INA KRAMER
DIE LÖWIN VON NEETHA Das Leben der heiligen Thalionmel erzählt von einem Freund Teil 1 Vierter Roman aus de...
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INA KRAMER
DIE LÖWIN VON NEETHA Das Leben der heiligen Thalionmel erzählt von einem Freund Teil 1 Vierter Roman aus der Aventurischen Spielewelt
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6004
Den Freunden gewidmet, die mich unterstützt und mir Mut gemacht haben
Redaktion: Ralf Dürr & Friedel Wahren Copyright © 1995 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München und Schmidt Spiele + Freizeit GmbH, Eching Printed in Germany 1995 Umschlagbild: Attila Boros Kartenentwurf (Seite 8/9): Ralf Hlawatsch Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-53-08679-1
DAS LIED DER LÖWIN VON NEETHA Thalionmel - Wer ist Thalionmel?* Thalionmel war eine Kriegerin, Sie hielt unsre Brücke mit tapferem Sinn, Sie hat uns gerettet, sie trägt die Kron, Sie starb für uns, unsre Liebe ihr Lohn. Thalionmel. Einst hatte ein Bauer ein Töchterlein hold, Die Augen so blau und die Haare wie Gold, Gar schön von Gestalt und von aufrechter Art, Eine bessere Maid nie gesehen ward. Thalionmel. Zu Neetha im Tempel der Löwin so kühn, Dort sah man die Jungfrau beim Standbilde knien. Der Göttin Gefallen erregte sie bald, Denn stolz war ihr Sinn, hoch ihre Gestalt. Thalionmel. Rastullah, der Wüstendämon, voll Neid, Mißgönnte Frau Rondra die mutige Maid, »Vernichtet dies Weib und brennt nieder die Stadt«, So befahl er im Grimme den Beni Novad. Thalionmel. * Dank sei dem irdischen Dichter Theodor Fontäne, dessen Ballade vom tapferen Steuermann den aventurischen Poeten inspirierte. 4
Und der Wüstensöhne finsterer Hauf, Zu Hunderten brachen gen Neetha sie auf, Bedeckten das Land mit Feuer und Tod, Getreu ihres grausamen Götzen Gebot. Thalionmel. Und als sie sich endlich Neetha genaht, Da hatten gehalten sie blutige Mahd, Und sie riefen voll Wut: »Nun soll fallen die Stadt, Wie Rastullah, der Eine, geboten uns hat!« Thalionmel. Und die Bürger von Neetha, die fragten verzagt: »Gibt es einen hier, der zu kämpfen wagt?« Da rief Thalionmel: »Frau Rondra zur Ehr Will aufhalten ich der Ungläub‘gen Heer!« Thalionmel. Und sie hielt unsre Brücke, der Leuin gleich, Und ihr blinkendes Schwert führte manchen Streich, Und sie focht bis zum Abend mit Löwinnenmut, Und der Chabab ward rot von der Feinde Blut. Thalionmel. Von Wunden bedeckt und von Pfeilen durchbohrt, Focht sie bis zum Tode getreu ihrem Wort. »Hilf, Herrin Rondra, und steh uns bei!« So hallte zum Ufer ihr letzter Schrei. Thalionmel.
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Da machte Frau Rondra in göttlicher Wut Das Wasser des Chabab zur reißenden Flut, Die der Ungläub‘gen Heerschar wohl mit sich nahm, Und nicht einen gab es, der ihr entkam. Thalionmel. So ward Neetha gerettet nach Rondras Rat, Und durch Ihrer Dienerin Opfertat, Du blühende Blume, du Kriegerin hell, Unsre Liebe dein Lohn, heil‘ge Thalionmel.
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un, da ich das Ende nahen fühle und mir nicht mehr viel Zeit bleibt, will ich alles so aufschreiben, wie es sich wirklich zugetragen hat. Viele Jahre war ich in ihrer Nähe, viel näher vielleicht, als sie je vermutete, und ich glaube, sagen zu dürfen: Ich habe sie wirklich gekannt. Auch bei ihrem Opfergang war ich zugegen, nicht auf der Brücke - natürlich nicht! - und auch nicht unmittelbar dahinter. Aber ich sah sie, konnte den Blick nicht abwenden von diesem Bild, so gleißend schön und grauenhaft. Damals, als alles vorüber war, da wünschte ich mir in meinem erstorbenen Herzen, die Pfeile der Ungläubigen hätten auch mich durchbohrt, und die Flutwelle hätte auch mich hinfortgespült. Ja, so empfindet man wohl, wenn man zwanzig ist. Nun bin ich zweiundneunzig und fühle: Alles ist vollbracht, und die hitzige Jugend mit ihren Hoffnungen, Sehnsüchten und Leidenschaften ist fern und fremd und kaum mehr Teil meiner selbst. Alles noch einmal heraufzubeschwören, das wird nicht einfach werden, denn meine Seele ist die eines alten Mannes, der sich nach Ruhe sehnt - der 9
Ruhe in Borons Schlafgemach. Wie wird der Übergang sein? Ob es ein Kampf wird? O nein, ich mag nicht mehr kämpfen. Ich bin des Kämpfens müde, will schlafen, schlafen, schlafen... Doch muß ich dies Werk noch vollbringen, bevor ich mich zur Ruhe legen kann, denn wer wird es tun, wenn nicht ich? Wer kann es tun? Vielleicht bin ich der einzige Überlebende aus jener fernen Zeit, der einzige Augenzeuge ihrer großen Tat und mancher ihrer geringeren, der einzige, der ihre Geschichte kennt. Vergib mir, Harika, geliebtes Weib, getreue Gefährtin so vieler Jahre, daß ich nicht über dich schreibe, die du doch auch eine Heldin warst und ebensowenig eine Heilige wie sie. Hast du nicht unter Schmerzen fünf Kinder zur Welt gebracht, sie unter Entbehrungen aufgezogen, sie ohne Murren und Wehklagen in die Welt entlassen, damit sie dort umkommen... Doch weder von dir soll ich schreiben noch von mir, denn unser Lebensweg war so, wie viele Lebenswege sind, so einzigartig er uns auch erscheinen mochte: Unsere Freuden waren gewöhnlich, unsere Leiden gering und unsere Opfer ohne Belang. Und keiner der Zwölf hat je auf uns geschaut oder nach uns gerufen. Wir mußten - oder durften - nicht Werkzeug der Götter sein, waren nicht Teil eines göttlichen Planes und konnten viele lange Jahre auf Deres Antlitz wandeln, ich um so viele Jahre mehr als du, wie mein Alter betrug, als sie fiel. Aber vielleicht war auch das Teil eines göttlichen Planes... Welch für seltsame Berechnungen und Gedanken 10
sind das? Oh, Hesinde, vergib mir meine greisenhafte Geschwätzigkeit! Verhüte, daß ich mich hinreißen lasse, mein Leben zu erzählen statt das ihre! Was war ich wohl für sie, was habe ich ihr bedeutet? Das habe ich mich oft gefragt. War ich ihr Seelenfreund, ihr Vertrauter? Ach, ich glaube, sie hat in mir nie mehr gesehen als einen dummen Bub, dem man sich getrost öffnen und bei dem man das Herz erleichtern mag, ohne Rat zu erwarten oder sich eine Blöße zu geben, so wie man wohl zu einem freundlichen Hund über seine Nöte und seinen Kummer spricht. Und doch bewahre ich jedes ihrer Worte in meinem Herzen wie einen Schatz, denn ich habe sie geliebt. Als ich sie das erste Mal sah - ich war zehn damals und sie elf -, da wußte ich, daß ich sie liebe und daß diese Liebe niemals erwidert werden würde. Dabei war sie gar nicht so schön, wie uns die Legenden und Balladen weismachen wollen, und auch nicht immer so tapfer. Was rede ich, natürlich war sie schön - groß, schlank und hell -, nur eben nicht so schön wie auf dem Wandbild im Ratssaal zu Neetha. Dazu war ihre Nase ein wenig zu spitz, und ihre Augen standen ein wenig zu dicht beieinander. Oh, diese wunderbaren Augen! Hellblau wie der Morgenhimmel an einem kalten Herbsttag und mit goldenen Lichtern darin. Und wie sie einen anschaute - so aufmerksam und eindringlich, als wolle sie auf den Grund der Seele blicken. Wahrscheinlich war es nur eine Angewohnheit und hatte nichts zu bedeuten. Meine Seele wollte sie gewißlich nicht ergründen. 11
Ja, die Legenden und Balladen, ›Das Lied der Löwin von Neetha‹, diese Unsäglichkeit in Reimen! Warum erzählen Lieder nie die Wahrheit? Weder war sie ein Bauernkind - oder doch nur insoweit, wie man einen Gutsherrn einen Bauern nennen mag -, noch war sie eine Jungfrau. Sie war eine Frau, schon damals, als ich ihr zum zweitenmal begegnete. Doch was tut es zur Sache? Schmälert es ihre Tat? Wird ihr Opfer geringer dadurch? Und sie war auch keine ›eben erblühte Blume‹, oder wie auch immer es in dem Machwerk heißen mag. Als sie ihr Leben hingab, um Neetha zu retten, da war sie eine erfahrene Kriegerin von einundzwanzig Jahren. Wer ich bin, willst du wissen, lieber Leser? Ich bin ein Nichts ohne Namen, ein fortgelaufener Praiosschüler, ein kleiner Schreiberling, ein unbedeutender Kalligraph. Aber vielleicht bin ja auch ich Teil eines Planes und der göttlichen Fügung. Vielleicht hat sie mir nur deshalb ihr Leben erzählt, mir ihr Herz offenbart und mich in ihrer Nähe geduldet, damit ich dermaleinst niederschreibe, was ich sah und hörte. Und vielleicht bin ich nur deshalb Schreiber geworden, damit ich es auch niederschreiben kann. Doch nun will ich mein Werk beginnen, denn viel Zeit bleibt mir nicht, es zu vollenden. Das erste Mal traf ich sie zur Praiosstunde im Tsamond am Hafen von Neetha. Das zweite Mal begegnete ich ihr in einer stinkenden Gasse in Eldoret. Ihr Leben währte damals dreizehn Götterläufe und sechs Monde. Und es begann in einer stürmischen 12
Firunsnacht in einem Gutshaus nahe Neetha: Das Leben der heiligen Thalionmel.
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er Firun war ungewöhnlich hart in diesem Jahr: Seit Wochen schon blies der Beleman unverändert heftig von Efferd her, zerrte am Schilf der Dächer, drückte Bäume und Sträucher zu Boden, zauste das struppige Winterfell der genügsamen Brelak-Ziegen, trieb eisige Gischtfetzen durch die Hafengassen von Neetha und verbarg Praios‘ Antlitz hinter grauen Wolkenbahnen, die wie ein endloser Zug von Himmelsreitern vom Meer zu den Eternen flogen. »Sie tändeln wieder«, sagten die Leute mit besorgtem Blick und machten sogleich das Zeichen gegen Lästerung - ein kurzes Wedeln der Rechten vor dem Mund - als die Worte verwehten, und die Götter nicht wüßten, wer sie gesprochen hatte, auf daß Ihr Zorn den Lästerer nicht treffe. Doch war es mehr eine gut geübte und fast gedankenlose Geste - so wie man die Mütze zieht vor einer Edelfrau oder einem Edelmann und ›Praios zum Gruße‹ murmelt - als wirkliche Sorge vor dem göttlichen Zorn; schließlich wußte jedes Kind, daß der Herr Efferd wieder einmal um die stolze Frau Rondra warb, 14
wenn er die Meere aufwühlte und Stürme über Land und Wasser trieb, und alle wünschten insgeheim, die kühne Löwin möge das Werben ihres göttlichen Freiers recht bald erhören, damit Er in seiner Liebesraserei nicht Unglück über die Menschen bringe. »Ein böses Vorzeichen«, sagte Hilgert und kniff die Augen zusammen, als könne er so die grauen Schwaden besser durchdringen, die die nahen Hügelkuppen verhüllten. »Schämt Euch, Alter, wie könnt Ihr so reden«, erwiderte Damilla aufrichtig empört, »die Frau liegt in den Wehen, und jeden Moment kann sie niederkommen, und Ihr faselt von schlechten Omen.« Die dralle junge Magd war um Feuerholz für die Wochenstube geschickt worden; im Hof hatte sie den alten Stallmeister getroffen, der dort mit gespreizten Beinen und in die Seiten gestemmten Armen aufrecht dem Sturme trotzte und unverwandt nach Osten blickte. Der Wind zerrte an seiner schweren Jacke, zauste sein langes graues Haar und blies ihm die Strähnen vors Gesicht, so daß er immer wieder unwirsch den Kopf schüttelte, um den Blick zu befreien, obwohl es nach Damillas Ansicht dort, wohin er so verbissen starrte, auch nichts anderes zu sehen gab als ringsumher: treibende Wolken und Nebelfetzen, schwankende Bäume und wirbelndes Laub, Staub und Unrat, die der Sturm vor sich her trieb. Das Mädchen hatte Mühe, die Scheite, die unter dem Vordach des Pferdestalles ordentlich gestapelt lagen, in ihre Kiepe und den großen Henkelkorb zu schich15
ten, denn immer wieder versuchte der Wind, ihr die noch unbeschwerten Körbe zu entreißen. Auch war sie ängstlich darauf bedacht, ihre Röcke zu raffen und zwischen die Schenkel zu klemmen, damit kein Windstoß sie unschicklich entblößte. Ärgerlich und hastig raffte sie die Scheite zusammen, während der Wind mit ihrem langen Zopf spielte und ihn zu lösen begann. »Was schaut Ihr nur immer nach Osten«, rief sie, »dort ist doch nichts! Nach Westen solltet Ihr blicken und für die armen Fischer und Seefahrer beten, damit Efferd sie verschont.« »Es ist ein böses Vorzeichen«, beharrte Hilgert, »siebenundzwanzig Tage lang hat er noch nie gewütet, so lange ich lebe nicht. Das ist nicht der Beleman und auch nicht Efferds Leidenschaft...« Wieder warf er das Haar zurück und zog grimmig die buschigen dunklen Brauen zusammen. »Was soll‘s denn dann sein, wenn‘s nicht der Beleman ist«, entgegnete Damilla patzig, »der Baltrir vielleicht, oder der Horoban oder der...« Sie überlegte, ob ihr noch weitere der sieben Winde einfallen wollten. »Na, jedenfalls bläst der Beleman doch immer im Firun, wenn er‘s auch diesmal etwas arg treibt.« »Du bist ein Kind, du verstehst nichts.« Hilgert starrte weiter in die Ferne. Mit seinen siebenundsechzig Jahren war er zwar der Älteste des freiherrlichen Gesindes, aber wäre nicht sein graues Haar gewesen, wohl niemand hätte ihm so viele Götterläufe zugemessen. Der Stallmeister war ein hochgewachsener, ungebeugter Mann von ernster, strenger Wesensart, 16
der Geselligkeit, Trunk und Würfelspiel mied, wenig sprach und kaum jemals lachte, weswegen die meisten ihn Firutim nannten (sofern sie nicht einfach ›Alter‹ oder ›alter Mann‹ zu ihm sagten). Seine dunklen Brauen, die große gebogene Nase und die schwarzen Augen ließen vermuten, daß Tulamidenblut in seinen Adern floß und daß sein graues Haar einstmals schwarz gewesen war. »Dort drüben wird es geschehen, weit hinter den Eternen«, sprach er mehr zu sich selbst als zu dem Mädchen. »Unheil wird kommen und Umwälzung...« »Umwälzung?« Damilla hielt fragend inne. »Was meint Ihr damit?« »Ich weiß es nicht, Mädchen, ich weiß es nicht. Aber es wird aus der Wüste kommen, dorther, wohin die Geister eilen und wo die Elementare sich sammeln, um es zu verhindern... Doch zu spät, zu spät...« »Habt Ihr getrunken, das ist doch sonst nicht Eure Art, oder ist der Sturm Euch aufs Gemüt geschlagen, daß Ihr so redet?« Damilla beobachtete den alten Stallmeister ein wenig besorgt. »Warum geht Ihr nicht in Eure Stube, wärmt Euch ein wenig und betet für die Frau, daß Tsa es ihr leichtmachen möge. Und auch für das Kind, damit‘s ein schöner und gesunder Knabe wird.« Sie packte die letzten Scheite in den Korb, griff nach den Riemen der Kiepe und zog sie über die Schultern. Dabei löste sich ihr Rock aus der Umklammerung der Schenkel, und ein kräftiger Windstoß hob ihn hoch bis über den Kopf. Die Kälte und der scharfe Wind trafen ihren unter den Gewändern nackten Körper so unver17
mittelt und fast schmerzhaft, daß die Magd einen leisen Schrei ausstieß. »Bei Efferd, was für ein garstiges Wetter! Und jetzt fängt es auch noch an zu regnen!« rief sie empört, während sie hastig und wenig erfolgreich versuchte, ihre Kleider zu ordnen. Sie blickte verstohlen zu Hilgert, um zu sehen, ob er ihr kleines Mißgeschick bemerkt hätte, doch der Alte stand da so ungerührt und trotzig wie zuvor. »Ich muß mich nun sputen«, sagte Damilla, »und auch Ihr solltet besser ins Haus gehen, alter Mann, und das Spintisieren sein lassen.« Sie packte den Korb und stapfte, den Kopf eingezogen und die Augen halb zugekniffen, eilig zum Gutshaus zurück. »Das ist kein Regen, das ist Schnee«, vernahm sie Hilgerts Stimme hinter sich. »Schnee?!« Fast hätte das Mädchen den Korb fallen gelassen. Ungläubig riß sie die Augen auf. Tatsächlich, dort im Lichtschein der Laterne sah sie winzige weiße Kristalle tanzen. Und von Westen her trieb der Sturm weitere Schwaden des weißen Gewirbels herüber. »Schnee, Schnee, sieh nur, Alter, es schneit! Das muß ich der Frau erzählen.« Damilla war so aufgeregt, daß sie Wind und Kälte vergaß und gebannt das seltene Naturereignis beobachtete. »Ja, Schnee - Geister und Elementare sammeln sich in der Wüste. Mögen die Zwölfe geben, daß es nicht zu spät ist. Dem Mädchen jedoch droht keine Gefahr bislang - ich hoffe es zumindest...« ›Welchem Mädchen?‹ wollte Damilla fragen, doch als sie die Tür zur Küche aufgestoßen und sich schnau18
fend ihrer Last entledigt hatte, war die Frage vergessen. »Es schneit, es schneit!« rief sie den um das Feuer versammelten Mägden und Knechten zu. Seit Stunden streifte Freiherr Durenald von Brelak rastlos durch die Räume seines Hauses. Wo immer er sich blicken ließ, wurde er von der Dienerschaft mit so zartfühlender Freundlichkeit begrüßt und mit so leiser Stimme und so mitleidsvollem Lächeln nach seinen Wünschen gefragt, daß er sich vorkam wie ein Schwerkranker. Dabei strotzte er vor Kraft und Gesundheit. Durenald von Brelak war ein etwas untersetzter Mann Anfang der Dreißig. Braune Locken umrahmten eine breite Stirn, braun waren auch die Augen, in denen nicht selten ein schalkhaftes Lachen blitzte, und die glattgeschabten, etwas vollen Wangen und der erste Ansatz eines kleinen Bauches verliehen ihm das Aussehen eines Mannes, der mit sich und der Welt im Einklang lebt. Sein ausgeglichenes Temperament, seine Milde und Grundehrlichkeit und sein Ernst in allen geistlichen Belangen machten ihn zu einem beliebten und geachteten Herrn. Zwar hatte er in seiner Jugend, den Konventionen und Traditionen des hiesigen Landadels folgend, ein paar Jahre lang die Garnisonsschule zu Neetha besucht, hatte recht ordentlich das Fechten gelernt und ein wenig über die Kriegskunst erfahren, hatte den Rondrakult studiert und mit großem Ernst und voller Hingabe bei den Schwertfeiern im Tempel des Sieges die heiligen Lieder 19
gesungen, doch galt seine wahre Liebe der gütigen Frau Peraine: Wenn der Herr von Brelak seine Ländereien inspizierte, den Boden prüfte, die Krume nachdenklich zwischen den Fingern zerrieb und zugleich voller Stolz und Sorge die Keimlinge der neuen Saat betrachtete, dann unterschied er sich nur durch den größeren Ernst seines Tuns und das bessere Tuch seiner Gewänder von seinen Bauern. Die günstige Lage seines Gutes - zum Meer hin durch ausgedehnte Wälder vor den allzu rauhen Winden geschützt und von Nordosten her vom beständigen, auf der langen Reise jedoch von allem Sengenden befreiten heißen Lufthauch aus der Khom gestreift, zugleich mit Efferds Gaben reich, doch nicht überreichlich gesegnet, erlaubte es dem Freiherrn, neben den üblichen Feldfrüchten wie Rüben, Flachs und Korn, die stets ausnehmend gut gerieten und reiche Ernten einbrachten, auch seltene Gemüse güldenländischen Ursprungs anzubauen, wie die rotwangige saftige Tomate und die längliche, gerippte süß-herbe Paprika, denn die wenigen Frostnächte des Jahres beschränkten sich auf den Firun, und zumeist konnte schon Ende Tsa mit der Aussaat begonnen werden. Gut Brelak war noch nicht sehr lange in Familienbesitz. Durenalds Großvater waren die Ländereien in seinem achtundvierzigsten Jahre als Dank und Anerkennung für seine tätige und furchtlose Hilfe bei der Aufdeckung eines Komplottes gegen den Markgrafen von diesem als Lehen verliehen worden, wodurch der alte Robak vom landlosen Edlen zum 20
Freiherrn aufstieg. Durenalds Mutter hatte das Gut von ihrem Vater geerbt, hatte das Lehen sorgfältig, aber ohne große Begeisterung gepflegt, hatte sich vermählt und Durenald das Leben geschenkt, hatte das Gutshaus im Arivorer Stil erbaut und war so still gestorben, wie sie gelebt hatte. Das war vor zwölf Jahren gewesen, und seitdem war Durenald Herr über Brelak. Auf seiner ruhelosen Wanderung durch das Haus hatte der Freiherr nun das anheimelnd kleine warme Zimmer erreicht, das zum Spielen, Plaudern, Teetrinken und dergleichen diente und das Bibliothek genannt wurde - wegen des nicht allzu großen Bücherschrankes, in dem sich neben einigen geistlichen Büchern, ein paar Reiseberichten und Romanen, wenigen ausgewählten Werken über Kriegskunst, Staatskunst und Rechtskunde eine erkleckliche Anzahl Bände zu landwirtschaftlichen Themen befand. Achtlos nahm er ein Buch aus dem Schrank und begann darin zu blättern, während draußen der Sturm an den verschlossenen Fensterläden zerrte. Es war ein schön illuminiertes Brevier der Zwölfgöttlichen Unterweisungen, doch Durenald konnte sich weder auf den Text konzentrieren, noch entlockten ihm die zierlichen Malereien das ehrfürchtige Staunen, das er gewöhnlich empfand, wenn er sie betrachtete. Nein, er war nicht in der rechten Stimmung für eine fromme Lektüre, obwohl er doch im Augenblick nichts dringlicher brauchte als den Beistand der Götter. Viel lieber wäre er jetzt ausgeritten, doch das war nicht möglich, und er wünschte es sich auch nicht wirklich. Oder nach 21
Holzhacken stand ihm der Sinn, doch das hatten die Knechte bereits besorgt. Ach Kusmine, liebes Herz, könnte ich doch bei dir sein und dir helfen, dachte er, aber natürlich war es ihm verboten, die Wochenstube zu betreten. Vor zwei Tagen nach dem Mittagsmahl hatte sein Weib ihm zugeraunt: »Durenald, Liebster, ich glaube, nun ist es bald soweit.« Und seitdem war er nicht mehr zur Ruhe gekommen. Nicht, daß Kusmine nicht gut vorbereitet gewesen wäre, o nein, sie war eine umsichtige, vorausplanende Frau, und vor Wochen schon hatte sie sich mit der Hebamme aus dem Dorf besprochen, Unterredungen voller weiblicher Geheimnisse, bei denen seine Gegenwart unerwünscht war. Und auch nach einem Medicus aus Neetha war schon geschickt worden, denn schließlich handelte es sich um die Geburt eines edlen Kindes, und es machte einfach einen besseren Eindruck, sich nicht mit der guten Danja allein zu begnügen, die ihr Handwerk von ihrer Mutter erlernt hatte und den Bauernkindern aus Brelak auf die Welt verhalf, sondern ihr einen Studierten zur Seite zu stellen. Der junge Mann - Durenald war der Name entfallen, aber Kusmine hatte den fähigsten gewählt, dessen war er sich gewiß - wohnte nun schon seit fünf Praiosläufen in einem der Gästezimmer und wartete darauf, daß man ihn rief. Und auch die Wochenstube war schon lange vorbereitet. Im Grunde gab es keinen Anlaß zur Sorge - Kusmine war eine gesunde Frau und viel stärker, als ihr schlanker Wuchs vermuten ließ, und die Schwangerschaft war reibungslos verlaufen, mit ro22
sigen Wangen, einem bis zur Unförmigkeit schwellenden Leib und zum Schluß diesem seltsam verträumten und nach innen gerichteten Blick, den er so sehr liebte und so wenig verstand. »Wie bei einem achtzehnjährigen Ding«, hatte Danja ihm strahlend mitgeteilt, und wäre er nicht der Herr gewesen, sie hätte ihn gewiß in die Seite geknufft, denn schließlich war die Herrin schon dreißig, ein Jahr jünger als er und vier Finger größer, fügte er in Gedanken hinzu. Es war dieser ungewöhnlich hartnäckige Sturm, der ihn beunruhigte und der Kusmine nicht weniger Sorgen bereitete. Zwar hatten die Gatten, wenn sie Belanglosigkeiten über das Wetter tauschten, aus gegenseitiger Rücksichtnahme sich niemals ihre Befürchtungen eingestanden, doch kannten sie sich so gut, daß jeder um des anderen Sorgen wußte. Und dann die Schmerzen, die sie würde erleiden müssen... Heute morgen hatte er seine Frau zum letztenmal gesehen, als sie sich vor der Wochenstube feierlich von ihm verabschiedet hatte: »Leb wohl, mein lieber Mann, wir sehen uns wieder, wenn du Vater geworden bist. Bete für unser Kind und mich«, hatte sie gesagt, und dann, um die vierte Stunde nach Mittag, als der ohnehin schon dunkle Tag noch mehr verdunkelte, hatte er ihren ersten Schrei gehört, dem inzwischen weitere in immer geringeren Abständen gefolgt waren. Es lag ein grausamer Widersinn darin, daß die stolze und beherrschte Kusmine bei etwas so Alltäglichem wie einer Geburt mehr leiden mußte, als sie bei ihren wilden Schulgefechten, Mut- und Selbstbeherrschungs 23
proben und ihrem einzigen Duell je gelitten hatte, und fast haßte Durenald das Kind dafür, daß es ihr solche Schmerzen bereitete. Der Herr von Brelak erhob sich aus dem Sessel, auf dem er sich für einen Augenblick niedergelassen hatte, und stellte das Buch an seinen Platz zurück. Nein, er konnte jetzt nicht lesen, und auch das Beten war ihm unmöglich, obwohl er unablässig »Boron, verschone sie« und »Tsa, erbarme dich ihrer« vor sich hinmurmelte. Während er rastlos das Zimmer durchmaß und sich zwang, nicht voller Grauen des nächsten gräßlichen Schreis zu harren, beschwor er in seinem Geiste das Bild der Gemahlin. Er hatte Kusmine kennengelernt, als sie eben zwanzig war, doch wie sehr hatte er sich immer gewünscht, daß er ihr schon früher begegnet wäre. Zu gern hätte er das wilde blonde Mädchen gekannt und später dann die strahlende Absolventin der Vinsalter Akademie. Und wenn Durenald sich insgeheim eine Tochter wünschte, obwohl er seiner Frau einen Sohn wohl gönnte und auch oft und aufrichtig darum gebetet hatte, so deshalb, weil er dann eine kleine Kusmine heranwachsen sähe. Kusmines Familie entstammte einem alten Adelsgeschlecht aus der Domäne Malur. Da die hohe Begabung der Tochter für die rondrianischen Fertigkeiten schon früh erkannt worden war, hatte man das Mädchen mit neun Jahren auf die Vinsalter Akademie für Kriegs- und Lebenskunst geschickt. Dort war sie zu einer stolzen jungen Frau herangewachsen, im Schwertkampf stets die Jahrgangsbeste, und hatte 24
mit siebzehn Jahren ihr Abschlußexamen bestanden, mit Auszeichnungen nicht nur im Fechten, sondern auch in Etikette und rondrianischer Poesie. Ihre adelige alte Herkunft, ihr zu erwartendes, nicht eben unbedeutendes Erbteil, ihre vorzügliche Ausbildung und nicht zuletzt ihre Schönheit machten die junge Frau zu einer begehrten Partie bei den Adelshäusern des Reiches, und nicht wenige Freier warben um sie, so daß sie bald eine stattliche Sammlung von Miniaturen und Liebesbriefen in der Lade ihres Schreibtisches verwahrte. Doch bevor Kusmine ihre Wahl treffen konnte (da sie wußte, daß eine Liebesheirat eher unwahrscheinlich wäre, hatte sie sich vorgenommen, die Bewerber sorgsam zu prüfen, um einen ihr an Stand, Charakter und Gestalt ebenbürtigen Bräutigam zu finden), wurde die Familie von zwei furchtbaren Schicksalsschlägen heimgesucht: Vier Monde nach Kusmines glanzvollem Examen wurde ihr geliebter und verehrter älterer Bruder Roderick, Hauptmann bei den Kusliker Seesöldnern, von den Zorgan-Pocken dahingerafft, und kaum einen halben Götterlauf später stand die Familie am Rande des Ruins. Der alte Baron, aus Trauer um den Sohn halb umnachtet, hatte fast seine gesamte Habe in ein betrügerisches Unternehmen gesteckt, das hohe Gewinne abzuwerfen versprach - eine gepflasterte Straße durch die Khom, die natürlich niemals gebaut wurde. An Heirat war nun nicht mehr zu denken, das verbot Kusmines Stolz. Und so begab die junge Frau sich in die Obhut ihrer Tante Melsine, die bei den Truppen der markgräflichen Garnison zu Neetha den Rang einer Hauptfrau beklei25
dete. Ihr ausgezeichnetes Zeugnis, ihr Stand und ihr sicheres Auftreten verschafften Kusmine sogleich eine Stellung als Weibelin, und da sie strebsam und diszipliniert war, hätte sie es gewiß zur Obristin gebracht, wäre sie nicht Durenald begegnet. Sich an seine erste Begegnung mit Kusmine zu erinnern, bereitete Durenald immer eine besondere Freude. Es geschah in einer Hafengasse in Neetha. Dort erblickte er die junge Soldatin, als er nach einem ausgedehnten Mahl bei einem Geschäftsfreunde müßig durch die Stadt schlenderte. Sie führte einen kleinen Trupp Bewaffneter in den Uniformen der markgräflichen Gardisten, und ihre blinkende Brünne und der Federbusch auf ihrem Helm zeigten Durenald, daß sie den Rang einer Weibelin bekleidete. Zwar war der junge Freiherr nicht ganz unerfahren im Umgang mit dem anderen Geschlecht, doch eine so plötzlich aufwallende Leidenschaft - er war geneigt, es Liebeskrampf zu nennen - wie beim Anblick dieser Dame hatte ihn zuvor noch niemals heimgesucht. Waren es ihr hoher Wuchs, ihre helle Haut, ihre schlanke Gestalt, die von der Brünne nicht verunstaltet, sondern vielmehr rondragleich erhöht wurde, oder war es der kühne Blick ihrer blauen Augen unter den leicht zusammengezogenen Brauen, der dieses unerwartete Gefühl in ihm erweckte? Durenald wußte es nicht zu sagen. Er wußte nur, daß er die Weibelin unbedingt kennenlernen mußte, und der Abstand zwischen ihnen verringerte sich zusehends. So fiel ihm, als sie sich etwa auf gleicher Höhe befanden, nichts Besseres ein, als einen zierli26
chen Kratzfuß zu machen, das Barett zu ziehen und mit einem schalkhaften Lächeln die Worte zu sprechen: »Schönes Fräulein, darf ich Euch meinen Schutz und Geleit antragen?« Zu Durenalds Überraschung ließ die Gardistin ihn nicht unbeachtet stehen, sondern hielt inne, maß ihn von Kopf bis Fuß und erwiderte mit einem mühsam unterdrückten Lächeln: »Wenn ich einmal Eures Schutzes und Eurer Begleitung bedarf, werde ich es Euch wissen lassen, werter Herr.« Am folgenden Tag schickte der Herr von Brelak ein Entschuldigungsschreiben zum Garnisonsgebäude zusammen mit einer beim besten Zuckerbäcker der Stadt eilig in Auftrag gegebenen Torte, die, aus Zuckerguß und Marzipan gestaltet, mit dem Bild einer brüllenden, krallenbewehrten Löwin geschmückt war (soweit das mit Zuckerguß und Marzipan eben möglich ist). So begann die Liebesgeschichte von Kusmine und Durenald. »Es war die Torte, mit der ich dein Herz erobert habe«, pflegte Durenald zu sagen, wenn die Gatten sich den Beginn ihrer Liebe ins Gedächtnis riefen. »Nein, die Locken«, erwiderte Kusmine dann wohl, »braune Locken machen mich nun einmal schwach. Aber ich habe sogleich gesehen, daß du einen halben Spann kleiner bist als ich.« »Vier Finger, liebes Herz, vier Finger«, bekam sie stets zur Antwort. Geradlinig, wie sie war, bat Kusmine um ihren Abschied, als ihr klar wurde, daß sie den Rest ihres Lebens an Durenalds Seite verbringen wollte. Es fiel 27
ihr nicht leicht, sich vom soldatischen Leben zu trennen, doch die Aussicht, in Brelak eine Bürgerwehr zu errichten, erleichterte ihr den Abschied von Neetha, der Garnison und ihrer Tante. Zudem hoffte sie, Durenald eine Schar von Kindern zu schenken, die sie selbst in den rondrianischen Künsten unterweisen wollte, bevor sie nach Neetha auf die Schule geschickt würden. Schon sah sie im Geiste die lockenköpfigen kleinen Krieger und Kriegerinnen vor sich, wie sie mit ihren Holzschwertern fochten und auf ihren Ponys wilde Tjosten ritten. Doch Tsa hatte es anders entschieden. Fünf Jahre lang lebten die Gatten zusammen, bevor der kleine Tsafried Praios‘ Licht erblickte. Und er sollte die vier Jahre, die ihm vergönnt waren, geschwisterlos bleiben. Klein-Tsafried war seiner Eltern Glück und Sonnenschein. Braungelockt wie der Vater und mit den strahlendblauen Augen der Mutter, hatte es nie ein schöneres Kind gegeben, weder in Brelak noch in der gesamten Markgrafschaft, wie alle, die ihn sahen, Kusmine und Durenald gern bestätigten. Von seinem Vater hatte er die Liebe zu allem Lebendigen geerbt, und gleichermaßen andächtig bestaunte er die sprießende Saat und die neugeborenen Kätzchen. Doch war er nicht weichlich, wie Kusmine mit Genugtuung bemerkte. Schon früh maß er seine Kräfte mit den Dorfkindern, und wenn er bei den kindlichen Raufereien auch manche Schramme davontrug, so sah man ihn doch nur selten weinen. Und auch das Reiten machte ihm große Freude: Schon mit drei Jahren saß 28
er sicher im Sattel seines Ponys, und wenn Kusmine ihn beobachtete, wie er mit wilden Rufen und heftigen Hieben der kleinen Schenkel sein winziges Pferd zu schnellerem Trab zu zwingen trachtete, so mischte sich in ihrem Herzen Stolz auf die rondragefällige Kühnheit ihres Sohnes mit mütterlicher Sorge. Beim Reiten geschah es dann auch. Niemand wußte, warum das Pferdchen gescheut und seinen kleinen Reiter abgeworfen hatte - Dörfler fanden den leblosen Knaben und das friedlich grasende Tier auf einer Wiese am Wald und brachten beide mit kummervoller Miene zum elterlichen Gutshaus. Drei Tage währte es, bis Boron Klein-Tsafrieds Leiden ein Ende setzte und ihn zu sich rief, und weder der Medicus noch der Eltern verzweifelte Gebete vermochten ihn zu retten. Nach dem Verlust ihres Kindes war Kusmine nicht mehr dieselbe wie zuvor. Sie zerraufte sich nicht das Haar und zerkratzte sich nicht den Busen, sie schrie nicht und zerfloß nicht in Tränen, noch haderte sie mit den Göttern - jedenfalls nicht so, daß man es hätte sehen oder hören können. Nein, ihr Herz schien erstorben, und obwohl auch Durenald um seinen Sohn trauerte und manche Träne um ihn weinte, so war ihm das Ausmaß ihres Kummers fremd und fast unheimlich. Fünfzehn trostlose Monde vergingen, in denen Kusmine ihrem Gemahl kein Lächeln oder Scherzwort schenkte und ohne Lust und Freude sein Lager teilte, so daß der Freiherr allmählich an ihrer Liebe zweifelte, da segnete Tsa von neuem ihren Leib. Und mit dem neuen Leben, das in ihr wuchs, kehrten 29
auch Mut, Tatkraft und Zuversicht zu ihr zurück. Ja, die vergangenen neun Monde sind eine schöne Zeit gewesen, dachte Durenald. Und nur die letzten Wochen, seit der Sturm so unablässig und unbarmherzig wütete, waren von einem zarten Nebel der Sorge verdunkelt worden. Warum nur gönnten der unberechenbare Herr Efferd und die stolze Frau Rondra seinem armen Weib keine ruhige Niederkunft? Zornig ballte der Freiherr die Faust und hieb auf das Schreibpult beim Fenster. Dabei fiel sein Blick auf einen Brief, der seit dem Morgen, als der Bote ihn gebracht hatte, ungeöffnet dort lag. Er kam von Zordan Fuxfell, dem Halbbruder Kusmines. Was mochte der Bursche wollen? Durenald war ihm erst zweimal begegnet und schätzte ihn nicht sonderlich, aber das hatte nichts zu bedeuten - er liebte nun einmal keine stutzerhaft gekleideten Männer mit aufgezwirbeltem Schnurrbart. Die Lektüre wird mich ablenken, dachte er, während er das Siegel erbrach. Fuxfell weiß ebenso geschmeidig zu schreiben, wie er zu reden versteht, und es wird eine knifflige Aufgabe werden, aus dem Geklingel der vielen schönen Worte Sinn und Absicht des Schreibens herauszufiltern. Doch er hatte sich geirrt. Der Brief war kurz, und nach den üblichen Begrüßungsfloskeln stand dort: ›...wird es mir eine Freude sein, sobald das Wetter das Reisen wieder erlaubt, Euch, lieber Schwager, und Dir, schöne Schwester, und auch dem neuen Prinzchen oder Prinzeßchen meine Aufwartung zu machen.‹ Nun, das ist freundlich, dachte Durenald, und es wird auch Kusmine freuen. 30
Die Tür wurde aufgerissen, und Danja stürmte ins Zimmer - rot, verschwitzt und strahlend. »Euer Edelgeboren, Tsa sei Dank, es ist vorüber! Und meine allerherzlichsten Glückwünsche zu der schönen Tochter!« Durenald brauchte einen Augenblick, um die Worte der Hebamme zu begreifen. Dann spürte er plötzlich, wie ihm das Wasser in die Augen schoß, und blinzelnd schloß er die kräftige Frau in die Arme und drückte ihr einen Kuß auf die Wange. »Wie geht es meiner Frau?« flüsterte er. »Ausgezeichnet, Herr, nur ein wenig matt ist sie noch. Aber kommt doch nur - Ihr dürft die Wöchnerin besuchen, und sie freut sich schon darauf, Euch das Kindchen zu zeigen.« Halb benommen stapfte Durenald hinter Danja zur Wochenstube. Dort, in dem großen, mit weißem Linnen frisch bezogenen Bett saß halb aufgerichtet seine Frau und lächelte ihn glücklich und müde an. Im Schein der Kerzen und des Feuers wirkte sie nicht so blaß, wie er erwartet hatte, und nur das feucht am Kopfe klebende Haar kündete von der überstandenen Anstrengung. Ein kleines, gut verschnürtes Bündel ruhte in ihrem Arm. Beim Anblick seiner Kusmine erfaßte ihn eine Woge von Liebe, und rasch eilte er zu ihr und barg den Kopf an ihrer Schulter, damit sie seine Tränen nicht bemerkte. »Ich danke dir, mein liebes Herz«, stammelte er flüsternd, »ich danke dir für diese schöne Tochter.« »Dann schau sie dir doch einmal an, ob sie auch wirklich schön ist.« Kusmine reichte Durenald lä31
chelnd das Bündel. Unsicher betrachtete er das rote, von der Geburt ein wenig verschwollene Gesichtchen, das sich eben zum Greinen verzog. Nein, schön ist sie nicht, dachte er, aber sie wird es, so die Götter wollen, noch werden. Und er fühlte, daß er das Kind schon jetzt liebte. Gerührt lauschte er dem dünnen Schrei, der dem zahnlosen Mündchen entwich. Doch was war das? Etwas war anders als zuvor, doch wußte er zunächst nicht zu sagen, was es war. Das Greinen war deutlich zu hören und auch das Knistern des Feuers, aber sonst - nichts. Es war still, der Sturm hatte sich gelegt! Auch die anderen hatten es bemerkt, doch ergriff Kusmine als erste das Wort. »Es hat aufgehört zu stürmen, endlich, Rondra sei Dank«, sagte sie mit einem Seufzer der Erleichterung. »Ich will es als gutes Omen nehmen. Damilla, bitte öffne das Fenster und laß ein wenig frische Luft herein, das wird mir guttun.« Die Magd gehorchte, öffnete Fenster und Läden, dann stieß sie einen Schrei aus. »Weiß! Alles ist weiß!« rief sie aufgeregt. »Schaut nur, alles ist weiß!« Danja, die ihr am nächsten stand und die den Wunsch der Herrin mit leiser Mißbilligung aufgenommen hatte - als erfahrene Hebamme hielt sie gar nichts von winterlicher Frischluft in der Wochenstube -, trat ans Fenster und blickte hinaus. »Bei Firun, welche Pracht«, murmelte sie bewegt, »soviel Schnee hab ich mein Lebtag nicht gesehen.« Das ganze Land war wie verzaubert: Alle Wolken hatten sich verzogen, und im silbrigen Schein des fast vollen Madamales glitzerten allüberall die zarten 32
Kristalle, aus denen die weiße Decke bestand, die sich über Wiesen und Äcker, Häuser und Katen, Büsche und Bäume gebreitet und alle Formen gerundet hatte. Und eine unwirkliche Ruhe lag über dem Land - fast glaubte man die Stille zu hören. »Was ist das?« fragte Danja plötzlich. »Dort steht ein Tier, aber ich erkenne nicht genau, was es ist - ein Hirsch vielleicht...?« »Wo?« fragte Damilla, und die Hebamme wies ihr mit der Hand die Richtung. »Das ist ja ein Löwe!« rief das Mädchen erschrocken. »Nein, eine Löwin, sie hat ja keine Mähne!« Mit angstgeweiteten Augen wich sie vom Fenster zurück. Durenald, der, seit er von dem Schnee gehört hatte, eine unbändige Begierde verspürte, das seltene Naturwunder zu betrachten, und sich zugleich nicht lösen mochte von Frau und Tochter, warf Kusmine einen fragenden Blick zu. »Nun, geh schon, lieber Mann, und sieh dir den Schnee an«, sagte sie lächelnd. »Doch gib mir zuvor unsere Tochter wieder - die kalte Luft mag ihr schaden. Und sag mir, welch seltenes Tier dort draußen wandelt.« Durenald trat ans Fenster und blickte hinaus. Lange schwieg er, ganz ergriffen von der Schönheit des Anblicks. Ein Tier jedoch war nicht zu sehen. »Dort ist nichts«, sagte er, »außer Firuns ganzer Pracht. Es gibt auch keine Löwen in Brelak«, wandte er sich belehrend an Damilla, »du wirst einen Schakal gesehen haben, der sich aus den Bergen hierher verirrt hat. Morgen werden wir seine Fährte aufnehmen und ihn, 33
so Firun will, zur Strecke bringen, auf daß er uns nicht die Ziegen reißt. Und nun möchte ich für ein Weilchen mit meiner Frau und meiner Tochter allein sein.« Als alle den Raum verlassen hatten, ließ Durenald sich auf einem Schemel neben dem Wochenbett nieder und ergriff die Hand seiner Gemahlin. »Mein liebes Herz, ich bin so stolz auf dich, meine tapfere, kleine, große Kriegerin.« Zärtlich betrachtete er ihr schönes Antlitz. »Hast du schon einen Namen für sie gewählt? Tsaiane vielleicht...?« »Tsaiane ist ein schöner Name«, erwiderte Kusmine, »und seit ich weiß, daß du dir all die Monde lang eine Tochter gewünscht hast, habe ich recht oft über ihren Namen nachgedacht. Ich finde, wir sollten sie nach meiner Tante Melsine und nach deinem Vater Thalion nennen. Melsine und Thalion - Thalionmel.«
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D
ie Tribüne der Rennbahn vor den Toren von Methumis war mit Wimpeln, Girlanden und Buketten aus Firunsglöckchen und dem ersten Ilmengrün aufs prächtigste geschmückt, denn zum diesjährigen großen Phex-Rennen erwartete man nicht nur den Herzog - auch der Erzherrscher aus Arivor hatte seinen Besuch angekündigt. Und auch die Götter schienen dem Rennen gewogen: Seit Tagen ließ Herr Praios Sein Antlitz hell erstrahlen, die gütige Frau Peraine hatte die Auen in ein Gewand aus frischem Grün mit winzigen bunten Farbtupfern darin gehüllt, Herr Efferd hatte den Fischern einen reichen Fang beschert, und die Luft war erfüllt vom Duft der gebratenen Meerbarsche, Perlbeißer und Silberaale, die an kleinen Ständen rings um die Rennbahn feilgeboten wurden. Herr Phex, dem zu Ehren das Rennen veranstaltet wurde, ließ Kaufleute, Diebe und Bettler zufrieden schmunzeln über die bereits getätigten oder noch zu erwartenden günstigen Geschäfte, und der sinnenfrohen Frau Rahja Gebot hieß heute ganz besonders viele verliebte Paare 35
und Pärchen zum Liebesspiel ins nahe Wäldchen schlendern... Da Phex der neunte Monat ist, waren, wie jedes Jahr, neun Rennen angesetzt, sechs Bürger- und drei Adelsrennen. Die Bürgerrennen begannen üblicherweise um die zehnte Stunde und endeten, wenn alles gutging und nicht zu viele Unfälle geschahen, um die zweite Stunde nach Mittag. Es waren derbe Volksbelustigungen, und die wenigsten Gäule, die man auf der Rennbahn sah, waren wirkliche Reittiere - von Rennpferden ganz zu schweigen. Da gab es struppige Ponys, magere Karrengäule, Kaltblüter, deren wahre Bestimmung es war, einen Pflug zu ziehen, aber alle waren, genau wie ihre Reiter, aufs schönste geschmückt und herausgeputzt. Teilnehmen durfte ein jeder, sofern er ein Reittier besaß, das nur entfernt an ein Pferd erinnerte, und falls er es schaffte, sich rechtzeitig einen Platz unter den Startenden zu sichern, denn deren Anzahl war auf zehn für jedes Rennen beschränkt. Für die meisten war die Teilnahme nicht mehr als ein Spaß, und nur die Besitzer der besseren Pferde - wie Fuhrleute, Botenreiter und Pferdehändler - mochten hoffen, die Siegesprämie zu gewinnen: wahlweise ein Faß Bier, gestiftet von der Geweihtenschaft des Phextempels, oder ein Fäßlein Wein, das die Rahjapriesterinnen für den heutigen Tag gespendet hatten. Doch mußte niemand darben, Verlierer nicht und auch nicht die große Schar der Schaulustigen, denn das herzogliche Freibier floß beim großen Phex-Rennen stets in Strömen. 36
Natürlich blieben die Adelslogen leer bei diesem groben Treiben, und auch die vornehmen Handelsherren und -damen zogen es vor, erst später zu erscheinen. Doch um die dritte Stunde nach Mittag, wenn der Rennplatz längst geräumt war von trunkenen Schustergesellen und zottigen Mähren, füllte die Tribüne sich allmählich. Das war nun für das Volk ein fast noch größeres Ereignis als die vorausgegangene Belustigung - so hohe Herrschaften von Angesicht zu sehen und so prächtige Gewänder zu bestaunen, das war ihm wahrlich nicht alle Tage vergönnt. Am begierigsten erwarteten die Leute das Erscheinen des Erzherrschers und seiner Gemahlin. Er hatte sich auf seine alten Tage - die Sechzig mochte er bald erreicht haben - noch einmal vermählt, und zwar, wie es hieß, mit einer blutjungen ehemaligen Rahja-Geweihten aus Belhanka. Und so drängte sich jedermann so dicht zur Tribüne, wie Büttel und Gardisten es eben zuließen. Unterdessen wurde die Rennbahn für die letzten drei Rennen, die Adelsrennen und das wahre Ereignis des Tages hergerichtet: Nachdem der Platz vom Kot gereinigt war, schleppten livrierte Helfer und Helferinnen buntbemalte hölzerne Gerüste herbei, die zu unterschiedlich hohen Hürden zusammengesetzt wurden. An anderer Stelle wurden schwere Eichenbohlen aus dem Boden der Rennbahn entfernt, und nun sah man, daß sich darunter wassergefüllte Gräben befanden. Die schönsten Hindernisse jedoch waren die Hecken. Dazu wurden immergrüne Sträucher und Äste der Goldpinie so zusammengesteckt und mit Schleifen aus roter Seide 37
geschmückt, daß sie tatsächlich blühenden Rosenhecken glichen. Insgesamt galt es neun Hindernisse zu überwinden: drei Hürden, drei Gräben, zwei Hecken und als letztes und schwierigstes Hindernis eine Hecke, hinter der sich, unsichtbar für das Pferd, ein weiterer Wassergraben befand. Dieser war allerdings so flach, daß ein Pferd auch hineinspringen und hindurchwaten konnte - schließlich sollte nach Möglichkeit keines der kostbaren Tiere verletzt werden. Das erste Rennen war für die vierte Stunde angesetzt, und die Tribüne hatte sich inzwischen gefüllt. Einzig die für den Herzog und den Erzherrscher reservierten Logen waren leer geblieben. Doch wurde das Volk aufs beste entschädigt durch den Anblick der in ihre kostbarsten Gewänder gehüllten Herrschaften, die je nach Stand, Vermögen und Temperament in prächtigen Kutschen, vergoldeten Sänften oder auf geschmückten Pferden zum Rennplatz gereist waren. Und als nun die Hochgeweihte des hiesigen Rahjatempels, eine zierliche Tulamidin, das Podest am Fuße der Tribüne bestieg, auf dem die Sieger der drei letzten Rennen geehrt werden sollten, da lief ein Raunen durch die Menge, und die Gemahlin des Erzherrschers war vergessen. Hochwürden Ludilla - wie schlecht sich doch der Titel zu Gebaren und Gewandung der Dame fügen wollte! - ist gewiß um vieles schöner als die Erzherrscherin, so dachten die meisten. Die schwarzhaarige Priesterin war dem Brauch des Kultes gemäß in ein kurzes Gewand aus durchscheinender roter Seide gekleidet. Das hüftlange Haar trug sie teils offen, teils zu dünnen Zöpfen 38
geflochten, von denen jeder mit einer goldenen Schleife befestigt war. Goldene Sandaletten umschlossen die zarten Füße, und golden waren auch der Gürtel, dessen Schließe wie eine Weinrebe mit Blättern und Trauben geformt war, und die Armreifen und Fußkettchen, die sie trug. Lächelnd grüßte Ludilla die Gäste auf der Tribüne, die sieben Reiterinnen und Reiter, die soeben ihre Plätze hinter einer markierten Linie bezogen hatten, und schließlich die jubelnde Menge. Dann füllte sie einen von vier reichverzierten silbernen Bechern, die neben ihr auf einem Tischchen standen, mit rotem Wein. Es war ungeweihter Tharf aus dem Tempel, denn den geweihten Wein darf auch eine Priesterin nur innerhalb der Tempelmauern trinken. »Herrn Phex, dem listigen, zu Ehren und Frau Rahja, der schönen, zur Freude soll das heutige Adelsrennen ausgetragen werden!« rief Ludilla mit dunkler, weittragender Stimme. »Mögen die Götter darüber wachen, daß weder Reiter noch Tiere zu Schaden kommen, und mögen die besten drei den Sieg erringen. Hiermit« bei diesen Worten hob sie den Becher gen Himmel und leerte ihn anschließend in einem Zuge - »erkläre ich das Rennen für eröffnet. Reiter und Reiterinnen, macht Euch bereit!« Die Menge hatte der kurzen Ansprache schweigend gelauscht, nun erklangen Hochrufe, Pfiffe und Schreie, Mützen und Tücher wurden geschwenkt, so daß die Pferde an der Markierungslinie nervös zu tänzeln begannen. Dem Jubel zum Trotze gab es kaum einen unter den Schaulustigen, der aufrichtig wünschte, die 39
Rennen sollten völlig ereignislos verlaufen. Denn darin bestand ja gerade das Vergnügen: einmal so ein Herrensöhnchen im Wasser oder Schlamme landen zu sehen, zu erleben, wie es vom Platze humpelte, sich verstohlen den schmerzenden Steiß reibend, und ach, die feinen Kleider - vollständig ruiniert. Aber ein PhexRennen ohne Rempeleien, ohne scheuende Pferde und ohne aufsehenerregende Abwürfe hatte es kaum jemals gegeben, und so waren alle zuversichtlich, daß sie nicht um ihren Spaß betrogen werden würden. Fuxfell tätschelte den Hals seiner Rappstute. »Ganz ruhig, Meriban, braves Mädchen«, sprach er begütigend auf sie ein, »wir werden es ihnen schon zeigen, nicht wahr, meine Schöne?« In der Tat war Fuxfells Stute das schönste und edelste Tier auf dem Rennplatz - ein echtes Shadif aus der Zucht eines Hairans aus Achan. Fuxfell ärgerte sich, daß er für das erste Rennen ausgelost worden war, denn ein Sieg im letzten Rennen würde, seiner Erfahrung nach, mehr gefeiert und beachtet werden. Zordan Fuxfell war ein zartgliedriger Mann Mitte der Zwanzig und von mittlerem Wuchs, dem man sein tulamidisches Erbteil deutlich ansah: Das rabenschwarze Haar trug er zum Zopf geflochten, schwarz waren die großen Augen mit den schweren Lidern, die ihnen einen stets etwas müden oder gelangweilten Ausdruck verliehen, schwarz waren die fein geschwungenen Brauen, und schwarz war der sorgfältig gezwirbelte Schnurrbart. Auch die gelbbräunliche Haut hatte er von seiner Mutter ererbt, und einzig die kurze, an der 40
Spitze etwas rundliche Nase ging auf seinen Vater zurück. Zum heutigen Phex-Rennen hatte er sein bestes Reitkleid angelegt, rote, enganliegende Beinkleider und ein dunkelgrünes pelzverbrämtes Wams, das, wie er fand, seine schlanke und dennoch muskulöse Gestalt besonders gut zur Geltung brachte. Ein federgeschmücktes schwarzes Barett, schwarze Handschuhe und sorgfältig polierte schwarze Reitstiefel rundeten seine Erscheinung ab. Statt zu hadern, sollte ich mich lieber auf das Rennen konzentrieren, dachte er, und froh sein, daß sie mir nach all dem Hin und Her die Teilnahme schließlich doch noch gestattet haben. Denn nur der Fürsprache und dem Einfluß seines Vaters, des alten Irineius, hatte er es zu verdanken, daß er, ein Bastard, zum Rennen zugelassen worden war. Lächerlich, dachte er, nachdem der Alte mich doch schon vor Jahren anerkannt hat. Aber er würde es ihnen zeigen, er und seine schöne Meriban! Daß er siegen würde, daran hatte er bis zur Auslosung nicht einen Augenblick lang gezweifelt: Meriban war ein gut ausgebildetes Rennpferd, erprobt in mancher Fantasia und, wie der alte Hairan ihm glaubhaft versichert hatte, aus den zahlreichen tulamidischen Reiterspielen, an denen sie teilgenommen hatte, stets als Siegerin hervorgegangen. Und er selbst war ein vorzüglicher Reiter - das tulamidische Erbteil seiner Mutter. Uns Tulamiden liegt das Reiten eben im Blut, wir müssen es nicht erst lernen, dachte er mit grimmigem Stolz. 41
Diesen grimmigen Stolz hatte Fuxfell schon den ganzen Tag über empfunden - Stolz auf seine Reitkünste und auf die prächtige, empfindsame Meriban und Grimm über seine nichteheliche Herkunft. Sie ließen es ihn spüren, daß er nicht zu ihnen gehörte, diese blaßgesichtigen selbstsicheren Adelssprößlinge, und behandelten ihn mit spöttischer Herablassung. Aber Meriban hatte sie beeindruckt - kaum einem seiner Gegner war es gelungen, beim Anblick der schwarzen Schönheit einen gleichmütigen Ausdruck zu bewahren. In ihren Augen funkelten Neid und Begierde, dachte er befriedigt, während er die Gedanken an die äußerst verlockenden Kaufangebote verscheuchte, die ihm von einigen seiner Konkurrenten angetragen worden waren. Nein, er würde Meriban nicht verkaufen, nicht für alle Dukaten der Welt, und gewiß nicht im Moment, da sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Kraft und Gewandtheit befand. »Wir beide sind ein unschlagbares Gespann, meine Schöne«, raunte er der Stute zu, und als hätte sie seine Worte verstanden, wandte das Tier in diesem Augenblick den Kopf und blickte ihn aus seinen wunderbaren, glänzenden schwarzen Augen an. Eigentlich gab es nur einen ernstzunehmenden Gegner, und der Namenlose - oder wer auch immer - hatte es so gefügt, daß sie beide für das erste Rennen ausgelost worden waren. Sindar war ein muskulöser, feuriger Nebelschimmel (womöglich gar ein wenig sprungstärker als meine Meriban, ging es Fuxfell durch den Kopf, aber bei weitem nicht so fügsam und klug), und seine Reiterin, die junge Brinna von Efferdas, war 42
eine kühne und kämpferische Frau. Verstohlen schaute er zu der Baroneß hinüber, aber sie blickte starr geradeaus, fast als schliefe oder träumte sie. Vielleicht sollte auch ich mich mehr auf das Rennen einstimmen, dachte Fuxfell. Meriban ist immer etwas langsam beim Start, da werden wir wohl ein paar Schritt zurückfallen, aber nach dem zweiten Hindernis sollten wir die Gegner hinter uns gelassen haben - bis auf Sindar, vermutlich. Ich hätte mir den Hengst genauer ansehen sollen, um ihn besser einschätzen zu können, aber wer konnte auch damit rechnen, daß wir für ein und dasselbe Rennen ausgelost werden? Nun, die Hürden und Wassergräben werden Meriban keine Schwierigkeiten bereiten, heikler wird es bei den Hecken - Hindernisse, die sie nicht überblicken kann, machen sie stets nervös. Da kommt es darauf an, daß ich ihr die Furcht nehme. Sie muß gehorchen und mir vertrauen... Weiter kam er nicht mit seinen Überlegungen, denn soeben hatte der oberste Phexpriester, der traditionsgemäß das Starten übernahm, seinen Platz neben der Strecke bezogen. Er hielt einen aus feinstem Papier gefertigten Beutel in der Rechten, den er nun an die Lippen setzte und aufzublasen begann. Als der Beutel prall gefüllt war, holte er mit der Linken weit aus. »Und...«, erklang es in der atemlosen Stille, die sich über dem Rennplatz ausgebreitet hatte. Das nachfolgende »Los!« wurde übertönt durch den lauten Knall, mit dem der Beutel zerplatzte, als der Geweihte die Hände zusammenschlug. Sechs Pferde stoben davon, allen voran Praiosblume, ein Falber aus dem Gestüt derer von Onjaro. Meriban, 43
die bei dem Knall ein wenig gestiegen war und ein leises Wiehern ausgestoßen hatte, brauchte einen Moment, bis sie sich so weit gesammelt hatte, daß sie sich der Führung ihres Reiters überlassen konnte. Nun lief sie dreißig Schritt hinter dem Feld, und Fuxfell hieb ihr zornig die Fersen in die Flanken. »Schneller, Mädchen, mach mir keine Schande!« schrie er, und wieder war es, als hätte die Stute die Worte ihres Herrn verstanden: Mit geblähten Nüstern, den schönen Kopf stolz erhoben, begann sie zu laufen, schneller und immer schneller, bis ihre kleinen Füße den Boden kaum noch zu berühren schienen. »So ist es brav, meine Schöne«, rief Fuxfell begeistert, »zeig ihnen, was du kannst!« Sein Ärger über den mißlungenen Start war verflogen, als er spürte, wie das Tier seine Bewegungen aufnahm und Roß und Reiter zu der gewohnten Einheit verschmolzen, die ihn stets mit einem Gefühl von Glück und Macht erfüllte. Das Feld rückte näher, bald unterschied er die einzelnen Tiere und ihre Reiter, und noch vor dem ersten Hindernis hatte er Aldara überholt, die schwächste seiner Konkurrenten. Sindar, Nachtvogel und Praiosblume bildeten die Spitze und erreichten fast gleichzeitig die erste Hürde. Sindar und Praiosblume nahmen das Hindernis ohne Mühe, aber Nachtvogel verweigerte, und Fuxfell sah, wie sein Reiter das Tier unwirsch herumriß, um einen zweiten Anlauf zu nehmen. Zwei weniger, dachte er mit Genugtuung, denn einen solchen Zeitverlust könnte auch das schnelle Halb-Shadif nicht wieder aufholen. 44
Meriban hatte nun ihren Rhythmus gefunden. Sie flog dahin, nahm die Hürde ohne Mühe und setzte ihren Lauf fort, als wäre er nie durch einen Sprung unterbrochen worden. »Weiter, Meriban, so ist‘s gut, meine Schöne, lauf, lauf!« trieb er sein Pferdchen nun fast zärtlich an, denn das Tier hatte durch den weiten, eleganten Sprung so viel Raum gewonnen, daß es sich nun auf fast gleicher Höhe mit Beleman befand, einem etwas gedrungenen Fuchs-Wallach. Aber Beleman ist nicht schnell und auch nicht ausdauernd genug, um den Vorteil seines guten Starts zu halten oder gar auszubauen, dachte Fuxfell. Und richtig, just in dem Augenblick, als Beleman zum Sprung über den Graben ansetzte, hatte auch Meriban diesen erreicht, und wieder flog sie, fast ohne der sanften Anweisungen ihres Reiters zu bedürfen, in weitem Bogen über das Hindernis. Als sie, leicht wie eine Feder, ihren Lauf wieder aufnahm, hörte Fuxfell hinter sich das platschende Geräusch von Wasser. Er blickte sich um und sah, wie Freifrau Firisia von Marudret völlig durchnäßt aus dem Graben stieg, während Beleman verzweifelt versuchte, das Ufer zu erklimmen. Nun gut, nur noch zwei, und das Rennen ist noch lange nicht vorüber, dachte Fuxfell und fühlte, wie seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. Die Rennstrecke war so angelegt, daß drei Hindernisse auf einer abgeflachten Kreisbahn aufgebaut waren: Hürde, Graben, Hecke. Diese Bahn mußte zweieinhalbmal umrundet werden, so daß der Reiter acht Hindernisse überwunden hatte, wenn er sein Pferd auf den geraden Abzweig lenkte, der zum dreihundert 45
Schritt entfernten Ziel führte und auf dessen halber Strecke sich das letzte und schwierigste Hindernis befand, die Hecke mit dem Wasserbassin dahinter. Das nächste Hindernis, die Hecke, rückte näher, und Sindar hatte nun endgültig die Führung übernommen - er war Praiosblume um fast eine Länge voraus. Aber der Abstand zwischen Meriban und Sindar hatte sich nicht vergrößert, nein, er schrumpfte, er schrumpfte ganz eindeutig. »Oh, Meriban, meine Kluge, meine Schöne, ich liebe dich!« rief Fuxfell begeistert; für einen kurzen Moment spürte er ein Auflodern hitziger Leidenschaft. Und wieder war es, als hätte das Tier seine Worte verstanden: Ein winziger Schauder durchzuckte die Stute, und sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: ›Ich liebe dich auch, mein süßer Herr, und dies ist nur ein Spiel, ein schönes, wildes Spiel, und wir werden es gewinnen.‹ Als zuerst Sindar und kurz darauf Praiosblume über die Hecke setzten, sah Fuxfell, daß beide Tiere die obersten Zweige gestreift hatten. Das durfte Meriban nicht passieren! Der plötzliche peitschende Schmerz an ihren empfindlichen Fesseln würde das empfindsame Tier so sehr verwirren, daß es womöglich aus dem Takt käme. »Keine Angst, meine Schöne, du schaffst es«, flüsterte er ihr zu, als er mit einem kurzen Ruck am Zügel die Stute zum Sprung ermunterte. Doch die kluge Meriban hatte das Kommando ihres Reiters schon im voraus erahnt und setzte ihren Sprung so hoch an, daß - als sie auf dem Scheitelpunkt ihrer Flugbahn elegant die Hinterläufe anzog - mehr als ein Spann Raum 46
zwischen diesen und der Hecke blieb. Als die zweite Runde begann, war Fuxfell sicher, das Rennen zu gewinnen. Der Abstand zu Praiosblume hatte sich so weit verringert, daß Meriban ihn noch vor dem Graben einholen würde. Zwar ging ihr Atem inzwischen stoßweise, und das Fell ihres Halses war naß von Schweiß, aber Fuxfell kannte ihre Zähigkeit und Ausdauer. Nein, vor dem Ziel würde sie nicht aufgeben! Zunächst aber galt es, wiederum die Hürde zu überwinden. Sindar nahm sie ohne Mühe, kurz nach ihm setzte Praiosblume zum Sprung an, doch was war das? Entweder Pferd oder Reiter hatten den Sprung falsch berechnet und zu früh angesetzt. Wie dem auch sein mochte - Praiosblume streifte den oberen Holm der Hürde so heftig, daß er beim Aufsetzen strauchelte, stürzte - und der Baronet von Onjet flog in hohem Bogen auf die Rennbahn, wo er reglos liegenblieb. Bei Phex, was soll ich tun? Bürschchen, roll dich zur Seite! dachte Fuxfell verzweifelt, als ihm klar wurde, daß der Kopf des Baronets just an der Stelle lag, wo in wenigen Wimpernschlägen Meribans zierliche Hufe aufsetzen würden. Es war zu spät, denn schon spannte sie sich zum Sprung, wie er es ihr halb unbewußt befohlen hatte. Zu spät, zu spät, dachte er, denn nun stieg sie, flog - Fuxfell schloß die Augen - und gab im letzten Augenblick durch eine angestrengte Bewegung ihres Körpers und ihrer Füße dem Sprung eine andere Richtung, so daß sie wenige Spann neben dem Baronet landete. »Oh, Meriban, mein Kleinod, mein Juwel«, jubelte 47
Fuxfell, »bist nicht nur schön und klug - auch rücksichtsvoll!« Denn als er nun zurückblickte, sah er, wie der Baronet sich mühsam erhob; es war ihm wahrhaftig kein Unbill widerfahren, weder durch den Sturz noch durch Meribans Hufe. Nun haben wir nur noch einen Gegner, dachte Fuxfell mit grimmiger Freude, und seine Kräfte erlahmten allmählich. In der Tat war es Sindar nicht gelungen, seinen Vorsprung auszubauen, obwohl Meriban durch ihr Ausweichmanöver ein wenig aus dem Rhythmus gekommen war. Den Graben schaffte der Hengst nur knapp, während Meriban weit und elegant hinübersetzte. Und dann, auf der Strecke zwischen Graben und Hecke, gelang es ihr tatsächlich, an Sindar vorbeizuziehen. Fuxfell warf einen Blick auf seine Gegnerin, aber Brinna von Efferdas schaute starr geradeaus, die Brauen gerunzelt und die Lippen fest zusammengepreßt. Als Fuxfell seine Stute nun auf den Sprung über das nächste Hindernis vorbereitete, wurde ihm klar, daß auch ihre Kräfte nicht unerschöpflich waren. Zwar übersprang Meriban die Hecke ohne Furcht, doch an dem winzigen Schauder, der ihren Körper durchzuckte, spürte er, daß sie die obersten Zweige gestreift haben mußte. »Halt durch, halt durch, meine Schöne, nur noch drei Hindernisse!« rief er ihr zu, aber Meriban antwortete nicht. Ihr ganzer Körper war nun naß von Schweiß, und kleine Schaumfetzen flogen ihr vom Maul. Bevor sie die Hürde erreichten, blickte Fuxfell sich um: Sindar war um drei Längen zurückgefallen; auch 48
sein Fell glänzte naß, sein Atem flog, und sein Speichel schäumte. Wenn wir erst auf der Geraden sind, ist uns der Sieg gewiß, dachte Fuxfell. Die Anspannung und der in immer greifbarere Nähe rückende Sieg versetzten ihn in einen rauschhaften Zustand, in dem er mehr denn je mit seinem Pferd zur Einheit zu verschmelzen glaubte. Die Hürde - Meriban nahm sie, touchierte, doch setzte sie auf, ohne zu straucheln. Fuxfell wußte, daß die zierliche Stute Schmerzen litt, doch verscheuchte er den Gedanken, kaum, daß er entstand. Der Graben noch - Meriban setzte über, sicher zwar, doch knapp -, und nun waren sie auf der Geraden, und nur noch ein einziges Hindernis stand zwischen ihnen und dem Sieg. Ein nie gekanntes Gefühl von Glück und Triumph durchströmte Fuxfell, und als er sich wiederum umblickte und sah, daß Sindar nun dreißig Schritt zurücklag, schrie er laut auf vor Freude. »Oh, Meriban, du schaffst es, wir schaffen es!« rief er, während er sie auf die Hecke zutrieb. Ich kann nicht mehr, mein guter Herr, schien ihr fliegender Atem zu sagen, aber Fuxfell überhörte ihr Flehen. Dies eine, letzte Hindernis mußte sie noch schaffen, einen letzten hohen und weiten Sprung mußte er ihr noch abtrotzen, einmal noch sollte sie all ihre Kräfte sammeln und allen zeigen, was in ihr steckte! Ja, er würde sie zwingen, Hecke und Bassin in einem Satz zu nehmen! Trocken und unbesudelt würde er zur Siegerehrung schreiten! Und seine Schöne sollte so viel Zuckerbrot bekommen, wie sie nur fressen 49
konnte... Nun war die Hecke auf wenige Schritt heran. Fuxfell maß den Abstand, verstärkte im rechten Moment den Druck seiner Schenkel und riß am Zügel. Und die brave Meriban gehorchte: Kraftvoll stieß sie sich ab, überflog die Hecke wie ein Vogel und dann... Fuxfell spürte einen dumpfen Schmerz in der Schulter. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was geschehen war: Meriban war gestürzt und hatte ihn im Fallen abgeworfen. Verloren! Das Rennen ist verloren! war sein erster Gedanke. Als er sich nun erhob, merkte er, daß er unverletzt geblieben war - der Arm war nur geprellt und nicht gebrochen. Aber was war mit Meriban? Vielleicht können wir es doch noch schaffen, durchzuckte ihn ein irrwitziger Hoffnungsblitz. Doch als er die Stute sah, wußte er, daß alles vorbei war - aus, verloren, dahin. Meriban lag am Rande des Wasserbeckens. Ihr schöner schlanker Leib bebte vor Erschöpfung und Schmerzen - verzweifelt zuckten und schlugen ihre kleinen Füße in dem vergeblichen Versuch, Halt zu gewinnen. Aber sie konnte sich nicht erheben: Ihr linkes Vorderbein hatte einen seltsam falschen Winkel an einer Stelle, wo sich kein Gelenk befand. Fuxfells Herz krampfte sich zusammen, als er es sah. Meriban würde dies Rennen nicht vollenden - sie würde nie mehr ein Rennen bestreiten! Und als sie nun ihren Kopf zu ihm herwandte und ihn aus ihren wunderbaren schwarzen Augen anblickte, da schienen sie ihm noch schimmernder als sonst, fast so, als schwämmen sie in Tränen. 50
Hilf mir, lieber Herr! schien ihr Blick zu sagen. Und vergib mir, daß ich dich enttäuscht habe. Wie durch einen Nebelschleier sah Fuxfell, wie Sindar über die Hecke setzte. Im Sprung rief Brinna von Efferdas ihm etwas zu - Fuxfell glaubte das Wort Bastard zu hören -, doch dann waren sie auch schon vorüber. Später folgten noch Beleman und Aldara - die anderen hatten wohl aufgegeben. Fuxfell wußte, was er zu tun hatte: Er suchte die Stelle zwischen den Rippen, zog sein Rapier, zielte, bedeckte sich die Augen mit der Linken und stach zu. Meriban zuckte und schlug ein letztes Mal mit ihren zarten Füßen. Ein heiserer, seltsam heller Wehlaut entrang sich ihrer Kehle, dann war es vorüber. Tränenblind verließ Zordan Fuxfell den Rennplatz. Eine Woche war seit dem großen Phex-Rennen vergangen, eine Woche voll sonniger Tage und milder Nächte. In dieser Woche waren in dem blühenden Städtchen Methumis sieben Menschen gestorben - zwei durch den Strick, einer an der Wassersucht und vier an ihrem hohen Alter - und neun kleine Derebürger hatten Praios‘ Licht erblickt, vier Buben und fünf Mägdelein. Die Menschen verrichteten ihr Tagwerk, zufrieden oder mißmutig, scherzend oder fluchend - je nach ihrem Temperament und dem Patz im Weltgefüge, den die Götter ihnen zugewiesen hatten. In dieser Woche hatten alle Mandel-, Kirsch- und Birnbäume ihre Blütenknospen entfaltet, während die zarten gelben Tsasternchen im Wald allmählich dahinschwanden. 51
Und nahe beim Hafen hatten Baumeister und Maurer damit begonnen, einen schönen, großen, steinernen Efferdtempel zu errichten, der einmal die bescheidene Bethalle ersetzen sollte. Zordan Fuxfell bemerkte von alldem nichts. Dieser erste wirkliche Schicksalsschlag in seinem Leben machte ihn blind und taub für alles, was ihn umgab. Betäubt war er auch vom Weine, dem er seit dem unseligen Tage fleißiger denn je zusprach, zum Frühstück schon - oder besser: statt desselben, auch wenn von Frühstück zu sprechen kaum passend erscheint, da er sich vor der zwölften Stunde nicht vom Lager erhob. Doch er mußte sich betäuben, mußte die Stimme in seinem Kopfe zum Schweigen bringen, die unablässig sagte: Es war deine Schuld, mein Lieber, einzig und allein deine Schuld. Ziellos, wie schon an den Tagen zuvor, streifte er durch die Stadt und ließ seine Füße entscheiden, wohin sie ihn tragen wollten. In wie vielen Schenken er schon seine Taler und Heller gelassen hatte, wußte er nicht und wollte es auch nicht wissen, ebensowenig wie er gemahnt werden wollte, daß sein Vermögen nicht unerschöpflich sei. Die sinkende Praiosscheibe verwandelte das Meer in einen endlosen Teppich aus Blau und Grau mit schillernden rotgoldenen Mustern darin. Dicht über dem Horizont schlossen sich violette Wölkchen zu einem feinen dunklen Streifen zusammen, dessen gleißender Saum allmählich verblaßte und mit dem fahlgrauen Purpur des Himmels verschmolz. Auch der morgige 52
Tag würde Fischern und Kauffahrern eine ruhige See bescheren. Efferd sei Dank, so dachte manch einer mit kundigem Blick zum Himmel. Als Fuxfells Füße den Weg zum Hafenviertel einschlugen, war alles Gold von Meer und Himmel verschwunden. Der Abend hatte sich über Methumis gebreitet, Düfte von Kohl, Speck und Fisch drangen aus Garküchen und Fischbratereien in die engen Gassen, und die ersten Schönen der Nacht bezogen ihre angestammten Plätze. Doch Fuxfell war unempfänglich für beiderlei Verlockungen. Ein Schenkenschild, von der Abendbrise sanft bewegt, erregte seine matte Aufmerksamkeit: Es zeigte, in ungelenken Pinselstrichen auf hell gebleichtem Holz, das Abbild eines seltsamen Fisches, dessen Maul ein langes gedrehtes Horn zierte. Zum Drillfisch stand darunter. Der Name kam Fuxfell irgendwie bekannt vor, doch hätte er nicht zu sagen gewußt, ob von angenehmen oder üblen Erinnerungen. Was soll‘s, eine Kaschemme hier ist so gut oder schlecht wie die andere, dachte er verdrossen, während er die Tür zum Schankraum öffnete. Trotz der frühen Abendstunde war der Drillfisch schon gut besucht. Matrosen, Schauerleute und Fischer drängten sich an der Theke, und auch die meisten Tische in der niedrigen dunklen Stube waren besetzt. Zwischen die Männer und Frauen, an deren Kleidung und Sprache man ihr efferdgefälliges Gewerbe erkannte, mischten sich Gestalten von verwegenem Äußeren und schwer erkennbarem Beruf. Während Fuxfell einen freien Tisch im hinteren Teil des Schankraumes 53
ansteuerte, wo ein mächtiger Stützpfeiler ihn vor neugierigen Blicken schützen würde, wurde er von einer rotblonden Hünin zu einer Partie Boltan eingeladen. »Vergebung, schönste Dame«, hörte Fuxfell sich sagen, »aber Phex ist mir heute nicht gewogen, und so muß ich Euer verlockendes Angebot leider ausschlagen.« Er schenkte der Matrosin ein schiefes Lächeln und setzte mit einer knappen Verbeugung den Weg zu dem erwählten Tische fort. Dröhnendes Lachen folgte ihm vom Tisch der Boltan-Spieler, und Fuxfell war sich gewiß, daß seine Worte, seine Kleidung oder sein Gebaren den Anlaß für den prächtigen Scherz geliefert hatten. Gesindel! Ein falsches Wort, und ihr werdet mich kennenlernen! dachte er grimmig und tastete verstohlen nach dem Griff seines Rapiers. Auch wenn das ständige leichte Zittern seiner Finger und die mangelnde Übung in der letzten Zeit ein Boltan-Spiel weder heute noch morgen ratsam erscheinen ließen - zum Stoßen und Stechen würde seine Gewandtheit allemal ausreichen! Die Schankmagd, eine knochige blasse Person mit strähnigem Blondhaar, fragte Fuxfell nach seinen Wünschen, und er bestellte einen großen Krug gewärmten und gesüßten Weines. Es war allein deine Schuld, begann es soeben wieder in seinem Kopfe. Hättest sie nicht so geschunden, dann könnte sie heute noch leben... Gierig leerte er den ersten Becher. ...und du hättest den Sieg erringen können. Mit zitternden Fingern füllte er den Becher von neuem. »Na, Fuxfell, alter Pferdeschinder«, erklang hinter 54
ihm eine fröhliche und irgendwie vertraute Stimme. Eine Woche lang hatte Zordan Fuxfell auf diese Worte gewartet. Eine Woche lang hatte er sich ausgemalt, was er täte, sollte ihn jemand wegen seines Unglücks verspotten. Nun zuckte er unter den Worten zusammen wie unter einem Hieb. Doch dann, kaum vom Willen gesteuert, schoß seine Rechte nach hinten, noch bevor er sich selbst umgewandt hatte, und er wußte, daß der juwelenbesetzte Ring auf dem Mittelfinger dem Spötter den Kiefer bräche. Ein eiserner Griff schloß sich um Fuxfells Handgelenk. »Aber, aber!« Die Stimme hatte nichts von ihrer Fröhlichkeit eingebüßt. »Behandelt man so alte Freunde, die einem helfen wollen? Vielleicht solltest du weniger trinken, wenn es dir nicht bekommt.« Der Griff verstärkte sich schmerzhaft, als ihm der Arm auf den Rücken gedreht wurde. »Wirst du nun brav sein, wenn ich dich loslasse?« fragte der Fremde, und Fuxfell nickte düster. Während Zordan Fuxfell sich das schmerzende Handgelenk massierte, ließ sich der Fremde auf einem Schemel bei ihm nieder. Es war ein sehniger Endzwanziger in abgewetzter Lederkluft, über deren Wams ein breiter Spitzenkragen fiel. Während er Fuxfell aufmerksam beobachtete, zog er einen wertvollen tulamidischen Zierdolch aus dem Gürtel und begann sich damit sorgfältig die Fingernägel zu reinigen. Die Züge des Neuankömmlings wurden von einem federgeschmückten schwarzen Schlapphut beschattet, doch Fuxfell wußte inzwischen, mit wem 55
er den Tisch teilte: Es war Ratzo Nattel, genannt die Ratte, ein alter Kumpan aus Kindertagen und jemand, nach dessen Gesellschaft Fuxfell sich nicht im mindesten sehnte. Nachdem Ratzo seine Maniküre beendet und das Ergebnis ausgiebig überprüft hatte, gab er der Schankmagd ein Zeichen, einen zweiten Becher zu bringen. Dann zog er den Hut vom Kopf, blies ein unsichtbares Stäubchen von der Krempe und warf ihn, ohne hinzuschauen, zur Wand, wo er sicher auf einem Haken landete. Das Mädchen hatte inzwischen den zweiten Becher gebracht, und Ratzo schenkte sich ein, ohne Fuxfells Aufforderung abzuwarten. Ein breites Grinsen entblößte große gelbe Schneidezähne, die, im Zusammenspiel mit den kleinen schwarzen Augen, der spitzen Nase und dem schwach entwickelten Kinn, seinen Zügen in der Tat etwas Rattenhaftes verliehen. »Ich kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben, Ratte«, knurrte Fuxfell. »Und nun trink aus und mach, daß du weiterkommst!« Das Lächeln war beim Klang des Spitznamens für einen halben Wimpernschlag einem Ausdruck wild lodernden Hasses gewichen, doch Ratzo hatte seine Züge sogleich wieder unter Kontrolle. »Warum so unfreundlich?« fragte er verbindlich. »Wer wird denn einen alten Freund und zukünftigen Geschäftspartner so brüsk davonjagen? Mir scheint, dein adeliger Herr Vater hat verabsäumt, dich in die Geheimnisse der Etikette einzuweihen. Doch nun zur Sache. Aischa, bring uns noch einen Krug!« Er warf der Magd ein Silberstück zu, das diese mit einem flüchtigen Knicks rasch in ihrem 56
Mieder verschwinden ließ. »Freund? Geschäftspartner?« Fuxfell wurde von einem Lachen geschüttelt, das bald in einen quälenden Hustenanfall überging. »Zur Sache also«, stieß er nach Atem ringend hervor. Während er sich die Tränen von den Wangen wischte und die letzten Attacken des Hustens mühsam niederkämpfte, betrachtete er angewidert seinen Tischgenossen. »Hast dich kaum verändert in all den Jahren. Und nun bist du also gekommen, um mir ein Geschäft anzutragen. Da darf man ja gespannt sein.« »Ich habe gehört, du hast dein Pferdchen zuschanden geritten.« Die Ratte legte den Kopf auf die Seite und die Stirne in kummervolle Falten. »Ich wollte sagen: Deine unvergleichliche schwarze Stute ist kürzlich einem tragischen Unfall erlegen, und nun brauchst du über kurz oder lang ein neues Pferdchen - man will ja nicht wie ein Bettler oder Tagelöhner im Schloßhof der schönen, reichen Schwester Kriegerin erscheinen, nicht wahr?« »Woher weißt du das alles?« Fuxfell nahm einen kräftigen Schluck und beobachtete Ratzo aus halbgeschlossenen Lidern. »Ich meine, nicht nur das von dem Unfall, sondern daß ich auch vorhabe, meine Schwester zu besuchen.« »Man hat Augen.« Ratzo wies mit beiden Zeigefingern auf seine schwarzen Augen, die er bei den Worten übertrieben aufriß. »Man hat Ohren.« Er führte die Finger zu seinen überraschend kleinen Ohrmuscheln, die im Schein der Kerzen rötlich leuch57
teten. »Man hat ein feines Naschen.« Er tippte seine Nasenspitze an. »Und ich weiß auch, daß dir der Saft allmählich ausgeht.« Die Ratte ließ ein helles Kichern hören. »Ja, Barönchen, du hast Sorgen.« Fuxfell hatte sich bei Ratzos letzten Worten halb von seinem Sitz erhoben. »Was meinst du mit Saft?« stieß er hervor. »Setz dich wieder!« Ein mitleidsvolles Lächeln kräuselte Ratzos Lippen, während er sein Gegenüber scharf beobachtete. »Nun, du wirst dich erinnern: Die Kindertage, unsere innige Freundschaft, das schicksalhafte Boltan-Spiel, bei dem deine Würfel so seltsam rollten, und mein Messerchen...« Er bedachte seinen Dolch mit einem zärtlichen Blick: »...fast den Besitzer gewechselt hätte. Fast...« Er hielt inne und entblößte die häßlichen Zähne. »Aber ich war schneller.« Plötzlich steckte der Dolch zwischen Fuxfells rechtem Zeige- und Mittelfinger in der Tischplatte. »Und bin es immer noch. Einen hübschen Ring hast du da übrigens«, fuhr er fort, noch immer grinsend, während er den Dolch aus der Tischplatte zog. »Aber warum zitterst du denn so? Ach Fuxfell, alter Pferdeschinder, der Wein bekommt dir nicht, er saugt dir die Kraft aus, so kümmerlich sie auch sein mag.« »Du wolltest zur Sache kommen...« Fuxfell betrachtete seine Hand, an der, außer einer alten silbrigen Narbe, kein Kratzer zu sehen war. Aber sie zitterte tatsächlich mehr als zuvor. Wütend ballte er sie zur Faust, um das Beben zu verbergen. »...Ratte!« vollendete er den Satz und spie auf den Boden. 58
Ratzo Nattel steckte den Dolch unter den Gürtel zurück, unterzog seine Fingernägel abermals einer sorgfältigen Prüfung und spitzte die Lippen, als ob er pfeifen wollte. Dann blickte er sich ausgiebig in der Gaststube um. »Du bist ein unhöflicher Mensch, Zordan Fuxfell«, sagte er schließlich, »beschimpfst die Leute, die es gut mit dir meinen und die deine Schritte voller Anteilnahme beobachten. Ich glaube, ich sollte meine schöne Fatima einem anderen anbieten...« »Was ist das für ein Pferd«, unterbrach ihn Fuxfell, »und wie kommt es in deinen Besitz? Gestohlen?« »Gestohlen? Welch häßliches Wort und welch häßliche Unterstellung!« Wieder hob Ratzo die Brauen und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Du weißt doch, daß Pferdediebe baumeln, und ich bin, wie mir scheinen will, ganz lebendig. Nein wirklich, ich glaube, meine Fatima ist zu schade für dich. Ein Apfelstutchen, schön wie das Madamal... die Mutter ein Shadif, der Vater ein Elenviner. Mit Nüstern, weicher als Samt, und einer Seele, treuer als Gold - der gute alte Khalid hatte Tränen in den Augen, als er sie mir überlassen mußte...« »Wahrscheinlich hundert Jahre alt und zu schwach, sich aus eigener Kraft zum Schlachter zu schleppen, deine gute Fatima.« Fuxfell ließ ein häßliches Lachen ertönen und nahm rasch einen Schluck Wein, als er merkte, daß der Husten ihn wieder beuteln wollte. »Aber laß hören, wie sie in deinen Besitz gelangt ist, für spannende Märchen habe ich schon immer etwas übrig gehabt.« »Unhöflich, mißtrauisch, beleidigend - Fuxfell, 59
Fuxfell, wie sehr du dich verändert hast. Allmählich mache ich mir Sorgen um deine Seele. Vielleicht solltest du etwas häufiger in den Tempel gehen.« Diesmal war es Ratzo, der häßlich lachte. »Doch nun zu Fatima: Sie ist sieben Jahre alt, gut genährt, kerngesund und fügsam. Und ich habe sie im Spiel gewonnen. Nein, nicht beim Boltan - das ist deine Spezialität oder war es vielmehr.« Ratzo wies mit dem Kopf zum Tisch der rotblonden Matrosin. »Die Wüstenkinder halten es mehr mit dem Kamelspiel, wie du weißt, und zufällig verstehe ich mich ein wenig darauf. Es ist ein Spiel der Taktik und Strategie, falls du die Begriffe unterscheiden kannst, und wenn man schnell genug ist, so wie ich, und den Dampf des Rauschkrautes nicht bis in die Lunge dringen läßt, dann kann man ein« - er legte eine kleine nachdenkliche Pause ein - »Geschicklichkeitsspiel daraus machen.« »Beim Falschspiel ergaunert also, und jetzt muß sie möglichst schnell aus Methumis verschwinden«, faßte Fuxfell den Bericht zusammen. »Was soll sie kosten? Viel Geld habe ich nicht.« Wie zum Beweis ließ er die Rechte in die Tasche seiner Jacke gleiten und klimperte mit ein paar Münzen. »Wer redet von Geld, wer redet von Dukaten?« Die Ratte riß erstaunt die Äuglein auf. »Glaubst du, ich würde mein Kleinod für schnödes Gold verschachern?« Nachdenklich betrachtete er sein Gegenüber, ließ den Blick zur Theke wandern, von dort zur Tür, durch die eben ein paar betrunkene Schauerfrauen grölend in den Gastraum stolperten. »Dein Ring gefällt mir«, sagte er 60
unvermittelt. »Der Ring ist unverkäuflich!« Fuxfell ballte die Rechte in der Tasche zur Faust. »Er ist ein Erbstück...« »Ein Erbstück, ja ich weiß«, erwiderte Ratzo nickend, »von deiner Mutter Suleibeth Fuxfell, Boron hab sie selig - seltsamer Name für eine Tulamidin übrigens -, aber ich wollte ihn auch nicht kaufen, mein Lieber, ich will ihn eintauschen, und zwar gegen das zweitbeste Pferdchen der Welt, samt Sattel, Zaumzeug und...« »Du scheinst es sehr eilig zu haben, Ratte. Sind sie schon hinter dir her?« Fuxfell griff lachend zum Becher, stellte fest, daß dieser leer war, und wollte ihn von neuem füllen. Aber auch der zweite Krug war schon fast bis zur Neige geleert, wie er überrascht bemerkte. »Wie heißt die knochige Person noch gleich? Aischa? He, Aischa, noch einen Krug!« Er schwenkte den leeren Krug, um die Aufmerksamkeit der Schankmagd zu erregen, und als das Mädchen den Wein brachte, zählte er sorgsam sechs Heller auf den Tisch. »Zurück zu meinem Ring.« Fuxfell betrachtete ihn kurz, dann langte er nach dem Krug. Doch bevor er den Henkel erreichte, schloß sich Ratzos Linke um sein Handgelenk. »Du trinkst zuviel, mein Lieber, das ist nicht gut für dich, es raubt dir...« »Den Saft, ich weiß, die Kraft, so kümmerlich sie auch sein mag«, fiel Fuxfell ihm ins Wort. »Das wolltest du doch sagen, nicht wahr?« Ratzo nickte mit unbewegtem Gesicht. »Ja, darauf 61
wollte ich zu sprechen kommen.« »Dann laß dir sagen«, fuhr Fuxfell fort, »daß dich erstens meine Kraft einen Haufen Dämonendung angeht und daß sie zweitens in der Tat so kümmerlich bemessen wurde, daß es kaum einen Unterschied macht, ob sie wächst oder schrumpft. Viel ist da leider nicht.« Gedankenverloren griff er nach dem Krug, und diesmal ließ ihn Ratzo gewähren. »Das hat meine Mutter und Lehrmeisterin früher schon behauptet, und später hab ich‘s dann mal von den Hesindepfaffen überprüfen und bestätigen lassen. Worauf willst du eigentlich hinaus?« Mißtrauisch beobachtete er die Ratte. »Daß zum Beispiel so ein Boltan-Spiel, wie du es eben diesem blonden Prachtweib verweigert hast, jederzeit für ein paar Silberstücke gut ist. Was schaust du so verwirrt? Ich hab dich beobachtet, als du in den Drillfisch kamst - schließlich warte ich hier schon seit der zwölften Stunde auf dich.« Er lachte und glich mehr denn je einer Ratte, wie Fuxfell befand. »Das Geschäft lautet folgendermaßen«, sagte er, unvermittelt ernst geworden. »Dein Ring gegen das Pferd samt Sattel und so weiter, dazu ein wenig Kraft, die dir für immer gehören wird, wenn du sorgsam damit umgehst.« »Welcher Magier sollte dir oder mir etwas von seiner Kraft abtreten?« »Ein Scharlatan, über den ich mehr weiß, als gut für ihn ist. Aber du hast bei diesem Geschäft keine Fragen zu stellen.« Die kleinen Rattenaugen bohrten sich in Fuxfells Blick. »Du mußt dich nur entscheiden, und zwar schnell: ja oder nein.« 62
»Woher weiß ich, daß du mich nicht betrügst?« Fuxfell fühlte sich plötzlich sehr unwohl in seiner Haut. Ich hätte nicht soviel trinken sollen, dachte er. Wie kann ich jetzt die richtige Entscheidung treffen? Ein gutes Pferd und etwas Kraft, das klingt verlockend - aber der Ring... »Du kannst es nicht wissen«, unterbrach Ratzos Stimme den Lauf seiner Gedanken, »ebensowenig, wie ich wissen kann, ob du mir nicht dein spitzes Eisen zwischen die Rippen stichst, sobald du das Pferdchen siehst. Du sehnst dich nach Macht, bist aber nur ein kleines Tempellicht.« Ratzos sprach jetzt leise und klar. »Nun ja, das wirst du auch bleiben, einen Kraftprotz kann mein Mann nicht aus dir machen. Aber ein bißchen besser und mächtiger kannst du werden, wenn du willst. Und du brauchst ein Pferd und hast kein Geld. So ist deine Lage.« Er lachte. »Und ich muß für eine Weile unsichtbar werden und will deinen Ring. Ich will ihn schon immer. Also, entscheide dich, und zwar schnell, ich habe noch mehr Interessenten für Fatima.« »Wieviel Kraft?« fragte Fuxfell. »Du hast doch früher gelegentlich und wenig erfolgreich mit diesem Freundschaftszauber herumexperimentiert. Nun, in Zukunft könnte er dir etwas zuverlässiger gelingen. Vielleicht kann mein Mann dir auch eines von seinen Gauklerstückchen beibringen - bunte Flämmchen und dergleichen, du weißt schon...« »Also gut«, stimmte Fuxfell nach einer Weile zu, »der Handel soll gelten. Führ mich zuerst zu dem Pferd und dann zu deinem Scharlatan.« 63
Ratzo erhob sich und nahm seinen Hut vom Haken. »Dann komm«, sagte er, »und achte darauf, daß du dein spitzes Eisen auch recht gut festhältst, damit kein Räuber dir etwas zuleide tun kann.« Er kicherte, während er sich einen Weg zur Tür bahnte. Kühl und sternenklar hatte die Nacht ihren Mantel über Methumis gebreitet. Aus dem Drillfisch und den anderen Hafenschenken erklangen Gelächter und Gesang, sonst war es still. Vom fernen Hesindetempel ertönte ein Gongschlag. Als Zordan Fuxfell der Ratte Ratzo Nattel durch die dunklen, verlassenen Gassen folgte, hielt seine Rechte den Griff des Rapiers fest umklammert. Aber in dieser Nacht drohte seinem Leben keine Gefahr.
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lein-Thalionmel weinte laut und zornig. Sie schätzte es gar nicht, gewindelt und gewickelt zu werden. Viel lieber wollte sie mit ihren rundlichen kleinen Beinen im Sonnenlicht strampeln, das als heller schräger Balken durch das Fenster in die Kinderstube und auf das Wickeltischchen fiel. Aber die Kinderfrau hatte kein Erbarmen; mit einem energischen Griff packte sie die kleinen rosigen Füße und hatte trotz heftiger Gegenwehr des Säuglings die Beine bald in die Stellung gebracht, die sie benötigte, um die weichen Wickeltücher ordnungsgemäß darumzuwinden. »Bist ein kräftiges kleines Persönchen«, sagte sie lachend, »aber es hilft dir nichts, noch bin ich stärker als du. Und nun hör auf zu weinen - was soll denn die Herrin von uns beiden denken, wenn sie die nassen Wangen und das triefende Näschen sieht?« Vorsichtig tupfte Witwe Westfahr das Gesicht des Kindes trocken. Bei den der Reinlichkeit und Pflege dienenden Verrichtungen hatte sich ihr Haarknoten allmählich gelöst, und nun fiel eine dicke Strähne in Reichweite der winzigen 65
Säuglingshände. »Au!« entfuhr es der Kinderfrau, als die Fingerchen sich in ihrem Haar verkrallten und energisch zogen. »Hast wirklich Bärenkräfte, mein Liebling, aber nun laß los!« Doch das Kind hörte nicht auf sie und zog immer fester, wobei allmählich die Tränen versiegten und das kleine Gesicht vor Freude erstrahlte. Die Tür wurde aufgerissen, und Kusmine, erhitzt und ein wenig außer Atem, stürmte ins Zimmer. Sie hatte soeben ihre Fechtstunde absolviert, zu der regelmäßig seit ihrer Eheschließung einmal im Mond ein Fechtlehrer aus Neetha anreiste und dann für einige Tage als Gast, Lehrmeister und Übungspartner der Herrin im Gutshause weilte. Auch Durenald hatte in den ersten Jahren fleißig am Unterricht teilgenommen, später, als die Zeit und die gute Verpflegung durch Küchenmeisterin Titina ihm ein wenig von seiner Beweglichkeit genommen hatten, beschränkte sich die Teilnahme mehr und mehr aufs Zuschauen, wobei er es sich niemals versagen konnte, Kusmine nach der Lektion zuzuflüstern, daß es eigentlich an dem Fechtlehrer sei, sie, Kusmine, zu bezahlen, anstatt umgekehrt. An diesem Morgen jedoch war er schon früh ausgeritten, da er seinem Weib für den nächsten Praiostag einen saftigen Wildschweinbraten versprochen hatte. »Thalionmel, kleine Kriegerin, laß dich anschauen!« rief Kusmine und streckte die Arme nach ihrer Tochter aus. Die Kinderfrau reichte ihr den Säugling, der beim Anblick der Mutter sogleich aufjauchzte. »Was ist das, 66
Susa?« fragte Kusmine und wies auf die kleine Faust des Kindes. »Oh, Euer Edelgeboren, das Kindchen hat beim Wickeln nach meinem Haar gegriffen und mir tatsächlich ein Strähnchen ausgerauft.« »So kräftig ist sie schon«, murmelte Kusmine nicht ohne Stolz. »Ich hoffe, sie hat dir nicht zu weh getan.« Kusmine hielt ihre Tochter mit ausgestreckten Armen in die Höhe. Das Kind lachte, ruderte mit den Ärmchen, und auch die Beinchen regten sich und stießen, soweit es die Fessel der Wickelbänder eben zuließ. Unvermittelt warf Kusmine den Säugling in die Luft. »Was tut Ihr, Herrin!« rief die Kinderfrau erschrocken. »Bei allen Zwölfen, nein!« Doch die Frau von Brelak hatte ihre Tochter sicher wieder gefangen, und das Jauchzen des Kindes ließ keinen Zweifel daran, daß ihm der Flug gefallen hatte. »Siehst du, Susa, sie hat keine Angst«, stellte Kusmine mit Genugtuung fest, »eine Enkelin des Irineius von Malur fürchtet sich nicht vor dem Fliegen.« Noch dreimal gönnte sie dem Kind das Vergnügen, das jedesmal ›Mehr, mehr!‹ zu rufen schien, dann preßte sie es ungestüm an ihren leichten Lederharnisch und küßte das zarte Blondhaar wild und innig. »Und nun wollen wir einmal schauen, wo dein Vater mit dem Braten bleibt«, sagte sie, öffnete das Fenster und gab einem Stallburschen im Hof Anweisung, ihr Pferd zu satteln. Dann wandte sie sich an die Kinderfrau: »Susa, gib mir eine Decke und das Häubchen.« Witwe Westfahr sah sie überrascht an. »Wozu?« 67
fragte sie. »Damit sie sich nicht verkühlt, natürlich - Mitte Peraine kann man ein so junges Kind doch nicht ungeschützt der Waldluft aussetzen.« Kusmine drohte der Frau scherzend mit dem Finger. »Das solltest du als Kinderfrau eigentlich wissen.« »Ihr wollt sie doch nicht etwa mitnehmen, Herrin! Um Praios‘ willen, nein!« Erschrocken streckte Susa die Hände nach ihrem Pflegling aus, um ihn Kusmine abzunehmen, doch diese hielt ihr Töchterlein fest und drehte sich mit ihm im Kreise. »Wir reiten in den dunklen Tann, wo Wolf und Nachtwind hausen...«, begann sie eine alte Weise zu singen. »Reiten?« unterbrach Susa den Gesang. »Ach, Euer Edelgeboren, tut mir das nicht an! Wie soll das angehen? Wollt Ihr sie Euch auf den Rücken binden? Ach, mein armer kleiner Liebling!« »Auf den Rücken binden, das ist keine schlechte Idee«, lachte Kusmine, Susas kummervoller Miene nicht achtend. »Ich habe gehört, daß die Mohafrauen ihre Kinder auf dem Rücken tragen, und die Nivesinnen und sogar manche der hiesigen Bäuerinnen tun es wohl auch. Aber da wir hier weder im kalten Nivesenland sind noch im hitzigen Moha-Dschungel und ich auch keine Bäuerin bin, habe ich mir etwas anderes ausgedacht. Paß auf...« Und nun erläuterte sie der Kinderfrau ausführlich die Bauweise des Sattelkörbchens, das der alte Hilgert nach ihren Anweisungen geflochten und dergestalt mit ledernen Bändern versehen hatte, daß 68
einerseits ein Herausfallen des Kindes verhindert wurde, andererseits ein sicherer Halt sowohl am Sattel als auch am Pferd gewährleistet war. »Ich finde, mit fast drei Monden sollte sie sich allmählich ans Reiten gewöhnen«, beendete sie ihre Ausführungen, »oder was meinst du, kleine Kriegerin?« Und wie zur Bestätigung lachte Thalionmel krähend auf. Als Kusmine mit ihrem Kind davonritt, blickte Susa den beiden kopfschüttelnd nach. Wann wird unsere wilde Herrin endlich vernünftig werden? schien ihr Blick zu sagen. Die neunte Stunde war schon halb vorüber, als Kusmine das Dorf hinter sich ließ. Sie hatte ihre Lederrüstung gegen ein Reitkleid aus leichtem grünen Tuch getauscht, mit knapp geschnittenem Jäckchen und engen Beinkleidern, in dem Durenald sie besonders gern sah. Zwar hoffte sie, ihn noch vor der Mittagsstunde zu treffen, doch hatte sie vorsichtshalber ein wenig Proviant und einen Schlauch mit verdünntem Wein mitgenommen. Und die Atzung für mein Kleinod trage ich in meinem Körper, dachte sie befriedigt. Sie schaute sich nach dem Kind um, aber Thalionmel erwiderte ihren Blick nicht; mit großen Augen bestaunte sie den Ausschnitt der Welt, den zu sehen ihr von ihrer gutgepolsterten Lagerstatt aus möglich war: den Himmel, die zarten weißen Wölkchen, die von Westen her aufzogen, die Bäume und die Vögel, die emsig ihr Nistgeschäft betrieben. Kusmine ritt auf der Straße, die in nordwestlicher Richtung zur Reichsstraße führte. Es war kaum mehr 69
als ein vielbenutzter und gut ausgefahrener Karrenweg, und als sie nach einer knappen Stunde den Wald erreicht hatte, konnte man kaum noch von Straße sprechen. Man sollte endlich den Ausbau des Weges in Angriff nehmen, ging es ihr durch den Kopf, als der Zweig eines dicht am Wege stehenden Baumes ihre Schulter streifte, das wäre sicherer und würde es dem Gesindel schwerer machen. Aber solange die anderen Gutsherren und -damen auf diesem Ohr taub sind und auch der Graf kein Interesse zeigt, wird es damit wohl nichts werden. Sie folgte weiter der schmalen Straße, genoß die kühle Luft, den Gesang der Vögel und das anmutige Spiel von Licht und Schatten, das Sonne und Blätter auf den Weg zauberten. Durenald wird mich schelten, daß ich niemanden mitgenommen habe, dachte sie und mußte lachen. Wenn es um ihre Sicherheit ging, vergaß der Gute allzuleicht, daß sie eine erfahrene Kämpin war und kein Vinsalter Zierpüppchen. Und seit sie vor knapp zehn Jahren damit begonnen hatte, eine Bürgerwehr zu errichten, zu rüsten und zu schulen, war es hier im ›wilden Süden‹ viel ruhiger geworden - rings um Brelak zumindest. Ja, die Übergriffe durch Wegelagerer und Strauchdiebe hatten in den letzten Jahren merklich abgenommen. Gutgelaunt und voller Rondravertrauen setzte Kusmine ihren Weg fort. Wie überrascht würde Durenald sein und wie sehr würde er sich freuen, nicht nur sie, sondern auch sein süßes Töchterlein zu sehen. Just in diesem Augenblick begann das Kind zu greinen. »Was gibt‘s, kleine Kriegerin, schon wieder hungrig?« 70
Sie wandte sich lachend zu dem Säugling um, dessen Weinen nun lauter und fordernder wurde. »Aber ein klein wenig gedulden mußt du dich noch - erst müssen wir ein passendes Plätzchen zum Rasten finden. Und sieh einmal, auch ich muß mich gedulden«, fuhr sie fort, »oder denkst du, ich wollte die Milch nicht bald loswerden, die mir in die Brüste schießt, daß es zieht und spannt.« Wieder war es, als habe das Kind sie verstanden, denn nach ein paar letzten heftigen Schluchzern verebbte der Tränenstrom. »So ist es tapfer, kleine Kriegerin«, lobte Kusmine, »den Hunger überwinden und den Kummer niederkämpfen. Und nun sollst du auch bald belohnt werden - Frau Peraine, die Nährerin, ist dir hold. Siehst du die kleine Lichtung dort drüben? Da wollen wir rasten.« In wenigen Augenblicken war die Lichtung erreicht. Kusmine saß ab, breitete eine Decke auf dem Boden aus und befreite das Kind vorsichtig aus dem Körbchen. Obwohl die Praiosscheibe noch nicht den höchsten Stand erreicht hatte, verspürte auch sie ein wenig Hunger, und so nahm sie, nachdem sie die Zügel des Pferdes um einen Ast geschlungen hatte, Brot und Wein aus der Satteltasche, um sich nach dem Stillen selbst zu laben. »Vielleicht sollten wir hier auf deinen Vater warten, was meinst du?« wandte sie sich an den Säugling, während sie ihr Mieder öffnete, aber Thalionmel ruderte nur ungeduldig mit den Ärmchen, und ihr Interesse galt ganz offensichtlich allein der weichen mütterlichen Brust. Als sie die feste Knospe am Gaumen spürte, begann sie gierig zu saugen. 71
Kusmine genoß das Stillen; sie liebte es jedesmal, aber heute, hier im Wald, umhüllt von den Düften der Erde und der Pflanzen, der lebendigen Ruhe rings umher und dem kühlwarmen Halbschatten, war es ihr eine ganz besondere Freude. Halb schloß sie die Augen, lehnte sich an den Baumstamm, bei dem sie das Lager aufgeschlagen hatte, und ließ ihre Gedanken ziellos treiben. Während Bilder der letzten Liebesnacht, der mit jedem Tag schöner und kräftiger werdenden Tochter, der Fechtstunde am Morgen, der gepanzerten Handschuhe, die sie jüngst beim Harnischmacher in Neetha in Auftrag gegeben hatte, bunt und ungeordnet in ihrem Geist vorüberzogen, reichte sie dem Säugling die rechte Brust, nachdem er sich an der linken halb gesättigt hatte. Plötzlich wurde die Brust kräftig zurückgestoßen; blitzschnell war Kusmine aus ihrem halben Schlummer erwacht und in die Wirklichkeit zurückgekehrt. »Was ist dir, Kind?« Überrascht sah sie den Säugling an. Thalionmel hatte die zarten Brauen gehoben und wandte wie lauschend das Köpfchen in Richtung der Straße. Kusmine folgte ihrem Blick, doch bevor sie etwas sah, hörte sie es schon: ein kurzes Wiehern und dann das Geräusch von galoppierenden Hufen auf weichem Boden. »Ob das dein Vater ist?« sagte sie mehr zu sich selbst, aber der Ausdruck der kindlichen Züge zeigte Überraschung, fast Bestürzung, und kein freudiges Strahlen erhellte sie wie sonst stets bei der Erwähnung des Vaters. Angestrengt spähte Kusmine durch die Zweige, und dann sah sie das Pferd, einen 72
reiterlosen Apfelschimmel - kein Tier aus dem gutsherrlichen Stall und keines, das sie je in Brelak gesehen hatte. »Es muß ein Unglück geschehen sein«, murmelte sie, und schon war sie auf den Beinen, hatte das Kind auf die Decke gelegt, ihr Mieder geschlossen und in wenigen Wimpernschlägen die Zügel vom Ast gewunden und sich selbst in den Sattel geschwungen. »Rondra, Herrin, hab acht auf meine Kleine!« stieß sie hervor, während sie zur Straße sprengte. Und wenn du zuläßt, daß auch diese mir genommen wird, dann sollst du in deinen Hallen vergeblich auf mich warten, fügte sie in Gedanken grimmig hinzu. Sobald Kusmine die Straße erreicht hatte, sah sie, was geschehen war: In etwa fünfzig Schritt Entfernung wälzten sich drei Gestalten kämpfend am Boden. Augenblicklich wußte Kusmine, wie sich der Überfall abgespielt haben mußte. Die beiden Wegelagerer - daß es sich um solche handelte, daran gab es keinen Zweifel - hatten ihrem Opfer aufgelauert, das sie sich vermutlich schon auf der Reichsstraße als solches erkürt und seitdem verfolgt hatten (sie mußten also über Pferde verfügen), es vom Pferd gerissen und versuchten nun, den Mann zu überwältigen und auszurauben, denn um einen Mann handelte es sich bei dem Opfer, wohingegen die Strauchdiebe ein Pärchen mittleren Alters und nordländischen Aussehens waren (Albernianer vermutlich). Bei Rondra! Am hellen Tag! dachte Kusmine. Der Kampf war eine üble und ungleiche Rauferei, denn das Opfer, ein schlanker, gutgekleideter junger Mann, wie Kusmine im Näherkommen erkannte, war 73
so unglücklich gefallen, daß er sein Rapier nicht erreichen konnte, und die Räuber waren entweder unzureichend oder gar nicht bewaffnet. Aber sie waren ihrem Opfer an Kräften weit überlegen. Das Weib, halb auf dem Jüngling kauernd, teilte mit ihren großen knochigen Fäusten gewaltige Hiebe aus, unter denen er sich wimmernd krümmte, während ihr Gefährte ihn immer wieder mit seinen schweren Stiefeln trat. Als Kusmine das Messer aufblitzen sah, war sie fast heran, das Schwert in der Rechten. Aber die Wegelagerer hatten sie inzwischen bemerkt, hielten inne, und nach einem kurzen Blickwechsel verschwand die Frau im Wald rechts neben der Straße. Ihr Kumpan jedoch, sich seiner Gewandtheit und günstigen Position bewußt zwischen ihm selbst und den gefährlichen Pferdehufen lag der junge Mann halb besinnungslos am Boden -, zeigte mit einem häßlichen Grinsen Kusmine sein von Kämpfen oder Folterungen grauenhaft entstellten Antlitz, dann schnitt er blitzschnell einen Beutel vom Gürtel des Opfers und war mit zwei Sätzen im Gesträuch links des Weges verschwunden. »Gesindel, wagt es noch einmal...!« rief Kusmine ihm nach, dann sprang sie aus dem Sattel und eilte dem Verletzten zu Hilfe. Der junge Mann war offenbar nicht lebensgefährlich verletzt. Leise stöhnend wand er sich im Straßenstaub, die Rechte in die Magengrube, die Linke zwischen die Beine gepreßt. Kusmine beugte sich über ihn und berührte vorsichtig seine Schulter. »Mein Herr«, begann sie, »wie geht es Euch? Könnt Ihr sprechen? Euch 74
erheben?« Der Mann hob beim Klang der Stimme mühsam den Kopf und blickte sie aus einem dick verschwollenen Auge an. »Zordan! Um Praios‘ willen!« schrie Kusmine auf. »Was tust du hier? Was haben sie dir angetan?« Und dann begann sie, ohne eine Antwort abzuwarten, mit kundigen Fingern und geübtem Blick die Blessuren ihres Halbbruders zu untersuchen. »Es scheint nichts gebrochen zu sein, Rondra sei Dank«, murmelte sie. »Versuch dich zu erheben«, fuhr sie fort, »ich werde dich stützen.« Statt einer Antwort stöhnte Fuxfell laut auf, als Kusmine ihn unter den Achseln packte und auf die Füße zu stellen versuchte. »Beiß die Zähne zusammen, kleiner Bruder«, sagte sie zärtlich, aber bestimmt, »es muß gelingen! Du kannst hier nicht liegenbleiben.« Zordan Fuxfell bot ein Bild des Jammers, als er schließlich auf zitternden Beinen stand, den Kopf eingezogen, den Rücken gekrümmt und die Hände nach wie vor an den schmerzenden Leib gepreßt. Mit Kusmines Hilfe gelangen ihm ein paar mühsame Schritte. »Kannst du reiten?« fragte sie teilnahmsvoll. Fuxfell schüttelte den Kopf. »Nicht reiten«, stöhnte er. »Nun«, meinte sie nachdenklich, »wenn du nicht reiten kannst, dann mußt du gehen - das wird hart, aber wir schaffen es schon.« Doch Zordan Fuxfell schüttelte wiederum den Kopf. »Nicht gehen«, wimmerte er, »hol einen Wagen.« »Sei vernünftig, Zordan«, erwiderte die Schwester, »ich kann dich nicht allein hier zurücklassen - sie 75
könnten wiederkommen...« Sie könnten wiederkommen! Es war wie ein Hieb, ein Schwertstreich, ein Blitzschlag. Eine eiskalte Hand griff nach Kusmines Herzen, das für einen Moment zu schlagen aufhörte. »Meine Tochter!« schrie sie. »Mein Kind!« Mit einem Satz hatte sie sich aufs Pferd geschwungen und sprengte zur Lichtung zurück. Wenn die Banditen ihr Kind geraubt hätten - sie wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu führen, sie wußte nur eins: Falls ihrer Tochter ein Haar gekrümmt worden wäre, dann würde sie die Schuldigen verfolgen bis ans Ende der Welt, wenn es sein müßte, und sie würde sie mit allen Martern der Dämonenhöllen strafen: sie bei lebendigem Leibe häuten und rösten und pfählen und vierteilen und... Kusmine hatte die Lichtung erreicht, und da lag Klein-Thalionmel, friedlich und satt, blinzelte in die Sonne und haschte mit den winzigen Fingern nach einem Schmetterling. Vom Pferd zu springen, das Kind samt Decke zu ergreifen und wieder aufzusitzen, war eine Sache von Wimpernschlägen. Als Kusmine, das Kind an die Brust gepreßt, zu ihrem Halbbruder, der stöhnend an einem Baum lehnte, zurückgekehrt war, vernahm sie fernen Hufschlag. Sichernd schaute sie sich um, dann reichte sie Zordan den Säugling, doch dieser machte keine Anstalten, das Kind entgegenzunehmen. »Was ist?« fragte sie schärfer als beabsichtigt, »willst du dich nicht deiner Nichte annehmen, wenn ich in wenigen Augenblicken deinen 76
Bedrängern entgegentrete?« Aber Fuxfell schien sie nicht zu hören oder zu verstehen. »Hol einen Wagen, hol einen Medicus, laß mich nicht allein«, wimmerte er nur und war sich der Unvereinbarkeit seiner Wünsche offenbar nicht bewußt. »Bei Rondra, ich fasse es nicht«, zischte Kusmine, und wilder Zorn loderte in ihren Augen auf. »Nun reiß dich zusammen, Memme, dir fehlt doch nichts!« »Mememem«, wiederholte Thalionmel, und kleine Speicheltröpfchen flogen ihr vom Mund. Der scharfe Ritt im Arm der Mutter hatte ihr gut gefallen und ihr immer wieder kleine jauchzende Wonnelaute entlockt. Nun blickte sie Zordan mit ihren wachen blauen Augen aufmerksam an. »Mememem«, sagte sie. Wie vom Donner gerührt hielt Kusmine inne. »Du kannst sprechen?!« entfuhr es ihr. »Mememem, rörörö«, antwortete der Säugling lachend und griff nach dem Haar der Mutter. Da besann Kusmine sich ihrer Pflichten und legte das widerstrebende Bündel ins Sattelkörbchen. Mit wenigen hastigen Griffen hatte sie die Bänder festgezurrt. »Nun gut, wollen wir schauen, wer uns die Ehre gibt«, flüsterte sie ihrer Tochter zu. Dann zog sie ihr Schwert und erwartete, aufrecht und reglos im Sattel sitzend, die Ankunft der Banditen. Es waren zwei Reiter und drei Unberittene, wie Kusmine erkannte, als die fünf Gestalten an der fernen Biegung der Straße auftauchten. Aber irgend etwas stimmte nicht mit ihnen: Weder schienen sie es eilig zu 77
haben, noch waren sie im mindesten darauf bedacht, unentdeckt zu bleiben. Ja, es hatte gar den Anschein, als sprächen oder scherzten sie miteinander. »Durenald!« rief Kusmine. »Durenald!« Sie winkte heftig mit der Linken, dann steckte sie das Schwert in die Scheide zurück und sprengte ihrem Gemahl entgegen. Auch Durenald hatte sie inzwischen erkannt und beschleunigte seinen Ritt. »Kusmine, liebes Herz, welche Freude, dich zu sehen«, sagte er, als er sie erreicht hatte. »Doch was ist dir?« fügte er besorgt hinzu, als er den merkwürdig fremden Ausdruck ihrer Augen bemerkte, in dem sich Bestürzung, Grimm und Erleichterung mischten. »Und was verbirgt sich in dem seltsamen Körbchen hinter deinem Sattel?« »Unsere Tochter«, erwiderte Kusmine knapp und atemlos, »das Reiten macht ihr Freude.« Durenald schob die Decke zur Seite und lächelte warm, als er das zierliche Gesichtchen seines Kindes erblickte, das beim Anblick des Vaters heftig strampelte und mit den Ärmchen fuchtelte. »Meinst du nicht, sie ist noch ein wenig zu jung zum Reiten?« wandte er sich an seine Frau. »Nun, du wirst es am besten beurteilen können«, fügt er nach einer kurzen Pause hinzu. »Doch nun sag mir, was dich bedrückt.« Bevor Kusmine antworten konnte, hatte Durenald den verletzten Fuxfell entdeckt, der noch immer zitternd und stöhnend an dem Baum lehnte, wo die Schwester ihn zurückgelassen hatte. »Um der gütigen Frau Peraine willen, wer ist das? Was ist geschehen?« 78
Leise und eisern bemüht, das Beben ihrer Stimme zu unterdrücken, berichtete Kusmine, was sich zugetragen hatte. Statt einer Antwort und statt des halb erwarteten Vorwurfs ergriff Durenald ihre Hand und drückte sie heftig. »Mein armes Herz«, flüsterte er, dann wandte er sich an seine Begleiter, einen Jäger und drei Bauern aus dem Dorf. »Der Bruder eurer Herrin ist auf dem Ritt hierher von Wegelagerern überfallen und übel zugerichtet worden. Wie es scheint, ist er zu schwach zum Reiten. Schlagt also ein paar junge Bäume und baut eine Pferdetrage, damit wir ihn sicher und schonend zum Gutshaus bringen können.« Er stieg vom Pferd, eilte zu Fuxfell hinüber und wechselte ein paar leise Worte mit ihm. »Kusmine«, sagte er, »mach dir keine Sorgen. Reite getrost voraus - ich kümmere mich um deinen Bruder. Die Schurken werden nicht zurückkehren, und falls doch...« Er klopfte lächelnd auf das Kurzschwert an seiner Seite und wies auf seine Begleiter, die mit Bögen, Speeren und Dolchen bewaffnet waren und bei den Worten ihres Herrn ernst und beflissen nickten. »Ich werde einen Wagen schicken, sobald ich Brelak erreicht habe«, sagte Kusmine so laut, daß ihr Bruder sie hören mußte, denn inzwischen überwog das Mitleid ihren Groll, und es tat ihr leid, daß sie so grob mit ihm gesprochen hatte. »Und die Mägde sollen eine Krankenstube herrichten, und ich werde Danja rufen lassen - sie versteht sich auf Wunden und Heilkräuter und dergleichen. Lebt also wohl!« Sie schenkte Durenald ein ernstes, inniges Lächeln und nickte sei79
nen Begleitern zu. »Wir sehen uns später.« Danja, die Hebamme, Kräuterfrau und Heilerin, verließ soeben die Krankenstube. Auf leisen Sohlen, den Zeigefinger auf die Lippen gelegt, näherte sie sich dem Freiherrn von Brelak, der sie mit sorgenvoller Miene erwartete. »Er schläft«, flüsterte sie, »und das ist jetzt auch das beste für ihn.« »Aber wie geht es ihm?« wollte Durenald wissen. »Wie schwer sind seine Verletzungen?« »Oh, Euer Edelgeboren« - Danja strahlte, wie sie es immer tat, wenn die Götter und ihre Kunst ein Unglück verhindert hatten -, »wir müssen der guten Frau Peraine danken. Sie hat wohl Ihre Hand über Euren Herrn Schwager gehalten, damit ihm kein ernster Schaden widerfuhr. Nein, kein Knochen ist gebrochen, und innere Wunden hat er auch nicht davongetragen, und da er ein junger und gesunder Mann ist und ich seine Schrammen und Kratzer gut versorgt und verbunden habe, kann er morgen schon wieder« - sie hielt inne und wiegte nachdenklich den Kopf -, »nein, übermorgen - tanzen, fechten, reiten... lieben.« Sie zwinkerte Durenald verschwörerisch zu. »Kurz und gut: Der Herr von Fuxfeil...« »Nur Fuxfell«, unterbrach sie Durenald. »Wie meinen, Euer Edelgeboren?« »Er heißt Fuxfell, ohne von.« »Nun gut. Also der Herr Fuxfell wird übermorgen wieder ganz der alte sein. Bis auf ein paar blaue Flecken natürlich - aber die vergehen.« 80
»Danke, Danja.« Durenald klopfte der Frau anerkennend auf die Schulter und drückte ihr einen kleinen Beutel in die Hand. »Dankt nicht mir, Herr, dankt der Frau Peraine, die die guten Kräuter wachsen läßt«, erwiderte sie, nahm den Beutel aber gern und begann sogleich, mit kundigen Fingern den Inhalt zu ertasten (fünf Silberstücke), während sie ihn in ihrer Tasche verschwinden ließ. Kurz nach Danja verließ auch Kusmine die Krankenstube, die als gutausgebildete Kriegerin fast ebensoviel von Blessuren und deren Behandlung verstand wie die Kräuterfrau. Sie lächelte ihren Gatten an. »Nun ist doch alles zu einem guten Ende gekommen, was so schlimm begann«, sagte sie und ergriff Durenalds Hände. »Wir haben ihm einen Schlaftrunk eingeflößt, denn der Schlaf ist in seinem Fall die beste Medizin - er läßt ihn auch Angst, Zorn und Schrecken vergessen.« »Ach Kusmine, liebes Herz«, lachte Durenald, »was bist du doch für eine fürsorgliche Schwester! Aber dein kleiner Bruder scheint mir, mit Verlaub, ein rechter Zimperalrik zu sein.« Er suchte den Blick seiner Frau, um sich zu vergewissern, daß seine Worte sie nicht verletzt hätten, doch Kusmine lächelte verständnisinnig. »Und überhaupt«, fuhr er fort, »wieso hat er sich von zwei halbverhungerten und unbewaffneten... Du sagtest doch, daß sie unbewaffnet waren?« Kusmine nickte. »Einer hatte ein Messer«, sagte sie dann. »Wie dem auch sei«, fuhr Durenald fort, »wieso hat 81
er sich von zwei nahezu unbewaffneten Banditen verprügeln lassen? Er hat doch ein schönes Rapier. Trägt er es nur zur Zierde?« Kusmine hob Achseln und Hände in einer Geste der Ratlosigkeit. »Ich weiß es nicht, lieber Mann«, sagte sie, »aber sei nicht gar so streng mit ihm. Zordan ist kein Krieger - er hat das Fechten nie geliebt und auch nicht gut gelernt. Vielleicht trägt er seine Waffe wirklich mehr zur Zierde oder um das Gesindel abzuschrecken.« »Abzuschrecken? Nun, das ist ihm ja über alle Maßen gut gelungen! Da haben sie ihm dann vor lauter Schreck nicht das Leben, sondern nur seine Dukaten genommen! Mein Kompliment dem Waffenschmied.« »Durenald, so kenne ich dich gar nicht«, lachte Kusmine, »so bissig und ironisch. Aber ich kann nicht sagen, daß es mir mißfällt. Wie sich alles zugetragen hat, werden wir morgen erfahren. Doch um Zordans Dukaten müssen wir uns schwerlich sorgen - er wird seine Barschaft nicht offen am Gürtel getragen haben. Niemand ist so leichtsinnig, auch Zordan nicht. Wahrscheinlich waren in dem Beutel nur ein paar Kupfer- oder Silbermünzen... oder Pfeifenkraut...« Wieder hob sie Schultern und Hände in der ihr eigentümlichen Geste. »Obwohl...« Sie wurde nachdenklich. »In seinen Stiefeln habe ich kein Geld gefunden, und innen im Gürtel war auch nichts eingenäht. Dann verwahrt er es vermutlich in den Satteltaschen - also doch ein wenig leichtsinnig, der Gute...« Plötzlich hielt sie inne. »Satteltaschen? Hat man sein Pferd gefunden?« 82
»Einen Apfelschimmel? Eine schöne, aber etwas furchtsame Stute? Ja, die ist gefunden worden und wird in unserem Stall von Hilgert gut umsorgt«, beruhigte Durenald seine Gemahlin, »und auch das Gepäck deines Bruders ist in Sicherheit. Wenn du willst, lasse ich es gleich in seine Kammer bringen.« »Ach nein, ich denke, das hat Zeit bis morgen. Heute wollen wir seinen Schlummer nicht mehr stören. Weißt du«, sagte Kusmine nach kurzem Sinnen, »ich bin sehr froh, daß Zordan endlich den Weg zu uns gefunden hat. Es zeigt doch, daß er uns zugetan ist - dir und mir und dem Kind wohl auch... Wer sollte unser Kleinod nicht lieben...« Sie nahm ihren Gatten beim Arm und führte ihn zur Kinderstube. »Früher hatte ich bisweilen den Eindruck, daß er einen Groll gegen mich hegt«, nahm sie ihren Gedanken wieder auf, »obwohl ich nie unfreundlich zu ihm war oder ihn mit Hochmut oder Herablassung behandelt hätte... Es wird der Neid des Bastards gewesen sein, denke ich, der Neid auf meine Geburt, auf meinen Stand, meine gute Ausbildung...« »Deine Schönheit«, unterbrach sie Durenald und faßte sie um die Hüfte. »Meine gute Partie«, fuhr Kusmine lächelnd fort und legte nun ihrerseits dem Gatten den Arm um die Schulter und zog ihn fest an sich. »Mein Glück...« »Du hast nicht immer Glück gehabt im Leben und bist auch nicht immer glücklich gewesen«, widersprach Durenald. Doch sogleich bereute er seine Worte, als er spürte, wie Kusmine kaum merklich erstarrte. »Nein, nicht immer«, sagte sie leise, »aber dennoch 83
halte ich mich für einen von den Göttern verwöhnten und begünstigten Menschen.« Sie hielt inne und blickte ihren Gatten ernst und voller Liebe an. »Soll ich dir sagen, was ich glaube? Ich glaube, Boron hat uns den kleinen Tsafried genommen, um uns daran zu gemahnen, daß wir unser Glück nicht uns selbst verdanken, sondern jenen, die alle unsere Geschicke lenken. Und jeden Tag und jede Stunde müssen wir sie preisen für die Gaben, mit denen sie uns segnen... War es nicht Frau Rahja, die es so gefügt hat, daß wir uns in Neetha begegnet sind? Ist es nicht Frau Peraine, die deine Äcker und Gärten segnet Jahr für Jahr? Ist es nicht Frau Travia, die täglich über unserem Heime wacht? Ist es nicht Frau Rondra, die mir Mut und einen starken Körper verliehen hat? Und müssen wir Frau Tsa nicht innig danken für die schöne Tochter, die sie uns geschenkt hat?« »Du hast recht, liebes Herz, so wie du immer recht hast«, sagte Durenald zärtlich, »und da du sie erwähnst, unsere schöne Tochter, so möchte ich sie sogleich gern sehen.« »Ja, komm nur, Liebster, und schau sie dir an - sie wird mit jedem Tag schöner und kräftiger. Ich wollte ohnehin gerade zu ihr eilen, um sie zu nähren für die Nacht.« In nachdenkliches Schweigen gehüllt, setzte das Paar den Weg zur Kinderstube fort. Plötzlich lachte Kusmine. »Und ist es nicht Herr Firun, der uns den schönen Braten geschenkt hat?« fragte sie. »Oder war Er dir etwa nicht gewogen? Du weißt, daß du mir für 84
den Praiostag eine junge Bache versprochen hast, nicht wahr?« »Und was ich verspreche, das halte ich auch, mein liebes Herz.« Durenald zog Kusmine an sich und küßte sie. »Am Praiostag wirst du dich am zartesten und saftigsten Wildbret laben können, das je deinen Gaumen verwöhnte.« Lange standen die Gatten am Bettchen ihrer Tochter, lachten und scherzten mit dem Kind und konnten nicht genug davon bekommen, die Vollkommenheit der Gliedmaßen, das strahlende Blau der Augen und die Schönheit des blonden Lockenhaares zu bewundern, das in Anbetracht des zarten Alters schon recht üppig auf dem Köpfchen sproß. »Und nun bitte ich dich, uns zu verlassen«, sagte Kusmine schließlich, »du weißt, daß wir zwei beim Stillen am liebsten ungestört unter uns sind.« Mit gespieltem Schmollen wandte Durenald sich zum Gehen. »Darf ich heut nacht auf deinen Besuch hoffen?« fragte er. »Natürlich, Liebster.« »Nun, ich kann es kaum erwarten, Geliebte.« Und mit einem galanten Kratzfuß verabschiedete Durenald sich von seiner Gemahlin. Zwei Tage später war Zordan Fuxfell fast völlig wiederhergestellt. Das immer noch ein wenig geschwollene und verfärbte Auge verbarg er unter einem bunten Seidentuch, was ihm nach Damillas Ansicht ein ungeheuer verwegenes, fast freibeuterhaftes Aussehen 85
verlieh und seine männlichen Reize noch erhöhte. Die junge Magd war sehr beeindruckt von dem Gast des Hauses, und ein Funke glomm in ihrem Herzen auf, obwohl sie ihn seit seiner Ankunft in Brelak erst dreimal gesehen hatte - das erste Mal, als man ihn, blaß und leidend zwar, doch wunderschön und elegant, vor zwei Tagen in der offenen Kutsche zum Gutshaus gebracht hatte, das zweite Mal gestern, als sie seine Kammer ausfegen mußte, und das dritte Mal am heutigen Morgen, als es ihr vergönnt war, ihm das Frühstück aufs Zimmer zu bringen. »Halt dich fern von dem jungen Herrn«, ermahnte Hilgert sie, als sie ihm mit geröteten Wangen von dem seelenvollen Ausdruck des einen sichtbaren Auges, von der vornehmen Bildung der männlich-schlanken Hände, dem warmen Klang der Stimme und der über alle Maßen zierlichen Ausdrucksweise des neuen Gastes berichtete. »Warum?« fragte das Mädchen überrascht. Der düstere Blick des Stallmeisters bohrte sich so tief in die braunen Augen der Magd, daß es ihr nach einer kurzen Weile schien, als schaue er sie nicht an, sondern durch sie hindurch, und ein Gefühl von Beklommenheit bemächtigte sich ihrer und vertrieb ihre Freude und gute Laune. »Warum?« wiederholte sie, trotzig diesmal. »Er wird Kummer und Unglück über dich bringen, wenn du ihm zu nahe kommst.« »Immer redet Ihr so, alter Mann.« Damilla senkte den Blick und wand gedankenverloren das Ende ihres dicken braunen Zopfes um den Finger. »So daß man 86
ernst wird, wenn man vorher lustig war, und traurig, wenn man vorher froh war. Gönnt Ihr denn keinem eine Freude, oder könnt Ihr in die Zukunft schauen und seht dort nur Schlimmes und Böses?« Der letzte Satz war wohl nicht als Frage gemeint, denn schon plapperte sie weiter, das Zopfende immer verbissener zwirbelnd. »Als das junge Fräulein zur Welt gekommen ist, da habt Ihr auch von schlechten Vorzeichen geredet, aber das Kind ist ganz gesund und schön und hat alle Finger und Zehen, und die Frau hat sich schon nach drei Tagen vom Wochenbett erhoben, und die Saat ist gut aufgegangen, und der Herr und die Herrin leben in traviagefälliger Eintracht. Und jetzt... und nun, da ich Euch nur erzählt habe, welch vornehmer und freundlicher Mann der Halbbruder unserer Herrin ist und wie wohlgesetzt er zu reden versteht, da sagt Ihr, daß er mich ins Unglück stürzen wird. Warum? Wollt Ihr mich ärgern? Ich habe doch nichts Schlechtes gesagt oder getan.« »Ich will dich nicht ärgern, Kind«, erwiderte Hilgert sanft, schaute das Mädchen jedoch so ernst, ja fast grimmig an, daß sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich, »und ich kann auch nicht in die Zukunft blicken, aber oft fühle ich es, wenn ein Unglück sich naht - das muß nicht morgen oder übermorgen sein oder in einem Mond...« »In einem Mond ist der Herr Fuxfell längst abgereist; ich hab‘s mit eigenen Ohren gehört, wie er gesagt hat, daß ihn dringende Geschäfte nach Kabash rufen.« Damilla nestelte weiter an ihrem Zopf und schob trot87
zig die Unterlippe vor. »Und warum ist er nicht von Methumis gleich dorthin gereist? Es liegt ja fast am Wege.« »Ich weiß nicht, wo Methumis und Kabash liegen, aber wahrscheinlich wollte er zuerst sein neues Nichtchen besuchen. Seht Ihr, das ist es, was ich meine: Immer seid Ihr mißtrauisch und macht ein Firunsgesicht, so lang und finster, daß man selbst eins kriegt...« Damilla hielt verlegen inne, aber der Alte schien ihre Worte nicht gehört zu haben. »Ich bin nicht froh über diese Gabe, die eher eine Strafe ist«, sagte er, »da ich weder weiß, was die Zukunft bringen wird, noch, wie ich das Unglück verhüten soll, das ich erahne. Auch du wirst meinen Rat nicht befolgen, dich fernzuhalten von dem jungen Herrn...« »Er beachtet mich ja gar nicht«, fiel Damilla ihm ins Wort. »Er kennt bestimmt die feinsten Damen von Methumis und Kabash, wie soll ihm da eine wie ich gefallen? Ich bin ihm sicher zu dick und zu dumm...« »Du bist frisch und jung, du gefällst ihm«, sagte Hilgert bestimmt, »doch nun muß ich mich wieder meiner Arbeit zuwenden, und auch du wirst gewiß schon im Haus oder in der Küche vermißt.« Brüsk wandte der Alte sich um und stapfte mit großen Schritten zum Stall. »Und wann darf ich endlich das kleine Prinzeßchen sehen?« fragte Fuxfell und hob erwartungsvoll Braue und Lid des unverhüllten Auges. Er hatte sich soeben 88
mit Durenald und Kusmine zur Mittagstafel begeben, der ersten gemeinsamen Mahlzeit. »Sehen dürfen?« lachte Kusmine und schnitt sich ein großes Stück des saftigen Wildschweinbratens ab - ein Meisterwerk Titinas mit einer Sauce aus frischen Frühlingskräutern, tulamidischen Spezereien und getrockneten Waldpilzen. »Keiner hat sie dir bisher vorenthalten, und es ist das erste Mal, daß du nach ihr fragst. Aber ich freue mich ja, daß du es tust, und auch daß es dir ganz offensichtlich besser zu gehen scheint.« Sie legte eine Pause ein, um den Bissen in den Mund zu stecken, ihn mit Behagen zu kauen und zu schlucken. »Nun«, sagte sie mit einem kurzen Blick unter leicht gerunzelten Brauen zu dem fahlen Blauton, den die Arivorer Butzenscheiben vom Himmel übrigließen, »es dürfte jetzt etwa eine Stunde nach Mittag sein. Wenn es sich mit deinen Plänen deckt, dann werden die beiden Kriegerinnen dich um die dritte Stunde in der Kinderstube erwarten.« Zordan Fuxfell deutete eine Verbeugung in Richtung seiner Halbschwester an. »Es wird mir ein Vergnügen und eine Ehre sein, den schönen Damen des Hauses meine Aufwartung zu machen.« Dann wandte er sich an Durenald, dem er, den suchenden Blick des Gastgebers bemerkend, mit verbindlichem Lächeln eine Schüssel voll duftender Hirseklöße reichte. »Aber wollt Ihr den Damen nicht auch die Ehre geben, teurer Schwager? Ein Familienidyll in der Kinderstube.« Das Lächeln wurde breiter. »Und wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann habe ich nicht nur für die liebrei89
zenden Kriegerinnen Präsente in meinen Satteltaschen, sondern auch eine Kleinigkeit für Euch.« Als Zordan Fuxfell zwei Stunden später die Kinderstube betrat, bot sich ihm ein Bild, wie es traviagefälliger nicht sein konnte: Kusmine thronte auf einem rotgepolsterten Sessel, das gutgelaunte Wickelkind auf dem Schoß. Ihr zur Seite saß ihr Gatte auf einem niedrigen Schemel und versuchte erfolgreich, durch das Ausstoßen seltsamer Laute, bei deren Erzeugung sich seine Züge aufs absonderlichste verzerrten, das Kind zum Lachen zu bringen. Kusmine beobachtete Durenalds Treiben mit lächelndem Kopfschütteln, konnte sich aber der allgemeinen Heiterkeit nicht entziehen; sie warf den Kopf in den Nacken und lachte hell auf, als es an der Tür klopfte. Susa öffnete und ließ mit einem flüchtigen Knicks den Neuankömmling ins Zimmer treten. »Braucht Ihr mich noch, Euer Edelgeboren?« fragte sie. »Nein, geh nur, Susa«, erwiderte die Angesprochene, »und laß dir von Titina eine Erfrischung bereiten. Und sag Damilla, sie soll Tee und Gebäck bringen.« Fuxfell verharrte beim Anblick der Familie kurz in gespielter Anbetung und preßte die Linke an die Brust. »Welch ergreifendes Bild, man sollte es malen«, hauchte er. Dann näherte er sich mit federnden Schritten seiner Nichte und verneigte sich tief. »Schönstes Fräulein, nehmt mein Herz, das ich Euch zu Füßen lege.« Das Kind hatte, als Fuxfell das Zimmer betrat, ihrem Vater, der, als es klopfte, rasch seine Züge geordnet und ihnen einen verbindlichen Ausdruck verliehen hatte, 90
keinerlei Aufmerksamkeit mehr geschenkt, sondern beobachtete vielmehr jede Bewegung des Gastes mit großen wachsamen Augen. Nun richtete Fuxfell sich auf und lächelte seine Nichte an. Thalionmel erwiderte den Blick des einen schwarzen Auges ernst und unerschrocken. »Fürwahr, ein schönes Kind, liebe Schwester«, wandte sich Fuxfell an Kusmine. »Wie heißt sie noch gleich?« »Thalionmel.« »Ein ungewöhnlicher Name, aber man wird sich daran gewöhnen - man wird sich daran gewöhnen müssen, nicht wahr, kleine Thalionmel? Denn in ein paar Jahren wirst du nicht nur sämtliche Männerherzen brechen, du wirst auch deine Widersacher das Fürchten lehren, so grimmig, wie du schaust. Ja, eine glänzende Karriere liegt vor dir, meine Teure, um die ich dich beneiden könnte, wäre ich nicht dein Onkel und getreuer Beschützer. Darf ich dir nun zum Zeichen meiner onkelhaften Zuneigung einen Kuß auf die Stirn drücken?« Als Fuxfell sich mit gespitzten Lippen dem kleinen Blondschopf näherte, wich das Kind zurück und versuchte den Kopf am Busen der Mutter zu verbergen. »Oh, man ziert sich?« Fuxfell konnte einen winzigen Anflug von Ärger in Stimme und Miene nicht unterdrücken. »Es wird die Augenbinde sein, die ihr Angst macht, lieber Schwager«, sagte Durenald lachend. »Einäugige sind ihr bisher noch nicht begegnet.« »Nun, wenn ich ihr nicht gefalle, so finden doch 91
vielleicht meine Gaben Gnade vor ihren Augen.« Fuxfell holte ein Bündel aus seiner Tasche, in dem es leise klapperte und das er nun behutsam öffnete. Es enthielt buntbemalte Holzfigürchen - Pferde, Reiter und Soldaten. Thalionmel hatte beim Klappern der Holzpüppchen den Kopf gewandt und beobachtete gebannt, wie Fuxfell eine winzige Soldatin (nach dem verschwenderischen Gebrauch von Silber- und Goldlack auf Helm und Panzer zu urteilen, wohl eine Rittfrau oder Obristin) aus dem Bündel klaubte und ihr zögernd reichte. Mit hellem Jauchzen griff sie danach. Fest schlossen sich die kleinen Finger um das blinkende Ding, und dann begann sie wie wild zu fuchteln und zu hopsen. »Ja, das ist ein Spielzeug nach deinem Geschmack, kleine Kriegerin!« lachte Kusmine. »Und wenn du erst etwas größer bist, wirst du auch richtig damit spielen können. Danke, Zordan«, wandte sie sich an ihren Bruder, »du siehst ja selbst, welche Freude du ihr gemacht hast.« Wie, um die mütterlichen Worte zu bekräftigen, streckte der Säugling fordernd die leere Linke aus, und die Fingerchen griffen und streckten sich nach etwas Unsichtbarem. »Nun, dann laß mich einmal schauen, was ich für das andere Händchen habe«, sagte Fuxfell, während er in dem linnenen Beutel kramte. »Wie wäre es mit diesem verwegenen Söldner?« Er reichte Thalionmel das bunte Figürchen. Gierig griff sie danach, doch plötzlich schleuderte sie mit einer gleichzeitigen heftigen Bewegung beider Arme Obristin und Söldner weit von 92
sich, wobei sie ihren Onkel nur um Spannbreite verfehlte. »Wie kann man nur so ungezogen und undankbar sein?« fragte Fuxfell leise. Einen Wimpernschlag lang funkelte Zorn in seinem Auge. Dann bückte er sich, um die Figürchen aufzuheben. »Für heute ist es wohl genug«, meinte er, während er sie zurück in den Beutel legte. »Ach, Schwager, nehmt es ihr nicht krumm, sie weiß doch gar nicht, was sie tut.« Durenald lächelte freundlich. »Aber zeigt mir einmal die Püppchen - sie scheinen ja ganz allerliebst zu sein.« Vorsichtig leerte er den Beutel auf den Wickeltisch und stellte den Inhalt auf. Er enthielt eine winzige Streitmacht, bestehend aus Rittern und Rittfrauen samt ihren Streitrössern, Knappen, Pikenieren und Bogenschützen. Aber auch die Gegenspieler der tapferen Soldaten kamen nun zum Vorschein: ein Oger, zwei Trolle, eine Handvoll Orks und eine Schar abenteuerlich bewaffneter Räuber, zu denen auch der Söldner gehörte. »Wirklich ganz reizend«, sagte Kusmine, die ihren Gatten bei seinem Tun beobachtete. »Das wird bestimmt ihr liebstes Spielzeug werden, wenn sie alt genug dafür ist. Und bis dahin werde ich es gut verwahren - und vielleicht hin und wieder selbst damit spielen«, fügte sie lachend hinzu. »Da fällt mir ein«, sagte sie, als ihr Blick auf die hölzerne Räuberbande fiel, »daß ich dir« - sie schaute ihren Halbbruder an - »noch gar nicht erzählt habe, daß ich gestern mit meinen besten Leuten das Waldstück durchkämmt habe, wo du überfallen worden bist. Denn, so sagte ich mir: Wo zwei 93
sind, kann auch leicht ein Nest sein. Aber wir haben keine Spuren eines Lagers entdeckt. Wahrscheinlich waren es wirklich nur die beiden, und sie haben so schnell wie möglich das Weite gesucht. Ich vermute, daß sie dir schon seit der Reichsstraße gefolgt sind. Du bist doch sicherlich...« Plötzlich hielt sie inne. »Wo ist dein Ring?« fragte sie überrascht. »Du trägst den Ring deiner Mutter nicht mehr?« »Mein Ring, oh...« Fuxfell war bei Kusmines Worten fast unmerklich zusammengezuckt. Nun betrachtete er seine Hand und knetete den ringlosen Finger. »Der Ring meiner Mutter...« »Waren das etwa auch die Räuber?« unterbrach ihn Kusmine. »Ja, gewiß, die Räuber«, antwortete Fuxfell erleichtert. Dann straffte er sich und legte so viel gerechten Zorn und heilige Empörung in Blick und Stimme, wie ihm möglich war und angemessen erschien. »Da du selbst das Gespräch auf den Verlust meines Ringes bringst, liebe Schwester«, begann er, »so muß ich dir leider sagen, und auch Euch, Schwager, daß ich in euren Wäldern nicht nur der teuersten Erinnerung an meine geliebte verstorbene Mutter beraubt wurde, sondern daß eure Räuber mir auch mein gesamtes Vermögen genommen haben, welches ich am Gürtel trug, so daß ich nun gleichsam als Nackter vor euch stehe.« Er seufzte tief. »Euer ganzes Geld?!« entfuhr es Durenald. »So ist es, Schwager. Die Strauchdiebe in Euren Wäldern haben mich ausgeraubt bis auf den letzten 94
Heller.« »Gemach, Bruder!« Kusmine hob die Brauen, und ein leichter Anflug von Röte färbte ihre Wangen. »Du redest gerade so, als ob wir Schuld an deinem Unglück hätten, fast so, als wären wir verantwortlich für jeden Strolch, der die hiesigen Wälder unsicher macht. Doch hör mir zu: Erstens ist der Wald, in dem du überfallen worden bist, nicht der unsere. Er gehört dem Grafen, aber Durenald ist es gegen ein Entgelt an seinen Lehnsherrn gestattet, dort firungefällig zu jagen. Zweitens« - ihre Stimme wurde ein wenig schärfer »halte ich mit meiner Bürgerwehr seit nunmehr fast zehn Jahren Durenalds Lehen weitgehend frei von Gesindel und Räuberpack, und drittens kann ich kaum glauben, daß sich in dem Beutel an deinem Gürtel dein gesamtes Vermögen befunden haben soll. Ich hab ihn ja gesehen - mehr als fünfzig Dukaten paßten gewiß nicht hinein.« »Vierunddreißig Dukaten, zwei Silbertaler und fünf Heller«, korrigierte Fuxfell finster, »dazu...« »So wenig?« rief Kusmine empört. »Was hast du mit dem Geld unseres Vaters angestellt?« »Unterbrich mich nicht, Schwester!« Auch Fuxfell hob nun die Stimme, »...das Geld also und dazu drei Schuldscheine über dreißig, neunzig und hundert Dukaten, so daß mein Vermögen, das die Räuber eurer Gegend mir genommen haben, sich auf insgesamt zweihundertvierundvierzig Dukaten, zwei Silberstücke und fünf Heller beläuft und ich somit das Geld unseres Vaters um mehr als vierzig Goldstücke vermehrt 95
habe.« »Schuldscheine?« fragte Durenald. »Wie kommt Ihr an Schuldscheine in dieser Höhe? Verleiht Ihr Geld gegen Zinsen?« »Das nicht, werter Schwager, aber vielleicht wißt Ihr, daß ich gern und gut Boltan spiele, und das ist nun einmal ein Spiel, bei dem man nicht nur ein Vermögen verlieren, sondern auch gewinnen kann.« »Spielen...«, brummte Durenald, aber Kusmine ergriff wieder das Wort. »Zordan, Bruder«, sagte sie ernst, »du willst mir doch nicht erzählen, daß du dein gesamtes Vermögen in Höhe von zweihundertvierzig Dukaten offen am Gürtel getragen hast. Sag, daß es ein Scherz ist.« »Es ist kein Scherz, schöne Schwester, nein, leider ist es die traurige Wahrheit.« Bekümmert wiegte Fuxfell den Kopf. »Doch schelte mich nicht - ich bin gestraft genug. Gerade dort am Gürtel, offen und für alle sichtbar, wähnte ich mein Geld besonders sicher verborgen. Denn wer erwartet Gold an dieser Stelle? Nun, ich habe mich geirrt in der Wahl meines Versteckes, grausam geirrt, wie ich jetzt erkenne.« Er schwieg eine Zeitlang, die Stirn in kummervolle Falten gelegt. »Und überdies«, fuhr er fort, »rechnete ich auch nicht im entferntesten damit, in euren Wäldern von Diebsgesindel geschunden und beraubt zu werden.« »Fangt Ihr schon wieder von unseren Wäldern an?« Eine Zornesfalte bildete sich zwischen Durenalds Brauen, und er schlug mit der Rechten auf den Wickeltisch, so daß die Holzfigürchen durcheinan96
derpurzelten. »Es sind nicht unsere Wälder - es sind die Wälder des Grafen! Statt den Göttern und Eurer Schwester dankbar zu sein, daß sie Euch so schnell zu Hilfe geeilt ist und Euch womöglich vor größerem Schaden bewahrt hat, faselt Ihr wirr und unverschämt daher, daß man glauben könnte, Ihr erwartetet, daß wir Euch das Gold ersetzen sollten. Ach, Schwager«, fuhr er nun versöhnlicher fort, »denkt nicht, daß mich Euer Verlust nicht dauert. Zweihundertundvierzig Dukaten durch die eigene Torheit verlieren, das ist hart, und ich fühle mit Euch. Doch worauf wollt Ihr eigentlich hinaus?« »Du brauchst Geld, gewiß«, mischte Kusmine sich ein, »nun, ich denke« - sie suchte den Blick ihres Gatten, und Durenald nickte -, »da wird sich etwas machen lassen. Sei also unverzagt.« In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und Damilla brachte die bestellte Erfrischung. Während sie den Tee in drei kleine irdene Becher goß, betrachtete Fuxfell sie ausgiebig und mit Wohlgefallen. Obwohl ihre Brüste gut entwickelt waren und auch das Hinterteil recht groß und fraulich rund zu sein schien, glaubte er nicht, daß sie mehr als fünfzehn Götterläufe zählte, denn ihre Züge waren von kindlicher Weichheit, und der Blick ihrer großen braunen Augen war scheu und auf bezaubernde Weise einfältig. »Verzeiht, liebe Schwester und lieber Schwager, daß ich euch verärgert habe, und auch das Prinzeßchen scheint böse zu sein, denn unverwandt verfolgt es mich mit ernsten blauen Augen und will mir gar kein Lächeln 97
gönnen. Was kann ich nur tun, um euch zu erheitern...« Er legte eine bedeutsame Pause ein, in der er sich vergewisserte, daß Damilla seiner Rede folgte, dann fuhr er fort: »Wie wär‘s mir einem kleinen Kunststück, das ich jüngst eingeübt habe?« Er blickte fragend in die Runde. Durenald und Kusmine wechselten erstaunte Blicke, wobei der erstere die Brauen hob und letztere Achseln und Hände. »Ein Kunststück? Nun, wenn du meinst«, sagte Kusmine, »dann laß sehen, wir sind gespannt.« Zordan Fuxfell stellte sich in der Mitte des Zimmers auf und schaute eindringlich von einem zum anderen, wobei er den Blick ein wenig länger auf Damilla ruhen ließ, die ihre Arme erwartungsvoll und fast andächtig unter dem Busen verschränkt hatte. Dann legte er die Handflächen aneinander und schloß die Augen. Lange stand er so, in Konzentration versunken. Unvermittelt riß er die Augen auf, murmelte etwas wie ›Selemsalamander - Mutaborineinander - Hylailomäander‹ und streckte die Rechte vor, die Handfläche nach oben. Kaum hatte er die Formel gesprochen, da erschien auf seiner Hand ein grünliches Flämmchen. Fast unbeweglich stand es dort, nur ganz leicht gewiegt vom Atem der Anwesenden oder dem Luftzug, der durch die Ritzen des Fensters ins Zimmer drang. Doch nun hob Fuxfell die Linke und beschwor mit seinen schlanken Fingern das Flämmchen, wobei er weitere unverständliche Formeln murmelte. Die Flamme veränderte allmählich ihre Farbe, wurde erst blau, dann violett, um schließlich einen leuchtenden 98
Purpurton anzunehmen. Dabei bog und wand sie sich auf der Hand, zitterte und wuchs ein wenig, um schließlich, als Fuxfell die Rechte spreizte, von einem Finger zum anderen zu hüpfen. Offenbar war dies der Höhepunkt der Darbietung, denn plötzlich verblaßte das Purpurlicht, die Flamme schrumpfte, und Fuxfell schloß mit einer ruckartigen Bewegung die Rechte zur Faust. Sein Atem ging heftig, und feine glänzende Rinnsale bildeten sich auf Stirn und Wangen. »Du kannst zaubern!« entfuhr es Kusmine. »Das habe ich gar nicht gewußt.« Aber Fuxfell antwortete nicht, sondern klaubte mit unsicheren Fingern ein seidenes Tüchlein aus der Tasche, mit dem er sich die Stirn betupfte. Durenald beobachtete seinen Schwager mit fragend oder forschend zur Seite geneigtem Kopfe, und Damilla hatte die Arme fallen lassen und stand unbewegt im Zimmer, den Mund geöffnet und die großen braunen Augen unverwandt auf Fuxfell gerichtet. Einzig Thalionmel war uneingeschränkt begeistert von der Vorführung und den bis zum heutigen Tage unbekannten Talenten des Oheims: Sie quiekte und prustete, und das heftige Zappeln und Fuchteln der kleinen Arme schien sagen zu wollen, daß sie eine weitere Probe seiner Kunstfertigkeit zu sehen wünschte. »Ja, Schwester, ich verstehe mich ein wenig darauf«, sagte Fuxfell schließlich, »eine Gabe, die ich von meiner Mutter ererbt habe.« »Aber Zordan, um Hesinde willen, warum bist du denn nicht zur Akademie gegangen?« fragte Kusmine. 99
»Du könntest heute eine angesehene Spektabilität sein, doch nun ist es vermutlich zu spät, um noch mit dem Studieren zu beginnen.« »Aber liebe Schwester, woher wohl hätte meine arme Mutter das Geld für eine kostspielige und langwierige Ausbildung nehmen sollen? Ich bin doch nur ein kleiner Bastard, wie du weißt.« »Zordan!« Kusmines Stimme wurde ein wenig lauter, und wieder rötete ein winziger Anflug von Zorn ihre Wangen. »Du weißt so gut wie ich, daß unser Vater alles in seiner Macht Stehende getan hat, um dich und deine Mutter zu unterstützen. Er wollte dich ja sogar nach Vinsalt schicken, nur daß deine Neigungen eben nicht in diese Richtung gingen. Gewiß wäre er stolz gewesen, einen Magus in der Familie zu haben, und hätte dir die beste Ausbildung in Kuslik oder wo auch immer finanziert. Warum nur hast du deine Gabe immer geheimgehalten?« »Ja, hätte, wäre, würde... es ist zu spät, wie du richtig erkannt hast, liebe Kusmine, und wir wollen nicht weiter spekulieren, was gewesen wäre, wenn... Es genügt mir, daß ich hin und wieder liebe Freunde oder Verwandte mit einem magischen Kunststückchen erfreuen kann. Doch nun erlaubt, daß ich mich zurückziehe.« Er verneigte sich leicht vor Schwester und Schwager. »Meine Blessuren beginnen wieder zu schmerzen, und ich denke, es ist das beste, wenn ich mich ein wenig ausruhe.« Auch Damilla wandte sich zum Gehen. Mit einem Knicks schlüpfte sie durch die Tür, und Fuxfell muß100
te ein paar große eilige Schritte machen, damit er sie auf dem Gang noch erreichte. »So warte doch, schönes Kind«, flüsterte er und zog sie leicht am Zopf. Damilla erstarrte. »Hat dir meine Darbietung gefallen?« fragte er leise. Das Mädchen nickte, ohne sich umzudrehen. »Nun, wenn du noch weitere Kostproben meiner Kunstfertigkeit kennenlernen möchtest, dann komm heut abend auf meine Kammer.« Wieder nickte Damilla, dann eilte sie davon. »Was hältst du von alldem?« wandte sich Durenald an seine Gemahlin, nachdem Damilla und Fuxfell die Kinderstube verlassen hatten. Er fuhr sich nachdenklich mit der Hand durch die Locken. »Meinst du die Geschichte mit dem Ring und dem Geld oder seine bis heute verborgenen magischen Talente?« fragte Kusmine. »Alles, liebes Herz, beides«, erwiderte Durenald, »die Geschichte mit dem Ring und dem Geld und seine bis heute verborgenen magischen Talente.« Er machte eine kleine Pause, dann fuhr er fort: »Wenn du mich fragst, was ich von all dem halte, dann könnte ich dir nun meine Theorien entwickeln, aber...« »Laß hören, lieber Mann!« »Ach nein, lieber nicht, sonst heißt es wieder, daß ich deinen kleinen Bruder nicht leiden kann und noch nie leiden konnte.« Kusmine lachte. »Aber nun hast du mich neugierig gemacht, und ich will wissen, zu welcher Theorie über meinen Bruder du aufgrund seines Verhaltens, seiner 101
Andeutungen und Geschichten und seiner neuerdings entdeckten Gabe gelangt bist. Außerdem hilft deine Ansicht mir gewiß bei der Bildung meiner eigenen.« Sie blickte Durenald erwartungsvoll lächelnd an. »Nun los!« sie knuffte ihn gegen die Schulter. »Du willst es doch loswerden und wirst es mir ohnehin heute noch erzählen. Warum sollen wir bis zum Abend warten?« »Also gut«, begann Durenald, »wenn du darauf bestehst, so will ich dir jetzt meine Meinung über deinen Bruder und seine Geschichten unterbreiten. Nun, ich glaube, daß der gute Zordan sein Vermögen - oder vielmehr das eures Vaters - verpraßt oder verspielt hat. Weiterhin bin ich überzeugt, daß er bis zum Hals in Spielschulden steckt und uns nur deshalb seine Aufwartung macht, um ein paar Dukaten zu lockern, was ihm ja auch zu gelingen scheint. Und den Ring ich kann mich nicht daran erinnern, aber es scheint sich ja um ein wertvolles Erbstück zu handeln - hat er entweder verpfändet oder verspielt. Was nun die Räuber betrifft, die ihn zweifellos überfallen und böse geschlagen haben, so konnte ihm nichts Besseres widerfahren, denn der Beutel an seinem Gürtel war bestimmt leer bis auf den letzten Kreuzer, und wäre ich nicht so ein gutgläubiger und vertrauensseliger Mensch, ich könnte glatt auf den Gedanken verfallen, der liebe Zordan habe die gar schrecklichen Räubern gedungen oder mache mit ihnen gemeinsame Sache. Nein, im Ernst, Kusmine, das glaube ich nicht. Allerdings vermute ich, daß es mit seiner Gabe nicht allzuweit her ist. Nicht, daß mich Zordans magische Darbietung nicht beeindruckt 102
hätte - einen Zauberer beim Zaubern zu beobachten, ist ein seltenes und immer wieder faszinierendes Ereignis -, aber zur Spektabilität hat er wohl nicht das Zeug. Worüber ich mich allerdings wundere...« »Du wunderst dich über etwas?« unterbrach Kusmine ihren Gatten ein wenig spitzer als beabsichtigt. »Dabei hatte ich gerade den Eindruck gewonnen, daß du schon alles über meinen Bruder weißt.« »Siehst du, liebes Herz«, erwiderte Durenald traurig, »nun bist du böse. Ich hätte dir meine Gedanken über deinen Bruder nicht mitteilen sollen; dein Bruder ist nun einmal ein Thema, bei dem wir leicht in Streit geraten, und an nichts liegt mir mehr, als in Eintracht mit dir zu leben. Laß uns das Gespräch beenden.« »Erst will ich wissen, worüber du dich wunderst«, beharrte Kusmine. - »Ich wundere mich«, sagte Durenald mit fester Stimme, »daß dein Bruder einen Apfelschimmel reitet, denn ich meine mich zu erinnern, daß dein Vater uns einmal von einem schwarzen Shadif geschrieben hat, das er für Zordan erworben habe...« »Es gibt auf dieser Welt Menschen, die mehr als ein Pferd besitzen, du selbst bist ein gutes Beispiel dafür.« Kusmine versuchte vergeblich, ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen. Sie öffnete den Mund, um weiterzusprechen, doch da gewahrte sie die bekümmerte Miene ihres Gatten und hielt inne. Ihre Züge verloren die Härte, und der kalte Glanz ihrer Augen wich einem Ausdruck von Innigkeit. »Ach, Durenald, lieber Mann«, sagte sie leise, »verzeih, daß ich so hit103
zig geworden bin. Du hast recht, wir sollten nicht weiter über Zordan streiten. Wahrscheinlich bist du um so viel zu streng mit ihm, wie ich zu nachsichtig bin, und die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Gewiß ist er leichtsinnig und spielt und hat Schulden, aber er...« »Aber er ist kein schlechter Mensch, nicht wahr, das wolltest du doch sagen?« Kusmine nickte lächelnd. »Und er ist ein angenehmer Gast«, fuhr Durenald fort, »aufmerksam und galant... Hast du gesehen, wie er Damilla angestarrt hat?« »Damilla? Die kleine Dicke?« Kusmine lachte. »Nein, das ist mir nicht aufgefallen.« Am siebenundzwanzigsten Peraine, zehn Tage nach seiner Ankunft, verließ Zordan Fuxfell gutgelaunt, gesund und um fünfzig Dukaten reicher Gut Brelak. Damilla winkte ihm mit dem roten Seidentüchlein, das er ihr geschenkt hatte, so lange nach, bis ihr der Arm schmerzte. Erkennen konnte sie ihn schon nach wenigen Schritten nicht mehr, denn ihre Augen schwammen in Tränen. Und so sah sie auch nicht, daß er sich kein einziges Mal nach ihr umwandte.
104
A
cht Monde und neun Tage waren ins Land gegangen, seit Zordan Fuxfell Brelak verlassen hatte: Am siebenundzwanzigsten Peraine war er davongeritten, und inzwischen war es Hesinde geworden, der 6. Hesinde. Damilla wußte das deshalb so genau, weil sie die Tage gezählt hatte. Sie hätte auch sagen können, wie viele Stunden mehr als acht Monde und neun Tage es waren - vier und eine halbe nämlich -, aber wem hätte sie das erzählen sollen, wer wollte das wissen? Langsam und schwerfällig schritt sie den staubigen Weg zum Gutshaus entlang. Ja, es hatte lange nicht geregnet, so war es letztes Jahr um diese Zeit auch gewesen. Da war das kleine Fräulein noch selig im Bauch der Herrin geschwommen, und nun machte es schon die ersten wackligen Schritte. Die letzten acht Monde waren nicht sehr schön, dachte sie, oder doch? Damilla dachte nach, während sie beobachtete, wie ihre Strohschuhe den kalten Staub aufwirbelten. Also, der Ingerimm: Da hatte es überraschend viel geregnet, aber dem Herrn war das recht gewesen. ›Wenn nur der 105
Rahja nicht auch noch verregnet‹, hatte er gesagt, ›das wäre nicht gut.‹ Und dann, Ende Ingerimm, an einem schönen warmen Tag um die Praiosstunde - sie entsann sich deshalb so gut, weil ihr gerade an diesem Tag zum erstenmal ganz übel und benommen wurde von den Dünsten, die aus der Küche drangen - hatte der Herr das ganze Gesinde im Hof versammelt, und alle hatten sie sehr fromm und schön zu der guten Frau Peraine gebetet, ihr gedankt für alle die guten Gaben und ihren Segen erfleht für die kommende Ernte. Und gesungen hatten sie auch: ›Peraine, güt‘ge Nährerin, du Mutter ohnegleichen, dir folge ich mit Herz und Sinn, von dir will ich nicht weichen.‹ Damilla summte die Weise vor sich hin, während sie zusah, wie ihre Strohschuhe und die nackten Füße allmählich immer dichter von einer blaßbraunen Staubschicht überzogen wurden. Und dann war der Rahja gekommen, und es war so sonnig geblieben wie Ende Ingerimm - da waren also die Gebete erhört worden, denn das Korn stand gut, und die Tomaten waren schon größer als Kastanien, allerdings noch grün. Und Mitte Rahja hatte Hilgert sie einmal dabei ertappt, wie sie hinter dem Pferdestall das Frühstück wieder von sich gegeben hatte, obwohl sie sich doch sosehr bemüht hatte, ihre Unpäßlichkeit vor allen zu verbergen, und er hatte sie so grimmig angeschaut wie immer und gesagt: ›Armes Kind, du solltest zu Danja gehen; vielleicht kann sie dir helfen.‹ Das hatte sie dann auch getan, denn mit irgend jemandem mußte sie sich einmal aussprechen über die seltsamen Vorgänge in ihrem Körper. Zur Herrin konnte sie nicht 106
gehen - die war zu streng und unnahbar. Und was hätte sie ihr auch sagen sollen? Daß es ihr morgens oft im Magen rumorte? Daß es das letzte Mal ausgeblieben war? Mit so etwas geht man doch nicht zur Herrin! Und Titina sitzt immer die Hand so locker, wenn man ungeschickt ist und etwas fallen läßt. Und Witwe Westfahr ist mit dem kleinen Fräulein beschäftigt und hat für dumme Fragen keine Zeit. Und zur Mutter gehen, nach Shilish, das ist doch viel zu weit... Da war sie also mit sieben Hellern zu Danja gegangen und hatte ihr alles erzählt, und Danja hatte gelacht und ihr erklärt, daß es gar keine Krankheit sei, sondern von der Liebe komme, worüber Damilla sehr froh gewesen war. Ja, damals, am 18. Rahja war sie wirklich froh und glücklich gewesen! Danja hatte auch sehr freundlich mit ihr gesprochen und ihr ein Stück Zuckerkuchen geschenkt und auch zwei Beutelchen mit Kräutern in die Tasche gesteckt. ›Den Silbertaler kannst du mir später geben, wenn du etwas gespart hast‹, hatte sie gesagt. Die eine Kräutermischung war gegen die morgendliche Übelkeit und die andere dafür, das Kind aus ihrem Bauch zu vertreiben. Sie hatte sie gar nicht nehmen wollen, aber Danja hatte darauf bestanden. ›Überleg es dir, Mädchen‹, hatte sie gesagt, ›du bist sehr jung und hast kein Geld - wer soll für das Würmchen sorgen? Noch hast du Zeit, zehn Praiosläufe lang kannst du noch darüber nachdenken, aber dann ist es zu spät. Hörst du mir auch zu, Kind? Nach zehn Praiosläufen ist es zu spät! Wenn du den Tee nach dieser Frist trinkst, kannst du sehr krank davon werden und vielleicht verbluten!‹ 107
Und dann hatte sie ihr den Beutel wieder abgenommen und gemeint, Damilla könne ja innerhalb der nächsten zehn Praiosläufe vorbeikommen, wenn sie sich für eine Richtung entschieden habe. Sollte sie sich aber anders entscheiden, so sei sie ihr auch kein Geld mehr schuldig, denn mit den sieben Hellern seien die Beratung und der Morgentee bezahlt. Damilla mußte lächeln bei dem Gedanken an das Hin und Her mit dem Tee. Für sie war es gar keine Frage gewesen, und es gab auch nichts zu entscheiden. Was würde Frau Tsa wohl dazu sagen, wenn sie das Kind in ihrem Bauch ermordete? Und was würde erst der Magister Fuxfell sagen, wenn er erführe, daß sie sein Kind, nein, ihrer beider Kind ermordet hätte. Gewiß würde er sie von sich stoßen, und nie wieder dürfte sie ihm unter die Augen treten. Ihm unter die Augen treten, das war ja alles, wonach sie sich sehnte: ihn von Angesicht zu sehen, seine Stimme zu hören und seiner Rede zu lauschen. Aber sie hatte ihn seit dem 27. Peraine nicht wiedergesehen und auch keine Nachricht von ihm erhalten, und so war sie im Laufe der Monde immer trauriger geworden. Am Anfang noch nicht - da war sie überglücklich gewesen, und auch Hilgerts Firunsgesicht konnte ihre Freude nicht vertreiben. ›Da ich sehe, wie du dich entschieden hast - was gedenkst du nun zu tun, Kind?‹ hatte er sie begrüßt, als sie vom Dorf heimgekehrt war. Aber das hatte sie sich ganz genau überlegt auf dem langen staubigen Weg von Danjas Kate zum Gutshaus. Seltsam, auch damals war der Weg so trocken gewesen, und auch damals hatte sie während des Nachdenkens beob108
achtet, wie ihre klobigen Pantinen den Staub aufwirbelten und er mit der Zeit Füße und Fesseln umhüllte wie gelbliche Socken. Im Sommer war er irgendwie heller und gelber, fand Damilla. Aber zurück zu Hilgert, dachte sie. ›Ich will dem Herrn Magister Fuxfell einen Brief schreiben‹, hatte sie sofort geantwortet. ›Helft Ihr mir dabei, alter Mann? Ich gebe Euch auch einen Heller dafür.‹ - ›So, du willst ihm schreiben, dann folge mir in meine Kammer, damit wir es hinter uns bringen. Dein Geld kannst du behalten‹, hatte der Stallmeister gesagt und einen Bogen Pergament aus seiner Lade geholt, der vom vielen Schreiben und Abschaben, Schreiben und Abschaben schon ganz dünn geworden war. Damilla erinnerte sich noch ganz genau, wie verlegen sie geworden war, als sie dem alten Mann den Brief diktiert hatte, der doch in ihrem Kopf ganz klar und deutlich geschrieben stand, nun aber, da sie die Worte aussprach, so dumm und unbeholfen klang. Allein die Anrede! ›Ehrenwerter Magister Fuxfell‹, hatte sie gesagt, und Hilgert hatte grimmig gelächelt, als er es niederschrieb. Da wußte sie, daß es falsch war und nicht der Etikette entsprach, und hatte ihn gebeten, es besser zu machen. Aber der Stallmeister hatte nur genickt und gesagt: ›Es ist schon recht, Kind, fahr fort.‹ Also hatte sie die Worte gesprochen, die sie sich auf ihrer Wanderung zurechtgelegt hatte: ›Durch Eure Liebe und den Segen der Frau Tsa habe ich ein Kind empfangen. Ich bin sehr glücklich. Gewiß seid auch Ihr glücklich, dieses zu erfahren. Ich bitte Euch, kommt recht bald, denn ich sehne mich nach Euch. Die Eure, 109
Damilla.‹ - ›Vergiß nicht, der Herrin deinen Zustand zu melden‹, hatte Hilgert gesagt, nachdem er den Brief gefaltet, adressiert, mit Wachs versiegelt und ihr überreicht hatte. Auch Danja hatte sie ermahnt, zur Herrin zu gehen, und so hatte sie sich also mit klopfendem Herzen zur Bibliothek aufgemacht, wo die Herrin einen ganz frisch aus Neetha eingetroffenen Folianten über Kriegskunst studierte, wie man ihr berichtet hatte. Warum sie eine solche Scheu vor der Herrin hatte, hätte Damilla nicht zu sagen gewußt. Die Herrin war zwar streng und genau, aber auch gerecht - darin war sich das Gesinde einig. Vielleicht liegt es an ihren kalten blauen Augen, die so selten lächelten, und wenn, dann meistens spöttisch, dachte sie. Es war dann sogar noch schlimmer gekommen, als sie erwartet hatte. Was sie erwartet hatte, wußte sie nicht - vielleicht daß die Herrin sich auch ein ganz klein wenig freuen würde. Aber davon konnte keine Rede sein. ›So, da bist du also schwangen, hatte sie nur gesagt, ›und mein Halbbruder ist der Vater, hm... und was nun?‹ Aber Damilla wußte ja selber nicht, was nun, und auch nicht, was sie auf die Frage der Herrin hätte antworten sollen, und so hatte sie nur auf ihre Schuhspitzen geschaut und mit den Schultern gezuckt. ›Ja, denkst du, daß er dich zur Frau nimmt, Mädchen? Erwartest du das? Verlangst du das? Und schau mich doch an, wenn ich mit dir rede!‹ Dann hatte sie ärgerlich ihren Folianten zugeschlagen und war mit großen Schritten und auf dem Rücken verschränkten Armen im Zimmer auf und ab gegangen. Damilla hatte insgeheim gehofft, daß die 110
Herrin ihr im Vorüberschreiten übers Haar streicheln würde. Statt dessen fühlte sie sich unters Kinn gefaßt, das sie tief auf die Brust gesenkt hatte, und die Herrin zwang sie, ihr in die harten blauen Augen zu schauen. ›Ist mein Halbruder Zordan Fuxfell wirklich der Vater deines Kindes? Sag die Wahrheit, Mädchen!‹ hatte sie verlangt, und als Damilla nickte, hatte sie schweigend ihre Wanderung wieder aufgenommen. ›Das sieht ihm ähnlich‹, hatte sie gemurmelt. Dann war sie vor dem Bücherschrank stehengeblieben und hatte nach einer Weile einen in goldgeprägtes blaues Leder gebundenen Band herausgezogen, den sie beim Gehen zu studieren begann. ›Also‹, hatte sie nach einer Weile gesagt, ›du bist eine Freie... Aber dennoch - die Ehe erzwingen kannst du nicht. Hat er dir die Ehe versprochen?‹ Damilla hatte nur wieder den Kopf gesenkt und mit den Schultern gezuckt, denn sie verstand überhaupt nicht, wovon die Herrin sprach. Der Magister Fuxfell hatte von Liebe zu ihr geredet, und sie liebte ihn auch, aber das konnte sie der Herrin doch nicht erzählen, und sie wußte auch nicht, was das mit den Fragen der Herrin zu tun hatte. ›Nun‹, fuhr die Herrin fort, ›hier steht...‹, Sie blätterte in dem Buch, bis sie die Stelle gefunden hatte. ›Also, hier steht, daß kein Anspruch auf Entschädigung besteht, wenn die Ehe nicht versprochen und kein Ehevertrag unterzeichnet wurde. Was nun das Kind betrifft... kannst du beweisen, daß Herr Fuxfell und kein anderer der Vater des Kindes ist?‹ Wieder hatte Damilla stumm die Schultern gehoben. Beweisen? Was gab es da zu beweisen? Wer sonst sollte denn der Vater 111
des Kindes sein? Ihr wurde langsam ganz wirr zumute. ›Aber du bist über zwölf und hast Haare unter den Armen und zwischen den Beinen, nicht wahr?‹ hatte sie wie durch einen Nebel die Stimme der Herrin vernommen. Sie hörte das Rascheln von Pergament, während sie überlegte, was wohl für ein Zusammenhang zwischen den Haaren unter ihren Achseln und der Liebe und dem Kind und dem Magister Fuxfell bestehen mochte. ›Den Tag nach übermorgen werde ich fünfzehn‹, hatte sie geflüstert. ›Nun, das ist gut... nein, nicht für dich, Mädchen, aber für den ehrenwerten Herrn Fuxfell. Für dich und das Kind sieht es leider gar nicht gut aus, soweit ich das im Moment beurteilen kann. Aber das werde ich noch genauer ergründen. Nun, was ist zu tun... Mach dir keine Sorgen, daß ich dich davonjage...‹ Davonjagen? Dieser Gedanke war Damilla gar nicht in den Sinn gekommen, aber so etwas gab es, fiel ihr ein, und plötzlich war ihr so bang und kalt ums Herz geworden, daß sie gar nicht weiter zuhören konnte. Wenn die Herrin sie davonjagte, dann würde sie eben auf Wanderschaft gehen und so lange wandern, bis sie den Magister Fuxfell gefunden hatte. Ja, das würde sie tun... Damilla begann zu frösteln, als sie sich besann, wie beklommen ihr damals geworden war, und sie zog das wollene Umschlagtuch enger um die Schultern. Dann blieb sie stehen, um ein wenig zu verschnaufen. Das Kind in ihrem Leib regte sich, und zärtlich strich sie über die Falten des schweren Tuchrockes, der ihren geschwollenen Bauch noch mächtiger erscheinen ließ. Sie lehnte sich an einen der 112
Apfelbäume, die den Weg zum Gutshaus säumten. Nun war es nicht mehr weit, den Göttern sei Dank. Schon konnte sie die Schornsteine auf dem roten Ziegeldach zählen und auch die winzigen dunklen Fensteröffnungen in der Vorderfront des Hauses. Im fahlen Licht der winterlichen Nachmittagssonne schien das weißgetünchte Gebäude geradezu zu leuchten. Fast mehr noch als im Sommer, wenn die Praiosscheibe hoch am Himmel steht, dachte sie. Ja, im Sommer, im Rahja, da war sie noch guter Dinge gewesen und auch viel beweglicher als jetzt, obwohl sie noch nie zu den Behendesten gehört hatte. Bei der Heumahd jedenfalls hatte niemand ihr etwas angemerkt, und sie hatte gut mit den anderen Knechten und Mägden mithalten können. Das hatte sie gewiß auch Danjas Morgentee zu verdanken gehabt, der ihr die Übelkeit vertrieben hatte. Damilla liebte das Heuen, die langsamen, gleichmäßigen Schritte und den immer gleichen Schwung der Arme, das Sssst der Sense, wenn sie zwischen die Halme fuhr, und den Anblick des fallenden Grases. Und wenn man sich dann am Ende der Wiese umblickte und die gleichmäßigen Schwaden sah, dann wußte man, was man getan hatte, und das war ein schönes Gefühl. Die Kornmahd im Praios war ihr schon nicht mehr ganz so leichtgefallen, aber verglichen mit heute war sie damals so leichtfüßig wie eine Elfe gewesen. Wie schwer mir das Gehen inzwischen fällt, dachte sie, als sie nach der kurzen Rast ihren Weg zum Gutshaus fortsetzte. Aber Danja hatte ihr auch gesagt, daß es nun nicht mehr lange dauern würde bis zur Niederkunft - eine oder zwei 113
Wochen vielleicht. Damilla war froh, daß sie seit einiger Zeit keine schweren Arbeiten mehr verrichten mußte. Sie half Titina in der Küche, polierte die silbernen Löffel und Messer, flickte die Kleider des Gesindes, alles Arbeiten, die sich gut im Sitzen erledigen ließen. Das hatte die Herrin auch damals in der Bibliothek versprochen, so entsann sie sich nun. ›...und wenn dir in einigen Monden die schweren Arbeiten nicht mehr von der Hand gehen, dann wird man dir eben leichtere zuweisen‹, hatte sie gesagt. Damilla hatte zunächst gar nicht verstanden, worauf die Herrin hinauswollte - so viele Monde in die Zukunft hatte sie gar nicht denken können, und daß sie einmal so unförmig und ungelenk werden würde wie jetzt, war ihr damals gar nicht richtig klargewesen, obwohl sie es natürlich wußte. Und dann hatte die Herrin gesagt, sie werde ihrem Halbbruder schreiben, ihm den Fall unterbreiten und hören, was er dazu zu sagen habe. Da hatte Damilla sich auf Hilgerts Brief besonnen und ihn aus der Tasche ihrer Schürze geklaubt. ›Ich habe ihm auch geschrieben‹ hatte sie leise gesagt, während sie das Schreiben zögernd der Herrin reichte. Die hatte es eine Weile seltsam lächelnd betrachtet und die wächsernen Siegel geprüft und schließlich gemeint: ›Morgen werde ich einen Boten mit beiden Briefen nach Methumis schicken, und nun geh wieder an deine Arbeit, Mädchen!‹ Bei diesen Worten war Damilla erst klargeworden, daß so ein Bote Geld kostet, viel mehr, als sie besaß - das hatte sie nicht bedacht! Und so hatte sie sich tief verneigt vor der Herrin und ihre Hand ergriffen, um sie zu 114
küssen, doch die Herrin hatte sie nur unwirsch abgeschüttelt und gesagt: ›Laß doch den Unfug! Und nun los, an die Arbeit!‹ Es war dann aber keine Antwort aus Methumis gekommen, im Rahja nicht, im Praios auch nicht und im Rondra auch nicht. Im Efferd hatte die Herrin noch einmal geschrieben, und Anfang Boron ein drittes Mal. Aber immer, wenn die Boten zurückkehrten, hatte es geheißen, der Herr Fuxfell sei nicht zu erreichen gewesen, oder der Herr Fuxfell befinde sich auf Geschäftsreise, und allmählich hatte Damilla sich Sorgen gemacht. Vielleicht, so dachte sie, waren ihr deshalb die vergangenen Monde so traurig erschienen, weil sie von Warten, Sehnen und Sorgen erfüllt gewesen waren, die ihr das Herz verschlossen hatten für alles Schöne ringsumher. Die Sorgen waren fast das schlimmste. Was konnte nicht alles passieren auf einer so langen Reise? Denn von Kabash aus war der Magister Fuxfell wohl gar nicht mehr zurückgekehrt zu seiner Herberge in Methumis. Sonst hätte er ja die Briefe gefunden, die die Boten dort für ihn hinterlegt hatten, und hätte darauf geantwortet. Bilder und Namen von schrecklichen Krankheiten tauchten in Damillas Geiste auf: Blaue Keuche, Schlachtfeldfieber, ZorganPocken, Dulgumspest... Nein, nein, nein! rief sie sich zur Ordnung, ich darf nicht an so etwas denken! Ich darf nur an schöne Dinge denken, hat Danja gesagt, sonst kann das Kind zu früh kommen oder mit zwei Köpfen geboren werden. Aber das letzte war nur ein Scherz gewesen, denn zwei Köpfe hat ein Kind nur dann, wenn ein Dämon die Gestalt des Liebsten an115
nimmt und der Frau beiwohnt... Damilla hatte das Gutshaus erreicht. Die exakt nach Westen ausgerichtete weiße Front schimmerte nun rötlich im Licht der sinkenden Sonne. Die Magd freute sich jedesmal, wenn sie den Weg vom Dorf her kam, daß die klare Form des herrschaftlichen Hauses nicht durch Nebengebäude verunziert wurde. Die Stallungen, die Schmiede, die Küche, das Waschhaus, das Gesindehaus, sie alle lagen um den großen Hof gruppiert auf der nach Osten zu den Hügeln hin gerichteten Seite. Mit schweren Schritten stapfte sie über den hellen Kiesweg, der, von kugelig und kegelig beschnittenen Bäumchen und Büschen gesäumt, in großem Bogen um das Gebäude führte. Sie mußte sich nun sputen, denn in zwei Stunden würde der Gong zum Abendmahl rufen, und Titina hatte gewiß noch viel für sie zu tun. Damilla freute sich schon auf die warme Küche - auf dem langen Weg war ihr doch recht kühl geworden. Und Hunger hatte sie auch. Sie hoffte, daß es Rüben mit Speck und Grütze gäbe, das war ihr Leibgericht. Nun hatte sie schon an drei schöne Dinge gedacht, sagte sie sich: Sie hatte den Anblick des Hauses bewundert und sich an dem sauber geharkten Kiesweg mit den putzigen Bäumchen daneben gefreut, und sie hatte sich das leckere Abendessen vorgestellt. Lächelnd strich sie sich mit der Linken über den Leib. Du kommst nicht zu früh, kleiner Zordan oder kleine Zulhamin, und zwei Köpfe hast du auch nicht, dachte sie. Als sie in den Hof einbog, kam ihr Witwe Westfahr entgegen. Sie trug einen großen leeren Korb unter dem 116
Arm. Vermutlich hatte sie gerade die Wäsche des kleinen Fräuleins zum Waschhaus gebracht. »Damilla, Kind, wo kommst du denn her?« rief sie dem Mädchen zu. - »Aus dem Dorf«, erwiderte die Magd. - »Ich hätte es mir denken können, so staubig, wie du bist. Und was sagt Danja? Ist es bald soweit?« »In sieben bis vierzehn Praiosläufen.« »Nun, sei froh, dann hast du es ja bald hinter dir. Obwohl, die Schwangerschaft steht dir gut, du bist richtig hübsch geworden durch das Kleine, so rosig, und wenn der dicke Bauch nicht wäre, dann würde ich fast meinen, du seist nicht mehr ganz so stämmig wie zuvor.« Damilla strahlte - seit der Magister Fuxfell abgereist war, hatte ihr niemand mehr eine Artigkeit gesagt. Gerade als sie wieder an den geliebten Mann dachte, wandte Susa, die den Weg zur Hintertür eingeschlagen hatte, sich noch einmal um. »Als du fort warst, ist ein Bote vorbeigekommen. Ich meine, ich hätte die Herrin zu ihrem Gemahl sagen hören, daß sie eine Nachricht von ihrem Bruder erhalten habe. Vielleicht wird ja doch noch alles gut, Kind.« Ein Brief vom Magister Fuxfell! In Damillas Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, und sie lehnte sich einen Moment lang an die Küchenwand, damit der Aufruhr in ihrem Innern sich besänftigte. Aber das geschah nicht, und als sie schließlich die Küche betrat, war sie noch ebenso verwirrt wie zuvor. Sie wußte nicht, ob sie sich freuen oder weinen sollte und wäre am liebsten zur Herrin gelaufen, was natürlich nicht angehen konnte. Außerdem fürchtete sie sich davor, nicht vor 117
der Herrin diesmal, das heißt, vor der auch, aber mehr noch zu erfahren, was in dem Brief stünde, oder zu erfahren, daß gar nichts für sie in dem Briefe stünde und es nur um geschäftliche oder familiäre Belange ginge... Ach, ach, was sollte sie nur beginnen? Acht Monde und neun Tage hatte sie auf eine Nachricht gewartet, und nun, da diese endlich eingetroffen war, war sie vor lauter Glück und Hoffnung ganz verzweifelt. Das Rübenputzen wollte Damilla an diesem Abend gar nicht von der Hand gehen, und zweimal hätte sie sich fast in den Finger geschnitten. Als Titina den gewürfelten Speck in den gewaltigen Kessel über dem Feuer warf und es kurz darauf appetitlich brutzelte und duftete, spürte das Mädchen kein Verlangen, das Schauspiel zu betrachten, wie die Würfel allmählich schrumpften und der Boden des Kessels sich mit Schmalz bedeckte, und sich dann eine der knusprigen Grieben zu erbitten, wie es sonst immer ihre Gewohnheit war. Stumm reichte sie der Köchin die Schüssel mit den Rübenschnitzen und setzte sich wieder auf ihren Schemel. »Was ist, Damilla, willst du heute keinen Speck?« fragte Titina. »Du mußt doch hungrig sein.« Aber die Magd schüttelte nur den Kopf. Nein, hungrig war sie wirklich nicht. Ihr war der Appetit vergangen und auch die Müdigkeit, und sie würde heute nacht kein Auge zutun, das wußte sie ganz genau. »Nun«, wandte sich Kusmine an ihren Gatten, der soeben die Lektüre des Briefes beendet hatte, »was hältst du davon?« 118
Durenald faltete den Bogen sorgsam zusammen und reichte ihn seiner Frau. Eine Weile betrachtete er sie schweigend, dann lächelte er. »Liebes Herz«, begann er, »du weißt genau, was ich davon halte, aber wenn ich es dir sage, dann heißt es wieder, ich könne deinen Bruder nicht leiden. Warum sollen wir uns den schönen Abend durch einen Mißklang verderben?« Kusmine legte das Schreiben auf ein Tischchen zu ihrer Seite, dann ergriff sie mit beiden Händen die Rechte ihres Gemahls. »Durenald, Liebster, ich sehe es diesmal genauso wie du: Ich glaube dem windigen Bürschchen kein Wort. Nun, kein Wort ist vielleicht ein bißchen arg, aber...« Sie überlegte mit gespielter Anstrengung. »Drei Viertel aller Worte glaube ich ihm nicht. Der Rest bleibt bestehen, und daran gibt es nichts zu deuteln: Sie hätte sich nicht mit ihm einlassen sollen. Doch wie soll es nun weitergehen? Bald ist das Kleine da, und wenn er sich zu zahlen weigert, wer dann?« »Darüber habe ich schon seit längerem nachgedacht«, erwiderte Durenald, »denn, mit Verlaub, ich habe von deinem Bruder nichts anderes erwartet. Letztens habe ich mich in dieser Angelegenheit ausführlich mit Bauer Lechdan unterhalten, du weißt, dem jungen Witwer mit dem kleinen Hof am Dorfausgang. Er braucht eine tüchtige Frau, die sich um die beiden Kleinen und das Vieh kümmert, und er wäre bereit, mit Damilla den Traviabund zu schließen und das Würmchen als sein Kind anzuerkennen - ohne Bezahlung sogar, obwohl ich ihm natürlich ein wenig Geld angeboten habe. Denn sieh einmal: Zordans Kegel ist weitläufig auch 119
dein Neffchen oder Nichtchen, und ein wenig Anteil an seinem oder ihrem Schicksal sollten wir schon nehmen, wenn der eigene Vater sich weigert, das zu tun.« »Falls er der Vater ist«, warf Kusmine ein. »Du bezweifelst das, liebes Herz? Dann glaubst du dem windigen Bürschchen - ich zitiere deine eigenen Worte - doch mehr als ein Viertel. Mindestens die Hälfte, würde ich schätzen.« Durenald konnte sich ein leichtes Kopfschütteln nicht verkneifen. »Natürlich ist Zordan der Vater! Wer denn sonst? Er hat das dumme Kind verführt, und das dürfte ihm nicht schwergefallen sein. Schlimm ist nur, daß die Kleine nach all den Monden immer noch ganz vernarrt in ihn zu sein scheint, wenn man dem Getratsche des Gesindes glauben darf, und das macht mir ein wenig Sorgen. Lechdan ist ein guter Kerl, und Damilla ist ein braves Mädchen, und ich bin sicher, daß sie einander lieben lernen, wenn sie erst eine Weile unter Travias Obhut beisammen sind. Aber was ist, wenn das Kind sich weigert, Lechdan zu nehmen? Vielleicht will sie ihrer Liebe treu sein... So etwas gibt es...« Er drückte die Hand seiner Gemahlin. »Du siehst mich ratlos, lieber Mann«, sagte Kusmine und strich sich nachdenklich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Wenn sie sich weigert, dann weigert sie sich - wir können sie nicht zu dieser Ehe zwingen. Selbst wenn sie eine Leibeigene wäre, stünde eine erzwungene Ehe rechtlich auf tönernen Füßen, aber da sie eine Freie ist...« »Frau! Liebes Herz! Was soll uns die Juristerei? Die Kleine muß Zordan vergessen und Lechdan lieben 120
lernen - das ist alles. Wenn sie wüßte, was dein Bruder über sie schreibt, dann würde sie auf ihn spucken, da bin ich mir sicher. Mich selbst gelüstet fast danach...« »Aber Durenald, dann ist ja alles ganz einfach.« Kusmine strahlte ihren Gatten an. »Laß sie kommen, und lies ihr den Brief vor. Es wird sie wohl ein wenig hart ankommen, aber eine harte Kur ist oft die wirksamste.« Als Damilla kurz darauf mit wild klopfendem Herzen die herrschaftliche Bibliothek betrat, da war sie sicher, daß sie, noch bevor sie bis hundert gezählt hätte, in Ohnmacht niedersinken würde, so flau und tödlich bang war ihr. Wenn der Magister Fuxfell geschrieben hätte, daß er sie liebe und sie und das Kleine bald zu sich zu holen gedenke, würde sie vor Freude den Verstand und die Besinnung verlieren, das war klar. Wenn er aber geschrieben hätte, daß er sie nicht mehr liebe und eine andere inzwischen den Platz in seinem Herzen eingenommen habe, dann würde sie vor Kummer den Verstand und die Besinnung verlieren, auch das war klar. Wenn aber die Nachricht besagte, daß er krank auf den Tod darniederliege, ja dann... ja dann würde auch sie nicht mehr leben wollen, aber leben mußte sie doch... »Setz dich, Kind«, sagte Durenald freundlich und wies auf einen gepolsterten Stuhl. Damilla gehorchte, wagte aber nicht, mehr als einen halben Spann der Sitzfläche zu beanspruchen. Mit großen Augen starrte sie ihren Herrn an. »Nun«, begann dieser lächelnd, 121
»jetzt ist es wohl bald soweit, nicht wahr?« Die Magd nickte. »Fürchtest du dich?« Sie schüttelte den Kopf. »Das mußt du auch nicht«, vernahm sie die Stimme ihres Herrn, »denn du bist jung und gesund, und Danja und Susa werden dir beistehen.« Durenald machte eine Pause, in der er einen Blick mit seiner Gemahlin wechselte. Wenn sie gezählt hätte, müßte sie die fünfzig nun bald erreicht haben, dachte Damilla, aber noch fühlte sie keine Ohnmacht nahen. »Du kennst doch den Bauern Lechdan, nicht wahr?« fragte Durenald unvermittelt, und obwohl das Mädchen wieder mechanisch nickte, fuhr er fort: »Der mit dem kleinen Hof am Dorfende, dem vor sechs Monden die Frau gestorben ist.« Was hat nur der Bauer Lechdan mit dem Brief zu tun? dachte Damilla. Es müßte jetzt so gegen sechzig sein, und vermutlich fängt es schon an, daß ich den Verstand verliere. »Also der Lechdan möchte dich gern zur Frau nehmen.« »Was?!« entfuhr es Damilla. »Er möchte dich heiraten, Kind«, hörte sie ihren Herrn sagen. »Den Traviabund mit dir schließen, ist das nicht schön?« Und da sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Schau einmal, der Lechdan braucht eine Frau und seine Kinder eine Mutter, und dein Kleines wird bald einen Vater brauchen. Du mußt dich nicht auf der Stelle entscheiden - denk ruhig ein wenig über den Antrag nach. Und falls du dich vor dem Lechdan fürchtest, weil er so wortkarg 122
ist und genau wie Hilgert die Brauen so streng zusammenzieht, so kann ich dich beruhigen. Glaub mir, er ist ein gutmütiger und grundehrlicher Mann, er trinkt nur mäßig, und er hat mir versprochen, dich nicht zu schlagen.« »Aber... ich...«, stammelte Damilla. Da ich ohnehin den Verstand verliere, dachte sie, kommt es nun nicht mehr darauf an, und ich sage es jetzt einfach. Also: »Aber ich kann ihn doch nicht heiraten«, sagte sie leise. Die Magd fühlte zwei aufmerksame Augenpaare auf sich ruhen. Siebzig, dachte sie, wie es sich wohl anfühlen mag, wenn man keinen Verstand mehr hat? »Warum nicht, Mädchen?« ergriff zum erstenmal die Herrin das Wort. »Bist du mit ihm verwandt, oder was spricht sonst dagegen?« Damilla schüttelte den Kopf, war sich jedoch bewußt, daß sie damit nur den ersten Teil der Frage beantwortet hatte. Aber wie sollte sie nur den zweiten beantworten, wie könnte sie zu der Herrin von ihrer Liebe zum Magister Fuxfell sprechen? Siebenundsiebzig, achtundsiebzig..., zählte sie leise, um sich zu beruhigen. »Du liebst Zordan Fuxfell noch immer, nicht wahr?« hörte sie ihren Herrn sagen. Achtzig! Zordan Fuxfell! Jetzt war der Name endlich gefallen, und das grausame Katz-und-Maus-Spiel mit Bauer Lechdan und dem Taviabund hatte ein Ende. Damilla hätte nie gedacht, daß ein Herz so schnell und heftig schlagen konnte wie das ihre, seit sie den Namen des geliebten Mannes vernommen hatte, und obwohl sie glaubte, daß es nun bald zerspringen müsse, 123
verspürte sie zugleich so etwas wie Erleichterung. Sie nickte mit tief gesenktem Kopf. Was mochte nun weiter folgen? fragte sie sich. Ach, sie wollte es gar nicht wissen, oder doch? »Nun...«, begann Durenald zögernd. Er wußte nicht recht, wie er dem dummen Ding die Wahrheit über Fuxfell beibringen sollte. Das ist doch Frauensache... so ein Gespräch von Frau zu Frau... über die Männer und über die Liebe..., dachte er und warf seiner Gemahlin einen hilfesuchenden Blick zu. Aber Kusmine hatte sich im Sessel zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen und betrachtete mit ihren klaren blauen Augen aufmerksam die junge Magd. Eben begann sie, mit der Rechten den Takt eines Liedes, das Durenald nicht erkannte, auf die Armlehne zu trommeln. Nun gut, liebes Herz, ich sehe, daß du mir die heikle Arbeit überlassen willst... »Heute ist ein Brief von Zordan Fuxfell gekommen«, sagte Durenald laut. Achtundachtzig, neunundachtzig, neunzig. Damilla nickte. Ein Brief ist gekommen, ich weiß es ja schon. Nur nicht vor der Zeit die Besinnung und den Verstand verlieren... »Der Halbbruder meiner Gemahlin bestreitet, der Vater deines Kindes zu sein.« Durenald seufzte hörbar - endlich war es heraus! Er betrachtete das Mädchen voller Anteilnahme und erwartete, daß sie nun widersprechen oder in Tränen ausbrechen werde, aber nichts von beidem geschah. Ganz still saß sie auf der Kante ihres Stuhles, hielt den Kopf tief gesenkt, und nur ihre Lippen bewegten sich ein wenig, so als murmele sie ein 124
Gebet. »Hast du mich verstanden, Kind? Herr Fuxfell bestreitet die Vaterschaft, und er... und er erwidert deine Gefühle auch nicht.« Siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig, hundert - das Zimmer war noch dasselbe wie zuvor, der Stuhl war derselbe wie zuvor, sie selbst war auch dieselbe wie zuvor... - »Am besten, du schlägst ihn dir aus dem Kopf und denkst ernsthaft über Lechdans Antrag nach«, sagte der Herr gerade. Damilla schüttelte den Kopf. »Was willst du damit sagen, Mädchen?« Die Stimme der Herrin klang ein wenig gereizt. »Nun mach doch endlich einmal den Mund auf! Willst du den Lechdan nicht nehmen?« Damilla nickte. »Was heißt das? Ja oder nein? Du sollst reden, habe ich gesagt!« »Nein«, antwortete die Magd leise. »Du hoffst also immer noch, nach all den Monden, Herr Fuxfell werde zu dir zurückkehren?« Durenald blickte Damilla fragend an, und als sie zuerst nickte und dann »Ja« flüsterte, griff er nach dem Brief, den seine Gemahlin ihm reichte. »Dann solltest du vielleicht wissen, wie er über dich denkt. Ich sage dir, Kind, er liebt dich nicht und hat dich nie geliebt. Soll ich dir vorlesen, was er schreibt?« Durenald hoffte, das Mädchen werde es ihm ersparen, ihr Fuxfells Worte ungeschönt ins Gesicht zu sagen, aber nach einer kleinen Weile nickte sie wieder, bange Erwartung im Blick. Der Freiherr seufzte schwer. »Damilla«, begann er zögernd, »du bist noch jung und besitzt nicht viel Menschenkenntnis. Vermutlich hältst du Herrn Fuxfell 125
für einen ehrenwerten Mann. Nun ja, es ist nicht an mir, etwas anderes zu behaupten. Der Brief jedoch... wie soll ich sagen...« »Bitte«, unterbrach ihn die Magd, »ich möchte wissen, was Herr Fuxfell schreibt.« Grimmig faltete Durenald den Bogen auseinander; er überflog den Anfang, bis er die Stelle gefunden hatte. »Hier steht«, sagte er: »›Nachdem ich den Verführungskünsten der jungen Dirne erlegen war, stellte ich fest, daß sie keine Jungfrau mehr war. Auf meine Frage gab sie zu, daß ich weder der erste noch der einzige sei, und verlangte zwei Silberstücke für ihre Dienste. Da ich, wie Ihr wißt, meines gesamten Vermögens beraubt war, schenkte ich ihr einen Seidenschal, der mich fast vier Silbertaler gekostet hatte. Ich ließ sie auch trotz ihres Drängens kein zweites Mal in meine Kammer, denn mit solchen, die es für Geld tun, gebe ich mich nicht ab. Wie Ihr die Sache seht, weiß ich nicht, für mich jedoch steht fest, daß halb Brelak der Vater des Kegels sein könnte. Ich selbst kann es nicht sein, da ich weiß, was sich gehört, und aufgepaßt habe...‹ Soll ich noch weiterlesen?« fragte Durenald, aber das Mädchen antwortete nicht. Stumm erhob es sich und verließ die Bibliothek, ohne um Erlaubnis zu fragen. »Denk über Lechdans Antrag nach«, ermahnte Durenald sie noch einmal, »Lechdan ist ein guter Mann.« »Sie scheint es recht gefaßt aufgenommen zu haben«, wandte sich Kusmine an ihren Gemahl, »oder was meinst du?« 126
»Ach, liebes Herz, ich weiß es nicht - ich denke schon, es war ein schwerer Schlag für sie. Nur gut, daß sie nicht in Tränen ausgebrochen ist - ich kann es nicht ertragen, eine Frauen weinen zu sehen. Dann kommen mir auch immer die Tränen, und ich weiß nicht, was ich tun soll.« Kusmine lachte. »Mein lieber Mann, wenn alle schwangeren Mägde einen so fürsorglichen Herrn hätten wie dich, dann...« »Was dann?« Kusmine erhob sich und betrachtete nachdenklich ihren Gatten. Dann ergriff sie seine Hände und zog ihn aus dem Sessel. »Nun«, sagte sie, während sie ihre starken Arme um seinen Leib schlang und ihn ein wenig hob, bis sich ihrer beider Augen auf gleicher Höhe befanden, »dann wäre die Welt noch schöner, als sie ist.« Damilla erwartete jeden Augenblick, Titinas kräftige Hand auf der Schulter zu spüren. ›Wach auf, Kind! Was fällt dir ein, bei der Arbeit zu schlafen?‹ würde die Köchin sagen, und dann würde sie erwachen und sich in der warmen Küche wiederfinden. Sie wollte auch, daß es aufhörte - so ein abscheulicher Traum! Während sie mechanisch die Füße voreinandersetzte, dachte sie: Kann man beim Träumen über das Träumen nachdenken? Wohl nicht, entschied sie. Sie selbst hatte es jedenfalls noch nie getan. Ihre Träume waren sonst auch irgendwie anders. Früher, kurz nachdem die Eltern sie fortgeschickt hatten, damit sie sich 127
eine Stellung suchte, hatte sie manchmal von daheim geträumt. Und als Kind hatte sie oft vom Essen geträumt, aber diese Träume waren seltener geworden, seit sie auf Gut Brelak lebte. Von Lindwürmern, Feen, schönen Kleidern und Schädeleulen hatte sie auch schon geträumt; dann war sie immer schweißnaß und mit klopfendem Herzen erwacht. Genau wie bei dem Traum, der sie in den letzten Wochen ein paarmal heimgesucht hatte. Da hatte ihr nämlich geträumt, sie hätte ihr Kind geboren - sehr schön und herzig war es -, doch kaum hatte es ihren Leib verlassen, da war es auch schon davongelaufen, und das hatte sie so traurig gemacht, daß sie nach dem Erwachen immer noch ein wenig traurig war, wenn auch erleichtert. Traurig war sie auch immer dann, wenn sie vom Magister Fuxfell geträumt hatte... Der Herr Fuxfell in meinem Traum hat sehr häßliche Dinge über mich geschrieben, dachte sie. Daß ich eine Hure bin und daß ich ihn verführt habe, und daß ich es mit jedem treibe... Es muß ein Traum sein, auch wenn das unmöglich ist, denn der wirkliche Herr Fuxfell hat mir gesagt, daß ich schön bin und daß er mich liebhat, und wie glücklich es ihn macht, daß auch ich ihn liebe... Am besten gehe ich in die Mägdekammer, lege mich ins Bett, und wenn ich dann erwache und die Sonne scheint, weiß ich ganz genau, daß alles nur ein böser Traum war. Das Mädchen hatte die Hintertür erreicht. Ihr schwindelte ein wenig, und sie lehnte sich ein Weilchen an die Hauswand, bevor sie den Hof überquerte. Ich könnte 128
auch zu Meister Hilgert gehen, dachte sie, das ist näher, und er kann mir gewiß auch sagen, ob ich wache oder träume. Seit der alte Stallmeister Damilla bei ihrem Brief geholfen hatte, waren die beiden einander ein wenig nähergekommen. An so manchem Abend hatte die Magd den Alten in seiner Stube besucht, hatte ihm ein Stückchen Kuchen oder ein Schälchen Kompott mitgebracht, und der Stallmeister hatte Kräutertee gekocht, und dann hatten sie schweigend beisammen gesessen und ins Feuer geschaut. Und irgendwann hatte Damilla begonnen, ihn Meister Hilgert zu nennen. Mit unsicheren Schritten wankte die Magd über den Hof. Sie war froh, als sie endlich den Pferdestall erreicht hatte, und auch froh, daß niemand ihr begegnet war, der sie nach der Unterredung mit der Herrschaft und dem Inhalt des Schreibens hätte fragen können. Als sie die Tür öffnete, schlug ihr warm und lebendig der Duft der Pferde entgegen. Ein paar der Tiere schnaubten bei ihrem Eintritt und wandten die Köpfe nach ihr um, aber Damilla verspürte diesmal kein Bedürfnis, den freundlichen dummen Tieren die weichen Nüstern zu streicheln. Ihr Blick fiel auf das frische Stroh in einer leeren Koje. Ich muß mich hinlegen, dachte sie, ganz schnell, bevor ich falle. Der Boden des Stalles schwankte, und das seltsame Schaukeln ließ auch nicht nach, als Damilla auf dem Stroh lag. Sie blickte um sich und sah im schwachen Licht der blakenden Laterne, daß auch die Decke und die Wände des Stalles nicht mehr fest und massiv zu 129
sein schienen, sondern sich bogen und bebten wie unter dem Ansturm gewaltiger und unbekannter Kräfte. Ein abscheulicher Traum, dachte das Mädchen. Er wird immer grausiger. Ich sollte die Augen schließen, vielleicht hört dann alles auf. Doch es hörte nicht auf, als sie die Augen geschlossen hatte, und Damilla dachte, so müsse es wohl sein, wenn man sich auf hoher See in einem schwankenden Boot befinde. Einmal das Meer sehen, einmal auf einer stolzen Schivone die Welt umrunden, das war immer ihr größter Herzenswunsch gewesen. Sie hatte es Magister Fuxfell erzählt, und der hatte ihr versprochen, sie später mitzunehmen auf seine Reisen und ihr die ganze Welt zu zeigen: das stolze kalte Festum, die giftigen Sümpfe von Selem, das geheimnisvolle Khunchom, das grausam-schöne Al‘Anfa... Plötzlich stand er neben ihr und blickte sie mit seinem einen Auge seltsam an. ›Warum hast du mich verraten, Zordan?‹ fragte sie. ›Warum hast du unsere Liebe verraten, warum hast du unser Kind verraten?‹ Wieso sage ich du zu ihm und rede ihn beim Vornamen an? ging es Damilla durch den Kopf. Aber Zordan antwortete nicht, sondern riß sich statt dessen die Binde vom Auge. Was darunter zum Vorschein kam, war nicht das Auge eines Menschen - gelb wie das einer Kröte war es, und die Pupille darin lag quer wie bei einer Ziege. Damilla wollte gar nicht hinschauen, so sehr graute ihr, aber es gelang ihr nicht, die Augen zu schließen. ›Hilf mir, Zordan, daß ich mich aufrichten kann!‹ sagte sie. ›Ich möchte so gern das Meer sehen. Aber ich sehe nur den Himmel, und der ist ganz rot.‹ Statt einer 130
Antwort lachte Zordan und trat sie gegen den Bauch - er trug Reitstiefel mit Sporen, wie das Mädchen bemerkte. Ein heißer Schmerz durchzuckte sie; so heftig war er, daß davon das Kind erwachte. Und kaum war es wach, da wollte es sie auch schon verlassen. ›Bleib hier, kleine Zulhamin, es ist zu früh!‹ flehte Damilla, aber das Kind hörte sie nicht. Es strebte mit aller Kraft aus ihrem Körper, und da begann die Magd zu pressen, so wie Danja es ihr geraten hatte. ›Bleib bei mir, kleine Zulhamin, verlaß mich nicht!‹ bat sie noch einmal, aber sie wußte, daß es vergeblich war. Wogen von Schmerz durchdrangen und umhüllten sie und verbanden sich mit den Wogen des Meeres. Und nun sah sie es endlich! Es war rot, genauso rot wie der Himmel. Ein schwarzer Schnee begann zu fallen, zart und fein zuerst, dann dichter und immer dichter... Als Hilgert spät in der Nacht mit seinen schweren Stiefeln laut und anhaltend gegen die Hintertür trat, erwachte von dem Lärm das ganze Haus. Ein Diener öffnete ihm und erstarrte beim Anblick des Stallmeisters und seiner Last: Hilgerts Haar schien weißer denn je in wirren Strähnen stand es vom Kopf ab, so daß es im Licht der Fackel und des Mondes wirkte, als umloderten helle Flammen das Antlitz des Alten. Der Blick der schwarzen Augen war wild wie der eines Wahnsinnigen, und grimmige Wut leuchtete darin. In den Armen trug Hilgert ein in schwere Decken gewickeltes Bündel, aus dessen Ende ein brauner Zopf baumelte. Auf der anderen Seite hingen ihm schlaff und bleich die stämmigen 131
Unterschenkel eines Mädchens über den Arm. An den Beinen klebte Blut, und Blut tropfte auch aus dem Bündel, in dem es leise wimmerte. »Was stehst du da und glotzt?« fuhr der Alte den Diener an, während er ohne zu schwanken den Weg zur Krankenstube einschlug. »Weck die Herrschaft! Hol Hilfe! Und sag, man soll nach Danja schicken - mit Damilla ist ein Unglück geschehen.« Im Morgengrauen verließen Danja und Susa bekümmert die Krankenstube. Durenald eilte den Frauen entgegen. »Wie sieht es aus, Danja? Werden sie überleben?« Die Hebamme schüttelte traurig den Kopf. »Ach Herr... das arme Ding...« Zwei Tränen rannen ihr über die runzligen Wangen, »...sie hat ja soviel Blut verloren. Ich verstehe es nicht, es war doch eine normale Geburt. Aber wir konnten die Blutung nicht stillen. Mir schien es fast, als sei etwas in ihrem Inneren zerrissen... Was das Kind betrifft, nun, es ist zart, aber gesund und wohlgestaltet...« »Lebt sie noch«, fragte Kusmine mit seltsam fremder Stimme, »oder ruht sie schon in Borons Armen?« »Ach, Euer Edelgeboren, sie atmet noch, aber es ist so wenig Leben in ihr, daß sie die Mittagsstunde...« Schluchzend wandte Danja sich ab. »Ich gehe zu ihr«, entschied Kusmine. »Allein, lieber Mann«, fügte sie hinzu, als sie sah, daß Durenald ihr folgen wollte. Lange stand Kusmine schweigend am Bett des 132
sterbenden Mädchens. Die Magd schien zu schlafen; das Neugeborene, von dem nur das schwarzbeflaumte Köpfchen zu sehen war, ruhte in ihrem Arm. Kusmine ließ sich neben dem Bett nieder und ergriff Damillas Hand. »Dein kurzes Leben ist bald zu Ende, mein Kind«, sagte sie schließlich, »und mich dauert, daß es nicht schöner war. Wenn ich dir ein Unrecht getan habe, so bitte ich um Vergebung...« Sie schwieg eine Weile. »Ich werde für dich zu Boron und zu Peraine beten... Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, aber du sollst wissen, daß ich dich für ein braves und tapferes Mädchen halte - du bist immer ein gutes Mädchen gewesen... Was dein Kind betrifft, so mach dir keine Sorgen. Ich gebe dir mein Wort, daß für das Kleine gut gesorgt werden wird. Ich werde es annehmen als das meine, und es soll aufwachsen als Thalionmels Geschwisterchen...« Kusmine wußte nun nichts mehr zu sagen, und so saß sie einfach still auf ihrem Schemel, betrachtete das kindliche blasse Antlitz der Magd und das rote Köpfchen des Säuglings und beobachtete, wie der Himmel hinter dem unverhangenen Teil des Fensters allmählich heller wurde. Plötzlich gewahrte sie, daß die Hand, die sie hielt, deutlich kühler geworden war. Vorsichtig löste Kusmine das Kind aus dem Arm der Toten. Sie nahm das winzige Bündel und wandte sich zum Gehen. »Schlaf gut, kleine Damilla, leb wohl - Boron sei dir gnädig«, sagte sie, bevor sie den Raum verließ. Durenald, Danja, Susa und Hilgert erwarteten die 133
Herrin von Brelak vor der Krankenstube. Wortlos legte Kusmine den Säugling in Danjas Arme. »Es ist vorüber«, sagte sie nur, worauf die Frauen in Tränen ausbrachen. »Bringt das Kind zu einer guten Amme im Dorf. Dort soll es so lange bleiben, bis es der mütterlichen Brust entwöhnt ist. Danach« - sie blickte Durenald fest in die Augen - »soll es hier im Hause leben und aufwachsen als Thalionmels Bruder oder...« »Es ist ein Mädchen«, schluchzte Danja. »Als Thalionmels Schwester also. Bist du einverstanden, lieber Mann?« Durenald drückte stumm die Hand seiner Gemahlin und schaute sie mit feuchten braunen Augen innig an. ›Ich danke dir, mein liebes Herz‹, schien sein Blick zu sagen. Laut sagte er: »Wie soll das Kind heißen?« »Zulhamin!« Erstaunt wandten sich alle zu Hilgert um. Es war das erste Wort, das der Stallmeister sprach, seit er der Herrschaft berichtet hatte, wie er das bewußtlose, stark blutende Mädchen und ihr Kind im Pferdestall gefunden hatte. Nun blickten ihn vier Augenpaare fragend an. »Sie hat immer gesagt, wenn es ein Bub werde, solle er Zordan heißen, und wenn es ein Mädchen werde, solle sie Zulhamin heißen. Es ist ein Mädchen, also heißt es Zulhamin.« Hilgert verneigte sich, dann verließ er mit großen Schritten das Haus.
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ab ich dich endlich gefunden!« rief Zulhamin, als sie sich außer Atem neben der Ziehschwester ins hohe Gras fallen ließ. »Ich hab schon überall nach dir gesucht, aber keiner wußte, wo du bist. Aber dein Pferdchen war im Stall, und da wußte ich, daß du nicht weit sein kannst. Warum bist du denn fortgegangen, ohne mir Bescheid zu sagen, und was machst du hier überhaupt?« »Ich denke nach«, erwiderte die Angesprochene, ohne ihre Haltung zu verändern: Sie lag auf dem Rücken, die Linke unter dem Kopf, die Rechte untätig im Gras ruhend, den linken Fuß auf das Knie des angewinkelten rechten Beines gelegt, und kaute an einem langen Halm, den sie beim Sprechen geschickt zwischen den Zähnen balancierte. »Und Bescheid gesagt habe ich dir deshalb nicht, weil du dann hättest mitkommen wollen und so lange gedrängelt hättest, bis ich dich mitgenommen hätte. Ich wollte aber lieber allein sein.« Zulhamin schob schmollend die Unterlippe vor. »Du 135
hast mir aber versprochen, mit mir auszureiten, und dann bist du ohne mich davongelaufen. Das ist nicht nett. Und versprochen ist versprochen!« Unvermittelt beugte das schwarzhaarige Mädchen sich über die Schwester und trommelte, mit ihren kleinen Fäusten auf deren Bauch. »Laß das!« Thalionmels Hände schlossen sich fest, aber nicht schmerzhaft um Zulhamins zierliche Handgelenke. »Ich will nicht raufen! Dann fließen bei der kleinen Zimpermina wieder Tränen, und danach steht mir nicht der Sinn.« »Ich bin keine Zimpermina, ich heiße Zulhamin!« Das Mädchen versuchte, sich zu befreien, aber Thalionmel entließ sie nicht aus ihrem Griff. »Versprich mir, daß du mich nicht mehr boxen wirst, dann laß ich dich los.« »Ist ja gut, ich boxe dich nicht mehr. Versprochen. Und nun lasse mich los.« Augenblicklich öffnete Thalionmel die Hände und nahm ihre vorherige Haltung wieder ein. Dann wandte sie den Kopf der Jüngeren zu. Sie schien zu lächeln, aber da die Praiosscheibe hoch am wolkenlosen Himmel stand, hatte sie die blauen Augen fast ganz zugekniffen und die Nase gekraust, so daß ihr Gesicht zu einer lustigen Grimasse verzogen war, und man nicht mit Gewißheit entscheiden konnte, in welcher Gemütslage sie sich befand. »Schau zur Praiosscheibe«, befahl sie der Freundin, »und sag mir, welche Stunde wir haben.« Das zierliche Mädchen - es mochte acht oder neun Götterläufe zählen - legte den Kopf in den Nacken und 136
verzog das Gesicht in überraschender Übereinstimmung mit der Älteren. »Die elfte vielleicht?« mutmaßte sie nach einer Weile, dann nieste sie heftig. »Ach Zulhamin, was soll nur aus dir werden, wenn ich nicht mehr hier bin?« Thalionmel schüttelte mißbilligend den Kopf und ließ eine strenge Doppelfalte zwischen den Brauen erscheinen. »Wie oft habe ich dir erklärt, daß du die Bahn der Praiosscheibe durch die Stunden des Tages teilen mußt und daß wir die zwölfte Stunde zählen, wenn sie ihren höchsten Stand erreicht hat. Nun, schau!« Sie wies mit der Rechten zur Sonne, und Zulhamins Blick folgte ihrem Arm. »Der höchste Stand ist überschritten, um ein knappes Zwölftel vielleicht, und das bedeutet, daß die erste Stunde nach Mittag noch nicht ganz vorüber ist. Ich habe aber versprochen, zwischen der zweiten und dritten Stunde mit dir auszureiten. Du siehst, ich habe mein Wort nicht gebrochen, und das werde ich auch nicht tun. Niemals.« »So spät ist es schon!« rief Zulhamin erschrocken. »Dann müssen wir uns ja sputen, damit wir rechtzeitig zum Mittagsmahl kommen.« Sie erhob sich und wartete, daß die Freundin ein gleiches tue. Aber Thalionmel blieb unbewegt liegen, dann spie sie den Grashalm aus. »Ich esse heute nicht, geh nur allein und richte den Eltern meine Entschuldigung aus.« »Aber es gibt Hasenpfeffer mit Weißbrotklößen, hat Titina gesagt. Das ißt du doch sonst immer so gern... Und wenn du nichts ißt, esse ich auch nichts, so!« Sie ließ sich wieder neben der Freundin nieder, schlang die Arme um die Beine und drückte den Kopf gegen 137
die Knie, so daß ihr langes schwarzes Haar wie ein Umhang über Arme und Schultern floß. »Ich bleibe hier und esse auch nichts«, wiederholte sie. »Wenn du dein Gesicht vergräbst und in deinen Schoß murmelst, kann dich keiner verstehen. Außerdem mußt du essen, sonst wächst du nicht, und du willst ja wohl nicht immer so winzig bleiben, wie du bist.« »Erstens bin ich nicht winzig, und zweitens mußt du auch noch wachsen, denn so groß wie die Muhme bist du noch lange nicht.« Zulhamin hatte ihre Haltung nicht verändert, aber doch ein wenig lauter gesprochen, damit die Freundin ihre Worte auch verstand. »Ich bin groß für mein Alter«, erwiderte Thalionmel, »und ich will und werde auch noch wachsen, und ich werde auch essen, nur heute eben nicht... Schau einmal, dort oben kreist ein Adler!« »Wo?« Zulhamin vergaß, daß sie ein schmollendes Bündel spielen wollte, und richtete sich auf. Sie beschattete die Augen mit der Hand, als sie den Himmel nach dem seltenen Vogel absuchte. »Woher willst du wissen, daß es ein Adler ist?« fragte sie, als sie ihn schließlich entdeckt hatte. »Es kann ebensogut ein Geier sein.« »Ein Geier, pah!« Thalionmel schüttelte angewidert die blonden Locken. »Sieh dir doch die Form der Flügel an, daran kannst du genau erkennen, daß es ein Adler ist«, sagte sie bestimmt, obwohl sie keineswegs sicher war, denn die Konturen des Vogels verschwammen vor ihren Augen, sosehr sie sich auch mühte, ihn klar zu erfassen. »Und an seinem Flug, der wahrhaft 138
majestätisch ist«, fuhr sie fort. Sie schwieg eine Weile, während sie den kreisenden Vogel beobachtete. »Der Adler ist der König der Lüfte und mit dem Greifen verwandt«, dozierte sie, »so wie der Löwe der König der Steppe ist, und auch mit dem Greifen verwandt. Die Löwin hingegen ist ein Sinnbild unserer Herrin Rondra und die Königin aller Tiere... Heute morgen ist ein Brief aus Neetha gekommen«, sagte sie unvermittelt, »von der Schule. Am nächsten Markttag werde ich dort anfangen.« »Am nächsten Markttag?« Zulhamin zählte, mit den Fingern. »Aber das ist ja schon in drei Tagen! Ich wußte nicht, daß es schon so bald ist...« Sie blickte bekümmert in die Ferne. »Ich möchte so gern mitkommen, warum darf ich nicht?« »Aber Zulhamin!« Thalionmel richtete sich auf, schlang ebenso wie ihre Ziehschwester die Arme um die Unterschenkel und legte das Kinn auf die Knie. »Wir haben doch schon so oft darüber geredet! Die Muhme hat es dir erklärt, der Oheim hat es dir erklärt, und ich habe es dir erklärt: Die Schule in Neetha ist eine Garnisonsschule; dort werden angehende Krieger ausgebildet. Aber du willst doch gar keine Soldatin werden, dazu bist du nicht berufen und...« »Der Oheim ist auch kein Soldat«, fiel Zulhamin ihr ins Wort, »und er war auch auf der Schule! Aber später ist er gar kein Krieger geworden, sondern lieber Freiherr...« »Freiherr oder Freifrau wird man nicht, so wie man sich entscheidet, Bäcker oder Schmiedin zu werden 139
- den Adelstitel und ein Lehen bekommt man vom Lehnsherrn oder der Lehnsherrin verliehen und vererbt beides an seine Nachkommen...« »Ist doch gleichgültig«, unterbrach sie Zulhamin, »jedenfalls ist der Oheim nicht Krieger geworden, obwohl er auf der Kriegerschule war. Und deshalb kann ich auch hingehen und später doch Schreiberin werden... nein, nicht Schreiberin, lieber Tänzerin...« »Gleichgültig ist es eigentlich nicht«, erwiderte Thalionmel streng, »aber lassen wir das.« Sie schwieg ein Weilchen. »Tänzerin?« fragte sie unvermittelt. »Seit wann willst du Tänzerin werden? Letzte Woche wolltest du Köchin werden und vor einem Mond Heilerin.« Sie wandte den Kopf und sah die Schwester nachdenklich, fast prüfend an. »So so, Tänzerin... aber du hast doch noch nie eine Tanzstunde genossen, wenn man von den Schritten der Kuslikana absieht, die meine Mutter uns beigebracht hat. Und du hast doch noch nie eine Tänzerin gesehen. Wie bist du nur auf den Gedanken verfallen?« »Ich habe wohl schon eine Tänzerin gesehen«, erwiderte Zulhamin triumphierend, »und zwar in einem Buch. Gestern. Sie hatte schwarze Haare, so wie ich, und war sehr schön, und so eine Tänzerin möchte ich auch werden.« »Aber zukünftige Tänzerinnen gehen nicht auf die Garnisonsschule, siehst du das ein?« fragte Thalionmel. »Sie gehen bei einer Tänzerin in die Lehre, glaube ich, und deshalb kannst du auch nicht mitkommen. Ach, schau doch nicht so traurig, kleine Schwester.« 140
Das Mädchen nahm einen Grashalm und kitzelte die Jüngere damit am Ohr, aber Zulhamin schlug nur unwirsch nach dem Halm. »Du sollst mich nicht ärgern«, sagte sie böse, »und du sollst auch nicht fortgehen und mich alleinlassen.« Plötzlich schien sie den Tränen nahe. »Aber ich laß dich doch nicht allein, Zulhamin. Nicht weinen, du weißt, daß ich das nicht leiden kann! Du bleibst hier bei meiner Mutter und meinem Vater, und das Gesinde und die Kinder aus dem Dorf sind bei dir. Wie kannst du da sagen, daß du allein sein wirst? Außerdem werde ich zwei- oder dreimal im Jahr zu Besuch kommen, und schreiben werde ich dir auch. Doch nun lauf, damit du nicht zu spät zum Mittagsmahl kommst... beeil dich!« Aber Zulhamin machte keine Anstalten, sich zu erheben; sie kauerte sich wieder zu einer kleinen Kugel zusammen und saß eine Weile ganz still in dieser Haltung. Plötzlich bemerkte Thalionmel, daß die schmalen Schultern der Schwester unter dem Vorhang aus Haar bebten. Sie streckte die Hand aus, um der Jüngeren den Kopf zu streicheln, doch im letzten Augenblick zog sie sie wieder zurück. Dann stand sie auf, wandte sich ab und stemmte die Hände in die Seiten. »Nun weinst du, obwohl ich es dir verboten habe. Dabei wollte ich dir eigentlich meine Ritterpüppchen und mein Holzschwert zum Abschied schenken. Aber ich denke, ich sollte sie lieber behalten - für eine Flenndela wie dich sind sie wohl nicht das Rechte.« »Du« - Zulhamin schniefte und versuchte, das Schluch141
zen zu unterdrücken -, »du hast mich gar nicht lieb. Du freust dich nur, daß du endlich auf die Schule kommst, aber ich...« Das Mädchen konnte nicht weitersprechen - ungehemmt brach der Kummer sich Bahn. Thalionmel schüttelte unwillig den Kopf. Sie hatte die Lippen fest zusammengepreßt und blickte unter leicht zusammengezogenen Brauen zu einem fernen Punkt am Horizont. Wie sie so dastand, glich sie in Haltung und Miene so sehr ihrer Mutter, daß sie, bis auf die vom Vater ererbten Locken, als ein verkleinertes und verjüngtes Abbild Kusmines gelten konnte. »Natürlich freue ich mich auf die Schule«, sagte sie schließlich, »wie sollte ich mich auch nicht freuen? Aber ich bin auch traurig, dich zu verlassen, nur weine ich eben nicht soviel wie du. Ich weine überhaupt nicht - das geziemt sich nicht für eine angehende Kriegerin.« »Ich kann doch nichts dafür, daß ich immer weinen muß, wenn ich traurig bin«, erwiderte Zulhamin, unterbrochen von Schluchzern, die allmählich verebbten. »Es liegt daran, daß ich zu früh gekommen bis, sagt Susa, und daran, daß meine Mutter immer so traurig war, als ich noch in ihrem Bauch war. Jedenfalls ist es nicht meine Schuld. Und daß du mich allein zurückläßt und nicht mit nach Neetha mitnehmen willst, macht mich eben traurig.« Wie zur Bestätigung ihrer Worte schniefte sie ein paarmal heftig. »Nun ist es gut, kleine Schwester, jetzt hast du geweint, und nun ist es gut«, sagte Thalionmel ein wenig schroffer, als sie beabsichtigt hatte, »ich will dich nicht 142
mit nach Neetha nehmen, ich kann es nicht! Wo solltest du wohnen, und wer sollte für dich sorgen? Siehst du, darauf weißt du keine Antwort. Aber vielleicht kannst du meine Mutter und mich ja begleiten, wenn wir in drei Tagen nach Neetha fahren, und dann kannst du dir die Schule und den Saal ansehen, in dem ich mit den anderen Zöglingen schlafen werde, und den Saal, in dem wir essen, und den Raum, in dem wir in Kriegskunst und Geschichtswissen und Rondrakult und Fecht- und Waffenkunde und...« Sie dachte ein Weilchen angestrengt nach und legte dabei - wiederum die Mimik ihrer Mutter unwillentlich nachahmend - den Kopf ein wenig zur Seite und richtete den Blick der hellblauen Augen schräg nach oben in weite Fernen. »...und Anatomie und Wundheilkunde unterwiesen werden.« »Den Turnierplatz will ich auch sehen!« Zulhamins Tränen waren versiegt; die Aussicht, mit Tante und Schwester nach Neetha reisen zu dürfen, machte sie ganz aufgeregt, und so hüpfte sie mit ihren flinken Beinen durchs Gras. »Aber Zulhamin, das ist doch eine Garnison und kein Schloß, wo ich zur Kriegerin erzogen werde! Einen Turnierplatz gibt es dort nicht - du meinst sicher den Exerzierplatz, und den werde ich dir gewißlich zeigen, und die Fechthalle auch... falls du mitkommen darfst, denn das habe schließlich nicht ich zu entscheiden.« Thalionmel wandte sich zu der Ziehschwester und Freundin um. »Versprichst du mir, daß du nun ganz schnell nach Hause läufst, wenn ich mich heut abend bei meinen Eltern deiner Sache annehmen werde?« Die 143
Kleine nickte heftig, dann streckte sie die Hand aus, um zur Bestätigung der Abmachung mit der Schwester den Schlag zu tauschen. »Nein, so geht das nicht - aufstehen mußt du schon! Außerdem habe ich laufen gesagt und nicht auf dem Hintern hoppeln.« Schließlich war das Ritual ordnungsgemäß vollzogen, und Zulhamin rannte davon, flinker und behender, als man es ihrer zarten Gestalt zugetraut hätte. »Richte meinen Eltern meine Entschuldigung aus, und sag ihnen, daß ich nachdenken muß - das kann ich nun einmal am besten, wenn ich allein bin und wenn mir die Sonne auf den Kopf scheint!« rief Thalionmel der Schwester nach. Ja, nachdenken, dachte sie, während sie beobachtete, wie Zulhamin zum fernen Gutshaus eilte; zum erstenmal im Leben fiel ihr auf, wie gewandt und hübsch die kleine Ziehschwester war. Sie ist sehr niedlich, ging es ihr durch den Kopf. Viel schöner als ich - vielleicht hat sie wirklich das Zeug zur Tänzerin. Nachdem Zulhamin aus ihrem Blickfeld verschwunden war, ließ Thalionmel sich wieder im Grase nieder und nahm ihre ursprüngliche Haltung ein. Sie schloß die Augen und genoß die Hitze und das Summen und Brummen und Krabbeln und Schaben der unzähligen winzigen sechsfüßigen Tierchen ringsumher. Für Mitte Ingerimm war es nicht ungewöhnlich heiß, aber der Tag konnte durchaus als Sommertag gelten. Die erste Heumahd war vorüber, und das Mädchen freute sich, daß ihr geheimes Plätzchen - nahe am Weiher, aber doch so weit vom Röhricht entfernt, daß man dort tro144
cken lagern konnte - auch in diesem Jahr von der Sense verschont geblieben war. Sie hatte sich vorgenommen, über sich selbst, ihr bisheriges und zukünftiges Leben nachzudenken, aber noch bevor die Schwester gekommen war und sie gestört hatte, war ihr klargeworden, daß diese Art des Nachdenkens sich für eine Kriegerin eigentlich nicht geziemte. Richtig nachdenken sollte man an einem Pulte stehend, so dachte sie, Feder und Pergament griffbereit, so daß man sogleich wichtige Gedanken notieren kann. Aber... ich schreibe ja so ungern und krakelig. Zulhamin hat eine viel zierlichere Hand als ich, wenn sie auch oft die Wörter nicht richtig schreibt - und hier in der Sonne und im Grase ist es viel schöner als am Pult in meinem Zimmer. Ja, das ist undiszipliniert und weichlich, daß ich mich nicht aufraffe und in mein Zimmer gehe und mir statt dessen lieber die Praiosscheibe auf den Kopf scheinen lasse, obwohl ich doch weiß, daß ich davon eher ins Träumen gerate als zum Denken komme, und wenn ich jetzt in meiner Stube wäre, müßte ich aufschreiben: weniger nachgiebig mir selbst gegenüber sein, das Weichliche ablegen und Disziplin üben! So, wie ich jetzt bin, kann ich der Herrin Rondra nicht unter die Augen treten. Thalionmel malte sich aus, wie sich wohl ihr erster Besuch im Tempel des Sieges gestalten würde; sie hatte den schmucklosen, aus hellem Sandstein errichteten Kuppelbau schon ein paarmal von außen gesehen und mit Ehrfurcht betrachtet, betreten hatte sie ihn nie. Kindern, so wußte sie, war der Zutritt verwehrt, es sei denn, sie hatten in einer Prüfung des Charakters durch 145
ein Gremium von drei Geweihten genug Standhaftigkeit und sittliche Reife bewiesen, um vor die Göttin zu treten. Ob ich es wohl schaffe, die Prüfung vor meinem elften Geburtstag abzulegen? dachte sie. Meine Mutter war elf und ein halbes Jahr alt, als sie zum erstenmal den Tempel besuchen durfte. Kusmine hatte, als sie bemerkte, daß die Tochter, was Anlagen, Neigungen und Wuchs betraf, mehr nach ihr selbst geriet als nach dem Gatten, dem Kind oft von der Göttin, dem Tempel und den Grundlagen des Kultes erzählt und ein heißes Sehnen in seinem Herzen entfacht. Sie ist ernster und verständiger, als ich in ihrem Alter war, und auch strenger gegen sich selbst, dachte sie bisweilen. Vielleicht ist sie gar berufen, sich der Herrin zu weihen. Doch ob ich es mir wünschen soll...? Thalionmel wußte nichts von den geheimen Gedanken ihrer Mutter. Sie lag reglos im Gras und überließ sich ihren Gedankenträumen. Das Mädchen war groß für sein Alter; am 22. Firun war sie zehn geworden, aber jeder, der sie sah und ihr Alter nicht kannte, schätzte sie auf zwölf Götterläufe. Nicht nur ihr Wuchs, auch die Züge ihres Gesichtes ließen sie älter erscheinen, als sie war; nur wenig Weiches und Kindliches war in ihnen zu entdecken: Wenn das Mädchen lachte, was nicht zu häufig geschah, oder die Lippen zu einem oftmals spöttischen Lächeln verzog, entstanden beiderseits des Mundes kleine Grübchen in den Wangen, was die strenge Schönheit mit rahjagefälligem Liebreiz überhauchte. Die Augen waren das Wunderbarste in dem Gesicht. 146
Zwar standen sie vielleicht ein klein wenig zu dicht beieinander, um als wirklich schön zu gelten, und oftmals lagen bläuliche Schatten in den Winkeln, aber sie waren dunkel bewimpert, wodurch ihre ungewöhnliche Helligkeit auf eindrucksvolle Weise betont wurde. Die Farbe der Augen war von einem dunstigen Blau mit goldenen Lichtern darin. Jetzt waren die Augen geschlossen, und der kaum sichtbare Doppelbogen der blonden Brauen war entspannt wie im Schlaf. Die wohlgeformten, nicht eben vollen Lippen ruhten weich aufeinander, waren aber nicht geöffnet, wie man es oft bei schlafenden oder träumenden Kindern sieht. Thalionmel trug das blonde Lockenhaar offen, eine Gewohnheit, die sie von ihrer Mutter übernommen hatte - Kusmine hielt es für eine Vergeudung von Zeit und Lebenskraft, sich Tag für Tag von der Zofe die Haare zu einer kunstvollen Flechtfrisur aufstecken zu lassen, wie sie bei den vornehmen Damen des Reiches in Mode war. Und genau wie die Mutter bevorzugte das Mädchen Kleidung aus Linnen, Tuch oder Leder, die ihre Bewegungsfreiheit nicht einschränkte und - je nach Jahreszeit - Schutz vor der Hitze oder der Kälte bot. Heute trug Thalionmel kniekurze linnene Beinkleider und darüber einen in der Mitte gegürteten, locker geschnittenen Überwurf, ähnlich der Tracht der Wüstennomaden. Wie verschieden von meiner Schwester bin ich doch in diesen Dingen, ging es ihr durch den Kopf. Zulhamin findet Gefallen an schö147
nen Gewändern, an Stickwerk, Zierat, Geschmeide und dergleichen. Für mich hingegen sind der schönste Schmuck ein blinkender Helm und ein blinkendes Schwert... mein Schwert! Ob wohl mein Schwert schon fertig ist? Es sollte heute gebracht werden... Einen Moment lang war das Mädchen versucht, zum Haus zu laufen und nach dem Schwert zu fragen, doch entschlossen kämpfte es diese Regung nieder, und ein heimlicher Beobachter hätte nur am Runzeln der Brauen und dem Ballen der Rechten zur Faust den kurzen Kampf im Innern ablesen können. Nein! rief sie sich zur Ordnung. Nun habe ich einmal entschieden und dies auch laut verkündet, daß ich auf das gemeinsame Mittagsmahl verzichten will, um allein zu sein und nachzudenken - jetzt bleibt es auch dabei! Ich werde meine Neugierde bis zum Abend bezwingen müssen, denn über unserem Ausritt wird es wohl Abend werden. Aber vielleicht weiß Zulhamin etwas darüber. Ja, gewiß, wenn mein Schwert eingetroffen ist, wird sie es wissen und mir erzählen... Sosehr Thalionmel sich auch bemühte, ihre Gedanken zu ordnen und auf die Freuden und Pflichten ihres zukünftigen Lebens als Garnisonszögling zu lenken, so konnte sie doch nicht verhindern, daß diese immer wieder zu dem Schwert zurückkehrten. In der Garnison zu Neetha war es ebenso wie an den Akademien des Reiches üblich, daß jeder Zögling beim Eintritt in die Schule sein eigenes, aus Eisen geschmiedetes und der Körpergröße angepaßtes Schwert mitbrachte. Natürlich waren diese Übungsschwerter, bei 148
deren Handhabung die Schüler ein Gefühl für Gewicht und Gefährlichkeit der Waffe erlernen sollten, nicht wirklich scharf geschliffen, aber man hätte sie schärfen können... Es waren wirkliche kleine Schwerter, die in einer Scheide am Gehänge getragen wurden. Kusmine bewahrte die drei Schwerter aus ihrer eigenen Schulzeit in der Rüstkammer in Vinsalt auf. Sie hatte sie zwischen dem neunten und sechzehnten Lebensjahr benutzt, und sie waren, eines nach dem anderen, mit ihr gewachsen. Im Verlauf des letzten Jahres hatte sie der Tochter immer häufiger erlaubt, mit dem kleinsten Schwert zum Übungsgefecht gegen die Mutter anzutreten. Das Kind hat Talent, dachte sie nach jeder Fechtstunde. Welche Freude es doch macht, es zu unterweisen! Und fast bedauerte sie, Thalionmels Ausbildung in fremde Hände legen zu müssen. Mit meinem eigenen Schwert wird es besser gelingen als mit dem Schwert der Mutter, dachte Thalionmel, weil es mein eigenes ist, weil es mir gehört und zu mir gehört und ich nicht um Erlaubnis fragen muß, ob ich es benutzen darf. Mein eigenes werde ich auch mit mehr Liebe und Sorgfalt pflegen. Woran das nur liegen mag?... Es wird nicht prächtiger sein als das der Mutter, eher schlichter, denn die Form von Klinge, Griff und Heft ist vorgeschrieben, und es wird auch keine Inschrift tragen - es wäre überheblich, dem Schwert einen Namen zu geben, und Worte wie ›Rondras Ehr - Schutz und Wehr‹ eingravieren zu lassen, wäre gar so vermessen, daß es fast einer Lästerung gleichkäme. Woran also liegt es, daß ich mich so da149
nach sehne, endlich mein eigenes Schwert in der Hand zu halten? Vielleicht daran, daß es ganz neu sein wird und ich die erste bin, die es führt. Und bei jeder Scharte auf der Klinge werde ich wissen, woher sie stammt... Um so gut zu werden wie meine Mutter, muß ich noch lange Jahre üben, aber ich weiß, daß ich eine fähige Kämpferin werden kann. Ich habe Talent fürs Fechten, und ich bin mutig - ich sehe die Anerkennung in den Augen der Mutter, auch wenn sie sparsam ist mit ihrem Lob. Daß ich um meine Begabung weiß, ist vielleicht nicht gut, es könnte mich überheblich machen. Man sagt, daß ich stolz bin, aber das ist etwas anderes - Stolz ist eine Tugend, die der Göttin wohlgefällig ist, aber Überheblichkeit ist eine Untugend, und doch sind beide miteinander verwandt und oftmals nicht leicht voneinander zu unterscheiden. Ich sollte eine Liste meiner guten und schlechten Eigenschaften erstellen, damit ich die schlechten bekämpfe und die guten fördere. Also, zu meinen schlechten Eigenschaften zählen die Neugierde und der Jähzorn. Obwohl - auch bei der Neugierde und dem Jähzorn läßt sich bisweilen nicht mit Gewißheit sagen, ob sie wirklich nur schlecht sind. Ist nicht die Wißbegierde die Schwester der Neugierde und der gerechte und heilige Zorn der Bruder der Wut? Bevor ich also die Liste erstelle, muß ich die Begriffe genau bestimmen, damit ich weiß, wann es der gerechte Zorn ist, der mich ergriffen hat, und wann es die blinde und böse Wut ist... Aufrichtigkeit gehört wohl nicht zu meinen guten Eigenschaften, daß ich solcherlei Gedanken hege, denn ich weiß es doch stets, 150
wenn ich in Jähzorn gerate. Ich weiß es, und dennoch gelingt es mir nur selten, die Wut zu unterdrücken, also ermangelt es mir an Selbstbeherrschung, und dabei übe ich mich darin... Ja, der Vater hat recht: Klaglos Schmerzen des Körpers und Entbehrungen zu ertragen, ist nur ein Teil der Selbstbeherrschung, wenn auch der wichtigste. An der Selbstbeherrschung also muß ich noch arbeiten, und wie steht es mit dem Mut? Bin ich wirklich mutig?... Thalionmel dachte an die Bettler auf den Tempelstufen, Veteranen und Söldlinge die meisten, und wie jedesmal, wenn heraufbeschworen oder ungerufen das Bild der beklagenswerten Menschen vor ihrem inneren Auge erschien, wurde ihr seltsam beklommen zumute. Alle diese verstümmelten Männer und Frauen hatten ihre Gliedmaßen im Gefecht verloren, der Herrin zur Ehre, und nun konnten sie ihr nicht nur nimmer dienen, sondern waren kaum in der Lage, ihr Leben aus eigener Kraft zu fristen, und waren auf die Almosen frommer Kriegsleute und Geweihter angewiesen. Wenn nun Frau Rondra auch von mir, statt meines Lebens, das ich ihr gern schenken will, meine Arme, Beine oder Augen fordern würde..., dachte das Mädchen, und trotz der mittäglichen Hitze begann sie zu frösteln. Verstümmelt und entstellt zu werden, ist meine größte Furcht - Herrin Rondra möge mir diese Furcht vergeben -, und lieber will ich sterben, bevor ich fünfundzwanzig bin, als so zu leben wie diese: mir selbst und den anderen eine Last und ein Ekel... Ja, mir graut vor diesen bejammernswerten Gestalten, obwohl es nicht recht ist und ich sie verehren sollte für 151
ihre Tapferkeit, dachte Thalionmel. Ich ekle mich vor ihrer Häßlichkeit, vor ihren leeren Augenhöhlen, ihren Armstümpfen und den beinlosen Rümpfen, die dicht am staubigen Boden auf einem Brett mit Rollen hocken... Lieber will ich jung sterben, und eher werde ich mich selbst entleiben, als solch ein nutzloses, elendes und ekles Leben zu führen... Thalionmel öffnete die Augen und blinzelte zum Himmel. Dann erhob sie sich und ging grimmigen Blickes und gemessenen Schrittes zum elterlichen Gutshaus. Vor dem Pferdestall war Zulhamin damit beschäftigt, ihr Pferdchen zu satteln. Elgor, der neue Stallmeister, stand neben ihr und beobachtete lächelnd, wie sie sich mit ernster Miene abmühte. Er war von der Herrschaft angewiesen worden, den Mädchen nicht die Arbeit mit ihren Reittieren abzunehmen, wohl aber den ordnungsgemäßen Sitz des Zaumzeuges und der Sattelgurte zu überprüfen. Obwohl Elgor schon fast fünf Jahre auf Gut Brelak arbeitete, wurde er immer noch der neue Stallmeister genannt, denn Hilgert hatte diese Stellung fast vierzig Jahre lang innegehabt. Aber eines Morgens war der Alte verschwunden - ohne Abschied, ohne eine Nachricht zu hinterlassen und ohne den Lohn für die letzten zwei Wochen. Man fand seine Stube leer und reinlich ausgefegt; die Pferde im Stall waren alle wohlversorgt. Seit jenem Tag hatte niemand jemals wieder von Hilgert gehört. »Du bist zu spät«, rief Zulhamin, als sie die Schwester entdeckte, »und deshalb verrate ich dir auch 152
die Überraschung nicht, die ich weiß!« Thalionmel lachte - ihr Schwert war also gekommen. »Ich bin nicht zu spät«, erwiderte sie, »und ich werde mein Pferd gesattelt haben, noch bevor die dritte Stunde angebrochen ist.« Obwohl sie am liebsten ins Haus gestürmt wäre, um ihr Schwert zu sehen und auszuprobieren, versagte sie sich, die Schwester auch nur danach zu fragen. Das wird eine gute Übung sein, meine Neugierde zu bezwingen, dachte sie. Und ich will auch wegen des Schwertes den versprochenen Ausritt nicht verkürzen. Die dritte Stunde war eben angebrochen, als die Mädchen den Hof verließen. Beide ritten scheckige kleine Steppenpferde - Thalionmel einen Wallach und Zulhamin eine Stute. »Willst du gar nicht wissen, welche Überraschung ich weiß?« fragte die Jüngere. Thalionmel versuchte, Stimme und Gesicht einen gleichmütigen Ausdruck zu verleihen. »Mein Schwert wird wohl eingetroffen sein«, sagte sie. Zulhamin schien ein wenig enttäuscht über die Reaktion der Freundin. »Freust du dich denn gar nicht?« fragte sie. »Willst du nicht wissen, wie es aussieht? Ich habe es schon gesehen - es ist so lang.« Sie riß die Arme auseinander, so weit sie konnte, wodurch ihr Pferdchen ein wenig aus dem Schritt geriet und zu tänzeln begann. »Oh, Verzeihung, Dari, das wollte ich nicht.« Zulhamin tätschelte den Hals des Tieres und ermutigte es durch eine knappe, geschickte Bewegung der Schenkel, den ursprünglichen Rhythmus wieder aufzu153
nehmen. »Also«, wandte sie sich an die Ziehschwester, »es ist ganz lang - einen Schritt vielleicht - und blinkt, und das Heft ist aus Messing, und der Griff ist mit schwarzem Leder umwickelt...« Thalionmels Kopf fuhr herum. »Du hast es schon in der Hand gehabt?« »Nein, das durfte ich nicht«, erwiderte die Jüngere. »Die Muhme und der Oheim haben gemeint, daß du die erste sein sollst, die es in Händen hält, aber es ist eine gute Arbeit, sagt die Muhme, und vielleicht darfst du es heute abend gegen sie erproben, und der Sattler wird heute noch das Gehänge bringen... Der Hasenpfeffer war köstlich, da hast du wirklich was verpaßt - Titina hat mit Shadifnägelchen gespickte Zwiebeln in die Sauce getan... Warum sagst du denn nichts?« Thalionmel war über der Schwester Rede leicht errötet; ihre Augen strahlten, und die Lippen teilten sich zu der Andeutung eines Lächelns. »Ich freue mich so auf mein Schwert«, sagte sie leise, »viel mehr, als ich bedaure, den Hasenpfeffer verpaßt zu haben... oh, Zulhamin, ich freue mich so...« »Ja, der Hasenpfeffer...«, begann die Jüngere ernst. »Du erinnerst dich hoffentlich an unsere Abmachung.« Und obwohl die Freundin nickte, fuhr sie fort: »Daß du mir versprochen hast, mich mit nach Neetha zu nehmen, wenn ich meinen Hasenpfeffer esse!« Thalionmel lachte laut: »Aus dir wird noch einmal eine echte Ränkeschmiedin werden, so geschickt verstehst du schon jetzt, die Wahrheit und die Worte zu verdrehen. Ich habe dir versprochen, mich für dich zu 154
verwenden, wenn du dein Mittagsmahl verspeist, was, wie mir scheinen will, kein echtes Opfer war - natürlich werde ich meine Eltern bitten, dir zu erlauben...« »Das mußt du auch!« unterbrach sie Zulhamin aufgeregt. »Ich glaube nämlich, sie wollen es nicht erlauben. Ich habe beim Essen Muhme und Oheim gefragt, aber sie haben sich nur angeschaut, die Köpfe gewiegt und gemeint, es bleibe ja noch ein wenig Zeit, darüber nachzudenken. Aber ich glaube, die Muhme will nicht, daß ich mitkomme, denn später hat sie zum Oheim gesagt - ich habe es genau verstanden, obwohl sie absichtlich leise gesprochen hat, damit ich es nicht höre -, daß sie mit dir nach Neetha reiten wolle, aber ich sei noch zu klein und zu zart für einen so weiten Ritt.« »Du reitest gut«, sagte Thalionmel, »genausogut wie ich, obwohl du doch viel jünger und kleiner bist.« »Ich bin nur etwas jünger und etwas kleiner«, widersprach Zulhamin, strahlend vor Freude über der Schwester Lob, »und ich bin auch nicht zart - ich habe ganz harte Knochen, die noch nie gebrochen sind. Findest du wirklich, daß ich gut reite?« »Ausgezeichnet«, erwiderte die Ältere, konnte sich aber nicht verkneifen hinzuzufügen: »Für dein Alter und deine Größe.« Doch Zulhamin schien die Neckerei überhört zu haben. Stolz reckte sie das Näschen in die Luft, und ihre bräunlichen Wangen waren rot überhaucht. »Daß ich so gut reiten kann, liegt daran, daß ich eine Tulamidin bin«, erläuterte sie. »Uns Tulamiden liegt das Reiten eben im Blut.« 155
»Eine Tulamidin bist du nun nicht gerade«, widersprach Thalionmel, »denn dein Vater, welcher mein Oheim ist und der Halbbruder meiner Mutter, ist selbst nur ein halber Tulamide, also kann dein tulamidisches Erbteil...« »Meinst du den Oheim Fuxfell?« fiel Zulhamin ihr ins Wort. »Der ist nicht mein Vater.« Das Mädchen hatte die Worte mit so viel Überzeugung gesprochen, daß die Freundin überrascht den Kopf nach ihr wandte. »Wieso glaubst du, daß er nicht dein Vater ist?« fragte sie. »Dein Oheim Fuxfell war sehr böse zu meiner Mutter, er hat ihr das Herz gebrochen, und daran ist sie gestorben - das hätte mein Vater gewiß nicht getan. Außerdem hat er mir noch nie etwas geschenkt und mich noch nie besucht.« Zulhamin machte eine kleine Pause. »Und er leugnet, daß ich seine Tochter bin«, fügte sie leise hinzu. »Woher weißt du das alles?« fragte Thalionmel, nachdem sie eine Weile schweigend an der Freundin Seite geritten war. »Ich dachte immer, dein Vater, der Oheim Fuxfell, reise in dringenden Geschäften durch die Welt, die ihn daran hinderten, sich selbst um dich zu kümmern, und deshalb habe er dich als Ziehtochter in die Hände meiner Eltern gegeben... Und deine Mutter ist an gebrochenem Herzen gestorben, sagst du? Ich dachte immer, sie sei bei deiner Geburt verblutet...« Zulhamin dachte eine Weile nach, bevor sie antwortete. »Es heißt, daß meine Mutter eine Magd war«, sagte sie unvermittelt. »Glaubst du das?« 156
»Die Verlobte meines Oheims eine Magd? Nie und nimmer! Wer sagt das? Zulhamin, du bist so seltsam, was ist mit dir? Und wer erzählt dir solche Märchen?« »Der Oheim - ich habe ihn gestern gefragt, nachdem Titina mich gescholten hatte, weil ich eine Schüssel zerbrochen hatte. Da hat sie gesagt, ich hätte die ungeschickten Finger von meiner Mutter geerbt, die bei der Küchenarbeit auch immer viel zerbrochen und umgestoßen habe. Da bin ich also zum Oheim gegangen und habe ihn gefragt, warum meine Mutter in der Küche arbeiten mußte, ob sie denn eine Magd war, und er hat mir alles erzählt. Auch daß mein angeblicher Vater, der Oheim Fuxfell, kein sehr guter Mensch ist und schlecht an meiner Mutter gehandelt hat. Er wollte es mir wohl erst später erzählen, wenn ich älter bin...« Das Mädchen war bei dem Bericht sehr ernst geworden. Sie hielt die großen, fast schwarzen Augen starr auf die Ohren ihres Pferdes gerichtet, und obwohl sie den Blick der Freundin auf sich spürte, wandte sie den Kopf nicht. »Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht«, sagte sie, »und ich wollte es dir erzählen, bevor du nach Neetha ziehst.« Thalionmel ritt eine Weile schweigend neben der Freundin. An der Bewegung von Brauen und Mund erkannte man, daß sie angestrengt nachdachte und nach den rechten Worten suchte. »Macht es einen Unterschied, ob du die Tochter einer Gräfin oder einer Magd bist?« fragte sie halblaut, mehr zu sich selbst. »Du bist doch immer noch dieselbe wie zuvor Zulhamin, meine liebe Freundin und Schwester... Nun 157
schau doch nicht so ernst, und laß uns lieber ein kleines Wettrennen machen: Wer als erster bei der Ulme dort drüben ist, hat gewonnen.« Sie wies auf einen einsamen knorrigen Baum in etwa zweihundert Schritt Entfernung. »Wie ist es, machst du mit?« Zulhamin nickte zögernd, dann warf sie entschlossen das Haar nach hinten. »Also gut«, sagte sie, »aber ich zähle - bei drei geht es los! Eins - zwei - drei.« Beim letzten Wort hieb sie ihrem Pferdchen die Schenkel gegen die Flanken und preßte den Körper so dicht wie möglich an den Hals den Tieres. »Los, Dari, lauf!« rief sie. »Schnell, schnell!« Sei es, daß Zulhamin den besseren Start erwischt hatte, sei es, daß ihr Pferd das schnellere von beiden war, sei es, daß Thalionmel das ihre ein wenig zurückhielt - wie dem auch gewesen sein mochte, die jüngere erreichte den Baum so weit vor ihrer Schwester, daß sie, nachdem sie an den Stamm geschlagen hatte, noch Zeit fand, ihr Pferdchen zu wenden und triumphierend die Arme zu schwenken. »Gewonnen! Gewonnen!« rief sie außer Atem. »Ja, du hast gewonnen«, bestätigte Thalionmel gutgelaunt, »du reitest wie eine Wüstentochter, wie eine tulamidische Prinzessin, wie ein Dschinn...« »Vielleicht bin ich eine tulamidische Prinzessin«, erwiderte Zulhamin. »Immerhin habe ich einen tulamidischen Namen. Vielleicht war meine Mutter ein Findelkind von edlem Blut, das von Bauern aufgezogen wurde. Ich habe letzte Nacht darüber nachgedacht, und möglich ist es immerhin...« 158
»Worüber du so nachdenkst, wenn du eigentlich schlafen solltest...«, Thalionmel schüttelte lächelnd den Kopf. »Aber du hast recht: Es ist möglich.« »Und mein Vater - ich meine meinen richtigen Vater«, fuhr Zulhamin fort, »denn der Oheim Fuxfell kann nicht mein Vater sein, da er es bestreitet und mich auch nicht liebhat und ich ihn gar nicht kenne -, mein richtiger Vater also ist ein tulamidischer Prinz, den ein schwarzer Magier geraubt hat und in seinem Turm gefangenhält. Und das hat meiner Mutter das Herz gebrochen. Jedenfalls könnte ich eine tulamidische Prinzessin sein, und deshalb will ich Tänzerin werden.« »Willst du wirklich Tänzerin werden?« Thalionmel schaute die Freundin forschend an. »Ist es dir ernst damit?« Zulhamin nickte heftig. »Natürlich ist es mir ernst: Ich will so eine Tänzerin werden wie in dem Buch. Warum fragst du?« »Weil...« Die Ältere machte eine nachdenkliche Pause. »Weil mir ein Gedanke gekommen ist, aber ich weiß nicht, ob ich mit dir darüber sprechen soll. Denn sieh: Wenn ich es dir erzähle, dann wecke ich womöglich Hoffnungen in dir, die sich vielleicht nicht erfüllen werden... und dann bist du enttäuscht und wirst noch trauriger.« »Ich verstehe überhaupt nicht, wovon du redest«, sagte Zulhamin, und die Unterlippe bebte ihr dabei. »Aber ich fange schon an, traurig zu werden.« »Nein, keine Tränen, jetzt nicht, bitte!« Thalionmel 159
hieb mit der geballten Rechten in die offene Linke. »Dann sag, was für ein Gedanke dir gekommen ist«, beharrte die Jüngere und ahmte mit kleinen energischen Hieben die Geste der Freundin nach. Zwar schimmerten in ihren Augen die Tränen, bereit zu fließen, aber die gewölbten roten Lippen waren erwartungsfroh geöffnet. »Nun sag schon!« wiederholte sie. »Also gut«, begann Thalionmel, »aber bedenke: Ich kann dir nichts erlauben oder versprechen.« Zulhamin nickte ernst, und die Ältere fuhr fort: »In Neetha gibt es eine Tanzmeisterin, die die Geweihten und Novizen des neuen Rahjatempels in Tanz und Grazie unterweist...« »Grazie?« Zulhamin hob fragend die Brauen. »Grazie ist, wenn man sich anmutig bewegt«, erläuterte Thalionmel, »vielleicht... vielleicht kannst du ja bei der Meisterin in die Lehre gehen. Ich finde, daß du gewandt bist und dich schon jetzt, ohne es gelernt zu haben, recht anmutig bewegen kannst, und wenn die Tänzerin aus Neetha das auch so sieht, dann nimmt sie dich vielleicht als Schülerin... und dann könnten wir beide in Neetha leben und lernen und uns öfter sehen. Nicht so oft wie jetzt natürlich, aber vielleicht einmal alle sieben Praiosläufe.« »Meinst du, sie nimmt mich?« fragte Zulhamin, und nun leuchteten ihre Augen vor Aufregung und Freude. »Ich weiß es nicht, kleine Schwester, ich weiß gar nichts«, erwiderte Thalionmel. »Ich weiß nicht, ob die Tänzerin dich zur Schülerin erwählt, ich weiß nicht, ob die Eltern es erlauben werden, daß du Tänzerin wirst, ich weiß nicht einmal, ob du mit nach Neetha reiten 160
darfst, aber ich weiß, daß ich mich über die Maßen freuen würde, wenn wir gemeinsam in Neetha leben und lernen könnten und ich immer wüßte, daß du in meiner Nähe bist.« Sie hielt ein wenig verlegen inne und senkte die Lider, dann schüttelte sie die Locken und funkelte die Freundin schelmisch an. »Und dann müßte ich dir keine Briefe schreiben - du weißt, wie ungern und unschön ich schreibe -, aber wenn du allein hier zurückbliebest, würdest du gewiß zweimal im Mond einen Brief von mir erwarten, und dieser meiner größten Sorge wäre ich dann ledig.« Thalionmel wendete ihr Pferd und sprengte, ohne weiter auf die Schwester zu achten, zu dem Feldweg zurück, den sie für das Wettrennen verlassen hatte. Sie spürte, daß ihr während des Gespräches mit Zulhamin das Blut in die Wangen gestiegen war, und nun fühlte sie mit Erleichterung den frischen Wind auf dem Gesicht. »Warte doch!« hörte sie hinter sich die Freundin rufen, aber sie mochte der Bitte nicht folgen. Früher oder später würde Zulhamin sie ohnehin einholen, das wußte sie, und dann wären ihre Wangen vom scharfen Galopp gerötet und nicht vom Bekenntnis geheimer Gedanken und Gefühle. Fast zur gleichen Zeit erreichten die Mädchen den Feldweg, der zur Straße nach Shilish führte. Im Lauf des Tages war es immer heißer geworden, und die Luft flirrte über dem hellen Staub von Weg und Straße. Eine dichte Hecke aus wilden Rosen und Brombeergesträuch versperrte den Kindern die Sicht nach Süden, aber als 161
sie in die Straße einbogen, sahen sie in etwa hundert Schritt Entfernung eine winzige Gestalt in südliche Richtung wandern, nahe beim Wäldchen, hinter dem der Weg nach Morlak abzweigte - einem Dörfchen knapp außerhalb des freiherrlichen Besitzes. »Wollen wir schauen, wer die besseren Augen hat und als erster erkennt, wer dort wandert?« schlug Zulhamin vor. Thalionmel nickte. »Es ist ein Junge«, sagte sie nach einer Weile. »Woran erkennst du das?« wollte die Jüngere wissen, aber Thalionmel hob nur fragend Schultern und Hände nach Art ihrer Mutter. »Es stimmt, es ist ein Junge«, bestätigte Zulhamin, als sie sich dem Wanderer weiter genähert hatten, »nicht älter als zehn.« »Und nicht aus Brelak«, fügte die Ältere hinzu. Nun waren die Mädchen auf knapp siebzig Schritt heran. Plötzlich hüpfte Zulhamin aufgeregt im Sattel auf und ab. »Ich weiß, wer es ist!« rief sie. »Es ist Pagol - ich habe schon wieder gewonnen!« »Pagol? Der Sattlerssohn aus Morlak?« fragte die Freundin. »Dann hat er gewiß mein Gehänge gebracht - komm, laß uns zu ihm reiten, Falkenauge, er soll mir erzählen, wie es aussieht.« Die Mädchen trieben ihre Pferde an, doch bevor sie den Abstand zu Pagols schmächtiger Gestalt um weitere zwanzig Schritt verringert hatten, stürmten aus dem Wäldchen links des Weges zwei Burschen hervor und warfen sich sogleich auf den nichtsahnenden Buben. Die Angreifer mochten zwölf oder vierzehn Götterläufe 162
zählen, abgerissene Gesellen alle beide, und stammten nicht aus der Gegend von Brelak - weder Thalionmel noch Zulhamin hatte sie je gesehen. »Bei Rondra, zwei gegen einen!« entfuhr es Thalionmel, und schon hieb sie ihrem Pferdchen die Fersen in die Flanken. Die jungen Räuber hatten es offenbar auf Pagols geringe Habseligkeiten abgesehen, denn während der größere von beiden dem am Boden liegenden Jungen den Arm auf den Rücken drehte und den Kopf in den Straßenstaub zwang, hockte sich der andere auf Pagols strampelnde Beine und löste mit kundigen Fingern den Gürtel - ein Dolch klemmte ihm zwischen den Zähnen. Verzweifelt versuchte der Sattlersohn sich den harten Griffen seiner Widersacher zu entwinden, aber je mehr er sich wehrte, um so heftiger wurde er am Schopf gerissen, und um so härter wurde ihm der Arm verdreht. Pagol stöhnte und weinte, aber außer seinen Peinigern und den Mädchen gab es niemanden, der ihn hätte hören können. Beim Klang des Hufschlages wandten die Strauchdiebe die Köpfe und sahen die Mädchen heransprengen. Der größere von beiden ließ den Kopf des Buben fahren und griff neben sich in den Straßenstaub, der andere hatte plötzlich den Dolch in der Hand; langsam erhob er sich, Pagols Gürtel in der Linken. »Heda, Gesindel, packt euch!« rief Thalionmel. »Und laß den Gürtel fallen, Bube!« Doch bevor das letzte Wort verklungen war, traf ein Stein ihre Schläfe. Sofort platzte ihr die zarte weiße Haut, und ein rotes 163
Rinnsal floß über Jochbein, Wange, Kinn und Hals, wo es im Ausschnitt des Hemdes verschwand. Bei dem plötzlichen Schmerz war das Mädchen zusammengezuckt und hatte scharf die Luft eingesogen, ihren Ritt jedoch unterbrach sie nicht. Nun war sie auf wenige Schritt heran, brachte ihr Pferd zum Stehen und schwang sich aus dem Sattel. Zulhamin war dicht hinter ihr und sprang behende vom Pferd, bevor die Schwester sie zurückhalten konnte. »Paß auf, Zulhamin!« rief Thalionmel, als sie sah, daß der größere Bursche wieder nach einem Stein tastete. Pagol hob beim Klang der bekannten Stimme und des vertrauten Namens ein wenig den Kopf. »Zu Hilfe, Baroneß, helft mir!« wimmerte er. Ein Tritt vors Schienbein ließ ihn aufheulen. »Soso, ein Adelspüppchen«, knurrte der Bursche mit dem Dolch und näherte sich, Pagols Gürtel fest umklammert, in geduckter Haltung Thalionmel. »Mal schauen, was es bei der zu holen gibt.« Er hielt die Rechte mit der Waffe halb ausgestreckt, bereit, jeden Augenblick zuzustoßen. Auch sein Kumpan hatte sich erhoben, nun stand er da und wog den Stein unschlüssig in der Hand. »Laß uns abhauen, Rupert, das wird mir zu heiß«, zischte er. Dann warf er, schon halb im Fortlaufen begriffen, den schweren Kiesel nach Zulhamin, die mitten auf der Straße stand und in ihrer Not nicht wußte, was sie tun sollte. Der Stein verfehlte das Mädchen knapp, dennoch schrie sie auf, als das Geschoß ihr dicht am Ohr 164
vorbeizischte. »Hund, elender!« rief Thalionmel und wollte dem Burschen nacheilen, aber der Bewaffnete verstellte ihr den Weg. Er fuchtelte mit dem Dolch und grinste häßlich; dabei sah man, daß ihm im Oberkiefer zwei Schneidezähne fehlten. Thalionmel rührte sich nicht - breitbeinig, den Oberkörper leicht vorgebeugt und mit geballten Fäusten erwartete sie die Attacke ihres Widersachers; alle Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen. Wie sie so dastand, die Locken zerzaust, die Lippen fest aufeinandergepreßt, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt und die Muskeln bebend unter der Anspannung, glich sie einer Wildkatze, die sich zum Sprung bereitmacht. »Nein, Thalionmel, tu es nicht! Er hat ein Messer!« bat Zulhamin, aber die Schwester schien sie nicht zu hören. Langsam, ganz langsam näherte sie sich dem jungen Burschen, und nun fingen die beiden an, sich mit vorsichtig zögernden Schritten zu umrunden. Keiner ließ den anderen für den Bruchteil eines Wimpernschlages aus den Augen, um nicht die geringste seiner Bewegungen zu verpassen. Der Rupert Genannte hatte immer noch die Lippen geöffnet, aber sein Grinsen war zu einer Maske der Anspannung erstarrt; ein feiner Speichelfaden rann ihm vom Winkel des Mundes. Thalionmels Lippen hingegen sahen aus wie eine dünne, leicht abwärtsgebogene Linie; die zarten Nüstern ihrer gerade geschnittenen Nase blähten sich unter den heftigen Atemzügen. Plötzlich schoß der Dolch vor. Doch Thalionmel 165
hatte mit dem Angriff gerechnet und warf sich zur Seite. Im Stürzen trat sie heftig nach des Gegners Bein, wodurch sie diesen zu Fall brachte. Zwar gelang es Rupert, die Wucht des Aufpralls mit der Rechten abzufangen, doch dabei entglitt ihm die Waffe. Thalionmel bemerkte es, und schon war sie über ihm, um ihn niederzuringen. Aber sie hatte die Gewandtheit des mageren Bürschchens unterschätzt - im letzten Augenblick gelang es Rupert, die Rechte nach dem Dolch zu strecken und ihn mit den Fingerspitzen zu ergreifen. Das Mädchen brauchte beide Hände, um den gegnerischen Arm am Boden zu halten, und da ließ ihr Widersacher Pagols Gürtel fahren und krallte die Linke fest in die blonden Locken. Schmerzhaft riß er an Thalionmels Haar und bog ihren Kopf immer weiter nach hinten. Das Mädchen stöhnte und lockerte für einen kurzen Augenblick den Griff. Darauf schien Rupert gewartet zu haben: Sein Dolch stieß nach vorn, und einen winzigen Moment lang sah es aus, als wolle er sich in Thalionmels wunderbares Auge bohren, doch Rondra sei Dank gelang es dem Mädchen rechtzeitig, den Kopf ein wenig zu drehen, so daß die Klinge nur Wange und Ohr streifte. Aber der Junge hatte seine Waffe nicht fest genug gehalten, und bei der heftigen Bewegung entglitt sie ihm abermals - im hohen Bogen flog sie über Thalionmels Körper und landete in Reichweite von Ruperts linker Hand im Straßenstaub. »Zulhamin, der Dolch!« rief Thalionmel der Schwester zu, aber bevor Zulhamin, die den Kampf rat166
los und jammernd beobachtet hatte, die Waffe ergreifen konnte, entließ Rupert den Schopf der Gegnerin aus seinem Griff und tastete hastig nach dem Dolch. War es Absicht, eine unwillkürliche Bewegung oder der Schwung der entlassenen Bogensehne - kaum befreit, schoß Thalionmels Kopf nach vorn, und ihre Stirn traf so heftig auf Ruperts Nase, daß der Junge einen Augenblick lang vom Schmerz wie betäubt war. Blitzgeschwind nutzte das Mädchen diesen winzigen Moment der Unachtsamkeit: Mit beiden Händen griff sie in Ruperts strähniges Haar, riß ihm den Kopf in die Höhe und schmetterte ihn mit aller Kraft auf den Boden. »Fahr zu Boron!« zischte sie. Der Bursche stöhnte, Blut quoll ihm aus der Nase und der aufgeplatzten Lippe und vermischte sich mit dem Blut seiner Widersacherin. Zwar versuchte Rupert, sich des Mädchens zu erwehren, aber seine Glieder schienen ihm nicht mehr recht zu gehorchen, und so zerrte er nur matt und sinnlos an ihren Gewändern, während die Tritte seiner Beine den Staub der Straße aufwühlten. Wieder riß Thalionmel Ruperts Kopf nach oben, um ihn zu Boden zu schmettern, und wieder begleitete ein leises »Fahr zu Boron!« ihren Hieb. Auch der dritte und der vierte Schlag waren heftig, heftiger fast als die ersten beiden, doch bevor sie den Schopf des Gegners ein fünftes Mal in die Höhe reißen konnte, fühlte das Mädchen sich an der Schulter gefaßt. »Halt ein, Thalionmel! Du tötest ihn ja«, vernahm sie die Stimme ihrer Schwester. Thalionmel löste die Hände aus Ruperts Haar; erst 167
jetzt schien sie zu bemerken, daß der Junge keinen Widerstand mehr leistete. Reglos und mit geschlossenen Augen lag er am Boden, und nur an seinen schwachen Atemzügen sah man, daß er lebte. Das Mädchen erhob sich schweratmend und betrachtete mit unbewegter Miene ihr Werk. Rupert stöhnte und rollte sich mühsam auf die Seite; da wandte sie sich ab. »Die Ratte lebt«, sagte sie halb zu sich selbst. Als Thalionmel sich mit schwankenden Schritten der Freundin näherte, wich diese entsetzt zurück - so zugerichtet hatte sie die Schwester noch nie gesehen: Das Haar war staubig und zerrauft, die Kleidung blutig und zerrissen, und dort, wo Stein und Dolch sie verletzt hatten, klebten ihr braunrot verkrustete Strähnen im Antlitz. Aber mehr noch als die Blessuren entsetzte Zulhamin der fremde Ausdruck des vertrauten Gesichtes, den sie nicht verstand. »Oh, Thalionmel«, stammelte sie nur. Thalionmel blickte sich um, als kenne sie die Gegend nicht und suche nach einem vertrauten Wegzeichen. Ihr Blick streifte die Schwester, wanderte über den Horizont und blieb schließlich auf Pagol haften, der weinend am Wegesrand kauerte. »Was ist mit ihm?« fragte sie unvermittelt. »Ist er verletzt?« »Ich weiß es nicht«, schluchzte Zulhamin, dann bückte sie sich, hob den Dolch auf und reichte ihn wortlos der Schwester. Diese nahm ihn und steckte ihn unter den Gürtel. »Was ist mit Pagol?« fragte sie noch einmal. Es stellte sich heraus, daß Pagols Schulter verrenkt 168
war. Das Gesicht und die Knie waren zerschrammt vom Kies der Straße, und das Schienbein wies eine blutende Beule auf, aber nachdem Zulhamin ihn getröstet und aus ihrem geflochtenen bunten Zwirngürtel eine Schlinge für den Arm gewunden hatte, ließ er sich bereitwillig auf Thalionmels Pferdchen helfen. Die zweitgrößte Sorge des Jungen galt dem Geld in seinem Gürtel - er zählte es wieder und wieder, bis er endlich überzeugt war, daß kein Kreuzer fehlte. Zulhamin hatte auch die Blessuren der Freundin versorgen wollen und schon einen Streifen vom Gewand gerissen, aber Thalionmel verwahrte sich entschieden dagegen. »Das sind nur Kratzer«, sagte sie, »die braucht man nicht zu verbinden!« Dann schwang sie sich vor Pagol in den Sattel. »Sollten wir nicht auch nach ihm sehen?« schlug Zulhamin vor, und ihr Blick wanderte unschlüssig zwischen dem verletzten Rupert und der Schwester hin und her. Es war dem Jungen gelungen, sich zum Rand der Straße zu rollen. Dort lag er nun zusammengekrümmt und hielt die Hände auf den Hinterkopf gepreßt; zwischen seinen Fingern drang Blut hervor. »Kappe die Nessel, sie treibt doch wieder aus«, erwiderte Thalionmel und spie auf den Boden. »Steig auf, Schwester!« Mit diesen Worten lenkte sie das Pferd nach Süden, wo nach kaum fünfzig Schritt der Weg nach Morlak abzweigte. Die achte Stunde war schon halb vorüber, grau und 169
purpurn war der Abend in Brelak eingezogen. Soeben hatte Durenald beschlossen, sich auf die Suche nach Tochter und Ziehtochter zu machen, als Goswin, der Sattler, sein Bruder Helme und die Mädchen auf den Hof geritten kamen. Es war spät geworden, weil Thalionmel und Zulhamin den Sattlersleuten immer wieder die Geschichte von dem Überfall erzählen mußten, und Goswins Frau Alene hatte es sich nicht nehmen lassen, Thalionmels Wunden auszuwaschen und die Kinder zum Dank für ihr mutiges Einschreiten mit einer Suppe aus gekochtem Kalbsfuß und Salz zu bewirten. Schließlich hatte Thalionmel zum Aufbruch gedrängt, und so hatten Goswin und Helme sich mit Dolchen und Peitschen bewaffnet, um die Kinder sicher zum elterlichen Gutshaus zu geleiten. Als die vier die Stelle erreichten, wo die beiden jungen Straßenräuber Pagol überfallen hatten, zeugten nur ein paar schwärzliche Blutstropfen im aufgewühlten Staub von dem vergangenen Kampf. Rupert war verschwunden, wie Zulhamin mit Erleichterung feststellte. Zwar hatten die Männer den Mädchen unterwegs ausführlich dargelegt, wie sie das Bürschchen einsammeln, verschnüren und vor den Freiherrn schleppen wollten, doch dann, als sie sahen, daß er fort war, hatte keiner Anstalten gemacht, nach ihm zu suchen, und Zulhamin war es zufrieden. Der Rache war genüge getan, wie sie fand. Was jedoch Thalionmel dachte, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Mit unbewegter Miene ließ das Mädchen den Blick 170
über Straße und Wäldchen streifen, und nur einmal, als sie verstohlen nach dem erbeuteten Dolch tastete, schien etwas wie Triumph in den Augen zu blitzen. Durenald eilte den vier Reitern entgegen, die eben durch das Hoftor einbogen, wo Elgor schon den Lieblingsrappen seines Herrn bereithielt, so flink es der rundliche Bauch ihm erlaubte. Als er die Tochter sah, zerzaust und geschunden, aber offenbar wohlauf, und das Ziehtöchterlein, dem nichts zu fehlen schien außer einem Teil des Gewands, da wichen Zorn und Sorge über das Ausbleiben der Kinder einem Gefühl unendlicher Erleichterung und Dankbarkeit. »Peraine, ich danke dir«, murmelte er, als er die Töchter in die Arme schloß, die bei seinem Anblick sogleich aus den Sätteln gesprungen und wild durcheinander plappernd zu ihm gelaufen waren. Und dann mußte der Freiherr drei gleichzeitig, aber unterschiedlich schnell und sinnvoll vorgetragene Berichte des schrecklichen Überfalls ertragen wie einen unerwarteten Regenschauer. Schließlich nahm er die Mädchen lächelnd bei der Hand, dankte Goswin und Helme für das Geleit und zeigte ihnen den Weg zur Küche, wo Titina ihnen ein Mahl bereitete und anschließend ein Nachtlager im Gesindehaus zuwies. »Und nun rasch ins Haus mit euch«, wandte er sich an die Kinder. »Die Freifrau ist schon ganz außer sich vor Sorge.« Kusmine hatte die Szene vom Fenster des Speisezimmers aus beobachtet, an das sie getreten 171
war, als sie Hufschlag und Stimmen im Hof hörte. Ihre immer noch sehr schlanke und aufrechte Gestalt war in einen locker fallenden Hausmantel aus hellgrauer Brabaker Seide gehüllt. Das glatte blonde Haar fiel offen auf die Schultern, was der strengen Erscheinung einen Anflug von mädchenhaftem Liebreiz verlieh. Als sie sah, wie ihr Gemahl mit den Mädchen zur Hintertür eilte, nahm sie gemessenen Schritts den Platz am Kopf der Tafel wieder ein und blickte den dreien erwartungsvoll, jedoch ernst und fast gleichmütig entgegen. Beim Anblick der Tochter, deren Wunden sich noch nicht geschlossen hatten, so daß die eine Hälfte ihres Gesichts von Streifen frischen roten und getrockneten bräunlichen Blutes besudelt war, gelang es ihr nur mit Mühe, den Gleichmut in Haltung und Miene zu bewahren. »Komm her, Tochter«, sagte sie und streckte die Hand nach Thalionmel aus. »Laß dich anschauen. Und dann berichte mir, wie es dazu gekommen ist. Nein«, wandte sie sich an Zulhamin, die sogleich mit heller, aufgeregter Stimme zu plappern begann, »zuerst soll deine Schwester die Ereignisse schildern, ungestört und nicht unterbrochen, danach werden wir deinem Bericht des Vorfalles lauschen, und auch dich wird keiner beim Erzählen stören.« Und so berichteten die Mädchen zum fünften- oder sechstenmal an diesem Tag, was sich nachmittags auf der Straße nach Shilish kurz vor der Abzweigung nach Morlak zugetragen hatte. Durenald lauschte dem knappen Bericht der Tochter und der anschließenden wortreichen, keine Einzelheit auslassenden und von 172
lebhaftem Gebärden- und Mienenspiel begleiteten Schilderung der Ziehtochter mit zerfurchter Stirn und gelegentlichem Kopfschütteln. Kusmine blickte unter leicht gerunzelten Brauen zuerst die Ältere und dann die Jüngere an, und nur bei Zulhamins Worten »...und dann hieb sie den Kopf des Burschen so oft und so heftig auf den Boden, daß ich schon dachte, sie wolle ihn töten«, schaute sie kurz auf und suchte den Blick ihres Gatten. »Nun müßt ihr zu Bett gehen, Kinder«, sagte sie, nachdem die Jüngere geendet hatte. »Laßt euch zuvor von Titina ein Abendmahl bereiten. Du, Thalionmel, mußt deine Wunden von Susa versorgen lassen. Ohne Verband werden sie immer wieder aufplatzen. Du weißt, daß du eine Narbe auf der Wange behalten wirst - keine entstellende zwar, aber eine dein Leben lang sichtbare?« »Ich weiß es, Mutter«, sagte das Mädchen, und ein rosiger Hauch färbte ihre Wangen. »Doch bevor ich mich in Susas Obhut begebe, erlaubt, daß ich eine Bitte an Euch richte - ich habe es versprochen.« »Nun, worum geht es?« Kusmine hob fragend die Brauen. »Ich habe Zulhamin versprochen«, begann Thalionmel, »daß ich Euch bitten wollte zu erlauben, daß sie uns auf der Reise nach Neetha begleitet. Sie reitet wirklich gut. Und ich habe ihr auch von der Tanzmeisterin erzählt - sie möchte gerne Tänzerin werden. Und ich habe gehört, daß mein Schwert eingetroffen ist.« 173
»Du willst Tänzerin werden, Täubchen?« unterbrach Durenald die Tochter und ergriff Zulhamins Hand. Das Mädchen nickte heftig. »Und du willst mit nach Neetha reisen und dort leben und bei der Sharisad in die Lehre gehen und die Muhme und mich allein zurücklassen?« Wieder nickte Zulhamin, doch als sie die Worte des Oheims recht begriffen hatte, wich die freudige Begeisterung im Gesicht einem Ausdruck von Bestürzung. »Nun schau nicht so entsetzt, Täubchen«, Durenald faßte das Mädchen unters Kinn, »irgendwann fliegen die Vögelchen aus dem Nest, so ist es im Leben, und daran müssen die Alten sich gewöhnen. Du hast ja noch ein wenig Zeit, darüber nachzudenken, genauso, wie auch die Muhme und ich ein wenig Zeit zum Nachdenken brauchen.« Dann wandte er sich lächelnd an die Tochter. »Dein Schwert samt Scheide und Gehänge liegt auf dem Bett in deinem Zimmer. Morgen werden wir sehen, ob es so gut ist, wie es aussieht. Und nun gute Nacht, Kinder. Boron möge euren Schlaf segnen.« In dieser Nacht lagen beide Mädchen noch lange wach. Thalionmel befühlte stolz die Kräuterkompressen, die Susa ihr auf Schläfe, Ohr und Wange gebunden hatte. Immer wieder erschienen Szenen des Kampfes mit Rupert vor ihrem inneren Auge, und sie fragte sich, ob er der Göttin wohl gefallen habe. Vielleicht hätte ich den Burschen töten müssen und nicht auf die Schwester hören sollen, dachte sie. Sie wollte morgen die Mutter danach fragen. Das Schwert hatte sie mit auf das Lager 174
genommen, und als sie einschlief, ruhte es im Arm wie die Lieblingspuppe eines kleinen Mädchens. Zulhamin stellte sich vor, sie sei Schülerin der wunderschönen, aber strengen Tanzmeisterin. Der Unterrichtsraum war ein abgedunkeltes, mit bunten Wandbehängen geschmücktes Zimmer, in dem auf niedrigen Sitzkissen Bandurria- und Flötenspieler hockten, so wie sie es auf dem Bild in dem Buch gesehen hatte. Die Tänzerin lobte sie, weil sie fleißig und behende war und erlaubte ihr, jeden Tag die Schwester in der Garnison zu besuchen, um ihr die neu erlernten Schritte und Tanzfiguren zu zeigen. Aber immer wieder zerrann das schöne Bild, und Zulhamin sah statt dessen den Oheim und die Muhme einsam und traurig beim Mittagsmahl sitzen. Auch Durenald und Kusmine fanden wenig Schlaf, denn es gab viel zu besprechen. Am Ende kamen sie überein, daß Zulhamin die Reise nach Neetha erlaubt werden sollte. Und wenn sie den weiten Ritt ohne Schaden und Klagen überstünde, wollte Kusmine die Ziehtochter der Tänzerin Shahane vorstellen. Drei Tage später, bei Tagesanbruch, brach Kusmine mit ihren Töchtern und zwei Bewaffneten nach Neetha auf.
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halionmel wanderte, die Arme auf dem Rücken verschränkt, im Zimmer auf und ab. Der Raum war klein, vielleicht vier Schritt im Quadrat, und äußerst karg möbliert. Unter dem schmalen, mit Pergament bespannten und hoch in der Mauer eingelassenen Fenster stand ein Stehpult, an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand waren drei Schemel aufgereiht, und an der östlichen Wand hing ein zwei mal ein Schritt messendes Andachtsbild. Ansonsten war das Zimmer leer. Das Mädchen blieb vor dem Gemälde stehen, wie sie es im Verlauf der letzten Stunde schon ein paarmal getan hatte, und betrachtete es lange und aufmerksam. Vielleicht wird es diesmal geschehen, dachte sie. Aber es geschah nichts. Das Bild zeigte in etwa halber Lebensgröße eine Frau mit alabasterweißer Haut und langem, gewelltem blonden Haar, das unter einem goldblinkenden Helm hervorquoll. Golden waren auch Harnisch und Schienen der Kriegerin, die Verzierungen an ihrem Gürtel und dem aus schmalen Lederstreifen gefertigten kurzen 176
Rock. Die Frau war barfuß und stand mit gespreizten Beinen dem Betrachter so zugewandt, daß man eine Achse durch ihren Körper hätte ziehen können. Sie hielt einen Zweihänder über den Kopf erhoben, dessen geflammte Klinge die Achse verlängerte und aus purem Gold geschmiedet schien. Ein Rondrakamm, dachte Thalionmel, vermutlich vergoldet, denn Gold ist zu weich, um Klingen daraus zu schmieden. Zwischen den Beinen der Frau kauerte, zum Sprung geduckt, eine Löwin mit rötlich schimmerndem Fell. Sie hatte die Lefzen zurückgezogen und in Falten gelegt und entblößte die gewaltigen Fangzähne. Auch die scharfen Krallen der vorderen Pranken waren deutlich zu erkennen. Unverwandt starrte die Löwin das Mädchen an. Thalionmel ließ den Blick nach oben wandern, über die makellosen muskulösen Beine der Frau, den schlanken, an den Brüsten nicht zu üppig gerundeten Leib bis zu dem ebenmäßig geformten Antlitz. Waren die Züge der Löwin vor Grimm verzerrt, so zeigte die Frau nicht die leiseste Regung. Das Gesicht war ein schönes Oval mit einer vollkommenen Nase, wohlgeformten roten Lippen und großen blauen Augen unter schöngeschwungenen dunklen Brauen. Auch die Frau schien Thalionmel zu beobachten. Rings um die Kriegerin züngelten rote und gelbe Flammen, so daß es aussah, als brenne sie. Der Rest des Bildes war von einem fast schwarzen Violett - wie der Himmel bei Sturm, dachte Thalionmel. Wie schon zuvor trat sie auch jetzt ein paar Schritte zur Seite, um zu sehen, ob die beiden Augenpaare ihr wohl fol177
gen würden, und wieder stellte sie überrascht und ein wenig beklommen fest, daß sie den blauen Augen der Kriegerin, deren teilnahmslosen Blick sie nicht zu deuten vermochte, und den zornigen grüngelben Augen der Löwin nicht entrinnen konnte. Woran es wohl liegen mag, daß die Augen der Göttin und die der Löwin, die ja ihr Sinnbild ist und zugleich sie selbst, mir stets folgen, wohin ich auch gehe? überlegte das Mädchen. Ob göttliche Magie in dem Bilde ist? Aber nein, das glaubte sie nicht wirklich, denn dann würde sie etwas anderes empfinden, ein Gefühl, das sie bisher nicht kannte und nach dem sie sich so sehr sehnte. Es mußte ein Kunstgriff des Malers sein, genauso wie das Gold auf dem Bild nicht wirklich mit Goldpulver oder Goldlack gemalt war. Sie hatte es sich genau angesehen. Als der vorletzte Prüfling geholt worden war und sie sich endlich allein im Zimmer befand, war sie ganz nah vor das Bild getreten und hatte es eingehend untersucht. Da war kein Gold, da war nur gelb und braun und weiß und sogar ein wenig grün und blau. Und die Oberfläche war auch nicht ganz eben. An manchen Stellen war die Farbe dicker aufgetragen als an anderen, und hier und dort glaubte sie gar einen Pinselstrich zu entdecken. Thalionmel gefiel das Bild, sie fand es schön und ergreifend, aber schön und eindrucksvoll fand sie auch die Portraits der früheren Obristen und Obristinnen der Garnison, die an den Wänden des Speisesaals hingen, und so wie hier bewunderte sie auch dort die Kunstfertigkeit des Malers. 178
Thalionmel fand es sonderbar, daß sie in diesem Augenblick das handwerkliche Geschick des Künstlers bestaunte, statt in stumme Zwiesprache mit der Göttin zu treten. Aber sie konnte nicht beten. Seit über einer Stunde versuchte sie es schon, doch es wollte ihr nicht gelingen. Sie konnte die Worte sprechen - in ihrem Kopf und unhörbar für andere oder, nun da sie allein war, auch laut und deutlich -, aber sie verspürte keine Ergriffenheit dabei, nicht dieses seltsam heiße Gefühl im Sonnenpunkt, das sie gelegentlich beim gemeinsamen Gebet im Klassenzimmer erschaudern ließ. »Herrin Rondra, durchdringe mich und fülle mich mit Deinem Geist«, begann sie mit fester Stimme zu sprechen. »Dring ein in meine Glieder und gebe ihnen Kraft, dring ein in mein Herz und gebe ihm Mut, dring ein in meine Seele und gebe ihr Zorn, mein Leib sei Dein, und den Leib des Feindes will ich Dir opfern, Rotes Blut, heiliges Blut - Blut, wasche rein - so sei es.« Es war, wie Thalionmel erwartet hatte - nichts regte sich in ihrem Inneren. Ich spüre ihre Nähe nicht, dachte das Mädchen, die ich doch mehr denn je spüren sollte hier im Angesicht ihres Abbildes. Sie ist nicht bei mir, ihr Blick ruht nicht wohlgefällig auf mir. Er ruht gar nicht auf mir, und ich werde die Prüfung nicht bestehen. Sie seufzte. Von den drei Prüflingen, die sich für die Tempelprüfung im Tsa gemeldet hatten, war Thalionmel mit ihren elf Jahren die jüngste. Cassim war neulich dreizehn geworden, und Silvana stand kurz 179
vor ihrem zwölften Geburtstag. Allgemein wurde ein Alter von etwa zwölf Jahren für das günstigste erachtet, aber die junge Geweihte Yasinde von Feyhacht, die die Garnisonszöglinge im Rondrakult unterwies, hatte keine Bedenken, als das Mädchen vor einigen Wochen den Wunsch geäußert hatte, recht bald die Prüfung abzulegen. Und so hatte Thalionmel sich fleißig vorbereitet. Sie hatte die wichtigsten Regeln des Kultes und die gebräuchlichsten Gebete im Herzen bewegt und auswendig gelernt, sie hatte am Nachtappell teilgenommen, der nur für die Schüler über vierzehn Pflicht war, sie hatte bei jeder Fechtstunde bis zur Erschöpfung gekämpft, und sie hatte begonnen, ein Tagebuch zu führen, im dem sie jeden Abend vor dem Schlafengehen ihre Verfehlungen und Verdienste niederschrieb. Wahrscheinlich war es vermessen, mich jetzt schon zur Prüfung zu melden, ging es dem Mädchen durch den Kopf, ich werde auf keine Frage die rechte Antwort wissen, und die Kameraden werden mich auslachen, wenn sie erfahren, daß ich durchgefallen bin. Jetzt, da es zu spät war und sie jeden Augenblick damit rechnen mußte, daß die Tür sich öffnete und ihre Gnaden Yasinde sie zur Prüfung holte, erkannte sie ihre Fehler. Sie hatte unbedingt als Jahrgangserste die Prüfung ablegen wollen, und das war falscher Ehrgeiz. Sie wollte unbedingt den Tempel von innen sehen, und das war Neugierde. Sie sehnte sich so sehr, die silberne Nadel mit der springenden Löwin zu tragen, an der die Geweihte im Vorraum erkannte, daß das Kind befugt war, den Tempel zu besuchen, und das war kindische 180
Geltungssucht. Während Thalionmel der Göttin unverwandt in die Augen schaute, nahm sie sich vor, bei der abendlichen Gewissensprüfung keine Milde gegen sich selbst walten zu lassen. »Herrin Rondra, ich gelobe es, und ich bitte Dich nicht um Deinen Beistand, den ich nicht verdient habe«, murmelte sie. Als sie den Blick vom Bild der Göttin löste, um an der Lage des Lichtflecks auf dem Boden zu erkunden, wieviel Zeit verstrichen sein mochte, seit man Silvana zur Prüfung geholt hatte, bemerkte sie, daß die Tür des Zimmers sich geöffnet hatte. Ein dunkelhaariger Priester mittleren Alters, im Kettenhemd und der blau-weißen Tracht des hiesigen Tempels, stand dort und beobachtete sie. Sie hatte den Mann noch nie zuvor gesehen, und weder hatte sie ihn kommen hören, noch wußte sie, wie lange er schon dort stand und sie mit seinen schwarzen Augen anstarrte, und so zuckte sie ganz leicht zusammen, als sie ihn bemerkte. Der Geweihte mußte es gesehen haben, da war sich Thalionmel ganz sicher, und fast hätte sie vor Zorn über ihre alberne Schreckhaftigkeit mit dem Fuß aufgestampft. Und nun begann auch noch ihr Herz so schnell und heftig zu schlagen, als habe sie gerade einen harten Kampf bestritten. Um das Maß der Unsäglichkeiten voll zu machen, spürte das Mädchen, wie Blut in die Wangen stieg. »Thalionmel von Brelak«, sagte der Priester mit unbewegter Miene. »Ich hole dich zur Tempelprüfung. Folge mir!« 181
Nun war es also soweit, nun gab es kein Zurück mehr, und in einer halben Stunde würde es vorüber sein - so oder so. Thalionmel fühlte fast etwas wie Erleichterung, als ihr klarwurde, daß nun, da es begann, auch das Ende nicht mehr fern war, und während sie mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte, bewegte sie die Zunge im Mund, um den Speichelfluß anzuregen. So ausgetrocknet wie Lippen und Mundhöhle im Augenblick waren, würde sie kein Wort herausbringen, das wußte sie. Schweigend folgte das Mädchen dem Geweihten, darauf bedacht, den Abstand zu ihm weder zu verringern noch zu vergrößern. Der dunkle strenge Mann würde ihr gewiß die schwersten Fragen stellen, aber ihre Gnaden Yasinde war ihr gewogen, das hatte sie bemerkt, und so konnte sie bei ihr wohl auf ein wenig Milde hoffen. Milde! Gewogensein! Was sind das für alberne und unwürdige Überlegungen, rief sie sich zur Ordnung, als ob es darum geht! Ich soll in der Prüfung unter Beweis stellen, daß ich genug über den Kult der Göttin weiß und auch die sittliche Stärke besitze, um den Tempel zu betreten. Was hat das mit Milde zu tun? Nun, offenbar ermangelt es mir an Charakterfestigkeit und sittlicher Reife, daß ich Milde erwarte oder erhoffe. Der Geweihte hielt vor einer schweren Eichentür. Nachdem er zweimal geklopft hatte, öffnete er sie und blieb stehen, um Thalionmel durchzulassen. Das Mädchen hörte, wie die Tür sich hinter ihr schloß und die schweren Schritte des Priesters auf dem Gang ver182
hallten. Sie stand in einem Raum, ähnlich dem vorigen, nur daß dieser zwei Fenster aufwies. Das Licht blendete sie ein wenig, und sie blinzelte. Unter dem Fenster stand ein schmuckloser Tisch, an dem zwei Priesterinnen und ein Priester saßen. Zur Linken erkannte Thalionmel ihre Gnaden Yasinde, die ein Pergament mit eilig hingeworfenen Notizen füllte. Bei Thalionmels Eintritt hatte sie kurz aufgeblickt, sich aber sogleich wieder dem Blatt zugewandt. Die Frau in der Mitte auf dem erhöhten, reich mit Schnitzwerk und Gold verzierten Armsessel mußte Ehrwürden Gunelde ter Bersker sein - eine hochgewachsene Endvierzigerin mit kurzgeschnittenem braunen Haar und schmalen grauen Augen. Zu ihrer Rechten saß ein blasser blonder Priester in Yasindes Alter, Mitte oder Ende der Zwanzig, wie Thalionmel schätzte. Für einen Rondra-Krieger war er recht schmal gebaut, ging es dem Mädchen durch den Sinn. Thalionmel hatte sich beim Betreten des Zimmers soldatisch knapp verneigt, nun stand sie in Hab-AchtStellung etwa drei Schritt vor ihren Prüfern, den Brustkorb vorgestreckt und die Hände an die Schenkel gelegt, und harrte mit wild klopfendem Herzen der ersten Frage. Die Tempelvorsteherin und der blonde Geweihte musterten das Mädchen aufmerksam, und nun legte auch ihre Gnaden Yasinde Feder und Pergament zur Seite und blickte Thalionmel forschend an. »Du bist Thalionmel von Brelak?« fragte die Hochgeweihte nach einer Weile. 183
»Jawohl, Euer Ehrwürden«, antwortete das Mädchen mit leicht belegter Stimme. Sie fixierte einen Punkt zwischen den Brauen der Priesterin, so daß sie ihr nicht in die strengen grauen Augen blicken mußte und es dennoch so aussah, als täte sie es. »Wie alt bist du, Kind?« »Vor siebzehn Praiosläufen bin ich elf geworden, Euer Ehrwürden.« »Das ist jung für die Prüfung«, sagte die Priesterin halb zu sich selbst, »und du mußt nicht bei jeder Antwort Euer Ehrwürden sagen.« »Jawohl, Euer Ehrwürden.« Thalionmel biß sich auf die Lippe, als sie aus dem Augenwinkel sah, wie sich Yasindes Lippen zu einem Lächeln verzogen. Die ersten Fragen waren sehr leicht. Sie betrafen das rechte Benehmen im Tempel, die Worte, mit denen man die Göttin anruft, und die korrekte Anrede der Priester. Anschließend hieß Ehrwürden Gunelde Thalionmel aus ihrem bisherigen Leben zu erzählen. Sie wollte die seltsamsten Dinge wissen, ob es ein Bächlein in Brelak gebe, wie viele Personen auf dem Gut lebten und welche Feldfrüchte der Vater anbaute. Zwar hörte sie geduldig zu, als Thalionmel erzählte, daß sie mit drei Jahren zum erstenmal ein Schwert in der Hand gehalten und kurz darauf begonnen habe, das Reiten zu erlernen, aber es schien sie nicht sonderlich zu interessieren. Auch stellte sie kaum Fragen nach Thalionmels schulischen Leistungen, erkundigte sich aber sehr genau nach der Ziehschwester und dem früheren und jetzigen Verhältnis der Mädchen zueinander. 184
Allmählich begann Thalionmel sich zu fragen, wann wohl die Prüfung begänne. Sie schätzte, daß inzwischen eine halbe Stunde verstrichen sein mochte. Länger waren Cassim und Silvana nicht geprüft worden. Wahrscheinlich werde ich deshalb gründlicher befragt, weil ich die Jüngste bin, ging es ihr durch den Kopf. Wenn Ehrwürden mich als nächstes in Kirchengeschichte prüft und Fragen zum Theaterorden stellt, dann bin ich verloren - ich habe versäumt, mich darauf vorzubereiten. »Wen haßt du am meisten?« unterbrach die Stimme der Tempelvorsteherin Thalionmels Gedanken. Die Frage kam so unvermittelt, daß das Mädchen um ein Haar »Quendan« geantwortet hätte. Quendan war ein Mitzögling, dreizehn Jahre alt und so unreinlich, daß es eine Plage war, den waffenlosen Kampf mit ihm zu üben. Aber immer wieder richtete er es so ein, daß Thalionmel beim Ringen und beim Boxen seine Partnerin war. Quendan hatte Pickel auf Brust und Schultern, und mehr als einmal, wenn die beiden sich beim Ringkampf eng umklammert am Boden wälzten, hatte der eitrige Inhalt sich auf Thalionmels Hände und Arme entleert. Es verleidete ihr jede Freude am waffenlosen Kampf und hatte dazu geführt, daß ihre Leistungen in diesem Fach unter dem Durchschnitt lagen. Und der Bursche kräuselte sich das Haar mit Zuckerwasser - eine Gewohnheit, die dem Mädchen fast noch widriger war als die Eiterpickel. Quendan hatte Thalionmel während des letzten halben Jahres ein paar schwülstige Liebesbriefe geschrieben, die 185
sämtlich darauf hinausgelaufen waren, daß er den Reichtum seiner Eltern und die eigenen Vorzüge pries. Ja, Quendan war der abscheulichste Mensch, den Thalionmel kannte, und sie haßte ihn von ganzem Herzen. »Den Namenlosen«, antwortete sie statt dessen. Es war ihre erste Lüge bei der Prüfung. Sie kannte den Namenlosen nicht und wußte nicht, wie man einen Unbekannten hassen konnte, aber da jeder ihn haßte und fürchtete, nahm sie an, daß es die Antwort sei, die Ehrwürden Gunelde hören wollte. Die Hochgeweihte lächelte zum erstenmal. »Das ist recht, Thalionmel«, sagte sie. »Den Namenlosen muß man hassen. Und nun kannst du gehen.« Thalionmel stand wie vom Donner gerührt. Durchgefallen! Es dauerte ein paar Wimpernschläge, bis sie es begriffen hatte, doch dann begannen ihre Lippen zu beben. Das Mädchen verneigte sich vor den Prüfern und wandte sich zum Gehen. Nicht weinen, befahl sie sich, bloß nicht weinen! Als sie die Tür fast erreicht hatte, vernahm sie hinter sich die Stimme der hohen Priesterin. »Folge dem Gang nach links, bis du einen leeren Raum erreichst. Dort wird Ritter Odil dir die Nadel einhändigen und dich durch den Seiteneingang in den Tempel lassen. Rondra sei mit dir, Kind.« Das Mädchen legte den Weg zu dem bezeichneten Zimmer zurück wie im Traum. Eben noch glaubte sie sich wegen der einzigen und sogleich entdeckten Lüge durchgefallen, und nun schien es, als habe sie bestanden und solle in wenigen Augenblicken die Göttin 186
schauen. Es geht nicht, ich bin nicht bereit, dachte sie. Seit Jahren hatte sie sich danach gesehnt, den Tempel des Sieges von innen zu sehen, und nun fühlte sie eine Beklommenheit, die fast Furcht glich. Ehrwürden Gunelde hat meine Lüge nicht erkannt, die Göttin jedoch kann man nicht betrügen. »Herrin Rondra«, begann sie zu beten, »von nun an will ich meinen Haß gegen Quendan überwinden, es sei denn, er fordere mich heraus, auf daß ich ihn in Deinem Namen strafen kann, und den Namenlosen hassen über alles Maß, auf daß aus der Lüge Wahrheit werde. So sei es.« Sie hatte den seitlichen Tempelvorraum erreicht. Seine Gnaden Odil lächelte sie an, und obwohl seine schwarzen Augen forschend auf ihr ruhten, wirkte er viel weniger streng und abweisend als noch vor einer halben Stunde. »Rondra zum Gruße, Euer Gnaden.« Thalionmel verneigte sich leicht, und der Geweihte erwiderte den Gruß. Dann steckte er ihr die silbern blinkende Löwinnennadel an das blaue Wollhemd der Garnisonszöglinge. Zu gern hätte das Mädchen die Nadel in die Hand genommen und in Ruhe betrachtet, aber sie fand es unpassend, in diesem Augenblick darum zu bitten, und so warf sie nur einen verstohlenen Blick auf das neue Abzeichen an ihrem Gewand. »Thalionmel von Brelak, durch diese Tür wirst du den Tempel nur dies eine Mal betreten«, sagte Ritter Odil und wies auf eine mit schwerem blauen Tuch verhängte Öffnung, »es sei denn, du entschließt dich, dem Orden beizutreten.« Wieder lächelte sein Mund und 187
milderte den Ernst des durchdringenden Blicks. »Die seitliche Tür ist der Geweihtenschaft vorbehalten, und wenn du in Zukunft den Tempel betrittst oder verläßt, wirst du das Haupttor benutzen. Du hast in der Prüfung bewiesen, daß du bereit bist, das Haus unserer Herrin zu betreten, also fürchte dich nicht, es zu tun, denn Frau Rondra erwartet dich. Sie selbst aber mußt du nicht nur lieben und verehren, sondern fürchten allezeit und trachten, niemals ihren Zorn zu erregen, denn der göttliche Grimm ist gewaltiger, als der menschliche Geist zu erfassen vermag.« Zwar hatte Thalionmel diese und ähnliche Worte schon oft gehört und gelesen, aber nun schien es ihr, als begreife sie zum erstenmal, daß der Götter Sinnen und Wirken in Wahrheit unbegreiflich sei. Die Erkenntnis, daß nie ein Sterblicher das Wesen der Gottheit würde erfassen können, weder sie selbst noch Ehrwürden Gunelde oder, das Schwert der Schwerter im fernen Perricum, und daß selbst der vollkommenste RondraKrieger nie mehr von der Herrin würde verstehen können als den Rand des Nagels des kleinen Zehs, erregte sie auf sonderbare Weise. Sie spürte, wie die winzigen Härchen am Körper sich aufrichteten, und je mehr sie es taten, um so mehr fiel die Beklommenheit von ihr ab. »Ich bin bereit, Euer Gnaden«, sagte sie mit einer Stimme, die ihr selber fremd war. Der Priester zog den Vorhang zur Seite. »Willkommen im Haus der Herrin«, sprach er, »Rondra sei mit dir, Thalionmel von Brelak.« 188
Das erste, was Thalionmel auffiel, als sie die Augen öffnete, die sie beim Betreten des Tempels geschlossen hatte, war die Helligkeit des gewaltigen Raums. Sie hatte erwartet, eine ähnlich dämmrige Beleuchtung vorzufinden, wie sie stets im Speisesaal der Garnisonsschule herrschte, wo auch bei Tage Kerzen angezündet wurden, damit Lehrer und Zöglinge die Speisen auf den Tellern erkennen konnten. Hier in Rondras Halle des Sieges erfüllten unzählige Fackeln in Halterungen längs der Wände und an den Pfeilern, die das Dach des Tempels stützten, alles mit Licht, wie es gleißender kaum im Haus des erhabenen Herrn Praios sein konnte, dachte das Mädchen. Das Licht der Fackeln wurde widergespiegelt und vervielfacht von den blinkenden Waffen, Schilden und Helmen, mit denen die Wände des Tempels geschmückt waren. Wer mag die vielen hundert Waffen putzen und am Blinken halten? Ob es die Aufgabe der Novizen ist, die ja auch RondraKnappen heißen? fragte sich das Mädchen und empfand den Gedanken sogleich als unpassend. Denn ihr Blick ruhte inzwischen dort, wohin alle Augen im Saal gerichtet waren. Das Standbild der Göttin stand in der Mitte des Tempels, genau unter der gewaltigen Kuppel im Tempeldach. Wieviel Schritt sie in Höhe und Breite messen mochte, hätte Thalionmel nicht sagen können, und auch nicht, wie lang, hoch oder breit der Tempel selbst war. Sie wußte nur, daß es der größte und höchste Saal war, den sie je gesehen hatte. Und auch das Standbild übertraf an Größe alle Erwartungen. Es war 189
aus einem hellen gelblichen Stein errichtet, vermutlich Marmor, und wies keinerlei Verzierungen durch Farbe oder Goldlack auf, wie Thalionmel verblüfft feststellte. Denn obwohl die Farbe des Lebendigen auf dem Bildwerk fehlte, war es dem Mädchen beim ersten Blick auf das Abbild der Göttin so erschienen, als bewege es sich ein wenig. Thalionmel hatte sich bisher nicht von der Stelle gerührt. Sie stand noch immer dort, wo sie zuerst die Augen geöffnet hatte, ein oder zwei Schritt hinter der Tür, die zum Wohn- und Studienhaus der Geweihten führte. Auch jetzt regte sie sich nicht. Sie ließ nur den Blick über das Standbild wandern. Die Göttin zeigte dem Mädchen das Profil, da die Vorderseite des Standbilds dem Haupttor des Tempels zugewandt war. Thalionmels Augen befanden sich, wenn sie genau nach vorn schaute, auf gleicher Höhe mit dem unteren Rand der Zierleiste, mit der die obere Kante des Sockels geschmückt war. Um den Fuß der Göttin zu sehen, mußte sie den Blick schon ein klein wenig heben. Es war der rechte Fuß, und er steckte in einer leichten Sandale, die die Zehen unbedeckt ließ. Der trotz seiner Größe sehr wohlgeformte kleine Zeh war Thalionmel am nächsten. Der Rand des Nagels des kleinen Zehs, ging es ihr durch den Kopf, aber sie wußte mit der seltsamen Reihung von Wörtern nichts anzufangen. Die Göttin war in ein ärmelloses, reich gefälteltes Gewand gehüllt, das auf der dem Mädchen zugewandten Seite bis fast auf den Boden fiel. Thalionmel war 190
überrascht, daß sie außer dem Schwert, auf dessen Knauf die rechte Hand ruhte, und dem geflügelten Helm keinerlei Zeichen ihrer kriegerischen Würde trug. Das Mädchen hatte das Standbild schon eine Weile betrachtet, als sie erkannte, woher der Eindruck rührte, daß die Falten des Gewandes sich bisweilen regten, wie vom Atem der Göttin oder einem leisen Lufthauch bewegt. Es lag an der Vielzahl von Lichtquellen, die das Bildwerk beschienen, denn zu den Fackeln und Kerzen im Tempel gesellte sich das fahle Licht des kühlen Tsamorgens, das sich durch eine Arkade von Bogenfenstern in der Kuppel blaßbläulich auf Haupt und Schultern der Göttin ergoß. Und immer, wenn eine Wolke vorüberzog, eine Fackel schwelend erlosch oder im Luftzug zu flackern begann, schien es, als wehe der Faltenwurf, als spanne die Göttin die Muskeln des Armes an oder runzle die eine sichtbare Braue. Aber auch der tote Stein selbst wirkte wie belebt, und Thalionmel fragte sich, ob es von seiner Farbe herrührte, die dem Hautton eines hellen Tulamiden glich, oder von seiner Oberfläche. Denn dort, wo der Marmor das Gewand der Göttin nachahmte, war er matt und glatt wie frisches Linnen, dort hingegen, wo er ihre Haut darstellte, war er poliert, daß er wächsern schimmerte. Schließlich faßte sich das Mädchen ein Herz und begann zögernd das Standbild zu umrunden, ohne den Abstand zu ihm zu verringern. Um diese Stunde des Tages - die zehnte mochte eben angebrochen sein 191
weilten nicht allzu viele Gläubige im Tempel. Zwei Dutzend Frauen und Männer mochten es sein. Fast alle trugen sichtbar und stolz die Zeichen des kriegerischen Standes. Thalionmel schämte sich ihrer schlichten Zöglingskleidung und ihrer Jugend, denn sie war das einzige Kind im Tempel. Zwar bemerkte sie bei dem Gang durch den Tempel einen jungen Novizen, der die niedergebrannten Talglichter und verloschenen Fackeln durch frische ersetzte, aber der Junge war gewiß schon vierzehn, und er trug ein Schwert am Gürtel und ein goldenes Weiheband um die Stirn. Keiner beachtete das Mädchen, das sich fast lautlos den Gläubigen näherte, die im Halbkreis vor dem Standbild knieten oder standen. Die meisten waren in stumme Zwiesprache mit der Göttin vertieft, aber einige der Männer und Frauen murmelten die Worte der Gebete so laut, daß Thalionmel sie im Vorübergehen verstehen konnte. Etwas abseits von den übrigen stand eine dürre, hochgewachsene Greisin in abgewetztem Waffenrock, die mit brüchiger Stimme, die Augen geschlossen und die Hände zur Decke erhobenen, den Choral »Heil dir, Löwin« der Göttin darbrachte. Als Thalionmel einen Punkt auf der Linie zwischen Haupttor und Standbild erreicht hatte, etwa sieben Schritt von ihm entfernt, ließ sie sich auf das linke Knie nieder. Sie legte den Kopf in den Nacken und suchte den Blick der Göttin, aber diese schaute in unbekannte Fernen. »Herrin Rondra, durchdringe mich«, begann sie unhörbar zu beten. Erst jetzt gewahrte das Mädchen, daß die Göttin über ihrem faltenreichen Gewand einen 192
Harnisch trug, wie sie noch nie einen gesehen hatte. Er umhüllte Schultern und Brust wie ein Kragen und endete in einem vollkommenen Doppelbogen wenig unterhalb der hohen Brüste. Ein feines Schuppenmuster war in den Stein gemeißelt, und die Schließe war wie der Kopf einer Löwin geformt. Frei und majestätisch erhob sich der kräftige Hals aus dem Kragenpanzer. Die Göttin trug das Haar, das sich in gleichförmigen Wellen an den Rand des Helms schmiegte, zu Nackenflechten gewunden, so daß beim Blick von vorn keine Strähne oder Locke das säulengleiche Ebenmaß des göttlichen Halses störte. Das Kinn und die ganz leicht geöffneten Lippen waren recht weich und voll, wie Thalionmel fand, aber da sie beobachtet hatte, daß bei besonders starken Menschen die Muskeln gern mit einer Schicht aus Fett gepolstert waren, schrieb sie diese Üppigkeit der göttlichen Kraft zu. Und die fast geraden Brauen vertrieben den Eindruck von Weichheit, den Kinn und Mund hervorrufen mochten. Die Göttin hatte die Linke in die Seite gestemmt, und ihr linkes Bein schob sich unbekleidet und spielerisch angewinkelt zwischen den Gewandfalten hervor. »Rotes Blut, heiliges Blut, Blut, wasche rein - so sei es«, murmelte Thalionmel, und plötzlich bemerkte sie mit Schreck und Scham, daß sie die Worte des Gebets hergesagt hatte, ohne mit Herz und Verstand bei der Sache zu sein. Sie senkte den Kopf, schloß die Augen und versuchte es noch einmal mit ihren eigenen Worten. »Herrin Rondra, unfaßbare Himmelskriegerin, 193
vergib mir meine Verfehlungen und laß mich zu deiner würdigen Dienerin reifen«, flehte sie. Lange kniete Thalionmel vor dem Standbild. Sie bemühte sich, nichts zu denken, nichts zu hoffen und nichts zu fühlen, auch nicht den dumpfen Schmerz im Knie, der allmählich wohliger Taubheit wich, auf daß der göttliche Geist in sie eindringen und Leib und Seele füllen könne wie ein leeres Gefäß. Plötzlich berührte etwas ihre Schulter, und wonniger Schrecken durchzuckte das Mädchen. Als sie die Augen öffnete, sah sie schräg vor sich die Greisin - ihr Waffenrock hatte Thalionmels Schulter gestreift. Die Alte blickte das Mädchen mit ihren schwarzen Augen unverwandt an. Weiß und wirr loderten die Haare um das dunkle Gesicht, das Thalionmel bekannt vorkam. Während sie noch überlegte, woher sie die Frau kennen mochte, nickte diese kurz zum Gruße, wandte sich ab und verließ den Tempel. Da erhob sich Thalionmel und begann mit langsamen Schritten den Tempel zu durchmessen. Jetzt erst getraute sie sich, den Waffenschmuck an den Wänden zu betrachten und das Innere der Halle aus verschiedenen Blickwinkeln auf sich wirken zu lassen. Zum Schluß trat sie ganz dicht an das Standbild, denn sie hatte bemerkt, daß der Sockel der Statue mit Reliefs geschmückt war, die sie aus der Nähe sehen wollte. Die Vorderfront zeigte eine brüllende Löwin, das Sinnbild der Göttin, und die Seiten waren mit Schlachtenbildern verziert. Auf dem linken sah man ein Heer mutiger Kriegerinnen und Krieger im Kampf gegen eine 194
Übermacht riesiger Gestalten, und Thalionmel vermutete, daß die Schlacht bei den Trollzacken dargestellt sei. Auf dem rechten waren vier göttliche Wesen dargestellt - die Herren Praios, Efferd und Ingerimm sowie Frau Rondra -, die über ein Meer verschlungener menschlicher und unmenschlicher Leiber schwebten; das mußte die Schlacht von Brig-Lo sein. Das Bild auf der Rückseite war schwer zu deuten. Es zeigte über aufgewühlten Meereswogen zuckende Blitze und wild jagende Wolken. In den Formen der Wellen und Wolken glaubte das Mädchen zwei ringende Leiber zu erkennen, aber sie war sich nicht sicher, ob es nicht eine Augentäuschung war. Manchmal sah sie sie ganz deutlich, doch gleich darauf waren sie wieder verschwunden. Vielleicht sollte auf dem steinernen Bildwerk das Wirken und Wüten der göttlichen Kriegerin veranschaulicht werden, dachte das Mädchen, vielleicht aber auch die Hochzeit der Herrin mit Efferd, dem Herrscher über die Meere. Sie nahm sich vor, bei Gelegenheit Rittfrau Yasinde danach zu fragen. Als Thalionmel den Tempel verließ, war die elfte Stunde schon halb vorüber. Das Mädchen war froh, daß ihr noch ein wenig Zeit blieb bis zum gemeinsamen Mittagsmahl in der Garnison, denn im Augenblick hätte sie die körperliche Nähe und das Getuschel ihrer Kameraden nur schwer ertragen. Sie fühlte sich seltsam leer, so als habe sie ein paar Tage gefastet und eine schlaflose Nacht verbracht - das letztere traf zu. Wenn Zulhamin doch hier wäre, dachte sie. Die Schwester war der einzige Mensch, nach dessen 195
Gesellschaft sich Thalionmel im Augenblick sehnte. Obwohl sie allein sein wollte, verspürte sie zugleich den Drang, einem vertrauten Menschen vom Erlebnis ihres ersten Tempelbesuchs zu erzählen. Zulhamin war immer noch ihre liebste Freundin. Zu keinem der Mitzöglinge war sie in sehr enge Beziehung getreten, und unter den Kameraden gab es niemanden, den sie als Freund oder Freundin bezeichnet hätte. Und genauso, wie sie keinen der Mitschüler liebte, wurde sie auch von niemandem geliebt. Denn Quendans Werben entsprang keiner Liebe, vermutlich nicht einmal Zuneigung, dachte das Mädchen. Wahrscheinlich verabscheute er sie genauso wie sie ihn, denn er mußte wissen, daß er sie quälte, indem er beständig ihre Nähe suchte. Quendan jedenfalls wäre der letzte Mensch auf dem gesamten Dererund, dem sie von der Prüfung und der Göttin erzählen würde - ihm nicht, nie und nimmer! Auf einmal fühlte das Mädchen sich unendlich traurig und so einsam wie der einsamste Mensch auf der Welt, und während sie ihre Schritte ziellos durch die Straßen lenkte, auf denen die Menschen geschäftig hin und her eilten, feilschten, lachten oder stritten, fühlte sie, wie die Trauer schwerer und schwerer auf ihrer Seele lastete. Sie blinzelte, um das unerwünschte Brennen hinter den Lidern zu vertreiben, und da entdeckte sie plötzlich Pagol. Was macht der kleine Pagol allein hier in Neetha? dachte Thalionmel überrascht und blinzelte noch einmal. Der Junge stand an die Kaimauer gelehnt und 196
schaute aufs Meer hinaus. Er war traurig, das sah das Mädchen sofort, obwohl sie nicht hätte sagen können, woran sie es erkannte. Vermutlich ist er mit seinen Eltern hier und hat sie verloren oder sich verlaufen, überlegte sie. Auch wenn der Sattlerssohn nie zu ihren Freunden oder Spielgefährten gezählt hatte - dazu war er zu jung -, freute sie sich doch, einen alten Bekannten zu treffen. »He, Pagol, was machst du denn hier?« rief sie, während sie auf ihn zulief. Der Junge beachtete sie nicht, er schien sie nicht gehört zu haben. Doch nun war sie bei ihm und faßte ihn bei der Schulter. »He, Pagol«, begann sie noch einmal, da drehte der Junge sich um. Es war nicht Pagol. Thalionmel hatte ihn noch nie gesehen. »Oh, Verzeihung«, sagte das Mädchen und spürte zu ihrem Ärger, daß sie errötete. »Ich habe dich verwechselt, ich dachte, du seist ein Junge, den ich früher kannte.« Von vorn sah der Bub Pagol überhaupt nicht ähnlich. Er war älter, zehn vielleicht, und sein blasses Gesicht mit der vorwitzigen Stupsnase war über und über mit Sommersprossen bedeckt. Als das Mädchen sich eben abwenden wollte, bemerkte sie die Striemen auf den nackten Schenkeln und Waden des Kindes frische rote und solche, die von früheren Züchtigungen stammten und sich ins Bläuliche oder Grüngelbe verfärbt hatten. Thalionmel wunderte sich, daß sie ihr nicht sofort aufgefallen waren. Der Junge fror in seinem zerschlissenen Hemdchen. Er zitterte ganz leicht, und seine mageren Arme und Beine waren mit einer 197
Gänsehaut überzogen. »Warum bist du geschlagen worden, Kleiner?« fragte sie, statt zu gehen. Der Junge sah sie mißtrauisch an, und einen Augenblick lang schien es, als wolle er fortlaufen. Ein Taschendieb, ging es Thalionmel durch den Kopf, und weil er noch so jung ist, haben sie ihn nur ausgepeitscht, statt ihm die Hand abzuhacken. Ihre Neugierde war geweckt. Einen echten Dieb hatte sie noch niemals kennengelernt. »Mir kannst du es ruhig erzählen, ich bin eine Kriegerin und kein Tratschmaul wie Quendan«, sagte sie aufmunternd. Ein wenig ehrfürchtiges Staunen hatte das Mädchen schon erwartet, um so überraschter war sie, daß der Junge verächtlich ins Wasser spie. »Du lügst«, erwiderte er. »Du bist gar keine Kriegerin, dazu bist du noch viel zu jung, und außerdem hast du kein Schwert.« Thalionmel fühlte Zorn in sich aufwallen. Der kleine Strolch wagte es, sie eine Lügnerin zu nennen! Sie funkelte ihn grimmig an, und die Hände ballten sich zu Fäusten. Du wagst es, mich eine Lügnerin zu nennen, wollte sie sagen, da bemerkte sie, daß er recht hatte. Sie war keine Kriegerin! »Noch bin ich keine Kriegerin«, erwiderte sie kühl, jedoch nicht ohne theatralisches Pathos, »aber bald werde ich eine sein, und dann hüte dich, mich noch einmal eine Lügnerin zu heißen.« Der Junge erwiderte nichts. Er maß das Mädchen von oben bis unten, dann schaute er aufs Meer hinaus. »Möchtest du auch manchmal fortsegeln, du... 198
Kriegerin?« sagte er nach einer Weile und wies auf einen Dreimaster am Horizont. »Dort wäre ich jetzt gern, als Schiffsjunge oder Küchenjunge.« Thalionmel überlegte. Irgendwann wollte sie gern die Welt kennenlernen, das stimmte, aber während ihrer Ausbildung würde das nicht möglich sein, und deshalb war ihr der Gedanke nie gekommen. »Ich weiß es nicht, ich habe noch nie darüber nachgedacht«, antwortete sie. »Außerdem muß ich erst mit der Schule fertig werden. Aber warum willst du denn fort? Sind sie hinter dir her?« Der Junge sah sie überrascht an. »Wer sollte hinter mir her sein?« fragte er. »Nun, die Büttel, oder die Leute, die du bestohlen hast. Erzähl doch mal, wie wird man Dieb, und wie lebt es sich bei euch.« Thalionmel hatte vergessen, daß sie das Bürschchen noch vor wenigen Augenblicken für sein ungebührliches Benehmen hatte strafen wollen, und so lächelte sie ihr Gegenüber freundlich an, in Erwartung einer spannenden Geschichte. Ein leibhaftiger Dieb stand vor ihr, kaum einen Schritt von ihr entfernt, vielleicht ein Mitglied der sagenumwobenen Diebesgilde, und nun würde dieser Dieb oder Diebeslehrling ihr sein gefahrvolles und abenteuerreiches Leben erzählen, dachte sie. Aber der Junge schwieg. Er schwieg so lange, daß Thalionmel schon dachte, er habe ihre Worte nicht verstanden, und wollte sie gerade wiederholen. »Wenn du nie genug zu essen hättest«, begann er leise, »und du gingst über den Basar und sähest beim Stand des 199
Bäckers ein Brötchen auf dem Boden liegen, würdest du es liegen lassen?« Ohne auf die Antwort des Mädchens zu warten, fuhr er fort. »Und wenn keins dort läge, würdest du nicht versuchen, im Vorübergehen den Berg aus Brötchen mit dem Ärmel zu streifen, damit eines hinabfiele?« Thalionmel runzelte ein wenig die Brauen und schaute angestrengt dem kleiner werdenden Dreimaster nach, während sie über die Frage nachdachte, die sich ihr bisher noch nie gestellt hatte. Doch der Bub kam ihr zuvor. Bevor sie etwas sagen konnte, antwortete er statt ihrer. »Nein, das würdest du nicht tun, denn du bist eine angehende Kriegerin, und Krieger sind ehrenhafte Leute.« In der Stimme des Jungen lag so viel Bitterkeit, daß Thalionmel ihn überrascht musterte, aber der Kleine war noch nicht fertig mit seiner Rede. Er ballte die Rechte zur Faust und hieb, während er weitersprach, wieder und wieder auf die Kaimauer, als könne er so das lästige Beben und Schlottern vertreiben. »Und außerdem gibt es in der Schule immer genug zu essen, weil reiche Leute ihre Kinder nicht auf eine Schule schicken, wo man sie hungern läßt.« Wir halten auch Exerzitien und Fastenübungen ab, wollte Thalionmel einwenden, aber sie kam nicht dazu. Der Junge schaute sie an, und eine Mischung aus Neugier, Haß und Bewunderung lag in seinem Blick. »Wenn ich so groß und so stark wäre wie du und auch auf die Kriegerschule gehen würde, dann würde ich dich jetzt verhauen, weil du mich beleidigt und einen Dieb genannt hast«, sagte er mit leicht bebender 200
Stimme. »Aber vielleicht auch nicht. Es wäre schade um dein schönes Gesicht.« Er drehte sich unvermittelt um und ging mit großen Schritten davon. »He, warte«, rief Thalionmel fast gegen ihre Absicht, und als der Junge stehenblieb und sie fragend anschaute, sprach sie Worte, die sie gar nicht hatte sagen wollen. »Ich entschuldige mich, daß ich dich verdächtigt habe, ein Dieb zu sein. Nimmst du meine Entschuldigung an?« Der Junge nickte, und Thalionmel reichte ihm die Hand. Doch nun wußten die beiden Kinder mit einemmal nicht, worüber sie reden und wie sie ein Gespräch beginnen sollten. Und so schlenderten sie eine Weile schweigend durch den Hafen. Als der Duft aus einer Fischbude Thalionmel in die Nase stach, merkte sie, wie hungrig sie war. Die Stunde des gemeinsamen Mittagsmahls war bereits angebrochen, und wenn sie sich beeilte, hätten die Kameraden noch nicht alles aufgegessen, und ihre Verspätung könne sie mit dem langen Aufenthalt im Tempel und einem anschließenden in Nachdenken versunkenen Spaziergang begründen. Jeder würde das verstehen. Als dem Mädchen diese Gedanken durch den Kopf gingen, spürte sie, wie Schamröte in ihre Wangen stieg, und sie sah aus dem Augenwinkel, daß der Junge es bemerkte und taktvoll den Kopf wandte. Was ist das nur für ein seltsamer kleiner Kerl, dachte sie ärgerlich und bewundernd zugleich, kann er meine unehrenhaften, unehrlichen und kleinherzigen Gedanken lesen? Wie ich einen Weg suche, sowohl meinen Magen zu füllen, 201
als auch einer Bestrafung für die Verspätung zu entgehen? Nein, wohl kaum, das kann er nicht, entschied sie, aber er hat meine Schwäche bemerkt und nicht zu seinem Vorteil genutzt. Die Schwäche des Gegners erkennen und nicht zum eigenen Vorteil nutzen, galt beim Kampf Ritter gegen Ritter als besonders ehrenhaft, da es die ritterlichen Tugenden der Milde und des Vergebens zum Ausdruck brachte. Thalionmel hatte diesen Satz schon so oft gehört, daß er ihr passend erschienen war, obwohl der Junge und sie weder Ritter noch Gegner waren und sie nicht zu sagen gewußt hätte, wie der Kleine die bei ihr entdeckte Schwäche des Errötens zu seinem Vorteil hätte nutzen können. »Hast du Hunger?« hörte das Mädchen sich plötzlich fragen. Der Junge nickte. »Ich habe immer Hunger«, stellte er sachlich fest. »Warum fragst du?« Aber das wußte Thalionmel nicht. Hatte sie gehofft, der Junge werde auf die Frage hin einen Leib Weißbrot und frischen Ziegenkäse aus seinem zerlöcherten Hemd holen und ihr davon anbieten? »Ich habe auch Hunger«, sagte sie. »Und wenn wir beide Hunger haben, sollten wir vielleicht etwas essen.« Sie schaute den Jungen fragend an, und dieser erwiderte ihren Blick nicht minder überrascht. »Heißt das, du hast Geld und kaufst uns etwas zu essen? Ich meine, dir und mir, also mir auch?« Geld! Schon wieder hatte das Mädchen allen Grund zu erröten, und wieder bemerkte sie voll Zorn, daß sie es tat. Geld! Wieso hatte sie nicht daran gedacht, daß 202
man für sein Essen bezahlen mußte? Weil es ihr Lebtag genug zu essen gab, und sie sich nie darum zu kümmern brauchte, es zu beschaffen? Wieso hatte sie zu diesem ausgehungerten Kind von Essen geredet? Weil sie zwar in ihrem Kopf wußte, daß es Hunger und Leid gab in der Welt, aber nicht im Herzen? Erwartungsvoll und hungrig schaute der Junge Thalionmel an. Er hatte den Mund ein wenig geöffnet, als erwarte er, daß jeden Augenblick ein Bissen herbeischweben werde. »Ich habe zwar ein wenig Geld, aber nicht hier. Es ist in der Schule«, stammelte das Mädchen. Ärgerlich dachte sie an die Silber- und Kupfermünzen in der Truhe in ihrem Spind. Zwar mußten alle Zöglinge, die über eigenes Geld verfügten, bei ihren Vorgesetzten sehr genau Rechenschaft ablegen über Höhe und Art der Ausgaben, aber gegen den Wunsch, nach dem Besuch des Tempels Almosen zu verteilen, hätte gewiß niemand einen Einwand erhoben. Der Mund des Jungen hatte sich bei Thalionmels Worten zu einem schmalen Strich geschlossen, der Blick seiner grünlich-braunen, von dunklen Schatten umgebenen Augen schwankte zwischen grenzenloser Enttäuschung und Haß. Fahrig betastete Thalionmel ihren Körper, wie um dem Jungen zu beweisen, daß sie wirklich kein Geld bei sich habe, oder in der unvernünftigen Hoffnung, gegen besseres Wissen doch eine versteckte Münze zu finden, da ertasteten ihre Finger etwas Hartes, Rundliches, und ehe sie recht wußte, was 203
sie tat, hatte sie den Knopf schon in der Hand. Zwar war die Zöglingskleidung der Garnisonsschüler von schlichtem Schnitt und einfachem blauen Tuch, ohne Schmuck oder Zierat, die Knöpfe an Hemden und Beinkleidern jedoch waren aus reinem Silber gegossen. »Das ist Silber«, sagte Thalionmel. »Dafür werden wir gewiß etwas zu essen bekommen, oder was meinst du?« Der Junge streckte die Hand nach dem Knopf aus, betrachte ihn ausgiebig, biß darauf und gab ihn dem Mädchen zurück. »Du willst deinen Silberknopf gegen Essen eintauschen?« fragte er ungläubig, »und was erzählst du in der Schule, wenn sie dich fragen, wo er geblieben ist?« Das fragte Thalionmel sich auch gerade, und da sie keine Antwort wußte, zuckte sie nur gleichmütig die Schultern und hob die geöffneten Hände. »Das solltest du dir aber genau überlegen«, begann der Junge, während er seine Schritte halb unbewußt zu der Fischbude lenkte, von der die verlockenden Düfte herüberwehten. »Vielleicht kannst du erzählen, im Straßengewühl habe jemand dich angerempelt, und hinterher sei der Knopf fortgewesen, oder du sagst...« »Was ich erzählen werde, solltest du meine Sorge sein lassen«, unterbrach ihn Thalionmel streng. »Aber ich glaube nicht, daß ich lügen werde.« Sie hatten den Fischstand fast erreicht, und der Junge erbat sich den Knopf und hieß Thalionmel in einiger Entfernung warten. Einen winzigen Moment lang 204
glaubte das Mädchen, der Kleine wolle sich mit seiner Beute davonmachen, aber da drehte er sich um und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Und dann erteilte er ihr eine Lektion im Feilschen. Die laute, gestenreiche Verhandlung mit dem Fischhändler, in deren Verlauf der silberne Knopf ein paarmal den Besitzer wechselte, endete damit, daß der Mann den Knopf in seinem Brustbeutel verschwinden ließ und darauf zwei riesige Fladenbrote nahm, sie vom Rand her in zwei Hälften teilte und jeweils eine davon dicht mit panierten und in Schmalz gebackenen Fischen belegte. Die andere klappte er wie einen Deckel auf die erste, dann gab er die Brote dem Jungen und drückte ihm noch etwas in die Hand, das der Kleine sofort in die Tasche der Beinkleider gleiten ließ. Der Bub mußte großen Hunger haben, denn noch während er, vorsichtig die Brote balancierend, damit nichts vom kostbaren Inhalt verlorenginge, auf Thalionmel zuschritt, konnte er sich nicht versagen, ein paarmal gierig in das obere zu beißen. Als er das Mädchen erreicht hatte, legte er ihr stumm das untere in die Hände, ohne das Kauen, Schlucken und erneute Abbeißen zu unterbrechen. Auch Thalionmel hatte großen Appetit und begann, das Brot mit Genuß zu verspeisen. Und so schlenderten die zwei Kinder schweigend und kauend durch die Hafengassen. Irgendwann fühlte das Mädchen sich vom Ellbogen des Jungen in die Seite gestoßen, und als sie ihn fragend anschaute, bedeutete er ihr, in seine Hosentasche zu greifen. Sie fand ein paar Kreuzer 205
darin - das Wechselgeld -, und als sie begriff, was es war, und daß er es ihr überlassen wollte, schob sie es beschämt in seine Tasche zurück. Und dann erzählte der Junge Thalionmel sein Leben. Folgendes erfuhr das Mädchen. Ihr junger Begleiter war seit einem halben Jahr bei einem Schreiber in der Lehre. Der Lehrherr war ein grausamer und geiziger Mann, der die wenigen Lehrlinge, die er hatte, bis zur Erschöpfung arbeiten ließ, aber nur unzureichend ernährte. Jede kleinste Unachtsamkeit, wie ein fehlerhaft geschriebenes Wort oder ein Tuscheklecks auf dem Pergament, aber auch die Bitte um etwas mehr Brot, bestrafte er brutal und unnachsichtig. Früher war sein Leben schöner gewesen, berichtete der Junge, als er noch klein war und die Mutter noch lebte. Der Vater war Tempeldiener im Praiostempel, und die Mutter hatte die Roben der Priester gewaschen und geflickt. Aber vor zwei Jahren war sie plötzlich krank geworden und gestorben. Danach war der Vater nicht mehr derselbe wie zuvor. Er vernachlässigte sein Äußeres, den Dienst und seinen Sohn und suchte Trost bei Boltan und Bier. Die wenigen Ersparnisse und geringen Habseligkeiten waren noch nicht gänzlich verspielt, als es zu der schicksalhaften Partie kam, die das Leben des Jungen so krass verändern sollte. Eines Abends begegnete der Vater in seiner Lieblingsschenke einem freundlichen und weltgewandten Tulamiden. Der Mann lud ihn zum Boltan ein, und zunächst schien 206
es so, als solle der Vater all sein verlorenes Geld in einer Nacht zurückgewinnen. Schon stand eine hübsche Anzahl sauber gestapelter Säulen aus Silber- und Kupfermünzen neben seinem Platz, als sich das Blatt wendete. Und nun wollte der Würfel nie mehr zum Vorteil des Vaters, sondern nur noch zum Vorteil des schönen dunklen Unbekannten rollen. Der Junge deutete an, daß er glaube, der Tulamide habe sich unrechtlicher Magie bedient. Und so schmolzen die herrlichen Säulen dahin, und ehe noch die Nacht vorüber war, hatte der Vater nicht nur alles Hab und Gut verloren, sondern dem Fremden auch einen Schuldschein in beträchtlicher Höhe unterschrieben. Das war vor einem halben Jahr gewesen. Wie es dem Vater gelang, die Spielschulden zu bezahlen, wußte der Junge nicht oder wollte es nicht erzählen. Thalionmel vermutete aber, daß es auf unehrenhafte und schändliche Weise geschah. Wie dem auch gewesen sein mochte, eines Morgens hatte der Vater dem Jungen erklärt, daß er für eine Weile auf Reisen gehen müsse, hatte ihn zu dem Schreiber gebracht und diesem ein paar Münzen als Lehrgeld in die Hand gedrückt. Da der Junge sich schon recht gut auf das Schreiben verstand, wähnte er sich in einer Schreibstube gut aufgehoben. Wie grausam er sich geirrt hatte, sah Thalionmel nur zu deutlich an den Züchtigungsmalen auf seinem Körper. Auch sie würde gezüchtigt werden für das unerlaubte Fernbleiben vom Dienst, ging ihr durch den Kopf, und je länger sie fortbliebe, um so 207
härter würde die Strafe sein. Aber sie wollte hören, was der Junge ihr weiter zu erzählen hatte, und auf seltsame Weise genoß sie seine Gegenwart. Gerade erzählte er ihr, daß er dem Meister gestern endgültig davongelaufen sei, und daß er sich überlegt habe, ob er nicht als Schiffsjunge auf einer der zahlreichen Koggen oder Schivonen anheuern solle, sich aber bisher nicht getraut habe zu fragen. Nun wisse er nicht, wohin und was tun, und ob sie ihm keinen Rat geben könne. Das Ansinnen kam recht überraschend und auch ein wenig ungelegen für Thalionmel, da sie gerade bemerkt hatte, daß sich der Gedanke an die bevorstehende Bestrafung nicht so einfach vertreiben ließ, wie sie gehofft hatte. Die Kinder saßen auf zwei leeren Bierfässern im zum Meer hin offenen Hof einer Brauerei. Niemand beachtete sie, und so ließen sie sich von den schon recht wärmenden Strahlen der Tsasonne bescheinen, baumelten mit den Beinen und blickten bewundernd oder sehnsuchtsvoll aufs blaugraue Meer mit seinem Schmuck aus weißen und bunten Segeln hinaus. »Ich finde, du solltest Schreiber werden, wenn du so gut schreiben kannst, wie du sagst«, begann Thalionmel schließlich. »Ich schreibe nicht besonders gut, aber das tut hier nichts zur Sache. Schiffsjunge ist wohl nicht der rechte Beruf für dich, denn dazu bist du, mit Verlaub, doch ein wenig zu klein und zu zierlich. Außerdem soll es, nach allem, was ich gehört habe, auf Schiffen noch weitaus rauher zugehen als bei dem grausamsten Lehrherrn. Aber ich rate dir nicht, zu deinem Meister 208
zurückzugehen. Er scheint ein schlechter Mensch zu sein.« Sie machte eine nachdenkliche Pause, und auch der Junge schwieg. »Warum gehst du nicht zur Praiosschule?« fragte sie schließlich. - »Zur Praiosschule?« der Junge sah sie verständnislos an. »Das kostet Schulgeld, weißt du das nicht?« »Wenn du dich als Novize meldest, dann nehmen sie dich auch so, und wenn du später...« Das Mädchen biß sich sogleich auf die Lippe, als sie merkte, daß sie im Begriff stand, dem Kleinen einen unehrlichen Handel vorzuschlagen. Doch der Junge schüttelte ohnehin unwillig den Kopf. »Es geht nicht, ich bin nicht berufen, und man kann sie nicht belügen. ›Die Pfaffen können dir in den Kopf schauen‹, hat mein Vater immer gesagt.« Thalionmel dachte nach. Sie sollte sich allmählich auf den Weg zurück zur Garnison machen. In der Garnisonsschule gab es in jedem Jahrgang ein paar Schüler, fiel ihr ein, deren Eltern keine Adligen oder reichen Bürger waren. Es waren die Kinder einfacher Handwerker und Bauern, und sie wurden aufgenommen, weil sie Talent und Willenskraft besaßen, sie mußten jedoch kein Schulgeld zahlen. »Bei uns gibt es Zöglinge, die so arm sind, daß sie kein Schulgeld bezahlen können, vielleicht gibt es das auch in der Praiosschule«, sagte sie zögernd. »Bei uns wird es gern gesehen, wenn diese Zöglinge nach Beendigung ihrer Ausbildung in die Garnison eintreten, und die meisten tun das auch - aber sie müssen es nicht.« Sie mach209
te eine kleine Pause, bevor sie fortfuhr. »Wenn du in der Praiosschule das Schreiberhandwerk lernst, auch Schönschrift, Schmuckleisten und das Umrißzeichnen von Tieren und Pflanzen, das jeder gute Schreiber beherrschen sollte, dann könntest du, wenn du fertig gelernt hast, deine Fähigkeiten in den Dienst des Tempels stellen und so den Geweihten und dem Herrn Praios für die erwiesene Gunst danken.« Der Junge trampelte heftig gegen das Faß, während er über die Worte des Mädchens nachdachte. »Du meinst, ich soll zur Tempelschule gehen und fragen, ob sie mich nehmen?« sagte er schließlich. »Aber sie werden mich erkennen. Sie wissen, daß ich Ettels Sohn bin.« »Wenn dein Vater etwas Unrechtes getan hat, so ist das nicht deine Schuld, und niemand wird dich dafür zur Rechenschaft ziehen«, erwiderte Thalionmel. »Erzähl den Priestern einfach dein Leben, so wie du es mir erzählt hast, und zeige ihnen eine Probe deiner Fertigkeiten.« »Du meinst jetzt? Sofort und auf der Stelle?« unterbrach sie der Junge. »Warum nicht?« sagte das Mädchen, »und wenn du dich allein nicht getraust, dann kann ich ja mitkommen.« Thalionmel bemerkte, daß sie gesprochen hatte, ohne zuvor nachzudenken. Sie mußte doch zur Garnison zurück! Die vierte Stunde war schon angebrochen, aber wenn sie pünktlich zum Exerzieren erschiene, würde die Bestrafung vielleicht nicht gar so heftig ausfallen. 210
Doch nun hatte sie dem Jungen versprochen, ihn zu begleiten, und nun mußte sie es auch tun. Sie wollte es auch, wurde ihr plötzlich klar, sie genoß dieses seltsame Abenteuer, die Freiheit und den Ungehorsam. »Ich kann für dich reden«, fuhr sie fort, »wahrscheinlich besser als du, denn ich bin von Stand und älter, und man sagt, daß ich wortgewandt sei.« Der Junge nickte. »Dann wollen wir zum Tempel gehen«, sagte er und ließ sich von dem Bierfaß gleiten. Und während die Kinder zum Praiostempel gingen, begann Thalionmel, dem Jungen aus ihrem Leben zu erzählen. Sie begann mit der Zukunft, mit den Stockhieben und dem Arrest, die sie erwarteten, gestand ihm ein, daß der Gedanke daran sie ganz beklommen mache, vermied es aber, das Wort Furcht zu gebrauchen. Dann sprach sie zu ihm von dem Gefühl der Einsamkeit, das sie befallen hatte, nachdem sie aus dem Tempel getreten war, erzählte ihm von ihrem ersten Besuch im Haus der Göttin, der so seltsam und enttäuschend verlaufen war, von der Prüfung, von der Lüge und von Quendan, und hielt erst inne, als sie den Basar unweit des Praiostempels erreicht hatten. Hier schlug Thalionmel vor, daß sie sich mit einer Erfrischung stärken sollten, bevor sie beim Tempel vorsprächen. Der Junge war sofort einverstanden. Er schien schon wieder Hunger zu haben, während das Mädchen nur etwas Zeit gewinnen wollte, um sich die Worte zurechtzulegen, mit denen sie ihren jungen Freund dem Geweihten anempfehlen würde. Sie zählten die Kreuzer, es waren wenige, doch das Bürschchen 211
verstand es wiederum so geschickt zu feilschen, daß der Imbiß aus Bier und Hirsefladen für beide Kinder reichte. Beim Tempel angekommen, übernahm Thalionmel die Führung. Diesmal war sie es, die die rechten Worte wußte und im rechten Augenblick ihren Namen nannte, und so dauerte es nicht lange, bis die Kinder vor dem zuständigen Geweihten standen. Mit klopfendem Herzen und fester Stimme trug Thalionmel ihr Anliegen vor und senkte nicht ein einziges Mal die Lider, obwohl der Blick des Priesters ihr noch strenger und durchdringender erschien als der von Ehrwürden Gunelde. »Eine so grausame und ungerechte Strafe kann nicht im Sinne des Herrn Praios sein«, beendete sie ihre Rede. »Darum bitte ich Euch, Euer Gnaden, Euch des Knaben anzunehmen und seiner Herkunft und dürftigen Kleider nicht zu achten.« Der Priester wiegte nachdenklich den Kopf. »Nein, meine Tochter, nach der Kleidung soll man einen Menschen gewiß nicht beurteilen«, sagte er schließlich. »Da hast du wohl recht. Dennoch rate ich dir, ein wenig mehr Augenmerk auf die deine zu legen - dir ist ein Knopf abhanden gekommen.« Er lächelte Thalionmel seltsam an, und das Mädchen errötete. »Nun komm, mein Sohn, folge mir«, wandte der Geweihte sich an den Jungen. »Wir werden dich prüfen und danach über deinen Antrag entscheiden. Du, meine Tochter, magst dich nun entfernen und deinen Geschäften nachgehen oder im Haus des erhabenen Götterfürsten für das Heil 212
deiner Seele beten.« Er bedeutete dem Jungen, ihm zu folgen und wandte sich zum Gehen. Der Knabe schien verwirrt - plötzlich war alles so schnell gegangen -, und er schaute Thalionmel ratlos an. »Viel Glück, Kleiner, und den Segen der Götter«, rief das Mädchen und hielt ihm lächelnd die Hand hin, damit er den Schlag mit ihr tausche. Aber der Junge verstand die Geste nicht. Da knuffte Thalionmel ihn freundschaftlich gegen die Schulter. »Leb wohl«, sagte sie mit etwas rauher Stimme. »Ich hoffe, wir werden uns irgendwann einmal wiedersehen.« Den Weg zur Garnison legte Thalionmel ohne Hast zurück, ja, ihre Schritte wurden schwerer und langsamer, je näher das dunkle Gebäude rückte. Sie war noch nicht sehr oft gezüchtigt worden - ein paarmal von der Mutter und erst ein einziges Mal während der neun Monate auf der Schule. Aber die Strafe, die sie erwartete, würde härter sein als alles, was sie kannte. Sie hatte Angst, große Angst sogar, und das Wissen um ihre Verfehlungen und die Einsicht, daß sie eine strenge Strafe verdient hatte, machten ihre Furcht nicht geringer. Es half auch nichts, daß sie sich sagte, die Züchtigung werde, kaum begonnen, auch schon vorüber sein, und die Tage im Karzer könne sie gut zur Einkehr und zum Nachdenken nutzen - die Angst blieb. Thalionmel nahm sich vor, Weibelin Birsel in allem die Wahrheit zu sagen und nichts zu beschönigen, nur 213
den fremden Jungen würde sie verschweigen. Denn sie wollte nicht den Anschein erwecken, als habe sie auch nur die geringste ihrer Verfehlungen aus Mildtätigkeit begangen. Seltsam, dachte das Mädchen, als sie die Tür zum Quartier der Weibelin erreicht hatte, ich habe den Jungen gar nicht nach seinem Namen gefragt und ihm auch den meinen nicht genannt... ob wir uns jemals wiedersehen werden? Dann klopfte sie an.
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A
n den Zögling Thalionmel von Brelak, Markgräfliche Garnison zu Neetha‹, stand auf dem Bogen mit dem erbrochenen Siegel. Das Mittagsmahl war eben vorüber, und Weibelin Birsel hatte Thalionmel zu sich gewunken, um ihr den Brief auszuhändigen. Als das Mädchen die Schrift der Mutter erkannte, tat ihr Herz vor Freude einen Sprung. Ein Brief von daheim! Sie strahlte, und wie immer in Momenten großer Freude, großer Wut oder großer Scham, färbte ein zartes Rot die helle Haut des Gesichts. Und als sie sich mit einer knappen Verbeugung bei der Vorgesetzten und Lehrerin bedankte und darauf wartete, entlassen zu werden, spürte sie, daß es ihr nicht gelingen wollte, die Züge vollkommen zu ordnen und ihnen den gewünschten ›soldatischen Ausdruck‹ zu verleihen. Doch Weibelin Birsel schien es nicht zu bemerken. Die gedrungene Mittvierzigerin gähnte herzhaft und winkte dabei dem Mädchen, sich zu entfernen. Nach einer weiteren Verbeugung verließ Thalionmel den Speisesaal und fing erst an zu rennen, 215
als die schwere Tür sich hinter ihr geschlossen hatte. Drei freie Stunden erwarteten sie - die Zeit zwischen dem Ende des Mittagsmahls und dem Beginn des nachmittäglichen Unterrichts, in der den Zöglingen gestattet war, sich auszuruhen oder stillen Beschäftigungen nachzugehen. Während Thalionmel durch den dunklen Gang eilte, stopfte sie das kostbare Pergament vorsichtig in den Ausschnitt des Hemds. Sie hatte Angst, es in der Aufregung zu zerdrücken, und außerdem, so fand sie, sollte ein Krieger außer seinen Waffen keine Gegenstände in den Händen halten. Ein Glückstag, dachte sie, erst kommt ein Brief von daheim, und nach der Mittagsruhe werden wir zum erstenmal mit dem Zweihänder fechten, und morgen ist schon wieder ein Glückstag! Denn morgen war der dritte Praiostag des Mondes, und an jedem ersten und dritten Praiostag hatte sie Ausgang, um ihre Schwester Zulhamin zu besuchen. Daß der Brief eine schlechte Nachricht enthalten könnte, kam dem Mädchen nicht einen Augenblick in den Sinn. Der Brief würde sein wie alle Schreiben der Mutter, die sie im Laufe ihrer sechzehn Monde währenden Schulzeit bekommen hatte. Grüße und Segenswünsche würde er enthalten, Ratschläge und Mahnungen in geistlichen, weltlichen und schulischen Belangen, die neuesten Nachrichten aus Brelak, und nach dem Abschiedsgruß würde noch ein kurzes heiteres Nachwort des Vaters folgen, der den mütterlichen Worten ein wenig von ihrer Strenge nahm. 216
Als Thalionmel das Ende des Ganges erreicht hatte, von dem eine nur wenige Stufen zählende Treppe zum Ausgang des Gebäudes führte, sah sie sich mit vom Laufen, vor Freude und Aufregung klopfendem Herzen nach allen Seiten um. Was sie vorhatte, war zwar nicht verboten, aber gewiß auch nicht erlaubt, und auf keinen Fall wollte sie dabei beobachtet werden, daß sie nun ihre Schritte statt zum Ausgang und von dort zum Wohnhaus der Zöglinge zu lenken die enge dunkle Wendeltreppe zu erklimmen begann, die zum Dach des Hauses führte. Auf dem Dachboden hatte Thalionmel ihr geheimes Plätzchen, das sie immer dann aufsuchte, wenn sie ungestört sein wollte und sicher vor neugierigen Fragen und Blicken. Sie vermißte den Weiher in Brelak und das Versteck im Schilf, das außer ihr nur die Schwester kannte, und während sie nun die hohen, trotz ihres Alters nur wenig ausgetretenen Stufen erklomm, spürte sie, wie mit jedem Schritt das Heimweh wuchs. Aber ich freue mich doch sosehr über den Brief, dachte sie, wie kann ich da zugleich traurig sein? Sie hielt einen Moment inne um nachzudenken. Nein, entschied sie dann, traurig bin ich nicht. Sehnsucht und Kummer sind nicht dasselbe, auch wenn man bei beidem dieses seltsam heiße Gefühl hat im Sonnenpunkt und dieses Brennen hinter den Augen. Sie setzte ihren Weg fort. Nach wenigen Schritten wurde es heller, und nun wußte sie, daß sie bald das Fenster erreicht und drei Viertel der Strecke überwunden hatte. Das Fenster, kaum breiter als eine Schießscharte, 217
hatte wohl einzig die Aufgabe, die Treppe zu beleuchten - zu verteidigen gab es nichts mitten auf dem Garnisonsgelände. Thalionmel stemmte die Ellbogen auf den Sims und zog sich hoch, um durch die Öffnung zu schauen. Sie nieste, als ein Sonnenstrahl die Nase kitzelte. Jetzt, zur Zeit der allgemeinen Mittagsruhe, war es still auf dem Burghof. Auf dem fernen Wehrgang sah das Mädchen die schemenhaften Umrisse der patrouillierenden Wachen, vor dem Pferdestall saßen ein paar Soldaten und Knechte beim Würfelspiel, und in einem schattigen Winkel des Küchengartens waren ein paar Mädchen und Jungen damit beschäftigt, die Hühner für den morgigen Praiostag zu rupfen. Thalionmel hätte sich gern in die Fensteröffnung gesetzt, um den Brief zu lesen, aber das Fenster war zu schmal, um ein bequemes Sitzen zu erlauben. Nach einem letzten Rundblick stieg sie weiter, so hastig, wie die hohen Stufen und ihre Kräfte es zuließen, denn die Neugierde auf den Brief ließ sich nun kaum noch bezähmen. Der Raum unter dem Dach des Hauses war früher als Kornspeicher genutzt worden, doch schon vor Durenalds Zöglingszeit hatte man ein neues Magazin gebaut, und seitdem blieb der Boden ungenutzt. Nur die Reste einer alten Winde in der Giebelwand ließen die frühere Bestimmung ahnen. Die letzten Tage waren sehr heiß und windstill gewesen, und Thalionmel zögerte einen Augenblick, bevor sie die lose in den Angeln hängende Luke aufstieß. Als sie den Kopf durch die Öffnung steckte, nahm ihr die Hitze fast den Atem, und beinahe hätte sie dem Drang nachgegeben, sich ins küh218
le Treppenhaus zurückzuziehen. Kein Lufthauch regte sich, und es erschien dem Mädchen, als sei die Wärme eine Wesenheit, stofflich gar, die an diesem Orte hause und mit jedem heißen Tag machtvoller, dichter und undurchdringlicher werde. Als sie ihr Plätzchen ansteuerte, waren ihre Schritte schwer und schleppend, als wate sie durch Wasser. Schon beim Betreten des Dachbodens hatte Thalionmel gespürt, wie sich die Haut augenblicklich mit klebriger Feuchtigkeit gegen die Attacke des Hitzedämons zu wehren versuchte, und jetzt, nur wenige Wimpernschläge später, hatten sich feine Rinnsale von Schweiß gebildet, die sich lästig kitzelnd ihren Weg nach unten suchten. Das Dach war in überraschend gutem Zustand. Dachbalken, Sparren, Stützpfeiler und Firstpfette aus schwerem Steineichenholz waren schwarz vor Alter, aber frei von Fäulnis, und von den hölzernen Schindeln fehlten nur wenige, aber genug, um den Raum zu erhellen und den Boden mit einem seltsamen Muster aus gelben Streifen und Flecken zu schmücken. Langsam und jede unnütze Bewegung vermeidend, ging Thalionmel zu ihrem geheimen Platz. Dort schob sie mit sicherem Griff vier lockere Schindeln zur Seite und ließ sich in dem Viereck aus Sonnenlicht auf den Dielen nieder, nicht ohne zuvor mit einem trägen Schaben des Fußes den Staub mehr aufzuwirbeln als zu entfernen. Die zusätzliche Öffnung im Dach nahm der Hitze jedoch nichts von ihrer lähmenden Kraft, und kein erfrischender Luftzug wollte sich durch das Loch stehlen, wie das Mädchen gehofft hatte. Einzig 219
die Stäubchen und eine grün-gelb gesprenkelte Spinne schienen der Macht des Hitzedämons zu trotzen - jene tanzten lustig im Sonnenschein, und diese war damit beschäftigt, mit flinken Bewegungen der acht schlanken Beine etwas in einen winzigen Kokon zu wickeln. Nachdem Thalionmel die Handflächen an den Beinkleidern getrocknet hatte, zog sie vorsichtig den Brief aus dem Hemd und streifte das Band ab, an dem die Reste des Siegels klebten. Bevor sie das Schriftstück entrollte, wischte sie sich mit dem Ärmel über die Stirn, damit kein Schweißtropfen es verunziere oder unleserlich mache. Es waren zwei engbeschriebene Bögen, wie sie erst jetzt überrascht bemerkte. ›Gut Brelak zu Brelak, den 14. Efferd Geliebte Tochter! Möge unsere Herrin Rondra stets bei Dir sein und Dich begleiten und lenken auf Deinem Wege‹, las Thalionmel. Sie hielt das Pergament dicht vor die Augen, denn das gleißende Licht und das seltsame Brennen in den Augen, das gewiß vom Schweiß herrührte, machten es ihr schwer, die kleinen Schriftzeichen zu erkennen, und sie blinzelte, während sie weiterlas. ›Wie geht es Dir, mein liebes Kind? Bist Du gesund an Leib und Seele? Dein lieber Vater und ich beten täglich um Dein Wohlergehen, denn nur selten läßt Du uns eine Nachricht zukommen. Reicht Dein Geld nicht, einen Boten zu bezahlen? Wenn dem so sein sollte, so laß es uns wissen, damit wir Dir in Zukunft ein wenig mehr übersenden. Doch lege Rechenschaft ab über Deine Ausgaben, denn Deine Ziehschwester Zulhamin erhält, 220
wie Du weißt, eine geringere Zuwendung an Silber als Du, und doch kann sie zweimal im Mond den Lohn für den Boten erübrigen.‹ Thalionmel spürte, wie die Schamröte ihre ohnehin schon heißen Wangen noch mehr zum Glühen brachte. Über einen Mond war es schon her, seit sie den lieben Eltern zum letztenmal geschrieben hatte! Sie dachte oft an daheim, und manchmal war die Sehnsucht so stark, daß sie fast körperlich schmerzte, aber selbst in solchen Augenblicken verspürte sie kein Verlangen, zum Schreibzeug zu greifen. Tinte und Feder waren ihre Feinde, die es sich niemals versagten, sie zu ärgern und zu foppen, und die Hand, die das Schwert so sicher führte, wollte nicht mehr recht gehorchen, sobald sie die Feder hielt. Doch das Mädchen hätte die Mühe des Schreibens gewiß häufiger auf sich genommen, um Mutter und Vater zu erfreuen, wenn nicht jedesmal beim Anblick des leeren Pergaments alle Gedanken aus dem Kopf entwichen wären und sie nicht mehr wußte, was sie schreiben sollte, obwohl sie es sich vorher zurechtgelegt hatte. ›Wenn Du Dein Geld, statt es dem Boten zu geben, lieber in den Tempel bringst‹, schrieb die Mutter weiter, ›so ist dies löblich, und wir wollen Dich gewiß nicht tadeln dafür, doch bedenke, daß der Göttin ein reines Herz und ein aufrechter Sinn weit wertvoller sind als blinkende Münzen.‹ Thalionmel fühlte sich ertappt. Woher wußte die Mutter nur, daß sie genau dies schon mehr als einmal getan hatte? ›Und auch beim Verteilen von Almosen 221
weiß ein Kind wie Du vielleicht nicht immer das rechte Maß zu finden. Frage getrost die Geweihten danach und folge ihrem Rat. Schon viel habe ich in diesen wenigen Zeilen über Geld geschrieben‹, fuhr die Mutter fort, ›und ich werde später wieder darauf zurückkommen, wenn auch in anderem Zusammenhang. Zuvor jedoch möchte ich nicht versäumen, Dich zu ermahnen, liebe Tochter, stets fleißig zu üben und allezeit den Gesetzen unserer Herrin und Deinen Lehrern und Vorgesetzten zu gehorchen. Habt Ihr schon begonnen, mit dem Zweihänder zu fechten? Dann wirst Du festgestellt haben, daß die Handhabung dieser Waffe weit schwieriger ist und eine viel längere Übung erfordert als die des Schwerts. Mein Kind, auch mir mußt Du gehorchen, und ich befehle Dir, mir binnen Halbmondesfrist einen genauen Bericht über den Fortgang Deiner Studien zukommen zu lassen!‹ Das werde ich ganz gewiß tun, liebe Mutter, dachte Thalionmel, gleich morgen werde ich schreiben, ich verspreche es. Dann las sie weiter. ›Bevor ich zum eigentlichen Anliegen meines Briefes komme, will ich Dir berichten, was sich seit meinem letzten Brief in Brelak zugetragen hat. Fasse Dich, liebe Tochter, denn gar traurige Nachricht muß ich Dir übermitteln. Susa Westfahr, Deine getreue Kinderfrau und die Deiner Schwester, ist vor drei Tagen zu Boron gefahren. Gestern haben wir sie begraben, und das ganze Dorf hat um sie geweint und ihre sterbliche Hülle zum Boronanger geleitet. Es war eine schöne Feier, und Dein Vater hat sehr wohl gesprochen und gebetet, 222
fast so, als wäre er ein Priester des gestrengen Herrn Boron. Sicherlich willst Du wissen, woran die gute Susa gestorben ist, denn es war nicht das Alter, da sie kaum mehr als fünfzig Götterläufe zählte. Die ungesunden und hitzigen Dämpfe aus der Khom-Wüste haben ihr ein Fieber gebracht, das ihr Blut vergiftete und ihre Lebenskraft aufzehrte, sagt der Medicus, den wir aus Neetha kommen ließen, und dessen Aderlässe und Tinkturen der Armen nicht mehr helfen konnten. Zu wild wütete das Fieber, und binnen Wochenfrist trennte sich ihre Seele vom Leib.‹ Thalionmel ließ das Pergament sinken und schaute durch die Öffnung im Dach in den blauen Efferdhimmel. Etwas Feuchtes rann über ihre Wange, und sie wußte nicht, ob es ein Schweißtropfen oder eine Träne war. Die gute Kinderfrau war tot, und sie würde sie niemals wiedersehen, so stand es geschrieben, und sie begriff die Worte, aber das Herz sträubte sich dagegen, sie zu verstehen. Vor vier Monden noch, beim letzten Besuch daheim, war Susa lebendig und munter gewesen und hatte ihr voller Stolz die neue blaue Schürze und die Haube mit den Bändern gezeigt, die der Vater ihr zum Tsafest geschenkt hatte, und wenn sie in zwei Monden, zum Tsafest des Vaters, wiederum nach Brelak käme, würde sie die Kammer der Kinderfrau verwaist vorfinden. Die Dinge würden noch dort sein, aber Susa würde fehlen. Wir alle müssen sterben, dachte sie, Susa, die Eltern, und auch ich und Zulhamin irgendwann, das ist der Wille der Götter. Wieder spürte sie die 223
Feuchtigkeit auf den Wangen und das Brennen in den Augen. Ich würde sie so gern noch einmal wiedersehen, ihre Stimme hören: »Kind, bist du gewachsen, du willst wohl eines Tages noch die Herrin überholen.« Das Mädchen ließ den Blick zum Netz der Spinne zwischen den Sparren wandern. Die Spinne war verschwunden - wahrscheinlich lauerte sie hinter dem Balken auf ein neues Opfer -, nur der Kokon hing reglos im Zentrum des zarten Gespinstes. Auch du wirst sterben, du schöne grüne Fallenstellerin, dachte Thalionmel trotzig, du weißt es nur nicht. Zögernd wandte sie sich wieder ihrer Lektüre zu. Sie kniff ein wenig die Augen zusammen, als sie weiterlas. ›Aber höre nur, was ich Dir weiterhin zu berichten habe. Denn es gibt nicht nur Schlimmes aus Deiner Heimat zu vermelden. Dein Vater und ich sind wohlauf, wofür wir den Zwölfen danken, und freuen uns unseres Daseins. Doch hat der Medicus Deinem Vater geraten, die schweren Speisen nur noch sehr maßvoll zu genießen, damit ihm der gelegentliche kurze Atem wieder länger werde. Ich werde mich in naher Zukunft nach einem neuen Fechtlehrer umsehen müssen, denn mein bisheriger Fechtmeister, Herr Gisbrecht, den Du kennst, hat auf seine alten Tage zum erstenmal von Rahjas Wein gekostet, und nun will er seiner Anverlobten, einer Kauffrau aus Pertakis, recht bald nach Norden folgen. Du siehst, mein Kind, nichts bleibt, wie es ist. Die Menschen kommen und verlassen uns wieder. Mich kommt die Suche nach einem neuen Lehrer recht sau224
er an, denn ich hatte mich im Lauf der vielen Jahre sehr an Herrn Gisbrecht gewöhnt. Doch will ich nicht auf einen Lehrer verzichten, es möchten sich sonst Fehler oder Ungenauigkeiten einschleichen in meinen Fechtstil, oder gar der Schlendrian. Was es Gutes über die Ernte zu vermelden gibt, wird Dir Dein Vater schreiben. Ich will mich nicht in seine Belange mengen und ihn des Vergnügens berauben, Dir einen heiteren Nachsatz voll guter Kunde zu senden. Drei Kinder sind zur Welt gekommen - bei Daskes ein Junge, und bei Lechdans ein Zwillingspärchen und Elgor ist von dem neuen Hengst getreten worden, aber es ist nichts Ernstes. Das waren die Nachrichten aus Brelak. Nun will ich zum eigentlichen Anliegen meines Schreibens kommen.‹ Der Bogen war zu Ende, und Thalionmel nahm den zweiten zur Hand. Er war noch viel kleiner und enger beschrieben als der erste, und sie mußte ihn dicht vor die Augen halten, um ihn lesen zu können. Für einen Augenblick war der Kummer über Susas Tod der Neugierde gewichen. ›Liebe Tochter‹, ging es weiter, ›entsinnst Du Dich des Namens Zordan Fuxfell? Dieser ist mein Halbbruder, der Bastard meines Vaters, Dein Oheim und vermutlich der Vater Deiner Ziehschwester. Du wirst Dich fragen, warum ich Dir die verzwickten verwandtschaftlichen Bande darlege, die uns mit Zordan Fuxfell verknüpfen, da Du Deinen Oheim nie von Angesicht sahst, der Dir einstmals die hübschen Holzfigürchen schenkte. 225
Nun, kürzlich machte mein Halbbruder Zordan Fuxfell Deinem Vater und mir die Aufwartung, nachdem wir mehr als elf Götterläufe nichts von ihm gehört hatten und ihn schon in Borons Armen wähnten. Doch ging es ihm weniger darum, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu pflegen, als daß sein Besuch pekuniäre Gründe hatte, auch wenn es ihm für ein Weilchen gelang, dieselben vor uns zu verschleiern. Doch schließlich halfen die vielen schönen Worte nicht mehr, und er mußte sich eröffnen. Da nun kam ans Licht, daß er ein Auge auf mein geringes Erbteil, das Fleckchen Land in Malur, geworfen hatte, aus dessen Gewinn, sollte er in Not geraten, ihm eine kleine Leibrente zu zahlen ich einstmals in meinem Herzen erwogen hatte. Kind, es fällt mir nicht leicht zu schreiben, was Du wissen mußt. Dein Oheim Fuxfell ist kein guter Mensch. Er ist ein Spieler und Herumtreiber, der die Entbehrungen des Kriegerhandwerks ebenso scheut wie die Mühen anderer göttergefälliger Arbeit. Zwar tätigt er Geschäfte überall in der Welt, von deren Natur ich nichts weiß noch wissen will, und der Gewinn könnte ihn wohl auch ernähren, doch verpraßt er alles und noch mehr beim Spiel und bei Vergnügungen, über die ich noch weniger wissen will als über seine Geschäfte. Du mußt wissen, daß er nicht nur das großzügige Erbe, das mein Vater ihm schon zu Lebzeiten auszahlte, binnen kürzester Frist vergeudete, auch ein kostbares Reitpferd, ebenfalls ein Geschenk meines Vaters, ritt er grausam zuschanden, und er leugnet gar, die fünfzig 226
Dukaten, die Dein Vater und ich ihm vor vielen Jahren schenkten, jemals erhalten zu haben. Die Erbitterung, die meines Halbbruders Gesinnung und Rede, so wohlgesetzt sie auch war, in uns entfachte, war groß, doch ist sie weder Grund noch Anlaß, Dir Schlechtes über ihn zu offenbaren. Liebe Tochter, der plötzliche Tod Susa Westfahrs lehrt uns, daß Boron einen jeden von uns zu jeder Zeit zu sich rufen mag, wenn es sein Wille ist, und auch zu Deinem lieben Vater oder mir kann er schon morgen Golgari schicken, oder im nächsten Mond oder zu einer anderen, nach menschlichem Maßstab unziemlichen Zeit, denn der Götter Ratschlüsse sind unergründlich. Darum haben Dein Vater und ich beschlossen, Vorsorge zu treffen für den Fall unseres Todes, mag er auch noch so fern sein. Und wir wollen es in Bälde schriftlich niederlegen und besiegeln, damit es keinen Zwist gibt und niemand unredliche Ansprüche erheben kann. Du, unsere leibliche Tochter, bist im Falle unseres Ablebens nicht nur die Hauptleidtragende, sondern auch die Haupterbin. Höre nun, was unser Wille ist im allgemeinen. Unseren Willen im besonderen hier darzulegen, würde den Rahmen dieses Schreibens sprengen. Zordan Fuxfell soll aus obengenannten und anderen Gründen keine Leibrente erhalten, noch sonst am beweglichen und unbeweglichen Erbe teilhaben. Deine Ziehschwester, die bisher den Namen ihrer Mutter, Plotz, trug, soll von nun an und hinfort Zulhamin von Brelak heißen. Nach unserem Tode 227
sollen die Ländereien in Malur an sie fallen, zuzüglich einer jährlichen Rente von sechzig Dukaten aus den Brelaker Einnahmen, die ihr ausgezahlt werden soll unabhängig davon, ob sie mit der Tanzkunst ihren Lebensunterhalt wird bestreiten können, so daß, wenn man das Erbe in fünf Teile teilt, drei davon an Dich fallen werden und zwei an Zulhamin. Dein Vater und ich räumen Dir, unserer Zweitgeborenen und unserem einzigen lebenden leiblichen Kind, ein, Einspruch gegen unseren Willen zu erheben, doch würde es uns betrüben und wäre auch den Zwölfen nicht wohlgefällig, wenn Du Dich hartherzig gegen Deine Schwester zeigen solltest.‹ Was unterstellst du mir, Mutter!? dachte Thalionmel fast empört. Ich hartherzig gegen Zulhamin? Sie ist doch meine Schwester und soll die Hälfte bekommen! - Die Hälfte? Die Hälfte von was? Vom Erbe, von Geld und Besitz, die ihr nach dem Tode der Eltern zufallen würden... Nein, nein, nein! Sie wollte nicht daran denken, an den Tod der Eltern nicht und auch nicht ans Erben. Sie wollte das Geld nicht haben, und es erschien ihr krank und widernatürlich, sich Gedanken über ein Vermögen zu machen, für dessen Besitz und Genuß der Tod der Eltern Voraussetzung war. Beklommen wandte sie sich wieder dem Brief zu, doch schien die das Erbe betreffende Passage beendet. ›Noch etwas über Zordan Fuxfell muß ich Dir sagen‹, ging es weiter. ›Mein Halbbruder wird sich die nächsten Monde oder Jahre im Süden des Reiches aufhalten, wie er sagte, und da wir nicht in sichtbarem 228
Zorn noch offener Fehde auseinandergingen, mag es sein, daß er wieder einmal, sollte sein Säckel leer sein, seine Schritte gen Brelak lenkt. Ich werde ihm nicht den Einlaß verwehren, denn er ist mein Bruder und einziger noch lebender naher Verwandter. Liebes Kind, es ist nicht unwahrscheinlich, daß Du Deinem Oheim einmal im Hause Deiner Eltern begegnen wirst. Laß Dich vor ihm warnen. Du könntest ihn anziehend finden, denn er ist ein schöner Mann und versteht es, sehr geschmeidig und artig zu reden.‹ Ein schöner Mann - pah! dachte Thalionmel. Wie sollte mir ein Pferdeschinder und Praiosdieb wohl gefallen? Und artige Reden sind mir überdies zuwider. Der Brief der Mutter war hier zu Ende. Nach dem Abschiedsgruß folgte die diesmal sehr kurze Nachschrift des Vaters. ›Meine über alles geliebte kleine Kriegerin! Laß Dich von Deinem alten Vater in die Arme schließen und Dich bitten, Deinen einsamen Eltern ein wenig häufiger zu schreiben. Die Zwölfe seien mit Dir, liebes Kind. Die gütige Frau Peraine hat uns in diesem Jahr wieder eine gute Kornernte beschert, und auch die Äpfel, Birnen, Quitten, Rüben und Praioskolben hängen beziehungsweise stehen gut und harren der baldigen Ernte. Der Medicus sagt, ich sei zu dick, nicht so direkt, aber darauf lief es hinaus, und nun muß ich fasten, doch weiß ich nicht, ob das den Frauen Travia und Peraine, der guten alten Titina und nicht zuletzt mir selbst viel Freude machen wird. Es grüßt Dich innig Dein Dich liebender Vater 229
Durenald von Brelak.‹ Das Mädchen ließ den Bogen sinken - es fühlte sich benommen. Die Hitze machte Thalionmel zu schaffen und auch der Brief mit den traurigen und seltsamen Neuigkeiten. Daß der Vater ein wenig zu rundlich war und in Zukunft die Freuden der Tafel meiden mußte, war noch die geringste Sorge, obwohl er ihr aufrichtig leid tat. Solange Thalionmel zurückdenken konnte, hatte der Vater an einem guten Mahl immer viel Vergnügen gefunden, viel mehr als sie selbst oder die Mutter. Sie schloß die Augen, und nun sah sie ihn ganz deutlich vor sich, wie er, das Weinglas in der Rechten und einen Gänseschenkel in der Linken, die Stirn glänzend vom Schweiß und mit vor Freude blitzenden Augen, Titinas Kochkunst lobte, die Göttin des Herdfeuers pries und die Mutter neckte, weil sie wieder, anstatt »hinzulangen wie ein Söldling, pickte wie ein Wippsterzchen«. Vielleicht würde er durch das Fasten mürrisch oder melancholisch werden. Nachdem Thalionmel den Brief ein zweites Mal gelesen hatte, weniger, um sich den Inhalt einzuprägen, als aus Anhänglichkeit und um die geistige Verbindung mit den Eltern ein wenig länger aufrechtzuerhalten, legte sie die Bögen aufeinander, strich sie sorgfältig glatt und faltete sie zweimal. Dann erhob sie sich, um ihre geheime Briefsammlung aus dem Versteck zu holen. Die Sammlung privater Dokumente in einer etwa fünfzehn mal zwanzig Finger messenden Mappe aus dunklem Wachstuch klemmte zwischen Sparren und 230
Latten, nur wenige Schritt vom Platz des Mädchens entfernt. Thalionmel mußte sich recken, um sie zu erreichen, und beim ersten Versuch glitten die feuchten Finger an dem glatten Wachstuch ab. Ungehalten wischte sie sich den brennenden Schweiß aus den Augen, rieb die Hände trocken und versuchte es abermals, zog nun jedoch so heftig, daß das Bändchen riß, mit dem das Päckchen verschlossen war, und ehe sie es verhindern konnte, verteilte sich der Inhalt auf dem staubigen Boden. Thalionmel stampfte mit dem Fuß auf, und fast hätte sie vor Zorn geweint. All die kostbaren Briefe, beschmutzt und besudelt! Eine Weile stand sie reglos da und beobachtete mit stummem Grimm, wie der aufgewirbelte Staub sich auf Boden und Pergamente senkte. Dann begann sie, blinzelnd und mit fest zusammengepreßten Lippen, die kleinen und großen Bögen einzusammeln. Es war eine lästige und schmutzige Arbeit, und als Thalionmel schließlich ihre Schätze vorsichtig ins Helle trug, spürte sie förmlich die eklige Schicht, zu der Schweiß und Staub auf allen unbedeckten Teilen ihres Körpers verschmolzen waren. Sie würde sich vor der Fechtstunde waschen müssen. Doch zunächst galt es, die Briefe zu ordnen, ohne sie mit den klebrig-schmutzigen Fingern noch weiter zu verderben. Sie überlegte mit gerunzelten Brauen und leicht zur Seite geneigtem Kopf, dann zog sie entschlossen das Hemd aus, drehte es auf die linke Seite und wischte sich mit dem feuchten Linnen über Gesicht und Hände. Ein Blick durch die Öffnung im Dach verriet ihr, daß 231
ihr bis zum Beginn des Unterrichts noch weit über eine Stunde blieb, und so machte sie sich aufmerksam, doch ohne Hast an die Arbeit. Es zeigte sich, daß der Schaden geringer war, als das Mädchen zunächst angenommen hatte. Die meisten Briefe stammten von der Hand der Mutter, mit wasserfester tulamidischer Tinte auf gutes Pergament geschrieben, und ließen sich mit Pusten und vorsichtigem Tupfen leicht in den nahezu ursprünglichen Zustand versetzen. Sechzehn Monde Vergangenheit stapelten sich vor Thalionmel, und hin und wieder mußte sie lächeln, wenn ihr Blick an einer vertrauten Zeile hängenblieb. Ich darf mich nicht festlesen! rief sie sich zur Ordnung, sonst werde ich nicht rechtzeitig fertig. Die Bögen in die rechte zeitliche Reihenfolge zu bringen, fiel ihr nicht schwer, da alle Briefe aus Brelak datiert waren. Als aus einem der mütterlichen Schreiben ein Billett fiel, mit ungeübter Hand mühsam und fehlerhaft beschrieben, krampfte sich ihr Herz vor Gram zusammen. Es war von Susa und lautete: ›Mein liebes Goltkind! Es ißt einsahm hier one dich und deine liebe Schwester. Die Zwölwe solen dich beschüzen! Deine Kinderfrau Susa Westfahr.‹ Thalionmel schloß die Mappe. Sie verknotete die Enden des zerrissenen Bändchens und band sie zur Schleife, doch statt sich zu erheben und das Päckchen an seinen Platz zu bringen, blieb sie sitzen und ließ den Blick gedankenverloren über den Boden schweifen. Da entdeckte sie nur wenige Schritt von ihrem Platz entfernt einen Brief, der ihr beim Einsammeln entgan232
gen war. An Format und Farbe sah sie, daß er nicht aus Brelak stammte, doch konnte sie auf die Entfernung die Schrift nicht erkennen. Er mußte wohl von Zulhamin sein, dachte sie verwundert, denn beim Sortieren hatte sie keinen der schwesterlichen Briefe vermißt. Seufzend stand sie auf und war froh, daß sie ihr Hemd noch nicht wieder angezogen hatte. Als sie den Bogen aufhob und dicht vor die Augen hielt, um Schrift und Schreiber zu bestimmen, stutzte sie zuerst, dann schüttelte sie lächelnd den Kopf, während die Erinnerung zurückkehrte. ›An das blonde Mädchen, das vielleicht Talimell von Brekla heißt‹, war er adressiert. Der Junge - Thalionmel hatte in all den Monden nicht mehr an ihn gedacht, doch nun entsann sie sich wieder des seltsamen Nachmittags im Tsa, sah das blasse, schmutzige, sommersprossige Gesicht deutlich vor sich und wunderte sich, wie sie den Kleinen so vollständig hatte vergessen können. Der Brief war sehr schön geschrieben, mit verzierten Buchstaben an jedem Zeilenanfang, und ihm hatte sie es zu verdanken gehabt, daß man sie schon nach einem Tag aus dem Karzer entlassen hatte, obwohl sie zu drei Tagen Arrest verurteilt worden war. Quendan, ihr alter Feind, hatte das Schreiben an Weibelin Birsel übergeben und Bericht erstattet über das, was der Junge ihm vor dem Tor des Garnisonsgebäudes aufgeregt und hastig erzählt hatte. Natürlich hatte die Körperstrafe nicht mehr rückgängig gemacht werden können, doch Thalionmel fand fünf Schläge mit dem Brabaker Rohr durchaus gerecht 233
und angemessen für unerlaubtes Fernbleiben und mutwilliges Beschädigen der Zöglingsuniform. So hatte sie es damals gesehen, als sie lautlos und mit zusammengebissenen Zähnen die Züchtigung ertragen hatte - nur beim letzten Hieb war es ihr nicht gelungen, ein leises Stöhnen zu unterdrücken, wie sie sich beschämt erinnerte -, und genauso sah sie es heute. Bevor das Mädchen den Brief zu den anderen in die Mappe legte, überflog sie noch einmal die Zeilen, die ihrem Gedächtnis so völlig entglitten waren. ›Verehrte Gönnerin‹, lautete die Anrede, und wieder schmunzelte sie, so wie damals, über die ungewöhnliche Wendung. Gönnerin - darauf konnte auch nur ein Schreiberlehrling verfallen. Nach dem üblichen Segenswunsch folgten die Mitteilung, daß der Junge die Prüfung bestanden und als Praiosschüler in den Tempel aufgenommen worden sei und eine wortreiche Danksagung für die erwiesene Hilfe. Der Brief schloß mit einem Kompliment Thalionmels Klugheit, Schönheit und Mut betreffend und einer Abschiedsfloskel. Die Unterschrift fehlte. Schon damals hatte Thalionmel sich gefragt, ob der Junge in der Eile vergessen hatte, den Brief zu unterzeichnen, oder ob er ihr seinen Namen verheimlichen wollte. Jetzt war sie sicher, daß letzteres zutraf, denn einem so geübten Schreiber, der nicht nur die Buchstaben sauber und zierlich zu zeichnen verstand, sondern auch die Worte geschickt und gefällig zu Sätzen fügte, wäre kein solcher Fehler unterlaufen. Auch Quendan wußte den Namen des Kleinen nicht, hatte ihn wohl auch nicht danach gefragt. Aber daß mit 234
Talimell von Brekla sie gemeint sein mußte, hatte er sofort begriffen. Der Junge hatte zu ihrem verstümmelten Namen offenbar eine ausgezeichnete Beschreibung ihres Äußeren und ihres Wesens geliefert. Ja, und dann war Quendan gleich zur Weibelin gelaufen, hatte ihr erzählt, was er wußte, und den Brief gezeigt. Kaum eine halbe Stunde später war Thalionmel vor Weibelin Birsel zitiert worden, die ihr mit grimmiger Miene das Schreiben überreicht und befohlen hatte, den Sinn desselben zu erklären. Das Mädchen hatte sich so sehr über den Brief gefreut - über den schnellen Dank und die schönen Worte weniger als darüber, daß der Junge nun seinem grausamen Lehrherrn oder einem Ungewissen Schicksal auf hoher See für immer entronnen war -, daß sie mit strahlender statt zerknirschter Miene und vor Erregung heller Stimme den Bericht des Vortages ergänzte. Nach der Ermahnung, zukünftig nichts auszulassen beim Berichterstatten, war sie entlassen worden. »Ihr hättet Euch und mir die Züchtigung ersparen können, Thalionmel von Brelak, wenn Ihr mir gleich die volle Wahrheit offenbart hättet«, hatte die Weibelin gesagt. »Doch so oder so - Eure Ehre ist wiederhergestellt, und nun mögt Ihr Euch entfernen.« Die letzten Worte der Vorgesetzten waren wie Balsam für die Seele des Mädchens gewesen, denn die ganze schlaflose Nacht über hatte sie sich Sorgen um ihre Ehre gemacht. Ja, ja, die Ehre, dachte Thalionmel seufzend, während sie das Pergament vorsichtig vom Schmutz befreite und zu den anderen in die Mappe legte, damit ist es 235
nicht so einfach bestellt. Niemals bin ich mir bei meinen Taten ganz sicher, ob sie wirklich ehrenhaft sind, und bei meinen Gedanken noch weniger. Sie merkte, daß die Hitze sie allmählich schläfrig machte, und die Gedanken genauso träge wurden wie ihre Bewegungen. Wenn sie noch länger auf dem Dachboden blieb, würde sie die erste Fechtstunde mit dem Zweihänder halb schlafend hinter sich bringen. Und so machte sie sich, nachdem sie das Päckchen sorgsam hinter dem Sparren verborgen hatte, an den Abstieg. Als Thalionmel die Fechthalle betrat, klebte das Haar noch feucht am Kopf. Sie war eine der ersten, nur Praiodane und Quendan warteten schon frisch gewaschen wie sie und mit geröteten Wangen auf den Beginn des Unterrichts. Mit einem flüchtigen Kopfnicken grüßte sie die Mitschüler und stellte sich in ihre Nähe, jedoch weit genug entfernt, um deutlich zu machen, daß ihr an einer Unterhaltung nicht gelegen war. In bequemer Haltung, das Gewicht auf dem rechten Bein und die rechte Hand in die Hüfte gestemmt, erwartete sie die Ankunft der übrigen Zöglinge und Weibelin Birsels. Aber Quendan mißachtete die abweisende Haltung und Miene des Mädchens und gesellte sich zu ihr. Er sah nicht mehr ganz so abscheulich aus wie früher, mußte Thalionmel sich eingestehen, als sie ihn mit ein wenig zusammengekniffenen Augen musterte, recht angenehm sogar, denn seit sie einmal im Zorn seine Haartracht verspottet hatte, unterließ er es, sich Locken 236
zu drehen, und das rötlich-braune Haar fiel glatt und dicht bis fast auf die Schultern. Auch wurde er in letzter Zeit nicht mehr so arg von den Pickeln heimgesucht. Nur ein paar blaßpurpurfarbene Male auf Kinn und Wangen kündeten von seinem früheren Leiden. »Wo bist du gewesen?« flüsterte er. »Ich hab dich in der Schreibstube gesucht, weil ich dachte, du wolltest vielleicht deinen Brief beantworten, aber da warst du nicht, und im Schlafsaal auch nicht.« »Wo sind die Zweihänder? Das ist doch eine viel wichtigere Frage«, erwiderte Thalionmel. Gleich beim Betreten der Fechthalle hatte sie begierig nach den Waffen Ausschau gehalten, doch zu ihrer Enttäuschung lehnten nur ein paar unterschiedlich lange Holzstangen an der Wand, etwa so viele, wie Zöglinge am Unterricht teilnahmen. »Was?« Quendan blickte Thalionmel verständnislos an. »Die Zweihänder? Ach so, wahrscheinlich sollen wir sie selbst aus der Rüstkammer holen. Oder wir üben heute erst einmal mit den Holzschwertern, die da hinten an der Wand stehen. Wo hast du nur gesteckt? Schlechte Nachrichten von daheim?« Quendan wirkte eher besorgt als neugierig, trotzdem verspürte Thalionmel wenig Lust, ihm Rede und Antwort zu stehen. Mit zusammengepreßten Lippen schaute sie an ihm vorbei. »Meine Kinderfrau ist gestorben«, stieß sie schließlich kaum hörbar hervor. »Oh, das tut mir leid.« Quendan senkte den Blick und scharrte mit dem Fuß über den Boden. Verstohlen 237
tastete er nach der Hand des Mädchens und drückte sie kurz, aber Thalionmel entzog sie ihm mit einem Ruck und verschränkte die Arme über der Brust. »Wieso tut es dir leid?« entgegnete sie finster. »Du kanntest sie doch gar nicht.« »Für dich tut es mir leid«, sagte Quendan und wandte sich ab. Mit unbewegter Miene stand er zwischen den Mädchen und blickte wie sie zur Tür. Thalionmel wußte, daß sie den Kameraden verletzt hatte. Es war ihre Absicht gewesen, so als könne sie, indem sie Quendan Kummer bereitete, den eigenen Kummer verringern. Es ist seine eigene Schuld, sagte sie sich, was spioniert er mir auch nach und stellt mir neugierige Fragen. Weiter kam sie nicht mit ihren Überlegungen, denn nun betraten die übrigen Zöglinge, einzeln oder in kleinen Gruppen, die Fechthalle. Die zierliche Fenja, die, obwohl schon vierzehn, wegen der geringen Körpergröße in der Gruppe der Elf- bis Dreizehnjährigen fechten mußte, ihr dicht auf den Fersen der dunkle Brin, gutgelaunt wie stets und wieder mit falsch zugeknöpftem Hemd, dann Gaftar, Erlan und Parinor, in hitziger Debatte über das neue Spiel Imman aus dem Norden, das seit kurzem auch im alten Reich in Mode gekommen war, die Zwillinge Efferdane und Eboreus, schön von Gestalt, von katzenhafter Anmut und einander so ähnlich, daß, hätten sie das gleiche Geschlecht gehabt, es unmöglich gewesen wäre, sie voneinander zu unterscheiden, und zum Schluß die tulamidische Kaufmannstochter Palmeya mit ihren Verehrern Leomar und Raul. 238
Kurz nach den Schülern betrat Weibelin Birsel den Saal, einen Zweihänder auf den Rücken geschnallt, und augenblicklich wurde es still. Geschwind bezogen die Jungen und Mädchen ihre Plätze, nach Körpergröße sortiert, standen soldatisch gerade und grüßten die Vorgesetzte laut und wie aus einem Munde. »Rondra zum Gruße, Frau Weibelin!« »Rondra zum Gruße!« erwiderte sie, und dann begann sie mit auf dem Rücken verschränkten Armen die Zöglinge lange und ausgiebig zu mustern, heftete den Blick der bernsteinfarbenen Augen bald auf diesen und bald auf jene, maß den Erwählten von Kopf bis Fuß, gab aber durch nichts zu erkennen, ob es an Haltung oder Erscheinungsbild des Gemusterten irgend etwas auszusetzen gab. Die Musterung war der unangenehmste Teil des Unterrichts, von allen gefürchtet, denn niemals wußte man vorher, ob es beim Mustern blieb, oder ob die kleinste entdeckte Nachlässigkeit mit einer Rüge, einem kurzen Hieb mit dem Stöckchen, das hinter dem Gürtel der Weibelin steckte, mit dem Ausschluß vom Unterricht oder, die verhaßteste Strafe, mit dem Befehl, das Erlernte schriftlich niederzulegen, geahndet wurde. Auch Thalionmel hatte nicht wenig Zeit darauf verwendet, sich selbst und ihre Kleider zu reinigen. Verstohlen blickte sie an sich hinab, konnte aber nichts entdecken, das das Mißfallen der Weibelin erregen würde. »Thalionmel von Brelak!« Das Mädchen fuhr kaum 239
merklich zusammen, als die dunkle Stimme dröhnend ihren Namen rief. »Gibt es dort unten auf dem Boden irgend etwas, das interessanter ist als meine Fechtstunde?« »Nein, Frau Weibelin!« Thalionmel versuchte sich noch ein wenig mehr zu straffen und mit unbewegter Miene und ohne zu erröten dem Blick der Vorgesetzten standzuhalten. »Und warum schaut Ihr dann zu Boden, anstatt den Blick geradeaus zu richten, wie es Vorschrift ist?« »Ich habe den Knoten der Schuhbänder überprüft, Frau Weibelin, ob er auch fest ist.« »Was hielt Euch davon ab, es vor Beginn des Unterrichts zu überprüfen?« »Nichts, Frau Weibelin, ich habe es vorher getan, nur wollte ich ganz sicher gehen.« Thalionmel spürte, daß nun doch die peinliche und lästige Röte in die Wangen stieg und hoffte nur, die Mitschüler, den Blick starr nach vorn gerichtet und darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit zu erregen, möchten es nicht entdecken. Weibelin Birsel musterte das Mädchen eine Weile, dann begann sie ihren oft gehörten Vortrag über die soldatische Tugend der Disziplin zu halten, dem Fundament des Militärwesens. Ohne den Blick von dem Mädchen zu wenden, sprach sie davon, welch schlimme Folgen bei einem Feldzug schon die kleinste Nachlässigkeit haben könnte, erzählte die altbekannte Geschichte von der schlafenden Wache, die den Tod eines ganzen Fähnleins verschuldet hatte, schlug einen Bogen zu Selbstbeherrschung und 240
Willenskraft, den Schwestern der Disziplin, und kehrte schließlich vom Allgemeinen zurück zum Besonderen, zu schlecht gebundenen Schuhen, denen als nächstes schlecht befestigte Schienen folgen würden, genauso wie einer, der sein Hemd nachlässig knöpfe, wohl kaum auf den ordnungsgemäßen Sitz seines Harnischs achten werde. »Nicht wahr, Brin Exenbrecher?« Nun hatte es also den armen Brin getroffen, dachte Thalionmel, erleichtert, daß nicht mehr sie selbst im Mittelpunkt von Weibelin Birsels Aufmerksamkeit stand, und zugleich voll Anteilnahme. »Jawohl, Frau Weibelin«, antwortete der Angesprochene. Seine Stimme klang ein wenig belegt, war auch nicht eben laut, aber deutlich zu verstehen, doch die Vorgesetzte hielt sich sogleich die Linke hinter das Ohr und beugte den Oberkörper in Richtung des Knaben. »Ich habe Euch nicht verstanden, Brin Exenbrecher«, donnerte sie. Obwohl Brin, da er fast drei Finger kleiner war, vier Plätze von ihr entfernt stand, und sie ihren Augen nicht die kleinste Bewegung erlaubte, spürte das Mädchen förmlich, wie der Junge zusammenzuckte. Die Stimme des Zwölfjährigen war eben in der Umwandlung begriffen, und als er, nach einem kurzen Räuspern, »Jawohl, Frau Weibelin« wiederholte, klang es hoch und schrill. Für einen winzigen Augenblick erschien ein befriedigtes Lächeln auf den Zügen der Weibelin, war aber so schnell wieder verschwunden, daß Thalionmel sich 241
fragte, ob die Augen sie nicht getäuscht hätten. »Ihr stimmt mir also zu«, fuhr die Soldatin fort, »daß jemand, der sein Hemd falsch knöpft, auch nicht auf den rechten Sitz seiner Rüstung achtgibt?« Sie fixierte den Jungen mit zusammengezogenen Brauen. »Jawohl, Frau Weibelin... ich meine nein... ich...« »Stimmt Ihr mir nun zu oder widersprecht Ihr mir, Brin Exenbrecher? Ihr müßt Euch schon entscheiden.« Der arme Brin, dachte Thalionmel. Weibelin Birsel hatte heute offenbar einen ihrer weniger guten Tage sie stammte aus Grangor und litt sehr unter der Hitze -, und wen sie an solchen Tagen zum Opfer erkor, dem mußten die Zwölfe gnädig sein. Beklommene Stille herrschte in der Fechthalle, denn noch war nicht entschieden, ob Brin die Beute war und blieb. In den letzten Monden war der begabte Junge eindeutig Birsels Lieblingsschüler gewesen, und so mochte alles nur eine Finte sein. Jeden Augenblick konnte der Blick der Vorgesetzten sich an dem Schmutzfleck auf Gaftars Wange festsaugen, und daß die Verschnürung von Praiodanes Beinkleidern im Begriff stand, sich zu lösen, war ihr gewiß ebensowenig entgangen. »Ich wollte sagen, Frau Weibelin, ich meine...« Beim letzten Wort war Brins rauhe Stimme wieder in den Diskant gestiegen, und verlegen hielt er inne. Doch Weibelin Birsel ließ ihm keine Zeit, Tonlage, Gedanken und Worte zu ordnen. »Brin Exenbrecher«, fuhr sie ihn an, »wir wollen Frau Rondra und Herrn Praios nicht den Tag stehlen, indem wir Eurem Gestammel lauschen. Da Ihr Euch im Augenblick of242
fenbar nicht entscheiden könnt, sollt Ihr heute abend in Muße über die Disziplin im allgemeinen und den ordnungsgemäßen Sitz soldatischer Kleidung im besonderen nachdenken. Ich erwarte«, ihre Stimme wurde noch ein wenig lauter, »bis morgen zwölf reinlich geschriebene Zeilen zu diesem Thema.« Zwölf Zeilen, bei Rondra, das war viel! Thalionmel schämte sich fast ihrer Erleichterung, daß nicht sie sondern Brin die Strafschrift verfassen mußte. Aber Brin fiel das Schreiben viel leichter als ihr, beruhigte sie sich, und außerdem war ein falsch geknöpftes Hemd eine weit schwerere Verfehlung als ein zu Boden gesenkter Blick. »Steht bequem, Soldaten!« sagte Weibelin Birsel unvermittelt und aufgeräumt. »Wir wollen mit dem Unterricht beginnen.« Bei diesen fast freundlichen Worten löste sich die Anspannung der dreizehn Schüler, einige atmeten hörbar aus, andere scharrten mit den Füßen oder nestelten verstohlen an Haaren und Kleidern. Für heute war nichts mehr zu befürchten, außer vielleicht der etwas schmerzhaften Korrektur eines Fecht- oder Haltungsfehlers mit dem Stöckchen. »Der heutige Unterricht wird eine Einführung in Geschichte, Bedeutung und Handhabung der edelsten aller Waffen, des Zwei- oder Bidenhänders«, begann Weibelin Birsel, während sie den Halteriemen löste. Dann zeigte sie den Schülern ihr fast neun Spann langes Schwert, und anschließend durften sie es, einer nach dem anderen, in die Hand nehmen, sein Gewicht prüfen und es aus der Nähe betrachten. 243
Thalionmel als Drittgrößter war es schon recht bald vergönnt, die eindrucksvolle Waffe in der Hand zu wiegen. Mit selbstsicherem Lächeln beobachtete sie, wieviel Mühe es Eboreus und Quendan kostete, sie beidhändig bis über den Kopf zu heben, doch als die Reihe an sie kam, mußte sie sich beschämt eingestehen, daß auch ihre Kräfte nicht ausreichten, sie mit nur einer Hand zu heben. Der Zweihänder mochte das Doppelte eines normalen Langschwerts wiegen, und selbst das war zu schwer und zu groß für die Zöglinge ihrer Altersstufe. »Soldaten, merkt auf!« sagte Weibelin Birsel, nachdem alle Zöglinge den Zweihänder betrachtet und gewogen hatten. »Nun, da ihr alle die Königin der Waffen in den Händen gehalten habt, hört, was ich euch über sie berichten werde.« Thalionmel war enttäuscht. Sie hatte gehofft, daß der Begutachtung sogleich die praktische Unterweisung folgen werde. Auch wenn die Zöglinge heute nur mit Holzschwertern fechten würden - nachdem sie Größe und Gewicht des Zweihänders kannte, stimmte sie Quendans Vermutung zu hinsichtlich der Stangen, die an der Wand lehnten -, war das allemal besser, als wiederum einem Vortrag zu lauschen. Doch schon nach den ersten Worten der Lehrerin verflog die Enttäuschung. Was Weibelin Birsel erzählte, war neu und berührte das Herz des Mädchens. Von der Herrin Rondra war die Rede, die den ersten Bidenhänder durch ihren göttlichen Willen erschaffen, geformt und sich erkoren hatte zu ihrem Lieblingsschwerte. Über die Schlacht von 244
Brig-Lo berichtete die Weibelin, zitierte die heiligen Schriften, in denen geschrieben stand, daß »die Herrin selbst mit einem einzigen Hieb ihres gewaltigen flammenden Schwertes wohl die Hälfte der dämonischen Kampfgefährten der götterlosen Heia niedermähte und in ihre niederhöllische Heimat zurückschickte«. Weibelin Birsel unterbrach ihren Vortrag, um den Schülern zu erklären, daß mit dem ›flammenden Schwert‹ des altertümlichen Textes ein ›geflammtes Schwert‹ gemeint sei, und fing an, Form und Vorzüge einer solchen Klinge zu beschreiben. Aber das alles wußte Thalionmel schon - sie hatte die waffenkundlichen Bücher ihrer Mutter sorgsam studiert -, und für einen winzigen Augenblick ließ ihre Aufmerksamkeit nach. Vor sich sah sie das Schlachtfeld von Brig-Lo mit den erbarmungslos kämpfenden Heeren. Die Krieger waren eine dunkle Masse wogender Leiber, genauso finster und dräuend wie die schwarzen Wolken, die sich am Himmel zusammenballten. Auf einem fernen Hügel erkannte sie die grausame, götterlose Heia, die Arme emporgereckt und umgeben von zuckenden Blitzen, mit denen sie ihre niederhöllischen Kreaturen beschwor. Und dann, inmitten der kämpfenden Gestalten, doch über ihnen schwebend, sah sie die Herrin, gewaltig, weiß und gleißend, einen goldenen Rondrakamm in der Rechten. Das Bild verschwamm, und plötzlich war es nicht mehr die Göttin, die durch das Meer aus Leibern watete, sondern Thalionmel selbst, den Zweihänder hoch über den Kopf erhoben, bereit zum tödlichen Hiebe... 245
Was war das? Thalionmel schrak zusammen über das gotteslästerliche Bild in ihrem Kopf. Sie hatte es nicht heraufbeschworen, nicht willentlich jedenfalls, da war sie sich sicher. Es war wohl als Strafe zu ihr gekommen, so dachte sie, dafür, daß sie beim Unterricht träumte, anstatt aufzupassen, oder als Prüfung. Verwirrt schüttelte sie den Kopf, um wieder klar denken und lauschen zu können. Weibelin Birsel war unterdessen zu ihrem ursprünglichen Thema, der göttlichen Herkunft des zweihändigen Schwerts, zurückgekehrt. »Ihr begreift nun, Zöglinge«, sagte sie gerade, »daß der Bidenhänder nicht in die Hand des Söldlings gehört. Diese rondralästerliche Unsitte kennt man zwar noch nicht bei uns im Reich, aber aus dem Mittelland wird berichtet, daß es dort Söldnertrupps gibt, die mit dem Zweihänder fechten. Diese götterlosen Gesellen - ich pflege sie Kor-Knaben zu nennen, aber das müßt ihr euch nicht angewöhnen - werden jedoch wegen ihres schändlichen Treibens nicht etwa streng und geziemend bestraft, sondern erhalten im Gegenteil den doppelten Sold und lassen sich Doppelsöldner nennen.« Sie schnaubte verächtlich und blickte, Zustimmung heischend, von einem zum andern. Die Zöglinge nickten. »Ihr tut recht daran zu nicken, Soldaten«, fuhr die Weibelin fort, »denn nur ein Ritter darf das zweihändige Schwert führen, ein Krieger von Stand oder mit akademischer Bildung! Und genauso unsinnig, wie uns die Vorstellung erscheinen mag, einen Gemeinen in vollem Harnisch auf dem Schlachtroß sitzen zu se246
hen«, sie legte eine kurze Pause ein, um den Schülern Gelegenheit zu geben, höflich zu hüsteln oder zu kichern, »soll uns der Anblick des Söldners mit dem Bidenhänder sein.« Alsdann sprach Weibelin Birsel über den ritterlichen Zweikampf und über die Ehre, doch dieser Teil des Vortrags war unbefriedigend für Thalionmel, denn er ließ die meisten ihrer Fragen offen. »Genug der Theorie, Soldaten, wir kommen nun zum praktischen Teil des Unterrichts.« Bei diesen Worten der Ausbilderin war Thalionmel augenblicklich hellwach und stand stramm, obwohl es nicht verlangt war. Gespannt beobachtete sie, wie Weibelin Birsel nun das Schwert ergriff und Haltung, Grifftechnik, Hiebe, Attacken und Paraden vorzuführen begann. Jedoch tat sie es nicht aus dem Stand, trocken und blutarm sozusagen, nein, sie begann ein eindrucksvolles Scheingefecht mit einem unsichtbaren Gegner, ähnlich dem Schattenkampf der Tulamiden. Jeder, der Weibelin Birsel zum erstenmal sah, wußte sogleich, daß er eine überaus kräftige Person vor sich hatte. Der kurze Hals mit den gut ausgeprägten Nackenmuskeln, der breite Brustkorb, die im Verhältnis zur eher mäßigen Körpergröße recht großen und grobknochigen Hände und Füße und nicht zuletzt die unter den Kleidern und dem Polster aus Fett deutlich hervortretenden Muskeln an Armen und Beinen kündeten von enormer Körperkraft. Wer je beobachtet hatte, wie sie leicht spreizbeinig und mit wiegenden Schritten den Burghof durchmaß, wobei jedesmal, 247
wenn der straff über die üppigen Schenkel gespannte Stoff der Beinkleider sich aneinander rieb, ein schabendes Geräusch entstand, verspürte nie mehr den Wunsch, sie zu necken oder gar herauszufordern. Um so überraschender war es, Weibelin Birsel nun bei der Scheinkampfvorführung zu erleben. Ihre kraftvollen Bewegungen waren geschmeidig und entbehrten nicht der Anmut, und über Strecken glich die Vorführung eher einem Tanz denn einem Scheingefecht. Schon nach wenigen Minuten war sie in Schweiß geraten, der ihr das kurze braune Haar an den Kopf klebte und den Stoff der Uniform an den Achselhöhlen, unter den Brüsten, längs der Wirbelsäule und zwischen den Schenkeln dunkel färbte. Das Gesicht der Weibelin war vor Hitze und Anstrengung stark gerötet, so daß jeder Fremde befürchtet hätte, bald werde sie der Schlagfluß treffen, doch waren ihre Kräfte weit davon entfernt nachzulassen, wie jeder wußte, der jemals gegen sie gekämpft hatte. Nach einer Weile ging der Atem keuchend und stoßweise, aber er war allemal lang genug, um der Stimme die dröhnende Lautstärke zu verleihen, die sie zur Erläuterung der Demonstration zu benötigen glaubte. Doch selbst wenn Weibelin Birsel geflüstert hätte, wäre keines ihrer Worte den Schülern entgangen. Mit angehaltenem Atem und ohne sich zu rühren bewunderten sie den Schwerttanz der Ausbilderin, und jeder versuchte, sich die Bewegungen der Hände, Arme und Beine und die ihnen zugeordneten Bezeichnungen augenblicklich einzuprägen. Ausfallschritt, Nachstellschritt, 248
Kreuzwende, Ochsenhieb, Seitkehre, Paukenschlag, Korhammer, Krabbengang, Rondrablitz... Am Ende der Darbietung klatschten die Zöglinge und stampften begeistert mit den Füßen, wie es sonst nur am Ende des Unterrichts üblich war. Zum erstenmal an diesem Tag lächelte die Weibelin, während sie sich den Schweiß von der Stirn wischte. Für die anschließende Unterweisung wurden den Zöglingen entsprechend ihrer Körpergröße die hölzernen Stangen zugeteilt. Erst beim Näherkommen sah Thalionmel, daß die Stäbe wie echte Waffen mit Parierstangen versehen waren, aber das war auch das einzige, das sie mit Schwertern gemeinsam hatten. Und dann wurde geübt - der kreuzweise Griff um das mehr als fünfzehn Finger messende Heft, mit dem man die lange Waffe vor dem Körper schwingen konnte, dazu der Ausfallschritt - rechts vor, links vor. Nur diesen einen Bewegungsablauf lernten die Zöglinge und übten ihn wieder und wieder, aber als die Sonne sich gen Efferd neigte und der Unterricht vorüber war, gab es keinen, der ihn fehlerfrei beherrscht hätte. Weibelin Birsel erklärte den Schülern, daß sie im Laufe der nächsten Jahre mit immer schwereren Stangen üben würden, bis schließlich ihre Muskeln stark genug seien, einen echten Zweihänder zu führen. »Um ein guter Schwertkämpfer zu werden, braucht man fünf Jahre«, beendete sie ihre Fechtstunde. »Für den Bidenhänder jedoch benötigt man sieben.« Das glaubte Thalionmel ihr gern.
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Tief in der Nacht erwachte Thalionmel, weil sie einen leisen Schmerz im Bauch spürte. Sie wunderte sich, da sie sich nicht entsinnen konnte, etwas Falsches gegessen zu haben. Doch als sie die klebrige Feuchtigkeit zwischen den Schenkeln gewahrte, wußte sie sogleich, daß es ihr zum erstenmal geschehen war, wie es den Frauen zu geschehen pflegt. Gefaßt und gut vorbereitet tat sie, was getan werden mußte, und als sie sich wieder zur Ruhe legte, fühlte sie sich seltsam leicht und stolz, als habe sie am vergangenen Tag eine Prüfung bestanden.
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bwohl die schwache Hesindesonne auch zur Mittagsstunde noch Mühe hatte, die dichte Wolkendecke zu durchdringen, war der Raum mit schweren Vorhängen abgedunkelt. Kleine, intarsienverzierte Lacktischchen, auf denen ziselierte Messingschalen mit salzigem und süßem Naschwerk sowie silberne Weinkelche standen, waren so im Zimmer verteilt, daß jeder der vier Herren Speise und Trank erreichen konnte, ohne die Haltung verändern zu müssen. Das Zimmer war im tulamidischen Stil eingerichtet. Vom Zentrum der Decke ausgehend waren Bahnen dunkelroten und rosenfarbenen Stoffs so angeordnet, daß sie an einen Zelthimmel erinnerten, an den Wänden hingen kostbare seidene Gobelins, auf denen Blumen und Tiere, Jagdgesellschaften und lustwandelnde Paare inmitten blühender Gärten dargestellt waren, dicke weiche Teppiche bedeckten den Boden, und über die niedrigen Ruhemöbel und Sitzpolster, auf denen die Männer es sich bequem gemacht hatten, waren bunt 251
bestickte und golddurchwirkte Tücher gebreitet. In Ermanglung frischer Blumen hatte man Sträuße aus bunten Federn und künstlichen, aus Seide gefertigten Blumen in die glasierten Bodenvasen gesteckt, und in einem vergoldeten Vogelbauer hüpften und flatterten winzige, in allen Farben des Regenbogens schillernde Zierzeisige. Vor einem Kamin, der den Raum fast über das angenehme Maß hinaus erwärmte, kauerte ein Mohamädchen, dreizehn oder vierzehn Jahre alt und bis auf einen Lendenschurz nur mit Ketten aus Muscheln, Holz- und Glasperlen und silbernen Armreifen bekleidet, das hin und wieder einen Scheit nachlegte und die Flammen mit einem winzigen Handblasebalg entfachte. Ihr gegenüber räkelte sich auf einer niedrigen Sitzbank ein zahmer, noch nicht völlig ausgewachsener Gepard. Immer, wenn er den Kopf wandte, um mit seinen grüngoldenen Augen entweder den trägen Bewegungen der Männer oder den hastigen der Vögel zu folgen, ließ das Glöckchen an seinem Halsband einen zarten silbrigen Ton erklingen. Außer dem Kaminfeuer erhellten Kerzen auf unterschiedlich hohen Kandelabern den Raum Wunderkerzen aus Thalusa, deren rötliche, bläuliche und violette Flammen jedem Gegenstand einen irisierenden Schimmer verliehen. Vielerlei Gerüche erfüllten das Zimmer. Der Duft von Räucherwerk aus Spänen des Rahjaholzes und Bröckchen unterschiedlicher Duftharze, die das Mädchen hin und wieder einem Körbchen zu ihrer 252
Linken entnahm und mit anmutigen Bewegungen über den Scheiten verteilte, der herb-würzige Rauch des Rauschkrauts und der süßlichschwere des Traumharzes verbanden sich zu einer etwas schwülen, aber durchaus harmonischen Komposition. Und ebenso zahlreich wie die Düfte waren die zarten Geräusche, die im Zimmer erklangen: Das Gluckern von Wasser bei jedem Zug am Mundstück der großen bauchigen Pfeife, aus welcher der älteste der Männer sein Kraut genoß, das Flöten und Zwitschern der Vögel, das silberne Klimpern von Glöckchen und Armreifen, das leise Klappern von Muscheln und Holzperlen, die gedämpften Stimmen der Männer, leise, leicht näselnde Flötentöne und der süße Klang der Bandurria. »Sagt, hochwerter Herr Achtev«, wandte sich der älteste Mann, ein Tulamide in den Fünfzigern und wie die übrigen Männer in die heimische Tracht, einen locker geschnittenen, reich bestickten seidenen Burnus gehüllt, an seinen Nachbarn zur Linken, »woraus besteht eigentlich dieses Traumharz, das Ihr so gern genießt? Es scheint schläfrig zu machen.« »O nein, höchstgeschätzter Herr Tuleyman«, erwiderte der Angesprochene. »Schläfrig macht es nicht, es entspannt nur den Körper, weckt aber zugleich die Sinne.« Er tat einen tiefen Zug aus der langstieligen Pfeife, in deren winzigem Kopf ein Klümpchen Harz glimmte, und betrachtete gedankenverloren den zarten, sich kräuselnden Rauchfaden, der von ihm aufstieg. »Soviel ich weiß«, begann er nach einer Weile, »wird das Traumharz aus dem getrockneten Saft der maraska253
nischen Rauschgurke gewonnen, der mit gemahlenem Wasserrauschsamen versetzt wird.« Wieder schwieg er ein paar Augenblicke. »Man sagt, es stärke die Manneskraft«, fügte er schließlich kichernd hinzu. Der ältere stimmte in das Gelächter ein. »Nun, dann brauche ich Euch nicht um einen Zug zu bitten, ehrenwerter Herr Achtev, denn bisher, so wage ich zu behaupten, habe ich meinen Frauen nie einen Grund zur Klage gegeben.« Er schmunzelte selbstzufrieden und strich sich den graumelierten Kinnbart. »Die holde Rahja war mir stets gewogen, obwohl ich wahrlich nicht mehr der Jüngste und schon neunfacher Großvater bin.« Sinnend zog er an seiner Wasserpfeife. »Und wenn Frau Tsa es will, werden zu den neun Enkeln bald weitere hinzukommen.« Der Achtev genannte, ein zierlicher Endzwanziger mit regelmäßigen Zügen, spitzte die vollen Lippen und stieß einen leisen anerkennenden Pfiff aus. »Meinen Glückwunsch, vielgepriesener Meister Tuleyman, zu den zufriedenen Frauen und zahlreichen Enkeln sowie dem gesegneten Leib von Tochter oder Schwiegertochter.« »So weit ist es noch nicht, da sei Frau Travia vor«, erwiderte Tuleyman. »Erst wird die Hochzeit gefeiert, so wie es auch gewiß bei Euch daheim der Brauch ist, Achtev.« Nachdem der jüngste der Runde ihn nach dem üblichen Austausch von Höflichkeitsfloskeln ›vielgepriesener Meister‹ genannt und damit angedeutet hatte, daß sein Vorrat schmeichlerischer Anreden erschöpft sei, hatte er als der älteste das Recht, die 254
schlichte Anrede einzuführen. Tuleyman erwiderte Achtevs Lächeln und seufzte schwer. »Ja, nun verläßt mich auch meine kleine Neraida, die Freude meiner alten Tage, das Licht meiner Finsternis, die Blume der Oase.« »Seufzt nicht, Tuleyman und zukünftiger Schwiegervater meines Bruders«, mischte sich der rechts von Tuleyman lagernde Tulamide ein. Er mochte ein wenig älter als Achtev sein, doch jünger als der vierte Mann, der mit geschlossenen Augen auf einem Polster ruhte, so daß man nicht wußte, ob er schlief oder seinen Traumbildern oder Gedanken nachhing. »Habt Ihr nicht selbst meinen Bruder Faramud zum Gatten für Eure Neraida erwählt, und hat nicht mein Vater einen guten Preis für sie bezahlt?« »Eine Tochter wie Neraida ist nicht mit Gold, Pferden oder Kamelen zu bezahlen, Nazir. Meine Neraida ist die vollkommene Tochter - schön, klug, gehorsam und aufmerksam -, und sie wird die vollkommene Gemahlin sein. Doch so sehr es mir das Herz zerreißt, sie zu verlieren, so glücklich macht es mich, daß die geschäftlichen Beziehungen, die ich schon lange und erfolgreich zu deinem Vater unterhalte, mein lieber Nazir, nun durch die Heirat unserer Kinder vertieft und gefestigt werden.« Wieder zog er an der Wasserpfeife und wollte das Mundstück an Nazir weitergeben, doch dieser schüttelte lächelnd den Kopf und wies auf die langstielige Pfeife, die, schon fertig gestopft, in einem zierlichen Gestell auf dem Tischchen neben ihm ruhte. »Ich denke, ich werde einmal von den Träumen 255
kosten, die unsere liebreizende Wirtin für uns bereitgestellt hat«, sagte er und klatschte in die Hände. Augenblicklich wandte das Mohamädchen den Kopf, und als sie den Wunsch des Mannes erkannte, nahm sie einen Span, entfachte ihn am Feuer und trug ihn mit mehr gespielter als notwendiger Vorsicht zu ihm hinüber. Bei Nazir angekommen, ließ sie sich auf die Knie nieder, nahm die Pfeife aus dem Gestell und entzündete sie. Als nach zwei tiefen Zügen das Traumharz gleichmäßig glimmte, reichte sie die Pfeife lächelnd, jedoch stumm und ohne die Lider zu senken an Nazir weiter. »Darf ich die Herren fragen, woher sie stammen?« Achtev erhob sich ein klein wenig von seinem Lager und lächelte Nazir und Tuleyman freundlich an. »Ich hörte eben, wie Ihr Eure unzweifelhaft vollkommene Tochter Neraida mit Fug und Recht die Blume der Oase nanntet, und frage mich nun, ob damit die Oase Terekh gemeint sein könnte, wohin ich meine jüngste Schwester, ein Kleinod wie Eure Tochter, ein sparsam, aber dennoch vollendet geschliffener Diamant, an einen reichen Hairan verheiratet habe.« Achtev ließ sich auf das Polster zurücksinken und zog an seiner Pfeife, ohne daß das strahlende Lächeln von seinen Zügen wich. Aufmerksam ließ er seine hellgrauen Augen, eine bei den Tulamiden seltene Augenfarbe, zwischen Tuleyman und dessen zukünftigem Sohnesbruder hin und herwandern. »Ihr preist Eure Schwester mit sehr wohlgesetzten Worten, Achtev«, sagte Tuleyman. »Ein sparsam, aber dennoch vollendet geschliffener Diamant.« Er 256
wiederholte die Worte mit halbgeschlossenen Augen, langsam, als wollte er sie schmecken oder kosten. »Das ist ein schönes Bild, eine poetische Wendung, die ich mir gut einprägen werde, wenn Ihr erlaubt.« Er öffnete die Augen und blickte Achtev fragend an, und dieser nickte. »Doch beantwortet das nicht Eure Frage. Nein, aus Terekh stammen wir nicht, unsere Oase liegt viel weiter im Osten. Könnt Ihr sie wohl erraten?« »Birsha?« »Nicht östlich genug, ratet noch einmal.« »Al‘Rifat?« »Nein, jetzt seid Ihr zu weit in den Osten geraten, Achtev.« Tuleyman brach plötzlich in schallendes Gelächter aus. Er ließ das Mundstück der Pfeife fallen und preßte die Hände vor den Bauch, als das Lachen ihn wieder und wieder schüttelte. Dicke Tränen rannen über seine geröteten Wangen, die er mit den Handrücken fortwischte, als er endlich wieder zu Atem gekommen war. »Ihr müßt auch weiter in den Süden gehen, ratet noch einmal.« Achtev hatte höflich in Tuleymans Lachen eingestimmt und gab auch jetzt durch nichts zu erkennen, ob ihm das Ratespiel lästig war. Nachdenklich legte er die Stirn in Falten, doch bevor er einen weiteren Ort vorschlagen konnte, hatte Nazir seinen zukünftigen Schwiegeronkel am Ärmel gezupft und raunte ihm, als dieser überrascht den Kopf wandte, etwas ins Ohr. »Du meinst, das Ratespiel sei nicht lustig, Nazir? Aber wir haben doch so gelacht, nicht wahr, Achtev?« »Ich finde es sehr lustig«, erwiderte der 257
Angesprochene und lachte wie zur Bestätigung. »Ich liebe es, Rätsel zu lösen. Darf ich noch einmal raten? Kommt Ihr vielleicht aus Keft?« »Ja, das stimmt, wir kommen aus Keft, wie habt Ihr das nur erraten?« Wieder wurde Tuleyman vom Lachen geschüttelt, und diesmal stimmte auch Nazir ein. »Er hat es geraten«, prustete er, »er hat es wirklich geraten.« Die allgemeine Heiterkeit hatte den vierten Mann geweckt. Langsam öffnete er die Augen und schaute sich suchend im Zimmer um. Für einen Moment verweilte sein Blick auf dem Mohamädchen, dann wanderte er weiter, bis er an dem noch immer kichernden Nazir haftenblieb. So lange ruhten die schwarzen, von schweren Lidern halb bedeckten Augen auf dem jungen Mann, daß es unhöflich gewesen wäre, hätte der Beobachtete es nur bemerkt. Doch Nazirs ganze Aufmerksamkeit galt der Lösung der schwierigen Aufgabe zu inhalieren, ohne sich am Rauch der Pfeife zu verschlucken, denn immer wieder wurde er von Anfällen glucksenden Lachens heimgesucht. Der vierte Mann, ein hübscher Enddreißiger mit langem, zum Zopf geflochtenen schwarzen Haar richtete sich ein wenig auf und beugte den Oberkörper in Tuleymans und Nazirs Richtung. »Keft, sagt Ihr?« begann er nach einer Weile, als das Lachen der beiden nach etlichen, doch allmählich seltener werdenden Glucksern und Schluchzern schließlich verebbt war. »Man hört seltsame Dinge aus Keft. Häretiker und falsche Propheten sollen dort ihr Unwesen treiben.« 258
»Ihr müßt nicht alles glauben, was die wandernden Sänger erzählen«, erwiderte Tuleyman. »Einen einzigen Häretiker hat es gegeben, aber der ist schon vor Monden seiner gerechten Strafe zugeführt worden.« »Erzählt mir mehr darüber«, sagte er neugierig. »Was war das für ein Mann, und welcher Häresie hat er sich schuldig gemacht?« Tuleyman runzelte ganz leicht die Brauen. »Götterlästerung ist kein sehr heiteres Gesprächsthema, und auch daran, daß ein Mann auf dem Scheiterhaufen brennt, kann ich nichts Unterhaltendes entdecken, doch will ich Eure Frage wohl beantworten. Der Häretiker war ein verwirrter Greis, der predigte, daß bald ein neuer Gott erscheinen werde.« »Ein neuer Gott?« »So ist es, Bruder«, mischte sich Nazir mit blitzenden Augen ein, denn anders als sein zukünftiger Verwandter fand er die Vorgänge im heimatlichen Keft durchaus unterhaltsam und erzählenswert. »Ich habe ihn selbst gesehen, wie er mit loderndem weißen Haar auf dem First des Praiostempels stand und predigte. Und seine Stimme klang dröhnend wie ein Gong, so daß man sie in ganz Keft vernehmen konnte.« »Die Vorstellung scheint ihre Wirkung auf Euch nicht verfehlt zu haben.« Der Zopfträger kräuselte die Lippen zu einem feinen Lächeln und hob die Lider ein wenig, um Nazir zu fixieren, »Und so haben wohl die Worte des Propheten auch großen Eindruck auf Euch gemacht?« »Nicht im mindesten, Bruder«, erwiderte Nazir nach 259
einem Seitenblick auf Tuleyman. »Seine Worte waren so abscheulich, als habe der Siebengehörnte selbst sie ihm eingeflüstert. Er sagte, bald werde ein neuer Gott erscheinen, prächtiger und mächtiger als die Zwölfe, die er zu seinen Dienern machen werde, und fortan müßten die Menschen den Geboten des neuen Gottes folgen.« »Nun ist es gut, Nazir.« Tuleyman legte seine gepflegte, schwarz behaarte Hand auf die des Jüngeren. »So genau will der Herr es sicher nicht wissen.« Die protestierenden Mienen der anderen übergehend, fuhr er fort. »Um es kurz zu machen: Der Alte wurde von der Praiospriesterschaft gefangengenommen und streng befragt, doch da er nicht widerrufen wollte, verurteilten sie ihn zum Tod durch die Flammen.« Er legte sich die Finger an die Schläfen und schloß die Augen. »Da Euch das Thema nicht gefällt, so erzählt uns ein wenig von Euren Geschäften, Tuleyman«, sagte der Zopfträger und zwirbelte gedankenverloren den Schnurrbart. »Ihr handelt mit Pferden, nicht wahr?« »Handeln auch, vor allem aber züchten wir sie«, antwortete Nazir anstelle seines Onkels. »Wir kreuzen Elenviner mit unseren Shadifs, um eine Rasse zu erhalten, in der die Glut und die Schönheit unserer Pferde mit der Robustheit der nördlichen Tiere vereinigt ist, denn die Nordländer, mit denen wir schon seit über zehn Jahren erfolgreich Handel treiben, bevorzugen kräftigere und größere Pferde als wir. Und Ihr handelt mit Gold?« Er blickte den Fremden fragend an. »Rotes Gold, so nennt man es wohl«, der Mann 260
schmunzelte und wies mit der Hand auf den helläugigen Tulamiden. »Doch ist es mein Freund und Bruder Achtev, der damit Handel treibt. Ich selbst reise zur Zeit in güldenländischem Geschmeide und magischen Artefakten, durch die bisweilen der Wert des Goldes noch erhöht werden kann, wenn Ihr versteht, was ich meine«, er kicherte, »und so haben sich unser beider Wege für eine Weile vereinigt.« »Rotes Gold? Moha-Sklaven?« Tuleyman öffnete die Augen und blickte den Fremden streng, fast mißbilligend an. »Nun, ein jeder mag sehen, wie er Herrn Phex am besten dient, doch wollen wir lieber bei unseren Pferden bleiben, nicht wahr, Nazir?« Der Angesprochene nickte, und für eine Weile herrschte Schweigen. »Wo unsere liebliche Wirtin wohl bleiben mag?« ergriff Tuleyman das Wort, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben und keinerlei Feindseligkeit aufkommen zu lassen. »Seit Wochen und Monden schon sehne ich mich danach, sie wieder einmal tanzen zu sehen, ja ich bekenne, daß mir Meisterin Shahanes Tanz fast ebensoviel bedeutet wie der Besuch in Rahjas Haus, wohin ich morgen den Zehnten Teil meiner Gewinne bringen will.« »Sie soll schon über dreißig sein«, wandte der Mann mit dem Zopf ein und winkte dem Mädchen, ihm eine neue Pfeife zu stopfen. »Ist das nicht ein wenig alt, um rahjagefällige Glut in den Herzen der Männer zu entfachen?« Er ließ sich auf sein Lager zurücksinken, tat einen tiefen Zug und behielt den Rauch sehr lange in den 261
Lungen, bevor er ihn durch die Nase wieder ausstieß. »Ach, Bruder, so kann nur einer reden, der Meisterin Shahane niemals tanzen sah. Shahane ist die Vollendung alles Weiblichen, süß wie eine reife Dattel, feurig wie ein Shadif, berauschend wie Bosparanjer, schön wie das Madamal und anmutig wie ein Halm, der sich im Winde biegt.« Tuleyman verdrehte die Augen und schnalzte mit der Zunge. »Daß sie reif und erfahren ist, steigert ihre Reize nur. Glaubt mir, Bruder, sie tanzt wie die liebliche Rahja selbst.« »Und dennoch bin ich begieriger darauf, ihre Schülerinnen zu sehen.« Der Mann mit dem Zopf lächelte. »Knospende Blüten erfreuen mich mehr als voll erblühte.« »Ihr meint Blüten wie diese?« Nazir wies auf das Mohamädchen, das dem prüfenden Blick der Männer standhielt, ohne zu erröten. »Sie ist recht hübsch, könnte aber ein wenig heller sein«, erwiderte der Bezopfte, ohne die Stimme zu dämpfen, nachdem er das Mädchen eine Zeitlang mit halb geschlossenen Augen gemustert hatte. »Dann ist mein Gold an dich verschwendet, Bruder«, sagte Achtev lachend. »Einen Moha kannst du waschen, soviel du willst, er behält doch seine kupferfarbene Haut. Aber Shahane hat auch Tulamidinnen und Nordländerinnen, so daß du vielleicht doch auf deine Kosten kommen wirst. Wo sie nur bleiben mag? Lauf einmal zu deiner Herrin, Mädchen, und frag sie, wie lange wir ihrer selbst und ihrer sinneverwirrenden Darbietung noch harren müssen.« 262
Das Mädchen erhob sich, doch bevor sie die Tür erreicht hatte, teilte sich der Damastvorhang, der sie verhüllte, und zwei kindliche Schönheiten betraten das Zimmer. Sie mochten elf oder zwölf Götterläufe zählen, waren beide schlank und zierlich von Wuchs, doch trug die eine das lange, schwarze Haar zum Pferdeschweif gebunden, während das hellbraune Lockenhaar der anderen sich offen bis auf die Schultern ringelte. Die Mädchen waren gekleidet wie Sharisads, die tulamidischen Tänzerinnen. Sie trugen Bänder und Blumenschmuck im Haar, Schellenbändchen und silberne Reifen an Hand- und Fußgelenken, lange, üppig geschnittene Röcke aus blütenzartem Gewebe, bei der Schwarzen in den Tönen des Feuers und bei der Braunen in den Farben des Meeres gehalten, golddurchwirkte Tücher mit Fransen um die schmalen Hüften und perlenbestickte Mieder, die so geschnitten waren, daß sie die eben zu knospen beginnenden Brüste ein klein wenig voller erscheinen ließen. Sobald die Mädchen das Zimmer betreten hatten, unterbrachen die Männer ihre Unterhaltung und begutachteten aufmerksam und schweigend Wuchs und Kleidung der kleinen Schönheiten. Der Zopfträger strich sich mit müder Geste eine Strähne aus der Stirn und langte nach dem Weinkelch, Tuleyman legte den Schlauch seiner inzwischen verloschenen Wasserpfeife zur Seite und verschränkte die Arme im Nacken, während Achtev und Nazir, ohne den Blick von den Mädchen zu lassen, verstohlen nach den Konfektschalen tasteten. 263
Die Musiker hatten ihr Spiel unterbrochen. Nun warteten sie, bis die Mädchen, nachdem sie die Gäste mit der tulamidischen Willkommensgeste begrüßt und sich vor ihnen verneigt hatten, die Anfangsposition ihrer Darbietung eingenommen hatten - einen Schritt voneinander entfernt, die Gesichter dem Publikum zugewandt, und in Haltung und Gebärde die eine das Spiegelbild der anderen. Auf ein unsichtbares Zeichen hin hoben beide zugleich den Arm - das dunkle Mädchen den linken und das braungelockte den rechten - und begannen mit den Hüften zu wippen. In diesem Augenblick setzte die Musik wieder ein, lauter und rhythmischer als zuvor, und der Tanz begann. Wer je das Vergnügen hatte, im Zelt eines Hairans aus Tarfui oder in einem Haus der Lustbarkeiten zu Khunchom die Darbietung einer Sharisad zu bewundern, wird diesen Genuß sein Lebtag nicht vergessen. Und er wird mit dem Begriff tulamidische Tanzkunst immer ein Fest für Seele und Sinne verbinden. Was nun die beiden Mädchen den Gästen ihrer Meisterin darboten, war weit von einem solchen Sinnenrausch und Augenschmaus entfernt. Zwar hielten sie den Takt und wußten auch die Füße recht zierlich zu setzen und Arme und Finger sehr anmutig zu schwingen und zu drehen, doch hatte die Darbietung etwas schülerhaft Steifes und Auswendiggelerntes, und daß sie fehlerfrei war, verstärkte diesen Eindruck nur. Die kleinen Mädchen lächelten sehr süß, während sie sich im Kreise drehten, die Hüften wiegten und die Oberkörper weit nach hinten bogen, doch wirk264
te ihr Lächeln furchtsam und durch die üppig auf Lider, Lippen und Wangen aufgetragene Schminke maskenhaft erstarrt. Auch wollten die Hüftschwünge und -kreise der beiden sich nicht recht zum Anblick der schmalen, unreifen Körper fügen, und so reizend und charmant das Tänzchen auch war, es fehlte ihm die Leichtigkeit, das Neckende, Lockende und die Verheißung weiterer Freuden, wie sie nur ein reifer Körper im Einklang mit einer wissenden Seele hervorrufen kann. So empfanden es wohl auch die Herren. Tuleyman konnte schon bald ein herzhaftes Gähnen nur mühsam unterdrücken, Achtev lehnte sich auf dem Polster zurück und lauschte mit geschlossenen Augen dem Klang von Bandurria und Doppelflöte, Nazir labte sich an den kandierten Früchten, und einzig der Tulamide mit dem Zopf verfolgte die Darbietung aufmerksam und fasziniert. Als schließlich der Schlußakkord erklang und die Mädchen sich vor ihrem kleinen Publikum verneigten, klatschten die Männer höflich aber ein wenig gelangweilt, indem sie die Fingerspitzen kaum hörbar gegeneinanderschlugen, und nur einer murmelte: »Reizend, wirklich reizend!« Es folgten noch drei weitere Darbietungen, bevor Meisterin Shahane die Tanzfläche betrat - drei Einzeltänze, gestaffelt nach Alter und Können der Schülerinnen. Nach den Kindern tanzte ein etwa vierzehnjähriges Mädchen, anmutig und kokett, jedoch nicht immer im Takt, dann zeigte eine recht großgewachsene Sechzehnjährige mit dem rötlichen Haar und 265
der weißen Haut der Nordländerinnen ihr Können, und als letzte der Schülerinnen eine blutjunge Tulamidin, deren schwarzes Haar zu einer Vielzahl winziger Zöpfe geflochten war. Und schließlich erschien Meisterin Shahane selbst. Springend und sich drehend wirbelte sie ins Zimmer, und auf der Stelle waren die vier Männer so wach und aufmerksam, wie man eben sein kann, wenn man Wein, Traumharz und Rauschkraut genossen hat. Meisterin Shahane war eine für eine Tulamidin recht hochgewachsene Mittdreißigerin, üppig gerundet an Brüsten und Hüften, jedoch mit zierlich schlanker Taille. Die Haut war glatt und hell wie reifer Ziegenkäse und schimmerte vom Salböl, dessen Duft nach Ambra und Rosenblüten mit der Tänzerin ins Zimmer geweht war. Hatte bei den vorangegangenen Tänzen der Bandurriaspieler den Takt geschlagen, so tat es nun der andere Musikant, der er seine Flöte gegen eine Dabla getauscht hatte, und bald schon entfaltete der Zusammenklang der beiden Instrumente sirrend, surrend, dröhnend und stampfend seine erhitzende Wirkung. Tuleyman hatte nicht übertrieben - Shahane tanzte wie die fleischgewordene Rahja. Kaum war sie in den Raum gewirbelt, begann sie sich zu drehen, schneller und immer schneller, bis die Füße kaum mehr den Boden zu berühren schienen und die Glöckchen an ihrem Fesselschmuck einen anhaltenden hellen Ton erzeugten, der hoch und silbrig über dem dumpfen Dröhnen der Dabla und dem schnarrenden Klang der 266
Bandurria schwebte. Dabei löste sie, einen nach dem anderen, die zarten bunten Schleier, die sie um Hüften, Bauch, Hals und Arme gelegt hatte, und ließ sie so geschickt durchs Zimmer fliegen, daß jeder der Männer einen von ihnen erhaschen konnte. Unter den Schleiern war Meisterin Shahane keineswegs nackt, denn eine gute Tänzerin weiß, daß die Nacktheit oft weniger die Sinne reizt als eine halbbedeckende Verhüllung. Ihr blutroter, mit silbernen und goldenen Fäden bestickter Seidenrock war so geschnitten, daß er beim Drehen die Form einer gewellten Scheibe annahm, und er hob sich so weit hinauf, daß man die vollendeten Beine der Tänzerin für kurze Augenblicke fast zur Gänze betrachten konnte. Dazu war er an den Seiten geschlitzt bis zur Hüfte, und als nach dem leidenschaftlichen Auftakt des Tanzes ein langsam einschmeichelnder Teil folgte, schob sich hin und wieder ein heller Schenkel zwischen den duftigen Stoffbahnen hervor. Die Hüften hatte Shahane mit einem reich verzierten Gürtel betont, dessen Schmuck aus Fransen, gläsernen Perlen und kleinen goldenen Münzplättchen bei jeder Bewegung schwang, wippte und tanzte. Der Gürtel war so eng, daß er das Fleisch von Bauch und Hüften zusammenpreßte und ein klein wenig über den Rand quellen ließ - auch dies ein geschickter Kunstgriff der Tänzerin, denn bei einem völlig entblößten Körper hätte man die feinen erregenden Schwingungen des schimmernden Fleisches weit weniger wahrgenommen. So aber ging vom Zusammenspiel des blinkenden 267
und schwirrenden Gürtelschmucks und des bebenden Fleischs darüber eine fast magische Wirkung aus, die den Blick des Betrachters, sobald er nur ein Weilchen dem Tanz und der Gestalt der Tänzerin gefolgt war, immer wieder zu dieser Stelle ihres Körpers lenkte. Die bunten Wunderkerzen übergossen die Szene mit magischem Licht, das bei jeder Bewegung der Tänzerin einen neuen Farbklang hervorbrachte - einmal im Takt mit der Musik, ein anderes Mal synkopisch verwirrend -, so daß auch Frau Tsa Gefallen an der Darbietung gefunden hätte. Und doch war es Frau Rahja, und nur sie allein, die Shahanes Tanz segnete. Durch das Gespinst der kostbaren Gewänder hindurch, durch Kunstfertigkeit und akrobatisches Geschick, durch kühle Berechnung und Planung bei Aufbau und Gestaltung des Tanzes, durch alles drang immerzu ihr Ruf: Lust! Wie lange Shahane getanzt hatte, hätte nach dem Ende der Darbietung keiner der Männer zu sagen gewußt. Nach den ersten Trommelwirbeln, nach dem ersten perlenden Bandurrialauf begannen sie zu träumen, jeder für sich allein. Gemeinsam war ihren Träumen, daß er die anderen ausschloß, und niemand sonst war in dem Traum vorhanden, als Shahane und der Mann selbst. Und in welches Phantasiebild der Traum die Tänzerin auch verwandeln mochte, sie blieb doch zugleich immer Shahane. Tuleyman träumte, daß er Shahane heimführte als seine fünfte, von Travia gesegnete Gemahlin. Seine gehorsamen Frauen hatten sie ins Brautzelt geführt, und 268
dort tanzte sie nun für ihn ganz allein. Und während sie tanzte, fühlte er, wie seine in den letzten Jahren erlahmende Manneskraft zu neuem Leben erwachte, und noch bevor der Tanz vorüber war, hatten Shahane und er ihre Ehe auch auf Rahjas Altar gefeiert. In Nazirs Traum nahm Shahane während ihres Tanzes die Gestalt aller Frauen an, die der junge Mann je besessen hatte, bis sie schließlich zu der wilden jungen Achmad‘sunni wurde, die er hoffnungslos begehrte. Er wollte sie haschen, doch lachend und wirbelnd entzog sie sich ihm immer wieder. Da fing er sie mit dem Fangseil ein. Sie wand sich und zappelte, doch die Schlinge zog sich immer fester zusammen, bis sie schließlich tief in das weiche weiße Fleisch der Arme und Brüste schnitt. Die Brauen im Schmerz gehoben und die Lippen zum Wehlaut geöffnet, ergab sie sich ihm... Achtev, der Sklavenhändler, träumte von einem verwunschenen Wald. Die Gegenstände des verdunkelten Raums wurden zu Bäumen und die Tanzfläche zu einer mondbeschienenen Lichtung, auf der zarte, geflügelte Feenwesen einen Reigen tanzten. In ihrer Mitte drehte sich, einsam und traurig, die schöne Königin. Doch als sie Achtev erkannte, erhellte sich ihre Miene, und sehnsuchtsvoll streckte sie die Arme nach ihm aus. »Komm zu mir, Geliebter«, raunte sie, während der Wind ihre Schleier verwehte. Der vierte Mann träumte nur von Shahane. Er sah ihren Tanz und sie selbst, doch während sie sich drehte, den Körper bog und die Hüften schwingen ließ, fielen 269
die Kleider von ihr ab, und der frauliche Körper verjüngte sich, mehr und immer mehr, bis plötzlich das zwölfjährige Mädchen vor ihm stand, das sie einmal gewesen war - die Achselhöhlen kahl, die winzigen Brüste wie von zwei zarten Abszessen geschwollen, und die Scham vom allerersten Flaum umschmeichelt. Scheu, doch wissend, betrachtete die Kind-Shahane die erregte Männlichkeit, die sich ihren geheimen Lippen nahte... Und dann, irgendwann, war Shahanes Tanz zu Ende. Die Darbietung der Meisterin endete jedoch nicht unvermittelt mit einem Trommelwirbel oder einer wilden Drehung, nein, es erschien vielmehr so, als ob die Musik und Shahanes Bewegungen allmählich leiser, sanfter, verhaltener würden, und als die Tänzerin mit dem letzten Akkord in einer anmutigen Gebärde erstarrte, waren die vier Männer von ihren Traumreisen zurückgekehrt. Halb benommen starrten sie Shahane an, bevor sie wagten, die fast andächtige Stille durch Applaus und Bravo-Rufe zu zerstören. Alle vier hatten von den Rauschkräutern gerötete Augen, und sie atmeten so schwer, als hätten sie selbst eine körperliche Leistung vollbracht. Achtev zog ein seidenes Tüchlein aus der Falte seines Burnus und schneuzte sich umständlich, während Tuleyman verstohlen eine Träne aus dem Auge wischte. »Brillant, teuerste Meisterin Shahane«, murmelte er, »wirklich brillant - ich glaube, Ihr werdet immer besser, falls das überhaupt möglich ist. Doch will mir scheinen, so rahjagleich, betörend und ergreifend wie heute sei Euer 270
Tanz noch nie gewesen.« »Danke für die Artigkeiten, lieber Tuleyman«, erwiderte die Tänzerin lächelnd, während sie sich auf einem niedrigen Sessel niederließ, den das Mohamädchen gebracht hatte. Der Busen hob sich unter den schnellen, heftigen Atemzügen, und ein winziges Rinnsal von Schweiß suchte sich seinen Weg in die Vertiefung zwischen den Brüsten, der Stimme jedoch war die vorangegangene Anstrengung kaum anzumerken. »Bring mir bitte meinen Umhang, Tiri-Pequi«, wandte sie sich an das Mädchen, das sich eben zu ihrem Platz beim Feuer zurückziehen wollte, »und auch einen Becher Wein und eine Pfeife - die Erfrischung wird mir guttun.« Nachdem das Mädchen Shahane den rotseidenen Hausmantel um die Schultern gelegt, ihn sorgsam verschlossen und gefällig in Falten gelegt hatte, wirkte die Tänzerin wie verwandelt. Das Verführerische, Kokette fiel von ihr ab, und als sie sich nun wieder an die Männer wandte, war ihr Ton von geschäftsmäßiger Freundlichkeit geprägt, so wie eine schöne und kluge Händlerin mit wohlhabenden Kunden zu verhandeln pflegt. »Und nun, meine lieben Herren, sagt nur frei heraus, wie euch die Darbietungen gefallen haben.« Sie blickte lächelnd und mit fragend gehobenen Brauen von einem zum anderen. Einen kurzen Moment herrschte verlegenes Schweigen, dann räusperte sich Tuleyman und ergriff das Wort. »Liebe, verehrte Meisterin Shahane, Euer Tanz war so göttinnengleich, so sinneverwirrend und berauschend, daß ich darüber die Tänze Eurer 271
Schülerinnen fast vergessen habe, aber sie waren, wenn ich es recht bedenke, ganz allerliebst und herzerfrischend.« Er legte eine Pause ein, in der er nachdenklich seinen Bart zwirbelte. »Ja, ganz allerliebst«, wiederholte er. »Man erkennt deutlich die gute Schule.« Er nickte bedächtig, bevor er fortfuhr. »Aber im Vergleich mit euch, liebste Shahane, verblassen sie, wie die Träume der Nacht mit den Sonnenstrahlen dahinschwinden. Sie sind ja noch die reinen Lämmlein, Kinder, die das Herz eines Mannes wohl zu rühren vermögen, aber nicht zu erregen, nicht wahr, Nazir?« Der Angesprochene wiegte bedächtig den Kopf. »Ganz so sehe ich es nicht, zukünftiger Schwiegeroheim, denn bis auf die ersten beiden waren alle im heiratsfähigen Alter, und ich bekenne frei, daß mir die Rote und das entzückende wilde junge Ding mit den Zöpfchen ganz ausnehmend gut gefallen und durchaus andere Gefühle als Rührung in mir erweckt haben.« »Nun, das höre ich gern«, sagte Shahane und nahm eine auf ein Holzstäbchen gespießte kandierte Kirsche von der gläsernen Konfektschale, die das Mohamädchen ihr darbot. Langsam und ohne den Blick von Nazir zu wenden, schob sie die Frucht zwischen die im gleichen Ton geschminkte Lippen, kostete die Süße mit der Zungenspitze, biß jedoch nicht ab, sondern hielt, während sie weitersprach, das Stäbchen mit zierlich abgespreiztem Finger in der Hand wie einen winzigen Paukenschlegel. »Dann darf ich wohl hoffen, daß Ihr eine von beiden engagieren werdet?« »Aber«, begann Nazir ein wenig verlegen, »die 272
Hochzeitsfeierlichkeiten werden in Keft stattfinden, das ist weit, sehr weit sogar. Eigentlich hatten wir gedacht, eine Tänzerin aus Keft oder Unau einzuladen.« Er blickte hilfesuchend zu seinem zukünftigen Onkel, doch dieser knuffte ihn lachend in die Seite. »Oh, du Sohn der Einfalt - schon einunddreißig, zweifacher Gatte und fünffacher Vater, und immer noch unschuldig wie eine Jungfrau.« Tuleyman lachte so heftig, daß ihm die Tränen über die Wangen rannen, und es dauerte eine geraume Weile, bis der Atem wieder so regelmäßig ging, daß er weitersprechen konnte. »Du sollst sie doch nicht als Tänzerinnen engagieren, dummer Junge, das hat unsere liebreizende Wirtin nicht gemeint, und außerdem sind sie allesamt noch Schülerinnen. Nein, gegen ein kleines Geschenk in Gold werden sie sehr freundlich zu dir sein, nicht wahr, teuerste Shahane?« Er zwinkerte der Tänzerin zu und stieß die Zunge ein paarmal sehr schnell zwischen den Lippen hervor. Nazir errötete. »Wieviel für die mit den Zöpfchen?« fragte er plötzlich und lauter als beabsichtigt, woraufhin Tuleyman mißbilligend den Kopf schüttelte. Doch Shahane mißachtete den kleinen Fehltritt und beugte sich, nachdem sie noch einmal an ihrer Kirsche geschleckt hatte, zu Nazir vor. »Eurer Großzügigkeit sind keine Grenzen gesetzt, lieber Herr Nazir, spendet so viel, wie Euch angemessen scheint, doch bedenkt, daß mein Haus kein Haus der Freude ist, wie man sie am Hafen findet. Meine Mädchen sind von erlesener Schönheit, wie Ihr selbst gesehen habt, geschult in 273
Tanz und Grazie und auch in den Rahjakünsten nicht unerfahren. Und«, sie blickte dem jungen Mann lange und eindringlich in die Augen, »Aischa kennt auch das eine oder andere Spielchen und spielt es gern...« Aber Nazir war offenbar zu berauscht und verwirrt, um den Sinn von Shahanes Rede und die Höhe der erwarteten Entlohnung völlig zu begreifen, denn er zupfte seinen Oheim verstohlen am Ärmel und raunte ihm etwas ins Ohr. Tuleyman antwortete ebenso leise, und eine Weile tuschelten die beiden Männer, nickten, schüttelten die Köpfe und gaben sich Zeichen mit den Fingern, doch bevor Nazir zu einer Entscheidung gekommen war, wandte sich der Zopfträger an Shahane. »Es ist mein Wunsch und Begehren, teure Meisterin, daß eine von den kleinen Schönheiten, die wir als erste sahen, recht freundlich zu mir ist, und ich will mich auch sehr freundlich und großzügig gegen sie erweisen.« Er hob die schweren Lider, soweit es ihm möglich war, und blickte die Tänzerin erwartungsvoll an. Shahane schüttelte mit bedauerndem Lächeln den Kopf. »Das ist leider nicht möglich, lieber Herr«, erwiderte sie. »Kann ich nicht Eure Aufmerksamkeit und Euer Begehren auf Duridana lenken, die als zweite tanzte - eine Perle, eine Augenweide, sanft wie ein Kälbchen und gerade erst vierzehn geworden?« Doch der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, Duridana gefällt mir nicht. Sie mag sehr schön sein, aber mir ist sie ein wenig zu füllig, und, mit Verlaub, ich kann kaum glauben, daß sie erst vierzehn ist. Ich finde, sie sieht wie sechzehn aus. Warum kann ich nicht eine von 274
den Kleinen haben - am liebsten die Schwarze.« »Aber, lieber Herr, ich sagte Euch doch, daß es nicht möglich ist. Laßt ab von den beiden!« Shahane runzelte ganz leicht die Brauen, und nun biß sie endlich die Kirsche von dem Stäbchen und zerkaute sie sorgfältig. Der Mann richtete sich von seinem Lager auf und ballte die Rechte zur Faust. »Warum kann ich die süße Schwarze nicht haben? Antwortet mir! Ich habe genausoviel Gold wie die anderen.« »Lieber Herr, ich glaube nicht, daß ich Euch Rechenschaft schuldig bin, aber ich will Eure Frage wohl beantworten.« Shahanes Stimme war eine Winzigkeit schärfer geworden, aber die Züge waren wieder geglättet, und sie lächelte den Gast an. Dieser hatte sich nun vollends aufgerichtet und heftete den Blick starr auf die Stirn der Tänzerin. Plötzlich ballte er auch die Linke und preßte die Fäuste fest gegeneinander. Dabei murmelte er etwas in einem fremdartigen Dialekt. Shahane hob fragend Brauen und Schultern, dann fuhr sie fort. »Perisel und Zulhamin gehören mir nicht. Sie sind nur meine Schülerinnen, aus edlem und wohlhabendem Hause alle beide, und ihre Eltern zahlen gutes Lehrgeld für sie...« Plötzlich griff sie sich an den Kopf, schüttelte ihn und starrte den Mann wild, fast finster an. »Was fällt Euch ein, mein Herr?« zischte sie. »Wie könnt Ihr es wagen, in meinem Haus solches gegen mich zu versuchen!« Der Mann zuckte ganz leicht zusammen und senkte den Kopf. »Verzeiht mir meine Dreistigkeit, ich glau275
be, ich bin betrunken«, sagte er matt. »Ihr habt Travias Gesetze mißachtet, mein Herr«, erwiderte die Tänzerin streng. »Aber ich will Euch vergeben und die Ungezogenheit Eurem Rausch zugute halten.« Sie griff nach dem Weinkelch, starrte ein Weilchen hinein und stellte ihn wieder ab, ohne getrunken zu haben. »Doch hört und beherzigt die drei Ratschläge, die ich Euch geben will. Versucht es niemals, wenn Ihr Wein, Rauschkraut oder Traumharz genossen habt. Versucht es niemals gegen einen Menschen, der sich auch darauf versteht, so wie ich.« Ihre Lippen kräuselten sich zu einem spöttischen Lächeln. »Und zum dritten: Versucht es niemals, um Liebe zu erzwingen. Frau Rahja wird Euch nicht hold sein, und der Genuß wird sich in Widrigkeit verkehren.« Sie blickte den Zopfträger eindringlich an, als erwarte sie ein Zeichen der Reue und Zustimmung, doch dieser schien nicht zugehört zu haben. Zwar schaute er in Shahanes Richtung, doch nicht in ihr Gesicht, sondern ein wenig daran vorbei, dorthin, wo sich die unverhüllten Brüste des Mohamädchens befanden, das immer noch abwartend mit der Konfektschale in der Hand neben dem Sessel ihrer Herrin stand. Shahane bemerkte es, und wiederum verzogen sich die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. »Dann gebt mir die Moha!« sagte der Mann unvermittelt und fast barsch. »Ich dachte, sie sei dir zu dunkel«, warf Achtev kichernd ein, aber niemand beachtete ihn. »Tiri-Pequi ist meine Freundin«, erwiderte die 276
Tänzerin. »Ich kann sie Euch nicht geben. Wenn Ihr sie begehrt, dann fragt sie selbst, ob sie Euch gefällig sein will.« Der Angesprochene sprang so unvermittelt von seinem Lager auf, daß der Gepard, von der plötzlichen, heftigen Bewegung erregt, mit der Pranke nach dem flatternden Burnus haschte. Ein kurzes, schabendes Geräusch entstand, als seine Krallen die Seide schlitzten. Der Mann wandte sich um, trat nach dem Tier, ohne es zu treffen, und raffte hastig sein Gewand, als er die gekräuselte Nase und die im Zorn entblößten Zähne sah. »Eine Sklavin um Erlaubnis fragen!« zischte er, während er mit großen Schritten dem Ausgang zustrebte. »Ich fasse es nicht!« Shahanes helle Stimme folgte ihm. »Liebe TiriPequi, würdest du wohl so freundlich sein, den Herrn zur Türe zu geleiten und ihm die Schale zu zeigen, in die er seine Spende für Bewirtung und Unterhaltung legen kann.« »Es ist mir ein Vergnügen, verehrte Shahane«, erwiderte das Mädchen in akzentfreiem Garethi. Als Zordan Fuxfell die Straße betrat, brauchte es eine Weile, bis die Augen sich an das Tageslicht gewöhnten. Blinzelnd, grimmig und erregt lenkte er seine Schritte zum Hafen, wo er in einem Haus der Freude Entspannung und Ruhe zu finden hoffte. Unweit von Shahanes Haus kam ihm auf der wenig belebten Straße ein hübsches, schlankes, blondes Kind in blauer Uniform entgegen, und er blickte ihr anerkennend 277
nach, als sie an ihm vorüberging. Doch da Nichte und Onkel sich nur ein einziges Mal und vor langer Zeit begegnet waren, erkannten sie einander nicht.
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ure Ziehschwester ist Tänzerin, Baroneß?« wandte sich der Bewaffnete an seine junge Begleiterin. »Meine Schwester«, Thalionmel betonte das Wort, »will Tänzerin werden. Sie ist ja erst elf und noch in der Lehre, und zwar bei der berühmten Meisterin Shahane, aber ich finde, dafür, daß sie erst vor wenigen Monden ihr drittes Lehrjahr begonnen hat, tanzt sie sehr gut.« Das Mädchen blickte sinnend in die Ferne und wischte sich gedankenverloren den Schweiß von der Stirn. Die Rondrasonne brannte erbarmungslos auf die drei Reiter nieder, die zwischen abgeernteten Kornfeldern, Viehweiden mit Ziegen und träge wiederkäuenden Rindern, Hecken und kleinen Baumgruppen auf dem staubigen, wenig mehr als zwei Schritt breiten Karrenweg gen Nordosten ritten. Seit sie vor etwa zwei Stunden die schützenden Wälder hinter sich gelassen hatten, war die Hitze fast unerträglich geworden, aber weder die beiden Männer noch das Mädchen gestatteten sich, auch nur ein Wort der Klage laut werden zu lassen. 279
Wie ihre beiden Begleiter und Beschützer war auch Thalionmel in einen leichten Lederharnisch gekleidet. Das hauchfeine wollene Untergewand klebte lästig am Leib, und sie war froh, daß die Männer sie überredet hatten, den Helm gegen einen Strohhut zu tauschen, wie ihn die Bauern der Gegend bei der Feldarbeit trugen. Wenn wir doch nur bald daheim wären, dachte sie, ich glaube, ich fange an zu schmelzen. Aber sie wußte genau, daß sie noch zwei Stunden aufrecht im Sattel sitzen und, wenn es sich ergab, angeregt plaudernd überstehen mußte, denn den von der Hitze nicht minder geplagten Pferden eine schnellere Gangart abzuverlangen, wäre eine nichtswürdige Grausamkeit gewesen. Anfangs hatte Thalionmel sich gegrämt und vor den Kameraden bloßgestellt gefühlt, weil die Eltern ihr die beiden Bewaffneten als Eskorte geschickt hatten, doch inzwischen war sie froh über die Begleitung, denn in Gesellschaft ließ sich die sengende Qual ein wenig leichter ertragen. Sie sah, daß die Männer - beide verdiente Streiter der Brelaker Bürgerwehr, die sie von früher her flüchtig kannte - ebenso litten wie sie, doch weder der ernste blonde Gisbrecht, der vorausritt, noch der rotwangige und rotbärtige Answin an ihrer Seite ließen erkennen, daß die Mittagsglut ihnen in irgendeiner Weise lästig sei. Im Gegenteil. Answin, dessen Gesicht im Laufe der vergangenen Stunden einen fast karmesinroten Ton angenommen hatte, versuchte das Mädchen von der Strapaze des Ritts abzulenken, indem er darauf bedacht war, die Unterhaltung nie völlig abreißen zu lassen und so charmant und galant mit 280
ihr plauderte, wie es ihm als Bauernsohn eben möglich war, während sich Gisbrecht angestrengt und schweigsam der scheinbar unnützen Aufgabe widmete, die Umgebung nach drohenden Gefahren abzusuchen. Um die neunte Stunde war die kleine Reisegesellschaft von Neetha aufgebrochen, und nun hatte die Praiosscheibe den höchsten Stand eben um eine Stunde überschritten - die heißeste Zeit des Tages. Natürlich wäre es besser gewesen, früher aufzubrechen, dachte Thalionmel, aber sie hatte es nicht über sich bringen können, die Stadt zu verlassen, ohne der kleinen Schwester, die von einer heftigen Attacke der Brabaker Gänseblattern ans Bett gefesselt und der mit viel Freude erwarteten gemeinsamen Reise nach Brelak beraubt worden war, einen ausgedehnten Abschiedsbesuch zu machen. Oh, wie leid war es Thalionmel um die arme Zulhamin gewesen, die bleich, von rötlich-gelben Pocken entstellt, fiebernd und mit vor Kummer ganz kleinem und eingefallenem Gesicht auf ihrem Lager ruhte und unter mühsam zurückgehaltenen Tränen und krampfhaften trockenen Schluchzern wieder und wieder gefleht hatte, die Schwester möchte sie mitnehmen. »Es sind doch nur die Gänseblattern«, hatte sie gejammert, »das ist keine sehr schlimme Krankheit, und daheim werde ich bestimmt viel schneller gesund als hier.« Aber Meisterin Shahane und die herbeigerufene Heilerin hatten kein Erbarmen gehabt, und auch Thalionmel mußte sich eingestehen, daß die Schwester 281
den anstrengenden Ritt nicht durchhalten würde. »Neun Tage nur, mein Lämmlein«, hatte die Sharisad gesagt und Zulhamin sanft das schweißnasse Haar aus der Stirn gestrichen. »Dann bist du wieder wohlauf und kannst deiner Schwester nachfolgen. Bis dahin aber mußt du der Heilerin gehorchen und brav das Bett hüten.« »In neun Tagen ist das Tsafest der Muhme schon vorüber«, hatte Zulhamin schniefend protestiert. »Ich habe ihr gar keinen Brief geschrieben, weil ich ja nicht wußte, daß ich krank werden würde.« Und dann waren die lange zurückgehaltenen Tränen doch geflossen, aber Shahane hatte begütigend die heiße, feuchte Wange des Kindes gestreichelt. »Mach dir darum keine Sorgen, Lämmlein, einen Brief, in dem alles erklärt wird, habe ich deinen Zieheltern gestern abend schon geschrieben, und was das Geschenk betrifft, so kannst du es doch deiner Schwester mitgeben, oder du überreichst es der Muhme im nachhinein. Sie wird sich gewiß nicht weniger darüber freuen, nur weil es ein wenig verspätet kommt. Und sieh einmal, neun Tage Aufschub sind doch kein wirkliches Unglück! Denk nur, du hättest dir den Fuß gebrochen und könntest nie wieder tanzen, das wäre wirklich schlimm.« Dann hatte sie das Zimmer verlassen, um den Schwestern ein letztes ungestörtes Beisammensein zu gewähren. »Deine Meisterin hat recht«, hatte Thalionmel gesagt, als die Mädchen allein waren. »Die Gänseblattern sind kein echtes Unglück. Du erinnerst dich vielleicht, daß ich sie vor einem Jahr hatte, und ich mußte sogar 282
für zwei Wochen dem Unterricht und dem Tempel fernbleiben. Nun schau doch nicht so traurig, erzähl mir lieber, was du meiner Mutter schenken wirst, dann verrate ich dir auch, was ich ihr schenke.« »Um die Pusteln geht es gar nicht, das weißt du genau.« Zulhamin hatte trotzig die Händchen geballt und mehrfach auf ihre Decke geschlagen. »Ich bin doch keine Zimpermina und auch kein Lämmlein. Ich hatte mich nur so darauf gefreut, mit dir zu reiten, und ich wollte so gern das Gesicht der Muhme sehen, wenn sie mein Geschenk auspackt.« »Was ist es denn, willst du es mir nicht verraten?« hatte Thalionmel gefragt, woraufhin Zulhamin sich angeschickt hatte, das Bett zu verlassen. Aber die Schwester hatte sie sanft in die Kissen zurückgedrückt. »Nein, du darfst nicht aufstehen, das weißt du doch. Sag mir, wo ich das Geschenk finde, und ich werde es dir geben, ohne es anzuschauen.« Es hatte sich gezeigt, daß Zulhamins Gabe an die Muhme ein Miniaturbildnis war, das das Mädchen in Gewandung und Pose einer Sharisad zeigte. Thalionmel hatte das Bild dicht vor die Augen gehalten und eingehend betrachtet. »Wie kann ein Mensch nur so klein und doch so genau malen«, hatte sie bewundernd gemeint. »Es sieht dir sehr ähnlich, nur finde ich, daß du in Wirklichkeit noch hübscher bist als auf dem Bild. Wie hast du den Maler nur bezahlen können?« »Ich habe einundzwanzig Taler gespart, seit ich bei Meisterin Shahane in die Lehre gehe«, hatte Zulhamin 283
erwidert. »Dann haben die anderen Mädchen und ich vor einigen Wochen auf dieser Hochzeit getanzt, von der ich dir neulich erzählt habe, und ich habe für meinen Tanz drei Taler und sieben Heller bekommen.« »Von dem Geld hast du mir nichts gesagt«, hatte Thalionmel die Schwester verblüfft unterbrochen, »doch sprich nur weiter.« »Nun, das ist schon alles. Zusammen mit dem Ersparten war es genug, um die Malerin zu bezahlen. Meinst du, die Muhme wird sich freuen?« »Und wie!« Thalionmels Antwort war so schnell und überzeugend erfolgt, daß Zulhamin zum erstenmal an diesem Morgen gestrahlt hatte. »Und was schenkst du der Muhme?« hatte sie mit fiebrig glänzenden Augen gefragt. »Ach, jetzt, da ich dein Geschenk gesehen habe, schäme ich mich fast meiner geringen Gabe.« Thalionmel hatte errötend ein gerolltes Pergament aus ihrer Satteltasche gezogen und der Schwester überreicht. Es war mit roter Tusche eng und sauber, doch nicht eben kunstvoll beschrieben. Einzig die verzierte Überschrift und die Schmuckleiste aus rondranischen Symbolen am Fuß des Textes zeugten von einer gewissen Könnerschaft. »Das Schwert der Schwerter sagt...«, hatte Zulhamin laut zu lesen begonnen, doch die Freundin hatte sie unterbrochen. »Du brauchst es nicht zu lesen, es ist ein Kommentar des Schwerts der Schwerter zu einem heiligen Buch der Rondrakirche, und ich habe in der letzten Zeit fast 284
jeden Abend in der Bibliothek verbracht, um ihn abzuschreiben. Nun ja, besonders ist es nicht geworden, aber vielleicht freut sich meine Mutter doch ein wenig, daß ich ihr zuliebe die eklige Arbeit auf mich genommen habe.« »Gewiß wird sie sich freuen, und ich finde, es ist sehr schön geworden, besonders die verzierten Buchstaben der Überschrift und die vielen kleinen Schwerter, Helme, Schilde und Löwinnen. Ich wußte gar nicht, daß ihr auch Schönschrift und Zeichnen auf eurer Schule lernt.« Wiederum war Thalionmel errötet. »Wir lernen solches auch nicht. Quendan hat als Kind ein wenig Zeichenunterricht genossen, und weil er so gut malen kann, hat er mir geholfen.« »Weil er in dich verliebt ist, hat er dir geholfen«, hatte Zulhamin kichernd widersprochen. Thalionmel war froh, daß sie die Schwester am Morgen noch ein wenig hatte aufheitern können, indem sie ein paar lustige Begebenheiten aus dem Garnisonsalltag zum besten gab. Und obwohl ihr Zärtlichkeiten zuwider waren, hatte sie sich überwunden und Zulhamin zum Abschied auf die heiße Stirn geküßt. »Ich weiß schon, wie man richtig küßt«, hatte da die Schwester geflüstert. »Fiona hat es mir gezeigt, und vielleicht verrate ich es dir auch einmal.« Richtig küssen - als ob ich nicht wüßte, wie das geht, dachte Thalionmel, als sie sich der schwesterlichen Abschiedsworte entsann, man hält die Nasen kreuz285
weis, preßt die Lippen aufeinander und steckt die Zunge in des anderen Mund - abscheulich! Sie schnaubte bei der Erinnerung an ihren ersten und einzigen Kuß, den Quendan ihr als Lohn für seine Hilfe abverlangt hatte, und schüttelte sich angewidert. »Ist Euch nicht wohl, Baroneß?« unterbrach Answins Stimme Thalionmels Gedanken. »Dort drüben bei den Bäumen können wir ein wenig rasten, das wird Euch sicher guttun.« »Wie kommt Ihr darauf, daß ich eine Pause brauche, Answin?« Das Mädchen war ehrlich überrascht. »Nun, ich glaubte bemerkt zu haben, daß Euch fröstelte, und wem in der Hitze friert, der braucht dringend eine Rast.« Der Bewaffnete legte seine rote, schweißnasse Stirn in besorgte Falten und sah seine Schutzbefohlene eindringlich an, doch Thalionmel lachte nur. »Schaut nicht so besorgt, Answin, ich friere nicht und habe auch kein Hitzefieber. Was mich schaudern ließ, war die Erinnerung an etwas ganz und gar Abscheuliches, aber ich kann Euch nicht verraten, was es war. Reden wir lieber über etwas Schönes.« Sie blickte ihren Begleiter auffordernd an. »Nun habt Ihr mich aber neugierig gemacht, Baroneß. Habt Ihr wohl jüngst ein schleimiges Wurmgetier gesehen, einen Basilisken gerochen oder gar von einem Dämon geträumt?« Thalionmel schüttelte lachend den Kopf. »Nein, nein, nein! Viel abscheulicher als all das, aber ich kann es nicht verraten.« 286
»Gewährt mir noch einen Versuch, Baroneß - Euch ist letzte Nacht eine Spinne übers Lager gelaufen, so eine richtig große, garstige, mit haarigen Beinen.« »Aber Answin, ich fürchte mich doch nicht vor Spinnen!« Thalionmel zog in gespielter Empörung die Brauen zusammen und schüttelte leicht und unwillig den Kopf, wie es ihre Gnaden Yasinde zu tun pflegte, wenn ein Zögling eine falsche Antwort gab. »Ich schon«, bekannte Answin schmunzelnd. »Ich kann mir nichts Abscheulicheres vorstellen, als mit einem dicken, pelzigen Spinnentier das Lager zu teilen.« Und dann lachten beide so laut und herzhaft, daß Gisbrecht sich verwundert umblickte. »Der Weg durch die Wälder ist in einem schlechten Zustand«, wechselte das Mädchen unvermittelt das Thema. »Wenn nicht bald etwas getan wird, muß man im nächsten Jahr den Umweg über Shilish nehmen. Das wäre sehr lästig, meint Ihr nicht?« »Ach ja«, seufzte Answin, »zu tun gibt es genug, aber es fehlt an Geld.« Er hob nach Art seiner Herrin die Schultern und die geöffneten Hände. »Wieso fehlt es an Geld? Die Wälder um Neetha gehören doch dem Markgrafen, soviel ich weiß, und von dem heißt es, er habe Gold, wie es Sand in der Khom gibt. Da könnte er doch ein wenig dafür verwenden, den Weg instandzuhalten oder besser noch den Weg zur Straße auszubauen.« Es erfüllte Thalionmel mit mehr Genugtuung und Freude, daß sie sich auskannte und wie eine Erwachsene über ernste Belange zu reden verstand, als daß ihr der Zustand der Straße wirkliche 287
Sorgen bereitet hätte. Doch Answin runzelte bei ihren Worten nachdenklich die Stirn und wischte sich den Schweiß aus den Augen. »Nun, was das Gold des Grafen betrifft, Baroneß, so hat er wohl viel davon, doch gewiß nicht so viel, wie Ihr zu glauben scheint.« Thalionmel wollte eben einwenden, daß sie eine Übertreibung wie den Vergleich des Markgräflichen Goldes mit dem Wüstensand schon recht einzuschätzen wisse, aber Answin sprach zwar bedächtig, doch ohne eine Pause zu machen, und so schluckte sie die Bemerkung hinunter. »Und sagt selbst«, fuhr er fort, »wem nützt die Straße? Dem Grafen? Nein, dem nützt sie so wenig, wie er ein Interesse an ihr hat. Sie ist im Grunde nur uns Brelakern von Nutzen und den Morlakern und Wyrmheidenern vielleicht...« Er machte eine Pause, aber diesmal wußte Thalionmel nichts einzuwenden. »Ja, für uns ist der Weg wichtig«, fuhr der Bewaffnete fort. »Aber wir sind zu wenige, um so viele Meilen instandzuhalten, und mehr, als gelegentlich ein vorwitziges junges Bäumchen kappen oder störende Zweige von den Büschen hauen, wenn wir auf Patrouille sind, können wir nicht tun.« Wieder seufzte er schwer. Aber er hatte ein gutes Stichwort geliefert, und übers Patrouillieren kam man auf die Bürgerwehr und dann auf die Räuber und Wegelagerer zu sprechen, und dieses Thema beschäftigte die beiden Reiter, bis sie die ersten Katen am Rande von Brelak erreichten. Das erste, was Thalionmel auffiel, als sie ihr Pferd 288
in den lang ersehnten, kühlen dunklen Stall führte, war ein edler Fuchswallach mit blonder Mähne und blondem Schweif, der bei ihrem letzten Besuch noch nicht dort gestanden hatte. Elgor strahlte, als er das Mädchen erblickte, verneigte sich tief und erbot sich sogleich, ihren Schecken zu versorgen, aber Thalionmel lehnte seine Hilfe freundlich, doch entschieden ab. »Ich danke Euch, Elgor, aber diese Arbeit muß ich schon selbst tun. Es ist nicht nur der Wunsch der Eltern, sondern auch mein eigener. Und außerdem - wenn ich nicht zur Schule ginge, wäre ich jetzt Knappin und hätte nicht nur mein eigenes Pferd, sondern auch das meines Herrn zu putzen, und so habe ich es doch noch gut getroffen.« Thalionmel lachte vergnügt und begann, während sie ihr Pferd von Gepäck und Sattel befreite, eine Melodie vor sich hin zu pfeifen, die zur Zeit in Neetha sehr beliebt war. In Wirklichkeit aber kam sie die Arbeit sauer an, nicht nur, weil sie sich nach dem anstrengenden Ritt selbst gern ein wenig erholt und erfrischt hätte, sondern vor allem, weil sie es kaum erwarten konnte, endlich die lieben Eltern zu begrüßen. Als sie den hellen Kiesweg, der im Bogen um das Gutshaus zum rückwärts gelegenen Hof führte, entlanggeritten war, hatte sie verstohlen zum Fenster des Speisesaals hinaufgeblickt, und dort hatten die Eltern gestanden, die Gestalten verzerrt und verunklärt vom gewölbten Glas der Butzenscheiben, jedoch deutlich erkennbar. Thalionmel glaubte auch gesehen zu haben, daß der 289
Vater vor Freude einen kleinen Luftsprung getan und beide Arme wild geschwenkt hatte, aber sie hatte den Gruß gemessen erwidert, so wie es sich für eine Kriegerin geziemt. Es war Durenald, der sich nicht bezwingen konnte. Kaum hatte das Mädchen begonnen, das schweißnasse Fell des Pferds zu trocknen, kam er schon in den Stall gestürmt, packte die Tochter von hinten, wirbelte sie herum und hielt sie schwer atmend aber strahlend so weit von sich entfernt, daß er sie gut betrachten konnte. »Laß dich anschauen, kleine Kriegerin«, stieß er unter Keuchen hervor, und sein inzwischen recht stattlicher Bauch zitterte vor Glück und Erregung. »Ich glaube, du bist seit dem letztenmal schon wieder größer und schöner geworden, aber um so groß und schön zu werden wie meine liebe Gemahlin, braucht es doch noch ein Weilchen.« Plötzlich zog Durenald das Mädchen so heftig zu sich heran und schlang die Arme fest um ihren kindlich schmalen Körper, daß es Thalionmel erst im allerletzten Augenblick gelang, den Kopf zur Seite zu drehen, auf daß der väterliche Kuß die Wange und nicht die Lippen treffe. »Wie geht es dir, mein liebes Kind?« schnaufte der Freiherr seiner Tochter ins Ohr. »Ich habe dich so vermißt. Und wo ist deine liebe Schwester? Hat sie es vorgezogen, zunächst der alten Danja die Aufwartung zu machen oder Lechdans neuesten, neunten Nachwuchs zu begutachten?« »Danke, lieber Vater, es geht mir gut, und ich hoffe, Euch geht es auch gut«, erwiderte Thalionmel, 290
während sie sich vorsichtig aus der Umarmung wand. »Der armen kleinen Zulhamin aber geht es nicht so gut. Wir mußten sie in Neetha zurücklassen, weil sie vor zwei Tagen von den Gänseblattern heimgesucht wurde. Meisterin Shahane hat euch und der Mutter einen Brief geschrieben, in dem sie Euch den Ausbruch der Krankheit schildert und die Meinung der Heilerin mitteilt, aber Sorgen müßt ihr euch wohl nicht machen, denn es scheint, daß die Blattern in neun Tagen überwunden sein werden, und Zulhamin völlig genesen nach Brelak reisen kann. Doch sagt, was ist das für ein prächtiger Wallach, Vater? Ich kenne ihn noch nicht, aber mir scheint, da habt Ihr einen guten Kauf getan.« »Das ist nicht mein Pferd, der Wallach gehört einem Gast.« Durenald kratzte sich gedankenverloren den Kopf und legte das Gesicht in kummervolle Falten. »Das arme Täubchen, da liegt sie also krank danieder, fiebernd und mit juckenden Pusteln, und ist gewiß noch viel, viel trauriger als ich.« Der Freiherr seufzte und schüttelte bekümmert den Kopf. »Beim morgigen Tsafest deiner lieben Mutter wird sie nicht zugegen sein - wie schade!« Thalionmel ergriff die Hand des Vaters und drückte sie kurz. »Seid nicht traurig, lieber Vater, Zulhamin ist ja bald wieder gesund.« Nun seufzte auch sie und schaute Durenald fast ein wenig vorwurfsvoll an, als sie weitersprach. »Heute morgen mußte ich die kleine Schwester trösten, nun Euch, gleich die Mutter, obwohl sie sich ihre Enttäuschung vermutlich wenig anmerken lassen wird. Dabei vermisse ich Zulhamin 291
selbst genug, und hätte sie, bei allen Zwölfen, lieber mitgenommen als zurückgelassen.« »Die Mutter, ja...« Durenald nickte. »Wir wollen zu ihr gehen, komm!« Er wandte sich dem Ausgang zu, ohne die Hand der Tochter loszulassen, doch diese widersetzte sich. »Haltet ein, Vater«, sagte sie lachend. »Ich bin mit Alrik noch nicht fertig!« »Unfug, Kind, das können heute Elgor oder die Stallmagd erledigen. Elgor!« wandte er sich an den Stallmeister. »Kümmert Euch um das Pferd der Baroneß. Sie ist von ihren Pflichten entbunden.« »Ob das der Mutter recht sein wird?« Thalionmel runzelte die Brauen, als sie dem Vater auf den Hof folgte, doch der nickte heftig. »Das will ich meinen, kleine Kriegerin! Sie hat eure Ankunft mit so viel mühsam unterdrückter Ungeduld erwartet, daß wir sie nun nicht länger warten lassen wollen. Du weißt, es geziemt sich nicht, eine Dame warten zu lassen. Doch geh zuerst auf dein Zimmer und wasch und kämm dich und zieh dir etwas Hübsches an, wir haben nämlich einen Gast, und auf den sollst du den allerbesten Eindruck machen.« »Wer ist es denn?« fragte das Mädchen. »Jemand, den ich kenne?« »Nein, das glaube ich nicht, oder zumindest wirst du dich kaum an ihn erinnern, und auch er wird dich wohl schwerlich wiedererkennen. Ihr seid euch schon einmal begegnet, aber das war vor langer, langer Zeit. Nun, errätst du, wer es ist?« 292
Thalionmel brauchte nicht lange nachzudenken. »Der Oheim Fuxfell vielleicht?« »Mein Kompliment, Kriegerin, Ihr habt es getroffen.« Durenald verneigte sich vor der Tochter und machte einen galanten Kratzfuß, der ihm trotz seiner Leibesfülle immer noch sehr zierlich geriet. »Ihr seid nicht nur schön und mutig, meine Dame, sondern auch klug.« Dann reichte er der Tochter den Arm, um sie zum Hintereingang zu geleiten. So, da ist der Oheim Fuxfell also gekommen, um der Mutter zum Tsafest die Aufwartung zu machen oder sein leeres Säckel zu füllen. Man wird sehen, dachte Thalionmel, als sie sich mit dem grobzinkigen Beinkamm durch die widerspenstigen Locken fuhr. Der Pferdeschinder und galante Schwätzer, der schöne Mann, vor dem ich mich in acht nehmen soll, weil er kein guter Mensch ist - und einen guten Eindruck soll ich auf ihn machen. Das Mädchen wußte nicht recht, was sie von der Neuigkeit halten sollte. Ich werde mich jedenfalls nicht wie ein Zierpüppchen herausputzen, soviel steht fest! Sie entschied sich schließlich für eine schlichte, ärmellose Tunika und bis zum Knie geschnürte Sandalen, eine Tracht, die ihr dem Wetter angemessen erschien und in ihrer Schlichtheit keine Beleidigung für die Augen der Göttin. Was soll ich nur mit dem Onkel reden? Thalionmel überlegte, während sie sich zum Speisesaal begab, in dem zu ihrer Begrüßung gewiß eine Erfrischung bereit stand - gekühltes Bier, Kompott und salzige 293
Hirseflädchen -, auf die sie sich herzlich freute, mehr fast, als auf das Wiedersehen mit der Mutter, wie sie sich eingestand. Das würde gewiß ein wenig steif und förmlich ausfallen, wenn ein Fremder zugegen war. Aber in den nächsten drei Wochen werde ich noch oft Gelegenheit haben, mit der Mutter allein zu sein. Wir werden reden, ausreiten, fechten... Gerade auf das Fechten freute das Mädchen sich unbändig, denn auch nach über zwei Jahren auf der Schule war die Mutter ihre beste Lehrmeisterin geblieben, deren seltenes Lob sie weit mehr erfreute als das noch seltenere von Weibelin Birsel. Vielleicht wird es mir ja diesmal gelingen, sie zu besiegen, dachte sie, schließlich wird die Mutter morgen dreiundvierzig, da ist sie fast schon eine alte Frau... Rondra, vergib mir meine Überheblichkeit, natürlich werde ich die Mutter nicht schlagen können, denn sie ist nur nach Jahren alt, ihre Kräfte aber sind jung geblieben. Zweihänder haben sie nicht durchgenommen in Vinsalt, nur Stechen und Verseschmieden, und so werde ich ihr zeigen, was wir inzwischen dazugelernt haben, und kann ihr auch einmal etwas beibringen. Tatsächlich war die erste Begegnung mit der Mutter nach so langer Zeit doch nicht ganz so förmlich, wie Thalionmel befürchtet hatte, auch wenn es einem Außenstehenden so scheinen mochte. Der Zufall hatte es gefügt, daß auch Kusmine eine Tunika als Kleidung für den Nachmittag gewählt hatte, nur war die ihre aus schlohweiß gebleichtem allerfeinsten Linnen, mit schwarzer Stickerei an Ausschnitt und Saum und ein 294
wenig länger als das Gewand der Tochter. Die hohe, helle, lässig an den Kamin gelehnte Gestalt der Freifrau hatte sogleich die Blicke des Mädchens auf sich gezogen, und obwohl Thalionmel sich vorgenommen hatte, der Mutter gemessenen Schrittes und mit soldatisch ausdrucksloser Miene entgegenzutreten, hatte sie nicht verhindern können, daß ihre Schritte sich beschleunigten und das Gesicht zu strahlen begann, als sie den geliebten Menschen gewahrte. Auch Kusmines Augen hatten beim Anblick der Tochter aufgeleuchtet, und ein zartes Rot war auf den Wangen erschienen, doch war sie dem Mädchen nicht entgegengeeilt, sondern hatte nur nachlässig die Rechte gehoben, um den Kuß zu empfangen. Nachdem die Begrüßungsfloskeln getauscht waren, hatte sie der Tochter verschwörerisch zugezwinkert. »Gut siehst du aus, mein Kind, wir sprechen uns später, doch nun erweise dem Oheim die Ehre, wie es sich gehört.« Thalionmel tat, wie ihr geheißen. Sie hatte den schlanken, zierlichen, dunklen Mann schon beim Betreten des Zimmers aus den Augenwinkeln wahrgenommen, nun konnte sie ihn genauer betrachten. Nichts an ihm schien ihr bemerkenswert, sie fand ihn weder schön noch häßlich, weder anziehend noch abstoßend, und sie war fast ein wenig enttäuscht, daß sein Anblick, seine Stimme und die Art, wie er sich bewegte, keine Gefühle des Widerwillens in ihr erregten, wie sie es erwartet hatte. Höflich, aber ohne wirkliche Teilnahme oder Interesse, erkundigte sich Fuxfell nach der Schule, nach ihren Neigungen und Fortschritten, 295
und ebenso höflich antwortete sie ihm, lobte sein Pferd und brachte ihre Freude zum Ausdruck, daß er die Reise nach Brelak offenbar ohne Schaden überstanden habe. Damit war fürs erste die Unterhaltung zwischen Nichte und Oheim beendet, und die drei Erwachsenen setzten das Gespräch fort, das sie bei Thalionmels Ankunft unterbrochen hatten - über die Lage der Welt, die Beziehungen des alten Reiches zu Gareth, wie Fuxfell das Mittelland nach seiner Hauptstadt zu nennen pflegte, zu Mengbilla und dem fernen Brabak, über Gerüchte, daß der Kalif in Mhanadistan oder Mherwed - Thalionmel konnte die fremden Ortsnamen nur schwer auseinanderhalten - einen Feldzug plane, um sein Reich zu vergrößern, über die neueste Erfindung, eine Armbrust, die dergestalt mit einer geheimnisvollen Mechanik versehen war, daß ein weit schnelleres Spannen und Abschießen der Bolzen ermöglicht wurde... Zordan Fuxfell wurde als weitgereister Gast von Durenald und Kusmine immer wieder nach Neuigkeiten aus der weiten Welt befragt, und so bestritt er den größten Teil der Unterhaltung, auch wenn es nicht seine Absicht sein mochte. Da die Eltern nur selten das Wort an die Tochter richteten, um ihre Meinung zu einem Thema zu erfahren oder sich eine Nachricht, soweit sie Neetha betraf, von ihr bestätigen zu lassen, hatte Thalionmel ausgiebig Gelegenheit, ihren Onkel zu beobachten. Wie ein Pferdeschinder sieht er eigentlich nicht aus, dachte sie, ich kann nichts Grausames an ihm 296
entdecken. Aber sein Blick wirkt ein wenig müde, so als interessiere ihn das, worüber er rede, gar nicht wirklich. Sie wunderte sich, daß Fuxfell der Mutter so wenig ähnlich sah, aber auch Zulhamin ähnelte er nur soweit, wie eben Menschen tulamidischer Abstammung einander gleichen. Als das Mädchen an die Schwester dachte, wurde ihr bewußt, daß weder Mutter noch Vater sie in Gegenwart des Onkels erwähnt hatten - es schien eine unausgesprochene Abmachung zu sein -, und sie beschloß, es ebenso zu halten. Fast unmerklich ging der Nachmittag in den Abend über. Irgendwann trugen ein Junge und ein Mädchen in weißen, aber nicht vollkommen reinlichen Schürzen Geschirr und Speisen für das Abendmahl auf, und erst, als sie den Raum wieder verlassen hatten, erkannte Thalionmel, daß es zwei aus Lechdans großer Kinderschar waren. Das Mädchen aß ohne große Freude. Der kleine Imbiß und die Hitze hatten ihren Hunger vertrieben, und überdies war sie ein wenig enttäuscht, daß ihr erster Tag daheim so gänzlich anders verlief, als sie es sich erhofft hatte. Sie verfolgte die Unterhaltung mit geringer Aufmerksamkeit, schaute mit leicht gerunzelten Brauen bald zu den östlichen Fenstern, hinter denen das Blau des Himmels allmählich einem bleiernen Ton zu weichen begann, bald zu den westlichen, in deren Scheiben sich die letzten Sonnenstrahlen brachen, beobachtete, mit welch unterschiedlicher Hingabe die Eltern sich dem Genuß der Speisen widmeten, und 297
wartete darauf, endlich ein Zeichen zu erhalten, daß sie sich von der Tafel entfernen könne. Fast jedesmal, wenn Thalionmels Blick den Oheim streifte, trafen sich ihre Augen, und obwohl Fuxfell sich nur selten an sie wandte, fühlte sie sich doch von ihm beobachtet oder gemustert. Was es an mir zu glotzen gibt, möchte ich gern wissen, dachte sie verunsichert. Ich habe mich doch gekämmt und ein sauberes Gewand angelegt. Es gefiel dem Mädchen nicht, wie der Onkel sie ansah, gelangweilt und eindringlich zugleich, und so war sie froh, als sich der Vater endlich erhob, um nach einem Dankgebet an die milden und gütigen Frauen Travia und Peraine die Tafel aufzuheben. »Magst du mich begleiten, Kriegerin?« wandte sich der Freiherr an seine Tochter. »Ich möchte mir nach dem üppigen Mahl ein wenig die Beine vertreten. Auch kennst du, glaube ich, meine neue Pflanzung noch nicht, es sind junge Ölbäumchen. Ich werde wohl nicht mehr erleben, daß sie tragen, aber deine Enkelkinder werden großen Nutzen von ihnen haben und einen prächtigen Hain zum Lustwandeln.« Thalionmel nickte eifrig, und gemeinsam verließen Vater und Tochter das Zimmer. »Sei nicht traurig, Kind«, sagte Durenald, als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte. »Du wirst in den nächsten Wochen noch oft Gelegenheit haben, mit deiner Mutter zu reden und zu üben. Und glaub mir, sie wäre gewiß lieber mit uns zusammen, als ein unerfreuliches Gespräch zu führen. Aber Zordan Fuxfell ist nun einmal ihr Bruder, beziehungsweise Halbbruder, und wenn er sie um eine vertrauliche Unterredung bittet, so 298
wie er es vor deiner Ankunft getan hat, dann kann sie ihm diese Bitte schlecht abschlagen.« »Geht es um Geld?« »Um Geld, um sein Erbteil, was weiß ich...« Durenalds Stimme war eine Winzigkeit schroffer geworden, doch sogleich gewann seine gutmütige Wesensart wieder die Oberhand. »Was immer es sein mag«, fuhr er fort, »es sollte besser heute besprochen und aus der Welt geschafft werden, damit wir alle das morgige Fest in Frieden und Eintracht genießen können.« Als Durenald und Thalionmel den Kiesweg betraten, war die Praiosscheibe eben hinter dem Horizont verschwunden. Kein Lufthauch regte sich, und obwohl die achte Stunde schon begonnen hatte, war es kaum kühler geworden. Im Westen schmückten zarte violette Wölkchen den rosigen Himmel, von Osten her aber hatte sich eine bleigraue Wolkenwand herangeschoben, vor der die Büsche und Bäume seltsam hell und in unvertrauten Farben leuchteten. »Was meint Ihr, Vater, wird es heute noch ein Gewitter geben?« fragte Thalionmel, nachdem sie den fremdartig schönen Anblick eine Weile schweigend genossen hatte. Durenald wiegte bedächtig den Kopf. »Ich weiß es nicht, mein Kind, zu einem anständigen Gewitter gehören der launische Herr Efferd und die wilde Frau Rondra. Zwar hält er schon seine Regenwolken bereit, aber von ihren Stürmen ist noch nichts zu spüren, und der Hufschlag ihres Rosses ist noch nicht zu hören.« 299
Wie um den Freiherrn zu foppen, grollte in diesem Augenblick ein ferner Donner, und Thalionmel lachte. »Nun gut«, gab Durenald zu, »ihre Sturmreiter kommen, aber sie sind noch fern, und vor Mitternacht werden sie Brelak nicht erreicht haben.« Während Vater und Tochter durch das Dorf schlenderten, wurde es immer stiller. Zu Beginn des Spaziergangs hatten in der Ferne ein paar Kühe gebrüllt, die gemolken werden wollten, Schweine quiekten schrill in Erwartung der Fütterung, durch die geöffneten Fenster der Häuser hörte man Menschen lachen, streiten oder plaudern, und auf den Baumwipfeln begrüßten Vögel die nahende Nacht mit ihrem Abendgesang. Doch als Durenald und Thalionmel den schmalen Feldweg zu dem neuen Olivenhain erklommen, verstummten allmählich alle Geräusche. Auch die beiden Wanderer senkten die Stimmen, als sie wechselseitig die Neuigkeiten aus Brelak und Neetha tauschten. Durenald schnaufte, während er sprach, denn die drückende Luft und der ansteigende Pfad machten ihm ein wenig zu schaffen. Thalionmel ertappte sich dabei, daß sie den heftigen Atem des Vaters als Störung empfand, doch zum Umkehren oder Rasten mochte sie ihn nicht überreden, und so übernahm sie die Führung des Gesprächs. »Wollt Ihr wissen, was Zulhamin und ich der Mutter zum Tsafest schenken werden, Vater?« fragte sie. Durenald nickte, und sie erzählte ausführlich von dem wundersam kleinen und doch so genauen Bildnis, das die Schwester hatte malen lassen, beschrieb die un300
glaubliche Ähnlichkeit und Naturtreue und die Feinheit des Pinselstrichs, die so fein sei, daß man den einzelnen Strich auch dann nicht erkenne, wenn man das Bild einen halben Spann vor die Augen halte. Durenald gab schwer atmend zu bedenken, daß er weder einen halben noch einen ganzen Spann vor den Augen irgend etwas erkennen könne und morgen wohl seinen geschliffenen Kristall zu Hilfe nehmen müsse, um das Kunstwerk zu betrachten. »Oh, morgen werdet Ihr es nicht betrachten können, Vater. Zulhamin wollte es der Mutter lieber selbst überreichen, wenn sie in neun Tagen nachfolgen wird. Sie freut sich so sehr darauf, das Gesicht ihrer Muhme zu sehen, wenn sie das Bildchen auspackt, und diese Freude wollte ich ihr nicht nehmen.« Durenald nickte verstehend. Thalionmel fuhr fort, von ihrer vergleichsweise geringen Gabe zu berichten, die sie dennoch so viel Schweiß und Verdruß gekostet habe, und als sie geendet hatte, faßte der Freiherr die Tochter um die Schulter und drückte sie kurz an sich. »Ihr seid zwei gute Kinder und euren alten Eltern eine rechte Freude«, murmelte er gerührt. Dann war die Ölbaumpflanzung erreicht. Thalionmel wunderte sich, wie vereinzelt die zarten, kaum einen und einen halben Schritt hohen Bäumchen standen, aber der Vater erklärte ihr, daß die mächtigen Bäume, zu denen sie einst heranwachsen würden, viel Platz brauchten, um einander nicht zu bedrängen. »Es wird gewiß ein prächtiger Hain«, sagte das Mädchen ohne rechte Überzeugung, dann ließen 301
die beiden sich im Gras nieder, um schweigend den Einbruch der Nacht zu erwarten. Als die letzten Frösche verstummt waren, die Grillen ihr zirpendes Liebeslied beendet hatten und das verwunschene Abendlicht fahlgrauer Nacht wich, machten Durenald und Thalionmel sich auf den Heimweg. Keinem Stern gelang es, ein Loch in Efferds schwerem Wolkenmantel zu finden, und da bei den wenigen Katen, in denen noch Licht brannte, die Läden zur Nacht geschlossen waren, beeilten sich Vater und Tochter, das Gutshaus zu erreichen, bevor völlige Schwärze sie umfangen würde. Es war immer noch sehr warm, kühler zwar als am Tag, jedoch feuchter und drückender, und einmal, als über den fernen Eternen der Himmel aufriß und für einen Wimpernschlag Frau Rondras wilde Schar zu sehen war, spürte Thalionmel, wie die Haare auf Haupt und Körper von einer unsichtbaren Kraft emporgezogen wurden. Das Mädchen war froh, als es das Gutshaus erreicht hatte, denn hier brannten noch vereinzelte Lichter, und Hof und Haus waren erfüllt von den geschäftigen Geräuschen, die der Nachtruhe vorausgehen. Aus der Bibliothek drangen Stimmen, die der Mutter und des Oheims, und Durenald schlug vor, sich zu den beiden zu gesellen, um den Abend bei einem Becher Wein ausklingen zu lassen. Während sie sich dem Zimmer näherten, bemerkte das Mädchen, daß das Gespräch zwischen Schwester und Bruder hitziger war als eine gewöhnliche Unterredung, denn bald konnte man einzelne Worte deutlich verstehen, obwohl die Tür 302
geschlossen war. Stirnrunzelnd hielt Durenald inne und wollte sich eben wieder entfernen, als Kusmines Stimme hell vor Empörung durch die Türe drang. »Seit zwei Stunden nun reden wir über nichts anderes, Zordan, aber du wirst mich nicht umstimmen. Unser letzter Wille ist geschrieben und unterzeichnet und liegt wohlverwahrt an einem sicheren Ort. Und auch in die Schatztruhe werde ich nicht greifen, um deine Schulden zu bezahlen. Mehr als zwölf Dukaten kann ich dir nicht geben.« »Dein Geiz wird mich das Leben kosten, ungetreue Schwester!« »Zwölf Dukaten und keinen Kreuzer mehr, das ist mein letztes Wort.« Thalionmel erwartete, daß nun die Tür auffliegen und der erzürnte Oheim herausstürmen würde, aber es blieb still. »Nun haben wir gelauscht, ohne es zu wollen«, bemerkte Durenald schuldbewußt, »und du bist Zeuge einer häßlichen Szene geworden. Komm, Kind, laß uns hineingehen, vielleicht wird dein freundliches Lächeln die Wogen glätten, und wir können den Abend doch noch in Eintracht verbringen, wie ich es mir so sehr wünsche.« Obwohl Thalionmel sich nicht im mindesten nach der Gesellschaft des Oheims sehnte, folgte sie dem Vater ohne Widerrede. Wie sie jedoch ein freundliches, unbefangenes Lächeln zustande bringen sollte, nachdem sie gehört hatte, was sie nicht hätte hören sollen, das wußte sie nicht. Doch dann war alles viel einfacher, 303
als sie gedacht hatte, denn kaum hatten sie das Zimmer betreten, klatschte Kusmine strahlend und übermütig in die Hände. »Da seid ihr ja! Ihr kommt im rechten Augenblick«, rief sie. »Gerade ist unsere Unterredung beendet. Kommt, setzt euch zu mir, lieber Mann und liebe Tochter, und laßt uns noch ein wenig plaudern. Robak! Rooobak!!! Wo der Bursche nur steckt, er soll uns Wein bringen.« »Laß mich das machen mit dem Wein, Schwester«, mischte sich Fuxfell ein, der gerade dabei war, ein Beutelchen in der inneren Tasche seines Wamses zu verstauen. »Ich habe zwei Flaschen besten Würzweins aus Thalusien, die ich dir zum Tsafest verehren wollte. Doch nun scheint mir der rechte Augenblick, sie zu öffnen, auch wenn ich dann morgen mit leeren Händen dastehen werde.« Es dauerte nicht lange, bis Fuxfell mit zwei Flaschen voll dunklen roten Weins zurückkehrte, und diese kurze Zeitspanne war die einzige des Tages, in der Thalionmel ein paar unbeschwerte und unbefangene Worte mit der Mutter wechseln konnte, wie sie sich später oft erinnerte. Sie holte vier silberne Becher aus dem Bord und stellte sie auf den Tisch, um den die Sitzmöbel gruppiert waren. Als der Oheim die Flasche öffnete, um einzuschenken, wunderte sie sich, wie leicht sich der Korken lösen ließ, doch maß sie dem weiter keine Bedeutung bei. »Wirklich ein edles Tröpfchen, Schwager, sehr würzig... Ja, überaus würzig«, meinte Durenald mit Kennermiene, nachdem er den ersten Schluck ge304
trunken hatte. »Doch nun laßt uns auf dies trauliche Beisammensein trinken, das ich Frau Travias Obhut anempfehlen möchte«, er hob seinen Becher, »und Herr Boron soll uns allen eine ruhige Nacht und wohlige Träume bescheren.« Bei der Erwähnung des dunklen Gottes hatte Fuxfell kurz die schweren Lider gehoben, und ein seltsames Lächeln war über seine Züge gehuscht, doch außer Thalionmel bemerkte es niemand. Das Mädchen hatte noch nicht sehr oft Wein getrunken, da sie gewöhnlich dem herberen Bier den Vorzug gab, und so leerte sie ihren Becher auch nicht in einem Zug, wie die Eltern, sondern kostete vorsichtig, um den Geschmack zu prüfen. Sie fand den Wein süßer und schwerer als die hiesigen Reben. Die Würzkräuter, mit denen er versetzt war, und die einen leicht bitteren Nachgeschmack erzeugten, erinnerten sie an die Arznei, die ihr verabreicht worden war, als die Gänseblattern sie heimgesucht hatten, und so nippte sie nur ein paarmal und lehnte lächelnd ab, als der Oheim nachschenken wollte. Fuxfell selbst schien der Trank auch nicht recht zu munden, denn so sehr er darauf bedacht war, die Becher seiner Wirte stets gut gefüllt zu halten, so wenig sprach er selbst dem Wein zu, und sein Kelch blieb den Abend über fast unberührt. Wie Durenald gehofft hatte, wurde es ein heiteres Beisammensein. Selten war er so guter Laune gewesen, und auch Kusmine schien vergessen zu haben, daß sie nur kurze Zeit zuvor heftig mit dem Bruder gestritten hatte. Sie lachte laut und viel, knuffte die 305
Tochter in die Seite und zerraufte ihr übermütig das Haar, erzählte Anekdoten aus ihrer Schulzeit, und auf Thalionmels Drängen hin gaben die Eltern in wechselweiser Rede, einander oft und lachend unterbrechend, die viel erzählte Geschichte vom Beginn ihrer Liebe zum besten. Doch irgendwann wurden alle müde. Fuxfell gähnte als erster verstohlen, und bald folgten die anderen seinem Beispiel. »Euer Wein ist nicht nur süß und würzig, Schwager«, sagte Durenald und wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Er steigt auch zu Kopf, und ich glaube, ich bin ein wenig berauscht. Vermutlich werde ich heute nacht so fest schlafen, daß auch Frau Rondras donnernde Streitmacht mich nicht wecken kann.« »Du hast recht, lieber Mann«, pflichtete Kusmine bei. »Auch ich bin müde, und ich denke, wir sollten zu Bett gehen, damit wir morgen ausgeruht mein Tsafest feiern können. Schlaft wohl, meine Lieben, und Boron sei mit euch.« Sie nickte dem Bruder zu und küßte Gatten und Tochter zärtlich auf die Stirn. Damit war der abendliche Umtrunk beendet, und alle begaben sich in ihre Schlafgemächer.
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A
uch Thalionmel war müde und fühlte sich ein wenig benommen, als sie, gefolgt von ihrem Oheim, die Stiege zu ihrer Kammer erklomm, obwohl sie kaum mehr als einen halben Becher Wein getrunken hatte. Es wird diese schwüle Hitze sein, dachte sie, die so schwer auf Haupt und Glieder drückt, daß man nicht mehr klar denken oder sehen kann, und jeder Schritt Mühe kostet. »Schlaft wohl, Oheim«, sagte sie, als sie den Treppenabsatz erreicht hatte, von dem der Gang zu ihrem Zimmer führte. Sie verneigte sich flüchtig vor dem Onkel und wollte sich eben umwenden, als der eindringliche Blick seiner dunklen Augen sie zögern ließ. »Wollt Ihr Euch schon zur Ruhe begeben, schöne junge Kriegerin?« fragte Fuxfell mit überrascht gehobener Braue. »Das wäre schade, denn ich habe ein Geschenk für Euch, das Euch zu überreichen ich mich den ganzen Tag über gesehnt habe. Auch frage ich mich schon lange, wo ich Euch schon einmal begegnet 307
sein mag, und ich hatte gehofft, Ihr könntet mir helfen, diese Frage zu ergründen.« »Das war vor zwölf Jahren.« Thalionmel kniff leicht die Augen zusammen, als sie nachdachte. »Doch kann ich mich, mit Verlaub, nicht mehr daran erinnern.« »Ich schon, verehrte Nichte, doch war es nicht diese Begegnung, die ich meinte, denn so allerliebst Ihr auch wart als Wickelkind, einen weit tieferen Eindruck machtet Ihr auf mich, als ich Euch einmal in soldatischer blauer Tracht sah.« Fuxfell hatte, während er sprach, seine Schritte in Richtung seiner Kammer gelenkt. Nun hielt er inne und bedeutete dem Mädchen mit einladender Geste, ihm zu folgen. Ohne zu zögern, schlug Thalionmel die gewiesene Richtung ein. Welches Geschenk mag der Oheim wohl für mich haben? ging es ihr durch den Kopf, während sie an seiner Seite die wenigen Schritte zurücklegte. Der Gang war nur von den beiden Kerzen beleuchtet, die Onkel und Nichte vorsichtig trugen und mit der Hand vor dem Erlöschen schützten. Finger und Arme malten seltsame Schatten an die Wand, und einmal mußte das Mädchen kichern, als sie einen Fuchs zu erkennen glaubte, der vor einer Löwin Reißaus nahm. Sie fühlte sich sonderbar leicht. Eben noch war ihr das Treppensteigen so beschwerlich gewesen, doch nun schien sie wie auf einer weichen Wiese zu wandeln. »Setzt Euch, schöne Nichte, und leistet mir auf ein Gläschen Gesellschaft«, sagte Fuxfell, als sie die Kammer betraten. Er griff nach einer geöffneten Flasche, die auf einem Bord stand, doch Thalionmel 308
schüttelte matt den Kopf. »Danke, Oheim, aber ich glaube, ich habe für heute genug getrunken.« »Ihr sprecht sehr weise, fast wie mein Medicus, der mir, was den Wein betrifft, dringend zur Mäßigung geraten hat.« Fuxfell stellte die Flasche zurück und machte sich an seiner Satteltasche zu schaffen, aus der er einen Beutel und eine längliche hölzerne Schachtel nahm. Darum also hat er so wenig getrunken, dachte Thalionmel, der Medicus hat es ihm verboten. Für den Vater wäre es gewiß auch besser, wenn er dem Weine mäßiger zuspräche. Seine Wangen wurden immer röter, während er trank, und er schien auch zu schwitzen, doch das mag an der stickigen Hitze gelegen haben... »Wenn der Wein Euch nicht bekommt, schöne Kriegerin, dann versucht einmal dieses«, unterbrach Fuxfells Stimme die Gedanken des Mädchens. Er reichte ihr ein zierliches Pfeifchen, dem würziger Rauch entströmte. Thalionmel hatte kaum bemerkt, wie er es gestopft und entzündet hatte. Wiederum schüttelte sie den Kopf. »Vom Pfeifenkraut muß ich immer husten, Oheim.« »Das ist kein Pfeifenkraut, es ist etwas Besonderes, ein kostbares Kräutlein aus Al‘Anfa. Macht mir die Freude, es mit Euch zu teilen. Es wird Euren Geist und Körper beleben und erfrischen.« Thalionmel zog die Nase kraus, als sie mißtrauisch an der Pfeife schnupperte, doch der Oheim lächelte so freundlich und ermunternd, wiederholte, welche Freude es ihm bereiten würde, den seltenen und edlen Genuß mit ei309
nem so klugen, schönen und kriegerischen Gast teilen zu dürfen, daß sie schließlich den dargebotenen reichgeschnitzten Stiel aus Elfenbein entgegennahm. Dabei streifte sie zufällig die Hand des Onkels und fuhr erschrocken zurück. Doch Fuxfell lachte nur. »Ich beiße nicht, schöne Nichte, und leide auch nicht an einer ekligen Krankheit. Nun aber merkt auf! Ihr müßt sehr kräftig ziehen, den Rauch einatmen und trachten, ihn so lange in der Lunge zu behalten, wie es Euch möglich ist. Zwei oder drei Züge sind genug, dann werdet Ihr merken, wie neue Lebenskraft in die vom Weine schweren Glieder und Gedanken fließt.« Thalionmel nickte. Vorsichtig steckte sie das Mundstück zwischen die Lippen, zog einmal kurz und stieß den Rauch sogleich wieder aus. »Nein, nein, Nichte, Ihr habt nicht aufgepaßt!« Fuxfells Stimme klang ein wenig ungeduldig. »Ihr dürft den kostbaren Rauch nicht fortblasen! Macht es so wie beim Pfeifenkraut, und keine Angst - es wird nicht kratzen.« Das Mädchen errötete leicht bei des Oheims Worten. Dumme Gans! schalt sie sich in Gedanken. Benimmst dich gerad so, als ob du noch nie geraucht hättest. Was soll der Oheim nur von dir denken? Daß du ein zimperliches Zierpüppchen bist, das sich fürchtet zu husten? Entschlossen zog sie abermals, tief und lang, gemäß Fuxfells Anweisungen, füllte die Lunge mit Rauch und beließ ihn so lange dort, bis sie erneut atmen mußte. Kaum hatte Thalionmel den Rauch ausgestoßen, als sie überrascht feststellte, daß ihr seltsam froh zu310
mute wurde. Das Kraut schmeckte gut, viel besser als Pfeifenkraut, kratzte nicht im Hals und erzeugte keinen Hustenreiz. Die leichte Benommenheit, die der halbe Becher Wein hervorgerufen hatte, war wie fortgezaubert. »Nun«, sagte sie und sah den Oheim herausfordernd an, »war es so richtig?« Als er lächelnd nickte, nahm sie einen zweiten tiefen Zug und gab die Pfeife zurück. Auch Fuxfell rauchte tief inhalierend. »Schmeckt Euch das Kraut? Bekommt es Euch?« fragte er, während er sein Gegenüber unter halb geschlossenen Lidern musterte. »Es schmeckt gut, Oheim, und ich fühle mich schon viel frischer als noch vor wenigen Augenblicken.« Sie erwiderte seinen Blick, lächelte und streckte die Hand nach der Pfeife aus, kaum daß er sie gedreht hatte, um ihr das Mundstück zu reichen. Nach zwei weiteren Zügen war die Glut erloschen, wie Thalionmel bedauernd feststellte, und so ließ sie sich in den Sessel zurücksinken, um die neuerworbene Frische von Geist und Körper auszukosten. So wohl habe ich mich den ganzen Tag nicht gefühlt, dachte sie. Da sitze ich hier beim Oheim, den ich kaum kenne und nicht mag, und bin glücklicher als je zuvor. Thalionmel sah sich im Zimmer um. Obwohl nur die beiden Kerzen brannten, konnte sie alles gut erkennen, sogar eine Spinnwebe in der Ecke hinter dem Schrank und den Staub unter dem Bett. Die Magd ist nicht sehr reinlich, dachte sie, überlegte kurz, ob sie es der Mutter melden sollte, und verwarf den Gedanken. 311
Der Raum war in einem Zustand, wie man ihn vorfinden mag, wenn der Bewohner noch nicht allzu lange in ihm geweilt hat, jedoch lange genug, um eine behagliche Unordnung zu erzeugen. Auf dem Tisch lagen, zwischen Schreibzeug und ungeordneten Pergamenten, Gegenstände, die der Reinlichkeit und Körperpflege dienen - Kämme, Flakons und unterschiedlich geformte Bürsten. Ein paar Kleidungsstücke waren nachlässig auf dem Bett verteilt, von welchen ein gelber Burnus mit langem, sorgsam gestopftem Riß Thalionmels Aufmerksamkeit erregte. Die Näherin hat sich viel Mühe gegeben, aber der Faden, den sie verwendet hat, ist ein wenig dunkler als der Rest, ging es ihr durch den Kopf, und man kann jeden einzelnen Stich erkennen. »Wollt Ihr gar nicht wissen, was für ein Geschenk ich für Euch habe, schöne Kriegerin?« vernahm Thalionmel von weit her die Stimme des Oheims. Sie wandte den Kopf. Da saß er ja in seinem Sessel, so wie er schon vor langer Zeit gesessen hatte, und schaute sie fragend an. Sein Gesicht schien viel näher als zuvor. Wenn sie es so betrachtete, konnte sie doch eine Ähnlichkeit zur Mutter feststellen. Zwar war die Nase erheblich fleischiger als die ihre, und die Poren auf der Spitze weit gröber und größer, doch wiesen die Flügel die gleiche Wölbung auf, und auch das Kinn hatte eine ähnliche Form, nur war es männlich breit und kantig. Auch fand sie, daß es wieder einmal geschabt werden sollte, denn die dunklen Barthaare waren schon ein wenig aus der Haut hervorgetreten, und während sie zusah, wuchsen sie immer weiter. 312
»Habt Ihr mich etwas gefragt, Oheim?« sagte Thalionmel mit einer Stimme, die ihr so fremd und heiser erschien, daß sie verlegen kicherte. Sie lauschte, bis die Echos von Worten und Lachen verklungen waren, und versuchte es abermals. »Ihr müßt Euch Kinn und Wangen schaben, Oheim, die Haare wachsen so schnell.« Ja, nun erkannte sie ihre Stimme wieder, auch wenn der starke Nachhall sie etwas irritierte. »Man merkt gleich, daß Ihr nie auf einer Akademie oder Garnisonsschule wart, sonst hättet Ihr gelernt, Ordnung zu halten.« Sie lachte laut, und Fuxfell stimmte ein. »Wie geht es Euch?« fragte er. »Gut, Oheim, sehr gut sogar!« Warum brüllte sie den Onkel an? Er saß Ihr doch genau gegenüber, einen Schritt entfernt vielleicht, oder einen halben, oder zwei, sie wußte es nicht genau. »Nun, das höre ich gern, dann darf ich Euch wohl jetzt mein Geschenk verehren?« Ein Geschenk, ja. Thalionmel hatte das Wort an diesem Abend schon einmal gehört. Was es mit dem Verehren auf sich hatte, wußte sie nicht zu sagen, aber der freundliche Oheim würde es ihr gewiß erklären. »Dann muß ich Euch bitten, Euch umzudrehen, denn ich möchte meine Gabe noch ein wenig verhüllen.« Sie verstand jedes Wort, obwohl der Onkel flüsterte. Folgsam erhob sie sich und wandte ihm den Rücken zu. Hinter Thalionmel raschelte es laut, so laut, daß es das Rauschen des Meeres und das geruhsame 313
Plätschern des Chabab beinahe übertönte. »Raschelt ein wenig leiser, Oheim, ich kann die Brandung kaum hören.« »Die Brandung, Kind, was meinst du damit?« Thalionmel hatte es vergessen. Brandung, dachte sie, während ihr Blick die Dinge auf dem Tisch streifte, die im Schein der Kerzen sanft zu schwanken begannen, ein schönes Wort. Die Borsten der Bürsten wuchsen und regten sich, die Zinken der Kämme bogen sich auseinander, um sich gleich darauf eng zusammenzuziehen, und die Pergamente hoben und senkten sich, als atmeten sie. Auch das Mädchen atmete ruhig und versuchte, ihre Atemzüge in Einklang mit dem Atem der Schriftstücke zu bringen, denn dann würde sie lesen können, was auf ihnen geschrieben stand, obwohl sie falsch herum lagen, das wußte sie. ›Kusmine von Brelak‹, stand auf dem einen, ›Kusmine von Brelak, Kusmine von Brelak, Kusmine von Brelak‹ und ›Durenald von Brelak‹ auf dem anderen, ›Durenald von Brelak, Durenald von Brelak‹, wieder und wieder. Da hatten die Eltern dem Oheim aber seltsame Briefe geschrieben, dachte Thalionmel. Solche Briefe könnte sie auch schreiben, ohne zu klecksen und sich das Gehirn zu zermartern, und genau wie bei den elterlichen Briefen würde ihr Name am unteren Rand des Blattes viel schöner und säuberlicher und sich selber ähnlicher sein. Vielleicht würden sich die Eltern freuen, ihren Namen so oft zu lesen, denn ihr selbst bereitete die Lektüre viel Vergnügen, und sie las jeden Schriftzug - zehn oder zwölf pro Bogen mochten 314
es sein - mit großer Sorgfalt. Während Thalionmel die Briefe las, wurden sie allmählich durchscheinend, und nun konnte sie auch erkennen, was auf dem Blatt stand, das von den Bögen halb verdeckt war. Es war kein Brief der Eltern, vielmehr schien er von einem Schreiber verfaßt, denn die Handschrift war ihr unbekannt. Ich muß nur weiter so ruhig atmen, sagte sie sich, dann werde ich alles lesen können. Sie atmete ruhig und las: ›Unser letzter Wille: Wir, Durenald, Freiherr von Brelak und Kusmine, Edle von Malur und Brelak, entscheiden das Folgende für den Fall unseres Ablebens. Unsere bewegliche und unbewegliche Habe soll zu gleichen Teilen an unsere Tochter Thalionmel und meinen, Kusmine von Brelaks, Halbbruder Zordan Fuxfell fallen. Sollte bei unserem Tode unsere Tochter Thalionmel noch nicht volljährig sein, so wünschen wir, daß Zordan Fuxfell zu ihrem Vormund bestellt wird. Weiterhin soll Zordan Fuxfell das Lehen Brelak verwalten sowie das Erbteil unserer Tochter und es redlich zu mehren trachten...‹ »Du kannst dich nun wieder umdrehen«, unterbrach die Stimme des Onkels die Lektüre, und so hatte das Mädchen keine Gelegenheit, über den Sinn des seltsamen Schreibens nachzudenken, und kaum hatte sie sich umgewandt, war es auch schon vergessen. Zordan Fuxfell saß wie zuvor in seinem Sessel, lächelte freundlich und hielt Thalionmel die Schachtel entgegen, die er irgendwann einmal - das Mädchen konnte sich nicht darauf besinnen, wann es gewesen 315
sein mochte - aus seiner Satteltasche geklaubt hatte. Ein blaues Seidenband war kreuzweise darum gewunden und die Enden zu einer Rosette geschlungen. Die Seide glitzerte im Kerzenschein, und als Thalionmel das Päckchen nahm, im Licht drehte und die Rosette zart mit den Fingern berührte, entstanden immer neue Wunder von Licht und Farbe. »Wie schön«, murmelte sie, »wie wunderschön.« »Du mußt es öffnen, Dummchen, das ist doch nur die Hülle. Komm her, ich helfe dir.« Fuxfell schlug einladend auf seinen Schenkel, und Thalionmel ließ sich darauf nieder, so wie sie schon einmal zuvor oder oft zuvor - sie wußte es nicht - auf einem Schenkel gesessen hatte. Ja, als sie klein war, fiel ihr ein, da hatte der Vater sie immer auf seinen Beinen reiten lassen. Wenn ihr Tsafest war, hatte er sie auf den Schoß genommen, den Arm um sie gelegt und ihren ungeschickten kleinen Fingern geholfen, die Geschenke auszuwickeln und die Bänder zu lösen. Nun legte der Oheim den Arm um sie und führte ihr die Hand, als sie sich daranmachte, die Rosette zu zerstören. Es tat ihr leid um das schöne Gebilde, aber dennoch war sie glücklich und schmiegte sich wohlig an des Onkels Brust. »Und nun mach die Schachtel auf und sieh, was ich dir mitgebracht habe.« Vorsichtig öffnete Thalionmel den Deckel, und ein heller Freudenschrei entfuhr ihren Lippen. Auf einem Bett aus rotem Samt ruhte ein zierlicher Dolch, silbrig und golden, die gebogene Klinge reich ziseliert, und das Heft über und über mit roten, blauen und grünen Steinen besetzt. Das Licht brach 316
sich in ihnen, und die Farbkaskaden, die sie sprühten, übertrafen die der Rosette um ein vielfaches. »Darf ich ihn anfassen, Oheim?« fragte das Mädchen atemlos. »Natürlich, meine Kleine, er gehört ja dir.« Doch Thalionmel zögerte, als habe sie Angst, das glitzernde Wunderding könne sich auflösen oder in einen gewöhnlichen Dolch zurückverwandeln, wenn sie es berührte. Schließlich tippte sie die bunten Steine mit dem Finger an, dann nahm sie den Dolch entschlossen in die Hand. Vorsichtig fuhr sie über die Schneide, doch der winzige Schmerz blieb aus, und ihre Haut blieb unversehrt. »Er ist gar nicht scharf«, stellte sie bewundernd fest. »Gefällt dir mein Geschenk, kleine Nichte?« fragte Fuxfell. Thalionmel nickte. »Er ist wunderschön«, murmelte sie. »Dann solltest du deinem guten Onkel auch dafür danken.« »Ich danke Euch, Oheim«, sagte das Mädchen, ohne den Blick von dem Dolch zu wenden. Gerade hatte sie entdeckt, daß sich im Innern der Steine etwas bewegte. Man mußte nur lange genug hinschauen und die Waffe dicht vor die Augen halten. Was war es nur? Sie mußte wissen, was sich dort regte! Plötzlich erkannte sie es ganz deutlich. Es waren winzige Gestalten, die hüpften und winkten und mit ihr zu reden versuchten. Doch bevor sie ergründen konnte, was die Kleinen ihr mitteilen wollten, fühlte sie sich am Kopf gefaßt und sah die schwarz schimmernden Augen des Oheims vor sich. 317
»Ich möchte einen Kuß als Dank.« Thalionmel schloß die Augen, spitzte die Lippen und wollte sich eben zur Stirn des Onkels recken, als etwas Warmes sich auf ihren Mund legte und etwas Feuchtes versuchte, in ihn einzudringen. Sie riß sich los und ließ den Dolch fallen. »So küssen mag ich nicht«, sagte sie, als sie von seinem Knie glitt. Ein Schatten huschte über Fuxfells Züge. »Ich werde dich schon lehren, es zu mögen«, murmelte er. »Dann tanz für mich, wenn du nicht küssen magst«, und nun strahlte er wieder. »Aber Oheim, ich kann doch gar nicht tanzen. Zulhamin ist Tänzerin, aber ich bin Kriegerin.« Thalionmel trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Das freut mich für Zulhamin, wer immer das sein mag, doch auch du kannst tanzen, denn alle kleinen Mädchen können es. Schau mich an, ich werde es dir erklären.« Das Mädchen blickte dem Oheim in die Augen, sie waren schwarz mit schimmernden Reflexen darin, und während sie sich ansahen, sprach er leise zu ihr. »Du mußt tun, was ich dir sage, denn ich bin dein Freund, der liebe Onkel, der es gut mit dir meint.« Ein feines Kribbeln lief ihr über die Kopfhaut, drang durch die Schädeldecke bis ins Gehirn, und da wußte sie, daß er die Wahrheit sprach. »Nun dreh dich im Kreise«, fuhr er fort. »Hörst du die Musik? Sie ist ganz langsam, denn du sollst dich langsam drehen, damit ich dich gut betrachten kann und dir nicht schwindlig wird.« Tatsächlich, als der 318
Onkel die Musik erwähnte, hörte Thalionmel sie auch - einschmeichelnd sehnsuchtsvolle Lautenklänge, begleitet von fernen dumpfen Trommelschlägen. Das Drehen machte ihr Freude, zu sehen wie das Zimmer sich drehte, und alle Gegenstände darin allmählich zu schimmernden Streifen wurden, die sie umkreisten. »Du bist eine Schönheitstänzerin aus Brabak«, hörte sie fern und im Rhythmus der Trommel die Stimme des Oheims. Schönheitstänzerin? Thalionmel hatte das Wort noch nie gehört, aber es gefiel ihr, und gewiß würde der Onkel ihr gleich erklären, was es zu bedeuten hatte. »Du bist sehr schön«, fuhr die ferne, dumpf dröhnende Stimme fort. »Dir ist warm vom Tanzen. Du willst dich deiner Gewänder entledigen, sie sind dir lästig und sie verhüllen deine Schönheit. Wirf sie fort!« Mir ist warm vom Tanzen, dachte Thalionmel, sehr warm sogar, der Oheim hat recht. Erleichtert löste sie den Gürtel und ließ ihn zu Boden fallen. Nun, da das lederne Band sie nicht mehr beengte, fühlte sie sich schon ein wenig besser, doch ihr war immer noch heiß, und gleich würde sie zu schwitzen anfangen. Schon spürte sie, wie die ersten Schweißtropfen aus den Poren traten, das Linnen befeuchteten und es schwer machten wie festes Wintertuch. Das Gewand drückte sie, es preßte sich eng auf die Brust und machte ihr das Atmen schwer. Sie mußte es loswerden, sehr schnell sogar. Ohne den Tanz zu unterbrechen, streifte sie die Tunika über den Kopf und hielt sie eine Weile in der Hand, bis sie den Fingern entglitt. 319
»So ist es schön, sehr schön sogar«, erklang wieder die ferne Stimme, aber diesmal war sie so nah und leise, daß Thalionmel dachte, der Oheim habe ihr die Worte ins Ohr geflüstert. Sie wandte den Kopf, aber dort, neben ihr, war er nicht. Er saß in seinem fernen Sessel, lächelte und umkreiste sie. »So ist es schön, aber es ist noch nicht vollkommen«, fuhr die Stimme fort. »Der Schurz verhüllt das Schönste von dir, er stört das Bild vollendeter Schönheit. Du mußt ihn ablegen, um frei und glücklich zu sein.« Frei und glücklich, frei und glücklich, tönte das Echo, lauter fast, als die Stimme zuvor, und Thalionmel summte die Worte mit. Sie fügten sich gut zum Lautenspiel und dem dumpf grollenden Trommelschlag, dessen Rhythmus die Füße inzwischen ganz selbstverständlich aufgenommen hatten. Sie freute sich, daß sie so gut tanzen konnte, aber ihr Tanz war noch nicht vollkommen, und erst, wenn er vollendet schön wäre, konnte sie wirklich frei und glücklich sein. Die Hände des Mädchens wanderten zu dem Knoten, zu dem die Enden des Schamtuches verknüpft waren. Beseligt lächelnd nestelte sie daran, gleich würden sie Freiheit und Glück erwarten... Schließlich löste sich das Tuch, glitt hinab und fiel zwischen den Füßen nieder. Thalionmel hörte nicht, wie Fuxfell scharf die Luft einsog, sie drehte sich und drehte sich. Noch eine Drehung, und das Glück wäre ihr gewiß. Doch was war das? Etwas hatte sich um ihren Fuß geschlungen und versuchte, ihn festzuhalten. Sie drehte sich weiter, aber der Griff wurde fester, so 320
daß sie schließlich aus dem Takt kam und zu straucheln drohte. Schwankend hielt sie inne, unendlich enttäuscht, unsäglich traurig. Das Zimmer drehte sich immer noch, aber auch sein Tanz wurde langsamer und immer langsamer. Etwas Goldenes schwebte vorbei und kam zitternd auf dem Fensterbrett zu stehen - ein goldenes Oval. Ich muß mich von dem Schamtuch befreien und den Tanz von vorn beginnen, dachte Thalionmel, aber sie konnte den Blick nicht von dem goldenen Ding wenden. Etwas Helles spiegelte sich in der polierten Oberfläche, eine kleine helle Gestalt, und als das Mädchen behutsam näher trat, um sie genauer zu betrachten, regte sich die Gestalt. Das goldene Ding war ein kleiner Messingspiegel, wie Thalionmel nun erkannte, und das Helle darin sah aus wie ein menschliches Wesen. Ja, jetzt sah sie es ganz genau. Es war ein dünnes, blasses, nacktes Mädchen, das ihr vage bekannt vorkam. »Aber das bin ja ich!« schrie sie erschrocken. Das Lautenspiel erstarb, die Trommel wurde zu fernem Donner, und Thalionmel begann zu frösteln. Wo bin ich? dachte sie, und warum bin ich nackt? Sie drehte sich langsam um. Ihr Blick fiel auf den Tisch, den Schrank, das Bett und schließlich auf den Sessel, in dem ein schwarzbezopfter Mann saß, die müden Lider halb geschlossen, ein schiefes Grinsen auf den Zügen, und sie gelangweilt musterte. Sie kannte den Mann, es war der Halbbruder ihrer Mutter, ihr Oheim Fuxfell. Was tue ich nackt in des Oheims Zimmer? Wie 321
unschicklich! Bei Rondra, was ist geschehen? In Thalionmels Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Unfähig sich zu rühren, stand sie im Zimmer und starrte Fuxfell an. »Was ist dir, Kind?« hörte sie eine Stimme fragen, die ihr fremd und doch seltsam vertraut erschien. »Ist dir schwindelig? Komm, setz dich auf mein Knie und ruh dich aus. Du bist ja ganz blaß, meine Kleine.« Es war der Oheim, der gesprochen hatte, sein Grinsen wurde breiter und schiefer. Einladend schlug er mit der Hand auf seinen Schenkel, eine Geste, die das Mädchen verwirrte, da sie sie gut zu kennen glaubte und doch nicht wußte, bei wem oder wann sie sie schon einmal gesehen hatte. »Du mußt dich nicht fürchten«, fuhr der Oheim fort. »Ich bin dein Freund, dein lieber Onkel...« Ich bin dein Freund... Diese Worte, da waren sie wieder. Das Mädchen hatte sie schon einmal gehört, und damals hatte ein angenehmes Kribbeln den Kopf erfüllt. Jetzt blieb das Kribbeln aus. Verwirrt kratzte sie sich am Kopf, sah den Onkel an und überlegte, ob er wirklich ihr Freund sei. Sie konnte es kaum glauben. Er kannte sie ja gar nicht, war ein Spieler und Pferdeschinder und hatte sie verleitet, Gewand und Schurz abzulegen. Darum also bin ich nackt! Sie wußte es plötzlich, und als der Gedanke zur Gewißheit wurde, errötete sie tief. »Was habt Ihr getan, Oheim?« schrie Thalionmel. »Habt Ihr mich verzaubert, damit ich mich unschicklich entkleide?« Sie stampfte mit dem Fuß auf, doch als der Boden nachgab, hielt sie unsicher inne und blieb 322
schwankend stehen. »Ihr seid gar nicht mein Freund! Ich glaube, Ihr seid ein schlechter Mensch, und ich werde morgen alles den Eltern erzählen.« So schnell es der weiche Boden erlaubte, lief das Mädchen zur Tür. Doch dort stand schon jemand, faßte sie beim Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Gar nichts wirst du erzählen, Dummchen, du wirst schlafen... schlafen...« Tapp... tapp... machten die Füße des schwarzen Ritters. Nur wenige Schritt noch, dann hatte er sie erreicht. Thalionmel hob den Zweihänder hoch über den Kopf, und der Ritter tat es ihr gleich. Tapp... tapp... Der Ritter hob und senkte gleichmäßig die Füße, aber er schien nicht näher zu kommen. Nun wurde er blasser, fast durchscheinend, aber seine Schritte klangen noch genauso laut, wie zuvor. Tapp... tapp... tapp... tapp... Es dauerte ein Weilchen, bis Thalionmel völlig wach war. Ihr Kopf schmerzte, und sie fror. Ein kühler Luftzug streifte den Körper. Sie hatte vor dem Schlafengehen Fenster und Laden wohl nicht gut verschlossen, denn beide hatten sich im Wind gelöst, und der Laden schlug unablässig gegen die Hauswand. Klapp... klapp... klapp... klapp... Das Mädchen erhob sich rasch und verriegelte das Fenster. Ja, nun ist das Gewitter nicht mehr fern, dachte sie. Als sie sich hinausbeugte, um den Laden zu ergreifen, hatte der Wind ihr Haar gezaust, und bald würde ihm der Sturm folgen. Ein schöner Blitz mit Zacken und Verästelungen tauchte für einen kurzen Moment 323
das Land in weißbläuliches Licht, und bald darauf folgte ihm ein heftiger Donnerschlag. Thalionmel strich sich über die schmerzende Stirn. Sie hatte Wein getrunken, das wußte sie noch, und offensichtlich war er ihr nicht gut bekommen. Die Kehle war wie ausgedörrt, und es gelang ihr kaum zu schlucken. Als sie die Hand sinken ließ und zufällig den Bauch streifte, wurde ihr bewußt, daß sie nackt war. Seltsam, dachte sie, ich muß vergessen haben, mein Nachtgewand anzulegen. Vage Erinnerungen an schöne Farben, Musik und einen prächtigen Dolch tauchten aus der Dunkelheit der Träume empor, aber sie waren so undeutlich und verschwommen, daß sie wieder hinabsanken, bevor sie festgehalten werden konnten. Thalionmel tastete nach ihren Kleidern. Sie würde in die Küche gehen müssen, um sich etwas Wasser oder Bier zu holen, bevor es ihr völlig unmöglich wurde zu schlucken. Die Tunika, die sie am vergangenen Tag glaubte getragen zu haben, war nicht da, wo sie hätte sein sollen, und so suchte sie in der Dunkelheit nach den Satteltaschen. Wäre der bohrende Kopfschmerz nicht gewesen, hätte sie schneller gefunden, was sie suchte, denn sie wußte genau, wo die Satteltaschen standen und in welcher von beiden sich die bequeme rauhlederne Kniehose und der blaulinnene Überwurf befanden. Doch auch so brauchte sie nicht allzu lange, bis sie die Kleider in der Hand hielt. Erst als sie die Hose über die Füße streifte, merkte sie, daß sie Sandalen trug, und wiederum wunderte sie sich. Alle Lichter im Haus waren gelöscht, auch die 324
Fackeln in den Wandhaltern, und so tastete sich das Mädchen in fast völliger Schwärze zur Stiege vor. Der Wind war stärker geworden, er strich ums Haus und durch die Bäume und ließ ihre Blätter rauschen. Gut, daß es nicht mehr so heiß und drückend ist, dachte Thalionmel, als sie langsam die Stufen hinabstieg. Mir dröhnt der Schädel auch so genug. In diesem Augenblick ließ ein heftiger Donnerschlag das Haus erbeben, dem kurz darauf ein paar schwächere folgten, dann war außer dem Brausen des Windes und gelegentlichem fernen Klappern nichts weiter zu hören. Der Durst des Mädchens war inzwischen fast unerträglich geworden. So sehr hatte es sie noch nie gedürstet, und sie war sich nicht sicher, ob dem Traum mit dem schwarzen Ritter nicht ein weiterer gefolgt war, um sie zu prüfen. Vielleicht träume ich nur, daß ich durstig bin, und wenn ich mich bezwinge und zurück in meine Kammer gehe, statt Wasser zu holen, dann wird alles gut. Sie wußte nicht, was hätte gut werden sollen, und dachte auch nicht weiter darüber nach. Eben hatte sie die letzte Stufe überwunden und stand nun auf dem Gang, an dessen Ende sich, getrennt durch die private elterliche Schreibstube, die Schlafgemächer von Vater und Mutter befanden. Unschlüssig stand Thalionmel am Fuß der Treppe und konnte sich nicht entscheiden, ob sie wieder hinauf in ihre Kammer oder weiter hinab zur Küche steigen sollte. Ein schwacher Lichtschein am Ende des Gangs erregte ihre Aufmerksamkeit, und lautlos, fast ohne zu wissen, was sie tat, ging sie darauf zu. Das Licht drang 325
aus der Schreibstube, durch die Ritze unter der Tür, so schien es ihr zumindest, aber da es nicht gleichmäßig und beständig schien, sondern nur gelegentlich aufflackerte, war sie sich nicht sicher und tastete sich weiter vor. Der nächste Donner kam nicht unvorbereitet. Unmittelbar bevor der krachende Schlag das Gutshaus erschütterte, schlecht verschlossene Türen öffnete und Robak, Elgor und diejenigen des Gesindes weckte, deren Schlaf leicht war oder die am Abend zuvor nicht dem Trunke gehuldigt hatten, tauchte ein gleißender Blitz, dessen Widerschein durch die kleinen unverschlossenen Fenster des Treppenhauses drang, den Gang einen Wimpernschlag lang in gespenstisches Licht. Thalionmel sah alles deutlich wie im Traum: die polierten Dielenbretter, die illuminierten Holzschnitte zwischen den Fackelhaltern an der Wand, die schweren verschlossenen Türen, von denen die der Schreibstube gerade in dem Augenblick lautlos aufschwang, als der mächtige Donnerschlag das Mädchen zusammenzucken ließ. Dann umfing sie wieder schwarze Nacht. Nein, gänzlich schwarz war es nicht, denn das Rechteck der Tür am Ende des Gangs war von einem gelblichen Schein sanft erleuchtet. In dem matten Licht, als dessen Quelle Thalionmel jetzt eine Kerze und eine Öllampe erkannte, sah sie kleine Möbel, allerlei zierliche Gegenstände und sogar einen winzigen, emsigen Schauspieler, oder vielmehr eine Puppe, denn die Stube hinter der Tür gemahnte sie ungemein an die Bühne des Puppentheaters, 326
das sie beim letzten Jahrmarkt in Neetha mit Zulhamin besucht hatte. Was mochte das für ein seltsames Stück sein, fragte sie sich. Obwohl das Mädchen nicht alles deutlich erkennen konnte - sie blinzelte, um scharf zu sehen, aber das schwache Licht und die Entfernung von über sieben Schritt ließen die Konturen immer wieder verschwimmen -, kam ihr die Szene höchst merkwürdig vor. In der Kammer herrschte ein wüstes Durcheinander. Folianten waren aus den Wandborden gerissen, die Laden von Schränken und Kommoden, von Tisch und Stehpult waren herausgezogen, und der Inhalt lag zwischen den wertvollen Büchern achtlos auf Tisch und Boden verstreut. Der Deckel der Schatztruhe war geöffnet, und das Männlein - es war ein Männlein und keine Frau, das sah Thalionmel genau - war eifrig damit beschäftigt, silberne und goldene Münzen herauszuklauben und in einen ledernen Ranzen zu füllen. Gleich wird er ertappt, dachte sie, und dann gibt es ein feines Gefecht, denn genauso war es auch bei dem Puppenspiel gewesen. Das Männlein - es sollte wohl einen Tulamiden darstellen - hatte das rabenschwarze Haar zum Zopf geflochten. Es trug einen dunklen Umhang, und Mund und Nase waren mit einem Tuch verhüllt, als ob ein Sandsturm drohe. Während Thalionmel das Geschehen auf der kleinen Bühne aufmerksam verfolgte, hörte sie fern im Haus Robaks festen schnellen Schritt. Vermutlich schaut er nach, ob auch alle Läden geschlossen sind, dachte sie, denn nun kann es nicht mehr 327
lange dauern, bis der Regen kommt. Die kleine Gestalt auf der Bühne aber schien nichts zu hören. Sie raffte weiter die Münzen zusammen und unterbrach die Arbeit nur, um Deckel und Seitenwände der Truhe zu untersuchen und abzuklopfen. Eben kam Robak die Treppe empor. Ein paar Donnerschläge, ferner und leiser als die vorangegangenen, übertönten seinen Schritt, so daß er den Gang schon erreicht hatte, während noch das letzte Grollen verklang. Als Thalionmel den Lichtschein seiner Kerze gewahrte, drückte sie sich tief in den Schatten. Sie wollte nicht entdeckt werden, wußte aber selbst nicht, warum. »Bei Phex, was ist das?« murmelte der Lakai, als er an dem Mädchen vorüberging. »Die Herrschaft so spät noch bei der Arbeit... Aber nein... nein... bei allen Zwölfen...« Er lief los und hatte die Stube nun fast erreicht. In diesem Augenblick blickte der Vermummte auf, sah Robak und war in einem Satz bei ihm. Etwas Silbriges zuckte auf, gleißendhell im Schein des Blitzes, dem fast sogleich der Donner folgte. Als es wieder still und dunkel war, hatte sich die Szene in dem gelben Rechteck verändert. Der Tulamide hielt eine leblose Gestalt - sie sah Robak ähnlich - bei den Schultern und war dabei, sie in die Stube zu schleifen. Unruhig blickte er sich nach allen Seiten um, hielt lauschend inne und griff schließlich nach der Öllampe, die auf dem Tisch stand. Merkwürdig, dachte Thalionmel, als er die Flamme ausblies, nun macht er es sich noch dunkler, und auch ich kann kaum noch etwas erkennen. 328
So kam es auch, daß sie nicht zu deuten verstand, was das Männlein nun tat. Fuchtelnd und die Rechte schwenkend, so als segne oder beschwöre er Borde, Tisch und Schränke, schritt er durchs Zimmer. Dann trat er hinaus, um auch die angrenzenden Türen zu beschwören. Thalionmel hörte ein Klirren, wie wenn Glas zerspringt, sah, daß der kleine Tulamide erst nach dem Ranzen und dann nach der Kerze griff, sich zur Tür wandte, die Kerze ins Zimmer warf und dann mit großen Schritten den Gang hinunter eilte - genau auf sie zu. Nein, er hat mich nicht gesehen, dachte Thalionmel, als der Tulamide mit wehendem Umhang an ihr vorbeihuschte. Es war kein Männlein mehr, es war ein zierlicher Mann, und der schwache Dunst von Wein und Kräutern, der mit ihm vorüberwehte, erinnerte das Mädchen an irgend etwas längst Vergangenes. Doch hatte sie keine Zeit, über all das weiter nachzudenken, denn nun begann auf der kleinen Bühne ein faszinierendes Schauspiel. Überall, auf dem Boden, den Wänden, in Ritzen und Fugen, auf Möbeln, Büchern und Pergamenten begannen kleine Flammen zu züngeln, vereinzelt hier, in Kreisen, Streifen oder Bändern dort, doch hurtig wachsend und sich zu vereinigen trachtend, so daß binnen kurzem aus den zackigen Flämmlein prächtig lodernde Flammen geworden waren. Das Mädchen wäre fast gestrauchelt, als Blitz und Donnerschlag zugleich hinabfuhren aus den Sphären, so nah, daß der göttliche Odem sie streifte und all 329
ihre Haare und Härchen emporzog. Durch Türen und Mauerwerk hindurch sah sie den Blitz, gleißend weiß, prächtig und ebenmäßig gezackt wie eine gewaltige geflammte Klinge. Wie lange das Bild währte, wußte sie nicht, doch es verschwand mit dem kühlen Wind. Thalionmel erschauderte, als der plötzliche Luftzug sie streifte und gleich darauf heftig an Kleidern und Haaren zu zerren begann. Ja, nun kommt der Sturm, dachte sie, er ist schon da. Der Sturm war tatsächlich eingetroffen. Er pfiff ums Haus und zerrte an Schindeln und Läden, so daß der Lärm im Vergleich zu der dem Donner vorangegangenen Stille kaum wüster hätte sein können. Während Thalionmel all das fühlte und bedachte, erkannte sie nur langsam, was vor ihr geschah. Ein einziges Lodern erfüllte das Zimmer, und die Flammen hatten längst begonnen, getrieben von dem Wind, der durch die geborstene Scheibe drang, die Türen der Nebenräume zu belecken. Noch züngelten sie, hungrig suchend und fauchend, aber es dauerte nicht lange, da war es den emsigsten schon gelungen, das harte Holz zum Glühen zu bringen. Krachend barst es, doch das Mädchen hörte es nicht in all dem Gebrause. Es brennt, es brennt, gleich brennt das ganze Haus, dachte sie, starr vor Entsetzen. Unfähig zu rufen oder sich zu regen blieb sie auch, als sich, klar wie ein Kristall, ein Gedanke formte. Die Eltern! Die Eltern werden verbrennen! Wo blieben die Eltern? Blitz, Donner, Sturm und Feuer müßten sie doch längst geweckt haben. Wach auf, 330
Vater! Wach auf, Mutter! Bringt euch in Sicherheit, liebe Eltern! Thalionmel wollte schreien, aber die Zunge war unfähig, einen Laut zu formen. Nein, ob sie schrie oder schwieg, die Eltern würden nicht erwachen, das wußte sie mit einemmal. Sie schliefen fest, betäubt vom Wein, den der Oheim ihnen eingeflößt hatte. Und nun begannen, wie der Faden einer Spinnerin, die Bilder des vergangenen Abends an Thalionmels innerem Auge vorüberzuziehen. Manches sah sie deutlich und klar, anderes fügte sich kaum zusammen, aber eines war ihr Gewißheit. Der grausame, götterlose Oheim Fuxfell hatte Gold gestohlen, er hatte Robak ermordet, und er hatte einen Brand gelegt. Und die Eltern würden verbrennen. Noch immer vermochte das Mädchen nicht, sich zu regen oder um Hilfe zu rufen. Sie konnte nur dastehen und in die Flammen starren. Sie fühlte auch keinen Gram und keine Wut, nur Kälte und namenloses Entsetzen. Thalionmel war allein, ganz allein, von allen Göttern und Menschen verlassen, sie wußte es, genauso sicher, wie sie wußte, daß es kein Traum oder das Trugbild eines Rausches war, das sie gefangenhielt, sondern die schwarze Wirklichkeit. Kein Traum hätte je so voll des Grauens und zugleich so bar jeden Trostes sein können wie die Gegenwart, in der sie sich befand. Es hatte auch keinen Sinn zu schreien, dachte sie. Keiner würde sie hören, keiner ihr helfen, kein Mensch und kein Gott. Und deshalb konnte sie auch nicht beten. Zu wem hätte sie beten sollen? Die Götter waren ihr so fern, so gren331
zenlos und unermeßlich fern, wie sie es immer gewesen waren, nur hatte sie es bisher nicht gewußt. Die Götter nahmen keinen Anteil am Schicksal der Menschen, das sah sie klar, und ein menschliches Leben bedeutete ihnen so viel wie ein Sandkorn in Satinavs gewaltiger Sanduhr. Es war ihnen gleichgültig, ob die Eltern lebten oder starben, es bedeutete nichts... Aber mir ist es nicht gleichgültig, dachte das Mädchen, und plötzlich löste sich die Starre. Trotzig schritt sie auf die Flammenwand zu. Ich werde zumindest versuchen, sie zu retten, murmelte sie, und wenn ich dabei selbst den Tod finde, um so besser, denn auch an meinem Leben ist nichts gelegen. Denen es etwas bedeutet hat, die sind vielleicht jetzt schon tot, und mir bedeutet es ebenso wenig, wie den Zwölfen im fernen Alveran. Sie begann zu rennen, als sie durch das Tosen des Windes und das Brausen des Feuers hindurch einen hohlen, kaum menschlichen Schrei zu hören glaubte, doch dann verharrte sie verzweifelt auf dem engen Raum, der ihr zwischen den Zimmern der Eltern blieb, und sie wußte nicht, in welche Richtung sie sich wenden, ob sie Vater oder Mutter retten sollte. Gierig fraßen die Flammen sich ihren Weg. Die Türen der drei Räume waren längst zerborsten, und hinter ihnen brodelte es rot, gelb und weiß. Vom Wind oder namenlosen Kräften getrieben, züngelte das Feuer emsig weiter, zur Decke hin, deren hölzerne Täfelung es gefräßig zu verschlingen begann, und über den Dielenboden, dessen wächserne Politur zischend schmolz, wenn die Flammenzungen sie beleckten. 332
Thalionmel spürte nicht, daß die Hitze ihr Wimpern und Brauen versengte, sie bemerkte nicht, daß die Flammen sich zu einem lodernden Tunnel formten, aus dem es binnen kurzem kein Entrinnen mehr geben würde, sie sah die Funken nicht, die auf dem Haar und Gewand tanzten, und sie hörte den Schrei nicht, der ihrer Kehle entwich. Fassungslos starrte sie in das Licht ringsum. Wenn ihr sterben müßt, will ich auch sterben! dachte sie. Vor ihr zerbarst etwas, fiel in sich zusammen und verschaffte den Flammen neue Luft und Nahrung. Fauchend schossen sie nach vorn, schon griffen die ersten nach dem Mädchen und schlängelten sich um Füße und Beine. Nein, du mußt leben! sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Da wandte sie sich um und rannte davon. Thalionmel lief und lief und kam erst wieder zu sich, als die ersten schweren Tropfen Haupt und Schultern trafen. Sie stand im Küchengarten, wie sie feststellte, als sie sich suchend umblickte, allein und fernab von dem Getümmel im Hof. Dort wimmelten schreiende Frauen, Männer und Kinder panisch und kopflos durcheinander. Wie Ameisen, deren Burg zerstört worden ist, dachte das Mädchen und lachte bitter. Von ihrem Platz aus konnte sie das Geschehen gut überblicken. Sie stand weit genug entfernt, um das Schauspiel in seiner Gesamtheit erfassen zu können, jedoch so nah, daß sie auch Einzelheiten ausmachen konnte - der rechte Platz für die Baroneß, ging es ihr durch den Kopf, der Ehrenplatz. Getrieben vom Sturm, hatte das Feuer inzwischen 333
auch den Dachstuhl erfaßt. Hell und wild quollen die Flammen aus den geborstenen Fenstern und Luken, neckten und umspielten einander für ein Weilchen, um sich bald darauf zu vereinigen und den gierigen Raubzug fortzuführen. Immer, wenn ein Fenster zerplatzte, ein Balken zerbarst oder die suchenden Flammenfinger eine neue Öffnung gefunden hatten, sprühte triumphierend eine Funkenfontäne in die schwarze Nacht, die der Sturm sogleich ergriff und zu wirbelnden glitzernden Bändern formte. Die meisten der leuchtenden Punkte erloschen recht bald, doch andere wuchsen und wurden heller durch die Kraft des Windes, und diese schwebten davon wie die Samen einer Feuerblume auf der Suche nach neuem Nährboden. Auf dem Hof war das panische Gewimmel inzwischen einer sich verfestigenden Ordnung gewichen. Geleitet von einer dunklen, vertrauten Stimme begannen Männer und Frauen eine Kette zu bilden, die vom Brunnen bis nah ans Haus führte, so dicht zumindest, wie die hitzigen Flammen erlaubten. Thalionmel verstand nicht, was der Tulamide rief - der Sturm riß ihm die Worte vom Mund, kaum daß er sie geformt hatte -, aber die Leute schienen ihn gut zu hören, denn sie gehorchten seinen sinnlosen Befehlen. Als das Mädchen die winzigen Eimer, Krüge und Kübel sah, die unablässig gefüllt wurden und dann von Hand zu Hand wanderten, verzerrte ein Lachen ihre rußgeschwärzten Züge. Was konnten die wenigen Tropfen wohl ausrichten gegen die Übermacht der sturmgepeitschten Glut? Nicht mehr als die harten, 334
doch immer noch vereinzelten Regentropfen, die der Sturm mit sich trug. Zwar zischte und dampfte es, wenn die feindlichen Elemente aufeinander trafen, doch den Flammen schien alles nur ein Spiel, und lachend behielten sie stets die Oberhand. Auch Thalionmel lachte, sie konnte gar nicht aufhören zu lachen. Es schüttelte sie, ließ ihre Seite schmerzen und trieb ihr die Tränen in die von Qualm und Wind entzündeten Augen. »Nun, Rondra«, rief sie, als sie endlich wieder zu Atem gekommen war, »gefällt dir der Anblick?« Sie reckte die Rechte und schüttelte sie drohend. »Gefällt dir der Anblick«, rief sie abermals, »bist du zufrieden? Willst wohl mit Ingerimm Hochzeit halten statt mit Efferd, der dich so kläglich umwirbt.« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Ist das dein göttlicher Ratschluß, daß du die Guten vernichtest und die Schlechten erhältst?« Ein greller Blitz zuckte über den Himmel und machte für einen kurzen Augenblick die Nacht zum Tage, bevor er in die gewaltige Blutulme neben dem Gutshaus fuhr. So wild und schön war er, daß es dem Mädchen die Sprache verschlug, und die Worte »Ich hasse dich, ich hasse dich!«, die sie der Göttin hatte entgegenschleudern wollen, unausgesprochen blieben. Als das taghelle Weiß verloschen war und die Augen des Mädchens sich wieder an die rötlich erleuchtete Finsternis gewöhnt hatten, sah sie, daß ein leuchtender Regen auf das Dach des Pferdestalls niedergegangen war. Wie glühende Kobolde huschten die Funken über die Schindeln auf der Suche nach Halt vor der Macht 335
des Windes. Doch der Sturm war ihnen gewogen und fachte sie an, statt sie fortzujagen, und bald schon waren aus den ersten glimmenden Fünkchen gefräßige kleine Flammen geworden, die das trockene Holz begierig zu verzehren begannen. »Die Pferde! Rettet die Pferde!« schrie Thalionmel, aber keiner hörte sie. Es waren die Pferde selbst, die sich Gehör verschafften. Kaum war der Schrei des Mädchens verklungen, als schrilles Wiehern das Brausen von Sturm und Feuer durchdrang. Das Gebrüll der zu Tode geängstigten Tiere ließ die Kette von Menschen einen Augenblick innehalten, dann löste sich, begleitet von einer befehlenden Stimme, Elgors kleine Gestalt aus der Reihe. Er hätte sie früher freilassen sollen, dachte Thalionmel, als der Stallmeister in dem brennenden Gebäude verschwand. Nun werden sie ihn in ihrer Not zu Tode trampeln. Doch nichts dergleichen geschah. Nur wenige Augenblicke später, eine kurze Spanne Zeit, die jedoch ausreichte, mehr als das halbe Dach mit Feuer zu bedecken, erkannte das Mädchen in den Schwaden von Qualm, die aus der geöffneten Türe drangen, den Stallmeister, der sich mühte, einen roten, sich bäumenden und wild ausschlagenden Wallach am Halfter in die rettende Freiheit zu führen. Doch bevor es Elgor gelang, den Rauch gänzlich zu durchschreiten, drängten die anderen Tiere schon an ihm vorbei, bahnten sich schreiend ihren Weg und stoben davon in rasendem Galopp. Thalionmel nannte jedes beim Namen, als sie einzeln oder zu zweit dem Feuer entflohen: der 336
Wallach, Aldare, Praiosblume, Sindar, Horoban, Nella, Windkind, Mora... Wo blieb Alrik? »Alrik!« schrie sie. »Lieber Alrik, wo bist du?« Aber Alrik kam nicht, und als krachend das Dach des Stalles einstürzte, schwanden ihr die Sinne. Es dämmerte bereits, als Thalionmel erwachte. Der Sturm hatte nachgelassen, aber nun regnete es gleichmäßig und heftig. Noch bevor sie die Augen geöffnet hatte, wußte sie schon, was geschehen war, und es dauerte einen Augenblick, bevor sie sich entschließen konnte anzuschauen, was sie wußte. Steif und schlotternd vor Kälte erhob sie sich, strich sich das nasse Haar aus der Stirn und wischte sich das Wasser aus den Augen. Sie blinzelte, aber noch immer wollten die ihres Schmuckes beraubten Lider sich nicht voneinander lösen. Du mußt die Augen öffnen! befahl sie sich. Du mußt es dir ansehen! Viel war nicht übriggeblieben vom Gutshaus, obwohl es nicht gänzlich niedergebrannt war. Schwarz ragten die ehemals weißen Mauern in den grauen Himmel, schwarz waren die Balken und Sparren, die der Glut hatten trotzen können. Auch die Küche war nur noch eine Ruine, aber Gesinde- und Waschhaus waren fast unversehrt geblieben. Dort, wo einmal der Pferdestall gestanden hatte, türmten sich Schutt und glimmende Balken, und immer noch eilten geschäftige Menschen über den Hof, um die letzten Herde des Brands zu löschen. Es lohnt nicht, wollte Thalionmel ihnen zurufen, aber das Rufen und Einmischen lohnte 337
ebensowenig, und so schüttelte sie nur schweigend den Kopf. Sie konnte nun besser verstehen, was drüben gesprochen wurde, und deutlich erkannte sie Fuxfells Stimme, die immer noch Anweisungen gab. »Habt ihr die Baroneß nicht gefunden?« fuhr er ein paar verstörte Knechte und Mägde an. »Dann sucht weiter! Vielleicht lebt sie noch, vielleicht konnte sie sich in Sicherheit bringen.« Sie suchen nach mir! dachte Thalionmel. Nein, sie dürfen mich nicht finden. Ich muß leben! Sie duckte sich, huschte zwischen Stauden und Büschen davon, bahnte sich einen Weg durch triefendes Gras, längs Hecken und Gräben, bis sie das Feld erreicht hatte, hinter dem der Weg in den schützenden Wald führte. Die Praioskolben standen gut, überragten das Mädchen schon ein wenig, und entschlossen stapfte sie voran, das Gesicht mit den verschränkten Armen schützend. Sie dachte nichts und fühlte nichts, bewegte nur mechanisch die Füße, auf und ab, auf und ab, fort, fort. Als die nassen harten Blätter sie nicht mehr peitschten, wußte sie, daß sie den Weg erreicht hatte, und befahl den Beinen zu laufen. Brelak lag weit hinter ihr, längst umfing sie schützende Schwärze, aus der es rauschend tropfte, und noch immer lief das Mädchen. Warum muß ich leben? dachte sie und hielt sich die schmerzende Flanke. Damit ich das Seitenstechen spüre? Nein, mein Leben ist verwirkt, ich bin eine heimatlose Waise, ohne Zukunft, ohne Freude, und ich werde nie wieder lachen. Sie wußte nicht, ob es Regentropfen oder Tränen 338
waren, die unablässig aus den Augen rannen, es war ihr auch gleichgültig, und sie machte sich nicht die Mühe, sie fortzuwischen. Sie zwang sich, die Augen offenzuhalten, so lästig das Wasser auch in ihnen brannte, denn wenn sie sie schloß, sah sie Bilder, deren Anblick sie nicht ertragen konnte - die brennenden Eltern, das brennende Haus und die Dämonenfratze des Oheims. »Fuxfell!« schrie Thalionmel laut in die Finsternis, als die Erkenntnis sie traf. Darum also mußte sie leben, um die Eltern zu rächen und den Oheim zu töten. »Fuxfell!« rief sie noch einmal. »Bube, Mörder, falscher Onkel! Hörst du mich, dann merke auf! Ich werde dich töten, töten, töten...«
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Erklärung aventurischer Begriffe Die Götter und Monate 1. Praios = Gott der Sonne und des Gesetzes (entspricht dem Juli) 2. Rondra = Göttin des Krieges und des Sturmes (entspricht dem August) 3. Efferd = Gott des Wassers, des Windes und der Seefahrt (entspricht dem September) 4. Travia = Göttin des Herdfeuers, der Gastfreundschaft und der ehelichen Liebe (entspricht dem Oktober) 5. Boron = Gott des Todes und des Schlafes (entspricht dem November) 6. Hesinde = Göttin der Gelehrsamkeit, der Künste und der Magie (entspricht dem Dezember) 7. Firun = Gott des Winters und der Jagd (entspricht dem Januar) 8. Tsa = Göttin der Geburt und der Erneuerung (entspricht dem Februar) 9. Phex = Gott der Diebe und Händler (entspricht dem März)
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10. Peraine = Göttin des Ackerbaus und der Heilkunde (entspricht dem April) 11. Ingerimm = Gott des Feuers und des Handwerks (entspricht dem Mai) 12. Rahja = Göttin des Weines, des Rausches und der Liebe (entspricht dem Juni) Die Zwölf = die Gesamtheit der Götter Der Namenlose = der Widersacher der Zwölf Maße, Münzen und Gewichte Meile = 1 km Schritt = 1 m Spann = 20 cm Finger = 2 cm Dukat (Goldstück) = 50 DM Silbertaler (Taler, Silberstück) = 5 DM Heller = 0,5 DM Kreuzer = 0,05 DM Himmelsrichtungen Osten (Rahja), Süden (Praios), Westen (Efferd), Norden (Firun) Begriffe, Namen, Orte Achmad‘sunni = tulamidische Kriegerin Albernia = westliche Provinz des Mittelreiches Alveran = Wohnort der Götter Baltrir = einer der sieben Winde Beni Novad = Teilstamm der Tulamiden 341
Bosparanjer = kostbarer perlender Wein Beleman = einer der sieben Winde Dere = die Welt Dabla = kleine tulamidische Trommel Elenviner = Pferderasse Eternen = Gebirge östlich des Alten Reiches Garethi = aventurische Hochsprache des Alten und Neuen Reiches Golgari = der Totenvogel, Borons Bote Götterlauf = Jahr Hairan = tulamidisches Stammesoberhaupt Horoban = einer der sieben Winde Khom = Große Wüste östlich des Alten Reiches Kor = Sohn Rondras und des Drachen Famerlor, Gott der Söldner Kuslikana = höfischer Tanz des Alten Reiches Madamal = Mond Mhanadistan = Von Tulamiden bewohnte Region Mohas = aventurische Volksgruppe, Regenwaldbewohner Nachtwind = großer, gefährlicher Nachtvogel Nivesen = aventurische Volksgruppe des hohen Nordens Noiona = av. Heilige, Schutzpatronin der geistig Verwirrten Praioslauf = Tag Praiosscheibe = Sonne Rondrakamm = Zweihänderschwert mit geflammter Klinge Satinav = Dämon der Zeit Schivone = aventurischer Schnellsegler Schwert der Schwerter = Oberste(r) Rondrageweihte(r) Shadif = 1. Pferderasse der Tulamiden, 2. Steppenlandschaft südlich der Khom Sharisad = tulamidische Tänzerin Thalusien = Von Tulamiden bewohnte Region Tsafest = Geburtstag Tulamiden = aventurische Volksgruppe, Bewohner der Khom und der angrenzenden Gebiete
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