließt sich die Tendenz an, diese Menschen zu kriminalisieren, weil man annimmt, dass z.B. psychisch kranke Personen eine Bedrohung darstellen (Fitzgibbon/Cameron 2007; Prins 2005) oder weil man ethnische Minderheiten als potentiell bedrohlich betrachtet, anstatt sie als Personen zu sehen, die unter institutionellem Rassismus zu leiden haben (Fitzgibbon 2007b). Es lässt sich beobachten, dass der Vorgang der Stereotypisierung eine ganz eigene Dynamik und Bedeutung entwickelt. Die entkörperlichten Daten des Straffälligen spiegeln oft die Probleme wieder, die zum ursprünglichen strafrechtlich relevanten Verhalten geführt haben (Drogenkonsum, Arbeitslosigkeit etc.). Trotzdem wird kaum der Versuch gemacht, die konkreten Bedeutungen oder Kontexte nachzuvollziehen, die diese ursprünglichen Probleme mit sich brachten. Kontextuelle Analysen oder die kulturellen Implikationen des Verhaltens Straffälliger werden als „weiche Daten“ angesehen und als weniger relevant angesehen (Ferrell et al. 2004; Young 2004). Auf diese Weise werden die Ursprungsprobleme nur noch als weitere Zeichen der Devianz gesehen und als in dieser Richtung zu gewichtende Daten im Risikobewertungsprozess auftauchen (Franko Aas 2005). Da sich die Produktion der Stereotype am neuen Fokus der Kriminalitätskontrolle orientiert, weiten sich die Kontrollmechanismen immer weiter aus (Garland 2001). Trotzdem verschwimmen in diesem Prozess die Grenzen zwischen denen, die ein Vergehen tatsächlich begehen und jenen, die lediglich eine Bedrohung darstellen (Fitzgibbon 2004, 2008a): Alle jene, die in unserer Gesellschaft Probleme haben oder die zu einer „Risikogruppe“ gehören, geraten zunehmend in den Zuschreibungssumpf
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der Risikobewertung hinein und werden zur Bedrohung erklärt. Ein exzellentes Beispiel liefert hierfür die neue Gesetzgebung in Großbritannien, welche die Definition von „psychischer Gesundheit“ zum einen ausweitet und zum anderen extrem vage hält (Fitzgibbon 2004, 2008a). Einigen Stimmen zufolge haben wir es hierbei mit einer „Medikalisierung von Kriminalität“ zu tun, in der jeder, der das Gesetz bricht, als psychisch Kranker gesehen werden kann (Coid/Maden 2003). „Net-Widening“ (Cohen 1985), welches durch die Einführung der Risikobewertungsinstrumente in die Bewährungshilfe und das Hilfssystem für psychisch Kranke erfolgte, ist ein weiteres Beispiel für den Trend zur vorausgelagerten Kriminalisierung in der Strafrechtspflege. So wurde das Risikobewertungssystem für Straffällige („Offender Assessment System“, OASys) in England und Wales dafür entwickelt, bestehende Instrumente in der Bewährungshilfe wie auch im Justizvollzug zu ersetzen. OASys verfestigte die sich ohnehin verändernden Werte in der Strafrechtspflegepraxis und unterstrich das neue Hauptanliegen der Bewährungshilfe: Schutz der Bevölkerung und Bestrafung des Delinquenten. Um herauszufinden, welchen Nutzen OASys in der Risikobewertung von psychisch kranken Straffälligen hat, griff man sich eine große städtische Bewährungshilfe für eine Studie heraus (Fitzgibbon/Cameron 2005, 2007; Fitzgibbon/Green 2006). Die Studie umfasste die Analyse einer Reihe von zufällig ausgewählten OASys Bewertungen von psychisch kranken Delinquenten. Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass die Fähigkeit der OASys-Bewertung akkurate und effektive Risikoanalysen zu generieren und entsprechende strafrechtliche Reaktionen darauf abzustimmen, in Zweifel zu ziehen war. Selbiges galt für die Fähigkeit der Praktiker, das Risikobewertungsinstrument präzise anzuwenden. So hat etwa Kemshall (2003) die Grenzen und die Fehlerhaftigkeit der Risikobewertung als Methode der Vorhersage individuellen Verhaltens nachgewiesen. Munro und Rungas (2000) weisen zudem darauf hin, dass die übermäßige Betonung der Risikobewertung dazu führen kann, dass die Qualität der Betreuung psychisch Kranker fehlgeleitet oder gar ganz unterbunden wird (Fitzgibbon/Green 2006: 43). Die Studie macht deutlich, wie ungemein wichtig das angemessene Training und die notwendige Erfahrung für Praktiker in der Strafrechtspflege ist, wenn man verhindern will, dass die Risikobewertungen zu gegenteiligen Effekten führen – wie dies vor dem Hintergrund voreingenommener Sichtweisen über Personen mit psychischen Problemen immer wieder passiert. Wie Grounds (1995) betonte, können Risikobewertungen nur effektiv sein, wenn sie eine angemessene und sensible Unterstützung für die psychisch kranken Delinquenten bieten (vgl. auch Cameron/Fitzgibbon 2007). Insgesamt zeigen die Forschungsergebnisse, dass die Praktiker nicht in der Lage waren, die OASys-Instrumente so zu beherrschen, dass sie Personen mit
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psychischen Problemen identifizieren konnten. Sie benötigten Hilfe in Form eines Frühwarn-Systems, welches sie darauf aufmerksam machte, wenn besondere Themen bezüglich der psychischen Gesundheit einer Person relevant wurden. Sie erkannten so, wann sie erfahrenen und spezialisierten Rat einholen mussten (Fitzgibbon/Cameron 2007). Die Studie kam zu dem Schluss (vgl. auch Prins 2005: 354), dass Professionelle in diesen unklaren Situationen dann einen kühlen Kopf bewahren können, wenn sie über informiertes Wissen verfügen. Mit genug Geschick, Wissen und Ressourcen hinsichtlich eines sensitiven Risikobewertungsinstruments sowie genügend Zeit/Ressourcen, können diese effizient und effektiv mit psychisch kranken Delinquenten durchgeführt werden.
Konsequenzen einer Ökonomisierung der Strafrechtspflege Die beschriebenen Entwicklungen müssen auch im größeren Kontext der neuen Steuerungsmodelle des Managerialismus, die in die Strafrechtspflege und bei den anverwandten Behörden wie z.B. den Sozialen und Psychiatrischen Diensten Einzug gehalten haben, gesehen werden (Fitzgibbon 2007a, 2008a). Dieser wirtschaftsbezogene Managerialismus im öffentlichen Dienst – mit seinem zentralisierten Management, der Rechenschaftspflicht und den Audits – hat zentralisierte Verfahrens- und Arbeitsweisen befördert. Für Praktiker hat dies zur Konsequenz, dass sie in ihrer Arbeitspraxis inzwischen strengen Regeln folgen müssen, die von einer zentralen Regierungsebene (wie z.B. dem Innenministerium) herausgegeben werden und die oftmals soweit gehen, dass sie konkrete Handlungsanweisungen (im Sinne von „Handbüchern“) vorgeben, in denen die korrekte Durchführung jedes Arbeitsschrittes minutiös aufgelistet ist. Praktiker sind inzwischen nicht mehr gegenüber den Klienten zur Rechenschaft verpflichtet als vielmehr gegenüber den Steuerzahlern. Betont wird dabei heute der Schutz der Öffentlichkeit; eine Entwicklung, die zugleich den Rückgang des strafenden Wohlfahrtsstaates symbolisiert (Garland 2001). Hier war vormals der Blick auf den Delinquenten als Bürger gerichtet, der zurückgewonnen, rehabilitiert und reintegriert werden sollte, während die neue Auffassung ein Modell der bedingten Staatsbürgerschaft vertritt, in dem „Bürgerrechte“ nur denen gewährt werden, die sich als verantwortliche Mitbürger auszeichnen, durch ihre Erwerbstätigkeit etc. Die Fertigkeiten und Aufgaben der Bewährungshelfer sind heute weder kreativ noch autonom, vielmehr sind sie, bedingt durch die Handlungsanweisungen und innerbetrieblichen Fortbildungen, vorgeschrieben. Dieser Wandel vom professionellen Praktiker mit ausgeprägten Fertigkeiten und entsprechender Autonomie, hin zu einer zunehmend ent-fähigten Arbeitskraft mit einem Tätigkeits-
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schwerpunkt, der auf Audits und Rechenschaftsberichten liegt, ist ebenso offenkundig wie problematisch. Dieser Prozess vollzieht sich parallel am Delinquenten selbst, der bewertet und kategorial prozessiert wird, um dann in ein Programm der kognitiven Verhaltenstherapie gesteckt zu werden, welches sich nach seinem oder ihrem Abschneiden im OASys-System richtet. Selbst geschickte und fachlich bewanderte Praktiker benötigen viel Übung und Erfahrung sowie entsprechende Ressourcen, um eine angemessene Risikobewertung durchzuführen und effektive Betreuungspläne zu entwerfen. OASysBewertungen können erkenntnisbasierten, professionellen Bewertungen lediglich als Ergänzung dienen, denn wenn Verhaltensweisen bewertet werden, ohne die kontextuelle Bedeutung mit einzubeziehen, schlagen diese fehl (Fitzgibbon 2007a). Sollte der Schwerpunkt auch weiterhin auf der Sammlung von Daten liegen, mittels Instrumenten wie dem OASys und verordneten kognitiven Verhaltensprogrammen, der Versuchung für diese Tätigkeiten Arbeitskräfte zu beschäftigen, die über weniger Fertigkeiten, Erfahrungen und professionelle Übung verfügen, dann erinnert das Ganze an Bravemanns Annahmen aus „Labour and Monopoly Capital“ (1974). Die Taylorisierung der Arbeitskraft und die Absplitterung der „Gehirne“, welche die leitende Ebene darstellen von den „Händen“ der Arbeiter/Praktiker, hilft bei der Dekonstruktion der Bewährungshilfe und der zunehmenden Ent-Fähigung der Arbeitskräfte. Diese Fähigkeit Daten und Delinquente (oder auch „Daten-Dividuen“ wie sie Franko Aas 2005 bezeichnete) zu prozessieren, wird durch kreatives analytisches Denken sowie Narrationen nur erschwert.
Parole Board Praxis: Die Analyse des Umgangs mit psychisch kranken Straffälligen Aufgrund der zunehmenden Fixierung auf die Gefahren, die von psychisch kranken Personen für die Gesellschaft ausgehen sollen (H.H. Inspectorate of Probation 2006; Prins 2005; Social Exclusion Unit Report 2004; Gagliardi et al 2004; Wadham 2002), war mein Interesse herauszufinden, wie öffentliche Institutionen wie z.B. das Parole Board6, mit psychisch kranken Rechtsbrechern umgehen, die 6 Das englische „Parole Board“ lässt sich als „Kommission für bedingte Haftentlassung“ übersetzen. Die unabhängige Kommission ist interdisziplinär besetzt und ist nach eigenen Angaben dafür zuständig, Aussagen über Gefangene zu treffen, auf deren Grundlage entschieden werden kann, wer mit entsprechenden Auflagen wieder sicher zurück in die Gemeinschaft entlassen werden kann. Die Entscheidungen werden auf der Grundlage eines Dossiers getroffen, das Berichte von Vollzugsbeamten enthält, der Bewährungshilfe sowie über die die Geschichte der Straftaten, darüberhinaus formalen Risikobewertungen, das Verhalten während der Haft, alle Anstrengungen die der Betroffene unternommen oder Therapien, die er durchgeführt hat. Zusätzlich können auch Statements des/der Opfer
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ihre Strafe soweit verbüßt hatten, so dass sie nun einen Antrag auf bedingte Entlassung stellen konnten7. Die Studie, die in den Blick nahm, wie das Parole Board und die Bewährungshilfe mit diesen psychisch kranken Straftäter zum Zeitpunkt der Antragsstellung umgingen, umfasste die Erhebung ob und falls ja, wie oft ihre Anträge erfolgreich waren und ob den spezifischen Problemlagen in den Berichten der zuständigen Bewährungshelfer sowie dem OASys Rechnung getragen wurde, da es das Haupt-Bewertungs-Instrument der Bewährungshilfe war. Eine entscheidende Rolle spielt m.E. der Druck, der zunehmend auf Praktiker in diesem Bereich ausgeübt wird, wenn sie Entscheidungen treffen, die zur Entlassung eines Verurteilten führen und dieser im Anschluss rückfällig oder sogar gewalttätig wird. Sie sehen sich sodann erheblicher Kritik ausgesetzt, was dazu führt, dass sie immer weniger dazu bereit sind riskante Entscheidungen zu treffen, die sie vor einiger Zeit im Namen der Resozialisierungsmaxime noch eingegangen sind. Wenn z.B. die Frage nach einer Führungsaufsicht im Raum steht, reicht inzwischen der kleinste Zweifel hinsichtlich des zukünftigen Verhaltens einer Person, und der Praktiker wird sich gegen die Entlassung aussprechen. Schließlich könnte etwas schiefgehen und die Schuld würde dann bei ihnen liegen. Mit dem Wissen über diesen enormen Druck, dem die Bewährungshelfer und die Personen der Kommission ausgesetzt sind, wenn sie Entscheidungen treffen, die sie später zu vertreten haben (Kemshall 2003) und dem Umstand, dass die Praktiker dazu neigen, ihre eigenen vorgefassten Meinungen zur Unterstützung der Risikoentscheidung einzubeziehen (Sutherland 1992), wollte ich untersuchen, ob der Bewährungsgenehmigungsprozess für psychisch Kranke nach den gleichen Maßstäben verlief wie der für alle anderen Strafgefangenen, die sich um eine bedingte Entlassung bemühten. Zwischen Juli und September 2006 führten wir daraufhin im Innenministerium in London eine kleine Studie durch, für die wir drei Parole Boards bei ihren Anhörungen beobachteten. Jeder dieser Ausschüsse hatte 24 Anträge von Strafgefangenen vorliegen, die aus verschiedenen Bewährungshilfegegenden in England und Wales stammten. Die Stichprobe umfasste 72 Fälle mit einer Vielfalt an demographischen Charakteristika und Straftaten. Die Dossiers jedes Gefangenen wurden vor den Sitzungen der Kommission im Detail mit Fokus auf der OASysenthalten sein. In Deutschland übernimmt die Aufgabe der Bewährungsgewährung die Strafvollstreckungskammer. [Anm. BP: siehe hierfür Fritsche, Mareike (2005): Vollzugslockerungen und bedingte Entlassung im deutschen und französischen Strafvollzug, Mönchengladbach] 7 Die vorzeitige Entlassung auf Bewährung wird in Großbritannien all jenen, die eine mind. 4-jährige Strafe erhalten haben, nach der Verbüßung von 2/3 der Haftstrafe regelhaft ermöglicht. Bewährung bedeutet sodann, dass sie den Rest der Haftstrafe in ihrer Gemeinde unter der Aufsicht eines Bewährungshelfers mit entsprechenden Auflagen abarbeiten. [Anm. BP]
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Risikobewertung, der OASys-Schadensbewertung sowie den Berichten der verschiedenen zuständigen Bewährungshelfer analysiert. Diese Dokumente wurden im Ausschuss eingehend diskutiert und die Informationen in Tabellen notiert. Diese wurden später von uns kodiert und statistisch ausgewertet. Die Berichte wurden mit Blick auf ihre Qualität, Vollständigkeit und Gründlichkeit durchgesehen. Um sicherzustellen, dass die Inhaltsanalyse jedes Berichtes konsistent und kodierbar war, legten wir eine Reihe von Kriterien an. Diese beinhalteten die Identifizierung der auslösenden Faktoren für die aktuelle oder vorangegangene Straftat, die Klassifizierung des Hintergrundes und persönliche Charakteristika der betroffenen Person, die Gründlichkeit der Risikobewertung bezogen auf die Schäden gegen sich selbst und gegen Dritte, Beziehungen zu anderen Institutionen/Gefängnissen, vorangegangene Kenntnisse über den Gefangenen und der Gebrauch von zusätzlichen Berichten, wie Berichten aus der Zeit vor dem Urteil, psychiatrische Berichte etc. Die Hoffnung war, dass durch die Hinzuziehung von detailreichen Kriterien die Berichte der Bewährungshelfer mit denen der OASys-Dokumentationen qualitativ vergleichbar gemacht werden konnten.8 Um diese Daten für das Anliegen dieses Beitrages nutzbar zu machen, habe ich die Fälle jener Personen erneut durchgesehen, die aktuell oder in der Vergangenheit psychische Probleme hatten, um auf die spezifischen Problemlagen dieser Sub-Gruppe (13 Fälle) zu blicken und diese mit der Bearbeitung ihres Antrags im Hinblick auf den Erfolg und die Entlassungskonditionen der gesamten Untersuchungsgruppe (72 Fälle) zu vergleichen. In der Zusammenfassung der Ergebnisse werden einige Kernaussagen deutlich: Erstens, psychisch kranke Straftäter werden wesentlich negativer bewertet als alle anderen, die eine vorzeitige Entlassung beantragen. Ein Grund dafür könnte in der expliziten Fokussierung der Bewertungen auf die negativen Konsequenzen der mit den psychischen Problemen in Verbindung gebrachten Risiken liegen (Fitzgibbon 2007; Fitzgibbon/Green 2006; Stubner et al. 2006). Das negative Ergebnis kann aber auch daraus resultieren, dass die Risikobewertung einer Ent-körperlichung unterliegt, wobei das Individuum in ein Daten-Ich (Franko Aas 2004) zerlegt wird und das Verhalten vom Kontext seiner Geschichte abgelöst wird. Auf jeden Fall führt der Nachweis einer psychischen Störung zu einer höheren Risikoeinstufung: das Verhalten wird von seiner kontextuellen Bedeutung abgelöst, wodurch Schutzfaktoren oder Stärken, die gegen die schädlichen Verhaltensweisen wirken, nicht mehr wahrgenommen werden (McCulloch 2005; McNeill 2006; Stubner et al 2006).
8 Zur Konsistenz und Genauigkeit der Risikobewertung, wie sie in den Parole-Akten erkennbar wurde, siehe Fitzgibbon 2008.
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Da das Hauptaugenmerk der sozialen Arbeit, der psychiatrischen Dienste und der Bewährungshilfe nunmehr auf Risiko und Gefährlichkeit liegt (Gagliardi et al. 2004), wurden wohlfahrtsstaatliche Bedenken und klassische Sozialarbeit aus den Strafrechtsystemen verbannt (Oldfield 2002; Ryan 1998; Smith 2005; Smith/Vanstone 2002). Daher könnte man argumentieren, dass es eine der Konsequenzen dieses Wandels sei, dass Themen wie die Selbstschädigung und der Suizid im Rahmen der Praxis der Risikobewertung keine Priorität mehr haben oder überhaupt beachtet werden. Dies würde auch erklären, warum es gravierende Unterschiede in den Identifikationen von Personen mit psychischen und Drogenproblemen (Doppeldiagnosen) gab. Dies zeigte ein weiteres Mal die Fehlbarkeit der Anwendung des Bewertungsinstrumentes, gerade wenn es darum geht herauszufinden, wie Risiken minimiert und welchen Personen Hilfe angeboten werden müsste. Letztlich stützt die vorliegende Forschung die Annahme, dass die zunehmende Beschäftigung mit Risiken, der Druck, dass Entscheidungen getroffen werden müssen, die auch später noch zu rechtfertigen sind (Kemshall 2003), und die zunehmende Entmoralisierung der Praktiker oft zu einer negativen Risikobewertung führen (Sutherland 1992). So überrascht es kaum mehr, dass die Pläne zur vorzeitigen Entlassung bei psychisch gestörten Rechtsbrechen extrem restriktiv ausfallen und Themen wie Behandlung oder Rehabilitation kaum mehr eine Rolle spielen. Das Hauptaugenmerk bei der von mir untersuchten Gruppe, so hat es den Anschein, liegt darauf, sie in ihrem Freiraum einzuschränken, sowie auf einem hohen Maße an Überwachung. Sollte man sich jedoch ernsthaft für die Einbeziehung, Rehabilitation und Integration psychisch Kranker nach ihrer Haft engagieren wollen, so müsste eben diesen Aspekten in den Bewährungshilfeberichten mehr Aufmerksamkeit gezollt werden. Diese müssten auch in Modelle integriert werden, die sich in einem ganzheitlichen Sinn auf Stärke generierende protektive Faktoren beziehen (wie z.B. die Unterstützung durch die Familie, das Umfeld, eine Anstellung oder Bildungsprogramme). Diese Ansätze sollten in einer ausgeglichenen Balance gegenüber jenen stehen, die sich auf die Überwachung der antizipierten Risiken konzentrieren.
Fazit Dieser Beitrag hat unter Heranziehung verschiedener Studien gezeigt, wie psychisch kranke Straffällige in ihren Freiheiten beschränkt und vorausschauend kriminalisiert werden. Nicht etwa, weil sie gefährlich sind, sondern aufgrund ihrer gesundheitsspezifischen Problemlagen. Dieses führt, wie ich gezeigt habe, zu nachteiligen Risikobewertungen, die die Hilfe und Rehabilitation, die ihnen zu-
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steht, vehement einschränken. Mit dem Hinweis auf diese Punkte möchte ich Praktiker und Akademiker dazu ermutigen, derartige stereotype Annahmen zu hinterfragen und darüber hinaus realistische und effektive Interventionen für psychisch kranke Straffällige zu entwickeln.
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Die Gegenwart zukünftiger Erkrankungen. Prävention und die Person Matthias Leanza
Die historische Genese krankheitspräventiver Programmatiken und Handlungsformen ist durch ebenso viele Brüche gekennzeichnet wie sich spezifische Muster tradiert haben und Kontinuität erlangten. Fragt man in gegenwartsdiagnostischer Absicht nach dem „komplexen Faden der Herkunft“ (Foucault 1978: 89) der aktuellen präventiven Selbst- und Fremdsorge, wie sie durch das Gesundheitswesen in den letzten Jahren massiv forciert wurde, so sind daher auch recht heterogene Herkunftslinien zu nennen: Neben der Renaissance der antiken Diätetik zu Beginn des 18. Jahrhunderts und den etwa zeitgleich entstehenden Programmatiken einer medicinischen Policey, sind ebenso deren semantischen Interferenzen wie klaren Differenzen zur Bakteriologie und öffentlichen Gesundheitspflege zu Ende des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen, um so schließlich zum heutigen Public-Health-Sektor zu gelangen. Auf diese Weise lässt sich die Genese einer präventiven Sorge um die Gesundheit rekonstruieren, die bis in das Aufklärungsdenken zurückreicht und von dort ausgehend eine Reihe konzeptioneller wie normativer Verschiebungen erfahren hat. Eine solche Genealogie präventiver Wissens- und Praxisformen, die hier allenfalls angedeutet werden kann, hat die Genese der mit ihnen jeweils korrespondierenden Form der Person zu beachten. Denn der Modus, in dem Individuen innerhalb präventiver Diskurse thematisiert und in konkrete Maßnahmen als jeweils präventionsbedürftige Personen eingebunden werden, variiert ebenfalls. Der vorliegende Aufsatz fragt vor dem Hintergrund einer an Foucault und Luhmann1 orientierten Begrifflichkeit nach den Schemata der (Selbst-)Adressierung von Individuen als präventionsrelevante Personen im Kontext krankheitspräven1 Auch wenn keine Konvergenz oder Synthese dieser beiden Autoren und der mit ihnen verbunden Begriffsstrategien angestrebt wird, so kann dennoch von deren prinzipieller Anschlussfähigkeit ausgegangen werden (vgl. etwa Kneer 1997; Lichtblau 1999; Andersen 2003; Stäheli 2004; für eine eher kritische Einschätzung Reckwitz 1997). Für den vorliegenden Aufsatz ist zentral, dass Foucault und Luhmann Begrifflichkeiten entwickeln, die sich in ausreichender Distanz zu den Selbstbeschreibungsformeln des Gesundheitswesens befinden und sich dennoch für dessen Fremdbeschreibung eignen (vgl. dazu mehr II.).
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tiver Maßnahmen und Diskurse. Es interessieren die Regelmäßigkeiten und Muster, wie die Person semantisch konzeptualisiert sowie durch präventive Selbstund Sozialtechnologien in Beschlag genommen wird. Stets geht es um die Konfigurationen, „in denen bestimmte Modelle, das Subjekt zu denken, sich mit spezifischen Verfahren verbinden, es praktisch zu formen“ (Bröckling 2007a: 125). Dass und vor allem wie solche Personenschemata in den verschiedenen historischen Artikulationskontexten variieren, möchte ich anhand zweier Beispiele einleitend verdeutlichen. Dabei handelt es sich um die neohippokratische Medizin im 18. Jahrhundert sowie um die öffentliche Gesundheitspflege Rudolf Virchows zu Ende des 19. Jahrhunderts (I.). Daran anschließend wird im Zuge konzeptioneller Überlegungen zwischen einer sociology in und einer sociology of public health zu unterscheiden sein. Eine zentrale Konsequenz dieser Unterscheidung wird darin bestehen, dass gesundheitswissenschaftliche Studien für den vorliegenden Aufsatz weniger Bezugsliteratur denn vielmehr Analysegegenstand darstellen (II.). Schließlich sind grundlegende Merkmale der gegenwärtigen präventiven Personenkonstruktion herauszuarbeiten, wobei ein Schwerpunkt auf die divergierenden Risikozuschreibungen gelegt wird, die mit dieser einhergehen (III.).
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Krankheitsprävention als historisches Projekt
Mit Galens Interpretation der hippokratischen Diätetik und der von ihm formulierten Lehre von den sex res non naturales (im Einzelnen sind dies Licht und Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Wachen und Schlafen, Ausscheidungen, Gemütsbewegungen) wurde bereits in der Antike – also ca. um 400 v. Chr. bzw. 150 n. Chr. – ein Konzept von Gesundheit und Krankheit entworfen, welches trotz aller Statik gerade die Umweltabhängigkeit und damit auch Beeinflussbarkeit des menschlichen Organismus durch präventives Handeln betonte. Dieses diätetische Schema, das „seit dem Mittelalter mit astrologischen oder magischen Theorien vermischt und von einem religiösen Denken überformt“ (Sarasin 2001: 38f.) wurde, erfuhr durch neohippokratische Mediziner im 18. Jahrhundert nicht nur eine erneute Aufmerksamkeit, sondern auch eine abermalige Wende: „Eine neue Genauigkeit in der Beobachtung von Krankheitsverläufen, gepaart mit dem Glauben an die Heilkraft der Natur, und ein wieder akzentuierter pragmatischer Blick auf Klima, Wasser, Ernährung und Wohnort als Parameter von Krankheit und Gesundheit“ gaben den neohippokratischen Aufklärungsärzten in ihrer Absetzbewegung von mittelalterlichen Gesundheitslehren erneuten Mut für den Versuch, durch präventives Handeln den Gesundheitszustand von Individuen aktiv zu beeinflussen.
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Die 1797 publizierte Schrift Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern des Mediziners und Hofrates Christoph Wilhelm Hufeland kann in diese Denktradition verortet werden und zeigt auf anschauliche Weise die Spezifik eines diätetischen Zugangs zum Themenfeld von Gesundheit und Prävention. Die umfangreiche Abhandlung Hufelands weist neben einer medizinisch informierten Identifikation und Analyse lebensverlängernder bzw. -verkürzender Mechanismen einen stark praktisch-beratenden Charakter auf. Nichts weniger als die Formulierung von „Regeln der diätetischen und medizinischen Behandlung des Lebens, zur Verlängerung desselben“ (Hufeland 1797: VI) war das Anliegen der von Hufeland als Wissenschaftsdisziplin entworfenen Macrobiotic. Neben der Darlegung allgemein gültiger „Präservativmethoden“ (1797: 638), welche sich in Strategien der Vermeidung von gesundheitsschädlichen Einflüssen einerseits sowie der Abhärtung gegen diese andererseits unterteilen (vgl. 1797: 638ff.), wird zudem im Rahmen einer „individuelle[n] Diätetik“ (1797: 642) dazu angeregt, jeweils personenspezifische Krankheitsdispositionen zu erforschen und entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten (vgl. 1797: 642ff.). Nicht nur die individuelle „Architectur des Körpers“ sondern auch das „Clima, die Wohnung worinn man lebt“, die genossene Erziehung sowie Entwicklungen in der Kindheit und der Jugend („Zu frühzeitiges Anhalten zum Lernen oder Onanie, giebt Anlage zu Nervenschwäche“), wie schließlich die „erbliche Anlage“ (1797: 644) seien dabei zentral zu beachten. Ein Jahr später verfasst Immanuel Kant auf Veranlassung Hufelands hin einen ausführlichen Kommentar zu dessen ‚opus magnum’. Aus eigener Erfahrung berichtend gibt Kant zu bedenken, dass auch das „Athemziehen mit geschlossenen Lippen“ (Kant 1798:737) gerade beim ZuBett-Gehen und im Schlafe einen Beitrag zur Vorbeugung von Krankheiten leiste: „Die mittelbare Folge dieser löblichen Angewöhnung ist: daß das unwillkührlich abgenöthigte Husten, (nicht das Aufhusten eines Schleims als beabsichtigter Auswurf) in beyderley Zustande verhütet und so durch die bloße Macht des Vorsatzes eine Krankheit verhütet wird“ (1798:738).2 Kants wie Hufelands Ausführungen zeichnen sich dabei durch eine moralisch-sittliche Fundierung aus, geht es doch beiden um den Entwurf einer guten und richtigen – weil lebensförderlichen – Selbstführung: „Wäre ich doch so glücklich einen doppelten Zweck zu erreichen, nicht blos den Menschen gesünder und länger lebend, sondern auch durch das Bestreben dazu, besser und sittlicher zu machen!“ (Hufeland 1797: XIII) Obgleich die knapp einhundert Jahre später unter der Leitung des renommierten Mediziners und Sozialreformers Rudolf Virchow erarbeitete Festschrift Die Öffentliche Gesundheits- und Krankenpflege der Stadt Berlin ein im Ver2 Kants Aufsatz trägt dann auch den bezeichnenden Titel Von der Macht des Gemüths, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein.
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gleich zu Kant und Hufeland durchaus ähnliches Grundanliegen verfolgt, so ergibt sich doch ein im Ganzen deutlich anders strukturiertes Bild. Die Schrift bemüht sich zwar auch darum, einen Beitrag zur Anhebung des allgemeinen Gesundheitsniveaus zu leisten und entsprechende – zum großen Teil krankheitsvorbeugende – Handlungsstrategien durch die Bereitstellung zuverlässigen Wissens zu fundieren. Jedoch sind die Untersuchungs- und Vorgehensweisen, der Stil und die veranschlagten Maßnahmen deutlich andere. Weniger an der Kunst einer sittlich-diätetischen Selbstführung ist es Virchow gelegen, als vielmehr an der Erarbeitung eines minutiös dokumentierenden Manuals für Politiker, Mediziner und Stadtbeamte; weniger die Problematisierung kleinster individueller Angewohnheiten steht im Mittelpunkt seines Interesses, als vielmehr die Bewegung der Bevölkerung, der hygienische Zustand des städtischen Raumes sowie die Infrastruktur des kommunalen Gesundheitswesens. Neben einem reichhaltigem kartografischen Material, welches die Konstruktionsweise von Gullies und Revisionsbrunnen der städtischen Kanalisation erläutert oder die architektonische Struktur des Zentralvieh- und Schlachthofes in ihren Grundrissen skizziert, finden sich auch zahlreiche Statistiken, die allein schon optisch durch ihr Detaillierungsniveau den Eindruck verlässlicher Dokumentation wie Vergleichbarkeit suggerieren. Von der Niederschlagsmenge und der relativen Luftfeuchtigkeit, dem Grundwasserstand und der Bodenbeschaffenheit über städtebauliche Maßnahmen und den Krankenhausbau, den Geburten- und Sterberaten bis hin zu der Anzahl männlicher und weiblicher Gäste in den öffentlichen Badeanstalten (Virchow 1890) informiert das Manual über alles, was für eine öffentliche Gesundheits- und Krankenpflege gerade auch im Hinblick auf die politische Implementierung präventiver Maßnahmen von Relevanz zu sein scheint. Virchow greift damit wichtige Elemente der um eine ‚gute Ordnung’ im staatlichen Gemeinwesen bemühten medizinischen Policey des 18. Jahrhunderts auf (vgl. für diese Foucault 2003a). Daher sind der bevölkerungspolitische Zugang und die Diäetik der neohippokratischen Medizin weniger als zeitlich aufeinander folgende und sich ablösende Paradigmata zu verstehen, denn vielmehr als historisch parallel verlaufende Präventionsregime. Die angeführten Beispiele demonstrieren nicht nur die Vielgestaltigkeit präventiver Strategien der Krankheitsvermeidung. Vielmehr zeigen sie auch, wie unterschiedlich die Formen der Adressierung und der Einbindung von Personen im Kontext solcher medizinisch und gesundheitspolitisch veranschlagten Interventionen ausfallen können. Wird das eine Mal die individuelle Lebensweise mitsamt allen scheinbar noch so unbedeutenden Körperregungen unter der Lupe einer moralisch-sittlichen Problematisierung großformatig betrachtet, so erscheint das andere Mal die Person lediglich als ein Atom innerhalb des Bevölkerungskörpers, deren statistisch erfasstes Gesundheitsniveau durch administrative
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Maßnahmen – wie den Ausbau einer funktionierenden Kanalisation – angehoben werden soll. Wird also auf der einen Seite eine spezifische Form der Lebensführung entworfen, für welche gerade die Problematisierung des individuellen Details – wie etwa der eigenen Schlafgewohnheiten – von Bedeutung ist, so steht auf der anderen Seite ein bevölkerungspolitischer Zugriff, der sich für die einzelne Person nur insoweit interessiert, als dass sie gefährdetes und mitunter auch gefährdendes Mitglied einer zu schützenden Population darstellt. Quer zu den genealogisch herauszuarbeitenden Diskontinuitäten – gerade auch in Hinblick auf die Konstruktion der Person – formiert sich durch die verschiedenen historischen Artikulationskontexte hindurch ein Denk- und Handlungsschema, welches „nur negativ, als Kunst, Krankheiten abzuhalten“ (Kant 1798: 17), funktioniert. Anders als Planung, die positive Ziele definiert, auf die es hinzuarbeiten gilt, will Prävention „nichts schaffen, sie will verhindern“ (Bröckling 2008a: 24). Unter den Vorzeichen von Prävention setzt noch vor jeder manifesten Erkrankung eine Sorge um die eigene oder fremde Gesundheit ein und motiviert zu entsprechenden Gegenmaßnahmen. Prävention meint eine Sorge um etwas, das noch nicht geschehen ist und auch nicht geschehen soll – aber könnte. Genau um die Kontrolle dieser Grenze, an welcher der mögliche Schadensfall in das aktuelle Hier und Jetzt einzubrechen droht, geht es, wenn von Prävention die Rede ist. Prävention etabliert einen spezifischen Umgang mit der Kontingenz der Zukunft, die nunmehr als Bedrohung und Gestaltungsspielraum wahrgenommen wird. Die Offenheit und Nicht-Berechenbarkeit zukünftiger Ereignisse und Zustände wirken dabei ebenso bedrohlich, wie sie allererst auch die Voraussetzung präventiver Gegenmaßnahmen darstellen (vgl. Bröckling 2008b: 47).3 Auch wenn eine solche, präventiv an- und einsetzende Gesundheitssorge auf eine mehr als zweihundertjährige Geschichte zurückblicken kann, so handelt es sich bei ihr dennoch um eine historisch wie auch regional situier- und eingrenzbare Form. Nicht in allen historischen Epochen und Weltregionen scheint es plausibel, gar denkbar (gewesen) zu sein, der eigenen oder fremden Gesundheit im Modus der Prävention zu begegnen. Zwar antizipiert – wie latent auch immer – jedes psychische Wahrnehmen und Denken sowie jede soziale Kommunikation in ihrem jeweils aktuellen Vollzug (noch) nicht verwirklichte Möglichkeiten, um diese dann selektiv zu realisieren. Dennoch ist dieses stetige Mitführen „appräsentierte[r] Möglichkeiten“ (Luhmann 1980: 18), welches jedes 3 Präventive Strategien sind aber nicht auf das Feld der Medizin und Gesundheit beschränkt, sondern sie formieren „einen übergreifenden Modus des Zukunftsmanagements zeitgenössischer Gesellschaften“ (Bröckling 2008b: 47) – man denke nur an die Kriminalitätsprävention. Eine umfassende Analyse von Prävention müsste somit die volle thematische Breite eines ganzen „Präventionsdispositivs und sein Diffundieren in die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche“ (ebd.) rekonstruieren.
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sinnhafte Geschehen begleitet und zu einer „laufende[n] Selektion des nächsten Schrittes in einem mehr oder weniger konkret apperzipierten Kontext anderer Möglichkeiten“ (1980: 35) zwingt, noch nicht auf die Form der Prävention festgelegt. Prävention ist zwar umgekehrt auf die sich stets in der aktuellen Gegenwart ereignende Antizipation zukünftiger Gegenwarten angewiesen, weshalb die Sinnhaftigkeit des Erlebens und des Handelns eine notwendige Voraussetzung von Prävention darstellt. Dennoch muss die unhintergehbare Sinnhaftigkeit sozialer und psychischer Prozesse nicht zu Prävention führen. Denn diese meint einen systematischen Versuch noch nicht eingetroffene und als negativ bewertete Ereignisse bzw. Zustände durch ebenso aktives wie konstantes Handeln zu vermeiden. Prävention erweist sich vielmehr als eine Form des Umgangs mit Sinn und Kontingenz, die als hochgradig unwahrscheinlich gelten kann – hochgradig unwahrscheinlich, weil sie nicht nur individuelle wie soziale Langsicht und Kontrolle voraussetzt, sondern weil sie auch auf die systematische Produktion von Wissen und deren Verbreitung angewiesen ist: „Vorsorgepraktiken sind vermutlich so alt wie die Menschheit, doch kommen Schutzvorkehrungen gegen Angreifer oder wilde Tiere, das Anlegen von Nahrungsvorräten oder Opferrituale, welche die Götter günstig stimmen und so Schaden abwenden sollen, noch ohne systematische Datenerhebung, Ursachenforschung und Prognostik, ohne minutiöse Steuerungsprogramme und Planbarkeitsutopien aus, wie sie das Zeitalter der Prävention kennzeichnen“ (Bröckling 2008b: 40).
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Perspektivverschiebung: Für eine Sociology of Public Health
Betrachtet man die sozialwissenschaftliche Forschung zum Themenfeld der Prävention, so lässt sich ein breiter Strang sozialmedizinischer und gesundheitswissenschaftlicher Zugangsweisen und Untersuchungen feststellen. Kennzeichnend für diese ist das Interesse an der „Erforschung der individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen von Gesundheit und Krankheit“ (Hurrelman/Laaser/Razum 2006: 13). Neben gesundheitsökonomischen Modellbildungen wird ein starker Fokus auf die Entstehung, Ausdehnung und Zusammensetzung von Risikogruppen, die Erarbeitung von allgemeinen Programmen der Krankheitsprävention und der Gesundheitsförderung, wie schließlich die Entwicklung milieu- oder risikogruppenspezifischer Interventionsstrategien gelegt. Den Sozialwissenschaften kommt dabei in dem interdisziplinär fundierten Forschungsfeld mitunter gar eine Schlüsselrolle zu, erlauben sie doch „innovative research on the many ways in which socioeconomic status, region and location, gender, age, and other social structural properties determine risks of ill health“ (Albrecht/Fitzpatrick/Scrimshaw 2000: 4). Gerade weil sich die Gesundheitswissenschaften von einer rein indivi-
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dualmedizinischen Betrachtung von Gesundheit und Krankheit abgrenzen, werden krankheitsverursachende oder zumindest -fördernde Sozialstrukturen als Untersuchungsgegenstand relevant (vgl. Badura/Iseringhausen/Strodtholz 2006). Hurrelmann (2003) entwirft vor diesem Hintergrund eine eigenständige Gesundheitssoziologie, die sich mit den „Gesundheitsverhältnissen“ befasse. Darunter werden alle sich auf die Gesundheit bzw. Krankheit von Personen auswirkenden Sozialstrukturen subsumiert – dies können Arbeitsplatzverhältnisse, kommunale Lebensräume oder die medizinische Versorgungsdichte und -qualität sein –, übten diese sozialen Settings doch einen „starken Einfluss auf das individuelle Gesundheitsverhalten aus“ (2003: 13). Die Gesundheitssoziologie, die als integraler Bestandteil der Gesundheitswissenschaften und zugleich als ein Teilgebiet der Soziologie konzeptualisiert wird, sei dabei als eine „veränderungsorientierte Wissenschaftsdisziplin“ charakterisierbar, die „über die Bestandsanalyse hinaus optimierende Veränderungen der Bedingungsfaktoren im Gesundheitssystem und in den gesundheitsrelevanten Bereichen anderer gesellschaftlicher Teilsysteme wissenschaftlich abzuleiten“ (2003: 14) versuche. Zwei der zentralen und sich komplementär zueinander verhaltenden Strategien sieht Hurrelmann dabei mit der Gesundheitsförderung sowie der Krankheitsprävention gegeben. Beschäftige sich erstere – als sogenannte ‚Verhältnisprävention’ (vgl. 2003: 153) – mit der im weitesten Sinne politischen Intervention in die Gesundheitsverhältnisse, wodurch eine „indirekte Beeinflussung des Gesundheitsverhaltens möglich ist“ (2003: 17), so bemühe sich die Krankheitsprävention „direkt um eine Verbesserung des Gesundheitsverhaltens“ (2003: 197) von Individuen. Daher werden für letztere gesundheitspädagogische Zugänge – wie etwa partizipative und auf Empowerment bedachte Erziehungs- und Schulungsstrategien – relevant, da solche „eine Verinnerlichung des Wissens und einen Übergang der vermittelten Informationen in die Selbststeuerung des Individuums“ (2003: 17) erlaubten. Die Gesundheitswissenschaften und insbesondere die hier exemplarisch herausgestellte Gesundheitssoziologie Hurrelmanns integrieren somit die eingangs angeführten und zunächst einmal gegenläufigen Strategien der am individuellen Verhalten einerseits (Hufeland, Kant) sowie an der Bevölkerung und dem öffentlichen Raum andererseits (Virchow) ansetzenden Präventionsformen. Dennoch sollte diese Integration keinesfalls als einfache Addition oder Synthese verstanden werden, gehen mit ihr doch auch neue Verschiebungen einher. Auch wenn sich u.a. die Kritik an einer kurativen Individualmedizin, die Ergänzung von Selbstkontrolle durch Überwachung und die systematische Produktion gesundheitsrelevanten Wissens, als wichtige Kontinuitätslinien herausstellen lassen, so dürfen wichtige Veränderungen nicht unerwähnt bleiben: Die sich mit Komplexität stetig anreichernden statistischen Verfahren und Untersuchungsdesigns
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(vgl. am Beispiel Deutschlands Weiß 2005), die stärkere Fokussierung und Adressierung der gesamten Bevölkerung im Hinblick auf alle Lebensbereiche4 sowie die durch partizipative Pädagogik und Empowerment informierten Strategien der Verhaltensbeeinflussung (vgl. Hurrelmann 2003: 208ff.; Bröckling 2008c) heben die Systematik wie die Zugriffsdichte präventiver Interventionen auf ein qualitativ neues Niveau und sind daher als zentrale Verschiebungen zu markieren. Noch viel entscheidender ist jedoch, dass die Gesundheitswissenschaften mit ihrem Gegenstandsbereich ein „Plausbilitätskontinuum“ (Kieserling 2004: 59) teilen bzw. an einem gemeinsamen „Rationalitätsfeld“ (Foucault 2006: 72) partizipieren. Diese – wenn auch zum Teil kritische – Loyalität und Bindung der Gesundheitswissenschaften an das Gesundheitswesen manifestiert sich nicht nur in ihrem Normativismus, sondern wird auch deutlich in der Art und Weise Forschungsfragen zu stellen, Probleme zu identifizieren, um sie dann mittels spezifischer Lösungsstrategien zu bearbeiten. Gesundheitswissenschaftliche Studien produzieren mit ihren Fragestellungen und Begrifflichkeiten Forschungsergebnisse – etwa bzgl. Risikogruppen und risikogruppenspezifischer Interventionsstrategien –, die im Public-Health-Sektor anschlussfähig sind und liefern Modelle, wie die Person in die anvisierten Präventionsmaßnahmen zu inkludieren ist. Die Übernahme von Definitionen und Zielvorstellungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellt hier nur den auffälligsten Beleg dar (so bei Diesfeld 2006: 21; Hurrelmann 2003: 7). In Analogie zur inzwischen klassischen Unterscheidung von Robert Straus zwischen einer „sociology of medicine“ und einer „sociology in medicine“ (Straus 1957: 203), wobei „on the one hand the sociologist stands apart and studies medicine as an institution or behavior system; on the other hand he is collaborating with the medical specialist in trying to help him in the performance of his educational or therapeutic functions“ (1957: 203), kann hier zwischen einer sociology in public health und einer sociology of public health unterschieden werden. Während die Gesundheitssoziologie, so wie sie von Hurrelmann konzeptualisiert wird, der ersten Form von Analyse zugeordnet werden muss, so möchte ich hier eine inkongruente Perspektive einnehmen. Eine solche Sichtweise versucht Prävention und den Public-Health-Sektor einer Analyse zu unterziehen, ohne hierfür auf normative Setzungen und kognitive Schlüsselkonzepte zurückzugreifen, die im Gegenstandsbereich selbst eine praxislei4 So ist etwa bei Virchows öffentlicher Gesundheitspflege noch eine starke Fokussierung auf den Bereich der Armenfürsorge zu erkennen. Ebenso standen bei der ‚Old Public Health’ zu Beginn des 20. Jahrhunderts „gesundheitlich unterversorgte und sozial benachteiligte Teilgruppen der Bevölkerung … im Zentrum des wissenschaftlichen Bemühens“ (Hurrelmann/Laaser/Razum 2006: 16). Es kann daher ein Generalisierungsprozess in der Sozialdimension möglicher Adressaten präventiver Maßnahmen konstatiert werden.
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tende Funktion übernehmen (wie etwa das Konzept der Risikofaktoren). Anstelle der Frage nachzugehen, welche Risikogruppen und -Personen empirisch ausfindig gemacht werden können, soll gefragt werden wie mit einem Risiko versehende Personen durch diskursive Rationalitäten sowie Selbst- und Sozialtechnologien allererst hergestellt werden. Es kann gerade nicht vorausgesetzt werden, dass es schon vor jeder sozialen ‚Konstruktion’ mit einem Krankheitsrisiko behaftete Personen gibt, denen Prävention als ebenso willkommene wie evidente Handlungsstrategie erscheint. Die zentrale Konsequenz einer solchen Vorgehensweise besteht darin, dass für eine sociology of public health die Gesundheitssoziologie – verstanden als eine sociology in public health – von der Analyse- auf die Objektseite hinüber wandert. Sie muss fortan als „soziologisch angereicherte Selbstbeschreibung der Medizin und des Gesundheitswesens“ (Bauch 2006: 13) angesehen und damit als dem Gegenstandsbereich zugehörig begriffen werden. Die Gesundheitswissenschaften erweisen sich in dieser Perspektive als ein wichtiger Entstehungs- und Artikulationskontext der gegenwärtigen Form einer präventiven Gesundheitssorge. Sie produzieren ein Wissensfeld, das durch spezifische Schemata und Aussagen intern Struktur gewinnt und zugleich an Praktiken der Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung gekoppelt ist oder zumindest zu deren Realisation motiviert. Der gesundheitswissenschaftliche Präventionsdiskurs führt eine Reihe von Themen und Gegenständen ins Feld, die mit einer auf jene abgestimmten Begrifflichkeit belegt werden, etabliert Wahrheiten, deren Evidenz unbestreitbar scheint, und skizziert nicht zuletzt praktische Implikationen, die ihrer Umsetzung harren (vgl. Foucault 2005: 48ff.; Deleuze 1992: 9ff.). Von der Vorsorgeuntersuchung beim Hausarzt, über gesundheitsförderliche Lebensstile und die Gesundheitsaufklärung in der Schule bis hin zu sozial- und gesundheitspolitischen Entscheidungen wird immer auch auf einen spezifischen Rationalitätstypus Bezug genommen, vor dessen Hintergrund die veranschlagten Präventionsmaßnahmen überhaupt erst als sinnvolle und wünschenswerte Handlungsstrategien denkbar werden. Prävention formiert ein soziales Kraftfeld, welches einen Sog aus Selbstverständlichkeiten, Pflichten und Versprechungen erzeugt und dessen Macht nicht zuletzt darin besteht, „den Menschen eine Wahrheit über sich, über die Logik ihres Handelns und ihrer sozialen Beziehungen zu vermitteln“ (Bröckling 2007b: 14). Auch wenn sicherlich die konkreten Praktiken der Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung nicht mit dem Diskurs über diese zu verwechseln sind, so bleiben erstere stets auf ein spezifisches Wissen, einen „semantischen Apparat“ (Luhmann 1980: 19) angewiesen, welcher sie informiert, motiviert und legitimiert. Von Interesse ist demzufolge das „den Praktiken immanente Wissen“ (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004: 10), welches in den Texten der Gesundheitswissenschaften, aber auch in
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der thematisch einschlägigen Ratgeberliteratur sowie in Aufklärungsbroschüren, Zeitschriftenartikel, gesundheitspolitischen Programmatiken etc. in verdichteter Form aufscheint und die „soziale Grammatik der Vorbeugung“ (Bröckling 2008b: 38) sichtbar werden lässt. Wenn somit die diskursiven bzw. semantischen Muster und Regelmäßigkeiten, vor deren Hintergrund Vorsorgepraktiken überhaupt erst Plausibilität und Relevanz erlangen, in den Blick genommen werden sollen, dann ist stets zu beachten, dass über die Kontextualisierung dieser Schemata noch keine Aussage getroffen wird. Die konkrete Realisierung der in der gegenwärtigen Präventionssemantik skizzierten Möglichkeiten wird in verschiedenen Situationen und Systemkontexten auch stets unterschiedlich ausfallen, ebenso wie auch sprachlichsyntaktische Regeln die konkreten Sprechakte noch nicht genau vorherbestimmen, gleichwohl sie den Raum für situative Variationen limitieren. Die Präventionssemantik lässt sich in diesem Sinne als eine soziale Syntax konzeptualisieren, die Schemata und Möglichkeiten bereithält, welche in einer Vielzahl von Kontexten anschlussfähig sind und als (implizites) Entscheidungs- und Handlungsprogramm Verwendung finden. Ob im Medizinsystem, der Gesundheitspolitik, der Wissenschaft, in der Erziehung oder nicht zuletzt auf der Ebene individueller Lebensstile zeigt die aktuelle Semantik der Prävention Möglichkeiten auf und generiert zugleich Präferenzen für spezifische Selektionen. „Semantiken sind Sinnstrukturen, die Bestimmtes wahrscheinlich, wenn nicht gar gewiß werden lassen.“ (Holz 2001: 40) Jedoch schließen die verschiedenen Systemkontexte aus der ihnen jeweils eigenen Perspektive an diese Semantik an und verwenden sie für sehr unterschiedliche Zwecke. So kann Prävention dazu anhalten, medizinische Befunde im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen einzuholen, politische Entscheidungen mit Legitimität zu versorgen, wissenschaftliche Forschungsvorhaben anzuleiten, erzieherisch auf Kinder und Jugendliche einzuwirken, organisationale Entscheidungsabläufe und Mitgliedschaftsrollen zu gestalten sowie schließlich auf der Ebene psychischer Systeme die Selektivität der personalen Selbststeuerung zu orientieren. Ebenso wie jedes andere Wissen auch stellt die Präventionssemantik lediglich „eine frei flottierende Erwartungsqualität“ dar, „die sich weder ausdifferenzieren noch einem besonderen System zur ausschließlichen Nutzung zuweisen läßt“ (Luhmann 2005: 147). Es handelt sich bei ihr um „ein plausibles Kommunikationsschema, das seitens verschiedener systemischer Kontexturen zu Plausibilisierungszwecken genutzt werden kann“ (Vogd 2005: 259; vgl. auch Hafen 2005: 234ff.) und zugleich an eine Reihe nicht kommunikativer Handlungen – wie etwa an medizinische Untersuchungen oder Ernährungsgewohnheiten – gekoppelt ist (vgl. zum Zusammenhang von Semantik und Programmierung Luhmann 1987: 19f.; Holz 2001: 41ff.).
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Zugleich werden innerhalb dieses präventiven Rationalitätsfeldes stets auch schematisierte – d.h. in unterschiedlichen Zusammenhängen spezifizierbare – Konzepte der Person und deren Einbindung in die anvisierten Präventionsmaßnahmen entworfen. Die gesundheitswissenschaftliche Präventionssemantik führt eine Form der Person bzw. einen Subjekttypus ins Feld, mit dessen Hilfe die Inklusion in soziale Kontexte – wie etwa das Medizin- oder Erziehungssystem – angeleitet wird und auf der psychischen Ebene der Selbstwahrnehmung und -steuerung präventive Alltagspraktiken mit Plausibilität versehen werden. Systemtheoretisch meint Inklusion dabei kein Inkorporationsverhältnis, sondern lediglich den Vorgang, dass Individuen als Mitteilungshandelnde oder Adressaten von Kommunikation sozial in Erscheinung treten. Daher bezeichnet der Begriff der Person auch keine leibhaftigen Menschen, sondern lediglich eine kommunikative Adresse, die es aber „den psychischen Systemen, am eigenen selbst zu erfahren“ ermöglicht, „mit welchen Einschränkungen im sozialen Verkehr gerechnet wird“ (Luhmann 1995: 153f.; Fuchs 1997) Im Folgenden interessieren diejenigen diskursiven Regelmäßigkeiten, die sich auf die Person beziehen und sie auf spezifische Weise modellieren.
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Achsen der präventiven Personenkonstruktion
Bei der Rekonstruktion zentraler Strukturmerkmale der präventiven Person stehen weniger die historischen Präventionssemantiken, als vielmehr die gegenwärtige im Public-Health-Sektor verbreitete Form einer – ‚Verhaltens-’ und ‚Verhältnisprävention’ integrierenden – präventiven Gesundheitssorge im Zentrum. Neben ihrem integrierenden Charakter zeichnet sich diese durch ihre soziale Inklusivität aus: Niemand soll sich ihren Zielvorstellungen und Ratschlägen entziehen. Ebenso universell ist daher auch die Konzeption der Person, werden doch nicht nur bestimmte Schichten oder Milieus angesprochen, wie es noch bei ‚Old Public Health’ vorgesehen war. Im Folgenden werden drei basale Achsen der präventiven Personenkonstruktion herausgearbeitet: Es ist davon auszugehen, dass die präventive Person stets a) in einem Feld aus Risikozurechnungen situiert wird, b) Gegenstand einer systematischen Wissensproduktion darstellt sowie nicht zuletzt c) Grenzmarkierungen ihre individuelle Handlungsmacht ausloten.
Subjekt/Objekt riskanter Entscheidungen Die erste darzustellende Grundstruktur bezieht sich auf die mit Prävention einhergehende Verschiebung in der Bestimmung der Krankheitsursache sowie der
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damit verbundenen Zurechnung von Verantwortlichkeit. Denn wenn es möglich ist und zugleich als zumutbar erscheint, durch präventive Maßnahmen vor Krankheit zu schützen, dann wird im Erkrankungsfall derjenigen Instanz zumindest eine Mitverantwortlichkeit zugesprochen werden müssen, welche diese Möglichkeit nicht genutzt hat. Unter den Vorzeichen von Prävention wird das Entstehen einer Krankheit nicht mehr lediglich als eine Gefahr begriffen, als etwas, das geschehen kann und mit dem ein Umgang gefunden werden muss. Krankheit wird nunmehr immer auch auf riskante Entscheidungen rückführbar (vgl. Bröckling 2004: 212; Fuchs 2008: 367f.). Denn das Entstehen einer Erkrankung hätte aufgeschoben, vermieden oder anderweitig abgeschwächt werden können, wenn rechtzeitig präventiv gegengesteuert worden wäre. „Zunächst ergibt sich also die Zunahme von Risiken aus der Zunahme von Entscheidungsmöglichkeiten und speziell aus der Zunahme von Gefahrenabwendungsmöglichkeiten.“ (Luhmann 1993: 328) Wenn die Ursächlichkeit für das Eintreten eines Schadensfalles auf die Umwelt des betroffenen Systems zugerechnet wird, welches das negative Ereignis nunmehr erlebt, dann kann in Anschluss an Luhmanns Risikosoziologie (2003) von einer Gefahr gesprochen werden. Wird dieses hingegen auf das System und dessen Handeln attribuiert, dann liegt ein Risiko vor. Zentral ist dabei, dass sich diese Attribution nicht eindeutiger Kriterien verdankt. Vielmehr liegen ihr spezifische Normalitätsvorstellungen zugrunde, die kontingenter Natur sind. Es ist davon auszugehen, dass „die Zuordnung zu Risiko oder Gefahr eine Frage der Konstruktion ist, für die es keine objektiv zwingenden Kriterien gibt … Man kann es als eine Gefahr ansehen, wenn man mit Erdbeben, Überschwemmungen oder Wirbelstürmen zu rechnen hat; aber auch als Risiko, wenn man die Möglichkeiten berücksichtigt, aus dem gefährdeten Gebiet wegzuziehen oder wenigstens eine Versicherung abzuschließen.“ (Luhmann 1996: 40). Genau diese „objektive Unbestimmtheit der Kategorisierung“ (1996: 40) öffnet einen Raum für unterschiedliche Zurechnungspraktiken. Der mit Prävention verbundene Rationalitätstypus kann als eine diskursive Strategie verstanden werden, die nunmehr das Auftreten von Krankheiten auf riskante Entscheidungen zurechnet und daher stets die Frage stellt, welche Vermeidungsmöglichkeiten offen gestanden hätten. Es lassen sich zwei Strategien identifizieren, wie die Person im Rahmen solcher Risikoarrangements positioniert wird. Die erste Form lokalisiert das Risiko im individuellen Fehlverhalten und formuliert gesundheitsförderliche Regeln der Lebensführung, die der drohenden Krankheit entgegenarbeiten sollen. Die Problematisierung individueller Lebensstile und Alltagspraktiken, die in gesundheitsförderliche umzuwandeln seien, geht zugleich mit medizinethischen Debatten um Eigenverantwortung einher. Dies ist z.B. in der gesetzlichen Kran-
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kenversicherung (etwa im Rahmen der Bonusregelung beim Zahnersatz oder der sogenannten Chronikerregelung, welche bei chronisch erkrankten Patienten die Belastungsgrenze für anfallende Kosten festsetzt) schon länger Realität. Denn hier wird Vorsorge und prospektive Eigenverantwortung zur Bedingung, um im Krankheitsfall den vollen Zuschlag zu erhalten. Dadurch wird eine Verschiebung der Versicherungsrationalität von einem dekommodifizierten, durch ein Solidarprinzip legitimiertem Modell hin zu einer „versicherungsmathematischen Gerechtigkeit“, welche „hohe Risiken mit hohen und geringe Risiken mit geringen Tarifen belegt (Risikogleichheit bzw. Homogenität)“ (Schmidt-Semisch 2000: 170), vollzogen. Diese Tendenz, die sich nicht nur im Bereich des Gesundheitswesens findet, kann als Vorschub einer neoliberalen, das Individuum als Unternehmer seiner selbst5 anrufenden Rationalität verstanden werden: „Der ‚Arbeitsunwillige’, der Raucher, der Übergewichtige (und viele mehr), sie alle werden tendenziell zu Präventionsverweigerern, die ihre unnötigen, weil vermeidbaren Schäden selbst verursacht haben, und damit schließlich zu (Sozial-) Versicherungsbetrügern“ (ebd.: 178). Dort wo Prävention möglich ist sowie als zumutbar behandelt wird, ist es fortan riskant, diese ‚Chance’ nicht zu nutzen. Es kann allerdings noch eine andere – und zunächst einmal gegenläufige – Strategie der Risikolokalisierung ausfindig gemacht werden. Das Risiko kann nämlich auch auf soziale Institutionen und Verhältnisse – wie etwa auf ungenügende hygienische Bedingungen oder einer mangelnde Aufklärung im Bereich der HIV-Prävention – zurückgeführt werden. So mahnt die U.S.-amerikanische NGO AIDS Coalition to Unleash Power – kurz ACT UP – in ihrem Global Manifesto an: „Political authorities have preferred to neglect public health, taking for granted the exorbitant cost of treatment, refusing to implement measures necessary for the strenthening of health systems, and prohibiting countries from setting up local medication production or from importing treatments essential for the survival of their populations.“ (ACT UP 2000: 1) Neben der unzureichenden Versorgung von Aids-Kranken, etwa aufgrund teurer und patentierter Medikamente, die eine Vollinklusion aller erkrankten Personen ins Medizinsystem verhindere, wird auch auf die mangelnde Prävention mittels generischer Medikamente verwiesen, welche den Ausbruch der Krankheit bei bereits HIVInfizierten, aber noch nicht Aids-Erkrankten verhindern könnten (vgl. ebd.). Prä5 Das unternehmerische Selbst kann in Anschluss an Foucaults Studien zur Gouvernementalität als eine u.a. durch Eigenverantwortlichkeit, rationalem Kalkül aber auch Kreativität gekennzeichnete Form der Regierung des Selbst und der Führung Anderer verstanden werden. Die Geschichte dieser Subjektivierungsform ist durch einen Diffusionsprozess gekennzeichnet, d.h. sie löst sich im Verlauf ihrer Genese aus dem engeren ökonomischen Kontext heraus und kommt nunmehr in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären als „Inklusionsfigur“ (Bohn 2006) – also als eine Form wie Individuen als Person adressiert werden und sozial Relevanz erlangen – zum Einsatz (vgl. zur Genealogie dieser Subjektivierungsform Bröckling 2007b).
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vention muss also nicht zwangsläufig mit einer auf das Individuum und seiner unternehmerischen Selbstverantwortung zielenden Risikozurechnung einhergehen. Auch wenn dieser Strang des Präventionsdiskurses aktuell dominant sein mag, so können in seinem Rahmen ebenso gesellschaftliche Institutionen sowie politische Akteure für ihre Entscheidungen, die dann andere Personen negativ betreffen, kritisiert und zu Protest gegen diese angeleitet werden (vgl. auch die Ottawa Charta der WHO von 1986). Versteht man unter Protest „Kommunikationen, die an andere adressiert sind und deren Verantwortung anmahnen“ (Luhmann 2003: 135), so können vor allem die für andere Personen riskanten Entscheidungen von Pharmaunternehmen, der Gesundheitspolitik oder einer nach Profitinteressen geleiteten medizinischen Forschung kritisiert werden. Es entsteht dann eine Form von Protest, die durch die „Ablehnung von Situationen, in denen man das Opfer des riskanten Verhaltens anderer werden könnte“ (Luhmann 2003: 146), zentral gekennzeichnet ist. Die Person wird im Rahmen solcher Risikokalküle als Subjekt/Objekt von riskanten Entscheidungen konzipiert. Einerseits muss die Person für ihre nunmehr als riskant beschriebenen Alltagspraktiken die Verantwortung tragen, andererseits werden die riskanten Entscheidungen anderer, denen sie als Gefahr ausgesetzt ist, problematisiert und evtl. zu explizitem Protest gegen diese animiert. Auch wenn beide Formen der Problematisierung zunächst konträr ansetzen und sich partiell auch gegen einander ausspielen lassen, so werden sie nicht zuletzt durch die aktuell existierenden Gesundheitswissenschaften mit ihrer Doppelstrategie aus der am Individuum ansetzenden ‚Verhaltensprävention’ und der auf die sozialen Strukturen zielenden ‚Verhältnisprävention’ (etwa im Rahmen des Setting-Ansatzes) zusammengehalten.
Wissen und Nicht-Wissen Der problematisierende Charakter der Präventionssemantik erzeugt einen Handlungsdruck, denn das als problematisch Erkannte muss verändert werden. Damit aber – etwa durch massenmediale Aufklärungskampagnen, Gesundheitsschulungen durch die Krankenkassen oder gesundheitspolitische Interventionen – Präventionsmaßnahmen überhaupt implementiert werden können, muss zuvor ein Wissen über die Möglichkeiten präventiver Interventionen generiert werden. „Ohne Ätiologie keine Prognostik, ohne Prognostik keine Prävention. Vorbeugung impliziert daher systematische Wissensproduktion.“ (Bröckling 2002: 45f.) Gerade weil die Zukunft kontingent ist, und diese Offenheit sowohl als Bedrohung wie Gestaltungsspielraum wahrgenommen wird, kommt der Produktion eines Wissens über Krankheitsursachen, Erkrankungswahrscheinlichkeiten, der
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Verbreitung von Risikogruppen und -milieus sowie wirksamen Präventionsmaßnahmen, auf dessen Grundlage überhaupt erst die Unwägbarkeiten der Zukunft in den Griff zu bekommen sind, ein zentraler Stellenwert zu. Die Genese von Wissen ist eine notwendige Bedingung für Prävention, wobei diese selbst wiederum neues Wissen etwa bezüglich der Verbreitung bestimmter Lebensstile oder aber der eigenen genetischen Dispositionen hervorbringen kann. Es lassen sich daher vielfältige Formen und Strategien der Wissensproduktion im Rahmen von Prävention auffinden: Neben klinischen Studien über Krankheitsmechanismen und -ursachen sowie sozialepidemiologische Untersuchungen über die soziale Verbreitung von gesundheitsabträglichen Lebensweisen, wie sie etwa das Robert-Koch-Institut in seinen repräsentativen Telefonsurveys für die deutsche Bevölkerung kontinuierlich durchführt, werden auch individuelle Vorsorgeuntersuchungen beim Hausarzt relevant, die ein personenspezifisches Wissen produzieren.6 In Pilotstudien werden immer wieder neue Möglichkeiten der Vorsorgeuntersuchung sondiert, evaluiert und schließlich deren Verbreitung vorangetrieben, wie dies in den letzten Jahren etwa im Bereich prädiktiver Gen-Diagnostik von Brust- und Eierstockkrebs der Fall gewesen ist (vgl. zur Nieden 2005). Hier werden Frauen aus sogenannten Risikofamilien nach spezifischen Genmutationen untersucht, von denen angenommen wird, dass bei einem positiven Befund ein erhöhtes Krankheitsrisiko vorliegt. Die präventive Logik des Vor-Sorgens verdichtet sich bei solchen prädiktiven Tests nochmals, werden doch keine Krankheiten diagnostiziert, wie dies in herkömmlichen Vorsorgeuntersuchungen der Fall ist, sondern lediglich Genmutationen identifiziert, die eine Wahrscheinlichkeit für eine Erkrankung anzeigen (können). Die Person wird zu einem Gegenstand lückenloser Erforschung und Wissensgenese gemacht, wobei am Individuum ansetzende Untersuchungen und die statistische Erfassung der Bevölkerung Hand in Hand gehen (vgl. Bröckling 2002: 48 f.). Die Herstellung von Transparenz ist Ziel des besorgten Blicks auf die zukünftige Gesundheit. Diese stellt jedoch keinen Zustand dar, der schon immer gegeben ist. Vielmehr werden eine Reihe von Wissens- und Sozialtechniken notwendig, um die Person und die Bevölkerung transparent zu machen. Auch wenn Prävention zu systematischer Wissensgenese motiviert, um Kontrolle zu erlangen, so operiert sie doch zugleich unter den Bedingungen von Nicht-Wissen und Unsicherheit. In vielen, wenn nicht sogar in allen Fällen werden durch die präventive Risikobekämpfung neue Risiken produziert, deren faktisches Auftreten weder vorhersag- noch kontrollierbar ist. „Der Versuch, Risiken zu vermeiden, ist selbst riskant, während die Suche nach Sicherheit keines6 Prävention stellt somit auch eine Individualisierungstechnik dar, ordnet sich doch die einzelne Person in spezifische Risikogruppen ein, generiert durch Vorsorgeuntersuchungen ein personenbezogenes Wissen und erstellt so letztlich ein individuelles Risikoprofil.
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wegs sicher ist.“ (Esposito 2007: 79) Diese Paradoxie der Risiko generierenden Risikovermeidung entsteht, wenn der Akt der Vermeidung eines Risikos zugleich ein neues Risiko hervorbringt, das vorher nicht existierte. So mögen etwa Mammografiescreenings die Zahl der auf Brustkrebs zurückführbaren Todesfälle minimieren. Sie produzieren aber neben der Strahlenbelastung, welche ebenfalls karzinogen wirken kann, auch falsch-positiv und falsch-negativ Befunde, die ihrerseits mit gravierenden Folgen für die davon Betroffenen einhergehen. Auf diese Weise wird eine Entscheidungssituation erzeugt, in der es nur richtige/falsche Entscheidungen geben kann. Der Ausweg aus dieser ambivalenten und die Entscheidung letztlich hemmenden Situation kann dann ein pragmatisches Abwägen verschiedener Wahrscheinlichkeiten sein, also eine Errechnung von Risikokalkülen. Man mag dann die Wahrscheinlichkeit an einer bestimmten Krankheit zu erkranken höher einschätzen ebenso wie den mit dieser verbundenen Gesundheitsschaden als schwerwiegender betrachten, als dies bei dem Versuch die Krankheit zu vermeiden der Fall wäre. Aber weil es sich nur um ein probabilistisches Kalkül handelt, das sich unter der Prämisse großer Fallzahlen bewahrheitet, mag es für den individuellen Fall vollkommen irrelevant sein. Es entzieht sich schlicht dem Wissen, ob in einem Einzelfall unerwünschten Nebeneffekte auftreten oder nicht: „Schon die Statistik erzeugt eine fiktionale Realität, die in keinem Einzelfall – und es gibt nur Einzelfälle – stimmen muß.“ (Luhmann 1991: 58). Trotz scheinbar eindeutiger Risikoberechnungen kann nicht ausgeschlossen werden, dass durch die ergriffene Gegenmaßnahme eine Gesundheitsschädigung allererst erzeugt wird, wohingegen die Krankheit niemals ausgebrochen wäre. Auch kann nicht gewusst werden, ob im individuellen Fall die Krankheit nur deshalb nicht aufgetreten ist, weil eine Präventionsmaßnahme ergriffen wurde oder ob dies nicht ohnehin der Fall gewesen wäre. Es gibt „keinen empirischen Test, der belegen könnte, dass eine Zukunft (die es nicht gibt) tatsächlich eingetroffen ist“ (Fuchs 2008: 364).7 So sehr sich also Prävention um die Genese sicheren Wissens bemüht, so sehr bewegt sie sich doch zugleich in einem Raum des Nicht-Wissens und der Unsicherheit bezüglich ihrer eigenen Voraussetzungen, Wirkungen und Konsequenzen.
7 Die Unsicherheit bezüglich der Effektivität der medizinischen Maßnahme sowie des Auftretens von Nebenwirkungen ist auch bei kurativen Behandlungen stets gegeben. Jedoch besteht im Unterschied zu diesen bei Prävention noch keine Krankheit und auch kein manifester Leidensdruck, sondern lediglich die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Erkrankung.
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Adressierung als Grenzmarkierung Ein dritter und letzter Aspekt der diskursiven und praktischen Konstitution der präventiven Person kann in einem Adressierungsproblem gesehen werden, das sich bei jeder präventiven Maßnahme stellt und nach einer Lösung verlangt. Neben der Risikozurechnung, welche die Verantwortung oder zumindest das Mitverschulden für eine Erkrankung bestimmt, muss stets auch diejenige Instanz ermittelt werden, die zuständig und kompetent für die – im engeren Sinne – Durchführung der präventiven Gegenmaßnahme ist. Typischerweise lassen sich drei verschiedene Adressaten unterscheiden, die für die Durchführung von Prävention als zuständig und kompetent erachtet werden, womit nicht ausgeschlossen ist, dass mitunter konträre Zurechnungen getroffen werden können. Zunächst kann an das politische System inkl. der verschiedenen gesundheitspolitischen Organisationen appelliert werden, gesundheitsförderliche oder doch zumindest der Gesundheit nicht abträgliche Rahmenbedingungen und Lebenswelten zu schaffen. Daneben lässt sich aber zweitens auch die einzelne Person als zuständig für die Primärprävention betrachten, wobei stets abgewägt werden muss, ob die Kapazitäten und Handlungsmöglichkeiten des Individuums ausreichend sind, um präventiv für die eigene Gesundheit zu sorgen. Falls dies nicht der Fall sein sollte, kann drittens im Kontext des Medizinsystems ein professioneller Befund eingeholt werden, auf dessen Grundlage bei entsprechender Indikation eine Behandlung einzuleiten ist. Prävention markiert Grenzen und schreibt Kompetenzen zu, muss doch stets der richtige Adressat für die Durchführung der anvisierten Maßnahme gefunden werden. Eine für die Konstruktion der präventiven Person wichtige Grenzziehung betrifft die Unterscheidung zwischen dem Zuständigkeitsbereich der einzelnen Person und den erst im Rahmen des Medizinsystems durchführbaren Präventionsmaßnahmen. Es muss ausgelotet werden, an welchem Punkt die Kompetenzen des Individuums enden und die medizinische Inklusion etwa durch eine ärztliche Vorsorgeuntersuchung zu greifen hat. So wird beispielsweise Frauen das regelmäßige Abtasten der eigenen Brust auf Knoten und andere Unregelmäßigkeiten hin empfohlen, aber zugleich mit dem Hinweis versehen, dass diese Form der Selbstdiagnose ab einer bestimmten Altersgrenze nicht mehr ausreichend sei: „Ab 30 sollten Sie einmal im Jahr Ihre Brust fachkundig abtasten lassen. Wenn Sie zwischen 50 und 69 sind, bietet Ihnen Ihre AOK alle zwei Jahre eine weitere Untersuchung zur Früherkennung von Brustkrebs an: das Mammografie-Screening.“ (AOK 2007: 18f.) Hier wird das Alter und damit letztlich ein statistisch errechneter Durchschnittswert zum Indikator für die Lösung des Adressierungsproblems und markiert zugleich die Grenze, an welcher die medizini-
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sche Inklusion einzuleiten ist.8 Es existieren aber auch feingliedriger ansetzende Techniken, wie die Grenze zwischen dem Kompetenzbereich der Person und dem der Medizin ausgemessen und markiert werden kann. So wird etwa im Rahmen der Prävention von Alkoholabhängigkeit das Führen eines Trinktagebuches empfohlen, in welches der Tag und die Uhrzeit des Alkoholkonsums, die Art und die Menge des Alkohols, die mitanwesenden Personen und nicht zuletzt der Anlass bzw. der Auslöser – dies können auch bestimmte Gefühle oder Gedanken sein – notiert werden (vgl. etwa Körkel 2008: 74ff.). Nach mehreren Wochen ist dann eine Verlaufskurve zu zeichnen, die einen Überblick verschafft. Die Aufzeichnungen erlauben es Regelmäßigkeiten des Trinkverhaltens zu erkennen, um so Aufschluss über gezielte Gegenmaßnahmen zu erlangen, mit denen der Alkoholkonsum gemäßigt werden kann. Falls sich das zunächst individuell umzusetzende Präventionsprogramm für die Drosselung des eigenen Trinkverhaltens als unzulänglich erweisen sollte, wird eine medizinische Betreuung etwa im Rahmen einer Psychotherapie empfohlen (vgl. ebd.: 112).9 Das Schreiben hilft somit für den individuellen Fall eine Wachsamkeit für das Überschreiten von Normalitätsgrenzen zu erzeugen und auf diese Weise zugleich die Grenze auszuloten, ab welcher die medizinische Inklusion einzusetzen hat und der eigene Kompetenzbereich endet.10 Die Person stellt somit eine mögliche – wenn auch nicht die einzige – Instanz für die umzusetzenden Präventionsmaßnahmen dar. Durch die Bestimmung und Markierung ihres Zuständigkeitsbereiches gewinnt die Person Kontur, geht es doch letztlich um nichts Geringeres als um die systematische Verortung ihrer Handlungsmacht.
8 Damit verändern sich auch medizinische Inklusionsstrukturen: „Personen werden daher nicht nur über Befunde von Krankheitssymptomen in das System inkludiert, sondern auch über Befunde von noch nicht manifesten, aber zukünftig möglichen Krankheiten.“ (Hafen 2007: 102). Anders formuliert: Befunde werden nunmehr nicht erst dann erstellt, wenn ein manifester Verdacht vorliegt, sondern schon bei relativ unspezifischen und mitunter lediglich statistisch errechneten Verdachtsmomenten, wodurch das soziale Skript der Patientenrolle partiell umgeschrieben wird. 9 Das Beispiel zeigt die enge Verschränkung von Prävention und Behandlung, wie sie Hafen (2005: 241ff.) herausgearbeitet hat. Die – wie im obigen Beispiel angeführte – psychotherapeutische Behandlung von Zuständen innerer Unruhe und Angespanntheit, kann zugleich als Prävention von (chronischer) Alkoholabhängigkeit betrachtet werden. 10 Schrift fungiert hier nicht als ein Kommunikationsmedium, ebensowenig stellt es lediglich eine bloße Gedächtnishilfe dar. Vielmehr formiert das Schreiben über sich selbst eine ganze Selbsttechnologie, die eine systematische Einwirkung auf das eigene Verhalten erlauben soll (vgl. auch Foucault 2003b).
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Schluss: Prävention und die Gegenwart der Zukunft
Die Genese präventiver Rationalitäten sowie von Selbst- und Sozialtechnologien geht stets mit spezifischen Modellen einher, das Subjekt bzw. die Person zu formen. Unter den diskursiven wie praktischen Vorzeichen von Prävention wird eine Person ins Feld geführt, welche als Subjekt/Objekt riskanter Entscheidungen konzeptualisiert ist, womit sich auch der Status von Gesundheit und Krankheit verändert. Fortan erscheint schon am Horizont der Gesundheit die mögliche Krankheit, welche ihren Schatten auf die Gegenwart wirft. Die Gesundheit wird mit ihrer – mitunter äußerst düsteren – möglichen Zukunft konfrontiert, welcher durch präventive Interventionen zuvorzukommen sei. Umso mehr strebt Prävention danach – nicht zuletzt im Rahmen der Gesundheitswissenschaften – Wissen zu generieren, um die Kontingenz und Offenheit der Zukunft mittels systematischer Regulationsstrategien zu bannen, wobei solche Steuerungs- und Kontrollambitionen und die mit ihnen einhergehenden Formen der Selbst- und Fremdführung stets unter den Bedingungen von Unsicherheit operieren. Die Person wird dabei neben dem politischen und medizinischen System als eine wichtige Instanz für die Umsetzung der anvisierten Präventionspraktiken erachtet. Die Lokalisierung der Zuständigkeit und Kompetenz für die Durchführung der präventiven Maßnahmen lotet stets auch die Grenzen der Handlungsmacht der Person aus, wodurch diese weitergehend konturiert wird. Sie weiß fortan, was sie leisten kann und an welcher Stelle ihr Einfluss versiegt oder es existieren zumindest Techniken und Verfahren, um diese Grenze zu (er)finden. Da es sich bei diesen drei Achsen, welche dem präventiven Selbst Gestalt und Form verleihen, lediglich um Grundstrukturen handelt, sind deren kontextuelle Aus- und vielleicht auch Überformungen stets mit in Rechnung zu stellen. Insgesamt zeigt sich, „wie sehr und in welcher Weise wir unsere Gegenwart mit Zukunft überlasten“ (Luhmann 1991: 58). Die mögliche Erkrankung in der Zukunft wird zum manifesten Problem in der Gegenwart. Dies mag man als ‚weise Voraussicht’ affirmieren, um sich für eine lückelose Verbreitung von Präventionsmaßnahmen einzusetzen. Dennoch: Die Zukunft hält immer eine Vielzahl von Möglichkeiten offen, die sich weder alle antizipieren geschweige denn kontrollieren lassen. Der mit Prävention verbundene Rationalitätstypus darf daher auch keineswegs als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Vielmehr bedarf ein solcher Umgang mit der eigenen oder fremden Gesundheit massiver Anstrengungen, um ihn als plausiblen Kommunikations- und Handlungsmodus zu installieren.
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Nationale Sicherheit und der sich wandelnde Gegenstand der öffentlichen Gesundheit1 Andrew Lakoff
Im November 2005 gab die Busch-Regierung eine 7,1 Milliarde teure PandemieVorsorge-Strategie bekannt, die der US-Gesundheitsminister als den solidesten Vorschlag bezeichnete, der je zur Unterstützung der öffentlichen Gesundheit gemacht wurde (Leavitt 2005). Der Maßnahmenkatalog umfasste die Finanzierung von Programmen, die die Entwicklung von Krankheiten überwachen sollten, die Vorratshaltung von antiviralen Wirkstoffen sowie die Erforschung neuer Methoden der Impfstoffgewinnung. Die Einzelheiten dieser Planung wurden innerhalb der Public Health-Community scharf kritisiert. Moniert wurde die ihrer Ansicht nach zu starke Betonung pharmazeutischer Interventionen bei gleichzeitig zu geringer Beachtung der Bedarfe der Gesundheitsbehörden auf nationaler wie auf der Ebene der einzelnen Bundesstaaten. In einigen Punkten bestand jedoch Einigkeit: Erstens war man sich einig, dass die Strategien im Umgang mit Pandemien eine dringende Angelegenheit sei, zweitens, dass die USA bislang nicht annähernd genügend auf ein derartiges Ereignis vorbereitet seien, und drittens, dass – egal, ob es eine Pandemie geben würde oder nicht – die vorbereitenden Maßnahmen sie zugleich für diverse andere Bedrohungslagen wappnen würde oder wie es ein Mitglied des US-Senats beschrieb: „Selbst wenn wir von einer Grippe-Pandemie verschont bleiben, wird die Arbeit, die wir heute leisten, in einem nationalen Notfall, der eines Tages eintreffen könnte, hilfreich sein” (US Senate 2006a). Tatsächlich ist die Grippebedrohung ein Vehikel für eine viel grundlegendere Planungsform geworden, und zwar eine, die auf eine Vielzahl von Bedrohungen abzielt. Der stellvertretende Gesundheitsminister sagte, „Preparedness bezüglich einer Pandemie bereitet uns als Nation besser auf alle möglichen Gefahren vor, unabhängig davon, ob sie von menschlicher Hand erschaffen wurden oder natür1 Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Paul. Der Beitrag erschien in einer früheren und abgewandelten Version unter dem Titel „The Generic Biothreat, or, How We Became Unprepared“, in: Cultural Anthropology 23:3 (2008), 399-428.
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liche Ereignisse sind“ (Agwunabi 2006 [Herv.BP]). Er warnte aber auch davor, dass dieser Zustand des Vorbereitetseins weder plötzlich oder gar einfach zustande käme: „Preparedness ist eine Reise und kein Ziel“. Es ist eine Reise, die auf nationaler Ebene alle Bundes-, Landes- und örtliche Behördenleitungen zusammenbringen und dabei jeden Sektor unserer Gesellschaft einbeziehen muss. “ Und wie er betonte: DzWir sind überfällig und nicht annähernd so gut vorbereitet, wie wir es sein müssten. Wir sind besser vorbereitet als wir es noch gestern waren. Wir werden morgen besser vorbereitet sein, als wir es heute sind. Wir haben es mit einem Kontinuum an Preparedness zu tun“ (Leavitt 2006 [Herv.BP]). Im vorliegenden Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, wie die USGesundheits- und Sicherheitseinrichtungen in die Lage gerieten, nicht genug auf biologische Bedrohungen vorbereitet zu sein. Mit dieser Frage will ich nicht unterstellen, dass die USA einmal vorbereitet waren und es nun weniger sind. Vielmehr will ich hinterfragen, wie die Norm der Preparedness entstanden ist, die gegenwärtig die Art, wie wir über Bedrohungen der Gesundheit der Bevölkerung denken, bestimmt. Darüber hinaus blicke ich auf die Etablierung der spezifisch neuen Reaktionen auf diese Bedrohungen. Das Ganze ist eine recht komplexe Angelegenheit, da es hier um Techniken geht, die aus dem militärischen und dem Verteidigungsbereich stammen, und die auf andere Felder der Regierungsintervention übertragen wurden. Meine Analyse bezieht sich nicht auf die weit verbreitete Debatte über biologische Bedrohungen. Ich beziehe mich vielmehr auf die ganz spezifischen Fachkreise, in denen sich ein ungewöhnliches Verständnis von Bedrohungen und diesbezüglicher Interventionen entwickelt hat und angewandt wird. Im Folgenden konzentriere ich mich auf eine spezifische, nämlich die „Szenarien-basierte“ Technik. Ich werde argumentieren, dass diese Technik zwei bedeutende Funktionen innehat: Erstens verschafft sie den Eindruck von Dringlichkeit innerhalb offizieller Kreise, ohne dass es einen entsprechenden Anlass oder Vorfall gibt. Und zweitens verschafft sie Wissen über die Schwachstellen in der Reaktionsfähigkeit. So bietet sie einen Leitfaden für die antizipierten Interventionen. Die Szenarien-basierte Machtausübung steht exemplarisch für die derzeit in den USA herrschende Rationalität im Bereich von nationaler Sicherheits- und Gesundheitspolitik. Ich schließe meine Ausführungen mit einem Blick auf die Auswirkungen, die dieser Ansatz auf das System der Öffentlichen Gesundheit hat. Durch die Konzentration auf die Sicherung der vitalen Systeme2 unserer Gesell2 Der Begriff der „vitalen Systeme“ bezeichnet – ebenso wie der der „kritischen Infrastruktur“ – die Lebensadern der modernen Gesellschaft, wie sie durch den Staat definiert werden und als besonders schutzbedürftig gelten: Das Bundesamt für Katastrophenschutz definiert diese wie folgt: „Organisationen oder Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öf-
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schaft werden die eigentlichen Ursachen unserer Verletzlichkeit – wie die gegenwärtigen Lebensbedingungen der Bevölkerung – übersehen. Eine grundlegende Orientierung bietet der Soziologe Niklas Luhmann (1998), der die Frage aufwirft, in welcher Weise sich die Zukunft in der Gegenwart manifestiert. Das Interesse von Luhmann liegt dabei nicht in dem Erahnen der Vergänglichkeit, indem sich ein determiniertes menschliches Schicksal bereits in der Gegenwart andeutet, sondern in der davon abzugrenzenden Charakteristik der Moderne, in der eine Zukunft kalkuliert ist, obschon sie jederzeit anders aussehen kann – eine vorläufige Vorausschau also. Besonders interessiert ihn die Rolle der Experten in dieser „Ökologie der Ignoranz“. Diese Experten haben kein Problem damit, hier und jetzt einschneidende Entscheidungen zu treffen, im Angesicht einer durchkalkulierten – wenngleich imaginativen – Zukunft. Vielmehr haben sie ein Problem damit, solche Entscheidungen treffen zu müssen, wenn sie sich mit der Unwägbarkeit unserer Zukunft konfrontiert sehen. Risikobewertung und Versicherung sind Beispiele von Techniken, welche die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse kalkulieren, um rationalen Handlungen im Hier und Jetzt den Weg zu weisen. Für diese Art der Planung ist die Zukunft das Produkt der in der Gegenwart kalkulierten Entscheidungen, basierend auf einer begrenzten Anzahl von Möglichkeiten: die Vergangenheit enthält Dinge, die uns auch in Zukunft erwarten. Jedoch, wie Luhmann argumentiert, trotzt das gegenwärtige Problem der Katastrophe dieser Kalkulation. Katastrophen beinhalten ein Ereignis, dessen Wahrscheinlichkeit ungewiss ist und dessen Konsequenzen nicht gemanagt werden können. Es ist, wie Luhmann beschreibt (1998): „das Ereignis, das niemand will, und für das weder Wahrscheinlichkeitsberechnung noch Risikobewertung oder Expertenmeinungen akzeptierbar sind“. Dies führt zu der Frage, die ich ins Zentrum meiner Überlegungen stellen will: Wie bringen Experten der nationalen Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung die Aussicht auf eine Katastrophe näher, wenn sie nicht über Instrumente verfügen, die eine solche quantitative Risikobewertung möglich machen? Ein bekanntes Modell hierfür ist, wie ich zeigen werde, die „imaginative Szenarienplanung“ der potentiellen Katastrophen.
Nationale Sicherheit und Öffentliche Gesundheit In einer Kongressanhörung zur Preparedness bei der Vogelgrippe in 2006 sagte der ehemalige Berater der Homeland Security des Weißen Hauses, Richard Falkenrath: „Wenn man dies mit allen denkbaren Bedrohungen der nationalen Sifentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden“. (http:[//www.bbk.bund.de/) [23.11.2009] [Anmerk. B.P.]
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cherheit der USA vergleicht, ist und wird die katastrophenartige KrankheitsBedrohung die größte Gefahr sein, der wir entgegensehen“ (US Senate 2006b). Angesichts von Falkenraths Vergangenheit als Experte in Fragen der AntiTerror-Maßnahmen und der Verbreitung von Atomwaffen ist dies eine erstaunliche Aussage, da sie den Trend unterstreicht, dass sich Strategen der nationalen Sicherheit nun auf einen neuen Bereich konzentrieren, der bisher nur aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheit betrachtet wurde. Wie einige Wissenschaftler zeigen konnten (z.B. King 2002), war dies nicht das erste Mal, das Fragen der nationalen Sicherheit der U.S.A. mit denen der öffentlichen Gesundheit in Verbindung gebracht wurden.3 Um die sich an Falkenraths Behauptung anschließenden Folgerungen und den darin liegenden Unterschied zu vorangegangenen Verknüpfungen der beiden Bereiche „nationale Sicherheit“ und „Gesundheit“ zu verstehen, ist es hilfreich, das Konzept der „nationalen Sicherheit“ analytisch in seine Bestandteile zu aufzubrechen. Anders ausgedrückt geht es darum, zu fragen, von welcher Art der „Sicherheit“ eigentlich die Rede ist, was ihr politischer Gegenstand ist und welches ihre konkreten Vorgehensweisen sind. Wir werden sehen, dass die meisten der Sicherheitsexperten, die mit katastrophalen Krankheits-Bedrohungen zu tun hatten, sich nicht in der Logik der Unterbindung äußerten, welche mit den üblichen staatlichen Sicherheitspraktiken verbunden ist.4 Auch konnte ihr Ansatz nicht mit der Präventions-Rationalität beschrieben werden, die man klassischerweise mit den Gesundheitswissenschaften verbindet. Vielmehr praktizieren sie eine ganz eigene Art, mit Sicherheitsbedrohungen umzugehen – nämlich den einer fortwährenden wachsamen Alarmbereitschaft für den Fall einer Katastrophe. Um dies näher zu erläutern, ist es zunächst wichtig zwischen verschiedenen analytischen Dimensionen der kollektiven Sicherheit zu unterscheiden.5 Souveräne staatliche Sicherheit (Sovereign State Security) geht zurück auf die Monarchien des 17. Jahrhunderts und bezeichnet Praktiken, die sich mit der Verteidigung staatlichen Territoriums beschäftigen, gegenüber einem Feind, der von außen kommend mit militärischen Mitteln agiert. Die Bevölkerungs-Sicherheit (Population Security) dagegen, welche im 19. Jahrhundert ihren Einzug hielt, beschreibt den Schutz der heimischen Bevölkerung vor Bedrohungen, die regel3 Ein gutes Beispiel hierfür ist die Rolle, die der Malaria Prävention in der Armee während des 2. Weltkrieges für die Entstehung des Centers of Disease Control (CDC) zukommt. 4 Natürlich gab es auch andere, wesentlich sichtbarere Akteure innerhalb der US-Regierung, die entsprechend mit biologischen Bedrohungen umgingen. Ein entsprechendes Beispiel führte zum IrakKrieg (siehe für diese Diskussion Cooper 2006). 5 Die ursprüngliche Unterscheidung geht zurück auf Foucault, der in seinen Vorlesungen am College de France 1978 zwischen Souveränität und Governmentalität unterscheidet (Foucault 2007). Im Folgenden verwende ich Begriffe, die gemeinsam mit Stephen J. Collier entwickelt wurden. Für weitere Ausführungen siehe Collier und Lakoff (2008a).
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mäßig von innen kommen, wie z.B. Krankheiten, Industrieunfälle oder Gebrechlichkeit. Diese Wissensform bedient sich vor allem der Epidemiologie und der Demographie. Ihre Interventionen reichen von der Sozial-Versicherung und öffentlicher Gesundheitssorge bis zur Entwicklung der urbanen Infrastruktur. Allerdings passen einige der aktuellen Sicherheitsinitiativen in den USA nicht in diese beiden Sicherheits-Konzeptualisierungen, z.B. die pandemische Bereitschaft (Pandemic Preparedness) oder der Schutz der kritischen Infrastruktur. So gesehen ist in den vergangenen Jahren eine dritte Art der Sicherheitspolitik immer zentraler geworden: Sie lässt sich am besten mit der „Sicherheit vitaler Systeme“ (Vital Systems Security) beschreiben. Diese Art der Sicherheit ist einer ganz spezifischen Bedrohung zugeordnet, nämlich einem Ereignis, dessen Eintrittswahrscheinlichkeit zwar nicht berechnet werden kann, dessen Konsequenzen aber höchstwahrscheinlich katastrophalen Ausmaßes wären. Zu schützendes Objekt ist dabei weder das nationale Territorium noch die heimische Bevölkerung; vielmehr treten hier die kritischen Systeme, die das soziale und ökonomische Leben regulieren, in den Fokus. In diesem Sicherheitskonzept der Vital Systems Security werden keine Informationen über einen fremden Feind oder regelmäßig auftretende Ereignisse gesucht, sondern vielmehr wird die Technik der imaginären Übung praktiziert, die Wissen über die Verwundbarkeit des internen Systems hervorbringen soll. Seine Interventionen richten sich nicht mehr auf den Schutz vor fremden Feinden oder auf die Veränderung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung. Vielmehr liegt ihnen daran, die Funktionsfähigkeit der kritischen Systeme so zu sichern, dass sie im Falle eines Notfalls keine Ausfälle haben (vgl. Graphik 1).6 Diese Vital Systems Security ist nun allerdings nicht vom Himmel gefallen, sondern aus einem spezifischen Verständnis der souveränen staatlichen Sicherheit (Sovereign State Security) entstanden, das in den 1960er Jahren seinen Anfang nahm: die zivile Verteidigung. Die Techniken der zivilen Verteidigung sind ursprünglich entwickelt worden, um der atomaren Bedrohung zu begegnen, sie sind in ihrer Anwendung dann aber kontinuierlich auf andere potentielle Bedrohungen ausgeweitet worden. Beispiele hierfür sind Naturkatastrophen, technologische Unfälle, terroristische Anschläge – bis hin zu Epidemien ansteckender Krankheiten. Im Folgenden werden wir sehen: Immer dann, wenn ansteckende Krankheiten als ein Problem der Bevölkerungssicherheit betrachtet und behandelt werden, erfolgen die Interventionen in der Logik der Prävention. Wenn sie aber im Rahmen des Vital System Security-Verständnisses behandelt werden, heißt die bestimmende Logik „Preparedness“.
6 Die Objekte dieser Sicherheitsvariante liegen ganz nah bei denen, die von Ulrich Beck (1999) als zentral für die Risikogesellschaft beschrieben werden.
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Tabelle 1: Arten der kollektiven Sicherheit
Zeitlicher Kontext
Souveräne StaatsSicherheit 17. Jahrhundert Territoriale Monarchien
Normative Rationalität Bedrohungsart(en)
Unterbindung (Interdiction) Gegner
Beispielhafte Wissensform
Strategie
Strategie
Verteidigung oder Abwehr des Feindes
BevölkerungsSicherheit
Sicherheit der vitalen Systeme
19. Jahrhundert Urbane Hygiene
Mitte des 20. Jahrhunderts Zivile Verteidigung
Prävention
Preparedness
Regelmäßig wiederkehrende Ereignisse Statistik
Unvorhersehbare, potentiell katastrophale Ereignisse Szenarien-basierte Übungen (Enactment) Identifizierung der Verwundbarkeit, Entwicklung der Reaktionsfähigkeit
RisikoVerteilung
Schweinegrippe: Die Grenzen der Bevölkerungssicherheit Aktuelle interventionistische Gesundheitskonzepte basieren auf der Analyse historischer Krankheitsvorkommnisse innerhalb der Bevölkerung (Rosen 1993; Foucault 2007). Genau mit dieser Vorgehensweise haben gesundheitspolitische Experten aber heutzutage Schwierigkeiten, Ereignissen zu begegnen, die sich durch statistische Messungen nicht (mehr) fassen lassen. Dies stellt die offiziellen Stellen vor die Frage, wie geeignete Maßnahmen ergriffen werden können, wenn sie mit einem möglichen Ereignis konfrontiert sind, dessen Wahrscheinlichkeit zwar nicht bekannt ist, dessen Konsequenzen aber katastrophal sein würden. Um dieser Frage nachzugehen, kann ein Blick auf ein Ereignis helfen, dass drei Jahrzehnte zurückliegt: die „Schweinegrippe-Affäre“ von 1976. Im Januar 1976 berichtete das U.S. Center for Disease Control (CDC), dass ein Soldat in Fort Dix an einem bisher noch unbekannten Schweinegrippevirus gestorben sei. Zudem seien noch weitere Fälle desselben Typus aufgetreten, so dass man davon ausgehen müsse, dass das Virus sowohl virulent als auch in der Lage sei, von Mensch zu Mensch weitergegeben zu werden. War hier eine Pandemie in Sicht? Zu jener Zeit gingen Experten davon aus, dass Veränderungen in
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den Antigenen der Grippeviren, die zu tödlichen Pandemien führen können, in etwa einmal im Jahrzehnt auftreten die letzte war 1968 aufgetreten. Im schlimmsten Fall würde der Schaden, der von diesem Erregerstamm ausgehen konnte, mit dem der spanischen Grippe von 1918 vergleichbar sein, die nach Schätzungen über 50 Millionen Menschen das Leben kostete.7 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte in den Planungen der US-Gesundheitsbehörde die Grippe-Pandemie keine Rolle gespielt. Daher war auch nicht sofort klar, welche Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung standen. Eine Katastrophe wie die von 1918 war nicht absehbar, aber doch möglich. Aufgrund der den Behörden zu diesem Zeitpunkt zu Verfügung stehenden Maßnahmen, gab es eigentlich nur eine Möglichkeit zu reagieren: Die Impfung der gesamten US-Bevölkerung. Dieses Vorhaben wäre aber nicht nur extrem kostspielig, sondern auch praktisch eine gewaltige Herausforderung, da es bedeutet hätte, dass man bis zur nächsten Grippesaison genügend Impfstoff für über 200 Millionen Menschen hätte produzieren und verteilen müssen. Dies wiederum war seinerzeit eine neue technische Möglichkeit: Erst seit kurzem war man in der Lage, genug Grippe Impfstoff herzustellen und diesen rechtzeitig für eine Massenimmunisierung bereitzustellen. Allerdings würde eine Entscheidung, ob dieses Verfahren angewandt werden sollte, schnell gefällt werden müssen. Und niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob die Fort Dix Fälle wirklich erste Anzeichen einer Grippe-Pandemie waren oder nur ein Zufall. Die Gesundheitsbehörden waren so das erste Mal in die Lage versetzt worden, bereits vor einer (potentiellen) Grippe-Pandemie eingreifen zu können. Dies erwies sich jedoch als Problem für die Gesundheits-Experten, denn die modernen Gesundheitsinstitutionen waren als Antwort auf akute Krankheitsfälle eingerichtet worden, für potentielle Fälle waren sie nicht konzipiert. Deswegen benötigten sie historische Daten über Zeit und Ort der Ausbrüche, um angemessene und effektive Interventionen zu entwickeln. Aus diesem Grund bereitete es ihnen Probleme, einem vorhersehbaren, aber statistisch nicht zu berechnenden Ereignis gegenüberzutreten. Am 10. März 1976 trafen sich die CDC Vertreter mit dem Beratungsstab des Komitees für Impfpraxis (Advisory Committee on Immunization Practices – ACIP). Dieses Komitee legte jedes Jahr neu fest, gegen welche Viren und welche Bevölkerungsgruppen man impfen sollte. Eine Frage, die zu diesem Zeitpunkt aufkam, aber nicht weiter verfolgt wurde, war, unter welchen Umständen es Sinn machen würde, den Impfstoff nach der Produktion erst einmal zu lagern, anstatt gleich zu einer Massenimmunisierung überzugehen. Der Direkter der CDC, David Sencer, war der Ansicht, dass der Virus sich zu schnell verbreiten 7 Diese Größenordnung geht auf Neustadt und Fineberg (1983) zurück. Zu einer anderen Einschätzung kommt dagegen Silverstein (1981).
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würde und die logistischen Anforderungen zu hoch seien, um in Erwägung zu ziehen, auf verlässliche Beweise für das Vorliegen einer Epidemie zu warten, bevor man mit der Impfung beginnen könne. Nach dem besagten Treffen übermittelte Sencer seinen Vorgesetzen in der Gesundheitsbehörde die Ergebnisse des Treffens. Ausgehend von der in seinen Worten „naheliegenden Möglichkeit“ einer Schweinegrippe, die höchst ansteckend sei, sahen seine Empfehlungen vor, 213 Millionen Menschen innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten zu impfen, mit einem finanziellen Aufwand von 134 $ Millionen. Der Ton des Memos unterstrich die Dringlichkeit: „Wir haben es mit einer Alles oder Nichts-Situation zu tun … es gibt kaum genug Zeit … eine Entscheidung muss jetzt gefällt werden“ (Neustadt/Fineberg 1983: 30). Nach eingehender Beratung mit Gesundheitsexperten und Virologen verkündete Präsident Ford am 24. März 1976 den nationalen Impfplan: “Niemand weiß genau, wie ernst diese Bedrohung ist. So oder so, wir können die Gesundheit unserer Nation nicht riskieren“ (Neustadt/Fineberg 1983: 46). Doch während der Impfungen kamen Probleme auf: Die Impfstoffproduzenten kündigten an, dass sie den Impfstoff nicht ohne Versicherung abfüllen würden. Die Versicherer dagegen waren ihrerseits nicht gewillt, eine derartige Absicherung zur Verfügung zu stellen. Ihnen war die Unsicherheit bezüglich der Gesundheitsrisiken durch die Impfung zu groß.8 Als mehrere ältere Menschen, die geimpft wurden, kurz danach verstarben, ließ die CDC lediglich verlauten, dass eine gewisse Anzahl derartiger Tode „zu erwarten“ gewesen seien. Trotz dieser Probleme waren bis zum Dezember des Jahres 40 Millionen Menschen bereits immunisiert. In der Mitte des Monats berichteten Gesundheitsbehörden in Minnesota von etlichen Fällen des Guillain-Barré-Syndroms unter den Geimpften, einer ernsthaften Nervenstörung. Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass die erwartete Epidemie nicht eintreffen würde. Das Programm wurde daher sofort eingestellt. Die New York Times bezeichnete das Geschehen als „Schweine-GrippeFiasko“. Ein später erschienener Bericht wertete die Entscheidung das Programm zu verfolgen nicht als Fehler; die Experten waren sich schließlich einig gewesen. Aber er legte nahe, dass die mangelnde Voraussicht der Verwaltung eine Fehlerquelle war. Die Gesundheitsbehörden hatten keine Notfallpläne in der Hinterhand und mussten daher ad hoc reagieren. Sie waren daher nicht in der Lage, sich einer Maßnahme zu bedienen, die hilfreich gewesen wäre: Die vorsorgliche Vorratshaltung des Impfstoffes und dann, im Falle einer epidemischen Entwicklung, den Einsatz avancierter logistischer Methoden, um den Impfstoff in erfor8 Neustadt und Fineberg (1983: 77) schrieben dazu: „Diese Fragen trotzten der Versicherungsmathematik. Es gab keine Erfahrungen … Sie waren in dem Geschäft, um Risiken zu verteilen, nicht um sie einzugehen.“
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derlichem Maße zu verbreiten. Sie hatten auch keinen Plan und keine Vorstellung von den potentiellen Problemen, die auftauchen würden. Vor dem Hintergrund der bis dahin üblichen Präventionsrationalität und den klassischen Public Health Instrumentarien, hatte es keine andere Möglichkeit gegeben als mit der Massenimpfung zu starten.
Krisenmanagement und die Verwundbarkeit des Systems Interessanterweise entwickelte sich zum selben Zeitpunkt eine systematische Methode für die flexible Handhabung potentieller Krisen auf einem ganz anderen Gebiet der Regierung heraus. Die Zivilverteidigung erweiterte ihren Bereich von der reinen Fokussierung auf Nuklearkatastrophen auf eine eher grundsätzlichere Form der Preparedness bei Notfällen. Im Folgenden wird das „Krisenmanagements“ als eine neue Antwort auf ungewisse, aber potentiell katastrophenartige Bedrohungen beschrieben. Während das Krisenmanagement in seiner Anfangsphase noch völlig separat vom Public Health Bereich zu sehen war, sollte es später auch hinsichtlich der Bedrohungen katastrophenartiger Krankheiten zum Einsatz kommen. In den ersten Jahren des Kalten Krieges begannen die Zivilverteidigungsplaner nach Techniken zu suchen, die sie auf nukleare Angriffe vorbereiten sollten (z.B. Stadtpläne, die verwundbare Punkte ausweisen und die Koordination von Notfallmaßnahmen) (Collier/Lakoff 2008b). Diese Techniken bildeten später die Basis für die grundsätzliche Form der Preparedness für Notfälle. Eine wichtige Person in diesem Prozess war Robert H. Kupperman, ein anwendungsbezogener Mathematiker, der in den späten 60er und frühen 70er Jahren stellvertretender Leiter von Nixon`s Office of Emergency Preparedness (OEP) war. Während seiner Zeit bei der OEP entwickelte Kupperman ein Interesse für die regelhaften Strukturen von Krisensituationen sowie für Methoden, die einem im Vorhinein darauf vorbereiten konnten. Er war davon überzeugt, dass Krisen, wie unterschiedlich sie auch sein mochten, gleichwohl einige grundsätzlich gemeinsame Probleme aufwiesen: den Mangel an akkuraten Informationen, die Schwierigkeit der Kommunikation unter jenen, die die Entscheidungen treffen müssen, und eine Vielzahl an Behörden, die sich alle in der Verantwortung sehen und die Leitung des Einsatzes übernehmen wollen. Zugleich war in diesen Situationen ungewiss, was sich entwickeln würde, während ein dringendes Bedürfnis bestand, unverzüglich zu handeln. Die Flexibilität der Entscheidungsträger hing davon ab, in welchem Maße die Krisenmanager in der Lage waren, die Situation vorauszusagen und vorbereitende Maßnahmen zu treffen (Kupperman/Wilcox/Smith 1975: 229).
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Kupperman ging es vor allem darum, potentielle Fehlfunktionen aufzuspüren. Seine Erfahrungen im Office of Emergency Preparedness lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Verwunderbarkeit der kritischen Systeme und plötzliche, unerwartete Ereignisse. Nachdem er die OEP verlassen hatte, arbeitete er trotzdem weiter an der Frage, wie die Reaktion der Regierung auf Krisen systematischer erfolgen könnte. Er tat dies vor allem in Kontext seiner Tätigkeit für einen Washingtoner Think Tank, dem Center for Strategic and International Studies (CSIS), bei dem er in den späten 70er Jahren zu arbeiten begann. Neben James Woolsey war er Co-Autor eines CSIS-Berichts von 1984 über das Krisenmanagement in der Netzwerkgesellschaft mit dem Titel America`s Hidden Vulnerabilities. Im Bericht hieß es, dass die USA für ihr kollektives Wohlergehen auf Bündel hoch entwickelter und in sich verwobener Systeme (oder Netzwerke) angewiesen sei, die für die Energieversorgung, Kommunikation und Transportwesen sorgen. Weiter wurden in dem Bericht die jüngsten Störungen in diesen Systemen aufgeführt und auch eine Warnung ausgesprochen: „Es existiert ein ernstzunehmendes Bedrohungspotential … für schwerwiegende Beeinträchtigungen der Netzwerke, die für unser Leben, der ökonomischen Stabilität und der nationalen Verteidigung von hoher Bedeutung sind.“ (Woolsey/Kupperman 1985: 2). In America`s Hidden Vulnerabilities werden eine Reihe von Maßnahmen aufgeführt, die sicherstellen sollten, dass die vitalen Systeme auch im Notfall funktionieren würden. Dazu gehören: die Verbesserung der ResilienzFähigkeiten der Systeme9, der Aufbau einer doppelten Absicherung (Ausfallsystem), die Vorratsbildung von Ersatzteilen, der Einsatz von Risiko-Analysen als Mittel der Prioritätensetzung für die Bereitstellung von Ressourcen sowie die Durchführung von Szenarien-basierten Übungen. Ein letztes Kernelement des Krisenmanagements aus dem Bericht besteht in der Vorab-Spezifizierung, auf wen konkret welche Verantwortung während der Krisensituation zu übertragen sei (Wollsey/Kupperman 1985: 16). Während seiner Zeit bei der CSIS versuchten Kupperman und seine Kollegen die Verantwortlichen für die nationale Sicherheit von der Verletzlichkeit der Systeme zu überzeugen sowie von dem Bedarf, Techniken zu entwickeln, mit denen zukünftig potentielle Krisen gemanagt werden könnten. Einer ihrer Ansätze war die Durchführung Szenarien-basierter Simulationen von Krisensituatio9 Andrew Lakoff benutzt hierfür den Begriff resilience, der auch mit Widerstandsfähigkeit oder Ausfallsicherheit übersetzt werden kann. In Anlehnung an den artverwandten Beitrag von Lentzos/Rose, in der die Resilienz eine zentrale Charakterisierung der von ihnen beschriebenen Notfallrationalitäten in Europa ist, wird hier von der Deutung als einem System ausgegangen, was sich jedem Vorfall wieder neu aufrichtet und dabei um die neue Verletzlichkeit weiser wird, also lernfähig ist. [Anmerkung B.P.]
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nen, an denen offizielle Regierungsvertreter teilnehmen sollten (Goldberg et al. 1987: 69). Diese Notfallübungen waren ein Instrument, den Verantwortlichen die Verletzlichkeit der vitalen Systeme vor Augen zu führen. Es gibt eine lange Tradition der Reflektion darüber, wie mit spezifischen Krisensituationen umzugehen ist – von den frühen Quarantäne-Planungen bis zum Zivilschutz während des Kalten Krieges – und auch die militärische Praxis dieser Übungssimulationen (oder auch „Kriegsspiele“) hat eine längere Geschichte10. Was aber Kupperman`s Herangehensweise von den älteren unterschied, war die Methode des imaginären Nachspielens generischer Krisensituationen, um damit Wissen über die internen Schwachstellen des System hervorzubringen. Wie wir sehen werden, hat die CSIS Technik der Krisensimulation letzen Endes wesentlich dazu beigetragen, die verantwortlichen Sicherheitsplaner zu überzeugen, sich über die biologischen Bedrohungen ernsthaft Sorgen zu machen.
Militärmedizin und Tropische Krankheiten Wie aber sind die beiden Stränge, die wir bisher angesehen haben – Public Health auf der einen und das Krisenmanagement auf der anderen Seite – zusammengeführt worden? Der ersten Schnittstelle, der ich nachgehen will, ist eine Begegnung zwischen der Militärmedizin und der internationalen Gesundheit. Auf einer Konferenz von Spezialisten tropischer Krankheiten in Honolulu in 1989 führte Col. Llewellyn Legters eine Planübung11 vor, die den Ausbruch eines tödlichen und hoch infektiösen Virus simulierte. Seine Übung in Honolulu zielte auf die Darstellung des Fehlens der internationalen Public Health Ressourcen ab, um mit einem gefährlichen Krankheitsausbruch umgehen zu können. Seine Vorführung diente vor allem pädagogischen Zwecken: Sie sollte die Teilnehmer von der Dringlichkeit des Problems auftretender Infektionskrankheiten überzeugen. Inhalt der Übung war eine Pandemie, die durch einen neuartigen und schrecklichen Virus – ein „luftübertragendes Ebola“ – unter Flüchtlingen in einer durch Krieg zerrissenen Republik Afrikas ausgebrochen sei. Während die Epidemie im Szenario auf die humanitären Helfer übergriff, blieb die anfängliche Reaktion aus dem Public Health Sektor so gering, dass sich die Krankheit rasch auf die USA ausbreitete und verheerende Konsequenzen hatte. Die Teilnehmer 10 Für die Geschichte der Szenarienplanung während des Kalten Krieges siehe Ghamari-Tabrizi (2005) und Lakoff (2007). 11 Lakoff spricht von „table-top exercise“, welches ein Planspiel auf der Ebene des „grünen Tisches“ ist im Kontrast zu Einsatzübungen, in denen Notfälle real nachgespielt werden. [Anmerk. B.P.]
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nahmen die simulierte Katastrophe so war, dass es kein funktionierendes System gab, um einen Ausbruch entdecken oder einschränken zu können. Nach der Übung verkündete Legters: „Der Ausbruch hat in einer sehr dramatischen Weise gezeigt, wie schlecht wir vorbereitet sind globale epidemische Krankheitsbedrohungen zeitig aufzudecken, und sofern diese aufgedeckt sind, angemessen zu reagieren“ (Morse 1993: 277). Die Übung zeigt exemplarisch, wie in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren die Problematik der auftretenden infektiösen Krankheiten thematisiert wurde.12 Ebenfalls in 1989 richteten der Virologe Stephan Morse und der Nobelpreisträger Joshua Lederberg eine riesige Konferenz zum Thema aus. Der Konferenz folgte die Veröffentlichung von Emerging Viruses (Morse 1993). Die Konferenzteilnehmer warnten vor einer gefährlichen Schnittstelle: Einerseits gäbe es eine Reihe neuer Krankheitsbedrohungen, darunter z.B. AIDS und Ebola sowie die neuen impfresistenten Erreger der Tuberkulose und Malaria; andererseits seien die Public Health Systeme dem Verfall ausgesetzt gewesen, seitdem in den späten 1960ern die Behauptung aufkam, dass infektiöse Krankheiten ausgelöscht seien. Vielmehr sei zu erwarten, dass neue, gefährliche infektiöse Krankheiten auftauchen würden. Zurückzuführen sei dies auf einige globale Entwicklungen, wie z.B. den Anstieg des Reiseaufkommens, die Urbanisierung, die Bürgerkriege und das Flüchtlingsaufkommens sowie die Umweltzerstörung. In seinem Beitrag zu Emerging Viruses vertrat der Epidemiologe D.A. Henderson die Ansicht, dass das Auftreten neuer Krankheiten unvermeidbar sei: „Mutationen und Wandel sind natürliche Entwicklungen, die zeigen, dass unsere Welt zunehmend interdependent ist und das die menschliche Gesundheit und ihr Überleben herausgefordert werden, ad infinitem, von neuen und mutierten Mikroben mit unvorhersehbaren patho-physiologischen Manifestationen” (Morse 1993: 283).13 Als Ergebnis seien wir unsicher, was wir unter Beobachtung halten sollen oder sogar, wonach wir suchen müssen, sagte Henderson. Er kommt zu dem Schluss, dass ein System benötigt würde, welches neue Entwicklungen entdecken kann: Im Falle von AIDS hätte ein solches System frühzeitig vor dem neuen Virus warnen können, so dass Maßnahmen hätten ergriffen werden können, die seine Verbreitung verhindert hätten. Er befürwortete ein globales Überwachungs-System unter der Leitung der CDC, welches in peri-urbanen Gegenden der größten Städte der Tropen angesiedelt werden müsste. Dieses System
12 Wie Nicholas King (1982) gezeigt hat, fand diese Vision recht schnell eine große Anhängerschaft in der Medizin, den Lebenswissenschaften und Journalismus. Ein wichtiger Bericht war jener des Institute of Medicine (1992). Laurie Garrett`s The coming Plague and Richard Preston`s The Hot Zone erschienen beide in 1994. 13 Siehe Fearnley (2005) für eine weiterführende Analyse.
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könnte seiner Meinung nach als Fenster zu den Ereignissen in der Umgebung dienen. Legters beschrieb in der o.a. Publikation die Ergebnisse seiner Übung aus Honolulu, mit dem Ziel die Verjüngung der Tropenmedizin herbeizuführen, da die Generation, die während des 2. Weltkrieges hierin angelernt wurde, inzwischen in Rente gegangen sei. Er wies auf die damit verloren gegangenen Fähigkeiten der USA in den Bereichen der Epidemiologie, Diagnose und Behandlung von tropischen Krankheiten hin. Sein Beitrag identifizierte zweierlei: die Quelle der neuen Krankheitsbedrohung, entlang der Linie von Morse und Lederberg, sowie die institutionellen Reaktionen, die notwendig wären, ein solches System umzusetzen: ein globales Überwachungssystem, um Ausbrüche zu identifizieren; ein Labor-System, um die Erreger zu charakterisieren; ein Berichtswesen, um die Welt-Gesundheitsgemeinschaft zu warnen; und die akademische Ausbildung einer neuen Generationen von Tropenkrankheits-Experten.
Krankheit als Bedrohung der nationalen Sicherheit Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Morse (1993) wurde das „Auftreten von infektiösen Krankheiten“ noch nicht als Problem der nationalen Sicherheit aufgefasst. Dieses änderte sich jedoch innerhalb des nächsten Jahrzehnts, als sich das Thema der infektiösen Krankheiten mit der steigenden Angst vor Bioterrorismus vermischte. Wie wir sehen werden, waren die Szenarien-basierten Übungen zentral für diese Entwicklung. In der Mitte der 90er Jahre machte die Runde, dass ein enormes, geheimes Bio-Waffen-Programm der Sowjets, welches während des Kalten Krieges eingeführt worden war, weiter existiere und in diesem eine größere Anzahl von Wissenschaftlern beschäftigt wären, deren Aufenthaltsort inzwischen unbekannt war.14 D.A. Henderson war einer der prominentesten biomedizinischen Experten – neben Joshua Lederberg – welcher die neue bioterroristische Bedrohung mit dem Problem der auftretenden Krankheiten in Verbindung brachte. Henderson vertrat die Auffassung, dass ein globales Krankheitsüberwachungssystem für beide Bedrohungsarten nützlich sei: gegenüber auftretenden Krankheiten und dem sich verbreitenden Wissen über Bio-Waffen. 1998 gründete er das John Hopkins Centre for Civil Biodefense Studies, welches zur führenden Wissensproduktionsstätte rund um die neuen biologischen Bedrohungen avancierte. Die CDC entwickelte angesichts der wahrgenommenen bioterroristischen Bedrohung eine Reihe von Initiativen. Eine davon war ein Program der globalen 14 Das Programm wurde von einem der Leiter, Ken Alibek (1999), in Biohazard beschrieben sowie von Judith Miller und ihren Kollegen (Miller et al. 2001) in ihrem Bestseller Germs.
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Krankheitsüberwachung, die sich an Emerging Viruses orientierte. Eine andere war die Einrichtung des Office for Bioterrorism Preparedness and Response, welches jährlich lokale Public Health Einrichtungen mit 40 Millionen Dollar bezuschusste. Kritiker wie Tara O`Toole vom Hopkins Biodefense Center hielten dagegen, dass diese Maßnahmen nicht annähernd ausreichen würden (O`Toole 2001). Die Frage war, wie die offiziellen Vertreter davon überzeugt werden konnten, das Problem in Angriff zu nehmen. Diese Bedrohung unterschied sich von dem, womit sich die Public Health Experten bislang konfrontiert sahen. Es gab keine historische Aufzeichnung aufgrund derer man die Auftretenswahrscheinlichkeit hätte schätzen können oder mit der man die effektivste Intervention hätte kalkulieren können. Auch waren die infektiösen Krankheiten kein Problem, mit welchem sich die Experten der nationalen Sicherheit bislang konfrontiert sahen. Welche Erfahrungen also konnten den Anschein von Dringlichkeit vermitteln und die notwendigen Informationen hervorbringen? Unter der Führung von O`Toole ging das Hopkins Biodefense Center eine Zusammenarbeit mit Kuppermans ehemaligem Think Tank, dem Center for Strategic and International Studis ein. Sie entwarfen ein Planspiel, das einen PockenAnschlag auf die Vereinigten Staaten simulierte.15 Die Übung, die „Dunkler Winter“ genannt wurde, fand auf der Andrews Air Force Basis im Juni 2001 statt. Sie zielte auf die einflussreichen Experten der nationalen Sicherheit sowie Regierungsvertreter. Die Teilnehmer spielten Mitglieder der National Security Council (NSC), wie z.B. den ehemaligen Senator Sam Nunn in der Rolle des Präsidenten, den ehemaligen Berater David Gernen als nationalen SicherheitsBerater und Robert James Woolsey als ehemaligen Leiter der CIA (wobei er die Rolle, die er in der Clinton Administration innehatte, wiederholte). Die Übung fand in drei Abschnitten statt und lief über zwei Tage. Sie stellte die Zeitspanne der zwei Wochen nach dem eigentlichen Anschlag dar. Das erste NSC-Treffen legte den Mitgliedern des Rats die Situation dar. Es gab Berichte eines Ausbruches der Pocken in Oklahoma City, bei denen man davon ausging, dass sie das Ergebnis eines terroristischen Anschlags waren. Die Auftaktfragen für den Rat waren technischer Art: „Mit einer Verfügbarkeit von nur 12 Millionen Portionen des Impfstoffes, was ist die beste Strategie, um den Ausbruch einzuschränken? Sollte es nationale oder einzelstaatliche Impf-Pläne geben? Welches ist die beste Strategie: eine Ring-Impfung oder eine Massenimpfung?“ Das Problem war, dass es nicht genug Informationen über das Ausmaß des Anschlags gab, um eine Lösung entwerfen zu können. Beim zweiten Treffen 15 Eine dritte Organisation, das ANSER Institut, geführt von einem offiziellen Air Force Oberst und spezialisiert in Szenarien-basierten Entwicklungen, steuerte seine technische Expertise bei. Für eine Analyse der Verwendung von Szenarien in der Planung von Biosicherheit, siehe Schoch-Spana (2004).
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sah die Situation bereits düster aus. „Nur 1.25 Millionen Portionen des Impfstoffes sind noch übrig und der öffentliche Unmut wächst, je mehr der Vorrat des Impfstoffs schwindet“, war dem Szenario zu entnehmen. „Die Verteilung des Impfstoffes variiert von Staat zu Staat. Sie ist oftmals chaotisch und in einigen Gegenden führte sie sogar zu Gewaltausbrüchen.“ Die internationalen Grenzen waren geschlossen, so dass es zu Engpässen in der Nahrungsversorgung kam. In den simulierten 24-Stunden Nachrichten, die den Teilnehmern per Videoeinspielung gezeigt wurden, wurde die Regierung für ihre Reaktionen aufs Schärfste kritisiert. Dazu wurden ihnen Bilder von amerikanischen Pockenopfern gezeigt. Während die Impfstoffvorräte schwanden, wuchs zugleich der öffentliche Unmut. „Da es nicht mehr genug Impfstoff gibt, stürmen die zunehmend ungehaltenen Massen die Impf-Kliniken“, ließ das Szenario weiterhin verlauten. „Bei Unruhen an einer der Impf-Stellen in Philadelphia starben zwei Menschen. An einer anderen Impf-Stelle fielen aufgebrachte Bürger über die Impfärzte her“ (Johns Hopkins Center for Civilian Biodefense et al. 2001: 24). Beim vierten NSC Treffen gab es bereits Tausende Tote und die Situation verschlimmerte sich zusehends. Die Übung endete am Eskalationspunkt der Katastrophe: Es gab keinen Impfstoff mehr und es war für etliche Wochen auch keiner in Sicht. Der Sinn der Übung war, den Vertretern der nationalen Sicherheit ein Gefühl davon zu vermitteln, wie sich ein derart beispielloses Ereignis entwickeln könnte. Die Übermittlung dieser Erkenntnis kam auch einem weiteren Kreise von Personen zu Gute als nur den Teilnehmern der Übung. Mittels einer ganzen Reihe von Briefings, die ein Video mit der realistischen Darstellung des Vorfalls enthielten, wurden z.B. der Vizepräsident Cheney, DHS Sekretär Tom Ridge und zentrale Kongressabgeordnete in die Effekte des Szenarios mit einbezogen. Die Übung war alleine dadurch erfolgreich, dass sie die Teilnehmer und später auch den weiteren gebrieften Kreis, davon überzeugen konnte, dass es eine höchste Dringlichkeit gab, sich auf Bio-Anschläge vorzubereiten. Woolsey bemerkte hierzu, dass man es nun mit einem neuen Feind zu tun hatte: „wir sind es gewohnt über unsere Gesundheitsprobleme als natürlich auftretende Probleme zu denken, und damit befinden wir uns außerhalb des gedanklichen Konzeptes von bösartig handelnden Personen.“ Mit Krankheiten als Instrumente eines Anschlages, „befinden wir uns in einer Welt, in der wir bisher noch nie gewesen sind.“ Die Übung konnte eine Reihe von Verwundbarkeiten aufzeigen. Erstens verfügten die offiziellen Vertreter nicht über ein Echt-Zeit-Empfinden – eine „situative Wachsamkeit“ – gegenüber den verschiedenen Aspekten der Krise, während die sich entwickelte. Die Szenario-Designer formulierten dies so: „Dieses Fehlen von Informationen, die zentral für die situative Wachsamkeit der Verantwortlichen im Szenario Dunkler Winter ist, zeigt deutlich, dass nur wenige Systeme existieren, die den zügigen Informationsfluss zwischen medizinischen und
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Public Health Institutionen sicherstellen können, die in einem derartigen Notfall notwendig sind“ (O`Toole et al. 2002: 980). Zweitens konnten die Verantwortlichen ohne einen ausreichenden Vorrat an medizinischen Gegenmaßnahmen die Krise nicht angemessen managen. Drittens, gab es eine Kluft zwischen Public Health und nationaler Sicherheits-Expertise: „Es ist nicht nur eine Frage des vorhandenen Impfstoffs“, meint Woolsey. „Es ist auch eine Frage, wie wir die Fachkreise der Public Health und die der nationalen Sicherheit unter ein Dach bekommen, damit wir die verschiedenen Facetten des Problems bewältigen können.“ Die Teilnehmer hatten ganz konkrete Verbesserungsvorschläge. Nunn plädierte für eine Impfung von Rettungskräften weit im Vorfeld eines Anschlages: „jeder der Personen, die ihr mobilisieren müsst, muss geimpft werden. Du kannst nicht erwarten, dass sie da reingehen und sich oder ihre Familien den Pocken oder einem anderen tödlichen Virus aussetzen, ohne dass sie vorher geimpft werden.“ Hauer, ein ehemaliger New York City Notfallmanager, thematisierte das Problem der Impfstoffverteilung in den Städten: „Die logistische Infrastruktur, die man benötigt, um die Menschen in New York City, Los Angeles und Chicago zu impfen, ist schlicht unfassbar.“ Die grundlegendere Lektion des ganzen Szenarios war jedoch die Erkenntnis, dass ein Anschlag zuvor imaginär herbeigeführt werden muss, damit man für ihn gewappnet ist. Hamre formuliert das so: „Wir hatten keine Strategie wie man damit umgehen sollte, weil wir das Ganze nie gedanklich durchgespielt hatten. Die ganze Krise systematisch durchzuspielen wird nun ein Kernelement dessen sein, was notwendig ist. Ganz klar werden noch viele weitere Übungen benötigt.“
Auf dem Weg zur „Bio-Preparedness“ In der Zeit zwischen 2001 und 2005 konnte man eine massive Aufstockung des zivilen Bio-Verteidigungsetats der USA beobachten, die Teil der RegierungsReaktion auf die Anschläge des 11. Septembers sowie der Anthrax-Briefe16 waren. Bis 2005 waren die Anstrengungen der Biologischen US-Preparedness auf die spezifischen Bedrohungen wie Pocken oder Anthrax gerichtet. Der Ausbruch von SARS in 2004 sowie die zunehmende Aufmerksamkeit hinsichtlich einer sich entwickelnden Vogelgrippenpandemie waren der Grund, dass sich die BioSicherheits-Experten einem breiteren Spektrum der Krankheitsbedrohungen zugewendet haben. Dieser Prozess wurde durch die fehlgeschlagene Reaktion der Regierung auf die Katastrophe des Hurrikan Katrina noch einmal intensiviert. 16 Die Kosten für die zivile Bio-Verteidigung stiegen von $294.8 Millionen im Jahr 2001auf $7.6 Milliarden im Jahre 2005 (siehe Lam/Franco/Schuler 2006).
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Für die Vertreter der Preparedness-Rationalität war Katrina eine lebensnahe Übung, die die Lücken im System der Preparedness aufzuzeigen vermochte. Das Problem der Vogelgrippe erschien – bezogen auf die Verletzlichkeit der nationalen Public Health Infrastruktur – nun in einem anderen Licht. Für Senator Richard Burr, seines Zeichens Vorsitzender des Unterkomitees der Public Health Preparedness, offenbarte Katrina die instabile Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitssektors auf allen Regierungs-Ebenen, die in einen derartigen Notfall involviert sind (US Senate 2006c). Burr zufolge war die Herausforderung vergleichbar mit der Errichtung der nationalen Highway Infrastruktur der 1950er. „Für das Wohl der Volksgesundheit und ihren Schutz benötigen wir ein nationales standardisiertes Gesundheitssystem“, so Burr. Solch ein System müsste über die Vorbereitung auf bekannte Bedrohungen hinausgehen: „Die Frage, die sich stellt, ist: Sind wir schlau genug, um eine Schablone zu entwerfen, die uns die zukünftigen Bedrohungen angehen lässt, die wir noch nicht kennen?“ Wie sollte ein System, welches das Unerwartbare vorhersehen musste, notwendigerweise aussehen? Die Aufgabe war, die Bestandteile eines biologischen Preparedness Systems auf der Basis des Wissens über die Verwundbarkeit der Vergangenheit zu kreieren. Den Behördenvertretern zufolge war das gravierendste Problem, welches durch den Hurrikane Katrina offengelegt wurde, das der Verortung der Verantwortung in einer Notfall-Situation. Der ehemalige Heimat-Sicherheits-Berater Richard Falkenrath sagte, dass „die staatlichen und lokalen Gesundheitsbehörden nicht fähig seien, die Reaktionen auf einen katastrophenartigen Krankheitsvorfall angemessen zu koordinieren.“ Das Gesundheitsministerium, so Falkenrath (2006) weiter, „wird ganz einfach nicht in der Lage sein, die Erwartungen der amerikanischen Bevölkerung an die Bundesbehörden im Falle einer Katastrophe wie einer tödlichen Pandemie oder eines gravierenden bioterroristischen Anschlages zu erfüllen.“ Er war insbesondere besorgt, dass es zu Unruhen in der Bevölkerung kommen könnte, die auf „das Fehlen von vitalen, lebensrettenden Gegenmaßnahmen hinsichtlich der in Frage kommenden Krankheit“ zurückzuführen wären, so wie es sich beim Szenario Dunkler Winter abspielte. Falkenrath konzentrierte sich auf die Logistik der Impfstoffverteilung als das zentrale Problem, welches angegangen werden müsste. „Ich meine etwas sehr, sehr Spezifisches, das helfen wird, die lebensrettende Medizin zu riesigen Bevölkerungsgruppen in sehr, sehr kurzer Zeit zu bringen. Denn sie sind zu diesem Zeitpunkt verängstigt, weil sie von einer Krankheit mitbekommen, von der sie nicht wissen, wie sie mit ihr umgehen sollen.“ Falkenrath zitiert dazu Belege aus „einer großen Bandbreite von Planspielen und Simulationen“, um seine Behauptung zu untermauern, dass die staatlichen Gesundheits-Behörden nicht über die operativen Fähigkeiten verfügen würden,
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um die medizinische Versorgung in einer Krise sicher stellen zu können. „Die Implikationen seien unausweichbar: die Umsetzung der Pläne, sofern sie in Kürze einem ernsthaften Katastrophen-Szenario unterzogen würden, würden fehlschlagen.“ Damit einher gingen klare politische Konsequenzen: der nationale Reaktions-Plan sollte dahingehend korrigiert werden, dass die Verteilung des medizinischen Bestandes im Falle eines Krankheits-Katastrophe auf das Militär übertragen werden sollte. Dies geschah auf Anordnung des Präsidenten. „Nur das Verteidigungsministerium verfügt über die Planungs-, Logistik- und personellen Ressourcen, die medizinische Rettungsaktionen auf nationaler Ebene bei einem Krankheits-Katastrophen-Szenario in der Originalgrößenordnung benötigen.“ Die Szenarien-basierte Übung realisierte also die Autorisierung von Wissensansprüchen in Abwesenheit eines realen Ereignisses. Am Ende des Jahres hatte sich der Kongress des Problems der BioPreparedness in einer nachhaltigen, umfassenden Art und Weise angenommen: Der Titel des Erlasses lautete: „The Pandemic and All-Hazards Preparedness Act of 2006.“ Selbst Kritiker des vorangegangenen Plans priesen den Gesetzeserlass als „Meilenstein“ der Public Health Gesetzgebung (Mair/Maldin/Smith 2006). Das Gesetz enthielt eine Reihe von Maßnahmen: von der Reorganisation der Bundesgesundheitsverwaltung bis zu Finanzierunghilfen der lokalen und staatlichen Gesundheitsinstitutionen, der Ausbildung von epidemiologischen Ermittlungsbeamten, und einer neuen biomedizinischen Forschungsinitiative. Ein Kernelement des Gesetzes war das Bestreben danach, wie ein umfassendes „System“ der Bio-Preparedness installiert werden könnte. Eines, das sich von der Krankheitsaufdeckung über die Impfstoffproduktion ausweitete, bis hin zu den Beziehungen zwischen den verschiedenen Regierungsakteuren in verantwortlichen Positionen. Dieses System war nicht nur spezifisch auf Grippe-Pandemien ausgerichtet, sondern auf eine grundsätzliche Form der biologischen Bedrohung: das unvorhersehbare, aber potentiell katastrophenartige Krankheitsereignis. Es gab eine grundsätzliche Übereinstimmung unter den Bio-Preparedness Vertretern, dass das Angehen dieser Bedrohung nicht nur eine Frage der Public Health war, sondern eine der nationalen Sicherheit. Während die Verbindung zwischen nationaler Sicherheit und Public Health an sich nichts Neues war, war es der Versuch die Institutionen, die Wissensformen und die InterventionsTechnologien, welche in der Zeit der modernen Public Health entwickelt wurden, in ein grundlegendes System der Preparedness zu integrieren, und damit in den Kontext einer weiteren Sicherheitsproblematik, die die Verletzlichkeiten der lebenswichtigen staatlichen Systeme fokussiert.
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Fazit Zum Schluss möchte ich die Kampagne gegen die Schweinegrippe von 1976 mit den Pandemie-Preparedness Maßnahmen, wie sie drei Jahrzehnte später entwickelt wurden, vergleichen.17 Bei einer schematischen Gegenüberstellung kann man feststellen, dass sich die zwei technologisch-politischen Reaktionen grundlegend in der Art unterschieden, wie sie einer Krankheitsbedrohung gegenübertraten (vgl. Graphik 2). Der erste Vergleichspunkt ist die Auffassung von der Bedrohung, die gemanagt werden soll. Die Maßnahmen von 2005/06 richteten sich nicht nur auf die spezifische Bedrohung eines neuen und ansteckenden GrippeErregers, sondern auch auf die generische „katastrophenartige KrankheitsBedrohung“. Zweitens, unterschied sich das Ziel der Interventionen: während die 1976er Kampagne auf die nationale Bevölkerung abzielte und sich dafür klassischer gesundheitswissenschaftlichen Methoden bediente, waren die späteren Pläne auf diverse Elemente der Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitssystems gerichtet. Dies galt für die Vereinigten Staaten ebenso wie auf einer globalen Ebene und umfasste die Krankheitsüberwachung, die Fähigkeit Gegenmaßnahmen zu entwickeln und zu verbreiten und die administrative Organisation der Reaktion. Der dritte Vergleichspunkt ist die Art des Wissens, das dazu eingesetzt wurde, die Expertenmeinungen über die erforderlichen Interventionen zu autorisieren: Während in 1976 die statistische Risikokalkulation basierend auf historischen Krankheits-Vorfällen die Maßgabe war, lag bei der Vogelgrippe die Betonung der Experten auf dem Wissen, das durch die imaginativen Verfügungen auf der Basis eines einzelnen Ereignisses generiert wurde.
17 Natürlich war das keine vergleichbare Situation: Zum Teil, weil das Bewusstsein gegenüber der Pandemie- Bedrohung in 2006 auf die enorm gestiegenen globalen Überwachungsmöglichkeiten zurückzuführen ist. Wichtig ist dabei, dass die in 2006 vorherrschenden Preparedness-Maßnahmen – inklusive der Überwachung der Krankheitsentwicklungen – in dieser Dominanz in 1976 noch nicht existent war.
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Tabelle 2: Graphik 2: Vergleich der Reaktionen Kampagne gegen die Schweinegrippe
PandemiePreparedness
Art der Bedrohung Normative Rationalität Ziel
spezifisch Prävention
generisch Preparedness
Nationale Bevölkerung
Wissensform Interventionstechnik
Risikokalkulation Massenimpfung
Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitssystems Imaginäre Übung Kapazitätsaufbau
Durch den Kontrast dieser beiden Fälle wird deutlich, dass ein Ansatz der Vitalen Systeme an der Schnittstelle zur Bevölkerungssicherheit entsteht, aber auch, dass er eingeschränkt ist durch die Art der Probleme, die er ins Visier nimmt. Es ist nicht so, dass die beiden Formen von Sicherheit notwendigerweise im Kontrast zu einander stehen oder sich ausschließen würden, vielmehr steht die Sicherheit der Vitalen Systeme in reflexiver Beziehung zur BevölkerungsSicherheit und versucht ihre Bestandteile als „kritische Infrastruktur“ zu definieren, deren Verletzlichkeiten gelindert werden müssten. Wenn sich die politische Aufmerksamkeit auf die Sicherheit der kritischen Infrastruktur richtet und nicht mehr auf die Bevölkerungssicherheit, werden nur ganz bestimmte Probleme als Ziele der Interventionen sichtbar. Während die Public Health Vertreter auf die globalen Lebensbedingungen wie Armut, den Zugang zur Gesundheitsfürsorge, einer anständigen Unterbringung etc. als Haupt-Ursache der Bedrohung von ansteckenden Krankheiten hingewiesen haben, zielten die Reaktionen auf die VogelGrippe ganz im Sinne der Preparedness Maßnahmen nur auf die technischen Aspekte des Ausbruchs. Die Lebensbedingungen der Bevölkerungen standen außerhalb des Sichtfeldes des Bio-Preparedness Systems. Anders ausgedrückt ist ein funktionierender Sicherheitsapparat des Vitalen Systems auf die erfolgreiche Versorgung einer Bevölkerungssicherheit angewiesen. Ohne sie kann es nicht funktionieren. Doch in einer Zeit, in der die Regierung gegenüber den Bedürfnissen der Bevölkerung eher skeptisch gestimmt ist, ist es einfacher, politische Interventionen mit dem Argument des Notfalls zu legitimieren als sich gegen tägliche Gesundheitsrisiken zu engagieren. Eine solche Aufmerksamkeit, die sich auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung richtet, wäre aber notwendig, um kontinuierliche Risiken gegenüber der Gesundheit und dem Wohlbefinden abzufangen. Dies zu ignorieren, führt im Falle eines Notfalls zu noch viel größe-
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Autoren/Autorinnen
Oliver Decker, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Angestellter in der Abt. f. Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig. Arbeitsschwerpunkte: Kritische Theorie, gesellschaftlicher Wandel, Sozialpsychologie der Medizin. Andreas Hanses, Dr. phil., Professor für Gesundheitsförderung und Prävention am Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften, Fakultät Erziehungswissenschaften an der TU Dresden. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheits- und Krankenforschung, Biographieforschung und qualitative Methoden, Theorie und Professionalisierung der Sozialen Arbeit. Wendy Fitzgibbon, Dr. phil., ist Senior Lecturer für Kriminologie an der Middlesex University. Arbeitsschwerpunkte: Risikoanalyse und Bewährungshilfe/Führungsaufsicht. Heiner Friesacher, Dr. phil., Pflegewissenschaftler und Dipl. Berufspädagoge, Freier Dozent an diversen Hochschulen. Arbeitsschwerpunkte: Theoretische Grundlagen pflegerischen Handelns, Ethik und Sozialphilosophie, Professionsund Qualitätsentwicklung. Tobias Grave, Staatsexamen für das höhere Lehramt Deutsch und Ethik/ Philosophie, war bis 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem DFG-Projekt zur Universitätsgeschichte. Er promoviert z.Zt. im Fach Philosophie. Frauke Koppelin, Dr. rer. Biol. Hum., Professorin für Gesundheitswissenschaften an der Fachhochschule Emden/Leer. Arbeitsschwerpunkte: Frauen- und Geschlechterforschung, Arbeit und Gesundheit, Häusliche Pflege/Pflegende Angehörige, Medizinsoziologie u. Gesundheitspsychologie sowie Empirische Sozialforschung (quantitative und qualitative Methoden). Andrew Lakoff, Ph.D., ist Assoc. Professor der Anthropologie, Soziologie und Kommunikation an der University of Southern California. Arbeitsschwerpunkte:
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Autorinnen und Autoren
Wissenschafts- und Techniksoziologie, Globalisierung, Ethnographie, Geschichte der Humanwissenschaften. Matthias Leanza, Dipl.-Soz., arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. In seinem Promotionsvorhaben untersucht er in genealogischer Perspektive die semantischen Herkunftslinien des Präventionsschemas. Rainer Müller, Dipl.Soz., Dr. med., Professor für Arbeits- und Sozialmedizin an der Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik. Forschungsschwerpunkte: Arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren und Erkrankungen, Geschichte der Arbeitsmedizin, institutionelle Regulierung von Berufsverläufen und Erkrankungsprozessen, institutionelle Verständnisse bei Krankenkassen über Rehabilitation und Gesundheitskonzepte, Professionalisierung von Betriebsärzten, sozialer Ungleicheit vor Krankheit und Tod, Belastungen und Beanspruchungen bei Jugendlichen bzw. Auszubildenden im Handwerk. Bettina Paul, Dr. phil, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Schnittstelle Gesundheit und Kriminologie; Drogenkontrolle (insbesondere Drogentests) und Hafensicherheit. Barbara Prainsack, Dr. phil., ist Senior Lecturer am Centre for Biomedicine & Society (CBAS), King’s College London/UK. Forschungsschwerpunkt: Identitätsfragen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Craig Reinarman, Ph.D., Professor für Soziologie an der University of California, Santa Cruz. Arbeitsschwerpunkte: Recht, Kriminalität und Soziale Gerechtigkeit; Gesellschaft und Drogen, politische Soziologie. Bettina Schmidt, Dr. phil., Professorin für Gesundheitswissenschaften an der ev. FH Bochum, Fachbereich Soziale Arbeit. Autorin von: Eigenverantwortung haben immer die Anderen: Der Verantwortungsdiskurs im Gesundheitswesen. Bern: Hans-Huber. Henning Schmidt-Semisch, Dr. phil., Professor für Public Health am Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Sucht- und Drogenpolitikforschung, Soziologie sozialer Probleme, gesundheitlicher Risken und sozialer Kontrolle, Gesundheitsförderung und Prävention, Kriminalpolitik und Strafvollzug.
Autorinnen und Autoren
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Fritz Schorb, Soziologe (Mag. A.), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Problemkarriere des Übergewichts, Selbstführungsdiskurse in der Sozial- und Gesundheitspolitik, Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Heino Stöver, Dr. rer.pol., Professor für Soziale Arbeit und Gesundheit mit dem Schwerpunkt „Sozialwissenschaftliche Suchtforschung“ an der Fachhochschule Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: in den Bereichen Drogenkonsum, Infektionskrankheiten, Gesundheit im Gefängnis, Sozial- und Gesundheitsplanung. Gesa Thomas, Dipl. Soz.päd./Dipl.Krim., arbeitet zur Zeit als Sozialpädagogin in der Jugendhilfe. Ihr kriminologischer Arbeitschwerpunkt liegt auf der Zensur (von Drogenaspekten) im Comic.