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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen András, László Der Fall Laurentis
Kriminalroman
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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen András, László Der Fall Laurentis
Kriminalroman
Ferenc J. Szücs, seines Zeichens Literaturkritiker und verhinderter Kriminalromanschriftsteller, liegt mit etlichen Knochenbrüchen im Krankenhaus. Verdammt zur Untätigkeit, entwirft er in Gedanken wieder einmal einen Krimi: Doktor Ernő Laurentis, Universitätsprofessor und korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften, wird eines Abends auf offener Straße erschossen. Ein Fall für Major Józsa, den bewährten Kriminalisten der Budapester Mordkommission. Den ersten Anhaltspunkt entdeckt Józsa in der Wohnung des Ermordeten: einen alten Zeitungsausschnitt mit einem Klassenfoto. Diese Spur führt ihn zu Menschen, die zu weit mehr als nur einem Mord fähig waren.
László András
Der Fall Laurentis
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: A Laurentis-ügy László András, 1966 © Originalverlag SZÉPIRODALMI KÖNYVKIADÓ, Budapest Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1981 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/147/81 • LSV 7264 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Ebook by *MM* Bestell-Nr.: 622 552 0 DDR 2,– M
ERSTE NACHT
Erstes Kapitel Józsa wollte gerade losgehen. Er schob die beiden Aktenordner in den Tischkasten, drehte den Schlüssel zweimal herum, zog ihn ab und steckte ihn ein. Er seufzte. Endlich nach Hause! Er blickte zur Wanduhr. Fünf Minuten vor elf. Um halb zwölf würde er zu Hause sein. Mórika hatte bestimmt ein warmes Abendessen vorbereitet. Er lächelte. Dicke Bohnen mit Räucherfleisch. Er hegte eine große Vorliebe für dicke Bohnen mit Räucherfleisch. Er ging zur Tür. In diesem Augenblick schrillte auf seinem Tisch das Telefon. Józsa blieb stehen. Die Augen brannten ihm vor Müdigkeit, sie lag ihm wie Blei in den Gliedern. Er machte kehrt und nahm den Hörer ab. „Józsa. Bitte.“ „Kommissariat des XIV. Bezirks. Leutnant Karpai, Wachhabender. Ich habe einen Mord zu melden, Genosse Major.“ Józsa straffte sich. Er war wieder ganz der alte. Tatendurstig und selbstbewußt. Dabei hatte er seit sechsunddreißig Stunden kein Auge geschlossen. 7
Hier hielt Ferenc J. Szücs einen Moment inne. Er überlegte. Die Frage stellt sich so: Ist es richtig, wenn ein ungarischer Polizeioffizier Überstunden macht? Bezieht sich die Überstundenregelung auch auf die Polizei? Obendrein, wer so erschöpft ist, kann gar nicht ordentlich arbeiten. Wenngleich die Spannung der Hirnarbeit gewissermaßen durch Selbstinduktion zustande kommt, das hat er neulich irgendwo gelesen. Aber trotzdem … Nein. Das Problem ist an den Haaren herbeigezogen. Ärzte, Polizisten und Literaturkritiker dürfen keine feste Arbeitszeit haben. Tag und Nacht, zu jeder Stunde müssen sie bereitstehen, dem Gemeinwohl zu dienen. Vorsichtig streckt er die linke Hand aus und tastet den Nachttisch ab. Er will nichts umstoßen. Das hier ist der Klingelknopf, das die Armbanduhr. Wie spät mag es sein? Nachsehen könnte er sowieso nicht. Er tastet weiter. Da ist es, das Glas. Behutsam umfaßt er es, hebt es an, stellt es auf die Bettdecke über seiner Brust, schiebt die Hand bis zum Rand des Glases hoch, fühlt ihn wie ein Blinder rundum ab und findet schließlich das Trinkröhrchen aus Kunststoff. Er schnipst so lange an das Röhrchen, bis es in die Richtung seines Mundes zeigt. Langsam neigt er das Glas, nur ganz wenig, das Röhrchen stößt erst an den Verband um sein Kinn, dann an den über seiner Nase. Endlich findet es den Mund. Den hat man beim Verbinden frei gelassen. Er saugt ausgiebig von dem Zitronensaft. Schade, daß er die rechte Hand nicht bewegen kann, sie ist eingegipst. Sonst würde er jetzt den Zeigefinger in das Glas stecken, um zu prüfen, ob noch genug Saft darin ist oder ob er nach der Schwester klingeln muß, damit sie neuen bringt. Na, später. Wenn er alle ist. Er mogelt das Glas auf den Nachttisch zurück. Jetzt liegt er nur. Es ist still. Er hört die Stille. Unter dem dicken Verband rauscht es ihm ein wenig in den Ohren. 8
Ihm ist warm. Er winkelt das linke Bein im Knie an, so, jetzt kommt ein bißchen Luft unter die Decke. Er bewegt die Zehen, damit sie beim reglosen Daliegen nicht einschlafen. Wo waren wir stehengeblieben? Etuka. Nein. Nicht Etuka. Der Mord. Und daß Józsa seit sechsunddreißig Stunden kein Auge geschlossen hat. Er mag diesen Józsa, diesen klugen, anständigen, kernigen Mann mit dem sauberen Familienleben, mit Mórika, seiner reizenden kleinen Frau. Eine unverrückbare, prima Figur. Józsa altert nicht. Er hat ihn vor dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahren erfunden, seither schreibt er – schreibt? denkt und spielt – Romane mit ihm, Kriminalgeschichten. Mit geschlossenen Augen, diszipliniert, denn so entspannt und zerstreut er sich, so fesselt er seine Gedanken. Er mag Józsa sehr. Józsa ist sein Meister Poirot und sein Maigret. Anfangs war Józsa noch Kriminaloberinspektor, einmal sogar (und dessen schämt sich Ferenc J. Szücs vor sich selbst, er denkt ungern daran) war er Jauser, ein großer, blonder, schlaksiger Gestapooffizier, der sich in Mórika, diese wundervolle braunhaarige ungarische Lehrerin verliebte, er hätte diesen Jauser sicherlich schon vergessen, aber Jauser heiratete Mórika, solchermaßen die deutsch-ungarische Freundschaft der stürmischen Kriegsjahre symbolisierend, dadurch wurde Jauser in Józsas Leben leider eine entscheidende Person, J. Szücs konnte auf Mórika nicht verzichten, J. Szücs war damals sechzehn Jahre alt, zum Glück verschwand Jauser, Józsa blieb, Józsa lebt, er ist Major der demokratischen Polizei und sehr müde, zu Hause kühlen in der Bratröhre langsam die dicken Bohnen mit dem Räucherfleisch aus, er hat seit sechsunddreißig Stunden kein Auge geschlossen, und nun auch noch dieser Mord … „Wer ist das Opfer?“ fragt Józsa in den Hörer. „Doktor Ernő Laurentis, korrespondierendes Mitglied 9
der Ungarischen Akademie der Wissenschaften“, meldet Leutnant Karpai. „Rührt nichts an. In fünfzehn Minuten bin ich dort.“ Major Józsa geht zur Bereitschaft und bestellt einen Wagen, jemand soll seine Frau anrufen, er komme später nach Hause, denn er habe noch zu tun, ihm bricht das Herz um die dicken Bohnen mit dem Räucherfleisch; als er aus dem Hause tritt, wartet der Wolga schon, er steigt seufzend ein. Er ist sehr müde. „Wir können, Genosse Kucsora. Zum Kommissariat des XIV. Bezirks“, sagt er zum Kraftfahrer, dann läßt er den Kopf an die Kopfstütze sinken und schließt die Augen. So hat auch Napoleon geschlafen, denkt er, bevor er einschläft. So. Immer mal fünf oder zehn Minuten. In der schwülen Sommernacht saust der Wolga eilig die Rákóczistraße entlang. „Es wird gewittern“, brummt Kucsora, ohne den Blick von der Fahrbahn zu wenden. Doch das hört Major Józsa nicht mehr. Er schläft. Kucsora lächelt breit. Der Arme, denkt er mitfühlend. Der muß ja hundemüde sein. Am Beginn der leeren Thökölystraße tritt er auf das Gaspedal. Er träte, wenn ihn Ferenc J. Szücs ließe. Er läßt ihn nicht. Er sitzt neben dem Genossen Kucsora im Wagen, und er tritt auf die Bremse. „Halt!“ Die Räder qualmen fast von dem jähen Bremsen. Der Wagen fährt an die Seite. Józsa schreckt hoch. „Was ist? Sind wir da?“ „Nein, Genosse Józsa. Ich begreife das nicht, es war, als hätte jemand scharf auf die Bremse getreten. Ich begreife das nicht.“ „Begreifen, begreifen“, sagt J. Szücs ärgerlich. „Natürlich begreifen Sie das nicht. Ich war’s. Das ist dumm so. 10
Wir verlieren wertvolle Minuten, wenn wir nicht sofort am Tatort sind.“ Józsa wendet nachdenklich den Kopf zur Seite. „Hm, das stimmt. Aber was soll ich jetzt tun? Der Wachhabende hat nicht gesagt, wo der Mord geschehen ist.“ „Das ist nicht seine Schuld“, sagt J. Szücs großherzig. Selbstkritisch ist er, man muß es ihm lassen. „Ich habe nicht daran gedacht, daß er es mitteilen muß. Immerhin hätten Sie ihn fragen können, Genosse Józsa. Sie sind kein Anfänger mehr.“ „Recht haben Sie, aber diese Müdigkeit, Genosse Szücs. Ich habe seit sechsunddreißig Stunden kein Auge zugemacht.“ „Schön, ich verstehe. Macht nichts. Ich weiß ja, wohin wir müssen. Wenden Sie, Genosse Kucsora. Der Mord geschah in der Nähe des Népstadions, schräg gegenüber der Stelle, wo die Jobbágystraße einmündet.“ Kucsora fährt an und wendet, dann fahren sie die Thökölystraße zurück. „Bin ich Gott, oder bin ich’s nicht?! Na also!“ brummelt J. Szücs halblaut durch die Mundöffnung des seinen ganzen Kopf bedeckenden Verbandes, im Bett seines Einzelzimmers im Krankenhaus liegend. Er ist sich völlig darüber im klaren, daß dies eine etwas überholte, altmodische Romantheorie ist, wenn sich der Schriftsteller, der wie Gott alles sieht und alles weiß, in das Schicksal seiner Helden einmischt, ihnen in die Seele sieht und in die Töpfe guckt, verfügt, anweist, Gesetze erläßt, aber Ferenc J. Szücs findet Gefallen daran, Gott zu sein, dann zumindest, wenn er im Kopf diese nie zu Papier kommenden und nie gedruckten Romane schreibt, ein souveräner Herrscher, gütig und gerecht, doch auch streng und die Stirne runzelnd. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht alles wissest. Aufgeklärter Absolutismus. Patriarchalische Anschauungen. Habe ich etwa einen Vaterkomplex? Vater hatte keinen Vaterkomplex. 11
Er hebt beide Arme, die Hände am Genick, das frisch angezogene Diensthemd ist unter den Achseln schon ein wenig verschwitzt, eine Geste, als tanzte er, so tanzen zu Pfingsten die Bauernburschen, aber er tanzt nicht, er öffnet nur den Metallhaken der Schnurrbartbinde am Genick, mit zwei kurzen Schritten ist er vor dem Spiegel, im Zimmer vermengen sich Seifenduft, der säuerlichsüße nächtliche Schlafgeruch der noch warmen Betten und der Petroleumgeruch der Schuhwichse, die glänzend schwarzen Stiefel, „die müssen glänzen, mein Junge, daß der Sonnenstrahl drauf ausrutscht und Kobolz schießt“, er beugt sich vor, dicht am Spiegel, nimmt die Schnurrbartbinde ab, legt sie behutsam und gedankenverloren neben die Waschschüssel, betrachtet im Spiegel die verklebten, zusammengepreßten Haare des noch kaum ergrauenden, schwarzen, dichten Schnurrbartes mit den schnörkelig nach oben gezwirbelten Spitzen, sie müssen gleich sein, ohne hinzusehen langt er mit der Rechten nach der kleinen Bürste, mit flinken, kurzen Bewegungen bürstet er den Bart, bis er lebendig aussieht, dann dreht er die Spitzen von oben nach unten und innen, einen Augenblick steht er starr da, die rechte Hand mit der Bürste in der Luft, nun streicht sie rechts und links über die Augenbrauen, die dichten, langen Augenbrauen, er blickt in den Spiegel, legt die Bürste weg, prüft mit der Rückseite des Zeigefingers die Glätte des Gesichtes, runzelt nochmals die Brauen im Spiegel, dreht sich dann um und breitet die Arme aus, Mutter steht hinter ihm, sie hält den Uniformrock wie eine heilige Jungfrau, doch er blickt nicht hinter sich, er steckt beide Arme in den Uniformrock, der braucht sich dabei nicht zu bewegen, das alles geschieht wortlos, mit einer Hand schließt er die Knöpfe, wie die Offiziere im Kino es tun, der Kautschukkragen, das Koppel, der erhobene Zeigefinger, dazu der tägliche Scherz, „daß du mir ja nicht bockig bist in der Schule!“, er weiß genau, daß ich 12
es nicht bin, er beugt sich zu Mutter herab, küßt sie auf die Stirn, ich zucke zusammen, als er mir mit der Hand über den Kopf streichelt, nun geht er, im Gehen nimmt er den Tschako mit den Hahnenfedern vom Haken, die Federn schwanken und schillern, er öffnet die Tür, geht hinaus und ins Nebenzimmer, durch die Nebentür in die Wachstube, er könnte auch direkt hinübergehen, aber vor der Tür zwischen den beiden Räumen steht der braune Kleiderschrank, Mutter tritt zum Fenster und öffnet es, immer öffnet sie es erst, wenn er geht, sie stößt die Fensterläden auf und hakt sie fest, draußen scheint die Sonne, bald ist Ostern, in Sankt Anton dröhnen die Glocken, morgen beginnen die Osterferien, aus dem Nachbarzimmer ist die Stimme von Korporal Balog zu hören, wie er Meldung macht in strammer Haltung, „Herr Oberwachtmeister, melde gehorsamst …“ Aber wie Karpai Meldung macht, als Józsa eintrifft, das ist anders, ganz anders. Schnatternd und bemüht, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen, berichtet er. Ein Liebespaar hat das Opfer gefunden, die beiden dachten, ihm sei schlecht geworden, der junge Mann hob ihn an der Schulter an, er fiel zurück, da liefen sie zu dem Café an der Ecke und telefonierten. Die Totenstarre ist noch nicht eingetreten, Leutnant Karpai hebt mit zwei Fingern das Packpapier an, das über die Leiche gedeckt ist, und zeigt sie Józsa. „Wurde er ausgeraubt?“ fragt Józsa. „Nein. In seiner Brieftasche haben wir dreihundertzwanzig Forint gefunden. Und Kleingeld. Er wurde erschossen. Von hinten. Hier ist der Einschuß.“ Karpai zeigt die Stelle. „Ist das seine Aktentasche?“ „Ja. Manuskripte und ein verpacktes Buch. Eine Sendung aus dem Ausland. Wahrscheinlich hat er sie gerade vom Postamt in der Versenystraße abgeholt.“ 13
„Wo wohnte er?“ „Nicht weit von hier. In der Kolumbusstraße.“ „Verheiratet?“ „Nach den Angaben im Personalausweis geschieden.“ Józsa hält Umschau, langsam läßt er den Blick umherwandern, er tut ein paar Schritte in die Richtung, aus der das Opfer gekommen sein muß, sieht auf das Opfer zurück, blickt auf den Boden, schätzt mit den Augen die Richtung ab, aus der der Schuß vermutlich abgegeben wurde, geht dann zu Karpai zurück. „Sorgt dafür, daß alles genauestens untersucht wird, bringt dann die Leiche weg. Ich wünsche noch heute nacht einen Bericht über die ärztliche Untersuchung, die Umstände, nähere Angaben. Benennen Sie einen Verbindungsmann, nehmen Sie dem Opfer die Schlüssel aus der Tasche, vorsichtig. Sie kommen mit mir zur Kolumbusstraße. In fünf Minuten am Wagen. Das wär’s.“ Józsa wendet sich ab und zündet sich eine Zigarette an. Langsam und nachdenklich spaziert er zum Wagen. Er hält Kucsora die Schachtel hin. Der wehrt lächelnd ab. „Immer noch Nichtraucher, Genosse Major.“ „Ach ja. Ich hab’s vergessen.“
Zweites Kapitel J. Szücs hat das Gefühl, daß er allmählich reinkommt. Sie macht sich, die Story, sie macht sich. Vorläufig hat er noch keine Ahnung, wer Ernő Laurentis getötet hat, auch nicht, was das Motiv der Tat sein mag, richtig, das ist es, die alte, in Hexameter gesetzte goldene Regel: quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando, also, nicht in Hexameter gebracht: wer, was, wo, wodurch, warum, 14
wie, wann, aber wenn er das alles wüßte, wären die Ermittlungen für ihn gar nicht mehr interessant. Er mag diese wohltuende, erregende, intellektuelle Spannung; Kreuzworträtsel, Bridge, Rommé und Canasta sind Blödsinn, J. Szücs verachtet alle, die Kriminalromane rückwärts schreiben, die erst die Lösung suchen und dann von hinten her die Handlung hinzukonstruieren. Das ist keine Mathematik, Genossen, läßt er Józsa gerne sagen, sondern das pralle Leben. Danach legt Józsa gewöhnlich eine kleine Kunstpause ein – warum sollte es gerade ihm an natürlicher menschlicher Eitelkeit gebrechen? – er genießt es, daß seine jüngeren, weniger erfahrenen Kollegen seine Worte verschlingen, er blickt sich im Raum um, dann setzt er hinzu: Allerdings gehört auch die Mathematik zum Leben, so daß auch sie nicht verachtet werden darf. J. Szücs in seinem Krankenhausbett ist also aufgeregt, aufgeregt auch an Józsas Statt, denn Józsa kann sich nicht aufregen, der ist ein alter Fuchs, ein routinierter Kriminalist, er hat schon in allen Bereichen gearbeitet, vom Verkehr und Unfallschutz über die Verwaltung und die Sitte bis hin zu Straftaten gegen das Volk, er kennt das Fach mit allen Tricks aus dem Effeff, alle technischen Möglichkeiten sind ihm vertraut, Józsa regt sich nicht auf. Er steht vor der Gartentür des Hauses in der Kolumbusstraße und wartet, daß der Hausmeister herauskommt und aufschließt. „Polizei“, sagt er zum Hausverwalter und zeigt seinen Dienstausweis. „Wir suchen die Wohnung von Doktor Laurentis.“ „Vom Herrn Professor? Großer Schöpfer, was ist passiert? Ich weiß gar nicht, ob er zu Hause ist. Weggehen habe ich ihn nicht gesehen.“ Der Hausmeister ist unruhig, erregt, aber Józsa weiß, das ist normal, das Verhalten des Hausmeisters ist ihm nicht verdächtig. 15
„Welches ist die Wohnung des Professors?“ fragt er. „Zweiter Stock, Nummer drei. Kommen Sie, ich zeig sie Ihnen. Dort ist der Fahrstuhl.“ „Danke, wir finden allein hinauf.“ Ein Fahrstuhl ist nur ein Fahrstuhl. Ein Treppenhaus ist Terrain. Der erste Schlüssel, den Józsa ausprobiert, paßt nicht, aber der zweite öffnet Laurentis’ Wohnung. Karpais kleine Taschenlampe leuchtet, sie finden den Schalter und knipsen das Licht an. Die Wohnung ist leer. Zwei Zimmer und die Diele. Bücher, überall Bücher. Ein moderner kleiner Kleiderschrank, Radio mit Plattenspieler, ein großer Schreibtisch voll mit Papier, überall peinliche Ordnung. Auch auf dem Schreibtisch. Józsa geht in der Wohnung umher, öffnet den Kleiderschrank, schließt ihn wieder, sieht sich die beiden Gläser auf dem Tisch und die halb gefüllte Ginflasche an, hebt das eine Glas hoch, schnuppert hinein, besichtigt die Couch, hebt die daraufliegende Decke hoch, legt sie zurück, geht ins Badezimmer, blickt in den Toilettenschrank, betastet das Handtuch, geht in das Arbeitszimmer zurück, setzt sich an den Schreibtisch, hebt ein mit Schnur umwickeltes Manuskriptbündel an, zieht den Schubkasten auf, nimmt ein Blatt Papier heraus, liest. „Liebster, ich war doch hier, nett wie ich bin, aber ich eile, morgen früh fahre ich mit Dóra für ein paar Tage zum Plattensee, entschuldige, daß ich erst nach sieben kam, Aurél hat aus Berlin telegrafiert, daß er mich um acht anruft, deshalb habe ich dich nicht angerufen. Ich schick’ dir eine Karte, wann ich zurückkomme. Küßchen. Zsu.“
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Aufmerksam liest Józsa die Nachricht, die Laurentis nicht mehr bekam, zweimal durch. Dann überprüft er weiter den Schreibtisch. Eine Art Schulzeitung. FerencKölcsey-Gymnasium, 1932. Er blättert darin, legt sie beiseite. Der Kalender. 17. Juli. Armer Professor, denkt Józsa. Den 17. Juli hat er im voraus abgerissen, er wird ihn nicht mehr erleben. Er wendet sich Karpai zu, mit dem er bisher nur halbe Worte gewechselt hat. „Nun?“ „Ich glaube, die Sache ist klar. Er wartet auf eine Frau, sie kommt nicht, er geht zur Post, inzwischen kommt sie und läßt den Zettel hier. Die Gläser sind unbenutzt, der Professor hat auch nichts getrunken.“ „Ja“, sagt Józsa matt. „Und Ihnen ist nicht aufgefallen, daß diese Frau einen Wohnungsschlüssel hat? Sie ist also seine ständige Freundin. Klein und braunhaarig und, wie auch der Zettel zeigt, natürlich verheiratet, ihr Mann ist in Berlin. Rufen Sie die Fernauskunft an und fragen Sie, wer gegen acht Uhr aus Berlin angerufen wurde.“ „Aber woher wissen Sie, daß die Frau klein und braunhaarig ist, Genosse Major?“ „Sind Sie verheiratet, Genosse Karpai?“ „Ledig. Noch.“ „Na ja. Sie haben das Negligé in seinem Kleiderschrank gesehen, nicht wahr? Und die Pantoffeln. Größe fünfunddreißig. Ein großes, kräftiges Weibsbild hat nicht die Schuhgröße fünfunddreißig. Und braun? Was für Haar hat Laurentis?“ „Hellblondes, soweit ich mich erinnere.“ „Bitte. Haben Sie nicht bemerkt, daß zwischen den Zinken des Kammes im Badezimmer mehrere lange, braune Haare steckten?“ „Ich muß noch viel dazulernen, Genosse Major.“ „Schon gut. Machen Sie sich nichts draus. Wer verheiratet ist, weiß immer mehr von solchen Dingen.“ 17
Karpai setzt sich ans Telefon, spricht mit der Auskunft. Józsa inspiziert nochmals die Wohnung. Er nimmt ein Buch aus dem Bücherregal und blättert darin, geht zum Schreibtisch und sieht sich die Schulzeitung an, dann wieder das Blatt Papier, er studiert die Handschrift der Frau. Er findet den Abreißblock, von dem der Zettel stammt, hebt ihn hoch, nimmt das erste, leere Blatt ab und hält es schräg gegen das Licht, betrachtet es, seufzt. Karpai sitzt am Telefon, er wartet auf die Antwort. Er hält die Sprechmuschel zu und sagt zu Józsa: „Zwischen sieben und neun kam ein einziger Anruf aus Berlin. Für den türkischen Exportkaufmann Mutalaki Eftin Bei im Hotel Duna. Die Kollegin sieht jetzt nach, ob unter allen Anrufen des Tages einer für einen Anschluß ist, dessen Inhaber den Vornamen Aurél trägt. Darauf warte ich.“ Und gleich danach in die Sprechmuschel: „Ja, ich bin noch da. Ich schreibe mit. Ja. Um fünfzehn Uhr dreißig. Besten Dank. Auf Wiederhören.“ Und zu Józsa: „Doktor Aurél Tamacskó. Hier die Adresse. Und die Rufnummer.“ „Der wird es sein“, seufzt Józsa. Die Augen fallen ihm fast zu. „Zsu hat den Professor auf dem Zettel beschwindelt.“ „Wir könnten die Nummer anrufen“, meint Karpai, „und die Dame vernehmen.“ „Unnötig, glaube ich. Aber versuchen Sie es, meinetwegen.“ Karpai wählt. Wartet. Mit einem Blick bedeutet er Józsa, daß das Rufzeichen da ist. Er wartet. Und wartet immer noch. Niemand hebt ab. Er nimmt den Hörer ein Stückchen vom Ohr weg, jetzt hört auch Józsa das Rufzeichen. „Legen Sie auf“, sagt Józsa. „Da meldet sich sowieso niemand.“ Aber Karpai bleibt zuversichtlich. Noch dreimal wählt er die Nummer, vergebens, dann legt er entmutigt auf. 18
„Sehen Sie“, meint Józsa. „Aber wie war das vorauszusehen?“ „Ohne Hexerei. Zsu hat den Professor insofern beschwindelt, als ihr Mann zu einer anderen Zeit aus Berlin anrief. Vermutlich hatte sie etwas anderes zu tun, als sie mit dem Professor hier verabredet war. Und diese anderweitige Beschäftigung dürfte sie daran gehindert haben, ihn anzurufen und das Rendezvous abzusagen. Leuchtet das soweit ein, Genosse Karpai?“ „Ja.“ „Also gut. Zsu entschloß sich plötzlich, mit Dóra zum Plattensee zu fahren. Wir wissen zwar nicht, wer Dóra ist, aber aus dem Vorangegangenen können wir ohne sonderliche Kühnheit schließen, daß Dóra der Deckname desselben Mannes ist, freilich nur für Laurentis, dessentwegen sie weder herkommen noch Laurentis anrufen konnte. Kurz, ein Abenteuer. Ein wichtiges. Später hat sie wahrscheinlich angerufen, Laurentis war nicht mehr zu Hause, sie kam schnell her, möglicherweise im Taxi, schrieb den Zettel und eilte von dannen, vermutlich mit diesem dritten Mann zum Plattensee oder woandershin. Wir dürfen annehmen, wirklich zum Plattensee, wenn sie ankündigt, sie werde ihm eine Karte schreiben.“ Karpai ist voller Enthusiasmus und Dienstfreudigkeit. „Ich rufe das Taxiunternehmen an und versuche herauszubekommen, ob zwischen neun und elf Uhr irgendeine kleine, braunhaarige Frau in diese Gegend gefahren worden ist.“ „Überflüssig. Überflüssig aus zwei Gründen. Erstens, weil wir ohnehin wissen, daß sich zu diesem Zeitpunkt, also annähernd zur Zeit des Mordes, Zsu hier aufgehalten hat. Und zweitens, Genosse Karpai, falls Sie es vergessen haben, weil sich die Filmstudios hier in der Kolumbusstraße befinden. Da liegt es auf der Hand, daß in diese Gegend sehr viele Frauen mit dem Taxi kommen, 19
darunter auch kleine, braunhaarige, und zwar häufig und zu den verschiedensten Zeiten. So daß wir eigentlich gehen können, Genosse Karpai.“ Aber Karpai bleibt bedrückt auf dem Stuhl sitzen. „Was ist denn nun schon wieder?“ fragt Józsa, von der Tür zurückblickend. „Manchmal glaube ich, aus mir wird nie ein richtiger Kriminalist.“ Józsa lächelt. „Machen Sie sich nichts draus, ich sagte es schon. Ich bin auch nicht in vollem Rüstzeug der Stirn des Zeus entsprungen. Praxis und Erfahrung, das braucht man, Genosse Karpai. Ein altes spanisches Sprichwort sagt: Der Teufel weiß mehr, weil er alt ist, und nicht, weil er der Teufel ist. Ruhig bleiben. Immer mit der Ruhe. Aber gehen wir jetzt, sonst schlafe ich im Stehen ein. Ach, nur gut, daß wir noch hier sind, sonst hätte ich das vergessen!“ Er nimmt Zsus Mitteilung vom Schreibtisch, zögert einen Augenblick, steckt den Zettel dann in die Schulzeitung und nimmt sie mit. „Bitte, hier sind die Schlüssel, schließen Sie die Wohnung ab, ein Siegel wird nicht nötig sein, wir sagen dem Hausmeister Bescheid, daß er niemand hineinlassen soll. Zsu wird jetzt für einige Tage sowieso nicht auftauchen. Morgen ist die Wohnung systematisch zu durchsuchen. Still und unauffällig. In bezug auf Zsu völlige Diskretion! Tamacskó können wir, glaube ich, von der Liste der Verdächtigen streichen, vielleicht auch Zsu, zumindest scheint das naheliegend, vielleicht auch Eifersucht als Mordmotiv. Obgleich das noch nicht sicher ist.“
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Drittes Kapitel J. Szücs ist mit dem bisherigen Resultat zufrieden. Er legt eine kleine Pause ein, stellt seine Vermutungen an, faßt zusammen. Das ist unbedingt notwendig, aus drei Gründen. Erstens: um sich alles fest einzuprägen, damit später nichts vergessen wird oder unberücksichtigt bleibt; zweitens: zwecks weiterer Verwicklung der Angelegenheit, wichtig ist auch die Beseitigung der bisher eventuell entstandenen Widersprüche, wichtig ist ferner die Verknüpfung der eigenmächtigen Fäden; drittens: auch dem Kritiker muß Arbeit geboten werden. Die bisherigen Geschehnisse sind einer strengen Kritik zu unterziehen. An einen Versuch, den Mörder herauszufinden, denkt er noch gar nicht. Das wäre ein übereilter Schritt und vorläufig ganz unnötig. Doch er überlegt schon, weshalb Ernő Laurentis ermordet wurde. Und auch die Charaktere der Figuren zeichnen sich bereits ab. Zum Beispiel diese Zsu. Sie verspricht sehr interessant zu werden. Wie Józsa die Kriminalistik, so beherrscht er die Kniffe des Romanschreibens aus dem Effeff. Vor allem ist er sich über seine eigenen, die im Kopf, in der Phantasie angewandten Schreibmethoden im klaren. Diese Zsu ist eindeutig aus zwei Personen gemodelt. Dem Äußeren nach ist sie Etuka, davon zeugen ihr Wuchs, die Schuhgröße fünfunddreißig und das braune Haar, und die Leichtblütigkeit hat sie von Babsi, Etukas bester Freundin, also von Frau Ottilia Göndös, geborene Préth, einem nymphomanischen Flittchen mit jungfräulicher Unschuld verströmendem Madonnenkopf, über die Schultern herabreichendem Blondhaar und reinen, himmelblauen Augen, ein nymphomanisches Flittchen, es gibt keinen besseren Ausdruck, ein Luder, ein Miststück, ein … Und dieses Weib ist Etukas beste Freundin, nicht einmal die beste, sie ist ihre einzige, und Babsis schmutzige Affären muß sich Ferenc 21
J. Szücs anhören, bis ins letzte Detail, denn Babsi erzählt Etuka alles, weil sie weiß, daß Etuka schweigt wie ein Grab und es niemandem weitererzählt, Etuka ist keine Klatschtante, aber sie ist auch nur eine Frau, irgendwem muß sie es erzählen, das versteht J. Szücs voll und ganz, und wem sonst sollte sie es erzählen als ihm, ihrem Ehegatten. „Hör endlich auf, Etuka. Babsis dreckige Affären hängen mir zum Halse heraus.“ „So, so, zum Halse heraus, Ferenc. Na gut. Dann erzähle ich jetzt weiter. Soll ich weitererzählen, Ferenc?“ „Erzähl weiter, Etuka.“ Und so geht es seit vierzehn Jahren. J. Szücs ist sich über alles im klaren, oder zumindest meinte er lange, er sei sich über alles im klaren, denn er ist ein Menschenkenner, er weiß, welche seelische Verletzung die Brutalität deutscher Soldaten einem halbwüchsigen Mädchen zufügen kann. Etuka war im physischen Sinn des Wortes kein Mädchen mehr, als sie 1950 neunzehnjährig Ferenc J. Szücs heiratete, Tränen standen ihr in den herrlichen braunen Augen, als sie ihm erzählte, wie sich fünfundvierzig in Szombathely gleich drei der in wilder Flucht befindlichen deutschen Soldaten über sie hermachten, da war Etuka erst vierzehn, zum Glück blieb sie nicht schwanger, seither ist sie es allerdings auch nie wieder geworden, leider, in den ersten Monaten nach der Hochzeit führten sie noch ein richtiges Eheleben, aber eines Abends dann gestand ihm Etuka, wieder mit Tränen in den Augen, sie ekle sich vor dem körperlichen Zusammensein, bisher habe sie nur nichts gesagt, weil sie ihn nicht habe kränken wollen. „Vielleicht sollte ich zum Arzt gehen? Ich fühle mich so unglücklich“, sagte Etuka, die Tränen rollten ihr über die Wangen herab, dann ging sie monatelang zu einem Arzt, wie hat sie ihn gelobt, „er ist so sanft, er ist so klug“, einmal nahm sie Babsi mit, Babsi hatte dann ein Verhältnis mit dem Arzt, Babsi er22
zählte Etuka haarklein, wie nur intime Freundinnen zueinander sprechen, vom Verlauf dieses Verhältnisses, und Etuka erzählte es ihm weiter, klare Sache, Etuka ist jung, von der seelischen Verletzung abgesehen kerngesund, lebensprühend, begehrenswert, sie lebte sich aus in Babsis schmutzigen Affären. J. Szücs hatte vier Semester Psychologie studiert, gerade er sollte sie nicht verstehen? Transponierung der Persönlichkeit, so nennt man das. Etukas Leiden konnte aber auch der Arzt nicht beseitigen. Anfangs amüsierten J. Szücs die Abenteuer Babsis noch, wie es ihr mit Etukas Hilfestellung immer gelang, den vertrottelten Bálint, ihren Mann, übers Ohr zu hauen, der dieses nymphomane, perverse Flittchen vorbehaltlos und mit fast religiöser Inbrunst anbetete, aber sollte er Etuka den Umgang mit ihrer besten Freundin verbieten? Er hätte es vielleicht getan, wenn Etuka nicht diese seelische Verletzung gehabt hätte, diese schreckliche Erinnerung, die sie bei jeder körperlichen Berührung schaudern ließ, denn sie transponiert ja ihre nicht ausgelebten Begehren auf Babsi und lebt sich in Babsis Abenteuern aus, und zwar so stark, daß sie manchmal, wenn sie J. Szücs davon erzählt, vergißt, daß dies alles Babsi zugestoßen ist, weshalb sie dann in der ersten Person Einzahl erzählt, als wäre dies alles mit ihr passiert, aber J. Szücs weiß, wie das ist, noch vor der Heirat hat er Etuka gestanden, daß er im Kopf Kriminalromane schreibt, sollte ausgerechnet er nicht wissen, wie sehr man sich mit seinen Figuren identifizieren kann? Natürlich weiß er es, er kennt die Weltliteratur aus dem Effeff, tausend und aber tausend Romanhelden und Romanheldinnen, von den Nebenfiguren ganz zu schweigen, es gibt keine neuen Situationen, keine neuen Storys, alles ist schon einmal geschrieben worden, auch dies, einen Moment, gleich hat er es, die knospende, dann blühende Freundschaft zweier Mädchen in den strengen Mauern einer Klosterschule, später dann ihre 23
Ehen, die Fortsetzung der Freundschaft mit dem Wechsel von Haß und Liebe, die intimen Geständnisse, diese zweideutige, nur ahnbare, offene und zugleich heimliche Beziehung zwischen ihnen, einen Moment, J. Szücs konzentriert sich, und wären seine Augen unter dem Kopfverband nicht geschlossen, schlösse er sie jetzt, noch eine Sekunde, ja, er hat’s, Courtelier, zweideutige Freundschaften, Les amitiés ambigues, denn er hat es in Französisch gelesen. Ja, aber was tut Józsa jetzt? Józsa schläft jetzt. J. Szücs schläft nicht. Er weiß nicht, wie spät es sein mag, er nimmt an, zwischen acht und neun Uhr abends ist er aufgewacht, vielleicht ist es halb drei Uhr nachts, aber es könnte auch sein, daß es genauso spät ist wie jetzt bei Józsas, halb sieben am Morgen, in diesem Fall fiele die fiktive Zeit im Roman genau mit der wirklichen Zeit zusammen, denn heute ist der 17. Juli. Beziehungsweise doch nicht, denn Romane kann man nur über Dinge schreiben, die schon geschehen sind, auch wenn sie in der Zukunft spielen, die Ereignisse haben sich, am Zeitpunkt des Niederschreibens gemessen, in der Vergangenheit abgespielt, das Schreiben im Präsens ist lediglich eine belebende Stilmethode. Und wenn, denkt J. Szücs in konsequenter Logik, heute der 17. Juli ist und im Roman auch der 17. Juli ist, für Józsa also, der gegenwärtig noch zu Hause neben Mórika in seinem Bett schläft, dann ist alles vor mindestens einem Jahr geschehen, also 1964. Also: Was habe ich vor einem Jahr getan? fragt sich J. Szücs. Am 2. Juli habe ich die letzten Prüfungen an der Universität abgenommen, am 13. begann die Kritikerkonferenz in Prag, dort hielt ich am dritten Tag mein Referat, Einige Probleme des modernen sozialistischen Romans, das war am 15., am Vortag, das war also am 14., rief ich Etuka zum erstenmal aus Prag an, stimmt, zum zweitenmal am 16., da sagte sie, sie werde am nächsten Morgen mit Babsi und Bálint für 24
ein paar Tage zum Plattensee fahren. Das stimmt. Demnach bin ich auch Doktor Aurél Tamacskó, denn natürlich bin ich auch Józsa, eigentlich kann man ohne eine derartige doppelte oder mehrfache Transponierung der Persönlichkeit, ohne eine solche bewußte Bewußtseinsspaltung gar keinen Roman schreiben. Aber die Zeit verrinnt, der Mörder ist immer noch auf freiem Fuß, womöglich begeht er noch eine neue Schandtat, so leid es mir tut, daß er wieder nicht ausschlafen kann, ich muß Józsa wecken. Soll Mórika auch aufwachen? Anders: Mórika wacht auf. Józsa hat im allgemeinen einen leichten Schlaf, beim winzigsten Geräusch öffnet er schon die Augen, aber jetzt ist er so todmüde, daß er nur zweimal aufächzt, als das Telefon klingelt, er dreht sich auf die Seite und zieht die Bettdecke über den Kopf, denn Józsa schläft sommers wie winters unter einem Federbett. Mórika sagt immer: „Ich versteh dich nicht, Gábor, kommst du unter diesen dicken Daunen nicht um?“ Mórika springt aus dem Bett, sie ist immer noch wunderschön, rundlich und reif, ein hübsches ungarisches Gesicht mit einem kleinen Grübchen am Kinn, J. Szücs hätte auch nur so eine Frau geheiratet, wenn er ein so kräftiger, großer, kerniger Mann wäre wie Józsa, aber zu ihm paßt eine wie Etuka, sie ist nicht weniger gut gebaut, rundlich und dennoch schlank, wie Mórika, nur im kleinen. Mórika nimmt den Hörer ab, das Telefon steht neben Józsas Bett, sie setzt sich auf den Bettrand und schiebt das dicke Federkissen ein Stückchen beiseite, so sitzt sie da im Nachthemd, J. Szücs versenkt sich genüßlich für ein Weilchen in diesen Anblick, aber dann ruft er sich zur Ordnung, sprich nur, Mórika, sprich. „Hallo“, sagt Mórika. „Hauptmann Ringler, vom Präsidium. Ich möchte den Genossen Józsa sprechen.“ 25
„Ich bin seine Frau. Mein Mann schläft.“ „Es tut mir sehr leid, aber Sie werden ihn wohl wecken müssen. Es ist sehr wichtig.“ „Einen Moment, Genosse Ringler, ich versuche es.“ Mórika schüttelt Józsa sanft an der Schulter. Lächelnd betrachtet sie diesen riesigen Teddybärmann, der schläft wie ein Murmeltier. „Gábor …“ Józsa zuckt zusammen, öffnet die Augen, setzt sich auf. „Gib mir den Hörer.“ Dann in den Hörer: „Hier Józsa. Du bist es, Ringler? Ja. Verstehe.“ Schweigen. „Laß das Sektionsprotokoll, ich lese es nachher. Wann genau ist der Tod eingetreten? Das ist wichtig. Zwischen drei Viertel zehn und Viertel elf? Habt ihr euch seine Uhr angesehen? Es kommt vor, daß sie beim Fallen entzweigeht und stehenbleibt.“ „Eine Doxa-Armbanduhr, wasserdicht und schlagfest. Sie geht jetzt noch, als wäre nichts passiert.“ „Pech“, sagt Józsa knapp. Dabei betrachtet er Mórikas Rücken, während sie sich im leichten Nachthemd vorbeugt, um den Stecker der Kaffeemaschine in die Steckdose zu stecken. „Ruft Laurentis’ geschiedene Frau an, geht zu ihr, sprecht mit ihr. Ich bin in einer Stunde …“, er sieht Mórika an, die sich gerade aufrichtet und lächelnd zu ihm umdreht, „nein, etwa in anderthalb Stunden da. Ich muß noch mein gestriges Abendbrot essen. Mit leerem Magen kann ich nicht arbeiten. Servus.“ Er legt auf, faßt Mórika um die Hüfte, zieht sie auf seine Knie. Mórika umhalst ihn mit ihren weißen, nackten Armen. „Siehst du“, seufzt Józsa, „du hast einen unmöglichen Mann.“ „Ich weiß, ich weiß!“ Mórika lacht, beugt sich vor, küßt ihn. „Ich weiß doch, du großer Esel …“ Hier hält J. Szücs inne. Er überlegt, ob er sich auf weitere Details dieser intimen familiären Szene einlassen oder diesen Teil abschließen soll. Warum abschließen, 26
hält er sich entgegen. Schreibe ich den Roman für Leser unter achtzehn? Nicht mehr lange, und ich werde vierzig. Ich bin erwachsen, ich bin verheiratet. Es hat keinen Sinn, hier abzuschließen, außer mir liest es sowieso niemand, zudem bin ich krank, muß daliegen mit zerschlagenen Gliedern, da braucht man ein bißchen Unterhaltung. Das ist doch kein Jugendroman. Ich habe zwar Kertes’ Träge Katze hart kritisiert wegen des Einsatzes erotischer Elemente als Selbstzweck, aber das war was anderes. Im Roman kommen mindestens drei, genau besehen, sogar vier außereheliche Beziehungen vor, ganz zu schweigen davon, daß der Hauptheld schon zum drittenmal verheiratet ist, das alles spielt in dem Buch eine ziemlich entscheidende Rolle, mehrere als saftig zu bezeichnende Bettszenen beleben die Handlung, und das läßt sich auch nicht rechtfertigen, daß in dem gut aufgebauten Werk des ansonsten talentierten Kertes diese fast schon an Pornographie grenzenden Szenen eine funktionelle Bedeutung haben, diese Liebschaften und, nennen wir sie so, Liebessurrogate haben eine wichtige Funktion im Bewußtsein, in den Aktivitäten Dukász’, des jungen Haupthelden bei Kertes, eines Bauingenieurs, und dadurch in der Handlung des Romans. Aber Kertes denkt nicht an die Öffentlichkeit, die eine solche Einstellung in lauterer Moral entschieden ablehnt. Als ich mit Szalai im Kaffeehaus über Kertes’ Roman und über die Kritik, die ich darüber geschrieben hatte, diskutierte, warf er mir vor, ich sei konservativ, und ich wolle die veralteten Normen der christlichen Moral der sozialistischen Gesellschaft aufzwingen, die mit der Summe ihrer äußeren und inneren Veränderungen eine freie Welt freier Menschen zu schaffen beabsichtige und deren eine Aufgabe gerade darin bestehe, das Falsche, Unmoralische im Bewußtsein der Menschen auszutilgen. Und dabei besaß er noch die Dreistigkeit, dieser Schurke, sich auf die Dialektik der Natur 27
zu berufen! In Kertes’ Roman, behauptete er, spiegele sich ebendieser Übergangszustand gut wider, der revolutionäre Wandel im Bewußtsein, der Versuch, der alten Moral zu entfliehen, auch wenn Dukász zahlreiche Klippen zu überwinden habe, um schließlich in einer freien, reinen Liebe das innere Gleichgewicht seines Bewußtseins zu finden und daraus Kraft für seinen weiteren Lebensweg zu schöpfen. Und ich, ich solle mich gründlicher in der Welt umschauen und erkennen, daß Kertes die sich wandelnde, brodelnde Wirklichkeit darstellt! Denkt der Idiot denn, ich weiß das nicht? Aber er soll es nicht mit so groben Mitteln tun! In Sachen Marxismus wird mich so ein Szalai wirklich nicht in die Ecke drängen. Ich hab’s ihm gründlich gegeben. Unsere Anschauung lehnt die alte Moral ab, übernimmt aber gereinigt und realisiert auf höherer Ebene alles, was in dieser Moral fortschrittlich, nützlich und vorwärtsweisend ist. Den Anspruch auf Sauberkeit der elementarsten menschlichen Beziehungen. Die Öffentlichkeit duldet nicht, daß jemand unter dem Vorwand der Darstellung der Wirklichkeit mit naturalistischen Mitteln, mit schwülen, fast schon obszönen Bettszenen in der Sexualität herumwühlt. Das hatte die wirklich gute Literatur auch bisher nicht nötig. Worauf der blöde Kerl einwandte, bereits am zweiten Tag nach dem Erscheinen meiner Kritik sei Kertes’ Roman total vergriffen gewesen. Du hast die Bettszenen so schön kritisiert, sagte er, daß sich die Leser um das Buch geschlagen haben. Macht nichts, sagte er weiter, der Roman ist ja gut. Als ob ich geschrieben hätte, der Roman sei schlecht! Ich habe in meiner Kritik klar und deutlich gesagt, daß Kertes nicht unbegabt ist und wir noch viel von ihm erwarten können, wenn er sich davon lösen kann, das Erotische mit naturalistischen Mitteln darzustellen. Szalai fragte höhnisch: Und das ist für dich kein Naturalismus, wenn Dukász im Roman an seinem Zeichenbrett sitzt und sechs Druck28
seiten lang eine ganze Nacht hindurch einen Neubaukomplex entwirft, weil er am Morgen um neun Uhr abliefern muß? Nein, erklärte ich ihm, das ist kein Naturalismus, das ist die Apotheose der Arbeit! Dazu wußte er natürlich nichts mehr zu sagen, er winkte nur ab. Ach, meinte er, mit dir kann man nicht diskutieren. Die Erinnerung an dieses entnervende Gespräch hat J. Szücs leider von Józsa und Mórika abgelenkt, und als er wieder an sie denkt, sitzt Józsa schon am Küchentisch und löffelt die dicken Bohnen mit Räucherfleisch von gestern abend. Mórika sitzt ihm gegenüber, zufrieden, mit lächelndem Gesicht, das Kinn auf die Hände gestützt, sie sieht ihm zu, wie er mit Appetit futtert, schlingt, weil er Hunger hat und auch, weil er es eilig hat. Mórikas Haar, dieser prächtige, goldgelbe Haarschopf, ist jetzt viel zerzauster als vorhin, als J. Szücs sie nach dem Telefongespräch mit Ringler verließ, sie hat es nur rasch mit einer Perlmuttspange hinten zusammengesteckt, sie ist so schön, daß J. Szücs größte Lust verspürt, die beiden ins Bett zurückzuschicken, aber dann tut er es doch nicht, weil ihn die Schulter ein wenig schmerzt, anscheinend läßt die Wirkung der Schmerztabletten nach, macht nichts, dem menschlichen Denken sind keine Grenzen gesetzt, später wird er vielleicht zu seinem eigenen Vergnügen die Ereignisse zwischen dem Gespräch mit Ringler und der Küchenszene nachschreiben. J. Szücs streckt behutsam seine unversehrte linke Hand vor, ertastet den Klingelknopf und klingelt, dann wartet er. Er hört, wie sich die Tür öffnet. Und wie die freundliche, jugendliche Stimme fragt: „Bitte? Haben Sie einen Wunsch?“ „Meine Schulter tut weh.“ Er macht eine kleine Pause, er weiß nicht, wie er es sagen soll. „Und ich muß mal klein.“ 29
Viertes Kapitel Józsa sitzt an seinem Schreibtisch und sieht auf die Uhr. Halb elf. Keine zwölf Stunden sind vergangen, seit er den ersten Bericht über den Mord an Laurentis erhielt, und inzwischen hat sich eine Menge Papier angesammelt, Aussagen, Meldungen, Protokolle, Aufnahmen, alle erschließen weitere Details des Falles, der stellvertretende Minister hat bei Józsa angerufen, Laurentis war ein wichtiger Mann, Präsident mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften, außerdem Universitätsprofessor und korrespondierendes Mitglied der Akademie, einmal auch Minister, allerdings nur Botschafter und bevollmächtigter Minister, zwei Jahre lang, aber trotzdem, die Bedeutung seiner Person schließt nicht die Möglichkeit aus, daß der Fall einen politischen Hintergrund habe, hat der stellvertretende Minister am Telefon gesagt. Das glaubt Józsa zwar nicht, so sieht die Sache nicht aus, das hätte er schon gerochen, aber ihn macht nervös, daß er noch keine Theorie hat, wer der Täter sein könnte, kein Verdächtiger weit und breit, und deshalb ist auch das Tatmotiv unbekannt. Er hat bereits vier oder fünf Theorien ins Auge gefaßt, aber wenn er die Details zusammenzufügen begann, erwies sich jede Theorie als Sackgasse. Er hat sogar schon vermutet, daß ein Student der Täter war, den Laurentis bei der Prüfung hat durchfallen lassen, jetzt ist Sommer, jetzt waren die Prüfungen, er ließ bei der Universität anrufen, obgleich er selbst nicht ernsthaft an die Möglichkeit glaubte, und es zeigte sich, daß Laurentis in diesem Jahr niemanden hatte durchfallen lassen. Józsa bestellt bei seiner Sekretärin einen starken Mokka und sagt, daß er nicht gestört werden will, an Telefonaten nur das Dringendste, er arbeite jetzt. Er legt einen leeren Bogen Papier vor sich und teilt das Blatt in acht Spalten. Fangen wir von vorn an, sagt er sich dabei. Nach der alten, primitiven, lateinischen Methode. 30
Was geschah? Klar. Ein Mord an dem einundfünfzigjährigen Universitätsprofessor Ernő Laurentis. Wer beging den Mord? Wenn man das wüßte! Wie wurde der Mord begangen? Von schräg hinten, wahrscheinlich aus zehn Meter Entfernung, vermutlich von der Fahrbahn her. Womit? Diese Frage gehört logisch hierher. Ja, mit einem einfachen belgischen Browning, wie es unzählige gibt im ganzen Land. Würde die Waffe gefunden, könnte der Waffenexperte feststellen, ob der Mordschuß aus ihr abgegeben wurde. Aber wo befindet sich die Waffe? Die Waffe liegt nicht vor. Wo? Schräg gegenüber der Einmündung der Jobbágystraße, an der Seite des Népstadions. Wann? Am 16. Juli zwischen einundzwanzig Uhr fünfundvierzig und zweiundzwanzig Uhr fünfzehn. Warum? Das Tatmotiv ist unbekannt. Es gibt kein Motiv. Achte Spalte. Liste der Verdächtigen. Sie bleibt leer. Józsa starrt in die Luft und kaut an seinem Kugelschreiber. Leer der Kopf, leer das Papier, einen Einfall wünsch ich mir. Das stimmt natürlich nicht, Józsas Kopf ist voller Einfälle, sie führen nur nicht zum Erfolg. Józsa denkt über Zsu nach. Über Zsu, die ihn übers Ohr gehauen hat. Zsu heißt nämlich Dalma, und sie wird nur von ihren Freunden und Freundinnen Bizsu oder Zsu genannt, so hat sie auch den Zettel unterschrieben. Darauf bin ich reingefallen, denkt Józsa. Dalma Tamacskó geborene Andai, auch Zsu oder Bizsu genannt, Aufenthaltsort unbekannt. Ihre beste Freundin, Dóra Straub, stellvertretende Leiterin der Handelsabteilung im Betrieb für Warenbevorratung, hat Bizsu seit drei oder vier Tagen nicht gesehen, aber das hatte Józsa geahnt, also ist es klar, daß sie mit einem Mann verreist ist. Gestern abend. Über die Polizei nach ihr zu fahnden ist aussichtslos, der Plattensee hat Hauptsaison, Hun31
derttausende überall, da soll jemand Zsu finden. Beziehungsweise Bizsu. Bijou. Das Juwel, das Kleinod. Dabei wäre es wichtig. Die Daktyloskopen haben an dem abgerissenen Kalenderblatt vom 16. Juli, das im Papierkorb lag, Fingerabdrücke gefunden. Bei Laurentis macht die Hausmeisterin sauber, auch ihre Fingerabdrücke wurden gefunden in der Wohnung, aber auf dem Kalenderblatt befanden sich die gleichen Abdrücke wie auf den Pantoffeln Größe fünfunddreißig im Schrank. Die von Zsu. Ist es für die Ermordung Laurentis’ von Belang, daß Zsu dieses Kalenderblatt abriß? Kaum wahrscheinlich. Aber die Frage beschäftigt Józsa dennoch. Leider kann er sich nicht mit ihr aufhalten. Sehen wir lieber noch mal Laurentis’ Angaben durch. Geboren 1914 in Veszprém, der Vater Gymnasiallehrer, der 1920 wegen seiner politischen Aktivitäten zur Zeit der Räterepublik aus dem Schuldienst entlassen wurde, im selben Jahr nach Budapest übersiedelte und hier journalistisch tätig war. Ernő Laurentis besuchte das KölcseyGymnasium und legte 1938 an der Szegeder Universität seine Doktorprüfung ab. Wegen linker Einstellung wiederholte Belästigung durch die Horthy-Polizei, 1942 Einberufung zum Militär, wegen einer rezidiven Neuralgie aber entlassen, Tätigkeit als Beamter, 1943 schloß er die Ehe mit der Lehrerin Krisztina Braun … Józsa sucht zwischen den Papieren, zieht ein Blatt heraus. Das ist es. Aussage von Frau Krisztina Csépán, geborene Braun, geschiedene Laurentis. „Wir heirateten neunzehnhundertdreiundvierzig. Kinder hatten wir nicht. Wir trennten uns vor zehn Jahren, nach elfjähriger Ehe, im Guten. Mit Ernő traf ich mich danach nicht mehr, da ich neunzehnhundertfünfundfünfzig wieder heiratete. Wenn wir uns zufällig begegneten, unterhielten wir uns immer freundschaftlich. Er war still und nachdenklich veranlagt, trotzdem 32
eher ein Mann der Öffentlichkeit, kein Gelehrtentyp, sein Fachgebiet war die Archäologie der Bronzezeit, ihr widmete er auch alle Freizeit, als er notgedrungen Beamter war. Als er neunzehnhundertsechsundvierzig an die Universität berufen wurde, prophezeiten ihm viele eine steile Karriere in seinem Fach, aber daraus wurde leider nichts. Nun wurde er erst recht ein Mann der Öffentlichkeit, mir wäre es lieber gewesen, wenn er bei der Archäologie geblieben wäre. Von seinen Beziehungen zu Frauen weiß ich nichts, er hat nicht wieder geheiratet, vor einem oder einem halben Jahr hörte ich von jemandem, er habe ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau begonnen. Wer diese Frau ist, weiß ich nicht. Gesehen habe ich Ernő zum letztenmal vielleicht im März. In letzter Zeit begann er stark zuzunehmen, ich machte mir Sorgen und sagte ihm, er solle eine Abmagerungskur machen, aber er lachte nur. Schrecklich, daß er getötet wurde.“ Das ist alles sehr schön, denkt Józsa, bringt uns aber auch nicht weiter. Der Hausmeister und seine Frau, die bei ihm saubermachte, wissen nichts, Besuch erhielt er kaum, ab und zu ein paar Studenten, Jungen und Mädchen von der Universität. „Der Herr Professor hatte nur selten einmal Gäste, und darüber war ich froh, denn ich wasche nicht gerne ab“, sagt die Hausmeisterin. „Auch diese Dame kam nicht oft, genau wissen wir es natürlich nicht, aber ein-, zweimal in der Woche war sie vielleicht doch bei ihm. Das nehme ich wegen der Gläser an, sonst hat der Herr Professor nie Alkohol getrunken und abends immer nur kalt gegessen, hauptsächlich Joghurt. Mittags hat er immer in der Stadt gespeist.“ Stimmt. Józsa entsinnt sich, in der Küche eine leere Joghurtflasche gesehen zu haben, und das Sektionsprotokoll bekräftigt die Aussage der Hausmeisterin. Anscheinend wollte er doch wieder abnehmen. Am Vormittag hatte der Briefträger einen Zettel beim Hausmeister 33
zurückgelassen, er habe zum zweitenmal vergebens versucht, eine Büchersendung zuzustellen, nun sei sie bis zwanzig Uhr auf dem Postamt Versenystraße abzuholen. Laurentis hatte auf dem Postamt angerufen, er könne die Sendung erst nach acht abholen. Das war um neunzehn Uhr dreißig. Kurz vor acht ein weiterer Anruf, ob er nach neun Uhr kommen könne. Ja, hatte es geheißen, es sei zwar gegen die Vorschriften, aber er könne die Sendung bis dreiundzwanzig Uhr bei der Nachtinspektion in Empfang nehmen, er solle seinen Personalausweis mitbringen. Demnach war Laurentis entschlossen, bis einundzwanzig Uhr auf Zsu zu warten. Vielleicht haben sie sich nur um Minuten verpaßt, überlegt Józsa. Vielleicht aber auch um eine viertel oder eine halbe Stunde. Laurentis nahm die Büchersendung zwei Minuten nach halb zehn entgegen, der Pförtner auf der Post war der letzte, der ihn lebend sah, Laurentis grüßte mit „Guten Abend“, als er das Gebäude verließ. Es kommt ziemlich selten vor, daß jemand beim Weggehen grüßt, der Pförtner, Ferenc Babali, erkannte den Professor auf dem Foto wieder, ja, der hat gegrüßt. Wie spät es da war, wußte er nicht. Gegen halb zehn, sagte er. Die Bewohner in der Umgebung hörten keinen Schuß, oder sie überhörten ihn. In einer Wohnung an der Einmündung der Jobbágystraße ertönte aus dem Radio laute Tanzmusik, dort fahren oft Lastwagen vorbei, auch Postautos, ein Kind hat einen ausländischen Personenwagen gesehen, aber das war weiter oben, „dunkelgrau, ein Schlitten, kann ich Ihnen sagen, Klasse, welche Marke, weiß ich nicht, hab’ ich vorher nie gesehen“, sagte das Kind, das von seinem Vater aus dem Fenster im Parterre zum Abendessen hereingerufen wurde. Das Kind konnte nicht angeben, aus welchem Land der Wagen stammte, es wußte nur, daß es kein ungarischer war. Der Schuhmachergehilfe István P. Rottner und der 34
minderjährige weibliche Lehrling Júlia Z., die Laurentis’ Leiche entdeckten, wissen gleichfalls nichts, was den Ermittlungen voranhelfen könnte. Der Tote lag völlig im Schatten, „wir guckten auch gar nicht sehr herum, weil wir was anderes zu tun hatten, noch ein Schritt, und ich wäre auf seine Hand getreten. Da sagte Júlia: Paß auf! Was ist das denn? Ich bückte mich und dachte, da ist einem schlecht geworden, ich fragte noch: Was denn, Alter, geht’s Ihnen nicht gut? Aber da war mir die Sache schon mulmig, weil er sich überhaupt nicht bewegte. Ich hob ihn an der Schulter an, er war zu schwer und fiel zurück. Júlia sagte: Großer Himmel, ein Toter, der ist tot. Darauf ich: Ja, mausetot. Bleib du hier, sagte ich zu ihr, aber sie hatte Angst, sie kam mit. Wir gingen in das Café hinüber und sagten dem Chef Bescheid, er wollte anrufen, aber ich sagte, ich hätte die Leiche gefunden, ich rufe an. Und das habe ich auch getan. Den Rest wissen Sie.“ Dem Sektionsprotokoll zufolge war die Kugel unter dem linken Schulterblatt eingedrungen und in der rechten Herzvorkammer steckengeblieben. Der Tod trat sofort ein. Nach der gänzlich übereinstimmenden Meinung des Arztes und des Waffenexperten wurde der Schuß von der Fahrbahn her abgegeben, der Mörder war entweder wesentlich kleiner als der großgewachsene Laurentis, oder er schoß nicht, wie bei der Pistole üblich, mit gestrecktem Arm aus Schulterhöhe, sondern aus der Hüfte, von unten nach oben, was jedoch unwahrscheinlich schien, da hierbei selbst geübteste Schützen nicht genau zielen können. Gerade die Zielsicherheit schien auch die Annahme auszuschließen, der Schuß sei aus einem fahrenden Auto gekommen, und an einen Wagen, der länger am Straßenrand gestanden hätte, müßten sich die Anwohner wohl erinnern. Darüber zerbricht sich Józsa den Kopf. Wie automatisch greift er zum Telefonhörer und ruft Ringler an. 35
„Wie sieht es aus? Habt ihr versucht, zu rekonstruieren?“ „Ich bin in diesem Augenblick zurückgekommen und wollte dich gerade anrufen, aber du bist mir zuvorgekommen.“ „Sag schon, was ist!“ Józsas Stimme klingt gereizt. „Alter, es ist phantastisch. Soll ich zu dir kommen?“ „Später. Sag mir jetzt, was herausgekommen ist.“ „Also. Der Schütze war entweder ein Liliputaner oder ein Kind, aber auch dann haben sie von unten her geschossen, also nicht aus der Schulter, sondern aus der Hüfte oder etwas darüber, oder aber Laurentis wurde aus einem Auto erschossen.“ „Was ist daran phantastisch? Das wissen wir längst!“ „Aber entschuldige mal, Alter! Ein Liliputaner? Oder ein Kind?!“ „Ach, du redest Unsinn! Und wenn es eine kleingewachsene Frau war? Die einfach so auf ihn geschossen und zufällig genau ins Herz getroffen hat? Darauf bist du nicht gekommen?“ „Sieh mal an, daran habe ich gar nicht gedacht.“ „Aus welcher Höhe kam der Schuß?“ „Zwischen fünfundsiebzig und neunzig Zentimeter. Die Entfernung betrug höchstens drei bis vier und wenigstens zwei bis drei Meter. Hätte er, wie wir ursprünglich annahmen, aus zehn Meter geschossen, dann hätte er auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig auf dem Bauch liegen müssen, was wir wohl ausschließen können.“ „Das glaube ich auch. Na gut, danke. Später höre ich dann Ausführlicheres.“ „Jederzeit, wann es dir paßt, Gábor.“ „Servus.“ „Servus.“ Wie groß mag Zsu sein, das Bijou? Klein. Und so sehr selten sind Frauen mit einer Körperhöhe von einhundertfünfundvierzig Zentimetern nicht. 36
Józsa beugt sich vor, zieht die unterste Schublade seines Schreibtisches auf und beginnt darin zu kramen. Das ist sein Kramladen. Da gibt es alles. Er wühlt in dem Durcheinander herum, bis er ein ganz gewöhnliches, aufgewickeltes Zentimetermaß findet. Ich wußte doch, daß ich eins habe, denkt er. Er beginnt sich zu vermessen. Bald sieht er ein, daß er es bei sich mit anderen Proportionen zu tun hat, so läßt sich nicht kalkulieren. Er ruft seine Sekretärin herein. „Ja, Genosse Józsa?“ „Wie groß sind Sie, Elzike?“ Józsa bietet einen ziemlich komischen Anblick, wie er so dasteht, das Zentimetermaß in der Hand. „Einen Meter zweiundfünfzig, aber nur in Schuhen mit flachem Absatz.“ „Und barfuß?“ „Einen Meter fünfzig.“ „Ziehen Sie bitte mal Ihre Schuhe aus.“ Elzike wundert sich nicht, bei Józsa muß man auf alles gefaßt sein. Sie schlüpft aus den Schuhen und steht in Strümpfen auf dem Teppich. Józsa tastet ihr unter die toupierte Frisur und mißt die Entfernung vom Scheitel bis zur Schulter. Sechsundzwanzig Zentimeter. Dann den Oberarm bis zum Ellbogen. Elzike schüttelt sich und muß lachen. „Na … Das kitzelt ja, Genosse Józsa.“ „Entschuldigung … Das sind neunundzwanzig Zentimeter.“ Also fünfundfünfzig Zentimeter. Wenn eine Frau, die einen Meter und fünfundvierzig Zentimeter groß ist, ebensolche Proportionen hat wie Elzike, dann kann sie auf Laurentis geschossen haben. Mit leicht angehobenem Unterarm, aus ungefähr drei Meter Entfernung. Aber Zsu kann es trotzdem nicht gewesen sein, überlegt er. Sie hielt sich ja fast zur selben Zeit in Laurentis’ Wohnung auf. 37
Er dreht sich zum Schreibtisch um, geht zwei Schritte auf ihn zu, bleibt stehen, überlegt weiter. Elzike hat er völlig vergessen. „Kann ich meine Schuhe wieder anziehen?“ „Ach ja … Danke. Sie können sie wieder anziehen, Elzike, wir sind fertig. Danke.“ Elzike geht hinaus und schließt die Tür hinter sich. „Woher bekomme ich jetzt eine andere kleine Frau?“ sagt Józsa zu seinem Schreibtisch. „Und wenn ich eine bekomme … warum sollte eine andere kleine Frau Laurentis ermordet haben?“ Bleibt also das Auto. Ebenfalls eine sehr wacklige Angelegenheit. Immerhin aber eine Spur. Wahrscheinlich ebenfalls eine Sackgasse, aber sie muß durchschritten werden, so aussichtslos es auch scheinen mag. Er nimmt den Bericht mit der Aussage des Kindes zur Hand. „Dunkelgrau, ein Schlitten, kann ich Ihnen sagen, Klasse, welche Marke, weiß ich nicht, hab’ ich vorher nie gesehen“, es wußte auch nicht, aus welchem Land, nur, daß es kein ungarischer war. Der Vater, der das Kind aus dem Fenster rief, hat überhaupt kein Auto gesehen. „Ich glaube doch eher dem Kind. Das denkt man sich nicht aus“, grübelt Józsa halblaut. „Kinder merken sich Autos.“ Er langt nach dem Telefon. „Vicenik bitte. Sind Sie es, Genosse Vicenik? Sagen Sie, wie viele Ausländer halten sich zur Zeit in Ungarn auf?“ „Den Angaben von gestern abend zufolge sind es viertausendsechshundertsiebzig. Die Zahl ist eben bei mir eingegangen.“ „Haben Sie Angaben, wie viele mit dem Wagen gekommen sind?“ „Einen Moment. Ich sehe nach.“ Józsa wartet. Er klemmt den Hörer zwischen Schulter und Ohr und zündet sich eine Zigarette an. 38
„Hier bin ich wieder. Eintausendneunundachtzig. Die Angabe stammt ebenfalls von gestern abend.“ „Schönen Dank, Genosse Vicenik.“ Er legt auf. Die zweite Stecknadel im Heuhaufen. Die erste ist Zsu am Plattensee. Dies nun die zweite. Der dunkelgraue Schlitten mit ausländischem Kennzeichen. Hier kann nur ein Wunder helfen. Ein Wunder, oder Csudik. Es geht um Frauen, also muß Csudik her. Daß ich nicht eher darauf gekommen bin. Wieder das Telefon. „Hallo, Péter, bist du’s?“ „Wer sonst, du Roß.“ „Sprich anständig mit einem Major, der dich dienstlich anruft.“ „Na gut, genug gequasselt, was brauchst du?“ „Den Csudik. Nur für zwei oder drei Tage.“ „Geht’s um Frauen?“ „Ja, aber dienstlich.“ „So habe ich es auch gemeint. Für deine privaten Weibergeschichten bekommst du den Csudik nicht. Wenn es dienstlich und wichtig ist, dann eventuell.“ „Schickst du ihn herüber?“ „Paßt es dir gleich? Er ist gerade hier.“ „Er soll sich beeilen.“ Natürlich, der Csudik muß her. Csudik von der Sittenpolizei, der redegewandte Csudik, der hübsche Csudik, vor dem die Frauen dahinschmelzen. Csudik, der Schönling. Der liebe Karcsi. Er sagt Elzike Bescheid, wenn Csudik kommt, solle sie ihn sofort hereinschicken. „Der Karcsi kommt her?“ Elzike erstrahlt. „Elzike, Sie sind verheiratet, schwärmen Sie mal nicht so für den Csudik.“ „Aber, was denken Sie denn von mir, Genosse Józsa!“ Elzike tut, als wäre sie gekränkt. Aber sie langt mit beiden Händen seitlich an ihre Frisur und rückt sie zurecht. 39
Die Geste ist so mechanisch, daß sie ihr gar nicht bewußt wird. Józsa lächelt darüber, aber er sagt nichts. Csudik. Der wird jetzt gebraucht. Er geht in sein Zimmer zurück und setzt sich. Es klopft. „Komm herein, Karcsi.“ „Da bin ich, Genosse Józsa. Verfüge über mich.“ „Setz dich, Karcsi, und hör mir gut zu.“ „Ich bin ganz Ohr, Onkel Gábor.“ „Der Teufel ist dein Onkel. Daß du unter meinen Händen herangewachsen bist, berechtigt dich noch nicht, unverschämt zu werden.“ „Nimm mir’s nicht übel, Onkel Gábor, ich bin halt ein bißchen vorlaut, du kennst mich.“ „Also paß auf. Wir stecken bis über die Ohren in einer Mordsache. Kein Lüftchen regt sich, alle Segel hängen schlaff herab. Wir kommen keinen Zentimeter vorwärts.“ „Wer ist die Dame, Onkel Gábor, und was ist mit ihr zu tun?“ „Frau Dalma Tamacskó, mit dem Spitznamen Zsu oder Bizsu.“ „Mit einer Dalma habe ich sowieso noch nichts gehabt.“ „Man protzt nicht mit seinen Eroberungen, Genosse Csudik. Diese Bizsu also hält sich wahrscheinlich mit einem Mann am Plattensee auf. Sie muß gefunden werden.“ „Nordufer? Südufer? Siófok? Tihany? Füred? Széplak?“ „Wenn ich das wüßte, hätte ich dich nicht herkommen lassen.“ „Du mutest mir ja allerhand zu.“ „Warte. Da gibt es noch eine gewisse Dóra Straub.“ „Wer ist das?“ „Stellvertretende Leiterin der Handelsabteilung im Betrieb für Warenbevorratung, die beste Freundin unse40
rer Zsu. Wir haben sie vernommen und befragt, sie sagte, sie hätte Zsu seit zwei oder drei Tagen nicht mehr gesehen. Sie weiß nicht, wo sie ist. Aber vielleicht ist sie nur diskret und deckt ihre Freundin, damit deren Mann ihr nicht auf die Spur kommt, der sich zur Zeit im Ausland aufhält, in Berlin. Der erste Schritt ist also Dóra Straub. Von ihr müßte in Erfahrung gebracht werden, wo sich Zsu jetzt vermutlich befindet. Aber das ist nur eine Annahme, womöglich weiß sie wirklich nichts. Falls aber doch, wäre das für unsere Arbeit eine große Erleichterung. Ich möchte nicht an deiner Stelle sein, wenn du mit einem Foto von Zsu und einem Wagen, den ich dir besorgen werde, den ganzen Plattensee abklapperst, um die Dame für uns aufzutreiben.“ „Demnach gibt es ein Foto von ihr.“ „Freilich. Bestimmt. In ihrer Wohnung. Doktor Aurél Tamacskó. Ich gebe dir die Adresse, du besorgst dir das Foto.“ „Ich verstehe.“ „Du verstehst noch gar nichts. Diese Zsu oder Dalma ist nicht nur Frau Tamacskó, sondern auch die Freundin des gestern abend ermordeten Professor Laurentis.“ „Und jetzt ist sie mit einem Dritten am Plattensee?“ „Genau. Wir brauchen sie unbedingt, aber ohne jedes Aufsehen. Absolute Diskretion. Ist das klar?“ „Ja, Onkel Gábor. Über die Erfüllung oder Nichterfüllung jeder Teilaufgabe telefonischer Bericht an dich, wenn du nicht hier bist, an Elzike, nachts an den Wachhabenden oder an deine Wohnung.“ „Ja, Karcsi. Fährst du sofort oder auf der Stelle?“ „Sowohl als auch. Danke schön.“ „Bedank dich nicht im voraus. Hast du Geld bei dir?“ „Hab ich.“ „Ich rufe den Fahrdienst an, wenn du unten bist, steht der Wagen bereit.“ Csudik geht hinaus. Józsa greift wieder nach dem Te41
lefon, besinnt sich aber, springt auf und läuft Csudik hinterher. Csudik sitzt, ein Bein überm anderen, bei Elzike auf dem Schreibtischrand und flirtet gründlich mit ihr. „Komm zurück und lies das“, sagt Józsa. Er sucht aus dem Papierberg auf seinem Tisch die Schulzeitung des Kölcsey-Gymnasiums heraus, entnimmt ihm Zsus Zettel, reicht ihn Csudik. Der liest. „Hat sie das für den Professor aufgeschrieben?“ „Ja. Gestern abend. Ungefähr zum Zeitpunkt des Mordes.“ Csudik legt den Zettel weg, verabschiedet sich und geht. Geht mit einem Gang, als wäre er Clark Gable, Alain Delon und Profiboxer im Schwergewicht in einer Person. Dabei ähnelt er keinem. Er ist der Csudik. Und zudem ein intelligenter Bursche. Was sucht der eigentlich bei der Polizei, fragt sich Józsa, dann blättert er, während seine Gedanken immer noch bei Csudik weilen, zerstreut in der Schulzeitung. Etwas weckt seine Aufmerksamkeit, er liest konzentriert, langt rasch zum Telefon, überlegt es sich aber anders, steht auf und stürzt aus dem Zimmer. Nicht einmal die Tür macht er hinter sich zu. Elzike sieht er gar nicht. Csudik ist inzwischen weg.
Fünftes Kapitel Józsa ist ein genialer Kriminalist. Er findet eine Spur, die Spur bedeutet eine Hypothese, die Hypothese einen Verdächtigen und der Verdächtige die Chance, Licht in den Mordfall zu bringen. Die Hypothese scheint unglaublich, mutet nahezu phantastisch an, aber sie ist konkret, nachvollziehbar, rundum greifbar, man kann 42
eine Theorie auf sie aufbauen, man kann ein Motiv finden und alles, was zum Arbeiten nötig ist. Józsa weiß noch nichts Genaues, aber er hat eine Hypothese. J. Szücs hingegen weiß bereits, wer der Mörder ist. Ein Wunder? Nein. Es ist klar, daß J. Szücs noch genialer ist als Józsa, denn er hat ja auch diesen genialen Józsa erfunden. Ihm fällt gar nicht ein, Józsa einen Tip zu geben, geh dahin, geh dorthin, mach dies und das. Keine Spur. Józsa ist ein erfahrener Kriminalist mit messerscharfer Logik, soll er seine Arbeit tun. Den Fäden nachgehen, Beweise suchen, überprüfen, ob seine Hypothese haltbar ist. J. Szücs fällt nicht einmal ein, Józsa zu verraten, wer der Mörder ist. Außerdem, es würde ihm nichts nützen, im Ermittlungsabschnitt des Strafverfahrens sind Beweise nötig. Ohne Beweise wäre J. Szücs’ Tip, wer der Mörder ist, einen Pfifferling wert. J. Szücs interessiert eigentlich auch nicht der Mörder selbst, wenngleich der auch, ihn interessiert die Konstruktion, der Aufbau des Romans, ihn interessiert, wie und mit welchen Mitteln Józsa die Beweise herbeischaffen wird. Für die Person des Mörders interessiert sich J. Szücs nicht als Romanschreiber, sondern als Privatmensch. Auch für Csudik interessiert er sich als Privatmensch. Aber nur in zweiter Linie. Beim gegenwärtigen Stand des Romans ist Csudik eine Romanfigur, und es geht den Leser nichts an, nach welchen Personen J. Szücs seine Figuren modelliert. Daß niemand den Roman lesen wird, spielt keine Rolle. Wie könnte man auch einen Roman lesen, der gar nicht geschrieben ist. Dabei hat er so oft schon versucht, diese erfundenen, nur im Kopf durchdachten Romane zu Papier zu bringen. Er kann sich einfach nicht damit abfinden, daß alles, was in seinem Kopf so gut, spannend, handlungsreich und kunstvoll verwickelt ist, aufgeschrieben sterbenslangweilig, seicht, albern und uninteressant wirkt. Denn schreiben 43
kann er, das ist sein Beruf, er ist Ästhet, Kritiker, seine Rezensionen erscheinen wöchentlich, er kann alles schreiben, Essays, Aufsätze, Monographien, er will nicht behaupten, daß er Durchschlagskraft und einen persönlichen Stil hat, das nicht, aber das braucht er auch gar nicht. Das Gedankliche, der Aufbau, die logische Kette, darauf kommt es an. Und das hat er. Das liegt ihm. Ein längerer Aufsatz von J. Szücs – und er ist streng objektiv auch zu sich selbst, das ist keine Protzerei – ist im ungarischen Literaturleben stets ein Ereignis. Prinzipielle Strenge, Härte, Klarheit, das zeichnet seine Arbeiten aus. Der Farbenreichtum, die Komplikationen und vielschichtigen Verwicklungen des Lebens, warme Menschlichkeit, ja, das Humane, davon sind seine im Kopf geschriebenen Romane durchdrungen. Was für ein schönes und ausdrucksvolles Wort: das Humane. Human, Humanität – das hat etwas mit dem Humus zu tun, mit der Muttererde, der Ackerkrume, mit deren Ursprung, der vollkommenen, schöpferischen und alles umarmenden Fraulichkeit, mit Mórika. Jawohl, Mórika ist ein Symbol. Beziehungsweise unter anderem ein Symbol. J. Szücs arbeitet mit Hinweisschildern. In der Mitte, ihm genau gegenüber, hängt dieses Schild: J. Szücs schafft sich keine Papierfiguren. Das tut er auch nicht. Er weiß, daß er Csudik nach dem Privatdetektiv beziehungsweise nach dem Sohn des Privatdetektivs modelliert, dessen Annonce er in Vorkriegszeiten gefunden hat. Dann sah er im Telefonbuch nach und rief ihn zuerst vorsichtig an, unter falschem Namen, er erkundigte sich, ob er mit dem ehemaligen namhaften Privatdetektiv identisch sei. Auf die Bejahung und die Frage des Privatdetektivs, womit er dienen könne, antwortete er, er habe kein besonderes Anliegen, er sei nur ein alter Verehrer des Meisters, er erkundige sich aus reiner Neugier, da er den Namen zufällig im Telefonbuch gelesen habe. Dann wartete er zehn Tage und besuchte ihn. 44
„Verstehen Sie doch, mein Herr, ich kann es nicht übernehmen. Ich habe keine Lizenz“, sagte der einstige berühmte Privatdetektiv. „Und außerdem, sehen Sie mich an, ich bin siebenundsechzig Jahre alt. Die Strapazen, die damit verbunden sind, übersteigen meine Kräfte. Es kommen immer noch frühere Klienten zu mir, aber vergeblich, mein Herr. Wissen Sie, welches Risiko man heutzutage einginge? Und es ist wirklich so, wozu es bestreiten, die Strapazen wären mir zu groß.“ J. Szücs saß in dem verschlissenen Empire-Sessel und wußte nicht, was er noch sagen sollte. Er hatte sich alles schon so schön zurechtgedacht. Er dauerte den einstigen berühmten Privatdetektiv. „Da fällt mir etwas ein“, sagte er flüsternd, obwohl sie allein im Zimmer waren, „das könnten wir versuchen. Ich übernehme es nicht, aber ich will meinen Sohn fragen. Er hat gerade Urlaub, vor einigen Monaten ist er aus dem Polizeidienst ausgeschieden, in den man ihn mit Rücksicht auf meine früheren Verdienste aufgenommen hatte. Nun ja, mein Name ist im Fach heute noch ein Begriff … Karcsi! Karcsi!“ Auf den Ruf trat der junge Mann ein. Der Mann also, nach dem J. Szücs jetzt Csudik modelliert. Keine Papierfigur. J. Szücs hätte am liebsten einen Rückzieher gemacht, doch irgendwie ging es nicht mehr, der Alte nahm seine gerade englische Pfeife in den Mund (und J. Szücs spürte, daß sie ein Requisit des Berufes war) und erklärte mit der Pfeife zwischen den Zähnen, was J. Szücs, wünschte. „Wenn du es übernehmen kannst, mein Junge … Es ist deine Sache, ich rede dir nicht hinein. Natürlich nicht als Privatdetektiv, sondern als Freundschaftsdienst für diesen Herrn …“ „Selbstverständlich, Vater“, sagte der junge Mann. J. Szücs war sich nicht einmal sicher, daß er wirklich der Sohn des Alten war. Sie ähnelten sich nicht. 45
„Umsonst kann ich es natürlich nicht annehmen“, sagte er dennoch. „Aber, mein Herr, das kommt gar nicht in Frage“, sagte der junge Mann. „Ich lasse mich nicht auf illegale Dinge ein. Ich tu es ausschließlich aus Gefälligkeit. Sie decken nur meine Kosten, weiter beanspruche ich nichts. Ich fühle mich zu dem Fach hingezogen, und außerdem, Sie verstehen mich wohl, ist es ein bißchen schon eine Familientradition bei uns.“ „Aber ja, aber ja …“ „Da es sich um eine Gefälligkeit handelt, verzichten wir besser auf Schriftliches. Kein Vertrag, kein Auftrag oder dergleichen. Ich lege Ihnen auch keine Kostenabrechnung vor. Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen die Summe mündlich mitteilen. Allerdings wäre ein gewisser Vorschuß erforderlich. Den ich natürlich nachträglich verrechne.“ „Ja, äh …“, sagte J. Szücs, weil er sich nicht im klaren war, wie man sich in solchen Fällen verhalt, „was dürfte das alles wohl kosten?“ „Nur eine Kleinigkeit, mein Herr. Nicht erwähnenswert.“ Das sagte der Vater. „Deswegen werden wir uns nicht streiten“, sagte der junge Mann und lächelte. „Sie geben mir jetzt fünfhundert Forint als Vorschuß. Das verstehen Sie, nicht wahr? Immerhin, ich muß zum Plattensee fahren, Hotel und Verpflegung, wenn die Dame ausgeht, muß ich auch ausgehen. Ich werde aber nur das Allernotwendigste ausgeben. Ich nutze die Arbeit nicht zu Saufgelagen. Ich werfe Ihr Geld nicht zum Fenster ’raus. Ich nicht, mein Herr, darauf verlassen Sie sich!“ J. Szücs zahlte die fünfhundert Forint. Insgesamt hatte er ohnehin zweitausend Forint für die Beschattung Etukas vorgesehen. Nicht, als hätte er nicht völliges Vertrauen zu ihr gehabt, aber trotzdem, Babsis Gesellschaft, man kann nie wissen, ob … ob Babsi sie nicht in irgend46
eine Unbedachtheit reinzieht. Und einmal endlich wollte er Gewißheit. Tabula rasa. Ein halbes Jahr lang hatte er heimlich Geld beiseite gelegt, Rezensionen und Glossen für Provinzzeitungen geschrieben, davon, denn sein Gehalt und das Honorar für die in Budapester Zeitungen erschienenen Arbeiten mußte er zu Hause abliefern, das behielt Etuka streng im Auge, eine gewissenhafte Hausfrau, niemand wird es bestreiten, sie teilt das Geld ein, J. Szücs bekommt von ihr ein ordentliches Taschengeld, jede Woche, Etuka ist nicht knausrig. Etuka ist eine Heilige. Vorne rund und hinten rund, hübsch und appetitlich, aufgeschlossen und quicklebendig, aber eine Heilige. In Etukas Schürze würde das Brot für die Armen zu Rosen, wie es der heiligen Elisabeth passierte, oder wie war gleich die Legende. Egal. Unwichtig. Die privaten Nachforschungen waren ein voller Erfolg. Der Bericht des Privatdetektivs über die zehn Tage am Plattensee – natürlich nur mündlich, nichts Schriftliches, Kostenrechnung zweitausenddreihundertvierundzwanzig Forint und dreißig Fillér, Vorschuß abgezogen, natürlich ebenfalls nur mündlich – stimmte haargenau mit allem überein, was später Etuka erzählte, die selbstverständlich wie immer, so auch diesmal Babsis leichtblütige Ausschweifungen mit ansehen mußte. Der Privatdetektiv kam mit dem Zehn-Uhr-zwanzigZug nach Füred, um elf Uhr zweiunddreißig lag er bereits in unmittelbarer Nachbarschaft von Etuka und Babsi auf einer Matte am Strand. Babsi befand sich in Begleitung eines graumelierten Herrn mit gestutztem englischem Schnurrbart und Sonnenbrille, eines reichen südamerikanischen Fabrikanten ungarischer Abstammung, wie sich später herausstellte, der Babsi im Segelklub kennengelernt hatte. Der Privatdetektiv hatte von J. Szücs zwei Fotos von Etuka bekommen, das eine zeigte sie angezogen, das andere in Badekleidung. Nun 47
nahm er letzteres zur Hand. Als er sich vergewissert hatte, daß Etuka die zu beobachtende Person war, wartete er nur den richtigen Augenblick ab, der in Bälde auch eintrat. Etuka und der südamerikanische Ungar gingen zum Büfett, Eis essen, sie brachten auch Babsi ein Eis mit, der Privatdetektiv konnte sie alle auch während des Anstehens am Büfett im Auge behalten, doch auch diese Zeit vergeudete er nicht nutzlos, denn als er sah, daß sich Babsi eine Zigarette anzünden wollte, gab er ihr schnell Feuer und machte dabei ihre Bekanntschaft. Er gab sich als Elektroingenieur aus, der seinen Urlaub in Füred verbrachte, und stellte sich allen dreien unter dem falschen Namen Károly Csudik vor. Die folgenden zehn Tage verbrachte er teils mit ihnen, teils in ihrer unmittelbaren Nähe. Nur über eine Sache erstattete der Privatdetektiv J. Szücs nicht Bericht, aber das ging ihn auch nichts an, das war seine Privatsache, er erfuhr es erst von Etuka. Als der südamerikanische Ungar mit dem Wagen nach Budapest fuhr, um dort einige geschäftliche Angelegenheiten zu erledigen, hatte der Privatdetektiv ein Verhältnis mit Babsi. Babsi schwärmte Etuka vor, wie nett der Privatdetektiv sei, ganz hinreißend, „ein doller Hecht, dieser Karcsi“, sagte sie zu Etuka, „was für ein Mann!“ Hiernach folgten die intimen Details, die sich J. Szücs in Etukas unverblümter Vortragsweise anhören mußte. Doch das waren nur einige flüchtige Stunden in den zehn Tagen. Auch ein Privatdetektiv darf ein Privatleben haben, auch ihm steht ein bißchen Freizeit zu, ein wenig Ausspannen. Etuka hegte den Verdacht, Babsi würde sich mit ihm auch noch in Budapest treffen. Aber das interessierte J. Szücs nicht. Wichtig war, daß es an Etukas Verhalten während der zehn Tage nicht das geringste auszusetzen gab. „Eine echte Dame“, sagte der Privatdetektiv zu J. Szücs. „Sie dürfen stolz sein auf Ihre Gattin, mein Herr.“ 48
Sie standen am Kaffeepult im Savoy, J. Szücs hielt das Kaffeeglas in der Hand, aber ihm war, als befände sich Tokajer darin, seine linke Hand ruhte auf der Brust, ganz locker, hinter der Brille kniff er das rechte Auge ein wenig zusammen, als wäre er ganz in den Anblick der linken Ecke der Kaffeemaschine vertieft. Aber er sah sie nicht. Er sah vor seinem inneren Auge Etukas gebräuntes, rundliches kleines Gesicht vor sich schweben. Etuka ist eine Heilige, dachte er. Und eine echte Dame. Doch das gestand er nur sich selbst ein, laut hätte er seine Frau nie als eine Dame bezeichnet, man brüstet sich heutzutage nicht damit, mit einer Dame verheiratet zu sein, aber wie soll dieser Privatdetektiv das wissen, ein einfacher Mann, der ausplappert, was er auf dem Herzen trägt, ohne jeden politischen Bedacht. J. Szücs, der erfahrene Selbstbeobachter, wurde sich plötzlich bewußt, wie er dastand. Wie ein Operettenlebemann, ja, ein Operettenlebemann, der in diesem Augenblick erfährt, daß die Angebetete ihn doch liebt, und der im nächsten Augenblick lossingen wird. Aber eine Heilige ist Etuka trotzdem. „Vorsicht, mein Herr! Ihre Frau!“ flüsterte der Privatdetektiv plötzlich. „Vorsicht! Wir kennen uns nicht!“ Langsam und gleichmütig wandte er J. Szücs den Rücken zu. J. Szücs zuckte zusammen und drehte sich zur Tür um. Auf hohen, spitzen Absätzen trat Etuka ein, trotz der sommerlichen Wärme in schwarzen Nylonstrümpfen, sie war frisch frisiert, wie J. Szücs auf der Stelle bemerkte, sie trug den engen, recht kurzen roten Rock, niemand würde behaupten, daß sie schon zweiunddreißig war, und sie lächelte. Sie bemerkte J. Szücs’ Verlegenheit gar nicht. „Nanu, Ferenc! Was suchst du hier um diese Zeit! Ich dachte, du bist längst in der Redaktion.“ Dann zu dem Privatdetektiv: „Jee, Karcsi, Sie sind schon hier? Aber 49
ihr kennt euch ja noch gar nicht. Mein Mann. Ferenc, das ist der freundliche Herr vom Plattensee, ich habe dir so viel von ihm erzählt, Károly Csudik.“ „Csudik“, sagte der Privatdetektiv und nickte militärisch. „Sehr erfreut.“ „Ferenc J. Szücs.“ „Karcsi, bestellen Sie mir einen massiven Budapester Doppelmokka, wie Sie in Füred immer so schön gesagt haben.“ „Gerne, Etuka“, sagte der Privatdetektiv und ging zur Kasse. Etuka drehte sich so, daß sie der Kasse den Rücken zuwandte, und begann flink zu flüstern: „Ich bin ein bißchen früher gekommen, Babsi hat mich um einen Gefallen gebeten, ich weiß, du magst so etwas nicht, aber man hat auch der besten Freundin gegenüber seine Verpflichtungen. Ich habe ihnen die Wohnung geborgt.“ Mit dem Kopf deutete sie knapp zu dem Privatdetektiv an der Kasse hinüber. „Babsi will heut vormittag ein paar Überstunden abbummeln. Du verstehst, nicht wahr, Ferenc? Babsi hat mich gebeten, Karcsi abzuholen und in unsere Wohnung zu bringen. Sie will mit diesem Csudik nicht gesehen werden. Verständlich. Du verstehst, Ferenc?“ „Ich verstehe, Etuka.“ Mit strahlendem Lächeln, das seine weißen Zähne sehen ließ, reichte der Privatdetektiv der Kaffeeköchin den Kassenbon. „Einen extra massiven Budapester Doppelmokka“, sagte er. „Scheußlich, wenn man tagelang Provinzkaffee trinken muß.“ „Du kommst also vor drei, halb vier nicht nach Hause, Ferenc? Das sagtest du doch? Drei, halb vier. Na gut, was soll man da machen. Ich flitze noch in die Schule und frage, wann ich mit der Sommerinspektion an der Reihe bin, dann werde ich wohl ins Schwimmbad fahren. Aber das ist noch nicht sicher. Gegen drei, halb vier bin ich auch zu Hause. Du verstehst, Ferenc?“ 50
„Ich verstehe, Etuka.“ „Gut, dann geh jetzt ruhig, Ferenc. Servus. Ich trinke noch mit Karcsi diesen massiven Doppelmokka.“ „Auf Wiedersehen.“ „Auf Wiedersehen. Freut mich, Sie kennengelernt zu haben“, sagte der Privatdetektiv. Bei der Redaktionssitzung fühlte er sich schlapp und mitgenommen, zudem tat ihm der Kopf weh, so daß sie bald Schluß machten. Es liege wahrscheinlich an der Hitze, sagte er zu Kittner, aber vielleicht gebe es auch einen Wetterumschwung. Ich müßte etwas essen, überlegte er, eine Kleinigkeit, was Leichtes. In solcher Wärme hat man gar keinen rechten Appetit. Während er hinunterging, trank er unterwegs am Büfett eine Flasche Bier. Sein Hals war wie ausgedörrt. Babsi, das müßte man sehen, wie Babsi aus unserem Haus kommt. Jetzt ist sie sicherlich schon dort, mit diesem Csudik. Er versuchte, an etwas anderes zu denken, aber unablässig gingen ihm die intimen Einzelheiten durch den Kopf, die ihm Etuka so ausführlich über das Verhältnis zwischen Babsi und dem Privatdetektiv erzählt hatte. Leide ich etwa an Erotomanie? Ja, man müßte sie sehen, die Babsi, wie sie bei uns aus dem Haus kommt, allein schon, weil ich dann in die Wohnung gehen und mich ein bißchen hinlegen könnte, diese Hitze ist nicht auszuhalten. Ausgerechnet heute mußte ihr Etuka die Wohnung abtreten, er hatte es nie gemocht, allerdings hatte Etuka gesagt, ins Bett lege sich Babsi niemals, „das fehlte gerade noch!“ pflegte Etuka hinzuzusetzen, sie benutze immer die Couch, trotzdem, daran ist etwas Unappetitliches, zumal Etuka so von allem erzählen kann, daß er Babsi in seiner Wohnung wie auf einer Filmleinwand vor sich sieht. J. Szücs steht an der Ecke und beobachtet die Haustür, aus der Babsi treten wird, wenn sie nur endlich käme, er fühlt sich ganz miserabel, scheußlich, unerträg51
lich, diese Hitze, sogar hier im Schatten. Wieder hat er Durst. Ganz in der Nähe ist zwar eine Kneipe, aber er kann nicht hineingehen, womöglich tritt Babsi gerade in dem Augenblick aus der Haustür. Er spaziert auf und ab, sieht auf seine Uhr, nun steht er schon über drei Viertelstunden hier herum, er geht wieder ein Stückchen, dreht sich jäh um, damit Babsi nicht unbemerkt entwischen kann, dann stände er unnütz weiter herum, manchmal in einem Hauseingang versteckt, denn er möchte nicht, daß Babsi ihn hier herumstehen sieht, wie sollte er es erklären, nicht Babsi, sondern seiner Frau. Wie spät ist es? Immer noch erst acht Minuten nach zwei. Und er muß auch aufpassen, daß er sich nicht auffällig verhält. Er darf nicht steif dastehen, er muß die Beobachtungspunkte wechseln, ganz lässig und natürlich, das wäre was, wenn Bekannte vorbeikämen und ihn hier stehen sähen. Warten Sie auf jemand, Herr Szücs? Keine leichte Sache, Józsa ginge bestimmt geschickter vor als er, der darin keine Übung besitzt, Józsa hat Übung. Großer Gott! Und wenn Etuka aus dem Schwimmbad kommt und ihn hier stehen sieht? Das fehlte noch! Rasch tritt er in einen Hausflur und lugt zwischen den rostigen, staubigen, schnörkeligen schmiedeeisernen Gitterstäben hinaus, derweil muß er sich immer wieder umdrehen, ob auch niemand kommt, dazu diese Wärme, das Hemd klebt an ihm, sein ganzer Körper schwimmt in Schweiß, er begreift nicht recht, wozu er das alles tut, hat es denn einen Sinn? Weggehen müßte man, jetzt gleich, irgendwo einen Krug Bier trinken. Er wird immer durstiger. Aber er bleibt, wo er ist, und lauert weiter. Ohne jeden Sinn. Doch er bleibt. Das Haus, in dem er wohnt, ist ein Eckhaus, eigentlich müßte er die Ecke beobachten, vielleicht hat er sich gerade weggedreht, als Babsi herauskam und in die andere Straße einbog, weg ist sie, und er hat es gar nicht mitbekommen. Und steht jetzt unnütz hier herum. Fünf Minuten vor drei Viertel drei. 52
Mindestens noch zwanzig Minuten. Allmählich wird es aber Zeit, daß Babsi herauskommt. Und der Privatdetektiv. Oder daß Etuka aus dem Schwimmbad heimkommt. Er hört Schritte hinter sich, tritt schnell aus dem Hausflur ins Freie und in den benachbarten Hausflur. In dieser Hitze geht kaum jemand auf die Straße, verständlich. Werden sie zusammen herauskommen, Csudik und Babsi? Oder getrennt? Und wenn getrennt, wer tritt dann zuerst aus der Tür? Was wäre, wenn er zu Hause anriefe? Als wüßte er von nichts. Wenn Babsi aufnimmt, verlangt er Etuka, er muß ihr dringend etwas sagen. Nein, das geht nicht. J. Szücs weiß, und zwar von Etuka, daß Babsi dabei immer den Telefonstecker herauszieht. Zehn Minuten vor drei, und noch immer niemand. Drei Minuten vor drei tritt Csudik aus der Haustür, sieht sich um, aber nur flüchtig, und biegt dann wirklich in die andere Straße ein, Zwei, drei Schritte, und er ist verschwunden. Nein. Jetzt wartet er keine Minute länger. Aber dann wartet er doch noch zehn Minuten. Babsi kommt nicht heraus. Und Etuka kehrt nicht aus dem Schwimmbad zurück. Dann unterhalte ich mich eben ein bißchen mit Babsi. Ich weiß von nichts, mein Name ist Hase, ich mische mich in diese Geschichten nicht ein. Ich werde nicht zum Spießgesellen Babsis in diesen schmutzigen Affären. So ein mieses Stück! Er geht die Treppe hinauf, nimmt den Schlüssel aus der Tasche, schließt auf. In der Wohnung ist es schön kühl, er knöpft sich zwei Knöpfe am Hemd auf, die Tür zum Speisezimmer steht offen, ein sanfter Luftzug. Angenehm. „Bist du es, Ferenc?“ fragt Etuka aus dem inneren Zimmer. „Ich bin es, ja“, antwortet noch aus dem Vorzimmer J. Szücs. Komisch, daß ich mich nicht einmal wundere, denkt er. Warum wundere ich mich nicht? 53
„Stell dir das vor, Ferenc!“ In der Tür zwischen dem Speisezimmer und dem inneren Zimmer erscheint Etuka, im Negligé und in Pantoffeln, aber das ist ein anderes Negligé, rot mit kleinen gelben Blüten, und das sind andere Pantoffeln, nicht die, die in Laurentis’ Schrank standen. „Diese blöde Babsi ist nicht gekommen, sie hat nicht mal angerufen. Vielleicht ist was dazwischengekommen, vielleicht hat es mit dem Abbummeln nicht geklappt.“ „So war es bestimmt, Etuka.“ „Und ich hatte den Csudik am Halse, ich mußte mich um ihn kümmern, immerhin war er zu Besuch. Ich habe sogar Rommé mit ihm gespielt. Stell dir vor, Ferenc, ich habe drei Forint vierzig verloren. Aber er spielt ausgezeichnet. Hatte allerdings auch Glück. Denn ich bin auch nicht die schlechteste Romméspielerin.“ „Du bist eine ausgezeichnete Romméspielerin, Etuka.“ J. Szücs hat das Hemd ausgezogen und steht in Hose und Unterhemd in der Diele. „Kaum fünfzehn Minuten, daß er gegangen ist. Unheimlich, wie er in Babsi verknallt ist. Was guckst du so, Ferenc?“ J. Szücs guckt nicht in das Zimmer. Dorthin braucht er nicht zu gucken. Schon beim Eintreten hat er bemerkt, daß dort alles tipptopp ist, keine Knitterfalten auf der Couch, auf dem Tisch die kleine Meißner Zuckerdose und die beiden Tassen, zu der einen ein Löffel, Etuka trinkt den Kaffee ohne Zucker, die Rommékarten, nach der letzten Partie einfach hingeworfen, der Zettel mit den Zahlen, er braucht nur mal kurz hinzusehen, braucht gar nicht nachzurechnen, sie haben eine Runde gespielt, bis fünfhundert, oben auf dem Zettel die beiden Buchstaben E und K. J. Szücs guckt Etuka an, ihr Gesicht ist nicht so frisch wie am Vormittag im Espresso, ihr Haar sieht auch anders aus, unter den Augen dunkelblaue Ringe, mindes54
tens einer, so genau sieht er es nicht von dort aus, wo er steht. Und diese irgendwie runde, irgendwie faule Pose, in der sie dasteht. „Nichts“, sagt er. „Ich bin bloß müde. Ich leg mich ein bißchen lang.“ „Das kommt von der Hitze“, sagt Etuka, hebt die linke Hand und zupft sich mit zwei knappen Gesten hinten ihr Haar zurecht. „Die Hitze kann mich auch manchmal sehr schaffen, Ferenc.“ Zehn Minuten nach halb vier klingelt das Telefon. Etuka nimmt ab und kanzelt Babsi ab, weil sie nicht gekommen ist. „Du hättest wenigstens anrufen können“, sagt sie vorwurfsvoll. Dann schweigt sie lange. „Ach so. Du, der arme Junge war so verzweifelt, ich konnte ihn kaum beruhigen, er ist mächtig sauer auf dich. Dann dachte er wieder, du bist sauer auf ihn. Na gut. Morgen sehen wir uns, dann erzählst du mir, warum der Chef ausgerechnet dich hinschicken mußte. Servus.“ Und zu J. Szücs: „Denk dir nur, Ferenc, Babsi wollte gerade losgehen, da rief sie ihr Chef, sie mußte mit ihm nach Megyer fahren, irgendein Protokoll aufnehmen. Aber ich schätze, sie hat mit ihrem Chef nachgeholt, was sie hier versäumte, mit Csudik. Nee, diese Babsi! Aber du kennst sie ja.“ „Ich habe dir tausendmal gesagt, die Affären deiner Freundin Babsi interessieren mich nicht. Also bitte! Ich habe nicht mal zu Mittag gegessen! Ihretwegen!“ J. Szücs liegt auf der Couch, mit dem Gesicht zur Wand. „Möchtest du nicht was essen, Ferenc?“ „Ich habe keinen Hunger“, grollt J. Szücs. „Ich will schlafen.“ Also ein voller Erfolg der privaten Ermittlungen. Aber Gewißheit, volle, absolute Gewißheit habe ich doch nicht. Nein. Das ist keine Tabula rasa. „Etuka!“ 55
Er setzt sich unvermittelt auf, dreht sich auf der Couch um. Durch die Tür zum anderen Zimmer kann er sie nur halb sehen, ein bißchen von ihrem Haar, eine Schulter, eine runde Hüfte. „Ja, Ferenc?“ Aber sie wendet sich nicht um, sie wirft gerade das Negligé ab, es scheint, sie möchte auch Siesta halten. „Sag mal, Etuka, ist dir dieser Tunichtgut nicht zu nahe gekommen?“ „Was für ein Tunichtgut?“ Etuka dreht sich ein wenig, J. Szücs kann jetzt mehr von ihr sehen. Etuka ist nackt. „Dieser, wie heißt er nur gleich, Csudik.“ „Aber, Ferenc, ich bitte dich! Der Karcsi? Aber nicht doch! Weil er so gut aussieht? Der Karcsi ist sehr in Ordnung, sehr angenehm, ein ungeheuer sympathischer Bursche ist dieser Karcsi. Und so redegewandt.“ Langsam, fast langatmig lobt sie Csudik. J. Szücs sitzt auf der Couch, er guckt in das andere Zimmer hinüber und wüßte gern, wie er Etukas Bewegungen deuten soll, sie räkelt sich so. „Und außerdem“, sagt Etuka, „ist Karcsi kein Tunichtgut, sondern Elektroingenieur.“ J. Szücs vernimmt die vertrauten kleinen Geräusche, wie sich Etuka ins Bett legt und sich zudeckt. Nein. Leider kann er ihr nicht widersprechen, daß dieser Karcsi kein Elektroingenieur ist, sondern ein ganz gewöhnlicher Tunichtgut, ein sogenannter Privatdetektiv, der nicht einmal eine Lizenz besitzt. Er seufzt und legt sich wieder lang. Nein, völlige Gewißheit habe ich noch nicht.
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Sechstes Kapitel Camus kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, Hemingway traf die tödliche Kugel, als er sein Jagdgewehr reinigte. Puschkin fiel im Duell, Ady starb an der Syphilis, Attila József warf sich vor einen Güterzug, Radnóti wurde von den Deutschen getötet, und ich falle beim Reparieren des Klosettspülkastens von der Leiter und breche mir die Knochen. Typisch. In jeder normalen Wohnung ist die Toilette so klein, daß es nahezu unmöglich ist, von der Leiter zu fallen, bei uns ist sie riesig wie ein Rittersaal. Und aufs Gesicht. Die Brille zersplittert, die Scherben verletzen das Augenlid, die Nase ist völlig zerschlagen, zwei Brüche am rechten Arm und an der Schulter. Das bin ich. Wenn ich mich wenigstens noch richtig auf Józsa konzentrieren könnte, aber nein, meine Gedanken irren ab, lauter peinliche und unangenehme Dinge fallen mir ein. Wer hat Laurentis getötet? Ja, das muß gelöst werden, ich weiß schon, wer es war. Józsa hat nur einen Verdacht, jetzt gehen die Ermittlungen erst richtig los, er muß die Beweise herbeischaffen, ein Verdacht allein genügt noch nicht, ein Verdacht ist noch gar nichts. Alles gut und schön, aber hier ergeben sich für den Romanschriftsteller die diffizilsten Probleme. J. Szücs liegt im Bett und überlegt, ob er mogeln oder von seinen bisherigen Schreibmethoden abgehen soll. Die Gliederung des Stoffes. Was ist interessanter, was spannender? Wenn er Józsa Schritt für Schritt durch die verschiedenen Phasen der Ermittlungen begleitet, oder wenn er mogelt und den verruchten Mörder erst ganz am Ende des Romans entlarvt? Dies täte jeder normale Krimischreiber, der Leser muß grün und gelb werden vor Neugier, wer der Täter ist. J. Szücs seufzt. Der Leser bin ich, denkt er, diesen Roman wird niemand außer mir lesen. Aber die Regeln des Faches binden auch mir die Hände. Regeln des Fa57
ches? J. Szücs beherrscht sie aus dem Effeff, er hat auch über sie geschrieben, nämlich in dem Essay Auch der Mörder ist ein Mensch (Zu einigen neueren Fragen des literarischen Kriminalromans). Ein kleines Juwel der Essayistik. Eigentlich ist jeder Roman der Versuch, ein Problem zu lösen. Der Schreiber stellt Nachforschungen an und deckt ein Geheimnis (oder mehrere Geheimnisse) auf. Die Frage ist nur, und das gibt den Ausschlag für den literarischen Wert des Romans, von welcher Seite und nach welchen Aspekten er an das zu lösende Problem herangeht. Was ihn mehr interessiert, die äußerliche, technische Lösung des Problems oder die Aufdeckung der menschlichen Geheimnisse der Romanfiguren, darunter die des Mörders. Die wahrhaft großen Romane forschen stets Schicksalsfragen aus, Fragen von Leben, Tod und Liebe, und dabei wenden sie sich immer wieder neuen Gesichtspunkten zu. Jedes Kind weiß, daß Schuld und Sühne und Klim Samgin reguläre Kriminalromane sind. Aber auch der Don Quijote, die Madame Bovary, Rot und Schwarz und der Stille Don. Nur ist in diesen der Schreiber selbst der Kriminalist, an der Handlung nimmt er nicht teil, er deckt beim Schreiben die Geheimnisse auf. Der Schriftsteller beginnt mit der Untersuchung seiner Figuren in einer mehr oder weniger verwickelten Situation: was geschieht mit ihnen, und warum? Der Roman selbst ist die Ermittlung. Von einem Kriminalroman im engeren Sinn sprechen wir nur, wenn die Ermittlung nicht außerhalb des Romans, sondern in diesem stattfindet. Im regulären Kriminalroman geschieht ein Verbrechen, zumeist ein Mord. Dieser muß aufgeklärt werden. Literarischen Wert hat der Kriminalroman nur, wenn nicht nur der Detektiv im Roman ermittelt, sondern auch der Schreiber des Romans, indem er für den Leser sowohl das Geheimnis des Verbrechens lüften will, als auch die menschlichen Geheimnisse der Romanfiguren. Das Verhältnis dieser beiden Geheimnis58
se zueinander bestimmt den literarischen Wert des Kriminalromans. Je mehr menschliche Geheimnisse wir erfahren, um so höher ist der literarische Wert eines Krimis. Der mit spannenden Beispielen gespickte kleine Essay wirbelte viel Staub auf, J. Szücs wurde von mehreren wichtigen Personen beglückwünscht, darunter von Márton Lóránt persönlich, der J. Szücs’ Vorbild ist. Vorbild nicht in menschlicher oder moralischer Hinsicht, sondern eher in der, wie und mit welchen Mitteln man relativ jung als Wissenschaftler und Schriftsteller Karriere machen kann. Nach ihm modelliert J. Szücs seinen Professor Laurentis. Natürlich hat Laurentis mit Lóránt ebensowenig zu tun wie der Privatdetektiv Csudik mit Józsas Kollegen Csudik. Das ist schriftstellerische Arbeit. Man braucht sich nur anzusehen, was für eine Romanfigur J. Szücs aus diesem Tunichtgut von Privatdetektiv geformt hat. Ist das etwa dieselbe Gestalt? Nicht einmal die gleiche! J. Szücs ist kein Naturalist, er malt das Leben nicht ab, sondern er geht schöpferisch vor. Niemals Papierfiguren! Es war fünf Minuten nach drei Viertel zehn, als die Schwester aus dem Zimmer ging. Wie peinlich, eine junge Frau zu bitten, sie möge einem beim Pinkeln helfen. Aber er kann ja schließlich nicht ins Bett machen! J. Szücs hat kein sonderlich gutes Zeitgefühl, doch er meint, daß er demnach gegen sieben Uhr abends aufgewacht sein dürfte, der Unfall war am Vorabend passiert, um halb elf, in der Toilette lief andauernd der Spülkasten voll, und wenn er voll war, stürzte das Wasser herab, genau alle drei Minuten war das Rauschen zu hören. „Das geht mir auf die Nerven“, hat Etuka gesagt. „Ich werde die ganze Nacht kein Auge zumachen! Unternimm doch mal was! Aber du bist ja so ungeschickt, Ferenc, so ungeschickt!“ Später als Viertel zwölf, halb zwölf wird es immer noch nicht sein. Vierundzwanzig Stunden ist es jetzt her, 59
daß sie ihn ins Krankenhaus brachten, nähten, klammerten, schienten, gipsten, spritzten, verbanden und mit Medikamenten fütterten, um halb sechs Uhr morgens ist er eingeschlafen, dann hat er den ganzen Tag über geschlafen, demnach ist er abends um sieben Uhr aufgewacht, sein Kopf ist klar, er ist nicht müde. Die Zeit ist aus den Gleisen. Macht nichts. Ich bin geboren, sie in die Gleise zurückzuheben. „Major Józsa!“ „Ja, Herr Szücs?“ „Wohin so eilig?“ „Wozu halten Sie mich auf? Sie wissen doch, daß ich in die Registratur will.“ „Schon gut, ich wollte nur fragen, ob Sie geradenwegs in die Registratur gehen oder unterwegs noch dies und das erledigen. Es wäre vielleicht ganz gut, ein paar Anweisungen zu geben. Ich will nichts gesagt haben, Sie wissen sowieso alles. Nun?“ „Danke für den Hinweis, Herr Szücs, aber ich bin schon alleine darauf gekommen. Aber, und nun halten Sie sich fest, die Namenliste gebe ich nicht aus der Hand. Zuerst dachte ich an Lakatos, daß er sich an die Ermittlungen macht, aber dann entschied ich mich anders. Ich übernehme die Sache selbst. Entschuldigen Sie, jetzt muß ich wirklich gehen. Die Angelegenheit duldet keinen Aufschub. Auf Wiedersehen, Herr Szücs.“ „Auf Wiedersehen, Major Józsa.“ J. Szücs steht im Korridor des Präsidiums, ein warmes, väterliches Lächeln spielt um seinen Mund, er schüttelt sanft den Kopf, als er Józsa hinterhersieht, der in einem Zimmer verschwindet. Józsa geht ins Labor. Er läßt ein Klassenfoto vergrößern, das er in der Schulzeitung gefunden hat. Das Foto einer Oberprima. „Davon möchte ich eine scharfe und klare Vergrößerung“, sagt er zu der kleinen Ringler, sie ist die Tochter 60
Hauptmann Ringlers, ein hübsches Ding, es ist noch nicht lange her, daß sie bei einem Ausflug Räuber und Gendarm gespielt haben, wie sie sich herausgemacht hat! Józsas Blick wandert verstohlen auf ihre runden Knie, die, wie sie so dasitzt, unter dem Rocksaum hervorgucken. „In Ordnung, Onkel Gábor.“ „Das ist noch nicht alles. Von jeder Person auf dem Gruppenbild, auch von dem Lehrer hier, siehst du, in der Mitte der ersten Reihe, brauche ich eine gesonderte Vergrößerung, allesamt in der gleichen Abmessung. Aber gib acht, Magdika, daß alle Bilder unbedingt scharf und klar sind. Es eilt sehr.“ „Es dauert mindestens anderthalb Stunden. Wenn wir uns sehr ranhalten, eine Stunde. Die Vergrößerungen dann in Ihr Zimmer?“ „Nein. Ich werde in der Registratur sein. Die Fotos tut in einen Umschlag, geordnet nach der Reihenfolge auf dem Gruppenbild. Mit der Zeitung zusammen, natürlich. Danke schön, Magdika.“ Auf dem Korridor bleibt er stehen. Soll er jetzt mittagessen gehen? Er ist nicht hungrig. Er hat noch das Abendessen von gestern im Bauch, sein Frühstück. Und was für ein feines Frühstück! Er spürt noch den Rauchfleischgeschmack auf der Zunge. Also weiter, an die Arbeit. Essen kann ich später was. In der Registratur zieht er den Zettelkasten Haag– Horváth. Haas, Halmos, Hammer, Harkányi, Hartog, Hartvolk, Hauchling … Der ist es. Alfréd Hauchling. Ein Glück, daß er einen so seltenen Namen hat, wenn er Szabó oder Kovács hieße, würde ich mich bestimmt nicht an ihn erinnern. Hauchling. SgV 683/45, 726/45 und 007/1946. Er notiert sich die Zahlen und gibt den Zettel dem Archivar. Während die Akten herausgesucht werden, ruft er über das Haustelefon Elzike an. 61
„Elzike, rufen Sie für mich Sándor Meszlényi an. Ja, den Schauspieler. Versuchen Sie’s in seiner Wohnung. Wenn er dort nicht ist, dann am Theater. Ja, am Nationaltheater. Wenn er da auch nicht ist, versuchen Sie herauszubekommen, wo er sich aufhält, falls man es nicht weiß, suchen Sie beim Rundfunk und beim Fernsehen nach ihm, aber suchen und finden Sie ihn mir, wenn er in Budapest ist. Nur dann natürlich. Wenn er in der Provinz oder im Ausland weilt, nützt es mir nichts. Sobald Sie ihn ausfindig gemacht haben, verbinden Sie mich mit ihm, ich bin in der Registratur Straftaten gegen das Volk. Sonst bin ich für niemanden zu erreichen. Ausgenommen Csudik, aber der ist noch unterwegs. Danke.“ Er setzt sich an einen Tisch und nimmt sich die drei Akten vor. Zwei davon umfassen mehrere hundert Seiten, die dritte ist relativ schmal. In einen Block macht er sich Notizen. Nach ungefähr zwanzig Minuten ruft ihn der Archivar ans Telefon. „Im Palatinusbad? Dann rufen Sie dort an, man soll über den Lautsprecher Herrn Meszlényi an den Apparat holen. Manche haben’s gut. Ich brüte hier in der Hitze, und dieser Graf aalt sich am kühlen Wasser. Gut, Elzike. Rufen Sie dort an und verbinden Sie weiter.“ Fünf Minuten später spricht er mit Meszlényi. „Herr Meszlényi? Hier spricht Major Józsa vom Budapester Polizeipräsidium.“ Józsa hat für solche Telefongespräche eine besondere Stimme. Sie ist tief, langsam, ruhig, sympathisch, intellektuell. Man darf diese Zivilisten nicht verprellen. Denen fällt sowieso gleich das Herz in die Hose, wenn die Polizei sich an sie wendet. Józsa weiß, daß man die Zivilbevölkerung beruhigen muß. „Meszlényi. Worum geht es, bitte?“ Na also. Józsa hat es doch gewußt. Er hat einen Schreck bekommen und will es verheimlichen. Die nervöse Stimme. So sind sie alle. Beruhigen. 62
„Ich muß mich entschuldigen, daß ich Sie beim Sonnenbad störe. Wir benötigen Ihre Hilfe. Sie können sicher sein, wenn es nicht etwas Außergewöhnliches wäre, hätte ich Sie nicht belästigt.“ „Aber, ich bitte Sie. Worum handelt es sich?“ „Sie sind doch mit dem Sándor Meitner identisch, nicht wahr, der neunzehnhundertzweiunddreißig das Kölcsey-Gymnasium absolvierte?“ „Ja. Aber wieso?“ Nun ein vertrauliches kleines Lachen in die Stimme. „Das würde ich Ihnen lieber persönlich sagen. Ich möchte Sie bitten, sich anzuziehen. Ich schicke Ihnen einen Wagen.“ „Nicht nötig. Ich bin mit meinem Wagen hier.“ „Können Sie in einer halben Stunde bei mir sein?“ „Die brauche ich mindestens. Jetzt ist es drei Viertel eins. Um halb drei habe ich eine Fernsehaufnahme.“ „Wir werden es so einrichten, daß Sie rechtzeitig dort sind. Je schneller Sie kommen, um so eher sind wir fertig. Ich sage beim Einlaß Bescheid, daß man Sie hereinläßt. Mein Name ist Józsa. Major Józsa.“ „Gut, Ich fahre gleich los.“ Józsa informiert den Einlaß, dann ruft er im Labor an, er benötige die Bilder unbedingt in einer halben Stunde. Er nimmt sich wieder die Akten vor. Alfréd Hauchling. Nach dem Sommer 1944 hat ihn niemand mehr gesehen. Sein Name taucht nirgends auf. Nur bis zu diesem Zeitpunkt, auch da nur selten. Wie heißt der Journalist, der diese ganze Periode aufgearbeitet hat? Lantos, Lakatos, Lan-, Lan- … Lugosi. Stimmt. Henrik Lugosi. Vielleicht weiß er etwas über Hauchling. Józsa ruft bei der Zeitung an und verlangt Lugosi. Er kommt erst nach zwei Uhr in die Redaktion. Na gut. Dann nach zwei, wenn er mit Meszlényi fertig ist. 63
Die kleine Ringler bringt die Vergrößerungen. Józsa zieht sie aus dem Umschlag, sie sind noch ein wenig feucht. „Werden sie nicht zusammenkleben?“ „Nein, Onkel Gábor. In fünf Minuten sind sie völlig trocken.“ „Danke, Magdika.“ Das Telefon. Alles klappt. Elzike sagt, Meszlényi sei da. Józsa eilt. Die Zeit drängt. Sie drängt sehr. Aber als er in sein Zimmer tritt, ist er ganz ruhig. Meszlényi verrät seine Nervosität nur damit, daß er unerhört gleichmütig tut. Was für ein Schauspieler! Józsa jedoch blickt in sein Innerstes. Er kommt gleich zur Sache. „Herr Meszlényi, Professor Ernő Laurentis ist ermordet worden.“ „Laurentis? Der Lauri? Ermordet? Von wem?“ „Das möchten wir gerade herausfinden. Mit Ihrer Hilfe.“ „Vergiftet? Erstochen? Erschossen?“ „Erschossen. Mit einem Browning. Sehen Sie.“ Józsa zeigt Meszlényi das vergrößerte Klassenfoto. „Armer Lauri. Genosse Major, ich will helfen, so gut ich kann.“ Meszlényi ist jetzt ganz ein großer Schauspieler, der soeben vom Mord an seinem Klassenkameraden erfahren hat. Józsa bewundert seine Kunst aufrichtig. „Was wissen Sie über Laurentis?“ „Wenig. Wir sahen uns fast nur bei den Abituriententreffen. Er war der beste Schüler in unserer Klasse. Ich erinnere mich nur an einen Fall aus den acht Jahren, daß Lauri nicht Bescheid wußte. Der brave Csulafy ruft ihn auf, im Lateinunterricht. ‚Stell dir vor, Laurentis, du seiest ein participium praesens im Genitiv. Ja? Wie lautest du in diesem Fall im Nominativ, Laurentis?‘ ‚Lau64
rens, Herr Lehrer‘, sagt Lauri. ‚Laudendus, mein lieber Laurentis. Und nun dekliniere dich.‘ Und Lauri dekliniert. Laurens, laurentum, laurentis, laurenti, laurente. Laurentes, laurentes, laurentium, laurentibus, laurentibus. ‚Welche Deklination ist das, Laurentis?‘ ‚Die dritte Deklination, Herr Lehrer, die für die Endung -ens.‘ ‚Exzellent, Laurentis, du kannst dich setzen. Und ich trage dir dafür die Secunda ein. Nicht, weil du es nicht gewußt hast, sondern deshalb, Laurentis, weil du damit rechnetest, daß ich dich zum zehntenmal hiernach fragen würde und deshalb deine Hausaufgaben nicht gemacht hast. Ist es so, Laurentis?‘ ‚So ist es, Herr Lehrer‘, sagt Lauri und setzt sich.“ „Ist das Csulafy?“ fragte Józsa, um einer endlosen Kette verflochtener Schulgeschichten vorzubeugen, und zog das Foto des Lehrers aus dem Umschlag. Er hatte den Eindruck, daß Meszlényis Spannung und Nervosität sich verflüchtigt hatten. „Nein. Das ist Doktor Koppai. Er war unser Klassenleiter in der Oberprima. Ungarisch und Geschichte. Einmal hat ihn Ramaczay als türkischen Khan an die Tafel gemalt …“ „Zeigen Sie mir, wer von denen Ramaczay ist“, unterbrach ihn Józsa und zog die übrigen Fotos heraus. Er wollte Meszlényis Gedächtnis für Gesichter überprüfen. Nach kurzem Suchen hob Meszlényi ein Foto hoch. „Hier.“ „Sagen Sie mir bitte der Reihe nach die Namen, damit ich sie auf die Rückseite der Fotos schreiben kann.“ „Aber sie sind nicht alphabetisch geordnet.“ „Macht nichts. Um so besser.“ „Na gut. Karlman, Anasztáz, Ruzicska, von diesem weiß ich den Namen nicht … (Józsa legte das Foto beiseite.) Rottenstein, Szőnyi, Balla, Sitik, Donner, Felcser, Tinkai-Török … Dessen Namen weiß ich auch nicht, er war nur in der Oberprima bei uns … (Józsa legte auch 65
dieses Foto beiseite.) Das ist Braun, das Haszlacher, Papp, der arme Laurentis …“ Meszlényi konnte sich an insgesamt vier Namen nicht erinnern. „Wenn ich helfe, können Sie dann sagen, wer wie hieß?“ „Wahrscheinlich.“ „Wer von den vier ist Alfréd Hauchling?“ „Der Ritter? Keiner.“ „Was heißt: der Ritter?“ „Wir nannten Hauchling den Ritter. Er kam in der Sekunda von einer anderen Schule zu uns, und als Csulafy ihn ins Klassenbuch eintragen wollte, fragte er ihn nach dem Namen seines Vaters. Wie aus der Pistole geschossen kam es: ‚Albert Hauchling, Ritter des Großkreuzes vom Malteserorden.‘ So wurde er für uns zum Ritter.“ „Aha. Aber wie kommt es, daß er nicht auf dem Klassenfoto ist? Sehen Sie sich bitte die Gruppenaufnahme an.“ Meszlényi musterte eingehend die Gesichter des Gruppenfotos, das auf dem Schulhof aufgenommen worden war. „Er ist nicht drauf. Anscheinend fehlte er an diesem Tage. Aber Sie verdächtigen doch nicht etwa Hauchling des Mordes an Laurentis? Er hält sich gar nicht in Ungarn auf. Vielleicht ist er nicht mal mehr am Leben. Und außerdem war er dicke mit Laurentis befreundet.“ „Wenn ich wüßte, lieber Herr Meszlényi, wen ich verdächtigen soll, wäre alles gleich viel leichter“, entgegnete Józsa ausweichend. „Würden Sie Hauchling auf der Straße wiedererkennen?“ „Wahrscheinlich. Obgleich … Wer weiß. Ich habe ihn seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Einen Augenblick …“ Meszlényi überlegte. Józsa beobachtete genußvoll, wie unauffällig, wie natürlich ein so großer Künstler 66
nachdenken kann. Er blickte kurz zur Uhr. Zehn Minuten nach zwei. „Ich hab’s. Zum letztenmal habe ich ihn neunzehnhundertvierundvierzig gesehen, im Hangli. Er trug einen dunkelgrauen Anzug mit einem weißen Kavalierstaschentuch in der Brusttasche, eine einfarbige, dunkle Krawatte und natürlich ein weißes Hemd. Hauchling war nie anders gekleidet. Zwei deutsche Offiziere waren bei ihm.“ „Entschuldigen Sie, wenn ich noch etwas frage. Erinnern Sie sich zufällig, ob Hauchling irgendein besonderes äußeres Kennzeichen hatte? Trug er zum Beispiel einen Schnurrbart? Eine Brille? Ein Monokel? Hatte er ein Muttermal? Sie kannten ihn ja über Jahre.“ „Er war mittelgroß, ungefähr einen Meter siebzig, vielleicht auch größer. Blond, braune Augen, ovales Gesicht, eher mager und schlank, gerade Nase. Keine besonderen Kennzeichen. Aber das war vor zwanzig Jahren.“ Erstaunlich, während Meszlényi dies alles erzählte, schien es, als verwandelte er sich in Hauchling, aber dennoch er selbst bleibend. „Moment, Major. Sein Gang. Ich zeige Ihnen, wie er ging. Ich muß sowieso gehen. In zehn Minuten habe ich Aufnahme.“ Er stand auf, zog die Schultern leicht nach hinten, senkte das Kinn und trat mit sehr geradem Rücken, fast steifem Hals, aber doch leichtem, lockerem, federndem Schritt zu Józsa und reichte ihm die Hand. „Auf Wiedersehen, Genosse Major.“ „Auf Wiedersehen, Herr Meszlényi. Wir sind Ihnen sehr dankbar.“ Wie behext blickte Józsa dem Schauspieler nach.
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Siebentes Kapitel Ort: Eine Unmasse weißer, sachkundig gewickelter Gaze- und Mullbinden, darunter der Schädelknochen des Ferenc J. Szücs, darin das Gehirn, in diesem ein Redaktionszimmer, in dem Józsa und Henrik Lugosi sitzen. Zeit: Der Augenblick, als Józsa einfällt, daß er vergessen hat, Meszlényi nach einer sehr wichtigen Sache zu fragen. Das fällt ihm ein, während er notiert, was ihm Lugosi zu sagen weiß. In J. Szücs’ Kopf jedoch laufen jetzt keine bewegten Bilder ab, kein Film, sondern dort steht ein einfaches Foto, 18 mal 24 Zentimeter. Józsas Hand mit dem Kugelschreiber über den Notizen steht still, Lugosi wendet den Kopf ein wenig zur Seite, sein Mund ist geöffnet, er spricht gerade, aber J. Szücs hört nicht, was er sagt. J. Szücs hört jetzt sein eigenes Gewissen, das zu ihm spricht. Nicht Józsa hat vergessen, Meszlényi zu fragen, wo er in den nächsten achtundvierzig Stunden zu erreichen sei, denn es könnten ja weitere Auskünfte benötigt werden, oder Hauchling wäre zu identifizieren, wenn man ihn fände. Nein. Diesen Umstand hat J. Szücs vergessen. Eigentlich müßte er jetzt ins Präsidium zurückkehren, noch einmal das Ende des Gespräches zwischen Józsa und Meszlényi abspielen und eine Frage einbauen, damit wäre alles erledigt. So etwas ist wirklich kein Problem. Ein Romanschriftsteller kann es jederzeit tun. Er nimmt die Schere aus dem Schubkasten, schneidet die Manuskriptseite an der betreffenden Stelle durch, tippt den einzufügenden Text auf ein anderes Blatt, klebt ihn zwischen die beiden Schnittstellen, glättet das Geklebte ein wenig mit der Hand und korrigiert mit dem Stift hier und da die Wörter und Sätze, damit der Dialog locker und natürlich klingt, fertig. Das kann ein Romanschriftsteller jederzeit tun. Nicht 68
aber Ferenc J. Szücs. Erstens: Von diesem Roman gibt es kein Manuskript, das er zerschneiden könnte. Zweitens: J. Szücs duldet keinerlei Schlampigkeit, nicht einmal, wenn er sie selbst begeht. Strenge, Güte, Folgerichtigkeit. Denn was geschähe zum Beispiel, wenn Józsa jetzt nicht in dem von J. Szücs erdachten Redaktionszimmer säße, sondern in einer wirklichen Redaktion, um Viertel fünf am Nachmittag? Das starre Bild setzte sich in Bewegung, Józsa hebt den Kugelschreiber vom Notizblock und sagt zu Lugosi: „Sie entschuldigen. Darf ich mal telefonieren?“ Lugosi deutet auf den Apparat. „Bitte.“ Józsa wählt. Er ruft das Fernsehen an, die Nummer weiß er von einem früheren Fall aus dem Kopf. In diesem meinem jetzigen Roman wird zuviel telefoniert, denkt J. Szücs, während Józsa darauf wartet, daß sich die Zentrale meldet. Beziehungsweise, wir wollen annehmen, daß das jetzt nicht der Roman, sondern die Wirklichkeit ist. „Ich möchte Herrn Meszlényi sprechen. Er ist zu Aufnahmen bei Ihnen, soviel ich weiß.“ „Ich verbinde mit dem Studio.“ „Hallo. Ich muß Herrn Meszlényi sprechen.“ „Herr Meszlényi ist schon weg. Wir sind mit der Aufnahme vor zwanzig Minuten fertig geworden.“ „Wissen Sie, wohin er gegangen ist? Es wäre sehr wichtig.“ „Ich weiß es nicht, ich bin hier Bühnenarbeiter. Aber vielleicht weiß es der Regisseur, Kollege Kalotai. Ich versuche, zurückzuverbinden. Warten Sie bitte.“ Józsa wartet. Dann ist er mit Kalotai verbunden. „Meszlényi? Ja, der ist gegangen, vor einer halben Stunde etwa. Aber natürlich weiß ich, wohin er wollte. Mit hundertzwanzig Sachen nach Hause, zu seiner Frau, und dann gleich weiter nach Italien für zwei Wochen.“ 69
Józsa ruft in Meszlényis Wohnung an. Er läßt es lange klingeln, niemand nimmt ab. Anscheinend sind sie schon unterwegs. Lugosi ist inzwischen anzusehen, daß er unruhig wird. Sicherlich hätte er noch etwas anderes zu erledigen, als hier Józsas Telefongespräche zu dekorieren. Schließlich soll er Józsa einen Gefallen tun, nicht umgekehrt. Übertreibt Józsa nicht ein wenig? Józsa wird immer nervöser. Aber er will es sich nicht anmerken lassen. Eine dumme Zwickmühle, in der er wegen dieser kleinen Vergeßlichkeit jetzt sitzt. Jetzt, wo jede Minute zählt. Es ist nach halb fünf. Er könnte alle Grenzübergänge anweisen lassen, Meszlényi sei von der Grenze zu Major Józsa zurückzuschicken. Aber mit welcher sachlichen Begründung? Und wer wird Hauchling identifizieren, wenn er es nicht tut? Denn falls sich Hauchling in Ungarn aufhält, dann verwendet er bestimmt nicht seinen richtigen Namen. Falls. Zuletzt wurde er im Sommer 1944 gesehen. Hauchling ist nur eine Fiktion. Eine Hypothese. Selbst wenn diese Hypothese sich bestätigt, muß Hauchling doch erst einmal ausfindig gemacht werden. Und wenn er gefunden ist, falls er sich hier aufhält, wo findet sich dann der winzigste Beweis dafür, daß Hauchling überhaupt des Mordes an Laurentis verdächtigt werden kann? Es gibt absolut keinen Beweis. Vielleicht ist Hauchling seit vielen Jahren nicht mehr am Leben. Daß auf Laurentis’ Schreibtisch eine Schulzeitung gefunden wurde, ist ja wohl kein Beweis. Und wenn die Hypothese doch richtig ist? Wenn doch Hauchling der Täter ist? Er hält sich in Ungarn auf und hat Laurentis ermordet. Auch dann weilt er nur unter fremdem Namen, nur als ausländischer Staatsbürger mit vorschriftsmäßigem Reisepaß und Visum in Ungarn. Und ebenso, wie er einreiste, kann er auch ausreisen. Er kann in jedem Augenblick die Grenze passieren. Und dann ist er weg auf Nimmerwiedersehen. 70
Und der stellvertretende Minister! Was wird der Stellvertreter sagen? Was der Ministerstellvertreter sagen wird, das wird sich Józsa nicht in Gold rahmen und unter Glas an die Wand hängen. Laurentis war ein bedeutender Mann. Morgen früh wird in den Zeitungen stehen: eines tragischen Todes gestorben. Wo soll Józsa jetzt, verdammich noch mal, für den Stellvertreter des Ministers urplötzlich einen Mörder hernehmen? Jedenfalls verabschiedet er sich eilends von Lugosi, und er entschuldigt sich wortreich, daß er ihn aufgehalten hat. „Aber bitte, bitte. Macht nichts“, sagt Lugosi und kann es kaum erwarten, daß Józsa verschwindet. Gegenüber dem Redaktionsgebäude befindet sich ein Taxistand, Józsa hat Glück, er wirft sich in einen Wagen. „Zum Polizeipräsidium“, sagt er zu dem Fahrer. J. Szücs riebe sich am liebsten die Hände, daß ihm so hervorragende Komplikationen eingefallen sind. Leider kann er nicht, seine rechte Hand liegt in Gips. Händereiben ist unmöglich. „Ich bin der liebe Gott“, spricht er laut in das Einzelzimmer, in dem er einsam und allein liegt. Die linke Hand kann er bewegen, er legt sie auf die Brust, denn ein solcher Satz bedarf einer angemessen wirksamen Geste. Ich sag’, wie es ist. Denn in eines Gottes Macht steht es nicht allein, Dinge zu verbessern, er kann sie auch verschlimmern. Ein schöner Krimi, wo alles wie geölt abläuft! Wenn ich schon so dußlig war, diese hochwichtige Frage zu vergessen, beziehungsweise so weise, dann mögen die Dinge ihren Lauf nehmen. Meszlényi soll ruhig nach Italien fahren, samt Gattin. Er hat sich diesen Urlaub verdient. In dieser Saison ist er fast jeden Abend aufgetreten. Dazu noch die Filmrollen, das Fernsehen, der Rundfunk und allerlei Tingeltangel. Józsa lehnt sich im Taxi zurück, schließt die Augen und denkt daran, daß dieser J. Szücs ihn diese Nacht 71
wieder nicht wird schlafen lassen. Das ist unmenschlich. Ach, egal. Im Kölcsey-Gymnasium würde er niemanden antreffen. Es ist Hochsommer und fast fünf Uhr nachmittags. Und wie sollte dort auch jemand die jetzigen Adressen oder Telefonnummern von Schülern wissen, die 1932 das Abitur gemacht haben. Höchstens durch Zufall, wenn überhaupt jemand in der Schule wäre. Das ist also ein schlechter Ausgangspunkt. Macht nichts. Ich werde Lakatos trotzdem für die Namenliste der Schüler einsetzen, soll er’s mit dem Telefonbuch versuchen oder sich was anderes einfallen lassen, aber er soll mir auf jeden Fall zwei Leute aus dieser Klasse von 1932 aufspüren, die Hauchling zur Identifizierung gegenübergestellt werden können. Sofern Hauchling überhaupt existiert und in Ungarn weilt. Vorläufig ist diese Annahme die einzige Spur, der ich nachgehen kann. Falls in den bisherigen Ermittlungsberichten nicht irgendein neuer Umstand auftaucht. Ach ja, und das Auto mit dem ausländischen Kennzeichen. Das muß auch herbeigeschafft werden. Ich stehe, was die Spuren betrifft, nicht so gut da, daß ich diese vernachlässigen darf. Moment. Das ist gar keine schlechte Idee. Wie wär’s, wenn ich die beiden Spuren zusammenlege und Hauchling in dem dunkelgrauen Auto suche? Na klar! Was hat Meszlényi gesagt? Mit zwei deutschen Offizieren im Hangli, Frühjahr 1944, im dunkelgrauen Anzug! Das ist vielleicht seine Lieblingsfarbe. Was für ein haarsträubender Blödsinn. Solche Zufälle gibt es nicht. Fakten und Beweise müssen her statt solcher albernen Phantastereien. Gründliche, harte polizeiliche Kleinarbeit. Tüftelei. Aber ist es ein Wunder, wenn ich phantasiere? Ich habe kaum geschlafen und nichts gegessen außer einem Paar Würstchen, im Stehen. Und Mórika. In meinem Alter sollte man nicht mehr so draufgängerisch sein. Ja, ausgeruht, ausgeschlafen und 72
mit einem ordentlichen Essen im Bauch, da sähe die Welt gleich anders aus. Jammre nicht, Józsa, jammre nicht. Er bezahlt die Taxifahrt und jagt in sein Zimmer. „Hat Karcsi sich gemeldet?“ fragt er Elzike, die sich vor ihrem kleinen Handspiegel bereits pudert, sie will nach Hause, ihre Arbeitszeit ist vorbei, sie hat nur auf ihn gewartet. „Noch nicht“, sagt Elzike leise. Sie sieht, daß der Chef in Stimmung ist. „Fünf Stunden, daß er losgefahren ist. Der steigt den Frauen hinterher, und ich muß schuften. Dieser Tunichtgut. Onkel Gábor hier, Onkel Gábor da, aber verlassen kann ich mich nicht auf ihn. Der große Csudik. Aber ich mache ihn zu einem ganz kleinen Csudik, wenn er mir zwischen die Finger kommt! Jawoll!“ „Kann ich gehen, Genosse Józsa?“ fragt Elzike schüchtern, denn wenn Józsa tobt, geht man ihm besser aus dem Wege, das weiß sie. „Gehen Sie doch!“ faucht Józsa. „Gehen Sie! Ich will Sie nicht mehr sehen! Ich bleibe ja!“ „Soll ich auch bleiben, Genosse Józsa?“ Elzikes Stimme ist ein dünner weißer Zwirnsfaden. „Gehen Sie!“ Elzike löst sich in Luft auf. Wo sie eben noch stand, ist jetzt nur noch ein bißchen weißer Staub. Ein bißchen Puder aus der Dose. Welche Zahl hat Vicenik gesagt? Eintausendneunundachtzig. „Genosse Vicenik? Ich möchte Sie mit einer ziemlich scheußlichen Arbeit beauftragen. Sie sagten mir am Vormittag, gestern abend hätten sich eintausendneunundachtzig Ausländer mit Personenkraftwagen im Lande aufgehalten. Einen von ihnen brauche ich. Er fährt einen dunkelgrauen Wagen, ist etwa fünfzig Jahre alt, nein, genau fünfzig, wenngleich nach dem Geburtsjahr 73
nicht genau fünfzig, und etwa einen Meter siebzig groß. Sonst habe ich keinerlei Anhaltspunkte. Braune Augen, das vielleicht noch. Vor zwanzig Jahren war sein Gesicht oval, eher schmal, und die Nase gerade. Inzwischen kann er ohne weiteres zwanzig, fünfundzwanzig Kilo zugenommen haben. Vielleicht auch nicht. Versucht, mir diesen Mann herbeizuschaffen. Aber einen einzigen, auf den das alles zutrifft, werden Sie sowieso nicht finden, nehmen wir an, es gibt fünfzig solche. Damit wäre ich schon zufrieden. Mit tausendneunundachtzig kann ich nichts anfangen. Von denen, die in Betracht kommen, benötige ich genaue Angaben und Fotos. Danke, Genosse Vicenik. Ach, noch etwas: es eilt sehr. Auf Wiederhören.“ Und nun Lakatos. Soll Lakatos gerufen werden, oder soll Lakatos unter irgendeinem Vorwand zu Józsa kommen? So nebensächlich die Frage für den Roman anmutet, sie bereitet J. Szücs ernsthaftes Kopfzerbrechen. J. Szücs hat eine große Vorliebe für Lakatos. Lakatos war derjenige, der ihm eine Holunderpfeife schnitzte, der ihn entgegen strengstem mütterlichem Verbot mit Speck fütterte, das auf die Spitze seines Taschenmessers gesteckt war, der ihm Hirschkäfer und Schneckenhäuser brachte, als er mit Scharlach im Bett lag. Lakatos hieß nicht Lakatos, sondern János Szabó, und J. Szücs fürchtete sich nicht einmal vor ihm (eigentlich fürchtete er sich nur vor ihm nicht, vor allen anderen ja), als eines Vormittags gegen zehn Uhr der Vater aus der Wachstube herüberkam, nachdem er die ganze Nacht Dienst gemacht hatte, und sich von der Mutter Spiegeleier aus fünf Eiern und mit Speck zubereiten ließ, weil er seit dem Abend nichts gegessen hatte, also J. Szücs fürchtete sich auch nicht vor ihm, als er an diesem Morgen Merkwürdiges mitanhörte. „Gibt es Ärger, Ferenc?“ 74
„Ärger nicht gerade, das nicht.“ Mutter machte alles nervös, sie ängstigte sich ständig, mochte Vater ihr noch so oft sagen, die Frau eines Gendarmeriewachtmeisters brauche sich nicht zu fürchten, sie nickte nur und ängstigte sich weiter. „Der Szabó, dieser Dummkopf …“ „Was hat er getan?“ „Nicht jetzt, schon vor einem Monat, als wir beim Kaufmann Goldner die Hausdurchsuchung machten …“ „Der den Laden in der Ziegeleistraße hat?“ „Ja. Seine beiden Söhne konnten anscheinend keine Ruhe geben, als sie aus Budapest zurückgekommen waren, deshalb sollten wir nachsehen, ob sie nicht irgendwelche Flugblätter oder aufrührerische Bücher im Haus hätten, das hatte die Komitatsdirektion angeordnet. Und bei der Durchsuchung, wie soll ich sagen, hat Szabó, dieser Dummkopf, solange mit dem Gummiknüppel herumgefuchtelt, bis er dem größeren Goldner-Sohn ein Auge ausgeschlagen hatte. Gefunden haben wir leider nichts, Goldners Frau ist Christin, sie hat irgendeinen Verwandten, der ein hohes Tier ist, aber das wäre nicht weiter schlimm, ich habe meine Leute immer aus jedem Schlamassel herausgezogen, wenn sie in der Tinte saßen, ich bin zu ihnen wie der eigene Vater. Szabó nun, dieser Dummkopf, der nie auch nur einen Schluck trinkt, machte sich in derselben Nacht über fünfzehn Liter konfiszierten hausgebrannten Schnaps her, zusammen mit Mitenik, und gestern früh, es war schon heller Tag, torkelte er durch die Stadt und sang laut patriotische Lieder. Im Nachthemd, stell dir das vor! Wenn er wenigstens Frühlingslieder gesungen hätte, aber nein, patriotische! So ein Rindvieh. Er hat fünfzehn Dienstjahre und vier Kinder. Das kleinste ist sechs Monate alt. Mein bester Mann. Daß ihn doch der …“ „Nicht fluchen vor dem Kind, Ferenc!“ „Lauf zum Laden, mein Sohn, hol ein Päckchen 75
Feinschnittabak und Zigarettenpapier, Modiano, hopp, hopp!“ Nun hat J. Szücs die Lösung gefunden. Józsa sucht Lakatos, damit er zu ihm kommt, aber Lakatos ist unterwegs, er kommt erst in einer halben Stunde zurück, Józsa läßt die Schulzeitung und eine handgeschriebene Anweisung für Lakatos beim Diensthabenden zurück. Zwei Mann herbeischaffen, koste es, was es wolle, die Hauchling wiedererkennen können. Darunter: Dringend!! Józsa. Falls Hauchling gefunden wird, natürlich. Wieder in seinem Zimmer, ärgert er sich, daß Csudik nichts von sich hören läßt, aber da läutet das Telefon. Hoffnungsvoll nimmt er den Hörer ab. Aber nein. Es ist Vicenik. Er benötige nähere Informationen, den Wagen betreffend. Die Marke. Oder aus welchem Land er sei. „Ich weiß es nicht, Genosse Vicenik. Ich weiß es nicht.“ „Nicht einmal, ob es ein westlicher Typ ist oder ein volksdemokratischer?“ „Nicht einmal das, Genosse Vicenik. Vermutlich ein westlicher.“ „Danke, Genosse Józsa.“ „Aber wofür denn!“ Er hat noch nicht aufgelegt, als die Zentrale sich meldet. Ein Ferngespräch, aus Balatonalmádi. Na, endlich. Zehn Minuten vor sieben. „Was ist, du Landstreicher! Rede!“ „Ich hab’ sie, Onkel Gábor.“ „Frau Tamacskó?“ „Ja. Die Zsu. Sie hat gesagt, ich soll sie Zsu nennen.“ „Deine Weibergeschichten interessieren mich nicht. Bringe sie auf der Stelle nach Budapest!“ „Schrei nicht mit mir, Onkel Gábor. Sie ist schon beim Packen. Ich hole sie gleich, und wir fahren los. Sie ist mit einem Südamerikaner in Dóra Straubs Wochen76
endhaus gekommen, der Bursche ist am Vormittag mit seinem Wagen weggefahren, um etwas zu erledigen, um halb zwei kam er zurück, um halb vier ist er wieder weggefahren, gegen sieben will er zurückkommen, er ist noch nicht hier, aber Zsu hat zugesagt, daß sie mich nach Budapest begleitet.“ „Ich will kein Loblied auf dich anstimmen, du Schandbube, aber ich glaube, du hättest es verdient.“ „Stimm nur an, Onkel Gábor, stimm nur an.“ „Also bring sie her, du Rotznase. Hast du sie nach Laurentis gefragt?“ „Das war nicht mein Auftrag. Soll ich sie fragen?“ „Nein. Darüber kein Wort zu ihr. Weiß sie, daß du Polizist bist?“ „Nein. Ich habe gesagt, ich sei Elektroingenieur.“ „Sag ihr während der Heimfahrt, was du wirklich bist. Und bring sie direkt hierher. Sobald ihr die Stadt erreicht, sag ihr, daß Laurentis ermordet worden ist. Beobachte genau, wie sie reagiert.“ „Ich verstehe.“ „Wann könnt ihr hier sein?“ „Wenn ich mir große Mühe gebe, in anderthalb Stunden etwa.“ „Dann gib dir sehr große Mühe. Wieviel Kilometer? Hundert?“ „Hundertsiebzehn, Onkel Gábor. Was soll ich mit dem Südamerikaner machen?“ „Was du mit ihm machen sollst? Laß ihn sausen. Mich interessieren nicht die Flirts der Dame Tamacskó, sondern der Fall Laurentis. Und jetzt beeil dich. Sieben Uhr. Spätestens um halb neun bist du mit ihr bei mir. Das wär’s.“ Anschließend ruft Józsa den Wachhabenden an. Alles ist in Ordnung. Lakatos hat die Anweisung erhalten und ist unterwegs. Vicenik arbeitet, Karcsi Csudik kommt mit Frau Tamacskó aus Almádi. Endlich scheint sich etwas zu tun in diesem Fall. 77
Er ruft Mórika an, er komme jetzt zum Essen nach Hause, müsse in einer Stunde aber wieder im Präsidium sein. „Gábor, Gábor, das wird kein gutes Ende nehmen. Du arbeitest dich zuschanden“, seufzt Mórika ins Telefon. „Was soll ich denn tun, so ist das Leben. Mach was Feines zum Essen, ich bin gleich da.“ Er bestellt einen Wagen und hinterläßt, wenn sich etwas Wichtiges ergebe, solle man ihn zu Hause benachrichtigen. Dann geht er hinunter und steigt ein. „Guten Abend, Genosse Kucsora. Der Zufall hat uns wieder zusammengeführt.“ „Guten Abend, Genosse Józsa. Nicht der Zufall. Ich saß im Fahrerzimmer, als ein Wagen für Sie angefordert wurde. Da habe ich mich eben vorgedrängelt.“ „Haben Sie gegessen, Genosse Kucsora?“ „Ich ja. Aber Ihnen knurrt der Magen, wie mir scheint.“ „Es scheint nicht nur so, er knurrt mir wirklich. Ich fahre jetzt Abendbrot essen. Sie warten auf mich und bringen mich zurück. Trinken Sie inzwischen auf meine Kosten einen schönen Kaffee im Espresso bei uns an der Ecke.“ „Schönen Dank.“ „Keine Ursache, Genosse Kucsora.“
Achtes Kapitel Den Himmel hat er sich nicht ganz so vorgestellt. Sondern wärmer und bevölkerter. Fasten your belts. Attachez vos ceintures. Die Stewardeß trägt auf einem Tablett Bonbons und Kaugummis umher und bietet lächelnd an. Die vornehme Festigkeit von Schlagsahne, frisch aus dem Kühlschrank. Hier und da ein rosa Tup78
fer, wo die Sonne auf diese reglose, spröd-erhabene Himmelslandschaft scheint. Antarktis. In diesem Himmel möchte er nicht Gott sein. Gott im Himmel! Du Ärmster. Die Maschine setzt zur Landung an. Er kann auf den linken Motor hinaussehen, die trostlos weiße Himmelslandschaft dreht sich, wird grau, triefend und schmutziggrau, als sich die Maschine in einen hochgetürmten Wolkentropfstein bohrt, das Motorengebrumm klingt angestrengter, mühsam rührt der Pilot in der dichten, grauen Masse, Eiskörnchen setzen sich griesig am Metallgehäuse des Motors ab. Sein Magen gerät in Bewegung, schiebt sich zum Hals empor, Brechreiz. Zurücklehnen, zurücklehnen, kreisend hinab, immer tiefer, jetzt wird es besser, der andere Motor brummt in seinen Ohren, gleich wird es besser. Tatsächlich. Schon sieht er das Flughafengebäude, da ist die Rollbahn, aus Filmerinnerungen weiß er, daß das Fahrgestell ausgefahren ist, der weiße Betonstreifen kommt immer näher, kleine, weiche Stöße, noch einer und noch einer, jetzt rollt die Maschine, bremst, dreht, später dann, in der offenen Tür, die Hand der Stewardeß, rotlackierte Nägel, zarte Finger, die weich sein Gelenk umfassen und ihm auf die erste Stufe helfen, dann, noch ein bißchen später, erblickt er oben am Geländer Babsi, neben ihr Etuka, Babsi ist rascher auszumachen mit ihrem leuchtend blonden Haar, in flachen Schuhen ist sie noch einen halben Kopf größer als Etuka, Etuka in weißem, tief ausgeschnittenem Kleid, braungebrannt von der Plattenseesonne, wie hübsch, wie appetitlich, wie begehrenswert sie ist. Auch Babsi, beide stehen sie in der Wartehalle, sie warten auf ihn, zwei so schöne Frauen! „Servus, Ferenc! Wie war der Flug?“ „Servus, Fefe!“ Etuka küßt ihn auf die Stirn, Babsi nimmt ihn in die Arme und drückt ihm rechts und links ein schmatzendes Küßchen auf die Wange, dann hängen sie sich bei ihm 79
ein, er reckt sich ein wenig zwischen den beiden Schönen, so gehen sie los. Na. Auf diese Weise wird sich Doktor Aurél Tamacskós Heimkehr aus Berlin abspielen. Aber erst in drei Tagen, J. Szücs weiß bereits, daß er die Ankunft nicht in den Roman aufnehmen wird, er hat sie nur für sich abgespult, einfach so, zum Zeitvertreib. Er hat Józsa nicht in die Wohnung begleitet, ehrlich gesagt, das sorglose, glückliche Familienleben der Józsas geht ihm langsam auf die Nerven, ebenso, daß sie ständig in der Küche ihre Mahlzeiten einnehmen und auch im Hochsommer immer diese schweren, fettigen Gerichte futtern, besonders jetzt, wo ihm der Magen noch ein wenig von der Flugreise bebt. Hier schneiden wir jetzt. Schnitt. Zwanzig Uhr fünfundzwanzig, Józsa sieht zur Wanduhr hinüber. Allmählich müßte Csudik mit Zsu kommen. Inzwischen sieht er noch die bei Lugosi angefertigten Notizen durch, dort hat er nämlich nur mechanisch mitgeschrieben, besonders gegen Ende, weil er überlegte, wie Meszlényi zu finden wäre. So, wir wollen mal sehen. Hauchling hat also in Wien Jura studiert, anschließend arbeitete er ein Jahr beim Wiener Bank-Verein, danach ein halbes in der Schweiz. Józsa schreibt Zahlen, bringt die Jahreszahlen in Abstimmung, achtunddreißig, sagen wir neununddreißig. Vierzig ist er bereits bei der kleinen, aber vor allem wegen der Verbindung zu deutschen Firmen stetig an Bedeutung gewinnenden Bank seines Vaters tätig, der Kredit- und Transferbank A. G. Die Familie gehört zur Finanz-Hocharistokratie, eine kleine Absonderlichkeit, daß die Vornamen der Männer allesamt mit A beginnen. Alfréd Hauchlings älterer Bruder Alfonz ist ein bekannter Polospieler, 1941 stürzt er auf dem Polofeld auf der Margareteninsel von seinem Pferd, bricht sich das Rückgrat und stirbt. Albert Hauchling, der Malteserritter, stirbt Anfang 1943, nun übernimmt Alfréd Hauchling allein das Geldinstitut. Er reist viel ins 80
Ausland, besonders nach Deutschland, dort unterhält er beste Beziehungen zu den höchsten Finanzkreisen. Verheiratet ist er nicht. Nach dem Einmarsch der Deutschen sieht man ihn sehr oft mit hohen Offizieren, seine Rolle ist unklar. Er ist ein ausgezeichneter Sportsmann, spielte selbst Polo, gab es aber nach dem Tode seines Bruders auf. Wahrscheinlich war er einer der wichtigsten Wirtschaftsberater der Deutschen in Ungarn, eine Zeugenaussage läßt darauf schließen, daß es in der zweiten Hälfte der dreißiger und zu Beginn der vierziger Jahre zu Hauchlings Aufgaben gehörte, ins Ausland geschmuggelte ungarische private Vermögenswerte auszuforschen und zu lokalisieren. Der Zeuge, Miksa Traubmann, ist ein ehemaliger Fabrikant und Großindustrieller. Ja, diese Aussage hat Józsa in der Akte Nummer 726/45 des Volksgerichtsrates gefunden. Traubmann zufolge leitete Hauchling das Verhör, als die Deutschen aus ihm herausquetschen wollten, wo er im Ausland geheimes Vermögen besitze. Hauchling war auch zugegen, als Traubmann gefoltert und geprügelt wurde. Er selbst verhielt sich einwandfrei, „wie ein Gentleman“. Die Folterungen hatte nicht er veranlaßt, sondern der Deutsche in Zivil, der bei ihm war. Geschlagen und gefoltert wurde Traubmann auch von Deutschen. Traubmann gab zu, ein Geheimkonto in der Schweiz zu haben, er hoffte, dann würde man ihn laufenlassen, zumal ihm Hauchling sein Ehrenwort darauf gegeben hatte. Aber man ließ ihn nicht frei; Hauchling argwöhnte wahrscheinlich, Traubmann habe seine sonstigen Auslandswerte verschwiegen, oder der Grund war, daß nur Traubmann persönlich seine schweizerischen Einlagen abheben konnte; so hatte er bei der schweizerischen Bank verfügt. Traubmann war Ende Mai 1944 verhört und gefoltert worden. Man hielt ihn in einem Budapester Keller gefangen. Dort fanden ihn am 15. Januar 1945 sowjetische Truppen, er war bewußtlos und hatte seit neun Tagen nichts gegessen. 81
Nach dieser Aussage vor Gericht konnte er ein weiteres Mal nicht mehr einvernommen werden, da er den Verstand verlor. Er starb im Februar 1946 in einer Budaer Nervenklinik. Das hat Józsa von Lugosi erfahren. Ebenso, daß Hauchling nach dem Juni 1944 in Ungarn nicht mehr gesehen wurde. Dies stimmt mit der Aussage Meszlényis überein, denkt Józsa. Ein Foto von ihm gibt es nicht. Na, Lakatos wird schon die beiden Klassenkameraden heranschaffen, die ihn wiedererkennen. Er seufzt tief. Natürlich nur, wenn die gesuchte Person, die er insgeheim – und ohne selbst zu wissen, warum – des Mordes an Laurentis verdächtigt, wirklich Hauchling ist. Und wenn man ihn findet. Zwanzig Uhr dreiundvierzig, Karcsi könnte wirklich kommen. Ein seltener Augenblick im Leben. Józsas Wunsch geht in Erfüllung. Die Tür öffnet sich, Csudik tritt ein, lächelt. „Da sind wir, Genosse Józsa.“ Józsa läßt sich nicht anmerken, wie er sich freut, der Rotzjunge braucht es nicht zu sehen, er ist schon arrogant genug. „Halb neun, habe ich gesagt. Dreizehn Minuten Verspätung.“ „Onkel Gábor, du hast keine Ahnung, was für ein Rekord es trotzdem ist. Und welcher Verkehr am Plattensee herrscht! Wir haben es nur geschafft, weil Zsus Südamerikaner uns in seinem Jaguar hergebracht hat. Was für ein Wagen! Denn in meinem Wagen sind die Zylinderkopfdichtungen hinüber.“ „Wir schwatzen nicht, Genosse Csudik. Schwierigkeiten sind dazu da, gemeistert zu werden. Ich erwarte deine Meldung, schnell, im Telegrammstil. Denke, du müßtest für jedes Wort zahlen.“ „Bitte: Wir sind da. Soll ich Frau Tamacskó hereinrufen?“ Csudik ist ein wenig eingeschnappt. 82
„Warte. Weiß sie, daß du Polizeioffizier bist?“ „Ja. Ich habe es ihr auf halbem Wege gesagt.“ „Vor dem Südamerikaner?“ „Der kann nur Englisch und Spanisch.“ „Kann Frau Tamacskó Englisch?“ „Sie hat eine mittlere Sprachprüfung abgelegt.“ „Was sagte sie?“ „Sie drehte sich um, denn sie saß vorn neben dem Südamerikaner, lachte und sagte: ‚Na so was, Karcsi, du bist mir ein Schlawiner!‘ “ „Und wie nahm sie die Nachricht von Laurentis’ Ermordung auf?“ „Das habe ich ihr erst vorhin gesagt, als wir über die Freiheitsbrücke fuhren.“ „Wieder vor dem Südamerikaner? Wo bleibt die Wachsamkeit, Genosse Csudik?“ „Ich sag’ doch, Onkel Gábor, er kann nicht Ungarisch.“ „Keine Widerrede! Wie reagierte sie?“ „‚Großer Gott‘, sagte sie, ‚Ernő? Aber wer hat es getan? Warum? Wann? Na, das wird einen Skandal geben! Der Zettel, den ich ihm geschrieben habe! Wenn Aurél davon erfährt!‘ Das war ihre Reaktion. Dann sagte sie auf Englisch etwas zu Miguel. Der war auch sehr bestürzt.“ „Der Südamerikaner? Woher kennt er Laurentis?“ „Das habe ich Zsu gefragt, als wir ausgestiegen waren und Miguel weiterfuhr. Sie sagte, sie hätte ihm von Laurentis erzählt.“ „Ach, du Esel! Das nennst du Diskretion? In einer Stunde weiß die halbe Stadt, daß Laurentis umgebracht wurde. Wo wohnt dieser Miguel?“ „Zu Zsu hat er gesagt, sie soll ihn um halb fünf im Royal anrufen.“ „Karcsi, Karcsi! Dir darf man nichts anvertrauen. Hol mir jetzt Frau Tamacskó herein.“ Csudik geht hinaus. Im nächsten Augenblick ist er 83
wieder da. Aufgeregt. „Sie ist ausgerissen! Sie ist nicht mehr hier!“ „Oh, du Rindvieh!“ Józsa langt nach dem Telefon, um den Einlaß anzurufen, da öffnet sich die Tür, und ein Frauenkopf guckt ins Zimmer. „Zsu! Wo waren Sie?! Ich dachte schon, Sie hätten sich verdrückt“, faucht Csudik sie an. „Darf ich eintreten? Ich war auf der Toilette.“ „Treten Sie näher, Frau Tamacskó“, sagt Józsa. Hier brauche ich jetzt was, denkt J. Szücs und hält inne im Fabulieren. Etwas wie das Eintrittslied der Primadonna oder eine Bravourarie. Sein scharfes, empfindsames Gehör hindert ihn jedoch daran, die straffe, geschlossene Komposition des Kriminalromans mit irgendwelchen gekünstelt literarischen Phrasen aufzulockern. Er begnügt sich mit einer kleinen lyrischen Geste, nach französischer Manier, ja, das ist es, Le jardin des soupirs, Garten der Seufzer, genau, Józsas Zimmer wird jetzt zum Garten der Seufzer. Csudiks Seufzen ist ein Seufzen der Erleichterung, Józsas Seufzen drückt Zufriedenheit aus. Zsu tritt ins Zimmer, ihr Seufzer kommt aus dem Innersten, ist zugleich besorgt, tieftraurig und doch hoffnungsvoll. Sie wirft Csudik einen kurzen, hilfesuchenden Blick zu, aber er ist jetzt starr wie eine Statue, in Gips gegossen und schon getrocknet. „Nehmen Sie Platz, Frau Tamacskó“, sagt Józsa noch während er seufzt. Wie sie doch Etuka ähnelt! In der Figur, im Gesicht und in der Art, wie sie sich jetzt in den Sessel setzt und zurücklehnt, wie sie die Beine kreuzt; die warme Bräune ihrer Haut läßt es auf einmal heiß werden in dem puritanisch schlichten Dienstzimmer. J. Szücs las erst neulich von einer sehr interessanten neuen Theorie, derzufolge ein sehr enger Zusammenhang zwischen der erhöhten Hormonausscheidung und dem Anwachsen der 84
im Organismus meßbaren bioelektrischen Spannung besteht. Versuche mit Ratten und Meerschweinchen haben ergeben, wenn man die inneren Sekretionsdrüsen mit entsprechenden Pharmaka oder durch Reizung der die Genitalien umgebenden Hautoberfläche zu verstärkter Hormonerzeugung stimuliert, kann man mit dem von den Tieren produzierten bioelektrischen Strom die Glühfäden miniaturisierter Wärmestrahler zum Glühen bringen. Diesbezügliche Versuche mit menschlicher Bioelektrizität seien im Gange, hieß es. „Sie sind also Frau Tamacskó, wenn ich nicht irre“, sagt Józsa. „Ja.“ Die Antwort ist ein kaum vernehmbares Hauchen. Józsa blickt, wie zu Beginn jeder Vernehmung, automatisch zur Wanduhr. Zwanzig Uhr siebenundfünfzig Minuten. „Erzählen Sie uns bitte, wann und unter welchen Umständen Sie Professor Laurentis zum letztenmal gesehen haben. Sie wissen ja bereits, daß er ermordet wurde.“ „Aber wie? Und warum? Warum wurde er ermordet?“ fragt Zsu und beginnt zu schluchzen. „Bitte, die Fragen stelle ich. Sie antworten mir. Wir werden alles klären.“ Zsu hört auf zu weinen und wischt sich die Augen trocken. Noch ein kleiner Schniefer, dann berichtet sie: „Wir waren gestern nachmittag um halb zwei im Terrassencafé am Gellérthotel verabredet. Da habe ich ihn zum letztenmal gesehen.“ „Fiel Ihnen an seinem Verhalten etwas auf?“ „Nein. Er war so wie immer. Er machte mir den Hof, sagte mir Nettigkeiten, ich mag es nicht, wenn man so altmodisch mit mir flirtet wie er immer, aber ich war daran gewöhnt, und bei ihm gefiel es mir. Er sagte, ich sollte ihn gegen Abend besuchen.“ „Welche Beziehung bestand zwischen Laurentis und Ihnen?“ 85
„Wie drückt man so etwas aus … Kurz, wir hatten ein Verhältnis. Ernő war der Chef meines Mannes an der Universität. Bitte, meinem Mann werden Sie nichts davon sagen, nicht wahr? Ich bitte Sie inständig, er darf es nicht erfahren!“ „Uns geht Ihre Ehe nicht das geringste an, Frau Tamacskó. Wir haben nicht die Absicht, Ihre Intimbeziehungen zu untersuchen und Ihren Mann einzuweihen, wir wollen Laurentis’ Mörder finden. Und nun erzählen Sie, aber genauestens, was Sie zwischen halb zwei Uhr nachmittags und halb elf Uhr abends gemacht haben.“ „Alles?“ „Alles.“ „Muß ich?“ „Sie müssen.“ Zsu beugt sich vor, zieht eine Packung Kent aus ihrem Täschchen und zündet sich umständlich eine Zigarette an. „Ich hatte also mit Ernő ausgemacht, um sieben Uhr in seine Wohnung zu kommen. Er sagte, er würde jetzt zur Akademie fahren, und ich, daß ich im Gellértbad ein bißchen schwimmen wollte.“ „Laurentis verließ Sie also. Um wieviel Uhr?“ „Gegen zwei. Ich gehe auf den Eingang des Schwimmbades zu, und kurz vor der Ecke stoppt auf einmal ein wunderschönes, dunkelgraues Auto neben mir.“ „Mit ausländischem Kennzeichen?“ fragt Józsa und kann seine Erregung kaum verbergen. „Ja, mit ausländischem Kennzeichen. Ein gutaussehender Mann steigt aus, schwarze Sonnenbrille, wie ich sie aus italienischen Filmen kenne, und fragt mich auf Englisch, wie man zur Avenue Bartók kommt. Ich sage: follow right your way, also immer geradeaus, denn ich habe ein mittleres Sprachexamen in Englisch, darauf bittet er mich sehr freundlich und höflich, ihm den Weg zu zeigen, er öffnet die Wagentür, aber nicht auf eine 86
billige Art, wie man manchmal angesprochen wird. Als Frau spürt man das sofort. Ich sage mir, daß es ja nichts macht, wenn ich eine Viertelstunde später schwimmen gehe, wegen der Figur, wissen Sie, ich möchte ein bißchen abnehmen.“ „Und Sie stiegen in den dunkelgrauen Wagen mit dem ausländischen Kennzeichen ein.“ „Ja. Wieso, ist es verboten?“ „Nein, nein. Und weiter?“ „Er stellte sich mir vor. Miguel Navarro Sánchez, Geschäftsmann aus Nicaragua, ich sagte ihm: follow right the way, this is the Avenue Bartók where we are, und er fuhr ganz langsam los, Richtung Móriczplatz. Indessen unterhielten wir uns. Es kann nie schaden, wenn man seine Sprachkenntnisse ein wenig aufpoliert, im September habe ich die nächsthöhere Prüfung, und außerdem war er mir ganz sympathisch.“ „Schwimmen sind Sie natürlich nicht mehr gegangen.“ „Woher wissen Sie das? Ach so, ich verstehe. Sie schlußfolgern. Nein. Am Móriczplatz gestand mir Miguel, er sei ein shy man, ein scheuer Mensch, er habe sich nicht getraut, mir eher zu sagen, daß ich ihm schon im Terrassencafé gefallen hätte, aber dort sei ich ja nicht allein gewesen, deshalb habe er mich erst angesprochen, als dieser gentleman, dieser sympathische Herr, gegangen sei. Er bot mir von seinen Kent an, das ist meine Lieblingszigarette, und lud mich zu einem Gläschen Bourbon ein, das ist mein Lieblingsgetränk, aber alles im Rahmen, wie es sich gehört, immerhin bin ich mit Doktor Tamacskó verheiratet. Verstehen Sie?“ „Natürlich“, antwortet Józsa. Csudik sitzt stumm da. Er kennt die Geschichte bereits. „Hat er sich nach Laurentis erkundigt?“ „Warum hätte er sich nach Ernő erkundigen sollen? Der interessierte ihn nicht, nur ich. Von Ernő weiß er 87
nur, was ich ihm gesagt habe. Daß er Professor und der Chef meines Mannes ist, daß ich um sieben Uhr etwas mit ihm zu besprechen hätte und so weiter, aber für ihn war die Hauptsache, it means, that you are free until seven, daß ich also bis sieben frei bin. Not at all, sagte ich, keineswegs, ich gehe schwimmen, denn die Männer mögen es, wenn man sich ein bißchen nötigen läßt, aber er kümmerte sich nicht um meinen Protest, er fragte nur: where could we drink that bottle of whisky, worauf ich als moderne Frau ihn großzügig zu einem Kaffee einlud, schließlich möchte man sich nicht der Peinlichkeit aussetzen, daß man im Hotel nicht aufs Zimmer gelassen wird, ich lud ihn also ein, because my husband is actually taking part in a congress in East Berlin, sagte ich, weil mein Mann also gerade zu einem Kongreß in Berlin ist.“ „Sie nahmen ihn also in Ihre Wohnung mit?“ fragt Józsa, der sich hin und wieder Notizen macht. „Ja. Auch darüber Einzelheiten?“ „Danke, lieber nicht“, wehrt Józsa erschrocken ab. „Sagen Sie mir nur noch, wann dieser … ja, Miguel Navarro Sánchez von Ihnen wegging.“ „Wir gingen zusammen. Kurz nach halb neun.“ „Aber Sie hatten doch um sieben ein Rendezvous mit Laurentis?“ „Ach Gottchen, die kleine Verspätung. Das kommt immer mal vor. Ernő kennt mich, er weiß, wie launisch ich bin. Das mag er sogar besonders an mir. Ach, der Ärmste. Er hat es so an mir gemocht. Wie schrecklich alles ist.“ „Berichten Sie weiter. Sie gingen also zusammen.“ „Hinaus. Dort stiegen wir in Miguels Wagen …“ „In den dunkelgrauen, mit ausländischem Kennzeichen?“ „Ja. Warum reiten Sie dauernd darauf herum? Er hat nur den einen. Wir verabredeten, daß ich eine Stunde 88
bei Laurentis bleiben würde, er würde mich dann in der Nähe abholen, und wir würden zusammen zum Plattensee fahren. Ich hatte zu Hause noch Dóra angerufen, ob ihr Wochenendhäuschen am See frei sei. Sie sagte: ‚Du weißt ja, wo der Schlüssel ist.‘ “ „Sánchez fuhr Sie also bis zu Laurentis’ Wohnung;“ „Nicht ganz bis zum Haus. Ich stieg in der Kolumbusstraße aus, Ecke Gyarmatstraße. Ich wollte nicht, daß Ernő mich sah, falls er zufällig am Fenster stand.“ „Ich verstehe. Wann war das? Nennen Sie mir den Zeitpunkt möglichst exakt.“ „Am Ostbahnhof zeigte die Uhr zehn Minuten nach neun, als wir vorüberfuhren. Und wie weit mag es von dort bis zur Kolumbusstraße noch sein? Ich glaube, nicht einmal fünf Minuten. Und wir fuhren ziemlich schnell. Um drei Viertel elf wollte er mich abholen. Ich wollte auf der Straße auf ihn warten.“ „Was wollte Sánchez in der Zwischenzeit tun?“ „Er wollte ins Hotel zurückfahren, zusammenpacken und die Rechnung bezahlen. Und noch etwas einkaufen, falls er was bekäme.“ „Ja. In welchem Hotel wohnt er?“ „Im Royal. Auch jetzt wieder. Ich soll ihn morgen anrufen.“ Józsa bedeutet Csudik, mit dem Hotel zu telefonieren. Csudik sucht die Telefonnummer aus dem Buch heraus, wählt und wartet. Inzwischen fragt Józsa: „Sie trafen Laurentis nicht an, Sie gingen ins Bad und kämmten sich. Auf dem Tisch stand eine Falsche Gin. Davon haben Sie nichts getrunken?“ „Ich hatte am Nachmittag schon ein bißchen zu viel von dem Whisky getrunken. Und Ernő hatte immer nur ungarischen Gin.“ „Warum rissen Sie das Kalenderblatt ab?“ „Was für ein Kalenderblatt? Ach ja! Der Ärmste, im89
mer sagte er: ‚Jeder Tag ohne dich ist ein leerer Tag in meinem Leben.‘ Wir hatten die Gewohnheit, daß ich die Kalenderblätter abriß, wenn ich bei ihm war. Und ich hatte doch ein schlechtes Gewissen, weil ich so spät kam und weil er nicht zu Hause war. Ich wollte ihm eine Freude bereiten.“ „Ja“, sagt Csudik ins Telefon. „Verstehe. Das kann mir also nur der Nachtportier sagen. Wann kommt er? In einer Stunde. Danke. Nicht wahr, Herr Miguel Navarro Sánchez wohnt auch jetzt wieder bei Ihnen? Nein? Hat er sich auch nicht angekündigt? Ich verstehe. Endgültig ausgezogen. Vielen Dank.“ Er legt auf. „Hast du gehört?“ sagt er zu Józsa. „Ja, ich hab’s gehört. Wann verließen Sie die Laurentissche Wohnung, Frau Tamacskó?“ „Ich weiß es nicht genau. Ich hatte keine Uhr bei mir. Miguel kam gerade mit dem Auto, er sagte: jump in, darling, und dann fuhren wir auch gleich weiter.“ „Was bedeutet das, jump in ?“ „Spring ’rein.“ In diesem Augenblick klopft es. Józsa wendet den Kopf zur Tür. „ Jump in “, sagt er. Vicenik tritt ein. Józsa blickt unwillkürlich zur Uhr. Einundzwanzig Uhr achtundfünfzig Minuten. „Nun, Genosse Vicenik?“ fragt er. „Mit viel Glück haben wir die Zahl auf zwölf reduzieren können.“ Er zieht ein Dossier aus seiner Aktentasche und legt es Józsa auf den Tisch. Józsa öffnet das Dossier, blättert darin und hebt einen Visumantrag heraus, der mit einem Foto versehen ist. „Miguel Navarro Sánchez, nikaraguanischer Staatsbürger, Paßnummer, Número de Pasaporte: 8896, geboren in Paris, 1915, ledig; Kennzeichen des Kraftfahrzeugs: GB.JOX 3426, Typ: Jaguar, Farbe: dunkelgrau. Ja. Ist er das, Frau Tamacskó?“ Er zeigt Zsu das Foto. 90
„Ja, das ist er. Sie denken doch nicht, daß Miguel …? Unmöglich!“ „Ich denke gar nichts, Frau Tamacskó. Ich tue, was ich zu tun habe. Sie können jetzt gehen, aber halten Sie sich zu Hause auf, Sie müssen der Polizei jederzeit zur Verfügung stehen. Ich danke Ihnen. Genosse Csudik, begleite die Dame hinaus.“ Csudik springt auf. Zsu steht niedergeschlagen und mit gesenktem Kopf da. Sie schluchzt laut auf, während sie zur Tür geht. Recht geschieht ihr. Dieses nymphomanische Flittchen. Jetzt hat sie’s gekriegt. Sie verdient es nicht anders. Vielleicht wird sie daraus lernen. J. Szücs winkt ärgerlich mit seiner bewegungsfähigen rechten Hand ab. Aber es geht hier um Sekunden, er hat keine Zeit, voll zu genießen, daß er Babsi so hart und streng bestrafen konnte. Beziehungsweise, wen denn, Babsi oder Etuka? Einen Moment … Zsu ist Babsi, wie sie spricht und sich gibt, und Zsu ist Etuka, wie sie aussieht. Schriftstellerische Qualitätsarbeit. Aber wirklich, wer von beiden? Nein. Lassen wir das jetzt. Das wird später geklärt. Jetzt zurück zu Józsa. Er darf keinen Augenblick allein bleiben, das wäre verantwortungslos, das wäre unredlich. Miguel Navarro Sánchez alias, wie Józsa annimmt, Alfréd Hauchling ist mit seinem dunkelgrauen Jaguar flüchtig. Obgleich Józsa noch nicht weiß, warum Hauchling alias Navarro Sánchez den Mord an Laurentis begangen hat, ist er doch überzeugt, daß niemand dieses Mordes gründlicher verdächtigt werden kann. Sein Wagen wurde zur Tatzeit in der Nähe des Tatortes gesehen. Während sich Frau Tamacskó in der Wohnung Laurentis’ aufhielt, hätte er reichlich Zeit gehabt, den Mord zu verüben. Den Experten zufolge wurde der Professor in dieser Zeitspanne getötet. Das alles macht aber Miguel Navarro Sánchez verdächtig. Ist der südamerikanische 91
Geschäftsmann wirklich mit Alfréd Hauchling identisch? Diese Frage interessiert Józsa derzeit nicht sonderlich. Es ist nur eine theoretische Frage. Navarro Sánchez muß schleunigst festgenommen werden. Wenn er flüchtig ist, kann er über die Grenze fliehen. Józsa hat inzwischen mit dem Oberstleutnant gesprochen, er hat zugesagt, er werde sich trotz der späten Abendstunde um einen Haftbefehl kümmern, Józsa solle ruhig alle Maßnahmen ergreifen. Denn Józsa hält alle Verordnungen und Vorschriften gewissenhaft ein, auch in solch bedrängter Lage wie jetzt begeht er keine Gesetzwidrigkeiten. Freilich, es wäre auch peinlich, der Gesuchte ist ausländischer Staatsbürger. Und wenn Józsa sich irrt? Aber nein. Ein Irrtum ist in diesem Fall ausgeschlossen. Es besteht dringender Verdacht, daß Ernő Laurentis von Miguel Navarro Sánchez ermordet wurde. Der Verdächtigte ist in Haft zu nehmen. Und Józsa macht sich an die Arbeit.
Neuntes Kapitel Józsa soll sich nicht an die Arbeit machen. Beziehungsweise, soll er doch! Meinetwegen! Was geht mich das noch an! „Ich bin aufgeflogen“, sagt J. Szücs laut in die Luft hinein. „Aufgeflogen, weil ich gierig und lüstern bin. Wie ein Erpresser.“ Er hat ihn gründlich satt, diesen Józsa, den ganzen Fall Laurentis, den Südamerikaner, den Mord. Er hat den Mörder. Na und, was habe ich davon? Es ist höchstens zwei oder halb drei. Die halbe Nacht liegt noch vor mir, ich bin keine Spur müde, der geniale Józsa zieht ein wenig die linke Augenbraue herab, der denkt nach, ver92
gleicht die Zeiten, Miguel Navarro Sánchez hat Csudik und Frau Tamacskó um zwanzig Uhr siebenunddreißig abgesetzt und rast jetzt durch die Nacht, zum Beispiel auf den Grenzübergang Hegyeshalom zu, weil der am nächsten ist, von Budapest nach Györ sind es 126 Kilometer, von dort bis Hegyeshalom noch 60, also 186. Kein Problem. Er rast durch die Nacht? Mit mehr als neunzig Stundenkilometern im Durchschnitt kann er nicht fahren. Auch wenn er auf manchen Strecken hundertzwanzig schafft. Der Verkehr wird nicht stark sein, aber es ist Nacht, die Scheinwerfer der entgegenkommenden Wagen stören, der Jaguar könnte mit Leichtigkeit mehr schaffen, doch nicht unter diesen Umständen. Er braucht mindestens zwei Stunden bis zur Grenze. Nehmen wir an, es war neun Minuten nach zehn, als sich Józsa an die Arbeit machte, sechzehn Minuten nach zehn ging die Fahndungsmeldung an die Grenzübergangsstellen ab, zugleich der Auftrag, nachzuprüfen, ob der Gesuchte das Land etwa schon verlassen hat, welche Spannung, im letzten Augenblick, jede Sekunde zählt, ob Laurentis’ Mörder wohl geschnappt wird, natürlich wird er geschnappt, in einem Krimi kann der Mörder nicht nicht geschnappt werden. Und überhaupt, die Gerechtigkeit muß triumphieren, beide Gerechtigkeiten, die im Roman und die eigene des Ferenc J. Szücs, der geile Südamerikaner muß büßen. Justitia und Ferenc J. Szücs’ strafende Hand ereilen jeden Missetäter. Sogar diesen armen Józsa. Und der hat nun wirklich kein Verhältnis mit Babsi gehabt. Ein seltener, ein sonderbarer Fall. Sogar J. Szücs hat auch nur einmal ein Verhältnis mit Babsi gehabt. Beim zweitenmal war es nicht als solches zu betrachten. J. Szücs hängt der Fall Laurentis zum Halse heraus, aber er ist gewissenhaft. Wenn er den armen Józsa schon so hat schuften lassen, dann verdient er wenigstens einen runden, schönen Romanausgang. Also los. Aber nur kurz. 93
Józsa sitzt an seinem Schreibtisch. Seine Miene ist gelassen, auf heitere Weise ernsthaft, nur die ungeheure Müdigkeit macht es, daß in der linken Gesichtshälfte ein widerspenstiger Nerv zuckt. Tiefe Ringe um die Augen. Innerlich aber muß er sich anstrengen, nicht laut loszulachen. Der stellvertretende Minister! Er wollte ein schnelles Ergebnis. Bitte, da ist es. Vielleicht kriege ich sogar noch eine Auszeichnung, denkt Józsa. Es könnte auch sein, daß ich zum Oberstleutnant befördert werde. Fällig wäre ich ja. Wir vernehmen den Südamerikaner, setzen ein nettes, kleines Protokoll auf, und fertig. Haha! Hattest du das nötig, Miguel Navarro Sánchez? Ob er wirklich mit Hauchling identisch ist? Es wird sich zeigen. Auf dem Stuhl, auf dem vorhin noch Zsu ihre wohlgeformten Beine übereinanderschlug, sitzt jetzt Vicenik. Er ist unruhig, er möchte gehen, er hat noch so viel zu tun, aber Major Józsa läßt ihn nicht. Vicenik ist nur Hauptmann. „An dieser Arbeit haben Sie kräftig mitgewirkt, Genosse Vicenik. Sie haben also ein Recht, dabeizusein, wenn geerntet wird. Der Südamerikaner hat die Grenze noch nicht passiert. Wenn er sich aber noch im Lande aufhält, dann sitzt er in der Falle. Dann fassen wir ihn auf jeden Fall. Jeden Augenblick kann sich die Grenze melden …“ Und sie meldet sich. Csudik schnellt von seinem Stuhl. „Ja“, sagt Józsa ins Telefon. Wenn ich ein bißchen schriftstellerische Phantasie hätte, sinnt J. Szücs hier für einen Augenblick, dann fiele mir jetzt eine riesengroße Überraschung ein. Zum Beispiel, daß sich bei der Leibesvisitation des Südamerikaners herausstellt, daß er eine Frau ist. J. Szücs muß über den unmöglichen Einfall lachen, dann übergibt er dem telefonierenden Józsa wieder das Wort. 94
„Ich verstehe“, sagt Józsa. „War er bewaffnet? Wir suchen einen belgischen Browning. Also keine Waffe … Was?! Ein zweiter Paß. Auf den Namen Hauchling? Also nicht. Moment, ich notiere. Nicolas Papp, gültiger französischer Reisepaß mit ungarischem Visum darin, nur der Einreisestempel fehlt … Begleiten Sie morgen früh den festgenommenen Miguel Navarro Sánchez nach Budapest. Verwenden Sie einen Dienstwagen. Den dunkelgrauen Jaguar bringen Sie mir gesondert und in dem Zustand her, in dem er sich bei der Festnahme des Sánchez befand. Benzin- und Ölstand kontrollieren, Tachometerstand notieren. Die Werte und den Wagen mit dem Festgenommenen erwarte ich morgen um neun Uhr im Präsidium. Danke.“ Józsa seufzt. „Das war es also“, sagt er bescheiden zu Vicenik und Csudik. „Hübsche, saubere Kollektivarbeit. Danke, Genossen.“ „Kann ich gehen, Genosse Major?“ fragt Vicenik. „Ja, Genosse Vicenik. Nochmals besten Dank für die schnelle und präzise Hilfe.“ „Ich möchte auch gehen, Onkel Gábor“, sagt Csudik gähnend. „Es war ein anstrengender Tag.“ „Geh nur, mein Junge. Du bist schon in Ordnung, wenn du bloß nicht so ein Windhund und Weibernarr wärst.“ Auch Csudik geht. Józsa ist allein. Mit geübter Geste schiebt er die beiden Aktenordner in den Schubkasten, dreht den Schlüssel zweimal herum und steckt ihn ein. Er atmet auf. Endlich nach Hause! Drei Minuten fehlen bis zur Elf. Er lächelt. Vierundzwanzig Stunden und zwei Minuten sind vergangen, seit ihm Karpai den Mord an Laurentis telefonisch meldete. Jetzt geh’ ich nach Hause zu Mórika, denkt er. Um halb zwölf bin ich dort. Und dann schlafen. Schlafen. So. Das hätten wir. Ich schätze, wenn ich es auf95
schreibe, werden es nicht mehr als zwei Schreibmaschinenseiten. Aber ich schreib’s natürlich nicht auf. Mehr war in dem Stoff nicht drin. Kein Satz mehr. Die Begründung steht noch aus, das Tatmotiv. Wäre die acte gratuite, die unbegründete Handlung, nicht ein überstrapaziertes literarisches Schema, könnte ich es jetzt anwenden, es ließe sich mit entsprechender psychologischer Untermalung sogar begründen, aber dann käme eine Genremischung zustande, das wäre wieder ein anderer Roman, in einem ordentlichen Krimi erklärt am Romanende entweder der Detektiv selbst, wie er den Mörder entlarvt und das Motiv ermittelt hat, oder der gebrochene Täter packt ergeben aus: ich hab’s deshalb getan! Wie spät mag es sein? Wenn ich nicht diesen verdammten Kopfverband hätte, sähe ich wenigstens, ob es schon hell wird. Da habe ich mir was Schönes eingebrockt, indem ich Laurentis’ Mörder so schnell auf die Schliche kam! Soll ich einen anderen Roman anfangen? Aber eigentlich ist ja dieser noch gar nicht zu Ende, eine Menge Fragen stehen noch offen. Erstens, warum der Südamerikaner gemordet hat. Ferner, warum er nicht Alfréd Hauchling ist, und was bedeutet: Nicolas Papp, warum trägt er seinen französischen Paß auf diesen Namen bei sich? Aber das alles sind Äußerlichkeiten. Kann ich, Ferenc J. Szücs, mich damit bescheiden, einen literarisch anspruchslosen Kriminalroman für einen literarisch so anspruchsvollen Leser zu schreiben wie ich, Ferenc J. Szücs, es bin? Und wo bleibt in diesem Roman die Katharsis? Die ich als Leser fühlen muß, die mich läutert, in deren reichem Quellwasser ich mich bade, die mich erhöht? Wo bleibt die auf mich beziehbare Verallgemeinerung? Die gesellschaftliche Aussage? Soll ausgerechnet ich einen Roman schreiben, und wenn es nur ein Kriminalroman ist, der nicht mehr ist als billige Lektüre, betäubendes Opium, ein unbedarftes Produkt der leichten Muse? Will ich denn nur Unterhaltung, mich 96
unterhalten und die Zeit totschlagen? Nein, das wäre eines J. Szücs nicht würdig. Oder soll ich erbarmungslos zerreißen, was ich bisher aufgeschrieben habe, natürlich nur in Gedanken, denn Papier habe ich nicht, um es zu zerreißen, oder soll ich die Schwester hereinrufen und mich mit ihr unterhalten, wozu ich natürlich einen Vorwand brauchte, mir tut eigentlich nichts weh, pinkeln muß ich nicht, Zitronensaft habe ich noch, aber durstig bin ich auch nicht, oder soll ich, oder soll ich … Oder soll ich – das wäre die schwierigere Aufgabe, das wäre ein Ziel mit hohem literarischem Anspruch! – zusammenfassen, den gesellschaftlichen Hintergrund abstecken, die tieferen historischen und menschlichen Umstände beleuchten, die Zusammenhänge verdeutlichen, die Figuren unverwechselbar typisieren – wie ich es auch bisher schon tat – und jenes wahrhaftig große Werk schaffen, das allein meiner würdig ist?! Oder aber beides. Ich rufe die Schwester herein, und später schreibe ich dann das große Werk. Vielleicht schreibe ich es noch später, wenn die Genesung voranschreitet, wirklich auf, auf richtiges Papier, das wird der letzte Versuch, wirklich einen Roman zu schreiben, vielleicht klappt es diesmal. Ich darf mich nicht damit abfinden, daß ich immer nur im Kopf, in der Phantasie schreibe und die Menschheit keinerlei Nutzen aus so großartigen Werken ziehen kann. Großartige Konzeptionen, Geradlinigkeit, Glaubwürdigkeit und dazu dieses gewisse Etwas, das nur einem J. Szücs eigen ist und meine Arbeiten von allen Arbeiten anderer unterscheidet und sie auf den ersten Blick erkennbar macht. Natürlich letzteres nur im Roman. Nicht in meinen kritischen und literaturgeschichtlichen Arbeiten. Stilistisch gesehen. In der Härte und Klarheit der gedanklichen Verkettung hingegen ist dieses gewisse Etwas enthalten. Und erbarmungslose Geradlinigkeit und Offenheit. Jawohl. Mir und meinen Figuren gegenüber. Da darf auch Etuka keine Ausnahme 97
bilden. Niemand. Ich werde es euch zeigen! Und jetzt soll die Schwester kommen. Vorher trinke ich den Saft aus, dann klingle ich. Und schwatze ein bißchen mit ihr, schade, daß ich nicht sehe, ob sie hübsch ist, ihre Stimme ist nett und jung, ich werde sie fragen, wie sie aussieht. Eine Krankenschwester hat die Aufgabe, barmherzig zu den Kranken zu sein. Er tastet vorsichtig zum Nachttisch. Das Trinkritual. Das leere Glas zurück. Der Klingelknopf. Klingeln, Warten. Er muß ziemlich lange warten. Da öffnet sich die Tür. Die nette Stimme. Sie klingt müde, aber nett. „Haben Sie Schmerzen?“ „Nein, Schwesterchen. Danke. Ich bin nur durstig.“ „Warum schlafen Sie um diese Zeit nicht? Möchten Sie ein Schlafmittel?“ „Wie spät ist es, Schwesterchen? Man kommt sich völlig verkauft vor, so ohne Uhr.“ „Es ist erst drei Viertel fünf.“ „Schon? Das ist ja großartig. Ist es draußen schon hell?“ „Die Sonne scheint.“ „Weil ich’s nämlich nicht sehe.“ „Daß die Sonne scheint?“ „Und Sie auch nicht, Schwesterchen. Sind Sie blond?“ „Braun. Ich bringe Ihnen gleich ein Glas Saft.“ Nun ja, das war nicht gerade ein erbauliches Gespräch. Das ist mein Kreuz. Ich bin unfähig, einen natürlichen, direkten, selbstverständlichen Kontakt zu den Menschen herzustellen. Immer stehe ich unter irgendeinem Zwang, das ist mir anscheinend angeboren, eine ererbte Eigenschaft, die Gene, die Chromosomen, das Eiweiß, die sind daran schuld. Und die Ribonukleinsäure. Freilich spielen bei dieser Steifheit, dieser Geniertheit auch erworbene Eigenschaften eine Rolle. Und auch, wie es um das Gleichgewicht zwischen der äußeren und der inneren Welt bestellt ist. Wird man daran einstens etwas ändern können, indem man gewisse Eiweiße 98
künstlich hinzugibt? Bestimmt. Und zwar in nicht ferner Zukunft. Vielleicht kann man es jetzt schon, und ich weiß nur nichts davon. Oder solche Dinge wie das Zeitgefühl. Ich habe mich um zwei Stunden geirrt. Mein Zeitgefühl geht nach. Noch ein paar Jahre, und ich kaufe mir in der Apotheke ein in eine Eiweißtablette eingebautes organisches Chronometer, und meine Hirnzellen werden den Verlauf der Zeit auf die Sekunde genau anzeigen. So neu wäre das gar nicht. Die Sonnenblumen können das eigentlich schon. Ich weiß nur nicht, ob sich die Sonnenblumen auch dann der Sonne zuwenden, wenn der Himmel bedeckt ist. Sicherlich. Dann haben sie eingebaute Uhren. Kurz, wir werden vollkommen sein und allwissend. Der Mensch wird sich nicht nur für einen Gott halten, er wird auch einer sein. Oder der Unterschied zwischen den beiden Begriffen verschwindet einfach, dieser Prozeß ist ja schon im Gange. Zwei oder drei Generationen werden genügen, eine perfekte Menschheit zu schaffen. Die Frage ist nur, woran diese Vollkommenheit zu messen ist. Welch dramatischer Konflikt! Der eine Gelehrte will, geleitet von schändlichen Absichten und Machtgelüsten, den größeren Teil der Menschheit verkümmern lassen, während der andere eine freie Welt allwissender, guter, schöner, ausgeglichener Menschen anstrebt. Es geht um die Zukunft der Menschheit! Ein enormes Thema. Mein nächstes Werk wird ein wissenschaftlich-phantastischer Roman, ein echter Zukunftsroman! Józsa wird darin der von edlen Ideen geleitete Wissenschaftler sein, und Etuka stelle ich nicht als Heilige dar, sondern als einen prächtigen, eiweißreichen chemischen Computer, als ideales Versuchsobjekt, an dem beide Wissenschaftler, der böse und der gute, experimentieren wollen. Wo bleibt mein Zitronensaft?! Stimmt, ich habe gar keinen Durst. Aber trotzdem. Und Babsi werde ich in diesem Roman tranchieren. Kunstgerecht zerlegen und in Stücke schneiden. 99
Sie wird zum Maßstab des vollkommenen weiblichen Körpers, an dessen Einzelteilen die Gelehrten der Zukunft die idealen menschlichen Proportionen studieren werden. Es wird sie auch im Ganzen geben, aber nur als Ausstellungsstück im Museum. Eine neue Venus von Milo. Und Doktor Aurél Tamacskó wird vor ihr stehen und sich totlachen wollen, daß sie nur eine Statue ist und sich nicht bewegen kann. Wie ein umgekehrter Pygmalion. Der Saft ist da. „Danke, Schwesterchen.“ „Aber gern. Soll ich Ihnen beim Trinken helfen?“ „Das wäre nett von Ihnen. Ich sehe nichts, ich rieche nichts, ich schmecke kaum etwas, wenigstens spüre ich die Berührung durch eine warme menschliche Hand.“ „Aber, aber! Sie dürfen sich nicht gehenlassen! Sie sollten lieber schlafen. Ich gebe Ihnen was zum Einschlafen. Ja?“ „Wie lange dauert es dann, bis ich schlafe?“ „Zwanzig, fünfundzwanzig Minuten. Sie werden ja sehen.“ „Dann geben Sie mir lieber zwei Tabletten. Auf mich wirken Schlafmittel nur ganz langsam.“ „Jetzt nehmen Sie eine, und wenn sie nicht wirkt, nehmen Sie nachher auch die andere, ich lege sie hier auf den Nachttischrand. Strecken Sie die Zunge ’raus, ich tue sie darauf.“ J. Szücs streckt die Zunge heraus. Und zieht sie gleich zurück. „Was ist denn?“ „Wenn ich die Zunge weit rausstrecke, tut der Unterkiefer weh. Er spannt so.“ „Dann strecken Sie sie nicht so weit heraus, nur ein bißchen.“ J. Szücs streckt die Zunge ein bißchen heraus. Die Schwester legt die Schlaftablette darauf, und J. Szücs schluckt sie wie eine Giraffe. 100
„Und jetzt einen Schluck Saft hinterher. So. Brav. Gleich werden Sie schlafen.“ „Vielen Dank, Schwesterchen.“ „Gern geschehen. Träumen Sie schön.“ Die Tür schließt sich. Sie ist hinausgegangen. Aber vielleicht ist sie auch nicht hinausgegangen, sondern sie hat nur so getan, sie hat die Tür auf- und zugemacht und ist im Zimmer geblieben. Und belauert mich jetzt. „Gehen Sie jetzt hinaus, Schwesterchen, und lassen Sie mich schlafen“, sagt er zu dem leeren Zimmer. Doch er bekommt keine Antwort. Vollkommene Ruhe. Jetzt werde ich schlafen. Etuka, weißt du, daß ich jetzt schlafen werde? Und du, schläfst du auch? Was sonst könnte Etuka um fünf Uhr morgens tun. Falls sie sich nicht schlaflos im Bett wälzt, weil sie um mich bangt. Meine Ärmste. Wieviel Aufregung für sie, und nun auch noch mein Unfall. Ich muß ihr unbedingt sagen, daß sie die Toilette nicht erwähnen darf. Sie soll sagen, ich hätte eine elektrische Leitung verlegt, die Leiter sei kaputt gewesen, und da sei ich abgestürzt. Die Kollegen sollen sich nicht schief und krumm lachen, daß der gefürchtete J. Szücs beim Reparieren des Spülkastens in der Toilette von der Leiter gefallen ist. Sie würden noch dazudichten: direkt ins Klo. Ich kenne sie doch. Sie malen aus und erfinden hinzu, und einer wird bestimmt sagen: Ins Klo ist er gefallen? Da gehört er hin. Schade, daß niemand ihn runtergespült hat. Denn sie fürchten mich. Und das ist richtig so. Sie sind neidisch auf mich. Weil ich Assistent an der Universität bin, weil ich in einer Redaktion arbeite, weil ich mir auch im internationalen Maßstab einen Namen erkämpft habe, weil ich eine hübsche Frau habe, weil ich sehr früh den Kern der Dinge begriffen habe, das Geheimnis und den Maßstab der Gemeinverständlichkeit: daß ein Werk wahr und gut ist, wenn es der stellvertretende Minister oder das Zentralbüro persönlich geschrieben haben 101
könnte, natürlich nur, wenn der stellvertretende Minister oder das Zentralbüro schreiben könnte, und weil ich bescheiden bin und schlicht, deshalb sind sie neidisch, ich bin auf alltägliche Weise schlicht und einfach, im Gegensatz zu den anderen ist nichts an mir auffällig, provokatorisch und grell, ich verachte Äußerlichkeiten und billigen Aufputz, meine Sache sind harte gedankliche Reinheit, das Gefunkel der Ideen. Deshalb sind sie neidisch. Ich hätte Glück? Das glaube ich nicht. Hier ist der Beweis. Dahinter zeigt sich schon das Verdienst. Ich bin nicht zerbrochen – das ist der Beweis dafür –, und in den Fluten des Winters habe ich nicht kniefällig um Worte gefleht. Und noch etwas. Ich frage nicht, wenn man sich fürchten muß, ob ich mich fürchten soll. Ich fürchte mich. Sehr. Aber mir sieht man es nicht an. Ich zeige es nicht. Niemand bemerkt es, wenn ich mich fürchte. Kein Aas merkt es. Nicht mal Etuka. Und sie lebt mit mir, bei mir, neben mir. Auch sie hat mich nie schwanken sehen. Babsi auch nur einmal. Das zweitemal, das zählt nicht. Das ist, als wäre es gar nicht passiert. Daß ich mich fürchte, ist mein größtes Geheimnis. Daß ich mich seit meiner Kindheit immerfort fürchte. Vor allem und jedem. Andauernd. Auch jetzt. Was wissen diese Idioten, diese grobschlächtigen Dummköpfe, wie viele Dinge es gibt, vor denen man Angst haben kann! Vor Pferden und Kälbern und Hunden und Katzen, wie jeder weiß, vor kleinen grünen Eidechsen, vor Raupen und Fliegen, aber nicht, weil es Insekten sind, wie andere, ich fürchte mich vor der Fliege, weil sie Typhus, Durchfall und Cholera verbreitet, sich auf mich setzt, mich ansteckt, dann bin ich infiziert, manchmal auch Lungentuberkulose, oder wer fürchtet sich vor Blumen? Ich ja, und zwar sehr. Real und irreal. Ich schnuppere an ihnen, ich brauche manchmal nur in ihre Nähe zu kommen, schon jagen sie mir ihren Blütenstaub in die Nase, ich atme ihn ein, mit dem Atem dringt er 102
mir ins Gehirn, dort fängt er an zu faulen und zu modern, ich kriege einen Tumor und gehe unter entsetzlichen Qualen vor die Hunde. Oder er bleibt mir an der Nasenschleimhaut hängen, die Bienen kriegen Wind, oder gar die Wespen, sie überfallen mich, eine alleine wäre ja nicht weiter schlimm, aber sie kommen in Schwärmen und stechen und stechen, und daran ist schon so manch einer abgenibbelt. Oder zum Beispiel das Chlorophyll der Blätter, nachts produziert es Kohlenmonoxid oder Dioxid, was weiß ich, egal, irgendwas Schädliches, genau erinnere ich mich nicht, ein Strauß Blumen steht in der Vase, hübsche rote Rosen oder Nelken, und am Morgen bin ich hinüber, nicht mal Etuka weiß, warum. Vor Tetanus und Schlangengift. Vor Haien, etwa im Plattensee oder in der Donau, sie schwimmen ran, einer reicht schon, und beißen mir das Bein ab, ganz oben, beim Schwimmen. Im Schwimmbad davor, daß ein Kind ertrinkt, sich an mich klammert und mich mit hinunterzieht, oder daß ich ins Becken springe und mir auf dem Grund den Schädel zerschlage, dann ziehen sie mich raus, ich bin lilablau, Mund offen, Haar klebt mir schmierig im Gesicht, Augen ebenfalls offen und verdreht, mausetot, brrr, scheußlich, das habe ich einmal geträumt. Was wissen diese Idioten, vor wieviel Sachen man Angst haben kann, begründet und unbegründet vor wie vielen ausgefallenen und raffinierten Varianten eines simplen Verkehrsunfalls etwa, und wie viele Folgen können die verschiedenen Unfallmöglichkeiten haben, mal ganz abgesehen von den Gefährdungen innerhalb der Wohnung, angefangen dabei, daß man auf dem frischgebohnerten Fußboden ausrutscht bis zu dem Fall, daß man beim Reparieren des Spülkastens von der Leiter fällt, daß in der Redaktion die Kaffeemaschine explodiert oder sich ein Splitter in meinen Finger bohrt, ich merke es gar nicht, Eiter bildet sich, allgemeine Sepsis, erledigt. Kriminalroman?!! Gibt es ein gefährliche103
res, atemberaubenderes, tödlicheres Abenteuer als das, daß ich lebe und mich von Minute zu Minute fürchte, seit ich denke und mich erinnere, bis zum heutigen Tag, bis zum Alter von achtunddreißig Jahren, mit Sicherheit auch künftig, bis zu meiner Todesstunde, amen, nein, ich wünsche es mir nicht, aber es wird so sein. Ich erwarte keine Veränderung. Denn das sind allesamt nur billige, vulgäre Ängste, diese physischen, an sie kann man sich relativ leicht und schnell gewöhnen, wenn man sich an Angst überhaupt gewöhnen kann, die Ängste sind normal, konkret, faßlich, auch wenn sie irreal und unbegründet sind, auch dann. Aber der Nebel … und die Schlaftabletten … Jetzt beginnt sie zu wirken, aber ich habe einen starken Organismus, er kämpft jetzt an, wirkt entgegen, spannt sich, sie will das bewußte Hirn einschläfern, abtöten, nihilisieren, aber ich weigere mich, nicht mit mir, dieser Nebel, diese schemenhafte, unfaßbare, klebrige Masse, nach der du langst und die dir zwischen den Fingern zerrinnt, es gibt sie nicht, aber sie schiebt sich hinter dir wieder zusammen, du drehst dich um, doch auch da ist sie nicht und ist doch da und droht dir, und du weißt nicht aus noch ein, nein, ich weiß immer, ich wußte schon als kleiner Junge, ich habe mich nie vor irgendwelchen Gespenstern und Vampiren gefürchtet, mich hat kein siebenköpfiger Drache einschüchtern können, höchstens ein bißchen, ich habe immer gewußt, das sind Märchen, dabei habe ich einmal gehört, wie mein Vater zu irgendwem, zu wem nur, zu Mutter, oder zu Balog, sagte: Diese Kommunisten, die sind wie ein siebenköpfiger Drache, du hackst ihnen einen Kopf ab, gleich wächst ein neuer nach, nicht einer, sieben neue … Gefürchtet habe ich mich vor all und jedem, so richtig aber nur vor den Kommunisten, als Kind natürlich, jetzt werde ich gleich einschlafen, vor den Kommunisten, vor den beiden Goldner-Söhnen? Nie vor einem Namen und nie vor einer Gestalt mit Augen und 104
Nase und Ohren und Händen, nein, damals, das war etwas anderes, die Leute, von denen aus dem großen Zimmer, aus dem hinter der Wachstube, das zu hören war … die Stimmen und das Kreischen und Jammern, das Brüllen, die dumpfen Schläge und wie wenn jemand zu Boden fällt. Na, Szabó, streichle dem doch mal bißchen die Sohlen mit deinem Gummiknüppel, wollen wir doch mal sehen, ob er ein Tauber oder ein Stummer oder beides ist! … Ich habe gezittert am ganzen Körper, gleich wird einer loslachen, wiehern, wie ein Pferd wiehern, wie ich, wenn Mutter mich kitzelte, aber keiner lachte, dann lag ich im Bett, im Dunkeln, und alles war still … Und dann auch noch die Stille, in die hinein niemand losprustete, wann wiehert ihr endlich los?! Und dann ein Schrei, aus der Ferne, dumpf, kaum hörbar, anscheinend hat Vater bemerkt, daß die Tür offen ist, er schloß sie, und Mutter, am Morgen, zu Vater: Ferenc, macht doch wenigstens diese gottverdammte Tür zu wenn, was soll das Kind denn … Irgendwoher klingt blaue Musik auf, die Schlaftablette, in die ist die blaue Musik eingebaut …
Zehntes Kapitel Aber er schläft noch immer nicht. Die Bewegung, mit der er nach der anderen Schlaftablette zum Nachttisch greift, ist schon benommen und zaudernd, er legt die Tablette auf die Zungenspitze, doch er findet nicht die Zeit, einen Schluck Saft zu trinken, denn er schläft schon wieder für einen Augenblick ein, er kann nur noch kurz den Kopf aus den Wellen des Schlafes heben und an die große Gefahr denken, daß er die Tablette verschluckt, daß sie ihm im Hals steckenbleibt und daß er an ihr er105
stickt, und schon taucht er wieder unter, um gleich wieder aufzuschrecken, nun verschluckt er die Tablette rasch und ohne Saft, sie schmeckt bitterlich, ich habe einen kräftigen Organismus, er kämpft jetzt gegen sie, die in die Tablette eingebaute hellblaue Musik wird allmählich dunkelblau, ein Sturm zieht auf, die Kämpfer stehen am Strand, ein sandiger Strand, hellgelber Sand, dunkelviolette Haufenwolken in sonderbar milchigem, ungewohntem Licht, sie sind nackt, so stehen sie da mit aufeinander gerichteten Armen und leicht gebeugten, federnden Knien, er fühlt die winzigen, feuchten Sandkörnchen an den Sohlen, der andere ist stärker als ich, viel stärker, und er ist eingeölt, meine Hände werden abrutschen, die Wellen wogen immer höher und immer dunkler, ein großes Gelächter, die Musik, dunkelblaue Musik, er möchte weglaufen, aber es geht nicht, er kann nicht weg, er fühlt sich zu schwach für die geringste Bewegung, so sehr er sich auch anstrengt und die Muskeln spannt, es geht nicht, wieder schreckt er auf für einen Augenblick und stürzt zurück, stürzt in das Zimmer, stürzt von der Leiter herab, ich breche mir die Knochen, die Brille, die Splitter, meine Augen, ich werde erblinden, aber dann eine glatte und weiche Landung auf dem Boden, ich könnte gleich wieder hinaufsteigen, Józsas Gesicht ganz nahe vor seinem, wie es sich ihm zuneigt, fast berühren ihn die kräftigen, struppigen Augenbrauen, Józsa lacht und legt ihm den Arm um die Schulter. Sie haben nichts zu befürchten, geben Sie ruhig alles zu, mir können Sie’s sagen, warum Sie den Südamerikaner getötet haben, der hat kein Gesicht, er sieht nur seine graumelierte Schläfe und die große, dunkle Sonnenbrille, ganz wie Csudik mit seinen strahlend weißen Zähnen in den italienischen Filmen, bitte, hier ist das Geld, er zählt die Hunderter auf den Tisch, er nimmt das Geld vom Tisch und steckt es in die Brusttasche zu dem belgischen Browning, er fühlt die metallene Kälte des Revol106
vers an seinen Fingern, zieht ihn heraus, dreht sich um und schießt sofort auf Etuka, die auf die Badezimmertür zugeht, sie ist nackt, sie hat nur eine blaue Schürze vorgebunden, die sie mit einer Hand vorn anhebt, darin hat sie den Schlüssel, den Schlüssel zum Wochenendhaus, er weiß es, zeig ihn mir, du nymphomanisches Flittchen, schreit er Etuka an, Etuka wendet sich um und läßt die Schürze sinken, in der Schürze wimmeln Hirschkäfer und Schnecken, sie purzeln aus der Schürze, krabbeln und kriechen geschickt über den Fußboden, aber du bist ja so ungeschickt, Ferenc, so ungeschickt, sagt Etuka, inzwischen im Bett liegend, neben ihm, sie steht auf, steigt aus dem Bett, sie hat ein Nachthemd an, sie geht aus dem Zimmer, er bleibt liegen, du bist ja so ungeschickt, Ferenc, so ungeschickt, und jetzt müßte er auch aufstehen und mit dem Nackten kämpfen, der sich eingeölt hat und eine dunkle Sonnenbrille trägt und der, wie er sieht, den Mund voller Goldzähne hat, mit ihm kämpfen, draußen am Strand, unter den dunklen Gewitterwolken, im hellgelben Sand, ich verstehe nicht, Major Józsa, ich verstehe nicht, das ist ein Kommunist, Sie haben nichts zu befürchten, geben Sie ruhig alles zu, mir können Sie’s sagen, warum Sie Laurentis getötet haben, ich habe ihn nicht getötet, aber wir wissen, daß Sie es waren, wir können es beweisen, hier ist der Beweis, in Józsas Hand ein Hirschkäfer mit langen Fühlern, leugnen Sie noch immer? Es ist sinnlos, der Mörder ist gefaßt, er hat Babsi tranchiert, er geht zur Tür und öffnet sie, im anderen Zimmer steht Babsi, mit dem Rücken zu ihm, sie wendet nur den Kopf zurück, im Zeitlupentempo, sie schwimmt geradezu im Zimmer, als sie den Kopf wendet mit dem langen, goldblonden Haar, ihr Arm schwimmt auch, als er sich nach hinten bewegt, als wollte Babsi kraulen, jetzt sieht er auch ihre Brust, Fefe, komm her zu mir, keine Angst, du Dummer, sagt Babsi, Babsi, Babsi, sie steigt aus dem Bett und geht aus dem 107
Zimmer, er bleibt liegen, wieder schwimmt ihr Haar, ihr Arm, das erzähle ich Etuka, sagt Babsi, nein, nicht, sag ihr nichts, na bitte, und Józsa beugt sich zu ihm, Leugnen hat keinen Zweck, geben Sie es ruhig zu, nein, nein, schreit er laut, erwacht von seinem Schrei, aber nur für eine Sekunde, schon beginnt die zweite Schlaftablette zu wirken, gut, daß ich aufgewacht bin, denkt er, dann schläft er auch schon weiter. Einzelzimmer im Krankenhaus, ein Sommermorgen. Tiefe, weiße Stille. Draußen scheint die Sonne. In Witzblättern und in englischen Filmlustspielen sieht man das manchmal, wie J. Szücs schlafend daliegt: im weißen, eisernen Krankenhausbett, um und um in Mull gepackt und Binden gewickelt; er liegt auf dem Rücken und atmet mit offenem Mund; durch die gebrochene Nase, die unter dem Verband verschwunden ist, bekäme er keine Luft. Seine Atmung ist gleichmäßig, aber hechelnd, sein Organismus arbeitet kräftig. An J. Szücs in gesundem, wachem Zustand übermittelt die Welt ihre Informationen über zahllose Kanäle und Leitungen. Ein Teil des verarbeiteten Materials ist in ihm zum Roman geworden, den anderen Teil hat er eingelagert, es wartet „en stock“ auf weitere Verwendung, aber die Schlaftabletten haben letztlich so schnell gewirkt, daß die auf etwas sterile Weise klare, weiße Krankenhausordnung nur eine scheinbare ist, in Wirklichkeit tobt zwischen den sauberen Wänden eine ungeheure Unordnung. Ein Großteil der zum Roman nicht verwendeten Rohsubstanz saust durch die Luft, liegt auf dem Fußboden herum, hängt von der Decke, lehnt an der Wand, ein paar flügellahme Metaphern fliegen ungeschickt umher, unaufhörlich stoßen sie irgendwo mit den Flügeln an, in der Ecke liegt ein großer Haufen verfitzter Handlungsfäden, auf dem Fußboden wie hochmütige, aufgeblasene Leichen drei fette Phrasen, Männer- und Frauengestalten spazieren verzweifelt oder mit gemimtem Gleichmut umher und 108
suchen die Situation, in die sie hineinpassen, mehrere Situationen liegen unabgeschlossen und unausgearbeitet unter dem Bett, die Gestalten zerren sie hervor, kramen zwischen ihnen, drängeln sich, um hineinzugeraten, nehmen Posen an, probieren Körperhaltungen aus, vielleicht so, aber es geht nicht, von der Ecke schwebt schwankend wie ein Herbstblatt ein hartnäckiger Erinnerungsfetzen herab, darauf ist der sorgfältig formulierte Satz aus einem alten Lebenslauf zu lesen: „Mein Vater war Angestellter des öffentlichen Dienstes der unteren Laufbahn“, aber in Höhe der weißen Lampenglocke wechselt er die Gestalt, wird zu einem Gespenst, zu dem Gespenst, das sieben Jahre lang an erster Stelle die Ängste des J. Szücs speiste, bis man ihm auf die Schliche kam, aber gerade zu einer Zeit, als er es am allerwenigsten erwartet hatte, auf unerklärliche, sonderbare Weise, er versteht es eigentlich bis heute nicht, waren sie menschlich zu ihm auf der Universität, er wurde nicht exmatrikuliert, nicht interniert, nicht eingesperrt, nicht hingerichtet, in diesen Jahren ernannten sie ihn sogar zum Assistenten, und sie schlossen ihn nicht einmal als klassenfremdes Element aus der Partei aus, er durfte sogar weiterhin das Seminar leiten, allerdings nur ein mittleres Seminar, aber im nächsten Jahr dann schon ein höheres, doch der Satz aus dem Lebenslauf überdauerte auch dieses, er hat längst beschlossen, es bei einem der im Kopf verfaßten Kriminalromane einmal aus sich herauszuschreiben, einen Widerspruch daraus zu machen, ihn zuzuspitzen, aus dem Zusammenprall von These und Antithese die Synthese zu erschaffen und ihn damit aufzulösen, zu beseitigen, aber er paßt nirgendwo hinein, leider, er taucht bei jedem Kriminalroman auf und wandert dann als unerledigt in das Rohstofflager zurück, wo er zwischen dem ansonsten braven und gutgekämmten Material unerträglichen Gestank verbreitet und laut brüllt, unaufhörlich brüllt: „Wichtig ist nicht, 109
mein Junge, woher du kommst, wichtig ist, wohin du gehst.“ Was ja letzten Endes auch zutrifft. Aber dennoch. Und dieser Bauernjunge, mit dem er 1945 im Internat zusammenwohnte, der jetzt im Zimmer umhergeht, die Spitze des Zeigefingers an der runden Kartoffelnase, und mit Text und ohne Text Melodien vor sich hinsummt, Volkslieder und Sonaten. Inzwischen hat er den Nobelpreis für Physik bekommen und einen Lehrstuhl an der Universität von Minnesota. Mit ihm weiß er auch nichts anzufangen, und er ist auch immer da, wenn J. Szücs in der Phantasie einen Kriminalroman komponiert. Tenundgé. Einfach so. Nichts weiter, nur das: Tenundgé. Tenundgé hält sich auch in dem Zimmer auf, aber Tenundgé ist stolz, er ahnt bereits, daß er diesmal an die Reihe kommen wird. Er hat Verständnis. Bisher ging es nicht. Aber jetzt. Natürlich ist auch die Krankenschwester nicht aus dem Zimmer gegangen, die gesichtslose, braunhaarige Schwester, sie hat nur braunes Haar, darauf das weiße Schwesternhäubchen, sie hat kein Gesicht, hellblaues Kleid, weiße Schürze, hohe, blaue, geschnürte Leinenschuhe, die hinten aufgeschnitten sind, so daß man die Fersen sieht, bloße Unterschenkel, der Rock wippt, J. Szücs hat gleich gewußt, sie würde nicht hinausgehen, jetzt ist sie hier, J. Szücs hätte gern gehört, sie sei blond, dann hätte er sie mit Babsi verglichen, so ähnelt sie leider Etuka und betrügt ihn gerade mit dem jungen, sehr sympathischen Neurologen, der gegen Etukas Krankheit auch kein Mittel wußte. Unverständliche Dinge sind das. Unverständlich ist auch, was hier der Stoff für J. Szücs’ im Entstehen begriffener Essay „Die Geistesfreiheit in Form einer Mohnrolle“ zu suchen hat, der in einer periodischen Veröffentlichung der Akademie erscheinen wird, sobald er fertig ist J. Szücs hat sich aus dem Wörterbuch auch schon den Titel auf englisch zusammengebastelt, aber nicht gerade meisterhaft, er hat nur eine 110
mittlere Sprachprüfung, wie Babsi und Zsu, „The Spirit of Freedom in Shape of a Poppyseed-roll“, allerdings ist er sich nicht sicher, ob das englische Spirit mit dem französischen Esprit übereinstimmt, er hat so einen Animus, daß das englische spirit etwas wie Sprit, Schnaps oder Spiritus bedeutet. Der Titel ist gut, modern, er sitzt, der Stoff des Essays ist ausgezeichnet, er wird Beachtung finden. J. Szücs hat zu der berühmten Mohnrolle auf einem Gemälde von Rippl-Rónai ein Gegenstück gefunden, und zwar in einem Prosastück zur Dorfthematik des jungen Dichters und Kossuthpreisträgers Pál Csába Kiss, auf einem Tisch, in einer Majolikaschüssel mit Volkskunstbemalung. Diese rein zufällig anmutende, aber doch bedeutungstiefe und nachdenklich stimmende Parallelität greift J. Szücs in dem Essay auf, wobei er zuerst in großen Zügen die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten der malerischen und der dichterischen Sicht und Bildschöpfung analysiert, die Art und Weise, wie sich die schlichtesten, alltäglichsten Objekte der materiellen Welt, wie zum Beispiel eine einfache Mohnrolle, mit Hilfe der Kunst in Ewigkeit verwandeln. Hier folgt ein genau passendes Zitat aus Keats’ Ode an eine griechische Vase, dann die Vertiefung und Aufschürfung des Zitats, einige Gedanken darüber, wie und mit welchen malerischen Mitteln Rippl-Rónai erreicht, daß seine städtische Mohnrolle in ihrer impressionistischen Hingeworfenheit ewig frisch bleibt, nicht eintrocknet und steinhart wird wie die echten Mohnrollen, wenn man sie auf dem Tisch liegenläßt, dann das gleiche, aber auf höherem Niveau, wie auf Pál Csába Kiss’ Tisch die städtisch-bürgerliche Sicht Rippl-Rónais durch die Gefühlswelt des einfachen Volkes befruchtet wird, aber so, daß die fortschrittlichen Traditionen des städtischen Bürgertums einbezogen sind und in den tieferen Schichten die beispielhafte sozialistische Solidarität der Nation zum Ausdruck kommt, die Richtung weisend auf eine 111
klassenlose Gesellschaft zum einen und auf die dereinst sicherlich erstürmbaren Gipfel der Symbiose der verschiedenen Künste zum anderen. Pál hat sich sehr gefreut, als J. Szücs ihm von dem geplanten Essay erzählte, „lob mich nur nicht allzusehr, Jot. Loben kannst du mich, aber nicht zu sehr. Du neigst ein wenig dazu, übers Ziel hinauszuschießen“, hat Pál leicht rügend gesagt, aber freundschaftlich und mit der ihm eigenen bekannten Bescheidenheit. Und nun möchte sich auch dieser Essay in einen Kriminalroman verwandeln, denn eigentlich ist auch ein solcher Essay von Ermittlungen getragen, ermittelt werden die Zusammenhänge der Welt, aber er paßt doch nicht recht in das Milieu Major Józsas. Macht nichts. Die Geistesfreiheit schreibe ich, sobald man mich hier herausläßt, dann wird sie mich nicht länger bedrängen. Ich werde viel Staub aufwirbeln. Aber auch die Geistesfreiheit huschte nur eben durch J. Szücs’ schriftstellerische Phantasie, sie blieb dort nicht, konnte dort nicht bleiben, sie hat dort nichts zu suchen, die Geistesfreiheit steht jetzt neben einer in den Roman nicht aufgenommenen Situation, zufällig gerade neben der, in welcher nach Hauptmann Ringlers morgendlichem Anruf Józsa und Mórika intensiv das Eheleben genießen, ziemlich naturalistisch eingefärbt, aber die Geistesfreiheit sieht ihnen mit verständnisvollem Blick zu, denn sie ist nicht pingelig. Die Geistesfreiheit ist verständnisvoll. Und J. Szücs schläft. Er hält sich gerade in der Schlafphase auf, die traumlos ist, wäre er wach, wüßte er es jetzt, er hat neulich im U. S. News and World Report das große Interview gelesen, das ein amerikanischer Marinearzt zu den neuesten Schlafforschungen gegeben hat, denn J. Szücs informiert und bildet sich, er möchte nicht von Überraschungen heimgesucht werden, er fürchtet sich vor Überraschungen, und zwar sehr, aber jetzt schläft er gerade traumlos. Diese Phase des traumlosen 112
Schlafes wird in Kürze zu Ende gehen, und es wird wieder eine Traumphase folgen. Er schläft ganz ruhig, mit offenem Mund, auf dem Rücken liegend, denn anders kann er nicht, er schnarcht nur ein kleines bißchen, ihm kann nichts passieren, auch Józsa schläft jetzt, der Polizeiapparat allerdings nicht, Lakatos zum Beispiel arbeitet auch jetzt gründlich und mit vollem Krafteinsatz, um anhand der Namenliste auf Józsas Anweisung auch die kleinsten Details über die Klasse zusammenzutragen, das Material ist eigentlich schon fertig, Lakatos sitzt in seinem Dienstzimmer, und da in Anbetracht der frühen Morgenstunde keine Schreiberin zur Verfügung steht, setzt er sich selbst an die alte Büro-Royal und tippt mit zwei Fingern seinen Ermittlungsbericht. Etuka schläft wirklich. Tief, erschöpft und nackt, an der Seite von Péter Szapragi, Student im vierten Studienjahr, in dessen elterlicher Wohnung, da seine Eltern in Szilvásvárad Urlaub machen. Aber Etuka schläft erst eine knappe Viertelstunde, sie ist ungefähr zur selben Zeit eingeschlafen wie J. Szücs. Szapragi traf sie gegen neunzehn Uhr auf dem Freiheitsplatz, nachdem sie J. Szücs im Krankenhaus einen Besuch abgestattet hatte. Szapragi erkundigte sich bei ihr ehrerbietig nach dem Gesundheitszustand ihres Gatten, er habe gehört, sagte er, er hätte einen Unfall gehabt, Etuka erzählte ihm, J. Szücs sei beim Verlegen einer elektrischen Leitung von der Leiter gestürzt und habe schwere Verletzungen erlitten, so etwas braucht ihr J. Szücs nicht extra zu sagen, sie weiß von allein, was sie zu sagen hat, „darf ich Sie vielleicht zu einem Kaffee einladen? Nach so viel Aufregung täte er Ihnen sicherlich gut“, sagte Szapragi, „das ist wahr“, meinte Etuka, sie tranken einen Kaffee und einen Kognak dazu, Péter Szapragi klagte, er sei viel zu viel allein, seine Eltern machten Urlaub in Szilvásvárad, oben im Bükk-Gebirge, denn sein Papa sei ein enthusiastischer Wandervogel, er habe die Wohnung jetzt 113
nur für sich allein, aber er gehe nicht gern allein nach Hause, gar nicht gern, dort warte zwar eine Flasche Kognak, aber mit wem solle er die trinken. Er fragte sie höflich, und sie solle ihn nicht mißverstehen, ob sie nicht Lust hätte, ihn in die elterliche Wohnung zu begleiten, denn sie sei ja auch allein, er habe aus London von einem Freund drei neue Beatles-Platten bekommen, die könnten sie sich anhören. Zusammen. Etuka hatte wegen J. Szücs’ Unfall nicht einmal die Zeit gefunden, irgendein Programm für den Abend zu verabreden, es wäre eine Sünde gewesen, die Gelegenheit auszulassen, daß Ferenc nicht zu Hause war, und dieser Péter ist ja ein hübscher Bursche, und so brav, wenn auch ein bißchen jung für sie, aber Gottchen, die Jugend hat auch ihren Reiz, sie trugen zwei Sofakissen in die Küche und setzten sich auf diese vor den Kühlschrank, sie machten ihn auf und verputzten alles, was darin war, dazu tranken sie Kognak, sie duzten sich, „aber nur, wenn wir allein sind, darfst du du zu mir sagen“, sagte Etuka, und „na, na, du Schlingel“, und sie begann zu kichern, denn Péter langte ihr hinten unter die Bluse und kitzelte ihren nackten Rücken. Woher können diese Jungen von heute so gut küssen, überlegte Etuka, aber sie fragte ihn nicht, denn sie meinte, eine solche Frage machte sie älter. „Jetzt habe ich die nötige Bettschwere“, sagte Etuka später, Péter bot ihr gierig an, sie solle sich ein bißchen hinlegen. „So? In Kleidern? Wer wird mich ausziehen?“ fragte Etuka und spielte ein bißchen die Beleidigte, Péter bot an, er. „Nein, nein“, sagte Etuka. Péter fand eine Lösung: „Ich wende den Kopf ab.“ – „Na gut, du Schlingel, aber wehe, du guckst zu, kleine Jungens dürfen nicht zugucken …“ Józsa saß gerade bei Lugosi in der Redaktion, als sich Etuka hinlegte, ziemlich spät also, so daß es ganz verständlich ist, daß sie vorhin erst einschlief. Genau so, wie J. Szücs es sich gedacht hat, denn J. Szücs kennt seine 114
Frau bestens, erst wälzte sie sich schlaflos hin und her, dann schlief sie erschöpft ein. Und jetzt schläft auch sie. J. Szücs ist sich völlig darüber im klaren, daß das Leben ein perfekter Roman ist. Man darf nur die Wirklichkeit niemals knechtisch kopieren. Sorgfältig und exakt konstruieren, ausfiltern, verdichten, raffen, fein auswählen, die literarischen Geschmacks- und Sauberkeitsbedürfnisse der Öffentlichkeit beachten, einen anspruchsvollen Stil finden – das sind die wesentlichen Kriterien einer schöngeistigen Prosa von hohem literarischem Niveau. So hat er es gelernt von seinem Vorbild, Professor Lóránt, der in diesen Augenblicken in Mátraszerges aufwacht, wo er im Ferienheim der Akademie Urlaub macht, in einem Zweibettzimmer mit Bad, der hat’s gut, sein Kopf ist nicht eingewickelt, er streckt die rechte Hand aus und nimmt seine Armbanduhr von dem kleinen Tischchen, es ist gleich acht Uhr, wie er sieht, er legt die Uhr zurück und überprüft seine Atmung, dazu legt er beide Hände auf die Brust und holt dreimal sehr tief Luft, es pfeift ein wenig, es klingt nicht sauber, aus einem runden Döschen nimmt er zwei Pillen, legt sie sich in die Hand und wirft sie in den geöffneten Mund, einen Schluck Wasser hinterher, während er schluckt, dreht er sich auf die Seite, wendet sich dem anderen Bett zu, in dem seine Frau schläft, er vergewissert sich einfach nur, daß sie da ist, obwohl er sie ja atmen hört, aber ein Blick genügt, er gähnt, langt sich in den Halsausschnitt des Nachthemds und kratzt sich ein bißchen an der Brust, dann steht er auf, angelt sich die Pantoffeln und geht ins Bad, derweil denkt er an Ildikó Szomotray, Studentin im ersten Jahr, die ihm sündig gut gefällt, er seufzt, vom Seufzen fällt ihm wieder die Atmung ein, er prüft sie neuerlich, jetzt klingt es etwas besser, Ildikó läßt ihm Etuka in den Sinn kommen, man muß ein Lebensrealist sein, sagt er leise im Badezimmer, oder vielleicht denkt er es nur. 115
J. Szücs aber schläft tief, schläft in Phasen, genau so, wie Forschungen der amerikanischen Kriegsmarine bezüglich des Schlafes es unlängst festgestellt haben, und er schläft auch noch um neun Uhr und drei Minuten, als sich die Tür öffnet und Doktor Röppentyüs, der Oberarzt, hereintritt, ihm auf dem Fuße folgen die Doktoren Wilitz und Fekete sowie der Adjunkt Almási, ferner Oberschwester Piroska und Schwester Marian, diese aber ist nicht die gesichtslose und braunhaarige Nachtschwester, die ist inzwischen nach Hause gegangen, ihre Arbeitszeit endete um acht Uhr. Doktor Röppentyüs hebt die Tafel mit der Fieberkurve vom Fußende des Bettes und wirft einen Blick darauf. „J. Szücs? Der Literaturkritiker?“ „Ja, Herr Oberarzt.“ „Aha. Man sieht. In der Anamnese sieht man hier auch eine Verkrümmung des Nasenseptums.“ „Ja, Herr Oberarzt.“ „Nun gut. Am Morgen hat er ein Schlafmittel erhalten, wie man sieht.“ „Ja, Herr Oberarzt“, sagt Schwester Piroska. „Sollen wir ihn wecken, Herr Oberarzt?“ fragt Doktor Fekete. „Nicht nötig. Mag er schlafen. Mag der Organismus arbeiten. In solchen Fällen ist dies am besten.“ Doktor Röppentyüs tritt neben J. Szücs, umfaßt sein linkes Handgelenk, fühlt den Puls. Dann läßt er die Hand sinken. „Soll er ruhig schlafen.“ Und J. Szücs schläft.
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ZWEITE NACHT
Erstes Kapitel Ermittlungsbericht. Betreff: Gegenwärtiger Stand der Ermittlungen bezüglich der Personen, die 1932 das F.-Kölcsey-Gymnasium absolvierten, aus der Sicht der Mordsache Laurentis. Entsprechend der von Gen. Major Józsa erhaltenen schriftlichen und später telefonisch ergänzten Direktive stellte ich die zur schnellen Durchführung der Ermittlungen erforderliche logische Abfolge zusammen, deren ersten und zugleich Ausgangspunkt die neuerliche Vernehmung von Krisztina Csépán geb. Braun, der geschiedenen Frau von Professor Ernő Laurents, bildete, da anzunehmen war, daß sie während der elfjährigen Ehe mit Laurentis auch einige seiner ehemaligen Klassenkameraden kennenlernte. Frau Csépán gab an, der an sechster Stelle in der Namenliste der Klasse genannte József Braun sei ihr Bruder und ihre Ehe mit Laurentis sei aus einer Jugendliebe hervorgegangen, so daß sie fast alle Klassenkameraden ihres ehemaligen Mannes persönlich kannte bzw. noch kennt. Sie benannte Pál Haszlacher – heutiger Name: Pál Harsányi –, technischer Leiter der PGH der Zifferblatthersteller in Szentendre (Szentendre, Dunaköz 3, 117
Wohnung: Budapest VIII, Vasstraße 18) und Gyula Ruzicska, Oberschullehrer für Mathematik (Budapest VII, Murányistraße 9) als diejenigen, die die in Abständen von fünf bis zehn Jahren veranstalteten Abituriententreffen organisieren und seit 1932 die Anschriftenliste der Klassenmitglieder auf dem laufenden Stand halten. In Anbetracht der Dringlichkeit der Ermittlungen beauftragte ich von der Wohnung der Frau Csépán aus telefonisch Endre Kruszt und István Trimózer, die beiden genannten Personen unverzüglich aufzusuchen und eingehend zu befragen. Im folgenden fasse ich das Material der zwischenzeitlich eingegangenen Ermittlungsberichte zusammen. Ausführliche Angaben füge ich nur dort bei, wo sie für die weiteren Ermittlungen erforderlich scheinen. Lagebericht über die in der Klassennamenliste der Schulzeitung angeführten Personen: Zsolt Abelesz (heutiger Name: Adonyi), Journalist. Redakteur beim Westungarischen Anzeiger, kommt alle ein bis zwei Wochen zu Konferenzen nach Budapest, steht jederzeit zur Gegenüberstellung und Identifizierung zur Verfügung. Béla Albert, stellvertretender Leiter der Verkaufsstelle 386 in Pesthidegkút, dort auch wohnhaft. Anmerkung wie oben. Bogdán Anasztáz, Gemüsegärtner. Verkaufsstand auf dem Wochenmarkt am Friedensplatz. Wohnhaft in Békásmegyer. Anmerkung wie oben. Imre Balla. Wurde wegen gelähmten Beines weder zum Militär- noch zum Arbeitsdienst eingezogen. Starb Anfang 1945 im Konzentrationslager Mauthausen. Jenő Bán, Musiker, Jazzschlagzeuger. Gegenwärtig mit seiner dreiköpfigen Gruppe in Griechenland unter Vertrag. József Braun (Bruder der Frau Csépán). Nahm als Mitglied der illegalen KP Anfang 1945 in Budapest am be118
waffneten Kampf gegen die Faschisten teil. Eilte beim Einrücken der sowjetischen Truppen in die Pannoniastraße diesen entgegen, vergaß jedoch in seiner Freude, seinen Revolver wegzustecken und wurde, da die Rotarmisten ihn natürlich nicht kannten und er bewaffnet war, von einem Soldaten erschossen. István Csákonyi. Verließ Ungarn im Dezember 1956. Hatte in Budapest einen privaten Rundstrickbetrieb. Zur Zeit Textilarbeiter in Belgien. Gusztáv Donner. Als Fähnrich beim Don-Durchbruch gefallen. Béla Ehrenfeld. 1944 in einem Zwangsarbeitslager an Flecktyphus gestorben. Mihály Felcser (Dr. Michael Felcser, MD. M. S.). Chirurg in Liverpool. Andor I. Fischer, Ingenieur, Kossuthpreisträger. War mit Laurentis enger befreundet. Leiter des MetallurgieForschungsinstituts in Szeged. Dort wohnhaft. Bertalan Glik, Hotelportier in Tihany. János Gonda, Petrolingenieur. Wohnhaft in Zalaszentgrót. Pál Haszlacher (heutiger Name: Harsányi). Vgl. oben. Alfréd Hauchling. Ehemaliger Bankdirektor. Laurentis war von 1942 bis Sommer 1944, als H. aus Ungarn verschwand, in dessen Kredit und Transferbank A. G. angestellt. Beide waren in ihrer Jugend eng befreundet. H., Laurentis und Miklós Papp (vgl. dort) bildeten innerhalb der Klasse das „Trio“ oder „Dreigespann“. Alle drei stammen aus Veszprém, wahrscheinlich deshalb. H.’s Name taucht in Strafverfahren gegen das Volk auf. Bekannt sind seine Beziehungen zu Deutschen in den Jahren 1943 und 1944. Ferenc Ippay-Perl, ehemaliger Bankdirektor. Wurde 1952 ausgesiedelt, starb 1953 an einer Lungenentzündung. Zoltán Karlman, Rechtsanwalt, Mitglied des 19. An119
waltskollegiums. Steht bei Bedarf zur Gegenüberstellung und Identifizierung zur Verfügung. Elemér Kovács (Sir Eimer Kovacs), Biologe. Verließ 1935 Ungarn, Professor an der Universität Birmingham, 1946 Verleihung des englischen Adelstitels. Besuchte 1963 mit einer Wissenschaftlerdelegation Ungarn und traf auch mit Laurentis zusammen. Dezső Lang. Verließ 1956 Ungarn. Lehrt gegenwärtig Religionsgeschichte an der Universität von Mexico. Ernő Laurentis. (Bekannt) Sándor Meitner (heutiger Name: Meszlényi), zweifacher Kossuthpreisträger, Verdienter Künstler, Schauspieler am Nationaltheater. Verbringt z. Z. seinen Urlaub in Italien. György Meller. Wurde im Winter 1944 von den Faschisten erschossen. György Mertes. War 1943/44 in Budapest Beamter und arbeitete als solcher für den englischen Intelligence Service. Wurde 1952 verhaftet, nach sechs Monaten Gefängnisaufenthalt jedoch entlassen und gelangte unter unbekannten Umständen ins Ausland. Lebt gegenwärtig als Chef der sudanesischen Luftstreitkräfte in Khartum. Jenő Minács, Professor an der Universität von Minnesota, Nobelpreisträger. Miklós Papp. Wie Laurentis in Veszprém gebürtig und während der Schulzeit mit diesem eng befreundet. Beide bildeten mit Hauchling in der Klasse das „Dreigespann“. Ging 1938 ins Ausland, galt lange als verschollen, bis Laurentis beim Abituriententreffen im Sommer 1962 erzählte, er sei bei einer Dienstreise in San Sebastián P. begegnet, dieser sei Arzt und französischer Staatsbürger. Olivér Ramaczay, ehemaliger Horthy-Offizier. Gegenwärtig Oberstallmeister im staatlichen Gestüt Dinnyéspuszta. Péter Rottenstein. Verließ 1939 Ungarn, leitet z. Z. 120
einen Kosmetiksalon in Melbourne. Besuchte Ungarn 1964, traf jedoch nicht mit Laurentis zusammen. Gyula Ruzicska, Mathematiker, Oberschullehrer. Vgl. oben. Endre Sitik. Doktor der Staatsrechte. Wurde im Juni 1944 hingerichtet, Märtyrer der Arbeiterbewegung. Albin Stafanits. Fiel als Oberleutnant beim Don-Durchbruch. Ede Szőnyi, ehemals Inhaber eines Wäschesalons in der Innenstadt, gegenwärtig Leiter einer PGH-Lehrwerkstatt. Verbringt z. Z. im Ferienheim dieser LPG seinen Urlaub in Balatonlelle. László Tapfer, stellvertretender Leiter der Transportabteilung der Investitionsbank. Wurde während der Jahre des Personenkults zu Unrecht verfolgt und später rehabilitiert. Steht zur Verfügung. János Tinkai-Török, Maler. Ist gegenwärtig in der Künstlerkolonie Nagymaros tätig. Barna Vázsonyi. Starb im Konzentrationslager Bor. Tivadar Winkler. Staatsanwalt beim Komitatsgericht in Pécs. Pál Illés Zima. Ehemaliger Horthy-Offizier, einer der Hauptschuldigen des Blutbads von Novi Sad. Kam kurz vor Kriegsende bei einem Luftangriff in Budapest um. Ich verzichte auf eine nähere Erläuterung der von Ruzicska über die Klasse aufgestellten statistischen Zusammenstellung, halte es jedoch für bemerkenswert, daß zweiunddreißig Jahre nach dem Abitur nahezu ein Drittel der Schüler der betreffenden Klasse nicht mehr am Leben sind; verstorben sind einschließlich des jetzt ermordeten Laurentis elf ehemalige Schüler, von denen nur einer (Ippay-Perl) eines natürlichen Todes starb. Insgesamt neun haben ihren ständigen Wohnsitz im Ausland, zeitweilig im Ausland weilen Bán (auf Tournee) und Meszlényi, von dessen Auslandsaufenthalt Ruzicska aus der Presse erfuhr. Erwähnenswert ist, daß 121
fünf ehemalige Schüler eine beachtliche Karriere gemacht haben (Fischer, Kovács, Laurentis, Meszlényi, Minács). Lang und Mertes werden von Ruzicska nicht hierzu gerechnet. Harsányi (Haszlacher) und Ruzicska stehen, notfalls auf telefonische Anforderung, bereit, im Präsidium zu erscheinen und an einer Gegenüberstellung bzw. Identifizierung teilzunehmen. Sollten diese beiden Personen nicht ausreichen, sind, wie im obigen Lagebericht angegeben, weitere Personen erreichbar. Nach der Vernehmung von Frau Csépán suchte ich Pál Harsányi (Haszlacher) auf. Dieser entnahm dem oberen Schubfach einer Kommode ein unmittelbar nach dem Abitur auf dem Schulhof aufgenommenes Klassenfoto, das sich von dem in der Schulzeitung veröffentlichten unterscheidet. Bedauerlicherweise hat der vierjährige Sohn des Harsányi jedoch genau die Ecke des Fotos abgerissen, in der sich eine Aufnahme des Alfréd Hauchling befand, von dem Namen unter der Aufnahme ist nur noch …ling, Alfréd lesbar, das Gesicht ist zerrissen, auf dem Foto ist nur noch das rechte Ohr der gesuchten Person zu sehen, dazu ein schmaler Streifen des Gesichtes. Ich habe das rechte Ohr auf dem Foto mittels einer Lupe untersucht und für geeignet befunden, mittels einer anthropologischen Untersuchung zweifelsfrei die eventuelle Identifizierung vornehmen zu können (siehe Anselm – Rabóczy: Anthropologische Untersuchungen an Hautfalten und Läppchen des Ohres zum Zwecke der polizeilichen Identifikation). In den Morgenstunden nahm ich Einblick in das von Gen. Józsa bisher zusammengetragene Ermittlungsmaterial. In Kenntnis der Umstände halte ich es für wahrscheinlich, daß der mit einem Paß auf den Namen Miguel Navarro Sánchez eingereiste Miklós Papp tatsächlich des Mordes verdächtigt werden muß, obgleich ich das Tatmotiv bisher als ungeklärt betrachte. Laurentis war 122
von 1926 bis 1938, als Papp ins Ausland ging, eng mit dem Verdächtigen befreundet. Das wurde von Frau Csépán ebenso bestätigt wie von Harsányi (Haszlacher) und Ruzicska. 1927, also ein Jahr später, schloß sich dieser Freundschaft als Dritter Alfréd Hauchling an, nachdem er in das Kölcsey-Gymnasium umgeschult worden war. Diese Freundschaft charakterisiert Ruzicska mit den folgenden Worten: „Ich saß in diesem Jahr in der dritten Bank, neben mir saß Papp. Als wir zu Beginn des Schuljahrs unsere persönlichen Daten diktieren mußten, gab Hauchling, der Neue, an, er sei in Veszprém geboren. Da flüsterte Papp mir zu: Jetzt sind wir nicht mehr zwei, sondern drei Veszprémer! In der Pause ging er zu Hauchling und sagte ihm, er und Laurentis stammten gleichfalls aus Veszprém. Von da an waren sie drei unzertrennliche Freunde. Später stellte sich heraus, daß Hauchling die Juden nicht leiden konnte, er beschimpfte sie zwar nicht, aber er hielt Distanz. Einmal trat in der Pause Lang vor Hauchling und fragte ihn scheinheilig: Wie kommt es denn, daß du mit Papp befreundet bist, wenn du doch die Juden nicht magst? Lang mißfiel es, daß der vornehme und reiche Hauchling ihn hochnäsig behandelte. Hauchling antwortete ihm: Papp ist kein Jude, sondern ein Veszprémer, verstehst du? Daraufhin Lang: Nein, jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Beides schließt einander nicht aus. Papp ist ein Veszprémer Jude, ich bin ein Budapester Jude, wo ist da der Unterschied? Hauchling überlegte kurz, dann antwortete er: Du brauchst es gar nicht zu verstehen. Ich wäre dir unendlich dankbar, Lang, wenn du dich nicht in meine Privatsachen einmischen würdest. Damit machte er kehrt und ging weg. Ich weiß natürlich, daß Papp für ihn nur deshalb eine Ausnahme bildete, weil seine Familie reich war, Papps Vater hatte vier Juweliergeschäfte in Budapest und Szeged. Laurentis war zwar nicht reich, 123
aber der Intelligenteste in der Klasse, stets die besten Zensuren, dem Lehrstoff immer weit voraus, deshalb hatte er in der Klasse mindestens eine solche Ausnahmestellung wie Hauchling außerhalb der Klasse.“ Harsányi (Haszlacher) sagte über die Freundschaft der drei: „Sie sahen sich sogar ähnlich. Besonders in den höheren Klassen. Alle drei waren groß und blond, auch Papp. In der Oberprima nahm Laurentis bereits seine spätere typische Haltung an; als er neunzehnhundertachtundvierzig Staatssekretär war, brachten die Witzblätter mehrmals Karikaturen von ihm, und immer war er in dieser Haltung abgebildet. Er war sofort zu erkennen. Der Kopf zwischen den Schultern vorhängend, nur das Gesicht gehoben, um etwas zu sehen. Wie eine Schildkröte. Papp und Hauchling blieben sich auch später ähnlich, alle drei trugen auch ähnliche Kleidung, nur war Laurentis nicht so gediegen angezogen. Möglichst immer dunkle Anzüge, meistens dunkelblaue, weiße Hemden, dunkle Krawatten. Laurentis konnte mit den beiden anderen nicht immer mithalten, aber er hatte auch einen dunkelblauen Anzug, den er oft trug. Laurentis stand sich mit allen in der Klasse gut, Papp mit vielen, Hauchling aber nur mit Papp und Laurentis. Papp konnte ausgezeichnet vorsagen. In der Obersekunda hat er mich in Mathematik vor dem Durchrauschen bewahrt. Aus Dank habe ich ihm meinen finnischen Dolch geschenkt, mit einem Perlmuttgriff.“ Ebenfalls Harsányi (Haszlacher) erwähnte, daß Laurentis beim Abituriententreffen 1962 über sein Zusammentreffen mit Papp in San Sebastián berichtete. Ich fragte ihn, ob Laurentis bei dieser Gelegenheit auch etwas über Alfréd Hauchling gesagt habe. Harsányi verneinte dies. Über das hier Dargelegte hinaus erbrachten die bisherigen Ermittlungen ein umfangreiches Detailmaterial. 124
Dieses füge ich zur weiteren Auswertung in der laufenden Nummerierung von 1 bis 18 als Anlage dem vorliegenden Ermittlungsbericht bei. – 18 Anlagen – Emil Lakatos Einer der einvernommenen Zeugen, der nicht genannt zu werden wünscht, beschuldigt Franz J., er habe während der Zeit, als Ernő Laurentis in offizieller Mission an einem internationalen Archäologenkongreß in San Sebastián teilnahm, in dessen Dienstzimmer an der Universität zweimal Intimverkehr mit Ottilia Göndös geb. Préth gehabt, die in ihrem Freundeskreis Babsi genannt wird. Der Pförtner der Universität sah Frau Göndös am 22. März 1962 um 17 Uhr 30 das Zimmer Laurentis’ betreten, in dem sich Franz J. aufhielt. Als mildernder Umstand kann ins Feld geführt werden, daß J., obgleich er sich das Zustandekommen einer solchen intimen Beziehung seit längerem wünschte, bisher und anfangs auch bei dieser Gelegenheit noch Widerstand geleistet hatte und selbst keinerlei Initiativfreudigkeit an den Tag legte. Es trifft zwar zu, daß diese Enthaltsamkeit nicht moralischer Natur war, sondern der Furcht vor Frau J. entsprang, doch enthebt dies Franz J. keineswegs der Verantwortung. J. führte zu seiner Verteidigung an, seine Frau und Ottilia Göndös hätten eine Verschwörung gegen ihn angezettelt, er war jedoch nicht bereit, das Zustandekommen des Intimverkehrs zuzugeben, und bestritt insbesondere, daß dies zweimal der Fall gewesen sei, womit er stillschweigend eingestand, daß der Verkehr während des oben genannten Zeitraums zumindest einmal zustande kam. Die Krankenpflegerin Magda Hollner verabschiedete sich laut eigener Aussage um 4 Uhr 55 von J. mit der Bemerkung, sie werde jetzt aus dem Zimmer gehen, doch sie fand das Verhalten des Kranken verdächtig und nutzte den Umstand, daß der Kopf des J. 125
verbunden war und dieser nichts sehen konnte, dazu aus, das Verlassen des Zimmers nur vorzutäuschen, in Wirklichkeit aber drinnen zu bleiben, wobei sie beobachtete, wie der Patient auch die zweite Schlaftablette einnahm, die sie ihm bereitgelegt hatte, und wenig später, wahrscheinlich im Schlaf, die freie linke Hand hob und eine Bewegung ausführte, als schösse er mit einem Revolver auf jemanden. Bald danach begann er im Schlaf zu schreien, „nein, ich habe sie nicht getötet“, schrie er, und unmittelbar darauf „Babsi, Babsi“, hiernach folgte eine kurze Pause und schließlich der Aufschrei „nein, sag es ihr nicht!“. Wenngleich unsere Ermittlungsorgane aus der Sicht des ohnehin erwiesenen Tatbestandes diesem kleinen Zwischenspiel keine sonderliche Bedeutung beimessen, unterstreicht auch dieses nur den Fakt, daß J. seine Frau mit deren bester Freundin betrogen hat und dieses verkommene Subjekt ihm androhte, sie werde seine Frau über das Vorgefallene informieren. Die Leiche der Ottilia Göndös geb. Préth wurde zerstückelt und verstümmelt aus der Donau geborgen, sie ging bereits in Verwesung über, doch waren am Hals noch Würgespuren zu erkennen, und anhand der Fingerabdrücke konnte nachgewiesen werden, daß der Mord von Franz J. begangen wurde. Dieser zog sich vor der Tat zwar Gummihandschuhe an, doch entging ihm vor Aufregung wahrscheinlich, daß zwei Fingerlinge des einen Gummihandschuhs Löcher aufwiesen, so daß seine Täterschaft als bewiesen gelten kann. In bezug darauf, ob Ottilia Göndös die Frau des J. tatsächlich über das Zustandekommens des Intimverkehrs zwischen ihr und J. informiert hat, besitzen die Ermittlungsorgane keine zuverlässigen Anhaltspunkte. Einige Ohrenzeugen geben übereinstimmend an, Frau J. habe ihrem Mann gegenüber wiederholt Andeutungen gemacht, denen zu entnehmen gewesen sei, daß sie über das Zustandekommen des Intimverkehrs zwischen Ottilia 126
Göndös und Franz J. unterrichtet war. All dies ist jedoch nicht als bewiesenes Tatsachenmaterial anzusehen, da Frau J. unseren Gesetzen zufolge in dieser Hinsicht nicht zur Zeugenaussage verpflichtet ist und da Ottilia Göndös keine Aussage mehr machen kann. Das Motiv des von J. begangenen Mordes kann also Furcht und Rache in einem oder jedes für sich sein. Unser Scharfrichter legte dem zur Exekution vorgeführten Franz J. eine Hand an die Kehle, während die andere ihm das Messer tief ins Herz stieß und daselbst zweimal hin und her drehte. J. sah noch mit brechenden Augen, wie der Scharfrichter und dessen Assistent dicht vor seinem Gesicht die Köpfe zusammensteckten und tuschelnd das Ergebnis ihres Tuns beobachteten. „Wie ein Hund“, murmelte Franz J., und es war, als wollte seine Beschämung ihn noch überleben.
Zweites Kapitel Da ward aus Abend und Morgen der andere Tag. Beziehungsweise, Moment mal. Genau umgekehrt. Aus Morgen und Abend. So begann der zweite Tag. Die Grenzen verschwimmen, der Übergang ist dehnbar und klebrig wie schmelzender Gummi, die Fragen der Identität sind überaus problematisch. Klar ist, daß Lakatos in den frühen Morgenstunden im Büro am Schreibtisch saß und den Bericht tippte, aber wann wurde er damit fertig? Gab es eine Zeitspanne, während der sich J. Szücs in wachem Zustand dies alles überlegt hat? Und wer hat ihn gefüttert? Und was hat er gegessen? Vielleicht war es Mórika, die mit warmem und kräftigem weißem Arm unter J. Szücs’ – oder Józsas? – Hals langte, vielleicht war es Mutter, irgendwann in der Kindheit, vielleicht auch die 127
Nachtschwester oder eine andere. Vielleicht Zsu? Wo verläuft die Grenze zwischen Babsi und Etuka? Und wann hat er getrunken? Und wann die hochpeinlichen Funktionen des Stoffwechsels erfüllt? Wie ein Raubtier, das mal muß, dachte er plötzlich, und das tat wohl, denn neben dem Gefühl der Schutzlosigkeit, der Verlassenheit und Hilflosigkeit tauchte so plötzlich die bloße Tatsache der Raubtierhaftigkeit auf, schon der Klang des Wortes weckte Kraft und eine gesunde, räuberische Wildheit in ihm. Raubtier, Raubtier. Ja, das ist gut. Raubtier, Bestie. Geschmeidige Muskeln und zerfleischende Zähne. Dazwischenschlagen! Zucker! Kusch! Die Peitsche aus Nilpferdleder knallt. Die Manege ein einziger, riesiger Käfer – spring! Babina, du Biest, zischelt er und läßt die Peitsche pfeifen, und Babina hebt mit vorgestreckten Krallen die linke Vorderpranke gegen ihn, aber dann wird sie kirre und senkt die Pfote, spring, Babina! Babina, die große, muskelstrotzende Bengaltigerin, springt durch den Feuerreif, ihr hinterher Edina, die Löwin, ganz gehorsam, euch werd ich’s schon zeigen! Wie ein Raubtier, das mal muß. Ich bin ihnen ausgeliefert. Auch denen bin ich ausgeliefert. Wie auch den Ärzten. Ich bin ihnen in die Hände gefallen. Eine unvorsichtige Bewegung, ein rügender oder argwöhnischer Ton, und sie zerreißen mich, irrtümlicherweise ein falsches Medikament, Strychnin etwa, aber nur keine Spuren hinterlassen. Wie bitte? Ich hab’s geträumt, ganz bestimmt habe ich es nur geträumt, wie sich Etuka quengelnd und mit ihrer leicht pikierten, ach so vertrauten Stimme beim Arzt beklagt, sie sei in letzter Zeit so nervös, so unruhig, es sei keine richtige Schlaflosigkeit, nur … Und der Arzt schlug ihr in gelassenem und leidenschaftslosem Ton – man kennt es ja – vor, mit ihm in das Untersuchungszimmer hinüberzugehen, ich schlafe sowieso noch, er werde sie untersuchen, ich täte das auch, wenn ich Arzt wäre, mit einer so hübschen und appetitlichen Frau wie Etuka … Ich habe geträumt, klar, 128
auch das von den Scharfrichtern und den Gummihandschuhen, von denen einer Löcher an zwei Fingerlingen hatte, also auch, daß sie hier in meiner Anwesenheit verabredet haben, der Arzt werde Etuka untersuchen, drüben im anderen Zimmer, aber von der Krankenschwester habe ich nicht geträumt, die mir das Abendessen gebracht hat, das nicht. An das Abendessen erinnere ich mich, ganz deutlich, sie sagte, für die anderen gebe es Kakao und Milchsemmeln, aber mir bringe sie Wirsingkohleintopf mit Fleisch, es war faseriges Rindfleisch, das habe ich nicht geträumt. Und jetzt? Träume ich jetzt, oder bin ich wach? Er langt mit der linken Hand zum Bettrand und ergreift den Rand des unter die Matratze geschobenen Lakens, reibt den Stoff zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger ein wenig, es ist ein frisches Laken, ein neues, noch nicht gewaschen, die Appretur ist noch drin, ich träume nicht. Bestimmt nicht. Das steht fest. Auch Józsa träumt leider nicht. „Mein Herr, wir sind keine wilden Bestien. Erzählen Sie uns mal, warum Sie Ernő Laurentis getötet haben.“ „Ich sage doch, ich habe Ernő Laurentis nicht getötet.“ Und das stimmt. Leider, es stimmt. Lakatos ist ein Trottel. Der ganze Verdacht, Miklós Papp hätte Laurentis umgebracht, ein Humbug. Aus der Traum, fertig, Ende. Die Ermittlungen müssen von vorn angefangen werden. Er wußte es bereits, als er mit der Vernehmung Papps begann. Aber er war sich dessen nicht sicher. Und eine Spur muß man bis zum Ende verfolgen. Der Nachtportier im Hotel behauptet auf das entschiedenste, Papp sei neun Minuten nach halb zehn ins Hotel zurückgekehrt, er, der Portier, habe gerade einem indonesischen Gast ein Taxi bestellt, der Zug dieses Gastes sollte um zweiundzwanzig Uhr sieben gehen, er hatte 129
besorgt zur Uhr gesehen, hoffentlich würde er den Zug nicht verpassen, denn das Taxi ließ auf sich warten. Ebenfalls der Portier behauptet, Miklós Papp alias Miguel Navarro Sánchez habe das Hotel um zehn Uhr sechs verlassen. Nach der Aussage des Schutzpolizisten András Takács zeigte die Uhr neun Minuten nach zehn, als er den Besitzer eines dunkelgrauen Jaguar vor dem Hotel Royal auf das Parkverbot hinwies. Der Ausländer nickte lächelnd, er verstand aus der Gestik des Polizisten, was gemeint war, und bedeutete ihm mit den Händen, er werde gleich abfahren, dann fragte er etwas, und der Polizist begriff mit Mühe, daß der Ausländer zu tanken wünschte. „Benzin? Benzin? Yes, yes“, sagte der Polizist. Er nahm den Ausländer am Arm, führte ihn bis zur Ecke und zeigte ihm, wo die nächste Tankstelle zu finden sei. Er erklärte ihm ausführlich, wie er fahren solle, was natürlich nicht leicht war. Dabei blickte er zur nahen Normaluhr, dort war es dreizehn Minuten nach zehn. Der Dienst des Polizisten endete um elf Uhr. Der Ausländer ging zu seinem unvorschriftsmäßig vor dem Royal geparkten dunkelgrauen Jaguar zurück, stieg ein und fuhr in der beschriebenen Richtung davon. Bei der Gegenüberstellung erkannte der Polizist in Papp zweifelsfrei den Besitzer des dunkelgrauen Jaguar. Dann salutierte er und ging. „Sie behaupten also, nicht Sie hätten Laurentis getötet?“ „Ja.“ Es klopft. Elzike. Sie tritt ein, legt ein Blatt Papier vor Józsa auf den Tisch und geht wieder. Kálmán Bitura, der kleine Junge, der zur Tatzeit in der Nähe des Tatorts ein dunkelgraues Auto mit ausländischem Kennzeichen gesehen hat, bestreitet dem Bericht zufolge entschieden, es sei der Wagen von Miklós Papp alias Miguel Navarro Sánchez gewesen, den er gesehen habe. 130
„Ich werde doch wohl einen Jaguar kennen! Wofür halten Sie mich denn, Onkel?“ sagte er zu dem Kriminalisten, der ihm den dunkelgrauen Wagen zeigte. Papps Alibi ist perfekt. Die Grenzwertzeiten der Ausführung des Mordes, einundzwanzig Uhr fünfundvierzig und zweiundzwanzig Uhr fünfzehn, umfassen ohnehin das Maximum. Die Tat kann weder vorher noch nachher begangen worden sein. Nur zwischen den beiden Zeitpunkten. In Józsas Kopf lastet ein großer, schwerer, grauer Betonklotz. Das Ermittlungsmaterial. Bei dem wegen des begründeten Verdachts, Professor Ernő Laurentis ermordet zu haben, verhafteten Miguel Navarro Sánchez alias Nicolas Papp alias Miklós Papp wurden bei der Festnahme zwei Reisepässe gefunden. Mit dem auf den Namen Miguel Navarro Sánchez reiste er über die Grenzkontrollstation Hegyeshalom in einem dunkelgrauen Jaguar mit englischem Kennzeichen nach Ungarn ein. Das Einreisevisum der ungarischen Behörden ist in Ordnung. Dem Einreisestempel und dem angeforderten Bericht zufolge erfolgte die Einreise am 15. um zweiundzwanzig Uhr. Einige Minuten vor Mitternacht traf er im Hotel Royal ein, wo er am Vortag von Wien aus telegraphisch auf den Namen Miguel Navarro Sánchez ein Zimmer bestellt hatte. Nach der Auskunft suchte er sein Zimmer auf und verbrachte dort die Nacht. Am nächsten Morgen, also am 16., kam er um halb zehn herunter und frühstückte in der Konditorei, wo er den Serviererinnen zufolge ungefähr eine Stunde blieb. Dann verließ er das Hotel. Der Eingangsportier sah ihn in seinen Wagen steigen und wegfahren. Miguel Navarro Sánchez fuhr laut eigener Aussage zwei volle Stunden lang kreuz und quer durch Budapest, er sei neugierig gewesen, sagte er, wie sich die Stadt verändert habe, seit er sie zum letztenmal gesehen hatte. Er gab unumwunden zu, ursprünglich Miklós Papp zu heißen 131
und 1938 Ungarn verlassen zu haben, nach Holland gegangen zu sein und dort in Utrecht Jura studiert zu haben. Seither habe er Ungarn nicht mehr besucht. Die Kellner im Hundertjährigen Restaurant erkannten ihn anhand eines Fotos und sagten aus, er habe die Gaststätte gegen drei Viertel eins betreten, und zwar allein, er habe englisch gesprochen, ein Mittagessen eingenommen und sei gegen halb zwei wieder gegangen. Sämtliche Befragten vermerken übereinstimmend, er habe überall englisch gesprochen. Niemand hörte ihn ungarisch sprechen. Als Miguel Navarro Sánchez nach eigener Aussage über den Rooseveltplatz zur Kettenbrücke fuhr, sah er Professor Laurentis aus dem Akademiegebäude treten und in Richtung Attila-József-Straße davongehen. Miguel Navarro Sánchez umrundete den Platz, sah aber nur noch, wie Laurentis vor dem Café Gresham in einen Autobus der Linie eins stieg. Er folgte dem Autobus und beobachtete, wann der Professor aussteigen würde. Das geschah an der Haltestelle beim Hotel Gellért. Laurentis ging von der Haltestelle zurück bis zum Hotel und nahm dort im Terrassencafé Platz. Hier stimmt die Aussage von Miguel Navarro Sánchez alias Miklós Papp in den wesentlichen Zügen mit der von Frau Tamacskó überein, auch die Zeiten decken sich. Auf die Frage, warum er Laurentis, als dieser um zwei Uhr die Terrasse verließ, nicht angesprochen und über seine Identität informiert habe, antwortete Papp, er hätte sich entschlossen, Laurentis anzurufen. Der Professor habe ihm 1962 in San Sebastián, wo sie sich zufällig begegnet seien (Laurentis habe dort als offizieller Delegierter an einem internationalen Archäologenkongreß teilgenommen), seine Telefonnummer gegeben und ihn gebeten, unbedingt anzurufen, falls er, Miklós Papp (Miguel Navarro Sánchez), gelegentlich nach Budapest komme. Dieser Teil der Aussage scheint mit dem übereinzustimmen, was Lakatos in 132
seinem Ermittlungsbericht zu dieser Frage mitteilt. Desgleichen scheint die Aussage Papps mit dem übereinzustimmen, was Frau Tamacskó bei ihrer Vernehmung sagte. Auf die Frage, ob es im Laufe des Nachmittags zum Intimverkehr zwischen ihm, Miklós Papp, und Frau Tamacskó gekommen sei – wie oft soll ich Ihnen noch sagen, Elzike, die Frau Tamacskó schreibt sich mit cs, nicht mit tsch – antwortete er mit einem entschiedenen Ja. Er betonte sogar, dies sei mehrmals der Fall gewesen, und erwähnte, er habe Frau Tamacskó weder über seine wirkliche Identität noch über die Tatsache aufgeklärt, daß er der ungarischen Sprache mächtig sei. Die beiden unterhielten sich ausschließlich englisch. Die von beiden in ihren Aussagen genannten Zeitangaben scheinen übereinzustimmen, jedoch nicht in solchem Maße, daß Grund zu der Vermutung bestände, sie wären abgesprochen. Das ist natürlich Fronarbeit. Diese spinnetzfeine Ausarbeitung, dieses sorgfältige Herumbasteln an Details, unter der Lupe sozusagen, kaum vorstellbar, daß niemand diese ungekünstelt schlichte, fast grobschlächtige Beschaffenheit des Ermittlungsmaterials und seine stilistischen Schönheiten wahrnehmen wird. Niemand und niemals. Oder doch? Was eigentlich ist denn ein J. Szücs? Und wer ist er? Und inwieweit ist er, was er ist? Was für raffinierte Drehs der gleichzeitigen, der zeitgleichen Multiplikation des menschlichen Bewußtseins sind das? In wieviel Ebenen lebt ein Mensch? Und mit welcher Intensität? In wirren, ungeordneten Reihen ziehen auf langem Wege die Romanschriftsteller dem Scheiterhaufen entgegen. Der eine in Wanderstiefeln, der andere in Filzpantoffeln, manche in griechischen Sandalen, manche gestiefelt oder barfuß. In den Gesichtern Langeweile, Gleichgültigkeit, Zynismus, der aristokratische Hochmut der Branche. Ordnung? Gerade, gerichtete, geschlossene 133
Ordnung? Nicht doch. Lauter selbstgefällige, eingebildete Individualisten, sie scheuen Disziplin wie die Katze das Wasser. Ein ehreinflößender, graubärtiger Greis, barfüßig, über dem Arm, als wäre es nur sein Regenmantel, ein schlichter Priesterrock. Er raucht eine Zigarre. Hin und wieder nimmt er seine grün, grau und schwarz gemusterte grusinische Mütze ab und kratzt sich am kahlen Schädel, dann setzt er sie wieder auf und geht weiter. Auf den Scheiterhaufen. Er weiß, daß er auf den Scheiterhaufen geht. Die anderen wissen es auch. Singend gehen sie, für die Wahrheit. Was sonst interessiert sie? Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Und für sie auf den Scheiterhaufen. Himmel, welche Verschlagenheit subtiler Phantasie ist auch dies! Der eine maskiert sich als einfacher Hauptbuchhalter. Schäbige, graue Lüsterjacke, steifer Kragen, dünne Krawatte, Zwicker, schwarze Zugschuhe, die Hose blankgewetzt am Hintern. Auch er geht auf den Scheiterhaufen. J. Szücs ginge gerne mit ihnen auf den Scheiterhaufen, aber sie dulden ihn nicht unter sich. Dabei, wenn sie wüßten! Am Rande des sonnenheißen, langen, staubigen Weges sitzt ein ganz kleiner Romanschriftsteller, er wimmert und winselt, die Füße täten ihm weh, er habe sie sich wundgelaufen in den spitzen italienischen Schuhen. J. Szücs erbarmt sich, er beugt sich hinab und nimmt ihn auf den Arm, der kleine Romanschriftsteller beruhigt sich, die Tränen auf seinen Wangen trocknen, er legt die Ärmchen um J. Szücs’ Hals, er vertraut ihm, Glück bäumt sich auf in J. Szücs, er geht bescheiden des Weges, wie die anderen, geht mit dem kleinen Romanschriftsteller auf dem Arm dem Scheiterhaufen entgegen. Ängstlich und vorsichtig blickt er ab und an zur Seite, was wohl die anderen dazu meinen. Merkwürdig, jetzt scheinen sie gar nicht zu bemerken, daß er mit ihnen geht. Mit auf den Scheiterhaufen. Doch plötzlich wird er gewahr, daß der Schriftsteller, den er schon lan134
ge argwöhnisch beobachtet hat, obgleich doch nichts Auffälliges an ihm ist, denn er trägt ja, für alle ein alltäglicher Anblick, die Lederschürze der Martinstahlwerker um den Hals gehängt und um die Hüfte gebunden, daß dieser Schriftsteller so aussieht, als wäre er gar kein richtiger Arbeiterschriftsteller, sondern nur ein einfacher Bürger, einer, der sich in die Literatur hineingemogelt hat und jetzt grün und gelb wird vor Neid, daß J. Szücs mit ihnen geht mit dem kleinen Romanschriftsteller auf dem Arm, der sich die Füße wundgelaufen hat, dieser Pseudoschriftsteller, dieser Martinstahlwerker stößt jetzt mit dem Ellbogen den trotz seines roten Hemdes ehreinflößenden Greis an, sagt etwas zu ihm und deutet mit dem Kopf auf J. Szücs. Der graubärtige Greis wendet sich erschrocken und drohend um und sieht J. Szücs an, aber da erblickt er den kleinen Romanschriftsteller auf seinem Arm, der sich die Füße wundgelaufen hat, sein Blick wird langsam milder, die Ablehnung in seinem Blick wird von Anerkennung abgelöst. Ach nee. Er lächelt weise in sich hinein. „Mag er doch mitkommen“, sagt er. „Vielleicht stellt sich dereinst heraus, daß er ausgezeichnete Romane schreibt.“ J. Szücs tut, als hätte er nichts gesehen und nichts gehört, er widmet sich dem kleinen Romanschriftsteller, albert mit ihm, kitzelt ihn am Kinn. „Ich bin doch zu euch wie der eigene Vater“, sagt er zu ihm. Der kleine Romanschriftsteller macht sich steif auf J. Szücs’ Arm und wird unruhig. „Setz mich ab! Setz mich sofort ab!“ „Aber warum denn? Was ist denn auf einmal mit dir?!“ Er setzt ihn ab. Der kleine Romanschriftsteller geht auf eigenen Beinen neben J. Szücs weiter, mit den eigenen schmerzenden Füßen, undankbar und jammernd, und er tritt mit dem einen schmerzenden Fuß sogar 135
J. Szücs gegen das Schienbein, dann verläßt er ihn und geht zu einer kleinen Frau um die Vierzig, die ein Pflanzenbestimmungsbuch unterm Arm trägt, den anderen Arm hat sie weit von sich gestreckt, in der Hand hält sie eine automatische Kamera, mit der sie alle Augenblicke aus unterschiedlichen Winkeln Fotos von sich anfertigt. Und sie scheut sich nicht, währenddessen zu tanzen und zu singen. Mit ihr knüpft der kleine Romanschriftsteller ein Gespräch an. Um J. Szücs kümmert sich niemand mehr. Er geht weiter mit, zum Scheiterhaufen. Vielleicht merken sie nichts, denkt er, und er schleicht sich vorsichtig zu dem Karren, auf dem, um acht zusammengeschobene marmorne Kaffeehaustische ebenfalls Romanschriftsteller sitzen und laut schreiend debattieren. „Ob sie unsterblich sind, wird sich auf dem Scheiterhaufen zeigen!“ „Freilich, freilich! Aber bis dahin … Wer könnte unter denen Ordnung schaffen?“ J. Szücs schweigt, er tut, als hätte er die Anspielung nicht gehört, obgleich er weiß, daß sie ihm gilt. Wie viele Herzen hat der Mensch außer dem, das ihm in der Brust schlägt, denkt er bitter, und jedes zieht ihn woandershin! … Doch diese Vielherzigkeit verleiht ihm auch ein gewisses Sicherheitsgefühl. Ihr werdet schon sehen, wer ich bin! Dann senkt er den Kopf und geht weiter. Auf den Scheiterhaufen. Mit ihnen. Die Debatte an den Marmortischen auf dem langen Karren schlägt hohe Wogen. Ich möchte wetten, daß sie nicht über Literatur diskutieren, denkt J. Szücs. Die Honorare, das interessiert sie. Pfui! Nur über die Honorarordnung können sie so leidenschaftlich diskutieren. Doch er irrt. Und seufzt tief. Die Realität ist immer viel komplizierter. Selbst ein J. Szücs kann irren. Wenn auch selten, aber auch er irrt sich manchmal. Die Romanschriftsteller debattieren über J. Szücs. 136
„Ein Dilettant. Ein billiger, kleiner Amateur.“ „Dilettant ja, aber kein billiger Amateur. Ein genialer Dilettant. Wie Schwartz-Bart“, ruft begeistert ein Jüngling. „Nur kann er nicht schreiben. Aber was für Kompositionen! Diese straffe, ausgewogene Konstruktion! Und diese Figuren! Diese Charakterschilderung. J. Szücs schafft keine Papierfiguren.“ J. Szücs duckt sich im Schatten des Karrens und lauscht, er kneift die Augen ein wenig zusammen, sein Gesicht verzieht sich schmerzlich und wissend, er nickt bedächtig. Leider, so ist es. Er läßt sich nicht blenden durch Hochmut und Dünkel. Er weiß das alles. Ich bin ein Dilettant. Aber ein genialer. Wie Schwartz-Bart. Aber ich bin einem anderen Schicksal ausgeliefert. In der Ferne zeigt sich bereits der Scheiterhaufen. Er ist riesengroß. Für so viele Schriftsteller! „Der Scheiterhaufen! Der Scheiterhaufen!“ rufen die Schriftsteller überglücklich. Der eine zieht in Ekstase ein kurzes Römerschwert unter seiner Tunika hervor und legt die Spitze an den Bauch, seine Gesichtsmuskeln spannen sich, er preßt die Zähne zusammen und sticht zu, ein gräßlicher Schmerzensschrei, denn das sind alles Schlappschwänze, dann ruft er noch: „Meinen Leichnam, nehmt meinen Leichnam auf den Scheiterhaufen mit!“ Aber niemand beachtet seinen Ruf, sie lassen ihn im Staube liegen, er leidet Qualen, so eine egoistische, eingebildete Bande, alle kümmern sich nur um sich selbst, jeder will nur allein unsterblich sein, kein Kollektivgeist, pfui Deibel! … „Die Dichter! Wo sind die Dichter?“ kreischt vom Marmortisch aufspringend der enthusiastische Jüngling, der insgeheim auch Gedichte schreibt. „Dummkopf“, ruft mit überraschend strenger und harter Stimme J. Szücs zum Karren hinauf. „Dummkopf! Die Dichter bilden den Scheiterhaufen. Sieh doch hin!“ 137
Und während der Jüngling zum Scheiterhaufen blickt, wo in Pech getunkt und in Abständen von drei Zentimetern, damit der Brand die rechte Luftzufuhr hat, die Dichter aufgeschichtet sind, zieht J. Szücs nun unter seinem Mantel die feuerrote Henkerkutte mit der Kapuze am Kopfteil hervor, zieht sie über und tritt festen, würdevollen Schrittes zum Scheiterhaufen, mit einer Hand hebt er einen dicken, jungen Dichter herab und hält ihn über die marmorne Schüssel, die auf vier Beinen ruht und in der die olympische Flamme lodert, gespeist von brennendem Alkohol, der Dichter beginnt knisternd zu brennen, Flammen züngeln an ihm entlang, und fasziniert sehen all die Romanschriftsteller zu, wie J. Szücs den Dichter auf den Scheiterhaufen zurückwirft. Unter ihnen steht der Romanschriftsteller J. Szücs, und er sieht die Zeit gekommen, jenem anderen J. Szücs, dem in roter Kutte und roter Kapuze, der mit verschränkten Armen über die kleinen Kniffe und Drehs des Handwerks nachsinnt inmitten der Hitze und des Gestanks, eine Frage zuzurufen. „Auf ein Wort nur! Werde ich unsterblich?“ „Unsterblich wirst du nicht“, sagt nachsichtig, doch mit unerbittlicher Aufrichtigkeit der Henker J. Szücs zu dem Romanschriftsteller J. Szücs. „Unsterblich nicht, aber ein Klassiker. Ein Klassiker des Kriminalromans.“
Drittes Kapitel „Tenundgé. Servus, Miklós. Guten Tag“, sagt der eintretende Mann zuerst zu Miguel Navarro Sánchez, dann zu Józsa, aber Józsa läßt ihm keine Zeit, weiterzusprechen, er schlägt zu, wild, wie der Habicht den Eichelhäher schlägt. 138
„Miklós? Sagten Sie Miklós?“ „Ja. Das ist der Miklós Papp. Tamtatam, Miklós“, wiederholt der Mann, Navarro Sánchez zugewandt. „Tenundgé, Hassan.“ Ein erhabenes Gefühl das, ein wunderbares Gefühl der Machtfülle, der Herrschaft, daß Józsa ihm jetzt voll und ganz ausgeliefert ist. Nichts kann er, wenn ich ihm nicht helfe, na los, Józsa, jetzt spring, wenn du kannst … Er kann. Józsa hat seine eigenen Mittel. J. Szücs vermag nur eins, wie er einsieht. Wenn er will, kann er Józsa physisch – beziehungsweise nicht physisch, sondern geistig – vernichten. Dazu ist er berechtigt, beziehungsweise berechtigt nicht, aber er kann es tun. Er bricht den Roman ab, er greift nie mehr zu Józsas Figur. Das wäre möglich. Aber solange Józsa Major der Polizei ist, ist Józsa nicht nur ein dekoriertes Faktotum, besonders nicht beim gegenwärtigen Stand der Ereignisse. Das Faktenmaterial und die Ereignisse mit ihrer Logik gebieten auch einem J. Szücs. Józsa als Romanheld, ja als positiver Romanheld, handelt nach den Gesetzen der Ungarischen Volksrepublik. J. Szücs seufzt. Nun ist es egal. Er macht eine höfliche Bewegung mit seiner freien linken Hand. Bitte. Bitte sehr. „Mein Herr, wir sind hier nicht im Adelskasino. Beantworten Sie meine Fragen. Sie heißen?“ „Pál Harsányi. Ja.“ „Harsányi, früher Haszlacher?“ „So ist es. Und Hassan. Die Jungen in der Schule nannten mich Hassan.“ „Ich verstehe. Und tenundgé, was bedeutet das? Ich habe doch richtig gehört? Sie sind nicht gefragt!“ Denn Miguel Navarro Sánchez hat schon den Mund geöffnet, um Józsa zu antworten. „Tenundgé ist tenundgé. Was es bedeutet, weiß ich nicht. Es war bei uns so eine Art Schulgruß. Keine Ahnung, was es bedeutet.“ 139
„Wissen Sie es?“ fragt Józsa streng den anderen. „Ja“, antwortet Papp. „Harsányi kann es nicht wissen. Es war die Geheimlosung für uns drei, für Laurentis, Hauchling und mich. Ein Teil aus einem alten Kampflied. Gott, der du das Vaterland seit gar vielen tausend Jahren schützt vor Nöten und Gefahren … Verstehen Sie?“ Miguel Navarro Sánchez singt das alte Kampflied, aber Józsa versteht noch immer nicht. „… vor Nöten und Gefahren … Hier kommt diese Stelle vor, ten und Ge. Erst benutzten nur wir drei diesen Gruß, dann übernahmen ihn die anderen, nur so aus Gewohnheit, weil sie ihn von uns gehört hatten. Aber nur wir drei wußten, woher er stammt. Das also ist tenundgé.“ „Ich verstehe. Hat es noch irgendeine tiefere Bedeutung?“ „Nein. Es war nur eine Geheimparole. Eine Losung.“ „Politischer Inhalt? Ich meine, weil es doch ein altes Kampflied ist?“ „Nein. Im Gesangsunterricht wurde diese Stelle betont. Es klang komisch und sinnlos. Deshalb.“ „Nun gut. Das wäre also geklärt.“ Józsa wendet sich Harsányi zu. „Sie behaupten also, daß dieser Herr mit Miklós Papp identisch ist, Ihrem und Laurentis’ ehemaligem Klassenkameraden.“ „Ja. Er ist es auf jeden Fall“, sagt Harsányi. Und zu Papp: „Du hast dich nicht verändert, Miklós. Ich habe dich gleich erkannt.“ „Du hast dich auch nicht verändert, Hassan. Wir sind nur beide ein bißchen älter geworden.“ „Ja. Ein bißchen.“ „Ja. Armer Lauri.“ „Ich hab’s heut’ früh in der Zeitung gelesen. Daß er unerwartet eines tragischen Todes gestorben ist.“ „Beenden Sie Ihr Gespräch jetzt bitte. Sie sind zu einer Vernehmung vorgeladen. Zu einer offiziellen Ver140
nehmung. Ich danke Ihnen, Herr Harsányi, Sie sind fertig. Danke für Ihre Hilfe.“ „Bitte, gern geschehen. Servus, Miklós. Bleibst du noch zu Hause?“ „Beantworten Sie diese Frage nicht!“ „Gut. Servus, Hassan. Danke.“ „Aber wofür denn. Servus. Auf Wiedersehen.“ Harsányi geht. Józsa ruft über sein Telefon Elzike herein und sagt: „Draußen wartet Herr Ruzicska, er ist vorgeladen. Sagen Sie ihm, daß wir ihn nicht mehr benötigen, und danken Sie ihm für seine Mühe. Wenn nötig, bitten wir ihn noch mal her.“ Józsa ist müde und ohne Hoffnung. Auch J. Szücs ist müde und ohne Hoffnung. So zuwider ihm dieser Südamerikaner ist, das schriftstellerische Berufsbewußtsein triumphiert über seine Eifersucht und seine subjektive Abneigung. Miklós Papp alias Miguel Navarro Sánchez wird ihm immer sympathischer. Daß nicht er der Mörder ist, steht fest. Sein Alibi ist knapp, aber mustergültig. Der Pathologe hält es für völlig ausgeschlossen, daß der Mord vor drei Viertel zehn oder nach Viertel elf begangen wurde. Und Tatsachen sind störrisch. Wer hat das mal gesagt? Egal. Störrisch sind sie, unnachgiebig. Ein J. Szücs darf seinen Figuren nicht Gewalt antun. Überhaupt, wem kann J. Szücs Gewalt antun? Der Leser erwartet zu Recht, daß ihm für sein Geld etwas geboten wird. Und zwar, in einem Krimi, vor allem Spannung. Dieser Krimi aber ist bisher seicht, langweilig, trocken. Alles läßt sich vorausberechnen. Nur einen Mörder gibt es nicht weit und breit. Das ist also übriggeblieben von diesem geilen Südamerikaner, den die Gerechtigkeit und J. Szücs’ strafende Hand ereilen sollten. Hübsch. Hauchling war nur ein Traum. Józsa steckt bis zum Hals in der Tunke. Der stellvertretende Minister! Baldige Beförderung! Schnelles Ergeb141
nis! J. Szücs kommen die blödsinnigsten Einfälle. Nicht der Südamerikaner ist der Mörder, sondern sein Zwillingsbruder. Lächerlich. Lächerlich? Zum Totlachen. In der Schulzeitung ist nur ein Miklós Papp abgebildet und vermerkt. Und wenn der Zwillingsbruder in ein anderes Gymnasium ging? Unsinn. Harsányi ist der Mörder, Haszlacher. Oder Ruzicska, der Mathematiklehrer, den Józsa nach Hause geschickt hat. Unmöglich. Bogdán Anasztáz, der Gemüsegärtner? Er hat zufällig von einem Fehltritt des jungen Laurentis erfahren, und eines Tages, als er wieder zwischen seinen Paprikaschoten, Tomaten und jungen Zwiebeln an seinem Stand auf dem Friedensplatz sitzt, schreibt er an Laurentis einen Erpressungsbrief. Daß er zahlen solle. Und Laurentis zahlt nicht. Er lacht nur über den Brief. Deshalb. Oder doch Zsu? Ja. Zsu. Sie hat erfahren, daß Laurentis sie verlassen will, daß er in eine Studentin aus dem ersten Studienjahr verliebt ist. Zsu ließe sich noch aus dem bisherigen Ermittlungsmaterial als Täterin herauskombinieren, zeitlich könnte es stimmen, die Umstände könnten angepaßt werden. Geht nicht. Geht auch nicht. Oder es war doch ein Raubüberfall. Das wäre vielleicht am naheliegendsten. Der Räuber war auch auf der Post, als Laurentis das Bücherpaket abholte, er sah in seiner Brieftasche das Geld, als er sich auswies, er ging hinterher und knallte ihn ab, aber als er ihn ausrauben wollte, wurde er gestört und flüchtete. Und das wäre sogar eine moderne Auflösung. Die einfachste, frei von Psychologie. Um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts errötet jeder bessere Schriftsteller, wenn er das Wort Psychologie hört, schreibt Nathalie in einem romantheoretischen Aufsatz. Mag sein, daß dem so ist, aber es wäre eine erbarmungswürdig billige Auflösung, auch wenn sie frei von Psychologie ist. Wen hätten wir noch? J. Szücs geht in Gedanken nochmals die Namenliste der ehemaligen Klassenkameraden Laurentis’ durch, 142
schaltet zuerst die Toten aus, dann die Ausländer, nimmt sich dann die im Land gebliebenen Leute vor. Keiner paßt. Allgemeine Pleite. Wie wenn eine Patience nicht aufgeht. Eine Möglichkeit gäbe es noch. Eine neue Figur einführen. So in den Roman hineinmogeln, daß sie völlig unverdächtig wirkt, aber von vornherein so aufbauen, daß ein Tatmotiv gegeben ist, und sie dann als Riesenüberraschung dem arglosen Leser, also J. Szücs persönlich, servieren. Aber welchen Sinn hat das Ganze dann? Wenn ich es mir vorher ausdenke und mich am Ende selber damit überraschen will? Wo bleibt denn da die Überraschung? Wie zum Beispiel ginge Faulkner vor? Denn wenn ein J. Szücs für seinen Roman ein Vorbild und methodische Hilfe sucht, dann wendet er sich nicht an Edgar Wallace. Nicht einmal an Agatha Christie. Eher schon an Simenon. Simenon ist gut. Aber Faulkner ist noch besser. Was würde Faulkner tun? Was Faulkner tun würde, ist doch völlig klar. Den gesellschaftlichen Hintergrund umreißen und darin die Figuren entwickeln. In dem riesigen, verfitzten, undurchsichtigen Geflecht dann würde sich plötzlich die Gestalt des Mörders abzeichnen, träte das Mordmotiv zutage. Den Kriminalroman einem griechischen Drama aufpfropfen, wie Malraux über „Sanctuary“ gesagt hat. J. Szücs ist stets ein wenig beeindruckt, wie gut er sich in literarischen Provinzen auskennt. Auch Dostojewski beispielsweise wäre gut, aber bei einem solchen Vorbild müßte er andauernd mit Psychologie jonglieren. Und diese Mühe scheut er. Das ließe ihn erröten. Ordentliches, handfestes Tatsachenmaterial muß her. Materielle Wirklichkeit. Geschichte und Gesellschaft. Oder die einlullend sanfte, anekdotisch glaubwürdige Unerbittlichkeit eines Mikszáth. Wenn man liest, tropft einem zuckersüßer Pfirsichsaft aus beiden Mundwinkeln, aber auf einmal beißt man auf den knochenharten, bitteren 143
Kern. Auch dazu im Herbst ein Spezialkolleg an der Universität, die Grundfragen der Epik. Innere und äußere Methodik der großen Romane des zwanzigsten Jahrhunderts. Klingt ganz gut. Und wird einigen Wirbel verursachen. Etuka kann stolz auf mich sein. Dabei, irgendwie ist die Auflösung im bisherigen Material bereits enthalten, sie steckt irgendwo mittendrin zwischen den Handlungsfäden und Umständen, irgendwo dort verbergen sich der Mörder und sein Motiv. Nur muß ich in diesem Fall leider darauf verzichten, Gott zu sein. Mit diesen Worten werde ich meinen Vortrag beginnen. Ich trete an das Pult, hebe den Arm wie das Petőfidenkmal und sage: Es gibt keinen Gott, liebe Freunde. Es gibt ihn nicht. Und es gibt auch keinen Gott in der Romanliteratur des zwanzigsten Jahrhunderts. Auch der Romanschriftsteller ist nicht länger ein Gott. Jetzt lasse ich den ausgestreckten Arm sinken, hebe ihn vor die Brust und klopfe mir zweimal darauf, ich blicke dem Publikum tief in die Augen, lege eine kurze, aber wirkungsvolle Pause ein und spreche dann in die erwartungsgeschwängerte, spannungsgeladene Stille hinein: Auch ich bin kein Gott. So sonderbar dies für Sie auch klingen mag. Man wird laut lachen, aber was tut es. Das ist nötig. Captatio benevolentiae. Damit gewinne ich die Sympathie der Leute, ich werde für das ganze Studienjahr gewonnenes Spiel bei ihnen haben. Man muß die Kraft aufbringen, offen einzugestehen, daß man auch kein Gott ist. Und ich kann die Kraft aufbringen. Ich steige herab von meinem himmlischen Thron. Ich ja. Hinab zu den Menschen. Mit Etuka beginne ich ein neues Leben. Ich verbiete ihr den Umgang mit Babsi, und wenn sie nicht pariert, sage ich ihr rundheraus, daß ich das nicht länger dulden werde. Sie wird mir ins Gesicht lachen. Du duldest es nicht länger, Ferenc? Ich, werde ich ihr sagen, ich dulde es nicht länger. Ha, ha, ha, wird sie sagen. Und da gebe ich ihr eine Ohrfeige. Zwinge sie 144
in die Knie. Und wir fangen ein neues Leben an. Gegebenenfalls beichte ich ihr sogar Babsi. Und wenn sie sagt, daß sie das längst weiß? Daß Babsi es ihr erzählt hat? Ausgeschlossen ist es nicht, daß Babsi sie eingeweiht hat. Und ich ihnen ausgeliefert bin. Bis sie mich erpressen. Zu zweit. Weil es eine Verschwörung war. Sie erpressen mich, wie der Gemüsegärtner den Professor Laurentis. Der Bogdán. Egal. Trotzdem. Alles aussprechen. Die tückische Einsamkeit, die in den entlegensten Hohlräumen des Herzens ihre Ränke schmiedet, ebenso zum Sprechen bewegen wie das Universum. Und den Roman schreiben. Mit Maschine, auf Papier. Mit einer richtigen Schreibmaschine auf richtiges Papier. Und wenn es fünf Jahre dauern sollte. Jedes Wort, jedes Komma tausendmal prüfen, bevor ich es niederschreibe. Aber dann bröckelt mir der Roman unter den Händen auseinander. Wie auch dieser jetzt. Macht nichts. Faulkner. Und Kafka. Auch er ist nicht mehr tabu. Uferloser Realismus. Da hat alles Platz. Verhalten oder Methodik? Auch die sozialistische Romantik hat Platz. Und strikte, erbarmungslose Glaubwürdigkeit. Ich bin kein Gott. Ich bin ein Mensch. Und wachse somit über mich selbst hinaus. Mein Himmelszelt ist die Klarheit des Verstandes. Ich bin Frau Bovary. Und Ferenc J. Szücs. Als er eines Nachmittags aus dem Büro kam, entschloß sich J., für das Abendessen einzukaufen und die Wohnung dann nicht mehr zu verlassen, sondern die im Büro begonnene Arbeit zu Hause fortzusetzen, die Unterlagen trug er in der Aktentasche bei sich. Er richtete seine Schritte auf den Laden, in dem er auch sonst einzukaufen pflegte, dort kannten ihn die Verkäuferinnen schon, sie grüßten ihn lächelnd und fragten ihn nach seinen Wünschen. Als er vor dem Geschäft stand, bemerkte er verärgert, daß die Jalousie herabgelassen war und ein Pappschild in der Tür hing. Auf dem Schild stand: Wegen Inventur geschlossen. Die nächste Verkaufsstelle 145
befindet sich … und es folgte die Adresse, zwei Straßen weiter. Jetzt darf ich in dieser Hitze noch zwei Ecken weiter traben, dachte J. erbost. Viele Menschen waren unterwegs, die Sonne brannte, obgleich es fast sechs Uhr war, J. trug wie üblich seinen schwarzen Anzug, ins Büro muß man sich ordentlich anziehen, das erwarten die Besucher, und das erfordert das Ansehen vor den anderen Beamten, insbesondere den Unterstellten, dazu weißes Hemd und Krawatte. Hier wird es sein, dachte J. und blieb vor dem Laden stehen, vor den Schaufenstern waren gleichfalls die Jalousien herabgelassen, wahrscheinlich wegen der Hitze, aber die Tür stand offen, also trat er ein. Drin kam ihm alles sehr düster vor, sie sollten wenigstens Licht machen, wenn die Jalousien schon herabgezogen sind, überlegte er. Aber Lampenlicht verbreitet auch Wärme. Tatsächlich, an der Hitze, die draußen herrschte, gemessen, war es im Laden recht kühl. Eine Frau mit grauem Haar, aber jugendlichem Gesicht trat in weißem Arbeitskittel auf ihn zu und fragte ihn nach seinem Begehr. „Ich möchte was zum Abendessen“, sagte J., „Butter, Aufschnitt, ein Weißbrot und etwas Obst.“ Die Frau lächelte bedauernd. „Wir haben leider nur vorverpackte Dauerwaren“, sagte sie und zeigte auf die Warenständer. J. beugte sich ein wenig vor, er mußte den Hals recken, da in dem Halbdämmer nicht eindeutig zu erkennen war, was die Kartons, die er undeutlich sah, enthielten. Die Frau – vielleicht war sie die Verkaufsstellenleiterin, denn sie schien ihm kultivierter als Verkäuferinnen im allgemeinen – trat entgegenkommend zu dem Regal, nahm einen Karton heraus und hielt ihn J. hin. „Babsi-Püppchen“, sagte sie und lächelte. Ihr Lächeln verriet bei aller Höflichkeit eine gewisse Neugier, was der werte Kunde dazu wohl sagen werde. „Sonderqualität“, fügte sie hinzu. „Aber ich möchte etwas zum Abendbrot kaufen“, wiederholte J. befremdet. „Das ist reines Fleisch, mein Herr, zart und 146
doch fest, sehen Sie es sich ruhig näher an“, sagte die Frau, „Brot verkaufen wir nicht, aber ich habe noch ein Stück von meinem eigenen, das will ich Ihnen gerne abtreten.“ J. war so verlegen, daß er nicht wußte, was er antworten sollte. Diese Frau mußte übergeschnappt sein. Er lächelte schüchtern zurück, dunkel entsann er sich, daß man Verrückten nicht widersprechen soll, er nahm den offenen Karton in die Hand, dann sagte er beschwichtigend zu der Frau: „Ein Babsi-Püppchen, in der Tat, ein Babsi-Püppchen.“ In dem Karton lag tatsächlich eine nackte Puppe. Erstklassige Ausführung, dachte er anerkennend, ganz lebensecht, aber zum Abendbrot? „Darf ich?“ sagte die Frau und nahm ihm den Karton aus der Hand, hob die Puppe heraus, hielt sie geschickt mit zwei um die Hüfte gelegten Fingern und zog sie, wie es ihm schien, mit der anderen Hand hinten auf, dann stellte sie sie auf den Ladentisch, die Puppe begann zu laufen, sie drehte sich und hob und senkte dabei die Arme, als tanzte sie. „Wenn man diesen Knopf drückt, kann sie auch sprechen, warten Sie, ich zeige es Ihnen“, sagte die Frau, aber J. fuhr ihr gereizt ins Wort, „nein, danke, nein“, er war sich jetzt sicher, daß die Frau verrückt war, „das hat mir der Arzt verboten. Sind in allen Kartons solche Puppen?“ fragte er, um keinen Argwohn und kein Aufsehen zu erregen. Wer weiß, vielleicht bekäme die Frau plötzlich einen Tobsuchtsanfall und fiele über ihn her. „Große Auswahl haben wir leider nicht, aber diese hier könnte ich Ihnen noch empfehlen. Die letzten Stücke“, antwortete sie und nahm von einem kleineren Warenträger einen anderen Karton. „EtukaPüppchen“, sagte sie und hielt den Karton J. hin. „Nein, danke, so eins habe ich gestern erst gekauft, es ist noch nicht alle“, wehrte J. ab und wäre froh, wenn er erst mit heiler Haut aus dem Laden gewesen wäre. „Ist etwas nicht in Ordnung?“ fragte eine tiefe, ruhige Männerstimme hinter ihm. J. wandte sich um. Er sah dem 147
hochgewachsenen, elegant gekleideten Herrn sofort an, daß er Uniformen gewohnt war, obgleich er jetzt einen dunklen Anzug trug. „Sind Sie Franz J.?“ fragte der Mann in deutscher Sprache. „Jawohl“, antwortete J. ebenfalls in deutscher Sprache und war wütend auf sich, weil er bemerkte, wie er beim Antworten Haltung annahm, als stände er vor einem Vorgesetzten. Dabei ist er höchstens der Verkaufsstellenleiter, dachte er, eventuell ein Kontrolleur von oben. „Haben Sie wirklich schon eine solche Puppe zu Hause?“ fragte der Mann und betonte das Wort wirklich, als zweifelte er daran, daß J. die Wahrheit sagte. „Auf mein Soldatenehrenwort“, beeilte sich J. zu sagen, ärgerlich, daß er sich nicht zu beherrschen verstand und nicht entschieden und empört die Verdächtigung zurückwies, die er aus den Worten des Mannes herausgehört hatte, ja, daß er sich sogar zu einem Ehrenwort hinreißen ließ. „Das ist natürlich eine Faktenfrage“, sagte der Mann lächelnd. „Jederzeit durch uns kontrollierbar. Leider hat die Geschäftsleitung nicht für ein reichhaltigeres Sortiment gesorgt. Mit mehr können wir nicht aufwarten. Ich habe übrigens bereits vorgeschlagen, den Verkaufsstellenleiter zu degradieren. Außerdem wartet ein Disziplinarverfahren auf ihn. Und wir werden sein Gehalt reduzieren. Auf Wiedersehen, Herr J. Beehren Sie uns bald wieder.“ Damit machte er kehrt, ohne J.’s Antwort abzuwarten, und verschwand in den hinteren Räumen. J. blickte die Frau an, sie stand immer noch neben ihm, wortlos und zuvorkommend lächelnd. „Auf Wiedersehen“, sagte J. Sie verbeugte sich schweigend, und J. trat auf die Straße. Aber er hatte kaum ein paar Schritte getan, da bemerkte er, daß er seine Aktentasche auf dem Ladentisch liegengelassen hatte. Er ging zurück, aber er hielt vergebens nach dem Geschäft Ausschau. Wo es hätte sein müssen, befand sich ein Milchladen. Er kaufte Butter, Emmentaler, eine Flasche Joghurt und drei Semmeln zum Abendbrot. Am 148
nächsten Tag stellte sich heraus, daß er seine Aktentasche mit den vorbereiteten Arbeitsunterlagen im Büro auf dem Schreibtisch vergessen hatte. „Haben Sie jemand im Verdacht, Monsieur Papp? Haben Sie irgendeine Vorstellung, wer Laurentis getötet haben könnte? Schließlich waren Sie ja sein Freund“, sagt Józsa und bedeutet Elzike mit einem Kopfnicken, das sie sofort versteht, Kaffee zu bringen. „Allerdings“, antwortet Papp. „Ich bin mir fast sicher, daß der Mörder Hauchling war.“ „Hauchling?! Alfréd Hauchling?“ „Ja.“
Viertes Kapitel 33, waagerecht. Vorname des geistigen Vaters Gullivers, auch Apfelsorte. Ohne zu überlegen schreibt er hin: Jonathan. 33, senkrecht. Bekannter junger Literaturhistoriker und -kritiker. Beginnt mit F, zwölf Buchstaben, der siebente ist ein J. Wer zum Teufel könnte das sein? Er weiß es nicht. Macht nichts, da kommen wir noch drauf. 34, waagerecht. Ägyptischer Sonnengott. Aber den einzutragen hat er keine Zeit mehr, denn neben ihm läutet das Telefon. Langsam hebt er ab. „Leutnant Bodoki“, sagt er, und auf einmal setzt er sich ganz gerade. Er schiebt die Rätselzeitung beiseite, zieht ein Blatt Papier heran und schreibt mit. „Ja. Ich wiederhole den Befehl. Beim Rat der Stadt Veszprém soll festgestellt werden, in wieviel Ausführungen gestern ein Geburtenregisterauszug auf den Namen Papp, Márton, mit zwei p, ausgestellt wurde, geboren den zehnten Mai achtzehnhundertvierundachtzig, Name der Mutter: Cecilia Rosenblatt, des Vaters: Mór Popper. Ich 149
wiederhole: Papp, Márton, mit zwei p, geboren den zehnten Mai achtzehnhundertvierundachtzig. Ich habe verstanden.“ Dann lauscht er angestrengt. Um schließlich einzuwerfen: „Es gibt nur eine Schwierigkeit, Genosse Józsa. Heut ist Sonnabend, drei Uhr nachmittags. Beim Rat der Stadt wird niemand anzutreffen sein.“ Wieder schweigt er. „Ich verstehe, notfalls unter dem Erdboden hervor. Ich bin schon unterwegs.“ Er legt auf. Einen Augenblick zögert er, ob er den ägyptischen Sonnengott noch eintragen soll, zwei Buchstaben, aber dann siegt das Pflichtbewußtsein. Ja, das erinnert schon an Faulkner. J. Szücs beschließt, daß er sich jetzt nicht mit Einzelheiten aufhalten wird, nur ganz nebenbei skizziert er sich den Sonnabendnachmittag in Veszprém, die vor Hitze vibrierende Luft, die fast leeren Straßen, Bodoki, wie er zum Rat der Stadt geht, vom Pförtner erfährt er, der Ratsvorsitzende sei mit seiner Familie nach Balatonalmádi baden gefahren, der Stellvertreter nach Csopak, Bodoki geht zur Polizei zurück und bittet um einen Wagen, schon eine halbe Stunde später läßt er am Badestrand den Ratsvorsitzenden ausrufen, der Vorsitzende kommt in nasser Badehose, von ihm erfährt Bodoki, die Leiterin des Standesamtes heiße Mária Ikkán. „Ach, die Tante Mariska“, sagt Bodoki, „die kenne ich doch“, er bedankt sich, steigt wieder in den Wagen, fährt nach Veszprém zurück und zu Tante Mariskas Wohnung, aber sie ist nicht zu Hause, die Nachbarin, eine gewisse Frau Hackel, zuckt die Schultern, er solle es bei ihrem Schwiegersohn versuchen, Lajos Rubletzky, er wohne irgendwo am Ende der Kossuthstraße, Bodoki findet hin, Tante Mariska kommt aus dem Badezimmer, denn sie geht jeden Sonnabend zu ihrer Tochter, um ein Bad zu nehmen, aber sie erinnert sich nicht, Bodoki wartet, bis sie sich ordentlich abgetrocknet und angezogen hat, dann gehen sie ins Standesamt, Tante Mariska schlägt das Register auf, 150
jetzt fällt es ihr ein, das war gestern, deshalb hat sie sich nicht gleich erinnert, aber jetzt weiß sie es wieder, der eine war einer mit Brille, er holte sich am Nachmittag den Registerauszug ab, der andere kam fünf Minuten, nachdem der erste gegangen war, es tue ihr leid, sagte Tante Mariska zu ihm, den Auszug könne sie erst zum nächsten Tag, also zu heute, zu Sonnabend, anfertigen, Sonnabend sei allerdings keine Sprechstunde, aber der Mann bettelte, er verreise, sie solle doch so freundlich sein, er werde sich erkenntlich zeigen, „aber was bilden Sie sich denn ein!“ sagte Tante Mariska empört, woraufhin der Mann, ein großer Mann mit leicht ergrauendem Haar und sehr gerader Haltung, lächelte, er habe ihr nicht zu nahe treten wollen, er wünsche nur ihre zusätzliche Mühe zu honorieren, denn er bitte sie ja um eine persönliche Gefälligkeit, doch Tante Mariska kennt in solchen Dingen keinen Spaß, „ich könnte nicht mehr in den Spiegel gucken, wenn ich so was täte“, sagt sie zu Bodoki. „Morgen vormittag, zehn Uhr, habe ich zu ihm gesagt, es ist trotzdem gegen die Vorschriften, denn sonnabends haben wir keine Sprechstunde“, der Mann bedankte sich und ging, aber am Sonnabend um zehn habe sie vergeblich gewartet, er kam nicht, bitte, da sei der andere Geburtenregisterauszug, Márton Papp, mit zwei p, geboren am 10. Mai 1884, Mutter: Cecilia Rosenblatt, Vater: Mór Popper. „Die Arbeit war umsonst“, sagt Tante Mariska zu Bodoki, der ein ambitiöser junger Mann ist. Wieder in seinem Büro sitzend, schreibt er erst einmal einen Entwurf von seinem Bericht nieder, den er telefonisch geben wird, dann schreibt er den Entwurf sauber ab, neben ihm liegt die aufgeschlagene Rätselzeitung, er würdigt sie keines Blickes, solange die Arbeit nicht getan ist, den abgeschriebenen Bericht liest er noch zweimal durch, hier und da fügt er eine Korrektur ein, er zündet sich eine Zigarette an, drückt sie wieder aus und greift zum Telefon. 151
„Verbinden Sie mich mit dem Präsidium in Budapest, Major Józsa“, sagt er. „Aber dringend. Sehr dringend.“ Das arbeitet J. Szücs nicht aus, das bleibt eine hingeworfene Skizze. Später, wenn er den Roman schreibt, wird er detailliert, breit ausgemalt und schwelgerisch diesen sommerlichen Sonnabendnachmittag in einer Kleinstadt schildern, den Badestrand, die Charaktere, wie sich der Ratsvorsitzende in triefender Badehose den Kopf kratzt, als er vor Bodoki steht, den Plattensee, wie die Sonnenstrahlen auf der grüngrauen, glatten Wasserfläche funkeln, das bunte, farbige Bild der Badegäste, aber jetzt will er nicht ins Detail gehen, jetzt genügt ihm das als Andeutung. Und wie hübsch er sich selbst in die Ecke des grandiosen Gemäldes gemalt hat, bescheiden, unausgesprochen, aber er ist anwesend. Wie die großen italienischen Meister der Renaissance, denkt er zufrieden. Bekannter junger Literaturhistoriker und -kritiker. Beginnt mit F, zwölf Buchstaben, der siebente ist ein J. Hervorragend. Dieser Bodoki ist eine gute Figur. Dankbares Material. Ja, das ist bereits ein bißchen Faulkner. So macht man das. Eine neue, überraschende Situation einbringen, irgendwo weit weg, mit einer neuen Figur, diese durch ihre Handlungen begleiten, dann mit einer unerwarteten Kurve, wenn die Zwischenzeit vergangen ist, zum Ausgangspunkt zurückkehren, und inzwischen hat sich was verändert, der Leser weiß etwas Neues, etwas wesentlich Neues, wie hier zum Beispiel, daß auch Hauchling auf dem Veszprémer Standesamt gewesen ist, ein paar Minuten nach Miklós Papp, aber er hat den Registerauszug nicht bekommen, beziehungsweise er hat ihn sich am Sonnabend nicht abgeholt. Der Ivo Andrić ist allerdings auch nicht schlecht. Das ist auch eine Epik, die sich breit dahinwälzt. Wenn auch eher wie orientalisches Märchenerzählen, wie aus Tausendundeiner Nacht, deren moderne, erneuerte Variante, der sogenannte Schubkastenroman, roman á tiroir, wie 152
die verschiedenen Storys miteinander verknüpft sind, ähnlich wie die arabische Schrift, weitschweifig, überladen, in der einen Story erzählt jemand eine weitere Story, in der wieder jemand eine Story erzählt, die mit der ersten zusammenhängt, das ist auch keine üble Methode, das ist im wesentlichen auch nichts anderes als das, was Faulkner macht, und Faulkner würde es so machen, daß Józsa nachts im Bett liegt, im anderen Bett liegt Mórika, Józsa spricht, er erzählt ihr, was den Tag über im Büro los war, die spannende Geschichte, die ihm Miklós Papp erzählt hat, während sie auf den Bericht aus Veszprém warteten, ob Hauchling dort war, und auf den aus Hegyeshalom, ob Hauchling ausgereist oder noch im Lande ist, aber an der Grenze wußte man nichts, der Bericht war schon nach Budapest weitergeleitet worden, Józsa schickte Lakatos los, Vicenik zu suchen, aber Vicenik war auch nicht zu Hause. Wer ist in solch gnadenloser Hitze an einem sommerlichen Sonnabendnachmittag schon zu Hause! Kurz und gut, während dieses dringende, angespannte, nervenzerreißende Suchen und Ermitteln im Gange war, um Hauchling zu schnappen, hat ihm Miklós Papp die Geschichte erzählt, die Józsa seiner Frau nachts aber leider nicht weitererzählen kann, wie Faulkner es gemacht hätte, denn es gibt ja die Wachsamkeit, Józsa spricht zu Hause nicht mit Mórika über Dienstliches, er weiß: was jemand nicht weiß, das macht ihn nicht heiß, darüber kann er nicht reden. Józsa plaudert also nichts aus. Direkt zu schreiben, so also, wie Papp es erzählt, ist langweilig und altmodisch, aber doch eine bewährte Romanmethode, J. Szücs ist schon drauf und dran, diese Methode anzuwenden, aber da fällt ihm eine bessere Lösung ein, er wird Papp auf Tonband sprechen lassen, was zudem den Vorteil hat, daß der Text nicht an die Romanzeit gebunden ist, Józsa kann das Tonbandgerät jederzeit einschalten, und letztlich kann er sich die Passage abspielen, die er will oder die er gerade braucht. 153
Ein schönes Beispiel dafür, denkt J. Szücs, als hielte er an der Universität eine Vorlesung, wie eine Errungenschaft der modernen Technik in der Romantechnik funktionelle Bedeutung erhält. Aber jetzt spricht Papp, auf Tonband, es ist Sonnabend, der 18. Juli, fünfzehn Uhr, bei Józsa in dessen Dienstzimmer, während Bodoki Veszprém abklappert, um die gewünschten Informationen zu bekommen. „Ich bin in Veszprém geboren“, beginnt Papp die Geschichte, „ebenso wie Laurentis und Hauchling. Aber als Kinder kannten wir uns nicht, erst am Gymnasium in Budapest entdeckten wir, daß wir aus derselben Stadt stammten. Daraus entstand dann unsere Freundschaft. Veszprém ist zwar eine fromme Stadt, doch mein Vater, der dort ein Uhrmachergeschäft hatte, bekam zur Zeit des weißen Terrors Schwierigkeiten, weil er Jude war, und ähnlich erging es Laurentis’ Vater, wie sich später herausstellte, ihm allerdings aus anderen Gründen. Ungefähr zur gleichen Zeit siedelten wir auch nach Budapest über, mein Vater eröffnete dort ein Uhren- und Schmuckgeschäft. Das Geschäft ging gut, mein Vater spezialisierte sich hauptsächlich auf Edelsteine, der Umsatz ermöglichte es ihm, sich dieses Hobby zu leisten, außerdem hatte er keine Lust, sich mit Kleinkram abzugeben, er gründete Filialgeschäfte, eins auch in Szeged. Im Sommer neunzehnhundertsechsundzwanzig machten wir einen Monat Ferien in Abbazia, dort lernte mein Vater den holländischen Juwelier Jan Van Doorn kennen, sie verstanden sich ausgezeichnet, freundeten sich an und nahmen auch Geschäftsverbindungen zueinander auf. Später besuchte uns Van Doorn mehrmals in Budapest, immer war er unser Gast. Mein Vater sprach zwar kaum darüber, aber Van Doorn kam nicht nur wegen der Geschäfte nach Budapest, sondern auch, um seine Freundin Mária Zucker zu besuchen. Sie war rund dreißig Jahre jünger als er, aber das kümmerte ihn wenig, 154
und als neunzehnhundertsiebenunddreißig seine holländische Frau in Delft starb, nahm er Mari mit und heiratete sie. Kinder hatten sie nicht, auch Van Doorns erste Ehe war kinderlos geblieben. Mari wurde, solange sie in Budapest lebte, in Van Doorns Auftrag von meinem Vater unterstützt, natürlich in vornehmer Form, das mag Anfang der dreißiger Jahre gewesen sein, da war ich mit Hauchling und Laurentis bereits dicke befreundet, mein Vater eröffnete deshalb bei der Bank des alten Hauchling, der Kredit- & Transferbank, ein Konto für Mari, von dem sie in jedem Monat ihre Apanage erhielt. Der Vereinbarung entsprechend richtete Van Doorn für meinen Vater ein Konto, genauer: ein Konto und einen Safe, bei einer schweizerischen Bank ein, dorthin überwies er zum einen den Gegenwert der Beträge, die mein Vater monatlich über die Hauchlingsche Bank an Mari Zucker zahlte, und zum anderen die Hälfte der Gewinne aus den im Lauf der Jahre zustande gekommenen gemeinsamen Geschäften, beziehungsweise er deponierte in dem Safe bestimmte Edelsteine und Werte. Sowohl das Konto als auch der Safe liefen nicht unter einem Namen, sondern unter einer Chiffre. Darf ich Sie bitten, Herr Major, mir eine Zigarette anzubieten?“ „Bitte“, sagte Józsa, „bedienen Sie sich, wann immer Sie mögen.“ Dann sagt er Elzike noch Bescheid, sie solle zwei starke Kaffee kochen. Papp nimmt einen tiefen Zug, dann fährt er fort: „Unsere Freundschaft mit Laurentis und Hauchling nahm eine merkwürdige Entwicklung. Das Verhältnis zwischen uns drei war interessant. Obgleich wir nie darüber sprachen, fühlte ich mich eher zu Hauchling hingezogen, Laurentis sich zu mir und Hauchling sich auf gleiche Weise zu uns beiden, er achtete sogar taktvoll darauf, daß es zwischen uns nicht zu Eifersüchteleien kam. Das war bei ihm vermutlich eine instinktive Haltung, er war es seit seiner Kindheit gewöhnt, daß alle für ihn schwärmten, er 155
sah sehr gut aus, ich zum Beispiel fühlte mich immer geschmeichelt, wenn jemand eine Anspielung machte, ich sähe Hauchling ähnlich. Wir waren uns auch ähnlich, aber nur äußerlich. Hauchling war stets eine ausgeprägte Persönlichkeit, ich nicht, oder zumindest fühlte ich mich im Vergleich zu ihm blaß und alltäglich. Anders Lauri. Lauri machte sich über dergleichen lustig. Er war auch eine starke Persönlichkeit, aber nicht auf Hauchlings Weise. Lauri war klug. Wir wußten nie, wann er lernte, ihn sah nie jemand pauken, nicht mal lesen, dennoch hatte er alles immer schon gelesen, wenn die Rede auf Bücher kam, und im Unterricht bereitete ihm kein Stoff irgendwelche Schwierigkeiten.“ Józsa konnte nicht an sich halten, er unterbrach Papp. „Stell dir vor, Laurentis, du seiest ein participium praesens im Genitiv …“ „Woher wissen Sie das?“ fragte Papp und lächelte verblüfft. „Wir leben nicht vom Däumchendrehen“, brummte Józsa bescheiden. „Fahren Sie bitte fort. Entschuldigen Sie die Unterbrechung.“ „Hauchling war hübsch, vornehm, reich und klug. Ich war wohlhabend und klug, aber nur auf meine Weise. Lauri war arm, aber in Sachen Grips steckte er uns beide in den Sack. Für Hauchling schwärmten die Mädchen. Sie kennen den Männertyp, Herr Major, immer ein wenig erhaben und distanziert, aber nett und lächelnd, nach solchen sind die Frauen närrisch. Hauchling war vierzehn, als ihn eine echte Gräfin verführte. Wir wußten selbstverständlich schon am nächsten Tag davon, und wir veranstalteten eine große Sause, in der Dobstraße Ecke Rottenbillerstraße gab es ein Wirtshaus, das Kreuz-Sieben, dort hatten wir den hinteren Raum für uns, wenn wir ihn brauchten, Hauchling spickte den Zapfer, für uns war das die Kneipe Zum Admiral Benbow, Hauchling war John Silver, er hinkte an einer ge156
dachten Krücke, als hätte er ein Holzbein, manchmal schnauzte er den gedachten Papagei an, der auf seiner Schulter hockte, wir setzten uns an einen Tisch, wir drei allein im ganzen Raum, und bestellten drei Himbeerbrausen und fünfzig Gramm Rum, den verteilten wir auf die Brausen, dann sangen wir eins, über uns hingen Schilder, Hier wird nicht gepumpt, darunter Singen und Lärmen polizeilich verboten, wir sangen Zu siebent auf dem Totenschiff, yo-ho-ho, und eine Buddel Rum, bis daß uns dann der Satan holt, yo-ho-ho, und eine Buddel Rum. Und dann mußte Hauchling erzählen, haarklein, wie es mit der Gräfin war.“ „Entschuldigen Sie“, warf Józsa ein, „aber nach Möglichkeit ein bißchen kürzer. Das Wesentliche, wenn ich bitten darf. Nur das Wesentliche.“ „Selbstverständlich. Also, die Mari Zucker. Ich verliebte mich in sie. Mari war Verkäuferin in einem Geschäft meines Vaters, ich kannte sie schon des längeren, aber nur vom Sehen, sie war mir völlig schnuppe gewesen, bis mein Vater sie mit Van Doorn zu meinem sechzehnten Geburtstag einlud. Das war neunzehnhundertdreißig. Da erfuhr auch ich, wie es ist. Ich war sechzehn, Mari zweiundzwanzig, Van Doorn einundfünfzig. Er fuhr nach einer Woche nach Delft zurück, ich rief Mari am nächsten Tag im Geschäft an und sagte, ich hätte etwas Wichtiges mit ihr zu bereden, ich würde nach Ladenschluß auf sie warten. Hauchlings hatten eine Villa auf dem Schwabenberg, die im Herbst und im Sommer nicht genutzt wurde, dorthin brachte ich sie, ich hatte mir von Hauchling den Schlüssel geben lassen. Ich hatte es, nicht schwer, aber auch nicht leicht. Mari befürchtete, mein Vater und Van Doorn könnten es erfahren. Doch diesbezüglich konnte ich sie beruhigen. Unser Verhältnis dauerte bis zum Januar neunzehnhundertzweiunddreißig, da verliebte sich Mari in Hauchling, dem sie ihm einmal in der Bank begegnete, als sie ihre 157
Apanage abhob. Hauchling sprach sie an, es zeigte sich, daß Mari mich kannte, später meinte Hauchling, er hätte mir Mari aus Rache ausgespannt, weil ich sie ihm und Lauri unterschlagen hätte. Es traf mich hart, aber ich gab mir Mühe, das nicht zu zeigen.“ „Das ist Ihre Privatsache, Herr Papp. Ich will Ihre Gefühle nicht verletzen, aber Sie müssen verstehen, die Zeit drängt. Nur das Wesentliche, bitte.“ „Gut. Das Wesentliche.“ Papp ist ein wenig verärgert. „Das Wesentliche ist dann wohl, daß ich mich mit Mari erst nach unserem Abitur wieder aussöhnte, als Hauchling zum Studium ins Ausland ging. Nach dem Abitur nämlich löste sich das Dreigespann auf. Lauri studierte in Szeged, Hauchling im Ausland, ich blieb in Budapest, manchmal half ich meinem Vater in Geschäftsdingen, aber meistens machte ich gar nichts. Inzwischen fand mein Vater heraus, daß ich ein Verhältnis mit Mari hatte, er schlug einen Riesenkrach. Er sorgte sich um seine geschäftlichen Beziehungen zu Van Doorn. ‚Ich bau dir deine Zukunft auf, und du willst einreißen, was ich aufbaue! Hast du den Verstand verloren? Gibt es nicht genug andere Frauen auf der Welt, muß es gerade die Mari sein?‘ Ich versuchte selbstbewußt zu reagieren, aber das zog bei meinem Vater nicht. Das war vielleicht vierunddreißig. Ja, vierunddreißig. Dreiunddreißig hatte ich als Freiwilliger mein Militärjahr abgedient. Danach verbrachte ich ein Jahr in Paris, an der Sorbonne, dort hatte ich eine spanische Freundin, von ihr lernte ich Spanisch. Fünfunddreißig kam ich zurück, sechsunddreißig lebte ich sechs Monate in Wien, dort war ich wieder viel mit Hauchling zusammen, aber inzwischen lachten wir darüber, daß ich seinetwegen auf Mari, eifersüchtig gewesen war. Siebenunddreißig heiratete Mari und ging nach Delft. Mein Vater begann sich wegen der politischen Lage Sorgen zu machen. Er wollte mich in Sicherheit wissen. ‚Es genügt nicht, mein Sohn, wenn du kon158
vertierst, heut muß man Arier sein in Europa‘, sagte er. Ohne mir etwas davon zu sagen, betrieb er meine Arisierung. Über Van Doorn stellte er irgendeinen Kontakt zum nikaraguanischen Konsulat in Antwerpen her, als Van Doorn einige Tage in Ungarn weilte, gab er ihm ein paar Fotos von mir mit, und im März achtunddreißig reiste ich mit ungarischem Paß nach Belgien. Van Doorn erwartete mich in Brüssel und händigte mir einen nikaraguanischen Paß mit meinem Bild und holländischem Visum aus, der Paß lautete auf den Namen Miguel Navarro Sánchez. Gemeinsam reisten wir nach Utrecht, dort begann ich unter meinem neuen Namen zu studieren. In meiner Utrechter Wohnung waren ein paar Parkettstäbe locker, darunter verbarg ich meinen ungarischen Paß. Van Doorn besaß einen Wagen und ein Häuschen am Meer, zwischen Middelburg und Vlissingen, dort traf ich mich manchmal mit Mari, aber nur selten. Ich wußte, daß sie immer noch Hauchling liebte. Die Beziehung zwischen uns war jetzt eher freundschaftlich, zwei Landsleute in der Fremde. Wir paßten gut auf, daß ihr Mann nichts bemerkte. Neununddreißig dann brach der Krieg aus. Van Doorn bestellte mich zu sich und teilte mir im Auftrag meines Vaters die Sache von dem Safe und dem Konto in der Schweiz mit. Er bat mich, beides nicht anzurühren, er werde alle meine Auslagen decken, das sei der Wunsch meines Vaters. ‚Das Geld und die Werte in der Schweiz werden wir alle nach dem Krieg noch gut gebrauchen können‘, sagte er. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch daß die Zahlenkombination des Safes und des Kontos übereinstimmten und daß außer ihnen beiden niemand sie kennen durfte, die Kombination bestand aus zwei Zahlengruppen, die erste war die Registriernummer der Geburtsurkunde Van Doorns, die zweite war die gleiche Nummer der Geburtsurkunde meines Vaters. Ob Mari die Kombination kannte, wußte ich damals nicht. Im Frühjahr neunzehnhundertvierzig 159
besetzten die Deutschen Holland, eine Woche später wurde Van Doorn verhaftet, ich habe ihn nie wiedergesehen, drei Tage danach wurde auch Mari abgeholt. Ich wohnte zu dieser Zeit in Van Doorns Vlissinger Haus und bereitete mich auf die Prüfungen vor. Als ich nach Utrecht zurückkehrte, war das Haus, in dem ich wohnte, von einer Bombe zerstört, mein ungarischer Paß war dahin, ich befand mich als Jude mit falschem nikaraguanischem Paß auf deutschem Gebiet, ich konnte also auch zu meinem Vater keine Verbindung aufnehmen, ohne mich Gefahren auszusetzen, mein Vermögen belief sich auf eintausenddreihunderteinundzwanzig Gulden und fünfzig Cent.“ „Ich verstehe“, sagt Józsa. „Sehen Sie, Herr Papp, das war das Wesentliche. Aber leider wissen wir immer noch nicht, ob Hauchling in Veszprém war, und ebensowenig, ob er sich noch in Ungarn aufhält.“ Er blickt zur Uhr. Erst zwölf Minuten nach vier. Erst? Schon.
Fünftes Kapitel „Sagen Sie, Herr Major, habe ich eigentlich schon die Aktien für das Uranbergwerk in Katanga erwähnt?“ „Nein, noch nicht.“ „Aber dann können Sie ja noch gar nichts verstehen. Und alles, was ich gesagt habe, ist weit davon entfernt, Wesentliches zu sein. Aber gehen wir der Reihe nach.“ Józsa seufzt tief auf. Da sich aber weder Veszprém meldet, noch Vicenik, bleibt ihm nichts übrig. Schön. Gehen wir der Reihe nach. Der Südamerikaner ist ein wenig geschwätzig. Józsa interessiert sich für Hauchling, die Geschichte, auch für die Erklärung, vor allem aber 160
für die Person Hauchlings. Ihn will er haben. Um dem stellvertretenden Minister ein Ergebnis auf den Tisch legen zu können. Aber nein, er muß stillsitzen und sich phantastische Geschichten anhören. Zum Verrücktwerden. J. Szücs hat volles Mitgefühl für Józsa, aber er kann leider nichts für ihn tun. Was soll ich machen, wenn meine schriftstellerische Phantasie nun mal so funktioniert? Diese Geschichte ist Träger der gesellschaftlichen Aussage. Oder noch nicht? Egal. Das ist jetzt nicht wichtig. Das wird sich später entscheiden. Wichtig ist die Story. Das große historische Gemälde des vom Krieg heimgesuchten Europas. Er gibt Józsa einen Wink, daß er das Tonbandgerät wieder einschalten soll, wartet, bis es geschehen ist, und erteilt von neuem Miklós Papp alias Miguel Navarro Sánchez das Wort. „Herr Major, sagen Sie mir, aber ganz offen, was hätten Sie an meiner Stelle getan damals in Holland, im Mai neunzehnhundertvierzig, in einer solchen Situation?“ „Ich glaube, ich hätte mich der Widerstandsbewegung angeschlossen.“ „Diese Idee ist mir gar nicht gekommen. Vielleicht auch, weil es zu dieser Zeit noch keine Widerstandsbewegung gab. Sie organisierte sich erst später. Aber da war ich nicht mehr in Holland. Ich legte meine Prüfungen ab, inzwischen war mir klar geworden, daß ich auf irgendeine Weise in ein nicht in den Krieg verwickeltes Land gelangen mußte, und als solches gab es weit und breit nur Spanien. Ich wußte nur noch nicht, wie ich dorthin kommen könnte. Ich sprach Niederländisch, Deutsch, Spanisch und Französisch, natürlich auch Ungarisch, aber das wandte ich nie an, ich wollte nicht riskieren, erkannt zu werden, man hätte mich nach Ungarn abgeschoben. Ich meldete mich als Dolmetscher. Bei den Deutschen. Ja, bei den Deutschen. An der Utrechter 161
Universität hatte ich einen deutschen Kommilitonen, der damals bereits Chef der nazistischen Jugendorganisation in Holland war, er vermittelte mich, aber ich wurde nicht als Dolmetscher eingestellt, sondern als Zensurbeamter. Ich hatte die spanischen und französischen Briefe der Zivilbevölkerung zu zensieren.“ Gleich halb fünf. Józsa kann seine Ungeduld kaum bezähmen. Doch er läßt sich nichts anmerken. Nur einen Augenblick lang hatte er sein inneres Gleichgewicht sichtlich verloren, als Papp ihm unumwunden sagte, er verdächtige Hauchling des Mordes. Da konnte sich Józsa nicht beherrschen, er öffnete hastig das Dossier, das ihm Vicenik gebracht hatte, und knallte es Papp vor die Nase. „Sehen Sie es durch! Ist er dabei? Welcher ist es?“ Papp öffnete das Dossier. „Das hier oben bin ich.“ „Ich weiß. Und Hauchling? Welches ist Hauchling?!“ Papp blätterte gelassen die übrigen elf durch. Beziehungsweise nur sieben. Der achte war Hauchling. Das heißt, Dr. Hans Stefan Huber, schweizerischer Rechtsanwalt. Geboren 1913 in Winterthur. „Sind Sie sicher, daß er es ist? Sie irren sich nicht?“ „Na, hören Sie! Den Hauchling verwechsle ich wirklich nicht.“ „Was meinen Sie, würde Harsányi ihn auch wiedererkennen?“ „Mag sein. Jetzt trägt er einen Schnurrbart, damals hatte er noch keinen. Ansonsten hat er sich kaum verändert. Zumindest für mich nicht.“ „Hören Sie, Herr Papp. Ich weiß, daß nicht Sie Laurentis ermordet haben, leider, ich habe Beweise dafür. Aber formell werden Sie vorläufig noch als Verdächtiger in Haft gehalten. Verstehen Sie mich recht. Einen Ausländer habe ich irrtümlich schon festgenommen. Einen zweiten darf ich nicht riskieren. Ich brauche einen Beweis.“ „Haben Sie nicht ein altes Foto von ihm?“ 162
„Nein. Wir haben nur ein rechtes Ohr von ihm. Lakatos! Elzike, holen Sie mir den Lakatos herbei, sofort! Und ein Anruf bei den Grenzübergangsstellen. Doktor Hans Stefan Huber ist vorläufig aufzuhalten, falls er ausreisen will, unter irgendeinem Vorwand. Aber höflich! Das wär’s. Schicken Sie mir den Lakatos!“ Drei Minuten später trat Lakatos ein. Józsa hielt ihm wie ein Jongleur das ausgefüllte Formular mit dem Foto in der einen oberen Ecke hin und sagte nur: „AnselmRabóczy!“ Lakatos’ Gesicht erstrahlte wie die aufgehende Sonne. „Anselm-Rabóczy! Die Hautfalten und die Läppchen des Ohres?“ „So ist es. Und zwar unverzüglich! Es geht um Sekunden.“ Lakatos stürmte mit dem Formular davon. Und da bat Papp den Major, nach Veszprém zu telefonieren und nachzufragen, ob sich Hauchling beim Standesamt einen Auszug aus dem Geburtenregister besorgt habe. Auch das sei ein Beweis, wenn auch nur ein indirekter. Józsa rief also in Veszprém an. Da war es drei Uhr. Und jetzt ist es gleich halb fünf. Keine Nachricht von der Grenze, Vicenik unternimmt einen Ausflug oder ist schwimmen gegangen, der ganze Apparat scheint zu stehen, Lakatos war wieder hier, die Anselm-Rabóczysche Untersuchung hat zweifelsfrei ergeben, daß der schweizerische Rechtsanwalt Dr. Hans Stefan Huber mit dem Besitzer des rechten Ohres identisch ist, das auf dem Abiturfoto mit …ling, Alfréd signiert ist. „Ein Glück, daß er uns auf dem Paßfoto nicht das linke Ohr hinhält“, meint Lakatos mit erleichtertem Seufzen. Miklós Papp ist derweil gerade Spanisch-Zensor der Nazis im besetzten Holland, er trägt den Namen Miguel Navarro Sánchez. 163
Józsa hat das Gefühl, als stiebten ihm vor Nervosität winzige Funken aus der Nasenspitze. Aber er hat sich in der Gewalt. Gemächlich zündet er sich eine neue Zigarette an, auch Papp darf sich bedienen, ja, er holt sogar aus dem hintersten Winkel seines Schreibtischs den sorgsam gehüteten Repräsentationsschnaps und zwei Gläschen, füllt sie und stößt mit Papp an. „Auf Ihr Wohl!“ „Zum Wohl, Herr Major.“ Papp kippt den Kognak. „So, dann werde ich jetzt weitererzählen.“ Jawohl! Etuka ist tot. Gut so. Babsi ist tot. Zum Teufel mit ihr. Professor Lóránt ist tot. Wen interessiert das? Beziehungsweise tot sind sie alle nicht, sie leben jetzt nur nicht für J. Szücs. Es gibt sie nicht. Und das ist so, als wären sie gestorben. Das ist das reine Glück. Eitles, sonnenbeschienenes Glück. Nein, ganz wolkenlos ist dieses Glück nicht mehr, denn von Osten her schwebt mit langsamen Flügelschlägen in der Uniform eines deutschen Feldwebels der Kaschauer Lehrer Jakubovits herbei, fliegt schnell ein paar Ehrenrunden über der französischen Stadt Amiens, landet dann und setzt sich auf die Terrasse des Lokals Chez Paul, wo er ein Glas Rotwein bestellt und auf Miklós Papp zu warten beginnt, der derzeit noch Spanisch-Zensor in Holland ist. Oder nicht mehr? „Meine Zensurtätigkeit dauerte nicht lange. Nicht länger, als bis ich einige abgestempelte Formulare abgestaubt hatte, das war nicht leicht, aber auch nicht sonderlich schwer. Dann ließ ich mir drei Tage Urlaub geben, um beim nikaraguanischen Konsulat in Antwerpen die Gültigkeit meines Passes verlängern zu lassen. Bis Antwerpen reiste ich offiziell, von dort aus weiter mit den inzwischen ausgefüllten falschen Papieren, also illegal, und zwar zuerst nach Lille und dann nach Amiens.“ Wachsende Besorgnis bemächtigt sich J. Szücs’; wenn Papp und Jakubovits sich dort begegnen, wird ihn kein 164
Gott zurückhalten können, Jakubovits’ Geschichte in die ohnehin schon überladene Handlung des Falles Laurentis einzubauen. Recht bedacht allerdings, ließe sich Faulkner von solchen äußerlichen Gesichtspunkten nicht beeinflussen. Er würde drauflos erzählen, wie es ihm in den Sinn kommt. Na schön, denkt J. Szücs bescheiden, aber ein echter Faulkner bin ich eben noch nicht. Faulkner wüßte, wie er für Jakubovits eine wesentliche Funktion in Miklós Papps Geschichte konstruieren könnte, J. Szücs hingegen hat noch keinen blassen Schimmer. Überlassen wir’s der Zukunft. Wie viele Milliarden Fäden muß der Zufall an einem einzigen Punkt zusammenführen, damit sich zwei Menschen im vom Kriege überzogenen Europa in einer nordfranzösischen Stadt auf der Terrasse eines Lokals begegnen! Wenn ein einziger Faden nicht stimmt, ist es schon aus. Dann begegnen sie sich möglicherweise niemals. Und da kommt J. Szücs die rettende Idee. Die Deutschen haben ja die Sowjetunion noch nicht überfallen! Riga ist noch Hauptstadt der Lettischen Sowjetrepublik, Jakubovits lebt noch glücklich und zufrieden in Riga, er kann sich gar nicht in Amiens aufhalten, als Papp dort durchreist. So, noch mal davongekommen. Vielleicht später, in zwei Jahren. Vorher greifen die Deutschen die Sowjetunion an, besetzen Riga, und Jakubovits … Lassen wir das jetzt, gut? Józsa sitzt wie auf Nadeln und hört sich Papps Schaudergeschichte an, und von Hauchling in dieser keine Spur. „Aber Hauchling! Was ist mit Hauchling? Berichten Sie darüber. Wann kommt Hauchling?“ „Hauchling? Erst im August neunzehnhundertvierundvierzig.“ „Ach ja. Da wurde er im Sommer noch in Budapest gesehen.“ „Na bitte. Aber ich will Ihre Geduld nicht überstrapazieren, Herr Major. Lille – Amiens, Amiens – Paris, Paris – Bordeaux, Bordeaux – Hendaye, dort nahm ich mir 165
ein sauberes Blatt Papier mit nicht mehr als einem Sonderstempel der Gestapo, und auf das Blatt schrieb ich: Zur Kenntnisnahme für alle zuständigen Dienststellen! Der Überbringer dieses Dokuments, Miguel Navarro Sánchez, befindet sich auf einer besonders wichtigen Geheimdienstreise. Alle Wünsche sind dem Genannten ohne diesbezügliche Rückfragen zu erfüllen. Zuerst wollte ich als Heinrich Himmler unterzeichnen, aber ich fürchtete, jemand könnte erkennen, daß die Unterschrift gefälscht ist. Und vielleicht hatte Himmler einen Sonderstempel. So unterschrieb ich nur als einfacher Obersturmbannführer. Das Papier datierte ich zwei Tage zurück, ausgefertigt in Paris. Dann suchte ich damit die Wehrmachtkommandantur in Hendaye auf und verlangte, daß man mir sofort ein Visum für Spanien in meinen Paß besorgte und 52 620 Peseten aushändigte. Falls sie soviel Geld nicht flüssig hätten, sollten sie mir ein Schriftstück geben, daß mir der gleiche Betrag in Madrid auszuzahlen sei. In der Hauskasse hatten sie nur 17 000 Peseten in bar, die nahm ich mit. Über die Differenz von 35 620 Peseten bekam ich eine Bescheinigung für die deutsche Botschaft in Madrid, aber so dreist zu sein wagte ich doch nicht, die Bescheinigung liegt heut’ noch irgendwo in meiner Wohnung in Petit-Bourg. Das Visum bekam ich sofort. Ein Angestellter nahm einen Stempel aus dem Tischkasten, schlug meinen Paß auf und stempelte das Visum ein. ‚Für welchen Zeitraum, Herr Navarro?‘ fragte der Hauptmann, der danebenstand. Dummerweise sagte ich nur, für ein Jahr. Mehr getraute ich mich nicht. Dann brachten sie mich per Auto bis nach Irún, von dort fuhr ich mit dem Zug nach Madrid. Ich mietete eine kleine Wohnung in der Calle Serrano Nummer acht, am Tag darauf ließ ich mich an der medizinischen Universität von Madrid immatrikulieren. Auf Grund meines Hochschulindexes aus Utrecht wurde ich sofort aufgenommen. Ich hatte mir ausgerechnet, wenn ich monatlich sechshundert Peseten 166
ausgäbe, würde das Geld der Deutschen fast drei Jahre reichen, wenigstens aber zweieinhalb. Denn außer den 17 000 Peseten hatte ich auch noch ein paar holländische Gulden.“ „Sie erwähnten vorhin irgendwelche Aktien für ein Uranbergwerk in Katanga“, wirft Józsa mürrisch ein, nur, um auch etwas zu sagen. Diese Aktien interessieren ihn nicht im geringsten. Und Papp schwatzt nur darauflos, damit die Zeit vergeht. Gleich halb sechs. Wäre er nicht ein unnötigerweise von der Grenze zurückgeholter Ausländer, säße er längst in einer Zelle, und dort könnte er sich selbst was vorerzählen. Seine dämlichen Emigrationsgeschichten, wie sie Józsa zu Hunderten schon gehört hat. Natürlich könnte er die Vernehmung in die Hand nehmen, das Wesentliche zielstrebig, direkt und mit genau geordneten Fragen aus Papp herausholen, aber er ist ein wenig müde. Mag der Kerl doch quasseln. Quasseln? Er redet wie ein Wasserfall. Etwas anderes ließe J. Szücs auch gar nicht zu. „Meinem Vater wagte ich nicht zu schreiben, ich fürchtete nicht nur für ihn, auch für mich, inzwischen war ich fast schon drei Jahre lang Miguel Navarro Sánchez, aber ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, ich hatte immer noch Angst, jemand könnte mir auf die Schliche kommen, dann würde ich nach Ungarn abgeschoben werden. Aber wegen des Kontos und des Safes in der Schweiz und weil ich ihn irgendwie über das Schicksal Van Doorns und Maris informieren wollte, mußte ich unbedingt versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Ich entschloß mich, an Lauri zu schreiben. In Spanisch, als Miguel Navarro Sánchez. Ich schrieb ihm also einen höflichen Brief, ich hätte erfahren, er sei Briefmarkensammler, mich interessierten gewisse österreichische und ungarische Serien, ich schrieb einige aus dem Zumstein-Katalog ab und ließ eine imaginäre Tenundgé-Serie dazwischenrutschen, Werte von einem 167
Kreuzer bis drei Kronen. So würde Lauri erkennen, daß der Brief von mir kam, er würde meinen neuen Namen und meine Adresse meinem Vater mitteilen, und der würde einen Weg finden, eine Verbindung zu mir herzustellen. Aber Lauri bekam meinen Brief nicht. Der Brief kam zwei Monate später zurück, kreuz und quer beklebt und bestempelt, Geöffnet! Deutsches MilitärKommando, Abierto por las autoridades, Correo de España, Ellenőrizve! Ouverte par le control militaire allemand en France, und dazu der Stempel Empfänger unbekannt, zurück an Absender. Ich wartete zwei Monate, dann schrieb ich einen ähnlichen philatelistischen Brief an Hauchling in die Bank. Dort zählte ich andere Serien auf, aber das Tenundgé baute ich wieder ein. Wieder kam keine Antwort, aber der Brief wurde auch nicht zurückgeschickt. Ich hegte lange die Hoffnung, er sei angekommen, und ich würde von meinem Vater hören. Mir verging die Zeit inzwischen mit Büffeln und Prüfungen, und mein Geld wurde immer weniger. Ich wußte, daß Ungarn in Madrid lebten, manchmal hörte ich Leute auch ungarisch sprechen, aber ich mied sie aus Vorsicht, und um die ungarische Botschaft machte ich einen großen Bogen.“ „Aha, einen großen Bogen?“ fragt Józsa. Denn er hat es allmählich satt, daß immer nur Papp redet und er gar nichts sagt. Zwei- oder dreimal war er schon drauf und dran, einzunicken. Die Frage jetzt war albern und argwöhnisch. Es liegt an dieser schrecklichen Hitze, denkt Józsa. Und fragt mit strenger Stimme: „Wann war das, Herr Papp?“ Er hofft ein wenig, Papp werde antworten, das sei 1944 gewesen. Und dann kommt Hauchling. „Wann? Einen Moment. Ja, das muß im März neunzehnhundertdreiundvierzig gewesen sein.“ J. Szücs hat Blut gerochen. Wieder spukt ihm Ernő Jakubovits durch den Kopf. Was für eine phantastische 168
Möglichkeit! Jakubovits hielt sich im März 1943 wirklich in Madrid auf. Zwar nicht mehr in Wehrmachtsuniform, aber er könnte Papp begegnen. Zum Beispiel in dem kleinen Wirtshaus „Los dos hermanos“ in der Calle Alcalán, wo Papp gebratene Lammkeule ißt, für die er schon immer geschwärmt hat, und im „Los dos hermanos“ versteht man sich auf Lammbraten, er ist knusprig und saftig. Auf einmal horcht er auf, denn ein melancholischer Herr, der allein am Nebentisch sitzt, muß plötzlich husten und flucht leise vor sich hin. Er ißt Fisch, und eine Gräte hat sich festgehakt. Nein, das ist nichts. Im „Los dos hermanos“ gibt es nur Seefisch, und Seefisch hat keine Gräten, die sich festhaken. Vielleicht ein Knöchelchen. Von einem Brathuhn. Das ginge. Oberflächlich gesehen, wäre das denkbar. Aber für die innere Glaubwürdigkeit der Gestalt ist es unmöglich, daß sie aus irgendwelchen Gründen ungarisch vor sich hin flucht. Damit würde Jakubovits sein Leben riskieren. Und wenn Papp irgendwas auf ungarisch sagt? Er wird sich hüten. Es ist Krieg. Und er ist Miguel Navarro Sánchez. So sitzen die beiden Männer drei Schritt voneinander entfernt im Wirtshaus, Papp kaut genüßlich das knusprige, saftige Lammfleisch, Jakubovits trinkt noch rasch das Glas Wein leer, das auf dem Tisch (einem blankgescheuerten Holztisch) steht, dann winkt er den kleineren und dickeren der beiden Besitzer des „Los dos hermanos“ herbei, zahlt, steht auf, geht hinaus, trottet zur Metrostation Ventas, blickt von der Treppe noch einmal auf die Plaza de Toros zurück und fährt dann mit diesem für Madrid so typischen Bild im Gedächtnis zum Nordbahnhof, von wo aus er mit dem Abendzug mit der tschechischen Gruppe nach London reisen wird. Jakubovits wird Miklós Papp leider nie mehr begegnen. Sie haben die letzte Gelegenheit versäumt. Am dritten Abend der Konferenz in Prag sitzt J. Szücs mit einer größeren Gesellschaft in der Hotelhalle, natür169
lich dreht sich die Debatte auch jetzt wieder um den modernen Roman. Und darum, welche Bedeutung die Romantik hat, die sozialistische Romantik eingeschlossen. Ippolito Goppino, der mit seinem Namen und seiner Erscheinung wie ein lebendiges Denkmal der Romantik wirkt, frisch aus einer Puccini-Oper herausgetreten, schlägt mit der Faust auf den Tisch und ruft: Nix! Niente! Sie hat keine Daseinsberechtigung! René Montferru, Dozent an der Universität von Lyon, schlicht, grau und dicklich, aber Grütze im Kopf (wie ich, denkt J. Szücs gerührt), stößt eine Masse einsilbiger Wörter aus sich hervor, bestehend aus Kehl- und Nasenlauten, scheinbarer Gleichgültigkeit und den Gerüchen von Rotwein und Käse: Pah! Tu sais. Moi, j’suis d’avis pu’il a raison …; das bezieht sich auf Goppinos Meinung. Zubomir Čalačič (aus Belgrad) lacht auf und deutet zur anderen Seite der Halle hinüber. „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“, sagt er, „und grün des Lebens goldner Baum. Dort sitzt einer der größten uns bisher nicht geschriebenen Romanhelden unserer Zeit.“ Alle wenden sich um. An einem Tisch sitzt in der Begleitung einer jungen, sehr hübschen Dame ein Mann um die fünfundvierzig mit leicht ergrauten Schläfen, markanten Gesichtszügen und vorspringendem Kinn, eher häßlich als gutaussehend, sehr dunkle Augen leuchten aus seinem Gesicht. Er lacht lauthals und ein wenig beschwipst. Seine Begleiterin stimmt in das Lachen ein. „Wer ist das?“ fragt J. Szücs, denn er ist nicht nur Kritiker, er ist auch Romanschriftsteller, nur wissen die anderen das nicht. „Das ist Ernő Jakubovits.“ Zubomir versucht den Namen mit Rücksicht auf J. Szücs ungarisch auszusprechen. „Ich kenne ihn aus dem Konzentrationslager Miranda, das war Ende neunzehnhundertzweiundvierzig. Zur Zeit ist er Hauptabteilungsleiter im tschechischen Kulturministerium.“ 170
Dann die Geschichte dazu. Er studierte am Lehrerseminar in Kaschau, als die Deutschen in die Tschechoslowakei einmarschierten. Er war Jude, bekam es mit der Angst und flüchtete nach Polen. Dort trat er in die KP ein, aber ihm blieb nicht viel Zeit, bald brach der Krieg aus, da hielt er sich gerade im sowjetischen Teil Polens auf. Er ging nach Riga, ließ sich dort an der Universität immatrikulieren und wurde im September 1940 mit anderen Studenten militärisch ausgebildet. Als die Deutschen die Sowjetunion angriffen, kämpfte er zuerst in den Reihen der Roten Armee Lettlands, dann blieb er auf Weisung mit illegalen Papieren in dem von Deutschen besetzten Riga. Einmal brachte er einem jüdischen Hochschullehrer, der sich verstecken mußte, falsche Papiere, mit denen der Professor sich in Sicherheit bringen sollte. Er übergab ihm die Papiere, nahm aber die des Professors mit. In zehn Minuten bin ich zu Hause, dachte er, dort kann ich sie vernichten. Das war zwar gegen die Regel, aber es hatte sich so ergeben, daß ihm keine andere Wahl blieb. Die Situation schien nicht gefährlich. Er wurde mit den Papieren des jüdischen Professors geschnappt, aber er kam mit dem Leben davon, man wies ihn in das Rigaer Getto ein. Von dort riß er aus, kehrte jedoch auf Weisung zurück und begann im Getto den Widerstand zu organisieren. Sein Vater war in Kaschau Schneider gewesen, ein wenig verstand auch er vom Handwerk, er kam in die kleine Schneiderei, die zur deutschen Gettokommandantur gehörte, dort wurden deutsche Uniformstücke repariert. Eines Tages kommt ein deutscher Wachtmeister in die Werkstatt, seine Feldbluse soll geflickt werden, sie ist unter der Achsel aufgerissen. Während Jakubovits näht, sitzt der Wachtmeister auf einem dreibeinigen Schemel, raucht und summt eine Melodie vor sich hin. Die Warszawianka. Jakubovits horcht auf. Und summt leise mit. Ein vorsichtiges, abwartendes Gespräch mit dem Wachtmeister. 171
Der sei Kommunist. Jakubovits argwöhnt eine Falle, er nimmt an, die Deutschen wollen sich in die Widerstandsorganisation des Gettos einschleichen, um sie abzuwürgen. Er liefert sich dem Wachtmeister nicht aus. Dieser geht. Drei Tage später kommt er wieder, an der Feldbluse sei die Jacke aufgerissen. In der Tasche steckt ein Blatt Papier, Jakubovits spürt es mit den Händen. Der Wachtmeister geht vor die Tür. Jakubovits sieht sich das Papier an. Ein vorschriftsmäßig ausgefüllter und abgestempelter Verlegungsbefehl nach Amiens in Frankreich, auf einen deutschen Namen, der Rang: Feldwebel. Der deutsche Wachtmeister kommt zurück, blickt Jakubovits an und sieht, daß er das Papier bereits weggesteckt hat. Während er sich die reparierte Feldbluse überzieht, sagt er zu Jakubovits: Abmarsch morgen früh. Zu fünft. Der Wachtmeister werde das Kommando haben. Jakubovits sucht sich unter den reparaturbedürftigen deutschen Uniformen eine aus, die ihm paßt, macht sie ganz. Am nächsten Morgen geht es wirklich los. Quer durch Europa. In Köln gehen sie abends in ein Café, wo draußen ein längst überholtes Schild hängt: „Für Juden und Hunde verboten!“ Als ob es noch Juden gäbe in Köln. Er lernt ein Mädchen kennen und geht mit ihr. Sie bemerkt, daß er beschnitten ist, und zeigt ihn an, er sei Jude. Er wird festgenommen. Der Wachtmeister fährt mit den drei anderen nach Frankreich weiter. Beim Verhör sagt Jakubovits, er habe als Kind eine Vorhautverengung gehabt und sei operiert worden. Seine Papiere sind in Ordnung, man glaubt ihm das Märchen. Er reist den anderen allein nach Amiens hinterher. Aber er begegnet ihnen nie mehr. Seine Papiere gelten nur bis Amiens. Angstschlotternd und in deutscher Uniform schafft er es in acht Tagen, bis nach Biarritz zu kommen. Nachts spaziert er nach Hendaye hinüber, zieht die deutsche Uniform aus und schwimmt in nichts als seiner Unterhose durch den Golf von Biskaya. Am nächsten 172
Morgen finden ihn spanische Gendarmen, er liegt bewußtlos am Strand. Als er auf der Gendarmerie verhört wird, stellt er sich stumm, er hofft, so werden sie ihn vielleicht nicht nach Frankreich zurückschicken. Eine Woche sitzt er im Gefängnis von Irún, von da kommt er in das Konzentrationslager von Miranda. Der tschechische Konsul in Madrid, Formanek, der um diese Zeit bereits mit den Alliierten zusammenarbeitet, holt ihn mit mehreren anderen Tschechen zusammen aus dem Lager, er bleibt ein paar Wochen in Madrid, dann wird er nach London gebracht. In England wird er zum Fallschirmjäger ausgebildet, im Frühjahr springt er in der durch Schwejk bekannten Gegend um Budweis ab, schlägt sich nach Prag durch und nimmt Kontakt mit der Widerstandsbewegung auf, nach der Befreiung geht er in den diplomatischen Dienst, er arbeitet auf der tschechoslowakischen Botschaft in London, dann wird er zurückbeordert und im Slansky-Prozeß verhaftet, er sitzt fast sechs Jahre ab, und jetzt ist er hier. Noch niemand hat über ihn geschrieben. Ich werde, jubelt J. Szücs innerlich auf, aber nur innerlich. Inzwischen geht die Debatte über den sozialistischen Realismus und die sozialistische Romantik weiter. Vor allem wird darüber diskutiert, ob Sempruns Große Reise ein sozialistisch-realistisches Werk sei. Aber das ist nicht mehr interessant. Und da gab es also die große Chance, Papp und Jakubovits in der Calle Alcalán, im Wirtshaus „Los dos hermanos“ in Madrid, zusammenzubringen. Es hat nicht geklappt. Ernő Jakubovits muß, wie alle die anderen noch nicht verwerteten Romanfiguren J. Szücs’, weiter warten. Aber wenn er ihn einmal verwertet! Dann kann sich Faulkner verstecken.
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Sechstes Kapitel Alles stimmt. Das kann nur Hauchling sein. Papp gibt an, er sei kurz vor halb fünf auf dem Veszprémer Standesamt gewesen, um den Auszug aus dem Geburtenregister abzuholen. Der Auszug war fertig, er brauchte ihn nur entgegenzunehmen. Hauchling muß kurze Zeit nach ihm gekommen sein, und die Leiterin des Standesamtes hatte keine Lust, seinetwegen Überstunden zu machen. Hauchling solle am Sonnabendvormittag erneut vorsprechen, sagte sie, dann bekomme er den Auszug. Die Geburtsurkunde des Márton Papp wurde zum zweitenmal kopiert, aber Hauchling ließ sich am Sonnabend nicht mehr sehen. Da gerät Papp in Aufregung. Hauchling braucht nicht die Urkunde selbst, ihm genügt die Registriernummer im Geburtenregister. Vielleicht blätterte die Standesbeamtin das große, dicke Buch nur auf, Hauchling beugte sich vor und warf einen Blick hinein, das konnte ihm genügen, sich die Registriernummer zu merken. Ob er deshalb nicht nochmals hinging? Oder hatte er einfach keine Zeit mehr? Weil er flüchten mußte. Weil er fürchtete, des Mordes an Laurentis verdächtigt und verhaftet zu werden. Aber warum sollte er das fürchten? Józsa kann der logischen Argumentation nicht folgen. Daß er Hauchling des Mordes verdächtigte, war eine Konsequenz des Gedankenganges, den die Abiturzeitung auf Laurentis’ Schreibtisch eingeleitet hatte. Als er ihn vor Augen hatte, erinnerte er sich dunkel an Hauchlings Namen aus dem Jahr 1945. Er ging der Spur nach. Zuerst geriet er in eine Sackgasse, dann stellte sich heraus, daß die Spur doch heiß war. Aber das alles konnte doch Hauchling nicht wissen. Wie also kommt es dann, daß …? Józsa geht hinaus und läßt Papp allein im Zimmer, aber vorher schließt er sorgfältig seinen Schreibtisch ab. Draußen spaziert er langsam dreimal in dem düsteren 174
Korridor auf und ab. Die rechte Hand legte er dabei auf die Stirn. Noch einmal den ganzen Gedankengang. Er schlägt die Zeitung auf. Liest die Namenliste. Na klar. Wieso lag die Zeitung auf Laurentis’ Tisch? Weil er Hauchling begegnet war. Natürlich. Laurentis erkannte Hauchling. Gut. Er hat ihn erkannt, na und? Józsa versucht sich die Szene vorzustellen. ‚Servus, Alfréd. Nanu, du in Budapest?‘ ‚Servus, Lauri, ja, ich bin gestern abend angekommen. Ich habe ein Zimmer im Gellért.‘ Denn inzwischen hat Lakatos ermittelt, daß Doktor Hans Stefan Huber im Hotel Gellért wohnte. Einen Moment. Ich muß Papp fragen, er ist Laurentis, der im Bus fuhr, mit dem Auto vom Rooseveltplatz bis zum Gellért gefolgt, ich muß ihn fragen, ob Laurentis Zeit hatte, sich vor dem Gellért mit jemandem zu treffen. Eventuell mit Hauchling. Józsa geht in sein Zimmer zurück. Dort sitzt Papp und raucht. Józsa befragt Papp. Papp antwortet, das sei unmöglich. Er habe Laurentis nur für die knappe Minute aus den Augen gelassen, die er zum Wenden benötigte. Laurentis ist Hauchling also nicht begegnet, oder wenn er ihm begegnete, dann zu einem anderen Zeitpunkt. Weiter. Wem gegenüber könnte Laurentis erwähnt haben, er sei Hauchling begegnet? Falls er ihm begegnet ist. Józsa setzt sich, schließt den Schreibtisch auf, nimmt das gesamte Ermittlungsmaterial heraus und beginnt darin zu suchen. Da! Laurentis’ Zeiteinteilung am 15. und 16. Juli. Zusammengestellt zwar im Zusammenhang mit Miguel Navarro Sánchez, doch das spielt jetzt keine Rolle. Zwischen der Einreise Hauchlings und Papps nach Ungarn liegt nur eine Differenz von drei Stunden. Hauchling kam drei Stunden eher. Und geradewegs ins Gellért. Stimmt das? Der Wagen! Der dunkelgraue Wagen! 175
Ein dunkelgrauer Mercedes! Stimmt. Er steht auf Viceniks Liste mit den eingereisten Ausländern, bei den Visum antragen. Lakatos! Den Jungen herholen, den Kálmán Bitura! Lakatos macht sich auf den Weg, um den Jungen zu holen. Józsas Gehirnmotor arbeitet mit höchstem Kraftstoffverbrauch und höchstem Leistungseinsatz. Am Abend vor seiner Ermordung, also am 15. Juli abends, hielt sich Laurentis mit seiner Stammrunde im Restaurant Zum Goldenen Hirsch auf, sie aßen dort an jedem Mittwoch zu Abend. Danach spazierte er mit Professor Berkesi bis zur Freiheitsbrücke. Dort verabschiedete sich der Professor und ging weiter zu Fuß nach Hause. Laurentis sagte zu ihm, er würde mit dem Siebener nach Hause fahren. Doktor Hans Stefan Huber war da, dem Nachtportier zufolge, bereits im Gellért eingetroffen. Es könnte also dort in der Gegend zu einem Zusammentreffen zwischen Hauchling und Laurentis gekommen sein. Oder auch nicht. Das ist nur eine Hypothese. Keinerlei Beweise liegen vor. Papp versucht mehrmals, etwas zu sagen, vermutlich will er seine verdammte Geschichte weitererzählen. Aber Józsa fällt nicht noch einmal auf ihn herein. „Herr Papp, ich habe jetzt keine Zeit. Bedienen Sie sich, da ist der Brandy, da liegen die Zigaretten, aber schweigen Sie. Wenn ich Sie brauche, lasse ich es Sie wissen.“ Papp zuckt mit den Schultern, gießt ein, trinkt, brennt sich eine Zigarette an. Sitzt im Sessel und sieht Józsa zu. Józsa geht im Zimmer auf und ab. Brummelt Unverständliches vor sich hin, stößt knurrige Laute aus, manchmal auch leise Schreie. Zu verstehen ist höchstens mal ein Aha, ein Na klar, ein Unmöglich. Laurentis kam, laut Hausmeister, am Abend des 15. Juli gegen Viertel zwölf nach Hause. Kurz nachdem 176
er, der Hausmeister, die Haustür abgeschlossen hatte. Mitteilung einer Sekretärin von der Akademie: Laurentis hat für den 16., elf Uhr dreißig, einen Wagen zu seiner Wohnung bestellt. Der Wagen kam und fuhr Laurentis zur Akademie, dort sagte er der Sekretärin, daß er den Wagen nicht länger benötigte. Doch um sechzehn Uhr ließ er den Wagen erneut kommen, um sich nach Hause fahren zu lassen. Am Vormittag saß er in seinem Büro, unterschrieb Briefe und diktierte zwei Briefe, auch am Nachmittag war er im Büro, aber niemand weiß, was er machte. Um drei Uhr bat er um einen Kaffee. Den kochte und brachte man ihm. In der Zwischenzeit sprach er – nach den übereinstimmenden Aussagen Papps, Frau Tamacskós und des Kellners – nur mit Frau Tamacskó und dem Kellner. Frau Tamacskó zufolge … Frau Tamacskó ist ein oberflächliches, lotterhaftes Frauenzimmer. Und wenn sie nur deshalb nicht erwähnte, daß Laurentis ihr von seiner Begegnung mit Hauchling erzählt hat, weil sie es vergaß? Für sie war nur interessant, daß Laurentis mit ihr flirtete. Ihr Nettigkeiten sagte. Auf etwas altmodische Weise den Hof machte. Frau Tamacskó befragen! Ganz konkret! Ob Laurentis ihr gegenüber erwähnt hat, er sei einem alten Bekannten begegnet, eventuell einem ehemaligen Klassenkameraden. Lakatos meldet sich über das Haustelefon. Kálmán Bitura hat anhand des ihm vorgelegten internationalen Kraftfahrzeugkatalogs, den er sorgfältig durchblätterte, zweifelsfrei den Mercedes, Baujahr 1963, erkannt, den Wagen also, den er ungefähr zur Mordzeit mit ausländischem Kennzeichen in der Nähe des Tatorts gesehen hat. Und der Junge behauptet, der Wagen sei dunkelgrau gewesen. Das ist nunmehr klar. Und gleich der nächste Anruf. Von der Grenze, aus Hegyeshalom. Die Durchschläge der Unterlagen, die bereits 177
an Hauptmann Vicenik unterwegs sind, haben sich angefunden. Doktor Hans Stefan Huber ist am 17. Juli 1964 um zwanzig Uhr zweiunddreißig in einem dunkelgrauen Mercedes ausgereist. Hauchling ist entwischt! J. Szücs kann es nicht fassen. Großer Schöpfer, was habe ich angerichtet?! Wieder einmal konnte er seinem verfluchten Realismus nicht widerstehen und hat, Gesetz und Regel über den Haufen werfend, in einem Kriminalroman den Mörder entwischen lassen. Er möchte den Kopf an die Wand schlagen, aber es ist zu spät. Außerdem kann er sich sowieso nicht bewegen, und nur seine linke Hand ist frei. Mit einer Hand kann man nicht den Kopf an die Wand schlagen. Aber jetzt weiß er wirklich nicht, was er tun soll. Er hätte ihn zurückhalten müssen. Eine Reifenpanne, nachts, auf der Chaussee zwischen Székesfehérvár und Győr. Eine Polizeistreife fährt vorbei, sie helfen dem Ausländer, doch dieser verhält sich so, daß sie Verdacht schöpfen. Warum sollte sich ein Ausländer auf nächtlicher Chaussee verdächtig verhalten? Oder er hat einen Unfall und liegt jetzt mit gebrochenen Knochen und in Mull und Binden gewickelt im Krankenhaus. Wie ich. Recht geschieht ihm. Was mußte er auch morden! Ich habe nicht gemordet, trotzdem liege ich hier. Und es gibt keinen Weg zurück. Keine Reifenpanne und keinen Unfall mit gebrochenen Knochen. Die Zeit eines Deus ex machina ist endgültig passé. Der Realismus hängt von solchen Kleinigkeiten ab. So ist es halt im Leben. Manchmal entwischen sogar solche Hauchlings. Freilich, nach dem Gesetz der großen Zahlen muß die Gerechtigkeit einfach triumphieren, das wird auch durch unsere bisherigen Erfahrungen glänzend belegt, aber hin und wieder kommt es eben doch vor, daß einem der Mörder durch die Lappen geht. Natürlich nicht in echten Kriminalromanen. Aber wer will behaupten, daß 178
J. Szücs echte Kriminalromane schreibt? Im Gegenteil. Darin liegt seine Originalität. Typischer wäre es nämlich, wenn Józsa vor Hauchling treten, ihm die Hand auf die Schulter legen und zu ihm sagen könnte: „Alfréd Hauchling, der Sie sich auch Doktor Hans Stefan Huber nennen, ich erkläre Sie hiermit im Sinne der Gesetze der Ungarischen Volksrepublik für verhaftet.“ So jedoch ist der Roman auf atypische Weise typisch, das heißt, er wird gerade dadurch typisch, daß er nicht typisch ist. Das kann man drehen und wenden, wie man will, eins steht fest: Wenn er wirklich einmal diesen Roman schriebe, auf echtem Papier, mit einer echten Schreibmaschine, darin dürfte Hauchling nicht entwischen. Das ist Fakt, das ist Tatsache. Ich als verantwortungsbewußter Bürger des Staates – natürlich im Wortsinn des citoyen und nicht des bourgeois –, ich als verantwortungsbewußter Kader der mittleren und demnächst der leitenden Ebene habe die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, die Bürger dieses Landes – im Sinne des Citoyen-Konzepts, das Proletarier und Bourgeois zusammenschließt – vom Triumph der Gerechtigkeit zu überzeugen. Hauchling muß also büßen. Ein Krimi ist wie Bier: flüssiges Brot, bei Hunderttausenden beliebt. Diese müssen überzeugt werden – Wirklichkeit hin, Wirklichkeit her –, daß die Gerechtigkeit immer siegt, Tag und Nacht, im Leben und im Sterben, im Wachen und im Schlafen, jederzeit. Was natürlich einschließt: ego sum via, veritas et vita. Das wäre also die ideelle Aussage des für mich selbst verfaßten Krimis, in dem Hauchling entwischt. Ein warnender Hinweis auf die Gefahr. Nicht ich schreie, die Erde dröhnt. Welch köstliche, welch erhebende Verantwortung! Und nicht nur ich verspüre sie. Auch Pál Csába Kiss. Und viele andere. Wenn ich mir das überlege, bin ich stets aufs tiefste bewegt. Auch jetzt. J. Szücs grübelt. Er möchte, wenn es sich schon so er179
geben hat, diesen Roman irgendwie so ausrollen lassen, daß die Ziege satt wird und der Kohlkopf erhalten bleibt. Ein Ende, das jedermann zufriedenstellt. Das braucht er. Und man muß auch an den Leser denken, wenn er nämlich die Wendung findet, die beim Leser die Spannung wachhält und sein Gerechtigkeitsempfinden befriedigt, die zugleich moralisch ansprechend, geistig anspruchsvoll und künstlerisch bedeutend, fast schon Faulknersch ist, dann spielt es weiter keine Rolle, daß Hauchling entwischt ist. Dann prallt auch die ideelle Aussage ab und nimmt einen anderen Weg, möglicherweise vermag sie sich über den engstirnigen Pragmatismus zu erheben und den Höhengipfeln der Weltliteratur zu nähern, einer Aussage, die der gesamten Menschheit gilt. Eine große und edle Aufgabe. Eine harte Nuß. Doch J. Szücs schreckt nicht vor ihr zurück. Da ist er aus anderem Holz geschnitzt. Die Welt gleicht einem Haufen übereinandergeworfener Holzscheite. Ein Ding über, unter, neben dem anderen, und so ist jedes determiniert. Jawohl. Die Welt ist ein verwickeltes Geschlinge aus komplizierten Relationen. J. Szücs zum Beispiel weiß, daß Etuka nur solange eine Heilige ist, wie er, Ferenc J. Szücs, ein Heiliger ist. Alles hängt davon ab, ob J. Szücs überhaupt imstande wäre, seine eigene Mannesheiligkeit in Frage zu stellen. In diese Versuchung gerät natürlich auch er hin und wieder in klaren, unerbittlichen, selbstzerfleischerischen Augenblicken, aber dann stellt sich dank harter Beherrschung das Gleichgewicht der Welt sofort wieder her. An solchen verquickten Relationen liegt es beispielsweise auch, daß in dem Fall, wenn J. Szücs vor sich hin grübelt, auch Józsa vor sich hin grübeln muß. Und das tut er in diesem Moment. Hauchling ist entwischt. Punkt. Keinerlei Ausrufezeichen. Er hat einfach die Grenze passiert, mit regulärem Visum. Das ist Fakt, das ist Tatsache. Zahlreiche Fäden 180
befinden sich zwar noch in der Schwebe, unverknüpft und ungeklärt, aber es ist eine unerbittliche und unverfälschbare Tatsache, daß der Mörder entkommen ist. Was wird der stellvertretende Minister dazu sagen? Józsa muß einen detaillierten Bericht schreiben. Und es ist auch noch nicht ganz geklärt, wie, warum und mit welchen Mitteln Hauchling den Mord begangen hat. Und dieser Papp! Sitzt ungerührt herum, fast schon gleichgültig. Unverständlich. Denn Hauchling besitzt möglicherweise die Registriernummer. Vielleicht kennt er die Van Doorns noch nicht. Und kann deshalb noch nicht das Konto und den Safe in der Schweiz ausplündern. Oho! Und überhaupt! Womöglich stehen diese schweizerischen Gelder und Werte in vollem Umfang dem ungarischen Staat zu. Als verlassenes Gut. Aber noch im schlechtesten Fall sind es ausländische Zahlungsmittel, die der Ungarischen Nationalbank gemeldet werden müssen! Welche Staatsbürgerschaft hat er eigentlich? „Sagen Sie, Herr Papp, welche Staatsbürgerschaft haben Sie eigentlich?“ „Die französische. Ich habe neunzehnhundertsechsundvierzig die französische Staatsbürgerschaft beantragt und erhalten.“ „Aber der Geburt nach sind Sie doch Ungar.“ „Ja, aber neunzehnhundertsiebenundvierzig habe ich meine Entlassung aus der ungarischen Staatsbürgerschaft beantragt und erhalten.“ Scheußlich. Wenn sich wenigstens für unser Land etwas herausschlagen ließe. Dann würde der stellvertretende Minister die Pleite gleich milder beurteilen. „Bestimmt, Herr Papp?“ „Ganz bestimmt. Sehen Sie doch nach.“ „Gut, wir werden nachsehen.“ Lakatos meldet sich. Frau Tamacskó hat, als er sie 181
konkret fragte, zugegeben, Laurentis habe am Nachmittag des 16. Juli im Gespräch auf der Terrasse vor dem Hotel Gellért erwähnt, daß er am Vorabend einem ehemaligen Klassenkameraden beziehungsweise einer Person begegnet sei, die einem ehemaligen Klassenkameraden zum Verwechseln ähnlich sah. Er habe sie auf ungarisch angesprochen, die betreffende Person habe gelächelt und auf deutsch geantwortet, es handle sich wohl um ein Mißverständnis. „Huba hat der Kerl geheißen“, sagte Frau Tamacskó. „Ernő kam gar nicht darüber hinweg. Aber der Deutsche hat zu ihm gesagt, so groß die Ähnlichkeit auch wäre, er wäre nicht der, für den Ernő ihn hielte. Er wäre irgendein Rechtsanwalt.“ Józsa kann sich nicht mal mehr freuen. Das Telefon klingelt schon wieder. Langanhaltend, also ein Ferngespräch. Wer mag das sein? „Wenn Sie gestatten“, sagt Papp, „das ist für mich. Zürich.“ „Für Sie? Zürich? Woher weiß man in Zürich, daß Sie hier sind?“ fragt Józsa verblüfft. „Ich habe vorhin Zürich angerufen, als Sie nicht im Raum waren. Entschuldigen Sie …“ Józsa reicht Papp den Hörer, denn es ist wirklich Zürich. Papp spricht deutsch. Mit seinem Züricher Anwalt. Józsa versteht Deutsch. Papp gibt seinem Anwalt die Registriernummer aus dem Geburtenregister durch und weist ihn an, noch heute nacht den Bankdirektor aufzutreiben, woher auch immer, damit er das Konto und den Safe für jede Person sperrt, die mit dieser Nummer oder mit den beiden Nummern vorspricht, und Papp das Prioritätsrecht auf das Konto und den Safe garantiert. Falls sich schon jemand gemeldet hätte, solle der Anwalt Papps Protest anmelden und nach Möglichkeit bis zur Klärung der Angelegenheit eine gerichtliche Sperrung des Kontos und des Safes erwirken. 182
„Danke, Herr Doktor“, sagt Papp in den Hörer. „Ich melde mich wieder bei Ihnen. Auf Wiederhören.“ Józsa sitzt stumm da. Ihm hat es die Sprache verschlagen.
Siebentes Kapitel Die Nacht, mein Junge, ist zum Schlafen da, hat Mutter immer gesagt. Was ja stimmt. Nur hat Mutter eben nicht an solche Sonderfälle gedacht, wenn unter dem Verband kein Unterschied zwischen Tag und Nacht besteht und nur das Licht des schöpferischen Denkens leuchtet. Manchmal geht das Licht aus, wie eben jetzt, dann muß die Batterie nachgeladen werden, wofür er seine zahllosen, langbewährten Methoden hat, aber auch das ist riskant und bewährt sich nicht immer. Jetzt zum Beispiel hat sich das Trinken von Zitronensaft nicht bewährt. Das in der Zitrone enthaltene Vitamin C erfrischt nicht nur, es schafft auch ein gutes Allgemeinbefinden, es möbelt auf. Wenn man zusätzlich noch eine Koffeintablette mit 0,1 g Wirkstoffgehalt einnimmt, stellt sich im allgemeinen der biologische Zustand ein, in dem die Antennen der Hirnnervenbahnen Signale auch aus größten Entfernungen empfangen. Wahrscheinlich geht es nicht allen so, bei ihm jedenfalls klappt es. Im allgemeinen. Diesmal jedoch nicht, wie es scheint. Eine andere Methode. Gegeben ist eine Situation. Dazu die Fäden, die die Situation klar machen, aber schon bekannt sind. Die Situation muß aus ihrem statischen Zustand wegbewegt werden. Auf ein Ende hin. J. Szücs weiß, daß man dazu nicht an den Fäden zerren darf, die in die Situation hinein- oder aus ihr heraus führen, sie reißen leicht, und heute sind sie bei aller Qualität besonders brüchig, das steht fest. Also: ei183
nen Hebel unter den archimedischen Punkt, dann eine einzige knappe Bewegung, hopp, le voilà, und schon ist die Welt aus den Angeln gehoben. Das ist ungeheuer einfach, zumindest scheint es so. Aber wo befindet sich der gewisse Punkt, den Archimedes sich wünschte? Der Romanschriftsteller J. Szücs bittet in solchen Fällen den Kritiker J. Szücs um Hilfe. Des braucht er sich nicht zu schämen, sie sind eine Sippe. Das Ganze ist einer schneidend scharfen, kleinlichen, gründlichen, ins Detail gehenden kritischen Analyse zu unterziehen. Unter der Wirkung des Zitronensaftes und des coffeinum purum beginnen die Antennen der Hirnnervenbahnen fein zu beben, ein großartiges Gefühl ist das, Jagdfieber breitet sich in einem aus, klar, daß jetzt alles schwieriger ist, denn die Dinge nähern sich ihrem Ende. J. Szücs blättert – natürlich nur in Gedanken –, als hätte er ein Päckchen Zauberkarten zwischen den Fingern, die Weltliteratur durch. Wo ließe sich eine gute Idee stehlen? Eine frappante, eine überraschende. Damit dem Leser der Atem stockt, damit es ihm kalt über den Rücken läuft, damit ihm die Haare zu Berge stehen. Stehlen ist nicht nur erlaubt, es ist geradezu Pflicht, man darf nur nicht schlecht stehlen. Und nicht laut. Shakespeare hat geklaut. Lope de Vega auch. Alle klauen. Ausgerechnet J. Szücs sollte nicht klauen? Aber von wem? Und was? Der Verstand bleibt einem stehen, sagt man. Dann muß man ihm gut zureden, damit er weitergeht, wie einem störrischen Esel. Aber er steht und steht und rührt sich nicht vom Fleck. Er reckt höchstens den Hals und bleckt die großen, gelben Schaufelzähne, dann schreit er sein i-ah in die Welt. Aber der Roman! Was wird aus dem?! Denn der Roman ist die innere Schutzlinie, hinter die er sich nicht weiter zurückziehen kann, die letzte, die geheime, die niemandem eingestandene Zuflucht, das Asyl der Asyle, ein Bunker mit Vollkomfort, eingebaut und ausgemalt, doch angefüllt mit realen Babsis und 184
Etukas, der warme Schutz seltener Kindheitsaugenblicke, der einzige Ort, der die Sicherheit selbst ist, von dem aus man auf Knopfdruck durch eine Geheimtür und einen bequemen Tunnel in die allerinnerste, allergeschützteste Sicherheit gelangen kann, die unzerbrechliche Glaskugel mit gleichzeitigem Ausblick nach allen Seiten, unbedroht von kosmischen Beben und von Erdrutschen und Springfluten, wo man nicht im Klo von der Leiter fallen kann, wo unverzüglich Rache geübt wird, wenn einen die Frau betrügt, wo das Ich gleichzeitig Ich ist und jedermann, Frau Bovary und J. Szücs, aber auch Faulkner und Kafka, wenn ich will: Scholochow, wenn ich will: Dylan Thomas oder Franz J., wo man, solange man in ihr ist, nicht sterben, sondern nur leben, ewig leben kann, über den Tod hinaus noch, wo man sich auch nicht zu fürchten braucht. Aber der Roman. Was wird aus dem? Was wird mit dem aus einer Abstraktion zu Fleisch und Blut gewordenen Józsa? Und wohin entwischt Hauchling? Und gelingt es ihm, Papp in der Schweiz zuvorzukommen? Es ist nicht nur so, denkt J. Szücs, daß dem Leser für sein Geld etwas geboten werden muß, auch das schöpferische Arbeiten kann nicht Selbstzwecken dienen. Wenn ich wenigstens wüßte, welchen Zwecken dann. Der Zweck ist, Hochhuth zufolge, die Wahrheit, die eigene Wahrheit des Werkes ohne Rücksicht auf all und jeden. Hoppla, Kollegen! Geht das?! Wir leben unter Menschen, in einer Gesellschaft. Wenn die Wahrheit des Werkes von der Wahrheit, wie sie im allgemeinen verstanden wird, abweicht, was nicht unbedingt der Fall sein muß, aber nehmen wir einmal an, es ist so (einem. Schriftsteller dürfen allerlei Gedanken im Kopf herumspuken), wo ist dann die Garantie, daß diese Wahrheit nicht schädlich ist? Dann läßt sie die Selbstverteidigungskraft des unübersehbaren Leserheeres gar nicht zu Wort kommen. Und ob sie schädlich ist, das wird von mir entschieden. Von J. Szücs, 185
dem Lektor und Kritiker. Das ist meine Aufgabe. Wach und unerschütterlich stehe ich da, auf vorgeschobenem Posten. Was aber geschähe, wenn die Versuchung an mich, den Romanschriftsteller J. Szücs, heranträte, wenn ich mich von einer falschen Wahrheit verführen ließe? Welche Konflikte hätte ich auszustehen, innerlich! Welch harte Prüfung! Zum Glück können schädliche Wahrheiten mich nicht verführen. Denn wenn eine Wahrheit schädlich ist, dann ist sie keine Wahrheit mehr. Das ist logisch. Der Gedankengang ist befriedigend abgeschlossen. Die Dinge liegen einfacher, als man denkt. Józsa ist jetzt, als die Hitze nachzulassen beginnt, wieder der alte. Tatendurstig und selbstbewußt. Die Trägheit ist wie weggeblasen. Mit fester Hand übernimmt er von neuem die Leitung der Ermittlungstätigkeit. Die Umstände sind zu klären, das genaue Mordmotiv muß in dem Bericht für den stellvertretenden Minister auf das genaueste enthalten sein, allein schon deshalb, um Zeugnis abzulegen von Józsas detektivischen Fähigkeiten, von seiner Prinzipienfestigkeit, von seinem hochentwickelten Bewußtsein. Also: Frage-Antwort-Spiel. Auf Tonband. Frage: Wann und zu welchem Zweck kam Hauchling nach Madrid, und unter welchen Umständen sind Sie ihm begegnet? Antwort: So einfach, wie man denken könnte, Herr Major, sind die Dinge durchaus nicht. Vor Hauchling kam noch jemand anders nach Madrid. Ich wette, Sie erraten nicht, wer. Frage: Mária Zucker. Antwort: Donnerwetter! Wie sind Sie darauf gekommen? Frage: Ich kenne den Autor. Wir arbeiten seit Jahrzehnten zusammen. Er kommt niemals lange ohne eine erregende Frauengestalt aus. Er denkt nur nie daran, 186
daß er mir die Ermittlungen verpfuscht. (Auf dem Tonband ein merkwürdiges Röcheln: Józsa seufzt.) In Ordnung, berichten Sie über Mária Zucker, Herr Papp. Wann sie kam, wie und warum. Antwort: Wann? Ende Februar 1944. Ich kam gerade aus dem Madrider Kino Callao, dort hatte ich einen guten amerikanischen Film gesehen, einen Hitchcock, da rief mir in der Vorhalle von der Seite jemand leise zu: Miklós! Ich hatte mich leider nicht in der Gewalt und blickte sofort in die Richtung, und da fiel mir auch schon Mari Zucker um den Hals. Ich war also aufgeflogen. Frage: Wie kommt es, daß Sie, der Sie seit 1938 im Ausland leben, dieses seltene Wort kennen: aufgeflogen? Antwort: Ihre Frage bringt mich nicht in Verlegenheit, Herr Major. Als mir Mari Zucker um den Hals fiel, sagte sie: Also, jetzt bist du aufgeflogen! Das werde ich nicht vergessen, solange ich lebe. Mari Zucker ist nämlich, falls ich das noch nicht erwähnt haben sollte, meine Frau. Wir heirateten 1946 und machten unsere Hochzeitsreise nach San Sebastián, dort bin ich dann 1962 Laurentis begegnet, denn unseren Hochzeitstag begehen wir jedes Jahr in San Sebastián. Meine Frau wird demnächst sechsundfünfzig, und sie ist noch immer schön, aber Sie hätten sie damals sehen sollen, als sie sechsunddreißig war! Sie sah jünger aus als sechsundzwanzig. Und wie elegant sie war! Ich hatte mich also leider verraten, es gab kein Zurück mehr. Mari stellte mich ihrem Begleiter vor, einem Herrn um die fünfzig namens Edmundo Zinner-Loewe, ungarischer Herkunft, in Madrid ansässig, Inhaber einer Export-Import-Agentur, viel auf Reisen, Mari hatte ihn im vorangegangenen Oktober in Paris kennengelernt, er hatte sie zu sich eingeladen, Mari war froh, aus dem von Deutschen wimmelnden Paris hinauszukommen, also ging sie nach Madrid. Frage (mit ätzendem Hohn): Im Krieg war es ja auch ein Kinderspiel, von Paris nach Madrid zu reisen, wie? 187
Antwort: Für Mari, ja. Sie arbeitete nämlich für die Gestapo. Beziehungsweise die Gestapo dachte, sie arbeitete für sie, in Wirklichkeit war sie schon in Holland vom englischen Geheimdienst angeworben worden, für den Van Doorn, wie sich später herausstellte, schon seit zehn Jahren tätig war, aber das ahnten die Deutschen nicht, als sie ihn verschleppten. Sie brachten auch Mari nach Deutschland, ihre Sprachkenntnisse retteten sie, ein General machte sie zu seiner Dolmetscherin, mit ihm kehrte sie nach Paris zurück. In Paris nahmen die Engländer wieder Verbindung mit ihr auf, und nachdem Zinner-Loewe in Paris mit den Deutschen über die Lieferung eines größeren Postens Wolfram verhandelt hatte, fuhr Mari im Auftrag der Gestapo nach Madrid, um Zinner-Loewe zu überwachen. Von den Engländern wiederum hatte sie den Auftrag erhalten, die Übergabe der portugiesischen Wolframlieferung an die Deutschen zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. Das Wolfram hätte für die Deutschen damals eine große Hilfe bedeutet, es war ein Engpaß in ihrer Rüstungsindustrie. Frage: Schon wieder so ein seltenes Wort, Herr Papp: Engpaß. Wo haben Sie es her? Antwort: Gestern wollte ich mir eine Packung gute Zigarren kaufen, daß hieß es: die sind Engpaß. Frage: Wissen Sie auf alles eine Antwort? Antwort: Nicht auf alles, Herr Major, nur auf manches. Wenn Sie mich beispielsweise damals ausgefragt hätten, wäre ich um viele Antworten verlegen gewesen, denn diese Dinge habe ich zumeist erst nach dem Krieg erfahren, obgleich zwischen Mari und mir vom nächsten Tag an wieder ein genauso enges Verhältnis bestand wie seinerzeit in Budapest oder in Holland. Dort hatte sie Van Doorn mit mir betrogen, nun war es Zinner-Loewe. Frage: Ich sagte schon, daß wir diese privaten Dinge aus dem Spiel lassen wollen. 188
Antwort: Ich habe es nur erwähnt, weil es zur Sache gehört. Im August 1944 nämlich tauchte Hauchling auf … Frage: Na, endlich! Antwort: Ja, und zwar in meiner Wohnung, Calle Serrano acht. Er hätte meinen Tenundgé-Brief bekommen, sagte er, und meinen Vater sofort informiert, mein Vater habe mir sofort schreiben und den Brief auf Umwegen übermitteln wollen. Dieser Brief meines Vaters hat mich nie erreicht. Was schon deshalb ganz verständlich ist, weil er nie einen solchen Brief geschrieben hat. Frage: Warum nicht? Antwort: Hauchling hatte gelogen. Er hatte meinen Vater nicht informiert. Frage: Warum nicht? Antwort: Wahrscheinlich, weil mein Vater damals schon auf der Liste stand. Fragen Sie nicht, auf welcher Liste, ich komme sowieso darauf zu sprechen. Auf der Liste derer, die nach Annahme der Deutschen über ein geheimgehaltenes Auslandsvermögen verfügten. Das in Ungarn nicht angemeldet war. Verstehen Sie, Herr Major? Frage: Ich glaube, ja. Antwort: Nein. Sie können es nicht verstehen. Hauchling behauptete, er hätte wie durch ein Wunder aus Ungarn fliehen können. Die Deutschen hätten ihn verhaften wollen, aber er hatte damit gerechnet und sich darauf vorbereitet, einen Tag vorher sei er ihnen ausgerissen. An dieser Stelle griff er in die linke Innentasche, zog einen Paß heraus und reichte ihn mir. Ich schlug ihn auf. Er war auf den Namen Miklós Papp ausgestellt, mit meinem Foto darin, alle Angaben stimmten, nur in der Rubrik Konfession stand: reformiert. Ich erwähnte doch, daß Hauchling mir sehr ähnlich sah? Frage: Ja, das erwähnten Sie. Antwort: In mir rumorte noch ein wenig die alte Eifersucht, ich meinte, ich könnte ihm verheimlichen, daß 189
sich Mari auch in Madrid aufhielt, heute weiß ich, daß das unmöglich gewesen wäre. Er wußte nämlich, daß sie auch in Madrid war. Ich half ihm, ein Zimmer in der Calle Narváez zu mieten, und fragte ihn, ob er Geld hätte, obgleich ich selber kaum noch welches hatte, ja, antwortete er, dann fragte er: Brauchst du Geld? Ich sagte, ein bißchen hätte ich noch, aber wenn er so viel habe, würde ich mich melden, wenn ich welches brauchte. Melde dich nur, sagte er. Wir machten aus, daß er mich am nächsten Tag anrufen würde. Aber er rief nicht an, sondern kam zur vereinbarten Zeit zu mir. Mit Mari. Sie kamen zu zweit. Ich ahnte noch immer nichts. Am Abend gingen wir zu viert ins Pasapoga, das ist ein vornehmes Vergnügungslokal, der vierte war Zinner-Loewe. Auf dem Weg dorthin richtete es Hauchling so ein, daß Mari und Zinner-Loewe vorausgingen, wir blieben ein paar Schritte zurück, und er sagte mir, er wolle mit dem Namen Miklós Papp keine Komplikationen verursachen, deshalb habe er sich Zinner-Loewe unter dem Namen Paul Bender vorgestellt, in Maris Beisein, so daß auch sie Bescheid wisse, und ich solle ihn auch Paul nennen. Ich hatte natürlich noch keine Ahnung von dem portugiesischen Wolfram und von Maris Gestapo- und IntelligenceService-Beziehungen. Nachdenklich stimmte mich nur, wie Hauchling aus Ungarn hinausgelangen und ganz Frankreich durchqueren konnte, wo inzwischen schon die Alliierten gelandet waren. Ich beschloß, ihn bei nächster Gelegenheit zu fragen. Die ergab sich im Pasapoga, als Mari und Zinner-Loewe tanzten. Als ich ihn fragte, lachte er. Genau so, sagte er, wie du Miguel Navarro Sánchez geworden bist. Mit Geld. Ich brauchte nur ein paar Leute zu kaufen, Geld hatte ich. Dann erkundigte er sich nach Van Doorn. Von meinem Vater erzählte er, er hätte ihn Anfang Juni noch gesehen, danach nicht mehr, er hätte zu verhindern versucht, daß er deportiert würde, aber dann sei seine Situation auch immer schwieriger gewor190
den, vor seiner Abreise hätte er gehört, von wem, wisse er nicht mehr, mein Vater halte sich in der Provinz auf. Als er ihn Anfang Juni sah, habe er gut ausgesehen und sich Sorgen um mich gemacht. Armer Vater. Anfang Juni lebte er schon nicht mehr. Frage: Hat Hauchling nicht über Laurentis gesprochen? Antwort: Doch, das hat er. Lauri werde wegen allen möglichen Aktivitäten von der Polizei belästigt, er war schon immer ein Sozi sagte er. Er sollte zum Militär, aber Hauchling habe das verhindert und ihn zu sich in die Bank geholt, er habe dort sowieso einen klugen Kopf benötigt. Lauri habe inzwischen geheiratet, seine Frau heiße Kriszti und sei eine sehr hübsche Lehrerin. Ich fragte ihn, was mit der Bank sei. Er antwortete, das wisse er nicht mehr, und seufzte, als machte ihm die Bank großen Kummer. Dann sagte er: Ich hatte drei Stunden, um zu fliehen. Gerade genug, ein bißchen Geld und ein paar Wertgegenstände zu retten. Ich fragte, was aus meines Vaters Guthaben geworden sei, das in seiner Bank deponiert war. Er lachte und meinte: Wo lebst du denn? Man merkt es, am anderen Ende Europas. Die Einlagen deines Vaters sind jüdisches Kapital und deshalb längst gesperrt, aber ich habe ihn rechtzeitig gewarnt, so daß nicht mehr viel auf dem Konto war. Frage: Ist Ihnen bekannt, daß Hauchling im Sommer 1944 in Ungarn … Antwort: Ja. Frage: Woher wissen Sie es? Von wem? Antwort: Von Laurentis. Er hat mir 1962 alles erzählt, als wir uns in San Sebastián trafen. Frage: Bitte, berichten Sie jetzt weiter. Antwort: Gut. Also, Herr Major, ich weiß über alles Bescheid. Eine Menge erfuhr ich im April 1945, und was da noch fehlte, sagte mir vor zwei Jahren Lauri. Aber in den letzten Monaten des Jahres 1944 wußte ich gar 191
nichts und hegte nicht den geringsten Verdacht gegen Hauchling. Ich hielt ihn für einen ebenso guten Freund wie in der Schule, und ich beneidete ihn ebenso ein wenig, nur war ich Maris wegen nicht mehr eifersüchtig auf ihn, ich weiß nicht, weshalb, vielleicht wegen Maris Verhalten, sie ließ mich keinen Augenblick im Zweifel, daß sie mich wirklich liebte. Und zwar aufrichtig. Ich liebte sie ebenfalls. Hauchling führte ein vornehmes Leben, er hatte immer Geld, viel Geld, er sprach von Außenständen bei spanischen Geschäftsfreunden der Kredit- und Transferbank A. G., die ihm ausgezahlt worden seien, und nun habe er vor, ein kleines, solides Geschäft aufzubauen, vielleicht in Tanger. Frage: Hatte er Frauengeschichten in Madrid? Antwort: Natürlich. Er hatte eine Freundin, eine Sängerin, die sich als Kubanerin ausgab, aber sie war nur eine einfache andalusische Zigeunerin, sie hieß Nina Montes, ein prächtiges Weib. Gestern in Almádi hörte ich den Schlager, den sie zum erstenmal sang, auf ungarisch. Bésame, bésame mucho … Bekannt, Herr Major? Frage: Mir? Die Sängerin? Antwort: Nein. Der Schlager. (Auf dem Tonband singt Papp den Schlager an. Ziemlich falsch.) Frage: Kommen Sie bitte wieder auf Hauchling zu sprechen. Antwort: Ach ja, Hauchling. Außer Nina hatte er noch die Gattin eines serbischen Werftbesitzers, die seinetwegen nach Madrid kam, per Flugzeug, ich weiß nicht, woher. Nina war ungeheuer in Hauchling verliebt, aber Milaja, die Jugoslawin, nicht. Dessen bin ich mir sicher. Ich hatte immer das Gefühl, daß sie nur notgedrungen mit Hauchling zusammen war. Einmal fragte ich ihn deswegen, aber er winkte nur ab. Im übrigen hatte er sich eine Dreizimmerwohnung gesucht, er kam oft zu mir, in meiner Wohnung nämlich wickelte er seine Rendezvous mit Nina ab, wegen Milaja konnte er sie nicht 192
mit zu sich nehmen. Ich brachte inzwischen mein letztes Medizinsemester hinter mich, die Studienzeit in Utrecht hatte man mir angerechnet, Hauchling gab mir den Paß auf den Namen Miklós Papp, ich erinnere mich, es war an dem Tag, als er mich fragte, wo mein Vater eigentlich geboren worden sei. Heute weiß ich, warum er das wissen wollte. Ich wunderte mich über seine Frage und antwortete: In Veszprém, das weißt du doch, warum fragst du solchen Quatsch? Ach ja, natürlich, sagte er, in Veszprém. Das war einen Tag vor Zinner-Loewes Anruf, also am 17. Februar 1945. Am 18. Februar also rief mich Zinner-Loewe an, er sprach spanisch und bat mich sehr höflich, ihn zu besuchen. Es sei sehr wichtig. Ich käme in einer halben Stunde, sagte ich. Es war ein kalter Tag, in Madrid ist solche Kälte im Februar eine Seltenheit. Ich hatte bereits meinen Übergangsmantel herausgesucht, aber wegen der Kälte zog ich doch den Wintermantel an, in der Manteltasche steckten noch die Handschuhe, auch die zog ich an, und ich setzte einen Hut auf, was ich sonst nie tat. Heute verhält es sich anders, in meinem Alter muß man sich in acht nehmen. Zinner-Loewe hatte am Beginn der Calle Alcalá eine Siebenzimmerluxuswohnung, Mari wohnte als Gast bei ihm, es war eine Eckwohnung, drei Zimmer zur Puerta del Sol, in der ersten Etage. Er hatte sie von einem spanischen Grafen gemietet, der diplomatischen Dienst auf den Philippinen leistete und wegen des Krieges nicht nach Hause kommen konnte. Ich fuhr mit der Metro und stieg an der Puerta del Sol aus, als ich mich der Alcalá zuwandte, blickte ich unwillkürlich zu den Fenstern von Zinner-Loewes Wohnung hinauf. Eigentlich interessierte mich, ob Mari zu Hause wäre. Aber nur im letzten Zimmer, im siebenten, brannte Licht. Ich ging die Treppe hinauf, ohne jemandem zu begegnen, ich wollte gerade klingeln, da bemerkte ich, daß die Wohnungstür geöffnet war. Ich trat ein und schloß sie hinter mir. Ich hoffte, Mari anzutreffen, 193
ich hatte sie seit drei Tagen nicht gesehen und nicht gesprochen, denn wieder einmal standen Prüfungen bevor, und da wünschte ich, nicht abgelenkt zu werden. Ich ging durch die leere Wohnung, nirgends war jemand. Im letzten Zimmer brannte wirklich das Licht, aber es war auch leer. Da begann ich laut zu rufen: Edmundo, Edmundo! Doch Zinner-Loewe antwortete nicht. Vorsichtig öffnete ich die Tür zum Badezimmer, zuerst erblickte ich die Wanne mit Wasser darin, jemand hatte gebadet, aber jetzt war die Wanne leer. Als ich zur Seite blickte, bemerkte ich Zinner-Loewe, er lag bäuchlings vor dem langen Badezimmerspiegel, tot, der Kopf auf den Fliesen, im roten Bademantel, aus dem Rücken ragte mein finnischer Dolch mit dem Perlmuttgriff, die linke Hand lag unter dem Körper, der rechte Arm war ausgestreckt, der Zeigefinger berührte den unteren Spiegelrand. Mich grauste. Nichts anrühren, war mein erster Gedanke. Da merkte ich, daß ich fror. Mari! Was ist mit Mari? Das war mein zweiter Gedanke. Ich lief in ihr Zimmer. Das Doppelzimmer war unverschlossen, aber ebenfalls leer. Mari war nicht zu Hause. In den Zimmern fiel mir nichts Besonderes auf. Ich ging ins Bad zurück. Erst jetzt bemerkte ich, daß ich noch die Handschuhe anhatte. Ich seufzte erleichtert auf. Fingerspuren von mir würde man demnach nicht finden. Inzwischen zitterte ich vor Kälte. Vorsichtig zündete ich den Gasofen im Bad an. Den Mantel wagte ich nicht abzulegen. Ich hockte mich neben Edmundo nieder und untersuchte ihn, ich war ja fast ein fertiger Arzt, ich überzeugte mich sachkundig, daß er wirklich tot war. Mit der Wohnung war ich vertraut, ich ging nochmals durch alle sieben Zimmer und warf auch einen Blick in die Nebenräumlichkeiten, überall herrschte Ordnung, keine Menschenseele war zu sehen. ZinnerLoewe hatte eine alte Köchin, eine Art Mädchen für alles, sie hieß María-Pilar. Sie kochte ausgezeichnet. Zu Hause war sie nicht. In Edmundos Arbeitszimmer sah 194
ich mir den Schreibtisch an, aber ich fand nichts Auffälliges. Ich machte mir Sorgen um Mari, ich befürchtete, sie hätte Edmundo umgebracht. Einen Grund hätte ich nicht nennen können, aber ich dachte an gar nichts anderes. Doch weshalb hätte sie so etwas tun sollen? Ich begriff überhaupt nichts. Ich ging noch einmal ins Badezimmer, vielleicht fände sich dort doch eine Spur. Mir fiel ein, in den Taschen von Edmundos Bademantel nachzusehen. Ich hockte mich nochmals nieder, aber irgend etwas weckte meine Aufmerksamkeit. Was nur? Der Spiegel! Ja, der Spiegel. Von der Wärme des Gasofens war der Spiegel beschlagen, jemand hatte mit unsicherer Schrift etwas auf das Spiegelglas gekritzelt: Bender, Gesta… Das a führte zu Edmundos Zeigefinger hinab, der am unteren Spiegelrand lag. Ich wußte, Hauchling hatte ihn getötet. Er hatte Zinner-Loewe mit dem aus meiner Wohnung gestohlenen finnischen Dolch ermordet. Frage: War das der gleiche Dolch, den Sie von Haszlacher erhalten hatten, als Dank für das Vorsagen im Mathematikunterricht? Antwort: Ja! Aber woher wissen Sie davon, Herr Major?! Frage: Sind Sie nicht hungrig, Herr Papp? Antwort: Doch. Sehr.
Achtes Kapitel „Nachricht aus dem Jenseits oder Der verräterische Spiegel“, dieses Etikett trägt in J. Szücs’ schriftstellerischer Requisitenkammer die den Mörder nennende Botschaft, die das sterbende Opfer mit zitternden Fingern auf den beschlagenen Spiegel krakelt. Wenn sich die Luft im Badezimmer abkühlt, verschwindet die Schrift. 195
Wenn wieder geheizt wird, legt sich erneut feuchter Niederschlag auf das Glas, und die Schrift wird wieder lesbar. Das ist schon sein dritter im Kopf geschriebener Roman, in dem er sich dieser Lösung bedient. Er hat ja gleich gewußt, daß er würde stehlen müssen. Er hat nicht bei Shakespeare geklaut und nicht bei Dürrenmatt und nicht einmal bei Simenon. Er klaute bei J. Szücs. Dazu war er übrigens gezwungen, denn bisher gelang es ihm nie, die Frage akzeptabel zu lösen, wie die Gestalt, die das Opfer im Badezimmer vorfindet, in so kurzer Zeit den Raum heizen kann (und vor allem warum), daß der Spiegel noch während ihrer Anwesenheit beschlägt. Das ist ihm schriftstellerisch glaubwürdig noch nie gelungen. Jetzt aber gab es die entsprechende Vorbereitung, die kalte Februarnacht, der Wintermantel, die Handschuhe, das innerliche Frösteln, so geht es. Und auch der Finnendolch geht. Haszlachers Dolch. Das sind die kleinen Feinheiten, die J. Szücs immer und immer wieder überzeugen, daß er ein geborener Romanschriftsteller ist. Die lässige Überlegenheit, wie er den nebensächlichen, vom Leser fast schon vergessenen Faden als Pointe zurückholt und dann als bedeutungslose Bagatelle davonschwimmen läßt. Nachricht aus dem Jenseits oder Der verräterische Spiegel ist übrigens eine einmalige Lösung in der internationalen Kriminalliteratur, soviel er weiß, erschütterndes Erlebnismaterial, dem Leben abgelauscht; aber der einfache Leser ahnt ja gar nicht, welche Qualen ein Schriftsteller aushalten muß, um solches Erlebnismaterial zu sammeln. Er braucht es auch nicht zu wissen. Der Leser soll sich ruhig amüsieren und bilden. Panem et circenses! Etukas Zug zur rumänischen Grenze, den sie benutzte, um Tante Titike entgegenzureisen und dort abzuholen, fuhr um sieben Uhr abends vom Westbahnhof ab, Tante Titike kam für eine Woche zu Besuch, sie war fast siebzig, sie hatten brieflich verabredet, daß Etuka zur Grenze fah196
ren und in Biharkeresztes bei den Törekis übernachten würde, das sind sehr nette Leute, der alte Töreki ist schon in Rente, aber Frici, sein Sohn, macht dort den Bahnhofsvorsteher, Etuka hat ihn später gelobt, wie höflich er war, zuvorkommend, sympathisch, ganz lieb, J. Szücs hat Frici Töreki sogar einen Dankbrief schreiben müssen, daß er seine Frau so freundlich aufgenommen hat. Tante Titike trifft mit dem Morgenzug in Biharkeresztes ein, Etuka steigt zu, sie kommen gemeinsam um elf Uhr fünfundzwanzig auf dem Westbahnhof an. So war es verabredet. J. Szücs und Babsi brachten Etuka zum Sieben-Uhr-Zug, der Zug fuhr los, sie winkten, auch Etuka winkte lange, „du könntest mich wirklich zum Abendessen einladen, Fefe“, sagte Babsi, als sie aus dem Bahnhof gingen, „zwei Strohwitwer unter sich, wenn du mich für voll nimmst“, denn ihr Mann hatte gerade eine Kontrolle in der Provinz zu bestreiten, natürlich nahm er Babsi für voll, sie aßen in Altbuda Fischsuppe und tranken zu zweit eine Flasche Wein, dann gingen sie in die Szücssche Wohnung, denn Babsi wollte ihm noch einen Kaffee kochen, aber sie war den ganzen Tag nicht zu Hause gewesen, „ich dusche mal schnell“, sagte sie und drehte im Bad das Gas an, dann begann sie sich auszuziehen, J. Szücs wollte hinausgehen, aber Babsi ließ es nicht zu, und als Babsi nackt aus der Badewanne stieg, trat sie vor den beschlagenen Spiegel und schrieb etwas mit dem Finger darauf, aber das sah J. Szücs nicht mehr, denn er war ins Zimmer gegangen, um das Bett zurechtzumachen, er wollte sich nicht auf die Couch legen, allzu lebendig waren in ihm Etukas Geschichten über die Couch, als sie Babsi die Wohnung überlassen hatte, da kam auch Babsi herein und legte sich in das Szücssche Ehebett, als wäre sie zu Hause, als wäre es ihr eigenes, genau wie Etuka, vielleicht ist Babsi eigentlich Etuka, dachte J. Szücs, warum nicht, sie sind ja ein Herz und eine Seele, sie haben keine Geheimnisse voreinander, sie tauschen sich über alles aus, 197
das schreckte J. Szücs freilich ein wenig ab, aber dann beruhigte er sich, dies würde sie Etuka nicht erzählen, da fiel ihm ein, er hätte doch noch einmal im Kursbuch nachsehen sollen, vielleicht kam etwas dazwischen, und Etuka stiege in Szolnok aus, dann könnte sie jetzt wieder in Budapest sein und jeden Augenblick hereinplatzen, ich sollte die Auskunft anrufen, wann ein Zug aus Szolnok ankommt, dachte er, aber er getraute sich nicht, er schämte sich vor Babsi, so daß diese Nacht, wenngleich er sich einreden konnte, nicht mit Babsi zu schlafen, sondern mit Etuka, nicht ganz störungsfrei verlief, auch später, während der Nacht, schreckte er mehrmals hoch und lauschte, ob nicht die Wohnungstür ging, ob nicht plötzlich Etuka hereinkam, dann schlief er wieder ein, Babsi jedoch schlief wie ein Murmeltier, auf dem Rücken liegend, Arme und Beine nach allen Himmelsrichtungen ausgestreckt, sie war nackt, aber wunderschön, aber trotzdem, nur eine Ecke des Lakens bedeckte ihren Bauch ein wenig, so was Schamloses, dachte J. Szücs, dann gelang es ihm mit Mühe, zum drittenmal – oder viertenmal? – einzuschlafen, am Morgen erwachte Babsi frisch und ausgeruht, J. Szücs hingegen zerschlagen, gedemütigt, vernichtet und müde, Babsi tänzelte ins Badezimmer und duschte, mit eiskaltem Wasser, denn Babsi duscht jeden Morgen, ob Sommer oder Winter, mit kaltem Wasser, dann zog sie sich an und flitzte los, ins Büro, sogar den Kaffee kochte J. Szücs noch für sie, aber er war froh, als sie endlich draußen war, endlich Ruhe, nun ging er ins Bad und stellte das Gas an, er duschte heiß, und dann, als er aus der Badewanne stieg, sah er Babsis charakteristische Handschrift mit den nach links geneigten Buchstaben auf dem beschlagenen Spiegel, sieben Worte, untereinandergeschrieben: Und – jetzt – wird – Babsi – Klein– Fefe – verführen!, eine schreckliche Vorstellung, er hätte das nicht rechtzeitig entdeckt, Etuka kommt nach Hause und will baden, und 198
da taucht die Inschrift auf dem Spiegel auf, eine Pein, nur daran zu denken, aber richtig peinlich wurde es erst ein paar Minuten später, als im Zimmer das Telefon klingelte, J. Szücs ging hin und nahm ab, es war Babsi, sie fragte, wie es ihm gefallen hätte, welch eine Schamlosigkeit auch das, und dann fragte sie noch, was er dazu sagen würde, wenn sie Etuka von dieser Nacht erzählte. Da geschah es, daß J. Szücs auf die Knie niedersank, den Telefonhörer am Ohr und am Mund, und Babsi anflehte, solche Gedanken doch bloß fallenzulassen, aber Babsi lachte nur, sie zog ihn auf, nun werde sie Etuka erst recht einweihen, und zwar in alles, in die kleinste Kleinigkeit, J. Szücs bettelte so lange, bis Babsi gnädig einwilligte, sie werde es Etuka so erzählen, als hätte sie nicht bei J. Szücs, sondern bei einem anderen geschlafen, aber mehr ließ sich aus Babsi nicht herausholen, mehr nicht, obwohl J. Szücs sie auch wegen des verantwortungslosen, leichtfertigen Geschreibsels auf dem Spiegel rügte. Und wenn Etuka mich erkennt, fragte er sich zutiefst erschrocken, wenn sie den Einzelheiten entnimmt, daß Babsi bei mir gewesen ist? Was dann? Eine unnötige Sorge, wie sich später zeigte, er weiß nicht einmal, ob Babsi ihrer Freundin überhaupt etwas erzählt hat, und wenn, dann was, verdächtig kommt ihm auch vor, daß Etuka ihm nichts von einem derartigen Abenteuer Babsis weitererzählt hat, sie hat zwar einige spöttische Anspielungen gemacht, aus denen man schließen könnte, daß Babsi es erzählt hat, aber dafür gibt es keinerlei konkrete Anhaltspunkte, vielleicht haben sich die beiden gegen ihn verschworen und wollen ihn erpressen. Eine schreckliche Geschichte. Und diese schreckliche Geschichte steckt hinter der Nachricht aus dem Jenseits oder Der verräterische Spiegel, sie ist J. Szücs’ ganz persönlich durchlebtes und tausendmal durchlittenes Erlebnismaterial. Aber was weiß der Leser schon davon! Er braucht es nicht zu wissen. 199
Ich, Ferenc J. Szücs, schwöre auf Ehre und Gewissen … So irgendwie muß ein heiliger Schwur beginnen, denn J. Szücs legt jetzt einen Schwur ab: Wenn ich jemals gesund und munter aus diesem Krankenhaus komme, und warum sollte mir das letztlich nicht gelingen, und endlich diesen Roman schreibe, mit einer richtigen Schreibmaschine und auf echtem Papier, denn diesen, den muß ich schreiben, anders als die bisherigen, bei denen ich mir immer nur vorgenommen habe, daß ich sie schreibe, und dann wurde nichts daraus, aber das jetzt ist was anderes, den werde ich schreiben, jawoll … Aber der Schwur bezieht sich nicht darauf, vielmehr will er sich schwören, bevor er zu schreiben beginnt, wird er zur Polizei gehen, zu Konsultationen und zum Studium der kriminalpolizeilichen Tätigkeit. Bisher nämlich hat er, von notwendigerweise vergessenen Kindheitserlebnissen abgesehen, nur zweimal mit lebendigen Polizisten gesprochen. Einmal vor zwei Jahren in einer Sommernacht, als er mit Etuka von Professor Lóránt kam, Etuka war ein wenig beschwipst, sie hatten bei Professor Lóránt etwas getrunken, Etuka kann dann sehr nett und lieb sein, dann standen sie vor der Haustür und klingelten, aber der Hausmeister kam nicht, um ihnen aufzuschließen, und Etuka mußte ganz nötig, sie tanzte schon auf einem Bein und schimpfte auf den Hausmeister, und auf einmal hielt sie es nicht länger aus, die Straße war menschenleer, Etuka hob flink den Rock an, hockte sich neben den Bürgersteig, rief: „Etuka ist ein ganz, ganz kleines Mädchen, Etuka macht Pipi“, und Etuka machte Pipi. Da trat der Polizist hinter der Ecke hervor, Etuka konnte gerade noch ihren Rock herunterziehen. „Würden Sie das auch in Ihrem Zimmer machen, junge Frau?“ fragte der Polizist streng. „Ihren Personalausweis, bitte.“ Dann hagelte es Fragen, Name des Vaters, Name der Mutter, wo geboren, wo wohnhaft, wo beschäftigt, verheiratet, Kinder – aber nicht der Reihe nach, sondern in raffiniertem Durchein200
ander für den Fall, daß die gestellte Person den Personalausweis auswendig gelernt hätte und nun alles verwechselte. Etuka verwechselte nichts, obgleich sie ein bißchen beschickert war. „Sind Sie Mann und Frau?“ fragte der Polizist, woraufhin auch J. Szücs seinen Ausweis zückte und überreichte, der polizeiliche Zeigefinger wanderte mehrmals zwischen Etuka und J. Szücs hin und her, „und Sie wohnen hier in diesem Haus?“ Das Ja stimmte ihn ein wenig milder, er schüttelte den Kopf, anscheinend war er neu in dieser Gegend, „ernsthafte, erwachsene Menschen, t-t-t, und tun so etwas. Die Straße ist keine Bedürfnisanstalt, junge Frau.“ Dann half er ihnen, den Hausmeister herauszulocken, was durchaus nicht leicht war, denn die Haustürklingel war defekt, wie sich herausstellte. Beim zweitenmal wechselte er nur drei, vier Worte mit einem Polizisten, beziehungsweise der mit ihm, als J. Szücs an einer Stelle den Großen Ring überqueren wollte, wo kein Zebrastreifen war. Aber das war bedeutungslos. Alles zusammen bedeutet natürlich noch keine sonderliche Sachkenntnis hinsichtlich der Polizeiarbeit, aber einem eingefleischten Romanschriftsteller genügen schon die Bruchstücke, die Moleküle der Realität, aus ihnen einen Turm zu errichten, haltbarer als Stahl, zur Erbauung, Belehrung und Ergötzung künftiger Generationen. Also: „Ich, Ferenc J. Szücs, schwöre auf Ehre und Gewissen, daß ich vor der Abfassung meines neuen Romans eingehend den Apparat und die Tätigkeit der ungarischen Polizei studieren werde. So wahr mir Gott helfe.“ J. Szücs schwant etwas, daß Schwurformeln eigentlich anders enden müßten, und er beschließt, auch danach genaue Nachforschungen anzustellen, sobald er entlassen ist. Ein Schwur muß freilich auch das Datum enthalten, das aber weiß er nicht. Das kann er nur schätzen. Seiner Schätzung nach ist es zwischen zwei und drei Uhr nachts, vielleicht auch später, womöglich auch noch 201
nicht so spät. Müde ist er nicht gerade, Schmerzen hat er nicht gerade, der Roman ist Medizin für alles, denkt er, aber nur so für sich, aufgeschrieben klänge es zu pathetisch, Zitronensaft hat er noch, Koffeintabletten braucht er jetzt nicht, aber Etukas Pipi läßt auch in ihm ein Bedürfnis erwachen, die Schwester braucht er nicht mehr zu bemühen, im unteren Fach des kleinen Tisches steht die Ente, er holt sie sich mit der linken Hand in das Bett. Er kann alleine Pipi machen. Wie ein großer Junge. Er stellt die Ente zurück. Der Schwur ist getan, nun kann er weiter an seinem Roman schreiben. J. Szücs ist in Form. Er ist entschlossen, sich jetzt nicht mehr viel um die Einzelheiten zu kümmern – Handlung und Aufbau, das sind die wesentlichen Punkte, die Feinarbeit hat Zeit, die ausführliche Ausarbeitung kommt später. Beim richtigen Schreiben. Vielleicht müssen noch politische Fragen entschieden werden, denn wenn er unbedacht drauflosschreibt, bekommt er womöglich Ärger. Daß er zu den internen Diskussionen der internationalen Arbeiterbewegung nicht Stellung nehmen wird, weiß er von vornherein. Natürlich nur im Roman nicht. Die Lage in Südostasien würde hier aufgesetzt wirken, denn vor einem Jahr, zu der Zeit, in der der Roman spielt, war sie noch nicht so akut, darauf kann er also verzichten. Soll Hauchling von der Gestapo zu den amerikanischen Imperialisten überwechseln und Wühlarbeit gegen die Sowjetunion und die Volksdemokratien leisten? Das widerstrebt J. Szücs nicht etwa deshalb, weil er den wesentlichen Fragen ausweichen will, keineswegs, er sagt jedem die Wahrheit ins Gesicht, es wäre eben nur künstlerisch zu billig, abgeklappert, ein schon tausendmal beschriebener Sachverhalt, nein, das kann er sich nicht erlauben. Außerdem ist er ein unerschütterlicher Anhänger der friedlichen Koexistenz, ein entschlossener Befürworter des Friedens und der Völkerfreundschaft, natürlich nicht eines Friedens um jeden beliebigen Preis, aber doch des 202
Friedens. Und ein bißchen denkt er auch daran, natürlich nur nebenbei, denn das ist kein entscheidender Gesichtspunkt, daß es nicht übel wäre, wenn er nächstes oder eventuell übernächstes Jahr ein Fordstipendium bekäme und für ein Jahr in die Vereinigten Staaten gehen könnte, oder auch nur für ein halbes Jahr. Die Kubafrage gehört nicht hierher, weil sie sich nicht unmittelbar mit Hauchlings Aktivitäten im Jahr 1944 in Verbindung bringen läßt, das gleiche gilt für die Unabhängigkeit der Kolonialvölker. Obzwar der Kongo kein schlechter Stoff ist, er hat ja schon zweimal gewisse Uranbergwerksaktien in Katanga angedeutet, hier läßt sich was machen, daran erkennt man den bedeutenden Romanschreiber, der bewußten Konzeption geht die instinktive Erkenntnis voraus, das aufzuschreibende Material trägt a priori alle seine Möglichkeiten in sich, die Arbeit des Schriftstellers besteht nur darin, das Material aufzuschlüsseln, die instinktive Erkenntnis der Kontrolle der Bewußtheit zu unterstellen und die Charaktere und Situationen zu formen, fertig ist der Roman. So einfach ist das. Aber die ideelle Aussage des Falles Laurentis ist der kämpferische Antifaschismus, denn er deckt nicht nur haarsträubende neue Details über faschistische Verbrechen auf, sondern führt dem Leser auch deutlich vor Augen, wie diese Verbrechen über die Distanz von zwanzig und dreißig Jahren in die Gegenwart herüberreichen, er belegt, daß die Mörder immer noch unter uns weilen und immer wieder morden, wenn es nötig ist. So gesehen, macht es nichts, wenn Józsa diesen Hauchling nicht schnappen kann, wir errichten für den Leser ein Memento: Erinnere dich! Der Faschismus lebt heute noch. Und das ist leider die volle Wahrheit. So. Jetzt muß eine lebendige, aktionsreiche Situation her, das trübe, stehende Wasser der Aussagen muß ein wenig aufgewühlt werden, andauernd das Polizeibüro, das wird langweilig, andauernd nur Józsa und Papp, Frage 203
und Antwort, mir ginge das auch auf die Nerven, wenn ich ein Leser wäre. Wie wär’s, wenn ich die beiden Abendbrot essen schickte? Józsa könnte Papp zu sich einladen, da Papp erwähnt, daß er seit Urzeiten nicht mehr dicke Bohnen mit Räucherfleisch gegessen hat. Nein, das ist nicht gut. Familienleben hat es auch schon genug. Und die arme Mórika sitzt auch andauernd nur zu Hause, sie hat nie einen Sonnabendabend, an dem ihr Mann einmal mit ihr ausgeht. Daß sie sich das gefallen läßt. Józsa sollte einfach zu Hause anrufen, dann gehen sie zu dritt in ein Restaurant, jetzt einen guten Gaststättennamen finden, sagen wir, „Goldener Knurrhahn“, ausgezeichnet. Sie gehen also in den „Goldenen Knurrhahn“ essen. Aber nur zu dritt? Wie wäre es, wenn Papp vorschlüge, auch Frau Tamacskó einzuladen, die gleichfalls zu Hause herumsitzt, weil Józsa ihr geboten hat, der Polizei jederzeit zur Verfügung zu stehen. Zuerst will Józsa protestieren, es ist ein Aufbegehren seines angeborenen Anstandsgefühls, mit so einer Frau gesehen werden, denkt er, und dann noch Mórika mit ihr an einem Tisch, das geht nicht, aber dann ist es ihm peinlich, Papp eine Abfuhr zu erteilen, schließlich ist er unschuldig festgenommen worden, zudem, und das ist letztlich am wichtigsten, Frau Tamacskó weiß zu der Sache Laurentis vielleicht noch etwas zu sagen, das bisher nicht bekannt ist. Die Mordumstände müssen noch genauer als bisher geklärt und rekonstruiert werden, so daß schließlich fachliche Überlegungen siegen, Józsa veranlaßt die Aufhebung der polizeilichen Sperrung des Jaguar, Papp ruft Frau Tamacskó an, Józsa seine Frau, sie gehen hinunter, Papp setzt sich an das Steuer des Jaguar, zuerst holen sie Frau Tamacskó ab, sie wohnt näher, dann Mórika, und als alle vier zusammen sind, geht es zum „Goldenen Knurrhahn“, wo alle Tische besetzt sind, da Sonnabendabend ist, auf dem Parkett in der Mitte wird getanzt, 204
doch der Oberkellner kennt Józsa, das hat mit einer Devisensache zu tun und liegt lange zurück, 1946, er läßt sofort einen zusätzlichen Tisch aufstellen, für vier Personen, die Speisenkarte, die Bestellung, zwei Flaschen Badacsonyer Riesling, der Oberkellner füllt Papps Glas zuerst, Papp kostet den Wein und schnalzt mit der Zunge, ausgezeichnet, hm, hervorragend! So, jetzt sieht alles gleich ganz anders aus, soll er einen hübschen Abend in Budapest haben, vielleicht wird der Roman in andere Sprachen übersetzt, ein bißchen Werbung für den Fremdenverkehr macht sich immer gut. Siehe Krúdy.
Neuntes Kapitel „Achtundvierzig, neunundvierzig, fünfzig, zählte ich, der Wand zugewandt, die Augen geschlossen. Es hilft immer, ich wußte es, dabei atmete ich tief ein und aus und hatte mich völlig unter Kontrolle, das beruhigt mich immer. So war es auch jetzt. Währenddessen dachte ich gar nicht darüber nach, was ich tun sollte. Ich konzentrierte mich darauf, meine Ruhe zurückzugewinnen. Es gelang mir. Ich drehte mich um. Ich wußte, daß Edmundo von Hauchling getötet worden war, auch, daß Hauchling für die Gestapo arbeitete. Die Schlußfolgerung ergab sich von selbst: daß ich in Gefahr war. Und daß auch Mari in Gefahr war, wenngleich ich von ihren geheimen Verbindungen nichts ahnte. Eine Gefahr hätte schon der schräg in Edmundos Rücken gebohrte finnische Dolch dargestellt. Edmundo war oft mit mir gesehen worden, beziehungsweise ich mit ihm, ich hatte nicht die Mittel, festzustellen, ob Hauchling Fingerspuren auf dem Griff des Dolches hinterlassen hatte, aber ich hatte den Dolch 205
während der zwölf Jahre unzählige Male in der Hand gehabt, einige Fingerabdrücke von mir hätten genügt, mich des Mordes zu verdächtigen. Ich hatte nicht mehr genug Zeit, nach Hause zu gehen und nachzusehen, ob Hauchling das Lederfutteral des Dolches dort liegengelassen oder aber mitgenommen hatte, um dann wieder herzukommen. Und wenn er es mitgenommen hatte, lag es dann noch irgendwo in dieser Wohnung, mit meinen Fingerabdrücken darauf, oder hatte er es nach dem Mord weggebracht? Ich verstand nicht, weshalb er Edmundo nicht erschossen hatte. Einmal, Anfang September, war er bei mir gewesen, es war sehr warm, er zog sich die Jacke aus, da sah ich, daß er in der Brusttasche einen Revolver bei sich trug. Ich fragte ihn, wozu. Er nahm ihn in die Hand, es war ein einfacher belgischer Browning, dann zog er noch etwas aus der Tasche, das wie ein Rohr aussah, heute weiß ich, es war ein Schalldämpfer. Wozu die Kanone, fragte ich. Er lachte und antwortete: Falls ich mal die Deutschen auf den Fersen habe, bekommen sie mich nicht geschenkt. Ich gelangte also zu der logischen Annahme, daß er den Mordverdacht auf mich lenken wollte. Doch welches Ziel er damit verfolgte, war mir nicht klar. Das verstand ich erst Monate später. Ich hatte nur die plötzliche Heimkehr der alten Haushälterin María-Pilar zu befürchten, Mari nicht, wenn sie käme, und außer mir hatte Edmundo vermutlich niemanden gleichzeitig zu sich gebeten, sonst wäre der oder die Betreffende inzwischen eingetroffen. Ich blickte auf meine Uhr. Drei Minuten fehlten bis acht. María-Pilar war möglicherweise im Kino. Edmundo konnte sie weggeschickt haben, oder sie hatte sich frei genommen. Wollte ich nicht bemerkt werden, mußte ich die Wohnung so bald wie möglich verlassen. In erster Linie interessierte mich das Lederfutteral des Dolches. Den Dolch selbst kannte Mari, eventuell auch Nina, sofern Hauchling ihn ihr bei mir gezeigt hatte. 206
Den Dolch mußte ich verschwinden lassen, also mitnehmen. Und das Futteral ebenfalls, wenn es sich in der Wohnung befand. Ich seufzte, es war ein abscheuliches Gefühl, aber ich mußte es tun. Ich zog den Dolch aus Edmundos Rücken und wischte das Blut an Edmundos rotem Bademantel ab. Der geflieste Fußboden war nicht sehr blutig, ich betrachtete auch meine Schuhe, daran keine Spur. Sicherheitshalber suchte ich mir aber einen Lappen, und nachdem ich mich überzeugt hatte, daß sich das Futteral nicht im Badezimmer befand, wischte ich den Fußboden vor mir sauber, um keine Fußspuren zu hinterlassen. Ich hatte mich mit Gerichtsmedizin befaßt, ich verstehe ein wenig davon. Wenn man meine Fußspuren draußen in einem der Zimmer identifizierte, wäre das nicht weiter schlimm. Es war kein Geheimnis, daß ich bei Zinner-Loewe verkehrte. Ich löste meinen Schal vom Hals und wickelte den Dolch hinein, das Bündel steckte ich in die Manteltasche. Dann suchte ich das Futteral, auch in Maris Zimmer, aber ich fand es nicht. Wenn ich Hauchling wäre, so überlegte ich, hätte ich das Futteral um jeden Preis in meiner Wohnung gelassen, um den Verdacht auf mich zu lenken. Der Dolch paßt genau hinein, das wäre ein Beweis mehr. Die ganze Zeit über behielt ich die Handschuhe an. Von der Nachricht aus dem Jenseits konnte Hauchling nichts wissen, er war vermutlich überzeugt, Edmundo sei tot, doch dieser hatte sich mit letzter Kraft zum Spiegel geschleppt und den Namen des Mörders daraufgeschrieben. Doch das befreite mich nicht vom Verdacht. Hauchling, wie gesagt, sah mir sehr ähnlich. Der Dolch und das Futteral, in das er paßte, waren ein ebenso starker Beweis gegen mich wie die Spiegelinschrift gegen Hauchling beziehungsweise Bender. Und der politische Hintergrund des Mordes, daß der Täter also bei der Gestapo zu suchen war, würde bestimmt vertuscht werden sollen. Die Spanier brüsteten sich im Februar neunzehnhun207
dertfünfundvierzig längst nicht mehr mit ihrer Großzügigkeit gegenüber dem deutschen Geheimdienst. Sie gaben sich bereits rechtschaffen Mühe, die Alliierten von ihrer westlich-demokratischen Gesinnung zu überzeugen. Das alles überlegte ich mir nahezu automatisch, irgendwie auf einer zweiten Denkebene, während ich nach dem Futteral forschte, dabei bemüht, so wenig Unordnung wie möglich anzurichten. Aber das Futteral war nicht zu finden. Ich mußte gehen, wollte ich nicht riskieren, neben dem ermordeten Zinner-Loewe angetroffen zu werden. Denn dann wäre ich geliefert gewesen: in der Manteltasche der blutige Dolch, zu Hause das Futteral. Vermutlich jedenfalls. Ich öffnete vorsichtig die Wohnungstür und lauschte. Alles war still. Ich lief die Treppe hinab und an der dunklen Hausmeisternische vorbei auf die Straße. Jetzt so schnell wie möglich das Weite suchen! Während ich auf der Preciados ein leeres Taxi anhielt und einstieg, machte ich mir nur um Mari Sorgen. Fast hätte ich dem Fahrer meine Adresse genannt, doch mir fiel rechtzeitig ein, dann könnte herauskommen, daß ich mich in der Gegend des Tatorts aufgehalten hatte, deshalb ließ ich mich lieber zum Bahnhof Atocha fahren, dort lief gerade der Personenzug aus Toledo ein, ich mischte mich unter die Ankommenden, und beim Verlassen des Bahnhofsgebäudes provozierte ich eine kleine Auseinandersetzung mit einem älteren Eisenbahner, der am Ausgang stand, er würde sich bestimmt erinnern, falls ich mein Alibi nachweisen müßte, daß ich mit den Reisenden aus Toledo herausgekommen war. Danach nahm ich mir erneut ein Taxi, in der Nähe meiner Wohnung stieg ich aus, suchte mir einen Gully und ließ, als niemand in der Nähe war, den Dolch zwischen den Stäben des Rostes hindurch in den Schacht fallen. Dann ging ich nach Hause, zerschnitt mit einer Schere den Schal in kleine Stücke und spülte diese – vorsichtig, um keine Verstopfung zu verursachen – in der Toilette hin208
unter. Das leere Futteral fand sich wirklich an. Ich zog mir wieder den Mantel über, ging hinaus und ließ es in einem anderen Gully verschwinden. Da wurde mir bewußt, daß ich mich ganz so benahm, als wäre ich der Mörder. Ich dachte unablässig an Mari, während ich, wieder zu Hause, mit benzingetränkter Watte die Sohlen meiner Schuhe und mit einem anderen Wattebausch meine Hände säuberte. Dann zog ich mich aus und nahm ein Bad. Im Badezimmer fiel mir wieder der arme Zinner-Loewe ein, wie er im roten Bademantel auf den schwarzweißen Mosaikkacheln lag, mit dem erstarrten Zeigefinger seinen Mörder anklagend. Inzwischen war der Mord sicherlich entdeckt worden. Ich war sehr aufgewühlt. Um Ruhe zu finden, nahm ich ein leichtes Schlafmittel und legte mich ins Bett, ich schlug den Don Quijote auf, zwang mich zum Lesen und wartete, daß der Schlaf käme. Er kam.“ So wird das irgendwie gemacht, denkt J. Szücs. So dürfte es auch der brave, alte Michelangelo Buonarotti auf dem Gerüst unter der Decke der Sixtinischen Kapelle gemacht haben; halb auf dem Rücken liegend, die Kohle in der Hand (wahrscheinlich hat er Kohle benutzt – genau nachsehen, wie Fresken gemalt werden!), fertigte er die Skizze an, dann, um einen Begriff zu bekommen, wie das Ganze aussehen wird, wenn es fertig ist, malte er eine Engelshand in perspektivischer Verkürzung farbig aus, er wollte sehen, wie sich die Farbe aufsaugte, ob sie nicht abbröckelte, wie sie haftete, am nächsten Morgen würde er auch sehen, wie lebhaft die Töne waren, denn bis dahin würde die Farbe einigermaßen getrocknet sein, daraus ließe sich dann allerlei schließen, na gut, also irgendwie so werden die Details aussehen, technisch gar nicht übel, Aussage und innerer Monolog in einem, oder wie wir Romantheoretiker sagen, monologue intérieure, das scheint also in Ordnung zu sein, daran braucht er nicht mehr herumzubasteln, das ist redliche Handwerks209
arbeit, jetzt kann wieder die große Komposition an die Reihe kommen, das breit gefächerte Gemälde mit seinen relativierten Teilproportionen, die artistische Verknüpfung der Personen und, was am wichtigsten ist – das konnte der brave, alte Buonarotti freilich nicht, da hinken seine Möglichkeiten hinter denen von uns Schriftstellern hinterher –, die zeitlichen Bewegungen, vorwärts, rückwärts und seitwärts in der Zeit, ganz zwanglos, die ständig zueinander ins Verhältnis gesetzten Veränderungen der Figuren, Schauplätze, Situationen und Zeiten. Man muß natürlich wissen, wie das gemacht wird. Ich weiß es. Der Inhalt steht im großen ganzen, jetzt dazu die adäquate Form suchen. Das Tonbandgerät wird wirklich am besten sein, hier paßt puritanische Schlichtheit, ein Text, grau in grau, mit kleinen eingebauten Dialogen, sonst nur Text und nichts anderes. Nicht von außen nach innen darstellen, sondern umgekehrt, und nur nichts Grelles, Marktschreierisches. Goldener Knurrhahn? Kommt nicht in Frage! Text, Text. Wie ein Dokumentarhörspiel im Rundfunk. Józsa hatte nämlich, bevor sie die Polizei verließen, ein kleines, batteriebetriebenes Tonbandgerät in seine Aktentasche gesteckt, ein hübsches ausländisches Fabrikat, aber wieso ein ausländisches? Ein ungarisches natürlich, unsere nachrichtentechnische Industrie kann sich doch wirklich sehen lassen, so etwas können wir auch produzieren, erst recht, wenn es von der Polizei benötigt wird, fünfeinhalb bis sechs Stunden auf beiden Seiten des Bandes, darauf hat vieles Platz, auch der Goldene Knurrhahn, Józsa versteht auch von Tonband- und Radiotechnik etwas, wovon versteht Józsa nichts? Józsa versteht von allem was, sonst könnte er kein Romanheld bei J. Szücs sein, und um ein kleines, batteriebetriebenes Tonbandgerät zu bedienen, dazu bedarf es wirklich keiner großartigen technischen Qualifikation. 210
Józsa bereitet sich schon auf den Bericht vor, den er für den stellvertretenden Minister schreiben muß, wenn das Material aufgenommen ist, wird er es im Büro abhören, zusammenschneiden wie ein Rundfunkreporter, die entsprechenden Erklärungen und Ergänzungen hinzufügen und alles von Elzike abtippen lassen, dann wird er es nochmals durchlesen, korrigieren, ergänzen, ein bißchen in die rechte Form bringen, Elzike wird den endgültigen Text nochmals abschreiben, und der stellvertretende Minister wird auf strahlendweißem Papier einen knapp und präzise formulierten Bericht vorgelegt bekommen, ohne Durchgeixtes, Ausgestrichenes und Reingeschriebenes, in dem Bericht wird nur stehen, was den stellvertretenden Minister interessiert, unerwähnt bleibt, daß Papp nach dem Essen Mórika zum Tanz auffordert, natürlich erst, nachdem er Józsas Erlaubnis eingeholt hat, sie gehen zum Parkett, Mórika, die so selten Gelegenheit hat, sich auf solche Weise zu vergnügen, lacht laut während des Tanzes, und inzwischen versucht Frau Tamacskó, die (und daran darf keinerlei Zweifel aufkommen) berückend schön ist, denn sie ist ja aus Etuka und Babsi zusammengeknetet, Józsa zu becircen, von dem Badacsonyer Riesling sind sie alle ein wenig beschwipst, sogar Józsa, er hat ja schon am Nachmittag mit Papp von seinem Repräsentationsschnaps getrunken, und Frau Tamacskó gelingt es um ein Haar, Józsa einzuwickeln, betörend wie sie aussieht, aber Józsa wird im letzten Augenblick von seinem Tonbandgerät errettet, denn ihm fällt ein, daß das Gerät läuft, auf Aufnahme gestellt, doch Józsa ist viel zu verschlagen, als daß er in solche selbstgestellten Fallen ginge, er greift zu seiner Aktentasche, öffnet sie, langt hinein und schaltet den Apparat aus, erst jetzt bespricht er mit Zsu, daß er sie am Montagnachmittag zu einer kleinen Tatortbesichtigung aufsuchen wird, denn ihr Mann kommt erst am 211
Dienstag in den Vormittagsstunden von seinem Berliner Kongreß zurück, heut nachmittag hat er angerufen. Józsa greift wieder in die Tasche und schaltet das Gerät ein, denn der Madison ist zu Ende, Mórika und Papp kommen zum Tisch zurück, Papp bietet Józsa eine feine kubanische Zigarre an, hier hat er endlich gute Zigarren kaufen können, und Józsa, in dem das Pflichtbewußtsein nie erlahmt, lenkt das Gespräch auf Papps Geschichte. Das Tonbandgerät registriert jedes Wort, als säße ein süßer kleiner Kobold darin, Kopfhörer an den Ohren und ein Mikrofon in der Hand. Neugierig und wie erstarrt lauschen die beiden Frauen dem Schauermärchen. „Sie haben mir noch nicht erzählt, Herr Papp, wie es Mária Zucker ergangen ist.“ „Von Mari bekam ich einen Tag später einen Brief, der vom Tag vor dem Mord datiert war. Darin schrieb sie: ich liebe Hauchling, ich verreise mit ihm, sei mir nicht böse, ich kann nicht anders. Was ich da las, war natürlich niederschmetternd für mich. Als ich mich ein wenig von der ersten Erschütterung erholt hatte, begann ich nachzudenken. Edmundos Anruf, er habe mir etwas sehr Wichtiges mitzuteilen; der Mord; Edmundos Nachricht aus dem Jenseits, Hauchling beziehungsweise Bender, unter diesem Namen kannte er ihn, sei ein Agent der Gestapo; Hauchlings Versuch, den Mordverdacht auf mich zu lenken – das alles ließ mich daran zweifeln, daß Mari den Brief aus freiem Entschluß geschrieben hatte. Die Angelegenheit kam mir um so merkwürdiger vor, als mit Hauchling und Mari auch Milaja verschwunden war. Wohin, wie und wann sie verschwunden waren, wußte ich nicht. Im Zusammenhang mit der Ermordung ZinnerLoewes wurde ich natürlich von der Polizei verhört, aber ich äußerte mich so zurückhaltend wie nur möglich, den Fragen entnahm ich, daß die Botschaft auf dem Spiegel ihre Wirkung getan hatte, man verdächtigte ausschließlich Bender, also Hauchling. Neben Zinner-Loewes Lei212
che war die der alten Haushälterin gefunden worden, sie war bei dem gräßlichen Anblick wahrscheinlich einem Herzanfall erlegen. So hatte Hauchling nun den Tod zweier Menschen auf dem Gewissen.“ In diesem Augenblick kommen J. Szücs Zweifel: Die Situation im Goldenen Knurrhahn ist schriftstellerisch unglaubwürdig. An Papps Geschichte ist nichts auszusetzen, aber Józsas Verhalten – nein, so geht das nicht. Frau Tamacskó kann nicht einen Polizeioffizier einwickeln. Unmöglich, daß er sich von so einer becircen läßt. Und diese Tonbandaffäre im Nachtlokal: unecht. Ein völlig unechtes, gekünsteltes, spekulatives Hirngespinst ohne jeden Realitätsanspruch. Ausgesprochen miserabel. Er überlegt: wenn er einen Roman zum Lektorieren oder Begutachten bekäme, in dem so etwas steht, er ließe es nicht durchgehen. Er würde dem Autor behutsam nahelegen, diese Passagen zu überarbeiten, und zwar gründlich zu überarbeiten. Und wenn das Publikum noch so sehr nach guten ungarischen Kriminalromanen giert. Wir haben kaum ein paar Schriftsteller, die welche schreiben, und was die schreiben, schluckt das Publikum bedenkenlos. Bestseller. Mit so einer aus der Luft gegriffenen, hirnverbrannten Situation kann J. Szücs nicht vor den Lektor treten, vor die breitesten Leserschichten schon gar nicht. Ein J. Szücs würde vor Scham im Boden versinken, wenn er auch nur zehn Zeilen mit der Anmerkung zurückbekäme, sie seien schriftstellerisch unglaubwürdig. Nein. Diesen Teil wird er, wenn er den Roman schreibt, gründlich überarbeiten. Nicht die Fabel selbst, nur diese Situation im Goldenen Knurrhahn. Schnitt, Schluß. Das wird überarbeitet, spart euch jedes weitere Wort. Wie stolz wird Etuka auf mich sein, wenn der Roman dereinst erscheint! Und Babsi auch. Babsi wird auch stolz sein. Als wäre sie auch meine Frau. Bálint zählt nicht. Und Professor Lóránt wird vor Neid platzen. Wis213
senschaft, Sitz in der Akademie, Professur, dieser Titel und jener Rang, das ist alles sehr schön, aber Klassiker der zeitgenössischen Prosa und noch dazu eines so beliebten Genres, wie der Krimi es ist, zu werden! Wie gesagt, er wird platzen vor Neid. Und auf einen Schlag wird Babsi ihren liederlichen Lebenswandel aufgeben, und Etuka wird nichts mehr über Babsi zu erzählen haben, was an die Grenze der Pornographie reicht oder sie manchmal sogar überschreitet, sie wird nicht mehr so tun können, als hätte sie selbst das alles erlebt und nicht Babsi, wer wagt es schon, einen erfolgreichen Kriminalschriftsteller zu betrügen, denn der kommt dahinter, der kriegt es ’raus, der hat eine Logik, die scharf ist wie eine Rasierklinge, der jagt Furcht ein, o ja, und wie! Furcht nicht nur vor dem Entdecktwerden – denn er kriegt es heraus –, sondern auch vor der grimmigen Rache. Denn den echten Kriminalschriftsteller hält nur sein hohes moralisches Bewußtsein davon ab, das perfekte Verbrechen zu begehen, er ist der Herr der Welt, er ist … Nur einmal, ein einziges Mal hat er es getan, ihm ist heut noch nicht ganz klar, wie es geschah, die Mücken, mit den Mücken fing es an, damit, daß sie unerträglich stachen, als er draußen auf der Veranda saß und arbeitete, alle Augenblicke mußte er sich auf die Füße, die Arme, den Rücken klatschen, er konnte sich gar nicht auf seine Arbeit konzentrieren, denn die Biester brachten ihre winzigen, peinigenden Nadelstiche ganz plötzlich, ganz unvermutet an den unmöglichsten und unberechenbarsten Stellen an, zum Beispiel an der Spitze des zweiten Zehs, von außen gesehen, des rechten Fußes, dann unter dem linken Auge, unter der Brille, und dann an der Schulter, es war nicht auszuhalten, er wollte sich etwas überziehen, aber das ging auch nicht, wer zieht sich bei dreiunddreißig Grad im Schatten etwas über, wenn einem schon die Badehose lästig fällt, aber sie krochen sogar unter die Badehose und stachen ihn auch dort, die verdammten Lu214
der, vor ihm der verwilderte Garten, gegenüber der baufällige Zaun, am Straßenrand davor die drei Nußbäume, im Garten die zwei Kirschen und der kleine Birnbaum, schwächlich, aber vielversprechend, am Weg entlang die rosa Petunien und die Gruppe der niedrigen roten Nelken, von seinem Platz aus sah er auch die gelbe Studentenblume und neben der weinberankten Laube die Margeriten, zur Rechten das kleine, graublaue Häuschen mit dem Radbrunnen darin, das eher wie ein Lokus aussah, und das alles eingebettet in ein vielschichtiges, vielfach geschichtetes und in der Farbwirkung doch einheitliches Grün, aus dem mit unterschiedlicher Helligkeit zu den verschiedenen Tageszeiten die kleinen weißen Tagnelken, die Tausendschönchen, die gebüschelten Gräser und hier und da die bereits vergilbenden, sanft sich neigenden Halme des wilden Roggens hervorleuchteten. Nur die Mücken waren unausstehlich auf der Veranda des kleinen Sommerhauses. Ist Horaz auch von den Mücken gestochen worden? Er wahrscheinlich auch. Wie mag er sich gewehrt haben? Indem er sich mit einer Salbe einschmierte? Schon möglich. Hatte er ein Insektenvertilgungsmittel? Vielleicht auch das. Aber damals … Insektenvertilgungsmittel. Etuka hat irgendwo ein Spray eingepackt, für solche Fälle. Wo steckt es? Er geht in das Sommerhäuschen, sieht in der Tasche nach, dann in dem kleinen Koffer, dort liegt die Büchse, hübsch und bunt mit einem weißen Deckel darauf und einer Gebrauchsanweisung, er liest sie durch, systematisch, das ist Wissenschaft, da darf man nicht schludern, „denn von meiner zarten Kindheit an verspürte ich ein unlöschbares Begehren, die scholligen Wege der Wissenschaft einzuschlagen“, einst hat er diesen Satz in ausnahmslos alle seine Lebensläufe hineingeschrieben, später ließ er ihn dann weg, vielleicht, weil er diese Wege eingeschlagen hatte, die scholligen Wege der Literatur und der Künste, und weit ist er schon vorangekommen 215
auf ihnen, weit, ja, weit! In letzter Zeit allerdings sucht ihn immer öfter der Gedanke heim, ob diese ungeheure weltliterarische Bildung nicht eigentlich Fachidiotie ist, und das ausgerechnet bei dieser schier grenzenlos schnellen Entwicklung der Naturwissenschaften. Sollte man nicht naturverbundener leben, zurück zur Natur, retournons á la nature, wie der ehrenwerte Rousseau einstens sagte, aber auf höherer Ebene, auf dem Stand der Zeit; als Naturwissenschaftler? In der Mathematik käme ich leider zu spät, und für sie habe ich auch kein rechtes Talent, was dann, Physik, Astronomie, Technik, Maschinen und so weiter, das verlangt alles Mathematik, nein, das ist nicht mein Fach, Chemie? Vielleicht. Biologie. Die Biologie der Mücken. Die Versuchsreihe beginnt, den Sprühkopf immer senkrecht halten und darauf achten, daß Kleidung, Möbelbezüge und Gardinen nicht besprüht werden, daß nichts in die Augen gelangt, daß wir nicht zuviel davon einatmen, die Speisen stehen nicht hier auf dem Tisch in der Veranda, die Sodaflasche hineinbringen, Zigaretten und Aschenbecher ebenfalls. So. Ab mit der Kappe, jetzt wird gesprayt. Überraschenderweise stinkt es nicht, es riecht angenehm süßlich, die Mücken werden auch wohlwollend schnuppern. Der süße Tod. La dolce morte. Wir setzen dem verantwortungslosen Treiben der Mücken ein Ende, dreckige, hochmütige kleine Dinger, krepiert! Es sieht nicht so aus, als krepierten sie. Sie fliegen davon. Eine sitzt auf dem Fensterbrett, auf sie ziele ich: sie fliegt davon. Eine andere links an der Wand: sie fliegt auch davon. Fliegt nur, lebend kommt ihr nicht zurück! Da ist ein ganzer Schwarm, mitten hinein! Und nach oben an die Decke und in die Ecken, dort hocken sie massenweise. Da erscheint Alfonso an der Decke, eine meiner Spinnen, ich habe ihnen allen Namen gegeben, zwischen Dach und Stromleitung haust die Große Gnädige, sie kommt 216
mit Einbruch der Dunkelheit als letzte hervorgekrochen, sie ist auch die größte und ruhigste, sie hat etwas Würdevolles an sich, das Kreuz trägt sie auf dem Rücken wie ein Ritter des Malteserordens, wie Hauchlings Vater, und Traufi, die Große Graue, die Kleine Graue, Kügelchen, die Kleine Rote und der dumme Bubu, ich weiß, diese romantischen Namensgebungen sind verräterische Anzeichen einer anthropomorphen Anschauung, aber die gehört leider zu meiner literaturzentrischen Haltung, mein Liebling ist Ladislaus, wenngleich meine naturwissenschaftliche Bildung nicht so weit reicht, daß ich feststellen könnte, welche männlichen und welche weiblichen Geschlechts sind, möglicherweise ist Ladislaus ein Mädchen, was weiß ich! Ladislaus bekommt auch Futter von mir, wenn ich eine krepierte Fliege oder abgestürzte Biene finde, hänge ich sie immer in sein Netz, nicht weil er mir sympathischer ist als die anderen, nein, ich kann nur sein Netz am leichtesten erreichen, von welch äußerlichen Dingen doch die Sympathien des Menschen abhängen! Ladislaus ist nicht gierig, er ist auf angenehme Weise zurückhaltend, sucht nicht meine Freundschaft, das Futter in seinem Netz nimmt er gelassen in Augenschein, wenn er an diesem Tag bereits gefressen hat, spinnt er es sorgfältig ein und kehrt dann in die Mitte des Netzes zurück, wartet und arbeitet, er verläßt seinen Arbeitsplatz nicht, weil er eben satt ist, er besitzt Pflichtbewußtsein, instinktiv zwar nur, aber trotzdem imponiert so etwas. Unter der Decke taucht also Alfonso auf, die kleine, junge Spinne, die immer so springlebendig und spaßig ist und unablässig nervös an ihrem Netz herumflickt, daß man fast schon selbst Lust zum Arbeiten bekommt. Aber jetzt stimmt etwas nicht mit Alfonso, er setzt seine acht Beine schlapp und träge, sein Gang ist stolpernd und immer stolpernder, er hält inne, schwankt, hält mit Mühe sein Gleichgewicht, und da wird mir erst 217
klar, daß auch Alfonso etwas von dem Mückenspray abbekommen hat, armer Junge, was wird nun aus dir? Alfonso wollte ich nichts antun, Spinnen sind nützlich, sie vernichten Fliegen, Mücken und ähnliche fliegende, Seuchen und Krankheiten verbreitende Insekten, aber wenn es ihn schon erwischt hat, muß ich die Wirkung beobachten, wissenschaftliches Interesse übermannt mich, ich muß den Pseudohumanismus, der in mir aufkommen will, unterdrücken, die Wissenschaft ist ebenso wie die Natur erbarmungslos und gleichgültig, sine ira et studio, Alfonso verhält sich, als wäre er betrunken, er stolpert und taumelt, dann reißt er sich zusammen, aber auf einmal, als könnte er nicht mehr, fällt er von der Decke, aber nur ein paar Zentimeter, ein zarter Faden hält ihn fest, so schwebt er wie ein kleines Pendel, er ruht sich jetzt aus, sammelt Kräfte, hangelt sich in die Höhe, anscheinend fühlt er sich nur dort oben, in der Nähe des Netzes, sicher, aber bevor er ganz oben ist, verlassen ihn wieder die Kräfte, er stürzt wieder in die Tiefe, aber diesmal noch weiter, ruht wieder aus, zuckt ab und zu zusammen, klettert dann wieder nach oben, schwingt in Höhe meines Kopfes wie ein Pendel aus, eine Nervenlähmung, etwas anderes kann das nicht sein. Das Insektenvertilgungsmittel wirkt auf das zentrale Nervensystem, das ist mir jetzt klar, Alfonso nimmt davon keine Kenntnis, er will leben, mit aller Kraft leben, er ist keine Mücke, sein Organismus ist höher organisiert, ihm verleihen wir ungewollt fast schon die Illusion des Bewußten, die Illusion des Menschlichen, aber wenn ich die Frage umkehre, Bewußtsein oder Instinkt, würde ich an seiner Stelle ebenso leiden, zucken, zittern, brrr! Sterben muß schlimm sein. Alfonsos Leiden ist mir unerträglich, ich mag es nicht mit ansehen, aber ich sehe es mit an, dieses wissenschaftliche Interesse, jetzt ist er auf dem Fußboden, beim sechsten oder siebenten Mal konnte er nicht mehr 218
hinauf, beim letzten Versuch hat er nur vier oder fünf Zentimeter geschafft, jetzt sitzt er zappelnd auf dem Steinfußboden, versucht zu gehen, zu fliehen, vor sich selbst und dem Tode zu fliehen, irgendwohin, aber er kann nicht mehr, einige unsichere Schritte, und er fällt um, liegt auf dem Rücken, schließt die acht Beine wie ein Schutzgitter über sich zusammen, zuckt aber immer noch, bis ihm die letzten Kräfte schwinden, noch lebt er, ich sehe es, daß er noch am Leben ist, aber nein, jetzt kann ich nicht mehr feststellen, ob er lebt oder tot ist, so stoße ich ihn mit der Spitze eines Zweiges an, er bewegt sich noch, das sind vielleicht nur noch bioelektrische Reflexe, nein, er lebt, er betrachtet den Zweig als Rettungsring, will sich an ihm festhalten, das gelingt ihm, ich hebe den Zweig hoch, ein Weilchen klammert er sich daran fest, dann fällt er herab, ich versuche es noch einmal, den Zweig zwischen sein Beingitter zu schieben, um ihn hochzuheben, ohne daß er herunterfällt, beim drittenmal gelingt es schließlich, ganz vorsichtig richte ich mich auf und gehe, den Zweig mit Alfonso daran in der Hand, jetzt hänge ich Alfonso behutsam in Ladislaus’ Netz, denn die Wissenschaft kennt kein Erbarmen, und ich will wissen, ob Gott die Sünden der Väter wirklich bis ins siebte Glied bestraft, oder wie war das gleich, kurz und gut, ich will herausfinden, ob das Insektenvertilgungsmittel, an dem Alfonso binnen Augenblicken sterben wird, daran besteht kein Zweifel, ob dieses Mittel auch auf Ladislaus wirkt, wenn Ladislaus den vergifteten Alfonso frißt. Also, ob Ladislaus auch krepiert. Denn J. Szücs ist frei von Pseudohumanismus, er ist gleichgültig und unbarmherzig wie die Natur. Alfonso vibriert noch ein wenig in Ladislaus’ Netz, hat aber nicht einmal mehr die Kraft, sich fallen zu lassen, Ladislaus wird ihn am Abend, wenn es dunkel ist, einspinnen, und dann wird sich zeigen, ob das Mittel auch per os wirkt. 219
So. Wo ist die Spraydose? Wenn ich einmal angefangen habe, mache ich gleich weiter, hinaus in den sonnenüberfluteten Garten, die Luft flimmert in der Nachmittagshitze, irgendwo habe ich neulich Ameisen gesehen, ich weiß schon, wo, kleine schwarze Ameisen, sie haben ein unterirdisches Nest mit zwei Ausgängen, nahe am Gartenweg, dort, wie sie wimmeln, fleißige kleine Ameisen, aber die Wissenschaft kann vor euch nicht haltmachen, leider, die Kappe ab, die Düse ausrichten, ich drücke, es sprüht, erst der erste Eingang, dann die Mitte, dann der andere Eingang und wieder der erste, wie sie flüchten! Ungeziefer. Vielleicht macht das Spray auch mich benommen, ich fühle etwas wie einen Rausch, ha, sie benehmen sich, als hätten sie einen Bauchschuß bekommen, kippen zur Seite, heben die beiden Vorderbeine vor den Leib, zucken und zappeln. Noch ein Strahl, mitten hinein! Ihr wollt ausreißen? Ich werd’s euch zeigen! Einem J. Szücs entkommt niemand! Jetzt kommen auch die geflügelten Ameisen aus dem Bau, sind das die Mütter? Wollt ihr eure Larven retten? Viehzeug! Alle sollen krepieren, alle! Mein Daumen auf dem Druckknopf, ich drücke, lasse los, drücke, lasse los, drücke. Eine größere Ameise mit durchscheinenden Flügeln, graziös und zart, sie tippelt davon, hat schon die Mitte des Weges erreicht, warte, auch du bekommst deine Dosis! Babsitox und Etutox. Ich hasse sie, was heißt wissenschaftliches Interesse, leidenschaftslose Beobachtung? Niemand entkommt mir! Im Kelch einer Petunie eine feingetigerte, schlanke Wespe, auch sie wird vernichtet, sie fällt aus der Blume auf den Sand, zappelt dort, ich ziele auf einen Kohlweißling, aber treffe ihn nicht, erwische aber einen Grashüpfer im Sprung, noch immer kommen Ameisen aus dem Nest gekrabbelt, noch immer ist die Spraydose nicht leer, psss, so macht man das, ich bin der Herr der Welt! Die Konzentration des Präparats auf das Zwanzigfache, auf das Fünfzigfache 220
erhöhen, und dann los, ein Knopfdruck, ihr gehorcht, oder ihr krepiert. Krepieren sollt ihr, samt und sonders! Nein, letztlich beschließt er, die Ergebnisse der Versuchsreihe doch nicht der Herstellerfirma des Sprays zu schicken, obgleich diese die in der Praxis gesammelten Erfahrungen sicherlich zum Wohl der Menschheit auswerten könnte. Er sitzt auf der Veranda, starrt vor sich hin und hinaus auf die dummen Margeriten, die Mücken stechen weiter, er vermeint ihr höhnisches Gelächter zu hören. Er schlägt mit der Hand nach ihnen, wo immer sie gerade zustechen, am Rücken, am Bauch, auf dem Handrücken, am Hals, an der Stirn. Egal, Horaz haben sie auch gestochen. Trotzdem ist er ein Klassiker geworden. Das beides steht nicht im Zusammenhang miteinander.
Zehntes Kapitel Zusammenfassend. Jetzt muß zusammengefaßt werden, wir dürfen nicht zulassen, daß der geschwätzige Miklós Papp alias Miguel Navarro Sánchez selbst die Story zu Ende erzählt. Kurz und bündig, darauf kommt es an. Der stellvertretende Minister will keinen Kriminalroman lesen, sondern den Bericht über den zufriedenstellenden Abschluß des Mordfalles Laurentis. Józsa durchdenkt anhand des abgehörten Tonbandes und seiner eigenen Notizen den Teil des Berichtes, den er noch diktieren muß. Also. Zusammenfassend. Am 6. Mai 1945 um acht Uhr dreißig erscheint Mária Zucker in Papps Madrider Wohnung, sie kommt geradenwegs vom Friseur und erzählt Papp, ihr frisch blondiertes Haar sei unter dem Färbemittel schlohweiß, Hauchling und seine Kumpane seien vor 221
zwei Tagen aus dem Haus in Torrelodones geflüchtet, wo sie, Mária Zucker, von ihnen in einem Betonkeller festgehalten und täglich gefoltert worden sei, sie habe die Chiffre für den Safe und das Konto in der Schweiz verraten sollen. Jetzt erst, wieder in Madrid, teilt Mária Zucker ihrem Freund Papp mit, daß sie für den Intelligence Service und in dessen Auftrag für die Gestapo gearbeitet hat, Hauchling wurde ihr von der Gestapo nach Spanien nachgeschickt mit dem Auftrag, bei Zinner-Loewe eine Beschleunigung der portugiesischen Wolframlieferungen zu bewirken. Hauchling durchschaute, daß Zinner-Loewe ihn hintergangen hatte, er hatte das Wolfram – die letzten fünf Lieferungen – den Engländern zugespielt, so daß Hauchling nicht nur den Auftrag der Gestapo nicht erfüllen konnte, sondern selbst auch um die beträchtliche Prämie kam, die ihm Zinner-Loewe als Gewinnanteil für den Fall der Lieferungen zugesagt hatte. Deshalb tötete er Zinner-Loewe, aber nicht in einem plötzlichen Wutausbruch, sondern ganz planmäßig, und zwar so, daß der Verdacht auf Papp fallen mußte, da er wußte, daß ein lebender und auf freiem Fuß befindlicher Papp die Beschaffung des gemeinsamen schweizerischen Vermögens Van Doorns und des alten Papp zumindest erschweren würde. Mária Zucker gestand infolge der Folterungen Hauchling, daß die Zahlenkombination des Kontos und des Safes aus der doppelten Zahlengruppe der Geburtsurkunden Van Doorns und des alten Papp besteht. Ohne diese zwei Zahlengruppen bleibt das schweizerische Vermögen in unerreichbarer Ferne. Die Mitteilung hatte sie Hauchling aber schon bei ihren ersten Folterungen in Madrid gemacht, an dem Tag vor der Ermordung Zinner-Loewes, deshalb erkundigte sich Hauchling bei Papp nach dem Geburtsort seines Vaters. Die genauen Registriernummern konnte Hauchling nicht in Erfahrung bringen, weil Mária Zucker sie nicht kannte, was man ihr allerdings nicht glauben wollte. Deshalb die Verschleppung 222
nach Torrelodones und die weiteren Folterungen. Töten wollte Hauchling sie aber auch nicht, da er annahm, sie würde ihm als Alleinerbin Van Doorns vielleicht bei der Beschaffung der schweizerischen Werte noch von Nutzen sein können. Doch infolge der Dummheit eines spanischen Polizeibeamten kam die Polizei Hauchling um ein Haar ungewollt auf die Spur, deshalb mußte er flüchten. Er verdrückte sich mit Milaja, und Mária Zucker wurde zwei Tage später von einem namhaften Torero und seiner Geliebten, der Schauspielerin Juana-Dolores Mendoza y Montalbán aus Barcelona, die sich zu einem geheimen Rendezvous in der Torrelodoneser Villa des Toreros trafen, in dem Betonkeller aufgefunden, an in die Wand eingelassene, armdicke Eisenringe gekettet und mit ergrautem Haar infolge all der ausgestandenen Leiden. Danach lebten Papp und Mária Zucker einige Monate relativ ruhig in Madrid, im Juni 1945 erhielt Papp nach bestandenem Staatsexamen sein Arztdiplom. Gleich danach reisen sie beide nach Holland, wo sich jedoch herausstellt, daß das Delfter Haus völlig zerstört und ausgebrannt ist und auch Van Doorns Geburtsurkunde mit Sicherheit ein Opfer der Flammen wurde. Bedauerlicherweise ist auch der Flügel des Delfter Rathauses zerbombt, in dem die standesamtlichen Unterlagen verwahrt waren. Das macht ihnen klar, daß weder sie noch Hauchling an das schweizerische Vermögen herankönnen, und deshalb auch macht sich Papp gar nicht erst die Mühe, sich die Geburtsurkunde seines Vaters aus Veszprém zu beschaffen. Er kehrt nicht nach Ungarn zurück, sondern fährt nach Erledigung einiger amtlicher Angelegenheiten mit Mária Zucker nach Spanien zurück. Dort erreicht sie ein offizielles Schreiben aus England, Mária Zucker werde in Anbetracht ihrer Dienste während des Krieges mit dem Viktoriakreuz ausgezeichnet, zudem erhalte sie künftig eine bescheidene Pension. Mária Zucker wird auch von den französischen Behörden ausge223
zeichnet, sie erhält, ebenfalls für ihre Verdienste während der Kriegsjahre, das Großkreuz der Ehrenlegion. Für Papp ist das alles eine ziemliche Überraschung, aber an Mária Zuckers Seite gewöhnt er sich allmählich an solche Dinge. Im März 1946 heiraten sie in San Sebastián, sie beantragen und erhalten die französische Staatsbürgerschaft und lassen sich in Petit-Bourg bei Paris nieder, wo Papp eine Arztpraxis eröffnet. Jedes Jahr reisen sie nach San Sebastián und feiern dort ihren Hochzeitstag. In diesem nordspanischen Kurort begegneten sich im März 1962 Papp und Professor Laurentis, der an einem internationalen Symposium für Archäologie teilnahm. Bei diesem Zusammentreffen teilte Professor Laurentis seinem ehemaligen Schulfreund folgendes mit: Dank seiner Beziehungen erreichte Hauchling Anfang 1943, daß Laurentis wegen seiner rezidivierenden Neuralgie vom Militärdienst befreit wurde, so daß er auch nicht zum Zwangsarbeitsdienst geholt werden konnte. Von dort hätte es kaum mehr ein Entrinnen gegeben. Laurentis nahm eine Stellung bei der Kredit- und Transferbank an; er wußte, daß er Hauchling gänzlich ausgeliefert war und ohne dessen Unterstützung jederzeit verhaftet und weggebracht werden konnte. Anfang 1943 argwöhnte er jedoch noch nichts, er schrieb Hauchlings Einschreiten ihrer Jugendfreundschaft zu. Die Kredit- und Transferbank war zu dieser Zeit bereits voll und ganz ein Deckorgan der Gestapo in Ungarn, Hauchling war der ungarische Resident der Gestapo für Wirtschafts- und Bankangelegenheiten. In den dreißiger Jahren war ein Großteil der ungarischen Vermögen von ihren Besitzern in westliche Länder verlagert worden, die Deutschen hätten sich gerne in den Besitz dieser Gelder, westlicher Valuten wie Gold, gebracht. Hauchling erhielt die vorrangige Aufgabe, diese Vermögen aufzuspüren und sie mit allen Mitteln für die Deutschen zu beschaffen oder sicherzustellen. Das alles ging jedoch in größter Stille und 224
Heimlichkeit vor sich, auch Laurentis selbst erfuhr nur durch einen Zufall davon. Eines Tages betrat er Hauchlings Zimmer, als dieser sich nicht darin aufhielt. Er war für einen Augenblick zur Toilette gegangen. Über dem Schreibtisch hing das Ölbild seines Vaters, des Ritters vom Malteserorden Albert Hauchling in vollem Ornat, an der Wand, doch es war zur Seite geschoben, und dort befand sich ein geheimer Safe, der geöffnet war. Laurentis hatte gerade nur Zeit, einen Blick auf das obenliegende Schriftstück zu werfen. Es war die Abschrift des Verhörprotokolls eines Budapester Bankiers mit dem Stempel der Gestapo darunter. Bevor Hauchling zurückkam, saß Laurentis bereits in der anderen Ecke des Zimmers. Das geschah im Januar 1944. Laurentis war da bereits mit dem Geschäftsgang der Bank vertraut, nun jedoch betrachtete er alles, was vor sich ging, mit anderen Augen. Er wollte weitere Informationen sammeln, und deshalb tat er, als wüßte er von nichts. Seine privaten Nachforschungen ließen ihn mit der Zeit Hauchlings gesamte Tätigkeit durchschauen. Daß auch der alte Márton Papp auf Hauchlings Liste stand, ahnte er erst, als ihm Hauchling eines Tages Grüße von ihm ausrichtete. Laurentis versuchte nun, Márton Papp ausfindig zu machen, und er brachte in Erfahrung, daß der alte Juwelier, der sich mit arischen Papieren in Budapest versteckt gehalten hatte, eine Woche vorher verhaftet worden war. Wo er festgehalten wurde, wußte niemand. Laurentis schlußfolgerte, Márton Papp sei Gefangener der Gestapo. Das war im Juli 1944. Er stellte Hauchling zur Rede, doch der lachte nur. „Was denkst du, Lauri! Soll ich mir die Hände schmutzig machen? Der Alte lebt nicht mehr, leider. Er wurde mit falschen, christlichen Papieren aufgegriffen, festgenommen und verhört, ich erfuhr leider erst zu spät davon, anscheinend hatte er was mit dem Herzen, er hielt die Aufregung nicht aus, er ist an einem Herzschlag 225
gestorben. Er tut mir leid, der arme Kerl.“ Das sagte Hauchling zu Laurentis. Ende Januar durchforschte Laurentis mit der Billigung und Unterstützung eines sowjetischen Majors ungarischer Abstammung das Gebäude der Kredit- und Transferbank. Das Gemälde Albert Hauchlings hing noch an seiner Stelle, dahinter befand sich der Safe und darin die Protokolle, auch das über das Verhör Márton Papps. Hauchling persönlich hatte seine Vernehmung geleitet. Dem Protokoll zufolge hatte Hauchling Laurentis teilweise die Wahrheit gesagt, Márton Papps Herz hielt die Folterungen nicht aus, er griff an die Brust, brach zusammen und starb, nachdem er lediglich noch hatte sagen können, er verfüge gemeinsam mit Van Doorn über ein Bankkonto und einen Safe in der Schweiz. Die Protokolle enthielten Angaben, die für die sowjetischen Behörden von Belang waren, deshalb kam das Material zur Auswertung in das Archiv der sowjetischen Spionageabwehr, so daß es in den ungarischen Gerichtsunterlagen gar nicht erwähnt wurde. Diese Mitteilungen machte Laurentis seinem ehemaligen Schulfreund Miklós Papp im März 1962 in San Sebastián. Das alles muß natürlich peinlich genau und nach Faulknerscher Manier ausgearbeitet werden. Einfach so hingeworfen wie jetzt, so geht es nicht. Farbig und abwechslungsreich. Papa Hauchlings lebensgroßes Porträt mit dem Großkreuz auf der Brust, hinter ihm das Geheimfach in der Wand. Oder zum Beispiel die abscheulichen Verhöre bei der Gestapo, die Folterkammern, der Betonkeller in Torrelodones, wo der Torero und seine Geliebte die ergraute Mária Zucker an einen Eisenring gekettet finden. Eventuell eine Szene beim Friseur in Madrid, als sie sich ihre Haare blondieren läßt. Was für Lebensbilder, welche Lebendigkeit im Stoff! Aber nicht jetzt. Jetzt ist er erschöpft, die Nase schmerzt ihn, und sie schmerzt ihn leider immer unerträglicher, vielleicht 226
nimmt damit eine allgemeine Sepsis ihren Beginn, irgend etwas stimmt nicht mit seiner Nase, er liegt hilflos im Bett und wird sterben, wenn jemand hereinkommt, ist er schon tot. Etuka wird sich ihre blauen Augen ausweinen, aber sie wird glücklich sein dabei, weil sie sich ein schwarzes Kleid machen lassen kann, Schwarz steht ihr blendend, sie ist immer gern in Schwarz gegangen, diese zarten schwarzen Perlonstrümpfe, und was für prachtvolle Beine sie hat, ich mache Etuka glücklich, ich mache sie noch im Tode glücklich, sei glücklich, Etuka, sei du nur glücklich! Wie gut ich doch bin. Ob sie durch Babsi auf die schiefe Bahn kommen wird? Das wäre schrecklich. Und sie wird nicht stolz auf mich sein können, weil ich keine Zeit mehr haben werde, den Roman zu schreiben. Nein! Ich will leben. Die Klingel! Jemand soll kommen! Rettet mich! Ich sterbe hier, gehe vor die Hunde, allein, ganz allein! Und das Ende des Romans steht noch aus. Aber vorher muß ich mich ein wenig erholen. Ferenc J. Szücs in der Zeit, und die Zeit in Ferenc J. Szücs. Er im Bett, sie auf der Erde, die Erde unter der Sonne, das Sonnensystem wiederum zieht inmitten einer Unzahl Gestirne dahin – das All im Unendlichen. Der Kalender zeigt Sonntag, den 18. Juli 1965, an. Für andere, nicht für ihn. Er kann es momentan nicht sehen. Aber daß es sich so verhält, ist auf jeden Fall von seinem Bewußtsein unabhängige objektive Realität, natürlich nur, wenn die generell anerkannte Konvention der Zeitrechnung auch von uns anerkannt wird. So weit wären wir also. Dieser Zeitpunkt also herrscht momentan um ihn herum und außerhalb von ihm. Drinnen in seinem Kopf jedoch zeigt der Kalender die Zeit von einem Jahr früher an, wenn Józsa den Blick vom Schreibtisch hebt und auf den Wandkalender richtet. Das heißt, wenn wir genau sein wollen, ist dieser Sonntag vor einem Jahr bereits der 19. Juli, leider beziehen sich die Überstun227
denvorschriften nicht auf einen Polizeioffizier, Józsa sitzt auch am Sonntag im Büro, am Montagvormittag muß der Bericht für den Stellvertreter des Ministers fertig sein. Der Mordfall Laurentis muß abgeschlossen werden. Auf zufriedenstellende Weise. Daraus läßt sich übrigens auch die Zeittheorie des modernen Romans ableiten. Der Roman wird, wenn er erst erscheint, ein Bestseller, ein Bombenerfolg, Auflagenhöhe fünfzigtausend, man sollte einmal nachrechnen, wie hoch das Honorar ist, das man dafür einstreicht, aber lassen wir das jetzt, und dann kann man anhand dieses ungeheuer fesselnden, spannenden, aufregenden Kriminalromans den Studenten die grenzenlose Freiheit vor Augen führen, die die Autoren der modernen Romane im Umgang mit der Zeit haben. Sie hat einfach keine Grenzen. J. Szücs bindet seine Seele, die zum Großen Universum hinaufsteigen möchte, an seinen Körper, so wie man einen Freiballon an den Lastkorb bindet. Das ist nicht Wirklichkeit und nicht Traum, man nennt das so: er sublimiert seinen Instinkt. Die Zeit im Roman, und der Roman in der Zeit. Das Nichts fliegt darin umher, als wäre es der Staub von irgendwas. Aber genau dieses Nichts, das darin umherfliegt, als wäre es was, das ist die Zeit. Sagen wir: Achtzehn Uhr fünfundvierzig am 28. Oktober 1963 ist ein einziges Körnchen aus der gewaltigen Staubwolke, die in J. Szücs existierende Zeit ist. Die Welt taumelt in dem sich weitenden All ihrer Zukunft entgegen, im Wohnzimmer des Häuschens in PetitBourg, wo Miklós Papp und Mária Papp geborene Zucker vor dem Fernsehapparat sitzen und sich einen spannenden Krimi ansehen, denn Mari Zucker hat viel für spannende Krimis übrig, und beim Zugucken strickt sie an einer Strickjacke für ihren Mann – so jedenfalls würde Faulkner es beschreiben –, klingelt das Telefon. Mari Zucker sagt ärgerlich: „Geh du ran“, Papp geht zum Telefon und nimmt den Hörer ab, mit dem rechten Zei228
gefinger hält er sich das freie Ohr zu, denn im Fernsehen wird gerade lebhaft geschossen, und laut, weil Mari Zucker, die inzwischen fünfundfünfzig ist, ein bißchen schwer hört, dann meldet er sich. So also beginnt die Szene in der Zeit. Den Rest wird J. Szücs noch ausarbeiten, detailliert und exakt, jetzt nur so viel, daß Doktor Vriesland, der mit Van Doorns Nachlaßangelegenheiten beauftragte Amsterdamer Syndikus, anruft, die dortige große Illustrierte De Wooch veröffentlichte in ihrer neuesten Ausgabe eine fünfseitige Reportage über die Funde bei Bauarbeiten an der Stelle, wo früher in Delft das Haus Van Doorns stand, er sei zwar schon am Vortag dort gewesen und habe Madame Papp über das Geschehene geschrieben, doch er habe nicht gewußt, daß noch vor seinem Eintreffen ein pfiffiger Reporter namens Max Irven alles fotografiert habe, die Reportage bestehe zum großen Teil aus seinen Aufnahmen, darunter befinde sich leider auch Van Doorns Geburtsurkunde mit der deutlich lesbaren Registriernummer, die Urkunde befand sich mit anderen in einer mittelgroßen Stahlkassette, die zwar beschädigt war, doch die Papiere hätten keinen Schaden erlitten, das alles sei unter den Ruinen gefunden worden, die Sensation bestehe für die Illustrierte in Van Doorns Kampf gegen den deutschen Faschismus noch vor dem Überfall auf Holland, sie stelle den Delfter Juwelier als Nationalhelden, als den ersten großen Widerstandskämpfer gegen die Deutschen hin, und dann fragt Doktor Vriesland, ob er einen Presseprozeß gegen De Wooch anstrengen solle, weil die Illustrierte unbefugt Informationen preisgegeben habe, die die Privatinteressen der Witwe Van Doorns beeinträchtigen. Eine komplizierte Rechtslage. Übrigens veröffentlicht die Illustrierte im Fotofaksimile auch ein Verzeichnis der im Safe der schweizerischen Bank deponierten Werte, bedauerlicherweise. Darunter die Aktienmehrheit der Union Ritifi du Catan229
ga. Dieses Aktienpaket war 1936 noch so gut wie völlig wertlos, inzwischen wurde auf dem Abbauterritorium ein riesiges Pechblendevorkommen entdeckt, die internationalen Börsen notieren die verschollenen Aktien der Union Ritifi du Catanga mit Höchstkursen, die Bergbaukonzession lautet auf neunundneunzig Jahre, sie kann fünfundzwanzig Jahre lang auch dann nicht entzogen werden, wenn die Aktien selbst nicht mehr existieren, oder so irgendwie. J. Szücs hat nicht viel Ahnung von Börsenangelegenheiten, auch hierüber muß er wohl Erkundigungen einziehen, im wesentlichen aber wird es so schon stimmen, und die Einzelheiten sind jetzt nicht wichtig. Nun weiter. Die Zahl unter der Van Doorns Geburt registriert wurde, ist also veröffentlicht, Hauchling kann sie jederzeit erfahren, und da bekanntlich die Organisationen des internationalen Faschismus noch immer bestehen und aktiv sind, kann als sicher gelten, daß eine, wenn auch vorsichtige, Treibjagd auf das Konto und den Safe in der Schweiz einsetzen wird. Doch dazu wird auch die Registriernummer der Geburtsurkunde Márton Papps benötigt. Inzwischen wird bekannt, daß 1965, im zwanzigsten Jahr nach der Beendigung des Krieges, die geheimen Depositen der schweizerischen Banken geöffnet werden sollen. Doch das ist noch eine lange Zeit. Eine langwierige Korrespondenz beginnt, um zu klären, wie dem ungarischen Recht nach an die Geburtsurkunde heranzukommen wäre. Leider zieht sich das hin, immer wieder stellt sich einer glatten Regelung die Bürokratie in den Weg, Papp will nicht nach Ungarn reisen, aber als Tschombé im Mai 1964 die gültigen Bergbaukonzessionen in Katanga aufkündigt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich die Geburtsurkunde des verstorbenen Márton Papp aus Ungarn zu holen. Papp möchte nämlich für das in der Schweiz befindliche Vermögen keine Erbschaftssteuer an den ungarischen Staat zahlen. Die 230
Frage ist allerdings noch nicht geklärt, ob und welche vermögensrechtlichen Verpflichtungen ihn erwarten. Sie ist auch für J. Szücs nicht geklärt, von juristischen Problemen versteht er nicht viel, auch hiernach wird er sich noch erkundigen müssen. Ein realistischer Romanschriftsteller hat es nicht leicht. Denn dieser Roman soll ja auch authentisch und genau sein. Ungeheuer schwer ist das. Na, macht nichts. Das ist die geringere Sorge. Die größere ist die künstlerische Aufgabe. Die muß er bewältigen. Damit nicht irgendwelcher magerer Kitsch herauskommt. Auf daß die Situation noch spannender werde, wird er auch noch eine Krankheit einbauen, Papp erkrankt, bis zum Verfall der Bergbaukonzessionen sind es nur noch ein paar Tage, als er endlich die Reise antritt. Fast gleichzeitig macht sich – er riskiert damit sein Leben – Alfréd Hauchling alias Doktor Hans Stefan Huber, schweizerischer Jurist, auf den Weg, um sich in Veszprém die Registriernummer zu beschaffen. Was für eine Spannung! Stunden entscheiden darüber, ob ein Riesenvermögen dem Mörder Hauchling oder dem Erben Papp zufällt. Und ob der ungarische Staat die Erbschaftssteuer kassieren kann oder nicht. Es geht um Geld, um sehr viel Geld. Um je mehr Geld es geht, desto größer ist die Spannung. Hier meldet sich im Mordfall Laurentis wieder die Logik Józsas zu Worte. Im Roman natürlich. An diesem Punkt versteht Józsa das Problem. Hauchling konnte nicht wissen, was sie von ihm und seinen Machenschaften während des Krieges einschließlich seiner Beziehungen zur Gestapo in Ungarn wissen. Er setzt sich tödlichen Gefahren aus, indem er sich die Geburtsurkunde des alten Papp aus Ungarn holen will. Dazu entschließt er sich auch nicht leichten Herzens. Aber wenn die Konzession der Union Ritifi du Catanga eingezogen wird, ist der wertvollste Teil des Vermögens futsch. Wahrscheinlich handelt es sich um Werte in Höhe von mehreren 231
Millionen Dollar. Dafür das Leben aufs Spiel zu setzen, lohnt sich schon. Er hat Pech. Gleich am ersten Abend, am 15. Juli, stößt er in der Umgebung des Hotels Gellért zufällig auf Laurentis. Laurentis erkennt ihn wieder und grüßt ihn. Hauchling antwortet auf deutsch, lächelnd teilt er ihm mit, es müsse sich um eine Verwechslung handeln, er sei nicht der, für den Laurentis ihn halte, sondern der schweizerische Rechtsanwalt Doktor Hans Stefan Huber. So groß die Ähnlichkeit möglicherweise auch sei, Laurentis müsse sich irren. Er verabschiedet sich lächelnd, dann folgt er in seinem Mercedes, dem dunkelgrauen Mercedes, dem Bus, in dem Laurentis nach Hause fährt. Er ist fest entschlossen, ihn zu erschießen. Das ist natürlich nicht sicher, Józsa nimmt es nur an, aber die Annahme scheint logisch. Hauchling kann sein Vorhaben jedoch aus irgendeinem Grund nicht ausführen. Vielleicht sind zuviel Leute auf der Straße unterwegs, oder er verliert Laurentis aus den Augen. Das kann man nicht genau wissen. Laurentis aber – auch dies ist eine Hypothese, aber eine ganz reale – sucht zu Hause die Schulzeitung hervor und sieht sich Hauchlings Foto darin an. Das heißt, er sähe es sich an, wenn es darin wäre. Es ist aber nicht darin. Der Ausländer, den er für Hauchling hielt, hat so entschieden behauptet, er sei ein andrer und nicht Hauchling, daß ihm fast schon Zweifel kommen. Jedenfalls erzählt er Zsu am folgenden Tag, er sei jemandem begegnet, den er für seinen ehemaligen Klassenkameraden gehalten habe. Er zerbricht sich den Kopf, er weiß nicht, was er tun soll. Inzwischen wartet Hauchling nur auf eine Gelegenheit, Laurentis, der ihm ungeheuer gefährlich werden könnte, aus dem Weg zu räumen. Der dunkelgraue Mercedes bleibt dem Professor überall auf den Fersen. Auch am Abend des 16. Juli steht er in der Nähe der Laurentisschen Wohnung, als der Professor aus dem Haus tritt, um zum Postamt zu 232
gehen. Auf der verkehrsreichen Thökölystraße kann er nichts unternehmen, aber die Zeit drängt. Vielleicht hat Laurentis bereits die Polizei informiert; Er darf nicht zulassen, daß der Professor wieder in die belebte Thökölystraße gelangt. Das Glück ist ihm günstig, Laurentis verläßt die Post und geht an der weniger belebten und dunkleren Seite des Stadions entlang. Mit dem Wagen folgt er ihm, fährt in seine Nähe, stoppt kurz, stützt den belgischen Browning mit dem Schalldämpfer auf den Rahmen der herabgelassenen Fensterscheibe, zielt und drückt ab, Laurentis stürzt zu Boden. Hauchling fährt weiter. Welche Überlegungen mag Hauchling nun angestellt haben? Was täte ich in einer solchen Situation, läßt J. Szücs sich den in seine Gedanken vertieften Józsa fragen. Nach Veszprém fahren? Noch in der Nacht? Oder die Nacht im Hotel Gellért verbringen und erst am Morgen abfahren? Natürlich letzteres. Die Frage stellt sich so: Wenn Laurentis seine Vermutung bereits der Polizei gemeldet hat, dann wird er in Veszprém ebenso festgenommen wie in Budapest. Wenn nicht, dann wird er unbehelligt im Hotel übernachten können. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Nach dem Mord gerät Hauchling in Panik, er verzichtet auf die Geburtsurkunde des alten Papp und sieht zu, daß er so schnell wie möglich über die Grenze kommt. Binnen zwei Stunden kann er im Ausland sein, vielleicht noch, bevor die Tat entdeckt wird. Doch wenn er Ungarn verläßt, ist das Vermögen futsch. Und Hauchling ist, wie die Ereignisse zeigen, nicht der Typ, der so leicht in Panik gerät. Außerdem ist der Einsatz so groß, daß er einfach ein Risiko eingehen muß. Im Hotel hat die Polizei offenbar noch nicht nach ihm gesucht. Vermutlich entschließt er sich, am folgenden Tag, also am Freitag, dem 17. Juli, kurz vor Ende der Sprechzeit in das Veszprémer Standesamt zu gehen und sich dort den Auszug aus dem Geburtenregister zu ho233
len. Es liegt an der bürokratischen Pedanterie und am unbestechlichen Charakter der Mária Ikkán, daß Hauchling die gewünschte Abschrift, wie sie auch Papp schon in der Tasche hat, nicht sofort erhält. Ob Hauchling die Registriernummer zu Gesicht bekam, wissen wir leider nicht, Frau Ikkán wird Bodoki ergänzend noch mitteilen, daß sie das dicke Register in Anwesenheit des Mannes gar nicht aufschlug, aber das wird im Roman wieder nur ein Faulknersches Detail sein, kurz und gut, Hauchling konnte sich die Registriernummer nicht verschaffen, und Papp wird wahrscheinlich eine Erbschaftssteuer an den ungarischen Staat abführen müssen, worüber sich die internationalen Juristen allerdings noch lange in den Haaren liegen werden. Mehr aber kann Hauchling nicht riskieren. Wenn ihn Laurentis noch nicht angezeigt hat, bevor er sterben mußte, so kann er doch vor irgendwem ihre Begegnung am 16. Juli erwähnt haben, er darf also nicht länger warten, es geht jetzt wirklich um Tod und Leben, er muß sich aus dem Staub machen. Von Veszprém aus schlägt er den kürzesten Weg zur Grenze ein, und kurz nach acht Uhr abends erreicht er aufatmend österreichisches Territorium. Damit ist er über alle Berge. Gibt es immer noch Fäden, die nicht verknüpft sind? J. Szücs durchdenkt alles auf das genaueste. Das strengt ihn sehr an, denn er ist hundemüde. Besonders sein Gehirn ist hundemüde. Ich dürfte mich nicht so anstrengen, krank wie ich bin, denkt er. Aber die Pflicht. Das Pflicht- und Aufgabenbewußtsein des Schriftstellers. Das geht vor. Komm, Freundchen, komm und sieh dich um. Du arbeitest in dieser Welt, und in dir arbeitet das Mitleid. In J. Szücs arbeitet das Mitleid mit sich selbst. So also fühlt man sich, wenn ein Roman fertig ist. Fast fertig. Jetzt muß er nur noch aufgeschrieben werden. Falls ich was vergessen habe, schreibe ich es dann hinein, jetzt ist es nicht so wichtig. Wichtig ist jetzt nur, daß 234
der Roman fertig ist. Jetzt könnte ich, wenn ich wollte, sogar schlafen. Irgendwie fehlt ihm noch ein ordentlicher Abschluß, in den meisten Kriminalromanen ist es eine Liebesszene, der Detektiv und das aus Todesgefahr entronnene wunderschöne, braunhaarige Mädchen, eine Doris oder Maud, liegen sich in den Armen, ein paar nette, kitschig-banale Sätze. J. Szücs macht das selbstverständlich anders, denn ihm eignet Originalität, außerdem kann dieser Roman unmöglich so enden, daß Józsa am Montagnachmittag Frau Tamacskó besucht, so etwas tut ein anständiger Polizeioffizier nicht. Zumindest nicht vor der breiten Öffentlichkeit der Krimileser. Nein, J. Szücs muß viel diskreter sein. Er kann doch Józsa nicht vor seinen Vorgesetzten bloßstellen! Und vor Mórika! Das gäbe ein Spektakel, wenn er den Roman so enden ließe. Kommt überhaupt nicht in Betracht. So würde der Roman auch gar nicht gedruckt werden. Nein. Józsa verabschiedet sich einfach von Papp, da genügen zwei, drei Sätze, aus denen eventuell auch die ideelle Aussage zu entnehmen ist. Macht nichts, wenn sie ein wenig penetrant ausfällt. Das ist den Verlagen ganz lieb. Die Verlage haben keine besonders hohe Meinung von den geistigen Fähigkeiten ihrer Leser. J. Szücs, nebenbei gesagt, auch nicht. Der Leser hat es gern, wenn ihm alles vorgekaut und in den Mund gelegt wird. Aber darüber will sich J. Szücs jetzt nicht den Kopf zerbrechen. So etwas erledigt er mit der linken Hand. Apropos, linke Hand. Der Zitronensaft ist alle. Soll ich die Schlaftablette einnehmen? Soll ich klingeln? Er hat das Gefühl, als hätte er zwischendurch ein wenig geschlafen, er weiß nur nicht, wann. Ob er auch geträumt hat? Daran kann er sich nicht erinnern. Ob die Schwester inzwischen im Zimmer war? Er weiß es nicht. Habe ich wirklich geschlafen? Dabei bin ich jetzt so müde. Da geht die Tür auf, zwei Männer und zwei Kranken235
schwestern treten ein, den Worten der Männer kann er nicht genau entnehmen, ob sie Ärzte oder Pfleger sind. Sie schieben ein Gestell auf Gummirädern herein, dann teilen sie ihm mit, daß ihm der Verband abgenommen wird. Sie machen sich gleich ans Werk. J. Szücs beschließt, daß er sich seiner Romanhelden würdig erweisen und die Folterungen ohne ein Wort der Klage erdulden wird. So wie Mari Zucker im Betonkeller von Torrelodones. Die beiden Männer arbeiten flink und sicher. Die beiden Schwestern halten ihn fest, jede an einer Seite. Es tut nicht weh. Gar nichts tut weh. Das überrascht ihn, aber für alle Fälle hält er die Luft an und preßt die Zähne zusammen, damit er die Qualen, falls es doch noch weh tut, mannhaft und wortlos überstehen kann. Ein komisches Gefühl, wie sie sich an seinem Kopf zu schaffen machen. Und auf einmal schreit er auf. „Auuu!“ Der Verband wurde von seiner Nase entfernt. Und nun sieht er auch wieder. Wie durch einen Nebel, weil er die Brille nicht aufhat, aber doch alles. Dabei blendet ihn die plötzliche Helligkeit, draußen scheint die Sonne. Und in diesem Augenblick tritt Doktor Elek Röppentyüs mit seinem Hofstaat in das Zimmer. „Nun, wie geht es uns?“ Ein mattes Wimmern. „Das ist also die gebrochene Nase, ja?“ Der Oberarzt tastet mit zarten, weichen Fingern die Nasengegend ab und zupft hier und da vorsichtig an der Haut. J. Szücs wimmert und jammert. „Ist es sehr schlimm, Herr Doktor?“ „Michelangelos David hat eine hübschere Nase, das steht fest. Aber keine Sorge, man wird das schon hinbekommen. Man wird bei dieser Gelegenheit auch gleich diese Verkrümmung der Nasenscheidewand reparieren.“ Dann hebt er ermutigend die Stimme, schreit fast. „Man wird einen neuen Menschen aus Ihnen machen.“ 236
„Meinen Sie, Herr Doktor, daß das noch geht?“ Der Oberarzt steht links von J. Szücs, er antwortet nicht, er lächelt nur auf ihn herab und klopft ihm aufmunternd auf die gesunde linke Schulter. „Der Patient wird morgen operiert“, sagte er zu seinen Assistenten. „Keine Bange, man wird einen hübschen Burschen aus Ihnen machen. Und weh tut es auch nicht. Auf Wiedersehen.“ Sie schreiten hinaus. Wie ein König und sein Gefolge. Nur ein paar Vasallen und Höflinge bleiben zurück, sie legen J. Szücs einen neuen Verband an, wieder sieht er nichts, er legt sich wieder hin, die Schwester verabreicht ihm das Frühstück, er aber schmeckt nichts, fühlt nichts, hört nichts, sieht nichts. Er hat nur Angst. Ungeheure Angst. Automatisch gehorcht er der Schwester, er schluckt die Beruhigungstablette, legt sich auf den Rücken, schnieft und ächzt, aber er selbst hört es nicht. Er hat nichts als Angst. Das Auto, auf dessen Boden er gefesselt und geknebelt liegt, rast so schnell dahin, daß es sich im Fahren geradezu dehnt, in der Mitte immer dünner wird und, wie man es manchmal bei der Zellteilung in populärwissenschaftlichen Filmen sieht, in zwei Teile zerfällt, jetzt rasen zwei Autos. J. Szücs sitzt im zweiten, auf dem Beifahrersitz, neben Józsa, Józsa schaltet, gibt Gas, jetzt entwischt er uns nicht!, „mein blutrünstiges kleines Ungeheuer, du“, wispert ihm von hinten mit heißem Atem Frau Tamacskó ins Ohr, er wendet sich um, zwischen Etukas runden Brüsten ragt der Perlmuttgriff des Haszlacherschen Finndolches hervor, sie sitzt auf dem Rücksitz, der Mund ist geöffnet, Etuka, liebst du mich? Liebst du mich, Etuka? Józsa gibt noch mehr Gas, vor ihnen huscht das andere Auto durch die Nacht, dann ein Knacken, sie haben Laurentis überfahren, nun ein Puffen, das ist der Schalldämpfer des belgischen Brownings, „er hat mich getroffen, der Hund, an der rechten Schulter“, brüllt Józsa am Lenkrad auf, der dunkelgraue Mercedes 237
wird langsamer und rollt vor einem weißen Haus mit Säulen davor aus, jemand springt aus dem Wagen, aber da halten sie auch schon, J. Szücs springt hinaus, rennt hinter dem Mann her, aber der will gar nicht fliehen, er steht ganz ruhig an der einen Säule, er ist weiß gekleidet, hat einen vornehm gestutzten grauen Schnurrbart und in der Hand einen hellen Strohhut. J. Szücs bleibt stehen und stutzt, das ist er nicht, der Mann bedeutet ihm, näher zu kommen. „Wer sind Sie?“ fragt J. Szücs. Doch der Mann antwortet nicht, er winkt, näher, noch näher, J. Szücs steigt zögernd zwei Stufen hinauf, jetzt steht er dicht vor dem Mann, der hebt unvermittelt die rechte Hand, in der linken hält er den Strohhut, und die rechte Hand klatscht in J. Szücs’ Gesicht, zweimal, rechts und links. „Aaaaah!“ schreit J. Szücs und hebt die Hände schützend an die Wangen, dann, fast schon flennend, fragt er den Mann: „Wer sind Sie?“ „Ich bin William Faulkner“, sagt der Mann. Aber J. Szücs weiß, daß er die Ohrfeigen von Vater bekommen hat. Mai – Juli 1965
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