Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 11
Der König und der Magier von Ernst Vlcek
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – De...
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Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 11
Der König und der Magier von Ernst Vlcek
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – Der Atlanter bereitet eine Falle vor. Partho – Dragons Kampfgenosse führt einen Kleinkrieg. Zogor – Der König von Myra führt sein Heer in das Tal der Verzweifelten. Zamoc – Cnossos in der Gestalt eines Magiers. Urak – Zamocs ergebener Diener. Kano – Ein Gedankenleser gerät in Gefangenschaft Seit dem großen Inferno, in dem die kontinentgroße Insel Atlantis in den Fluten des Meeres versank, sind rund zwei Jahrtausende verstrichen. Obwohl dies für die größtenteils primitiven und barbarischen Völker auf den übrigen Kontinenten der Erde eine lange Zeitspanne ist, lebt unter den Menschen die Erinnerung an Atlantis noch fort. Legenden und Mythen gehen durch die Lande, in denen vom »Goldenen Zeitalter« berichtet wird. Selbst ein echter Atlanter existiert noch auf der Erde – Dragon, genannt der »Schlafende Gott«. Ihn erweckte Amee, Prinzessin von Urgor, zu neuem Leben und neuen Taten. Aber Dragon, der aufgrund seiner langen Hibernation noch nicht im Vollbesitz seiner Erinnerungen ist, hat es schwer, gegen den Balamiter zu bestehen. Denn Cnossos, Dragons alter Gegenspieler und Hauptverantwortlicher für den Untergang von Atlantis, hat während seines unfreiwilligen 2000jährigen Exils Zeit genug gehabt, sich an vielen Orten der Erde als mächtiger Herrscher zu etablieren. Dennoch hat der Atlanter es fertiggebracht, seinem Gegenspieler bereits mehrere empfindliche Schläge zu versetzen und Cnossos sogar fast gänzlich auszuschalten. Nun aber ist der Balamiter wieder am Zug. In der Gestalt eines Magiers begleitet er Zogor, König von Myra, auf seinem Feldzug gegen Urgor, die Stadt, in der Dragons Freunde leben. Sie reiten dem Sieg entgegen – so glauben DER KÖNIG UND DER MAGIER.
1.
Bruder! Bruder! Der dreizehn Sommer alte Junge war so sehr in den Anblick des myranischen Heerlagers versunken, daß er die Stimme in seinem Kopf nicht sofort hörte. Er saß mit überkreuzten Beinen auf einem überhängenden Felsen und blickte mit großen, staunenden Augen in das enge Tal hinunter, das sich wie eine Schlange zwischen den Bergriesen von Westen nach Osten zog. Auf der ganzen Länge, so weit sein Auge reichte, sah er Lagerfeuer. Zelte. Pferde, Karren. Zugtiere, Viehherden und Menschen. Unzählige Menschen! Es waren ihrer so viele, wie man sie sonst nur in einer großen Stadt antraf. Und alles Krieger. Partho hatte gesagt, daß es zwölftausend sein mußten. Was für eine unvorstellbare Zahl; man brauchte Stunden, um sie an den Fingern abzuzählen. 12 000 Krieger – die myranische Hauptstreitmacht, die unter König Zogor nach Osten zog. Man mußte einen halben Tag lang gehen, um von einem Ende bis zum anderen des riesigen Heerwurms zu gelangen. Wieder drängte sich ihm der Vergleich mit einer Schlange auf, die sich langsam aber unaufhaltsam in Richtung Urgor wand. Kano! Kano! Ja. Kim? Warum, beim Ah‘rath, rührst du dich nicht, Kano! Ich rufe dich schon so lange, daß mir davon ganz schwindelig ist.
Kano verspürte den Ärger seines Bruders, der viele Tagesritte von ihm entfernt, irgendwo an den Ufern des Euphir sein mochte, als wäre es sein eigener. Ich beobachte Zogors Heer, rechtfertigte sich Kano. Das gehört zu meinen Pflichten. Immerhin bin ich Parthos wichtigster Kundschafter. Angeber, ließ Kim sich hören. Mir machst du nichts vor. Ich höre, was in deinem Kopf vorgeht. Seit Partho von Yinas Gefangennahme weiß, läßt er dich nicht näher als einen Stundenmarsch an den Feind heran. Die Erwähnung von Yinas Gefangennahme ließ Kano schlagartig ernst werden. Was ist mit der Maus? Habt ihr sie befreit? erkundigte er sich. Nein, das wurde auf ihren eigenen Wunsch unterlassen, kam Kims Antwort. Und dann berichtete er, daß Yina freiwillig in Gefangenschaft blieb, um die Myraner aushorchen zu können. Sie leitete wichtige Nachrichten an Kim weiter, der sie Dragon überbrachte; so war man über alle Schritte des myranischen Seeheeres immer auf dem laufenden. Die Maus ist ein tapferes Mädchen, meinte Kano. Ja, sie hätte es verdient, ein Junge zu sein, stimmte Kim zu. Ihr haben wir es auch zu verdanken, daß es uns gelungen ist, Kelkaris zweite Vorhut von tausend Mann zu überlisten. Du redest, als hättest du etwas zu diesem Sieg beigetragen. Kano ärgerte sich, weil sein Bruder mit Erlebnissen prahlen konnte, während er selbst nur beobachten und Nachrichten übermittein durfte. Kim entging das nicht, und er schmückte seinen folgenden Bericht entsprechend aus. Du hättest sehen sollen, wie es uns gelang, die Myraner ohne eigene Verluste aufzureiben. Zuerst wurden
sie mit einem Pfeilhagel eingedeckt. Dragon schüchterte sie mit Aufrufen über das Sprechrohr ein. Seine Stimme klang, als käme sie aus Gräbern. Das fuhr den Myranern in die Glieder. Sie mußten glauben, Amyron, ihr Gott des Todes, selbst spreche zu ihnen. Als ihnen das noch nicht genügte, ließen wir sie das Götterfeuer spüren ... Kano merkte, wie Kims Gedanken plötzlich in Unordnung gerieten. Was ist mit dir? stichelte Kano. Irre ich, oder ist dir wirklich bei dem Gedanken an den Kampf schlecht geworden? Ha, wenn dir schon vom Zusehen übel wird, wie willst du später einmal selbst kämpfen! Aus dir wird nie ein Held, Kim. Dragon ist ein Held, aber ihm ist es nicht viel anders ergangen, erwiderte Kim. Der Sieg hat ihn nicht glücklich gemacht. Niemand, der dabei war, hatte sich recht freuen können. Es ist kein erhebender Anblick, wenn das unlöschbare Götterfeuer ... Aber was weißt du davon! Du bist vom Kampfgeschehen so weit entfernt wie von Atlantis. Du darfst Meldungen weitergeben und sonst nichts! Das wollte Kano nicht auf sich sitzen lassen. Du wirst bald von mir hören! behauptete er. Partho bereitet den ersten Überfall auf Zogors Streitmacht vor, und ich werde dabeisein. Wenn der Großteil der Krieger schläft, werden wir vorstoßen. Dazu braucht Partho ausgerechnet dich! Ich werde dabeisein, versicherte Kano. Und er wiederholte es laut: »Ich werde dabeisein!« Er hatte den Entschluß gefaßt, an Partho heranzutreten und ihn zu bitten, ihn an dem nächtlichen Raubzug teilnehmen zu lassen. Er wurde es Kim schon zeigen! Ich will dich nicht länger aufhalten, kam es wieder von Kim. Es ist spät, und du brauchst deinen Schlaf, Bru
der. Du sollst Partho von Dragon ausrichten, daß er bei seinen Störmaßnahmen nicht zu waghalsig sein darf. Er soll sich nie in offene Auseinandersetzungen einlassen, denn dazu ist die Übermacht der Myraner zu groß. Mit seinen zweitausend Mann kann er nur versuchen, ihn zu schwächen, sagt Dragon. Partho soll sich unbedingt daran halten. Und nun schlaf gut, Bruder. »Schlaf du nur gut, Kim, während ich in den Kampf ziehe«, sagte Kano laut. »Gegen wen willst du denn kämpfen?« fragte jemand hinter ihm. »Etwa gegen die Müdigkeit, die dir die Augen zudrückt?« Kano zuckte zusammen, entspannte sich aber sofort wieder, als er Partho erkannte, der in der Dunkelheit bis auf zwei Mannslängen an ihn herangekommen war, ohne daß er auch nur das geringste Geräusch verursacht hätte. »Kim hat sich eben gemeldet«, sagte Kano. »Onkel Dragon hat die zweite Vorhut des aus Dan kommenden myranischen Seeheeres vernichtet, ohne selbst Verluste gehabt zu haben. Kim behauptete, daß es sich um tausend Mann gehandelt habe und daß sie fast alle in den Flammen des Götterfeuers umgekommen wären.« Partho nickte stumm. Dann fragte er: »Hat Kim auch gesagt, wie es Yina geht?« »Sie befindet sich immer noch in Gefangenschaft«, sagte Kano leise. »Aber nur, weil sie es selbst so will. Dragon hätte sie schon längst befreit, wenn sie nicht vorgeschlagen hätte, freiwillig in myranischer Gefangenschaft zu bleiben, um Kelkaris aushorchen zu können.« »Yina ist ein tapferes Mädchen«, stellte Partho fest. Kano reckte sich zu voller Größe. »Mir mangelt es ebenfalls nicht an Mut«, behauptete er. »Laß es mich dir beweisen, Partho.«
Der Hauptmann der urgoritischen Armee fuhr Kano spielerisch durch das wirre, schwarze Haar und meinte lachend: »Du wirst noch früh genug beweisen dürfen, daß du deinen Mann stellen kannst. Aber jetzt mach, daß du ins Lager kommst. Hier wird es bald heiß hergehen.« »Muß ich denn wirklich ins Lager«, sagte Kano zerknirscht. »Eigentlich habe ich gehofft, daß ich bei dem Raubzug mitmachen darf.« »Das ist nichts für dich, Kano. Denke an Yina, ich möchte nicht, daß es dir ebenso ergeht.« »Ich verspreche dir, vorsichtig zu sein, Partho«, versicherte Kano eifrig. »Du behandelst mich wie ein Kind, dabei bin ich schon dreizehn.« Partho legte ihm freundschaftlich die Hand um die Schulter und ging mit ihm von der Schlucht fort. Vor ihnen schälten sich schattenhafte Gestalten aus dem Dunkel der Nacht, die reglos hinter den Felsbrocken ausgeharrt hatten. Es handelte sich durchwegs um Urgoriten, vielleicht vierzig an der Zahl, die ihre Pferde im Hinterland zurückgelassen hatten. »Das siehst du falsch, Kano«, erklärte Partho dem Jungen. »Ich behandle dich nicht wie ein Kind, sondern ich behüte dich nur wie einen kostbaren Schatz. Durch deine besondere Gabe, mit deinem Bruder über beliebige Entfernungen hinweg sprechen zu können, bist du für uns unersetzlich geworden. Nur deshalb lasse ich es nicht zu, daß du dich in Gefahr begibst.« »Wenn ich schon nicht mit euch kämpfen kann, dann laß mich wenigstens bei den Pferden zurück«, versuchte Kano zum letztenmal sein Glück. »Dort bin ich nicht in Gefahr und kann Kim trotzdem sagen, daß ich an dem Raubzug beteiligt war.«
»Meinetwegen«, sagte Partho nach kurzem Überlegen. Er drohte dem Jungen mit dem Finger. »Aber du mußt mir versprechen, dich nicht vom Fleck zu rühren und auch sonst keine Dummheit zu begehen.« »Ich verspreche es dir.« Die beiden Wachtposten hatten das Viehgehege in entgegengesetzter Richtung umrundet und trafen auf der dem Heerlager zugewandten Seite zusammen. Vom nächsten Lagerfeuer, das nur zwanzig Mannslängen entfernt war, klang Frauengelächter herüber. Der eine Wachtposten fluchte. »Warum muß ausgerechnet ich diese stinkende Viehherde bewachen, während sich die anderen mit den Weibern unterhalten.« »Was ärgerst du dich, Ranich«, sagte der andere Wachtposten. »Diese Weiber, die uns schon seit Myra begleiten, haben es nur auf deinen Geldbeutel abgesehen. Und der ist leer. Du hast deinen ganzen Sold bei Lamyr verspielt.« Ranich fluchte wieder und spuckte aus. »Dieser verdammte Betrüger! Ich verspreche es dir, noch bevor wir vor Urgors Toren sind, werde ich Lamyr den Hals umdrehen.« »Das sagst du jetzt. Aber wenn du nächste Woche wieder deinen Sold bekommst, wirst du nicht eher ruhen, als bis die Silberlinge in Lamyrs Tasche gewandert sind.« »Ich werde diesem Betrüger sein ganzes Geld abnehmen!« behauptete Ranich. »Du wirst es sehen, Zauro.« Ranich starrte wieder zum Lagerfeuer hinüber, von wo das Grölen der Krieger und das schrille Lachen der Hetären herüberklang.
»Die Weiber, die Spieler, dieses ganze Pack, das unser Heer verfolgt, ist ein Fluch für uns«, sagte Zauro. Ranich lachte. »Aber wenn es sie nicht gäbe, wie würden wir uns die Zeit ...« Er unterbrach sich, und seine Augen wurden groß, als hätte er eine überraschende Entdeckung gemacht. »Was ist mit dir, Ranich!« sagte Zauro erschrocken und zückte sein Krummschwert, als er sah, wie sein Kamerad langsam nach vorne fiel. Zauro erfaßte erst, was mit ihm los war, als er den Pfeilschaft entdeckte, der aus seinem Rücken ragte. Überfall! wollte Zauro rufen und sich dem unsichtbaren Gegner stellen. Doch über seine Lippen kam kein Ton. Er hatte gerade noch die Kraft, nach dem Pfeil zu greifen, der aus seiner Kehle ragte, und ihn zu knicken. Dann brach er lautlos zusammen ... Acht Gestalten kamen gebückt heran. Der erste Mann hob die Hand, und die anderen blieben stehen. Er untersuchte die beiden toten myranischen Wachtposten, dann raunte er: »Ihr schichtet hier Reisig auf und zündet es an, sobald wir das Donnerpulver entzünden. Das wird zugleich das Zeichen für die anderen sein, das Gatter zu öffnen und das Vieh ins Seitental zu treiben.« Er winkte den anderen Männern. »Kommt!« Sie schlichen weiter und suchten nach zehn Schritten wieder Deckung hinter den niedrigen Sträuchern, als ihr Anführer die Hand hob. »Wenn wir mit tausend Mann gekommen wären, könnten wir jetzt den ersten ruhmreichen Sieg erringen, Partho«, flüsterte einer der urgoritischen Krieger seinem Anführer zu.
Partho nickte, während er seine Blicke über das myranische Heerlager schweifen ließ. »Du sagst es, Robhet.« Partho verstand selbst nicht, warum sie sich damit zufrieden geben mußten, einige Zelte und Wagen zu zerstören und eine Viehherde zu stehlen, wo die Gelegenheit so günstig war, einen eindrucksvolleren Erfolg zu erringen. Er war nahe daran gewesen, einige hundert Mann zusammenzustellen und mitten in das myranische Lager hineinzupreschen. Das wäre nach seinem Geschmack gewesen. Aber Dragons Botschaft, die ihm Kano übermittelte, hatte ihn im letzten Augenblick ernüchtert. Den Feind verwunden, sich zurückziehen und erneut zuzuschlagen, bevor er sich wieder erholt hatte, das war Dragons Lösung. Und er hatte bisher damit Erfolg gehabt – ganz wider Parthos Erwarten. »So kämpfen Weiber«, sagte Robhet neben ihm. Obwohl Partho ihm innerlich recht gab, fühlte er sich verpflichtet, Dragons Kampfesweise zu verteidigen. »So kämpft der Kluge«, erwiderte Partho. »Was hätte es für einen Sinn, sich mit zweitausend Kriegern auf dieses riesige Heer zu stürzen. Wir würden vielleicht viertausend Myraner erledigen, selbst aber auch fallen. Dann blieben immer noch achttausend Krieger, die gegen Urgor ziehen. Wenn wir aber die Kampfkraft der Myraner schwächen, dann haben wir mehr erreicht, als wenn wir das halbe Heer aufreiben. Denn sechstausend ausgeruhte, gestärkte Krieger können weit mehr erreichen, als Zwölftausend hungernde, mürrische, verängstigte.« »Du sprichst schon wie Dragon«, sagte Robhet mißmutig. Partho funkelte ihn an. 10
»Und was hast du an Dragon auszusetzen?« Robhet erwiderte den Blick der stechenden Augen, dann seufzte er. »Ich achte Dragon und schätze ihn als mutigen Feldherrn«, sagte er voll Überzeugung. »Aber diese Art zu kämpfen liegt mir nicht. Ich verstehe einfach nicht, warum wir uns damit begnügen sollen, die Myraner zu erschrecken.« Ich verstehe es auch nicht ganz, mußte Partho bei sich zugeben. Aber er wurde sich an Dragons Anweisungen halten. »Dragons bisherige Erfolge geben ihm recht«, sagte er laut. »Und jetzt genug davon. Wo ist der Beutel mit dem Donnerpulver?« »Hier.« Ein Urgorit reichte ihm einen prall gefüllten Beutel aus der Dunkelheit. Partho nahm ihn entgegen und sagte: »Ihr wißt, was ihr zu tun habt. Wenn ich vorstürme, dann folgt ihr mir und haltet mir die Myraner vom Leibe. Die Bogenschützen, die überall in den Felswänden bereitstehen, werden verhindern, daß sich die Krieger zum Angriff sammeln können. Ihr könnt euch mit den Myranern schlagen, aber wenn das Donnerpulver Feuer fängt, mußt ihr euch sofort zurückziehen.« Partho blickte zu den diesseitigen Felswänden empor, die vom Schein der unzähligen Lagerfeuer erhellt wurden. Dort lauerten dreißig urgoritische Bogenschützen, die ihnen Rückendeckung geben würden. Und wenn er, Partho, sein Donnerpulver entzündete, wurden vier weitere Gruppen an verschiedenen Stellen das gleiche tun. Partho spannte sich an, rief: »Los!« und sprang nach vorne. 11
Die etwa fünfundzwanzig myranischen Krieger, die um das Lagerfeuer saßen und um die Gunst zweier Hetären würfelten, bemerkten Partho erst, als er mitten unter ihnen stand. Der erste, der aufsprang und nach seiner Waffe griff, erhielt von hinten einen Schwertstreich und brach blutüberströmt zusammen. Jetzt erst fiel es den Myranern auf, daß Partho nicht allein war. Sie wandten sich den Feinden zu, die wie Schatten aus der Dunkelheit aufgetaucht waren. Aber die meisten von ihnen waren schon geschlagen, noch bevor sie mit ihren vom Alkohol getrübten Blicken die Gegner erfassen konnten. Nur wenige bekamen noch rechtzeitig ihre Waffen frei und konnten sich zum Kampf stellen. Partho versetzte einem Myraner einen Fußtritt, noch bevor er auf den Beinen stand, schlug einem zweiten mit der Klinge das Schwert aus der Hand und verletzte einen dritten mit einem Streich in die Kniekehle, so daß seine Beine ihm den Dienst versagten. Die beiden Frauen stoben kreischend auseinander. »Hilfe! Überfall!« Die Myraner an den anderen Lagerfeuern kamen in Bewegung. Partho sah, daß fünfzig oder mehr von allen Seiten herankamen. Er mußte unwillkürlich grinsen, als er sah, daß sich manche Myraner mit Pfannen oder Holzprügeln und Zeltstangen bewaffnet hatten, weil sie in der Eile ihre Waffen nicht fanden. Partho trat ihnen in dem Bewußtsein entgegen, daß die Bogenschützen in der Felswand einsatzbereit waren. Die scheinbare Furchtlosigkeit eines einzelnen Mannes verwirrte die Myraner noch mehr. Sie wußten nicht, mit wieviel Gegnern sie es zu tun hatten. In diesem Augenblick schwirrte der erste Pfeilhagel heran. Zehn, fünfzehn Myraner sanken getroffen zu Boden. Der zweite Pfeilhagel raffte ebenso viele dahin. 12
Partho hatte inzwischen den Beutel mit dem Donnerpulver aufgeschlitzt, so daß es auslief und eine schmale, graue Spur hinterließ. Nach zehn Mannslängen ließ Partho den Beutel scheinbar achtlos fallen und wehrte den ersten Angreifer ab. Nachdem er sich eines zweiten Angreifers entledigt hatte, der ihm direkt in die Klinge gesprungen war, griff er sich aus dem nächsten Lagerfeuer ein brennendes Holzscheit und zog sich damit zurück. Über seinem Kopf war ein Singen, als ein dritter Pfeilhagel von der Felswand kam. Hinter ihm schrien die getroffenen Myraner auf. Partho drehte sich kurz um und stellte fest, daß die Überlebenden Deckung gesucht hatten. Aber er machte auch eine zweite, beunruhigende Entdeckung. Von links kam eine Horde berittener myranischer Krieger herangeprescht, die ihnen offensichtlich den Weg ins Seitental abschneiden wollten. »Jetzt nichts wie zurück!« rief Partho seinen Männern zu und warf gleichzeitig das brennende Scheit auf das schmale Rinnsal aus Donnerpulver, das sich sofort entzündete und sich zischend seinen Weg durch das Gras auf den Beutel zu brannte. Partho und seine Männer waren nur noch zwanzig Mannslängen von dem Viehgehege im Seitental entfernt, als die Reitersoldaten herankamen. Sie beugten sich tief über die Hälse ihrer Pferde, um den Pfeilschützen in der Felswand kein leichtes Ziel zu bieten, und hatten ihre Lanzen stoßbereit nach vorne gerichtet. Unter dem Reitertrupp befanden sich aber bereits gut ein Dutzend herrenlose Pferde, deren Reiter die Treffsicherheit der urgoritischen Bogenschützen im Jenseits besingen konnten. Partho dachte nicht daran, sich den Reitern zum Kampf zu stellen. Er wußte, daß der Beutel jeden Augenblick Feuer fangen konnte und wollte eine möglichst große Strecke zurücklegen. Doch das wäre ihm beinahe 13
zum Verhängnis geworden. Gerade als er das Viehgehege erreichte, holte der erste Reiter mit der Lanze zum Stoß aus. Wenn nicht in diesem Augenblick ein aufmerksamer Bogenschütze seinen Pfeil von der Sehne gelassen hätte, dann wäre es um Partho geschehen gewesen. Noch bevor Partho erfassen konnte, daß er eben dem sicheren Tod nur knapp entgangen war, erhellte eine mächtige Stichflamme das Tal, und ein Donnergrollen erfüllte die Luft. Die Zelte ringsum waren in Feuer und Rauch gehüllt, Erdbrocken und Körper von Tieren und Menschen flogen durch die Luft, der Boden bebte. Die sichtbaren und hörbaren Auswirkungen des Donnerpulvers waren so gewaltig, daß die Myraner glauben mußten, die Tore der Unterwelt hätten sich aufgetan, und das Feuer und der Donner kämen geradewegs von dort. Aber noch furchtbarer als auf die Krieger wirkten sich diese Erscheinungen auf ihre Tiere aus. Die Pferde scheuten, warfen die Reiter ab und stoben in alle Richtungen davon. Den mehr als hundert Rindern in dem Gehege erging es nicht anders. Sie preschten durch das Gatter, das Parthos Leute vorher geöffnet hatten, und trampelten die Zäune nieder. Ein großer Teil der Viehherde wäre zweifellos in Richtung des Lagers gestürmt, wenn Parthos Männer nicht sofort das Reisig angezündet hätten. So sahen die Tiere plötzlich den Weg ms Lager durch eine hohe Flammenwand abgeschnitten, mußten umdrehen und folgten der übrigen Herde ins Seitental. Partho hatte dieses Feuer nicht nur legen lassen, um die Viehherde in die von ihm gewünschte Richtung zu zwingen, sondern auch, um die Myraner aufzuhalten. Sie konnten die Verfolgung zu Pferd erst aufnehmen, als die Flammen eingedämmt waren. Die kaum drei Dutzend Myraner, die zu Fuß einen Vorstoß in das Seitental 14
wagten, wurden nach und nach von den Urgoriten vollkommen aufgerieben. Die Urgoriten hatten bei dem Rückzugsgefecht nur einen einzigen Verlust zu beklagen. Und dieser eine Mann fiel nicht durch die Hand eines Myraners, sondern war von den wildgewordenen Rindern niedergetrampelt worden. Als Partho sich über den Sterbenden beugte, erkannte er, daß es sich um jenen Krieger handelte, den er zusammen mit Kano bei den Pferden zurückgelassen hatte. »Kannst du sprechen, Dain?« fragte Partho. »Was ist vorgefallen? Wie kommst du hierher? Warum bist du nicht bei den Pferden?« Der Sterbende bäumte sich noch ein letztes Mal auf. »Kano war ... auf einmal verschwunden. Ich ... ihm nach. Da kam die ... Herde ...« »Er ist tot«, sagte Partho und erhob sich. »Ich hätte mir denken können, daß Kano nicht bei den Pferden bleiben würde.« »Wahrscheinlich sorgst du dich umsonst«, meinte Robhet. »Wir hätten Kano begegnen müssen, wenn er sich weiter ans Lager vorgewagt hätte. Sicher ist er längst wieder bei den Pferden.« Doch dieser Hoffnung konnte sich Partho nicht für lange hingeben. Als sie mit der Viehherde jene Hochebene erreichten, auf der sie ihre Pferde zurückgelassen hatten, fehlte von Kano jede Spur. Partho schickte seine Leute mit der erbeuteten Herde zu ihrem Lagerplatz, während er mit Robhet und zwei anderen die Umgebung nach Kano absuchte. Schließlich brach Partho die erfolglose Suche bei Sonnenaufgang ab.
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»Es gibt nur zwei Möglichkeiten«, sagte er. »Entweder ist er von der Herde niedergetrampelt worden, oder die Myraner haben ihn gefangengenommen.«
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2.
»Wofür habe ich das Gewand des Königs gegen die Rüstung des Kriegers vertauscht!« wetterte Zogor. Seine kleinen, stechenden Augen wanderten durch das Zelt, hefteten sich auf jeden der zwölf Heerführer, von denen zwei Daikane der östlichen Provinzen waren, und richteten sich dann spöttisch auf die dreißig Adeligen, die demütig die Köpfe senkten und sich am liebsten verkrochen hätten. »Wofür verzichte ich auf die Freuden des Lebens, lasse meine Frauen im Stich und lebe hier in dieser Wildnis in Enthaltsamkeit!« fuhr der König wütend fort. »Warum setze ich mich an die Spitze des größten und mächtigsten Heeres, das dieses Land je gesehen hat! Ich zahle fünfzigtausend Mann einen wahrhaft fürstlichen Sold und überschütte meine Heerführer geradezu mit Reichtümern. Und wofür das alles?« Die Günstlinge des Königs und die Heerführer schwiegen noch immer betreten. Zamoc, der Magier, stand hoch aufgerichtet neben dem zornbebenden Zogor, und es schien, als blitzte es in seinen unergründlichen Augen spöttisch auf. Allmählich schien des Königs Wut etwas zu verrauchen, und er ließ sich auf die Polster seines Sitzes sinken. Die Adeligen und die Heerführer folgten seinem Beispiel mit einem erlösten Aufatmen. Sie wußten, daß das Ärgste überstanden war. Es kam daher völlig unerwartet, als die Hand Zogors vorschnellte und auf den Daikan von Kahys wies. »Gib du mir Antwort. Nibio! Wie konnte es dazu kommen, daß eine Handvoll Wilder deine geschulten Krie17
ger in Angst und Schrecken versetzten. Du wirst doch nicht bestreiten, daß es sich bei den Räubern, die deinen Leuten vor der Nase eine ganze Viehherde stahlen und ihnen außerdem noch zahlreiche Verluste verursachten, höchstens um ein halbes Hundert Männer gehandelt haben kann. Fünfzig Wilde gegen tausend hervorragend geschulte und ausgerüstete Krieger! Sage mir. Nibio, wie es zu dieser Niederlage kommen konnte.« Der Daikan von Kahys war ein kleiner, muskulöser Mann von mittleren Jahren. Man sagte den Kahysern Draufgängertum und Furchtlosigkeit nach, und Nibio galt als Mann, der es selbst gegen Dämonen und Ungeheuer aufnahm. Seine Unerschrockenheit zeigte er auch in dem Verhalten seinem König gegenüber, ohne jedoch jemals die nötige Ehrerbietung missen zu lassen. »Zuerst muß ich richtigstellen, daß es sich keineswegs um Wilde gehandelt hat, mein König«, sagte er. »Diese fünfzig Räuber haben wohl gekämpft, wie es die Bergstämme tun, aber wie sie den Überfall geplant und durchgeführt haben, zeigt, daß sie von einem klugen Kopf geleitet wurden. Sie besaßen Schwerter aus edelstem Eisen, und die Spitzen ihrer Pfeile waren ebenfalls aus Metall. Die Wilden der Berge verwenden jedoch noch Steinspitzen und haben Schwerter aus zugeschnitzten Tierknochen. Auch berichteten mir meine Leute, daß sie eisenbeschlagene Lederrüstungen trugen, ihre Köpfe durch Helme und ihre Arme und Beine durch Schienen schützten. Den Beschreibungen entnehme ich, daß es sich um Urgoriten handelte, die kaum zufällig auf unser Lager stießen, sondern diesen Überfall lange vorbereiteten. Den Vorwurf, meine Krieger hätten sich eines ungestümen Angriffs von Wilden nicht erwehren können, sehe ich dadurch entkräftet.« 18
Zogor war während der Ausführungen des Daikans immer ungeduldiger geworden. Er verbarg diese Ungeduld auch jetzt nicht, als er sich Zamoc zuwandte und fragte: »Was sagt mein Kanzler dazu?« Das Gesicht des weißhaarigen Magiers blieb ausdruckslos, als er antwortete: »Ich habe in meinen Wahrträumen die Urgoriten kämpfen gesehen. Sie tun es mit Verstand und Hinterlist, so wie es sie Dragon gelehrt hat, der selbst voller Tücke ist. Auch kenne ich den Klang ihrer Waffen und deren Beschaffenheit. Deshalb könnte es stimmen, was Nibio behauptet. Es könnte sich um Urgoriten gehandelt haben.« »Das nächste Mal gebrauche weniger Worte, wenn du doch nur eine Vermutung anstellst«, fuhr Zogor seinen Kanzler an. »Sehr wohl, mein König.« Zamoc verneigte sich leicht. Zogor wandte sich wieder an den Daikan. »Gut, sollen es Urgoriten gewesen sein. Aber das erklärt noch nicht, warum sie gegen tausend myranische Krieger bestehen konnten.« »Das liegt an der besonderen Kampfweise der Urgoriten«, antwortete Nibio. »Sie schlugen ohne Vorwarnung zu, raubten das Vieh und zogen sich zurück, noch bevor meine Leute sie zum Kampf stellen konnten. Sie waren in den Felswänden versteckt und schossen von dort mit Pfeilen auf meine ungedeckten Krieger. Sie kämpften im offenen Feld nur solange, bis sich meine Krieger gesammelt hatten, dann legten sie Feuer und verschwanden. Dieses Feuer verschlang die Zelte und Krieger in einem weiten Umkreis, und es brachte einen Donner mit sich, der schrecklicher als der stärkste Sturm wütete. Es kann 19
nur so sein, daß die Urgoriten mit Dämonen im Bunde sind und von ihnen magische Kräfte erhielten.« Zogor lachte abfällig. »Ich vermute, Nibio, daß du nur die Dämonen heranziehst, um die Unfähigkeit deiner Leute zu entschuldigen. Aber lassen wir das von einem Mann beurteilen, der selbst die magischen Künste zu kennen vorgibt. Was sagt mein Kanzler zu dem Pulver, aus dem angeblich Feuer und Donner hervorgeht?« Zamoc überhörte den Spott des Königs. Seine Miene war ausdruckslos, als er sprach. »Ich habe in meinen Wahrträumen gesehen, wie Dragon dieses Donnerpulver anwendete und damit ganze Berge versetzte. Er kann es auch diesmal eingesetzt haben. Ich glaube nicht, daß Nibio lügt, schließlich haben wir alle das Donnergrollen gehört.« »Hast du in deinen Wahrträumen vielleicht auch gesehen, wie man sich dieses Donnerpulver verschaffen kann?« erkundigte sich König Zogor. Zamoc sagte herablassend: »Was Dragon kann, kann ich schon lange. Selbstverständlich kenne ich das Geheimnis des Donnerpulvers!« Zogor starrte ihn überrascht an. »Und warum hast du es mir noch nicht verraten?« Zamoc erwiderte den Blick des Königs. »Es genügt nicht, das Geheimnis des Donnerpulvers zu kennen. Man braucht verschiedene Beigaben, die man vermischen muß, um es zu erhalten. Leider besitze ich sie nicht, deshalb kann ich dir das Donnerpulver nicht verschaffen.« »Was bist du nur für ein Zauberer«, sagte Zogor mit offenem Spott. »Ich dachte, du besäßest einmalige magische Kräfte, doch jetzt gibst du zu, daß die Urgoriten mit viel mächtigeren Dämonen als du im Bunde stehen.« 20
»Dein Spott ist unberechtigt, erhabener König«, erwiderte Zamoc mit bebender Stimme. »Du selbst solltest am besten wissen, welch außergewöhnliche Kräfte in mir schlummern. Oder muß ich dich erst daran erinnern, daß ich dir das Leben gerettet habe?« »Davon zehrst du auch schon lange genug. Sonst hast du jedenfalls noch nicht viel von deinen Zauberkräften gezeigt.« Zogor machte eine abschließende Handbewegung, um anzuzeigen, daß das Thema für ihn beendet war. Er wandte sich wieder dem Daikan zu. »Nun habe ich schon einige Erklärungen für das Versagen deiner Leute gehört. So wird es dir auch nicht schwerfallen, eine Ausrede dafür zu finden, warum sie sich von dem Angriff der Urgoriten überraschen ließen.« »Ich brauche für meine Leute keine Ausreden zu erfinden«, entgegnete Nibio stolz. »Es waren Wachen aufgestellt, doch wurden sie überwältigt. Die Krieger waren nicht auf den Kampf vorbereitet. Sie haben, seit wir vor drei Tagen von Siev aufbrachen, kaum gerastet. Sie waren müde und haben sich diese Rast verdient. Das trifft nicht nur auf meine Krieger zu, sondern auf jeden einzelnen Mann des Heeres. Immerhin ließest du selbst, mein König, dieses Lager aufschlagen.« »Ich habe das Lager errichtet, damit sich die Krieger erholen können«, erklärte Zogor, »aber keineswegs meinte ich, daß sie sich die Nächte mit den käuflichen Weibern um die Ohren schlagen sollen.« Zogor steigerte sich wieder in Wut. »Seit wir von Myra aufgebrochen sind, ziehen wir eine Kolonne von Hetären, Dieben, Spielern und sonstigen Halsabschneidern hinter uns her. Die Weiber saugen meinen Kriegern das Mark aus den Knochen und den Sold aus der Tasche. Der Erfolg 21
davon ist, daß sie müde sind und unsere eigenen Vorräte zu plündern beginnen. Das muß endlich aufhören! Jetzt ist es sogar schon so weit gekommen, daß sich die Krieger mit den Weibern vergnügen, anstatt zu kämpfen. Ich hätte gute Lust, das ganze Pack auspeitschen zu lassen und davonzujagen.« »Das kannst du nicht wirklich meinen, erhabener König«, sagte Nibio erschrocken. »Die Männer brauchen ihre Abwechslung.« »Sie sollen kämpfen!« Nibio rief: »Das Schwert kann dem Mann die Frau nicht ersetzen.« Zogor knurrte etwas Unverständliches. Er wußte aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie recht der Daikan mit seinen Worten hatte. »Du hast mich überzeugt Nibio«, sagte er schließlich. »Ich werde nichts gegen die Meute unternehmen, die uns folgt wie ein Rudel beutehungriger Wölfe. Aber ich verlange, daß die Ausschweifungen in Grenzen gehalten werden. Ich möchte, daß jeder bestraft wird, der ohne besondere Erlaubnis zu den Weibern oder zu den Spielern geht. Wer gegen diese Anordnung verstößt wird ausgepeitscht, an den Schandpfahl gebunden, oder ihm wird der Sold gekürzt. Habt ihr mich verstanden?« Die Heerführer nickten. »So wird es geschehen, mein König.« »Das war ein weiser Entschluß, erhabener Zogor.« Um seine Worte zu unterstreichen, fügte der König hinzu: »Wenn wir vor den Toren Urgors stehen, möchte ich ein Heer von ausgeruhten, gesunden und zufriedenen Kriegern befehligen. Ich werde nur dann Genugtuung empfinden können, wenn es mir gelingt, diese närri22
sche Königin Amee in einem einzigen Handstreich vom Thron zu fegen und ihren Günstling Dragon zu zertreten. Wenn das geschehen ist, werden wir das übrige Land zwischen Myra und dem Ah‘rath im Sturm nehmen. Und wenn wir erst gegen Katmahzar ziehen, dann braucht kein Myraner mehr seinen Sold für Weiber auszugeben Darauf trinken wir!« Alle lachten. Die Sklaven eilten geschäftig aus dem Hintergrund des Zeltes herbei und füllten die Weinbecher. Wie auf Befehl erklangen Musikinstrumente, Tänzerinnen eilten leichtfüßig herbei und schwangen ihre halbentblößten Körper verführerisch im Takt der einschmeichelnden Melodien. Zogor merkte, daß Daikan Nibio von einer Wache aus dem Zelt gerufen wurde, schenkte dem jedoch keine Beachtung. Er dachte daran, sich in wenigen Augenblicken zu seinen Frauen zurückzuziehen ... Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als Nibio ins Zelt zurückkam und schnellen Schrittes auf ihn zukam. »Hast du mir etwas zu melden«, fragte er den Daikan. »Jawohl, mein König«, sagte Nibio etwas außer Atem. »Ich dachte, daß es dich interessieren wurde, daß meine Leute einen Gefangenen gemacht haben.« König Zogor klatschte in die Hände. Sofort verstummte die Musik, die Tänzerinnen und Sklaven zogen sich schnell zurück. »Herein mit ihm! « befahl Zogor. Am Zelteingang entstand eine Bewegung, und zwei Wachen brachten den Gefangenen herein. Zogor starrte überrascht und ärgerlich zugleich auf ihn. 23
»Aber das ist doch ein Kind Und damit brüstet ihr euch?« Während die Adeligen sich belustigt zur Gefangennahme eines Jungen äußerten und die Heerführer nicht recht wußten, wie sie sich verhalten sollten, nahm die Sachlage eine unerwartete Wendung. Der dunkelhäutige Junge mit dem wirren schwarzen Haar selbst war es der sie herbeiführte. Er riß sich unerwartet aus dem Griff der Wachen los machte zwei Schritte nach vorne und ließ sich vor Zogor auf den Boden fallen. »O Erhabener«, rief er. »Ich zähle erst dreizehn Sommer, aber ich bin kein Kind mehr, sondern der Sohn des Häuptlings der friedlichen Esil.« Der König war für einen Augenblick sprachlos vor Überraschung, dann grinste er. »So, so«, sagte er. »Du gehörst also dem Volk der friedlichen Esil an. Wieso kommt es dann, daß dich meine Krieger faßten, als sie die Räuber verfolgten, die das Heerlager überfielen.« »Das ist eine lange Geschichte, Erhabener«, sagte der Junge, ohne den Kopf vom Zeltboden zu heben. Zamoc beugte sich zum König und flüsterte ihm ins Ohr: »Vielleicht hat Nibio gar keinen so schlechten Fang gemacht. Der Junge scheint recht schlau zu sein. Wahrscheinlich ist er ein Spion der Urgoriten und weiß viele Dinge, die für uns von Nutzen sein könnten.« Zogor warf ihm einen zweifelnden Blick zu. »Weißt du, daß er ein Spion der Urgoriten ist, oder vermutest du es nur?« »Laß mich mit ihm sprechen, dann werde ich bald Gewißheit haben.« 24
Zogor schüttelte den Kopf. »Kinder fühlen es, wo Dämonen nisten. Du würdest den Jungen nur verängstigen, und wir bekämen überhaupt nichts aus ihm heraus. Laß mich nur machen, Magier.« Der König klatschte wieder in die Hände und rief: »Musik! Mädchen tanzt! Sklaven, füllt die leeren Becher, meine Getreuen langweilen sich!« Dann wandte sich Zogor dem Jungen zu, der immer noch vor ihm auf dem Boden lag. »Erhebe dich und nimm den Platz zu meinen Füßen ein. Ich gestatte es dir«, sagte er. Nachdem der Junge seinem Wunsch mit einem dankbaren Lächeln nachgekommen war, fragte er ihn: »Wie heißt du?« »Man nennt mich Kano, Erhabener«, antwortete der Junge. »Das heißt soviel wie, ›Treuer Hirte‹. Mein Vater, der Häuptling der friedlichen Esil, gab mir diesen Namen, weil ich ehrlich und aufrichtig und ein guter Viehhüter bin.« »Du gefällst mir, Kano«, sagte Zogor und fuhr dem Jungen durch das Haar. »Ob du auch ehrlich und aufrichtig bist, wird sich noch herausstellen. Was sind die Esil für ein Volk und wo leben sie? Ich habe noch nie von ihnen gehört.« »Mein Volk lebt auf halbem Wege zwischen Siev und Urgor, nördlich von Ar-zinca«, erzählte Kano. »Daß du noch nichts von uns gehört hast, Erhabener, kränkt mich beinahe, denn wir sind als Bauern und Viehzüchter wohlbekannt. Unsere Rinder sind die gesündesten und ertragreichsten im Land zwischen dem Ah‘rath und dem Einhorngebiet. Man schätzt ihr zartes Fleisch ebenso wie ihre fette Milch.« »Sind alle Esil so unbescheiden wie du?« meinte Zogor lachend und fuhr mit strenger Stimme fort: »Wenn 25
die Esil nördlich von Ar-zinca beheimatet sind, wieso treibst du dich dann hier an den Quellen des Kisil im Einhorngebiet herum?« »Ich wurde geraubt«, sagte Kano betrübt, »und als Geisel gefangengehalten.« »Und von wem?« »Von Partho, diesem Scheusal.« »Wer ist das?« Kano blickte den König erstaunt an. »Das weißt du nicht, Erhabener? Partho ist jener Hauptmann aus Urgor, der von Königin Amee ausgesandt wurde, um dein Heer zu beobachten. Derselbe Hauptmann Partho war es auch, der mit seinen Räubern deine Viehherde raubte. Er ist ein niederträchtiges Scheusal, das vor nichts zurückschreckt.« »Jetzt wissen wir endlich, wie der Wurm heißt, der sich meinem unbesiegbaren Heer entgegenzustellen wagt«, sagte Zogor. »Es ist gut seinen Namen zu wissen, wenn sein Kopf an meinem Speer steckt! Aber erzähle mir, wie du in seine Hände gerietest, Kano.« Kano berichtete: »Die Esil wollen nichts anderes, als in Frieden ihre Äcker bestellen und ihr Vieh züchten. Wir sind zufrieden mit dem, was uns die Götter bescheren und was wir mit unserer eigenen Hände Arbeit erschaffen. Und die Götter müssen uns gut gesinnt sein, denn sie ließen uns mit den Bergstämmen und sogar mit den ehrgeizigen Zuntern in Eintracht leben und ließen unsere Felder und Tiere gedeihen. Wir brauchten nie Hunger zu leiden, hatten die Kälte des Winters nicht zu fürchten, wurden von Seuchen selbst verschont, als in Urgor das Leben dahinsiechte, und wir brachten es durch den Verkauf unserer begehrten Rinder auf einen beachtlichen Wohlstand. 26
Doch kann der Friedlichste nicht in Ruhe leben, wenn es der Stärkere nicht will. Nach der großen Seuche entsann man sich in Urgor unseres Wohlstands, und Königin Amee schickte ihre Krieger in das Land der Esil. Wir mußten den Urgoriten einen Großteil unseres Viehs und das Getreide aus unseren Speichern überlassen. Die Esil grollten den Urgoriten am Anfang nicht, weil sie sich dachten, daß der Hunger sie zu dieser Verzweiflungstat trieb. Doch als die Schergen der grausamen urgoritischen Königin immer wieder kamen und plünderten und brandschatzten, da entfachten sie in uns einen unstillbaren Haß. Wir sehnten den Tag herbei, an dem wir für diese Schandtaten Rache nehmen konnten. Doch waren wir nicht stark genug, um uns gegen das urgoritische Joch aufzulehnen. Dann erreichte uns die Kunde, daß du, erhabener König von Myra, mit einem großen Heer gegen Urgor marschierst. Mein Vater beschloß, daß sich alle kampffähigen Esil dir anschließen sollen, Erhabener. Wir hatten uns schon für den Krieg gerüstet, als Hauptmann Partho mit seiner Streitmacht eintraf und unsere Absicht durchschaute. Er nahm mich gefangen und drohte meinem Vater, mich zu töten, wenn sich die Esil dem myranischen Heer anschließen würden. Was blieb den Esil anderes übrig, als die Waffen zu strecken, zumal mein Vater um das Leben seines einzigen Sohnes und um die Sicherheit seines ganzen Stammes bangen mußte. So kam es, Erhabener, daß ich mit Parthos Kriegern in das Einhorngebiet verschlagen wurde.« »Du verstehst es trotz deiner Jugend, mit Worten umzugehen«, sagte Zogor anerkennend. Er winkte einem Sklaven, der eine Schüssel mit Früchten und Speisen trug. »Greif nur zu, Kano. Es freut mich, den Häuptlingssohn der Esil bewirten zu können.« 27
Der König wandte sich seinem Kanzler zu, als dieser sich durch ein Räuspern bemerkbar machte. Zamoc beugte sich ganz nahe an Zogors Ohr und flüsterte so leise, daß niemand anderer ihn hören konnte. »Der Junge lügt«, erklärte er. »Nichts von dem, was er sagt, ist wahr.« »Und warum sollte er lügen?« fragte Zogor ebenso leise zurück. »Ganz einfach. Er gehört zu den Urgoriten und möchte seine Haut retten. Die Stimmen in mir sagen, daß er an dem Überfall beteiligt war, als Parthos Gefolgsmann, nicht als sein Gefangener. Oder glaubst du, er hätte einen Gefangenen bei einem solchen Unternehmen mitgenommen, wodurch er die Gefahr eines Verrats heraufbeschwor?« Der König nickte nachdenklich. Er lehnte sich wieder in seinem Sitz zurück. »Etwas stört mich an deiner Geschichte, Kano«, sagte er dann gedehnt. »Mir ist es rätselhaft, wie du als Gefangener der Urgoriten in das Seitental kamst.« »Ich konnte flüchten«, behauptete Kano. »Ich dachte die ganze Zeit an nichts anderes als an Flucht. Als dann Partho mit allen seinen Männern den Überfall unternahm und nur eine Wache bei mir zurückließ, war meine Stunde gekommen. Es gelang mir, mit meinem Dolch die Wache zu erstechen. Bald nachdem Partho mit seinen hundert Mann aufgebrochen war, flüchtete ich, um euch vor dem Überfall zu warnen. Aber ich kam zu spät, weil ich es nicht wagte, ein Pferd zu nehmen. Als Partho sich zurückzog, verbarg ich mich – und so fanden mich die myranischen Krieger.« »Zeig mir deinen Dolch!« forderte Zamoc, bevor der König etwas entgegnen konnte. 28
Kano wollte an seinen Gürtel greifen, aber Zamoc war schneller. Er zog mit einem schnellen Ruck den Dolch aus der Scheide und betrachtete die Klinge. »Kein Blut!« stellte er fest. Kano wurde für einige Augenblicke unsicher, doch dann erklärte er: »Ich kann kein Blut sehen und habe den Dolch sofort an einer Quelle gereinigt. Wenn ich nur an die reglose Gestalt denke, als sie zu meinen Füßen lag ... Ich ... mir wird schlecht.« »Bringt ihm Wein!« befahl der König. »Er lügt!« rief Zamoc anklagend, und die Hand, mit der er Kanos Dolch hielt, zitterte. Kanos Augen weiteten sich, und er schrie: »Sechs Finger!« Zamoc zuckte zusammen und verbarg die Hand mit dem Dolch schnell unter seinem Umhang. »Du hast ihn erschreckt«, rügte der König seinen Kanzler. »Gib ihm jetzt seinen Dolch zurück, denn er ist mein Gast.« Zamoc brachte seine Hand wieder zum Vorschein und überreichte Kano den Dolch. Als der Junge ihn zögernd an sich nahm, starrte er die Hand an, und Zamoc hielt sie, spöttisch lächelnd, lange ausgestreckt, so als wolle er allen zeigen, daß nur fünf Finger daran waren. »Nimm einen Becher Wein«, riet Zogor dem Jungen, »dann wirst du dich schnell wieder wohler fühlen.« Während Kano in kurzen Zügen einen Becher mit stark gewürztem Rotwein schlürfte, beugte sich Zamoc wieder zum König. »Hast du die Lügengeschichte immer noch nicht durchschaut?« raunte er eindringlich. »Der Junge sprach von hundert Kriegern, obwohl nur fünfzig an dem Überfall teilnahmen Aber bestimmt verbergen sich in den Bergen und Wäldern viel mehr. Er will dich in Si29
cherheit wiegen. Ich bin überzeugt, daß dieser Partho ihn geschickt hat, um deine Krieger in eine Falle zu locken. Überlasse den Jungen für einige Zeit mir. Ich kenne eine Vielzahl von Mitteln, um die Wahrheit aus ihm herauszubekommen. Warum zögerst du noch, mein König, hast du vergessen, daß dieser Junge wahrscheinlich am Tode zweihundert deiner Leute mitschuldig ist?« Zogor winkte ungehalten ab. »Der Tod von zweihundert Kriegern trifft mich nicht. Aber andere Verluste schmerzen mich. Der Raub der Viehherde und die Zerstörung anderer Vorräte hat uns viel mehr geschadet. Davon wird das gesamte Heer betroffen. Wir haben uns erst in Siev mit der nötigen Verpflegung versorgt. Unsere Vorräte hätten gereicht, bis wir in dem Lager angekommen waren, das Kelkaris für uns errichtet. Aber nach diesem Überfall kommen wir nicht mehr so lange damit aus. Wir schaffen es gerade noch durch das Tal der Verzweifelten, dann müssen wir uns mit frischer Nahrung versorgen. Die könnten wir von den Esil besorgen. Wenn wir ihren Häuptlingssohn wohlbehalten zurückbringen! Du hast doch gehört, daß es sich um reiche Bauern und Viehzüchter handelt. Verstehst du jetzt meinen Plan. Magier?« »Ich weiß nur, daß der Junge lügt entgegnete Zamoc heftig. »Es gibt überhaupt keine Esil, und er ist ein Spion der Urgoriten. Überlast ihn mir eine einzige Stunde, und ich verspreche dir, daß er unter der Folter flehen wird, uns die Wahrheit erzählen zu dürfen.« »Ist die Folter deiner Weisheit letzter Schluß, Magier?« rief der König höhnisch. »Nennst du es Weisheit, die Lügen eines kleinen Jungen für bare Münze zu nehmen!« hielt der Magier dem König entgegen. Zogor sprang auf. 30
»Treibe deine Anmaßung nicht zu weit, Magier. Die Dämonen haben deinen Kopf nicht so fest gemacht, daß er nicht durch ein Beil vom Rumpf getrennt werden könnte.« Zamoc kniete plötzlich vor Zogor nieder, senkte das Haupt und sagte demütig: »Verzeih, mein König, daß ich deine Geduld über Gebühr beansprucht habe. Ich lege mein Schicksal in deine Hand.« Zogor wurde daraufhin wieder versöhnlicher. »Schon gut, Kanzler. Erhebe dich, ich brauche deinen Rat auch weiterhin.« Er blickte sich suchend um. »Kano! Wo ist der Junge? Wache!« Als die Wachen ins Zelt stürmten, kam ein Luftzug auf. Zamoc erfaßte zuerst, was das zu bedeuten hatte. Er ging zur Zeltwand, legte die gebauschten Seidenvorhänge frei und deutete auf einen zwei Ellen langen Schlitz. »Da«, sagte er sarkastisch. »Der angebliche Häuptlingssohn der Esil hat sich mit dem Messer diese Öffnung geschaffen und ist geflüchtet.« Das Gesicht des Königs färbte sich rot. »Schafft mir den Jungen herbei!« schrie er. Zamoc verließ eiligen Schrittes das Zelt. Als er im Freien war, rief er laut: »Urak!« Aus dem Schatten schälte sich eine kleine Gestalt. Der ehemalige Dunkle Wächter trug jetzt die Rüstung eines myranischen Kriegers, war jedoch Cnossos, dem Gott der vielen Namen, immer noch bedingungslos ergeben. »Ja, Herr«, sagte er, als er Zamoc erreichte. Zamoc berichtete seinem Diener von Kanos Flucht und fügte abschließend hinzu: »Du mußt den Jungen finden. Wenn Partho ihn ins Lager geschickt hat, dann muß er etwas Besonderes 31
sein. Vielleicht komme ich über ihn meinem Ziel einen Schritt näher. Dieser närrische Zogor wird für mich immer unerträglicher ...«
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3.
Partho packte den kleinen, untersetzten Mann unwillkürlich an der Schulter. »Bist du ganz sicher, daß Kano außer Gefahr ist, Dilorn?« Dilorn, der einer der »Söhne von Atlantis« war, die ihr Lager am Ah‘rath abgebrochen hatten und nach Urgor gekommen waren, um Dragon ihre Hilfe anzubieten, wiederholte, was er schon einmal gesagt hatte: »Kano befindet sich noch im Heerlager der Myraner, aber er ist in Sicherheit. Du weißt, daß ich manchmal hören kann, was Kano denkt. Deshalb weiß ich, daß er auf der Flucht vor König Zogors Schergen bei jemandem aufgenommen wurde, der ihm Unterschlupf bot.« »Weißt du nicht, wer ihn beherbergt?« Dilorn schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich kann dir nur sagen, daß das Zelt von Kanos Beschützer am Ende des Heerlagers steht.« Agrion, die Partho gleich nach seiner Rückkehr aufgesucht hatte, trat von hinten an ihn heran. »Seien wir vorerst froh, daß Kano ungefährdet ist«, sagte sie. »Dilorn ist sichtlich müde. Wenn er wieder zu Kräften kommt, wird er erneut Verbindung mit Kano aufnehmen können.« »Entschuldige, Dilorn«, sagte Partho müde. »Es war die Sorge um den Jungen, der mich die Fassung verlieren ließ. Ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen.« »Um Kano zu bändigen, mußte man tausend Arme und ebensoviel Augen besitzen«, sagte Agrion. »Dich trifft keine Schuld, Partho. Wir alle wissen, daß er in seinem jugendlichen Übermut leichtsinnig ist. Du solltest 33
dich nicht um ihn sorgen, wenn Dilorn sagt, daß er nicht in Gefahr ist.« Partho betrachtete das Mädchen, das einst König Alacs Sklavin gewesen war und die nun von den Kriegerinnen aus Katmahzar als Nachfolgerin ihrer Königin anerkannt wurde. Welch seltsame und verschlungene Pfade das Schicksal doch ging! Er, Partho, hatte Agrion mehr aus Laune denn aus Liebe seine Zuneigung geschenkt, und jetzt, wo er mehr und mehr erkannte, daß auch tiefere Gefühle zwischen ihnen waren, wurde sie ihm entrissen. Und das alles wegen des Mondringes, der sie als Katmahzari königlichen Geblüts auswies. Agrion war nicht mehr das Mädchen, in das er sich verliebt hatte. Sie war in ihrer Haltung und in ihrem Wesen bereits eine Katmahzari. Sie trug deren Rüstung, einen roten Wollrock, in den Eisenringe verwoben waren, knielange Stiefel mit eisernem Schienbeinschutz und den ledernen Harnisch, der mit Eisenschienen versteift war; ihre Brüste waren von Metallschalen mit scharfen Spitzen geschützt. Von dem breiten Gürtel hing das kurze, gerade Schwert. Nein, Agrion war eine uneinnehmbare Festung geworden. Das hatte er vor zwei Tagen erkannt, als er sie nehmen wollte. Sie hatte ihm jedoch zu verstehen gegeben, daß sie sich als künftige Königin von Katmahzar nicht jederzeit dem Sinnesrausch hingeben könne. Daraufhin hatte er gefragt: »Willst du wirklich die achtzehn Sommer deines Lebens vergessen und deine Zukunft dem Einfluß eines Ringes überlassen?« Ihre Antwort hatte ihm gezeigt, daß sie entschlossen war, die Pflicht ihren Wünschen voranzustellen. Und da Prinzessin Jnessa sie lieber töten würde, anstatt sie »als Freiwild im Männerreich zurückzulassen«, wie sie es 34
ausdrückte, wußte Partho, welchen Weg Agrion gehen würde. »Ich füge mich meiner Bestimmung, Partho.« Daran mußte er denken, als sie jetzt vor ihm stand. Agrions Stimme rief ihn in die Wirklichkeit zurück. »Prinzessin Jnessa möchte dich sprechen«, sagte sie. »Das trifft sich ausgezeichnet«, erwiderte er. »Ich habe ebenfalls mit ihr zu reden.« Er schwang sich auf sein Pferd, und sie ritten schweigend zum Lagerplatz der Kriegerinnen, der einen Stundenmarsch entfernt von dem der Zunter und Urgoriten auf einer leicht zu verteidigenden Anhöhe lag. Partho stellte erstaunt fest, daß sie ihre Pferde bepackt hatten und aufbruchbereit waren. Auf seine Frage, was das zu bedeuten habe, schwieg Agrion. Sie führte ihn hinter einen Felsen, wo Prinzessin Jnessa ihn erwartete. Als sie Partho kommen hörte, sagte sie, ohne sich umzudrehen: »Du wirst dich fragen, warum ich mit meinen Kriegerinnen vorzeitig aufbreche. Blicke zu Zogors Heer hinunter, und du bekommst die Antwort. Die Myraner treffen ebenfalls die Vorbereitungen für den Aufbruch. Ich möchte mit meinen Kriegerinnen vor ihnen in das Tal der Verzweifelten einreiten.« »Du weißt, daß dies meine Pläne durchkreuzt, Prinzessin«, entgegnete Partho. »Du hattest bei der Lagebesprechung nichts dagegen einzuwenden, als beschlossen wurde, daß deine Kriegerinnen die Nachhut bilden sollen. Ich beabsichtigte, fünfhundert der urgoritischen Krieger vorauszuschicken, während die restlichen fünfhundert zusammen mit den tausend Zuntern auf beiden Seiten der Talhöhen den myranischen Kriegszug begleiten sollten. Das hätte viele Vorteile mit sich gebracht. Während die Vorhut den Myranern Fallen gestellt hatte, 35
wären von der Hauptstreitmacht auf den Talhöhen immer wieder Vorstöße gegen die Flügel des Heerwurms unternommen worden.« »Und welche Rolle hattest du uns zugedacht?« fragte Prinzessin Jnessa scharf. Als Partho nicht sofort Antwort gab, fuhr sie fort: »Ich habe dich durchschaut. Zuerst dachte ich, du wolltest uns als Nachhut einsetzen, weil du unsere Sitten und Bräuche achtest. Ich dachte, weil es uns bis Ende Mond des Adlers untersagt ist zu kämpfen, würdest du uns dem myranischen Heer folgen lassen, damit wir keine Zusammenstöße zu befürchten hätten. Aber dann erfuhr ich, daß den Abschluß des myranischen Heerwurmes die Liebesdienerinnen und die Diebe bilden, und ich erkannte deine gemeine Absicht.« Prinzessin Jnessa drehte sich abrupt um und blickte ihm zornig ins Gesicht. »Du wolltest uns gegen die Myraner ausspielen!« schleuderte sie ihm entgegen. »Diese verwerfliche Absicht unterschiebst du mir«, sagte Partho nicht sehr überzeugend. »Zugegeben, ich habe gehofft, daß ihr uns im Kampf gegen die Myraner unterstützen würdet. Und vielleicht kam mir dabei auch der Gedanke, daß ihr den einen oder anderen liebeshungrigen Söldner Zogors zu Amyron schicken würdet. Schließlich habe ich es erlebt, wie deine Kriegerinnen auf Annäherungsversuche meiner Leute antworteten. Aber gut, wenn ihr unbedingt bis Ende Mond des Adlers untätig bleiben wollt, will ich das anerkennen. Nur wenn ihr uns schon nicht helft, dann solltet ihr wenigstens nicht gegen uns arbeiten. Genau das tut ihr jedoch, wenn ihr an Stelle meiner Männer vor den Myranern in das Tal der Verzweifelten einreitet.« »Ich wollte mit dieser Maßnahme deine Pläne nicht durchkreuzen«, sagte Prinzessin Jnessa mit einer Stim36
me, in der Bewunderung mitschwang. Sie überlegte kurz, dann erklärte sie: »Was hältst du von diesem Vorschlag. Wähle fünfzig Männer aus, aber solche, die schon älter und besonnener sind, und schicke sie mit uns voraus. Wir werden sie nach Möglichkeit unterstützen – schließlich sind wir während der heiligen Monde des Gebärens nicht zu vollkommener Untätigkeit verdammt –, nur darfst du nicht von uns verlangen, daß wir uns an Kämpfen beteiligen.« »Es liegt nicht in meiner Absicht, Kämpfe heraufzubeschwören, sondern ich will sie tunlichst vermeiden«, antwortete Partho. »Ich nehme also deinen Vorschlag an, Prinzessin, er klingt mir vernünftig. Sollen jene fünfhundert Krieger die Nachhut bilden, die ich vorausschicken wollte.« »Ich freue mich, daß wir uns einig geworden sind«, sagte Jnessa lächelnd. »So werden wir nur noch auf die fünfzig alten Krieger warten, bevor wir losreiten.« »Da ist noch etwas, das ich wissen wollte, Prinzessin«, sagte Partho. »Wann werden die viertausend Katmahzari eintreffen, die sich im Gebiet um Akyrja sammeln und uns zu Hilfe kommen sollen?« »Gegen Ende des nächsten Mondes.« »Also Ende Mond der Schlange«, sagte Partho, »Besteht keine Aussicht, daß sie früher eintreffen? Wenn es uns nicht gelingt, Zogors Hauptarmee lange genug aufzuhalten, dann wird die Verstärkung zu spät kommen.« »Von Akyrja bis zum Ursprung des Euphir sind es zwanzig Tagesritte. Dabei ist zu bedenken, daß viertausend Kriegerinnen langsamer vorankommen als eine kleinere Streitmacht. Es kann also sein, daß sie für diese Strecke länger brauchen.« »Und wann werden sie von Akyrja aufbrechen?« 37
»Am Nicht-Tag, der dem Mond des Adlers folgt.« »Nicht früher?« »Nein. Erst wenn die heiligen Monde des Gebärens und Säugens beendet sind, werden sie in den Krieg ziehen.« »Ich hoffe nur, daß wir König Zogors Vormarsch entsprechend verzögern können, damit die Kriegerinnen nicht zu spät kommen.« Partho schenkte Agrion, die schweigend und reglos daneben gestanden hatte, ein bitteres Lächeln, schwang sich in den Sattel und ritt in halsbrecherischem Tempo zu seiner Streitmacht zurück. Weibervolk! dachte er schaudernd. Der myranische Heerwurm setzte sich langsam in Bewegung. Zwei Vorhuten, die eine hundert, die andere vierhundert Mann stark, ritten in Abstanden von je einer Stunde voraus. Dann kamen tausend berittene Krieger der Hauptstreitmacht, denen das Fußvolk und der Troß folgten. Späher erkundeten die Talhänge, von denen die meisten Parthos Leuten in die Schwerter liefen. Wasserträger schwärmten aus, um die großen Fässer auf den vierrädrigen Karren für den langen Marsch durch das Tal der Verzweifelten zu füllen – sie kamen entweder um, oder kehrten mit leeren Wasserbeuteln zurück. Dennoch konnten Parthos Leute nicht verhindern, daß die großen Wasserfässer gefüllt wurden. Denn nach den ersten Ausfällen sicherten starke Truppeneinheiten die Wasserstellen ab. 38
»Das tut nichts«, sagte Partho grinsend. »Hauptsache, Zogor vergißt nie, daß wir gegenwärtig sind. Hier gibt es noch Wasser im Überfluß, aber warten wir ab, bis die Myraner im Tal der Verzweifelten sind.« Von seinem Beobachtungsposten aus stellte er zufrieden fest, wie zwei Wasserwagen, die einer Felswand zu nahe gekommen waren, unter Gesteinsbrocken begraben wurden, die seine Leute von der Wand gelöst hatten. Jäger, die von Zogor ausgeschickt worden waren, um Wild zu erlegen, kamen nur selten mit Beute zurück. »Noch haben sie volle Bäuche«, meinte Robhet, der zusammen mit Yomral, dem Anführer der Zunter, und Partho die Maßnahmen ihrer Leute beobachteten. »Aber was wird sein, wenn der Hunger in ihren Därmen zu nagen beginnt?« Während sich die Heerspitze bereits dem Tal der Verzweifelten näherte, wurden an den Quellen des Kisil die letzten Zelte abgebrochen. Das Lager der Myraner hatte man von einem Ende bis zum anderen an einem halben Tag abschreiten können, aber jetzt, da sich die zwölftausend Mann mit dem gesamten Troß fortbewegten, war der Heerwurm einen ganzen Tagesmarsch lang. Die Myraner kamen selbst jetzt, bei Tageslicht, nur langsam weiter; immer wieder blieben Wagen im weichen Boden stecken, mußten gebrochene Achsen ausgebessert werden, scheuten Tiere und kam es zu verschiedenen anderen Zwischenfällen, für die nicht selten Parthos Männer verantwortlich waren. Partho, Robhet und Yomral hatten sich zu jener Ebene begeben, die zwischen den Quellen des Kisil und dem Tal der Verzweifelten lag. Hier, in diesem flachen, mit saftigem Gras bewachsenen Teilstück hatten die Zunter 39
schon vor Tagen unter Yomrals Anleitung eine Reihe von Fallgruben gegraben. Diese waren nur eine Mannslange breit, zehn lang und einen Doppelschritt tief. Sie entgingen selbst dem schärfsten Auge, und man mußte schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, denn die Zunter hatten Geäst und junge Baumstämme darübergelegt und sie mit großen, fast nahtlos ineinandergreifenden Grasplatten bedeckt. Das Geäst war stark genug, das Gewicht eines Mannes zu tragen. Aber ein Pferd verfing sich unweigerlich in dem Geäst, und Wagen brachen durch ihr Gewicht ein. Als Partho, Robhet und Yomral aus der Ferne das Fallengebiet beobachteten, entdeckten sie, daß an die fünfzig Pferde in die Gruben eingebrochen waren und den Gnadenstoß erhalten mußten. Die Myraner hatten die Fallgruben freigelegt, damit sie nicht auch noch den Reitern der Hauptstreitmacht und den Wagen des Trosses zum Verhängnis wurden. Das war eine mühevolle und zeitraubende Tätigkeit, während der der Heerwurm fast vollkommen zum Stillstand kam. Als dann der Troß das Fallengebiet erreichte, war die Nacht bereits hereingebrochen, und die Myraner mußten die Gruben mit Fackeln und Zäunen absichern, damit die Wagenlenker rechtzeitig ausweichen konnten. »Damit haben wir gut einen halben Tag gewonnen«, frohlockte Partho. Yomral machte ein mißmutiges Gesicht. »Wenn ich bedenke, daß meine Männer fünf Tage geschuftet haben, erwartete ich mir wenigstens, daß Zogor hineinstürzen und sich das Genick brechen würde.«
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Partho lachte. Er war guter Laune. Er erkannte immer deutlicher, daß die Art der Kriegführung, die Dragon anwandte, eine Menge für sich hatte. »Yomral«, sagte Partho, »wer in deiner Truppe ist der größte Frauenheld?« Der Zunter war von dieser Frage so sehr überrascht, daß er nicht sofort antwortete. »Sage es schon«, drängte Partho. »Ich möchte es aus einem ganz bestimmten Grund wissen.« »Nun, da brauche ich nicht viel zu überlegen«, sagte Yomral. »Der größte Frauenheld unter meinen Männern wird Koyos sein. Er hat sich bei den Katmahzari schon fünf Abfuhren – fünf Messerstiche – geholt, aber er kann es nicht lassen.« »Glaubst du nicht auch, daß er auch schon dort war, wo er nicht abgewiesen wurde?« »Du meinst ...?« Partho nickte. »Du kannst es mir ruhig sagen. Ich habe nicht die Absicht, ihn zu bestrafen. Mir ist sehr wohl bekannt, daß so mancher meiner Krieger den Zelten mit den roten Laternen nicht widerstehen kann, obwohl er weiß, welcher Gefahr er sich dabei aussetzt.« »Von den Liebesdienerinnen droht keine Gefahr«, meinte Yomral. »Ihnen ist es gleich, ob ein Zunter, Urgorit oder ein Myraner die Silberlinge bringt. Die Gefahr besteht darin, daß man sich der Entdeckung durch die myranischen Krieger aussetzt. Aber Koyos behauptet, daß sich das Wagnis lohnt. Ich habe ihn über ein Mädchen namens Saphirna schwärmen hören ...« »Ist er gesundheitlich in der Lage, mich zu ihr zu begleiten?« unterbrach Partho den Zunter. »Koyos humpelt noch«, sagte Yomral. »Aber wenn ich ihm sage, wohin er dich begleiten soll, wird ihn nichts davon abhalten können.« 41
»Gut. Dann besorge uns Kampfausrüstungen zweier Myraner.« »Solche finden sich bestimmt im Gepäck meiner Männer.« »Das ist Saphirnas Zelt«, sagte Koyos heiser und deutete nach vorne. »Aber ich sehe keine rotbemalte Öllaterne vor dem Eingang«, entgegnete Partho. »Sie wird nicht allein sein«, meinte Koyos und blickte sich um. Sie waren bisher erst einem Trupp von zehn Myranern begegnet, deren Anführer zum Aufbruch drängte. Die anderen Krieger, die sich hier Kurzweil verschafft hatten, schienen sich bereits dem Heer angeschlossen zu haben. Das seltsame Volk der Spieler, Diebe, Scharlatane und Hetären war nun unter sich. Sie saßen um die Lagerfeuer, tranken, erzählten sich lachend, wie sie die Myraner übers Ohr gehauen hatten. Die Frauen tanzten, die Scharlatane zeigten ihre Kunststücke, die Spieler ließen ihre Würfel rollen, die Wunderheiler reichten ihre Tränke und machten sich über jene lustig, die an ihre Heilkraft glaubten. Aus den Unterhaltungen erkannte Partho, daß man sich untereinander nicht einig war, wie es weitergehen sollte. Einige äußerten den Wunsch, nach Siev zurückzukehren, andere wollten nach Zunt weiterziehen, aber kaum einer dachte daran, dem myranischen Heer in das Tal der Verzweifelten zu folgen. Partho und Koyos fanden keine Beachtung. Es kam nur zu einem einzigen Zwischenfall, als ein betrunkener Alter mit nur einem Bein sie beschimpfte und im näch42
sten Augenblick um »eine milde Gabe« bettelte. Partho gab ihm einen Silberling, damit er sie in Ruhe ließ. Saphirnas Zelt war das größte und prunkvollste von allen. Vor dem mit kostbar bestickten Wollstoffen verhangenen Eingang standen zwei hünenhafte Sklaven, deren nackte Oberkörper im Schein der Lagerfeuer bronzen glänzten. Sie zückten ihre langen, gekrümmten Schwerter, als Partho und Koyos vor sie hintraten, und überkreuzten sie. »Verschwindet«, sagte der eine Sklave. »Ihr könnt Saphirna in Zunt besuchen.« Partho, der die Kampfausrüstung eines myranischen Befehlshabers trug, zückte sofort sein Schwert. »Du schmutziger Wilder«, rief er in gespieltem Zorn, »ich werde dir beibringen, wie man sich einem Myraner von Adel gegenüber zu benehmen hat.« Er durchbrach mit einem einzigen Hieb die gekreuzten Klingen der bronzehäutigen Wachen und stellte sich ihnen zum Kampf. Bevor es jedoch noch dazu kam, teilten sich die Vorhänge des Zeltes, und eine Frau erschien. »Was soll der Krach!« sagte sie mit einer tiefen, weichen Stimme. Sie war großgewachsen und schlank und besaß leuchtend rotes Haar, das sie mit Kämmen und Nadeln, die aus den Stoßzähnen von Säbelzahntigern geschnitzt sein mochten, zu einem kunstvollen Turm hochgesteckt hatte. Ihre Haut war so weiß und glatt wie die Kämme und Nadeln in ihrem Haar. »Deine Sklaven wagten es, uns zu beschimpfen«, sagte Partho. »Dafür werden sie ihr Blut geben müssen.« »Gut gesprochen, aber ich glaube nicht, daß du deinen Worten die Tat folgen lassen kannst«, sagte Saphirna. Ihre graugrünen Augen wanderten zu Koyos. Sie frag43
te ihn rundheraus. »Was willst du denn schon wieder hier?« Koyos grinste nur breit. Partho steckte sein Schwert weg und sagte: »Wenn du Koyos erkannt hast, dann weißt du, daß auch ich ein Freund bin. Laß uns in dein Zelt.« Saphirna zog mit einer schnellen Bewegung die Vorhänge vor sich zusammen, so daß nur noch ihr Gesicht zu sehen war. »Das geht nicht! Ich möchte meine Ruhe haben.« Partho überlegte schon, ob er sanfte Gewalt anwenden sollte. Plötzlich jedoch schnupperte er. Dem Zelt entströmte ein Duft, den er schon einmal geatmet zu haben glaubte. Und dann erinnerte er sich, bei Nabib, dem Händler, von diesen Dämpfen berauscht worden zu sein. »Ich rieche den Duft des brennenden Öko-Strauches«, sagte er lächelnd und stellte zufrieden fest, daß Saphirna zusammenzuckte. »Koyos erzählte mir, daß dein Zelt von berauschenden Gerüchen erfüllt sei, die die Männer zur Raserei brächten. Aber ich wußte nicht, daß du dafür die Blätter des Öko-Strauches verwendest. Willst du uns nun in dein Zelt einlassen, oder ist es dir lieber, wenn ich dein Geheimnis preisgebe?« »Ihr dürft hereinkommen«, sagte Saphirna. »Aber wartet noch einen Augenblick, bis ich euch rufe.« Koyos rieb sich vergnügt die Hände Partho fragte sich argwöhnisch, welche Vorbereitungen die Hetäre treffen wollte, bevor sie sie eintreten ließ. Es dauerte nicht lange, dann erklang ihre tiefe, wohlklingende Stimme. Partho betrat vor Koyos das Zelt. Er staunte, als er die gediegene Ausstattung sah, die prunkvollen Teppiche auf dem Boden und an den Wänden, die kunstvoll verzierten Zeltstangen, von denen Öllampen 44
und dampfende Schalen hingen. Saphirna lag auf einem Meer von Polstern. Das milde Licht der Öllampen ließ die Schatten verschwimmen und das Innere des Zeltes zu einer paradiesischen Oase werden. Partho mußte die Verzauberung gewaltsam abschütteln, um nicht seine Aufgabe zu vergessen. Er ließ sich vor Saphirna auf ein Kissen sinken. Er räusperte sich und sagte: »Eigentlich bin ich nur gekommen, dich zu bitten, nicht umzukehren, sondern dem myranischen Heer auch durch das Tal der Verzweifelten zu folgen. Ich bin sicher, daß du genügend Einfluß auf die anderen hast, sie ebenfalls dazu zu bringen. Jetzt möchte ich jedoch noch eine zweite Bitte äußern.« Saphirna fuhr hoch. »Bist du nur deshalb gekommen? Dann sprich erst gar nicht weiter. Ich denke nicht daran, mich im Tal der Verzweifelten in Gefahr zu bringen. Und was du auch sonst noch von mir verlangst, meine Antwort lautet: Nein!« »Ich verspreche dir, daß für dich und die anderen des Wandervolkes im Tal der Verzweifelten keine Gefahr besteht«, sagte Partho fest. Saphirna lachte. »Und woher willst du das so genau wissen?« »Weil ich euch mit meinen Kriegern beschützen werde.« Saphirna blickte ihn zweifelnd an. »Warum solltest du das tun?« fragte sie. »Welche schmutzige Absicht versteckst du hinter deinem Angebot?« »Ich habe nicht vor, mit euch ein schmutziges Spiel zu treiben«, erklärte Partho. »Ich mochte nur, daß ihr auch im Tal der Verzweifelten weiterhin tut, was ihr bisher tatet. Die myranischen Krieger verführen, ihnen den Sold 45
abnehmen und sie vom Kampf ablenken. Koyos sagte mir, du selbst hättest gute Gründe, König Zogor den Tod zu wünschen.« »Das muß in einer schwachen Stunde über meine Lippen gekommen sein«, sagte sie. Plötzlich wurde ihre Stimme haßerfüllt. »Zogor hat mich auspeitschen und an den Schandpfahl stellen lassen. Ich war damals noch ein halbes Kind, habe diese Schmach aber bis heute nicht vergessen. Ja, ich hasse ihn, und ich schwor mir damals sogar, ihn zu töten.« »Du könntest viel zu seiner Niederlage beitragen, Saphirna«, meinte Partho. »Auf Zogor und seine Leute wartet im Tal der Verzweifelten Tod und Vernichtung. Dafür werde ich sorgen. Die Myraner werden Durst und Hunger leiden, sie werden ihre Rüstungen abwerfen, weil sie nicht mehr die Kraft haben, sie zu tragen. Und am Ende des Tales können sie froh sein, das nackte Leben gerettet zu haben. Jeder einzelne von ihnen wird nach diesem Marsch durch die Hölle Zogor verfluchen – und viele werden ihm den Rücken kehren und nicht mehr mit ihm kämpfen wollen.« Als Partho geendet hatte, herrschte lange Zeit Schweigen im Zelt. Saphirnas Blick war in unbekannte Fernen gerichtet. Dann trat der Ausdruck kalter Berechnung in ihre Augen. »Diesen beschwerlichen Weg zu gehen, nur um meine Rache zu stillen, ist mir zu wenig«, sagte sie. »Und noch weniger werden sich die anderen damit zufriedengeben.« »Ihr sollt es nicht umsonst tun«, versprach Partho. »Ich biete euch nicht nur den Schutz von Urgor, sondern ausreichend Verpflegung – und Gold. Glaubst du, daß du die anderen dazu überreden kannst?« 46
»Das Gold wird sie umstimmen«, versicherte Saphirna. »Aber nicht alle werden damit einverstanden sein, daß es von Urgor kommt. Ich werde also lügen müssen und sagen, Zogor hätte es angeboten, damit wir sein Heer nach Ar-zinca begleiten. Ich nehme dein Angebot an. Wie lautet nun dein zweiter Wunsch?« »Ich möchte, daß du mir alle Öko-Blätter verkaufst, die du besitzt!« »Das ist viel verlangt.« »Du bist wunderschön, Sahpirna«, schmeichelte Partho, »und hast es nicht nötig, den Männern mit berauschenden Düften den Kopf zu verdrehen. Sie werden allein durch deinen Anblick den Verstand verlieren.« Sie lächelte wohlgefällig. »Und wozu benötigst du die Öko-Blätter?« »Man sagte mir, daß die Öko-Blätter nicht nur eine berauschende Wirkung hätten. Wenn man sie zerreibt und in großen Mengen mit Wasser vermischt genießt, dann ist es, als seien die Dämonen in einen gefahren. Statt in Sinnesrausch gerät man in Blutrausch und wütet für die Dauer eines ganzen Tages.« »Ich habe selbst schon davon gehört«, sagte Saphirna schaudernd. »Gut, ich werde dir die Blätter des ÖkoStrauches überlassen, aber ich verschenke sie nicht.« »Du wirst reichlich dafür entschädigt werden«, versprach Partho. Er spürte einen leichten Schwindel und preßte die Hände gegen die Schläfen. Als er wieder aufblickte, sah er Saphirna mit gänzlich anderen Augen. »Du bist schön, Saphirna«, sagte er sanft und streckte die Hand aus. Hinter ihm sagte Koyos krächzend: »Jawohl, sehr schön ...« »Wenn das Agrion wüßte!« Partho schreckte hoch, als er die Stimme vernahm. 47
»Kano!« rief er überrascht und eilte zu dem Jungen, der zwischen den Seidenvorhängen aufgetaucht war. »Wahrhaftig, du bist es! Wie kamst du ausgerechnet in dieses Zelt?« »Hat Dilorn es dir nicht gesagt, Partho?« wunderte sich Kano. »Ich habe geglaubt, daß ich ihn in Gedanken laut genug gerufen hatte, so daß er mich hören müßte. Saphirna hat mich bei sich aufgenommen, als mich Zogors Schergen verfolgten. Es war ein Glück, daß sie gerade in der Nähe des Königszelts war.« »Dilorn sagte mir, daß du dich in Sicherheit befändest, aber mehr erfuhr selbst er nicht aus deinen Gedanken.« Partho fühlte unsägliche Erleichterung. Kano erzählte, wie er Zogor seine Lügengeschichte aufgetischt hatte, und Partho und Koyos konnten sich vor Lachen kaum halten. Nur Saphirna blieb ernst. Kano schloß: »Wenn es nach Zamoc, dem Kanzler Zogors, gegangen wäre, wäre ich gefoltert worden. Dieser Magier in des Königs Diensten war zum Fürchten. Er kam mir überhaupt sehr merkwürdig vor. Als er mir meinen Dolch abnahm, meinte ich, sechs Finger an seiner Hand zu sehen. Aber gleich darauf waren es nur noch fünf.« »Wir vermuteten schon vor dem Abmarsch aus Urgor, daß dieser Zamoc in Wirklichkeit kein anderer als unser alter Feind Cnossos ist«, sagte Partho düster. »Deine Beobachtung scheint das zu beweisen. Hast du Kim davon berichtet?« »Das habe ich«, bestätigte Kano. »Onkel Dragon warnt uns. Du und deine Krieger sollt euch von ihm fernhalten. Aber das weißt du selbst, Partho. Kim berichtete noch, daß sich Onkel Dragon mit seiner Streitmacht auf die entscheidende Auseinandersetzung mit Zogors Seeheer vorbereitet ...« 48
»Das können wir besprechen, wenn wir im Lager sind«, unterbrach Partho ihn mit einem raschen Seitenblick zu Saphirna. »Es wird Zeit, daß wir aufbrechen.« Kano rührte sich nicht vom Fleck. »Muß ich mitgehen?« fragte er. »Du willst hierbleiben?« wunderte sich Partho. »Ich bin bei Saphirna gut aufgehoben«, sagte Kano trotzig. »Es gefällt mir bei ihr.« Saphirna zog den Jungen an sich. »Kano ist bei mir so sicher wie in eurem Lager«, sagte sie und fügte herausfordernd hinzu: »Du hast mir doch vorhin versprochen, uns zu beschützen.« »Ach, laß mich doch bei Saphirna, Partho, ja?« bat Kano. Partho seufzte. »Dann sei es.«
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4.
Die Tage vergingen, und der Zug der myranischen Krieger kam immer langsamer und unter immer größeren Schwierigkeiten voran. Cnossos, der sich in der Maske des Zauberers Zamoc das Vertrauen des Königs erschlichen hatte, erkannte bald, daß dies ein Feldzug ohne Ruhm sein würde. Die Urgoriten, die blitzschnell aus dem Hinterhalt zuschlugen und sich zurückzogen, bevor man sie fassen konnte, fügten den Myranern eine Niederlage nach der anderen zu. Sie zerstörten die Wasserwagen, raubten oder vernichteten die Ausrüstung und die Verpflegung und töteten die Späher und die Jäger. Zu all dem kam noch, daß der letzte Winter schneearm gewesen war, so daß die wenigen Tümpel und Wasserlöcher am Rande des Tales der Verzweifelten, in denen sich das Schmelzwasser von den Bergen zu sammeln pflegte, zumeist ausgetrocknet waren. Noch bevor die Krieger den Hunger zu spüren bekamen, machte sich der Wassermangel bemerkbar. Von den zwölftausend Mann, die noch in Siev dem Heer angehört hatten, waren bereits fünfhundert auf der Strecke geblieben. Und jeder Tag forderte neue Opfer; war es, daß Krieger vor Erschöpfung zusammenbrachen, von den Pfeilen der unsichtbaren Urgoriten getroffen oder von König Zogor bestraft wurden. Es waren auch nicht wenige, die fahnenflüchtig wurden. Einige von ihnen fand man bei den Dieben und Verführerinnen, die dem Heer folgten, und schlug ihnen die Köpfe ab. 50
Auf Zamocs Anraten nahm König Zogor später von solch grausamer Bestrafung Abstand; er sah ein, daß er dadurch nur seine eigene Kampfkraft schwächte und ließ sich dazu überreden, die Abtrünnigen und Plünderer zu einer eigenen Truppe zusammenzuscharen. Man nannte sie die »Todgeweihten«, und »König Zogor geweihten«, und König Zogor übertrug ihnen Aufgaben, für die ihm die treuen Krieger zu schade waren. So sah das ehemals stolze Heer am Beginn Mond der Schlange aus, das Urgor einnehmen wollte: Nicht ganz 11 500 hungernde und dürstende Männer, die den Tag verfluchten, an dem sie sich anwerben ließen – Krieger, in denen der Wille zum Kämpfen schwand, Krieger, die bald nicht mehr die Kraft haben würden, ein Schwert zu handhaben. Die Aussichten, Urgor zu erobern, wurden immer geringer. Aber das war nicht Cnossos‘ wirkliches Problem. Als er sah, daß sich König Zogor immer weiter auf die Verliererstraße begab, dachte er nur noch an sich. Sein Problem hieß: Überleben. Das war schwerer, als er es sich ursprünglich vorgestellt hatte. Die Stimmen im Gefolge des Königs gegen ihn mehrten sich und wurden immer lauter. Und Zogor, der mit wachsender Unruhe erkannte, daß die Verluste an Kriegern und Ausrüstung sein Heer empfindlich schwächten, suchte nach einem Schuldigen. Der bot sich ihm in seinem Berater Zamoc an. Früher hatte Zogor jeden Rat blind befolgt, den ihm Zamoc erteilte, jetzt handelte er allen Ratschlägen seines Kanzlers zuwider. Cnossos hätte Zogor in sein Unglück laufen lassen, wenn er ihn nicht benötigte. Nach seiner Regeneration in Bo-gah war er gegenwärtig immer noch hilflos und 51
verwundbar und besaß die Fähigkeit, seine Gestalt beliebig zu wandeln, noch nicht in vollem Umfang. Er mußte sich die Gunst des Königs so lange erhalten, bis er wieder im Vollbesitz seiner Fähigkeiten war und keinen Feind mehr zu fürchten brauchte. Dieser Tag konnte nicht mehr fern sein, das spürte Cnossos. Wenn er nachts allein in seinem Zelt war, dann dachte er sehnsüchtig daran, wie es wohl sein mußte, sich in einen übermächtigen Geier zu verwandeln, durch die Lüfte zu schweben und die Welt zu beherrschen. Wie ernüchternd gegen diese Träume doch die Wirklichkeit war. Er mußte sich nicht nur vor Zogors Zorn fürchten, sondern auch vor den Verschwörungen der Vertrauten des Königs. In dieser Zeit war Urak für ihn unbezahlbar. Diese hinterhältige, verlogene und im Grunde genommen feige Ratte war ihm bedingungslos ergeben. Sein Dolch hatte schon drei Schreihälse, die gegen ihn, Cnossos – Zamoc, wetterten, zum Schweigen gebracht. Und es würden noch viele verstummen müssen, ehe Cnossos seine gestaltwandlerischen Fähigkeiten zurückgewann, das war sicher. Im Augenblick mußte Cnossos jedoch ohne Urak auskommen, denn König Zogor hatte ihn zu den Todgeweihten verbannt. Urak war von einem der Heerführer dabei beobachtet worden, wie er sich am Nicht-Tag bei den Zelten der Hetären herumtrieb. Die Sitten der Myraner verlangten, daß man an den Nicht-Tagen Enthaltsamkeit übte. Als Zogor von Uraks angeblicher Verfehlung erfuhr, schickte er ihn augenblicklich zu den Todgeweihten. Dem König fiel dieser Urteilsspruch leicht, zumal ihm Zamocs Helfer schon lange ein Dorn im Auge war. 52
Und als Zamoc – Cnossos nach der Urteilsverkündung dem Blick des Heerführers begegnete, bemerkte er die Genugtuung in dessen Augen. Für Cnossos war es klar, daß Urak das Opfer einer Verschwörung geworden war. Cnossos merkte sich den Namen des Heerführers gut. Er hieß Sadar. Er setzte ihn im Geiste auf die Liste der Todeskandidaten. Urak dachte oft an Flucht, aber dann sagte er sich immer wieder, daß ihn sein Gott nicht im Stich lassen wurde. Der Verurteilte war nur mit einem leichten Schurz bekleidet und besaß keine Waffe. Den zwölf anderen Todgeweihten erging es nicht anders. »Warum müssen wir ausgerechnet dreizehn sein!« fluchte der Mann, der vor Urak ging. Es war ein braunhäutiger, bärenstarker Sklave, der von Zogors Wein getrunken hatte und deshalb verbannt worden war. »Man hat absichtlich diese Zahl gewählt, um den Zorn der Dämonen auf uns zu lenken«, sagte der Mann hinter Urak. »Zähl die Wache dazu, das ergibt vierzehn«, schlug Urak vor. »Halt!« rief der Reitersoldat, der sie bewachte. Er war bis an die Zähne bewaffnet und hielt sich immer in sicherem Atastand von ihnen, so daß sie keine Gelegenheit hatten, ihn zu überwältigen. Die Todgeweihten blieben stehen. Der Krieger deutete auf die Felswand und sagte: »Hier ist eine Engstelle, vortrefflich für eine Falle geeignet. Baobo und Raurigo, ihr beide klettert hinauf und 53
seht nach, ob hier die Urgoriten einen Hinterhalt errichtet haben.« Urak atmete auf, als sein Name nicht fiel. Der Sklave vor ihm und der Mann hinter ihm begannen wortlos mit dem Aufstieg. Baobo und Raurigo kletterten bis in eine Höhe von zwanzig Mannslangen. »Hier ist niemand!« rief Baobo, der Sklave. »Klettert höher«, befahl der Reitersoldat. »Aber versucht nicht, zu fliehen. Mein Pfeil würde euch einholen!« Als die beiden eine Höhe von dreißig Mannslängen erreicht hatten, rief der Krieger: »Stehenbleiben! Habt ihr etwas gefunden?« »Nein!« antwortete Baobo durch die zu einem Trichter geformten Hände. »Dann kommt herunter!« Baobo zog sich in den Schutz eines Felsens zurück und lachte. »Hole uns doch!« Das Gesicht des Reitersoldaten wurde rot vor Wut, und er ritt näher an die Felswand heran. Urak dachte noch, wie leichtsinnig das von ihm war, da lösten sich mit gewaltigem Getöse einige Felsbrocken. Die Todgeweihten preßten sich dicht an die Wand, nur zwei versuchten ihr Heil in der Flucht. Die Felsmassen donnerten herunter und begruben sie mitsamt dem Reitersoldaten unter sich. Als kein Gestein mehr herunterprasselte und Stille eingekehrt war, ging Urak zu dem erschlagenen Krieger und nahm ihm seine Waffen ab. Inzwischen war Baobo von der Felswand herabgestiegen. »Damit hat dieser Hund nicht gerechnet!« sagte er. »Die Urgoriten haben dort oben die Steine aufgehäuft, 54
um sie hinunterzustürzen, wenn der Troß diese Stelle erreicht hätte. Ich brauchte nur zu warten, bis dieser Kerl nahe genug war, und dann einen einzigen Felsbrocken wegzunehmen.« »Wo ist Raurigo?« fragten die anderen. »Davongelaufen«, sagte Baobo. Als er sah, was Urak tat, kam er auf ihn zu und sagte vorwurfsvoll: »He, du kannst nicht alle Waffen an dich nehmen. Wir werden sie unter uns verteilen.« »Das hast du dir so gedacht«, sagte Urak höhnisch und legte den Bogen auf ihn an. »Keiner von uns wollte, daß du den Krieger tötest, stimmt es. Kameraden? Wir werden dich zu König Zogor bringen und dafür bestimmt begnadigt werden.« Die anderen, die nichts dagegen gehabt hatten, mit Baobo zu flüchten, schlossen sich plötzlich Uraks Meinung an und wandten sich gegen den Sklaven. »Das werdet ihr nicht wagen«, sagte Baobo fassungslos. »Faßt ihn, Männer«, befahl Urak ungerührt. Er grinste. »Beeilen wir uns. Je eher wir diesen Meuchelmörder abliefern, desto früher bekommen wir Wasser.« Aber darin irrte Urak, zumindest was seine Person betraf. Der Zufall wollte es, daß sie einem Reitertrupp begegneten, den Sadar anführte. Der Heerführer, der Urak bei König Zogor verleumdet hatte, hörte sich die Geschichte ruhig an und sagte dann zu dreien seiner Männer: »Bringt den Mörder und seine Häscher zu König Zogor, er wird jedem die gerechte Behandlung zuteil werden lassen.« Dann wandte er sich dem ehemaligen Dunklen Wächter zu. »Dich, Urak, werde ich persönlich zu einer anderen Abteilung Todgeweihter bringen.«
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Urak wurde den Todgeweihten der vordersten Linie zugeteilt. Als Urak zu dieser Gruppe stieß, zählte sie hundert Mann. Bei Sonnenuntergang waren nur noch siebzig am Leben. Urak hatte es nur seinem sicheren Instinkt für Gefahr und seiner ihm angeborenen Feigheit zu verdanken, daß er noch lebte. Als sie zu einem Wasserloch kamen, hörte er einen der Krieger sagen: »Trink!« Er wußte, daß er gemeint war, stellte sich aber taub, obwohl er vor Durst schon halb wahnsinnig war. Dafür stürzten sich vier andere Todgeweihte auf das Wasserloch. Die anderen, die von den Wachtposten mit Speeren zurückgedrängt wurden, sahen neidisch zu, wie die vier das begehrte Naß gierig schlürften. »Das Wasser scheint genießbar zu sein«, stellte der Anführer der Wächter fest. »Holt sie weg, bevor sie das Wasserloch leeren.« Zwei Krieger schickten sich an, die vier zurückzuholen. Doch noch bevor sie sie erreichten, erhoben sie sich und kehrten der Wasserstelle den Rücken. Urak merkte sofort, daß irgend etwas mit ihnen nicht stimmte. Es war etwas in ihren Blicken, ein fiebriger Glanz. Plötzlich verzerrten sich ihre Gesichter, sie stießen hohe, unnatürliche Schreie aus und wollten sich auf die beiden Reiter stürzen. Vier Pfeile verließen singend die Sehnen der Bogen und streckten die Tobenden nieder. »Vergiftet«, stellte der Anführer fest. »Das wird sicher auch mit den anderen Wasserstellen nicht anders sein. Trotzdem werden wir hier für die Nacht lagern und die Hauptstreitmacht erwarten. Hier ist das Tal breit und eben. Die Urgoriten werden keinen Überfall wagen.« 56
Urak wurde mit fünfzehn anderen Todgeweihten für den Zeltbau eingeteilt, während acht weitere die vier Toten in einer nahegelegenen Höhle unterbringen mußten. Die Sonne war schon längst untergegangen, als die beiden Zelte aufgestellt waren. Die Todgeweihten wurden auf einem Platz zusammengedrängt, der von fünf Lagerfeuern abgegrenzt war; so konnten sie von den Wachen ständig im Auge behalten werden. »Acht Männer fehlen«, stellte der Anführer der Wächter fest. »Wer von euch hat ihre Flucht bemerkt? Er soll sich melden, sonst müssen es alle büßen!« »Es handelt sich dabei um jene acht, die die Toten in die Höhle gebracht haben«, sagte ein anderer Wächter. »Sie sind noch nicht zurückgekehrt.« »Ob die Höhle einen zweiten Ausgang hat?« meinte der Anführer. »Nein, der Grund für ihr Verschwinden ist ein anderer«, rief Urak und sprang auf. »Was weißt du von dieser Höhle?« fragte der Anführer. Urak bereute seine Voreiligkeit, konnte jetzt aber nicht mehr zurück. »Man sagt, daß nicht alle, die in diesem Tal verschwanden, auch umkamen. Sie sollen in den Höhlen hausen, weil es dort Wasser und verschiedene Kleintiere gibt, von denen sie sich ernähren. Sie stammen wohl von Menschen ab, aber Männer, die sie gesehen haben wollen, sagen, daß sie keine Ähnlichkeit mehr mit Menschen haben.« »Wenn das so ist, werden wir die Hohlen ausräuchern müssen. Da du dich hier auszukennen scheinst, wirst du diesen Einsatz leiten. Du bekommst zwanzig Männer mit. Ihr werdet mit Dolchen und Fackeln aus57
gerüstet sein. Jeder, der als Beute den Kopf eines dieser Unmenschen zurückbringt, wird begnadigt.« Urak hatte sich durch seine Auskunft eine Begünstigung erwartet, keineswegs jedoch, daß man ihn in den Tod schickte. Er bekam einen Dolch und eine Fackel und wurde mit den zwanzig Männern in die Höhle getrieben. Zehn Bogenschützen blieben am Eingang zurück. Urak zitterten bei jedem Schritt die Knie. Die schaurigen Geschichten, die sich die Händler erzahlten, die das Tal der Verzweifelten durchzogen hatten, waren noch lebhaft in seiner Erinnerung. Wenn in dieser Höhle wirklich Verzweifelte hausten, dann würden sie, die Eindringlinge, mit ihren Dolchen nichts ausrichten können. Die Höhle führte um eine Biegung, und sie entschwanden den Blicken der Bogenschützen. Urak blieb stehen. »Was ist?« wollten die Männer wissen. »Warum führst du uns nicht weiter?« Urak schluckte, dann sagte er: »Wenn wir zusammenbleiben, werden es die Unmenschen nicht wagen, sich zu zeigen. Es ist besser, wir trennen uns. Wenn wir immer zwei und zwei zusammen gehen, sind wir auch nicht mehr gefährdet als alle zusammen.« Dem stimmten die Todgeweihten zu. »Du kommst mit mir«, sagte Urak und deutete auf den kleinsten und schmächtigsten Mann der Gruppe, den er notfalls mühelos in einem Zweikampf besiegen konnte. Die anderen taten sich ebenfalls zu Zweiergruppen zusammen und verschwanden in den Seitenhöhlen. 58
Langsam löste sich die Gruppe auf, und schließlich waren nur noch Urak und sein Begleiter übrig. »Wir ziehen uns in diesen Stollen zurück«, bestimmte Urak, »und warten erst einmal ab. Warum sollen wir den Scheusalen in die Hände laufen? Warten wir, bis sie zu uns kommen.« Sein Begleiter gab einen unverständlichen Laut von sich. Urak merkte erst daran, daß man ihm die Zunge abgeschnitten hatte. Sie zogen sich in den Stollen zurück, der nur so hoch war, um einen Mann aufrecht gehen zu lassen und nach fünf Mannslängen endete. Urak war mit diesem Versteck zufrieden. Der Stumme stieß aufgeregte Laute aus und deutete auf den Boden. Urak erkannte mit Entsetzen, daß dort ein menschliches Gerippe lag. »Menschenfresser«, flüsterte er. Der Stumme nickte. Von irgendwo aus der Höhle drang ein hohlklingender, langgezogener Schrei zu ihnen. Ein zweiter folgte und ein dritter, dann war die Höhle erfüllt mit tierischem Gebrüll und dem Schreien der Todgeweihten. Urak begann am ganzen Körper zu zittern. Als er sich einbildete, daß sich das Gebrüll näherte, hielt er es nicht länger aus. Er stieß den Stummen beiseite und sprang aus dem Stollen. Zwanzig Mannslängen links von ihm tauchte ein mächtiger Schatten auf, der im Licht der flackernden Fackel zu tanzen schien. Urak sah einen wie aus Stein gemeißelten Körper, der Risse und Sprünge aufzuweisen schien. Der Schädel war breit und kahl und hatte statt Augen zwei faustgroße dunkle Löcher. Als sich die Kiefer auftaten, kam ein furchtbares Grollen heraus. Die Arme und Beine waren wie Hämmer; sie schlugen gegen die Seitenwände und gegen den Boden, daß es dröhnte. 59
Urak drehte sich kein zweites Mal mehr nach dem Ungeheuer um. Er rannte so schnell, wie ihn seine Beine tragen konnten. Als ihm die Fackel entfiel, bückte er sich nicht mehr danach. Er rannte in der Dunkelheit weiter, glaubte, die Biegung vor sich zu haben, schlug einen Haken und prallte gegen massives Gestein. Er taumelte weiter. Endlich sah er einen Lichtschein vor sich. Das Lagerfeuer – und Gestalten, die sich dunkel davor abhoben. Er stürzte über einen Stein, rappelte sich auf, lief weiter und stürzte wieder ... Er kollerte über den Hang ins Freie hinunter. Gerettet! Jetzt mochte kommen, was wollte. Als Urak sich nach einer ganzen Weile auf die Arme stützte, sah er das von weißem Haar umrahmte Gesicht Zamocs über sich. »Du bist frei, Urak«, sagte Cnossos zu seinem Diener. »Sadar hat seine verdiente Strafe erhalten, als er versuchte, den Wein des Königs zu vergiften.« Mit diesen Worten ließ er etwas Blutiges zu Boden fallen. Vor Urak lag das Haupt Sadars.
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5.
Es war am ersten Nicht-Tag dieses Jahres – an jenem Tag also, der nicht mehr dem Mond des Adlers angehörte, aber auch noch nicht dem Mond der Schlange zuzuzählen war. In den Städten, bei den verschiedenen Völkern und Stämmen beging man diesen Tag überall anders. Die Myraner, zum Beispiel, übten an den fünf Nicht-Tagen des Jahres Enthaltsamkeit – bei den Urgoriten, ebenso wie bei den Zuntern, wurde das Recht der Verfolgung, der Bestrafung, der Hinrichtung und des tödlichen Kampfes ausgesetzt, das hieß, auf den darauffolgenden Tag verschoben. Am Nicht-Tag kämpfte Parthos Truppe nicht. Der Hauptmann nutzte diese Gelegenheit, Saphirna aufzusuchen und nach Kano zu sehen. Von dem Jungen erfuhr er die erfreuliche Botschaft: Dragon hatte die Seearmee der Myraner aufgerieben! Kano berichtete: »Kim sagte mir, daß Onkel Dragon diesen Krieg mit einer Hand gewonnen habe. Mit dem Sprechrohr der Daniter rief er die Myraner auf, sich zu ergeben, während seine Bogenschützen Pfeile mit dem Götterfeuer in das Heer hineinschossen. Die Krieger glaubten, die Stimme Amyrons, Ihres Todesgottes, zu hören, und waren vor Entsetzen gelähmt. Kelkari, der Anführer, wurde von einem seiner Männer erdolcht, um Amyron zu versöhnen. Danach hatte Onkel Dragon leichtes Spiel. Das Heer wurde aufgerieben, der Rest ergab sich. Yina kam wohlbehalten zurück. Sie überwachte die Gedanken der Überläufer und suchte unter ihnen an die tau61
send aus, die bereit waren, für Gold auf der Seite Onkel Dragons gegen König Zogor zu kämpfen. So konnte Onkel Dragon die restlichen Gefangenen unter der Bewachung der Daniter abziehen lassen und hat immer noch dreitausend Krieger unter sich. Mit ihnen zieht er zum Kah Gapa, wo er das Lager baut, in dem er König Zogor und seine Hauptstreitmacht erwarten wird.« »Wenn das kein Tag zum Feiern ist!« rief Partho ausgelassen und erwiderte zwinkernd Saphirnas herausfordernden Blick. Kano erhob sich. »Ich muß zu Lamyr«, sagte er hastig. »Der Spieler hat versprochen, mir einige Kniffe mit den Würfeln zu verraten.« Sprach‘s und war schon weg. »Ich muß ebenfalls machen, daß ich fortkomme«, sagte Partho bedauernd. »Meine Leute müssen die Nachricht vom Sieg Dragons erfahren.« Damit verließ er das Zelt. Er hatte Saphirna belogen. In Wirklichkeit zog es ihn zu Agrion, die zusammen mit den Katmahzari-Kriegerinnen bereits tief im Tal der Verzweifelten, weit vor König Zogors Heer, war. Er erreichte das Lager der Kriegerinnen gegen Abend. Die fünfzig Männer, die sich bei den Katmahzari befanden, empfingen ihn mit gemischten Gefühlen. Einige, die den Arm in der Schlinge trugen, warfen ihm vor, daß er ihnen mit den Katmahzari eine schwere Last aufgebürdet hätte. Sie handelten sich damit bei Partho und ihren Kameraden nur schadenfrohes Gelächter ein. Als Partho ihnen von Dragons Sieg berichtete, stimmten sie jedoch geschlossen ein Freudengeschrei an. 62
Prinzessin Jnessa lud Partho zu sich ein, um mit ihm die weiteren Schlachtpläne zu besprechen. Neomara, die Kriegerin, die den Auftrag hatte, Agrion zu töten, falls sie sich weigerte, die Nachfolge der Königin anzutreten, war ebenfalls anwesend. »Mit dem heutigen Tag sind die Monde des Gebärens und des Säugens vorbei«, sagte Prinzessin Jnessa. »Von nun an werden meine Kriegerinnen an eurer Seite kämpfen.« »Nicht mehr gegen meine Männer?« fragte Partho anzüglich. »Die Kriegerinnen werden den Werbungen der Männer zugänglicher sein«, sagte Prinzessin Jnessa. »Aber sie sollen sich nicht zuviel herausnehmen. Eine Katmahzari ist es gewohnt, erst im Sommer auf die Suche nach einem Mann zu gehen. Und in jedem Fall bestimmt sie selbst, wem sie ihre Gunst schenkt. Wenn das deine Krieger bis jetzt noch nicht erkannt haben ...« »... werden sie es wohl nie begreifen«, vollendete Partho den Satz. »Das haben wir schon bis zum Überdruß erörtert. Sprechen wir von anderen Dingen.« »Reden wir vom Kampf«, stimmte Prinzessin Jnessa zu. »Die viertausend versprochenen Kriegerinnen werden inzwischen von Akyrja losgeritten sein. Sie können in frühestens zwanzig Tagen am Euphir sein.« »Die Myraner werden immer langsamer«, sagte Partho lächelnd. »Es wird sie zehn Tage kosten, das Tal der Verzweifelten hinter sich zu bringen. Und mehr als nochmals zehn Tage, um das Lager zu erreichen, in dem sie Kelkaris Seearmee wähnen, wo aber in Wirklichkeit Dragon sie erwartet. Es wäre zu wünschen, daß die viertausend Kriegerinnen nicht schon früher auf Zogors Streitmacht stoßen.« 63
»Ich werde ihnen Boten entgegenschicken, die ihnen den richtigen Weg zeigen«, versprach Prinzessin Jnessa. Partho konnte die Frage nicht langer mehr zurückhalten, die ihm schon seit seiner Ankunft auf den Lippen brannte. »Wo ist Agrion?« Neomara führte ihn auf einen Wink Prinzessin Jnessas zu ihr. Sie saß auf einer Anhöhe, die weit und breit die einzige grüne Insel in diesem kahlen, verdorrten Tal war, und starrte in Richtung Urgor, wo am nächsten Tag die Sonne aufgehen würde. »Ich sitze schon seit Stunden hier und habe darauf gewartet, daß du kommen würdest«, sagte sie. Er ließ sich neben ihr ins Gras fallen und stellte erstaunt fest, daß sie keine Rüstung trug. Als er den Arm um sie legte, schmiegte sie sich an ihn. »Du bist plötzlich verändert, Agrion«, sagte er. »Behagt es dir nicht?« fragte sie und zog sich zurück. »Du hast Saphirnas Duft an dir.« »Es ist der Geruch der Öko-Blätter, mit denen ich die Wasserlöcher und Tümpel verseuchte«, erklärte er. »Und wenn ich bei Saphirna gewesen wäre, würde es dich wirklich stören?« »Ich müßte befürchten, daß du dich von mir abwendest.« »Närrin!« »Ich möchte, daß diese Nacht nur uns beiden gehört, Partho. Wer weiß, vielleicht bin ich bei unserem nächsten Zusammentreffen schon ganz und gar eine Katmahzari.« Sie war bereits eine Katmahzari.
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Die folgenden Tage waren einer wie der andere. Parthos Leute versetzten dem riesigen myranischen Heerwurm Stich um Stich, und seine Bewegungen wurden immer langsamer. Als die Spitze des Heerwurms die halbe Strecke des Tales hinter sich gebracht hatte, befand sich Partho mit zwanzig Urgoriten und dreißig Zuntern gerade zwischen der Vorhut und den Katmahzari-Kriegerinnen. Seine Männer suchten alle Tümpel und Wasserlöcher auf und verseuchten sie mit dem Pulver, das sie aus den Blättern des Öko-Strauches gewonnen hatten. Dabei stießen sie auch auf eine Höhle der Unmenschen. Sie hüteten sich jedoch, in sie vorzudringen und waren froh, als sie sich nach vollbrachter Arbeit wieder durch die schmalen Hohlwege und Schluchten aus dem Tal und in die Berge zurückziehen konnten. Auf dem Rückzug entdeckten sie eine zweite Höhle, und alle waren der Überzeugung, daß auch hier ein Stamm jener Vertierten wohnte, die die Nachkommen der einst in diesem Tal Verschollenen waren. Partho war jedoch anderer Meinung. »Diese Höhle hat einen schlammigen Boden«, erklärte er. »Das Wasser, das im Boden versickert, sammelt sich darin. Es muß in dieser Höhle überall feucht und kalt sein. Die Unmenschen würden darin umkommen, denn sie brauchen Wärme, um die kalten Winter zu überdauern.« »Dann ist es eben eine leere Höhle«, sagte Robhet. »Was sollen wir hier unsere Zeit vergeuden. Laß uns weiterziehen.« Aber Partho rührte sich nicht vom Fleck. »Ich habe Erzählungen von Hirten gehört, die mir recht glaubhaft schienen«, meinte er und starrte auf die Höhle, deren Eingang zehn Mann hoch und fast ebenso 65
breit war. »Darin heißt es, daß zu Zeiten, wo Schnee und Eis dieses Tal bedeckt, hier ein schreckliches Ungeheuer haust. Es soll sich sogar bis Ar-zinca vorgewagt haben, wenn es der Hunger trieb.« »Und du glaubst, daß dieses Ungeheuer in dieser Höhle lebt?« fragte Robhet. »Es braucht die Kälte«, fuhr Partho fort. »Man hat es nur im Winter beobachtet. Wenn die warme Zeit kommt, dann zieht es sich in eine nasse, kalte Höhle zurück und hält Sommerschlaf. Diese Höhle wäre ausgezeichnet für ein Al-lho zum Übersommern geeignet.« »Wenn es so ist, dann laß uns erst recht weiterziehen«, drängte Robhet. »Ich denke nicht daran«, erklärte Partho. »Stell dir vor, wie das Al-lho unter den Myranern wüten würde, wenn wir es gegen sie hetzten.« »Das kann schon sein«, meinte Robhet düster. »Nur glaube ich, daß dieses Ungetüm zwischen uns und den Myranern keinen Unterschied machen wird.« »Das nicht«, entgegnete Partho grinsend. »Aber wenn es uns nicht sieht, kann es uns auch nichts tun. Männer, schafft Holz und Zunder heran, soviel ihr tragen könnt. Wir werden das größte Lagerfeuer entzünden, das man zwischen dem Ah-rath und Myra je gesehen hat.« Die Männer schleppten den ganzen Tag Holz von verdorrten Bäumen und Sträuchern heran, bis sich vor und oberhalb der Höhle riesige Berge türmten. »Das wird brennen wie Götterfeuer«, sagte Partho zufrieden. »Und Götterfeuer selbst werde ich ebenfalls einsetzen. Ich habe noch einen Beutel voll davon. Das Götterfeuer ist unlöschbar und wird auch in der feuchten Höhle brennen. Wenn das Ungetüm die Hitze spürt, wird es erwachen und aus der Höhle kommen. Das Feu66
er wird es daran hindern, den Berg zu ersteigen und es zwingen, den Weg ins Tal zu nehmen.« Während die Männer immer noch Äste und ganze Baumstämme heranbrachten, ritten im Tal unter ihnen die ersten myranischen Reitertrupps vorbei. Sie stießen auf die Höhle der Unmenschen und lagerten dort. »Vielleicht nehmen uns die Unmenschen auch noch einige Arbeit ab«, sagte einer von Parthos Männern. Die Nacht kam, und der Troß der myranischen Armee zog vorbei. »Ich glaube, jetzt können wir das Feuer entzünden«, sagte Partho. »Zieht euch auf die Berghöhe zurück und spannt die Feuerpfeile in die Bogen.« Als Partho mit dem Beutel Götterfeuer zur Höhle hinuntersteigen wollte, hielt ihn Robhet am Arm zurück. »Hast du selbst schon einmal ein Al-Iho gesehen?« fragte er. »Nein, aber das werde ich hoffentlich bald.« »Und wenn sich nun überhaupt keines in dieser Höhle aufhält? Dann hättest du das Götterfeuer vergeudet, für das es eine weit bessere Verwendung gibt.« »Dieses Wagnis müssen wir auf uns nehmen.« Robhets Hand spannte sich noch fester um Parthos Oberarm. »Laß mich gehen«, verlangte er. Aber Partho lachte nur. Er entriß einem der Männer die Fackel und kletterte zu der Höhle hinunter. Dann entzündete er ein Ende der Verschnürung, wartete noch eine Weile und warf den Beutel mit aller Kraft tief in die Höhle hinein. Für einen Augenblick mußte er geblendet die Augen schließen, als sich das Götterfeuer plötzlich entzündete, über den Schlamm floß und sich rasend schnell ausbreitete. 67
Partho kletterte schnell wieder den Hang hinauf. Bei seinen Männern angekommen, warf er die Fackel auf den Haufen aus dürrem Holz und Zunder. Das Feuer griff augenblicklich über, und im Nu war eine Flammenhölle entfacht, die sich über die ganze Breite des Hohlweges spannte. Über dem Prasseln und Knistern des Feuers war auf einmal ein heiseres Gebrüll zu hören, das tief aus der Höhle kam. Die Männer schauderten. Allein schon am Klang der Schreie ahnten sie, daß sie es hier mit einem Geschöpf von riesigen Ausmaßen zu tun hatten. Als dann jedoch das Al-Iho ins Freie raste, sahen sie alle ihre Vorstellungen übertroffen. Das Al-lho hatte einen Körper von zehn Mannslangen und einen ebenso langen und dicken Schwanz, der sich nach hinten zu verengte. Es besaß zwei muskulöse, lange Hinterbeine, auf denen es aufrecht lief. Die Vorderbeine waren nur kurz – das Al-lho hatte sie gereckt, als wolle es damit nach seinem Feind schlagen. In dem riesenhaften Schädel funkelten zwei winzige Augen, und in dem aufgerissenen Rachen, in dem ein ausgewachsener Mann Platz gehabt hatte, waren zwei Reihen fingerlanger Raubtierzähne zu sehen. Als das Al-lho sah, daß ihm der Weg nach oben durch ein zweites Feuer versperrt war, brüllte es laut auf und stürmte auf seinen beiden Hinterbeinen ins Tal hinunter. Die Feuerpfeile der Urgoriten folgten ihm und brachten es zur Raserei. Die Myraner, die ihm am nächsten standen, stürmten in wilder Flucht davon. Aber das Untier war schneller und holte sie bald ein ... Ein furchtbarer Kampf entbrannte, der über eine Stunde dauerte. Als es den Myranern endlich gelang, das Untier zu bezwingen, lagen mehr als fünfzig von ihnen in ihrem Blute da. In dem Kadaver des Al-lho steck68
ten Hunderte von Pfeilen und Speere. Sein Anblick war selbst noch im Tode furchteinflößend. Die Urgoriten und Zunter, die den Kampf von der Felshöhe aus beobachtet hatten, wandten sich stumm ab und kehrten zu ihrem Lagerplatz zurück.
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6.
Urak spürte, daß ihm Feindseligkeit entgegenschlug, als er ins Lager des Wandervolkes kam. Er konnte nicht sagen, woher dieses Gefühl kam, denn alles schien so wie früher zu sein. Die Bettler, an denen er vorbeikam, flehten um Almosen, die Spieler luden ihn ein, sein Glück zu versuchen, und die Hetären wiegten sich vor ihm einladend in den Hüften. Vielleicht machte es ihn nur argwöhnisch, daß sie ihm zuviel Aufmerksamkeit schenkten. Er war eigentlich in dieses Lager gekommen, um sich unauffällig umzusehen. Bei seinem letzten Besuch, der ihm so teuer zu stehen gekommen war, hatte er einen dunkelhäutigen, schwarzgelockten Jungen gesehen, der diesem Kano verblüffend ähnlich sah. Bevor es ihm jedoch möglich gewesen war, ihn genauer zu betrachten, war er zwischen den Zelten verschwunden. Urak steckte einem blinden Bettler einen Kupferling zwischen die Zähne und ließ sich neben ihm nieder. Er unterbrach den Blinden in seiner heruntergeleierten Dankesrede. »Ich danke dir, daß du mir eine gebärfreudige Frau und Schutz vor Ungeziefer wünschst«, sagte Urak. »Aber viel lieber wäre es mir, wenn du die Götter anflehtest, mich die Welt verstehen zu lassen.« »Was ist dir unverständlich, Herr«, sagte der Bettler. »Vertraue dich einem Mann an, der zwar keine Augen hat, der aber die Lösung vieler Rätsel vor sich ausgebreitet sieht.« 70
»Ich verstehe nicht, wieso ihr frisch und munter, gesättigt und ausgeruht seid, während Tausende von Kriegern vor Erschöpfung kaum mehr gehen können«, sagte Urak. »Ich höre euch lachen und sehe euch frohen Mutes den nächsten Tag erwarten. Sag mir, wie kommt das, Bettler?« Der Blinde kicherte. »Wir hadern nicht mit dem Schicksal, sondern nehmen es geduldig hin. Wir fluchen nicht auf die Dämonen, sondern beten zu den Göttern. Darum beachten uns die einen nicht und sind uns die anderen wohlgesinnt.« »Was Weiber tun, kann man von Kriegern nicht verlangen«, sagte Urak ungehalten. »Es muß noch eine andere Erklärung dafür geben, warum ihr das blühende Leben seid, während über den Kriegern der Schatten des Todes liegt. Sage, Alter, fürchtet ihr die Urgoriten nicht?« »Wir sind nicht ihre Feinde – wir sind niemandes Feind.« Urak erhob sich und kehrte dem Bettler den Rücken. Er war überzeugt, daß alle in diesem Lager mit den Urgoriten im Bunde waren. Cnossos, sein Gott in der Maske des Zauberers Zamoc, stimmte ihm zu. Als er jedoch von König Zogor verlangte, diese Brut auszuräuchern, war er auf grimmigen Widerstand gestoßen. Zogor verschloß sich allen gutgemeinten Ratschlägen, die er von seinem Kanzler erhielt – dieser Narr! Das würde ihm eines Tages das Leben kosten. Als Urak hinter sich ein hämisches Lachen vernahm, wirbelte er herum, erblickte jedoch nur ausdruckslose Gesichter. Sie hielten ihn zum Narren! Er verkniff die Lippen und ging weiter. »Ratte!« 71
Urak drehte sich blitzschnell nach der Frau um, über deren Lippen dieses Wort gekommen sein mußte. »Was hast du eben gesagt?« fragte Urak und ergriff sie so fest an den Oberarmen, daß sich ihr Gesicht schmerzhaft verzerrte. »Ich habe nicht gesprochen«, jammerte sie. »Lügnerin! Du hast mich beschimpft!« schrie Urak außer sich vor Wut. Er konnte alles ertragen, nur nicht, daß man ihn Ratte nannte. Er holte mit der Faust aus, um sie zu schlagen. »Laß sie los!« sagte jemand hinter ihm. Urak drehte sich dem Mann zu, der hinter ihm aufgetaucht war. Es handelte sich um einen Myraner, der seine Rüstung abgelegt hatte. »Verräter!« schleuderte Urak ihm ins Gesicht. »Du bist einer von den Feiglingen, die ihren König im Stich gelassen haben. Anstatt zu kämpfen, versteckst du dich unter dem Kittel von Dirnen. Ich werde dich ...« »Was wirst du?« fragten zwei andere ehemalige myranische Krieger, die herangekommen waren. Urak ließ sein Schwert los. »Ihr werdet nicht ungeschoren davonkommen!« »Wenn du zu Zogor zurückkehrst, dann sage ihm, daß wir uns von ihm abwandten, weil wir keine Lust haben, mit ihm in den Untergang zu gehen«, sagte jener Fahnenflüchtige, der ihn zuerst angesprochen hatte. »Und jetzt verschwinde!« Urak überlegte sich noch, ob es eine Möglichkeit gab, sich einigermaßen mit Würde aus der Angelegenheit zu ziehen, ohne zu kämpfen, als er plötzlich den Jungen zwischen den Zelten auftauchen sah. Es konnte kein Zweifel bestehen, das mußte dieser Kano sein! 72
»Haltet ihn!« schrie Urak, stieß die Fahnenflüchtigen beiseite und begann zu laufen. »Faßt ihn!« forderte Urak die Umstehenden auf. »Der König hat drei Goldstücke auf seinen Kopf gesetzt!« Keiner rührte sich. Urak verfluchte diese Diebe und Halsabschneider, die in gewissen Situationen eine seltsame Art von Ehrgefühl entwickelten. Plötzlich hielt ihm jemand einen Stock zwischen die Beine. Urak konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen und stürzte. Als er auf dem Boden lag, prasselten Schläge auf ihn herab. Es gelang ihm, sich aufzuraffen und das Schwert zu ziehen. Er schrie und schlug damit blind um sich. Die Männer wichen zurück, und Urak konnte die Verfolgung des Jungen wieder aufnehmen. Er sah ihn gerade noch weit vor sich in einem Zelt verschwinden. Es war Saphirnas Zelt. »Dieses Weibsstück!« fluchte Urak. Als er das Zelt erreichte und hineinstürmen wollte, trat ihm ein Mann in myranischer Rüstung entgegen. Aber es war kein myranischer Krieger! Urak erstarrte mitten in der Bewegung. »Partho!« Der Hauptmann von Urgor und der frühere Achte Wächter des Gottes der vielen Namen standen einander für wenige Augenblicke reglos gegenüber. Dann hoben sie gleichzeitig ihre Krummschwerter und schlugen damit aufeinander ein. Urak mußte bald erkennen, daß er Partho kein gleichwertiger Gegner war. Er wurde in die Verteidigung zurückgedrängt und konnte nichts anderes tun, als die kraftvoll geführten Streiche abzuwehren. Bei jedem Schlag, den Urak mit der Klinge abfing, spürte er die Kraft aus seiner Rechten schwinden. Er wußte, daß es 73
nicht mehr lange dauern konnte, bis Partho ihm den Todesstoß versetzen würde. In höchster Not wandte er sich an die Fahnenflüchtigen. »Das ist Partho, der Urgorit«, rief er keuchend. »Er ist es, der Verderben über das myranische Heer gebracht und den Tod eurer Mitstreiter auf dem Gewissen hat. Tötet ihn, Myraner!« Partho mußte sich zurückziehen. Wenn die Fahnenflüchtigen auch ihren König im Stich gelassen hatten, so waren sie immer noch Myraner, die die Urgoriten haßten. Als Partho flüchtete, stand es für sie außer Frage, daß er ein Feind war, und sie zogen ihre Waffen und stürmten ihm nach. Aber sie kamen zu spät. Hinter dem Zelt warteten Saphirna und Kano bereits mit drei Pferden. Bevor einer der Verfolger noch nahe genug war, um seine Waffe zu gebrauchen, saß Partho im Sattel und ritt hinter Saphirna und Kano aus dem Lager – auf die Berge zu. Wieder zurück im Heerlager, wagte es Urak zuerst nicht, seinen Herrn aufzusuchen und ihm die Nachricht von der eben erlittenen Niederlage zu berichten. Aber als er dann zu Cnossos‘ Zelt kam und die vier fremden Pferde davor sah, die von einem Krieger aus Kahys bewacht wurden, überwand er die Furcht vor einer Bestrafung. Er dachte sofort an Nibio, den Daikan von Kahys, der schon die längste Zeit gegen Zamoc Ränke schmiedete. Wenn Nibio zu Zamoc gekommen war, dann nur irgendeines teuflischen Planes wegen. Urak überlegte fieberhaft, was zu tun sei. Einfach mit gezückter Waffe in das Zelt zu stürmen, erschien ihm als sinnlos, denn es war anzunehmen, daß Nibio die beiden anderen Begleiter bei sich hatte. 74
Urak wollte sich rückwärtsgehend zurückziehen, um Hilfe herbeizuholen, als er gegen einen spitzen Gegenstand stieß. »Es war doch gut, daß wir hier draußen auf dich gewartet haben«, sagte eine höhnische Stimme hinter ihm. »Streck die Hände weit vom Gürtel und geh vor uns in das Zelt deines Herrn und Meisters.« Es blieb Urak nichts anderes übrig, als diesem Befehl widerstandslos nachzukommen. Zamoc, der in der Mitte des Zeltes Nibio gegenüberstand, nahm es mit ausdrucksloser Miene zur Kenntnis, daß sein Diener mit Waffengewalt hereingeführt wurde. »Jetzt haben wir beide«, sagte Nibio, »den Giftmischer und seinen Helfer, Stelle dich neben deinen Herrn, Ratte!« Urak machte eine drohende Handbewegung, aber er wurde von Nibio nur verlacht. »Man sollte glauben, daß Zogor nur kluge und ehrhafte Männer als Daikane einsetzt«, sagte Zamoc. »Aber wie sich schon an dem Siliker-Daikan El Haleb gezeigt hat, kann auch ein König irren. Ich werde dein unverschämtes Verhalten dem König nicht verschweigen, Nibio.« »Dafür wirst du nicht lange genug leben«, erwiderte der Daikan von Kahys. »Und glaube mir, Zogor wird mir dankbar dafür sein, wenn ich dich beseitige. Er hätte sich deiner schon längst entledigt, wenn er nicht zu stolz gewesen wäre, seinen Irrtum einzugestehen.« »Das sind Worte, die ich dir nie verzeihen werde, Nibio«, sagte Zamoc ruhig. »Ich könnte vielleicht vergessen, daß du mir den Tod angedroht hast, wenn du mir einen Grund nennst, den du für ausreichend hältst.« 75
»Bei, Amyron, ich habe einen ausreichenden Grund, dich zu töten«, erklärte Nibio. »Ich werde ihn dir nennen, bevor ich das Urteil an dir vollstrecke. Du hast mit deinen Ränkespielen nicht nur Zwietracht in unsere Reihen gesät und den König in seinen Entscheidungen unsicher gemacht, sondern du hast auch mit eigener Hand oder durch den Dolch deines Dieners getötet, wer deinen Plänen im Wege stand.« »Bist du dir auch bewußt, daß du dir durch deine lose Zunge meine Todfeindschaft einhandelst?« fragte Zamoc. »Ich habe befürchtet, daß ich früher oder später zu den von dir bestimmten Todeskandidaten zählen würde, deshalb bin ich dir noch rechtzeitig zuvorgekommen«, antwortete Nibio. »Sadar soll der letzte gewesen sein, dessen Tod du verschuldet hast.« »Sadar?« tat Zamoc erstaunt. »Er hat versucht, dem König vergifteten Wein zu reichen, und wurde deshalb auf dessen eigenen Befehl enthauptet.« »Sadar ist ein Opfer deines Ränkespiels«, erwiderte Nibio. »Er mußte sterben, weil er deinen ehrlosen Diener durch seine Aussage in die Reihen der Todgeweihten brachte. Wegen dieser Ratte mußte ein aufrechter und tapferer Mann sterben! Du warst es selbst, Zamoc, der Gift in den Wein tat, den Sadar dem König reichte. Wieso konntest du sonst wissen, daß welches drin war?« »Ich beherrsche Fähigkeiten, von denen du als Sterblicher nichts ahnst, Nibio«, sagte Zamoc herablassend. Nibio lächelte abfällig. »Du bist nur ein ganz gewöhnlicher Schwindler, wie man sie zu Dutzenden auf jedem Marktplatz antrifft.« »Ist das deine aufrichtige Meinung?« wollte Zamoc wissen. »Dann will ich dich zur Wahrheit bekehren. Sieh!« 76
Auf Zamocs Stirn bildete sich ein Loch, das von Lidfalten umgeben war – und aus dem Stirnloch wuchs ihm ein drittes Auge. Nibio gab einen erstaunten Laut von sich, der von einem Augenblick zum anderen in ein Röcheln überging. Zamoc hatte die Überraschung des Daikans genützt und ihm blitzschnell den Dolch zwischen die Rippen gerammt. Urak nützte diese Gelegenheit ebenfalls und streckte Nibios zwei Begleiter mit einem einzigen Streich zu Boden. »Herr ...!« sagte Urak ehrfürchtig und starrte auf Cnossos‘ drittes Auge. »Noch ist es nicht soweit«, sagte Cnossos. »Aber ich fühle in mir bereits eine Kraft, die mir verspricht, daß ich bald wieder großen Aufgaben gewachsen sein werde. Jetzt steh nicht herum, Urak! Erledige den vierten Mann. Nibio könnte ihn eingeweiht haben.« »Nibio war ein guter Heerführer«, sagte Zogor, nachdem ihm sein Kanzler erzählte, daß er ihn bei einem Anschlag auf sein Leben aus Notwehr hatte töten müssen. »Wie kommt es nur, daß, wenn meine besten Männer sterben, ihr Weg in den Tod immer über dich führt, Zamoc?« »Ich bin aufmerksam und wachsam, mein König«, antwortete Zamoc. Als ihm der König einen fragenden Blick zuwarf, erklärte er: »Verräter erscheinen immer als treu und ergeben – bis zu dem Zeitpunkt, da man sie entlarvt. Erinnere dich an Sadar, oder deinen früheren Kanzler Avalik, sie galten bis zu ihrer Entlarvung als untadelig.« Zogor machte eine abschließende Handbewegung. 77
»Reden wir nicht mehr von ihnen. Amyron hat sie zu sich geholt. Der Tod eines einzelnen Mannes soll uns nicht zu denken geben, wo viele tausend von ihm bedroht sind.« »Wie soll ich das verstehen, mein König?« fragte Zamoc heuchlerisch. »Du gibst die Hoffnung auf, obwohl wir das Tal der Verzweifelten bald hinter uns haben? Wenn die Männer ihr Bestes geben, dann sind wir in zwei Tagen in Ar-zinca. Dort gibt es Wasser und Nahrung genug.« »Ich habe Reitertrupps vorausgeschickt, um Wasser zu holen«, sagte der König mißmutig, »aber sie sind nicht zurückgekommen. Dadurch habe ich hundert wertvolle Männer verloren. Aber was noch viel schlimmer ist – auch hundert unersetzliche Pferde. Nun müssen wir mit unseren Vorräten bis Ar-zinca auskommen.« »Seit wir die Wasserwagen doppelt absichern, haben wir keinen einzigen von ihnen verloren«, meinte Zamoc. »Das Wasser reicht aus, um den Durst aller bis Ar-zinca zu stillen.« »Und die Pferde!« rief der König wütend. »Hast du die Pferde vergessen, du überkluger Magier?« Zamoc blieb unbeeindruckt. »Du kannst die Tiere kurz halten. Sie werden auch eine längere Durststrecke überstehen.« »Das werde ich nicht!« schrie Zogor wieder und hieb mit der Faust auf die Lehne seines Sitzes. »Ich brauche jederzeit eine starke, schlagkräftige Reitertruppe. Ich kann kein einziges Pferd mehr verlieren. Deshalb habe ich mich auch schon entschieden und die Wasserreserven den Pferden zugeteilt.« Zamoc blickte ungläubig auf den König. »Das darfst du nicht tun. Wenn du ein Unheil verhindern willst, dann nimm diese Entscheidung zurück.« 78
»Mein Befehl wurde bereits ausgeführt!« entgegnete Zogor. Er blickte seinen Kanzler strafend an. »Wie kannst du es überhaupt wagen, mich in dieser Form meiner Entscheidungen wegen zu tadeln.« »Ich wollte nicht deine Würde verletzen, mein König«, entgegnete Zamoc, »sondern dachte nur daran, welche Folgen der Verbrauch der letzten Wasserreserven haben könnte. Wenn die Männer Durst erleiden, können sie alle Vernunft vergessen und sich über die vergifteten Wasserstellen hermachen.« »Das werden sie keineswegs«, sagte Zogor. »Denn sie wissen, was sie dann zu erwarten haben. Wer von dem vergifteten Wasser trinkt und von Dämonen befallen ist, der wird getötet. Nenne mir einen Mann mit Verstand, der nicht lieber Durst erleidet, als zu sterben.« »Viele der Krieger haben durch den Durst schon ihren klaren Verstand verloren«, entgegnete Zamoc. »In so manchem hat sich Gott Dämonon jetzt schon eingeschlichen und verleitet ihn dazu, Dinge zu tun, die keinen Sinn ergeben. Wer sagt, daß die Krieger trotz aller Warnungen nicht doch ihren Durst an den vergifteten Wasserstellen löschen.« »Wer das tut, ist kein Mann, sondern ein Schwächling und hat kein Recht mehr, im myranischen Heer zu dienen. Er hat den Tod verdient.« »Erlaube mir, mein König ...«, begann der Kanzler. Doch Zogor unterbrach ihn zornig. »Nichts erlaube ich dir. Ich möchte kein Wort mehr über diese Sache hören.« Dieser Wunsch ging jedoch nicht in Erfüllung. Einer der Heerführer kam ins Zelt gestürzt, machte eine oberflächliche Ehrenbezeigung und wartete dann ungeduldig darauf, daß ihm der König das Wort erteilte. 79
»Sprich schon.« »Es werden immer mehr Krieger, die sich trotz aller Warnungen und Drohungen zu den Tümpeln schleichen und das vergiftete Wasser trinken, Erhabener«, berichtete der Heerführer atemlos. »Ich habe Befehl gegeben, sie alle zu töten!« »Aber es sind viele ...« »Tötet sie alle, bevor Dämonon sie zu Mord und Totschlag verleiten kann.« »Mein König, die Zahl derer, die von dem vergifteten Wasser getrunken haben, geht in die Hunderte ... und es werden immer mehr.« »Ich kann in meinem Heer keine Besessenen brauchen!« rief Zogor erregt. »Wer gegen meine Befehle handelt, hat zur Strafe den Tod verdient. Wir müssen auch mit dieser Heimsuchung noch fertig werden.« Er blickte seinen Kanzler anklagend an. »Hätte ich nur nicht auf dich gehört, Zamoc, und wäre ich diesem unseligen Tal ausgewichen.«
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7.
»Ist es nicht egal, wie wir umkommen?« sagte Onrur. »Ich habe den Pferden bei der Tränke zugeschaut«, sagte Migor und beleckte sich mit der Zunge die aufgesprungenen Lippen. »Ich habe gemeint, den Verstand zu verlieren, als ich zusehen mußte, wie den Pferden die letzten Wasservorräte überlassen wurden. Wißt ihr, wie das ist, wenn in einem die trockene Hitze brennt, man vor Durst umkommt und das Glucksen der Tiere hört, die Wasser schlürfen, das für einen unerreichbar ist?« »Es ist alles egal«, sagte Nunir. »Wir kommen alle um, so oder so. Ich möchte nicht verdursten. Nein, nur nicht verdursten.« »Ja«, sagte Abul mit krächzender Stimme, »es muß furchtbar sein, in der Sonne dazuliegen und langsam auszutrocknen. Da ist es mir schon lieber, durch einen Schwertstreich zu sterben.« »Oder durch vergiftetes Wasser«, sagte Emalor. »Noch einmal Wasser zu trinken und dann verrecken«, sagte Inzor. »Das ist besser, als dahinzusiechen.« »Worauf warten wir dann noch?« sagte Pyolo und erhob sich langsam. Die anderen achtzehn Krieger standen ebenfalls einer nach dem anderen auf und strebten durch die Dunkelheit auf den Rand des Tales zu. An ihnen zogen die Krieger der anderen Abteilungen vorbei, die erst bei Anbruch des neuen Tages rasten durften. Reitersoldaten schälten sich aus dem Dunkel der Nacht; die Krieger konnten sich nur mühsam in den Sätteln halten, während ihre Pferde munter vorantrabten. 82
»Wohin, Kameraden?« fragte einet der weiterziehenden Krieger. »Wir haben eine Wasserstelle entdeckt.« »Wasser?« Das Wort geisterte durch die Nacht, ein Krieger raunte es sehnsüchtig dem anderen zu. »Wasser!« Die neunzehn Krieger, die beschlossen hatten, ihrer Qual ein Ende zu machen, erhielten von allen Seiten Zustrom. »Folgt uns, wir bringen euch zu einer Wasserstelle!« »Wasser!« Gebannt folgten ihnen die Krieger durch die Nacht. Reitersoldaten preschten heran und wollten ihnen den Weg versperren. »Zurück in die Reihe«, verlangten sie und hoben ihre Speere. »Weg da!« »Aus dem Weg!« Hände streckten sich den Reitern entgegen und zogen sie an den Speeren vom Pferd. »Das Wasser ist vergiftet!« warnten jene, die Vernunft bewahrt hatten. Aber die Warnungen drangen nicht mehr bis in die Gehirne der Dürstenden vor. »Wasser!« »Da!« Sie sanken zu Boden, tauchten ihre Gesichter in das brackige Naß. Die ersten spürten das Gewicht der folgenden auf sich. Sie schlugen um sich, um sich von der Last zu befreien, kamen unter dem Berg aus Menschenleibern hervor und sanken auf einem freien Stück Boden nieder. Einer konnte sich nicht mehr erheben. Sein Kopf war unter die Wasseroberfläche gedrückt worden und kam nicht mehr daraus hervor. 83
»Das Wasser schmeckt bitter«, klagte jemand. »Aber es lindert den Durst.« Die Krieger sprangen in den Tümpel, bespritzten einander und jauchzten übermütig. »Mag jetzt kommen, was will!« Hufgeklapper ertönte. »Schnell weg jetzt!« Jene, die ihren Durst gestillt hatten, verschwanden eilig in der Nacht. Die Reiter kamen heran. »Im Namen des Königs, weicht zurück! Ihr habt gegen das Verbot verstoßen!« Schwerter sausten hernieder, und drei Krieger wurden beim Trinken getötet. Ein Schreien und Fluchen wurde laut, das andere Krieger heranlockte. »Zurück, das Wasser ist vergiftet!« »Lügen, alles Lügen. Trinkt selbst, das Wasser schmeckt köstlich.« »Es lindert die Qualen ...« »Narren, ihr werdet eines schrecklichen Todes sterben.« Die Krieger, die Unheil voraussagten, wurden von jenen, die ihren Durst gelöscht hatten, ausgelacht. An allen Wasserlöchern bot sich das gleiche Bild. Einzeln und in Gruppen stahlen sich die Krieger von der Truppe davon, um das Brennen in ihren Körpern zu lindern. Onrur, Emalor und Inzor kamen erfrischt und wie neugeboren zu ihrer Einheit zurück. In ihren Augen war ein Glitzern, als hatten sie vom Trank der Götter gekostet. An anderen Stellen kamen ebenfalls ausgeruht und gestärkt wirkende Krieger zu ihren Kameraden zurück. Die Muskeln ihrer Körper waren angespannt, ihre Augen sprühten vor Kraft und Tatendrang. In ihren Kör84
pern schien ein Feuer entflammt zu sein, das ihnen einen neuen Lebensfunken gegeben hatte. »Ich sehe Bilder, die ich schon lange vergessen glaubte«, sagte Onrur und starrte in die Ferne. Er kicherte plötzlich. »Du Schwein, da bist du ja. Etwa von den Toten auferstanden, um dich mir zu stellen? Ha, dich drückt wohl das Gewissen, weil du mich von klein an jeden Tag verprügelt hast ...« »Was redest du da, Onrur«, sagte jemand erschrocken. »Ich bin es doch. Ich ...« »Du bist also zurückgekommen, damit ich meine Rache stillen kann.« Onrur lachte wieder schrill. Vor seinem Mund stand Schaum. Ein entsetzter Schrei erklang, als Onrur seine Hände ausstreckte und sie um den Hals des Mannes legte, den er für seinen von den Toten wiederauferstandenen Onkel hielt. Er hätte den Mann erwürgt, wenn ihn nicht ein anderer mit dem Speerschaft niedergeschlagen hätte. »Habt ihr es gesehen? Dämonon steckt in Onrur!« Die anderen Männer, die, von Hunger und Durst gequält, selbst nahe daran waren, den Verstand zu verlieren, verstanden nicht recht, was vorgefallen war. Aber als sie Gott Dämonons Namen fallen hörten, stöhnten sie auf. »Emalor!« rief Inzor plötzlich mit sich überschlagender Stimme. »Emalor, reiche mir deine Hand. Das Schiff sinkt.« Emalor und Inzor standen einander gegenüber, und jeder preßte seine Handflächen gegen die des anderen. Sie wiegten ihre Körper, als würden sie von schwerem Wellengang bewegt. Sie krallten ihre Finger ineinander, so fest, daß die Muskeln ihrer Arme wie Knoten hervortraten. 85
»Auseinander!« schrie ein Krieger ängstlich und kam herbei, um die beiden verhexten Ringer zu trennen. »Laßt euch nicht in Dämonons Gewalt bringen.« Er hatte kaum Hand an die beiden gelegt, als sie plötzlich ihre Arme überkreuzten und sie ihm um den Hals legten. »So kann uns der Sturm nichts anhaben«, sagte Emalor und Inzor wie aus einem Mund und preßten die Arme fester um den Hals des nach Luft ringenden Kriegers. »Tötet sie! Sie sind von Dämonon besessen!« Zwei beherzte Männer sprangen hinzu und erstachen die beiden Besessenen. Von einer Senke, in der sich ein Wasserloch befand, kamen an die zehn Krieger mit wiegenden Schritten heran. »Urgor brennt!« schrie einer. Die anderen stimmten ein Freudengeheul an. Die Krieger, die nicht von dem vergifteten Wasser getrunken hatten, wurden von unbeschreiblichem Entsetzen gepackt und rannten davon. »Tötet alle Urgoriten!« Der Krieger, der das schrie, hatte ein blutiges Schwert in der Hand. Hinter ihm wälzten sich drei Myraner im Staub. Ein vierter, der sich dem Tobenden in den Weg stellte, brach mit einer tiefen Schädelwunde zusammen. Erst dem nächsten Bedrohten gelang es, den Tobenden mit einem Speerstoß zur Strecke zu bringen. »Wohin führt uns das, wenn wir unsere eigenen Männer töten?« fragte ein Heerführer, nachdem er mit seinen Kriegern eine Handvoll Besessener niedergemacht hatte, die einen leeren Wasserwagen angezündet und die Zugtiere getötet hatten. 86
»Wir müssen verhindern, daß Dämonon noch mehr in seine Gewalt bringt«, wurde ihm geantwortet. »Aber wir können nicht alle töten, es sind unsere Kameraden«, sagte der Heerführer wieder. »Wir können nicht Hunderte von unseren Kameraden niedermetzeln.« Zogor hatte sein Zelt verlassen und saß hoch zu Roß, von seinen Günstlingen umringt, die sein Leben mit der Waffe gegen die eigenen Leute verteidigen mußten. Zogor war außer sich vor Wut, weil er mit eigenen Augen mitansehen mußte, wie ein Besessener sich an einer seiner Lieblingsfrauen vergangen hatte. Beide hatten sie sterben müssen. Der Besessene, damit er nicht noch mehr Schaden anrichten konnte; Zogors erklärte Geliebte, weil sie entehrt worden war. »Ihr seid ratlos!« wetterte der König gegen drei seiner Heerführer, die von ihm wissen wollten, wie sie die Tobenden bändigen sollten. »Ihr wißt nicht, wie ihr gegen die hinterhältigen Urgoriten vorgehen sollt, ihr seid nicht fähig, eure Krieger sicher durch dieses Tal zu bringen und ihr habt keine Ahnung, wie ihr Dämonon austreiben sollt. Habe ich nicht Befehl gegeben, alle zu töten, die von dem vergifteten Wasser getrunken haben! Wenn ihr meinen Befehl sofort befolgt hättet, dann wäre die Lage schon längst bereinigt.« »Aber es müssen zweitausend sein, die vergiftetes Wasser genossen haben«, wagte einer der Heerführer einzuwenden. »Wir können nicht ...« »Du willst dich also meinem Wort widersetzen?« »Nein, Erhabener. Ich meinte nur, daß wir uns selbst schwächen, wenn wir alle Tobenden töten. Wir würden zweitausend Mann verlieren ...« 87
»... die uns ohnehin nur schaden«, vollendete Zogor den Satz. »Macht sie nieder, ehe Dämonon auch noch die Standhaften in seine Gewalt bringt.« »Darf ich dir einen Vorschlag unterbreiten, mein König«, mischte sich Zamoc ein. »Willst du mir sagen, wie wir uns der Tobenden am schnellsten entledigen können?« fragte Zogor. »Das nicht, sondern wie du sie dir erhalten kannst«, antwortete Zamoc. Der König lachte abfällig; die Adeligen, die sich seiner Gunst nur erfreuen konnten, solange sie ihm in allen Belangen beipflichteten, äußerten sich spöttisch über den Kanzler. Nur die Heerführer, wenngleich sie auf Zamoc nicht gut zu sprechen waren, schenkten ihm Aufmerksamkeit. Zamoc fuhr unbeirrt fort: »Die Urgoriten haben das Wasser mit einem Pulver verseucht, das sie aus den Blättern des Öko-Strauches gewannen. Ich kenne die Wirkung der Öko-Blätter. In geringen Mengen genossen, verleihen sie Kraft und Ausdauer, zuviel davon wirkt jedoch auf den Körper und den Geist zerstörend. Aber die Wirkung ist nicht von langer Dauer, sie hält nur einen einzigen Tag an. Wenn du nun die Rasenden, statt zu töten, nur festbinden läßt, damit sie keinen weiteren Schaden anrichten können, sind sie dir morgen wieder treu ergebene Krieger. Sie werden es dir später auch in der Schlacht danken, daß du sie am Leben gelassen hast.« »Und das soll ich dir glauben?« fragte Zogor spöttisch. Zamoc versteifte sich. »Bezichtigst du mich der Lüge, Erhabener?« »Ich glaube nur, daß du dich wieder einmal wichtig machen möchtest«, entgegnete Zogor. »Wenn du kein besseres Mittel gegen Dämonon weißt, als die Beses88
senen in Ketten zu legen, dann erweist du dich als erbärmlicher Zauberer.« »Ist es dir nicht genug, wenn ich dir sage, wie du zweitausend Krieger am Leben erhalten kannst? Zweitausend kampferprobte Männer, mein König, könnten die Schlacht entscheiden!« »Zweitausend Besessene, mein Kanzler, könnten uns in den Untergang stürzen«, entgegnete der König höhnisch. Er wandte sich an die Heerführer. »Tut, was ich von Anfang an befohlen habe. Macht alle nieder, die von Dämonon befallen sind. Hoffen wir, daß dieser schreckliche Gott unser Opfer annimmt und dann endgültig von uns weicht. Worauf wartet ihr noch, oder muß ich euch erst die Folter androhen, damit ihr meinen Befehl ausführt?« Die Heerführer ritten widerwillig davon, um das zu tun, was Zogor von ihnen verlangte: zweitausend Krieger aus den eigenen Reihen niederzumachen, Männer mit denen sie zusammen vielen Stürmen getrotzt, mit denen sie Seite an Seite in vielen Schlachten gekämpft hatten. Sie hätten lieber den Vorschlag des Magiers verwirklicht, aber als ergebene Untertanen des Königs waren sie es gewohnt, seine Befehle auszuführen – auch wenn sie noch so unmenschlich und sinnlos waren. »Lodin, was bist du für ein Narr, daß du deinen Durst nicht stillst«, rief Ogin mit schwerer Zunge. Er war wie berauscht. Lodin sprang schnell vom Pferd und kam zu seinem Bruder. »Der Narr bist du. Warum mußtest du das vergiftete Wasser trinken? Steig schnell auf das Pferd, bevor die 89
anderen etwas merken. Der König hat befohlen, alle zu töten, die von dem Bitterwasser genommen haben.« »Mich töten?« fragte Ogin. Er stand schwankend da, die Arme ausgebreitet. »Da muß mich Zogor erst fangen. Ich bin ein Vogel und brauche nur meine Schwingen auszubreiten, um fortzufliegen. Kannst du mir in die Lüfte folgen, Bruder?« »Halt den Mund! Wenn dich jemand so reden hört, bringt er dich um.« Ogin blieb stehen, sein Gesichtsausdruck bekam einen verschlagenen Zug. »Wer möchte mich töten? Lodin, Bruder vom gleichen Wurf, ha, ha, trachtest du mir nach dem Leben?« Ogin blickte sich suchend um. »Wo bist du? Warum versteckst du dich?« Er zog sein Schwert. »Habe ich dich nicht immer geliebt. Habe ich nicht die Freuden mit dir geteilt und alles Leid auf mich genommen? Warum sprichst du jetzt nicht zu mir. Antworte!« Ogin lauschte. Aber außer dem Singen in der Ferne war nichts zu hören. Der Gesang wurde lauter, und er erkannte, daß er von den Priesterinnen Amyrons stammte. Sie sangen sein Todeslied! Er hörte ihnen zu und stieg wie im Traum die Stufen zum Altar hinauf, der hoch über ihm in einem übernatürlichen Lichtschein erstrahlte. Nimm dich vor Lodin in acht! sangen die Priesterinnen. »Zeige dich, Lodin!« Die Tempelhalle blieb leer. Nicht einmal die Priesterinnen waren zu sehen, deren Gesang er von so nahe hörte. Wo hielt sich Lodin versteckt? »Komm hervor und stelle dich zum Kampf, du feiger Hund!« Ja, er hatte Lodin geliebt – bis jetzt. Doch nun erkannte er, daß er von ihm betrogen worden war. Schon damals, 90
als sie noch in Fetzen gewickelte Menschenwürmer waren, hatte ihn Lodin übervorteilt. Lodin war immer der lautere Schreier gewesen, so daß er mit Muttermilch beruhigt wurde und er, Ogin, das Nachsehen hatte. Später hatte er ihm alle Frauen weggenommen, wenn sie gemeinsam ins Feld gezogen waren, hatte sich Lodin immer als strahlender Held vorangestellter, Ogin, war immer im Schatten seines Bruders gestanden. Aber jetzt würde er im Schatten von Lodins Grabhügel stehen. »Kämpfe, Feigling!« Ogin führte zwei Schwerthiebe durch die Luft, um sich in Laune zu bringen. »Komm aus deinem Versteck, Lodin!« Aber statt seines Bruders erschien ein schwarzes Ungeheuer, das tausend Gesichter hatte – und jedes Gesicht bedeutete eine andere Todesart. Lodin hatte ihm Amyron geschickt. »Ich werde dich töten, Tod!« Ogin hieb einige Male auf das Ungeheuer ein, aber es wich jedem Streich geschickt aus. Plötzlich tauchte es hinter ihm hinweg und schlug ihn so heftig auf den Schädel, daß er in endloser Schwärze versank ... Lodin beugte sich keuchend über seinen reglos daliegenden Bruder und stellte erleichtert fest, daß er nur bewußtlos war. Er band ihn auf sein Pferd, packte die Zügel, schwang sich selbst in den Sattel des zweiten Tieres und ritt in Richtung Osten davon. Der neue Morgen graute bereits, als er zum erstenmal rastete. Er zog sich hinter einen Felsen zurück, der ihn vor einem Angriff von oben und vor den Blicken aus dem Tal schützte. Er hatte nun nicht nur die Urgoriten gegen sich, sondern auch die eigenen Leute. Wenn sie ihn entdeckten und den auf das Pferd gebundenen Ogin 91
erblickten, dann würden sie die Wahrheit herausfinden und ihn töten. Das wollte Lodin verhindern. Er liebte seinen Bruder über alles. Er würde sein Leben auch gegen eine zehnfache Übermacht verteidigen. Daß Ogin ihn beschimpfte, führte er darauf zurück, daß er von Dämonon besessen war. Ogin gab ein schwaches Stöhnen von sich, als er erwachte. Lodin war sofort bei ihm und erkundigte sich nach seinem Befinden. »Weiche von mir, Amyron!« schrie Ogin und zerrte an seinen Fesseln. Lodin nahm den Wasserschlauch, in dem noch einige Tropfen der kostbaren Flüssigkeit waren. Wie gut es doch war, daß er diesen Vorrat die ganze Zeit über vor den anderen verborgen hatte. »Trinke, Ogin«, sagte Lodin und führte den Schlauch seinem Bruder in den Mund. Aber Ogin warf seinen Kopf so heftig hin und her, daß seinem Bruder der Wasserschlauch entfiel, und die Flüssigkeit im Boden versickerte. Lodin hob den Schlauch auf, riß Ogins Kopf gewaltsam an den Haaren herum und träufelte die letzten Tropfen Wasser in seinen Mund. Dann schnitt er eine Scheibe geräuchertes Fleisch in Stücke und zwang Ogin, indem er ihm die Nase zuhielt, sie in den Mund zu nehmen. Die meisten Fleischstücke spuckte er wieder aus, aber als er ihnen Geschmack abgewonnen hatte, schluckte er sie als Ganzes hinunter. Dabei schrie er: »Gift! Mein Bruder vergiftet mich!« Nach ungefähr einer Stunde brach Lodin wieder auf, bevor die Vorhut bis in diesen Teil des Tales vorgedrungen war. 92
Zu Mittag legte Lodin die zweite Rast ein. Er unternahm den Versuch, seinen Bruder vom Pferd zu schnallen. Aber kaum hatte er Ogin losgebunden, als dieser seine Fingernägel in den Hals des Pferdes vergrub. Das Tier erschrak so, daß es scheute und davonlief, bevor Lodin es am Zügel fassen konnte. An eine Verfolgung war nicht zu denken, weil er sich um seinen besessenen Bruder kümmern mußte. Nachdem er ihn wieder gefesselt hatte, sagte er bekümmert: »So bleibt mir nichts anderes übrig, als Dämonon aus dir zu treiben!« Er entzündete ein Feuer und hielt die Klinge seines Dolches solange hinein, bis sie glühend war. Dann wandte er sich damit seinem Bruder zu. Der folgende Schrei hallte als vielfaches Echo von den Felswänden wider und mußte bis in eine Entfernung von einem Tagesritt zu hören sein. Ogin war durch die Dämononaustreibung wieder ohnmächtig geworden. Lodin ließ seinen Sattel in dem Versteck zurück, damit das Pferd nicht überlastet wurde und legte Ogin vor sich quer über die Schabracke, die noch den Rücken des Pferdes bedeckte. So ritten sie bis zum Einbruch der Nacht durch. Lodin wollte seinen Augen nicht trauen, als er im Licht der untergehenden Sonne, eine Ansiedlung vor sich sah. Das mußte Ar-zinca sein! Lodin ritt vorsichtig näher, darauf gefaßt, jeden Augenblick von den Bewohnern entdeckt und angegriffen zu werden. Doch er erkannte bald, daß seine Vorsicht überflüssig war. Die Bewohner hatten ihr Dorf verlassen – und mit sich hatten sie alle ihre Haustiere und Nahrungsmittel genommen. 93
Lodin konnte nicht anders, er mußte schallend lachen. Welch ein Gesicht würde König Zogor machen, wenn er das Dorf verlassen und geplündert vorfand. Lodin fand in einer Hütte, die von den Bewohnern offensichtlich überstürzt geräumt worden war, noch einige Speisereste, und teilte sie mit seinem Bruder. Ogin war schon viel ruhiger. Er redete noch wirres Zeug und nahm eine feindliche Haltung gegen ihn ein, aber sein Zustand hatte sich gebessert. Lodin war nun überzeugt, daß Dämonon bald aus ihm weichen würde. Er richtete zufrieden sein Nachtlager und war bald darauf eingeschlafen. Die Stimme Ogins weckte ihn. Der neue Tag war bereits angebrochen, und ein schmaler Streifen Sonnenlicht fiel durch einen Riß im Pergament eines Fensters. »Nimm mir die Fesseln ab«, bat Ogin. »Ich bin wieder klar bei Sinnen.« Lodin lächelte, als er seinem Bruder die Stricke von Armen und Beinen band. Ogin deutete fragend auf seine Brust, wo die blutigen Male deutlich zu sehen waren. »Ich mußte Dämonon aus deinem Körper vertreiben. Schmerzt es?« »Die Schmerzen sind zu ertragen.« Lodin wandte sich zur Tür. »Sehen wir uns im Dorf um, ob es noch irgendwo etwas Eßbares gibt« sagte er. »Durst werden wir keinen zu leiden brauchen. Ich habe mich gestern bereits davon überzeugt, daß die Brunnen nicht vergiftet sind.« Sie traten aus der Tür ins Freie und blieben wie vom Blitz getroffen stehen. Dreißig berittene Kriegerinnen hatten das Haus umzingelt, während sie ahnungslos schliefen. Lodin und Ogin sahen einander an. 94
»Ich bin dir trotzdem dankbar, daß du mir das Leben gerettet hast, Bruder«, sagte Ogin. Sie stellten sich Rücken an Rücken, und Lodin schrie den Katmahzari entgegen: »Kommt nur, Weiber, und holt euch von zwei aufrechten Kriegern blutige Schädel!« Die dreißig berittenen Katmahzari kamen langsam herangeritten. Der Kreis um die beiden Myraner schloß sich immer enger ...
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8.
»Warum denkst du nicht, Vogel?« sagte das Mädchen enttäuscht. Als Antwort kam ein Zwitschern aus dem sich im Wind wiegenden Geäst des Strauches. Das Mädchen hatte die Arme ausgestreckt und machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn. Der Vogel suchte sich einen Weg aus dem dichten Geäst und flog eilig davon. Yina seufzte. Schon während des Aufenthalts am Ah‘rath hatte sie immer versucht, den Vögeln ein Freund zu sein. Aber die kleinen, buntgefiederten Tiere, die das Auge erfreuten und deren lustiges Singen für Yina die Melodie der Welt war, hatten ihre Scheu vor ihr nicht abgelegt. Sie erkannten nicht, daß Yina ihnen nichts Böses wollte. In ihren winzigen Köpfen war so wenig Verstand, daß sie entweder gar nicht oder so leise dachten, daß Yina sie nicht hören konnte. Das kleine, dunkelhaarige Mädchen von sechzehn Sommern bedauerte es, daß die Vögel anscheinend ebenso nutzlos wie schön waren. Sollten sie wirklich nur dazu da sein, die Welt zu verschönern? Warum waren die Vögel nicht dazu ausersehen, die Welt zu beherrschen. Yina war überzeugt, daß es unter der Herrschaft der gefiederten Luftbewohner keine Kriege gegeben hätte. Vögel könnten keine Schwerter schmieden und keine Pfeile abschießen – wären sie die Krone der Schöpfung, es würde ewiger Friede herrschen. Plötzlich wurde sie jäh aus ihren Träumen gerissen, als sich ein dunkler Schatten aus dem Himmel fallen ließ, dicht über dem Boden dahinflog und, nach eini96
gen heftigen Flügelschlägen an der Stelle, wieder in die Höhe schoß – in den Krallen des Adlers zappelte hilflos ein Kaninchen. Sie preßte die Lippen aufeinander. Nein, auch wenn die Vögel die Welt regierten, würde sie kein Paradies sein. Ein Gekreische erhob sich, Vögel erhoben sich in die Lüfte, die Bodentiere flüchteten in wilder Angst, als sich ein Baumriese langsam neigte und zu Boden krachte. Die Männer, die ihn gefällt hatten, kamen herangelaufen und hackten mit flinken Beilschlägen die Äste vom Stamm. Dieser Baum würde den gleichen Weg gehen, wie schon Hunderte vor ihm – in das breite Tal auf der anderen Seite des Kah Gapa, wo Dragon und seine dreitausend Männer ein befestigtes Lager errichteten. Bald würde wieder Blut fließen ... Yina entfernte sich weiter von den Männern, die die schönsten und mächtigsten Bäume dieses Waldstückes fällten. Diesmal brauchte sie nicht zu fürchten, sich in feindliches Gebiet zu verirren und den Myranern in die Hände zu fallen. Dragons Leute beherrschten das ganze Gebiet rund um den Kah Gapa. Nur von Westen näherte sich der Rest des einst so stolzen myranischen Heeres unter der Führung König Zogors; auch von diesen Zwölftausend Mann waren nur noch neuntausend übrig. Das hatte ihr Kim verraten, der es von seinem Bruder Kano wußte. In zwei Tagen, wenn König Zogor in das Tal einritt, wo er mit Kelkaris‘ Streitmacht zusammentreffen wollte, würde von Dragons Leuten auch der Rest der Myraner zerschlagen werden. Yina ließ sich auf einem Hügelkamm nieder, von wo sie einen breiten Bach beobachten konnte, der sich seinen gewundenen Weg durch das wilde, unbewohnte Land 97
suchte. Irgendwo im Westen würde er in einen größeren Fluß münden, der sich später mit dem Euphir vereinte. In das Murmeln des Baches und das Rufen der Männer aus der Ferne, mischte sich ein neues Geräusch – aus Richtung Osten ertönte Hufgeklapper. Wenig später sah Yina einen Reiter hinter einem Hügel auftauchen. Er war tief über den Hals seines Pferdes gebeugt und trieb es durch Tritte in die Weichen und zu größter Geschwindigkeit an. Als er zum Bach kam, hielt er das Pferd an, sprang von seinem Rücken und warf sich, ohne die Zügel loszulassen, bäuchlings in das fußtiefe Wasser. Die Flanken des Pferdes bebten, während es trank, und Yina sah im Licht der Mittagssonne Schweiß auf seinem Fell schimmern. Armes Tier. Yina wandte ihre Aufmerksamkeit dem Reiter zu, der, nur dreißig Mannslängen von ihr entfernt, ihre Anwesenheit noch nicht bemerkt hatte. Er war von großer Gestalt, besaß muskulöse Arme und Beine und eine dunkle Hautfarbe. Das lange Haar hatte er im Nacken zu einem Knoten geknüpft. Er trug eine Jacke aus Lammfall und eine knielange Hose aus gegerbtem Ochsenfell; eine Tracht, wie sie sonst nur Hirten trugen. Der Dunkelhäutige war jedoch bestimmt kein Hirte. Seiner Abstammung nach mußte es sich eher um einen Sklaven handeln. Er konnte aber auch ein Söldner oder ein Abenteurer sein, der seine Heimat im Süden verlassen hatte, um in den reichen Nordländern sein Glück zu versuchen. Yina war dieser Fremde nicht ganz geheuer, deshalb versuchte sie, in seine Gedanken einzudringen. Sie schreckte sofort wieder zurück, als sie gegen den Wall von Bösartigkeit und mörderischer Wildheit stieß, den 98
seine Gedanken bildeten. Daraus ersah sie, daß die Hirtenkleidung von einem Schäfer stammte, dem er einen halben Tagesritt östlich von hier begegnet war ... Yina sprang auf die Beine und wollte sich zur Flucht wenden. In diesem Augenblick entdeckte sie der dunkelhäutige Fremde. Er kam mit katzenhaften Bewegungen auf die Beine und starrte überrascht zu ihr herüber. Alles in ihr drängte danach, den Umhang zu raffen und davonzulaufen, aber ihre Vernunft sagte ihr, daß sie nicht weit gekommen wäre. So nahm sie all ihren Mut zusammen und harrte auf ihrem Platz aus. Sie durfte ihre Angst nicht zeigen. Wenn der Fremde merkte, daß sie ihn als Mörder entlarvt hatte, dann würde er auch nicht zögern, sie zu töten. »Habe ich dich erschreckt?« fragte sie mit fester Stimme. Der Schwarze lachte. »Komm her, Grashüpfer, daß ich dir für diese Frechheit die Ohren lang ziehe.« Während er sprach, wanderten seine Augen suchend umher. Yina schluckte und kam langsam, aber mit erhobenem Kopf den Hügel zum Bach hinunter. Sie versuchte, mit ihren Gedanken Kim zu erreichen, aber das gelang ihr nicht. Bestimmt war er wieder einmal mit irgendeinem Unsinn beschäftigt, daß für andere Dinge in seinem Kopf kein Platz war. »Was tut ein Junge in deinem Alter allein in dieser verlassenen Gegend?« fragte der Fremde lauernd. Yina erfuhr aus seinen Gedanken, mit welcher Absicht er diese Frage stellte und sagte: »Ich bin kein Junge, sondern ein Mädchen. Mein Name ist Yina. Außerdem bin ich gar nicht alleine. Dragons Krieger sind ganz in der Nähe und lassen mich nicht aus den Augen.« 99
Yina sah, wie der Schwarze zusammenzuckte. Er legte die Hand unwillkürlich an den Dolch an seinem Gürtel und blickte sich wieder wachsam um. Als er Yina anblickte, grinste er. »Mein Name ist Ibabt, und im allgemeinen kann ich sehr gut zwischen Männern und Frauen unterscheiden«, sagte er. »Kannst du mir noch einmal verzeihen, daß ich dich für einen Jungen hielt ...? Du gehörst also zu Dragons Gruppe, die hier am Fuß des Kah Gapa König Zogors Hauptmacht einen Hinterhalt legt.« Yina wurde von diesen Worten so überrascht, daß sie verwirrt stotterte: »Wieso ... woher ist dir das bekannt?« Ibabt lachte wieder. »Ich komme aus Urgor. Dort weiß jedes Kind über Dragons Heldentaten Bescheid und auch, wie er einen endgültigen Sieg über die Myraner zu erringen gedenkt.« Aus Ibabts Gedanken erfuhr Yina, daß er die Wahrheit sprach. Aber sie stieß auch auf Gedanken, die ihr gar nicht gefielen. Ibabt fuhr fort: »Ich wurde von Königin Amee ausgeschickt, Partho eine Nachricht zu überbringen. Was ich ihm zu berichten habe, kann über Sieg oder Niederlage entscheiden.« Yinas Augen wurden vor Entsetzen groß, als sie aus Ibabts Gedanken erfuhr, was er wirklich beabsichtigte. Während er sagte, daß er zu Partho wolle, dachte er daran, König Zogor vor dem Hinterhalt am Kah Gapa zu warnen! Yina erfuhr den Grund dafür nicht, aber aus einigen unzusammenhängenden Gedankensplittern konnte sie sich zusammenreimen, daß Ibabt Amee und Dragon haßte. Ihre Gedanken begannen zu rasen, und sie wäre am liebsten davongerannt, um Dragon vor dem bevorstehenden Verrat zu warnen. Doch dann sah sie ein, daß sie 100
nicht weit gekommen wäre. Ibabt hätte bestimmt nicht gezögert, sie zu töten. Ihre einzige Rettung war, wenn es ihr gelang, ihn zu überlisten. »Um welche Nachricht handelt es sich?« erkundigte sich Yina. »Das werde ich dir bestimmt nicht verraten, du neugieriger Grashüpfer«, antwortete Ibabt. »Ist mir auch egal«, meinte sie. »Aber Dragon wirst du sicherlich nicht vorenthalten wollen, um welche Nachricht es sich handelt. Sie könnte für ihn wichtig sein. Wenn du willst, führe ich dich zu ihm. Er muß hier ganz in der Nähe sein.« »Das geht nicht, ich bin in Eile«, sagte Ibabt erschrocken und dachte daran, daß es für ihn sicherer sei, wenn er dieses aufdringliche Geschöpf beseitigte, bevor es ihm schaden konnte. Yina erkannte, daß sie zu weit gegangen war und lenkte schnell ein, bevor Ibabt seinen schrecklichen Gedankengang zu Ende fuhren konnte: »Wenn du es eilig hast, will ich dich nicht aufhalten. Es ist bestimmt wichtiger, deinen Auftrag auszuführen, als hier deine Zeit zu vergeuden. Ich erinnere mich jetzt, daß Dragon nach Nordwesten geritten ist, um die Katmahzari-Kriegerinnen zu empfangen, die heute eintreffen sollen. Du müßtest vielleicht einen ganzen Tag auf seine Rückkehr warten. Aber wenn du ihm etwas auszurichten hast, dann kann ich es für dich tun.« Ibabt entspannte sich. »Ja, das könntest du für mich tun«, sagte er. »Aber du mußt mir versprechen, daß du zu niemandem anderen als zu Dragon von unserer Begegnung sprichst. Es könnte einem myranischen Spion zu Ohren kommen, daß ich mit einer wichtigen Botschaft zu Partho unterwegs bin, und dann wäre alles umsonst.« 101
Ibabt war zu dem Entschluß gekommen, daß er Yina am Leben lassen konnte. Wenn sie sich an das Schweigegebot hielt und nur Dragon persönlich von seinem »Auftrag« erzählte, bestand keine Gefahr für ihn. Er würde schon längst über alle Berge sein und König Zogor gewarnt haben, bis Dragon mit den Katrnahzari-Kriegerinnen zurückkam und von dem Mädchen die Zusammenhänge erfuhr. So gemein und niederträchtig Ibabts Gedanken auch waren, Yina empfand darüber nichts anderes als Erleichterung. Ibabt würde ihr nichts antun, das allein zählte in diesem Augenblick für sie. Die Lüge, daß Dragon erst am nächsten Tag zurückkommen würde, hatte ihr das Leben gerettet. Tatsächlich waren die viertausend Katmahzari-Kriegerinnen schon an diesem Morgen am Fuß des Kah Gapa eingetroffen. »Ich verspreche dir, daß ich nur zu Dragon über deinen Auftrag sprechen werde«, sagte Yina feierlich. »Halte dich an dieses Versprechen, denn davon wird der Ausgang der Schlacht abhängen«, sagte Ibabt zweideutig. Er schwang sich auf den Rücken seines Pferdes, das nicht gesattelt war. »Richte Dragon aus, daß Partho aus Zunt nochmals tausend Mann zur Verstärkung bekommen wird«, sagte Ibabt zum Abschied, dann ritt er in westlicher Richtung davon. Als er aus Yinas Blickfeld verschwunden war, begann sie zu laufen. Erst als sie bei den urgoritischen Kriegern in Sicherheit war, versuchte sie neuerlich, mit ihren Gedanken Kim zu erreichen. Diesmal hatte sie Erfolg. Sie teilte ihm mit, daß ein Wilder, der sich Ibabt nannte, über Dragons Pläne unter102
richtet sei und zu König Zogor unterwegs war, um ihn darin einzuweihen. Wenig später kam Kims Antwort. Nachdem Dragon Yinas Nachricht erhalten hatte, mußte sich Kim mit seinem Bruder Kano in Verbindung setzen, der seinerseits wieder Partho von dem bevorstehenden Verrat unterrichtete. Mach, dir keine Sorgen, Maus, Parthos Kriegern wird es nicht schwerfallen, Ibabt abzufangen, bevor er König Zogors Heer erreicht, ließ sich Kim abschließend vernehmen. Und wenn Ibabt ihnen entkommt? Das darf nicht geschehen, denn das würde alle Pläne Onkel Dragons zunichte machen. Er hat es selbst gesagt. Ibabt hatte die Begegnung mit dem unscheinbaren Mädchen schon längst vergessen. Er war wie von Winddämonen gehetzt den ganzen Tag und die halbe Nacht durchgeritten. Nachdem er sich und seinem Pferd einige Stunden Ruhe gönnte, ritt er im Morgengrauen weiter. Jetzt stand die Sonne erst eine Handbreit über den Bergen, und er hatte sein Ziel erreicht. Von der Anhöhe blickte er auf das Tal hinunter, durch das sich der endlos scheinende myranische Heerwurm schlängelte. In einer Stunde konnte er im Tal sein und die Myraner warnen. Er zweifelte nicht daran, daß sie seinen Worten Glauben schenken würden. Denn er wußte, daß Urak in König Zogors Diensten stand, dem er, Ibabt, die Treue geschworen hatte. Urak würde für ihn bürgen. Ibabt erwartete nicht nur, für seine Warnung von König Zogor in klingender Münze belohnt zu werden, son103
dern versprach sich auch Wohlgesinnung von seinem neuen Gott, dem Gott der vielen Namen. Er ließ die Zügel schnalzen und setzte seinem Pferd die Fersen in die Weichen. Er war jetzt nicht mehr in Eile, sondern ritt bedächtig und vorsichtig über den Steilhang zur Schlucht hinunter, die ins Tal mündete. Er wollte es im letzten Augenblick nicht mehr riskieren, daß sein Pferd auf einem der glatten Felsen ausrutschte und sich das Bein brach. Als er die Schlucht erreichte, ließ er sein Tier etwas kräftiger ausholen. Zwischen den haushoch getürmten Felsen hatte sich Erdreich angesammelt, der Boden war weich und grasbewachsen. Er folgte dem Lauf eines schmalen Baches, so daß er den Weg ins Tal hinunter nicht verfehlen konnte. Obwohl er schon so nahe dem Ziel war, oder gerade deshalb, blieb er wachsam. Er wußte, daß sich Parthos Krieger hier herumtrieben und wunderte sich, daß er noch keinem von ihnen begegnet war. Soviel er wußte, hatten sie Auftrag, die myranische Armee durch kleinere Überfälle und Scheinangriffe zu zermürben und am schnellen Vorwärtskommen zu hindern. Das mußte ihnen zu einem guten Teil auch gelungen sein, denn Zogors Streitmacht hätte schon vor Tagen am Kah Gapa eintreffen sollen. Ibabt konnte sich deshalb nicht erklären, wieso er bisher noch keinem urgoritischen Krieger begegnet war. Hatte Partho sie alle zurückgezogen und bereitete er sich nun auf die alles entscheidende Schlacht vor? Das schien die einzig vernünftige Erklärung dafür zu sein. Ibabt grinste. Das konnte ihm nur recht sein. Er hatte sich auf Zusammenstöße mit Parthos Kriegern vorbereitet, aber so war es ihm natürlich lieber. 104
Etwas zischte knapp an ihm vorbei durch die Luft und bohrte sich seitlich von ihm in den Boden. Ein Pfeil! Ehe er noch erkannte, wo der Schütze lauerte, sausten drei weitere Pfeile durch die Luft. Nur dem Umstand, daß er sein Pferd unwillkürlich angehalten hatte, verdankte er es, daß er von keinem getroffen wurde. Noch ehe sein Pferd zum Stillstand gekommen war, hieb er ihm die Fersen in die Weichen und gab ihm die Zügel frei. Es machte einen Satz nach vorne, daß Ibabt fast von seinem Rücken gerissen wurde, und preschte ängstlich wiehernd davon. Wieder schossen zwei Pfeile durch die Luft und prallten singend von einem Felsbrocken ab, an dem Ibabt vorbeiritt. Er nahm die Zügel ganz kurz und beugte sich tief über den Hals seines Pferdes, um den Bogenschützen kein sicheres Ziel zu bieten. Der nächste Pfeil, der ihn nur um eine Handbreite verfehlte, kam nicht mehr von den seitlichen Steilfelsen, sondern wurde in seinem Rücken abgefeuert. Als er sich einmal kurz umblickte, sah er für einen Augenblick drei Reiter, die gerade hinter einem Felsen verschwanden. Wenig später waren ihm schon fünf Verfolger auf den Fersen. Und sie kamen rasch näher! Ibabt versuchte, sein Tier zu noch größerer Eile anzutreiben, aber er mußte bald einsehen, daß es sein Bestes gab. Es war der Erschöpfung nahe. Ibabt konnte glücklich sein, wenn er mit ihm noch das Tal erreichte. Aber er dachte keinen Augenblick an Aufgabe. Selbst als plötzlich auch vor ihm ein Reiter auftauchte und ihm entgegengaloppierte, wollte er sich noch nicht geschlagen geben. Denn er wußte, daß es sein sicherer Tod war, wenn er den Urgoriten in die Hände fiel. 105
Der Reiter vor ihm war nur noch zwanzig Mannslängen entfernt, und Ibabt erkannte, daß es sich um keinen Urgoriten handelte. Da seine Rüstung auch nicht die eines Zunters war, glaubte er, einen Myraner vor sich zu haben. »Ich bin ein Freund!« rief er dem entgegenkommenden Reiter entgegen, der das Schwert schon zum Schlag erhoben hatte. Da erst erkannte Ibabt seinen Irrtum. Es handelte sich um ein kurzes Schwert mit gerader Klinge, wie er es bei den Kriegerinnen gesehen hatte, die Urgor zu Hilfe gekommen waren. Katmahzari – kämpfende Weiber! Von ihnen würde er sich nicht unterkriegen lassen. Er gab ein wildes Lachen von sich, in das er seine ganze Verachtung für dieses kriegerische Weibervolk legte, richtete sich halb auf dem Rücken seines Pferdes auf und schleuderte seinen Dolch. Er sah noch, wie er sich bis zum Heft in den Körper der Reiterin bohrte, dann war er vorbei. Dieser Zwischenfall brachte ihm etwas Zeitgewinn. Seine Verfolgerinnen zögerten beim Anblick der tödlich getroffenen Katmahzari, bevor sie sich wieder auf seine Fersen hefteten. Ein kurzer Blick zurück zeigte ihm, daß der Abstand zu ihnen nun gut vierzig Mannslängen betrug. Jetzt konnte er wieder hoffen, ihnen zu entkommen. Er biß die Zähne aufeinander. Jetzt stand mehr als nur sein Leben auf dem Spiel – wenn er sich von Weibern töten ließ, dann würde seine Seele auch nach dem Tode nicht zur Ruhe kommen. Er erreichte die Stelle, an der sich die Schlucht verbreiterte und nach ungefähr hundert Mannslängen im Tal endete. Er erblickte die Staubwolke, die über dem myranischen Heerwurm schwebte und konnte bereits 106
einzelne Krieger unterscheiden. Noch zwei – bis dreihundert Mannslängen, dann war er in Sicherheit. Er mußte es schaffen! Aus der Staubwolke löste sich eine Reiterschar – und ritt ihm entgegen. Ibabt richtete sich auf und winkte. »Hierher!« schrie er. »Ich bin ...« Er verspürte einen heftigen Schlag in seinem Rücken, dann noch einen und noch einen. Er war getroffen. Die Kriegerinnen hatten seine Unachtsamkeit ausgenützt und kaltblütig ihre Pfeile auf ihn abgefeuert. Ibabt versuchte, sich im Sattel zu halten, aber seine Hände wurden plötzlich kraftlos, die Zügel entglitten ihnen. Ihm war auf einmal, als befinde er sich auf einem heftig schwankenden Boot, der Boden hob und senkte sich, die Berge drehten sich, und der Himmel wanderte nach unten. Er merkte, wie er fortgeschleudert wurde und spürte den Aufschlag auf dem Boden, ohne jedoch Schmerz zu fühlen. In seinen Ohren war ein Rauschen, dann Hufgeklapper – und er meinte, davon überrollt zu werden. Aber das Hufgeklapper brach ab, als es am lautesten war. Stimmen drangen zu ihm. »Das ist gar keiner von Kelkaris‘ Boten«, sagte jemand. »Aber er muß ein Feind der Katmahzari sein, sonst hätten sie ihn nicht gejagt.« Kelkaris ist tot, sein Heer aufgerieben, wollte Ibabt sagen, aber über seine Lippen kam nur ein Röcheln. »Was sollen wir mit ihm tun? Es scheint sich um einen Sklaven zu handeln.« Ibabt richtete sich mit letzter Kraft auf. »Urak ...«, stammelte er. »Hinterhalt ... Freund von Urak ...« 107
Ibabt sank zurück und tauchte in ein Meer aus endloser Dunkelheit ein. Irgendwann löste sich die Schwärze wieder auf, und er sah ein bekanntes Gesicht über sich. Sein Blick war auf einmal wieder scharf, er fühlte sich leicht und unbeschwert, so als hätte er keinen Körper. Und so mußte es auch sein, denn er konnte sich nicht bewegen. Nur seine Lippen gehorchten noch, und er formte sie zu einem schwachen Lächeln, als er in das vertraute Rattengesicht blickte. »Ibabt, was treibt dich hierher?« fragte Urak und wechselte einen schnellen Blick mit einem weißhaarigen, uralt wirkenden Mann, der neben ihm stand. Auch ihn konnte Ibabt in allen Einzelheiten sehen, aber er war ihm fremd. »Dragon ...«, brachte Ibabt mühsam über die Lippen, wußte jedoch nicht, ob er auch gehört wurde. Deshalb wiederholte er den Namen, bevor er fortfuhr: »Dragon ... einen Hinterhalt ... Kelkaris geschlagen ... Dragon hat viele ...« Ibabt mußte erschöpft Atem holen. Dann bäumte er sich ein letztes Mal auf und stieß hervor: »... viele Krieger im Lager!« Als er zurücksank, war er tot. »Er kann uns nichts mehr sagen«, meinte Urak enttäuscht. »Was er uns mitgeteilt hat, ist bedeutungsvoll genug«, erklärte Zamoc. »Dragon hat also über Kelkaris gesiegt und für Zogors Heer einen Hinterhalt vorbereitet. Wenn ich das dem König mitteile, wird das unsere Beziehung günstig beeinflussen und jene zum Schweigen bringen, die ihn gegen mich aufhetzen.«
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Nachdem König Zogor von seinen zwölftausend Kriegern nur noch neuntausend verblieben waren, die mit letzter Kraft das Tal der Verzweifelten verließen und Ar-zinca erreichten, erwartete ihn hier die nächste Enttäuschung. Die Bewohner hatten – wahrscheinlich auf Anraten der Urgoriten – das Dorf geräumt und waren mit ihrer Habe in die Berge gefluchtet. Die Myraner fanden hier nicht die erwartete Verpflegung und auch gab es sonst nichts, was sich zu plündern gelohnt hätte. Aber immerhin war das Wasser nicht vergiftet worden und in ausreichendem Maße vorhanden, um den Durst der Krieger zu löschen. Zogor gönnte seinen Männern einen Tag Ruhe, bevor sie die letzte Teilstrecke bis zum Kah Gapa in Angriff nahmen. Dort wollten sie sich in dem von Kelkaris errichteten Lager mit dessen Seeheer vereinen und zum Angriff gegen Urgor rüsten. Bis zum Heerlager am Kah Gapa waren es kaum vier Tagesritte, aber Zogors Heer benötigte für drei Viertel der Strecke bereits zehn Tage – und das, obwohl sich Parthos Krieger kaum mehr bemerkbar machten. Die Myraner waren müde, geschwächt und niedergeschlagen. Nur noch die Versprechungen des Königs auf einen leichten Sieg über Urgor und die Hoffnung auf reiche Beute hielten sie aufrecht. Langsam begannen sie sich von den Anstrengungen zu erholen, und je weiter sie das Tal der Verzweifelten hinter sich ließen, desto mehr gerieten die schrecklichen Ereignisse in Vergessenheit. Zogor, der schon selbst befürchtet hatte, daß sein Feldzug im Tal der Verzweifelten enden würde, war nun wieder siegesgewiß. In zwei Tagen würde er sich mit Kelkaris‘ Heer vereinen, und wenige Tage später als Sieger in die Stadt am Raxos einziehen. Welche Macht sollte ihn daran hindern? 109
König Zogor hatte sein Lieblingspferd bestiegen und ritt in der vordersten Linie seines Heeres. Er verzichtete darauf, eine Vorhut zur Erkundung des Geländes vorauszuschicken. Das Gebiet, durch das sie kamen, war flach und meist unbewaldet, so daß sie keinen Hinterhalt zu fürchten brauchten. Seine Heerführer hatten ihm geraten, die Krieger dicht beisammenzuhalten, so daß es den Urgoriten, die sich in der Minderheit befanden, nicht möglich war, erfolgreiche Überraschungsangriffe durchzuführen. Zogor verzichtete auch darauf, Meldereiter zum Kah Gapa zu schicken, um Kelkaris seine baldige Ankunft zu melden, da sie ihr Ziel ohnehin nicht erreicht hätten. Bisher waren dreißig Mann ausgeschickt worden, auf deren Leichen die Hauptstreitmacht wenige Stunden nach ihrem Aufbruch stieß. Das bewies, daß die Urgoriten immer noch gegenwärtig und schlagkräftig genug waren, um es gegen einzelne Krieger und kleinere Gruppen aufzunehmen. Mehr traute ihnen König Zogor allerdings nicht zu. Für ihn waren die Urgoriten kein ernstzunehmender Gegner mehr. In dieser Hochstimmung traf Zamoc ihn an der Spitze seines Heeres an. »Ich staune, daß sich mein Kanzler wieder einmal blicken läßt«, spottete Zogor. »Du hast dich in den letzten Tagen ziemlich rar gemacht, Zamoc. Was ist der Grund dafür, daß ich dein Antlitz und deine Stimme missen mußte?« »Ich fühle mich geehrt, daß du mir Gehör schenkst, mein König«, sagte Zamoc düster. »Wenn ich mich von dir ferngehalten habe, dann nur, um deinen Unmut nicht zu erwecken. Aber inzwischen haben sich meinem inneren Auge Dinge gezeigt, die ich als Vorzeichen für 110
kommendes Unheil erkannte und dir nicht vorenthalten darf.« »Oho, dachte ich mir doch, daß du wieder etwas ausgebrütet hast, Kanzler«, rief Zogor erheitert aus. »Dann sprich, du wirst in mir einen aufmerksamen Zuhörer finden.« »Kennst du die Ruhe vor dem Sturm, mein König?« sagte Zamoc düster. »Die Seefahrer fürchten das Meer am meisten, wenn es am ruhigsten ist, und sie laufen aus dem Hafen erst aus, wenn der Sturm abgeflaut ist. Wir sollten uns der Weisheit der Seefahrer erinnern. Auch daß die Urgoriten sich nicht zeigen und untätig sind, kann die Ruhe vor dem Sturm sein.« »Was willst du damit sagen?« fuhr der König ihn an. »Wenn sich die Urgoriten nicht zeigen, dann deshalb, weil wir sie in die Flucht geschlagen haben.« »Das gerade wollen sie uns glauben machen«, erwiderte Zamoc. »Aber in Wirklichkeit haben sie sich gesammelt und einen Hinterhalt für uns vorbereitet. Ich habe es in meinen Wahrträumen gesehen, daß sie am Fuß eines Berges, der nicht weiter als zwei Tagesmärsche von uns entfernt ist, ihre gesamte Streitmacht zusammengezogen haben, um sich uns entgegenzustellen.« »Meinst du mit dem Berg, den du gesehen haben willst, vielleicht den Kah Gapa?« »Es kann nur der Kah Gapa gewesen sein, mein König«, bestätigte Zamoc. »Zu seinen Füßen liegt ein Tal, und in diesem Tal lauern die Urgoriten. Sie haben ein Lager errichtet, das uns anlocken soll. Wir müssen das Tal und das Lager meiden, denn wenn wir es erst einmal betreten haben, dann gibt es für uns kein Zurück mehr ...« »Sei still, Magier!« schrie der König außer sich vor Wut. »Was willst du mit dieser Unglücksbotschaft errei111
chen? Willst du mich jetzt, da die Urgoriten so gut wie besiegt sind, unsicher machen? Das Lager, von dem du sprichst, hat Kelkaris erbaut, und wenn es die Urgoriten zu erobern versuchen, dann werden sie sich die Schädel daran einrennen.« »Und wenn es keinen Kelkaris mehr gibt, der das Lager bauen könnte?« Zogors Hand sauste heran und klatschte Zamoc ins Gesicht. »Verschwinde mir aus den Augen!« schrie Zogor seinen Kanzler an, der wie erstarrt im Sattel seines Pferdes saß. »Ich habe nun genug von deinen düsteren Wahrsagungen. Verschwinde und laß dich in meiner Nähe nicht mehr wieder blicken!« Zamoc umkrampfte die Zügel, daß seine Knöchel seiner Hände weiß hervortraten. Während sich die eine Seite seines Gesichtes, wo ihn der Schlag des Königs getroffen hatte, rötlich färbte, war die andere totenblaß. Als er sprach, bewegten sich nur seine Lippen: »Ich habe dich gewarnt, Zogor. Wenn du nicht auf mich hörst, dann magst du getrost in dein Unglück laufen.« »Fort! Verschwinde! Wenn du noch eine Entgegnung wagst, so wirst du die Antwort vom Henker erhalten.« Zamoc verneigte sich steif und wendete sein Pferd. Als er dem König den Rücken zukehrte, schien sein Gesicht für einen Augenblick zu zerfließen, seine Nase formte sich zu einem Geierschnabel. Gleich darauf festigten sich seine Gesichtszüge wieder. Bald hat deine letzte Stunde geschlagen, Zogor! dachte Cnossos grimmig.
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9.
Agrion saß hoch aufgerichtet auf dem Rücken des schneeweißen Pferdes und blickte ruhig und gelassen in das Tal hinunter. Dort befand sich das befestigte Lager, in dem Dragon mit dreitausend Kriegern wartete. Im Westen war eine riesige Staubwolke zu sehen, die bis zu den tiefhängenden Wolken aufstieg und sich mit ihnen zu vermischen schien. Das war das myranische Heer, das in der Überzeugung ins Tal einritt, hier Verbündete anzutreffen. Agrion hatte sich bereits auf den bevorstehenden Kampf eingestellt. Sie ging in Gedanken immer wieder die Einzelheiten des Angriffsplans durch, den Dragon, Partho und Prinzessin Jnessa besprochen hatten. Sie, Agrion, hatte nicht viel dazu zu sagen gehabt. Obwohl sie von den über viertausend Katmahzari als Führerin anerkannt worden war, konnte sie selbst zu den Schlachtvorbereitungen nichts beitragen. Sie war nur die Trägerin des geheimnisumwitterten Mondringes, der sie in den Augen der Kriegerinnen zur Nachfolgerin ihrer Königin machte. Deshalb hatte Prinzessin Jnessa darauf bestanden, daß sie die viertausend Katmahzari anführen sollte. Es überraschte sie selbst am meisten, wie leicht sie sich in ihre Rolle eingefunden hatte. Ihre persönlichen Wünsche hatte sie in den Hintergrund gedrängt. Partho ... Ihre Augen wanderten nach Süden, wo der Mann, den sie immer noch liebte, mit zweitausend Kriegern in einem Seitental Stellung bezogen hatte. Sie wußte, daß die Hetäre Saphirna bei ihm war: Partho hatte sie 113
zu sich genommen, als sie im Lager des Wandervolkes nicht mehr sicher war. Ob Partho sie begehrte? »Gleich ist es soweit«, hörte Agrion Prinzessin Jnessa neben sich sagen. »Die Kriegerinnen werden sich in zwei Gruppen aufteilen. Neomara wird die Truppe anführen, die ins Tal eindringt und die Myraner von der Seite angreift. Du wirst ihnen mit deinen zweitausend Kriegerinnen in den Rücken fallen. Gib das Zeichen zum Angriff!« Agrion hob die Hand. Es war ein erhebendes Gefühl zu wissen, daß viertausend Kriegerinnen hinter ihr standen, die sich auf eine einzige Handbewegung von ihr in Bewegung setzen wurden. Agrion holte noch einmal Atem, dann ließ sie die Hand sinken ... Die Lanzenreiter standen in vorderster Linie, dann erst kamen die Bogenschützen und die Schwertkämpfer – zweitausend ausgeruhte Krieger, die es nicht mehr erwarten konnten, sich auf den verhaßten Feind zu stürzen, der Tod und Vernichtung in ihr Land brachte. Partho wich dem Blick Robhets aus, der sich im Sattel umgedreht hatte und erwartungsvoll zu ihm starrte. »Meine Leute wollen nicht mehr länger warten«, erklärte Yomrel, der Anführer der Zunter. »Gib uns das Zeichen zum Angriff.« »Habt noch Geduld«, verlangte Partho. »Noch sind nicht alle Myraner im Tal. Wir können erst zuschlagen, wenn die Katmahzari aus dem Norden angreifen. Denn erst dann ist es sicher, daß Agrion den Myranern den Rückweg abgeschnitten hat.« Agrion! Wer hätte je gedacht, daß sie Macht über viertausend Kriegerinnen haben würde. Er hätte es sich auch nicht träumen lassen, daß er sie auf diese Art ver114
lieren würde. Aber war sie tatsächlich für ihn verloren? Wenn Agrion zu den Katmahzari ging, dann würde er im Sommer das Land zwischen dem Skyra und dem Kisil aufsuchen. Partho blickte hinter sich, den steilen Hang des Kah Gapa hinauf, dessen Gipfel in den Wolken verschwand. Er sah zwischen den Felsen die beiden Zelte, in denen Saphirna, Kim, Kano und Yina, die Maus, untergebracht waren. Ihm war sogar, als sehe er Saphirnas seidenes Gewand im Wind flattern. Saphirna, die ihm für einige Tage berauschendes Glück bescherte. Aber so leidenschaftlich das Feuer zwischen ihnen gebrannt hatte, es war nur von kurzer Dauer gewesen. Saphirna war dazu geschaffen, allen Männern Liebe zu geben ... »Die Katmahzari!« rief ein Zunter. Partho schreckte hoch. Von Norden näherte sich ein breites Band aus winzigen dunklen Punkten. Partho trieb sein Pferd zwischen die Krieger hindurch und ritt ins offene Feld hinaus. »Lanzenreiter, vorwärts!« befahl er. Die vorderste Linie der Reiter setzte sich langsam in Bewegung. »Bogenschützen, aufschließen!« Die zweite Linie der Reiter setzte sich in Bewegung und schloß die Lücken zwischen den Lanzenreitern. »Schwertkämpfer!« Die verbliebene Reiterei schloß an die beiden Linien an. Zweitausend Krieger ritten mit wachsender Geschwindigkeit auf das myranische Heer zu, die Lanzen gestreckt, die Bogen gespannt, die Schilde zum Schutz erhoben. Das Tal war vom Donnern der Hufe erfüllt. 115
»Wir werden angegriffen!« König Zogor drehte sich um Sattel halb um und ließ seine Blicke in die Richtung wandern, in die die Arme der ihn umgebenden Günstlinge wiesen. Er kniff die Augen zusammen und merkte, daß aus nördlicher Richtung eine dunkle Linie rasch näher kam. Der Geschwindigkeit nach zu schließen, mußte es sich um Berittene handeln. Zogor lachte. »Laßt sie nur kommen!« Er befahl seinen Heerführern, die nördliche, Seite zu sichern und sagte dann spöttisch zu den dreißig Adeligen: »Jetzt könnt ihr zeigen, daß ihr mehr seid als nur Schmarotzer an der Schüssel eures Königs.« Die Günstlinge schluckten und griffen unsicher zu ihren Waffen. »Überall!« Einer der Heerführer kam in wildem Galopp herangeritten und zügelte knapp vor dem König das Pferd. »Laßt mich an eurer Seite sein und euer Leben verteidigen, Erhabener«, bat er. Doch Zogor lachte ihn aus. »Deine guten Absichten in Ehren, teurer Jario, aber du bist etwas spät damit dran. Wir wissen schon längst, daß sich die Urgoriten im Norden formiert haben und uns mit Todesverachtung angreifen. Sollen sie nur!« »Wir werden auch aus dem Süden angegriffen, mein König«, erklärte Jario. »Die Urgoriten müssen mehr Krieger zur Verfügung haben, als wir angenommen haben, wenn sie von zwei Seiten kommen.« »Dann werden wir eben beide Seiten sichern«, meinte Zogor leichthin. »Sollen die Urgoriten tausend, oder auch zweitausend Mann zur Verfügung haben, wir sind in der Übermacht. Und dort vorne ist bereits das Lager, 116
das Kelkaris errichtet hat. Er wird klug genug sein, den Urgoriten zu gegebener Zeit in den Rücken zu fallen.« »Ihr müßt euch so schnell wie möglich in den Schutz des Lagers begeben, mein König«, forderte ein Adeliger. »Hier wird bald Blut fließen.« »Das Blut der Urgoriten!« rief Jario. Zogor nickte beipflichtend. Er blickte zum wolkenverhangenen Himmel. »Es wird bald regnen. Schon morgen wird der Boden dieses Tal vom Blut der Urgoriten wieder reingewaschen sein – und nichts wird mehr daran erinnern, daß es sie einmal gegeben hat.« Während das Fußvolk links und rechts ausschwärmte, strebte die Hauptstreitmacht mit erhöhter Geschwindigkeit dem befestigten Lager in der Mitte des Tales zu. Ein Meldereiter kam herangeprescht. Das Pferd war in Schweiß gebadet, Schaum stand ihm vor dem Mund. »Erhabener«, kam es keuchend über seine Lippen, »in unserem Rücken sind mindestens zweitausend Reiter aufgetaucht, die den Ausgang des Tales versperren. Schon in den ersten Gefechten haben wir schwere Verluste erlitten.« Zogor, von Zorn übermannt, holte mit seiner Peitsche aus und schlug dem Meldereiter ins Gesicht. »Ich möchte nichts von Verlusten hören«, schrie der König ihn an. »Für mich zählt nur der Sieg. Meine Heerführer werden schon wissen, wie sie die in unseren Rücken eingefallenen Wilden zu zerschlagen haben. Seien wir den Urgoriten dankbar, daß sie uns schon jetzt Gelegenheit zu einer Vorentscheidung geben. Laßt die Fanfaren erklingen, damit Kelkaris uns hört und die Tore des Lagers öffnet!« Zogor trieb sein Pferd zu größerer Eile an. Die ausgewählten Krieger, die vor, hinter, links und rechts von 117
ihm ritten und einen lebenden Schutzwall bildeten, paßten sich seiner Geschwindigkeit an. Die Hornbläser an der Spitze des Heeres stießen in ihre Fanfaren, daß das Tal von ihrem schmetternden Klang erfüllt war. »Die Tore des Lagers öffnen sich!« frohlockte einer der Günstlinge. König Zogor fand dabei nichts Außergewöhnliches. Er ärgerte sich nur, weil Kelkaris noch nicht früher seine Truppen zur Unterstützung entsandt hatte. Er würde ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Er sah durch die Staubwolke, wie sich aus dem breiten Tor ein Strom von Kriegern ergoß und sich vor dem Lager zu einem weiten Halbkreis formte. »Was soll das!« schrie Zogor. »Kelkaris soll uns im Norden und Süden unterstützen, statt unseren Einmarsch ins Lager zu sichern.« Die Krieger, die aus dem Lager gestürmt waren, standen nun unbeweglich da. Als die Spitze von Zogors Heer nur noch fünfzig Mannslängen von ihnen entfernt war, rief einer der Adeligen: »Das sind Bogenschützen!« Er hatte kaum ausgesprochen, als sich ein Schwarm aus Hunderten von Pfeilen in die Luft erhob und auf die myranische Reiterei niederprasselte. Von den Fahnenträgern und Hornbläsern der ersten Linie überlebte kein einziger. Fünfzig Krieger wurden auf einen Schlag wie von einer unsichtbaren Faust von den Rücken ihrer Pferde gerissen, die nachfolgenden Tiere stolperten über sie und warfen ihre Reiter ab. Zogor sah mit Entsetzen, wie die Bogenschützen einen zweiten Pfeilhagel von ihren Sehnen schnellen ließen. Wieder lichtete sich die Reihe der Reiterei vor ihm um mehr als fünfzig Krieger. 118
Plötzlich sah sich der König von Myranien schutzlos dem Feind gegenübergestellt. In dem lebenden Schutzwall, der ihn umgab, waren große Lücken geschlagen worden, die den nächsten Pfeilhagel nicht mehr von ihm abhalten würden. Er zog in plötzlicher Todesangst an den Zügeln und riß sein Pferd herum. »Beschützt euren König!« schrie er. »Wir sind verraten worden.« Krieger mit gezückten Schwertern umschwärmten ihn, ein Adeliger ergriff sein Pferd am Zügel und drängte es tiefer in die eigenen Reihen zurück. In dem Gewirr aus Waffen, Menschen – und Pferdeleibern sah Zogor verwirrte und ratlose Gesichter. Die Myraner standen einander im Wege, stießen mit den nachdrängenden Truppen zusammen, die noch immer in dem Glauben dem Lager zustrebten, daß sie dort Sicherheit vorfinden würden. »Kämpft! Kämpft!« feuerte Zogor seine Leute an. Die Myraner wußten nicht, wohin sie sich wenden sollten. Der Feind war überall. Einige Heerführer waren bereits gefallen, die anderen versuchten, Ordnung in die Verteidigungslinie der Krieger zu bringen. Aber nur allzu oft wurden sie selbst in Kämpfe verwickelt und hatten genug damit zu tun, ihr eigenes Leben zu verteidigen. Zogors Blicke irrten verständnislos umher. Er verstand nicht, wie es zu diesem Durcheinander kommen konnte. Seine neuntausend Mann würden sich doch von einer Handvoll Urgoriten nicht dermaßen überraschen lassen, daß sie zu keiner wirkungsvollen Gegenwehr fähig waren. »Durchbrecht die feindlichen Linien!« rief er über das Waffengeklirre, die Schreie der Sterbenden und Ver119
wundeten und das Kriegsgeheul hinweg. »Überrennt sie, macht sie nieder!« Zwei seiner Beschützer stürzten, von Pfeilen getroffen, vom Pferd. Auf dem Rücken eines dritten landete eine Katmahzari, zerrte ihn aus dem Sattel und stieß ihm den Dolch ins Herz. Die beiden Myraner, die ihren gefallenen Kameraden rächen wollten, rannten in die Schwertklingen von Kriegerinnen, die herangeritten kamen. Zogor wandte sich zur Flucht. Er hatte geglaubt, sich im Herzen seiner Armee in Sicherheit zu befinden, aber das Vordringen der Katmahzari bis zu ihm zeigte, daß er sich inmitten des Kampfgetümmels befand. Wo erst vor wenigen Augenblicken nur Myraner zu sehen gewesen waren, tauchten jetzt immer mehr Krieger in fremden Rüstungen auf. Der Ruf »Hie Urgor!« war immer lauter und öfter zu hören. Zogor setzte mit seinem Pferd über das Getümmel von am Boden Kämpfenden hinweg und wollte mit dem Schwert eine Bresche schlagen, durch die er reiten konnte. Da rannte sein Pferd gegen einen aufgepflanzten Speer und wurde davon aufgespießt. Zogor flog aus dem Sattel und konnte gerade noch einen Schwertstreich abwehren, als er wieder auf die Beine kam. Er stand jetzt ungeschützt inmitten der Kämpfenden und mußte selbst sein Leben verteidigen. In diesem Augenblick erkannte er, daß seine Niederlage besiegelt war. Er hatte bis zuletzt an einen ruhmvollen Sieg über Urgor geglaubt, doch das war jetzt vorbei. Er wußte, daß er der Anführer eines geschlagenen Heeres, der König eines besiegten Landes war. Ihm würde keine andere Wahl bleiben, als sich ins Schwert zu stürzen – sollte sein Neffe Emryas nach ihm den Thron besteigen und das Unheil von Myra abzuwenden versuchen. 120
Aber bevor Zogor mit dem Leben abzuschließen bereit war, wollte er den Schuldigen bestrafen, der für die Niederlage des stolzen myranischen Heeres verantwortlich war. Unter den Kämpfenden tauchte ein weißer Haarschopf auf. »Zamoc!« schrie Zogor. Er hieb mit dem Schwert auf Freund und Feind ein, um sich einen Weg zu dem Magier zu bahnen, der in seinen Augen die Schuld für den Zusammenbruch seines Heeres trug. »Zamoc!« Der weißhaarige Zauberer stand aufrecht inmitten der Kämpfenden. Es schien fast so, als sei um ihn ein unsichtbarer Schild, der alle Angriffe von ihm abwehrte. Hinter ihm tauchte das Rattengesicht seines Dieners Urak auf. »Ja, Zogor?« sagte Zamoc, und um seine Mundwinkel lag ein spöttischer Zug. »Bin ich doch noch auf dich gestoßen. Wie ist dir nun zumute, da du mitansehen mußt, wie dein Heer, dem Schnee in der Sonne gleich, zusammenschmilzt? Wärst du kein solcher Narr gewesen und hättest auf mich gehört, dann wäre dir dieser Anblick erspart geblieben. Aber du hast mich, der ich als einziger den Untergang von deinem Heer hätte abwenden können, verspottet und verstoßen. Dafür mußt du jetzt bezahlen, Zogor.« In den Augen des Königs spiegelte sich der Irrsinn. »Du, verfluchter Hexer, hast den Unwillen der Dämonen und Teufel erregt und auf uns geladen«, schrie Zogor mit zittriger Stimme. »Hätte ich dich nicht in diesen Feldzug mitgenommen, dann wäre all dieses Unheil nicht über uns hereingebrochen. Du allein, Zamoc, trägst die Schuld für den Tod meiner Krieger. Aber du 121
sollst deine gerechte Strafe erhalten. Ich werde dich töten, bevor mein eigenes Lebenslicht erlischt.« Er holte mit dem Schwert aus und wollte mit voller Wucht zuschlagen. Wenn er den Streich, in den er seine ganze Kraft legte, ausgeführt hätte, wäre Zamocs Schädel bis zum Rumpf in zwei Hälften gespalten worden. Aber Zogor hielt mitten in der Bewegung inne. Vor ihm war nicht mehr Zamoc, der weißhaarige Magier, sondern ein ungeheuerliches Etwas ohne Form und Körper. Es war eine Masse aus zuckendem Fleisch, in dem die Arme und Beine und das Gesicht des Magiers sich auflösten. Zogor stand wie erstarrt da, das Schwert entglitt seinen Händen. Der Anblick der unheimlichen Verwandlung, die mit Zamoc vor sich ging, lähmte seinen Körper. Er sah ein vielarmiges, aufgeblähtes Ungeheuer vor sich, das jeden Mann um zwei Köpfe überragte. Arme mit Krallen wie von Blutsaugern streckten sich nach ihm aus, umfaßten seinen Hals und drückten unbarmherzig zu. Während Zogors Gedanken in der Tiefe des Todes versanken, war ihm, als hörte er das höhnische Gelächter der Götter und Dämonen von weit oben zu sich herabdringen ... Die Kämpfenden erstarrten ringsum, Freund und Feind wichen vor dem Unfaßbaren zurück, dessen Zeuge sie eben geworden waren. Da war der tote König ... da die vielarmige Schauergestalt, die wieder zu zerfließen schien und langsam das Aussehen eines Riesengeiers annahm. Nur einer unter den zu Tode erschrockenen Kriegern bewegte sich. Er stieß die Myraner, Urgoriten, Zunter und Katmahzari-Kriegerinnen beiseite und wollte sich, 122
nur mit einem Schwert bewaffnet, auf den unheimlichen Geistervogel stürzen. »Dragon!« Die schaurige, höhnische Stimme schien von überall her zu kommen. Dem spöttischen Ausruf folgte ein Gelächter, das weit über das Kampffeld zu hören war. Dann ergriff der riesenhafte Geier mit seinen mächtigen Krallen Urak und erhob sich mit ihm in die Lüfte. Jetzt erst wich der Bann von den Kriegern; sie warfen ihre Speere nach dem Feuervogel, schossen ihm unzählige Pfeile nach. Aber keines der Geschosse traf Cnossos, der immer höher stieg und schließlich in westlicher Richtung verschwand. Dragon richtete seinen Blick wieder zur Erde, wo der tote Zogor lag. »Der König ist tot!« rief er, und die Kunde verbreitete sich mit der Schnelligkeit eines Lauffeuers. »Ergebt euch, Myraner! Legt die Waffen nieder!« Dragon saß auf der Barrikade des Lagers, in das die siebentausend überlebenden Myraner gebracht worden waren, nachdem sie sich ergeben hatten. Es hatte Dragon viel Mühe und Überredungskunst gekostet, Parthos Leute, die Zunter und vor allem die Katmahzari davon abzuhalten, die geschlagenen Krieger Zogors niederzumetzeln. Sie wollten nicht einsehen, daß man dem Unterlegenen nur die Waffen und nicht auch das Leben nehmen sollte. Aber schließlich war es ihm doch gelungen, blutige Ausschreitungen zu verhindern. Jetzt wurden die siebentausend Überlebenden im Lager gefangengehalten. Dragon hob sein Sprechrohr an die Lippen. Als er sprach, konnte seine Stimme von allen gehört werden. 123
»Myraner! Ihr habt verloren, weil ihr euch in den Dienst eines Mannes gestellt habt, der in seinem Haß blind und in seiner Machtgier unersättlich war. Wir haben euch besiegt, ihr seid unsere Gefangenen, aber wir sehen in euch keine Feinde. Unser Feind war König Zogor, den sein gerechtes Schicksal ereilt hat. Ich weiß, wie wenig ihr selbst ihn geliebt habt, ihr erhobt das Schwert nicht aus Treue zu ihm, sondern wegen des verlockenden Soldes. Damit habt ihr euch kein gutes Zeugnis ausgestellt, aber ich glaube auch, daß viele unter euch sind, die vermeinten, für eine gute Sache zu kämpfen. Wer von diesen ehrlichen Streitern eingesehen hat, daß er irrte, und wer meint, sein Schwert in den Dienst Urgors stellen zu können, der sei in meinem Heer willkommen.« Ein Begeisterungssturm brandete auf, der Dragons Erwartungen übertraf. Aber er wußte auch, daß nicht alle Myraner es ehrlich meinten. Er würde eine Auslese treffen, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Dabei würde er wieder, wie schon einmal, die Hilfe Yinas in Anspruch nehmen. Die Myraner würden einzeln an ihr vorbeiziehen, so daß sie aus den Gedanken eines jeden Kriegers heraushören konnte, wie seine Gesinnung war. Auf diese Weise konnte Dragon sein Heer um etliche Mann verstärken, bevor er den Feldzug gegen Myra unternahm. Der Gedanke, das myranische Reich zu erobern und sich selbst zum König zu machen, ließ ihn nicht mehr los. Aber das lag noch in weiter Ferne ... »Ich habe den Körper des toten Königs bergen lassen, Dragon«, sagte Partho. »Ich kam noch gerade zurecht, bevor ein Zunter ihm den Kopf abschlagen konnte. Jetzt wird der Leichnam von zwanzig Kriegerinnen Agrions bewacht. Was hast du mit ihm vor, Dragon?« 124
»Es könnte jemand kommen und behaupten, daß König Zogor noch lebt«, meinte Dragon. »Deshalb werde ich veranlassen, daß Iwa kommt und ihn mit ihren Salben so behandelt, daß er auch im Tode das Aussehen eines Lebenden beibehält.« »Übertreibst du deine Vorsicht nicht«, sagte Partho. »Niemand würde dem Glauben schenken, der behauptet, daß Zogor noch am Leben sei. Viele Myraner sahen ihn selbst sterben, die anderen sahen seinen Leichnam. Deine Vorsicht ist übertrieben.« Dragon blickte auf einen unbestimmten Punkt im Westen – in jene Richtung, in der der Riesengeier mit seinem Diener Urak entschwunden war. Er schüttelte langsam den Kopf und sagte: »Solange es Cnossos gibt, müssen wir auf alle Überraschungen vorbereitet sein.« ENDE Das Blatt hat sich entscheidend gewendet. Zogor, der mächtige König von Myra, ist tot, die große Armee, die Urgor überrennen sollte, hat kapituliert. Cnossos selbst konnte sich allerdings dem Zugriff seiner Gegner entziehen. Ihm soll aber keine Zeit bleiben, einen neuen Schlag vorzubereiten. Deshalb sammelt Dragon sein siegreiches Heer und zieht ’gen Westen. Seine Krieger und Kriegerinnen folgen einer blutigen Spur – und stoßen auf die GIGANTEN DER UNTERWELT ... GIGANTEN DER UNTERWELT das ist auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Als Autor zeichnet Hans Kneifel.
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