Die goldene Statue
Emma Richmond
Bianca Exklusiv 102-3 – 6/02
gescannt von suzi_kay korrigiert von briseis
1. KAPIT...
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Die goldene Statue
Emma Richmond
Bianca Exklusiv 102-3 – 6/02
gescannt von suzi_kay korrigiert von briseis
1. KAPITEL Das Haus machte einen heruntergekommenen Eindruck, war aber trotzdem eindrucksvoll und stand einsam mitten auf einem großen Feld. Es gefiel Bryony sofort. Lächelnd sah sie an ihren verwaschenen Jeans und dem ausgebleichten T-Shirt hinunter. Das erste Mal in ihrem Leben schien sie richtig angezogen zu sein. Und wenn dies hier Philip du Vaals Haus war, würde ihr Treffen mit ihm sicher auch nicht so schlimm werden, wie sie befürchtet hatte. Daniel hatte ihr gesagt, dass der Holländer schwierig und ziemlich betucht sei. Ob er wohl Englisch sprach? Natürlich, dachte Bryony ungeduldig, er lebt schließlich hier in England, oder? Außerdem schien er etwas exzentrisch zu sein, aber das störte sie nicht. Was sie störte, war, dass sie ihn nicht kannte. Alles war immer so schwierig, wenn man jemanden nicht kannte. Besorgt biss sich Bryony auf die Unterlippe, während sie das Haus betrachtete. Sie war ein zierliches, elfenhaftes, sehr schönes Mädchen, mit hohen Wangenknochen und einem spitzen, kleinen Kinn, hatte strahlend graue Augen und lächelte oft. Im Moment war ihr jedoch nicht zum Lachen zu Mute. Neben dem Haus stand ein roter Ferrari im hohen Gras und wirkte in der verwahrlosten Umgebung etwas fehl am Platz. Bryony musterte das Auto im Vorbeigehen misstrauisch. Sie stand mit allen technischen Dingen auf Kriegsfuß. Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg durch das hüfthohe Gras bis zur Haustür, nahm sich ein Herz und klopfte an. Als sich auch nach dem zweiten Klopfen nichts rührte, kämpfte sie sich zu einem der Fenster durch und warf hoffnungsvoll einen Blick ins Innere des Hauses. Sie konnte kaum etwas erkennen, weil die Fenster offensichtlich schon seit Jahren nicht mehr geputzt worden waren. Seufzend fragte sie sich, was sie jetzt machen sollte. Konnte sie einfach so tun, als wäre er nicht zu Hause? Sich umdrehen und wieder gehen? Wenn sie ihn heute nicht erreichte, würde sie ein anderes Mal wiederkommen müssen. Langsam ging sie um das Haus herum und entdeckte plötzlich hinten auf der Steinterrasse einen Mann. Er war tief über eine Schreibmaschine gebeugt, und Bryony überlegte, wie sie sich am Besten bemerkbar machte. Unschlüssig ging sie auf die Terrasse zu. Der Mann schien nicht besonders gut tippen zu können, aber im Fluchen schien er unschlagbar zu sein. Zumindest klang es für Bryony sehr professionell. Vielleicht hatte er nur deshalb Schwierigkeiten mit dem Tippen, weil sowohl der Tisch als auch der Stuhl völlig schief auf den teilweise zerbrochenen Bodenplatten der Terrasse standen. Der Mann hatte ein ausdrucksvolles Gesicht, eine schmale Nase und ein energisches Kinn. Dunkelblonde Haare hingen ihm in die Stirn und im Nacken über den Kragen seines blauen Jeanshemds. Er sah so aus, als würde er schon seit Monaten hier barfuß sitzen, während das Haus langsam um ihn her zerfiel. Alles in allem wirkte er wie ein Mann, mit dem man nicht so leicht zurechtkam. Und dabei hatte Bryony sich gerade das so sehr gewünscht. Als er sie auch nach mehreren Minuten noch nicht bemerkt hatte, hüstelte sie einmal kurz. „Sie können sich unmöglich erkältet haben", meinte er daraufhin trocken. „Ich weiß genau, dass Sie erst seit fünf Minuten da unten stehen." „Entschuldigung", erwiderte Bryony verlegen. Er tippte noch schnell einen letzten Buchstaben, drehte sich dann zu ihr um und betrachtete sie von oben bis unten. Seine geraden Augenbrauen waren genauso dunkelblond wie sein Haar, und seine Augen klar und blau. Bryony bemerkte, wie ein Ausdruck von Überraschung kurz über sein Gesicht huschte, aber sofort wieder verschwand. „Wenn Sie hier sind, um sich als Gärtnerin oder Putzfrau zu bewerben, dann sparen Sie sich die Mühe!" meinte er. Er sprach mit einem leichten Akzent, und seine Stimme klang tief und sehr angenehm. „O nein, deshalb bin ich nicht hier!" beteuerte Bryony, aus den Gedanken gerissen. „Ich bin Bryony Grant!" „Daniels Schwester", fügte sie hinzu, als er sie nur weiter ungeduldig betrachtete. „Das freut mich für Sie. Und da wir dieses kleine Rätsel ja jetzt gelöst haben, entschuldigen
Sie mich bitte. Ich habe viel zu tun." Lächelnd erklomm Bryony die zerfallene Terrasse und ließ sich vorsichtig auf einem umgestülpten Blumentopf nieder. „Sie erinnern sich nicht mehr an ihn?" fragte sie verwirrt. „Nein", erwiderte er kurz angebunden und hieb auf eine der Schreibmaschinentasten. „Ich kann mich grundsätzlich nicht an Leute erinnern, die ich nie kennen gelernt habe." „Aber natürlich haben Sie ihn kennen gelernt!" beharrte Bryony lächelnd. „Er ist Sonjas Freund. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass die beiden ihren ursprünglichen Plan geändert haben und früher nach Bangkok gefahren sind." „Früher?" wiederholte er, während er weitertippte. „Ja! Daniel hat mich gestern angerufen, und ..." „Dauert das hier noch lange, Miss ...?" erkundigte er sich gereizt. „Grant!" sagte sie, nun auch etwas ungeduldig. „Und ich glaube einfach nicht, dass Sie sich nicht mehr an den Namen des jungen Mannes erinnern können, mit dem Sonja verreist ist." „Wohin verreist?" fragte er geistesabwesend, während er das Blatt Papier in seiner Schreibmaschine stirnrunzelnd betrachtete. Dann riss er es wütend heraus und zerknüllte es. „In den Fernen Osten." erklärte sie. „So ein Unsinn. Sonja ist in der Schweiz." „In der Schweiz?" wiederholte Bryony ungläubig. „Aber wie kann sie denn schon wieder dort sein?" „Das weiß ich auch nicht", fuhr er sie genervt an. „Ich hab' keine Ahnung, wovon wir hier überhaupt reden. Bitte, verschwinden Sie jetzt endlich!" „Aber..." Ergebungsvoll seufzend lehnte er sich in den Stuhl zurück und blickte sie aus tiefblauen blitzenden Augen an. „Bitte", sagte er fast verzweifelt, „bitte gehen Sie. Ich weiß nicht, wer Sie sind, kenne Ihren Bruder nicht und will seine Bekanntschaft auch nicht machen. Eins weiß ich allerdings ganz sicher: Meine Nichte ist in der Schweiz. Und jetzt..." „Dann ist sie also heute zurückgefahren?" fragte Bryony verwirrt. „Ich versteh' das alles nicht." „Ich, Miss Grant, verstehe leider auch kein Wort. Sie reden lauter unzusammenhängendes, unverständliches, verwirrendes Zeug. Normalerweise bin ich nicht gerade der Langsamste, aber könnten Sie mir vielleicht mal verraten, was Sie von mir wollen, und noch einmal von vorn anfangen?" Bryony biss sich auf die Unterlippe, blickte ihn ratlos an und fragte sich, wo sie anfangen sollte. „Mein Bruder Daniel rief mich gestern Abend an", begann sie schließlich zögernd. „Er sagte, dass sie von ihrem ursprünglichen Reiseplan abweichen und nach Bangkok fahren würden. Er meinte, Sonja glaubt, dass es Ihnen gleichgültig ist, ob sie nach Bangkok oder nach Timbuktu fährt. Aber Daniel wollte es mir trotzdem mitteilen!" „Nein!" erklärte er kurz angebunden. „Wie bitte?" fragte sie verwirrt. „Sonja ist in der Schweiz!" „Nun hören Sie doch damit endlich auf. Sie kann nicht in der Schweiz sein. Nicht mit dem Zeitunterschied. Sie könnte frühestens heute Abend dort ankommen!" Bryony stampfte wütend mit dem Fuß auf, als er den Kopf schüttelte. „Warum, um alles in der Welt, sollte ich Sie wohl belügen?" Erneut betrachtete er sie von Kopf bis Fuß, ließ den Blick über ihre braunen Locken gleiten, die sie mit einer Art Schnürsenkel hastig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, über ihre zierliche Gestalt in den zu weiten abgetragenen Jeans und dem verwaschenen TShirt, das am Anfang seines Daseins gewiss einmal weiß gewesen war. „Ja, weshalb wohl? Sind Sie Schauspielerin?" meinte er spöttisch. „Schauspielerin?" fragte sie empört. „Wieso sollte ich denn Schauspielerin sein? Und
selbst wenn ich's wäre, was tut das zur Sache? Ich wollte Ihnen nur mitteilen, wo Ihre Nichte ist, und sonst nichts. Also echt, ich hätte mich da raushalten sollen, aber ich ..." „Was sind Sie denn dann von Beruf?" fragte er ungerührt. „Bildhauerin!" schrie sie ihn an. „Würden Sie jetzt vielleicht gnädigerweise die Schule in der Schweiz anrufen?" „Ich muss dort nicht anrufen." „Doch, das müssen Sie." „Miss Grant", sagte er in einem Ton, als würde er mit einem kleinen Kind sprechen* „ich habe erst gestern Abend mit Sonja gesprochen." „Haben Sie sie angerufen?" „Nein, sie mich." „Na bitte, da haben Sie's!" meinte Bryony triumphierend. „Woher wollen Sie dann wissen, dass sie aus der Schweiz telefoniert hat?" „Meine Nichte würde mich nicht belügen!" schrie er wütend, nun tatsächlich am Ende seiner Geduld. Er holte tief Luft, bevor er, etwas ruhiger, fortfuhr. „Ich habe keine Ahnung, warum Ihr Bruder behauptet, Sonja sei bei ihm. Vielleicht ist es die Nichte eines anderen Mannes, die auch Sonja heißt." „Nein!" „Ach, seien Sie still! Soweit ich weiß, kennt Sonja keinen Daniel Grant." „Dass Sie es nicht wissen, hat nichts zu bedeuten." „Das stimmt", erklärte er herablassend. „Aber einmal abgesehen davon, ob sie ihn kennt oder nicht, weiß ich ganz sicher, dass sie in ihrem Internat in der Schweiz ist. Und jetzt auf Wiedersehen, Miss Grant." Er setzte sich auf, spannte ein frisches Blatt in die Schreibmaschine und fing zu tippen an. Bryony stützte das Kinn in die Hand und sah ihn wütend an. „Bitte rufen Sie die Schule an." „Verflixt noch mal!" rief er genervt aus, stützte die Ellenbogen auf die Schreibmaschine und vergrub das Gesicht in den Händen. Eine Zeit lang saß er so und rührte sich nicht, während Bryony ihn sorgenvoll betrachtete. Gerade, als sie schon erwog, die Schule selbst anzurufen, blickte er wieder auf und stützte das Kinn auf seine Fäuste. „Hat Ihr Bruder Sie zu mir geschickt?" fragte er leise. „Eigentlich nicht. Er sagte nur, dass er mir Bescheid geben wolle." „Er hat aber nicht angerufen, um Ihnen zu sagen, dass Sonja bei ihm ist?" „Nein, das hab' ich Ihnen doch schon gesagt. Er hat mir nur mitgeteilt, dass sie ihre Reisepläne geändert haben ..." „Aber er hat Sie nicht zu mir geschickt?" „Meine Güte!" seufzte sie entnervt. „Ich bin hier, weil ich dachte, es würde Sie interessieren, wo Ihre Nichte ist. Wollen Sie es denn nicht wissen? Sie ist immerhin erst siebzehn." „Ich weiß, wo sie ist. In der Schweiz. Nein, Miss Grant." Er hob abwehrend die Hand, als Bryony protestieren wollte. „Hören Sie auf, bitte! Was hoffen Sie eigentlich mit Ihren Behauptungen zu erreichen?" „Dass Sie mir endlich glauben. Aber wenn Sie so stur sind, bitte schön"; erklärte sie und gab sich endlich geschlagen. „Und machen Sie mir ja keine Vorwürfe, wenn Sie herausfinden, dass Sonja nicht in der Schweiz ist." Sie stand auf und schüttelte müde den Kopf. „Auf Wiedersehen, Mr. du Vaal." „Miss Grant. Allein in dieser Woche sind hier schon zwei minderjährige Mädchen erschienen, die erklärten, der Produzent habe sie geschickt. Dann kam ein Junge, der behauptete, Sonjas Freund und zufälligerweise auch noch Gärtner zu sein. Ihm folgte ein älterer Herr. Er gab an, eine Menge Erfahrung mit Kulissenbau zu haben, und hoffe auch, als Botenjunge anzufangen. Und dann waren da noch eine große, sehr aggressive Dame, die das Haus putzen wollte, und ein alter Alkoholiker, der sagte, er sei Schauspieler und würde jede, aber auch wirklich jede Rolle annehmen. Und jetzt verraten Sie mir, Miss Grant, weshalb ich Ihre verwirrende Geschichte glauben sollte, hm? Eine neue Geschichte übrigens, das muss
ich zugeben, und Sie haben Ihren Text sehr gut auswendig gelernt. Ein paar Mal war ich sogar in Versuchung, Ihnen zu glauben." Bryony schaute ihn an, als wüsste sie nicht so recht, wer von ihnen beiden verrückt war, dann flüsterte sie: „Wer sind Sie?" „Na, na, Miss Grant, Sie wissen es doch ganz genau." „Nein, ich meine, was sind Sie? Was sind Sie von Beruf?" Er lehnte sich wieder in den Stuhl zurück, betrachtete Bryony, die ihn verwirrt ansah, abschätzend und wurde langsam blass. „Ich werde die Schule anrufen!" erklärte er leise, stand auf, ging schnellen Schrittes über die Terrasse und verschwand durch eine der großen Glasschiebetüren. Bryony atmete erleichtert auf und betrachtete dann die Farbenpracht des Gartens. Nicht alle Farbtupfer waren allerdings Blüten. Aus blauen Plastiktüten quollen rote, gelbe und blaue Bierdosen hervor, und eine grüne rostige Schubkarre lag umgekippt in einem Fischteich, in dem hoffentlich keine Tiere mehr lebten. Der gesamte Garten machte irgendwie einen verwahrlosten und traurigen Eindruck und schien ein Spiegelbild seines Besitzers Philip du Vaal zu sein. Weshalb hatte er ihr wohl diese merkwürdigen Fragen gestellt? Warum kamen ständig Leute zu ihm und boten ihm ihre Dienste an? Weil er reich war? Vielleicht sogar berühmt? Er hatte etwas von einem Produzenten, Kulissen und einem Schauspieler erwähnt. Hatte er vielleicht mit der Filmindustrie zu tun? Oder mit dem Theater? Erzählten Leute ihm deshalb so sonderbare Geschichten? Versuchten sie, so an ihn heranzukommen? Aber er konnte das, was sie ihm von Sonja, Daniel und dem Fernen Osten gesagt hatte, doch nicht allen Ernstes für eine Finte gehalten haben, oder? Nun, Daniel hatte sie gewarnt, dass Philip du Vaal ein schwieriger Mensch sei. Bryony hatte eigentlich einen mürrischen Typen erwartet. Stattdessen war Philip verwirrend und wirkte etwas träge. Aber man wurde nicht reich und berühmt, indem man die Hände in den Schoß legte. Trotzdem sah Philip du Vaal so aus, als wäre er ständig müde. Vielleicht sind alle Holländer so, dachte Bryony. Vielleicht sind alle groß, langsam und träge. Bryony ließ die Schultern hängen und legte die Arme um die Knie. Sie war völlig erschöpft. „O Daniel", flüsterte sie hilflos, „warum tust du mir so was an?" Oder wusste Daniel etwa nicht, dass Sonja ohne die Erlaubnis ihres Onkels abgereist war? Was würde passieren, wenn Philip du Vaal herausfand, dass seine Nichte tatsächlich nicht mehr in der Schweizer Schule war? Er würde sicher wütend werden. Und an wem würde er seinen Zorn auslassen? Natürlich an mir, dachte Bryony und hörte in diesem Augenblick Schritte hinter sich. Unwillkürlich zog sie den Kopf ein. „Sie ist nicht dort, nicht wahr?" flüsterte sie und sah Philip ängstlich an. „Nein", erwiderte er. „Sie hat in der Schule gesagt, dass ich sehr krank sei und sie mich pflegen müsse und nicht wisse, wie lange. Sie hatten also Recht, Bryony Grant." Bryony, die eigentlich ein Donnerwetter erwartet hatte, drehte sich um und sah Philip du Vaal verwundert an. „Sie sind nicht wütend?" flüsterte sie. „Doch!" „Aber Sie sehen nicht so aus!" „Ich sehe selten wütend aus!" bestätigte er leise, ruhig und etwas geistesabwesend. „Was werden Sie jetzt machen?" „Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als nach Bangkok zu fliegen und sie zurückzuholen. Vielleicht schaffe ich es ja, bevor Hendrik davon erfährt." „Hendrik?" fragte sie. „Mein Bruder, Sonjas Vater", erklärte er und erkundigte sich dann mit energischer Stimme: „Sie wissen also ganz genau, wo die beiden sich aufhalten, nicht wahr?" Bryony zuckte erschrocken zusammen. „Ja, natürlich. Sie sind in Bangkok, wie ich gesagt habe", erwiderte sie. „Es wird Sonja schon nichts passiert sein! Daniel wird auf sie
aufpassen!" fügte sie beruhigend hinzu. Philip du Vaal schwieg. „Er wird auf sie aufpassen!" wiederholte sie hastig. „Er ist sehr verantwortungsbewusst." „Was Sie nicht sägen. Ich finde es nicht gerade sehr verantwortungsbewusst, ein junges Mädchen dazu zu überreden, in den Fernen Osten zu fahren." „Er hat sie nicht überredet!" protestierte Bryony. „Ach nein? Und woher wissen Sie das?" „Nun, er hat mir gesagt, dass sie plötzlich bei ihm aufgetaucht sei. Er war darüber sehr verärgert. Und das wäre er jawohl kaum, wenn er sie eingeladen hätte, oder? Meine Güte ..." Sie seufzte erschöpft und ratlos. „Wieso dachte ich eigentlich, dass die Sache einfach sein würde?" „Einfach?" schimpfte er los. „Es ist natürlich einfacher, den Kopf in den Sand zu stecken!" erwiderte Bryony wütend. „Das hab' ich auch nicht behauptet!" meinte er. „Verdammt, das hat mir gerade noch gefehlt", fügte er resigniert seufzend hinzu. Dann drehte er sich wieder zu ihr um und betrachtete sie gedankenverloren. „Nun, wenn Sie den Namen und die Adresse des Hotels haben ..." „O ja, die hab' ich. Daniel hat mir seinen Reiseplan dagelassen. Es stehen alle Städte und Dörfer darin, die er in Thailand besuchen wollte. „Haben Sie die Telefonnummer des Hotels in Bangkok dabei?" „Nein!" gestand sie. „Ich habe den Reiseplan bei mir zu Hause. Ich könnte ja dort mal nachsehen ..." „Vergessen Sie's!" Er warf ihr einen verächtlichen Blick zu. „Ich werde uns einen Flug buchen." „Uns?" fragte sie vorsichtig. „Ja, Miss Grant, uns!" „Aber Sie brauchen mich doch nicht!" protestierte sie. „Da irren Sie sich gewaltig. Ich habe nämlich keine Ahnung, wie Ihr Bruder aussieht." „Aber das spielt doch keine Rolle ..." Bryony ahnte, dass Philip du Vaal Daniel sehr gern kennen lernen würde, um ihm gehörig die Meinung zu sagen. „Es ist nicht seine Schuld", beteuerte sie. „Das behaupten Sie. Nun, ich kann Sie nicht zwingen, aber ich dachte, dass Sie vielleicht mitkommen wollen. Wo Sie doch anscheinend so besorgt sind. Deswegen sind Sie doch hier, oder irre ich mich da?" „ Nein, keineswegs!" „Und machen Sie sich jetzt, da ich Bescheid weiß, weniger Sorgen?" „Nein", gestand Bryony hilflos. „Dann fliegen Sie mit!" Philip du Vaal drehte sich auf dem Absatz um und ging ins Haus zurück. Bryony hörte, wie Philip telefonierte, und sah ihm hilflos entgegen, als er wiederkam. „Die rufen zurück", erklärte er. „Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Wie soll ich Ihnen denn helfen?" jammerte sie. „Ich bin in so etwas nicht gut." „Sie können mir helfen. Wenn die beiden nicht in diesem Hotel sind, müssen wir sie suchen. Sie kennen Ihren Bruder, Sie wissen, was er tun würde." „Na und? Sie kennen Ihre Nichte doch auch, oder?" fragte sie, wieder völlig verwirrt. „Nein!" erwiderte er kurz angebunden. „Hendrik musste unerwartet zu einer Vortragsreise in die Staaten. Er rief mich an und fragte, ob Sonja die Ferien bei mir verbringen könne. Ich sollte mich um sie kümmern, dafür sorgen, dass ihr nichts passiert. Ha!" rief Philip du Vaal verächtlich. „Er ist keine fünf Minuten fort, und da steh' ich nun." „Aber Sie wissen, wie sie aussieht." „Natürlich weiß ich es. Ich habe Fotos. Aber es ist schon drei Jahre her, dass ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Keiner von meiner verdammten Familie kann mal zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort wie ich sein." „Oh!"
„Ja, Miss Grant, oh! Ich kenne Sonja kaum,, weiß nicht, was sie so treibt, was in ihrem Kopf vorgeht. Dieses Durcheinander hier spricht jawohl für sich." „Aber wenn weder Sie noch ihr Vater von ihren Reiseplänen wussten, woher hatte sie dann das Geld?" „Hendrik gibt ihr sehr viel Taschengeld! Du meine Güte!" rief er plötzlich. „Wie reisen die beiden überhaupt?" „Sie sind mit dem Rucksack unterwegs." „Doch nicht etwa per Anhalter?" fragte er entsetzt. „Nein", beruhigte Bryony ihn, obwohl sie sich selbst nicht ganz sicher war. „Sie fahren mit Bussen und Zügen. Daniel wollte vor seinem Studium noch ein Jahr lang auf Weltreise gehen!" fügte sie hinzu. „Ich bin mir sicher, dass ..." „Wie alt ist er?" „Achtzehn!" sagte Bryony. „Und er ist sehr nett." „Zweifellos." erwiderte Philip. „Ein junger Mann, der ein Mädchen zu einer Reise in den Fernen Osten überreden kann, muss sehr nett sein." „Das ist unfair!" widersprach sie erregt. „Er hat sie nicht überredet, ja, noch nicht einmal eingeladen. Sie war einfach plötzlich da." „Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Sonja würde niemals so mir nichts, dir nichts einfach auftauchen, ohne vorher eingeladen worden zu sein." „Und woher wollen Sie das wissen? Ich dachte, Sie kennen sie gar nicht." „Ich weiß, dass Henrik und Lilly ihre Tochter gut erzogen haben. Sie haben, was gutes Benehmen betrifft, sehr strenge Ansichten." „Das erklärt natürlich alles. Sonja rebelliert gegen ihre strenge Erziehung. Und wenn ihr Vater ihr nicht so viel Geld gegeben hätte, dann ..." „Oh, sind wir jetzt auch noch Psychologin?" erkundigte er sich sarkastisch. „Natürlich nicht. Aber siebzehnjährige Mädchen sind keine kleinen Kinder mehr." „Ich glaube, es bringt uns nicht weiter, wenn wir uns hier streiten. Wie lange kennt er sie schon?" „Nicht lange. Daniel hat sie nach Weihnachten in Paris getroffen und ihr wahrscheinlich von seinen Weltreiseplänen erzählt. Danach blieben sie vermutlich in Kontakt miteinander. Es wird ihr schon nichts passieren", sagte Bryony leise und drehte sich zu Philip um. „Er wird sich um sie kümmern und auf sie aufpassen." „Ja, sicher", stimmte er ihr zu, sah jedoch nicht sehr beruhigt aus. „Dass er sich um sie kümmern wird, macht mir ja gerade Sorgen." „Was soll das nun wieder heißen?" „Tun Sie nicht so naiv. Sonja ist eine sehr schöne junge Frau, soweit ich das anhand von Fotos beurteilen kann. Und kein normal veranlagter junger Mann wird sich bei ihr mit einer rein platonischen Beziehung zufrieden geben, oder?" „Das spricht ja nicht gerade für Ihre Nichte, nicht wahr?" fragte Bryony wütend. „Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Daniel nicht an Ihren. Maßstäben messen würden." Bryony legte erschrocken die Hand auf den Mund. „Oh, das tut mir Leid. Das war nicht sehr nett." „In der Tat nicht." Philip du Vaal nahm ihre Hand in seine. „Die Maus hat also Zähne", meinte er und betrachtete Bryony abschätzend. „Maus?" fragte, sie, nun doch wieder wütend. „Mm, Sie sehen wie ein sehr verwirrtes Mäuschen aus. Jedenfalls haben Sie so ausgesehen." „Vielen Dank!" erwiderte sie sarkastisch. Darin neigte sie den Kopf zur Seite und lauschte. „Ich glaube, das Telefon klingelt." Er nickte. „Wahrscheinlich ist es das Reisebüro." Unvermittelt ließ er ihre Hand los und ging ins Haus. Bryony folgte ihm auf den Fersen. Sie betrachtete sein Gesicht, während sie dem einseitigen Gespräch am Telefon zuhörte, dann fasste sie Philip plötzlich fest am Arm und flüsterte aufgeregt: „Brauchen wir nicht ein Visum?"
„Was? Oh, Augenblick bitte!" sagte er-ungeduldig ins Telefon und legte die Hand über die Sprechmuschel. „Was?" „Brauchen wir nicht ein Visum?" Er warf ihr genervt einen kurzen Blick zu, nahm die Hand vom Hörer und fragte nach. „Nein, ja, in Ordnung, ja, zwei Flugtickets. Danke, wir werden sie am Flughafen abholen." Er legte auf und drehte sich zu Bryony um. „Wir brauchen weder Visa noch Impfungen. Trotzdem sollten wir uns impfen lassen. Sonst holen wir uns am Ende doch noch Gelbfieber. Aber Impfungen sind nicht vorgeschrieben!" brummelte er. „Unsere Maschine startet um halb sechs." Er nahm Bryony am Ellenbogen und schob sie auf die Terrasse hinaus. „Verteidigen Sie Ihren Bruder immer so leidenschaftlich?" „Nein, aber Sie bestanden darauf, dass das alles seine Schuld sei. Und das ist es nicht!" Bryony sah ihn besorgt an. Sie fragte sich, ob sie ihn warnen sollte. Daniel würde sicher nicht sehr begeistert sein, wenn Philip ihn beschuldigte, er hätte seine Nichte entführt. Ihr Bruder reagierte nicht sehr vernünftig auf Beschuldigungen. Er versuchte nie, sich zu rechtfertigen oder etwas zu erklären. Bryony hatte ihm schon oft klarzumachen versucht, dass es manchmal besser war, Dinge zu erklären, weil man ihm sonst sein Verhalten falsch auslegen würde. Aber Daniel hatte nie auf sie gehört. Ihm war es gleichgültig, was andere Leute von ihm hielten. Nur ihr war es nicht gleichgültig, und deshalb war es sicher besser, wenn sie Philip du Vaal begleitete. Dann könnte sie wenigstens dafür sorgen, dass alles mit rechten Dingen zuging. „Ich brauche eine halbe Stunde, um meine Sachen zu packen, dann machen wir uns auf den Weg. Sie können sich ja inzwischen eine Tasse Tee kochen!" meinte Philip und ging ins Haus.
2. KAPITEL Bryony seufzte und machte sich dann auf die Suche nach der Küche. Das Haus sah ein wenig wie ihre eigene Wohnung aus - unordentlich nämlich. Bryony nahm eine Tasse vom Stapel un-gespülten Geschirrs in der Spüle, wusch sie aus, setzte Wasser auf und machte sich einen Tee. Mit der vollen Tasse in der Hand ging sie dann auf die Terrasse zurück, setzte sich auf den Stuhl vor der Schreibmaschine, und fragte sich, weshalb sie sich auf diese ganze Sache eingelassen hatte. Sie wollte nicht in den Fernen Osten fliegen, und schon gar nicht mit Philip du Vaal. Er hat etwas Beunruhigendes an sich, dachte sie. Und beunruhigenden Menschen ging sie grundsätzlich aus dem Weg. Ich werde ihm einfach sagen, dass ich nicht mitfahren kann, beschloss sie. Aber würde Daniel sich wirklich verantwortungs-bewusst verhalten? Wenn Sonja ihm mit ihrer Anhänglichkeit auf die Nerven ging, wäre er durchaus in der Lage, sie einfach irgendwo sitzen zu lassen. Zur Entschuldigung konnte et dann ja immer noch sagen, dass er sie nicht eingeladen hatte. „O Daniel", seufzte Bryony, „bitte kümmere dich um sie!" „Probleme, Miss Grant?" erkundigte sich Philip du Vaal leise und setzte sich neben den Stuhl. „Nein", erwiderte Bryony mutlos. „Wie kommen Sie darauf?" „Haben Sie sich nicht gerade gefragt, ob es so klug sei, mit einem wildfremden Mann ans andere Ende der Welt zu reisen?" „Nein ... ich meine ... vielleicht, ja!" stammelte Bryony verwirrt. „Aber Sie sehen eigentlich nicht wie ein Mann aus, der Mäuse mag!" fügte sie hinzu. „Nein", erwiderte er und betrachtete ihr hübsches Gesicht nachdenklich. „Wird jemand Sie vermissen? Ihre Eltern? Ihr Freund?" „Nein", antwortete sie mutig. „Sie haben keinen Freund?" erkundigte er sich überrascht. „Nein!" stieß sie trotzig hervor. „Das klingt ja fast so, als würden Sie Männer hassen?" meinte er sanft. „Stimmt das?" „Unsinn! Ich ..." - Ich komme mit Männern nur nicht zurecht, vollendete sie ihren Satz im Stillen. Oder besser gesagt, Männer kommen mit mir nicht zurecht. „Und Sie?" fügte sie dann schnell hinzu. „Haben Sie eine Freundin, die sich ärgern wird, wenn Sie mit mir verreisen?" „Sie meinen eine eifersüchtige Freundin?" neckte er. „Wieso sollte sie eifersüchtig sein? Ich bin ja nicht gerade eine männermordende Bestie." „Nein? Das wird sich zeigen!" sagte er-nachdenklich. „Also wirklich!" rief sie empört. „Fangen Sie jetzt bloß nicht mit so was an. Ich komme nur mit, weil Sie es so wollen, und nicht etwa, weil ich mich zu Ihnen hingezogen fühle." „Oh, gut!" brachte er zögernd hervor. „Und warum nicht?" „Erwarten Sie wirklich, dass Ihnen alle Frauen schmachtend zu Füßen liegen?" fragte sie empört. „Das wäre ganz schön eingebildet!" „Nein, das erwarte ich nicht", erklärte er ungeniert. „Ich wollte nur sicher sein, dass Sie mir keine Schwierigkeiten machen werden." „Ich mache nie Schwierigkeiten. Ich bin der unkomplizierteste Mensch, den ich kenne", erklärte sie erregt. „Außerdem ziehe ich schlanke dunkelhaarige Männer blonden Riesen vor." „Ich bin ja nicht unbedingt ein Riese." Er lächelte. „Aber es beruhigt mich, dass ich Ihrem Geschmack überhaupt nicht entspreche." „Gut", sagte Bryony leise und senkte den Blick. Ehrlich gesagt wusste sie selbst nicht so genau, welche Art Mann ihrem Geschmack entsprach. Sie hatte auf diesem Gebiet nicht sehr viel Erfahrung. Und wessen Schuld ist das? fragte sie sich betrübt, schüttelte diese
traurigen Gedanken dann energisch ab und drehte sich wieder zu Philip du Vaal um. „Können Sie sich einfach so freinehmen?" erkundigte sie sich. „Glücklicherweise ja. Und Sie?" „Auch, aber das spielt ja sowieso keine Rolle, oder?" erwiderte sie etwas bissig. „Mir bleibt ja anscheinend keine andere Wahl." „Man hat immer eine andere Wahl", erklärte er versonnen. „Sie haben keine Aufträge in Arbeit?" „Im Augenblick nicht", gestand sie. „Ich fertige meistens Skulpturen an, die mir gefallen, und wenn sie sich verkaufen, gut, und wenn nicht..." „Wenn nicht, dann ist es Ihnen auch egal, nicht wahr?" vollendete er ihren Satz. „Ich fange langsam an, Bryony Grant zu verstehen." „Das bezweifle ich." Sie lächelte amüsiert. „Weshalb dachten Sie eigentlich, ich sei eine Schauspielerin?" fragte sie ihn dann interessiert. „Das spielt jetzt keine Rolle mehr." Zu ihrer Überraschung erwiderte er ihr Lächeln. „Weshalb diese Geheimniskrämerei?" fragte sie. „Was machen Sie beruflich?" „Spezialeffekte. Ich bin sozusagen Szenenbildner." „Kino, Fernsehen?" Er nickte. „Ach, und Sie dachten, ich wollte in einem Ihrer Filme mitspielen. Nicht wahr?" „So was Ähnliches." gestand er. „Sind Sie berühmt?" erkundigte sich Bryony. „Sollte ich Sie kennen?" „Nur, wenn sie von Filmen den Nachspann lesen." „Ich mache mir eigentlich nicht sehr viel aus Kino oder Fernsehen", erklärte sie abwehrend. Philip stand lächelnd auf. „Sind wir so weit?" fragte sie. „Ich bin's jedenfalls. Wir müssen nur noch die Sachen hier ins Haus bringen." Philip hob die Schreibmaschine hoch, als würde sie nicht mehr wiegen als ein Aschenbecher, und verschwand damit durch die Terrassentür. Bryony folgte ihm mit ihrer Teetasse und dem Stuhl. Bryony hoffte, dass sie Sonja schnell finden würden, denn sie wollte mit Philip du Vaal so wenig wie möglich zu tun haben. Er war wirklich ein Riese, zumindest verglichen mit ihren einsfünfundfünfzig. „Wie groß sind Sie eigentlich?" fragte sie ihn unvermittelt, als er sich an ihr vorbeischob, um den Tisch von der Terrasse zu holen. „Zwei Meter fünf. Wieso? Gefällt Ihnen meine Größe, oder hätten Sie Ihre dunkelhaarigen Männer lieber kleiner?" „Nein!" wehrte sie sich, überrascht von seinem Sarkasmus. „Ich will gar keinen Mann. Ich dachte nur gerade, dass Sie untersetzt aussehen würden, wenn Sie nicht so groß wären." „Dann habe ich ja wirklich Glück, dass ich nicht kleiner bin. Es wäre mir sehr unangenehm, untersetzt auszusehen!" Kopfschüttelnd ging er nach draußen, um den Tisch zu holen. „Aber ich ..." Bryony wusste nicht, wie sie ihm erklären sollte, dass sie ihre Bemerkung nicht böse gemeint hatte. „Was?" fragte Philip und blieb vor ihr stehen, den Tisch in den Händen. „Ich interessiere mich nun mal für Formen, von einem künstlerischen Standpunkt aus gesehen." „Mm!" machte er, warf ihr einen merkwürdigen Blick zu und trug den Tisch ins Haus. Sie folgte ihm unsicher. Nachdem Philip die Türen abgeschlossen hatte, scheuchte er Bryony in den Flur. „Wie sind Sie hergekommen?" fragte er. „Mit dem Auto?" „Nein, ich habe keinen Führerschein. Ich bin mit dem Bus gekommen und das letzte Stück gelaufen." „Wo wohnen Sie?" „Nicht weit von hier. Auf der anderen Seite von Sevenoaks, in Eynsford." „Okay! Machen wir uns auf den Weg", meinte Philip, schob sie nach draußen und schlug die Eingangstür hinter sich zu. Er warf sein Gepäck in den Kofferraum des roten Ferrari, öffnete
die Beifahrertür für Bryony und ließ sich dann auf den Fahrersitz fallen. „Schnallen Sie sich an, ich fahre schnell", erklärte er. „Ich dachte, das darf man hier nicht", meinte Bryony und griff nach dem Sicherheitsgurt. „Richtig. Aber wenn nicht viel Verkehr auf der Straße ist und ich weit genug sehen kann, dann fahre ich trotzdem schnell. Haben Sie etwa Angst?" „Nein, natürlich nicht! Und wenn schon. Würde das etwas ändern?" „Wahrscheinlich nicht. Wir haben viel zu tun und wenig Zeit. Wie lange werden Sie zum Packen brauchen?" „Nicht lange. Bevor ich zu Ihnen gekommen bin, habe ich geduscht und mir was Frisches angezogen. Jetzt muss ich nur noch ein paar Sachen in eine Tasche packen, dann bin ich fertig!" Bryony lächelte leicht, als sie Philips etwas schmerzlichen Gesichtsausdruck bemerkte. „Hatten Sie gehofft, ich würde mich herausputzen?" „Nein!" erwiderte er trocken. „Diese Hoffnung habe ich bereits begraben." Bleiben Sie, wie Sie sind, Philip du Vaal, dann werden wir gut miteinander zurechtkommen, dachte Bryony erleichtert. Wenn er auch weiterhin so gut gelaunt und umgänglich war, dann würde die Reise nicht schlimm werden. Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen in den Autositz zurück und entspannte sich. Mit ein bisschen Glück würden sie, in Bangkok angekommen, Sonja sofort finden, und dann gleich wieder zurückfliegen. Philip hielt schließlich vor ihrem kleinen Haus an, und Bryony betrachtete es unwillkürlich kritischer als sonst. Sie musste zugeben, dass ihr Garten nicht viel ordentlicher aussah als seiner. Wenigstens lagen hier keine Bierdosen in der Gegend herum. Als sie das Haus betraten, huschte ein bedauerndes Lächeln über Bryonys Gesicht, denn hier drinnen war es auch nicht viel ordentlicher. „Gut, dass wir nicht zusammen wohnen!" meinte sie lächelnd. „Ich verstehe wieder mal kein Wort!" erklärte Philip und schloss die Haustür hinter sich. „Ich meine, weil wir beide so unordentlich sind. Wir würden in unserem gemeinsamen Durcheinander nie etwas finden." „Ich wohne dort doch nicht", erklärte Philip entsetzt. „Das Haus ist Teil der Kulisse. Ich habe dort gearbeitet, weil ich es in ein Geisterhaus verwandeln will." „Oh!" Bryony warf ihm ein verlegenes Lächeln zu und zeigte ihm dann den Weg ins Wohnzimmer. „Mein Pass und Daniels Reiseplan müssten eigentlich auf dem Schreibtisch liegen. Würden Sie sie bitte suchen, während ich packe?" bat Bryony, drehte sich um und eilte die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Dort zerrte sie ihren alten Rucksack aus dem Schrank und überlegte sich, was sie einpacken sollte. Frische Unterwäsche! Shorts? Warum nicht! Es war sicher heiß in Bangkok. Ein paar TShirts. In einer ihrer Schubladen fand Bryony ein paar Leinenhosen, die sie noch nie getragen hatte, und stopfte sie mit einem dankbaren Lächeln ebenfalls in den Rucksack. Einen Pullover? Ja, vielleicht wurde es abends kühl, und sie würden sicher eine Nacht in Bangkok verbringen. Was noch? Ganz unten in ihrem Schrank fand sie ihre indischen Sandaletten und warf sie ebenfalls in den Rucksack. Zum Schluss packte Bryony noch ein paar Skizzenblöcke und Bleistifte ein. Geld, sie würde auch Geld brauchen. Vielleicht würde Philip sie schnell zur Bank fahren. Wie spät war es eigentlich? Und wo war bloß ihre verflixte Armbanduhr? Bryony nahm den Rucksack und rannte wieder nach unten. Philip war allerdings nicht dort, wo sie ihn vermutet hatte, und als sie die Tür zu ihrem Studio offen stehen sah, wurde sie ärgerlich. Sie mochte es nicht, wenn Leute ihr Studio betraten. Noch nicht einmal Daniel hatte freien Zutritt. Sie warf ihren Rucksack auf den Boden und ging schnell zum Studio hinüber. Dieses Zimmer war, im Gegensatz zum ganzen Rest des Hauses, sehr ordentlich. Philip stand drinnen vor einem der großen Fenster und betrachtete eine von Bryonys Skulpturen. „Ihr Werk?" fragte er sanft.
„Mm", erwiderte Bryony zurückhaltend. „Sehr gut", erklärte er. „Danke", sagte Bryony leise. „Sind Sie mir böse?" erkundigte sich Philip überrascht. „Nein, ich ..." „Es tut mir Leid, Bryony. Ich habe hier drinnen nichts zu suchen, nicht wahr?" „So ungefähr", erwiderte sie und zuckte die Schultern. „Ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich mag es nicht, wenn Leute hier hereinkommen." „Aber wieso nicht? Meine Güte, wenn ich solche Kunstwerke schaffen könnte, dann würde ich sie der ganzen Welt zeigen wollen!" „Ich bin Perfektionistin", erklärte Bryony etwas entspannter, „und ich habe immer Angst, dass meine Werke anderen Leuten nicht gefallen könnten." „Das verstehe ich." „Wirklich?" fragte sie erstaunt. „Natürlich. Ich bin vielleicht nicht so talentiert wie Sie, aber meine Arbeit ist auch laufend irgendwelcher Kritik ausgesetzt. Und wenn dann keiner einen Fehler daran findet, bin ich überrascht." Philip lächelte Bryony an. Es war das erste echte Lächeln, das er ihr schenkte. Dann betrachtete er die Skulptur, die er noch immer in den Händen hielt. „Woraus ist das?" erkundigte er sich. „Aus Apfelholz", erklärte sie. „Apfelholz? Ich dachte, das könnte man nicht zum Schnitzen verwenden." „Wie kommen Sie denn darauf?" Sie kam zu ihm hinüber und sah sich nachdenklich die Skulptur in seinen Händen an. Es war die Figur eines nackten jungen Mädchens. „Grinling Gibbons hat immer mit Apfelholz gearbeitet", fuhr sie dann fort. „Eines seiner Werke ist im Schloss Warwick ausgestellt. Das Holz ist nicht leicht zu bearbeiten, aber es ist die Mühe wert." Philip lächelte zu ihr hinunter. „Sind sie berühmt?" „Ach, woher denn? Ich verkaufe meine Werke zwar meistens, aber eigentlich arbeite ich nur, weil es mir Spaß macht. Ich wollte schon immer Bildhauerin werden." Sie nahm ihm die Skulptur fort und stellte sie auf die Fensterbank zurück. „Haben Sie sie gefunden?" erkundigte sie sich dann. „Was gefunden?" „Meinen Pass und Daniels Reiseplan." „Nein, ich habe noch gar nicht danach gesucht, tut mir Leid." „Macht nichts. Ich werde selbst nachsehen. Und meine Armbanduhr habe ich auch verlegt." Stirnrunzelnd ging Bryony ins Wohnzimmer zurück und riss eine der Türen ihres Schreibtisches auf. Eine wahre Flut von Papieren und Fotos kam ihr entgegen. Jeder normale Mensch hätte sich nun aufgeregt, geflucht und versucht, die Sachen wieder aufzuheben. Aber Bryony ignorierte das Durcheinander einfach und ließ alles auf dem Boden liegen. Philip bückte sich schließlich, um die Papiere aufzusammeln. „Ah!" rief Bryony triumphierend. „Hier sind sie ja! Mein Pass und der Reiseplan." „Stopfen Sie alles einfach wieder in die Fächer. Es ist nichts Wichtiges dabei", sagte sie, als sie Philip mitten in ihrem Durcheinander kauern sah. „Bis Sie etwas davon brauchen." Er seufzte und tat, was sie ihm aufgetragen hatte. Dann nahm er ihr den Pass ab und steckte ihn zu seinem in die Hosentasche, während Bryony zum Tisch hinüberging und Daniels Reiseplan darauf ausbreitete. „Den Wievielten haben wir denn heute?" fragte sie und betrachtete die Liste eingehend. „Den Fünfundzwanzigsten." . „Mai?" „Ja", erwiderte er etwas ungeduldig. „Wissen Sie noch nicht einmal, welchen Monat wir haben? Kommen Sie, lassen Sie mich mal sehen." Philip schob Bryony zur Seite und beugte sich über die Liste. „Delhi, Agra, Jaipur, Jaisalmar, Jodhpur, Kathmandu, Kashmir, Goa,
Hongkong, Bangkok", las er ungläubig. „Meine Güte, ist Ihr Bruder reich, oder was?" Als sie nicht sofort antwortete, drehte er sich zu ihr um. Bryony sah ihn amüsiert und hilflos zugleich an, dann lächelte sie entschuldigend. „Mm ... ja. Schrecklich, nicht wahr?" „Und er wirft sein Geld für Reisen zum Fenster hinaus?" „O nein!" erwiderte sie eifrig. „Er reist so billig wie möglich. Busse, Bahnen, na. Sie wissen schon ..." Sie sprach nicht weiter, als sie seinen fassungslosen Gesichtsausdruck bemerkte. „Und sind Sie genauso reich?" „O nein. Daniel zahlt für meinen Unterhalt", erklärte sie, obwohl ihn das eigentlich nichts anging. „Hm", meinte Philip trocken. „Ich habe genug Geld für die Reise, keine Sorge", versicherte sie ihm. „Können wir auf dem Weg zum Flughafen bei der Bank vorbeifahren?" „Ja." Er sah sie an, als wüsste er nicht so recht, was er mit ihr anfangen sollte. „Kommen Sie! Irgendwie habe ich das merkwürdige Gefühl, dass mir das alles noch Leid tun wird", erklärte er. „Sie können mein Flugticket ja stornieren lassen", schlug Bryony hoffnungsvoll vor. „Nein", erwiderte er energisch und ging zur Tür. Sie fuhren zuerst zur Bank, wo beide sich Reiseschecks holten, dann weiter zum Flughafen, ließen das Auto auf einem Platz für Dauerparker stehen und betraten das Flughafengebäude. Philip übernahm die Führung. Er holte die Tickets ab, bezahlte sie und führte Bryony dann zur Einstiegsschleuse. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, und Bryony fragte sich unwillkürlich, ob bei Philip du Vaal immer alles so glatt lief. Sie selbst hatte damit die größten Schwierigkeiten. Im Flugzeug angekommen, nahm sie, auf Philips Drängen hin, den Fensterplatz und blickte nach draußen. Vierzehn Stunden, dachte sie. Sie hatte völlig vergessen, dass sie nun die ganze Zeit so dicht neben diesem beunruhigenden, dominierenden Mann sitzen musste. Es war schon lange her, seit sie sich zu jemandem hingezogen gefühlt hatte. David, vor zwei Jahren, war der Letzte gewesen. Und er wird der Letzte bleiben, entschied Bryony energisch. Obwohl es sehr unwahrscheinlich war, dass Philip sich auch zu ihr hingezogen fühlte, würde sie vorsichtig sein. „Stimmt was nicht?" fragte er sie in diesem Augenblick leise. „Haben Sie Angst vorm Fliegen?" „Was? O nein", erwiderte sie und drehte sich zu ihm um. „Ich war nur in Gedanken." „Worüber haben Sie nachgedacht? Über Ihren Bruder?" Bryony schüttelte den Kopf, nahm das Informationsblatt über Schwimmwesten aus der Tasche an der Rückenlehne des Sitzes vor sich und tat so, als würde sie lesen. Es war naiv zu hoffen, dass sie einfach aufhören konnte, Philip attraktiv zu finden. Nimm dich zusammen, befahl sie sich im Stillen und stopfte das Informationsblatt an seinen Platz zurück. Vergrab die Sehnsucht zusammen mit dem Bedauern. Behandele ihn wie einen Bruder oder wie einen Onkel, redete sie sich ein. Eine bunte Illustrierte landete in diesem Augenblick schwer auf ihrem Schoß, und Bryony sah Philip überrascht an. „Können Sie vielleicht aufhören so herumzuzappeln?" fragte Philip ungeduldig. „Was ist denn plötzlich in Sie gefahren?" „Nichts", antwortete Bryony. „Ich werde immer nervös, wenn ich nichts zu tun habe." Sie gab ihm die Illustrierte zurück und holte einen Skizzenblock und einen Bleistift aus ihrem Rucksack. „Ich werde jetzt arbeiten", erklärte sie entschieden. „Damit vertreibe ich mir die Zeit." Kaum war das Licht für die Sitzgurte erloschen, schnallte sie sich los und setzte sich so, dass sie die Passagiere im Gang neben sich sehen konnte. Sie bemerkte eine junge Frau neben Philip auf der anderen Seite des Gangs, die sie ziemlich hochmütig betrachtete. Mit einem schelmischen Lächeln machte sich Bryony daran, eine Karikatur dieser Frau zu zeichnen.
„Das ist aber nicht sehr nett von Ihnen", erklärte Philip, als er merkte, was sie tat. „Ist mir egal. Sie starrt mich schon die ganze Zeit an, und das mag ich nicht." „Sie starrt Sie wahrscheinlich wegen Ihrer Kleidung an", meinte Philip lächelnd. „Das weiß ich." Sie sah ihn an und fragte neckend: „Stört es Sie, wie ich mich anziehe? Ich bringe Sie doch hoffentlich nicht in Verlegenheit." „Nein, nein. Mich kann man nicht so schnell in Verlegenheit bringen." „Das dachte ich mir. Sie sehen aus, als wäre es Ihnen gleichgültig, was andere von Ihnen halten." „So ist es auch. Werden Sie sich den Rest des Flugs mit Ihrer Zeichnerei beschäftigen?" „Wahrscheinlich nicht. Wieso? Sie wollen doch hoffentlich nicht von mir unterhalten werden, oder?" „Wie kommen Sie denn darauf?" erkundigte er sich erstaunt und ein wenig belustigt. „Wenn Sie Unterhaltung suchen, dann wenden Sie sich besser an die Dame auf der anderen Seite. Sie sieht sehr unterhaltungswütig aus." „Eifersüchtig?" „Ach wo!" erklärte Bryony herablassend. „Ich wollte Ihnen nur helfen." „Ich brauche keine Hilfe", meinte er. Philip betrachtete die Zeichnung auf Bryonys Skizzenblock nachdenklich. „Können Sie auch andere Sachen zeichnen, ich meine, außer Gesichtern?" „Was für Sachen?" fragte Bryony verwirrt. „Zimmer. Darf ich?" Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er ihr Block und Bleistift aus der Hand, wählte ein freies Blatt und fing an, den Grundriss eines Hauses zu zeichnen. „Solche Sachen", erklärte er und zeigte ihr seine Skizze. Bryony dachte kurz nach, nickte dann, nahm den Block und den Stift wieder entgegen, riss sein Blatt ab, zerknüllte es und ließ es geistesabwesend in seinen Schoß fallen. „Sie meinen sicher das Haus, in dem Sie heute Nachmittag gearbeitet haben." „Mm!" Philip sah ihr über die Schulter, erklärte ihr, was sie zeichnen sollte. „Sie zeichnen gern, nicht wahr?" meinte er beiläufig, als sie anfing, die Details auszuarbeiten. „Ja", gestand sie, „schon immer. Oft bin ich so in meine Zeichnungen vertieft, dass ich dabei die Zeit völlig vergesse. Aber nur wenn alles klappt. Manchmal brauche ich nur ein paar Striche zu zeichnen, und schon habe ich eingefangen, was ich einfangen wollte. Dann muss ich mich schwer zusammenreißen, um nicht daran herumzuverbessern. Aber es gibt auch Tage, an denen mir das Zeichnen gar nicht von der Hand geht. Ich kann mir vorstellen, dass das mit dem Schreiben ähnlich ist." „Ja. Schade, dass wir uns nicht willkürlich inspirieren lassen können", stimmte er ihr nachdenklich zu. „Die Treppe geht nach links hoch", erklärte er dann, ohne den Blick von ihrer Zeichnung zu nehmen. „Erzählen Sie mir, wie Ihr Bruder zu dem vielen Geld gekommen ist", fragte er im selben Ton. „Er hat es von unserem Großvater geerbt." „Und Sie sind leer ausgegangen?" „Nein, natürlich nicht ganz. Ich bin ein Mädchen, und mein Großvater schätzte Mädchen nicht sehr. Offenes oder geschlossenes Treppengeländer?" fragte sie und ließ den Bleistift über der gezeichneten Treppe auf dem Block schweben. „Offen! - Wenn Ihre Großmutter Ihnen ähnlich war, kann ich Ihren Großvater verstehen", neckte Philip sanft. „Warum haben Ihre Eltern das Geld nicht geerbt?" „Mein Großvater mochte meine Eltern nicht. Besser gesagt, er mochte meinen Vater, seinen Sohn, nicht. Aber das kann man ihm nicht übel nehmen. Daniel und ich mochten unseren Vater auch nicht besonders!" Bryony lehnte sich, den Bleistift in der Hand, zurück und lächelte. „Vermutlich bin ich deshalb Bildhauerin geworden. Es war der schmutzigste Beruf, der mir eingefallen ist." „Das müssen Sie mir näher erklären", verlangte Philip. „Es macht Ihnen anscheinend Spaß, sich unverständlich auszudrücken."
„Nun", begann Bryony, „meine Eltern waren schrecklich enttäuscht darüber, dass ich nur ein Mädchen war. Dabei war ich so ein süßer Fratz ..." Sie ignorierte Philips prustendes Auflachen und fuhr fort. „Doch, ehrlich, ich war recht niedlich damals. Ich trug hübsche Kleidchen, meistens weiße, und es war mir strengstens verboten, mich schmutzig zu machen. Kein Herumrennen im Garten, kein Spielen im Sandkasten, und mit den anderen schrecklichen schmuddeligen Kindern durfte ich schon gar nicht zusammen sein. Außerdem war meine Mutter sehr altmodisch und steckte mich in ein kirchliches Internat. Sie glaubte, dort wäre ich sicher vor den Gefahren der Welt, den Jungs nämlich." „Und, waren Sie sicher?" fragte Philip. „Verrate ich nicht. Als ich neun war, kam Daniel zur Welt", fuhr Bryony mit einem versonnenen Lächeln fort. „Sie sind siebenundzwanzig? Du meine Güte, Sie sehen nicht älter als achtzehn aus", stellte Philip überrascht fest. „Und sicher denken Sie, dass ich mich auch wie ein Teenager aufführe", neckte sie und sah ihn schelmisch dabei an. „Zugegeben, meistens benehme ich mich nicht sehr erwachsen. Das hat sicher etwas mit meiner schweren Kindheit zu tun." „Aber das scheint Sie nicht weiter zu stören", meinte Philip. „Nein, eigentlich nicht. Jetzt zumindest stört es mich nicht mehr. Damals war ich allerdings sehr unglücklich. Nun, wie auch immer, als mein Großvater starb, sein Name war übrigens Loring Grant, hat er mir ..." „Loring Grant, der Industrielle?" fragte Philip. „Ja. Da mein Vater sein einziges Kind und Daniel sein einziger Enkelsohn war, erbte Daniel eben alles. Mein Vater war außer sich vor Wut, Aber er konnte nichts daran ändern." „Und Sie bekamen keinen Pfennig?" „Nein, nichts. Meine Eltern kamen zwei Jahre später bei einem Verkehrsunfall ums Leben, und Daniel zog zu mir in ein kleines gemietetes Zimmer in Schottland. Seine Vermögensverwalter gaben ihm gerade genug Geld aus seinem Erbe, um meine Miete bezahlen zu können. Ich hatte selbst kaum Einkommen und hätte Daniel nicht auch noch ernähren können. Aber ich bin zufrieden, es hat sich eigentlich alles recht gut eingerenkt!" schloss Bryony. „Ich glaube Ihnen kein Wort." Entschieden verschränkte Philip die Arme vor der Brust. „Doch, doch, die ganze Geschichte ist wahr", beteuerte Bryony eifrig. Es war tatsächlich auch alles so passiert, außer dass sie die Sache nicht ganz so leicht nahm, wie sie tat. Es machte ihr sehr viel aus, mit leeren Händen dazustehen, aber das ließ sie sich nicht anmerken. Außerdem hatte sie den Mann neben sich erst vor wenigen Stunden kennen gelernt, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass er wirklich an ihrer Lebensgeschichte interessiert war. Oder wollte er so vielleicht herausfinden, welchen Einfluss Daniel auf seine Nichte hatte? Als Bryony aufblickte, sah sie, dass die Stewardess neben ihnen stand und darauf wartete, ihnen Kaffee einzugießen. „Ich glaube, da will jemand etwas von Ihnen", sagte Bryony leise. Philip wandte sich lächelnd der Stewardess zu. „Schwarz bitte, ohne Zucker. Bryony?" „Oh, mit Milch und drei Stück Zucker, bitte", sagte sie lächelnd und klappte den kleinen Tisch an der Lehne des Vordersitzes herunter. Sie stellte ihre Tasse Kaffee darauf und reichte Philip dann ihren Zeichenblock. „Ist das gut so?" fragte sie. „Mm, es ist in Ordnung. Darf ich mal Ihren Bleistift haben?" Bryony reichte ihm den Stift und sah zu, wie er überall auf dem Zeichenblock kleine Kreuze machte. „Sind das die Stellen, ah denen Sie ihre Spezialeffekte anbringen wollen?" erkundigte sie sich. „Theoretisch", erklärte er. Stirnrunzelnd betrachtete er das Bild auf dem Block und begann dann zu schreiben. Bryony nahm an, dass es sich um Regieanweisungen handelte.
„Erzählen Sie mir etwas über sich", verlangte sie dann und trank einen Schluck Kaffee. „Da gibt's nicht viel zu erzählen." Er zuckte gleichgültig die Schultern. „Verglichen mit Ihrer ist meine Lebensgeschichte sehr langweilig." „Unsinn. Erzählen Sie mir, wie Sie so unanständig reich geworden sind und weshalb Sie so schön braun sind, und ..." „Schon gut, schon gut." Seufzend gab er sich geschlagen und hörte auf zu schreiben. „So schön braun geworden bin ich in Mexiko. Ich war seit Februar dort, um zu drehen." „Müssen Sie denn immer am Drehort sein?" fragte Bryony neugierig. „Ja, meistens, außer wenn alles recht einfach ist." „Und was haben Sie gedreht?" „Oh, einen Science-Fiction-Streifen. Mit vielen fliegenden Untertassen und außerirdischen Wesen." „Und Sie haben die alle gebaut und dafür gesorgt, dass sie funktionieren?" „Ja, und ich habe die Kameraeinstellungen geprüft." „Macht Ihnen das Spaß?" „Natürlich. Sonst würde ich es nicht tun", erwiderte er lächelnd. „Wir haben meistens viel Spaß bei der Arbeit. Wie eine Meute Schuljungen. Am schönsten ist es, wenn wir etwas explodieren lassen können. Mit möglichst viel Lärm, versteht sich", fuhr er begeistert fort. „Außerdem verdient man sehr viel Geld dabei." „Deshalb können Sie einfach so nach Bangkok fliegen." „Ja", erwiderte er, sein Lächeln erlosch, und Bryony tat es Leid, dass sie ihm seine gute Laune verdorben hatte. „Sonja wird schon nichts passiert sein", beruhigte sie ihn. „Ja." Philip lehnte sich seufzend in seinem Sitz zurück und streckte die langen Beine von sich. „Was für eine Ausbildung braucht man eigentlich, um Filmregisseur für Spezialeffekte zu werden?" nahm Bryony das Gespräch hartnäckig wieder auf. „Was? Oh, man muss Ingenieur sein oder etwas Ähnliches. Konstrukteur, zum Beispiel. Oder man muss handwerklich geschickt sein. Warum? Wollen Sie sich um einen solchen Job bewerben?" „O nein, niemals! Ich könnte nie im Leben eines meiner liebevoll hergestellten Werke in die Luft jagen." „Ja, da liegt der Unterschied zwischen Ihren Werken und meinen." Er beugte sich wieder über die Zeichnung auf dem Block, runzelte einen Moment nachdenklich die Stirn und begann dann, wieder zu schreiben. Bryony betrachtete sein markantes Profil und lächelte wehmütig. Philip schien vergessen zu haben, dass sie neben ihm saß. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab, um aus dem Fenster zu sehen. Der Rest des Fluges verstrich, ohne dass sie irgendwelche tief gehenden Gespräche führten. Nach dem Essen klappte Bryony ihren Sitz zurück und versuchte zu schlafen. Mit ein bisschen Glück würden sie morgen um diese Zeit wieder auf dem Heimweg sein.
3. KAPITEL In Bangkok war es heiß, schwül und laut. Etwas benommen stieg Bryony zusammen mit Philip in eins der Taxis vor dem Flughafengebäude. „Ist es hier immer so heiß?" fragte sie, während sie sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn strich und, geblendet vom grellen Sonnenlicht, blinzelte. „Es ist meistens ziemlich schwül hier", erklärte Philip. „Vertragen Sie die Hitze nicht?" „Keine Ahnung. Ich war noch in keinen heißen Ländern." Ihm scheint die Hitze jedenfalls nichts auszumachen, dachte Bryony und fühlte sich plötzlich einsam und ausgeschlossen. Die fremde Welt, die draußen am Taxifenster vorbeihuschte, lenkte ihre Gedanken schnell in andere Bahnen. Unwillkürlich suchte sie in der Menschenmenge nach Daniels Gesicht, gab dieses sinnlose Unternehmen aber bald auf und konzentrierte sich auf die goldenen Kuppeln der Stadt und die dreirädrigen Taxis, die in halsbrecherischem Tempo durch die Straßen schössen. Sie lachte auf und hoffte, dass sie all diese Eindrücke auf dem Papier einfangen könnte. „Ist es nicht erstaunlich?" rief sie begeistert. „Alles ist genauso, wie man sich es vorgestellt hat. Der Lärm, die Farben, die Menschenmengen. Und schauen Sie, dort..." Sie lehnte sich aus dem Taxifenster. „Kanäle!" „Klongs", erklärte Philip, „man nennt die Kanäle Klongs." Bryony drehte sich zu ihm herum, und als sie das amüsierte Funkeln in seinen Augen sah, meinte sie entrüstet: „Sie waren schon einmal hier!" „Ja", gestand er lächelnd und zeigte ihr ein paar der vielen Sehenswürdigkeiten Bangkoks. Die meisten waren Tempel oder so genannte Wats, wie er ihr herablassend erklärte. „Wenn wir Zeit haben, dann zeige ich Ihnen den Tempel des Smaragdbuddhas. Der ist sehr eindrucksvoll. Und hier ist unser Hotel, das glücklicherweise mit einer Klimaanlage ausgestattet ist." Sie meldeten sich am Empfang, anschließend führte man sie zu ihren nebeneinander liegenden Zimmern. Bryony ging in ihrem* Zimmer sofort zum Fenster und öffnete es. Sie stützte die Ellenbogen auf die Fensterbank, das Kinn in die Hände und betrachtete fasziniert die Stadt unter sich. War Daniel irgendwo dort draußen? Amüsierte er sich? Sie hoffte, dass er das tat und dass er gut auf Sonja aufpasste. Bryony musste lächeln, als sie an ihren Bruder dachte. Er hatte sich so sehr auf seinen wohlverdienten Urlaub gefreut. Sie, wollte nicht, dass ihm irgendetwas die Reise verdarb. Wie gern wäre sie jetzt hinausgegangen, um ihren Bruder zu suchen und ihn zu warnen, aber Philip wollte, dass sie auf ihrem Zimmer blieb. Sie wandte sich vom Fenster ab und machte sich daran, ihren Rucksack auszupacken. Sie suchte sich frische Wäsche zusammen und ging ins Bad, um zu duschen. Nach der belebenden Dusche schlüpfte sie in den hoteleigenen kleinen Seidenbademantel und durchwühlte ihren Rucksack auf der Suche nach ihrer Zahnbürste und ihrem Kamm. Dabei fiel ihr ein, dass sie weder das eine noch das andere eingepackt hatte. Noch nicht einmal Zahnpasta hatte sie mitgenommen. Also würde sie sich eine besorgen müssen. Vielleicht hatte Philip eine zweite dabei. Sie schlüpfte in den Gang hinaus, lehnte ihre Zimmertür an, ging schnell zu Philips Zimmer hinüber, klopfte kurz an und stieß die Tür auf. Philip kam gerade, nur mit einem Badetuch bekleidet, aus dem Bad und hatte offensichtlich selbst eben geduscht. Verlegen blieb Bryony stehen. „Oh, Verzeihung", entschuldigte sie sich unbeholfen. „Ich wollte mir nur ein
bisschen Zahnpasta und einen Kamm leihen." „Bedienen Sie sich!" sagte er und betrachtete sie nachdenklich. „Die Sachen liegen auf dem Regal über dem Waschbecken." „Danke", flüsterte sie, huschte an ihm vorbei und bemühte sich, ihn nicht anzusehen. Halb nackt ist er noch eindrucksvoller, dachte sie, während sie sich die Zähne putzte. Sein sonnengebräunter Körper war wunderbar proportioniert. Er hatte eine glatte muskulöse Brust, eine schmale Taille und lange kräftige Beine, die leicht behaart waren. „Haben Sie alles gefunden?" fragte er und kam ins Bad. „Was? O ja, vielen Dank. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, dass ich Ihre Ersatzzahnbürste benutzt habe. Ich kaufe Ihnen eine neue." Bryony nahm den Kamm zur Hand und fuhr damit hastig durch ihr wirres Haar. „Haben Sie Ihre Meinung geändert?" erkundigte sich Philip leise und lehnte sich an den Türrahmen. „Worüber?" fragte Bryony und schaute ihn verwirrt an. „Über blonde Männer." Zuerst verstand Bryony nicht ganz, was er meinte, aber als der Groschen schließlich fiel, schimpfte sie entrüstet los. „Sie glauben doch nicht etwa, ich sei hierher gekommen, um ... ich wollte mir nur Ihre Zahnbürste und Ihren Kamm leihen. Das habe ich Ihnen doch gesagt." „Richtig." „Und ich finde Ihre anzüglichen Bemerkungen nicht sehr witzig." „Anzüglich?" fragte er. „Ja, anzüglich." „Darf ich fragen, warum Sie so leicht bekleidet sind?" „Ganz sicher nicht, um Ihnen zu gefallen", rief sie, entsetzt darüber, dass er ihr solche Absichten unterstellte. „Ich habe einfach nicht daran gedacht, dass ..." „Dann sollten Sie vielleicht besser anfangen zu denken. Halb nackt im Schlafzimmer eines Mannes aufzukreuzen ist eine gefährliche Sache. Sie kennen mich nicht. Sie haben keine Ahnung, wer ich bin. Ich könnte zum Beispiel..." „Ja, das könnten Sie, aber ich glaube nicht, dass Sie mir etwas antun würden", unterbrach sie ihn hastig und zerrte beim Kämmen so heftig an ihren Haaren, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. „Zufällig haben Sie Recht, aber das heißt noch lange nicht, dass ... was zum Teufel machen Sie da eigentlich? Wollen Sie sich die Haare vom Kopf reißen? Lassen Sie das, geben Sie mir den Kamm!" Philip kam zu ihr und nahm ihr den Kamm aus der Hand. Er zog sie mit ins Schlafzimmer hinüber, drückte sie auf die Bettkante und kniete sich hinter ihr auf das Bett. Mit unendlich sanften Strichen begann er, ihr nasses wirres Haar zu kämmen. „Ich habe mir ehrlich nichts dabei gedacht, Philip", erklärte Bryony besorgt. „Das macht die Sache noch schlimmer", meinte er streng. „Entschuldigung. Aber ich bin auch immer einfach zu Daniel ins Zimmer gegangen und er in meins. Ich habe vorher wirklich nicht nachgedacht!" „Fertig!" sagte Philip und gab ihr den Kamm zurück. „Danke!" Bryony sprang auf, dann zögerte sie. „Sie sind zu dünn!" stellte Philip fest, mit einem Blick auf ihre Beine, die unter dem kurzen Seidenbademantel hervorsahen. „Ich weiß! Manchmal vergesse ich, dass ich etwas essen muss. Ich gehe mich jetzt anziehen, in Ordnung? Und dann können wir Daniel und Sonja suchen. Sollten wir vorher vielleicht im Hotel anrufen?" „Wenn sie überhaupt dort sind." „Sie werden dort sein!" erklärte Bryony, froh, dass sie sich wieder normal mit ihm unterhalten konnte. „Daniel wird sich an seine Reiseroute halten. Er nimmt solche Sachen sehr genau. Wenn er einen Plan hat, weicht er nicht davon ab. Nun, wenigstens wird er jetzt
nicht mehr davon abweichen!" fügte sie rasch hinzu, nachdem ihr eingefallen war, dass sie ja hier waren, weil Daniel seine Pläne plötzlich geändert hatte. „Wir gehen am Besten einfach ins Hotel. Es ist nicht weit von hier." schlug Philip vor. „Wieso haben wir nicht ein Zimmer im selben Hotel genommen?" fragte Bryony neugierig. „Wenn Sie wüssten, wie das Hotel aussieht, würden Sie nicht fragen", erwiderte er trocken. „Warum? Ist es ein bisschen ...?" „Viel schlimmer! Es ist kein Touristenhotel, aber es ist billig. Ich verstehe nicht, wieso Daniel in so einem Schweinestall wohnen will, wenn er sich ohne weiteres ein gutes Hotel mit Bad und fließendem Wasser leisten könnte." „Das verstehe ich auch nicht", stimmte Bryony ihm zu. „Vielleicht wusste er nicht, wie schlimm es ist, als er ein Zimmer dort buchte." „Vielleicht!" Philip rollte sich vom Bett und schmunzelte, als Bryony unwillkürlich zurückwich. „Sind Sie wirklich so naiv? Machen Sie sich denn tatsächlich keine Sorgen um Daniel? Achtzehn ist doch ein bisschen jung für eine Weltreise, oder?" s „Daniel war nie sehr jung, irgendwie", sagte sie gedankenverloren. „Er war immer viel erwachsener als ich. Und er ist sehr vernünftig, sehr selbstständig, und solange er sich regelmäßig bei mir meldet, mache ich mir um ihn keine Sorgen!" Philips Gesichtsausdruck veränderte sich, als er zu ihr herüberkam und ihr mit dem Finger sanft über die Wange strich. „Wissen Sie, dass Sie eine erstaunlich schöne Frau sind? Hohe Wangenknochen, Rehaugen ..." „Rehe haben aber braune Augen!" erwiderte Bryony und wich hastig noch weiter zurück. „Außerdem haben Sie vorhin gesagt, dass ich zu dünn sei." „Ja, aber das beeinträchtigt Ihre Schönheit nicht. Und allein Ihre Stimme kann einen Mann schon zum Wahnsinn treiben. Verschwinden Sie, Bryony Grant, damit ich mich anziehen kann. Ich hole Sie in ein paar Minuten ab." Bryony nickte und verließ das Zimmer. Draußen legte sie die Hände gegen ihre glühenden Wangen und dachte über die Komplimente nach, die Philip ihr eben gemacht hatte. Es lag nicht in ihrer Absicht, ihn zum Wahnsinn zu treiben, und schon gar nicht mit ihrer Stimme. Sie wollte sich auf keinen Fall mit Philip du Vaal einlassen. Er sah nicht aus wie ein Mann, mit dem man leicht zurechtkam, und Bryony hielt es für das Wichtigste im Leben, mit anderen Menschen zurechtzukommen. Sie hätte auf keinen Fall halb nackt in sein Zimmer gehen dürfen. Philip wie einen Bruder zu behandeln war dumm und gefährlich obendrein. Rasch schlüpfte sie in Jeans und ein sauberes T-Shirt. Als Philip Bryony zehn Minuten später abholte, wirkte er geistesabwesend und erwähnte ihr Benehmen von vorhin mit keinem Wort. Er nahm sie nur am Arm und führte sie nach draußen. Bryony sah sich interessiert um. Bangkok ist eine Mischung aus Geschichte und Gegenwart, dachte sie fasziniert, während sie sich von Philip durch das verwirrende Labyrinth von hellen Straßen und schmutzigen Gassen führen ließ. Er schien seinen Weg zu kennen, und sie genoss den Spaziergang. Händler, die ihre Stände am Straßenrand aufgebaut hatten, boten verlockende Waren an. Überall stieß man auf Tempel und vergoldete Elefantenstatuen. „Könnte sein, dass wir auch ein paar echten begegnen", meinte Philip, als er ihren verzauberten Gesichtsausdruck bemerkte, und Bryony lachte auf. „Kommen die Elefanten wirklich bis in die Stadt?" „Ja, ihre Mahuts suchen hier nach Arbeit!" „Elefantentreiber!" übersetzte Bryony, um ihm zu zeigen, dass sie auch etwas wusste. „Die Mahuts und ihre Elefanten verbringen das ganze Leben zusammen, nicht wahr? Sie werden zusammen alt!" „Soweit ich weiß, ja", stimmte er ihr zu und lächelte sie an. „Aber da die Teakholzwälder fast ganz abgeholzt sind, gibt es kaum noch Arbeit für sie. Und so etwas nennt man Fortschritt!" „Ja, leider", stimmte sie traurig zu, blieb vor einer der Elefantenstatuen stehen und drückte
ein Stückchen Blattgold, das sich gelöst hatte, fest. „Wussten Sie, dass Elefanten zu den besten Schwimmern des Tierreiches zählen?" fragte sie leise. „Sie benutzen ihren Rüssel wie einen Schnorchel. Ich mag Elefanten." „Das freut mich!" Philip lächelte amüsiert. Bryony drehte sich um, bemerkte sein Schmunzeln und warf ihm ein schelmisches Lächeln zu. „Zuerst wollte ich ja wirklich nicht mitkommen, aber jetzt bin ich froh, dass ich es doch getan habe. Sie auch?" „Froh, dass Sie mitgekommen sind oder dass ich gekommen bin?" neckte er sie. „Beides!" „Ja, ich bin froh, aber ich hätte mir diese Reise lieber unter anderen Umständen gewünscht! Kommen Sie, wir müssen weiter!" Bryony versuchte, so viel wie möglich von ihrer exotischen Umgebung in sich aufzunehmen, während sie sich von Philip weiter durch die engen, überfüllten Straßen führen ließ. Sie kamen nur langsam vorwärts, und Bryony hatte dadurch Gelegenheit, ein paar der ausgestellten Waren zu betrachten. Es gab wundervolle Stoffe, die verschiedensten Früchte und bunte Vögel in riesigen Käfigen. Am liebsten wäre sie den ganzen Tag hier herumgelaufen, aber leider musste sie ja Daniel und Sonja finden. Trotz der verstopften Straßen waren die Leute nett zueinander. Das war ganz anders als in London, wo jeder sofort missmutig wurde, wenn er in einen Stau geriet. Es herrschte hier ein buntes Völker- und Sprachengemisch. Einmal wurde sie in der Menschenmenge von Philip getrennt, blieb stehen, um sich ein paar Schnitzereien auf einem der Ladentische zu betrachten, und erschrak, als Philip sie plötzlich heftig zur Seite zerrte. Sie hatte das Auto, das auf sie zukam, gar nicht bemerkt. „Passen Sie doch ein bisschen besser auf!" schimpfte Philip. „Tut mir Leid!" entschuldigte sie sich. Er schob sie mitleidslos weiter durch die Menschenmengen, und Bryony geriet bald außer Atem. Sie war heilfroh, als sie ihr Ziel endlich erreicht hatten. Allerdings wäre sie noch ein wenig glücklicher gewesen, wenn das Hotel nicht ganz so schäbig ausgesehen hätte. Philip hatte gesagt, dass es ein billiges Hotel sei, aber sie selbst hätte dort noch nicht einmal umsonst wohnen mögen. Die rote Farbe der Eingangstür blätterte ab, die Fassade hatte Risse, und Bryony warf Philip besorgt einen Blick zu. Wahrscheinlich würde er ihr jetzt Vorwürfe machen, weil Daniel Sonja in einem solchen Hotel übernachten ließ. Aber er sagte keinen Ton, runzelte, nur die Stirn und betrat das Hotel. Bryony folgte ihm. Drinnen war es schwül wie in einer Sauna. Ich bin doch keine Selbstmörderin, dachte Bryony und beschloss spontan, lieber draußen zu warten. Philip konnte seine Erkundigungen auch ohne sie anstellen. Als Philip fünf Minuten später immer noch im Hotel war, fragte Bryony sich unwillkürlich, ob er die beiden wohl gefunden haben mochte und ob es Daniel genau in diesem Augenblick an den Kragen ging. Sie wollte ihrem Bruder schon zu Hilfe eilen, da entdeckte sie inmitten der Menschenmenge plötzlich einen jungen Mann mit schwarzem Haarschopf und einem Rucksack. Bryony sah genauer hin und folgte dem Tramper. „Daniel!" rief sie, vergaß Philip und stürzte sich in die Menschenmenge, die sich durch die enge Straße schob, immer bemüht, den Tramper nicht aus den Augen zu verlieren. Sie schubste andere Passanten, entschuldigte sich, zwängte sich zwischen den Leuten hindurch, hasste es, so klein zu sein, und rief immer wieder Daniels Namen, obwohl sie im Straßenlärm wahrscheinlich sowieso nicht zu hören war. Dann endlich hatte sie den jungen Mann mit dem schwarzen Haarschopf genau vor sich, warf sich verzweifelt nach vorn und bekam den Rucksack zu fassen. Lachend und atemlos drehte sie ihn zu sich herum und sah sich einem völlig fremden, überraschten jungen Mann gegenüber. „Madame?" fragte er. „Qu'est-ce qu'il y a?" „Oh, no!" erwiderte sie beschämt. „Entschul... excusez moi!" Ihr Schulfranzösisch reichte längst nicht aus, um ihm die Verwechslung zu erklären. Deshalb lächelte sie ihn verlegen
an. „Ich dachte, Sie waren jemand anders!" Der Fremde zuckte die Schultern, warf ihr völlig verwirrt einen letzten Blick zu und ging weiter. Bryony seufzte enttäuscht und wollte sich schon auf den Rückweg zu Daniels Hotel machen, als ihr plötzlich klar wurde, dass sie sich verirrt hatte. Sie blickte sich hilflos um und schlug dann die Richtung ein, in der ihr die Häuser am bekanntesten vorkamen. Nur konnte sie sich nicht daran erinnern, dass es in der Straße so viele Juwelierläden gegeben hatte. Stirnrunzelnd versuchte sie, sich an eines der Häuser oder an einen der Tempel zu erinnern, an denen sie vorbeigerannt war. Das Einzige jedoch, woran sie sich plötzlich erinnerte, war Philip. Liebe Güte, er wird mich umbringen, dachte sie entsetzt und beschloss, einfach auf dieser Straße zu bleiben. Zerstreut erwiderte sie das Lächeln und Nicken der Leute, denen sie begegnete, und schüttelte energisch den Kopf, als Händler versuchten, sie in ihre kleinen Läden zu locken. In der Luft hing der Geruch von Gewürzen und Blumen. Beim Anblick der Läden, die Silberschmuck, Batik-, Seiden- und Baumwollstoffe ausgestellt hatten, vergaß sie völlig, dass sie ja eigentlich auf der Suche nach Daniel und Philip war. Sie ging immer langsamer und blieb ab und zu sogar stehen, um ein paar der ausgestellten Waren zu betrachten. Natürlich musste Philip sie genau in dem Augenblick entdecken, als sie fröhlich über eine Bemerkung lachte, die einer der Ladenbesitzer gemacht hatte. Philip war nicht aufgetaucht, als sie besorgt und panisch ausgesehen hatte, nein, er hatte genau den Augenblick abgepasst, in dem sie völlig unbeschwert aussah. Sie blickte ihm entgegen und schluckte nervös. Er sah wütend aus, und Bryony bekam ein schlechtes Gewissen. „Was treiben Sie eigentlich hier?" fragte er zornig, als er vor ihr stand. „Ich ..." Er hob die Hand, und seine Stimme war leise, aber eisig. „Sie sind der selbstsüchtigste, verantwortungsloseste Mensch, den ich je kennen gelernt habe. Seit Stunden renne ich hier auf dem Markt herum. Und eins will ich gleich mal klarstellen: Ich werde nicht die Hälfte meiner Zeit damit verbringen, Ihren verantwortungslosen Bruder zu suchen, und die andere Hälfte damit, seiner genauso verantwortungslosen Schwester nachzulaufen. Wenn Sie so etwas noch ein einziges Mal machen, dann lege ich Sie übers Knie. Wissen Sie überhaupt, was Ihnen alles hätte passieren können? - Los, vorwärts!" Er fasste sie am Arm und schob sie vor sich her. „Philip", rief sie und warf ihm über die Schulter einen Blick zu. „Ich habe nicht ... wollte nicht! Ich dachte, dass ich Daniel gesehen hätte ..." „Es ist mir völlig egal, was Sie gesehen haben. Ihnen war es ja auch egal, dass ich nicht wusste, was, zum Teufel, mit Ihnen passiert war!" „Das war doch keine Absicht", verteidigte sie sich. „Haben Sie jemandem eine Nachricht für mich hinterlassen?" „Nun, nein ..." „Haben Sie ein einziges Mal an mich gedacht?" „Ja, natürlich. Aber wenn ich erst ins Hotel gegangen wäre, um Ihnen Bescheid zu sagen, dann hätte ich ihn aus den Augen verloren!" „Und, wo steckt er?" fragte er gehässig und schaute sich demonstrativ um. „Er war es nicht", gestand sie. „Aber er hätte es sein können. Philip, bitte seien Sie mir nicht mehr böse", bettelte sie unglücklich. Er sah sie verächtlich an, drehte sich auf dem Absatz um und ging davon. „Philip!'.' Bryony hatte Angst, ihn aus den Augen zu verlieren. und sich wieder zu verirren, rannte ihm nach und hielt ihn am Ärmel seines Hemds fest. „Ich wollte doch nur helfen", beteuerte sie und sah zu ihm auf. „Und dann habe ich mich verirrt. Es tut mir so Leid", entschuldigte sie sich zerknirscht und zuckte zusammen, als Philip sie fest am Arm packte und schüttelte. „Können Sie sich überhaupt vorstellen, was ich durchgemacht habe?" schimpfte er. „Ich dachte, Sie wären entführt worden ..."
„Das ist doch Unsinn. Wer ...?" Bryony hielt inne, als sie den wütenden Blick sah, den er ihr zuwarf, und senkte den Kopf. Leise vor sich hin schimpfend, schob Philip sie über den Marktplatz. Er behandelte sie wie ein ungezogenes Kind, und Bryony wurde langsam, aber Sicher auch zornig. Sie hatte selten Wutausbrüche, aber was zu viel war, war zu viel. Hatte sie sich nicht entschuldigt? Was sollte sie denn noch tun? Etwa auf den Knien vor ihm herumrutschen? An der Hauptstraße winkte Philip ein Taxi herbei und schubste Bryony grob auf den Rücksitz, bevor er sich neben sie auf das Polster sinken ließ. „Ist mit Daniel und Sonja alles in Ordnung?" fragte sie kühl. „Keine Ahnung. Sie waren nicht da", erwiderte er genauso kühl. „Sie haben dort nur eine Nacht verbracht und sind dann ausgezogen. Der Portier hat ihnen das Hotel ,Dusit Thani' empfohlen!" „Oh, das konnte ich nicht wissen", murmelte Bryony und lehnte sich mit einem lauten Seufzen zurück. Hoffentlich sind sie in diesem Dusit was-auch-immer, dachte sie. Wenn nicht, würde Philip sie sicher erdrosseln. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. „Jetzt sieht man es Ihnen an", erklärte sie missmutig. „Was?" „Dass Sie wütend sind. Sie haben gesagt, dass man es Ihnen meist nicht ansieht, wenn Sie wütend sind!" „Ach, halten Sie den Mund!" meinte er müde. Zornig beschloss Bryony, kein Wort mehr mit ihm zu reden. „Fahren wir jetzt zu diesem Dusit Dingsda?" fragte sie jedoch, als sie das Schweigen nicht länger aushielt. „Ich gehe hin. Sie bleiben im Taxi!" Daraufhin herrschte so lange Schweigen, bis sie das „Dusit-Thani-Hotel" erreicht hatten. „Bleiben Sie hier. Rühren Sie sich nicht von der Stelle!" verlangte Philip, bevor er ausstieg. Er sprach kurz mit dem Fahrer, der nur recht wenig Englisch verstand, warf Bryony noch einen warnenden Blick zu und ging dann ins Hotel. Nach ein paar Minuten kam er wieder heraus, offensichtlich noch wütender als vorher. Mit einem kurzen Streit konnte Bryony sich abfinden, aber ein längerer Nervenkrieg war ihr zu viel.' Philip stieg wortlos ins Taxi und gab dem Fahrer Anweisung, sie wieder ins „NewImperial-Hotel" zurückzubringen. „Sie waren nicht da?" wagte Bryony schließlich zu fragen, und Philips verächtlicher Blick reichte völlig, um sie zum Schweigen zu bringen. „Packen Sie Ihre Sachen", befahl er knapp, nachdem er die Zimmerschlüssel an der Rezeption abgeholt hatte. „Wohin gehen wir denn?" wollte sie wissen. „Nach Butterworth." Wo, um alles in der Welt, liegt Butterworth, fragte sich Bryony. Philip betrachtete ihr bleiches Gesicht, sah, den unglücklichen Ausdruck in ihren Augen und gab schließlich eine Erläuterung von sich. „Es liegt in Malaysia. Wir nehmen den Nachtzug." „Oh!" war alles, was Bryony hervorbrachte. „Ja, oh! Daniel hält sich prächtig an seinen Reiseplan, nicht wahr?" Da ihr keine Antwort darauf einfiel, sah sie ihn nur stumm an. Mit einem leisen Fluch drückte Philip ihr den Zimmerschlüssel in die Hand und ging zum Aufzug hinüber. Bryony war müde, hungrig und fühlte sich elend. Letzteres hieß, dass sie sowieso keinen Bissen hinunterbekommen würde, selbst wenn man ihr etwas angeboten hätte. Und sie hatte ihre Einkäufe auch noch nicht erledigen können. „Philip!" rief sie ihm nach. „Kann ich noch schnell etwas einkaufen?" „Nein!" antwortete er und betrat den Aufzug, ohne sich umzudrehen. „Aber ich brauche dringend ein paar Sachen!" flüsterte sie hilflos. Sie sah auf die geschlossene Aufzugstür, warf einen Blick durch das Flurfenster auf die Straße hinunter und reckte trotzig das Kinn. Es war ja nicht so, als wäre sie vorhin wirklich kopflos
davongerannt. Und Philip hatte ja noch nicht einmal versucht, sie zu verstehen. Noch immer schmollend, ging sie zum Aufzug hinüber. Dies war wahrscheinlich ihre einzige Chance, und die würde Bryony nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sie hatte einen putzigen kleinen Laden neben dem Hotel gesehen, und dort schien es von Kleidung bis zur Seife alles zu geben. Wenn sie sich beeilte, konnte sie wieder zurück sein, bevor Philip merkte, dass sie überhaupt weg gewesen war.
4. KAPITEL Bryony rollte die zwei Hängekleider aus Baumwolle, die sie eben gekauft hatte, vorsichtig zusammen und stopfte sie in ihren Rucksack. Dann betrachtete sie ratlos die anderen" Päckchen mit ihren Einkäufen. Nie im Leben würde alles in den Rucksack passen. Nun ja, vielleicht würde Philip ja nicht bemerken, dass sie plötzlich mehr Gepäck hatte. Und wenn er es merkt, ist es mir auch egal, dachte sie ärgerlich. Es war nicht ihre Schuld, dass er so schlechter Laune war. Schließlich hatte er darauf bestanden, sie mitzunehmen. Ganz entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten sah Bryony sorgfältig nach, ob sie auch nichts vergessen hatte, schulterte ihren Rucksack und ging hinunter zur Rezeption, um dort auf Philip zu warten. Aber natürlich war der schon da und ging, kaum dass sie bei ihm angekommen war, mit schnellen Schritten aus dem Hotel. Bryony musste rennen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Sie nahmen ein Taxi zum Bahnhof, und Bryony musste erneut hinter Philip herrennen, der sich rücksichtslos einen Weg durch die Menschenmenge bahnte. Sie versuchte, ihre Päckchen nicht fallen zu lassen, stolperte hinter ihm her über den Bahnsteig und hoffte inständig, dass Philip nicht zu den Männern gehörte, die tagelang sauer waren. „Hören Sie!" rief sie schließlich keuchend, während sie neben ihm herlief. „Langsam reicht es mir. Ich habe mich doch schon bei Ihnen entschuldigt, und es tut mir auch wirklich sehr Leid. Es wird bestimmt nicht wieder vorkommen!" „Es scheint aber bereits wieder vorgekommen zu sein!" meinte er. „Und wenn schon!" erwiderte sie trotzig. „Sie hätten es nie bemerkt, wenn die Sachen alle in meinen Rucksack gepasst hätten!" „Das ändert nichts an der Tatsache, dass Sie trotz meines ausdrücklichen Verbots das Hotel verlassen haben!" „Philip!" fuhr sie ihn empört an und blieb mitten in der Menschenmenge auf dem Bahnsteig stehen. „Ich bin kein Kind mehr, und ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen. Zugegeben, vorhin habe ich einen Fehler gemacht, aber ..." „Nett, dass Sie das zugeben!" Auch Philip blieb stehen. Bryony sah ihn mit zornig blitzenden Augen an, aber plötzlich wurde ihr bewusst, wie unmöglich sie sich beide benahmen, und sie musste lachen. „Das zeigt mal wieder, wie sehr man sich in einem Menschen täuschen kann. Ich dachte, Sie wären ein entspannter Typ!" „Ein entspannter Typ?" fragte er. „Was für ein komischer Ausdruck!" „Nun, mag sein, dass es komisch klingt, aber sie wirkten so ruhig und irgendwie träge!" erklärte sie. „Träge? Ich arbeite verdammt schwer!" „Ich habe nie behauptet, Sie wären faul. Aber Sie wirkten irgendwie ..." „Entspannt, ich weiß!" ergänzte er kühl. „Hören Sie doch auf zu schmollen. Es gefällt mir nämlich überhaupt nicht, wenn Leute sich mit mir streiten und böse auf mich sind. Das verkrafte ich einfach nicht." „Sie verkraften es nicht?" fragte Philip ungläubig. „Überhaupt nicht. Würden Sie mir vielleicht verraten, wie wir in einen Zug passen sollen, der schon bis zum Platzen voll ist?" „Wir fahren erster Klasse!" verkündete er. „Wenn wir schon kreuz und quer durch den Fernen Osten reisen müssen, dann will ich das wenigstens auf komfortable Weise tun. Aber falls Sie sich lieber von den Massen in den hinteren Wagen zerquetschen lassen möchten, steht Ihnen das natürlich frei. Ich weiß allerdings nicht, ob Sie das verkraften können." Philip sah Bryony erstaunt an, als sie plötzlich loslachte. Sekundenlang kämpfte er mit sich, dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. „Sie sind einfach unmöglich", sagte er und seufzte. „Ich weiß. Vertragen wir uns wieder?" bat Bryony eindringlich, obwohl es wahrscheinlich besser war, böse auf ihn zu sein. Dann dachte sie wenigstens nicht ständig daran, wie
anziehend sie ihn fand. Aber sie fand es noch schlimmer, wenn er böse auf sie war. Philip seufzte tief, schüttelte den Kopf und lachte auf. „Hören Sie auf, mich so anzusehen. Ich werde Sie schon nicht übers Knie legen, so gern ich das auch tun würde. Aber ich kann mich beherrschen." Damit nahm er ihr die Päckchen aus der Hand und ging weiter bis zum Zug. „Na los, steigen Sie ein." Bryony warf einen Blick ins Abteil und blinzelte erstaunt. Es war leer. „Wie lange müssen wir fahren?" „Vierundzwanzig Stunden." „So lange?" rief sie entsetzt. „Ich kann zwar einiges ertragen, aber ist das nicht ein bisschen viel?" Trotz ihrer Proteste stieg sie gehorsam ins Abteil und lachte vergnügt auf, als der Schaffner zwei Klappbetten aus der Wand zog. Kaum war der Schaffner verschwunden, ließ sie sich auch schon auf eins der Betten sinken. „Ich dachte schon, wir müssten auf dem Boden schlafen", erklärte sie. Philip betrachtete sie, wie sie mit baumelnden Füßen auf der Bettkante saß, seufzte erneut, legte ihre Päckchen auf den Boden und setzte sich ihr gegenüber auf das andere Bett. Bryony lächelte, nahm ihre Päckchen vom Boden und reichte ihm eins davon. „Ein Geschenk für Sie", erklärte sie. Philip nahm das Päckchen kopfschüttelnd entgegen und riss das Papier auf. „Oh, Bryony, was soll ich nur mit Ihnen machen?" Lächelnd nahm er die Micky-Maus-Zahnbürste aus dem Päckchen. „Soll das heißen, dass ich mich wie ein kleiner Junge benommen habe?" „Ach, keine Spur! Das waren die einzigen Zahnbürsten, die sie hatten. Ich habe eine mit Goofy drauf!" „Das wundert mich irgendwie gar nicht!" erwiderte er trocken. „Was haben Sie sonst noch so gekauft?" „Kochschuhe!" „Kochschuhe?" wiederholte er verwirrt. Bryony öffnete ein weiteres der Päckchen und zeigte ihm die weichen schwärzen Leinenschuhe, die es enthielt. „Chinesische Köche tragen die. In England bekommt man sie nicht. Sie sind wirklich sehr bequem." „Sehen aus wie alte Turnschuhe", meinte Philip und balancierte einen der winzigen Schuhe in seiner großen Handfläche. „Die Sohlen sind weicher als sonst. Ist Ihnen noch nie aufgefallen, dass fast alle Chinesen sie tragen? Wahrscheinlich, weil sie so bequem sind. Außerdem sind sie unwahrscheinlich billig." „Und klein!" meinte er leise. „Aber Großmutter, was hast du bloß für kleine Füße", neckte er sie dann. „Größe vierunddreißig!" erwiderte sie. „Zeigen Sie mir, was Sie noch alles gekauft haben!" Bryony beugte sich wieder über ihre Päckchen. „Zahnpasta, eine Haarbürste und ein paar Baumwollkleider. Und nun sagen Sie mir, wohin wir fahren!" „Nach Penang!" „Danke!" „Bitte!" Bryony lächelte, glücklich darüber, dass der Streit zwischen ihnen nun vergessen war. „Sonja und Daniel haben das ,Dusit-Thani-Hotel' gestern Morgen verlassen!" erklärte Philip. „Aber woher wissen Sie dann, dass ..." „Ihr Bruder hat dem Mann an der Rezeption gesagt, wohin sie gehen würden. Von meinem Hotelzimmer aus rief ich das Hotel in Penang an, in dem Sie absteigen wollten, und habe ihnen eine Nachricht hinterlegen lassen, dass sie dort bleiben sollen, bis wir ankommen!" „Vernünftig!" lobte sie ihn und streckte sich dann auf dem Bett aus. „Aber es geht beiden gut, nicht wahr?" „Ich glaube schon!" gestand er etwas widerwillig. „Wir holen sie morgen ein und können dann zurückfliegen!"
Sie nickte und kuschelte sich tiefer in die Matratze, fuhr aber wieder hoch, als der Zug plötzlich einen Satz nach vorn machte, bevor er sich langsam in Bewegung setzte. Irgendwie hatte sie ganz vergessen, dass sie sich in einem Fahrzeug befanden. Hastig sprang sie vom Bett und lief zum Fenster hinüber. Abfahrende Züge hatten sie schon immer fasziniert. Die Faszination ließ schnell nach. Zuerst wurden Philip und Bryony von der Klimaanlage im Zug fast in Eis verwandelt, dann mussten sie die vielen Pass- und Zollkontrollen über sich ergehen lassen, und von der Faszination einer Bahnreise blieb schließlich nicht mehr viel übrig. Selbst der Anblick des Urwalds zu beiden Seiten des Gleises, die Affen, die zum Greifen nah schienen, und die Reisfelder interessierten Bryony schließlich nicht mehr. Die Toiletten waren ein wahrer Albtraum. Bryony hatte zwar keine Zustände wie im „Hilton Hotel" erwartet, aber irgendwie hatte sie doch mehr erhofft als nur ein Loch im Boden des Zugs. Als sie sich schließlich ihrem Reiseziel näherten, war Bryony völlig durchgefroren, müde, weil sie nicht sehr gut geschlafen hatte, und hungrig. Das Essen, das man ihnen gebracht hatte, war nicht sehr appetitlich gewesen, und sie hatte das meiste davon auf ihrem Teller liegen gelassen. „Wie lange noch?" fragte sie und strich sich das wirre Haar aus der Stirn. „Noch ungefähr eine Stunde. Warum machen Sie sich nicht ein bisschen frisch?" „In Ordnung!" Es war schwierig, sich im Zug während der Fahrt zu waschen und dabei das Gleichgewicht zu halten. Bryony gab es bald auf. Sie begnügte sich mit einer Katzenwäsche und machte sich dann auf den Rückweg durch den Gang des schlingernden Zugs. Sie begegnete einem braun gebrannten älteren Herrn, lächelte ihm kurz zu und wurde von ihm sofort in ein Gespräch verstrickt. Seihe Lebensgeschichte faszinierte sie so sehr, dass sie es nicht übers Herz brachte, ihn einfach stehen zu lassen, und erst wieder in ihrem Zugabteil ankam, als der Zug in den Bahnhof fuhr. „Ich wollte gerade einen Suchtrupp losschicken!" schimpfte Philip. „Tut mir Leid. Ich habe einen Engländer im Flur getroffen!" erklärte sie. „Wissen Sie, er hat fast sein ganzes Leben hier verbracht. Können Sie sich vorstellen, nie wieder nach England zurückzukehren?" „Kaum. Reden Sie eigentlich mit jedem?" fragte er, während sie ihr Gepäck zusammensuchten. „Scheint fast so, nicht wahr?" Bryony lächelte. Während sie ihm beim Packen zusah, seine sicheren Bewegungen bewunderte, wurde ihr plötzlich ganz warm ums Herz. Sie war froh, mit Philip hierher gekommen zu sein. Er war ein wirklich netter Mann, und es war gut, dass sie jetzt miteinander zurecht kamen. Die Hitze in Butterworth war fast unerträglich, und Bryony war froh, als Philip sie auf die Fähre geleitete, die von dort zur Halbinsel Penang übersetzte. Der Fahrtwind brachte eine angenehme Kühlung. In Penang angekommen, nahmen sie ein dreirädriges Taxi zum „Hotel E&O" in Georgetown, und Byrony war beim Anblick sofort begeistert. Es war von saftig grünem Rasen umgeben, der zum blaugrün schimmernden Meer hinunter führte. Hibiskusbüsche und andere exotische Sträucher standen in voller Blüte, und Bryony sog verträumt ihren berauschenden Duft ein. Das im alten Kolonialstil gebaute Haus war im Laufe der Zeit erweitert worden, doch noch immer lag ein Hauch von Vergangenheit und Nostalgie über allem. „O Philip, hier ist es einfach wundervoll!" Bryony seufzte. „Haben die beiden in diesem Hotel gewohnt?" „Nein, dort war kein Zimmer mehr frei. Aber es ist ganz in der Nähe. Kommen Sie. Je früher wir uns anmelden, desto eher können wir Sonja und Daniel finden und wieder nach Hause fliegen!" „Ja!" „Nun sehen Sie nicht so enttäuscht aus. Wir sind ja schließlich nur hierher gekommen,
um die beiden zu finden!" „Ich weiß!" sagte sie leise. „Sie können ja hier bleiben, wenn ich mit Sonja zurückfliege", schlug Philip vor. „Ja, stimmt. Nun, ich werde drüber nachdenken", sagte sie, obwohl sie schon wusste, dass sie es nicht tun würde. Ohne ihn würde es ihr hier nicht gefallen. Philip nahm sie am Arm, führte sie in die Empfangshalle des Hotels und lächelte über ihre Begeisterung, als sie von einem Pagen in den alten Teil des Hotels geleitet wurden. Ein etwa neunjähriger Junge trug ihr Gepäck, öffnete Bryonys Zimmertür, legte ihren Rucksack aufs Bett und schob dann die großen Glastüren zur Seite, die hinaus auf den Rasen führten. Auch er lächelte über Bryonys Überschwang und brachte dann Philip zu seinem Zimmer. „Wir machen uns am Besten ein bisschen frisch und essen etwas, bevor wir gehen", meinte Philip. „Ich hole Sie in ein paar Minuten ab, Bryony." Sie nickte. Bryony hoffte inständig, dass die Knitter in dem Baumwollkleid, das sie am Tag zuvor gekauft hatte, nicht so auffallen würden, schlüpfte hinein, und da sie keine Haarspange hatte, band sie sich das Haar mit einem Stück Vorhangkordel zurück. Philip erwartete sie bereits im angenehm kühlen Speisesaal des Hotels. Sie merkte nicht, dass die anderen Anwesenden sie zuerst erstaunt, dann amüsiert betrachteten, denn ihre ganze Aufmerksamkeit galt der herrlichen Einrichtung des Speiseraums. „Wir gehen zuerst Daniel und Sonja suchen, dann buche ich den Rückflug!" sagte Philip während des Essens. „Und wenn wir dann noch Zeit haben, können wir ja eine Busrundfahrt durch die Dörfer hier machen. Ich würde Ihnen gern die Muskat- und Gummibaumplantagen zeigen und die Gewürznelken ..." „Sie sind ja auf einmal so reizend", neckte sie lächelnd und betrachtete ihn nachdenklich. „Liegt wohl an der kühlen Luft hier. Genießen Sie meine gute Laune, solange sie anhält. Außerdem dachte ich, wenn ich Sonja ein bisschen verwöhne, wird sie vielleicht ohne größeres Theater in ihr Internat zurückgehen!" „Ah, verstehe. Ich hätte mir eigentlich denken können, dass das alles nichts mit mir zu tun hat", schmollte Bryony. „Sind Sie so weit?" fragte Philip nur. „Ja." Bryony nickte, wischte sich den Mund mit der blütenweißen Serviette ab, lächelte dem Kellner zu und folgte Philip nach draußen. „Warum lächeln Sie?" fragte sie ihn und schob ihre Hand in die Beuge seines Arms. „Weil Sie so herrlich unschuldig sind." „Wie meinen Sie das?" Philip blieb stehen und sah zu ihr hinunter. „Sie haben es wirklich nicht gemerkt, wie?" fragte er leise und strich ihr mit dem Finger eine Haarsträhne aus der Stirn. „Jeder dort im Speisesaal war elegant und festlich gekleidet, und wer kommt da hereinspaziert? Bryony, die überhaupt nicht merkt, dass die Leute ihr billiges Baumwollkleid anstarren, das aussieht, als hätte es ein Jahr in Ihrem Koffer verbracht." „Haben Sie sich meinetwegen etwa geschämt?" erkundigte sich Bryony lächelnd. „Kein bisschen. Im Gegenteil. Sie machen mir Spaß. Mit Ihnen gesehen zu werden macht mir nicht das Geringste aus. Sie sind trotz ihrer etwas eigenwilligen Kleidung die weiblichste Frau, die mir je begegnet ist. Ihre Bewegungen sind anmutig, ihr Lächeln ..." „Oh!" stieß Bryony hervor und presste die Hände gegen ihre glühend roten Wangen. „So etwas Nettes hat mir noch niemand gesagt." „Nein?" erkundigte Philip sich lächelnd. „Noch nie. Vielen Dank. Sie sind wirklich sehr nett." „Finden Sie?" Sein Lächeln verstärkte sich. „Dabei hatte ich noch gar nicht erwähnt, dass Sie nervtötend und ein Störenfried und..." „Nicht, bitte! Lassen Sie mich noch einen Augenblick in den; Glauben, dass Sie mich begehrenswert finden", stieß Bryony lachend hervor. „Oh, Sie sind begehrenswert", meinte er. „Unglücklicherweise!"
Bryony sah zu ihm hoch und spürte, dass es plötzlich zwischen ihnen knisterte. Unvermittelt drehte sie sich um und ging rasch weiter. Georgetown ist faszinierend, redete sie sich entschlossen ein, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Es ist so ... orientalisch, ja, exotisch. Was auch sonst? dachte sie. Wo es von Chinesen geradezu wimmelt. „Ganz ruhig!" sagte Philip leise, nahm ihren Arm und zwang sie, langsamer zu gehen. „Bei dieser Hitze darf man sich nicht überanstrengen." Gehorsam verlangsamte Bryony ihre Schritte, aber sie weigerte sich, ihn anzusehen, und tat so, als wäre sie wahnsinnig an den Läden am Straßenrand und den schäbigen Wohnhäusern interessiert. Du bist verrückt, schimpfte sie mit sich in Gedanken. Wieso hast du mit ihm herumgealbert, mit ihm gelacht, fast mit ihm geflirtet? Du lernst wohl nie. „Oh, das ist doch alles zu blöde", meinte Philip schließlich, und Bryony drehte sich erstaunt zu ihm um. „Was ist blöde?" Statt zu antworten, hielt er sie fest und betrachtete sie. „Das", sagte er dann, nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände, beugte sich zu ihr hinunter und drückte ihr einen kurzen Kuss auf den Mund. Dann trat er einen Schritt zurück und wartete auf ihre Reaktion. „Warum haben Sie das getan?" fragte Bryony verwirrt. „Was weiß ich?" Er seufzte und lachte spöttisch. „Wahrscheinlich wollte ich nur sehen, ob das die Lösung ist. Sie ist es nicht. Und nun kommen Sie schon, bevor ich alle meine guten Vorsätze vergesse." Welche guten Vorsätze? fragte sich Bryony. Sie berührte ihre Lippen leicht und warf Philip besorgt einen Blick zu, als er sie am Arm packte und sie hinter sich her über die schmale Straße mit sich zog. Das Hotel, in dem Daniel und Sonja dieses Mal abgestiegen waren, war wenigstens etwas besser als das in Bangkok, und diesmal nahm Philip Bryony vorsichtshalber mit hinein. Während er zur Rezeption ging, beobachtete Bryony ihn verwirrt und fragte sich immer noch, was er eben wohl gemeint haben mochte. Fühlte er sich zu ihr hingezogen? Statt der üblichen Panik spürte sie diesmal bei dem Gedanken allerdings nur Sehnsucht. Kann ich mich ändern? fragte sie sich. Mit einem langen traurigen Seufzer entschied sie, dass sie es nicht konnte. Ihre Beziehungen zu Männern waren in der Vergangenheit immer gescheitert, und mit Philip würde es auch nicht gut gehen. Sie wandte sich ab und betrachtete die Empfangshalle. „Nun, sie sind gestern Vormittag hier angekommen", berichtete Philip. „Und?" fragte sie schicksalsergeben. „Der Rezeptionist, mit dem ich gesprochen habe, hatte gestern frei", fügte er hinzu. „Also haben die beiden Ihre Nachricht nicht bekommen?" „Der Mann weiß es nicht. Es ist jedenfalls keine Nachricht mehr in ihrem Fach. Deshalb glaubt er, dass sie sie bekommen haben." „Und was machen wir jetzt?" „Am Besten fahren wir ins Hotel zurück und warten darauf, dass die beiden Kontakt mit uns aufnehmen. Eigentlich hätte ich es mir denken können", meinte Philip verärgert. „Haben Sie eine zweite Nachricht hinterlegt?" „Ja. Ich habe ihnen mitgeteilt, wo wir wohnen." „Ist Sonja bei Daniel?" „Ja!" „Endlich einmal etwas Erfreuliches!" Bryony lächelte Philip strahlend an. „Wo, um alles in der Welt, haben Sie eigentlich dieses merkwürdige Band her, das sich hier vergeblich bemüht, Ihre Haarpracht zu bändigen?" fragte er dann, und Bryony war heilfroh, dass er sich wieder normal benahm. Sie folgte ihm nach draußen. „Ich habe ein Stück von der Vorhangkordel genommen", erklärte sie lachend. „Sie glauben doch nicht, dass es jemandem auffallen wird, oder?" „Ich glaube kaum. Kommen Sie, wir nehmen ein Taxi. Wir machen es uns im Hotelgarten gemütlich und ruhen uns aus, bis sich die beiden melden."
„In Ordnung", stimmte sie ihm zu. „Aber ich dachte, dass ich mir vielleicht besser einen Hut kaufe. Oh, schauen Sie mal, dort!" rief sie dann. Philip drehte sich in die Richtung, in die sie deutete. „Das ist der Kek-Lok-Si-Tempel. Er hat sieben Türme und wird auch die Pagode der zehntausend Buddhas genannt. Aber ich habe keine Lust, ihn mir anzusehen. Jedenfalls jetzt nicht. Es ist einfach zu heiß!" „Spielverderber. Und was ist das da für ein Hügel?" „Keine Ahnung", gestand er. „Ich weiß nur, dass man ihn den Penanghügel nennt. Man kann mit einer Seilbahn hinauffahren, aber im Augenblick würde ich lieber eine Runde schwimmen gehen, und Sie?" „Ich auch", erklärte sie und lächelte ihn an. „Da Sie ja so ein schlechter Reiseleiter sind." „Wir sind nicht hier, um Urlaub zu machen!" erinnerte Philip sie ernst. „Haben Sie einen Badeanzug mitgebracht?" „Nein!" „Dann kaufen wir jetzt ein paar Schwimmsachen und machen es uns dann am Swimmingpool im Hotel gemütlich." „Gibt es keinen Strand beim Hotel?" „Nein, nicht direkt. Aber es gibt hier auf der Halbinsel ein paar sehr schöne Badestrände. Batu Gerringhi zum Beispiel. Aber die werden hauptsächlich von den Reichen und Schönen besucht, und ich dachte nicht, dass Sie sich unter die mischen wollen." „So, wie ich angezogen bin?" Sie lachte und betrachtete ihr zerknittertes Kleid. „Und ich dachte, es wäre Ihnen egal, wie Sie aussehen", meinte Philip. „Das ist mir auch egal. Aber ich dachte, Ihnen wäre es vielleicht peinlich." „Nein, ist es nicht. Kommen Sie!" Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, begann es, in Strömen zu regnen. Bryony schrie erschrocken auf und rannte auf einen Türeingang zu. Sie lachte über Philip, der in aller Ruhe durch den Regen auf sie zugeschlendert kam. „Vier Uhr", sagte er ernst und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. Es schien ihn nicht zu stören, dass er klatschnass war und dass ihm Wasser aus den Haaren über das Gesicht lief. „Wieso vier Uhr?" fragte Bryony. „Weil es hier immer um vier Uhr regnet. Nur ein kurzer Wolkenbruch. Es wird in ein paar Minuten aufhören." „Ist ja toll!" staunte sie und sah zum Himmel hinauf. „Was ist toll?" „Dass es immer genau um vier Uhr regnet", erklärte sie amüsiert, und Philip lachte laut auf. „Das hatte ich wohl verdient, wie? Kommen Sie, Sie Nervensäge, der Regen lässt nach."
5. KAPITEL Sie zogen sich in ihren Hotelzimmern um und trafen sich am menschenleeren Swimmingpool wieder. Bryony hatte ein Hemd über ihren Bikini gezogen, saß unter einem großen gestreiften Sonnenschirm, den Zeichenblock auf den Knien, als Philip ankam. „Gehen Sie nicht ins Wasser?" fragte er leise. Sie warf ihm einen Blick zu, und ihre Herz begann, schneller zu schlagen, als sie seinen sonnengebräunten Oberkörper betrachtete. „In ein paar Minuten", sagte sie atemlos. „In Ordnung." Er warf sein Badetuch auf den Liegestuhl an ihrer Seite und tauchte mit einem perfekten Kopfsprung ins Wasser. Langsam wird die Situation unmöglich, dachte Bryony ärgerlich. Sie wollte sich nicht zu Philip hingezogen fühlen. Hatte man ihr in der Vergangenheit denn nicht schon genug wehgetan? Ärgerlich warf sie den Zeichenblock auf den Boden und stand auf. Sie streifte sich das Hemd über den Kopf, setzte sich an den Rand des Swimmingpools, ließ ihre Füße eine Weile im Wasser baumeln und sich dann ganz hineingleiten. Sie war keine sehr gute Schwimmerin, aber sie würde es schon schaffen, einmal den Pool zu durchqueren. Das würde sie von ihren Gedanken an Philip und der Erregung ablenken, die sie in seiner Nähe spürte. Sie drehte sich auf den Rücken und betrachtete den unglaublich blauen Himmel über sich. Sie konnte kaum glauben, dass sie in Malaysia war. Zusammen mit einem atemberaubend attraktiven Mann, der sie ständig neckte, und einem Bruder, der ihnen immer einen Schritt voraus war. Bryony drehte sich wieder um und fing an zu schwimmen. Sie genoss das Gefühl des warmen, seidenweichen Wassers an ihrer Haut und den Blütenduft, der in der Luft hing. Langsam begann Bryony, sich zu entspannen. Sie schwamm bis an den Rand des Pools, stieß sich ab und ließ sich dann mit geschlossen Augen einfach treiben. Sonja war in Sicherheit, und sie selbst würde nur noch ein paar Stunden in Philips Nähe verbringen müssen. Sie würde sich entspannen, ein bisschen Spaß haben und das Beste aus ihrem unerwarteten Urlaub machen. Bryony schrie erschrocken auf, als sich plötzlich ein starker Arm um sie legte und sie sich halb aus dem Wasser gehoben fühlte. „Nicht. Lassen Sie mich los!" japste sie, und Philip gehorchte ihrem Befehl. Doch anstatt sie einfach ins Wasser fallen zu lassen, ließ er sie langsam an seinem Körper hinuntergleiten, bis er ihr ins Gesicht sehen konnte. Mit seinem nassen Haar und den Wassertröpfchen an den Wimpern erinnerte er sie an einen zufriedenen Seelöwen. Bryony fühlte sich plötzlich ganz unbehaglich. Seine blauen Augen funkelten, und die Art, wie er ihren Mund betrachtete, jagte ihr einen heißen Schauer über den Körper. „Ich habe dieses unerträgliche Verlangen nach einem Kuss von dir", flüsterte er rau. „Nein", protestierte sie erschrocken. „Bitte nicht." „Warum nicht?" fragte er amüsiert. „Weil ich keine dunklen Haare habe?" „Was? O ja", stimmte sie ihm hastig zu. „Lügnerin", neckte er. „Ich lüge nicht. Und jetzt lassen Sie mich bitte los." Philip rührte sich nicht. Wäre es nicht schrecklich, wenn er herausfinden würde, wie sehr er mich durcheinander bringen kann? dachte Bryony entsetzt und versuchte, ruhig und gleichmäßig durchzuatmen. Er würde mich sicher endlos damit aufziehen. „Was soll das?" fragte sie schließlich. „In ein paar Stunden fliegen wir wieder nach Hause, und jeder wird seiner eigenen Wege gehen." „Meinen Sie?" „Natürlich werden wir das." Sie blickte in sein amüsiertes Gesicht. „Sie dürfen nicht mit
mir flirten, Philip. Das ist unfair!" meinte sie ernst. „Nicht wahr?" Er strich ihr mit dem Handrücken über die Wange. „Aber wer kann in einer so schönen Umgebung schon fair sein? Sonne, duftende Blumen und eine schöne Frau. Was kann ein Mann sich sonst noch wünschen?" „Keine Ahnung", sagte sie und tat, als würde sie ihn nicht verstehen. „Wirklich nicht, Bryony? Bryony mit den lachenden Augen. Noch nicht einmal ein klitzekleines Küsschen?" „Nein." „Warum nicht?" „Weil ich genau weiß, wohin so ein klitzekleines Küsschen führen kann. Ich mag mich zwar wie ein Clown aufführen, aber glauben Sie mir, hinter dieser verrückten Maskerade steckt eine Frau mit einem scharfen Verstand." „Und einem Herz aus Stein?" „Auch das", stimmte sie ihm zu. Sie wusste aus schmerzlicher Erfahrung, dass ein steinernes Herz der beste Schutz war, und sie würde das gerade jetzt nicht vergessen. Sie wandte sich von Philip ab und ließ den Blick nachdenklich über den Garten schweifen. „Hat Ihnen jemand wehgetan, Bryony?" fragte Philip leise. „Ja!" antwortete sie tonlos. „Und es tut immer noch weh?" „Nein!" rief sie und hätte sich ohrfeigen können. Sie hätte besser Ja gesagt. „Warum dann also nicht?" „Weil ich mich trotzdem genau daran erinnere, was passiert ist. Wie weh es getan hat. O Philip, bitte tun Sie mir das nicht an. Wenn ich mich von Ihnen küssen lasse, dann werde ich Sie mehr mögen, als ich will..." „Wäre das ein Fehler? Ich bin ein sehr liebenswerter Mensch." „Ich weiß. Das ist ja das Problem. Aber solange Sie mich nicht küssen ..." „... können Sie ihre Gefühle ignorieren. Aber wenn ich Sie küsse, dann geht das nicht mehr, ist es nicht so?" „Doch", gestand sie, denn es stimmte tatsächlich. Sie fühlte sich von Minute zu Minute mehr zu ihm hingezogen. Und wenn sie ihn küsste, dann wäre es viel schwieriger, mit allem zurechtzukommen. „Warum müssen Sie immer alles so schrecklich ernst nehmen, Bryony?" fragte er leise. „Können Sie denn nicht einfach mal aus Spaß an der Freude flirten?" „Doch, kann ich. Manchmal. Aber nur wenn ... Philip, es ist einfach nicht fair", jammerte sie. „Aber nur, wenn die Sache nicht ernst ist, stimmt's?" forschte er. „Und wenn Sie mich küssen, wäre die Sache ernst für Sie." „Ja, stimmt", gab sie ärgerlich zu. „Könnten wir jetzt bitte über etwas anderes reden?" Philip sah sie einen Augenblick lang schweigend an, dann nickte er, ließ sie los und schwamm davon. Überrascht und ein wenig ärgerlich, dass ihm die Sache anscheinend so wenig bedeutete, drehte Bryony sich ebenfalls um und schwamm zur anderen Seite des Pools hinüber. Dort kletterte sie hinaus, rieb sich mit dem Badetuch trocken, zog ihr Hemd wieder über, setzte sich auf den .Liegestuhl und nahm ihren Zeichenblock vom Boden auf. Sie stellte fest, dass sie zitterte, lehnte sich zurück, schloss die Augen und hielt ihren Zeichenblock wie ein Schild vor ihre Brust. Es tut mir nicht Leid, redete sie sich ein. Ich muss vernünftig bleiben, ja, vernünftig. Philip hielt sie wahrscheinlich jetzt für neurotisch, und das war sie sicherlich auch. Aber sie würde sich nie wieder von einem Mann verletzen lassen. „Sie brauchen wirklich nicht so zu tun, als müssten Sie Ihre Ehre gegen Horden von Räubern verteidigen!" sagte Philip, der neben ihren Liegestuhl getreten war. „Das tu' ich auch nicht", erwiderte sie steif und weigerte sich, ihn anzusehen. „Ich werde mich jetzt duschen und umziehen." Sie sprang auf und lief ins Hotel zurück. Sie wusste, dass
er ihr nachsah und sie wahrscheinlich auslachte, und Tränen traten ihr in die Augen. Denn sie mochte ihn wirklich sehr, und sie hätte' ihn so gern geküsst. Nachdem Bryony sich geduscht und umgezogen hatte, war sie wieder etwas ruhiger. Sie hatte das andere, ebenfalls zerknitterte Baumwollkleid, das sie in Bangkok gekauft hatte, angezogen und ging auf die leere schattige Terrasse hinaus. Von jetzt an würde sie nur noch freundlich zu Philip sein, kühl und höflich. Und um sich von ihm abzulenken, würde sie ein wenig zeichnen. Sie sah sich kurz um, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich allein war, klappte ihren Zeichenblock auf und legte ihn sich auf die Knie. Einige Sekunden lang suchte sie nach einem geeigneten Motiv und nickte zufrieden, als sie einen einheimischen Gärtner entdeckte, der sich auf seine Harke gestützt hatte und in die Ferne blickte. Er sah aus, als wäre er alt wie Methusalem. Sein Gesicht war faltig und von der Sonne verbrannt, trotzdem strahlte es Humor und Frieden aus. Bryony war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie erschrocken zusammenzuckte, als ein Kellner neben sie trat und ihr eine Kokosnuss entgegenhielt, aus der ein Strohhalm hervorlugte. „Danke", sagte sie. Als er, scheinbar neugierig, neben ihr stehen blieb, lächelte sie und deutete ihm an, ein paar Schritte zur Seite zu treten. Sie schlug ein neues Blatt auf dem Zeichenblock auf und skizzierte ihn mit schnellen Strichen. Dann riss sie das Blatt ab und reichte es ihm. Mit einem strahlenden Lächeln betrachtete der Kellner das Bild und drückte es dann gegen seine Brust, als wäre es sein kostbarster Besitz. Noch einmal lächelte er sie an, dann ging er zurück ins Hotel. „Es sieht so einfach aus, wenn Sie zeichnen", hörte sie plötzlich Philips Stimme hinter sich. „Mir fällt es auch leicht", gestand sie. Dann erinnerte sie sich an ihren guten Vorsatz und drehte sich zu ihm. „Aber das ist einfach nur eine Begabung, für die ich nichts kann", fuhr sie etwas entspannter fort. „Eine Gabe, die Sie verfeinert haben", meinte er und ließ sich ihr gegenüber auf einen Stuhl sinken. „Was trinken Sie da?" fragte er dann mit einem Blick auf die Kokosnuss. „Keine Ahnung", gestand sie lächelnd und vergaß ganz, dass sie ihn ja höflich und kühl behandeln wollte. „Der Kellner hat es gebracht und mich etwas Unverständliches gefragt. Aber er sah so hoffnungsvoll aus, dass ich nicht Nein sagen konnte." Philip schüttelte amüsiert den Kopf, wartete, bis der Kellner zurückkam, und bestellte sich einen Gin Tonic. „Was haben Sie sonst noch gemalt?" fragte er dann. „Den Gärtner. Aber er ist mir nicht besonders gelungen." Bryony riss das Blatt aus dem Zeichenblock und wollte es zerknüllen, aber Philip nahm es ihr aus der Hand und betrachtete die Zeichnung. „Was soll daran nicht stimmen?" fragte er. „Ich finde es gut." „Ich aber nicht." Bryony lächelte ihn zärtlich an, weil sie ihn mochte und weil er ihr Verhalten vorhin anscheinend verstanden hatte und sie nicht damit aufzog. Ihr fiel auf, dass er sich frisch rasiert hatte. Das blaue Hemd, das er trug, ließ seine Augen noch strahlender wirken. „Sie sehen gut aus", erklärte sie unbefangen und widmete sich wieder ihrem Zeichenblock. „Blau steht Ihnen!" Sie merkte nicht, dass er sie sanft und amüsiert zugleich ansah, stellte ihre Füße auf die Sprossen seines Stuhls und begann damit, den Gärtner neu zu zeichnen. Erst beim vierten Versuch gelang ihr die Zeichnung. Sie betrachtete ihr Werk, dann den Gärtner und nickte zustimmend. Diese Zeichnung würde sie behalten und später in Ton nacharbeiten. Vielleicht würde sie sogar eine Bronzestatue gießen. „Darf ich es sehen?" fragte Philip sanft. „Natürlich." Sie drehte den Block um und zeigte ihm ihre Zeichnung. Er betrachtete das Bild versonnen. „Finden Sie es nicht erstaunlich, dass jeder ein anderes Gesicht hat?" fragte Bryony. „Ich meine, so viele verschiedene Nasen, Augen und Münder gibt es doch nicht, trotzdem ist
jedes Gesicht anders. Das ist erstaunlich." „Man sagt, dass jeder von uns einen Doppelgänger irgendwo auf der Welt habe." „Oh, wer ist ,man'?" fragte sie lachend. „Ich habe jedenfalls noch nie das gleiche Gesicht zwei Mal gesehen, und ich betrachte andauernd Gesichter." „Und was machen Sie mit den Zeichnungen, die Ihnen nicht gefallen? Behalten Sie die?" „Lieber Himmel, nein. Sie sind schlecht." „Darf ich sie haben?" fragte Philip. „Nein", erklärte sie kurz angebunden, und als er sie erstaunt ansah, fügte sie hinzu: „Sie sind fehlerhaft!" Bevor er sie davon abhalten konnte, hatte sie die schlechten Zeichnungen zerrissen und legte die Papierfetzen auf den Tisch. „Vielleicht bin ich einfach nur eitel", sagte sie leise und lächelte entschuldigend. Dann nahm sie ihren Block wieder zur Hand und begann, Philip zu zeichnen. Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und biss sich auf die Unterlippe, während sie arbeitete, dann zeigte sie ihm die fertige Zeichnung. „O Bryony!" Er lachte. „Ein Henker? Ein lachender Henker? Sehen Sie mich wirklich so?" „Nein, natürlich nicht." Sie nahm ihm den Block wieder ab, riss das Blatt herunter, dachte nach und begann dann, ein neues Bild zu malen. Diesmal zeichnete sie ihn als mittelalterlichen Ritter, mit etwas längerem Haar, einer blitzenden Rüstung und einem federgeschmückten Helm unter dem Arm. Philip betrachtete das fertige Kunstwerk noch lange, nachdem sie ihm den Block gegeben hatte. „Wirklich erstaunlich", meinte er dann leise. „Wirklich bemerkenswert." Er lächelte etwas verlegen. „Ich bin sprachlos. Aber eins weiß ich sicher: Dieses Bild wird nicht zerrissen." „In Ordnung", stimmte sie zu. „Danke! Ich werde es wie einen Schatz hüten", versprach er und verbeugte sich leicht. „Bitte!" Sie griff nach ihrem Drink und verschüttete ihn beinah, als eine laute Stimme hinter ihr erstaunt ausrief: „Köpfchen!" Bryony drehte sich erschrocken um und lächelte, als sie ihren Bruder Daniel auf sich zukommen sah. „Meine Güte, du siehst ja aus wie ein Hippie", tadelte sie ihn lachend, warf ihren Stuhl fast um, als sie aufsprang, ergriff Daniel bei den Schultern schüttelte ihn und umarmte ihn fest. „Du Schuft, du elender Schuft!" „Ich, ein Schuft?" fragte Daniel, und schien nicht sehr' erfreut zu sein, sie zu sehen. „Was hab ich denn getan? Und was, um alles in der Welt, suchst du hier?" „Ich bin mit Philip hierher gekommen. Er ist Sonjas Onkel", erklärte Bryony dem verwirrten Daniel. „Und warum?" fragte er ärgerlich. „Los, sag's mir! Warum bist du hier? Ich wollte ein Jahr, nur ein lausiges Jahr für mich allein haben. Und was passiert? Ein verliebter Teenager heftet sich mir in Hongkong an die Fersen und erzählt mir was von ewiger Liebe. Ich bekomme verschlüsselte Botschaften von Sonjas Onkel. Sonja tut so, als wäre das Ende der Welt nahe, und nun tauchst du hier auf. Bryony, ich bin kein Kind mehr. Ich habe versprochen, dich einmal in der Woche anzurufen. War dir das denn nicht genug?" „Das alles war nicht meine Idee", schimpfte sie, als er endlich eine Pause machte. „Und ich habe dich nie wie ein Kind behandelt. Wenn du dich an deinen Reiseplan gehalten hättest, wäre das alles hier nicht passiert. Wir haben dich überall gesucht." „Keiner hat dich darum gebeten, mich zu suchen", erwiderte Daniel kurz, angebunden. „Das habe ich auch nicht behauptet." Sie hielt inne, als ihr klar wurde, dass Philip ihr Gespräch mit angehört hatte, und drehte sich zu ihm um. „Das ist Sonjas Onkel..." „Na und?" unterbrach Daniel sie grob. „Er ist hier, um Sonja wieder mit nach Hause zu nehmen. Er hatte keine Ahnung, dass sie hier ist. Sie hat es ihm nicht gesagt. Er dachte, sie wäre in einem Schweizer Internat!" „Das überrascht mich überhaupt nicht", meinte Daniel. „Sonja ist das verwöhnteste, nervtötendste Balg, das ich je getroffen habe. Ich kann dir nur eins sagen, Bryony ..." „Wo ist sie?" mischte sich Philip ruhig ein, stand auf und kam zu den Geschwistern hinüber. „Fragen Sie mich etwas Leichteres." Daniel seufzte. „Ich will dich aber nichts Leichteres fragen", erwiderte Philip gefährlich ruhig. „Ich will
eine Antwort. Wo ist Sonja?" Daniel warf Philip gelangweilt einen frechen Blick zu. „Ich habe nicht den leisesten Schimmer. Glücklicherweise bin ich ja nicht für sie verantwortlich." Er lächelte gehässig und machte Anstalten zu gehen. Mit einem noch gehässigeren Lächeln packte Philip ihn am Arm und drehte ihn zu sich herum. „Sieh mich an, wenn ich mit dir rede! Sonja ist siebzehn Jahre alt. Du hast die Verantwortung für sie übernommen, als du sie hierher eingeladen hast. Und jetzt sag mir sofort, wo sie ist!" befahl er. „Eingeladen? Sie machen Witze", höhnte Daniel. „Ich habe sie nicht eingeladen. Und nehmen Sie Ihre verdammte Hand von meinem Arm!" Philip verstärkte den Druck seiner Finger um Daniels Arm und schob ihn vor sich her über die Terrasse. „Nein", schrie Bryony und rannte ihnen nach. „Philip, lassen Sie ihn los!" „Halten Sie den Mund, Bryony", schrie Philip sie zornig an, während er Daniel hinters Hotel führte, wo niemand sie beobachten konnte. Bryony versuchte, Philips Hand vom Arm ihres Bruders zu lösen. „Hören Sie auf, Philip. Sie machen alles nur noch schlimmer. Lassen Sie ihn los, verdammt noch mal!" „Na gut", gab Philip schließlich nach und warf ihr einen hasserfüllten Blick zu. Er ließ Daniel los und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand, während er den jungen Mann vor sich ansah. „Also, wo ist meine Nichte?" Bryony blickte von einem zum anderen. Philip war intolerant, und Daniel war übel gelaunt und zynisch. Sie erkannte Philip kaum wieder. Nie hätte sie gedacht, dass er so brutal und rücksichtslos sein könnte, und sie machte sich plötzlich ernste Sorgen um Daniel. Ihr Bruder versteckte seine Unsicherheit hinter spöttischem Gehabe, aber Philip konnte das nicht wissen. „Daniel!" flüsterte sie ihm warnend zu. „Bitte sag ihm, wo sie ist." „Und warum, zum Teufel, sollte ich?" schimpfte ihr Bruder. „Weil sie erst siebzehn ist und Philip sich Sorgen um sie macht." Daniel zuckte gleichgültig die Schultern. „Singapur", murmelte er schließlich. „In Singapur?" rief Bryony ungläubig. „Was macht sie denn in Singapur?" „Keine Ahnung." Bryony spürte Philips Ärger und warf sich instinktiv zwischen ihn und ihren Bruder. „Daniel, bitte", flehte sie. Daniel warf Philip einen kurzen Seitenblick zu. „Ich brauche einen Drink", sagte er dann. Damit drehte er sich um, ging zur Terrasse zurück und setzte sich an einen der Tische. „Das ist also Ihr netter Bruder, ja?" fragte Philip kühl und ging ebenfalls zur Terrasse zurück. Bryony ließ sich schwach gegen die Wand sinken und schloss die Augen. Lieber Himmel, was macht Sonja in Singapur? fragte sie sich. Tief seufzend strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Am liebsten hätte sie sich irgendwo versteckt. „Bryony!" rief Philip, und sie hatte nicht den Mut, so zu tun, als hätte sie ihn nicht gehört. Mit einem erneuten unglücklichen Seufzer ging sie zu ihm und Daniel hinüber. Wenigstens schreien sie sich nicht mehr an, dachte sie und warf vorsichtig einen Blick um die Ecke. Philip saß nach vorne gelehnt in seinem Stuhl und redete auf einen trotzig aussehenden Daniel ein. Sie zwang sich, zu den beiden Streithähnen hinüberzugehen, und setzte sich neben ihren Bruder. „Ich werde mich um die Flugtickets kümmern." Seufzend stand Philip auf und ging ins Hotel. „Warum ist sie in Singapur?" fragte Bryony ihren Bruder. „Das hab' ich ihm doch gerade erzählt." „Dann erzählst du es eben noch mal!" schrie sie ihn wütend an. „Schrei nicht so", verlangte Daniel und erklärte es ihr widerwillig. „Wir hatten wieder mal Streit. Darum ist sie mit ein paar Studenten, die wir in Bangkok getroffen haben, nach Singapur gefahren."
„Und wann?" „Gestern, nachdem sie die Nachricht ihres Onkels bekommen hatte. Ich habe ihr gesagt, dass sie dableiben soll, aber sie hat sich geweigert." Bryony erinnerte sich plötzlich daran, dass man ihnen im Hotel gesagt hatte, Sonja sei noch dort. Sie runzelte die Stirn und fragte nach. „Aber warum wusste niemand in eurem Hotel, dass sie abgereist ist? Als wir heute Morgen fragten ..." Daniel zog einen Briefumschlag aus seiner Jackentasche und warf ihn vor Bryony auf den Tisch. „Sie wussten nicht, dass sie fort war. Ich fand diesen Umschlag heute Morgen. Sie hat ihn unter meiner Zimmertür durchgeschoben. Es war eine kurze Nachricht drin und außerdem genügend Geld, um ihre Hotelrechnung zu bezahlen." „O Daniel, was für ein Durcheinander!" Bryony seufzte. „Das kannst du laut sagen. Dauernd musste ich ihretwegen meine Reiseroute ändern. Ich hatte alles genauestens geplant, und jetzt sieh dir das Durcheinander an." „Tut mir Leid", sagte Bryony. „Das hoffe ich doch sehr. Wieso bist du eigentlich zu ihm gerannt und hast ihm alles erzählt, hm?" wollte Daniel wissen. „Weil ich dachte, dass er es wissen sollte. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sonja ohne jede Erlaubnis bei dir war. O Daniel, bitte mach nicht alles noch schwieriger", bettelte sie. „Es ist schon so schlimm genug. Du hättest Philip nicht so reizen dürfen." „Ich habe ihn nicht gereizt. Aber der tut ja gerade so, als ob das alles meine Schuld wäre. Na gut, in Ordnung, tut mir Leid, Köpfchen. Aber er hätte mich wirklich nicht wie einen Kidnapper behandeln müssen. Wieso bist du eigentlich mitgekommen? Du kommst mit so was doch überhaupt nicht klar. Sieh dich nur an. Ein kleiner Streit, und du brichst zusammen." „Ich weiß", stimmte sie ihm kläglich zu. „Aber es war nicht meine Idee mitzukommen." „Es war meine Idee." gestand Philip, der sich wieder auf seinen Stuhl sinken ließ. „Ich habe uns einen Flug für morgen früh um halb zehn gebucht. Früher startet keine Maschine." „Wissen wir, in welchem Hotel Sonja wohnt?" fragte Bryony und überlegte, ob sie nicht lieber wieder nach Hause fliegen sollte. Zurück nach England. Philip brauchte sie jetzt ja nicht mehr. „Nicht genau. Ihr Bruder geht später in sein Hotel zurück, um ein paar Leute danach zu fragen." „Ein paar der Studenten, die wir trafen, sind nicht mit nach Singapur gefahren", erklärte Daniel. „Sie werden wissen, wo Sonja sich aufhält." „Könntest du sie nicht jetzt gleich fragen?" drängte Philip. „Nein, kann ich nicht, weil sie nämlich auf einer Inselrundfahrt sind und erst heute Nacht zurückkommen", klärte Daniel ihn auf. „Essen wir hier?" fügte er dann frech hinzu. „Können wir machen", erwiderte Philip kühl. Er winkte den Kellner herbei und bestellte einen Tisch für drei Personen. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen", sagte der Kellner mit einem breiten Lächeln. Er ist sicher froh, dass die beiden sich nicht geprügelt haben, dachte Bryony. Sie standen alle auf und gingen zum Restaurant hinüber. Als sie endlich an ihrem Tisch saßen, war die Luft zum Schneiden dick. Philip betrachtete Daniel verächtlich, dann versuchte er allerdings, die Atmosphäre etwas zu entspannen, indem er fragte: „Warum nennst du deine Schwester Köpfchen? Weil sie keins hat?" „Nein, ganz im Gegenteil. Sie hat sogar sehr viel Köpfchen", erwiderte Daniel genauso kühl und höflich. „Wenn Sie jemals eine Frage haben, Bryony kennt die Antwort. Sie weiß fast alles." „Nicht alles!" mischte sich Bryony bescheiden ein. „Aber fast alles. Man wird nicht nur wegen eines netten Lächelns von der ,St. Andrews Universität' akzeptiert." „Die ,St. Andrews Universität' in Schottland?" fragte Philip ungläubig. „Ja, sie hat ein Stipendium dort bekommen, und die gehen mit Stipendien sehr sparsam
um", erklärte Daniel eifrig. Er schien seinen Ärger vor lauter Angeben vergessen zu haben, und Bryony lächelte ihm zu. Sie war gerührt darüber, dass er sich so für sie einsetzte. „Das stimmt allerdings." Philip nickte und betrachtete Bryony interessiert. „Was haben Sie dort studiert?" „Kunst! An der ,Oxford Universität' gab es in dem Jahr keine Kurse." „Hätte ,Oxford' Sie etwa auch aufgenommen?" „Ja." „Du meine Güte!" Philip wandte sich wieder an Daniel. „Da wir beide uns jetzt beruhigt haben, kannst du mir vielleicht die Sache mit Sonja noch einmal ganz von vorne erzählen. Du sagtest, dass sie einfach in Hongkong aufgetaucht sei?" „Ja", bestätigte Daniel etwas widerspenstig, und Bryony machte sich heimlich auf einen zweiten Streit gefasst. „Aber ich muss zugeben, dass es wohl auch teilweise meine Schuld war", fügte ihr Bruder dann erstaunlicherweise hinzu. „Ich hatte ihr von meiner geplanten Reise vorgeschwärmt, als wir uns in Paris trafen. Ich dachte mir nichts dabei, als sie mich ganz genau über meinen Reiseplan aushorchte, mit Daten und so." Daniel trank einen Schluck Wein, den Philip bestellt hatte, und blickte nachdenklich in sein Glas. „Dann tauchte sie wie gesagt eines Tages einfach auf. Sie heftete sich mir an die Fersen und wurde immer unzufriedener, weil ich mir nicht die gleichen Sachen ansehen wollte wie sie." „Zum Beispiel?" „Exotische Nachtklubs zum Beispiel", antwortete Daniel herausfordernd. Als Philip sich nicht reizen ließ, zuckte er die Schultern. „In Bangkok ging es ihr wieder etwas besser, aber nur nachdem wir in ein besseres Hotel umgezogen waren. Dann traf sie Studenten, die ihr von Penang vorschwärmten, und da ich sowieso hierher kommen wollte, sind wir eben gefahren. Es ist besser für die Nerven, Sonjas Wünschen zu entsprechen, als sich mit ihr zu streiten." „Aber du hast sie trotzdem nicht einfach sitzen lassen. Das war wirklich lieb von dir", mischte sich Bryony ein, in der Hoffnung, die Wogen noch mehr zu glätten. „Erzähl weiter", forderte Philip ihn auf, überhaupt nicht beeindruckt von Daniels Ritterlichkeit. „Dann kamen wir hier an, und Sonja erhielt Ihre Nachricht. Nun, das war, ehrlich gesagt, eine ziemlich blöde Idee", meinte Daniel heftig. „Sie hätten einfach herkommen sollen. Sonja zu warnen ist tödlich. Ehe ich mich's versah, hatte sie ihre Sachen gepackt und war verschwunden. Wenn ich gewusst hätte, dass sie ohne Ihre Erlaubnis hier ist, hätte ich sie besser im Auge behalten. Aber ich hatte eben keine Ahnung. Ich dachte, Sie würden nur den strengen Onkel spielen, der vorbeikommt, um mal zu sehen, was seine Nichte so treibt." „Und da deine Schwester sicherlich genauso streng mit dir umgeht, hattest du natürlich Mitleid mit Sonja, nicht wahr?" fragte Philip trocken und blickte nachdenklich auf sein Weinglas. „So ungefähr", gestand Daniel ungeniert. Dann wandte er sich an Bryony und meinte tadelnd: „Du bist zu dünn. Ich wette, du hast wieder mal vergessen zu essen." „Das stimmt nicht. Ich habe gegessen", verteidigte sie sich. „Aber nicht viel, so, wie du aussiehst. Bist du mit den Schachfiguren fertig geworden?" „Schachfiguren?" fragte Philip erstaunt. „Ja, Schachfiguren. Sir Edward March hat sie in Auftrag gegeben", erklärte Daniel. „Der Schauspieler?" „Ja. Er hatte die Schachfiguren gesehen, die Bryony für Viscount Emmerson gemacht hat. Es sind lauter Karikaturen seiner Familie. March rief sie sofort an und wollte welche, die berühmte Schauspieler und Schauspielerinnen darstellen." „Sie verkehrt in gehobenen Kreisen, nicht wahr?" bemerkte Philip sarkastisch. „Und Emmersons Schachfiguren sahen wirklich wie Mitglieder seiner Familie aus?" „Ja", antwortete Daniel an Bryonys Stelle. „Die Bauern sahen aus wie seine Kinder, die Springer waren seine Onkel und so weiter. Sie hat Fotos als Vorlage genommen, nicht wahr, Köpfchen?"
„Ja", bestätigte Bryony leise, ohne einen der beiden Männer anzusehen. Daniel konnte es einfach nicht lassen. Es schien ihm großen Spaß zu machen, mit ihren Erfolgen anzugeben. Vielleicht ist es. das Einzige, was er an mir bewundert, dachte Bryony. Aber er hätte vor Philip nicht so aufschneiden müssen. Das war ihr äußerst unangenehm. Es wäre besser gewesen, wenn Philip sie weiterhin für ein nettes kleines Dummchen gehalten hätte. Von intelligenten Frauen erwartete man bestimmte Verhaltensweisen. Sir Edward March hatte zu viel von ihr erwartet, nachdem ihm jemand von ihrer hohen Bildung erzählt hatte. Er hatte lange Diskussionen über die Fürs und Widers der Bildhauerei führen wollen, über die Methode, die Ausführung, die Wahl des Rohmaterials, und er war verwirrt gewesen, als Bryony ihm gesagt hatte, dass sie sich bei diesen Entscheidungen nur von ihrem Gefühl beeinflussen ließ. „Er war sehr zufrieden mit dem Ergebnis", fügte sie hinzu. „Zufrieden? Das kann ich mir gut vorstellen", sagte Philip. „Ich habe Sie sehr unterschätzt, nicht wahr?" „Das tut jeder", stellte Daniel zufrieden fest, und Bryony sah ihn etwas verwirrt an. „Willst du dir für heute Nacht hier im Hotel auch ein Zimmer nehmen?" fragte Philip Daniel. „Oder willst du in deinem eigenen Hotel bleiben und uns morgen am Flughafen treffen?" „Wieso am Flughafen?" fragte Daniel überrascht. „Weil wir nach Singapur fliegen werden", antwortete Philip ungerührt. „Na und! Ich muss euch doch nicht Auf Wiedersehen sagen, oder?" „Nein, Daniel, aber du wirst mit uns fliegen." „O nein! Das schlagen Sie sich mal gleich aus dem Kopf. Ich werde meinen Urlaub fortsetzen", wehrte sich Daniel entschieden. „Daniel!" Philips Stimme klang plötzlich sehr gefährlich. „Du kommst mit uns nach Singapur!" „Das werden wir ja sehen. Mir ist es egal, wie berühmt Sie sind. Ich lasse mich nicht von Ihnen herumkommandieren. Ich bin keiner von Ihren Handlangern, und ich werde Ihnen nicht wie ein Dackel brav hinterherlaufen." „Ich verlange ja auch gar nicht, dass du Dackel spielst. Ich verlange nur, dass du mit uns nach Singapur kommst." Daniel machte Anstalten, aufzuspringen und davonzustürmen, aber Philip packte ihn vorn am T-Shirt und hielt ihn fest. Das war zu viel für Bryony. Mit einem unterdrückten Schluchzer stand sie auf und rannte davon. „Sehen Sie, das haben Sie jetzt davon", schimpfte Daniel, riss sich los und lief hinter seiner Schwester her. „O verdammt!" fluchte Philip, warf seine Serviette auf den Tisch und stand ebenfalls auf.
6. KAPITEL Am Deich angekommen, lehnte Bryony sich an eine Palme und blickte über die Stadt. Alles verschwamm vor ihren Augen. Sie blinzelte ein paar Mal und zuckte zusammen, als Daniel sie plötzlich von hinten an der Schulter packte und sie zu sich herumdrehte. „Jetzt beruhige dich", sagte er barsch und schüttelte sie. „Es war doch nur ein kleiner, unbedeutender Streit. Kein Grund zur Aufregung." „Mir ist ganz schlecht", sagte sie mit unsicherer Stimme. „Ich weiß. Es tut mir Leid, Köpfchen, aber er ist so verdammt arrogant." „Ist er nicht", verteidigte sie Philip leise. „Nicht wirklich. O Daniel, wieso hast du ihm nicht alles in Ruhe erklärt, ohne aus der Haut zu fahren?" jammerte sie. „Du weißt doch genau, dass ich Streit so schlecht verkraften kann." „Ich weiß", murmelte er ärgerlich und versetzte der Mauer einen Tritt. „Er hat mich eben gereizt. Und weshalb will er unbedingt, dass ich mit nach Singapur komme?" „Weil er nicht weiß, wie Sonja aussieht", erklärte Bryony ihm den Grund. „Warum hat er das denn nicht gleich gesagt? Also wirklich. Na gut, ich fliege mit nach Singapur!" Er seufzte. „Seit dieses kleine Miststück aufgetaucht ist, hatte ich keine ruhige Minute mehr." Dann sah er, dass Philip ein paar Schritte entfernt hinter ihnen stand. „Also, wann startet die verdammte Maschine morgen?" fragte er ihn resigniert. „Halb zehn." „Na gut, ich treffe euch dann um neun am Flughafen." Daniel zog Bryony an sich und drückte ihr unbeholfen einen Kuss auf die Stirn. „Bis morgen früh dann. Und hör um Himmels willen auf, dir Sorgen zu machen." Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging. „Alles in Ordnung?" fragte Philip leise und kam zu Bryony hinüber. „Ja." „Soll ich mich entschuldigen?" „Nein." „Nein." Er seufzte. „Sind Sie jetzt wieder das schüchterne Mäuschen? Einsilbig und schüchtern?" „Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass ich Streit nicht verkraften kann?" fragte Bryony kläglich. „Und was machen Sie? Sie streiten sich mit Daniel!" „Er war ja nun auch nicht gerade die Höflichkeit in Person, oder?" verteidigte sich Philip ärgerlich. „Ich habe noch nie einen so schwierigen, sturen ..." „Er ist weder schwierig noch stur", widersprach Bryony kühl. „Er ärgert sich nur darüber, dass Sie ihn zu Unrecht beschuldigen." „Ich habe ihn überhaupt nicht beschuldigt. Ich habe ihn nur gefragt, wo Sonja ist." „Der Ton macht die Musik, und Ihr Ton war alles andere als freundlich. Ich glaube, ich werde nach Hause fliegen. Mich brauchen Sie ja nicht in Singapur", meinte sie unglücklich. „Doch, ich brauche Sie." Philip drehte sie sanft zu sich herum. „Wer soll denn sonst Schiedsrichter spielen? Es ist ja nur noch für einen einzigen Tag. Das werden Sie doch wohl noch schaffen, oder?" „Und wenn es doch länger dauert? Was ist, wenn wir in Singapur ankommen und Sonja womöglich schon wieder verschwunden ist?" „Dann lasse ich Sie nach England zurückfliegen, und Daniel und ich setzen die Suche nach ihr allein fort." „O Philip!" Bryony lehnte die Stirn an seine Brust. „Ich kann nichts dafür, dass ich so feige bin." „Ich weiß." Er zog sie fester an sich und legte die Wange gegen ihr Haar. „Sie zittern ja." „Ja", flüsterte sie, schlang die Arme um ihn und drehte ihren Kopf zur Seite, so dass ihre Wange genau über seinem Herz lag. Das gleichmäßige Pochen hatte etwas sehr
Beruhigendes an sich. „Als ich klein war, haben meine Eltern sich ständig gestritten. Sie klangen dabei so verbittert und böse, als würden sie sich wirklich hassen. Ich versteckte mich jedes Mal im Besenschrank und hielt mir die Ohren zu. Und nach jedem, aber auch wirklich jedem Streit wurde mir entsetzlich schlecht." „Arme Bryony", flüsterte Philip. „Daniel ist kein übler Kerl, Philip", sagte sie dann eindringlich. „Wirklich nicht. Er hat Ihnen die Wahrheit gesagt. Ich weiß, dass ich ihn nicht besonders gut erzogen habe, aber er ist kein schlechter Mensch. Er hat es nur nicht gern, wenn man ihn beschuldigt." „Na gut, ich werde abwarten, was Sonja zu sagen hat. Fühlen Sie sich jetzt besser?" „Nicht sehr. Es hört sich so an, als ob Sie sich schon längst ein Urteil über Daniel gebildet hätten", meinte sie. „Können wir nicht einfach unterschiedlicher Meinung sein, was Daniel betrifft? Ich will mich nicht mit Ihnen streiten oder Sie noch mehr aufregen. Sie kennen Daniel viel besser als ich." „Ja." Sie schmiegte ihre Wange fester an seine Brust und atmete tief ein. Der Blumenduft schien stärker geworden zu sein, seit die Sonne untergegangen war. Es war noch hell gewesen, als sie aus dem Restaurant gestürmt war, aber nun herrschte tiefe Dunkelheit. Sie hatte gelesen, dass die Nacht hier plötzlich hereinbrach, ohne vorherige Dämmerung, aber sie hatte so etwas noch nie erlebt. Die Grillen zirpten, und Bryony lauschte, während sie sich in Philips Armen entspannte. Der Mond hing wie eine große silberne Kugel am samtschwarzen Himmel, und die Sterne schienen viel größer zu sein als zu Hause. Draußen auf dem Meer funkelten winzige Lichter. Wahrscheinlich waren es die von Fischerbooten oder Yachten. Bryony seufzte leise und zufrieden, als Philip ihr sanft übers Haar strich. „Geht es Ihnen wieder besser, Bryony?" fragte Philip. „Ja, vielen Dank", sagte sie höflich, und er musste lächeln. „Sie riechen nach Sonne", bemerkte er, und seine Stimme klang rau. „Ja?" fragte sie und blickte zu ihm hoch. Er lächelte immer noch amüsiert, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Deich und zog sie zwischen seine kräftigen Oberschenkel. Sie standen sich jetzt Auge in Auge gegenüber, und plötzlich erlosch Philips Lächeln. Die Luft zwischen ihnen schien mit einem Mal zu knistern. Bryony holte tief Atem und versuchte, sich von Philip loszumachen. „Nein, bleiben Sie hier", bat er leise. „Nur für ein paar Minuten. Entspannen Sie sich. Wenn Sie jetzt gehen, können Sie bestimmt nicht schlafen, oder? Sie werden so lange über die ganze Situation nachgrübeln, bis Ihnen wieder schlecht ist." Bryony gehorchte. Es wäre dumm von ihr fortzulaufen. Philip war nur freundlich zu ihr, weiter nichts. Bryony sah ihn unsicher an und biss sich nervös auf die Unterlippe. „Nicht", tadelte er, ohne den Blick von ihrem Mund zu wenden. „Sie werden sich noch wehtun." Bryony holte scharf Luft, als sie plötzlich seinen Finger auf ihrer Lippe spürte. „Ich ..." begann sie. „Ich glaube, Sie stehen noch nicht nah genug bei mir", fuhr er kaum hörbar fort. Er legte die Arme leicht um sie und betrachtete eingehend ihr hübsches Gesicht. „Nicht!" bat Bryony mit zitternder Stimme. „Sie haben mir versprochen ..." „Ich habe nichts versprochen. O Bryony, ich würde Sie so gern küssen. Ich wollte Sie schon den ganzen Tag küssen. Machen Sie die Augen zu", bat er leise. „Nein", stöhnte sie, „bitte, Philip!" „Morgen fliegen wir zurück nach Hause, und Sie werden sich fragen, ob Sie nicht etwas verpasst haben, weil Sie mich nicht küssen wollten." „Ich bin mir sicher, dass ich nichts verpassen werde. Ich habe Ihnen gesagt, dass ..." Sie kam nicht weiter, denn Philip zog sie heftig an sich und küsste sie. Sie stöhnte auf und versuchte, sich zu befreien, aber Philip ließ nicht locker. Die Leidenschaft, die er in ihr weckte, machte Bryony Angst, und sie versuchte, ihn energisch von sich zu schieben. Er rührte sich nicht, und sie wusste, dass sie seinen Kuss erwidern würde, wenn sie nicht schleunigst von ihm loskam. In ihrer Panik griff sie in sein dichtes Haar und zog kräftig daran.
Als er schmerzlich nach Luft schnappte und sie losließ, drehte sie sich um und rannte, so schnell sie konnte, zum Hotel zurück. An der blumenübersäten Gartenmauer holte Philip sie ein. Er hielt Bryony fest und drängte sie in die duftenden Blumen an der Mauer. „Nein", flehte sie, „bitte nicht, Philip." Er ignorierte ihre Worte, zog sie fest an sich und küsste sie erneut. Mit einem leisen Schluchzen schlang Bryony die Arme um ihn und ergab sich. Sie wollte ihn küssen und von ihm geküsst werden. Nur dieses eine Mal. Neugierig darauf, welche Leidenschaft dieser Mann in ihr wecken konnte, berührte sie seine Zunge vorsichtig mit ihrer, schmiegte sich noch enger an ihn und küsste ihn mit einem Verlangen, das sie zwei Jahre lang verdrängt hatte. Ihre Gefühle für Philip waren so stark, dass Bryony all ihre Beherrschung verlor. Sie presste ihre Oberschenkel gegen seine und ihre Brüste gegen seinen muskulösen Oberkörper. Bryony erschauerte, als sein Kuss erst sanfter, dann leidenschaftlicher und schließlich wieder sanft wurde, und sie schluchzte auf, als er ihre Zunge zärtlich zwischen die Zähne nahm und dann mit seiner Zunge ihre Lippen zu liebkosen begann. Sie wusste, dass sie in diesem Moment einen großen Fehler machte, aber sie konnte einfach nicht mehr aufhören, wollte nicht aufhören, weil es so wundervoll und erregend war. Wie in einem schönen Traum, in dem es nur Philip und sie gab. Ein Traum, in dem die Luft erfüllt war vom betörenden Duft exotischer Blumen, in dem nur das Zirpen der Grillen und ihr und Philips heftiges Atmen zu hören waren. Ihr Haar hatte sich aus dem Band gelöst, und der Wind blies ihr Haarsträhnen ins Gesicht, als Philip seine Umarmung etwas lockerte, damit sie wieder zu Atem kam. Langsam öffnete sie die Lider und blickte in seine tiefblauen Augen, in denen sich die Leidenschaft widerspiegelte. „Du meine Güte", flüsterte sie. „Ja", erwiderte er mit rauer Stimme, beugte sich erneut über sie und begann, eine ihrer Brüste sanft zu streicheln. „Nein", protestierte Bryony heiser und riss sich von ihm los. „Nein", wiederholte sie und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Mauer. Er war viel zu weit gegangen, und sie hatte nichts dagegen getan. Verwirrt und unsicher versuchte Bryony, sich wieder zu beruhigen. Wieso hatte sie so leidenschaftlich auf Philips Kuss reagiert? Jetzt, wo sie wieder klar denken konnte, schämte sie sich entsetzlich. Sie hätte den Kuss verhindern können, wenn sie es wirklich gewollt hätte. Bryony öffnete die Augen. „Ich ..." setzte sie an. „Nein", stieß Philip atemlos hervor. „Sag nicht, dass das hier nicht wieder passieren wird, dass du keine Affäre mit mir haben willst. Sag mir nicht, dass du vernünftig und stark sein wirst, sag kein Wort. Deine Reaktion eben würde deine Worte nur Lügen strafen. Nein, nicht..." Er legte ihr die Hand auf den Mund, als sie protestieren wollte. Bryony schob seine Hand energisch fort. „Aber das werde ich dir trotzdem alles sagen. Ich ..." „Hör auf, mit mir zu spielen, Bryony!" „Das ist kein Spiel", wehrte sie sich schwach. „Ach nein?" Seine Stimme klang immer noch verräterisch rau. „Nein." Philip stützte seine Hände rechts und links von ihr gegen die Mauer und betrachtete eingehend ihr bleiches Gesicht. „Du weißt, was du mit mir angestellt hast. Du weißt, dass ich mit dir schlafen will. Ich will dich nackt in den Armen halten, dich berühren, dich spüren ..." „Nein", flüsterte sie und sah ihn flehend an. „Bitte nicht." Sie hatte wirklich nicht gewusst, dass sie eine solche Wirkung auf ihn ausübte. „Und du willst es auch." „Das ist nicht wahr", widersprach sie leise und schüttelte heftig den Kopf, obwohl sie
wusste, dass er Recht hatte. Sie war versucht nachzugeben. Aber wenn sie wirklich mit ihm schlief, würde sie es nicht ertragen können, sich später von ihm zu trennen. Und sie würde sieh von ihm trennen müssen. Das war genauso sicher wie die Tatsache, dass morgen früh die Sonne aufgehen würde. Bis jetzt hatte sie nämlich noch jeder Mann verlassen. „Jetzt sieh mich nicht so besorgt an. Ich werde dich schon zu nichts zwingen." „Ich weiß. Es tut mir Leid, aber ich kann mich auf keine Affäre mit dir einlassen. Das könnte ich einfach nicht verkraften", erklärte Bryony schmerzlich. „Geh zu Bett, verschwinde!" befahl er ihr müde. „Geh, bevor ich noch die Kontrolle über mich verliere und mich vergesse. Ich weiß wirklich nicht, warum ich dir nachlaufe. Das ist doch sonst nicht meine Art", stieß er aufgebracht hervor und führte sie zu ihrem Zimmer. „Es tut mir Leid", entschuldigte sie sich, ohne recht zu wissen, wofür. „Wirklich? Ich glaube kaum. Du bist eine gefährliche Frau, Bryony. Das wusste ich schon, als du da unten so verloren im Garten gestanden und mich mit deinen großen Äugen angesehen hast. Schade, dass ich damals nicht geahnt habe, dass du mich zur Verzweiflung treiben wirst." „Aber das habe ich wirklich nicht gewollt", beteuerte sie. „Nein, aber du sagst manchmal die unmöglichsten Sachen mit einem total harmlosen Gesichtsausdruck. Wenn man einem Mann sagt, er würde gut aussehen, dann heißt das meistens, dass man ihn attraktiv findet. Und wenn man so schon ist wie du, dann kann eine solche Aussage gefährlich werden. Der Mann könnte auf falsche Gedanken kommen." „Ich finde dich ja attraktiv. Das ist eben das Problem", erklärte Bryony unglücklich. „Aber ich wollte nicht, dass du auf falsche Gedanken kommst." „Wirklich nicht? Wolltest du eben nicht ausprobieren, wie weit du bei mir gehen kannst?" „Nein", protestierte sie heftig. Philip lächelte spöttisch, als er ihren besorgten Gesichtsausdruck bemerkte, und strich ihr sanft über die Nasenspitze. „Nicht", bat Bryony und legte ihm die Hand auf die Brust, um ihn wegzuschieben. Sie holte scharf Luft, als er seine Hand über ihre legte und ihre Finger fest gegen sich drückte. „Du bist so zierlich und doch so gefährlich. Was soll ich nur mit dir machen, Bryony Grant?" „Nichts! Du sollst nichts mit mir machen", rief sie erschrocken und bestimmt zugleich. Philip zuckte ärgerlich die Schultern und ließ ihre Hand los. „In Ordnung!" erklärte er tonlos. Bryony senkte den Kopf, damit er die Tränen nicht sehen konnte, die ihr in die Augen traten, und ging in ihr Zimmer. Was hast du eigentlich erwartet? fragte sie sich wütend. Dass er versuchen wird, dich zu verführen? Bryony lag lange schlaflos im Bett und dachte angestrengt nach. Eigentlich hätte sie erleichtert darüber sein sollen, dass Philip ihre Ablehnung so ohne weiteres akzeptiert hatte, aber sie war eben nicht erleichtert. Stattdessen fühlte sie sich verwirrt, einsam und voller Sehnsucht. Philips Kuss hatte in ihr den Wunsch nach mehr geweckt. Wenn sie nicht so feige gewesen wäre, dann hätte sie jetzt in seinem Bett liegen und sich eng an ihn kuscheln können. Bryony drehte sich stöhnend auf die andere Seite und vergrub das Gesicht in ihrem Kopfkissen. Philip wollte nur einen Urlaubsflirt, aber mir hätte es viel mehr bedeutet. Wärme, Zuneigung und die Nähe eines anderen Menschen waren erstrebenswert, aber nicht, wenn der Preis dafür ein gebrochenes Herz war. Ich darf mich nicht in Philip verlieben, dachte Bryony und überhörte die leise Stimme in ihrem Inneren, die ihr zuflüsterte, dass es längst zu spät war. Beim Frühstück sprachen Philip und Bryony kaum miteinander. Jeder von ihnen war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, und Bryony war froh, als sie sich endlich auf den Weg zum Flughafen machten. Daniel erwartete sie bereits.
„Du siehst entsetzlich aus", erklärte er mit brüderlicher Offenheit. „Hast du nicht geschlafen?" „Nicht sehr viel", gestand sie, sagte ihm aber nicht, dass weder er noch Sonja der Grund für ihre schlaflose Nacht gewesen waren. „Und was hat er?" fuhr Daniel fort und nickte zu Philip hinüber, der etwas abseits stand und grimmig dreinblickte. „Ich dachte, jetzt, wo alles nach seinen Wünschen läuft, würde er sich freuen." „Keine Ahnung." Bryony seufzte. „Hast du den Namen von Sonjas Hotel herausgefunden?" „Ja." „Meinst du, sie ist dort?" „Woher, zum Teufel, soll ich das wissen?" brummte Daniel. „Wahrscheinlich wird sie die Erste sein, der wir im Hotel begegnen." „Das wäre zu schön, um wahr zu sein", meinte Bryony. „Stimmt. Aber dann könnte ich wenigstens meine Reise fortsetzen." Daniel warf Philip einen schadenfrohen Seitenblick zu. „Wenn er einen schüchternen, gehorsamen Teenager erwartet, dann soll er sich auf einen Schock gefasst machen." „O Daniel!" tadelte Bryony. „Du bist ein richtiger Trost. Ist sie denn wirklich so schlimm?" „Noch viel schlimmer", erklärte er, und der Gedanke, dass Philip du Vaal sich nun mit Sonja herumschlagen musste, schien ihm viel Freude zu bereiten. „Wenn ich's mir so überlege", fügte er bösartig hinzu, „werde ich vielleicht noch so lange bleiben, bis das Donnerwetter vorüber ist." „Wenn es ein Donnerwetter gibt, nehme ich das erste Flugzeug zurück nach England", erklärte Bryony entschieden. Plötzlich kam Leben in den Wartesaal des Flughafens. Bryony und Daniel gesellten sich zu Philip, um der Aufforderung zu folgen und zur Einstiegsschleuse hinüberzugehen. In Singapur angekommen, nahmen sie ein Taxi zum Hotel. Philip bezahlte den Fahrer, während Bryony und Daniel schon in die Empfangshalle gingen. Und genau wie Daniel es vorhergesagt hatte, war die erste Person, der sie begegneten, Sonja. Sie stand an der Rezeption und trug knappe weiße Shorts und weiße Schuhe mit unpraktisch hohen, spitzen Absätzen. Bryony blinzelte überrascht. Sie hatte eine erwachsene, weltgewandte junge Dame erwartet und nicht dieses Mädchen, das viel jünger als siebzehn aussah. Sonja stritt sich gerade mit dem Mann an der Rezeption, als Philip auch ins Hotel kam. Daniel lächelte ihm zu. „Dort, mein besorgter Freund, ist Ihre Nichte", sagte er und deutete auf Sonja. Bryony warf Philip einen kurzen Seitenblick zu und hatte plötzlich Mitleid mit ihm. Er sah nicht sehr begeistert aus. Sie hätte ihn gern beruhigt, aber sie wusste nicht, wie. Außerdem will er bestimmt nicht, dass ich mich einmische, dachte sie betrübt. Sie war sicher, dass sie seine Freundschaft für immer verloren hatte. „Danke", murmelte Philip, atmete einmal tief durch und ging zu Sonja hinüber. Als sie sich zu ihm umdrehte, wandte Bryony sich misstrauisch an ihren Bruder. „Sie ist wunderschön", flüsterte sie. „Ja, sicher, ich habe nie behauptet, dass sie hässlich sei", verteidigte sich Daniel. Bryony drehte sich wieder um und betrachtete Philips Nichte eingehend. Sonja hatte ein schönes Gesicht, umrahmt von kurzen blonden Locken. Sie sah aus wie ein Rauschgoldengel. Kein Wunder, dass Philip Daniel sofort alle Schuld zugeschoben hatte. Sonja sah aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Bryony war überrascht, als Sonja sich Philip plötzlich aufschluchzend in die Arme warf. Daniel schien das Spektakel allerdings erwartet zu haben. „Eins zu null für Sonja", bemerkte er zynisch. „Was soll das denn heißen?" fragte Bryony, ohne den Blick von Philip zu nehmen, der vergeblich versuchte, seine Nichte zu beruhigen. „Meinst du, wir sollten ihm helfen?"
„Nein. Sie wird nur so lange heulen, bis er ihr ihre Geschichte abkauft. Dann werden die Krokodilstränen wie durch ein Wunder versiegen, und sie wird ihm eines ihrer kuhäugigen Lächeln zuwerfen, ekelhaft!" „Daniel, du bist schrecklich", tadelte Bryony, entsetzt über seine Bitterkeit. „Schrecklich?" ereiferte sich ihr Bruder. „Ich finde, dass ich mich eigentlich sehr gut beherrsche hier. O je ..." stöhnte er, als Sonja ihn in diesem Moment entdeckte und erstaunt ansah. „Und rate mal, wer wieder an allem schuld sein wird. Ich verschwinde. Tschüss, Schwesterherzchen. Ich seh' dich im August. Hab' keine Lust, Sonjas Sündenbock zu spielen. Wenn du klug bist, verschwindest du besser auch." „Aber Daniel!" protestierte Bryony, als ihr Bruder sie kurz umarmte und ihr hastig einen Kuss auf die Wange drückte. „Du kannst doch nicht einfach gehen." „Wetten, dass ..." Daniel drückte sie noch einmal kurz an sich, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand. „Daniel!" rief sie und lief ihm nach. „Wohin willst du denn?" „Fort von hier." Er winkte ihr kurz zu, stieß die Schwingtür des Hotels auf und verschwand gleich darauf inmitten der Menschenmenge draußen auf der Straße. Verwirrt ging Bryony zu Philip und seiner Nichte hinüber. „Wo ist dein Bruder denn?" fragte Philip misstrauisch. „Ich weiß es nicht", gestand sie leise. „Natürlich nicht", spöttelte er, und Bryony fiel plötzlich auf, dass Sonjas Make-up trotz ihres heftigen Tränenausbruchs vorhin nicht verschmiert, ihre Augen kein bisschen geschwollen waren. Bryony runzelte die Stirn. „Hallo Sonja", begrüßte sie Philips Nichte niedergeschlagen. „Hallo", flüsterte Sonja, und ihre Stimme klang unschuldig und verletzt. „Sind Sie Dannys Schwester?" „Ja." „Er mag mich nicht", erklärte Sonja kläglich und sah sie aus großen traurigen Augen an. Zu groß und zu traurig, fand Bryony. „Nein", stimmte sie Philips Nichte zu. Was hätte sie sonst sagen sollen? Daniel mochte Sonja wirklich nicht. „Warum bist du so schnell aus Penang abgereist?" fragte sie dann neugierig. Sonja senkte den Blick. „Ich bin in Panik ausgebrochen", erklärte sie. „Als der Hoteldiener mir Philips Nachricht gab, bekam ich fürchterliche Angst. Ich dachte, er würde entsetzlich böse mit mir sein ..." Sie warf ihrem Onkel einen kurzen Blick zu und lächelte unsicher. „Ich dachte, ich könnte schnell zum Internat zurückfliegen. Hab' ich euch viel Ärger gemacht?" Wie auf Kommando füllten sich ihre großen blauen Augen wieder mit Tränen, die, eine nach der anderen, über ihr schönes Gesicht rannen. Oh, wenn ich das doch auch könnte, dachte Bryony sehnsüchtig. Krokodilstränen können so nützlich sein. „Warum hast du dann nicht gleich gestern einen Rückflug gebucht?" fragte sie. „Bryony!" mischte sich Philip ein. „Nicht jetzt!" „Ich verstehe." Bryony lächelte zynisch. „Ich melde uns an. Du und Sonja, ihr habt euch sicher viel zu erzählen." „Willst du dir nicht anhören, was Sonja zu sagen hat", meinte Philip verärgert. „Nein, Philip, ich glaube nicht. Tut mir Leid, Sonja." Sie wandte sich an Philips Nichte und sah, wie ein siegessicheres Lächeln über ihr Gesicht huschte. „Nein", wiederholte sie. „Ich glaube Daniels Version der Geschichte." „Aber du weißt ja noch nicht mal, ob ihre Geschichte sich von Daniels unterscheidet", rief Philip ärgerlich. „Ich kann mir sehr gut vorstellen, was sie dir erzählt hat. Sie hat gesagt, Daniel habe sie dazu überredet, hierher zu kommen, obwohl sie ja eigentlich dagegen gewesen sei. Als sie dann, noch immer widerwillig und unsicher, in Hongkong angekommen sei, habe sie herausgefunden, dass Daniel sich merkwürdig verändert habe. Sie habe sich einsam und
verängstigt gefühlt, und wenn die anderen Studenten sich nicht um sie gekümmert hätten ..." Bryony drehte sich zu Sonja um und fragte: „Na, wie gut habe ich die Geschichte bis jetzt hingekriegt?" Sonja drückte ein paar neue Krokodilstränen hervor, und Bryony lächelte zufrieden. Sonja war wirklich eine erstklassige Schauspielerin, und dramatische Rollen schienen ihr besonders zu liegen. Kopfschüttelnd wandte Bryony. sich ab und ging zur Rezeption hinüber. Bryony gab dem Hotelpagen ein Trinkgeld und bestand darauf, ihr spärliches Gepäck selbst nach oben zu tragen. Dort angekommen, warf sie ihren Rucksack aufs Bett, trat ans Fenster und sah blicklos auf die Straße hinunter. Es klopfte an der Tür. Bryony ging hinüber und öffnete. Vor ihr stand Sonja. „Ja, bitte?" fragte Bryony kurz. Sonja sah sie trotzig an, und so gefiel sie Bryony schon viel besser als in ihrer Rolle als Schauspielerin. „Danny hat alles, was ich über ihn gesagt habe, verdient", begann Sonja. „Und Onkel Philip glaubt mir, egal, was Sie auch sagen werden." „Oh, das weiß ich", erwiderte Bryony leise. „Ich bin wirklich nicht auf den Kopf gefallen. Aber mich würde interessieren, womit Daniel das alles verdient hat." „Er hat in Paris so getan, als würde er mich sehr mögen. Aber als ich dann hier ankam, war er wütend und hat mich wie ein kleines Kind behandelt. Aber ich hab's ihm gegeben!" zischte Sonja rachsüchtig. „Und wenn Sie mir in die Quere kommen oder mir Ärger machen, dann werde ich's Ihnen auch geben. Ich kann mir nämlich noch mehr Geschichten über Ihren tollen Bruder ausdenken!" „Da bin ich mir sicher", sagte Bryony sanft. „Und jetzt auf Wiedersehen, Sonja." Damit machte sie ihr die Tür vor der Nase zu und lehnte sich erschöpft an den Rahmen. Der arme Daniel hatte nur einen schönen Urlaub verbringen wollen, und die arme Sonja hatte sich auf ein wundervolles Abenteuer gefreut und war nur auf Gleichgültigkeit gestoßen. Sie war ein verwöhntes kleines Mädchen, das von jedem geliebt werden wollte. Zum Teufel mit allem, dachte Bryony entschieden, ich werde mir jetzt Singapur ansehen. Ein Spaziergang würde ihr sicher gut tun. Ungeduldig steckte Bryony etwas Geld ein, ging nach unten, .gab ihren Schlüssel an der Rezeption ab und eilte nach draußen, nachdem sie sich umgesehen hatte. Sie wollte weder Philip noch Sonja begegnen. Ziellos streifte sie durch die Straßen Singapurs, betrachtete die prächtigen Tempel, ohne sie richtig wahrzunehmen, und dachte über Sonja nach. Sie war ein armes, reiches Mädchen, das gerade in einem schwierigen Alter steckte. Kein Kind mehr, aber auch noch nicht ganz Frau. Hatten Sonjas Eltern sie in ein Internat gesteckt, weil sie schwer erziehbar war? Ich will nach Hause, dachte Bryony plötzlich verzweifelt, zurück in mein ruhiges Leben. Sie sah das bunte Treiben um sich herum, dachte an Philips blaue Augen, an sein dichtes dunkelblondes Haar, seinen muskulösen Körper und sehnte sich ganz schrecklich nach ihm. Wie gern hätte sie sich ihm in diesem Augenblick in die Arme geworfen. Bryony blieb unvermittelt stehen, schloss die Augen und zwang sich zur Ruhe. Denk nicht an ihn, denk an Sonja, beschwor sie sich in Gedanken, ja, denk an Sonjas unschuldige blaue Augen und ihre goldblonden Locken. Sie hätte Sonja dazu zwingen sollen, Philip die Wahrheit zu sagen, anstatt ihr die Worte auch noch in den Mund zu legen. Vielleicht hätte sie auch ein bisschen weinen sollen - aber hauptsächlich hätte sie darauf achten sollen, wohin sie ging. Denn wenn sie das getan hätte, hätte sie nicht versucht, sich zwischen zwei Verkaufsständen hindurchzuzwängen. Jeder konnte sehen, dass kein Mensch durch diesen schmalen Spalt passte. Und nun hatte sich eine ihrer weiten Hosentaschen an der Schraube, die den Sonnenschirm über dem Verkaufsstand festhielt, verfangen und den Metallstift herausgezogen. Der ganze Stand begann zu wackeln, und Bryony griff nach dem Sonnenschirm, um ihn festzuhalten. Warum passieren mir immer solche Sachen? dachte sie und hielt verzweifelt nach der Schraube Ausschau. Bryony stöhnte kläglich, als sie sah, dass die besagte
Schraube weit unter den Stand gerollt war. Typisch! Sie wollte den Sonnenschirm gerade loslassen und fortlaufen, als jemand ihr von hinten auf die Schulter tippte.
7. KAPITEL „Um Himmels willen, Philip, fast hätte ich einen Herzinfarkt bekommen", rief Bryony, atemlos vor Schreck. „Was, zum Teufel, machst du hier?" fragte er grimmig. „Ich habe die ganze Stadt auf der Suche nach dir auf den Kopf gestellt. Und warum versteckst du dich hier hinten?" „Ich verstecke mich nicht", widersprach sie ärgerlich. „Und hör auf, so zu schreien! Ich wünschte, du würdest endlich kapieren, dass ich siebenundzwanzig Jahre alt bin und selbst auf mich aufpassen kann. - Philip!" rief sie ihm dann entsetzt nach, als er sich umdrehte. „Komm zurück!" „Wozu?" fragte er gehässig. „Ich denke, du kannst selbst auf dich aufpassen." „Normalerweise schon", sagte Bryony verlegen, „aber im Moment könnte ich deine Hilfe brauchen." „Ach ja? Wie schade!". „Oh, stell dich nicht so an", schimpfte sie. „Ich lehne mich hier nicht zum Spaß an den Stand." „Und warum lehnst du dich dann an diesen dummen Stand?" fragte er sanft, schob die Hände in die Hosentaschen und sah sie herablassend an. „Weil er sonst zusammenbricht", erwiderte sie wütend. Philip sah sie sprachlos an und nahm die Hände langsam aus den Hosentaschen. „Was?" fragte er dann. „Ich halte den Stand fest", erklärte sie ärgerlich. „Die Schraube ist herausgerutscht. Könntest du sie vielleicht wieder hineinschieben, statt hier tatenlos herumzustehen? Wenn ich loslasse, bricht das ganze Ding zusammen, und ich glaube nicht, dass das dem Verkäufer gefallen würde." „Da hast du Recht, Tontöpfe sind nämlich sehr zerbrechlich." „Wo willst du hin?" rief Bryony entsetzt, als Philip sich abwandte. „Wie kannst du nur so gemein sein?" Er sah sie grimmig an und seufzte laut. „Wie hast du das bloß wieder angestellt, Bryony? Wieso ist die Schraube herausgefallen?" „Ich bin hier nur vorbeigegangen, hab' an nichts Böses gedacht und plötzlich ..." „Wo ist die Schraube?" unterbrach er sie ungeduldig. „Da unten, unter dem Stand. Und beeil dich bitte, das Ding ist schwer", jammerte sie. „Das geschieht dir recht", erwiderte er, bückte sich, hob die Schraube auf, schob Bryony aus dem Weg und reparierte den Sonnenschirm. „Du kannst loslassen." Sie gehorchte und atmete auf, als der Sonnenschirm zwar leicht schwankte, aber stehen blieb. „Danke", sagte sie widerwillig. „Gern geschehen", erwiderte Philip sarkastisch. „Und jetzt erkläre mir bitte, weshalb du so unfreundlich zu Sonja warst." „Ich soll unfreundlich gewesen sein?" fragte sie ungläubig. „Ja, du! Ich konnte es kaum glauben, als sie mir davon erzählt hat." „Was hat sie dir denn erzählt?" verlangte Bryony zu wissen. „Sie sagte, sie sei zu dir gegangen, um sich zu entschuldigen, und du hättest sie beschimpft." „Ach, sie wollte sich entschuldigen? Ich dachte eher, sie wollte mir drohen." „Drohen?" fragte er verwirrt. „Ja, drohen", wiederholte Bryony, drehte sich um und ging in Richtung Hotel davon. Im Foyer begegnete Bryony Sonja, und diesmal konnte sie sich nicht beherrschen. Wütend ging sie auf das Mädchen zu. „Du solltest ein Buch schreiben, Herzchen. Deine Fantasie kennt anscheinend keine Grenzen!" Dann schob sie Sonja zur Seite und ging zur Rezeption, um ihren Schlüssel abzuholen. Sonja folgte ihr und legte ihr die Hand auf den Arm.
„Was ist?" fragte Bryony ärgerlich, und ein grimmiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sah, dass Philip sie beobachtete. Darum schauspielerte Sonja also wieder. „Es tut mir Leid", sagte Sonja zuckersüß. „Ach ja? Tut mir Leid, aber das nehme ich dir nicht ab. Und wenn du mir hier schon wieder eine Lügengeschichte auftischen willst, dann spar dir die Mühe. Für heute reicht's!" Bryony drehte sich um, aber in diesem Augenblick mischte sich Philip ein. „Was, zum Teufel, ist bloß in dich gefahren?" wollte er wissen. „Vergiss bitte nicht, dass ich mir Daniels Geschichte wenigstens angehört habe. Könntest du Sonja nicht den gleichen Gefallen tun?" „Du hast doch Daniel sofort alle Schuld zugeschoben", rief Bryony erregt, und es war ihr egal, dass alle Leute im Foyer sich zu ihnen umdrehten. „Und das, bevor du ihn überhaupt getroffen hattest!" Sie sah ihn wütend an und ging zur Treppe hinüber. Ich hätte mit Daniel verschwinden sollen, dachte sie frustriert. Ich hätte nach Hause fliegen sollen. Sie schlug die Zimmertür hinter sich zu, versetzte dem Teppich einen Tritt und ließ sich dann in einen der Sessel fallen. Männer waren manchmal wirklich unendlich dumm. Bryony nahm ihren Zeichenblock vom Tisch und blätterte darin herum. Dann nahm sie einen Bleistift zur Hand und fing an, eine hässliche Karikatur von Sonja zu zeichnen. Als ihre Zimmertür sich bald darauf öffnete, verzog sie trotzig den Mund. „Also", begann Philip trocken. „Ich will eine Erklärung: Sonja versucht, nett zu dir zu sein, und du ..." „Sei doch nicht so dumm", schimpfte Bryony. „Hör auf zu schmollen." „Ich schmolle nicht", schrie sie ihn an. „Doch, das tust du. Ich habe dich mitgenommen, damit du mir mit Sonja ein bisschen hilfst, und was tust du? Du machst alles noch schwieriger. Ich kenne mich mit Teenagern kein bisschen aus", erklärte Philip verletzt, kam zu ihrem Sessel hinüber und sah ihr über die Schulter. Bryony schlug den Zeichenblock zu und sagte wütend: „Das Einzige, wobei ich dir helfen kann, ist, Sonja den Hals umzudrehen. Also, verschwinde endlich, und lass mich in Ruhe!" „Erst will ich eine Erklärung." „Du gehst mir auf die Nerven", rief Bryony erregt und sprang so plötzlich auf, dass der Sessel nach hinten umkippte und Philip mit zu Boden riss. „Das geschieht dir recht", meinte sie hartherzig und schrie erschrocken auf, als Philip sie am Fußgelenk packte und sie zu sich hinunterzog. „Lass mich sofort los!" „Erst, wenn du dich entschuldigt hast." „Wofür?" fuhr sie ihn an. „Du hättest dich eben nicht an meinen Sessel lehnen sollen." „Wer redet denn vom Sessel?" „Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich unfreundlich zu Sonja war. Sie hat es verdient. Und wenn du nicht merkst, dass sie dir Lügenmärchen auftischt, dann kann ich dir auch nicht helfen. Geh lieber, bevor die kleine Süße dich in meinem Zimmer erwischt." „Und warum sollte mir das etwas ausmachen?" neckte er sie und hielt sie weiter fest an sich gepresst. „Ich hasse dich!" rief Bryony wütend und versuchte, sich von ihm loszureißen. „Du hasst mich nicht. Halt still!" „Lass mich los!" „Nein!" Philip legte seine Hand um ihren Nacken, zog sie mit einem leisen Stöhnen zu sich hinunter und küsste sie, Bryony war so überrascht, dass sie sich zuerst nicht wehrte. Dann versuchte sie aber ärgerlich, sich von ihm loszumachen. Denn gleichgültig, wie wütend sie auch auf ihn war, sie fand ihn immer noch sehr anziehend. Bryony spürte, wie sein Kuss sie benommen machte, und unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, sich loszureißen. „Verdammt, Bryony, halt endlich still", stieß Philip hervor und drehte sich so, dass sie nun unter ihm lag. „Ich will nicht von dir geküsst werden."
„Doch, das willst du." „Du bist so verdammt arrogant", schimpfte sie, aber er beugte sich trotz ihrer Gegenwehr erneut über sie. Er küsste sie so lange, bis Bryony sich ganz schwach fühlte. Plötzlich konnte sie nicht mehr klar denken, und sich gegen Philip zu wehren bereitete ihr fast körperliche Schmerzen. „Küss mich", verlangte er. „Schlaf mit mir. Könnte doch sein, dass es dir Spaß macht." „Es wird mir ganz sicher keinen Spaß machen", versetzte Bryony schwer atmend. „Ich hatte von Anfang an nur Ärger mit dir." „Und du willst keinen Ärger haben, nicht wahr?" „Nein." „Feigling!" spöttelte er, legte seine Hand um ihr kleines Kinn und strich mit dem Zeigefinger über ihre Unterlippe. Er sah mit einem Mal verwirrt und unentschlossen aus, und Bryony schloss hastig die Augen, als er sich wieder über sie beugte. „Du bist ein Feigling", wiederholte er, so dicht über ihren Lippen, dass Bryony die Bewegungen seines Mundes spüren konnte, als er sprach. Die leichten Berührungen jagten ihr einen prickelnden Schauer über den Rücken. „Eigentlich wollte ich ja nur mit dir reden." Er hob den Kopf und betrachtete ihr leicht gerötetes hübsches Gesicht. „Dieser Wunsch, mit dir zu schlafen, wird langsam zur Besessenheit." Er rollte sich von ihr und setzte sich auf. „Sieht so aus, als müsste ich heute wieder kalt duschen", sagte er dann. Unsicher und voller Sehnsucht, sah Bryony ihn an. Sie war erneut in Versuchung, nachzugeben und ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Langsam streckte sie die Hand aus, um ihn zu berühren, zog sie aber schnell zurück, als Philip zusammenzuckte. „Führe mich nicht in Versuchung", sagte er und holte tief Luft. „Ich bin nahe daran, die Beherrschung zu verlieren." Dann warf er ihr ein schmerzliches Lächeln zu. „Ich bin es nicht gewohnt, mich zusammenzureißen. Aber, ehrlich gesagt, habe ich noch nie eine Frau so sehr begehrt, wie ich dich begehre." Bryony setzte sich ebenfalls auf, schlang die Arme um die Knie und seufzte laut. „O Philip, was mache ich nur mit dir? Ich glaube, ich fange an, mich in dich zu verlieben. Aber das will ich nicht. Du etwa?" „Nein", antwortete er leise. „Eine andere Frau wäre schon längst mit dir ins Bett gegangen, aber ich kann so was nicht. Ich hab's versucht, aber ich kann es einfach nicht..." „Hör auf!" verlangte er tonlos. „Warum willst du mich eigentlich?" fragte sie verwirrt. „Weil du so herrlich unschuldig bist." „Oder vielleicht auch, weil man das, was man nicht haben kann, am meisten begehrt?" fragte Bryony leise. „Eher, weil du außerdem eine verdammt schöne, witzige Frau bist, die mich mit jeder Bewegung erregt." Philip stand auf. „Rehaugen", murmelte er und blickte auf sie hinunter. „Sehen wir uns beim Abendessen?" „Nein", erwiderte sie hastig. „Ich werde mir was aufs Zimmer bestellen und früh schlafen gehen." Sie würde es nicht ertragen, einer schadenfrohen Sonja gegenüberzusitzen. „Also dann, gute Nacht", sagte er. „Ich hoffe, dass du genauso schlecht schlafen wirst wie ich", fügte er mit einem merkwürdigen Lächeln hinzu. Das werde ich sicher, dachte Bryony verzagt, als Philip die Tür hinter sich schloss. Sie bedauerte es bereits, ihn fortgeschickt zu haben. Die Trennung von ihm würde schmerzlich sein, egal, ob sie mit ihm geschlafen hatte oder nicht. Also hätte sie der Verlockung auch nachgeben können, oder? Sie stand auf und ging zum Fenster hinüber. Weshalb ist Philip nur so hartnäckig? fragte sie sich. Er wirkte nicht wie ein Mann, den aussichtslose Fälle interessierten. Besonders nicht, wenn der Fall die Schwester eines jungen Mannes war, den er im Verdacht hatte, seine Nichte verführen zu wollen. Bryony schlug mit der Faust frustriert auf die Fensterbank. Sie wollte nicht verwirrt sein. Wieso konnte sie nicht vernünftig nachdenken? Sie würde nicht mit Philip schlafen, weil
sie nicht mit ihm schlafen wollte. So einfach war das. Ich muss nur standfest bleiben, redete sie sich ein. Sie würde kalt duschen und dann unten in der Bar etwas trinken. Betrübt ging Bryony zur Bar hinunter, bestellte sich einen Gin Tonic und betrachtete dann die Eiswürfel in ihrem Glas. Ein wirklich romantischer Abend, dachte sie und musste lächeln. Sie leerte ihr Glas in einem Zug und wollte sich schon auf den Weg zurück in ihr Zimmer machen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Bryony blickte genauer hin und erkannte Sonja, die sich gerade aus dem Hotel schlich. Wo will sie wohl so eilig hin? fragte sich Bryony interessiert. Einerseits wäre es sicher gut, wenn Philip endlich herausfand, was für eine Lügnerin Sonja wirklich war. Andererseits brachte Bryony es nicht übers Herz, ihm solche Sorgen zu machen. Sie beschloss kurzerhand, Sonja zu folgen. Die nächtliche Stadt konnte für ein minderjähriges Mädchen gefährlich werden. Bryony wollte gerade durch die Hoteltür gehen, als jemand sie von hinten an der Schulter festhielt. „O nein, Schätzchen, du wirst zu dieser späten Stunde keinen Stadtbummel mehr machen", erklärte Philip leise. „Ich wollte keinen Stadtbummel machen", sagte sie resigniert und fragte sich, weshalb er genau in diesem Augenblick hier auftauchen musste. „Du erscheinst immer im unpassendsten Moment, Philip du Vaal", fügte sie verärgert hinzu. „Aber wenn wir uns beeilen, können wir sie vielleicht noch einholen." „Wen einholen?" „Sonja natürlich. Ich habe gerade gesehen, wie sie sich aus dem Hotel geschlichen ... doch", versicherte sie, als Philip den Kopf schüttelte. „Nein. Ich habe vor knapp fünf Minuten mit Sonja gesprochen. Sie war in ihrem Zimmer und wollte gerade zu Bett gehen. O Bryony, bist du wirklich so geblendet, was Daniel betrifft?" „Was hat Daniel denn mit der ganzen Sache zu tun?" „Na, dieser Rachefeldzug gegen Sonja! Du versuchst dadurch doch nur zu beweisen, dass sie nicht unschuldig ist. Kannst du denn nicht zugeben, dass Daniel zumindest einen Teil der Schuld trägt? Ich weiß, du hast deinen Bruder gern, aber es ist nicht gut für ihn, wenn du ihn ständig in Schutz nimmst. Vielleicht warst du nicht streng genug mit ihm, als er jung war, oder er hatte zu früh zu viel Geld. Aber gleichgültig, was auch der Grund für Daniels unverantwortliches Benehmen ist, Sonja hat deine Rachsucht nicht verdient." „Meine was?" fragte Bryony ungläubig. Sie sah ihm an, dass er fest davon überzeugt war, Recht zu haben, und es tat ihr weh, dass er sie für so kleinlich hielt. „Philip", sagte sie tonlos. „Ich bin auf keinem Rachefeldzug, und Daniel hat dich nicht angelogen. Deine Nichte hat gelogen. Glaub mir, hinter ihren blauen Babyaugen verbirgt sich ein sehr scharfer Verstand. Sie ist nicht in ihrem Bett. Sie läuft in diesem Augenblick heimlich durch die Straßen Singapurs, und ich werde sie finden, bevor ihr etwas zustößt." „Nein, Bryony Grant, das wirst du nicht tun. Du gehst sofort auf dein Zimmer." „Das werden wir ja sehen!" schrie sie ihn an, am Ende ihrer Geduld. „Du bleibst hier, Bryony", sagte er leise, aber bestimmt, und packte sie fest am Arm. „Keine Diskussionen. Du gehst zurück auf dein Zimmer oder in die Bar, oder ins Hotelrestaurant, aber du wirst das Hotel nicht verlassen." „Philip!" seufzte sie. „Du hast mir schon einmal nicht geglaubt." Er betrachtete sie nachdenklich und gab sich dann geschlagen. „In welche Richtung ist sie gegangen?" „Hier entlang!" Bryony deutete nach rechts. Wieder packte Philip sie am Arm und zog sie den Bürgersteig entlang. „Wehe, wenn du mich angelogen hast, Bryony!" drohte er ihr. „Warum sollte ich dich wohl belügen?" ereiferte sie sich. „Keine Ahnung. Aber wenn Sonja sich aus dem Hotel geschlichen hat, um sich mit deinem Bruder zu treffen ..." „Jetzt reicht's mir aber!" schimpfte sie und riss sich von ihm los. „Dann such sie doch
allein. Schließlich ist sie deine Nichte!" „Ist ja gut, ist ja gut", entschuldigte er sich. „Wir werden sie gemeinsam suchen gehen." Die Suche dauerte zwei Stunden, und Philips Geduld war, zusammen mit seinem Vorrat an Geldscheinen, erheblich geschrumpft. „Eins sag ich dir", stieß er wütend hervor, als er in einen Nachtklub mit dem unpassenden Namen „Convent Garden" trat und dem Türsteher einen Geldschein in die Hand drückte, „ich werde nie im Leben Kinder haben. Erst muss ich dir ständig nachlaufen, und nun ist Sonja wieder verschwunden!" „Meinst du, mir macht das alles Spaß?" schimpfte Bryony. Sie war müde und hungrig, und die Füße taten ihr weh. Außerdem hatte sie Kopfschmerzen. Sie verstand nicht, weshalb Leute freiwillig jede Nacht in diesen Klubs verbringen konnten. Bryony fand die grellen bunten Lichter und die laute Musik unerträglich. Sie ging zum Rand der Tanzfläche hinüber und erschrak, als Philip sie am T-Shirt festhielt. „Was ist denn?" fragte sie ungeduldig. „Dort drüben", sagte Philip ruhig. Bryony schaute in die Richtung, und ihr wurde ganz flau. An der Bar stand nämlich Sonja, hatte ihnen den Rücken zugewandt und unterhielt sich mit Daniel. Am liebsten wäre Bryony im Boden versunken, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als hinter Philip her zu den beiden hinüberzugehen. Was, um alles in der Welt, hatte Daniel hier zu suchen? „ Raus hier!" schrie Philip. „ Sofort!" Verängstigt und widerspruchslos folgte Sonja ihrem Onkel. Daniel wollte schon protestieren, unterließ es aber, als Bryony ihn am Arm packte und ihm einen flehenden Blick zuwarf. Daraufhin zuckte Daniel nur die Schultern und folgte Philip und Sonja nach draußen. „Also. Was hattet ihr beiden da drinnen zu suchen?" verlangte Philip zu wissen und warf Daniel einen bitterbösen Blick zu. „Ich habe zufällig gesehen, wie Sonja hier hineingegangen ist und bin ihr gefolgt, um zu sehen, was sie ..." „Du Lügner!" schrie Sonja ihn an. „Du hast mich hierher eingeladen. Du wolltest mich noch einmal sehen, bevor ich morgen wieder nach Hause geschickt werde!" „Halt den Mund!" befahl Philip streng, und als Sonja gehorchte, fragte er Daniel leise. „Stimmt das?" „Nein", antwortete Daniel und lehnte sich mit lässig verschränkten Armen gegen die Hauswand. „Doch, es ist wahr, es ist wahr", flüsterte Sonja und klammerte sich an Philips Arm fest. „Er wollte mit mir reden, hat er gesagt, und ich habe draußen gestanden und gewartet und gewartet. Es war schrecklich!" hauchte Sonja und warf sich Philip um den Hals. „Männer haben immer wieder versucht, mich anzumachen." Philip schob sie sanft von sich und ging mit grimmigem Gesichtsausdruck auf Daniel zu. „Nein!" schrie Bryony auf und schob Sonja zur Seite. „Rühr ihn nicht an!" „Sei still!" schrie Philip sie wütend an. „Nein!" Bryony schob sich zwischen die beiden und baute sich schützend vor Daniel auf. Da beide Männer viel größer waren als sie selbst, sah das recht lächerlich aus, aber das war Bryony gleichgültig. „Wenn du ihm auch nur ein Härchen krümmst, dann, dann ..." „Dann was?" fragte Philip spöttisch, hob sie hoch und stellte sie einfach zur Seite. „Bring Sonja ins Hotel zurück!" befahl er. „Nein!" „Tu, was ich dir gesagt habe, verdammt noch mal!" schimpfte er, am Ende seiner Geduld. „Für jemand, der Streit nicht verkraften kann, bist du aber verdammt streitsüchtig. Oder war das alles nur ein Spielchen, Bryony?" fuhr er zornbebend fort. „Es war kein Spielchen", erklärte Bryony genauso zornig. „Aber ich habe nie behauptet, dass ich nicht wütend werden kann. Und wenn ich wütend werde, dann sollte man sich vor mir in Acht nehmen. Dann werde ich nämlich plötzlich sehr mutig. Lass sofort meinen Arm los!"
„Nein." Philip betrachtete sie nachdenklich. Sein Gesichtsausdruck gefiel Bryony überhaupt nicht, denn er flößte ihr eine unerklärliche Angst ein. „Lass mich los",' flüsterte sie und sah Philip ängstlich an. „Ich frage mich bloß, ob ich mich in dir getäuscht habe, Bryony Grant. Es war mir nämlich ein Rätsel, wie du mit deinen siebenundzwanzig Jahren noch so unschuldig und naiv sein konntest... dachte ich's mir doch", fügte er triumphierend hinzu, als Bryony errötete. „Und was hast du mir sonst noch so alles vorgelogen, Bryony? Warum wolltest du Sonja allein suchen? Du hast gewusst, dass sie sich mit Daniel trifft, nicht wahr?" „Nein!" Er ignorierte ihren Ausruf und fuhr leise fort. „Du würdest alles tun, um deinen Bruder zu beschützen, nicht wahr?" „Sie hat gar nichts getan", rief Daniel dazwischen, stieß sich von der Wand ab und packte Philip am Arm. „Lassen Sie sie sofort los! Statt hier jeden anderen zu beschuldigen, fragen Sie Ihre werte Nichte doch einmal, weshalb ich mich hier mit ihr treffen sollte, obwohl ich sie nicht ausstehen kann!" „Hier steht Aussage gegen Aussage", stellte Philip fest. „Und es kommt mir verdammt verdächtig vor, dass du verschwunden bist, sobald du gehört hast, dass ich nach Bangkok kommen würde." Er fuhr zu Bryony herum. „Du hast ihn gewarnt, nicht wahr?" „Wie hätte ich das denn anstellen sollen?" „Wie soll ich das wissen? Ich verstehe dich ja. Du hast ihn großgezogen und dachtest, du müsstest ihn vor mir in Schutz nehmen ..." „Nein, das stimmt nicht. Ich hätte ihn nie beschützt, wenn er an all dem hier schuld gewesen wäre. Er hat uns geholfen, sie zu finden, verflixt noch mal. Wieso hätte er das getan, wenn er so schlecht ist, wie du behauptest?" „Er hatte ein schlechtes Gewissen", erklärte Philip bestimmt. „Was man von seiner Schwester allerdings nicht behaupten kann. Nun ist mir auch klar, warum du mit mir geflirtet hast..." „Geflirtet?" rief Bryony ungläubig. „Ich soll mit dir geflirtet haben?" „Ja, hast du. Um mich von deinem Bruder abzulenken." „Das ist doch die Höhe! Wer hat sich denn im Garten auf mich gestürzt? Der unsichtbare Dritte? Und wie kommst du dazu, Daniel zu unterstellen, er hätte deine Nichte verführen wollen, wo du doch genau das Gleiche bei seiner Schwester versucht hast?" „Ich habe nie versucht, dich zu verführen!" schrie er sie an. „Ich hatte dich gern und dachte, du wärst einfach nur etwas naiv. Aber du bist alles andere als naiv, nicht wahr? Also, was hast du mir noch für Lügen aufgetischt?" „Ich habe dich kein einziges Mal angelogen, und es ist mir völlig egal, ob du mir glaubst oder nicht!" Bryony riss sich los und rannte schluchzend zum Hotel zurück. Daniel lief ihr nach. „Worum ging's denn eigentlich eben?" „Um nichts", schluchzte Bryony, drehte sich noch einmal zu Philip um, der mit Sonja hinter ihnen herging, und rief: „Ich hoffe, dass deine Nichte wegen Prostitution verhaftet wird!" „Jetzt zeigst du endlich dein wahres Gesicht, was?" rief er zurück, holte sie mit ein paar schnellen Schritten ein und hielt sie erneut fest. „Du würdest eher zusehen, wie ein unschuldiges Mädchen verhaftet wird, als zugeben, dass dein Bruder nicht perfekt ist. Vielleicht ist es wirklich ungerecht, ihm Vorwürfe zu machen, schließlich hat er sein Benehmen ja von dir gelernt. Du hast ihn erzogen." „Du Dreckskerl. Das ist gemein." „Ach ja?" sagte er kühl. „Oder ist es nur die Wahrheit?" Bryonys Gesicht war leichenblass, und ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie zu ihm hochsah und mit rauer, brüchiger Stimme sagte: „Ich will dich nie wieder sehen. Wage es ja nicht, mich jemals wieder anzufassen, mich anzusprechen oder in meine Nähe zu kommen!" Damit riss sie sich los, packte Daniel und marschierte zum Hotel hinüber. Sie atmete so heftig, dass ihre Rippen schmerzten. „Und vielen Dank für deine große Hilfe", wandte sie sich schließlich schluchzend an Daniel. „Vielen herzlichen Dank!"
„Du hast meine Hilfe doch gar nicht gebraucht", erklärte Daniel amüsiert. „Du warst echt toll!" „Ist es dir denn völlig egal, was er von dir hält?" erkundigte Bryony sich ungläubig. „Klar. Ich hab nichts verbrochen. Und wenn du erwartet hast, dass ich den Drachen für dich töte, dann tut es mir Leid. Das ist nicht mein Stil." „Du verdammter Feigling", schimpfte sie. „Bryony, der Kerl ist doppelt so stark wie ich." „Na und? Du hättest es wenigstens versuchen können." „Der hätte mich auseinander genommen. Nein, danke. Und jetzt, liebes Schwesterchen, sage ich dir Lebewohl." Daniel blieb jedoch vor Bryonys Hotel stehen. Dann betrachtete er ihr blasses Gesicht etwas genauer. „Du bist in den Kerl verliebt!" stieß er ungläubig hervor. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, und schließlich- lachte er fröhlich. „Bin ich nicht!" rief Bryony empört und schlug ihm die Faust gegen die Schulter, so fest sie konnte. „Ich hasse ihn. Auf Wiedersehen! " Damit drehte sie sich auf dem Absatz um, rannte ins Hotel und die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer.
8. KAPITEL Daniels Worte klangen Bryony noch in den Ohren, als sie die Tür hinter sich zuschlug. Zitternd rutschte sie an der Wand hinunter und starrte tränenblind auf ihre Knie. Ich bin in Philip verliebt, gestand sie sich schluchzend ein. Und warum nur höre ich nie auf meinen eigenen Rat? Sie hatte sich vorgenommen, sich von Philip fern zu halten, weil sie nicht verletzt werden wollte. Nun war es doch passiert, er hatte ihr wehgetan. Plötzlich hörte sie Schritte und Geflüster im Gang draußen. Hastig sprang sie auf, rannte zum anderen Ende des Zimmers und blickte gebannt auf die Tür. „Verschwinde!" schrie sie mit rauer Stimme, als die Tür aufgestoßen wurde und Philip vor ihr stand. Er wirkte wütender als je zuvor. „Geh! Verschwinde! Ich will dich nicht sehen!" schrie sie verzweifelt. Aber Philip kam weiter ins Zimmer und zog eine völlig verängstigte Sonja hinter sich her. Bryony wich vor ihnen zurück, bis sie mit dem Rücken an die Fensterbank stieß. „Du willst mich also nicht sehen", sagte Philip tonlos. „Und wie, glaubst du, geht es mir? Nicht genug, dass ich vor der halben Bevölkerung Singapurs eine Show abziehen musste, nein, nun erfahre ich auch noch, dass dein verdammter Bruder meiner Nichte Drogen gegeben hat. Ich kann es kaum erwarten zu hören, was ihr Vater dazu sagen wird." „Nein!" schrie Sonja auf und packte ihn am Arm. „Das darfst du Papa nicht sagen. Du hast es versprochen." „Ich habe nichts dergleichen versprochen", entgegnete Philip und schüttelte Sonjas Hand ab. „Wie kann ich so etwas vor deinem Vater geheim halten? Glaubst du vielleicht, ich lasse zu, dass Daniel Grant weiter im Fernen Osten herumfährt und Drogen verkauft?" „Drogen?" flüsterte Bryony und wurde noch bleicher. „Daniel hat nichts mit Drogen zu tun." Bryony sah Philip ungläubig an, und ihr war plötzlich übel. „Du Narr", flüsterte sie kaum hörbar und wandte sich an Sonja. „Hasst du ihn wirklich so sehr, dass du ihn hier ins Gefängnis bringen willst? Nur weil dein kleiner Abenteuerurlaub anders verlaufen ist, als du erwartet hast? Würdest du das wirklich machen?" Sonja wurde genauso bleich wie Bryony, drehte sich um, rannte zur Tür und traf dort mit Daniel zusammen. Der packte sie an den Armen und stieß sie aufs Bett. Er sieht wie ein Fremder aus, dachte Bryony unwillkürlich. So erwachsen. Daniel war außer sich vor Wut, als er die Tür hinter sich zuschlug. „Ich dachte, dass es unfair ist, Bryony die ganze Sache allein ausbaden zu lassen", erklärte er ruhig. „Deshalb bin ich zurückgekommen und euch beiden gefolgt." Er drehte sich zu Sonja um, die immer noch schluchzend auf dem Bett lag. „Drogen?" sagte er kalt. „Nein", rief Sonja und vergrub das Gesicht in der Bettdecke. Daniel ging zu ihr hinüber und zog sie hoch. „Drogen?" wiederholte '3r. „Ich habe mir ja in den letzten Wochen viel von dir bieten lassen, Sonja. Deine Wutausbrüche, deine Schreikrämpfe, dein Geschmolle, und vielleicht war ich zugegebenermaßen auch ein wenig schuld an der Sache. Ich hätte dir vielleicht klipp und klar sagen sollen, dass ich dich nicht hier haben wollte, und wenn ich gewusst hätte, was für ein Miststück du bist, dann hätte ich es dir sehr wahrscheinlich auch gesagt. Aber Drogen, Sonja!" „Ich habe doch schon gesagt, dass es nicht stimmt", schrie Sonja hysterisch. „Aber deinem teuren Onkel hast du auf der Treppe etwas ganz anderes erzählt. Und jetzt wirst du ihm die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit!" „Er hat mir nie Drogen gegeben", gestand Sonja kleinlaut. „Und weiter!" befahl Daniel, wobei er sie ganz hochzog. „Na los!" „Ich wollte mich mit Martin und John treffen. Zwek der Studenten, mit denen ich hergekommen bin." „Also nicht mit mir?" fragte Daniel.
„Nein." Daniel warf ihr einen verächtlichen Blick zu und wandte sich an Philip. „Zufrieden?" Philip betrachtete seine Nichte nachdenklich und traurig. „Nun?" fragte Daniel ungeduldig. Philip seufzte tief und sah Daniel an. „Ja", antwortete er dann ruhig. „Ich bin zufrieden. Sonja!" befahl er seiner Nichte streng und packte sie am Arm. „Entschuldige dich!" „Tschuldigung!" flüsterte Sonja kläglich mit hängendem Kopf. „Tschuldigung?" wiederholte Philip resigniert, wandte sich an Daniel und lächelte ihn freudlos an. „Es scheint, als hätte ich dich sehr unterschätzt. Es tut mir wirklich Leid, Daniel!" Dann drehte er sich zu Bryony um und wurde plötzlich blass. Bryony blickte auf ihre Hände und hoffte, dass er gehen würde. Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, lehnte sie sich mit geschlossenen Augen an die Wand. „Alles in Ordnung?" erkundigte sich Daniel sanft, kam zu ihr hinüber und sah sie besorgt an. Bryony nickte kurz, schniefte und machte einen kläglichen Versuch zu lächeln. Er misslang. Sie nickte noch einmal und begann, heftig zu zittern. „Soll ich bei dir bleiben?" Sie schüttelte den Kopf und betrachtete erneut ihre Hände. „Der arme Kerl", murmelte Daniel. „Irgendwie tut er mir Leid. Was wirst du jetzt tun?" „Ich will nur nach Hause", flüsterte sie. „Soll ich mit dir kommen?" „Nein", wehrte sie ab, und diesmal gelang ihr ein Lächeln. „Aber danke für das Angebot. Es tut mir Leid, dass ich dich daran gehindert habe, erwachsen zu werden ..." „Das hast du doch gar nicht, Köpfchen. Nein, nicht weinen!" Daniel legte unbeholfen die Arme um sie. „Ich glaube, ich bleib' doch lieber hier." „Nein", sagte sie und löste sich aus seiner Umarmung. „Ich will, dass du den Rest deines Urlaubs genießt." Mit letzter Kraft drehte sie ihn in Richtung Tür und versetzte ihm einen leichten Stoß. „Nun geh schon!" „Bist du sicher?" „Ganz sicher. Mir geht's wieder gut. Ich lege mich jetzt ins Bett, und morgen früh fliege ich nach Hause zurück. Ruf mich nächste Woche an." „Na gut, wenn du meinst..." „Nun geh schon endlich!" Daniel lächelte erleichtert und gehorchte. Bryony ging zum Bett hinüber, rollte sich auf der Decke zusammen und drückte das Kopfkissen fest an sich. Sie fühlte sich elend, ihr war schwindelig, und sie zitterte am ganzen Körper. Etwa eine Stunde später hörte sie ein leises Klopfen an der Tür. Wahrscheinlich ist es Philip, der sich entschuldigen will, dachte sie und beschloss, das Klopfen zu ignorieren. Sie kuschelte sich tiefer in die Decke und schloss die Augen. Die Tür wurde leise geöffnet, und jemand kam genauso leise zu ihrem Bett hinüber. Bryony zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Nach einer kleinen Ewigkeit drehte sich der nächtliche Besucher schließlich um und verließ das Zimmer. Kaum war er gegangen, vergrub Bryony das Gesicht in ihrem Kopfkissen und weinte sich in den Schlaf. Als Bryony am nächsten Morgen zum Frühstück nach unten ging, war sie noch immer sehr blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Philip stand unten an der Treppe und wartete auf sie. „Bryony ..." begann er. „Ich will nicht mehr darüber reden", unterbrach sie ihn schnell, ohne ihn anzusehen. „Ich will nur nach Hause fliegen." „Ich weiß. Unser Flug geht um zwölf." Philip nahm sie am Arm und zog sie etwas zur Seite, bevor er ernst fortfuhr. „Ich habe gestern Abend noch ein langes Gespräch mit Sonja geführt. Sie ist im Internat nicht sehr beliebt und hat anscheinend damit angegeben, Daniel in Paris getroffen zu haben und von ihm zu einer Reise in den Fernen Osten eingeladen worden zu sein. Ihre Mitschüler haben ihr nicht geglaubt, darum ist sie
hergekommen, um ihnen zu beweisen, dass sie nicht gelogen hat. Das ist natürlich keine Entschuldigung für das, was sie alles angerichtet hat ..." „Ist es auch nicht", stieß Bryony mit unsicherer Stimme hervor. „Und ich habe gesagt, dass ich nicht darüber reden will. Ich muss packen." Damit riss sie sich von ihm los und rannte wieder nach oben. Sie wollte keine Entschuldigungen von ihm hören, wollte ihn nicht zerknirscht sehen und nicht zärtlich von ihm behandelt werden. Sie wollte einfach nur, dass er sie in Ruhe ließ. Aber als er ihr diesen geheimen Wunsch erfüllte, fühlte sie sich schrecklich einsam und verloren. Sie saß schließlich, zwischen Philip und Sonja eingezwängt, im Taxi, das sie zum Flughafen brachte, und starrte wieder auf ihre Hände hinunter. Philip hatte es offensichtlich aufgegeben, um ihr Verständnis zu bitten, Sonja wollte sowieso nichts mit ihr zu tun haben, und Bryony hoffte inständig, dass sie im Flugzeug nicht neben den beiden sitzen würde. Wie es das Schicksal wollte, hatte ihr Flug Verspätung, und sie standen alle drei wie Wachsfiguren im Warteraum herum, krampfhaft bemüht, sich nicht anzusehen. Als endlich eine Sitzbank frei wurde, ließ sich Bryony dankbar auf einen der Plätze sinken. Die anderen beiden taten es ihr gleich, und nun saßen sie wie Wachsfiguren im Warteraum. Als das Schweigen unerträglich wurde, sprang Philip mit einem leisen Fluch auf und ging zur Information hinüber, um Näheres über den verspäteten Flug zu erfahren. Sonja, die es anscheinend nicht ertragen konnte, so nahe neben jemandem zu sitzen, der all ihre Fehler kannte, stand ebenfalls auf und schlenderte davon. „Noch eine halbe Stunde", berichtete Philip, als er zurückkam, blieb vor Bryony stehen, schob die Hände in die Hosentaschen und merkte erst dann, dass Sonja verschwunden war. „Wo zum Teufel steckt sie denn schon wieder?"« fragte er verärgert und sah sich um. „Keine Ahnung", erklärte Bryony und warf ihm verärgert einen Blick zu. Philip erwiderte ihn und ließ seine schlechte Laune dann an Sonja aus, die in diesem Moment wieder auftauchte. „Wo hast du dich denn schon wieder herumgetrieben?" schimpfte er ungehalten. „Ich hatte Langeweile und dachte ..." „Hör auf zu denken! Und wehe, wenn du dich noch einmal vom Fleck rührst!" drohte er ihr. „Wenn du nicht hier bei uns sitzen willst, dann setz dich dort drüben auf die andere Bank!" „Ich hab' mich doch bei dir entschuldigt", jammerte Sonja tränenerstickt. „Du musst mich nicht so behandeln, als hätte ich gerade deinen Lieblingshund überfahren." „Genauso fühle ich mich aber", erwiderte er. Als Sonja endlich gehorchte, meinte er müde: „Wenn mich etwas davon abhalten wird, jemals Kinder zu haben, dann ist es Sonja. Wie kann ein Mädchen nur so unschuldig aussehen und gleichzeitig eine krankhafte Lügnerin sein?" „Sie ist doch noch ein Kind", flüsterte Bryony, die sich komischerweise verpflichtet fühlte, Sonja Philip gegenüber zu verteidigen. „Jetzt fang du nicht auch noch an!" Seufzend strich Philip sich durchs Haar. „Tut mir Leid. Hör zu, hier können wir nicht miteinander reden, aber wenn wir wieder zu Hause sind, dann können ... was ist denn nun schon wieder?" fuhr er Sonja an, die wieder zu ihnen herübergekommen war. „Ich muss mal auf die Toilette." „Dann geh", befahl er, am Ende seiner Geduld. „Und wenn du wieder da bist, rührst du dich nicht mehr von der Bank, bis unser Flug geht, verstanden?" Das kann ja heiter werden, dachte Bryony. Der Ärger schien einfach kein Ende zu nehmen. Es gelang ihr aber, Sonja und Philip auf dem Heimflug zu meiden, indem sie sich neben eine nette alte Dame setzte, die ihr ihre ganze Lebensgeschichte erzählte, Bryony konnte sich allerdings hinterher an kein einziges Wort erinnern. „Ich nehme ein Taxi, Philip", erklärte Bryony nun schon zum vierten Mal, während sie neben ihm durch die Halle des Heathrow Flughafens in London ging. „Du musst dir meinetwegen keine Umstände machen."
„Ich will dich aber selbst fahren." „Du liebe Güte!" mischte sich Sonja ein, die sich gut erholt hatte. „Hört auf, euch zu streiten. Lass sie doch ein Taxi nehmen. Mir soll's recht sein." „Mir ist es aber nicht recht. Und wenn du nicht sofort den Mund hältst, leg' ich dich übers Knie. Beweg dich, Bryony." „Nein." Bryony schnappte sich ihren Rucksack, stürmte wütend aus dem Flughafengebäude und auf den Taxistand zu. Sie konnte es einfach nicht ertragen, noch länger in Philips Nähe zu sein. Ihr Trotz kostete sie dreißig englische Pfund, aber Bryony war froh, die beiden endlich los zu sein. Sie brauchte Zeit, um sich von ihrem Schock zu erholen. Vor ihrem Haus angekommen, bezahlte sie den Taxifahrer und ging unglücklich zum Eingang hinüber. Fünf Milchflaschen standen vor der Tür, und drinnen lagen fünf Zeitungen auf dem Teppich. Bryony wunderte sich darüber, dass es nur fünf waren. Ihr kam es so vor, als wäre sie jahrelang fort gewesen. Sie warf ihren Rucksack auf den Boden und lehnte sich müde von innen gegen die Haustür. Das war's dann also, dachte sie betrübt. Aus und vorbei. Dabei war es doch nur ein halber kleiner Flirt gewesen. Bryony stieß sich von der Tür ab und ging in die Küche. Wahrscheinlich war das Brot verschimmelt, und im Kühlschrank lagen sicher verdorbener Joghurt und ranzige Butter. Außerdem hatte sie vergessen, eins der Fenster zuzumachen. Wie schön, wieder zu Hause zu sein, dachte sie zynisch. Sie warf einen Blick auf die Uhr und stellte überrascht fest, dass es erst elf Uhr morgens war. Bryony fühlte sich müde und erschöpft. Wie in Trance machte sie sich daran, die Küche aufzuräumen, war aber bereits um halb zwei mit der unschönen Arbeit fertig. Obwohl ihr Körper entkräftet war, lief ihr Verstand auf vollen Touren. Ihr kamen die merkwürdigsten Sachen in den Sinn. Sie erinnerte sich zum Beispiel daran, irgendwo, einmal gelesen zu haben, dass die meisten Selbstmorde zwischen zwei und fünf Uhr morgens begangen wurden. Ein wirklich tröstlicher Gedanke. Bryony warf sich missgelaunt auf das Sofa. Was Philip wohl gerade tut? fragte sie sich. Ob er schläft? Ob er mich wohl schon vergessen hat? Und wieso ist mir das nicht egal? Es war ihr wirklich nicht gleichgültig, und diese Tatsache verwirrte Bryony sehr. Sie kannte Philip erst seit knapp einer Woche, aber sie konnte ihn einfach nicht vergessen. Die Gedanken an ihn waren schmerzlich. Zum Teil war sie selbst schuld an ihrem Liebeskummer. Sie hätte seine Entschuldigung annehmen sollen, aber vielleicht war es besser, wenn sie ihn nicht wieder sah. Die Trennung jetzt tat zwar weh, aber später wäre es nur noch schlimmer geworden. Bryony saß immer noch nachdenklich auf dem Sofa, als jemand ungeduldig an die Haustür klopfte. Seufzend stand sie auf. Es war sicher der Milchmann, der wissen wollte, ob sie vorhatte, mit all den Milchflaschen vor der Tür einen eigenen Laden aufzumachen. Als Bryony die Tür öffnete, sah sie sich allerdings unverhofft Philip gegenüber. „Was willst du?" fragte sie müde. Sie war zu erschöpft, um ärgerlich zu sein. „Es ist besser, wenn du wieder gehst." „Ist es nicht", widersprach er, und er klang genauso fertig, wie sie sich fühlte. Er schob sich an ihr vorbei durch die Tür und wäre beinah über die Zeitungen gestolpert, die sie noch nicht vom Boden aufgehoben hatte. Wütend schob er sie mit dem Fuß zur Seite. „Draußen stehen fünf Milchflaschen." „Ich weiß. Sie gefallen mir da draußen. Vielleicht werde ich sogar anfangen, Milchflaschen zu sammeln." Bevor er ihr Leid tun konnte, drehte Bryony sich um und ging ins Wohnzimmer zurück. Da sie keine Lust hatte, sich mit Philip auf eine Diskussion einzulassen, ging sie von dort in ihr Atelier und begann nervös, an einem Stück Holz herumzuschnitzen. Philip war Bryony gefolgt. „Ich will dich nicht hier haben", sagte sie missmutig. „Ich bin müde."
„Ich bin auch müde, nur dass du's weißt. Mir ist, als hätte ich seit einer Woche nicht mehr geschlafen." „Dann geh nach Hause und leg dich ins Bett. Was hast du mit Sonja gemacht? Du hast sie doch hoffentlich nicht mit hierher gebracht?" „Sie ist in meiner Wohnung hier in London, und morgen setze ich sie in das erste Flugzeug zurück in die Schweiz." „Wenn sie nicht abhaut, während du hier bei mir bist." „Wenn sie das tut, kann sie mir gestohlen bleiben", sagte er ärgerlich. „Hör endlich auf, mit dem Stück Holz herumzuspielen. Ich will mich mit dir nicht über Sonja unterhalten, sondern möchte mich bei dir entschuldigen und dir alles erklären. Hör mich bitte an." „Ich will keine Entschuldigung hören." Bryony warf das Holzstück zur Seite, nachdem es in der Mitte zerbrochen war. „Ich habe Kopfschmerzen und will mir deine Erklärungen nicht anhören. Mir ist egal, was du zu sagen hast." „Aber mir ist es nicht egal", entgegnete Philip grimmig. „Und deshalb wirst du mir gefälligst zuhören." „Das werden wir ja sehen." „Ach, sei still!" Er lehnte sich erschöpft an die Wand und betrachtete Bryony ärgerlich. „Noch nie in meinem Leben habe ich mich rechtfertigen müssen. Die Leute nehmen mich entweder so, wie ich bin, oder sie lassen es eben bleiben. Und nun sitze ich hier und ... ach, zum Teufel damit, es tut mir Leid, Bryony." „Das war deine ganze Entschuldigung?" fragte sie spitz. „Nein, noch nicht ganz." Er kam auf sie zu und drehte sie zu sich herum. „Es tut mir Leid, dass ich deinem Bruder die Schuld an allem gegeben habe. Aber woher hätte ich denn wissen sollen, dass Sonja so ein kleines Biest ist? Ich meine, verdammt noch mal, sie sieht so harmlos aus ..." „Sie sieht aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben, ich weiß. Aber darum geht es nicht," „Würdest du mich bitte ausreden lassen. Und hör auf zu schmollen, das steht dir nicht." „Woher willst du das denn wissen? Du kennst mich doch erst seit knapp einer Woche. Lass mich los, ich renne dir schon nicht weg", sagte Bryony, obwohl ihr sehr nach Fortlaufen zu Mute war, und riss sich los. „Nun mach schon, weiter!" befahl sie. „Ich weiß nicht mehr, wo ich war ..." „Philip!" „Na gut!" brummte er trotzig. „Außerdem war alles nicht einzig und allein meine Schuld. Dein verdammter Bruder war ja auch nicht gerade hilfreich." „Typisch. Du hackst auf Daniel herum, um dich in ein besseres Licht zu rücken." „Musste er denn so verdammt stur sein?" „Was hast du denn anderes erwartet?" schimpfte sie und war nicht bereit zuzugeben, dass ihr Bruder vielleicht doch ein wenig Schuld hatte. „Du hast ihn nur beschimpft. Außerdem habe ich versucht, dir zu helfen. Und? Hat dich das daran gehindert, mich auch anzugreifen? Nein, hat es nicht. Wo wir schon dabei sind, Erklärungen abzugeben", fuhr sie fort und erinnerte sich allzu deutlich an die Szene vor dem Nachtklub in Singapur. „Du dachtest, Daniel sei der Sündenbock, aber mich hast du angeschrien und beschimpft. Ich hatte mit alldem nichts zu tun. Du hast mich mit dorthin geschleppt und ..." „Jetzt sei endlich still", verlangte Philip verärgert. „Ich war wütend und verletzt. Irgendwie mochte ich dich und wollte nicht glauben, dass du wirklich so hinterhältig bist. Ich wollte dir wehtun', es dir heimzahlen. Sonja sagte ..." „Ich kann mir denken, was Sonja gesagt hat. Männer sind manchmal wirklich zu blö..." „Schweig und lass mich ausreden!" Bryony hob trotzig das Kinn, war aber ruhig. „Ich dachte, du hättest mich angelogen", fuhr er dann etwas ruhiger fort. „Und das hat sehr wehgetan. Ich befürchtete, du hättest mich die ganze Zeit an der Nase herumgeführt. Auf dem Rückweg zum Hotel erzählte Sonja mir dann, dass sie sich nur mit Daniel getroffen hätte, weil er ihr gedroht habe, ihren Eltern zu verraten, dass sie Drogen genommen hat. Ich dachte erst gar nicht darüber nach, ich reagierte nur. Keiner weiß besser
als ich, was Drogen anrichten können. Fast jeder in der Filmbranche scheint Rauschgift zu nehmen. Besonders junge Leute, die den Auftrieb wollen und deren Karrieren dann plötzlich den Bach hinuntergehen. Sonja ist erst siebzehn", fuhr er fort. „Und alles, woran ich denken konnte, war der Ärger, der uns bevorstand. Unser Name wäre durch den Schmutz gezogen worden ..." „Ach, so ist das also!" fuhr Bryony auf, und das bisschen Mitleid, das sie eben noch für ihn empfunden hatte, war verflogen. „Dir war es egal, dass die liebe kleine Sonja sich mit Drogen das Leben ruiniert oder dass Daniel dort für Jahre im Gefängnis landen könnte. Du hast dir einzig und allein Sorgen gemacht, dein guter Name könnte in den Schmutz gezogen werden. Meinst du denn wirklich, die Klatschreporter interessieren sich für eine völlig unbekannte holländische Familie?" „Wir sind nicht unbekannt, verdammt noch mal!" „Aha!" rief sie triumphierend. „Jetzt kommt es ans Tageslicht. Du gehörst zur holländischen Königsfamilie, stimmt's?" „Sei nicht albern." „Wer bist du dann?" forderte Bryony ihn heraus. „Ich bin nur bekannt, sonst nichts." „Wie bekannt?" beharrte sie. „Sehr bekannt." „Aber du hast gesagt, dass du nicht berühmt seist", hielt sie ihm vor. „Das bin ich auch nicht. Und sieh mich nicht so verdammt misstrauisch an. Ich ..." „Wenn du nicht berühmt bist", fuhr sie unbeirrt fort, „was ...?" „Verdammt noch mal!" schimpfte Philip. „Meine Familie ist reich. Man kennt uns eben. Mein Vater ist vielfacher Millionär. Ich selbst bin auch reich. Ich habe Geld von meinen Großeltern geerbt, außerdem bin ich einer der Besten in meinem Beruf, eine Art Experte. Man zahlt sehr gut für meine Dienste. Aber das ist nebensächlich. Was ich dir sagen wollte, ist, dass Lilly und Hendrik, die übrigens auch recht wohlhabend sind und sich sehr für wohltätige Zwecke engagieren, eine Drogenentzugsanstalt finanziert haben. Hendrik hält zurzeit Vorträge über Drogenabhängigkeit in den Vereinigten Staaten, und der Kernpunkt seiner Reden ist, dass die vernachlässigte Aufsichtspflicht der Eltern eine große Rolle dabei spielt, wenn Kinder drogenabhängig werden." „Oh!" „Ja, oh! Das wäre ein Fressen für die Zeitungen geworden, nicht wahr? Die Tochter des Experten im Mittelpunkt eines Drogenskandals!" „Darum hat Sonja das auch gesagt. Sie dachte, du würdest es geheim halten und sie so schnell wie möglich ins Internat. zurückbringen, ohne ihren Eltern auch nur ein Sterbenswörtchen von der ganzen Sache zu erzählen." „Ja", stimmte er ihr müde zu. „Und als du sagtest, dass du Daniel anzeigen würdest, ist sie in Panik geraten." „Auch das." „Arme Sonja! Irgendwie tut sie mir Leid. Leute, die anderen Lektionen erteilen, vergessen meistens, sich an ihre eigenen Lehren zu halten." „Stimmt." Eine Zeit lang schwiegen beide. „Hättest du Daniel wirklich angezeigt?" fragte Bryony dann und sah Philip besorgt an. „Keine Ahnung." Er seufzte. „Ich hätte Daniel in diesem Augenblick umbringen können. Vielleicht hätte ich ihn vor lauter Wut wirklich angezeigt." „Sonja hätte dich davon abgehalten", sagte Bryony leise. „Kann schon sein. Ich habe noch nie so die Kontrolle über mich verloren. Einen Augenblick lang wollte ich dir auch an den Kragen. Aber als ich dann mit Sonja zusammen in dein Zimmer kam, da sahst du so ..." „Nicht", bat sie und wandte sich ab. „Ich will mich nicht daran erinnern, wie elend ich mich gefühlt habe." „Ich habe dir da ein paar entsetzliche Sachen an den Kopf geworfen", gestand Philip.
„Stimmt." „Ich hab's nicht so gemeint." „Gestern schon", sagte sie leise. „Aber nur ... O Bryony!" Er seufzte. „Warum ist alles immer nur so kompliziert, wenn du in meiner Nähe bist? Können wir noch einmal neu anfangen?" „Nein!" Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Weil du mir nicht verzeihen kannst?" „Nein", antwortete sie, obwohl sie wusste, dass sie besser das Gegenteil behauptet hätte. Aber sie wollte ihn nicht anlügen. „Ich verstehe, wieso du dich so aufgeregt hast. Wahrscheinlich hätte ich genauso reagiert", gestand sie. „Aber zwischen uns ist es trotzdem aus", fügte sie hinzu. „Warum?" „Darum!" „Weil du keine feste Beziehung willst?" forschte Philip. „Richtig. Ich will keine Beziehung. Ich will überhaupt nichts." „Nie?" fragte er erstaunt. „Du willst den Rest deines Lebens allein verbringen? Was ist, wenn Daniel auszieht?" „Das ändert auch nichts", erklärte sie ärgerlich und kam sich plötzlich ziemlich dumm und verdreht vor. „Ich werde so weiterleben wie bisher." „Aber warum?" fragte er erneut und klang dabei so verwirrt, dass Bryony in ihrer Panik das Erste sagte, was ihr einfiel. „Weil ich keine Zeit für so was habe. Ich wollte nicht, dass du mir nachläufst, und ich weiß beim besten Willen nicht, was du damit erreichen willst." „Du weißt genau, was ich will. Dich nämlich!" „Aber du wirst mich nicht bekommen", schrie sie ihn an. „Wollen wir wetten?" „Nein. Sei nicht albern, du fühlst dich ein bisschen zu mir hingezogen ..." „Oh, sei nicht so verdammt blöde", sagte Philip verächtlich. „Wenn ich mich nur ein bisschen zu dir hingezogen fühlen würde, dann würde ich mich hier nicht wie ein Narr aufführen! Meinst du wirklich, es macht mir Spaß, hier den verliebten Schuljungen zu spielen? Hm? Ich weiß selbst nicht, warum ich dich haben will. Aber ich kann an nichts anderes denken. Jede deiner Bewegungen erregt mich, weißt du das? Also, sei bitte so nett und sage mir ganz ehrlich, warum du nichts mit mir zu tun haben willst. Und sag ja nicht, dass du dich nicht zu mir hingezogen fühlst, denn ich weiß ganz sicher, dass das eine Lüge wäre." „Aber ich fühle mich nicht zu dir hingezogen, wirklich nicht", beteuerte Bryony und sah ihn aus großen Augen ängstlich an. Es erschreckte sie, dass sie so starke Gefühle in Philip geweckt hatte, und es erschreckte sie noch mehr, dass sie diese Gefühle erwiderte. Sie spürte, wie es in ihr zu kribbeln begann. „Wirklich nicht", flüsterte sie. „Wirklich nicht?" fragte er gnadenlos, und ein bitterer Zug lag um seinen Mund. „Kannst du die Hand aufs Herz legen und mir schwören, dass du nichts für mich empfindest? Dass deine Leidenschaft nur etwas mit dem tropischen Mond und dem Blumenduft im Garten zu tun hatte?" „Nein, das meine ich nicht, ich ... ich mag dich ja auch ..." „Oh, vielen Dank. Du bist ein verdammter kleiner Feigling, Bryony. Außerdem hast du einen Peter-Pan-Komplex, du willst nicht erwachsen werden." „Das kann schon sein", gestand Bryony kläglich. „Aber wenigstens versuche ich nicht, jemanden dazu zu überreden, mit mir zu schlafen. Was würde passieren, wenn ich nachgeben würde, Philip? Hm? Würdest du deine Lust befriedigen und dann gehen? Daran würde ich zerbrechen, das weißt du. Ich will nicht, dass du mir wehtust." „Es muss nicht so enden", meinte Philip, aber er klang selbst nicht mehr überzeugt, und Bryony lächelte traurig. „Es könnte auch ein glückliches Ende sein." „Nein, das glaubst du genauso wenig wie ich. Erzähl mir bitte nicht, dass du noch immer nett zu allen deinen ehemaligen Freundinnen bist. Ich will's nicht hören, und ich werde auch keine von ihnen werden. Lass es gut sein, Philip, bitte!"
„Du kannst deine Gefühle also wirklich so einfach auf Eis legen?" fragte Philip mit rauer Stimme. „Ja", erklärte sie traurig, „tut mir Leid!" Philip presste die Lippen fest zusammen und sah sie aus eiskalten Augen an. „Es tut mir Leid", wiederholte Bryony mit tränenerstickter Stimme und wandte sich ab.
9. KAPITEL Philip drehte sich unvermittelt um und stürmte aus der Wohnung. Bryony zuckte zusammen, als sie draußen eine Milchflasche klirren hörte. Gleich darauf fuhr ein Auto mit aufheulendem Motor an. Bryony sah mit zitternder Unterlippe auf ihre Hände hinunter. Sie hatte nicht gewusst, dass Philips Gefühle für sie so stark waren, und sie weigerte sich, sich einzugestehen, dass sie genau das Gleiche für ihn empfand. Aber noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so leer und elend gefühlt. Sie holte tief Luft, schloss die Augen und riss sie erschrocken wieder auf, als sie ein Auto mit quietschenden Bremsen vorfahren hörte. Eine Autotür wurde heftig zugeschlagen, und Bryony blickte sich in wilder Panik um. Er konnte nicht hereinkommen, wenn sie ihm die Tür nicht öffnete, aber war die Tür denn auch wirklich zu? Hatte Philip sie vorhin zugeworfen? Bryony fuhr entsetzt herum, als er plötzlich durch die Terrassentür gestürmt kam. Schwer atmend und mit langen Schritten ging er auf sie zu, zog sie in die Arme und küsste sie fordernd und leidenschaftlich. Sie war viel zu erschrocken, um sich zu wehren, und schließlich ließ er von ihr ab. „Es tut mir ja so Leid", flüsterte er in ihr Haar. „Ich habe mich wie ein Wilder aufgeführt. Aber ich verliere nun mal nicht gern", gab er mit einem unterdrückten Lachen zu und schob sie etwas von sich. Bryony lächelte zaghaft. „Du hast Recht. Keiner hat mir gesagt, dass ich mich in dich verlieben soll, und ich weiß selbst nicht, wie es passiert ist. Normalerweise benehme ich mich nicht so schlecht, ehrlich. Aber ich werde nicht aufgeben. Nur meine Taktik etwas ändern", warnte er sie, fegte ein paar Magazine von einem Stuhl, setzte sich und zog Bryony auf seinen Schoß. „Und jetzt erzähl mir mal, weshalb eine so schöne und begehrenswerte Frau wie du so feige ist", bat er sanft. Bryony spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, und sie wusste nicht, wo sie beginnen sollte. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie sich nach Liebe sehnte, aber Angst hatte, zurückgewiesen zu werden? Sollte sie ihm sagen, dass sie jedem Menschen, den sie jemals geliebt hatte, sehr bald auf die Nerven gegangen war? „Du weißt ja schon, dass meine Eltern mich nicht besonders mochten", begann sie schließlich. „Als Kind wollte ich immer nur malen und mit Knete spielen, und meine Mutter war entsetzt darüber, dass ich mich immer so schmutzig machte. Sie schickten mich in eine Klosterschule, in der Hoffnung, dass die Nonnen mir das austreiben würden. Sie versuchten es. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich dafür bestraft wurde, dass ich meine Hefte voll gemalt hatte. Ich versuchte, mich zu bessern, aber es fiel mir sehr schwer. Je mehr sie mir das Malen verboten, desto mehr wollte ich es tun. Es grenzte schon fast an Besessenheit. Die Nonnen schickten meinen Eltern gemeine Berichte über mein Verhalten, und unsere Beziehung wurde dadurch nur noch schlechter." Bryony seufzte leise und sprach tonlos weiter. „Wenn man klein ist, dann ist es so wichtig, von seinen Eltern geliebt zu werden, so schrecklich wichtig. Als ich elf war, beschloss mein Vater, mich in die Schule zu Hause zu schicken. Er hoffte, dass die männlichen Lehrer dort mir Manieren beibringen würden. Aber er hatte sich verrechnet. Die Lehrer waren nämlich von meinem künstlerischen Talent begeistert und förderten mich. Das machte meinen Vater nur noch wütender ..." „Aber warum denn?" fragte Philip verwirrt. „War dein Vater denn nicht stolz auf dein Talent?" „Stolz?" Bryony lachte verächtlich. „Keine Spur. Er war entsetzt darüber. Mein Vater war ein sehr altmodischer Mann, und Frauen gehörten seiner Meinung nach ins Haus und an den Herd. Er wollte, dass aus mir einmal eine gute Hausfrau wird, nichts anderes. Zu
Hause wurde alles unerträglich, ein wahres Schlachtfeld!" Bryony seufzte tief. „Ich hab dir ja schon erzählt, dass meine Eltern sich ständig stritten. Nun, sie stritten sich hauptsächlich meinetwegen. Ich war stur, mein Vater war stur, und meine Mutter weinte. Als ich schließlich zur Uni ging, hatten wir uns schon unendlich weit auseinander gelebt. Mein Vater und ich waren beide zu dickköpfig, denke ich. Aber irgendwie hoffte ich, dass sie meine Liebe zur Kunst eines Tages verstehen würden." „Aber sie taten es nicht?" „Nein. Ich suchte mir ein Zimmer in St. Andrews, damit ich in den Semesterferien nicht nach Hause fahren musste. Abends bediente ich in einer Kneipe, und an Wochenenden arbeitete ich als Kassiererin in einem Supermarkt. Es ging mir gut, ich lernte nette Leute kennen." „Und du bist nie nach Hause gefahren?" fragte Philip. „Nein. Ich tat so, als wäre ich zufrieden und glücklich. Als dann die Miete für mein Zimmer erhöht wurde, konnte ich es mir nicht mehr leisten und zog mit ein paar Studentinnen zusammen in eine Wohnung. Weißt du, ich war schon immer etwas geistesabwesend, und ich lasse mich einfach zu leicht ablenken. Wenn ich etwas Interessantes entdecke, vergesse ich meist alles andere um mich herum und beschäftige mich nur noch mit meiner neuen Entdeckung. Ich kam» mich einfach nicht zusammenreißen. Also war es irgendwie logisch, dass ich die Studentinnen, mit denen ich zusammenwohnte, bald zum Wahnsinn trieb. Ich vergaß vor lauter Malen oder Modellieren oft, dass ich mit dem Kochen oder Aufräumen dran gewesen war. Zuerst amüsierten die anderen sich darüber und waren sehr tolerant, aber als es mir immer wieder passierte, wurden sie wütend und baten mich schließlich auszuziehen. Also ging ich wieder auf Wohnungssuche. Dabei traf ich Michael und verliebte mich in ihn." Bryony lächelte traurig, als sie sich daran erinnerte. „Zuerst war alles wundervoll. Ich war verliebt und dachte, dass ich mich für Michael ändern könnte. Wirklich, ich versuchte krampfhaft, ordentlicher, pünktlicher und verantwortungsbewusster zu sein. Ich zog zu ihm in seine Wohnung, und ..." „Also bist du nicht ganz so unschuldig, wie ich dachte", stellte Philip leise fest. Bryony errötete. „Ich habe wirklich keine große Erfahrung mit Männern. Michael war der einzige, mit dem ich ... nun ... mit dem ich geschlafen habe." „Du bist also zu ihm gezogen, und dann?" „Wie gesagt, ich versuchte, eine gute Hausfrau zu sein. Am Anfang ging ich einkaufen, kochte das Essen, machte die Wohnung sauber, aber dann musste ich mich auf mein Examen vorbereiten und ein paar Projekte fertig stellen. Und sechs Wochen später warf Michael mich, aus der Wohnung. Er sagte, dass ich eine Puppe sei, unfähig, mit ihm zu reden. Außerdem hätte ich ein miserables Gedächtnis." Sie sah, dass Philip ein Schmunzeln nicht unterdrücken konnte, und warf ihm ein trauriges Lächeln zu. „Ich war am Boden zerstört, denn ich hätte gedacht, dass ich mich für den Mann, den ich liebe, ändern könnte." Sie seufzte erneut und fügte dann kleinlaut hinzu: „Ich höre mich wie eine Heulsuse an, nicht wahr? Aber ich will dir doch nur klarmachen, dass man mit mir nicht zusammenleben kann. Ich habe Angst, es noch einmal zu versuchen." „Als mein Großvater starb, zogen meine Eltern und mein Bruder hierher, und das war vorläufig erst mal das Ende meines Privatlebens. Selbst Daniel, der mich wirklich lieb hat, findet mich oft sehr nervtötend, weißt du? Als ich dann mit der Uni fertig war, zogen wir alle nach London, und ich versuchte, Käufer für meine Kunstwerke zu finden. Dabei traf ich dann David." Bryony warf Philip einen kurzen Seitenblick zu. „Er hatte eine kleine Galerie und wollte ein paar meiner Skulpturen ausstellen. Er war sehr nett, und eines Tages bat er mich, mit ihm auszugehen. Als ich dann aber das fünfte Mal zu spät oder überhaupt nicht zu einer unserer Verabredungen erschien, gab er mir auch den Laufpass. Damals habe ich beschlossen, dass ich keine festen Beziehungen mehr will."
„Und wann war das?" fragte Philip. „Vor zwei Jahren." „Verstehe." „Tust du das wirklich?" fragte sie leise und sah ihn prüfend an. Sie hoffte, dass er endlich einsah, dass sie keine Zukunft miteinander hatten. „Ich verstehe, dass es problematisch sein kann", erklärte er sanft. „Aber dass zwei Männer und eine gefühllose Familie dich nicht verstanden haben, heißt noch lange nicht, dass es nicht doch irgendwo einen Menschen gibt, der zu dir passt. Nun sieh mich nicht so verwirrt an, Bryony. Du warst an all dem nicht schuld." „Natürlich war ich das", protestierte sie schwach. „Hast du mir denn eben nicht zugehört?" fragte sie dann und drehte sich auf seinem Schoß so um, dass sie ihm voll ins Gesicht sehen konnte. „Es ist einfach unmöglich, mit mir zusammenzuleben, das habe ich eingesehen." „Unsinn", erwiderte er. „Und hör bitte auf, so auf meinem Schoß herumzurutschen", fügte er mit einem etwas schmerzlichen Lächeln hinzu. Bryony errötete erneut heftig, als ihr klar wurde, was er damit meinte. „Tut mir Leid", sagte sie. „Aber es ist kein Unsinn." Es hatte lange genug gedauert, bis sie sich mit der Tatsache abgefunden hatte, und sie würde nicht zulassen, dass Philip irgendwelche Zweifel in ihr weckte. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, solange sie auf Philips Schoß saß, stand Bryony auf, ging zu ihrem Arbeitstisch hinüber und fing an, mit einem harten Stück Ton herumzuspielen. Dann holte sie tief Luft und drehte sich entschlossen zu Philip um. „Es ist nicht so, dass ich mir keine Beziehung wünsche, aber ..." „Aber dein Partner müsste dich so nehmen, wie du bist, nicht wahr?" „Ja. Ich wünschte, es wäre anders, aber es geht einfach nicht. Es ist selbstsüchtig, ich weiß, aber ich kann mich nun mal nicht ändern. Versucht habe ich es wirklich oft genug." „Haben die Männer, die du kanntest, jemals versucht, sich dir anzupassen?" „Nein. Wieso?" fragte Bryony verwirrt. „Und wieso solltest du dich immer anpassen?" Bryony sah ihn erstaunt an. „Darüber habe ich noch nie nachgedacht." „Hast du schon mal etwas von Kompromissen gehört?" „Natürlich. Aber ich kann eben keine Kompromisse schließen. Das versuche ich dir ja gerade klarzumachen. Ich möchte zwar gern, habe immer gute Vorsätze, aber vergesse sie wieder." „Dann musst du dir eben jemand suchen, der toleranter ist." „Sehr witzig! Niemand kann so tolerant sein. Wie würde es dir denn zum Beispiel gefallen, wenn du nie ein sauberes Hemd im Schrank oder ein sauberes Handtuch im Bad hättest, nur weil ich vergessen habe, die Wäsche zu waschen?" „Das würde nie passieren", erklärte er ruhig. „Ich gebe all meine Wäsche sowieso in die Wäscherei. Was noch?" „Was meinst du mit ,was noch'?" fragte sie verwirrt. „Gib mir noch ein paar Beispiele." Bryony dachte angestrengt nach. „Na gut, angenommen du würdest..." „Ich? Nett, dass du mich wenigstens theoretisch- als Partner sehen kannst", neckte Philip sanft. „Oh, so habe ich das nicht ... ich ... hör auf! Ich wollte nur, dass du es dir besser vorstellen kannst. Also, angenommen, ,er' will eine Party geben, und ich habe versprochen, das Essen zu kochen ..." „Ich ... ahm ... ,er'", verbesserte er sich amüsiert, „würde dich erst gar nicht fragen, sondern das Essen von einem Restaurant liefern lassen. Vergiss nicht, dass er schon eine Weile mit dir zusammenlebt und deine kleinen Fehler kennt." „Und wenn aber keine Zeit war, das Essen zu bestellen? Was dann?" fragte sie ärgerlich. „Nun gut. Seine Gäste kommen also an, du weißt wieder einmal nicht, welchen Monat, geschweige denn welchen Tag wir haben, und hast dich in deiner Werkstatt unter Ton und
Holz begraben. Er führt die Gäste ins Wohnzimmer ..." „Das ich natürlich nicht sauber gemacht habe", warf Bryony triumphierend ein. „Er führt die Gäste also ins unaufgeräumte Wohnzimmer", verbesserte Philip sich gehorsam, „und erklärt in seiner üblichen charmanten Art..." „Woher willst du wissen, dass er charmant ist?" „Weil er mir natürlich sehr ähnlich ist", antwortete Philip ungerührt. „Er erklärt den Gästen in seiner charmanten Art, dass die Dame des Hauses eine etwas geistesabwesende, begnadete Künstlerin ist und dass sie alle wieder gehen können, wenn die Unordnung sie stört. Aber wenn wir davon ausgehen, dass er dich schon recht gut kennt, dann hat er natürlich längst eine Putzfrau eingestellt und hat, wenn Gäste kommen, schon einmal vorsichtshalber einen Tisch in einem guten Restaurant reserviert. Er hofft natürlich, dass du tatsächlich in der Küche stehst und Rübchen schabst, wenn seine Gäste kommen, aber er weiß, dass es durchaus sein kann, dass du die Rüben mit Holz verwechselt hast und dabei bist, wunderbare Skulpturen aus ihnen zu schnitzen." Philip lächelte sie nach dieser Rede fröhlich an und wartete auf ihren nächsten Einwand. „Das ist doch reiner Blödsinn", schimpfte Bryony ärgerlich. „Es würde ihn ein kleines Vermögen kosten, mit mir zusammenzuleben." „Dann musst du eben einen reichen, toleranten Mann finden. Einen wie mich", meinte er leise. „Geld ist da, um es auszugeben." „Darum geht es doch gar nicht. Es würde nie klappen, Philip. Wirklich nicht. Wir würden zusammenziehen, ich würde mich viel zu sehr in dich verlieben, und dann würdest du mir irgendwann doch den Laufpass geben. Und ich weiß genau, das könnte ich nicht ertragen!" „Und woher weißt du das alles so genau?" „Ich weiß es eben, glaub mir. Und ich will mich nicht noch mehr in dich verlieben. Ich will nicht!" „Man kann Gefühle nicht einfach abschalten. Ich hab's ja auch probiert, aber es hat nicht funktioniert. Als ich dich das erste Mal sah, war mir schon klar, dass du mir nur Ärger bringen würdest. Ich wollte mich nicht in dich verlieben, aber es ist schwer, dich zu ignorieren." Philip stand auf und kam zu ihr herüber. „Am Besten lasse ich dich jetzt wohl in Ruhe", meinte er sanft. „Denk bitte über das, was ich dir gesagt habe, nach, ja? Auf mich wartet Arbeit, aber in ein paar Tagen werde ich zurückkommen. Und wenn du mich dann immer noch nicht willst, Miss Bryony Grant, dann werde ich dich nicht mehr belästigen." Philip legte den Zeigefinger unter ihr Kinn, sah ihr in die Augen, lächelte sie traurig an, küsste sie flüchtig und sagte zum Abschied: „Sei brav!" Bryony hatte eigentlich keine andere Wahl, als brav zu sein. Aber sie dachte ernsthaft über Philips Worte nach und war hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Wenn ich ihn nur nicht so gern hätte, dachte sie. Alles wäre viel einfacher, wenn er mir gleichgültig wäre. Bryony wanderte ziellos im Haus herum, nahm Sachen in die Hand, legte sie wieder hin und dachte dabei ständig an Philip. Sie vermisste ihn, vermisste seinen merkwürdigen Sinn für Humor, sein Lächeln, seine sexy Stimme. Gleichgültig, wie vernünftig sie auch sein wollte, sie sehnte sich entsetzlich nach ihm. Fünf Tage verstrichen, aber Philip meldete sich nicht bei ihr. Hatte er seine Meinung geändert? Hatte er begriffen, dass es zwischen ihnen nicht klappen würde und dass es kein Mensch mit ihr aushalten konnte? Aber wäre er dann nicht wenigstens gekommen, um ihr das zu sagen? Ich muss es einfach wissen, dachte sie auf dem Weg zur Bushaltestelle. Philip hatte ihr Hoffnung gemacht, und an diese Hoffnung klammerte sie sich nun. Bryony erinnerte sich noch genau daran, wie sie das erste Mal den Weg zum Haus hochgelaufen war. Philips rotes Auto stand genau am selben Platz wie damals, das Gras wucherte immer noch wild, und das Haus sah genauso verlassen aus wie damals. Ist es wirklich erst zwei Wochen her? fragte sie sich, ging zum Hauseingang hinüber und klopfte zaghaft an.
Die Tür sprang lautlos auf. Obwohl Bryony nicht an Gespenster glaubte, lief ihr ein eisiger Schauder den Rücken hinunter. Im Haus war es so unwirklich still. Sei nicht albern, redete sie sich ein, ging durch die Tür und schrie entsetzt auf, als ihr ein mit Spinnweben überzogener Holzbalken genau vor die Füße fiel. „Was, zum Teufel, ist hier los?" schimpfte Philip in diesem Moment zornig und kam aus einem Zimmer am Ende des Flurs gestürzt. Er blieb abrupt stehen und sah Bryony geschockt an. Hat er vielleicht gehofft, mich nicht wieder zu sehen? fragte sie sich kläglich. Philip riss sich sichtlich zusammen. „Was willst du denn hier? Mensch, Bryony, das passt mir im Moment überhaupt nicht!" Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er zu einer Tapetentür in der Wand hinüber und öffnete sie. Kurz darauf ertönte das leise Surren eines Motors, und der Balken samt Spinnweben schwebte wieder in die Höhe. „Ich hasse Spinnen", verteidigte sich Bryony und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Philip sah nicht so aus, als würde er sich über ihren Besuch freuen. „Hier gibt's keine Spinnen", erklärte er ungeduldig und betrachtete prüfend den Balken. „Das ist ein künstliches Spinnennetz." „Jedenfalls hat es mich fast zu Tode erschreckt", erwiderte sie. „Gut! Zu schade, dass wir deinen Schrei eben nicht auf Band aufgenommen haben." Er drehte sich um, strich sich mit seiner schmutzigen Hand durch das zerzauste Haar und rief nach oben: „Harry? Hast du das eben gehört?" „Ja!" kam die Antwort. „Tolles Echo!" Philip nickte zufrieden, drehte sich um und schien erstaunt darüber, dass Bryony immer noch hinter ihm stand. „Oh, tut mir Leid", sagte er geistesabwesend. „Komm mit, aber geh um Himmels willen in der Mitte vom Flur, sonst setzt du noch den ganzen Spuk hier in Bewegung!" Bryony gehorchte verletzt und unsicher. Philip ging in das Zimmer am Flurende zurück und ließ sich auf einem verschrammten Stuhl hinter einem ebenfalls verschrammten Schreibtisch nieder. Bryony warf ihm ein zaghaftes Lächeln zu. „Ich hätte wohl besser nicht herkommen sollen, hm?" „Nun, der Zeitpunkt war nicht gerade günstig gewählt. Wie geht's dir denn so?" „Mir geht's gut", antwortete sie. „Ich ..." Sie wurde von einem schmächtigen braunhaarigen Mann unterbrochen, der, ohne anzuklopfen, ins Zimmer gestürzt kam. „Philip, wo willst du dieses Kabel... oh, Verzeihung", sagte er dann. „Ich wusste nicht, dass du Besuch hast. Haben Sie eben geschrien?" wandte er sich an Bryony. „Ja", gestand sie beschämt. „Tut mir Leid, hat es ...?" Sie wurde erneut unsanft unterbrochen, als Philip nun aufsprang. „George, wo hast du dieses Kabel her?" „Es war im Hinterzimmer", erklärte George verwirrt. „Oh, verdammt. Wer hat es dort hingetan? Harry, ich wette es war Harry. Ich bring den Kerl um!" Philip schob den verdutzten George zur Seite und stürmte, laut nach dem ahnungslosen Harry rufend, aus dem Zimmer. Bryony und George warfen sich verwirrt Blicke zu. „Ich scheine hier nur im Weg zu sein", meinte sie dann mit einem entschuldigenden Lächeln. „Nehmen Sie's nicht persönlich", riet George freundlich. „Philip scheint diese Woche jeder im Weg zu sein. Wir bekommen die Beleuchtung einfach nicht richtig hin, und nächste Woche wollen sie mit den Dreharbeiten anfangen. Keine Chance", fügte er grinsend hinzu. „Ich glaub', mein Typ wird verlangt." Er lachte, als Philip laut nach ihm rief. „War nett, Sie kennen gelernt zu haben." „Ganz meinerseits", erwiderte Bryony. Dann sah sie sich im Zimmer um und fragte sich, ob sie Philip eine Nachricht hinterlassen sollte. Besser nicht, entschied sie traurig. Wahrscheinlich hätte sie aus Versehen hinten aufs Drehbuch oder den Beleuchtungsplan geschrieben. Auf keinen Fall würde sie allerdings wieder durch den Flur nach draußen
gehen. Sie sah sich suchend um, ging zum Fenster hinüber und öffnete es. Wachsam, denn man wusste ja nie, was einem hier so alles auf den Kopf fallen konnte, kletterte sie dann über die Fensterbank hinaus und. schloss das Fenster hinter sich. Draußen blieb Bryony einen Augenblick stehen. Hatte Philip sie nicht sehen wollen? Oder war er nur zu beschäftigt gewesen, um sich um sie zu kümmern? Sie wusste selbst, wie ärgerlich es war, wenn man beim Arbeiten gestört wurde. Trotzdem tat es weh, dass er sich so gar nicht gefreut hatte. Spontan beschloss sie, auf ihn zu warten, und ging zu seinem Auto hinüber. Sie lehnte sich gegen die Wagentür und blickte zum Himmel hoch. Wie lang soll ich wohl warten? fragte sie sich dann. Höchstens eine Stünde, sonst sieht es am Ende so aus, als würde ich ihm nachlaufen. Bryony wurde plötzlich klar, dass weder Michael noch David sie so erregt hatten wie Philip und dass sie durchaus bereit war, ihm nachzulaufen, wenn es sein musste. Sie lachte nervös auf und zuckte zusammen, als Philip plötzlich leise fragte: „Was ist so amüsant, Miss Grant?" Bryony sah ihn erschrocken an und schimpfte. „Du solltest aufhören, dich so an Leute heranzuschleichen!" Dann musste sie lächeln, denn Philip sah recht zerzaust aus. Sein dunkelblondes Haar stand ihm wirr vom Kopf, und ein breiter Schmutzstreifen zog sich über eine Wange. In der einen Hand hielt er ein riesiges Sandwich und in der anderen einen dampfenden Becher. Bryony hatte plötzlich den Wunsch, sich ihm in die Arme zu werfen und in Tränen auszubrechen. Philip lächelte nur. „Hast du schon gegessen?" Als sie den Kopf schüttelte, stellte er den Becher auf dem Autodach ab, brach das riesige Sandwich in zwei Teile und reichte ihr einen davon. Bryony nahm ihre Hälfte entgegen, obwohl sie nicht den geringsten Appetit hatte, und untersuchte den Belag eingehend. „Ist das Schinken?" fragte sie unsicher. „Keine Ahnung, aber es schmeckt ganz gut. Ist eins von Gavins Meisterwerken", fügte er hinzu, als ob das als Erklärung völlig ausreichte. „Na, wenn das so ist!" sagte sie, obwohl sie keine Ahnung hatte, wer Gavin überhaupt war, und biss vorsichtig in ihre Sandwich-Hälfte. Philip lehnte sich neben sie an sein Auto. „Ich dachte, du wärst gegangen", bemerkte er beiläufig. „Ich bin noch hier, wie du siehst. Wie geht's dir denn so?" fragte sie dann. „Ich hab' viel zu tun. Und ich hab' dich nicht angerufen, weil, nun, weil ein Gespräch am Telefon so unpersönlich ist", meinte er ausweichend, und Bryony fühlte sich elend. „Ich wollte die Sache hier so schnell wie möglich abwickeln, aber natürlich ging wieder einmal alles schief. Jetzt sagen die mir auch noch, dass sie nächste Woche schon filmen wollen! Warum bist du gekommen?" fragte er dann geradeheraus. „Ich weiß nicht. Ich wusste nicht mehr, wie ich mich beschäftigen soll. Das Haus habe ich schon geputzt, irre, nicht?" „Du hast geputzt?" „Tja, dann werde ich wohl besser wieder gehen, damit du weiterarbeiten kannst." Philip antwortete nicht, sondern betrachtete nachdenklich seine Schuhe. Bryony legte ihm vorsichtig die Hand auf den Arm, und er blickte auf. „Hm? Oh, tut mir Leid, Bryony!" entschuldigte er sich mit einem hilflosen Schulterzucken. „Ich hab' einfach zu viel im Kopf. Das mit dem blauen Filter klappt und klappt nicht, aber ich verstehe nicht, woran es liegt", meinte er dann, in Gedanken schon wieder bei der Arbeit. ' „Ich kenne mich mit Filtern leider nicht aus." Bryony stieß sich vom Auto ab. „Auf Wiedersehen, Philip", sagte sie leise, aber er hörte sie gar nicht. An der Bushaltestelle angekommen, musste Bryony sich eingestehen, dass sie Philip liebte. Sie hatte ihn wahrscheinlich schon vom ersten Augenblick an geliebt. Aber wie konnte man jemanden lieben, den man erst zwei Wochen kannte? Bryony wusste darauf keine Antwort, aber sie wusste ganz sicher, dass sie ihn liebte. Sie wollte mit ihm zusammen sein, egal, was die Zukunft auch bringen würde. Soll ich ihm sagen, dass ich mich auf eine Affäre mit ihm einlassen werde? fragte sich
Bryony unsicher. Es war schlimm, so verzweifelt zu sein. Bryony war noch nie einem Mann nachgelaufen. Vielleicht sollte ich mich vorher etwas zurechtmachen oder zum Friseur gehen? grübelte sie. Der Bus kam an, die Tür öffnete sich zischend, und Bryony sah den Busfahrer nachdenklich an. Der blickte genauso nachdenklich zurück. „Was macht man", fragte sie ihn ernst, „wenn man gerade entdeckt hat, dass man sich verliebt hat?" „Es demjenigen, den man liebt, sagen", schlug der Busfahrer vor. ,;Aber was, wenn derjenige nur ... nun ..." „Nur Sex will?" fragte der Fahrer „Ja." „Sex ist auch nicht zu verachten. Kommen Sie mit, oder bleiben Sie hier?" „Ich bleibe hier", entschied Bryony. Der Busfahrer hatte Recht, Sex war auch nicht zu verachten. Sie warf ihm ihr strahlendstes Lächeln zu und machte sich auf den Rückweg zum Haus.
10. KAPITEL Philip stand immer noch gegen sein Auto gelehnt da und sah gedankenverloren vor sich hin. Bryony baute sich vor ihm auf und wartete darauf, dass er Notiz von ihr nahm. „Schon wieder zurück?" fragte er gleichgültig. „Ja. Ich habe den Busfahrer gefragt, und er meinte, Sex sei auch nicht zu verachten." „Und was hast du ihm darauf geantwortet?" „Dass ich Sex auch nicht schlecht finde, und er meinte, das sollte ich dir sagen." „Ein weiser Mann. Also, sag's mir!" „Ich will mit dir schlafen", stieß Bryony atemlos hervor. „Gut. Nur einmal oder öfter?" „Das weiß ich noch nicht", gestand Bryony und war erleichtert, als er die Schultern zuckte. „Du bist nicht sauer?" „Nein", antwortete er mit rauer Stimme. Dann warf er sein Sandwich fort und zog sie so fest an sich, dass es ihr den Atem verschlug. „Ich hätte es sowieso keine Sekunde länger ausgehalten", erklärte er leidenschaftlich. „Ich habe tausend Sachen zu erledigen, aber keine davon ist so wichtig, wie mit dir zu schlafen!" Er drückte sie noch fester an sich, legte seine eine Hand um ihren Nacken, holte tief Luft und küsste sie dann heftig. Bryony schluchzte erleichtert auf, legte die Arme um seinen Nacken und erwiderte seinen Kuss mit einer Leidenschaft, die sie selbst überraschte. Philip war, seinem Stöhnen nach zu urteilen, genauso überrascht. Bryony schmiegte sich so dicht wie möglich an ihn und bedeckte sein Gesicht mit vielen kleinen Küsschen, bevor sie sich einem zweiten langen, wundervollen Kuss hingab. Ein lautes Pfeifen ließ die beiden schließlich auseinander fahren. „Gavin sucht mich", sagte Philip mit rauer Stimme. In diesem Augenblick begann es, große, schwere Tropfen zu regnen. Philip packte Bryony an der Hand, rannte mit ihr zum Haus hinüber und zog, sie, kaum im Trockenen, wieder fest in die Arme. Sein Kuss war noch leidenschaftlicher als die anderen beiden vorhin. Bryony wurde heiß, und sie hatte solche Sehnsucht nach ihm, dass es schon fast wehtat. Philip zog ihr T-Shirt nach oben und streichelte ihren nackten Rücken mit seinen warmen großen Händen. Bryony vergrub ihre Finger wohlig seufzend in seinem Haar. „Du hast nichts drunter an", flüsterte Philip atemlos. „Nein." „O Bryony, ich ..." begann er. „Philip", rief in diesem Augenblick jemand. „Wir gehen ein Bier trinken und sind in etwa einer Stunde wieder zurück." „In Ordnung", gab Philip zur Antwort, holte tief Luft, nahm Bryony hoch, trug sie zu einem alten Sofa, das im Zimmer stand, und ließ sich rückwärts, mit ihr in den Armen, darauf sinken. „Dein T-Shirt ist nass. Du solltest es besser ausziehen." Bevor sie protestieren konnte, hatte er ihr das nasse T-Shirt über den Kopf gezogen. Dann zog er sein eigenes Hemd auch aus und rollte sich über Bryony. Er holte scharf Luft, als ihre nackten Brüste seine Brust berührten. Atemlos schob er sein Knie zwischen ihre Beine, umfasste ihr Kinn und küsste sie erneut. Es war ein überwältigender Kuss, ganz anders als alle Küsse, die er ihr bis jetzt gegeben hatte. Dieser Kuss war heftig und fordernd, und sie erwiderte ihn hemmungslos. Sie grub ihre Fingerspitzen in Philips Rücken, bäumte sich unter ihm auf, zwang sein Knie immer weiter zwischen ihre Beine und versuchte, in seinem verzweifelten Kuss Befriedigung zu finden. Philip berührte ihr Kinn, ihre Schultern und legte seine Hand schließlich auf eine ihrer Brüste. Bryony stöhnte auf, als er begann, ihre steife Brustspitze mit dem Daumen zu streicheln. „Du hast mich ganz schön zappeln lassen, Mädchen", flüsterte Philip. „Ich wurde vor Verlangen fast wahnsinnig."
„Du hast nicht sehr erfreut ausgesehen, als du mich vorhin gesehen hast", meinte Bryony. „Weil mir etwas klar geworden ist, das mir schon vor Tagen und Wochen hätte klar sein sollen." Bryony verstand nicht, was er meinte. Alles, was sie in diesem Augenblick wollte, war, von ihm geküsst und geliebt zu werden. Langsam zog sie ihn wieder zu sich hinunter. Sie begehrte ihn so sehr und wollte nicht länger warten. „Bryony, ich bin verrückt nach dir", stöhnte Philip. „Ja!" Sie sahen sich an und begannen dann rasch und wie auf Kommando, sich fertig auszuziehen. Als nackte Haut dann endlich nackte Haut berührte, schnappten sie beide nach Luft und hörten auf zu denken. Bryony stöhnte leise auf, als Philip sie berührte. Seine Bewegungen waren heftig, seine Küsse leidenschaftlich, und er atmete schwer. Sie waren beide atemlos vor Erregung, aber es klappte einfach nicht. Das Sofa war viel zu schmal, Philip war zu schwer und zu groß oder sie zu klein, und Bryony wurde immer frustrierter. Sie konnte ihn nicht richtig halten, und schließlich stöhnte sie verzweifelt. „Oh, bitte." „Ich versuch's ja, verdammt noch mal! Das hier ist ja wie ein Ringkampf" schimpfte Philip, rollte sich schließlich von ihr und schnappte sich seine Kleider. „Los, zieh dich an!" befahl er unwirsch. „Aber könnten wir es denn nicht auf dem Boden ...?" bat Bryony, dann sah sie, dass der ganze Boden mit Schachteln, Lampen, Kabeln und anderen Dingen bedeckt war. Sie biss sich auf die Unterlippe, stand auf und zog sich hastig an. Tränen schnürten ihr die Kehle zu. „Ich ..." begann sie. „Sag jetzt nichts", bat er. „Kein Wort." Ohne sie anzusehen, nahm er sie an der Hand und zog sie nach draußen zu seinem Auto. Er knallte die Autotür zu, nachdem Bryony auf der Beifahrerseite eingestiegen war, ließ sich hinters Steuer fallen und raste zu ihrer Wohnung. „Geh rein!" befahl er barsch. Bryonys Hand zitterte so sehr, dass sie den Haustürschlüssel fast fallen ließ, und schließlich nahm Philip ihn ihr ab und schloss auf. „Wo?" fragte er dann, immer noch grob und ungeduldig. „Wo was?" fragte sie hilflos. „Wo ist dein Schlafzimmer, verdammt noch mal?" „Oh!" Sie führte ihn nach oben und zeigte ihm ihr Zimmer. Er stieß die Tür auf, schob Bryony hinein und blickte verächtlich auf das schmale Bett. „Zieh dich aus!" befahl er. „Philip, ich ..." „Ausziehen!" wiederholte er und riss sich die eigenen Kleider vom Leib. Bryony konnte nicht anders, sie musste lachen. „Hör auf zu lachen", warnte Philip sie wütend. „Ich lache nicht", versicherte sie und unterdrückte mit Mühe ein zweites Kichern. „Ich hab' mich noch nie in meinem ganzen Leben so blamiert!" brummelte er. „O Philip, das ist doch egal." „Es ist eben nicht egal. Und hab' ich dir nicht gesagt, dass du dich ausziehen sollst?" „Doch, Philip", sagte sie und zog sich gehorsam das T-Shirt über den Kopf. Er stand schon nackt vor ihr, und Bryonys Brustspitzen versteiften sich, als sie sah, wie erregt er war. Es war keine zärtliche Vereinigung, aber das hatte Bryony auch nicht erwartet, nachdem Philip sich so aufgeführt hatte. Er nahm sie ohne weiteres Vorspiel. Keuchend drang er mit einem einzigen festen Stoß in sie ein, aber Bryony war bereit, ihn zu empfangen. Sie wollte ihm zeigen, dass sie ihn genauso begehrte wie er sie. Obwohl er sie mit seinem Gewicht fast erdrückte, hielt sie ihn fest umarmt und versuchte, sich seinen Bewegungen anzupassen. Verzweifelt stöhnte sie auf, als sie ihren Höhepunkt viel zu früh erreichte, und war unendlich erleichtert, als er es ihr wenige Sekunden später gleichtat. Erschöpft sank Philip auf sie, und Bryony bedeckte seine Schulter mit kleinen Küssen.
Ihr tat zwar alles weh, aber sie fühlte sich erleichtert, glücklich und unendlich befriedigt. Schließlich rollte er sich von ihr, und sie blieb einen Augenblick abwartend auf dem Rücken liegen. Als er nichts sagte, Warf sie ihm einen kurzen Seitenblick zu. Er lag reglos neben ihr und blickte an die Decke. „Philip?" fragte flüsternd. „Nicht!" stöhnte er. „Was für ein Fiasko!" „Der letzte Teil war keins", erwiderte sie sanft. „Für mich jedenfalls nicht." „Wirklich nicht?" fragte er, und seine Stimme klang so elend und unsicher, dass Bryony sich aufsetzte und erstaunt zu ihm hinuntersah. „Soll ich dich loben?" fragte sie ungläubig. Philip sah sie an und lächelte widerwillig. „Wieso hast du so ein winziges Bett?" fragte er und schlug wütend auf die Matratze. „Weil ich winzig bin und nicht damit gerechnet habe, dass ein holländischer Riese eines Tages in diesem Bett mit mir schlafen würde", erklärte sie und ließ sich wieder in die Kissen zurücksinken. Sie schämte sich plötzlich, dass sie vorhin so hemmungslos reagiert hatte und nun nackt neben ihm lag. „Das erklärt es natürlich", meinte er und stützte den Kopf in die Hand. „Außerdem bin ich nur ein halber Holländer." Er wickelte sich eine ihrer Haarsträhnen um den Finger. Irgendetwas stimmt nicht, dachte Bryony und runzelte die Stirn. Wieso sieht er so nachdenklich aus? Will er gehen und weiß nicht, wie er es mir beibringen, soll? „Eins hab' ich jedenfalls gelernt. Versuche nie, eine Frau auf einem schmalen Sofa zu verführen! Ich hab' mich noch nie in meinem Leben so blamiert", meinte er schließlich. „Mir war es auch recht peinlich", gab Bryony zu und lächelte schüchtern. „Tut mir Leid." „Macht nichts." Bryony fragte sich, wie es jetzt weitergehen würde. Wer sollte zuerst aufstehen, er oder sie? Sollte sie ihm einen Kaffee anbieten, oder einen Tee? Bevor Bryony sich entscheiden konnte, setzte Philip sich erschrocken auf und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Mist, es ist ja schon fünf Uhr!" stieß er hervor. „Schon fünf?" wiederholte sie verwirrt. „Wie schrecklich!" Philip lachte gezwungen auf und drückte ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. „Der Filter, Mädchen, ich muss mich doch um den Filter kümmern." „Ach ja!" flüsterte sie. „Den Filter hatte ich ganz vergessen." „Ich auch. Bryony, es tut mir entsetzlich Leid, aber ich muss weg." „Macht nichts", sagte sie tapfer. „Ich seh' dich dann später, ja?" „Ja, natürlich", brummte er, in Gedanken anscheinend schon bei seinem Filter. Er rollte sich vom Bett und zog sich hastig an. Bryony versuchte, tapfer zu bleiben, und meinte gespielt fröhlich: „Die anderen werden sich wohl fragen, wo du steckst." „Die können es sich schon denken. Du bist mir nicht böse, oder?" fragte er und drehte sich noch einmal zu ihr um. „Keine Spur. Nun geh schon, und kümmere dich um deinen verflixten Filter!" „In Ordnung! Danke, Bryony." Er schnappte sich den Autoschlüssel, ging zur Tür, kam noch einmal zum Bett zurück und drückte Bryony einen festen Kuss auf den Mund. „Tut mir Leid", entschuldigte er sich und ging. Bryony setzte sich auf, schob sich ein Kissen in den Rücken und schlang die Arme um die Knie. Er hat mir noch nicht einmal gesagt, ob es ihm gefallen hat, dachte sie niedergeschlagen. Und wann er wiederkommen würde, hatte er auch nicht gesagt. Hatte er sie nur dazu benutzt, seine Lust zu befriedigen? Bryony vergrub das Gesicht in den Armen und fing vor Selbstmitleid an zu weinen. Sie hätte sich doch so gern an seinen warmen, starken Körper gekuschelt und mit ihm zusammen Zukunftspläne geschmiedet. Aus Selbstmitleid wurde Zorn. Bryony zog das Kissen hinter ihrem Rücken hervor und schleuderte es an die Wand. Philip musste ja schwer enttäuscht gewesen sein, sonst wäre er wohl nicht so schnell verschwunden. Aber eigentlich hatte er ihr nie etwas vorgemacht. Er hatte ihr von Anfang an gesagt, dass er sie begehrte, und nun hatte er seine Lust und seine Neugier befriedigt.
Sie seufzte, wischte sich die Tränen vom Gesicht und ging ins Bad, um zu duschen. Danach schlüpfte sie in ihr Nachthemd und ging nach unten. Eigentlich sollte sie etwas essen, aber sie hatte keinen Appetit. Sie stand da, und plötzlich traten ihr wieder Tränen in die Augen. O Philip, warum tust du mir das an? dachte sie schluchzend und war sich auf einmal sicher, dass er nicht wiederkommen würde. Langsam ging sie hinüber in ihr Atelier. Vielleicht konnte Arbeit sie von Philip und ihrem Liebeskummer ablenken. Bryony nahm ihren Zeichenblock zur Hand und blätterte darin herum, bis sie schließlich auf die Zeichnung des alten Gärtners stieß, die sie im Hotel in Penang gemacht hatte. Das Bild war wirklich gelungen, und Bryony machte sich an die Arbeit. Zuerst bog sie aus Draht ein Gestell zurecht und bedeckte dieses Gestell dann mit Ton. Schon bald war sie so in ihre Arbeit vertieft, dass sie alles um sich herum vergaß. Sie hörte nicht, dass es zu regnen begann, und merkte auch nicht, dass die Türe geöffnet wurde und Philip, völlig zerzaust und nass, hereinkam. Auch das warme, zärtliche Lächeln entging ihr, das über sein Gesicht huschte, als er ihre tonverschmierten Hände sah. Philip lehnte sich müde an die Tür und beobachtete Bryony beim Arbeiten. Schließlich war sie mit dem Faltenfall an der Hose des Gärtners zufrieden, lehnte sich aufseufzend in ihren Stuhl zurück und streckte sich gähnend. Dann drehte sie sich um und entdeckte Philip. Er sah zu Tode erschöpft aus. „Wie lange stehst du denn schon da?" fragte sie. „Seit Stunden", schwindelte er. „Wie spät ist es?" „Zwei Uhr morgens." Bryony konnte es noch gar nicht fassen, dass er wirklich zurückgekommen war, und sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Also sah sie ihn nur stumm an und liebte ihn in diesem Augenblick mehr als je zuvor. Ihr war ganz schwindelig vor Liebe. Langsam stand sie auf und merkte dann, dass ihre Hände völlig verschmiert waren. „Ich gehe mich schnell waschen", erklärte sie. „Vergiss dein Gesicht nicht. Du hast einen breiten Streifen Schmutz auf der Wange." Bryony nickte und ging zum Waschbecken hinüber. Nervös wusch sie sich und trocknete ihre Hände und ihr Gesicht sorgfältig ab. „Was ist?" fragte Philip schließlich leise. „Hast du deine Meinung geändert? Soll ich wieder gehen?" „Nein", erwiderte sie hastig und schüttelte den Kopf. „Ich hab's mir nicht anders überlegt, aber ..." „Aber du hattest Angst, ich würde nicht wiederkommen?" „Ja." „Komm her", befahl er sanft. Bryony gehorchte und seufzte leise auf, als er sie fest in die Arme schloss. „Ich hatte solche Sehnsucht nach dir, Bryony", gestand Philip leise. „Als du dann vorhin zu mir gekommen bist, da ist bei mir einfach eine Sicherung durchgebrannt. Ich weiß, dass ich mich unmöglich benommen habe. Erst dieses Fiasko auf dem Sofa, und als wir dann endlich im Bett waren, konnte ich mich auch nicht beherrschen. Das war mir alles so verdammt peinlich. Mit dir zu schlafen war mir so wichtig, und ich habe es total verpatzt." „Hast du nicht." „Sei still, ich bin noch nicht fertig! Du hast dir solche Mühe gegeben, mich zu beruhigen, so zu tun, als wäre es schön für dich gewesen, aber ich konnte dir ansehen, wie verwirrt du warst. Und ich dachte, dass du mir jeden Augenblick den Laufpass geben würdest. Darum hab' ich so getan, als ob ich dringend fort müsste." „Aber der Filter ..." „Glaubst du wirklich, dass mir in diesem Augenblick etwas an irgendwelchen Filtern gelegen hat? Zum Glück hatte ich George und Harry, sonst wären wir immer noch nicht fertig. Ich hab' alles falsch gemacht!" Philip atmete tief durch. „Auf dem Weg hierher eben, habe ich mir alles Mögliche ausgemalt. Ich dachte, dass du schon im Bett liegst und böse
wirst, wenn ich dich aufwecke, oder dass du mich auslachen wirst, weil..." „Nun sei endlich still, Philip", befahl Bryony energisch, schob ihn von sich und sah in sein müdes Gesicht. „Ich habe gedacht, du wolltest fort, weil ich dich im Bett enttäuscht hätte", erklärte sie dann lächelnd. „Das hast du ganz und gar nicht." „Dann hör auf zu reden, und bring mich ins Bett. Ich bin hundemüde." Philip nickte, hob sie auf die Arme. „Aber gleich morgen kaufen wir ein größeres Bett." „In Ordnung." Im Schlafzimmer legte er sie auf die Bettdecke. „Willst du wirklich schlafen?" fragte er. „Eigentlich nicht, und du?" „Ich auch nicht." Bryony zitterte vor Erregung, als sie sich das Nachthemd über den Kopf zog und dann die Nachttischlampe anknipste. „Ich will dich sehen können", erklärte sie mit heiserer Stimme. Philip lachte auf und zog sich schnell aus. „Mach mal Platz!" befahl er und legte sich vorsichtig neben sie auf das schmale Bett. „Ich habe richtig Angst, dich anzufassen", flüsterte er rau und streichelte zärtlich ihre Brüste. Bryonys Brustspitzen wurden sofort steif. „Du bist so ein zierliches kleines Ding. So zerbrechlich." „Ich bin alles andere als zerbrechlich", erklärte Bryony, schmiegte sich an ihn und stöhnte wohlig auf, als ihr Körper seinen berührte. Sie schloss die Augen, rückte noch näher, ließ sich von ihm streicheln und küsste ihn hingebungsvoll. Philip legte sich schließlich auf sie und stützte sich rechts und links von ihr mit den Armen auf. Bryony musste lachen. „Du erdrückst mich ja!" Sie kicherte und schnappte nach Luft. „Ich wiege knapp fünfzig Kilo, und du bist bestimmt mehr als doppelt so schwer." Philip kniete sich daraufhin über sie, die Beine rechts und links von ihrer Hüfte, und sah zu ihr hinunter. Bryony betrachtete ihn fasziniert. „Du bist so schön", flüsterte sie und strich mit beiden Händen über seine muskulösen Oberschenkel. Philip hielt unwillkürlich den Atem an und stöhnte laut auf. „Nicht, Bryony!" „Warum nicht?" fragte sie mit erstickter Stimme. „Ich will dich berühren, und du bist viel zu weit weg." Sie holte tief Luft, schob ihn dann von sich und kniete sich dann ihrerseits über ihn. „So schlafen kleine Frauen mit Riesen", flüsterte sie heiser, als er in sie drang. Genüsslich schloss sie die Augen, legte den Kopf in den Nacken und stöhnte laut auf, als Philip anfing, ihre Brüste zu streicheln. „Woher weißt du das?" keuchte er. „Hast du viel Erfahrung mit Riesen?" „Keine. Ich hab's mir selbst ausgedacht." Philip zog sie zu sich hinunter, bis sie mit dem Oberkörper auf ihm lag, streichelte ihre Hüften, ihren Po, und sie stellten beide atemlos fest, dass Bryonys Idee wirklich wunderbar war. Es war schön, erregend, und sie ließen sich viel Zeit dabei. Bryony verstand nicht mehr, wieso sie sich so lange gegen ihre Liebe zu Philip gewehrt hatte. Er schmeckt nach Sonnenschein, dachte sie verträumt, und als Philip den Rhythmus beschleunigte, vergaß sie zu denken, umarmte ihn fest, rief seinen Namen und erreichte mit ihm gemeinsam den Höhepunkt. Immer noch atemlos, rollte Philip sich schließlich mit Bryony in den Armen zur Seite und befahl ihr dann mit rauer Stimme: „Sieh mich an!" „Warum?" flüsterte sie. „Ich will sehen, wie du dich fühlst." „Du weißt genau, wie ich mich fühle." Sie seufzte und öffnete widerwillig die Augen. „Ich bin wunderbar müde und zufrieden. O Philip, war das nicht einfach herrlich?" Er nickte. Bryony betrachtete nachdenklich sein Gesicht. „Und wie fühlst du dich?" „Wie ein Mann, der bereit ist, sich sehr fest an eine Frau zu binden", gestand er ernst. „Was?" fragte sie ungläubig. „Du hast mich richtig verstanden. Als du da vorhin in dem alten Haus hinter den Spinnweben gestanden hast, da wusste ich es plötzlich. Und ich hatte verdammte Angst,
dass du mich nicht haben wolltest. Darum hab ich dich gar nicht zu Wort kommen lassen, hab' so getan, als sei ich total in meine Arbeit vertieft. Ich wollte nicht wissen, warum du gekommen warst." „O Philip!" flüsterte sie. „Außerdem", fuhr er mit verdächtig rauer Stimme fort, „hat Gavin gesagt, dass er sich an dich ranmachen würde, wenn ich dich nicht wollte. Er sagte, du wärst das aufregendste kleine Ding, das ihm je über den Weg gelaufen sei. Und er hat Recht. Ich will dich heiraten, Bryony. Du sollst ganz allein mir gehören ... Schätzchen, nun wein doch nicht. Findest du es denn so schrecklich, dass ich dich liebe?" Bryony schüttelte den Kopf. „Nein!" rief sie, fuhr hoch und sah ihn entsetzt an. „Ich meine, doch. Doch, ich will dich heiraten. Philip, du weißt ja gar nicht, wie lange ich schon in dich verliebt bin." „Du liebst mich?" fragte er zögernd und ungläubig, und sie nickte heftig. „Und du wirst mich heiraten?" Bryony nickte erneut und fiel ihm dann um den Hals. „Ich liebe dich, Philip. Und jetzt musst du es mir sagen." „Ich liebe dich, Bryony. Und ich hab' mich wie ein Idiot aufgeführt, stimmt's?" Philip strich ihr lächelnd mit dem Zeigefinger über Nase und Lippen. „Ich war noch nie verliebt, weißt du? Wahrscheinlich muss ich mich jetzt bei meiner Schwester entschuldigen. Ich habe ihr nämlich immer gesagt, dass sie sich zusammenreißen soll, wenn sie Liebeskummer hat. Sie sagte dann: ,Warte, bis es dich erwischt hat.' Mich erwischt es nicht, meinte ich damals. Ich schwöre dir, meine Schwester hat sich, im Vergleich zu mir, wirklich meisterhaft beherrschen können. Sie wird sich totlachen, wenn ich ihr das erzähle." „Wirst du's ihr denn erzählen?" fragte Bryony interessiert. „Natürlich." Philip gab ihr einen Kuss auf die Stirn, und Bryony meinte nachdenklich und ein wenig besorgt: „Wir werden ein wirklich ungewöhnliches Paar sein, du und ich." „Das glaube ich auch", stimmte er mit einem jungenhaften Grinsen zu. „Ich bin wahrscheinlich der einzige Mann, dessen Frau einen Lachanfall bekommt, wenn er mit ihr schlafen will." „Tut mir Leid", entschuldigte sie sich. „Muss es nicht. Es gibt unserem Liebesleben interessante Dimensionen." Er wurde ernst. „War es mit Michael auch so ..." „Nein", flüsterte Bryony und drückte ihn fester an sich. „Michael war ein sehr ernster Mensch. Ich war nie so irrsinnig glücklich in seiner Nähe, so, wie ich es bei dir bin. O Philip, es wird doch gut gehen mit uns?" fragte sie ängstlich. „Ich könnte es nicht ertragen, wenn es wieder schief gehen würde." „Es wird alles gut gehen. Wir werden dafür sorgen." Philip strich ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte Bryony an. „Ich liebe dich." „Ich liebe dich auch!" Bryony schob die Finger in sein dichtes Haar. „Weißt du eigentlich, dass dein Akzent sich verstärkt, wenn du erregt bist?" „Ach ja? Und gefällt dir das?" „Sehr." „Dann musst du wohl dafür sorgen, dass ich oft erregt bin, nicht wahr?" Damit drehte er sich um und kuschelte sich tiefer in die Kissen. „Wenn du willst, kannst du mir den Rücken streicheln", sagte er schläfrig. Bryony lachte auf und begann gehorsam, mit dem Zeigefinger kleine Kringel auf seine Haut zu malen. „Mm, das tut gut, nicht aufhören", murmelte er, und Bryony lächelte zärtlich, als er ein paar Minuten später fest eingeschlafen war. Sie holte die Decke vom Fußboden, legte sie über sich und Philip und kuschelte sich dann fest an seinen warmen Rücken. Aber es dauerte lange, bevor sie endlich auch einschlief, denn sie hatte Angst, dass es ein schöner Traum gewesen sein könnte. Die frühe Morgensonne weckte Bryony, und sie lag eine Weile lächelnd da, genoss Philips
warmen Körper an ihrer Seite und das Gewicht seines Arms auf ihrer Taille. Dann holte sie sich vorsichtig ihren Zeichenblock und einen Bleistift von ihrem Nachttisch, lehnte sich mit dem Rücken ans Kopfende des Bettes und begann, Philip zu zeichnen. Sie schob die Decke mit ihren Zehen so lange nach unten, bis er nackt vor ihr lag. „Kalt!" protestierte Philip schläfrig. „Sei kein Jammerlappen!" befahl Bryony, betrachtete sein wirres Haar und sein unrasiertes Kinn und musste grinsen. „Du siehst echt wild aus." „Du nicht", murmelte er mit schlafrauer Stimme. „Du siehst süß aus." Er lächelte, als sie errötete. Dann griff er nach dem Block, um einen Blick darauf zu werfen. „He, das ist nicht fair", schimpfte er und setzte sich auf, um die Zeichnung besser betrachten zu können. „Nein, es ist Kunst", erwiderte sie lachend. „Das ist keine Kunst. Das bin ich, nackt. Ich hoffe doch sehr, dass du es nicht in der Gegend herumzeigen wirst." Bryony warf den Block lachend neben das Bett. „Nein, es ist zum reinen Privatgebrauch gedacht. Genau wie das hier", fügte sie hinzu, schmiegte sich an ihn und holte scharf Luft, als sein Körper auf ihre Nähe heftig reagierte. „Du bist..." „Ja, bin ich", erwiderte er trocken. „Du hast eben diese Wirkung auf mich." Philip drückte seine Nasenspitze gegen ihre und legte die Arme um ihre Taille. „Guten Morgen. Wirst du mich von jetzt an immer so wecken?" „Nein, manchmal will ich auch von dir geweckt werden", erklärte sie fröhlich und fügte leise hinzu: „Ist das alles hier wirklich wahr, oder träume ich?" „Es ist wahr", versicherte er ihr und vergrub seine Hand in ihrem Haar. „Sobald wir aufgestanden sind, werden wir uns an die Hochzeitsvorbereitungen machen, dann fliegen wir nach Belgien, um meine Eltern zu besuchen ..." „Ich dachte, sie wohnen in Holland?" „Nein, meine Familie lebt schon seit Generationen in Belgien." „Werden sie mich denn mögen?" fragte Bryony. „Vergöttern werden sie dich", versicherte er ihr lächelnd. „Nicht alle in meiner Familie sind wie Sonja." Er runzelte die Stirn. „Ich hatte mich doch für Sonja bei dir entschuldigt, oder?" „Ja, hast du", antwortete sie zärtlich. „Ich bin mir sicher, dass sie aus dieser Phase herauswächst. Siebzehn ist ein schwieriges Alter." „Kann schon sein. Also, wo waren wir? Ach ja, nachdem meine Familie mich dafür gelobt hat, dass ich jemanden wie dich gefunden habe, werden wir entscheiden, wo wir wohnen wollen, und dafür sorgen, dass es dort ein sehr großes Bett gibt." „Du bist viel unterwegs, nicht wahr?" „Macht dir das etwas aus?" fragte er erschrocken. „Nein, ich kann überall arbeiten. Und wenn du glaubst, dass ich dich von jetzt an auch nur eine Sekunde aus den Augen lasse, dann irrst du dich, mein Lieber." Philip küsste sie. „Wenn ich dafür sorge", sagte er dann, „dass du überall, wo wir hingehen, ein Studio und Arbeitsmaterial zur Verfügung hast, dann wird es sich doch machen lassen, oder?" „Natürlich." „Sonst noch etwas?" „Daniel", sagte sie zögernd. „Er darf doch in den Ferien bei uns wohnen, oder?" „Na gut, wenn es unbedingt sein muss. Wir werden uns schon zusammenraufen. Und weiter?" „Nichts weiter." „Warum bist du denn dann so ernst?" „Ich mache mir immer noch Sorgen", gestand Bryony leise. „Weil wir uns erst so kurze Zeit kennen?" „Nein, das ist es nicht." Bryony zögerte und strich ihm mit dem Zeigefinger über die Unterlippe. „Philip, darf ich auch wirklich ich selbst sein?" fragte sie dann besorgt.
„Das bist du doch sowieso, oder?" Sanft strich er ihr das wirre Haar aus der Stirn. „Manchmal bin ich schrecklich deprimiert, einfach so, und dann darfst du mich nichts fragen, sondern musst mich nur liebevoll in den Armen halten. Und wenn ich dir auf die Nerven gehe, dann wirst du mich nie anschreien, nicht wahr?" „Nein, Liebling, ich verspreche dir, dass ich dich nie mehr anschreien werde." „Ich muss mich wirklich nicht ändern?" „Nein! Liebling, jede Beziehung ist im Grunde ein Glücksspiel. Ich kann dir keine Garantien geben, ich kann dir nur sagen, was ich heute empfinde, und dass ich fest glaube, dass ich immer so empfinden werde. Du faszinierst mich, amüsierst mich, du bringst mich zum Lachen, und ich will dich beschützen. Ich will dich immer lieben, mich um dich kümmern und dich halten, wenn du traurig bist. Wenn ich in deiner Nähe bin, dann bin ich glücklich und zufrieden." „Ja", flüsterte sie, „mir geht's genauso mit dir. Ich will, dass du immer bei mir bleibst und dass ich nur die Hand auszustrecken brauche, um dich zu berühren." Sie betrachtete sein Gesicht liebevoll. „Du bist wirklich ein schöner Mann." „Und ein Genie", fügte Philip neckend hinzu. „Vergiss nie, dass ich ein Genie bin!" „Bist du denn ein Genie?" „Ich hab' dich gefunden, nicht wahr?" „Stimmt nicht, ich habe dich zuerst entdeckt." „Aber du wolltest mich anfangs nicht. Wenn ich nicht so hartnäckig gewesen wäre ..." „Na gut, ich gebe mich geschlagen, aber nur, wenn du sofort mit mir schläfst." „Sofort?" fragte Philip und drückte sie fester an sich. „Ja." „Kein Problem. Ein Genie ist allzeit bereit." „Ach ja?" Sie lächelte. „Oja!" - ENDE -