Mara Laue
Der Spiegel der Magini Version: v1.0 Pete Carlyle war so vertieft in den Anblick der wun...
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Mara Laue
Der Spiegel der Magini Version: v1.0 Pete Carlyle war so vertieft in den Anblick der wunderschönen Abenddämmerung, während er joggend seine Runde um den Pontiac Lake am Rand von Detroit drehte, dass er beinahe die Frau umgerannt hätte, die plötzlich vor ihm stand. Die dunkelhäutige – indianische? indische? – Schönheit winkte einladend und Pete folgte ihr wie hypnotisiert. Dabei schrie ein Teil seines Verstandes, dass hier etwas nicht stimmte. Die Frau führte ihn tief in ein Gebüsch zu zwei schattenhaften Gestalten, von denen eine ein Messer in der Hand hielt. Pete wollte fliehen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Im nächsten Augenblick wurde er mit unglaublicher Kraft zu Boden geworfen. Das Messer schnitt schmerzhaft in seine Haut. Er schrie, aber kein Laut kam über seine Lippen. Das Letzte, was er sah, bevor sie ihn ausbluten ließen und seine Lebensenergie aufsogen, waren riesige goldene Schlangenaugen – reglos, gnadenlos, mitleidlos. Dann umarmte ihn der Tod …
Die Wölfin träumte. Sie lag unter einem duftenden Salbeibusch am Rande der Wüste in der Navajo‐Reservation, den Kopf auf die Pfoten gebettet und genoss das Licht des Vollmondes, das ihr schwarzes Fell bläulich schimmern ließ. Vor kurzem hatte sie einen Wüstenhasen erlegt und der Geschmack des warmen, frischen Blutes war noch auf ihrer Zunge. Sie leckte sich die Lefzen und gab ein wohliges Knurren von sich. Ihr Geist schwebte jedoch in anderen Sphären. In diesem vertrauten Zustand zwischen Wachen und Schlafen kamen die Visionen. Meistens handelten sie von angenehmen Dingen – der Jagd, der Liebe oder wundervollen Erinnerungen an längst vergangene Zeiten, als sie noch mit dem Rudel gelaufen war … Aber heute waren ihre Traumvisionen anders als sonst. Sie sah Tod und Schrecken; Tiere und Menschen, deren Blut zur Erlangung von Macht vergossen wurde. Und sie sah einen Freund in Not – Isenhard, den Ritter der Nacht! Mit ihm verband sie mehr als nur Freundschaft. Seine Seele rief sie durch die Sphären hindurch um Hilfe. Und die Wölfin antwortete. Sie schickte ein langes Heulen in die Nacht, sprang auf die Füße und trabte zurück zum Navajo‐Dorf. Dort angekommen reckte sie die Glieder, wandelte sich und richtete sich auf. An Stelle der Wölfin stand eine jung aussehende, nicht sehr große, athletische Frau mit langem schwarzen Haar und schwarzen Augen: Kalia Mayeshti, Romni * vom Stamm der Kalderasch, Werwölfin von Geburt und mittlerweile gut sechshundert Jahre alt. Schon lange konnte sie auch Wolfsgestalt annehmen, wann immer und so lange sie wollte, bei Tag oder Nacht. Die Wandlungsfähigkeit so alter Werwölfe war nicht mehr vom Vollmond abhängig, obwohl es dann immer noch am leichtesten
*
Romni = »Zigeunerin« der Roma
ging. Sie zog die Kleidung, die sie am Dorfrand deponiert hatte, über den nackten Körper und ging in ihre Hütte. Seit über zwanzig Jahren lebte sie jetzt bei den Navajo, dem einzigen Volk der Welt, das die Existenz der Werwölfe als Fakt akzeptierte und sehr genau zwischen Wolf Shamans und Skinwalkern – guten und bösen Werwölfen – zu unterscheiden wusste. Erstere wurden bei ihnen hoch geachtet und verehrt, letztere wurden unnachsichtig zur Strecke gebracht. Kalia fühlte sich sehr wohl bei diesen Menschen, deren Schamanin und Bewahrerin der Traditionen sie war. Doch nun war es wieder einmal Zeit zu gehen. Der Blue Bird Clan, der sie adoptiert hatte, würde ohne sie auskommen, denn sie hatte die Ausbildung ihres Nachfolgers im Amt des Schamanen bereits vor über einem Jahr abgeschlossen. Er war ein guter hataalii * und kannte alle Gesänge und Zauber. Der Clan war bei ihm in guten Händen. Außerdem würde Kalia eines Tages zurückkommen. Jetzt brauchte man sie und ihre Fähigkeiten in Detroit. Sie packte ihre Sachen, hinterließ eine kurze Nachricht für ihre indianische Familie, stieg in ihren dunkelblauen Ford und fuhr nach Norden. Sie würde Isenhard wieder sehen und das linderte ein wenig den Schmerz der Trennung – eine Art von Schmerz, an die sie sich bis heute nie hatte gewöhnen können …
* Als Lieutenant Jack Blake das Büro des Commissioners der Detroiter Mordkommission betrat, wusste er, dass eine unangenehme Sache
*
Navajo‐Wort = »Sänger des Gesegneten Weges« = Schamane, Medizinmann
auf ihn wartete. In den letzten Monaten hatte seine Arbeit eine besonders scheußliche Note bekommen. Es schien, als würden alle möglichen Freaks, irre Typen und sonstige Verrückte aus ihren Löchern kriechen und Detroit mit unappetitlichen Opferritualen überziehen. Die Zahl der bestialisch hingerichteten traditionell schwarzen Katzen, Hähne und Hunde hatte sprunghaft zugenommen. Und die Krönung dieser Entwicklung waren vier scheußliche Morde, die in kurzen Abständen in derselben Gegend begangen worden waren. Blake hatte das bestimmte Gefühl, dass er deswegen zum Commissioner zitiert worden war. Wofür auch die Tatsache sprach, dass man ihn am späten Abend ins Präsidium bestellt hatte, als er schon einige Stunden zu Hause seinen Feierabend genossen hatte. »Schließen Sie die Tür, Blake!«, schnarrte Commissioner Douglas Sloan, kaum dass Blake geklopft und die Tür geöffnet hatte. Der Angesprochene beeilte sich zu gehorchen und zuckte zusammen, als er die reglose Gestalt bemerkte, die vor dem Pinboard an der Wand stand und die Notizen darauf studierte. Im ersten Moment dachte er, einen halbwüchsigen Jungen vor sich zu haben. Dann erkannte er, dass es sich um einen erwachsenen Mann handelte, der aber kaum 1,70 Meter groß sein konnte und Blake damit nur bis zur Schulter reichte. Sein hellblondes Haar war fast schulterlang, seine Augen von auffallend klarem Grün. »Da wir jetzt vollzählig versammelt sind, können wir beginnen«, stellte Sloan fest. »Setzen Sie sich, meine Herren.« Blake und der kleine Mann kamen der Aufforderung unverzüglich nach, wobei Blake feststellte, dass sich der Fremde mit der anmutigen Eleganz eines Artisten bewegte und auch die entsprechende Figur dazu besaß. »Ich darf Sie mit Hardy Strong bekannt machen«, stellte der Commissioner den kleinen Mann vor. »Er ist Professor für Ethnologie an der Universität und Experte für Okkultismus.
Professor Strong – Lieutenant Jack Blake.« Der Blonde und reichte dem Polizisten die Hand. Sein Händedruck war erstaunlich kräftig. Blake musterte den Mann überrascht. Er sah keinen Tag älter aus als Mitte, maximal Ende Zwanzig – und war schon Professor? »Um es kurz zu machen, meine Herren …«, unterbrach Sloan seine Gedanken. »Ich bin von ganz oben beauftragt worden, eine Sonderkommission zu bilden, die sich ausschließlich mit den so genannten Ritualmorden befassen soll. Näheres erfahren Sie gleich. Ihnen, Blake, muss ich noch erklären, weshalb wir uns zu dieser ungewöhnlichen Stunde treffen.« »Erlauben Sie, Commissioner«, unterbrach ihn Strong. »Da ich der Anlass dazu bin, sollte ich es dem Lieutenant erklären.« Sloan nickte zustimmend. Der Professor wandte sich an Blake. »Ich leide unter der sehr seltenen Hautkrankheit Xeroderma pigmentosum. Auf der ganzen Welt sind nur etwa 2000 Menschen davon befallen. Man nennt uns auch Mondscheinkinder. Durch diese Krankheit ist die Lichtempfindlichkeit der Haut um etwa das Zweitausendfache des Normalen gesteigert. Der Kontakt mit Sonnenlicht löst nicht nur schwerste Sonnenbrände aus, sondern auch einen sich innerhalb weniger Tagen rapide entwickelnden bösartigen Hautkrebs. Anders ausgedrückt, jeder Kontakt mit Tageslicht ist lebensgefährlich und Sonnenlicht hat absolut tödliche Folgen. Deshalb kann ich nur nachts arbeiten und muss mich tagsüber in lichtundurchlässig abgeschirmten Räumen aufhalten.« Das erklärte Strongs bleiche Hautfarbe, die der einer Leiche ähnelte. »Blut müssen Sie nicht zufällig trinken?«, entfuhr es Blake. Ihm wurde zu spät bewusst, dass es nicht gerade höflich war, einem Menschen mit einer Krankheit, die ihn weitgehend aus der Gesellschaft ausschloss, mit Ironie zu begegnen.
Doch Strong nahm es zu seiner Erleichterung mit Humor und grinste breit. »Nur wenn auf dem Etikett Burgunder oder Schwarzriesling oder etwas ähnlich Leckeres zu lesen ist. Die Verdauung wird von der Krankheit nicht beeinträchtigt.« »Ich habe Professor Strong hinzugezogen«, ließ sich wieder Sloan vernehmen, »weil er, wie schon gesagt, Experte für Okkultismus ist. Vielleicht kann er etwas Licht in die ganze Angelegenheit bringen. Leider hat man uns keine weiteren Leute für die Sonderkommission bewilligt.« Sloans Unmut war deutlich zu hören. »Wie dem auch sei. Sehen Sie sich das hier mal an!« Er schob einen Stapel Fotos über den Tisch. Beide Männer beugten sich vor, um sie zu betrachten. Es handelte sich um Polizeifotos, die die nackte Leiche eines Mannes zeigten, der grausam zugerichtet war. »Das ist Pete Carlyle, das letzte Opfer, gefunden heute Morgen am Rand des Pontiac Lake Erholungsgebiets. Strong, sagt Ihnen das irgendwas? Können Sie solche Mordmethoden irgendeinem abgedrehten Kult zuordnen?« Der Professor betrachtete die Fotos intensiv. Doch schließlich schüttelte er den Kopf. »Keinem Bestimmten. Diese Verletzungen wurden eindeutig zur Machtgewinnung zugefügt. Aber es gibt viele Kulte, die zu diesem Zweck Blutopfer bringen.« »Das heißt?« »Man geht davon aus, dass im Blut die größte Konzentration der Lebenskraft eines jeden Wesens steckt. Wird es auf eine bestimmte, von Kult zu Kult unterschiedliche rituelle Weise vergossen, geht diese Kraft auf den oder die über, die das Ritual durchführen. Je mehr Blut vergossen wird und je mehr Schmerzen das Opfer dabei hat, desto mehr Kraft gewinnt der Magier daraus.« »Sie glauben doch nicht etwa an diesen … irren Blödsinn!«, entrüstete sich Sloan.
Strong tippte mit dem Finger auf die Fotos. »Die das getan haben, glauben daran. – Ich würde gern die Akten lesen und mir die Tatorte ansehen.« Sloan nickte. »Blake, Sie zeigen dem Professor den Tatort.« »Jetzt?«, entfuhr es seinem Untergebenen entsetzt. »Nein, morgen Mittag!« schnappte Sloan. »Sie arbeiten ab sofort in der Nachtschicht! Abmarsch! Und nehmen Sie die Ermittlungsakten mit!« »Ja, Sir«, sagte Blake ergeben, nahm die Akten, die Sloan ihm hinschob und verabschiedete sich im Geiste vom Rest seines Feierabends. Strong steckte die Fotos ein und begleitete ihn nach draußen. Dort tat er etwas, das ihn Blake auf Anhieb sympathisch machte. »Gehen wir erst mal ein Bier trinken?«, schlug er vor. »Ich lade Sie ein.« Bevor Blake darauf antworten konnte, fügte er hinzu: »Entschuldigung, ich hatte vergessen, dass man Sie aus Ihrem Feierabend gerissen hat und Sie sicherlich möglichst schnell wieder nach Hause wollen. Ich finde schon allein hin. Geben Sie mir nur die Akten, Ihre Telefonnummer und E‐Mail‐Adresse.« Blake reichte ihm dankbar die Akten und schrieb ihm das Gewünschte auf. »Sloan hat mich aber soeben zur Nachtschicht eingeteilt«, wandte er noch halbherzig und nur der Form halber ein. »Die können Sie auch noch morgen Nacht beginnen. Ich werde ihm nicht verraten, dass Sie mich allein gehen ließen.« Er reichte Blake eine Visitenkarte, auf der seine eigenen Telefonnummern und E‐Mail‐Adressen standen. »Wir sehen uns dann morgen Abend nach Einbruch der Dunkelheit beim Commissioner. Ich maile Ihnen im Laufe des Tages, was ich herausgefunden habe.« »Vielen Dank, Professor!« »Nennen Sie mich Hardy. Bis morgen dann … Jack.« Während Blake in seinen Wagen stieg und erleichtert nach Hause
fuhr, verschwand Hardy Strong in der Dunkelheit. Keine zehn Minuten später hatte er die knapp 50 km vom Polizeirevier im Stadtteil Warren zum Pontiac Lake zurückgelegt, in einer Art und Weise, wie es keinem Menschen möglich gewesen wäre – er war mit rasender Geschwindigkeit durch die Luft geflogen. Professor Hardy Strong, geboren als Isenhard von Nantwig Ritter zu Greifenstein im Jahre 1173 im Herzogtum Braunschweig, war ein Vampir. Und er hatte nicht erst durch Sloan von den seltsamen Vorgängen in und um Detroit erfahren. Er spürte schon seit Monaten, dass sich etwas zusammenbraute. Jemand sammelte Macht durch Blutopfer. Er hatte mit Tieren begonnen und war, als ihm das nicht mehr ausreichte, zu Menschenopfern übergegangen. Isenhard hatte allerdings mit seinen eigenen Methoden nicht viel herausfinden können, sondern lediglich gespürt, wann und an welchem Ort ein Opfer stattfand. Doch sobald er dort ankam, war alles schon vorbei und es gab keinen Hinweis auf die Täter. Er wusste nur, dass es sich um drei Personen handelte. Mehr hatte er nicht in Erfahrung bringen können, hoffte aber an jedem neuen Tatort irgendwas zu entdecken. Doch hier waren Kräfte und Fähigkeiten vonnöten, die seine weit überstiegen. Und er kannte genau die Person, die dafür prädestiniert war: Kalia Mayeshti, Werwölfin und seit Jahrhunderten seine Partnerin – auch wenn sie zwischendurch immer wieder lange Jahre weit von einander getrennt lebten. Isenhard hatte einen Ruf an sie durch die Dimensionen geschickt und wusste, dass sie ihn gehört hatte und kommen würde. Es war für ihn nicht schwer, den letzten Tatort zu finden, denn der Gestank von Tod und Blut war für seine Vampirsinne wie ein Leuchtfeuer in der Nacht. Er landete direkt neben dem Platz – und nahm noch einen anderen Geruch wahr. Er lächelte. »Hallo, Kalia!«
Sie trat aus dem Schatten eines Gebüsches und umarmte ihn heftig. Eine lange Weile sprachen sie kein einziges Wort, sondern hielten einander nur fest, genossen die Nähe, die ihnen so lange gefehlt hatten. »Wir haben uns zu lange nicht gesehen«, meinte er schließlich in Althochdeutsch, der Sprache, die sie beide gesprochen hatten, als sie sich vor 580 Jahren in Ravensburg kennen gelernt hatten. »Ich habe dich so sehr vermisst!« »Dreißig Jahre diesmal«, antwortete sie in derselben Sprache. »Plus sieben Monate und achtzehn Tage«, ergänzte er. »Du hast sie also auch gezählt.« »Natürlich.« Er schüttelte den Kopf. »Unsere Liebe hat schon Jahrhunderte überdauert. Wie ist es nur möglich, dass wir trotzdem immer wieder so lange Trennungszeiten haben?« »Vielleicht ist gerade das der Grund, weshalb wir uns immer noch lieben und nicht schon längst für immer getrennt haben … Aber darüber werden wir uns Gedanken machen, wenn diese Sache hier geklärt ist«, sagte sie ernst. »Du bist in Gefahr.« »Hat dir das deine Gabe gezeigt?« Kalia nickte. Sie war wie viele Frauen ihrer Familie ›mit dem Schleier geboren‹ worden und konnte unter gewissen Umständen die Zukunft sehen, eine Fähigkeit, die sie im Laufe der Zeit noch verfeinert hatte, indem sie von allen Völkern, die sie besuchte, deren Magie lernte – die echte Magie, nicht nutzlosen Aberglauben und Taschenspielertricks – die sie allerdings auch meisterhaft beherrschte … »Werde ich sterben?«, fragte Isenhard ruhig. »Ich weiß es nicht, aber«, sie zögerte kurz, »die Möglichkeit besteht.« Er nahm das kommentarlos hin. Auch relativ unsterbliche Vampire und Werwölfe konnten getötet werden und er hatte diese
Tatsache schon lange akzeptiert. Er konzentrierte sich auf die Umgebung und sog alle Eindrücke ein, die er mit seinen übernatürlichen Sinnen von diesem Tatort empfing. Es war wie immer nichts außer der Tatsache, dass es wieder drei Täter gewesen waren. »Hast du schon etwas über die Blutopfer herausgefunden?«, fragte er Kalia. »Nicht viel. Lass uns nach Hause gehen und unser Wissen austauschen. Außerdem habe ich dort meine Gerätschaften und kann mit einem vollständigen Scrying‐Ritual * mehr herausfinden. Oder möchtest du erst jagen?« Seine Augen glühten auf. »Jagen! Ich habe noch nicht gefrühstückt.« Sie brachten die Polizeiakten zu Kalias Wagen und begannen ihre gemeinsame Jagd, wobei es Kalias Aufgabe – und Vergnügen! – war, die Beute aus Kaninchen und Hasen zu erlegen, die Isenhard aufstöberte und ihr zu trieb. Anschließend wurde redlich geteilt: Der Vampir bekam das Blut, die Werwölfin das Fleisch. Es war wundervoll …
* Zwei Stunden später waren sie zu Hause in einem alten Landhaus in Rochester Hills mit einem großen parkähnlichen Garten und Ausblick auf den Clinton River. Dieses Haus gehörte Kalia. Sie und Isenhard hatten sich auf der ganzen Welt solche Zufluchten geschaffen, die sie kauften und einige Jahre bewohnten. Irgendwann ließen sie sie in der Obhut von
*
Scrying (engl.) = Wahrsagen mit Hilfe von Kristallkugeln oder Wasserschalen
Verwaltungsfirmen zurück und verschwanden, um dreißig oder mehr Jahre später als ihre eigenen Kinder oder Enkel zurückzukommen. Sie ›erbten‹ das jeweilige Haus mit gefälschten Papieren und bewohnten es wieder einige Jahre. Sie konnten sich nirgends allzu lange niederlassen. Nach fünfzehn, spätestens zwanzig Jahren fiel irgendjemandem in der Nachbarschaft auf, dass sie nicht alterten. Spätestens dann war es an der Zeit weiter zu ziehen, ehe man deswegen misstrauisch wurde und vielleicht ihre wahre Natur entdeckte. Kalia studierte die Polizeiakten und Fotos eingehend, während Isenhard berichtete, was er wusste. Schließlich nahm sie das Bild einer toten Frau heraus, die das vorletzte Opfer gewesen war. Auf ihrem mit dem eigenen Blut verkrusteten Bauch war der Abdruck eines Gegenstandes zu sehen, der die Form eines überdimensionalen runden Lutschers mit Stiel hatte. Die Ränder waren rundherum gewellt. Der Gegenstand musste etwa vierzig Zentimeter lang und im Rund ungefähr zwanzig Zentimeter Durchmesser haben. »Woher stammt das?«, fragte Isenhard. »Von einer Opferschale?« »So etwas in der Art. Aber«, Kalia tippte sich mit dem Finger gegen die Nase, ein Zeichen intensiven Nachdenkens, »ich habe diese Umrisse schon mal irgendwo gesehen. Ich kann mich nur nicht mehr erinnern wo. Es muss schon ziemlich lange her sein … Eine Opferschale macht allerdings keinen Sinn. Ich konnte da draußen spüren, dass die Mörder die pure Energie des Blutes in sich aufgesogen haben. Dazu benötigen sie keine Opferschale. Und wie es nach den Polizeiakten und Fotos aussieht, haben sie nichts von dem Blut mitgenommen.« »Was also ist es deiner Meinung nach?« »Das werde ich nach der Scrying‐Session wissen.« Sie blickte Isenhard an. »Ist dir auch aufgefallen, dass die drei Personen, die das hier getan haben, keine magische Signatur hinterlassen? Ich
konnte fühlen, dass sie zu dritt waren, aber konnte sie nicht identifizieren.« Er nickte. »Ja, das habe ich auch festgestellt. Und es macht mir Sorgen. Leute, die ihre magische Signatur verdecken können, sind in der Regel ziemlich machtvoll.« »Hmhm …« Kalia nickte, nahm das Foto und ging mit Isenhard in den Keller. Dort hatte sie wie in jedem ihrer Häuser einen magischen Arbeitsraum eingerichtet, dessen Tür durch einen Zauber doppelt gesichert war. Zum einen konnte kein normaler Mensch die Tür überhaupt sehen. Und jene, die selbst über gewisse magische Fähigkeiten verfügten und sie zu sehen in der Lage waren, würden nicht den starken Zauber überwinden können, der sie versiegelte. Der Raum war fensterlos, quadratisch und maß an jeder Seite sieben Meter. Eine Wand war vollständig von einem Regal bedeckt, in dem Bücher, verschiedenfarbige Kerzen und magische Werkzeuge sauber geordnet waren. Ihre wichtigsten magischen Werkzeuge hatte Kalia allerdings immer bei sich. An einer anderen Wand stand ein Arbeitstisch mit einem Stuhl davor, daneben ein Waschbecken. In der Mitte war ein riesiges Pentagramm auf dem Boden aufgemalt, umgeben von drei konzentrischen Kreisen in den Farben Weiß, Rot und Schwarz. Kalia nahm eine flache Schale aus getriebenem Silber aus dem Regal, füllte sie mit Wasser und stellte sie in die Mitte des Pentagramms. Sie legte ein Ritualmesser sowie das Foto der Toten daneben, stellte anschließend in jede Spitze des Pentagramms eine Kerze in der Farbe des dazu gehörigen Elements und zündete sie an. Schließlich reinigte sie den Raum mit einer Räucherung aus Salbei und Süßgras. Jetzt stellte sie sich mit Isenhard in die Mitte. Mit dem Messer erweckte sie den äußeren Schutzkreis, indem sie über die Klinge Energie darüber legte. Diese formte sich überirdisch zu einer für
normale Menschen unsichtbaren Halbkugel und vervollständigte sich unterirdisch zu einer ganzen Kugel. Dasselbe tat sie mit dem mittleren und dem inneren Kreis. So vorbereitet setzte sie sich vor die Wasserschale, stach sich mit dem Messer in einen Finger und ließ drei Blutstropfen ins Wasser fallen. Kalia hielt beide Hände darüber und sprach in der Sprache ihrer Kindheit: »Spiegel aus Wasser, Spiegel aus Blut, Spiegel aus Silber, Spiegel aus Glut! Zeige mir, was ich will sehen und lass mich, was ich seh’, verstehen!« Sie wiederholte den Sprechgesang dreimal. Isenhard beobachtete, wie das Wasser kurz brodelte und sich schließlich dunkelrot färbte, bis es fast schwarz zu sein schien. Was immer sich jetzt darin zeigte, war nur für Kalia sichtbar. Doch er merkte an ihrer Körpersprache, dass sich dort wohl einiges tat. Nach einer guten halben Stunde richtete sie sich wieder auf und sah ihn an. »Interessant«, sagte sie nachdenklich. »Hoch interessant!« Sie stand auf, löste die Kreise auf, räumte Schale, Räucherzeug und Kerzen weg und ging mit ihm nach oben ins Wohnzimmer. Isenhard wartete geduldig, bis sie berichten würde. Sie holte einen Block und einen Stift und begann das Bild eines Handspiegels zu zeichnen, dessen Griff aus drei in einander verflochtenen Schlangenleibern bestand. Sie wanden sich um den ganzen Spiegel und liefen am unteren Ende des Griffs in drei Kobraköpfe mit gespreizten Halskrausen aus. Die Ränder hatten eine verdächtige Ähnlichkeit mit dem blutigem Abdruck auf dem Bauch der toten Frau. »Das«, erklärte Kalia, als das Bild fertig war, »ist ein
Dimensionstor, genannt Schlangenspiegel. Ich wusste, dass ich das Ding schon mal gesehen habe.« Sie winkte ab. »Der Reihe nach. Es gibt in Indien eine uralte Legende, nach der die Götter Kadru und Kashyapa, Mutter und Vater aller Nagas und Naginis * , eine ihrer Töchter einst in eine andere Dimension verbannt und sie dort eingesperrt haben. Sie haben das Dimensionstor, durch das sie sie geschickt haben, versiegelt und seine Komponenten in alle Winde zerstreuten.« Sie tippte auf die Zeichnung des Schlangenspiegels und sieben dreieckige Markierungen darin. »An diesen Stellen saßen sieben Siegelsteine, die zusammen mit einer bestimmten Beschwörungsformel das Tor öffnen und schließen konnten. Ich habe das Original – den Spiegel ohne die Steine allerdings – vor Jahrhunderten in Indien gesehen, als er in einem Grabmal in der indischen Wüste verborgen wurde. Aber jetzt ist er hier in Detroit. Irgendjemand hat offensichtlich das Grabmal gefunden und ihn gestohlen.« »Aber wozu?«, fragte Isenhard. »Und wieso hat man diese Nagini überhaupt in eine andere Dimension verbannt?« »Der Legende nach soll sie für alle Krankheiten ein Heilmittel gehabt und sogar das Geheimnis des ewigen Lebens gekannt haben. Damit das aber niemals in die Hände der Menschen fällt, musste die Geheimnisträgerin aus dieser Dimension verschwinden. Stell dir doch nur mal die Folgen vor, wenn es keine Krankheiten mehr gäbe und alle Menschen unsterblich wären.« Isenhard schluckte. »Was für eine Katastrophe!« »Amen!«, bestätigte Kalia nachdrücklich. »Die Erde wäre schon vor Jahrhunderten völlig überbevölkert gewesen.« »Aber was genau haben diese Leute mit dem Schlangenspiegel
*
indische Schlangegötter mit Schlangenleib und dem Oberkörper eines Mannes (Naga) mit Korba‐Halskrause
vor?« »Ich habe in der Vision einen Zusammenhang zu einem schwarzen Diamanten gesehen, der aus dem Dossin‐Museum auf Belle Isle verschwunden ist. Ich glaube, das ist einer der Siegelsteine.« »Dann will unser Trio also das Tor öffnen und die Nagini befreien?«, vergewisserte sich der Vampir. »Entweder das oder sie wollen ihr einfach nur das Geheimnis stehlen. Aber auch dazu müssen sie natürlich erst einmal das Tor öffnen. – Stell dir mal vor, du wärst noch ein Mensch und hättest nicht die natürliche Immunität eines Vampirs gegen Krankheiten sowie keine Ahnung von den Nachteilen der Unsterblichkeit. Wie viel Geld wärst du bereit, dafür zu bezahlen?« »Alles, was ich habe.« »Und wen würde das unermesslich reich machen?«, fragte Kalia weiter. »Diejenigen, die dieses Wissen besitzen.« »Genau. Und ich glaube, dass unser Trio eben das vorhat. Die Nagas und Naginis sind gute Götter und niemals böse. Ich kann mir nicht denken, dass unsere Nagini einen solchen Missbrauch ihres Wissens dulden würde. Aber wenn unsere Drei so mächtig sind, wie wir vermuten, könnten sie ihr möglicherweise das Wissen gewaltsam entreißen. Und dann wären die Folgen für die Menschheit furchtbar.« »Das müssen wir verhindern!«, beschloss Isenhard. »Aber dazu müssten wir erst mal herausfinden, wer die Drei sind.« »Und wir müssen die restlichen Siegelsteine, die sie wohl noch nicht haben, vor ihnen finden, damit sie das Tor nicht öffnen können.« Isenhard dachte nach. »Indien«, überlegte er laut. »Ein Gastdozent an der Uni, Dr.
Richard Foster, gibt für zwei Semester Vorlesungen in Archäologie. Er ist vor etwa einem Jahr von einer Expedition aus Indien zurückgekommen und hat ein Buch über einen Naga‐Tempel geschrieben, den er dort gefunden hat.« Kalia nickte. »Könnte unser Mann sein. Ich werde gleich morgen das Buch besorgen. Oder hast du ein Exemplar?« Isenhard schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich werde jetzt erst mal meinem neuen Kollegen Jack Blake eine E‐Mail über unsere vorläufigen Erkenntnisse schicken.« »Und was machen wir mit dem Rest der Nacht?« Isenhard trat auf sie zu, umarmte sie und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss. »Ich hätte Lust, mich dann einer Sache zu widmen, bei der ich über 30 Jahre mit dir nachzuholen habe.« »Diesen Programmpunkt sollten wir unbedingt vorziehen! Die E‐ Mail kann noch ein paar Stunden warten.« Isenhard hatte nicht das Mindeste einzuwenden …
* Kalia kaufte am nächsten Morgen als Erstes ein Exemplar von Dr. Fosters Buch ›Die Namenlose‐Rätsel einer Nagini‹ und las es, während Isenhard in seinem fensterlosen Zimmer schlief. Je mehr sie las, desto sicher wurde sie, dass Dr. Foster einer der drei Gesuchten sein musste. Das Buch beschrieb, wie er durch Hinweise in alten Schriften und Legenden auf den Mythos der ›Namenlosen‹ gestoßen war. Diese wurde so genannt, weil nach ihrer Verbannung ihr Name aus allen Schriften getilgt worden war. Mit Hilfe zweier Priesterinnen aus der Kaste der Schlangenbeschwörer hatte er den verschütteten Tempel in der Großen Indischen Wüste gefunden. Ein Foto zeigte die Drei – Foster und die beiden Priesterinnen.
Kalia wusste im selben Moment durch ihre Gabe, dass sie die Gesuchten waren. Auf einem anderen Foto war der Schlangenspiegel in seiner ganzen Pracht aus poliertem Silber zu sehen. Zu Kalias Beunruhigung hatte jemand ihm den ersten Siegelstein – einen als dreiseitige Pyramide geformten schwarzen Diamanten – bereits eingesetzt. Noch während sie auf das Foto blickte, hatte sie eine neue, beunruhigende Vision. Sie weckte Isenhard. »Sie haben den Spiegel und fünf Siegelsteine«, erklärte sie. »Ihnen fehlen nur noch zwei. Wir müssen die unbedingt vor ihnen haben.« »Schaffst du das?« Sie nickte. »Das Finden dürfte das kleinste Problem sein. Die Steine, wenn wir sie haben, sind hier sicher. Das ganze Haus ist von einem magischen Schutz umgeben, den nur die Götter durchdringen könnten. Sobald sie hier sind, kommen die nicht mehr an sie heran. Die Frage ist, wie wir dann weiter vorgehen.« Isenhard überlegte einen Moment. »Wir können den Spiegel und die Steine unmöglich in deren Händen lassen«, sagte er schließlich. »Wir müssen sie ihnen irgendwie abjagen.« Kalia nickte. »Aber erst mal müssen wir die beiden Steine holen. Das hat Priorität. Außerdem sollten wir sie anschließend wissen lassen, dass wir sie haben und bereit wären, sie ihnen zu verkaufen. Ich hoffe, dass sie darauf hereinfallen. Beim Abschluss der Transaktion überwältigen wir sie und holen uns den Schlangenspiegel.« »Das klingt ja so einfach«, sagte Isenhard ironisch. »Nur werden sie mit Sicherheit versuchen, uns bei der Transaktion zu töten.« »Natürlich. Aber da sie uns allenfalls für normale magisch begabte Menschen halten und nicht wissen, was wir wirklich sind, werden sie uns – hoffentlich – unterschätzen. Das ist unser Vorteil.« Sie überlegte einen Moment. »Bist du diesem Dr. Foster mal persönlich
begegnet?« »Einmal flüchtig bei einer Konferenz. Warum?« »Ist dir an ihm etwas aufgefallen? Eine magische Signatur oder die Abwesenheit einer solchen? Irgendwas Ungewöhnliches?« »Eigentlich nicht«, sagte Isenhard nach kurzem Nachdenken. »Ich hatte von ihm den Eindruck eines ganz normalen Menschen.« Kalia nickte. »Das deckt sich mit dem, was meine Gabe mir sagt. Diese Schlangenpriesterinnen, mit deren Hilfe er den Tempel fand, sind die treibende Kraft bei allem. Demnach haben wir es wahrscheinlich mit nur zwei Zauberinnen zu tun.« »Die aber verdammt mächtig sind.« »Das sind wir auch. Aber wenn du eine bessere Idee hast …?« Isenhard schüttelte den Kopf. »Dann werde ich die zwei fehlenden Steine auspendeln, damit wir sie so schnell wie möglich holen können. Du kannst ja inzwischen weiterschlafen und von einer Lösung für das Problem träumen.« Der Vampir schnitt eine Grimasse und scheuchte sie mit einer Handbewegung aus seinem Zimmer. Kalia ging in ihren Arbeitsraum, bewaffnet mit Landkarten und einem Kristallpendel. Pendeln gehörte ursprünglich zwar nicht zur Magie der Roma, aber sie wandte schon lange jede Magie an, die funktionierte, ganz gleich woher sie stammte. Dadurch besaß sie inzwischen Kenntnisse und eine Macht, für die jede drabarni * ihres Volkes zehn Jahre ihres Lebens gegeben hätte, um sie zu erlangen. Kalia hatte allerdings erheblich länger als nur zehn Jahre gebraucht, um sie zu erlangen. Sie schloss wie schon in der Nacht die drei Schutzkreise um sich, breitete eine Weltkarte auf dem Boden aus und ließ das Pendel sacht schwingen, während sie sich auf die Siegelsteine konzentrierte.
*
Romani‐Wort für ›Zauberin‹
Die Antwort kam schnell: Beide Steine befanden sich in Nordamerika. Sie nahm eine Karte der USA und wiederholte die Prozedur. Ergebnis: Detroit. Das wunderte sie nicht allzu sehr. Das mörderische Trio hatte sich bestimmt nicht ohne Grund gerade hier niedergelassen. Als Nächstes pendelte sie über einem Stadtplan von Detroit und fand einen Stein in Venice Beach und den zweiten in Livonia. Ein weiteres Scrying‐Ritual zeigte ihr eine Villa in Venice Beach, wo der gesuchte Stein in einem Collier der Besitzerin prangte sowie einen Juwelierladen nahe der Interstate 96. Kalia würde den Juwelierladen übernehmen und Isenhard konnte in der Nacht das Collier holen. Als sie die Sitzung abbrechen wollte, spürte sie eine weitere Präsenz, die nach den Steinen suchte. Da sie keine Signatur erkennen konnte, musste es eine der beiden Priesterinnen sein. Die durfte auf keinen Fall Erfolg haben! Kalia sammelte ihre Energie für einen Blendzauber, den sie der Sucherin durch die Dimension wie einen Feuerball entgegen warf. Sie spürte das Erschrecken der anderen sowie Schmerz gefolgt von unbändiger Wut. Im nächsten Augenblick war die Präsenz verschwunden. Kalia hoffte nur, dass die Frau nicht schon erfahren hatte, was sie wissen wollte. Sie verlor keine Zeit, löste die Kreise auf, packte in Windeseile ihre Gerätschafen weg, zog ihre beste Kleidung à la ›reiche Geschäftsfrau von Welt‹ an, steckte alles Bargeld ein, das sie im Haus hatte und fuhr so schnell sie konnte zu dem Juwelier. Zu ihrer Überraschung war der Besitzer der Werkstatt ein Rom vom Lowara‐Stamm. Er eilte Kalia geschäftig entgegen, als sie seinen Laden betrat – und blieb abrupt stehen. Ehrfürchtig starrte er auf die Kette, die sie immer trug. Sie war aus Gold mit einem massivem Wolfskopf aus demselben Metall und mit funkelnden Smaragdaugen. Jeder Rom kannte die Bedeutung einer
solchen Kette. Der Mann verneigte sich tief vor ihr. »Drabarni«, grüßte er sie ehrfürchtig. »Es ist eine zu große Ehre für einen Unwürdigen wie mich. Wie kann Kirjo Vlado dir dienen?« Kalia lächelte traurig. Hinter seiner zweifellos vorhandenen Ehrfurcht verbarg sich eine noch viel größere Angst, deren Ausdünstung ihre empfindliche Nase beleidigte. Einer der Nachteile, eine geborene Werwölfin zu sein, war, dass alle Nachkommen der Großen Wölfin auch in ihrer menschlichen Gestalt die scharfen Sinne der Wölfe hatten. Kalia kam sofort zur Sache. »Ich weiß, dass du einen schwarzen Diamanten in Form einer dreiseitigen Pyramide besitzt. Ich will ihn dir abkaufen.« Vlado machte weder den Versuch zu leugnen noch zu handeln. Er verschwand in einem Nebenraum und kam gleich darauf mit dem Diamanten zurück. Er drückte ihn Kalia in die Hand. »Hier ist er, drabarni, er gehört dir.« »Ich will ihn dir nicht stehlen, narta. * Ich werde ihn bezahlen.« Sie reichte ihm das Geld. Vlado wollte protestieren, wagte aber doch nicht, ihr zu widersprechen und nahm es mit einer besonders tiefen Verbeugung an. »Noch eine Warnung, narta«, verabschiedete sich Kalia. »Es sind noch andere hinter diesem Stein her. Wenn sie ihn noch bei dir vermuten und dich dann hier finden, werden sie dich wohl nicht am Leben lassen. Du solltest deinen Laden besser für ein paar Tage schließen.« Sie verließ den Juwelier, der nichts Eiligeres zu tun hatte, als ihrem Rat zu folgen und fuhr zurück nach Hause. Es dämmerte bereits, als sie ankam. Isenhard war schon wach und
*
Romani‐Wort = Verwandter; hier eine höfliche Anredeform
wartete auf die Dunkelheit der Nacht und sein geplantes Treffen mit Jack Blake und Commissioner Sloan. Kalia informierte ihn über alles, was sie herausgefunden hatte und auch, dass sie von einer der beiden Priesterinnen entdeckt und möglicherweise erkannt worden war. Sie beschlossen, erst Sloan aufzusuchen und anschließend das Collier aus der Villa am Venice Beach zu holen.
* Jack Blake wartete schon beim Commissioner, als die beiden auf dem Revier ankamen und hatte seinen Vorgesetzten bereits über das informiert, was Isenhard ihm per E‐Mail mitgeteilt hatte. »Wer ist die Dame, Strong?«, verlangte Sloan zu wissen und hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf. »Ihre Frau?« Er musterte sie abschätzig von oben bis unten. »Noch nicht«, antwortete Isenhard schmunzelnd. »Ich darf Ihnen meine Partnerin Kalia Mayeshti vorstellen. Sie ist ebenfalls Expertin für Okkultismus mit Spezialgebiet Indien, Asien und indianische Mythen. Mein Fachgebiet ist eher Europa.« »Und zu welchem Stamm gehören Sie, Miss?« Sloan war nicht unbedingt für Diplomatie oder politische Korrektheit bekannt. Offenbar hielt er sie wegen ihrer dunklen Haut und dem Wolfskopf vor ihrer Brust für eine Indianerin. »Kalderasch.« »Nie gehört. Wo leben die denn?« »Überall auf der Welt, gadscho * . Wir sind Roma‐Zigeuner, wenn Sie das besser verstehen.«
*
Romani‐Wort für einen (männlichen) Nichtzigeuner
Sloan schluckte das kommentarlos, Blake verkniff sich ein Lachen und Isenhard grinste breit. »Blake hat mir schon berichtet, was sie rausgefunden haben«, sagte der Commissioner, bevor eine peinliche Pause entstehen konnte. »Irgendwas Neues?« Kalia zeigte ihm Dr. Fosters Buch, besonders das Bild des Schlangenspiegels und legte das Foto der toten Frau daneben. »Wie Sie sehen, decken sich die Umrisse des Spiegels mit diesem Abdruck auf dem Bauch der Toten.« »Wollen Sie damit sagen, dieser Dr. Foster steckt hinter der ganzen Sache?« Sloan warf ihr einen Blick zu, als sei sie nicht ganz Verstand. »Miss Mayeshti, der Mann ist ein integrer Wissenschaftler.« »Und den letzten Massenmörder, den wir dingfest gemacht haben, war ein integrer Wirtschaftsmagnat«, warf Blake trocken ein und erntete dafür einen vernichtenden Blick seines Chefs. »Haben Sie irgendwelche Beweise für Ihre Theorie?« »Nun …«, setzte Isenhard an. »Ja, aber leider keine, die ein Gericht als solche akzeptieren würde.« »Soll heißen?« »Das heißt, dass ich wie viele Frauen meines Volkes über die Gabe des Hellsehens verfüge«, erklärte Kalia. Sloan lachte ihr schallend ins Gesicht. »Hellsehen!«, spottete er. »Davon hätte ich doch gern mal eine Kostprobe!« Kalia starrte Sloan an, als würde sie durch ihn hindurch sehen. Er hörte auf zu lachen und fühlte sich schlagartig ziemlich unwohl in seiner Haut. »Herzlichen Glückwunsch, Commissioner«, sagte sie schließlich. »Ihre Frau wird Ihnen morgen früh mitteilen, dass Sie Vater von Zwillingen werden … Und in drei Monaten wird Sie Ihnen sagen,
dass sie sich von Ihnen scheiden lässt.« Sloan starrte sie aus zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen unsicher an. »Blödsinn!«, knurrte er. »Und Sie haben Recht: Hellsehen wird als Beweis vor keinem Gericht anerkannt. Trotzdem … Blake, Sie fahren zu diesem Dr. Foster, fühlen ihm auf den Zahn und kassieren diesen Spiegel ein. Wenn der tatsächlich mit dem Blut eines der Opfer in Berührung gekommen ist, wird das Labor das schnell nachweisen können.« »Ich komme mit«, erklärte Kalia. »Sie haben damit nichts zu tun«, widersprach Sloan. »Er sollte unter keinen Umständen allein dort hingehen«, beharrte sie in einem Ton, der den Commissioner zögern ließ. »Meinetwegen«, erteilte er eine unwirsche Zustimmung und scheuchte sie alle hinaus. »Ich wünschte, ich könnte öfter erleben, dass Sloan mal Kontra bekommt!«, sagte Blake mit einem innigen Blick zur Decke, als sie draußen waren. »Der kann immer so verdammt unangenehm sein. Kein Wunder, wenn seine Frau ihn verlassen will.« Er blickte Kalia von der Seite an. »Können Sie wirklich Hellsehen?« Sie nickte. »Und … wollen Sie deshalb mitkommen? Bin ich in Gefahr?« »Ja, das wären Sie, wenn Sie allein zu Foster gehen würden«, bestätigte Kalia. »Ich glaube, wenn ich dabei bin, wird ihnen nichts passieren. Trotzdem sollten wir natürlich vorsichtig sein.« Sie trennten sich vor dem Revier von Isenhard und fuhren in Blakes Wagen zu Dr. Fosters Wohnung. Der Archäologe öffnete ihnen die Tür in Begleitung zweier attraktiver Inderinnen, von denen er die ältere als seine Frau Gunari vorstellte und die jüngere als seine Schwägerin Moti. Während Blake sich mit dem Wissenschaftler unterhielt, konzentrierte sich Kalia auf Gunari und
Moti. Jetzt, da sie ihnen gegenüberstand, gab es keinen Zweifel mehr, dass dies die Drei waren, die die grausamen Morde begangen hatten. Nein, nur zwei von ihnen. Dr. Foster war ein magisch völlig unbegabter Mensch. Außerdem deutete die Art, wie er sich bewegte und sprach, darauf hin, dass er sich unter fremdem Einfluss befand – Drogen, Hypnose oder beides. Gunari hielt die Fäden in der Hand. Sie war die treibenden Kraft hinter allem mit Unterstützung ihrer Schwester. Und sie wusste jetzt, dass Kalia es wusste. Unverzüglich erklärte sie der Werwölfin stumm die Feindschaft. Kalia dehnte ihre Aura ein wenig aus und ließ die Inderin als Warnung etwas von ihrer wahren Kraft spüren. Gunari starrte sie unbeeindruckt nur hasserfüllt an. Die Frau war mächtig, aber nur – erkannte Kalia – solange sie anderen die Lebenskraft stahl und ihre eigenen Kraftreservoirs damit auffüllte wie eine Batterie. Ihre eigene, natürliche Kraft war verglichen mit Kalias bedeutungslos. Das galt auch für Moti. Doch ihre ›Batterien‹ waren im Moment überaus gut gefüllt und die Schlange bereit zum Zustoßen. »Ihr Spiegel ist also gestohlen worden«, hörte sie Blake sagen. »Haben Sie den Diebstahl schon gemeldet, Sir?« Dr. Foster starrte ihn an, als müsste er den Inhalt der Frage erst begreifen. »Nein«, sagte er endlich. »Ich habe es eben erst entdeckt. Ich wollte morgen früh Anzeigen erstatten.« »Tun Sie das, Sir«, sagte Kalia, griff Blake am Arm und drängte ihn hinaus. »Wir melden uns wieder bei Ihnen.« Der Lieutenant protestierte nicht, sonder ließ sich von Kalia zum Auto bugsieren. »Was halten Sie von der Sache?«, fragte er sie, als sie abfuhren und
er angeboten hatte, sie nach Hause zu bringen. »Hatten Sie auch den Eindruck, dass Foster unter Drogen stand?« Sie nickte. »Oder Hypnose. Seine Antworten stammen im Grunde genommen von seiner Frau.« »Eigentlich hätten wir damit rechnen müssen, dass die uns den Spiegel wohl kaum freiwillig überlassen würden, damit wir sie damit überführen können. Ich hätte gleich einen Durchsuchungsbeschluss mitnehmen sollen. Ich werde mir sofort einen besorgen und dann …« »Zwecklos. Die wissen jetzt, dass wir ihnen auf den Fersen sind. Wenn Sie mit Ihrem Beschluss zurückkommen, haben die den Spiegel längst weggeschafft.« Sie blickte ihn von der Seite an. »Jack, am besten überlassen Sie Foster & Co. mir und … Hardy. Wir sind den Umgang mit solchen Leuten gewohnt, Sie nicht.« »Bin ich immer noch in Gefahr?« »Ja. Ich kann leider nicht genau sagen wie. Meine Gabe zeigt mir bei weitem nicht alles; manchmal nur Bruchstücke oder eine vage Ahnung. Die Götter lassen uns immer nur das sehen, was sie wollen, was wir ihrer Meinung nach sehen dürfen. Und das deckt sich leider nicht immer mit dem, was wir zu sehen wünschen. Ich kann zum Beispiel niemals meine eigene Zukunft sehen. – Aber ja, Sie sind noch in Gefahr, Jack. Tun Sie für Sloan so, als würden Sie intensiv an dem Fall arbeiten, aber halten Sie sich im Hintergrund und überlassen Sie die Sache uns.« Blake maß sie mit einem langen, nachdenklichen Blick. Obwohl sie körperlich sehr klein war, kaum einssechzig, ging von ihr eine unglaubliche Kraft aus. »Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren«, sagte er schließlich, »dass Sie und Hardy erstens viel mehr wissen, als Sie uns sagen. Und zweitens … auch viel mehr sind, als Sie zu sein scheinen.« Kalia schmunzelte. »Stimmt beides. Aber fragen Sie nicht weiter,
Jack. Glauben Sie mir, die Wahrheit wollen Sie gar nicht wissen.«
* Isenhard hatte sich unverzüglich zur Villa in Venice Beach begeben. Die Bewohner waren offensichtlich zu Hause und er beschloss, die Sache ganz direkt – und legal – anzugehen. Er klingelte an der Tür und hatte Glück, dass die Dame des Hauses ihm persönlich öffnete. »Professor Hardy Strong«, stellte er sich vor. »Ich habe gehört, dass Sie ein wunderschönes Collier mit einem schwarzen Diamanten besitzen. Ich würde es Ihnen gern zu einem angemessenen Preis abkaufen.« »Oh, ich will es aber gar nicht …«, protestierte die Frau und verstummte, als sie in Isenhards Augen blickte, die sich in ihre bohrten und jeden eigenen Willen vorübergehend auslöschten. Die hypnotischen Gabe, über die jeder Vampir verfügte, war manchmal sehr nützlich, obwohl Isenhard nur selten davon Gebrauch machte. Nur wenige Menschen waren dagegen immun. »Ja«, sagte die Frau jetzt zuvorkommend. »Ich hole es Ihnen schnell.« Gleich darauf war sie wieder da und reichte ihm das Collier. Es war genau das, was er gesucht hatte. Er gab ihr 3000 Dollar, was ein reeller Preis war und steckte das Schmuckstück in die Hosentasche. Er verabschiedete sich und freute sich, dass alles so schnell und glatt verlaufen war. Als er die Gefahr spürte, war es schon zu spät! Wie aus dem Nichts heraus tauchten zwei riesige Kobras auf, die sich ohne Vorwarnung auf ihn stürzten – Werkobras! Isenhard konnte dank seiner Schnelligkeit der einen ausweichen, aber die zweite erwischte ihn, schlang sich um ihn, brachte ihn zu
Fall und schlug ihre Giftzähne in seinen Körper. Es schmerzte höllisch! Zwar konnte Schlangengift keinen Vampir töten – auch nicht das Gift einer Werkobra – aber es würde ihn lange genug lähmen, dass sie ihm das Collier abnehmen konnten. Isenhard ignorierte die Schmerzen, nahm all seine Kräfte zusammen, ehe das Gift seine volle Wirkung entfalten konnte und befreite sich aus der tödlichen Umschlingung. Er schleuderte die Werschlange von sich und floh. Dabei versuchte er gar nicht erst, zu seinem Auto zurückzugelangen. Mit dem würde er es nie zurück zum Mayo‐Haus schaffen. Er flog und hoffte, sein Ziel zu erreichen, bevor das Gift zu wirken begann. Er kam nicht weit. Die Wirkung setzte so schlagartig ein, dass ihm nicht mal mehr Zeit für eine Landung blieb. Er stürzte ab und verlor noch im Fallen das Bewusstsein …
* Nachdem Blake Kalia nach Hause gebracht hatte, führte sie ein neues Scrying‐Ritual durch, um mehr über die Pläne des Trios zu erfahren. Doch nachdem Gunari und Moti wussten, wer ihre Gegnerin war und ahnten, über welche Fähigkeiten sie verfügte, hatten sie offenbar Vorkehrungen getroffen. Es lag wahrscheinlich ein Tarnzauber über ihnen, denn Kalia konnte sie nicht mehr finden und nichts weiter über sie in Erfahrung bringen. Es war, als hätten sie auf magischer Ebene aufgehört zu existieren. Als sie das Ritual beendet hatte, war der Morgen nicht mehr fern – und Isenhard immer noch nicht zurück. Sie wusste im selben Moment mit unfehlbarer Sicherheit, dass ihm etwas passiert war. Sie ignorierte die kalte Faust der Furcht, ihren Geliebten für immer zu verlieren und schnappte sich den Detroiter
Stadtplan und das Pendel. Nach kurzer Zeit hatte seinen Aufenthaltsort lokalisiert. Sie sprang in ihr Auto und raste ohne einen Gedanken an irgendwelche Geschwindigkeitsbeschränkungen los. Wenn sie ihn nicht vor Sonnenaufgang in Sicherheit brachte, war er tot. Und diesmal für immer …
* Als Isenhard aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, blendete ihn die Helligkeit der Dämmerung. Er befand sich irgendwo in der schmutzigen Gasse einer heruntergekommenen, menschenleeren Gegend. Die Wirkung des Gifts ließ langsam nach. Doch es ging nicht schnell genug, dass er aufstehen und laufen konnte, von Fliegen ganz zu schweigen. Schon spürte er, wie das zunehmende Tageslicht auf seiner Haut zu schmerzen begann und kroch so schnell er konnte auf den nächsten Hauseingang zu. Aber der Sonnenaufgang holte ihn ein, bevor er ihn erreichte. Die Strahlen trafen seinen ungeschützten Körper. Er fühlte, wie seine Haut in Sekundenschnelle Blasen warf, aufplatzte und Feuer fing. Er schrie vor Schmerz. Reifen quietschten unmittelbar neben ihm – und die tödlichen Strahlen der Sonne verschwanden. Er fühlte eine Decke über sich, die das Feuer erstickte und hörte noch undeutlich Kalias Stimme. Sie klang leise und weit entfernt. Dann kam das Nichts …
*
Kalia hob ihren Freund hoch und warf seinen reglosen Körper in den Kofferraum, wo er vor der Sonne geschützt war. Sie raste durch den aufkommenden Morgenverkehr zurück, trug ihn ins Haus und brachte ihn in sein Schlafzimmer. Es war kaum noch Leben in ihm. Seine Haut war schlimm verbrannt und aus zwei Bisswunden im Oberkörper tropfte Gift. Seine Kräfte waren vollkommen erschöpft. Wenn er nicht sofort Blut bekam – gehaltvolles Blut, nicht Tierblut – dann hatte er keine Chance mehr. Kalia zögerte keine Sekunde. Sie biss sich die eigene Pulsader auf, öffnete seinen Mund und ließ ihr Blut hineinfließen. Nichts geschah. Die Werwölfin zwang einen Teil ihrer eigenen Lebensenergie in seinen Körper, bis sie selbst ohnmächtig zu werden drohte und betete zu den Göttern um sein Leben. Eine der beiden Maßnahmen half schließlich. Isenhards Wunden begannen, sich langsam zu schließen. Das letzte Gift verließ seinen Körper und die Haut regenerierte sich langsam. Endlich schlug er die Augen auf. Kalia lachte und weinte gleichzeitig vor Freude und umarmte ihn. »Isenhard von Nantwig! Wie kannst du es wagen, mir so einen Schrecken einzujagen!« Er legte schwach einen Arm um sie. »Sorry«, murmelte er. »Ich hatte nicht mit Werkobras gerechnet. Sie waren so schnell …« Er schüttelte reumütig den Kopf. »Eigentlich sollte ich für solche Fehler schon viel zu alt sein.« Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Werkobras! Verdammt! Ich hatte nicht daran gedacht, dass sich einige wenige Naga‐Priester in Kobras verwandeln konnten. Schließlich sind die Vertreter meiner Art nicht die einzigen Wergeschöpfe auf der Welt.« Sie zuckte reumütig mit den Schultern. »Offenbar ist man für Fehler niemals zu alt. – Hattest du wenigstens Erfolg?«
»In meiner Hosentasche.« Kalia sah nach und fand dort das Collier. »Prima! Und wir müssen unser Trio nicht einmal mehr wissen lassen, dass wir jetzt haben, was sie noch brauchen. Wir brauchen nur noch einen Plan, wie wir ihnen den Spiegel und die Diamanten abnehmen können. Aber das hat Zeit. Du musst dich ausruhen.« Er lächelte schwach. »Dank deiner Blutspende werde ich heute Abend wieder auf den Beinen sein.« »Worüber ich sehr froh bin. Ich … ich dachte für einen Moment, ich hätte dich für immer verloren.« »Noch nicht, Liebste. Diesmal noch nicht.« Er schloss er die Augen und fiel in tiefen Schlaf. Kalia ließ ihn allein und machte sich an die Ausarbeitung eines Plans …
* Am Abend, als Isenhard gesund und munter wieder aufwachte, klingelte Commissioner Sloan an ihrer Tür Sturm. Er hielt Isenhard, der ihm öffnete, einen Zettel unter die Nase. »Blake ist heute nicht zum Dienst erschienen und war telefonisch nicht zu erreichen. Also bin ich zu ihm nach Hause gefahren, um ihm Feuern unterm Arsch zu machen. Die Tür stand offen, von ihm keine Spur … Aber ich fand das hier! Erklären Sie mir das!« Isenhard reichte den Zettel an Kalia weiter. »Die Siegelsteine gegen den Menschen. Um Mitternacht am Pontiac Lake, Ort des letzten Opfers.« »Mist!«, fluchte sie. »Ich wusste, dass er in Gefahr ist, aber ich konnte nicht sehen, in welcher Form.« »Ich verlange eine Erklärung!«, beharrte Sloan, dessen ohnehin nicht nennenswerte Geduld sich rapide ihrem Ende näherte.
Isenhards Blick bohrte sich in Sloans Augen. »Commissioner, Sie fahren zurück aufs Revier und überlassen die Sache uns!«, befahl er ihm. Sloan starrte ihn an. »Den Teufel werde ich!« Dem Vampir klappte die Kinnlade nach unten. Ausgerechnet Sloan war offensichtlich gegen seine hypnotischen Kräfte immun. Er blickte Kalia an, die mit den Schultern zuckte. »Sag ihm die Wahrheit«, riet sie ihm. Isenhard fletschte seine Vampirzähne, packte Sloan am Hosenbund und hob ihn ein Stück in die Luft mit einer Leichtigkeit, als wöge der schwere Mann nicht mehr als eine Feder. »Ich bin ein Vampir«, erklärte in beiläufigem Tonfall. »Kalia ist eine Werwölfin. Zwei Werkobras wollen einer in eine andere Dimension verbannten Schlangengöttin das Geheimnis des ewigen Lebens stehlen. Dazu brauchen sie den Schlangenspiegel und sämtliche dazu gehörigen Siegelsteine, von denen wir zwei besitzen, die sie mit Jacks Leben von uns erpressen wollen. Das ist die Kurzfassung der Geschichte.« Er setzte Sloan wieder ab, der erst ihn, dann Kalia mit offenem Mund anstarrte, die innerhalb weniger Sekunden vor seinen Augen die Verwandlung zur Wölfin vollzog und sich sofort langsam zurückverwandelte. Ihm drohten, die Augen aus dem Kopf zu fallen. »Das ist ein Trick!«, stieß er schließlich hervor. »Sie hypnotisieren mich oder so was!« »Das habe ich leider gerade erfolglos versucht, aber Sie sind einer der wenigen Menschen, die gegen die hypnotische Kraft von Vampiren immun sind.« »Muss an seinem Dickschädel hegen«, kommentierte Kalia trocken. »Das ist unmöglich!« Sloans Stimme hatte einen deutlichen
Unterton beginnender Hysterie. »Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio«, zitierte Isenhard Shakespeares Hamlet. »Es ist real, Commissioner. Okkulte Kräfte existieren ebenso in dieser Welt wie Magie und Wesen wie wir. Glauben Sie es oder nicht, wir müssen jedenfalls Jacks Leben retten. Und Sie sind uns dabei im Weg. Sie haben diesen Wesen nichts entgegenzusetzen.« »Ach nein?« Sloan fand seinen Mut wieder und zog seine Pistole. Kalia und Isenhard lachten. »Damit können Sie uns und denen gar nichts anhaben«, erklärte der Vampir. »Es sei denn, Ihre Waffe wäre mit Silberkugeln oder in meinem Fall Holzkugeln geladen.« Er blickte Sloan eindringlich an. »Bitte, begreifen Sie: Sie können nichts tun! Und wir sind genug damit beschäftigt, uns selbst und Jack zu schützen. Da können wir nicht auch noch auf Sie aufpassen. Schicken Sie uns hinterher die Kavallerie zum Aufräumen – falls wir es überleben …« »Wir haben einen Vorteil«, warf Kalia ein. »Die wissen zwar, dass wir zu zweit sind, aber sie halten dich mit Sicherheit für tot, Isenhard.« »Wie das?«, fragte Sloan, der sich keineswegs sicher war, ob er nicht in Wahrheit in seinem Bett lag und das alles hier nur träumte. »Ich hatte gestern Nacht einen kleinen Zusammenstoß mit denen, der mich fast meine untote Existenz gekostet hätte. Da die aber nicht wissen, dass es mich immer noch gibt, werden sie nur mit Kalia rechnen. Wir können sie also überraschen.« »Sie haben definitiv nicht vor, Jack am Leben zu lassen. Sie brauchen seine Energie«, sinnierte Kalia und dachte angestrengt nach. »Wenn ich sie konfrontiere, musst du Jack befreien. Ein Luftangriff sollte sie ausreichend überraschen.« »Luftangriff?« wiederholte Sloan. »Wie …?« Isenhard erhob sich schwebend ein Stück in die Luft. Lächelnd
landete einen Moment später direkt neben Sloan, der mit offenem Mund rückwärts in den nächsten Sessel plumpste und keinen Ton mehr hervorbrachte. »In dem Moment«, setzte die Werwölfin den Gedanken fort, »in dem sie durch dich abgelenkt sind, kann ich nahe genug an sie herankommen, um ihnen die gestohlene Energie zu entziehen. Danach sind sie weitgehend ungefährlich.« »Das wird aber verdammt riskant«, meinte Isenhard. Sie zuckte mit den Schultern. »Hast du eine bessere Idee?« Er hatte keine. Also warteten sie, bis es Zeit zum Aufbruch war. Zwischenzeitlich erklärten sie dem immer noch völlig perplexen Sloan, wie die Morde mit dem Schlangenspiegel zusammenhingen. Danach kehrte der Commissioner ins Revier zurück, während Isenhard und Kalia sich ganz mondän mit dem Auto auf den Weg zum Pontiac Lake machten. Auf dem Parkplatz des Erholungsgebiets trennten sie sich …
* Als Kalia den Ort des letzten Mordes erreichte, waren ihre Gegner schon da. Dr. Foster stand im Hintergrund und hielt einen gefesselten und benommen wirkenden Jack Blake am Arm. Die beiden Frauen standen in ihrer menschlichen Gestalt ein paar Schritte vor ihnen. Kalia ging langsam auf sie zu und blieb in einer Entfernung stehen, die sie jederzeit mit nur einem einzigen Sprung überwinden konnte. Sie spürte, dass Isenhard irgendwo in der Luft über ihr in Position war. »Wo sind die Steine?«, fragte Gunari kalt.
Kalia zog ein kleines Päckchen aus der Hosentasche und hielt es ihr hin, riss es aber sofort zurück, als Gunari Anstalten machte, vorzutreten und danach zu greifen. »Erst gebt ihr mir den Menschen!«, verlangte sie. Das war Isenhards Stichwort. Er schoss aus der Luft herab, stieß Foster beiseite, schnappte Jack und brachte ihn in einiger Entfernung in Sicherheit. Die beiden Frauen fuhren beim ersten Laut hinter sich herum. Kalia sprang auf sie zu, packte sie mit stählernem Griff im Genick und riss die gestohlene Lebensenergie der Toten innerhalb weniger Augenblicke aus ihnen heraus. Die Priesterinnen hatten nicht einmal Zeit, ihre Schlangengestalt anzunehmen oder sich körperlich zu wehren. Die Werwölfin spürte mit ihren übernatürlichen Sinnen das Machtzentrum der Magie in ihren Gehirnen auf und brannte es rücksichtslos aus, bis alle Macht darin für immer erloschen war. Ihre Opfer brachen bewusstlos zusammen. Dr. Foster stand reglos an seinem Platz, zwinkerte und sah sich verwirrt um. »W … wo bin ich hier? Was ist passiert? Wer sind Sie? Und wie bin ich hierher gekommen?« »Das erklären wir Ihnen später, Dr. Foster«, versuchte Kalia ihn zu beruhigen. »Aber Sie sind in Sicherheit und es ist alles wieder in Ordnung.« Für Foster war es das offensichtlich nicht, aber er blickte nur verständnislos auf die bewusstlosen Frauen. Kalia sah nach Jack und Isenhard. »Alles in Ordnung?« Der Lieutenant nickte. »Bisschen groggy. Aber … was war das eben? Und seit wann können Menschen fliegen? Und …« »Später, Junge«, unterbrach ihn Isenhard schmunzelnd. »Jetzt rufen wir erst mal die Kavallerie.«
* Einige Stunden später saßen sie mit Sloan im Mayo‐Haus zusammen und erstatteten ihm Bericht. Sowohl Dr. Foster wie auch die beiden Inderinnen hatte man zur Beobachtung in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Der Archäologe konnte sich seit dem Moment, als er in Indien den Tempel gefunden hatte, an nichts mehr erinnern. Er wusste nicht einmal, dass er verheiratet war, seit einem Jahr wieder in den Staaten lebte und ein Buch geschrieben hatte. Von allen anderen Dingen ganz zu schweigen. Gunari und Moti hatten Foster dazu benutzt, legal in die USA zu gelangen, weil sich die letzten ihnen noch fehlenden Siegelsteine hier befanden. Foster war nur ein willenloses Werkzeug gewesen. Gegen ihn würde es keine Anklage geben. Und wohl auch nicht gegen die beiden Frauen, da sie als unzurechnungsfähig eingestuft wurden und möglicherweise bis ans Ende ihrer Tage in der Psychiatrie sitzen würden. Kalia und Isenhard hatten den Schlangenspiegel und die fünf schwarzen Diamanten aus Fosters Wohnung geholt. Blake – der sich von der Wirkung der Droge erholt hatte, mit der man ihn ruhig gestellt hatte – war von Isenhards und Kalias wahrer Natur fasziniert und stellte ihnen tausend neugierige Fragen. Sloan dagegen hatte deutlich spürbar Angst vor ihnen, obwohl sie ihm glaubhaft versicherten, dass keinem Menschen von ihnen Gefahr drohte. »Unsere Gesetze verbieten das«, erklärte Isenhard. »Wer das Gesetz bricht, wird von uns gnadenlos verfolgt und vernichtet, denn er gefährdet uns alle. Es ist besser, wenn die Menschen nichts von unserer Existenz wissen.« »Was wäre daran so schlimm?«, wollte der Commissioner wissen. Kalia warf Sloan einen bezeichnenden Blick zu. »Weil sie uns
fürchten und in typisch menschlicher Art das zu vernichten trachten, was ihnen Angst macht. Nur aus Angst vor uns haben Menschen damals meine ganze Sippe vernichtet, obwohl wir ihnen nie etwas getan hatten.« »Also, ich werde bestimmt niemandem was über euch erzählen«, versprach Blake und lachte humorlos. »Die Wahrheit glaubt mir ohnehin keiner.« »Und das ist auch gut so!«, stimmte Isenhard zu. Blake blickte die beiden nachdenklich an. »Eins verstehe ich nicht. Ihr seid doch … na ja … die Guten. Sozusagen … Wie kommt es, dass in allen einschlägigen Romanen und Filmen Vampire und Werwölfe immer böse und blutrünstig sind?« »Nun«, erklärte Kalia, »auch unter uns gibt es Gesetzesbrecher, die sich an Menschen und ihrem Vieh vergreifen, obwohl es strengstens verboten ist. Und diese Verbrecher sind in der Regel die einzigen Wesen unserer Art, von deren Existenz die Menschen erfahren. Deshalb kennt ihr nur die bösen Ausnahmen, durch die solche Legenden entstanden sind – zusammen mit dem Vorurteil, wir wären alle genauso.« »Was werden Sie jetzt mit dem Schlangenspiegel tun?«, fragte Sloan, um das Thema zu wechseln. Er hatte genug gehört von Vampiren, Werwölfen und anderen Monstern und brauchte vertrauteres Terrain. »Ihn auf eine Art und Weise vernichten, dass er niemals wieder zusammengefügt werden kann«, antwortete Kalia. »Das hätte schon vor langer Zeit geschehen sollen.« »Miss Mayeshti, Mr. Strong – ich … ich danke Ihnen. Ohne Sie beide … hätte es wohl noch erheblich mehr Tote gegeben.« »Wir haben gern geholfen«, sagte Isenhard. »Und wir bleiben wohl für die nächsten Jahre in Detroit. Wenn Sie also mal wieder einen Fall haben, für den wir zuständig sein könnten, Commissioner, melden Sie sich. Wir stehen auf derselben Seite und
sollten zusammenarbeiten.« »Ich werde es mir merken.« Sloan stand auf. »Aber jetzt sollten Blake und ich wohl etwas Schlaf nachholen. Gute Nacht. Oder vielmehr: guten Morgen.« Die beiden verließen das Haus und Kalia und Isenhard blieben allein zurück. »Ich habe nachgedacht«, sagte der Vampir ernst zu seiner Partnerin und legte ihr den Arm um die Schultern. »Kalia, ich liebe dich – mehr als mein Leben. Und ich möchte nicht mehr zwischendurch Jahre von dir getrennt sein. Wie diese Sache mal wieder deutlich gezeigt hat, können auch relativ Unsterbliche wie wir ziemlich schnell den endgültigen Tod finden. Dich zu verlieren wäre unerträglich für mich.« Sie nickte. »Das geht mir genauso. Und ich möchte mich auch nicht wieder von dir trennen. Du bist mein Leben.« Er sah ihr in die Augen und fragte feierlich: »Kalia Mayeshti, willst du meine Frau werden bis in alle Ewigkeit?« Sie blickte ihn mit einem zärtlichen Lächeln an und umarmte ihn. »Wenn du wirklich glaubst, dass wir es die nächsten paar Jahrhunderte mit einander aushalten, Isenhard von Nantwig, dann lautet meine Antwort: Ja, ich will!« Danach sagten sie für eine lange Zeit gar nichts mehr …
* Kirjo Vlado war ganz und gar nicht begeistert davon, Kalia wieder zu sehen. Doch er bot ihr sofort respektvoll seine Dienste an. Kalia breitete den Schlangenspiegel und die sieben Diamanten vor ihm aus. »Narta, du wirst diesen Spiegel einschmelzen, die Diamanten zerteilen und alles zu so vielen einzelnen Schmuckstücken wie möglich verarbeiten. Und ich werde nicht von
deiner Seite weichen, bis die Arbeit getan ist.« Vlado klappte den zum Protest geöffneten Mund wieder zu, machte sich unverzüglich ans Werk und schuf innerhalb von fünf Tagen sieben der schönsten Schmuckstücke, die ihm jemals gelungen waren. Drei Wochen später erhielt eine Klinik im Armenviertel von Bombay eine anonyme Spende über eine halbe Million Dollar mit der Bitte, die Klinik auf den Namen ›Naginis Segen‹ umzubenennen … ENDE